Albert Camus
Der glückliche Tod Roman Deutsch von Eva Rechel-Mertens Nachwort und Anmerkungen von Jean Sarocchi
Rowohlt
Die Originalausgabe erschien 1971 unter dem T itel La Mort heureuse / Cahiers Albert Camus I im Verlag Gallimard, Paris Nachwort und Anmerkungen wurden von Gertrude Harlass übersetzt Schutzumschlag- und Einbandentwurf von Werner Rebhuhn
1.-20. Tausend August 1972 21.-35- Tausend September 1972 © Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, 1972 La Mort heureuse © Editions Gallimard, Paris, 1971 Alle deutschen Rechte vorbehalten Gesetzt aus der Aldus-Buchschrift (Linofilm-Super-Quick) Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck/Schleswig Werkdruckpapier von der Papierfabrik Schleipen, Bad Dürkheim Printed in Germany ISBN 3 498 00837 4
Erster Teil Der natürliche Tod
I Es war zehn Uhr m orgens, und P at rice M ersault ging m it gleichm äßigen Schrit t en auf Zagreus' Villa zu. Um diese Zeit war die W ärt erin auf dem M arkt und niem and im Hause. Es war April, ein schöner funkelnder kalt er Frühlingsm orgen m it einem reinen eisigen Him m el, in dem eine große Sonne st and, st rahlend, aber ohne W ärm e. Zwischen den P inien an den Hängen in der Nähe der Villa rann ein reines Licht an den St äm m en ent lang. Die St raße lag verlassen da. Sie st ieg ein wenig an. M ersault t rug einen Koffer, und in der Glorie dieser Erdenfrühe ging er dahin, begleit et von dem hart en Geräusch seiner Schrit t e auf der kalt en St raße und dem t akt m äßig wiederkehrenden Knarren des Koffergriffs. Kurz vor der Villa m ündet e die St raße in einen kleinen P lat z m it Bänken und Grünanlagen. Frühe rot e Geranien zwischen grauer Aloe, das Blau des Him m els, das W eiß der Um fassungsm auern — das alles wirkt e so frisch und so jung, daß M ersault einen M om ent den Schrit t verhielt , bevor er den W eg einschlug, der von dem P lat z zu Zagreus' Villa hinunt erführt e. Vor der Schwelle des Hauses blieb er st ehen und zog seine Handschuhe an. Er öffnet e die T ür, die der Krüppel st et s unverschlossen hielt , und m acht e sie ganz nat ürlich hint er sich wieder zu. Er ging durch den Flur bis zur drit t en T ür links, klopft e an und t rat ein. Zagreus war selbst verst ändlich da, er saß, m it einem P laid über den St üm pfen seiner Beine, in einem Sessel dicht am Kam in, genau an dem P lat z, den M ersault zwei T age zuvor eingenom m en hat t e. Er las, und das Buch lag auf seiner Decke, während er M ersault , der neben der wieder geschlossenen T ür st ehengeblieben war, aus seinen runden Augen ansah, in denen keinerlei Verwunderung lag. Die Fenst ervorhänge waren zugezogen, und auf dem Boden, auf den M öbeln und an den Kant en der
Gegenstände spielten Sonnenflecke. Hinter den Fensterscheiben strahlte der Morgen auf die vergoldete, kalte Erde herab. Freude, eine große eisige Heiterkeit, schrille, heisere Vogelschreie, die Flut von unbarmherzigem Licht verliehen der Vormittagsstunde einen Anschein von Unschuld und Wahrheit. Mersault war stehengeblieben, an der Kehle und an den Ohren von der erstickenden Hitze in dem Zimmer gepackt. T rotz der veränderten Witterung hatte Zagreus ein mächtiges Feuer entfacht. Und Mersault spürte, wie ihm das Blut in die Schläfen stieg und in den Rändern seiner Ohren pochte. Immer noch schweigend folgte der andere ihm mit dem Blick. Patrice ging zu der T ruhe auf der anderen Seite des Kamins und stellte seinen Koffer auf den T isch. Dort angekommen, verspürte er eine kaum merkliche Schwäche in den Fußgelenken. Er hielt inne und steckte sich eine Zigarette in den Mund, die er wegen seiner behandschuhten Hände ungeschickt anzündete. Hinter ihm ließ sich ein schwaches Geräusch vernehmen. Mit der Zigarette im Mund drehte er sich um. Zagreus schaute ihn noch immer an, hatte jedoch sein Buch zugeklappt. Während Mersault die Hitze fast schmerzhaft an seine Knie dringen fühlte, las er verkehrt herum den T itel:
von Baltasar Gracián. Ohne zu zögern, beugte er sich zu der T ruhe hinunter und hob den Deckel hoch. Schwarz auf weiß glänzte dort der Revolver an allen seinen Rundungen wie eine gepflegte Katze. Er lag noch immer auf Zagreus' Brief. Mersault nahm diesen in die linke Hand und den Revolver in die rechte. Nach kurzem Zaudern schob er die Waffe unter seinen linken Arm und öffnete das Kuvert. Es enthielt ein einziges großformatiges Blatt Papier, das mit einigen wenigen Zeilen in Zagreus' großer, eckiger Schrift bedeckt war: «Ich lösche nur einen halben Menschen aus. Man halte mir das zugute. In meiner kleinen T ruhe wird man weit mehr finden, als nötig ist, um diejenigen schadloszuhalten, die mir bislang gedient haben. Was das übrige betrifft, so habe ich den Wunsch, daß es für die Verbesserung des Loses der zum T ode Verurteilten verwendet wird. Doch bin ich mir bewußt, daß das viel verlangt ist.»
M it unbewegt em Gesicht falt et e M ersault den Brief wieder zusam m en, und in diesem Augenblick reizt e der Rauch seiner Zigaret t e seine Augen, während et was Asche auf den Um schlag fiel. Er schüt t elt e das P apier, legt e es deut lich sicht bar auf den T isch und wendet e sich Zagreus zu. Dieser schaut e jet zt auf den Briefum schlag, und seine kurzen kräft igen Hände hielt en weit er das Buch um schlossen. M ersault bückt e sich, dreht e den Schlüssel der Kasset t e, ent nahm ihr die Bündel, von denen m an durch die Um hüllung aus Zeit ungspapier nur den Schnit t erkennen konnt e. Seine W affe unt er dem Arm , füllt e er m it der einen Hand in aller Ruhe seinen Koffer. Es waren weniger als zwanzig Bündel zu hundert Scheinen vorhanden, und M ersault st ellt e fest , daß er einen zu großen Koffer m it genom m en hat t e. Ein Bündel von hundert Scheinen ließ er in der Kasset t e. Nachdem er den Koffer geschlossen hat t e, warf er seine h a l b aufgeraucht e Zigaret t e ins Kam infeuer, nahm den Revolver in die recht e Hand und nähert e sich dem Krüppel. Zagreus sah jet zt zum Fenst er hinaus. M an hört e ein Aut o m it einem m ahlenden Geräusch langsam an der Haust ür vorüberfahren. Regungslos schien Zagreus die ganze unm enschliche Schönheit dieses Aprilm orgens in sich aufzunehm en. Als er den Revolverlauf an seiner recht en Schläfe fühlt e, wendet e er nicht einm al den Blick. Doch P at rice, der ihn anschaut e, sah, daß seine Augen sich m it T ränen füllt en. Er selbst schloß darauf die seinen. Er t rat einen Schrit t zurück und schoß. Einen M om ent lang lehnt e er sich m it im m er noch geschlossenen Lidern an die W and, er fühlt e wieder das Blut in seinen Ohren rauschen. Dann schaut e er hin. Der Kopf war auf die recht e Schult er gesunken, der Körper hat t e kaum seine St ellung verändert , so daß m an nicht m ehr Zagreus sah, sondern nur eine riesige W unde in einem Gewirr von Hirn, Knochen und Blut . M ersault begann zu zit t ern. Er ging auf die andere Seit e des Sessels, t ast et e nach Zagreus' recht er Hand, schloß sie fest um den Revolver, hob sie bis zur Höhe der Schläfe und ließ sie wieder sinken. Der Revolver fiel auf die Lehne des Sessels und von da auf Zagreus' Knie. Bei dieser Bewegung sah M ersault M und
und Kinn des Krüppels. Er zeigt e noch den gleichen ernst en, t raurigen Ausdruck wie zuvor, als er aus dem Fenst er geblickt hat t e. In diesem M om ent ert önt e ein schriller T rom pet enst oß vor der T ür. Ein zweit es M al erklang das unwirkliche Signal. M ersault st and noch im m er über den Sessel gebeugt , ohne sich zu rühren. W agenrollen kündet e die W eit erfahrt des M et zgers an. M ersault ergriff seinen Koffer, öffnet e die T ür, deren Klinke unt er einem Sonnenst rahl blit zt e, und verließ m it einem P ochen in den Schläfen und t rockener Zunge den Raum . Er schrit t durch die Haust ür und ent eilt e m it großen Schrit t en. Niem and war zu sehen außer einer Gruppe von Kindern am anderen Ende des kleinen P lat zes. Er ent fernt e sich. Auf dem P lat z angekom m en, wurde er sich plöt zlich der Kält e bewußt und fröst elt e unt er seinem leicht en Rock. Zweim al m ußt e er niesen, und das T al warf ein helles, höhnisches Echo zurück, das die krist allklare Luft höher und höher t rug. W iewohl et was schwankend, blieb er st ehen und at m et e kräft ig durch. Von dem blauen Him m el senkt en sich M illionen kleiner lächelnder Licht er herab. Sie spielt en auf den noch regennassen Blät t ern, auf dem feucht en T uff der Alleen, flat t ert en zu den Häusern m it den Dachziegeln von der Farbe frisch vergossenen Blut es hinüber und schwangen sich wieder zu den Reservoirs von Luft und Sonne em por, aus denen sie kurz zuvor sich ergossen hat t en. Ein sanft es Surren kam von einem winzigen Flugzeug, das dort oben schwebt e. Bei diesem Überschwang der Luft und dieser Fülle des Him m els schien den M enschen einzig die Aufgabe zugedacht , zu leben und glücklich zu sein. In M ersault wurde alles st ill. Ein drit t es Niesen schüt t elt e ihn, und er verspürt e et was wie einen Fieberschauer. Er eilt e davon, ohne um sich zu blicken, begleit et nur von dem Knarren des Koffergriffs und dem Geräusch seiner Schrit t e. Zu Hause angekom m en, legt e er sich hin und schlief bis t ief in den Nachm it t ag hinein.
II Der Sommer füllte den Hafen mit Stimmenlärm und Sonne. Es war halb zwölf Uhr vormittags. Der T ag strömte sein Innerstes aus, um die Quais mit dem ganzen Gewicht seiner Hitze zu erdrücken. Vor den Lagerschuppen der Handelskammer von Algier nahmen <Schiaffinos> mit schwarzem Rumpf und rotem Schornstein Kornsäcke an Bord. Ihr feiner Staubduft vermischte sich mit den kompakten T eergerüchen, die eine heiße Sonne zur Entfaltung brachte. Vor einer kleinen Baracke, wo es nach Firnis und Anisette roch, saßen Männer und tranken, während arabische Akrobaten in roten T rikots vor dem sonnenblitzenden Meer auf den glühendheißen Steinplatten ihre Körper verrenkten. Ohne sie zu beachten, betraten die säckeschleppenden Hafenarbeiter die beiden schwingenden Planken, die vom Quai auf das Deck der Frachtdampfer führten. Oben angekommen, hoben sie sich plötzlich vor dem Himmel über der Bucht, zwischen Winden und Masten, silhouettenhaft ab. Mit nach oben gewendetem Blick blieben sie eine Sekunde lang geblendet stehen, wobei ihre Augen in den mit einer weißlichen Schicht aus Schweiß und Staub überzogenen Gesichtern funkelten, bevor sie sich blindlings in den Laderaum stürzten, aus dem ein Geruch wie von warmem Blut aufstieg. In der glühenden Luft heulte beständig eine SiRené. Auf der Planke machten die Männer plötzlich entgegen der Ordnung halt. Einer von ihnen war zwischen die Bohlen gefallen, die nahe genug beieinander lagen, um ihn festzuhalten. Doch sein Arm war hinter ihm eingeklemmt, zerquetscht durch das ungeheure Gewicht des Sackes, und er schrie vor Schmerz. In diesem Augenblick trat Patrice Mersault aus seinem Büro. Schon auf der Schwelle verschlug ihm die Sommerhitze den Atem. Er sog mit weit offenem Mund den T eergeruch ein, der
i h n in der Kehle krat zt e, und blieb bei den Hafenarbeit ern st ehen. Sie hat t en den Verlet zt en befreit . Auf den P lanken m it t en im St aub hingest reckt , die Lippen bleich vor Schm erz, ließ er seinen gebrochenen Arm vom Ellbogen ab herunt erhängen. Ein Knochensplit t er war durch das Fleisch gedrungen, so daß eine häßliche W unde ent st and, aus der das Blut sickert e. Die T ropfen liefen am Arm ent lang und fielen dann, einer nach dem andern, m it einem leicht en Zischen auf die glühenden St eine, wo sie verdam pft en. M ersault st arrt e regungslos auf dieses Blut , als jem and seinen Arm ergriff. Es war Em m anuel, der . Er wies auf einen Last wagen, der m it laut em Ket t engerassel und Geknat t er auf sie zukam . «W ollen wir?» P at rice begann zu laufen. Der Last wagen fuhr an ihnen vorbei. Und sogleich rannt en sie ihm nach, verschlungen von Lärm und St aub, keuchend und blind, gerade noch klar genug, um zu fühlen, wie sie durch diese wilde Lauferei hineingerissen wurden in einen bet äubenden Rhyt hm us von T rossen und M aschinen, begleit et vom T anz der M ast en am Horizont und dem Schlingern der leprösen Schiffsrüm pfe, an denen sie vorüberjagt en. Auf seine Kraft und Gelenkigkeit vert rauend, packt e M ersault als erst er zu und schwang sich hinauf. Er h a l f Em m anuel, bis auch er m it herunt erhängenden Beinen auf dem W agen saß, und in dem weißen, kreidigen St aub, dem gleißenden Dunst , der sich vom Him m el herabsenkt e, der Sonne, der ungeheuren, phant ast ischen Dekorat ion des von M ast en und schwarzen Kränen überquellenden Hafens braust e der W agen im vollem T em po dahin, über das holperige P flast er des Quais, so daß Em m anuel und M ersault hin und her geschleudert wurden und in einem T aum el der Erregung lacht en, bis ihnen die Luft ausging. In Belcourt angekom m en, sprang M ersault zusam m en m it dem singenden Em m anuel ab. Er sang laut und falsch. «Du m ußt verst ehen», sagt e er im m er zu M ersault , «es drängt einfach aus der Brust herauf. W enn ich vergnügt bin. W enn ich bade.» Das st im m t e. Em m anuel sang, wenn er schwam m , und seine durch den Druck von außen her rauh gewordene und auf
dem Meer kaum hörbare Stimme bestimmte dann den T akt der Bewegungen seiner kurzen muskulösen Arme. Sie bogen in die Rue de Lyon ein. Mersault schritt kräftig aus, er war sehr groß und wiegte seine breiten sehnigen Schultern. An der Art, wie er den Fuß auf den Gehsteig setzte, den er entlangzuschreiten gedachte, wie er mit einer gleitenden Hüftbewegung der Menge auswich, die ihn zuweilen umgab, spürte man, daß sein Körper überraschend jung und kraftvoll und durchaus imstande war, seinen Besitzer bis an die äußersten Grenzen physischer Lust zu tragen. Wenn er sich nicht bewegte, ließ er ihn auf der einen Hüfte ruhen, mit einer leicht affektierten Geschmeidigkeit wie jemand, der durch Sport den richtigen Stil gelernt hat. Seine Augen blitzten unter den Bögen der etwas starken Brauen, und während er mit Emmanuel sprach, zog er unter einer zuckenden Bewegung seiner geschwungenen lebhaften Lippen an seinem Kragen, um seinen Hals freizumachen. Sie traten in ihr Restaurant. Sie setzten sich und nahmen schweigend ihre Mahlzeit ein. Im Schatten war es kühl. Man hörte Fliegen summen, T eller klirren und Gespräche. Der Wirt, Céleste, kam auf sie zu. Groß und mit einem Schnurrbart geschmückt, kratzte er sich den Bauch unter seiner Schürze, die er dann wieder fallen ließ. «Es geht», sagte Emmanuel. «Wie es alten Leuten so geht.» Sie redeten. Céleste und Emmanuel tauschten Anreden wie «Na, Kamerad!» und Schulterklopfen aus. «Die Alten, weißt du», meinte Céleste, «sind ja blöd im Kopf. Sie sagen, ein richtiger Mann ist einer von fünfzig Jahren. Das sagen sie aber nur, weil sie selber in den Fünfzigern sind. Ich habe da einen Kumpel gehabt, der nur mit seinem Sohn glücklich war. Sie gingen zusammen aus. Sie trieben es ziemlich bunt. Sie gingen ins Casino, und mein Kumpel sagte: <Warum soll ich mich mit all den Alten abgeben? Sie erzählen mir täglich, daß sie Abführmittel genommen haben, daß sie ihre Leber spüren. Da ist es besser, ich gehe mit meinem Jungen aus. Manchmal schnappt er sich eine kleine Hure, ich tue dann, als sehe ich nichts, und steige in die T ram. Auf Wiedersehen und Danke. Ich bin sehr zufrieden.>» Emmanuel lachte. «Natürlich», erklärte Céleste, «wußte der
auch nicht alles besser, aber ich m ocht e ihn gern.» Zu M ersault gewendet fuhr er fort : «Und außerdem ist m ir so einer lieber als ein anderer Kum pel, den ich hat t e. Als der es zu was gebracht e hat t e, winkt e er m ich nur noch m it dem Kopf heran oder gab m ir kleine Zeichen. Inzwischen ist er nicht m ehr so st olz, er hat alles verloren.» «Geschieht ihm recht », m eint e M ersault . «Oh, m an soll sich nicht kleinkriegen lassen im Leben. Er hat sich eine gut e Zeit gem acht , und warum auch nicht . Neunhundert t ausend Francs hat er gehabt . . . Ah, wenn ich das gewesen wäre!» «W as würdest du t un ? » fragt e Em m anuel. « I c h würde m ir eine kleine Hüt t e kaufen, m ir ein bißchen Vogelleim auf den Nabel schm ieren und eine Fahne draufset zen. Und dann würde ich wart en und sehen, von welcher Seit e der W ind kom m t .» M ersault verzehrt e in Ruhe sein M ahl, bis Em m anuel auf den Gedanken kam , dem W irt seine berühm t e Geschicht e von der M arneschlacht vorzuset zen. «Uns, die Zuaven, haben sie als T irailleurs eingeset zt . . .» «Du ödest uns a n » , erklärt e M ersault ruhig. «Der Kom m andeur befahl: Und wir alle hinunt er, es war da so eine m it Bäum en best andene Schlucht . Er hat t e uns gesagt , wir sollt en angreifen, aber vor uns war kein M ensch. W ir sind also m arschiert und im m er weit er vorgegangen. Dann aber gab es auf einm al M aschinengewehrfeuer. Sie schossen m it t en in uns hinein. Alles purzelt e nur so übereinander. Es gab so viele Verwundet e und T ot e, und auf dem Grund der Schlucht war soviel Blut , daß m an in einem Kanu hät t e hinüberfahren können. Da waren welche, die schrien: <M am a!> Es war fürcht erlich.» M ersault st and auf und knüllt e seine Serviet t e zusam m en. Der W irt ging und not iert e sein M it t agessen m it Kreide hint en auf der Küchent ür. Das war sein Rechnungsbuch. W enn einer prot est iert e, hob er die T ür aus den Angeln und schleppt e die Rechnung auf seinem Rücken herbei. In einer Ecke saß René, der Sohn des W irt es, und aß e i n weiches Ei. «Der Arm e», sagt e
Em m anuel, « e r geht an der Schwindsucht zugrunde.» Das st im m t e. René war gewöhnlich st ill und ernst . Er war nicht allzusehr abgem agert , doch seine Augen glänzt en. Gerade war ein Gast dabei, ihm zu erklären, T uberkulose sei heilbar, «wenn m an abwart et und vorsicht ig l e bt » . Er nickt e und ant wort et e ernst zwischen zwei Bissen. M ersault st üt zt e sich neben ihm m it den Ellbogen auf den Schankt isch, um noch einen Kaffee zu t rinken. Der andere redet e weit er: «Du hast wohl nicht Jean P érez gekannt ? Den von der Gasanst alt ? Der i s t gest orben. Er h a t t e eine kranke Lunge. Aber er wollt e fort aus dem Spit al und wieder nach Hause. Und da war seine Frau. Und seine Frau ist ein P ferd. Seine Krankheit hat t e ihn so gem acht . Du verst ehst schon, st ändig war er auf seiner Frau. Sie wollt e gar nicht . Er aber t rieb es ganz schrecklich dam it . Na ja, und zwei-, dreim al t äglich, das bringt einen kranken M ann ja schließlich um . » René hat t e zu essen aufgehört und st arrt e, noch ein St ück Brot zwischen den Zähnen, den anderen an. « J a » , m eint e er schließlich, «die Krankheit kom m t schnell, doch m it dem Gehen nim m t sie sich Zeit .» M ersault m alt e m it dem Finger seinen Nam en auf die beschlagene Kaffeem aschine. Er blinzelt e m it den Augen. Zwischen diesem friedlichen Lungenkranken und dem von Liedern überquellenden Em m anuel pendelt e sein Dasein T ag für T ag im Geruch von Kaffee und von T eer hin und her, von ihm selbst und allem , was für ihn sinnvoll war, losgelöst , seinem Herzen und seiner W ahrheit ent frem det . Die gleichen Dinge, die ihn unt er anderen Um st änden leidenschaft lich bewegt haben würden, erzeugt en bei ihm jet zt , da er sie selber erlebt e, nur Schweigen, bis zu dem Augenblick, da er wieder in seinem Zim m er angelangt war und alle Kraft und Vorsicht darauf verwendet e, die in ihm brennende Flam m e des Lebens zum Verlöschen zu bringen. «Sag m al, M ersault , du bist doch ein gebildet er M ann», sagt e der W irt . «Ja, schon gut » , sagt e P at rice. «Ein anderm al.» «Du hast aber eine Saulaune, heut e m orgen.» M ersault lächelt e. Er verließ das Rest aurant , überquert e die
St raße und st ieg die T reppe zu seinem Zim m er hinauf. Es lag über einer Roßschlächt erei. W enn er sich über das Balkongit t er beugt e, verspürt e er den Geruch von Blut und konnt e das Ladenschild lesen: . Er legt e sich auf sein Bet t , raucht e noch eine Zigaret t e und schlief ein. Er bewohnt e das Zim m er, in dem seine M ut t er gelebt hat t e. Sie hat t en lange in dieser kleinen Drei-Zim m er-W ohnung gehaust . Als er allein war, hat t e M ersault zwei Zim m er an einen befreundet en Faßbinder verm iet et , der m it seiner Schwest er zusam m en lebt e, und das best e für sich selbst behalt en. Seine M ut t er war m it 56 Jahren gest orben. Da sie schön war, hat t e sie gem eint , koket t auft ret en, gut leben und brillieren zu können. Gegen die Vierzig bekam sie eine furcht bare Krankheit . Sie m ußt e auf Kleider und Schm inke verzicht en, Spit alkit t el t ragen, hat t e ein durch grauenhaft e Beulen verunst alt et es Gesicht und war wegen ihrer geschwollenen kraft losen Beine fast zur Unbeweglichkeit verdam m t . Schließlich wurde sie auch noch halb blind und t ast et e verzweifelt in einem farblosen Raum um her, den sie völlig verkom m en ließ. Der Schlag war kurz und heft ig. Es war eine nicht beacht et e Zuckerkrankheit , die sie durch ihre unbedacht e Lebensweise gefördert und verschlim m ert hat t e. Er hat t e seine St udien aufgeben und Arbeit suchen m üssen. Bis zum T od seiner M ut t er hat t e er im m er noch gelesen und nachgedacht . Und zehn Jahre lang ert rug die Kranke dieses Leben. Das M art yrium hat t e so lange gedauert , daß m an sich in ihrer Um gebung an ihre Krankheit gewöhnt hat t e und vergaß, daß sie bei einer ernst lichen Verschlim m erung ihr erliegen könnt e. Eines T ages st arb sie. In der Nachbarschaft bem it leidet e m an M ersault . M an versprach sich viel von der Beerdigung im Gedanken an das t iefe Gefühl das Sohnes für seine M ut t er. M an beschwor die ent fernt en Verwandt en, nicht zu weinen, dam it P at rice seinen Schm erz nicht noch st ärker em pfand. M an bat sie inst ändig, sich seiner anzunehm en und sich ihm zu widm en. Er indessen kleidet e sich, so gut er nur irgend konnt e, und schaut e m it dem Hut in der Hand den Vorbereit ungen zu. Er folgt e dem
Sarg, nahm an der kirchlichen Handlung t eil, warf seine Handvoll Erde in das Grab und drückt e alle Hände. Nur einm al äußert e er seine Verwunderung und Unzufriedenheit darüber, daß es so wenig W agen für die Geladenen gab. Das war alles. Am nächst en T age konnt e m an an einem der Fenst er der W ohnung ein Schild sehen: . Jet zt bewohnt e er das Zim m er seiner M ut t er. Früher hat t e das ärm liche Leben zusam m en m it seiner M ut t er et was T röst liches gehabt . W enn sie sich am Abend zusam m enfanden und beim Licht der P et roleum lam pe schweigend aßen, wohnt e dieser Einfachheit und Zurückgezogenheit et was inne, das wie ein heim liches Glück war. In ihrem Viert el ging es ruhig zu. M ersault bet racht et e den schlaffen M und seiner M ut t er und lächelt e. Sie lächelt e ebenfalls. Er fing wieder zu essen an. Die Lam pe blakt e ein wenig. M it der im m er gleichen Bewegung schraubt e seine M ut t er den Docht herunt er, sie st reckt e nur den recht en Arm aus und blieb zurückgelehnt sit zen. «Du hast offenbar keinen Hunger m ehr», m eint e sie et was spät er. «Nein.» Er raucht e oder las. Im erst eren Fall pflegt e seine M ut t er zu sagen: «Schon wieder!» Im zweit en: «Rück doch näher an die Lam pe heran, du verdirbst dir noch die Augen.» Jet zt dagegen em pfand er das ärm liche Leben in der Einsam keit als ein schreckliches Elend. Und wenn M ersault voll T rauer an die Ent schwundene dacht e, wendet e er sein M it leid in W irklichkeit an sich selbst . Er hät t e behaglicher wohnen können, aber er hing an dieser Behausung und ihrem Arm eleut egeruch. Hier wenigst ens spürt e er noch einen Zusam m enhang m it dem , was er gewesen war, und in einem Leben, dem er gern zu ent rinnen sucht e, erlaubt e ihm diese t rübselige, geduldig geübt e Gegenüberst ellung, sich in den St unden der T raurigkeit und der W ehm ut wieder auf sich selbst zu besinnen. Er hat t e an der T ür ein am Rande zerschlissenes St ückchen graue P appe hängen lassen, auf das seine M ut t er m it Blaust ift ihren Nam en geschrieben hat t e. Er hat t e auch das alt e M essingbet t m it der Decke aus Baum wollsat in und das P ort rät seines Großvat ers m it seinem kleinen Bärt chen und seinen unbeweglichen hellen Augen behalt en. Auf dem Kam in um gaben Schäfer und
Schäferinnen eine alt e St ut zuhr, die nicht m ehr ging, und eine P et roleum lam pe, die er fast nie anzündet e. Die schäbige Einricht ung, die et was eingesessenen Rohrst ühle, der Schrank m it der gelb gewordenen Spiegelt ür und der W ascht isch, an dem die eine Ecke fehlt e, exist iert e für ihn nicht , denn die Gewohnheit hat t e alles nivelliert . Er bewegt e sich in einer schat t enhaft en Um gebung, die nicht die geringst e Bem ühung von ihm verlangt e. In einem anderen Zim m er hät t e er sich an Neues gewöhnen und dam it erst wieder käm pfen m üssen. Er hat t e das Bedürfnis, die Angriffsfläche, die er der Um welt bot , m öglichst klein zu halt en und zu schlafen, bis alles vollendet sein würde. Bei dieser Absicht war das Zim m er eine Hilfe für ihn. Es ging einerseit s auf die St raße, andererseit s auf eine T errasse, auf der im m er W äsche hing. Und hint er der T errasse sah m an kleine, von hohen M auern um schlossene Gärt en m it Orangenbäum en. Zuweilen, in Som m ernächt en, m acht e er im Zim m er kein Licht und öffnet e das Fenst er, das auf die T errasse und die dunklen Gärt en ging. Von dem einen Dunkel zum andern st ieg der sehr st arke Orangenduft auf und um hüllt e ihn m it seinem leicht en Gewoge. Die ganze Som m ernacht hindurch waren dann sein Zim m er und er selbst von diesem zugleich durchdringenden und schweren Duft erfüllt , und es war ihm , als öffne er nach langen T agen des Gest orbenseins zum erst en M al sein Fenst er auf das Leben. Er erwacht e m it einem M und, der noch von Schlaf erfüllt war, und schweißbedeckt . Es war sehr spät . Er käm m t e sich, lief eilig hinunt er und sprang in eine T ram . Um zwei Uhr fünf war er in seinem Büro. Er arbeit et e in einem großen Raum , dessen vier W ände m it 414 Fächern bedeckt waren, in denen sich Akt en häuft en. Das Zim m er war weder schm ut zig noch schäbig, m acht e aber zu jeder T agesst unde den Eindruck einer Urnenhalle, in der die t ot en St unden verwest en. M ersault überprüft e Seefracht briefe, überset zt e die P roviant list en englischer Schiffe und em pfing von drei bis vier Uhr Kunden, die St ückgut versenden wollt en. Er hat t e sich um diese Arbeit bem üht , obwohl sie eigent lich nicht zu ihm paßt e. Doch anfangs hat t e er darin et was
wie einen Zugang zum Leben gesehen. Hier gab es lebendige Gesichter, Kunden, Abwechslung und einen frischen Luftzug, in dem er endlich sein Herz schlagen fühlte. Auf diese Weise entrann er den Gesichtern der drei Stenotypistinnen und dem Bürochef, Monsieur Langlois. Die eine der Stenotypistinnen war ganz hübsch und seit kurzem verheiratet. Die andere lebte bei ihrer Mutter, und die dritte war eine energische, würdevolle alte Dame, deren blumenreiche Sprache und deren Zurückhaltung in bezug auf «ihre Schicksalsschläge», wie Langlois es nannte, Mersault schätzte. Langlois hatte zuweilen mit ihr scharfe Auseinandersetzungen, bei denen jedoch stets die alte Madame Herbillon die Oberhand behielt. Sie verachtete Langlois, weil seine verschwitzte Hose ihm am Hinterteil klebte und wegen der Panik, die ihn in Gegenwart des Direktors und manchmal auch am T elefon befiel, wenn er den Namen eines Advokaten oder eines großen T iers mit Adelsprädikat hörte. Der Unglückliche bemühte sich vergebens, die alte Dame milder zu stimmen oder sogar für sich einzunehmen. An diesem Abend tänzelte er im Büro umher. «Nicht wahr, Madame Herbillon, Sie finden mich doch sympathisch?» Mersault übersetzte gerade vegetables, vegetables, und hob den Blick zu der Glühbirne empor, die mit ihrem Schirm aus gefalteter grüner Pappe über seinem Kopf hing. Vor sich hatte er einen grellfarbigen Kalender, auf dem die Dankprozession der Neufundlandfahrer abgebildet war. Schwämmchen, Schreibunterlage, T intenfaß und Lineal befanden sich wohlausgerichtet auf seinem T isch. Seine Fenster gingen auf riesige Holzstapel, die auf gelb-weißen Frachtdampfern aus Norwegen hergeschafft worden waren. Er horchte. Hinter der Mauer atmete das Leben auf dem Meer und im Hafen in kräftigen dumpfen und tiefen Zügen. So nahe und doch für ihn so fern... Das Sechs-Uhr-Schlagen befreite ihn. Es war ein Samstag. Zu Hause angekommen, legte er sich hin und schlief bis zum Abendessen. Er briet sich Eier, die er gleich aus der Pfanne aß (ohne Brot, da er vergessen hatte, welches zu kaufen), dann legte er sich hin und schlief bis zum nächsten Vormittag. Er
wacht e erst kurz vor M it t ag auf, m acht e seine M orgent oilet t e und ging hinunt er zum Essen. W ieder zurückgekehrt , löst e er zwei Kreuzwort rät sel, schnit t sorgfält ig eine Reklam e für Kruschensalz aus und klebt e sie in ein Heft , das schon m it vielen m unt eren Opas angefüllt war, die T reppengeländer hinunt errut scht en. Darauf wusch er sich die Hände und t rat auf den Balkon. Es war ein schöner Nachm it t ag. Das P flast er glänzt e, wenige und noch eilige Leut e waren unt erwegs. Er folgt e jedem einzelnen aufm erksam m it dem Blick und ließ erst von ihm ab, wenn er außer Sehweit e war. Dann nahm er einen neuen P assant en aufs Korn. Zuerst kam en Fam ilien, die einen Spaziergang m acht en, zwei kleine Jungen in M at rosenanzügen m it knielangen Hosen, eingezwängt in ihre st eifen Kleidungsst ükke, und ein kleines M ädchen m it einer großen rosa Schleife und schwarzen Lackschuhen. Hint er ihnen eine M ut t er in braunem Seidenkleid, gleich einem von einer Boa um ringelt en unförm igen T ier, und ein sehr viel besser aussehender Vat er m it einem Spazierst ock in der Hand. Et was spät er kam en die jungen Leut e aus dem Viert el vorbei, m it pom adisiert em Haar und rot er Krawat t e, st ark t ailliert er Jacke m it einem gest ickt en Ziert aschent uch und vorn breit en Schuhen. Sie st rebt en zu den Kinos im Zent rum und beeilt en sich laut lachend, um noch die T ram bahn zu erwischen. Hint er ihnen leert e sich die St raße allm ählich. Die Vorst ellungen hat t en angefangen. Jet zt gehört e da s Viert el den kleinen Ladenbesit zern und den Kat zen. W iewohl noch im m er rein, lag der Him m el doch glanzlos über den Feigenbäum en, die die St raße säum t en. Gegenüber von M ersault s Fenst er st ellt e der T abakhändler einen St uhl vor seine T ür und set zt e sich rit t lings darauf, beide Arm e auf die Lehne st üt zend. Die St raßenbahnen, eben noch überfüllt , waren jet zt fast leer. In dem kleinen Café Chez Pierrot kehrt e der Kellner in dem verödet en Gast raum das Sägem ehl zusam m en. M ersault dreht e ebenfalls seinen St uhl, st ellt e ihn so hin wie der T abakhändler und raucht e hint ereinander zwei Zigaret t en. Er kehrt e in sein Zim m er zurück, brach ein St ück Schokolade ab und nahm kauend wieder seinen P lat z am Fenst er ein. Kurz darauf verdunkelt e sich
der Himmel, wurde aber gleich wieder klar. Dennoch hatten die vorüberziehenden Wolken auf der Straße etwas wie eine Verheißung von Regen zurückgelassen, so daß sie noch dunkler wirkte. Um fünf Uhr kamen T rambahnen angerattert, die von den Fußballstadien am Stadtrand T rauben von Zuschauern zurückbrachten, die auf den T rittbrettern und an den Handgriffen hingen. Die nächsten Wagen brachten die Spieler zurück, die an ihren kleinen Reisetaschen zu erkennen waren. Sie brüllten und verkündeten, aus vollem Halse grölend, daß ihr Club nie untergehen werde. Mehrere machten Mersault ein Zeichen. Einer rief: «Die haben wir drangekriegt!» - «Ja », sagte Mersault nur und nickte mit dem Kopf. Allmählich tauchten mehr Autos auf. Bei manchen waren die Kotflügel und die Stoßstangen mit Blumen geschmückt. Dann änderte sich abermals das T ageslicht. Über den Dächern bekam der Himmel einen rötlichen Schein. Mit Beginn des Abends belebten die Straßen sich wieder. Die Spaziergänger kehrten zurück. Die Kinder waren müde, weinten oder ließen sich ziehen. In diesem Augenblick ergoß sich aus den Kinos des Viertels ein Strom von Zuschauern auf die Straße. Mersault las aus den entschiedenen und wichtigtuerischen Gesten der jungen Leute, die herauskamen, den unbewußten Kommentar zu dem Abenteuerfilm, den sie gesehen hatten. Die Besucher der Stadtkinos kehrten etwas später zurück. Sie wirkten gesetzter. Zwischen Gelächter und derben Spaßen trat in ihrem Gesichtsausdruck und in ihrer Haltung etwas von der Sehnsucht nach einem Leben in dem glanzvollen Stil zutage, das der Film ihnen vor Augen geführt hatte. Auf und ab gehend bevölkerten sie auch weiterhin die Straße. Auf dem Bürgersteig gegenüber von Mersaults Fenster bildeten sich schließlich zwei Ströme. Die jungen Mädchen des Viertels, ohne Hut, kamen Arm in Arm einher und bildeten den einen. Die jungen Burschen, aus denen der andere bestand, riefen ihnen scherzhafte Bemerkungen zu, über die sie lachten, während sie gleichzeitig die Köpfe abwendeten. Die gesetzteren Leute gingen in die Cafés oder bildeten auf dem Bürgersteig Gruppen, die wie Inseln von der wogenden Flut der Passanten umbrandet
wurden. Die St raße war jet zt beleucht et , und die elekt rischen Lam pen ließen die erst en St erne verblassen, die sich am nächt lichen Him m el zeigt en. Unt erhalb von M ersault breit et en sich die Gehwege m it ihrer Ladung von M enschen und Licht ern aus. Die Lam pen spiegelt en sich in dem blanken P flast er, und die in regelm äßigem Abst and vorüberfahrenden T ram bahnwagen set zt en hier und da Glanzlicht er auf einen schim m ernden Haarschopf, eine feucht e Lippe, ein Lächeln oder ein silbernes Arm band. Kurz darauf, als die T ram bahnen selt ener fuhren und die Nacht schon schwarz über Bäum en und Lam pen st and, leert e das Viert el sich unm erklich, und die erst e Kat ze überquert e langsam die verödet e St raße. M ersault dacht e ans Abendessen. Der Hals t at ihm et was weh, weil er sich zu lange auf die Lehne seines St uhls aufgest üt zt hat t e. Er ging hinunt er, kauft e Brot und T eigwaren, bereit et e sich seine M ahlzeit und aß. Dann ging er wieder ans Fenst er. Leut e kam en aus den Häusern, die Luft hat t e sich abgekühlt . Er fröst elt e, schloß die Fenst erflügel und t rat vor den Spiegel über dem Kam in. Abgesehen von best im m t en Abenden, an denen M art he ihn besucht e oder er m it ihr ausging, und seiner Korrespondenz m it seinen Freundinnen in T unis ent sprach sein Dasein ganz der gelblichen P erspekt ive, die der Spiegel ihm in einem Zim m er bot , in dem der verschm ut zt e Spirit uskocher neben Brot rest en st and. «W ieder ein Sonnt ag herum », sagt e sich M ersault .
