MYTHOR Der Glücksritter von Hans Kneifel
Band 11
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Vorwort Liebe Leserinnen und Leser, auch wenn die Fantasy gemein...
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MYTHOR Der Glücksritter von Hans Kneifel
Band 11
2
Vorwort Liebe Leserinnen und Leser, auch wenn die Fantasy gemeinhin als »Literatur zum Träumen« angesehen wird, als der Versuch, der technischen Welt des 20. und 21. Jahrhunderts zumindest für die Dauer der Lektüre zu entkommen, so wird sie doch nicht »völlig losgelöst« von zeitaktuellen Themen geschrieben. Das vorliegende Buch ist erneut ein gutes Beispiel dafür. Die Abenteuer Mythors und seines Kontrahenten Luxon in den Steppen und Wüsten von Salamos, das nicht zufällig an die klassischen Kulturen Nordafrikas und der Sahelgebiete erinnert, werden immer wieder durch Schilderungen des Flüchtlingselends unterbrochen, das der Krieg im Norden des Kontinents mit sich bringt: Zu Zigtausenden fliehen die Menschen aus Ugalien und Tainnia, ziehen in großen Gruppen nach Süden, wollen nur den Caer und ihren Dämonenpriestern entkommen. Die Flüchtlinge tragen nicht viel mehr mit sich als ihre notdürftigste Habe, und ihre Begleiter sind Hunger und Durst, Krankheit und Elend. An Stadttoren werden sie abgewiesen, von den örtlichen Machthabern häufig bekämpft… Parallelen zu Flüchtlingsdramen der letzten Jahrzehnte drängen sich bei solchen Schilderungen immer wieder auf. Dabei erzählen die MYTHOR-Autoren nach wie vor in erster Linie ihre spannenden Romane, geben sie Einblicke in die fantastischen Kulturen und Völker in Salamos. Bei Vogelreitern und Menschenfischern können sie geradezu »aus dem Vollen« schöpfen. Hans Kneifel schrieb den Roman »Der Glücksritter«, von Ernst Vlcek stammt »Das Orakel von Theran«, und Hubert Haensel steuerte »Stein der Dämonen« zum vorliegenden 3
Buch bei. Viel Lesevergnügen bei der Reise durch Salamos wünsche ich Ihnen schon jetzt! Klaus N. Frick
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Der Schatten des gleißenden Ringes aus kosmischen Trümmern, der die Welt in zwei Hälften teilt, beherbergt die Mächte der Finsternis. Aus dieser Dunkelzone greifen die gierigen Finger des Bösen nach der Welt der Menschen. Unter dem Befehl von Dämonenpriestern machen sich ihre Handlanger, die Caer, daran, den Norden der Welt zu erobern. Zu lange schon ist es her, daß der Bote des Lichts mit seinem strahlenden Kometentier den Menschen den Frieden brachte. Und der »Sohn des Kometen«, der möglicherweise dem Bösen standhalten kann, ist noch immer nicht aufgetaucht. Die uralte Nomadenstadt Churkuuhl, die auf den Rücken gewaltiger Tiere über die nördliche Welt getragen wird, geht an der Küste des Meeres der Spinnen in einer furchtbaren Katastrophe unter. Aus ihren Trümmern rettet sich unter anderem ein junger Mann namens Mythor, dessen Herkunft unbekannt ist. Nyala, die Tochter des Herzogs von Elvinon, bewahrt Mythors Leben, denn sie glaubt daran, daß er jener Sohn des Kometen sei, dessen Kommen vorausgesagt wurde. In einem unterirdischen Tempel erfährt er, daß er sich diesen Titel erst erkämpfen muß. Nachdem Mythor vor einer Invasion der Caer fliehen konnte, erfüllt er die erste der Aufgaben, die ihm gestellt wurden: In Xanadas Lichtburg kann er das Gläserne Schwert Alton für sich gewinnen. Nach weiteren Abenteuern in der belagerten Stadt Nyrngor gelangt Mythor zu Althars Wolkenhort, wo er nach harten Kämpfen den Helm der Gerechten erringen kann. Dieser soll ihn künftig schützen und ihm den Weg zu anderen Stützpunkten des Lichtboten weisen. So gerüstet macht sich der Sohn des Kometen auf die Suche nach weiteren Verbündeten, die er im Bereich der Zaubertiere zu finden hofft: ein Einhorn, einen Schneefalken und den Bitterwolf, der angeblich bei seiner Geburt geheult haben soll. Zuerst gehorchen die Tiere Hester, dem Bruder Elivaras von 5
Nyrngor, doch dann überläßt der junge Prinz die Zaubertiere dem Kometensohn. Gemeinsam mit den Tieren erreicht Mythor schließlich das Land Ugalien, das ebenfalls von den Caer bedroht wird. Mythor lernt schnell, die aufgeputzten, selbstgefälligen Adligen mit ihren Ränkespielen zu verachten. Dazu kommt die Erkenntnis, daß die Dämonenpriester unter den Magiern am Hof seines Gastgebers einen mächtigen Verbündeten haben, der im Auftrag des obersten der schwarzen Priester handelt. Es gelingt Mythor immerhin, diesen zu besiegen, und er erlebt sogar den Beginn des gemeinsamen Kriegszugs gegen die Caer. Mythor beobachtet als Kundschafter die Vorbereitungen der Dämonenpriester. Rasch wird ihm klar, daß der Krieg durch Schwarze Magie entschieden wird. Seine Warnungen verhallen ungehört, und am Tage der Schlacht geschieht genau das, was Mythor befürchtet hatte: Die Kämpfer des Lichts erleiden eine furchtbare Niederlage. Die Länder des Nordens können keinen Widerstand mehr leisten, und Mythor muß nach Süden fliehen. Überall trifft Mythor auf die Sendboten des Bösen. Vier Todesreiter setzen sich auf seine Spur, um ihn endgültig aus dem Weg zu schaffen. Und zu allem Überfluß trifft Mythor einen alten Bekannten wieder – Luxon, der ihn schon einmal betrogen hat und der nun behauptet, selbst der Sohn des Kometen zu sein! In der Stadt Leone hofft er, eine Weile Ruhe zu finden, doch vergebens: Todespflanzen greifen die Stadt an, und erneut muß er fliehen, um wenigstens den »Baum des Lebens« zu retten, den er als weiteren Fixpunkt des Lichtboten erkennt. Doch welche Überraschung, als Luxon die dort aufbewahrten Lichtwaffen an sich nimmt und damit flüchtet! Mythor kommen erste Zweifel, ob wirklich er und nicht Luxon der echte Kometensohn ist… 6
Hans Kneifel
DER GLÜCKSRITTER Feuerrot, wie eine plattgedrückte Kugel, erhob sich die Sonne über die Kämme der Dünen. Die Steinbrocken, in heilloser Unordnung über das Land verstreut, warfen lange Schatten. Der erste Wind wirbelte eine weiße Fahne aus Sand hoch. Die spiralenförmige Schlange aus Staub und Sand tanzte wie ein rasender Irrwisch über die langgestreckte Düne, deren flacher Hang das Muster der Windrippen zeigte. Der Wirbel löste sich auf, als er gegen die dürren Blätter und den knochigen Stamm eines verkrüppelten Baumes geschleudert wurde. Abudirg zog langsam den Schleier bis zum Kinn herunter, hob sich in den Steigbügeln und legte die Hand über die entzündeten Augen. »Verdammte Wüste!« stieß er hervor. »Seit Tagen droht der Himmel mit neuen, bedrohlichen Farben und verderbenbringenden Wolken. Wir bleiben auf unseren Waren sitzen. Wer sollte sie uns abkaufen, wenn alles in Aufruhr ist und die Menschen fliehen?« Siebzig Tiere trabten hinter dem Händler, der die Karawane anführte. Packtiere von mehr als einem Dutzend Händlern bildeten die lange Reihe der Pferde und Maultiere. Die Karawanenstraße war gesäumt von eingerammten Stäben und von den weißgebleichten Knochen von Pferden, Mauleseln, seltsamen Riesenvögeln und anderen unbekannten Tieren. Sand war über alles geweht worden. Später hatten Stürme diesen Sand weggewirbelt und Staub von anderer Farbe über die trügerische Piste gelagert. Wie immer war jede Handelskarawane ein Risiko. Wenn sie Wüsten und Stürmen, Raubgesindel und 7
Krieg entging, wartete gewaltiger Reichtum auf die wagemutigen Männer, denn die Waren kosteten viel und gingen rasend schnell weg. »Siehst du ein Hindernis?« rief Wachid von hinten. »Nein. Nur Sand und Steine!« gab Abudirg zurück. »Und Gewitterwolken am Horizont.« »Dann reiten wir weiter!« schrie Markib und knallte mit seiner Sklaventreiberpeitsche. Die Karawane führte, abgesehen von Wasser und Futter, kleinen Zelten und einigen Reisesklavinnen, kunsthandwerkliche Gegenstände und die wertvollen Stoffe der Sarronen mit sich. Jeder der vierzehn Händler kam aus Sarphand, der Stadt am Innenmeer. Jeder von ihnen war erfahren in der Kunst des Handelns. Und mehrere von ihnen mußten diese Karawane mit einem großen Gewinn abschließen, sonst waren sie bankrott. An den Lagerfeuern und in den wenigen Karawansereien hatten sie schauerliche Berichte gehört. Diejenigen, die diese Erzählungen leise und stockend vortrugen, waren Krieger gewesen. Sie kamen aus dem Norden, aus Tainnia und Ugalien, und sie phantasierten von einem Kampf, den die Mächte der Dunkelwelt auf gräßliche Weise gewonnen hatten. Deswegen waren die Herren der Karawane in Sorge. Kriege und Schlachten, Not und Flucht – unter solchen Umständen ließ sich schlecht handeln. Lautlos fluchte Abudirg, und während seine Gedanken sich mit allen denkbaren Verlusten und anderen üblen Dingen beschäftigten, mußte er an diesen schlitzohrigen Verbrecher denken, diesen treuherzigen Schuft, der ihm eine Galeere verkauft hatte. Nur: Diese Galeere, die seinerzeit im Hafen Sarphands in den trägen Wellen schaukelte, war keineswegs der Besitz dieses Schuftes mit dem weißblonden Haar und dem Lachen, das 8
mühelos selbst erfahrene Händler täuschte, gewesen. Fast wäre er, Schwarzbart Abudirg, als Rudersklave auf dieser Galeere gelandet. Aber zwei Freunde hatten ihn gerettet und ausgelöst. Seine Schulden, samt Zins, hatte er bis zum heutigen Tag erst zu zwei Dritteln zurückzahlen können. Immer wieder tauchte das Gesicht dieses Betrügers vor seinem inneren Auge auf. Er ließ sich wieder in den weichen Sattel zurücksinken, gab seinem Pferd die Sporen und ritt schneller. Das Seil straffte sich. Die Saumtiere wurden ebenfalls schneller. Einige von ihnen stießen keuchende Schreie aus. Abudirg versuchte sich abzulenken und dachte an seine Reisesklavin. Aber zu dieser frühen Stunde verbot es sich von selbst, mit ihr hinter einer Düne zu verschwinden. Es war besser, man brachte die Strecke jetzt, da die Hitze des Tages noch nicht wie eine glühende Speerspitze auf die Reiter und die Tiere herunterstach, ohne Verzögerung hinter sich. Abudirg reckte sich, drehte sich im Sattel und schrie nach hinten: »Ich sehe keine Gefahren! Ihr solltet schneller reiten. Gebt den Saumtieren die Peitsche!« Bissig grunzte Wachid zurück: »Peitsche deine eigenen Tiere. Meinetwegen auch die glutäugige Shawna. Sorge lieber dafür, daß wir nicht vom Weg abkommen.« Abudirgs Augen funkelten. Der schwarze Bart um Kinn und Nase, von silbernen und grauen Fäden durchzogen, ließ sein Antlitz kantig und hart erscheinen. Er schluckte seinen Ärger hinunter und rief über die Schulter: »Wenn du mir mißtraust, kannst du dich an die Spitze der Karawane setzen, mein fettleibiger Herzensfreund.« Einige Tiere prusteten und wieherten protestierend. Die Männer lachten rauh. Hinter den Schleiern der Sklavinnen ertönten kichernde Laute. Markib erzeugte mit seiner langen Peitsche eine Reihe von 9
aufmunternden Geräuschen und keifte: »Bisher hat uns Abudirg gut geführt. Gegen die schwarzen Wolken sind wir machtlos, Wachid. Du kannst uns heute abend am Lagerfeuer wieder mit deinen erlogenen Erlebnissen ergötzen. Gib Ruhe!« Die Karawane bewegte sich weiter auf dem sandverwehten Pfad. Im Augenblick ritten sie nach Osten, auf das Karsh-Land zu. Aber die Piste wand sich in Schlangenlinien entlang der Geröllzone der Wüste zwischen Rukor und der Straße des Bösen dahin. Der Tag war erst einige Stunden alt. Und jedesmal, wenn Abudirg vor und über der hochkletternden Sonne die langgezogenen Wolken ansah, dachte er an diesen Schurken, der ihn zwang, für alte Schulden und einen verbrecherisch hohen Zins zu arbeiten. Diese Strapazen hätte er sich sparen können. Er klopfte seinem Pferd den Hals. Das Tier sollte unter den kurzen Wutanfällen nicht leiden. Dann zog er den Schleier wieder bis unter die Augen und fluchte innerlich. Ohne daß es jemand hörte, murmelte er: »Eines Tages erwische ich ihn. Und dann wird er für die Galeere zahlen. Mit Zins und Zinseszins!« Er warf einen verkniffenen Blick auf die gekrümmten Bögen irgendwelcher Rippen, die aus dem Sand hochragten wie die weißgebleichten Stämme uralter Gewächse. Weit hinter ihm stieß ein Maultier eine Reihe blökender, gräßlicher Schreie aus. Abudirg zog die Schultern hoch und fluchte wieder.
