Jessica Rydill
Der gläserne Berg
Kristallwelt 2
Inhaltsangabe Annat, die Tochter des Schamanen Yuda, traut ihren Aug...
21 downloads
798 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Jessica Rydill
Der gläserne Berg
Kristallwelt 2
Inhaltsangabe Annat, die Tochter des Schamanen Yuda, traut ihren Augen nicht: Krähenschwärme, die Spione des tot geglaubten Erben von Ademar, sammeln sich über der Stadt. Sie prophezeien Unheil, und als ein wirrer Brief ihres Bruders Malchik eintrifft, wird aus der Ahnung Gewissheit. Zhan Sarl, der dunkle Erbe, ist zurück aus der Hölle der Toten, zwar nur für wenige Tage, doch ein Ritual soll ihn unsterblich machen. Eilig macht sich Annat zusammen mit Yuste, der Zwillingsschwester ihres Vaters, auf den Weg zu Malchik, doch sie kommen zu spät: Ihr Bruder ist bereits spurlos verschwunden. Ein magisches Bild bringt sie auf seine Fährte, doch auch Annat geht Zhan Sarl in die Falle. Die Geschwister sind nun zusammen in einem gläsernen Berg gefangen, während die dunkle Armee das Land überrennt. Nur Yuste gibt die Kinder nicht auf. Sie versucht, ihre einst verlorenen magischen Kräfte zurückzurufen, und begibt sich mit einigen Freunden auf die gefährliche Suche…
Autorin Die Britin Jessica Rydill hat am King's College in London und in Cambridge studiert und arbeitet als Anwältin. Ihre zahlreichen Reisen in alle Teile der Welt haben sie zu ihrem Fantasy-Zyklus ›Kristallwelt‹ inspiriert.
Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel ›The Glass Mountain‹ 2002 bei Orbit/Little, Brown and Company, London. Der Blanvalet Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House.
1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung 1/2005 Copyright © der Originalausgabe 2002 by Jessica Rydill Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustrationen: Agt. Schlück/Crabb Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: GGP Media GmbH, Pößneck Titelnummer: 24265 Redaktion: Waltraud Horbas V. B. • Herstellung: Heidrun Nawrot Printed in Germany ISBN 3-442-24265-7 www.blanvalet-verlag.de Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
Für meine Schwester Sarah
Prolog
A
ußerhalb der Burgmauern regnete es, als wollte es nie wieder aufhören. Der Fremde stand am Fenster des Zimmers und starrte mit düsterem Gesicht hinaus auf die vom Wind gepeitschte Parklandschaft. Seit ihn seine Reise in dieses verfluchte Land geführt hatte, schien es unablässig zu regnen; und wenn es nicht nass war, blies der Wind mit wahnsinnigen Böen, in denen eine Schärfe verborgen war, die am Gehirn zerrte. Vor seinem geistigen Auge öffneten sich goldene Steppen unter einem azurblauen Himmel wie die Emailmalerei auf einem Eikon. Er konnte es nicht glauben, dass er den Hof von Staryetz verlassen hatte, um eine Stellung in diesem verlassenen Loch anzunehmen, wo der Tod wie Staub über den abgedeckten Möbeln lag und in den Alkoven brütete. Neben ihm auf dem Parkettboden standen die zwei Koffer, welche all die Meilen von Sklava hierher mit ihm gereist waren, und seine Papiere – Reisepässe und ein Empfehlungsschreiben – lagen zusammengefaltet in einer Brieftasche, die über seinem Rücken baumelte. Für diese Reise hatte er die Verkleidung eines Mönches gewählt, und mit zynischem Blick betrachtete er die schwarze Robe, den widerspenstigen Bart und die ungepflegten Locken, die beim Blick in den Spiegel sein Gesicht verdeckten. Nur der gelbe Ton seiner Augen, die ihm aus dem Spiegel entgegenblitzten, erinnerten ihn an seine wahre Natur. Der große Magus Kaschai, welcher der Unsterbliche genannt wurde, hätte sich nie zu einer solchen Maskierung herabgelassen; doch Semyon wusste, dass er selbst nicht un1
sterblich war … noch nicht. Die Tür des Zimmers öffnete sich mit einem Knarren, und ein Page mit einem bedauernswerten Husten kündigte seinen Herrn an: den Doyen von Ademar, den Herrn des Waldes, Seigneur der Länder zwischen Yonar und Axar. Semyon kämpfte damit, sein Lächeln zu unterdrücken, während er der langen Vorstellungsrede lauschte. War er nicht ein Untertan des mächtigen Staryetz von ganz Sklava, der keinen anderen Titel brauchte? Und die Person, die den Raum betrat, steigerte seine Heiterkeit nur noch. Einen Augenblick lang fragte er sich, ob er vor einem lebenden Leichnam stand: einem alten Mann mit einer gespenstisch weißen Gesichtsfarbe, stocksteif wie ein Skelett, der sich auf seinen Gehstab stützte, als ob dieser ein Eisengestell wäre, das seine Knochen aufrecht hielt. Semyon verneigte sich. »Seid gegrüßt, Semyon von Kyev«, sagte der alte Mann mit einer Stimme wie knarrende Türangeln. Semyon kam näher, um sich über den entgegengestreckten Ring zu beugen, als wäre der Doyen ein Biskopa oder ein Patriarch. Er bemerkte, wie der stahlblaue Blick des alten Mannes auf ihm ruhte; die Augen waren alles, was in dem nutzlosen Kadaver noch lebte. »Bringt Ihr mir Grüße von meinem Cousin, dem edlen Staryetz?«, fragte der Doyen. Semyon wagte nicht zu sprechen, aus Angst, er würde in Gelächter ausbrechen. In der Tat mochten Könige und Kaiser den Staryetz aus Höflichkeit ›Cousin‹ nennen, doch es war absurd, dass dieser unbedeutende Herrscher in der dunklen Ecke eines zerschlagenen Reiches sich eine derartige Vertraulichkeit anmaßte. Er griff in seine Tasche und zog das Empfehlungsschreiben heraus, das der Staryetz seinem Sekretär diktiert hatte, vor Monaten, wie es schien. Der Herr des Reiches Sklava konnte kaum seinen eigenen Namen schreiben, doch er war verschlagen und gerissen wie jeder hochgeborene Boyar. Der Doyen nahm den Brief in seine vogelartigen Klauen, brach 2
das Wachssiegel und las. Semyon wartete und sah, wie sich die Lippen des alten Mannes bewegten. Der Brief selbst war eine reine Formalität, in der der Doyen gebeten wurde, dem Überbringer Vertrauen zu schenken, ihn wie einen der eigenen Untertanen zu behandeln und so weiter und so weiter. Es war Semyon, der die Anweisungen des Staryetz bis zum letzten Buchstaben in seinem Gedächtnis bewahrte. Er beobachtete, wie der alte Mann mit hungrigen Augen las, begierig darauf, zum Herzstück der Angelegenheit vorzustoßen – und das Blut zu schmecken. Schließlich faltete der Doyen den Brief zusammen und hob die Augen. Er schien aus der Höhe seiner Verachtung auf Semyon hinabzublicken, als ob er sich fragte, welch armselige Gestalt der Staryetz ausgewählt hatte, um seine Neuigkeiten zu überbringen. »Hier steht, Ihr wäret ein mächtiger Magus, der größte am Hofe«, sagte er. Jedes Wort klang wie ein Knarren, das voller Zweifel steckte. Semyon verbeugte sich. »Habt Ihr auch eine Zunge im Mund?«, fragte der Doyen scharf. »Es gefällt meinem Herrn, mich so zu bezeichnen, Mon Seigneur«, sagte Semyon und ließ die fremden Worte von der Zunge rollen. »Wie ich höre, beherrscht Ihr ein wenig Franj«, sagte der Doyen. Auf seinen Stock gestützt, humpelte er zum Stuhl, der das einzige Möbelstück im Raum war. Er ließ sich nieder und drückte den Brief gegen sein Knie. Sein Umhang war prächtig, doch sein wollener Mantel war sorgfältig ausgebessert und geflickt. »Ich beherrsche auch die magischen Künste«, sagte Semyon und warf einen Blick zu den Koffern, um sicherzugehen, dass der Page sie nicht angerührt hatte. »Tatsächlich ist das der Grund, warum Euch mein Cousin hierher geschickt hat«, sagte der Doyen und schaute in die Ecke des Zimmers. »Er weiß um meinen lang gehegten Plan, Neustria wieder aufleben zu lassen, unser großes, verlorenes Königreich. Er schrieb mir 3
viele Briefe, um mir seine Unterstützung zuzusichern. Und ich vertraue darauf, dass er mir nicht einen Quacksalber geschickt hat oder das Abziehbild eines Geisterbeschwörers, von dem er denkt, dass er einen greisen, altersschwachen Mann zufrieden stellt.« Semyon genoss die darauf folgende Pause und zog das Schweigen in die Länge. »Tut meinem Herrn kein Unrecht, Gospodin«, sagte er und verwendete einen Titel, von dem nur er wusste, dass er dem Rang des Doyen nicht zustand. »Ich werde all Euren Vorhaben gerecht werden, selbst den Ehrfurcht einflößenden Aufgaben, mit denen Ihr mich zu beehren gedenkt.« »Auf jeden Fall verfügt Ihr über einen höfischen Zungenschlag, trotz Eures armseligen Anscheins«, sagte der Doyen mit einem dünnlippigen Lächeln. Er wandte sich dem Pagen zu, der die letzten Minuten in dem vergeblichen Bemühen verbracht hatte, sein Husten zu unterdrücken, und sagte: »Lass uns allein.« Als der Junge verschwunden war, sprach der Doyen nicht sofort, sondern verbrachte einige Momente damit, Semyon eingehend zu betrachten, als versuchte er, ihn aus der Ruhe zu bringen. Doch Semyon, der das Lächeln seines eigenen Herrn kannte, welches unendliche Belohnung oder drohende Exekution bedeuten konnte, ließ sich vom gestrengen Blick eines alten Soldaten nicht beeindrucken. Er wartete mit bescheiden zu Boden gerichteten Augen, während der greise Mann seine schäbige und geflickte Kleidung und die Knoten in seinem Haar und in seinem Bart begutachtete. »Welche Nachricht schickt Euer Herr mir?«, fragte der Doyen schließlich. Semyon entschied, dass es an der Zeit für eine feierliche Rede wäre. Er starrte an die Decke und verkündete: »Wisset, dass mein Herr, der mächtige Staryetz von Sklava, Eurer Bitte Gehör geschenkt hat und Euer edles Vorhaben gutheißt. Er wird Euch alle Hilfe« – außer Geld – »zukommen lassen, um die Länder, die einst als Neustria bekannt waren, zurückzuerobern. Und er hat mich ge4
schickt, Semyon, den Magus, um meine Macht Euch zu Füßen zu legen und mich Eurem Willen zu beugen. Vor allem in der geheimen Angelegenheit, die Euren Sohn betrifft.« »Mein Sohn«, wiederholte der Doyen, und seine Stimme hätte auch ein Widerhall in den Hügeln sein können. Semyon warf einen kurzen Blick auf sein Gesicht und bemerkte ohne Mitleid den verlorenen Ausdruck, der sich in den Zügen des alten Mannes abzeichnete und sie mit der Witterung des Alters und der Trauer überzog. Er wartete in scheinbarem Respekt darauf, dass der Moment vorüberging, und fühlte sich überrumpelt, als der blaue Blick den seinen traf. Zum ersten Mal wallte wieder süße Furcht in ihm auf, und er spürte die Freude, einem gefürchteten Herrscher zu Diensten zu sein. »Könnt Ihr ihn mir zurückbringen?«, fragte der Doyen. »Seid Ihr derjenige?« Semyon verbeugte sich mit der Hand auf seiner Brust und fühlte den heiligen Wahn der Macht. Macht war ein Bonbon, das den Großen vorbehalten war, doch ihm machte es Freude, in deren Schatten zu dienen. »In der Tat, Knyaz, ich bin derjenige«, sagte er und verwendete die Bezeichnung für ›Fürst‹, wie er es schon zuvor hätte tun sollen. Der Doyen bemerkte dies. »Ihr ehrt mich mit Euren ausländischen Titeln«, sagte er scharf. »Ich bitte Euch, nennt mich Mon Seigneur, wie es unter meinen Vasallen üblich ist. Diese fremden Begriffe behagen mir nicht.« Befehlend in einem Augenblick, im nächsten gereizt. Semyon betrachtete seinen neuen Herrn von der Seite. Der Doyen mochte ein unbedeutender Fürst sein im Vergleich zu der Größe des Staryetz, doch er beherrschte alle Kniffe des absolutistischen Herrschers – die Marotten, die Gemütsschwankungen, die Eitelkeiten. Ein Diener musste diese Launen kennen, um dem Willen seines Herrn gerecht zu werden. Nur dies würde ihn in seiner Gunst steigen lassen und seine Macht vergrößern. Semyon verfügte über Magie, mit der 5
er sich wie ein Taschenspieler vergnügen konnte, doch der Geruch zeitweiliger Macht war eine stärkere Droge – und über allem stand die Macht, seinen Herrn auf geschickte Art und Weise zu manipulieren. Er hatte eine herausragende Stellung am Hof in Kyev, weil er so viel mehr vermochte, als nur seinen gewählten Lehnsherrn zu umschmeicheln. Sollte Kaschai denken, er sei allmächtig! Die, die klug waren, wussten, dass neue Zeiten angebrochen waren, in denen Magie alleine nicht ausreichte, um zu herrschen. »Mon Seigneur«, sagte er. »Ich weiß, wie ich Euren Sohn von den Toten auferstehen lassen kann. Ihn wieder ins Leben zurückholen kann, nicht als Geist oder als wandelnden Leichnam.« Der Doyen starrte ihn an. Sein Atem ging schnell. »Ich habe so oft von diesem Tag geträumt, seit ich ihn verloren habe, und davon, diese Worte zu hören«, sagte er. »Nun scheint es wie ein neuer Traum, dass Ihr vor mir steht und mir sagt, was ich mehr als alles in der Welt zu hören wünsche. Ich fürchte mich davor zu erwachen.« »Seid ohne Sorge!«, sagte Semyon, wandte sich um und ging, um einen seiner Koffer zu holen. »Hier trage ich die Mittel, um ihn zu erwecken. In dieser unscheinbaren Kiste befindet sich eine Welt, die nur auf meinen Befehl wartet. Mit ihrer Macht werde ich den Tod in Leben verwandeln und Tränen in Frohlocken.« Er hielt inne und fragte sich, wie viel er in diesem ersten Gespräch preisgeben sollte. Es lockte ihn immer, seinen Kunden die Wirkungsweise der Magie zu erklären; sie stellten unablässig plumpe Fragen, und der Doyen war nicht besser als der Rest. »Ihr sagt mir, Ihr tragt eine ganze Welt in dieser ledernen Hülle?«, fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen. »Ihr verlangt großes Vertrauen von mir.« Semyon bezwang sein ungeduldiges Verlangen, den Koffer zu öffnen und dem alten Narren den Inhalt zu zeigen. »Wahrlich unterliegt diese Welt meinem Befehl«, sagte er mit vorgetäuschter Be6
scheidenheit. »Ich kann mir ihre Lebenskraft zunutze machen und sie dazu verwenden, die Seele Eures Sohnes zu beschwören und sie erneut an sterbliches Fleisch zu binden. Aber Ihr müsst wissen, Mon Seigneur, dass dies dunkelste Magie bedeutet. Ich werde andere Elemente benötigen, um Euren Sohn in seinem neuen Körper zu halten.« »Ihr sprecht in Rätseln, Magus«, sagte der Doyen. »Sagt mir, was Ihr braucht.« Semyon konnte sehen, dass es keinen Sinn haben würde, zu versuchen, seinen Herrn mit hochtrabenden Worten zu verwirren. Wie der Staryetz die Aura des Okkulten bevorzugte, obgleich er schlau genug war, durch den Zierrat zu schauen, verlangte der Doyen nach klaren Worten und verständlichen Erklärungen. Semyon war nicht sehr angetan von dem Gedanken, das Vergnügen der Verschleierung aufgeben zu müssen. »Mon Seigneur, ich kann Euren Sohn zum Leben erwecken, doch nur für kurze Zeit, nur für neunzig Tage. Um ihn in dieser irdischen Welt zu halten, brauche ich mehr Kräfte, als ich bei mir führe.« »Sprecht weiter«, sagte der Doyen matt. »Ich nehme an, Ihr müsst bestimmte Rituale vollführen und die Bewegungen der Sterne und der Planeten beobachten.« »Die Sterne bestimmen nicht unsere Geschicke«, sagte Semyon nach einer Pause, die den dramatischen Effekt steigern sollte. Der alte Mann musste verstehen, dass die Magie mehr als bloße Worte verlangte; sie schrie nach Ausschmückung, brennenden Pechpfannen und wirbelndem Weihrauch. Einen Augenblick lang genoss er den Schock, den seine nächsten Worte hervorrufen würden. »Ich brauche zwei menschliche Seelen und das Herz eines dreifachmächtigen Schamanen.« Zu seiner Enttäuschung betrachtete ihn der Doyen mit unbewegtem Gesicht. »Zwei menschliche Seelen und das Herz eines … Scha7
manen«, sagte er. »Und es wird ein Leichtes für Euch sein, dies zu beschaffen?« Der alte Fuchs machte sich über ihn lustig! Semyon spürte, wie der Ärger seine Wangen rötete. Er wandte sich ab und versuchte, seine Wut zu bezwingen. Wie konnte dieser unbedeutende Landgutsherr es wagen, sein Handwerk gering zu schätzen? »Ich bin ein Seelenräuber«, sagte er und starrte durch den Regen hinaus in die grüne Parklandschaft. »Gebt mir zwei sterbliche Wesen, und ich werde sie wie Korn enthülsen. Doch das Herz eines Schamanen – das ist nicht so einfach. Nur wenige verdienen die Bezeichnung dreifachmächtig. Ich weiß von keinem im Imperium Sklava, vom Westen bis zum entfernten Osten. Und ich bin der Mann, der den Namen eines jeden Schamanen im Lande kennt, mögen sie unbedeutend oder mächtig sein.« Hinter ihm sagte die Stimme des Doyen sanft: »Ich habe von diesen Schamanen gehört. Und ein Schamane tötete meinen Sohn.« Semyon hielt es für das Beste, nicht zu enthüllen, dass er selbst ein Schamane war, sogar ein dreifachmächtiger. Es gab auch keine Veranlassung, Kaschai den Unsterblichen zu erwähnen, der zu verschlagen war, als dass er sein Herz in seinem Körper behalten würde. Er bemerkte, wie sehr er hoffte, der Doyen würde die Aufgabe als unlösbar bezeichnen und ihn entlassen. »Dann befinden sie sich hier, in diesem … Land Neustria«, sagte er und wandte sich wieder um. Der Doyen hatte einen seltsamen Ausdruck im Gesicht, der Semyon beunruhigte, auch wenn er vorsichtig genug war, dies nicht zu zeigen. Er erinnerte ihn an die tierische Fratze eines Hundes, bevor er zum Angriff überging. »Sagt mir, was macht einen dreifachmächtigen Schamanen aus, Magus?«, fragte er. »Es könnte sein, dass ich weiß, wo ein solcher zu finden ist.« Semyon überlegte rasch. »Mon Seigneur, sie verfügen über alle drei Kräfte eines Schamanen«, sagte er. »Sie können heilen, sie 8
können töten und sie können über ihre Welt hinausreisen. Und wenn sie sterben…«, er machte eine beklommene Pause, »ist es nicht sicher, dass sie wirklich tot sind«, fügte er hinzu und bemerkte, wie schwach seine Worte klangen. Der Doyen starrte ins Leere. »Wie seltsam es ist, dass ein solcher Eurem Zweck dienlich sein sollte«, sagte er. »Ich habe so lange von Rache geträumt, dass der Geschmack bitter geworden ist und an meinen Eingeweiden reißt. Ich weiß nicht, wo er sich aufhält, außer, dass er hier in Neustria ist… Die Tatsache, dass er am Leben ist, verhöhnt mich mit jedem Atemzug. Er hat meinen Sohn geschlachtet, und er lebt noch immer.« »Ihr habt jemanden im Sinn«, sagte Semyon und wunderte sich zum ersten Mal über die Schamanen in Neustria. Er hatte sich vorgestellt, dass es nur wenige, schwache gäbe, denn sonst hätte das Land inzwischen die abgespaltenen Gebiete unter der Führung eines mächtigen Herrschers gesammelt. Er hätte nie gedacht, dass es hier einen geben würde, auf den die Beschreibung des Dreifachmagischen zutreffen könnte, wodurch plötzlich das Risiko entstand, dass sein Vorhaben – jedenfalls der magische Teil – gelingen könnte. »Nehmt sein Herz und bringt es mir«, sagte der Doyen. »Sein Herz und die Seelen seiner Nachkommen. Es sind zwei. Dies allein wird meine bittere Trauer lindern und meinem Geist endlich Frieden schenken. Ich will keine anderen. Ich kann Euch ihre Namen nennen, und wenn Ihr mir meinen Sohn gebracht habt, Magus, werdet Ihr sie finden und sie benutzen, um sein Leben zu heilen.« »Es muss viele geben, deren Seelen ich verwenden könnte«, sagte Semyon hastig. »Warum gebt Ihr mir den Auftrag, zwei zu finden, die gut versteckt sein könnten?« »Ich will keine anderen«, wiederholte der Doyen. Semyon unterdrückte ein Seufzen. Seine Hoffnung auf eine schnelle Rückkehr schwand dahin wie Rauch in der Luft. »Sagt mir ihre Namen, Mon Seigneur, und ich werde meine Arbeit begin9
nen«, sagte er. »Der Mann, den Ihr sucht, heißt Yuda Vasilyevich. Ich will sein Herz und die Seelen seiner Kinder.«
10
Kapitel 1
D
ie zwei Mädchen standen Seite an Seite auf dem Tisch, der ihnen als Streitwagen diente, während sie in Persepolis Einzug hielten. Annat schwang eine Reitgerte, die sie mit einem scharfen Geräusch über den Köpfen ihrer Gefangenen schnalzen ließ, die auf dem Boden kauerten, die Sommerkleider staubbedeckt und die Unterröcke durcheinander. Neben ihr befand sich Eugenie, die Hände geziert vor dem Körper gefaltet, obgleich ihre Wangen vor Aufregung leuchteten. Als Königin Zenokrate war sie mit einem Diadem geschmückt, welches eilig aus einem Stahldraht gedreht worden war. Ihre porzellangleiche Schönheit bildete einen hübschen Kontrast zu Annats dunkler Wildheit; sie trug ein Taftkleid aus mehreren Lagen, das von eingewebten rosafarbenen und roten Pfingstrosen übersät war und eine Spitzeneinfassung aus Musselin im Ausschnitt hatte, die züchtig ihre Schultern und ihr Dekolleté bedeckte. Eine Ahnung von weißen Unterhosen blitzte unter der Fülle von Unterröcken hervor, die von einem Reifrock gestützt wurden, welcher den Überrock bauschte. Neben ihr, in Schwarz gehüllt, wie es das Gesetz vorschrieb, stand Annat mit gespreizten Beinen. Obgleich sie sittsam von bestickten Unterhosen bedeckt waren, war ihr Rock unmittelbar unter den Knien gekürzt worden, und das Schultertuch, welches das Oberteil ihres Kleides schmückte, war verrutscht. Strähnen dunklen Haares waren aus ihrem glatten Nackenknoten entwichen, und sie war ein Bild der Zerzausung, das Mademoiselle de Clignancourt zur Verzweiflung brachte, als sie die Tür zum Musikzimmer aufstieß, um zu sehen, wer dort einen solchen Lärm verursachte. Die Lehrerin klatschte scharf in die Hände. »Les jeunes filles! Annat! Mademoiselle de Bouget! Kommen Sie auf der Stelle herunter!« Die beiden jungen Frauen starrten sie an. Eugenies hübscher
Mund rundete sich zu einem entsetzten O, doch die Lehrerin sah, dass sich Annats dunkle Augenbrauen zu einem aufsässigen Runzeln zusammenzogen. »Auf der Stelle, sage ich! Was hat diese entwürdigende Vorstellung zu bedeuten? Agnes und Therèse, Sie dürfen sich erheben. Nun denn, wer ist hierfür verantwortlich? Ich warte!« Annat sprang vom Tisch, wobei sie nur noch mehr von ihren Unterhosen entblößte. Sie wandte sich um und reichte Eugenie galant, wie es sich für einen Mann geziemt hätte – kaum jedoch für ein junges Mädchen von siebzehn Jahren –, ihre Hand, damit die Prinzessin herabsteigen konnte. Mademoiselle de Clignancourt beobachtete das Geschehen mit zusammengekniffenen Lippen. Wann immer das Mädchen von den sechs Monaten zurückkehrte, die sie mit ihrem Vater verbrachte, machte sie nichts als Ärger! Und der Ärger schien nach jedem Besuch größer zu werden. »Nun«, sagte sie kühl, »ich warte auf eine Erklärung.« Die vier Mädchen schauten sie an. Agnes und Therèse, die eindeutig die Unterworfenen gewesen waren, versuchten unauffällig, den Staub von ihren Röcken zu klopfen. Annat starrte sie an und hielt die zarten Finger der Prinzessin de Bouget umklammert. Mademoiselle brauchte kaum zu fragen, wer verantwortlich zu machen war; es war das Vasilyevich-Mädchen mit ihren gewohnten Unarten, während die Prinzessin sie unterstützte, denn Eugenie war nur zu offenkundig in die kleine Piratin vernarrt. Gegen ihren Willen spürte Mademoiselle einen Anflug von Belustigung über diese Unvereinbarkeit. Die de Bougets waren eine alte Familie der Doxoi, die ihren Stammbaum bis zurück in die Zeit des Imperiums verfolgen konnten; die Vasilyevichs waren Emporkömmlinge, Wanderer aus Sklava, die gerade seit einer Generation in Neustria siedelten. Was Eugenies Mutter, Madame la Princesse de Bouget sagen würde, wenn sie von dieser unpassenden Verbindung erführe, wusste der Himmel allein. »Wir haben nur eine Szene aus Timur der Lahme geprobt, Mademoiselle«, sagte Annat. Es lag weder Furcht noch Reue in diesen
dunklen Augen, nur Trotz. Viele der Mädchen in der Schule hatten eine dunkle Gesichtsfarbe und schwarze Augen, doch nur die Wanderer waren von dieser elfenbeinhaften Blässe, die sich auch unter dem Sommerhimmel kaum tönte. »Ich verstehe«, sagte Mademoiselle, die sich nicht von einem solchen Fratz einschüchtern ließ, auch dann nicht, wenn dieser über unheimliche Fähigkeiten verfügte. Annat blickte zu Boden. »Sie beide, Agnes und Therèse, gehen zurück in Ihre Klasse. Mit Ihnen beschäftige ich mich später. Sie beide jedoch, Mesdemoiselles Vasilyevich und de Bouget, Sie warten vor dem Zimmer der Schulleiterin auf mich. Und ich werde diese Gerte an mich nehmen!« Arm in Arm eilten Annat und Eugenie über den Teppichboden den Gang hinunter zu den Räumen der Schulleiterin. Eugenie hatte vergessen, ihre Krone abzusetzen, und es war Annat, die sie anhielt und eilig das Drahtdiadem aus den haselnussbraunen Löckchen der Prinzessin zerrte. »Glaubst du, sie werden uns verhauen, Anne?«, fragte Eugenie mit einer Mischung aus Neugier und Furcht. Annat prustete die Luft aus den Wangen. »Puh! Non«, sagte sie. »Sie verhauen nie die Oberschüler. Und sie könnten dich sowieso nicht verhauen, Mademoiselle la Princesse. Denk doch nur an den Scandale!« Eugenie lachte hinter vorgehaltener Hand und Annat sehnte sich danach, ihre weichen Lippen zu küssen. Sie packte die Prinzessin an der Hüfte und zog sie zu sich heran, wie sie es ihren Vater mit Frauen hatte tun sehen. Eugenie sträubte sich ein bisschen und legte ihre Hand auf Annats Mund. »Sicher kommt gleich jemand vorbei.« Lächelnd ließ Annat sie los. Gefühlsbetonte Freundschaften unter den Schülern waren keine Seltenheit, doch sie wusste, dass ihre Gefühle für Eugenie darüber hinausgingen. Die krapproten Lippen, die azurblauen Augen, diese verborgenen, sanft knospenden Brüste … Sie glaubte jedoch nicht, dass ihr Verlangen die Billigung der Schulleiterin finden würde.
»Ich will dich küssen, Eugenie de Bouget«, sagte sie, dann brachen beide in Gelächter aus und umarmten einander, ehe sie weitereilten, um sich ihrem Schicksal zu stellen. Das Zimmer der Schulleiterin war weiß gestrichen. Die Fenster wurden von schweren Vorhängen aus Jacquard gesäumt, in die rote und gelbe Granatäpfel gewoben waren. Das Rad der Doxoi hing an einer Wand, doch das war der einzige Hinweis auf eine religiöse Hierarchie in der Schule. Die anderen getäfelten Wände wurden von goldgerahmten Landkarten geziert, und eine große Kugel des Orbis Terrarum stand nahe dem Fenster. Es gab einen Schreibtisch und einen Stuhl, auf dem die Schulleiterin saß. Sie trug ein Kleid aus schiefergrauem Damaststoff, eine Uhr, die an ihre Brust geheftet war, und einen Spitzenkragen, der sich um ihren Hals kräuselte. Ihr Gesicht unter dem Puder war glatt, so glatt, dass sich Annat fragte, ob sie jemals lächelte oder die Stirn runzelte. »Mademoiselle de Clignancourt berichtete mir …«, sie hielt inne, als ob sie die Gelegenheit für einen Seufzer schaffen wollte, »von Ihren letzten Unternehmungen, Mademoiselle Vasilyevich.« Die beiden jungen Frauen standen nebeneinander vor dem Schreibtisch. Mademoiselle de Clignancourt selbst saß auf ihrem Stuhl mit spindeldürren Beinen, die Rockschöße ihres blauen Kleides breiteten sich in schweren, üppigen Falten aus. In einer Hand hielt sie die Peitsche. »Madame, wir haben geprobt …«, setzte Annat an. »Seien Sie still! Es interessiert mich nicht, welchen Anstrich Sie Ihren Untaten zu geben versuchen. Alles, was ich weiß, ist, dass wieder einmal Sie als Anführerin in einem Schauspiel ausgemacht worden sind, in dem ein ausgelassenes Verhalten an den Tag gelegt wurde, das sich für junge Damen dieser Anstalt nicht geziemt.« »Aber, Madame …«, begann Eugenie. »Mademoiselle de Bouget, man sollte meinen, dass jemand Ihres Ranges und Ihrer Herkunft es besser gewusst hätte, als sich in diese Tiefen sinken zu lassen. Oder sich von Mademoiselle Vasilyevich anstiften zu lassen, vor deren Einfluss Sie gewarnt worden sind.
Doch als eine Ausführende, nicht jedoch eine Anführerin in diesem Unternehmen, fällt Ihre Bestrafung geringer aus. Ihre Privilegien für diese Woche sind gestrichen, und Sie werden die Stunde Ihrer freien Verfügung damit zubringen, Passagen aus dem Livre de Bon Conseil abzuschreiben. Sie können gehen.« Annat spürte Eugenie seufzen. Eine Züchtigung wäre vorzuziehen gewesen, denn so wurde ihnen ihrer beider Gesellschaft verwehrt, und jede von ihnen wusste, wie öde die Patentrezepte des Livre de Bon Conseil waren. Sie hätte gerne die Hand ihrer Freundin berührt, doch ihr war bewusst, dass der Blick von Madame auf ihnen beiden ruhte, und sie blieb alleine stehen, während Eugenie mit einem Rascheln ihrer Unterröcke zur Tür trottete. Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, konzentrierte Madame ihr Augenmerk auf Annat. »Nun zu Ihnen, Mademoiselle Vasilyevich, was soll ich mit Ihnen tun? Der Himmel weiß, dass ich genug unter Ihren Missetaten gelitten habe. Muss ich noch einmal erwähnen, dass es nur aus Gefälligkeit Ihrer Tante gegenüber war, einer der angesehensten Professeurs in der Stadt, dass ich Ihrer Aufnahme zugestimmt habe? Sie verfügen über Privilegien, von denen die meisten meiner Schülerinnen nur träumen können: Ihnen wird die Anwesenheitspflicht während des gesamten Winterschuljahres und der Hälfte des Frühlings erlassen, sodass Sie bei Ihrem Vater bleiben können; Sie sind für die Nachmittagsstunden und die abendliche Studierzeit entschuldigt, um die Shkola besuchen zu können, und aus Respekt vor Ihrer Tante habe ich zugelassen, dass Sie Kleidung auf eine absonderliche Art und Weise abändern, die man kaum noch als züchtig bezeichnen kann. Dessen ungeachtet haben Sie während der letzten zwei Jahre meine Freundlichkeit missbraucht und meine Regeln missachtet. Sie sind viele Male verwarnt worden, und doch stelle ich erneut fest, dass Sie Ihren Einfluss ausnutzen, um andere Mädchen auf die falsche Bahn zu lenken, vor allem die Prinzessin de Bouget, der gegenüber Sie eine höchst ungesunde Zuneigung zeigen. Was haben Sie zu Ihrer Verteidigung vorzubringen?«
Annats Gefühle brandeten in ihrer Brust auf, heiß und bohrend. Sie begann einen Redeschwall in erbostem Franj und spuckte alle Enttäuschung aus, die sich seit ihrer Rückkehr in Madame Mireilles Anstalt für Junge Damen angestaut hatte. »Aber das sind dumme Regeln, Madame! Wie kann ich für ein Stück proben, wenn es nicht gestattet ist zu spielen? Und warum gehört es sich nicht für uns, auf einem Tisch zu stehen? Niemand hat uns gesehen, mit Ausnahme von Madame de Clignancourt, und für sie gab es keine Veranlassung, entsetzt zu sein …« »Genug«, herrschte die Schulleiterin sie mit kalter Stimme an. »Ich sehe, wie stets, dass Sie keinerlei Reue zeigen. Ich habe keine andere Wahl, als Sie nach Hause zu schicken, bis ich entschieden habe, ob ich Sie der Anstalt verweise oder nicht. Ich werde Ihrer Tante schreiben.« Sie senkte den Blick, als ob es nichts weiter zu sagen gäbe. Annat war einen Augenblick lang verstummt und starrte sie unglücklich an. Sie hätte sich nie träumen lassen, dass die Schulleiterin einen Verweis in Betracht ziehen könnte. Sie machte einen Schritt nach vorne und begann: »Aber Madame, Sie können mich doch nicht verweisen! Ich muss hierher kommen, um die Künste und die Naturwissenschaften zu lernen, die sie in der Shkola nicht unterrichten …« »Daran hätten Sie vielleicht denken sollen, bevor Sie sich in Ihre nächste Unbesonnenheit stürzten«, sagte Madame und blickte zu ihr auf. »Bitte bestrafen Sie mich, Madame! Ich werde alles tun. Ich könnte Strafarbeiten schreiben oder das Livre de Bon Conseil lesen, oder Sie könnten mich schlagen …« »Eine Oberschülerin? Das wäre höchst unschicklich. Sie können gehen, Mademoiselle Vasilyevich. Die Unterredung ist beendet.« Annat öffnete den Mund, um zu protestieren, doch Madame hatte wieder den Blick gesenkt und ihren Füller ergriffen. Mademoiselle de Clignancourt war aufgestanden und sah Annat mit einer Spur von Bedauern an, denn sie mochte den Geist des Mädchens,
auch wenn sie ihr Verhalten missbilligte. Annat schluckte den plötzlichen Drang, weinen zu müssen, hinunter, machte einen raschen Knicks und floh aus dem Raum. Sie wäre gerne hinauf in die Schlafsäle und in die tröstenden Arme von Eugenie gerannt, doch sie wollte ihre Freundin nicht noch weiter in Schwierigkeiten bringen. Stattdessen lief sie mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf über den Marmorboden, der vom Büro der Schulleiterin zu den Treppen führte, und schlurfte hinab in die Eingangshalle, wo ihr Umhang an seinem Haken hing. Sie würde nicht geradewegs nach Hause zu Tante Yuste gehen, sondern einfach früher in die Shkola. Auch wenn der Unterricht erst nach dem Mittagessen beginnen würde, wären vielleicht schon einige ihrer Freunde dort – oder sie könnte in der Bibliothek Zuflucht suchen, um sich weiter mit ihrer momentanen Aufgabe zu beschäftigen. Da war dieser Gedichtband des anglischen Poeten Xelle, den Eugenie ihr geschenkt hatte und der nun die Tasche ihres Umhangs ausbeulte. Annat nahm das schmale Buch heraus und blickte hinunter auf die fremden Buchstaben. Die Anglitskuyi verwendeten die gleiche Schrift wie die Franj, doch ihr Ton unterschied sich stark. Xelle hatte an die Freiheit geglaubt, was auch der Grund dafür war, dass Eugenie seine Gedichte als Geschenk für Annat ausgewählt hatte. Auf den Innenseiten hatte sie einige eigene Strophen festgehalten und das Geschenk ihrer ›geliebten Freundin‹ gewidmet. Annat drückte das Buch in ihrer Handfläche und fragte sich, ob Eugenie die gleichen leidenschaftlichen und körperlichen Gefühle für sie hegte, wie es umgekehrt der Fall war. Nun, wo sie von der Schule verwiesen werden könnte, würde sie es vielleicht nie herausfinden; es war höchst unwahrscheinlich, dass sie die Prinzessin de Bouget jemals außerhalb der Akademie treffen würde. Sie schloss die Augen und spürte ein Brennen in ihrer Nase und hinter ihren Lidern. Es wäre beschämend, wenn sie jemand entdeckte, wie sie hier in der Garderobe stand und weinte. Um von der Akademie zur Shkola zu gelangen, würde Annat die
Straßenbahn benutzen müssen. Draußen erwartete sie ein Frühlingstag und ein von Grau durchzogener blauer Himmel, der ihr Herz leichter werden ließ. Die Straßen des eleganten Viertels, in dem sich die Akademie befand, summten vom Verkehr. Ein Gendarme in steifer Uniform aus blauem Sergestoff mit einer weißen Feder an seiner Mütze ritt vorüber und salutierte vor Annat, als er ihren Weg kreuzte. Auf der anderen Straßenseite befand sich eine Boulangerie, vor der eine kleine Menschenschlange auf einen neuen Schwung frischer Brotlaibe wartete, und daneben eine Boucherie Chevaline, über deren Fenster der abscheuliche Gipskopf eines Pferdes wieherte. Vor der Tür trottete ein Klepper vorüber, der in der Tat aussah, als stehe er kurz davor, als Pferdefleisch zu enden. Er war zwischen die Deichselarme eines kleinen Wagens eingespannt, der mit den Erträgen einer Farm aus dem Vorwerk der Stadt beladen war. Als Annat die Straße überquerte, stieg ihr der stechende Zitrusgeruch in die Nase, der von den Haufen unförmiger Zitronen und kleiner, wilder Orangen aufstieg, welche an den Südküsten wuchsen. Wie sehr sich die Stadt verändert hatte, seit sie vor vier Jahren als Kind hierher gekommen war! Als der neue Stadtrat gewählt worden war, wurde die alte Kleiderordnung des Königreichs von Neustria durchgesetzt. Frauen mussten ihre Beine bedecken, verheiratete Frauen auch ihr Haar; Männer durften nicht kurzärmlig herumlaufen, und die Angesehenen der Gesellschaft trugen Hüte. Masalyar, die Stadt, die einst so frei war, dass sie fast gesetzlos gewirkt hatte, war zu einem dunklen, ernsten Ort geworden. Kein Wunder, dass sich ihr Vater entschlossen hatte, die Stadt so schnell wie möglich wieder zu verlassen, nachdem er Annat zurück zu ihrer Tante gebracht hatte! Sie seufzte, als sie die Straße in Richtung der Straßenbahnhaltestelle hinunterlief. Die neuen Regeln bedeuteten keine große Veränderung für sie, denn in der Stadt ihrer Kindheit, in Sankt Eglis, war es nicht viel anders gewesen. Immerhin verfolgte in der Stadt niemand die Wanderer oder schien auch nur von dem Schwarz Notiz zu nehmen, das sie zu tragen gezwungen waren.
Doch die Veränderungen schienen Annat Unheil verkündend, als seien sie der Beginn von etwas anderem, weit weniger Harmlosem. Um diese Zeit am Morgen wartete niemand sonst an der Haltestelle der Straßenbahn. Zunächst holte Annat das Buch mit den Gedichten von Xelle heraus und versuchte zu lesen, doch ihr Kopf war zu voll, als dass sie sich auf die fremden Worte hätte konzentrieren können. Sie steckte den Band weg und beobachtete das Treiben auf der Straße, nahm jedoch kaum wahr, was sich vor ihr abspielte. Eine Gruppe Nonnen mit ihren weißen Schleiern und ihrer blauen Tracht, die an Seevögel erinnerte, strömte in Zweierreihen vorüber; eine elegante Citoyenne, bekleidet mit einem bunt karierten Kleid und ärmellosem Oberteil, die Röcke steif von den vielen Unterröcken, fegte vorbei; Fahrräder holperten über das Kopfsteinpflaster und die Bahnschienen, und gepflegte Pferde, deren Fell auf Hochglanz poliert war, schritten anmutig die Straße entlang, während ihre Reiter hoch über den Fußgängern thronten. Annat war eine einsame Wanderin, unbeachtet, eine schattenhafte Gestalt, die mit dem Rücken zu den Geländern des Jardin des Plantes stand. Wie die meisten der anderen Frauen auf der Straße trug Annat einen Kiepenhut. Ihrer war aus glattem Stroh gefertigt und schützte ihr Gesicht vor dem Frühlingswind. Sie sah hinauf in den Himmel über den hohen Dächern der Häuser auf der gegenüberliegenden Seite, um den weißen Wolken dabei zuzusehen, wie sie vom Meer aus landeinwärts eilten. Hier, mitten in Masalyar, war es schwer zu glauben, dass sie sich einst auf eine Reise begeben hatte, die nicht nur seltsam, sondern schier unglaublich war: eine Reise über die Grenzen der bekannten Welt hinaus. In der Shkola unterrichtete der Lehrer Sival sie gerade in der Theorie solcher Reisen, und häufig wandte er sich an Annat, um sie nach ihren Erfahrungen zu fragen. Es war seltsam, im Schneidersitz auf dem Fußboden des warmen Klassenzimmers zu sitzen und von den Eisländern zu berichten, die sie besucht hatte. Es war wie ein Traum, der für jemand anderen wahr geworden war, für eine andere Annat. Das Kind von vor vier Jahren schien sich sehr von der jungen Frau zu unterscheiden, die
heute an der Straßenbahnhaltestelle wartete. Doch keiner der anderen Schüler in der Shkola – obgleich alles Schamanen wie sie selber – hatte solch eine Reise unternommen oder würde auch nur den Versuch wagen, bis sie vollständig ausgebildet waren. Nach diesen Unterrichtsstunden begegneten sie Annat mit einem Anflug von Ehrfurcht; doch außerdem wussten sie alle von ihrem Vater, Yuda Vasilyevich, einem der mächtigsten Magier in Masalyar. Annat verschränkte die Arme unter ihrem Umhang. Sie wünschte sich, sie wäre jetzt bei ihrem Vater und würde mit ihm in die Stadt Yonar weit im Norden reisen. Doch sie musste sechs Monate im Jahr bei ihrer Tante in Masalyar leben und lernen, ausgerechnet in den Frühlings- und Sommermonaten, wenn es doch so wunderbar wäre, mit Tate auf den Zügen mitzufahren und ihn als Lehrling zu begleiten … Stattdessen lebte sie nur im Herbst und im Winter bei ihm, und in dieser Zeit kehrte er zumeist in die Stadt zurück, wo er in einem kleinen Haus draußen in der Nähe der Sümpfe lebte. Die Kabane … Die beste Zeit dort brach an, wenn zur Wintersonnenwende ihr Bruder von der Universität heimkam und Tante Yuste und Sival die Shkola verließen, um bei ihnen zu wohnen. Neun Tage lang feierten sie gemeinsam das Kerzenfest, und der Schnee schnitt sie vom Rest der Welt ab. Eine Bewegung über ihrem Kopf schreckte Annat aus ihren Träumen auf und zog ihren Blick auf sich. Im gleichen Augenblick, in dem sie das Läuten der näher kommenden Bahn hörte, sah sie einen Vogelschwarm über den Dächern kreisen, vielleicht Tauben oder Stare. Doch diese Vögel waren als schwere, schwarze Schatten vor dem Himmel auszumachen; ihre krummen Flügel schlugen langsam, während sie dort oben als dunkle Masse ihre Kreise zogen. Krähen. Annats Herz begann rascher zu schlagen, als es sollte, und sie beeilte sich, in die Straßenbahn zu kommen, als sei sie auf der Flucht vor einem Alptraum. Erst als sie auf einem Holzsitz niedergesunken war und die brummende Bahn in raschem Tempo die Haltestelle hinter sich ließ, drehte sie den Kopf, um aus dem Fens-
ter in den Himmel blicken zu können. Dort waren sie, auf Erkundungsflug über den Straßen von Masalyar, genauso, wie sie sie vier Jahre zuvor gesehen hatte, als sie eine andere, weit entfernte Stadt auskundschafteten.
Kapitel 2
A
nnat war es noch kaum gelungen, ihre Panik in den Griff zu bekommen, als sie ihre Haltestelle erreichte und unweit der Shkola ausstieg, die sich in der Nähe des Bahnhofs und der Hafenanlagen befand. Ihr erster Impuls war, ihren Lehrer zu fragen, was das zu bedeuten habe, doch er wusste nicht mehr von ihrer Vergangenheit, als sie ihm erzählt hatte. Ihr Vater wäre derjenige, dem sie alles berichten müsste, doch er war weit weg, außerhalb der Reichweite ihrer Gedanken. Sie eilte die Stufen hinauf ins Gebäude, löste die Bänder, die ihre Haube unter ihrem Kinn festhielten, und ließ sie nach hinten auf ihre Schultern gleiten. Einen Moment lang stand sie zögernd auf dem Fußboden aus schwarzen und weißen Fliesen und blickte die große Treppe empor, die zu den Räumen führte, die sie mit ihrer Tante und Sival teilte. Zwei Sorgen rangen in ihrem Inneren miteinander: Hatte Madame Mireille den Brief per Boten an ihre Tante geschickt, und hatte Yuste ihn bereits gelesen? Die Schatten der Krähen schienen ihre frühere Angst zu umkreisen und sie mit den Mustern ihrer schwarzen Schwingen zu verhöhnen. Sie stieß die Flügeltür auf und betrat die eigentliche Shkola. Der vertraute Duft von Kava, Tabak und der Geruch von verbranntem Toast, der von ungeschickter Magie herrührte, wehte ihr entgegen. Die Atmosphäre unterschied sich so stark von der sterilen Welt der Akademie mit dem schwachen Hauch von Möbelpolitur und getrocknetem Lavendel. Der Duft der Gewürze des Abendessens, wel-
ches in den Küchen unten vorbereitet wurde, hing in der Luft, und Annat wurde der Mund wässrig. Murmelnde Stimmen aus den Klassenräumen zu beiden Seiten des Ganges drangen ihr entgegen, als sie ihn hinuntereilte. Sie war auf dem Weg in den Gemeinschaftsraum der Schüler in der unteren Ebene, der gemeinsam mit dem Speisesaal und den Küchen die untere Etage bildete. Zu ihrer Enttäuschung fand sie den Gemeinschaftsraum verlassen vor. Die morgendlichen Unterrichtsstunden waren noch nicht beendet, und noch war niemand für die Nachmittagskurse eingetroffen. Die meisten der älteren Schüler besuchten entweder wie Annat eine andere Ausbildungsstätte oder die École am Morgen, oder sie arbeiteten, um ihren Teil für den Unterricht dazuzuverdienen. Annat legte ihren Umhang ab, sank in einen der samtbezogenen Sessel, die im Gemeinschaftsraum verteilt waren, und legte ihre Füße mit den Pantoffeln auf einen der niedrigen Tische. Von oben war ein lauter, erstickter Knall zu hören, und sie unterdrückte ein Lächeln. Die jüngeren Schüler lernten, wie sie ihre Kräfte kontrollieren konnten, und am Anfang des Schuljahres gab es immer wieder Unfälle. Bislang hatte noch niemand das Gebäude in Brand gesteckt, doch einige der Klassenräume trugen die Narben von Schülern, die ihre Kampffertigkeiten noch nicht in den Griff bekommen hatten. Oft waren sie mit versengtem Haar oder Augenbrauen beim Essen zu sehen, manchmal auch mit frisch verbundenen Verbrennungen, die von ihrer eigenen Macht herrührten, an den Händen. Annat selbst besuchte zwei Kurse: ›Heilen für Fortgeschrittene‹ und ›Reisen‹. Durch die Zeit, die sie mit ihrem Vater verbracht hatte, war sie in der Lage gewesen, viele der Grundlagen-Studien zu überspringen, doch sowohl ihr Vater als auch Sival hatten darauf bestanden, dass sie den Heilen-Kurs die gesamten fünf Jahre lang besuchte. Annat empfand die Unterweisungen in der Heilkunst als harte Arbeit und häufig langweilig, doch sie freute sich auf ihre wöchentlichen Reise-Kurse, in denen sich Sival manchmal ablenken ließ. Dann erzählte er von seinen eigenen Reisen oder ließ sich zur
Levitation überreden. Sival selbst war kein Schamane, doch aus Ind hatte er gewisse Fertigkeiten der Saddhus und der Heiligen Männer seines Landes mitgebracht. Die jungen Schamanen, die er unterrichtete, waren von seiner Magie fasziniert, denn sie hatte nichts mit ihrem eigenen Erbe zu tun. Die Tür schwang auf und Dani trat mit Ordnern in den Armen ein. Wie Annat war er ein Wanderer, der einzige weitere in ihrer Klasse, doch er stammte aus einem viel strengeren Haus. Er trug einen schwarzen Hut, seitliche lange Locken oder Peyes und den Ansatz eines braunen Bartes. Er war groß für einen Wanderer oder einen Schamanen; steif setzte er sich Annat gegenüber in einen Sessel und grüßte sie, ohne sie direkt anzuschauen: »Gelobt sei der Eine in Zyon.« »Der Eine und nur ein Einziger«, antwortete Annat. »Hi Dani. Wie geht es deiner Mame?« Dani legte die Ordner auf den Boden zu seinen Füßen und ließ den Blick auf ihnen ruhen. »Es geht ihr gut, danke, Natka«, sagte er. Trotz seines unnahbaren Auftretens war Dani Annats Freund, doch das Gesetz der Wanderer verbot es ihm, eine Frau unmittelbar anzublicken. Annat lächelte insgeheim in sich hinein und fragte sich, ob das Gesetz der Wanderer jemals ihren Vater davon abgehalten hatte, Frauen anzusehen – von ihrem Bruder ganz abgesehen. Doch weder Yuda noch Malchik waren besonders willkommen im Beit, dem Haus des Lernens, wo sich die Wanderer von Masalyar zum Gebet versammelten. Sie mochte Dani, weil er sich ungeachtet des zweifelhaften Status ihrer Familie in der Gemeinde mit ihr angefreundet hatte. »Hast du den Aufsatz von Rashim Edra Ben Shammi gelesen, den ich dir gegeben habe?«, fuhr er fort, lehnte sich gemütlich in seinem Sessel zurück und starrte verlegen auf seinen Schoß. In einem fort gab er Annat Auszüge aus dem Zahav, dem Buch der Lehren und Kommentare der Wanderer, zu lesen. Da sie weder ein Mann noch eine Gelehrte war, schien das seltsam, und Annat vermutete, dass Dani sie etwas lieber mochte, als er eigentlich sollte. Sie glaub-
te, dass er ihr verstohlene Blicke zuwarf, wenn sie im Klassenzimmer saßen. »Ich habe versucht, ihn zu lesen«, sagte sie, entschlossen, ehrlich zu ihm zu sein. »Doch ich habe so viel Zeit für die theoretischen Texte gebraucht, die uns der Lehrer für heute zum Vorbereiten aufgegeben hat.« Der Gedanke an den Reiseunterricht brachte ihr die Krähen wieder ins Gedächtnis, die sie heute Morgen gesehen hatte. »Dani«, fuhr sie fort, »ist dir irgendetwas Seltsames in der Stadt aufgefallen?« Dani schüttelte bedächtig den Kopf. »Ich weiß nicht. Nichts Besonderes. Doch letzte Nacht habe ich eine kleine Reiseübung versucht, wie Sival es geraten hat. Ich habe einige Aufzeichnungen gemacht, als ich zurückkam.« Annat beugte sich neugierig in ihrem Sessel vor und Dani lehnte sich in seinem zurück. Dank ihrer Reise vor einigen Jahren war sie von solchen Übungen entschuldigt; die heutige Stunde wäre die erste, an der sie von Anfang bis zum Ende teilnehmen durfte. »Was hast du gesehen?« Sie fing einen raschen Blick aus seinen braunen Augen auf. Recht zögernd begann er zu senden, was er Annat gegenüber häufig vermied, aus wohl den gleichen Gründen, aus denen er ihren Blick mied. – Ich bin deinem Vater begegnet. – Meinem Vater? Annat schrie ihre Gedanken und sah, wie Dani zurückschrak. Es kam noch immer vor, dass sie vergaß, wie laut ihre Gedanken sein konnten; es war keine Hilfe, dass sie die Gedanken anderer Schamanen als Geschriebenes wahrnahm, wohingegen sie ihre Gedanken zu hören schienen. – Woher weißt du, dass er es war? – Der mächtigste Schamane in Masalyar – ich konnte ihn kaum verfehlen. Außerdem sagte er – Dani hielt inne – »Wer zur H … bist du denn?« Annat bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und lachte. Dies war so typisch für ihren Vater, dass es niemand sonst gewesen sein konnte. Kein Schamane würde einen anderen auf diese Weise grüßen,
wenn sie sich beim Reisen in der Schamanenwelt begegneten. Formelle Höflichkeit und behutsamer Austausch von Grußworten wurde erwartet. Sival hatte ihnen erklärt, dass sie andere Reisende auf ihren ersten Erkundungen treffen könnten und dass sie sich stets entschuldigen und zurückziehen sollten. Ein ausgebildeter Schamane in ernsthaften Angelegenheiten würde nicht gestört werden wollen. – Was hast du zu ihm gesagt?, fragte sie. – Was sollte ich schon sagen? Dani zog die Augenbrauen gen Himmel. – Ich habe mich entschuldigt, dass ich ihn gestört habe. Darauf sagte er mir, ich solle bleiben und erklären, was ich treibe. – Wo warst du? Was hast du denn getan? Dani schüttelte den Kopf. – Ich wünschte, ich wüsste es. Ich habe alles so gemacht, wie Sival es uns geraten hat. Ich habe mich in einen Trancezustand versetzt, habe mir ein Schamanentor gesucht und bin eingetreten. Es schien nicht sehr interessant. Nur wie einer der transdimensionalen Übergänge, die wie ein Durchgang voller Kisten wirken. Als ich deinen Vater traf, schaute er gerade in eine dieser Kisten. – Aber Sival hat uns doch gesagt, dass sich niemals etwas in diesen Kisten befindet! – Ich glaube, das ist eines der Dinge, über die sie uns nichts beibringen. Sie wollen nicht, dass wir uns einmischen. Vielleicht denken sie, wir könnten der Dinge im Inneren nicht Herr werden. – Hat dir Tate verraten, wonach er suchte? – Er sagte, er versuche, einen abtrünnigen Schamanen zu finden. Er sagte: »Es ist ein abtrünniger Schamane aus Sklava verloren gegangen. Ich kann ihn riechen, aber ich kann diesen B … nicht finden.« »Ein abtrünniger Schamane aus Sklava!«, sagte Annat aufgeregt. »Aber Tate ist Hunderte von Meilen weit weg, in Yonar. Er hat mir nie etwas davon berichtet.« »Ich schätze, außerhalb dieser Welt spielen Entfernungen keine Rolle«, sagte Dani, dem es unangenehm war, sein Wissen zu zeigen. »Ich glaube, dass er es war, der mich dorthin gebracht hat. Er öff-
nete eine Kiste, auf der mein Name stand.« »Dani Magidovich«, sagte Annat und unterdrückte ein Kichern. »Vielleicht glaubte er, du bist der abtrünnige Schamane.« Die Glocke läutete, um den Beginn des Nachmittagsunterrichts anzuzeigen. Dani bückte sich, um seine Ordner aufzuheben. Annat mühte sich aus ihrem Sessel und schüttelte ihre Röcke aus. »Ich meine, du solltest es dem Lehrer erzählen«, sagte sie. »Ich muss ihn nach dem Unterricht sprechen. Ich habe Krähen gesehen, die über Masalyar kreisen.« »Krähen?«, fragte Dani und warf ihr unwillkürlich einen überraschten Blick zu. Annat fühlte eine unerwartete Schüchternheit, als sie ihm erzählen wollte, was sie wusste. »Komm schon, wir wollen doch nicht zu spät kommen«, sagte sie und eilte zur Tür. »Ich erkläre es dir nach der Schule!« Die Klassenräume in der Shkola waren ganz anders als die steifen Zimmer in der Akademie. Dort saßen die Schüler in Reihen hinter hölzernen Pulten, blickten zur Tafel und nannten ihre Lehrerinnen Madame oder Mam'selle. Die Fußböden bestanden aus Parkettholz, das auf Hochglanz poliert war, und die hohen Fenster hatten schmiedeeiserne Gitter – elegant geschwungen, doch trotzdem Gitterstäbe. In Sivals Klassenzimmer gab es keine Stühle, sondern ein Sammelsurium an gemütlichen Kissen, die über den Teppich verstreut lagen. Im Frühling und im Sommer standen die Fenster offen, um die Geräusche der Straße hereinzulassen, und die Wände waren mit einer stattlichen Reihe von Bildern und Schriften behängt, von denen einige von Sivals gestochener Schreibschrift bedeckt waren, andere die Schrift seiner Muttersprache zeigten, Khafji, die Sprache der Ind. Es gab unbeholfene, lebendige Zeichnungen von Basaren in Ind voller Menschen und Tiere, die ihm von den Kindern seiner Neffen in der Heimat geschickt worden waren; zarte Malereien, in denen blaugesichtige Götter verhüllten Mädchen ihre Liebe antrugen; und viele herausgerissene Fetzen aus Papier oder Pappe, die aus Paketen mit dem Bestimmungsort Masalyar stammten, welche einst Güter wie
Trauben, Orangen, Tabak, Kava, Leder, Kohle oder Zucker beherbergt hatten. Sival berichtete jeder neuen Klasse, wie diese Bruchstücke einer fremden Kultur ihn mit ihren unvertrauten Buchstaben und stilisierten Bildern in den Bann geschlagen hatten. Besonders angetan hatten es ihm die Papiertüten der hundert Jahre alten Confiserie Chez Celimene mit ihrem Bild einer altmodischen Dame, die einen Sonnenschirm trug, und wenn sie mit der Zeit verblichen, hängte er neue an. Sival erwartete sie, als sie in den Raum strömten. Er saß mit gekreuzten Beinen auf dem Boden und trug sein übliches Gewand, eine Tunika und eine Dhoti, mit einer kleinen Kappe, die fein säuberlich auf seinem beinahe kahlen Kopf saß. Seine Haut war dunkel wie Tabak, an etlichen Stellen zeigten sich noch dunklere Altersflecken, und er hatte sich viele Falten in die Haut gelächelt. Sie nannten ihn Lehrer, manchmal auch Guru-ji, und er sprach sie in akzentfreiem Franj mit mes enfants – meine Kinder – an. Er wartete, bis sie alle ihre Lieblingsplätze gefunden und es sich zwischen den Kissen gemütlich gemacht hatten. Für einige der Frauen war das alles andere als einfach, denn die neuen Kleiderregeln der Stadt zwangen sie dazu, ihre Beine bis zu den Knöcheln zu bedecken; manche waren wie Annat dazu übergegangen, knielange Röcke über Pantalons zu tragen, um so ein wenig Bewegungsfreiheit wiederzugewinnen. Die Angepassteren oder Modebewussteren mussten ihre schweren Röcke und Unterröcke so zurechtziehen, dass sie dort zwischen den dicken Satinvolants ihrer Kleider wenigstens wie über den Fußboden verstreute Blüten von Pfingstrosen aussahen. Einige der Jungen hatten es in ihren steifen Anzügen aus Sergestoff kaum bequemer, und besonders Dani konnte nicht stillsitzen, sondern suchte fortwährend nach einer angenehmeren Sitzposition. Sival sah ihnen ergeben zu, und als er sicher war, dass sie ihre Plätze gefunden hatten, hob er in seiner weichen, gedämpften Stimme zu sprechen an. Es hatte den Anschein, dass er ihnen eine Geschichte erzählen wollte. »Heute, mes enfants, werden wir uns über das Reisen unterhalten«,
sagte er. »Ich hoffe, dass ihr nach und nach damit begonnen habt, eure eigenen Reisen zu unternehmen, und ein wenig über die Galaxie der Schamanenwelt gelernt habt, die diese unsere äußere Welt umgibt.« Er hielt inne und lächelte wegen dieser bildhaften Schilderung in sich hinein. »Doch bevor ihr auf die Große Reise geht und euch frei zwischen den Sternen bewegt, müsst ihr lernen, wie ihr euch selbst schützen könnt, wenn ihr allein unterwegs seid. Zelie, bitte fahre fort im Kapitel Zehn von Sorgay, Seite dreihundertvier.« Es gab ein allgemeines kurzes Seufzen, als die Schüler den dicken Band zur Hand nahmen und ihn auf ihren Schößen öffneten. Annat war froh, dass sie letzte Woche daran gedacht hatte, sich die Seite zu markieren. Sie wünschte, Sival hätte sie an Zelies Stelle zu lesen gebeten, denn das Mädchen hatte eine einschläfernde Singsangstimme, was es noch schwerer machte, den langen Sätzen zu folgen. Sie war versucht, mit ihrer Freundin Pashmir zu senden, doch sie wusste, dass Sival es merken würde; er unterrichtete schon so lange Schamanen, dass er alle ihre Tricks kannte. Sie warf Dani einen Blick zu, dachte an sein Zusammentreffen mit ihrem Vater und sah ihm zu, wie er sich mit einem Bleistift am Rand Notizen machte. »Annat«, sagte Sival plötzlich, »was glaubst du, meint Sorgay, wenn er vom ›dunklen, tiefen Weg‹ spricht?« Es hatte keinen Sinn, es abzustreiten. Ohne aufzublicken antwortete Annat: »Ich habe nicht zugehört, Guru-ji.« »Dann teile deine Gedanken mit«, sagte Sival freundlich. Manchmal, wenn er Grund hatte, böse zu sein, konnte dies eine Strafe sein, doch gewöhnlich war er wirklich daran interessiert zu wissen, was seine Schüler ablenkte. »Dani hat mir erzählt, dass er meinen Vater auf seiner Reise getroffen hat«, sagte Annat. Zwei der jüngeren Mädchen kicherten, und Sival seufzte auf. »Ich verstehe. Yuda kann also sogar dann noch meinen Unter-
richt stören, wenn er gar nicht selbst hier ist«, sagte er. »Ich weiß, dass es nicht leicht ist, Sorgay zu folgen, mon enfant, doch du musst mit seinen Worten vertraut sein. Hast du letzte Nacht den Text bearbeitet?« Annat nickte. »Dann kannst du mir den dunklen, tiefen Weg erklären.« Annat zögerte, versuchte ihre Gedanken zu ordnen und setzte an. »Einige Pfade liegen zu Tage und führen in Welten hinter den Sternen. Andere führen nach innen, in Welten unterhalb der Erde in Schattenorte.« »Sehr gut. Aber warum ist das wichtig, Pashmir?« Das sulimitische Mädchen blickte unter ihren langen Wimpern zu Sival auf und sagte: »Die inneren Welten sind die gefährlicheren.« Sival nickte, als habe sie ihm gerade etwas Neues verraten. »Wenn ihr auf eine Reise geht, mes enfants, müsst ihr lernen, wie ihr eine Spur hinterlasst, damit andere euch folgen und zurückbringen können, falls ihr verloren geht.« Annat dachte an ihre eigene Reise, während der sie zusammen mit ihrem Vater die unterirdische Welt betreten hatte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass er eine Spur gelegt hatte. Sie zögerte, ihren Gedanken laut auszusprechen, obgleich sie fürchtete, dass einige der anderen Schüler ihn bereits erlauscht hatten; sie mussten mittlerweile die Nase voll davon haben, von ihren Abenteuern zu hören. Pashmir sprach ihn für sie aus. »Ich habe gehört«, sagte sie vorsichtig und fing ein rasches Lächeln von Annat auf, »dass sich die großen Schamanen nicht immer die Mühe machen, eine Spur zu legen.« »Das ist wahr«, sagte Sival. »Iskander von Xeryx weigerte sich, jemanden in die Gefahr zu führen. Andere hatten vertrauenswürdige Begleiter mitgenommen«, fügte er hinzu und beantwortete damit Annats Gedanken. »Doch ein junger Schamane, ein einzelner Schamane, sollte immer eine Spur legen. Und ich werde euch heute beibringen, wie das geht. Ihr könnt den Sorgay jetzt beiseite legen«, sagte er lächelnd, denn er hatte ihr Stöhnen gehört.
Während der nächsten Stunde war Annats Aufmerksamkeit gebannt. Zunächst erzählte ihnen Sival Geschichten von berühmten Reisen und umriss dabei mit seinen Händen Bilder in der Luft. Dann bat er sie, sich in Trancezustand zu versetzen, einer einfachen Vorbedingung für die meisten Reisen, und von dort aus eine Spur zu legen. Wenn ihnen etwas misslang, fanden sie den Klassenraum mit den Ergebnissen ihrer Bemühungen übersät. Zelie hatte es fertig gebracht, den größten Teil von Sivals Papiertütensammlung aufzuwirbeln und sie als lange Spur von Papierfetzen zu verstreuen. Pashmir hatte einen kleinen Dschinn heraufbeschworen, ein mürrisches Wesen mit gelben Augen, das sich zu sprechen weigerte und schließlich in einer Rauchwolke verschwand. Dani hatte Buchstaben in Ebreu zustande gebracht, die in der Luft tanzten, und Annat hatte zu ihrer aller Unbehagen eine schattenhafte Schar von schwarzflügligen Vögeln herbeigerufen. Einige andere hatten bewirkt, dass sich Gegenstände wie Bleistifte, Radiergummis und Kreide materialisierten, und bei einem Jungen war es gar ein trauriges, teigiges Ektoplasma. Der Rest hatte überhaupt nichts zutage befördert. »Nicht schlecht für den ersten Versuch«, sagte Sival, als jemand das Ektoplasma aufwischte und es in dem Tuch in den Papierkorb fallen ließ. Die anderen Materialisationen verblassten. »Es ist jedoch wichtig, eine Spur zu hinterlassen, die die anderen auch verstehen. Ich will, dass ihr das zu Hause übt. Bitte versucht, kein Ektoplasma heraufzubeschwören; das hinterlässt Spuren auf dem Teppich.« »Warum habe ich Krähen gerufen?«, fragte Annat. »Ich weiß es nicht«, sagte Sival. »Ich habe die Papierspur von Zelie erwartet – ja, du kannst die Reste aufheben und sie wieder an die Wand hängen –, und auch Dani und Pashmir haben beide Dinge beschworen, mit denen ich gerechnet habe, weil sie zu ihren Mythen und zu ihrer Religion gehören. Ich habe eigentlich gehofft, dass du mir einen Zug zeigen würdest, Annat, denn schließlich hast du deine unterirdische Reise in diesem ungewöhnlichen Gefährt be-
stritten. Krähen sind unerwartet.« »Ich habe sie heute Morgen über die Stadt fliegen sehen«, sagte Annat, der plötzlich kalt war. Sival blickte sie ohne ein Lächeln an. »Wir werden nach dem Unterricht sprechen«, sagte er. »Doch nun, mes enfants, müssen wir uns wieder unserem Sorgay zuwenden, um zu lesen, was er über Spuren zu sagen hat. Ich glaube, ihr könntet das spannend finden.« Yuste Vasilyevich saß alleine in dem frühlingshaften Zwielicht, das ihr Büro in der Shkola durchflutete. Eine Öllampe, deren kugeliger Körper an ein Glühwürmchen erinnerte, spendete ihr nicht genügend Licht, um die beiden geöffneten Briefe lesen zu können, die vor ihr auf dem Schreibtisch lagen, doch sie wusste bereits, was in beiden von ihnen stehen würde. Eine Welle dumpfer Gefühle brandete in ihr auf, und sie dachte, wie so oft in solchen Zeiten, an das Meer in der Nähe ihrer alten Heimat Sankt Eglis, welches so ruhig schien und sich doch als tödlich erweisen konnte. Sie wusste, dass Annat ihr aus dem Weg ging. Das Mädchen war bestimmt schon vom Nachmittagsunterricht zurück, denn die Stunden waren bereits lange beendet. Yuste war sich sicher, dass Annat mit ihren Freunden im Gemeinschaftsraum herumtrödelte, um den Moment hinauszuzögern, in dem sie sich dem Ärger mit Madame Mireille würde stellen müssen. Yuste setzte ihre goldgeränderte Brille ab und legte sie vorsichtig auf den Schreibtisch. Sie musste sie nur zum Lesen tragen. Sie massierte ihre Schläfen mit den Fingerspitzen und wünschte sich, es würde nicht immer so sein müssen – dieser einzige, lange Kampf. Jedes Jahr, wenn Annat von den Monaten mit Yuda zurückkehrte, wurde es etwas schwieriger, sie im Zaum zu halten. Und dieses Jahr war am schlimmsten gewesen. Es waren erst wenige Wochen seit Beginn des Schuljahres vergangen, und schon drohte Madame Mireille damit, das Mädchen von der Akademie zu verweisen! Yuste hätte lachen müssen, wenn sie nicht zu erschöpft gewesen wäre.
Sie fragte sich, ob sie Yuda benachrichtigen sollte. Als Zwillinge teilten sie eine Macht, über die kein anderer Schamane zu verfügen schien, und es war die einzige Fähigkeit, die Yuste noch geblieben war. Sie konnte in ihren Gedanken nach ihrem Bruder rufen, wenn er auch weit entfernt war, und er konnte ihr antworten. Es war nicht wie senden, diese lautlose Sprache, die die Schamanen untereinander benutzten, die jedoch keine Entfernung überbrücken konnte. Yuste dachte an Yuda und sah, wie sich die lebendigen, pulsierenden Muster seines Geistes auf ihren Lidern abzeichneten. Doch was sollte sie ihm sagen? Dass sie sich wegen Annat sorgte? Dass Malchik ihr einen Brief geschickt hatte? Yuste öffnete die Augen und legte ihre rechte Hand auf das dünne Papier des zweiten Briefes, als ob sie ihn mit den Fingerspitzen lesen könnte. Wenigstens Yuda würde verstehen, was sein Sohn geschrieben hatte. Die ungleichmäßige schwarze Handschrift, die angefangenen, unvollendeten Sätze, alles schien ihr auf einen verwirrten Geist hinzuweisen. Sie hatte schon so viele Briefe von ihrem Neffen erhalten, voller Neuigkeiten über sein Leben an der Universität, und diese waren immer sorgfältig geschrieben gewesen. Und nun das! Die Tür öffnete sich und Sival trat ein; den Arm hatte er um Annats Schultern gelegt. Yuste ließ den Brief aus ihrer Hand auf den Schreibtisch gleiten und blickte wortlos zu ihrer Nichte und dem Lehrer auf. Sivals hohe Stirn war in Falten gelegt. »Annat hat dir etwas zu sagen, meine Liebe …« Yuste blickte in das blasse Gesicht ihrer Nichte. Ohne Zweifel glaubte Annat, sie würde der Schelte entgehen, wenn sie Sival mitbrachte, um für sie zu sprechen. »Ich habe einen Brief von Madame Mireille bekommen, heute Nachmittag, per Bote ausgetragen. Sie will wissen, ob es einen Grund gibt, warum sie dich nicht von der Akademie verweisen sollte.« »Es ist so gemein!« Annat trat einen Schritt nach vorne. »Alles, was ich getan habe, war, eine Szene aus unserem Stück zu proben,
und diese Hexe de Clignancourt musste mich melden.« »Annat, du weißt, warum ich dich dorthin geschickt habe. Es ist eine der wenigen liberalen Akademien in Masalyar. Wenigstens wird sie nicht von Nonnen geführt, und sie verlangen nicht von dir, dass du nähst. Oder Anstandsregeln einübst. Du weißt, dass es von ihrer Seite aus ein Entgegenkommen ist, eine Wanderin aufzunehmen …« »Ist das meine Schuld?«, unterbrach Annat. »Diese Regeln sind falsch. Das sagst du selbst!« Sival unterbrach sie, indem er seine dunklen Hände mit den weichen, hellen Innenflächen hob. »Das ist nicht der Grund, warum ich mit Annat hierher gekommen bin, Yuste.« »Was gibt es denn noch?« Yuste stützte ihren Kopf in die Hand. »Was hat sie denn noch angestellt?« »Nichts.« Sival setzte sich im Schneidersitz auf den Boden, und Annat kauerte sich neben ihn. Er hatte noch nie viel von Stühlen gehalten. »Du weißt, dass wir im Moment das Reisen durchnehmen.« Yuste brachte ein Lächeln zustande. »Und ich sagte, Annat habe bereits genügend Reisen für ein ganzes Leben unternommen.« Sival warf Annat, die verdrießlich schaute, einen Blick zu und sagte: »Annat verliert die Geduld mit der Theorie, weil sie so viel Praxis hatte.« »Ich verstehe noch immer nicht, warum wir eine Spur hinterlassen sollen. Yuda hat mir davon nichts erzählt«, sagte Annat schmollend. »Das liegt daran, dass er davon ausgeht, dass wir dir das beibringen«, sagte Yuste. »Ein paar alte, verstaubte Professeurs, während er es so scheinen lässt, als ob es leicht wie Magie wäre.« Sival faltete die Hände. »Es passt nicht zu dir, Yuste, so verbittert zu reden.« »Sie spricht von nichts anderem als von Yuda. Er lässt ihr alles durchgehen, und ich bin die schreckliche alte Frau, die ihr etwas Disziplin beibringen muss.«
Sival strich sich mit der Hand über die Stirn und durch sein schütteres Haar. »Annat hat heute etwas gesehen, das sie beunruhigt. Einen Schatten aus der Vergangenheit.« »Die Krähen fliegen über Masalyar«, sagte Annat, hob den Blick und sah Yuste direkt in die Augen. Yustes Hand griff krampfhaft nach Malchiks Brief. Sie riss ihn hoch, beugte sich vor und hielt ihn drängend ihrer Nichte entgegen. »Lies das, Natka«, sagte sie. »Sag mir, was das zu bedeuten hat.« Annat griff nach dem hauchdünnen Papier, und Sival fragte: »Sagt dir das irgendetwas, Yuste, dieses Gerede von Krähen?« Yuste starrte den Lehrer an und sehnte sich schmerzlich nach der lang verlorenen Fähigkeit des Sendens, welche so viele schwerfällige Worte überflüssig gemacht hätte. »Ich weiß es nicht, Guru-ji«, sagte sie. »Aber Malchik schreibt von kaum etwas anderem.« Nachdem Annat einige Zeilen überflogen hatte, hob sie die Augenbrauen und sagte schlicht: »Malchik ist in Gefahr.« Yuste suchte den seltsamen, klaren Blick, den das Mädchen, wie so vieles andere, von ihrem Vater geerbt hatte. Wie stets überkam sie ein Gefühl des Verlustes, denn sie wusste, dass sie einmal in der Lage gewesen war, die Gedanken unter der Oberfläche zu erraten. Als Annat ein Kind war, war es Yuste manchmal gelungen, ihre Gedanken mitzuhören, obgleich sie nicht in der Lage war zu antworten; doch Annat hatte inzwischen die Fähigkeit erworben, sie zu verbergen. »Erzähl uns von den Krähen«, sagte Sival, während die beiden Frauen sich anstarrten. Annat streckte ihm Malchiks Brief entgegen. »Ademar hat sich wieder erhoben«, sagte sie. »Er marschiert in Richtung Süden. Ich habe seine Spione über Masalyar gesehen, und Malchik entdeckte sie in Axar.« »Aber, Ademar – war das nicht der Name eines unbedeutenden Kriegsherrn im Norden?«, fragte Yuste. »Er hatte versucht, die Eisenbahner daran zu hindern, einen Tunnel unter dem Wald hindurch anzulegen. Man brachte ihn zur Strecke, und nur kurze Zeit später wurde die Arbeit beendet. Die Eisenbahner hätten niemals Abgesandte nach Yonar geschickt, wenn sie geglaubt hätten, dass in
ihrem Rücken noch irgendein Schrecken lauern würde.« Ihre anderen Zweifel brauchte sie nicht auszusprechen; sicher würde es Yuda wissen, und sicher hätte er eine Nachricht in die Stadt gesandt, wenn einer der Nordherren einen Angriff planen würde! »Ademar hat sich wieder erhoben«, wiederholte Annat. »Wir müssen zu Malchik reisen.« Yuste blickte sie an, die Hände im Schoß verkrampft. Sie war bestürzt, verärgert und verängstigt. Sie wollte ihre Nichte an den Schultern packen und aus ihrer Unergründlichkeit aufrütteln. Sie raufte sich die Haare, womit sie den säuberlichen Knoten in Unordnung brachte, und hörte ihre eigene Stimme, heiser und schrill, die rief: »Annat, würdest du bitte erklären, was du meinst? Weder Sival noch ich haben Zeit, Rätsel zu lösen. Was haben Ademar und seine Krähen mit dir und Malchik zu tun?« Sie merkte sofort, dass sie die augenscheinliche Ruhe ihrer Nichte falsch interpretiert hatte. Annat schien in sich zusammenzusinken. »Begreifst du denn nicht?«, flüsterte sie. »Nicht nur wir sind in Gefahr. Es ist die Stadt. Der Süden. Alles.« »Ich bin krank vor Sorge um Malchik«, sagte Yuste. »Ich habe noch nie zuvor einen solchen Brief von ihm erhalten. Ich dachte, er würde den Verstand verlieren. Nun sagst du mir, dass es die Krähen wirklich gibt und dass die Bedrohung wächst. Was kann ich tun? Ich bin keine Schamanin, und dein Vater ist Hunderte von Meilen entfernt.« Annat richtete sich wieder auf. »Wir können nicht auf Yuda warten«, sagte sie. »Du und ich werden uns auf den Weg nach Axar machen, und zwar so schnell wie möglich. Nur wir beide. Wir können den Nachtzug nehmen.« »Annat, ich finde, bevor du irgendwohin verschwindest, solltest du vernünftig erklären, was das alles zu bedeuten hat«, sagte Sival. »Du magst wissen, was vor euch liegt, aber Yuste ist dein Vormund, und sie braucht etwas mehr als die Bruchstücke, die du ihr bislang hingeworfen hast. Warum ist der Herr von Ademar jetzt eine Bedrohung für Malchik? Der junge Mann schien sehr gequält.«
Annat schlug die Augen nieder. »Ich bin nicht sicher, warum Malchik so verängstigt ist. Aber er wusste immer mehr von Ademar als ich. Yuda tötete den Sohn und Erben des alten Mannes, Zhan Sarl. Und es war Sarl, der gewöhnlich die Krähen rief. Wie können sie wieder da sein, wenn er doch tot ist? Ich finde keine Antwort darauf. Keine zufrieden stellende Antwort.« Yuste sah Sival an, fand jedoch keinen Trost in seinen Zügen. »Natka«, sagte sie und benutzte die Koseform des Namens ihrer Nichte, »das hat schon vor Jahren ein Ende gehabt. Yuda hat es zum Abschluss gebracht, und du hast ihm dabei geholfen. Ich habe die Geschichten von eurer Reise in die unterirdische Welt gehört. Doch in diesen Teilen gibt es schon lange Frieden. Es braucht mehr als einen Schwarm Krähen, um mich davon zu überzeugen, dass sich etwas geändert hat.« Annat starrte sie ernst an. »Du hast Malchiks Brief gesehen«, sagte sie. »Er ist nicht verrückt. Er hat die Zeichen erblickt, und er weiß, was vor sich geht. Wir müssen gehen, bevor es zu spät ist.« »Ich denke, Annat hat Recht«, sagte Sival. Noch ehe Yuste protestieren konnte, fuhr er fort: »Doch ich finde nicht, dass ihr zwei heute Nacht abreisen solltet. Ihr werdet jemanden brauchen, der euch unterstützt. Wie du selbst gesagt hast, Yuste, verfügst du über keine Mächte mehr, und Annat braucht jemanden, der sie führt. Während Yudas Abwesenheit solltest du die Hilfe eines anderen Schamanen in Anspruch nehmen. Ich glaube, du solltest dich an Boris Grebenshikov wenden.« »Sival, ich hoffe, dies ist keiner deiner Scherze«, sagte Yuste, die kerzengerade aufgerichtet saß. »Wer in Zyons Namen ist Boris Grebenshikov? Er muss ein weißer Sklav sein, wenn er einen solchen Namen trägt, und die mögen unser Volk nicht besonders.« »Boris Andreyevich ist ein Detektiv. Er besuchte einige Jahre vor Yuda die Shkola, und dein Bruder kennt ihn. Sie erkennen einander an und respektieren sich, auch wenn ihr … Ansatz ein anderer ist. Boris hat es immer vorgezogen, seine Macht nicht einzusetzen, wenn es sich vermeiden ließ.«
»Oh, du meine Güte, du meinst doch nicht etwa den Kahlen Boris?«, rief Yuste. »Natürlich habe ich von ihm gehört. Ich wage zu behaupten, dass er nicht viel mit Yuda gemeinsam hat, auch wenn ich gehört habe, er bewege sich gelegentlich außerhalb des Gesetzes. Nun ja, ich nehme an, dass wir das alle schon getan haben«, fügte sie hinzu und warf einen Seitenblick auf Annats gekürzten Rock. »Aber warum sollte er uns helfen?« »Weil ich ihn dafür bezahlen werde, Yuste«, sagte Sival. »Keine Diskussion, bitte. Ich nehme ernst, was uns Annat gesagt hat, ihre Ängste und diesen Brief. Ich denke, es geht um die Sicherheit von Masalyar selbst und die dahinter liegenden Länder. Nur aus diesem Grund glaube ich, dass Boris Grebenshikov euch helfen wird. Ich werde mich heute Nacht mit ihm in Verbindung setzen.«
Kapitel 3
D
ie Büroräume Grebenshikov und Stromnak (Verstorben) befanden sich im vierten Stock eines Gebäudes in einem Viertel, das weder Annat noch Yuste häufig aufsuchten. Es lag weiter vom Hafen entfernt als die Shkola in einem Stadtteil, der dem Namen nach angesehen war, jedoch einen heruntergekommenen Eindruck machte. In den unteren Etagen war das marmorne Mauerwerk glatt und eben, doch weiter oben, über den Oberleitungen der Straßenbahn, war die Gipsfassade abgebröckelt und legte den rau behauenen Stein darunter offen. Tauben sammelten sich auf Fenstersimsen, und ihre Federn und ihr Dreck verklumpten die Netze, die die Vögel eigentlich hätten abhalten sollen. Eine dünne Schicht gelbbraunen Rußes hatte die Fenster beinahe völlig überzogen, sodass sie das Tageslicht mit einem schmutzigen Stich hindurchließen, wodurch es wie Abwaschwasser aussah.
Als sie und Yuste auf zwei fadenscheinigen Sesseln im Wartezimmer Platz genommen hatten, begann Annat sich zu fragen, was es mit Stromnak auf sich hatte und woran er gestorben war. Yuste hockte neben ihr, angespannt und schweigsam, und umklammerte ihr mächtiges, ledernes Retikül, das sie auf den Knien balancierte. Annat fand ihre Tante nachlässig gekleidet in ihrem braunen Samtkostüm mit dem Zeichen der Wanderer am Ärmel und ihrer Haube, die sie so weit nach vorne gezogen hatte, dass ihr Gesicht überschattet war. Annat würde eher für alle Zeiten in Schwarz herumlaufen als mit der Schmach zu leben, das Zeichen der Wanderer zu tragen. Sie konnte nicht verstehen, warum Yuste dies auf sich nahm, nur damit sie die Möglichkeit hatte, Braun oder Grau zu tragen. Annat hatte keine Handtasche bei sich, und ihre Haube war, wie stets, ihre Schultern hinuntergerutscht. Sie vertrieb sich die Zeit damit, die Sekretärin zu beobachten, die am anderen Ende des Raums hinter ihrem Schreibtisch saß und in unablässigem Missklang die Tasten ihrer Schreibmaschine klappern ließ. Die Frau hatte ein strahlendes kleines Gesicht wie ein Vogel und angemalte Lippen, die sie häufig schürzte. Sie trug ein Kostüm aus weichem, blauem Sergestoff, welches bis zum Hals zugeknöpft und von einem modischen, grauroten Karomuster durchzogen war. Sie zeigte weder an Annat noch an Yuste irgendwelches Interesse und unterbrach ihre Arbeit nur, um Nachrichten in Zylindern zu verstauen, welche sie in die Rohrpost steckte und die daraufhin mit einem schwachen Ploppen in Richtung der Decke verschwanden. Die Tür zum Büro wurde aufgestoßen, und ein kleiner, stämmiger Mann steckte seinen Kopf heraus. Die Spitze seines Kopfes war ohne Haar, doch zwei Furchen voll Grau und Braun wuchsen hartnäckig über seinen Ohren, als ob er sich für eine exzentrische Tonsur entschieden hätte. »Missis Vasilyevich?«, fragte er mit ausdrucksloser Stimme. Während sich Yuste erhob, bemerkte Annat, dass Grebenshikov graue Hosen, ein weißes Hemd und Hosenträger, doch kein Jackett trug. Er hatte weder eine Krawatte noch eine Fliege umgebunden, und
unter seiner Weste zeigte sich der offene Kragen seines Hemdes. Yuste streckte ihm ihre behandschuhte Hand entgegen. »Guten Morgen, Boris Andreyevich«, sprach sie ihn in Sklav an. Annat war verblüfft, als Grebenshikov die dargebotene Hand ergriff und einen trockenen Kuss darauf hauchte. Er trat zur Seite und ließ Yuste eintreten; Annat nickte er zu, als sie folgte. Er vermied ihren Blick, ebenso wie es Dani getan hatte. Er war ein Schamane, doch nicht mächtig genug, um das zu verbergen. Seine Gedanken waren abgeschirmt, aber seine Macht umgab ihn mit einem kupfernen Schimmer. Annat wusste sofort, dass sie mächtiger war als er, doch sie hatte in der Shkola gelernt, nicht mit ihrer Überlegenheit zu protzen. Ein solches Verhalten zeugte von schlechten Manieren und war außerdem unklug. Sie zweifelte keinen Augenblick daran, dass Grebenshikov sie ebenso abschätzen und bemerken würde, dass Yuste bis auf wenige Spuren ihre Macht vollständig eingebüßt hatte. In dem Büro waren schmuddelige Jalousien heruntergelassen worden, um das morgendliche Sonnenlicht auszuschließen. Grebenshikov setzte sich mit dem Rücken zum Fenster hinter einen Schreibtisch, der wie ein monumentaler Steinsockel aufragte. Auf seiner Oberfläche befanden sich ein mit Tintenflecken und Kritzeleien überzogenes Löschblatt, ein Tintenfass aus Zink, ein Stifthalter und eine Waffe. Mit einem peinlich berührten Gemurmel hob Grebenshikov die Pistole auf, bevor Annat Zeit hatte, sie zu untersuchen, und ließ sie in einen ledernen Halfter gleiten, den er über der Schulter trug, sodass ihm die Waffe unter der Achselhöhle saß. Ein Schamane mit einer Waffe! Annat kannte viele kämpfende Schamanen, doch nur wenige ließen sich dazu herab, sich zu bewaffnen. Es musste bedeuten, dass Grebenshikov wenig Vertrauen in seine Fähigkeiten hatte. Zwei Sessel waren vor den Schreibtisch gerückt, und Annat ließ sich in einen davon sinken, zog ihre Füße in den Halbschuhen hoch und erntete daraufhin einen missbilligenden Blick von Yuste, die kerzengerade und steif auf der Kante des
durchgesessenen Kissens saß. Die Sessel waren mit verblasstem, durchgescheuertem Leder gepolstert, und sie stanken nach Tabak. Boris Grebenshikov lehnte sich in seinem Sessel zurück und musterte die beiden Frauen. Dann beugte er sich vor, zog eine Schreibtischschublade auf und nahm eine Zigarre heraus. Er knipste das Ende ab, steckte sie in den Mund und zündete sie mit einem Streichholz an. »Ich bitte um Entschuldigung«, sagte er. »Ich weiß, dass es als schlechte Manieren gilt, in der Anwesenheit von Damen zu rauchen, doch ich habe das Gefühl, dass es mir beim Nachdenken hilft.« »Es gibt keinen Grund, Umstände zu machen, Boris Andreyevich«, sagte Yuste. »Du weißt, dass wir keine Damen sind. Wir sind Wanderer und Schamanen wie du. Sicher weißt du, dass ich einmal eine Schamanin war.« Boris stützte sich auf den Schreibtisch und streifte die Asche von der Spitze seiner Zigarre. Er blickte Yuste direkt an. Seine Augen waren grau. Sein Gesicht hatte eine leicht gebräunte Färbung, die die Wintermonate nicht gänzlich hatten verblassen lassen können, hohe Wangenknochen und eine gewisse Breite, als ob er Halek als Vorfahren gehabt hätte. »Nimm dieses verdammte Zeichen ab, Frau«, sagte er. Yuste sah erschrocken aus, öffnete ihren Mund, als ob sie etwas erwidern wolle, und löste dann die Anstecknadel der Wanderer vom Ärmel. Boris schien sich zu entspannen. Er blies den Rauch hoch in die Luft und ließ sich in seinem Sessel zurücksinken. »Prakhash Sival hat mir letzte Nacht eine Nachricht geschickt«, sagte er. »Wenn ich richtig verstanden habe, dann wollt ihr meine Dienste in Anspruch nehmen, damit ich euch nach Axar begleite.« »Hat er dir erzählt, was unser Anliegen ist?«, fragte Yuste, während sie ihr Abzeichen in ihrem Retikül verstaute. Boris lächelte rund um die Zigarre. »Er sagte, es handele sich um eine Angelegenheit der städtischen Sicherheit«, sagte er.