III Wenn Mersault abends auf den Straßen promenierte und stolz war, auf Marthes Gesicht Licht und Schatten in gleicher Weise spielen zu sehen, schien ihm alles wunderbar leicht, auch seine Kraft und sein Mut. Er war dankbar dafür, daß sie diese Schönheit, die sie täglich über ihn ausgoß wie einen besonders erlesenen Rausch, an seiner Seite aller Welt offen zeigte. Wäre Marthe unscheinbar gewesen, hätte es ihn ebenso unglücklich gemacht wie etwa, sie glücklich zu sehen durch das Verlangen der Männer. Er war froh, daß er an jenem Abend das Kino mit ihr betrat, kurz bevor die Vorstellung begann, als der Saal schon fast voll war. Sie ging vor ihm her, von bewundernden Blicken begleitet, mit ihrem Gesicht, das ganz aus Blumen und Lächeln bestand, mit ihrer erregenden Schönheit. Er selbst, mit seinem Filzhut in der Hand, fühlte in sich ein übermenschliches Behagen, gleichsam ein tiefes Bewußtsein seiner eigenen Eleganz. Er setzte eine ernsthafte, distanzierte Miene auf, gab sich übertrieben höflich, trat zur Seite, um die Platzanweiserin vorbeizulassen, klappte den Sitz herunter, bevor Marthe sich niederließ - und das alles weniger, um angenehm aufzufallen, als wegen jener Dankbarkeit, von der sein Herz erfüllt war und die es mit Liebe für alles Lebendige durchdrang. Wenn er der Platzanweiserin ein übertrieben hohes T rinkgeld gab, so ebenfalls deshalb, weil er nicht wußte, wie er seiner Freude Ausdruck geben sollte und weil er durch diese alltägliche Geste einer Gottheit huldigte, deren strahlendes Lächeln wie ein Öl war, das den Glanz seines Blickes speiste. Als er während der Pause in dem Foyer mit den Spiegelwänden umherging, schickten ihm die Wände das Abbild seines Glückes zurück und bevölkerten den Raum mit eleganten, flackernden Bildern, mit seiner großen dunklen Silhouette und dem Lächeln Marthes in ihrem hellfar-
bigen Kleid. Gewiß, er liebt e sein Gesicht , wenn er sich so sah, den zuckend bewegt en M und um die Zigaret t e herum und das spürbare Fiebern seiner et was t iefliegenden Augen. Aber wenn schon! Die Schönheit eines M annes m acht in der P raxis best ät igt e W ahrheit en sicht bar, die ihm innewohnen. M an liest auf seinem Gesicht , was er zu t un im st ande ist . W as aber ist das im Vergleich zu der großart igen Zwecklosigkeit eines Frauengesicht s? M ersault wußt e recht gut , daß es seine Eit elkeit erfreut e und seinen geheim en Däm onen lächelt e. Als er wieder den Zuschauerraum bet rat , dacht e er daran, daß er allein nie während der P ause hinausging, sondern lieber raucht e und sich die leicht e Schallplat t enm usik anhört e, die m an dann dem P ublikum bot . Heut e abend aber ging das Spiel für ihn weit er. Alle Gelegenheit en, es zu verlängern und zu erneuern, waren ihm recht . In dem Augenblick jedoch, als sie zu ihren P lät zen zurückkehrt en, erwidert e M art he den Gruß eines M annes, der ein paar Reihen hint er ihnen saß. Und M ersault , der auch seinerseit s grüßt e, glaubt e bei ihm ein Lächeln zu bem erken, das um seine M undwinkel spielt e. Er set zt e sich, ohne auf M art hes Hand zu acht en, die sie ihm auf die Schult er legt e, um m it ihm zu sprechen, und die er noch eine M inut e zuvor m it Freuden wahrgenom m en hät t e als einen neuen Beweis der M acht , die sie ihm zuerkannt e. «W er ist da s ? » fragt e er und wart et e schon auf das völlig nat ürlich klingende «W er?», das auch t at sächlich kam . «Du weißt genau. Dieser M ann . . . » «Ach so», sagt e M art he . .. und schwieg. «Nun?» «Du willst es unbedingt wissen?» «Nein», sagt e M ersault . Er wendet e sich leicht um . Der M ann bet racht et e M art hes Nacken, ohne daß sich in seinem Gesicht irgend et was regt e. Er sah recht gut aus m it seinen schönen, sehr rot en Lippen, seine et was vorst ehenden Augen aber blickt en ausdruckslos. M ersault spürt e, wie ihm das Blut in die Schläfen st ieg. Vor seinem verdunkelt en Blick hat t en sich die st rahlenden Farben dieser
idealen Um gebung, in der er sich seit ein paar St unden befand, plöt zlich m it schm ut zigem Ruß bedeckt . Niem and braucht e es ihm erst zu sagen. Er war sicher, daß dieser M ann m it M art he geschlafen hat t e, und was panikart ig in M ersault s Innerem anschwoll, war der Gedanke an das, was dieser gleiche M ann sich m öglicherweise sagt e. Er wußt e es recht gut , er, der auch seinerseit s gedacht hat t e: Bei der Vorst ellung, daß dieser M ann in dieser M inut e ganz best im m t e Bewegungen M art hes und ihre Art , im Augenblick der Lust den Arm über die Augen zu legen, vor sich sah, daß sicher auch er versucht hat t e, den Arm wegzuziehen, um in den Augen der Frau den st ürm ischen Aufruhr der dunklen Got t heit en zu erkennen, fühlt e M ersault , wie alles in ihm zusam m enbrach, und während das Klingelzeichen im Zuschauerraum den Fort gang der Vorst ellung ankündigt e, quollen unt er seinen geschlossenen Lidern T ränen der W ut hervor. Er vergaß M art he, die nur der Vorwand für seine Freude gewesen und nun das lebendige Gefäß seines Zornes geworden war. Lange hielt M ersault die Augen geschlossen, bis er wieder auf die Leinwand schaut e. Ein W agen überschlug sich, und während das Orchest er abrupt verst um m t e, dreht e sich eines der Räder allein noch langsam weit er und zerrt e in sein beharrliches Kreisen die ganze Schm ach und Dem üt igung m it hinein, die in M ersault s von schwarzen Gedanken erfüllt em Herzen aufgest iegen waren. Doch ein Verlangen nach Gewißheit ließ ihn seine W ürde vergessen: «M art he, ist er dein Liebhaber gewesen?» «Ja», sagt e sie. «Aber jet zt int eressiert m ich der Film .» An diesem T ag fing M ersault an, für M art he et was zu em pfinden. Er hat t e sie vor ein paar M onat en kennengelernt . Ihre Schönheit und Eleganz hat t en Eindruck auf ihn gem acht . In ihrem et was breit en, aber ebenm äßigen Gesicht schim m ert en goldfarbige Augen und Lippen, die so vollkom m en nachgezogen waren, daß sie einer Göt t in m it gem alt em Ant lit z glich. Eine nat ürliche Einfalt , die aus ihren Augen sprach, verst ärkt e noch ihre abwesende, t eilnahm lose M iene. Bislang hat t e M ersault
jedesm al, wenn er m it einer Frau zu den erst en, eine Beziehung einleit enden Gest en übergegangen war, im vollen Bewußt sein dessen, daß unglücklicherweise Liebe und Verlangen sich in gleicher Form ausdrücken, schon an den Bruch gedacht , bevor er sie noch in den Arm genom m en hat t e. M art he aber war zu einem Zeit punkt aufget aucht , zu dem sich M ersault gerade von allem und von sich selbst befreit e. Das Bedürfnis nach Freiheit und Unabhängigkeit ist nur bei einem M enschen denkbar, der noch von Hoffnung lebt . Für M ersault zählt e dam als nicht s, und das erst e M al, als M art he in seinen Arm en schwach wurde und er sah, wie sich in ihrem durch die Nähe weich wirkenden Gesicht die Lippen, bis dahin unbeweglich und gem alt en Blum en gleich, belebt en und ihm ent gegendrängt en, hat t e er nicht über diese Frau hinweg schon in die Zukunft geblickt , sondern die ganze M acht seines Verlangens heft et e sich an sie und sog sich m it ihrer Erscheinung voll. Die Lippen, die sie ihm darbot , schienen ihm eine Bot schaft aus einer W elt , die ohne Leidenschaft und von Verlangen geschwellt war und in der sein Herz Genüge gefunden hät t e. Das aber kam ihm wie ein W under vor. Sein Herz pocht e in einer Erregung, die er fast für Liebe gehalt en hät t e. Und als er das volle, fest e Fleisch unt er seinen Zähnen fühlt e, biß er sich wüt end in einer Art wilder Freiheit darin fest , nachdem er sie lange m it seinen eigenen Lippen liebkost hat t e. Am gleichen T age war sie seine Geliebt e geworden. Nach einiger Zeit hat t en sie in ihrem Um gang eine vollkom m ene Harm onie erreicht . Doch als er sie besser kannt e, hat t e er allm ählich das spont ane Gefühl jener Frem dheit verloren, die er in ihren Augen gelesen hat t e und die er, über ihren M und geneigt , noch m anchm al neu erst ehen zu lassen versucht e. Und so hat t e M art he, an M ersault s Zurückhalt ung und Kält e gewöhnt , niem als begriffen, weshalb er in einer vollbeset zt en T ram bahn eines T ages verlangt hat t e, daß sie ihm ihre Lippen bot . Verwirrt hat t e sie sie ihm zugewandt . Und er hat t e sie auf die W eise geküßt , wie er es gern t at , näm lich indem er ihre Lippen erst nur zärt lich berührt e und dann langsam in sie hineinbiß. «W as fällt dir ein?» hat t e sie gesagt . Er hat t e gelächelt , wie sie es gern an
ihm m ocht e, m it jenem kurzen Lächeln, das eine Ant wort war, und gesagt : «Ich habe Lust gehabt , m ich schlecht zu benehm en» — um dann wieder in Schweigen zu verfallen. Sie verst and auch P at rices W ort schat z nicht . Nach dem Liebesakt , in jenem Augenblick, da in dem befreit en und ent spannt en Körper das Herz in eine Art Schlum m er verfällt , erfüllt nur von der zärt lichen Zuneigung noch, die m an einem niedlichen Hund ent gegenbringt , sagt e M ersault lächelnd zu ihr: «Gut en T ag, T raum bild.» M art he war St enot ypist in. Sie liebt e M ersault nicht , war ihm aber in dem M aße zuget an, wie er ihr Rät sel aufgab und ihr schm eichelt e. Seit dem T age, an dem Em m anuel, den M ersault ihr vorgest ellt hat t e, von ihm sagt e: «Sie m üssen wissen, M ersault ist ein feiner Kerl. Es st eckt et was in ihm , aber er läßt es nicht heraus. Deshalb t äuscht m an sich», bet racht et e sie ihn voll Neugier. Und da er sie in der Liebe glücklich m acht e, verlangt e sie nicht s weit er, sondern paßt e sich, so gut es ging, diesem schweigsam en, sich wenig bem erkbar m achenden Liebhaber an, der niem als et was von ihr verlangt e, aber sie nahm , wenn sie gern zu ihm wollt e. Sie war lediglich et was befangen diesem M enschen gegenüber, dessen innere Zerrissenheit ihr verborgen blieb. An jenem Abend jedoch spürt e sie beim Verlassen des Kinos, daß M ersault eine em pfindliche St elle hat t e. Sie schwieg den ganzen Abend über und schlief bei ihm . Er rührt e sie die ganze Nacht nicht an. Doch von da an nahm sie ihren Vort eil wahr. Sie hat t e ihm schon gesagt , sie habe Liebhaber gehabt . Sie wußt e auch die nöt igen Beweise zu finden. Am folgenden T ag kam sie gegen ihre Gewohnheit nach der Arbeit zu ihm . Sie t raf ihn schlafend an und set zt e sich an das Fußende seines M essingbet t es, ohne ihn zu wecken. Er hat t e die Jacke ausgezogen, und seine aufgest reift en Ärm el gaben die weiße Unt erseit e seines m uskulösen braungebrannt en Unt erarm s frei. Er at m et e regelm äßig, m it Brust und Bauch zugleich. Zwei Falt en zwischen seinen Brauen verliehen ihm einen Ausdruck von Kraft und St arrsinn, den sie gut an ihm kannt e. Sein
Haar fiel ihm in Locken in die st ark gebräunt e St irn, auf der eine Ader hervort rat . Und wie er da erschlafft auf seinen breit en Schult ern lag, die Arm e am Körper ausgest reckt und das eine Bein halb angewinkelt , wirkt e er wie ein einsam er, eigenwilliger Got t , der im Schlaf in eine frem de W elt gerat en war. Beim Anblick seiner vollen, im Schlaf geschwellt en Lippen verspürt e sie Verlangen nach ihm . In diesem Augenblick schlug er die Augen auf, schloß sie erneut und sagt e ohne Zorn in der St im me: «Ich m ag nicht , wenn m an m ich im Schlaf beobacht et .» Sie fiel ihm um den Hals und küßt e ihn. Er lag weit er unbeweglich da. «Ach, Liebling, das ist wieder eine von deinen M arot t en.» «Nenne m ich nicht Liebling, hörst du? Ich habe es dir schon einm al gesagt .» Sie schm iegt e sich an ihn und bet racht et e ihn von der Seit e. «Ich frage m ich, wem du jet zt ähnlich siehst .» Er zog seine Hose weit er herauf und dreht e ihr den Rücken zu. Oft erkannt e M art he im Kino, bei frem den M enschen, oder im T heat er Gest en und Eigenheit en wieder, die M ersault an sich hat t e. Daraus ersah er im übrigen, welchen Einfluß er auf sie hat t e, aber heut e reizt e ihn diese Gewohnheit , die ihm sonst schm eichelt e. Sie preßt e sich an seinen Rücken und verspürt e so an Leib und Brüst en die W ärm e seines Schlafs. Draußen wurde es sehr schnell dunkel, und das Zim m er versank in Finst ernis. Aus dem Innern des Hauses drang Geheul von Kindern, die geschlagen wurden, das M iauen einer Kat ze, das Klappen einer T ür zu ihnen herauf. Die St raßenlam pen erhellt en den Balkon. Vereinzelt fuhren T ram bahnen vorbei. Und danach st ieg der dem Viert el eigene Geruch nach Aniset t e und gegrillt em Fleisch in schweren W olken zu dem Zim m er em por. M art he m erkt e, daß sie schläfrig wurde. «Du siehst aus, als ob du ärgerlich wärst », sagt e sie. «Gest ern schon... deshalb bin ich gekom m en. Hast du m ir nicht s zu sagen?» Sie schüt t elt e ihn. M ersault blieb unbeweglich liegen,
er fixiert e in dem nun schon dicht en Dunkel die glänzende Spit ze eines Schuhs unt er dem W ascht isch. «W eißt du» , sagt e M art he, «dieser M ensch da gest ern abend . . . Also, ich habe übert rieben. Er ist nicht m ein Liebhaber gewesen.» «Nein?» fragt e M ersault . «Jedenfalls nicht ganz.» M ersault sagt e nicht s. Er sah ganz genau die Gest en vor sich, das Lächeln . . . Er biß die Zähne zusam m en. Dann st and er auf, öffnet e das Fenst er und set zt e sich wieder auf das Bet t . Sie schm iegt e sich an ihn, schob die Hand zwischen zwei Knöpfe seines Hem des und st reichelt e seine Brust . «W ieviel Liebhaber hast du gehabt ?» fragt e er schließlich. «Ach, du bist langweilig.» M ersault schwieg. «Zehn et wa», sagt e sie. Aus M üdigkeit hat t e M ersault Lust nach einer Zigaret t e. «Kenne ich sie?» fragt e er und zog die P ackung heraus. Er sah nur et was W eißes an St elle von M art hes Gesicht . <W ie bei der Liebe>, dacht e er. «Ein paar davon, ja. Hier aus dem Viert el.» Sie rieb ihren Kopf an seiner Schult er und sprach m it jener Kleinm ädchenst im m e, die M ersault im m er rührt e. «Hörzu, Kleines», sagt e er . . . (Er zündet e seine Zigaret t e an.) «Du m ußt m ich recht verst ehen. Du versprichst m ir, daß du m ir ihre Nam en nennst . Und die anderen, die, die ich nicht kenne, versprich m ir, daß du sie m ir zeigst , wenn wir ihnen begegnen.» M art he warf sich zurück: «O nein!» Ein Aut o hupt e rücksicht slos unt er den Fenst ern des Zim m ers, noch einm al und dann zweim al, ganz lange. Das Klingeln der T ram bahn t önt e im t iefen Dunkel. Auf der M arm orplat t e des W ascht ischs t ickt e hart der W ecker. M ühsam bracht e M ersault noch hervor: « I c h verlange das von dir, weil ich m ich kenne. W enn ich nicht Bescheid weiß, wird es bei jedem Kerl, den ich irgendwo t reffe, dasselbe sein. Ich werde m ich fragen, ich werde m ir Dinge
vorst ellen, deshalb. Ich werde m ir zuviel einbilden. Ich weiß nicht , ob du das verst ehst .» Sie verst and es nur zu gut . Sie sagt e ihm die Nam en. Einen einzigen kannt e M ersault nicht . Der let zt e war ein junger M ann, den er kannt e. An den nun m ußt e er denken, denn er wußt e, daß er sehr hübsch war und von den Frauen vergöt t ert wurde. W as ihn an der Liebe wundert e, war — beim erst en M al wenigst ens — die schreckliche Int im it ät , m it der die Frau sich abfand, die Bereit schaft , den Leib eines Unbekannt en in ihren Leib aufzunehm en. In diesem Geschehenlassen, dieser Hingabe und diesem Rausch offenbart e sich ihm die überwält igende und erniedrigende M acht der Liebe. Und diese Int im it ät st ellt e er sich als erst es zwischen M art he und ihrem Liebhaber vor. In diesem Augenblick set zt e sie sich auf den Bet t rand und zog, den linken Fuß auf den recht en Schenkel gest üt zt , e r s t den einen Schuh aus, dann den anderen und ließ sie fallen, so daß der eine auf der Seit e lag, der andere auf seinem hohen Absat z st and. M ersault m erkt e, wie sich ihm die Kehle zuschnürt e. Im M agen verspürt e er ein bohrendes Gefühl. «Das also hast du m it René gem acht ?» fragt e er lächelnd. M art he hob den Blick. «W as du dir da in den Kopf set zt », sagt e sie. «Er hat m ich nur einm al gehabt .» «Aha!» sagt e M ersault . «Und außerdem habe ich nicht einm al die Schuhe ausgezogen.» M ersault st and auf. Er sah sie, in ihren Kleidern, auf einem ebensolchen Bet t wie diesem hier auf dem Rücken liegen, ganz und gar hingegeben. Er schrie: «Halt den M und!» und ging auf das Fenst er zu. «Oh, Liebling!» sagt e M art he, die auf dem Bet t saß, die nur noch m it St rüm pfen bekleidet en Füße auf dem Boden. M ersault beruhigt e sich beim Anblick des Licht erspiels der Lam pen auf den Schienen. Niem als hat t e er sich M art he so nahe gefühlt . Und da er zugleich begriff, daß er sich ihr ein wenig m ehr öffnet e, flam m t e der St olz in seinen Augen auf. Er ging
wieder zu ihr und faßt e m it dem gekrüm m t en Zeigefinger und dem Daum en die warm e Haut ihres Halses unt er dem Ohr. Er lächelt e. «Und dieser Zagreus, wer ist das? Er ist der einzige, den ich nicht kenne.» «Der», sagt e M art he lachend, «den sehe ich noch m anchm al.» M ersault preßt e m it den Fingern die Haut zusam m en. «Das war m ein erst er, weißt du. Da war ich noch ganz jung. Er war et was ält er. Jet zt sind ihm beide Beine am put iert . Er lebt ganz allein. Da gehe ich m anchm al zu ihm . Er ist sehr anst ändig und gebildet . Er t ut nicht s als lesen. Dam als war er St udent . Er ist sehr lust ig. Ein kom ischer Kerl. Übrigens drückt er sich aus wie du. Auch er sagt zu m ir: » M ersault überlegt e. Er ließ M art he los, die sich rückwärt s auf das Bet t warf und die Augen schloß. Gleich darauf set zt e er sich neben sie und sucht e, über ihre halbgeöffnet en Lippen gebeugt , die Zeichen ihrer anim alischen Göt t lichkeit und zugleich das Vergessen für einen Schm erz, den er als unwürdig em pfand. Aber dann löst e er sich von ihrem M und, ohne auf weit erem zu best ehen. Als er M art he zurückbegleit et e, sprach sie zu ihm von Zagreus. «Ich habe ihm von dir erzählt », sagt e sie. «Ich habe ihm gesagt , m ein Freund sei sehr schön und sehr st ark. Darauf hat er gesagt , er würde dich gern kennenlernen. W eil, sagt e er, es m ir at m en hilft , wenn ich einen schönen Körper sehe.» «Auch wieder so ein kom pliziert er Kerl», sagt e M ersault . M art he wollt e ihm Vergnügen bereit en und hielt den Augenblick für gekom m en, ihm die kleine Eifersucht sszene vorzuspielen, die sie plant e und ihm gewisserm aßen schuldig zu sein glaubt e. «W eniger als die, m it denen du befreundet bist .» «W en m einst du dam it ?» fragt e M ersault ehrlich erst aunt . «Die Schäfchen, du weißt doch?» Die Schäfchen, das waren Rose und Claire, St udent innen aus T unis, die M ersault gekannt hat t e und m it denen er den einzi-
gen Briefwechsel seines Lebens führt e. Er lächelt e und packt e M art he am Nacken. So gingen sie eine ganze W eile dahin. M art he wohnt e nahe beim Exerzierplat z. Die St raße war lang, und Licht st rahlt e aus allen Fenst ern im oberen T eil der Häuser, während die unt ere P art ie, laut er geschlossene Läden, schwarz und finst er war. «Sag, Liebling, du liebst sie doch nicht et wa, diese Schäfchen, oder doch?» «Aber nein», ant wort et e M ersault . Sie schrit t en aus, während M ersault seine Hand auf M art hes Nacken hielt , über den sich warm ihre Haare breit et en. «Du liebst m ich», sagt e M art he ohne Übergang. M ersault wurde plöt zlich m unt er und lacht e sehr laut . «Das ist eine sehr ernst e Frage.» «Ant wort e.» «In unserem Alt er liebt m an doch nicht , wie du weißt . M an gefällt einander, aber das ist auch alles. Spät er erst , wenn m an alt und im pot ent ist , kann m an einander lieben. In unserem Alt er glaubt m an nur, m an liebt . Das ist alles, sonst gibt es da nicht s.» Sie schien ein wenig t raurig, aber er küßt e sie. «Auf W iedersehen, Liebling», sagt e sie. M ersault kehrt e durch die dunklen St raßen zurück. Er ging schnell und war sich des Spiels seiner M uskeln unt er dem glat t en St off der Hose bewußt , und er dacht e an Zagreus und daran, daß m an ihm die Beine abgenom m en hat t e. Er verspürt e den W unsch, ihn kennenzulernen, und beschloß M art he zu bit t en, ihn ihm vorzust ellen. Das erst e M al, als er Zagreus sah, war er innerlich sehr erregt . Gleichwohl hat t e Zagreus sich M ühe gegeben, die P einlichkeit zu m ildern, die sich für die P hant asie bei der Begegnung zweier Liebhaber ein und derselben Frau in deren Gegenwart einst ellt . Zu diesem Zweck hat t e er versucht , M ersault zum Kom plicen zu m achen, indem er M art he ein nannt e und kräft ig dabei lacht e. M ersault hat t e sich daran gest oßen. Er sprach es M art he gegenüber, sobald sie wieder allein waren, unum wunden aus.
«Ich mag diese halben Portionen nicht. Es ist mir unangenehm. Es hindert mich am Denken. Und besonders mag ich keine halben Portionen, die auch noch angeben wollen.» «Ach du», antwortete Marthe, die nicht begriffen hatte. «Wenn man dich so hört. . . » In der Folgezeit aber fesselte jenes jungenhafte Lachen, das ihn zunächst aufgebracht hatte, seine Aufmerksamkeit und sein Interesse. Auch die schlecht verhohlene Eifersucht, die Mersault in seinem Urteil anfangs beeinflußt hatte, war verschwunden, als er Zagreus sah. Marthe, die in aller Unschuld auf die Zeit zurückkam, in der sie mit Zagreus befreundet gewesen war, erteilte er den Rat: «Verliere nicht deine Zeit. Ich kann auf einen Kerl, der keine Beine mehr hat, nicht eifersüchtig sein. Wenn ich überhaupt an euch beide denke, sehe ich ihn auf dir kriechen wie einen dicken Wurm. Du verstehst, daß mir das einfach widerwärtig ist. Gib dir also keine Mühe, mein Engel.» Und in der nächsten Zeit besuchte er Zagreus allein. Zagreus sprach schnell und viel, er lachte, wurde aber dann wieder still. Mersault fühlte sich wohl in dem großen Zimmer, in dem Zagreus sich aufhielt — zwischen seinen Büchern und seinen marokkanischen Kupfergeräten, dem Kaminfeuer und den Lichtreflexen auf dem verschlossenen Antlitz des KhmerBuddha auf dem Arbeitstisch. Was ihn bei dem Krüppel überraschte, war, daß er nachdachte, ehe er sprach. Im übrigen genügten die verhaltene Leidenschaft, das glühende Leben, das diesen lächerlichen Rumpf durchflutete, um Mersault zu fesseln und in ihm etwas entstehen zu lassen, das er bei ein wenig mehr Geneigtheit für Freundschaft hätte halten können.
IV An diesem Sonnt agnachm it t ag war Roland Zagreus, nachdem er viel geredet und allerlei Spaß gem acht hat t e, am Kam infeuer in seinem großen Rollst uhl, wo er aus seiner weißen Decke herausragt e, in Schweigen verfallen. An das Bücherregal gelehnt , bet racht et e M ersault den Him m el und die Landschaft hint er den weißseidenen Fenst ervorhängen. Er war bei einem leicht en feinen Regen hergekom m en und aus Furcht , zu früh daran zu sein, eine St unde lang in der Gegend um hergeirrt . Das W et t er war unfreundlich, und ohne den W ind zu hören, sah M ersault doch, wie die Bäum e und das Laub in dem kleinen T al sich laut los hin und her wendet en. Von der St raße her hört e m an einen M ilchwagen m it viel Geklapper von Holz und Blech vorüberfahren. Fast gleich darauf wurde der Regen heft iger und klat scht e gegen die Fenst er. Bei diesem Regen, der wie dickflüssiges Öl an den Scheiben ent langrann, dem hohlen fernen Geräusch der P ferdehufe, das m an j e t z t deut licher hört e als das W agengerum pel, nahm alles, das dum pfe, beharrliche Regenrauschen, dieser M ann, der wie ein großer Krug neben dem Feuer hockt e, und die St ille im Zim m er, die Züge von et was Vergangenem an, das M ersault s Herz m it dum pfer Schwerm ut durchdrang wie kurz zuvor das W asser seine feucht en Schuhe und die Kält e seine durch den dünnen St off zu wenig geschüt zt en Knie. Ein paar Augenblicke zuvor hat t e die verdunst ende Feucht igkeit , die von oben herabsank und weder Nebel noch Regen war, sein Gesicht genet zt wie eine leicht darübergleit ende Hand und seine t ief verschat t et en Augen freigespült . Jet zt st arrt e er in den Him m el, aus dessen T iefen unaufhörlich schwarze W olken quollen, die sich gleich wieder auflöst en und anderen, neuen wichen. Die Falt e seiner Hose war verschwunden und m it ihr die W ärm e und das Selbst vert rauen, die ein norm aler M ensch in einer W elt , die
für ihn gem acht ist , m it sich herum zut ragen pflegt . Deshalb t rat er ans Feuer und nähert e sich Zagreus und set zt e sich ihm gegenüber, ein wenig im Schat t en des hohen Kam ins und noch im m er den Him m el vor sich. Zagreus sah ihn an, wandt e dann die Augen ab und warf ein P apierknäuel, das er in der linken Hand hielt , ins Feuer. Bei dieser an sich lächerlichen Bewegung em pfand M ersault das Unbehagen, das ihn st et s beim Anblick dieses nur noch halb lebendigen Körpers befiel. Zagreus lächelt e, sagt e aber nicht s. Und plöt zlich beugt e er sein Gesicht zu ihm vor. Die Flam m en warfen ihren Schein nur auf seine linke W ange, aber et was in seiner St im m e und in seinem Blick erwärm t e sich. «Sie sehen m üde aus», sagt e er. Aus einer gewissen Scham haft igkeit heraus ant wort et e M ersault nur: «Ja, ich langweile m ich », erhob sich nach einiger Zeit , ging auf das Fenst er zu und set zt e, während er hinaussah, hinzu: « I c h habe Lust zu heirat en, m ir das Leben zu nehm en oder zu abonnieren. Irgendeine verzweifelt e Gest e, was weiß ich!» Der andere lächelt e: «Sie sind arm , M ersault . Das erklärt Ihre Unlust schon halb. Die andere Hälft e verdanken Sie Ihrem t öricht en Akzept ieren der Arm ut .» M ersault kehrt e ihm noch im m er den Rücken zu und bet racht et e die windbewegt en Bäum e. Zagreus glät t et e m it der Hand die Decke, die auf seinen Beinst üm pfen lag. «Sie wissen ja. Ein M ann schät zt sich selbst im m er nach dem Gleichgewicht ein, das er zwischen seinen körperlichen Bedürfnissen und den Anforderungen seines Geist es herzust ellen weiß. Sie selber sind gerade dabei, sich einzuschät zen, und zwar m it m iserablem Ergebnis, M ersault . Sie leben verkehrt . Sie leben wie ein Barbar.» Er wendet e P at rice das Gesicht zu: «Sie fahren gern selber ein Aut o, nicht wahr?» «Ja.» «Sie lieben die Frauen?» «W enn sie schön sind.» «Das m eint e ich nat ürlich.» Zagreus blickt e wieder ins Feuer.
«Alles das . . . » setzte er gleich darauf noch einmal an. Mersault wendete sich um und wartete, an die Fensterscheiben gelehnt, die in seinem Rücken ein wenig nachgaben, auf das Ende des Satzes. Zagreus aber blieb stumm. Eine verfrühte Fliege summte an der Scheibe. Mersault drehte sich wieder um, bedeckte sie mit seiner Hand und ließ sie wieder frei. Zagreus sah ihm zu und fuhr dann zögernd f o r t : « I c h rede nicht gern ernsthaft. Weil es dann überhaupt nur eine Sache gibt, von der man reden könnte: die Rechtfertigung, die man für sein Leben anzuführen hat. Ich selber wüßte nicht, wie ich in meinen Augen meine verstümmelten Beine noch rechtfertigen könnte.» «Ich auch nicht», sagte Mersault, ohne sich umzudrehen. Zagreus ließ plötzlich ein munteres Lachen hören. «Danke. Sie lassen mir keine Illusion.» Dann schlug er einen anderen T on an: «Aber Sie sind mit Recht so hart. Dennoch ist da etwas, was ich Ihnen sagen wollte.» Mit ernster Miene schwieg er. Mersault kam und nahm ihm gegenüber Platz. «Hören Sie z u» , begann Zagreus aufs neue, «und sehen Sie mich an. Man hilft mir bei der Verrichtung meiner Bedürfnisse. Und danach wäscht man mich und trocknet mich ab. Schlimmer noch, ich bezahle jemanden dafür. Und doch, ich werde nie etwas tun, um ein Leben abzukürzen, an das ich so sehr glaube. Ich würde noch Schlimmeres auf mich nehmen, blind zu sein, stumm, alles, was Sie wollen, wofern ich nur in meinem Leib diese düstere glühende Flamme fühle, die mein Ich ist, mein lebendiges Ich. Ich würde einzig daran denken, dem Leben da f ür zu danken, daß es mir erlaubt hat, noch weiter in dieser Weise zu brennen.» Etwas außer Atem lehnte Zagreus sich jä h zurück. Man sah jetzt weniger von ihm, nur den bleichen Widerschein seiner Decken auf seinem Kinn. Dann sagte er: «Sie aber, Mersault, mit Ihrem Körper— Sie haben einzig die Pflicht, zu leben und glücklich zu sein.» «Daß ich nicht lache», sagte Mersault. «Bei acht Stunden täglich im Büro. Ja! Wäre ich frei!» Er hatte sich beim Sprechen belebt, und wie schon öfter fühlte
er sich, heut e sogar st ärker als sonst , von Hoffnung erfüllt , er m eint e, Hilfe zu verspüren. Das Vert rauen durchdrang ihn, endlich einm al Vert rauen schenken zu können. Er beruhigt e sich et was, zerdrückt e langsam eine Zigaret t e und fuhr gelassener fort : «Vor ein paar Jahren noch hat t e ich alles vor m ir, m an sprach von m einem Leben, m einer Zukunft zu m ir. Ich sagt e ja. Ich t at sogar, was dafür get an werden m ußt e. Doch schon dam als war das alles m ir frem d. Das Unpersönliche zu suchen - das beschäft igt e m ich. Nicht glücklich zu sein. Ich drücke m ich schlecht aus, Zagreus, aber Sie verst ehen schon.» «Ja», sagte der andere. «Noch jet zt , wenn ich Zeit dazu hät t e . . . Ich braucht e m ich nur t reiben zu lassen. Alles, was m ir darüber hinaus widerführe, nun, es wäre wie Regen auf einen Kieselst ein. Der kühlt ihn ab, und das ist schon sehr schön. Ein anderm al durchglüht ihn die Sonne. Es ist mir immer so vorgekommen, als sei das gerade das Glück.» Zagreus hat t e die Hände übereinandergelegt . W ährend des nun folgenden Schweigens schien der Regen doppelt so heft ig zu prasseln, und die W olken ballt en sich zu einem einzigen dicht en Nebel. Das Zim m er verdunkelt e sich et was m ehr, als ob der Himmel seine ganze Ladung an Finsternis und Schweigen in den Raum ergösse. M it st eigendem Int eresse sagt e der Krüppel: «Ein Körper hat immer das Ideal vor sich, das er verdient. Um dieses Kieselst einideal aufrecht zuerhalt en, m uß m an, wenn ich so sagen darf, über den Leib eines Halbgot t s verfügen.» «Das st im m t », ant wort et e M ersault et was überrascht . «Aber wir wollen doch nicht übert reiben. Ich habe viel Sport get rieben, das ist alles. Und ich bin im st ande, im Genuß ziem lich weit zu gelangen.» Zagreus dacht e nach. «Ja», sagte er. «Um so besser für Sie. Die Grenzen seines Körpers zu kennen, ist die wahre P sychologie. Im übrigen hat das weit er keine Bedeut ung. W ir haben keine Zeit , wir selber zu
sein. Wir haben einzig Zeit, glücklich zu sein. Aber würde es Ihnen etwas ausmachen, mir Ihre Idee vom Unpersönlichen zu erklären?» «Nein», sagte Mersault, schwieg aber weiterhin. Zagreus trank einen Schluck von seinem T ee und stellte die volle T asse wieder zurück. Er trank sehr wenig, um nur einmal am T ag Wasser lassen zu müssen. Durch Willenskraft gelang es ihm fast immer, das Maß an Demütigungen, das jeder T ag ihm brachte, möglichst niedrig zu halten. «Es gibt keine kleinen Ersparnisse. Dies ist ein Rekord wie jeder andere», hatte er einmal zu Mersault gesagt. Ein paar Wassertropfen fielen jetzt zum ersten Mal in den Kamin. Das Feuer knisterte. Der Regen schlug mit verstärkter Kraft an die Fensterscheiben. Irgendwo klappte eine T ür. Gegenüber auf der Straße huschten Autos vorbei wie glatte, glänzende Ratten. Eines von ihnen hupte lange, und der hohle, klagend das T al durchhallende T on erweiterte noch die feuchten Räume der Welt, bis selbst die Erinnerung daran für Mersault zu einer Komponente des Schweigens und der T rostlosigkeit dieses Himmels wurde. «Ich bitte Sie um Entschuldigung, Zagreus, aber ich habe von gewissen Dingen lange nicht mehr gesprochen. Und dann weiß ich nicht mehr, oder doch nicht so recht. Wenn ich mein Leben und seine geheime Farbe betrachte, verspüre ich in mir etwas wie ein Aufquellen von T ränen. Wie der Himmel dort draußen. Er ist zugleich Regen und Sonnenschein, Mittag und Mitternacht. Ach, Zagreus! Ich denke an die Lippen, die ich geküßt habe, an das arme Kind, das ich gewesen bin, an den Wahn von Leben und Ehrgeiz, der mich in manchen Augenblicken mitreißt. Ich bin das alles zugleich. Ich bin sicher, daß es Momente gibt, in denen Sie mich nicht wiedererkennen würden. Extrem im Unglück, maßlos im Glück, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll.» «Sie treten zugleich in verschiedenen Rollen a uf ? » «Ja, aber nicht als Amateur», wandte Mersault lebhaft ein. «Jedesmal, wenn ich an diesen Ablauf von Schmerz und Freude in mir denke, weiß ich recht gut und mit aller Leidenschaft, daß
die Rolle, die ich gerade spiele, die ernsteste, die aufregendste von allen ist.» Zagreus lächelte. «Sie haben also etwas zu tun?» Heftig stieß Mersault hervor: «Ich muß mir mein Leben verdienen. Meine Arbeit, diese acht Stunden, die andere ertragen, hindern mich daran.» Er schwieg und zündete die Zigarette an, die er so lange schon in der Hand gehalten hatte. «Und dennoch», fuhr er fort, bevor er sein Streichholz löschte, «wenn ich genügend Kraft und Geduld hätte . . . » E r blies das Streichholz aus und zerdrückte das verkohlte Ende auf dem Rücken seiner linken Hand. « . . . Ich weiß, welchen Grad von Leben ich erreichen würde. Ich würde kein Experiment aus meinem Dasein machen. Ich selber würde das Experiment meines Lebens sein. . . Ja, ich weiß, welche Leidenschaft mich mit all ihrer Kraft erfüllen würde. Vorher war ich zu jung. Ich stellte mich selbst in den Mittelpunkt. Heute», sagte er, «habe ich begriffen, daß Handeln und Lieben und Leiden tatsächlich Leben ist, aber Leben nur, soweit man sein Schicksal in sich einläßt und es hinnimmt als den einzigen Widerschein eines Regenbogens aus Freuden und Leidenschaften, der für alle der gleiche ist.» « Ja » , sagte Zagreus, «aber wenn Sie arbeiten, können Sie so nicht leben . . . » «Nein, weil ich mich in einem Zustand der Revolte befinde, und das ist schlecht.» Zagreus schwieg. Der Regen hatte aufgehört, aber am Himmel war Nacht an die Stelle der Wolken getreten und hatte das Zimmer fast völlig in Dunkel gehüllt. Allein das Kaminfeuer erhellte die schimmernden Gesichter des Krüppels und Mersaults. Zagreus, der lange geschwiegen hatte, sah Patrice an und sagte nur: «Viele Schmerzen warten auf die, die Sie lieben . . . » und hielt verwundert inne, als Mersault jä h aufsprang, wobei sein Kopf ins Dunkel geriet, und heftig hervorstieß: «Die Liebe, die man an mich wendet, verpflichtet mich zu nichts.»