Die Geräusche wiederholten sich immer wieder. Das dumpfe Trommeln von zwölf Pferdehufen. Das Knarren und Knirschen der ledernen Sättel und das feine Klirren der Sporen und der Waffen. Das keuchende Fauchen, mit dem die Pferde die Luft einsogen und ausstießen. Das leise Rascheln des Sandes, den ihre Hufe aufwirbelten. 10
Luxon, Kalathee und Samed saßen nicht mehr in den Sätteln. Sie stemmten ihre Stiefel in die Steigbügel und federten die Stöße der Pferderücken in den Knien ab. Ihr Vorsprung, den sie vor Mythor gewonnen hatten, war mehr und mehr geschrumpft. Schräg vor Kalathee und Samed ritt Luxon. Es war absolut sicher, daß der König von Leone längst mit ausgesuchten Kriegern die Verfolgung aufgenommen hatte. Sternenbogen und Mondköcher waren wichtige Waffen, und es mochte lange dauern, bis auf dieser Welt wieder Waffen dieser Art gefunden wurden. Luxon lächelte kühl; er besaß den Köcher und den Bogen. Sie schlugen bei jedem Heben und Senken des Pferderückens gegen seine Schultern. Luxon drehte seinen Kopf und blickte durch die vielfarbigen Federn der Pfeilschäfte nach hinten. »Sie fallen zurück«, sagte er leise zu sich. »Sie werden mir lästig!« Gedanken, Überlegungen, Wünsche und Vorstellungen wirbelten in seinem Kopf umher. Besonders der Junge war ihm ein Klotz am Bein. Aber es gab keine Möglichkeit, sich ihrer auf gute Weise zu entledigen – und Luxon haßte es, Menschen einfach im Stich zu lassen, die ihm genützt und geholfen hatten und die er benutzt hatte. Es war besser, ihnen noch einige Zeit lang die Treue zu halten. In der Wärme des Tages wehten seine fast weißgebleichten Haare. Er wußte, daß ihn der Junge und diese hellhäutige Frau vergötterten; noch nie in seinem Leben, so meinte er, hatte er solch treue Gefolgsleute gehabt. »Aber«, Luxon stieß jedes Wort im Rhythmus des dahin-galoppierenden Reittiers aus, »welche Wahl habe ich wirklich?« Sie waren schlecht ausgerüstet. Ihre Vorräte an Wasser und Nahrungsmitteln reichten in dieser Wüstenei außerhalb der Stadt Leone bestenfalls zwei oder drei Tage. Er kannte diesen 11
Teil der südlichen Welt nicht sonderlich gut, und schon gar nicht kannte er die Lage von Wasserstellen oder Oasen. Er wußte nur, daß die Vulkanwüste voller Drachen, seltsamer Pflanzen und fliegender Bestien war. Sie ritten jetzt etwa die Grenzlinie entlang, die den Norden vom Süden Salamos’ trennte. Luxon zwang sich, das hinter ihm Liegende zu vergessen. Er richtete seine Gedanken auf die unmittelbare Zukunft. Er mußte den Verfolgern entkommen. »Mein Plan war gewesen«, keuchte er vor sich hin, »diesem verfluchten Gürtel des Todes auszuweichen. Wir sind nicht genügend ausgerüstet. Wir wissen nicht, was sich dort an Gefahren verbirgt.« Er fühlte keine Angst. Panik war ihm fremd. Er hatte Hunderte von Gefahren und Abenteuern überlebt. Jeden anderen Mann – außer Mythor vielleicht – hätten sie umgebracht. Aber er war unerschütterlich, und er hatte ein Ziel. Bisher jedenfalls war er mit Schrammen und Verstauchungen davongekommen, und immer war er es gewesen, der zuletzt und am lautesten und herzhaftesten gelacht hatte. Aber nun stellte sich ihm eine neue Herausforderung. Er stand in den Steigbügeln auf und riß den Arm in die Höhe. Sein Pferd wurde langsamer. Rechts und links neben ihm tauchten Kalathee und Samed auf. Luxon sah kurz in ihre Augen, dann stieß er hervor: »Wir müssen in die Wüste fliehen.« Samed stotterte eifrig: »Weit hinter uns habe ich blitzende Waffen und Staubschleier gesehen.« »Das sind die Reiter Mythors. Die königliche Garde Leones!« rief Kalathee. »Sie werden immer näher kommen!« gab Luxon zu bedenken. »Die Wüste ist unsere einzige Rettung, denn die Reiter kennen die befestigten Pfade. Mythor ist nicht allein. Allein ist er bereits zu fürchten, aber zusammen mit einer Handvoll 12
Reitern wird er uns nicht nur einholen, sondern gefangennehmen. Und dann wird er meinen Bogen und den unerschöpflichen Köcher haben.« »So benutze den Bogen!« schrie Kalathee und machte ein verzweifeltes Gesicht. Sie hatte ihm sehr viel geholfen; selbst diesen geringen Vorsprung vor Mythor verdankte er ihr und ihrem selbstlosen Einsatz. Nein! Er durfte sie nicht im Stich lassen. »Nicht im freien Gelände!« rief er. Nebeneinander gingen ihre Pferde. Die trockene Luft der Wüste ließ den Schweiß im Fell der Tiere ebenso rasch verschwinden wie den auf Gesichtern und Stirnen der Menschen. Es war, als wehe ständig ein leichter, kühlender Wind. Hier, in dieser Wüste aus Sand, Hitze und Schatten, dachte Luxon verdrossen und voll Wut, gibt es keine Caer, und auch meine alte Rolle als König der Diebe und Herr der geschickten Finger und des betörenden Augenaufschlags wird mir nichts nützen! Er drehte sich um. Tatsächlich! Am Horizont, der viel zu nahe war und durch die waagrechten und steil ansteigenden Schnittlinien der Dünen und Täler markiert wurde, tauchte eine Gruppe Reiter vor einem Schleier aus Sand und Staub auf. Waffen, Helme und Schilde funkelten im Licht der Sonne. »Es geht nicht mehr schneller. Unsere Pferde brauchen eine Pause!« keuchte der Junge. »Und weit und breit kein Versteck!« rief Kalathee. Der leichte Schimmer der Bräunung, der ihre Haut jetzt überzog, machte sie selbst in diesem Augenblick reizvoll und begehrenswert. Luxon verscheuchte diese Gedanken und antwortete stoßweise: »Sie werden uns bald eingeholt haben. Die einzige Rettung… dort hinein!« Er wies nach rechts. Rechts von ihnen war die Wüste, dahinter ragten die Kegel der erloschenen und tätigen Vulkane auf, die Fumarolen, Erdspalten und die glasartig brechende Lava, die längst erkaltet 13
war. Geröll, verkarstete winzige Hügel, die vielen Skelette und die versteinerten Reste uralter Bäume und kleinerer Gewächse bildeten hier den nördlichsten Teil der Wüste. Die kaum kenntliche Straße wand sich wie eine Schlange entlang den kaum sichtbaren Geländemerkmalen. Luxon riß am Zügel, und sein Pferd scheute. Aber er zwang es, in die skurrile Landschaft aus erkalteter, verformter und verwitterter Lava einzutauchen. Zuerst kam ein schmaler, verzweigter Gürtel aus trügerischem Grün. Hin und wieder kondensierte feuchter Wind an den Pflanzen. Der vulkanische Sand saugte die Feuchtigkeit auf. Und die Pflanzen wechselten ihre Farbe von Grün zu hellen Brauntönen. Die Ranken wurden von den Pferdehufen in den Sand getreten, kleine und große Geröllsteine wurden zur Seite geschleudert. Das Tempo der Pferde nahm ab, aber binnen weniger Sätze führten die Pfade hinter großen Lavabrocken vorbei, und die Verfolger verschwanden vorübergehend. »Hoffentlich entkommen wir ihnen in der Geröllwüste!« keuchte Luxon. Danach kam, wie er wußte, ein weites Gebiet aus vielfarbigem Lavagestein, das zu Pferde kaum zu durchqueren war. Die Tiere galoppierten mal nach rechts und mal nach links, die Ranken schlangen sich um ihre Fesseln, wieder rutschte Geröll nach unten. »Sie rücken auf!« rief Samed, der sich weit über den Hals seines Pferdes beugte. »Ich sehe sie deutlich!« Beide Reitergruppen wirbelten dünne Staubschleier auf. Der Staub legte sich auf die Rüstungen, Kleider, das Fell der Tiere und die Gesichter. Die Sonne stieg höher, die Hitze nahm zu. Die weißen Felsbrocken und die glatten Lavafladen spiegelten Hitze und Helligkeit wider. Die drei Pferde galoppierten einen Hügel hinauf, 14
auf der anderen Seite wieder hinunter und in eine niedrige, von gewaltigen Steinen umsäumte Schlucht hinein. Wieder tauchte eine leere Sandfläche auf. Die Hufe der Pferde hinterließen tiefe Spuren. Die Gruppe der Verfolger zog sich weiter auseinander und näherte sich von zwei Seiten den Flüchtenden. Vor den drei Pferden tauchte eine Barriere auf, die unüberwindlich war – ein Abhang, der aus Steinen und Geröll aller Größe bestand. Jeder Schritt ließ die Tiere rutschen und erzeugte eine kleine Lawine. Luxon warf sein Reittier herum und griff in den Köcher. Zwischen den Fingern spürte er die harte Kante der Pfeilbefiederung. Von den Felsen her stoben die Reiter heran. »Dort reitet Mythor!« schrie Luxon und schwang sein Schwert über dem Kopf. »Gebt auf seine Pfeile acht!« Der Junge ließ sich aus dem Sattel gleiten und hob einen scharfkantigen Stein auf. Kalathee zog einen Dolch. Mit dem Ärmel seines blauen Hemdes wischte sich Luxon über das Gesicht und schleuderte sein Haar in den Nacken. Auf den Halbrüstungen der Verfolger sah er die Abbildung der schwarzen Lilie. Drei Reiter galoppierten auf ihn zu und hoben die kurzen Wurfspeere. Auch auf ein paar Schilden entdeckte Luxon die Wappenzeichen von Salamitern. »He!« schrie er und senkte den Bogen. »Ich bin nicht der, den ihr verfolgt. Ich bin nicht Mythor!« Die Reiter zügelten ihre Pferde und schüttelten wütend die Köpfe. »Nicht… Mythor?« schrie ein Salamiter von rechts. »Sein Haar, tatsächlich, es ist viel heller, fast weiß. Kann jemand seine Augen sehen? Mythor hat helle, gelblich leuchtende Augen.« »Es ist Luxon, nicht Mythor!« schrie Kalathee. Auf dem Blatt ihres Dolches funkelten Sonnenstrahlen. Ein Reiter ritt nahe an 15
Luxon heran, der abwehrend beide Arme hob und ein Grinsen zuwege brachte. »Gewiß habe ich Augen von brauner Farbe.« Der Reiter beugte sich tief aus dem Sattel. Die Spitze seiner Lanze zielte auf Luxons Hals. Luxon bewegte sich nicht, und der Stein fiel aus der Hand des Jungen. »Tatsächlich. Weißgebleichtes Haar. Braune Augen. Es ist nicht Mythor.« Jetzt wurde Luxons Grinsen breiter und fast unverschämt. »Ihr seid Salamiter!« stellte er fest und beruhigte sein tänzelndes Pferd. »Warum sucht ihr Mythor?« Daß Mythor seinerseits ihn mehr als dringend suchte, verschwieg er noch. »Er hat unsere Kultstätte, den Lilienhügel, entweiht. Er sollte sich dort auf unsere Art töten.« Samed schwang sich wieder in den Sattel und schüttelte den Kopf. »Kommt näher, Krieger aus Salamos!« rief Luxon fast fröhlich. »Ihr habt mich für Mythor gehalten und wütend verfolgt. Dafür, daß wir kampflos voneinander scheiden, kann ich euch weiterhelfen.« »Kennst du Mythor?« schrie einer der Reiter. Ein Windstoß wehte einen Staubschleier über die etwa zwanzig Reiter. Hustend erklärte Luxon: »Ein Schwert schleift das andere, Männer!« Er klopfte heftig auf den Poncho aus Löwenleder, eine Staubwolke wallte auf. Dann fuhr er fort: »Stellt Mythor einfach eine Falle! Er folgt mir, wie ich weiß, sozusagen auf dem Fuß. Sucht euch hier ein richtiges Versteck aus! Dann werdet ihr nicht lange warten müssen, denn Mythor wird mit seinen Wachen hier eintreffen. Das ist ganz sicher.« »Woher weißt du das so genau?« Unbestimmt antwortete Luxon: »Ich weiß es. Ich verließ vor ihm die Stadt Leone. Außerdem kenne ich seine Vorstellungen 16
und Handlungen wie ein Bruder. Wir reden hier in aller Ruhe, und inzwischen kommt er immer näher.« Der Mann, der wie ein Anführer aussah, nickte. Er winkte nach hinten und befahl seinen Leuten, sich an einer anderen, günstigeren Stelle des Geländes zu verstecken. Dann packte er Luxon an der Schulter und sagte: »Du sollst hierbleiben und uns helfen. Wenn du fortreitest, könnte dies ihn warnen. Deine Begleiter bleiben auch.« Die Übermacht, sagte sich Luxon betrübt, war zu groß. Sein Plan, blitzschnell gefaßt und in die Tat umgesetzt, ging nur zur Hälfte auf. Er folgte etwas langsamer der Reitergruppe, die auf den eigenen Spuren zurückgaloppierte und sich hinter Steinen, in einem Graben und zwischen hochragenden Felsen verbarg. Der Anführer deutete auf eine übermannshohe Barriere aus zufällig zusammengeworfenen Steinbrocken und sagte barsch: »Dort warten wir. Wie lange, sagst du, wird Mythor brauchen?« »Keine halbe Stunde, mein Freund«, sagte Luxon. »Meine Begleiter und ich dürsten. Ein Schluck aus deinem Wasserschlauch?« »Meinetwegen.« Immer wieder zogen leichte Schleier Sand und Staub über diesen nördlichsten Teil der Wüste zwischen Rukor und dem Karsh-Land. Die Reiter stiegen ab und tränkten ihre Pferde. Einer der Salamiter stob über den kaum sichtbaren Pfad in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und zügelte sein Pferd neben einem Geröllhaufen, von dem aus er einen guten Blick auf die Hügel hatte, zwischen denen die Straße hervorkam. Und dort näherten sich tatsächlich etwa zwei Dutzend Reiter!