»Das wissen wir noch nicht mit Gewissheit«, antwortete Yuste. »Was wir jedoch wissen, ist, dass mein Neffe in Schwierigkeiten steckt. Er ist ein Student an der Universität von Axar, doch wie meine Nichte Annat war er in der Vergangenheit in Händel der Schamanen verstrickt.« »Die Sache mit Gard Ademar, um genau zu sein«, sagte Boris und zog die Augenbrauen hoch. »Du weißt davon?«, fragte Yuste. »Ich habe damals den Bericht deines Bruders gelesen. Ich bin gerne auf dem Laufenden, was meine Freunde so treiben.« Annat brauchte keinen besonderen Sinn für Ironie, um die Untertöne zu hören. Anders als ihr Vater stand Boris Grebenshikov nicht in dem Ruf, einer der mächtigsten Schamanen der Stadt zu sein. Tatsächlich hatte sie bei all dem Klatsch und Tratsch der Schamanen, der in der Shkola kursierte, niemals etwas über ihn gehört. Yuste winkte mit der Hand. »Dann hast du mehr getan als ich, Boris Andreyevich. Ich habe seine Berichte nie gelesen. Aber ich bin auch weder eine Angestellte der Eisenbahn noch eine ihrer Agenten.« Sie hielt inne. »Du bist einer ihrer Agenten, nicht wahr?« Boris zog an seiner Zigarre. »Warum sollte die Gewerkschaft jemanden wie mich beauftragen?«, antwortete er und ließ die Frage wie Rauch durch die Luft gleiten. »Ich weiß es nicht«, sagte Yuste. »Selbst nach den fünf Jahren, die wir in der Stadt leben, gibt es noch immer Dinge, die ich herausfinde. Den größten Teil dieser Zeit habe ich ein Haus mit Sival geteilt, und noch immer durchschaue ich seine Verbindung zu den Eisenbahnern nicht völlig. Ich weiß nur, dass es ihm offenkundig gelungen ist, in bemerkenswert kurzer Zeit einen Termin für uns bei dir abzumachen. Wer sind wir denn schon?« »Yuste und Annat Vasilyevich«, sagte Boris. »Davon abgesehen weiß ich, dass Sival keine Zeit mit Nebensächlichkeiten verschwenden würde. Es mag sein, dass diese Schwierigkeiten nur deinen Neffen betreffen, aber auch dann könnte es sein, dass uns das alle was angeht.«
Er öffnete seinen Schreibtisch und zog einen Stapel Papiere heraus. Zuoberst befand sich eine bedruckte Seite mit der bunten Abbildung eines Wappenschilds. Als er es Yuste entgegenstreckte, rückte Annat näher, um einen Blick darauf zu werfen. Es zeigte einen Schild mit rotem Grund und vier schwarzen Krähenköpfen. Ein Helm mit einem hoch aufragenden Federbusch krönte den Schild, der von zwei weißen Hirschen getragen wurde. Eine Spruchrolle am Ende der Seite trug die Worte ›Seigneurs Sorel D'Ademar‹. Annats Augen trafen unwillkürlich Boris' grauen Blick. »Ich habe einige Nachforschungen angestellt«, sagte er. Annat fragte sich, ob sich der Versuch lohnen würde, sich mit ihm durch Senden auszutauschen, doch sie wusste inzwischen, dass es auf Höflichkeit zu achten galt. »Wann?«, fragte sie. »Letzte Nacht.« »Glaubst du, dass diese Leute etwas damit zu tun haben?«, fragte Yuste und studierte den Schild. »Ich denke, das ist wahrscheinlich, aber ich will keine voreiligen Schlüsse ziehen. Was zählt ist, dass ich mich entschieden habe, euren Fall zu übernehmen. Ich komme mit euch nach Axar und sehe zu, dass wir in Erfahrung bringen, ob irgendetwas hinter den Befürchtungen deines Neffen steckt.« »Und hinter meinen.« »Das ist etwas mehr als ein Zufall«, bekräftigte Boris. »Wann wollt ihr den Zug nehmen?« »Annat und ich haben gepackt und sind bereit!«, sagte Yuste und reichte ihm das Blatt zurück. »Ich werde mit euch kommen«, sagte Boris, erhob sich von seinem Sessel und streckte sich. Er zog sein Jackett über, knöpfte es zu und ging zu einem Schrank hinüber, der in der holzvertäfelten Wand versteckt war. Er nahm einen langen Mantel heraus, einen weichen Filzhut und eine Reisetasche. Yuste erhob sich, und Annat tat es ihr gleich, während sie Boris dabei zusah, wie er den Trenchcoat anzog und den Hut aufsetzte. Noch immer rauchte er seine
Zigarre. »Der nächste Zug nach Axar geht kurz nach Mittag«, sagte er. »Wenn ich die Damen solange zum Essen ausführen dürfte«, fügte er hinzu und zwinkerte Annat schelmisch hinter Yustes Rücken zu. Es waren erst einige Wochen vergangen, seitdem Yuste auf dem Gare Sankt Karl gewesen war, um ihren Bruder zu verabschieden und Annat in Empfang zu nehmen. Das war eine so andere Situation gewesen, fast festlich, und die meisten der Eisenbahner waren gekommen, um den Abgesandten nach Yonar gute Fahrt zu wünschen. Die Botschaft stand für den nächsten Schritt in dem großen Plan, die Eisenbahn weiter Richtung Norden auszudehnen, und alle wollten daran teilhaben. Die hohen Hallen des Bahnhofs waren mit roten und gelben Fahnen behängt worden, eine Blechblaskapelle spielte, und jemand hatte das polierte Metall der Lok mit weißen Bändern geschmückt. Heute zeigte der Bahnhof sein tristes, gewöhnliches Selbst und war erfüllt von Lärm, Dampf und Ruß. Reisende und Bummler bevölkerten die Bahnhofshalle, und Angehörige der Eisenbahn, strahlend in ihren roten Uniformen, schlenderten zwischen ihnen umher. Die meisten der Züge, die an den Puffern standen, waren nur für Reiseziele in kürzerer Entfernung vorgesehen. Der Schwarze Zug, der den ganzen Weg bis zum nördlichen Ende fahren sollte, war bereits ausgelaufen, und die Dächer seiner Waggons waren voller Wachen gewesen. Züge, die nicht weiter als bis nach Axar fuhren, brauchten keine solche schwerbewaffnete Begleitung, und es war üblich, dass lediglich zwei der Zugbegleiter Waffen trugen; sie würden außer Sicht der Reisenden im Dienstwagen bleiben. Während Yuste gemeinsam mit Annat und Grebenshikov auf die Tafel schaute, um herauszufinden, von welchem Bahnsteig ihr Zug abfahren würde, fühlte sie sich von ungebetenen Gefühlen heimgesucht. Vor drei Wochen hatte sie ihre besten Kleidungsstücke getragen, ein taubengraues Kleid mit einem weißen Schultertuch und ei-
ner Haube, die mit altrosa Bändern geschmückt war. Innerhalb des Bahnhofes versuchte niemand, dem Gesetz von Neustria Geltung zu verschaffen, und die Eisenbahner waren schnell dabei, Informanten und Spitzel hinauszuwerfen, die in der Halle herumlungerten, um die Unvorsichtigen zu melden. Yuste war auf eines der Trittbretter geklettert, um ihren Bruder zu küssen, und er hatte mit einem Lächeln in ihre Augen geblickt, einem Lächeln, das noch immer die Macht hatte, ihr einen Schauer über den Rücken zu jagen. Hinter ihm stand sein Geliebter, Shaka, an den Reglern und hielt seine dicken Arme über der Brust verschränkt. Es war so anders gewesen als die heutige verstohlene und angstbeladene Reise. Yuste hatte noch nie allein den Zug aus Masalyar hinaus genommen; sie eilte voran, eine Hand auf ihre schlichte Haube gepresst und mit der anderen ihre Röcke aus dem Unrat hebend, während ihre Tasche an ihrem Arm baumelte. Annat trug ihre beiden leichten Übernachtungstaschen. Yuste dachte an ihren Bruder, die Person, die sie am meisten in der Welt liebte – und hasste. Lag es an ihm, dass sie nie geheiratet hatte und treu an dem Bund ihrer Jugendzeit festhielt, der sie längst entwachsen war? Oder lag es schlicht daran, dass ihr schicksalhafter Kampf als Heranwachsende sie ebenso unfruchtbar wie machtlos zurückgelassen hatte? Ihr Bruder mochte so viele Kerben in seinem Bettpfosten haben, dass er sie kaum mehr zählen konnte, doch sie hatte keine einzige. Nachdem er seine junge Frau und die Kinder verlassen hatte, war es Yuste gewesen, die sich um Annat und Malchik gekümmert hatte, als sich ihre Mutter mehr und mehr im Wahnsinn verlor. Als Yuste krank wurde, hatten die Rebjata ihr Zuhause verlassen, um bei ihrem Vater zu leben, und das darauf folgende Jahr war eine chaotische Zeit gewesen. Die Ärzte und Schamanen, die ihre Gebärmutter entfernten, schienen die meisten ihrer Innereien entfernt zu haben, und sie war nur langsam genesen, während sie im Jardin des Plantes in einem Rollstuhl saß und lediglich Sival ihr Gesellschaft leistete. Sie hatte sich manchmal gefragt, ob etwas zwischen ihnen aufflammen würde, ein rascher Blitz der Lie-
be, doch im Laufe der Monate hatte sie begriffen, dass sie ihn als Lehrer idealisierte und ihn wie einen Vater respektierte. Es war nicht nur der Altersunterschied; die jugendliche Leidenschaft, die sie für den jungen Mann gehegt hatte, welcher kam, um sie und Yuda zu unterrichten, war über die Jahre verblasst und hatte sie ihren Frieden mit diesem guten Freund schließen lassen, mit dem sie nun niemals mehr als Zuneigung verbinden würde. Als sie fast genesen war, war ihr Bruder von seiner seltsamen Reise zurückgekehrt. Seitdem, so hatte es den Anschein, war sie immerfort beschäftigt gewesen, hatte in der Shkola gearbeitet und sechs Monate im Jahr für Annat gesorgt. Manchmal hatte sie sich danach gesehnt, die alte Verbundenheit mit ihrem Bruder aufleben zu lassen, doch die Verletzungen, die er ihr zugefügt hatte, lagen wie eine unbeantwortete Frage zwischen ihnen. Was konnte sie ihm noch vorwerfen, wo sie doch wusste, was er sich selbst für Vorwürfe machte? Sie fragte sich, ob er manchmal die Anklage in den Tiefen ihres Geistes lesen konnte, auch wenn sie sich ihrer nicht bewusst war. Sie war nicht verbittert, doch sie konnte das Wissen nicht abschütteln, dass sie noch eine Schamanin wäre, wenn er nicht gewesen wäre, und dass sie vielleicht in der Lage sein würde, Kinder zu empfangen und zu gebären. Denn wer wäre schließlich an einer alten Jungfer ohne Gebärmutter interessiert? Sie hoffte, dass Annat ihre Gedanken nicht hören konnte. Während des ganzen Lebens ihrer Nichte war Annat die Tochter gewesen, die Yuste nicht selbst bekommen konnte. Annats Mutter hatte sie nur wenige Wochen nach ihrer Geburt verstoßen, und es war Yuste gewesen, die das Kind dreizehn Jahre lang genährt und aufgezogen hatte, bis der Krebs kam. Als Annat nach der Zeit, die sie mit ihrem Vater verbracht hatte, zurückkam, schien es, als ob sich ein Abgrund zwischen ihr und Yuste aufgetan hatte. Annat hatte Yuste als ein Kind verlassen und kehrte fast schon als junge Frau zu ihr zurück. Seitdem schien sich der Abstand zwischen ihnen zu vergrößern. Annat konnte mit ihrem Vater senden, was zwischen ihr und Yuste nicht möglich war; eine Verbindung war zwischen ihnen gewachsen, die aus den Gefah-
ren herrührte, die sie geteilt hatten. Yuste hatte mit einem Gefühl der Hilflosigkeit zugesehen, wie ihre Nichte, ihr Kind, sich noch weiter von ihr entfernte und sich näher ihrem charismatischen Vater anschloss, dem sie in so vieler Hinsicht ähnelte. »Kann ich Ihnen mit den Taschen behilflich sein, Missis Vasilyevich?« Yuste blinzelte. Ein Gepäckträger mit einem Kofferwagen war näher gekommen und tippte sich an die Mütze. Als sie sein breites Grinsen sah, erkannte sie ihn; sie kannte viele der Bahnhofsbediensteten vom Sehen oder dem Namen nach. »Schönen Nachmittag, Mister Drazic«, sagte sie und erwiderte das Lächeln. »Wir haben nicht viel bei uns, aber ich wäre sehr dankbar, wenn Sie uns helfen könnten.« Während Annat die zwei Taschen auf den Kofferwagen hievte und Grebenshikov rasch seinen eigenen dazustellte, fragte Drazic: »Reisen Sie Ihrem Bruder nach, Missis? Oder ist es nur ein kurzer Ausflug an die Küste?« »Wir fahren nach Axar, um meinen Neffen zu besuchen«, sagte Yuste, als sie sich auf den Weg den Bahnsteig entlang machten. Ein Gepäckträger, der sie durch die Menge leitete, war so willkommen wie ein Bollwerk. »Er studiert dort an der Universität.« »Es ist gut, Studierte in der Familie zu haben«, sagte der Gepäckträger. »Wir hoffen, dass mein Enkel nach seinem Baccalauréat zur Universität gehen kann.« »Und wie geht es Missis Drazic?«, fragte Yuste, die ihm folgte, während er den Gepäckwagen geschickt durch die wirbelnden Füße und Räder steuerte, die ihnen den Weg versperrten. »Der geht's gut, danke, Missis. Im Sommer fahre ich zu ihr auf die Farm. Wir haben ein Stückchen Land draußen in den unbewohnten Gebieten gekauft, in der Nähe von Valens.« »Besser Sie als ich«, sagte Yuste und bereute es sofort. »Es tut mir Leid, Mister«, fügte sie rasch hinzu. »Ich habe zu lange auf dem Land gelebt. Ich bin jetzt eine Städterin.«
»Ich schätze, die Stadt ist ein bisschen besser für Wanderer, trotz der neuen Gesetze«, sagte Drazic nachdenklich. »Wenigstens weiß man, woran man ist.« Yuste seufzte. »Das ist wohl richtig, Mister«, sagte sie. »Aber das sind keine neuen Gesetze. Wir mussten sie jahrelang außerhalb der Stadt beachten. Es ist der neue Rat, der sie auch hier eingeführt hat.« Drazic beugte sich vertraulich vor. »Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wer dahinter steckt«, sagte er und warf einen Blick über seine Schulter. »Seit die Hafenarbeiter die Mehrheit im Stadtrat haben, ist nichts mehr, wie es mal war. Wir spüren es hier, das kann ich Ihnen sagen. Sogar die Front muss sich in Acht nehmen.« Die Front war der von den Eisenbahnern gewählte Führer, eine der mächtigsten Personen in Masalyar. Yuste bemerkte, wie sie Drazic mit einem Gefühl der Komplizenschaft anblickte. Auch wenn die meisten Eisenbahner wandererfreundlich waren, war sie immer darauf bedacht gewesen, das nicht vorauszusetzen. »Ich weiß nicht, warum sich das geändert hat«, sagte sie. »Jahrelang hatte es Toleranz gegeben, doch plötzlich beginnen die Franj, gegen Außenseiter zu hetzen. Nicht nur gegen Wanderer, sondern auch gegen Sklavs, Moreans, Kadegins und Sulimits.« »Zum Teil ist das richtig«, sagte Drazic und sah sie mit einer Spur von Traurigkeit von oben nach unten an. »Doch meiner Meinung nach ist das eher eine religiöse Angelegenheit. Alle Doxoi zusammen. Ein wahrer Glaube. Was immer es ist, es hat die Dinge zum Schlechten gewendet«, fügte er hinzu und warf einen Blick auf die Anstecknadel der Wanderer, die Yuste wieder an ihrem Ärmel befestigt hatte, kaum dass sie Grebenshikovs Büro verlassen hatten. Sie machten in der Nähe der Zugspitze Halt, kurz hinter der Lok und dem Wassertank, neben einem Waggon, in dem noch freie Abteile waren. »Ist es hier recht?«, fragte Drazic. »Ein bisschen rußig für manchen Geschmack.« Yuste kicherte. »Mein Bruder würde erwarten, dass ich auf dem Dach mitfahre, trotz der Unterröcke und all dem«, sagte sie. »Von
hier ab kommen Annat und ich allein mit den Taschen zurecht.« Trotz ihrer Proteste bestand Drazic darauf, ihnen die Taschen ins Abteil zu tragen und sie in dem Gepäcknetz über ihren Köpfen zu verstauen. Yuste wusste, dass er entsetzt wäre, wenn sie ihm ein Trinkgeld anbieten würde, und fühlte sich etwas unbehaglich, als Grebenshikov es stattdessen tat. »Keine Sorge«, sagte dieser, als er ihr Gesicht sah, während er sich durch die enge Abteiltür drängte. »Ich habe mit der Gewerkschaft nichts zu tun. Er hat es von mir bekommen.« »Aber es ist erniedrigend«, sagte Annat und ließ sich am Fenster nieder. Yuste setzte sich auf die Lederbank gegenüber. »Annat«, sagte sie mit einem warnenden Blick. Boris Grebenshikov antwortete nicht sofort. Er zog seinen Mantel aus, faltete ihn und legte ihn ins Gepäcknetz über ihnen, wobei er seinen Hut zualleroberst unterbrachte. Dann nahm er neben Yuste Platz. Einige Augenblicke lang sah er Annat an, bevor er erwiderte: »Er wird es nicht als Erniedrigung empfinden, wenn es von mir kommt. Er hätte verletzt sein können, wenn deine Tante versucht hätte, ihn zu bezahlen. Doch ich bin ein Niemand, ein Reisender, keiner der Eisenbahner.« »Woher weißt du das alles?«, fragte Annat und starrte ihn an. Yuste war versucht, sie noch einmal zu ermahnen, doch sie wusste, wie sinnlos das sein würde. Trotz ihrer Zeit an der Akademie hatte Annat keinerlei Sinn für Anstand entwickelt. Sie war so schroff wie je. Grebenshikov lehnte sich auf seinem Sitz zurück und streckte seine kurzen Beine aus. »Ich habe es mir zum Beruf gemacht, Dinge zu wissen, Missis«, erklärte er. »Wenn man, so wie ich es tue, in der Stadt arbeiten will, muss man alle Arten von Menschen und ihre Besonderheiten kennen. Und wie man es vermeidet, sie zu verletzen«, fügte er hinzu und warf Yuste einen Blick zu, die ihre Augen niederschlug und lächelte. Auch Annat lehnte sich in ihrem Sitz zurück. »Ich bin noch nie vorher im Innern mitgefahren«, sagte sie. »Ich war immer zusammen mit Tate oben oder bin im Führerstand ge-
wesen.« »Ich glaube kaum, dass irgendjemand auf dem Dach dieses Zuges fährt«, sagte Yuste. »Vor allem, weil er zu schnell fährt. Es gibt nur einen Halt zwischen hier und Axar. Es ist nicht wie beim Schwarzen Zug.« Annat blickte aus dem Fenster auf den Bahnsteig, wo weitere Reisende gerade einstiegen. »Ich wünschte, ich hätte nach Yonar fahren können«, sagte sie wehmütig. »Noch nie war jemand so weit nördlich.« »Das ist der Grund, warum dich Yuda nicht mitgenommen hat, Natka«, sagte Yuste. »Er weiß, dass du erst deine Ausbildung abschließen musst. Der Himmel weiß, dass du keine weiteren Fehltage gebrauchen kannst. Aber auf diese Weise habe ich wenigstens Gelegenheit zu entscheiden, was ich Madame Mireille schreiben soll.« Annat blickte Yuste stirnrunzelnd an. »Ich will dort nicht fort, Yuste«, sagte sie. »Ich habe dort Freundinnen. Sogar unter den Doxoi.« »Ich werde Madame schreiben«, sagte Yuste. »Und ich weiß, dass ihre Regeln dumm und kleinlich sind. Aber wenn du sie nicht beachtest, kannst du dort nicht zur Schule gehen.« Annat griff in ihren Umhang und zog den Gedichtband von Xelle heraus. »Eugenie hat ihn mir geschenkt«, sagte sie und hielt ihn empor, reichte ihn Yuste jedoch nicht hinüber. »Mademoiselle de Bouget?« Yuste zog die Augenbrauen hoch. »Du musst etwas finden, das du ihr zurückschenken kannst. Du solltest nicht in ihrer Schuld stehen.« »So ist es nicht!«, schrie Annat. Yuste atmete tief durch und bekämpfte ihren eigenen Ärger. »Wir sind arme Wanderer, Annat«, sagte sie. »Es wäre nicht richtig, wenn du Geschenke annehmen und sie nicht erwidern würdest. Auch wenn es Eugenie nicht wichtig ist – ich bin mir sicher, dass sie großzügig ist –, könnten andere schlecht über dich reden.« Annat senkte den Kopf und errötete, während sie auf das Buch in ihrem Schoß blickte. Yuste, die sie beobachtete, fragte sich plötz-
lich, ob vielleicht mehr als das Offenkundige dahinter steckte. Gewöhnlich wäre Annat ebenso stolz wie sie. Doch dieses Geschenk der doxoianischen Prinzessin – war es vielleicht ein Liebespfand? Yuste entschied sich, nicht weiter in ihre Nichte zu dringen. »Ich habe von Xelle gehört, aber ich kann die Sprache nicht lesen«, sagte sie sanft. »Wir lernen sie«, sagte Annat und starrte noch immer auf ihren Schoß. »Das ist auch der Grund, warum ich eine Szene aus Timur der Lahme geprobt habe.« »Das musste ich in der Schule lesen«, sagte Boris unvermittelt. »Ich fand das spannender als Lyrik.« Annat blickte auf und ihre Augen leuchteten plötzlich. »Ich liebe die Szene, in der er in Persepolis einzieht, in einem Streitwagen, der von den gefangenen Königen von Tyre und Nineveh gezogen wird«, sagte sie. Es ruckelte. Der Zug fuhr aus dem Bahnhof aus. Mit einem Gefühl der Panik ums Herz sah Yuste den Bahnsteig vorüberziehen, ein Szenario von Männern mit Zylindern oder samtenen Renaissancebérets und Frauen, die wie Puppenhälften aus ihren schweren Röcken herausragten. »Wir fahren los«, murmelte sie, doch Boris hatte begonnen, Zeilen aus dem Stück zu rezitieren. »Heda, ihr verwöhnten Weibsbilder von Asea Wie denn, könnt ihr zwanzig Meilen am Tag fahren, Und einen so stolzen Streitwagen unter euch haben, Und einen Lenker, so großartig wie Tamburlaine?« Annat fuhr fort: »Ist es nicht erhebend und prächtig, ein König zu sein Und im Triumph in Persepolis einzuziehen?« Boris kicherte. »Das ist alles, woran ich mich erinnere«, sagte er. »Es scheint, als ob du das ganze Stück auswendig gelernt hättest.« »Ich werde Timur spielen«, sagte Annat und blickte dann ebenfalls aus dem Fenster. »Falls mich Madame Mireille wieder aufnimmt.«
Fünf Stunden später lief der Zug in Axar ein. Annat spähte aus dem Fenster, denn sie wollte schauen, ob sie etwas aus der Stadt wieder erkennen würde, die sie zuletzt vor fünf Jahren besucht hatte. Damals war die Abenddämmerung schon hereingebrochen, und sie war gemeinsam mit ihrem Vater und den Wachen auf dem Zugdach gefahren. Es schien seltsam, behaglich in einem Abteil zu sitzen und heißen Chai aus einer Flasche, die Yuste mitgebracht hatte, zu nippen und Brötchen und bittere Orangen zu knabbern. Sie spürte Trauer, wenn sie an jene wilden, unsicheren Tage dachte, als sie in eine neue Welt gereist war. Abgesehen von der gestrigen Angst, die sich, wenn sie es genau betrachtete, auf nichts Düstereres als einen Vogelschwarm richtete, könnte sie nun auch mit Yuste reisen, nur um Malchik an seiner Universität zu besuchen. Lediglich die Anwesenheit von Boris Grebenshikov war seltsam, aber dieser schien so ruhig und unauffällig, dass es schwer war, in seiner Gegenwart irgendwelche Vorahnungen zu haben. Er mochte ein Schamane und ein Detektiv sein, doch es war offensichtlich, dass es für ihn nur ein weiterer Job war, und zwar einer, der ihn weder mit Begeisterung noch mit Bestürzung erfüllte. Sie passierten den Turm der Kathedrale, des Doms der Doxoi, und Annat fragte sich, ob sie dieses Mal die Möglichkeit haben würde, einen Blick hineinzuwerfen. Die Tempel in Masalyar waren übersät von überladenen, unmäßigen Verzierungen, Bildern von Heiligen und Märtyrern mit Puppengesichtern und Wandgemälden, die Szenen aus der Heiligen Schrift zeigten. Annat erinnerte sich noch immer an ihr Erstaunen, als sie begriff, dass die Doxoi nicht den Einen verehrten, sondern die Muttergöttin und den Gottessohn gemeinsam. Man sagte, dass die beiden als ewige Begleiter im Himmelreich herrschten. Annat hatte Eugenie in allen Einzelheiten darüber befragt; es war das erste Mal, dass sie eine Freundin gefunden hatte, die eine strenggläubige Doxoi war, und die beiden Mädchen hatten die Lehren ihrer jeweiligen Glaubensrichtungen mit Neugierde und einigem Gelächter verglichen. Die hohen, lohfarbenen Turmspitzen wurden golden unter der
Berührung der untergehenden Sonne, die sich in den vergoldeten Rädern auf der Spitze eines jeden Turmes brach. Auf den höchsten der Türme hatten die Baumeister des alten Imperiums den krähenden Hahn gesetzt, der Neustria symbolisierte, das sogar über der Kirche stand. »Weißt du, die Tempel in Sklava haben eine andere Form«, sagte Boris zu Annat. »Wie können sie denn anders als so aussehen?« »Die Kuppeln sind wie eine Zwiebel geformt und vergoldet oder mit mosaikartigen Ziegeln besetzt, sodass sie im Sonnenlicht glänzen. In Kyev, wo ich geboren bin, erhebt sich ein ganzer Wald von ihnen auf dem Dach von Sankt Vladimir.« »Meine Großmutter stammte aus Kyev«, sagte Annat verträumt. »Und mein Großvater kam aus Ades.« »Hört mal«, sagte Yuste. »Es wird Zeit, dass wir uns zum Aussteigen fertig machen.« Boris setzte sich in seinem Sitz zurück und warf einen Blick auf das Einwickelpapier, die Orangenschalen und die leeren Becher, die sie im Abteil verstreut hatten. »Dann sollten wir uns besser beeilen«, sagte er. Als sie aus dem Zug ausstiegen, blinzelte Annat in dem grellen Bahnhofslicht, das die Dämmerung draußen dunkler erscheinen ließ. Sie waren auf einem anderen Gleis eingelaufen als dem, auf dem der Schwarze Zug gehalten hatte. Sie, Boris und Yuste trugen je einen Koffer. Die Menschenmenge in Axar schien ernsthafter und vornehmer und bewegte sich von dem Zug aus in Richtung der Halle und der dorischen Säulen des Bahnhofseingangs. Sie war einerseits aufgeregt bei dem Gedanken daran, Malchik wieder zu sehen, andererseits aber auch etwas wehmütig, weil ihre Reise hier zu Ende war, kaum dass sie begonnen hatte. Sie warf Yuste einen Blick zu, deren Gesicht blass vor Müdigkeit war, und fragte sich, wie ihre Tante damit zufrieden sein konnte, niemals aus Masalyar herauszukommen, Jahr für Jahr. Wenn es nach Annat gegangen wäre, dann hätte sie die Sommermonate damit verbracht, mit Yuda herumzu-
reisen, und wäre den Winter über zu Hause bei Yuste geblieben, um in den kalten Monaten Unterricht zu haben. Der Gedanke an die Schule rief ihr das Bild von Eugenie in Erinnerung, und Annat fühlte einen scharfen, unerwarteten Schmerz, wie einen Stich in ihrer Seite. Es durfte nicht zu viel Zeit vergehen, ehe sie die Prinzessin von Bouget wieder sehen würde; Madame Mireille musste sie einfach wieder aufnehmen, denn Annat würde ihr alles versprechen. Sie standen nebeneinander an der Treppe draußen vor dem Bahnhof. Ein weiter, kopfsteingepflasterter Platz trennte das Gebäude von der Stadt, und Reihen von Gaslaternen waren entzündet und gaben ein kampfergrünes Licht ab. Der westliche Himmel hatte die Farbe von Wein und Aprikosen, verblasste jedoch langsam in grünliches Dämmerlicht. Einige Mietkutschen waren bis zum Fuße der Treppe gezogen worden, doch die anderen Reisenden machten sich zu Fuß auf den Weg über das Kopfsteinpflaster in Richtung einer breiten Straße, deren Lichter sich in den Abend schraubten. »Vielleicht sollten wir eine hübsche Kutsche nehmen, die uns zur Universität bringt«, sagte Yuste und blickte ängstlich auf die kleinen, schwarzen Droschken. »Das ist nicht nötig«, sagte Boris. »Es ist nur ein kurzer Weg und der Abend ist mild. Ich werde deine Tasche tragen, Madame«, fügte er mit einem kurzen Lächeln hinzu. »In diesem Fall …«, antwortete Yuste, erwiderte das Lächeln und reichte ihm ihren Koffer. Sie machten sich auf den Weg die Treppe hinunter, und Annat, die ihre Reisetasche auf den Armen transportierte, wünschte sich, sie hätte einen Rucksack mitgenommen. Sie lief ihnen etwas voraus und folgte den lockenden Lichtern der Hauptstraße. Kurz flackerte ein Schuldgefühl in ihr auf, als sie bemerkte, wie froh sie darüber war, dass nur Yuste auf sie Acht gab. Yuda hätte voller Selbstvertrauen die Führung übernommen, doch hier war es Annat, die voranging, während ihr die anderen folgten. Sie blickte von einer Seite zur anderen, die hohen Häuser mit den verschlossenen Fensterläden empor, und erhaschte hier und dort einen Lichtschein, der durch die Ritzen fiel oder ein verziertes Gitter-
fenster schimmern ließ, oder eine groteske Fratze, die eine Eingangstür krönte. Die staubige Straße führte zu einer Kreuzung, einem Carrefour, und Annat hielt an, denn sie wusste, dass sie ohne Anweisungen von Boris nicht weiter konnte. In der Mitte erhob sich ein dunkler Springbrunnen, und aus den Mündern von Delphinen sprudelte Wasser, das im Niederregnen das Licht einfing. Große Laternen standen an jeder Ecke und warfen zusammenlaufende Strahlen rauchiger Helligkeit in den Himmel. Annat sah zu der Stelle empor, hoch über dem Springbrunnen, an dem sich die Lichtsäulen trafen, und hielt den Atem an. Wo sich die Lichtstrahlen kreuzten, zeichnete sich darüber ein dunkler Schatten ab, und von ihrem Standpunkt aus schien er eine klar umrissene Gestalt anzunehmen: Es war der Schatten einer Krähe. Annat wirbelte herum, um Yuste und Boris anzusehen, und fragte sich, ob sie ebenfalls etwas bemerkt hatten, doch sie waren in ein Gespräch versunken. Als sie sich wieder umwandte, war der Schatten noch immer da, klar und unheilvoll, als ob jemand ihr eine Warnung hinterlassen hätte. In ihrem Herzen wusste sie, dass die Bedrohung von Ademar sich ausbreitete: Sie hatte die Ausläufer in Masalyar gesehen, doch hier hatte sie sich bereits verankert. Ein Einfall stand bevor, der ihre gesamte Welt bedrohen würde. Sie war froh, als sie sich in den schützenden Mauern der Universität wiederfand. Ihre Umrisse waren ebenso leicht zu erkennen wie die eines Domes: Spitze Türme erhoben sich vom Scheitelpunkt der Dächer, jeder war dicht mit Farnbüscheln besetzt; Wasserspeier hingen tief über der Straße und bedrohten die Vorübergehenden mit ihren Mündern, und der schwarze Rumpf des Uhrenturmes überschattete den Mond. Den Eingang bildete ein doppeltoriger Durchbruch in der Mauer, und Boris näherte sich als Erster, um mit dem bronzenen Türklopfer an das Holz zu pochen. Das Geräusch klang wie ein Pistolenschuss, und Yuste zuckte zusammen. »Diese Orte haben Regeln, was Frauen betrifft«, sagte Boris vertraulich, während sie warteten. »Ich übernehme besser das Reden.«
»Ich bin die Tante des Jungen, um Zyons willen!«, sagte Yuste. »Vertrau mir«, sagte Boris. Eine kleine Luke, die in die massive Holztür eingelassen war, öffnete sich, und ein Mann blickte heraus. Er trug einen schwarzen Umhang über seinem Anzug und eine Melone, was einen wenig stimmigen Eindruck hinterließ. Boris nahm seinen eigenen Hut ab und sagte in akzentfreiem Franj: »Guten Abend. Wir würden gerne den Studenten Malchik Vasilyevich besuchen. Mein Name ist Grebenshikov, und dies sind seine Tante und seine Schwester.« Der Portier warf Annat und Yuste einen missbilligenden Blick zu. »Es ist üblich, vorher zu schreiben und um eine Besuchserlaubnis zu bitten«, sagte er. Yuste trat nach vorn und fixierte ihn mit ihrem braunen Blick. »Dies ist ein Notfall«, sagte sie. »Mein Neffe ist in Schwierigkeiten. Es war keine Zeit zu schreiben.« »Ich habe nichts von irgendwelchen Schwierigkeiten gehört«, sagte der Mann. »Ich habe einen Brief von Malchik erhalten«, sagte Yuste. »Aber ich wüsste nicht, warum ich ihn Ihnen zeigen sollte. Ich bin seine Tante und ich bestehe darauf, hereingelassen zu werden. Wenn Sie mir nicht glauben, wären Sie dann so freundlich, mich zu den Räumlichkeiten des Rektors zu führen?« Annat fühlte eher, als dass sie es hörte, wie Boris zurückschreckte. Er streckte seine Hand aus, als wolle er Yuste davon abhalten, sich auf den Portier zu stürzen, und sagte: »Die Damen hatten eine lange Reise und sind müde. Vielleicht wäre es besser, wenn wir diese Unterhaltung drinnen weiterführten.« »Ich will nicht, dass jemand eine Szene macht«, sagte der Portier, und es war offensichtlich, dass er glaubte, Yuste hätte genau das vor. Boris packte Yuste am Arm, wenn auch mit sanfter Hand; Annat konnte sehen, wie ihre Tante versuchte, sich dem Griff wieder zu entwinden, ohne dass es jemand bemerkte. »Wir haben nicht vor, eine Szene zu machen, wie Sie es ausdrücken«, sagte er. »Aber es ist spät, wir haben nicht zu Abend geges-
sen und wir wären froh über eine Möglichkeit, uns hinzusetzen.« »Dann kommen Sie besser herein«, sagte der Portier und öffnete die Tür. Boris geleitete erst Yuste über die Schwelle, dann Annat; sie glaubte, dass er in sich hineinlachte. Als sie eingetreten waren, stellten sie fest, dass sie sich im Eingangsbereich neben der Portiersloge befanden und auf massiven Steinplatten standen. Weiter hinten öffnete sich ein kühler, dunkler Hof mit einigen vereinzelten Fenstern, die von innen erleuchtet waren. Der Portier nutzte die Gelegenheit, sie alle im Licht, das aus den Fenstern des Pförtnerhauses drang, eingehend zu betrachten. »Wanderer«, sagte er, als wäre dies ein Vorwurf. »Sie können nicht hier wohnen; Frauen ist es nicht erlaubt, auf dem Boden der Universität zu übernachten.« Bevor Yuste etwas sagen konnte, erwiderte Boris: »Ich nehme an, dass es hier in der Nähe Quartiere gibt, in denen weibliche Angehörige nächtigen können?« »Die beiden können es bei Madame Charbon versuchen«, sagte der Portier grimmig. »Aber Sie werden hier bleiben müssen. Sie nimmt keine unverheirateten Männer auf.« Boris wandte sich zu Yuste. Bevor er sprach, seufzte er. »Es scheint, als ob wir uns trennen müssten …«, setzte er an, doch sie ließ ihn nicht ausreden. »Mach dir keine Gedanken. Werde ich meinen Neffen heute Abend noch sehen oder nicht?« Der Portier sah sie aus seinen kleinen, farblosen Augen an. Sein Mund war von einem Netz bitterer Linien umgeben, als ob er noch niemals gelächelt hätte. Yuste starrte zurück, und ihre Finger umklammerten ihre Handtasche. Es war der Portier, der zuerst einlenkte. »Sie finden ihn auf der anderen Seite des Hofes, die Treppe zu den Studenten hoch«, sagte er. »Zweiter Stock. Ihre Namen stehen über der Tür.« »Ich gehe davon aus, dass wir unsere Taschen hier lassen können!«, sagte Boris. Der Portier warf ihm einen Blick zu, als wollte er
Einwände erheben, doch er schien den Willen verloren zu haben, weitere Widrigkeiten zu erfinden. »Wenn Sie nicht von mir erwarten, auf sie Acht zu geben«, antwortete er. Yuste hastete nach draußen auf den Hof, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen, und Boris und Annat gingen ihr nach. »Deine Tante ist eine starke Frau, Missis«, sagte er. Annat dachte nicht nach, ehe sie antwortete: »Mit solchem Kram muss sie die ganze Zeit klarkommen.« Boris antwortete nicht, doch sie fühlte, wie er sie mit der Eindringlichkeit eines Schamanen beobachtete. Mit der angelernten Aufmerksamkeit, die alle Schamanen an den Tag legten, wenn sie auf einen Fremden ihres eigenen Schlages trafen. Annat wusste – und in dieser Hinsicht war sie altmodisch –, dass man von ihr als junger, weiblicher Schamanin nicht erwartete, den ersten Schritt zu tun, um Boris zum Senden aufzufordern. Selbst ihr Vater beachtete diese Höflichkeitsformen, die sich herausgebildet hatten, um Schamanen untereinander zu schützen. Sie würde warten müssen, bis Boris Grebenshikov ihr einen Gedanken schickte, und in Anbetracht ihres Alters und Geschlechts war es wahrscheinlich, dass er sich Zeit lassen würde, sogar noch mehr als ein Frummer wie Dani. Wenn sie keine Schamanen wären, hätte sie solche Zurückhaltung verärgert, doch sie hatte bereits einige Erfahrungen damit gemacht, was ein feindlicher Geist anrichten konnte. Sie fühlte sich beruhigt, weil Boris Grebenshikov keine Eile an den Tag legte, damit zu beginnen, ihre Gedanken zu teilen. Sie trafen auf Yuste, die vor der Tür zu einer schwach erleuchteten Treppe wartete. Als sie sie näher kommen hörte, wirbelte sie herum und fragte: »Ist das die Richtige?« »Mir scheint es so«, sagte Boris. Nach einem kleinen Zögern fügte er hinzu: »Willst du, dass ich vorgehe? Der alte Kerl sagte, dass Malchik im zweiten Stock wohne.« »Danke für deine Freundlichkeit, Boris Andreyevich, aber ich werde vorangehen«, sagte Yuste. »Ich habe von Malchik nichts zu be-
fürchten.« Sie eilte durch die Tür und begann, die Holztreppe emporzusteigen; ihre Röcke raschelten um sie herum. Selbst in solchen unhandlichen Kleidungsstücken konnte sie sich noch immer rasch und anmutig bewegen. Annat und Boris folgten ihr, und zusammen verursachten ihre Füße einen großen Lärm, als sie die Holzstufen erklommen. Gemeinsam machten sie auf dem zweiten Absatz Halt, wo zwei Türen einander gegenüberlagen. Über der Tür zu ihrer Linken befand sich ein sauberes Schild, auf dem in flüssiger Handschrift Malchiks Name zu lesen war. Yuste holte Luft, machte einen Schritt nach vorne und klopfte fest an die Tür. Alle drei standen in törichtem Schweigen beieinander und warteten auf das Geräusch von Schritten, das Rattern von Riegeln und das Öffnen der Tür. Stattdessen hörten sie eine Stille, die langsam in das Murmeln des Gebäudes überging, in das Füßescharren über ihnen, das entfernte Zuschlagen von Türen, Stimmen, die riefen und lachten. Nach einer Weile sagte Boris Grebenshikov: »Sieht aus, als wäre er nicht da.« »Er kann nicht ausgegangen sein«, sagte Yuste. Noch einmal pochte sie mit den Fingerknöcheln an die Tür, und das Holz hallte nach wie bei einer hohlen Kiste. Annat sah das Stirnrunzeln auf dem Gesicht ihrer Tante. »Er muss drin sein«, sagte Yuste. Mit erhobener Stimme rief sie: »Malchik! Hier ist Tante Yuste. Mach die Tür auf!« Boris versenkte die Hände in den Taschen seines Mantels. »Studenten gehen aus«, sagte er. »Hältst du mich für eine Närrin, Boris Andreyevich?«, fragte Yuste. »Du hast doch den Brief gesehen. Ich glaube nicht, dass Malchik ausgeht, um sich zu amüsieren.« Hinter ihnen gab es ein Geräusch, und die gegenüberliegende Tür wurde aufgestoßen. Der junge Mann, der heraustrat, war groß und dunkelhaarig, doch es war seine Kleidung, die zuerst Annats Aufmerksamkeit auf sich zog. Er trug eine dunkelgrüne, samtene Jacke, Kniebundhosen über Seidenstrümpfen, ein sehr steifes Halstuch und ein samtenes Barett. Einen Moment lang war sie von diesem
Anblick so verblüfft, dass sie den Mann in der Kleidung nicht erkannte, bis er einen Schritt auf sie zu machte, die Hände in einer unsicheren Geste ausgestreckt. »Annat, bist du das?«, fragte er. Es war die Stimme, die die Erinnerung in Annat wachrief. Vier Jahre hatten ihm eine größere Selbstsicherheit verliehen, und er war weit entfernt von dem blassen, ängstlichen Jugendlichen, den sie gekannt hatte, wie sie sofort im schwachen Schein des Kerzenlichts sehen konnte. »Cluny!«, schrie sie und warf sich ihm entgegen, die Arme um seinen Hals geschlungen. Cluny umarmte sie heftig und hob sie von den Füßen. »Ich bin so froh, dich zu sehen!«, schluchzte sie erstickt an seiner Schulter. Als er sie absetzte, näherte sich Yuste, die Stirn in tiefen Falten. Auch wenn sie nicht an schickliches Verhalten glaubte, so wollte sie doch, dass Annat die Regeln in der Öffentlichkeit beachtete. »Annat. Wer ist dieser junge Mann?«, sagte sie. Annat grinste Cluny an. Nichts konnte diesen Augenblick der reinen Freude trüben. »Tante, dies ist Cluny Sorel d'Ademar«, sagte sie und war sich der Wirkung ihrer Worte wohl bewusst. »Er hat mir das Leben gerettet.«
Kapitel 4
A
nnat schämte sich ein wenig, als sie sah, wie ihre Tante bei der Nennung von Clunys Namen bleich wurde. »Ademar!«, rief sie. »Meinst du damit, dass er von den Ademars abstammt?« »Er ist der uneheliche Sohn des Doyen. Aber er hat uns alle gerettet. Er half uns zu fliehen. Und ich hatte befürchtet, sie könnten ihm etwas angetan haben.« Annat bemerkte, dass sie Clunys Hand
in ihrer eigenen hielt. Sie blickte zu ihm auf und lächelte. »Wenn Cluny nicht gewesen wäre, wäre ich jetzt tot.« »Vielleicht kann uns dann … dieser junge Mann auch berichten, wo sich Malchik befindet. Und was es mit diesen Krähen-Geschichten auf sich hat«, sagte Yuste. Ihr Gesicht sah abgespannt und müde aus, als habe ein Radiergummi alle Farbe entfernt. Boris schien dies früher aufzufallen als den anderen und er trat hinter sie und ergriff ihren Arm. Dieses Mal schüttelte ihn Yuste nicht ab. »Monsieur«, sagte Boris mit einem schwachen Lächeln, »diese Damen hatten eine lange Reise und haben eine Art Schock erlitten. Der Portier war nicht sehr einladend. Gibt es hier eine Möglichkeit, wo sich Madame Vasilyevich hinsetzen könnte?« Cluny löste seine Hand aus Annats. »Aber natürlich! Wie nachlässig von mir«, sagte er mit ehrlicher Bestürzung. »Ihr müsst mir in meine Räume folgen. Ich nehme an, eure Taschen befinden sich noch immer in der Pförtnerloge. Ich werde meinen Burschen bitten, sich darum zu kümmern, dass sie hochgeschickt werden.« Boris räusperte sich. »Der Portier teilte uns mit, dass es Damen nicht erlaubt sei, innerhalb des Colleges zu nächtigen«, sagte er. Cluny lachte. »Das sagt er immer. Er glaubt, alle Frauen seien Handlangerinnen des Teufels. Es gibt nichts, was Tanten und Schwestern davon abhalten könnte, über Nacht zu bleiben. Außerdem werden alle Arten von Frauen hier eingeschmuggelt, und nicht alle davon können als Damen bezeichnet werden.« Yuste brachte genügend Kraft auf, um zu erwidern: »Ich habe nie darum gebeten, als Dame angeredet zu werden. Ich bin eine Wanderin und Frau ist als Bezeichnung gut genug für mich.« »Ich glaube genauso wenig, dass Clement besonders angetan von Wanderinnen ist«, sagte Cluny mitleidig. »Aber sogar der Rektor fürchtet sich vor ihm. Ihr seid herzlich eingeladen, hier die Nacht zu verbringen.« »Aber wo ist Malchik?«, fragte Yuste. Der junge Mann sah unbehaglich drein. »Ich bin mir nicht sicher«, sagte er. »Aber wir können darüber reden, wenn ihr es euch
gemütlich gemacht habt und Planchet euch etwas Kava bereitet hat – oder Chai, wenn ihr das vorzieht.« »Was meinen Sie damit, Sie sind sich nicht sicher?«, fragte Yuste. Boris unterbrach sie. »Lass uns tun, was Monsieur d'Ademar vorschlägt, Missis«, sagte er. »Ich selbst nehme sehr gerne einen Kava. Oder etwas Stärkeres, wenn Sie haben«, fügte er hinzu. Hinter dem schweren Vorhang vor dem Eingang war Clunys Wohnzimmer behaglich eingerichtet und unerwartet aufgeräumt. Es gab eine samtgepolsterte Chaiselongue, eine Reihe von ledernen Sesseln und einen bauchigen, überladenen Diwan, auf dem sich Kissen und Polster türmten. Annat bemerkte die Staffelei, die neben den Fenstern mit den geschlossenen Läden stand und auf der sich eine Leinwand befand. An der gegenüberliegenden Wand gab es zwei holzvertäfelte Türen, von denen Cluny eine öffnete, um nach seinem Diener zu rufen. Während Boris Yuste zu der Chaiselongue geleitete, ging Annat zu dem jungen Mann hinüber, weil sie neugierig war, was sich hinter der Innentür befand. Doch sie war nicht rasch genug; ein kleiner Mann mit eisengrauem Haar und der Haltung eines Soldaten trat heraus. Er trug ein weißes Hemd, eine schwarze Weste mit einer schwarzen Krawatte und einen Stehkragen; seine Hose war aus dem gleichen dunklen Sergestoff gefertigt. Er warf Annat einen misstrauischen Blick zu. »Planchet«, sagte Cluny ohne jede Spur von Herablassung. »Ich habe Gäste. Alte Freunde. Wärst du wohl so freundlich, uns etwas Kava zuzubereiten? Und ich glaube, der Gentleman trinkt ein Glas Whisky.« »Sehr wohl, Messire«, sagte der Mann. Annat fragte sich, ob er ebenfalls aus der Burg Ademar stammte und ob er ein Verbündeter Clunys war oder jemand, den der Doyen geschickt hatte, um seinen Bastardsohn zu bespitzeln. Als er wieder in dem Innenraum verschwunden war, wandte sich Cluny zu Annat um und sagte: »Planchet ist ein alter Gefolgsmann der Familie. Aber er ist mein Diener und nicht der meines Vaters. Er hat sich um mich gekümmert, seit
ich ein kleiner Junge und meinem Kindermädchen entwachsen war. Und er stand immer auf meiner Seite.« Annat antwortete ihm mit einem Lächeln. »Du bist gewachsen«, bemerkte Cluny und errötete. »Wie geht es deinem Vater?« Ihr Lächeln erstarb. »Du weißt, dass er … Sarl getötet hat.« »Natürlich.« Cluny wich ihrem Blick nicht aus. »Ich fürchte, dass es das Beste war. Das sollte ich natürlich nicht sagen. Und es hat meinen Vater zerstört. Aber ich glaube kaum, dass er mich hätte gehen lassen, wenn dies nicht geschehen wäre.« »Es tut mir … Leid«, sagte Annat. »Das muss es nicht. Merkwürdige Zeiten, nicht wahr? Sieh uns heute an. Setz dich. Du musst auch müde sein.« »Bin ich nicht«, sagte Annat. »Haben sie dich nicht dafür bestraft, dass du uns geholfen hast?« Während sie sich in Bewegung setzten, um sich wieder zu den anderen zu gesellen, antwortete Cluny: »In dem darauf folgenden Chaos nach dem Tod meines Bruders haben sie es nie herausgefunden. Ansonsten glaube ich auch nicht, dass ich noch am Leben wäre, um dir davon zu berichten.« Er lächelte kurz und freudlos. »Du weißt, dass mein Vater kein Mann der Vergebung ist.« Annat überlief ein kurzer Schauer. Wie könnte sie den Doyen von Ademar vergessen, der sie dazu verurteilt hatte, auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen? Sie berührte Clunys Handgelenk und sagte so leise, dass die anderen es nicht hören konnten: »Ich habe die Krähen wieder gesehen, Cluny. Sie sind zurück.« »Ich weiß«, antwortete er und tätschelte ihre Hand. »Dein Bruder spricht von wenig anderem. Das Problem ist, Annat, dass er verschwunden ist.« Sie blickte ihn eine Weile an. »Bist du sicher?« »Ich habe ihn seit zwei Tagen nicht mehr gesehen. Gestern habe ich dem Direktor davon berichtet.« Er warf Yuste und Boris einen Blick zu, denn ihm wurde bewusst, dass sie ihm inzwischen zuhörten. »Ich meine, ein Tag schien noch nicht so sonderbar,
doch als ich gestern Morgen in sein Zimmer ging … Nichts war angetastet, er hatte seine Taschen nicht gepackt und auch keine Wäsche zum Wechseln mitgenommen. Er war einfach nicht mehr dort. Es tut mir Leid«, fügte er hinzu, als Yuste ihre Augen mit der Hand bedeckte. »Es sieht Malchik so gar nicht ähnlich, einfach ohne ein Wort zu irgendjemandem fortzugehen«, sagte sie. »Er war immer ein so verantwortungsvoller Junge – wenn auch sorglos, manchmal. Waren Sie sein Freund?« Cluny setzte sich auf den Diwan auf der gegenüberliegenden Seite, und Annat kauerte sich in einem der Ledersessel zusammen. »Ja, wir waren Freunde«, sagte er. »Ich glaube fest, er hätte es mir erzählt, wenn er irgendwohin gewollt hätte. Da bin ich mir sicher.« »Aber er war verwirrt und in Aufruhr.« »Nun ja, er war in Panik wegen der Krähen. Es waren mehr als nur ein paar Krähen. Ich glaube, Sie werden mir zustimmen, dass es ungewöhnlich ist, Krähen in einer solch riesigen Anzahl zu sehen. Es erinnerte mich daran, dass es den Anschein gehabt hatte, mein Bruder könne über sie gebieten. Ich denke, Sie werden wissen, dass sich die Krähen in dem Wappen unseres Hauses befinden?« Boris nickte. »Nun ja, Malchik schien zu glauben, dass sie ein Omen sind. Eine Warnung.« Er hielt wiederum inne und blickte auf seine Hände. »Nicht sehr wahrscheinlich, wie Sie zugeben werden«, sagte Boris und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Cluny blickte von ihm zu Yuste und zurück. »Ich glaube inzwischen sagen zu können, dass ich Malchik recht gut kenne«, bemerkte er. »Auch wenn ich erst zu Beginn des letzten Semesters hierher kam, ist es doch so, als ob wir uns schon unser ganzes Leben lang kennen würden. Und er ist sensibel gegenüber Dingen, die andere Leute nicht wahrnehmen. Er ist kein wirklicher … Schamane, doch er bekommt Dinge mit. Ich habe ihn noch nie so verängstigt gesehen.« »Er schreibt mir häufig, doch er hat noch nie Ihren Namen er-
wähnt«, sagte Yuste. »Es sei denn, Sie sind derjenige, den er seinen Bon Copain nennt.« »Damit dürfte ich gemeint sein«, sagte Cluny und sah verlegen aus. »Ich nehme an, er wollte, dass Sie mich kennen lernen, bevor er Ihnen verrät, wer ich bin. Les Ademars waren nicht sehr freundlich Ihrer Familie gegenüber. Was noch untertrieben ist«, fügte er hinzu und knetete seine Hände, eine Geste, die Annat an ihren Bruder erinnerte. »Aber wohin könnte Malchik gegangen sein?«, fragte Yuste. »War er geistig verwirrt? Er schickte mir einen Brief, der beinahe von Wahnsinn zu zeugen schien.« »Er hatte furchtbare Angst«, sagte Cluny. »Das Seltsame ist, dass er sich wieder beruhigt zu haben schien. Wir saßen bis spät nachts zusammen, tranken und besprachen, was zu tun sei. Am nächsten Morgen war er verschwunden. Ich glaube, wenn ich von dem Brief gewusst hätte, hätte ich ihm geraten, ihn zu zerreißen und eine etwas … weniger farbenprächtige Schilderung abzuschicken. Aber mehr weiß ich nicht. Ich schätze, es wäre besser, wenn ich Sie zum Direktor des Colleges bringe.« Während er sprach, war Planchet mit einem Zinntablett zurückgekehrt, auf dem sich zwei zierliche Kava-Becher und zwei Gläser Whisky befanden. Yuste nahm ihren Kava und sagte: »Ich würde gerne zuerst Malchiks Räume sehen. Ich kann mir nicht vorstellen, warum er weggelaufen sein sollte. Es sei denn, jemand hat ihn entführt.« »Es gab keinerlei Anzeichen eines Kampfes. Und ich bin mir sicher, dass Planchet oder ich etwas gehört hätten«, sagte Cluny. »Es scheint eher, als wäre er mitten in der Nacht aufgestanden und hinausgegangen. Nur dass es keine Möglichkeit gab, wo er hätte hingehen können. Die Tore des Colleges sind ab zehn Uhr geschlossen, und Malchik ist nicht der Typ, der hinausgeklettert wäre. Nicht aus einem Fenster im zweiten Stock.« »Wurde das College durchsucht?«, fragte Yuste und nippte an ihrem Kava. Annat spähte in ihre Tasse und war erstaunt über die
Dunkelheit des Getränks darin. Offenbar hatte Planchet es stark zubereitet. Cluny nickte. »Der Direktor hat es gestern in der Halle bekannt gegeben«, sagte er. »Sie haben überall nachgesehen, sogar in den Kellern.« »Überall?«, fragte Boris und hob die Augenbrauen. »Ich gebe zu, dass es wohl einige Plätze gibt, an denen sich jemand verstecken könnte«, sagte Cluny. »Der Direktor kennt nicht alle, aber wir – die Studenten – haben sorgfältig überprüft, ob er sich irgendwo dort verbirgt.« »Aber es muss doch Wege hinein und hinaus aus dem College geben, die nicht durch das Tor führen. Sie sind Studenten. Erzählen Sie mir nicht, dass Sie zu viel Ehrfurcht vor Clement haben, um nicht hin und wieder auszubrechen«, sagte Boris. »Natürlich«, antwortete Cluny. »Aber diese Wege verlangen die Art von Kletterei, die Malchik nicht bewältigen kann. Glauben Sie mir, er hat es versucht. Das College ist wie eine Festung gebaut, und die meisten Fluchtwege führen über das Dach. Davon wird ihm schwindelig.« »Ich glaube, Sie sollten uns jetzt besser seine Räume zeigen«, sagte Boris. »Haben Sie sie offen oder verschlossen vorgefunden?« »Sie waren offen«, sagte Cluny. »Aber Malchik verschließt seine Tür nur, wenn er ausgeht. Das machen wir alle so. Es sei denn, wir wollen ungestört bleiben«, fügte er hinzu und blickte zu Boden. Boris erhob sich und schüttete seinen Whisky hinunter. Dann zog er seinen Mantel aus und setzte seinen Hut ab. »Ist es sicher, sie hier zu lassen?«, fragte er. »Völlig sicher«, antwortete Cluny. Er stand auf, lächelte und setzte ebenfalls seinen Hut ab. »Es tut gut, weniger förmlich zu sein«, sagte er mit seinem schüchternen Charme. »Ich werde jetzt Planchet schicken, um Ihre Taschen aus der Pförtnerloge zu holen.« Er ging zur Chaiselongue hinüber und bot Yuste seinen Arm an. »Geht es Ihnen wieder gut genug, um uns zu begleiten, Madame?« Yuste legte ihre Hand auf sein Handgelenk, lächelte und vermoch-
te es mit ein wenig Hilfe, sich von der Couch zu erheben. »Ich bin nicht so schwach, wie es den Anschein hat, Cluny«, sagte sie. »Bitte nenn mich Yuste. Ich bin es nicht gewohnt, dass mich Leute mit Madame ansprechen – vom Bäcker mal abgesehen. Aber wenn du mir ein Brot verkaufen möchtest …« »Das wohl nicht«, sagte Cluny strahlend. »Ich werde mich glücklich schätzen, dich Yuste nennen zu dürfen, Madame – wenn ich daran denke«, fügte er eilig hinzu. Mit Boris an der Spitze schritten sie über den Treppenabsatz, Yuste auf Clunys Arm gestützt. Annat folgte ihnen und versuchte, ihre besonderen Sinne heraufzubeschwören. Wie Malchik war sie sensibel gegenüber allem Sonderbaren, doch im Moment konnte sie nichts spüren. Boris zögerte auf der Türschwelle und untersuchte die Tür sorgfältig, wobei er seine Finger an den Rändern entlanglaufen ließ. Als er sie schließlich öffnete, wiederholte er die Prozedur mit der Innentür, während die anderen abwarteten, bis er fertig war. »Ich suche nach Fäden, Haaren, Kleidungsfetzen«, sagte er. Der Raum dahinter war das Spiegelbild zu Clunys Zimmer, was den Schnitt anbelangte, doch er war weitaus spärlicher eingerichtet. Ein Ledersessel unter dem Fenster sah aus, als sei er von Cluny ausgeborgt worden. Daneben standen ein geschmackvoller Schreibtisch aus schlichtem Holz, auf dem sich Papier und Bücher türmten, und ein Stuhl mit geschwungener Rückenlehne. In der Mitte des Raumes befand sich ein Tisch, der von einem Sammelsurium an billigen Stühlen umgeben war und auf dem ein Teller mit einem halb verzehrten, schimmelnden Croissant stand. Einige Hinweise auf Malchiks Wanderer-Glauben waren über den Tisch verstreut – ein Kerzenhalter mit zur Hälfte niedergebrannten Kerzen vom letzten Königstag, ein angelaufenes, silbernes Gewürzkästchen von zu Hause und ein sorgfältig gefalteter Gebetsschal. Ein Leinentuch bedeckte den Boden, der mit zusammengeknüllten Papierbällen übersät war, und eine Hose baumelte von einem der Stühle hinab. »Herrscht hier immer ein solches Durcheinander?«, fragte Yuste Cluny.
»Ich fürchte schon. Malchik hat keinen Diener, der sich um ihn kümmert, wie es bei mir der Fall ist. Planchet hat ihm angeboten, ihm zu helfen, doch das wollte er nicht annehmen. Die Aufwärter kommen natürlich jeden Tag, um die Betten zu machen und unsere Wäsche abzuholen.« Annat betrachtete die Bilder, die an die Wand geheftet waren. Natürlich gab es die Mizrach an der Seite, die nach Osten weisen musste, um Malchik zu zeigen, wohin er das Gesicht zu wenden hatte, wenn er seine Gebete sprach. Die übrigen waren sorgfältig gefärbte Drucke, von denen einer eine völlig nackte Frauengestalt zeigte. Eines von Clunys seltsamen Bildern hing über dem Kamin und war leicht zu erkennen, weil es aussah, als ob er versucht hätte, ein Eikon anzufertigen, eine eindimensionale Studie ohne Perspektive und mit stilisierten Bäumen. Im Hintergrund erhob sich ein Berg drohend über grünen Feldern, auf denen seltsame Tiere grasten. »Cluny, was ist das?«, fragte sie. Cluny gesellte sich zu ihr und betrachtete seine eigene Arbeit. »Interessant, nicht wahr?«, sagte er. »Ich habe eigentlich gehofft, dass du mir sagen könntest, was es zu bedeuten hat. Malchik hatte lebendige Träume, und dieser hat einen tiefen Eindruck bei ihm hinterlassen. Deshalb habe ich versucht, ihn zu malen. Ich bin kein Kunststudent«, fügte er eilig hinzu. »Ich studiere Geisteswissenschaften, genau wie Malchik.« »Er hat mir gegenüber niemals etwas in der Art erwähnt«, sagte Annat. »Es ist ein wunderschönes Bild.« »Danke«, sagte Cluny und blickte zu Boden. »Seit ich im Museum war und wirkliche Maler gesehen habe, finde ich meine Arbeit recht altmodisch. Aber ich beherrsche keinen anderen Stil.« Boris durchquerte den Raum, faltete einen der Papierbälle auseinander und las. Yuste stand mit der Hand auf der Klinke vor der Tür zum Innenzimmer. »Ist dies Malchiks Schlafzimmer?«, fragte sie. »Er schläft dort«, sagte Cluny. »Der andere Raum wird als Vorratsraum benutzt – von uns beiden, denn Planchet bewohnt mein
anderes Zimmer.« Yuste drückte die Klinke und betrat den inneren Raum, der nicht erleuchtet war. Es schien, als seien alle Quartiere der Studenten mit Strom versorgt, auch wenn Clunys Räume von Öllampen erleuchtet worden waren. Yuste drehte an dem Schalter an der Wand, und in der Mitte ging eine einzelne Glühlampe an, die von der Decke baumelte. Dies musste bedeuten, dass das College einen eigenen, dampfangetriebenen Generator besaß, überlegte Annat; solche Dinge waren ungewöhnlich außerhalb der wohlhabenderen Gebiete von Masalyar. Sie blinzelte in dem seltsamen, künstlichen Licht und folgte Yuste, als sie sich dem Bett näherte. Die beiden Quadratischen Kopfkissen zeigten keine Abdrücke, und die Laken waren sorgfältig unter der Matratze festgesteckt. Die Vorhänge waren zurückgezogen, und es war keine Spur von der Unordnung im äußeren Zimmer zu bemerken. Ein kleiner Ankleidetisch stand neben dem Fenster, auf dem sich ein Wasserkrug, eine Schale und ein Rasiermesser befanden; Yuste öffnete die Tür zu dem großen Schrank und blickte hinein auf die ordentlichen Reihen von Hemden, gestärkten Kragen und sorgfältig gebügelten Hosen. Auf dem Boden des Schrankes waren Schuhpaare aufgereiht, und in einer Vielzahl von Schubladen waren Socken und Unterhosen verstaut. Yuste schloss die Tür, seufzte und betrachtete ihr Bild in dem großen Spiegel, der an der Außentür angebracht war. Sie löste die Bänder ihrer Haube und nestelte an ihrem Haar herum, während Annat neben ihr stand und ihren eigenen Widerschein in dem unfreundlichen Licht der nackten Glühlampe ansah. Yuste wandte sich mit einem Lächeln zu ihr um, das die Furchen ihrer Müdigkeit zum Vorschein brachte. Mit sanfter Hand berührte sie Annats Wange. »Du musst dir keine Sorgen wegen deines Aussehens machen, Natka«, sagte sie. Annat schämte sich. Yuste hatte ihre Gedanken gehört, und während sie sich Sorgen wegen Malchiks Verschwinden machen sollte, hatte sie ihr eigenes Aussehen betrachtet.
»Es tut mir Leid, Tante«, sagte sie. Sie war inzwischen etwas größer als ihre Tante geworden. Yustes Lächeln verbreiterte sich. »Sag mir, dass ich nicht so verwelkt bin, wie ich aussehe«, sagte sie. »Wenn dies die Macht der Elektrizität ist, dann bin ich zufrieden mit Kerzen und Öl.« »Ich muss wissen, wo er ist«, sagte Annat. Bevor Yuste antworten konnte, steckte Cluny seinen Kopf durch die Tür. »Ich hätte erwähnen sollen, dass wir Malchiks Pyjama zusammengefaltet unter seinem Kopfkissen gefunden haben«, sagte er. »Als er wegging, muss er die gleiche Kleidung getragen haben wie am Morgen.« »Wenigstens ist er nicht geschlafwandelt«, sagte Yuste und schob sich an Annat vorbei, die noch immer ihr Spiegelbild betrachtete. »Hat Boris irgendetwas gefunden?« »Nur die Seiten eines Essays«, sagte Cluny. »Er untersucht gerade die Löschblätter.« Sie kehrten in das äußere Zimmer zurück und ließen Annat allein. Sie setzte sich auf die Bettkante und starrte vor sich hin. Etwas, das ihr Vater ihr gesagt hatte, hallte in ihrem Kopf wider. Schamanen können wählen, wen immer sie wollen. Oh, wie sie es vermisste, den Trost, den das Senden ihr bereitete. Es hatte Zeiten gegeben, in denen sie es geliebt hätte, ihre Gedanken mit Yuste zu teilen und eine Antwort zu bekommen. Das Höchste, auf das sie hoffen konnte, war, dass ihre Tante hören konnte, was sie dachte, oder dass Annat ihr etwas im Vertrauen senden konnte. In Momenten wie diesen schienen laut ausgesprochene Worte so schwerfällig, und selbst ihre beste Freundin, die Frau, die sie als Liebhaberin begehrte, vermochte Annats Gedanken ebenso wenig zu teilen, wie sie fliegen konnte. Aus irgendeinem Grund dachte sie an Clunys Gesicht; seine dunklen Augen waren auch dann noch melancholisch, wenn er lächelte. Er war der einzige Dunkle in seiner Familie; die übrigen, Sarl, Huldis, Casildis – sogar der Doyen –, waren blond und hatten helle Augen. Sie schauderte. Was, wenn Sarl irgendwie von den To-
ten zurückgekommen wäre? Der Gedanke daran, dass er dort draußen sein könnte und nach ihr suchte … Dies ließ die harten Schatten, die das tanzende Licht warf, weitaus bedrohlicher erscheinen als die weichere Dunkelheit von Kerzen. Auch Malchik war verängstigt gewesen; verängstigt und einsam in seinem Zimmer, wie er, genau wie sie nun, auf dem Bett gesessen hatte, nachdem sich Cluny zur Nacht zurückgezogen hatte, als plötzlich etwas geschehen war – nur was? Annat dachte an Yuda, und dieser Gedanke spendete ihr Trost, obgleich ihr Vater Meilen entfernt war. Selbst in Yonar mochte er seine Gedanken nach Süden wenden. Wenn nur Yuste noch immer die gleichen Fähigkeiten wie ihr Zwillingsbruder hätte, wie es einst der Fall gewesen war; doch hier war Annat die mächtigste Schamanin, stärker sogar als Boris Grebenshikov. Stark mochte sie sein, doch Boris wusste sicher ebenso gut wie sie, wie unerfahren sie war. Wie Yuda würde er wissen, nach welchen Zeichen er suchen müsste, welche Spuren Malchik hinterlassen haben könnte, wenn man ihn in diesem Raum allein ließ. Sie schloss ihre Augen. Der Spiegel würde die Erinnerung an das bewahren, was er gesehen hatte, wie in das Glas gebrannte Schatten. Ihr Vater hatte ihr beigebracht, wie man einen Spiegel befragte, doch er hatte sie auch davor gewarnt, dies in seiner Abwesenheit zu tun. Yuda sprach nur selten eine Warnung aus, doch wenn er dies tat, dann musste man sie befolgen. Annat starrte zurück in den Widerschein ihrer eigenen dunklen Pupillen. Sie war hier und Yuda nicht. Sie bezweifelte, dass Boris Grebenshikov über solche Macht verfügte. Er war ein einfacher Schamane, einer, der nur wenige der dunkleren Mächte nutzen konnte. Wenn dies getan werden müsste, dann würde sie es selber vollbringen müssen. Sie stand auf und ging zurück in den äußeren Raum, wo die anderen das Löschpapier untersuchten. Boris hielt es hoch in das Licht, um die Spuren sehen zu können, die Malchiks Feder in die Oberfläche gedrückt hatte. Doch sie brauchte nicht seine Fähigkeiten, um die Umrisse der Krähen zu erkennen, die in schwarzer Tin-
te auf die Oberseite des Papiers gekritzelt worden waren. Wenn sie doch bloß so mit Malchik verbunden wäre wie Yuste mit Yuda. Alles, was sie sagen konnte, war, dass ihr Bruder am Leben war, genauso, wie sie die schwache Flamme der Anwesenheit ihrer Tante spüren konnte und das entfernte Glühen ihres Vaters. Cluny kam zu ihr herüber, seine Brauen waren gefurcht. »Das ist wirklich verwirrend«, sagte er. »Es ist, als hätte er sich einfach in Luft aufgelöst.« »Dann glaubst du nicht, dass er in eines deiner Bilder verschwunden ist?«, neckte ihn Annat. »Sie haben hier keine Macht.« Er lächelte besorgt. »Oh, ich verstehe, ein Witz. Fast wünschte ich, es wäre so. Doch dann würden wir ihn sehen, wie er uns anstarrt, wie ein Fisch aus einem Aquarium heraus.« »Hat er nichts gesagt über … den Spiegel in seinem Zimmer?« Cluny schüttelte den Kopf. »Spiegel sind eine seltsame Sache«, sagte er. »Ich erinnere mich daran, als mein Bruder – Sarl – starb, wurden sie alle schwarz, jeder einzelne. Als ob jemand sie von innen angemalt hätte. Nachdem mein Bruder begraben worden war, zerschlug mein Vater sie.« »Das muss sehr beängstigend gewesen sein«, sagte Annat. »Ich habe noch nie mit jemandem darüber gesprochen, außer mit Malchik. Er hat meinen Vater recht gut kennen gelernt in der kurzen Zeit, in der er in der Burg gefangen gehalten worden war. Ich glaube, mein Vater hatte ihn ins Herz geschlossen. Bis er floh und sich den Reihen unserer Feinde anschloss. Zu denen auch du gehörst, nebenbei gesagt«, fügte er mit einem freudlosen Lachen hinzu. Annat legte die Hand auf seinen Ärmelaufschlag. »Sinnt dein Vater noch immer auf Rache?«, fragte sie. »Oh, ja. Es kümmert ihn nicht, dass du dabei geholfen hast, eine verlorene Tochter zu ihm zurückzubringen. Alles, woran er sich erinnert, ist Sarls Tod. Ich möchte nicht daran denken, welches Leben meine Schwester – Huldis – dort führt. Sie kann nicht weg, wie
ich es konnte. Und ich werde nicht zurückkehren«, fügte er hinzu und presste seinen Mund zu einer dünnen Linie zusammen. Boris ließ das Löschblatt sinken und warf ihnen einen gereizten Blick zu. »Könntet ihr das ein anderes Mal besprechen? Ich versuche, mich zu konzentrieren.« »Oh, bitte entschuldigen Sie«, sagte Cluny und lächelte Annat zu, die die Schelte weniger leicht nahm. »Das, worüber wir sprechen, könnte wichtig sein, Mister Grebenshikov«, sagte sie. Boris seufzte. »Das bezweifle ich nicht. Aber ich versuche herauszufinden, inwieweit das Gekritzel auf dem Löschblatt wichtig ist und was davon sich auf De Naturae von Iolcas bezieht, eine Materie, die deinem Bruder einige Schwierigkeiten bereitet zu haben scheint. Ich brauche Graphitpulver. Hat Ihr Diener schon unsere Taschen nach oben gebracht?« »Bei der Mutter, ich habe vergessen, ihn darum zu bitten«, sagte Cluny. »Entschuldigen Sie bitte!« Nachdem Planchet losgeschickt worden und mit ihrem Gepäck zurückgekehrt war, konnte Boris das Graphitpulver aus der Werkzeugtasche in seinem Reisegepäck hervorholen. Er verteilte es über das Löschblatt, schüttelte es von einer Seite zur anderen und blies die Überbleibsel fort. Der feine Staub hatte sich in den Spuren, die Malchiks Stift hinterlassen hatte, abgesetzt, und nun war es möglich zu erkennen, was er geschrieben hatte. Cluny lugte über Boris' Schulter und sagte: »Das ist unser Aufsatz aus der letzten Woche. Aber ich kann auch einige Krähen erkennen.« »Es sieht aus wie ein Teil des Briefes, den er mir geschrieben hat«, sagte Yuste. »Gibt es dort etwas, das du nicht wieder erkennst, Missis?«, fragte Boris sie. Yuste brütete über dem Papier. Ihre Fingerspitzen glitten über die halb verborgenen Linien, die von Malchiks Brief zurückgeblieben waren. Als sie am Ende der Löschpapierseite angekommen war, hielt sie inne. »An diesen Satz erinnere ich mich nicht«, sagte sie. »Aber der
Brief war sehr wirr. Ich werde ihn aus meinem Retikül holen, um ihn zu vergleichen.« Während Yuste davoneilte, kniete sich Annat neben den Schreibtisch, um die Zeilen, die Yuste gemeint hatte, zu untersuchen. »Hast du seinen Brief auch gelesen?«, fragte Boris. Und dann plötzlich fing Annat das schwache Flüstern eines Gedankens auf, als ob jemand vorsichtig nahe an ihrem Ohr gesprochen hätte. Senden? Annat bemerkte, dass sie lächelte. Sie musste einige Anstrengung unternehmen, um ihren Gedanken Gestalt zu verleihen und sie ihm zu senden; eine leichte Unbeholfenheit, die das Senden mit einem Fremden stets begleitete. – Nicht eingehender. Aber Yuste hat Recht. Hier ist etwas anders. Ich weiß nicht, was das bedeuten soll. »Die Roma wissen etwas. Am Fuße der Rue des Salines, Place Vergey, Ruelle Amboise …«, wiederholte Boris. »Ich kann den Rest nicht lesen. Das scheinen Wegbeschreibungen zu sein. Aber wer oder was sind die Roma?« »Ah«, sagte Cluny. »Die Roma.« Sie wandten sich zu ihm um und warteten darauf, dass er fortfuhr. Cluny knetete seine Hände, als ob er die Fingerknöchel massieren würde, und er schien mit dem zu hadern, was er zu sagen hatte. »Was ist das Problem?«, fragte Boris. »Wir … Studenten … sollten die Roma nicht aufsuchen«, sagte Cluny. »Sie sind Tziganes. Fahrende Zigeuner. Sie haben gewisse Dinge gemeinsam mit den Wanderern. Den zweiten Fluch von Megalmayar …« »Nicht noch mehr von diesem doxoianischen Unsinn!«, stieß Yuste aus, die mitgehört hatte, als sie mit ihrer Tasche zurückkam. »Das ist eher ein Teil der doxoianischen Legende, als dass es zu den Gesetzen der Kirche gehört«, sagte Cluny. »Die Kirche sagt, dass die Mutter nur einen Fluch ausgestoßen hat, nämlich den gegen die Wanderer. Doch die Geschichte von ihrem zweiten Fluch
könnte sich entwickelt haben, um die nomadische Natur der Tziganes zu erklären, die …« »Herrjeh noch mal, ist das eine Vorlesung?«, fragte Boris. Cluny sah so niedergeschlagen aus, dass Annat hin- und hergerissen war zwischen dem Drang zu lachen und dem Wunsch, ihn gegen ihre Unterbrechungen zu verteidigen. »Warum hat sich Malchik für die Roma interessiert, Cluny?«, fragte sie. Er warf ihr ein kurzes, dankbares Lächeln zu und sagte: »Malchik mochte die Tziganes, weil er ein Wanderer ist und auch, weil er die Musik der Roma liebt. Er hatte damit begonnen, sie heimlich zu besuchen.« »Ich verstehe. Also können wir daraus schließen, dass Malchik von den Zigeunern entführt worden ist?«, fragte Boris. Yuste wedelte mit dem Brief in seine Richtung. »Was ist los mit dir, Boris Andreyevich? Es könnte erklären, wohin Malchik gegangen ist. Vielleicht gibt es sogar eine harmlose Erklärung.« »Die Zigeuner stehlen keine jungen Männer, Zhidova«, sagte Boris und verschränkte seine Arme. Annat starrte ihn an und konnte nicht glauben, was sie gerade gehört hatte, während Yuste dunkelrot anlief. »Was? Was habe ich gesagt?« »Wie kannst du es wagen, mich so zu nennen! Als ob es ganz harmlos wäre«, sagte Yuste. Boris sah sie mit einem verwirrten Ausdruck an und kratzte sich hinter dem Ohr. »Du musst wissen, ich würde nicht …«, setzte er an. »Würdest du meinen Bruder so bezeichnen?« Er hob seine Hand in einer Geste von Besorgnis und Abwehr. »Du weißt, dass ich es nicht als Beleidigung meinte, Yuste. Falls du mich überhaupt kennst.« »Was ist los?«, fragte Cluny Annat. »Er hat sie Youpin genannt. Einen Jud«, flüsterte sie. »Es ist offensichtlich, dass du mich überhaupt nicht kennst, Boris Grebenshikov!«, sagte Yuste und knallte den dünnen Brief auf den
Schreibtisch neben das Löschpapier. Boris richtete sich auf und sah sie nachdenklich an. »Es tut mir Leid, Yuste«, sagte er. »Ich wollte dich nicht verletzen.« Mit misstrauischem Blick schaute Yuste ihm in die Augen, als ob sie ihn verdächtigte, sie – wie liebevoll auch immer – auszulachen. Doch sein Gesicht war ernst. »Vielleicht sollten wir besser vergessen, dass es gesagt worden ist. Doch als ein weißer Sklav solltest du genau wissen, was diese Bezeichnungen für uns bedeuten. Für uns Wanderer.« »Dafür also hältst du mich, ja? Für einen weißen Sklav?«, fragte Boris und wandte ihr den Rücken zu, um das Löschpapier und die schwarzen Flecken darauf zu untersuchen. »Das ist es, was du bist, Boris Grebenshikov. Bitte, ich muss mich hinsetzen. Ich bekomme Kopfschmerzen, glaube ich.« »Ich denke«, schaltete sich Cluny vorsichtig ein, »es wäre besser, wenn wir morgen früh weiter machen würden. Vielleicht könnten wir dann die Adresse, die Malchik zurückgelassen hat, näher in Augenschein nehmen und womöglich die Roma selbst aufsuchen. Ich habe Planchet gebeten, die Vorkehrungen für die Nacht in meinen Räumen zu treffen. Die Damen können in dem äußeren Zimmer nächtigen, und Sie, Monsieur Grebenshikov, können mein Bett haben. Ich werde mir den Raum mit Planchet teilen.« »Sehr freundlich«, sagte Yuste, die sich auf einem der Stühle niedergelassen hatte, welche rings um den Tisch standen. »Es ist nicht nötig, dass Sie auf Ihr Bett verzichten«, sagte Boris. »Ich kann auf dem Fußboden schlafen.« »Ich bestehe darauf«, sagte Cluny. »Ich werde versuchen, Sie morgens nicht zu stören, wenn ich zu meinem Dauerlauf aufbreche. Planchet hat etwas Wasser für die Toilette der Damen erhitzt und alles vorbereitet.« Er hielt inne, als Yuste und Annat in Gelächter ausbrachen. »Verzeih uns, Cluny«, sagte Yuste. »Du musst uns für grobschlächtige Barbaren halten, aber wir machen keine Toilette. Wir wa-
schen uns, wir bürsten unser Haar und machen uns zum Schlafengehen fertig. Und wir sprechen unsere Abendgebete«, fügte sie hinzu. »Ja, Malchik hat mir ein wenig davon berichtet«, sagte Cluny. »All diese Segenssprüche oder Baruchot, die ihr sprechen müsst. Ich muss sagen, wir Doxoi haben ein leichteres Leben.« Yuste warf dem schweigenden Detektiv einen Blick zu. »Boris Grebenshikov, ich möchte Frieden mit dir schließen«, sagte sie sanft. »Nein, nein. Es war mein Fehler«, sagte Boris und sein Gesicht entspannte sich nicht zu einem Lächeln. Yuste nickte leicht mit dem Kopf, raffte ihre Unterröcke zusammen und machte sich auf den Weg zurück zu Clunys Räumen. Annat zögerte ein wenig und sah von Cluny zu Boris; der eine hatte ein düsteres Gesicht, der andere lächelte nervös. »Ich – äh – fürchte, wir sind einander nicht vorgestellt worden«, sagte Cluny und streckte zögernd eine Hand aus. Boris blickte ihr überrascht entgegen, nahm sie dann jedoch und schüttelte sie herzlich. »Mein Name ist Grebenshikov«, sagte er. »Annats Tante hat mich beauftragt, ihr bei der Lösung von Malchiks Fall zu helfen. Auch wenn es schwerer sein könnte, als wir zuerst angenommen hatten.« »Ich hoffe, du verzeihst mir meine Frage«, sagte Cluny und blickte zu Annat hinüber, als ob er ihre Unterstützung suchte. »Aber was ist ein weißer Sklav? Ich weiß, dass Annat und ihre Familie Wanderer sind, doch seit ich nach Axar gekommen bin, scheint es mir so viele andere Nuancen und Rassen zu geben, von denen ich noch nie gehört habe.« »Ich bin wie du, Mister«, sagte Boris mit einem harten Zug um den Mund. »Ich komme aus einer reinen Familie der Doxoi ohne eine Spur der Verschmutzung durch das Blut von Wanderern oder Dunklen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Yuste es nett gemeint hat. Es herrscht wenig Freundlichkeit zwischen ihren Leuten und meinen.«
»Aber du bist nicht so, oder doch?«, fragte Cluny. »Du glaubst nicht an so etwas wie Verschmutzung.« Boris wandte sich ab. »Was ich glaube, spielt keine Rolle. Ich muss meine Zunge im Zaum halten.« Annat machte einen Schritt auf ihn zu. Sie wollte nicht laut sprechen, wie sehr auch immer sie Cluny vertrauen mochte. – Ich weiß, du hast es nicht so gemeint, dachte sie. – Aber Yuste – Sie brach ab, denn sie war sogar in ihrem Geist außer Stande, ihre Gedanken in Worte zu fassen. – Yuste ist schwierig, Yuste kann unfair sein, Yuste ist stolz. Es blieb zu viel ungesagt. »Wie dem auch sei«, sagte Boris laut. »Zeit fürs Bett«, sagte Cluny fröhlich und ergriff Annats Hand, als ob dies die natürlichste Sache der Welt wäre. Sie ließ sich von ihm aus dem Zimmer führen und überlegte, wie es wäre, ihn auf den Mund zu küssen. Wäre es ebenso süß und berauschend wie bei Eugenie? Gemeinsam machten sie auf dem Treppenabsatz Halt und Cluny sah zu ihr hinunter, als ob auch er ihre Gedanken lesen könnte. »Du hast keine Ahnung, wie gut es tut, dich wieder zu sehen«, sagte er. »Wenn wir diese Geschichte mit Malchik hinter uns gebracht haben, haben du und ich uns so viel zu erzählen.« Annat lächelte zu ihm empor. Er legte ihr seine Hände auf die Schultern und sagte: »Du bist viel hübscher als vor vier Jahren. Und viel hübscher als dein Vater.« Annat lachte, denn sie genoss das Kompliment und die Anspielung auf die Ähnlichkeit mit ihrem Vater, dessen beeindruckende Erscheinung berüchtigt war. Cluny errötete und fügte hinzu: »Wie du weißt, bin ich es nicht gewöhnt, mit Mädchen zu sprechen. Natürlich hätte mich mein Vater gerne mit einer Erbin verheiratet, und das ist ein weiterer Grund dafür, warum ich so schnell wie möglich fortging. Dein Bruder hingegen ist eine Art Frauenheld. Besonders was ältere Damen angeht.« Annat verbarg ihr Lächeln hinter der Hand. »Malchik?« Cluny nickte. »Ich glaube, du solltest gut überlegen, ob du diese
Information mit deiner Tante teilen willst«, sagte er. »Ich hoffe, wir finden ihn bald, Cluny. Ich denke – ich habe das Gefühl –, dass er in Gefahr ist.« »Bei der Mutter, das hoffe ich auch. Ich habe mich gefragt, ob meine Anwesenheit die Dinge verschlimmert hat, dafür gesorgt hat, dass die Dinge ihren Lauf nehmen. Ademar wirft lange Schatten«, sagte er, nahm ihre Hand und presste sie zwischen seinen eigenen. Annat wartete, bis sie sich sicher war, dass Yuste schlief. Die Lichter im äußeren Raum waren gelöscht worden, doch ein Lichtschein fiel noch immer unter Planchets Tür hindurch, und sie konnte hören, wie er und Cluny sich mit leisen Stimmen unterhielten. Das Zimmer, das Boris bewohnte, war dunkel. Sie hatte es sich auf der Chaiselongue bequem gemacht und Yuste die Gelegenheit gegeben, sich auf dem Sofa einzurichten, das sich in ein Bett verwandeln ließ. Nun setzte sie sich in der Dunkelheit auf, dankbar darüber, dass ihre Nachtsicht es ihr ermöglichte, im blauen Schattenlicht etwas erkennen zu können, und zog ihr Nachthemd aus. Mit einer Gänsehaut beeilte sie sich, sich in der Kälte anzukleiden, und kämpfte mit den Falten des raschelnden Unterrocks, den selbst sie unter ihrem verkürzten Rock tragen musste. Sie hatte festgestellt, dass Frauen immer länger als Männer zum Anziehen brauchten, auch wenn die förmliche Kleidung, die Cluny wählte, ohne Zweifel einige Sorgfalt und Vorbereitung erforderte; doch Männer wie Boris oder Yuda konnten in Minutenschnelle fertig sein. Sie hielt halb nackt in der Dunkelheit inne und spähte zu Boris' Tür. So seltsam es auch schien, sie glaubte eine Spur von Zuneigung gehört zu haben in der Art, wie er Yuste ›Zhidova‹ nannte. Und Yuste war niemand, der leicht Zuneigung auf sich zog. Sie blieb sitzen, lauschte den gleichmäßigen Atemzügen ihrer Tante und empfand eine Spur von Traurigkeit darüber, dass sie einander so fremd geworden waren. Sie vertiefte dieses Gefühl nicht weiter, denn selbst jetzt, im Schlaf, mochte Yuste fühlen, was sie tat, und aufwachen, um sie da-
von abzuhalten. Anstatt ihre Stiefel anzuziehen, schlüpfte sie in die weichen Lederschuhe, die sie in Innenräumen benutzte. Ihr war klar, dass sie auch einen Umhang über ihr Nachtzeug hätte streifen können, doch sie hatte das Gefühl, dass sich richtig anzukleiden dem Anlegen einer Rüstung gleichkam, um sich vor dem zu schützen, was sie möglicherweise von dem Spiegel erfahren würde. Als sie fertig war, erhob sie sich nicht sofort von der Chaiselongue, sondern wartete ab und betrachtete die schmale Gestalt ihrer Tante, die, abgesehen von den schwachen Regungen ihrer Atmung, bewegungslos unter ihren Decken lag. In der blauen Dunkelheit umgab Yuste noch immer die schwache Aura einer Schamanin, ein Nachhall der Kräfte, die ihr Bruder ausgelöscht hatte. Annat, die nur selten über ihre Tante nachdachte oder ihre eigenen Gefühle hinterfragte, konnte sich nicht vorstellen, wie jemand einen solchen Verlust verwinden konnte. Sie dachte daran, Yustes graubraunes Haar zu streicheln (obgleich sie seine Farbe in der Dunkelheit nicht erkennen konnte), das gelöst auf dem Kopfkissen lag. Einen Augenblick lang sehnte sie sich danach, sich neben ihre Tante unter die Decken zu kuscheln, wie sie es getan hatte, als sie noch ein Kind gewesen war. In jenen Zeiten, nachdem ihre leibliche Mutter gestorben war, gab es während der Nacht so viel zu fürchten: die Monster der Möbel, die seltsamen Traumgebilde und Gesichter, die sie nicht kannte, die ihr aber aus den Schatten entgegenstarrten. Nun war Annat selbst eine Nachtgestalt geworden. Dunkelheit alleine reichte nicht aus, um ihr Angst einzuflößen. Wenn die Finsternis mächtige und magische Kräfte verbergen konnte, dann konnte auch sie ungesehen herumstreifen, und ihre Augen glühten wie die einer Katze. Sie stand auf, wandte sich von der schlafenden Yuste ab und bewegte sich leise über den Parkettboden in Richtung des Türvorhangs. Ihre Macht war wie etwas, das sie zwischen ihren Händen führte, doch es war auch ein Feuerstrang, der in ihren Adern und Nerven pochte. Sie legte ihre Hände auf den Stoff der Innentür, dann zog sie den Vorhang beiseite und öffnete rasch die
äußere Tür. Sie schlüpfte durch den Spalt und zog leise die Tür hinter sich zu, wobei sie darauf achtete, dass das Schloss nicht zuschnappte. Ein gedämpftes Licht empfing sie auf dem Treppenabsatz, und kühle Luft, die nach holzfeuergeschwängertem Nebel roch, wehte von der offenen Tür im Untergeschoss herein. Annat zögerte einen Augenblick und ließ ihre Schamanensinne erwachen, während sie den Geruch und die Stille der Nacht in sich aufsog. Malchiks Zimmer war noch immer unverschlossen; leichtfüßig betrat sie es und drehte am Schalter, um das elektrische Licht anzuschalten. Alles war so, wie sie es verlassen hatten: Das Löschpapier lag an der Seite auf Malchiks Schreibtisch und trug noch eine Schicht des Graphitpulvers; die Seiten von Malchiks fortgeworfenem Aufsatz, welche Boris sorgfältig geglättet hatte, lagen auf dem Tisch. Annat durchquerte den Raum und fühlte die Wärme der Anwesenheit ihres Bruders, als ob er gerade in diesem Augenblick erst aus dem Zimmer gegangen wäre. Ihre Hand glitt über seinen zusammengefalteten Gebetsschal, als sie vorbeiging, und sie machte Halt, um sich Clunys Gemälde anzusehen, das in seinem Rahmen glühte. Irgendwie war es ein wenig unheimlich, das verlassene Schlafzimmer zu betreten. Sie setzte sich aufs Bett, dem Spiegel gegenüber, und umklammerte das Deckbett mit beiden Händen. Der Spiegel zeigte hartnäckig ihr eigenes Bild, das in dem fahlen Licht der einzelnen Glühbirne fleckig wirkte. Annat spürte ihr Herz klopfen und wusste, dass sie Angst hatte. Sie wartete, machte tiefe Atemzüge und versuchte sich an das zu erinnern, was ihr Yuda über das Befragen von Spiegeln beigebracht hatte. Nachdem einige Minuten verstrichen waren, stand sie schließlich auf und ging zum Spiegel hinüber. Als sie näher kam, erschien es ihr in der Vorstellung, dass ihr Bild wanderte und zerfiel, als ob sich das Quecksilber verflüssigt hätte oder zu Wasser geworden wäre. Sie legte ihre Hände auf die kalte Oberfläche des Glases und schloss die Augen. Der Zeitpunkt war gekommen, hineinzuspringen in die träumende Dunkelheit ihres Schamanengeistes. Wie ein Taucher am Abgrund holte sie tief Luft
und sprang.
Kapitel 5
Y
uste erwachte nicht lange nach Tagesanbruch mit einem steifen Nacken und trockenem Mund. Sie schlug die Decken zurück und erhob sich aus dem Bett, denn sie erinnerte sich an die Wasserkaraffe, die Planchet neben das Fenster gestellt hatte, damit sie kühl blieb. Auf den ersten Blick sah sie, dass die Chaiselongue leer und zu ordentlich war, als dass jemand darin geschlafen haben konnte. Sie fluchte leise in Sklav und benutzte dabei Wörter, bei denen Annat sehr erstaunt gewesen wäre, dass sie sie kannte. Dann riss sie die Tür auf und stürmte hinaus auf den Treppenabsatz. Der Steinboden war kalt unter ihren nackten Fußsohlen, und der eisige Atem des Morgens wehte durch die geöffnete Tür von unten herauf. Wohin war Annat verschwunden? War sie in die Nacht hinausgegangen, um etwas zu tun, das Yuste nur erahnen konnte? Yuste holte Luft und rief den Namen ihrer Nichte. Der Klang ihrer Stimme hallte im Treppenhaus. Sie verspürte eher Zorn als Furcht, doch es war die Furcht, die den Zorn anstachelte. Ihr fielen so zahlreiche Gefahren in viel zu kurzer Zeit ein. Sie erinnerte sich selbst daran, dass Annat nicht in erster Linie ein verletzbares Mädchen von siebzehn Jahren war. Annat verfügte über Fähigkeiten, die einen normalen Angreifer zu Asche verbrennen würden. Sicher war das Kind aufgebrochen, um nach Malchik zu suchen. Annat hatte bestimmt gedacht, dass sie es besser als die anderen wüsste, besser als ihre dumme alte Tante und ein Detektiv mit eingeschränkten Fähigkeiten. Möglicherweise war sie in die Dunkelheit hinausgegangen, um die Gegend zu durchforsten und so nach Malchik zu suchen oder in Schamanenwelten aufzubrechen.
Yuste überlief ein Schauer. Ihre Glieder mochten schmerzen, doch sie war nicht mehr so müde, wie sie es gestern gewesen war. Verdammt, sie war doch erst vierzig Jahre alt! Und hier stand sie mit steifen Knochen und Sehnen wie eine alte Frau und zitterte in der Kälte des Frühlingsmorgens. Kein Wunder, dass Annat sie verachtete, wenn sie sich auf Boris stützen und Clunys Höflichkeiten hinnehmen musste wie eine zarte, empfindliche Blume. Sie ging zurück in den Innenraum und stellte fest, dass ihr Schrei die anderen aufgeweckt hatte. Planchet war gerade aus der Tür zu seinem Zimmer getreten, vollständig angekleidet, und Boris Grebenshikov kam ihr in diesem Moment in seinem seidenen Morgenmantel entgegen, der zwischen den Aufschlägen einen Blick auf das dunkle Haar auf seiner Brust freigab; von Cluny fehlte noch jede Spur. Yuste fiel ein, dass sie nicht mehr als ihr Nachtgewand trug, griff eilig nach einem Schal, der am Fußende ihres Bettes lag, und schlang ihn sich um die Schultern. »Guten Morgen, Boris Andreyevich; Monsieur Planchet«, sagte sie und versuchte, ihre Verlegenheit zu überspielen. »Wo ist Annat?«, fragte Boris und kam zu ihr herüber. »Wünscht Madame etwas Kava?«, fragte Planchet mit seiner würdevollen, weichen Stimme. »Ja, danke sehr, Monsieur«, sagte Yuste, die nicht an die Anwesenheit von Dienstboten gewöhnt war. Sie sah, wie der Mann eine knappe Verbeugung machte und sich in sein Quartier zurückzog; dann antwortete sie Boris: »Sie ist fort. Ihr Bett ist unbenutzt.« »Mist«, sagte Boris und nestelte mit der Hand an dem Kragen seines Morgenmantels herum. »Ich habe noch nicht in Malchiks Zimmer nachgesehen«, sagte Yuste. Sie seufzte. Da waren sie wieder: Zorn und Furcht. Sie blickte in Boris' unrasiertes Gesicht. Er sah zerknittert aus; ganz offensichtlich gehörte auch er nicht zu denen, die ein frühmorgendliches Aufwachen mochten. Ein Seufzer schüttelte ihre dünne Gestalt. »Sie könnte überall sein.« »Ich bezweifle, dass sie das College verlassen hat«, erwiderte Boris.
»Denk daran, dass Clement die Tür bewacht und Annat keinen Weg nach draußen kennen konnte, es sei denn, Cluny hätte ihr einen gezeigt. Sie kann nicht weit gekommen sein.« Yuste hörte ihm nicht richtig zu, obgleich sie die Bedeutung seiner Worte erfasste. »Ich weiß, dass sie mächtig ist«, sagte sie. »Aber das birgt nur noch größere Gefahr. Und sie kann sorglos sein. Sie ist wie Yuda; sie liebt den Geruch der Gefahr.« »Anders als wir«, entgegnete Boris gequält. Sie sah ihn fest an. »Ich war nicht lange genug eine Schamanin, um das zu erfahren«, sagte sie. »Aber wie dem auch sei, Annat ist noch jung, und sie ist eine Frau. Zu jung, um wirkliche Gefahr zu kennen und zu wissen, wie man ihrer Herr wird. Yuda kann ihr beibringen, wie sie ihre Kräfte einsetzen soll, aber er kann nicht ihre Sinne schärfen. Auch dann nicht, wenn er es noch so sehr versucht hätte – was ich bezweifle.« »Ich wette, er hat sich darum bemüht«, sagte Boris. »Man versucht das bei jungen Schamanen, vor allem, wenn es deine Rebjata sind. Lass uns in Malchiks Zimmer nachsehen.« Als sie den Treppenabsatz überquerten, entfuhr es Yuste: »Du scheinst Yuda besser zu kennen, als ich dachte.« »Wir haben einige Aufträge gemeinsam erledigt. Eisenbahnangelegenheiten«, sagte er abwehrend. »Er kannte mich, als Stromnak noch … lebte.« »Stromnak?«, fragte Yuste verständnislos, ehe sie sich daran erinnerte, wo sie den Namen gesehen hatte. »Oh – deine Partnerin.« »Das ist richtig«, sagte Boris und betrat Malchiks leeres Zimmer. »Meine tote Partnerin.« Das elektrische Licht war angeschaltet und noch nicht durch das Morgenlicht abgedämpft, welches durch die Fenster, deren Läden nicht geschlossen worden waren, hereinfiel. Yuste untersuchte den Raum und sah auf einen Blick zwei Dinge. Die Tür zu Malchiks Schlafzimmer stand offen, und das Licht war eingeschaltet; außerdem zeigte ein nacktes Stück Wand den Ort, an dem Clunys Bild gehangen hatte. Boris stand vor ihr, durchquerte mit langen Schrit-
ten den Raum und stieß die Tür zum Schlafzimmer auf. Offensichtlich war der Raum leer; die Bettdecke sah zerdrückt aus, an der Stelle, wo Annat – falls es Annat gewesen war – gesessen hatte, und Clunys Bild lag mit zerbrochenem Glas auf dem Boden. Es gab keine weiteren Anzeichen von Gewalt oder einem Kampf. Boris beugte sich hinab, um das zerschlagene Bild aufzuheben. Yuste hörte ihn nach Luft schnappen, und dann sah auch sie etwas wie Rauchschwaden oder eine Spinnwebe, das zwischen dem Bild und der Oberfläche des Spiegels zu hängen schien. Als Boris das Bild an seine Brust drückte, riss der Faden nicht ab, schien sich jedoch zu verlängern; er schien in dem Spiegel zu verschwinden wie eine Angelschnur in einem klaren Teich. Auf Zehenspitzen näherte sich Yuste dem Detektiv, bis sie ihn fast berühren konnte, und als sie das tat, erblickten ihre Augen etwas, das auf den Boden gekritzelt war: drei Wörter in kyrillischer Schrift, dem Alphabet der Sklavs: Berg, Fluss, Wald. Sie blickte hoch, sah Boris an und hatte das Gefühl, dass ihr eigenes Gesicht nackt und aller Künstlichkeit und ihres würdevollen Ausdrucks beraubt sei. »Heilige Mutter«, sagte er. »Sie ist durch den Spiegel gegangen!« »Zyon«, stieß Yuste flüsternd aus. Sie ließ sich auf das Bett sinken, wo Annat gesessen hatte, und zog ihren Schal enger um sich. Es gab wenig Zweifel, dass Boris Recht hatte: Irgendwie hatte Annat den Spiegel betreten und ihnen eine Spur hinterlassen, um ihnen zu zeigen, wohin sie gegangen war. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte sie Boris. »›Berg, Fluss, Wald‹?« »Es beschreibt das Bild«, sagte er und drehte es so herum, dass sie das Gemälde hinter dem zerborstenen Glas sehen konnte. »Aber die Mutter allein weiß, was das bedeuten soll.« Er reichte ihr den Rahmen; der Spinnwebfaden klebte noch immer daran. Dann näherte er sich mit ausgestreckten Händen dem Spiegel. »Ich habe nicht die Fähigkeit«, sagte er zu sich selbst. Yuste sah ihm zu, wie er die Hände auf die Oberfläche legte und seine Stirn dagegen lehnte. Sie wartete und spürte mit ihren verkümmerten
Sinnen den Fluss seiner Macht. Ihre Gedanken rasten und überschlugen sich, als sie Mutmaßungen und Befürchtungen anstellte, was Annat zugestoßen sein könnte. Boris machte einen Schritt zurück und ließ seine Hände sinken. »Das ist gar nicht gut«, sagte er. »Jemand hat hier ein Schamanentor geöffnet, aber es ist wieder versiegelt worden. Und ich kann nicht sagen, wohin es führt. Sieh!« Er hielt das Ende des Fadens in die Höhe und brach ab. Yuste drückte das zerbrochene Bild gegen ihre Brust. »Wir können ihr nicht in den Spiegel folgen«, sagte sie. »Aber die Spur könnte uns noch immer etwas verraten.« Boris setzte sich neben sie auf das Bett und stützte den Kopf in die Hände. »Der Junge muss den gleichen Weg genommen haben«, sagte er. »Bei der Mutter, ich hoffe, er hat es getan, oder wir haben zwei Rebjata verloren.« »Annat hat uns eine Nachricht hinterlassen und dieses Bild«, sagte Yuste. »Frau, du wirst wohl zugeben, dass das nicht gerade viel ist.« »Annat weiß, wie man eine Spur legt«, beharrte sie. »Sie wird uns zu ihr führen.« »Du scheinst sehr zuversichtlich«, sagte Boris. »Wir wissen nicht, was das alles bedeutet. Es ist ein Rätsel.« Yuste besah sich genauer, was auf dem Bild dargestellt war. »Denk nach, Boris Andreyevich. Jemand anders muss das Schamanentor versiegelt haben. Annat hätte das nicht getan. Sie wollte, dass es offen bleibt, damit wir ihr folgen können. Also haben andere diesen Spiegel benutzt. Sie haben ihn verwendet, um sie in die Falle zu locken. Und ich glaube sehr wohl, dass Malchik den gleichen Weg genommen hat.« Boris sprang auf. Er betrachtete seinen eigenen und Yustes Widerschein in dem unschuldigen Spiegel. Noch einmal näherte er sich dem Glas und legte seine Hände darauf. Er schien die Oberfläche zu befühlen und ließ seine Handflächen darüber gleiten, als ob er nach Sprüngen suchte. Als er seine Hände über das Glas be-
wegte, hinterließen sie für kurze Zeit feuchte Spuren, die den gespiegelten Raum gegenüber verzerrten. »Es ist wahr«, sagte er dumpf. »Das Mädchen war hier. Und ich kann die Spuren von jemand anderem fühlen – viel schwächer. Das muss der Junge sein. Sonst ist da nichts, nichts, was mir verraten könnte, wohin sie gegangen sind. Aber sie sind hier gewesen.« »Boris Andreyevich«, sagte Yuste, »ich habe keine Fähigkeit, die uns darüber Auskunft geben könnte. Ich bin völlig nutzlos.« Er wirbelte zu ihr herum. »Ich hätte es wissen müssen! Ich hätte den Spiegel gestern untersuchen müssen.« »Warum?«, fragte sie mit einem schwachen Lächeln. »Es kommt nicht häufig vor, dass Leute in Spiegeln verschwinden.« »Deine Nichte hat daran gedacht«, sagte er mit rauer Stimme. »Das spielt jetzt keine Rolle«, sagte sie. »Oder glaubst du, dass es für mich wichtig ist? Hinterher sind wir alle schlauer! Du und ich müssen mit den Fähigkeiten arbeiten, über die wir verfügen.« Boris setzte sich wieder neben sie aufs Bett. »Lass mich das Bild sehen«, sagte er. Yuste reichte es ihm, und er betastete den Rest der Spinnwebe, der noch immer wie eine Nabelschnur an der Leinwand hing. »Ich schwöre dir, wenn ich die Fähigkeit dazu hätte, könnte ich dies hier lesen«, sagte er. »Was meinst du, Boris?« »Der Faden mag abgerissen sein, doch das Mädchen hat die Muster ihrer Reise in jede der Fasern eingewoben. Immer und immer wieder. Was wir brauchen, ist jemand, der sie entschlüsseln kann.« Yuste betrachtete ihren Begleiter. Er konnte nicht viel älter als sie selber sein, doch sein glatter Kahlkopf verlieh ihm die Würde eines Mannes in mittlerem Alter – was irreführend war, wie sie inzwischen festzustellen begann. Klein und stämmig, wie er war, erinnerte er sie an die Männer, denen sie sich am meisten verbunden fühlte, an ihren Bruder und Sival. Doch er hatte die Ausstrahlung eines Mannes, der Verwirrung und Verlust erlitten hatte und der mit all seiner männlichen Intelligenz gegen diese Verwirrung ankämpfte. »Wir müssen bei Cluny ansetzen«, sagte er. »Es ist sein Bild, und
er muss wissen, was es abbildet.« Doch als Cluny aufgewacht war, konnte er ihnen auch nicht mehr sagen, als er Annat bereits anvertraut hatte: Er hatte das Bild für Malchik nach der Schilderung seiner wiederkehrenden Träume gemalt. Sie entfernten das zerbrochene Glas aus dem Rahmen und legten das Bild auf den Tisch in Clunys Zimmer. Als sie alle gewaschen und angekleidet waren, versammelten sie sich ringsherum, um es noch einmal genau zu betrachten. Cluny kniete sich auf den Fußboden, um es zu untersuchen und mit vorsichtigen Fingern die Überreste des Fadens zu berühren. »Es sieht einfach aus wie eine Spinnwebe«, sagte er. »Und du meinst, dass Schamanen so etwas tun können? Den anderen etwas zurücklassen, damit sie ihm folgen können, so wie bei einer Schnitzeljagd?« Yuste nickte. »Unser Problem ist, dass Annats Spur für uns zu einfallsreich ist, als dass wir sie deuten können«, sagte sie. »Das Mädchen hat eine viel zu hohe Meinung von unserem Können. Oder sie war, was wahrscheinlicher ist, in großer Eile.« Cluny stand auf, seine Augen glänzten vor Eifer und morgendlichem Schwung. »Ich denke noch immer, dass wir den Roma einen Besuch abstatten sollten«, sagte er. »Selbst wenn Malchik in den Spiegel gezogen worden sein sollte, könnten sie in der Lage sein, uns zu sagen, was das Bild darstellt. Sie reisen überall hin. Und es sind Schamanen unter ihnen, die möglicherweise in dem Faden lesen können.« »Ich schätze, der Versuch lohnt sich«, sagte Boris. »Im Moment wissen wir nicht, wo wir anfangen sollen.« »Cluny hat Recht«, sagte Yuste. »Die Szene in dem Bild ist sehr markant. Es kann nicht viele Orte geben, wo man einen Berg allein in der Mitte einer Ebene stehen sehen kann.« Cluny warf einen Blick zu dem Bild herüber und hielt inne, um es sich genau zu besehen. »Jetzt, wo du es sagst, ist es wirklich bemerkenswert«, sagte er. »Man sieht normalerweise einen Gebirgszug und nicht einen einzelnen Gipfel. Es sei denn, es ist ein Vulkan«,
ergänzte er. »Ich habe noch nie einen Vulkan gesehen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er so aussieht. Ich hatte angenommen, da es ein Traumbild ist, würde es der Art von Berg ähneln, die Kinder zeichnen. Aber Malchik hatte recht konkrete Angaben gemacht.« »Ein Berg, der sich in der Mitte einer Ebene erhebt«, sagte Boris. »Ich habe noch nie von etwas Derartigem in Neustria gehört. Vielleicht liegt er im Norden.« »Man sollte meinen, dass die Leute damit prahlen würden«, sagte Cluny mit einem nervösen Lachen. »Ich denke, man könnte erwarten, schon einmal davon gehört zu haben. Jeder kennt das LepasGebirge mit seinen berühmten Gipfeln vom Hörensagen.« »Ich habe von dem Gebirge gehört. Aber nichts über die berühmten Gipfel«, fuhr ihn Boris an. Cluny wusste sofort, was er erwidern musste, um jedwede Peinlichkeit zu überspielen. »Die Heimat meiner Familie liegt viel näher an den Bergen als Masalyar«, sagte er und lächelte Boris an. »Manchmal können wir sie sogar am östlichen Horizont erahnen, wenn die Sicht klar ist. Ich schätze, das Wichtigste ist, dass es dort keine einzeln stehenden Erhebungen gibt.« Yuste sah, dass Boris dagegen ankämpfte, sich von Clunys guten Manieren einwickeln zu lassen. Sie lächelte in sich hinein und war kurzzeitig von ihren Sorgen abgelenkt. Aber wenn Annat und Malchik über die Grenzen von Neustria hinausgebracht worden waren, wo konnten sie dann sein? Es mochte viele Länder auf der Erde geben, die einen solchen Gipfel aufweisen konnten, und es war nicht möglich, dass die Roma alle kannten. »Cluny«, sagte sie und legte ihre Hand auf sein Handgelenk, um ihn davon abzubringen, Boris weiterhin beschwichtigen zu wollen. »Du sagtest selbst, dass das Bild einen Traum darstellt. Ist es möglich, dass dies ein Teil des Lepas-Gebirges ist?« »Alles wäre so viel einfacher, wenn das der Fall wäre«, sagte Cluny und sah ihr mit einer Spur von Traurigkeit tief in die Augen. »Aber Malchik hat mir mit Sicherheit gesagt, dass der Hügel ganz alleine
in der Mitte einer Ebene stehe. Er sagte, er glänze in der Sonne – wie Glas.« Yuste zog ihre Hand zurück und nahm ihr schweres Retikül vom Sofa. »Ich will die Roma sehen. Jetzt sofort«, sagte sie. »Hast du dir Malchiks Anweisungen notiert, Boris Andreyevich?« Bevor dieser antworten konnte, warf Cluny ein: »Ich habe Planchet gebeten, mit uns zu kommen. Er ist – er war – ein Soldat, und ich glaube, es könnte uns nicht schaden, wenn er uns begleitet. Er kann auch die Verpflegung tragen.« »Gütiger Himmel, Kind, das ist kein Picknick!«, sagte Yuste, gleichermaßen belustigt wie verärgert. »Nun – wenn ich erklären dürfte – ich denke, es könnte von guten Manieren zeugen, Nahrungsgeschenke zu den Roma mitzunehmen. Sie sind sehr gastfreundlich, doch sie sind ebenfalls ziemlich arm. Ich denke, einige Flaschen aus den Collegekellern wären genau das Richtige.« Yuste wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. In vielerlei Hinsicht erinnerte sie Cluny an Malchik, obgleich sie bezweifelte, dass ihr Neffe über ebenso viel Charme verfügte. »Das ist eine ausgezeichnete Idee, Cluny«, sagte sie. »Komm, Boris. Du kümmerst dich um das Bild, ich kümmere mich um mich selbst!« Boris hatte die Anweisungen von Malchiks Schmierzettel in seinem Notizbuch festgehalten, und mit Cluny an der Spitze machten sie sich auf den Weg in die Stadt; Planchet bildete mit einem geflochtenen Weidenkorb das Schlusslicht. Yuste dachte unwillkürlich, wie absurd sie aussehen mussten; tatsächlich hatten sie den Anschein einer sorglosen Gruppe, die zu einem Picknick am Fluss aufbrach, und da es ein schöner Tag war, waren sie nicht allein: Trauben von Studenten, wie Krähen in ihrer schwarzen Kleidung, schienen mit dem gleichen Ziel unterwegs zu sein. Yuste wünschte, sie hätte nicht an Krähen gedacht. Sie blickte hinauf in den blauen Himmel, doch an diesem Morgen waren keine Beobachter auf dem Plan.
An einer Straßenecke machten sie Halt, während Cluny sich mit Boris über die Richtung verständigte. Yuste lehnte im Schatten gegen eine Hauswand, und Planchet wartete gleichmütig in einiger Entfernung. Sie hätte gerne mit ihm gesprochen, aber er schien sich abzusondern, als ob er Vertraulichkeiten nicht schätzte. Sein langes, schlichtes Gesicht war verwittert und dunkel wie Leder; sie fragte sich, ob er daran gewöhnt war, im Hause zu dienen, wie er es im Moment tat. Während Cluny sie durch eine enge Gasse zwischen zwei hohen Häuserreihen führte, deren Wände mit safrangelber Farbe getüncht waren, ließ sie sich zurückfallen, um mit ihm ins Gespräch zu kommen. Sie redete ihn in Franj an. »Ein angenehmer Tag, nicht wahr, Monsieur Planchet?«, sagte sie. Planchet sah sie an, als ob sie verrückt geworden wäre. »Ich würde es nicht gerade angenehm nennen, wenn Angehörige im Laufe der Nacht verschwinden, Madame«, antwortete er. Er hatte Recht, und Yuste fühlte mit einem Schlag die Dummheit ihres leichten Plaudertons. Sie spürte ebenfalls die Zurückweisung, doch sie war entschlossen, nicht aufzugeben. »Ist es wahr, dass Sie aus der Burg von Ademar stammen, Monsieur?«, fragte sie. Planchet sah sie nicht an. »Ich habe Monsieur le Bâtard gedient, seit er entwöhnt wurde«, sagte er. »Ich bin sein Leibdiener. Aber es gibt keinerlei Veranlassung, mich mit seltsamen Namen anzusprechen, Madame. Ich bin Planchet.« »Dann solltest du mich auch nicht Madame nennen, Planchet, denn ich entstamme keinem Adelsgeschlecht. Ich bin eine Wanderin und wir führen in der Gesellschaft keine Titel.« Planchet blickte unbeirrt geradeaus, sein Gesicht war ausdruckslos. »Mein alter Herr, der Doyen von Ademar, hat Wanderer verbrannt«, sagte er. »Aber Seigneur Cluny ist nun mein einziger Herr.« Yuste war sich nicht sicher, was sie von dieser Aussage halten sollte, aber sie fühlte sich ein wenig ermutigt davon, so barsch die Erwiderung auch gekommen war. Daher sagte sie unwillkürlich: »Was für ein Glück für uns, dass niemand in Masalyar davon spricht, Wanderer zu verbrennen. Sie haben die alten Luxusgesetze wieder
eingeführt, und wir müssen sie beachten.« »Wir alle leben unter dem Gesetz Neustrias«, sagte Planchet, und Yuste vermutete, dass sie nicht mehr aus ihm herausbekommen würde. Mit einer kleinen Verbeugung machte sie sich auf den Weg, um sich zu Boris und Cluny zu gesellen, die sich wieder einmal am Ende der Straße besprachen. »Das war die Ruelle Amboise«, sagte Cluny gerade. »Ich bin ziemlich sicher, dass es in dieser Richtung zur Source Vergey geht. Es ist nur ein kurzer Weg von den Grasniederungen am Fluss aus.« »Das alles scheint mir ein bisschen übertrieben, wenn Malchik einfach nur zum Fluss hätte gehen wollen«, sagte Boris. »Oh, er wäre einfach geradewegs zur Brücke gegangen«, sagte Cluny. Yuste war klar, dass Boris ihn nervös machte. »Es gibt einen Pfad, der von hier aus direkt zu den Anlegeplätzen führt. Der Pfad zur Source Vergey ist auf der anderen Seite des Ufers.« »Und du meinst, wir werden die Roma an der Source Vergey antreffen?« Cluny nickte mehrmals eifrig. »Der Stadtrat verbietet ihnen, ihr Lager in den Flussniederungen aufzuschlagen. Und ich breche die Regeln des Colleges, wenn ich sie besuchen will. Genauso wie Malchik.« »Wenn ich mich nicht irre, dann hat Malchik jetzt ganz andere Sorgen als die Collegeregeln«, bemerkte Boris und hob die Augenbrauen. »Beachte ihn nicht, Cluny«, sagte Yuste. »Führ uns zu den Anlegeplätzen. Wenn es Schwierigkeiten gibt, werden Boris Andreyevich und ich ein gutes Wort für dich einlegen.« Cluny lächelte ihr dankbar zu und schritt auf dem offenen Steinweg entlang, der die Ruelle Amboise kreuzte. Aus dem Weg wurde ein breitgetretener Schlammpfad, der zwischen einigen zusammengefallenen Gebäuden entlangführte, doch dem Rauch nach zu urteilen, der aus den Schornsteinen aufstieg, waren die Häuser nicht verlassen. Wäsche hing zum Trocknen in den Büschen der überwu-
cherten Gärten, und Yuste hörte das Gegacker von Hühnern, als sie an den Vorgärten einbogen. Sie raffte ihren Rock, damit er nicht im Schmutz schleifte, und sann wie so häufig darüber nach, dass sie Annats freizügigeren Kleidungsstil hätte übernehmen sollen. Mit Unterröcken und ihren sonstigen Röcken ausstaffiert, fühlte sie sich wie ein Schlachtschiff. Cluny eilte den gewundenen Pfad entlang; vor ihnen erspähte Yuste das blaue Band des Flusses. Plötzlich ertönte vom Hof her ein mächtiger Lärm, denn die Hennen begannen zu gackern und zu gurren, als ob ein Fuchs zwischen ihnen wüten würde. Yuste blieb stehen und fühlte einen kalten Schatten auf ihr Herz drücken. Am Himmel war eine Verdunkelung zu sehen, die nicht die Gestalt der vorüberziehenden Wolke hatte, sondern die aus einer Vielzahl dunkler Flügel und schriller, im Gleichklang kreischender Stimmen bestand. Kaum dass Annat den Spiegel betreten hatte, hörte sie ein Geräusch wie eine zuschlagende Tür hinter sich. Sie versuchte sich umzudrehen, doch sie fand sich von Dunkelheit umgeben wieder, vorwärts getrieben, gezogen von einer Kraft, die mächtiger war als ein Magnet. Sie konnte nichts erkennen, und die einzige Empfindung war die von Geschwindigkeit. Sie schlug die Arme vors Gesicht, als wolle sie sich vor einem Aufprall schützen, denn es war beängstigend, durch eine Leere zu wirbeln, ohne auch nur das Gefühl von Wind im Gesicht zu spüren, der sie trösten könnte. Keine der Reisen, die sie in die Schamanenwelt unternommen hatte, hatte so begonnen; es war, als ob ein mächtiger Wille sie gepackt hatte und sie nun einem unbekannten Ziel entgegenzerrte. Annat kämpfte darum, ihre eigenen Fähigkeiten einsetzen zu können, doch sie schienen in ihr eingefroren zu sein wie winzige Funken, die sie zu keinem Feuer schüren konnte. Dann durchschnitt sie ein Gefühl der Panik wie ein Messer, denn sie verlor jedes Gespür für sich selbst. Ihr Körper schien seine Begrenzungen zu spren-
gen, und Teile der Dunkelheit durchdrangen sie, als ob sie in Fragmente zerfiel. Nur die nassen Tränen auf ihrem Gesicht sagten ihr, dass sie noch immer eins war, eine Gestalt, die von der Leere begrenzt wurde. Sie presste die Hände auf ihr Gesicht, um die Nässe zu spüren, und leckte an ihren Fingerspitzen, um das Salz zu schmecken. Das Salz des Meeres, das Grab ihrer Mutter, sein brennender Geschmack auf ihrer Zunge brachte ihr ihren Mut zurück. Sie breitete die Arme aus und umhüllte sich selbst mit ihnen, um wie ein Vogel durch den Schatten zu gleiten. Wenn sie fliegen könnte, wäre sie nicht länger ein Opfer, das gegen seinen Willen durch die vorbeirasende Stille befördert werden konnte. Die Macht schnellte wie ein Gummiband, das bis an seine Grenzen gespannt war, zurück, und Annat wurde nach vorne geschleudert, bis sie der Länge nach zu Boden fiel. Ihre Hände federten den Sturz ab, als sie auf glattem Stein aufschlug, und sie blieb atemlos liegen, wo sie hingefallen war. Einige Augenblicke lang war sie zu durchgerüttelt, als dass sie sich aufrichten konnte; ein klingelndes Geräusch toste in ihren Ohren, das langsam verging und in Gelächter überging. Ihr Haar hatte sich gelöst, und nachdem sie sich mit schmerzenden Knochen aufgesetzt hatte, strich sie es sich ungeduldig aus dem Gesicht. Sie befand sich in einem runden Raum, glatt wie eine Muschel und schwarz wie Onyx. Ihr gegenüber stand ein mannshoher Spiegel mit einem vergoldeten Gipsrahmen; daneben war die dunkle Gestalt eines untersetzten Mannes zu erkennen, der sie mit einem verächtlichen Lächeln beobachtete. Annat setzte sich auf die Fersen und rieb ihre Handflächen an ihrem Rock. Sie hielt es nicht für klug, ihre Kräfte einzusetzen; falls ihr Gegenüber ein Schamane war, verfügte er über weitaus stärkere Kräfte als alle, von denen sie wusste. Seine Haut war dunkel und golden, seine Augen von einem satten Braun, sein Gesicht wurde von einem Bart und langem, strähnigem Haar eingerahmt. Ein Gesicht wie das eines Eikons, prächtig wie die emaillierten Mosaike der Mönchsheiligen in einem Tempel der Doxoi; doch sein Lächeln
passte nicht zur nüchternen Würde derer Gesichtszüge. »Zdrasvuytye, Gospodina!«, begrüßte er sie in Sklav. Sie erkannte den einheimischen Akzent, der sich leicht von ihrem eigenen unterschied. Annat erhob sich langsam und richtete ihre Röcke. Er war ein Schamane, da war sie sich sicher, doch etwas Seltsames lag in der Signatur seiner Macht. Er hatte nicht versucht, es vor ihr zu verbergen; es schien seltsam verzerrt, wie ein Licht, das von einem Prisma eingefangen und gebrochen wird. Er war zweifellos mächtig, doch mit keiner außergewöhnlichen Stärke ausgestattet, die die Macht erklären könnte, welche sie hierher gezogen hatte. »Wer sind Sie, Mister?«, fragte sie, während sie ihren Körper anspannte. Sie war sich nicht sicher, ob ihre eigenen Mächte auf ihre Anrufung hören würden. Sie bog die Finger und spürte den schwachen, erstickten Funken in ihrem Inneren. Dieser Mann hatte ihre Fähigkeiten beschnitten, ihre inneren Feuer zum Erlöschen gebracht. Er durfte nicht wissen, dass sie Angst hatte. Er hatte sein Kinn in die Hand gestützt und sah sie an. »Du musst Annat Vasilyevich sein«, sagte er. Sie behielt ihre Gefühle wohlverborgen in ihrer Faust. Sie musste ihn daran hindern, in ihr zu lesen, ihre Gedanken und Gefühle herauszuschaben und sie wie Fleischstückchen zu untersuchen. Er wollte ein Spiel spielen, bei dem er die Regeln vorgab. »Sie haben mich hierher gebracht, Mister«, sagte sie. »Sie wissen, warum.« »Ich habe dich hierher gebracht, damit du deinem Bruder Gesellschaft leisten kannst, kleine Schamanin. Ich brauche ein Paar.« Noch vor gar nicht langer Zeit hätte Annat den Namen ihres Bruders herausgeschrien und verlangt, dass sie augenblicklich zu ihm geführt würde. Der Wunsch danach stieg in ihr auf, doch die Lehren ihres Vaters halfen ihr dabei, ihn zu zügeln. »Ich habe ihn im Spiegel gesehen«, sagte sie. »Er rief nach mir, damit ich ihm zu Hilfe komme.« »Ich dachte, das würde dich hierher bringen«, sagte der Schamane. »Ich hatte ihn den Spiegel finden lassen. Unschuldig, wie er ist,
tat er genau das, was ich wollte.« Annat verschränkte die Arme vor der Brust. »Das scheint viel Aufwand zu sein, um zwei Rebjata zu fassen«, sagte sie. »Ihr Wunsch, uns in Ihre Macht zu bringen, scheint sehr dringlich gewesen zu sein.« »So siehst du dich selbst? Als ein Kind?«, fragte er. »Ich sehe eine Frau und eine mächtige Schamanin. Wenngleich natürlich keine meiner Klasse. Du hast Glück, denn mein Herr sucht das Herz eines mächtigen Schamanen. Deines wäre nicht stark genug.« »Das Herz eines mächtigen Schamanen. Wofür benötigt er es?« »Er will es, aber ich brauche es. Ich habe die … Ingredienzien für ein großes magisches Werk zusammengetragen. Folge mir, ich will, dass du jemanden triffst.« Er versuchte nicht, ihr seinen Willen aufzuzwingen, doch Annat wusste, dass es unklug wäre, Widerstand zu leisten. Sie folgte ihm in den Raum hinter dem Spiegel, wo ein sorgfältig behauener Tunnel, glatt wie das Loch eines Regenwurms, aus dem runden Raum in einen anderen, helleren führte. Immer wieder blickte er über seine Schulter, um sich zu vergewissern, dass sie ihm folgte, und seine Augen blitzten vor kaltem Vergnügen. Das Glitzern der neuen Kammer überraschte sie. Ihre Kristallwände fingen das Licht ein und streuten es. Es fiel durch ein Loch in der Decke hinein, einem unregelmäßigen Luftschacht, der in den Fels gehauen war. Regenbogen krümmten sich, schimmerten auf dem Fußboden und malten Farbbänder auf dessen bleigrauer Oberfläche. Einen Augenblick lang war sie von dem Strahlen geblendet, von den Schwertern und Speeren aus Licht, die sich überschnitten und kreuzten und die Schatten zerteilten. Er wandte sich zu ihr um wie ein Magier, der ein Band farbenprächtiger Tücher hervorzieht. »Dies ist das Kristallzimmer«, sagte er, und sie hörte, wie ihr Bruder ihren Namen rief. Sie legte die Hand über die Augen und sah zwei Gestalten im Schatten, auf welche Lichtstreifen fielen. Dann trat Malchik aus dem Farbreigen heraus und drückte sie an sich. Die Kraft der Umarmung überraschte sie; ihr Gesicht war gegen
den Kordstoff an seiner Brust gepresst, und sie breitete ebenfalls die Arme aus, um ihn zu umschlingen. Der altbekannte Geruch seiner Kleidung, die Stärke in seinem Kragen, der bittersüße Duft seines Rasierwassers – das alles ließ sie mit einem vertrauten Gefühl ihren Bruder spüren, der gleichzeitig schwächer und stärker als sie war. »Rührend«, ertönte die Stimme des Fremden, hell und trocken. Als Malchik sie losließ, sah sie sein blasses Gesicht mit den zwei Tage alten weichen Stoppeln, die er als Bart bezeichnete. Wenn er doch nur senden könnte; es gab so vieles, was er ihr bereits hätte mitteilen können! Seine braunen Augen hinter den Gläsern betrachteten sie besorgt. Er ließ seine Hand auf ihrer Schulter ruhen, drehte sich zu dem Fremden um und sagte: »Sag uns lieber, was du willst. Nun, wo du uns beide hast.« »Deine Schwester will doch sicher einen alten Freund begrüßen«, sagte der Schamane und schob eine zweite Gestalt aus dem Spiel von Licht und Schatten hervor. Als sich Malchiks Griff an ihrer Schulter verstärkte, versuchte Annat, sich gegen ein plötzliches Schwindelgefühl zu wappnen. Benommen und voller Übelkeit weigerte sie sich zu glauben, dass der Mann derjenige war, der er zu sein schien. Sie lehnte sich gegen ihren Bruder und spürte, wie ihre Sinne von dem meerkalten Blick überschwemmt wurden, der sie über Eis und Tod hinweg suchte, um sie zu verwunden. Er war noch immer groß, doch seine breite Gestalt schien in sich zusammengesunken zu sein. Sein Gesicht hatte die Blässe verfaulenden Fisches, und seine Augen mit dem gelblichen Stich waren tief in ihre Höhlen gesunken. Er sah nicht wie ein toter Mann aus, sondern wie einer, der zu lange unter der Erdoberfläche gefangen gehalten worden war, wohin nie ein Sonnenstrahl drang. »Erkennst du mich nicht wieder, Annat?«, fragte er mit einer seltsamen, heiseren Stimme, die so lange nicht benutzt worden war, dass sie rostig klang. »Sarl«, sagte sie. Ihn mit seinem Namen anzusprechen schien nicht auszureichen. Obgleich sie ihn vor vier Jahren hatte sterben
sehen, stand er nun vor ihr, nicht als ein verfallender Leichnam, sondern als irgendetwas Lebendiges. Sie holte tief Luft, weniger aus Furcht, sondern vielmehr, weil ihre Sinne Anstoß an diesem unnatürlichen Geschehen nahmen und weil sie angewidert davon waren. Nun war ihr klar, warum die ganze Welt aus den Angeln gehoben zu sein schien, seitdem sie die Krähen gesehen hatte, die über Masalyar kreisten. Sie bildeten den äußeren Rand von Sarls Schatten, dem Schatten von Ademar, der wie der Zeiger einer Sonnenuhr über den Süden fiel. »Ich habe ihn ins Leben zurückgeholt«, sagte der andere mit seiner entsetzlichen, selbstgefälligen Stimme. »Er lebt, doch nur für neunzig Tage. Um ihn über der Erde zu halten, bedarf es zweier Seelen und des Herzens eines mächtigen Schamanen.« »Du willst unsere Seelen«, sagte Annat sanft. Sie empfand keinen großen Zorn oder auch nur angemessene Furcht. Ihr Geist arbeitete, getrieben von Gedanken, wie ihnen eine Flucht gelingen könnte. »Eure Seelen sind ausdrücklich von meinem Auftraggeber benannt worden. Ihr braucht nicht zu befürchten, dass ich sie jetzt sofort benötige. Das Herz und die Seelen müssen zusammen genommen werden, und bedauerlicherweise befindet sich das Herz noch nicht in meinem Besitz. Ein Mangel, den ich sehr bald behoben haben werde.« »Du solltest dein Versprechen besser halten, Magus«, sagte Sarl. »Oder dein eigenes Herz wird dem Zwecke dienlich sein.« Der Mann tat so, als habe er diese Worte nicht gehört. »Mein Auftraggeber, der Doyen von Ademar, hat mir klare Anweisungen gegeben«, fuhr er fort. »Ich muss nach dem mächtigsten Schamanen von Neustria suchen. Und nach eurem Vater, Yuda Vasilyevich. Der Zufall will, dass die beiden ein und derselbe sind.« Und wieder schluckte Annat ihren Schrei des Protestes und des Widerstandes hinunter. Sie blickte zu Malchik empor, und der Blick aus seinen braunen Augen umschmeichelte sie wie Honig. Auch er war stärker geworden, seit sie gemeinsam durch ein Schamanenland gereist waren.
»Ich glaube nicht, dass mein Vater eine so leichte Beute sein wird«, sagte er. Der Magus zuckte die Achseln. »Ob es leicht ist oder schwer, ich werde ihn in jedem Fall fassen«, sagte er. »Und ihr werdet hier auf meine Rückkehr warten. Ich habe für all eure Bedürfnisse gesorgt – nur nicht für die, die eure Flucht betreffen. Ihr werdet feststellen, dass ihr diesen Berg nicht verlassen könnt. Es ist leicht, hierher zu gelangen, doch viel schwerer, wieder zu verschwinden.« Es gab nichts, was sie darauf hätten erwidern können. Sie sahen ihn an, der Magus machte mit seiner Hand auf der Brust eine Verbeugung in ihre Richtung – dieses Mal ohne ein Lächeln – und bedeutete Sarl, ihm aus dem Raum zu folgen. Weder Malchik noch Annat machten den Versuch, sie daran zu hindern, doch sie wandten sich um, damit sie ihnen zusehen konnten, wie sie den Gang betraten, der zu dem Raum mit dem Spiegel führte. Als Sarl an ihnen vorüberging, warf er ihnen ein freudloses Lächeln zu, das die meisten seiner Zähne und seinen gelblichen Gaumen entblößte. Er hatte einen schlurfenden Gang, an den sie sich nicht erinnerten, als ob er nicht genügend Kraft hätte, seine große Gestalt aufrecht zu halten. Auf seine Art war das beängstigender als seine frühere Stärke, denn sie weckte ein gewisses Mitleid mit ihm. Sie beobachteten die große, gebeugte Gestalt, wie sie dem Magus außer Sichtweite folgte, und als sie verschwunden waren, wurde Annat von einem kleinen Schauer überfallen. Die Dinge liefen nicht gerade so, wie sie Semyon geplant hatte. Es stimmte, er hatte den Erben des alten Mannes von den Toten zurückgeholt und die beiden Wanderer mit einer Leichtigkeit gefangen, die ihn selbst überraschte. Die Spiegel funktionierten zu seiner Zufriedenheit und machten es ihm möglich zu reisen, ohne den ermüdenden Bedarf an Pferden, und ohne lange Strecken zurücklegen zu müssen. Er hatte Großtaten vollbracht, die ihm, wenn er erstmal an den Hof des Staryetz zurückgekehrt war, Ruhm und Reichtum
einbringen würden. Alles, was er begehrte. Er hatte Pläne und Intrigen geschmiedet, doch das Einzige, womit er nicht gerechnet hatte, war der Charakter des Erben selbst. Er konnte das geräuschvolle Atmen Sarls in der nahen Dunkelheit des Spiegels hören. Als Semyon ihn hatte auferstehen lassen, hatte er Dankbarkeit erwartet oder wenigstens einen Charakter wie den des Doyens, welcher von frommem Wahn verblendet war. Sarl jedenfalls hatte ihm schnell deutlich gemacht, dass er weder naiv noch fügsam war. Obgleich sein Körper nicht mehr über die gleiche Stärke wie zu Lebzeiten verfügte, waren sein Geist und seine Schamanenfähigkeiten scharf und mächtig, und er hatte sofort bemerkt, was Semyon verbergen musste, nämlich, dass sein eigenes Herz gute Dienste erweisen würde, um die Magie zu vollbringen, welche Sarls Anwesenheit in der Welt sichern würde. Er wusste das und schien es zu genießen, Semyon daran zu erinnern, als müsse er den mächtigen Magus, der ihm sein Leben zurückgegeben hatte, mit dessen eigener Sterblichkeit beschämen. Semyon schirmte seine Gedanken sorgfältig ab und knirschte mit den Zähnen. Dieser halbtote Sprössling eines niederen Herrschers würde ihn nicht bedrohen! Seine Fähigkeiten konnten in nur einem Augenblick das Lächeln aus dem Gesicht dieses Emporkömmlings peitschen, den Körper wieder zu Staub werden lassen und die Seele in die Hölle schicken. Er hatte darum gerungen, seinen Geist Sarl nicht zu offenbaren, und hatte so versucht, sich mit dem verborgenen Wissen um die Kräfte, die er beherrschte, zu trösten. Er hatte bei den rohen Drohungen gelächelt und gelacht, doch das Beschämende war, dass sie ihn nervös machten. Er konnte nicht glauben, dass Sarl diese Worte nur ausstoßen, sie jedoch nicht in die Tat umsetzen würde. Sie traten aus dem Spiegel heraus in das kühle, durch den Fensterflügel gefilterte Licht der Burg. Unwillkürlich seufzte Semyon und entspannte sich, als ob er eine Prüfung bestanden hätte. Er eilte durch den Raum, um sich davon zu überzeugen, dass sich niemand an seinen Koffern zu schaffen gemacht hatte. Er war nicht so tö-
richt, sie in Sarlss Gegenwart zu öffnen, denn es war besser, den Anschein des Geheimnisvollen zu wahren, doch als er sie berührte, konnte er ihre Inhalte spüren, die reglos darauf warteten, dass er sie wieder freisetzte. Er kehrte Sarl nicht lange den Rücken zu. Etwas zu rasch schnellte er empor, nur um festzustellen, dass der Erbe aus den grün gefärbten Fenstern auf die Welt hinunterstarrte, auf die er erst vor kurzem zurückgekehrt war. »Hast du bei all deinen Reisen jemals der Hölle einen Besuch abgestattet, Magus?«, fragte er ruhig. Semyon mochte diese Art von Fragen nicht. Etwas zu bestreiten wäre ein Eingeständnis der Grenzen seiner Macht, doch es wäre eine Schwäche zu lügen. »Die Lebenden betreten die Hölle nicht. Nicht einmal solche wie ich«, sagte er und ließ sich beim Regal mit den Koffern rechts und links von sich auf dem Stuhl nieder. »Du lügst«, sagte Sarl und drehte sich geschmeidig um. Er hatte seine Selbstsicherheit nicht verloren, auch wenn seine Glieder nicht immer seinem Befehl gehorchten. »Ich habe Schamanen in der Hölle gesehen.« Die Neugier gewann die Oberhand über Semyons Bedürfnis, seine Unwissenheit zu verstecken. Er verspürte eine Art Hunger danach, von der schlimmsten aller Welten zu hören. Er hatte geglaubt, sie sei ein Mythos oder ein Ort, den Schamanen auf keinem Weg, der ihm bekannt war, betreten konnten. »Erzähl mir davon«, sagte er und beugte sich vor. »Warum sollte ich dir deine Wünsche erfüllen? Im Übrigen ist es verboten, darüber zu sprechen«, sagte Sarl und lächelte, als er geendet hatte. Semyon reizte es, dieses Lächeln wegzublasen, das ihn mit seinem überlegenen Wissen verhöhnte. Er konnte zwischen den Welten reisen, er hatte eine solche Welt sogar in seinem Besitz, doch er konnte die Geheimnisse des Todes nicht enthüllen. »Viele Männer schwören, dass es einen solchen Ort gar nicht gibt. Und kein Paradies«, sagte er. Er fühlte sich wie ein Junge, ein kleiner Bursche, der von einem älteren gehänselt wurde. Er erinnerte
sich an die brennenden Demütigungen unter Kaschai, der Unkenntnis und Erfolg gleichermaßen verhöhnte. Sarl legte seine Hand auf die Fensterscheibe. »Ich kann nicht fürs Paradies sprechen. Aber ich sah die Hölle«, sagte er und spähte in die Ferne, als ob sich vor seinen Augen ein Raum aufgetan hätte. »Aber ich habe dich zurückgebracht«, sagte Semyon und hätte sich auf die Zunge beißen können, als er den flehenden Ton in seiner Stimme hörte. Sarl verschränkte die Arme vor seiner Brust. »Ich hoffe, mein Vater bezahlt dich gut«, sagte er gefühllos. »Meine Belohnung wird sich nicht in Münzen berechnen lassen«, sagte Semyon und versuchte, die Echtheit seiner Worte auch zu spüren. »Jeder Mann hat seinen Preis«, sagte Sarl. »Es muss kein Geld sein. Aber gib nicht vor, meinem Vater aus Liebe zu dienen, du, ein Fremder.« »Ich gehorche meinem Herrn, dem Staryetz, der mir befohlen hat, deinem Vater in dieser großen Angelegenheit zu helfen.« Sarl wandte sich wieder zum Fenster um, als würden ihn diese Beteuerungen nicht interessieren. »Die große Angelegenheit meines Vaters«, sagte er. »Er marschiert in Richtung Süden, und ich bin nicht dort, um wie ein Mann an seiner Seite zu reiten.« »Deine Zeit ist begrenzt«, sagte Semyon und hoffte, dass Sarl nicht bemerken würde, wie viel Freude ihm diese Worte machten. »Wir müssen diesen Vasilyevich finden und ihn zum Berg bringen. Dann, wenn alles vollbracht ist, wirst du davonreiten, um dich deinem Vater und seinen Kriegern anzuschließen, und meine Arbeit wird vollbracht sein.« »Vasilyevich«, sagte Sarl und ließ das Wort über seine Zunge rollen, wie es Semyon getan hatte. »Er war mir ausgeliefert. Ich hatte ihn abgeschlachtet, doch er hat überlebt, während meine Knochen unter der Erde vermoderten.« »Dann wirst du jetzt Rache nehmen!«, sagte Semyon. »Genau, wie es dein Vater wünscht. Du wirst ihn sterben sehen, und sein Herz
wird dir dein Leben zurückgeben.« »Du begreifst nichts, Magus. Er ist meine Hölle«, sagte Sarl. Semyon konnte nicht verstehen, wie sein Versprechen dieses Monster, das er aus der Erde geholt und dem er mit Zaubersprüchen wieder Leben eingehaucht hatte, nicht zufrieden stellen konnte. Die feuchte Muttererde hatte den Leichnam freigegeben, und er hatte die Seele über Welten und Zeit hinweg herbeigerufen, um sie zusammenzustricken, damit so etwas wie ein Mann entstehe. Ein Schamane, der seine innersten Gedanken vor Semyon verbergen und der sogar die Tatsache verstecken konnte, dass er ein Schamane war. Semyon hatte von solchen Kreaturen gehört, doch als er Sarl erweckt hatte, war ihm nicht bewusst gewesen, dass er so jemanden ins Leben bringen würde. Die Stille, die Abwesenheit von Macht, summte wie eine Tretmühle und ging ihm auf die Nerven. Nicht einmal der grolle Kaschai konnte seine Macht vor seinen Untergebenen verbergen – aber er hätte es auch nicht versucht. »Deine animalischen Sinne sind schwach, Gospodin. Wenigstens kannst du die Freuden des Fleisches spüren, die dir so lange vorenthalten waren.« »Sie bereiten mir keine Freuden«, sagte Sarl. »Essen ist Staub und Wein ist Spülwasser. Ich verspüre nicht die Lust eines lebenden Mannes. Mein Körper ist eine Schale, und mein Herz ist verrottet. Wenn du dein Versprechen nicht hältst, Magus, werde ich dir das deinige herausreißen und mir zwei Seelen nach meinem Geschmack suchen, die meinem Wunsch dienlich sind.« Ein plötzliches Pochen an der Tür ließ Semyon zusammenfahren. Er war sich sicher, dass Sarl es bemerkt haben musste. Er schwitzte und spürte, wie seine Hände zitterten. Nichts und niemand hatte jemals solch jämmerliche Furcht in ihm hervorgebracht. Mit hoher, angespannter Stimme hieß er den Besucher eintreten; die Tür öffnete sich, und Sarls jüngere Schwester Huldis tauchte auf. Semyon entspannte sich und sank wie ein nasser Sack in sich zusammen. Groß und schlank geisterte die junge Frau durch das Schloss wie der Schatten einer Birke. Nur selten sprach sie oder hob den Blick,
doch bei ihrem Anblick spürte Semyon, wie sein Glied auf angenehme Weise zum Leben erwachte. Wie immer lagen Lust und Tod nahe beieinander. Es reizte ihn, seine Hand unter die Röcke dieses langen, züchtigen Kleides gleiten zu lassen und die glatten Oberschenkel zu liebkosen. Er leckte sich die Lippen, als ob sich ihm ein üppiges Mahl nach langem Darben präsentierte, und nannte ihren Namen. »Mon Seigneur«, sagte Huldis. Silbriges Haar kräuselte sich um ihren Kopf und flutete ihren Rücken hinab. Semyon hatte die Farbe ihrer Augen nicht wirklich sehen können, doch er nahm an, dass sie blau waren, eine Farbe, die selten in der Natur vorkam und deshalb umso wertvoller war. Einen Augenblick lang hatte er Sarl beinahe vergessen. Der Erbe schritt durch den Raum, um seine Schwester zu begrüßen, die dagegen ankämpfte, vor seiner Berührung zurückzuschrecken. »Jean«, sagte sie mit farbloser Stimme. »Du bist zurück.« Sarl streckte die Arme aus, als wolle er sie an sich ziehen, doch seine Hände berührten sie nicht. Semyon fragte sich, ob dieses Mädchen seine Schwäche war, etwas, das er später gegen ihn verwenden konnte. »Gibt es eine Nachricht von meinem Vater?«, fragte Sarl. Der Ton, als er mit seiner Schwester sprach, unterschied sich völlig von jenem, mit dem er Semyon anredete. Die Gewalt und die kalte Gleichgültigkeit waren zurückgedrängt, als befürchte er, die zerbrechliche Gestalt zu verletzen. Semyon bemerkte ihren flackernden Blick, als sie hinauf in das Gesicht ihres Bruders blickte und sich darum bemühte, nicht vor ihm zu erschaudern. Es war wenig überraschend, dass die halbtote Kreatur, die den Platz eines lebenden Mannes eingenommen hatte, sie abstieß. Semyon bewunderte das Zartgefühl, mit dem sie ihre Empfindungen zu verbergen versuchte. Sie war anspruchsvoll, und er würde es genießen, wenn sie vor ihm zurückwich, weil er sie am Arm packte, um ihr die rauen Geheimnisse der Lust beizubringen. Er stützte sich
auf eine Stuhllehne und beobachtete Bruder und Schwester. »Er hat Mont Eldemar eingenommen, und er marschiert Richtung Süden«, sagte sie und konnte Sarls Blick nicht standhalten. »Lass mich mit dir kommen, Sarl. Es ängstigt mich, allein zurückzubleiben. Es gibt zu viele Geister hier.« Sarl berührte ihr Gesicht, umhüllte es mit einer Zärtlichkeit, die Semyon unwillkürlich schaudern ließ. »Aber kannst du es ertragen, mit diesem Geist zu reisen, Huldis?«, fragte er. Sie versuchte, ihn anzulächeln. Ihr Mund verformte sich zu einem Lächeln, doch es war schief und verzerrt von anderen Gefühlen. »Ich will dir helfen, Jean. Ich will dich wieder ganz sehen, so wie du einmal warst.« »Du weißt, was zu tun ist, damit ich wieder ganz bin?«, fragte er. »Das weiß ich.« »Es wird drei Leben kosten«, sagte Sarl. »Die Leben von Menschen, die dabei geholfen haben, dich zu uns zurückzubringen, Huldis. Mein Vater mag dies vergessen haben, aber ich kann das nicht. Er hat sie ausgewählt. Es war nicht ich.« »Er will Rache für deinen Tod«, sagte Huldis. »Das verwirrt mich«, sagte Sarl. »Wozu braucht er Rache, wenn er mich an seiner Seite haben wird, in Körper und Seele? Ein Mann hat mich im Kampf geschlagen. Ich hätte sein Leben ebenfalls beendet. In dieser Hinsicht nehmen wir uns beide nichts.« »Unser Vater hat darunter gelitten, dich verloren zu haben. Er hat oft mit mir darüber gesprochen, seitdem ich hierher kam. Er glaubt, dass Gerechtigkeit bedeutet, etwas in doppeltem Maße zu vergelten.« Semyon räusperte sich. Er hatte das Gefühl, lange genug dieser anrührenden Szene beigewohnt zu haben. Er wollte, dass sie sich rasch auf den Weg nach Yonar und mit den Gefangenen wieder zurück machten. Es belustigte ihn, dass Sarl offenbar Schwierigkeiten damit zu haben schien, den Mann zu töten, der ihn zerstört hatte. Der Gedanke, dass Sarl irgendwelche Skrupel haben könnte, war an sich unterhaltsam.