«Das st im m t », sagt e Zagreus. «Ich st ellt e nur et was fest . Eines T ages sind Sie plöt zlich allein, darauf kom m t alles heraus. Aber set zen Sie sich und hören Sie m ir zu. W as Sie m ir gesagt haben, hat m ich sehr angerührt . Eine Sache besonders, weil sie alles best ät igt , was m ich m ein Leben als M ann gelehrt hat . Ich m ag Sie sehr gern, M ersault . W egen Ihres Körpers übrigens. Durch ihn haben Sie das alles gelernt . Heut e, scheint m ir, kann ich ganz offen zu Ihnen sprechen.» M ersault set zt e sich langsam wieder hin, und sein Gesicht wurde erneut von dem sich im m er m ehr röt enden Licht schein des niederbrennenden Feuers erfaßt . M it einem m al hat t e m an das Gefühl, daß in dem Fenst erviereck hint er den Seidenvorhängen die Nacht sich öffnet e. Irgend et was ent spannt e sich hint er den Scheiben. Ein m ilchiger Schim m er drang in den Raum , und M ersault erkannt e auf den ironischen st um m en Lippen des Bodhisat t wa und auf den ziseliert en Kupfergefäßen das vert raut e flücht ige Ant lit z der St ernen- und M ondnächt e, die er so sehr liebt e. Es war, als habe die Nacht die W olken, die auf ihr lagert en, abgest reift und st rahle jet zt in ihrem ruhigen Glanz. Die Aut os auf der St raße glit t en weniger schnell vorbei. Unt en im T al m acht en nach einem kurzen Aufschwirren die Vögel sich bereit für den Schlaf. M an hört e Schrit t e vor dem Haus, und in der Dunkelheit , die wie M ilch über die W elt hinflut et e, klangen alle Geräusche weit er und heller. Aus dem sich röt enden Feuer, dem zuckenden Erwachen des Raum es und dem geheim en Leben der vert raut en Gegenst ände, die ihn um gaben, spann sich eine leicht e P oesie, die in M ersault die Bereit schaft schuf, anderen Sinnes, m it Vert rauen und Liebe aufzunehm en, was Zagreus ihm sagen würde. Er lehnt e sich et was auf seinem Sessel zurück, und m it dem Blick auf den Him m el hört e er Zagreus' sonderbare Geschicht e an. « I c h bin sicher», begann dieser, «daß m an ohne Geld nicht glücklich sein kann. Dam it ist alles gesagt . Ich kann es weder leiden, daß m an die Dinge leicht , noch daß m an sie rom ant isch nim m t . Ich will Klarheit haben. Nun, ich habe fest gest ellt , daß gewisse Ausnahm ewesen eine Art von geist igem Snobism us
pflegen und sich einbilden, Geld sei nicht unerläßlich not wendig, um glücklich zu sein. Das ist dum m , das ist falsch und in gewissem M aß sogar feige. Sehen Sie, M ersault , für einen M enschen von gut er Herkunft ist Glücklichsein niem als kom pliziert . Es genügt , wenn er das Schicksal aller übrigen auf sich nim m t , nicht m it dem W illen zum Verzicht , wie so viele falsche große M änner, sondern m it dem W illen zum Glück. Nur braucht es, um glücklich zu sein, Zeit . Sehr viel Zeit . Auch Glücklichsein erfordert viel Geduld. Und in fast allen Fällen bringen wir unser Leben dam it hin, Geld zu verdienen, während m an Geld haben m üßt e, um Zeit für sich zu gewinnen. Das ist das einzige P roblem , das m ich je int eressiert hat . Es ist eindeut ig. Es ist klar.» Zagreus hielt inne und schloß die Augen. M ersault bet racht et e beharrlich den Him m el. Einen Augenblick lang t rat en die Geräusche von der St raße und den Feldern draußen deut lich hervor. Dann fuhr Zagreus ohne Eile fort : «Oh! Ich weiß nat ürlich, daß die m eist en Reichen keinen Sinn haben für das Glück. Doch darum geht es nicht . Geld haben bedeut et über Zeit verfügen. Ich gehe aber nicht davon aus. M an kann sich die Zeit kaufen. M an kann alles kaufen. Reich sein oder werden, bedeut et Zeit haben, um glücklich zu sein, wenn m an würdig ist , es zu sein.» Er sah P at rice an: «M it fünfundzwanzig Jahren, M ersault , hat t e ich schon begriffen, daß jede Kreat ur, die Sinn für das Glück, den W illen zum Glück und das Verlangen danach hat , auch das Recht besit zt , reich zu sein. Das Verlangen nach Glück kam m ir wie das Edelst e im m enschlichen Herzen vor. In m einen Augen recht fert igt e es alles. Ein reines Herz genügt e da f ür . » Zagreus, der M ersault im m er noch ansah, sprach auf einm al sehr langsam , m it einer kalt en, hart en St im m e, als wolle er M ersault aus seinem scheinbaren Zust and der Geist esabwesenheit reißen. «M it fünfundzwanzig Jahren habe ich angefangen, m ir m ein Verm ögen zu schaffen. Ich bin nicht vor Bet rug zurückgeschreckt . Ich wäre vor nicht s zurückgeschreckt . Innerhalb von
ein paar Jahren hat t e ich m eine gesam t e flüssige Habe beisam m en. St ellen Sie sich vor, M ersault , beinahe zwei M illionen. Die W elt t at sich m ir auf. Und m it der W elt das Leben, von dem ich in der Einsam keit und in glühenden P hant asien t räum t e . . . » Nach einer P ause fuhr Zagreus m it gedäm pft erer St im m e fort : «Das Leben, das ich gehabt hät t e, M ersault , wenn m ir nicht fast gleich darauf der Unfall m eine Beine genom m en hät t e. Ich habe nicht Schluß zu m achen gewußt . . . Und da bin ich nun. Sie verst ehen gut , nicht wahr, daß ich ein derart eingeschränkt es Leben nicht habe fort führen wollen. Seit zwanzig Jahren habe ich m ein Geld hier bei m ir. Ich habe bescheiden gelebt . Ich habe die Sum m e kaum angegriffen.» Er st rich sich m it seinen hart en Händen über die Lider und fuhr m it leiserer St im m e fort : «M an darf das Leben nie m it den Küssen eines Krüppels beschm ut zen.» Im gleichen Augenblick hat t e Zagreus die kleine T ruhe geöffnet , die dicht neben dem Kam in st and, und auf eine schwere Kasset t e aus dunklem St ahl gedeut et , in der der Schlüssel st eckt e. Auf der Kasset t e lag ein weißer Briefum schlag und darauf ein großer schwarzer Revolver. Auf M ersault s unwillkürlich neugierigen Blick ant wort et e Zagreus nur m it einem Lächeln. Die Sache war sehr einfach. An T agen, an denen er allzu st ark die T ragödie em pfand, durch die ihm sein Leben geraubt worden war, legt e er diesen Brief, den er nicht dat iert hat t e und der einen T eil seines Verlangens zu st erben darst ellt e, unm it t elbar vor sich hin. Dann legt e er die W affe auf den T isch, schob sie dicht er heran und preßt e seine St irn dagegen, bewegt e seine Schläfen daran und kühlt e an dem kalt en Eisen das Fieber seiner W angen. Lange verharrt e er so, ließ die Finger über den Abzug gleit en, bet ast et e den Verschluß, bis alles um ihn her in Ruhe versank und er sich, schon schläfrig geworden, m it seinem ganzen Sein an das Gefühl des kalt en, salzig schm eckenden Eisens verlor, aus dem jederzeit der T od hervorgehen konnt e. W enn er in dieser W eise spürt e, daß es genügen würde, den Brief zu dat ieren und zu schießen, und sich der absurden Leicht igkeit des Selbst m ordes bewußt wurde, war seine P hant asie genügend
angeregt , um ihm das ganze Grauen vor Augen zu st ellen, das die Negat ion des Lebens für ihn bedeut et e, so daß er all sein Verlangen, noch weit er in W ürde und Schweigen die Lebensflam m e zu bewahren, in seinen Halbschlaf m it hinübernahm . W enn er dann m it einem von schon bit t erem Speichel angefüllt en M und erwacht e, leckt e er an dem Lauf der W affe, führt e seine Zunge in die M ündung ein und st öhnt e schließlich in einem unm öglichen Glücksgefühl. «Gewiß, ich habe m ein Leben verfehlt . Aber dam als hat t e ich recht : Alles für das Glück, alles gegen die W elt , die uns m it ihrer Dum m heit und ihrer Gewalt t ät igkeit um gibt . Sehen Sie, M ers a ul t » , set zt e Zagreus schließlich lachend hinzu, «die ganze Jäm m erlichkeit und Grausam keit unserer Zivilisat ion drückt sich in der blödsinnigen Behaupt ung aus, glückliche Völker hät t en keine Geschicht e.» Es war inzwischen sehr spät geworden. M ersault hat t e dafür kein klares Gefühl m ehr. Ihm schwirrt e der Kopf von fiebriger Erregung. In seinem M und spürt e er die Hit ze und Schärfe der Zigaret t en, die er geraucht hat t e. Das Licht um ihn her wirkt e m it dabei. Zum erst en M al seit Beginn der Erzählung blickt e er Jet zt zu Zagreus hinüber. «Ich glaube, ich verst ehe», sagt e er. Erm üdet von der langen Anst rengung at m et e der Krüppel j e t z t schwer. Nach einer P ause bracht e er indessen noch m it M ühe hervor: «Ich würde m einer Sache gern sicher sein. Lassen Sie m ich nicht sagen, Geld bedeut e Glück. Ich m eine nur, daß für eine gewisse Klasse von M enschen das Glück m öglich ist (wofern sie über Zeit verfügen) und daß m an dadurch, daß m an Geld hat , sich vom Geld befreit .» Er war auf seinem St uhl und unt er seinen Decken zusam m engesunken. Das Dunkel hat t e sich wieder verdicht et , und M ersault sah jet zt von Roland fast nicht s m ehr. Ein langes Schweigen folgt e, und P at rice, der den Kont akt wieder aufnehm en, sich in der Dunkelheit der Gegenwart des anderen versichern wollt e, sagt e im Aufst ehen gleichsam t ast end: «Ein schönes W agnis auf alle Fälle.»
«Ja», sagte der andere mit dumpfer Stimme. «Und es ist besser, auf dieses Leben zu setzen als auf das andere. Für mich sieht das freilich anders aus.» <Ein Haufen Elend>, dachte Mersault. <Eine Null in der Welt.> «Seit zwanzig Jahren habe ich ein gewisses Glück nicht mehr erleben können. Dieses Leben, das mich verzehrt, habe ich niemals vollkommen kennengelernt, und was mich am T ode erschreckt, ist die Gewißheit, die er mir geben wird, daß mein Leben ohne mich abgelaufen ist. Am Rande, verstehen Sie?» Ohne Übergang klang ein sehr junges Lachen aus dem Dunkel hervor: «Das bedeutet, Mersault, daß ich im Grunde bei meinem Zustand immer noch Hoffnung habe.» Mersault trat ein paar Schritte näher an den T isch. «Denken Sie an alles das», sagte Zagreus. «Denken Sie daran. » Mersault fragte nur: «Kann ich Licht machen?» «Wenn Sie wollen.» Rolands Nasenflügel und seine runden Augen zeichneten sich in der strahlenden Helligkeit nur noch fahler ab. Er atmete mit Mühe. Als Mersault ihm die Hand hinhielt, beantwortete er diese Geste mit Kopfschütteln und einem zu lauten Lachen. «Nehmen Sie mich nicht zu ernst. Mich reizt es immer, müssen Sie wissen, wenn die Leute angesichts meiner amputierten Beine eine tragische Miene aufsetzen.» <Er macht sich über mich lustig>, dachte der andere. «Nehmen Sie nichts tragisch außer dem Glück. Denken Sie gut darüber nach, Mersault, Sie haben ein reines Herz. Denken Sie daran.» Dann sah er ihm in die Augen und setzte nach kurzer Zeit hinzu: «Und Sie haben auch zwei Beine, was nichts schaden kann.» Darauf lächelte er und setzte eine Schelle in Bewegung. «Verschwinden Sie, mein Junge, ich muß jetzt Pipi machen.»
V Als er, m it allen Gedanken noch bei Zagreus, an jenem Sonnt agabend wieder nach Hause kam , hört e M ersault , bevor er sein Zim m er bet rat , st öhnende Laut e, die aus der W ohnung Cardonas, des Faßbinders, kam en. Er klopft e. Niem and ant wort et e ihm . Die Klagelaut e hielt en an. Ohne zu zögern t rat er ein. Der Faßbinder lag zusam m engekrüm m t auf seinem Bet t und schluchzt e hem m ungslos wie ein Kind. Zu seinen Füßen lag die Fot ografie einer alt en Frau. «Sie ist t ot », st ieß er, zu M ersault gewendet , m it großer Anst rengung hervor. Das st im m t e, aber es war schon lange her. Er war t aub, fast st um m , bösart ig und brut al. Bis jet zt hat t e er m it seiner Schwest er gelebt . Aber seiner Bosheit und seines Despot ism us überdrüssig hat t e sie sich zu ihren Kindern geflücht et . Und er war allein geblieben, so hilflos, wie nur ein M ann es sein kann, der zum erst en M al seinen Haushalt und seine Küche allein besorgen m uß. Seine Schwest er hat t e M ersault von ihren St reit ereien erzählt , als sie ihn eines T ages auf der St raße t raf. Er war dreißig Jahre alt , klein von Gest alt und eher schön zu nennen. Seit seiner Kindheit hat t e er bei seiner M ut t er gelebt . Sie war das einzige W esen, das ihm —eine m ehr abergläubische als begründet e — Furcht eingeflößt hat t e. Er hat t e sie m it seiner dürft igen Seele geliebt , das heißt auf eine zugleich raube und heft ige Art , und der best e Beweis für seine Anhänglichkeit war dabei, wie er die alt e Frau ärgert e, indem er m it großem Aufwand die schlim m st en Grobheit en über die P farrer und die Kirche losließ. W enn er so lange bei seiner M ut t er geblieben war, so auch deshalb, weil er niem als einer Frau das Gefühl ernst haft er Zuneigung eingeflößt hat t e. Gelegent liche Abent euer oder der Besuch eines Bordells gaben ihm aber im m erhin das Recht , sich als M ann zu fühlen.
Die Mutter starb. Von da an lebte er mit seiner Schwester zusammen. Mersault hatte ihnen das Zimmer vermietet, in dem sie wohnten. Beide nunmehr allein, quälten sie sich mühsam durch ein langes schmutziges, düsteres Dasein. Nur mit Schwierigkeit konnten sie miteinander sprechen. So verbrachten sie ganze T age, ohne auch nur ein Wort zu wechseln. Nun aber war sie fortgegangen. Er war zu stolz, um sich zu beklagen und sie zu bitten, sie solle doch wiederkommen: er lebte allein. Mittags aß er im Restaurant, abends lebte er zu Hause von kaltem Aufschnitt. Er wusch seine Wäsche und seine blauen Arbeitsanzüge selbst. Sein Zimmer aber ließ er in furchtbarem Schmutz verkommen. Anfangs hatte er manchmal am Sonntag zu einem Lappen gegriffen und in der Wohnung etwas Ordnung zu machen versucht. Aber Anzeichen männlicher Naivität, ein Kochtopf auf dem einst mit Blumen und anderen Dingen geschmückten Kamin, offenbarten die Vernachlässigung, die allem zuteil wurde. Was er Ordnung machen nannte, bestand darin, die Unordnung zu vertuschen, alles was herumlag, hinter Kissen zu verstecken oder die verschiedensten Dinge bunt durcheinander auf dem Büffet aufzustellen. Im übrigen war ihm auch das allmählich zuviel geworden, er machte nicht einmal mehr sein Bett, sondern schlief mit dem Hund auf den schmutzigen, übelriechenden Decken. Seine Schwester hatte zu Mersault gesagt: «In den Cafés spielt er sich auf. Aber der Inhaber hat mir gesagt, er habe ihn beim Wäschewaschen T ränen vergießen sehen.» Und tatsächlich erfaßte diesen Mann, so verstockt er war, zu gewissen Stunden eine Art von Entsetzen, das ihn die T iefe seiner Verlassenheit ermessen ließ. Gewiß, aus Mitleid habe sie mit ihm gelebt, sagte sie zu Mersault. Aber er hinderte sie daran, sich mit dem Mann zu treffen, den sie liebte. In ihrem Alter allerdings hatte das nicht mehr soviel Bedeutung. Es war ein verheirateter Mann. Er brachte seiner Freundin Blumen, die er an den Hecken am Stadtrand gepflückt hatte, oder Orangen und Liköre, die er auf dem Jahrmarkt gewann. Freilich, schön war er nicht. Aber <mit Schönheit kann man sich keinen Salat anmachen>, sagte sie, und er war ein braver Mensch. Sie hing an
ihm und er an ihr. Ist das et was anderes als Liebe? Sie wusch ihm seine W äsche und gab sich M ühe, ihn sauber zu halt en. Er hat t e die Gewohnheit , dreieckig gefalt et e T aschent ücher um den Hals zu t ragen: sie sorgt e dafür, daß sie sehr weiß waren, und das war eine seiner Freuden. Der andere, ihr Bruder, wollt e nicht , daß sie ihren Freund bei sich sah. Sie m ußt en sich heim lich t reffen. Einm al hat t e sie ihn im Hause gehabt . Als der Bruder sie m it ihm erwischt e, hat t e es furcht baren St reit gegeben. Das zum Dreieck gefalt et e T aschent uch war nach ihrem Aufbrach in einer schm ut zigen Ecke liegengeblieben, und sie hat t e sich zu ihrem Sohn geflücht et . M ersault dacht e an dieses T aschent uch angesicht s des verkom m enen Zim m ers, das er vor sich sah. Seinerzeit hat t e m an dennoch den Faßbinder wegen seines Alleinseins bedauert . Er hat t e zu M ersault et was von einer event uellen Heirat gesagt . Es handelt e sich um eine ält ere Frau. Und zweifellos hat t e sie sich durch die Hoffnung auf junge, kraft volle Liebesbezeigungen verlockt gefühlt . . . Sie hat t e sie vor der Heirat auch erhalt en. Aber nach einiger Zeit gab ihr Liebhaber den P lan auf m it dem Bem erken, er finde sie zu alt . Und so war er denn in diesem kleinen Haus im Viert el wieder allein. Allm ählich griff der Schm ut z bei ihm um sich, belagert e ihn, brandet e an sein Bet t und überflut et e es schließlich auf eine Art , daß ihm nicht m ehr beizukom m en war. Das Haus war zu häßlich. Für einen arm en M ann jedoch, dem es daheim nicht gefällt , gibt es ein ansprechenderes, reicheres, st rahlender beleucht et es und im m er gast liches Haus: das Café. In den Cafés hier im Viert el ging es besonders lebhaft zu. Es herrscht e dort jene Herdenwärm e, die die let zt e Zuflucht vor den Schrecken der Einsam keit und für die unbest im m t en Bedürfnisse ist , die daraus erwachsen. Der St um m e erwählt e sie als st ändiges Dom izil. M ersault erblickt e ihn dort allabendlich. M it ihrer Hilfe zog er den Augenblick der Heim kehr so lange wie m öglich hinaus. In ihnen fand er seinen P lat z unt er den M enschen. An diesem Abend hat t en offenbar die Cafés nicht genügt . Als er nach Hause kam , m ußt e er wohl die Fot ografie hervorgeholt
und mit ihr das Echo der toten Vergangenheit noch einmal heraufbeschworen haben. Er fand die wieder, die er geliebt und geärgert hatte. In dem scheußlichen Zimmer, allein mit seinem unnützen Leben, hatte er seine letzte Kraft zusammengenommen und sich die Vergangenheit, die sein Glück gewesen war, noch einmal bewußt gemacht. Man mußte es wenigstens glauben, und bei dem Zusammenprall dieser Vergangenheit und seiner elenden Gegenwart war ein Funken des Göttlichen aufgesprüht, denn er hatte ja zu weinen angefangen. Wie jedesmal, wenn er sich einer brutalen Bekundung des Lebens gegenüber fand, fühlte Mersault sich machtlos angesichts dieses kreatürlichen Leidens, das er gleichwohl respektierte. Es setzte sich auf die schmutzigen, zerknautschten Dekken und legte Cardona die Hand auf die Schulter. Vor ihm, auf dem Wachstuch, mit dem der T isch bedeckt war, befanden sich in wirrem Durcheinander ein Spirituskocher, eine Flasche Wein, Brotkrumen, ein Stück Käse und ein Werkzeugkasten. Von der Decke hingen Spinnweben herab. Mersault, der seit dem T od seiner Mutter nie wieder in dieses Zimmer gekommen war, ermaß an dem Schmutz und der schmierigen Armut, die hier herrschten, welchen Weg dieser Mann durchlaufen hatte. Das Fenster, das auf den Hof ging, war geschlossen, das andere kaum halboffen. Die Hängelampe, an deren Schirm ein Kartenspiel in Miniaturformat hing, warf ihren ruhigen runden Lichtkreis auf den T isch, auf Mersaults und Cardonas Füße und einen Stuhl, der, etwas von der Wand abgerückt, ihnen gegenüber stand. Cardona hatte indessen die Fotografie in die Hände genommen, schaute sie an, küßte sie noch einmal und sagte mit seiner brüchigen Stimme: «Arme Mama.» Aber im Grunde bemitleidete er damit sich selbst. Sie war auf dem häßlichen Friedhof begraben, den Mersault gut kannte, am anderen Ende der Stadt. Er wollte gehen. Jede Silbe betonend, um sich verständlich zu machen, sagte er: «So dür-fen Sie nicht blei-ben.» «Ich habe keine Arbeit mehr», brachte der andere mühsam
hervor und set zt e noch, während er ihm die Fot ografie hinhielt , m it st ockender St im m e hinzu: «Ich habe sie geliebt .» M ersault überset zt e für sich: <Sie liebt e m ich>, <Sie ist t ot >, und er verst and richt ig: — «Zu ihrem Geburt st ag hat t e ich ihr dieses Fäßchen gem acht .» Auf dem Kam in st and ein m it M essingbändern und einem blinkenden Hahn versehenes Fäßchen aus Holz. M ersault ließ die Schult er Cardonas los, der auf seine schm ut zigen Kissen zurücksank. Unt er dem Bet t drang ein t iefer Seufzer hervor und ein Geruch, der einem den At em verschlug. Der Hund kam langsam , m it durchgedrückt em Kreuz, hervorgekrochen. Er legt e seinen Kopf m it den langen Ohren und den goldschim m ernden Augen auf M ersault s Knie. M ersault bet racht et e das Fäßchen. In dem verschm ut zt en Zim m er, in dem dieser M ann m it M ühe at m et e, und m it der W ärm e des Hundes unt er seinen Fingern, schloß er die Augen über der Verzweiflung, die zum erst en M al seit langem in ihm aufbrandet e wie ein M eer. Angesicht s von soviel Elend und Einsam keit sagt e er sich heut e: Und in dem t iefen Jam m er, der ihn erfüllt e, spürt e M ersault deut lich, daß sein Aufbegehren das einzig W ahre in ihm und der Rest nur Unverm ögen und schwächliches Nachgeben war. Die St raße, die gest ern unt er seinen Fenst ern lebt e, quoll aberm als über von Lärm . Aus den Gärt en unt erhalb der T errasse st ieg Grasgeruch auf. M ersault bot Cardona eine Zigaret t e an, und beide raucht en wort los. Die let zt en T ram bahnen kam en vorbei und m it ihnen die noch lebendige Erinnerung an die M enschen und an die Licht er. Cardona schlief ein und schnarcht e bald m it seiner noch von T ränen gefüllt en Nase. Der Hund, der zusam m engerollt zu M ersault s Füßen lag, rührt e sich m anchm al und seufzt e im T raum . Bei jeder Bewegung st ieg sein Geruch zu M ersault auf. Er selber lehnt e m it dem Rücken an der W and und versucht e, in seinem Herzen die Revolt e gegen das Leben zu unt erdrücken. Die Lam pe qualm t e, blakt e und erlosch schließlich m it schauderhaft em P et roleum gest ank. M ersault döst e vor sich hin und kam wieder zu sich, den Blick st arr auf die W einflasche gericht et . M it großer Anst rengung erhob er sich, ging an das rückwärt ige Fenst er und blieb dort regungslos
stehen. Aus dem Herzen der Nacht stiegen Rufe und Schweigen zu ihm empor. An den Grenzen der Welt, die hier im Schlummer lag, rief ein Schiff mit langgezogenem T on die Menschen zu Aufbruch und Neubeginn. Am nächsten T age tötete Mersault Zagreus, kehrte nach Hause zurück und schlief den ganzen Nachmittag. Er erwachte mit Fieber. Und am Abend, immer noch im Bett liegend, ließ er den Arzt des Viertels kommen, der eine Grippe diagnostizierte. Ein Angestellter von seinem Büro, der sich nach ihm erkundigen sollte, nahm sein Gesuch um Urlaub mit. Ein paar T age darauf war alles in Ordnung: ein Zeitungsartikel, eine Untersuchung. Alles rechtfertigte Zagreus' T at. Marthe besuchte Mersault und sagte seufzend: «An manchen T agen möchte man an seiner Stelle sein. Aber manchmal braucht man mehr Mut, um zu leben, als um sich umzubringen.» Eine Woche darauf schiffte sich Mersault nach Marseille ein. Alle waren der Meinung, er habe vor, sich in Frankreich zu erholen. Aus Lyon erhielt Marthe einen Brief, in dem Mersault in aller Form mit ihr brach und der sie nur in ihrer Eigenliebe traf. Zugleich teilte er ihr mit, daß ihm in Mitteleuropa eine ungewöhnlich günstige Position angeboten worden sei. Marthe schilderte ihm postlagernd ihren Schmerz. Dieser Brief erreichte Mersault nie, da dieser am T age nach seiner Ankunft in Lyon einen heftigen Fieberanfall bekam und eiligst einen Zug nach Prag bestieg. Dabei hatte Marthe ihm mitgeteilt, daß Zagreus, nach ein paar T agen im Leichenschauhaus, begraben worden sei und daß man viele Kissen habe verwenden müssen, um dem Stumpf seines Körpers im Sarg genügend Halt zu geben.
Zweiter Teil Der bewußte Tod
I «Ich m öcht e ein Zim m er», sagt e der M ann auf deut sch. Der P ort ier, vor seinem Schlüsselbret t , war durch einen breit en T isch von der Halle get rennt . Er sah den Frem den, der, einen grauen Regenm ant el über die Schult ern gehängt , soeben einget ret en war und m it abgewandt em Kopf zu ihm sprach, prüfend an. «Gewiß, m ein Herr. Für eine Nacht ?» «Nein. Ich weiß noch nicht .» «W ir haben Zim m er zu acht zehn, zu fünfundzwanzig und zu dreißig Kronen.» M ersault blickt e auf das P rager Gäßchen, das m an vor der Glast ür des Hot els liegen sah. Er hat t e die Hände in den T aschen, sein Kopf m it dem wirren Haar war unbedeckt . In einer Ent fernung von wenigen Schrit t en hört e er die T ram bahnen quiet schen, die den W enzelsplat z hinunt erfuhren. «W elche Art von Zim m er wünschen Sie, m ein Herr?» «Ist m ir egal», ant wort et e M ersault , der im m er noch auf die Glast ür st arrt e. Der P ort ier nahm einen Schlüssel vom Bret t und reicht e ihn M ersault . «Zim m er Num m er zwölf», sagt e er. M ersault schien aufzuwachen. «W ieviel kost et das Zim m er?» «Dreißig Kronen.» «Das ist zu t euer. Ich m öcht e ein Zim m er zu acht zehn Kronen. » W ort los griff der M ann nach einem anderen Schlüssel und zeigt e M ersault den daranhängenden M essingst ern: «Zim m er vierunddreißig», sagt e er. Als M ersault in seinem Zim m er saß, zog er den Rock aus, lokkert e seine Krawat t e, ohne sie ganz zu lösen, und st reift e
mechanisch die Ärmel seines Hemdes hoch. Er trat vor den Spiegel über dem Waschbecken und begegnete dort einem übermüdeten Gesicht, das an den Stellen, die nicht ein mehrere T age alter Bart bedeckte, leicht gebräunt war. Sein während der Eisenbahnfahrt durcheinandergeratenes Haar fiel ihm unordentlich über die Stirn bis zu den zwei tiefen Falten zwischen den Augenbrauen, die seinem Blick etwas Ernstes und zugleich Weiches gaben, das ihn überraschte. Dann dachte er zunächst nur daran, sich in dem miserablen Zimmer umzusehen, das seinen einzigen Besitz ausmachte und über das hinaus er nichts wahrnahm. Auf einer abscheulichen T apete mit großen gelben Blumen auf grauem Grund zeichnete sich in der dichten Schmutzschicht eine ganze Landkarte von schmierigen Kontinenten des Elends ab. Hinter der riesigen Heizung saß in den Ecken fettiger Staub. Der Lichtschalter war zerbrochen, so daß die Drähte frei lagen. Über dem Bett, dessen Matratze auf einem Lattengestell lag, hing an einer ölig glänzenden Litze, an der verkrustete Überreste von toten Fliegen hafteten, eine Glühbirne ohne Schirm herab, die sich klebrig anfühlte. Mersault inspizierte die Bettwäsche, die sich als sauber erwies. Er nahm seine T oilettensachen aus dem Koffer und legte sie nacheinander auf das Waschbecken. Dann schickte er sich an, sich die Hände zu waschen, drehte jedoch den Hahn gleich wieder zu und öffnete das vorhanglose Fenster. Es ging auf einen Hinterhof mit einem Spülstein zum Wäschewaschen und auf Häuserwände, in die kleine Fenster eingelassen waren. An dem einen trockneten Wäschestücke. Mersault legte sich hin und schlief auf der Stelle ein. Er erwachte in Schweiß gebadet, die Kleider verrutscht, und lief einen Augenblick in seinem Zimmer auf und ab. Dann zündete er sich eine Zigarette an und betrachtete im Sitzen, mit leerem Kopf, die Falten seiner zerknitterten Hose. In seinem Mund vermischte sich der bittere Geschmack des Schlafs mit dem der Zigarette. Er sah sich noch einmal in seinem Zimmer um und kratzte sich dabei unter dem Hemd an den Rippen. Ein abscheulicher süßlicher Geschmack kam ihm in den Mund angesichts von soviel Verlassenheit und Einsamkeit. Bei
dem Gefühl, so weit von allem und selbst von seinem Fieber entfernt zu sein, und dem deutlichen Empfinden, wieviel Sinnloses und Jämmerliches auch auf dem Grund noch so gut geplanter Lebensläufe existiert, wurde er, in diesem Zimmer, das schändliche und verborgene Gesicht einer Art Freiheit gewahr, die aus Zweideutigkeit und Ratlosigkeit entsteht. Rings um ihn her schwappten wie Schlamm die schlaffen, kraftlosen Stunden und überhaupt alles, was Zeit war. Jemand pochte heftig an die T ür, und aufgerüttelt erinnerte sich Mersault, daß er durch das gleiche Pochen geweckt worden war. Er machte auf und sah sich einem kleinen rothaarigen Alten gegenüber, der unter der Last von Mersaults beiden Koffern, die auf seinen Schultern riesig wirkten, fast zusammenbrach. Er erstickte beinahe vor Zorn, und zwischen seinen spärlichen Zähnen quoll ein von Beleidigungen und Schimpfreden triefender Speichel hervor. Mersault erinnerte sich jetzt an den abgerissenen Koffergriff, der das T ragen des größeren Koffers so unbequem machte. Er wollte sich entschuldigen, wußte aber nicht, wie er sagen sollte, er habe nicht gewußt, daß der Dienstmann so alt sei. Der kleine Alte fiel ihm ins Wort: «Es macht vierzehn Kronen.» «Für einen T ag Aufbewahrung?» wunderte sich Mersault. Aus den langen Erklärungen, die er erhielt, ersah er dann, daß der Alte ein T axi genommen hatte. Er wagte jedoch nicht zu sagen, daß er in diesem Fall gleich selber eines genommen hätte, und zahlte aus Müdigkeit. Als die T ür sich wieder geschlossen hatte, fühlte Mersault, wie unerklärliche T ränen aus seiner Brust aufstiegen. Ganz in der Nähe schlug es vier Uhr. Er hatte zwei Stunden geschlafen. Er wurde sich klar darüber, daß er von der Straße nur durch das gegenüberliegende Haus getrennt war, und verspürte das dumpfe, geheimnisvolle Branden des Lebens, das dort vorüberwogte. Es war besser, jetzt auszugehen. Mersault wusch sich sehr lange die Hände. Um sich die Nägel zu feilen, ließ er sich wieder auf dem Bettrand nieder und bewegte die Feile regelmäßig auf und ab. Zwei- oder dreimal hallten Signale im Hof so gellend wider, daß Mersault erneut ans Fenster trat.