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Kalathee lehnte sich an den Felsen. Ihre Blicke glitten über die Pferde, die Männer, sie sah Samed an, und dann verweilten ihre Augen auf Luxon. Sie war nicht ratlos, denn ihr Gefühl sprach für Luxon. Aber sie fragte sich, wie gut sie ihn kannte. Er war für sie der einzige Mann, dem sie jemals ganz gehören wollte. Aber immer wieder tauchten winzige Zweifel auf. Wer war Luxon wirklich? Sie hatte ihn am Nadelfelsen getroffen, als sie mit Steinmann Sadagar und Nottr auf die Rückkehr Mythors wartete. Schon bald nachdem sie einander in die Augen gesehen hatten, erzählte er ihr aus seinem Leben. »Ich wuchs in Sarphand auf, in der ›Goldenen Hafenstadt‹, im tiefsten Süden von Salamos«, hatte er einmal erzählt. »Sarphand liegt am Innenmeer. Ich kannte meine Eltern nicht, ich ging von einer Hand in die andere und lernte die Bosheit der Menschen ebenso kennen wie ihre selbstlose Güte. Aber niemals geschah mir wirklich etwas. Es muß wohl an meiner Art gelegen haben, an meinem Lächeln oder der Fähigkeit, Schlimmes schnell zu vergessen.« Kalathees Augen bemerkten, ohne es wirklich wahrzunehmen, die prachtvollen Rüstungen mit dem Lilienzeichen und die weißen Umhänge der Salamiter. Einige der Männer mit den asketischen Gesichtern trugen die Umhänge an den Schultern, andere hatten sie zusammengerollt an den Sätteln festgeschnallt. Alle warteten ungeduldig auf Luxons Verfolger. Ein weiterer Teil der harten Schule des Lebens, durch die Luxon gehen mußte, sah ihn als Leibeigenen, als Sklaven und sogar als Medium eines finsteren Magiers mit Namen Ventacor. Luxon wurde als Mittler zwischen der Geisterwelt und dem Magier benutzt. Seine Freiheit gewann er wieder für kurze Zeit, als ein Dämon seinen Unterdrücker vernichtete. Dann fiel er den Ermächtigten in die Hände, die das Volk 18
von Sarphand auch als Wilde Fänger bezeichnete. Sie streiften in den Nächten durch die Plätze und Gassen der Stadt, fingen wahllos Menschen zusammen und verschleppten sie. Diese armen Gefangenen sollten im tiefen Süden als Kämpfer gegen die Mächte der Finsternis eingesetzt werden – so raunte man es sich zu, denn die Finsternis berannte seit undenklich langer Zeit eine Lichtbastion, die den Namen Logghard trug. Aber rätselhafterweise wurde Luxon, so hatte er erzählt, freigelassen. Der einzelne Reiter trabte heran, hob den Arm und rief unterdrückt: »Sie sind von der Straße abgebogen und folgen unseren Spuren!« Der Anführer, der sein Leben dem Kult des Lilienhügels geweiht hatte, zog sein Schwert aus der Scheide. »Versucht«, ordnete er an, »sie alle zu Gefangenen zu machen! Besonders Mythor. Wir haben uns geschworen, ihn lebend zum Lilienhügel zu bringen. Verstanden?« Zustimmende Rufe und das Geräusch der Waffen kamen von allen Seiten. Luxon setzte sich im Sattel zurück und lächelte Kalathee an. Stimmten seine Berichte aus der Vergangenheit? Log er, oder ging er nur mit der Wahrheit unbedenklich um? Sie wußte es nicht, und es war ihr auch gleichgültig. Als sie sich am Nadelfelsen zum erstenmal trafen, sagte Luxon, er sei hier, um einen Erscheinungspunkt des Lichtboten aufzusuchen. Dann ließ er Nottr und Sadagar niederschlagen und durch Düfte betäuben. Und seine Erzählungen überzeugten Kalathee, daß er der Sohn des Kometen sei, trotz der Abenteuer, die sie zusammen mit Mythor erlebt hatte. Nachdem die Hütte des Fallenstellers Vormen erreicht worden war, trennten sich Kalathee und Luxon von Luxons Leuten; diese legten unter der Führung Gomhels eine falsche Spur 19
in den Süden. Die meisten Ereignisse der großen Schlacht zwischen den Mächten der Finsternis und den zusammengeströmten Verteidigern der Lichtwelt hatten sie nur aus weiter Ferne miterlebt. Nahe der Caer-Heerlager stieß Gomhel wieder zu ihnen, und er berichtete, daß er Nottr und Sadagar an die Ugalier ausgeliefert habe. Dadurch hoffte Luxon, der sich noch hinter dem Namen Arruf verbarg, daß Mythor so lange aufgehalten werden konnte, bis Luxon den Baum des Lebens vor ihm erreicht hatte. Nicht jeder Schritt dieses Planes war so einfach aufgegangen, erinnerte sich Kalathee, aber jetzt wurde sie wieder abgelenkt. Im tiefblauen Himmel über der Wüstenei zog der Schneefalke seine Kreise. Mythor und seine Reiter waren da.
Sabesch hob den Arm und zog am Zügel, sein Pferd verlangsamte seinen Lauf und blieb stehen. Der Kommandant der Leibwache rückte seinen Helm zurecht und sah hinüber zu Mythor, seinem König. Seine Aufgabe war, nicht nur Mythors Leben zu schützen, sondern auch zu gewährleisten, daß die Stadt ihren König so lange wie möglich behielt. Wenn Mythor flüchten wollte, mußte er ihn zurückhalten. Notfalls mit Gewalt. »Mythor«, sagte er und sah, daß seine Reiter um das Einhorn und seinen Reiter einen Halbkreis schlossen, »du solltest vorsichtiger sein. Bedeuten der Bogen und der Köcher dir so viel?« »Diese Waffen haben eine besondere Bedeutung für mich!« sagte Mythor und hob den Kopf. Etwas im Verhalten des Schneefalken störte ihn. »Als Zeichen brauche ich sie. Und als Bestätigung.« Hark, der Bitterwolf, verschwand zwischen Geröll und Stei20
nen. Er stieß einen heiseren Laut aus. Horus blieb in der Luft schweben und schlug mit den Flügeln; er rüttelte über einer Stelle. Zweifellos sah er etwas, das er Mythor mitteilen wollte. »Trotzdem!« beharrte Sabesch. Er war ein ledergesichtiger Mann mit scharfen Augen, einem ebensolchen Verstand und unbeugsamem Willen. »Stürze dich nicht in die Gefahr. Es kann ein Hinterhalt sein. Du weißt, daß Leone dich braucht wie dein Falke die Luft.« Mythor lachte kurz; er erinnerte sich an seine nächtliche Floßfahrt und jenen Mann, dem er sogar angeboten hatte, an seiner Seite zu kämpfen. Er wollte die Entscheidung! Luxon oder er! Er schüttelte den Kopf. »Auch wenn es ein Hinterhalt ist«, sagte er entschlossen. »Los. Wir sind einundzwanzig ausgeruhte, kampferprobte Männer.« Hinter den Steinen und den Felsbrocken stieß der Bitterwolf ein warnendes Heulen aus. »Es ist eine Falle!« Mythor setzte die Fersen ein. Der Griff des Gläsernen Schwertes schmiegte sich in seine Hand. »Wir reiten nicht auf der Spur, die in die Wüste führt. Irgend jemand, hoffentlich Luxon, wartet dort auf uns.« Die Kavalkade ritt an. Die Pferde rissen die Köpfe hoch. Schwerter, Streitäxte und Lanzenspitzen funkelten in der Sonne. Einige Speere, an denen Wimpel flatterten, senkten sich. Jeweils zehn Reiter stoben nach links und rechts. Der Falke ließ sich um mehrere Mannslängen fallen, breitete die Schwingen aus und flatterte wieder auf seinen Herrn zu. Pandors Horn stieß unternehmungslustig nach vorn. Sabesch gab seinem Pferd die Sporen und ritt Seite an Seite mit Mythor im Zickzack zwischen skurrilen Felsbrocken hindurch, die in Sand und Geröll lagen, als habe ein Riese mit ihnen gespielt.
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»Zwanzig Reiter…«, flüsterte Luxon und fühlte, wie sein Groll und seine Wut wuchsen. »Und Mythor an ihrer Spitze!« Wohin er auch blickte, jeder Salamiter, auch Kalathee und Samed hatten ihre Köpfe gehoben und starrten den weißen Falken an, der über ihnen rüttelte und seinen Herrn unzweifelhaft warnte. Mit einer schnellen Bewegung riß Luxon einen Pfeil aus dem Köcher, schwang den Bogen herum und setzte den Pfeil auf die Sehne. Ein Sonnenstrahl blitzte im Zieledelstein. Der linke Arm des Mannes hob sich, langsam krümmte sich der Sternenbogen. Die Spitze des Pfeiles wies in die Richtung des fast unbeweglich stehenden Falken, und Luxons Blick verschmolz fast mit dem Tier. Seine Fingerspitzen, zwischen denen Sehne und Fiederung ruhten, berührten die Wange. Niemand sah den Bitterwolf, der auf einem runden Felsen stand, den Schädel nach unten stieß und tief in der Kehle grollte. Die Muskeln seiner Schultern und der Hinterläufe zogen sich zusammen. »Verdammtes Tier!« flüsterte Luxon und gab die Sehne frei. Der Pfeil heulte fast senkrecht in die Höhe, drehte sich und traf den Schneefalken. Durch die lauernden Salamiter ging eine undeutliche Bewegung. Ein paar unterdrückte Ausrufe erschollen. Luxon senkte den Bogen und lächelte kalt. Der Wolf stieß ein gellendes, kurzes Heulen aus und sprang mit einem mächtigen Satz von dem Felsen. Der Falke war in der Luft zusammengezuckt, war aus seiner Bahn geworfen worden, und jetzt trudelte er, hilflos mit einem Flügel schlagend, schräg zu Boden und verschwand aus den Augen der Wartenden. Und im gleichen Moment preschten Mythor auf dem schwarzen Einhorn und ein braungesichtiger Mann mit einem schwarzen Bart unter den Stangen des Helmvisiers auf die Verstecke der Salamiter zu. 22
Reiter mit Lilien auf ihren Schilden und Rüstungen sprangen zwischen den Felsen hervor. Andere Männer, die sich in Gräben versteckt gehabt hatten, kletterten heraus und schwangen ihre Waffen. Schreie und Kommandos gellten auf. Und schon klirrte Stahl auf Stahl.