»Nimm das Mädchen mit, Gospodin«, sagte er. »Wir werden nicht lange brauchen.« Sarl wandte langsam seinen Kopf um und warf ihm aus seinen rot geränderten Augen einen entsetzlichen Blick zu. »Ich habe das Gespräch mit meiner Schwester noch nicht beendet, Magus«, sagte er. »Übe dich in Geduld, oder ich werde dir auch noch deine Zunge herausschneiden.« Mit einiger Überwindung legte Huldis eine ihrer langen Hände auf den Ärmelaufschlag ihres Bruders. »Es gibt keinen Grund, so harsch zu sprechen, Jean. Dieser Mann ist ein ehrenwerter Gast unseres Vaters und ein Gesandter.« Sarls Blick, der noch immer auf Semyon ruhte, zeigte unmissverständlich, was er über ihn dachte, doch er sagte laut: »Du musst mir vergeben, Huldis. Auch die Reise durch die Hölle hat meine Umgangsformen nicht vollendet. Wir sollten den Magus bei seiner Aufgabe begleiten, was mir ein Bedürfnis ist, jedoch wenig Freude in mir hervorruft.« Konnten Tote lügen? Semyon fragte sich das unwillkürlich. Er wusste nicht, ob er glauben sollte, dass Sarl seiner Schwester gegenüber ehrliche Zuneigung hegte, oder eher, dass er sie nutzte, um seine eigenen Interessen zu verfolgen. Sarl versuchte nicht einmal, vor Semyon seinen Hunger nach einem neuen Leben zu verbergen, ungeachtet des Preises, den dies bedeutete; trotzdem hielt er daran fest zu betonen, dass er Vasilyevich, der ihn getötet hatte, nicht hasste. Die Schlichtheit dieser ausländischen Adligen war dem Magus fremd, der an die Unterschwelligkeiten und verborgenen Messer des Hofes in Sklava gewöhnt war. Dort war der Schein alles und das Vorgeben von Dingen wichtiger als die dahinter liegende Wahrheit. Jeder Höfling bildete sich etwas auf seine Künstlichkeit ein, denn ansonsten würde er rasch seines Standes beraubt und sich als schlichter Boyar wiederfinden. Semyon konnte sich einfach nicht vorstellen, wie der Staryetz dieses offene Sprechen des Doyen und seines Sohnes vergelten würde, es sei denn, er fände es amüsant. Vielleicht würde er mit seiner verschlagenen Seele eine verborgene
Untergründigkeit erahnen, die Semyon nicht zu entdecken vermochte. Wenigstens hatte er sich wieder etwas gesammelt. Einen Moment lang hatte er vor der Verachtung und dem Hass in diesen hellen Augen gezittert. Er hatte vergessen, wer er war und worüber er gebieten konnte. Er konnte nicht länger erwarten, diese Provinzler mit der Brillanz seiner Magie blenden zu können, doch es könnte ihm immer noch gelingen, Sarl daran zu erinnern, dass er ein nicht zu verachtender Gegner war. Nun, wo er begonnen hatte, die Schwäche des Erben zu erkunden, sammelte er das Wissen an, welches er später zu seinem Vorteil würde nutzen können. »Der Spiegel wartet auf uns. Mit seiner Hilfe sollten wir Yonar in wenigen Augenblicken erreichen; eine Reise, die uns sonst viele Tage kosten würde.« »Wie ist das möglich, Magus?«, fragte Huldis, und einen Moment lang fing er ein Flackern von etwas Unvertrautem in ihrem Blick auf, als könne sie eine Gefühlsregung nicht wirklich verbergen, doch er hatte keine Ahnung, was das für eine sein mochte. »Ich kann durch den Spiegel gehen und durch den dahinter liegenden Raum reisen, um uns sicher aus einem anderen Spiegel in Yonar herauszubringen. Ich habe bereits hindurchgeblickt, um die Spiegel in der Stadt zu prüfen, und habe einen gefunden, der unseren Bedürfnissen genügt. Falls jemand das Unglück hat, uns zu stören, wird er umkommen.« Er streckte seine Hand aus und fragte sich, ob er es wagen sollte, ihr seinen Willen aufzuzwingen, sodass sie sie ergriff. Jedoch nicht in Sarls Gegenwart, entschied er, ließ aber seinen Blick auf ihrem Gesicht ruhen, bis sie wegsah. Er musste sie an seine Flamme ziehen, diese zarte Motte – oder war sie eine Biene, die vom Honig angezogen wurde? Er hatte jede Menge Frauen gehabt, von Prinzessinnen bis zu Spülmädchen, auch wenn wenig Kraft genügte, um Letztere gefügig zu machen. Er wusste, dass er ihnen Vergnügen bereitete, auch wenn sie schrien und ihre Tugendhaftigkeit verteidigten. Doch er wollte seine Lust auf diese perfekte Blume nicht durch
einen Zauber beschmutzen. Er würde auf sie einwirken, bis sie aus freien Stücken zu ihm kam.
Kapitel 6
H
inter dem Fluss führte ein ausgetretener Pfad durch die Flussniederung zu einigen flachen Hügeln, die von Wäldchen gesäumt waren. Auf beiden Seiten des Weges waren die Felder von schlangenköpfigen Kaiserkronen übersät, deren kleine Blüten in der Entfernung zu einer lilafarbenen Decke verschmolzen. Yuste liebte diese seltenen Blumen, und sie in einem solchen Überfluss zu sehen, wäre ihr normalerweise Anlass genug, herumzutrödeln und die Muster zu betrachten, die sie auf dem morastigen Boden bildeten; doch über ihren Köpfen am Himmel zeigte sich ein anderes Muster, das durch die Bewegung von Krähen hervorgebracht wurde, die dort kreisten und im Takt hinabstießen wie Stare vor dem Sonnenuntergang. Doch statt der tschilpenden Stimmen der Stare erhoben diese größeren Gesellen ein seelenloses Gekrächze, bei dem ein Vogel zum Echo des anderen wurde. Sie schienen ziellos zu fliegen, doch ihre Anwesenheit hing bedeutungsschwer über Yuste. Jeder in der Gruppe hatte die Erscheinung bemerkt. Cluny und Planchet hatten sich leise besprochen und zum Himmel emporgeblickt, und Boris hatte sie am Ärmel berührt und gefragt: »Sind sie das?« Nun eilten sie weiter, denn sie sehnten sich danach, die Deckung zu erreichen, die die Bäume bieten würden, auch wenn Yuste bezweifelte, dass die Krähen ausgesandt worden waren, um sie zu beobachten. Ihre Anwesenheit war eine Botschaft; eine, deren Bedeutung sie noch nicht entschlüsseln konnte. Sie versuchte, ihre Gedanken auf die Roma zu konzentrieren. Manche mochten zwar sagen, dass sie mit den Wanderern verwandt
waren, doch tatsächlich hatten die beiden Gruppen nur wenige Berührungspunkte. Die Roma lebten auf der Straße und reisten in ihren Wagenkolonnen. Für einige Tage oder Wochen ließen sie sich außerhalb der Städte nieder, waren jedoch selten willkommen. Das Exil der Wanderer war von anderer Art; sie waren in den Städten und Dörfern ansässig und lebten als Fremde unter ihren Nachbarn. In allen Ländern des alten Imperiums war Doxa die Staatsreligion, und die Wanderer waren ungeladene Gäste. Yuste fiel kein Land ein, in dem sie unter ihrem richtigen Namen, Ya-udi, bekannt waren und ohne Beschränkungen leben konnten. Und doch wurden sie – anders als die Roma – nur selten verfolgt, aus ihren Häusern gejagt oder getötet. Sie wussten, dass sie nicht sicher waren, doch die Bedrohung wurde zurückgehalten und hinter dem falschen Lächeln des alltäglichen Lebens verborgen. Die Roma mussten jeden Tag mit Anfeindungen klarkommen, mit Worten, die zu Schlägen wurden, und mit der Feindseligkeit der Bürgervorsteher. All diese Dinge machten sie misstrauisch gegenüber Fremden, und Yuste sah keinen Grund, warum sie sie selbst oder ihre Freunde willkommen heißen sollten. Sie näherten sich dem Waldrand. Große, ausgebreitete Pavillons aus dunkelgrünen Blättern hingen reglos und luden sie ein, in ihre Schatten und in die Stille einzutreten. Cluny blieb im Sonnenlicht stehen, an der Stelle, wo sich der Weg zwischen die Baumstämme zu schlängeln begann. Als sie sich zu ihm gesellte, flüsterte er: »Ich glaube, wir sollten von nun an näher beieinander bleiben. Sie werden uns beobachten, weißt du.« Yuste folgte ihm vom Feld in das plötzliche, kühle Dämmerlicht hinein. Über ihr schirmten schwebende Baldachine den Himmel ab, filterten das Sonnenlicht und ließen nur wenige Strahlen bis zum Erdboden durchdringen. Sie konnte Boris hinter sich gehen und mit schweren Schritten auf Zweige und tote Blätter treten hören; doch Planchet war beinahe geräuschlos, und sie musste sich umdrehen, um sich zu vergewissern, dass er noch da war. Boris rauchte eine seiner Zigarren, und der
stechende Geruch schien sowohl tröstlich wie fehl am Platze. Yuste beobachtete Cluny, der sich leicht und mit sicherem Fuß seinen Weg durch die Bäume bahnte, und dachte, dass sie und Boris städtische Eindringlinge waren, die durch den Wald trampelten, als sei er eine Straße in Masalyar. Sie fragte sich, ob es Boris bewusst war, was für einen Lärm er verursachte, oder ob er gerade seine tieferen Sinne verwendete, um den Wald nach Gefahren abzusuchen. Sie konnte nicht umhin zu denken, dass ihr Bruder lautlos und wachsam gegenüber beiden Arten von Gefahr gewesen wäre, und verfluchte sich selbst dafür, dass sie die beiden Männer miteinander verglich. Immerhin behandelte sie Boris nicht wie eine Niete, weil ihre Macht so schwach war. Yuda hätte alle Verantwortung auf sich geladen und ihr das Gefühl gegeben, hilflos und nutzlos zu sein. Einige Spuren ihrer Schamanensinne waren ihr geblieben, und sie konnte, wenn sie sich konzentrierte, Dinge wahrnehmen, die Cluny, mit all seinen waidmännischen Fähigkeiten, nicht bemerkte. »Guter Gedanke, Madame Vasilyevich«, knurrte Boris. Yuste schnappte nach Luft. Noch nie hatte jemand ihre Gedanken mithören können, von Yuda abgesehen. Sie hatte geglaubt, sie sei zu der gleichen inneren Stille verdammt wie diejenigen, die über keine dieser Fähigkeiten verfügten. Abgesehen von den Spuren der Gedanken und Empfindungen, die sie in Annat fühlen konnte, war sie allein gewesen, mit keiner Gesellschaft als der Stimme ihres Zwillings. Und er war so selten in ihrer Nähe und so häufig unwillig, irgendetwas mit ihr zu teilen. Sie ließ sich zurückfallen, um neben Boris zu laufen. »Das ist nicht möglich, Boris Andreyevich. Niemand kann meine Gedanken hören.« »Ich habe es gerade getan. Vielleicht bist du ja doch nicht so versehrt, wie du immer geglaubt hast.« »Boris, ich war dreizehn. Das ist…«, sie zögerte, »siebenundzwanzig Jahre her. Seit ich nach Masalyar gekommen bin, habe ich immer viel mit Schamanen zu tun gehabt. Keiner von ihnen hat je
meine Gedanken vernommen.« »Vielleicht haben sie nicht zugehört«, sagte Boris und lächelte. Yuste konnte nicht anders. Sie musste laut lachen und zog sich so einen aufgeschreckten und gar tadelnden Blick von Cluny zu. »Denkst du, die ganze Zeit …?« »Sie müssen geglaubt haben, dass sie dich nicht hören können. Und die meisten Schamanen sind so laut. Es ist so leicht für sie, Gedanken zu senden, sie müssen erst lernen, wie sie still sein können. Ich kann mich noch an den Klassenraum in der Shkola erinnern. Niemand sprach etwas laut aus – aber es war ein Höllenlärm!« »Glaubst du, ich kann deine Gedanken hören?« Boris sah sie an. Sie konnte sagen, was er dachte, bevor er antwortete, doch dazu bedurfte es keiner Magie. »Wir müssen es ausprobieren«, sagte er schließlich. »Nicht hier. Unser Anführer sieht ungeduldig aus.« Sie eilten Cluny hinterher, während ihnen Planchet geduldig mit dem Gepäck folgte. Der Weg führte zur Spitze einer kleinen Anhöhe empor und gabelte sich auf der anderen Seite der Kuppe. »Nach Source Vergey geht es in diese Richtung«, sagte Cluny und wies auf den Pfad linker Hand. »Der andere Weg führt zum Wasserfall.« »Klingt angenehm«, sagte Boris und lächelte rund um seine Zigarre über die Verwirrung des jungen Mannes. Cluny seufzte. »Ich nehme an, dass unsere Ankunft sie nicht überraschen wird«, sagte er. »Du scheinst diesen Weg sehr gut zu kennen«, sagte Yuste und hob die Augenbrauen. »Wenn man bedenkt, dass es verboten ist, die Roma zu besuchen.« »Ich … nun … ja, ich mag Malchik ein oder zwei Mal begleitet haben«, sagte Cluny, der errötet war. »Was hältst du von den Krähen, hmm?«, fragte Boris und rieb seine Handflächen gegeneinander. Cluny zuckte leicht mit den Schultern. Er sah nicht froh aus. »Sie haben etwas mit Ademar zu tun. Und mit meinem Bruder«,
sagte er. »Dieser Bruder von dir – kein netter Mann, wie ich gehört habe? Nicht die Art von Person, die man willkommen heißen würde, wenn sie von den Toten zurückkehren sollte.« Cluny teilte Boris' Humor nicht. »Es tut mir Leid«, sagte er. »Ich kann darüber keine Scherze machen. Das kannst du nicht verstehen, bis du meinen Vater kennen gelernt hast oder die Burg besucht hast. Es herrschen andere Zeiten. Dunklere.« Damit drehte er sich auf dem Absatz um und ging den Pfad entlang, wobei er ein Stück eines Astes abbrach und Blätter abzupfte, als sei er ein kleiner Junge. Yuste und Boris folgten ihm langsamer und blickten auf seine hängenden Schultern und den gesenkten Kopf. »Ich glaube kaum, dass wir wissen, worauf wir uns eingelassen haben, Boris«, sagte Yuste. Auch sie griff nach einem Blatt und zwirbelte es zwischen ihren Fingern. »Du und ich haben uns kaum aus Masalyar herausgewagt. Wir haben lediglich die Geschichten über das Leben in den wilden Ländern gehört.« »Du hast Recht, Missis«, sagte Boris. »Ich bin ein Städter. Ich bin nie auf der eisernen Straße gereist oder übers Meer gelangt. Die Verbrechen, die ich verfolge, sind Verbrechen der Stadt. Sicher, sie brauchen einen Schamanen, um sie aufzuklären, und die Schandtaten können dunkel genug sein – aber so ein Zeug mit Krähen und Burgen gibt es dort nicht.« Sie lächelte zu ihm empor. »Ich weiß«, sagte sie. »Ich habe im Gemeinschaftsraum gesessen und der Unterhaltung der anderen gelauscht. Ich bin eine sehr gute Zuhörerin. Selbst die kleine Annat hat Reisen unternommen, von denen ich nur träumen kann …« Sie brach ab und verfiel in Schweigen. Boris klopfte ihr auf die Schulter. »Wir sind auf dem Weg, sie wiederzufinden«, sagte er. »Vasilyevich und Grebenshikov. Sie waren ein Clownspaar, aber sie haben ihre Sache gut gemacht.« Yuste musste lachen, doch es gelang ihr, das Geräusch so zu dämpfen, dass Cluny bei Laune blieb. »Ich sollte nicht lachen«, sagte sie reumütig. »Aber manchmal muss man einfach, das verstehst
du doch, oder, Boris Andreyevich? Ich kann es kaum glauben, dass sie fort ist. Und bei Malchik geht es mir genauso. Es scheint so … unwahrscheinlich, dass ein Spiegel sie verschluckt hat.« »Ich nehme an, wir sind am Rande dieser Welt«, sagte Boris. »Die Welt, von der wir andere haben sprechen hören, die wir jedoch nie selbst besucht haben.« Cluny drehte sich zu ihnen um und presste einen Finger auf die Lippen. Als er das tat, bemerkte Yuste, dass sie sich einer Lichtung näherten, die von sogar noch größeren Bäumen überschattet wurde. Sie konnte das Geräusch von Wasser hören und roch Holzrauch in der reglosen Luft. In dem Augenblick, als sie die Lichtung betraten, brach ein ohrenbetäubendes Gekläffe los. Hunde kamen auf sie zugesprungen, kleine Terrier mit kurzen Beinen und räudigem Fell, dünne, halb verhungerte Hunde, bei denen die Rippen hervorstachen, und große Halbwölfe, die ihre gelben Zähne fletschten. Ihnen folgte ein Haufen Kinder, die lachten und nach den Hunden pfiffen, wobei jedoch unklar blieb, ob sie sie zurückrufen oder sie anstacheln wollten. Cluny, der sich an vorderster Stelle befand, blieb stocksteif stehen, und der erste Hund erreichte ihn, machte Halt, um an seinen Beinen zu schnuppern, knurrte und wedelte mit dem Schwanz. Als der Rest der Meute näher kam, legte Cluny seine Finger in den Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus. Die Hunde blieben, einige bellten, andere kreisten um seine Füße, während die Kinder höhnten und lachten. Yuste hatte Angst vor Hunden und interessierte sich deshalb mehr für die Kinder. Einige waren nackt, vor allem die kleineren, aber die meisten trugen Lumpen, Fetzen von weitergegebenen Kleidungsstücken, die so fadenscheinig und zerrissen waren, dass sie alle Farbe eingebüßt hatten und kaum mehr wie Bekleidung aussahen. Die nackte Haut, die darunter zum Vorschein kam, war braun und dick mit Schmutz bedeckt, verschmiert und streifig vom Spielen im Wasser. Keines der Kinder trug Schuhe, und ihre Augen sahen glänzend und wild aus, als wären sie schon seit langer Zeit nicht mehr richtig
satt geworden. Als Cluny einige Worte in einer unbekannten Sprache schrie, fingen sie an zu kichern und ihn nachzumachen. »Gadjo dilo!«, kreischten sie. Cluny gab den Versuch auf, in ihrer Sprache zu sprechen, und rief ihnen in Franj zu: »Wir wollen zu Mutter Zari!« Die Hunde schienen das Interesse verloren zu haben und trollten sich, wobei sie miteinander balgten oder in der Erde scharrten. Die Kinder kamen näher, und Yuste fand ihr Starren beunruhigend. Sie waren zu dunkel für Wanderer, doch irgendetwas an ihnen rief bei ihr eine Art Erinnerung wach. Sie trat aus Clunys Schatten und ging auf sie zu. Einige lachten und tschilpten wie Stare, während andere auf sie wiesen und unverständliche Worte ausstießen. »Devi Rom«, hörte sie, und »Romani rasa …« Dann kam ein Mädchen zu ihr und streckte ihre gewölbte Hand aus in der uralten Geste der Bettler. Aber sie sagte: »Ya-udi.« Yuste durchfuhr eisige Bestürzung, als sie die Worte hörte. Sie hatten sie erkannt, und das kaum an ihrer Kleidung. Sie fragte sich, ob etwas dran war an dem alten Band zwischen den Wanderern und den Roma. Sie sah das kleine Mädchen an, dessen Kopf vor Läusen schier lebte, und spürte eine Mischung aus Abscheu und Mitleid. Das kleine Mädchen hielt unablässig die Hand hin und bat in einer Singsangstimme um Geld. »Ich denke, wir gehen besser in das Lager«, sagte Cluny. »Diese hier sind zu klein, um uns eine große Hilfe zu sein.« Er setzte sich in Bewegung, und die anderen folgten ihm, während die Kinder um sie herum tanzten, an ihrer Kleidung zupften, ihre bettelnden Hände in die Höhe reckten und Worte riefen, die verletzend oder freundlich hätten sein können. Die Wagen standen nahe der Quelle beieinander; ihre Deichseln waren leer, es gab keine Spur von Pferden. Ein großes Lagerfeuer brannte in der Mitte, und ein rauchgeschwärzter Kupferkessel hing an einem metallenen Haken. Hier und dort waren Abfallhaufen verstreut, fast schon Müllberge, mit einer wachsamen Wolke von Fliegen. Stechende Gerüche stiegen Yuste in die Nase und verdrängten
die kühle Luft des Waldes; der Rauch des Holzfeuers war stark und bitter, und ein Hauch von Fäkalien wehte in ihm mit. Als sie sich den Wagen näherten, traten Frauen heraus. Sie waren weniger zerlumpt als ihre Kinder, und eine Liebe zu kräftigen Farben zeigte sich in ihren Kleidern, sei es in Schals, Röcken oder Schultertüchern. Einige waren jung, andere durch Sonne, Schmutz und den Mangel an Zähnen zu einem unbestimmten Alter verwittert. Sie bedachten ihre Besucher mit neugierigen Blicken, von denen Yuste nicht mit Sicherheit sagen konnte, ob sie feindselig waren. Cluny ging voran. Er näherte sich einem Wagen auf der linken Seite, der das charakteristische Tonnendach aufwies, eine Tür in der Form eines Schlüsselloches und einen abgeblätterten blauen Anstrich hatte. Oben auf der Treppe stand eine junge Frau, etwas jünger noch als Annat, deren Kleidung ihre kecke Gestalt vorteilhaft zur Geltung brachte. Ihr Mund war verdrossen, als sie ihn ansah, und mit einem kühnen Rot beschmiert, das auch auf ihren Wangen prangte. Cluny verbeugte sich und lüftete seinen Hut. »Mademoiselle Flora«, sagte er. »Wir sind gekommen, um mit Mutter Zari zu sprechen.« Die junge Frau starrte ihn an und kaute auf ihrer Lippe, während sie sich die Hände an ihrer Schürze abtrocknete. »Dich kenne ich, Gadjo, aber wer sind diese anderen?«, fragte sie. »Freunde von Malchik und seine Tante«, sagte Cluny sofort. Das Mädchen zuckte leicht mit den Schultern, drehte sich um, verschwand zurück in der Dunkelheit des Wagens und ließ die anderen draußen stehen und warten. »Wer ist Mutter Zari?«, flüsterte Yuste. Cluny blickte über die Lichtung hinweg zu den anderen Frauen, die noch immer in den Eingangstüren zu ihren Wagen standen und sie beobachteten. »Sie ist die Anführerin des Clans«, sagte er. »Wir müssen ihr Vertrauen gewinnen, wenn wir uns irgendeine Form der Hilfe von diesen Roma erhoffen.«
Das Warten schien sich hinzuziehen. Yuste empfand die verschiedenen Gerüche hartnäckig, fast überwältigend, und das Surren der Fliegen in der Stille lenkte sie ab. Schließlich kehrte das Mädchen zurück und sagte ohne ein Lächeln auf den Lippen: »Mutter Zari will euch jetzt sehen.« Sie machte einen Schritt zur Seite, sodass sie an ihr vorbei mussten, wenn sie den Wagen betreten wollten. Cluny ging als Erster und verbeugte sich wieder, ehe er sich an ihr vorbeidrückte. Yuste folgte und saugte den Duft und den Geruch von klarem Schweiß auf, bevor sie sich selbst im dunklen Inneren wiederfand. Es gab keine Lichter oder Kerzen, nur das Tageslicht, das durch die Spitzenvorhänge an jedem Fenster einfallen konnte. Als sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, bemerkte Yuste, dass das Wageninnere ebenso sauber und aufgeräumt war, wie der Lagerplatz schmutzig und vernachlässigt schien. Im hinteren Ende war ein großes Bett in die Wand eingelassen und von schweren, bestickten Vorhängen gesäumt; die Wände waren mit gemalten Blättern und Blumen in vielen Farben geschmückt, vor allem in Blau und Rot; und ein schmaler Tisch stand neben einem Fenster zur Linken, bedeckt mit einem Leinentischtuch, auf dem sich eine silberne Teekanne, Porzellantassen und eine seltsam anmutende Figur drängten. Unwillkürlich fühlte sich Yuste an die alte Puppe erinnert, die Annat mit auf ihre Reise in den Norden genommen hatte, die Puppe, die sie zerbrochen hatte; diese hier hatte die gleichen steifen, bemalten Holzglieder, ein Kleid aus roter Seide und einen dichten Schopf brauner Haare. Eine Frau saß auf der anderen Seite des Tisches. Die Sonne hatte tiefe Linien in ihr Gesicht gegraben, und ihre Augen lagen wie glatte Kieselsteine tief in ihren Höhlen. Ihre große Gestalt war formlos, denn sie war in ein Häkeltuch gehüllt, und ein rotes Kopftuch bedeckte ihr Haar. Sie war in mittlerem Alter, nicht so greis wie die alten Weiber, die Yuste draußen gesehen hatte, und beim Lächeln entblößte sie eine Reihe weißer Zähne, von denen einer ganz vorne mit Gold überkront war. »Seid willkommen, Freunde von Malchik«, sagte sie heiser mit einer Stimme, die nach Tabakrauch klang. »Wer von euch ist seine
Tante?« Yuste machte einen Schritt vor und streckte ihre Hand aus; Mutter Zari umfasste sie mit ihren eigenen beiden, wobei ihre weichen Runzeln und die schweren Ringe an Yustes Haut drückten. »Setz dich«, sagte sie, und Yuste ließ sich auf den kleinen Stuhl am anderen Ende des Tisches nieder. Der Atem der Frau roch nach Nelken. »Setzt euch ebenfalls, Männer«, fügte Zari hinzu. Cluny trat vor und setzte an: »Wir haben euch Geschenke mitgebracht aus …«, doch sie unterbrach ihn. »Geschenke können warten«, sagte sie. Sie wandte sich mit einem Lächeln wieder an Yuste. »Eine kleine Wanderin«, sagte sie und tätschelte Yustes Hand in ihrer eigenen. »Unsere alten Verwandten.« Yuste blickte auf die Puppe. Sie fühlte sich seltsam, benommen von den Gerüchen, den warmen Händen, die ihre hielten, und ein Schwindel erregendes Gefühl von vergangenen Zeiten durchströmte sie. »Ist es wahr, dass die Roma mit den Wanderern verwandt sind?«, hörte sie sich selbst fragen. Zari holte tief und rasselnd Atem. »Megalmayar, die große Königin, die große Mutter, hat uns beide verflucht«, sagte sie. »Sie legte einen Fluch auf die Wanderer, weil sie ihren Sohn verraten haben. So sagte sie. Und sie verfluchte die Mütter der Roma, weil sie ihr nicht gehorcht haben, nachdem ihr Sohn auferstanden war. Sie verbannte sie aus Zyon und sie kamen über das Meer nach Masalyar, bevor es diesen Namen trug. Sie war eine wütende Frau, die Mutter.« Und sie stieß ein kurzes Gelächter aus, das wie Hundegekläff klang. Yuste lächelte. »Die Leute sagen, es sei nur eine Legende.« Zari zuckte mit den Schultern. »Was wissen die Leute schon?«, sagte sie. »Ein Fluch ist mächtig, sogar dann, wenn es ein ungerechter Fluch ist. Die Wanderer leben in der Verbannung, und die Roma wandern unablässig, mit keinem Land und keiner Stadt als Heimat. Du trägst das Abzeichen der Wanderer, meine Schwester.« Und sie berührte das Stoffstück, das an den Ärmel von Yustes Jacke geheftet war.
»Kam Malchik hierher?«, fragte Yuste. »Viele Male. Er liebte unsere Musik. Er war gar nicht so übel, für einen Gadjo.« Damit warf sie Yuste ein freches Zahnlückenlächeln zu. Yuste bemerkte, wie sie sich für die Frau zu erwärmen begann. »Malchik ist verloren«, hörte sie sich sagen. »Er ist uns genommen worden, durch … Zauberei …« Sie zögerte bei dem Wort. »Und meine Toch… meine Nichte, Annat, ist ihm nachgegangen. Sie ist eine Schamanin, und sie hat uns eine Spur zurückgelassen.« »Warum solltest du das Mutter Zari erzählen, einer Fremden?«, fragte Zari, deren Lächeln erloschen war. Yuste bemerkte, wie ihr die Worte aus dem Mund strömten. »Ihr – die Roma – habt Schamanen unter euch. Und ihr reist weite Strecken. Wir glaubten, ihr könntet in der Lage sein, uns zu sagen, was die Spur zu bedeuten hat. Wir können sie nicht deuten.« »Zeig sie mir«, sagte Mutter Zari. Yuste öffnete ihr Retikül und nahm das zerbrochene Bild mit dem daran befestigten Faden heraus. »Erkennst du die Szene in diesem Bild?«, fragte sie. »Weißt du, wo das sein könnte?« Zari nahm ihr das Bild aus der Hand und betrachtete es genauer. Sie betastete den Faden mit den Fingern. »Ich bin keine Schamanin«, sagte sie. »Und ich kenne diesen Berg nicht. Doch ich bin mein ganzes Leben durch Franj gereist, den großen Fluss entlang, landauf, landab. Es gibt einige wenige in unserem Clan, die von außerhalb kommen, von der östlichen Seite des Lepas-Gebirges. Einer von denen ist Andras. Wenn die Männer vom Pferdehandel zurück sind, werde ich ihn rufen.« Sie legte das Gemälde mit der Bildseite nach oben auf den Tisch. »Während wir warten, könnt ihr bei mir sitzen bleiben«, sagte sie, »und mit uns speisen. Es kommt nicht oft vor, dass Gadji zu den Roma kommen. Teilt unseren Trank. Andras wird kommen.« In der Kristallkammer waren sie den Elementen ausgesetzt, und An-
nat erhaschte einen flüchtigen Geruch, der mit der kalten Luft von außen hereinwehte. Es war der süße, frische Geruch von Grasland. Sie setzte sich auf den Stuhl, den Sarl gerade freigegeben hatte, und ihr Bruder ließ sich neben ihr nieder. Zum ersten Mal fiel ihr auf, dass er seltsame Kleidung trug: Hosen aus sandfarbenem Kord, eine rote Weste, ein weißes Hemd mit hohem Kragen und eine Krawatte. Seine derben Straßenschuhe waren blitzblank poliert, sodass sie glänzten. Annat blinzelte und bemerkte inmitten ihrer Verzweiflung, dass sie noch nie zuvor einen Wanderermann so gekleidet gesehen hatte; allein die Farben verstießen gegen jede Regel. Sie entschied sich jedoch, ihn später danach zu fragen. »Weißt du, wo wir sind, Malchku?«, fragte sie. »Er – Semyon – hat es als, ›den Berg‹ bezeichnet.« »Ich habe es im Spiegel gesehen. Es sah seltsam aus – nicht wie Stein.« »Ich war die meiste Zeit über allein. Das war auch der Grund, warum ich versucht habe, dich durch den Spiegel zu rufen. Ich war ganz schön dumm, findest du nicht?« »Ich glaube kaum, dass du viel anderes hättest tun können.« »Jemand – oder etwas – versorgt mich mit Essen. Ich schätze, das hätte mich stutzig machen sollen, doch ich hätte nie gedacht, dass er uns beide will.« »Nun ja«, sagte Annat und bediente sich mit einer Hand voll Reis und Fisch. »Es hilft uns nicht weiter, hier zu sitzen und darüber zu grübeln, wem man die Schuld geben kann. Wir müssen versuchen zu fliehen. Und wenn uns das nicht gelingt, dann müssen wir einen Weg finden, wie wir den Magus davon abhalten können, unsere Seelen zu stehlen. Und zumindest müssen wir ihn aufhalten, bis Hilfe kommt. Wir müssen ihn davon abbringen, seine Magie anzuwenden und aus Sarl einen lebendigen Mann zu machen.« »Niemand weiß, wo wir sind, Natka. Ich glaube nicht, dass jemand kommen wird, um uns zu retten.« Annat lächelte ihn mit vollen Backen an. Als sie aufgekaut hatte, antwortete sie: »Ich habe eine Spur gelegt, als ich durch den Spie-
gel gegangen bin. Keine sehr gute, doch ich glaube, sie könnte Yuste zu uns führen. Ich verwendete das Bild des Berges, das Cluny für dich gemalt hat.« Malchik verschränkte die Arme vor der Brust. »Natka, wir wissen nicht, wo dieser Berg liegt. Und genauso wenig wird es Yuste wissen.« Annat pickte mit den Fingerspitzen einige Körner des klebrigen Reises auf. »Das macht nichts. Die Spur sollte sie zu uns führen. Aber wir können uns darüber keine Gedanken machen. Wir müssen es Yuste überlassen.« »Ich schätze, alles ist besser, als hier herumzusitzen und darauf zu warten, wie ein Paar Gänse gerupft zu werden. Ich muss sagen, Natka, ich bin froh, dass du durch den Spiegel gekommen bist. Es war schlimm genug, hier allein zu sein, bis dann dieser Mann Sarl brachte. Du hast ihn ja gesehen.« Annat wischte sich den Mund mit der Hand ab, nur um kurz darauf festzustellen, dass neben jedem Teller Servietten lagen. Leinenservietten, sorgfältig gebügelt und zusammengelegt. Ein Wasserkrug mit drei silbernen Bechern stand in der Mitte des Tisches. Sorgfältig achtete sie darauf, nach einem zu greifen, der noch nicht berührt worden war; sie wollte aus keinem trinken, den Sarl benutzt hatte. »Ich wünschte, es würde einen Weg geben, Yuda zu warnen«, sagte sie. »Er könnte es schaffen, eine Nachricht in die Stadt zu bringen. Er könnte sie aufhalten.« »Er ist in Yonar, nicht wahr? Es wird eine Weile dauern, bis sie bei ihm sind.« »Nicht, wenn sie die Spiegel nehmen.« Sie schwiegen beide. Für sie war es nicht so beängstigend, sich an einem derartig seltsamen Ort und unter diesen Umständen wieder zu finden, wie es für jemanden gewesen wäre, der ihre vorangegangenen Erfahrungen nicht gemacht hatte. Sie waren gemeinsam durch das Reich von La Souterraine gereist und hatten dem Zorn einer todbringenden Göttin ins Auge gesehen. Doch es war eben diese
Erfahrung, die es ihnen ermöglichte zu begreifen, welcher Gefahr sie nun gegenüberstanden. Die Angst nagte eher an ihrem Geist denn an ihrem Herzen. Malchik trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. »Erst als Cluny an das College kam, begriff ich, dass der Doyen noch immer auf Rache sann. Und dann kamen die Krähen …« »Ich hatte geglaubt, nachdem Huldis zu ihm zurückgekehrt war, hätte sich sein Groll gegen uns gelegt. Das haben wir alle gedacht…« »Außer Yuda«, sagte Malchik und beendete so ihren Satz. Annat erhob sich. »Ich will los, Malchku. Ich muss mich bewegen. Ich will hier nicht sitzen, wenn sie zurückkommen.« Er sah zu ihr auf und blinzelte ins Sonnenlicht. »Wo fangen wir an?«, sagte er. Sie fand es merkwürdig und ein wenig entmutigend, dass er von ihr erwartete, die Führung zu übernehmen, obwohl er der Ältere war. Obgleich Malchik Spuren von schamanischen Fähigkeiten besaß, bewirkten diese doch nichts anderes, als ihn an seine Verletzlichkeit zu erinnern. Wenn er auf Magie traf, war er verloren und wandte sich Hilfe suchend an Annat oder seinen Vater. Sie verschränkte die Arme. »Warum gehen wir nicht zurück in das Zimmer mit dem Spiegel? Wenn es keinen anderen Weg von hier aus gibt, dann sind wir in der Tat gefangen.« Gehorsam folgte ihr Malchik wie ein Hund auf den Fersen seines Besitzers. Seine Anwesenheit, die durch den Klang seiner Schritte hinter ihr bestätigt wurde, war beruhigend, und Annat fand, dass sie Trost gebrauchen konnte. Ihre Gedanken kehrten immer wieder zu Sarls Gesicht zurück und zu dem Wissen, dass er losgezogen war, um ihren Vater zu finden. Sie fürchtete sich auch davor, dass sie die andere Kammer versiegelt vorfinden würden, mit keinem anderen Weg nach draußen als dem, den der Spiegel darstellte. Semyon würde dafür gesorgt haben, dass sie nicht durch ihn entkommen konnten. Das runde Zimmer war warm, fast stickig, und Annat gefielen die Spuren nicht, die sie von Sarls Anwesenheit und dem kalten Her-
zen des Magus noch spüren konnte. Sie umkreiste den Spiegel, dessen Oberfläche schwarz war und kein Bild zurückwarf. Als Annat das Glas berührte, merkte sie, dass es lauwarm war. Abgesehen von der Öffnung, aus der sie hinausgetreten waren, waren die Wände der Kammer glatt wie das Innere einer ausgehöhlten Melone. Annat legte eine Hand auf den Rahmen des Spiegels und wandte sich um, um Malchik anzuschauen. Etwas war sonderbar an seinem Gesichtsausdruck, eine verborgene Wachsamkeit, als wäre er mit ihr nicht im Reinen. Annat wollte ihn deswegen fragen, doch sie wusste, dass es warten musste. »Malchik?«, fragte sie, und er fuhr zusammen, als sei er aus der weiten Ferne einer Tagträumerei aufgeschreckt. »Sieht aus, als würden wir festsitzen«, sagte er seltsam gefühllos. Annat machte einen Schritt weg von dem Spiegel und ging zur Felswand hinüber, um dort die Fingerspitzen über die Oberfläche gleiten zu lassen. Obwohl der Stein undurchsichtig war, hatte er eine Tiefe, als ob er aus trübem Kristall bestehen würde. Langsam schritt sie die Kammer ab und ließ ihre Hand über die Wand gleiten. Es war, als ob sie nach einem Puls oder einem Herzschlag suchte; nach allem, was ihr sagen würde, dass die Kammer nicht versiegelt und leblos war. »Was tust du?«, fragte Malchik und bewegte sich rastlos. Ein Schamane würde seine Frage sanft wie Wassertropfen in ihre Gedanken fallen lassen. Sie fand es seltsam, die Stimme ihres Bruders zu hören. Sie hatte ihn nie etwas senden hören, und sie fragte sich, wie es klingen würde. Manchmal schienen laut ausgesprochene Worte so sperrig, verglichen mit der Geschmeidigkeit, die das Senden ermöglichte. Sie hielt inne und lächelte ihn an. »Ich hatte gehofft, es würde hier eine verborgene Tür geben«, sagte sie. Malchik, der sich gegen den steinernen Seitenrand des Eingangs lehnte, schüttelte den Kopf. »Die Kristallkammer scheint mir vielversprechender«, sagte er. »Von dort kommt immer das Essen.« Mit einem Gefühl der Sinnlosigkeit folgte ihm Annat zurück in
den blendenden Raum mit seinem verlockenden Geruch von frischer Luft. Alle Wände waren von einer dicken Kristallschicht umgeben, die aus dem Stein geborsten zu sein schien. Sie ließ ihre Hand über die scharfen Kanten gleiten und sah mit ihrem inneren Auge die kristalline Struktur, die tief in das Herz des Berges reichte. Semyon hatte ein Gefängnis ausgewählt, das den stärksten Schamanen ausschalten würde. Sie zwang sich zu langsamen Bewegungen, um jede Spalte vom Boden bis hinauf zur höchsten Stelle, die sie eben noch erreichen konnte, genau zu untersuchen. Malchik folgte ihr mit lustlosem Schritt, sein Kinn war tief auf die Brust gesunken. Immer mal wieder blickte Annat zum Tisch mit den leeren Stühlen und den Essenstellern. Sie fragte sich, wie lange es dauern würde, bis Semyon und Sarl zurückkehren und Yuda als Gefangenen bei sich führen würden. Es gab einen Hoffnungsschimmer. Yonar war eine große Stadt, und vielleicht würden sie Yuda nicht sofort finden. Und wenn sie ihn gefunden hätten, verfügte ihr Vater immer noch über Fähigkeiten, die denen Semyons gleichkamen. Er konnte Mächte nutzen, die sie nicht kannte. Er wäre schwieriger zu fassen als ein gewöhnlicher Schamane oder jemand, der so unerfahren war wie sie. Und er war gerissen. Wenn er wusste, wie die Lage aussah, könnte es sein, dass er sich einfangen ließ, um einen Weg zu finden, Malchik und sie selbst zu befreien. Annat schloss die Augen. Sie konzentrierte sich nicht richtig. Irgendwo hier musste eine Tür sein, eine Pforte, die den Weg zu den tieferen Ebenen des Berges öffnete. In diesem Raum befanden sie sich in der Bergspitze, und sie konnte spüren, wie sich die Tunnel nach unten wanden. Der Gipfel war von lang gestreckten, wie von Regenwürmern gegrabenen Höhlengängen durchzogen, die sich von der Spitze bis zum Grundgestein des Berges erstreckten. Einer von ihnen musste zu diesem Horst emporführen, von dem aus Semyon sein Gebiet überschauen konnte. Annat ließ sich gegen die kristalline Wand sinken und drückte sich gegen die scharfen Erhebungen, als ob sie mit der Oberfläche verschmelzen könnte. Sie waren kühl
und reglos und zogen sie ins Vertrauen. Hunderte und Aberhunderte von Jahren waren in ihren Strukturen verwahrt, in diesem aus Stein entstandenen Glas. »Annat?«, fragte ihr Bruder. »Sei still, Malchku«, rief sie aus den Tiefen ihrer Trance. Ihr bewusster Geist lag wie eine Gelenkscheibe über dem tiefen Wasser, in das sie hinabsank. Sie würde eins werden mit dem Berg, mit all seinen Steinen, die keine Liebe empfanden für den Magus, der ihr Herr und Meister war. Annat sank bis zum Grund, wo die dunklen Felsadern mit der Erde verschmolzen und sich wieder erhoben wie versteinerte Wellen aus einem tosenden Meer. Ihr Kopf schmerzte, und ihr Mund war trocken. Sie fragte sich, ob sie sich in Stein verwandeln und zu einer Kristallfigur werden würde, die an der Wand, gegen die sie lehnte, festwachsen würde. Etwas brauste zu ihr heran, und es war wie ein Schlag ins Gesicht. Da war ein Hohlraum, eine Ausbuchtung im Gestein, ganz in der Nähe; ein Schacht, der sich unter ihren Füßen wand und sie mit seiner Leere verhöhnte. Sie gelangte wieder an die Oberfläche, schnappte nach Luft und fuhr sich mit den Händen durch die Haare. »Kann ich jetzt sprechen?«, fragte Malchik. »Was ist?«, erwiderte sie. Ihre Augenlider waren traumverloren und schwer. Sie fühlte sich ein wenig betrunken und wandte ihm ihr Gesicht zu, dann lehnte sie sich wieder zurück gegen die unebene Wand. Malchik sah so besorgt aus, dass sie lächeln musste. »Es gibt hier einen Weg ganz in der Nähe. Aber er führt geradewegs nach unten.« »Du weißt, wie ich zu großen Höhen stehe«, sagte Malchik. Annat versteifte sich und rieb ihre Hände gegeneinander. »Lass ihn uns erst einmal finden«, sagte sie. Dieses Mal suchte sie die Oberfläche der Wand ab, bis sie den Eingang zu dem Schacht entdeckte. Sie betastete das Kristallgestein mit einer erotischen Anspannung, als ob es sich um Eugenies Haut handelte. Schließlich fand sie eine Erhebung, die zu gleichmäßig
war, einen Glasknauf, der sich unter ihren Händen drehte. Sie schreckte zurück, als ein Teil der Wand zurückschwang und etwas enthüllte, das wie ein kleiner Schrank aussah, an dem sich Spiegel aneinander reihten. Doch es gab einen Aufwind, der ihr Gesicht liebkoste, und sie erriet sofort, was sich vor ihr befand. Sie brach in befreites, fröhliches Gelächter aus. »Malchik, es ist ein Aufzug. Du musst dir keine Sorgen wegen der Höhe machen.« »Was meinst du damit?« Sein Gesicht zeigte tiefe Verwirrung. »Ein Fahrstuhl. Im Berg. Wie die in der Stadt, in dem Gebäude der Eisenbahngewerkschaft.« Malchik kam zu ihr herüber und betrachtete den von Spiegeln übersäten Schrank mit langsamer Bedächtigkeit. Von unten konnten sie das Mahlen des dampfangetriebenen Gestells hören. »Also setzt Semyon nicht nur auf Magie«, meinte er mit hochgezogenen Augenbrauen. »Es würde viel Magie binden, einen Aufzug anzutreiben«, sagte sie. Sie machte einen mutigen Schritt in den Schrank hinein und blieb, das Gesicht ihrem Bruder zugewandt, lächelnd stehen. »Komm schon.« »Wir wissen nicht, wohin er führt«, sagte Malchik. »Nach unten«, antwortete sie und streckte ihm ihre Arme entgegen. Sie packte ihn fest am Arm und zog ihn an sich. Kaum dass er die Schwelle überschritten hatte, schloss sich die massive Tür hinter ihnen, und sie waren in dem Glühwürmchenlicht der Naphthalampen, die in den Boden eingelassen waren, gefangen. Malchik griff seinerseits nach Annats Arm. »Ich habe Angst, Annat«, sagte er. Sie blickte ihm ins Gesicht und wünschte, sie könnte ihm ihre von Eifer und Aufregung erfüllten Gedanken senden, doch stattdessen spürte sie eine kurze Erschütterung, als die Fahrstuhlkabine mit einem Ruck nach unten in das Herz des Berges rumpelte.
Semyon tauchte nach Luft schnappend aus dem Spiegel auf, als wäre er kurz vor dem Ertrinken gewesen. Ein Blick hatte ihm verraten, dass der dahinter liegende Raum verlassen war. Er stolperte über den Gipsrahmen und fand sich in einer Kammer mit weiß getünchten Wänden wieder und einem hölzernen Bett, über dem das Zeichen des Rades hing. Semyon bückte sich, umfasste seine Knie unterhalb seines Umhanges und holte mehrmals tief Luft. Sarl trat aus dem dunklen Glas, als kehrte er gerade von einer Landpartie zurück. Huldis folgte ihnen mit vorsichtiger Anmut. In dem Augenblick, als ihre Füße den Boden berührten, trübte sich das Glas, der Spiegel splitterte und die ganze Oberfläche war in silbrige Einzelteile zersprungen. Huldis machte einen Schritt zurück, und Sarl wandte ungläubig den Kopf um. Entsetzt starrte Semyon auf das zerborstene Glas. Er drängte an Sarl vorbei und eilte zu dem Rahmen, packte ihn und starrte sein eigenes, kaum als Ganzes zu erkennendes Spiegelbild an. »Was ist das, Magus?«, fragte Sarl. »Was hat das zu bedeuten?« Semyon beachtete ihn nicht, sondern ließ seine Hand über die Oberfläche des Spiegels gleiten und achtete dabei darauf, dass er keines der Teilchen durcheinander brachte. »Tschernobog!«, sagte er. Es war etwas zwischen einem Fluch und einer flehentlichen Bitte um Hilfe, die an seinen dunklen Gott gerichtet war. Wenn er Sarl die Wahrheit sagen würde, wäre es wahrscheinlich, dass der Erbe ihn auf der Stelle wie einen Fisch ausweidete. Während er sich umdrehte, versuchte er seine Gesichtszüge in ein ruhiges Lächeln zu zwingen. »Warum ist der Spiegel zerborsten?«, fragte Sarl. »Das ist noch nie zuvor vorgekommen«, sagte Semyon, dem klar war, dass dies keine Antwort war. Sarl legte die Hände auf Semyons Schultern. Es hätte eine freundliche Geste sein können, wenn sein Griff nicht so fest gewesen wäre. »Sag mir, was das zu bedeuten hat, Magus.« Semyon erzitterte unter dem Starren aus diesen hellen, eisblauen, in den Höhlen eingesunkenen Augen. Er spürte, dass Sarl seine See-
le auf ein Brett aufspießte wie ein präpariertes Insekt. Nur die Wut auf seine eigene Schwäche verhinderte, dass er zusammenbrach. Er feuchtete seine Lippen mit der Zunge an. »Wir können nicht mehr zurück. Nicht auf diesem Weg.« »Zweifellos gibt es andere Spiegel in der Stadt«, sagte Sarl. Semyon konnte ihm nicht sofort antworten. »Nun?«, fragte der Erbe. »Dem ist nicht so, Mon Seigneur. Die Verbindung wurde unterbrochen. Um nach Ademar zurückzukehren, müssen wir über Land reisen wie jeder andere auch. Es ist eine noch weitere Reise, wenn man den Berg erreichen möchte.« »Das war nachlässig von dir, Magus. Wie du weißt, bleibt mir nur wenig Zeit.« »Ich weiß nicht, wie es geschehen konnte!«, sagte Semyon und ließ zu, dass Panik von ihm Besitz ergriff. »Du bist der große Magus vom Hofe des allmächtigen Staryetz. Das ist es, was mir mein Vater berichtet hat. Und sobald wir Vasilyevich gefasst haben, wirst du einen Weg finden, uns zurück zu dem Berg zu bringen, wo unsere Gefangenen auf uns warten.« Er ließ Semyon los, der auf dem Boden herumkroch und sich am Verschluss des Koffers zu schaffen machte, den er mitgebracht hatte. Er enthielt eine Schamanenwelt, und deren Macht hatte Sarl zurück ins Leben geholt. Semyon hatte die Welt schon vor Monaten gebannt, mit der Hilfe von Kaschai. Er wusste, dass er nur wenig von ihrer Macht kannte. Der Koffer öffnete sich und ein Schwall warmer Luft, süß und gesund, drang an Semyons Gesicht: der Geruch der Steppe im Sommer. Der Koffer erschien leer, abgesehen von einigen Lumpen Kleidung, doch Semyon konnte spüren, wie die eingefangene Welt unter seinen Fingern zitterte und auf seinen Befehl wartete. »Seid ohne Furcht, Mon Seigneur, ich werde einen Weg finden«, sagte er, und fuhr mit der Hand durch den leeren Raum. Er konnte fast fühlen, wie sich das wilde Gras unter seinen Fingern regte. Er würde einen Weg finden, denn falls nicht, wusste er nur zu gut, was Sarl tun würde. Sein Geist arbeitete schnell. Es musste einen Grund
dafür geben, warum der Spiegel plötzlich, zum ersten Mal, zerborsten war. Vielleicht gab es eine feindliche Magie, die gegen ihn arbeitete. Er ließ den Koffer zuschnappen und erhob sich, nun in der Lage, seinen unwillkommenen Begleitern ins Gesicht zu blicken. »Ich werde einen Weg finden«, wiederholte er und drückte seinen Koffer an die Brust. »Ich hoffe, dass dies hier tatsächlich Yonar ist«, sagte Sarl. Ohne ihm zu antworten, ging Semyon zur Tür hinüber und öffnete sie. Ein Gang lag verlassen vor ihm. Aufgrund der Gerüche nach Essen und Wein und des ausgetretenen Teppichs unter seinen Füßen nahm er an, dass er sich in einem Gasthaus befand. Ein Gasthaus, in dem sie möglicherweise übernachten könnten. Es sollte nicht viel Zeit kosten, Vasilyevich zu finden. Alle Schamanen hatten eine Signatur, eine Spur, die andere Schamanen lesen konnten wie Hunde, die den Duft der anderen erschnupperten. Er machte sich auf den Weg zur Treppe, die er am anderen Ende des Ganges sehen konnte, und ließ die Übrigen ihm im Schlepptau folgen. Er achtete sorgfältig darauf, nicht über die Schulter zurückzublicken, als habe er Angst, sie könnten ihm nicht nachkommen. Geräusche wehten die Treppe herauf, das Geschrei und Geklapper aus der Küche und das Stimmengewirr aus der Schenke. Semyon tauchte mit Erleichterung in ein Gemisch ausländischer Stimmen ein; Sarl würde ihn wohl kaum vor Zeugen ermorden. Am Fuße der Treppe befand sich eine Eingangshalle aus Gesteinsquadern und holzgetäfelten Wänden, die mit ausgestopften Hirschköpfen behängt waren. Der Geruch versprach fette Saucen und feine Weine. Semyon trat durch die geöffnete Tür in das Stimmenmeer und bewirkte ein kurzes Schweigen, als die Gäste den Neuankömmling beäugten. Er war froh, dass er sich für den Umhang eines Priesters der Doxoi als Tarnung entschieden hatte, denn die Stille war nicht von Dauer. Selbst als sich Sarl und Huldis zu ihm gesellten, deren hoch gewachsene und prächtig gewandete Gestalten sich von dem Rostbraun und Blau der Handwerker und Händler abhoben, gab es nur ein neugieriges Gemurmel und gerade genug Bewegung, um ihnen
etwas Platz zu verschaffen. Sarl legte seine Hand auf Semyons Schulter. »Überlass mir das Sprechen, Magus«, sagte er. »Du klingst nach einem Fremden.« Es gelang ihnen, den Gastwirt ausfindig zu machen, und, trotz seiner Erscheinung, nahm Sarl den Mann mit seinem Auftreten für sich ein. Redselig drückte dieser sein Bedauern aus. Sicher wüssten sie, dass die Stadt en fête, voller Besucher sei, die gekommen waren, um die Fremden aus Masalyar zu sehen. Sarl schüttelte den Kopf. Sie seien selber Fremde, sagte er. Der Gastwirt habe das gewusst und ihnen den vornehmen Stand angesehen, doch er verfüge über keine Betten, und sie würden sicher andere Gasthäuser finden, die ihnen gebühren würden. Sarl lächelte und gab dem Mann eine Münze. Sie würden ihr Glück woanders versuchen und notfalls in den Ställen nächtigen. Der Gastwirt erhob Protest; Ställe seien kein Ort für eine junge Dame. Es gäbe ein Nonnenkloster, wo sie, da war er sich sicher, Unterschlupf finden würden. Mit einem Seufzen trat Semyon hinaus auf das Kopfsteinpflaster der Straße und ließ den Wein und die prächtigen Saucen zurück, bei deren Geruch sich sein Magen verkrampft hatte. Die Sonne blitzte auf den Pflastersteinen und glühte auf dem satten Erdrot der Dachziegel. Sehnsüchtig dachte er an die marmornen Herrenhäuser von Kyev und die goldenen Türme der großen Tempel. Dann klopfte ihm Sarl auf die Schulter. »Vielleicht brauchen wir gar keine Übernachtungsgelegenheit, mein Freund. Nicht, wenn wir unsere Angelegenheiten vor Einbruch der Dunkelheit zu Ende gebracht haben.« »Er ist hier, irgendwo«, sagte Semyon und sah an Sarl vorbei zu seiner hübschen Schwester. Der Gedanke an sie hätte ihn trösten sollen. Ihr bleiches Gesicht blickte ihn ausdruckslos an, eingefroren und tugendsam. »Zweifellos werden wir ihn unter den Fremden aus Masalyar finden«, sagte Sarl. Semyon fragte sich, ob dem Erben klar war, was eine Stadt war, mit ihren Myriaden von Straßen und Kellern und Dächern. Man konnte einen Mann nicht wie einen Hirsch im offe-
nen Gelände zur Strecke bringen, man musste ihn suchen in dem Durcheinander der Gerüche und der Geräusche, der Schamanengeister und derjenigen ohne Macht. Er blickte hinauf zur Silhouette der Stadt, wo die Türme, Fassaden und Tempelspitzen zusammenliefen. Sarl lächelte ihn an. Er hatte Semyons Gedanken gelesen, und es belustigte ihn. »Du wirst sehen, dass ich ein guter Hund bin, Magus«, sagte er. »Ich kenne den Geruch unserer Beute.«
Kapitel 7
A
ls Andras mit den anderen Männern vom Pferdemarkt zurückkehrte, konnte selbst Yuste erkennen, dass er ein Schamane war. Er betrat lächelnd das Innere des Wagens, und sie fing die Signatur seiner Macht auf, ein warmes Bernsteinglühen, wie es vom Saft eines Baumes ausging. Etwas überrascht sah er sie und Boris an, was sich jedoch kaum in seinem Gesicht widerspiegelte, und nahm sie beide, den tatsächlichen Schamanen und die Versehrte Schamanin, zur Kenntnis. Seine Augen waren schmal, braun wie Kaffeebohnen, und seine Haut hatte einen hellen Kupferstich. Sein rostbraunes Haar war weder lang noch kurz, und er trug es aus dem Gesicht gekämmt. »Du hast mich rufen lassen, Mutter Zari«, sagte er in Franj, sodass die Fremden ihn verstehen konnten. Yuste war verblüfft von der Klarheit seiner Gedanken. Boris hielt wie die meisten Schamanen seine Gedanken abgeschirmt. Andras schien seine eigenen mit der ausgestreckten Hand darzubieten. Sie bezweifelte nicht, dass es geheime Orte und innere Rückzugsmöglichkeiten in seinem Geist gab, doch wenn das der Fall war, dann hatte er sich entschieden, sie hinter dem Offensichtlichen zu verbergen. Sie merkte, dass sie ihn
anlächelte. Er war jung und voller Energie, die ungebrochen von Jahren oder Sorgen war. »Willkommen, Andras«, sagte Mutter Zari und winkte ihm mit ihren beringten Fingern zu. Sie wies auf Yuste. »Meine Schwester ist eine Wanderin.« Andras sah Yuste eindringlich an. Er erwiderte ihr Lächeln nicht, doch er schien sie mit Neugier zu mustern, als ob er zu verstehen versuchte, auf welche Art ihre Fähigkeiten zu Schaden gekommen waren. Mit einem Anflug von Schüchternheit sah sie zu Boden, denn sie wollte diesen jungen Mann nicht so rasch zu viel von sich wissen lassen. Andras lauschte, als Mutter Zari den Grund für ihren Besuch erläuterte, und sprach die ganze Zeit über kein Wort. Kaum ein Muskel seines Gesichtes regte sich, bis Mutter Zari geendet hatte, dann sagte er: »Lasst mich das Bild sehen.« Yuste spürte eine seltsame Gefühlsregung zwischen Neid und Wunsch. Wie hatte sie sich danach gesehnt, so zu sein, in der Blüte ihrer Macht, jung und stark! Sie hatte vor langer Zeit aufgehört, sich wegen der verlorenen Möglichkeiten zu grämen, und Boris zu treffen hatte nur die Ansätze von Bedauern entfacht. Ohne etwas zu sagen, hielt sie Andras das Bild hin und glaubte einen Augenblick lang Mitgefühl auf seinem Gesicht zu sehen. Es gibt einen feinen Unterschied zwischen Mitgefühl und Mitleid, denn in Letzterem schwingt ein Fünkchen Verachtung mit. Sie begriff, dass Andras sie als Veteranin wahrnahm, als eine, die durch viele Kämpfe verwundet und gezeichnet worden war. Er sah sie nicht als Opfer, das sowohl an der zugefügten Gewalt als auch an Selbstmitleid zerbrochen war. Als er ihr das Bild abnahm, berührten sich ihre Finger, und Yuste fragte sich, ob auch Boris all die feinen Einzelheiten dieser Interaktion mitbekam, die er ohne allzu viel Aufwand hören konnte. Andras zog einen Stuhl heran und ließ sich am Tisch zwischen ihr und Boris nieder. Planchet und Cluny, die sich kurz zuvor auf dem Bett niedergelassen hatten, beugten sich vor. Andras betastete das Stückchen Spinnwebe, das Annat zurückgelassen
hatte, und betrachtete das Bild im Rahmen. Er hatte es sich noch nicht lange angesehen, als ein Wiedererkennen in seinen Augen aufblitzte und er zu lächeln begann. »Das ist ein Ort in Sklava«, sagte er. »Ich bin nicht hingereist, doch ich habe die Geschichten darüber gehört. Er wird der ›Glasberg‹ oder der ›Berg des Hexenmeisters‹ genannt. Er liegt jenseits des Lepas-Gebirges, viele Meilen gen Osten.« »In Sklava?«, fragte Boris, und Yuste beugte sich vor, um einen Blick auf das Bild werfen zu können. Wenn Annat dort wäre, wie könnten sie dann zu ihr gelangen? Eine solche Reise mochte jemanden Minuten kosten, der durch einen verzauberten Spiegel sausen konnte, doch jemand, der dorthin auf dem Landwege reisen müsste, würde Wochen dafür brauchen. Andras richtete sein Lächeln an Boris. »Der Berg ist berühmt, weil er allein in der Mitte einer Steppe steht. Als sei er vom Himmel gefallen. Bist du ein Mann aus Sklava, Gad-jo? Ich kann es in deiner Stimme hören.« »Ich komme aus Kyev, nicht aus der Steppe«, sagte Boris. Er seufzte kurz und fuhr sich mit den Fingern durch die wenigen Haare auf seinem Hinterkopf. »Es ist lange her, dass ich dort war, und ich würde nicht freiwillig dorthin zurückkehren.« »Ist Annat dort? Kannst du das sagen?«, fragte Yuste und ließ ihren Blick fest auf dem jungen Mann ruhen. »Sie ist dort«, sagte Andras, legte den Rahmen mit dem Bild nach oben auf den Tisch und ließ seine Finger über den Faden gleiten. »Sie hat uns diese Spur zurückgelassen, damit man ihr folgen kann.« »Ist sie in Gefahr?« Yuste war begierig auf alles, was er ihr sagen konnte, und sie wollte jedes bisschen in sich aufsaugen. Andras starrte sie nachdenklich an, und dieses Mal waren seine Gedanken undurchsichtiger. Es war nicht so, als ob er seinen Geist verschlossen hätte, sondern eher, als ob er sich von ihr zurückgezogen hätte, als ob ihre Heftigkeit ihn wachsam machte. Yuste beugte sich wieder zurück und richtete sich gerade auf ihrem Stuhl auf. Ihre Finger nestelten an den Bändern ihrer Haube herum, um sie wieder zu
richten. »Ich glaube nicht, dass sie unter Freunden ist«, sagte Andras, der sich Zeit ließ, um die richtigen Worte zu finden. Yuste warf Boris einen Blick zu, der ihr ein Gesicht schnitt. Es war schief, doch es gab ihr Selbstvertrauen. Sie hatten beide gewusst oder geahnt, dass Annats Verschwinden düsterer Natur war. Cluny stand auf. Sein Kopf berührte die niedrige Decke des Wagens. »Wenn der Berg in Sklava steht, dann war es wenigstens nicht mein Vater. Oder mein Bruder«, fügte er hinzu. »Dies ist der Sohn von Ademar. Der gute Sohn«, betonte Mutter Zari. »Wir haben auf dem Pferdemarkt gehört, dass der alte Mann mit einer großen Armee gen Süden marschiert«, sagte Andras, ohne Cluny anzublicken. »Er hat Mont Eldemar eingenommen und kann nur noch wenige Tagesmärsche von Axar entfernt sein.« Cluny machte einen Schritt nach vorne. »Der Doyen?«, fragte er. »Ist das wahr?« »Er stieß auf einen unserer Clans, und sie starben. Seine Truppen haben sie niedergemetzelt.« Er fügte einige Worte in Romani an Mutter Zari hinzu, die den Kopf schüttelte und ihre Hand in einer trauernden Geste vors Gesicht schlug. »Mein Vater mag die Roma nicht«, sagte Cluny. »Er mag nicht viele Menschen, abgesehen von denen, die er für reinrassige Franj hält.« Er hielt kurz inne, und Yuste sah den schmerzerfüllten Ausdruck auf seinem Gesicht. »Meine Mutter war eine Roma«, sagte er plötzlich. Jeder außer Mutter Zari sah erstaunt aus. »Du bist ein Roma?«, fragte Andras. »Es gibt einen Stamm der Roma, der sich in den Wäldern niedergelassen hat«, sagte Cluny. »Mein Vater nahm ihre Königin zur Frau, und nachdem sie ihn verlassen hatte, wurde meine Mutter seine Konkubine. Sie war jung, und mein Vater war ein schöner Mann. Erst im Alter hat sich sein Geist so verhärtet. Als er jung war, hasste er nur die Wanderer.«
Yuste fuhr zusammen. Mutter Zari hatte den Arm ausgestreckt, um ihre Hand zu berühren. »Wenn Ademar nach Süden marschiert, dann müssen wir diesen Ort verlassen«, sagte sie. »Und auch du, meine Schwester. Du musst nach Osten reisen, um den gläsernen Berg zu suchen.« Zunächst starrte Yuste sie einfach nur an. Gedanken brausten durch ihr Gehirn: die Bedeutung der Krähen, der Drang, Masalyar vor der kommenden Invasion zu warnen, die Gefahr, in der Annat und Malchik schwebten. Sie hatte über diesen Punkt hinaus keinerlei Pläne gemacht, als ob das Finden einer Person, die das Bild zu deuten vermochte, alle ihre Probleme lösen könnte. »Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte sie, als ihr plötzlich bewusst wurde, dass Mutter Zari, auch wenn sie warmherzig und freundlich schien, aus einer fremden Kultur stammte, einer, von der Yuste nur wenig wusste und die sie nicht verstand. Sie sehnte sich nach Freunden, die ihr einen Rat geben würden, doch alle Leute, die sie umgaben, hatte sie erst vor kurzem kennen gelernt, sogar Boris Grebenshikov. In mancherlei Hinsicht war er für sie wie ein alter Freund, jemand, den sie schon lange Zeit kannte, doch es fehlte die gemeinsame Vergangenheit, die sie mit Sival oder mit Yuda teilte. Sie musste sich daran erinnern, dass sie Boris außerdem für seine Dienste bezahlte; sie war diejenige, die eine Entscheidung treffen musste und Anweisungen zu geben hatte. »Du musst nach Osten ziehen«, wiederholte Mutter Zari. Yuste sah vor ihrem geistigen Auge die Stiche des Lepas-Gebirges, des Gebirgszuges, der wie ein Rückgrat zwischen Neustria und Sklava verlief bis hinab zum Mittelmeer. Die Aufgabe erschien ihr zu riesig, als dass sie sie sich vorstellen konnte. Sie musste zum Gebirge reisen und es überqueren; dahinter wartete eine weitere Reise auf sie, um den gläsernen Berg zu erreichen, wo sie sich einem unbekannten Gegner gegenübersehen konnte. Sie spürte die ersten Anzeichen einer Panik, die Feuchtigkeit in ihren Handflächen, den pochenden Puls an ihrem Handgelenk. »Ich weiß nicht, wo ich ansetzen soll«, sagte sie mit einer Stimme,
die in ihren Ohren kalt und ruhig klang. Als ob ihre kindischen Gefühle in ihr verschlossen wären, für niemanden offensichtlich als für sie selbst. Wenn sie eine Expedition zu leiten hätte, war nun nicht der richtige Zeitpunkt, um ihre Schwäche zu offenbaren. Sie blickte in die Augen von Mutter Zari und beneidete und bewunderte diese Frau, die ihren Stamm befehligte und beschützte – auch die Männer in ihm. Die Frau schien darauf zu warten, dass Yuste zu sprechen begann; oder vielleicht wollte sie auch, dass sie gingen, denn die Roma mussten damit beginnen, ihr Lager abzubauen, wenn sie das Gebiet verlassen haben wollten, ehe der Doyen mit seiner Armee anrückte. »Was wird aus euch? Wohin werdet ihr gehen?«, fragte sie und schämte sich plötzlich über die Selbstbezogenheit ihrer Ängste. Mutter Zari zuckte rasch mit den Achseln. »Wir werden mit euch kommen«, sagte sie. »Oder ihr könntet mit uns reisen. Es gibt dort einen Ort, eine Stadt westlich des Lepas-Gebirges, wo ihr die Möglichkeit haben werdet, es zu überqueren. Der Osten ist auch für uns eine gute Richtung. Weit weg von diesem verfluchten Ademar.« »Aber was ist, wenn wir Gefahren anziehen?« Mutter Zari antwortete nicht, sondern starrte sie aus Augen an, in denen kein Lächeln zu sehen war. »Wir werden mit euch reisen«, sagte Yuste. »Warte einen Moment«, sagte Boris. »Ich glaube, wir sollten genauer wissen, wohin wir uns auf den Weg machen. Ich bin genauso begierig wie jeder andere darauf, dem Doyen von Ademar aus dem Weg zu gehen, nach dem, was ich von ihm gehört habe. Aber wenn wir glauben, dass Annat und Malchik gefangen sind oder in diesem gläsernen Berg festgehalten werden, möchte ich für meinen Teil eine Karte zu Rate ziehen, um zu sehen, wo der Berg liegt. Und wie wir dorthin gelangen können.« Mutter Zaris Lippen bewegten sich ein wenig, als ob sie zu lächeln beginnen würde. »Hör mir zu, Gadjo«, sagte sie. »Wir werden bis zum Fuße des Lepas-Gebirges reisen, in die Stadt Dieulevaut. Und von dort aus werdet ihr auf den Schwingen des Windes nach
Sklava fliegen, als ob ihr Engel wäret, die von der Mutter geschickt wurden.« Yustes Hände umklammerten ihr Retikül. »Richtig«, sagte sie. Ihre Angst hatte sich zu einer Art Energie gewandelt, die sie aufrüttelte und antrieb. »Wir müssen unsere Sachen holen. Boris, geh mit Monsieur Planchet zurück zu unserer Unterkunft und bring her, was notwendig ist. Du wirst natürlich mit uns kommen, Cluny.« Einen Augenblick lang war sie verschreckt bei dem Gedanken daran, dass sie ihm dies mitteilte, anstatt ihn zu fragen, dass sie Befehle erteilte, als ob sie eine Kriegsführerin wäre. Doch Cluny machte eine untadelige Verbeugung, und Planchet erhob sich und salutierte, als ob er sich selbst als ihren Befehlen unterstehend empfand. Yustes Hände zitterten, als sie darauf wartete, dass Boris Einspruch erheben würde. Stattdessen stand er auf und vergrub die Hände in den Taschen seines Mantels. »Das ist es, was du willst, Yuste«, sagte er. Es klang wie eine Feststellung, nicht wie eine Frage. »Ich will Annat und Malchik finden. Ich will nicht alleine gehen. Lässt sich deine Anstellung so weit ausdehnen?« Boris nickte. »Aber ich denke, ich sollte eine Nachricht nach Masalyar schicken«, sagte er. Nachdem er und Planchet gegangen waren, spürte Yuste einen Anflug von Bedauern. Sie war versucht, ihnen hinterherzulaufen, um Boris zu sagen, dass es ihm freistünde, in die Stadt zurückzukehren, wenn er dies wünschte, wo er gebraucht werden würde, um die Verteidigung vorzubereiten. Sie wünschte, sie wäre nicht diejenige gewesen, die ihm die Entscheidung aus der Hand genommen hatte. Doch inmitten ihrer Zweifel erinnerte sie sich an die Krähenschwärme, die heute den Himmel verdunkelt hatten, und die verängstigten Worte in Malchiks Brief. Das gab ihr Entschlusskraft, doch es war kein Trost; sie nahm an, dass es eine Verbindung zwischen dem Vormarsch des Doyen in Richtung Süden und dem Verschwinden ihrer Schützlinge gab.
Der Aufzug stürzte mit unerwarteter Geschwindigkeit hinab, und Malchik packte Annats Hand. Sie waren von Dunkelheit umgeben, und die einzigen Geräusche waren die vorbeisausende Luft und das Mahlen des Fahrstuhlgestells. Annat verspürte eher Eifer als Furcht, und sie zwang ihre Stärke durch die Hand ihres Bruders. Sie wusste, dass er kein Feigling war; er hatte mehr Ängste, denen er sich zu stellen hatte als sie. Die Kabine des Aufzugs verlangsamte sich und rastete mit einem rumpelnden Satz in den Federn ein. Sie konnten den dampfangetriebenen Motor hören, der, um die Kabine zu bewegen, die Kolben und die Schwungräder ankurbelte und sie nun zu einem gleichmäßigen Klopfen verlangsamte. Die Türen glitten auf, und Annat machte, mit ihrem Bruder an der Hand, einen Schritt nach draußen. Sie und Malchik befanden sich in einem hohen Stollen, dessen Decke Hunderte von Metern über ihren Köpfen in der Dunkelheit verschwand. Tiefe, in die Wand eingelassene Schächte ließen Lichtstrahlen hinein, die die einzige Lichtquelle bildeten; sie stand reglos und beobachtete die glitzernden Stäubchen, die im Schein der Sonne schwebten. Unmittelbar vor ihnen erhob sich eine unversehrte, glatte Felswand, die sich nach rechts und links außerhalb ihrer Sichtweite rundete. Malchik zog seine Hand aus der ihren und legte sie ihr auf die Schulter: »Bei der Mutter«, hauchte er. »Wir müssen weitergehen, Malchku.« Annat wählte den Pfad, der sich nach links wand. Mit Malchik an ihrer Seite lief sie zwischen den Strahlen entlang, die das Tageslicht ausschickte und die manchmal den Ärmel oder das Haar ihres Bruders anstrahlten und ihr so einen farbigen Augenblick bescherten. Der Stollen schien wie ein Ring angelegt zu sein, doch schnell wurde deutlich, dass sie einem spiralförmigen Weg folgten, denn der Boden unter ihren Füßen senkte sich langsam ab. Schließlich erreichten sie eine Stelle, wo sie in einen hohen Tunnel eintraten und nicht mehr länger im Schatten der hohen Felswand liefen. Noch immer ließen die winzigen, in den Fels gebohrten Löcher Strahlen
herein, und Malchik und Annat durchquerten sie, als liefen sie durch die Fäden eines Spinnengewebes, das ihre Gesichter berührte, jedoch nicht zu spüren war. »Glaubst du, das ist das Beste, was wir tun können?«, fragte Malchik. »Nach unten zu laufen?« »Wir haben keine andere Wahl. Die Kristallkammer befindet sich im Gipfel des Berges.« »Ich frage mich, wer ihn ausgehöhlt hat. Semyon kann das nicht alleine getan haben, auch wenn er ein Magus ist.« Annat ließ ihre Finger über den Felsen gleiten. Die kristalline Oberfläche war glatt, und dort, wo das Sonnenlicht auf sie fiel, warf sie einen trüben Lichtschimmer zurück. Schwarzer Kristall. Obsidian. »Vielleicht ist der ganze Berg aus Kristall«, sagte sie. »Ich frage mich, wie er von außen aussieht.« Sie lächelte. »Lass uns hoffen, dass wir das herausfinden werden.« Der spiralförmig gewundene Weg schien seine Runden nach und nach größer werden zu lassen, während er sich nach unten schlängelte. Der Boden neigte sich so wenig, dass es manchmal schwer zu glauben war, dass sie sich überhaupt abwärts bewegten. Annat wurde langsam müde; sie hatte die Nacht ohne Schlaf verbracht, und das begann sich zu rächen. »Wie lange laufen wir schon?«, fragte sie. »Ich habe keine Ahnung. Die Sonne scheint sich bewegt zu haben, aber es ist schwer, das genau zu sagen, weil wir uns im Kreis bewegen.« Vor ihnen in der Dunkelheit gab es eine Bewegung, und etwas in einer Wolke aus Lumpen und Federn sprang sie an. Malchik warf die Arme in die Luft, um sein Gesicht abzuschirmen, und Annat ließ sich auf ein Knie fallen und ließ die Macht aus ihrer ausgestreckten Hand sprudeln. Sie war sorgfältig darauf bedacht, nicht zu viel Macht fließen zu lassen, sowohl, um ihre Energien zu sparen, als auch, weil sie sich nicht sicher war, was ihr da gegenüberstand. Das blaue Feuer sprang von ihren Fingern; es gab
einen Schrei und den Geruch angesengter Federn und Haare. Die Gestalt fiel von ihnen ab. Annat hörte einen dumpfen Knall, als sie auf den Boden prallte, und den Klang gemurmelter Flüche. Sie erhaschte einen Blick aus Malchiks Augen, die hinter den Gläsern weit aufgerissen waren. »Die Krähen …«, sagte er. »Das glaube ich nicht«, antwortete Annat und rappelte sich auf. Die Stimme sprach in Sklav mit sich selbst. Sie näherte sich der Gestalt, die in einem Haufen ausgestreckt auf dem Boden lag. Hier und dort erlaubten ihr die nadeldünnen Lichteinfälle den Blick auf ausgeblichene schwarze Kleidung, einen Schuh, einen grauen Haarschopf. Als sie näher kam, wich das Wesen kreischend vor ihr zurück. Annat erkannte eine lange, dünne Gestalt, die in mehrere Lagen Kleidung, Fell und Federn gehüllt war, mit robusten Stiefeln am Ende ihrer knochigen Beine. Annat hielt abwehrend die Hände ausgestreckt und sprach sie in Sklav an. »Wer bist du? Was willst du von uns?« »Baba Yaga, Baba Yaga«, murmelte die Gestalt. »Ist es menschlich?«, fragte Malchik über Annats Schulter hinweg. Annat kauerte sich neben der Gestalt auf den Boden. Sie konnte ein glänzendes, ängstliches Auge erkennen. »Bleib weg von mir«, sagte die Stimme, dieses Mal deutlicher, und Annat wurde klar, dass die Sprecherin eine alte Frau war. »Sag deinem Herrn, ich will ihm nichts Böses. Was könnte ich ihm schon Böses tun, wenn er mir all meine Macht genommen hat?« »Wer bist du, Großmutter?«, fragte Malchik und beugte sich über sie. »Baba Yaga«, wiederholte die alte Frau. »Ob das ihr Name ist, was meinst du?«, fragte er Annat. »Das ist kein Name. Es bedeutet ›Großmutter Hexe‹. Wie in den alten Geschichten.« Die alte Frau saß jetzt aufrecht und rieb ihre Schienbeine. Sie konnten sehen, dass ihr langes, graues Haar von vielen Nadeln zusammengehalten wurde, von denen jede ein reich verziertes, ge-
schnitztes Ende hatte. Strähnen und Locken lösten sich an allen Seiten, und unablässig versuchte sie, eine nach der anderen wieder zu befestigen. »Wer seid ihr denn dann, wenn der Herr euch nicht geschickt hat?«, fragte sie. »Und warum habt ihr mich so angesprungen?« »Du hast uns angesprungen«, sagte Malchik. »Wir sind Gefangene von Semyon, dem Magus«, sagte Annat. »Ihr auch, ja?« Baba Yagas Worte waren undeutlich, denn sie hatte eine Haarnadel zwischen ihre Zähne geklemmt. »Kann mir nicht denken, was er mit solchen wie euch will.« »Eigentlich will er unsere Seelen«, sagte Malchik. »Es tut uns Leid, falls wir dir wehgetan haben sollten, aber du hast uns erschreckt.« »Du hast mich erschreckt, junger Mann. Niemand kommt hier herunter, niemand – außer dem Herrn selbst oder seinen Dienern.« »Wir haben zu fliehen versucht«, sagte Malchik. Die alte Frau warf den Kopf zurück und lachte. »Fliehen? Aus dem gläsernen Berg?«, sagte sie, als sie sich wieder beruhigt hatte. »Ich nehme an, eines Tages wird es jemandem gelingen.« »Bist du eine Hexe?«, fragte Annat. »Natürlich bin ich das. Warum sonst würde er mich am Leben lassen, hier unten in der Dunkelheit? Ich bin nicht die Baba Yaga – es gibt nicht nur die eine. Es gibt viele von uns, viele Hexenschwestern, aber wir tragen alle den gleichen Namen. So ist das, wenn du eine Hexe wirst. Du gibst deinen Namen auf und wirst zu Baba Yaga.« »Kannst du uns helfen?«, fragte Malchik. »Euch bei der Flucht helfen?«, fragte sie und sah von einem zum anderen. »Warum sollte ich das tun, mal angenommen, ich könnte es?« »Du könntest mit uns fliehen«, sagte Malchik. Wieder begann die Hexe zu lachen. Es war kein angenehmes Geräusch, doch es schien von tatsächlicher Heiterkeit herzurühren. »Der Spruch des Herrn bindet mich hier, junger Mann«, sagte sie. »Selbst wenn ich einen Weg nach draußen finden würde, könnte
ich nicht fortgehen. So einfach ist das.« Malchik wandte sich zu Annat. »Glaubst du …?«, fragte er. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, aber sie verstand ihn durch den Klang seiner Stimme. »Semyon braucht keine Sprüche, um uns hier unten zu halten, Malchku.« Sie hockte sich neben Baba Yaga und streckte der Hexe ihre Hand entgegen. »Wenn du uns hilfst, werden wir dir helfen.« »Und was lässt euch glauben, dass ihr mir helfen könntet?« Die alte Frau starrte auf Annats ausgestreckte Finger. »Ich habe keine Freunde. Keine menschlichen Freunde. Die Menschen halten sich fern von Hexen. Es gibt keinen Grund, warum ihr irgendetwas für mich tun solltet.« »Das werden wir aber, wenn du uns hilfst«, sagte Annat. Die Hexe nahm ihre Hand in ihre starken Klauen und sprang ohne ein Zeichen von Gebrechlichkeit auf die Füße. Sie zog Annat mit sich, und das Mädchen wich zurück; die alte Frau stank nach Staub und modernden Blättern. Baba Yaga umfasste Annats Gesicht und drehte es ins Licht. »Was bist du überhaupt?«, fragte sie. »Du hast Macht, doch du bist keine Hexe.« Annat blickte in die glänzenden Augen, dunkel wie Felskristalle. »Ich bin eine Schamanin«, sagte sie. Baba Yaga blickte von ihr zu Malchik. »Er nicht«, sagte sie. »Zwei Kinder, alleine und verloren im Inneren des Kahlen Berges. Ihr solltet besser mit mir kommen.« Und sie packte Annats Schulter mit festem Griff und drängte sie hinunter in die Dunkelheit, die vor ihnen lag. Der Gasthof, in dem Sarl den Wirt bestochen hatte, damit er ihnen Räumlichkeiten zur Verfügung stellte, lag auf einer schmalen Insel, wo sich die zwei großen Flüsse trafen, der Krön und der Zahan. Huldis hatte sich geweigert, sich in irgendein von Mauern um-
schlossenes Nonnenkloster abschieben zu lassen. Sie hatte dem Wirt fast die Hand geküsst, als er einen winzigen Raum unter dem Dachfirst für sie gefunden hatte, dessen Tür sich abschließen ließ. Hielt sie Semyon für zu unschuldig, als dass sie seine geifernden Blicke und die Art, wie seine Augen die Rundungen ihres Körpers betrachteten, deuten konnte? Sie lag vollständig bekleidet in dem schmalen Bett mit der strohgefüllten Matratze, ihre Hände an die Seite gepresst. Sie wartete darauf, dass sich Stille über das Haus legte. Seit der Zeit, die sie als Gefangene der Kalten Göttin im Herzen der Welt, die La Souterraine hieß, verbracht hatte, hatte Huldis Schwierigkeiten damit, Schlaf zu finden. An diesem Ort war sie zwischen Leben und Tod gefangen gewesen; es war, als habe sie dreiundzwanzig Jahre geschlafen. Als die Göttin sie holte, war Huldis dreizehn gewesen. Sie war erwacht und hatte alles verändert vorgefunden, während sie selbst nur drei Jahre älter geworden war. Nun war sie zwanzig, doch im Inneren fühlte sie sich sowohl alt als auch jung, ein Kind und eine Frau. Es war ihre Schwester gewesen, eine ihrer Retterinnen, die ihr zur Flucht in den Wald zu den Frauen der Roma verholfen hatte. Nachts hatte sich Huldis aus ihrem Heim im Untergrund entfernt, um die Quelle aufzusuchen, welche der Göttin, die sie verehrten, geweiht war, oder um durch das heilige Wäldchen zu streifen. Mit Hilfe ihrer Schwester hatte sie ihre Erinnerung aufgefrischt und die Jahre, die vergangen waren, zu begreifen gelernt; doch all das hatte aufgehört, als der Leib ihrer Schwester von einem Kind – von Kindern – anschwoll und sie davonzog, um bei ihrem Ehemann zu leben. Zur gleichen Zeit war Huldis zur Burg von Ademar zurückgekehrt, um bei ihrem Vater zu wohnen. Huldis fragte sich manchmal, ob ihre Schwester irgendeine Vorstellung davon hatte, was das für sie bedeutete. Es war nicht das Alter des Doyen oder die Abgeschiedenheit der Burg, die ihr das Leben beinahe unerträglich machten; es waren die lebendigen Erinnerungen an das Leben, das sie verloren hatte, und die Weigerung ihres Vaters, aus der Trauer über den Tod seines Erben, seines einzi-
gen legitimen Sohnes, aufzuwachen. Ihr Vater konnte ebenso wenig wie sie schlafen, und so beharrte er darauf, dass sie nachts bei ihm saß und ihm aus den heiligen Büchern der Doxoi vorlas. Sie gehorchte ohne Widerworte, doch ihr Herz und ihre Gedanken waren anderswo, entweder gefangen in dem Schmerz ihrer Vergangenheit, oder in Träumen vom Wald draußen, wo sie frei umherlaufen konnte wie ein Schatten. Niemand, nicht einmal Sarl, ahnte, dass sie über die Fähigkeiten einer Schamanin verfügte. Wie ihr Bruder hatte sie die Gabe, ihre Natur vor anderen zu verbergen. Semyon selbst hätte nicht darauf kommen können, was sie war. Huldis hatte in ihren frühen Jahren in Ademar gelernt, geheimnisvoll und verschwiegen zu sein, und sie war glücklich, dass sie diese Fähigkeit seit ihrer Rückkehr aus der Gefangenschaft noch perfektioniert hatte. Nur Aude, ihre Magd, hatte das Geheimnis der ältesten Tochter des Doyen gekannt, ein Geheimnis, das Huldis ihrer Freundin wie einen Talisman anvertraut hatte. In diesen Tagen waren sie wie Zwillinge gewesen, genährt von der gleichen Amme – Audes Mutter – und nie ohne die Gesellschaft der anderen. Doch am Ende hatte ihre Freundschaft sie nicht vor der Kalten bewahrt, vor dieser hungrigen Göttin, die unterhalb des Waldes wohnte. Sie hatte Huldis geraubt und das Mädchen in ihrem eisigen Reich gefangen gehalten, während Aude trauernd alterte und fortzog, heiratete, Kinder bekam und starb. Huldis dachte oft an ihre Freundin. Es blieb schwer für sie zu akzeptieren, dass so viel Zeit in ihrer Abwesenheit vergangen war. Sie trauerte noch immer um Aude. Sie fühlte sich verwundet, als hätte jemand eines ihrer Glieder abgetrennt und sie auf sich selbst gestellt zurückgelassen. Es überraschte sie nicht zu erfahren, dass ›la belle Aude‹ sich das Leben genommen hatte. Manchmal fragte sich Huldis, ob sie das Gleiche tun sollte, doch sie fürchtete sich davor, sich plötzlich noch einmal in La Souterraine gefangen wiederzufinden, dieses Mal unwiderruflich. Semyon und Sarl sollten inzwischen eingeschlafen sein – falls Sarl
überhaupt schlief. Sie stellte sich vor, wie ihr Bruder reglos wie ein Leichnam auf einem steinernen Sockel lag und mit geöffneten Augen in die Nacht starrte. So sehr sie Semyon auch verachtete, sie bemitleidete ihn, dass er den Raum mit einem solchen Begleiter teilen musste. Nun, wo Sarl von den Toten zurückgekehrt war, empfand sie ihre durchwachten Nächte nicht länger als friedliche Zeit; sie würde ängstlich im Dunkeln liegen und die Fäuste ballen. Huldis erhob sich von ihrem Bett und nahm ihren Umhang mit der Kapuze, den sie draußen trug, vom Haken an der Tür. So zeitig im Frühjahr waren die Nächte eisig, und es gab manchmal Frost. Der Umhang war aus feiner, selbst gesponnener Wolle in einem dunklen Mitternachtsblau gewebt; die Frauen der Roma hatten ihn ihr geschenkt, während sie bei ihnen lebte. Blau und Grün waren bevorzugte Farben der Doxoi: Blau war die Farbe des Umhangs der Mutter und Grün das Symbol für die Auferstehung des Sohnes. Huldis spürte die feine Wolle unter ihren Fingern, als sie den Umhang am Hals schloss und die Kapuze nach vorne zog, um ihr Gesicht zu überschatten. Die Frauen der Roma huldigten nicht dem Sohn oder der Mutter, Gottessohn und Muttergöttin; sie verehrten die Zwillingsmächte des Waldes, die Dunkelheit und das Licht, Kälte und Wärme. Huldis teilte inzwischen ihren Glauben. Sie fühlte sich nicht schläfrig, und sie hatte keine Angst. Während die Gäste der Herberge schliefen, ihr Bruder und der Magus ganz in der Nähe, hatte sie ihre eigenen Angelegenheiten, um die sie sich kümmern musste. Yonar war eine Stadt der geheimen Gassen und Gänge zwischen den Häusern, welche die Städter Traboules nannten. Jemand, der die Straßen meiden wollte, konnte ihnen folgen, um die Stadt unentdeckt zu durchqueren. Obschon Huldis eine vage Vorstellung von der Richtung hatte, die sie einschlagen musste, wusste sie nicht, welche Gefahren auf eine einsame Frau warten mochten, die des Nachts durch die Stadt lief. Sie trug ein Messer unter ihrem Umhang, und sie war durch den Machtgürtel geschützt, den niemand sonst, nicht einmal andere Schamanen, wahrnehmen konnte.
Nachdem sie ins Erdgeschoss des Gasthauses hinabgestiegen war, öffnete sie die Vordertür und entdeckte den Eingang zu einem Traboule nebenan. Es sah aus wie ein Verbindungsgang, der zu einem Hof führte, auf dem weitere Eingänge zu finden sein mochten. Es gab keine Fenster, und der Gang war von der Nacht überdacht, doch die besondere Atmosphäre rührte von den flackernden Öllampen her, die über den Türen angebracht waren, und die weiter vorne aus dem Blick verschwanden. Huldis zog ihren Umhang enger um sich und machte sich auf den Weg in die Dunkelheit. Sie drückte sich von Schatten zu Schatten und mied das Licht; oft machte sie Halt und presste sich mit dem Rücken gegen die Steinmauer, während sie auf Schritte lauschte. Zu dieser nachtschlafenden Zeit waren sogar die langen Gassen verlassen. Die Städter benutzten sie, nicht die Verbrecher, obgleich sie ein perfektes Versteck für Meuchelmörder oder Messerstecher waren. Mit einem seltsamen Gefühl der Freiheit ließ Huldis ihren sechsten Sinn die Düsternis vor ihr durchsuchen. Es war so merkwürdig, allein zu sein, ohne jemanden, der sie beobachtete. Ihre Schuhe mit den weichen Sohlen machten kaum ein Geräusch auf dem Kopfsteinpflaster, und sie hätte an einem Geist vorbeigehen können, einem Gespenst, das aus der Vergangenheit der Stadt heraufbeschworen worden war. Sie wusste, dass die Kadagoi eine Stadt ihres uralten Reiches auf der Mündung der Flüsse Krön und Zahan erbaut hatten. Unter ihren Füßen lagen die Grundmauern, die sie errichtet hatten, Teile der alten Mauern bildeten die Keller, und detailreiche Kapitelle waren an den Straßenecken eingelassen. Vor ihr prangte das Licht, nach dem sie Ausschau hielt, wie ein Leuchtfeuer. Es waren viele Schamanen in dieser Stadt, und sie hatte zwischen ihnen gesucht, zwischen den strahlenden und den gedämpften, den farbigen und den trüben, auf der Suche nach einer Signatur, die ihr bekannt vorkam. In ihren Augen schien die Macht Sarls blau wie ein Eisklumpen, der von einem Gletscher abgeschlagen worden war, doch um das Eis züngelten Flammen. Semyon gab einen satten, öligen Geruch ab, moschusartig wie der Zibet aus den
Drüsen einer Katze. Huldis unterdrückte ein Lachen und fragte sich, ob andere Schamanen diese Unterschiede ebenfalls lesen und wahrnehmen konnten oder ob nur sie allein dazu in der Lage war. Wie Sarls Macht war die, nach der sie suchte, silbrig blau, doch sie war durchzogen von goldenen und bernsteinfarbenen Fäden. Sie folgte ihr wie ein Hund, der einen Geruch gewittert hatte, beachtete keinerlei Hinweisschilder, sondern nahm nur Eingänge, die sie näher zu bringen schienen. Sie hatte sich noch nicht entschieden, was sie tun wollte, wenn sie ihn gefunden hatte. Yuda hatte Aude geheiratet. Dies war eine der wenigen Tatsachen, die Huldis erfahren hatte, ehe ihre Schwester ihr dabei half, Zuflucht im Wald zu finden. Sie erinnerte sich an die Zeit unmittelbar nach ihrer Rückkehr als eine Mischung aus Strahlen, Lärm und Empfindungen. Es war wie geboren zu werden, doch mit Gedanken und Gefühlen, die weit genug entwickelt waren, um die neue Welt, in die sie sich selbst geworfen sah, beschreiben zu können. Ganz im Gegenteil zu der Ruhe, die folgte, als sie unter den Frauen der Roma lebte. Klänge, Gerüche, Geschmack, all das war strahlend und neu gewesen. Sie hatte nur für den Augenblick gelebt, hatte die Erinnerungen, die auf ihr lasteten, ausgeblendet und das Beisammensein mit ihren ungewöhnlichen Freunden genossen. Und sie waren ungewöhnlich gewesen; ihre jüngere Schwester, zu einer großen Frau mit einem Meer von Haaren herangewachsen, der dunkelhäutige Ehemann der Schwester, und die kleinen Wanderer, die so winzig und dunkel und flink waren. Huldis ließ diese Erinnerungen in ihren Gedanken aufblitzen wie Juwelen, während sie sich ihren Weg durch die Stadt bahnte und Yudas Macht als Leuchtturm nahm. Sie waren ein Hoffnungsschimmer gewesen, als sie zur Burg zurückkehrte, um unter dem Druck der Verzweiflung zu leben. Sie bewahrte sie und behütete sie und benutzte sie nur, wenn ihr Herz die Gedanken in Richtung Selbstmord lenkte. Sie wusste, dass außerhalb ihres Gefängnisses eine Welt der Klänge und Farben existierte; eine Welt, die auch ihr eines Tages wieder offen stehen und ihr die Freiheit bringen würde.
Das Haus, nach dem sie suchte, lag im ältesten Teil der Stadt, unter dem Schutz einer steilen Mauer, auf der eine Basilika der Mutter stand. Huldis hob den Kopf und sah Fackeln vor dem dunklen Himmel brennen, ein Licht, das zu jeder Tages- und Nachtzeit brannte, um Pilgern den Weg zu weisen. Sie ging die Straße mit dem Kopfsteinpflaster entlang, vorbei an Fenstern mit geschlossenen Läden und Türen, die mit reich verzierten Gittern bewehrt waren. Sie verlangsamte ihren Schritt und blieb von Zeit zu Zeit stehen, um in ein Fenster zu schauen, welches nur Dunkelheit zurückwarf, oder die schmalen Lichtstrahlen zu betrachten, die noch immer aus manchen Lüftungsklappen hervorblitzten. Ihr Herz schlug wie eine Trommel, als sie vor einem großen, vierstöckigen Gebäude Halt machte, an dem sich unter jedem Fenster schmiedeeiserne Balkone befanden. Die Eingangstür war frisch gestrichen worden, und der bronzene Türklopfer hatte die Form einer Hand, die einen Ball umklammerte. Huldis pochte nicht. Sie machte einen Schritt zurück. Die Fenster waren nicht nur verschlossen, sondern auch mit Bahnen von Häkelspitze verhängt. Sie atmete langsam und schickte ihre Gedanken aus, ließ sie durch die Nacht fliegen und rief den Namen des Schamanen durch die Stille. Während sie wartete und den Ruf von Zeit zu Zeit wiederholte, begann sie, sich ausgeliefert und unsicher auf der verlassenen Straße zu fühlen, als ob ihr Ruf laut von den verschlossenen Häusern zurückgeworfen würde. Mit festem Griff umklammerte sie das Heft ihres Messers und versuchte, Yuda zu einer Antwort zu bewegen. Es konnte nicht sein, dass sie zum falschen Ort gelangt war; die Signatur der Macht ließ sich nicht fehldeuten, und sie war keiner ähnlichen begegnet. Plötzlich sah sie ein Licht aus dem Fenster im ersten Stock, als die Läden aufgestoßen wurden. Die Vorhänge zitterten, und einen Augenblick später öffnete sich das Flügelfenster und ein Mann sah hinaus. Er rief etwas in einer seltsamen Sprache, und seine Stimme klang verärgert. Ihre Unsicherheit hielt Huldis davon ab zu antworten. Sie konnte das Gesicht des Mannes nicht sehen, und sie wusste
auch nicht, wie sich Yuda in vier Jahren verändert haben mochte. Es gab eine Pause, in der er auf eine Antwort wartete, dann sprach er wieder, dieses Mal in Franj. »Wer zur Hölle sind Sie?« Sie erkannte den Klang seiner Stimme, tief und ein wenig rau, und die Spur eines Akzentes, wenn er in ihrer Sprache redete. Anstatt laut zu antworten, sendete sie den Gedanken mit ihrem Namen zurück. Er schien zu zögern, bevor er antwortete: »Du solltest besser hereinkommen.« Das Fenster wurde geschlossen, und Huldis wartete. Sie sah Schatten, die sich hinter der Scheibe bewegten und von dem gelben Licht im Inneren umsäumt wurden, und sie hörte das Gemurmel von Stimmen. Etwas später erklangen eilige Schritte auf der Treppe und ein gleichmäßiges Auftreten quer durch die Halle. Huldis umklammerte ihren Umhang und ihr Messer und fühlte eine Welle der Angst, Überraschung und Belustigung, als ein dünner Mann über die Türschwelle trat. Sie hatte vergessen, dass Yuda und seine Tochter klein und stämmig waren, gerade so, wie ihre Familie groß und stattlich war. Nach dem Licht, das sie durch die dunkle Stadt verfolgt hatte, war es absurd, nun einem kleinen Schatten gegenüberzustehen. »Bist du hergekommen, um mir zu sagen, dass ich klein bin?«, fragte Yuda. Huldis schnappte nach Luft. Es war so seltsam, die Achtsamkeit zu lockern, die ihre Macht verbarg, dass sie keinen Versuch unternommen hatte, ihre Gedanken abzuschirmen. »Es – es tut mir Leid, Monsieur.« »Ich denke, es gibt auch noch andere Gründe, warum du den ganzen Weg gekommen bist, um mich mitten in der Nacht aufzuwecken?« Huldis wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie ließ den Umhang zurückgleiten, sodass er das Messer sehen konnte. Yuda hob den Kopf. »Wir können das hier auf der Straße diskutieren, wenn du möchtest, oder du kommst herein«, sagte er. Huldis besann sich darauf, wie ungehörig dies sein würde. Sie
sollte nicht einen Mann, der nicht aus ihrer Familie stammte, alleine und ohne eine Anstandsperson besuchen. Yuda schüttelte den Kopf. »Ich teile mir ein Zimmer«, sagte er. »Zwei Männer und zwei Mädchen. Keine Möglichkeit, die Tugendhaftigkeit von irgendjemandem in Gefahr zu bringen.« Und sie sah ihn grinsen. Es gab so viel, was sie hätte sagen wollen, und nun, in seiner Gegenwart, war ihre Zunge wie gelähmt. Sie nickte und er geleitete sie ins Haus. Dann schloss er die Tür hinter ihnen. »Du bist gewachsen«, sagte Yuda und sah zu ihr auf. Huldis starrte ihn an, erinnerte sich an sein Gesicht, an die blasse Haut und die dunklen Züge und an die Augen, die so intensiv waren, dass man nicht lange hineinblicken konnte. Sie senkte den Blick, wie es sich für sie gehörte, wenn ein Älterer anwesend war. »Die Treppe hinauf«, sagte Yuda, und Huldis betrachtete den steinernen Fußboden mit dem Teppich aus Brombeerwolle und den Treppenläufer, der von bronzenen Stäben, jeder mit einer Schwertlilie an den Enden, gehalten wurde. Die Wände trugen dunkle Holzpaneele, und eine ganze Anzahl Türen führte aus der Halle, doch alle waren verschlossen. Als Huldis die Treppe emporstieg, ließ sie ihr Messer in die Scheide an ihrem Gürtel gleiten und raffte mit der Hand ihre Röcke zusammen. »Wie geht es Casildis, meiner Schwester?«, fragte sie über ihre Schulter hinweg und hatte das Gefühl, dass ihre Stimme kalt und förmlich klang. »Sehr beschäftigt. Weißt du, dass sie inzwischen fünf Kinder hat?« Huldis schauderte. Die große Frau mit dem goldenen Haar, die einst ihre kleine Schwester gewesen war. »Geht es ihr gut?«, fragte sie und schlug erneut einen kalten Ton an. »Ich glaube schon.« Er hielt inne. »Ich gehe manchmal dorthin, um meine Tochter zu besuchen.« Huldis blieb stehen, lehnte sich an das hölzerne Treppengeländer und drehte sich um, damit sie ihn ansehen konnte. »Deine Tochter?«, fragte sie verständnislos. »Einer der Zwillinge ist von mir«, sagte er. »Casildis trug die Kin-
der von zwei Männern. Ungewöhnlich.« Als Huldis ihn weiterhin mit offenem Mund anstarrte, fügte er hinzu: »Wenn sich die Zeiten ändern, kann es einem so ergehen.« »Aber ihr Ehemann …« »Das sind alte Geschichten, Missis. Wir sind Freunde. Seltsame Freunde.« Huldis setzte sich wieder in Bewegung und stieg den zweiten Treppenabsatz empor, während ihre Gedanken in ihrem Kopf schwirrten. Wieder einmal war sie zurückgekehrt in die Welt der gewaltigen, lebendigen Farben, wo die Regeln gebrochen zu werden schienen und wo niemand flüsterte. Plötzlich lächelte sie. »Du scheinst meine Angelegenheiten belustigend zu finden, Mademoiselle.« Huldis konnte wieder sprechen, und die Worte strömten aus ihr heraus. »Oh nein, Monsieur Vasilyevich, aber ich habe so lange in der Burg meines Vaters festgesessen, wo man weder schreien noch rennen kann und wo jeder Tag gleich ist, dass ich vergessen hatte, wie es war, mit dir und deinen Leuten zusammen zu sein. Ich habe immer gedacht, dass ich zurück in La Souterraine und unter einem neuen Fluch gefangen war.« »Dann haben wir also nicht die richtige Entscheidung getroffen, als wir dich dorthin zurückschickten.« Huldis spürte, wie ihr nun die Tränen in die Augen stiegen. »Ihr wusstet es nicht. Und es war nicht so schlimm, als Cluny noch dort war, aber er ging fort, und dann war ich alleine mit meinem Vater. Und dann kam Sarl zurück …« »Was?«, rief Yuda mit lauter Stimme, und dann fluchte er in seiner eigenen Sprache. Eine Frau mit hellem Gesicht und schräg stehenden Augen tauchte auf dem Treppenabsatz über ihnen auf und sagte: »Kak sovut, Vasye?« Yuda beachtete sie nicht. Er lehnte sich gegen die Wand des Treppenhauses und starrte Huldis mit erschrockenem Blick an. »Ich dachte, ich hätte ihn getötet«, sagte er. Huldis lies sich auf eine mit Teppich bedeckte Stufe sinken und merkte, wie ihr die
Worte aus dem Mund sprudelten. »Mein Vater konnte ihn nicht gehen lassen. Er rief einen Magus vom Hof des Staryetz herbei, der seine Magie nutzte, um meinen Bruder von den Toten zurückzuholen. Und sie sind hier in der Stadt, um dich zu jagen.« Yuda fuhr sich mit der Hand durch die langen Haare. Sie waren tiefschwarz, doch durchzogen von einigen grauen Strähnen und Fäden. »Das hat mir gerade noch gefehlt.« Die Frau sprach wieder, diesmal in Franj. »Vasye, bring das Mädchen in unser Zimmer. Sie sieht völlig erschöpft aus. Lukacs brüht gerade Chai.« Yuda zuckte mit den Schultern. »Ich glaube nicht, dass es uns die anderen danken werden, wenn wir sie ebenfalls aufwecken. Komm, Huldis. Du kannst gemütlich in unserem komfortablen Zimmer sitzen und uns die ganze Geschichte erzählen.«
Kapitel 8
D
ie Reise nach Osten von Axar nach Dieulevaut dauerte gewöhnlich drei Tage. Sie brachen noch vor Sonnenaufgang von der Quelle aus auf und reisten in gleichmäßigem Tempo. Andras, der allein lebte, hatte eingewilligt, Yuste und ihre Freunde in seinem Wagen mitzunehmen. Er hatte zwei Pferde angeschirrt; sein Wagen war weniger prächtig verziert als der von Mutter Zari, als ob er ihn erst seit kurzer Zeit besäße. Aufgrund von Clunys Geschichte und einigen Worten, die Yuste mit Mutter Zari gewechselt hatte, hatte sie herausgefunden, dass bei den Roma das Matriarchat galt. Obwohl die Männer über alltägliche Macht verfügten, war der Kopf des Clans eine Frau, und Andras schuldete der Familie seiner Mutter Loyalität.
Die Roma hatten mit großer Eile ihre Besitztümer zusammengepackt, die Pferde angespannt und sich für die Reise fertig gemacht. Yuste und Boris hatten nicht im Weg herumgestanden, sondern sich mit Cluny und Planchet in ihre Unterkunft gesetzt. Der Diener hatte seine Uniform gegen eine grüne Tunika, Beinlinge und eine Jacke aus Cuir-Bouilli-Leder eingetauscht. Dies bezeichnete einen Prozess, bei dem das Leder gehärtet wurde, wie Cluny Yuste erläuterte, während sie warteten. Cluny hatte nicht seine übliche Reisekleidung angelegt, sondern sich für eine Kordjacke und seinen liebsten Filzhut entschieden. Er hatte jedoch ein Kurzschwert in einer schlichten Scheide zu Tage befördert, das er Yuste und Boris zeigte. Yuste bemerkte, dass sie Cluny mit neuen Augen sah. Trotz seiner sanften Worte, seines Charmes und seiner Höflichkeit trug er doch ein Stück Stahl, das einem mittelalterlichen Krieger angestanden hätte. Sie versuchte, sich sein vorheriges Leben vorzustellen, das er erst vor Monaten aufgegeben hatte, um in ihrer Welt aus Dampf und Eisen zu leben. Planchet schien ein wenig peinlich berührt zu sein von der Aufmerksamkeit, die sein Aufzug auslöste. Sie hatten ihn überredet, eine Waffe mitzunehmen, und Boris bewunderte den Morgenstern; ein Schlegel, der mit mörderischen Spitzen besetzt war. Planchet ergriff ihn, und sie sahen, wie sich die Muskeln unter seiner Tunika spannten. Yuste vermied es, ihn zu fragen, was er von dem Befehl hielt, den Cluny ihm gegeben hatte: nämlich vor den Truppen des Doyen zu fliehen. Sie dachte sich, dass der Konflikt, in den ihn seine Bindungen stießen, schmerzen musste, auch wenn er sich für Cluny als seinen Herrn entschieden hatte. Während der Wagen über die unbefestigten Straßen aus Axar hinausrumpelte, hatten die vier einen guten Blick aus dem hinteren Fenster. Die Spitzen und Türme der alten Stadt zeichneten sich als Silhouette vor dem fahlen Westhimmel ab, und dicke Wolken mit Rändern aus sattem Rosa und flammendem Rot zogen langsam gen Süden, wie die Vorhut einer Schlacht. Yuste stellte sie sich als Banner des Doyen vor, die über den Himmel flatterten, und sie war nicht überrascht von den schwarzen Flügeln, die über ihr schlugen,
während die Krähen Axar umkreisten. Sie schluchzte, und Boris drückte ihr Handgelenk. »Ich habe eine Nachricht an die Eisenbahner abgeschickt«, sagte er. »Aber was tue ich, Boris Andreyevich? Was denke ich nur, was ich da tue? Mein Bruder sollte nach Osten reisen, nicht ich.« »Dein Bruder ist in Yonar, Missis.« Yuste sendete ihm ihre Gedanken. Sie hatte Angst um die Menschen in den Städten weiter im Norden, die bereits unter dem Einfluss des Doyen standen. Was war mit jenen, die damit nicht einverstanden waren? Sie konnte sich kaum vorstellen, dass ein alter Krieger aus der Vergangenheit eine Armee aufgestellt haben konnte, die über Masalyar und all die Hoffnungen ihrer Bewohner herfallen konnte. – Es ist schwer vorstellbar. Aber du hast das Schwert und den Morgenstern gesehen. Richtige Waffen. Der Gedanke war irgendwie vertraut wie eine alte Jacke. Yuste sah ihn nicht an. – Aber was ist mit uns, Boris? Wir rennen davon. Wir sollten unsere Stadt verteidigen. – Ist nicht jeder davon überrascht worden? Sie musste ihn anlächeln. Sie bemerkte, dass Cluny sie ansah und daraufwartete, dass sie sprach, und so sagte sie: »Es tut mir Leid. Boris und ich können uns wie Schamanen unterhalten. Aber es ist etwas unhöflich.« »Überhaupt nicht. Es muss praktisch sein, seine Gedanken so schnell mitteilen zu können.« Er seufzte. »Ich habe mich gefragt, was es bedeuten würde, vor meinem Vater davonzulaufen. Mich selbst als Verräter zu erweisen.« »Du bist kein Verräter, Cluny. Du bist fortgegangen, um deinen Freunden zu helfen.« Er hob den Blick und sah ihr in die Augen. »Glaubst du nicht, Yuste, dass es eine Verbindung zwischen dem Verschwinden von Annat und Malchik und dem Unternehmen meines Vaters geben
muss? Es scheint zu unwahrscheinlich für einen Zufall.« Bevor Yuste antworten konnte, sagte Boris: »Er hat Recht. Ich weiß nicht warum, und ich kann die Verbindung auch nicht benennen, aber es muss eine geben.« »Spielt das eine Rolle?«, fragte Yuste. »Wir werden die Kinder finden und retten. Das wär's.« Boris legte die Stirn in Falten. »Der Doyen wird uns davon abhalten wollen, sie zu retten, sobald er herausfindet, dass wir das vorhaben. Nur so ein Gedanke.« »Und wo ist mein Bruder? Wo ist Sarl?«, fragte Cluny. Yuste richtete sich auf und lehnte sich gegen die hölzerne Wand des Wagens. »Wir wissen nichts«, sagte sie. »Aber es würde uns auch nichts nützen, wenn wir es wüssten. Alles, was wir tun müssen, ist, diesen Berg zu erreichen, und dann …« »Sie sind in diesem Berg.« Yuste schrak zusammen. Andras' Stimme kam weich von der Vorderseite des Wagens, wo er saß, um die Pferde zu lenken. Ihr war nicht klar gewesen, dass er sie sprechen hören konnte. Der Westhimmel war blau wie Stahl. Yuste sah es durch das Fenster. Zunächst konnte sie die Umrisse von Zypressen sehen, so viel schwärzer als der Himmel. Doch als die Zeit verging, gab es nichts weiter als ein tiefes, samtenes Blau, das noch verstärkt wurde durch das Licht, das sie in dem Wagen entzündet hatten. Sie bereiteten eine Abendmahlzeit aus Brot, Käse und Fleisch aus der Dose, das Planchet aus der Speisekammer des Colleges mitgebracht hatte. Das Brot war aus Sauerteig gebacken, und Yuste fand seinen bitteren Geschmack mit der salzigen Butter angenehm tröstlich. Die anderen sahen ihr zu und warteten, während sie in Ebreu den Segen über das Essen sprach, in einer Sprache, die sie nicht verstehen konnten. »Glaubst du, sie werden uns folgen?«, fragte Boris Cluny, als sie ihr Mahl beendet hatten. Planchet räumte die Teller ab und legte sie in eine Schüssel, in der das Geschirr gespült werden sollte und die Andras ihm gezeigt hatte. Wie die Wanderer hatten die Roma strenge Regeln, die besagten, was rein und was unrein war.