Da sah er, daß unter dem Haus eine tunnelartig gewölbte Durchfahrt zur Straße führte. Es war, als ob alle Stimmen von draußen, das ganze unbekannte Leben von der anderen Häuserseite her, der Lärm von Menschen, die eine Adresse, eine Familie, eine Verstimmung mit dem Onkel, ihre Lieblingsspeisen, eine chronische Krankheit hatten, das Gewimmel von Wesen, deren jedes über eine eigene Persönlichkeit verfügte, wie ein großes Pulsieren, das für immer von dem Monstreherzen der Menge abgetrennt war, sich in diese Durchfahrt ergossen und an den Mauern des Hofes aufstiegen, um wie Blasen in Mersaults Zimmer zu zerplatzen. Und dadurch, daß er sich so empfänglich, so voller Aufmerksamkeit für jedes Zeichen der Welt draußen fühlte, wurde sich Mersault des tiefen Risses bewußt, durch den er dem Leben geöffnet war. Er zündete sich eine neue Zigarette an und griff in fieberhafter Eile nach seinen Kleidern. Als er seinen Rock zuknöpfte, kam ihm der Zigarettenrauch unter die Lider. Er kehrte zum Waschbecken zurück, spülte sich die Augen und wollte sich kämmen. Doch sein Kamm war verschwunden. Im Schlaf hatte sein Haar sich verfilzt, und er versuchte vergebens, es wieder in Ordnung zu bringen. Er ging hinunter, wie er war, mit Strähnen über dem Gesicht und struppigem Hinterkopf. Auf der Straße angekommen, ging er um das Hotel herum, um zu der kleinen Durchfahrt zu gelangen, die er von oben her gesehen hatte. Sie führte auf den alten Rathausplatz, und vor dem leicht verhangenen Abendhimmel, der sich über Prag niedersenkte, hoben sich schwärzlich die gotischen T urmspitzen des Rathauses und der alten T eynkirche ab. Eine zahlreiche Menge war unter den Arkaden der kleinen Gassen unterwegs. Bei jeder der vorübergehenden Frauen spähte Mersault nach dem Blick, der ihm erlaubt hätte, noch an seine Fähigkeit zu glauben, das zärtliche, zarte Spiel des Lebens zu spielen. Aber gesunde Leute haben ein natürliches T alent, fiebrigen Blicken auszuweichen. Schlecht rasiert, ungekämmt, in den Augen den Ausdruck eines gehetzten T ieres, mit einer Hose und einem Hemdkragen, die beide zerknittert waren, hatte er die wunderbare Sicherheit verloren, die ein gut geschnittener
Anzug oder der Volant eines W agens einem verleihen. Das Licht nahm Kupfert öne an, und der T agesschein verweilt e noch auf dem Gold der barocken Kuppeln, die m an im Hint ergrund des P lat zes sah. Er lenkt e seine Schrit t e zu einer dieser Kirchen, t rat ein und set zt e sich auf eine Bank, um fangen von dem jahrhundert ealt en Geruch. Die W ölbung lag völlig im Dunkel, aber von dem Gold der Kapit elle ging ein glänzender geheim nisvoller Schim m er aus, der in den Rillen der Säulen bis zu dem pausbäckigen Gesicht eines Engels oder einem verzerrt lächelnden Heiligen herniederfloß. M ersault verspürt e wohl eine Süßigkeit , aber eine so bit t ere, daß er schnell wieder zur Schwelle zurückwich und, auf den St ufen st ehend, die jet zt schon kühlere Nacht luft genoß, in die er sich gleich darauf st ürzt e. Es dauert e nur noch einen Augenblick, dann sah er den erst en St ern rein und nackt zwischen den T urm spit zen der T eynkirche aufleucht en. Er m acht e sich auf die Suche nach einem billigen Rest aurant . Er drang in dunklere und weniger bevölkert e Gassen vor. Ohne daß es am T age geregnet hät t e, war der Boden doch feucht , und M ersault m ußt e um die schwarzen Lachen zwischen den vereinzelt en P flast erst einen einen Bogen m achen. Dann begann ein dünner Regen niederzugehen. Es war sicher nicht weit bis zu den belebt en St raßen, da m an die Zeit ungsverkäufer, die den Narodni Politika ausriefen, bis hierher hören konnt e. Er indessen bewegt e sich die ganze Zeit im Kreise. P löt zlich blieb er st ehen. Ein sonderbarer Geruch kam ihm aus dem Dunkel ent gegen. St echend, beißend, weckt e er in ihm alle quälenden Ängst e. Er fühlt e ihn auf der Zunge, ganz hint en in seiner Nase und an seinen Augen. Der Geruch war erst weit fort , dann an der St raßenecke, und zugleich war er zwischen dem jet zt dunkel gewordenen Him m el und dem glit schigen klebrigen P flast er wie der böse Zauber der Nächt e von P rag. M ersault ging darauf zu, und allm ählich wurde er im m er wirklicher, um hüllt e ihn ganz, drang st echend in seine Augen und m acht e ihn völlig wehrlos. An einer St raßenecke begriff er endlich, was es war: eine alt e Frau verkauft e Essiggurken, und ihr Geruch war das, was M er-
sault überfallen hat t e. Ein P assant blieb st ehen und kauft e eine Gurke, die die Alt e in P apier einwickelt e. Der M ann ging ein paar Schrit t e weit er, und dicht vor M ersault wickelt e er sein P äckchen auf und biß kräft ig in die Gurke hinein, aus deren aufgerissenem t riefendem Fleisch der Geruch noch st ärker hervorquoll. Von Unbehagen erfaßt lehnt e M ersault sich an einen P feiler und sog eine ganze W eile in seine Lungen alles Selt sam e und Einm alige auf, das ihm die W elt in diesem Augenblick bot . Dann ging er weit er und bet rat ohne nachzudenken ein Rest aurant , aus dem der Klang eines Akkordeons drang. Er ging ein paar St ufen hinab, blieb m it t en auf der T reppe st ehen und fand sich in einem düst eren, von rot em Licht schein erfüllt en Kellerraum . Offenbar fiel er auf, denn das Akkordeon klang gedäm pft er, die Gespräche st ockt en, und die Gäst e dreht en sich nach ihm um . In einer Ecke saßen M ädchen und aßen et was, wovon ihre Lippen sehr fet t ig waren. Die anderen Gäst e t ranken das braune, süßliche Bier der T schechoslowakei. Viele raucht en nur, ohne et was zu verzehren. M ersault fand P lat z an einem langen T isch, an dem nur ein einziger M ann saß. Groß und m ager, m it gelblichem Haar, hockt e er zusam m engesunken auf seinem St uhl, die Hände in den T aschen, und hielt zwischen aufgesprungenen Lippen ein schon von Speichel aufgeweicht es St reichholzende, an dem er m it einem unangenehm en Geräusch saugt e oder das er von einem M undwinkel in den anderen schob. Als M ersault sich set zt e, rührt e der M ann sich kaum , lehnt e sich an die W and, schob sein St reichholz auf die Seit e, an der der Anköm m ling saß, und kniff kaum m erklich die Augen zusam m en. In diesem M om ent bem erkt e M ersault in seinem Knopfloch einen rot en St ern. M ersault aß wenig und schnell. Er hat t e keinen Hunger. Das Akkordeon erklang jet zt laut er, und der M ann, der es spielt e, hielt den Blick st arr auf den Neuanköm m ling gericht et . Zweim al versucht e M ersault , seinen Augen einen Ausdruck von T rot z zu geben und dem Blick des anderen st andzuhalt en. Aber das Fieber hat t e ihn geschwächt . Der M ann sah ihn im m er noch an. P löt zlich brach eines der M ädchen in Lachen aus, der M ann
m it dem rot en St ern im Knopfloch saugt e heft ig an seinem St reichholz, an dem sich eine kleine Speichelblase bildet e, und der M usikant hielt , ohne den Blick von M ersault zu wenden, in der lebhaft en T anzm elodie, die er spielt e, inne und st im m t e eine langsam e, vom St aub der Jahrhundert e überlagert e W eise an. In diesem Augenblick öffnet e sich die T ür und ließ einen neuen Gast ein. M ersault sah ihn nicht , aber durch die offene T ür weht e sofort der Geruch von Essig und Gurke herein. Er erfüllt e den düst eren Kellerraum , m ischt e sich unt er die geheim nisvolle M elodie des Akkordeons, bläht e die Speichelblase an dem St reichholz des M annes, m acht e die Gespräche plöt zlich bedeut ungsvoller, so als hät t e sich von den Rändern der Nacht , die über P rag schlum m ert e, der ganze W esensinhalt einer bösen und leidvollen alt en W elt in die W ärm e dieses Raum es und der hier anwesenden M enschen geflücht et . M ersault , der ein übersüßt es Kom pot t aß, fühlt e sich jäh bis aufs äußert e angespannt und spürt e, daß der Riß, den er in sich t rug, noch größer wurde und ihn noch m ehr der Angst und dem Fieber öffnet e. Er st and m it einem Ruck auf, rief den Kellner herbei, verst and nicht s von seinen Erklärungen und bezahlt e viel zuviel, während er wiederum die weit geöffnet en Augen des M usikant en st arr auf sich gericht et fühlt e. Er gelangt e zur T ür und bem erkt e im Vorbeigehen, daß der M ann im m er noch den T isch anst arrt e, den er gerade verlassen hat t e. Da erst begriff er, daß der M ann blind war. Er erklom m die St ufen, m acht e die T ür auf und schrit t , im m er noch ganz und gar von dem allgegenwärt igen Geruch eingehüllt , durch kurze Gäßchen ins Dunkel der Nacht hinein. St erne blit zt en über den Häusern. Er war verm ut lich nahe am Fluß, dessen dum pfes gewalt iges Rauschen er vernahm . Als er vor einer kleinen Git t ert ür in einer dicken, m it hebräischen Buchst aben bedeckt en M auer st and, wurde ihm klar, daß er sich im Judenviert el befand. Über die M auer hingen die Zweige einer süßlich duft enden W eide herab. Durch das Git t er hindurch sah m an zwischen Gräsern eingesunkene große dunkle St eine. Es war der alt e Judenfriedhof von P rag. Ein paar Schrit t e weit er
gelangt e M ersault , der ins Laufen gerat en war, wieder auf den alt en Rat hausplat z. Bei seinem Hot el angekom m en, m ußt e er sich an eine M auer lehnen und sich unt er Qualen erbrechen. M it der ganzen Klarsicht , die einem äußerst e Schwäche verleiht , fand er den W eg zu seinem Zim m er, legt e sich hin und schlief auf der St elle ein. Am nächst en M orgen wurde er durch die Zeit ungsverkäufer geweckt . Das W et t er war noch im m er drückend, aber hint er den W olken ahnt e m an die Sonne. M ersault fühlt e sich besser, wiewohl noch et was schwach. Aber er dacht e an den langen T ag, der nun begann. Derart m it sich allein zu leben, bedeut et e, daß die Zeit sich aufs äußerst e dehnt e und jede St unde des T ages für ihn eine W elt zu ent halt en schien. Vor allem hieß es Krisen wie die am T ag zuvor verm eiden. Das best e war, m et hodisch die St adt zu besicht igen. Noch im P yjam a set zt e er sich an den T isch und st ellt e einen geordnet en Zeit plan auf, der seine T age eine W oche lang ausfüllen sollt e. Klöst er und Barockkirchen, M useen und alt e St adt viert el — er ließ nicht s aus. Dann m acht e er seine T oilet t e, bem erkt e, daß er vergessen hat t e, sich einen Kam m zu kaufen, ging wie am Vort ag schweigend und ungekäm m t hinunt er zu dem P ort ier, an dem ihm bei T ageslicht die st ruppigen Haare, die rat lose M iene und die W est e auffielen, an der der zweit e Knopf fehlt e. Beim Verlassen des Hot els begrüßt e ihn eine kindliche, zärt liche M elodie, die jem and auf der Ziehharm onika spielt e. Der Blinde vom T ag zuvor hockt e jet zt auf den Fersen an der Ecke des alt en P lat zes und handhabt e sein Inst rum ent m it dem gleichen ins Leere lächelnden Ausdruck, wie von sich selbst befreit und ganz und gar der Bewegung eines Lebens verhaft et , das an ihm vorüberglit t . An der St raßenecke bog M ersault ab und st ieß wieder auf den Gurkengeruch. M it ihm kehrt e seine Angst zurück. Dieser T ag wurde, was auch die nächst en werden sollt en. M ersault st and spät auf, besicht igt e Klöst er und Kirchen, sucht e Zuflucht in ihrem Gruft - und W eihrauchgeruch und begegnet e im m er wieder, sobald er ans T ageslicht zurückgekehrt war, m it den Gurkenhändlern, die m an an jeder St raßenecke t raf, seiner
geheim en Furcht . Durch diesen Geruch hindurch sah er die M useen und begriff die Fülle und das geheim nisvolle Genie der Barockkunst , die P rag m it ihrem Goldglanz und ihrer P racht erfüllt e. Das goldene Licht , das t ief im Halbdunkel sanft auf den Alt ären schim m ert e, schien ihm dem aus Nebel und Sonne gem ischt en m essinggelben Him m el ent nom m en, der P rag so häufig überwölbt . Das Gewirr der Volut en und Roset t en, das ganze kom pliziert e Dekor, das wie aus Goldpapier ausgeschnit t en wirkt e und so rührend an die Kinderkrippen erinnert , die m an zu W eihnacht en aufst ellt , weckt en in M ersault ein Gefühl für das Grandiose, das Grot eske und die selt sam e Anordnung der Form en; das alles hat t e et was von einem fieberhaft en, kindischen und großsprecherischen Rom ant izism us, m it dem der M ensch sich der Däm onen in seinem Innern erwehrt . Der Got t , der hier angebet et wurde, war der, den m an fürcht et und ehrt , nicht der, der angesicht s der glühenden Spiele des M eeres und der Sonne bereit ist , m it den M enschen zu lachen. W enn M ersault aus dem leisen Geruch nach St aub und dem Nicht s hervort rat , der unt er den düst eren W ölbungen wohnt e, kam er sich wieder wie ein M ensch ohne Heim at vor. Abend für Abend begab er sich in das Klost er der t schechischen M önche, das sich im W est en der St adt befand. Im Klost ergart en flogen die St unden m it den T auben davon, die Glocken hallt en sanft auf dem Rasen wider, doch im m er noch war es sein Fieber, das zu M ersault sprach. Zugleich indessen verging die Zeit . Dann aber war auch schon die St unde da, zu der Kirchen und sonst ige Bauwerke geschlossen wurden und die Gast st ät t en noch nicht geöffnet waren. Hier lauert e die Gefahr. M ersault ging dann an den m it Gärt en und M usikkapellen beset zt en M oldauufern im Licht des endenden T ages spazieren. Kleine Boot e fuhren flußaufwärt s von einem W ehr zum anderen. M ersault folgt e ihnen, ließ den bet äubenden Lärm und das Gurgeln einer Schleuse hint er sich, fand allm ählich in den Frieden und die St ille des Abends zurück und ging alsbald wieder einem neuen Grollen ent gegen, das bis zum T osen anschwoll. Bei der neuen Schleuse angekom m en, sah er zu, wie die kleinen bunt en Boot e vergeb-
lich die W ehre ohne Kent ern zu passieren versucht en, bis endlich einer es fert igbracht e, den Gefahrenpunkt zu überwinden und laut e Zurufe das Brausen des W assers übert önt en. Diese ganze von St im m en, M elodien und Gart endüft en beladene Flut m it den kupferfarbenen Spiegelungen des Abendhim m els und den gewundenen grot esken Schat t en der St at uen auf der Karlsbrücke t rug M ersault nur das schm erzliche, brennende Bewußt sein einer Einsam keit ohne W ärm e zu, an der die Liebe keinen Ant eil hat t e. Und wenn er vor dem Duft von W asser und Laub, der zu ihm aufst ieg, den Schrit t verhielt , glaubt e er in seiner zusam m engeschnürt en Kehle T ränen aufst eigen zu spüren, die jedoch nicht kam en. Ein Freund oder sich öffnende Arm e hät t en genügt . Aber die T ränen m acht en Halt an der Grenze der W elt , in die er einget aucht und die ohne Zärt lichkeit war. Zu anderen M alen überschrit t er, im m er um diese gleiche Abendst unde, die Karlsbrücke und erging sich auf dem Hradschin über dem Fluß, in diesem nur wenige Schrit t e von den belebt est en St raßen der St adt get rennt en verlassenen, st illen Viert el. Er irrt e zwischen den großen P aläst en um her, ging an riesigen gepflast ert en Höfen, an schm iedeeisernen Git t ern ent lang und rings um die Kat hedrale herum . Zwischen den hohen M auern der P aläst e hallt en seine Schrit t e in der St ille. Dum pfer Lärm st ieg aus der St adt bis zu ihm em por. In diesem Viert el gab es keinen Gurkenverkäufer, aber et was Bedrückendes lag in soviel Schweigen und Größe. Und so st ieg M ersault denn auch schließlich im m er wieder zu dem Geruch und der M elodie hinab, die nunm ehr seine Heim at bildet en. Er aß in dem Rest aurant , das er ent deckt hat t e und das ihm wenigst ens eine gewisse Vert raut heit bot . Er hat t e seinen P lat z neben dem M ann m it dem rot en St ern, der abends allein erschien, einen Halben t rank und an seinem St reichholz kaut e. W ährend des Abendessens spielt e im m er noch der Blinde auf, und M ersault aß schnell, bezahlt e und begab sich wieder in sein Hot el, wo er in einen fiebrigen Kinderschlaf sank, den er nicht eine Nacht zu ent behren braucht e. T äglich dacht e M ersault daran abzureisen, und t äglich wurde er, noch et was t iefer eingesunken in seine Verlassenheit , von
seinem W illen zum Glück noch weniger geleit et . Er war jet zt vier T age in P rag und hat t e sich noch im m er nicht den Kam m gekauft , den er jeden M orgen verm ißt e. Er hat t e indessen das dunkle Gefühl eines M angels, und darauf wart et e er auf eine unbest im m t e Art . Eines Abends ging er auf dem W eg zu seinem Rest aurant durch die kleine Gasse, in der er am erst en Abend auf den Geruch gest oßen war. Schon fühlt e er ihn näher kom m en, als kurz vor dem Rest aurant , auf dem gegenüberliegenden Gehst eig, ihn et was fesselt e und veranlaßt e, auf die andere Seit e zu gehen. Ein M ann lag ausgest reckt auf dem Gehst eig, er hat t e die Arm e verschränkt , und sein Kopf ruht e auf der linken W ange. Drei oder vier P ersonen st anden an die M auer gelehnt und schienen, wenn auch sehr ruhig, auf et was zu wart en. Der eine raucht e, die anderen sprachen m it leiser St im m e. Doch ein M ann in Hem dsärm eln, m it der Jacke über dem Arm und den Hut nach hint en geschoben, führt e rings um den Körper des Liegenden her einen wilden T anz auf, eine Art von Indianert anz in häm m ernden aufreizenden Rhyt hm en. Das nur schwache Licht einer ent fernt en St raßenlat erne verband sich m it dem m at t en Schein, der ein paar Schrit t e weit er aus dem Gast haus drang. Dieser rast los t anzende M ensch, der T ot e m it den gekreuzt en Arm en, die ruhigen Zuschauer, der grot eske Gegensat z und die ungewohnt e St ille — alles das ergab in seiner M ischung aus Beschaulichkeit und Unschuld in dem ein wenig bedrückenden Spiel von Licht und Schat t en eine M inut e des Gleichgewicht s, nach der, so schien es M ersault , alles sich in W ahnsinn auflösen m üßt e. Er t rat noch et was näher heran. Der Kopf des T ot en schwam m in Blut . Er war auf die Seit e der W unde gesunken und nun zur Ruhe gekom m en. In diesem ent legenen W inkel von P rag, zwischen dem spärlichen Licht schein auf dem leicht glit schigen P flast er, dem langen feucht en Gleit en der Aut os, die wenige Schrit t e von dort vorüberfuhren, und, weit er ent fernt , den in best im m t en Abst änden rasselnd ankom m enden T ram bahnen, t rat einem der T od in einer süßlichen, penet rant en Form ent gegen, und sein Ruf, sein feucht er At em war es, was M ersault in dem Augenblick verspürt e, als er m it langen Schrit -
t en davoneilt e, ohne sich noch einm al um zusehen. P löt zlich t raf ihn der Geruch, den er vergessen hat t e: er t rat in das Rest aurant und set zt e sich an seinen T isch. Der M ann war da, diesm al ohne sein St reichholz. Es kam M ersault vor, als liege et was Verst ört es in seinem Blick. Er verscheucht e den t öricht en Gedanken, der ihm in den Sinn kam . Doch alles dreht e sich in seinem Kopf. Bevor er noch et was best ellt hat t e, lief er jäh davon, rannt e zu seinem Hot el und warf sich auf das Bet t . Ein scharfer St ich drang brennend durch seine Schläfe. M it leerem Herzen und verkram pft em Leib gab er sich dem Aufruhr seines Innern hin. Bilder aus seinem Leben quollen vor seinen Augen herauf. Et was in ihm schrie nach den Gebärden von Frauen, nach sich öffnenden Arm en und warm en Lippen. Aus der T iefe der leidvollen Nächt e von P rag, aus Essiggerüchen und kindlichen M elodien hob sich ihm das angst verzerrt e Gesicht der a l t e n Barockwelt ent gegen, das ihm bis in sein Fieber gefolgt war. M ühsam at m end, m it Augen wie denen eines Blinden und m echanischen Bewegungen set zt e er sich auf sein Bet t . Die Nacht t ischschublade st and offen, sie war m it einer englischen Zeit ung ausgelegt , in der er einen ganzen Art ikel las. Dann sank er zurück auf das Bet t . Der Kopf des M annes hat t e sich auf die Seit e der W unde gedreht , und in diese W unde hät t e m an die Finger legen können. Er sah seine Hände und seine Finger an, und Kinderwünsche st iegen in seinem Herzen auf. Eine brennende geheim e Glut quoll in ihm m it T ränen em por, es war die Sehnsucht nach St ädt en voller Sonne und Frauen, nach grünen Abenden, die sich heilend über W unden breit et en. Die T ränen brachen hervor. In ihm ent st and ein großer See von Einsam keit und St ille, über den der t raurige Sang von seiner Befreiung dahinst rich.
II In dem Zug, der ihn nach Norden führt e, bet racht et e M ersault seine Hände. Vor einem Gewit t erhim m el sah m an im W eit erfahren niedrig hängende schwere W olken am Zug vorüberrasen. M ersault war der einzige Reisende in dem überheizt en W aggon. Er war während der Nacht überst ürzt aufgebrochen und nahm nun, allein diesem düst eren M orgen gegenüber, die ganze W eichheit der böhm ischen Landschaft in sich auf, in der die Erwart ung von Regen zwischen den großen seidigen P appeln und den fernen Fabrikschornst einen et was wie ein Verlangen nach T ränen erweckt e. Dann fiel sein Blick auf das weiße Schild m it den drei Inschrift en: . Darauf schaut e er wieder auf seine Hände, diese lebendigen wilden T iere auf seinen Knien. Die eine, die linke, war lang und geschm eidig, die andere knot ig und m uskulös. Er kannt e sie, er erkannt e sie wieder und em pfand sie zugleich als eine Sache für sich, so als wären sie zu T at en im st ande, an denen sein W ille keinerlei Ant eil hät t e. Die eine legt e sich jet zt auf seine St irn und wollt e das Fieber aufhalt en, das in seinen Schläfen häm m ert e. Die andere glit t an seinem Rock ent lang und ent nahm seiner T asche eine Zigaret t e, die er gleich wieder einst eckt e, als er jene Übelkeit in sich aufst eigen fühlt e, die ihm alle Kraft ent zog. W ieder auf seine Knie zurückgekehrt , sanken seine Hände schlaff auseinander, und m it schalenförm ig nach oben gekehrt en Flächen zeigt en sie M ersault das Ant lit z seines Lebens, das wieder zur Indifferenz zurückgekehrt war und sich jedem anbot , der es nehm en wollt e. Er reist e zwei T age lang. Diesm al aber fühlt e er sich nicht m ehr von einem Flucht inst inkt get rieben. Gerade die M onot onie der Fahrt füllt e ihn vollkom m en aus. Dieser Eisenbahnwa-
gen, der ihn quer durch halb Europa t rug, hielt ihn zwischen zwei W elt en in der Schwebe. Er hat t e ihn genom m en und würde ihn wieder verlassen. Der Zug ent führt e ihn aus einem Dasein, das er sogar bis auf die Erinnerung daran auslöschen wollt e, um es an der Schwelle einer neuen W elt , in der sein W ünschen alles regieren würde, weit er fort zuset zen. Nicht ein einziges M al verspürt e M ersault Langeweile. Er blieb in seiner Ecke sit zen, wo ihn nur selt en jem and st ört e, bet racht et e seine Hände, dann die Landschaft und dacht e nach. Ohne besondere Absicht dehnt e er seine Fahrt bis nach Breslau aus und rafft e sich nur an den Zollgrenzen auf, um sich eine neue Fahrkart e zu kaufen. Er wollt e sich weit er allein m it seiner Freiheit fühlen. Er war m üde und fand in sich kaum die Kraft , sich zu regen. Er sam m elt e in sich noch die geringst en Brucht eile seiner St ärke und seiner Hoffnungen, ballt e sie zusam m en und schicht et e sie um , baut e in sich selbst erneut sich selber und zugleich auch sein künft iges Schicksal auf. Er liebt e diese langen Nächt e, in denen der Zug auf den glat t en Schienen davonlief, die wirbelnde Durchfahrt durch die kleinen St at ionen, in denen nur die Uhr erleucht et war, das jähe Brem sen vor dem konzent riert en Licht der großen Bahnhöfe, das m an noch kaum bem erkt hat t e, als es auch schon den Zug aufgeschluckt hat t e und seinen st rahlenden Goldschein, seine Helligkeit und seine W ärm e in die Abt eile ergoß. Häm m er klickt en an die Räder, die Lokom ot ive ließ schnaubend ihren Dam pf ab, und die aut om at ische Gest e des Beam t en, der seine rot e Scheibe senkt e, schleudert e M ersault wieder in den wilden Lauf des Zuges hinein, bei dem einzig seine Klarsicht und seine Unruhe wacht en. Von neuem war das Abt eil von dem flim m ernden Spiel aus Schat t en und Licht erfüllt , wieder bedeckt e es sich abwechselnd m it Schwärze und m it Gold. Dresden, Baut zen, Görlit z, Liegnit z. Er hat t e vor sich die lange Nacht und beliebig viel Zeit , um sich alles vorzust ellen, was sein künft iges Leben erfüllen sollt e, er konnt e geduldig einen Gedanken suchen, der ihm bei der Durchfahrt durch einen Bahnhof ent glit t en war, sich aber wiederfinden und verfolgen, sich endlos weit erspinnen ließ, um dann im T anz der glit zernden Fäden aus
Regen und Licht sich erneut zu verlieren. M ersault sucht e nach dem W ort , der W endung, die die Hoffnung seines Herzens ausdrücken, seiner Unruhe ein Ende bereit en würde. In dem Zust and der Schwäche, in dem er sich befand, verlangt e er nach Form eln. Die Nacht und der T ag gingen in diesem hart näckigen Kam pf m it dem W ort , dem Bild dahin, von denen fort an die Färbung seines Blicks auf die W elt , der zart bewegt e oder quälende T raum , den er von seiner Zukunft hegt e, abhängen würden. Er schloß die Augen. Zum Leben braucht m an Zeit . W ie jedes Kunst werk fordert es von einem , daß m an darüber nachdenkt . M ersault dacht e an sein Leben, er ließ sein verwirrt es Bewußt sein und seinen W illen zum Glück in einem Eisenbahnabt eil schweifen, das für ihn alle diese T age innerhalb von Europa et was war wie eine jener Zellen, in denen der M ensch den M enschen durch das kennenlernt , was st ärker ist als er. Am M orgen des zweit en T ages verlangsam t e der Zug spürbar die Fahrt , obwohl er sich noch auf freiem Feld befand. Es waren noch ein paar St unden bis Breslau, und das erst e T ageslicht fiel auf die weit e baum lose lehm ige schlesische Ebene, die unt er einem bedeckt en und von Regen geschwellt en Him m el dalag. So weit m an sehen konnt e, flogen Scharen großer Vögel m it schwarzen glänzenden Flügeln in regelm äßigen Abst änden nur ein paar M et er über dem Boden dahin, offenbar außerst ande, sich unt er dem Him m el, der wie eine St einplat t e last et e, höher zu erheben. Sie kreist en m it langsam en, schweren Flügelschlägen, und m anchm al t rennt e sich einer von seiner Schar, st rich so dicht über den Boden hin, daß er eins m it ihm zu werden schien und ent fernt e sich im gleichen schwerfälligen Flug unendlich weit , so weit , daß er sich wie ein schwarzer P unkt vom Horizont abhob. M ersault hat t e m it den Händen die beschlagene Scheibe abgewischt und schaut e begierig durch die langen St reifen, die seine Finger auf dem Glas zurückgelassen hat t en. Zwischen diesem t rost losen St ück Erde und dem fahlen Him m el erst and für ihn das Bild einer undankbaren W elt , in der er endlich zu sich selbst zurückfand. Auf dieser zur Verzweiflung der Unschuld gezwungenen Erde faßt e er, ein verloRenér
Reisender in einer prim it iven Um welt , wieder Fuß und st ellt e m it seiner an die Brust gepreßt en Faust und seinem an der Fenst erscheibe flachgedrückt en Gesicht die Energie seiner Rückkehr zu sich selber und zu der Gewißheit aller M öglichkeit en der Größe dar, die in ihm schlum m ert en. Er hät t e in diesem Schlam m vergehen, durch dieses M oorbad in die Erde zurückkehren und dann, hoch aufgericht et in dieser grenzenlosen Ebene, lehm bedeckt und m it weit geöffnet en Arm en vor dem schwam m igen rußigen Him m el, gleichsam dem verzweiflungsvollen und grandiosen Sym bol des Lebens gegenüberst ehend, seine Solidarit ät m it der W elt in dem , was sie an Abst oßendst em besaß, bekräft igen und sich zum Kom plicen dieses Lebens bis in seine Undankbarkeit und in seinen Schm ut z hinein erklären m ögen. Die ungeheure Lebenskraft , die ihn um t rieb, brach zum erst en M al seit seiner Abreise endlich aus ihm hervor. M ersault preßt e seine T ränen und seine Lippen an das kalt e Glas. Die Scheibe t rübt e sich wieder, die Ebene verschwand. Ein paar St unden darauf kam er in Breslau an. Von weit em kam ihm die St adt wie ein W ald von Fabrikschornst einen und hohen Kircht ürm en vor. Aus der Nähe gesehen best and sie aus Ziegeln und geschwärzt en St einen; M änner, die M üt zen m it kurzen Schirm en t rugen, gingen langsam ihres W eges. Er folgt e ihnen und verbracht e den Vorm it t ag in einem Arbeit erCafé. Ein junger M ann spielt e dort auf der Harm onika brave und schwerfällige harm lose M elodien, bei deren Klang die Seele sich erholt e. M ersault beschloß, nach dem Kauf eines Kam m es sich wieder nach Süden zu wenden. Am T ag darauf war er in W ien. Er verschlief einen T eil des T ages und die ganze Nacht . Als er aufwacht e, war sein Fieber vollkom m en verschwunden. Er aß sich beim Frühst ück an weichgekocht en Eiern und an süßer Sahne übersat t und t rat m it einem leicht en Gefühl von Übelkeit in einen M orgen hinaus, in dem Sonnenschein und Regen m it einander abwechselt en. W ien war eine erfrischende St adt : es gab hier nicht s zu besicht igen. Der allzu große St ephansdom langweilt e ihn. Er zog ihm die gegenüberliegenden Kaffeehäuser und für den Abend ein kleines T anzlokal am Donaukanal vor.
Im Laufe des T ages erging er sich auf dem Ring, in der P racht schöner Auslagen und elegant er Frauen. Eine Zeit lang genoß er diese oberflächliche, üppige Szenerie, die in der wenigst nat ürlichen St adt der W elt den M enschen von sich selber t rennt . Aber die Frauen waren schön, die Blum en prangt en m it leucht enden Farben in den Gärt en, und auf dem Ring fiel M ersault , als er gegen Abend im St rom der glänzenden, m unt eren M enge dahint rieb, auf dem First der P runkgebäude das hochm üt ige Aufbäum en der st einernen P ferde vor dem rot en Abendhim m el in die Augen. Da erinnert e er sich seiner Freundinnen Rose und Claire. Zum erst en M al nach seinem Aufbruch schrieb er ihnen einen Brief. In W irklichkeit lud er auf das P apier nur die allzu große Last seines Schweigens ab: Liebe Kinder, ich sc h re ib e Euch aus Wien. Ich weiß nicht, was aus Euch geworden ist. Ich se lb e r verdiene durch Reisen meinen Lebensunterhalt. Mit bitterem Herzen habe ich viel Schönes gesehen. Hier hat d ie Zivilisation die Schönheit überwuchert. Das hat etwas Ausruhendes. Ich b e su c h e keine Kirchen oder historisc h e n Stätten. Ich gehe auf dem Ring spazieren. Und wenn der Abendhimmel über den pompösen Theatern und Palästen steht, weckt das blinde Aufbäumen der steinernen Pferde vor dem Rot des Sonnenuntergangs eine se ltsa m e Mischung von Bitterkeit und Glück in mir. Am Morgen esse ich gekochte Eier und Sahne. Ich ste h e spät auf, im Hotel werde ich se h r zuvorkommend behandelt, der Stil der Oberkellner, denen man die gute Ernährung ansieht (o dieses Schlagobers!), macht Eindruck auf mich. Es g ib t hier gutes Theater und hübsche Frauen. Was fehlt, ist einzig wirklicher Sonnenschein. Was tu t Ihr? Berichtet von Euch und von der Sonne einem Unglücklichen, den nichts irgendwo festzuhalten vermag und der hiermit verbleibt als Euer getreuer Patrice Mersault.
An diesem Abend, nachdem er geschrieben h a t t e , ging er wieder in das T anzlokal. Er hat t e sich für den Abend zuvor bei einer der Anim ierdam en vorm erken lassen, Helen, die et was Französisch konnt e und sein schlecht es Deut sch verst and. Als sie um zwei Uhr m orgens das T anzlokal verließen, begleit et e er sie nach Hause, schlief auf die korrekt est e W eise m it ihr und fand sich am M orgen nackt in einem frem den Bet t , hint er dem Rücken von Helen, deren schm ale Hüft en und breit e Schult ern er unint eressiert , aber wohlgelaunt bewundert e. Er wollt e gehen, ohne sie aufzuwecken, und schob einen Geldschein in einen ihrer Schuhe. Als er schon an der T ür war, hört e er sie rufen: «Aber Schat z, du hast dich wohl geirrt .» Er ging zum Bet t zurück. Er hat t e sich t at sächlich geirrt . Da er m it dem öst erreichischen Geld schlecht Bescheid wußt e, hat t e er ihr einen Schein zu fünfhundert Schilling st at t einen zu hundert dagelassen. «Nein», sagt e er lächelnd, «das ist für dich. Du bist sehr net t gewesen.» Helens som m ersprossiges Gesicht unt er dem blonden wirren Haar erst rahlt e von einem Lächeln. Unverm it t elt richt et e sie sich in ihrem Bet t auf und küßt e ihn auf die W angen. Dieser Kuß, der erst e verm ut lich, den sie aus vollem Herzen gab, ließ in M ersault eine Regung von W ärm e aufst eigen. Er legt e sie nieder, deckt e sie gut zu, ging zur T ür und blickt e noch einm al lächelnd zurück. «Adieu», sagt e er. Das M ädchen sah ihm m it großen Augen über das Bet t uch hinweg, das ihr bis an die Nase reicht e, nach und ließ ihn gehen, ohne daß sie noch et was zu sagen fand. Ein paar T age darauf bekam M ersault eine Ant wort aus Algier: Lieber Patrice, wir sind in Algier. Ihre Kinder wären sehr glücklich, Sie wiederzusehen. Wenn Sie nirgends etwas festhält, kommen Sie doch nach Algier, wir können Sie hier im Haus unterbringen. Wir sind hier sehr glücklich. Man schämt sich natürlich ein bißchen, a b e r e ig e n tlic h nur, weil es sich gehört und wegen der Vorurteile. Wenn Sie Lust haben, glücklich zu sein, versuchen
Sie es doch hier. Das ist besser, als den weiterdienenden Unteroffizier zu spielen. Wir bieten unsere Stirnen Ihren väterlichen Küssen dar. Rose, Claire, Catherine. PS: Catherine protestiert gegen das Wort . Catherine wohnt bei uns. Sie wird, wenn S ie wollen, Ihre d ritte Tochter Er beschieß, über Genua nach Algier zurückzufahren. W ie andere das Bedürfnis nach Einsam keit haben, bevor sie ihre großen Ent schlüsse fassen und den wesent lichen Einsat z ihres Lebens wagen, hat t e er, m it Einsam keit und Ent frem dung vollgesogen wie m it Gift , das Verlangen, in der Freundschaft und im Vert rauen Zuflucht zu suchen und eine scheinbare Sicherheit zu genießen, bevor er sein Spiel begann. In dem Zug, der ihn quer durch Nordit alien nach Genua führt e, lauscht e er auf die t ausend St im m en, die in ihm dem Glück ent gegenjubelt en. Von der erst en Zypresse an, die sich kerzengerade auf dem reinen Boden erhob, hat t e er nachgegeben. Er spürt e noch im m er Schwäche und Fieber in sich. Aber et was in ihm hat t e sich erweicht , ent spannt . Bald, je weit er die Sonne in ihrem T ageslauf sich voranbewegt e und je näher das M eer rückt e, verband sich unt er diesem weit en glühenden, flim m ernden Him m el, von dem auf die zit t ernden Ölbäum e Flut en von Licht und Luft niederst röm t en, der Überschwang, der die W elt aufwühlt e, m it dem Hochgefühl seines Herzens. Das Rat t ern des Zuges, das kindische Geschwät z rings um ihn her in dem überfüllt en Abt eil, alles Lachen und Singen, das ihn um gab, rhyt hm isiert e und begleit et e eine Art inneren T anz, der ihn während der St unden, in denen er unbeweglich dasaß, an die äußerst en W inkel der Erde t rug und ihn schließlich, von Jubel erfüllt und überwält igt , in ein t osendes Genua st ürzt e, das an seinem Golf und unt er seinem Him m el, wo bis zum Abend Verlangen und T rägheit im St reit m it einander lagen, vor Gesundheit st rot zt e. Er hat t e Durst , Hunger zu lieben, zu genießen und Küsse zu t au-
schen. Die Göt t er, die eine Glut in ihm ent facht en, warfen ihn in einem Hafenwinkel ins M eer, wo die M ischung aus T eer und Salz auf ihn einst röm t e und er sich schwim m end im Räum e aufgelöst fühlt e. Danach verlor er sich in den engen und von Gerüchen erfüllt en Gassen des alt en Viert els, ließ zu, daß die Farben ihn schreiend überfielen, der Him m el sich über den Häusern unt er seiner Sonnenlast verzehrt e und an seiner St elle die Kat zen zwischen Unrat und Sonnenwärm e schliefen. Er ging durch die St raße, die Genua beherrscht , und ließ das ganze m it Düft en und Licht ern beladene M eer in langem Schwellen zu sich aufst eigen. Er schloß die Augen, während er den heißen St ein um klam m ert e, auf dem er saß, und öffnet e sie dann wieder über dieser St adt , aus der ihm in Form eines aufregend schlecht en Geschm acks ein Überschwang an Leben ent gegenschlug. Auch an den folgenden T agen set zt e er sich gern auf die St einm auer, die zum Hafen hinunt erführt , und sah m it t ags die M ädchen vorübergehen, die aus den Büros auf die Hafenquais st röm en. M it Sandalen an den Füßen, die Brüst e frei unt er den leucht enden leicht en Kleidern, ließen sie M ersault m it einem t rockenen Gefühl im M und und seinem von einem Verlangen, in dem er zugleich Freiheit und Recht fert igung ent deckt e, klopfenden Herzen zurück. Am Abend begegnet e er den gleichen Frauen auf den St raßen und ging m it der Hit ze eines brünst igen T iers im Leib und verkram pft von einer Gier, die sich m it wilder Süße in ihm regt e, hint er ihnen her. Zwei T age lang glüht e er in dieser unm enschlichen Erregung. Am drit t en verließ er Genua und schifft e sich nach Algier ein. W ährend der ganzen Reise st im m t e er beim Anblick der Spiele von W asser und Licht , des M orgens, dann der T agesm it t e und des Abends auf dem M eer, sein Herz auf die langsam en Rhyt hm en des Him m els ein und kehrt e zu sich selbst zurück. Er m ißt raut e der Banalit ät gewisser Heilungen. Auf dem Deck ausgest reckt , begriff er, daß m an nicht einschlafen dürfe, sondern wachsam bleiben m üsse, wachsam den Freunden, dem Bequem lichkeit sanspruch der Seele und des Körpers gegenüber. Er m ußt e sein Glück und seine Recht fert igung aufbauen. Und
zweifellos würde diese Aufgabe ihm jet zt leicht er fallen. Bei dem eigenart igen Frieden, der ihn in der j ä h kühler werdenden Abendluft auf dem M eer überkam , nach dem langsam en Sicht barwerden des erst en St erns an einem Him m el, der in grünen T önen verging, um in gelben wieder aufzuleben, spürt e er nach dem großen Aufruhr und den Gewit t erst ürm en, wie alles, was dunkel und schlecht in ihm war, sich set zt e, um , nunm ehr durchscheinend hell, die klaren W asser einer zu Güt e und Ent schlußkraft zurückgelangt en Seele zum Vorschein kom m en zu lassen. Er sah j e t z t alles deut lich vor sich. Lange Zeit hat t e er auf die Liebe einer Frau gehofft . Doch er war nicht für die Liebe geschaffen. In allem , was sein Leben ausm acht e, dem Büro an den Quais, seinem Zim m er und seinen T räum en, seinem Rest aurant und seiner Geliebt en war er im m er nur einem Glück nachgejagt , das er im Grunde seines Herzens, wie zudem alle anderen M enschen auch, für unm öglich hielt . Er hat t e gespielt , er wolle glücklich sein. Niem als hat t e er es m it bewußt em ent schlossenem W illen gewollt . Niem als bis zu dem T age . . . Und seit jenem Augenblick hat t e infolge einer einzigen, in voller Klarsicht berechnet en Gest e sein Leben sich verwandelt , und das Glück schien ihm von da an m öglich zu sein. Zweifellos hat t e er in Schm erzen dieses neue W esen gezeugt . Aber was war das im Vergleich zu der unwürdigen Kom ödie, die er vorher spielt e? Er sah zum Beispiel jet zt , daß das, was ihn an M art he gebunden hat t e, eher Eit elkeit als Liebe gewesen war, sogar noch das W under der Lippen, die sie ihm darbot , und das nur in dem freudigen St aunen über eine M acht best anden hat t e, die sich in der Eroberung erkannt e und in ihr erwacht war. Die ganze Geschicht e seiner Liebe best and in W irklichkeit darin, daß dieses ursprüngliche St aunen durch eine Gewißheit , seine Bescheidenheit durch Eit elkeit erset zt worden war. Er hat t e in M art he die Abende geliebt , in denen sie zusam m en im Kino erschienen und alle Blicke sich auf sie richt et en, den Augenblick, in dem er sie der W elt vorführt e. Er liebt e sich selbst in ihr sam t seiner M acht und seinem Ehrgeiz zu leben. Sein Verlangen sogar, die Lust in seinem Körper war vielleicht aus diesem
anfänglichen Staunen erwachsen, einen besonders schönen Leib zu besitzen, ihn zu beherrschen und zu demütigen. Jetzt wußte er, daß er für diese Liebe nicht geschaffen war, sondern für die unschuldige und erschreckende Liebe zu dem schwarzen Gott, dem er seither diente. Wie es oft vorkommt, hatte sich bei ihm das Beste in seinem Leben um das herum kristallisiert, was das Schlimmste daran war, so Claire und ihre Freundinnen, Zagreus und der Wille zum Glück um Marthe. Er wußte jetzt, daß er seinem Willen zum Glück die Führung überlassen würde. Aber es war ihm klar, daß er sich dazu mit der Zeit in Einklang setzen mußte, daß über seine Zeit zu verfügen zugleich das großartigste und gefährlichste aller Experimente war. Muße ist eine Klippe nur für die Mittelmäßigen. Viele können nicht einmal beweisen, daß sie nicht mittelmäßig sind. Er hatte sich dieses Recht erworben. Doch der Beweis stand noch aus. Nur eines hatte sich geändert. Er fühlte sich frei seiner Vergangenheit und allem gegenüber, was er verloren hatte. Er wollte nichts als diese Sammlung und diesen geschlossenen Raum in sich selbst, diese überklare, geduldig brennende Glut angesichts der Welt. Er wollte nur sein Leben in den Händen halten wie ein heißes Brot, das man zusammenpressen und kneten kann. Wie in den beiden langen Nächten im Eisenbahnzug, in denen er mit sich selber sprechen und sich auf sein Leben vorbereiten konnte. Er wollte sein Leben aufschlekken wie Gerstenzucker, es formen, es schärfen, kurz, es lieben. Darin beruhte seine ganze Leidenschaft. Dieses Sichselbergegenwärtigsein wollte er sich von nun an allen Aspekten seines Daseins gegenüber bewahren, selbst um den Preis einer Einsamkeit, von der er jetzt wußte, wie schwer sie zu ertragen war. Er würde keinen Verrat begehen. Die in ihm angestaute Heftigkeit half ihm dabei, und an dem Punkt, an den sie ihn trug, trat noch seine Liebe hinzu in Gestalt eines wütenden Dranges zu leben. Das Meer rieb sich gemächlich an den Flanken des Schiffs. Der Himmel belud sich mit Sternen, und Mersault wurde sich schweigend äußerster, tiefer Kräfte bewußt, dieses Leben mit
den von T ränen und Sonne geprägt en Zügen, dieses Leben aus Salz und heißem St ein zu lieben, und er hat t e das Gefühl, daß in seinem zärt lichen Erfassen alle seine Kräft e der Liebe und der Verzweiflung sich hier vereinigen würden. Hier allein lag seine Arm ut und nur hier sein Reicht um . Es war, als ob er bei Zero das Spiel von neuem begänne, nun jedoch m it dem Bewußt sein seiner Kräft e und dem hellsicht igen Fieber, die ihn seinem Schicksal ent gegendrängt en. Und dann war Algier da, die gem ächliche Ankunft am M orgen, die schim m ernde Kaskade der Kasbah über dem M eer, die Hügel und der Him m el, die Bucht , die ihre Arm e ausbreit et e, die Häuser zwischen den Bäum en und der schon spürbare Ruch der Quais. Da m erkt e M ersault , daß er seit W ien nicht ein einziges M al an Zagreus als an den M ann gedacht hat t e, den er m it eigener Hand get öt et hat t e. Er erkannt e in sich jene Fähigkeit zu vergessen, die nur dem Kind, dem Genie und dem Unschuldigen zu eigen ist . Unschuldig, überwält igt von Freude, begriff er endlich, daß er für das Glück geschaffen war.