Mythor sah zuerst, daß Hark in einer Reihe rasend schneller, fast schattenhafter Sprünge quer zu der Stoßrichtung der Reiterei dahinhuschte. Dann fiel sein Blick auf einen hochgerissenen Schild. Dahinter tauchte der Oberkörper eines Mannes auf, ein Schwert blitzte. Auf dem Schild stand das Zeichen der schwarzen Lilie, das Zeichen seines toten Freundes Gapolo ze Chianez. »Ich habe verstanden«, stieß er flüsternd hervor, beugte sich nach links aus dem Sattel und schmetterte mit einem wilden Hieb eine Klinge und einen Schild zur Seite. Der Salamiter überschlug sich und krachte schwer in den aufstiebenden Sand; sein Schwert bohrte sich zwischen das Geröll. Er hatte Luxon verfolgt und war in einen Hinterhalt der Salamiter geraten. Aber wo war Luxon? Ein zweiter Mann stellte sich Mythor in den Weg. Pandor stieg vorn hoch, seine Hufe wirbelten durch die Luft. Mythor riß den Schild hoch und kreuzte die Klinge mit einem Salamiter in prächtiger Rüstung. Die Spitze Altons schlitzte den weißen Umhang von oben bis unten. Ein wuchtiger Fußtritt gegen die Schulter schleuderte den Salamiter wie ein Bündel zwischen die Steine. Wieder tauchte der Wolf auf. Er stemmte seine Beine in den Sand und riß den Kopf hoch. Entsetzt sah Mythor, wie Horus neben dem Vorderkörper des Wolfes in das Geröll fiel und mit den Schwingen zuckte. Ein Flügel war von einem langen Pfeil durchbohrt worden. Auf dem weißen Gefieder glänzten rote 23
Blutstropfen. Der Wolf schnappte zu, und mit unendlicher Vorsicht schlossen sich seine Kiefer um den Körper des Falken. Neben Mythor erfolgte ein schwerer Zusammenprall. Zwei Pferde krachten in kurzen Galoppsprüngen gegeneinander. Die Waffen der Reiter hämmerten dröhnend aufeinander und auf die Schilde. Der fremde Reiter kippte seitlich aus dem Sattel, und Sabesch schlug ihn mit dem Griff des Schwertes bewußtlos. Kochend vor Wut, sagte Mythor zu sich selbst: »Ein Pfeil! Ein Geschoß aus der Waffe des Lichtboten! Der Sternenbogen!« Also war Luxon nicht weit. Rechts und links sprengten Reiter aus Leone heran. Einige von ihnen ritten hinter den Verstecken der Salamiter. Für Mythor war es klar, daß die Salamiter ihn gefangennehmen wollten, um ihm ein würdiges Ende auf ihrem verdammten Lilienhügel bereiten zu können. Seinen Zorn ließ er am nächsten Angreifer aus. Blitzend beschrieb Alton einen Halbkreis. Das Schwert zerschnitt einen Speer, bevor er sich in Mythors Schild bohren konnte. Pandor galoppierte auf den Salamiter zu, rammte das Pferd und stieg wieder hoch. Mythor duckte sich, als ein Pfeil über seinen Kopf dahinheulte. Diese Männer, die ihr Leben ihrem Kult gewidmet hatten, wollten ihn lebend. Und deswegen war er ihnen gegenüber im Vorteil. Mythor riß den Kopf hoch, fing mit dem Schwert einen Hieb mit der breiten Seite einer Streitaxt auf und schmetterte den Griff des Schwertes gegen die Schulter des Salamiters. Der Mann stieß ein gurgelndes Ächzen aus und ließ die Waffe fallen. Schneefalke und Sternenbogen – zwei Vermächtnisse des Lichtboten! Mythor dirigierte mit den Schenkeln Pandor hierhin und dorthin, und neben ihm wehrte Sabesch mit wilden, 24
schwirrenden Rundumschlägen jeden Angriff ab. »Ausgerechnet Luxon!« knirschte Mythor. Zwei Reiter aus der Gruppe Sabeschs galoppierten an ihm vorbei, stießen hallende Angriffsschreie aus, mit denen sie sich selbst aufmunterten, und schlugen wütend auf die Salamiter ein. Die Freunde Gapolos wehrten sich verbissen. Aber der Befehl von Sabesch, jeden Angriff auf den »König« unter bedingungslosem Einsatz des eigenen Lebens abzuwehren, hielt sie auf der Stelle. Sie kämpften wie die Rasenden, setzten rücksichtslos ihre Waffen und ihre Kraft ein, und neben ihnen sanken die Salamiter in den Sand. Tiefe Schrammen zogen sich über ihre Rüstungen, und ihre Pferde, die im Sturz mitgerissen worden waren, schlugen mit den Läufen und wirbelten Sand und Geröll auf. Einmal, mitten in dem wütenden und schnellen Kampf, sah Mythor seinen Wolf, der zwischen den Pferden entlangrannte und mit dem Falken im Rachen in Sicherheit sprang. Ein Funken Erleichterung, nicht mehr, denn schon wieder drangen zwei Salamiter auf ihn ein. Einer von ihnen wurde von dem Hauptmann der Wache niedergeschlagen, der andere warf zuerst einen Speer nach Mythor, der über die runde Fläche des Schildes schrammte und durch die Luft wirbelte. Dann war der Reiter heran, hob ein Kurzschwert und schlug auf Mythor ein. Das Gläserne Schwert zischte hoch und blockte den Hieb ab, das Schwert des Gegners wurde zurückgeprellt. Einige Herzschläge lang konnte Mythor in das Gesicht des Kriegers blicken: Er sah brennende Augen, die perlenden Schweißtropfen, einen verkniffenen Mund und den Ausdruck unbarmherziger Entschlossenheit. Dann schlug Pandor mit den Hinterhufen aus und drängte das Pferd des Salamiters ab. Mythors Schwert senkte sich schnell, traf den Helm und darunter die Schläfe des Salamiters und zerfetzte mit der nadelfeinen Spitze das Wehrgehänge des Angreifers. Ein Schrei hallte zwischen den Felsen. Ein Reiter aus der Ge25
folgschaft von Sabesch brüllte: »Aufhören! Wir haben sie besiegt.« Die Leoniter schienen den Kampf für sich entschieden zu haben. Mythor merkte, daß Pandor ohne seine Leitung und Hilfe zur Seite sprang, sich auf der Hinterhand einmal ganz um sich selbst drehte und dann schnaubend stehenblieb. Mythors Blick glitt über die Pferde, die sich wiehernd aus dem Sand hochstemmten, über die zuckenden und bewegungslosen Körper im Sand und über die leonitischen Reiter, die offensichtlich überall siegreich waren. Er stieß das Schwert senkrecht in die Luft und schrie: »Aufhören! Entwaffnet sie!« Sabesch sprang mit einem Satz aus dem Sattel und trat mit einem wuchtigen Tritt einem Verwundeten das Schwert aus der Hand. Dann hob er beide Arme und brüllte: »Ihr habt gehört, was der König befohlen hat. Nehmt ihnen die Waffen ab!« Einige der Reiter aus Leone waren gezeichnet. Über ihre Schultern und entlang den Armen liefen breite Blutbahnen, die nun in der Hitze der Sonne trockneten. Trotzdem ließen sie sich aus den Sätteln fallen und rannten auseinander. Einige Augenblicke später war alles vorbei – die Waffen klirrten auf einem Haufen übereinander. Scheuende Pferde wurden eingefangen, und Mythor richtete sich in den Steigbügeln des Löwensattels auf. »Fesselt sie!« dröhnte seine Stimme. Er sah, daß drei Männer auch auf Luxon lossprangen. Aber sowohl Luxon als auch seine beiden Begleiter rissen ihre Pferde herum und flüchteten. Mit einer Handbewegung hielt Mythor seinen GardeAnführer auf und grollte: »Sie flüchten in die Vulkanzone der Wüste. Es wird uns ein leichtes sein, sie einzuholen.« In rasendem Galopp flohen Luxon und die beiden anderen Reiter, die sich tief über die Hälse der Pferde beugten. 26
Binnen weniger Augenblicke waren die Salamiter gefesselt und wurden in eine Gruppe zusammengetragen und gestoßen. Sabesch schaute schweigend zu und sagte sich zum zweitenmal an diesem Tag, daß die Stadt wohl einen schlechteren König hätte finden können. Mythor hatte schnell, überlegt und mit genau eingesetzter Kraft gekämpft. »Hier! Ich muß mich um Horus kümmern«, sagte Mythor halblaut und sprang aus dem Sattel. Er lief, während er das Schwert in den Gürtel schob, auf die Spalte zwischen zwei Felsen zu. Dort lag der Bitterwolf im Schatten und leckte mit seiner langen Zunge das Blut aus dem Gefieder des Falken, der zuckend zwischen seinen Vorderläufen lag. »Ich schwöre dir, Mythor«, schrie einer der Salamiter in seinem Rücken, »daß wir dich fangen und zum Lilienhügel zurückbringen werden!« Mythor kümmerte sich nicht um die Drohung, die in diesen Worten lag. Er rannte auf Horus und Hark zu. Auf den ersten Blick sah er, daß es ein Pfeil aus dem Mondköcher war, der den Falken getroffen hatte. Er zog seinen Dolch, packte den dünnen Schaft des Pfeiles und versuchte, ohne das Holz zu kanten und zu biegen, den Pfeil in der Mitte auseinanderzuschneiden. Es gelang nach einigen Momenten, und dann zog er vorsichtig und behutsam, die Befiederung sanft drehend, den halben Pfeil aus der blutenden Schwinge. Der Schneefalke stieß einen leisen, klagenden Laut aus. Mythor warf den blutigen Pfeilrest über die Schulter und nestelte den Beutel mit dem Harz des Lebensbaums vom Gürtel. Dann zupfte er etwas von dem Harzklumpen herunter, knetete es zwischen den Fingerkuppen und preßte das weiche Harz von beiden Seiten in die Wunde. Er tastete vorsichtig die Knochen ab, aber es schienen nur Muskeln und Haut verletzt worden zu sein. Der Wolf beobachtete hechelnd mit großen, 27
gelbflirrenden Augen jede einzelne Bewegung Mythors. »Schon gut«, murmelte er, hob den Schneefalken auf und schob den Vogel zwischen sein Wams und den breiten Gurt, der den Mantel hielt. Horus schloß und öffnete seine Augen, fauchte leise und schien damit anzudeuten, daß er keine Schmerzen mehr hatte. Mythor hoffte, daß er binnen kurzer Zeit wieder seine Kräfte haben würde und fliegen konnte. Er sagte sich, daß das Tier inzwischen entweder in den Falten seiner Kleidung oder auf seiner Schulter oder gar auf dem Horn Pandors kauern konnte. Langsam kam er aus dem Schatten zwischen den Felsen hervor und begegnete einem schweigenden, wachsamen Blick von Sabesch. »Was jetzt, Mythor?« fragte der Anführer. Zwei Salamiter waren tot. Die Krieger aus Leone verbanden die Wunden einiger Männer, die mit weißen Gesichtern im Geröll kauerten. Mythor deutete in die Richtung der sandigen Straße, auf der sie geritten waren. »Laßt sie frei. Sie haben in gutem Glauben gehandelt.« »Du bist so verdammt edel«, knurrte Sabesch, »daß es mich wundert. Sie wollten dich töten!« Mythor sagte: »Sie haben es nicht geschafft. Schau, sie haben eine Art Gelübde abgelegt. Sie wollen, daß ich meinem Freund nachfolge. Sie sind im Irrtum. Ich kann sie nicht bekehren. Aber ich will sie auch nicht bestrafen. Verstehst du, Sabesch?« Sabesch spuckte Sand aus und knurrte: »Ich verstehe nicht. Aber ich gehorche dir, Mythor!« »Was sollen wir also tun?« fragte einer der Kämpfer aus Leone. »Laßt sie ihre Toten begraben. Ihr habt ihre Wunden ohnehin versorgt, und dann sollen sie dorthin zurückreiten, woher sie 28
gekommen sind.« Einer der Männer, denen das Blut über die Schultern rann, hob die Hand und schüttelte drohend die Faust in Mythors Richtung. Mythor fühlte sich in diesem Augenblick keineswegs besonders edel, aber trotzdem sagte er: »Du drohst mir, Mann aus Salamos. Höre gut zu. Ich sage es dir nur einmal… dir und deinen Männern. Ich lasse euch frei, denn ihr seid nicht meine Feinde. Aber wenn ich noch einmal mit euch zusammentreffe und in einen Kampf gezwungen werde, gibt es keine Gnade. Dann wird euch mein Schwert mit seiner vollen Schärfe treffen. Nehmt eure Verwundeten und zieht in Frieden.« Der Verwundete knirschte mit den Zähnen und versicherte: »Wir sorgen dafür, daß du deinem Freund nachfolgst! Verlaß dich darauf.« Mythor blickte ihn mit kummervollem Gesicht an. »Mein Freund Gapolo würde nicht wollen, daß ich ihm folge. Dafür verstanden wir uns von Mann zu Mann viel zu gut. Ich ehre sein Andenken besser, wenn ich weiterhin gegen die Mächte der Dunkelzone kämpfe.« Und gegen diesen Luxon, sagte er sich schweigend. »Was weißt du, was Gapolo wollte?« »Eher als du, auch wenn du es nicht glaubst!« versicherte Mythor, winkte ab und legte seinen Arm um Pandors Hals. Die Reiter aus Mythors Stadt kletterten in die Sättel und schnallten die Wasserschläuche ab. Sie warteten auf Mythors Befehle. Sabesch klappte das Stangenvisier hoch und zwirbelte seinen Bart. »Du denkst daran, Mythor, daß deine Aufgaben in der Stadt liegen?« erkundigte er sich besorgt. »Ja. Aber zuerst muß ich diesen kühnen Dieb verfolgen, ihn einholen und ihm den Bogen und den Köcher abnehmen.« Fast entsetzt stieß Sabesch hervor: »Aber… er reitet in die 29
Vulkanwüste!« »Was er schafft, schaffen wir auch!« versicherte Mythor. »Oder zweifelst du daran?« »Nein. Aber ich muß dich beschützen. Ich muß verhindern, daß dir etwas passiert. Nimm Abstand, ich bitte dich, von diesem Versuch!« Neben den Vorderbeinen Pandors stand wartend und mit hängender Zunge der Bitterwolf. Aus seinem Blick glaubte Mythor herauszulesen, daß auch Hark die Verfolgung aufnehmen wollte. »Ich denke nicht daran. Komm mit, hilf mir! Es wird nur einige Stunden dauern, und dann sind wir wieder auf der Straße, die in die Stadt führt. Mit jedem Atemzug aber gewinnen diese drei mehr und mehr Vorsprung.« In Leone hatte es mit den Königen immer wieder Probleme gegeben. Seit langer Zeit, überlegte Sabesch, war dieser Mann Mythor einer der wenigen Stadtkönige, denen man vertrauen und die man wirklich als König bezeichnen konnte. Nur deshalb lautete schließlich seine widerstrebende Antwort: »Wir reiten mit dir in die Hölle der Wüste. Wir wissen, was das bedeutet. Aber eines sage ich dir, König Mythor! Wenn es zu wild wird, hast du einen neuen, entschlossenen Feind. Mich, den Kommandanten Sabesch!« Mythor schenkte ihm ein gewinnendes Lächeln und entgegnete: »Alles verstanden, Sabesch!« Die kleine Truppe formierte sich und nahm die Verfolgung Luxons auf. Die Spuren der drei Reiter zeichneten sich deutlich im Sand ab. Sie deuteten nach Süden.