Cluny legte das Schwert in seiner Scheide auf den Tisch. »Ich weiß nicht. Ich wünschte, ich wüsste, was in dem Kopf meines Vaters vor sich ging, als er loszog.« Boris knurrte. »Mir geht es ein wenig wie Yuste«, sagte er. »Ich kann nicht glauben, dass dies geschieht. Niemand von uns hat viel Zeit außerhalb von Masalyar verbracht, ganz zu schweigen von der nördlichen Wildnis. Ich kann mich natürlich an Dinge aus meiner Kindheit in Kyev erinnern. An Schwerter, zum Beispiel. Ich habe der Druzhina des Staryetz zugesehen, wie sie in ihren silbernen Rüstungen vorbei ritten.« »Was bedeutet Druzhina?«, fragte Cluny. »Leibgarde«, antwortete Yuste. »Alle Adligen der Sklav – die Boyars – haben solche Begleitung.« »Wir sind deine Druzhina, Yuste«, sagte Boris. »Sehr witzig, Boris Andreyevich. Eine Wanderin mit einer Druzhina? Meinem Volk ist es verboten, in Sklava Waffen zu tragen.« Boris schien die Begeisterung gepackt zu haben. »Nicht hier. Nicht jetzt«, sagte er und kramte in seinen Taschen nach Zigarren und Anzünder. Planchet stellte eine der Weinflaschen auf den Tisch und holte einige Gläser. »Es ist kalt«, sagte Yuste und schauderte. »Ich bin sicher, der Wein wird unsere Körper und unsere Seelen wärmen«, sagte Cluny. »Meine könnten jedenfalls Wärme gebrauchen.« Die Karawane reiste durch die Nacht. Planchet rollte sich in seinen Umhang und legte sich zum Schlafen auf den Fußboden, während Cluny auf einer der Bänke, die sich an der Wand befanden, lagerte, seinen Hut über die Augen gezogen und sein Schwert in Reichweite. In stummen Einverständnis hatten sie Yuste das Bett überlassen, obgleich es groß genug war, dass mehrere Menschen darin hätten schlafen können. Aber sie konnte nicht schlafen, und Boris wachte mit ihr beim gelben Licht der schwingenden Laternen. Er holte eine Flasche Slivovitz aus seiner Tasche, und sie nippten an dem klaren Likör, nachdem sie Andras ein Glas nach draußen
gereicht hatten. »Yonar liegt nördlich von Ademar«, sagte Boris nach einem Moment des Schweigens. »Ich bezweifle, dass der Doyen eine Armee an zwei Fronten gleichzeitig führen kann.« »Wir wissen es nicht«, sagte Yuste. Sie hatte ihre Haube abgesetzt und sie auf dem Tisch abgelegt, doch sie trug noch immer ihren Umhang, um sich zu wärmen. »Hast du irgendetwas darüber am Bahnhof gehört?« Boris zuckte die Schultern. »Es fahren keine Züge nach Norden von Axar aus. Die Flüchtlinge sind nach Süden unterwegs. Die Stadt war in Aufruhr. Ich musste einen offiziellen Pass vorweisen, um in die Nähe des Telegraphenamtes zu gelangen.« »Wussten sie, wie nah die Armee des Doyen war?« »Es hat den Anschein, dass er Mont Eldemar zuerst eingenommen hat, um seinen Rücken freizuhalten. Er hat dort eine Garnison stationiert und ist weiter nach Süden gezogen. Zwischen dort und Axar gibt es nur wenige Städte, die etwas größer sind, abgesehen von Taraskou. Es gab Gerüchte, dass sich Taraskou gestern ergeben habe. Er könnte bereits bis zu den Ausläufern von Axar vorgerückt sein.« »Zyon«, sagte Yuste. Obwohl sie nicht schläfrig war, war sie doch erschöpft. »Ich muss es irgendwie meinen Bruder wissen lassen.« »Ich kann mir nicht vorstellen, wie. Ich bezweifle, dass es ein Telegraphenamt zwischen Dieulevaut und Yonar gibt.« Yuste sah ihn an und rieb sich die Augen. »Tatsache ist, Boris Andreyevich, dass ich senden kann. Yuda und ich können auch über weite Entfernung hinweg unsere Gedanken teilen.« »Gütiger Himmel.« Er kippte den Rest aus seinem Glas hinunter. »Nazdravye. Kommt das, weil ihr Zwillinge seid?« »Ich denke schon. Sival hat bislang noch keine anderen Schamanenzwillinge gefunden.« Sie seufzte. »Ich weiß von keinem, der eine Nachricht nach Yonar bringen könnte, vor allem nicht, wenn die Züge in Axar Halt machen.« »Vielleicht wird es morgen gar keine Züge von Axar aus geben«,
sagte Boris mit grimmigem Gesicht. »Wir sind auf uns gestellt, nicht wahr?« »Ich fürchte schon, Yuste. Kein Netz, falls etwas schief geht. Aber ich bin daran gewöhnt.« »Ich nicht, Boris Andreyevich. Ich bin eine Lehrerin, keine Sonderbeauftragte.« Boris schenkte erst ihr, dann sich selbst nach. »Also dann, wie funktioniert dieses Senden über weite Entfernungen hinweg? Kann ich dabei zuhören?« Yuste lachte, obwohl ihr nicht danach zu Mute war. »Ich kann dich nicht davon abhalten. Sei mein Gast. Das einzig Bemerkenswerte daran ist die Entfernung.« Sie stützte die Ellenbogen auf dem Tisch auf und verbarg ihr Gesicht in den Händen, um sich besser konzentrieren zu können. Zunächst konnte sie das Rumpeln der Wagen hören, das Dröhnen der Pferdehufe und den gleichmäßigen Atem der Schlafenden. Wenn sie Boris etwas sendete, war es auf einer niedrigeren Ebene, es war genauso leicht wie ihre bewussten Gedanken. Um Yudas Geist zu erreichen, musste sie tiefer sinken, sich dem Traumreich annähern. Die äußeren Geräusche wurden schwächer, sie wurde sich ihres Pulses bewusst und konnte das Blut in ihren Ohren singen hören. Sie konnte spüren, wie Boris' Geist Fühler ausstreckte und ihr mit leichtem Unbehagen folgte. Er schien zu merken, dass er in eine private Welt eindrang. Yuste streckte ihm gedanklich eine Hand entgegen und zog ihn hinter sich her, hinab zu einem Ort, wo ihr eigener Geist und der ihres Bruders so nahe zueinander zu laufen schienen wie Adern im Gestein. Yudas Geist war laut und wach, eine Welt mit wenig Licht. Yuste streckte in Gedanken die Hand aus, um ihn zu berühren, eine vorsichtige Bewegung, die ihn nicht erschrecken sollte. Sie spürte einen Augenblick der Verwirrung, bevor er bei ihr war. Wenn sie nun die Augen öffnete, so stellte sie sich vor, würde er neben ihr sitzen, während sie gemeinsam auf einem Kohlewagen durch eine Mine rollten.
– Was ist los? – Bist du noch immer in Yonar? Statt ihr zu antworten, bemerkte ihr Bruder Boris. – Was macht er hier bei uns? – Er ist ein Freund. – Auf keinen Fall. Dies hier ist nur etwas zwischen uns. Nichts für Besucher. Sag ihm, er soll sich verpissen. Yuste spürte, wie sich Boris ohne Umschweife aus ihrem Geist zurückzog. Nun waren nur noch sie und Yuda beieinander, in dem seltsamen Licht ihres gemeinsamen Bewusstseins. – Du hast etwas gesendet. – Ich kann es. Ich wusste nicht, dass ich es kann. – Was ist los – Ich kann nicht lange bleiben. Yuste ließ das Wissen zwischen ihren Gedanken hin und her fließen und berichtete ihm, wie Annat und Malchik verschwunden waren, und auch von dem Vormarsch des Doyen in Richtung Süden. Sie spürte, wie er ihr zuhörte, teilte jedoch seine Gefühle nicht; er hatte etwas Ungeduldiges an sich. – Wir stecken in großen Schwierigkeiten, Yuste. Nicht nur wir – alle. Sarl ist zurück. – Die Krähen … – Du fährst weiter in Richtung Osten. Suche den Berg. Ich habe hier noch was zu erledigen. Ich werde dich auf dem Laufenden halten … – Pass auf dich auf, Yuda, schrie sie in die Stille, doch er war fort und ließ sie allein in der Dunkelheit zurück. Baba Yaga lebte in einer Höhle, die in den Felsen gehauen war wie das Loch eines Wurmes in einem Apfel. Auf den ersten Blick, so stellte Annat erstaunt fest, war es ein gemütlicher Ort, denn er verfügte über den traditionellen Ofen der Sklav und eine Pritsche zum Schlafen darüber, die voller bunter Decken lag. Der Boden war von Tierfellen bedeckt, und ein warmes, gelbes Glühen machte es ihr möglich, die Hexe etwas besser in Augenschein zu nehmen. Baba
Yaga war groß, wie Annat vermutet hatte, eine Frau jenseits des mittleren Alters, doch noch nicht alt. Ihr Gesicht sah vom Wetter gegerbt aus, selbst nach dieser langen Zeit unter der Erde, und ihre Nase war wie ein Haken gebogen. Sie forderte Annat auf, sich auf eine Holzbank zu setzen, eines der wenigen Möbelstücke in der spärlich bestückten Höhle, abgesehen von einem knorrigen Tisch. Malchik musste stehen. Die Hexe betrachtete noch immer Annats Gesicht, als ob sie in einem Buch lesen würde. Annat war außer Atem von der Hast ihrer Reise zur Höhle, doch sie achtete sorgfältig darauf, dem Blick der Frau standzuhalten und nicht ängstlich zu erscheinen. »Ich brauche einen Lehrling«, sagte die Hexe. »Ich hatte nie einen eigenen. Mit deiner Macht und meinen Fähigkeiten könnten wir den Herrn besiegen.« »Wir wollen ihn besiegen«, sagte Annat. »Doch vor allem wollen wir fliehen.« Sie wollte nicht zu offensichtlich ablehnen, doch sie wusste, es war notwendig, Baba Yaga an ihr tatsächliches Vorhaben zu erinnern. Die alte Frau warf Malchik einen Blick zu, als ob sie ihn vergessen hätte. »Wen haben wir denn hier?«, fragte sie. »Ach ja, dein Bruder. Gut aussehender junger Mann.« Sie stand auf und ging zum Ofen hinüber, öffnete die Klappe und begann, das Feuer im Inneren zu schüren. Malchik hastete an Annats Seite und flüsterte: »Mir gefällt das nicht.« »Vertrau mir, Malchku«, sagte sie. Sie traute sich nicht, noch mehr zu sagen, denn die Hexe hatte sich aufgerichtet und starrte sie an. »Wofür braucht der Herr zwei Seelen?«, fragte sie. »Er hat einen Mann von den Toten zurückgeholt. Und er braucht zwei Seelen, um ihn am Leben zu erhalten«, sagte Annat. Baba Yaga schloss die Ofentür. »Es ist nicht leicht, Seelen von den Lebenden zu stehlen. Nicht einmal für den Herrn«, sagte sie. »Eine Seele kann nicht herausgeschnitten und in eine Flasche gesteckt werden. Er hätte zu mir kommen sollen.« Sie wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und schüttelte den Kopf.
»Wir wollen unsere Seelen behalten«, sagte Malchik. »Natürlich wollt ihr das, junger Mann. Was nützt einem ein Körper ohne eine Seele? Die Augen sind offen, und das Herz schlägt weiter, aber im Inneren ist nichts mehr.« Sie wischte sich an ihrer Schürze den Ruß von den Händen. »Ich habe mich entschieden. Baba Yaga wird euch helfen.« Annat sah Malchik an. Was, wenn er ihrem Urteil traute und sie sich irrte? »Was hast du vor?«, fragte sie. »Der Herr zehrt von meiner Macht. Doch er kann nicht meinen Kern herausschneiden, den Hexenteil. Ich kann noch immer mit Sprüchen zaubern, und das werde ich für euch tun. Die Sprüche werden euch von hier fortbringen. Weit weg. Irgendwohin, wo er euch nicht erreichen kann.« »Du kannst so etwas für uns tun und selbst nicht fliehen?«, fragte Malchik und legte die Stirn in Falten. »Es ist ein besonderer Bindezauber, dessen Ketten mich hier halten. Aber was euch angeht, so braucht ihr nicht zu denken, dass ihr auf andere Art fliehen könnt. Der Berg ist versiegelt. Es gibt Wege nach innen, aber keinen Weg, der nach draußen führt. Denkt daran, dass es Baba Yaga war, die euch dies sagte.« Malchik legte seine Hand auf Annats Schulter. »Warum sollten wir dir trauen?« »Deine Schwester weiß es«, sagte die Hexe. Annat bemerkte, wie der Blick ihres Bruders erneut auf ihr ruhte und nach einer Bestätigung von ihr suchte. Sie war die Schamanin, die über alles Bescheid wissen musste, was mit Magie zu tun hatte. Wieder einmal fühlte sie sich verkrüppelt, weil es keinen Weg gab, ihrem Bruder ihre Gedanken zu senden. Sie wollte, dass er begriff, wie wahrhaft vertrackt ihre Situation war: Sie traute der Hexe nicht richtig, doch sie sah gute Gründe, warum die Frau ihnen helfen könnte. Ihr Stolz hinderte sie daran zuzugeben, dass sie möglicherweise genauso verloren war wie er. Yuda hatte sie ausgebildet, sie war siebzehn und eine mächtige Schamanin; sie traute sich nicht, ihren
Bruder spüren zu lassen, dass sie Zweifel hatte. Malchik drückte ihre Schulter. »Wenn du damit glücklich bist, Annat«, sagte er. Mit einem eisigen Gefühl in der Magengegend nickte sie. Sie setzte ihr eigenes und Malchiks Leben aufs Spiel, obgleich es vielleicht besser wäre, die Hexe zu verlassen und ihre Reise in das Herz des Berges fortzusetzen. Wenn sie jetzt etwas sagte, würde er ihr folgen, vielleicht ein wenig enttäuscht. Annat zwang sich zu einem Lächeln. Sie war wie ihr Vater; sie musste sicher sein. »Was sollen wir tun?«, fragte sie. Die Hexe nickte. »Setz dich, Junge, deiner Schwester gegenüber«, sagte sie. Sie machte in der Mitte des Tisches zwischen ihnen etwas Platz und forderte sie auf, ihre Hände mit der Fläche nach unten auf die Platte zu legen, die Fingerspitzen ausgebreitet. Annat lächelte ihren Bruder an, doch er erwiderte das Lächeln nicht. Er beobachtete Baba Yaga, wie sie sich durch den Raum bewegte und Glasflaschen, Kerzen, Kräuter und Pulver zusammensuchte. Annat berührte seine Finger, sodass er sich ihr wieder zuwandte. »Vertraust du mir nicht, Malchku?«, flüsterte sie. »Sie ist es, der ich nicht vertraue. Aber du weißt es besser«, sagte er und zwang sich zu einem Lächeln. Baba Yaga kam zum Tisch und ließ die Dinge, die sie zusammengeklaubt hatte, aus ihrer Schürze auf einen Haufen fallen. Sie arbeitete rasch und ließ Kräuter und Puder über Malchiks und Annats einander berührende Hände rieseln. Sie formte Worte in einer weich klingenden Sprache, zündete Kerzen an und schwenkte sie über ihren Köpfen, bevor sie sie ausblies. Annat war nie zuvor dabei gewesen, wenn jemand einen Spruch gezaubert hatte, und war sowohl von der Bedächtigkeit als auch von der Hast überrascht. Eine Mischung unterschiedlicher Substanzen, einige angenehm, andere kratzend, war auf ihren Händen aufgetürmt. Der Strahl eines Lapislazuli wand sich durch die getrockneten Blätter und den zerstoßenen Zimt. Baba Yaga nahm zwölf rote Kerzen, entzündete eine nach der anderen und ließ Tropfen des heißen Wachses auf den
Tisch und auf Annats Haut fallen. Die Frau schien Annat und Malchik kaum wahrzunehmen, während sie arbeitete. Von Zeit zu Zeit hielt sie inne, um ein Buch zu Rate zu ziehen, als würde sie einen Kuchen backen und müsste sich wegen des Rezeptes vergewissern. Annat sah, wie Malchik unruhig auf seinem Stuhl herumrutschte. Sie saßen in keiner unbequemen Haltung, aber als sich die Magie in der Luft aufzubauen begann, spürte sie die gleiche Rastlosigkeit. Die Hitze vom Ofen schien sich auszubreiten und den Raum mit träger Wärme zu erfüllen. Sie blinzelte und war sich der beginnenden Schläfrigkeit bewusst. Baba Yaga kniff sie in die Schulter. »Du darfst nicht einschlafen, Mädchen«, sagte sie. Annat sah zu Malchik hinüber und bemerkte, dass seine Augenlider flatterten. Die Hexe hatte mehrere Weihrauchstumpen entzündet, und ihr stechender Geruch und der Duft von Sandelholz machte es noch schwerer, wach zu bleiben. Annat gähnte. Die Hexe lief zu Malchik hinüber und rüttelte ihn wach. »Seht einander an«, sagte sie. »Seht einander an.« Annat blickte zu ihrem Bruder, dessen braune Augen hell waren hinter den geputzten Brillengläsern. Er hatte sich verändert, seitdem sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Das Weiche war aus seinem Gesicht verschwunden, er war ein Mann geworden. Sie versuchte zu bestimmen, welche Veränderung diesen Unterschied ausmachte. Es hatte etwas zu tun mit dem Vorstehen der Knochen in seinem Gesicht, dem leichten Schatten des unrasierten blonden Bartes. Es tat ihr ein wenig Leid um den weichen, verletzlichen Jungen, an den sie sich gewöhnt hatte. Es war, als hätte er endlich die Entscheidung getroffen, die ihn über die Schwelle zum Mannesalter brachte und die eine Tür hinter ihm zufallen ließ. Sie fragte sich, wie es war, das andere Leben jenseits der Schwelle, so nah und doch so abgegrenzt, und sie dachte an Cluny … »Ihr müsst ganz stillhalten«, sagte die Stimme Baba Yagas. »Konzentriert euch.« Die Hexe nahm eine schwarze, schillernde Feder, um den Rauch von den Kerzen zu wedeln und ihn in jede Ecke des Raumes zu
verteilen. Sie machte dabei Mal für Mal wohlüberlegte Schritte, als ob sie einen Tanz vollführte. Während Annat ihr zusah, dachte sie, dass sie anmutig aussah. Sie war überhaupt nicht mehr die gleiche Person, die wie ein Lumpenbündel vor ihnen im Gang zurückgewichen war. Annat hatte das Gefühl, dass die Feder Spuren in der Luft hinterließ, die mehr als bloße Rauchschwaden waren. Für sie sahen sie aus wie Worte oder Runen; sie erinnerten sie sogar an die Schrift in Ebreu, die sie einst in den Tiefen eines Ringes, den ihr Vater trug, gesehen hatte. Sie fragte sich, ob es die Gleiche war oder ob diese Magie etwas Ähnliches hervorbrachte. Während sie zusah, schien die Schrift zu tanzen und zu verblassen und eine Leere hinter sich zurückzulassen. Baba Yaga klopfte ihr auf die Wange, nicht heftig, doch so, dass sie Malchik ansah. »Du musst dich konzentrieren«, sagte sie. Malchik sah Annat mit einem Ausdruck an, den sie nicht deuten konnte, und wieder einmal wünschte sie sich, sie könnten miteinander senden. Sie spürte, dass er angestrengt nachdachte, und versuchte, seine Gedanken zu ihr zu zwingen, doch sie konnte nichts hören. Baba Yaga stand neben dem Tisch und ließ ihren Blick über die Gegenstände schweifen, die sie zusammengetragen hatte, als ob sie nach etwas suchte, das fehlte. Sie nahm eine weitere Kerze zur Hand, die schwarz wie Schlamm war, und entzündete sie an einer der roten Kerzen. Sie öffnete den Ofen und nahm einen kleinen Kuchen heraus, den sie auf den Tisch stellte. Sie ließ das geschmolzene Wachs der schwarzen Kerze auf den Kuchen tropfen und biss dann ein Stückchen heraus, wobei sie Wachs und Kuchen gleichermaßen verspeiste. Dann reichte sie Annat den Kuchen und sagte: »Iss.« Vorsichtig nahm Annat einen Mund voll; der Kuchen schmeckte nach Salz, Mehl und war ein wenig bitter vom Wachs. Sie kaute einige Male, würgte bei dem bitteren Geschmack und zwang sich zum Schlucken. Die Hexe trug den Kuchen zu Malchik hinüber und hieß ihn einen Bissen nehmen, was er auch tat. Als er das Stückchen hinuntergeschluckt hatte, stellte Baba Yaga die Reste
des Kuchens auf den Haufen aus Kräutern und Pulvern; dann zündete sie ihn an. Sofort entflammte er, und Annat war drauf und dran, aufzuspringen und ihre Hände herauszuziehen, doch sie konnte sich nicht rühren. Stattdessen sah sie, wie sich die Zutaten in einer blauen Flamme auflösten, die ohne Hitze brannte. Die Flammen züngelten über ihre Finger und über die von Malchik. Sie schienen nicht zu verlöschen oder kleiner zu werden, sondern sich auszubreiten. Sie gaben weder Geruch noch Rauch ab. Baba Yaga machte einen Schritt vom Tisch weg und hockte sich hin. Wieder murmelte sie vor sich hin, und Annat glaubte, sie spreche mit den Flammen und schüre sie. Malchik bewegte seinen Finger nur einen Bruchteil, sodass sein Zeigefinger ihren eigenen bedeckte, als ob er ihr Trost spenden wollte. Seine Berührung beruhigte sie; selten hatte sie sich so unsicher und allein gefühlt. Die Hexe stand auf und begann damit, rückwärts um den Tisch zu tanzen. Sie sang ein Lied auf Sklav, doch es war ein altertümlicher Gesang, dessen Worte Annat kaum kannte. Sie fühlte sich nicht länger schläfrig, sondern hellwach und neugierig. Annat sah, wie Malchik den Mund öffnete, um etwas zu sagen – dann wurde alles schwarz. Sie konnte weder etwas hören noch etwas sehen, und sie konnte auch nicht atmen; sie hatte kein Gefühl mehr für ihren Körper, den Puls ihres Blutes und die warmen Empfindungen von Berührungen, Geschmack und Geruch. Geblendet und schweigend hatte sie sich in eine Art Amöbe verwandelt, ein hilfloser Tropfen reinen Geistes ohne Gestalt. Sie spürte Malchiks Anwesenheit neben sich, der ohne Worte schrie, und sie wusste, sie hatte ihn ins Verderben gerissen. Die Hexe hatte ihre Seelen gestohlen. Der Raum, in den Yuda Huldis führte, war klein und mit zwei Stockbetten verstellt. In dem auf der linken Seite lag ein junger Dunkler wach unter seinen Decken, den Kopf auf die Hand gestützt. Das Bett darunter war leer, die Decken waren sorgfältig zurückgeschlagen, und die Frau mit den schräg stehenden Augen ließ
sich darauf nieder. Beide Schlafstellen auf der rechten Seite waren leer, und der Benutzer der oberen Koje hatte die Laken und Decken über den Rand baumeln lassen. Yuda warf sie mit einer gereizten Geste zurück auf die Matratze. »Wer ist das Mädchen?«, fragte der Dunkle. Yuda drehte sich zu Huldis, die die Augen zu Boden schlug. Es schüchterte sie ein und ängstigte sie ein wenig, in einem Zimmer zu stehen, in dem niemand sonst Franj zu sein schien. »Alte Geschichten aus der Vergangenheit, Niko«, sagte Yuda. »Das ist Huldis. Sie kommt aus einer Kultur, die sogar noch … traditioneller lebt, als man es in Yonar tut.« »Noch traditioneller als in Yonar?« Der junge Mann stieß einen Pfiff aus, doch seine Augen lächelten Huldis zu. »Hat sie jemals vorher einen Dunklen gesehen?«, fügte er hinzu. »Huldis kennt Sergey Govorin«, sagte Yuda. »Aber wenn es ihr so geht wie mir, dann dachte sie wahrscheinlich, dass er der Einzige ist.« Niko grinste und entblößte seine weißen Zähne. »Sehr schlau.« »Mach dich nicht über das Mädchen lustig, Niko«, sagte die Frau auf dem unteren Bett. »Ich? Ich bin froh, sie kennen zu lernen. Sehr froh!« Er schwang seine Beine über die Bettkante und sprang auf den Boden, wo er in seiner seltsamen Kleidung vor Huldis stand; er trug eine Tunika zum Knöpfen und Hosen, die in der Taille mit einem Band befestigt waren. Er streckte eine Hand aus, und Huldis starrte sie an. Die Innenfläche war zartrosa wie bei einer Muschel. Yuda klopfte ihm auf die Schulter. »Diese Leute schütteln nicht die Hände, Niko«, sagte er. »Entweder sie küssen dich oder sie töten dich.« Die Frau schüttelte den Kopf. »Hallo, Huldis«, sagte sie. »Ich heiße Su Lin und ich bin in Cine geboren. Das ist sehr weit weg von hier. Wir alle sind Botschafter aus der Stadt Masalyar für die Menschen in Yonar, oder Lon, wie es in unserer Sprache heißt. Setz dich zu mir, denn wir haben keine Stühle in diesem geräumigen Zim-
mer.« Alle setzten sich, Huldis neben Su Lin und Niko mit Yuda auf das untere Bett gegenüber. Huldis nahm ihren Umhang ab, denn es war warm in dem kleinen Raum, und sie bemerkte, dass alle ihr langes, grünes Kleid anstarrten, das ihr bis zu den Knöcheln reichte. Ihr Kopf war von einem leichten Schleier aus Kambrik bedeckt, der von einem schlichten Reif gehalten wurde. »Sehr traditionell«, sagte Niko kopfschüttelnd. »Wo ist den Lukacs mit dem Chai abgeblieben? Kocht er seine eigene Pisse oder was?« Su Lin schnaubte, und Yuda unterdrückte ein Lächeln. »Du bist also eine Schamanin, Huldis«, sagte er. »Aber du kannst es verbergen.« Sie nickte. Sie fühlte sich etwas benommen in dem Raum mit der Wärme und den seltsamen Leuten, als ob sie nach vielen Jahren der Enthaltsamkeit Alkohol gekostet hätte. Ihr fiel auf, dass Yuda sie mit großer Aufmerksamkeit musterte und ihre Gedanken mit leichter Berührung abtastete, gerade genug, um herauszufinden, ob sie die Wahrheit sagte. Nun, da sie ihre Abwehr fallen gelassen hatte, war sie sich nicht mehr sicher, wie sie sie wieder aufrichten konnte. Aber sie brauchte sich vor Yuda nicht zu fürchten; sie musste ihm vertrauen, denn es gab sonst niemanden. »Sag mir, was du in Yonar treibst, Missis«, sagte er. »Und warum du nach mir gesucht hast.« Huldis hatte das Gefühl, dass ihre Stimme schwer und ihre Gedanken dumpf waren. Während sie sich abmühte, die richtigen Worte zu finden, richtete sich Yuda plötzlich auf, murmelte einen Fluch und legte die Hände auf die Ohren. Die anderen sahen ihn überrascht an. »Was ist los, Vasye?« Er kniff die Augen zusammen und formte mit dem Mund zwei Worte in ihre Richtung. Su Lin zuckte mit den Schultern. »So ist das mit den Schamanen«, flüsterte sie Huldis zu. »Dinge passieren, und man muss einfach Geduld haben.«
Huldis lächelte sie an und merkte, dass sie nicht anders konnte, als das Gesicht der Frau mit der weichen, goldenen Haut anzustarren. »Armes Kind, sie ist erschöpft«, sagte Su Lin zu Niko. »Hör zu, Huldis, wir können hier für dich ein Bett finden. Dann kannst du morgen früh zurück. Manchmal schlafen wir nämlich auch in diesem Haus.« Während sie sprach, öffnete sich die Tür, und ein Mann mit kurzen, braunen Haaren kam rückwärts herein. Er trug zwei Becher mit einer dampfenden Flüssigkeit. »Hier ist der Chai…«, setzte er an, nur um sofort von Su Lin unterbrochen zu werden, die einen Finger auf die Lippen legte. »Was ist los? Kriegt der Chef ein Telegramm?«, fragte er und stellte die Becher auf dem Tisch an der Wand ab. Yuda tauchte wieder auf, rieb sich die Augen und blinzelte. »Ist das Chai, was ich da rieche?«, fragte er. »Sicher, Chef. Wer ist das Mädchen?« »Huldis, das ist Lukacs. Lukacs, das ist Huldis. Ich hoffe, einer der Becher ist für mich.« »Ich habe deinen mit meinem zusammen in der Küche gelassen«, sagte Lukacs. Er war die älteste Person im Raum; tiefe Linien, gezeichnet von Humor und Tabak, zogen sich durch sein Gesicht. Seine Augen waren von einem hellen Haselnussbraun, und er zwinkerte Huldis zu, während er sprach. »War das Yuste?«, fragte Niko, der einen Becher von Lukacs entgegennahm. »Ja, das war Yuste«, antwortete Yuda. Er starrte zu Boden. »Ich muss die Botschafterin sehen.« »Warum? Was ist los?«, fragte Su Lin. »Zyon«, sagte Yuda und zerzauste seine Haare. »Wollt ihr die schlechten Nachrichten zuerst, oder … die anderen schlechten Nachrichten?« »Ich hole den Chai«, sagte Lukacs und stieß die Tür auf. »Ich glaube kaum, dass Yuste dich stören würde, wenn es gute
Nachrichten wären«, sagte Su Lin. Sie nahm ihren Becher und pustete hinein. »Ich hoffe, es ist grüner Chai und nicht dieses faulige Sklav-Zeug.« »Yuste sagt, dass jemand die Rebjata entführt hat. Erstens. Zweitens sagte sie, dass der Doyen von Ademar …«, er blickte Huldis an, »… sich entschlossen hat, mit einer großen Armee nach Süden zu ziehen. In Richtung Masalyar. Das Erste, was sie bemerkt haben, waren Krähen über der Stadt – Krähenschwärme.« »Wer oder was ist der Doyen von Ademar?«, fragte Niko und hätte beinahe seinen Chai verschüttet. Yuda starrte Huldis so durchdringend an, dass sie beinahe Angst bekam. »Du bist dran, Missis«, sagte er. »Ich möchte hören, was du weißt.« Dieses Mal sprudelten die Worte aus ihr heraus. Sie erzählte ihm – ihnen – von Semyons Ankunft in der Burg und der Auferstehung Sarls. Sie erzählte von dem Plan, zwei Seelen – die Seelen von Yudas Kindern – zu stehlen und ihn zu fangen, um sein Herz herauszuschneiden. Am Ende erinnerte sie sich an die prahlerischen Worte ihres Vaters über seinen Plan, Neustria einzunehmen. Und mit der gottlosen Stadt Masalyar anzufangen. Als sie geendet hatte, herrschte Schweigen. Dann sagte Niko leise: »Oh, Mann.« Su Lin streckte die Hand aus und tätschelte Huldis das Knie. Yuda lehnte sich auf dem Bett zurück und zog das Kopfkissen über sein Gesicht. Lukacs kam mit zwei weiteren Bechern zurück und fand sie in dieser Verfassung vor. »Ich habe wohl was verpasst, oder?«, sagte er betont uninteressiert. Yuda tauchte wieder auf und warf das Kopfkissen auf den Boden. »Ich hätte es wissen müssen!«, schrie er. »Alles war ruhig. Ich hatte geschworen, diesen Ort Stein für Stein niederzureißen, und das hätte ich auch tun sollen. Man sollte nie auf eine Frau hören. Am allerwenigsten auf die Mutter deiner Kinder.« »Danke, Yuda«, sagte Su Lin trocken. »Soll ich das ins Protokoll aufnehmen?«
Lukacs stand im Eingang und hielt die beiden Becher mit dem Chai. »Willst du nun welchen oder nicht, Vasye?« »Zur Hölle mit dem Chai!«, fluchte Yuda. Er stand auf und lief durch den Raum. Nach einem Augenblick warf er sich aufs Bett und zog etwas unter seiner Matratze hervor. Huldis sah, wie er sich mit zitternden Händen eine Zigarette anzündete. »Jemand hat Annat und Malchik entführt«, sagte Niko. »Klingt, als ob's die Mutter nicht gut meint. Oh, und Yudas bester Kumpel ist in der Stadt. Jemand, den er erst vor vier Jahren getötet hat. Und es wird Krieg geben. Der tote Bursche hat vor, Neustria zu unterwerfen.« »Setz dich, Vasye«, sagte Lukacs. Er schien nicht verletzt, weil er beschimpft worden war. »Trink deinen Chai. Und erzähl Mama Lukacs, was das alles zu bedeuten hat.« Yuda starrte ihn an. »Du bist ein Teufelskerl, weißt du das«, sagte er. Aber er nahm den Becher mit dem Chai von Lukacs entgegen, und nebeneinander setzten sie sich auf das untere Bett. Yuda bat Huldis, ihre Geschichte zu wiederholen, und als sie fertig war, fügte er die Neuigkeiten hinzu, die er von Yuste erfahren hatte. »Die Botschafterin wird sich freuen, wenn wir sie aus ihrem Schönheitsschlaf reißen«, sagte Lukacs und rollte mit den Augen. »Sie muss es wissen, Lukacs«, sagte Su Lin. »Das bedeutet, dass wir abgeschnitten sind, auf der falschen Seite einer Invasion.« »Sie muss mich aus dem Dienst entlassen«, sagte Yuda. »Ich glaube nicht, dass sie das tun wird, Vasye«, sagte Niko. »Es sind nicht ihre Rebjata. Und jemand muss diesen Magus davon abhalten, Sarl das Leben zurückzugeben, oder wir sind alle erledigt.« Su Lin sah zu Huldis herüber. »Was wirst du tun, Mädchen?«, fragte sie. »Sieht nicht so aus, als ob hier heute Nacht viel geschlafen werden würde.« Huldis stand auf und raffte ihren Umhang zusammen. »Ich muss zurück«, sagte sie. »Ich möchte nicht, dass sie wissen, dass ich fort war. Und sie dürfen auch nicht herausfinden, dass ich
eine Schamanin bin.« »Warte.« Yuda streckte die Hände aus, nachdem er einen kräftigen Schluck Chai genommen hatte. »Ich komme mit.« »Bist du übergeschnappt?«, fragte Niko. »Du hattest schon bessere Ideen«, sagte Lukacs. »Vor allem, wenn man bedenkt, dass sie vorhaben, dein Herz herauszuschneiden«, fügte Su Lin hinzu. Yuda stand auf und reichte ihr seinen Becher mit Chai. »Das werden sie nicht tun«, sagte er. »Er ist verrückt«, sagte Niko. »Sollen wir ihn überwältigen und festbinden?« »Ihr habt das Mädchen gehört. Kein Zerstückeln, bevor sie mich nicht zum Berg gebracht haben, wo sich die Rebjata befinden. Und sie können nicht den gleichen Weg nehmen, auf dem sie gekommen sind. Das verschafft mir Zeit, mir etwas anderes auszudenken.« »Was sollen wir der Botschafterin sagen?«, fragte Su Lin. »Sieh den Tatsachen ins Gesicht, Su. Wir sind achtundzwanzig. Nicht genug, um dem Doyen in den Arsch zu treten. Sie braucht mich hier nicht. Das andere ist wichtiger. Sie weiß nicht, was Sarl anrichten kann, wenn er endgültig wieder am Leben ist.« »Vielleicht sieht sie das anders«, sagte Su Lin. »Sie muss es einsehen. Ich werde Huldis nicht allein zurückschicken.« Seine Hand schloss sich um Huldis' Handgelenk, und sie machte einen Satz, als ob sie einen kribbelnden Stoß bekommen hätte, wie der, der sie manchmal beim Ausbürsten ihrer Haare durchfuhr. Yuda lächelte sie an. Er schien jetzt ruhig, als ob er einen Entschluss gefasst hätte und keine Hindernisse sähe. Sie musste mit ihm reden. »Du hast Recht, Monsieur. Du musst weg von hier, solange du noch kannst. Ich bin gekommen, um dich zu warnen. Der Magus ist ein gefährlicher Mann. Und mein Bruder ist… schrecklich.« »Ich fand ihn schon nicht so großartig, als er noch am Leben war«, sagte Yuda. Als er ihr Gesicht sah, fügte er hinzu: »Es tut mir Leid. Du kanntest ihn, bevor er verdorben wurde. Aber ich unter-
schätze ihn nicht; ich weiß, wozu er fähig ist.« Er ließ ihre Hand los und rollte seinen Ärmel hoch, um ihr eine Reihe von Narben, beinahe schwarz, auf seinem Unterarm zu zeigen. »Er hat mir einige Erinnerungen an unser Zusammentreffen gelassen. Und das ist nicht alles …« Er schüttelte den Kopf. »Keine Widerrede, Missis. Wenn es nur um mich und meine Familie ginge, würde ich zweimal überlegen. Aber wenn jemand wie Sarl die Hände nach einem ganzen Land ausstreckt …« Er schauderte. »Du scheinst nicht überrascht, dass er hier ist, lebendig«, sagte sie. »Überrascht? Nicht sehr. Meinesgleichen neigt dazu, die Toten öfter zu treffen, als du denkst.« Lukacs gesellte sich mit den Händen in den Hosentaschen zu ihnen. »Die anderen und ich haben uns beraten, Chef«, sagte er. »Wir wollen dich zur Botschafterin begleiten.« »Warum? Damit sie euch auch anbrüllen kann?« »Nur um zu zeigen, dass wir mit dir einer Meinung sind. Wir würden das Gleiche machen. Auch wenn wir finden, dass es verrückt ist«, fügte er hinzu und zeigte beim Lächeln seine Zähne. Yuda grinste zu ihm empor. »Ich schätze, wenn wir im Pulk kommen, weiß sie nicht, wen sie zuerst plätten soll«, sagte er. »Dabei hat sie gar kein Plätteisen in ihrem Schlafzimmer, Chef.« »Und was machst du eigentlich im Schlafzimmer der Botschafterin, Mister?« Sie waren wieder in ihre eigene Sprache verfallen, und Huldis stand dabei und fragte sich, wie sie lachen und scherzen konnten, wenn die Lage so verzweifelt war. Und sie wusste, dass ihnen klar war, in welch aussichtsloser Situation sie sich befanden; sie hatte Yudas Drängen in seiner Berührung gespürt. Su Lin stellte sich neben sie. »Ich hoffe, du weißt, was du deinem Bruder und seinem Magus sagen wirst, Mädchen«, meinte sie. Huldis schüttelte den Kopf. Sie fühlte sich taub und unfähig, ihre
Gedanken zu ordnen. »Überlass nicht alles Yuda«, sagte Su Lin. »Er ist gerissen genug, aber du bist eine Frau. Denk dir eine gute Lüge aus und bleib dabei.« »Soll ich das ins Protokoll aufnehmen?«, fragte Niko über ihre Schulter hinweg, und sie knuffte ihn gegen den Arm. Die Botschafterin empfing sie in ihren Räumlichkeiten im oberen Stockwerk. Sie saß aufrecht auf Kissen gestützt in ihrem Himmelbett, bekleidet mit einem blassrosa Negligee. Huldis, die an die fadenscheinige Pracht in der Burg ihres Vaters gewöhnt war, bemerkte mit Erstaunen die Leinenlaken, die steifen Kissenbezüge und die bestickten Daunendecken. Die Botschafterin war eine kleine Frau mit kastanienbraunem Haar, das am Hinterkopf zu einem Knoten aufgesteckt war; sie trug eine Hornbrille, die ihr einen ernsten Anstrich verlieh. Wie Yuda rauchte sie einen Tabakstängel, doch ihrer war in einem langen Elfenbeinhalter befestigt; sie streifte die Asche auf einem Silberteller ab, der auf ihrem Nachttisch neben dem Bett stand. »Wie wenig Schlaf wollen Sie mir heute Nacht gönnen, Vasilyevich?«, fragte sie. Lukacs murmelte irgendetwas in Sklav zu Niko, der ein Lachen unterdrückte. Die Botschafterin warf ihnen einen Blick zu. »Es herrscht Krieg, Madame Botschafterin«, sagte Yuda, der mit verschränkten Armen dastand. »Der Doyen von Ademar marschiert in Richtung der Stadt, und wir sind im Rücken der Streitkräfte abgeschnitten.« Sie seufzte. »Wunderbar. Gerade, wenn die Verhandlungen den heikelsten Punkt erreichen – und ich muss Ihnen nicht sagen, wie heikel er ist –, bekommen wir keine Anweisungen mehr. Vielleicht haben wir nicht einmal mehr ein Land zu repräsentieren. Sind die Gesprächsverbindungen unterbrochen?« »Ich weiß nicht«, sagte Yuda. »Ich habe eine Nachricht von mei-
ner Schwester bekommen. Sie ist aus Axar geflohen.« »Belagert der Doyen unser Quartier in Mont Eldemar?« »Ich weiß nicht…« »Was soll das, dass Sie mit solchen halbgesicherten Informationen zu mir kommen? Kommen Sie morgen früh wieder, und erstatten Sie vollständig Bericht. Gute Nacht.« Sie drückte die Zigarette auf dem silbernen Teller aus und wollte sich gerade herumdrehen, als Yuda sagte: »Madame Botschafterin?« »Ich sagte gute Nacht, Vasilyevich.« »Madame Botschafterin, ich möchte Sie bitten, mich vom Dienst freizustellen. Auf unbestimmte Zeit.« Die Botschafterin setzte sich in ihrem Bett auf, zog ihre Beine damenhaft an und starrte ihn an. Huldis bemerkte, dass sie jung war, wahrscheinlich jünger als Yuda. »Ich hoffe, Sie haben einen verdammt guten Grund, darum zu bitten, Vasilyevich«, sagte sie. Die Müdigkeit in ihrem Gesicht ließ sie beinahe kindlich wirken, auch wenn ihre kleinen Hände, die auf dem Deckbett gefaltet waren, die Hände einer älteren Frau waren, mit Ringen und roten Nägeln. Yuda lächelte sie an, und es war kein einschmeichelndes Lächeln, sondern eines, das Vertrauen bewies. »Sie werden mir das nicht glauben, Missis«, sagte er und ließ die förmliche Art der Anrede, die er bislang verwendet hatte, fallen. »Aber der alte Bastard hat meine Kinder entführt.« Die Botschafterin legte die Hand an die Stirn. »Sie sind jetzt am College, nicht wahr?«, fragte sie. »Und Sie glauben, der Doyen hat etwas damit zu tun?« Yuda drehte sich zu Huldis um und winkte sie neben sich. »Dies ist seine Tochter. Eine seiner Töchter«, sagte er. »Es ist dunkle Magie, eine Angelegenheit der Schamanen.« Die Botschafterin sah zu Huldis empor. Ihre Augen waren kühl. »Dann können wir sie als Pfand benutzen«, sagte sie. Yuda legte Huldis die Hand auf die Schulter. »Das sehe ich anders, Botschafterin«, sagte er. »Das Mädchen ist aus freien Stücken hergekommen. Sie ist mit Jean Sorel d'Ademar und Semyon, Magus
von Sklava, in der Stadt. Ich glaube, er ist derjenige, nach dem ich gesucht habe. Der abtrünnige Schamane. Ich bezweifle, dass wir das Mädchen gegen ihn verwenden können, wenn wir Ihrem Plan folgen. Er nutzt Mächte, die mir unbekannt sind. Er hat Jean Sorel von den Toten zurückgeholt, und er hat vor, ihn hier zu halten. Um über Neustria zu herrschen – und mit unserer Stadt anzufangen.« »Komm her, Mädchen«, sagte die Botschafterin. Yuda gab Huldis einen sanften Stoß, und sie näherte sich dem Bett. Die Botschafterin nahm Huldis' Hand in ihre trockenen Finger. »Sie sind sehr jung, Mademoiselle«, sagte sie. »Nicht so jung, wie es scheint«, antwortete Huldis. »Ich mag zwanzig sein, was die sterblichen Jahre angeht, doch mein wahres Alter ist neununddreißig.« »Dann haben Sie mir einiges voraus«, sagte die Botschafterin mit dünnem Lächeln. Sie ließ Huldis' Hand los und sah zu Yuda empor. »Ich bin gewillt, Sie freizustellen, Vasilyevich«, sagte sie. »Nicht, weil es Ihre Nachkommen betrifft – das Mädchen alleine sollte in der Lage sein, auf alle beide aufzupassen –, sondern weil ich sehen kann, wie sehr das unsere Angelegenheiten berührt. Jean Sorel war – ist – der Erbe des alten Mannes. Es gibt nichts, was wir tun können, um den Vormarsch des Doyen auf Masalyar aufzuhalten, doch auf diese Art können wir unseren eigenen Kampf mit der Nachhut ausfechten. Hinter den feindlichen Linien, sozusagen.« »Dann verstehen Sie, Missis. Sarl und sein Magus sind mehr als nur eine Bedrohung für meine Rebjata; sie bringen Dunkelheit.« »Ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun, Vasilyevich. Diese Freistellung bedeutet nicht, dass ich Ihnen blindlings vertraue. Verschwinden Sie, bevor ich meine Meinung ändere.« Yuda machte eine kurze Verbeugung und lächelte, als ob sie ihn nicht gerade gerüffelt hätte.
Kapitel 9
S
chließlich wurde selbst Boris von der Schläfrigkeit übermannt. Yuste sagte ihm, er solle ihren Platz im Bett einnehmen, und kletterte durch die Türöffnung hinaus, um sich zu Andras zu gesellen. Lange Zeit saßen sie schweigend dort und schauten auf die perspektivisch verkürzten Körper der Pferde, wie sie durch die Nacht trabten, und auf die schemenhaften Umrisse des nächsten Wagens, der vor ihnen ratterte. Yuste war müde, aber ruhig. Sie ließ sich die Gedanken ihres Bruders durch den Kopf gehen und genoss die Schärfe und den Duft jedes einzelnen. Wie sehr sie in solchen Momenten ihre frühere Intimität vermisste, als sie jeden Gedanken geteilt hatten und es niemanden gab, der sie trennen konnte. Die Rivalität hatte begonnen, als Audes Familie in die Stadt gezogen war. Yuste konnte sich noch immer an Aude erinnern, wie sie sie das erste Mal gesehen hatten, als sie barfuß zwischen den Felsen unter der Klippe stand und ihren Rock bis über die Knie hochgebunden hatte. Ihre Haare waren Stränge in Bernsteinschimmer gewesen und ihre Haut weiß wie Schnee mit einem Hauch Rosa. Sie hatten sie beide für einen Meergeist gehalten, der an ihrer Küste zu Fleisch geworden war. Sie hatten sich nicht getraut, sich ihr zu nähern, als sie dort im harten Gras der Dünen standen und heimlich ihre Schönheit betrachteten. Dann stieß das Mädchen einen Schrei aus und sprang ins Wasser, spritzte und lachte. Die Sonne blitzte auf ihrem Bernsteinkopf, als sie die Wellen durchschwamm, die sich über ihren rosa Armen kräuselten und ihre Röcke bauschten. Sie war eine schwerfällige Schwimmerin, doch alles, was sie sahen, war die Lebendigkeit dieser wundervollen Fremden aus dem Meer. Beide hatten sie gesehen, und beide hatten das Gefühl, sie zu lieben. Aude war es nicht gestattet, mit ihnen zu sprechen. Sie kam aus einer hoch angesehenen Familie der Doxoi, und sie waren Wande-
rer, Ausgestoßene, die außerhalb der Stadt in einem Bau lebten, der auf den Klippen hockte. Ihre ersten Treffen fanden heimlich statt, und es war Yuste gewesen, die sich getraut hatte, sich dem anderen Kind zu nähern, indem sie hinausschwamm, bis ihr dunkler Kopf wie der einer Seerobbe nur wenige Meter neben Audes eigenem aus dem Wasser lugte. Es war so seltsam, an ihre ersten Worte zu denken und an Audes scheinbare Verachtung für die Wanderer. Aber sie waren Kinder, und es dauerte nicht lange, bis sie die Regeln der Erwachsenen in den Wind schlugen. Als sie Seite an Seite durch den Sand stapften, hatte Aude angefangen, Yuste von ihrer verlorenen Freundin Huldis zu erzählen. Die Wolken eilten in der Farbe von Seemöwen dahin, und Yuste hatte einer Geschichte gelauscht, die sie nicht verstand; alles, was sie begriff, war der Schmerz des Verlustes, den auch sie empfinden würde, wenn ihr Yuda genommen werden würde. Sie hatte den Arm ausgestreckt, um das weinende Mädchen zu trösten, und hatte sie auf die Wange geküsst … Yuste schürzte die Lippen. Die Erinnerungen waren zu stark und zu süß, selbst jetzt noch. Sie sollte sich diese Zeit nicht wieder in Erinnerung rufen, wenn ihr dies nichts als bittere Gedanken, Schmerz, der nicht geheilt war, und Jahre des Verlustes brachte. Sie sollte in der Gegenwart leben, die ihr gegeben worden war, und nicht in sinnlichem Bedauern schwelgen. Aber sie konnte die Sandkörner auf Audes Wangen nicht vergessen und den Geschmack von Salz. Sie bemerkte, dass sie nicht einmal versuchte, ihre Gedanken vor Andras abzuschirmen; sie wusste nicht, wie. Sie blickte zu ihm hinüber und er sagte: »Ich habe nie das Meer gesehen. Aber ich habe seine Stimme in Muscheln gehört.« »Aude hat mir immer Muscheln gegeben«, sagte Yuste. »Diese winzigen, rosafarbenen, wie die Fingernägel eines Säuglings. Ich habe sie noch lange nach ihrem Tod aufbewahrt, doch schließlich habe ich sie zurück ins Meer geworfen.« »Was ist mit deinem Bruder?«, sagte er und starrte geradeaus. »Sie hat das Interesse an mir verloren. Nicht aus Grausamkeit; sie
wuchs auf und wuchs aus meiner Liebe heraus. Aber bei mir war das anders. Yuda und ich stritten und wir kämpften wie Schamanen. Bis dahin wusste niemand, wie mächtig wir waren. Wir waren ausgebildet worden, doch nicht für so etwas. Yuda hat mich fast umgebracht.« »Und du hasst ihn?« »Damals habe ich ihn schon gehasst. Er hat meine Kräfte zerstört und mich unfruchtbar gemacht. Aber inzwischen bin ich mir nicht mehr sicher. Hältst du es für möglich, dass die eigenen Mächte neu wachsen, Andras?« Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, meine Dame. An deiner Stelle würde ich meinen Bruder hassen. Ich würde ihn töten wollen.« »Das wollte ich«, sagte Yuste. Sie hielt inne. »Doch am Ende gab er mir etwas, sodass wir quitt waren. Er gab mir Annat … und Malchik.« »Das sind die Kinder deines Bruders.« »Es ist eine lange Geschichte, Andras. Aude geriet ins Straucheln. Sie verlor den Verstand. Sie war zu schwach, um Kinder zu haben – zu schwach in der Seele, nicht körperlich. Ich glaube, Doxa ist eine grausame Religion. Als Yuda sie schwängerte, zwangen ihre Eltern sie zum Heiraten. Sie verstießen sie. Ich glaube … so vieles … sie gab sich selbst die Schuld, sie gab Yuda die Schuld, sie erinnerte sich an den Fluch der Mutter gegen die Wanderer.« Sie presste die Hände zusammen. »Wir ließen sie im Stich. Doch damals waren Liebe und Hass eng verwoben. Yuda und Aude – ich liebte und ich hasste sie beide. Ich war jung, leidenschaftlich und voller Zorn. Ich sagte und tat schreckliche Dinge.« »Aber sie ist tot.« »Und ruht in Frieden, hoffe ich. Yuda rannte davon in die Stadt, und sie siechte dahin und wurde immer schwächer. Ich glaube, sie hat sich das Leben genommen, doch ich kann es nicht mit Sicherheit sagen. Sie hat sich nie um Annat gekümmert, schon als Säugling nicht, und so hatte ich meine eigene Tochter, die ich aufziehen
konnte. Ich habe Aude vergeben, aber vielleicht habe ich sie getötet.« »Das kann man nicht wissen«, sagte Andras. »Das macht es so schwierig. Es nicht zu wissen. Manchmal frage ich mich, ob irgendwo auf mich eine Bestrafung wartet. Ich weiß, dass Yuda sein Päckchen zu tragen hat. Er ist ein seltsamer Mann. Manchmal denke ich, dass er den Tod sucht.« Andras ließ die Peitschte leicht über den Rücken der Pferde schnalzen, eher wie eine Liebkosung als wie ein harter Hieb. »So ist es mit den Schamanen. Sie leben mit dem Tod als Freund an ihrer Seite. Sie reisen in die Dunkelheit und in die Unterwelt.« Yuste musste lachen. »Ich nicht, Andras«, sagte sie. »Ich bin fest verwurzelt in dieser irdischen Welt. Ich muss mir die Geschichten der Reisenden anhören und die Postkarten lesen, die sie zurückschicken.« Andras wandte den Kopf und sah sie an. »Bis jetzt«, sagte er. Langsam veränderte sich das Licht und wurde weicher, und die Morgendämmerung brach über dem Gebirge im Osten an. Das Lepas-Gebirge. Yuste richtete sich auf und streckte sich auf ihrem Sitz. Sie hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, und sie fragte sich, wann sie die Nachwirkungen spüren würde. Sie war so sehr daran gewöhnt, eine Invalidin zu sein, vor dem Unterricht am Nachmittag ruhen und Kräutertees trinken zu müssen. Sie fragte sich, ob sie über Kraftreserven verfügte, die sie in den langen Jahren, seit Yuda sie verletzt hatte, nie anzurühren versucht hatte. Andras zeigte keine Spur von Müdigkeit. Aber als die Sonne über den Bergen aufgegangen war, schlugen die Roma ihr Lager auf und suchten dafür einen Platz, wo sie ihre Pferde neben dem Wasser anbinden konnten. Boris stieg hinten aus dem Wagen aus und strich sich über sein unrasiertes Kinn; kurz darauf folgten ihm Cluny und Planchet. Zu dieser Zeit war Yuste bereits zum Fluss hinunter gegangen, um einen Kübel Wasser zu holen, und Andras saß neben dem Lagerfeuer, das er aufgeschichtet und mit der Erfahrung langer Reisen entzündet hatte.
»Hoya, Gadji«, rief er ihnen entgegen. »Habt ihr wie die Säuglinge geschlafen?« Yuste lächelte in sich hinein, als sie hinter den anderen Frauen der Roma vom Fluss zurückkam. Der schwere Eimer ließ das Wasser über ihre Röcke schwappen, und sie brachte nicht so viel zurück zum Lager, wie sie vorgehabt hatte. Andras nahm ihn ihr mit einem Lächeln ab und goss einiges davon in einen Feldkessel, den er an einen eisernen Haken über das Feuer hängte, um das Wasser zum Kochen zu bringen. Boris kauerte sich bei den Flammen nieder. »Glaubst du, es ist sicher, hier Halt zu machen, Andras?«, fragte er. Andras zuckte mit den Schultern. Er kaute auf einem Stock, den er benutzt hatte, um sich die Zähne zu reinigen. »Die Pferde brauchen eine Pause«, sagte er. »Sie sind die ganze Nacht über gelaufen. Und auch die Menschen müssen sich ausruhen.« Boris stand auf und kramte in seinen Taschen. »Ich frage mich, was dieser Doyen vorhat. Wird er seine Truppen vor Axar lassen, oder wird er uns eine Einheit nachschicken?« Andras antwortete ihm nicht sofort. Er dachte nach. Schließlich sah er einen nach dem anderen an. »Ich glaube nicht, dass er uns folgen wird«, sagte er. »Aber es ist sicherer, wenn wir erstmal Dieulevaut erreicht haben.« Boris begann auf und ab zu laufen. »Wir können kämpfen«, sagte er. »Wenn sie uns verfolgen. Wir haben zwei Schamanen – nämlich uns beide, Andras. Das werden sie nicht erwarten.« »Ich kämpfe nicht«, sagte Andras. Boris blieb stehen und sah von ihm zu Yuste. Sie hatte es sich vor dem Feuer bequem gemacht und sich auf den Boden gesetzt, was nicht leicht war mit ihren Röcken und steifen Unterröcken, die sich wie gebauschte Segel um sie herum erhoben. »Was soll das heißen?«, fragte Boris. Yuste antwortete für Andras. Sie bemerkte, dass sie genug Macht hatte, die Grundzüge seiner Gedanken zu erfassen, wenn auch nicht die genauen Worte. Es war, als höre sie eine verborgene, lange ver-
lorene Musik. »Er setzt seine Kräfte nicht zum Kämpfen ein, Boris Andreyevich«, sagte sie. »Nur zum Heilen.« »Mist«, sagte Boris und wandte sich ab. »Ich kann das verstehen«, sagte Cluny. »Ich bin ausgebildet worden zu töten, doch ich würde es nicht freiwillig tun. Planchet und ich sind wie Hunde; gut abgerichtet, aber nicht wild geboren.« »Und wird er das auch sagen, wenn der Doyen kommt?«, fragte Planchet und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Stimme war rau, aber angenehm im Ohr. Andras lächelte schwach. »Ich werde kämpfen, aber nicht mit Magie«, sagte er. Boris schnaubte; er stand noch immer mit dem Gesicht zum Fluss, vom Lagerfeuer abgewandt. »Ich nenne es nicht Magie«, sagte er. »Meine Kräfte sind nicht magisch, ich bin mit ihnen geboren worden.« »Aber ich habe gehört, dass du deine Macht ebenfalls nicht zum Kämpfen einsetzt«, sagte Yuste, die noch nicht gewillt war, das Thema fallen zu lassen. Boris wirbelte herum. »Das ist etwas anderes«, sagte er. »Ich kann meine Macht einsetzen, wenn ich muss; aber ich finde nun mal, dass es Verschwendung ist, wenn ich eine Waffe habe.« Yuste lächelte ihn an. Sie nahm an, dass sie einen wunden Punkt berührt hatte, und war versucht, weiter zu bohren – ein Impuls, der sie an Annat erinnerte. Stattdessen forderte Boris sie heraus. »Und, was würdest du denn tun? Wenn du noch immer die gleichen Kräfte wie Yuda hättest, würdest du dann an seiner Seite kämpfen?« Yuste schüttelte den Kopf, denn die Unterhaltung der letzten Nacht war ihr noch frisch im Gedächtnis. »Ich habe nie etwas Gutes mit meinen Fähigkeiten getan, als ich noch über sie verfügte. Und ich bin nicht wie Yuda: Ich kann nicht töten.« Boris kam zu ihr herüber und fuchtelte mit seinem Finger in der Luft herum. »Genau. Glaubst du, es ist etwas anderes, weil wir Männer sind und du eine Frau bist? Glaubst du, es ist normal für Män-
ner zu töten?« Yuste drehte den Kopf, um ihn anzusehen. Die aufgehende Sonne stand ihm im Rücken und warf seinen Schatten über das Feuer. »Du hast dir einen seltsamen Beruf ausgesucht, wenn du nicht töten möchtest, Boris Andreyevich.« »Ich bin ein Detektiv, Frau. Ich trage eine Waffe, um mich selbst zu verteidigen. Ich soll Morde aufklären, nicht sie begehen.« Andras warf eine Hand voll getrockneter Blätter in den Kessel und begann, sie unterzurühren. Er schien ihrem Streit nicht länger zuzuhören. Yuste betrachtete sein junges Gesicht und war einen Augenblick lang von seiner Frische abgelenkt. Er war kein Jugendlicher wie Cluny oder Malchik, doch alles an ihm sah noch immer strahlend und neu aus. Sie sah wieder zurück zu Boris mit seinem ausgemergelten, faltigen Gesicht und dem kahlen Kopf, dann lächelte sie. »Es tut mir Leid, Boris. Man kann leicht schlaue Reden führen, wenn man selber nie in die Situation gekommen ist.« »Das würde ich auch sagen«, antwortete Boris. Er hockte sich neben sie, dann setzte er sich mit einem Stöhnen auf den Boden. »Wir haben Wachen aufgestellt«, sagte Andras, ohne den Kopf zu wenden. »Sie sollten nach Krähen Ausschau halten«, sagte Boris mit einem Achselzucken, das zu einem Schauder wurde. »Unheimliche Sache.« Er sah zu Cluny auf. »Das war dein Bruder?«, fragte er. Cluny setzte sich im Schneidersitz auf die andere Seite des Feuers. Er balancierte sein Schwert auf seinen Knien. »Mein Bruder hat sich mit der dunklen Magie eingelassen«, sagte er. »Er hat sich selbst einer bösen Göttin geweiht.« »Da, wo ich herkomme, gibt es nicht allzu viele böse Göttinnen«, sagte Boris. Cluny sah aus, als ob er Einspruch erheben wolle, doch der Detektiv hob die Hand. »Ich weiß, ich habe die Geschichten gehört«, sagte er. »Ich bin ein Schamane, erinnerst du dich? Aber ich kümmere mich nicht um dieses Zeug.« »Das Dunkle und Unterirdische«, sagte Andras. Boris rieb sich mit den Fingern die Augenlider. »Ich werde da jetzt
wohl mit hineingezogen. Ich konnte diesen ganzen mystischen Kram schon nicht leiden, als ich noch in der Shkola lernte. Astralreisen. Es klingt zu sehr wie ein Medium, das Ektoplasma unter seinen Achselhöhlen vortäuscht und Tische mit den Knien schweben lässt. Bei deiner Familie ist das natürlich anders«, fügte er hinzu und spähte zu Yuste. Sie lachte. Trotz ihrer schlaflosen Nacht fühlte sie sich gut. Nichtsdestotrotz war sie dankbar, als Andras den Kessel vom Feuer hob und den Chai für trinkfertig erklärte. Er bereitete ihn auf seltsame Weise zu, mit Milch und Zucker, die in der Mischung mitköchelten. Die Blätter fischte er ganz am Ende heraus. Cluny blickte misstrauisch in den Becher, den Andras ihm reichte. »Ist das eine Art Zaubertrank?«, fragte er. »Zur Hölle, ich hoffe nicht«, sagte Boris, der bereits einen Schluck der dampfenden Flüssigkeit hinuntergeschluckt hatte. Baba Yaga stand einen Augenblick da und betrachtete die beiden Körper, die auf ihren Stühlen zusammengesackt waren. Sie atmeten noch immer, ihre Herzen schlugen weiter, doch sie waren geistlos, leer und blind. Über der Glutasche in der Mitte des Tisches tanzten die beiden Seelen, winzige Lichter, die nur sie erkennen konnte. Sie nahm eine kleine, blau gestrichene Kiste vom Regal neben dem Ofen und streckte den Arm aus, um die Seelen mit der Hand einzufangen. Sie fühlten sich weich und etwas glitschig an. Sie legte sie in die Kiste und verriegelte sie. Es war fast zu leicht gewesen. Sie war kurz davor gewesen, sie gehen zu lassen, aber der Gedanke, sie könnte etwas haben, mit dem sie den Herrn bestechen konnte, war zu verlockend gewesen. Sie war sich nicht sicher, ob er die Kunst gelernt hatte, eine Seele aus dem Körper zu stehlen, gleichgültig, wie mächtig er war. Baba Yaga wusste, was Semyon in seinem Koffer aufbewahrte. Er hatte eine Welt gefangen, und er zehrte von ihrer Macht, um seine Magie bewirken zu können. Er hielt sich für einen großen Magus wie Kaschai, aber seine Fähigkeiten waren grob und ungeschliffen,
die rohe Macht eines Novizen. Er hatte einen Mann von den Toten zurückgeholt, doch er brauchte diesen blutigen und plumpen Zauber, um ihn am Leben zu erhalten. Zwei Seelen und ein Herz; sie hätte ihm beibringen können, wie er die gleiche Magie weniger kostspielig hätte bewirken können. Aber er war ein Mann, ein Magus, und er wollte seine Herrschaft über die sterbliche Welt beweisen. Die Hexe wiegte die Kiste in ihrer Hand. Ohne Zweifel hätte er die beiden getötet, den jungen Mann und das Mädchen, und hätte ihre Seelen beim Übergang von dieser Welt in die nächste eingefangen. Als ob es nur zwei Welten gäbe, die irdische Welt und das Leben danach. Er hätte den Lebensfaden durchtrennt und die Seelen herausgezogen. Diese Art war besser. Ihre Körper lebten und konnten für andere Zwecke verwendet werden, für andere heimatlose Geister. Es wurde Zeit zu gehen. Sie musste bereit sein für den Herrn, wenn er wiederkam. Vielleicht würde er sie nach all den Jahren freigeben. Baba Yaga hatte sich für den schnellen Weg entschieden, anstatt durch Tunnels zu schleichen. Sie wusste sehr wohl, dass es andere Wege gab, um in die Kristallkammer zu gelangen; sie hatte sie ausgekundschaftet, als sie noch Hoffnung hatte, dass sie dem Magus entwischen könnte. Sie verließ den Raum, in dem sie sich eingerichtet hatte, und machte sich auf den Weg in die entgegengesetzte Richtung zu der, die sie Annat und Malchik entlanggeführt hatte. Sie machte große Schritte, und ihr graues Haar flatterte hinter ihr her, als ob es lebendig wäre. Sie hatte die kleine Kiste an ihren Gürtel gebunden und diese schlug gegen ihren Oberschenkel, während sie lief. Sie glaubte, dass sie in riesiger Entfernung die Seelen miteinander flüstern hören konnte. Einen Augenblick lang verspürte sie einen Impuls, und Mitleid regte sich, doch er hielt nicht an. Als sie ihren Spruch gezaubert hatte, mit dem sie sie aus ihren lebendigen Körpern befreit hatte, war ihre Entscheidung gefallen. Dieser Pfad war schmaler und rauer behauen als der, den Annat
und Malchik benutzt hatten, als sie sie trafen. Sie wusste, dass die Bergleute ihn angelegt hatten. Baba Yaga hatte von den Bergleuten gehört, doch sie hatte sie nie gesehen. Sie hatten viel tiefer gebohrt als in der Ebene, in der Semyon sie gefangen hielt. Ab und zu hatte sie geglaubt, das Echo ihrer Hämmer in der Tiefe zu hören; ein oder zwei Mal hatte sie entfernte Lichter gesehen, die wie fallende Sterne blinkten, während sie die gewundenen Gänge auf der Suche nach einem Weg nach draußen abgeschritten war. Aber sie hatte sorgfältig darauf geachtet, nie näher zu kommen. Sie dachte daran, dass die beiden, wenn sie sie hätte weitergehen lassen, bald auf die Bergarbeiter gestoßen wären und vielleicht auf einen Tod, der schlimmer gewesen wäre als alles, was Semyon ihnen hätte antun können. Der Weg stieg steil an. Hier gab es kein Licht, nicht einmal von den Schächten, die in die Seiten des Berges gehauen worden waren, damit das Tageslicht einfallen konnte. Doch Baba Yaga war diesen Weg schon viele Male ohne Licht gegangen. Sie ließ ihre Fingerspitzen über die Wand zu ihrer Linken gleiten und lief mit raschen Schritten. Irgendwo auf dieser Strecke, an einer Stelle, an der sie schon oft vorbeigekommen war, öffnete sich eine tiefe Schlucht auf der einen Seite des Weges. Sie würde den Atem aus ihren Tiefen an ihrer Wange spüren. Sie begann noch rascher zu laufen, denn irgendetwas an diesem Abgrund weckte die Angst in ihr. Sie zählte ihre Schritte, und wie es zu erwarten gewesen war, fühlte sie den Luftzug, der ihr sagte, dass sie sich der Spalte näherte. Warme Luft. Die Hexe beeilte sich. Ihre Finger kratzten am rau behauenen Stein. Sie hatte so lange in der Dunkelheit gelebt, dass sie gelernt haben sollte, sie nicht zu fürchten, doch stets an dieser Stelle in den Tunneln schlug ihr Herz schnell, als ob sie ein junges Mädchen wäre. Sie begann zu rennen, keuchte vor Angst und ließ ihre Füße auf den harten Boden stampfen, als könne er unter ihr verschwinden. Sie merkte, dass sie von einer Wand zur anderen taumelte; plötzlich war der Abgrund unter ihren Beinen. Sie sprang weg, warf sich gegen die gegenüberliegende Wand, die sichere Wand, und krabbelte wie eine Spinne auf der Oberfläche. Sie spürte die Kälte
des Granits, der sich in ihre Wange bohrte, und schluchzte vor Erleichterung. Sie fragte sich, ob der Magus einen Zauberspruch gewirkt hatte, als Verteidigung gegen Eindringlinge in seine privaten Räume hoch oben in der Spitze des Berges. Baba Yaga streckte ihre Arme vor sich aus und begann weiterzulaufen, einen Schritt nach dem anderen wie eine Schlafwandlerin. Sie bemerkte nicht, dass sie in ihrer Panik so hart gegen den Felsen geprallt war, dass sich die Kiste von ihrem Gürtel gelöst hatte. Sie war über den Rand des Abgrundes gefallen, hatte sich geöffnet, und die zwei gefangenen Seelen tanzten nun unter ihr in der Dunkelheit, frei und verloren. Die Straßen von Yonar waren noch immer dunkel, doch über ihnen hatte sich das Himmelszelt bereits geöffnet, um die blasse Dämmerung hereinzulassen. Huldis zog ihren Umhang um sich und machte sich auf den Weg durch die Straßen und die Traboules, die sie zu dem Haus der Botschaft geführt hatten. Sie konnte Yuda hinter sich mit seinem leichtfüßigen Gang kaum hören. Es war, als hätte man eine Katze zur Begleitung; immer mal wieder warf sie einen Blick zurück, um sich selbst zu vergewissern, dass er noch da war. Wie bei einer Katze glühten seine Augen bei bestimmten Lichteinfällen auf, und sie fand seine Anwesenheit verwirrend und tröstlich gleichermaßen. Sie konnte die Wellen seiner Gedanken auffangen, die lauter als das Geräusch seines Atems waren. Sie hatten ihren Plan in einigen wenigen Minuten, nachdem das Gespräch mit der Botschafterin beendet gewesen war, ausgeheckt. Huldis erinnerte sich an den bitteren Geschmack des Chai, der ihr noch immer auf der Zunge lag, und den Unterschied, als Lukacs ihn für sie mit Zuckerkrümeln gesüßt hatte. Das Aroma in ihrem Mund mischte sich mit dem salzigen Geschmack der Angst. Ihre eigenen Gedanken waren ebenso beschäftigt und ruhelos wie die von Yuda. Was würde mit ihr geschehen – mit ihnen beiden – wenn sich Sarl und der Magus nicht täuschen ließen? Wenn sie sich plötzlich als
eine verborgene Schamanin enthüllte, könnte Semyon die Verbindung zwischen dem zerbrochenen Spiegel und dem Mädchen herstellen, die er bislang übersehen hatte. Yuda hatte ihr eingeschärft, was sie zu sagen hatte, und sie wiederholte die Worte immer wieder vor sich hin, wie einen Zauberspruch. Er hat mich zum Haus gelockt … Er hat mich als Geisel genommen … Es war schwer zu glauben, was sie da dachte, auch wenn die Botschafterin davon gesprochen hatte, sie als lebendes Pfand zu benutzen. Der fremde Duft von Yudas Gedanken drang in ihren Geist ein. Er war schwarz und klar wie Tinte. – Sie werden nur zu froh sein, mich zu sehen. Sie werden nicht weiter über dich nachdenken. – Der Magus ist scharfsinnig. Und mein Bruder ist kein Dummkopf. – Ich habe ihn nie für einen Dummkopf gehalten. Das ist nicht sein Problem. – Was meinst du? – Er liebt mich, auf eine verdrehte Art und Weise. Ein Mann wie er kann es nicht ertragen, einen anderen Mann zu lieben. Also musste er mich zerstören. – Er sagt, er sei in der Hölle gewesen. Yuda fand das amüsant. – Er ist die Hölle, war alles, was er dachte. Huldis ließ sich zurückfallen, um neben ihm zu laufen. Sie grübelte darüber nach und auch über das, was sie der Botschafterin über ihr wahres Alter gesagt hatte. Wenn sie nicht dreiundzwanzig Jahre dadurch verloren hätte, dass sie in La Souterraine gefangen gehalten worden war, wäre sie nur wenig jünger als Yuda. Doch sie war noch immer eine junge Frau, nicht viel älter als seine Tochter. Sie fragte sich, ob die verlorenen Jahre, während derer sie in Stasis gehalten worden war, irgendeine Spur in ihr hinterlassen hatten. Würde sie vor ihrer Zeit sterben, in dem Alter, in dem sie dann eigentlich hätte sein sollen? – Wir wissen es nicht. Wir kennen die Auswirkungen deiner Gefangenschaft nicht. – Ich träume noch immer davon. Manchmal sind die Träume realistischer
als dieser Ort. – Ich frage mich, ob wir das Richtige getan haben, als wir dich nach Ademar zurückschickten. Es scheint den Rachedurst des Doyen nicht zum Versiegen gebracht zu haben. Huldis blieb stehen. »Ich wünschte, du würdest nicht mit mir zurückkommen«, sagte sie. Yuda berührte ihre Wange und lächelte im Dämmerlicht. »Dann hättest du mir nichts erzählen sollen. Ich habe keine Wahl. Es geht nicht nur um die Rebjata. Ich habe der Botschafterin die Wahrheit gesagt. Es ist genauso wichtig, Sarl und dem Magus das Handwerk zu legen, wie an der Front in der Schlacht gegen die Streitkräfte des Doyen zu kämpfen. Du kennst die Pläne; wenn dein Bruder zurück ins Leben kommt – und ich hoffe stark, dass das nicht der Fall sein wird –, wird er eine andere Armee anführen. Die Einwohner von Masalyar können es vielleicht schaffen, den Doyen zurückzudrängen, aber von zwei Armeen würden sie ausgelöscht werden.« Langsam gingen sie die enge Gasse mit den überhängenden Häusern hinunter, in der sich die Silhouetten der Schornsteine gegen den Himmel abzeichneten. Huldis erspähte ein Storchennest hoch oben, mit einem großen Vogel, der majestätisch thronte, seine Flügel im Morgengrauen angelegt; der Umriss seines Schnabels sah wie ein gezücktes Schwert aus. Zitternd vor Kälte wies Huldis Yuda darauf hin. Es schien ihr wie ein Augenblick des Friedens, mit dem sie die verschlafene Macht ihrer Träume und die Angst vor den Widrigkeiten bekämpfen konnte, denen sie sich gegenübersehen würde, wenn sie zum Gasthaus zurückgekehrt war. Sie hasteten an dem verschlossenen Hof eines Hauses vorbei in eine Gasse, in der sich eine Tür an die andere reihte. Einige der Öllampen waren zur Neige gebrannt; eine oder zwei tropften noch immer in ihren Nischen hoch oben in den Mauern. Yuda ging voran. Er brauchte Huldis nicht länger als Führerin, denn er konnte den Weg anhand der beiden Lichter von Sarl und Semyon finden, deren schamanische Macht durch die Dunkelheit glühte wie trübe Sterne. Die Eiskristalle auf dem Boden knackten unter Hul-
dis' Füßen; sie beeilte sich, mit Yuda Schritt zu halten, und wünschte sich, sie könnte das Zittern beruhigen, das sich in ihre Knochen geschlichen hatte und sogar bis in ihren Geist vorgedrungen war. Der Eingang direkt vor ihnen führte sie hinaus auf eine glitzernde Straße, und sie standen vor den Fachwerkmauern des Gasthofes. Die Fenster oben waren geschlossen, doch in den Zimmern des Erdgeschosses waren bereits Lampen entzündet worden, und die Geräusche von Vorbereitungen drangen aus den Küchenräumen. Yuda blieb stehen und zog seinen Umhang um sich. Das schwache Licht der Dämmerung glänzte auf seinem Haar und in seinen Augen, und sein Atem sah aus wie eine helle Rauchwolke. Huldis blieb hinter ihm stehen und spürte die Ausläufer seiner Angst. Sie konnten sich immer noch entschließen, umzudrehen und durch die Straßen zurück in die Wärme der Herberge der Botschaft zu hasten. Hinter den Fensterläden schlief der Tod und träumte von Blut und Knochen. Yuda drehte sich zu Huldis und griff nach ihrer Hand. Seine Finger waren eisig. »Mut!«, sagte er, und: »Bist du bereit?« Sie nickte. Sie konnte das Zittern nicht verbergen, das sie schüttelte, als wäre sie eine Espe. Yuda strich ihr eine Haarlocke, die sich gelöst hatte, aus der Stirn und küsste sie auf die Augenbrauen. »Du spielst gut, Missis«, sagte er grinsend. Huldis machte einen Schritt zurück. Sie sog die kalte Luft in ihre Lungen und spürte, wie ihr Blut gefror. Dann, aus den Tiefen ihres Körpers, stieß sie einen durchdringenden, Mitleid erregenden Schrei aus, rief den Namen ihres Bruders, und Yuda schlug ihr ins Gesicht, sodass sie über die Straße taumelte, auf den Rücken fiel und wirkliche Tränen aus ihren Augen quollen. Noch halb im Schlaf wankte Semyon aus dem Bett und griff nach dem Hemd, das über einem Stuhl unter dem Fenster hing. Als er mit den Riegeln der Läden kämpfte, entdeckte er die Gestalt Sarls, der vollständig angekleidet von der Matratze aufstand, auf der er
nicht geschlafen hatte, wie ein Leichnam, der sich steif aus einem Sarg erhob. Mit einer Grimasse stieß der Magus die Fensterläden auf und spähte hinunter auf die Straße. Dieser verfluchte Gastwirt hatte ihnen einen Raum hoch oben, beinahe unter dem Dachfirst gegeben, doch nicht hoch genug, als dass er sich unbemerkt zum Zimmer des Mädchens hätte schleichen können. Er hatte nicht geträumt. Der Schrei ertönte noch einmal, frisch und scharf wie das Bellen einer Hündin in der Nacht. Semyon fluchte vor sich hin, rieb sich die Augen und sah zwei Gestalten unter sich auf der Straße, ehe ihn Sarl zur Seite stieß. Die Welle der dritten schamanischen Kraft war wie ein Salzwasserguss; er sah, wie Sarl zurückschreckte, und er zog eine heimliche Befriedigung aus dem Wissen, dass selbst sein unerschütterlicher Feind zusammenfuhr. Wie konnte es möglich sein, dass jemand, der so stark war, unbemerkt mit ihnen in der gleichen Stadt gewesen war? Sie hätten bereits letzte Nacht mit der Suche beginnen sollen, anstatt sich den Freuden des Essens und des Schlafes hinzugeben. Er zwängte sich in den Spalt zwischen Sarl und dem Fensterrahmen, ohne seinen Abscheu vor der Berührung des toten Mannes zu beachten. »Jean Sorel«, schrie das Mädchen, dieses Mal etwas schwächer. Sie lag ausgestreckt auf dem Kopfsteinpflaster und blutete aus der Nase, ein Anblick, der Semyon mit unerwarteter Freude erfüllte: Ein anderer hatte sie gelehrt, nicht so hochmütig zu sein! Über ihr stand eine kleine Gestalt in einem schwarzen Kaftan, deren lange Haare trotz der morgendlichen Kälte unbedeckt waren. Semyon suchte die Straße ab, um einen Blick auf den Schamanen zu erhaschen, dessen Macht ihn wachgerüttelt hatte, aber es war niemand sonst zu sehen: nur das junge Mädchen, das auf dem Boden lag, und der kleine Mann. Sarl klammerte sich an das Fensterbrett, seine Fingerknöchel waren weiß. »Ja, komm heraus, Jean Sorel«, rief der Mann von der Straße unter ihnen herauf. »Komm und sieh dir an, was ich dir mitgebracht habe.« Und er versetzte dem ausgestreckten Körper des Mädchens einen Tritt. Sarl machte einen Schritt vom Fenster weg und legte ei-
ne Hand über die Augen, als hätte er in blendendes Licht geblickt. »Ist er das?«, fragte Semyon, außerstande, seine Ungläubigkeit zu verbergen. Sarl antwortete ihm nicht, sondern stieß die Tür auf und schoss den Gang zur Treppe hinunter. Semyon mühte sich noch damit ab, seine Hose anzuziehen, eilte ihm aber schließlich barfuß hinterher. Es war nicht zu ihrem Vorteil, dass die Störung andere Bewohner des Gasthauses aufgeweckt hatte; einige standen in ihren Nachtgewändern draußen auf dem Treppenabsatz, während er andere gesehen hatte, die sich aus ihren Fenstern lehnten. Bis er auf der Straße angekommen wäre, könnte sich bereits eine Menschenmenge angesammelt haben, und das wäre schlecht. Er stieß in der Halle auf den Gastwirt und schob sich an ihm vorbei, entschlossen, mit Sarl mitzuhalten. Er musste die Sache in die Hand nehmen, oder Tschernobog wusste, was geschehen konnte. Vielleicht würde Sarl den anderen Mann töten, bevor Semyon auch nur die Chance gehabt hatte, ihn als Gefangenen festzusetzen, und das würde ihre Chancen zunichte machen, den Spruch zum Ende zu bringen. Wenn das geschehen würde, so wusste Semyon, würden seine eigenen Innereien zu diesem Zwecke gebraucht werden. Er traf Sarl reglos auf der Türschwelle stehend an. Ihm gegenüber auf der Straße stand der kleine Mann über der Gestalt des Mädchens. Seine Gesichtszüge stachen wie schwarze Tinte auf Pergament hervor: Er konnte nur ein Wanderer sein. Semyon fühlte, wie ihm die Galle aufstieg. Er war kein Doxoi, aber er war, wie alle guten Sklavs, gesalbt worden, und der Gedanke, dass einer dieser Rasse ein Mädchen der Doxoi niedergeschlagen hatte, widerte ihn an. Er verspürte keine Freude mehr an Huldis' Fall. Am liebsten wäre er an ihre Seite gerannt und hätte einen raschen Spruch gewirkt, um ihr die Schmerzen aus dem geschwollenen Gesicht zu nehmen. Wie er befürchtet hatte, waren von der Szene Schaulustige angelockt worden; sie hatten einen Kreis gebildet und versperrten die Straße nach beiden Seiten hin, doch niemand hatte sich bewegt, um einzugreifen. Semyon stand neben Sarl und steckte sein Hemd in die Hose, wobei er sich bewusst war, dass er keinen sehr würdevol-
len Eindruck machte. »Gute Leute«, sagte er zu der Menge und bemerkte nur zu deutlich seinen ausländischen Akzent, wenn er Franj sprach. »Dies ist eine Angelegenheit unter Schamanen. Eine private Angelegenheit.« Die Menschen rührten sich und murmelten miteinander, machten jedoch keinerlei Anstalten wegzugehen. Natürlich nicht: Ein Mann hatte eine junge Frau auf offener Straße angegriffen. »Vasilyevich«, sagte Sarl und streckte seine Hand aus; sie zitterte. Der kleine Mann verschränkte die Arme vor der Brust und lächelte. »Du brauchst mir nichts zu erklären, Sarl«, sagte er. »Deine Schwester hat mir bereits alles erzählt. Nach einiger Überredung.« Semyon sah, wie sich Sarls Hand zur Faust ballte. »Du …«, sagte er. Der Mann machte einen Schritt von Huldis weg. Er atmete schwer, als ob er ein Rennen gelaufen wäre. »Eine loyale kleine Anhängerin«, sagte er, und seine Züge verzerrten sich spöttisch. »Eine wahre Tochter von Ademar. Ich werde dir mal was sagen, Sarl: Ich werde sie eintauschen – gegen mein Leben.« Semyon warf Sarl einen Blick zu, dessen aschgraues Gesicht nur zu deutlich verriet, was er war, selbst im Tageslicht. Er konnte die vorsichtigen Bewegungen der beiden Männer sehen, die sich voreinander aufbauten wie Hunde, die kurz davor waren, einander an die Kehle zu gehen. Das durfte nicht geschehen; doch um es zu verhindern, musste er seine Macht zeigen, hier in aller Öffentlichkeit. Er dachte an den Koffer, der oben in seinem Zimmer unter dem Bett verstaut war. Auf diese kurze Entfernung sollte es ihm gelingen, von seiner Macht zu zehren, um selbst einen Schamanen, wie der vor ihm stehende dem Anschein nach einer war, außer Gefecht zu setzen. Er fand es noch immer schwer zu glauben, dass jemand, der so armselig und mager war, solch einen gigantischen Schatten werfen oder eine junge Frau, die so groß und stark wie Huldis war und ihn um etliche Zentimeter überragte, überwältigen konnte. Semyon fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. Eine Zuschauerschar von gaffenden Ausländern war nicht zu vergleichen mit den Bewohnern am
Hofe des Staryetz. Es wäre beschämend, das wahre Maß seiner Macht vor dieser Menge zu enthüllen. Sarl drehte sich zu ihm um: »Überlass das mir«, sagte er. Semyon blickte empor in das ausgemergelte Gesicht, das sich über ihn beugte, und bezwang seine Furcht. Er musste der Herr und Meister sein, und das war die Gelegenheit, es zu beweisen. Er krempelte seine Ärmel hoch. »Nein«, sagte er. Als Sarl ihn am Hemd packte, zuckte er nicht zurück. »Was ist los, Sarl? Kannst du deinen zahmen Magier nicht unter Kontrolle halten?«, fragte Vasilyevich. Semyon, der gegen seinen Widerwillen ankämpfte, sendete Sarl seine Gedanken. Er brachte es nicht über sich, den Geist des anderen Mannes zu berühren, doch er streckte sich in seine Richtung und befahl ihm, ruhig zu bleiben. Es würde andere Gelegenheiten geben, bei denen eine solche Provokation vergolten werden konnte. Jetzt befanden sie sich in einer Menge von Schaulustigen und mussten die Angelegenheit möglichst schnell zu Ende bringen. Er sah, wie sich das Gesicht Sarls, das vor Zorn verzerrt gewesen war, zu der dumpfen, ausdruckslosen Maske entspannte, die er normalerweise zur Schau stellte. Der Erbe ließ ihn los und Semyon, der innerlich erleichtert seufzte, suchte nach einem Spruch – nichts zu Dramatisches, denn dies war nicht der richtige Augenblick, um anzugeben. Vor seinem geistigen Auge kramte er in den Tiefen seines Koffers und wurde beinahe auf dem falschen Fuß erwischt, als Vasilyevich einen verzweigten Machtstoß quer über die Straße zu ihnen schleuderte. Semyon überwand seine Überraschung und warf Sarl mit dem Gewicht seines Körpers zu Boden. Von jemandem, der zu solcher Grausamkeit fähig war, hätte er etwas Besudeltes, Schmutziges, mit dem Hauch des Bösen Verschmiertes erwartet. Es blieb keine Zeit zum Nachdenken; der Spruch hatte in seinem Schädel den Siedepunkt erreicht, und wenn er ihn nicht losließ, würde er sein Gehirn aus seinem Mund heraustreiben. Er weitete seine Kehle und brüllte
wie ein Löwe oder wie das Tosen des Nordwindes. Der Spruch sprang von seiner Zunge, und die Worte entfalteten sich wie ungeborene Sterne, die zu riesigen und schimmernden Gestirnen werden, sobald sie ihre Freiheit gefunden haben. Die Menge zerstreute sich. Semyon rappelte sich auf und bekam das Ende seines Spruches zu fassen, ehe er sich versprengen und über den Dächern zerstieben konnte. Er spielte mit ihm wie ein Fischer mit seiner Angel, und einen Moment lang empfand er Befriedigung, als er ihn über dem dunkelhaarigen Schamanen niedergehen ließ, der verwirrt und ängstlich zu ihm emporblickte. Selbst in solchen Momenten bewunderte Semyon die Schönheit und die Kraft des Spruches, dem seine Macht Gestalt gegeben hatte und die sich mit der Energie aus dem Inneren seines Koffers vermischte. Er sah ihn über dem Feind hängen, sich drehend wie ein Wirbelwind. Er sah, wie die Leute zurückwichen und ihre Augen vor den Gesichtern verbargen, die sie gesehen hatten und die ohne Stimme aus der Windhose heraus schrien. Dann schoss der Sturm hinab und umfing Vasilyevich, lähmte die Macht in seinen Händen, löschte sie aus und warf ihn zu Boden. Semyon wandte sich an Sarl und ließ den Erben sein Lächeln sehen. Eine kleine Erinnerung an die Macht, über die er verfügen konnte, wenn er wollte. Es fühlte sich süßer an als all die plumpen Beschwörungen von Hexen und armseligen Magiern, die ihre Sprüche aus Wörtern, Pulvern und magischen Kräutern zusammensetzten. Semyon war darüber hinausgewachsen; er hatte seinen eigenen geheimen Berg erhoben, als ob er Kaschai, der Unsterbliche sei. Sarl blickte vom Magus zu dem Zauber, der den ahnungslosen Schamanen zu Boden gerissen hatte. Er nickte, als wolle er seine Zufriedenheit über eine saubere Arbeit zeigen. Es mochte ihm widerstreben, irgendein Anzeichen von Bewunderung zu zeigen, doch er war nicht so kleingeistig zu ignorieren, wie geschickt Semyon ihr Problem gelöst hatte. Semyon wartete ab, bis der Spruch seine Wirkung vollständig entfaltet hatte. Es lag nicht in seiner Macht, einen mächtigen Schamanen all seiner Kräfte zu berauben, wie es bei ei-
ner Wald- und Wiesenhexe wie Baba Yaga der Fall gewesen wäre, doch es sollte ausreichen, um ihn für die Dauer ihrer Reise ungefährlich zu machen. Semyon wünschte, er hätte mit größerer Sicherheit gewusst, wie lange das sein würde. Barfuß auf dem kalten Kopfsteinpflaster lief er über die Straße und blickte zu dem Wanderer hinab, der wie ein Insekt, das sich in einem Spinnengewebe verfangen hatte, auf dem Boden lag. Huldis hatte sich auf die Knie erhoben und wischte sich das Blut unter der Nase fort; ihre Augen waren rot gerändert von ungeweinten Tränen. Sie schluchzte. »Er sagte … er würde dich zerstören«, sagte sie. »Er wollte mich als Geisel nehmen.« Semyon streckte die Hand aus. Sie musste etwas Dankbarkeit empfinden, wie zögerlich auch immer; vielleicht würde das eine Veränderung in ihrem hochmütigen Verhalten ihm gegenüber bringen. Er war erfreut, als sie seine Hand ergriff und zuließ, dass er ihr auf die Beine half. Sanft. Schiere Kraft oder Verführung würde nicht ausreichen, diese Schönheit für sich zu gewinnen; sie hatte Geist und Mut gleichermaßen. Sie mochte jung sein, doch sie war weiser, als es den Anschein hatte. Sie blickte mit einer Mischung aus Mitleid und Abscheu hinab zu dem gelähmten Schamanen. Semyon drückte ihre Hand: eher eine Geste der Freundschaft als eine der Lust. »Verschwende nicht dein Mitleid an ihn, Mademoiselle«, sagte er. »Er ist nichts als totes Fleisch.« Die Wolkenfetzen zerstreuten sich und trieben wie der Nebel der letzten Nacht davon. Semyon spürte, wie die schwarzen, unergründlichen Augen des Schamanen ihn beobachteten, und wandte sich ab. Auf seine Art war der kleine Mann ebenso nervtötend wie Sarl. Trotz des Spruches, der ihn band, lächelte er. Goldene Macht. Semyon hatte noch nie etwas Derartiges gesehen, nicht einmal am Hofe des Staryetz, wo Schamanen, Magier und Magi in großer Fülle anzutreffen waren. Er hatte geglaubt, er habe sie alle abgeschätzt und eingeordnet, und doch war hier eine Macht von einer Art, auf die er noch nie getroffen war. Er fragte sich, wie viel Gelegenheit er ha-
ben würde, sie genauer zu untersuchen, bevor Sarl sein Schlachtritual durchführen wollte. Semyon rümpfte die Nase. Er brauchte nicht so zu tun, als ob solche Sprüche ihm Freude bereiten würden; sie würden ihm einen Preis abverlangen, und Sarl mochte vielleicht herausfinden, dass sein neu gewonnenes Leben nicht die Belohnungen bereithielt, die er erwartet hatte. »Was habt ihr mit ihm vor?«, fragte Huldis. »Er kommt mit uns zum Berg zurück. Und dann …« Semyon fuhr sich mit der Hand über die Kehle. »Du wirst deinen Bruder lebendig zurückbekommen.« Schon vor einiger Zeit hatte er ihre Hand vorsichtig losgelassen. Er sah ihr zu, wie sie zu der Stelle hinüberging, an der Sarl stand, und beobachtete erneut ihr Zartgefühl, das sie davon abhielt, vor ihrem Bruder zurückzuweichen. Sarl nahm ein Tuch aus seiner Tasche und tupfte ihr das Blut vom Gesicht, so sanft wie eine Mutter, die Essen von einem schmuddeligen Kind putzt. Semyon seufzte und sah hinab zum Schamanen. »Ich kann nicht sagen, dass ich hoffe, du hättest keine Schmerzen«, sagte er. »Aber das taube Gefühl vergeht nach einer Weile. Dann kannst du auch laufen.« Die Lippen des Mannes formten ein Wort in Sklav. Semyon erkannte es und erschrak. Er hatte angenommen, dass die Beute, hinter der Sarl her war, Franj war. Gegen seinen Willen brachte ihn die Freude darüber, seine Muttersprache zu hören – wie beleidigend auch immer – dazu, sich neben seinem Opfer hinzuhocken. »Du, ein Sklav?«, fragte er, und es gelang ihm nicht, sein Erstaunen zu verbergen. »Verpiss dich«, sagte der Schamane. Semyon blieb neben ihm hocken. »Warum habe ich noch nie von dir gehört?«, sagte er mehr zu sich selbst. »Ich dachte, ich würde sie alle kennen. Und hier bist du, mitten in diesem gottverlassenen Land und sprichst Sklav wie ein Einheimischer.« Er rieb sich mit der Hand über die Stirn. »Du musst ein Emigrant sein. Ich habe gehört, dass es andere wie dich in der gottlosen Stadt Masalyar gibt. Ich dachte, es sei nur eine Ge-
schichte. Niemand würde freiwillig die Länder des Staryetz verlassen.« »Ich habe nach dir gesucht«, sagte der Schamane, der sich wand und zuckte. Seine Stimme war kaum mehr als ein Murmeln. »Du?«, fragte Semyon. »Meine Auftraggeber wollten wissen, was ein abtrünniger Schamane aus Sklava in ihrem Gebiet treibt.« »Das wäre mir nie in den Sinn gekommen. Ich war höchst nachlässig. Ich habe mir nicht vorstellen können, dass es irgendjemanden an diesem erbärmlichen Ort geben würde, der es mit mir aufnehmen könnte. Wie ich sehe, hatte ich Unrecht.« Er richtete sich auf und sah zu der Gestalt zu seinen Füßen hinab. »Du solltest daraus nicht schließen, dass wir Freunde werden können. Du bist ein Wanderer.« Er geriet in Versuchung zu spucken, fand das jedoch zu ungehobelt. Kein Höfling würde sich zu solch bäuerlichem Verhalten herablassen. Der Schamane starrte zu ihm empor. Seine Macht mochte aus ihm gezogen worden sein, doch er konnte noch immer seine Gedanken abschirmen. Semyon musste erst noch einen Spruch finden, der diese elementarste Fähigkeit fortreißen konnte. »Ich kann nicht sagen, was du denkst«, sagte er und drehte sich mit einer gereizten Bewegung weg von seinem Gefangenen. »Aber wenigstens sprichst du die Sprache der Mutter und nicht dieses grässliche Kauderwelsch, das sie Franj nennen.« Die Menge hatte sich zerstreut. Semyon zitterte ohne seinen warmen Mantel und Umhang. Als er aufsah, bemerkte er, dass der Erbe und seine Schwester näher kamen. Er fragte sich, ob sie ihm danken würden wegen des Ärgers, den er ihnen erspart hatte. Er bezweifelte es. Er verschränkte die Arme vor seiner Brust und sagte: »Was wünschst du, Knyaz? Dein Gefangener wartet auf deine Befehle.« Ohne zu antworten, beugte sich Sarl vor, nahm den ausgestreckten Körper auf und warf ihn sich über seine Schulter. Er hätte genauso gut einen Sack Reis aufheben können.
»Du hast Glück, Magus«, sagte er. »Du hast mir gebracht, was ich wollte. Es gibt keinen Grund, dein Herz herauszureißen. Bring uns jetzt zurück zum Gläsernen Berg, wo wir mit unserem Geschäft rasch zum Abschluss kommen können.« »Die Reise zurück wird nicht so leicht, Mon Seigneur«, sagte Semyon. »Erinnere dich daran, dass der Spiegel zerbrochen ist. Wir müssen reisen wie andere auch.« Sarl drehte sich zu ihm um, und seine kalten Augen ließen Semyon bis aufs Mark gefrieren. »Ich habe gesehen, was du bewirken kannst, wenn du aus deiner Welt schöpfst, Magus«, sagte er. »Ich bin mir sicher, dass du noch andere Tricks aus dem Ärmel schütteln kannst. Wir müssen schnell reisen, denn denk daran: Meine Tage sind gezählt.« Semyon sah das Echo der Kälte in den Augen des Mädchens, das neben seinem Bruder stand. »Tu es, Magus«, sagte sie, und ihre Stimme war weich wie Seide. »Mein Bruder muss gerettet werden.«
Kapitel 10
D
ie Roma und ihre Begleiter verbrachten den Großteil des Tages mit Schlafen, und so waren Yuste und Boris an der Reihe, die Wache zu übernehmen. Der Himmel glänzte wie eine frisch geprägte Münze, und Vogelschwärme flogen über ihren Köpfen, keine Krähen jedoch, von vereinzelten abgesehen. Yuste saß einige Zeit da, schaute nach Osten in Richtung der Berge und wünschte, es würde eine Möglichkeit geben, wie sie ihr Vorankommen beschleunigen konnten. Sie war begierig darauf, auf die andere Seite zu gelangen, sodass sie endlich erfahren würde, was dort auf sie wartete. Sklava war ein bunter Klecks auf der Landkarte in ihrem alten
Klassenzimmer gewesen, und ein Ort, der durch die Geschichten, die ihre Mutter und ihr Vater ihr erzählt hatten, Gestalt angenommen hatte. Ihr Vater hatte in der Nähe von Ades gelebt, am Binnenmeer, das sie die Schwarze Perle nannten; ihre Mutter stammte aus Kyev, dem Land des tiefen Schnees, im Fürstentum von Maskovi. Doch die Länder jenseits des Lepas-Gebirges waren nicht wirklich Sklav, sie waren Teil des Imperiums des Staryetz, welches sich mit jedem Jahr vergrößerte, weil er andere Königreiche eroberte oder einen Stadtstaat annektierte. Yuste kam es seltsam vor, dass sie sich selbst als Sklav bezeichnete, obwohl sie in Franj geboren war. Auch wenn ihre Eltern keine andere Sprache zu Hause gesprochen hatten, waren sie in der Schule gezwungen gewesen, ausschließlich Franj zu sprechen. Das war nicht die Sprache ihrer Gedanken, und wenn sie gesendet hatten, war Sklav ihr einziges Verständigungsmittel gewesen. Aber mit ihren Freunden, mit Aude und ihren Brüdern, die sich schließlich dazu herabgelassen hatten, sie ebenfalls kennen zu lernen, hatten sie sich in dem Jargon ihrer Heimatstadt unterhalten. »Sklavs der zweiten Generation«, sagte Boris und bot ihr eine Flasche Brandy aus der Tasche seines Umhangs an. Yuste nahm einen Schluck, schnappte nach Luft und lachte. »Ich bin hier geboren, Boris Andreyevich. Dies ist mein Land, nicht Sklava. Ich bin keine Untertanin des Staryetz.« Der Detektiv guckte grimmig. »Ich auch nicht«, sagte er und führte die Flasche an den Mund. Yuste drehte sich um und schaute nach Westen, den Weg zurück, den sie gekommen waren. »In meiner Stadt nennen mich alle die Fremde oder die Wanderin. Oder die Hexe.« Boris kicherte und verschluckte sich beinahe an seinem Brandy. »So ist das nun einmal, Zhidova. Es sei denn, du bist in einer Stadt wie Masalyar oder Kyev aufgewachsen. Jede Schamanin muss eine Hexe sein – oder ein Hexer –, denn die weisen Frauen waren immer Schamaninnen. In früheren Zeiten, bevor das Wort eine zweite Bedeutung erhalten hatte, waren alle Stammesschamanen Schamanen,
falls du verstehst, was ich meine.« Yuste lächelte ihn an. Ein seltsames Gefühl stieg in ihr auf. Schon wieder hatte er sie Zhidova, einen Jud, genannt, doch nun wusste sie, dass er sie damit nicht verletzen wollte. Als Boris es verwendete, um sie damit anzusprechen, war die Bezeichnung als Kosename und nicht als Schimpfwort gemeint. Sie stieß einen kleinen Seufzer aus und fragte sich, ob sie es überhaupt erwähnen sollte, dass es ihr aufgefallen war. Boris sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Das ist gut«, sagte er. »Du lernst, wie du deine Gedanken abschirmen kannst.« »Erzähl nicht solchen Unsinn, Boris Andreyevich.« Abgewandt von den anderen saßen sie und schwiegen gemeinsam. Yuste dachte an die Gefahr in ihrem Rücken, während sie quer durchs Land reisten. Bestimmt hatte der Doyen Masalyar ins Auge gefasst und würde sich nicht von einer Gruppe Roma von seinem Vorhaben abbringen lassen. »Je mehr Abstand wir zwischen uns und Axar bringen, umso ruhiger bin ich«, antwortete Boris ihr. »Wir sind noch immer etwas zu nah. Hast du jemals eine Armee auf dem Vormarsch gesehen? Sie können sich über ein großes Gebiet verteilen und schicken Kundschafter und Vorhuten in alle Richtungen. Wir kennen natürlich nicht die Größe der Armee des Doyen, aber ich würde wetten, dass sie nicht gerade klein ist. Nicht, wenn sie vorhaben, eine Stadt in der Größe von Masalyar anzugreifen.« »Ich wünschte, wir könnten weiterziehen«, sagte sie. »Schöner Ort für ein Lager«, sagte Boris und blickte hinunter zu den Wagen, die in der Nähe des Flusses aufgebockt standen. »Ich fühle mich so verletzlich.« »Wahrscheinlich hast du Recht. Wir sind verwundbar. Wir befinden uns in der Nähe der Straße von Axar nach Masalyar. Wir sind zwar in Richtung Osten unterwegs, doch der Weg, den sie nehmen müssen, führt in die gleiche Richtung, bevor er nach Süden abzweigt. Es sei denn, sie wollen einige kleine, aber markante Berge überqueren. Ich schätze, dass sie kurz hinter uns sind, falls es ihnen
gelungen ist, gestern Nacht Axar einzunehmen. Es ist eine Stadt ohne Stadtmauer, und ich nehme an, dass sich die Bewohner unterworfen haben. Wenn sie bei klarem Verstand waren.« »Ich wäre so viel glücklicher, wenn ich es wüsste. Wo sich die Armee befindet und was sie treibt.« »Dafür würden wir unsere eigenen Kundschafter und Spione brauchen. Eine Aufgabe, die du und ich übernehmen könnten, wenn wir nicht gerade Wache halten würden.« »Du kannst nur für dich sprechen, Boris Andreyevich. Ich habe nicht die Fähigkeit zum Kundschaften oder Spionieren.« Boris zündete eine seiner langen Zigarren an. Er fuchtelte mit ihr in der Hand herum. »Die Sache ist …« Yuste wartete darauf, dass er zu Ende redete. »Dieser Doyen mag keine Schamanen. Ich bezweifle, dass er überhaupt welche in seiner Armee hat.« »Ich denke, das ist unwahrscheinlich. Warum?« Boris begann auf und ab zu laufen. »Ich habe mich so daran gewöhnt, meine Kräfte nicht einzusetzen, dass ich den einfachsten Streich von allen übersehen habe. Wir müssen nicht in die Nähe der Armee kriechen, wir können sie abtasten.« »Du kannst das.« »Du kannst mir helfen. Zu zweit geht es besser.« »Ich glaube nicht, dass unsere Gastgeber besonders erfreut wären, wenn ein Angriff auf sie erfolgen würde, während wir mit Abtasten beschäftigt sind.« »Ganz so unbrauchbar bin ich auch wieder nicht, Missis.« Boris blieb stehen und warf ihr einen anklagenden Blick zu. Yuste schüttelte ihre Röcke aus und setzte sich auf einen Felsblock. »Nun gut«, sagte sie. »Aber du musst mir zeigen, was zu tun ist.« Boris fuhr sich mit der Hand durch das schüttere Haar. »Es ist einige Zeit her, dass ich das gemacht habe«, sagte er. »Grundlegendes Handwerkszeug der Schamanen, aber ich habe es immer ungenau gefunden. Zu … magisch.« Yuste sah ihn an und lächelte. »Sival hat uns Kindern nie gezeigt,
wie das geht«, sagte sie. »Ich schätze, das ist eines der Dinge, die man auf dem College lernt.« »Es ist ein bisschen so, als würde man eine Taschenlampe benutzen, um eine Karte zu lesen«, sagte Boris. »Du sitzt jetzt still und entspannst dich, und ich erledige die Arbeit.« Er drückte seine Zigarre aus, stellte sich hinter den Felsbrocken, auf dem Yuste saß, und legte ihr seine Hände auf die Schultern. Zunächst schien er angespannt, aber sie hörte, wie sein Atem langsamer und gleichmäßiger wurde. Er hob seine Hände, sodass seine Finger auf ihren Schläfen lagen, und sagte: »Es hilft, wenn du die Augen zumachst.« Yuste gehorchte. Mit geschlossenen Augen war sie sich der Berührung von Boris in ihrem Gesicht nur zu bewusst, und es weckte Erinnerungen in ihr, Gedanken, die sie verdrängt und unterdrückt hatte. Wie es sich anfühlte, wenn einen jemand auf den Mund küsste. Die Überraschung, ja der Schock, wenn Myriaden von Empfindungen die Nerven reizten und man plötzlich die Lust begriff, über die man nur in Büchern gelesen hatte. Es war so entschieden anders als das, was sie für ihren Zwilling empfand, der zu nah und doch immer außer Reichweite war. Boris' Griff verstärkte sich. »Ruhig«, sagte er. »Alles, was ich im Moment wahrnehme, sind deine Gedanken. Und ich versuche, sie zu ignorieren.« Yuste merkte, wie sie errötete, jedoch nicht mit der entsetzlichen Scham ihrer Jugend. Sie schob ihre Erinnerungen beiseite und zwang sich, sich auf die Nervenbahnen zu konzentrieren, die sich wie Motten auf ihrem Gesicht niedergelassen hatten und die als feine Fäden zurück in den lebendigen Bienenstock führten, der der Mann hinter ihr war. Sie verscheuchte ihre Gedanken, und sofort drängten sich Bilder vor ihr inneres Auge: Sie sah die Armee des Doyen. Mit einem Aufschrei sprang sie auf die Beine. Boris taumelte zurück, fluchte und schüttelte seine Hände. »Verdammt noch mal, Frau, was ist los?«, fragte er. »Ich habe die Soldaten gesehen. Ihre Gesichter waren so nah – ich konnte die Sonne auf ihrer Rüstung sehen …«
»Du kannst die Verbindung nicht einfach so unterbrechen«, sagte Boris und rieb seine Hände am Mantel. »Du hättest uns beide verletzen können.« »Ich hatte Angst, sie könnten mich sehen …« »Können sie nicht. Es ist, als ob man in eine Camera Obscura schaut. Ich habe nicht versucht, unterhalb der Oberfläche abzutasten; das kann gefährlich sein, und ich halte es nicht für klug, wo du schließlich nicht ausgebildet bist.« »Ich habe die Theorie gelesen.« Boris rollte mit den Augen. »Willst du es noch einmal versuchen?«, fragte er und unternahm nur wenig Anstrengung, seine Verärgerung zu verbergen. Yuste schlang die Arme um sich. »Es tut mir Leid, Boris Andreyevich«, sagte sie. »Ich hatte nicht erwartet, dass es so lebendig sein würde – und so nah.« Boris scharrte mit dem Fuß auf dem Boden, um seinen Zigarrenstumpen unter die Erde zu pflügen. »Ich auch nicht«, sagte er. »Wie meinst du das?« »Es ist, als ob ich Kraft von dir gezehrt hätte. Aber nach dem, was du mir erzählt hast, dürfte das nicht möglich sein.« »Ich habe noch einige wenige Kraftreserven«, sagte Yuste und fuhr mit den Fingern über den Stein, auf dem sie gesessen hatte. Boris zuckte mit den Schultern. »Lass es uns noch mal versuchen«, sagte er. »Aber bitte halt still. Egal, was du siehst. Denk daran, dass es nur Bilder sind.« Yuste nahm wieder auf dem Felsbrocken Platz. Erneut legte ihr Boris die Hände auf das Gesicht. Sie wusste, dass er dieses Mal nervöser war. Sie schloss die Augen und sah noch einmal die Lichtfäden, die von seinen Fingerspitzen aus nach innen reisten. Sie folgte ihnen begierig, als ob sie in einen goldenen Strom getaucht wäre, und wurde in einer tanzenden Welle von sich selbst fortgetragen. Es war so viel leichter dieses Mal; sie ließ los und rutschte in die Dunkelheit, ohne abzuwarten und zu schauen, ob Boris bei ihr war. Und wieder sah sie die Armee der Franj. Es war ihr Anblick, der
sie entsetzte; sie hatte die Brigaden und die Militärparaden in den Straßen von Masalyar gesehen, und diese hatten keineswegs so ausgesehen. Die großen, berittenen Adligen mit Helmen, die wie bauchige, stählerne Kürbisse aussahen; hohe, bemalte Holzsättel, in denen sie saßen; der trübe Schein ihrer Metallrüstungen und das Glänzen ihrer Sporen. Es erschreckte sie, weil es die rohe Wahrheit der mittelalterlichen Armeen zeigte, die sie nur in Büchern abgebildet gesehen hatte. Dies war eine mittelalterliche Armee auf dem Vormarsch; die Schwerter waren glänzend, nicht rostüberzogen, und die langen Lanzen waren zum Töten geschmiedet worden. Erst auf den zweiten Blick erkannte Yuste die Landschaft. Die Armee befand sich auf der gleichen Straße, die sie gestern Nacht genommen hatten. Sie näherte sich ihnen, auch wenn sie nicht wusste, aus wie vielen Meilen Entfernung. Sie würde es Boris überlassen müssen, diese unscharfen Bilder, die sie sah, zu deuten. Sie sah sich um und war erstaunt, dass es den Anschein hatte, als ob er nicht bei ihr wäre. Wieder stürzte sie sich wie ein Aal in das Netz der Nervenbahnen und sank zurück in die Dunkelheit. Sie fühlte sich sicher und selbstbewusst; sie konnte schwimmen, als ob sie im Meer wäre. Sie glitt in die Tiefe, nur halb gewahr, dass jemand ihren Namen rief. Etwas glitzerte unter ihr in der Dunkelheit, und sie wusste, sie musste tiefer, um zu sehen, was es war. Sie war freier als jemals zuvor in ihrem Leben: befreit von ihrem verkrampften Körper mit seinen verstümmelten Fähigkeiten. Dort unten in der Tiefe wartete Gold. Die zwei Seelen tanzten wie Kerzenflammen in der Dunkelheit. Sie waren blind und taub, einfache Strukturen, wie einzellige Tiere, die kaum am Leben waren. Doch jede Seele hatte einen Geist, und der Geist hatte seine eigene Form; sie waren Annat und Malchik. Wenn ein Schamane oder eine Hexe in der Nähe des Abgrundes gestanden hätte, hätten sie gehört, wie die Seelen miteinander flüsterten. Es wäre schwer gewesen, sie auseinander zu halten, ohne Gesichter,
die ihnen Gestalt verliehen; doch jemand, der sie kannte, wäre in der Lage gewesen, sie zu erkennen; ein Schamanengeist hätte sie sogar in verschiedenen Farben wahrgenommen. – Welche Richtung?, fragte Malchiks Seele. Sie hatten kaum ein Gefühl für Richtungen oder Entfernungen, aber die Wärme ihrer Körper, die noch immer am Leben waren, rief nach ihnen. – Diese Richtung, sagte Annats Seele. Sie setzten sich in Bewegung und hüpften durch die Finsternis wie Glühwürmchen. Sie hatten keine Angst, weil die gesamte Umgebung, in der sie sich bewegten, unverwässerte Furcht war. Ihre Körper mochten Entsetzen und Panik verspüren, doch die Seelen waren eine kalte Masse, verloren in einer Umgebung, aus der sie, wie sie wussten, entfliehen mussten. Es war schwierig für sie, in irgendeine Richtung zu gelangen. Doch sie wussten nicht, wie lange es dauern würde, bis die Hexe ihren Verlust entdecken und zurückkehren würde, um sie wieder einzufangen. Aber sie begannen bereits wieder, die Hexe zu vergessen. Die Erinnerungen waren in ihren verlassenen Körpern eingeschrieben. Alles, was sie wussten, war, dass sie nicht frei und allein sein sollten, wo jeder Luftzug sie in silberne Atome zerstreuen konnte. Sie bewegten sich langsam und hielten inne, um vor der harten Felsoberfläche auf und ab zu schweben und dann durch sie hindurchzugleiten, als ob der Stein keine Substanz hätte. Annat war eingeschlossen in einer kleinen, strahlenden Kugel, und alles, was sie sehen konnte, war die Inschrift in allen Dingen. Riesige Buchstaben schwirrten um sie her, während andere, unendlich kleine, sie umkreisten und tanzten wie Staubflocken im Wind. Sie war sich bewusst, dass jemand bei ihr war, der ihr Bruder gewesen war und der ihr nun folgte, und sie spürte die Wärme seines Lichtes. Es gab so viel zu sehen in großer Höhe über ihnen und in den unvorstellbaren Tiefen unter ihnen. Auch wenn sie alle Angst in ihrem Körper zurückgelassen hatte, verstand sie, dass dieser Seinszustand falsch war. Sie sollte nicht hier draußen sein, frei in den unendlichen Kreisen der Worte. Es gab etwas, das sie tun musste.