III P at rice und Cat herine nehm en ihr Frühst ück auf der besonnt en T errasse ein. Cat herine ist im Schwim m anzug, der <Junge>, wie ihn seine Freundinnen nennen, in der Dreieckshose und m it einem Handt uch um den Hals. Sie essen T om at en m it Salz, Kart offelsalat , Honig und Frücht e in M enge. Sie legen P firsiche zum Kühlwerden in Eis, nehm en sie wieder heraus und lecken die ausgeschwit zt en T ropfen auf dem Flaum ihrer sam t igen Haut ab. Sie bereit en sich auch T raubensaft , den sie t rinken, während sie das Gesicht zur Sonne em porheben, um braun zu werden (zum indest P at rice, der weiß, daß die Bräune ihm gut st eht ). «Schm eck m al die Sonne», sagt P at rice und st reckt dabei den Arm Cat herine ent gegen. Sie leckt an seinem Arm . «Ja», sagt sie, «schm ecke du sie auch.» Er kost et und st reckt sich dann aus, während er wohlig an seinen Seit en ent langst reicht . Sie hingegen legt sich auf den Bauch und st reift ihren Badeanzug bis zu den Hüft en hinunt er. «Bin ich unanst ändig?» «Nein», sagt der junge M ann, der überhaupt nicht hinsieht . Die Sonne st röm t über sein Gesicht hin und verweilt darauf. M it leicht feucht en P oren at m et er die Glut ein, die sich über ihn ergießt und ihn schläfrig m acht . Cat herine läßt die Sonne auf sich brüt en, seufzt und st öhnt . «Das t ut gut », sagt sie. «Ja», sagt der <Junge>. Das Haus war an den Gipfel eines Hügels angeheft et , von dem aus m an auf die Bucht sah. Im Viert el nannt e m an es das Haus der drei St udent innen. M an gelangt e zu ihm auf einem sehr st einigen P fad, der zwischen Olivenbäum en begann und
zwischen Olivenbäum en endet e. Auf der M it t e befand sich eine Art P lat t form , an der eine graue M auer ent langlief. Diese war m it obszönen Zeichnungen und polit ischen P arolen bedeckt , bei deren Lekt üre der erschöpft e W anderer wieder zu At em kam . W as dann noch folgt e, waren wieder Olivenbäum e, Fet zen blauen Him m els zwischen den Zweigen und der Geruch der M ast ixbäum e am Rande rost rot er W iesen, auf denen violet t e, gelbe und orangefarbene St offe t rocknet en. M an kam schweißgebadet und außer At em dort oben an, st ieß eine kleine blaue Git t ert ür auf, wobei m an sich M ühe geben m ußt e, nicht an den Bougainvilleen hängen zu bleiben, und m ußt e dann noch eine T reppe erklim m en, die so st eil wie eine Leit er war, über der jedoch ein blauer Halbschat t en lag, der den Durst schon ein wenig lindert e. Rose, Claire, Cat herine und P at rice nannt en es das . Vollkom m en der darunt er sich breit enden Landschaft geöffnet , hat t e es et was von einem in dem st rahlenden Him m el über dem bunt en T anz der W elt aufgehängt en Schiffchen. Von der Bucht bis zu der m akellos gezogenen Kurve ganz unt en wob eine Art W irbel Gras und Sonne ineinander, und der gleiche Schwung führt e P inien und Zypressen, die st aubbedeckt en Olivenbäum e und die Eukalypt usst auden bis an das Haus heran. Im Herzen dieses schönen W eihegeschenks blüht en je nach Jahreszeit weiße Heckenrosen, M im osen oder jene Art Geißblat t , die von den Hauswänden ihre Düft e in die Som m erabende aufst eigen ließ. Über weißen Leint üchern und rot en Dächern, dem Lächeln des M eeres unt er dem von einem Ende des Horizont s bis zum anderen falt enlos gespannt en Him m el blickt e das Haus vor der W elt m it seinen großen Bogenfenst ern auf diesen Jahrm arkt aus Farben und Licht herab. In der Ferne aber um arm t e eine Reihe hoher violet t er Berge in jähem Fall die Bucht und schloß diesen Rausch in ihre Silhouet t e ein. Dann beklagt e sich niem and m ehr über den st eilen W eg und den erm üdenden Aufst ieg. M an m ußt e sich seine Freude T ag für T ag neu erobern. Dadurch, daß sie so der W elt gegenüber lebt en, ihr Gewicht em pfanden, alle T age ihr Gesicht sich aufhellen, dann erlöschen
und am nächsten T ag wieder in voller Jugend erglühen sahen, hatten die vier Bewohner des Hauses das Bewußtsein von einer Gegenwart, die für sie zugleich Rechtsprechung und Rechtfertigung war. Die Welt wurde hier zu einer Person, sie gehörte zu denen, von denen wir gern Rat annehmen und bei denen das Gleichgewicht die Liebe nicht getötet hat. Sie riefen sie als Zeugen an: «Ich und die Welt», stellte Patrice bei den belanglosesten Anlässen fest, «wir mißbilligen euch.» Catherine, für die Nacktheit das Ablegen von Vorurteilen bedeutete, nutzte die Zeiten der Anwesenheit des <Jungen>, um sich auf der T errasse auszuziehen. Und wenn sie dann die Farben des Himmels sich wandeln sah, pflegte sie bei T isch in einer Art von sinnlichem Stolz zu sagen: «Ich bin der Welt nackt gegenübergetreten.» « Ja » , sagte Patrice verachtungsvoll, «Frauen legen natürlich größeren Wert auf ihre Ideen als auf ihre Empfindungen.» Catherine ging dann in die Luft, denn sie wollte keine Intellektuelle sein. Aber Rose und Claire erklärten einmütig: «Schweig, Catherine, du hast unrecht.» Denn es war ausgemachte Sache, daß Catherine immer unrecht hatte, einfach weil sie diejenige war, die jeder auf die gleiche Weise liebte. Sie hatte einen schweren, klar gezeichneten Körper von der Farbe verbrannten Brotes und einen animalischen Instinkt für das, was wesentlich ist in der Welt. Niemand verstand besser als sie den verborgenen Sinn der Sprache von Bäumen, Meer und Wind. «Diese Kleine», sagte Claire, während sie unaufhörlich aß, «ist eine Naturgewalt.» Dann standen alle auf, um sich schweigend draußen in der Sonne zu wärmen. Der Mensch vermindert die Kraft des Menschen. Die Welt läßt sie unversehrt. Rose, Claire, Catherine und Patrice lebten an den Fenstern ihres Hauses in den Bildern und im Schein der Dinge, sie gaben sich für das Spiel her, das sie untereinander betrieben und lachten der Freundschaft und der Zärtlichkeit entgegen, aber fanden doch, sobald sie wieder die
tanzende Bewegung von Himmel und Meer vor sich hatten, die geheim e Färbung ihres Geschicks wieder heraus und begegnet en einander m it dem T iefst en, das in ihnen wohnt e. M anchm al schlossen die Kat zen sich ihren Herrinnen an. Gula glit t , st ändig beleidigt , et was näher heran, ein schwarzes Fragezeichen m it grünen Augen, m ager und zart , wurde dann auf einm al von Irrsinn befallen und käm pft e gegen Schat t en. «Das ist eine Frage der inneren Sekret ion», erklärt e Rose. Darauf lacht e sie, ganz hingegeben an ihre Heit erkeit , unt er ihrem gelockt en Haar, m it lust ig zusam m engekniffenen Augen hint er den runden Brillengläsern, bis Gula auf sie hinaufsprang (eine besondere Gunst), und während Rose ihren Finger über das glänzende Fell gleit en ließ, besänft igt e und ent spannt e sie sich, wurde selbst zu einer Kat ze m it schm eichelnden Augen und beschwicht igt e das T ier m it sanft en, schwest erlichen Händen. Denn die Katzen waren für Rose der Zugang zur Welt, so wie die Nackt heit für Cat herine. Claire m ocht e die andere Kat ze lieber, die Cali hieß. Cali war sanft und t öricht wie ihr schm ut zigweißes Fell und ließ sich alles gefallen. Claire, m it ihrem Gesicht einer Florent inerin, war dann von der Erhabenheit ihrer Seele überzeugt . St ill und verschlossen, bei jähen Ausbrüchen, hat t e sie gut en Appet it . P at rice schalt sie, als er sie st ändig zunehm en sah: «Du widerst uns an», sagt e er. «Ein schönes Geschöpf hat nicht das Recht zuzulassen, daß es häßlich wird.» Aber Rose ergriff ihre P art ei. «W irst du wohl endlich aufhören, das arm e Kind zu quälen. Iß, m eine Schwest er Claire.» Und der T ag kreist e von Ost en nach W est en, um die Hügel und auf der See in zart em Sonnenlicht . M an lacht , m an scherzt , m an m acht P läne. Alle lächeln der W elt der Erscheinungen zu und tun so, als ergäben sie sich ihr. Patrice wendete seine Blicke vom Ant lit z der W elt den ernst en oder lächelnden Gesicht ern der jungen Frauen zu. Er wunderte sich manchmal über das Universum , das da um ihn her ent st anden war. Vert rauen und Freundschaft , Sonne und weiße Häuser, kaum spürbare Schat t ierungen, in denen im m er wieder unversehrt e Glücksgefühle
ent st anden, deren W iderhall er genau erm aß. Das Haus vor der W elt , st ellt en sie unt ereinander fest , war kein Haus, in dem m an sich am üsiert e, sondern eines, in dem m an glücklich war. P at rice spürt e es deut lich, wenn alle, das Gesicht gen Abend gewendet , m it der let zt en M eeresbrise der m enschlichen und gefährlichen Versuchung in sich Einlaß gewährt en, ganz verschieden von allem anderen zu sein. Heut e, gleich nach dem Sonnenbad ist Cat herine ins Büro gegangen. «M ein lieber P at rice», sagt Rose, die sich plöt zlich aufgericht et hat , «ich habe eine gut e Nachricht für Sie.» In dem Zim m er hint er der T errasse hat sich der <Junge> an diesem T ag m ut ig m it einem Krim inalrom an in der Hand auf einem Diwan ausgest reckt . «M eine liebe Rose, ich bin ganz Ohr.» «Heut e sind Sie m it der Küche dran.» «Gut », sagt P at rice, ohne sich zu rühren. Rose verschwindet m it ihrer St udent innenm appe, in die sie ebenso sorglos P fefferschot en für das M it t agessen wie den drit t en Band der langweiligen W elt geschicht e von Lavisse zu st opfen pflegt . P at rice, der sich um die Linsen küm m ern soll, schlendert bis elf Uhr um her, bet racht et den großen m it Diwanen und Et ageren m öbliert en Raum und die ockerfarbenen W ände, an denen grüne, gelbe, rot e M asken und Vorhänge aus Rohseide m it t angofarbenen St reifen hängen, set zt dann nebenher in Eile die Linsen auf, t ut Öl in die P fanne und erhit zt darin eine Zwiebel, eine T om at e und ein Gewürzst räußchen, gibt sich geschäft ig und schim pft auf Gula und Cali, die hungrig m auzen. Dabei hat doch Rose es ihnen gest ern erklärt : «Hört , ihr T iere», hat sie gesagt , «im Som m er ist es zu heiß, um Hunger zu haben.» Viert el vor zwölf kom m t Cat herine in einem leicht en Kleid und m it offenen Sandalen zurück. Sie braucht eine Dusche und ein Sonnenbad. Best im m t wird sie als let zt e bei T isch erscheinen, und Rose wird st reng zu ihr sagen: «Cat herine, m it dir ist es nicht auszuhalt en.» Das W asser zischt im Badezim m er, und
da erscheint Claire at em los in der T ür: «Sie kochen Linsen? Ich habe da ein sehr gut es Rezept . . . » «Ich weiß. M an nehm e Sa h n e . . . Nächst es M al, liebe Claire.» T at sache ist , daß Claires Rezept e im m er m it süßer Sahne beginnen. «Er hat ganz recht », sagt Rose, die soeben dazugekom m en ist . «Ja», sagt M ersault . «Gehen wir zu T isch.» Sie essen in einer Küche, die eher einer Rum pelkam m er gleicht . Im m erhin gibt es da einen Not izkalender, auf dem Roses wit zige Aussprüche fest gehalt en werden. Claire prägt das M ot t o: «Fein sein, aber einfach bleiben», und ißt ihre W urst scheiben m it der Hand. Cat herine erscheint m it angem essener Verspät ung, sonnent runken und wehleidig, die Augen t rübe vom Schlaf. In ihrer Seele wohnt nicht so viel Bit t erkeit , daß sie jet zt an ihr Büro denken würde — acht St unden, die sie der W elt und ihrem Leben ent zieht , um sie einer Schreibm aschine zu schenken. Ihre Freundinnen sind verst ändnisvoll und m alen sich aus, wie ihr eigenes Leben aussehen würde, wenn sie es t äglich um diese acht St unden beschnit t en. P at rice schweigt dazu. «Ja», sagt Rose, die nicht zu M it leid neigt , «im Grunde füllt dich das ganz und gar aus. Und vor allem redest du t äglich von deinem Büro. W ir ent ziehen dir das W ort .» «Aber . . . » seufzt Cat herine. «Dann wird eben abgest im m t . Eins, zwei, drei, du bist überstimmt. » «Da hast du es», sagt Claire. Die Linsen kom m en auf den T isch, sie sind noch hart , und alle essen schweigend. W enn Claire kocht und bei T isch den erst en Bissen probiert , erklärt sie im m er m it befriedigt er M iene: «Das ist ja ausgezeichnet !» P at rice, der gern seine W ürde wahrt , schweigt lieber bis zu dem Augenblick, in dem alle in Gelächt er ausbrechen. Cat herine, die heut e ihren schlecht en T ag hat , aber um die Vierzig-St unden-W oche ringt , will, daß jem and sie zur
Gewerkschaft begleit et . «Nein», sagt Rose, «schließlich geht es ja um deine Arbeit szeit. » Verbit t ert st eht die auf und legt sich in die Sonne. Bald aber folgen alle ihrem Beispiel. Claire, die Cat herine nachlässig über das Haar st reicht , ist der M einung, was fehle, sei ein M ann. Denn es gehört zu den Gewohnheit en des Hauses vor der W elt , über Cat herines Schicksal zu befinden, ihr Bedürfnisse zuzuschreiben und deren Ausm aß und besondere Eigenart fest zulegen. Gewiß, sie gibt von Zeit zu Zeit zu bedenken, sie sei groß genug usw., doch niem and hört auf sie. «Die Arm e», sagt Rose, «sie braucht eben einen fest en Freund.» Dann rekeln alle sich nur noch in der Sonne. Cat herine, die nicht nacht ragend ist , erzählt , was im Büro get rat scht wird, näm lich, daß M adem oiselle P érez, die große Blonde, die bald heirat en wollt e, alle Abt eilungen aufgesucht habe, um sich zu inform ieren, welche grauenhaft en Beschreibungen die Reisenden ihr zu m achen beliebt en, und m it welcher Erleicht erung sie bei der Rückkehr von der Hochzeit sreise lächelnd erklärt habe: «So furcht bar war es gar nicht .» «Sie ist dreißig Jahre alt », set zt Cat herine m it leidig hinzu. Rose aber t adelt sie, daß sie solche gewagt en Geschicht en erzählt : «Hör m al, Cat herine», sagt sie, «hier sind nicht nur junge M ädchen anwesend.» Zu dieser St unde st reicht das P ost flugzeug über der St adt hin und läßt den Glanz seines M et alls auf der Erde und im Him m el überm üt ig funkeln. Es folgt der Rundung der Bucht , neigt sich wie sie, paßt sich dem Gang der W elt an, verzicht et aber ganz plöt zlich auf sein Spiel, wendet jäh, t aucht langsam zum M eer hinunt er und wassert in einem riesigen weißblauen W ogenschwall. Gula und Cali liegen auf der Seit e, sperren ihre Schlangenm äulchen so weit auf, daß m an den rosigen Gaum en sieht , und geben sich üppigen, obszönen T räum en hin, bei denen ihre Flanken erbeben. Der Him m el drückt von oben her m it seiner ganzen Last aus Sonne und Farben nach unt en. M it geschlosse-
nen Lidern vollzieht Cat herine in sich den langen t iefen St urz nach, der sie wieder in ihr Innerst es führt , wo sich weich jenes T ier regt , das at m et wie ein Got t . Am nächst en Sonnt ag werden Gäst e erwart et . Claire ist an der Reihe, sich um s Kochen zu küm m ern. Rose hat also das Gem üse geput zt , das Geschirr bereit gest ellt und den T isch gedeckt ; Claire wird das Gem üse aufset zen und das Kochen überwachen, während sie in ihrem Zim m er liest . Da M ina, die M aurin, an diesem M orgen nicht gekom m en ist — sie hat zum drit t enm al im Jahr ihren Vat er verloren —, m ußt e Rose auch im Haus Ordnung m achen. Die Gäst e t reffen ein. Da ist Eliane, die M ersault die Idealist in nennt . «W arum ?» fragt Eliane. «W eil du, wenn m an dir et was W ahres erzählt , das dich schockiert , ant wort est : » Eliane hat ein gut es Herz und st ellt selber bei sich eine Ähnlichkeit m it dem <M ann m it dem Handschuh> fest , die sonst niem and wahrhaben will. Aber eigensinnig hat sie gleichwohl alle W ände ihres Zim m ers m it Reprodukt ionen von dem <M ann m it dem Handschuh) behängt . Eliane bet reibt St udien. Als sie das erst e M al in das Haus vor der W elt gekom m en ist , hat sie ihr Ent zükken darüber geäußert , daß dessen Bewohner «frei von Vorurt eil e n » seien. M it der Zeit hat sie das dann nicht m ehr ganz so bequem gefunden. Das Fehlen von Vorurt eilen best and darin, daß m an ihr sagt e, die sorgfält ig zurecht gest ut zt e Geschicht e, die sie erzählt habe, sei nicht s weit er als höchst langweilig, und daß m an ihr bei jedem Sat z, den sie äußert e, freundschaft lich erklärt e: Eliane, du bist ein kleines Schaf.» Als Eliane m it Noël, dem anderen Eingeladenen, seines Zeichens Bildhauer, die Küche bet rit t , st ößt sie gleich auf Cat herine, die niem als in einer norm alen Halt ung kocht . Auf dem Rücken liegend, ißt sie m it der einen Hand W eint rauben und rührt m it der anderen eine eben erst im Ent st ehen begriffene M ayonnaise. Rose, m it einer großen blauen Schürze bekleidet , bewundert die Int elligenz der Kat ze Gula, die auf den Suppent opf gesprungen ist , um den zweit en Gang des M it t agsm ahls zu verspeisen.
«Ist es zu glauben», sagt Rose ganz entzückt, «nein, wirklich, ist es zu glauben, wie intelligent sie ist?» «Ja», sagt Catherine, «sie übertrifft heute sich selbst», und setzt hinzu, am anderen Morgen bereits habe die ständig an Intelligenz zunehmende Gula die kleine grüne Lampe und eine Blumenvase zerbrochen. Eliane und Noël, die vermutlich zu sehr außer Atem sind, um ihrem Ekel Ausdruck zu geben, suchen sich schließlich eine Sitzgelegenheit, da niemand daran denkt, ihnen eine anzubieten. Claire gesellt sich liebenswürdig und träge hinzu, drückt Hände und kostet die Bouillabaisse, die noch auf dem Feuer steht. Sie meint, daß man jetzt zu T isch gehen könne. Doch heute verspätet sich Patrice. Dann erscheint er aber und erklärt Eliane wortreich, er sei guter Laune, weil die Frauen auf den Straßen so schön ausgesehen hätten. Kaum hat die heiße Jahreszeit begonnen, da sind auch schon die leichten dünnen Kleider da, unter denen straffe Körper sich elastisch bewegen. Patrice behauptet, er habe davon jetzt noch ein trockenes Gefühl im Mund, verspüre ein Pochen in den Schläfen und Hitze in den Lenden. Einer so präzisen Ausdrucksweise gegenüber verstummen Eliane und ihr Schamgefühl. Bei T isch folgt peinliche Verblüffung auf die ersten Löffel Bouillabaisse. Claire bemerkt kokett in sehr klarem Stil: «Ich fürchte, diese Bouillabaisse schmeckt nach verbrannten Zwiebeln.» «Aber nicht doch», sagt Noël, der seines guten Herzens wegen allgemein beliebt ist. Um dieses gute Herz auf die Probe zu stellen, bittet ihn Rose, für das Haus doch eine gewisse Anzahl von nützlichen Gegenständen zu kaufen, so zum Beispiel einen Badeofen, Perserteppiche und einen Kühlschrank. Als Noël als Antwort darauf Rose nahelegt, sie solle für ihn beten, damit er in der Lotterie gewinnt, stellt sie nicht ohne Realismus fest: «Dann können wir auch gleich für uns selber beten.» Es wird warm, aber es herrscht eine gute, gleichmäßige Wärme, die den gekühlten Wein und die ersten Früchte der Jahres-
zeit noch köst licher m acht . Beim Kaffee spricht Eliane m it bem erkenswert em M ut über die Liebe. W enn sie liebt e, würde sie heirat en, sagt sie. Cat herine hält ihr ent gegen, wenn m an liebe, sei das dringlichst e, diese Liebe auszuüben, und diese m at erialist ische Auffassung ent set zt Eliane. Rose, die sich gern auf T at sachen st üt zt , würde ihr beipflicht en, wenn nicht . Eliane und Cat herine aber zwingen ihre Gedanken zum W iderspruch und werden ungerecht , wie es sich gehört , wenn m an über T em peram ent verfügt . Noel, der in Form en und in T on denkt , glaubt an die Frau, an Kinder und an pat riarchalische Überzeugungen in einem konkret en Dasein, das m an nicht leicht nehm en kann. Rose, der Elianes und Cat herines St im m aufwand zuviel wird, t ut daraufhin, als verst ünde sie plöt zlich die Absicht , die sich hint er Noels zahlreichen Besuchen verberge. «Ich danke Ihnen», sagt sie, «und ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr m ich diese Ent deckung verwirrt . Ich werde gleich m orgen m einem Vat er über P läne bericht en, und in ein paar T agen können Sie dann um m eine Hand anhalten. » «Aber. . . » wendet Noel ein, der nicht verst eht , was sie im Schilde führt . «Oh», ant wort et Rose m it großem Schwung, «ich weiß. Aber ich verst ehe Sie, ohne daß es von Ihrer Seit e der W ort e bedarf. Sie gehören zu den M enschen, die schweigen und deren Gedanken m an errat en m uß. Übrigens bin ich froh, daß Sie sich erklärt haben, denn Ihre häufigen Besuche fingen schon an, der M akellosigkeit m eines Rufs zu schaden.» Noel erklärt am üsiert und leicht beunruhigt , er sei ent zückt , seine W ünsche durch Erfolg gekrönt zu sehen. «Ganz zu schweigen davon», sagt P at rice, bevor er sich eine Zigaret t e anzündet , «daß ihr euch ein bißchen beeilen sollt et . Roses Zust and verpflicht et euch, die Sache nicht zu lange aufzuschieben.»
«Wieso?» fragt Noel. «M ein Got t », sagt Claire, «wir sind doch erst im zweit en Monat.» «Und außerdem », set zt Rose in zugleich liebevollem und überzeugendem Ton hinzu, «sind Sie jetzt in dem Alter, in dem m an glücklich ist , sich in dem Kind eines anderen wiederzuerkennen. » Noel runzelt ein wenig die St irn, und Claire lenkt gut m üt ig ein: «Das Ganze ist ein Scherz. M an m uß es nur m it Hum or zu nehm en wissen. Gehen wir in den Salon.» Dam it ist die Diskussion über P rinzipien zu Ende. Dennoch redet Rose, die ihre gut en W erke gern im st illen t ut , m it sanft er St im m e auf Eliane ein. In dem großen Zim m er hat P at rice sich ans Fenst er geset zt , Claire st eht an den T isch gelehnt da, und Cat herine hat sich auf der M at t e gelagert . Die anderen sit zen auf dem Diwan. Ein dicht er Nebel liegt jet zt über St adt und Hafen. Aber die Schlepper nehm en ihre Arbeit wieder auf, und ihre dum pfen Rufe t ragen et was von dem T eer- und Fischgeruch, der W elt der rot en und schwarzen M uscheln, der rost igen P oller und m it Algen behaft et en Ket t en, die dort unt en erwacht , bis hier herauf. W ie alle T age ert önt der m ännliche, brüderliche Appell eines Lebens, das nach Kraft ent falt ung schm eckt und dessen Verlockung oder unm it t elbare Aufforderung hier oben jeder spürt . Eliane sagt t raurig zu Rose: «Auch Sie sind im Grunde wie ich.» «Nein», sagt Rose, «ich versuche nur, glücklich zu sein, und zwar so glücklich wie m öglich.» «Und die Liebe ist nicht das einzige M it t el dazu», bem erkt P at rice, ohne sich um zudrehen. Er m ag Eliane sehr gern und fürcht et , ihr vorhin Kum m er gem acht zu haben. Aber er verst eht Rose, wenn sie glücklich sein will. «Das ist ein Ideal der M it t elm äßigkeit », m eint Eliane. «Ich weiß nicht , ob es ein Ideal der M it t elm äßigkeit ist , aber auf alle Fälle ist es ein gesundes Ideal. Und das, wissen Sie . . . »
Patrice fährt in seiner Rede nicht fort. Rose hat ein bißchen die Augen zugemacht. Gula ist ihr auf die Knie gesprungen, und träge den Kopf des T ieres streichelnd, zelebriert Rose das Vorspiel der geheimen Vermählung, bei der die Katze mit den halbgeschlossenen Augen und die unbeweglich sitzende Frau sich mit dem gleichen Blick ein gleiches Universum erschließen. Jeder träumt für sich zwischen den langgezogenen Rufen der Schlepper vor sich hin. Rose läßt das Schnurren der in ihrem Schoß zusammengerollten Gula zu sich aufsteigen. Die Hitze liegt schwer auf ihren Augen und läßt sie in ein Schweigen versinken, das einzig das Pochen ihres Blutes belebt. Die Katzen schlafen ganze T age lang und lieben vom ersten Stern bis zum Morgengrauen. Ihre Wollust bereitet Schmerzen und ihr Schlaf ist dumpf. Sie wissen auch, daß der Körper eine Seele besitzt, an der die Seele nicht teilhat. « Ja » , sagt Rose und schlägt die Augen auf, «glücklich sein, und zwar so glücklich wie möglich.» Mersault dachte an Lucienne Raynal. Als er kurz zuvor gesagt hatte, die Frauen auf den Straßen seien so schön gewesen, wollte er vor allem sagen, daß eine Frau ihm schön vorgekommen sei. Er war ihr bei Freunden begegnet. Vor einer Woche waren sie zusammen ausgegangen und, da sie nichts zu tun hatten, an einem schönen warmen Vormittag auf den Boulevards am Hafen entlanggewandert. Sie hatte den Mund nicht aufgemacht, und Mersault hatte sich, als er sie nach Hause zurückbegleitete, dabei überrascht, wie er ihr lange die Hand drückte und sie anlächelte. Sie war groß, trug keinen Hut, hatte ein weißes Leinenkleid an und offene Sandalen an den Füßen. Auf den Boulevards hatten sie im Gehen gegen einen leichten Wind angekämpft. Sie setzte ihren Fuß flach auf die heißen Steinplatten und stieß sich dort gleichsam ab, um sich kaum merklich gegen den Wind zu stemmen. Bei dieser Bewegung legte sich das Kleid fest an ihren Körper an, so daß sich ihr flacher, leicht geschwungener Leib darunter abzeichnete. Mit ihrem zurückgekämmten blonden Haar, ihrer kleinen geraden Nase und der prachtvollen Wölbung ihrer Brüste verkörperte und bestätigte sie ein gehei-
mes Einverständnis, das sie mit der Welt verknüpfte und ihre Umwelt auf ihre Bewegungen ausrichtete. Wenn sie ihre Handtasche in der rechten Hand schwenkte, an der sie ein gegen den Verschluß klimperndes silbernes Armband trug, die Linke über ihren Kopf hob, um sich gegen die Sonne zu schützen, und die Spitze ihres rechten Fußes noch den Boden berührte, aber schon bereit war, ihn zu verlassen, kam es Patrice so vor, als verbinde sie sich durch ihre Gebärden mit der Welt. Dann empfand er die geheimnisvolle Übereinstimmung, in der sich seine Schritte denen Luciennes anpaßten. Sie schritten zusammen aus, ohne daß es ihm Mühe machte, sich mit ihr im Einklang zu befinden. Zweifellos wurde die Harmonie dadurch erleichtert, daß Lucienne diese flachen Schuhe trug. Zudem aber bestand in ihrer beider Gang etwas Gemeinsames in der Schrittlänge und der Geschmeidigkeit. Gleichzeitig stellte Mersault Luciennes Schweigsamkeit und ihren verschlossenen Gesichtsausdruck fest. Er dachte, sie sei womöglich wenig gescheit, und freute sich darüber. Es liegt etwas Göttliches in der Schönheit ohne Geist, und Mersault hatte mehr Sinn dafür als irgendein anderer. Alles das bewirkte, daß er Luciennes Hand lange in der seinen hielt, daß er sie häufig wiedersah, lange mit ihr im gleichen schweigenden Rhythmus spazierenging und daß sie beide, die gebräunten Gesichter zur Sonne oder zu den Sternen erhoben, zusammen badeten und ihre Bewegungen wie ihre Schritte aufeinander abstimmten, ohne etwas anderes auszutauschen als die, Anwesenheit ihrer Körper. Alles das war so bis gestern abend gegangen, wo Mersault ein zugleich vertrautes und bestürzendes Wunder auf den Lippen Luciennes wiedergefunden hatte. Bis dahin war das, was ihn bewegte, die Art gewesen, wie sie sich an ihre Kleider heftete, ihm folgte, während sie seinen Arm ergriff, die Hingegebenheit und das Vertrauen, die den Mann in ihm anrührten. Auch noch ihr Schweigen kam dazu, durch das sie sich ganz und gar mit der Gebärde des Augenblicks eins erklärte und das ihre Katzenähnlichkeit vollendete, der sie bereits den Ernst zu verdanken hatte, mit dem sie jede ihrer Handlungen vollzog. Gestern nach dem
Abendessen war er m it ihr an den Quais ent langgegangen. P löt zlich waren sie am Geländer der Boulevards st ehengeblieben, und Lucienne war ganz nahe an M ersault herangeglit t en. Im Dunkeln hat t e er unt er seinen Händen ihre kalt en vorspringenden Backenknochen und ihre heißen Lippen gespürt , in deren feucht er W ärm e sein Finger sich verlor. Da war in ihm et was aufgebrochen wie ein gewalt iger selbst loser Schrei. Angesicht s der von St ernen berst enden Nacht und der St adt , die wie ein um gekehrt er Him m el unt er dem warm en, t ief eindringenden Hauch, der vom Hafen her zu seinem Gesicht aufst ieg, von m enschlichen Licht ern übersät war, hat t e ihn ein Durst nach dieser warm en Quelle und der hem m ungslose W ille erfaßt , auf diesen lebendigen Lippen den ganzen Sinn dieser unm enschlichen schlafenden W elt wie ein in ihrem M unde eingeschlossenes Schweigen zu erfassen. Er beugt e sich zu ihr, und es war, als ob er seine Lippen auf ein Vögelchen drückt e. Lucienne st öhnt e. Er biß in ihre Lippen, und at m et e ein paar Sekunden lang, M und an M und, diese W ärm e ein, die ihn in eine Verzückung verset zt e, als schließe er die W elt in seine Arm e. Sie indessen hielt sich an ihm fest wie eine Ert rinkende, kam st oßweise aus dem großen schwarzen Abgrund, in den sie sich hineingest ürzt hat t e, wieder hervor, drängt e dann j ä h seine Lippen von sich fort und zog sie gleich wieder an sich, um alsbald in die eisigen schwarzen Flut en zurückzusinken, die sie verbrannt en wie ein Volk von Göt t ern. ... Aber Eliane brach bereit s auf. Ein langer Nachm it t ag der St ille und des Nachdenkens erwart et e M ersault in seinem Zim m er. Beim Abendessen blieben alle st um m . Doch wie auf Verabredung ging m an hint erher gem einsam auf die T errasse hinaus. Schließlich m ünden im m er wieder die T age in die T age ein, vom M orgen über der Bucht , über der es von Nebel und Sonnenschein brodelt , bis zu der M ilde des Abends über der gleichen Bucht . Der T ag erhebt sich über dem M eer und geht hint er den Hügeln unt er, weil der Him m el nur den einen W eg weist , der vom M eer bis zu den Hügeln reicht . Die W elt sagt im m er nur ein und dasselbe, weckt Int eresse daran und erm üdet alsbald. Doch
es kommt eine Zeit, wo sie durch stete Wiederholung siegt und den Lohn für ihr Beharren erntet. So gehen die T age des Hauses vor der Welt, gleichsam eingestickt in den kostbaren Stoff des Lachens und der schlichten Gebärden, auf der T errasse im Anblick der sternenbeladenen Nacht zu Ende. Man streckte sich in langen Stühlen aus, während Catherine auf der Stützmauer sitzen blieb. Am glühenden, geheimnisvollen Himmel strahlt das Antlitz der dunklen Nacht. Lichter gleiten in weiter Ferne im Hafen vorbei, und das Pfeifen der Züge wird seltener. Die Sterne werden größer und dann wieder kleiner, sie verschwinden und tauchen von neuem auf, bilden untereinander flüchtige Figuren und stellen sie mit anderen wieder her. In der herrschenden Stille gewinnt die Nacht ihre Dichte und Stofflichkeit zurück. Vom Gleiten der Sterne durchzogen, überläßt sie den Augen die Lichterspiele, die sich die T ränen darin schaffen. Und jeder findet, während er sich in die T iefe des Himmels versenkt, an jenem äußersten Punkt, an dem alles zusammentrifft, den geheimen zärtlichen Gedanken wieder, aus dem die ganze Einsamkeit seines Lebens besteht. Catherine, die plötzlich von Liebe übermannt wird, kann nur noch seufzen. Patrice, der spürt, daß seine Stimme verändert klingt, fragt indessen: «Ihr friert doch nicht?» «Nein», sagt Rose. «Und im übrigen ist ja das gerade so schön.» Claire ist aufgestanden, hat ihre Hände auf die Mauer gelegt und ihr Gesicht zum Himmel emporgekehrt. Angesichts von allem Primitiven und Erhabenen, das auf der Welt besteht, verwechselt sie ihr Leben mit ihrem Verlangen nach Leben und vermischt ihre Hoffnung mit dem Lauf der Sterne. Jäh wendet sie sich um und sagt zu Patrice: «Wenn man an guten T agen dem Leben Vertrauen schenkt, zwingt man es, dem auch zu entsprechen.» «Ja», sagt Patrice, ohne sie anzusehen. Eine Sternschnuppe fällt. Dahinter strahlt das Licht eines fer-
nen Leuchtturms durch die inzwischen noch schwärzer gewordene Nacht. Menschen kommen schweigend den Weg herauf. Man hört sie schreiten und heftig dabei atmen. Kurz danach dringt Blumenduft herauf. Die Welt sagt immer nur ein und dasselbe. Auf diese geduldige Wahrheit aber, die von einem Stern an den anderen weitergegeben wird, gründet sich eine Freiheit, die uns von uns selbst und den anderen entbindet, doch auch auf jene andere geduldige Wahrheit, die T od mit T od verbindet. Patrice, Catherine, Rose und Claire werden sich dann des Glückes bewußt, das ihnen aus ihrer Hingabe an die Welt erwächst. Wenn diese Nacht die Gestalt ihres Schicksals spiegelt, so bewundern sie daran, daß es zugleich körperlich und geheimnisvoll ist und daß sich auf seinen Zügen T ränen und Sonnenschein mischen. Und ihr von Schmerz und Freude erfülltes Herz vermag jene zwiefache Lehre zu begreifen, die auf den glücklichen T od hinführt. Es ist jetzt spät geworden, schon Mitternacht. Auf dem Antlitz dieser Nacht, das wie die Ruhe und das Denken der Welt selber ist, zeigen ein dumpfes Schwellen und ein Rauschen von Sternen das nahende Erwachen an. Von dem mit Gestirnen überladenen Himmel fällt zitterndes Licht herab. Patrice schaut die Freundinnen an: Catherine, die mit zurückgelehntem Kopf auf der Mauer hockt, Rose, die auf dem Liegestuhl kauernd die Hände über Gula hinstreckt, Claire, die mit ihrer wie ein weißer Fleck wirkenden, vorgewölbten Stirn steif an der Mauer steht: junge Wesen, befähigt zum Glück, die ihre Jugend miteinander austauschen und ihre Geheimnisse bewahren. Er ist nahe an Catherine herangetreten und blickt über die himmelsgleiche Rundung ihrer Schulter aus Fleisch und Sonne hinweg. Auch Rose hat sich der Mauer genähert, und alle vier haben die Welt vor sich. Es ist, als ob der plötzlich kühler gewordene Nachttau auf ihren Stirnen alle Zeichen ihrer Einsamkeit auslöschte und sie, von sich selber befreit durch diese bewegte, flüchtige T aufe, der Welt von neuem schenkte. Zu dieser Stunde, in der die Nacht von Sternen überfließt, zeichnen sich ihre Gebärden in unbewegter Starre in das große stumme Antlitz des Himmels
ein. Patrice hebt den Arm der Nacht entgegen, umfaßt in seiner Begeisterung die Sternengarben, das von seinem Arm durchschnittene Wasser des Himmels und Algier zu seinen Füßen und schlingt es alles um sie wie einen dunkel glitzernden Mantel aus Muscheln und Edelsteinen.
IV Im M orgengrauen rollt e M ersault s W agen m it abgeblendet en Scheinwerfern die Küst enst raße ent lang. Als er Algier verließ, hat t e er ein paar M ilchwagen eingeholt und überholt , und der aus warm em Schweiß und St alldunst gem ischt e P ferdegeruch hat t e ihm die M orgenkühle noch wohlt uender zum Bewußt sein gebracht . Noch war alles nacht schwarz. Ein let zt er St ern zerschm olz langsam am Him m el, und auf der im Dunkeln leucht enden St raße nahm er nur das Geräusch des M ot ors, das der St im m e eines wohlig at m enden T ieres glich, und m anchm al et was weit er in der Ferne den Hufschlag eines P ferdes und das Geschepper eines m it Blechkannen beladenen W agens wahr, bis er vor dem schwarzen Hint ergrund der St raße an dem vierfachen hellen Aufblit zen die Eisen an den Füßen des P ferdes erkannt e. Er fuhr jet zt schneller, und die Nacht wurde rascher zum T age. Aus der T iefe des Dunkels zwischen den Hügeln von Algier glit t das Aut o auf eine freie St raße über dem M eer, wo der M orgen sich vollendet e. M ersault t rieb den W agen auf höchst e T ouren. Auf dem t aufeucht en Unt ergrund vervielfält igt en sich die leicht en Sauggeräusche der Räder. An jeder der zahllosen Kurven bracht e die Brem se die P neus zu schrillem Aufheulen, und auf der Geraden überdeckt e dann wieder das t iefe Brum m en des M ot ors beim Höherschalt en einen Augenblick lang die schwachen St im m en des M eeres, die von der Küst e unt en heraufst iegen. Nur das Flugzeug schenkt dem M enschen eine noch spürbarere Einsam keit als die, die er im Aut o ent deckt . Ganz seiner eigenen Gegenwart bewußt und auch bewußt befriedigt über die P räzision seiner Bewegungen, konnt e M ersault zugleich wieder an sich selbst denken wie auch an das, was ihn beschäft igt e. Der T ag t a t sich jet zt weit am Ende der St raße auf. Die
Sonne erhob sich über dem M eer, und m it ihr erwacht en auf beiden Seit en die eben noch verlassenen Felder m it Vogelgeschwirr und im Fluge rot schim m ernden Insekt en. M anchm al st apft e über eines der Felder ein Bauer dahin, von dem M ersault bei seiner hohen Geschwindigkeit nur die Silhouet t e eines m it einem Sack beladenen M annes erkannt e, der m it seinem ganzen Gewicht in die schwere, saft ige Erde einsank. W ie es sein sollt e, führt e das Aut o ihn wieder zu den Hügeln zurück, die das M eer beherrscht en. Sie wurden größer, und ihre Um risse, die sich bis eben nur schat t enspielart ig vor der T ageshelle abzeichnet en, rückt en schnell näher und wurden deut licher in den Einzelheit en, so daß M ersault plöt zlich klar ihre m it Olivenbäum en, P inien und kalkbeworfenen Häuschen bedeckt en Flanken vor sich sah. Dann führt e j ä h eine neue Kurve den W agen auf das M eer zu, das, von der beginnenden Flut anschwellend, sich M ersault wie eine Opferschale voll Salz, röt lichen T önen und Schlum m er ent gegenhob. Der W agen glit t pfeifend auf der St raße ent lang, anderen Hügeln und dem ewig gleichen M eer ent gegen. Einen M onat zuvor hat t e M ersault dem Haus vor der W elt seinen Aufbruch angezeigt . Er wollt e zuerst einm al reisen und sich dann in der Nähe von Algier endgült ig niederlassen. Ein paar W ochen darauf war er wieder zurückgekehrt , diesm al sicher, Reisen würde für ihn künft ighin eine ihm frem de Lebensform sein: Ort sveränderung erschien ihm als ein Glück nur noch für rast lose M enschen. Außerdem st ellt e er bei sich ein dum pfes Gefühl der Erm üdung fest . Er hat t e Eile, seinen P lan zu verwirklichen, näm lich ein Häuschen zwischen M eer und Gebirge zu kaufen, am Chenoua, ein paar Kilom et er von den Ruinen von T ipasa ent fernt . Bei seiner Ankunft in Algier hat t e er sich den äußeren Rahm en für dieses Leben geschaffen. Er hat t e erhebliche Vorrät e an deut schen pharm azeut ischen P rodukt en erworben, einen bezahlt en Angest ellt en m it seinen Geschäft en beauft ragt und auf diese W eise seine zeit weilige Abwesenheit von Algier und sein unabhängiges Leben zu begründen gewußt . Die Geschäft e liefen übrigens nur schlecht
und recht, doch glich er die Verluste ohne Reue aus, da er darin den T ribut sah, den er für seine vollkommene Freiheit entrichtete. Es genügt tatsächlich, der Welt ein Gesicht vorzuzeigen, das sie verstehen kann. T rägheit und Gleichgültigkeit bewirken das übrige. Unabhängigkeit läßt sich mit ein paar billigen, unter dem Siegel der Verschwiegenheit geäußerten Phrasen erringen. Mersault beschäftigte sich sodann mit der Lage Luciennes. Sie hatte keine Eltern mehr, lebte allein, war Sekretärin bei einer Kohlenfirma, ernährte sich von Früchten und trieb Gymnastik. Mersault lieh ihr Bücher. Sie gab sie ihm wortlos zurück. Auf seine Fragen antwortete sie: «Ja, das ist gut» oder: «Es ist ein bißchen traurig.» An dem T age, an dem er Algier zu verlassen beschloß, schlug er ihr vor, sie solle mit ihm leben, jedoch auch weiterhin, ohne zu arbeiten, in Algier wohnen bleiben und nur zu ihm kommen, wenn er sie brauche. Er brachte die Sache so überzeugend vor, daß Lucienne nichts Demütigendes darin sah, und außerdem lag ja auch gar nichts Demütigendes darin. Lucienne nahm oft durch den Körper wahr, was ihr Geist nicht begreifen konnte. Sie willigte ein. «Wenn Sie Wert darauflegen», setzte Mersault hinzu, «kann ich Ihnen auch die Heirat versprechen, doch hat es meiner Meinung nach nicht viel Sinn.» «Ganz, wie Sie wollen», antwortete Lucienne. Eine Woche darauf heiratete er sie und rüstete sich zum Aufbruch. Lucienne kaufte sich inzwischen ein orangefarbenes Kanu, um auf das blaue Meer hinauszufahren. Mersault vermied es mit einer raschen Drehung des Lenkrads, eine Henne zu überfahren, eine Frühaufsteherin. Er dachte an sein Gespräch mit Catherine. Am Abend vor dem Aufbruch hatte er das Haus vor der Welt verlassen, um eine Nacht allein im Hotel zu verbringen. Es war am frühen Nachmittag, und da es am Morgen geregnet hatte, sah die ganze Bucht wie eine frischgeputzte Fensterscheibe und der Himmel wie frisches Linnen aus. Genau gegenüber zeichnete sich am Ende der Bucht das Kap in wunderbarer Klarheit ab und streckte sich, von seinem Sonnenstrahl vergol-
det , wie eine große, som m erliche Schlange bis ins M eer hinein. P at rice hat t e gerade seine Koffer geschlossen und bet racht et e jet zt , den Arm auf den Fenst erriegel gest üt zt , m it gierigen Blikken diese Neuerschaffung der W elt . «Ich verst ehe nicht , weshalb du fort gehst , wenn du hier glücklich bist », sagt e Cat herine. «Ich würde hier riskieren, geliebt zu werden, m eine kleine Cat herine, und das würde m ich hindern, glücklich zu sein.» Auf dem Diwan zusam m engerollt und m it et was geneigt em Kopf sandt e Cat herine P at rice einen ihrer schönen Blicke ohne T iefe zu. Ohne sich um zudrehen, fuhr er fort : «Viele M enschen kom plizieren selbst ihre Exist enz und erfinden sich Schicksale. Bei m ir ist das alles ganz einfach. Sieh m al. . . » Er sprach m it dem Gesicht zur W elt , und Cat herine fühlt e sich vergessen. Sie beobacht et e M ersault s lange Finger am Ende des über dem Fenst ergriff ruhenden Unt erarm s, die Art , wie er den Körper auf der einen Hüft e ruhen ließ, und erriet auch, ohne ihn zu sehen, seinen ziellos schweifenden Blick. «W as ich m öcht e . . . » fing sie an, doch dann schwieg sie und sah wieder zu P at rice hinüber. Kleine Segel begannen, die W indst ille nut zend, auf das M eer zu gleit en. Sie gelangt en in die Ausfahrt , erfüllt en sie m it Flügelschlägen und nahm en plöt zlich Kurs auf das offene M eer, eine Kielspur aus Luft und W asser hint er sich lassend, die sich in schaum igem Gekräusel dehnt e. Von ihrem P lat z aus konnt e Cat herine sie, je weit er sie sich ins M eer vorschoben, rings um P at rice sich erheben sehen wie einen Flug weißer Vögel. P at rice schien ihr Schweigen und ihren Blick zu spüren. Er wendet e sich um , ergriff ihre Hände und zog sie zu sich heran. «Gib niem als auf, Cat herine. Du hast so vieles in dir und darunt er das Edelst e von allem , den Sinn für das Glück. Erwart e nur nicht die Erfüllung deines Lebens von einem M ann. Darin t äuschen sich so viele Frauen. Erwart e sie nur von dir selbst .» «Ich beklage m ich nicht , M ersault », sagt e Cat herine m it sanft er St im m e, während sie P at rice an der Schult er berührt e.