Luxon ritt an der Spitze, Kalathee folgte, und den Schluß bildete Samed. Die drei Pferde, durch die Pause im Hinterhalt erholt und erfrischt, griffen kräftig aus. 30
Kalathee stand in den Steigbügeln, und trotz des harten Galopps gingen ihre halb verwirrten Gedanken wieder in die Vergangenheit zurück. Ihr Pferd folgte dem Reittier ihres Geliebten; sie brauchte die Zügel nicht… und sie konnte nachdenken. Wer war Luxon wirklich? Sarphand war wohl tatsächlich seine Heimat gewesen, die Stadt, in der er aufgewachsen war. Nachdem er freigekommen war, hatte er sich – so erzählte er – zum König der Diebe hochgearbeitet. Er wurde zum Schrecken der Reichen, denen er viel oder alles nahm, und die Armen liebten ihn, weil er ihnen gegenüber eine Art Wohltäter wurde. Schließlich erhob man ihn in den Adelsstand von Sarphand, nur deshalb, weil man ihn nicht länger fürchten wollte. Als Adeliger konnte er dieses Leben nicht länger weiterführen. Diesen Werdegang teilte er mit einer Gruppe von Frauen und Männern, die über das Schicksal dieser eigenartigen Stadt bestimmten. Sarphand war ein Ort, in dem jeder gerissene, aufgeweckte und geschickte Bewohner wahrlich seine Möglichkeiten hatte. Kalathees Pferd stolperte, und sie brachte den schwarzen Wallach mit Sporen, Zügelhilfe und Gewichtsverlagerung wieder in die richtige Spur. Das Tier senkte den Kopf, riß ihn wieder hoch und stieß ein dumpfes Wiehern aus. Luxon drehte sich im Sattel herum, hob beruhigend den Arm und setzte sich wieder zurecht. »Weiter, Kalathee!« rief er unterdrückt. »Schneller!« Vor sechs Monden, bei Vollmond, so hatte er ihr berichtet, hatten ihn drei geheimnisvolle Männer besucht. Sie sagten ihm auf den Kopf zu, daß er in Wirklichkeit aus Logghard stamme und ebenso unzweifelhaft der Sohn des Kometen sei. Er sei ausgeschickt worden, um das Vermächtnis des Lichtboten aus den verschiedenen Fixpunkten zusammenzutragen. Kalathee wußte nicht, ob sie ihm auch diesen Teil seiner Er31
zählungen glauben durfte. Aber es gab keinen Gegenbeweis. Und selbst wenn es einen solchen Gegenbeweis gegeben hätte, würde sie ihn wohl nicht anerkannt haben. Die Pferde trabten, stolperten und galoppierten durch das Geröll aus winzigen Kieselsteinen, wichen den großen Brocken aus und näherten sich mehr und mehr einem breiten Streifen, der aus weißem Sand bestand und sich vor den wunderlichen vielfarbigen Wülsten und Türmen verwitternden Vulkangesteins quer erstreckte. Durch diese Zone lief, kaum kenntlich von Steinen, dreieckigen Dünen und verdorrten Bäumen, von bleichenden Skeletten und wellenförmigen Strukturen der tiefschwarzen, leuchtend roten und gelben Lava gesäumt, eine Piste. Es war die Karawanenstraße – eine Route, auf der nur die Männer mit ihren Tieren zogen, die sich weder vor giftigen Gasen, fliegenden Ungeheuern noch den kriechenden Schrecken dieses Landes fürchteten. Ein Pfad für erfolgreiche Glücksritter. Auf dieser Straße zog die Karawane dahin, die abermals von Abudirg angeführt wurde. Die Männer schwiegen, die Tiere ließen müde und durstig die Köpfe hängen. »Vorwärts!« murmelte Abudirg und versuchte, seine Gedanken loszuwerden. Er dachte an entgangene und zukünftige Geschäfte, an seine Reisesklavin, die er zum passenden Zeitpunkt zweifellos mit beträchtlichem Gewinn wieder verkaufen konnte, er entsann sich dieses grinsenden Betrügers mit dem Galeerentrick, und sowohl der Sand als auch die trockene Hitze machten ihm erheblich zu schaffen. Es war Mittag oder kurz danach. Die Hitze und die Helligkeit der Sonne hatten ihren Höchststand erreicht. Selbst Wachid und Markib schwiegen und begnügten sich damit, ihre Tiere anzutreiben. So zogen sie dahin und waren mit dem 32
Sand und sich selbst allein. Und mit ihren Gedanken, die sich keineswegs nur mit reichem Gewinn aus dem Handel beschäftigten. Plötzlich, irgendwann, nach einigen Stunden, riß Abudirg die Augen weit auf. Dann hob er die Hand über die Augen und blinzelte. Vor ihm, fünfzehn Bogenschüsse entfernt, stoben einige Reiter von links nach rechts auf die Karawanenstraße zu. Zuerst entdeckte er nicht die Reiter, sondern die wallende Sandwolke schräg hinter ihnen. Es sah so aus, als ob die Reiter und die Karawane annähernd zur gleichen Zeit die gekennzeichnete Straße oder Piste erreichen würden. Abudirg hob sich aus dem Sattel und fluchte; sein Gewand war dort, wo er saß, naß und durchtränkt von Schweiß. Dann drehte er sich herum und rief: »He! Bruder des Betrugs! Vetter der Scheidemünze! Vor uns reitet jemand, und es sieht so aus, als würden wir die Fremden treffen. Legt die Hände an eure Schwerter und Geldbörsen!« Wachid schrie von hinten: »Siehst du Gespenster, halbblinder Anführer von störrischen Lasttieren?« »Mitnichten, Gevatter!« gab Abudirg zurück. Er erhoffte sich von diesem Zwischenfall eine Abwechslung des langen Durstmarsches. »Offne deine verklebten Augen, Tyrann der Pferdezecken!« Inzwischen sahen auch die anderen Teilnehmer die Sandwolke. Zwei von ihnen warfen die Leinen und Zügel der Lasttiere ihren Nachbarn oder den Sklaven zu und galoppierten zum Karawanenführer nach vorn. »Tatsächlich!« staunten sie, als sie dorthin blickten, wohin er deutete. »Drei Reiter. Sie kommen auf uns zu.« Auch sie trugen Tücher auf dem Kopf und vor den Gesichtern. Nur ihre Augen blitzten aus dem schmalen Schlitz hervor. Die dunklen Tücher verhinderten, daß der Körper allzu33
viel Feuchtigkeit verdunstete. Die Geschwindigkeit der Karawane nahm zu; es schien, als ob auch die müden Lasttiere die Abwechslung witterten. Weit und breit war kein Grün zu sehen, also gab es keinen Brunnen oder keine Oase in der Zone zwischen Geröll und den vielfältigen Erscheinungen der Lava. »Wir, um es genau zu sagen, reiten auf sie zu!« korrigierte Abudirg. Schweigend ritten sie weiter und zogen die beladenen Pferde und Saumtiere hinter sich her. Die Staubwolke wurde kleiner und flacher, als die fremden Reiter nach rechts bogen und die Piste erreichten. Sie hielten kurz an, entdeckten die Karawane und schwenkten alsbald in deren Richtung. Es dauerte nicht lange, dann waren deutlich die Einzelheiten zu unterscheiden. Die einzelnen Karawanenhändler lockerten die Dolche und die flammenförmigen Schwerter an ihren Gürteln und erwachten aus ihrer schwitzenden Erstarrung. Die drei Reiter trabten langsam auf sie zu. Abudirg murmelte so laut, daß es Markib hören und verstehen konnte: »Drei Reiter können uns und unseren Waren nicht gefährlich werden. Aber vielleicht haben wir drei Späher!« »Oder Sklaven«, gab Markib grämlich zurück. »Der Sklavenmarkt von Sarphand ist noch immer eine gute Adresse.« »Abwarten!« Es dauerte nur wenige Augenblicke, und dann trafen die beiden Gruppen aufeinander. Abudirg betrachtete gelassen den Mann, der an der Spitze der Gruppe ritt. Sein Haar war weiß oder ausgebleicht und wehte im Wind. Das Hemd war aus einem Stoff, der im Sonnenlicht leuchtete und ziemlich kostbar aussah. Auch eine lange Hose bestand aus demselben Material, darüber ein aufklaffender Umhang aus feinem hellbraunem Stoff oder Leder. Der Reiter hatte unvernünftigerweise keine Kopfbedeckung, aber über seiner Schulter hingen ein Köcher und ein großer, geschweifter Bogen. Ein junger Mann und ein Knabe oder eine knabenhaft aussehende Frau 34
mit weißem Haar begleiteten ihn. Dieses Gesicht! durchfuhr es Abudirg. Erinnerungen zuckten durch seinen Kopf. Er kannte diesen Mann! Er hatte noch vor wenigen Augenblicken, in der schlimmen Erinnerung schwelgend, an ihn gedacht. Dieses Gesicht und das unverschämt fröhliche Lachen, das der Reiter nun aufsetzte – er würde sie niemals vergessen können. Zu Wachid und Markib sagte der Karawanenführer drängend: »Dieser Reiter heißt Arruf. Ich habe mit ihm eine private Rechnung zu begleichen. Bitte, helft mir – ihr könnt seine Begleiter haben.« »Wirklich? Oder phantasierst du?« knurrte Markib und ließ die Schnur seiner Peitsche in den Sand fallen. »Es ist mein höllischer Ernst, Markib!« beteuerte Abudirg. »Wenn er zu den Waffen greifen sollte…« »Dann werden wir ihn eines Besseren belehren!« versprach Wachid grimmig. Wachid hatte sich seinerzeit mit einer Summe Geldes an der Auslösung des unglückseligen Händlers beteiligt. Abudirg senkte grimmig den Kopf und betrachtete den Näherkommenden durch den Schlitz seiner Gesichtsschleier. Kein Zweifel! Es war Arruf aus Sarphand. Der Reiter zügelte sein Pferd, hob in friedfertiger Gebärde einen Arm und rief mit angenehm schmeichelnder Stimme: »Ich bin mit meinen Freunden auf der Flucht vor rasenden Salamitern und betrügerischen Leuten aus Leone. Nehmt uns auf! Wir verrichten in eurer Karawane auch niedrigere Arbeiten, aber bitte, verbergt und schützt uns!« Abudirg, für den es aus einer Entfernung von vier Mannslängen nunmehr keinerlei Zweifel mehr gab, fühlte, wie ihn halb Belustigung ob der Frechheit, halb Wut wegen seiner einschlägigen Erinnerungen packte. Er lachte lautlos, als Wachid antwortete: »Wohin des Weges, bleichhaariger Fremdling?« 35