– Annat. Die Gedanken ihres Bruders durchdrangen ihre weiche Schale. – Wir dürfen nicht vergessen. Uns selbst. Das Abbild ihres Bruders flackerte durch die sternengleichen Nerven ihres körperlosen Geistes. Sie drehte sich – irgendetwas drehte sich –, doch da war nur eine Essenz, ein Strahlen ohne Gestalt. Nun endlich konnte sie ungehindert mit ihm sprechen, Gedanken zu Gedanken. Sie flatterte zu ihm auf der Suche nach Einheit. – Annat. Das Echo seiner Stimme war drängend. – Wir müssen zu unseren Körpern zurückkehren. Enttäuscht flogen Annats Fragmente davon, winzige Partikel, die von Worten zusammengehalten wurden, Fetzen von Dingen, über die sie gesprochen hatten, Teile von Liedern. Hinter ihr – oder über ihr – erinnerte sich Malchik an die Form der Musik. Er dachte an seine Harfe und ihre zitternden Saiten. Sein Körper hatte eine Stimme, und aus der Entfernung beschwor Malchik den Gedanken an ein Lied herauf, seine einzige wirkliche Macht. Fasziniert hielt Annat inne, gefangen in der Musik. Es gab mehr an diesem Ort, der sie umgab, als seine Worte. Sie lauschte, und das Lied gab ihr Gestalt und Umriss, rief sie zurück an den Ort, an den sie gehörte. Es war nicht die menschliche Stimme ihres Bruders, sondern etwas Ätherisches, das sich über die Tiefe erstreckte wie die Saiten einer Harfe. Annat drehte sich in diese Richtung, gefangen von der elementaren Schönheit, und folgte ihr, ließ sich von ihr durch die Dunkelheit ziehen. Nichts bewegte sich, und sie rührte sich nicht, doch sie reiste an der Stelle vorüber, an der die hölzerne Kiste der Hexe zerborsten war. Irgendwo existierte Zeit, und dort lag ihr Körper und atmete in einem tiefen, geistlosen Schlaf. Annat erinnerte sich an ihr Äußeres und an die Freuden ihrer Gestalt, und sie fragte sich, wo ihr Körper sein mochte. Ein Lied vermischte sich mit Malchiks Stimme. Der Klang kam aus dem Inneren eines sterblichen Körpers, doch er sang für Annats Geist. Er sang sie ins Leben zurück, erweckte ihren geistlosen Körper aus seiner Trance und führte ihn ans Feuer. Annat wusste, sie
musste nach dem Feuer suchen. Sie fühlte Malchik neben sich. Annat lief allein durch einen Wald. Die Bäume schimmerten in einer Farbe zwischen Grün und Silber; es waren die Nordbäume, an die sie sich aus dem Wald von Ademar erinnerte. Vereinzelt standen Birken zwischen ihnen, mit dünnen Blättern, ihre Stämme in eine weiße Haut gehüllt. Annat lief langsam und suchte sich ihren Weg zwischen den Bäumen. Von Zeit zu Zeit blitzte das Rot eines Lagerfeuers auf und machte die Luft um sie herum dunkel. Es war kalt, und Nebel hing in der Luft, doch sie konnte den Rauch riechen. Ihre einzigen Empfindungen rührten von ihrem Augensinn und ihrem Gehör her, und das Geräusch war ein Nachhall. Annat blieb stehen und wartete darauf, dass es wiederkam. Ein lang gezogener Schrei. Es war ein scharfer Laut, weit entfernt und unmenschlich. Der Ruf eines Wolfes. Annat fürchtete sich nicht. Sie wartete, zählte die Sekunden, bis ein kleiner Körper zwischen den Baumstämmen hervorglitt und ihr gegenüberstand. Er hob die Schnauze und stieß ein seltsames, gespenstisches Heulen aus. Annat hockte sich nieder und streckte ihre Hand aus, wie sie es wohl bei einem Hund getan hätte. Doch dies war kein Hund, der aufgezogen worden war, um unter Menschen zu leben. Er wusste nicht, was sie war. Er war nicht wie die Wölfe in den Büchern; sein Fell war ein Farbmischmasch, etwas rauchgrau und dunkel, dann wieder hell und fahl. Seine Augen waren schwarz gerändert, doch die Iris schimmerte gelb. »Likan«, sagte Annat. Der Wolf näherte sich und senkte unterwürfig den Kopf. Annat wartete, bis er nah genug war, dass sie seine Schnauze berühren konnte. Sie blickte ihm in die Augen und spürte, wie sich etwas in ihr regte. Der Wolf bewegte sich nicht. Sie starrten einander an, und Annat fühlte, wie seine Wildheit sie durchdrang und wie ein wenig von ihr in den Wolf überging. Von nun an würde der Wolf einen menschlichen Namen tragen, er würde Likan heißen. Seine rote Zunge fuhr heraus, um ihr die Hand zu lecken. Er war nicht ihr Hund, und er würde ihr nie gehören, doch er war ihr Wolf, und sie war sein Mädchen. Sie wusste nicht, wie sie ihn gefunden oder wer sie zusammen-
geführt hatte. Eine Stimme sprach in ihrem Ohr. Es war eine alte, müde Stimme, die sagte: »Nun bist du eine wirkliche Schamanin. Nun kannst du dich selbst eine Schamanin nennen.« Annat richtete sich auf und wandte sich um, doch hinter ihr war niemand. Als sie zurückblickte, war der Wolf verschwunden. Sie stand allein dort, zwischen den Birken, und fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Wieder zeigte sich der rote Schein des Lagerfeuers zwischen den Bäumen, weiter den Hügel hinab. Sie musste ins Lager zurückkehren. Sie setzte sich in Bewegung, langsam, und wirbelte mit ihren bloßen Füßen die Piniennadeln auf dem Boden auf. Sie hatten sich drei Pferde bei einem Gasthof besorgt, der einige Häuser von dem ihren entfernt war. Als sich Huldis in den Sattel schwang, bemerkte sie, wie Semyon sich abmühte, seinen Klepper zu besteigen, und musste in sich hineinlächeln. Es war ihr nicht verborgen geblieben, dass er seinen Bart gestutzt und seine schmutzige Mönchskutte gegen eine leuchtend bedruckte Tunika und die Hose eines Höflings aus Sklava eingetauscht hatte, alles mit Goldlitze und Fell besetzt; er trug einen Hut aus rotem und goldenem Brokatstoff, vorwitzig geschmückt mit einem dicken Saum aus dunklem Nerz. Auch verkannte sie nicht den Grund für diese Verwandlung; statt sie weiterhin nur anzuschmachten, bewies der Magus nun den Mut, seine Eitelkeit zu offenbaren und sie zu umwerben. Huldis konnte nicht umhin, etwas weniger kühl und abgestoßen ihm gegenüber zu empfinden. Als er erstmal im Sattel saß, gelang es ihm, sein Pferd dazu zu bewegen, an ihrer Seite zu laufen. Keiner von ihnen wollte Sarl begleiten, der ein großes Streitross ritt, welches seiner eigenen Größe angemessen war, und der ihren Gefangenen wie einen Sack Kartoffeln über den Sattelbogen geworfen hatte. Semyon hatte ihr geschwollenes Auge behandelt und einen Heilzauber für ihre Nase gesprochen. Huldis war ihm dafür dankbar, wenn auch nur, weil er ihr die Dienste ihres Bruders ersparte.
Endlich hier im Sattel war sie von der Illusion der Freiheit erfasst worden. Sie hatten eine robuste Stute für sie erstanden, ein Gaul im mittleren Alter mit strahlenden Augen und glänzendem Fell. Huldis war aus ihrer kindlichen Liebe für Pferde nie wirklich herausgewachsen, und auch wenn dies hier nicht mit der Auswahl an prächtigen Reittieren zu vergleichen war, die ihr in der Burg zur Verfügung stand, genoss sie es noch viel mehr, mit einem guten, schlichten Pferd Freundschaft zu schließen. Semyon ritt einen jungen Wallach, der lammfromm genug und dafür ausgebildet zu sein schien, einen unerfahrenen Reiter ohne Murren zu tragen. Huldis musste sich um ihren Bruder keine Gedanken machen; er war ein erfahrener Reiter und liebte Pferde ebenso wie andere Tiere, mehr, als er sich um Menschen zu scheren schien. Sie hatte sehr genau darauf geachtet, ihren Bruder nicht länger als ein paar Minuten mit ihrem Gefangenen alleine zu lassen. Eine klammernde, eisige Furcht unter ihrem Herzen erinnerte sie daran, dass Sarl die Gewalt nicht vergessen hatte, die Vasilyevich gegen sie angewendet hatte. Sie hätte dem Schamanen gerne ihre Gedanken gesendet, doch sie traute sich nicht, das Risiko einzugehen, ihre schützende Mauer einzureißen, die ihre Mächte vor dem Magus und ihrem Bruder verbarg. Ihr einziger Trost war, dass der Spruch, mit dem Semyon Vasilyevich belegt hatte, ihn offenbar bewusstlos gemacht hatte; obgleich er mit Sicherheit am Leben war, hatte er sich wie eine Lumpenpuppe über den Hals des Pferdes werfen lassen. Ihre Reise sollte dem Fluss Krön in östlicher Richtung von Yonar folgen bis zu seiner Quelle im Lepas-Gebirge und dort in das Gebiet der Sklav führen. Der Gläserne Berg selbst lag im Südosten in den Vorläufern der Großen Steppe oder der Puszta, wie Semyon zufolge die Einheimischen sie nannten. Es war ein langer Ritt, und sie wusste, dass der Magus seine gesamte freie Zeit damit verbrachte, die Inhalte seines Koffers zu durchwühlen, um einen Spruch ausfindig zu machen, der ihre Reise beschleunigen könnte. Wenn sie nicht bei jedem Halt frische Pferde kaufen wollten, konnten sie nicht viel
mehr als hundert Meilen am Tag zurücklegen. Ihre Reittiere mussten gefüttert und getränkt werden und sich vor allem ausruhen, wenn sie vorhatten, den größten Teil der Strecke im Galopp zurückzulegen. Huldis wusste, wie sehr auch immer ihr Bruder sich beeilen musste, er würde niemals ein Pferd zu Tode reiten. Ein Ritter und sein Reittier waren eine Einheit; Schlimmes stand dem Diener bevor, der sich nicht sorgfältig genug um das Pferd des Herrn kümmerte. Bei diesem Ritt hatten sie keine Bediensteten dabei. Sie mussten sich selbst waschen und anziehen und für ihre eigenen Tiere sorgen. Für sie war das keine Last; es hatte nur wenig Personal in der Burg gegeben, das sich um sie kümmerte, und nach dem Verlust Audes hatte sie es nicht über sich bringen können, sich eine neue Kammerdienerin zu suchen; genauso war es ihr mit den Pferden gegangen: Sie war nie damit zufrieden gewesen, ihre Pferde nach einem Tagesritt in die Hände eines Stallknechtes zu geben. Sie und Aude waren oft von der Kinderfrau gescholten worden, wenn sie vom Stall zurückkehrten und Schlamm an den Schuhen und Stroh auf ihren Kleidern hatten und ›weithin für alle erkennbar wie ein säuberungsbedürftiger Stall‹ rochen. Huldis lächelte in sich hinein. Niemand außer dem Kindermädchen hatte jemals in ihrer Gegenwart solche Worte verwendet; die Frau sprach wie in einem alten, romanzenhaften Prosabüchlein. »Du lächelst, meine Dame«, sagte Semyon. Sie folgten einem steinigen Weg, der angeblich in östliche Richtung aus Yonar führte. Es ging einen steilen Pfad hoch, den ersten von vielen weiteren, die sie besteigen mussten, bevor sie die Berge erreicht haben würden. Der Fluss Krön schlängelte sich zu ihrer Linken außer Sicht; hier waren sie allein zwischen den Felsen und dem Gestrüpp, mit den ersten misstrauischen Blumen, die sich zwischen den Steinen zeigten. »Es ist ein schöner Frühlingstag, Mon Seigneur«, erwiderte Huldis, die in der Kunst, höfliche Belanglosigkeiten auszutauschen, geübt war. Semyon blickte nach oben, wo ein Bussard auf einem unsichtbaren Aufwind trieb, und zog eine Grimasse.
»Schön für dich, meine Dame, aber nicht für mich. Ich sehne mich danach, in mein Land zurückzukehren, anstatt hier durch diese Wildnis zu ziehen.« Huldis blickte nach vorne zu der großen Gestalt ihres Bruders, der sich bereits höher auf dem Berg befand und kerzengerade in seinem Sattel saß. Da Vasilyevich ohnmächtig war, musste sie lernen, auf ihre eigene Schläue zu vertrauen. Sie wusste, dass der Magus ihren Bruder nicht mochte; tatsächlich schien er ihn zu verabscheuen. »Du bist nicht mit der Liebe zu dem unerschlossenen Land aufgewachsen wie wir«, sagte sie. Semyon knurrte. »Ich habe ein Anwesen auf dem Land«, sagte er. »Ein Fluss führt an ihm vorbei, und es gibt viele Birken. Ein angenehmer Ort, ihm fehlt nur eines: eine Herrin, die darüber gebietet.« Huldis fiel beinahe vom Pferd. Semyon hatte ihr gerade so etwas wie einen Heiratsantrag gemacht! Sie dachte daran, wie zornig ihr Vater wäre, wenn er wüsste, dass ein Zauberer niederer Herkunft seine einzige Tochter umwarb – oder jedenfalls die einzige Tochter, die er anerkannte. »Es muss viele Mädchen von großer Schönheit am Hofe des Staryetz geben«, sagte sie. Semyon starrte blicklos vor sich hin. »Keine, die schöner ist als die Staryetzna selbst«, sagte er. »Ihre Haut ist wie reines Elfenbein, das kein Messer je berührte, ihre Augen sind wie Schwarzdorn, und nicht einmal die Perlen an ihrem Kopfschmuck strahlen mehr als sie. Meine Dame, du würdest mir nicht glauben, wenn ich dir von dem Strahlen des imperialen Palastes berichten würde: von den Umhängen aus goldenem Brokat, der Seide und der Tussahseide; von den Boyaren, die mit langen Fellumhängen gekleidet sind, mit Bärten, in denen man einen Schwarm von Zaunkönigen verbergen könnte; von den gut aussehenden Wachen der persönlichen Leibgarde des Staryetz. Und der alte Mann selbst ist ein schmutziger Bauer, der sich kaum dazu herablässt, sich selbst die Nase oder den Arsch abzuwischen.« Huldis schnappte nach Luft. Sie hatte Semyon niemals etwas an-
deres als ein Loblied auf seinen Herrn singen hören. »Es tut mir Leid … Ich habe dich schockiert«, sagte der Magus. »Glaube mir, der alte Mann hat mehr Verstand und Macht als alle Köpfe unter der Tiara oder einer juwelenbesetzten Krone auf dem ganzen Kontinent Yevropa zusammen. Die meisten sind seine Vasallen geworden. Die meisten knien vor seinem Thron und trauen sich nicht, die Nase zu rümpfen wegen des Gestanks, der von ihrem uneingeschränkten Herrscher ausgeht. Sein Reich erstreckt sich von Yevropa im Westen über den ganzen Erdball zum großen Meer, das die Welt begrenzt – wie sie sagen. Und doch wurde er in den Zelten der Halekkai mit Stutenmilch aufgezogen. Man erzählt sich, er habe dem alten Staryetz die Kehle durchgeschnitten und sein Blut getrunken.« »Bist du glücklich damit, einem solchen Herrn zu dienen?«, fragte Huldis und streckte den Arm aus, um den Nacken ihres Pferdes zu klopfen. »Glücklich?« Semyon blickte sie unvermittelt an, als ob er sie noch nie zuvor gesehen hätte. »Wen kümmert es, ob ich glücklich bin? Ich bin ein mächtiger Magus, und ich diene dem Herrscher über die Welt.« Doch es klang, als ob er eine Lektion wiederholte, die ihm eingebläut worden war. »Ich habe mich oft gefragt, warum er dich hergeschickt hat, nach Franj, an den Hof meines Vaters«, sagte sie. »Mein Vater war ein alter und vergessener Seigneur, der mit seiner Trauer zu Bett ging. Und der Staryetz schickt ihm den mächtigsten Magus seines Hofes, um ihm Beistand zu leisten.« Semyon seufzte. Er trug Samthandschuhe und über ihnen einen Siegelring, in den eine Kamee eingelassen war. Er betrachtete ihn, bevor er ihr antwortete. »Da wir offen sprechen, werde ich dir, meine Dame, verraten, dass mein Herr plant, Franj und das gesamte alte Neustria zu annektieren. Dein Vater wird die Länder für ihn zurückerobern und vielleicht als ihr König ausgerufen werden. Du wirst dich selbst auf dem Thron in Priyar wiederfinden, als Erbin, die mit einem der größten Königreiche des Westens verbunden wur-
de.« Huldis lachte. »Mein Vater, König von Franj und Neustria? Er mag solche Träume haben, aber er ist am besten in seinen eigenen Ländern aufgehoben, unter seinem eigenen Volk. Er ist kein mächtiger Herrscher.« »Was glaubst du, meine Dame, warum er nach Masalyar marschiert? Und warum ich deinen Bruder von den Toten zurückgeholt habe? Sarl ist derjenige, der herrschen wird, im Namen deines Vaters. Der Staryetz kann mit so einem Mann Geschäfte machen.« Huldis starrte ihn an. Mit seinem gekürzten Haar und dem gestutzten Bart hatte Semyon enthüllt, was er war: ein junger Mann, ein Emporkömmling, der über große Macht gebot und sie in einem Spiel um Staatsangelegenheiten einsetzte, die seine Fähigkeiten überstiegen. Er hatte verstanden, und was er verstanden hatte, war, welche Figur er in diesem Schachspiel war; ein Bauer, der leicht geopfert werden konnte. »Aber du musst ihn aufhalten!«, sagte sie. Es war an Semyon zu lachen, freudlos jedoch. »Meine Dame, ich empfange Befehle. Ich gebe sie nicht. Wer bin ich, die Pläne von Prinzen durcheinander zu bringen?« »Ich kann das nicht verstehen. Du hast solche Macht; du selbst könntest der Herrscher über Neustria sein – sogar der Herrscher der Welt. Fürchtet dich der Staryetz nicht?« »Einst war ich nicht mehr als ein Dorfschamane. Dann wurde ich ein Schüler von Kaschai, der der Unsterbliche genannt wird, und er führte mich in die Geheimnisse und die Magie ein. Aber ich bin nicht mehr als das, was du siehst, meine Dame. Wenn ich dich in mein Bett hätte befehlen können, hätte ich es getan. Auch wenn ich mehr heraufbeschwören kann als die hübschen Illusionen der meisten Magier und mächtige Sprüche zu zaubern vermag, so sind es doch nur einige wenige. Ansonsten hätte ich einen mächtigen Wind vom Himmel herunterbeschworen und uns alle bereits zurück zum Berg befördert.« Auch wenn dieses Wissen Huldis etwas Trost spendete, merkte sie,
dass er ihr Leid tat. Sie erinnerte sich selbst daran, dass er ihr gerade seinen eigenen Plan gestanden hatte, sie zu verführen. Doch er war ihr einziger Begleiter, und wenigstens schien er menschlich, im Gegensatz zu dem Abklatsch ihres Bruders, der vor ihnen ritt. »Dann stimmst du darin überein, dass mein Bruder der König von Neustria sein sollte?«, fragte sie. »Er wird nicht so bleiben, wie er jetzt ist. Wenn wir erstmal den Spruch zu Ende gebracht haben, wird er wieder ein lebender Mann sein. Unsterblich und unverletzlich.« »Es ist der Preis, der mir Sorgen bereitet, Magus. Der Preis für uns alle«, sagte Huldis, und sie trieb ihre Stute zu einem Kanter an, um so Semyon hinter sich zurückzulassen und ihren Bruder auf dem schmalen Pfad zu überholen. Semyon sah ihr zu, wie sie davonritt, ihr Schleier und ihr silberblondes Haar tanzten hinter ihr im Wind. Sie hatte eine Weisheit an den Tag gelegt, die weit über ihr Alter hinausging, und er hatte sein Wissen wie ein liebeskranker Jüngling ausgeplaudert. Sie schien noch weiter von ihm entfernt als zuvor. Er hatte die Hoffnung aufgegeben, sie zu beherrschen oder sie nach seinem Willen zu formen wie ein Dienstmädchen. Ihr Gesicht und ihr Körper mochten lieblich sein, doch sie hatte einen kühlen Geist bewiesen und einen Willen, der scharf wie eine Klinge war. Er wollte sie haben, und seine einzige Befriedigung würde es sein, sie zu seiner Frau zu machen, wobei sie ihn aus freiem Willen aus allen anderen Männern erwählen müsste. Er kaute auf der Lippe. Dies beruhigte nicht das Ziehen in seinen Lenden bei ihrem Anblick, wie sie unzüchtig rittlings auf dem Pferd saß, als ob sie ein Mann wäre – oder eine Göttin. Seine Schwierigkeiten schienen sich zu vergrößern. Da waren nicht nur der Erbe von Ademar selbst, der Semyon aus tiefstem Herzen zu verabscheuen schien, und der Doyen, der ihn eher zu verachten schien; nun war da auch noch der seltsame Gefangene, der unter
Semyons Spruch ohnmächtig geworden war, mit seiner goldenen Macht. Nicht alles Herumkramen Semyons in den Tiefen seines Koffers hatte dazu dienen sollen, eine Lösung für ihre Reisepläne zu finden; er hatte ebenfalls die verborgenen Worte durchsucht, die eingeschlossenen Texte, um einen Hinweis darauf zu bekommen, woher solche Macht stammen mochte. Er hatte viele Schamanen getroffen, und jeder hatte seine – oder ihre – Signatur: Einige waren silberblau, einige karmesinrot, einige hatten ein tiefes Glühen wie Eisen in einem Schmelzofen; andere waren von den Jahren des Bösen fleckig und beschmutzt. Dieser Mann hatte Huldis mit grausamer Leichtigkeit niedergeschlagen, doch es gab keine Spur einer Verschmutzung, die jener glich, die seine eigene Signatur besudelte – wie Semyon wusste. Vor ihnen warf Sarl einen brennend roten Schatten, die Farbe der Hölle. Und Huldis ritt in der wirklichen Welt, die Luft bewegte sich um ihren schlanken Körper und die kräftigen Bewegungen ihres Reittieres, ohne dass die Spur eines schamanischen Funkens zu erkennen war. Im Koffer konnte Semyon über Büchern brüten, die selbst die ältesten der Weisen vergessen hatten; er konnte die gespenstischen Seiten von lange verbrannten Grimoires umblättern und die Spruchrollen der Weisen ausbreiten, obgleich er oft nicht lesen konnte, was sie geschrieben hatten. Doch diese Welt hatte ihre Grenzen wie alle anderen, und nirgendwo konnte er einen Text finden, der eine Macht mit dem Schein klaren Honigs, irgendwo zwischen Bernstein und reinem Gold, behandelte. Er wusste, dass er seine Überraschung darüber, dass sein eigener Spruch den Schamanen auch nur hatte anrühren können, nicht zugeben durfte. Das könnte Konsequenzen haben, die er nicht voraussehen konnte: Seine Macht war in der Schmiede von Kaschai geschliffen worden, und er nutzte die Mächte, die in einer ledernen Tasche aufbewahrt wurden, doch er hatte sich mit etwas eingelassen, dessen Ausmaß er nicht kannte; eine Praktik, vor der alle Meister warnten. Semyons Züge nahmen einen grimmigen Ausdruck an. Dies war nicht die erste Lektion in Demut, die dieses Unternehmen ihn lehr-
te, überlegte er; er war voller Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen und Verachtung nach Neustria gekommen. Nach und nach waren sie von ihm fortgerissen worden, sodass er selbst nun wieder wusste, was er war: ein Novize, den der Staryetz zu diesem Schlachtergang geschickt hatte, denn wenn er versagte, wäre er entbehrlich. Und niemand würde sein Ableben betrauern, er hatte sich viele Feinde am Hof gemacht in seiner kurzen Zeit hier. Kaschai war kein Verbündeter; der große Zauberer lebte allein und hatte keine Freunde. Es hatte den Anschein, dass zweierlei zur Auswahl stand: Er könnte entweder davonrennen und darauf hoffen, irgendwo in der Welt einen Ort zu finden, wo die Rache seines Herrn ihn nicht erreichte; oder er konnte sein Bestes tun, um die Aufgabe, die ihm auferlegt worden war, erfolgreich zu beenden, den Erben ins Leben zurückzuholen und zu hoffen, irgendeine Belohnung dafür zu ergattern – oder wenigstens mit heiler Haut davonzukommen. Keine der Aussichten erfüllte ihn mit Freude oder Hoffnung; er verlor allmählich sein anfängliches Vergnügen an der Macht. Sarl blickte zu ihm zurück, als ob er nahe genug wäre, um seine Gedanken zu hören. Der Magus hob die Hand zu einem Winken und zwang sein Gesicht, eine Spalte zu öffnen. Er hoffte, dass man es fälschlicherweise für ein Lächeln halten könnte. Wenn es doch nur eine Möglichkeit gäbe, den Reiter und sein Pferd mit einem Spruch in den Abgrund zu befördern. Er könnte einen schnellen Blitz herabbeschwören und danach völlig frei sein! Doch dann wäre nicht nur der Staryetz hinter ihm her, sondern auch der Doyen, und er hatte gesehen, wie tief der Rachedurst des Herrn ging und wie lange dieser ihn hegen konnte. Goldene Macht! Seine Gedanken kehrten zu diesem Punkt zurück. Er musste es rasch begreifen, denn sonst hätte er, wenn die Wirkung des Spruches nachließe, einen weiteren Feind, mit dem er sich abgeben müsste. Wenigstens hatte er in diesem Punkt Sarl auf seiner Seite. Doch er traute sich nicht, seine Unwissenheit dem Erben gegenüber einzugestehen; er war bereits zu sehr in der Hand dieses neuen, unerwünschten Herrn. Er drängte sein Pferd, ein we-
nig rascher zu laufen, obgleich er sich davor fürchtete, auf diesem gefahrvollen Weg zu schnell zu werden; einige Schritte nach links würden ihn über den Rand treiben und in den Tod stürzen. Er schloss seine Augen und ließ dem Pferd die Zügel schießen, denn er vertraute dessen Sinnen so weit, dass es ihn sicher diesen Pass emportragen würde. Zu glauben, dass dies einfache Hügel wären und dass die wahren Berge vor ihnen lagen! Fast beneidete er den bewusstlosen Gefangenen, der ohne Zweifel in glücklichen Träumen lag, während andere der Gefahr ins Auge sahen und für ihn die Entscheidungen trafen. Yuda war ohnmächtig, doch das kümmerte ihn nicht sehr. Der Spruch hatte zwar seinen Körper und die Mächte betäubt, die seinem bewussten Geist unterstanden, doch die Gedanken darunter konnten frei umherstreifen und sich einen Weg durch die Träume bahnen wie ein kleines Boot auf einem wilden Strom. Es blieb keine Zeit, sich darum zu sorgen, was Sarl mit ihm vorhatte; er war sich ziemlich sicher, dass Huldis für seine Unversehrtheit sorgen würde, und auch Semyon würde zweifellos wollen, dass sein Gefangener heil und ganz blieb. Yuda versuchte nicht, den Spruch zu bekämpfen, der ihn band. Anfangs hatte er etwas Zeit darauf verwendet, ihn zu untersuchen, und er hatte herausgefunden, dass er in dem Koffer wurzelte, den der Magus auf sein Pferd gebunden hatte. Eine ganze Welt in einem Koffer! Yuda hätte gerne einen Weg ins Innere gefunden und es erkundet, doch er wollte seine Gedanken nicht zu weit von seinem Körper entfernen. Stattdessen entspannte er sich und lauschte dem Gesang der Wölfe. Es erstaunte ihn nicht, dass es so nahe bei den Bergen Wölfe gab. Sicher gab es Wälder auf den niederen Ausläufern, und die Wölfe würden dort jagen. Es gab keinen Grund, sie zu fürchten, es sei denn, es herrschte ein harter Winter wie jener der Großen Kälte. Dann würden die Wölfe auch menschliche Beute jagen. Er ließ seinen Geist schweifen, bis er bei dem Wolfsrudel hängen blieb. Sie
rannten, sie jagten gemeinsam, hatten ihre weißen Winterpelze abgeworfen und waren wie Schatten, die zwischen den Bäumen umherhuschten. Yuda fing den scharfen Geruch der Wölfe im Wind auf. Er hielt inne und ließ sie vor ihm fliehen. Er kauerte sich zwischen die schimmeligen Blätter, wo ihn niemand sehen konnte. Er war nackt und weniger stofflich als ein Gedanke, und er fühlte, wie der Nebel aus den Höhlen aufstieg. Etwas war hinter ihm. Er drehte sich zu spät um, und ein Körper warf ihn zu Boden, die Klauen rissen an seiner Brust und an seinem Gesicht. Er schrie und der Wolf schrie zurück. Sein Speichel tropfte ihm ins Gesicht. Er lag still und wartete darauf, dass er seine Kehle durchbeißen würde, doch der Wolf stand breitbeinig über ihm und stieß einen Atem aus, der nach totem Fleisch stank. Er war schwarz. Yuda starrte zu ihm empor. Er erschien ihm größer als die anderen Wölfe. Sein Fell war wie sein eigenes Haar, kohlefarben, was ungewöhnlich bei Wölfen war – und bei Menschen auch. Er setzte sich auf und versuchte, sich wegzudrehen. Blut rann sein Handgelenk hinab. Die Klauen des Wolfes hatten ihn gekratzt, doch die Risse waren nicht viel tiefer als die Wunden, die eine Katze mit ihren Krallen anrichten würde. Er starrte hinauf zu seiner schmalen Schnauze, und sein bernsteinfarbener Blick sog ihn auf. Ein Gefühl des Wahnsinns und des Selbstverlustes ergriff ihn. Der Wolf würde ihn nicht töten, doch er hatte ihn einverleibt. Er hatte seine Eingeweide herausgerissen und mit seinen eigenen verwoben. Yuda legte den Kopf zurück und schrie wieder, und dann lachte er, als der Wolf seine Schnauze zu einem langen Heulen hob.
Kapitel 11
Y
uste stellte keine Fragen über den Ort, an dem sie sich selbst wiederfand. Sie akzeptierte ihn, so wie sie auch einen Traum hinnehmen würde. Sie war sich nicht bewusst, wie seltsam er war, und auch nicht, dass sie Momente zuvor noch Boris beim Abtasten geholfen hatte. Sie dachte auch nicht darüber nach, ob sie vielleicht in Gefahr schwebte. Sie befand sich im Zwielicht in einem Wald, doch sie wusste nicht, ob es Abendanbruch oder Morgendämmerung war. Es lag ein eisiger Hauch in der Luft, der sie an den Herbst oder den zeitigen Frühling erinnerte. Um sie herum standen hohe, schattige Pinien, die bis in den Himmel hinaufreichten, der nicht zu sehen war. Zwischen ihnen verstreut wuchsen schlanke Birken, die in der Dunkelheit schwach zu glühen schienen. Gerade im entferntesten Winkel ihres Sichtfeldes, sodass es sich zu bewegen schien, wenn sie den Kopf wandte, brannte ein kleines Feuer zwischen den Bäumen. Sie konnte den Rauch riechen. Yuste bewegte sich in Richtung des Feuers und blieb stehen, denn ein Schauer lief ihr über den Rücken. Überall um sie herum, nah und fern, heulten die Wölfe. Ihre klagenden Stimmen schienen widerzuhallen und sich gegenseitig zu antworten. Yuste wusste nicht viel über Wölfe, außer, dass sie wild und scheu waren und sich von den menschlichen Siedlungen fern hielten. Sie hatte gehört, dass sie in den tiefen, nördlichen Wäldern hausten, wo es große Mengen Wild gab und wenig Menschen. Sie ging zum Feuer hinüber und bemerkte leicht überrascht, dass sie nackt war, von ihren einengenden Kleidern befreit, ohne große Sorge wegen der Kälte. Das Feuer lockte sie näher, weil sie wusste, sie würde dort jemanden treffen, nicht, weil sie seine Wärme brauchte. Ihr Weg führte sie auf eine kleine Lichtung, wo die silbernen Birken dicht wuchsen wie ein Wald aus magischen Ruten. Yuste
schlüpfte schattengleich zwischen sie, und ihre nackten Füße machten kein Geräusch auf dem weichen Boden. Sie fragte sich, ob es sich so anfühlte, wenn man ein Wolf auf Jagd war, der sich durch den Wald bewegte. Er würde einen viel ausgeprägteren Geruchssinn haben, und seine Augen würden keine Farben sehen, nur Silber und Grau. Sie schloss die Augen und sog die Nachtluft ein, und die Gerüche schienen weitaus lebendiger, als sie es erwartet hatte. Ein Hirsch hatte diesen Weg gekreuzt und seine leichte Spur in den modernden Blättern hinterlassen. Jemand rief ihren Namen. Yuste öffnete die Augen. Ihr Bruder stand auf der anderen Seite der Lichtung gegen einen Baum gelehnt und betrachtete sie. Yuste ging näher, doch sie fühlte sich seltsam befangen, nicht, weil sie beide nackt waren, sondern weil ihr nun bewusst wurde, welch ein seltsames Zusammentreffen dies war. Sie konnte Yudas Augen unter dem Schatten seines Haars glänzen sehen. In dem gedämpften Licht sah er viel jünger aus, als er tatsächlich war. Yuste verschränkte die Arme vor der Brust, mehr aus einem Gefühl der Verletzlichkeit heraus als aus Züchtigkeit. »Hast du den Wolf gesehen?«, fragte Yuda, als sie nahe bei ihm war. Schwarzes Blut klebte auf seinem Gesicht, seiner Brust und den Armen. »Du bist verletzt«, sagte Yuste, streckte den Arm aus, um ihn zu berühren, zog dann jedoch die Hand wieder zurück. »Nein. Nicht schlimm.« Er veränderte seine Haltung und verschränkte ebenfalls die Arme, als ob er sie nachahmen würde. »Ich weiß nicht, ob ich hier sein sollte«, sagte Yuste und schlug die Augen nieder, um auf den Boden zwischen ihnen zu starren. »Warum nicht?« »Ich glaube nicht, dass ich hierher gehöre.« Yuda beugte sich vor, sodass sich ihre Gesichter beinahe berührten. »Sieh mich an«, sagte er. Yuste hob den Blick und sah, dass er sie anlächelte. »Es ist alles in Ordnung«, sagte er. »Ich werde dich
nicht fressen.« Yuste versuchte, sein Lächeln zu erwidern. »Wir sind so verschiedenen Pfaden gefolgt, Yudeleh«, sagte sie. »Wir sind nun Mann und Frau, und ich bin nicht einmal eine Schamanin.« Yuda lehnte sich wieder an den Baum und betrachtete sie. Sie konnte nicht sagen, was er dachte. »Gib mir deine Hand«, sagte er schließlich. »Meine Hand?« Yuste streckte sie aus, hätte sie jedoch beinahe wieder zurückgezogen, als Yuda sie mit seinen kalten, starken Fingern umschloss. Er schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. »Du möchtest mich nicht einmal berühren«, sagte er. »Ich weiß nicht, Yuda. Du hast mir alles – einfach alles – genommen. Ich bin eine Hülse, eine Schale.« »Das habe ich auch immer gedacht«, sagte er. »Aber die Macht ist immer noch da. Das muss so sein, sonst könnten wir uns nicht mithilfe des Sendens verständigen. Du könntest nicht hier sein, bei den Wölfen.« »Was meinst du?« »Du bist eine Schamanin. Und von nun an wirst du eine wirkliche Schamanin sein. Erinnerst du dich an Sarl und seine Krähen? Er kannte das Geheimnis die ganze Zeit.« »Ich verstehe«, sagte Yuste, zog ihre Hand aus seiner Umklammerung und wandte sich ab. Yuda umfasste ihre schmalen Schultern und drehte sie um, sodass sie ihn ansehen musste. Er hielt sie auf Entfernung und betrachtete ihr Gesicht mit nachdenklicher Zuneigung. »Ich habe nie gewusst, dass ich dich heilen könnte«, sagte er. »Ich habe es nicht in Betracht gezogen. Aber die Macht war hier in meinem Inneren, seitdem ich aus La Souterraine zurückgekommen bin. Ich kann sie mit dir teilen.« »Selbst wenn du das kannst – wenn du das könntest –, warum sollte ich das wollen? Ich weiß, wer ich bin, Yuda, und brauche nicht mehr. Ich will es nicht.« »Schwöre, und ich werde dich gehen lassen. Du hast die Wahl.
Aber du kannst jetzt nicht fortgehen und mich weiter dafür verantwortlich machen, dass ich dein Leben zerstört habe. Wenn ich weiß, dass es dich glücklich macht, werde ich dich in Ruhe lassen.« Yuste spürte, dass sie weinte. Sie schlug die Hand vors Gesicht und wischte die Tränen fort. »Du hast mich weit zurückgelassen, Yuda, schon vor langer Zeit. Was immer du tust, das kannst du nicht ändern. Du hast Aude mir vorgezogen, und dann hast du uns beide verlassen.« »Du irrst dich so sehr«, sagte Yuda und entspannte seinen Griff. »Ich habe dich niemals verlassen. Aber du bist meine Schwester.« Er lachte schmerzerfüllt auf. »Wir konnten nicht bleiben, wie wir waren, aneinander klebend wie geschlechtslose Kinder.« »Ich habe sie auch geliebt«, sagte Yuste. »Deswegen haben wir gekämpft. Ich hatte es vergessen.« Yuste ließ sich auf den Boden sinken und legte die Arme um die angezogenen Knie. »Wie du siehst, bin ich noch immer verbittert«, sagte sie. »Eine sauertöpfische alte Jungfer.« Yuda kniete sich neben sie. »Ich habe dich nie so gesehen«, sagte er. »Ich weiß, dass du zornig bist. Aber es war immer saubere, scharfe Wut, keine Bitterkeit.« Sie sah ihn an. »Ich weiß, dass ich dich beneide«, sagte sie. »Du warst immer stärker als ich. Ich kann so viel von dir in Annat sehen.« »Und du kannst es nicht ertragen, die Zweitbeste zu sein, also willst du lieber gar nichts haben?« »Das habe ich nicht gesagt.« »Ich glaube, dir wäre alles lieber, als in meiner Schuld zu stehen.« Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, und sie sahen einander nicht an. Yuste fiel auf, dass die Wölfe die Lichtung umkreisten und zwischen den Bäumen streunten. Einen Augenblick lang vergaß sie den Streit und betrachtete das trübe Licht, welches Muster auf den grauen Pelz der Tiere malte. Sie stützte sich auf Hände und Knie, bewegte sich von Yuda fort und kroch zum Saum der Lichtung. Sofort wogte das Wolfsrudel um sie herum, beschnüffelte sie
und leckte sie mit ihren rauen Zungen. Es waren Wölfinnen, einige waren trächtig, andere hatten schlanke Flanken, es waren alte und junge gleichermaßen. Yuste berührte sie und spürte das drahtige Haar ihrer Rücken und das weiche Fell an ihren Kehlen. Sie lachte und wurde fast erdrückt von dem lebendigen Mantel aus warmen Pelzen. Die Wölfinnen schienen sie für eine der ihren zu halten, denn von Zeit zu Zeit biss sie die eine oder andere mit ihren kräftigen Zähnen, ohne jedoch Blut zu ziehen. »Yuda!«, rief sie. »Komm und sieh dir das an!« Yuda kam aus dem Schutz der Bäume hervor. Er bewegte sich mit der gleichen Anmut und Selbstbeherrschung wie ein Wolf. Yuste saß still und beobachtete ihn, ihre Arme waren voller stöbernder, sich windender, fellbedeckter Körper. Sie erinnerte sich an eine Zeit, als auch sie etwas von diesem äußersten Vertrauen gehabt hatte. Sie war eine wilde Kreatur gewesen, elementar, erfüllt von der Macht der Stürme. Sie würde vielleicht nie wie ihr Bruder werden, doch das war von Anfang an unmöglich gewesen. Aber das bedeutete nicht, dass sie als Schamanin wertlos war. Sie erhob sich, schüttelte die Wölfe ab und ging zu Yuda. »Nun?«, fragte er. Yuste nahm sein Gesicht in ihre Hände. Sie wusste, dass sie ihm auf ihre Art Lebewohl sagte und noch vieles mehr, was sie wie Erinnerungsfetzen in ihrem Herzen aufbewahrt hatte. »Ich denke, du kennst meine Antwort«, sagte sie. Yuda packte sie an den Handgelenken und löste ihre Hände von seinem Gesicht. »Bist du sicher?«, fragte er. »Sicher, dass es das ist, was du möchtest?« »Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.« Annat zögerte. Sie fühlte ihren Körper in ihrer Nähe wie einen wärmenden Mantel aus Fleisch und Blut. Aber sie war noch nicht in den Gläsernen Berg zurückgekehrt. Sie befand sich in einem Wald, zu beiden Seiten Bäume, so weit das Auge reichte, und der kalte
Geruch von Pinien umspielte ihre Nase. Die Kälte um sie herum war greifbar, doch sie schien ihre Haut nicht zu berühren. Es hatte den Anschein, dass ihr eigener Körper selbst ein Fellmantel wäre, der sie vor dem Griff des Winters abschirmte. Annat hockte sich hin und ließ ihre Finger über die trockenen Farnwedel auf dem Boden gleiten. Sie hatte sich noch nie so wild gefühlt, ihre Sinne waren noch nie so geschärft gewesen. Jedes Blatt in diesem sonderbaren Zwielicht schien sich als Silhouette abzuzeichnen, und das graue Unterholz blitzte zu kaltem Leben auf, wenn sie ihren Blick darauf richtete. Die Nacht war lebendig von Kreaturen, die auf seltsamen Wegen unter den Blättern entlanghuschten. Annat wartete und lauschte der flüchtigen Furcht, die im Atem einer Maus lag, und der Futtersuche der Dachse. Sie verstand den Hunger der Jäger. Es gab so vieles zu jagen und zu fressen, mit heißem Blut, das so würzig wie wilde Pilze war. Annat lachte. Sie hatte von Schamanen gehört, die ihre Gedanken mit einem Tier teilen konnten; sie hatte nie daran gedacht, dass ihr das geschehen könnte. Dann sprach der alte Schamane von seinem Platz hinter dem Feuerschein zu ihr. »Sieh hinter dich.« Annat wandte sich um und erhaschte einen Blick auf das gezeichnete Gesicht eines Dachses, stolz erhoben und silbrig. »Siehst du?«, fragte er. »Du kannst nie eine wirkliche Schamanin sein, solange du in der Stadt mit ihren steinernen Straßen lebst.« »Hast du mich deshalb hierher gebracht?«, fragte Annat. Es schien ihr ein wenig absurd, sich an einen Dachs zu wenden. »Einst gab es einen Schamanen für jeden, für jedes Dorf. Und sie wussten – wir wussten – den Namen unserer Tiergeister. Meiner war Dachs.« Annat beugte sich vor und streckte dem reglosen Tier die Hand entgegen, doch es kam nicht näher. »Habe ich auch einen Tiergeist?«, fragte sie. Der alte Schamane kicherte. »Das musst du selbst herausfinden. Ich kann dir so ein Wissen nicht wie ein Geschenk überreichen.«
Annat richtete sich auf und sah sich um. Die Bäume schienen mit dem Pulsschlag ihres Blutes zu pochen. Sie war hungrig. Und wenn sie hungrig war, musste sie jagen gehen. »Was geschieht mit mir?«, flüsterte sie. »Das gefällt mir nicht.« Er antwortete ihr nicht. Sie war allein, und sie konnte das Feuer nicht mehr sehen und den Rauch nicht mehr riechen. Die Farbe der Bäume war blau, doch hinter diesem Vorhang floss das rote Blut, voller Leben und Geschmack. Annat hatte noch nie etwas Vergleichbares wie das Reißen dieses Hungers verspürt. Es spannte ihre Sinne wie das Fell einer Ledertrommel, es war stärker als das Verlangen und glatter als die Liebe. Sie lachte plötzlich auf und fürchtete sich nicht länger vor diesem Rausch ihres Geistes. Sie drehte sich auf den Hacken um und begann zu rennen. Zu Hause in der Stadt konnte sie sich rasch bewegen, doch ihre Kleidung schränkte sie immer ein. In dem Kleid ihrer nackten Haut konnte sie sich mit ungeahnter Leichtigkeit bewegen, und alles fürchtete sie. All die kleinen, weichen Geschöpfe der Dunkelheit waren ihre Beute, und sie spürte, wie sie vor ihr zurückwichen, auf die Bäume huschten, sich unter die weichen, modrigen Blätter gruben und nichts als ihre Fährte, ihren Wildgeruch und den Hauch eines scharfen Duftes zurückließen. Und da war ihr Rudel. Ihre Schwestern. Annat hatte nie weibliche Geschwister gehabt, doch hier fand sie sich eingebunden in den Strom rennender Wölfinnen. Sie hatte noch nie zuvor solch reine Freude und Ausgelassenheit verspürt. Es war, als wäre sie berauscht – doch nicht zu berauscht; es war, wie Eugenie zu küssen und die brennende Süße ihrer Lippen zu spüren. Annat wusste nicht mehr, ob sie eine Wölfin oder eine Frau war, aber es kümmerte sie auch nicht. Mit gesenktem Kopf rannte sie hinter den Anführerinnen, den Leitwölfinnen, ungeachtet der Beschränkungen, die die Wölfe in ihrer tierischen Gesellschaft aufrechterhielten. Die Beute war ein Hirsch. Sein Geruch traf sie zwischen die Augen: Wein und Wildbret und Erde und Kot. Der Geruch der Angst vertiefte ihren Hunger.
Das Wolfsrudel umkreiste die Lichtung. Es vollführte einen Tanz, und Annat hob den Kopf und erkannte den Geschmack und die sehr dunkle Färbung ihrer eigenen Rasse. Sie fand sich im wirbelnden Wolfsrudel wieder, das Yuste ableckte, und sie war eine von ihnen, küsste die seltsam weiche Haut ihrer Tante und knabberte an ihrem Fleisch. Als die Wolfsschar davonströmte, zögerte Annat und war hin und her gerissen zwischen ihrem neuen Clan und ihrem eigenen Volk. Sie versteckte sich zwischen Bäumen, stahl sich zwischen den einfallenden Mondstrahlen entlang, die Freude an der Jagd vergessend. Sie beobachtete ihre Tante und ihren Vater zusammen. Sie konnte ihre Worte nicht mehr verstehen, und sie konnte ihre Gedanken nicht hören, doch sie begriff, was zwischen ihnen vor sich ging. Menschliche Scham kehrte zu ihr zurück; sie konnte nicht zusehen oder zuhören, konnte sich aber auch nicht losreißen. Stattdessen kauerte sie sich tief auf den Boden, und langsam, mit Blättern in den Haaren, nahm sie wieder die Gestalt von Annat an, mit dem salzigen Geschmack im Mund und einem Magen, der sich in wölfischem Hunger zusammenzog, dem sie gerade entsagt hatte. Yuste und Yuda knieten auf der Lichtung, die Gesichter einander zugewandt. Das silberne Glühen schien von ihrer blassen Haut auszugehen. Sie waren so klein und die Bäume so hoch, dass sie zwei Glühwürmchen in der leeren Abenddämmerung hätten sein können. Annat lag auf dem Bauch und drängte langsam nach vorne, Lehm unter ihren Fingernägeln. Sie wollte nach ihnen rufen, doch sie fürchtete sich davor, die Stille zu durchbrechen. Zum ersten Mal fragte sie sich, wo Malchik war und ob er auch von irgendwoher zuschaute, als Zeuge herbeigerufen. Yuste streckte die Hände aus und Yuda ergriff sie. Sie sahen einander an, und so vieles schien zwischen ihnen abzulaufen, dass Annat ihre Gedanken, die Schlag auf Schlag kamen, nicht verfolgen konnte. Sie fragte sich, wie es wäre, ein Zwilling zu sein; sie hatte nie eine solche Nähe mit Malchik verspürt, und sie hatte ihre Tante und ihren Vater nie unter diesem Blickwinkel betrachtet; sie
schienen einander so unähnlich, schon was das Äußere anbelangte. Ihre Gesichter unterschieden sich in Farbe und Struktur. Yuda kam nach seinem Vater und war sehr dunkel und sehr blass, während Yuste nussbraun war. Es geschah plötzlich. Annat hatte einmal die großen Maschinen gesehen, die die Züge antrieben. Sie erinnerte sich daran, dass sie den Funken des elektrischen Feuers gesehen hatte, der von der Elektrode zum Transformator sprang, und den Geruch von Metall in der heißen Luft gerochen hatte. Statt zweier kauernder Gestalten in einem Wald sah sie, wie sich Yuda veränderte und zu einem glühenden Mann goldener Macht wurde. Wieder sah sie die eingewobenen Buchstaben, die der Stoff des Lebens waren; Yuda bestand aus Worten. Funken zischten von seinem Haar und aus seinen Händen; Yuste sank zurück, doch mit einem einzigen Stoß entlud sich die ganze Kraft ihres Bruders in ihre ausgestreckten Hände. Die Erschütterung schleuderte sie über die Lichtung, und die Luft erzitterte, schwingend wie eine Trommel. Annat sprang auf und rannte los, bevor sich ein Gedanke in ihrem Kopf formen konnte. Sie traf auf Yuda, als er sich über Yustes reglosen Körper beugte; Dampf kräuselte sich über seiner Haut. An Yustes Fingern waren dunkle Rußspuren zu sehen, und ihr Gesicht sah verbrannt aus. »Yuste«, sagte Yuda. Er atmete schnell und ließ seine Hände über Yustes Haut gleiten. »Du hast sie getötet«, sagte Annat, die selbst außer Atem war. Ihr Vater blickte zu ihr auf, und sie sah die nackte Furcht in seinem Gesicht: Er brauchte nichts zu sagen. Er beugte sich über seine Schwester und streichelte ihr Gesicht. »Zyon«, sagte er. »Ich wusste nicht, dass ich so stark bin.« Annat hockte sich neben den Körper ihrer Tante und nahm eine ihrer reglosen Hände. Sie tastete nach dem Puls an ihrem Handgelenk, und er war nicht zu fühlen. Yuda setzte sich auf seine Fersen. »Hilf mir, Annat«, sagte er. »Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
»Warum hast du das getan, Yuda?«, fragte sie. Zorn stieg in ihrer Kehle auf und drohte die Worte zu ersticken. »Ich dachte, ich könnte ihr ihre Macht zurückgeben.« Annat beugte sich über Yuste, deren Augen verdreht waren, sodass nur das Weiß zwischen ihren Lidern zu sehen war. Annat zwang ihre Wut hinunter, auch wenn sie ihren Vater anschreien wollte und ihn für seine Dummheit und Überheblichkeit verfluchen wollte. Stattdessen fuhr ihre Hand liebkosend durch Yustes Haar. »Yuste«, sagte sie. Schmerz wuchs unter ihren Rippen. Sie wollte ihren Kopf heben und in den Himmel heulen. Sie schloss Yuda aus ihrem Geist aus. Es war unmöglich, die Toten zu heilen oder zurückzubringen. Einst hatte sie ihren Vater von der Schwelle des Todes zurückgeholt, doch sie fürchtete, dass Yuste sie schon überschritten hatte. Der Körper ihrer Tante schien leer und leblos, wie etwas, das nie am Leben gewesen war. Yuda machte einen Satz an ihr vorbei, riss Yustes Gestalt in seine Arme und drückte sie an seine Brust. Es war leicht, seine Stärke zu übersehen und ihn als einen dünnen Jungen wahrzunehmen, der alleine weinend auf einem einsamen Stück Sand lag. Annat fing seine Erinnerung von ihm auf, und ihr Zorn verflog. Sie hatte nie einen Rivalen gehabt und auch keinen, der ihr so nahe war, als sie ein Kind war. Doch sie wünschte sich, dass Malchik kommen und ihnen sagen würde, was zu tun sei. Sie waren zwei der mächtigsten Kreaturen in diesem Wald, und sie waren hilflos. »Ruf sie zurück. Geh ihr nach«, sagte sie. »Was glaubst du, was ich versuche?«, schrie Yuda. Yuste regte sich in seinen Armen und hob eine Hand, als ob sie etwas von ihrem Gesicht stemmen würde. Annat setzte sich auf die Fersen zurück und war zutiefst überrascht. Yuda legte seine Hand auf das Haar seiner Schwester, sagte jedoch nichts. Yuste berührte ihre Brust. »Hat es geklappt?«, fragte sie, obgleich ihr das Sprechen durch ihre aufgesprungenen Lippen Schwierigkeiten bereitete.
»Ich weiß nicht«, antwortete er. »Ich dachte, dieses Mal hätte ich dich ganz erledigt.« »Gar nicht so leicht … mich loszuwerden«, sagte Yuste, hob ihren Kopf und lächelte zu ihm empor. Yuda bückte sich und küsste sie auf die Stirn. Sie entwand sich sanft seinen Armen und setzte sich auf die Fersen, ihre geschwärzten Hände in die Luft gereckt. »Verbrennungen von der Macht«, sagte sie. »Tut genauso weh wie immer.« Yuda leckte seinen Daumen und wischte ihr den Ruß aus dem Gesicht. Yuste wehrte ab, doch Annat konnte sehen, dass die schwarze Kruste nichts weiter war als eine dicke Schicht Kohle. Nur ihre Lippen waren verbrannt. »Ich weiß nicht, woher es kam«, sagte er. »Es war wie ein Blatt im Wind. Es durchfloss mich.« »Heile meine Hände, Yuda«, sagte sie. »Annat«, sagte Yuda. Annat erhob sich. Sie hatte ihre Nacktheit und jedes Schamgefühl vergessen. Außerdem war sie zerkratzt, mit Erde beschmiert und von modrigen Blättern beklebt; in ihrem Haar hingen abgebrochene Zweige. Yuste drehte sich um und lächelte sie an. Es war, als ob das Gesicht der Frau schwarz angemalt worden wäre, sodass nur das Weiß ihrer Augen und ihrer Zähne durch den Rußschleier blitzten. Annat merkte, dass sie die Tränen zurückblinzelte. Sie konnte sich nicht bewegen, nicht einmal, um ihre Arme zu heben und einen einfachen Heilzauber zu sprechen. Manchmal, egal, wie nah sie waren, gab es Gedanken und Gefühle, die sie nicht ausdrücken oder mit ihrer Familie teilen konnte. Sie ballte die Fäuste. »Was ist los, Annat?«, fragte Yuste. Annat presste die Fäuste auf die Augen und heulte wie ein Kind. Die Traurigkeit strömte aus ihr heraus. Zum Teil waren es die Nachwirkungen des Gedankens, Yuste könnte tot sein, doch es war noch mehr; sie hatte begriffen, dass eine Zeit kommen würde, in der weder Yuste noch Yuda da wären und niemand zwischen ihr und dem Tod stehen würde.
Yuste stand auf und umarmte Annat, wobei sie die verbrannten Hände zu beiden Seiten weghielt. Ihre Brustkörbe prallten aufeinander und waren im Weg. Und Annat spürte, was sie erwartet hatte und was ihre Traurigkeit an die Oberfläche geschwemmt hatte; auch Yuste war von goldener Macht erfüllt, eine Säule aus flüssigem Feuer, das in ihr brannte. Sie lehnte ihr Gesicht gegen die bloße, warme Schulter ihrer Tante, weinte und ließ die Tränen über Yustes Haut fließen. Sie schlugen ihr Lager am Fuße des Gebirges im Wald auf. Sarl hatte den Platz ausgewählt, obgleich er für Huldis auch nicht bequemer erschien als die vielen anderen Höhlen, die unter den Wurzeln großer Bäume zu finden waren. Sie blieb stehen und beobachtete, die Zügel ihres Pferdes in der Hand, wie Sarl seinen Gefangenen von seinem Reittier hob und ihn auf den Boden rollte. Dann sah sie das Blut. »Was hast du getan?«, schrie sie, ließ die Zügel los und rannte zu der Stelle, an der der Gefangene lag. Auf Yudas Gesicht war getrocknetes Blut, ebenso wie auf der Vorderseite seines Hemdes. »Was?«, fragte Sarl, der bereits damit begonnen hatte, sein Pferd abzusatteln. Semyon kam herbei und stellte sich neben Huldis, die ihr Taschentuch herausgeholt hatte, um das Blut aus Yudas Gesicht zu tupfen. Der Magus sagte: »Irgendetwas hat sich an unserem Gefangenen zu schaffen gemacht. Oder irgendjemand.« Sarl eilte zu der Stelle, an der sie sich versammelt hatten, und blickte auf Yudas reglose Gestalt hinab. »Bei der Mutter!«, sagte er. »Ich habe ihn nicht angerührt, nicht ein Haar seines Kopfes.« »Ich kann es nicht hören, wenn du die Mutter anrufst, Zhan Sarl«, sagte Huldis. Sie hob Yudas Kopf und drückte mit ihrem Daumen eines seiner Augenlider empor, doch es gab keine Reaktion. »Er ist weit weg«, sagte Semyon. »Der Spruch hat ihn aus seinem
Körper vertrieben.« »Huldis, ich schwöre, dass ich ihm nichts getan habe«, sagte Sarl. »Du hattest mich die ganze Zeit im Blick.« Huldis sah empor in das verwüstete Gesicht ihres Bruders. Einen Augenblick lang bemitleidete sie ihn. Sie schüttelte das Gefühl ab, als wäre es ein lockerer Schal, und merkte, wie sie begann, Befehle zu erteilen. »Du, Magus, machst ein Feuer. Sarl, du kannst dich um die Pferde kümmern. Ich sehe nach dem Gefangenen. Er nützt uns nichts, wenn er tot ist.« »Zu Befehl, meine Dame«, sagte Semyon mit nur einer Spur Ironie in der Stimme. Er begann, Holz zusammenzutragen, abgefallene Zweige, Pinienzapfen und einige abgebrochene Äste, die er auftürmte, um ein Feuer zu entzünden. Huldis versuchte, sich mit den Händen durchs Haar zu fahren, dann riss sie ihren Schleier herunter. Der Stoff wäre gut geeignet, um Verbände daraus zu machen, falls sie welche brauchte. Es war schwer, Yudas Jacke und Hemd auszuziehen; sein Körper war wie eine Rupfenpuppe, die mit nassem Sand gefüllt war. Während sie mit ihm rang, erinnerte sich Huldis an das frustrierende Gefühl, die Puppen ihrer Kindheit an- und auszuziehen. Das brachte den Gedanken an Aude zurück. Sie hielt inne, mit einem Arm zur Hälfte aus seinem Ärmel befreit, und sah, wie ein Stirnrunzeln über Yudas Gesicht lief. Vielleicht hatte er sich doch gar nicht so weit entfernt, wie Semyon zu glauben schien. Da waren lange Reihen paralleler Kratzer auf seiner Brust und seinen Armen, als ob er mit einem Tier gekämpft hätte. Die Schrammen hatten üppig geblutet, doch sie waren weder tief noch gefährlich. Huldis zerriss ihren Schleier mit Genuss und benutzte ihn, um so viel Blut wie möglich abzuwischen, wozu sie Wasser aus ihrer Wasserflasche zu Hilfe nahm. Es war ein merkwürdig friedlicher Augenblick; ihr Bruder war in einiger Entfernung, wo er für die Pferde Zäune zwischen den Bäumen errichtete und zu ihnen mit leiser Stimme sprach, während er ihnen die schweren Sättel abnahm und
sie abrieb. Sarl würde nie grausam zu einem Pferd sein; er benutzte zwar Sporen, doch die Spitzen waren stumpf. Oft hatte er es vorgezogen, ohne Sattel durch den Wald von Ademar zu reiten. Huldis ließ sich auf die Fersen sinken; auf ihrem Schoß sammelten sich blutige Stofffetzen. Obgleich das Blut Yudas Hemd befleckt hatte, gab es keine Risse in dem Stoff, und seine Lederjacke war ohne Spuren. Sie merkte, dass Semyon sie beobachtete. Er hockte neben dem Holzhaufen und sprach einen Zauber, mit dem er das Feuer entzünden wollte. »Es war nicht Sarl, oder?«, fragte er. »Nein«, antwortete sie. »Ich weiß nicht, was es war.« »Vielleicht wünscht er sich bereits, dass er tot sei«, sagte der Magus. Huldis biss sich auf die Lippen. Sie wusste, dass Semyon ihre Gedanken nicht hören konnte, doch sie fürchtete, dass ihr Gesicht sie verraten würde, sogar hier im Dämmerlicht. Sie rollte Yudas Jacke zusammen und schob sie ihm unter seinen Kopf. Dann öffnete sie ihren Umhang unter dem Kinn und breitete ihn über ihm aus. »Du wirst ihn später brauchen«, sagte Semyon. »Es sei denn, du willst meinen teilen.« »Ich glaube, da hat mein Bruder ein Wörtchen mitzureden, Magus.« »Ich bin sicher, das hat er.« Sie sah, wie sich die Züge des Sklavs zu einem hasserfüllten Ausdruck verzogen, und er unternahm keinen Versuch, ihn vor ihr zu verbergen. Huldis krabbelte auf Händen und Knien zum Feuer und begann, ihm dabei zu helfen, die Feuergarbe zu errichten. Niemand nutzte diese wilden Wälder, und so lag genug Zunder herum, Pinienzapfen, die trocken und grau von der Zeit waren. Sie fragte sich, wie oft hier Reisende entlangkamen. »Nicht oft, durch diese gottverlassene Wildnis.« Huldis schrak vor ihm zurück. Er hatte ihre Gedanken gehört! Der Magus schaute sie an, dann wurden seine Augen groß. »Du?«, fragte er. Huldis zitterte vor Angst. Er durfte das wahre Ausmaß ihrer
Macht nicht entdecken! Semyons dunkle Augen ruhten auf ihrem Gesicht, und sie fürchtete, dass er alles lesen würde, bevor sie ihre Verteidigung wieder stärken konnte. »Eine kleine Schamanin«, sagte der Magus. »Weiß der Erbe davon?« Er nickte in Sarls Richtung. Huldis schüttelte den Kopf. »Ich will verflucht sein«, sagte Semyon. »Ich wusste, dass er einmal einer war. Aber ich habe nicht gemerkt, dass es die ganze Familie durchzieht. Du hast es sehr ruhig gehalten.« »Mein Vater ist damit nicht einverstanden. Er verbrennt Schamanen.« »Er schien nur allzu einverstanden damit, mich mit dieser schmutzigen Aufgabe zu betrauen.« »Du kommst vom Hof des Staryetz. Er kann darüber hinwegsehen, dass du ein Schamane bist, weil du Magus genannt wirst.« »Er würde also seine eigene Tochter verbrennen?« »Das weiß ich nicht. Ich habe es immer geheim gehalten. Ich habe nur wenig Macht, so war das leicht. Ich habe es nur meinen besten Freunden anvertraut.« »Wie süß«, sagte Semyon. »Vielleicht willst du dann dieses Feuer in Gang setzen.« Huldis lachte befreit. »So etwas könnte ich nie tun«, sagte sie. »Vielleicht können wir versuchen, zwei Stöcke aneinander zu reiben. Oder du und ich könnten es mit unserer Leidenschaft entzünden.« Huldis spürte, wie sie errötete, doch sein Verlangen, sie zu erschrecken oder abzustoßen, war versiegt. »Sind deine Sprüche zu schwach, Magus?«, fragte sie. Semyon setzte sich auf die Fersen. »Es ist eine Verschwendung, Sprüche zu verwenden, um Feuer anzuzünden«, sagte er. Er schnippte mit den Fingern und eine kleine Flamme sprang an seinem Daumen auf, den er an den Holzstoß hielt. Sie fühlten es eher, als dass sie es gesehen hatten, wie Sarl zu ihnen herübergekommen war und hinter ihnen stand. Es war, als ob er einen Schatten der Kälte warf. Er sah zu, wie sich die Flamme
zwischen den trockenen Zweigen festsetzte und sich um die Kante eines Stockes kräuselte und seine Rinde schwarz werden ließ. »Das Feuer reinigt und lässt die Dinge zu Asche zerfallen«, sagte er, als ob er alleine wäre und mit sich selbst sprach. Semyon schnitt ein Gesicht in Huldis' Richtung, der nicht nach Lachen zu Mute war. »Hast du die Pferde versorgt, Zhan?«, fragte sie. Sarl ließ sich neben dem Feuer nieder und stocherte mit einem langen Scheit in den Flammen. »Ich sehe Dinge im Feuer«, sagte er. »Gesichter.« Semyon seufzte leise und nahm eine Pfeife und eine Dose Tabak aus der Tasche an seinem Gürtel. Huldis sah ihm zu, wie er die Dose öffnete, eine kleine Portion Tabak herausnahm und sie in den Pfeifenkopf krümelte. Dann griff er sich einen langen Span aus dem Feuer und zog gleichmäßig am Pfeifenstiel, bis sich der Tabakpfropf entzündet hatte. »Ich vermute, es wäre zu viel des Guten, jetzt auf Abendessen zu hoffen?«, sagte er und grinste. Sie hatte ihn kaum gehört. Auch sie starrte in das magische Flammennest. »Ich sehe sie ebenfalls, Zhan«, sagte sie. »Die Gesichter der lang Verstorbenen.« »Ich hätte dich nicht in der Macht der Kalten lassen sollen«, sagte er. »Aber ich stand unter ihrem Bann.« »Es spielt keine Rolle, Zhan. Ich habe nicht gelitten in diesen vielen Jahren. Die Zeit existierte für mich nicht. Es ist Aude, an die ich denke, und ihr hättest du nicht helfen können. Vater hat sich entschieden, sie zu verstoßen.« Sarl setzte sich, zog die Knie an und legte seine Hände darauf. Im Ruhezustand sah er wie eine zusammengefaltete Puppe aus. »Ich habe manchmal an dich gedacht, als ich in der Hölle war«, sagte er. Huldis wusste nicht, ob sie verängstigt oder gerührt von seiner Freimütigkeit sein sollte. Es gab so vieles, was sie ihn gerne gefragt hätte – denn wer wäre nicht neugierig darauf, etwas über den Ort zu erfahren, den man nach dem Tod betrat? –, doch sie zögerte, ihn
zu unterbrechen, indem sie eine zu direkte Frage stellte. »Die Väter der Doxoi haben viel über die Hölle geschrieben«, sagte sie. »Ich bin sicher, sie würden dich liebend gern befragen.« »Auf die Folter spannen«, sagte Sarl und seine Augen glänzten, als er zu ihr herübersah. »Ich bin ein unreines Ding, Huldis; ein Mann, der durch Zauberkraft von den Toten auferstanden ist.« »Er hat Recht«, sagte Semyon. »In diesem Land der Priester und der Sackleinen würden wir alle auf dem Scheiterhaufen landen.« Huldis zuckte leicht mit den Achseln. Sie hatten diese Worte gewählt, nicht sie; sie wusste nicht genug über das Land hinter Ademar, wo ihr Vater der absolute Herrscher war. Sie schaute in die Flammen und sann darüber nach, dass die Hölle sicher kein Ort des Feuers wäre; denn das Feuer brannte nicht nur, sondern verzehrte auch, und das bedeutete das Ende. »Wenn es die Hölle gibt, muss es auch ein Gericht gegeben haben«, sagte sie. Sie dachte an den Sohn, zornig in Seinem Himmel, Sein Gesicht zu strahlend, um direkt hineinzusehen. Unter dem drohenden Sternenmantel der Mutter. »Ich würde dich gerne trösten, Huldis. Dir sagen, dass oben der Himmel und unten die Hölle ist, dazwischen die grüne Erde. Ich weiß nur, was ich gesehen habe und dass ich allein war.« »Keine Dämonen?«, fragte Semyon. »Nicht, wie man sie sich vorstellen würde, Magus.« »Ich habe zu meiner Zeit Dämonen heraufbeschworen. Es gibt viele Arten. Unzählige vielleicht.« »Bist du ein wahrer Doxoi, Magus?«, fragte Huldis. Seine glänzenden Augen hielten ihrem Blick stand. »Ich bin mit dem Chrisam der Kirche gesalbt worden. Aber ich ehre ältere Götter.« »Den Teufel.« »Die alten Götter der Sklav, die wir verehrten, ehe die Apostel der Doxoi in unsere Länder kamen.« Yuda regte sich im Schlaf und stieß ein Wort aus, jedoch zu undeutlich, als dass sie es hätten verstehen können.
»Wie lange wird dieser Spruch ihn im Griff haben, Magus?«, fragte Sarl und blickte über seine Schulter. »Er hätte schon vor Stunden seine Wirkung verlieren sollen, Mon Seigneur. Er ist auf Wanderschaft gegangen.« »Bring ihn zurück.« »Das kann ich nicht, Mon Seigneur. Aber er wird zurückkehren – er muss zurückkehren.« »Ich will ihn am Leben und wach, wenn wir ihm sein Herz herausschneiden.« Huldis schauderte und dachte an ihren Umhang. Sie wollte nicht über das nachdenken, was sie ihren Bruder gerade hatte sagen hören. Semyon räusperte sich und spuckte ins Feuer. »Wenn du willst, dass sein Herz unversehrt ist, lässt du ihn besser schlafen«, sagte er. Sie sahen ihm zu, wie er davonging; eine große Gestalt, die aus der Vertiefung, in der sie saßen, zu der Stelle stapfte, an der sie die Pferde eingezäunt hatten. »Bei Tschernobog, ich bin froh, wenn das ein Ende hat«, sagte Semyon. Huldis antwortete nicht. Sie raffte ihre Röcke zusammen und krabbelte zu dem schlafenden Schamanen, doch sie sah lediglich, dass sich der Umhang hob und senkte, während er atmete. Es war ein gutes, dickes Kleidungsstück, und sie wäre gerne darunter gekrochen, um sich neben ihm einzurollen, doch der Anstand verbot es. »Mach schon«, sagte Semyon. »Es interessiert ihn nicht. Und ich werde es dich wissen lassen, wenn dein Bruder zurückkommt. Ich glaube, er zieht Pferdefleisch der menschlichen Rasse vor.« Huldis merkte, dass sie ihn anlächelte. Sie setzte sich, hob den Umhang und kroch darunter; dann drehte sie ihren Rücken dem ohnmächtigen Schamanen zu. Es war deutlich wärmer, aber der Boden war hart, trotz der Schicht trockener Farne. Sie bettete ihren Kopf in ihre Armbeuge und lag wach, schaute ins Feuer und betrachtete den Magus, der daneben saß. Das Licht betonte die dunklen Haare auf seiner Oberlippe und die Tönung seiner lohfarbenen
Haut. Huldis dachte an ihren Bruder, der alleine in der Dunkelheit saß, außerhalb des Feuerscheins, und sie schloss ihre Augen. Die Wölfe kamen näher. Sie lag völlig reglos und traute sich nicht, ihre Glieder zu bewegen oder die Augen zu öffnen; doch sie konnte nichts gegen das Seufzen ihres Atems und die Wärme ihres Blutes tun, und das war es, was die Tiere anzog. Sie lag allein unter dem endlosen Himmel, und der Kreis um sie wurde enger, während die grauen Schatten über die Ebene schlichen. Ihre Bewegungen waren wie das Winden von Maden in einem Mehltopf, aber sie waren alle in eine Richtung unterwegs; im Mondlicht warfen sie Schatten, als sie auf sie zu trotteten, die Köpfe gesenkt, um ihren Geruch zu wittern. Der schwarze Wolf stand über ihr, seine Pfoten pressten sich auf ihre Brust. Speichel tropfte aus seinem Maul und spritzte in ihr Gesicht. In einem Augenblick, in weniger als einer Sekunde, würde sie seine Zähne an ihrer Kehle spüren und das erste Sprudeln von Blut und den Schmerz … Huldis schrie. Sie warf ihre Arme empor, um ihr Gesicht abzuschirmen, doch das riesige Untier drückte sie nieder, erdrückte sie, und sein ranziger Atem war in ihrem Gesicht. Sie wand sich und kämpfte, versuchte, ihn von sich zu stoßen, und alles, was sie sehen konnte, war seine schwarze Zeichnung, zu nahe, und die gelben Augen. Sie spürte, wie sich die Klauen gegen ihren Körper pressten, sich durch den Stoff ihrer Kleidung bohrten. Plötzlich waren die Hitze und der Druck verschwunden. Sie fühlte einen klagenden Wind über sich hinwegfegen und sank, erschöpft von ihrem Kampf, zurück. Sie lag wie ein Federgewicht auf dem harten Boden, ihre Kleider waren zerrissen, ihre Beine blutverschmiert. Das Mondblut. Huldis setzte sich auf und bemerkte, dass ein roter Strom zwischen ihren Oberschenkeln tröpfelte und im Erdboden versickerte. Sie brauchte Fetzen, um den Fluss zu stillen, und Lappen, um Flecken zu verhindern. Sie dachte an die Stoffstreifen, die sie in ihren Satteltaschen verstaut hatte, doch die Pferde waren weit weg, auf der anderen Seite der Lichtung, wo auch Sarl war. Sie
wollte nicht aufstehen und durch die Dunkelheit laufen, während ihr das Blut an den Beinen hinabrann. Die Schmerzen von den Klauen des Wolfes waren noch immer da, tief in ihr drin. Yuda wandte sich um und berührte sie im Kreuz. Seine Hand fuhr ihre Wirbelsäule hinab und hielt kurz vor ihrem Ende inne. Huldis spürte die Wärme, die von seinen Fingern ausging, sie durchdrang und die angespannten Muskeln ihrer Gebärmutter lockerte. Sie beugte sich nach vorne, sodass ihr Kinn beinahe auf ihren Knien ruhte. – Hat er dich verwundet? – Was? – Mein Wolf. Hat er dich verwundet? – Dein Wolf? – Auf eine Art, ja. – Ich weiß nicht. Huldis hatte nur eine vage Erinnerung an ihren Traum; an den Druck, die Angst und an Tod. – Mich hat er jedenfalls verletzt, dachte er und setzte sich auf, um die Kratzer an seiner Brust und den Armen zu untersuchen. Es schien, als wären sie die Einzigen, die wach waren. Semyon war in seinen Umhang gehüllt und schnarchte am Feuer, Sarl war nicht in Sichtweite. Huldis packte Yuda am Arm. – Du musst weg. Renn davon, solange du noch kannst. Seine Augen lächelten sie an. Schwarz und seltsam, überhaupt nicht wie die Augen des Wolfes. – Erinnerst du dich, warum ich mitgekommen bin? Ich muss Sarl aufhalten. Wegrennen würde es nicht zu Ende bringen. Er blickte hinab zu ihrer Hand, die seinen bloßen Arm umklammerte, und Huldis zog sie zurück. Hier war sie, inmitten eines Waldes sitzend, ihr Haar unbedeckt, neben einem halbnackten Mann. Sie war sich des Lichtes, das das Feuer auf ihre Arme und Schultern warf, nur zu bewusst. »Es ist zu gefährlich«, flüsterte sie. »Ich weiß nicht, wie sehr dich mein Bruder hasst. Er sagt, er würde … dein Herz herausschneiden, während du noch am Leben bist.«
Yuda wandte sich von ihr ab und schlang die Arme um seine Knie. »Ich bin sicher, er meint das ernst«, sagte er. »Er weiß nicht, wie er sonst mit mir umgehen soll. Vielleicht war dir das nicht bewusst, aber für mich war das offensichtlich. Es ist ihm nicht bestimmt, mich zu töten.« »Was ist mit dem Spruch?«, fragte sie. Er zuckte mit den Achseln. »Ich kann meine Macht noch nicht nutzen. Aber nun sind die Wölfe da.« »Die Wölfe sind real?« »Ich weiß es noch nicht. Meiner jedenfalls hinterließ tatsächliche Kratzer. Er ist ein großer Bastard. Ich glaube, er musste irgendwie sein Zeichen auf mir zurücklassen. Ich schätze, es hätte auch schlimmer kommen können – er hätte mich anpissen können.« »Yuda …«, sagte Huldis und drehte sich zu ihm um. »Ja?« »Küss mich.« Yuda wandte ihr sein Gesicht zu. Er streckte die Hand aus und berührte ihre Wange. »Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre, was meinst du?«, fragte er. Huldis errötete unter seiner Berührung. Sie fühlte sich sorglos, losgelöst von den Bedenken, die sie bei Tageslicht eingeschränkt hätten. Sie sah ihn lächeln. »Wenn man jemanden küsst, verändert es die Dinge«, sagte er. »Was würde geschehen, wenn du und ich Liebhaber werden würden? Es wäre dein erstes Mal, denke ich, und vielleicht – nur vielleicht – wäre ich nicht der richtige Mann.« Huldis schmiegte sich enger an ihn. Sie legte ihm ihren Arm um den Hals. Sie konnte seinen Atem auf ihrem Gesicht spüren. Yuda nahm ihr Gesicht in seine Hände und schob es zurück, sodass er sie richtig anschauen konnte. »Ich bin … geschmeichelt«, sagte er. »Mehr als geschmeichelt, dass jemand, der so jung und gut und wunderschön ist, mich in Betracht zieht. Aber ich glaube, wir sollten kein Verlangen ins Spiel bringen. Ich habe dir gegenüber eine Pflicht zu erfüllen. Ich sollte auf dich aufpassen und nicht mit dir schlafen.«
Huldis löste sich von ihm und krümmte sich zu einem Ball zusammen. Sie konnte das stetige Tropfen des Blutes zwischen ihren Beinen fühlen, als ob ihre Gebärmutter weinen würde. Yuda seufzte. »Männer meines Glaubens schlafen nicht mit Frauen, wenn sie ihre Monatsblutung haben«, sagte er. »Manche würden sogar davor zurückschrecken, dich zu berühren. Aber es ist nicht nur das, Huldis. Es gibt so viele Gründe. Es ist nicht meine Art, unberührte Mädchen zu entjungfern. Und – hör mir zu, Mädchen – ich habe mit deiner Aude geschlafen. Sie war meine Frau. Sie hat meine Kinder getragen. Ich glaube, ich würde so viele Leute betrügen – und auch dich –, wenn ich tue, was du möchtest.« Huldis begann lautlos zu weinen. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, doch das Schluchzen schüttelte ihren ganzen Körper. Yuda saß eine Weile neben ihr und sagte nichts. Dann griff er nach ihr, nahm sie in die Arme und drückte sie an sich. Nicht auf die Art, die sie sich gewünscht hatte, aber irgendwie verspürte sie nichts als Erleichterung und Sicherheit. Sie konnte Yudas Gedanken nicht hören und auch sein Gesicht nicht sehen; er starrte hinaus in die Dunkelheit mit einem gehetzten Ausdruck, als habe er etwas gesehen, das ihn entsetzte.
Kapitel 12
D
ie Wiege schaukelte. Ihre sanften Bewegungen rüttelten Yuste wach und sie öffnete ihre Augen. Über ihrem Kopf befand sich die gewölbte, gestrichene Decke des Wagens, verhangen mit samtenen und mit Troddeln geschmückten Stoffbahnen. Sie setzte sich auf und merkte, dass sie in dem breiten Bett lag, das in die Wand des Wagens eingelassen war. Über ihre Knie war ein Mohairtuch gebreitet, und unter ihren Beinen befanden sich Lagen dicker
Laken. Jemand hatte sie entkleidet, und sie trug nichts weiter als ihr Unterhemd und die Unterröcke. Die schaukelnden Bewegungen, die ihr zunächst so sanft erschienen waren, waren heftiger geworden, als ob der Wagen mit einer Geschwindigkeit gezogen wurde, für die er nicht gebaut worden war. Yuste ergriff das Tuch und kroch über das Bett, bis sie durch die Vorhänge in den dahinter liegenden Raum blicken konnte. Es war dunkel und die Lampen waren entzündet; an je einer Seite des Tisches saßen Cluny, Planchet und Boris Grebenshikov. Cluny hielt ein gezücktes Schwert in der Hand, damit es nicht auf dem Tisch hin und her rutschte; Planchet umklammerte einen Streitkolben, und Boris hantierte mit seiner Waffe, bei der er die Trommel auf Munition überprüfte. Yuste schlüpfte durch die Vorhänge, und die drei Männer hoben beim leisen Tapsen ihrer nackten Sohlen auf dem Boden den Kopf. Cluny starrte auf seine Füße, und Boris tat es ihm gleich; seine Waffe steckte er zurück ins Halfter. »Bei der Mutter, Yuste! Bist du wach?«, fragte der Schamanendetektiv. »Wo ist meine Kleidung, Boris Grebenshikov?«, fragte Yuste und lief zu ihm hinüber. »Wir mussten sie dir vom Leib schneiden«, sagte Boris. »Um das Korsett loszuwerden. Du hattest aufgehört zu atmen.« »Ihr habt mein Korsett aufgeschnitten?«, wiederholte Yuste. Sie hörte sich selbst sprechen und lachte. »Du warst fast zehn Stunden lang ohnmächtig. Während dieser Zeit haben wir das Lager abgebaut und uns so schnell wie möglich auf den Weg nach Dieulevaut gemacht.« »Die Armee meines Vaters ist hinter uns«, sagte Cluny. Yuste richtete sich auf. »Ich erinnere mich. Ich sah sie, bevor …« Sie stockte. »Etwas ist mit mir geschehen.« Sie hielt das Tuch unter ihrem Kinn fest, streckte den Arm aus und besah sich ihre Hand. Boris machte einen Schritt auf sie zu und berührte ihr Handgelenk. »Bei der Mutter«, sagte er. »Du bist eine Schamanin.«
Yuste ließ sich auf den freien Stuhl sinken und versuchte, trotz ihres Schocks nachzudenken. »Ich erinnere mich … ich sah Yuda. Yuda hat mich geheilt. Er hat mir meine Macht zurückgegeben.« Boris ließ sich schwer auf den Stuhl neben ihr fallen. »Yuda hat was?«, fragte er. »Wir dachten, du wärest tot«, sagte Cluny. »Ich glaube, dass ich auf eine gewisse Art tatsächlich gestorben bin«, sagte Yuste. »Was habt ihr mit meiner Kleidung gemacht?« Boris schüttelte den Kopf. »Die wirst du nicht noch einmal tragen können, Missis. Die Roma werden etwas für dich zum Anziehen suchen, wenn wir Halt machen.« »Dieses Kleid hat mich mehrere Monatslöhne gekostet, Boris Andreyevich.« »Bei der Mutter, Frau, kannst du nichts anderes, als über Kleidung zu sprechen? Erzähl mir, was dir widerfahren ist.« Yuste rieb ihre Hand an ihrem dünnen Arm, auf dem sich Gänsehaut zeigte. Sie fühlte sich zwischen Lachen und Verzweiflung hin und her gerissen und auch etwas beschämt darüber, dass sie sich solche Gedanken über die Zerstörung ihrer Kleider machte. Sie hatte Axar in solcher Eile verlassen, dass sie nur Unterzeug zum Wechseln eingepackt hatte; sie konnte nicht den Rest der Reise in ihren Unterröcken und ihrem Hemdchen bestreiten. »Vielleicht könnte Madame etwas von Messire Clunys Kleidung tragen«, sagte Planchet. »Sie könnte das, sowohl was die Reise als auch was den Anstand angeht, für angemessen halten.« »Ich werde nicht Hemd, Kragen und Pumphosen tragen«, sagte Yuste. Boris fuhr sich mit der Hand über den Kopf und zerzauste seine schütteren Haare. »Ich denke, du wirst feststellen, dass Clunys überzählige Kleidung eher dem mittelalterlichen Geschmack entspricht«, sagte er. Er schlug mit der Handfläche auf den Tisch. »Ich kann es nicht glauben, dass wir dieses Gespräch führen!« »Monsieur hat Recht«, sagte Planchet. »Ich hatte nicht vor, Madame Messire Clunys moderne Gewänder anzubieten.«
»Um Zyons willen, Planchet, du musst mich Yuste nennen. Sei so gut und hol mir irgendwelche Bekleidung, die du für angemessen hältst. Hauptsache, sie ist warm.« Sie zog das Tuch enger um ihre Schultern. »Boris Andreyevich, ich stehe dir zur Verfügung.« »Ich hatte dich verloren«, sagte er. »Du hast meine Hand losgelassen.« »Das tut mir Leid«, sagte Yuste. »Ich bin auf die Reise gegangen. Auf eine weite Reise. Und mein Bruder war dort.« Sie brach ab, denn sie war sich bewusst, wie unangemessen das klang, was sie sagte. Sie war sich nicht sicher, wie sie das, was mit ihr geschehen war, in Worte fassen konnte. »Es war in einem Wald. Dort waren Wölfe.« Sie sah Boris an. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass das viel Sinn ergibt.« »Alles, was ich weiß, ist Folgendes: Als wir loszogen, um die Gegend abzutasten, verfügtest du nur über eine Spur von rudimentärer Macht. Nun sieht das ganz anders aus. Du bist genauso mächtig wie ich.« »Ich weiß«, sagte Yuste und berührte ihre Schläfen. »Mein Kopf tut weh.« Cluny setzte sich und balancierte das gezogene Schwert auf seinem Schoß. »Klingt wie ein Wunder«, sagte er. »Dann bewirkt Yuda also inzwischen Wunder, oder wie?«, fragte Boris. »Er hat mir Angst gemacht«, sagte Yuste. Sie zuckte leicht mit den Achseln. »Er zehrt von einer neuen Machtquelle. Nicht von seiner eigenen. Es hat mich fast getötet.« »Aber all dies hat in einer Schamanenwelt stattgefunden. Nur zwischen euch beiden.« »Ich nehme an, dass es eine Schamanenwelt war. Sie schien sehr wirklich. Die Bäume, die Wölfe – und Annat war dort.« »Annat?«, fragte Cluny. »Malchik habe ich nicht gesehen, was seltsam ist, wenn ich es jetzt bedenke.« Planchet kam zum Tisch herüber und machte eine unaufdringli-
che Verbeugung. Yuste drehte sich zu ihm und sah, dass er ihr eine Auswahl an Seide und Wolle in einem leuchtenden Blau entgegenstreckte. Sie lächelte zu ihm empor. »Hat dein Herr nichts in Schwarz oder Grau oder Braun, Planchet?«, fragte sie. »Nur unter seinen modernen Gewändern, Madame.« »Ich bin sehr dankbar«, sagte Yuste und nahm ihm den Arm voll Kleidung ab. Es waren eine lange Tunika, Beinlinge und ein feiner Umhang aus zartem, grauen Garn. Sie legte sie über ihren Schoß. »Ihr sagt, ich sei zehn Stunden fort gewesen? Weiß der Doyen, dass wir vor ihm sind?« »Wir sind uns nicht sicher«, sagte Boris. »Wir haben das Lager abgebaut, sobald ich die Neuigkeiten brachte. Vor ungefähr drei Stunden hat sich die Straße gegabelt, und die Armee des Doyen sollte den südlichen Zweig genommen haben. Aber Cluny ist misstrauisch.« »Es ist schwer, sich bei dem Lärm, den die Wagen in dieser Geschwindigkeit machen, sicher zu sein«, sagte Cluny. »Aber ich könnte schwören, dass ich Fackeln und Lichter gesehen habe, die Stahl haben aufblitzen lassen. Mein Vater sollte an unserem Lager vorübergezogen sein.« Yuste erhob sich. »Zeig es mir«, sagte sie. »Sobald ich mich wieder anständig hergerichtet habe.« Clunys Kleidung passte ihr leidlich, von der Länge abgesehen. Hinter dem Bettvorhang versteckt, schüttelte sich Yuste vor Lachen, als sie damit kämpfte, die langen Beinlinge über ihre zarten, dünnen Beine zu ziehen. Sie fertigte ein Paar improvisierte Strumpfhalter an, um sie oben zu befestigen. Ihr eigenes Unterhemd und ihre Unterhosen behielt sie an und zog die Tunika darüber, die ihr beinahe bis zu den Knöcheln reichte. Das war ausreichend züchtig und genügte ihren Ansprüchen in dieser Hinsicht, und doch würde es ihr viel größere Bewegungsfreiheit ermöglichen als die schweren Stoffschichten und die steifen Unterröcke, die zu tragen sie gewohnt war. Sie schlang sich den Umhang um die Schultern und kletterte wieder zurück in den erleuchteten Wagen, wobei sie be-
merkte, dass sich ihr Haar gelöst hatte und ihr ins Gesicht wehte. »Bei der Mutter!«, sagte Boris. »Jetzt siehst du aus wie dein Bruder.« Cluny blinzelte und lächelte. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich in den Straßen von Dieulevaut wie ein Wildfang gekleidet herumlaufen sollte«, sagte Yuste. Sie dachte an die behelfsmäßige Befestigung, die ihre Beinbekleidung davon abhielt, ihr bis auf die Knöchel hinabzugleiten. In ihren Taschen befanden sich Nadel und Faden; wenn sie Zeit hatte, musste sie etwas Sichereres improvisieren. Sie lächelte Planchet an, der es mit einem Kopfnicken zur Kenntnis nahm. Cluny führte sie in den hinteren Teil des Wagens und öffnete die Tür. Die zwei hockten sich in den Eingang und hielten sich an den Türrahmen fest, denn der Wagen rüttelte auf der unebenen Straße von einer Seite zur anderen. Beim Anblick der Dunkelheit spürte Yuste, wie ihre neuen Sinne zum Leben erwachten und sich in die Nacht ausdehnten. Sie wurde fast überwältigt von der Stärke und der Fülle der Empfindungen, die in ihr aufgewallt waren, als sie bei den Wölfen gewesen war. Cluny legte ihr eine beruhigende Hand auf den Arm. »Wie steht's mit dir?«, fragte er. »Sehr gut, Cluny. Aber ich bin wie ein Neugeborenes; alles in dieser Welt erscheint mir seltsam.« »Du musst dich wie Annat fühlen. Sehen, was sie sieht.« »Annat war eine mächtige Schamanin seit dem Tag, an dem sie ihre ersten unsicheren Schritte gemacht hat. Ich habe meine Macht verloren, als ich vierzehn war, und habe seitdem ohne sie leben müssen. Ich kenne die Theorien, wie man sie anwendet, und ich kann ihre rohe Kraft spüren; ich weiß aber nicht, wie ich die beiden Dinge zusammenbringen soll.« Sie verfielen in Schweigen und kauerten Seite an Seite, schauten auf die Straße und lauschten. Yuste sah die Sterne hin und her schwanken und silberne Spuren über den Himmel ziehen; ab und zu fiel eine Sternschnuppe in einer glitzernden Rauchwolke hinab.
Die Schatten gegen den Horizont stammten von den südlichen Bäumen: lange, säulenartige Zypressen und hohe, ausladende Korkeichen, die ihr Zweiggeflecht in den Himmel reckten. Yuste beobachtete Cluny, der die Straße hinter ihnen eingehend betrachtete. Noch einmal ließ sie ihre Sinne an der Oberfläche der Dunkelheit lecken und dann davongleiten wie Rauch, der in der Luft tanzte. Ebenso wie die Sterne, die am Horizont blinkten und Muster bildeten, die eine Bedeutung zu haben schienen, so sah Yuste mit ihrem inneren Auge viele kleine, glühende Lichter, die das nächtliche Leben von Tieren verrieten, den Schlaf der Menschen, und, weniger häufig, den Schein eines Schamanen. Sie stand am Rand eines tiefen Abgrundes, in dem das Leben in winzigen, versprengten Funken glühte, verschwindend klein in der Leere, in der sie sich befanden. Sie fühlte einen neidischen Stich beim Gedanken daran, dass Yuda und Annat dies ihr ganzes Leben lang gekannt hatten, während es ihr so lange vorenthalten worden war. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wie es gewesen war, als sie ein junges Mädchen war. Cluny berührte sie am Arm. »Sieh«, sagte er leise. Es war so gleitend, dass sie es beinahe nicht gesehen hätte; doch einer der Umrisse, der sich als Schatten vor dem Himmel abzeichnete, schien sich zu bewegen, und sie machte die Silhouette eines Pferdes mit seinem Reiter aus. »Ich dachte, ich hätte etwas gesehen …« Sie brach ab. Cluny ließ den Kopf hängen. »Ich glaube, sie haben uns gewittert«, sagte er. »Ich fürchte, dass mein Vater Männer ausgeschickt hat, um mich zurückzuholen. Oder Schlimmeres.« »Du denkst, sie jagen die Roma?« »Ich weiß nicht, was ich denken soll, Yuste.« Er ließ sich zu Boden gleiten und zwängte sich zwischen die Wand und die Ecke. »Ist es möglich, dass mein Vater herausbekommen hat, was wir vorhaben?« »Ich kann mir nicht denken, wie. Nur wir vier wissen, wohin wir unterwegs sind, und die Roma. Es hätte keine Gelegenheit für einen
Verrat gegeben, selbst wenn ich es für möglich halten würde.« Cluny zog die Tür zu und schloss so die Nacht aus. Boris kam über den schräg liegenden Boden geschwankt und stellte sich zu ihnen. »Habt ihr etwas gesehen?«, fragte er. Yuste antwortete ihm mit einer Gegenfrage. »Wenn uns jemand gefolgt ist, glaubst du, du und ich könnten ihn aufhalten, Boris?« Boris zuckte mit den Schultern, die in seinem Mantel verborgen waren. »Ich vertraue nicht darauf, dass du deine Kräfte im Kampf anwenden kannst«, sagte er. »Ich bin ausgebildet worden. In den Grundlagen. Zyon, Boris, ich bin eine Lehrerin!« »Es gibt einen großen Unterschied zwischen der Theorie und der Praxis, Yuste.« Er spreizte die Arme. »Wir wissen nicht, was für eine Art von Schamanin du bist.« Planchet trat neben ihn. »Lass Madame kämpfen, wenn sie es möchte«, sagte er barsch. »Am besten lernt man das Kämpfen auf dem Schlachtfeld.« »Das hast du mir auch immer gesagt, Planchet«, sagte Cluny. »Und ich bin nie im Kampf auf die Probe gestellt worden.« »Was auch immer geschieht, wir sollten die Roma warnen«, sagte Cluny. »Sie müssen bald Rast machen. Sie können die Pferde nicht mehr lange so antreiben. Und wenn sie anhalten, werden unsere Verfolger aufholen, wer auch immer es sein mag.« »Vielleicht wäre das am besten«, sagte Yuste laut nachsinnend. »Wenn uns nicht gerade die ganze Armee folgt, könnte es besser sein, anzuhalten und ihnen gegenüberzutreten. Und ich glaube nicht, dass es eine Armee war, die wir auf der Straße hinter uns gesehen haben.« Cluny sah zu Planchet, der mit schräg gelegtem Kopf zuhörte. »Madame hat Recht«, sagte er. »Der alte Mann marschiert in Richtung Masalyar. Er würde nicht seine ganze Streitmacht ausschicken, damit sie Zigeunerpöbel hinterherjagt. Doch möglicherweise hat er vertrauenswürdige Männer ausgesandt, um den verlorenen Sohn zu-
rückzuholen.« Cluny ließ den Kopf sinken. »Vielleicht sollten wir uns stellen, Planchet und ich«, sagte er. »Ihr wäret ohne uns besser dran, und die Roma könnten unbehelligt abziehen.« »Nein!«, sagte Yuste. Die drei Männer erschraken bei der Lautstärke und der Kraft ihrer Stimme. »Wir können es besser lösen. Wir können diese Reiter von den Roma weglocken.« »Ich glaube, du hast nicht verstanden, Yuste«, sagte Cluny. »Das sind Ritter. Kavallerie. Sie könnten uns überrennen, und dann …« »Mein Herr hat Recht«, sagte Planchet. »Unterschätze diese Männer nicht, weil sie Schwerter und Speere tragen. Du weißt nichts von unserer Welt und ihren Regeln. Selbst ihre Sprache wäre für dich fremd. Es gibt kein Grau oder Zwischentöne in dieser Welt, nur reines Weiß oder tiefstes Schwarz.« Yuste war erstaunt, ihn so viele Worte mit solcher Leidenschaft sprechen zu hören. Sie zog unter ihrem neuen, weichen Umhang die Knie an und überlegte, dass sie es möglicherweise neu erlernen musste, wie man sich ängstigte. Im Augenblick fühlte sie sich unbesiegbar, als ob nichts ihre Haut durchdringen könnte. Sie sah Boris an und fragte sich, was er dachte. Der Detektiv zog seine Waffe und spannte sie. »Yuste hat Recht«, sagte er. »Ihr habt beide Recht, doch ihr Vorschlag macht mehr Sinn. Sie ist eine Schamanin geworden, nicht wahr, und wir haben Instinkte. Auf eine gewisse Art sind wir eher animalisch als menschlich. Wir sollten die Roma ohne uns weiterziehen lassen und sie erwarten, diese … Ritter.« Er warf Yuste einen Blick zu und fügte hinzu: »Hast du Angst?« »Nein«, flüsterte sie. »Aber es erschreckt mich, dass ich mich nicht fürchte.« »Das wirst du noch«, sagte Boris. Annat öffnete die Augen. Sie lag auf hartem Stein, doch unter ihrem Kopf befand sich ein raues Kissen. Die Träume und ihre Rea-
lität benebelten ihren Geist. Sie versuchte nicht, sich zu bewegen, sondern lag still da und starrte auf die Felsen über ihr, die trüb in dem ruhelosen Bernsteinlicht glänzten. Mit den ausgestreckten Fingerspitzen berührte sie den kalten Stein und ließ sich Zeit zu begreifen, dass dies die wirkliche Welt war, anders als der Wald, der so lebendig und wahr erschienen war. Ihr Kopf schwirrte von messerscharfen Bildern. Das goldene Licht, das von Yuda zu Yuste geflossen war und sie durchfahren hatte wie ein Blitz, der in einem Baum einschlug. Das Gesicht ihrer Tante unter der Rußmaske, still wie der Tod. Yuda, weinend, der wieder zu dem einsamen Jungen am Ufer geworden war, der seiner Schwester todbringende Verletzungen zugefügt hatte. Und der Augenblick, in dem sich Yuste regte, als ob ein Stein zum Leben erwachte. Annat hatte die beinahe sichtbare Grenze zwischen Leben und Tod geschaut, zwischen einem Körper, der leblos war, und einem, der atmete. Yuste, wie sie plötzlich in den Armen ihres Bruders wieder zu atmen begann. Diese Dinge waren schwer zu begreifen. Annat hoffte, wenn sie still liegen bliebe, würde sie nicht gezwungen sein, aufzuwachen und sich damit auseinander zu setzen. Es war seltsam, ihre Tante und ihren Vater nackt gesehen zu haben und zu verstehen, dass sie getrennte Wesen waren, deren Leben unabhängig von ihrem war. »Bist du wach?«, fragte eine Stimme, die sich wie feiner Kies verstreute. Annat setzte sich langsam auf, erhob sich vom Boden und bemerkte dabei, dass ihr ihr eigener Körper steif und sonderbar erschien. Sie war weder überrascht, Malchiks ausgestreckten Körper in der Nähe zu sehen, noch, das Feuer zu erblicken, doch das Gesicht dahinter war fremd. Es war das Gesicht eines alten Mannes, von Falten durchzogen. Die Sonne hatte der Haut einen dunklen, ledrigen Ton verliehen, und seine schrägen Augen waren schmal, schwarz und klein. Sie versuchte, das getönte Gesicht einzuordnen. Er war kein Dunkler; sie hatte ein solches Gesicht noch nie in Masalyar gesehen, und seine Fremdheit faszinierte sie. »Ich bin Derzu«, sagte er.
»Derzu«, wiederholte Annat. Sie erwiderte sein Lächeln. Sie spürte mit all ihren Sinnen, dass es keinen Anlass zur Furcht gab. Sie hatte es nicht eilig, Fragen zu stellen, obgleich sie neugierig wurde. Sie wollte innehalten und die Freude darüber genießen, ihren Körper und die Haut, die ihre eigene Gestalt einhüllte, zu spüren. »Du bist der alte Schamane. Der Dachs«, sagte sie und ließ sich Zeit, bis ihr Mund die Worte gebildet hatte. »Du bist dem Licht meines Feuers gefolgt«, sagte Derzu. Annat schlang die Arme um die Knie. »Bin ich jetzt eine richtige Schamanin?«, fragte sie. »Du hast deinem Wolf einen Namen gegeben. Likan.« Annat gähnte ausgiebig. »Aber Likan ist im Wald, und ich bin in einem Berg«, sagte sie. Derzu beugte sich vor, näher ans Feuer. Er lächelte; zwischen seinen weißen Zähnen waren breite Lücken. »Dein Vater ist nicht im Inneren des Berges«, sagte er. »Deine Tante ist nicht im Inneren des Berges.« »Wissen sie, wo ich bin?« Derzu setzte sich wieder zurück und schloss den Mund zu einem dauerhaften Lächeln. Er trug eine Kopfbedeckung aus Tierhäuten, doch die Haarsträhnen, die hervorlugten, waren grau, von Weiß durchzogen. Annat kroch näher zum Feuer. Es war kalt in der Höhle, doch verschwenderische Wärme ging von den kleinen Flammen und den glühenden Kohlen aus. »Wir sind hier im Herzen des Berges«, sagte Derzu. »Nur die Bergarbeiter befinden sich noch tiefer.« »Wie hat er dich in die Falle gelockt, Derzu? Der Meister – der Magus?« »Er hat mich nicht in die Falle gelockt. Er ist jung. Es war Kaschai, sein Lehrer, der mich in der Dunkelheit eingeschlossen hat. Doch er konnte meinen Geist nicht einschließen. Ich bin in viele Welten gereist. In mehr Welten als die, von denen du weißt.« »Dann kannst du uns nicht zur Flucht verhelfen«, sagte Annat, die im Schneidersitz saß.
»Der Magus will eure Seelen, hmm?«, fragte Derzu. »Und ihr habt gesehen, wie leicht eine Seele aus einem Körper gleiten kann.« »Ich hatte immer geglaubt, dass Körper und Seele eine Einheit sind.« »Der Körper würde ohne den Geist sterben. Und die Seele würde sich ohne den Körper zerstreuen.« »Aber er hat Sarl ins Leben zurückgebracht. Wie kann er das getan haben? Sarl war bereits vier Jahre lang tot. Seine Seele sollte sich bereits vor langer Zeit aufgelöst haben.« »Du bist eine junge Schamanin, und du bist noch nicht in die Welt der Toten eingeführt worden«, sagte Derzu. »Was meinst du, Derzu?« »Du bist in Schamanenwelten gereist. Doch es gibt auch Orte, an denen nur die Toten leben.« »Ich glaube, ich bin an einem solchen Ort gewesen«, sagte Annat. »Er hieß La Souterraine.« Derzu strich sich über seinen Bart und dachte über das nach, was sie gesagt hatte. »Ich kenne diesen Namen nicht«, sagte er. »Wie hast du ihn betreten?« »Ich bin selbst dorthin gelangt. In diesem Körper«, sagte Annat und legte sich die Hand auf die Brust. Langsam wiegte Derzu seinen Kopf und nickte. »Das ist möglich«, sagte er. »Es gibt so viele Welten, große und kleine. Und der Magus hat eine gefasst und hält sie in einem Lederkoffer gefangen.« »Aber wenn ich sterbe – wenn mein Körper stirbt – was geschieht dann mit mir?« »Eine Veränderung«, sagte Derzu. »Das, was zurückbleibt, wenn dein Körper stirbt, ist nicht das Gleiche wie dein lebendiger Geist. Semyon will deine lebende Seele. Und wenn er sie verwendet, wirst du für immer zerstört sein.« »Was ist mit Sarl?«, fragte sie. Derzu zuckte kurz mit den Schultern. »Die Magie verlangt nach zwei Seelen und einem schlagenden Herzen. Semyon hat den
Spruch von seinem Meister gelernt, von Kaschai dem Unsterblichen. Und warum trägt Kaschai diesen Namen? Auf der Schwelle des Todes hat er die gleiche Magie vollbracht. Er hat sich zwei Seelen einverleibt und das Herz an einem sicheren Ort verwahrt. So lange es versteckt bleibt, wird Kaschai leben. Er kann nicht sterben.« »Semyon will das für Sarl tun. Und uns benutzen.« Derzus Lächeln war versiegt. Er antwortete ihr nicht unmittelbar, nahm jedoch einen Zweig aus dem Feuer und begann, auf dem Boden zu zeichnen. Annat kroch um das Feuer und hockte sich neben ihn. »Du kannst nicht aus dem Berg entfliehen«, sagte der alte Schamane. »Dennoch kannst du euch selbst retten. Und andere, die nach euch kommen. Semyon ist ein großer Magus, doch er verlässt sich zu sehr auf die Stärke seiner eingefangenen Welt. Das Geheimnis liegt darin, diese Welt zu befreien.« »Aber mein Vater kommt, um uns zu retten, und meine Tante … wir sind alle mächtig.« Derzu fing ihren Blick auf. »Ihr seid Schamanen, keine Hexenmeister. Ich war mächtig. Trotzdem hat mich Kaschai gefangen und in dem Berg eingeschlossen. Ich habe die Macht deines Vaters gesehen. Wie Semyon kann er von etwas zehren, das größer ist als er selbst, und das hat ihn verändert. Siehst du diese Symbole?« Annat beugte sich vor, um sie zu begutachten, und war überrascht. »Das ist Ebreu«, sagte sie. »Die alte, heilige Sprache der Wanderer.« »Kannst du sie lesen?« Annat versuchte es, doch es war, als wolle sie alle Vögel in einem Schwarm zählen. Die Buchstaben entglitten ihr. »Ich kann ein wenig Ebreu, aber diese Worte kann ich nicht entziffern«, sagte sie. »Du wirst nie in der Lage sein, sie alle zusammen zu lesen«, sagte Derzu. »Ich kenne sie auswendig, aber ich kann sie nicht lesen, nur schreiben. Diese Buchstaben sind in dem Ring eingeritzt, den dein Vater trägt.«
»Ich habe ihn einmal verwendet, um ihn zu heilen. Als er im Sterben lag«, sagte Annat. »Ich habe von den Wanderern gelernt. Ihre Weisen sagen, dass diese Buchstaben die Worte formen, die der Eine bei der Erschaffung der Welt gesprochen hat.« »Aber du bist doch kein Wanderer, Derzu«, sagte sie. »Ich bin kein Wanderer. Alles, was ich weiß, ist, dass es viele Welten gibt, oben und unten. Wer kann sagen, welches die letzte ist und welcher Gott die letzten Worte sprechen wird? Der Ring deines Vaters birgt einen Bernstein. Eingeschlossen in dem Ring sind die Worte der Gründung.« Mit den Fingerspitzen verwischte er die Buchstaben, die er in den Staub gezeichnet hatte. Annat hatte ein erstickendes Gefühl, als ob ihr Hals zu eng wäre. »Ich verstehe das nicht«, sagte sie. »Yuda muss stärker sein als Semyon, wenn das wahr ist.« Derzu antwortete nicht. Er faltete die Hände und starrte in die Flammen, als ob er darauf wartete, dass sich ein bestimmtes Muster abzeichnen würde. Annat blieb an seiner Seite, obgleich sie wusste, dass sie andere Gestalten in dem Feuer sehen würde als er. Schließlich nahm Derzu einen langen, tiefen Atemzug, der klang wie ein Seufzen. »Dein Vater ist stärker als der Magus«, sagte er. »Doch er kann nicht von den Geistern einer ganzen Welt zehren.« Annat zupfte an den Fäden ihres Hemdes. »Yuste war tot«, sagte sie. »Ich bin sicher, dass sie tot war. Sie war einige Minuten lang tot und kehrte dann ins Leben zurück. Ich war dabei und sah, wie es geschah.« »Das ist möglich«, sagte Derzu. »Die Macht des Bernsteins floss durch deinen Vater und schlug sie nieder. Sie enthielt jedoch auch die Samen, die sie ins Leben zurückbringen konnten.« »Er ist ein Risiko eingegangen. Er hätte sie töten können. Auch er glaubte, sie wäre tot.« »Hat dein Vater die Mächte, über die er gebietet, studiert?« »Er hat eine lange Zeit mit dem Mann verbracht, der ihm den
Ring gegeben hat, mit dem Rashim von Chorazin. Er hat mir nie erzählt, worüber sie gesprochen haben. Wir sind oft beisammen, aber er spricht nie über den Ring. Seit er ihn trägt, hat sich die Signatur seiner Macht von Silber in Gold verwandelt. Meine ist Silber.« Derzu nickte, während er lauschte. »Was du eine Signatur nennst, verändert sich, wenn du älter wirst. In meinem Volk nennen wir es Durmat, die Essenz. Wenn ein Schamane Böses tut, läuft die Durmat an. Bei den meisten Schamanen aber setzt sie Patina an. Ein alter Mann wie ich führt ein Bronzeschild mit vielen Kerben. Der Magus ist jung, aber seine Durmat hat dunkle Flecken, die seine Reinheit trüben.« »Aber es sollte nicht die Farbe ändern. Das ist, als hätte man … blaue Erdbeeren.« Derzu lächelte. »Du hast mir gerade berichtet, wie sich die Durmat deines Vaters verändert hat.« »Ich weiß. Ich will wissen, was das zu bedeuten hat.« »Der Ring hat ihn verändert, als du ihn verwendet hast, um ihn zu heilen. Und es könnte der Ring gewesen sein, der deine Tante ins Leben zurückgebracht hat. Dann wird auch sie eine goldene Durmat haben.« »Wird sie Macht haben?« »Das war das Ziel deines Vaters.« Annat erhob sich. Sie blickte zu Malchiks ausgestrecktem Körper hinüber. »Ich frage mich, ob sie es wissen«, sagte sie. »So viel Macht. Es hätte sie verbrennen können.« Während sie sprach, gingen alle Lichter in der Höhle aus. Das Feuer war erloschen und ein kalter Wind fuhr durch die Höhle und wirbelte Funken zu Asche auf. Baba Yaga kam schreiend aus der Dunkelheit und leuchtete sich ihren Weg mit einer Schädelfackel, aus deren Augenhöhlen eine gespenstisch gelbe Flamme loderte. Annat hörte Derzu aufschreien und presste sich gegen den Felsen, als sich die Hexe auf sie stürzte und die Fackel dabei über ihrem Kopf schwenkte.
Als Semyon erwachte, schmerzte ihn jedes Glied. Er rollte sich herum, um einen Blick auf die Glut des Feuers zu werfen. Seine Träume waren Alpträume gewesen, voller grauer Wölfe, die bereits unmittelbar am Rande der Lichtung kreisten. Er setzte sich auf und stützte den Kopf in die Hände. »Tschernobog«, fluchte er und wünschte einen Augenblick lang, dass der dunkle Gott durch die Wolken platzen und ihn in tausend Stücke zerschlagen würde. »Schmerzt dein Kopf, Magus?«, fragte Huldis. Sie hatte sich übers Feuer gebeugt und legte neue Holzscheite in die Flammen; neben ihr stand ein Feldkessel mit Wasser. »Hattest du eine angenehme Nacht?«, brauste Semyon auf. Huldis warf ihm einen Blick zu, ohne sich zu einer Antwort herabzulassen. Semyon fluchte erneut, rappelte sich auf und erinnerte sich an den Schamanen. Es hätte zu leicht für den Schurken sein können, sich davonzustehlen, während er, Semyon, hätte Wache halten sollen. Er fand den kleinen Mann näher am Feuer sitzend, eingehüllt in einen Umhang. Er stand noch immer unter dem Spruch, doch er war wach. Er sah zu Semyon empor und lächelte. »Sieh mich nicht an«, schrie Semyon. Nach den nächtlichen Alpträumen waren seine Nerven bis zum Zerreißen gespannt. Der Mann zuckte mit den Schultern, wandte sich um und sah stattdessen Huldis an; er beobachtete sie, wie sie sich über das Feuer bückte und den Kessel auf die aufgetürmten Zweige stellte. Semyon lief zu ihm und trat mit dem Fuß nach dem Mann: »Sie siehst du auch nicht an, Hund«, herrschte er ihn an. Der Mann hob den Blick und schaute Semyon ins Gesicht. »Ich würde gerne sehen, wie du mich davon abhalten willst, Magus«, sagte er in der Sprache der Sklav. Semyon gab auf. Sein Kopf schmerzte zu heftig, als dass er weiterhin schreien mochte. Er ließ sich neben dem kleinen Mann auf den Boden sinken und fragte: »Also, aus welcher Provinz stammen deine Eltern?« »Meine Mutter kommt aus Kyev, mein Vater aus der Stadt Ades.« »Mein Bruder kommt zurück«, sagte Huldis über das Feuer hin-
weg. Eilig erhob sich Semyon wieder und schüttelte trockene Blätter von seinem Umhang. Er sah die große, linkische Gestalt, die sich wie eine wandernde Vogelscheuche bewegte, von der Stelle, an der sie die Pferde eingezäunt hatten, zu ihnen herüberkommen. Semyon ging ihm entgegen. Beim Anblick der rot geränderten Augen und dem aschgrauen Gesicht unterdrückte er einen Schauder. War es möglich, dass die Erscheinung Sarls sich verschlechterte? »Ich hoffe, du hattest eine angenehme Nacht, Monsieur«, sagte er mit vorgetäuschter Fröhlichkeit. »Ich habe nicht geschlafen«, sagte Sarl und sah an ihm vorbei zu Huldis. Und zu dem Schamanen Vasilyevich, der sich erhoben hatte. Er mochte nicht groß sein, doch es war etwas sehr Bemerkenswertes an ihm, dachte Semyon. Er machte einen Schritt von Sarl weg und sah den Ausdruck auf seinem Gesicht. Er konnte sich nicht helfen, er fand, dass Sarl Vasilyevich anblickte wie ein Hund einen Knochen. »Zhan Sarl«, sagte der Schamane. »Das ist… unerwartet. Ich dachte, ich hätte dich getötet.« Sarl näherte sich einige Schritte. »Dann sind wir jetzt quitt, Vasilyevich«, sagte er. »Ich habe dir eine tödliche Verwundung beigebracht. Wie kommt es, dass du am Leben bist, während ich … in diesem Zustand bin?« Er zupfte an seiner Kleidung, als ob sie ein Teil seines Körpers wäre. Der Schamane wischte sich mit dem Handrücken die Nase ab. »Du hast dich der falschen Göttin verschrieben«, sagte er. Sarl ging zu ihm hinüber, und Semyon hastete hinterher, denn er befürchtete, dass er seinen wertvollen Gefangenen verlieren könnte, falls Sarl vergaß, warum sie ihn festgesetzt hatten. »Du hast meine Schwester geschlagen, die Dame Huldis«, sagte Sarl. Yuda blickte zu der jungen Frau, die beim Feuer hockte. »Es scheint, als habe sie eine versönlichere Natur als du, Zhan Sarl«, sagte er.