«Eine einzige Sache zählt in diesem Augenblick. Gib gut auf dich acht.» Da empfand er, wie wenig es war, worauf seine Sicherheit sich gründete. Er verspürte im Herzen eine seltsame Dürre. «Das hättest du jetzt nicht sagen dürfen.» Er nahm seinen Koffer und stieg erst die steile T reppe, dann den Weg, der von den einen Olivenbäumen zu den anderen führte, hinab. Nichts wartete mehr auf ihn als der Chenoua, ein Wald von Ruinen und Wermutstauden, eine Liebe ohne Hoffnung noch Verzweiflung samt der Erinnerung an ein Leben voll Essig und voll Blumen. Er wendete sich um. Von da oben her sah Catherine, ohne eine Bewegung zu machen, seinen Aufbruch mit an. Nach etwas weniger als zwei Stunden sah Mersault den Chenoua vor sich liegen. In diesem Augenblick verweilten noch die letzten Veilchentöne der Nacht auf den Hängen, die sich ins Meer hinuntersenkten, während der Gipfel von roten und gelben Schimmern leuchtete. Es sah aus, als stiege die Erde von den am Horizont sich abzeichnenden Hügeln des Sahel her kraftvoll und wuchtig an, um schließlich zu dem riesigen Rücken des muskulösen T ieres zu werden, das mit seiner gewaltigen Höhe ins Meer hinuntertauchte. Das Haus, das Mersault gekauft hatte, stand an einem der letzten Abhänge, etwa hundert Meter vom Meer entfernt, das schon golden in der Hitze schimmerte. Es hatte nur ein Stockwerk über dem Erdgeschoß, und dort nur ein einziges Zimmer mit den dazugehörigen Nebenräumen. Dieses Zimmer aber war sehr groß, und man blickte von da aus durch ein riesiges Fenster mit einer T errasse davor auf einen Vordergarten und dann auf das Meer. Mersault stieg schnell hinauf. Das Meer begann schon zu dampfen, und zugleich vertiefte sich seine Bläue, während das warme Rot der T errassenfliesen erst jetzt Strahlung und Glanz erhielt. Durch die weiß verputzte Balustrade drängten sich schon die ersten Blüten einer prächtigen Kletterrose. Sie waren weiß, und diejenigen, die sich weit geöffnet vom Meer abhoben, hatten etwas Sattes und Üppiges in ihrer festen Konsistenz. Von den Zimmern im
unt eren St ock blickt e das eine auf die niederst en, m it Obst bäum en best andenen Hänge des Chenoua, die beiden anderen auf den Gart en und das M eer. Im Gart en reckt en zwei P inien ihre überhohen St äm m e, von denen nur der oberst e T eil m it einem gelblichgrünen P elz bedeckt war, in den Him m el em por. Von dem Haus aus konnt e m an einzig den Zwischenraum zwischen den beiden Bäum en und die geschwungene Linie des M eeres zwischen den St äm m en sehen. In diesem Augenblick bewegt e sich wenigst ens ein kleiner Dam pfer auf die offene See hinaus, und M ersault begleit et e ihn während der langen Reise von einer P inie zur anderen m it dem Blick. Dort also würde er leben. Zweifellos rührt e die Schönheit dieser St ät t e an sein Herz. Um der Lage willen hat t e er ja auch dieses Haus gekauft . Die Ent spannung, die er zu finden gehofft hat t e, erschreckt e ihn jet zt jedoch. Und die Einsam keit , die er so bewußt gesucht hat t e, kam ihm nun, da er den Rahm en dafür kannt e, eher beunruhigend vor. Das Dorf war nicht weit ent fernt , nur ein paar hundert M et er. Er ging hinaus. Ein kleiner P fad führt e von der Landst raße zum M eer hinunt er. Als er ihn einschlug, bem erkt e er zum erst en M al, daß m an auf der anderen Seit e die kleine Landspit ze von T ipasa sehen konnt e. Am äußerst en Ende dieser Spit ze zeichnet en sich die golden schim m ernden Säulen des T em pels und rings um sie her die verfallenen Ruinen zwischen den W erm ut st auden ab, die von weit em wie ein grauer wolliger Überzug aussahen. An Juniabenden, dacht e M ersault , m üßt e der W ind vom M eer her den Duft , den die sonnenheißen W erm ut st auden ent sandt en, bis zum Chenoua herübert ragen. Er m ußt e jet zt sein Haus inst and set zen und einricht end Die erst en T age vergingen schnell. Er kalkt e die W ände, kauft e in Algier Vorhänge und überholt e die elekt rische Inst allat ion. Über dieser Arbeit , die t äglich durch die M ahlzeit en, die er im Dorfgast haus einnahm , und durch Baden im M eer unt erbrochen wurde, vergaß er, weshalb er hierher gekom m en war und vergaß auch sich selbst über der Erm üdung seines Körpers, den Rückenschm erzen und den st eifen Beinen, einzig beschäft igt
m it dem schadhaft en Anst rich und der Einricht ung einer nicht richt ig funkt ionierenden P endelt ür im Korridor. Er nächt igt e im Gast haus und lernt e nach und nach das Dorf kennen: die Burschen, die am Sonnt agnachm it t ag kam en, um Lochbillard und P ingpong zu spielen (sie hielt en die Spielt ische den ganzen Nachm it t ag beset zt und m acht en zum großen Verdruß des W irt es nur einm al eine Best ellung), die M ädchen, die am Abend auf der St raße über dem M eer prom eniert en (sie gingen unt ergehakt , und ihre St im m en verweilt en singend auf den let zt en Silben der W ört er), P érez, den Fischer, der das Gast haus m it Fischen versorgt e und einarm ig war. Dort t raf er auch den Dorfarzt , Dr. Bernard. Sobald jedoch im Haus alles in Ordnung war, bracht e M ersault seine Sachen hinüber und kam wieder et was m ehr zu sich selbst . Es war Abend. Er hielt sich in dem Zim m er im erst en St ock auf, und draußen vor dem Fenst er t eilt en sich zwei W elt en in den Raum zwischen den beiden P inien. In der einen, der t ransparent eren, wim m elt e es von St ernen. In der anderen, die undurchsicht iger und schwärzer war, deut et e ein verborgenes P lät schern von W asser die Nähe des M eeres an. Bislang hat t e er unbefangen dahingelebt , im Um gang m it den Arbeit ern, die i h m halfen, oder dem Cafébesit zer, m it dem er zu schwat zen pflegt e. An diesem Abend aber wurde er sich bewußt , daß es weder m orgen noch jem als für ihn jem anden geben würde, den er t reffen könnt e, und daß er sich nun der so sehr ersehnt en Einsam keit gegenüber befand. Sobald es so weit war, daß er niem anden m ehr sehen sollt e, kam ihm der nächst e T ag erschreckend nahe vor. Er versucht e sich jedoch selbst zu überzeugen, daß ja das gerade seinen W ünschen ent spräche: eine lange Zeit bis zum Ende nur m it sich selber zu leben. Er beschloß bis spät in die Nacht hinein zu rauchen und nachzudenken, aber gegen zehn Uhr wurde er m üde und ging zu Bet t . Am nächst en T age wacht e er sehr spät , erst gegen zehn Uhr, auf, bereit et e sein Frühst ück und nahm es ein, bevor er sich ankleidet e. Er fühlt e sich et was m at t . Er war noch nicht rasiert , und das Haar hing ihm wirr in die St irn. Dennoch ging er nach dem Frühst ück, bevor er sich ins Badezim m er begab, planlos von
einem Zimmer ins andere, blätterte in einer Zeitschrift, war schließlich geradezu froh, noch einen Schalter zu finden, der sich gelockert hatte, und machte sich an die Arbeit. Da klopfte es an der T ür. Es war der kleine Kellner aus dem Gasthaus, der ihm sein Mittagessen brachte, wie es am Abend zuvor ausgemacht worden war. Aus T rägheit setzte er sich so, wie er war, zu T isch, aß ohne Appetit, bevor noch alles kalt geworden war, und fing dann, ausgestreckt auf dem Diwan im unteren Zimmer liegend, zu rauchen an. Als er erwachte, war er wütend, daß er eingeschlafen war, denn es war inzwischen schon vier Uhr geworden. Er wusch sich, rasierte sich sorgfältig, zog sich an und schrieb zwei Briefe, den einen an Lucienne, den anderen an die drei Studentinnen. Es war schon sehr spät und wurde dunkel. Er ging aber doch noch ins Dorf, um seine Briefe einzuwerfen, und kehrte wieder zurück, ohne jemandem begegnet zu sein. Er ging in sein Zimmer hinauf und trat auf die T errasse. Meer und Dunkelheit hielten Zwiesprache auf dem Strand und zwischen den Ruinen. Er dachte nach. Die Erinnerung an diesen verloRenén T ag bohrte in ihm. Abends wenigstens wollte er arbeiten, etwas tun, lesen oder aus dem Haus gehen, um durch die Nacht zu wandern. Das Gartentor klappte. Sein Abendessen wurde gebracht. Er hatte Hunger, aß mit Appetit und fühlte sich darauf unfähig, noch auszugehen. Er beschloß, lange im Bett zu lesen. Aber über den ersten Seiten fielen ihm die Augen zu, und am nächsten Morgen wachte er spät auf. An den folgenden T agen versuchte Mersault gegen das anzukämpfen, was ihn zu überkommen begann. Im Verlauf der T age, die einzig durch das Klappen der Gartentür und unzählige Zigaretten ausgefüllt waren, befiel ihn ein Angstgefühl, wenn er das Mißverhältnis begriff, das zwischen dem Entschluß, der ihn zu diesem Leben hingeführt hatte, und diesem Dasein selbst bestand. Eines Abends schrieb er an Lucienne, sie möge doch kommen. Damit durchbrach er selbst die Einsamkeit, von der er sich soviel versprochen hatte. Als der Brief abgeschickt war, verzehrte er sich in geheimer Scham. Als aber Lucienne ankam, ging diese Scham in eine Art törichter, überstürzter Freude
über, die ihn einfach bei dem W iedersehen m it einem vert raut en M enschen befiel, dessen Anwesenheit das gewohnt e bequem e Dasein für ihn bedeut et e. Er beschäft igt e sich m it ihr, bem üht e sich um sie, und Lucienne sah ihn et was verwundert an, war aber jederzeit sehr um ihr gut gebügelt es weißes Leinenkleid besorgt . Er ging ins Freie, nun jedoch m it Lucienne. Er fand erneut den engen Kont akt m it der W elt , diesm al aber lag dabei seine Hand auf Luciennes Schult er. In dieser m enschlichen Nähe ent rann er seiner geheim en Furcht . Zwei T age darauf jedoch langweilt e ihn Lucienne. Sie wählt e diesen Augenblick, um ihn zu bit t en, er m öge sie doch m it ihm zusam m en leben lassen. Sie aßen gem einsam zu Abend, und M ersault lehnt e ihren Vorschlag rundweg ab, ohne den Blick von seinem T eller zu heben. Nach einer P ause hat t e Lucienne m it klangloser St im m e gesagt : «Du liebst m ich eben nicht .» M ersault hob den Kopf. In ihren Augen st anden T ränen. Er wurde weicher gest im m t : «Das habe ich aber auch niem als behaupt et , m ein Kleines.» «Das st im m t », sagt e Lucienne. «Das ist es ja aber gerade.» M ersault st and auf und t rat an das Fenst er. Zwischen den beiden P inien flim m ert en zahllose St erne in der Dunkelheit . Noch niem als vielleicht hat t e P at rice im Herzen zugleich m it seiner Angst einen solchen W iderwillen den soeben erst vergangenen T agen gegenüber verspürt . «Du bist schön, Lucienne», sagt e er. «W eit er sehe ich nicht s. Ich verlange auch nicht s weit er von dir. Das genügt für uns beide.» «Ich weiß», sagt e Lucienne. Sie wendet e P at rice den Rücken zu und krat zt e m it der M esserspit ze auf dem T ischt uch herum . Er t rat zu ihr und faßt e sie am Nacken. «Glaub m ir, es gibt keinen großen Schm erz, keine große Reue, keine großen Erinnerungen. M an vergißt alles, die große Liebe sogar. Das ist am Leben das T raurige und zugleich P assionierende. Es gibt nur eine gewisse Art , die Dinge zu sehen, und die kom m t von Zeit zu Zeit an die Oberfläche. Darum ist es t rot z
allem gut, wenn man eine große Liebe, eine unglückliche Liebe in seinem Leben zu verzeichnen hat. Das gibt uns wenigstens ein Alibi für die Verzweiflung, die uns ohne Grund befällt.» Nach einer Weile überlegte Mersault noch einmal und setzte hinzu: «Ich weiß nicht, ob du mich verstehst.» «Ich glaube, ich verstehe dich», sagte Lucienne. Sie wendete jä h den Kopf und sah ihn an: «Du bist nicht glücklich.» «Ich werde es sein», stieß Mersault heftig hervor. «Ich muß es sein. Bei einer solchen Nacht, diesem Meer und einem solchen Hals unter meinen Fingern.» Er hatte sich vom Fenster abgewandt und preßte seine Hand auf Luciennes Nacken. Sie schwieg. «Empfindest du wenigstens», sagte sie, ohne ihn anzusehen, «so etwas wie Freundschaft für mich?» Patrice kniete neben ihr nieder und vergrub seine Zähne in ihre Schulter. «Freundschaft, ja, so wie ich Freundschaft für die Nacht empfinde. Du bist die Freude meiner Augen und weißt nicht, welchen großen Platz diese Freude in meinem Herzen einnehmen kann.» Am nächsten T ag reiste sie ab. Unfähig, mit sich selber fertig zu werden, traf Mersault am übernächsten T ag im Auto in Algier ein. Er ging zuerst in das Haus vor der Welt. Seine Freundinnen versprachen, ihn am Monatsende zu besuchen. Dann wollte er sein altes Viertel Wiedersehen. Das Haus war an einen Cafébesitzer vermietet. Er erkundigte sich nach dem Faßbinder, aber niemand konnte ihm Auskunft geben. Jemand glaubte zu wissen, daß er nach Paris gegangen sei, um dort Arbeit zu suchen. Mersault ging spazieren. Im Restaurant — Céleste war alt geworden — war nur wenig los. René war noch immer da mit seiner T uberkulose und seiner ernsten Miene. Alle freuten sich über das Wiedersehen mit Patrice, und auch er selbst fühlte sich durch diese Begegnung gerührt. «O Mersault», sagte Céleste zu ihm, «du hast dich nicht verändert. Du bleibst immer derselbe, o ja . » «Ja», sagte Mersault.
Er bewundert e die sonderbare Verblendung der M enschen, die doch recht gut wissen, was alles sich in ihnen selbst verändert , aber ihren Freunden ein für allem al das Bild, das sie sich von ihnen gem acht haben, aufzwingen wollen. Ihn selbst beurt eilt e m an nach dem , was er gewesen war. W ie ein Hund seinen Charakt er nicht ändert , sind auch die M enschen Hunde für den anderen M enschen. Und so gut auch Célest e, René und die anderen ihn gekannt hat t en, wurde er ihnen doch so frem d und blieb er so verschlossen für sie wie ein unbewohnt er P lanet . Er verließ sie indessen m it freundschaft lichen Gefühlen. Aus dem Rest aurant kom m end, st ieß er auf M art he. Bei ihrem Anblick wurde er sich bewußt , daß er sie fast vollkom m en vergessen hat t e und doch auf eine Begegnung m it ihr hofft e. Sie sah im m er noch aus wie eine gem alt e Göt t in. Er spürt e ein dum pfes Verlangen nach ihr, ohne doch recht davon überzeugt zu sein. Sie gingen ein St ück zusam m en. «O P at rice», sagt e sie. « I c h bin ja so froh. W as t reibst du denn?» «Nicht s, wie du siehst . Ich wohne auf dem Land.» «Das ist fabelhaft . Davon habe ich im m er get räum t .» Und nach einer P ause set zt e sie hinzu: «Du weißt , ich bin dir nicht böse.» « J a » , ant wort et e P at rice lachend, « du hast dich inzwischen get röst et .» Da schlug M art he einen T on an, den er nicht an ihr kannt e. «Jet zt sei nicht gem ein, verst ehst du? Ich wußt e ganz genau, daß es einm al so enden würde. Du warst ein kom ischer Kerl. Und ich nicht s weit er als ein kleines M ädchen, wie du selber sagt est . Als es dann soweit war, habe ich nat ürlich get obt , wie du dir denken kannst . Aber schließlich habe ich m ir gesagt , daß du einfach unglücklich bist . Und kom ischerweise hat m ich das, was zwischen uns war — ich weiß nicht recht , wie ich es sagen soll —, zum erst en M al zugleich glücklich und t raurig gem acht .» Überrascht sah M ersault sie an. Er überlegt e sich plöt zlich, daß M art he sich eigent lich ihm gegenüber im m er sehr net t ver-
halt en hat t e. Sie hat t e ihn genom m en, wie er war, und ihm über seine Einsam keit gut hinweggeholfen. Er war ungerecht gegen sie gewesen. W ährend seine P hant asie und seine Eit elkeit ihr einen zu hohen W ert beim aßen, hat t e sein St olz ihr nicht genug davon zuerkannt . Er wurde sich klar, daß wir uns paradoxerweise über die M enschen, die wir lieben, im m er zweim al t äuschen, anfangs zu ihrem Vort eil und spät er zu ihrem Schaden. Er begriff heut e, daß M art he sich ihm gegenüber ganz nat ürlich gegeben hat t e — daß sie gewesen war, was sie eben war — und daß er ihr aus diesem Grunde viel schuldet e. Es regnet e kaum — nur gerade soviel, daß die Licht er der St raße dadurch vervielfält igt und weit er verst reut wurden. Durch die T ropfen aus Licht und Regen sah er die plöt zlich ernst gewordenen Züge M art hes und fühlt e sich von einer Dankbarkeit durchflut et , die sich gern in einem Redest rom kundget an hät t e, aber sich nicht recht in W ort en zu äußern verm ocht e und die er zu anderen Zeit en m öglicherweise für Liebe gehalt en hät t e. T at sächlich fand er nur den arm seligen Sat z: «Du weißt , ich habe dich sehr gern. Und auch noch jet zt , wenn ich et was t un kann . . . » Sie lächelt e. «Nein», sagt e sie. «Ich bin jung. Ich lasse nicht s aus, wie du dir denken kannst .» Er nickt e zust im m end. W elcher Abst and zwischen ihnen beiden, und zugleich welch ein geheim es Verst ehen! Vor ihrer W ohnung t rennt e er sich von ihr. Sie hat t e ihren Schirm aufgespannt . Sie sagt e: «Ich hoffe, m an sieht sich wieder.» «Ja», sagt e M ersault . Sie lächelt e et was t raurig. «Oh», m eint e M ersault darauf, «jet zt m achst du dein Kleinm ädchengesicht . » Sie war unt er die T ür get ret en und schloß ihren Regenschirm . P at rice reicht e ihr die Hand und lächelt e seinerseit s: «Auf W iedersehen, T raum bild.» Sie drückt e sie rasch, küßt e ihn j ä h auf beide W angen und eilt e die T reppe hinauf, M ersault , der im Regen st ehengeblieben war, fühlt e auf seinem Gesicht noch M art hes kalt e Nase und ihre warm en Lippen. Und dieser so
plöt zlich gegebene leidenschaft slose Kuß hat t e et was von der Reinheit jenes anderen, den die kleine som m ersprossige P rost it uiert e in W ien ihm gegeben hat t e. Dann jedoch ging er zu Lucienne, schlief m it ihr und bat sie am nächst en T ag, m it ihm auf den Boulevards spazierenzugehen. Als sie auf die St raße t rat en, war es schon beinahe M it t ag. Orangefarbene Boot e t rocknet en in der Sonne wie in Viert el geschnit t ene Frücht e. Eine zwiefache W olke von T auben und Schat t en senkt e sich auf die Quais herab, um gleich darauf in einer langsam en Kurve wieder aufzust eigen. Die glühende Sonne erwärm t e einen wohlig. M ersault sah dem schwarz-rot en P ost boot nach, das langsam aus der Durchfahrt hinausglit t , die Fahrt beschleunigt e und dann sich langsam dem Licht gürt el zuwendet e, der sich schäum end an der St elle ent langzog, wo Him m el und M eer sich begegnet en. W er einen Aufbruch m it ansieht , erlebt dabei jedesm al eine bit t ere Süße. «Die haben Glück», m eint e Lucienne. «Ja», sagt e P at rice. Er dacht e — oder beneidet e doch jedenfalls niem anden um diese Chance. Auch für ihn behielt en Neuanfänge, Abreisen, alle Form en neuen Lebens ihre Anziehungskraft . Aber er wußt e, daß das Glück nur für T räge und Ohnm ächt ige darin beschlossen schien. Das Glück set zt e eine W ahl voraus und innerhalb dieser W ahl einen ausgewogenen,- klarblickenden W illen. Er hört e Zagreus sagen: «Nicht m it dem W illen zum Verzicht , sondern m it dem W illen zum Glück.» Er hat t e seinen Arm um Lucienne gelegt , und seine Hand ruht e auf ihrer warm en schm iegsam en Frauenbrust . Am gleichen Abend, in dem Aut o, das ihn zum Chenoua zurückführt e, spürt e M ersault beim Anblick der st eigenden Flut und der plöt zlich auft auchenden Hügel in sich eine große St ille. Durch einige Scheinversuche des Neubeginns, durch den bewußt en Rückblick auf sein vergangenes Dasein hat t e er sich klargem acht , was er sein wollt e und was nicht . Diese T age der Ablenkung, deren er sich geschäm t hat t e, hielt er jet zt für ein zwar gefährliches, aber doch not wendiges Unt ernehm en. Er hät t e dabei scheit ern und so seine einzige Recht fert igung verei-
teln können. Aber ebenso mußte man sich auch allem anzupassen wissen. Zwischen zweimaligem Bremsen machte sich Mersault in seinem Innern die zugleich demütigende und unschätzbare Wahrheit zu eigen, daß das besondere Glück, das er suchte, zur Voraussetzung hatte, daß er morgens früh aufstand, regelmäßig badete und bewußte Körperpflege trieb. Er fuhr sehr schnell, entschlossen, seinen gegenwärtigen Schwung zu nutzen, um sich in einem Leben wohnlich einzurichten, das künftig keine Anstrengungen mehr von ihm verlangen würde, und um den Rhythmus seiner Atmung mit dem Verborgenen der Zeit und des Lebens in Einklang zu bringen. Am folgenden T ag stand er früh auf und stieg zum Meer hinab. Es war schon hell und der Morgen bereits mit dem Schwirren und Zwitschern der Vögel durchsetzt. Aber die Sonne streifte nur eben erst die runde Linie des Horizonts, und als Mersault sich in das noch glanzlose Wasser gleiten ließ, kam es ihm vor, als schwimme er in einem unentschiedenen Dunkel, bis er bei höhersteigender Sonne seine Arme in die rot und golden schimmernde, eisige Flut versenkte. Er kam gleich wieder heraus und ging nach Hause. Er fühlte seinen Körper erfrischt und zu allem bereit. An den folgenden Morgen ging er schon kurz vor Sonnenaufgang hinunter. Und dieser erste Entschluß war entscheidend für den übrigen T ag. Die Bäder strengten ihn im übrigen an. Zugleich aber gaben sie durch die Schwäche und Energie, die sie ihm gleichzeitig hinterließen, seinem ganzen T ag einen Zug von Unbekümmertheit und beglückender Mattigkeit. Dennoch empfand er seine T age als zu lang. Er hatte seine Zeit noch nicht von einem Gerüst aus Gewohnheiten abgelöst, die ihm als Anhaltspunkte dienten. Er hatte nichts zu tun, und die Zeit nahm ihr ganzes Ausmaß an. Jede Minute erhielt von neuem den Charakter eines Wunders, er aber sah noch nicht ein solches in ihr. Ebenso wie beim Reisen die T age nie zu enden scheinen, während umgekehrt im Büro der Übergang von einem Montag zum nächsten sich blitzschnell vollzieht, versuchte er, der äußeren Stützen beraubt, diese noch in einem Dasein wiederzufin-
den, das dam it gleichwohl nicht s anzufangen wußt e. M anchm al griff er nach einer Uhr, sah den Zeiger von einer Zahl zur anderen fort schreit en und wundert e sich, daß fünf M inut en ihm dann unendlich l a n g vorkam en. Zweifellos eröffnet e ihm diese Uhr den m ühseligen, qualvollen W eg, der zu der höchst en aller Künst e führt , näm lich der, nicht s zu t un. Er lernt e spazierenzugehen. Am Nachm it t ag wandert e er zuweilen am St rand bis zu den Ruinen an der anderen Spit ze. Er legt e sich dann inm it t en der W erm ut st auden nieder, und während seine Hand auf einem heißen St ein ruht e, öffnet e er seine Augen und sein Herz für die überwält igende Größe dieses von Hit ze t runkenen Him m els. Er paßt e das P ulsen seines Blut es dem heft igen P ulsen der ZweiUhr-Sonne an, und versunken in wilde P flanzendüft e und schläfriges Insekt engesum m sah er den Him m el von W eiß zu reinem Blau übergehen, sich dann bald zu einem grünen T on klären und seine Süße und Zärt lichkeit über die noch t agesheißen Ruinen hinst röm en. Dann kehrt e er zu früher St unde heim und ging schlafen. In diesem Ablauf von einer Sonne zur anderen reiht en sich seine T age in einem Rhyt hm us auf, dessen Langsam keit und Selt sam keit ihm ebenso zur Not wendigkeit wurden wie einst m als sein Büro, sein Rest aurant und sein Schlaf. In beiden Fällen war er sich dessen fast überhaupt nicht bewußt . Jet zt aber spürt e er in seinen klarsicht igen St unden wenigst ens, daß die Zeit ihm gehört e und daß in dem kurzen Abst and, der zwischen dem rot en und dem grünen M eer lag, et was Ewiges in jeder Sekunde sich für ihn abzeichnet e. Ebensowenig wie ein überm enschliches Glück sah er eine Ewigkeit außerhalb der Kurve der T age vor sich. Das Glück war m enschlich und die Ewigkeit allt äglich. Es kam einzig darauf an, daß m an in aller Bescheidenheit sein Herz auf den Rhyt hm us der T age abzust im m en verst and, anst at t diesen den Figurat ionen unserer Hoffnung unt erordnen zu wollen. Ebenso wie m an in der Kunst halt zum achen wissen m uß, wie es einen M om ent gibt , da eine Skulpt ur nicht m ehr angerührt werden darf und wie in dieser Hinsicht gewollt e Unint elligenz einem Künst ler im m er von größerem Nut zen ist als alle noch so
subt ilen Hilfsm it t el klarer Einsicht , so braucht m an auch ein Quentchen Unintelligenz, um ein Leben in Glück zu seiner Vollendung zu führen. W er es nicht hat , sollt e es sich erwerben. Sonnt ags übrigens spielt e M ersault Billard m it P érez. P érez hatte nur einen Arm. Der andere war über dem Ellbogen amput iert . Er spielt e infolgedessen auf eine absonderliche Art ; m it vorgewölbt em Oberkörper st üt zt e er seinen St um pf auf das Queue. W enn er frühm orgens angeln ging, bewundert e M ersault im m er die Geschicklichkeit des alt en Fischers, m it der er das linke Ruder unt er die Achsel klem m t e und im Boot st ehend m it quer gest ellt em Körper das eine Ruder m it der Brust vorwärt sst ieß, das andere m it der Hand. Die beiden verst anden sich sehr gut . P érez bereit et e T int enfische m it pikant er Sauce. Er dünst et e sie in ihrem eigenen Saft , und M ersault t eilt e sich m it ihm in die schwarze, glühendheiße Brühe, die beide in der Küche des Fischers aus der verrußt en P fanne m it Brot auft unkt en. P érez sprach im übrigen nie. M ersault war ihm dankbar für diese Gabe des Schweigens. M anchm al, am M orgen nach dem Bad, sah er ihn sein Boot ins M eer schieben. Er t rat dann zu ihm: «Kann ich m it fahren, P érez?» «St eig ein», sagt e der andere nur. Sie befest igt en dann die Riem en an zwei verschiedenen Klam pen und rudert en im T akt , wobei sie acht gaben (M ersault wenigstens), mit den Füßen nicht in die Angelhaken an der Reihenleine zu gerat en. Dann fischt en sie, und M ersault überwacht e die Angelschnüre, die unt er dem W asser sich schwarz hin und her wanden und bis zur Oberfläche des M eeres heraufleucht et en. Die Sonne zerbrach auf den W ellen in T ausende kleiner Split t er, und M ersault füllt e seine Lungen m it einem schweren, erst ickenden Geruch, der aus dem M eer wie dessen At em aufst ieg. M anchm al erwischt e P érez einen kleinen Fisch. Er warf ihn wieder ins W asser und sagt e: «Geh zu deiner M ut t er.» Um elf Uhr kehrt en sie zurück, und M ersault bet rat m it von Fischschuppen glänzenden Händen und sonnenget ränkt em Gesicht wieder sein Haus wie einen kühlen Keller, während
P érez ein Fischgericht vorbereit et e, das sie am Abend zusam m en verzehrt en. T ag für T ag ließ M ersault sich von diesem Leben t reiben, wie er sich vom W asser t ragen ließ. Und wie m an m it Hilfe seiner Arm e und des W assers, das einem aufnim m t und weit erführt , allm ählich vorwärt skom m t , so braucht e er auch nur ein paar wesent liche Gebärden, das Auflegen seiner Hand auf einen Baum st am m , einen Lauf am St rand ent lang, um sich unversehrt und bewußt zu erhalt en. Er kehrt e auf diese W eise zu einem Leben im Urzust and zurück, er ent deckt e von neuem ein P aradies, das sonst nur den int elligent est en oder den prim it ivst en T ieren gegeben ist . An diesem P unkt , an dem der Geist den Geist verneint , rührt e er an seine W ahrheit und dam it an die äußerst en Grenzen seiner Herrlichkeit und seiner Liebe. Dank Bernard fand er auch Zugang zum Leben des Dorfes. Er m ußt e ihn einer kleinen Unpäßlichkeit wegen einm al holen lassen, und sie hat t en sich in der Folge oft und m it Vergnügen wiedergesehen. Bernard war schweigsam , aber m anchm al funkelt e hint er seiner Hornbrille et was auf wie eine bit t ere Art von W it z. Er hat t e lange in Indochina prakt iziert und sich dann m it vierzig Jahren in diesen W inkel Algeriens zurückgezogen. Seit einigen Jahren führt e er hier ein friedliches Dasein m it seiner Frau, einer fast st um m en Indochinesin, in einem m odernen Schneiderkleid, die ihr Haar in einem Knot en t rug. Dank seiner Befähigung zur Nachsicht paßt e Bernard sich jeder Um gebung an. Dadurch liebt e er das ganze Dorf und wurde von ihm wiedergeliebt . Er zog M ersault m it hinein. Dieser kannt e nun schon recht gut den Inhaber des Gast hofs, einen ehem aligen T enor, der hint er seiner T heke zu singen pflegt e und zwischen zwei geröhrt en T akt en aus seiner Frau eine T racht P rügel in Aussicht st ellt e. M an bat P at rice, zusam m en m it Bernard dem Fest kom it ee beizut ret en. An Fest t agen wie dem 14. Juli gingen sie also m it einer Arm binde in den Farben der T rikolore um her oder diskut iert en m it den anderen Kom it eem it gliedern an einem T isch, dessen grüne Eisenblechplat t e von süßen Apérit ifs klebrig war, über die Frage, ob die Est rade für die M usikkapelle m it Spindelbäu-
m en oder P alm en dekoriert werden sollt e. M an wollt e ihn sogar in den W ahlkam pf hineinziehen. M ersault aber hat t e Zeit gehabt , den Bürgerm eist er kennenzulernen. Er «st and den Geschicken seiner Gem einde» (wie er sich ausdrückt e) «nun schon seit zehn Jahren vor», und diese sozusagen unbeschränkt e Dauer m acht e ihn geneigt , sich für Napoleon Bonapart e zu halt en. Er war ein reich gewordener W einbauer und hat t e sich ein Haus im griechischen St il bauen lassen. Er lud M ersault ein, es zu besicht igen. Es best and aus dem Erdgeschoß und einer weit eren Et age. Der Bürgerm eist er aber, der vor keinem Opfer zurückschreckt e, hat t e einen Aufzug einbauen lassen. Er ließ M ersault und Bernard eine P robefahrt m achen. Ruhig bem erkt e Bernard: «Er gleit et gut .» Von diesem T ag an war M ersault von t iefer Bewunderung für den Bürgerm eist er erfüllt . Bernard und er wendet en ihren gesam t en Einfluß auf, um ihn in dem Am t zu halt en, das ihm aus so vielerlei Gründen gebührt e. Im Frühling quoll das kleine Dorf m it den eng zusam m engedrängt en rot en Dächern zwischen Gebirge und M eer förm lich über von Blum en, von T eerosen, Hyazint hen und Bougainvilleen, und von Insekt engesum m . Zur St unde der Siest a begab M ersault sich auf seine T errasse und sah das Dorf unt er dem Überm aß an Licht schlafend und dam pfend unt er sich liegen. Die Geschicht e des Dorfs erschöpft e sich im Grunde in der Rivalit ät von M oralès und Binguès, zwei reichen spanischen Einwanderern, die durch eine Reihe von Spekulat ionen zu Millionären geworden waren. Von diesem Augenblick an hat t e Größenwahn sie erfaßt . W enn der eine ein Aut o kauft e, wählt e er das t euerst e. Der andere kauft e sich das gleiche, ließ aber silberne T ürgriffe anbringen. Den Vogel in dieser Hinsicht schoß M oralès ab. M an nannt e ihn den «König von Spanien». T at sächlich hat t e er Binguès, der nicht genügend Einbildungskraft besaß, auf allen Gebiet en geschlagen. An dem T ag, an dem , während des Krieges, Binguès m ehrere hundert t ausend Francs St aat sanleihe zeichnet e, hat t e M oralès erklärt : «Ich t ue m ehr, ich gebe m einen Sohn.» Und er hat t e seinen Sohn, der noch zu
jung war, um eingezogen zu werden, t at sächlich Soldat werden lassen. 1925 war Binguès in einem fabelhaft en Bugat t i-Rennwagen aus Algier einget roffen. Vierzehn T age darauf hat t e M oralès sich einen Hangar bauen lassen und eine Caudron gekauft . Dieses Flugzeug t räum t e noch im m er in seinem Hangar. Nur sonnt ags wurde es den Besuchern vorgeführt . W enn Binguès von M oralès sprach, sagt e er: «Dieser hergelaufene Kerl», und M oralès von Binguès: «Dieser alt e Kalkofen.» Bernard nahm M ersault zu M oralès m it . Auf seinem großen Besit z voller W espen und T raubenduft em pfing dieser sie m it allen Zeichen der Hochacht ung, aber in Schlappen und Hem dsärm eln, da er weder eine Jacke noch an den Füßen Schuhe vert rug. Das Flugzeug, die Aut os, die eingerahm t e und im Salon ausgest ellt e M edaille des Sohnes wurden ihnen vorgeführt , und M oralès, der M ersault über die Not wendigkeit aufklärt e, die Frem den aus dem französischen Algerien zu ent fernen (er selbst war nat uralisiert , «aber dieser Binguès zum Beispiel. . . » ) , geleit et e seine Gäst e zu seiner jüngst en Neuerwerbung. Sie bet rat en einen ungeheuer ausgedehnt en Rebgart en, in dessen M it t e ein runder P lat z ausgespart war. Auf diesem P lat z war ein Louis-Quinze-Salon aus kost barst en Hölzern und St offen aufgest ellt . M oralès konnt e auf diese W eise seine Besucher inm it t en seiner W einberge em pfangen. Als M ersault sich höflich erkundigt e, was bei Regenwet t er geschähe, ant wort et e M orales, ohne m it der W im per zu zucken, über seine Zigarre hinweg: «Dann kaufe ich einen neuen.» Die weit eren Besuche m it Bernard dient en dem Zweck, den Neureichen und den Dicht er auseinanderhalt en zu lernen. Bernard war der M einung, M oralès sei ein Dicht er. M ersault fand, er hät t e einen vort refflichen röm ischen Kaiser der Verfallzeit abgegeben. Eine W eile danach verbracht e Lucienne ein paar T age am Chenoua und reist e wieder ab. Eines Sonnt agvorm it t ags erhielt M ersault den Besuch von Claire, Rose und Cat herine, wie sie es versprochen hat t en. P at rice aber war nun schon weit von der Seelenverfassung ent fernt , die in den erst en T agen seiner Zurückgezogenheit ihn nach Algier get rieben hat t e. Dennoch
freute er sich, die Mädchen wiederzusehen. Er holte sie zusammen mit Bernard an der Ankunftsstelle des gelben Autobusses ab, der diese Strecke befuhr. Der T ag war herrlich, das Dorf voll von schönen roten Wagen ambulanter Metzger, die Blumen blühten dicht bei dicht, und die Leute trugen alle helle Kleidung. Auf Catherines Wunsch setzten sie sich ein Weilchen ins Café. Sie bewunderte all dieses Leuchten und Leben, und hinter der Wand, an die sie sich lehnte, ahnte sie die Gegenwart des Meeres. Als sie gerade aufbrechen wollten, ertönte aus einer nahen Straße eine erstaunliche Musik. Es war offenbar der «Einzug der T oreros» aus , aber mit einem derart dröhnenden Geschmetter gespielt, daß die Musikanten außer Reih und Glied gerieten. «Das ist der T urnverein», erklärte Bernard. Dennoch sah man unbekannte Gestalten, etwa zwanzig Mann, um die Ecke biegen, die unaufhörlich in die verschiedensten Blechinstrumente bliesen. Sie marschierten in Richtung auf das Café, und hinter ihnen zeigte sich mit nach hinten geschobenem Strohhut, unter dem ein T aschentuch lag, Moralès, der sich mit einem Reklamefächer Kühlung zufächelte. Er hatte diese Musikanten in der Stadt gemietet, «weil», so erklärte er später, «bei der derzeitigen Krise das Leben sonst so traurig ist». Er setzte sich und ließ die Musikanten, die ihren Marsch zu Ende spielten, sich rings um ihn aufstellen. Darauf erhob sich Moralès und verkündete mit einer alles rundum erfassenden Geste voll Würde: «Auf meinen Wunsch wird das Orchester noch einmal den T oreromarsch spielen.» Beim Aufbruch konnten die <Schäfchen> sich kaum halten vor Lachen. Jedoch im Haus, im Schatten und in der Kühle der Räume, die einem die strahlende Weiße der besonnten Gartenmauern noch deutlicher machte, senkte sich wieder Schweigen und tiefe Harmonie über sie, was sich bei Catherine in dem Wunsch äußerte, ein Sonnenbad auf der T errasse zu nehmen. Mersault brachte daraufhin Bernard nach Hause. Zum zweiten Mal war Bernard Zeuge von etwas in Mersaults Leben. Sie hatten sich gegenseitig nie etwas anvertraut, Mersault in dem Bewußtsein, daß Bernard nicht glücklich sei, und Bernard aus einer gewissen