»Überallhin«, entgegnete der Reiter und ließ sein Pferd näher an die Spitze der ruhig weiterziehenden Karawane herantänzeln. »Nur nicht nach Westen oder Norden. Wir wollen in den Süden, und wir verstehen es, für uns selbst zu sorgen.« Markib und Wachid und noch drei andere Männer ritten langsam an ihren Lasttieren vorbei zur Spitze und schoben sich zu beiden Seiten Abudirgs auf die Fremden zu. Abudirg rief unter seinem Schleier: »Wie ist dein Name, Reiter?« »Ich bin Luxon«, kam die unbeschwerte Antwort, »den sie den Liebenswerten nennen.« In Abudirg kochte die Wut hoch, und mit einem entschlossenen Ruck riß er den Schleier von seinem braunen Gesicht. Er funkelte den Fremden an und grollte, während er sein Schwert zog: »Du bist Arruf, der übelste und gewissenloseste Betrüger von Sarphand. Und endlich, nach so langer Zeit, wird meine Rechnung ausgeglichen. Mit Zins und Zinseszins.« Arruf verfärbte sich und griff mit der linken Hand nach dem Bogen. Aber sofort waren die fünf Reiter bei ihm und richteten die Spitzen der Schwerter auf ihn. Die Peitsche zuckte hoch, knallte gräßlich, und ihr Ende schnellte den langen Dolch aus der Hand des halbwüchsigen Jungen, der zu fliehen versuchte. Der Dolch wirbelte blitzend irgendwo in den Sand, und der zweite Peitschenhieb riß ihn mit unwiderstehlicher Gewalt aus dem Sattel. Völlig verblüfft brachte Arruf hervor: »Ich bin Luxon, nicht Arruf. Und dich, der diese wüsten Drohungen ausstößt, kenne ich nicht.« Hinter Abudirg ertönten scharfe Befehle. Einige Treiber ritten heran und kesselten den Fremden und seine Begleiter ein. An ein Entkommen war nicht mehr zu denken. Überall blitzten Waffen auf. Abudirg lenkte sein Pferd nahe an Arruf heran, musterte noch einmal eindringlich dessen Gesicht und war absolut sicher, daß es sich um den Betrüger handelte, dem er 36
lange Jahre Ärger, darbendes Elend und zweifelhaften kaufmännischen Ruf verdankte. Er lachte rauh auf. »Du hast mir eine Galeere verkauft, die nicht dir gehörte, Sohn von unnennbaren Müttern und zweifelhaften Vätern«, sagte er. »Ich entkam den Ketten auf dieser Galeere nur, weil mich meine Freunde auslösten. Aber damals tat ich einen Schwur.« Arruf, dies sah jetzt Abudirg, erkannte ihn sehr wohl. Aber er tat, als habe er ihn niemals in seinem Leben auch nur aus großer Ferne gesehen. Er stimmte ein fröhliches Lachen an und rief: »Ich bin ein harmloser Reiter und handle nicht mit Galeeren!« Abudirg, dem für die Zeit, in der er die Karawane führte, auch die volle Befehlsgewalt zustand, deutete auf den Jungen und die Frau, die sich gegen Wachids grobe und prüfende Griffe wehrte. »Schafft sie nach hinten! Bindet sie auf die Sättel. In Sarphand bringen sie sicher einen guten Preis! Aus meinen Augen… und schnell!« Seine Männer, die sich über die Abwechslung und zwei risikolos gefaßte Sklaven freuten, gehorchten nur zu gern. Sie zerrten die Reittiere und die junge Frau, die wild um sich schlug, von der Spitze des Zuges weg nach hinten. Peitschen pfiffen durch die Luft, spitze Schmerzensschreie ertönten. »Du bist«, sagte der Karawanenführer und deutete mit der Spitze seines Schwertes auf Luxon, »schlimmer als jeder andere Betrüger. Du hast mich in persönliche Gefahr gebracht. Jetzt ist die Stunde meiner Rache gekommen.« Noch war Luxon nicht entwaffnet. Er versuchte, sein zitterndes, scheuendes Pferd zu beruhigen. »Wer bist du, der diese sinnlosen und beleidigenden Anschuldigungen ausstößt?« erkundigte sich Luxon und setzte wieder sein unschuldiges, gewinnendes Lächeln auf. »Abudirg aus Sarphand. Man nennt mich den Finsteren – 37
aber erst seit deinem Betrug, Arruf.« »Einen solchen Namen habe ich nie gehört. Der Finstere… Aber lassen wir das. Trinken wir an euren Lagerfeuern einen heißen Tee, vergiß deinen Groll, denn er gilt einem anderen.« Abudirg starrte ihn schweigend an. Unter der Bräune war sein Gesicht weiß vor Wut geworden. Dann lachte er kurz und deutete mit dem Schwert in die Vulkanwüste. Er sagte entschlossen: »In Sarphand wüßte ich, wie ich mein Mütchen an dir kühlen würde. Aber nicht hier. Ich bestimme, daß man dich entwaffnet und in die Todeszone hineintreibt. Dort magst du an deinen Betrug denken.« Er meinte es ernst. Er wollte sich tatsächlich die Hände nicht beschmutzen. Langsam schob er die Waffe unter seinen Umhang und sagte hart: »Nehmt seine Waffen und alles andere, was er besitzt. Es wird zu meinem Eigentum. Und dann jagen wir ihn in die Zone des stinkenden Todes.« Die Händler und ihre Knechte hoben die Waffen und drangen von allen Seiten auf den fremden Reiter ein. Im selben Augenblick ertönte ein Laut, gewaltiger als Donner, schneidender als zerreißendes Metall, schauriger als alles, was je einer der Männer gehört hatte. Alle Reittiere und Saumtiere scheuten, keilten aus, stiegen in die Höhe und versuchten, in wilder Panik davonzugaloppieren. Ein Schrei gellte aus dem Durcheinander auf. »Die Flammenorgel!«
Der einzige, der in diesem Augenblick richtig handelte, war Luxon. Noch als der metallisch klingende Schrei aus der Todeszone erklang und sich in viele Echos verzweigte, klammerte er sich an den Sattelknauf, hielt die Zügel fest und lenkte das scheuende Tier durch eine Lücke zwischen den Reitern, die darum kämpften, in den Sätteln zu bleiben. 38
In einem rasenden Galopp entlud sich der Schrecken seines Pferdes. Es rannte geradeaus, genau dorthin, woher das Dröhnen, Kreischen und Heulen kam. Der Schweif wirbelte senkrecht hoch, das Tier legte die Ohren an und stemmte sich gegen die Trense. Luxon hielt sich im Sattel, warf einen Blick nach hinten und sah, daß sich die Karawane noch immer in heller Aufregung befand. Hoffentlich nutzten Kalathee und Samed die Verwirrung, um sich zu befreien. Trotz allem: Er ritt mitten in eine Wüste hinein, aus der noch niemals jemand lebend zurückgekommen war, wenn man den Erzählungen glauben durfte. Was war die Flammenorgel? Hundert Galoppsprünge weiter hatte sein Pferd die Kraft verloren und den Schrecken vergessen. Aber schon hatte sich die Umgebung völlig verändert. Noch immer zitterten die letzten Laute dieser gräßlichen Orgel zwischen den Barrieren aus geschmolzenem Gestein. Luxon zog am Zügel und erreichte, daß das Pferd ihm wieder gehorchte. »Noch einmal davongekommen!« sagte er und ritt in eine Senke hinein. Zwischen ersten dünnen Nebelschwaden erkannte er einen winzigen, kreisrunden Tümpel voller Wasser. »Und auch dieser Händler ist sicher, daß ich hier sterbe«, sagte Luxon. Natürlich hatte er Abudirg sofort erkannt und sich an diesen geschickten Schachzug erinnert. Die Rache des Händlers würde sein, daß er Kalathee und Samed auf dem Sklavenmarkt zu Sarphand verkaufte. Luxon schwang sich aus dem Sattel, packte den Zügel dicht unter dem Unterkiefer des Pferdes und ging auf den Tümpel zu. Ein schwefliger Geruch breitete sich hier aus. Luxon tauchte den Zeigefinger ins Wasser, roch daran und leckte den Finger ab. Das Wasser schmeckte gallebitter und roch wie faulendes Ei. Luxon ahnte jetzt, warum dieser Teil der Wüste die Zone des Todes genannt wurde, die Hölle oder das Land der tödlichen 39
Steine. Schweigend und verzweifelt sah er sich um. Er spürte, wie der harte Boden erschüttert wurde. Die Erde bebte, es war, als komme ein gigantisches Tier näher und näher.
Das entsetzliche Debakel, die riesige Schlacht zwischen den Mächten der Dunkelzone und den Verteidigern der Lichtwelt, hatte zur Wintersonnenwende stattgefunden, am Hochmoor von Dhuannin. Wie ein riesiges Flächenfeuer breiteten sich Schrecken und Angst aus. Die Menschen, die selbst von den Ereignissen betroffen worden waren, und jene, die nur am Himmel die gewaltigen, furchteinflößenden Erscheinungen gesehen hatten, flüchteten. Es waren Zehntausende, und es wurden immer mehr. Auch Aspira, die Hafenstadt am gleichnamigen Golf, eine der südlichsten Siedlungen von Tainnia, war von den Caer berannt worden und in die Hände der erbarmungslosen Truppen gefallen. Auch von Aspira aus wälzte sich ein Strom von Flüchtlingen nach Süden. Süden, das bedeutete Wärme, Sonne, Helligkeit und Erlösung vor den Schrecken der Dunklen Mächte. Die meisten Flüchtlinge aus Aspira waren sicher, den Marsch durch das Land der Sarronen überstehen und an Salmacae vorbei das Land der Rukorer erreichen zu können. Aber der gewaltige Flüchtlingstreck stieß an der nördlichen Grenze von Rukor, die von Nordwest nach Südost verlief, auf einen Grenzwall, den die Truppen der Rukorer verteidigten. Sie waren ohne Erbarmen und verjagten die Flüchtlinge, sie trieben sie nach Südosten und Süden ab – auf die Wüste zu. Hungernd und durstend, zu Tode erschöpft, mit aufgerissenen Füßen und schmerzenden Gliedern, in der Nacht frierend und am Tage dem Hitzschlag nahe, erreichten die ersten 40
Wanderer dieses Zuges südöstlich der Stadt Leone den Rand der Wüste.