Sarl blieb stehen. Er befand sich einige Schritte tiefer in der Senke, sodass sie beinahe auf Augenhöhe standen. »Was meinst du damit?« Vasilyevich ließ den Umhang, in den er gehüllt war, zu Boden gleiten und entblößte die Kratzer, die Huldis in der Nacht zuvor ausgewaschen hatte. »Sie hat meine Wunden versorgt«, sagte er. »Wenigstens nehme ich an, dass sie es war. Es sei denn, du oder der Magus waren so ungeahnt freundlich zu ihrem Gefangenen.« »Ich habe dir kein Haar gekrümmt!«, rief Sarl. »Es war der Wolf«, sagte Yuda. »Wenn ich die Wahl hätte, würde ich mich immer für den Wolf entscheiden.« Er bückte sich, um das Tuch aufzuheben, und schlang es sich wieder um die Schultern. Sarl schwankte einige weitere Schritte vorwärts, bis sich die beiden Männer hätten berühren können, dann fiel er auf die Knie. Semyon merkte, dass er verblüfft Huldis anstarrte, und sah, dass ihr Mund zu dem gleichen O gerundet war. »Verzeih mir«, sagte Sarl. »Du musst mir verzeihen. Du bist der Einzige, der das tun kann.« Vasilyevich sah zu ihm hinab. »Ich glaube, du hast dir den falschen Mann ausgesucht«, sagte er. Sarl stieß mit dem Finger nach ihm. »Du bist derjenige«, sagte er. »Es ist vollkommen belanglos, was ich denke«, sagte der Schamane. »Und du hast vor, mein Herz herauszuschneiden. Ich bin nicht in der Stimmung, das zu verzeihen.« »Nicht deines. Es muss nicht deines sein. Das war der Wunsch meines Vaters. Wir können den Magus nehmen. Und deine Kinder können frei sein.« Vasilyevich sah zu Semyon. »Was sagst du dazu, Magus?«, fragte er. »Es scheint, Sarl möchte, dass du meinen Platz einnimmst. Er ist großmütig.« »Er lügt. Ohne meine Hilfe kann er den Zauberspruch nicht beenden«, sagte Semyon und hoffte, dass seine Stimme nicht zitterte, während er sprach. »Hast du das gehört, Sarl?«, fragte Vasilyevich. »Der Magus ist
nicht beeindruckt. Ich denke, du solltest ihm zuhören. Er ist derjenige, der den Spruch kennt.« »Ich biete dir deine Freiheit an«, sagte Sarl. »Nur, damit ich dir verzeihe? Ist das so wichtig?« »Sag es!« »Ich habe dich nie gehasst, Sarl. Du bist derjenige, der sich gegen mich gewandt hat. Ich hasse dich auch jetzt nicht. Du bist es nicht wert. Es gibt nur einen Weg, wie du dich selbst retten kannst, und der bedeutet zu sterben. Löse dich von dem Spruch und kehre zurück in die Unterwelt.« »Ich fürchte mich. Ich kann nicht dorthin zurück«, sagte Sarl. »Was lässt dich glauben, dass ich dir helfen könnte?«, fragte Vasilyevich. Sarl griff nach ihm und packte ihn am Arm. »Ich habe dir großes Unrecht getan«, sagte er. »Und ich habe dich getötet«, sagte der Schamane. »Wie ich schon sagte, wir sind quitt. Der Rest liegt in deiner Hand.« »Ich kann nicht sterben. Ich muss leben«, sagte Sarl. Vasilyevich sah zu ihm hinab und schüttelte seine Hand ab. »Es gibt nichts, was ich für dich tun kann«, sagte er. »Du brauchst mich nicht, damit ich dir sage, was du machen sollst; du weißt das selbst so gut wie ich. Ich kann dir keine leeren Worte schenken.« Semyon hatte das Gefühl, dass er sich einschalten sollte, um wieder die Kontrolle zu erlangen. Er setzte sich in Bewegung, näherte sich den beiden Männern und sprang dann zurück, als ob er gestochen worden wäre. Es war, als ob er die Hand in eine alchemistische Funkenkammer gesteckt hätte. Er starrte sie an und konnte nichts erkennen, nicht einmal einen Austausch von Macht; doch die Luft um sie herum war aufgeladen. »Hört auf mit diesem Schauspiel«, sagte er und spürte, wie der Ärger seine Brust zuschnürte. Einen Schwindel erregenden Moment lang glaubte er, ihm stehe etwas jenseits seines Erfahrungshorizontes gegenüber, was sich nicht durch Worte beschreiben ließ. Sarl sprang auf und richtete seine große Gestalt zur vollen Höhe
auf. Er packte Semyons Tunika vor der Brust und hob ihn von den Füßen. »Schauspiel?« Fast spuckte er die Worte Semyon ins Gesicht. »Was verstehst du schon von den Angelegenheiten der Männer, Junge? Du kannst und kennst nichts als Bespringen, Wollust und dir den Bauch voll schlagen.« »Es könnte schlimmer um ihn stehen, Sarl«, sagte der Schamane. »Er könnte wie du sein.« Sarl fluchte und ließ Semyon zu Boden fallen. »Vergiss nicht, Vasilyevich«, sagte er. »Ich halte dein Leben in meiner Faust.« Huldis trat zu ihrem Bruder. Sie blieb stehen und sah Semyon an, der noch immer auf dem Boden ausgestreckt lag, wo Sarl ihn fallen gelassen hatte. »Ich glaube, du hast unsere Reise vergessen, Zhan Sarl«, sagte sie. »Wir sollten diesen Ort verlassen. Wir wollen doch nicht eine weitere Nacht im Wald verbringen. Du musst mir einem der Männer Frieden schließen, denn schließlich kannst du sie nicht beide töten.« Semyon hörte, wie der Schamane auflachte. Er erhob sich und bürstete trockene Blätter von seinem Umhang. »Dein Vater hat mich zu einem Zweck mit dir geschickt, Mon Seigneur«, sagte er. »Um das Herz eines mächtigen Schamanen zu finden und es dazu zu verwenden, dich am Leben zu erhalten. Die Zeit verrinnt. Wenn du deinem Vater nicht gehorchen willst, dann sag es mir jetzt. Dann höre ich auf, meine Zeit mit dir zu verschwenden. Wenn du sterben willst, musst du nichts weiter tun als abwarten. Töte mich, und du wirst nicht lange warten müssen.« »Drohst du mir, Magus?«, fragte Sarl. »Nein, Mon Seigneur. Ich halte die Tatsachen fest. Dein Vater bezahlt mich gut. Ich hätte diese Reise allerdings nicht unternommen, wenn ich gedacht hätte, dass sie mein Leben kosten und zu nichts führen könnte.« Sarl schaute von Semyon zu Vasilyevich. Sein Gesicht war aus-
druckslos geworden wie eine Maske. Eine groteske Maske, die ein Skomoroch, ein Gaukler, tragen würde, um die Unvorsichtigen zu erschrecken, dachte Semyon. »Nun gut«, sagte Sarl. »Wir sollten weiterreiten. Du hast deine Wahl getroffen, Wanderer. Denk immer daran, dass ich dir die Freiheit angeboten habe.« »Du warst es, der die Wahl getroffen hat, Zhan Sarl, nicht ich«, antwortete der Schamane.
Kapitel 13
D
ie Roma gaben ihnen zwei Pferde, da weder Yuste noch Boris reiten konnten. Cluny hob Yuste auf den Rücken seines Streitrosses, während Boris hinter Planchet kletterte und in der Eile fast auf der anderen Seite wieder hinuntergefallen wäre. Während Yuste unsicher versuchte, das Gleichgewicht auf dem Rücken des Tieres zu halten, das sich beunruhigend unter ihr bewegte, als ob sie auf einem Sofa Platz genommen hätte, das zum Leben erwacht war, schwang sich Cluny hinter ihr empor und griff nach den Zügeln; seine Arme hatte er zu beiden Seiten um sie gelegt. »Halt dich gut fest«, sagte er, und sein Gesicht strich in der Dunkelheit an ihrem vorbei. Yuste wurde ein wenig übel, als sie zusah, wie die Wagen der Roma in die Nacht davonrumpelten. Sie konnte sie gerade noch an ihren Laternen erkennen, die schon zu verschwimmen begannen. Dann drückte Cluny die Hacken in die Flanke des Pferdes, das sich daraufhin in Bewegung setzte. Yuste packte mit beiden Händen in die lockere Mähne und hielt sich krampfhaft fest, so gut sie konnte, während sie den Rücken des Pferdes mit den Beinen umklammerte. Sie konnte spüren, wie Cluny sich entgegen dem Rhythmus ihres Reittiers im Sattel hob und senkte; sie wurde
nicht nur sehr ungemütlich auf und ab geschleudert, sondern auch von einer Seite zur anderen. Sie glaubte, sie könnte Boris hinter sich fluchen hören. »Die Roma haben ein sicheres Auge für gute Pferde«, sagte Cluny gerade laut genug, dass sie ihn verstehen konnte. »Das ist ein prächtiges Tier.« Yuste antwortete ihm nicht; sie wollte nicht sprechen aus Angst, sich dabei auf die Zunge zu beißen. Sie konnte die Freude, die manche Leute am Reiten zu haben schienen, nicht begreifen; ihr Rücken schmerzte, und ihr Becken schien geprellt zu sein. Die ganze Zeit über war sie sicher, dass sie den Halt verlieren und zu einer Seite hinabstürzen würde, wo ihr die Hufe des Pferdes einen tödlichen Tritt versetzen würden. Cluny schien ihr Leid zu spüren, denn er nahm die Zügel in eine Hand und legte ihr die andere um die Taille. »Ich bin ein recht sicherer Reiter, wenn ich das mal von mir behaupten darf«, sagte er. »Danke, Cluny«, sagte Yuste und überlegte, wie sehr ihre Ängstlichkeit der ungebundenen Stärke und Freiheit gegenüberstand, die sie zwischen den Wölfen empfunden hatte. Auch wenn sie noch immer bei jeder Bewegung des Pferdes von Kopf bis Fuß gerüttelt und geschüttelt wurde, fühlte sie sich an Clunys Brust und mit seinem Arm um ihre Hüfte viel sicherer. Sie traute sich sogar, einen Blick auf die Landschaft zu werfen, die sie durchquerten. Sie hatten die Straße verlassen und ritten über offene Felder. Im Dämmerlicht war es schwer zu beurteilen, doch das Land wirkte unerschlossen, wild und steinig und war übersät von vielen kleinen, dornigen Büschen. Es erinnerte sie an die wilden Hügelketten, die Masalyar umringten, wo es zu trocken war, als dass Bäume wachsen konnten, und wo die steinige Oberfläche von Buchsbäumen und duftenden Kräutern bedeckt war. »Weißt du, wohin wir reiten?«, fragte sie. »Nach Osten«, antwortete Cluny. »Davon abgesehen suchen Planchet und ich nach einem guten Platz für einen Hinterhalt. Ich soll-
te besser sagen, dass Boris danach sucht; ich habe in diesen Dingen keine Erfahrung.« »Es tut mir Leid, Cluny«, sagte Yuste. »Es steht dir frei, Boris und mich irgendwo abzusetzen und zu deinem Vater zurückzukehren.« Sie hörte, wie Cluny in ein amüsiertes Schnauben ausbrach. »Zu meinem Vater zurückkehren, Yuste?«, fragte er. »Du hast so wenig Vorstellung davon, was das bedeutet. Erinnere dich daran, dass dies der Mann ist, der beinahe Annat und Yuda getötet hätte. Er ist ein guter Mann, in seinem eigenen Licht betrachtet, ein frommer Doxoi und ein patriotischer Franj. Doch er hat keinen Sinn für Häretiker, Abtrünnige und Ungläubige. Für die meisten, genau genommen.« Yuste wünschte, sie könnte irgendetwas sagen, um ihn zu trösten. »Ich glaube, er würde dich wieder aufnehmen, Cluny«, sagte sie. »Ich bin derjenige, der nicht zurück will. Ich möchte keine Rolle in seinen Kriegen spielen. Ich wäre glücklich, wenn ich ihn nie wiedersehen müsste. Er hat mich meiner leiblichen Mutter entrissen, als ich neun Jahre alt war. Seitdem habe ich immer in seinem Haushalt gelebt …« Er brach ab. »Was ist mit deiner Mutter geschehen?«, fragte Yuste. »Sie ist im Kindbett gestorben, nicht lange, nachdem ich fort war. Ich habe sie nie wieder gesehen.« »Warum gab es keine Schamanen, die ihr helfen konnten?« »Denk nach, Yuste. Sie lebte in der Domaine meines Vaters; kein Schamane wäre bereit gewesen, dorthin zu kommen.« »Aber du musst doch Verwandte haben.« Sie spürte, wie Cluny seufzte. »Sie hätten mich nicht gerade mit offenen Armen empfangen. Sie verabscheuen den Doyen genauso sehr wie ich. Und ich bin sein Sohn.« »Du weißt nicht, ob sie dich hassen würden …«, setzte Yuste an, doch sie wurde von einem Ausruf Planchets unterbrochen. Cluny zügelte sein Pferd. »Sieht aus, als hätte er eine Stelle nach seinem Geschmack gefunden«, sagte er.
Leichtfüßig saß er ab und hob Yuste vom Pferderücken, um sie auf dem Boden abzusetzen. »Danke«, sagte Yuste. Sie fühlte sich orientierungslos, als hätte sie alle Markierungen, die ihren Platz in der Welt kennzeichneten, verloren; sie konnte kaum mehr als die verschwommenen Umrisse der Bäume erkennen, doch vor ihrem inneren Auge tanzten geschäftige Lichter, die aufblitzten und verschwanden wie Sternschnuppen. Boris glitt linkisch aus dem Sattel und fluchte leise. Yuste glaubte, dass sie Planchet kichern hörte. Der Diener trieb sein Pferd einige Schritte weiter, bis es neben Clunys zum Stehen kam, und stieg ab. »Hier können wir warten, Messire Cluny«, sagte er. »Es gibt genug Schutz durch die Bäume.« »Bist du dir da sicher, Planchet?«, fragte Cluny. »Wenn die Männer meines Vaters uns einfangen, riskiere ich lediglich, ausgepeitscht zu werden, aber du könntest zum Tode verdammt sein.« »Ich diene dir, Messire Cluny, und niemandem sonst.« »Ist es jetzt nicht etwas zu spät, um diese Diskussion zu führen?«, fragte Boris. Er wankte zu einem Baum und lehnte sich dagegen. Yuste hörte ihn seufzen, dann sah sie das kurze Flackern einer Flamme, als er sich eine Zigarre ansteckte. Einige Augenblicke später stieg ihr der moschusartige Geruch des Tabaks in die Nase. Sie tastete sich den Weg bis zu der Stelle, an der er stand, und brachte ihn dazu, sie anzuschauen. »Boris«, setzte sie an. Er sagte nichts, um die Pause zu füllen, und Yuste tauchte mit einem ungeschickten, beschämten Ruck ins Senden ein. – Was soll ich tun? Kann ich etwas tun – Es fühlte sich nicht so angenehm an wie bei ihrer letzten Unterhaltung, bevor sie die Gegend abgetastet hatten. Es lief nicht rund und wie geölt, wie die Gespräche mit ihrem Bruder. Sie bemerkte zu spät, dass Boris diese Gedanken wahrnehmen konnte, auch wenn sie sie nicht zu ihm geschickt hatte. Als er hörbar sprach, konnte sie an seiner Stimme erkennen, dass er lächelte, und sie war erleichtert.
»Wir haben keine Zeit, darüber zu diskutieren, Yuste. Tu, was du kannst. Deine neuen Kräfte beginnen zu keimen; du wirst selbst überrascht sein.« Hier brach das Gespräch ab, und Yuste konnte seine Gedanken nicht hören. Sie stand dort, ihre Hände zitterten, und sie sah zu, wie Planchet die Pferde den Hügel hinabführte und sie außer Sichtweite anband. Sie konnte sie nicht sehen, doch sie hörte das Klirren der Zügel und der Geschirre und auch den rauen Atem der Tiere. Cluny stand auf der anderen Seite der Stelle, an der sie mit Boris Schutz gefunden hatte, und auch er hatte sich hinter dem knorrigen Stamm eines kleinen, trockenen Baumes versteckt. Seine Gestalt verschmolz mit dem Schatten der Äste, doch sie konnte sein gezücktes Schwert und das Licht auf den helleren Stellen, nämlich seinem Gesicht und den Händen, ausmachen. Planchet kehrte zurück und kam lautlos den Hang hinauf; dann setzte er sich neben Cluny. Nach und nach wurde es ruhig, sodass Yuste die Geräusche der Nacht zu hören begann. Es war zu früh für das Quaken der Frösche, und dieser Ort würde wohl auch zu trocken für sie sein. Es gab keinen Lufthauch, und so lauschte sie der Stille, in der alles, was sie vernahm, Boris war, wenn er seine Haltung veränderte oder sich räusperte, und das leise Geräusch der Pferde, die auf dem Boden scharrten und mit einem leisen Schnauben ihre Köpfe schüttelten. Sie unternahm keinen Versuch, mit ihrem inneren Auge zu sehen, doch sie starrte in die Dunkelheit und konzentrierte ihre Wahrnehmung auf Augensinn und Gehör. Sie war sich des Sternennetzes bewusst, das sich über den Himmel spannte; die schwachen Nadelköpfe des Lichts tanzten und flackerten, wenn sie sie anstarrte. Auch wenn sie sich zu verändern schienen, spürte sie ihre tatsächliche Entfernung, nicht als strahlenden Staub, der das Firmament sprenkelte, sondern als das Wesen des Lichtes von etwas Riesigem, weit Entferntem. Die Zwischenräume sahen aus wie ein unsauber gebügelter Stoff, auf dem sich hellere Töne und Schleier abzeichneten. Yuste schlang die Arme um den Körper, denn sie fror in der geliehenen Kleidung. Sie fühlte sich nackt und verletzlich; sie war so
gewöhnt an ihre Rüstung aus Korsett und steifen Unterröcken. Zwischen ihr und der Nacht befand sich nichts als einige Lagen eines fein gewebten Stoffes. Sie glich einer Wölfin, die aus der Gefangenschaft entlassen worden war, ohne die Fähigkeiten, die sie zum Überleben brauchte, erlernt zu haben. Sie warf Boris einen Blick zu und fragte sich, ob seine gefasste Haltung Furcht oder Aufregung verbarg. Alles, was sie wusste, war, dass sie sehr bald einer unbekannten Gefahr gegenüberstehen würde und zur Schlacht gerufen werden würde – sie, die sie nicht mehr gekämpft hatte, seitdem sie dreizehn war. Sie dachte an Yuda. Es musste ein erstes Mal gegeben haben, als er darauf wartete, seine Kraft einzusetzen, in dem Wissen, dass er noch nie auf die Probe gestellt worden war. Er musste, ebenso wie sie nun, gewartet haben – doch er hatte sich auf seine Ausbildung aus all den Jahren mit Sival und später an der Shkola verlassen können. »Verflucht, Yuda«, flüsterte sie. Sie schauderte und zitterte wie eine Espe, obgleich gar kein Wind wehte. Es stimmte, dass sie glücklich war, Boris so in ihrer Nähe stehen zu sehen; er war ruhig, und seine Gestalt schien mit dem Baum zu verschmelzen, an den er gelehnt stand. Sie rieb ihre kalten Hände aneinander und fragte sich, ob es nur die Kälte war oder Angst oder beides. Die Nacht schien voller Symbole, die sie nicht deuten konnte; große, sperrige Worte, die sie verhöhnten, weil sie nicht gelernt hatte, sie zu lesen. Sie konnte die Macht spüren, die in ihr brandete; sie erkannte die goldene Tönung, die sie in ihrem Bruder gesehen hatte. Er hatte tatsächlich das mit ihr geteilt, was ihn durchströmte – was auch immer das war –, den goldenen Fluss, der aus einer unsichtbaren Quelle stammte und sie nun beide erfüllte und sich durch ihre Adern und Nerven ergoss. Alles, was sie zu tun hatte, war, nach innen zu greifen und Wasser aus einem Brunnen zu schöpfen. – Kannst du etwas sehen? Sie warf einen weiteren abgehackten Gedanken in Boris' Richtung. – Nein. Er brach das Gespräch ohne viel Federlesens mit einem einzigen
Wort ab. Yuste wollte ihn anschreien, doch sie hatte Angst, die Stille gewaltsam zu durchbrechen. Selbst ihr Gedanke war ihr zu laut erschienen, als würde er über die felsige Hügellandschaft hallen. Sie blickte zu Cluny und Planchet hinüber, doch beide Männer waren mit den Bäumen verschmolzen, und sie konnte ihre einzelnen Umrisse nicht mehr ausmachen. Sie schauten alle in die gleiche Richtung und beobachteten den Weg, auf dem sie gekommen waren. Suchten den Horizont nach dunkleren Schatten vor der Schwärze ab und lauschten auf den Klang von Hufen. Vielleicht hatten sich die Reiter abgewandt und waren den Wagen der Roma gefolgt. Plötzlich rasten ihre Gedanken und gaben ihren Ängsten Gestalt, sodass sie wie Szenen wirkten, die bereits geschehen waren: umgestürzte und brennende Wagen, ihre Bewohner tot auf dem Boden. Yuste versuchte, sich selbst zu zwingen, auf den Horizont zu starren, doch unablässig sah sie die lebendigen Farben vor ihrem inneren Auge, Farben, die im Dunkeln nicht zu sehen wären. Sie stellte fest, dass sie die Weite der Landschaft nicht mochte. Sie hatte sich an die einengenden Mauern von Masalyar gewöhnt. Auch wenn sie in einem abgelegenen Farmhaus aufgewachsen war, war die Leere, die sie bei Nacht umgab, immer bedrohlich gewesen, als ob sich, kaum dass die Bewohner der Häuser eingeschlafen waren, Geister vor den Fensterläden der Häuser versammelten und die weiten Felder belebt wären von unsichtbaren Bewegungen. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie der Angriff aussehen würde, wenn er losbräche. Es würde Pferde geben und Männer, die sie ritten. Die Reiter würden Cluny und Planchet ähneln. Sie würden sich rasch bewegen, die Hufe ihrer Reittiere wie ein lauter Trommelwirbel auf den Steinen. Sie würden nicht erwarten, dass jemand ihnen auflauerte. Sie fragte sich, welche Gedanken solche Männer haben mochten. Würden sie müde sein wie sie und sich nach ihren Betten sehnen? Oder würden sie an den Auftrag denken, der ihnen erteilt worden war, und daran, was sie tun mussten, um ihn zu erfüllen? Oder war es möglich, dass sie Freude an dem fanden, was sie taten,
wie Jäger? Yuste konnte diesen letzten Gedanken nicht vollenden. Sie wusste, dass Boris kämpfen würde, wenn seine Arbeit es von ihm verlangte. Yuda genoss den Kampf, denn ansonsten würde er nicht seit so vielen Jahren als Wache auf den nördlichen Zügen arbeiten, wo es immer irgendwelche Arten von Ärger gab. Doch ihr Bruder war ein seltsames Wesen; sie waren sich als Kinder so nahe gewesen, aber seit er zum Jugendlichen geworden und dann ins Mannesalter übergegangen war, hatte sie ihn immer weniger verstanden. Boris veränderte seine Haltung, und sie hörte ihn zusammenzucken. Auch er hatte darunter gelitten, dass er zum Reiten gezwungen gewesen war. Sie waren Stadtmenschen, die an die Gefahren und die Alltäglichkeiten des Lebens zwischen hohen Häusern gewöhnt waren, wo viele Menschen nahe beieinander lebten. Es gab keine Dunkelheit in Masalyar; die Straßen glitzerten unter den rauchigen Lampen, und man konnte unbeleuchtete Gassen meiden. Doch hier waren sie beide der Wildnis ausgesetzt, wo andere Regeln galten und der Feind aus der leeren Nacht herausgeritten kam und sein Geist für sie nicht zu verstehen sein würde. »Boris, ich fürchte mich«, sagte sie leise. Er brauchte eine Weile, bis er antwortete. »Ich mich auch. Ich fürchte mich immer. Es wird mit der Erfahrung besser – bei einigen.« »Danke, Boris Andreyevich …« »Seht.« Er streckte seine Hand aus, um sie zum Schweigen zu bringen. Yuste versteifte sich und sah, wie er den Kopf reckte wie ein Apportierhund, auch wenn er lauschte und nicht nach einem Geruch schnupperte. »Was ist?« »Horch!«, sagte er, und auch sie spannte ihren Körper, um die Stille zu durchdringen, neue Laute zwischen den winzigen Regungen auszumachen, die das Muster der Nacht bildeten. Boris drückte ihren Arm. »Dort.«
Es war nicht das Geräusch, das sie zu hören erwartet hatte; etwas pochte mit einem rhythmischen Puls wie ein Motor. Sie wandte ihr Gesicht Boris zu. »Was ist das?« »Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich höre es schon eine ganze Weile. Es ist … unerwartet.« Während er sprach, nahmen sie beide noch ein anderes Geräusch wahr, klarer und ausgeprägter als das unterschwellige Klopfen eines Motors. Es hallte von den Felsen wider, und sie wussten, dass ihre Verfolger auf hartem Boden ritten und sich rasch bewegten; schließlich konnten sie den Wirbel galoppierender Pferde hören, die mit ihren eisenbeschlagenen Hufen auf dem Gestein trommelten. »Verdammt«, sagte Boris. »Warum müssen es zwei auf einmal sein?« »Ich kann das nicht tun, Boris.« »Keine Zeit für Panik, Missis.« Er griff nach seiner Waffe und drehte sie um, um sich zu vergewissern, dass sie geladen war. Auch seine Hände zitterten. Yuste starrte in die Dunkelheit wie ein verschreckter Hase, der jeden Willen verloren hatte, vor seinen Verfolgern zu fliehen. Wie sie gefürchtet hatte, konnte sie Umrisse erkennen, die sich in dem größeren Schatten über den lichtlosen Boden bewegten. Sie kamen in einem Pulk voran, und sie konnte geradeso einzelne Mitstreiter ausmachen, die wirbelnden Beine der Tiere, die windgeblähten Umhänge der Reiter. Sie presste ihre Hände zusammen, und sie waren kalt und klamm. Das Feuer in ihr schien erloschen zu sein; es war tief in ihr zusammengesunken, zu einem kleinen, verlorenen Funken geschrumpft. Dann war jemand an ihrer Seite. Nicht Boris, auch wenn sie sich umgewandt hatte, um zu ihm zu schauen. Sie fühlte die Anwesenheit ihres Bruders, der wie ein Schatten neben ihr stand. – Yuda? – Ich würde auf die Pferde zielen. Aber du musst abwarten. – Ich kann das nicht!
– Unsinn! Natürlich kannst du. Ich werde deine Hand führen. – Du bist nicht hier. – Ich bin in deinem Kopf. Sie spürte, wie er grinste. – Das ist interessant. Denk nicht an mich. Vergiss, dass ich hier bin. Oder wo auch immer ich bin. Yuste zwang sich, den Blick nach außen zu kehren. Vor ihr hatten die Reiter Gestalt angenommen, dunkel, aber klar erkennbar. Sie konnte sehen, wie sich ihre Gesichter als weiße Ovale abzeichneten, die von ihren Helmen umrahmt wurden. Ihre Fremdartigkeit entsetzte sie; sie spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Es half ihr nicht, dass ihr Zwilling aus ihren Augen schaute, dass sein Geist ihre Sinne nutzte. Er erkannte die Kleidung der Reiter, und sie spürte seinen kalten Hass. Für sie waren es einfach erschreckende, verstörende Gestalten, die eine zweite Haut aus silbernen Ketten trugen, mit denen sie aussahen wie Reptilien in menschlicher Form. Sie gehörten nicht in ihr Jahrhundert, mit ihren primitiven Waffen. »Mach dich bereit«, sagte Boris. Ihr war schwindelig, und sie fühlte sich schwach vor Angst und der doppelten Sicht, die ihren Geist verwirrte. Sie wünschte sich, dass Yuda sie verlassen würde. Sie sah, wie Boris die Waffe in seiner Hand hielt und sich bereit machte, aus dem Schutz der Bäume herauszutreten. – Zeit, sich zu bewegen, dachte ihr Bruder. Yuste merkte, dass sie von seinem Willen und ihrem eigenen vorangetrieben wurde, sie beugte sich vor, löste sich aus der Sicherheit und trat in die offene Ebene. Die Reiter waren so nah, dass sie die Hufschläge auf dem Boden und in ihren Knochen spüren konnte. Sie beugte sich bis tief über den Boden und erinnerte sich daran – aber war das ihr Gedanke? –, dass sie verhindern musste, dass sich ihre Silhouette gegen den Horizont abzeichnete. – Warte auf Boris, dachte Yuda. Sie sah zu, wie der Schamane in seinem Mantel mit den gedeckten Farben sich den Reitern zuwandte. Er schien sich so langsam zu bewegen, dass sie jede Einzelheit erkennen konnte. Er stand seitlich,
hob mit einer bedächtigen Bewegung den Arm und spannte seine Waffe. Die Reiter wurden deutlicher, und zum ersten Mal spürte sie, wie sich die Luft unter ihrem Ansturm regte, und sie fing den Geruch der Pferde auf, eine Mischung aus Stroh und Kot. Sie sah, wie Boris mit dem Finger den Abzug betätigte, dann gab es einen Blitz und die Nacht explodierte. Einige Augenblicke lang fühlte sich Annat an die altertümliche Maske eines Schauspielers erinnert, mit starrenden Augen und einem verzerrten Mund. Während dieser Zeit konnte sie sich nicht bewegen, denn Angst und ihre Einbildung hielten sie zurück. Dann gewannen ihr Instinkt und ihre Ausbildung die Oberhand. Sie hob ihre Arme und hörte das freudige Klingeln in ihren Ohren, als die Macht aus ungeahnten Tiefen heraufschoss und aus ihren Händen floss. Als Annat noch jünger war, hatte sie nicht gelernt, die Kräfte in sich zu kontrollieren. Sie konnte sie nutzen, aber selten mit viel Gewinn, und sie verbrannten ihr die Hände. Doch nun lernte sie seit vier Jahren bei Sival und ihrem Vater, die sie gelehrt hatten, wie sie die Stärke, mit der sie geboren worden war, begreifen und handhaben konnte. Auch die Hexe verfügte über schamanische Kräfte, und dazu war sie ebenfalls in der unzuverlässigen Wissenschaft der Magie bewandert. Sie wäre eine tödliche Gegnerin für Annat gewesen, wenn sie über ihr gesamtes Arsenal hätte verfügen können, doch da Semyon sie in ihrer Stärke beschnitten hatte, konnte sie sich nur mit Hilfe aufwändiger Zaubersprüche der Magie bedienen, wie bei dem, den sie genutzt hatte, um die Seelen von Annat und Malchik zu stehlen. Sie drosch mit der Schädelfackel nach Annats Kopf, doch ein rascher Stoß aus Annats Händen brannte ihr die Fackel aus der Umklammerung und versengte ihre Finger. Annat war jetzt bereit und tänzelte auf ihren Fußballen. Als der Machtstrom ein zweites Mal in ihr aufstieg, ließ sie ihn durch ihre
Arme und in einem Bogen aus ihren Handflächen fließen. Es sah aus wie ein kleiner Blitz, silbern und schnell. Baba Yaga beschrieb mit ihren Armen einen Bogen und warf einen Schild aus behauener Bronze empor. Sie hatte ihr Durmat preisgegeben: Es war schwächer als Annats. Die silbernen Funken schnitten durch den Schild, stachen ihr in den Oberkörper und warfen sie zurück. Annat fühlte die Luft auf ihren Handflächen prickeln. Ihr Geist summte und sang in ekstatischer Hochstimmung, die den Freuden des Sexes nahe kam. Doch da war ein eisiger Gedanke, der sie davon abhielt zu töten. Sie hatte nie zuvor gegen eine Frau gekämpft, und es gefiel ihr nicht. Die Hexe hatte sie verletzt und sie erschreckt, doch sie war eine geschlagene Frau, alt und zerstört. Annat richtete sich auf, rieb ihre Hände gegeneinander, um das prickelnde Gefühl zu lindern, das sich wie stechende Mücken anfühlte, und wartete darauf, was die Hexe tun würde. Derzu machte einen Schritt nach vorne; in der Hand hielt er einen hölzernen Stab. Er zeichnete einen Umriss in die Luft, der ein Nachbild vor dem Auge hinterließ. Die Hexe taumelte von der Wand zurück, gegen die sie Annats Stoß geschleudert hatte, und glättete ihre Haare. »Sie gehören mir, Derzu. Ich habe ihre Seelen herausgelöst.« »Und ich habe sie wieder zurückgerufen«, sagte der alte Schamane. »Der Herr wird mich freilassen, wenn ich ihm die Seelen bringe.« »Sie waren deine Gäste, Baba Yaga. Du hast das heilige Gesetz der Gastfreundschaft gebrochen.« »Ist das alles, was du zu sagen hast? Nach so vielen Jahren der Gefangenschaft in der Dunkelheit? Gib sie mir, oder ich werde die Bergleute herbeirufen, die uns alle zerstören werden.« Annat hörte Malchiks Stimme. Sie blickte über ihre Schulter und sah die Silhouette ihres Bruders vor dem roten Widerschein des Feuers. »Meine Schwester ist stärker als du, Baba Yaga«, sagte er. »Sie hätte dich töten können.« »Ich bin bereits lebendig begraben, Junge«, sagte die Hexe. »Der Herr hat mir alles genommen.«
Malchik trat einen Schritt vor. Das Licht brach sich auf seinen Brillengläsern. »Warum schließt du dich nicht uns an und kämpfst gegen ihn?«, fragte er. Sie stieß ein kurzes, ersticktes Lachen aus. »Gegen ihn kämpfen? Wir vier – eine gebrochene Hexe, ein alter Schamane und zwei halbwüchsige Jugendliche? Er gebietet über die Macht einer Welt. Einer Welt, die er gebunden und in einem Lederkoffer gefangen hält. Es gibt keine Hoffnung.« »Ich kann dir die Seelen dieser jungen Menschen nicht geben, und ich werde es auch nicht«, sagte Derzu. »Kehre zurück in dein Gefängnis und warte, so wie ich es tue. Dein Geist ist nicht gefangen.« »Mein Verstand geht nicht auf Wanderschaft, alter Gestaltwandler. Was kann ich schon tun, hier unten in der Dunkelheit? Ich habe nichts zu verlieren. Lass mich ihre Seelen nehmen, oder ich werde die Bergleute rufen.« »Dann wirst du sie rufen müssen«, sagte Derzu. »Angst wird mich nicht dazu treiben, schlechte Dinge zu tun.« Annat wartete nicht ab, um zuzusehen, was die Hexe tun würde. Mit kalter, entsetzlicher Entschlossenheit hob sie die Hände und setzte eine Flamme frei, die rasch wie ein Blitz raste und sich in den Rücken der Frau bohrte, die sich mit dem Gesicht zum Felsen gewandt hatte. Es gab ein lautes Krachen und der Körper der Hexe versteifte sich; sie wurde von den Füßen gehoben und gegen den Fels geschleudert. »Bei der Mutter«, sagte Malchik; seine Stimme klang laut in der Stille danach. Der Körper der Hexe glitt zu Boden, wo er reglos liegen blieb, einmal mehr wie ein Haufen Lumpen. Annat zitterte und schlang die Arme um sich. »Du hast sie getötet, aber es ist zu spät«, sagte Derzu. »Ich musste es tun. Sie war dabei, die Bergleute zu rufen«, sagte Annat. Der alte Mann drehte sich um und ging zurück zur Asche seines Feuers, wo er sich auf seinen Stab stützte. Annat merkte, dass ihr Bruder sie anstarrte. Sie fand Zeit, sich zu wundern, warum er
die Mutter angerufen hatte. Derzu ließ sich beim Feuer auf den Boden sinken und senkte den Kopf. »Sie hat sie bereits herbeigerufen«, sagte er. Annat hastete zu ihm und setzte sich neben ihn. »Ich musste es tun, verstehst du?« Malchik kam ihr nach, und sie spürte, wie seine Hand ihre Schulter drückte. »Ich verstehe die Gründe«, sagte Derzu. »Aber ich weiß nicht, ob das ausreicht, um zu töten.« »Die Wölfe töten«, sagte sie leidenschaftlich und verzweifelt. »Wölfe sind Wölfe. Sie verhalten sich ihrer Natur entsprechend. Sie töten, wenn sie Nahrung brauchen. Du bist eine Schamanin. Du solltest nicht so einfach ein Leben nehmen.« »Ich glaube, Annat hat gehandelt, um uns zu retten, Derzu«, sagte Malchik. »Das gefällt mir nicht«, sagte der alte Mann. Malchik saß mit gekreuzten Beinen neben Annat. Kalt im Inneren, als ob alles Feuer in ihr erloschen wäre, sagte sie: »Warum hast du die Mutter angerufen?« »Was?« Ihr Bruder blinzelte verwirrt wegen der unerwarteten Frage. »Dafür haben wir jetzt keine Zeit, Natka. Wir müssen uns überlegen, was wir als Nächstes tun wollen. Was wir gegen die Bergleute unternehmen wollen.« Annat faltete die Hände in ihrem Schoß. Sie fühlte sich aus dem Gleichgewicht gebracht, als ob all ihre Saiten verstimmt wären. Sie wusste, dass Malchiks Worte Sinn ergaben, doch zwischen ihrem Schmerz über Derzus Missfallen und ihrer eigenen Schuld musste sie losschlagen, einen wunden Punkt finden und sich darüber sorgen. »Wanderer rufen nicht die Mutter an«, sagte sie. Malchik blickte sie mit einem traurigen Ausdruck, doch ohne Scham an. »Ich bin kein Wanderer mehr, Annat«, sagte er. »Ich habe wieder das Chrisma bekommen. Ich bin ein Doxoi.«
Die Kälte kroch langsam durch ihre Adern. Als ihr Bruder ein Säugling war, hatte ihre Mutter ihn zu einem Priester gebracht, um ihn salben zu lassen, doch er war als Wanderer aufgezogen worden. Er wusste ebenso gut wie sie, was es bedeutete, sich von ihrem alten Glauben loszusagen und sich in die Gemeinde ihrer Verfolger zu begeben. Nach der Kälte kam der körperliche Schmerz, als ob sie jemand in die Rippen geschlagen hätte. Malchiks eigenes Volk würde ihn ausstoßen; ihr Großvater würde ihn betrauern, als ob er bereits tot wäre. »Malchku«, sagte sie. Als der Priester mit dem heiligen Öl das Rad auf Malchiks Stirn gezeichnet hatte, hatte er ihm auch einen neuen Namen gegeben. Für die Doxoi symbolisierte dies den Übertritt in ein neues Leben; es bedeutete, dass er nicht länger unter dem Fluch der Megalmayar stand, die die Wanderer zu ewiger Ruhelosigkeit verdammt hatte. Alle Gedanken an ihre gegenwärtige Gefahr waren aus Annats Geist getrieben. Sie konnte nur daran denken, wie ihr geliebter Bruder so sinnlos ein Fremder geworden war. Er schien ruhig. »Ich wollte es dir sagen«, meinte er. »Aber es war keine Zeit.« »Wie konntest du nur?«, flüsterte Annat. Irgendwie schien ihr eigenes Verbrechen, das Töten der Hexe, im Vergleich geringer zu werden. »Jemand bat mich darum. Eine liebe Freundin. Mein Mädchen.« »Wovon sprichst du?« »Ich habe jemanden umworben. Doch sie hat sich geweigert, mich zu erhören, wenn ich nicht ein Anhänger der Wahren Kirche werde. Sie hat mich die Dinge mit anderen Augen sehen lassen. Deshalb bat ich darum, ein zweites Mal gesalbt zu werden. Um sie wissen zu lassen, dass ich glaube.« Annat fuhr sich mit der Hand über die Augen. Sie dachte an Eugenie, doch die Prinzessin de Bouget hatte sie nie gebeten, sich von ihrem Glauben loszusagen. »Ist das denn wahr, teilst du den Glauben der Doxoi?«, fragte sie. Malchik zögerte, bevor er antwortete. »Ja«, sagte er.
»Nachdem wir auf die Zwillingsgöttinnen in La Souterraine getroffen waren, erzählte mir Cluny mehr über sie; wer sie sind und welche Rolle sie in der Storia der Mutter und des Sohnes spielen. Ich wusste, dass sie real waren. Genauso weiß ich, dass die Mutter real ist. Ich habe mich von dem Einen nicht losgesagt, doch ich ehre die Mutter, wie alle Doxoi.« »Auch ich weiß, dass die Mutter real ist«, sagte Annat. »Ihr Fluch bindet die Wanderer noch immer. Aber es war ein unrechter Fluch. Sie hat sich an die Stelle des Einen gesetzt. Sie mag eine große Göttin sein, aber sie ist falsch.« »Nicht für mich, Natka. Ich liebe es, die Schönheit des Ganzen. Die Traurigkeit über den Verrat und den Tod ihres Sohnes. Die Freude über seine Rückkehr. Das ist alles viel wichtiger als die Worte, die auf staubigen alten Spruchrollen festgehalten worden sind. Als ich das erste Mal mit ihr – meiner Freundin – das Mahl teilte, als der Priester, Vater Anadolou, das runde Brot segnete und wir es brachen und zwischen uns teilten, glaubte ich, ich sei in den Himmel eingegangen. Nur wir beide und der Priester, und der Chor, der nicht zu sehen war und hinter der Abschirmung des Altars sang. Ich habe nie so empfunden, wenn ich ins Beit gegangen bin.« »Aber hast du daran gedacht, was das für Yuda bedeuten wird? Und für Yuste?« »Ich habe darüber nachgedacht. Ich betete. Ich weiß, dass ich das Richtige getan habe. Ich liebe sie, Annat, wir gehen gemeinsam zur Versammlung, wir teilen das Heilige Brot mit ihren Freunden – sechs sind wir, Cluny eingeschlossen. Er malt Eikons für die Kirche.« Annat stützte den Kopf in die Hände. »Es spielt keine Rolle, was ich denke – aber Tate? Ich weiß, er würde lieber sterben als zu verleugnen, dass er ein Wanderer ist.« »Das hält ihn nicht davon ab, mit Frauen der Doxoi zu schlafen!« Die Schärfe, mit der Malchik antwortete, verriet ihr, dass sie ihn endlich getroffen hatte. Sie war nicht froh deswegen.
»Er hat viele Doxoi geliebt, aber er ist nicht selbst einer geworden«, sagte sie. »Ich bin nicht Yuda«, sagte Malchik. »Ich will sie, und sie will mich. Wir werden gemeinsam im Glauben der Doxoi leben.« »Wirst du sie heiraten?« »Ich kann nicht. Sie hat bereits einen Ehemann. Sie leben getrennt.« »Kinder«, sagte Derzu. Sie hatten ihn beinahe vergessen, so sehr hatten sie sich in der Leidenschaft ihres Streits verloren. Ihre Gefahr vergessen. »Die Bergleute sind hier.« An den Rändern der Höhle flackerten weiche, gelbe Lichter, wie die Kerzenreihen, die Annat in den Tempeln der Doxoi gesehen hatte. Die Flammen waren nahe am Boden, und mit einem Schock erkannte sie die Gestalten, die sie entzündet hatten. Sie war sich nicht sicher, was sie erwartet hatte, was die Bergleute sein mochten, doch dies hatte sie sich nicht ausgemalt. Sie waren klein, vielleicht vierzig Zentimeter, wie Puppen, die Kindern ähnelten. Sie hatten traurige, weise Gesichter, die von wehmütiger Schönheit waren; ihre Haut war hell, fast wie Biskuitporzellan, und ihre Augen waren dunkle Löcher mit nur einer Ahnung von Weiß, wie die Augen von Affen. Annat erhob sich langsam und starrte hinab auf die Ansammlung winziger Leute, die die schlanken Fackeln in ihren zarten Händen hielten. Es war schwer, die Frauen von den Männern zu unterscheiden; sie trugen alle ähnliche Kleidung, eng geschnittene Tuniken in blassen Tönen, in der Farbe von Rauch, Staub und dem Himmel. Einige trugen Speere, doch die an der Spitze hatten Bogen gezückt und die haarnadelgleichen Pfeile auf Annat, Malchik und Derzu gerichtet. Annat zögerte, ihnen auf irgendeine Weise Leid zuzufügen. Sie fühlte einen Hauch von Entsetzen wegen ihrer Blässe, die sie an die Haut von toten Fischen erinnerte. Doch das war das einzige Ungesunde an ihrem Aussehen; ihre abgespannten, traurigen Gesichter erzeugten eher Mitleid als Furcht. Sie trat einen Schritt nach vorne, und sofort erhoben sich Hunderte kleine Schäfte wie Elritzen ins
Licht. Annat duckte sich, doch einer bohrte sich in ihre Hand, und sie bückte sich und schrie, als ein reißender, marternder Schmerz ihren Arm emporzog. Sie wollte mit ihrer Macht zurückschlagen, doch es kam nichts. Ihre taube Hand pochte, und Annat fühlte sich, als ob ein Netz, aus tausend kleinen Fäden gewoben, sie unter der Haut band und ihre Kräfte bereits an der Quelle versiegen ließ. Eine Gestalt in einem langen Umhang in der Farbe von Mottenflügeln löste sich aus der Menge. Als sie sich regte, spannten die Bogenschützen neue Pfeile in die Sehnen ihrer Bögen. Annat wurde vom Schmerz gepeinigt, Tränen liefen ihr über das Gesicht, und sie lag auf der Seite. Das kleine Gesicht war kurz vor ihrem eigenen: ausdruckslos, weder voller Mitleid noch Zorn. Die Frau hatte lange, glatte Haare, dunkel, wie das Fell eines Maulwurfes. Annat spürte, wie die Hand ihres Bruders ihren Arm drückte, als er sich über sie beugte. »Ihr seid unsere Gefangenen«, sagte die Frau. »Ihr werdet an den Ort gebracht, der euer Gefängnis und unser Reich geworden ist: Dort wird über euer Schicksal entschieden werden.« Schweigend ritten sie durch den Nebel. Sie hatten den ganzen Tag im Sattel verbracht, der Weg führte immer steiler bergauf, und die Bäume drängten immer weiter auf den Pfad. Huldis hatte beobachtet, wie der Streifen Himmel über ihren Köpfen sich langsam trübte und verdunkelte und dann ganz verschwand, als sich der Nebel senkte. Sie mussten sich der Baumgrenze nähern, danach würden sie sich auf dem nackten Felsgestein befinden. Doch es gab keinerlei Anzeichen, dass sich der Wald ausdünnte. Stattdessen bewegten sich die Pferde hintereinander auf dem Weg nach oben, ihre Geschirre klapperten und brachten ein gedämpftes Echo hervor wie das Geräusch von Ziegenglocken auf den hohen Wiesen. Sarl war an der Spitze und saß rittlings auf seinem Streitross kerzengerade und reglos im Sattel. Yuda war an Händen und Füßen gefesselt und über den Pferderücken geworfen worden. Hinter ih-
nen kam Huldis, die sich in einer Art Lähmung befand und in ihrem Geist immer wieder die Szenen und Ereignisse der letzten Stunden durchging. Sie konnte Semyon in einiger Entfernung hinter sich reiten hören; manchmal schien sein Pferd zu stolpern, und sie konnte ihn fluchen hören. Sie blickte nicht zurück. Sie hoffte, dass sie ihr Lager aufschlagen würden, solange sie sich noch in der Deckung der Bäume befänden, und nicht abwarteten, bis sie auf die offenen Weiden kämen. Hier wenigstens gab es Feuerholz im Überfluss und Schutz. Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren, doch es war nach Anbruch der Dämmerung; sie hatten den ganzen Tag auf den Pferderücken gesessen, ohne Rast zu machen, um etwas zu essen. Sie hatten nur angehalten, wenn einer von ihnen dem Ruf der Natur folgen musste. Huldis sehnte sich danach, abzusteigen, ihre Glieder zu strecken und die Streifen zu wechseln, die ihr Menstruationsblut aufsaugten. Mehrere Male am Tag hatte sie unter Krämpfen gelitten und sich voller Sehnsucht an die Wärme, welche von Yudas Händen ausgegangen war, erinnert, die letzte Nacht ihre Schmerzen gelindert hatte. Mit einem bitteren Beigeschmack dachte sie, dass Frauen wie Hündinnen waren: nichts als Hitze, Flüssigkeiten und Schwierigkeiten. Kein Mann hatte solche Probleme; obgleich sie mit einem Anflug von Humor zugeben musste, dass Semyon weniger zäh schien als die anderen Männer, die sie kannte. Er war heute zweimal aus dem Sattel gefallen, und sie war gezwungen gewesen, ihn aus dem Unterholz zu retten, während Sarl auf seinem Ross sitzen geblieben war und ihnen mit herrschaftlicher Gleichgültigkeit zugesehen hatte. Yuda hatte den ganzen Tag über geschwiegen. Ihn musste jeder Knochen schmerzen, doch Huldis glaubte, dass er sich von seinem Körper gelöst hatte, der gefesselt war, und seinen Geist frei wandern ließ. Er hing schlaff wie ein Getreidesack über dem Rücken von Sarls Pferd, als ob er wieder das Bewusstsein verloren hätte. Als sie endlich für die Nacht Halt machten, hob ihn Sarl herunter und warf ihn auf den Boden, wo er reglos liegen blieb und sein Gesicht wie ein verriegeltes Fenster wirkte.
»Na endlich«, grummelte Semyon, glitt aus dem Sattel und kam mit einem Stöhnen auf dem Boden auf. Wie ein Stallknecht ergriff Sarl die Zügel der drei Pferde und führte sie in den Nebel, von dem er nach einigen Schritten verschluckt wurde. Semyon und Huldis sahen einander an. »Wir sollten besser ein Feuer anzünden«, sagte sie. Er legte den Lederkoffer auf den Boden zu seinen Füßen und schien über eine Antwort nachzudenken. Dann kniete er sich hin, ließ die Verschlüsse aufschnappen und griff ins Innere. Huldis sah ihn etwas herausnehmen, das wie eine Hand voll Licht aussah. Er hob es vorsichtig empor, sprach einige Worte und schleuderte es auf den Boden, wo es sofort zu einem munter brennenden Feuer wurde, das auf einem Haufen guten, trockenen Zunders entfacht worden und von Steinen umgeben war. Er drückte den Koffer wieder zu und ließ ihn liegen, wo er war, denn er hatte es eilig, seine Hände an dem Feuer zu wärmen. Huldis beobachtete amüsiert, wie er das hintere Ende seines Umhanges lüpfte und sein Hinterteil vor die Flammen hielt. Sie tat es ihm nach und setzte sich nahe an die Glut. »Vergiss nicht unseren Gefangenen«, sagte sie. Semyon schnitt ihr ein Gesicht, doch er ging zu der Stelle, an der Sarl Vasilyevich fallen gelassen hatte, packte ihn an den Füßen und zog ihn die wenigen Meter über den Waldboden, um ihn näher ans Feuer zu holen. »Wirkt der Spruch noch immer?«, fragte Huldis. »Er wäre nicht hier, wenn er es nicht täte. Er ist einer der mächtigsten Schamanen, denen ich je begegnet bin. Ich weiß nicht, zu was er fähig ist. Nun ja, vermutlich kann er fliegen.« Huldis unterdrückte ein Lachen. Semyon warf ihr einen Blick zu. »Kaschai kann fliegen. Kaschai, der Unsterbliche. Und wenn wir morgen den Pass überquert haben, werden wir in seinem Land sein.« »Ein fliegender Zauberer«, sagte Huldis. »Irgendwie habe ich das Gefühl, dass das unsere geringste Sorge ist.« »Der Staryetz wird einen Bericht von mir erwarten über den Fortschritt meiner Mission. Ich habe keine Idee, was ich ihm sagen soll.«
»Erwarte kein Mitgefühl, Magus. Du hast dich dafür entschieden, einem mächtigen und anspruchsvollen Herrn zu dienen.« »Was war ich für ein Narr«, sagte Semyon und rieb die Hände aneinander. »Ich hatte solch ein Vertrauen in meine eigenen Fähigkeiten. Es wäre viel einfacher, wenn es sich nicht … um diesen Bruder von dir handeln würde.« Huldis stützte ihr Kinn auf die Hand. »Er hat dich noch nicht getötet«, sagte sie. »Ach ja, das hätte ich fast vergessen. Ich nehme an, dass man für diese kleinen Dinge dankbar sein sollte.« Huldis lachte laut, und eine aufgescheuchte Taube, die in den Zweigen über ihnen gehockt hatte, flatterte aufgeregt und mit heftigen Flügelschlägen davon. Semyon warf Yuda, der sich nicht rührte, einen Blick zu. »Was hat er, das ich nicht habe?«, fragte er leidenschaftlich. »Wie bitte?« »Ich habe gesehen, wie du ihn anschaust. Ich bin nicht völlig unbedarft, was Frauen anbelangt.« Huldis verspürte nicht den Wunsch, ihre ureigensten Gedanken mit ihm zu teilen. Sie hoffte, dass er im Schein des Feuers nicht sehen würde, wie sie errötete. »Du könntest es nicht einmal im Ansatz verstehen, Magus«, sagte sie. Semyon zuckte mit den Schultern. »Ich dachte, wir hätten eine Abmachung. Dass wir wenigstens Freunde würden.« »Ich ziehe deine Begleitung der meines Bruders vor. Wenigstens bist du lebendig und menschlich.« »Vielen Dank. Das lässt sich vermutlich meinen Verführungskünsten zuschreiben.« Huldis lächelte ihn an. »Meine Hochzeit unterliegt dem Willen meines Vaters, und er würde dich niemals erwählen, und noch viel weniger einen verfluchten Wanderer. Meine Schwester hat ihre eigene Wahl getroffen, mein Vater wird mir nicht den gleichen Luxus gestatten.«
»Am Hofe des Staryetz ist es das Gleiche«, sagte der Magus. »Und zweifellos werde ich heiraten, um meine Stellung zu stärken, nicht aus Liebe.« »Aber dir ist es erlaubt, par amour zu lieben, Magus; ich hingegen muss eine züchtige und loyale Ehefrau sein.« »Wer dich als Gemahlin bekommt, wird jedenfalls ein glücklicher Bursche sein. Der Fluch ist nur, dass dich dein edler Vater ohne Zweifel an irgendeinen Trottel verheiraten wird, der lediglich an Titeln und Ländereien reich ist.« »Dein Mitleid wird mich nicht erweichen, Magus. Ich bin für dieses Leben erzogen worden und weiß, was von mir erwartet wird.« Er beugte sich zu ihr hinüber und sprach mit leiser Stimme. »Aber es muss nicht so sein. Du hast eine Wahl; du kannst die Frau eines jeden Mannes sein. Du verfügst über Geist, Schönheit und Intelligenz. Du beherrschst viele Künste – du hättest sicher keinen Mangel an Verehrern.« »Wenn ich mich von meiner Ehre verabschieden würde, Magus.« Sie dachte an die vergangene Nacht und seufzte. »Denk daran, dass ich nur deshalb hier bin, weil mein Bruder die Anstandsdame spielt; und sobald du ihm sein Leben wiedergibst, wird er mich mit sich zurück nach Ademar nehmen.« »Ich kann es nicht glauben, dass du dich deinem Schicksal unterwirfst. Dass es keinen Funken in dir gibt, der darauf drängt, aufzubegehren.« »Sieh dir den Schamanen an, Magus. Er geht ohne Gegenwehr seinem Schicksal entgegen; wer kann schon sagen, was seine innersten Gedanken sind?« Semyon lehnte sich wieder zurück und warf einen Zweig in die Flammen. Er sah zu, wie er Feuer fing und zu schrumpfen begann, und sagte: »Heute Nacht wird unsere letzte Gelegenheit sein. Wenn wir erst einmal das Imperium des Staryetz betreten haben, werden wir beobachtet werden. Dann wird es keine Möglichkeit der Flucht für dich oder mich mehr geben – oder für den Schamanen.« »Wie sollten wir entkommen?«, fragte Huldis. »Der Nebel lässt uns
kaum die ausgestreckte Hand vor den Augen sehen. Du kannst nicht reiten, ich kann nicht rennen, und der Schamane ist bewusstlos. Wir würden meinem Bruder niemals entfliehen, und ich möchte mir nicht seinen Zorn zuziehen.« »Nein, das nicht. Doch wenn es eine Chance gibt, davonzulaufen, wird sie uns mit jeder Stunde, die bis zum Morgengrauen vergeht, mehr entgleiten.« Huldis hörte ihn kaum. »Er verfällt, Magus«, sagte sie. »Es gibt eine Stelle auf seiner Hand, wo sich die Knochen durch die Haut gebohrt haben.« »Das ist nicht sehr ermutigend«, sagte Semyon. »Wenn wir den Pass überquert haben, wird es noch Wochen dauern, bis wir den Gläsernen Berg erreicht haben. Wir können uns also auf die Begleitung einer langsam verfaulenden Leiche gefasst machen.« Er sah ihr Gesicht und streckte den Arm aus, um ihre Hand zu berühren. »Es tut mir Leid. Mit mir sind die Pferde durchgegangen. Vielleicht fällt mir doch noch eine Möglichkeit ein, den Weg dorthin zu beschleunigen.« Huldis lächelte ihn an. »Du und ich müssen, so gut wir können, für uns selber sorgen, Magus«, sagte sie. »Und was den Schamanen betrifft, so erinnere dich daran, dass er dein Leben hätte opfern können, um sein eigenes zu retten, doch er hat sich entschieden, das nicht zu tun. Das muss für irgendetwas gut sein.« Semyon zog seine Hand zurück. »Er ist ein noch größerer Narr als ich«, sagte er. Ein Geräusch von der anderen Seite des Feuers her unterbrach Huldis, deren Nackenhärchen sich aufrichteten. Sie streckte die Hand aus, um Semyon zum Schweigen zu bringen, und hörte das gleiche Geräusch noch einmal. Es klang, als ob jemand einen lang gezogenen Ton auf einer Flöte spielen würde, ähnlich wie ein Vogelruf; doch es war kein Vogel. »Was ist das?« »Ein Wolf«, antwortete Semyon. Huldis erinnerte sich an ihren Traum. Sie blickte zu Yuda hin-
über, doch er lag reglos; nur seine Augen zuckten hinter den geschlossenen Lidern, als ob er träumte. Sie stand auf und schüttelte ihre Röcke aus. »Es gibt nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest«, sagte Semyon. »Wölfe greifen keine Menschen an.« »Ich muss mal verschwinden – faire le pi-pi«, sagte Huldis. Sie hastete aus dem Schein des Feuers. Sie musste nicht weit gehen, bis der Nebel alles in seine gelbbraune Farbe gehüllt hatte. Sie hockte sich hinter einen Baum und legte rasch saubere Stoffstreifen ein; die beschmutzten vergrub sie unter Blättern und Erde. Der Laut des Wolfes ertönte erneut, und wieder prickelten die Härchen auf ihrer Haut; sie versteifte sich und war erschrocken, noch einen weiteren Wolf zu hören, der aus einer anderen Richtung antwortete. Der Ruf war gespenstisch, weil er einen fast menschlichen Klang hatte; nicht das Nachahmen von Seemöwen, sondern einen Laut der Verzweiflung oder des reißenden Hungers. Sie eilte zurück zum Feuer, und als sie dort ankam, riefen die Wölfe aus den Bäumen ringsum. Semyon stand auf, um ihr entgegenzukommen. »Nicht gerade der fröhlichste aller Klänge«, sagte er. Es war schwer, vor dem Lied der Wölfe im Hintergrund zu sprechen oder zu denken. Manchmal gab es eine Pause, und Huldis glaubte schon, dass sie ihren mehrstimmigen Gesang beendet hatten, doch dann begann wieder einer zu heulen, und die anderen antworteten abwechselnd. In dem Nebel war es schwer zu sagen, wie nah sie waren. Die tiefkehligen Laute schienen viel näher als die helleren, durchdringenderen. Sie zögerte, sich wieder zu setzen; sie stand mit dem Rücken zum Feuer und starrte auf die sie umgebenden Nebelschwaden und auf die Formen, die sie annahmen, als sie sich langsam entfalteten und nach oben stiegen. »Ich glaube nicht, dass ich schlafen kann«, sagte sie. »Es wird nicht die ganze Nacht so gehen«, sagte Semyon. Er ging hinüber zu der Stelle, an der er den Koffer abgestellt hatte, und brachte ihn mit sich zurück, stellte ihn nahe ans Feuer und klopfte
ihm auf die Seiten, als ob er ein zahmes Tier wäre. Plötzlich sah Huldis einen grauen Schatten zwischen den Bäumen herumlaufen. Sie versuchte, ihn nicht aus den Augen zu verlieren, doch der Nebel hatte ihn schon wieder verschluckt. Er war kleiner, kleiner als einige der Hunde ihres Vaters; er bewegte sich wie ein Fuchs mit gesenktem Kopf. Sie wollte sich zum Feuer zurückdrehen, doch sie traute sich nicht, ihren Blick vom Nebel zu wenden. Wenn die Wölfe so nah waren, wollte sie sie im Auge behalten; ihr behagte die Vorstellung nicht, dass sie das Feuer umkreisten, während sie ihnen den Rücken zuwandte. An der gleichen Stelle, einer Lücke zwischen den Pinien, sah sie einen anderen Wolf. Sie sah das gelbe Blitzen seiner Augen, wie bei einer Katze, in deren Augen sich das Licht brach. Eisige Kälte sank von ihrer Kehle in ihr Herz. Der Wolf warf ihr keinen raschen Blick zu, sondern blieb stehen und starrte sie an. Huldis wusste, dass wilde Tiere scheu waren und die Nähe von Menschen und ihren Wohnorten mieden. Sie hatte welche im Wald von Ademar gesehen, und außer einem rasenden wilden Eber waren die Tiere niemals stehen geblieben. Sie sah, wie sich der Wolf in langsamen Kreisen aus dem Feuerschein bewegte. Es war nicht möglich, einem solchen Tier Gefühlsregungen zuzuschreiben; es hatte sie nicht angeknurrt, doch es starrte sie mit seinen eng stehenden, schwarz geränderten Augen an. Huldis hatte das Gefühl, dass der Gesang des Rudels um sie herum näher kam und sich wie ein Ring aus Musik um sie legte. Während sie zusah, begann sie eine Reihe springender Schatten wahrzunehmen, die das Feuer wie die Figuren in einem stroboskopischen Zylinder umrundeten. Sie und Semyon befanden sich in der Mitte einer Drehscheibe, die von Wölfen gesäumt wurde. »Magus«, sagte sie. Ihre Stimme klang heiser. »Was ist los?« Sie wies auf den Rand der kleinen Lichtung, sodass auch er das Band der grauen Pelze sehen konnte, die gesenkten Köpfe, die wirbelnden krallenbewehrten Pfoten. Semyon an ihrer Seite schaute
hin, und sie hörte, wie er die Luft einsog. »Magus, was ist mit meinem Bruder? Er hat kein Feuer!« »Wir müssen uns um uns selbst kümmern«, sagte Semyon. Er hob einen Ast aus dem Feuer und trug ihn in der Hand, als ob er eine Fackel wäre. »Sie werden sich den Flammen nicht nähern.« »Vielleicht sollten wir besser nicht warten, bis wir Gewissheit haben. Öffne deinen Koffer, Magus. Benutze deine Magie.« Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus, und sie presste ihre Hand auf die Brust. Hatte sie zwischen all dem grauen Fell eines ausgemacht, das schwarz war und größer als der Rest? Ein Tier, dunkler als die Schatten, in der Farbe von Kohle, das sich von den anderen abhob wie eine weiße Krähe in einem Schwarm von schwarzen. »Ich kann diese Macht nicht leichtfertig benutzen. Jeder Spruch, den ich aus den Tiefen hole, zehrt von dem Leben im Inneren. Und ich brauche vielleicht alle Kraft, um deinen Bruder zurückzuholen.« »Bei der Mutter«, sagte Huldis und strich sich mit zitternder Hand eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie merkte, wie sie im Geiste die Gebete ihrer Kindheit aufsagte, an Megalmayar und ihren Sohn gerichtet; und jene anderen, verbotenen Anrufungen, die sich an die Zwillingsgöttinnen, die Erhalterinnen der Frauen, wandten. »Sie werden uns nichts tun«, sagte Semyon. »Aber was haben sie dann vor?« Während sie sprach, löste sich der erste Wolf aus dem Schutz der Bäume und begann, den Ring zu umkreisen, genau an der Stelle, wo der Feuerschein in den Nebel überging. Die anderen folgten ihm, und bald waren sie alle dort, mit einem goldenen Schimmer, und zwischen ihnen ein einzelner, schwarzer Rüde. Instinktiv drängten sich Huldis und Semyon näher aneinander, während die Tiere sie immer weiter einkreisten. Semyon legte den Arm um Huldis' Schultern, und sie schüttelte ihn nicht ab. Der schwarze Wolf blieb stehen, hob seine längliche Schnauze und heulte. Der Rest der Meute tat es ihm gleich. Es war, als habe er ein Signal gegeben; die Wölfe drehten sich zu Huldis und Semyon und fielen über sie her. Einige knabberten an ihren Beinen, an-
dere sprangen an ihnen empor, zerrten an ihrer Kleidung und versuchten so, sie zu Boden zu reißen. Huldis konnte nicht aufhören zu schreien. Semyon schwang die Fackel, und wo sie zu nahe kamen, schleuderte sie die Wölfe, die winselten und mit ihren Kiefern nach ihr schnappten, davon; doch immer neue Tiere nahmen ihren Platz ein. Huldis bemerkte zunächst nicht, dass sie Yuda nicht anrührten, obgleich er ausgestreckt auf dem Boden lag. »Sie versuchen, uns auf den Boden zu zerren. Um an unsere Kehlen zu kommen«, keuchte Semyon. Während er sprach, warf sich der schwarze Wolf auf ihn. Die Fackel wurde ihm aus der Hand geschlagen, und er hätte fast das Gleichgewicht verloren. »Yuda!!!!«, schrie Huldis. »Wach auf und hilf uns!« Semyon taumelte im Stehen, und es gelang ihm, den schwarzen Wolf von sich abzuschütteln. Seine Hände waren zerkratzt und bluteten. Die Fackel war davongerollt und außerhalb seiner Reichweite liegen geblieben, wo sie den Boden versengte. Huldis war von Wölfen umgeben, die nach ihr hieben und nach ihren Knöcheln schnappten; sie schleppte sich vorwärts zu der Stelle, an der Yuda lag. Der schwarze Wolf war sein Wolf; er war ihm zu Hilfe gekommen, und sie musste ihn wecken. Er war auf die Seite gerollt und schien von den Ereignissen um sich herum nichts mitzubekommen. Als sie ihn erreicht hatte, versperrte ihr das schwarze Tier den Weg. Es hatte sich über Yuda gestellt und seine Zähne gebleckt, um sie anzuknurren. Seine grauen Begleiter stießen nach ihr, und sie merkte, wie sie fiel und wie ihre Pfoten im Sturz nach ihr traten. Es gab einen Stoß gleißenden Lichts. Bevor sie auf dem Boden aufschlug, hörte Huldis das Geräusch von Tausenden von Flügeln. Aus dem Nebel flatterten schwarze Federn: ein Krähensturm, der aus dem Himmel hinabstieß und um die Wölfe tobte. Huldis verbarg ihr Gesicht und schirmte ihre Kehle mit ihren Händen ab. Über sich konnte sie das Kreischen der Vögel hören und das Tosen ihrer schlagenden Flügel. Es war, als ob sie auf einem Schiffsdeck in einem Sturm lag. Sie fühlte, wie der Boden unter ihr bebte. Die Pfoten der Wölfe trampelten auf ihrem Rücken, doch sie traute sich
nicht, den Kopf zu heben und zu sehen, was sie taten. Sie konnte Semyon schreien hören, und sie glaubte, er rief den Namen ihres Bruders. Sie versuchte verzweifelt, sich aufzurichten, doch sie lag begraben unter einer kämpfenden Masse: Wölfe kämpften gegen Krähen, Schwarz vermischte sich mit Grau, wie eine Gewitterwolke, die sich mit dem Blitz vermengte. Eine Hand berührte sie im Kreuz. Eine menschliche Hand. Huldis drehte sich auf den Bauch und erspähte Yuda, der unter dem Vogelsturm nur bruchstückhaft zu sehen war. Er griff nach ihr, packte ihre Hand und zerrte sie auf die Füße. Er schrie, doch er hätte genauso gut stumm sein können. Dann hallten seine Worte in ihrem Kopf. – Der Koffer! – Was? Yuda zog sie mit sich. Überall um sie herum waren flatternde Flügel, so eng beieinander über ihren Köpfen, dass der Nebel nicht mehr zu sehen war. Das Feuer war niedergetrampelt, und sie sah Wolfskörper auf dem Boden, mit Wunden übersät und mit ausgepickten Augen. Yudas Hand umklammerte ihr Handgelenk. Sie sah den Koffer auf dem Boden liegen, aufgeplatzt, und Licht strömte aus ihm heraus. – Was tust du? – Von hier verschwinden! Huldis war sich nicht sicher, was als Nächstes geschah. Yuda legte seine Arme um sie und sprang. Sein Griff war fest und keineswegs liebevoll; fast hätte er den Atem aus ihr herausgepresst. Huldis glaubte einen Augenblick lang, sie würde über den Koffer stolpern, dann stand sie plötzlich in ihm; doch er hatte keinen Boden und sie fiel. Ihr Haar wirbelte nach oben, als sie in den leeren Raum raste. Sie schrie mit der ganzen Kraft ihrer Lungen, und sie hörte Yuda neben sich schreien. Sie fielen gemeinsam, und es schien kein Ende dieser rasenden Niederfahrt zu geben.
Kapitel 14
Y
uste fühlte die Erschütterung von Boris' Schuss in ihrem Gesicht und in ihren Zähnen. Sie sah, wie ein Mann die Arme emporriss und aus dem Sattel seines scheuenden Pferdes fiel. Cluny und Planchet stürmten aus ihrem Versteck auf die anderen Reiter zu, die versuchten, ihre Reittiere zu beruhigen. Die Pferde wieherten, scheuten und bäumten sich auf, riesig und wild. – Jetzt, dachte Yuda. Sie lief gebückt in das offene Land, die metallbeschlagenen Hufe der Pferde wirbelten über ihr im Himmel, und sie spürte das Gewicht der Tiere, als sie sprangen und auf dem Boden aufschlugen, sich drehten und zusammenprallten. Ein Schrei ertönte, als das Bein eines Mannes zwischen zwei massigen Körpern zerschmettert wurde. Yuste wich nicht zurück, Yuda half ihr. Ihr war schwindelig von den Gerüchen und Geräuschen, und sie spürte, wie sich ihr Arm reckte und in die Luft griff. Plötzlich begann sich die goldene Macht in ihr zu entfalten. Gerade, als ob jemand ein verlöschendes Feuer mit einem Blasebalg zu neuem Leben entfachte, als ob die Kälte aus einem stillgelegten Brennofen vertrieben würde; sie spürte, wie die Hitze sie wärmte und beruhigte. Ihr Arm wurde zu einer Waffe wie die von Boris, und sie fühlte ihre tödliche Stärke, als sie ihr Ziel mit der Hand erfasste und die Macht ausstieß, die in ihr aufgestiegen war. Ein Blitz zuckte, und eine gelbe Flamme durchschnitt die Nacht. Ein pulsierender, heißer Schmerz stach Yuste in die Finger, als das Feuer von ihnen sprang; sie bemerkte die Freude und die Wut, die sie bei der Freisetzung ihrer Kräfte empfand, richtete sich auf und sah, wie es einen zerklüfteten Weg zwischen ihr und einem der armen Pferde sengte. Das Tier machte einen Satz und bockte, warf seinen Reiter ab und fiel zu Boden; es brach zusammen wie die Ruine eines Steinhauses, rollte über den Boden und brach sich den Hals. Tränen stachen Yuste in die Augen, und sie fühlte eine Welle
des Mitleids und der Qualen. Das Pferd hatte seinen Reiter abgeworfen und unter seinem Gewicht begraben wie ein Streichholz. Sie wusste, dass die anderen kämpften, doch alles, was sie sehen konnte, war das Sterben, für das sie verantwortlich war, sowohl beim Tier als auch beim Menschen; ihre Todesqualen zerrissen sie, und sie spürte, wie die Geister herausgerissen wurden und sich in der Nacht versprengten. – Zyon. Yuda umarmte sie. Ohne ihn zu sehen, spürte sie seine Verwunderung über ihre Trauer. – Für mich war es auch einst so. Aber du wirst lernen, dich davor zu verschließen. Die überlebenden Reiter hatten ihre Pferde aus dem Chaos herausgetrieben. Sie hörte sie in Franj ungeordnete Befehle brüllen. »Sie haben einen Schamanen!« Wieder krachte Boris' Waffe, doch diesmal schien der Knall gedämpfter, wie ein brechender Zweig. »Kümmere du dich um ihn, René.« – Vorsicht. Er meint dich, murmelte Yuda in ihrem Ohr. Ein Mann trieb sein Pferd auf Yuste zu. Sie sah, wie er die silbernen Sporen in die Flanken des Pferdes hieb, wo sich Blut sammelte. Ihr Bruder, unsichtbar, schien ihr über die Schulter zu schauen. Yuste griff hinter sich, um seine Hand zu berühren, doch da war nichts. Noch einmal schien sich das Pferd langsam zu bewegen und wie eine Welle über die Entfernung zwischen ihnen zu springen. Der Mann hielt ein Schwert, und Yuste beobachtete genau, wie es glänzte, während das Sternenlicht über die Klinge zitterte. – Sehr schön, aber er hat vor, dir damit den Kopf abzuschlagen. Yuste kauerte sich nieder und machte sich so klein wie eine Pflanze oder ein Felsen. Sie balancierte auf ihren Fußballen, und das Pferd stieg hoch wie ein Brecher, der ans Ufer rollte. Genau so hatte sie im Sand darauf gewartet, während das Meer ihre nackten Füße umspülte, dass die Brandung über ihr zusammenbrach und sie in das tiefe, tosende Wasser zog. Sie blickte in den Himmel, doch alles, was sie sehen konnte, war der Schatten des sich aufbäumenden Tieres, schwarz wie Anthrazit. Das blassere Gesicht des Mannes
stieg in die Höhe wie der Mond. Yuste zielte auf die Stelle zwischen den Augen. Ihr Arm zitterte, als die Macht hinunterschoss und sich als stechendes Feuer von ihren Fingern löste. Sie sah den verzweigten Blitz von ihren Fingerspitzen ausgehen, einen Satz machen und in die Stirn des Reiters einschlagen. Das Pferd scheute bei dem Knall des Auftreffens, und der Mann fiel hintenüber, seine Haut geschwärzt, seine Augen versengt und ausgetrocknet. Yuste erschrak bis ins Mark, als das Pferd neben ihr wieder aufsetzte, in die Nacht davongaloppierte und einen schmauchenden Leichnam in den Steigbügeln hinterherzog. Sie rappelte sich auf. Planchet hatte einen Mann von seinem Streitross gezogen und seinen Schädel gespalten; Cluny parierte ein Schwert mit seiner eigenen Klinge. Der Lärm prallte ihr entgegen, das Getöse von Metall, wie wenn Töpfe und Pfannen gegeneinander gedroschen werden; das Schreien und Fluchen und das Wiehern der Pferde. Doch obgleich sie zwei Männer getötet hatte und ein anderer von einem Pferd verletzt worden war, waren sie offenbar in der Überzahl; aus der Dunkelheit schienen ständig frische Männer nachzurücken, auf Tieren, die noch nicht vom ersten Angriff verschreckt und die dafür ausgebildet worden waren, das Entsetzen der Schlacht zu ertragen. – Es sind viele, dachte Yuda. Yuste hielt nach Boris Ausschau, doch sie konnte ihn nicht sehen. Dieses Mal ließ ihr Instinkt sie auf den nächststehenden Mann feuern; es war keine Gelegenheit für den Luxus der langsamen Wahrnehmung, in der die Zeit sich in viele Einzelteile zerlegte. Sie war in die Mitte eines Wirbelwindes gezogen worden, und um sie herum waren große Tiere und Waffen, die durch die Luft schnitten. Es gab keinen Platz, um sich zurückzuziehen und mit ihren Kräften zu zielen; sie war klein und wirkte noch winziger durch die Rösser, die mit ihren Hufen in der Luft ruderten. Ein Fuß in Lederschuhen trat gegen ihren Arm, und der Rumpf eines Tieres prallte gegen sie und warf sie um. Yuda griff ein und brachte sie dazu, sich außer Reichweite der stampfenden Hufe zu rollen und die Arme schützend über
ihren Kopf zu halten. Sie kroch unter dem Bauch eines Pferdes hindurch, drehte sich um und zielte mit ihrem Arm auf die verblüfften Reiter. Ein Schwert schwang. Yuste spürte, wie ihr etwas in die Schulter fuhr, ein plötzliches Eindringen von kalter Luft und einen warmen Strom auf ihrer Haut. – Verflucht, wir sind verwundet, dachte ihr Bruder. Im gleichen Augenblick schoss ihr unverletzter Arm nach vorne und ein Blitz löste sich, der sie von den Füßen hob. Sie war wie ein Engel, der in einer Gloriole des Ruhmes davonschwebte; sie verströmte goldenes Feuer in die Dunkelheit, und der Mann im Sattel ging in Flammen auf wie eine Strohpuppe. Feuer und Rauch stieg von der Spitze seines Schädels auf. – Ruhig jetzt, dachte Yuda zwischen dem Schmerz und der Freude, die Yuste freigesetzt hatte. Sie spürte keine Angst, nur Heiterkeit, als die Macht sie durchfloss. Sie ließ sie in die Schatten fahren, die die Gestalten von Rittern und Angreifern annahmen; sie verbannte sie mit einem Vorhang aus brennendem Gold außer Sicht. Sie konnte die Kohle und den Ruß riechen, als der Boden Feuer fing, den Geruch von röstendem Fleisch und schmelzendem Fett. Sie ließ den Saft noch immer durch ihre Adern strömen, der sie aufbäumte, als ob sie eine aufblitzende Flamme in der Asche oder ein Glutfunken wäre, der von einem Lufthauch in den Himmel geblasen wurde. Yuda hielt sie auf. Sie konnte sein Gesicht beinahe sehen, die dunklen Brauen, die zu einem Stirnrunzeln gehoben waren. – Das ist zu viel. Hör auf, Yustka, hörst du mich? Yuste lächelte undeutlich in die schemenhaften Umrisse seines Gesichts, die sie als Schatten hinter dem Regen von feurigen Teilchen ausmachen konnte. – Wir sind Götter, Yuda. Wir haben die Macht von Göttern. Sie fühlte den Ärger in seiner Kehle, doch bevor er antworten konnte, sank sie zu Boden und schloss ihn und alles sonst aus; stattdessen drangen die kieselsteinartigen Schatten der Dunkelheit in sie ein und verdunkelten ihre Sicht, als sie sich ballten.
Seit der Kampf begonnen hatte, hatte Boris Grebenshikov Yuste kaum mehr wahrgenommen. Er war an den Rändern der Auseinandersetzung beschäftigt gewesen, an der er von Ort zu Ort rannte, bis er eine Stelle gefunden hatte, wo er stehen bleiben und seine Waffe nachladen konnte. Dann suchte er sich ein Opfer, zielte und feuerte, nur um sich dann sofort wieder in Bewegung zu setzen. Er wusste, dass er für einen gerüsteten Ritter auf einem Schlachtross kein Gegner war; er überließ den Nahkampf Cluny und Planchet, denn sie hatten die richtigen Waffen und waren ausgebildet. Er bemerkte erst, was geschah, als Yuste den Mann in Brand setzte. Sie schleuderte ihm einen Feuerblitz entgegen, und er blieb brennend wie eine Pinienfackel im Sattel sitzen, während sein Pferd buckelte und sich aufbäumte, in dem Versuch, das entsetzliche Ding auf seinem Rücken abzuwerfen. Boris wurde abgelenkt, drehte sich um und sah zu seinem Erstaunen zwei Gestalten statt einer; die eine schien zu strahlen, die andere schien aus Schatten zu bestehen. Während er zusah, breitete die blendende Figur ihre Arme aus und ließ die Nacht von Feuer erglühen, sodass sich die Bäume entzündeten und der Boden unter den Füßen heiß wurde und knackte. Boris warf sich zu Boden. Er hatte gesehen, wie dies bei unausgebildeten Schamanen geschah: Eine Art von Wahnsinn ergriff sie, wenn sie entdeckten, wozu sie fähig waren. Er hatte es selbst erfahren. Er spürte das Feuer an sich vorbeirasen und die Haare auf seinem Hinterkopf ansengen. Sein Mantel fing Feuer, und er wälzte sich fluchend, um die Flammen zu ersticken. Einige der Pferde galoppierten in die Dunkelheit und waren zu verängstigt, als dass ihre Reiter sie beruhigen konnten; andere versuchten, sich in Sicherheit zu bringen, und übersprangen die Feuerwand, als diese sich wieder senkte, und suchten das Weite. Boris setzte sich auf und schlug alle kleinen Feuer aus, die seine Kleidung entzündet hatten. Die Luft war von Rauch erfüllt, und weiter oben verdichtete sich der Schleier und verdunkelte den Sternenhimmel. Doch er sah die beiden Gestalten am Rand dieser Hölle; den Schatten, der Yuda war, und die feurige Gestalt, die Yuste sein musste. Während er zusah, verschwand der
Schatten, und die gleißende Gestalt wurde langsam trüber und sank auf dem Boden zusammen, als ob sie in der Hitze verbrannt und zu Asche geworden wäre. Boris sprang auf und rannte über den schmorenden Boden zu der Stelle, wo Yuste gefallen war. Sie lag auf der Seite, zusammengerollt, und es gab keine Spuren des Feuers an ihr, nicht einmal von Ruß; doch ein Riss in ihrer Tunika entblößte eine frische, dunkle Wunde in ihrer blutüberströmten Schulter. Boris bückte sich und nahm Yuste in seine Arme; sie fühlte sich heiß an, und er sah, wie sich Schweiß auf ihrer Stirn sammelte. Wenn er nicht tat, was getan werden musste, würde sie in dem mächtigen Fieber, das die Nachwirkung ihres Exzesses war, verbrennen. Das Blut pochte in seinem Kopf; er konnte ein Rauschen in seinen Ohren hören. Er sah, wie Cluny auf ihn zu taumelte und irgendetwas rief, doch Boris war taub von dem Klang in seinem Inneren. Er konnte sehen, dass die Flammen den jungen Mann gezeichnet hatten; da waren Rußspuren auf seinem Gesicht und seinem Umhang. Boris hob Yuste auf und hastete Cluny entgegen, dieser jedoch war stehen geblieben und zeigte in den Himmel. Boris sah nach oben. Zunächst hatte er keine Ahnung, was er da erblickte; er konnte etwas erkennen, das wie ein Schiffsrumpf aussah, doch aus Weidenruten geflochten war; ein Seil, das vom Himmel baumelte, ein dickes Seil wie eine Trosse, und darüber etwas Riesiges, das glühte, als ob der Mond herabgesunken wäre, um in der Nähe des Erdbodens zu leuchten, ein Mond mit einer Feuerachse. Endlich begriff Boris, dass das dröhnende Geräusch nicht in seinen eigenen Ohren war. Was er da hörte, war der Motor des Schiffes über ihren Köpfen. Ein fliegendes Schiff: Der runde Mond darüber war die Ballonhülle, von Luft erfüllt, und er wurde beinahe taub von dem Stampfen der Motoren. Er starrte Cluny an. Das lenkbare Luftschiff glitt über sie, und die Bordmitglieder hatten ein Seil heruntergelassen, um sie zum Aufsteigen aufzufordern. Der Kapitän musste die Feuer auf dem Boden unter sich gesehen haben. Boris vertat keine Zeit damit, sich zu
überlegen, ob die Besatzung auch freundlich gesinnt war; er ergriff das baumelnde Seil und begann hinaufzuklettern, wobei er Yuste mit einem Arm an sich presste. Cluny fing das Ende des Seils ein und hielt es ruhig, sodass Boris sich leichter an dem Tau festhalten konnte. Boris, der nur eine Hand frei hatte, benutzte seine Füße, um sich an das Seil zu klammern. Inzwischen tropfte ihm der Schweiß von der Stirn. Yuste war eine leichte Bürde, dennoch konnte er nicht anders hochklettern, ohne den Halt zu verlieren. Er spähte nach unten und sah die erhobenen Gesichter von Cluny und Planchet, der herbeigeeilt war, um bei seinem Herrn zu sein. Er konnte ihre Furcht sehen; für sie musste dies wie eine infernalische Maschine aussehen, die aus dem Himmel herabgefahren war. Unter ihren Füßen war der Boden schwarz geworden, und er sah die verbrannten Skelette der Männer und Pferde ausgestreckt liegen, wo sie gestürzt waren. Er konnte die Hitze spüren, die von Yustes Körper ausging, und er biss die Zähne zusammen und versuchte, sich schneller zu bewegen, auch wenn es immer wieder die Momente gab, in denen er das Seil loslassen musste, um höher zu greifen, und er nur an seinen Füßen verankert war. Jemand beugte sich über den Rand des Schiffes. Boris konnte sehen, wie sich die Lippen eines Mannes bewegten, doch er konnte kein Wort verstehen. Er kletterte weiter und seine Handflächen wurden vom Seil aufgescheuert. Wenn Yuste doch nur wach wäre, dann könnte sie sich an ihm festklammern, und er könnte eine Hand nach der anderen hochsetzen. Auch wenn Cluny das Seilende festhielt, schwang es hin und her. Endlich erreichte er den Rand der Gondel, doch der letzte Teil war der schwerste. Beinahe hätte er den Halt verloren und wäre gefallen, als der Mann im Luftschiff sich über die Kante beugte, um ihm Yuste abzunehmen. Als der Fremde sie über den Rand hob, ergriff Boris das Seil mit beiden Händen und zog sich selbst die letzten Meter empor, wobei er seine Füße zu Hilfe nahm, um sich am Rand des Schiffes abzustützen. Er ließ sich über die Kante plumpsen, ohne abzuwarten und zu schauen, ob Cluny und Planchet ihm nachkamen.
Yuste lag zusammengesunken auf den Bodenplanken. Als Boris zu ihr kroch, merkte er, dass es nur eine weitere Person an Bord gab, nämlich den Mann, der versucht hatte, ihm beim Aufstieg zu helfen. Er beugte sich erneut über den Rand und brüllte Anfeuerungsrufe hinunter, die in dem Lärm des Motors untergingen. Boris hielt inne und blinzelte. Er hatte noch nie einen so kleinen Dampfmotor gesehen; vier röhrenförmige Tanks in der Größe von Ölfässern umgaben ihn. Er hatte keine Vorstellung davon, welche Art von Metall verwendet worden war, um ihn zu bauen, doch nur einige der Teile, abgesehen vom Kessel, sahen aus wie Stahl. Boris konnte die Kolben heftig arbeiten sehen, doch die Zahnräder standen still; sie drehten nicht die Kurbelwelle, die die Schraube am Heck des Schiffes antrieb. Boris sah zum Ballon empor. Er konnte nicht sagen, ob er mit Gas gefüllt war oder lediglich mit erhitzter Luft. Der Boden unter ihm bewegte sich, was ein unbehagliches Gefühl war, doch er beugte sich über Yuste und hob sie auf. Jemand bellte in sein Ohr. Boris schrak zusammen und sah plötzlich in das Gesicht des Schiffsbesitzers. Der junge Mann hatte einen dünnen, dunklen Schnauzbart, braune Augen und ein blasses Gesicht mit rosigen Wangen. »Guten Tag wünsche ich«, rief er. »Ignatius Brunelleschi, Kapitän der Arabian Bird, zu Ihren Diensten. Ich sehe, Sie haben eine Schamanin hier. Sieht aus, als wäre sie ausgebrannt.« »Ich werde sie heilen«, antwortete Boris, obwohl er kaum seine eigene Stimme hören konnte. »Sind das Ihre Begleiter dort unten am Boden? Ich will es hoffen, denn sie haben mit dem Aufstieg begonnen.« »Es sind meine Begleiter«, sagte Boris. »Aber sie haben noch nie vorher ein Luftschiff gesehen. Seien Sie nachsichtig mit ihnen.« »Meine Güte, sind Sie auch ein Schamane? Ich habe noch nie zwei gleichzeitig gesehen.« »Kein sehr mächtiger Schamane«, sagte Boris. Mit beiden gewölbten Händen griff er unter Yustes Kinn und fühlte die Hitze in ihrer
Kehle. Er mochte es nicht, zu heilen, genauso wenig, wie er seine anderen Kräfte zeigen wollte, denn es schien ihm immer zu protzig. Der Mann hockte sich neben ihn. Er schien es Cluny und Planchet überlassen zu wollen, den Aufstieg, so gut sie konnten, zu bewältigen. »Wir haben nur einen Schamanen in Dieulevaut«, sagte er. »Le Docteur Ashmedai, und der ist halb verrückt. Wenn auch harmlos. Er ist ein Wanderer.« Boris fühlte sich langsam gestört. Er wünschte, der Mann würde ihn in Ruhe lassen, denn er wollte bei einer Heilung keine Zuschauer haben. »Haben Sie ein Problem damit«, fragte er scharf. »Überhaupt nicht«, sagte Ignatius. »Auch wenn ich sagen muss, dass Ashmedai zum Feind übergelaufen ist.« »Sie meinen, er ist ein Doxoi geworden?«, fragte Boris. Er suchte in seinem Inneren nach verborgenen Kräften und dachte an Kälte. Er musste einen Teil der Hitze aus Yustes Körper in seinen eigenen saugen; das würde dabei helfen, sie zu verringern. »Nein, er hat einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. So sagt er jedenfalls. Ziemlich verrückt, aber er ist der einzige Schamane, den wir haben, so müssen wir eben mit seinen kleinen Absonderlichkeiten klarkommen.« Es gab ein Rucken, und die Gondel schwankte, als Cluny über den Rand sprang. Er starrte den Motor an und presste sich an die Seitenwand, dann drehte er sich, um über den Rand zu schauen. »Wie haben Sie uns entdeckt?« »Ich konnte das Feuer nicht verfehlen. Ich war auf dem Weg nach Hause, so beschloss ich, anzuhalten und einzuschreiten. Sie sind nicht weit von Dieulevaut entfernt, müssen Sie wissen. Sie sahen aus, als könnten Sie ein wenig Hilfe gebrauchen. Wer waren all die Männer auf den Pferderücken?« »Soldaten, die uns jagen. Ich glaube, sie hat sie erledigt«, fügte er hinzu und nickte in Yustes Richtung. »Sie meinen, das war alles sie? Sie ist sehr klein«, sagte Ignatius. »Schamanen neigen dazu, klein zu sein.« Boris wischte seine Stirn
mit dem Ärmel ab. Ihm wurde langsam heiß. Er versuchte an Eisschollen zu denken, an gefrorenes Wasser und an die Meerestiefen. Yustes Puls raste, und er konnte die Schweißperlen ihr Gesicht hinabrinnen sehen. »Haben Sie etwas Wasser an Bord?«, fragte er. »Nicht sehr viel, muss ich leider sagen. Wir reisen mit leichtem Gepäck.« »Bringen Sie mir, was Sie haben. Ich brauche es.« Ignatius salutierte und sprang auf. Boris sah, wie er stehen blieb und einige Worte mit Cluny wechselte, der ihm ein mattes Lächeln zuwarf. »Komm schon, Yuste«, murmelte Boris. Ihr Kopf war auf seine Knie gebettet, und er konnte fühlen, wie ihr Schweiß durch seine Hose sickerte. Die Macht eines Schamanen beruhte auf Hitze, und es war nicht leicht, sie zum Kühlen einzusetzen. Er erinnerte sich an das, was er gelernt hatte, wie an eine mathematische Formel, die er in seinem Kopf niederschreiben musste. Nun, da ihn Ignatius für eine Weile allein gelassen hatte, fiel es ihm leichter, sich zu konzentrieren. Er merkte, dass seine Fingerspitzen taub geworden und seine Hände weiß waren. Die Kälte schien Wirkung zu zeigen. Boris schloss die Augen und malte sich aus, wie sie von den Spitzen seiner Finger tropfte und sich einen Weg durch Yustes Haut bahnte, um ihr überhitztes Blut zu kühlen. Fieber. Es fuhr seine Arme hoch, eine brennende Hitze, die ihn zu überwältigen drohte. Er musste daran denken, sich selbst kühl zu halten. Sein Mund war trocken, und er leckte über seine Lippen. Fast war er erfreut, Ignatius mit einer kleinen Zinnflasche zurückkommen zu sehen. Ohne Dank nahm Boris sie ihm aus der Hand, schraubte den Deckel auf und hielt den Flaschenhals an Yustes Lippen. Er musste ihren Mund aufdrücken, um einige Tropfen hineinfallen zu lassen, dann warf er den Kopf zurück und trank den Rest. Planchet kletterte über den Rand. Er landete auf den Knien und sah sich misstrauisch um. Er schien weniger verschreckt als Cluny; vielleicht verstand er zu wenig von moderner Technologie, um von
ihr beunruhigt zu sein. Ignatius machte eine Geste in seine Richtung. »Wenn das alle sind, dann setze ich wieder Kurs auf Dieulevaut, Monsieur.« »Wie Sie wollen«, sagte Boris, der nicht zuhörte. Ignatius schien nicht beleidigt; er nickte und nahm seinen Platz an der Pinne ein, wo er mit einem langen, schlanken Hebel den Motor anwarf. Dieser veränderte seine Geräusche, das Schiff vibrierte und setzte sich in Bewegung. Boris warf einen raschen Blick zu Cluny, der an die Seite gerutscht war und auf dem Boden saß; Planchet war damit beschäftigt, das Seil einzuholen. In seinem Kettenhemd sah er genauso fremdländisch aus, wie ihm das dampfangetriebene, fliegende Luftschiff erscheinen musste. Boris zwang sich, sich zu konzentrieren. Er ließ seine Hand über Yustes klebrige Stirn gleiten und fragte sich, warum es ihn so schmerzen würde, wenn er sie nicht würde halten können und sie nur eine leere Hülle zurückließ. Ihre Haut war weich, doch er konnte die Linien fühlen, die Alter und Sorgen auf ihrer Stirn eingegraben hatten. Ihr Haar fasste sich klamm an. Boris rief nach ihr, wie er es getan hatte, als sie gemeinsam die Gegend abgetastet und er sie verloren hatte. Er fühlte sich wieder genauso hilflos; und jedes Mal war es Yuda gewesen, ihr fantastischer Bruder, der sie geheilt oder zurückgeholt hatte. Aber Yuda war nicht da. Er war verschwunden, gerade, als er hätte da sein sollen, um Yuste zurückzuhalten; er hatte versagt. Boris war erschrocken darüber, wie sehr ihn das freute. Er starrte in das fahle Gesicht der Frau. Im Lichtschein, der aus der Brennkammer auf Yustes Züge fiel, sah sie zusammengekniffen und unvorteilhaft aus. Er umfasste ihren Kopf mit seinen Händen und versuchte, für einen gleichmäßigen Fluss der Kälte in ihren Schädel zu sorgen. Er hatte den Eindruck, dass sie schon etwas kühler war. Plötzlich kniete Cluny neben ihm. Er sah mindestens genauso blass wie Yuste aus; die schaukelnden Bewegungen des Schiffes schienen ihm Übelkeit zu verursachen.
»Wie geht es ihr, Boris?«, fragte er. Boris schnitt eine Grimasse. Er war sich nicht sicher, was er dem jungen Mann sagen sollte, und so antwortete er: »Wir können sie noch immer verlieren. Ich habe noch nie vor einem solchen Problem gestanden; ich habe nur selbst das Gleiche erlitten.« »Du?« Cluny hob die Augenbrauen. »Das kann unerfahrenen Schamanen zustoßen. Und … hast du dich je gefragt, warum man so selten einen alten Schamanen trifft?« »Ich habe so wenige getroffen …« Cluny brach ab. »Wir brennen aus. Der menschliche Körper ist nicht weit genug entwickelt, um solche Mächte zu beherbergen.« »Was soll ›entwickelt‹ bedeuten?« Boris starrte wieder Yustes Gesicht an. »Es ist wie aufzuwachsen«, sagte er. Er hob Yuste auf und tastete nach ihren Handgelenken, dann legte er sie wieder auf den Boden und beugte sich über sie, um ihr Herz abzuhören. »Ich glaube nicht, dass ich viel mehr tun kann«, sagte er. »Wir müssen einfach abwarten.« »Dann könnte sie sterben?« Boris nickte. »Das Problem ist, dass ihr Bruder ihr Mächte wie seine eigenen eröffnet hat. Er hatte Zeit, sich an sie zu gewöhnen. Sie jedoch nicht. So etwas schlägt alles, was du dir vorstellen kannst, Ganasha, Wein, Sex … aber wenn du diese Macht einsetzt, um zu töten, kostet das seinen Preis. Immer. Es ist nicht, als würde man zur Waffe greifen – oder zu einem Schwert –, um einen Mann zu töten. Es kommt aus deinem Inneren, und in deinem Inneren verletzt es dich.« Cluny schlang die Arme um sich und zog seinen Umhang enger. Die Luft war hier oben viel kälter; Boris bemerkte das, als er aufstand, noch immer brennend von den Überresten von Yustes Fieber. Er nieste. »Gesundheit«, sagte Ignatius. Cluny sah ihn abwägend an. »Wohin wird uns dieses … Schiff bringen?«, fragte er Boris. »Ich glaube, wir sind auf dem Weg nach Dieulevaut.« »›Gott will es‹ – seltsamer Name für eine Stadt«, sagte Cluny.
Boris nahm einen tiefen Atemzug und sog die Luft in seine Lunge. Er fühlte sich gut; wenn das Töten auch einen schlechten Nachgeschmack hatte; das Heilen wirkte wie ein Jungbrunnen. »Sie sollte sich lieber wieder erholen«, sagte er. »Jetzt haben wir genau das richtige Gefährt, das uns zum Gläsernen Berg bringen könnte.« Die Bergleute fesselten Annat und Malchik mit Seilen, die dünn wie Baumwolle, aber stark wie Taue waren. Annat verstand plötzlich, wie sich eine Fliege fühlen musste, wenn eine Spinne sie mit ihrem Gift verunreinigt und in Seide eingewickelt hatte. Im Inneren band das magische Netz ihre Kräfte, während außen ihre Arme und Beine gefesselt und an ihre Seite gebunden waren, sodass sie einem Säugling in Windeln glich. Die Bergleute arbeiteten rasch und gleichmäßig; sie sahen ihr nie ins Gesicht und versuchten auch nicht, ihren Blick aufzufangen. Sie gingen mit ihr um wie ein Fleischer, der den großen Rumpf eines Tieres behandelte: uninteressiert, als ob es niemals lebendig gewesen war. Annat lag still, träge und teilnahmslos und beobachtete ihre fliegenden, winzigen Hände. Die Leute hatten ungefähr die Größe eines neugeborenen Babys, doch ihre Körper waren fertig ausgebildet und erwachsen. Ihre Stimmen waren nicht hoch, eher ein Flüstern wie der Wind an einem unbehaglichen Tag, wenn er durch die Ritzen in einem Holzhaus pfeift. Als sie sie zu ihrer Zufriedenheit gefesselt hatten, lud sich eine Gruppe Arbeiter Annat auf die Schultern und trabte davon. Ihr wurde klar, dass sie daran gewöhnt waren, große Objekte zu transportieren, obwohl sie in einer Welt lebten, in der sie für alles – vom Wiesel bis zur Eule – die Größe einer leichten Beute hatten. Sie trugen sie aus Derzus Raum in einen Tunnel, der jenen glich, die Malchik und Annat durchquert hatten; sie konnte nicht sehen, was aus dem alten Schamanen wurde. Sie lag auf dem Rücken und starrte
an die Decke, doch das Licht der Fackeln reichte nicht hoch genug, sodass sie nur einen vagen Eindruck der schwarzen Gewölbe bekam. Sie brauchten eine Mannschaft von ungefähr dreißig Leuten, um sie von der Stelle zu bringen. Annat war beeindruckt von der Geschwindigkeit und der Sicherheit, mit der sie sich bewegten; wenn sie sie losgelassen hätten, hätte ihr Gewicht sie leicht zerdrücken können. Sie fragte sich, wie es Malchik erging; sie konnte ihren Kopf nicht heben, um zu sehen, wer ihnen folgte. Der ganze Tunnel hallte von dem Flüstern und dem Klang der Stahlkappenschuhe der Bergleute. Manchmal konnte sie einen Blick auf Gestalten erhaschen, die neben ihr rannten und ihre schlanken Speere oder winzigen Bögen umklammerten, oder Frauen in raschelnden Umhängen, die kamen, um sie anzusehen, ihre schwarzen Augen rund vor Ehrfurcht. Annat wünschte sich, wie so oft, dass sie sich mit Malchik mittels Senden verständigen könnte. Sie wusste, dass sie ihn hinter ihr transportierten; sie brauchten eine weit größere Mannschaft, um seinen großen Körper zu bewegen. Sie konnte nicht aufhören, ihren Gedanken freien Lauf zu lassen, denn sie fühlte sich außer Stande, über ihre momentane Misere nachzudenken. Sie wusste nicht, wohin sie die Bergleute brachten oder was sie mit ihr vorhatten. Stattdessen wälzte sie in ihrem Kopf herum, was Malchik ihr gerade erzählt hatte: dass er eine Geliebte hatte und sich den Doxoi angeschlossen hatte, um ihr eine Freude zu machen. Annat wusste nicht, was sie mehr betrübte. Sie hatte sich an Malchiks vertrautes, manchmal etwas ungelenkes Auftreten gewöhnt; sie konnte sich nicht vorstellen, dass er ähnlich leidenschaftliche Gefühle hatte wie sie in der Gegenwart von Eugenie. Immerhin war sie diejenige, die eine gehörige Portion von Yudas Aussehen und Temperament geerbt hatte. Malchik war immer eher nach ihrer Mutter oder Yuste gekommen, die sich weder einem Mann noch einer Frau jemals hingegeben hatte. Trotz der unmittelbaren Gefahr, in der sie schwebten, war es ihre ganz alltägliche Zukunft, die
eingestürzt zu sein schien wie eine verfallene Stadt, deren vertraute Silhouette plötzlich ihre bekannten Orientierungspunkte verloren hatte. Sie hatte angenommen, dass Malchik der Gleiche bleiben würde; sie hatte sich ausgemalt, wie er in Masalyar leben, ein Haus mit ihr und ihrer Tante teilen würde und Teil der behaglichen Familie wäre, in der sie aufgewachsen war. Plötzlich wurde ihr klar, wie absurd ihre Gedanken waren. Hier war sie, tief im Inneren eines Berges, von winzigen, aber grimmigen Fängern einem unbekannten Schicksal entgegengetragen. Sie zwang sich, sich zu entspannen, und das war leicht in dem Fadenkokon, in den sie sie eingesponnen hatten. Nur ihr Kopf und ihre Füße schauten an beiden Enden aus dem Bündel hervor, und ihr Haar schleifte auf dem Boden. Während sie nachdachte, hatten sie die Tunnel verlassen, die der menschlichen Größe entsprechend angelegt worden waren, und hatten ein weit niedrigeres Gängelabyrinth betreten. Das Dach des Ganges befand sich einige Zentimeter über Annats Gesicht, und immer wieder fürchtete sie, dass sie sich die Nasenspitze an der Decke aufschrammen würde. Die Bergleute jedoch verlangsamten ihren Schritt nicht; sie bemerkte, dass der Tunnel sich inzwischen abwärts wand, denn oft waren ihre Füße oberhalb ihres Kopfes. Zu ihrer Überraschung begann die Männergruppe, die sie trug, ein Arbeitslied anzustimmen; es hatte einen kriegerischen Tonfall, als ob sie den Ausgang eines siegreichen Angriffs feierten. Ihre Stimmen klangen wie die Töne einer Flöte oder einer Zungenpfeife; sie hallten in dem runden Tunnel und vermischten sich mit dem Klopfen ihrer Schritte und dem unablässigen Gemurmel der Stimmen. Plötzlich waren schrille Trompeten zu hören, ein warmer Luftzug streifte Annats Gesicht und ein Ploppen in ihren Ohren ertönte, als sie aus dem Tunnel traten und inmitten eines riesigen, höhlenartigen Ortes standen, bei dem sich Annat nur vorstellen konnte, dass die Bergleute ihn in jahrhundertelanger Arbeit herausgeschlagen hatten. Die Wölbungen über ihnen erhoben sich in Schichten von kristalliner Schönheit und fingen, einem Wasserfall gleich, das Licht
ein; das Licht selbst kam aus einer Reihe von Schächten, die in einer Wand lagen, wo sie tief ins Gestein vorgedrungen waren, um Durchbrüche nach außen zu schaffen. Durch jeden Schacht fiel ein Strahl des Sonnenlichts durch die Dunkelheit, durchschnitt sie und traf auf Wände aus gefrorenem Kristall. Annat konnte den Blick nicht abwenden, als sie in die Mitte der Halle getragen wurde. Sie bemerkte beinahe nicht die Menge, die um sie herumschwirrte, auf sie zeigte und in ihren Schilfrohrstimmen flüsterte. Am Fuße eines niedrigen Podests wurde sie abgesetzt, und Malchik wurde neben sie gelegt. Während er ihr noch seinen Kopf zuwandte, bestieg die Frau, die befohlen hatte, dass sie hierher gebracht werden sollten, das Podest und hob einen Quarzstein in die Höhe, der die Strahlen einfing und das gebrochene Licht, in viele Richtungen abgelenkt, zurückwarf. »Sehet das Prisma!«, rief sie in einer weichen, klaren Stimme, und ein Wortschwall bildete ihr Echo. Sie drehte sich um, um zum Thron am Ende des Podests zu schreiten, doch sie setzte sich nicht; stattdessen legte sie den Kristall auf die Sitzfläche und machte einen Kniefall, als ob es ein Altar wäre. Dann kehrte sie zum Rand des Podests zurück und wandte sich der unsichtbaren Menge zu, deren Anwesenheit Annat nur durch ihr Gehör erahnen konnte. »Meine Lieben, wir haben einen Sieg errungen«, sagte sie. »Endlich haben wir zwei der Monster gefangen genommen, die sich zu tief in den Berg vorgewagt haben. Es ist Zeit, dass wir uns auf unsere Heimreise vorbereiten!« »Was haben sie mit Derzu gemacht?«, flüsterte Annat, doch eine Reihe von scharfen Nadelstichen erinnerte sie daran, dass sie von Wächtern umgeben waren. Sie konnte den Gesichtsausdruck ihres Bruders nicht sehen; das Licht wurde von den Gläsern seiner Brille zurückgeworfen, und so waren seine Augen nicht zu erkennen. Die Frau, die die Königin der Bergleute zu sein schien, schaute zu ihnen herab. Ihre Züge ließen auf Gefühle zwischen Abneigung und Faszination schließen. »Meine Lieben«, sagte sie. »Diese Monster sehen aus wie wir, auch wenn sie größer sind, als es natürlich ist.
Das Prisma hat mir verraten, wie wir sie benutzen können, um unsere Welt zu befreien und zurückzukehren, um bei unseren Freunden und Familien zu leben.« Annat hörte etwas wie ein Seufzen, das durch die in der Halle versammelte Menge lief. Es war schwer, sie als etwas anderes als menschlich wahrzunehmen, besonders, wenn man sie nicht sehen konnte. Sie wurde nervös, als die Königin von ihrem Podest stieg und sich neben ihren Kopf, in die Nähe ihres linken Auges stellte. »Um unsere Welt zu retten, müssen wir die Macht wiederherstellen, die uns genommen und für unreine Magie verschwendet wurde«, sagte die Königin. Es war fast, als würde sie sich Annat anvertrauen. Ihr Gesichtsausdruck ließ sich als Mitgefühl deuten. Sie streckte ihre Hand aus, und eine der Wachen legte ein Schwert hinein; es glänzte wie eine Nadel. »Unsere Leben sind kleine, winzige Lichter, und es bedarf vieler von uns, um einen Spruch zu zaubern, der von unserem Leben und unserem Frohsinn zehrt«, sagte die Königin. »Aber diese riesigen Kreaturen haben Seelen, die groß wie Kontinente sind. Wenn wir sie herauslösen können, werden wir das Prisma dazu verwenden, uns zurück ins Licht zu bringen.« Dann, schneller als Annat blinzeln konnte, stach sie die Nadel in ihr linkes Auge, und dann gab es nichts mehr in der Welt als Schmerz, Dunkelheit und Blut. Auch wenn es schien, als ob sie meilenweit gefallen wären, gab es nur einen leichten Aufprall, als sie in einer kleinen, harten Welt landeten. Trotzdem hatte Huldis das Gefühl, dass jeder Knochen ihres Körpers zerschlagen worden wäre. Der Atem war aus ihr herausgepresst worden, und sie lag keuchend auf dem Rücken und starrte hinauf in den unerwarteten Himmel. Er war gewölbt, und sie fragte sich, ob es sich wohl so anfühlte, wenn man in einem Goldfischglas lebte. »Zyon«, sagte Yuda, und er wurde von einem Hustenkrampf ge-
schüttelt. Huldis wagte nicht, sich zu bewegen. Sie wusste nicht, wo sie waren, außer, dass sie durch einen Koffer gefallen und an einem Ort herausgekommen waren, der nicht der war, den sie verlassen hatten. Sie konnte den Horizont sehen, ohne ihren Kopf zu heben; er war viel näher. »Wo sind wir, Yuda?«, fragte sie. Er setzte sich und stöhnte. Dann sagte er: »Was für ungewöhnlich kleine Bäume.« Huldis rappelte sich ebenfalls auf. Sie sah sofort, was er meinte. Sie schienen in einem Ziergarten gelandet zu sein, doch in einem, in dem die Bäume – falls es Bäume waren – ungefähr einen halben Meter hoch zu sein schienen. Sie hatten Stämme, ausladende Äste und Blätter, doch die Blätter waren dunkel, fast rot. Yuda streckte seine Hand aus, riss eines ab und roch daran. »Es könnten Büsche sein«, sagte sie. »Sieh dir die Stämme an.« Er hob eine Hand voll Äste, und Huldis sah, was er meinte: Der Stamm, den er freigelegt hatte, war knotig und dick vom Alter. Ein Miniaturbaum, der Hunderte Jahre alt war wie eine Eiche. Sie ließ ihre Finger über die grüne Grasnarbe gleiten. Das Gras war ein weicher Flor, den ihre Fingerspitzen kaum wahrnahmen. Der Garten war von einer Mauer umgeben, die aus aufeinander getürmten und mit Mörtel verbundenen Steinen errichtet worden war. »Kleine Welt«, sagte Yuda grimmig. Während er sprach, zog ein Vogelschwarm an ihren Gesichtern vorüber: Tiere mit blauem Gefieder, die nicht größer als Bienen waren. Yuda fing eines in seiner Hand und zeigte es ihr, wobei er vorsichtig darauf achtete, die zarten Flügel nicht zu verletzen; sie schlugen gegen seine Finger, und rasch ließ er den Vogel wieder frei, um ihm zuzusehen, wie er seinen Kameraden hinterherflog. »Ist es das, was Semyon in seinem Koffer aufbewahrt?«, fragte sie und war sich bewusst, wie absurd das klang. »Er zieht seine Magie hieraus.« Yuda streckte die Hand aus, um eine Wolke zu berühren. »Ich frage mich, ob dieser Planet
auch Monde hat.« »Aber Yuda – wir sind Riesen!« »Ich nicht. Nicht in jeder Welt.« Er stand auf, und sein Oberkörper verschwand über der Wolkenschicht; Huldis hörte ihn kichern. Sie erhob sich langsam und glitt durch den dicken Nebel, der unablässig auf ihr Kleid regnete. Über den Wolken herrschte tiefes Blau, doch die Sicht auf die darunter liegende Welt war versperrt. »Was wird mit Semyon geschehen – und mit meinem Bruder?« »Sie werden uns ohne Zweifel folgen.« »Deine Wölfe haben uns angegriffen, während du schliefst.« »Das tut mir Leid«, sagte Yuda. Er sah sich um. »Ich zögere, diese Stelle zu verlassen – ich will nichts zerstören.« Beide bückten sich und setzten sich wieder auf den Rasen, wo ihre hinabgestürzten Körper einen Abdruck im Boden hinterlassen hatten. Sie hatten einen Zierbrunnen zu Staub zerschmettert, und einige der Beete sahen jetzt aus wie bunte Tupfen auf dem Boden. »Yuda, was hat dir Sarl angetan?« Yuda blickte auf seine Hand, in der er den Vogel gehalten hatte. »Er hat mich gefoltert. Und … anderes.« »Was meinst du?« »Vielleicht gibt es Dinge, die du besser nicht weißt.« »Sag es mir! Wir sind Freunde.« »Ich werde daran denken, mehr Leuten eine blutige Nase zu verpassen.« Er lächelte. »Dein Bruder ist ein Mann, der nur Männer liebt, aber er kann es nicht zugeben. Es ist gegen seinen Glauben, seine Ausbildung, seinen Stolz. Ganz besonders begehrte er mich. Aber er konnte nicht bekommen, was er wollte, also verletzte er mich stattdessen. Ich glaube nicht, dass ihn das sehr glücklich gemacht hat.« »Das verstehe ich nicht. Mein Bruder hatte eine Frau.« »Er ist ein Schamane. Alle Schamanen lieben Männer und Frauen, auch wenn sie meist ein Geschlecht bevorzugen. Ich denke, dein Bruder hat mich gesehen, hat meine Freiheit gesehen – und mich beneidet. Aber es macht ihm auch Freude, Schmerz zuzufügen. Er
hat seine Frau geschlagen.« »Er war nicht so, als ich ihn kannte.« »Vielleicht nicht, aber er hat sich mit der Kalten Göttin eingelassen, und sie hat in ihm fruchtbaren Boden gefunden. Sie bedient sich an dem, was bereits in einem angelegt ist, und lässt es wachsen. Sarl hatte eine harte Kindheit unter deinem Vater; du musst nur nach Ademar reisen, um das zu sehen.« »Aber er hat dich gebeten, ihm zu verzeihen!« Yuda stocherte in den Überresten des Brunnens. »Er ist immer noch darin verstrickt. Ich wohl auch; vielleicht sind wir füreinander geschaffen worden. Ich wollte jemanden, der mich verletzt.« »Das ist entsetzlich!« Yuda nahm ihre Hand. »Du bist noch jung, und du hast keine Dunkelheit in deinem Inneren«, sagte er. »Erinnerst du dich an Aude? Ihr wart Freundinnen. Dann hat die Kalte dich gestohlen, und Aude hat sich nie davon erholt. Deshalb kam sie zu mir.« Huldis verbarg ihr Gesicht in ihren Händen. »Es war alles mein Fehler«, sagte sie. Yuda fasste ihr unters Kinn und hob ihren Kopf. »Warum?«, fragte er. »Du kannst nicht dich für das verantwortlich machen, was die Göttinnen tun. Sie sind nicht wie wir. Was immer geschehen ist, hat dich nicht geprägt. Sonst hättest du nicht versucht, mir zu helfen. Nun müssen wir dafür sorgen, dass Sarl sein Leben nicht zurückerlangt. Wir müssen es versuchen.« »Vielleicht, wenn er und Semyon uns nicht folgen können …« Yuda blickte in den Himmel mit einem solchen Ausdruck gespielten Entsetzens, dass sie lachen musste. »Zyon, ich hoffe, sie fallen nicht auf uns drauf.« »Vielleicht sollten wir weitergehen.« »Ich glaube nicht, dass wir irgendwohin gehen sollten. Diese Welt ist bewohnt; jemand hat diesen Garten angelegt und die Bäume gepflanzt. Ich meine, wir sollten lieber darauf warten, dass sie uns finden.« Sie mussten nicht warten. Kaum dass Yuda zu Ende gesprochen
hatte, hörten sie einen Stoß aus einem Jagdhorn, schrill und klar. Dann, mit einem Bellen, das nicht viel tiefer als das Quieken von Mäusen war, sprang ein Hunderudel in den Garten und schnappte mit winzigen Kiefern nach ihnen. Ihnen folgten die Jäger, eine Gruppe von Männern auf Miniaturpferden. Die Pferde waren in Gelb und Rot herausgeputzt, und die Männer trugen Wämser aus leuchtendem Stoff und bunte Beinbekleidung. In ihren Kappen steckten Federn der blauen Vögel. Der Erste war ein großer, stämmiger Bursche mit blondem Haar auf einem weißen Streitross; Huldis hätte ihn mit einem Streich ihrer Hand durch die Luft segeln lassen können. Ein älterer Mann, ein Ratgeber in brauner Robe auf einer mausgrauen Stute, trieb sein Reittier an, um es neben den Anführer zu lenken. »Was haltet Ihr von dem, was da vor uns liegt, Eure Majestät?«, fragte er. »Meseemeth, dies sind die zwei Riesen, die wir aus dem Himmel haben fallen sehen«, sagte der König. Yuda und Huldis lagen beide auf dem Bauch, sodass sie den Reitern in die Augen sehen konnten. Der König starrte furchtlos zurück. »Welches Abenteuer führt euch in unsere Welt, Fremdlinge? Seid ihr uns wohlgesonnen oder feindlich?« Yuda streckte seinen Finger aus, sodass die Hunde daran schnüffeln konnten. »Eure Welt ist zu klein für uns, als dass wir in ihr leben könnten, Herr«, sagte er. »Wir suchen nach einer Möglichkeit, in unsere eigene Welt zurückzukehren, und ganz besonders an einen bestimmten Ort: zum Gläsernen Berg.« Das Schweigen, das folgte, verriet Huldis sofort, dass Yuda etwas Falsches gesagt hatte. Das Gesicht des Königs war grimmig. Er wandte sich an seinen Berater. »Was sagst du, Stanislaus? Sollen wir diese Monster abschlachten?« Yudas Reaktion war nicht die, die Huldis erwartet hatte. Er lächelte und begann dann in einer Sprache zu sprechen, die Huldis nicht
verstand, obwohl sie kaum anders klang als das Sklav, das er Semyon gegenüber benutzt hatte. Der König sah erstaunt zu ihm auf. »Bei meinem Glauben«, sagte er, wiederum in Franj; schon zuvor hatte Huldis ihn in der Sprache sprechen gehört, ohne dass sie sich darüber Gedanken gemacht hatte. »Ist es möglich, dass in der Welt der Riesen noch andere an den Imperator gebunden sind? Wie heißt du, Bursche?« »Vasilyevich«, sagte Yuda, und die entsetzte Stille wurde von einem klingenden Gelächter abgelöst. »Seht das Wunder, Herr«, sagte der Berater. »Ich glaube, dieses Unternehmen wird Euch Kurzweil und vielleicht großes Vergnügen bereiten. Ist es nicht als ein Zeichen aufzufassen, dass diese Kreaturen nicht nur nach dem Gläsernen Berg suchen, sondern dass einer von ihnen auch noch Euren königlichen Namen trägt?« Der König trieb sein Pferd noch näher an Yudas Gesicht, obgleich es unruhig tänzelte und die Ohren angelegt hatte. »Ich kann an Eurem Akzent hören, dass Ihr aus Byela Rossiyar stammt und nicht aus unseren Ländern, Fremder«, sagte er. »Doch Ihr beherrscht unsere Sprache, als ob Ihr sie mit der Muttermilch aufgesogen hättet – auch wenn es eine monströse Amme gewesen sein muss, die Euch genährt hat! Und mit Euch bringt Ihr diese blonde Riesin, die in Form und Gestalt wie eine Göttin scheint. Ist sie Eure geliebte Angetraute?« Yuda blickte zu Huldis, und sie lächelten sich an. »Nein, Herr, aber sie ist meine Begleiterin in diesem Abenteuer«, sagte Yuda. »Und ich muss zugeben, dass ich ebenfalls sehr erstaunt bin, dass Eure Welt der unsrigen so ähnelt. Das Land, das Ihr Byela Rossiyar nennt, heißt bei uns Sklava, aber der Unterschied ist nicht so groß, als dass ich nicht wüsste, was Ihr meint. Und Ihr müsst der König von Cesky sein.« Der königliche Reiter lupfte seine Kappe. »Ich bin Yaroslav, der Dritte dieses Namens«, sagte er stolz. »Aber Ihr müsst wissen, dass wir und unsere Welt Gefangene sind und dass uns großes Unheil widerfahren ist, größer, als es das Imperium gestattet haben kann.«
»Ich weiß alles darüber«, sagte Yuda. »Denn meine Freundin und ich sind hierher gelangt, indem wir durch eben jenes … Behältnis getreten sind, in dem Ihr gefangen gehalten werdet. Und wir werden vielleicht schon von dem Magus verfolgt, dem es gehört und der es für seine Magie benutzt hat.« »Flieht Ihr vor dem Magus, Riese? Ist er auch Euer Feind?« »Er plant einen großen Spruch, der den letzten Tropfen Macht aus dieser Welt ziehen und sie verödet zurücklassen wird.« Der König setzte seine Kappe wieder auf seinen Kopf. »Dann müsst Ihr mit uns zu unserer Sommerresidenz kommen, dem Palast von Zlonice«, sagte er. »Dort werden wir Euch unterhalten, so gut, wie Kreaturen unserer Größe es vermögen. Und wir werden besprechen, wie man dem Magus widerstehen und seine Sprüche rückgängig machen kann.«
Kapitel 15
Y
uste öffnete die Augen. Ihr war übel und schwindelig, und der Boden unter ihr schien sich zu bewegen. Als sie versuchte, sich aufzusetzen, verschwamm alles vor ihren Augen; sie sank zurück und schloss die Augen wieder. Ganz aus der Nähe war ein lautes Geräusch zu hören, ein vielschichtiges Stampfen, das sie an eine Dampflok erinnerte. Sie legte ihre Hände an die Schläfen und fragte sich, ob sie vielleicht zuviel Schnapps getrunken hatte. Eine weitere Hand, die sich anders als ihre eigene anfühlte, senkte sich auf ihre Stirn. Yuste ließ ihre Arme zur Seite fallen, als die köstliche Kälte des Heilens in ihren Schädel glitt und ihren überreizten Adern Linderung brachte. Tief in ihrem Inneren wand sich ihre neue Macht wie eine goldene Schlange, die von ihrem ersten Mahl übersättigt war.