Verwirrung heraus in bezug auf alles, was M ersault s Leben bet raf. Die beiden t rennt en sich wort los. M ersault kam m it seinen Freundinnen überein, daß sie am nächst en T age in der Frühe alle vier zu einem Ausflug aufbrechen wollt en. Der Chenoua war sehr hoch und schwierig zu best eigen. Es best and Aussicht auf einen schönen T ag voll Erm üdung und voll Sonne. Im M orgengrauen bewält igt en sie die erst en st eilen Hänge. Rose und Claire gingen voraus, P at rice und Cat herine folgt en. Alle schwiegen. Allm ählich befanden sie sich höher über dem M eer, das noch ganz weiß unt er dem Frühnebel lag. Auch P at rice sagt e nicht s, ganz eins geworden m it dem von einem kurzen st ruppigen P elz aus Herbst zeit losen überzogenen Berg, m it den eisigen Quellen, dem Schat t en, dem Licht , seinem eigenen Körper, der willig war, dann jedoch erlahm t e. Sie waren auf ihrem W eg jet zt in die P hase konzent riert er Anst rengung einget ret en. Die M orgenluft schnit t in ihre Lungen wie ein glühendes Eisen oder ein scharfes Rasierm esser, und sie gaben sich ganz ihrer Bem ühung, diesem Akt der Selbst überwindung hin, durch den sie über den Hang zu t rium phieren gedacht en. Rose und Claire waren m üde geworden und verlangsam t en ihren Schrit t . Cat herine und P at rice übernahm en die Führung und hat t en die beiden anderen bald aus den Augen verloren. «Geht es noch?» fragt e P at rice. «Ja, es ist sehr schön.» Am Him m el st ieg die Sonne im m er höher, begleit et von einem Insekt engeschwirr, das m it der Hit ze zunahm . Bald zog P at rice sein Hem d aus und set zt e den M arsch m it nackt em Oberkörper fort . Schweiß rann ihm von den Schult ern, auf denen die Sonne schon Blasen hervorgerufen hat t e. Sie schlugen einen kleinen W eg ein, der an der Flanke des Berges ent langzulaufen schien. Das Gras unt er ihren Füßen war feucht er als zuvor. Bald em pfing sie das M urm eln von Quellen und in einer Senke ein St rom von Kühle und Schat t en. Sie besprit zt en sich gegenseit ig, t ranken ein wenig, und Cat herine legt e sich auf das Gras, während P at rice, dem das vom W asser dunkel und
lockig gewordene Haar in die St irn fiel, in diese m it Ruinen, schim m ernden St raßen und gleißendem Sonnenschein bedeckt e Landschaft hineinblinzelt e. Dann set zt e er sich neben Cat herine. «Jet zt , wo wir allein sind, M ersault , sage m ir, ob du glücklich bist?» « Schau doch h in » , sagte Mersault. Die Straße flim m erte in der Sonne, und ein ganzes Volk von vielfarbig vibrierenden Insekten stieg zu ihnen auf. P atrice lächelte und rieb sich die Arme. «Ja, aber ich wollte etwas sagen. Natürlich brauchst du mir keine Antwort zu geben, wenn du nicht magst.» Sie zögerte. «Liebst du deine Frau?» Mersault lächelte. «Das muß ja nicht unbedingt sein.» Er faßte Catherine bei der Schulter und bespritzte, während er den Kopf schüttelte, ihr Gesicht mit Wasser: «Der Irrtum, kleine Catherine, besteht darin, zu glauben, daß man wählen, daß man tun muß, was man will, daß es Bedingungen gibt für das Glück. Worauf es einzig ankommt, siehst du, ist der Wille zum Glück, eine Art von umfassendem und stets gegenwärtigem Bewußtsein. Alles übrige - Frauen, Kunstwerke oder gesellschaftliche Erfolge — ist nur Vorwand, ein leeres Gewebe, das wartet, daß wir ein Muster darauf sticken.» «Ja», sagte Catherine, die Augen voller Sonne. «Was mir wichtig ist, ist eine gewisse Qualität von Glück. Ich kann das Glück nur in Gestalt der zähen, heftigen Konfrontation mit dem genießen, was sein Gegenteil ist. Ob ich glücklich bin? Catherine! Du kennst die berühmte Formel: <Wenn ich mein Leben noch einmal vor mir hätte> — nun gut, ich würde wieder genauso von vorn anfangen. Natürlich kannst du nicht wissen, was das besagt.» «Nein», sagte Catherine. «Wie soll ich es dir erklären, Kleines. Wenn ich glücklich bin, so dank meinem schlechten Gewissen. Ich hatte es nötig, fortzugehen und diese Einsamkeit aufzusuchen, in der ich in mir kon-
front ieren konnt e, was es einander gegenüberzust ellen gab, was Sonne war und was T ränen. . . Ja, ich bin im m enschlichen Sinne glücklich.» Rose und Claire hat t en sie eingeholt . Sie nahm en ihren Rucksack wieder auf. Der W eg verlief weit er am Berg ent lang, und sie blieben auf ihm in einer Zone üppigen W achst um s. Die W ege waren von Berberfeigen, Oliven- und Jujubebäum en eingefaßt . Auf Eseln reit ende Araber kam en ihnen ent gegen. Dann st iegen sie in die Höhe. Die Sonne st rahlt e jet zt m it verdoppelt er Kraft auf jeden St ein am W eg. Zur M it t agszeit warfen sie, von Hit ze überwält igt und t runken von Düft en und M üdigkeit , ihre Rucksäcke ab und gaben es auf, den Gipfel zu erreichen. Die Hänge waren felsig und m it Kieseln übersät . Eine kleine verkrüppelt e Eiche nahm sie in ihren Schat t enkreis auf. Sie holt en ihren P roviant hervor und aßen. Das ganze Gebirge flim m ert e unt er dem Licht und t önt e vom Zirpen der Grillen. Die Hit ze st ieg em por und überfiel sie auch unt er ihrer Eiche. P at rice warf sich auf den Boden, preßt e die Brust an die St eine und at m et e brennende Düft e ein. An seinem Leib verspürt e er die dum pfen St öße des Berges, der zu arbeit en schien. Über ihrer einförm igen W iederholung, dem bet äubenden Insekt engesum m zwischen den heißen St einen und dem Anst urm der wilden Gerüche schlief er endlich ein. Als er erwacht e, war er schweißbedeckt und unendlich zerschlagen. Es m ußt e et wa drei Uhr sein. Die Kinder waren verschwunden. Bald kündet en Gelächt er und Rufe ihre Rückkehr an. Die Hit ze hat t e nachgelassen. Sie m ußt en den Rückweg ant ret en. In diesem Augenblick, auf dem abschüssigen Hang, versagt e bei M ersault zum erst en M al das Herz, und er wurde ohnm ächt ig. Als er sich wieder erhob, sah er das jet zt sehr blaue M eer zwischen drei besorgt en Gesicht ern. Langsam er set zt en sie den Abst ieg fort . Vor den let zt en Hängen bat M ersault um eine P ause. Das M eer nahm zugleich m it dem Him m el eine grünliche Färbung an, und eine sanft e St im m ung weht e vom Horizont auf sie zu. Auf den Hügeln, die um die kleine Bucht herum eine Fort set zung des Chenoua bildet en, wurden die
Zypressen allm ählich schwarz. Alle schwiegen. Schließlich sagt e Claire aber doch: «Sie sehen m üde aus.» «Gewiß, kleines M ädchen.» «Sie wissen, m ich geht das ja nicht s an. Aber diese Gegend ist nicht das Richt ige für Sie. Sie ist zu nahe am M eer gelegen und zu feucht . W eshalb wollen Sie nicht in Frankreich in den Bergen leben?» «Diese Gegend ist nicht s für m ich, Claire, aber ich bi n hier glücklich. Ich fühle m ich eins m it ihr.» « E s wäre aber eben gerade, um ganz und m öglichst lange glücklich zu sein.» «M an kann nicht m ehr oder weniger lange glücklich leben. M an ist es. Dam it ist alles gesagt . Und der T od hindert nicht s — er ist in diesem Fall eine Nebenerscheinung des Glücks.» W ieder schwiegen alle. « I c h bin nicht überzeugt », m eint e Rose aber dann nach einiger Zeit . Langsam kehrt en sie im sinkenden Abend zurück. Cat herine übernahm es, Bernard rufen zu lassen. M ersault war in seinem Schlafzim m er, und über da s leucht ende Abbild der Fenst er des Hauses hinweg erkannt e er den weißen Fleck der Balust rade, das M eer wie eine dunkel wogende Leinenbahn und darüber den helleren Nacht him m el, an dem jedoch noch keine St erne st anden. Erfühlt e sich schwach, aber auf eine geheim nisvoll wohlt uende Art bewirkt e seine Schwäche, daß er sich zugleich als leicht er und hellsicht iger em pfand. Als Bernard klopft e, war M ersault zum ut e, als ob er ihm alles sagen würde. Nicht daß sein Geheim nis auf ihm last et e. Kein Geheim nis h ä t t e das get an. W enn er es bis jet zt verschwiegen hat t e, so auf die W eise, wie m an ifl gewissen Kreisen seine Gedanken für sich behält , weil m an weiß, daß sie auf Vorurt eile und St urheit st oßen würden. Doch heut e, in diesem Zust and körperlicher Erm üdung und t iefer Aufricht igkeit , hat t e M ersault , einem Künst ler gleich, der, nachdem er lange über seinem W erk gebrüt et und es geschaffen hat , eines T ages die Not wendigkeit erkennt , es ans
T ageslicht zu bringen und endlich m it den M enschen in Verbindung zu t ret en, das Gefühl, daß er sprechen sollt e. Und ohne sicher zu sein, daß er es t at sächlich t un würde, erwart et e er Bernard voller Ungeduld. Von den unt eren Räum en st ieg zweim al ein m unt eres Lachen auf, das ihn lächeln m acht e. In diesem Augenblick t rat Bernard ein. «Nun?» sagt e er. «Nun? Sie sehen j a » , sagt e M ersault . Bernard horcht e ihn ab. Er konnt e nicht s sagen, hät t e aber gern eine Rönt genaufnahm e gehabt , falls M ersault im st ande wäre, eine m achen zu lassen. «Spät er», ant wort et e M ersault . Bernard schwieg und set zt e sich auf das Fenst erbret t . «Ich persönlich bin nicht gern krank», sagt e er. «Ich kenne m ich da aus. Nicht s ist häßlicher und erniedrigender als krank zu sein.» M ersault ging nicht darauf ein. Er st and von seinem Lehnst uhl auf, bot Bernard Zigaret t en an, zündet e sich selber eine an und sagt e lachend: «Darf ich Ihnen eine Frage st ellen, Bernard?» «Ja.» «Sie baden niem als im M eer. W eshalb haben Sie sich dann diese Gegend hier ausgesucht , um sich zurückzuziehen?» «Ach, ich weiß nicht recht . Es ist schon so lange her.» Nach einer W eile set zt e er hinzu: «Und dann habe ich auch im m er aus T rot z gehandelt . Heut e ist das nicht m ehr so schlim m . Früher wollt e ich glücklich sein, t un, was get an werden m ußt e, m ich zum Beispiel in einem Land niederlassen, das m ir gefallen hät t e. Doch sent im ent ale P lanungen sind im m er falsch. M an m uß einfach leben, wie zu leben für einen am leicht est en ist — das heißt , sich keinen Zwang ant un. Das ist vielleicht et was zynisch gedacht . Es ist aber auch der Gesicht spunkt des schönst en M ädchens von der W elt . In Indochina habe ich m ir nicht s ent gehen lassen. Hier denke ich nach, weit er nicht s.»
« J a » , sagt e M ersault , der, im m er weit errauchend, t ief in seinem Sessel vergraben dasaß und die Decke anst arrt e. «Aber ich bin nicht sicher, daß alle sent im ent alen P lanungen falsch sein m üssen. Sie sind nur unvernünft ig. Auf alle Fälle sind die einzigen Erfahrungen, die m ich int eressieren, diejenigen, bei denen alles so wäre, wie m an es erhofft hat .» Bernard lächelt e: «Ja, ein Schicksal nach M aß.» «Das Schicksal eines M enschen», sagt e M ersault , ohne sich zu rühren, «ist im m er passionierend, wenn er es leidenschaft lich bejaht . Und für gewisse M enschen ist ein passionierendes Schicksal in jedem Fall ein Schicksal nach M aß.» «Ja», sagt e Bernard. Er erhob sich m it M ühe und st arrt e einen Augenblick, M ersault halb den Rücken zuwendend, in die Nacht hinaus. Ohne ihn anzusehen, fuhr er fort : « Sie sind außer m ir der einzige M ensch hier in dieser Gegend, der ohne Gesellschaft lebt . Ich spreche nicht von Ihrer Frau oder von Ihren Freunden. Ich weiß sehr wohl, daß das alles nur Episoden sind. Dennoch kom m t es m ir so vor, als liebt en Sie das Leben m ehr als ich.» Er wendet e sich um : «Denn für m ich bedeut et das Leben lieben nicht , daß m an Seebäder nim m t . Für m ich bedeut et es, auf eine überwält igende, hem m ungslose Art da zu sein. Frauen, Abent euer, Länder. Für m ich bedeut et es, zu handeln, et was zu erringen. Ein glühendes, wunderbares Leben. Kurz, ich will sagen . . . verst ehen Sie m ich recht » (er schien sich zu schäm en, daß er so sehr aus sich herausgegangen war), « i c h liebe das Leben zu sehr, um m ich m it der Nat ur zu begnügen.» Bernard packt e sein St et hoskop ein und ließ seine T asche zuschnappen. «Im Grunde», sagt e M ersault zu ihm , «sind Sie ein Idealist .» Er selber hat t e das Gefühl, daß alles m dem M om ent zwischen Geburt und T od beschlossen lag und alles danach zu beurt eilen und zu recht fert igen war. «Sehen Sie», sagt e Bernard m it einem Anflug von T raurigkeit , «es ist doch so, daß das Gegent eil von einem Idealist en nur allzuoft ein M ensch ohne Liebe ist .»
«Glauben Sie das nicht », sagt e M ersault und reicht e ihm die Hand. Bernard drückt e sie lange. «So wie Sie», sagt e er lächelnd, «können nur M enschen denken, die von einer großen Verzweiflung oder einer großen Hoffnung leben.» «Von beidem vielleicht .» «Oh, ich frage nicht !» «Ich weiß», sagt e M ersault ernst . Aber als Bernard schon an der T ür war, rief M ersault ihn, von einem unreflekt iert en Im puls get rieben, zurück. « J a ? » sagt e der Dokt or und kehrt e noch einm al um . «Sind Sie im st ande, einen M enschen zu veracht en?» «Ich glaube schon.» «Unt er welchen Vorausset zungen?» Der andere dacht e nach. «Das ist ziem lich einfach, will m ir scheinen. In allen Fällen, in denen er von Eigennut z oder der Sucht nach Geld get rieben würde.» «Das ist allerdings einfach. Gut en Abend, Bernard.» «Gut en Abend.» Als M ersault wieder allein war, dacht e er nach. Da, wo er angelangt war, ließ die Veracht ung eines M enschen ihn kalt . Doch wurde er in Bernard t iefe Resonanzen gewahr, die ihn ihm näherbracht en. Es kam ihm unert räglich vor, daß ein T eil von ihm den andern verurt eilen sollt e. Hat t e er aus Eigennut z gehandelt ? Er war sich einfach jener wesent lichen unm oralischen W ahrheit bewußt geworden, daß Geld eines der zuverlässigst en und am schnellst en wirkenden M it t el ist , um seine W ürde zu erobern. Es war ihm gelungen, die Bit t erkeit abzust reifen, die jeden recht schaffenen M enschen bei dem Gedanken daran befällt , wie unbillig und niedert rächt ig die Ent st ehungsund W achst um sbedingungen eines bevorzugt en Schicksals sind. Jenen schm ut zigen, em pörenden Fluch, dem zufolge die Arm en im Elend das Leben beschließen, das sie im Elend begonnen haben, hat t e er dadurch zurückgewiesen, daß er das Geld
mit Geld, den Haß mit Haß bekämpfte. Und es kam manchmal vor, daß aus diesem Kampf zwischen T ier und T ier der Engel, ganz erfüllt von dem Glück seiner Flügel und seiner Herrlichkeit, unter dem warmen Hauch des Meeres hervortrat. T atsache war nur, daß er zu Bernard nichts gesagt hatte und daß seine T at von nun an geheim bleiben würde. Am Nachmittag des folgenden T ages, gegen fünf Uhr, reisten die Kinder ab. In dem Moment, als sie in den Autobus stiegen, wendete Catherine sich noch einmal zum Meer zurück. «Auf Wiedersehen, Strand», sagte sie. Gleich darauf blickten drei lachende Gesichter durch die hinteren Fenster Mersault an, und dann verschwand der gelbe Autobus wie ein goldenes Insekt im Licht. Der Himmel, wiewohl klar, lastete schwer. Allein auf der Landstraße stehend, wurde Mersault auf dem Grunde seines Herzens von einem Gefühl erfaßt, das eine Mischung aus Befreiung und T raurigkeit war. Heute erst wurde sein Alleinsein Wirklichkeit, weil er sich heute erst daran gebunden fühlte. Und daß er sich mit seiner Einsamkeit abgefunden hatte und sich künftig als Herr über die kommenden T age empfinden konnte, erfüllte ihn mit der Melancholie, die aller Größe anhaftet. Anstatt die breite Fahrstraße einzuschlagen, kehrte er zwischen Johannisbrot- und Olivenbäumen auf einem kleinen gewundenen Pfad am Fuß des Gebirges zurück, der hinter seinem Haus mündete. Er zertrat ein paar Oliven und sah, daß der Weg ganz und gar mit schwarzen Flecken gesprenkelt war. Wenn der Sommer zu Ende geht, entsenden die Johannisbrotbäume über ganz Algerien einen Duft von Liebe, und abends oder nach dem Regen ist es, als ruhe die ganze Erde, nachdem sie sich der Sonne hingegeben hat und ihr Leib noch feucht ist von einem Samen, der den Duft von bitteren Mandeln in sich trägt. Den ganzen T ag über war dieser Duft schwer und drükkend von den großen Bäumen herniedergeströmt. Auf dem kleinen Pfad wurde er am Abend und bei dem gelösten Aufseufzen der Erde leicht, kaum noch spürbar für Patrice—wie eine Geliebte, mit der man nach einem langen erstickenden Nachmittag auf
die St raße hinaust rit t und die, während m an Schult er an Schult er m it ihr weit erschreit et , einem zwischen den Licht ern und der M enge einen Blick zuwirft . Aus diesem Liebesduft und den zert ret enen duft enden Frücht en ersah M ersault , daß der Som m er zu Ende ging. Ein großer W int er würde kom m en. Doch er war reif dafür, ihn zu erwart en. Von dem kleinen W eg aus konnt e m an das M eer nicht sehen, wohl aber auf dem Gipfel des Berges leicht e röt liche Nebel erkennen, die den Abend ankündigt en. Auf dem Boden verblaßt en Licht flecke langsam zwischen den Schat t en des Laubwerks. M ersault at m et e kräft ig den bit t eren Duft ein, der an diesem Abend seiner Hochzeit m it der Erde die W eihe gab. Dieser Abend, der sich auf die W elt niedersenkt e, auf den W eg zwischen Oliven- und M ast ixbäum en, auf die W einberge und die rot e Erde am Rande des sanft rauschenden M eeres, drang in ihn ein wie eine Flut . So viele ähnliche Abende waren schon in ihm wie das Versprechen eines Glücks gewesen, daß er an der T at sache, diesen hier a l s ein Glück zu erleben, den W eg erm aß, den er von der Hoffnung bis zum Erfolg durchlaufen hat t e. In der Unschuld seines Herzens nahm er diesen grünen Him m el und diese liebesfeucht e Erde m i t dem gleichen Beben der Leidenschaft und des Verlangens h i n , m it dem er in der Unschuld seines Herzens Zagreus get öt et h a t t e .
V Im Januar blühten die Mandelbäume. Im März bedeckten sich Birnen-, Pfirsich- und Apfelbäume mit Blüten. Einen Monat später schwollen die Quellen unmerklich an, sprudelten dann aber bald wieder wie sonst. Anfang Mai fand die Heuernte statt, und an den letzten T agen schnitt man Hafer und Gerste. Schon waren die Aprikosen sommerlich geschwellt. Im Juni erschienen die Frühbirnen zur Zeit der großen Ernten. Schon begannen die Quellen auszutrocknen, und die Hitze nahm zu. Aber der auf dieser Seite versiegende Lebenssaft der Erde ließ anderswo die Baumwolle wachsen und gab den ersten T rauben ihre Süße. Ein mächtiger, glutheißer Wind erhob sich, der die Felder ausdörrte und fast überall Brände entstehen ließ. Dann auf einmal wendete sich das Jahr. In aller Eile wurde die Weinlese beendet. Der Regen, die großen Wolkenbrüche von September bis November fegten die Erde rein. Kaum aber waren die Sommerarbeiten beendet, so begann auch schon die Bestellung und die erste Aussaat, während die Quellen wieder jä h anwuchsen und zu Sturzbächen wurden. Bei Jahresende sproß bereits der Weizen auf manchen Feldern, während auf anderen die Bestellung noch kaum beendet war. Ein wenig später standen die Mandelbäume wieder im weißen Gewände vor einem eisigen blauen Himmel. Das neue Jahr rollte auf der Erde und am Himmel ab. Der T abak wurde gepflanzt, der Weinberg bestellt und geschwefelt, die Bäume wurden gepfropft. Im gleichen Monat reiften die Mispeln heran. Wieder lösten Heumahd, Kornernte und die Sommerbestellungen einander ab. In der Mitte des Jahres kamen große saftige und an den Fingern klebende Früchte auf den T isch: Feigen, Pfirsiche, Birnen, die man gierig zwischen der Drescharbeit aß. Bei den folgenden Weinlesen bedeckte sich der Himmel. Von Norden her zogen schwarze schweigende Ket-
ten von Staren und Drosseln über das Land. Für sie waren die Oliven schon reif genug. Kurz nach ihrem Durchzug erntete man sie. In der lehmigen Erde sproß ein zweites Mal das Korn. Ebenfalls von Norden kommende dicke Wolkenberge zogen über Meer und Erde hin, fegten den Schaum vom Wasser und ließen es sauber und eisig unter einem kristallenen Himmel zurück. Mehrere T age hindurch zuckten am Abend ferne, lautlose Blitze auf. Die ersten Fröste setzten ein. Zu diesem Zeitpunkt hütete Mersault ein erstes Mal das Bett. Anfälle von Rippenfellentzündung hielten ihn einen Monat lang an das Zimmer gefesselt. Als er wieder aufstand, waren die untersten Hänge des Chenoua bis hinab zum Meer mit Blütenbäumen bedeckt. Niemals hatte er einen Frühling so intensiv erlebt. Und in der ersten Nacht seiner Rekonvaleszenz wanderte er lange über die Felder bis zu dem ruinenbedeckten Hügel hin, an dem T ipasa schlummerte. In der nur von den seidigen Geräuschen des Himmels belebten Stille ergoß die Nacht sich wie Milch über die Welt. Mersault ging die Steilküste entlang, ganz durchdrungen von der ernsten Meditation dieser Nacht. Von weiter unten her vernahm er den sanften Singsang des Meeres. Man sah es liegen, voller Mondschein und Samt, geschmeidig und glatt wie ein T ier. In dieser Stunde, in der sein Leben ihm so fern vorkam, hatte Mersault, allein und gleichgültig allem, sogar sich selbst gegenüber, das Gefühl, daß er endlich erreicht habe, was er suchte, und daß der Friede, der ihn erfüllte, aus der geduldigen Selbstaufgabe erwachsen sei, die er erstrebt und nun mit Hilfe dieser glutvollen Welt erreicht hatte, die ihn ohne Zorn verleugnete. Er wanderte leicht dahin, und das Geräusch seiner Schritte erschien ihm fremd, zweifellos vertraut, aber doch nur in der Weise wie das Rascheln der T iere im Mastixgebüsch, das Klatschen der Meereswogen oder das Pochen der Nacht in der T iefe des Himmels. Und ebenso empfand er seinen Körper, aber mit der gleichen äußeren Bewußtheit wie den warmen Hauch dieser Frühlingsnacht und den Salz- und Fäulnisgeruch, der vom Meer aufstieg. Sein Durchstreifen der Welt, sein drängendes Verlangen nach Glück, die furchtbare, mit Knochen
und Hirn angefüllt e W unde von Zagreus, die St unden wohligen Verweilens im Haus vor der W elt , seine Frau, seine Hoffnungen und seine Göt t er, alles das war ihm gegenwärt ig, aber wie eine Geschicht e, die er ohne t rift igen Grund lieber m ocht e als andere, zugleich frem d und heim lich vert raut , ein Lieblingsbuch, das dem Herzen im Innerst en schm eichelt und ihm Best ät igung verschafft , obwohl es ein anderer geschrieben hat . Zum erst en M al erkannt e er in sich selbst keine andere W irklichkeit als die einer Leidenschaft für das Abent euer, eines Verlangens nach glut vollem Dasein, eines klugen warm en Inst inkt s der Verwandt schaft m it der W elt . Frei von Zorn und Haß, kannt e er keine Reue. Auf einem Felsen sit zend, dessen blat t ernarbige Oberfläche er unt er seinen Händen spürt e, sah er das M eer unt er dem M ondlicht sich schweigend höher heben. Er dacht e an Luciennes Gesicht , das er gest reichelt hat t e, an die feucht e W ärm e ihrer Lippen. Auf die glat t e Oberfläche des W assers set zt e der M ond wie Ölst reifen lange wandernde T upfen, die et was von einem Lächeln hat t en. Das W asser war sicher lauwarm wie ein M und, weich und bereit , dem Druck eines M annes nachzugeben. M ersault , der noch im m er saß, fühlt e in diesem Augenblick, wie nahe das Glück den T ränen, wie sehr es in jene schweigende innere Erhebung eingefangen ist , in die Hoffnung und Verzweiflung eines M enschenlebens m it einander verm ischt eingewoben sind. Bewußt und dennoch frem d, von Leidenschaft verzehrt und t eilnahm slos begriff M ersault , daß sein Leben und sein Schicksal sich hier vollendet en und daß all sein Bem ühen nur noch darauf gericht et sein würde, m it diesem Glück ins reine zu kom m en und sich seiner schrecklichen W irklichkeit zu st ellen. Er m ußt e sich jet zt in das warm e M eer st ürzen, sich verlieren um sich wiederzufinden, in M ondschein und lauer W ärm e schwim m en, um in sich, was von der Vergangenheit noch vorhanden war, zum Schweigen und den t iefinneren Sang seines Glücks zum Ert önen zu bringen. Er zog sich aus, st ieg über ein paar Felsen hinab und ließ sich ins W asser gleit en. Es war warm wie ein Körper, schlüpft e an seinen Arm en ent lang und um faßt e
seine Beine in einer ungreifbaren, st et s gegenwärt igen Um arm ung. Er schwam m m it regelm äßigen St ößen und fühlt e, wie seine Rückenm uskeln für seine Bewegung den T akt angaben. Jedesm al, wenn er den Arm hob, ließ er auf das unendlich weit e M eer Garben von silbernen T ropfen sprühen, gleichsam als st reue er angesicht s des st um m en lebendigen Him m els die gleißende Saat für eine Ernt e des Glücks aus. Dann t aucht e er den Arm wieder t ief ein und ließ ihn wie eine P flugschar das W asser aufwühlen, durchfurchen, um eine neue St üt ze und eine noch jüngere Hoffnung zu finden. Hint er ihm ent st and unt er dem Schnellen seiner Füße ein W irbel von Schaum und zu gleicher Zeit ein klat schendes Geräusch von W asser, das selt sam hell in der Einsam keit und St ille der Nacht vernehm bar war. Im Hochgefühl seiner rhyt hm ischen Bewegung und seiner Kraft st ieß er rascher vor und fand sich bald weit von der Küst e ent fernt , allein im Herzen der Nacht und der W elt . Er m ußt e plöt zlich an die T iefe denken, die unt er seinen Füßen sich erst reckt e, und hielt in seiner Bewegung inne. Alles, was unt er ihm war, zog ihn an wie das Ant lit z einer unbekannt en W elt , eine t iefere Dim ension dieser Nacht , die ihn sich selber wiedergab, das aus W asser und Salz best ehende Herz eines noch unerforscht en Lebens. Eine Versuchung überkam ihn, die er alsbald in der großen Freudigkeit seines Körpers von sich wies. Er schwam m kraft voller und noch weit er hinaus. W underbar erm at t et wandt e er sich darauf zum Ufer zurück. In diesem Augenblick geriet er plöt zlich in eine eiskalt e St röm ung und m ußt e m it klappernden Zähnen und aus dem T akt gerat enen Bewegungen innehalt en. Diese Überraschung, die das M eer ihm bereit et e, set zt e ihn in Erst aunen; die eisige Kält e drang in seine Glieder ein und verbrannt e ihn wie die Liebe eines Got t es m it einer erleucht et en, leidenschaft lichen Verzückung, die ihm alle Kraft ent zog. M ühsam kehrt e er zurück, und am Ufer kleidet e er sich, allein m it dem Him m el und dem M eer, schlot t ernd vor Kält e und lachend vor Glück wieder an. Als er nach Hause kam , wurde er von Unwohlsein befallen. Von dem P fad aus, der vom M eer hinauf zu seiner Villa führt e,
konnt e er das gegenüberliegende felsige Vorgebirge, die glat t en St üm pfe der Säulen und der Ruinen sehen. Und plöt zlich st and die Landschaft auf dem Kopf, und er m erkt e, daß er an einem Felsen lehnt e, halb zurückgesunken auf einen M ast ixbusch, dessen zerknickt e Blät t er ihren Duft aufst eigen ließen. M it M ühe schleppt e er sich zur Villa zurück. Sein Körper, der ihn eben noch auf die Gipfel der Freude get ragen hat t e, ließ ihn jet zt in einen Zust and des Elends versinken, der ihn am Leib anpackt e und ihm die Augen verschloß. Er bereit et e sich T ee. Aber er hat t e einen schm ut zigen Kocht opf zum W asserkochen benut zt , und der T ee war so fet t ig, daß ihm fast übel wurde. Indessen t rank er ihn, bevor er sich schlafen legt e. Als er die Schuhe auszog, fielen i h m an seinen Händen, die völlig blut leer waren, die st ark rosig gefärbt en, vergrößert en und über die Fingerspit zen gekrüm m t en Nägel auf. Nie hat t e er solche Fingernägel gehabt , durch die jet zt seine Hand verkrüppelt und krankhaft wirkt e. Er hat t e das Gefühl, als last e ihm ein beklem m ender Druck auf der Brust . Er hust et e und spuckt e ein paarm al auf ganz norm ale Art , obwohl er in seinem M und Blut geschm ack verspürt e. Im Bet t schüt t elt en ihn langanhalt ende Schauer. Er fühlt e sie von den äußerst en P unkt en seines Körpers her aufst eigen und sich in seinen Schult ern wie zwei eiskalt e W asserläufe verbinden, während seine Zähne über dem Rand der Bet t ücher, die i h m durchfeucht et schienen, aufeinanderschlugen. Das Haus kam ihm sehr weit läufig vor, und die vert raut en Geräusche, die er vernahm , wuchsen bis ins Unendliche an, als st ießen sie nirgends auf eine W and, die ihrem Hallen Einhalt gebot . Er hört e das M eer wie einen W irbel von W asser und Kieselst einen, da s Raunen der Nacht hint er den großen Fenst erscheiben und das Kläffen der Hunde auf ent legenen Höfen. Ihm war heiß, er warf die Decken zurück, zog sie aber gleich wieder herauf, weil i h n fror. In diesem Schwebezust and zwischen zwei Leiden, dieser Schläfrigkeit und dieser Unrast , die i h n dem Schlum m er wieder ent riß, erkannt e er jäh, daß er krank war. Angst befiel ihn bei dem Gedanken, daß er in diesem Zust and von Unbewußt heit und ohne die Fähigkeit , et was vorauszusehen, et wa st erben
könnt e. Im Dorf schlug die Uhr der Kirche, ohne daß er die Zahl der Schläge heraushören konnt e. Er wollt e nicht wie ein Kranker st erben. Für seine P erson zum indest wollt e er nicht , daß die Krankheit et was wäre, was sie häufig ist : ein Abnehm en der Kräft e und ein Übergang zum T od. W as er zudem unbewußt wollt e, war die Begegnung seines noch blut vollen, gesunden Lebens m it dem T ode, nicht aber die Konfront at ion des T odes und dessen, was selbst schon beinahe t ot war. Er st and auf, zog m ühsam einen Sessel ans Fenst er, set zt e sich hin und breit et e eine Decke über sich. Hint er den leicht en Fenst ervorhängen konnt e er da, wo nicht Falt en den St off verdicht et en, St erne sehen. Er at m et e t ief ein und packt e fest die Seit enlehnen seines St uhls, um das Zit t ern seiner Hände zu beschwicht igen. Er wollt e seine Klarheit zurückgewinnen. <Es konnt e geschehen>, dacht e er. Zugleich fiel ihm ein, daß das Gas in der Küche noch brannt e. «Es konnt e geschehen», wiederholt e er. Auch klare Einsicht war lange geübt e Geduld. Alles ließ sich gewinnen und erobern. Er schlug m it der Faust auf die Arm lehne des Sessels. M an wird nicht st ark, schwach oder eigenwillig geboren. M an wird st ark, m an erwirbt einen klaren Blick. Das Schicksal liegt nicht im M enschen, sondern es um gibt ihn. Er wurde gewahr, daß er weint e. Eine selt sam e Schwäche, eine aus der Krankheit ent st andene Art von Erschlaffung führt e i h n in seine Kindheit und zu seinen Kindert ränen zurück. Er fror an den Händen und verspürt e im Herzen unendlichen Überdruß. Er dacht e an seine Fingernägel und ließ unt er seinem Schlüsselbein Nervenknot en rollen, die ihm enorm vergrößert erschienen. Und draußen war all diese Schönheit über die W elt gebreit et . Er wollt e sich nicht von seiner Freude und seinem eifersücht igen Fest halt en am Leben t rennen. Er dacht e an die Abende oberhalb von Algier, an denen der Lärm der M enschen, die beim Ert önen der SiRenén aus den Fabriken st röm en, zum grünen Him m el em porst eigt . Unt er dem duft enden W erm ut , den wilden Blum en zwischen den Ruinen und der Einsam keit der kleinen zypressenum st andenen Häuser im Sahel zeichnet e sich für ihn das Bild eines Lebens ab, wo Schönheit und Glück der Verzweiflung keinen Raum ließen
und in dem Patrice etwas wie eine flüchtige Ewigkeit entdeckte. Das alles wollte er nicht verlassen noch zugeben, daß es auch ohne ihn weiterbestehen könnte. Von Auflehnung und Mitleid erfüllt, sah er jetzt das dem Fenster zugekehrte Gesicht von Zagreus vor sich. Er mußte lange husten. Das Atmen fiel ihm schwer. Er erstickte in seinem Schlafanzug. Er fror. Es war ihm zu heiß. In ihm brannte ein ungeheurer zielloser Zorn, und während er die Fäuste ballte, pochte sein Blut mit schweren Stößen unter seiner Schädeldecke; mit leerem Blick erwartete er den nächsten Schüttelfrost, der ihn in blindes Fieber zurückwerfen würde. Der Schüttelfrost kam, überlieferte ihn einer feuchten zugesperrten Welt, in der seine Augen sich schlossen und den Aufruhr des T ieres in ihm zum Schweigen brachten, das seinen Durst und Hunger haben wollte. Doch vor dem Einschlafen fand er Zeit, etwas von der verblassenden Nacht hinter den Vorhängen zu sehen und im Morgengrauen und beim Erwachen der Welt gleichsam einen allesumfassenden Appell der Liebe und Hoffnung zu vernehmen, der gewiß sein Grauen vor dem T ode auslöschte, ihm zugleich aber versicherte, daß er einen Grund zum Sterben in dem finden würde, was für ihn der Grund zu leben gewesen war. Als er aufwachte, war es schon heller T ag, und ein ganzes Volk von Vögeln und Insekten sang und summte in der heißen Luft. Er dachte daran, daß Lucienne an diesem T ag kommen würde. Er war zerschlagen und hatte Mühe, wieder zu seinem Bett zu gelangen. Er hatte Fiebergeschmack im Mund und jene Zerbrechlichkeit in den Gliedern, durch die dem Kranken die Dinge härter und die Menschen erdrückender scheinen. Er ließ Bernard holen. Er kam, wie immer schweigsam und geschäftig, behorchte ihn, und nahm die Brille ab, um die Gläser abzuwischen. «Schlecht», sagte er. Er gab ihm zwei Spritzen. Bei der zweiten fiel Mersault, obwohl er sonst nicht empfindlich war, in Ohnmacht. Als er wieder zu sich kam, hielt Bernard sein Handgelenk in der einen, die Uhr in der anderen Hand und blickte auf den ruckweise fortschreitenden Sekundenzeiger. «Da haben Sie es», sagte Bernard. «Eine Ohnmacht von einer Viertelstunde.