Congolf, der Schmied, stützte sich schwer auf seinen Stock und betrachtete das Land, das vor ihm lag und sich nach rechts und links bis in die Unendlichkeit zu erstrecken schien. Hinter ihm stöhnte ein Mann, ein Säugling wimmerte leise. Jemand keuchte und hustete, dann fragte er mit schwacher Stimme: »Siehst du etwas, Congolf? Wasser? Schatten?« Vor zwei Tagen hatten sie in einem Wäldchen aus dürren Bäumen gerastet. Dawaren sie noch rund tausend Frauen, Kinder und Männer gewesen. In der Nacht hatte es wärmende Feuer gegeben, man hatte Beeren gegessen, Blätter gekaut, einen heißen Tee kochen können. Als der Elendszug den Wald verlassen hatte, war er bis auf die Baumkronen gänzlich kahl und leer gewesen. Damals hatten sie zum letzten Mal etwas zwischen den Zähnen und auf der Zunge gehabt – Essen konnte man es wohl nicht nennen. Congolfs Augen schmerzten von der Grelle des Sonnenlichts, als er antwortete: »Nichts. Macht euch keine Hoffnungen!« Als er zum letzten Mal seinen schweren Hammer hingeworfen und das Feuer seiner Werkstatt in Aspira gelöscht hatte, war Congolf ein großer, wuchtiger Mann mit einem tonnenförmigen Bauch und den Schultern eines Stieres gewesen. Jetzt trug er Lumpen. Die hornigen Schwielen an seinen Handflächen lösten sich, die Haut darunter blutete. Er war mager geworden. »Keine Stadt? Kein Dorf?« »Nichts. Nur Staubschleier und Hitze!« sagte Congolf. Auf dem langen Marsch war jedes Gramm Fett in seinem Körper aufgezehrt worden. Seine Reserven waren größer gewesen als die vieler anderer, deren Gräber nun den Weg des Trecks 41
säumten. Aber auch er würde nicht mehr lange durchhalten, und irgendwie war er zum Anführer dieser Menge elender, sterbender Menschen geworden. Doch in jedem von ihnen brannte noch schwach ein Funken Hoffnung. »Weiter!« sagte Congolf und drehte sich um. Er stand auf der Spitze eines runden Findlings, der zu zwei Dritteln aus einem winzigen Hügel herausragte. Raschelnd dürres Gras bedeckte den Hügel. Ringsherum waren Sand, Steine und die Spuren der Wandernden, die sich wie die Haut einer toten Schlange nach Norden erstreckten. Einer der Wächter auf den Steinwällen Rukors hatte Congolf zugerufen: »Geht nach Süden! In Salamos werden sie euch willkommen heißen!« Waren sie schon in Salamos? Ächzend stieg Congolf von dem glühendheißen Felsen und wanderte weiter. Alle zwei Schritte setzte er seinen Stab ein und zog sich daran nach vorn. Die Haut unter den Fetzen seines Umhangs rötete sich und brannte, wo sich die Blasen öffneten. Süden – das war die einzige Richtung, in der es vermutlich Rettung gab. Aber wenn nicht binnen kurzer Zeit Wasser gefunden wurde, wenn sie nicht eine Oase oder ein Dorf erreichten, starben noch mehr Menschen, und in einigen Tagen waren sie ohnehin alle verdurstet. Stunde um Stunde schleppte sich der Zug dahin. Die kräftigsten Männer trugen die erschöpften Kinder. Nur noch einige schlaffe Säcke waren vorhanden, halb gefüllt mit warmem, faulig riechendem Wasser. Hier gab es einen Kanten Brot, dort eine Scheibe flechsenreichen Braten, an anderer Stelle kaute eine zahnlose Alte in schwarzem Umhang auf steinharten Beeren, die einst auf einer Schmuckkette aufgereiht gewesen waren. Die Sonne wanderte über den Himmel. Als die weißglühen42
de, blendende Scheibe im tiefen Nachmittag stand und sich rötlich zu färben begann, stieß Congolf mit einigen jüngeren Männern, die sich neben ihm durch den Sand schleppten, auf eine breite, festgetrampelte Spur. Ohne daß er es wußte, hatte er die Karawanenstraße am Rand der Geröllwüste betreten. Und schon einige Augenblicke später hörten sie durch das Stöhnen und Keuchen der Flüchtlinge hinter ihnen das scharfe Klappern von Hufen auf hartem Sand. Sie blickten nach rechts. In der flirrenden Gluthitze, die jedes Bild zittern ließ, entdeckten sie die skurrilen Gestalten vieler Menschen auf Pferden und das gelegentliche Aufblitzen von Schmuck, Waffen oder Schilden. Congolf stieß erleichtert aus: »Dort sind Reiter. Sie werden uns Wasser geben.« Um ihn drängten sich die ersten Gruppen, und es wurden immer mehr. Schließlich versperrten mehr als tausend erschöpfte Flüchtlinge, die in ihrer Notlage zu allem fähig und entschlossen waren, die Karawanenstraße. Der kleine Zug der Händler kam näher. Schließlich hielt ein Mann in dunklem Umhang sein Pferd an und betrachtete schweigend aus einem Schlitz des Gesichtsschleiers hervor die zerlumpte Anhäufung des Elends und des Durstes. »Bei Sarphands Lichtfähren!« stieß er in kehliger Sprache hervor. »Ein Schrecken jagt den anderen. Wer seid ihr?« Der Schmied hob seinen Stab und rief: »Flüchtlinge aus Aspira! Helft uns! Gebt uns Wasser und Essen.« Mit einem schnellen Blick vergewisserte sich Abudirg, daß die Flüchtlinge unbewaffnet waren. Er blickte in leere Augen und ausgemergelte Gesichter. Einen Moment lang war Abudirg unschlüssig, dann nestelte er den halbleeren Wassersack von seinem Sattel und warf ihn dem Schmied zu. »Hier ist alles, was wir haben. Unsere Männer und Tiere 43
können nicht verdursten. Ein langer Weg liegt vor uns, entlang dieser wasserlosen Straße. Wandert dorthin… dort liegt eine Stadt!« Der Schmied nahm einen tiefen Schluck und blickte über den runzligen Schlauch hinweg den Karawanenführer an. Die Augen des Mannes waren ohne Mitleid. Congolf gab den Schlauch weiter und merkte, daß sich hinter ihm die Flüchtlinge um das Wasser zu streiten anfingen. »Wir alle sterben, wenn ihr uns nicht helft!« sagte der Schmied und rammte den Stock hart in den Boden. »Mehr als tausend hungernde und verzweifelte Menschen.« »Ich kann euch nicht mehr geben!« sagte Abudirg. »Versteht es doch! Wir selbst müssen sterben, wenn wir kein Wasser haben.« Der Anführer der Karawane wurde unruhig. Seine Nervosität übertrug sich auf das Pferd, das zu tänzeln anfing. »Gibt es eine Oase entlang der Straße?« fragte Congolf. »Ich weiß von keiner Oase!« »Dann gebt uns eure Vorräte! Ihr seid zu Pferde. Seht die Kinder an! Sie schreien nach Essen und Schlaf.« Das Pferd des Anführers ging Schritt um Schritt zurück. Der Mann beriet sich mit drei anderen Reitern. Die Männer des Flüchtlingstrecks hoben drohend ihre Fäuste und reckten Knüppel in die Luft. Kinder fingen zu plärren an, Frauen schimpften keifend. Congolf wurde schwankend; die Reiter der Karawane würden seine ausgehungerten Flüchtlinge niederreiten. Er rief trotzdem, noch drängender und bittender: »Gebt uns, was ihr übrig habt! Ich bitte euch!« Drohend knurrten einige Reiter: »Wir haben nichts übrig, ohne uns selbst zu schaden. Geht aus dem Weg!« Krachend durchschnitt ein Peitschenknall das Schreien, Weinen und Klagen. Es war ein Signal. Die Reiter beugten sich in den Sätteln nach vorn, und plötzlich hatte jeder von ihnen eine 44
funkelnde Waffe in der Hand. Pferde wieherten aufgeregt und galoppierten an. Aus dem Haufen der Flüchtlinge stieg ein lauter Schrei der Wut und Enttäuschung hoch. Ein Stein wirbelte durch die Luft und traf ein Pferd am Kopf. Trotzdem öffnete sich vor den ersten Reitern in der Menschenmasse ein schmaler Durchgang. In wenigen Augenblicken würde es Kampf geben, würde Blut fließen, und die Halbverhungerten hatten keine Chance. »Hört auf!« schrie er mit letzter Kraft. »Sie bringen uns alle um!« Sieben oder acht Reiter befanden sich in dem engen Streifen zwischen Hunderten aufgeregter Flüchtlinge. Wieder flogen Steine durch die Luft. Gierige Hände griffen nach den Stiefeln der Reiter. Pferde keilten wiehernd aus und wurden zur Seite gedrängt und geschoben. »Aufhören!« Als die nächste Gruppe von galoppierenden Pferden, von Lasttieren und Männern, die mit langen Peitschen um sich schlugen und deren Schwerter durch die Luft wirbelten, gegen die Menschenmasse anbrandete, brach der erste Reiter zusammen. Ein Stein hatte ihn an der Stirn getroffen und aus dem Sattel geschleudert. Ein Flüchtling packte das heruntergefallene Schwert und sprang einen Knecht an, der sich, drei Tiere an langen Schleppzügeln hinter sich zerrend, mit tief gesenktem Schild aus dem Sattel beugte. Und mitten in das Chaos, das nur in einem Blutbad enden konnte, schlugen drei unterschiedliche Ereignisse mit der Wucht von Blitzen ein, die aus wolkenlosem Himmel kamen. Die Flammenorgel stieß abermals, zum zweitenmal an diesem Tag, ihren grauenerregenden Schrei aus. Dieser Urlaut, der aus einer Zone zwischen Unterwelt und Chaos zu stammen schien, versetzte Menschen und Tiere wieder in Angst und Panik. 45
Dann ertönten Waffenklirren, barsche Stimmen und der rasend schnelle Hufschlag von etwa zweimal zehn Reitern. Sie kamen im rechten Winkel auf die durcheinanderquirlende Masse zu, die sich in unaufhörlicher Bewegung befand und in der zahllose Einzelkämpfe stattfanden. Einige Flüchtlinge sahen die Reiter kommen und warfen sich schreiend zur Seite. Denn dort ritten nicht Händler oder Karawanenführer, sondern gepanzerte, entschlossene Männer mit entblößten Waffen. Vor ihnen lief hechelnd und mit bösen Augen, tiefe Hautfalten der Wut auf der Schnauze, ein starker grauer Wolf. Und hinter einer Wand aus Lava, die einer erstarrten, sich überschlagenden Brandungswelle glich, hob sich ein kantiger, tiefschwarzer Schädel hoch. Er schien aus lauter eckigen Knochenplatten und Hornwülsten zu bestehen, ein dämonischer Schädel, der verschwommene Ähnlichkeit mit einer ins Riesige vergrößerten Flußechse hatte. Ein faltiger Schuppenhals schob sich nach vorn und hob den Riesenschädel höher. Träge öffneten und schlossen sich die lodernd gelben Augen. Dann zersplitterte die oberste Kante des geschmolzenen Gesteins, und aus der schrecklichen Kehle kam ein Schrei, nicht unähnlich dem Laut aus der geheimnisvollen Flammenorgel. Schlagartig hörten die Kämpfe auf.