Yuste setzte sich kerzengerade auf und schlug die Hand beiseite. »Zyon! Was habe ich getan?« Boris saß neben ihr. Sein Gesicht war rußverschmiert und sein Mantel angesengt. »Du hast versucht, die Welt abzufackeln, Missis«, sagte er. Yuste packte ihn am Ärmel. »Diese Männer – was ist aus ihnen geworden?« »Sie sind auf der Stelle verbrannt. Die meisten jedenfalls. Ich nehme an, dass einige entkommen konnten.« »Boris, ich habe sie getötet. Ich habe sie zerstört.« Er nahm ihre Hand in seine. »Jetzt weißt du, warum ich nur meine Waffe benutze«, sagte er. »Ich habe einst das Gleiche getan. Seitdem habe ich immer versucht, meine Kräfte im Zaum zu halten. Ich weiß, wie verführerisch sie sein können. Zu viel selbst des süßesten Weines kann einen bitteren Nachgeschmack haben. Aber sieh es doch von der anderen Seite; du hast uns das Leben gerettet. Sie waren mächtig in der Überzahl.« »Yuda war bei mir und hat mich geführt«, sagte Yuste. »Aber ich habe ihn verloren. Er ist verschwunden.« »Ich glaube, du hast ihn hinauskatapultiert«, sagte Boris. »Du hast einen Feuersturm entfacht, und nicht einmal Yuda hätte dich aufhalten können. Es war mein Fehler; ich hätte wissen müssen, dass das geschehen würde.« Yuste presste den Mund zusammen. »Warum gibst du dir die Schuld, Boris Andreyevich?«, fragte sie. »Ich muss dafür die Verantwortung übernehmen und selbst damit klarkommen. Später. Zuerst musst du mir sagen, wo wir sind und was dies für ein … außergewöhnliches Transportmittel ist.« Boris stand auf. »Willkommen an Bord«, sagte er und streckte seine Arme aus. »Dies ist die Arabian Bird, und wir sind ungefähr eine halbe Stunde von Dieulevaut entfernt.« Yuste richtete sich langsam auf. Ihr war noch immer etwas schwindelig. Sie blickte zum Ballon empor, der in der Brise hin und her schwang. Er hatte die Form einer riesigen Träne, doch was sie über-
raschte, war seine Schönheit; wie eine Mar-di-Gras-Laterne glühte er orange und golden vor dem nächtlichen Himmel. Um ihn herum hingen große Segel schlaff herab. »Ist es ein lenkbares Schiff?«, fragte sie und ging zu einer Seitenwand. Boris zog sie zurück. »Es ist keine gute Idee, hinauszuschauen, wenn man unter Höhenangst leidet«, sagte er. »Wo sind Cluny und Planchet?« Boris nahm sie an die Hand und führte sie. Es war etwas Besitzergreifendes in der Art, wie er sie packte, doch Yuste zog ihre Finger nicht zurück. Sie fanden Cluny und Planchet, die im Windschatten auf dem Vorderdeck Schutz gesucht hatten, wo sie die in Sicht kommende Hügelkette beobachten konnten. »Ist das das Lepas-Gebirge?«, fragte Yuste. Die Berge breiteten sich vor ihnen aus, sie wirkten wie die Falten zerknitterten Leders. Über ihnen hatte sich der Himmel verändert; die Sterne verschwanden, als es heller wurde. Cluny stand auf, nahm ihre freie Hand und beugte sich vor, um sie zu küssen. »Ich bin von Herzen froh zu sehen, dass Madame ihre Gesundheit wiedererlangt hat«, sagte er und brach in Lachen aus, als er seine eigene Förmlichkeit bemerkte. Planchet erhob sich steif und rieb sich die Knie. »Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich mal so etwas zu sehen bekomme, Madame«, sagte er. »Ich hoffe, dass du es nie wieder sehen musst, Planchet«, sagte Yuste. Sie zog ihre Hand aus der von Boris und lief zum Bug. »Ich glaube, ich kann Dieulevaut sehen«, sagte sie. Der Himmel hatte ein salziges Grün angenommen. Unter seinem Licht begannen die Berge aufzuglühen und entlang der Gipfel Feuer zu fangen. Aus dem Nebel stach eine Stadt heraus, die sich aus einer Dampfwolke zu erheben und gleißende Türme in die Luft zu senden schien. Um ihr Fundament herum war eine Vielzahl von Luftschiffen angebunden, die gegeneinander prallten wie ankernde Boote in einem Hafen. Die blassen Kugeln ihrer Ballons bildeten
einen Blasenkranz um die steinernen Fundamente der Stadt, die sich an die Felswand klammerte. Cluny und Boris stellten sich neben sie, und Boris zündete sich eine Zigarre an. Sie konnten in ihren Gesichtern spüren, wie kalt die Luft war, doch es war eine lebendige Kälte, die sie eher wach machte statt ihre Sinne zu vereisen. Boris legte einen Arm um Yustes Schulter, und sie unterdrückte das Gefühl des Ärgers, der bei dieser stillschweigenden Selbstverständlichkeit in ihr aufstieg. Stattdessen lehnte sie sich gegen ihn und fragte sich, was sich zwischen ihnen verändert hatte. Etwas Wichtiges war anders geworden; es würde mehr Zeit kosten, als sie hatte, um herauszufinden, was es war. »Ich bin froh, dass du wach bist, um das zu sehen«, sagte Boris. »Es wäre eine Schande gewesen, das zu verpassen.« Das Grün des Himmels hatte sich zu einem sonnigen, strahlenden Gelb aufgehellt. Auch die Mauern der Stadt hatten die Farbe verändert und nahmen festere Umrisse an, als sich das Schiff näherte. Zuvor waren die Türme von einem nüchternen Zwielichtgrau gewesen mit trübroten Dächern. Als die Sonne über den Bergwipfeln aufstieg, verdrängte sie auch die Schatten. Die höchsten Türme veränderten sich zuerst: Licht glänzte auf den goldenen Wetterfahnen, und die Dachziegel begannen in Tönen von rotem Ocker, gebranntem Umber, Terrakotta und Rosa zu glühen. Während die Schatten die Mauern hinabkrochen, legten sie Sandsteinblöcke frei, die von einem blassen Rehbraun zu einem satten, undurchsichtigen Honigton verwittert waren. Das Glas in den vielen hohen und schmalen Fenstern blitzte, und das Licht enthüllte die unterschiedlichen Färbungen der geschlossenen Fensterläden in den unteren Stockwerken. Während die Arabian Bird wendete und langsam an den Reihen der verankerten Luftschiffe entlangglitt, konnte Yuste sehen, dass jedes an seiner eigenen Anlegestelle befestigt war, einer kräftigen Plattform, die über den Abgrund ragte. Der Kapitän steuerte sein Gefährt an den kleineren Schiffen vorbei, bis er es längs an einen breiteren Liegeplatz gebracht hatte. Der Motor des Schiffes veränderte
seinen Ton, als sie langsam hereintuckerten und gegen die Seite der hölzernen Landefläche stießen. Sofort traten zwei Männer aus einer Tür in der Stadtmauer und rannten hinunter zum Ende der Liegeplätze. Einer sprang an Bord, griff sich ein Tau vom Deck und warf es dem anderen zu, der auf der Landseite geblieben war. Der zweite Mann befestigte das Seil an einem Pfosten, und auf ein Signal hin schaltete der Kapitän mit einem Kreischen der Hebel und einer Dampfwolke den Motor aus. »Sieht aus, als wären wir da«, sagte Boris und sog an seiner Zigarre. Sie sahen zu, wie Kapitän Ignatius dem Neuankömmling mit theatralischen Gesten ihre Reise beschrieb. Er zeigte keine Spur von Müdigkeit, auch wenn er die ganze Nacht auf den Beinen gewesen sein musste. Als er bemerkte, dass sie zusahen, winkte er sie näher und grinste unter seinem Schnauzbart. Yuste war noch immer wackelig auf den Beinen, und so war sie froh, sich auf Boris stützen zu können, als sie das schwankende Deck überquerten. Der zweite Mann war ein dunkelhäutiger Franj. Er machte eine tiefe Verbeugung und sagte: »Bienvenue à Dieulevaut«, als sie von Bord gingen. »Sie müssen mich zu meinem Haus begleiten«, sagte Ignatius. »Auch wenn es hier viele Gasthäuser, Herbergen und so weiter gibt; ich bin so gespannt darauf, Ihre Geschichte zu hören, und mein Haushalt ist daran gewöhnt, für unerwartete Gäste zu sorgen – auch wenn ich mir vorstellen kann, dass sie ganz schön die Nase voll davon haben, dass ich immer wieder Fremde mitbringe. Aber, wenn ich mal prahlen darf, wir machen das beste Frühstück westlich der Berge. Die Franj verstehen nichts vom Frühstücken und den Sklavs scheint es ganz egal zu sein.« »Wir haben kein Geld«, sagte Yuste. »Wir haben all unseren Besitz beim Angriff verloren. Und es wäre nicht richtig, Ihre Gastfreundschaft auszunutzen.« »Ich will Ihr Geld nicht«, sagte Ignatius. »Es ist eine Ehre für mich, in Ihrer Gesellschaft zu sein, wenn auch nur für kurze Zeit.« »Als es geschah, trug ich noch etwas Geld am Körper«, sagte
Boris. »Und Planchet hat meine Börse«, sagte Cluny. »Wir sind ohne Verluste davongekommen.« »Ich bin sehr froh, das zu hören«, sagte Ignatius. »Aber wie Monsieur Crespin hier bestätigen wird, bin ich ein wohlhabender Mann und einer, der viele Bekannte hat.« Crespin hob seine Hände in einer Geste, die scherzhaft Verzweiflung andeuten sollte, und verdrehte die Augen gen Himmel. »Sie müssen dem Monsieur glauben«, sagte er. »Seine Gastfreundschaft ist sprichwörtlich unter den Reisenden, die durch Dieulevaut kommen. Manche kommen nur deshalb zurück, weil sie ihn besuchen und die Dienste seines Küchenmeisters in Anspruch nehmen wollen. Sie werden feststellen, dass Sie gar nicht weiter reisen wollen.« Nach einem weiteren Wortwechsel war Yuste überzeugt, das Angebot wenigstens im Hinblick auf ein Frühstück mit Ignatius annehmen zu können. Sie überließen es den Männern am Landungssteg, das Luftschiff zu sichern und sich um den Motor zu kümmern, und folgten ihrem Gastgeber durch das schmale Tor, durch das die Stadt zu betreten war. Hinter der Tür schien es, als seien sie auf dem Boden eines Brunnens gelandet. Der Himmel über ihnen war makellos blau, und sie konnten weit über ihren Köpfen die Dächer im Sonnenlicht glühen sehen; doch unten, auf der Höhe der Straße, glänzte das Kopfsteinpflaster noch immer vom kalten Tau der Nacht, und ein eisiger Schatten hing in der Straße. Die Stadt schien zu erwachen; Fensterläden wurden aufgestoßen, während sie vorbeigingen, und Vorhänge aufgezogen; sie sahen die Arme von unsichtbaren Frauen, die sich aus dem Fenster reckten, um ihre Wäsche auf Leinen zu ziehen, die hoch oben quer über die Straße gespannt waren; es roch nach frisch gebackenem Brot, sodass Yuste sofort voller Heimweh an Masalyar dachte, und eisenbeschlagene Hufe klapperten auf dem Kopfsteinpflaster, auch wenn vor ihnen niemand zu sehen war. Sie bemerkten schon bald, dass die Stadt wie ein Labyrinth angelegt war. Ignatius nahm eine Abzweigung nach links und führte sie
durch einen Durchgang in eine engere Gasse, wo Yuste mit ausgestreckten Armen die Mauern auf beiden Seiten berühren konnte. Diese Häuser waren mit grauem Gips verputzt, doch über ihren Köpfen baumelte die gleiche Ansammlung leuchtend bunter Wäsche, und Federbetten waren zum Lüften aus dem Fenster gehängt worden. Ein oder zwei Male rief jemand einen Gruß an Ignatius hinunter, als sie vorbeigingen, selten mehr als ein »Bonjour, M'sieur Brunelleschi, ca va?« Ignatius blieb kurz stehen, um den Gruß zu erwidern, doch er schien es eilig zu haben, nach Hause zurückzukehren. Als sie die enge Gasse verlassen hatten, bog er nach rechts zu einer aufwärts führenden Treppe, die sich nach rechts wand. Hier schienen die Häuser kleiner, obwohl in Wahrheit nur die Straße höher lag; als sie an einer Lücke zwischen den Gebäuden vorüberkamen, erhaschte Yuste einen Blick auf eine andere Straße, die weiter unten kreuzte. Diese Häuser fingen mehr Sonne ein, und viele von ihnen verfügten über Dachterrassen mit Terrakottatöpfen und einer ganzen Reihe von Grünpflanzen und gelegentlich sogar einer Palme. Ignatius lief nun noch schneller, und sie fanden es schwer, mit ihm Schritt zu halten. Als er bemerkte, dass sie hinter ihm zurückfielen, blieb er stehen und wartete auf sie, während er die Spitzen seines Bartes zwirbelte. Es stellte sich heraus, dass sich sein eigenes Haus am Ende des Anstieges befand, wo die Straße in einer Cul-de-Sac endete. Ein runder Turm erhob sich aus dem Kopfsteinpflaster, und Ignatius schloss die Vordertür mit einem mächtigen Schlüssel auf, stieß sie auf und rief nach innen: »Beatrice! On a du monde!« Er trat nicht ein, sondern wartete darauf, dass sie sich zu ihm gesellten. Währenddessen kam eine kleine, blonde Frau, die eine lange weiße Schürze über ihrem Kleid trug, zur Tür. Sie hatte die gleiche helle Haut und rosige Wangen wie Ignatius, und Yuste fragte sich, aus welchem Land sie wohl stammten. »Dies ist meine Schwester, Mademoiselle Brunelleschi«, verkündete Ignatius, als sie an der Tür ankamen. Die junge Frau machte einen Knicks; ihre Augen wurden groß, als sie Cluny und Planchet
– ganz zu schweigen von Yuste – in ihren Tuniken und Kettenhemden sah. »Seien Sie willkommen, Messieurs et Madame«, sagte sie. »Hat Ignatius Sie eingeladen, für zwei Wochen zu bleiben, oder nur fürs Frühstück?« Dies hätte unhöflich klingen können, doch sie begleitete ihre Frage mit einem Lächeln, das verriet, dass sie sich über ihren Bruder und nicht über die Gäste lustig machte. »Wir wollen Ihnen nicht zur Last fallen, Mademoiselle«, sagte Yuste. »Ihr Bruder hat darauf bestanden, dass wir ihn begleiten; er ließ keinen Widerspruch gelten.« »Unfug«, sagte Beatrice. »Dies ist ein großer Haushalt, und wir sind immer auf Besucher eingestellt. Vor allem, weil Ignatius so gerne viele von ihnen heimbringt.« Sie lachte. »Wenn Sie mitkommen würden, Madame, ich werde Sie an einen Ort bringen, wo Sie sich erfrischen können, während mein Bruder sich um die Gentlemen kümmert.« Boris klopfte Yuste leicht auf den Rücken, und so bestärkt trat sie über die Schwelle. Im Inneren zog sich eine Wendeltreppe den Turm hinauf, und ein breiter Gang führte in das eigentliche Haus; Sonnenlicht flutete durch ein unverschlossenes Fenster am anderen Ende des Raumes hinein. Beatrice begann, die Treppe hinaufzusteigen, und wartete darauf, dass Yuste ihr nachkam, und während sie die Stufen erklomm, fing sie an zu reden. »Sie müssen meinen Bruder entschuldigen, Madame; wir sind Inselbewohner, und Gastfreundschaft ist nicht selbstverständlich für uns, doch seit Ignatius der Kapitän der Arabian Bird geworden ist, ist er dazu übergegangen, jeden mit nach Hause zu bringen, den er auf seiner letzten Fahrt mitgenommen hat. Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie keinen Schinken essen werden, da Sie Wanderer sind?« Diese plötzliche Frage ließ Yuste auf der Treppe stehen bleiben. »Ich sollte nicht diese Farben tragen«, sagte sie. Beatrice sah zu ihr hinunter. »Dieulevaut ist ein freier Staat und
unterliegt nicht den Gesetzen von Neustria«, sagte sie. »Während Sie hier sind, müssen Sie sich keine Sorgen über Kleiderordnungen machen. Auch wenn nur wenige Wanderer hier leben, kommen doch viele auf ihrem Weg von Neustria nach Sklava und umgekehrt durch diese Stadt.« »Wanderer trauen sich, nach Sklava zu reisen?«, fragte Yuste und lehnte sich gegen den Endpfosten der Treppe. Plötzlich fürchtete sie, dass ihre Beine nachgeben könnten. Beatrice bemerkte ihre Erschöpfung, und voller Feingefühl kam sie ihr entgegen und bot ihr die Hand an. »Sie müssen entschuldigen, Madame«, sagte sie. »Mein Bruder sagt oft, dass ich zum Plappern neige. Ich sehe wohl, dass Sie sich waschen möchten und etwas zu essen und Ruhe brauchen.« Yuste lächelte in das Gesicht des Mädchens. »Sind Sie und er Zwillinge?«, fragte sie. Beatrice lachte. »Das merken nicht viele Leute, vor allem, weil er groß ist und ich nicht. Aber wir haben die gleiche Gebärmutter geteilt.« »Ich bin auch ein Zwilling«, sagte Yuste und drückte ihren Arm. »Ich habe einen Bruder, dem ich auch nicht sehr ähnlich sehe. Außer von der Statur her.« Der höchste Turm in der Stadt Zlonice reichte nicht weiter als bis zu Huldis' Hüfte. Es gab nur eine Straße, die breit genug für sie war, sodass sie die Stadt betreten konnten, und nachdem sie erstmal im Inneren waren, mussten sie vorsichtige Schritte machen. Huldis starrte hinab auf die geschwungenen Dachschiefern und Fahnenmaste, an denen leuchtende Flaggen wehten. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass sie tatsächlich aus großer Höhe auf die unter ihr liegenden Gebäude schaute. Damit sie nicht stolperte, musste sie stehen bleiben und auf ihre eigene Hand starren, um sich selbst daran zu erinnern, dass sie nicht wirklich hundert Meter groß war. Glocken läuteten, während sie die Straßen entlanggingen; Huldis
sah auf die spitzen Kirchtürme und fragte sich, was diese Leute verehrten und ob ihre Tempel denen der Doxoi ähnelten. Es war unwahrscheinlich, dass sie jemals ins Innere würde blicken können. Sie konnte kaum die Leute erkennen, die sich in den Straßen unter ihr drängten und sich an die Mauern pressten, um ihren Füßen auszuweichen. Sie erinnerten sie an Puppen oder fées aus den Märchenbüchern, mit deren Hilfe sie lesen gelernt hatte. Ihre Gesichter waren ernst und dunkelhäutig, und sie hatten alle dunkle Augen, bei denen die Iris so groß war, dass nur ein winziges bisschen Weiß in den Rändern zu erkennen war. Fast erwartete Huldis, dass sie spitze Ohren und Flügel hätten, doch ansonsten ähnelten sie in jeder Hinsicht den Menschen. Sie bemerkte rasch, dass sie nicht häufig lächelten; tatsächlich schien über der ganzen Stadt eine verzweifelte Stimmung zu liegen, auch wenn sie diesen Eindruck an nichts wirklich festmachen konnte. Yuda lief vor ihr. Er schien zwar leichtfüßig, beobachtete jedoch den Boden, um sicherzugehen, dass er nicht auf die Leute oder ihre Pferde trampelte. Immer wieder lief er mitten durch eine Wolke und löste einen Regenschauer aus, der Huldis' Kleid durchnässte, wenn sie ihm nachkam. Sie fragte sich, wie groß wohl die Sonne wäre; sie stand hoch am Himmel und sah nicht anders aus als der Himmelskörper, der in ihrer eigenen Welt das Licht spendete. Der König und seine Jäger führten sie zu einem Platz, der groß und offen genug war, sodass sie sich beide hinsetzen konnten. Er war gesäumt von etwas, das wie Platanen aussah, und als sich Huldis auf den Boden sinken ließ, passte sie auf, dass sie nicht eine der zarten Pflanzen entwurzelte. Sie und Yuda saßen mit dem Gesicht zueinander an entgegengesetzten Enden des Platzes, sodass sich ihre Füße fast berührten. Hinter Huldis stand ein wunderschönes, klassisches Gebäude, wie einer der Tempel der Kadagoi, mit einem breiten, dreieckigen Giebel, aus Marmor gehauen, der eine Reihe von Säulen krönte, darunter eine Treppenflucht breiter und flacher Stufen. Links befand sich eine Zeile hoher Häuser mit gestuften Dächern, deren Fassaden mit safrangelber Temperafarbe getüncht wa-
ren. Eine prächtige Halle war zu ihrer Rechten zu sehen, und sie nahm an, dass dies der königliche Palast war; der König zügelte sein Pferd vor den prachtvoll vergoldeten Toren, und ein Diener in karmesinroter Livree kam heraus, um sein Pferd in Empfang zu nehmen. König Yaroslav stieg die Stufen zum Palast empor. Er hatte ein schönes Gesicht und eine athletische Gestalt, doch trotz seines blonden Haars hatte auch er die dunklen, melancholischen Augen seines Volkes. Huldis bemerkte, dass keiner der Männer einen Bart trug; ihre Gesichter waren glatt wie die von Kindern, obwohl sie wie die von erwachsenen Männern geschnitten waren. Der König hielt eine kurze Reitpeitsche in der Hand; er trug ein scharlachrotes Wams, einen kurzen Umhang und dunkle Beinkleider, dazu lange, spitze Schuhe, die aus Leder gefertigt sein mochten. Statt einer Krone saß eine federbewehrte Kappe auf seinem Kopf. Nach und nach schlossen sich ihm seine Höflinge an, und sie waren ähnlich gekleidet, mit Ausnahme von Stanislaus, der einen längeren Umhang trug, der unterhalb der Knie endete und mit Hermelin besetzt war. Huldis dachte, dass sie einen Anblick boten, der ihrem Vater gefallen hätte, auch wenn er den Schnitt ihrer Kleidung ungewohnt finden würde. Die Farben waren strahlender und abwechslungsreicher als die, die sie vom Hof in Ademar kannte, aber sie erfreuten das Herz. Es war eine Freude, eine Stadt zu sehen, deren Herrscher jung und tatkräftig war und inmitten seiner Untertanen lebte, nicht in einer brütenden Burg, in der es niemals warm zu werden schien. Huldis fiel auf, dass die Bewohner sich zwar an die Ränder und in die Ecken des Platzes drückten, jedoch keinen Versuch unternahmen, sich ihr oder Yuda zu nähern. Sie stellte sich vor, dass bei ihr die Neugier über die Furcht gesiegt hätte. Es war seltsam, dass es keine Kinder gab, die mutig genug waren, aus der Menge auszubrechen, und es wagten, die seltsamen Riesen genauer zu betrachten. Diener waren aus dem Schloss getreten und trugen Tabletts mit Kelchen, um die Jagdgesellschaft zu erfrischen. Huldis war amüsiert und gerührt, als der König selbst einen solchen Kelch herbeibrachte und ihn ihr mit einer Verbeugung anbot. Sie hätte gerne einen
Knicks gemacht, denn sein Rang war höher als der ihre, doch so nahm sie den Kelch zwischen Daumen und Finger und führte ihn an die Lippen. Er hatte ungefähr die Größe eines großen Fingerhutes und war bis zum Rand mit wunderbar riechendem, dunklem Rotwein gefüllt. Huldis trank ihn mit zwei Schlucken aus und war überrascht von seiner Stärke; sie fühlte eine brennende Wärme von ihrem Magen aufsteigen. Der König füllte seinen Kelch und kehrte zur Treppe zurück, wo er ihr und Yuda zutrank. Es schien etwas absurd, den winzigen Becher zu erheben und dem König und seinen Begleitern zuzuprosten, doch sie und Yuda taten es ihm nach, auch wenn er kurz innehielt, um einige Worte zu murmeln. Um dem König die Mühe abzunehmen, ihre Kelche wieder einzusammeln, streckte Huldis vorsichtig den Arm aus und stellte das Gefäß auf der obersten Stufe ab. Nach dem Entsetzen des Angriffs im Wald und ihrer seltsamen Flucht fühlte sie sich nun gewärmt und freudig. Sie fragte sich, ob ihre Gastgeber sie auch mit Essen versorgen würden. Sie hoffte zudem, dass Yuda bald die Gelegenheit haben würde, das Thema ihres Fortkommens von diesem Planeten anzuschneiden; sie war nicht begierig darauf, wieder auf Semyon und ihren Bruder zu treffen, die ihnen aller Wahrscheinlichkeit nach auf dem gleichen Wege folgen würden. Sie legte die Hände auf die Knie und fühlte sich angenehm benommen. Ein belustigender Gedanke kam ihr, nämlich, dass sich nirgends in der Stadt ein Bett oder ein Sofa finden würde, welches groß genug wäre, sodass sie sich darauf ausstrecken könnte. Sie warf Yuda einen Blick zu und sah, wie er gähnte. Die Wolken trieben über ihnen, und die Sonne blitzte immer mal wieder durch und wärmte den Platz. Die Atmosphäre bewirkte, dass sie sich dem Sommer viel näher fühlte als in ihrer eigenen Welt; ihr war aufgefallen, dass an den Bäumen schon Blätter sprossen. Träge streckte sie die Hand aus und pflückte eines von den höchsten Ästen eines Baumes, und sie war erfreut zu sehen, dass es tatsächlich eine Platane war. Sie schloss die Augen, nur für einen Moment, und lauschte den läutenden Glocken. Es schien der herrlichste Klang, den sie in ih-
rem ganzen Leben vernommen hatte; ein süßes Glockenspiel ließ eine Melodie ertönen, die sie nicht kannte, sie jedoch sehnsüchtig an zu Hause denken ließ und an ihre Kindheit, als Aude noch am Leben war und ihr Gesellschaft leistete. Huldis fuhr mit einem Ruck auf. Das Erste, was sie sah, war eine Kassettendecke, die golden und rot gestrichen war. In jedem Deckenfeld befand sich eine Bosse in der Form einer golden gefärbten Sonne. Sie lag ausgestreckt auf etwas, das sich wie ein Holzfußboden anfühlte, und sie hatte das unangenehme Gefühl, in einen Kokon eingesponnen zu sein wie eine Raupe. Sie versuchte sich aufzusetzen, doch ihr Kopf war auf dem Boden befestigt. Ihre Arme und Beine waren ähnlich verankert, mit einem zarten, aber starken Faden, der sie an eine Spinnwebe erinnerte. Sie wackelte in ihren Schuhen mit den Zehen und krümmte die Finger, aber das war auch schon alles, was sie tun konnte; sie hätte genauso gut paralysiert sein können. Ihr Geist erwachte langsamer als ihre Sinne. Es dauerte einige Minuten, bis sie sich an den Sprung in den Koffer erinnerte, den endlosen Fall und ihre Ankunft in dieser Welt. Das Letzte, woran sie sich erinnerte, waren die Kelche, aus denen sie den Wein genossen hatte; entsetzt dachte sie, dass dieser mit einer mächtigen Droge versetzt gewesen sein musste, wenn eine kleine Menge jemanden, der so groß wie sie war, außer Gefecht setzen konnte. Nach und nach wurde ihr bewusst, dass sie nicht allein war; Füße in leichten Schuhen bewegten sich über ihren Körper und kleine Hände zupften an ihr und piekten sie, jedoch nie so stark, dass es ihr wehtat. »Was tut ihr?«, fragte sie. Es gab eine Pause, in der Stille herrschte, bevor sich eine Frau mit faltigem Gesicht auf ihr Brustbein stellte. Die Frau war mit einer Robe aus Damast bekleidet, die von goldenen Fäden durchwirkt und mit einem Gürtel um ihre schmale Taille befestigt war. Der Aufschlag war mit Hermelin besetzt und erlaubte den Blick auf ein Mieder, das mit einem Muster aus Laub-
verzierung bestickt war. Huldis stockte fast der Atem beim Anblick der Konstruktion aus Gaze und Draht, die vom Kopf der Frau aufstieg und ihre geflochtenen, bernsteinfarbenen Haare verhüllte. »Je suis la Reine-Mère, Demoiselle«, sagte sie in perfektem Franj. Huldis starrte ihr in die schwarzen Augen, die ihr zum ersten Mal einen alarmierend unnahbaren Ausdruck zu haben schienen. Sie versuchte, gegen ihre Fesseln anzukämpfen, doch sie konnte kein Glied rühren. Die Königinnenmutter fuhr fort: »Nous sommes bien curieuses de savoir si les femmes géants sont faites comme nous. En toutes particulirités.« Huldis schauderte. Sie fragte sich, was sie getan hatten, während sie ohnmächtig gewesen war; die Königinnenmutter erinnerte sie an jene eifrigen Schwiegermütter, die den augenscheinlichen Beweis der Jungfräulichkeit sehen wollten und die am Morgen nach der Hochzeit die Laken untersuchten. Wenn es keine Blutspuren gab, wurde die Braut für eine Hure gehalten und davongejagt – oder Schlimmeres. »Mais Madame, ce n'est pas gentil de traiter vos invitées de cette façon«, protestierte sie. »Tu n'es pas une invitée«, antwortete die Königinnenmutter. Huldis bemerkte, dass sie das vertrauliche ›tu‹ verwendete, das Freunden, Kindern und Tieren vorbehalten war, nicht das förmliche ›vous‹. Kein gutes Zeichen. »Tu es notre prisonnier.« »Où est mon copain? Qu'est-ce que vous avez fait avec lui?« Plötzlich wurde Huldis von Furcht erfasst. Diese Untersuchung durch die Hofdamen war zwar harmlos gewesen, doch sie waren in ihre Privatsphäre eingedrungen. Sie wollte nicht darüber nachdenken, dass sie von Yuda getrennt worden war. Es schien ihr unheilvoller, als es eigentlich den Anschein hatte. Die Königinnenmutter zuckte kurz und ausdrucksvoll mit den Schultern. Vielleicht stammte sie selber aus Franj. Franj war die Lingua Franca der Höfe in Yevropa, und dieser hier könnte, abgesehen von der Größe, einer der Höfe sein. »J'sais pas, ma petite«, sagte sie, und
die Ironie darin entging Huldis nicht. »D'ailleurs, il est avec mon fils. Ne t'inquiète pas.« Sie blickte über ihre Schulter und sagte etwas in ihrer eigenen Sprache zu ihren unsichtbaren Damen; Huldis hörte sie kichern. »Lasst mich gehen!«, rief sie und mühte sich ab, ihren Kopf zu heben. »Laissez moi tranquille!« Die Königinnenmutter schüttelte den Kopf. »Point ne c'est possible«, sagte sie. Sie setzte sich auf Huldis' Brust und breitete ihre Röcke aus. Dann begann sie damit, Huldis über die Geschichte ihres Volkes aufzuklären: Wie, seitdem Semyon ihre Welt gefangen genommen hatte, jedes Mal, wenn er einen Zauberspruch wirkte, jemand verschwand. Niemand wusste, wohin sie kamen, nur, dass es ein schrecklicher Ort war, der als Gläserner Berg bekannt war. Letztes Jahr hatte ihr Sohn die Königin verloren, seine Braut, und hatte beim Heiligen Prisma einen großen Eid geschworen, dass er tun würde, was auch immer nötig wäre, um sie zurückzugewinnen. Die Königinnenmutter seufzte. »Du musst verstehen, Kind, dass du und dein Freund wie ein Geschenk der Götter kamt. Wenn der böse Magus euch folgt, was er sicher tun wird, dann werden wir ihm eure Leben anbieten unter der Bedingung, dass er uns unsere Freiheit wiedergibt – uns und unseren verlorenen Freunden.« Huldis dachte an Yudas Macht. Er wäre doch sicher in der Lage gewesen, sich zu befreien, selbst wenn er den mit Drogen vermischten Wein getrunken hatte! »Wir sind Schamanen«, sagte sie und versuchte, wild zu klingen, auch wenn das schwierig war, wenn man auf dem Boden gefesselt lag und eine kleine Königin auf der Brust sitzen hatte. »Wir sind nicht wie andere Sterbliche.« Die Königinnenmutter zuckte wieder mit den Schultern. »Wir haben die Schwächen der Schamanen herausgefunden«, sagte sie. »Du magst groß in Gestalt sein, meine Kleine, aber dein Geist ist nicht so scharf wie unserer. Unsere besten Philosophen und Doktoren haben viele Monate lang diese Angelegenheit studiert, und wir ha-
ben unsere eigene Magie für eine Gelegenheit wie diese vorbereitet. Ihr seid nicht die einzigen monströsen Kreaturen, die unsere Welt befallen, wenn ihr auch die einzigen in menschlicher Gestalt seid. Wir haben Netze gewoben, die eure Kräfte binden – und wenn es sein muss, wird es noch andere Möglichkeiten geben, euch zu hemmen.« Ein kalter Schauder lief Huldis den Rücken hinunter. Sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen, und auch wenn sie voller Zorn auf dieses Volk war, konnte sie sie nicht zurückhalten. Die Königinnenmutter rief ihre Damen herbei, und sie schwärmten über Huldis, wo sie in Reihen stehen blieben und sie anstarrten, während sie weinte. Es tröstete sie ein wenig, dass einige von ihnen sie mitleidig ansahen. Eine, die jünger war als die anderen, nestelte an ihrem Ausschnitt und förderte ein winziges Taschentuch zu Tage, mit dem sie Huldis' Augenlid betupfte. »Danke«, sagte Huldis. »Pah«, sagte die Königin. »Sentimentaler Unsinn. Wir wissen, dass diese Kreaturen keinen Schmerz oder tiefere Gefühle wie wir empfinden.« »Die Riesin ist traurig, Madame«, sagte das Mädchen. Sie besah sich das Taschentuch, das nun tropfnass war, und steckte es in ihren Gürtel. Wie bei den anderen war ihr Haar von einem Haarschmuck aus zartestem Gazestoff in der Form von Schmetterlingsflügeln verdeckt. »Was macht ihr mit mir?«, fragte Huldis und kämpfte gegen die Tränen. »On doit attendre«, sagte die Königinnenmutter. »Wir müssen auf den Magus warten. Ohne Zweifel wird es nicht mehr lange dauern. Er ist bereits in unserer Welt gelandet. Bis er kommt, werden wir euch sicher verwahren. Sehr sicher.« Annat erlangte in der Dunkelheit ihr Bewusstsein wieder. Irgendjemand hielt sie, und sie kämpfte und schlug um sich, bis sie Mal-
chiks Stimme hörte. »Ruhig, Natka«, sagte er. »Ich bin's doch nur.« »Ich kann nichts sehen! Ich bin blind …« »Hier gibt es kein Licht«, sagte Malchik, doch während er sprach, spürte sie einen reißenden Schmerz in ihrem linken Auge. Sie führte ihre Hand dorthin und fühlte Blut auf ihrer Wange. »Malchik, sie hat mein Auge ausgestochen. Sie hat mich geblendet.« Er wiegte sie, als ob sie ein kleines Kind wäre. »Scht, scht. Sie sind alle fort.« »Aber sie sagten, sie würden uns unsere Seelen stehlen. Warum wollen alle unsere Seelen? Warum wollen sie uns verletzen?« »Ich verstehe es nicht«, sagte seine Stimme. »Und ich kann dich nicht mal heilen. Ich bin nicht zu viel nutze.« »Haben sie dich verletzt, Malchku? Was haben sie mit dir gemacht?« »Sie haben mich nicht angerührt.« Er seufzte. »Ich weiß nicht, warum nicht. Sie haben uns in diese Felsenkammer gesteckt und unsere Fesseln gelöst.« »Was sollen wir jetzt tun?« »Ich habe nachgedacht. Während du ohnmächtig warst. Dieser Ort ist von Schächten und Kaminen durchsiebt. Ich weiß nicht, warum die Bergleute hier bleiben. Aber es gibt einen Schacht, der aus diesem Raum herausführt, in die Welt dort draußen. Zu eng für dich oder mich, um hinauszuklettern, doch andersherum könnte etwas kommen.« »Was meinst du?« Malchiks Zeigefinger streichelte ihre Wange. »Du hast mich nie gefragt, was ich in den Wäldern gemacht habe«, sagte er. »Während du dein Abenteuer mit den Wölfen hattest.« »Likan«, sagte sie. »Wenn ich sie doch nur herbeirufen könnte …« »Sie könnte nicht zu uns gelangen«, sagte er. »Aber Derzu hat auch mich dazu gebracht, meinen Tiergeist zu finden …« »Derzu! Was haben sie mit ihm gemacht?«
»Nun, das ist ja das Seltsame.« Er machte eine Pause. »Sie misshandelten, traten und piekten ihn – bis sie entdeckten, dass er lahm war. Dann ließen sie ihn in Ruhe. Fassten ihn danach nicht mehr an. Er wollte mit uns kommen, aber sie ließen ihn nicht. Sie schossen ihre Pfeile ab, bis er gezwungen war, umzukehren. Es sind seltsame Kreaturen; sie sehen menschlich aus, aber es ist etwas Leeres an ihnen.« »Mein Auge tut so schrecklich weh, Malchku.« »Was du brauchst, ist ein richtiger Schamane, nicht mich. Aber ich bin alles, was du hast. Ich habe sie herbeigerufen, Natka; ich habe Chovotis herbeigerufen …« »Wovon sprichst du?«, fragte sie und wurde unruhig. Man hörte, wie eine Tür geöffnet wurde, und Licht fiel in den Raum. Annat blinzelte und merkte, dass ihr unversehrtes Auge schmerzte. Sie musste ihren Kopf drehen, um zu sehen, wer den Raum betreten hatte, und erkannte die kleine Gestalt der Königin, die eine entzündete Fackel trug. Die Königin steckte sie in eine Halterung an der Wand und kam zu ihnen. Ihr blasses Gesicht schien in dem schwachen Glühen erleuchtet; ihre Schritte waren so leicht, dass es schien, als ob sie durch den Raum gleiten würde. »Wie geht es dem Kind?«, fragte sie mit leiser Stimme. Malchik grummelte in der Brust wie ein Bär. »Bleib uns einfach vom Leibe«, sagte er. »Ich bin nun nicht mehr gefesselt, und ich könnte dich wie einen Käfer zertreten.« Auf dem Gesicht der Königin waren keinerlei Anzeichen von Furcht zu erkennen. Sie kam näher, bis sie nur noch einige Schritte entfernt war. »Du verstehst nicht, Menschenkind«, sagte sie. »Es musste getan werden. Es ist ein Geschenk unseres Volkes an die Schamanen.« »Ein Geschenk?« Malchik streckte den Arm aus, ergriff sie mit einer Hand und hob sie vom Boden. Er hielt sie einige Zentimeter vor sein Gesicht. »Du hast meine Schwester geblendet. Sie könnte das Licht beider Augen verlieren. Wie kann das ein Geschenk sein?« Die Königin fand ihr Gleichgewicht wieder und legte ihre winzi-
gen Hände auf seine Faust. Sie war ein wenig atemlos, als sie sprach, aber noch immer gelassen. »Sie wird ihr Augenlicht nicht verlieren. Sie wird die innere Sicht erlangen. Sieh.« Sie zeigte mit der Hand in Annats Richtung, und gegen seinen Willen sah er Annat an. Sie sah, wie sich sein Gesicht veränderte. Er setzte die Königin auf dem Boden ab und streckte die Hand aus, um Annats Gesicht auf ihrer blinden Seite zu berühren. Annat wäre beinahe zurückgezuckt, als sie bemerkte, dass sie seine Hand mit beiden Augen sehen konnte. Mit ihrem rechten Auge sah sie die Hand aus Fleisch und Knochen, golden erleuchtet durch den Fackelschein; doch ihr linkes Auge sah eine blaue Umrandung, die sich vor dem Hintergrund aus samtenem Schwarz abhob: die Essenz von Malchiks Hand. Sie hob ihre Hand an ihr Gesicht. Sie konnte das getrocknete Blut auf ihrer Wange und verklumpt in ihren Wimpern fühlen; doch wo ihr Augapfel hätte sein sollen, war eine Leere, die ihre Fingerspitzen verbrannte. »Ich verstehe das nicht«, sagte sie. Malchik legte ihr den Arm um die Schultern. »Du bist aus freien Stücken zu uns gekommen, Königin«, sagte er. »Du weißt, was wir dir antun könnten. Sag uns, was das zu bedeuten hat.« Die Königin faltete die Hände vor dem Rockteil ihres Kleides. »Es ist die Macht des Prismas«, sagte sie. »Ich habe ihr ihre natürliche Sicht genommen, doch ich habe ihr die innere Sicht gegeben. So ist das bei Schamanen. Wir können ihnen die darunter liegende Wahrheit zeigen. Aber es hat immer seinen Preis. In früheren Zeiten wären sie gekommen, um nach dem Wissen zu suchen. Wir haben den alten Mann, Derzu, nicht angerührt; er hatte den Segen des Lahmen.« »Ihr … verletzt Schamanen?«, fragte Malchik. »Wir nehmen, aber wir geben auch.« Malchik ließ Annat los und hockte sich auf die Fersen. »Das ist nicht richtig«, sagte er nach einer Weile. »Meine Schwes-
ter hat euch nicht darum gebeten, sie zu verstümmeln.« »Lass sie darüber urteilen, wenn sie erfahren hat, was sie tun kann, was sie sehen wird.« »Es schmerzt«, sagte Annat. »Es wird wehtun, bis dein neues Auge Zeit hatte, zu wachsen. Dann verurteile mich.« »Aber du sagtest, ihr würdet unsere Seelen nehmen.« »Nicht nehmen, verwenden. Das Prisma funktioniert nicht unter Gewaltanwendung. Eure menschlichen Seelen können die Macht aus ihm ziehen, was unsere nicht vermögen.« »Und das wird uns zurück in unsere Welt bringen?«, fragte Malchik. Zum ersten Mal senkte die Königin den Blick. »Wir wissen nicht mit Sicherheit, was es bewirken wird«, sagte sie. »Das Prisma gehört in unsere Welt; es ist die Quelle der Macht, die der Magus verwendet hat. Ich trage es bei mir, und als wir ins Exil verbannt wurden, kam es mit mir. Ich weiß nicht, wie es arbeitet, wenn es hier verwendet wird. Oder ob der Magus so viel von ihm gezehrt hat, dass es gar nicht mehr wirkt. Aber die vereinte Macht euer beider Seelen wird es entflammen, und alles Weitere werden wir dann sehen. Wenn ihr einverstanden seid.« »Werdet ihr uns gehen lassen, wenn es klappt?« Die Königin seufzte. »Ich kann euch nicht aus dem Berg befreien«, sagte sie. »Ich habe euch alles gegeben, was in meiner Macht steht. Der einzige Weg in die Freiheit liegt über dir, im Himmel. Geh nicht tiefer zu den Wurzeln des Gesteins.« Gerade als sie zu Ende gesprochen hatte, raschelte es in der Dunkelheit, und sie schien zum Leben zu erwachen. Mit einem Flattern von braunen Flügeln kam ein großer Schatten von der Decke der Kammer hinuntergeflogen und setzte sich auf Malchiks Handgelenk. »Chovotis!«, sagte er. Die Eule wandte ihm ihren Kopf zu und starrte ihn aus schwarzen Augen an, die beinahe nur aus Pupillen zu bestehen schienen. Malchik kraulte die flaumigen Federn in ihrem
Nacken. Annat blickte zur Königin, um zu sehen, wie sie reagieren würde, doch die kleine Frau zeigte keinerlei Furcht. »Auch du bist ein Schamane«, sagte sie zu Malchik. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf, was ihn aus dem Lichtkreis der Fackel hob. »Du wirst mich nicht verwunden«, sagte er. Auf seinem Handgelenk schüttelte Chovotis ihr Gefieder. Die Königin sagte einige Worte in einer seltsamen Sprache. Die Eule glitt zu Boden und schritt auf ihren Klauenfüßen zu ihr. Sie waren ungefähr gleich groß. Die Königin streckte dem Vogel die Hand entgegen, der sie aus seinen glänzend schwarzen Augen beobachtete. »Ich brauche dich nicht zu verstümmeln, Junge«, sagte sie. »Deine Macht ist zu schwach. Aber wir, das Volk, haben viel gemeinsam mit diesen Vögeln. In unserer eigenen Welt sprechen wir die Sprache der Vögel, und in dieser Welt jagen wir mit den großen Eulen und sind nicht ihre Beute. Sie sind es, die uns in unserem Gefängnis mit Nahrung versorgt haben, gerade so, wie sie ihre Jungen füttern würden.« Malchik setzte sich wieder. Ohne Annat anzuschauen, streckte er den Arm aus und griff nach ihrem Handgelenk. »Dann werde ich euch helfen«, sagte er. »Ich werde das Licht des Prismas entzünden und euch wieder nach Hause bringen. Aber ich kann nicht für meine Schwester sprechen.« Annat bedeckte ihr unversehrtes Auge mit ihrer Hand und sah mit dem anderen Malchik an. Sie konnte recht deutlich seine Umrisse erkennen, und das schwache Durmat, das seine heimlichen Kräfte verbarg. Es war ein gedämpftes Blau, fast ein Lila, und hob sich gegen die seltsame Schwärze ab, die ihn umgab. Sie war vorher nicht in der Lage gewesen, die Signatur ihres Bruders zu sehen; sie hatte nicht gewusst, dass er eine hatte. »Was geschieht mit mir?«, fragte sie und ließ die Hand wieder sinken. Die Königin schaute sie an. »Ich habe dir die Innensicht gegeben«, sagte sie. »Dein neues Auge wird seltsam aussehen, aber es
wird nicht hässlich sein. Das Volk versteht, dass solch große Macht wie die, über die du verfügst, nicht auf die leichte Schulter genommen werden darf. Du bist wie eine kleine Göttin, doch du bist eine sterbliche Kreatur.« Annat wollte weinen; sie wünschte sich, die kleine Gestalt zu ergreifen und wie ein Kätzchen zu schütteln. Stattdessen malte sie gedankenlos mit den Fingern Muster auf den Stein, dann hörte sie sich selbst sagen: »Ich werde meinem Bruder helfen. Wir werden beide für euch das Prisma entzünden, wenn wir können.«
Kapitel 16
S
emyon wusste wenig über die Welt, die er in seinem Koffer gefangen hielt. Er hatte sich nie gewünscht, sie aus der Nähe zu begutachten, und doch hatte er den Sprung gewagt, zum Teil, weil er sich um Huldis sorgte, und zum Teil, weil er nicht den Wunsch verspürte, mit Sarl als seinem einzigen Begleiter zurückzubleiben. Er konnte den Erben jedoch nicht davon abhalten, ihm zu folgen; Sarl hatte mit festem Griff den Zipfel seines Umhanges gepackt, als er mit einem Satz in den offenen Koffer gesprungen war. Danach waren der freie Fall durch den Raum und die schmerzhafte Landung gekommen. Semyon konnte gerade noch verhindern, dass Sarl auf ihn fiel. Als er wieder zu Atem gekommen war, erhob er sich, streckte seine Glieder und atmete die mildere Luft des kleinen Planeten ein. Eigentlich war es eher eine Erleichterung, aus dem elendigen Wald entkommen zu sein, in dem Sarls Krähen die Wölfe vertrieben hatten. Semyon mochte Tiere nicht und konnte nicht verstehen, warum gewisse Schamanen eine besondere Bindung zu ihnen hatten. Er hatte sich überlegt, dass der Angriff der
Wölfe irgendwie mit Yuda zu tun haben musste; es verdross ihn, dass Sarl sie mit seiner eigenen Vogelschar gerettet hatte. Er war nicht gerade traurig zu sehen, dass der große Mann verdreht auf seinem Gesicht gelandet war. »Komm schon«, sagte er und versuchte, nicht zu grinsen. »Wir haben nicht viel Zeit.« Ohne ein Wort stand Sarl auf und klopfte den Staub von seiner Kleidung. Im weicheren Licht dieser Welt sah er sogar noch mehr wie eine Leiche aus. Semyon bemerkte, dass er seine Panzerhandschuhe angezogen hatte. »Warum diese Eile, Magus?«, fragte er. »Du sagtest mir, sie können ohne unsere Hilfe nicht von hier fliehen.« »Die Eile«, sagte Semyon langsam, »ist geboten, weil das Volk dieses Planeten, wenn auch von geringer Größe, wild und reizbar ist und großen Groll hegt. Besonders gegen mich. Sie haben ein weit entwickeltes Wissen über Magie, und sie werden nicht zögern, es einzusetzen. Ich weiß nicht mit Sicherheit, wie mein Gebrauch dieser Welt sie beeinflusst hat, doch ich weiß, dass die Auswirkungen schädlich waren. Wenn du deine Schwester und unseren Gefangenen in einem Stück wieder finden möchtest, empfehle ich, dass du dich beeilst.« »Warum verschwendest du dann deine Zeit mit Worten?«, fragte Sarl. »Führe mich zu ihnen.« »Ich weiß nicht genau, wo sie sind«, sagte Semyon. Er verlor langsam die Geduld. »Ich brauche einen Zauberspruch, um sie zu finden.« »Spar dir deine Sprüche«, sagte Sarl. »Ich werde ihre Spuren suchen.« Semyon wartete mit verschränkten Armen und versuchte, seinen Ärger zu ersticken, während er Sarl zusah, wie er den Boden genau untersuchte und den Rasen mit seinen Fingern durchkämmte. Er war erleichtert, dass der Erbe nicht lange brauchte, um zu finden, wonach er gesucht hatte: die Abdrücke, die Yuda und Huldis in dem federnden Gras hinterlassen hatten. Die zwei Männer nahmen
ihre Spur auf, und Sarl zeigte auf die Hufspuren, die kleine Pferde hinterlassen hatten, und die winzigen Pfotenabdrücke der Hunde. Semyon musste zugeben, dass er beeindruckt war; er hätte die meisten der oft kaum erkennbaren Spuren, die die Reiter in der Erde hinterlassen hatten, übersehen. Sie brauchten ungefähr eine halbe Stunde, um die Stadt zu finden, die sich zwischen den flachen Hügeln ausgebreitet hatte wie eine Stadt aus vielen Puppenhäusern. Semyon machte in einer Entfernung Halt, die er als geradeso außerhalb der Bogenreichweite einschätzte, und begutachtete die Mauern. Die großen Tore der Stadt waren verschlossen, und er konnte die Helme der gerüsteten Männer über den Zinnen aufragen sehen, mit denen die Mauern abschlossen. Die Stadt hatte sich rasch gegen sie gerüstet. »Es scheint, als ob sie uns erwartet hätten«, sagte Sarl. Semyon rieb sich die Hände und fragte sich, wie viel Magie er zur Verfügung hatte, wenn er nicht auf die Energie aus dieser Welt zurückgreifen konnte. Er hatte keine Ahnung, welche Auswirkungen es haben würde, wenn er sie anzapfte, während sie sich selbst innerhalb dieser Welt befanden. Er machte sich nicht die Mühe, auf Sarls Bemerkung zu antworten. Für dieses Vorhaben musste er sich verhalten, als ob er allein wäre; er konnte nicht darauf vertrauen, dass Sarl ihm half, wenn er in Schwierigkeiten geriet. Doch der Erbe würde ihn nicht allein lassen. »Was gedenkst du zu tun, Magus?«, fragte er. »Ich wünschte, das wüsste ich«, sagte Semyon und starrte auf die Mauern. Geradeso konnte er das Funkeln der Waffen und die wie Schilfrohre geformten Pfeile erkennen. Dies war ein Ort, an dem er ein freundliches Willkommen weder verdient noch zu erwarten hatte. Plötzlich erhob sich eine Gestalt in der Mitte der Stadt, die die Dächer überragte. Es war Huldis, ihr langes Haar hing ihr lose über die Schultern, und aus der Entfernung schien sie unverletzt. Semyon gestattete sich einen tiefen Luftzug. Wenn das Volk sie unversehrt gelassen hatte, war es möglich, dass sie keinem der Gefange-
nen ein Haar gekrümmt hatten. Huldis kam zu ihnen. Sie bewegte sich vorsichtig und blieb immer wieder stehen, um zu überprüfen, wohin sie ihren Fuß setzen konnte. Als sie näher kam, bemerkte Semyon, dass sie blass war, abgesehen von ihrer Nase und den Augenrändern, die vom Weinen gerötet waren. Er ballte die Fäuste. Huldis gehörte nicht zu der Sorte Frauen, die leicht weinten; es betrübte ihn, ihr Gesicht so deutlich von frischen Tränen gezeichnet zu sehen, und neue Befürchtungen erwachten in ihm. Als Huldis beim Tor angekommen war, hob sie ihre Röcke und machte einen Schritt über die Mauer. Zu anderen Zeiten wäre Semyon erfreut gewesen, einen Blick auf ihre schlanken Glieder zu werfen, doch nun konnte er nur an seine Sorge um ihre Sicherheit denken. Sie blieb kurz hinter dem Tor stehen und bewegte sich nicht weiter. »Ich überbringe eine Nachricht vom König des Volkes«, sagte sie mit klarer, ruhiger Stimme. »Er hält mich selbst und den Schamanen als Geisel. Er wird uns an dich übergeben, Magus, wenn du seine Welt befreist und ihn zu seinen Leuten zurückkehren lässt, die du durch Magie und geheime Praktiken entführt hast.« Sarl trat vor und begann: »Sag diesem König …« Doch Semyon streckte die Hand aus, um ihn zum Schweigen zu bringen. Sarl sah das mit Abscheu, als ob eine Kröte auf der Vorderseite seiner Tunika gelandet wäre. »Ihr Leben hängt an einem seidenen Faden«, sagte Semyon mit leiser Stimme. »Verstehst du?« »Diese Zwerge werden mich nicht von meiner Schwester fern halten«, sagte Sarl. »Sieh! Auf den Zinnen! Kannst du die Bogenschützen nicht sehen?« Semyon hörte, wie seine Stimme vor Zorn zitterte. Er hatte bemerkt, dass die Bogenschützen, kaum dass Huldis stehen geblieben war, zu beiden Seiten des Tores ihre Bögen auf sie gerichtet hatten. »Ich gebe keinen Drohungen nach«, sagte Sarl und ließ seinen
kalten Blick auf Semyon ruhen. Aber Semyon hatte mittlerweile gelernt, ihn nicht zu fürchten. »Wenn du mir nicht zuhörst und nicht genau das tust, was ich sage, kannst du dich von deiner Schwester, deinem Gefangenen und deinem neuen Leben verabschieden, Mon Seigneur«, sagte er. Er hatte Sarl auch vorher nicht gemocht, jetzt jedoch begann er, ihn zu hassen. »Lass mich mit dem Volk sprechen. Ich weiß ein wenig über sie. Sie haben deiner Schwester nichts getan – noch nicht – und das gibt mir Grund zur Hoffnung. Glaub mir, wenn ich es dir sage: Wenn sie gedacht hätten, dass es ihrer Sache dienlich ist, würde Huldis tot zu unseren Füßen liegen.« Sarl blickte zu ihm herab und runzelte die Stirn. »Nun gut, Magus«, sagte er. »Ich lege das Leben meiner Schwester in deine Hände. Und du weißt, wie wertvoll sie mir ist.« Semyon wandte Sarl den Rücken zu und sah Huldis an. Auch wenn sie ihre Gesichtszüge unter Kontrolle hatte, glaubte er, dass frische Tränen ihr Gesicht hinabrannen. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Sag dem edlen König«, begann er und feilte an seinen Worten, während er sprach, »dass wir uns seinen Wünschen beugen. Wir werden sein Volk wieder zusammenführen und seine Welt befreien. Doch nur, wenn du und dein Begleiter uns frei und unversehrt übergeben werdet.« Huldis drehte sich zurück zum Vorwerk, in das das Tor eingelassen war, und Semyon schloss daraus, dass sie mit jemandem auf dem Dach des Turmes sprach. Sie hob den Kopf und antwortete: »Der König lässt ausrichten, dass er mit deinesgleichen nicht verhandelt. Wenn du sein Volk und seine Welt befreit hast, dann wird er uns zurückschicken.« Semyon ballte seine Hände zu Fäusten. Wenn das Volk eingewilligt hätte, sowohl Huldis als auch Vasilyevich freizulassen, wäre er zu einem Spruch bereit gewesen, wie unsicher dies auch sein mochte, um sie zurück zum Gläsernen Berg zu bringen. Doch solange nur Huldis zu sehen war, wagte er nicht, das Risiko einzugehen, aus
Sorge, er könnte nach Hause gelangen, nur um dann sein Leben unter der Klinge von Sarls Messer zu verlieren. Er brauchte Zeit zum Nachdenken, und er konnte mit Worten etwas Zeit herausschinden. »Dann sag dem König, dass wir auf seine Bedingungen eingehen«, sagte er. »Wir werden uns an einen passenden Ort zurückziehen, wo ich die Magie vorbereiten werde, mit der ich die Welt befreien kann. Was die Rückkehr seines Volkes angeht, kann es etwas mehr Zeit in Anspruch nehmen, da ich nicht weiß, wohin es verschwunden ist.« Er sah sie rasch blinzeln, als sie versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten. »Seine Majestät, der König Yaroslav, ist einverstanden«, sagte sie. »Aber ihr werdet beobachtet, um sicherzugehen, dass ihr keine Tricks versucht. Und seine Majestät verkündet, wenn ihr ihn hintergeht, wird er uns beide töten lassen.« Semyon konnte die Verzweiflung in ihren letzten Worten hören. Er spürte unerwartete Gefühlswallungen in sich und antwortete mit einem Nicken. Als sie sich umdrehte und zurück zur Stadt schritt, hätte er beinahe ihren Namen gerufen. Stattdessen drehte er sich zu Sarl um, dem Feind, auf den er sich verlassen musste, und sagte: »Lass uns gehen. Die Zeit ist kurz und ich muss nachdenken.« Als Huldis dem Magus, ihrem Bruder und der Sicherheit den Rücken wandte, war das alles, was sie tun konnte, um sich selbst daran zu hindern, laut aufzuschluchzen. Sie schämte sich wegen ihrer Schwäche; Frauen von Ademar weinten nicht, und schon gar nicht in der Anwesenheit ihrer Feinde. Sie blieb stehen, um sich ihr Gesicht am Ärmel ihres Kleides abzuwischen, bevor sie wieder die breite Allee entlanglief, die zum Platz im Zentrum führte. Sie bemerkte kaum die starrenden, ausdruckslosen Gesichter des Volkes. Wieder säumten die kleinen Leute die Straßen, um ihren Weg zu verfolgen, doch diesmal las sie eine ganz andere Bedeutung in ihr Schweigen und ihre unbarmherzigen Blicke hinein. Sie blieb am Rande des Platzes stehen und stützte sich mit ihren
Händen auf den Dächern zu beiden Seiten ab. Von ihrem Standpunkt aus konnte sie Yuda zusammengerollt auf einer Seite auf dem Boden liegen sehen. Sie fühlte sich, als ob ihr Herz wie ein Brief zerrissen werden würde, von wütenden Händen in zwei Hälften zerfetzt. Die wenigen letzten Schritte waren schwer. Sie kniete sich neben seinen Kopf und hob ihn vorsichtig auf ihren Schoß. Yuda bemerkte, dass sie da war, und rollte sich auf den Rücken. »Was hat er gesagt?«, fragte er. »Er war mit den Bedingungen einverstanden. Er sagte, er wolle weggehen. Er ging davon. Yuda …« »Mut«, sagte er. »Jetzt musst du durchhalten. Vertrau Semyon; er taugt vielleicht nicht viel, aber er ist alles, was wir haben.« Huldis öffnete den Mund und wollte etwas sagen, doch stattdessen entfuhr ihr ein Schluchzen, ein ersticktes Geräusch, das wie der Schrei eines Säuglings klang. Yuda öffnete die Augen und sah zu ihr empor. Seine Stirn war in Falten gelegt. »Du musst auch weiterdenken«, sagte er. »Wir wissen nicht, ob der König seine Versprechungen hält.« »Sie haben uns verlassen. Sie sind weggegangen.« »Das ist gut«, sagte Yuda. Er schloss seine Augen, und Huldis wusste, dass er Schmerzen hatte. Sie schluckte schwer und streckte die Hand aus, um sein Gesicht zu streicheln, auch wenn sie fast Angst davor hatte, ihn zu berühren. Die Welt, die Stadt um sie herum, konzentrierte sich auf den Ort, den sie beide besetzten, und eine dritte, unsichtbare Präsenz, Yudas Schmerz. Es erinnerte sie an die Erzählung vom Tod des Sohnes, als die Kadagoi Ihn auf dem Rad brachen. Das Volk hatte nicht die Möglichkeit und die Stärke, das Gleiche zu tun, und es schien, dass sie nicht vorhatten, Yuda zu töten. Sie hatten eiserne Dornen durch seine Gelenke getrieben, seine Handgelenke, Ellenbogen und Knie und – und das war am schlimmsten – durch seine Füße. Er konnte sich nicht bewegen, weil seine Füße und Hände zusammengesteckt waren; doch außerdem hatten sie mehrere ihrer Speere in ihm versenkt, als ob sie sehen wollten, wie weit sie ihn aufstacheln konnten. Yudas Rücken war
gebogen und er war gespannt wie eine Feder, doch er gab kein Geräusch von sich, klagte nicht. Er kämpfte mit seinem Leid wie mit einem wilden Tier, das er überwältigen musste, und seine brennende und mächtige Selbstverleugnung erschreckte Huldis. – Sie sind nicht grausam, nur neugierig. Sie denken, wir sind nicht menschlich. – Nicht grausam? – Du hattest Recht. Sie wollten sehen, wie weit sie gehen können. Er zuckte. – Etwas anderes. Verstehe es nicht. Irgendetwas von wegen ›Schamanen verstümmeln‹. Sie müssen es tun. – Aber warum? – Zyon weiß. Zyon. Er lehnte sein Gesicht an ihr Bein. – Es tut verflucht weh. – Ich wünschte, es gäbe etwas, das ich tun könnte … – Du machst das gut. Trotz des Netzes, das sie beide band, spürte Huldis den Kern der goldenen Macht in ihm. Sein Mut und seine Stärke schienen sie beide aufrecht zu halten. Sie legte ihre Hand auf seine Brust, als ob sie Kraft aus seinem Herzen ziehen könnte. Yuda bedeckte ihre Hand mit seinen eigenen, obgleich sie aneinander geschlagen waren. – Ich könnte das nicht… ohne dich, Huldis. Nicht, wenn ich alleine wäre. Huldis wusste nicht, ob seine Worte nur dazu dienen sollten, sie zu trösten. Alles, was sie wusste, war, dass sie an seiner Stelle sich, abgesehen von ihrer eigenen Person, um niemanden gesorgt und an niemanden gedacht hätte. Es war etwas Seltenes in ihm, das ihm nicht nur dabei half, dem Schmerz zu widerstehen, sondern sich auch noch um ihr Leid zu kümmern. Sie fragte sich, ob es das war, was das Volk suchte, wenn es ihre Schamanen verstümmelte; sie wollten sehen, ob sie das innere Strahlen enthüllen konnten, den einen Stein, der zwischen den Kohlen funkelte. Es schien ein entsetzlicher Weg, das zu entdecken, und doch, in Yuda hatten sie die wahre Größe seines Geistes freigelegt, etwas, das feiner war als sein Stolz. Sie behielt diese Gedanken für sich selbst.
– Dein Magus lässt sich Zeit. – Er ist nicht mein Magus. Sie hob die Hand, um seinen Kopf zu streicheln. Sie fühlte sich gestärkt, nicht verbittert; sie wünschte, dass ihre Seele wie seine wäre. – Er ist verdammt langsam, wem auch immer er gehört. Er reckte seinen Rücken und zog eine Grimasse. Irgendetwas ließ Huldis den Kopf heben und in Richtung des Palastes blicken. Dort stand der König mit seinen Adligen. Plötzlich fand sie es obszön, dass sie dort standen und zusahen, als ob sie ein Experiment verfolgten. »Geht weg«, schrie sie. »Lasst uns in Ruhe!« »Das werden sie nicht tun«, sagte Yuda sanft. »Sie wollen sehen, was wir als Nächstes tun.« Huldis sah hinab in sein Gesicht. »Aber es gibt nichts, was wir tun können«, sagte sie. Seine Augen öffneten sich; sie waren schwarz wie die Augen des Volkes. »Sie wollen sehen, wozu ein Mann fähig ist; also lassen wir sie es sehen«, sagte er. Zuerst wusste Huldis nicht, was er meinte, bis sie verstand, dass er auf sein Schweigen anspielte und auf die Kraft, die es ihm abverlangte. Sie berührte seine Wange mit ihren Fingerspitzen. »Ich glaube, sie sehen es«, sagte sie. »Und mehr als das, ich sehe es; ich bin deine Zeugin. Ich werde mich daran erinnern, was du getan hast.« Yuda antwortete nicht. Er drehte seinen Kopf weg und ließ seine Haare sein Gesicht überschatten. Huldis hielt ihn fest. Das war das Einzige, was sie für ihn tun konnte: Ihn nicht gehen zu lassen. Beatrice brachte Yuste in einen Raum mit einem Fenster, das nach Westen ging und über die Täler unterhalb von Dieulevaut blickte. Die Sonne warf ein reines Licht schräg durch das Fenster, und da war ein Hauch von Hyazinthen. Die Mauern waren weiß getüncht worden, und das Zimmer war mit schlichten Möbeln eingerichtet: eine Liege, ein Waschtisch und ein Stuhl. Ein einfacher Spiegel in
einem Gipsrahmen hing über dem Waschtisch, auf dem ein Becken und ein Wasserkrug, ein gefaltetes, weißes Handtuch und ein Topf mit frisch erblühten Hyazinthen standen. »Ich dachte, Sie könnten sich hier frisch machen«, sagte Beatrice. »Möchten Sie, dass ich schaue, ob ich Kleidung für Sie finde? Die, die Sie tragen, sieht zu beschädigt aus, als dass man sie noch flicken könnte.« Yuste blickte an Clunys Tunika hinab. Es waren verbrannte Stellen und einige Risse in dem zarten Stoff zu sehen; sie wäre weder bequem noch schicklich für den Rest der Reise. »Das wäre sehr freundlich von Ihnen«, sagte sie. »Ich brauchte etwas Bescheidenes – aber Praktisches. Strapazierfähiges.« Und sie und Beatrice lächelten sich an. »Ich werde sehen, was sich finden lässt«, sagte die junge Frau. »In der Zwischenzeit lasse ich Sie allein, damit Sie sich waschen können. Es ist warmes Wasser im Krug.« Schweigend verließ sie das Zimmer und schloss hinter sich die Tür. Sofort ging Yuste zum Spiegel und betrachtete ihr Gesicht. Sie musste lachen. Ihr Haar war zerzaust, und ihre Haut war rußverschmiert; ihre Kleidung roch wie ein Freudenfeuer. Mit plötzlicher Energie riss sie Clunys Tunika und sein Hemd herunter, zog seine Hose aus und stand nackt und leicht zitternd auf dem Holzboden. Mit fliegenden Händen hob sie den Wasserkrug und goss den Inhalt in das Becken. Sie fand ein Stück Olivenseife, das in Masalyar hergestellt worden war, und sie begann, sich heftig zu waschen und dabei überall Wasser zu verspritzen. Vor dem Waschtisch auf dem Boden lag ein grober Wollläufer, der die meisten Tropfen aufsog. Als sie sich zu ihrer Zufriedenheit gesäubert hatte, wickelte sich Yuste in ein frisches Handtuch und ging zum Bett hinüber, wo sie sich niederließ. Seit den Ereignissen der letzten Nacht war sie nun zum ersten Mal allein, und ungebeten hörte sie im Geist die Geräusche, und vor ihrem geistigen Auge flackerten die Bilder auf. Trotzdem schien es noch immer seltsam weit weg, als ob es jemand anderem zugestoßen wäre. Sie fragte sich, wie es Yuda ergangen war,
nachdem sie die Verbindung zu ihm unterbrochen hatte, und wo er jetzt wohl war. Plötzlich bekam die Welt Risse wie die Schale eines Eies und Yuste fiel zu Boden. Sie lag zusammengekrümmt auf dem Holzboden neben der Liege, und das warme Sonnenlicht spielte auf ihrer nackten Schulter. Der Schmerz war mit nichts zu vergleichen, was sie je erlebt hatte, nicht einmal in den Tagen im Krankenhaus, als sie den Krebs entfernt hatten. Sie lag ganz still, außer Stande, laut aufzuschreien; sie fühlte sich, als sei sie aus großer Höhe gefallen und hätte sich alle Glieder gebrochen. Sie spreizte die Finger an ihrer ausgestreckten linken Hand, und sie erschienen ihr seltsam, wie die Spitzen eines Seesterns. »Was geschieht mit mir?«, fragte sie; ihre Stimme war erstickt. Sie verspürte keine Angst, wie sie es erwartet hätte; nichts im Zimmer schien bedrohlich oder fehl am Platze. Sie war in Sicherheit, doch der Schmerz zerriss sie. Das dunkle Gesicht der Mutter, das von den Wänden eines Tempels der Doxoi hinabblickte, wo sie, in ihrer Erhabenheit sitzend, gemalt worden war. Seitdem sie diese Eikons gesehen hatte, war Yuste von den Gesichtern verfolgt worden, den Gesichtern von Wanderern mit traurigen Augen. Sie hatte nicht erwartet, diese Gestalten im Tempel der Mutter in Masalyar zu sehen, Notre-Dame de la Garde. In den wenigen anderen Tempeln, die sie besucht hatte, hatten die Darstellungen der Mutter sie blond gezeigt, mit heller Haut und fließendem Goldhaar. Doch in dieser einen Basilika waren die Fresken alt und nur wenige Jahrhunderte nach den Ereignissen gemalt, die sie darstellten. Die Künstler, die sie geschaffen hatten, kamen aus dem Osten, aus der großen Stadt Mikalgrad am äußersten Ufer des Mittelmeeres. Sie hatten im alten Stil gemalt oder Mosaike hergestellt aus azurblauen Steinchen, Lapislazuli, Gold und Kristall. Die Mutter, ernst in ihrem Himmel, blickte hinab auf Yuste. Sie war nicht die rachsüchtige Matriarchin der Doktrin der Doxoi, die ihren Fluch über die Wanderer sprach, weil sie glaubte, sie hätten ihren Sohn an die Kada-
goi verraten. Ihr Gesicht zeigte das Wissen einer Leidgeprüften. Ihre großen Augen, von Antimonpulver umrandet, hatten einen Ausdruck des Mitleids und des Mitgefühls. Yuste lag auf dem Boden, zu Füßen dieses Eikons, nackt wie ein Neugeborenes. Es war, als ob sie sich in den falschen Traum verirrt hätte, einen Traum der Doxoi von Erlösung, in dem sie ein Eindringling war. Doch die Doxoi verleugneten den Einen nicht; sie hatten Ihn zu einer ihm innewohnenden Unerreichbarkeit verurteilt, nur durch die Fürsprache von Mutter und Sohn fassbar. »Was bedeutet das –«, fragte Yuste laut in ihren Gedanken. Ihr schien es, dass ihr eine Vision zuteil wurde, die ihr jedoch in Form eines Rätsels begegnete. Der Geruch der Hyazinthen schien sie mit Licht und erfrischendem Duft zu erfüllen. Sie lag ganz still und starrte auf ihre ausgestreckte Hand, den Seestern. Wenn sie wartete, würde sie vielleicht die Antwort auf ihre Frage erhalten … Beatrice kniete neben ihr und berührte sie an der Schulter. »Madame!«, rief sie mit weicher, aber drängender Stimme. »Noch nicht«, sagte Yuste halb wach. »Ich muss die Antwort wissen.« Dann schrie sie auf, als der Schmerz sie durchfuhr. Sie bekam gerade noch mit, dass Beatrice aufsprang und aus dem Zimmer floh; ihre leichten Schritte klapperten die Treppe hinab. Yuste versuchte sich aufzusetzen, doch ihr Körper schien aus Blei zu sein. Frauen in dunklen Roben eilten an weißen Mauern vorüber, ihre Köpfe und Gesichter waren verhüllt. Auf der weißen Temperafarbe zeichnete sich ein scharlachroter Handabdruck ab, der in der Sonne glänzte. Es war das einzige Zeichen auf der Wand. Es hatte andere gegeben, doch sie waren jedes Mal überstrichen worden, wenn die Farbe erneuert worden war. Der Abdruck einer blutigen Hand. Yuste starrte ihn an, war sich der Hitze bewusst, des wolkenlosen Himmels, der Sonne, die tiefe Schatten warf. Sie stand barfuß im Staub und begriff, dass sie sich in Zyon befand, dem verlorenen Land, für das sie im Exil betete. Dann näherte sie sich der Wand und streckte die Hand aus, bis sie den Abdruck bedeckte; sie passte genau.
»Yuste!« Boris schüttelte sie und rief ihren Namen. Yuste öffnete die Augen und sah hinauf in sein besorgtes Gesicht. »Was ist los, Boris Andreyevich?«, fragte sie schläfrig. Ihre Finger zupften am Saum des Handtuchs, während sie sich fragte, ob es ihren Körper verhüllte. Dann dämmerte ihr, dass es ihr nicht viel ausmachen würde, wenn Boris sie nackt sähe, und der Gedanke ließ sie lächeln. Boris legte seine Hand unter ihren Kopf und hob ihn an. »Beatrice hat dich so auf dem Boden liegend vorgefunden«, sagte er. »Und dann hast du geschrien – wir haben es unten gehört. Doch ich kann nicht sehen, dass dir etwas fehlt. Kannst du mir sagen, was los ist?« Yuste blickte in sein Gesicht. »Lieber Boris«, sagte sie, »du sorgst dich um mich.« Mit seiner freien Hand packte Boris sie hart an der Schulter. »Du musst mir sagen, was los ist, Yuste«, sagte er. Yuste fragte sich, warum er es nicht verstehen konnte. »Ich muss mich trennen«, sagte sie. »Zwei Eier, eine Gebärmutter. Zwei Geister, eine Seele.« »Sprichst du über Yuda?« Yuste schloss die Augen, und seine Frage kreiste in ihrem Kopf. Sprach sie über Yuda? In der Dunkelheit suchte sie nach ihm und fand ihn. Sie waren nie weit voneinander entfernt. – Du musst loslassen, Yuste. Wenn mich das tötet, wird es dich auch töten. – Ich kann dich jetzt nicht verlassen. – Du musst. Zu deinem eigenen Wohl. Und um meinetwillen. – Es war dein Abdruck auf der Wand … Sie blickte hinab in einen Teich, der blau war, dort, wo er den Himmel reflektierte, und rot von oxidiertem Eisen unter der Oberfläche. Zwei Gesichter spiegelten sich im Wasser, ihr eigenes und das ihres Bruders. Sie konnte die warme, sandige Erde unter sich spüren, als sie sich an den Rand des Teiches legte und ihr eigenes Spiegelbild betrachtete. Die Sonne ging hinter ihnen auf, und über
ihnen hatte der Himmel eine tiefere, sattere Farbe angenommen. Die knochige Hand ihres Bruders griff nach ihrer; sie waren Kinder. – Glaubst du, es gibt hier Fische? – Ich denke nicht. Das Wasser ist zu rostig. Yuste war bereit, sich mit ihm zu streiten, und setzte sich auf, und auch Yuda richtete sich auf; noch immer waren sie durch die Hände verbunden. Sie sahen einander in die Augen und lachten. Manchmal war es schwer zu sagen, wer welchen Gedanken dachte. Da war Blut an der Hand ihres Bruders. Blut, das ihre Handfläche befleckte. Das Licht am Himmel war verblasst, und sie waren gemeinsam allein in der Dunkelheit. – Wir müssen uns trennen. – Wie kann ich ohne dich leben? Es war unmöglich zu sagen, wer welchen Gedanken gehabt hatte. Sie ließen einander los und traten zurück. – Lebe wohl… »Yuda!«, schrie sie. Sie setzte sich auf, ballte ihre Fäuste und Tränen quollen aus ihren Augen, doch er war fort. Und auch der Schmerz war vergangen. Boris schlang die Arme um sie. »Scht«, sagte er. »Weine nicht.« »Er ist fort, Boris; ich habe ihn verloren.« »Was meinst du?« »Er war immer da. Ich konnte immer mit ihm sprechen. Aber wir haben uns getrennt, und ich weiß nicht, ob er noch am Leben ist!« Boris streichelte ihren Kopf. »Yuda ist ein verdammt zäher kleiner Bursche«, sagte er. »Schreib ihn noch nicht ab. Du hast das Richtige getan, du musstest dich lösen. Du wirst noch immer mit ihm senden können, wenn du ihn siehst; genau wie mit mir.« Yuste sah zu ihm hoch. In ihren Augen schwammen Tränen. »Ich fühle mich, als ob … die Hälfte meiner Seele fortgerissen worden wäre«, sagte sie. Boris nahm ihr Taschentuch und betupfte ihre Augen. »Es ist wie geboren zu werden«, sagte er. »Babys scheinen darüber nie sehr erfreut zu sein. Das Erste, was sie tun, ist zu schreien.«
Yuste lehnte ihren Kopf an seinen Arm. Er hatte seinen Mantel ausgezogen und trug ein Hemd und Hosen; seine Waffe war an seine Brust gebunden. »Das Beste, was wir jetzt tun können«, sagte er, »ist, uns so schnell wie möglich auf den Weg zum Berg zu machen. Ich habe mit Ignatius gesprochen, und er ist bereit, uns hin- und zurückzubringen. Falls wir überleben.« Yuste hob den Kopf und wischte sich übers Gesicht. »Du hast Recht, Boris«, sagte sie. »Ich kann Yuda nicht helfen. Ich weiß nicht einmal, wo er ist. Aber ich kann etwas für Annat und Malchik tun.« Er half ihr auf die Beine. »Dann ziehst du dich besser an«, sagte er. »Ich gehe nach unten und erzähle Beatrice, dass du am Leben bist. Vielleicht willst du ja sogar etwas zum Frühstück.« Als er gegangen war, ließ sich Yuste auf den Rand der Liege sinken und presste die Hände zusammen. Ihr Geist war leer. Nach einigen Augenblicken stand sie auf, hielt das Handtuch um sich herum fest und warf noch einmal einen Blick in den Spiegel. Ihr eigenes Gesicht, vierzig Jahre alt, mit Falten und Schatten unter den Augen, starrte zurück. Sie streckte die Hand aus, um ihr Spiegelbild zu berühren. Es war, als ob sie sich nie wirklich gekannt hätte. Das Gesicht, das der Spiegel zurückwarf, war so vertraut, und doch schien sie es zum ersten Mal zu sehen. Es erinnerte sie an das Gesicht ihrer Mutter. Sie dachte an ihre Mutter, die noch immer in Sankt Eglis lebte, und wünschte sich, sie hätte sie häufiger besucht, seit sie nach Masalyar gezogen waren. Sie war nur ein Mal in vier Jahren zurückgekehrt; Yuda hatte sie nie besucht. Yuste drehte dem Spiegel den Rücken zu. Sie konnte hören, wie Beatrice die Treppe heraufkam. Bald würde sie frische Kleidung anziehen und nach unten gehen, um sich den anderen zu stellen. Allein. Das war ein neues Wort und eine neue Welt; sie würde wieder lernen müssen, allein zu laufen. Mit Annats veränderter Sicht sah alles ein bisschen anders aus.
Wenn sie beide Augen benutzte, sah sie die Haut der Welt und was darunter aufeinander geschichtet lag; die Wirkung war verwirrend. Sie war ständig versucht, ein Auge mit der Hand abzudecken, um zu sehen, wohin sie ging. Mit ihrer blinden Seite sah sie eine flüssige Schwärze, in der Gestalten ein glühendes und strahlendes Leben führten, doch wenn sie dieses Auge zuhielt, sah alles so aus wie zuvor, fest und eindeutig. Sie war gezwungen, sich an Malchiks Arm festzuhalten, als sie durch die sich windenden Gänge hinabliefen, hinter der Königin, die ihnen den Weg leuchtete. Die tanzenden Flammen der Fackel brannten grün, wenn sie sie mit ihrer neuen Sicht betrachtete. Malchik ließ seinen Arm um ihre Schultern gelegt und führte sie durch das Chaos aus Formen und Farben. Ihr Tastsinn verhinderte, dass sie in Panik geriet, und verankerte sie in der Realität. Sie konnte Malchiks Arm durch den Stoff seiner Jacke fühlen als ein Gebilde aus Knochen und Muskeln, das ihr versicherte, dass sie nicht auf einem Meer aus ungeformter Materie davondriftete. Sie hörte das leichtfüßige Trappeln der Königin auf dem Stein, ein leises Geräusch, das von den Echos im Tunnel verstärkt wurde. Überall um sie herum war Bewegung und Leben: Die Kristalle in den Wänden pulsierten; unsichtbare, winzige Kreaturen gruben sich durch das Gestein, und die Bergleute selbst waren damit beschäftigt, Tunnel zu hacken und Gestein abzubauen und Edelsteine aus den entlegensten Winkeln des Berges zu graben. Annat sehnte sich danach anzuhalten. Sich hinzulegen, ihre Augen zu schließen und ihre Ohren zuzuhalten, sodass das Hämmern und die blitzenden Lichter nicht zu ihr durchdrangen. Ihr verletztes Auge schmerzte, und das unversehrte hatte sich vom Pochen anstecken lassen. Jedes Neuron in ihrem Gehirn schien entbrannt und schickte verzweigte Nachrichten durch ihr Nervensystem, während es mit der Flut der Eindrücke kämpfte. Es war, als ob ein ganzes Orchester in ihrem Kopf spielen würde, und sie konnte nicht nur jeden Ton hören, sondern auch sehen. Wenn sie allein gewesen wäre und hätte still sitzen können, hätte sie dem Angriff vielleicht stand-
halten können, doch der Druck, sich weiterbewegen zu müssen, ließ sie fast zusammenbrechen. »Malchik!« Sie musste schreien, damit sie sich selbst über dem Ansturm der Geräusche hören konnte. Ihr Bruder blieb stehen und nahm ihr Gesicht in seine Hände. Sie musste ihre Augen schließen; wenn sie ihn ansah, erblickte sie sowohl sein wohlbekanntes Gesicht als auch das innere Herzstück des blaugrünen Strahlens. »Was ist los, Natka?« »Ich kann es nicht ertragen. Sag ihr, sie soll es wieder zurücknehmen, es soll aufhören!« Sie spürte die Hitze von der Fackel der Königin auf ihrem Gesicht, als die kleine Frau sie emporhielt, um sie anzuleuchten. »Es wird vorbeigehen. Wenn du deine Seele erst dem Prisma dargeboten hast.« Annat prallte gegen Malchik und verbarg ihr Gesicht an seiner Weste. Er drückte sie an seine Brust. »Komm schon, Natka«, sagte er. »Es ist nicht mehr weit.« »Ich will Tate! Er könnte mich heilen …« »Aber er ist nicht hier, Natkeleh. Nur wir beide. Komm.« Er hielt ihre Oberarme mit liebevollem, aber festem Griff und schob sie von sich. Sein Gesicht verschwamm durch die Tränen, die aus ihrem gesunden Auge quollen, doch sie konnte das Stirnrunzeln sehen, das seine Sorge zum Ausdruck brachte, und das liebevolle Lächeln. Wie sehr mussten sich die Dinge verändert haben, wenn sie sich bei ihm anlehnen musste! Er nahm ein Taschentuch aus seiner Brusttasche und tupfte ihr Auge und ihre Wange ab. »Danke«, sagte sie. Irgendwie hatten die Tränen, die sie vergossen hatte, den Aufruhr in ihrem Kopf abgekühlt. Sie ließ zu, dass er sie die gewundenen Steingänge hinabführte, und sie hielt ihr verletztes Auge mit einer Hand bedeckt, um die veränderte Sicht zu verhindern. Sie begriff, was ihr nie zuvor aufgefallen war, dass Malchik noch eine andere Bedeutung als die bislang gekannte hatte, nämlich als ihr stümpernder, verletzlicher Bruder: Er war eine Kraft, die sie in der Welt verankerte. Sie hatte nicht geahnt, dass sie
jemanden wie ihn um sich herum brauchen würde; sie war so voller Selbstvertrauen und voller Freude über ihre knospenden Mächte gewesen. Die Halle, in die sie zunächst als Gefangene gebracht worden waren, war leer, als sie in sie zurückkehrten, abgesehen von dem raschelnden Geflüster, das sich unter den Wölbungen zu sammeln schien. Die Königin löschte ihre Fackel, denn es fiel genügend Tageslicht durch die vielen Schächte, die die Wände durchlöcherten, um anderes Licht überflüssig zu machen. Das Prisma lag noch immer dort, wo sie es auf den Thron gelegt hatte, fing das Sonnenlicht ein, von dem es getroffen wurde, und brach es in alle Richtungen. Sie ging durch die verlassene Kammer und bewegte sich durch Lichtstrahlen, verwandelte sich für einen Augenblick in eine andere Kreatur als die blasse, farblose Gestalt, die in den Schatten lebte. Als sie beim Thron angelangt war, bückte sie sich, um das Prisma aufzuheben, wofür sie beide Hände brauchte. Malchik führte Annat zum Podest, wo sie stehen blieben, um den seltsamen, klaren Edelstein anzustarren, den die Königin hielt. »Ihr müsst ihn beide halten«, sagte sie. »Streckt ihn dem Licht entgegen. Der Rest wird folgen.« »Bist du sicher, dass er uns keinen Schaden zufügen wird?«, fragte Malchik. »Ich kann nichts versprechen.« Er streckte die Hände aus und nahm das Prisma von ihr entgegen. Dann hielt er es so, dass Annat es sehen konnte. Rasch, fast gierig, schloss sich ihre Hand um seine, und sie berührte die kalten Facetten des Steins. »Er ist wunderschön«, sagte Malchik und hob ihre vereinten Hände, sodass das Prisma noch einmal das Licht einfing. Annat blickte zu ihm empor. Alles, was sie sehen konnte, waren der reine Kristall und die Regenbogenstrahlen, die zwischen ihren Fingern entwichen. Sie war froh, dass sie spüren konnte, wie Malchiks Hand ihre eigene berührte. Die dunklen und die glühenden Schattierungen, rot, blau und lila, erinnerten sie an einen Tempel
der Doxoi, wo das Licht durch die bemalten und gefärbten Fenster einfiel. Es waren alle Farben des Spektrums, separiert und verfeinert, zu sehen. Jede Farbe schien eine Bedeutung zu haben, und Annat erinnerte sich daran, wie sie als körperlose Seele zwischen den Worten geschwebt war, die das Universum bildeten. Etwas stieg vom Boden auf, traf das Prisma und verschwand geradewegs nach oben zur Decke. Ein faserdünner Strahl aus violettem Licht, der wie eine Saite zu vibrieren schien, obgleich sie keinen Laut hören konnte. Annat spürte, wie sich etwas aus ihr löste, von ihren Fingern aus in den Stein, wo es entlang des Lichtstrahls hoch empor zur Decke getragen wurde. Als sie ihre Augen schloss, fand sie sich selbst aufsteigend, aus ihrem Körper gezogen wie ein Faden, jedoch wie ein Faden von unendlicher Länge, tief hinein in den Raum. Eine einzige Naht verband die Welt, in der ihre Füße standen mit etwas so Entferntem, dass ihre Gedanken es nicht erreichen konnten. Da war kein Gefühl des Dehnens und Reizens, keine Angst, dass der Faden reißen würde. Stattdessen, atomklein gezogen, fühlte Annat, wie ihre beanspruchten Sinne sich wieder sammelten. Sie konnte noch immer denken, auch wenn sie durch den Raum gezogen wurde. Dann, mit einem plötzlichen Zurückschnellen, zog sich die feine Faser schneller, als ihr Auge zu schauen vermochte, zurück. Der violette Strahl war verschwunden, doch an seiner Stelle glühte das Prisma von angestautem Licht, obgleich es sich noch immer kühl anfühlte. Annat sah an Malchiks Arm entlang, bis sie in seinem Gesicht ankam. Seine Brillengläser warfen das helle Glühen zweifach zurück. Sie bemerkte, dass sie ihn mit beiden Augen ansah und dass die neue Sicht die alte überlagerte. »Ich glaube, wir haben es geschafft«, sagte er. Sie wandten sich zurück zur Halle und sahen, dass sie tatsächlich eine Veränderung bewirkt hatten, auch wenn es nicht die war, die die Königin vorausgesagt hatte. Sie hatte gehofft, das Prisma würde die Bergleute nach Hause bringen; stattdessen hatte es ihr Volk in
den Berg befördert. Und sie waren nicht allein …
Kapitel 17
D
ie Kleidungsstücke, die Beatrice für Yuste gebracht hatte, waren ihrer Meinung nach viel passender – bescheiden und gleichzeitig sehr praktisch. Es gab keine steifen Korsetts, der Rock war zwar lang, schleifte aber nicht über den Boden, und es gab nur einen Unterrock. Sie betrachtete sich selbst im Spiegel und stellte fest, dass man sie fast für jemand Angesehenes halten könnte! Die Farben waren neutral, fast trist – eine eng anliegende Jacke, ein Rock aus grauer Wolle und eine weiße Bluse. Es war die Reisekleidung einer Dame, und sie würde es Yuste ermöglichen, sich unauffällig im Hintergrund zu halten – obwohl sie sich fragte, ob das bei ihrem Reiseziel überhaupt eine Rolle spielte. Sie traf auf Boris und die anderen, die bereits beim Frühstück saßen. Sie beäugte den Schinken auf ihren Tellern und war dankbar, dass ihr nichts als Eier angeboten wurde. Auch wenn sie hungrig war, war sie zu nervös, um viel zu essen. Ihr Kopf war so voll, dass sie keinen Versuch unternahm, sich am Gespräch zu beteiligen. Sie konzentrierte sich darauf, den Segen über ihrem Essen zu sprechen, leierte ihn jedoch genauso herunter, wie sie Malchik und Annat es immer verboten hatte. Cluny sah sie mit unverhohlener Bewunderung an, versuchte aber nicht, sie zu unterbrechen. Boris las die Zeitung. Sie bemerkte, dass Cluny und Planchet ihre Kettenhemden ausgezogen hatten; in ihren schlichten Tuniken aus selbst gesponnener Wolle sahen sie weniger beeindruckend aus, doch ihre Schwerter waren an die Wand gelehnt. Als sie ihren Kampf mit den Eiern aufgegeben hatte und in kleinen Schlucken aus einer Schale Kava trank, räusperte sich Cluny.
»Madame«, setzte er an. »Oh, Zyon, Cluny, nenn mich bitte Yuste!« Er lächelte und senkte den Blick. »Ignatius glaubt, wir könnten den Berg bis zum Hereinbrechen der Dämmerung erreichen.« Yuste tupfte sich den Mund mit einer Serviette ab. »So schnell?«, fragte sie. Sie legte ihre Hand auf Clunys. »Ich mache mir Sorgen wegen meines Bruders«, sagte sie. »Furchtbare Sorgen. Und um die Rebjata. Ich weiß nichts. Wir haben das Band durchtrennt, das uns zusammenhielt. Es war, als ob Yuda sterben würde.« Boris schnaubte hinter seiner Zeitung. »Was ist denn los, Boris Andreyevich?«, fragte Yuste. Er ließ seine Zeitung sinken. »Hör zu, Zhidoua. Wir haben eine Mission, nicht wahr? Wir werden deine Nichte und deinen Neffen retten. Wenn wir können. Und wir müssen diesen Magus davon abhalten, Sarl unsterblich zu machen. Das ist alles, was wir für unsere Stadt und für unser Volk tun können. Bei allem Respekt für deine Gefühle, wir müssen daran denken. Und nur daran.« »Aber Boris, ich habe ihn nichts gefragt. Wo er war, und was geschah …« Er fuhr ihr über den Mund. »So muss der Rest von uns leben, Missis. Wir wissen nicht, was mit unseren Freunden, Geliebten, Brüdern, Schwestern geschieht – nicht einmal, wenn wir Schamanen sind. Das ist es, was Trennung bedeutet.« Er faltete die Zeitung, erhob sich und streckte sich. »Wir fliegen blindlings zu diesem Berg. Wir wissen nicht, was wir dort vorfinden werden, wenn wir dort ankommen. Hast du irgendwelche Pläne?« »Nein … Ich dachte, es würde eine längere Reise werden.« Ignatius steckte seinen Kopf durch die Tür. »Ich bin bereit, wenn ihr es seid.« »Wir sind fertig«, sagte Boris. Bevor Yuste Einspruch erheben konnte, war Ignatius verschwunden. Planchet und Cluny schoben ihre Stühle zurück und griffen nach ihren Waffen. Yuste blieb allein mit ihrer Schale Kava in der Hand am Tisch sitzen. »Ich kann das nicht tun, Boris Andreyevich. Ohne jede … Vor-
bereitung ins Blaue starten.« Boris ging um den Tisch herum und beugte sich über sie. Er küsste sie auf die Wange. »Hör zu, Missis«, sagte er. »Wir haben alle Vorbereitungen getroffen, die möglich sind. Ignatius hat sein Schiff mit Verpflegung beladen. Ansonsten brauchen wir nichts als uns selbst und unsere Ausrüstung. Wir müssen mit leichtem Gepäck reisen. Wir fallen in feindliches Gebiet ein und gehen nicht auf eine Expedition.« Yuste schaute ihm ins Gesicht, das nahe an ihrem war. Sie hatte einige Erwiderungen auf den Lippen, doch stattdessen hob sie ihren Mund, sodass er seinen berührte. Boris drückte ihre Schulter, als sie sich küssten. Als sie sich wieder voneinander lösten, fragte er: »Wie war's?« »Ich habe Angst, Mister.« »Tja, ich auch. Aber Angst zu haben, ist genau das Richtige, wenn man mit Magiern aus Sklav und untoten Kriegern zu tun hat. Sie könnten uns einfach aus dem Himmel pusten. Wer weiß? Aber denk an letzte Nacht. Du hast eine ganze Truppe bewaffneter Reiter niedergemacht. Blaff!« Er sprach so plötzlich, dass Yuste einen Satz machte, und er lachte. »Komm schon, Missis. Es wird Zeit zu gehen.« »Ich wünschte, ich hätte meine Handtasche …« »Du hast sie bei den Roma gelassen, erinnerst du dich? Damit du nichts zu tragen hast – nur dich selbst.« Kaum dass Yuste aufgestanden war, ergriff er ihre Hand und zog sie aus dem Zimmer. Doch Beatrice erwartete sie auf dem Treppenabsatz mit einem kleinen, in Leder gewickelten Päckchen in der Hand. Sie sah sie und lachte. »Für Madame«, sagte sie und streckte ihr das Paket entgegen. Boris zog ein Gesicht. »Nicht noch mehr belegte Brote«, sagte er. »Madame könnte es nützlich finden …«, sagte Beatrice. Nachdem sie Dankes- und Abschiedsworte gewechselt hatten, blieb Yuste auf der Türschwelle stehen, um sich das Päckchen genauer anzusehen. Es entpuppte sich als eine kleine Handtasche an
einem langen Riemen. Sie schlang sich ihn über die Schulter und klemmte die Tasche unterm Arm fest; später würde sie Gelegenheit haben herauszufinden, was darin war. Ignatius wartete draußen auf der Straße auf sie und plauderte mit Cluny und Planchet. Er trug einen seltsamen wollenen Hut mit Ohrenklappen und sah genauso fremdländisch aus wie Cluny und Planchet in ihren Kettenhemden und Kappen. Über seinen dünnen Körper hatte er einen langen, stahlblauen Mantel gezogen, und zurückgeschoben auf seinem Hinterkopf thronte eine Schutzbrille. »Guten Morgen«, sagte er. »Sind wir alle so weit?« »Ich hoffe«, sagte Yuste. »Wie viel wird uns diese Reise kosten?« Ignatius winkte ab. »Wir können uns bei der Rückkehr auf einen Preis einigen«, sagte er. »Falls wir zurückkommen«, sagte Boris. »Ich glaube, wir sollten doch einen Vorschuss leisten.« Ignatius strahlte sie an. »Es ist immer ein Risiko, in das imperiale Gebiet der Sklav zu fliegen«, sagte er. »Wir treffen besondere Vorkehrungen, um den Flug zu schützen.« Er streifte seine Lederhandschuhe über. »Wir werden uns am Rand des Nomadenlandes halten, dann müssen wir uns wenigstens keine Sorgen machen wegen Bogenschützen, die uns als Ziel für ihre Schießübungen benutzen könnten.« »Was ist mit fliegenden Zauberern?«, fragte Boris. »Um ehrlich zu sein: Es ist nicht gut, sich über solche Dinge Sorgen zu machen. Man könnte sich genauso gut wegen fliegender Kühe grämen. Nicht unmöglich, aber unwahrscheinlich.« »Dieser Berg, zu dem wir unterwegs sind, gehört einem Zauberer.« »Der Gläserne Berg. Er ist ein Orientierungspunkt dort in der Landschaft. Du kannst ihn nicht verfehlen. Er – ähem! – sieht aus wie aus Glas.« »Was für eine Überraschung«, sagte Boris. »Die meisten Luftfahrer meiden ihn wie die Pest. Er ist die einzige Zaubererfestung nahe des Lepas-Gebirges. Eine anormale Felserhebung, die inmitten der Puszta – dem Grasland – aus dem Boden ge-
schossen ist. Ich habe mich lange Zeit gefragt, was für eine Art von Gesteinsschicht darin zu finden ist. Das Einzige, was ich herausfinden konnte, ist ein Gemisch aus Granit und Batholit, aber das erklärt nicht die gläserne Erscheinung. Faszinierend!« Damit drehte er sich auf dem Absatz um und machte sich auf den Weg, die gewundene Straße hinab. »Stell dir das vor«, sagte Boris. »Eine Mischung aus Granit und Batholit. Wer hätte das gedacht?« »Ich hätte ja gedacht, dass es Obsidian ist«, sagte Cluny. »Aber Obsidian ist ein Vulkangestein, und bei einer Erhebung in der Puszta bin ich mir nicht so sicher …« »Vielleicht können wir diese Gesteinsformation diskutieren, wenn wir zurück sind?«, fragte Boris. »Sehr gerne«, sagte Cluny fröhlich. »Vorausgesetzt, dass wir es schaffen.« Der Weg zurück von Brunelleschis Haus zum Anlegeplatz der Luftschiffe draußen vor der Stadt schien viel kürzer als der Hinweg. Als sie ankamen, war die Promenade voller Leute, von denen einige sich zum Ablegen bereitmachten, während andere gerade von einer nächtlichen Fahrt zurückkamen. Ignatius bahnte sich seinen Weg durch die Menge und rief den anderen Piloten Grüße zu. Boris hängte sich bei Yuste ein, und sie eilten dem Kapitän wie ein respektables Ehepaar hinterher. Yuste wünschte sich, sie würde ihren Kiepenhut tragen, denn es musste ungewöhnlich sein, eine verheiratete Frau mit unbedecktem Haar zu sehen, doch beim Beobachten der Menschen wurde ihr klar, dass das Gesetz von Neustria hier nicht so streng gehandhabt wurde wie in Masalyar. Natürlich hatte Ignatius ihr gesagt, dass nur ein einziger Wanderer in der Stadt lebte, doch sie war sich sicher, dass sie zwischen den Reisenden einige ausgemacht hatte, und niemand von ihnen schien die üblichen Farben Schwarz, Weiß oder Braun zu tragen, von dem Abzeichen ganz zu schweigen. Eine junge Frau war sehr elegant gekleidet in ihrem burgunderfarbenen Kostüm aus Damaststoff, doch Yuste bemerkte sofort, dass ihre dunklen Locken angemessen von einer Strohhaube
bedeckt waren. – Frauen, dachte Boris. – Denkt ihr denn nur an Mode? – Es geht nicht um Mode, Boris. Es geht um Freiheit. – Das gestehe ich dir zu. Beneidest du diese Leute? Gehen ihren Geschäften nach, während wir die Mutter weiß wohin fliegen. – Vielleicht weiß sie es, dachte Yuste und erinnerte sich an ihre Visionen. – Das ist eine bemerkenswert ketzerische Gefühlsregung für eine Wanderin. – Manchmal denke ich, unsere ganzen kleinen Religionen sind nur Teile in einem viel größeren Puzzle. Eines, das wir nicht zusammensetzen können. – Ich bin nur zu froh, es nicht zu sehen. Ich finde, dass dieser ganze Zaubererkram völlig überbewertet wird. Aber Sklava ist voll von Zauberern. Ich sage, dass die meisten von ihnen Hochstapler sind. Unglücklicherweise aber scheinen wir auf einen gestoßen zu sein, der es nicht ist. Die Arabian Bird wartete auf sie und schaukelte gegen die Anlegestelle. Yuste versuchte, jeden Blick auf den darunter liegenden Abgrund zu vermeiden. Heute war ein kleiner Einstieg an der Seite der Gondel geöffnet worden, und ein Landesteg führte von der Mole aus an Deck. Sie war nur zu froh, dass Boris sie hinüberführte; sie klammerte sich an seinen Arm und starrte angespannt zum Deck. Als sie an Bord waren, holten Cluny und Planchet den Steg ein und schlossen den Eingang. Ignatius saß schon an der Pinne; der Motor war bereits angeworfen und dampfte und klapperte wie ein übergroßer Kessel. »Sieht aus, als hätten wir einen guten Morgen erwischt«, schrie Boris. »Nicht allzu schlecht jedenfalls«, antwortete Ignatius. »Ich muss das Schiff ganz schön hoch bringen. Der Hauptwind bläst nach Süden oder Südwesten über die Berge, deshalb müssen wir höher steigen. Die nächste halbe Stunde werden wir damit verbringen, die richtige Höhe zu erreichen. Es könnte kalt werden, und die Luft da
oben ist dünn.« Die vier sammelten sich um den Boiler und den Feuerkessel, wo man etwas Wärme abbekam. An diesem Morgen hatte Ignatius eine Reihe von Sitzen für sie aufgestellt, und sie machten es sich mit den Rücken zum Motor bequem. Für sie war auch ein Stapel wollener Decken bereitgelegt. Yuste schmiegte sich an Boris. Die Kleidungsstücke, die ihr Beatrice gegeben hatte, waren warm und gut gearbeitet, doch sie hatte aus der letzten Nacht noch eindringlich in Erinnerung, wie kalt es an Bord eines Luftschiffes werden konnte. »Man hat das Gefühl, als wenn wir einen Tagesausflug machen würden«, sagte sie. »Es ist ein schöner Tag«, sagte Cluny. »Dann lasst uns ebenfalls das Beste daraus machen«, sagte Boris. »Was mir Sorgen macht, ist die Frage, was wir tun wollen, wenn wir den Berg erreicht haben. Hat der Zauberer außen eine Art Festung gebaut und hat sich schön im Inneren verschanzt? Ich hasse Magie!« »Immerhin ist es möglich, dass der Zauberer gar nicht da ist«, sagte Cluny. »Als du zum letzten Mal von deinem Bruder gehört hast, Yuste, hat er da nicht gesagt, dass er den Zauberer in Yonar gesehen hat?« Yuste blickte auf ihre Handschuhe. »Als wir bei den Wölfen waren – damals, als ihr in aller Eile das Lager abbrechen und mit den Roma fliehen musstet –, war Yuda bei Sarl und dem Magus, und sie versuchten, die Berge in Richtung Norden zu überqueren. Aber als ich ihn letzte Nacht gesehen habe, sagte er nicht, wo er sich befand. Und heute Morgen …« Sie brach ab. »Im Grunde wissen wir nicht, wo sich der Zauberer aufhält. Oder Sarl. Oder Yuda«, sagte Boris. »Alles, was wir mit Sicherheit wissen, ist, dass Annat und Malchik im Berg sind.« »Aber was, wenn wir zu spät kommen, Boris? Was, wenn der Magus Yuda schon getötet und ihre Seelen geraubt hat?« »Du wüsstest es, wenn sie tot wären, glaub mir«, sagte Boris. »Ich
wusste es, als Stromnak getötet wurde …« »Deine Partnerin?«, fragte Yuste. »Und meine Ehefrau.« Er lehnte sich zurück und starrte hinauf zum Stadtwall. »Deine Frau? Zyon, Boris, das hast du mir nie erzählt!« »Es ist einige Jahre her. Ich bin kein seltsamer alter Junggeselle, Missis, ich bin ein seltsamer alter Witwer. Ich habe mich nie für andere Frauen erwärmen können … bis heute …« »Erzähl mir von ihr«, sagte Yuste. Boris stand auf. »Nicht jetzt«, sagte er. »Wir legen ab.« Während Sarl auf dem Boden saß und ins Leere blickte, wanderte Semyon auf und ab und kämpfte darum, seine Gedanken zu ordnen. Von Zeit zu Zeit trat er nach Grasbüscheln. Wenn er seine Welt freiließ, könnte er nicht mehr länger von ihrer Macht zehren, und ohne diese Quelle hätte er nicht die Möglichkeit, den Spruch zu beenden, der Sarl das Leben wiedergeben würde. Doch er war sich nicht mal sicher, dass er überhaupt in der Lage wäre, die notwendigen Zauberformeln zu sprechen, um die Welt zu befreien, solange er sich im Innern des Koffers befand. Hier war er, und die Magie, die das Volk hier gefangen hielt, band ihn nun auch. »Die Zeit wartet nicht auf dich, Magus«, sagte Sarl. »Wenn du nicht bald fertig bist, gehe ich und hole meine Schwester.« »Ich habe es dir schon gesagt, Mon Seigneur, du wirst deine Macht nicht gegen sie einsetzen können. Sie haben unterschwellige Netze – die aber reichen, um dich auszuschalten.« »Ich brauche nicht meine Fähigkeiten, um solch armselige Feinde zu unterwerfen.« »Sieh der Wahrheit ins Gesicht, mein Herr, sie werden deine Schwester töten, noch bevor du beim Tor angekommen bist. Du hast keine andere Wahl, als auf mich zu warten. Ohne Zweifel werden sie sich melden, wenn sie ungeduldig werden.«
»Ich werde ungeduldig, Magus«, sagte Sarl. »Ich glaube, du weißt nicht, wie du das, was sie von dir verlangen, bewerkstelligen sollst.« Semyon umkreiste ihn. »Nein, ich weiß es nicht!«, schrie er. »Die Welt befindet sich in dem Koffer. Wir sind im Koffer. Um die Welt zu befreien, muss ich draußen sein! Doch um dorthin zurückzugelangen«, er stieß mit dem Finger in Richtung Himmel, »muss ich von der Macht dieser Welt zehren – und das werden sie mitbekommen. Was schlägst du vor, was ich tun soll? Ich will genauso wenig wie du, dass deine Schwester stirbt. Und ich habe das kleine Anhängsel fast lieb gewonnen – wenigstens droht er nicht dauernd damit, mein Herz herauszuschneiden!« Zu seiner Überraschung begann Sarl zu lächeln. Es war kein schöner Anblick, doch nichtsdestotrotz war es ein gewöhnliches Lächeln, das nichts Bedrohliches barg. »Magus, ich glaube, dass du keine Angst mehr vor mir hast«, sagte er. Semyon war kurz davor, ihn anzuschreien, doch er ließ es bleiben. Er setzte sich auf den grasbewachsenen Hügel, auf dem es sich Sarl bequem gemacht hatte. »Ich habe keine Ideen und kein Glück mehr«, sagte er. »Das Einzige, was mir einfällt, ist, zum Volk zu gehen und ihm die Wahrheit zu sagen – dass ich den Koffer verlassen muss, um die Leute zu befreien. Glaubst du, sie werden mich freilassen? Sie haben ihre Geiseln.« »Ich denke nicht, dass sie dir glauben werden. Ich an ihrer Stelle würde es nicht.« Semyon schaute auf seine Fingernägel. Sie waren kurz gebissen. »Ich schätze, ich könnte einen Spruch versuchen, um deine Schwester und den Gefangenen hierher zu bringen«, sagte er. »Doch ich weiß nichts über diese Netze, die das Volk benutzt. Ich hätte mehr Zeit damit verbringen sollen, diese Welt zu studieren, anstatt sie nur als Machtquelle zu nutzen. Nun, ich muss irgendwas unternehmen; mir fällt nichts anderes ein …« Als er zu Ende gesprochen hatte, geschah etwas. Die Sonne ver-
losch, und der Himmel nahm ein gewittriges Dunkel an. Ein stürmischer Wind kam auf und peitschte die Gräser von einer Seite zur anderen, und die kleinen Bäume beugten sich tief. Semyon erhob sich und war sofort dem Sturm ausgesetzt. Er überschattete die Augen, um zur Stadt blicken zu können, und sah sie grau vor dem Horizont; das verborgene Sonnenlicht glitzerte noch immer auf den Fahnenmasten und Wetterhähnen. Ein kalter, stechender Regenguss ging nieder, der seine Kleidung durchnässte. In den Wolken in einiger Entfernung sah Semyon Blitze zucken und den Himmel aufreißen. Er machte sich langsam auf den Weg zu den Mauern der Stadt, ohne auf Sarl zu warten. Er konnte das Prickeln der Macht in der Luft spüren, ebenso, wie er das nasse Gras unter seinen Füßen riechen konnte. Es könnte nichts weiter als ein Frühlingsschauer sein, doch er spürte in seinen Knochen, dass es etwas völlig anderes war. Als er bei den Stadttoren ankam, waren die Mauern verlassen. Er machte einen Schritt über das Tor hinweg und landete auf einer breiten Allee. Überall waren Zeichen, die belegten, dass noch vor kurzem jemand dort gewesen war. Hunde rannten durch die Straßen, bellten und blieben stehen, um zu heulen. Es waren verlassene Wagen und reiterlose Pferde zu sehen. Er ging die Straße hinunter und machte oft Halt, um sich zu bücken und in die offenen Fenster der Häuser zu beiden Seiten zu spähen. Doch egal, wo er hinsah, er konnte niemanden entdecken. Er konnte gebackenes Brot riechen; es gelang ihm, sich vorzubeugen und durch die Fenster einer Bäckerei zu blicken, wo er geöffnete Öfen und winzige Laibe aus frischem Teig sah, die darauf warteten, gebacken zu werden. Aber nirgendwo gab es Bäcker. Semyon stand auf und blickte zurück zu der Stelle, an der er Sarl zurückgelassen hatte. Er sah die große Gestalt, die sich als Silhouette gegen den Himmel abhob, und winkte ihn näher. Dann setzte er seinen Weg zur Mitte der Stadt fort. Zwei Dinge sah er sehr schnell: den riesigen Hauptplatz, der verlassen dalag – nur die Fahnen flatterten noch immer in Rot, Orange und Weiß
von den Dächern des Palastes – und Blutflecke auf dem Boden. Semyon schauderte und schlang die Arme um sich; seine Kleidung war nass und der Wind, der noch immer blies, fuhr ihm bis in die Knochen. Als Sarl bei ihm ankam, wies er auf den Boden. »Sie sind fort«, sagte er. »Jeder Einzelne von ihnen. Aber was, glaubst du, hat dies zu bedeuten?« »Das kann ich nicht sagen, Magus«, antwortete Sarl. »Wenn diese Leute bluten so wie wir, dann lässt sich nicht sagen, wer verwundet wurde. Es könnte aber genauso gut das Blut von Tieren sein.« »Es gibt keine Spur von Huldis oder dem Schamanen. Und sie wären zu groß, als dass man sie verstecken könnte. Falls noch jemand übrig ist, der sie verstecken könnte.« »Verstehst du, was passiert ist?«, fragte Sarl. »Es ist sehr seltsam. Als ob jemand einen Spruch gezaubert hätte – einen mächtigen Spruch – und die Letzten des Volkes verschwunden wären. Erinnerst du dich, was Huldis gesagt hat? Irgendwie war es so, dass meine Magie jedes Mal, wenn ich von der Welt zehrte, einige von ihnen verschwinden ließ. Und nun sind sie alle fort.« »Aber du weißt nicht, wohin.« »Ich weiß es nicht mit Sicherheit. Ich habe einen Verdacht. Und ich glaube, dass hier nichts für uns zu tun bleibt. Wir müssen zum Gläsernen Berg zurück, und zwar schnell.« »Ich würde wetten, dass die Spiegel der Stadt etwas zu klein für uns sind, als dass wir durch sie hindurchtreten könnten«, sagte Sarl. Semyon blinzelte ihn an; er konnte sich nicht daran erinnern, dass Sarl vorher schon mal einen Witz gemacht hatte. »Wir werden nicht die Spiegel benutzen«, sagte er. »Es gibt einen anderen Weg, aber ich habe gezögert, ihn zu nehmen, weil er so viel Macht verschlingt. Er könnte alles an Magie verbrauchen, was in dieser Welt noch vorhanden ist… und das wollte ich vermeiden.« »Das ist sehr gewissenhaft, Magus.« Semyon vermied seinen Blick. Er fragte sich, ob Sarl verstand, was das für ihn selbst bedeutete. Wenn Semyon all die verbliebene Macht aus der Welt abzog, dann wären die Konsequenzen die glei-
chen, als wenn er sie freiließe. Abgesehen davon, dass die Welt dann untergehen würde. Aber es wäre nichts mehr für Semyon übrig, um den Spruch zu vollenden, der Sarl ins Leben zurückbringen würde, selbst dann nicht, wenn es ihnen gelang, alle anderen … Zutaten zusammenzubringen. Er wandte Sarl den Rücken zu und begann mit der Arbeit an seinem Spruch. Ein Ortswechsel war bekanntermaßen schwierig und unsicher. Es war nicht so wie bei den Reisen der Schamanen, die Tore und Übergänge benutzten, um von einer Welt in eine andere zu gelangen. Irgendwie musste er sich selbst und Sarl aus dieser Realität in ihre eigene befördern, was bedeutete, dass sie durch Zeit und Raum reisen mussten. Und die Welt würde sterben. Trotz seiner Ironie hatte Sarl Recht gehabt; Semyon hatte Hemmungen, diese Welt und seine seltsamen Bewohner zu zerstören, nur weil er eine Abkürzung brauchte, die ihn nach Hause bringen würde. Die Worte des Zauberspruchs und seine komplizierte Formel nahmen von selbst in seinem Kopf Gestalt an. Er breitete seine Arme aus und begann zu sprechen, wobei er daran dachte, zuvor den Gott Tschernobog anzurufen. Seine Gedanken wanderten zu Kaschai, der ohne jeden Zweifel täglich die Macht von vielen kleineren Welten abzog, als ob sie keinerlei Bedeutung hätten. Semyon zwang sich, die Augen zu schließen und sich auf den Spruch zu konzentrieren. Wie alle solche Zaubersprüche war dieser nicht nur sehr wirksam, sondern auch ausgeklügelt. Er nutzte die Stellung der Planeten und das Nebeneinanderstehen der Welten. Er bahnte sich einen Weg durch diese Vielzahl von komplexen Verbindungen und fand einen Weg, der ihn genau dorthin bringen würde, wo er sein wollte. Aber er war verschwenderisch, ein aufgeblähter Spruch, der üppige Batzen kostspieliger Macht benötigte, um zu wirken. Jeder Schamane, der sich an ihm versuchte, ohne über eine gesonderte Energiequelle zu verfügen, würde sterben. Semyon konnte sehen, wie sich der Spruch vor ihm in der Luft entfaltete wie eine beschriebene Spruchrolle. Die Schlussworte waren immer die gefährlichsten; es waren die Phrasen, die den Spruch
auslösten und zum Wirken brachten, wo so viele kleine Dinge misslingen und ein Desaster heraufbeschwören konnten. Diese Worte waren es, die die Magie mit der Energiequelle verbanden, um sie zum Wirken zu bringen. Nach dem Schlusssatz war sein Mund wie ausgetrocknet. Er schloss die Augen und wartete darauf, dass ihn riesige Kräfte davontragen würden. Es gab einen kurzen Moment der Stille, und dann wurde er durch die Luft geschleudert. Er griff nach seiner Mütze und zog sie sich über die Ohren. So musste es sich anfühlen, wenn man von einem Wirbelwind von den Füßen gehoben wurde, dachte er. Er hatte keine Ahnung, was mit Sarl geschah. Einen Augenblick lang öffnete er die Augen und sah den Boden unter sich in beängstigender Geschwindigkeit davonrasen. Es sah aus wie die Erde, und es war weit unter ihm. Wenn ihn der Spruch aus den Fängen ließ, würde er durch die Luft fallen und auf diesen weit entfernten Felsen als ein Haufen von gebrochenen Knochen und zerfetztem Fleisch landen. Semyon machte die Augen wieder zu, doch er konnte seine Ohren nicht vor dem sausenden Geräusch und dem Jammern des Windes verschließen. Er öffnete den Mund und schrie, und es war ihm gleich, wer ihn hören mochte. In diesem Augenblick begann er zu fallen. Seine Kleidung umflatterte seinen Körper, und er wurde Hals über Kopf in Richtung Erdboden gewirbelt. Das Volk sah sich um und starrte in die plötzliche Dunkelheit; es schien verwirrt. Die Königin stieß einen kleinen Schrei aus, als sie sie sah, und rannte zu ihnen; sie hob ihre Röcke, um auf das niedrige Podest zu springen, wo sie erschienen waren. »Was ist geschehen?«, fragte Annat. »Sieh«, sagte Malchik, und sie folgten der Königin, wobei sie mit einem einzigen Schritt die Erhöhung überschritten, die jene regelrecht hatte hinaufklettern müssen. Yuda und Huldis waren dort; der Mann lag mit dem Kopf im Schoß des Mädchens. Annat fiel neben
ihm auf die Knie und ließ ihre Hände über seinen Körper gleiten; mit Entsetzen spürte sie den Nachhall seiner Schmerzen, die sie nicht länger teilte. »Yuste?«, fragte Yuda, ohne die Augen zu öffnen. »Nein, Tate, ich bin's«, sagte Annat. Sie merkte, dass sie weinte, als eine ihrer Tränen auf seine Haut tropfte, und er sah zu ihr hoch. Malchik fluchte. »Was ist mit dir geschehen?«, fragte sie und blickte von ihrem Vater zu Huldis, die seinen Kopf zwischen ihren Händen hielt. »Was ist mit dir geschehen, Rebjonok?«, flüsterte Yuda. Sie spürte, dass es ihn all seine Kraft kostete, nicht zu weinen. Sie ließ ihre Hände von Kopf bis Fuß über ihn gleiten, um seine Schmerzen zu lindern. Sie sah, wie sich die verkrampften Muskeln entspannten, und die tiefen Linien der Anspannung und der Qualen von seinem Gesicht verschwanden. Seine Kleider waren in Fetzen gerissen und voller Blut; wo auch immer sie hinschaute, schien eine eiserne Spitze oder ein Speer mit Holzschaft aus seinem Fleisch zu ragen. »Boze moi«, sagte sie. Malchik weinte, doch sein Gesicht war gleichzeitig vor Zorn gerötet. »Gutes Mädchen«, sagte Yuda. Er war eingehüllt in die goldene Ägide seiner Macht; er leuchtete, wie ein Stück reinsten Bernsteins, das sich in den Tiefen einer Mine neu gebildet hatte. »Sie haben uns getrennt«, sagte Huldis. Ihre Stimme war brüchig. »Als sie uns zusammenbrachten, hatten sie ihm das schon angetan. Wir wollten ihnen nichts tun. Warum haben sie das gemacht?« »Ich glaube, ich weiß warum«, sagte Annat. Sie streckte die Hand aus, streichelte Yudas Stirn und strich seine feuchten Haare aus seinem Gesicht. »Was haben sie zu dir gesagt, Yuda?« Yuda starrte sie an. »Vielleicht aus dem gleichen Grund, aus dem sie dir dein Auge genommen haben«, sagte er. »Die Königin sagte es mir«, berichtete Annat. »Sie verletzen Schamanen. Sie glauben, dass uns das begreifen lässt. Aber was haben sie mit dir gemacht, Huldis?« Sie blickte in das Gesicht der Freundin ihrer Mutter. Der Mund
der jungen Frau zitterte, als sie versuchte zu antworten. »Nichts«, sagte sie, »außer, dass ich es mit ansehen musste … dass ich dabei war …« Annat verzog das Gesicht. »Ich fürchte, das könnte ein Teil davon sein«, sagte sie. »Ich wäre froh, wenn du diese verdammten Dinger entfernen könntest, Natka«, sagte Yuda. Annat nickte. Sie sah zu Malchik hinüber. »Kannst du das tun, Malchku?«, fragte sie. »Ich glaube nicht, dass ich stark genug bin. Ich werde versuchen, die Schmerzen abzuschirmen.« Malchik nickte. Einst, vor nicht allzu langer Zeit, hätte er empört aufgeschrien. Er beugte sich über Yuda und warf ihm ein liebevolles Lächeln zu. »Wie soll ich es machen, Mister?« »Schnell«, sagte Yuda. Malchik sah Huldis ins Gesicht. »Du hältst ihn fest«, sagte er. »Vertrau Annat; sie wird aufpassen, dass es nicht wehtut.« Es dauerte ungefähr zehn Minuten, bis alle Dornen und Speere, die das Volk in Yuda versenkt hatte, entfernt waren. Das Blut floss ungehindert aus den Wunden, doch zunächst versuchte Annat nicht, sie zu schließen, damit sie ausgespült wurden. Sie war beeindruckt zu sehen, wie rasch und sicher Malchik arbeitete; sie war damit beschäftigt, Yudas Leiden mit dem Balsam des Heilens zu lindern. Aber es schmerzte sie trotzdem, als sie fertig waren und sie sein Gesicht sah. Sie konnte seine Erschöpfung spüren; er hatte jeden Nerv bis an die Grenzen strapaziert. Malchik ließ sich auf die Fersen sinken und wischte sich die blutverschmierten Hände an den Hosen ab. »Bei der Mutter, ich hoffe, ich muss so etwas nie wieder tun«, sagte er. »Bei der Mutter?« Yuda wiederholte seine Worte. Annat konnte sich keinen ungeeigneteren Zeitpunkt vorstellen, um ihm zu berichten, dass Malchik ein Abtrünniger geworden war. Aber es würde nie einen guten Zeitpunkt geben.