Ihr Herz versagt . Bei einem erneut en Anfall werden Sie m öglicherweise nicht wieder zu sich kom m en.» M ersault schloß die Augen. Er war erschöpft , seine Lippen waren blut los und t rocken, sein At em ging pfeifend. «Bernard», sagt e er. « Ja.» «Ich will nicht in einer Ohnm acht st erben. Ich m öcht e klar sehen, verst ehen Sie?» « J a » , sagt e Bernard. Er gab ihm ein paar Am pullen. «W enn Sie sich schwach fühlen, brechen Sie die Spit ze ab und schlukken Sie den Inhalt . Es ist Adrenalin.» Im Hinausgehen st ieß Bernard auf Lucienne, die gerade ankam . «Reizend wie im m er», sagt e er. «P at rice ist krank?» «Ja.» « I st es ernst?» «Nein, es geht ihm sehr gut », sagt e Bernard. Und bevor er ging, set zt e er hinzu: «Noch eins, ein Rat : lassen Sie ihn so viel wie m öglich allein.» «Aha», sagt e Lucienne, «es ist also weit er nicht s.» Den ganzen T ag war M ersault am Erst icken. Zweim al verspürt e er die kalt e, zähe Leere, die ihn in eine neue Ohnm acht hineinzuziehen droht e, und zweim al ent hob ihn das Adrenalin diesem St urz in die Flut . Den ganzen T ag über blickt en seine verdüst ert en Augen in die herrliche Landschaft . Gegen vier Uhr zeigt e sich ein großes rot es Boot auf dem M eer und wurde allm ählich größer, hell glänzend von Sonne, W asser und M uschelschalen. Es war P érez, der im Boot st and und m it gleichm äßigen Schlägen rudert e. Die Nacht brach j ä h herein. M ersault schloß die Augen, und lächelt e seit dem Vort ag zum erst en M al. Er hat t e die Zähne nicht auseinandergebracht . Lucienne war seit kurzem in seinem Zim m er; in einer Regung unbest im m t er Sorge st ürzt e sie sich auf ihn und küßt e ihn. «Set z dich», sagt e M ersault . «Du kannst bleiben.» «Sprich nicht », sagt e Lucienne. «Das st rengt dich a n . »
Bernard kam, gab ihm Spritzen und ging. Große rote Wolken strichen langsam über den Himmel hin. «Als ich ein Kind war», brachte Mersault, tief in sein Kopfkissen vergraben und den Blick zum Himmel gerichtet, mit Mühe hervor, «sagte meine Mutter immer zu mir, das seien die Seelen der T oten, die zum Paradies aufsteigen. Ich wunderte mich, daß ich eine rote Seele haben sollte. Inzwischen weiß ich, daß diese Färbung meist auf Wind schließen läßt. Aber auch das ist etwas Wunderbares.» Die Nacht sank herab. Es stellten sich Bilder ein. Große phantastische T iere zogen kopfnickend über Wüstenlandschaften hin. Mersault wischte sie sanft von dem Hintergrund seines Fiebers fort. Nur Zagreus' Gesicht durfte kommen in seiner Blutsbrüderschaft. Der den T od gegeben hatte, würde nun selber sterben. Und wie damals bei Zagreus war der klare Blick, den er auf das Leben heftete, der Blick eines Mannes. Bislang hatte er gelebt. Jetzt würde man von seinem Leben sprechen können, von dem großen verwüstenden Schwung, der ihn vorangetragen hatte, von der flüchtigen, schöpferischen Poesie des Lebens blieb jetzt nichts mehr übrig als die nackte Wahrheit, das Gegenteil aller Poesie. Jetzt wußte er, welcher von all den Menschen, die er wie jedermann zu Beginn seines Lebens in sich getragen hatte, welches von diesen verschiedenartigen Wesen, die ihre Wurzeln miteinander vermischten, ohne sich selbst zu vermischen, er selber gewesen war: und diese Wahl, die im Menschen das Schicksal schafft, hatte er bewußt und beherzt getroffen. Darin lag sein ganzes Glück im Leben und im T ode. Er begriff jetzt, daß vor diesem T od, den er stets mit dem panischen Schrecken eines T ieres betrachtet hatte, Furcht zu haben, bedeutete, Furcht vor dem Leben zu haben. Die Furcht zu sterben rechtfertigte das grenzenlose Festhalten an dem, was im Menschen lebendig ist. Und alle diejenigen, die nicht die entscheidenden Handlungen vollzogen hatten, um ihr Leben zu intensivieren, alle diejenigen, die die Ohnmacht fürchteten und zugleich priesen, hatten Angst vor dem T od, weil er die endgültige Bestätigung eines Lebens bedeutete, das sie nicht mitgelebt
hat t en. Sie hat t en nicht genug gelebt , da sie nie gelebt hat t en, und der T od war für sie gleichsam die Gest e, die einen Reisenden, der vergebens versucht hat , seinen Durst zu st illen, für im m er des W assers beraubt . Für andere aber war er die schicksalhaft e, dabei aber zärt liche Gebärde, die auslöscht und verneint und ebenso zur Dankbarkeit wie zur Auflehnung verführt . Einen T ag und eine Nacht verbracht e er auf dem Bet t sit zend, die Arm e auf den Nacht t isch gest üt zt und den Kopf in den Händen vergraben. Im Liegen war es ihm unm öglich zu at m en. Lucienne saß neben ihm und beobacht et e ihn schweigend. M ersault sah sie m anchm al an. Er dacht e daran, daß nach ihm der erst e, der den Arm um sie legt e, sie auch schon bereit finden würde. Ganz in ihrer Körperlichkeit beschlossen, würde sie verfügbar sein, wie sie ihm verfügbar gewesen war, und die W elt würde weit er-, best ehen in der W ärm e ihrer halbgeöffnet en Lippen. M anchm al hob er den Kopf und blickt e durch das Fenst er. Er war nicht rasiert , seine rot gerändert en, t ief eingesunkenen Augen hat t en ihren dunklen Glanz verloren, und seine hohlen, bleichen W angen unt er dem bläulichen Bart haar verwandelt en ihn völlig. Sein Blick, der wie der einer kranken Kat ze war, haft et e an den Fenst ern. Er holt e t ief Luft und wendet e sich um zu Lucienne. Dann lächelt e er. Und in diesem Gesicht , das überall auseinanderfloß und seine Fest igkeit verlor, schuf dieses hart e wissende Lächeln eine neue Kraft , einen beschwingt en Ernst . «Geht es?» fragt e Lucienne m it ihrer t onlosen St im m e. « J a . » Er kehrt e in das Dunkel seiner Arm e zurück. An der Grenze seiner Kraft und seines W iderst andes angelangt , t raf er zum erst en M al in seinem Innern auf Roland Zagreus, dessen Lächeln ihn zu Anfang so sehr erbit t ert hat t e. Sein kurzer, rasch gehender At em schlug sich feucht auf der M arm orplat t e des Nacht t ischs nieder und sandt e ihm von da aus seine W ärm e zurück. Und in dieser ungesunden Schwüle, die zu ihm aufst ieg, em pfand er um so st ärker die Eiseskält e in seinen Fingerspit zen und Zehen. Selbst darin offenbart e sich noch Leben, und in jenem Übergang vom Kalt en zum W arm en fand er das Hochge-
fühl wieder, das Zagreus ergriffen hatte, der <dem Leben dafür dankte, daß es ihm noch im Innern zu brennen erlaubte>. Er fühlte sich von einer heftigen, brüderlichen Liebe zu diesem Mann erfaßt, dem er sich so fern geglaubt hatte, und er begriff, daß er, indem er ihn tötete, mit ihm eine Vermählung vollzogen hatte, die sie beide für. immer verband. Die mühsam in ihm aufsteigenden T ränen erschienen ihm wie ein Geschmack, aus Leben und T od gemischt, und er wurde sich klar darüber, daß er beiden gemeinsam war. Und sogar in der Unbeweglichkeit, mit der Zagreus den T od erwartete, fand er das geheime harte Ebenbild seines eigenen Lebens wieder. Das Fieber trug dazu bei und mit ihm die erhebende Gewißheit, daß er sein Bewußtsein bis zum Ende bewahren und mit offenen Augen sterben werde. Auch Zagreus' Augen waren an jenem T age geöffnet gewesen, und T ränen waren aus ihnen geflossen. Doch das war nur die letzte Schwäche eines Mannes, der nicht T eil gehabt hatte an seinem Leben. Patrice seinerseits fürchtete diese Schwäche nicht. Aus dem Pochen seines fiebernden Blutes, das immer ein paar Zentimeter vor den Grenzen seines Körpers innehielt, ersah er immerhin, daß diese Schwäche nicht die seine sein würde. Denn er hatte seine Rolle erfüllt, er hatte die einzige Aufgabe des Menschen vollendet, die allein darin besteht, glücklich zu sein. Sicher nicht auf lange Zeit. Doch auf die Zeit kommt es nicht an. Sie kann nur ein Hindernis sein oder ist gar nichts mehr. Er hatte das Hindernis weggeräumt, und es hing wenig davon ab, ob dieser Bruder im Innern, den er in sich erzeugt hatte, zwei oder zwanzig Jahre alt war. Das Glück bestand darin, daß er existierte. Lucienne stand auf und hüllte Mersaults Schultern, von denen die Decke herabgeglitten war, wieder ein. Er erschauerte leicht unter dieser Bewegung. Von dem T age an, da er auf dem kleinen Platz in der Nähe von Zagreus' Villa hatte niesen müssen, bis zu dieser Stunde hatte sein Körper ihm treu gedient und ihn der Welt geöffnet. Zugleich aber führte er ein von dem Menschen, dem er als Erscheinung diente, losgelöstes, unabhängiges Leben. Innerhalb dieser wenigen Jahre hatte er einen lang-
samen Verfall betrieben. Jetzt hatte er seine Kurve vollendet und hielt sich bereit, Mersault zu verlassen und ihn der Welt zurückzugeben. In diesem jähen Erschauern aber, dessen sich Mersault bewußt war, deutete er noch einmal jenes enge Zusammenwirken an, dem sie beide schon so viele Freuden verdankten. Nur in diesem Sinn empfand Mersault auch dieses Frösteln noch als Freude. Bewußt, das mußte man sein, ohne Selbsttäuschung, ohne Feigheit — allein mit seinem Körper — die Augen offen auf den T od gerichtet. Es war eine Sache, die unter Männern ausgetragen wurde. Nichts, keine Liebe und keine schmückende Umgebung, sondern nur eine unendliche Wüste aus Einsamkeit und Glück — hier spielte Mersault seine letzten Karten aus. Er fühlte, wie sein Atem schwächer wurde. Er sog einen Mundvoll Luft ein, und bei dieser Bewegung begannen alle Orgeln seiner Brust zu rauschen. Er spürte, daß seine Waden sehr kalt und seine Hände fühllos waren. Der T ag brach an. Der erwachende Morgen war voll von Vogelgezwitscher und Kühle. Die Sonne ging schnell auf und stand im Nu über dem Horizont. Die Erde bedeckte sich mit Gold und mit Hitze. Am Morgen besprühten sich Himmel und Meer mit großen flimmernden Flecken von blauen und gelben Lichtern. Ein leichter Wind kam auf, und durch das Fenster drang Salzluft herein und kühlte Mersaults Hände. Um die Mittagszeit legte sich der Wind, der T ag brach auf wie eine reife Frucht und ergoß über die ganze Weite der Welt einen warmen erstickenden Saft, während die Grillen ihr Konzert anstimmten. Das Meer überzog sich damit wie mit goldgelbem Öl und sandte auf die von Sonnenglut überwältigte Erde einen warmen Hauch, der sie öffnete und aus ihr die Düfte von Wermut, Rosmarin und heißen Steinen aufsteigen ließ. Von seinem Bett aus wurde Mersault dieses plötzlichen Stoßes und dieser Darbringung gewahr, und er richtete die weitgeöffneten Augen auf das endlose, gerundete, gelbrot schimmernde, vom Lächeln seiner Götter belebte Meer. Er wurde sich plötzlich bewußt, daß er auf seinem Bett saß und daß Luciennes Gesicht ganz nah an dem seinen war. In ihm stieg langsam, vom Leib her, ein Kiesel auf, der nach und nach den
W eg in seine Kehle nahm . Er at m et e im m er rascher, er nahm jede M öglichkeit eines Luft durchgangs wahr. Im m er höher st ieg der St ein in ihm . Er sah Lucienne an. Er lächelt e ohne Verkram pfung, und auch dieses Lächeln kam von innen her. Er sank auf sein Lager zurück und fühlt e weit er das langsam e Aufst eigen in sich. Er schaut e auf Luciennes geschwellt e Lippen und, hint er ihr, auf das Lächeln der Erde. Er um faßt e beide m it dem gleichen Blick und m it dem gleichen Verlangen. , dacht e er. Das St eigen hielt inne. Und ein St ein zwischen St einen, ging er in der Freude seines Herzens wieder in die W ahrheit der unbeweglichen W elt en ein.
Nachwort Ich m öcht e in dieser Unt ersuchung über die Ent st ehung des Rom ans nicht näher auf die biographischen Fakt en eingehen. Das W esent liche und W issenswert e hat bereit s Roger Quilliot in den beiden Bänden der P léiade-Ausgabe m it get eilt . 1 basiert auf Erinnerungen an das Arm enviert el Belcourt , wo Cam us seine Kindheit verbracht hat , an seine Beschäft igung in einer Schiffsm aklerei, an seine Reise nach M it t eleuropa im Som m er 1936, seine It alienfahrt en 1936 und 1937, seine Sanat orium saufent halt e, an sein Leben im Haus Fichu, dem «Haus vor der W elt », oberhalb von Algier, wo er sich im Novem ber 1936 niedergelassen hat t e. Ebenso haben einige seiner Freundschaft en und Liebesbeziehungen hier ihren Niederschlag gefunden, so zum Beispiel die zwei Ehejahre m it Sim one Hié und der Bruch m it ihr in Salzburg nach einer st ürm ischen Auseinanderset zung. Eine andere weibliche Gest alt , die in dem Rom an eine wicht ige Rolle spielt , ist nicht ohne weit eres zu ident ifizieren. Einige genauere Hinweise sind im Anm erkungst eil zu finden. Es bleibt eine Reihe von Fragen, die vielleicht durch wissenschaft liche Unt ersuchungen eines T ages beant wort et werden können. W er war zum Beispiel Lucienne? Oder Roland Zagreus? Oder der Arzt , Dokt or Bernard? Sinnvoller, als die biographischen Hint ergründe des Rom ans im einzelnen aufzudecken, schien es m ir, die lit erarische Ent st ehungsgeschicht e zu skizzieren.
l Vgl. auch Germaine Bree:. Reinbek 1960, und Morvan Lebesque:
Die erste eindeutige Erwähnung dessen, was später werden sollte, findet sich in den . Es handelt sich um einen Plan für den Zweiten T eil, der erst im Anschluß an Camus' Reise nach Mitteleuropa entstanden sein kann. Die letzten Skizzen zu stammen aus dem Jahre 1938. Man findet den Namen Mersault im Januar 1939 wieder, aber zu diesem Zeitpunkt beschäftigt sich Camus bereits mit der Erzählung . Folglich muß zwischen 1936 und 1938 konzipiert und geschrieben worden sein. Der Roman ist zur gleichen Zeit wie die Urfassung der Essays aus und die Endfassung der Essays aus entstanden. Danach folgte die erste Fassung des Dramas . Man kann sich am besten einen Begriff von der Entstehung des Romans machen, wenn man von der Endfassung ausgeht. best eht aus zwei T eilen: Der natürliche Tod und Der bewußte Tod. Jeder T eil set zt sich aus fünf Kapit eln zusam m en. Aber von insgesam t 140 Schreibm aschinenseit en ent fallen auf den Erst en T eil nur 49, also kaum m ehr als ein Drit t el. Im M it t elpunkt der Handlung des Erst en T eils st eht der M ord an Roland Zagreus. Der P rot agonist , M ersault , t öt et ihn im erst en Kapit el, bem ächt igt sich seines Geldes und zieht sich auf dem Rückweg zu seiner W ohnung eine Erkält ung zu. Die folgenden Kapit el ent halt en Rückblicke: auf das Allt agsleben M ersault s (Kap. II), auf seine Beziehungen zu M art he und seine sexuelle Eifersucht (Kap. III), sein langes Gespräch m it Zagreus (Kap. IV) und schließlich auf eine Unt erhalt ung m it dem Faßbinder Cardona, dessen Leben im Elend geschildert wird (Kap. V). Zusam m enfassend läßt sich folgende Fabel herauskrist allisieren: P at rice M ersault , ein in beschränkt en Verhält nissen lebender kleiner Angest ellt er, Nachbar eines in noch beschränkt eren Verhält nissen lebenden Faßbinders, liebt ein M ädchen, dessen erst er Liebhaber der Krüppel Zagreus gewesen ist . Durch ihre Verm it t lung lernt er Zagreus kennen, erfährt in Gesprächen m it ihm , wie er sein Verm ögen gem acht hat ,
nut zt dieses Vert rauen aus und erm ordet ihn. Darauf begibt er sich auf Reisen, bei angegriffener Gesundheit , aber m it wohlgefüllt er Börse. Die fünf Kapit el des Zweit en T eils (Der bewußte Tod) beschreiben M ersault s Aufent halt in P rag (Kap. I), den weit eren Verlauf seiner Reise und seine Rückkehr über Genua nach Algier (Kap. II), sein Leben im «Haus vor der W elt » (Kap. III), seinen Aufbruch zum Chenoua, wo er sich in einem Haus am M eer niederläßt (Kap. IV), und schließlich seine Erkrankung an einer Rippenfellent zündung und seinen T od (Kap. V). Hier wiederum eine Kurzfassung der Fabel: in P rag fühlt M ersault , daß ihn das Glück verläßt ; er findet es wieder durch die Rückkehr in den Süden, zur Sonne. In Algier unt ernim m t er nacheinander zwei Versuche, ein glückliches Leben zu führen: zuerst in der Gem einschaft m it drei Freundinnen, im «Haus vor der W elt », dann, bei einem ent legenen Dorf am Chenoua, in asket ischer Einsam keit , die nur durch die Besuche seiner Frau Lucienne oder seiner drei Freundinnen unt erbrochen wird. Er hat das Glück errungen und hält es, zulet zt im Andenken an Zagreus, bis zu seinem T ode fest . Dieser kurze Überblick läßt das zent rale T hem a des Rom ans deut lich hervort ret en: W ie kann m an glücklich st erben? Oder, anders ausgedrückt : W ie kann m an so glücklich leben, daß selbst der T od als Glück em pfunden wird? Die Kehrseit e 1 dieses glücklichen Lebens und St erbens wird im Erst en T eil geschildert : Geldm angel, Zeit m angel, die Unfähigkeit , die eigenen Gefühle zu beherrschen. Dem gegenüber st ellt der Zweit e T eil die , die Licht seit e dar: finanzielle Unabhängigkeit , Zeit eint eilung, Friede des Herzens. Das sind, sum m arisch, Inhalt und Sinn des Rom ans, wie er sich in seiner let zt en Fassung präsent iert .
l Anspielung auf die Essaysammlung (dt. ). (Anm. d. Übers.)
Die Gliederung in zwei T eile ist erst sehr spät vorgenom m en worden. Alle P lanskizzen bis zum Jahre 1938 deut en ausnahm slos auf drei T eile hin, und die t ast enden Änderungsversuche beziehen sich nur auf die Eint eilung der Kapit el. So erklärt sich die Asym m et rie (von 49 zu 91 Seit en) im endgült igen P lan. Die Gliederung in drei T eile war, wie aus dem P lan, der den T it el «Neuauft eilung» t rägt , ersicht lich wird, ausgewogener: hier hät t e jeder T eil annähernd die gleiche Seit enzahl gehabt . Der let zt e P lan st ellt einen st arken Kont rast in den Vordergrund. In den erst en Skizzen ist davon noch nicht s zu spüren. Dennoch scheinen Kont rast und Abwechslung als äst het ische M it t el von vornherein eine wesent liche Rolle gespielt zu haben, so wie sie auch ein wesent licher Best andt eil von Cam us' P hilosophie sind. Aus einer Not iz, in der er sich vornim m t , «6 Geschicht en» zu erzählen, wird bereit s durch die Anordnung der Geschicht en ersicht lich, welche Bedeut ung er der Abwechslung beim ißt : «Geschicht e des brillant en Spiels. Luxus. Geschicht e des Arm enviert els. T od der M ut t er. Geschicht e des Hauses vor der W elt . Geschicht e der sexuellen Eifersucht . Geschicht e des zum T ode Verurt eilt en. Geschicht e des Abst iegs zur Sonne.» Diese sechs Geschicht en ließen sich zu je zweien zusam m enfassen. Aber bis Ende August 1937 versucht Cam us den in der P olarit ät liegenden Kont rast durch einen Kont rast der Zeit form en zu verst ärken: best im m t e Kapit el sollen in der Gegenwart sform geschrieben werden, andere in der Vergangenheit sform . In einem det ailliert en P lan des «Zweit en T eils» versucht er sogar, die T em pora nach einem st rengen Schem a wechselweise aufeinanderfolgen zu lassen. Schließlich verzicht et er jedoch auf diesen Form alism us, der keine innere Not wendigkeit besit zt . Aber eine Spur davon findet sich noch in dem endgült igen T ext : das Kapit el, das dem «Haus vor der W elt » gewidm et ist , Beschwörung eines reinen st et en Glücks, ist — wie im ursprünglichen P lan vorgesehen — im P räsens geschrieben.
Die erwähnt en sechs Geschicht en bilden das Rohm at erial, aus dem sich nach und nach der Rom an ent wickelt hat . An Hand dieser Geschicht en, ihrer Um gest alt ung und ihrer P lacierung kann m an die Genese des Rom ans nachzeichnen. Die erst en P läne st ellen die Geschicht e des «Hauses vor der W elt » in den M it t elpunkt , die zusam m en m it der Eifersucht sgeschicht e den zweit en T eil ausm acht . Hier ist der erst e P lan, wie er in den st eht : «II. T eil A. in der Gegenwart B. in der Vergangenheit Kap. A l — Das «Haus vor der W elt ». Einführung. Kap. B l — Er erinnert e sich. Verhält nis m it Lucienne. Kap. A 2 — «Haus vor der W elt ». Seine Jugend. Kap. B 2 — Lucienne bericht et von ihrer Unt reue. Kap. A 3 — «Haus vor der W elt ». Einladung. Kap. B 4 — Sexuelle Eifersucht . Salzburg. P rag. Kap. A 4 — «Haus vor der W elt ». Die Sonne. Kap. B 5 — Die Flucht (Brief). Algier. Erkält et sich, wird krank. Kap. A 5 — Nacht im Angesicht der St erne. Cat herine.» Der erst e T eil ist also — wie aus einem P lan aus der Zeit nach August 1937 ersicht lich wird — dem Kapit elpaar «brillant es Spiel» und «Arm enviert el» gewidm et : was unt er dem Begriff brillant es Spiel zu verst ehen ist , wird sich spät er, im <Mythos von Sisyphos>, in der Dreiheit «Don-Juanism us, Kom ödie, Eroberung» m anifest ieren; dieses «Spiel» wird den W idrigkeit en des Lebens im «Arm enviert el» ent gegengeset zt . Es zeichnet sich also ein doppelt er Ant agonism us ab, den ein Schem a, das ebenfalls aus dem August 1937 st am m t , hervort ret en läßt : «I. T eil — Sein bisheriges Leben. II. T eil - Das Spiel. III. T eil — Der Verzicht auf Kom prom isse und die W ahrheit in der Nat ur.»
Das «bisherige Leben» m eint Arm ut , acht St unden Arbeit jeden T ag, banale soziale Bindungen: eine Art inaut hent isches Dasein. «Das Spiel», über das sich die nur lakonisch äußern, dürft e eine Art Dandyt um bedeut en. Fort schrit t gegenüber dem Leben in Arm ut , begeist ert er Selbst genuß, aber im m er noch im Zust and der Inaut hent izit ät . Dieser Ant agonism us verliert in der Endfassung des Rom ans seine Relevanz, er wird in Gesprächen aufgelöst und in die Ent wicklung M ersault s int egriert . Dagegen st ellt die Erringung der Aut hent izit ät durch Flucht in die Einsam keit und in die Nat ur von den erst en Ent würfen bis hin zur Endfassung Sinn und Ziel des Rom ans dar. Aber in den erst en Ent würfen scheint gar nicht m it dem T od des P rot agonist en zu enden. «Sehnen nach T od und Sonne» liest m an in einem P lan, «Sehnen», aber nicht m ehr. In einem anderen P lan wird der T od anscheinend herausgefordert , st eht jedoch am Ende des erst en T eils: «Let zt es Kapit el : Abst ieg zur Sonne und zum T od (Selbst m ord — nat ürlicher T od).» Ein bem erkenswert er Zug: Sonne und T od in Beziehung zueinander. Sobald sich an die St elle des sinnlichen Bildes der Sonne der m oralische M yt hos des Glückes schiebt , ist ein ent scheidender Schrit t auf die endgült ige Fassung hin get an. M an kann diesen Schrit t auf den M onat August 1937 und die folgende T agebucheint ragung dat ieren: «Rom an: der M ann, der erkannt hat , daß m an reich sein m uß, um zu leben, der sich ganz dieser Eroberung des Geldes gewidm et hat , dem es gelingt , der glücklich lebt und st irbt ». Zum erst en M al t rifft m an in den auf ein regelrecht es Resüm ee von , und zum erst en M al auf das W ort Rom an. Das Leit m ot iv des Rom ans ist von nun an deut lich erkennbar: die Fabel illust riert die Um kehrung des Sprichwort s «Geld m acht nicht glücklich». Das Glück, welches das Geld verschafft , wird zum Haupt t hem a, wie aus den erst en Zeilen der Eint ragung vom 17. Novem ber 1937 eindeut ig hervorgeht : «17. Novem ber <Wille zum Glück.> 3. T eil. Verwirklichung des Glücks.»
Aber nun kom m t die Gest alt des Zagreus hinzu, der zunächst nur der «Krüppel» ist , um M ersault über das Verhält nis von Geld und Zeit aufzuklären und ihn die W ahrheit , die in einer anderen Redensart st eckt , ent decken zu lassen: Zeit ist Geld. Die ebenfalls zut reffende Um kehrung dieser Form el — Geld ist Zeit - wird zu einem Grundbest andt eil seiner Lebenskunst . Davon zeugt auch der let zt e Abschnit t der Eint ragung vom 17. Novem ber: «Für einen M enschen von heißt glücklich sein, das Schicksal aller M enschen auf sich nehm en, und zwar nicht m it dem W illen zum Verzicht , sondern m it dem W illen zum Glück. Um glücklich zu sein, braucht es Zeit , viel Zeit . Auch das Glück ist ein langes Sich-Gedulden. Die Zeit jedoch wird uns von der Not wendigkeit des Geldverdienens gest ohlen. Die Zeit ist käuflich. Alles ist käuflich. Reich sein heißt Zeit haben zum Glücklichsein, wenn m an dessen würdig ist .» Die verschiedenen M at erialien zu dem Rom an gruppieren sich also um das Begriffspaar von der verloRenén und der gewonnenen Zeit . Die verloRené Zeit wird zu der Zeit der Arm ut , der Arbeit , des Allt agslebens: das Kapit el, das dem Leben M ersault s gewidm et ist , erhält den T it el « Die Zeit t öt en», ein T it el, der ebenso auf das Verhält nis m it M art he wie auf die Reise nach M it t eleuropa zut rifft . Die Erm ordnung Zagreus' set zt dieser jäm m erlichen Odyssee durch die verloRené Zeit ein Ende. Die gewonnene Zeit dagegen wird zu der Zeit im «Haus vor der W elt » und zur Zeit der Flucht in die Nat ur. Auf einem handgeschriebenen Blat t liegt eine dreit eilige P lanskizze vor, in der das Anfangskapit el eines jeden T eils dem T hem a der Zeit gewidm et ist . Beginnend m it «Die Zeit t öt en», sieht der erst e T eil sieben Kapit el vor, die das Leben M ersault s von den Ereignissen in Algier bis zur Rückkehr aus P rag um fassen (das ent spricht den Seit en 1-75 der Endfassung): «I von », schreibt Cam us, «bis <Er fühlt e sich geschaffen für das Glück>.» Diesen let zt en Sat z findet m an kaum verändert auf S. 75 der Endfassung wieder: «. . . begriff er endlich, daß er für das Glück geschaffen war.»
Das Anfangskapit el des zweit en T eils t rägt den T it el: «Zeit gewinnen» — es handelt sich um das Kapitel über das «Haus vor der Welt» — und das Anfangskapitel des dritten Teils die Überschrift «Die Zeit ». Im Hinblick auf P roust könnt e m an sagen, daß der Rom an von der «verloRenén Zeit », der der Arbeit , über die «gewonnene Zeit », die des M üßiggangs bei den blühenden jungen M ädchen im «Haus vor der W elt », fort schreit et zur «wiedergefundenen Zeit », der Zeit der Übereinst im m ung m it der Nat ur in der Einsam keit und im T ode, was eine kurze Not iz auf dem M anuskript für die let zt e Seit e so zusam m enfaßt : «Zeit .» «Er nim m t zuerst alles m ögliche in Angriff und gibt dann alles auf. T ut absolut nicht s. Uberläßt sich der Zeit und besonders den Jahreszeit en (T agebuch!).» Die Zeit —ursprünglich nur Zeichen des Glücks — ist zum Hauptthema des Romans geworden, sie gibt ihm sein Gerüst und seinen Rhythmus. Der Wechsel von Gegenwart und Vergangenheit in den erst en Skizzen war nicht ausschlaggebend. Nun mußten, um zwischen der gelockert en Zeit enfolge des erst en T eils und dem at em poralen Charakt er des drit t en zu verm it t eln, im Verlauf der Erzählung die spröden beschreibenden P art ien m it lyrischen Akzent en versehen werden. W ir gelangen so zu der let zt en Um form ung des Rom ans, der Zusam m enfassung zu zwei T eilen. Dafür gibt es zwei Gründe: erst ens Cam us' Schwierigkeit en bei der Gest alt ung erot ischer oder gefühlsbet ont er Szenen. Er m ußt e sich hier Beschränkungen auferlegen. In der obenerwähnt en Skizze kündigt e der zweit e T eil nach dem Kapit el «Zeit gewinnen» die «Begegnung m it Lucienne» und dann die «Abreise Cat herines» an. Er konnt e oder wollt e für diese Kapit el nicht genügend M at erial zusam m enbringen. Schließlich hat dann die Zagreus-Episode genügend Gewicht erhalt en, daß sie den M it t elpunkt eines ganzen Handlungssyst em s bilden konnt e. Die Flucht nach M it t eleuropa, die anfangs m it dem T hem a der sexuellen Eifersucht gekoppelt war, wurde nun m it der Zagreus-Episode verknüpft . Doch noch im m er hält Cam us an der Eint eilung in drei T eile fest . Hier der let zt e P lan vor der endgült igen Zusam m enfassung:
«I.T eil. 1.: das Arm enviert el; 2.: P at rice M ersault ; 3.: P at rice und M art he; 4. [gest richen, kaum lesbar] : P . und seine Freunde [?] ; 5.: P at rice und Zagreus. II. T eil, l.: Erm ordung Zagreus'; 2.: Flucht in Angst ; 3.: Rückkehr zum Glück. III.T eil. 1.: die Frauen und die Sonne; 2.: das verborgene und leidenschaft liche Glück in T ipasa; 3.: der glückliche T od.» Der endgült ige T it el ist gefunden, aber er bezieht sich hier auf das let zt e Kapit el. Die Zagreus-Episode ist noch nicht gut placiert . Die M ordszene wird noch um gest ellt , zunächst an das Ende, dann an den Anfang des erst en T eils. Dam it ist der zweit e, auf die Reise und die Rückkehr reduziert e T eil inhalt lich zu schm al. Er verschm ilzt m it dem let zt en, und ein gem einsam er T it el, Der bewußte Tod, recht fert igt die Zusam m enfassung. Zugleich wird auf diese W eise ein ent sprechender T it el für den erst en T eil erforderlich: Der natürliche Tod. Die einzelnen Kapit el dagegen verlieren ihre T it el: dasjenige, das zunächst «Das Haus vor der W elt », spät er «Die Frauen und die Sonne», danach «Die Frauen und die W elt » hieß, folgt nun unverm it t elt , in der ungewöhnlichen Form des P räsens des Indikat ivs, auf die Erzählung von der Rückkehr aus P rag. So wurde neu geschrieben — «Rom an neu schreiben» nim m t sich Cam us im Juni 1938 vor —, vollendet oder zum indest um gearbeit et . W arum ist er nicht veröffent licht worden? W ir wollen hier lediglich die rein lit erarischen M ot ive fest halt en. Cast ex nim m t in seiner St udie über die Erzählung an, daß sie in der Vorst ellung des Aut ors den vorliegenden Rom an erset zt habe; und er sieht im August 1937 die ent scheidende P hase, in der sich die T hem at ik von unm erklich in den Vordergrund schiebt . Er zit iert den folgenden T ext :
«Ein Mann, der das Leben dort gesucht hat, wo man es zu suchen pflegt (Ehe, Stellung usw.), und unvermittelt, beim Lesen eines Modejournals, entdeckt, wie sehr er dem Leben fremd war (dem Leben, wie es in den Modejournalen dargestellt wird)» 1 , der die erste Formulierung dieser T hematik bietet, obwohl er sich auf bezieht. Diese Hypothese hat etwas für sich. Sie wird gestützt, wenn man unter dem Aspekt seiner Qualität als Roman betrachtet. Es scheint, daß Camus im Verlauf der Ausarbeitung den verborgenen Mangel seines ersten Romans erkannt und nach einer anderen Möglichkeit gesucht hat. Ein Werk, «zugleich mangelhaft strukturiert und bemerkenswert gut geschrieben», urteilt Roger Quilliot. Man könnte es nicht besser ausdrücken. Die Qualitäten des Stilisten treten — anders als die des Romanciers — deutlich zutage. Camus versucht vergeblich, disparate Stoffelemente in eine Ordnung zu bringen und zu einem Ganzen zu vereinigen: welche Beziehung besteht zum Beispiel zwischen dem imaginären Mord an Zagreus und dem wirklichkeitsnahen Bericht von der Reise nach Prag? Oder zwischen der Schilderung des armen T eufels Cardona und der Beschwörung des «Hauses vor der Welt»? Die Diskrepanz der verschiedenen Stilebenen verstärkt die der einzelnen Episoden, wofür auch Camus' ausgeprägte Vorliebe für den Kontrast keine Erklärung bietet: pathetische, heitere, banale, trocken beschreibende, überschwenglich sinnliche oder die Sonne besingende lyrische T extpartien folgen ohne Übergang aufeinander. Die Episoden sind zu zahlreich und wiederholen sich in einzelnen Fällen: so wird uns nach dem T od der Mutter Mersaults noch vom T od der Mutter Cardonas berichtet. Die weiblichen Rollen vor allem sind ungünstig verteilt. Aus dem T rioder «Schäfchen» ragt Catherine hervor, die —wie die ersten Pläne zeigen — ursprünglich eine Liaison mit Mersault hatte. l Vgl. Roger Quilliot : . P aris 1956, S. 87.
Aber Lucienne konnt e sich der gleichen Gunst rühm en. Die P läne sehen vor, daß M ersault bald m it der einen, bald m it der anderen liiert ist . Dort t aucht auch der Nam e einer gewissen Lucile auf. W ie m an einer Korrekt ur ent nehm en kann, t rit t spät er M art he an ihre St elle und übernim m t auch zum T eil die Rollen von Lucienne und Cat herine. M art he ist M ersault s Liaison im St adium der «verloRenén Zeit », Cat herine die der «wiedergefundenen Zeit ». Gewiß, Cam us hat es n i c h t l e i c h t m it seinen Frauengest alt en! Sie hem m en die Ent wicklung des Rom ans. Sie illust rieren gewisserm aßen das Sprichwort : W er sich zuviel vornim m t , wird gar nicht s erreichen. M an m erkt der let zt en Fassung an, wie sich Cam us, wenn auch m it wenig Erfolg, bem üht hat , ihre jeweiligen Vorrecht e fest zulegen, ihr Auft ret en vorzubereit en oder ihre Spuren zu erhalt en. Hät t e ein besserer Rom an daraus werden können, wenn Cam us m ehr Arbeit invest iert hät t e? Als Rom an ist von seiner Anlage her verfehlt . «Die Qualit ät eines Rom ans», so liest m an in einer neueren Unt ersuchung1 über die Gat t ung Rom an, «hängt von dem Spannungsverhält nis ab, in dem sich exakt e Beobacht ung und Korrekt ur oder Vert iefung des Realen durch das Im aginäre befinden.» Diesem P ost ulat kann sich kein Rom an ent ziehen. In bleiben die Elem ent e der Beobacht ung, das heißt die aut obiographischen P art ien, isoliert : die Erinnerungen an das Arm enviert el, an das Sanat orium , an das «Haus vor der W elt », an die Reise nach M it t eleuropa, an weibliche Gest alt en sind nicht — im chem ischen Sinne des W ort es — «behandelt », sie fügen sich nicht zu «einem Ganzen, zu einer geschlossenen und einheit lichen W elt » zusam m en, vergleichbar der W elt P roust s, die Cam us spät er in als M odell hinst ellt . Sie würden nur dann ein Ganzes bilden, wenn sie von der kreat iven Im aginat ion aufgenom m en und verarbeit et worden wären. In wird die Im aginat ion aber einzig auf der Ebene des St ils wirksam . W as Gest alt en und Episoden angeht , l H. Coulet : Bd. I. P aris 1967.
so ist die Empfindungsgabe hier noch unzulänglich. Weder der Mord an Zagreus, inspiriert durch oder <S c h u ld und Sühne>, noch die Gestalt selbst erreichen die Überzeugungskraft, die einen Roman auszeichnen sollte. Dichterische Gültigkeit besitzen in diesem «unmöglichen» Roman dagegen die erlebten Szenen, die in vorgeprägt sind und sich der Form nach nicht von und unterscheiden, oder die lyrischen Beschwörungen, die mit denen von verwandt sind. Das beste an diesem Roman ist eben nicht romanhaft. War sich Camus dessen klar bewußt? Er hat es nirgendwo unmittelbar ausgesprochen, aber es ist sehr wahrscheinlich, daß der Instinkt des Künstlers ihm den Irrtum signalisiert und ihn unwillkürlich auf einen besseren Weg geführt hat. Um uns eines suggestiv-naturalistischen Vergleichs von André Gide zu bedienen: in der Puppe von entwickelte sich die Larve von (Der Fremde). machte sein «Nymphenstadium» durch. Der Autor bemühte sich, ihn neu zu schreiben und in allen Partien zu beleben, doch zog als geistiger Parasit den größten Nutzen aus dieser Arbeit, aus der an Stelle eines in sich unstimmigen Romans schließlich eine wahre Erzählung hervorging. Ich möchte diese Studie abschließen mit einem kurzen Vergleich zwischen der und 2 . Roger Quilliot hat gezeigt, daß Meursault, der Protagonist in , «der jüngere Bruder Mersaults ist». Er hat hervorgehoben, daß bestimmte Episoden und Randfiguren beiden T exten gemeinsam sind; aber er übersieht dabei keineswegs die Unterschiede: «Die beiden Fabeln sind ohne jeden Bezug zuein1 Andre Malraux' Roman (dt. unter dem T itel und später unter dem T itel <So lebt der Mensch) erschienen). (Anm. d. Übers.). 2 Der sich aufdrängende Vergleich mit müßte in einer umfassenden Untersuchung behandelt werden.
a n de r . . . » oder: « ist keineswegs die M at rix für : es ist ein ganz anderes Buch.» Dennoch, t rot z der offensicht lichen Verschiedenheit en im Handlungsablauf, im Aufbau und in der Int ent ion, kann m an in eine Präfiguration von erkennen und, wenn m an einm al von der biologischen Bedeut ung des Begriffs absieht , auch seine M at rix. Um sich davon zu überzeugen, genügt es, die St rukt ur der beiden W erke zu vergleichen. ist in der let zt en Fassung auf zwei T eile reduziert . Der Übergang von der Dreit eilung zur Zweit eilung bedeut et für Cam us den Verzicht auf einen klassischen Zuschnit t , bei dem es m öglich gewesen wäre, die Gegensät ze in eine Synt hese zu überführen. Cam us hat darauf verzicht et zugunst en einer st ärker personell orient iert en Dialekt ik, die eine Art Kurzschluß der Gegensät ze zuläßt . Unt er diesem Gesicht spunkt ist lediglich eine Reprodukt ion von : auch er hat zwei T eile und fast dieselbe Anzahl von Kapit eln (6 und 5 gegenüber 5 und 5). Das Schem a des erst en T eils ist in beiden Büchern eindeut ig das gleiche: Szenen aus dem Allt agsleben, dann die Unt erhalt ung m it dem Hundebesit zer (Salam ano oder Cardona), dann ein M ord, der an Zagreus (durch einen Kunst griff im l e t z t e n Augenblick vorgezogen) oder der an dem Araber. Dieser M ord st ürzt den Helden aus der Fakt izit ät in die W ahrheit . Auf den erst en Blick haben die jeweiligen zweit en T eile nicht s Gem einsam es m ehr. Gewiß, die Reise nach P rag oder das «Haus vor der W elt », nicht assim ilierbare Elem ent e in einer sym bolischen Erzählung, t auchen in nicht wieder auf. Aber wenn m an M ersault in seinem Refugium am Chenoua, und M eursault in seinem Gefängnis in Algier vergleicht , wird m an im Rhyt hm us der Besuche, die die beiden erhalt en, in den Jahreszeit en, die ihre St im m ungen beeinflussen, in der unwägbaren Zeit , die sie ihrer let zt en St unde ent gegent reibt , eine Ent sprechung finden. Und wenn ihr Schicksal wenig Ähnlichkeit en aufzuweisen scheint , weil der eine ein perfekt es Verbrechen begangen hat , aus dem er Nut zen zieht , während der andere, M örder ohne T alent , zur
Beute der Richter wird, darf man nicht vergessen, daß beider Problem der glückliche T od ist — «Der Fremde oder Ein glücklicher Mensch», diesen Untertitel trägt ein Manuskript—und daß sie es beide mit Erfolg lösen, im Einklang mit der Welt und befreit von den Menschen. Ich habe hier nur einen Vergleich skizziert, den eine eingehende Studie, die sich weniger am Stoff als an der Darstellungsweise der beiden Werke zu orientieren hätte, noch untermauern und vertiefen könnte. Die Überlegenheit der Erzählung würde dadurch noch deutlicher zutage treten. Fast scheint es unnötig, abschließend zu sagen, daß , dieser von Camus nicht veröffentlichte Roman, mehr ein Dokument als ein «Werk» ist, ein Dokument, dem allein schon zum Ruhme genügt, daß es bemerkenswerte Partien enthält, die bei der Beurteilung des Dichters nicht unbeachtet bleiben dürfen. Dem Leser bleibt das Vergnügen, sie zu entdecken. Jean Sarocchi