»Ich bin …« »Malchik ist …« Sie setzten gleichzeitig an, doch keiner von ihnen beendete seinen Satz. Yuda sah von einem zum anderen; Annat wusste, dass er verstanden hatte, was sie zu sagen versuchten. »Ich kann darüber gerade nicht nachdenken«, sagte er. »Malchik ist ein Mann und muss tun, was er für richtig hält.« Er brach ab, denn das Sprechen bedeutete eine große Anstrengung für ihn. Annat nahm eine seiner Hände und drehte sie in ihren eigenen um. Die Handfläche war unversehrt, doch er war am Handgelenk gezeichnet, wo ein Dorn hindurchgetrieben worden war. Yudas Finger schlossen sich über ihren. Sein Griff war noch immer kräftig. »Heile mich jetzt, Natka«, sagte er. Einen Augenblick fragte sich Annat, ob er wusste, wie schwer er verwundet worden war. Für sie war offensichtlich, dass sie zwar seine Wunden verschließen konnte, dass sie jedoch nicht in der Lage wäre, seine beschädigten Gelenke zu richten, wo das Eisen durch Knochen und Knorpel gedrungen war. Sie würden Zeit brauchen, um sich zu erholen; sie konnte den natürlichen Heilungsprozess seines Körpers nicht beschleunigen. »Ich weiß«, sagte er. »Sie haben mich zum Krüppel gemacht. Tu einfach, was du kannst.« Annat berührte den Ring, den er noch immer an seiner rechten Hand trug. »Was ist mit ihm?«, fragte sie. »Er hat seinen Dienst bereits bei mir verrichtet. Du kannst ihn hierfür nicht noch einmal benutzen. Und ich liege auch nicht im Sterben.« Annat machte sich an die Arbeit. Sie begann mit den kleineren Wunden; es war leicht, Haut und Muskeln zu flicken. Aber als sie zu den Löchern kam, die die Dornen in seine Gelenke gebohrt hatten, gab es viel weniger, was sie tun konnte. Yuda lag ganz still und nur manchmal drängte er sie. Sie war noch nicht fertig, als sie ihren Kopf hob und die Königin der Bergleute ihr gegenüberstehen sah, mit ihrem Gemahl an ihrer Seite. Annats Herz schlug schneller, so-
wohl aus Zorn als auch aus Furcht. Malchik bemerkte die Veränderung in ihrem Blick, sah hinter sich und sprang auf die Beine. Er musste hoch wie ein Kirchturm erscheinen. »Nein«, sagte er. Seine Stimme war ein Brüllen; auch das hatte sich an ihm verändert. »Ihr habt ihn genug verwundet. Geht.« »Malchik«, sagte Yuda. Er sprach ruhig, doch etwas in seiner Stimme duldete keinen Widerspruch. »Lass sie kommen.« »Nun gut«, sagte Malchik. Er kniete sich wieder hin und kehrte dem königlichen Paar den Rücken zu. Annat unterbrach ihren Heilvorgang und beobachtete, wie die Königin näher kam, bis sie unmittelbar neben Yudas Kopf stand. Ihr Gesicht sah traurig aus, fast besorgt. Yuda starrte zurück; eine tiefe Falte zeigte sich dunkel zwischen seinen Brauen. Annat dachte, dass es trotz der Unterschiede in ihrer Statur zwischen ihnen beiden wenig Abweichungen gab, was den brennenden Stolz und die Willensstärke anging. »Gib mir das Prisma«, sagte die Königin. Noch während Annat sich fragte, was damit geschehen war, sah sie, wie Malchik in seine Jackentasche griff und es hervorzog, klar und leblos, wie einen Steinklumpen. Er streckte es mit zitternder Hand der Königin entgegen, und sie nahm es. Sie starrte es an, als ob sie hoffte, ein Bild in seinen Tiefen zu sehen. »Wir haben das Prisma angerufen, aber es hat unsere Welt nicht wiederhergestellt«, sagte sie. »Es hat andersherum gewirkt. Nun sind wir alle in den Berg gezaubert worden, als Sklaven des Magus.« Sie streckte die Hand aus und legte das Prisma auf Yudas Brust, oberhalb seines Herzens. Langsam veränderte es die Farbe, bis es ein wolkiges Rot angenommen hatte, als ob es mit Blut angefüllt wäre. Die Königin nickte, als hätte sie das erwartet. »Das Prisma arbeitet für euch und nicht für uns«, sagte sie. »Es hat euch hierher gebracht, damit ihr geheilt werdet.« Yuda nahm den Stein und hob ihn empor; fast augenblicklich verblasste die Farbe. Dort, wo die Königin ihn niedergelegt hatte, war nun ein sternenförmiges Mal zu sehen, wie ein Brandmal. Er berührte es mit der Hand.
»Was bedeutet das?«, fragte er und hielt ihr den Stein hin. »Schamane, dein Blut hat das Prisma befleckt; niemals wieder wird es rein und klar erscheinen«, sagte sie. Sie streckte ihm ihre kleinen Hände entgegen, und Yuda reichte ihr den Stein; als sie ihn hochhielt, damit er das Licht einfing, schien er einen rosafarbenen Stich zu bekommen. Die Königin untersuchte ihn gründlich, wie eine Uhrmacherin, auch wenn der Stein größer als ihre beiden Fäuste war. »Das Prisma spricht nicht mit mir«, sagte sie. »Es ist wie ein blinder Spiegel, in dem ich nicht sehen kann – ahh!« Sie stieß einen kurzen, erstickten Schrei aus und fiel zu Boden wie eine Motte, die sich einen Flügel gebrochen hatte. Hinter ihr brach im gleichen Augenblick der König zusammen; als Annat sich umsah, fiel das gesamte Volk mit einem Rascheln wie von toten Blättern um. »Was ist das?«, fragte sie. »Warum sterben sie?« Yuda hob das Prisma auf, denn es war der Königin aus den Händen gefallen. »Es ist der Magus«, sagte er. »Er hat einen Spruch gezaubert, um sich und Sarl zurück zum Berg zu bringen. Und er hat die letzte Energie aus dem Kristall gezogen. Deshalb konnte sie in ihm auch nichts lesen.« Annat sah ihn an. »Wenn Sarl und der Magus zurückgekommen sind, warum sind sie dann nicht hier?«, fragte sie. »Ich weiß es nicht. Es ist kein guter Zeitpunkt, um ihnen gegenüberzutreten, weil ich ausgeschaltet bin.« »Aber wissen sie denn, wo wir sind?«, fragte Malchik. »Sie werden zu der Kammer im Gipfel gegangen sein, wo Semyon seinen Spiegel aufbewahrt«, sagte Huldis. »Wenn er dort hineinsieht, wird er uns finden.« »Dann sollten wir uns bewegen«, sagte Yuda. Er versuchte, sich aufzusetzen, doch die Schäden an seinen Gelenken, die seine Arme geschwächt hatten, machten ihm einen Strich durch die Rechnung. »Ich werde dir helfen«, sagte Malchik. »Wartet«, sagte Huldis. »Wenn Semyon alle Macht aus dem Prisma gezogen hat, was wird er denn dann benutzen, um Sarl das Leben zurückzugeben? Selbst wenn er dich wieder einfängt, kann er es
nicht vollenden.« Yuda unternahm einen zweiten Versuch, sich aufzusetzen, und diesmal gelang es ihm. Er blickte auf den zusammengesunkenen Körper der Königin, dann hob er sie empor und legte sie über seine Knie. »Arme kleine Kerlchen«, sagte er. »Kein Wunder, dass sie Menschen hassen. Aber sie war anders …« »Sie hat Annats Auge ausgestochen«, erinnerte ihn Malchik. »Wie geht es dir damit, Missis?«, fragte Yuda, und Annat berührte mit zitternden Fingern ihr Gesicht. »Es schmerzt nicht mehr. Aber ich wünschte, ich könnte mir anschauen, wie es aussieht.« Sie schämte sich, ihre Eitelkeit zuzugeben, wo ihr Vater verkrüppelt war. Er betrachtete ihr Gesicht mit unerschütterlichem Blick. »Es ist wunderschön. Seltsam, aber wunderschön. Wie eine lebendige Murmel.« Er sah hinab auf die leblose Gestalt der Königin. »Wir können sie nicht sterben lassen.« »Ich denke, genau das sollten wir tun«, sagte Malchik. Er hob einen der blutbefleckten Dolche empor, die sie aus Yudas Körper gezogen hatten. »Sie haben keine menschlichen Gefühle. Sie würden es wieder tun.« Yuda drehte seinen Kopf zu Huldis. »Was sagst du, Missis? Würdest du sie sterben lassen?« Huldis berührte seine Wange. »Ich werde tun, was immer du sagst, Yuda. Ich hasse es, was sie dir angetan haben; aber es sind so viele, sie können nicht alle grausam sein. Und es ist nicht an uns, über ihr Schicksal zu entscheiden. Ich bin sicher, nicht einmal der Magus hätte ihnen diesen Schaden gewünscht.« »Gut«, sagte er. »Komm, Junge, hilf mir beim Aufstehen.« Malchik murmelte etwas und half Yuda auf die Beine. Wegen seiner Wunden konnte er sie nicht mit seinem ganzen Gewicht belasten, und so stützte er sich auf seinen Sohn. Die leblose Gestalt der Königin baumelte in seiner Hand wie ein toter Vogel. »Zyon«, stieß Yuda zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. »Dies ist … die Hölle.« »Dann hast du deine Meinung nicht geändert, Mister?«
Yuda knurrte wie ein Wolf. »Du würdest keine so schlauen Sprüche klopfen, wenn du meine Füße hättest«, sagte er. Während er sprach, kam die Eule Chovotis aus der Dunkelheit geflogen, ein gestreiftes Wesen mit schattenhaften Flügeln, und landete auf Malchiks Schulter. »Was ist das?«, fragte Yuda. Malchik streckte eine Hand aus, um ihr die Federn unter dem Kinn zu streicheln. »Sie hat mich gewählt«, sagte er. »Genauso, wie der Wolf dich erwählt hat.« Während er sprach, kam der alte Schamane Derzu aus einem der Tunnel gehumpelt, der Eule folgend. Um seine Füße lag das Volk verstreut wie abgestorbene Blätter. Er bahnte sich seinen Weg durch die Körper, und Annat konnte an seiner Art zu laufen sehen, dass er ähnliche Verletzungen wie Yuda erlitten haben musste. Als Derzu sie erreicht hatte, blieb er stehen und sah von einem zum anderen. Die zwei Männer lehnten sich gegeneinander; die Spitze von Yudas Kopf reichte bis kurz unter Malchiks Kinn. Obgleich einer von ihnen sehr dunkel und der andere sehr blond war, war ihre Ähnlichkeit doch offensichtlich, wenn sie so nahe beieinander standen. Malchik stützte seinen Vater mit seinem linken Arm, während Chovotis mit ihrem Schnabel an seiner rechten Hand pickte. Und obwohl Malchik unordentlich und ungewaschen und Yuda mit seiner blutbefleckten Kleidung wie eine Vogelscheuche aussah, gab es doch keinen Zweifel an dem unerschütterlichen Vertrauen, mit dem er sich auf seinen Sohn stützte, oder daran, wie stolz er das Zeichen des Prismas trug. Das Volk mochte seinen Körper gebrochen haben, doch sie hatten seinen Geist nicht erniedrigt. Derzu wandte sich von ihnen zu Annat und Huldis. »Vier Schamanen«, sagte der alte Mann. »Fünf. Das ist eine Menge für einen Berg.« »Hallo«, sagte Malchik. »Dies ist mein Vater.« Der alte Mann näherte sich ihm und Yuda, doch er sprach den Letzteren an. »Zuerst ist es sehr hart«, sagte er, »wenn sie dich lahm machen.
Aber wenn du nicht laufen kannst, kannst du noch immer fliegen, Wolfmann.« Yuda hob den schlaffen Körper der Königin. »Wir müssen ihnen helfen«, sagte er. »Hast du das Prisma?«, fragte Derzu. Yuda langte in seine Hosentasche und holte es heraus. »Selbst wenn wir ihnen irgendwie ihre Energie zurückbringen, Derzu, wird der Magus sie für seine Sprüche benutzen. Und er hat schon einen im Kopf.« Derzu berührte das Mal auf Yudas Brust. »Deine Seele ist stärker als seine«, sagte er. »Viel stärker mittlerweile. Ich spreche nicht von Macht. Wenn du das Prisma heilst, wird er es nicht benutzen können.« »Meine Seele?«, fragte Yuda. »Ich sehe dich mit dem Auge eines Schamanen. Das Volk hat dich verletzt, doch sie haben dir auch ein Geschenk gemacht. Heile den Stein«, sagte Derzu und wies mit dem Finger auf den Kristall. »Dann wirst du sehen.« »Ich bin zu müde, um irgendjemanden zu heilen, alter Mann«, sagte Yuda. »Ich fühle mich wie ein leerer Krug.« Annat erhob sich von der Stelle, an der sie gesessen hatte, und kam zu ihnen. Sie war eingeschüchtert von dem schwarzen Blick ihres Vaters. »Er hat Recht, Yuda«, sagte sie und senkte die Augen. »Ich kann dich sehen. Ich kann in dein Durmat sehen, und es hat sich verändert.« »Mein Durmat?« »Das ist die Signatur deiner Macht. Das, was wir alle haben, selbst Malchik. Meine ist silberblau.« »Diese Farbe hatte meine auch«, sagte Yuda. Er legte den Körper der Königin in seine Armbeuge, als ob sie ein Baby wäre. Annat fühlte einen Kloß in ihrem Hals. Das lag zum Teil an der rührenden Absurdität, mit der er die kleine Gestalt wiegte, und zum Teil an dem mitleidigen Ausdruck, den sie auf seinem Gesicht sah. Sie
wagte, näher zu treten und ihn am Arm zu berühren. »Nein«, sagte sie. »Das ist es nicht. Es hat nicht wieder die Farbe verändert. Aber es trägt ein Mal wie das auf deiner Brust.« Yuda blickte zu Derzu empor. »Du meinst, ich kann das Prisma heilen?« »Einzig du«, sagte der alte Schamane. Yuda streckte ihm den Körper der Königin entgegen und Derzu nahm ihn. Yuda hielt sich das Prisma vors Gesicht und betrachtete es. »Was würdest du tun, Natka, um einen Kristall zu heilen?«, fragte er. Annat beugte sich vor und untersuchte den Stein in seiner Handfläche. Er sah wie ein Steinbrocken aus, weiter nichts. Aber wenn sie ihr gesundes Auge schloss … »Oh!«, sagte sie und drückte seinen Arm. »Es sieht aus wie ein kleines Herz mit Kammern und Klappen!« »Ich bin froh, dass ich das nicht sehen kann«, sagte er. Er hielt inne. »Vielleicht braucht es Blut. Die Königin sagte, meines hätte es befleckt…« Und er presste den Stein auf das Mal auf seiner Brust. Unter seiner Hand veränderte der Kristall die Farbe; zuerst zu einem blassen Rosa, dann Rubinrot, dann zu einem viel dunkleren Ton wie Wein. Yuda neigte den Kopf, sodass sein schwarzes Haar sein Gesicht verbarg. Dann sog er die Luft ein und sagte: »Halt mich fest, Malchku.« Annat berührte ihn am Arm. »Du musst aufhören. Es tut dir weh«, sagte sie. »Nein«, entgegnete er. Er öffnete seine Hand, und der Kristall lag brennend klar und strahlend auf seiner Innenfläche; es war keine Spur von Rot darin zu sehen. »Zyon«, sagte er leise und ließ ihn fallen. Dort, wo er auf seinem Herzen gelegen hatte, brannte das Mal scharlachrot. Er sank gegen Malchik, der sein ganzes Gewicht stützen musste. »Wie geht es dir, Mister?«, fragte er. Yuda packte Malchiks Arm, der ihn hielt. »Boze moi«, sagte er. »Das war das Süßeste – und das Bitterste –, was ich je erlebt habe.« Er bedeckte das Mal mit der Hand.
Annat hob das Prisma vom Boden auf, wo es niedergefallen war, stellte fest, dass es sich kühl anfühlte, und gab es Derzu zurück. Auf dessen Knien lag die Königin und öffnete ihre schwarzen, leeren Augen.
Kapitel 18
D
ie Arabian Bird legte ab, aufwärts getrieben von einem Thermalwind. Die Stadt Dieulevaut wurde unter ihnen kleiner und verschwand schließlich unter dem Nebel. Genau in Richtung Osten befand sich das Massiv des Lepas-Gebirges; die schneebedeckten Bergspitzen gleißten im Sonnenlicht, und die Schatten der Bäume weiter unten waren von einem tiefen, rauchigen Blau. Als sie über den Gipfeln dahinglitten, packte sie der Wind, zerrte an dem Luftschiff und versuchte, es nach Westen abzudrängen. Der Motor arbeitete, während Ignatius das Gefährt durch die Verengungen steuerte, und noch immer gewannen sie an Höhe. Immer wieder war ein infernalisches Brüllen zu hören, wenn er die Brenner anstellte, die die Luft im Ballon erhitzten, damit sie stiegen. Yuste und Boris saßen aneinander gelehnt in ihre Decken gewickelt, während sich Cluny und Planchet auf dem Deck niedergelassen hatten. Es war zu kalt zum Denken, und die Luft wurde dünn; alles, was sie tun konnten, war, nach Luft zu schnappen und die strahlende Landschaft zu betrachten, die sich unter ihnen entfaltete. Cluny schien die Namen aller Gipfel zu kennen. Er litt am wenigsten unter den Auswirkungen des Sauerstoffmangels und war eifrig dabei, die anderen auf die Berge und Pässe dort unten aufmerksam zu machen. Yuste hatte ihre Hände unter die Achselhöhlen gesteckt, um sie warm zu halten, und wünschte sich, sie könnte seine Begeisterung teilen. Die Kälte schien ihre Angst neu entfacht zu ha-
ben, und sie musste unablässig an Yuda, Annat und Malchik denken. Da war ein Schmerz, eine Leere in ihrem Geist, wo sie einst in der Lage gewesen war, auszuschwärmen und ihren Bruder zu berühren, als ob er neben ihr stünde. Sie fragte sich, wie sie sich je an ihren Verlust gewöhnen sollte. Boris schien sie zu verstehen. Er versuchte nicht, sich mit ihr zu unterhalten und seine Gedanken in ihren Geist zu senden, doch sein mächtiger Arm blieb um ihre Schultern geschlungen, und sie nahm den Trost seiner Anwesenheit an. Er benutzte seine Macht nur ein wenig, um ihnen beiden etwas Wärme zu spenden, und Yuste merkte, wie unschätzbar jemand war, der seine Macht in so kleinen und wohl dosierten Mengen aufwenden konnte; ihr wäre es auf diese subtile Art und Weise nicht gelungen. Schließlich waren sie höher als der Wind. Ignatius versuchte nicht mehr, sein Schiff noch weiter steigen zu lassen, und so begann die Reise nach Osten. Die eingeholten Segel des Schiffes flatterten im Luftzug. Manchmal fand sich die Arabian Bird inmitten einer Wolke wieder, und sie flogen durch einen dicken, grauen Nebel, der wie ein Regenschauer an ihnen vorüberrauschte. Als Yuste zurückblickte, konnte sie noch immer die Berge sehen, deren Gipfel vom Sonnenaufgang entflammt waren. Ihr Herz pochte seltsam, als ihr klar wurde, dass sie Franj verlassen hatten und nun in die Länder des Staryetz und seines großen Imperiums gelangten, welches sich Hunderte von Meilen weit erstreckte bis in einen tiefen Osten, den sie sich nicht einmal vorstellen konnte. Sie segelten in östliche Richtung vom Lepas-Gebirge, über viele kleine Staaten und Fürstentümer, die im Zentrum von Yevropa lagen. Als sie sich in einem Abwind befanden und das Luftschiff sank, konnten sie einige der Länder unter ihnen erkennen. Es waren hüglige Landschaften, fast bergig, und Yuste erhaschte einen Blick auf Schieferdächer und Türme von Tempeln der Doxoi, mit Spitzen, die über den Kuppeldächern aufragten und die Form von Tulpenzwiebeln hatten. Einige Dörfer bestanden aus kaum mehr als einem Tempel, einigen zusammengefallenen Hütten und Schafen, die die
Hügelketten sprenkelten wie helle Perlen. Andere waren große Dörfer mit Steinhäusern, die über die Täler ragten, als seien sie aus dem Fels gewachsen. Sie ähnelten nicht den Städten der Franj, denn sie waren dunkler, schattiger, und sie schienen sich zwischen ihren hohen Mauern zusammenzudrängen. Und dann gab es Burgen. Einige hockten krumm und schief auf felsigen Gipfeln; andere hingen wie die Städte an den Seiten der Abhänge oder schauten über grüne, offene Täler. Manche waren Ruinen, zerklüftete Steingebilde mit Adlernestern; andere hatte man mit neuen Steinen wieder aufgebaut, und sie konnte gerade noch die Wachposten auf den Mauern erkennen. Flaggen flatterten von den Türmen, eine Ansammlung prächtiger Farben, die dem kalten Morgen trotzten. »Welches Land ist das, Boris?«, fragte sie. »Ostria. Es war einst Teil eines großen Imperiums, wie das Imperium von Neustria. Aber es ist schon vor langer Zeit an den Staryetz gefallen. Und im Osten von Ostria erreichen wir die Puszta, die große Ebene von Angrian.« Die Namen wirbelten in Yustes Kopf herum. Sie hatte sie auf Karten eingezeichnet gesehen, wenn sie die Kinder von Sankt Eglis in Geographie unterrichtete, doch sie waren ihr nie wie tatsächliche Länder erschienen. Den Kindern waren die Namen aller Hauptstädte eingebläut worden. Doch inzwischen schienen sie keine Rolle mehr zu spielen, denn der Staryetz hatte alle Länder östlich des Lepas-Gebirges eingenommen. All diese Königreiche, Fürstentümer, Bistümer und Stadtstaaten mussten ihm Tribut zollen. Sie fragte sich, ob der Doyen wusste, dass er das alte Königreich Franj und das Imperium von Neustria wiederherstellte, nur damit sie der imperialen Gier des Staryetz zum Opfer fielen. »Fühlt es sich wie zu Hause an, Boris?« »Für mich nicht, Yuste. Ich stamme aus Sklava und nicht aus diesen seltsamen Gebieten. Und es ist mehr als zwanzig Jahre her, dass ich Kyev verlassen habe.«
Viel zu schnell wurde es Mittag. Sie teilten die Rationen aus, die ihnen Beatrice mitgegeben hatte; Schwarzbrot und Käse und eine Flasche Wein. Yuste schlug den Wein aus, und Boris genehmigte sich lieber einen Schluck Slivovitz aus seiner Flasche. Es war merkwürdig, essend in einem schaukelnden Boot zu sitzen, das nicht auf der Oberfläche eines Meeres schwamm, sondern in der Luft. Während sie speisten, plauderte Ignatius mit ihnen. Seine Schwester hatte ihm einen besonderen Imbiss zubereitet, der aus Hühnchenscheiben zwischen zwei Brotscheiben bestand. Yuste fand das absonderlich. »Was gedenkt ihr zu tun, wenn wir den Berg erreicht haben?«, fragte Ignatius. »Das hängt ganz davon ab, was wir dort vorfinden«, sagte Boris. »Aber ich bin dafür, dass du uns weiter zum Gipfel hinabbringst, damit wir uns umschauen können.« »Wenn es ein Granit-Batholit-Gestein ist, wird es vermutlich eher abgerundet als zerklüftet sein«, sagte Ignatius. »Ich habe mich gefragt, ob das gläserne Erscheinungsbild des Berges dafür spricht, dass Obsidian enthalten ist«, sagte Cluny. »Oder Magie«, erwiderte Boris. Sie rauschten nun mit einiger Geschwindigkeit über die Landschaft hinweg. Ignatius hatte das Steuer so ausgerichtet, dass es Kurs nach Südosten nahm, denn er schwor, man erzähle sich, dass sich der Berg dort befinde. Sie hatten die felsigen Schluchten und Täler von Ostria hinter sich gelassen und flogen nun über sanft geschwungene Hügel, wo die Dörfer, klein und rund wie Brotlaibe, zwischen den Kuppen saßen. Es gab viele Bäume, aber keine Wälder. Die Bäume schienen laubwechselnd zu sein, doch nicht an allen sprossen Blätter, obgleich Yuste ein oder zwei Bäume bemerkte, an denen sich kleine Wolken heller Blüten zeigten. Es war ein schöner Tag, aber kalt. Sie hatten die Wolken hinter sich gelassen, und der Himmel über und unter ihnen war klar. Yuste konnte ihren eigenen Schatten über den Boden reisen sehen. Sie
betrachtete die langen Gräser des Weidelandes, die sich im Winde wiegten und wellenförmige Muster bildeten. Sie hatte sich an die Höhe gewöhnt, und es machte ihr nichts mehr aus, am Rand der Gondel zu stehen und über die Kante hinweg auf die vorbeirauschende Erde zu schauen. Ihr waren ein Schal und Handschuhe in die Hände gefallen, die Beatrice für sie mit dem Essen und anderen Dingen eingepackt haben musste. Sie erinnerte sich an die Ledertasche, die Ignatius' Schwester ihr gegeben hatte; sie öffnete sie und nahm den Inhalt heraus, einen harten, kleinen Gegenstand, der in ein Taschentuch eingewickelt war. Als sie ihn auspackte, entdeckte sie einen Revolver, nicht unähnlich dem, den Boris trug. Sie brachte ihn zu Boris und zeigte ihn ihm. »Eine Waffe«, sagte Boris. Er öffnete die Trommel und zeigte ihr, dass sie mit sechs Kugeln gefüllt war. Der Sicherungshebel war angelegt und Boris machte vor, wie man ihn lösen konnte. »Das könnte nützlich für dich sein, dort, wo wir uns hinbewegen«, sagte er. »Ich habe meine Macht.« »Und du hast beim letzten Mal, als du sie benutzt hast, gesehen, was passiert. Diesmal wird dein Bruder nicht dabei sein, um dir zu helfen.« Er brach ab, und sie sah die Scham auf seinem Gesicht. »Es ist schon in Ordnung, Boris«, sagte sie. »Du hast Recht. Yuda kann mich nicht für alle Zeiten betuddeln. Das würde ich auch gar nicht wollen.« Sie setzte sich neben ihn und legte ihre Hand auf die seine. »Aber ich wäre dankbar für jeden Rat und Hinweis, den du mir geben kannst.« »Du bist sehr mächtig«, sagte Boris. »Mächtiger als ich. Aber ich glaube, ohne die entsprechende Ausbildung wäre es unklug, deine Macht einzusetzen. Wir müssen abwarten. Diese Waffe könnte hilfreich sein.« »Land in Sicht«, rief Ignatius. Die vier eilten zu den Rändern und sahen, was er meinte. Am östlichen Horizont tauchte mitten aus der Ebene eine massive Felserhebung auf. Sie sah sehr wie die Kinderzeichnung eines Berges
aus, abgesehen davon, dass die Spitze abgerundet zu sein schien. Der Berg fing das Sonnenlicht ein und gleißte wie flüssiges Metall. »Nun, da haben wir ihn«, sagte Boris. »Was wollen wir tun, wenn wir ankommen?«, fragte Cluny. »Ich bin dafür, dass wir Ignatius bitten, über ihm zu schweben, während wir ein Seil hinunterlassen und uns ein wenig umsehen.« »Von hier aus ist es schwer zu sagen, wie hoch er ist«, sagte Cluny. »Ich kann euch ein Fernrohr anbieten, wenn ihr ihn euch genauer ansehen wollt«, rief Ignatius. Während Cluny zu ihm eilte, um das Teleskop in Empfang zu nehmen, beugten sich Yuste, Boris und Planchet über die Seitenwand des Schiffes, um sich ihr Ziel anzuschauen. Es war die einzige hohe Gesteinsformation in meilenweiter Entfernung; auf allen Seiten erstreckte sich das weiche, sich wiegende Gras der Puszta, so weit das Auge reichte. Als Cluny mit dem Fernglas zurückkam, bot er es Boris an, der es seinerseits an Yuste weiterreichte. Sie hob es vor die Augen und stellte es scharf. Der Berg sprang ihr ins Auge. Seine Wände bestanden aus glatten, riesigen Flächen eines dunklen, trüben Gesteins, das wie Kristall glänzte und das Licht reflektierte. Auf dieser Seite war keine Spur von einer Festung zu sehen, aber sie konnte einen kleinen, stahlblauen See und eine Ansammlung nahe gelegener Bäume ausmachen. Die Landschaft ähnelte in jeder Hinsicht dem Gemälde, das Cluny nach den Angaben aus Malchiks Traum angefertigt hatte. Sie gab Boris das Teleskop, und er richtete es auf den Berg, wie sie es auch getan hatte. »Das ist er, oder?«, fragte Cluny. Yuste fand es schwer, den Blick von ihrem Ziel abzuwenden. »Das muss er sein, Cluny«, sagte sie. »Aber ich kann keine Öffnungen oder Höhlen sehen, nicht einmal einen Absatz. Er sieht so glatt aus … wie Glas.« Boris ließ das Fernglas sinken und bot es Cluny an. »Wir werden auf der Spitze landen müssen«, sagte er. »Es gibt keine Möglichkeit,
ihn zu erklimmen. Auch wenn ich meine, wir sollten einen Blick auf die andere Seite werfen, bevor wir uns entscheiden.« Yuste knetete ihre Hände in den Handschuhen. »Meinst du, wir sollten ihn abtasten, Boris Andreyevich?«, fragte sie. »Das könnten wir … solange wir nicht die Bewohner auf den Plan rufen. Andererseits, wenn sie einen Wachposten aufgestellt haben, werden sie uns inzwischen sowieso schon gesehen haben.« »Es muss ein Granit-Batholit-Gestein sein«, sagte Cluny. »Aber ich kann nicht glauben, dass die Wände so glatt sind. Sie sehen aus, als ob sie durch Menschenhand geschliffen worden wären.« »Oder durch Magie«, sagte Boris erneut. »Er gefällt mir nicht«, sagte Yuste, als Planchet an der Reihe war, einen Blick auf den Berg zu werfen. »Ein Anstrich würde ihm gut tun. Etwas Erfreulicheres als dieses Grau«, sagte Boris. An seinem Humor konnte Yuste erkennen, dass er genauso nervös war wie sie. Cluny zog sein Schwert ein kleines Stück aus der Scheide und steckte es wieder zurück. »Auch wenn ich viele Jahre von dunkler Magie umgeben gelebt habe, bin ich nie einem Hexer begegnet«, sagte er. »Wir haben etwas in der Hinterhand«, sagte Boris. »Das Überraschungsmoment. Er wird wohl kaum einen Angriff aus der Luft erwarten. Ich denke, es ist an der Zeit, dass Yuste und ich den Berg abtasten, um zu sehen, woraus er denn nun besteht …« Die Spitze des Berges schien ein schwarzes Maul zu öffnen, und es verschluckte Semyon mit einem Bissen. Er traf weitaus sanfter auf dem Boden auf, als es zu erwarten gewesen wäre, und lag nach Luft schnappend auf dem Rücken. Über ihm schien die Decke der Kristallkammer tröstlich vertraut; er war genau durch das Luftloch in der Decke gefallen, durch das er den Himmel sehen konnte. Er konnte es kaum glauben, dass er einen solch gefährlichen Spruch gezaubert hatte, ohne sich selbst in Stücke zu zerlegen. Er schloss seine Augen und wartete auf den Schlag, wenn Sarl aufprallen wür-
de. Es wäre zu viel des Guten zu hoffen, dass die Magie Semyon nach Hause gebracht hätte, während sie seinen Herrn fortschickte. Er erlaubte sich einige weitere Augenblicke des Friedens und blieb reglos auf dem harten Boden liegen, während sich sein Körper an die neuen Umstände gewöhnte. Sarl kam nach kurzer Zeit. Semyon setzte sich auf und öffnete die Augen, enttäuscht, doch nicht erstaunt zu sehen, dass der Erbe in einem Stück gelandet war. Auch wenn er ganz still lag, wusste Semyon, dass es nicht lange dauern würde, bis er sich plötzlich und steif erheben würde, wie ein Leichnam aus seinem Grab. Semyon rappelte sich selbst auf, klopfte seinen Umhang ab und richtete seine Kappe, denn er war nicht bereit, seinen Vorteil aufzugeben, wie gering er auch sein mochte. Die Höhle sah noch genauso aus, wie sie sie verlassen hatten. Da waren die Stühle und die Tische mit den nicht geleerten Tellern, auf denen jetzt die Überreste des Essens schimmelten. Der Durchgang, der zu dem Spiegel führte. Die offene Tür in der Wand … Semyon fluchte und zog sich die Kopfbedeckung über die Augen. Die Höhle war leer, und die Gefangenen waren verschwunden. Sie mussten den Aufzug gefunden und ihn benutzt haben, um ins Innere des Berges zu entfliehen. Obwohl ›entfliehen‹ wohl nicht das richtige Wort war. Es war wahrscheinlicher, dass sie bereits tot, von den anderen Bergbewohnern niedergemetzelt worden waren. Ob das der Fall war oder nicht, er stand jedenfalls der ermüdenden Aufgabe gegenüber, sie zu finden. Außerdem musste er eine neue Energiequelle auftun und Huldis und den Schamanen retten. Semyon richtete seine Kappe wieder und wankte zu einem Stuhl. Er murmelte einen kleinen Zauberspruch, und die Teller waren blitzsauber. Frischer Wein perlte in den Kelchen, frische Früchte türmten sich auf der Schale in der Mitte des Tisches, und ein Becken und ein Krug mit warmem Wasser warteten darauf, benutzt zu werden. Er wusch sich das Gesicht und tupfte es mit einem sauberen Tuch trocken, das seine unsichtbaren Dienstboten bereithielten. Ihm fiel auf, dass sein ungestutzter Bart widerspenstig in alle Rich-
tungen gewachsen war. Als er seine Waschung beendet hatte, sah er, dass Sarl aufgestanden war und sich mit starrem Blick, ohne zu blinzeln, wie ein Adler in der Höhle umschaute. »Wo sind die Gefangenen?«, verlangte er zu wissen. »Weg«, sagte Semyon. Sarl kam herüber, um ihn über den Tisch hinweg anzufauchen. »Was meinst du mit ›weg‹, Magus?«, fragte er. »Willst du mir sagen, dass du nicht nur den Schamanen verloren hast, sondern auch seine Kinder?« Semyon griff nach einem großen, für die Jahreszeit viel zu grünen Apfel und biss laut hinein. »Ich habe sie alle verloren, Mon Seigneur«, sagte er. »Selbst wenn du mich jetzt abschlachtest und mein Herz herausschneidest, wird es dir nichts nützen. Innerhalb der nächsten hundert Meilen befinden sich keine lebenden Seelen.« Er fand es klug, nicht zu erwähnen, dass er auch gar nicht die Macht hatte, den Spruch zu wirken; es wäre besser, dieses Wissen in der Hinterhand zu behalten. Sarl machte einen Schritt zurück, als ob er geschlagen worden wäre. Semyon genoss den Ausdruck auf seinem Gesicht. »Es stimmt, Mon Seigneur«, sagte er. »Du wirst verfallen und wieder sterben. Dein Leben ist in meiner Hand. Ich frage mich, wie sich das anfühlt?« Sarl antwortete nicht. Er zog einen Stuhl heran und ließ sich darauf fallen, sein Gesicht von Semyon abgewandt, der einige weitere lautstarke Bissen vom Apfel nahm. Es war das beste Essen seit Tagen. »Du hast deine Befehle vom Staryetz«, sagte Sarl schließlich mit tonloser Stimme. »Wenn du ihm nicht gehorchst, wird er dich vernichten.« Krach! »Möglicherweise«, sagte Semyon. »Ich weiß nicht, was er vorhatte. Vielleicht wollte er, dass ich versage und dein Vater geschlagen wird. Alles, was ich weiß, ist, dass ich jetzt der Herr bin. Du kannst mich bedrohen, so viel du willst. Du brauchst meine Hilfe.«
»Wenn du meinst, ich würde dich anflehen, Magus, dann wirst du enttäuscht werden«, sagte Sarl. »Warum sollte ich wollen, dass du mich anflehst? Ich habe dich da, wo ich dich haben wollte. Und nun werden wir alles auf meine Art und in meiner Geschwindigkeit erledigen. Du kannst noch ein wenig länger verrotten. Im Moment betrifft es nur deine Hand, aber was, wenn es sich auf deinem Gesicht ausbreitet?« Der Apfel war ein abgenagtes Gehäuse geworden. Semyon legte es auf den Tisch, nahm den Weinkelch und trank. Er wusste, dass er nicht zu lange sticheln durfte. Es war gut möglich, dass der Erbe ihn kurzerhand töten würde, auch wenn er seine einzige Hoffnung auf Rückkehr ins Leben war. »Was hast du vor?«, fragte Sarl mit heiserer Stimme. Semyon benetzte seine Lippen mit dem kräftigen Wein. »Zunächst werde ich einen Blick auf den Spiegel werfen, um zu sehen, ob ich herausfinden kann, was mit unseren Gefangenen geschehen ist. Du kannst tun, was dir beliebt. Essen, trinken – fröhlich sein!« Er unterdrückte ein Lachen. »Was mich betrifft, ist es mein Hauptanliegen, Huldis und den kleinen Schamanen zu finden. Ich sorge mich fast schon um sie, Mon Seigneur, während ich mich kaum mehr um dich sorge.« Er stand auf und stellte den leeren Kelch auf dem Tisch ab. Er fühlte sich gut, fast heiter, zum ersten Mal seit Tagen. Er wollte Huldis retten, wenn es ihm möglich wäre. Was den Schamanen betraf, würde es Semyon nicht allzu viel ausmachen, wenn ihm die Flucht gelungen wäre. Sie konnten nach anderen, geeigneteren Opfern suchen, wenn sie sie brauchten. Er ließ Sarl reglos und mit abgewandtem Blick am Tisch sitzen und eilte den Gang hinunter, der in die Kammer führte, wo der Spiegel stand. Spiegel waren nicht notwendigerweise magisch, doch Semyon wusste, wie man sie für eine Reihe von magischen Zwecken nutzbar machte, nicht nur fürs Reisen. Er stand vor dem hohen Glas seinem eigenen ungeliebten Spiegelbild gegenüber. Sein Bart war zerzaust, sein Gesicht vom Wein und ungewollten Gefühlen gerötet.
Er legte den Umhang ab und seine Kappe, dann stand er mit unbedecktem Kopf und in Hemdsärmeln vor dem Spiegel. Die Gestalt, die ihm nun entgegenblickte, war viel angenehmer: ein Mann mit einem fahlen Gesicht und einem dichten, braunen Haarschopf. Er krempelte die Ärmel hoch und begann, den Spiegel zu beschwören. Er wollte, dass er ihm seine Gefangenen zeigte. Er entschied sich, das Augenmerk auf Huldis zu richten, und nannte dem Glas beinahe liebevoll ihren Namen. »Zeige mir Huldis.« Die Oberfläche des Glases trübte sich, als die gewöhnliche Reflexion verschwand. Semyon sah zu, wie sich sein Spiegelbild auflöste. Er hockte sich hin und starrte aus so großer Nähe, wie er es wagte, auf die Oberfläche. Der Spiegel schien zu suchen; er zeigte verschiedene Bilder, die aber zu stark flackerten, als dass er etwas hätte erkennen können. Dann endlich zeigte er ihm das Gesicht von Huldis. Sie sah noch genauso aus wie beim letzten Mal, als er sie gesehen hatte; ihr unbedecktes blondes Haar war wild und zerzaust, und ihre Augen, ihre Nase und ihr Mund waren vom Weinen gerötet. Ohne zu merken, was er tat, streckte Semyon die Hand aus, um ihr Gesicht zu berühren, und die Oberfläche des Spiegels zitterte wie Wasser. Rasch zog er die Hand wieder zurück, der Spiegel glättete sich und zeigte ihm, wo sich Huldis befand. Semyon ließ sich auf den Steinboden fallen. Einige Augenblicke lang starrte er das Bild an, das sich ihm im Spiegel bot, und ließ die Bedeutung des Gesehenen sacken. Dann rappelte er sich wieder auf und schrie: »Mon Seigneur! Komm und sieh dir das an!« Es gab eine Pause, bevor Sarls schwerer Schritt auf dem Gang zu hören war. Semyon drehte sich zu der Szene im Spiegel um und versuchte zu verstehen, wie das hatte geschehen können. Der Spiegel zeigte ihm das Prisma, als ob es ihm etwas sagen wollte. Er hörte, wie Sarl kurz hinter ihm stehen blieb. »Was ist, Magus?« »Ich habe die Gefangenen gefunden. Alle«, sagte Semyon. Sarl beugte sich vor, um das kleine Bild auf der Oberfläche des Glases
zu erkennen, und schrie dann auf. »Was sind das für … Dinger?« »Dies, Mon Seigneur, ist das Volk. Es hat den Anschein, als ob sie in den Berg befördert worden sind.« Sarl hockte sich fasziniert neben ihn. »Sie sind alle hier«, sagte er. »In der Tat alle, Mon Seigneur«, sagte Semyon. »Sie sind hier, und wir sind hier.« »Dann müssen wir sie hierher bringen«, sagte Sarl hungrig. Semyon schauderte. »Willst du mir sagen, Mon Seigneur, ich soll mindestens zwei mächtige und zornige Schamanen hierher bringen?« »Vasilyevich sieht in dieser Verfassung nicht wie eine großartige Bedrohung aus. Und hast du Angst vor ihm, Magus?« Semyon stand auf. Er durfte nicht seinen Vorteil verlieren. »Nun gut«, sagte er. »Ich werde einen Spruch zaubern, der sie hierher bringt. Dann werden wir weitersehen.« Ohne auf Sarl zu warten, eilte er zurück in die Kristallkammer; seine abgelegten Kleidungsstücke ließ er über den Boden verstreut zurück. Er war ein solcher Narr gewesen! Es spielte keine Rolle mehr, ob er seine ehemaligen Gefangenen herbeibeschwor oder ob sie aus freien Stücken kamen. Nun würde Sarl von ihm erwarten, dass er einen solchen Spruch zauberte, obwohl ihm die Macht fehlte, die ihn wirken lassen würde. Er musste sich rasch etwas einfallen lassen. Um den Erben in die Irre zu führen, würde er einen langen Weg der Täuschung zurücklegen müssen; er wollte nicht daran denken, wie weit, auch wenn es bedeutete, dass er seine eigene Haut rettete. Er drehte sich um und grinste Sarl an, wobei er hoffte, dass sein Gesicht den Aufruhr in seinen Gedanken nicht verriet. »Wir werden es bald geschafft haben«, sagte er. »Im Moment muss ich lediglich ein Herz und zwei Seelen ernten.« Ein Rascheln wie aufwirbelnde, abgestorbene Blätter erfüllte die Dunkelheit der Halle im Fuße des Berges, als die über den Stein-
fußboden verstreuten Körper des Volkes aus ihrem tödlichen Schlummer erwachten. Der Boden schien lebendig zu werden, als sie sich einzeln und zu zweit aufsetzten, sich streckten oder sich umdrehten wie Schläfer, die sich nicht von ihren Träumen lösen wollen. Annat hielt sich das Prisma vors Gesicht. Mit ihrem unversehrten Auge sah sie einen Klumpen farblosen Kristalls, klar und makellos, doch mit ihrem veränderten Auge… Sie ließ die Hand sinken und richtete ihren Blick auf die Königin, die aufrecht auf Derzus Knien saß, ihr Gesicht in den Händen vergraben. Annat machte einen Schritt und kniete sich mit dem erhobenen Stein neben den alten Schamanen. Als die Königin ihre Hände sinken ließ, war das Erste, was sie sah, dass der Stein im Licht wie poliertes Glas glänzte. Sie streckte die Arme aus, und Annat legte ihr das Prisma auf die Handflächen, wobei sie sich fragte, ob auch die Königin seine vielen verborgenen Gestalten sehen konnte. Sie beobachtete die Königin, wie sie in die Tiefen des Steines starrte und in ihm wie in einem Buch las. Endlich blickte die kleine Frau zu ihr auf. Das Gesicht der Königin war weder alt noch jung; makellos wirkte es, weiß und verletzlich, sodass die Blutgefäße wie Linien im Marmor hindurchschienen. »Bring mich zu ihm, Kind«, sagte die Königin. Annat lächelte. Ihr verwundetes Auge pochte noch immer von Zeit zu Zeit, doch sie wusste, dass die Umwandlung beinahe vollendet war. Sie hatte aufgehört, die Frau, die sie versehrt hatte, zu hassen. Sie umfasste die Königin an der Taille, hob sie langsam und stellte sie auf die Beine. Die Frau war nicht schwerer als eine Porzellanpuppe, und Annat fragte sich unwillkürlich, ob sie Röhrenknochen wie ein Vogel hatte. Sie drehte die kleine Gestalt und hielt sie so, dass die Königin Yuda von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. Er sah müde aus, doch Annat konnte sehen, dass er sich bereits wieder zu erholen begann. Er streckte seine Hand aus, als ob er die kleine Königin berühren wollte, zog sie dann jedoch wieder zurück. »Ich bin froh zu sehen, dass Eure Majestät ihre Gesundheit wie-
der zurückerlangt hat«, sagte er. »Schamane, wir stehen in deiner Schuld«, sagte die Königin. »Wie können wir es vergelten, dass du dem Prisma, unserer einzigen Hoffnung, Leben eingehaucht hast?« Yuda blickte zu ihr hinab und lächelte: »Der Stein hat mich belohnt«, sagte er. »Er hat mir die Schmerzen genommen und mir meine Stärke zurückgegeben, auch wenn er meine Glieder nicht richten konnte. Aber ich habe den Stein nur von der Macht zehren lassen, die mich durchfließt – Macht, die viel größer ist als ich und die mein Verständnis übersteigt.« »Mein König sah diese Macht, und dies war der Grund dafür, dass er dich so grausam anging«, sagte die Königin. »Es tut mir Leid, vor allem, weil es schien, dass wir nichts anderes taten als dich zu verletzen. Doch wir verstümmeln deine Art nur, um sie weise zu machen.« Yuda sah sie unter seinen dunklen Augenbrauen hervor an. »Manche Dinge heilen nicht so einfach, Majestät«, sagte er. »Ich meine nicht das, was mir angetan wurde. Du hast das Mädchen Huldis gesehen. Sie haben sie nicht angerührt; sie haben sie nur zum Zuschauen gezwungen… Das ist ebenso grausam wie alles andere, was Sterbliche zu tun im Stande sind. Ich habe den Stein für dich geheilt, weil du uns mit Mitleid angesehen hast, und nicht, als ob wir seltsame, empfindungslose Tiere wären. Das ist es, was schmerzt, nicht Dornen und Speere …« Die Königin streckte ihre Arme aus und hielt das Prisma in die Höhe. »Nimm ihn«, sagte sie. »Nimm den Stein. Bewahre ihn für mich auf. Wir werden zu unserem Planeten zurückkehren, in unsere Welt, und dieser Stein wird bei euch bleiben. Nur du kannst ihn vor dem Magus schützen und vor anderen wie ihm.« Yuda nahm den Kristall von ihr entgegen und streckte ihn empor. »Der Magus muss mich töten«, sagte er. »Es wird womöglich seinen eigenen Wünschen entgegenstehen, aber dafür ist er angeheuert worden. Und was wird dann aus dem Stein werden?« »Der Magus mag in Gesteinskunde bewandert sein, doch er kennt
nicht ihr Herz«, sagte die Königin. »Der Stein ist ein Teil von dir, und du bist in ihm. Der Magus würde einen Stein von geringem Wert nicht schätzen – denn was ist er anderes als ein Quarzklumpen, ein gewöhnlicher Stein, im Gegensatz zu den Edelsteinen, die wir abbauen?« Yuda schloss die Hand um das Prisma. »Ich werde ihn aufbewahren, Majestät, und ihn für dich beschützen«, sagte er. »Auch wenn ich nicht zu viel nütze bin, wenn ich mich nicht auf meinen Sohn stützen kann. Der Magus und sein Herr werden in uns eine leichte Beute finden.« »Mach dich nicht über mich lustig, Schamane«, sagte die Königin. »Deine Glieder mögen zerschlagen sein, doch der Stein hat deine Macht kaum angerührt. Ohne unsere Netze, die dich binden, bist du eine Kreatur, vor der man sich in Acht nehmen muss. Meine Augen können die Fäden sehen, die dich zusammenweben, dich, deine Kinder und das Mädchen, das du Huldis nennst. Geh zum Magus und sage ihm, dass ich dich gesandt habe. Lass ihn darüber nachdenken. Auch er hat große Macht, doch er ist nicht weise. Wenn wir fort sind, wird dich der Stein zu ihm bringen.« »Wir haben keine andere Möglichkeit zu reisen«, sagte Yuda. »Habt Dank, Majestät, für dieses seltsame Geschenk.« Die Königin neigte den Kopf zu einem hoheitsvollen Nicken. Sie bedeutete Annat, sie abzusetzen, und schritt zum Rand des Podestes, um sich an ihr Volk zu wenden. Der König trat vor, um ihre Hand zu nehmen. Als sie zu sprechen begann, erhob sich Huldis langsam. Ihr Haar war wild verknotet und zerzaust, und ihre Augenlider und ihre Nase waren vom Weinen gerötet. Sie gesellte sich zu ihnen, doch sie blickte Annat und Malchik kaum an; ihre Augen glänzten, als sie zu Yuda kam. Als sie einander ansahen, bemerkte Annat mit einem kurzen Schrecken, dass sie sendeten – und sie konnte nicht hören, was sie sagten! Dann sprach Yuda laut. »Nein, nein«, sagte er. »Wir wollen fliehen – doch wir müssen Sarl aufhalten. Wenn der Magus eine Möglichkeit findet, ihn wiederherzustellen, dann wird er zurückkehren, um Masalyar einzunehmen –
und zu herrschen. Er wird hier nicht Halt machen. Der Doyen mag ein strenger Herrscher sein, aber dein Bruder …« Er brach ab, hob die Schultern und zuckte zusammen. »Ich habe es der Botschafterin versprochen«, sagte er. »Ich will, dass das ein Ende hat. Die Stadt mag die Armee des Doyen aufhalten, aber wenn Sarl kommt, werden sie unterworfen werden. Es tut mir Leid, Missis.« »Es gibt nur einen Weg hinaus, und der führt durch die Kristallkammer«, sagte Derzu. Annat wandte ihren Blick dem Volk zu. Gefangen zwischen den einfallenden Lichtstrahlen und den Schatten, schien es ätherischer als je zuvor. Fast wünschte sie, sie würden bleiben. Ihre kleinen Leben hatten ihr eigenes gekreuzt und es für immer verändert. Sie hielt nach dem Prisma Ausschau und sah es in Yudas Faust glühen. Es war ein Stein, doch auch etwas Lebendiges, das von Blut gezehrt hatte; und es war ein winziges Uhrwerk, das von einer immer währenden Feder angetrieben wurde. Und nun, während sie zusah, schickte es das Volk nach Hause. Die Umrisse der Zwerge wurden silbrig und verschwommen; dann, mit einem Zucken von Licht, verschwanden sie, und das Sonnenlicht aus den Schächten in den Wänden fiel auf Leere. Yuda hielt den Kristall in die Höhe. »Sie sind fort, und es ist auch für uns Zeit zu gehen«, sagte er. »Kommst du mit uns, Derzu?« Der alte Schamane schüttelte den Kopf. »Ich werde hier bleiben«, sagte er. »Der Stein meines Gefängnisses ist mir unter die Haut gewachsen. Aber ich kann noch immer reisen, wenn ich es möchte.« »Ich würde gerne bleiben und mich lange mit dir unterhalten«, sagte Yuda. Er schüttelte den Kopf. »Aber es gibt Dinge, um die ich mich kümmern muss. Unerledigte Dinge.« Er blickte von Annat zu Huldis und wieder zurück. »Ich denke, wir werden alle gehen«, sagte er. Dann hielt er den Stein in die Höhe, und Licht entströmte ihm, das sie alle in Strahlen hüllte. Annat hielt den Atem an; sie wusste, dass sie nur zu bald emporgewirbelt werden und in der Gegenwart des Magus landen würden – und bei Sarl.
Kapitel 19
D
as Luftschiff schwebte über dem Gipfel wie ein Floß, das auf der Oberfläche eines Teiches tanzte. Boris und Yuste hatten den Berg abgetastet, doch sie hatten wenig mehr herausgefunden als die Tatsache, dass der Berg hohl und bewohnt war. Während Ignatius sein Schiff ruhig hielt, lehnten sich die vier über den Rand. Sie befanden sich ungefähr hundert Meter oberhalb der Bergspitze, und sie konnten etwas erkennen, das wie ein Loch oder ein kleiner Krater in der Oberfläche aussah. Sie hatten keinen anderen Plan, als hinabzuklettern und den Berg aus der Nähe zu untersuchen, um zu sehen, ob sie einen Eingang oder einen Schwachpunkt ausfindig machen könnten. Boris bestand darauf, dass er als Erster den Abstieg wagte; so sah Yuste zu, wie die anderen ein Seil über den Rand hängten und er hinunterkletterte. Auch wenn sich Ignatius bemühte, das Schiff still zu halten, schwankte und tanzte es im Wind, und das Seil schwang hin und her und drehte sich, sodass es Augenblicke gab, in denen Boris nicht über dem schmalen Plateau baumelte, sondern über dem Hunderte von Metern abfallenden Abgrund. Yuste bemerkte erst, dass sie den Atem angehalten hatte, als sie sah, wie er seine Füße auf dem trüben, glänzenden Stein absetzte. Sie seufzte, und Cluny legte ihr beruhigend eine Hand auf den Arm. »Ich muss als Nächste gehen«, sagte sie. »Bist du sicher?« Statt einer Antwort zog Yuste den Rock aus, den Beatrice ihr geliehen hatte. Dies war nicht der richtige Augenblick, um sich über züchtiges Verhalten Gedanken zu machen; immerhin trug sie ein Paar robuste Unterhosen aus Baumwolle. Sie raffte ihren Unterrock zusammen und kletterte über die Seitenwand der Gondel. Unter ihr schien der Abgrund zu klaffen, doch sie beachtete ihn nicht und griff stattdessen entschlossen nach dem Seil. Es gab einen Moment, in dem sie mitten in der Luft hing und sich nur mit den Händen
festklammerte, während sie versuchte, das Tau zwischen ihren weichen Schuhen einzufangen. Nachdem sie es jedoch erst einmal eingefangen hatte und eine Hand nach der anderen weiter nach unten setzte, um abzusteigen, ließ sie ihren Blick auf den besorgten Gesichtern der Männer über ihr ruhen und sah nicht hinab zu Boris, der das Ende des Seils verankerte. Schließlich umfassten seine Hände ihre Taille und hoben sie den letzten Meter hinab. Außer Atem wandte Yuste ihm das Gesicht zu. Haarsträhnen hatten sich aus ihrem Knoten gelöst, und sie strich sie sich aus dem Gesicht. Sie hatte erwartet, dass der Stein unter ihren Füßen rutschig sein würde, doch die kristalline Oberfläche war rau und körnig. »Da wären wir«, sagte Boris und hielt sie länger umfasst, als nötig gewesen wäre. Yuste lächelte. Sie hätte gerne den Kopf gehoben, um ihn auf den Mund zu küssen, doch stattdessen lächelten sie sich an. Während Boris das Seil ruhig hielt, damit auch Cluny und Planchet hinabsteigen konnten, suchte sich Yuste einen Weg über die seltsame, zerklüftete Oberfläche des Gipfels, bis sie den Krater entdeckte, den sie von oben gesehen hatten. Sie kauerte sich neben ihm auf den Boden und sah sofort, dass es sich um einen Luftschacht handelte, der in den Felsen gehauen worden war und durch den sie in die darunter liegende Kammer schauen konnte. Sie achtete darauf, dass ihr Gesicht nicht das Licht abschirmte, und legte sich auf den Bauch, sodass sie durch die Öffnung spähen konnte. Sie konnte nicht viel ausmachen, denn ihre Augen mussten sich erst an das dämmrige Licht der Höhle gewöhnen. Nach und nach erkannte sie eine Tischkante und einige Stühle – und dann lief jemand in ihren Sichtbereich. Yuste schrak zurück, denn sie hatte einen Blick auf einen braunen Haarschopf erhascht. Die anderen kamen dazu und hockten sich neben sie; auch sie waren sorgfältig darauf bedacht, dass nicht die Sonne ihren Schatten über die Öffnung warf. »Was hast du gesehen?«, flüsterte Cluny.
»Da unten ist jemand. Ich glaube, es war ein Mann.« Einer nach dem anderen taten sie es Yuste nach und streckten sich auf dem Boden aus, um durch das Loch zu lugen. Es war Boris, dem ein leiser Ausruf entfuhr, als er an der Reihe war, sich hinzuknien. »Was ist los?« Yuste formte die Worte mit dem Mund. »Wir brauchen keinen Spion. Die Decke ist durchsichtig.« Die vier erhoben sich und starrten auf den grauen Kristall unter ihren Füßen. Es war, als stünden sie auf einer Eisscholle und könnten das dunkle Wasser darunter betrachten. Sie erkannten nach und nach die Umrisse in dem Raum unter ihnen: die zwei Männer, einer groß und mit hellem Haar, der andere untersetzt und dunkel, die Tische, Stühle und Kisten, die alle verschwommen zu sehen waren, als schaue man durch eine dichte Nebelbank. »Zur Hölle«, sagte Boris. »Das ist Sarl. Mein Bruder«, sagte Cluny. Planchet nickte. »Aber sie werden uns doch sicher ebenfalls sehen?«, fragte Yuste. »Nicht, wenn sie nicht nach oben blicken«, erwiderte Boris. Er grinste sie an. »Vielleicht funktioniert es nur in eine Richtung. Wie bei einem unechten Spiegel.« »Wir könnten durch das Loch eindringen …«, schlug Cluny vor. »Sie würden uns einen nach dem anderen abpflücken«, sagte Boris. Er bückte sich und berührte den Stein. »Das Zeug kann so dick nicht sein. Ich schätze, wir könnten uns den Weg freipusten. Was meinst du, Yuste?« Sie verschränkte die Arme. »Ich bin sicher, dass du Recht hast, Boris Andreyevich. Aber Sarl und der Magus sind allein. Keine Spur von unseren Leuten.« »Das ist gut. Wenn wir jetzt handeln, können wir Sarl oder den Magus töten, bevor sie das Ritual begehen können. Sie brauchen unsere Leute dafür.« Yuste sah zu Cluny und Planchet. »Könntet ihr das? Wenn es bedeuten würde, Sarl zu töten?« »Ich bin gekommen, um Annat zu retten«, sagte Cluny. Er zöger-
te. »Ich würde Sarl töten, wenn es der einzige Weg wäre, sie zu retten. Aber …« »Aber was?« Boris stand auf und streckte seine Schultern in seinem Mantel. »Das ist kein guter Zeitpunkt, um deine Meinung zu ändern. Halte diesen Sarl auf, und wir beenden die Macht von Ademar. Die Pläne des Doyen werden in sich zusammenfallen. Wenn wir unsere Freunde retten und uns die Flucht gelingt, was wird dann geschehen? Der Magus wird andere Opfer finden, um Sarl unsterblich zu machen. Dann wird dieser sich deinem Pa anschließen und sich wieder dem Geschäftlichen zuwenden. Masalyar ist nur der Anfang, denk daran.« »Er ist mein Bruder«, sagte Cluny. Yuste sah Planchet an. Das Gesicht des alten Soldaten war wie versteinert. »Ich bin mein ganzes Leben lang ein treuer Diener von Ademar gewesen«, sagte er. »Aber ich habe mich dafür entschieden, Seigneur Cluny zu dienen. Seine Wege sind auch meine Wege. Ich werde tun, was er befiehlt.« Boris bedeckte sein Gesicht mit den Händen. »Heilige Mutter. Ich kann das nicht glauben. Wir sind den ganzen Weg hierher gekommen, wir könnten ihn zur Strecke bringen, und stattdessen streiten wir uns über Feinheiten. Feinheiten? Wenn wir sie nicht töten, werden Yuste und ich kein Zuhause mehr haben, in das wir zurückkehren können. Es wird keinen sicheren Ort mehr geben, wohin wir gehen können. Nirgendwo.« Yuste hörte seine letzten Worte nicht. Sie hatte sich auf Hände und Knie fallen lassen; sie hätte ebenso gut auch gestürzt sein können. Durch das trübe Glas der Decke hatte sie eine Bewegung gesehen, das Flackern eines Schattens. Sarl und der Magus waren nicht mehr allein in der Höhle … In der Kristallkammer im Gipfel des Berges war alles vorbereitet. Auf einem Dreifuß stand eine Metallschale, die mit glühender Kohle ge-
füllt und dazu gedacht war, das, was auf ihr lag, zu Asche zu verbrennen. Auf einer purpurnen Samtdecke waren die Instrumente der Opferung und der Schlachtung ausgebreitet: ein aus Obsidian gefertigtes Messer, ein Zinnkrug mit Wein, eine Dose mit vermischten Pulvern und zwei langstielige Haken. Ganz in der Nähe saß Semyon an einem Tisch und schrieb auf einem Stück Pergament. Er tat alles, was notwendig war, um den Zauber zu sprechen; was er noch nicht wusste, war, wie weit er diese Scharade treiben musste und was er tun konnte, um sich vor Sarls Zorn zu schützen, wenn der Erbe entdeckte, dass er an der Nase herumgeführt worden war. »Was war das?«, fragte Sarl und sprang auf die Füße; er schien nervös und schrak bei dem kleinsten Geräusch und bei jeder Bewegung zusammen. Semyon war erbost, dass seine Konzentration unterbrochen worden war, löste sich von seinen Gedanken und sah eine Eule, die durch die Kammer flog, um sich auf der Lehne eines unbesetzten Stuhls niederzulassen, von wo aus sie ihn aus ihren runden Augen anstarrte. »Sieht mir wie eine Eule aus«, sagte er. Er schrieb die Formel für den Spruch auf, mit dem er vorgehabt hatte, aus Sarl einen lebendigen – und vielleicht unsterblichen – Mann zu machen. Mit der Feder strich er einen Fehler aus. Es machte ihn sogar nervös, nur die Worte niederzuschreiben, die die Beschwörungsformel bildeten, und er versuchte, Runen und Abkürzungen zu verwenden, um die Bedeutung zu verschleiern. Fast fürchtete er, dass, wenn er den Spruch vollständig notierte, dieser zum Leben erwachen würde, trotz der Tatsache, dass er gar nicht die Macht hatte, ihn zu zaubern. Auch ohne seine Pelzrobe und die Kappe schwitzte er, obgleich die Luft in der Höhle kühl war. Er hörte, wie Sarl einen Luftzug tat, und die Stille in der Höhle änderte sich unterschwellig, als ob das Echo ein anderes geworden wäre. Semyon legte die Feder nieder und fragte sich, ob der bloße Schreibvorgang irgendetwas Entsetzliches aus einer der tausend Welten heraufbeschworen hatte. Er hob den Blick von seinem Blatt, sprang auf und riss dabei seinen Stuhl um.
»Tschernobog«, schrie er, außerstande, seine Überraschung zu verbergen. Obgleich er sie nicht beschworen hatte, waren sie trotzdem zu ihm gekommen: das kleine, dunkeläugige Mädchen – doch eines ihrer Augen war verschwunden, und an seiner Stelle schien sich eine Farbspirale zu befinden, die sich unablässig veränderte; der große, dünne Mann, welcher ihn mit einem finsteren Blick bedachte, der Semyon an die in der Nähe hockende Eule erinnerte; und auf ihn gestützt der kleine Schamane, dessen Gesicht weiß wie das Pergament und seine Kleidung zerrissen und mit Blutflecken übersät war. Seine schwarzen Augen beobachteten Semyon, und der Magus konnte seine Macht beinahe wie brennenden Teer riechen. Neben ihm stand Huldis, groß und birkenschlank in ihrem grünen Kleid; doch ihr Haar war zerzaust und der grüne Stoff von hässlichen Flecken verunstaltet. Sarl trat nach vorne. »Huldis«, sagte er. »Wie geht es dir?« Semyon fuhr mit den Fingern durch seine Haare, sodass sie in alle Richtungen abstanden. Wenn er nun sendete, wo Sarl so nahe war, könnte der Erbe seine Gedanken auffangen. Er musste die Täuschung noch weiter aufrechterhalten, doch ebenso musste er wissen, was sie dachten – vor allem Huldis und der kleine Mann. Wenn sie gekommen waren, um ihm gegenüberzutreten, würde er vielleicht seine eigene Macht gegen sie benutzen müssen – und war er nicht ein dreifachmächtiger Schamane? Doch er war sich nicht sicher, ob es das war, was er wollte. Wie auch immer er sich entschied, Sarl musste weiterhin glauben, dass der Spruch wie geplant voranschritt. Huldis sah ihren Bruder auf seltsame Weise an, als ob sie keine Ahnung hätte, wer er sei. Es war, als ob die zurückliegenden Geschehnisse, seit sie ihn verlassen hatte, ihr Gedächtnis gelöscht hätten. Sie zupfte an einer Locke ihres blonden Haars. »Zhan Sarl«, sagte sie. »Es ist so … seltsam, dich zu sehen.« Sarl kam näher, ohne die anderen zu beachten. »Du bist nicht länger eine Gefangene«, sagte er. »Wenn dies vorbei ist, werden wir sofort nach Ademar zurückkehren.«
Huldis schaute ihn lange an. »Wenn dies vorüber ist«, wiederholte sie. Sie schlug die Augen nieder. »Ich wünschte, ich könnte tun, was du willst, Zhan. Es tut mir Leid, dich zu enttäuschen. Doch mein Platz ist nun nicht mehr an deiner Seite. Er ist hier, wo ich jetzt stehe.« Sie legte ihre Hand auf Yudas Schulter. »Dies sind meine Freunde. Und wenn du meine Freunde töten willst, musst du auch mich töten.« Semyon starrte mit fasziniertem Entsetzen in Sarls Gesicht. Er konnte keine Gefühlsregung sehen, doch im Inneren, unter der Oberfläche, tobte völlige Verwirrung. »Huldis«, sagte der Erbe. »Ich verstehe dich nicht. Das sind nicht deine Freunde, das sind unsere Feinde. Sie müssen sterben, damit ich ein neues Leben bekomme.« »Dann bin ich zum Feind übergelaufen«, sagte Huldis. »Wenn das der Preis für dein Leben ist, dann bist du derjenige, der sterben muss. Ich habe dich beobachtet, Zhan Sarl, und gesehen, was du bist. Auch wenn du mein Bruder bist, kann ich nicht dabei helfen, diesen Spruch zu vollenden. Ich möchte dich nicht als Herrscher über Neustria sehen, unsterblich – und ein Monster. Ich stehe tief in der Schuld dieser Menschen. Sollte ich es ihnen vergelten, indem ich dabeistehe, während sie niedergemetzelt werden?« Semyon musste sich zwingen, nicht jauchzend vor Freude die Arme in die Luft zu reißen. Er war froh, dass Sarls Aufmerksamkeit auf seine Schwester gerichtet war. Doch der kleine Schamane war aufmerksamer; er fing seinen Blick auf, und Semyon fragte sich, ob er – einen Augenblick lang – Verständnis im Gesicht des anderen Mannes aufblitzen sah. Er traute sich nicht, Gedanken zu senden, die dessen Vermutung bestätigten; stattdessen tat er einen Schritt voran und legte seine Hand auf Sarls Ärmel. »Lass es gut sein, Mon Seigneur«, sagte er. »Deine Schwester ist nicht sie selbst. Sie wird sicher wieder zur Vernunft kommen, wenn das alles hier vorüber ist. Es wird Zeit, mit dem Spruch zu beginnen.« »Hast du sie in deiner Gewalt?«, fragte Sarl. Er sah noch immer
Huldis an. Semyon fragte sich, was geschehen würde, wenn er »Ja« sagte. Einige oder sogar alle würden ihm lautstark widersprechen. Sie waren aus eigenem Antrieb hierher gekommen, und er wusste nicht, wie er sie dazu bewegen sollte, sich auch nur den Ansätzen seines Rituals zu beugen. Doch wenn er Sarl die Wahrheit sagte, würde der Erbe begreifen, dass Semyon sie nicht herbeibeschworen hatte, und sich vielleicht fragen, ob er überhaupt die Macht hatte, den Spruch zu vollenden. Und wieder merkte er, dass er Vasilyevich anblickte, und er glaubte zu sehen, wie der Mann leicht und kaum merklich nickte. »Mon Seigneur«, sagte er. »Dies ist ein gefährlicher Spruch. Bevor ich beginne – bevor ich auch nur an den Anfang denken kann –, muss ich sichergehen, dass du gut geschützt bist.« Sarl drehte den Kopf. Seine Augen sahen trocken und grausam in ihren Höhlen aus. »Ich will zuerst zusehen, wie sie sterben«, sagte er. »Um zu wissen, dass es vorbei ist.« Semyon überprüfte seine eigene Macht, so, wie ein Mann seine Hoden berühren würde, wenn er auf Glück hoffte. Wenn Sarl darauf bestand, dass er die Gefangenen tötete, musste er zunächst gegen sie kämpfen. »Das Herz und die Seelen müssen an einem bestimmten Punkt des Rituals genommen werden, oder das Ganze wäre vergebens«, sagte er. »Aber du wirst alles sehen, was geschieht.« Der Junge sprach und sagte das, was Semyon zu hören befürchtet hatte. »Wenn du unsere Seelen willst, Magus, wirst du sie dir holen müssen. Mal sehen, ob dir das gelingt.« »Was hat das zu bedeuten?«, fragte Sarl. »Du hast sie hierher beschworen. Du hast mir gesagt, du hättest sie in deiner Gewalt.« Auch wenn Semyon nichts dergleichen gesagt hatte, nahm er an, dass Sarl gehört hatte, was er hören wollte. Er zog Sarl von den anderen fort und murmelte: »Ich war sehr vorsichtig, Mon Seigneur. Sie wissen nicht, dass sie mit Magie gebunden sind. Aber sie werden es erfahren, wenn sie versuchen sollten, Widerstand zu leisten.«
Während er sprach, fragte er sich, ob er tatsächlich gesehen hatte, wie Vasilyevich ihm zunickte. Wenn der kleine Mann verstanden hatte – und er war scharfsinnig genug –, dann könnte er in der Lage sein, seine Gedanken an Huldis und das Mädchen weiterzugeben. Doch nicht an den Jungen, der kaum ein Schamane war. Der Junge würde nicht wissen, was die anderen untereinander sendeten. Semyon wünschte, er könnte sie ansehen, doch er traute sich nicht, den Kopf zu bewegen. »Mon Seigneur«, sagte er. »Ich bin bereit zu beginnen. Du musst mitkommen und dich an die Stelle begeben, die ich dir zuweise.« Und Sarl gehorchte. Semyon ließ ihn sich in die Mitte des Zimmers stellen, ein wenig entfernt von dem Lichtkreis, der durch das Luftloch in die Kammer fiel. Hier im Schatten zeichnete er einen Kreidekreis um den Erben von Ademar. Dies wäre für heute genug Magie. Er konnte mit seinem inneren Auge sehen, wie die blassen, blauen Flammen an der Innenseite des Kreises aufflackerten. Er murmelte einige Worte, und der Kreis war geschlossen. Sarl stand mit verschränkten Armen in der Mitte. »Mon Seigneur, hör mir zu. Zu keiner Zeit darfst du den Kreidekreis verlassen. Was auch immer geschieht, was auch immer du hörst oder siehst. Wenn du versuchst, über den Rand zu treten, wird dein neues Leben in Gefahr sein, und du könntest vollständig verzehrt werden.« »Ich habe verstanden, Magus. Ich muss in dem Kreis bleiben.« Semyon drehte sich um und nahm das Messer aus Obsidian auf. Er konnte nicht sicher sein, dass Sarl nicht aus dem Kreis ausbrechen würde, trotz der Magie, die Semyon eingewoben hatte, um ihn dort zu halten. Wenn Sarl auf Rache sann, würde er sich nicht darum kümmern, wie sehr ihn die blauen Flammen versengten; ohne Zweifel hatte er nur wenig Empfindungsvermögen in seinen sterbenden Gliedern. Semyon testete die Spitze des gläsernen Messers an seinem Finger und sah, wie es Blut zog. Es war so scharf, dass er keinen Schmerz
verspürte, als die karmesinrote Perle auf seiner Fingerspitze erschien. Sein Blick wanderte von Sarl und dem Messer zu der Gruppe am Ende der Höhle. Die Zeit der Illusion war vorüber; was er jetzt brauchte, war wirkliche Magie. Er musste von seinen ihm innewohnenden Mächten zehren, denn das war alles, was ihm noch geblieben war. Sarls Hass auf Vasilyevich hatte ihm den Hinweis darauf gegeben, was nun nötig war. Hass und Angst. Etwas band die beiden Männer aneinander, als könnte keiner von beiden Ruhe finden, solange der andere am Leben war. Semyon machte einen tiefen, zitternden Atemzug. Er sah Sarl an und fühlte Kälte unter der Haut. Er wirbelte herum und hob die Glasklinge hoch in die Luft, dann richtete er sie mitten zwischen die Schamanen. Er konnte spüren, wie sein Arm zitterte, und hoffte, dass das Beben nicht zu offensichtlich war. Er sah, wie sich die Augen des Jungen vor Angst und Entsetzen weiteten; die Pupillen waren groß und leer. Doch die Mädchen beobachteten ihn eindringlich, auch wenn sie ihre Arme um Yuda schlangen, um ihn abzuschirmen. Er ging an Sarl vorbei und packte Vasilyevich an der Schulter. Sein Gedanke war schnell und so leise, wie er konnte; er benutzte ihre gemeinsame Sprache. – Ich will dich nicht töten. Aber es muss … echt aussehen. Als Antwort drückte Vasilyevich ihm etwas in die freie Hand. Es fühlte sich wie ein Kristallklumpen an, kalt und glatt. Semyon war wie vor den Kopf gestoßen, bis ihm, als er das Messer hob, auffiel, dass der Kristall wie ein menschliches Herz aussah. Vasilyevich lächelte, bevor Semyon das Messer hinabstieß. Als er fertig war, legte er das steinerne Herz in eine silberne Schale, die er für diesen Zweck vorgesehen hatte. Er konnte nicht glauben, dass er die ganze Zeit über auf eine so blutige Angelegenheit vorbereitet war. Das Herz sah beängstigend echt aus, und die Schreie und das Jammern der entsetzten Mädchen jagten ihm einen Schauer über den Rücken; ihre Stimmen waren wie das Heulen von Wölfen. Nun hatte Semyon einen Tropfen des Schamanenblutes an der Klinge seines Messers. Jeder Tropfen dieses Bluts, jede Zelle
würde Gift für Sarl sein. Er nahm das Messer in seine rechte Hand, beschrieb damit einen Bogen und begann mit seinem Spruch. Die Worte sprudelten in einer Sprache aus ihm heraus, die viel älter als jene war, die heute in Sklava gesprochen wurde. Sie stammte aus einer Zeit, bevor die Missionare der Doxoi das geheiligte Chrisam in die heilige Stadt Kyev gebracht hatten. Es war eine Beschwörung, die ein Dorfschamane wie Derzu erkannt haben könnte, ebenso wie die Zauberer, die in den Zelten der Halekkai lebten, Männer wie der Staryetz, sein Herr. Semyon zog eine Linie in der Luft, hinterließ ein Zeichen, das nur er sehen konnte, und sprach die Worte der Bindung und der Trennung. Als Yuste einen Satz zur Öffnung hin machte, packte Boris sie und bedeckte ihren Mund mit seiner Hand, bevor sie einen Schrei ausstoßen konnte. Sie kämpfte gegen ihn an, doch seine Gedanken drangen in ihren Geist. – Bleib ruhig, oder du wirst alles ruinieren. Yuda ist nicht tot. – Aber der Magus hat sein Herz herausgeschnitten! – Das ist ein Trick. Du solltest wissen, dass er am Leben ist; vertrau all deinen Sinnen, nicht nur deinen Augen. – Ein Trick – aber warum? – Ich weiß es nicht. Es ist sonderbar. Warum sollte der Magus das tun? Ich dachte, er habe vor, Sarl wieder ins Leben zu holen. – Lass mich los. Yuda lag auf dem Boden, und die beiden Mädchen hatten sich schreiend und weinend über seinen Körper geworfen; Malchik war auf die Knie gesunken. Und der Magus streckte ein blutiges, menschliches Herz in die Luft und zeigte es Sarl. Wie sollte das ein Trick sein? – Wir müssen jetzt hinein, Boris. Die goldene Macht stieg in ihr auf wie eine Fontäne, die aus einer unterirdischen Quelle sprudelte. Sie hob die Arme und versengte die Umgebung des Luftschachtes; der Stein furchte sich und knackte in der Hitze. Wie brechendes Eis zerbarst er, und die Einzelteile fielen in die darunter liegende Kammer. Yuste stand plötz-
lich am Rand eines breiteren Lochs, eines Sprungs im Glas. Boris griff nach ihr, doch sie entglitt seinen Händen und sprang in die Öffnung, tauchte aus dem Tageslicht in die Finsternis. Sie landete geschickt auf den Beinen, und ihre Hände nestelten bereits an der Tasche, die Beatrice ihr gegeben hatte. Die Höhle war von Rauch und Staub erfüllt. Um ihre Füße verstreut lagen Teile der zerschlagenen Decke, doch niemand hatte darunter gestanden, als sie einbrach. Sie konnte undeutliche Umrisse erkennen, den untersetzten Magus und den großen Sarl, beide voller Erstaunen zu der Stelle gedreht, an der sie stand. Dahinter blickte lediglich Malchik zu ihr hoch und rappelte sich auf. Der Magus hob die Hände wie ein Schamane, der sich zu einem Kampf bereitmacht. Der Staub legte sich und puderte sein Gesicht und sein Haar mit silbernen Körnchen. »Wer in Tschernobogs Namen bist du?«, schrie er. Einige weitere Kristallteilchen fielen von der Decke, und Yuste sprang aus dem Weg. Sie verspürte keine Angst, nur Wahnsinn, kochenden Zorn, der anders war als alles, was sie je gekannt hatte. Sie richtete die Hand auf ihn; sie hielt die Waffe. »Du hast meinen Bruder getötet«, sagte sie. Ein dumpfer Aufprall hinter ihr verriet ihr, dass Boris ihr gefolgt war. »Teufel und Dämonen! Da sind noch mehr von ihnen!«, sagte Sarl. Doch er lächelte, lächelte, weil ihr Bruder tot war und alles, was er sah, eine kleine Frau und ein ebenfalls nicht sehr großer Mann waren. Boris stellte sich neben sie. Auch er hatte seine Waffe gezogen, doch er hielt sie beiläufig in der rechten Hand, als ob er nicht bemerken würde, dass sie da war. »Gib uns die Gefangenen«, sagte er. Yuste beachtete ihn nicht. Sie näherte sich den beiden Männern, Sarl und dem Magus. Sie sah allmählich ihre Gesichter deutlicher. Und mehr als ihre Gesichter … Der Magus hielt ein schwarzes Messer in einer Hand und in der anderen …
Yuste taumelte. Einen Augenblick lang wurde es dunkel um sie, und sie schmeckte Salz auf ihrer Zunge. Sie hob die Waffe. Sie zielte auf die Vorderseite des Schädels, genau zwischen die Augen des Zauberers. Sie wusste, was passieren würde; die Kugel würde sein Gesicht zerschmettern und sein Gehirn heraustreiben als eine blutige und dunkelbreiige Masse. Alles, was sie tun musste, war, den Abzug zu drücken … Sie hörte Cluny und Planchet hinter ihr herunterspringen. Und in diesem kurzen Augenblick der Ablenkung wurde ihr die Waffe aus der Hand gerissen und von einer unsichtbaren Macht durch die Höhle geschleudert. Sie stand allein, ihre drei Begleiter im Rücken, und hörte ihr eigenes, wahnsinniges Gelächter; warum hatte sie versucht, eine Waffe zu benutzen, wenn sie Kräfte hatte, die einen lebenden Mann verbrennen und den Boden versengen konnten? Sie hob die Hände, und Sarl sprach. »Messire Cluny. Planchet. Was treibt ihr mit diesen Abtrünnigen?« »Zhan Sarl«, sagte Cluny. »Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du uns deine Gefangenen übergeben könntest. Alle deine Gefangenen.« Sarl machte einen Schritt nach vorne. Er nahm keinerlei Notiz von Boris oder Yuste, als ob sie ohne jede Bedeutung wären. »Du verstehst nicht, Cluny«, sagte er. »Der große Spruch beginnt bereits zu wirken. Der Spruch wird mir mein Leben zurückgeben. Der Magus hält das Herz des Schamanen in seiner Hand. Noch eine kurze Weile und ich werde unsterblich geworden sein. Und unser Haus wird sich erheben, um Neustria seinen früheren Ruhm zurückzugeben. Du bist der Sohn meines Vaters, und unser Vorhaben ist auch deines. Es spielt keine Rolle mehr, dass du verführt worden bist, jetzt bist du hier und wirst Zeuge unseres Triumphes.« Cluny ging zu Sarl, sein gezücktes Schwert in der Hand. »Kein Triumph«, sagte er; seine Stimme zitterte, obwohl seine Hand ruhig war. »Ich kann nicht zulassen, dass du unseren ehrenhaften Namen mit fauler Magie beschmutzt. Ein Mann ist geschlachtet worden, und ich weiß, was für üble Dinge du vorhast. Ich
fordere dich heraus, Zhan Sarl; kämpfe mit mir wie ein ehrlicher Mann, wenn du dich nicht fürchtest.« »Mich fürchten?!« Sarl lachte. »Du kannst mich nicht töten. Mein Leben ist unantastbar, bis meine neunzig Tage verstrichen sind.« »Es ist zu spät«, sagte der Magus. »Der Spruch hat begonnen und kann nicht mehr aufgehalten werden. Du bist … zu spät.« Inmitten ihrer Trauer entging es Yuste nicht, dass etwas an dem Auftreten des Magus seltsam war. Er leckte nervös die Lippen; seine Augen flackerten zu der Stelle, wo ihr Bruder lag, und zu den weinenden Mädchen. War es in der Tat möglich, dass der ganze Akt eine Illusion gewesen war? Aber warum sollte ihr Feind so entgegen seinen eigenen Interessen handeln? Er hatte sich dafür eingesetzt, dem Doyen zu helfen und Sarl auferstehen zu lassen; es gab keinen Grund, warum er die Magie, die er bereits vollbracht hatte, umwandeln sollte. Eine Bewegung zog ihren Blick auf sich. Die beiden Mädchen, Annat und Huldis, setzten sich auf und strichen sich die Haare aus den Gesichtern. Yuste bemerkte, wie sie sich einen verschwörerischen Blick zuwarfen, und sie sah keine Tränen und auch keine Spuren der Trauer in ihren Gesichtern. Dann regte sich Yuda, keineswegs in einem verzerrten Todeskampf; er stützte sich auf die Ellenbogen und sah sie an, starrte sie geradewegs an. Da war keine Wunde in seiner Brust, nicht einmal ein Kratzer, nur ein rotes Zeichen wie ein Mal über seinem Herzen. Auch Annat starrte sie an, und auch sie war gezeichnet und verändert; eines ihrer Augen sah wie ein Regenbogen aus, der in der Höhle gefangen war. Yuste fiel auf die Knie. Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen und begann zu schluchzen. Sie hatte zugesehen, wie ihr Bruder starb, und nun war er wieder am Leben; sie war tatsächlich Zeugin einer Illusion geworden, eines Tricks. In ihrem verwirrten Geist erschien es ihr wie ein grausamer Scherz, mit dem sie sie hierher bringen und verhöhnen wollten. Der Magus hatte das falsche Herz niedergelegt und zauberte erneut einen Spruch, mit ausgestreckten Händen und emporgerollten Augen, sodass nur das Weiße zu se-
hen war. Von dem Messer in seiner Hand tropfte Blut, und jeder Tropfen schien herabgesaugt zu werden, denn er fiel auf den Rand des Kreises, in dem Sarl stand. Die Hand von Boris Grebenshikov legte sich auf Yustes Schulter. »Es wird keine weiteren Sprüche mehr geben«, sagte er. »Hier ist die Geschichte zu Ende.« Und Yuda sprach. »Du solltest besser auf den Mann hören, Magus; er hat einen weiten Weg zurückgelegt, um dich scheitern zu sehen.« Beim Klang von Yudas Stimme wirbelte Sarl herum, und Semyon prallte gegen den Tisch; er ließ das Messer fallen, das auf dem Boden in Stücke zerbarst. Doch das spielte keine Rolle; wenn das Instrument der Magie zerstört war, würde keiner den Spruch unwirksam machen können. »Teufel und Dämonen!«, schrie Sarl. »Ich habe dich sterben sehen. Er hat dir dein Herz herausgeschnitten.« Er sprang zum Rand des Kreises, doch der Spruch entfaltete seine Wirkung und umschlang ihn mit einer blauen Flamme. Sie bewegte sich von der Spitze seines Kopfes bis zu den Füßen, sodass er in der Mitte eines Feuerringes stand. Semyon zeichnete ein Symbol in die Luft und murmelte Schutz- und Abwehrzauber. Die Magie war ihm außer Kontrolle geraten, und er wusste nicht, was sie anrichten würde. Sie könnte lediglich dazu dienen, Sarl im Kreis zu halten, oder sie mochte andere, unerwartete Konsequenzen haben. Er hatte eine uralte Macht freigesetzt, die dem Blut innewohnte. »Was ist das?«, schrie Sarl. »Was hast du getan? Dies ist nicht der Spruch, den du mir versprochen hast.« Die blauen Flammen züngelten und breiteten sich aus, als er durchzubrechen versuchte. Doch auch wenn er zurücktaumelte, belebte ihn noch immer die Macht, die ihn von den Toten erhoben hatte, und sie war stärker als alles, was Semyon aufbringen konnte. Der Magus rappelte sich auf. »Das, Monsieur, ist ein Bindezauber«, sagte er. »Kein großer Spruch und auch keiner, der viel Macht verlangt. Doch es wäre rat-
sam für dich, nicht aus dem Kreis zu treten.« »Du hast mich hintergangen!«, brüllte Sarl. »Ich werde dein Herz herausreißen und es vor deinen Augen verbrennen.« Noch einmal machte er einen Satz zum Rand des Kreises, und der Bindezauber spannte und bauschte sich. Semyon sah den weißen Rauch, der sich an den Rändern der Ausbuchtung kräuselte und Sarl zu erreichen versuchte. Der Erbe schreckte zurück und warf die Hände hoch, um sein Gesicht zu schützen. »Verflucht seiest du, Magus«, sagte er. »Was hast du getan?« »Es geht nicht um das, was ich getan habe«, sagte der Magus. »Ich habe den Kreis mit dem Blut des Schamanen versiegelt. Das hat Kräfte hervorgebracht, die … dir feindlich gesonnen sind. Doch sie können nicht in den Kreis hinein. Im Inneren bist du sicher.« »Ich kann nicht für immer in diesem Kreis bleiben …« Semyon blickte den kleinen Schamanen an. Vasilyevich war auf seinen Sohn und seine Tochter gestützt näher gekommen; was auch immer ihm das Volk angetan hatte, er konnte nicht ohne Hilfe laufen. »Du hast mein Blut verwendet, um diesen Spruch zu zaubern?«, fragte er. Semyon nickte. »In der Tat«, sagte er. »Und ich denke, es wäre weise, dass wir verschwinden. Blut ist, wie auch Eisen, eine alte und unsichere Magie.« Der Mann mit dem schütteren Haar unterbrach ihn. »Warte«, sagte er. »Was soll das ›wir‹ bedeuten? Wir sollten gehen und die Gefangenen ebenfalls – aber du wirst hier bleiben, Herr Zauberer. Du kannst deinen eigenen Weg nach Hause suchen.« Bevor Semyon antworten konnte, schrie Sarl auf wie ein verwundetes Tier. »Du kannst mich nicht allein hier dahinsiechen und sterben lassen …« Planchet trat vor. »Ich werde hier bei dir bleiben, Monsieur. Du wirst nicht allein sein.« »Planchet!«, rief Cluny. »Das wäre Wahnsinn. Du kannst meinen Bruder nicht aus dem Kreis befreien; wenn du hier bleibst, wirst du
verhungern.« »Messire Cluny«, sagte Planchet. »Ich habe dir lange gedient, und es war eine angenehme Dienstzeit. Doch ich bin der Diener des Hauses von Ademar. Ich könnte nicht auf dieser Erde wandeln in dem Wissen, dass ich den letzten Sohn zurückgelassen habe, sodass er wie ein Hund stirbt. Es ist ein schreckliches Schicksal für einen Mann, ganz allein zu sterben; fast so schlimm, wie sein Herz herauszuschneiden.« »Dann werde ich bei dir bleiben«, setzte Cluny an, doch Malchik unterbrach ihn. »Nicht du, Cluny«, sagte er. »Lass Planchet seinen Willen. Du hast immer geschworen, dass er mehr ein Freund als ein Diener ist. Gib ihn frei.« Semyon fuhr herum. Er sah, dass sich Sarl im Innern des Kreises gedreht hatte und nun ganz nahe bei ihm stand. »Magus, ich bitte dich«, sagte er mit leiser Stimme. »Vergib mir meine Drohungen. Wenn du mich jetzt befreist, wirst du ansehnlich belohnt werden. Der Staryetz selbst könnte dir nicht einen solchen Reichtum anbieten.« Semyon betrachtete ihn durch den dünnen und körperlos erscheinenden Flammenvorhang. »Es gibt nichts, was ich tun kann«, sagte er. »Und selbst wenn ich dich freisetzen könnte, wärest du noch immer zum Sterben verdammt. Ich habe nicht die Macht, die dich auferstehen und unsterblich machen würde. Ich habe alle Macht aus meiner gefangenen Welt abgezogen, als ich den Spruch zauberte, der uns hierher zurückbrachte.« »Was meinst du?«, fragte Sarl. »Der Magus hat Recht, Zhan Sarl«, sagte Vasilyevich. »Er hat die letzte Macht aus seiner Welt abgezogen – und von diesem Volk. Er hat das Beste für dich getan – oder sein Schlechtestes. Wie ich aus eigener Erfahrung weiß.« Er streckte die Hand aus. »Gib mir den Kristall, Magus Semyon.« Semyon hatte das falsche Herz in einer silbernen Schale auf den Tisch gestellt. Als er dorthin blickte, sah er, dass es seine tatsäch-
liche Gestalt angenommen hatte: die eines klaren und lupenreinen Steinklumpens. Er nahm ihn hoch und reichte ihn dem kleinen Schamanen, der ihn in seiner Handfläche wog. »Das Herz einer ganzen Welt«, sagte er. »Hast du dich je gefragt, was geschehen würde, wenn du ihn für deine Magie verwendest, Magus?« Er sah Sarl an und hob den Kristall so, dass er ihn sehen konnte. »Nichts als ein Felsbröckchen«, sagte er. »Ich könnte Mitleid mit dir haben, Zhan Sarl, bis ich daran denke, was du zu tun vorhattest. Nicht nur mein Leben und die Seelen meiner Rebjata, sondern Tausende von Leben – all das wäre zu deinem Vorteil verbraucht worden. Wenn du stirbst, wird das das Ende sein. Das Ende des großen Plans deines Vaters, die Grenze der Dunkelheit.« Er ließ die Hand sinken. »Du hättest Schlimmeres tun können, als in deine Hölle zurückzukehren.« »Ich bitte dich, nimm mich mit euch«, sagte Semyon zu ihm. »Wo auch immer du hingehst, welche Bedingungen auch immer du stellst. Für mich bleibt hier nichts.« Der Schamane wog den Kristall in seiner Hand. »Ich dachte, dies wäre dein Berg, Magus«, sagte er. Sarl lachte. »Er fürchtet mich noch immer«, sagte er. »Selbst dann, wenn er mich zu einem lebendigen Tod verdammt hat.« Die kleine Frau, die Semyon bedroht hatte, schlüpfte zwischen ihn und den Mann mit dem dünnen Haar. Sie berührte den Schamanen am Arm, dann lächelten sie einander an. Erst als sie so nahe beieinander standen, konnte Semyon die Ähnlichkeit zwischen ihnen sehen. »Wir müssen den Magus mit uns nehmen, Yuda«, sagte sie. »Er hat unser Leben gerettet. Und vielleicht noch weitere Leben.« Als sie sprach, begann ein öliger Rauch von den Rändern des Kreidekreises aufzusteigen. Sarl schrak zurück, denn er kreiste empor zur Decke, und in der Dunkelheit waren Funken zu erkennen. »Genug geredet«, sagte Semyon. »Ich habe etwas entfesselt, das ich nicht kontrollieren kann. Wenn ihr geht, dann jetzt, und nehmt mich mit euch.«
Es war, als ob Sarl in einem Glasbecher stehen würde, in dem eine alchemistische Reaktion ihren Ausgang nahm. Fast schon war er vollständig hinter dem schmutzigen Rauch verborgen; Semyon konnte ihn sich winden und kämpfen sehen, als der Rauch ihn umhüllte. »Planchet«, sagte Cluny. »Ein letzter Versuch. Ich bitte dich als Freund, nicht als Herr, bleib nicht hier, um zu sterben. Ich denke, meinem Bruder ist nicht mehr zu helfen.« Ein unmenschlicher Schrei wurde zum Echo seiner Worte. Semyon rannte zur Öffnung, und die anderen folgten ihm. Der Junge, der der größte war, streckte die Arme nach oben und schwang sich selbst durch die Lücke. Der kahle Mann packte die kleine Frau bei der Taille, hob sie hoch und reichte sie ihm empor; es war Semyon selbst, der Huldis dabei half, Vasilyevich hoch genug zu heben, sodass die anderen ihn zu fassen bekamen. Ihr Lächeln war Belohnung genug für den Magus. Trotz seiner Furcht zwang er sich selbst zu warten und ließ das dunkle Mädchen an sich hochklettern, als ob er eine Leiter wäre. Huldis sprang, leichtfüßig und geschmeidig, und fand Halt an der Kante des scharfen Steines. Sie drehte sich und bot ihm ihre Hand an; ihr helles Haar fiel ihr ins Gesicht. »Kommst du?«, fragte Semyon den anderen Mann, und Sarl schrie wieder. Es war nichts zu sehen als eine Säule aus glänzendem Schwarz, von Blitzen durchzogen. Plötzlich rannten die beiden Männer auf ihn zu. Er war sehr erleichtert, dass der alte Soldat ihn drängte, als Nächstes an die Reihe zu kommen, und ihn auf die Schultern nahm, sodass er aus der Kammer hinaus auf den Gipfel des Berges klettern konnte. Es kostete ihn einige Sekunden, um herauszufinden, wie sie ihre Flucht geplant hatten. Er sah Seile vom Himmel herabhängen und blickte empor, wo er ein seltsames Gefährt schweben sah, das wie ein Drache Dampf ausstieß. Diejenigen, die kräftig genug waren, konnten hinaufklettern; die anderen wickelten sich das Seil um den Körper und wurden wie Wollknäuel emporgezogen. Der kahle Mann und die kleine Frau teilten sich ein Seil; Huldis und Semyon
gelang es, Vasilyevich an einem weiteren zu sichern, und die anderen unternahmen ihre Flucht so gut, wie sie konnten. Einer nach dem anderen stiegen sie in den Himmel hinauf, und Semyon war noch nie so froh gewesen, seine Füße vom festen Erdboden zu heben. Er drehte sich Schwindel erregend und zog sich selbst mit den Händen zu dem fliegenden Schiff empor. Unter ihm konnte er hören, wie der Berg einer Eisscholle gleich krachte; Rauch stieg von dem Loch in der Decke empor. Er kletterte über den Rand und warf sich aufs Deck. Er war allein; die anderen halfen denen, die noch zurückgeblieben waren. Semyon machte ein paar tiefe Atemzüge, dann zwang er sich, wieder zurück zur Seitenwand zu taumeln. Als alle an Bord waren, beeilte sich der Kapitän davonzusegeln, und mit dem Kreischen von reibendem Eisen begann das Gefährt, sich seinen Weg westwärts zu bahnen, weg vom Gipfel des Berges. Während Semyon zusah, wurde der Rauch zu einer Fahne, ähnlich jenen, die aus dem Schlund eines Vulkanes aufstiegen; einige Augenblicke später barst die Spitze des Berges. Er sah, wie die Scherben des gläsernen Gesteins herausgeschleudert wurden, eingehüllt in Staub und Rauch; doch als das Geräusch der Explosion ihn erreichte, implodierten die Teile und fielen zurück in die Leere, die dort glänzte, wo der Gipfel gewesen war. Es gab ein Licht wie das der Sonne, blendend weiß und nah, und der Kopf des Berges verschwand und ließ nichts als einen Stumpen geborstener Steine zurück, die schmorten und Dunst in den Himmel schickten. Und er konnte die Stille hören.
Epilog
D
ie Arabian Bird flog nach Westen, trödelte in Richtung des Sonnenuntergangs. Annat stand am Bug und ließ den Wind ihr
Haar aus dem Gesicht pusten. Ließ ihn die Dunkelheit und das beklemmende Gefühl aus ihren Gedanken blasen. Sie konnte nicht glauben, dass es vorüber war; Sarl war fort, und mit seinem Tod, das wusste sie, würden auch der Doyen und seine Armee ihren Triumph einbüßen und sich in den Wald zurückziehen, aus dem sie gekommen waren. Sie war nicht die Einzige, die es sich gemütlich gemacht hatte. Yuste und Boris saßen aneinander geschmiegt, mit dem Rücken an den Motor gelehnt, vertieft in den äußerlichen Anschein der Ruhe während des Sendens. Yuda lag an Deck, wo es ihnen gelungen war, Decken und Kissen auszubreiten, um es ihm behaglicher zu machen, doch Huldis hatte darauf bestanden, dass er seinen Kopf in ihren Schoß legte. Der Magus war in ein Gespräch mit dem Kapitän des Luftschiffes vertieft, der die Neugier seines neuen Bekannten zu genießen schien. Und sie hatten Malchik bei Cluny gelassen, der versuchte, Planchet zu trösten; der alte Soldat zeigte eine schweigende, stoische Trauer, doch er war der Einzige. Annat drehte sich um, um sie anzuschauen. Es wurde kälter, jetzt, wo die Sonne unterging – wunderbar kalt! Mit plötzlicher Energie eilte sie über das Deck und hockte sich neben ihren Vater. Er sah zu ihr auf; die Decken waren bis zu seinem Kinn hochgezogen, und seine lange Nase ragte darüber empor. »Was für eine höllische Art zu sterben«, sagte er plötzlich, und sie mussten beide lachen. Als Annat aufsah, bemerkte sie, dass ihre Tante neben ihr stand. »Worüber lacht ihr?«, fragte Yuste. »Schon gut. Nichts«, sagte Yuda. Er grinste seine Schwester an. »Ich hoffe, du wirst mich den Sommer über im Rollstuhl durch Masalyar schieben.« »Nein, Yuda, ich plane zu heiraten«, erwiderte sie scharf. »Boris Andreyevich hat mir angeboten, mich zu seiner Partnerin in seiner Firma zu machen. Und zu seiner Frau.« »Mazel Toul«, sagte Yuda. »Ich werde mir ein anderes Opfer suchen müssen.«
Yuste setzte sich neben ihn und griff nach seiner Hand. »Ich sehe dich noch nicht in einem Rollstuhl«, sagte sie. »Du wirst wieder laufen, noch ehe der Sommer um ist.« »Ich werde auf Krücken gehen«, sagte er. »Aber es hätte schlimmer kommen können.« Eine Weile saßen die vier, ohne ein Wort zu sprechen, aber ihre Gedanken drängten sich aneinander wie Boote, die im Hafen gegeneinander schlugen. Dann sagte Annat plötzlich: »Glaubst du, Madame Mireille wird mich wieder zurücknehmen, Tante?« »Zyon, Kind! Woher soll ich das wissen? Mein Kopf schwirrt noch von Malchiks Gefasel über Abtrünnigkeit und Prinzessinnen. Ich denke, wenn du zurückkommst, wirst du ein Held sein. Oder besser: eine Heldin. Dank dir konnte Masalyar einem unaussprechlichen Schicksal entgehen. Lass Madame Mireille allein beim Abendbrot beten.« »Wohin soll ich gehen?«, fragte Huldis. Yuste sah zu ihr auf und lächelte. »Du wirst in mindestens zwei Heimen willkommen sein«, sagte sie. »Bis Boris und ich unsere Firma gegründet haben, kannst du mit Annat und mir in der Shkola bleiben. Und du kannst dort lernen, wo sie lernt, auch wenn noch ungewiss ist, welche Schule sie aufnehmen wird. Ich denke, Malchik wird zurück an seine Universität gehen – und zu seiner Prinzessin –, doch Yuda wird erstmal den Sommer in Masalyar verbringen. Zweifellos wird er nur zu erfreut sein, wenn er hört, dass du seinen Rollstuhl schiebst!« Die arme Huldis errötete, und Annat gab ihrer Tante einen kleinen Stoß. »Was?«, fragte Yuste. Yuda sagte nichts, doch er streckte seine freie Hand aus, und Huldis ergriff sie. »Das ist ein Leben«, sagte er. »Umgeben von bewundernden Damen. Ich denke, ich könnte mich zur Ruhe setzen. Am Meer leben und meine Memoiren schreiben.« Er zog eine Grimasse. »Zyon, was für ein entsetzlicher Gedanke!« »Schmeichle dir nicht, Yudeleh«, sagte Yuste. »Die Eisenbahn wird
jemand anderen für dich finden. Nimm's leicht, solange du kannst. Man kann es nicht lange genießen, ein Invalide zu sein. Ich weiß, dass ich mich zu langweilen begann, lange bevor ich tun konnte, wonach mir der Sinn stand.« »Ich wette, du hast dich zwei Minuten nach deiner Operation zu langweilen begonnen«, sagte Yuda. »Nun ja, du kannst ja jetzt alles nachholen. All die Dinge tun, die mir versagt bleiben. ›Grebenshikov und Vasilyevich‹. Er wird die Tür breiter machen müssen, damit ihr beide darauf Platz findet.« Jemand räusperte sich. Alle blickten hoch und sahen Cluny mit hinter dem Rücken verschränkten Händen bei ihnen stehen. Er sah sehr förmlich und linkisch aus. Annat erhob sich, bevor irgendjemand etwas sagen konnte. Er erwiderte ihr Lächeln mit einem besorgten Ausdruck. »Geht schon, geht schon«, sagte Yuste und wedelte mit der Hand. »Wir haben Zeit genug. Stunden, bis wir Dieulevaut erreichen.« Seite an Seite wanderten Cluny und Annat zurück zum Bug des Schiffes. Die Sonne war untergegangen, doch am westlichen Himmel zeigte sich noch immer ein orangefarbenes Glühen, das in Zitronengelb und wässriges Grün überging. Sie lehnten sich an die Seitenwand und starrten nach vorne, ohne einander anzuschauen. »Malchik scheint viel fröhlicher, nun, wo er gestanden hat«, sagte Cluny nach einer Weile. »Vielleicht ist er glücklich. Er hat den richtigen Zeitpunkt gewählt.« »Wie fühlst du dich – damit?« Annat sah ihn von der Seite an. »Ich könnte das niemals«, sagte sie. »Ich bin eine Wanderin. Doch meine Mutter war eine Doxoi. Ich denke, Malchik … ich hoffe einfach, dass er glücklich ist. Mit seiner Prinzessin.« Sie kicherte. Cluny streckte die Hand aus und strich ihr das Haar aus dem Nacken. »Es ist niemand mehr übrig«, sagte er. »Ich bin illegitim, und mein Vater wird ohne einen Erben sterben. Casildis wird die Herrin von Ademar werden, doch das ist das Ende unseres Ge-
schlechts.« »Tut dir das Leid?«, fragte Annat und wandte sich um, damit sie ihn ansehen konnte. »Ich weiß nicht. Planchet… Planchets Herz ist gebrochen: Ademar war sein Leben. Doch er wusste ebenso gut wie ich, was Sarl war.« »Lass uns nicht von Sarl sprechen«, sagte Annat. »Er ist fort. Erledigt.« »Ich bin froh, dass es so schnell vorüber war«, sagte Cluny und senkte den Kopf. »Wirst du zurück zum College gehen?« »Oh, ja. Ich werde nicht zum Schloss zurückkehren. Niemals. Ich könnte das nicht, nicht, nachdem mein Vater diese Roma umgebracht hat. Ich nehme also an, dass ich während der Ferien nach Masalyar kommen werde.« »Ich hoffe, du wirst mich besuchen kommen«, sagte Annat eilig. »Und ob ich das will«, sagte Cluny. »Wir werden nicht viel Zeit haben, wenn wir Dieulevaut erreicht haben. Ich meine Zeit gemeinsam alleine.« Er lächelte kläglich. »Wir sind jetzt ja auch nicht wirklich alleine. Ich bin mir sicher, ich kann fühlen, wie sich Yustes Augen in meinen Rücken bohren.« Annat lachte. »Sie gibt Acht auf mich«, sagte sie. »So ist das bei Schamanen, besonders bei verwandten. Wir achten aufeinander.« Cluny drehte sich um und lehnte seinen Kopf an den Bug. »Darauf werde ich immer neidisch sein«, sagte er. »Auf die Art, wie ihr miteinander sprechen könnt, ohne ein Wort zu sagen.« Annat nickte. »Es ist gut«, sagte sie. »Aber Yuda hatte niemals eine Schamanengeliebte. Wenn nicht Huldis …« »Das ist eine bemerkenswerte Möglichkeit«, sagte Cluny und hob die Augenbrauen. »Auch wenn offensichtlich ist, dass sie ihn bewundert. Aber was ist mit dir?« »Mit mir?« »Würdest du Schamanen … liebhaber vermeiden?« Annat schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Vielleicht. Es ist zu früh, um sich auf etwas festzulegen.« Sie dachte an Euge-
nie und seufzte. Ihr begann zu dämmern, warum das Leben ihres Vaters … kompliziert geworden war. Cluny legte seine Hand auf ihre Schulter. »Du hast Recht«, sagte er. »Wir können später darüber reden.« Als er seinen Kopf senkte, um sie zu küssen, sahen sie nicht den einsamen Vogel, der über den leuchtenden, verblassenden Himmel flog. Es hätte eine Krähe sein können.