Mythor, Sabesch und der Bitterwolf, der nach den Beinen der Menschen und den Läufen der Pferde schnappte und beide in wilden Sprüngen auseinandertrieb, rasten als Spitze des Keils in die Menschenmenge hinein. Mythor richtete sich in den Bügeln auf und schrie, so laut er konnte: »Hört auf! Alle! Sonst bekommt ihr meine Wut zu spüren.« Noch immer scheuten die Pferde, wieherten aufgeregt und verhielten sich, als sei ein Dämon aus der Finsterzone hinter ihnen her. 46
Zehn Bogenschüsse weiter wuchs das schwarze Ungeheuer immer höher über die Klippe hinaus, kletterte darüber und öffnete einen gewaltigen Rachen, der mit dolchartigen Zähnen gespickt war. Eine Zunge schnellte hervor und streckte sich zitternd vor Gier in die Richtung der Menschen. Mythor blickte geradeaus, in die Höhe und hinüber zur Wüste. Dann sagte er halb schicksalsergeben, halb rasend vor Wut, Enttäuschung und Ärger: »Bei Erain und God! Ein ruhiges Leben ist mir wohl erst vergönnt, wenn ich tot bin.« Sabesch tat das Richtige. Er schlug Mythor kräftig und aufmunternd zwischen die Schulterblätter und rief: »Nach den Kämpfen, König Mythor, erwarten dich die Freuden der Stadt Leone. Willst du den Lavadrachen allein erwürgen, oder dürfen wir dir helfen?« Mythor ließ seine Klinge senkrecht durch die Luft zischen. Alton erzeugte ein klagendes Summen, und Mythor mußte wider Willen lachen. Er stach mit dem Gläsernen Schwert in die Luft. Seine Stimme dröhnte: »Leoniter! Wir sind keine ausgemergelten Wanderer und keine Händler. Wir sind Krieger. Zuerst werden wir dieses Monstrum in die Wüste zurücktreiben. Dann nehmen wir uns dieses Haufens an.« Er holte Atem und schrie weiter: »Wer ist der Anführer der Karawane?« »Ich, Abudirg!« gab ein Reiter zurück, der mit einer Hand seine Schulter umklammert hielt. Zwischen den Fingern sickerte Blut hindurch und tränkte den dunklen Stoff. »Und wer führt diesen Elendszug an?« »Ich bin es, der Schmied Congolf. Herr! Wir verdursten und verhungern.« Mythor wies auf die Bestie, die mit plumpen Schritten näher heranstapfte und jedesmal eine Staubwolke hochschleuderte. »Ihr könnt diesen Giganten rösten und grillen!« rief er. 47
»Folgt mir, Männer aus Leone!« Zwanzig Männer rissen ihre schäumenden Pferde herum, jagten in gestrecktem Galopp von der Straße herunter und sprengten auf das riesige Tier zu. Die Bestie war so groß wie jene Mammuts, die seinerzeit die Flöße… Wieder schob sich Arruf oder Luxon in den Vordergrund seiner Gedanken. Die Reiter Sabeschs waren geübte Kämpfer. Sie ritten nach links und rechts und bildeten eine Kette. Sie rissen die Wurfspeere aus den Sattelköchern und bereiteten sich zum Angriff vor. Das Tier schwenkte den häßlichen Schädel hin und her und musterte die Pferde mit ebenso großer Gier wie die Reiter. Zwei Reiter schleuderten mit aller Kraft ihre Speere. Die langen, mit Widerhaken bewehrten Blätter bohrten sich tief in den Rachen und in die Lefzen des Tieres. »Dorthin!« schrie Sabesch, wirbelte herum und duckte sich tief auf den Rücken des Pferdes. Mit seinem großen Kampfbeil schlug er zu und durchtrennte die dicke Schicht über der Sehne des linken Vorderbeines. Mythors Schwert bohrte sich, als er unter dem herunterschlagenden Kopf hindurchritt, tief in die Haut der Kehle. Das Tier stieß einen schmetternden Schrei aus und peitschte mit dem langen Echsenschwanz auf den Boden. Ein einzelner Pfeil summte durch die Luft und bohrte sich tief in ein Auge. Ein Tritt mit dem Hinterlauf riß einen Reiter aus dem Sattel und schleuderte ihn mitsamt seinem Pferd in eine nahe Sandverwehung. Die Pferde und das Untier, das sich mit Tritten und Schwanzschlägen zu wehren versuchte, wirbelten mehr und mehr Sand in die Höhe. Immer wieder griffen die Reiter an, schlugen blitzschnell zu und flüchteten wieder. Krachend barsten Speere und Lanzen zwischen den mächtigen Kiefern. Aber der Gigant stapfte, ein Bein nachziehend und den Sand mit hellrotem Blut tränkend, auf die Karawanenstraße zu, auf der die Menschen in Panik zu flüchten begannen. 48
Mythor sah seinen Wolf, der vor ihm schräg in die Höhe sprang und heulte. Der Falke rührte sich schwach in den Falten seines Umhangs. Wieder riß Mythor das Schwert hoch, führte einen gewaltigen Hieb aus und hackte einen Teil des Schwanzes ab, der dicht über seinem Kopf vorüberpfiff. Das riesige Echsenwesen verlor seine Farbe. Der schwarze Plattenpanzer war blutüberströmt. Zwischen vielen Panzerplatten ragten die abgebrochenen Geschosse hervor. Sand klebte auf der Feuchtigkeit und ließ den Schwanz in einem dunklen Gelb erglühen. Wieder verfehlte der herunterschießende Rachen, aus dem dicke Schwaden stinkenden Atems hervorgestoßen wurden, einen Reiter, der sofort im Sattel herumwirbelte und mit einem wilden Hieb dem Tier eine tiefe Wunde schlug. »Zurück, Männer! Sammeln!« dröhnte Sabesch und ritt aus dem Bereich hinaus, in dem der Tierriese sich drehte, um sich schlug und röchelnd nach allem schnappte, was er sah. Und wieder zischte ein Speer durch die Sandwolken und blieb im Winkel des Auges stecken. Die Riesenechse stieß einen klagenden, rasenden Schrei aus und erstarrte mitten in der Bewegung. Mythor ritt an den langgestreckten Körper heran, hielt sein schwarzes Einhorn durch Schenkeldruck an und kletterte aus dem Sattel zwischen die kantigen Knochenplatten hinauf. Mit schnellen Bewegungen, in der Rechten sein Schwert, sprang er von einer der dreieckigen Rückenplatten zur anderen und suchte eine Stelle, an der nur dünne Haut zwischen den knirschenden Knochenteilen klaffte. Zwischen den mächtigen Muskelwülsten der Vordergelenke erschien, als der Gigant sich hin und her wiegte und den Kopf senkte, ein breiter Streifen grauschwarzer, feuchter Haut. Mythor packte den Griff des Schwertes mit beiden Händen. Eine mächtige Kraft schien von der Waffe auszugehen, als er die 49
Beine spreizte, das Schwert so hoch wie möglich hob und dann mit einer einzigen Muskelentladung senkrecht nach unten stieß. Die Spitze Altons durchfuhr das Gewebe und traf nach einigen Handbreit einen Knochen oder einen Nerv. Ein Schlag, ein gewaltiger Ruck ging durch den Körper der Urechse. Sie krümmte sich zu einem Katzenbuckel zusammen, ein Krampf erfaßte jedes Glied des sterbenden Tieres. Mythor wurde in die Höhe geschleudert, aber er ließ den Griff Altons nicht los. Die Bewegung riß die Waffe aus dem Rückgrat des Tieres, wirbelte Mythor zur Seite und ließ ihn an den sandigen Flanken des Tieres abwärts schrammen. Es gelang ihm, auf beiden Füßen zu landen. Er rannte um sein Leben, und nach einigen weiten Sprüngen faßte er mit der linken Hand nach seiner Brust. Horus krallte sich zitternd in den Falten fest. Hark rannte herbei, packte vorsichtig Mythors Hand und zerrte ihn in die Richtung, wo Pandor, schwitzend und sandbedeckt, zwischen zwei Lavablöcken stand. Mythor lehnte sich gegen das unruhige Tier, klammerte sich erschöpft am Kopf fest und drehte sich mit zitternden Knien langsam um. Er konnte gerade noch sehen, wie die Reiter nach allen Richtungen auseinandersprengten. Gewaltige Zuckungen gingen durch den mächtigen Körper. Er schwankte auf den drei Säulen seiner Beine, aus denen rauchend heißes Blut rann, hin und her. Dann lösten sich die Muskeln, und mit einem gewaltigen Krach, der die Erde erbeben ließ, brach die tote Echse auf der Stelle zusammen. Die Reiter aus Leone schrien auf und wußten, daß sie abermals gesiegt hatten. Sabesch erhob seine Stimme und ordnete an: »Trinkt einen Schluck und gebt den Tieren zu saufen. Dann sitzen wir auf und reiten zu der Karawane zurück. Gibt es Verwundete?« 50
Er schien überhaupt nicht damit gerechnet zu haben, daß einer seiner Männer diesen Kampf nicht lebend überstanden hatte. Es gab drei Verletzte; zwei Männer, denen von den Klauen des Tierriesen Rüstung, Kleidung und Haut weggefetzt worden waren, und einen, dem ein Schlag mit der Schwanzspitze die Schulter ausgerenkt hatte. Er schrie am lautesten. Mythor öffnete seinen Beutel mit dem heilenden Harz. Als sie langsam zur Straße zurückritten, taumelten ihnen die ersten Flüchtlinge entgegen. Für diese Menschen würde das Fleisch dieses Riesen – falls es zu genießen war -wohl lebensrettend sein. Mythor sagte sich, daß sie sich, solange sie mit dem Kadaver beschäftigt waren, wohl nicht in einen Kampf mit den ausgeruhten Karawanenhändlern stürzen würden. Ein grauhaariger Mann mit entzündeten Augen näherte sich Mythor und Sabesch. »Herr!« sagte er. »Ihr habt uns gerettet. Helft uns auch weiterhin! Es hat Verwundete und Tote gegeben.« Felsen, Pferde und Männer warfen lange Schatten. Der Abend kam unaufhaltsam näher. In zwei Stunden würde undurchdringliches Dunkel herrschen. Mythor musterte den großen, dürren Mann, dessen Namen er nun kannte. »Ich werde helfen, Congolf. Sabesch! Hole mir den Anführer der Karawane!« Sein Begleiter schlug mit der Hand gegen den Brustharnisch und ritt langsam davon. Wieder verbrauchte Mythor, ohne an den schrumpfenden Vorrat zu denken, einiges von dem wunderbar heilenden Harz. Drei Männern und einem kleinen Kind vermochte er nicht mehr zu helfen. Mehr und mehr Flüchtlinge wanderten in die Richtung des riesigen Kadavers, und einige begannen bereits, in weitem Umkreis weißes, staubtrockenes Holz zu sammeln. 51
Mythor hob den Kopf und sah in die dunklen Augen des Schmiedes. »Woher kommt ihr?« Congolf erzählte ihm in abgehackten Sätzen, was seit der Flucht aus Aspira geschehen war und wie viele Stadtbewohner gestorben waren. »Aber dann wird das Land Rukor entlang dem Wall wohl auch den vorrückenden Caer Widerstand leisten?« erkundigte sich Mythor. Einige der Händler umstanden die Gruppe und hörten schweigend zu. »Das glaube ich nicht«, gab der Schmied zurück. »Warum?« »Es gab da einen Soldaten hinter dem Wall. Er war nicht so hart und abweisend wie die anderen. Er sagte, daß zwischen Caer und Rukor ein Pakt besteht. Wenigstens hatte er davon gehört.« »Ein Pakt zwischen diesen beiden?« staunte Mythor. In seinem Beutel befand sich nur noch eine kleine Menge des Harzes. Er sah sich um. Niemand mehr schien seiner Hilfe zu bedürfen. »Ein Pakt, der beide verpflichtet, sich nicht in die Angelegenheiten des anderen zu mischen«, bestätigte der hungrige Anführer. »Aber ich glaube, daß die Caer nur warten, bis sich ihre Kräfte vereinigt haben.« »Und dann marschieren sie gen Rukor?« brummte Abudirg. »Mit Sicherheit. Sie sind mächtiger denn je. Irgendwann wird ihnen der ganze Norden gehören«, antwortete Congolf. »Deswegen sind wir aus Aspira geflohen. Es wird viele andere Flüchtlinge geben, bald, hier im Süden.« »Eine Wanderung der Völkerscharen!« sagte Mythor und hob die Hand des Karawanenführers hoch. Mit einem winzigen Kügelchen gekneteten Harzes versorgte er auch diese Wunde. »Und du? Wohin geht deine Karawane?« »Nach einer langen Reise zurück nach Sarphand. Wir haben 52
Waren der Sarronen.« »Ich verstehe. Und wo ist die nächste Quelle?« »Dort. Fast einen Tagesritt entfernt. Neben der Straße gibt es einen kleinen See, weit entfernt von Leone.« Mythor nickte dem Schmied zu und sagte: »Jetzt hast du gehört. Schick die kräftigsten Männer voraus! Oder ändert eure Richtung! Im Süden liegt nichts als eine furchtbare Wüste voller Schrecken.« Sabesch flüsterte in sein Ohr: »Die Flammenorgel hat getönt. Das ist selten.« »Schon zweimal an diesem Tag«, pflichtete ihm Abudirg bei, der die Worte verstanden hatte. »Zum erstenmal, als ich diesen Arruf fast in meinen Fingern hatte.« Mythor zuckte zusammen und fragte: »Arruf? Hat er sich nicht Luxon genannt?« Verwunderung stahl sich in das Gesicht des bärtigen Mannes mit den harten Raubvogelaugen. »Ja. Ich kenne ihn aus Sarphand, als er sich Arruf nannte. Jetzt leugnete er alles und sagte, sein Name sei Luxon.« »Beides ist richtig!« stimmte Mythor zu. »Er hatte zwei Begleiter…«, murmelte Sabesch und zog die Schultern hoch. Bereitwillig, mit einem wölfischen Lächeln, ergänzte Abudirg: »Hatte. Es sind nun unsere Begleiter. Sie werden auf dem Sklavenmarkt feilgeboten und bringen mir vielleicht etwas von meinem großen Verlust zurück. Ihr müßt wissen, daß er mir eine Galeere verkaufte, die ihm nicht gehörte, und dieses Geschäft stürzte mich ins Elend.« »Kalathee und Samed!« brachte Mythor hervor. »Zwei Namen, die sich niemand merken muß«, lächelte Abudirg. »Die neuen Herren geben ihnen neue Namen. Kennst du sie etwa?« Mythor nickte und sah zu, wie sich allmählich die Karawane 53
neu formierte. »Ich kenne sie beide.« Leidenschaft oder gar Verliebtheit war es nicht gewesen, was ihn und Kalathee verband. Aber sie hatte ihn ebenso betrogen und hintergangen wie der Junge. Mythor wartete, bis ein Teil der Karawane an ihm und seinen Reitern vorübergeritten war. Dann sah er, an den Sätteln festgebunden, Kalathee und Samed. Kalathee straffte sich, als sie ihn erblickte. Sie schien zu ahnen, was in ihm vorging. Mit heiserer, tränenerstickter Stimme rief sie: »Mythor! Ich bitte um nichts. Nicht für mich. Aber versuch den Sohn des Kometen zu retten.« Abudirg stieß ein gewaltiges Lachen aus und rief zu Mythor hinüber: »Sie schrie immer wieder, daß wir den wahren Sohn des Kometen ins Verderben gejagt hätten. Er flüchtete mit seinen Waffen in die Vulkanwüste, als die Flammenorgel das erstemal spielte. Ausgerechnet Arruf oder Luxon als Sohn des Kometen – ich kann darüber nur lachen.« Mythor erwiderte laut: »Luxon ist in die Vulkanwüste geflüchtet? Er floh vor mir und meinen Reitern, wie du mit angesehen hast.« »Ihr seid auf seinen Spuren. Es war weiter zurück auf der Karawanenstraße«, rief Kalathee, und dann wurde ihr klappriges Pferd weitergezerrt.
Mythor machte nicht einmal den Versuch, den Händlern ihre Beute abzunehmen – es hätte neuen Kampf heraufbeschworen, und er glaubte, dieses grausame Gesetz des Stärkeren zur Genüge zu kennen. Zu Abudirg gewandt, sagte er: »Ihr solltet schnell weiterziehen. Vielleicht besinnen sich die Flüchtlinge noch, und dann machen sie euch mit Fingernägeln und Zähnen nieder. Friede, Abudirg.« 54
Mit einiger Würde machte der Händler eine grüßende Bewegung und gab zurück: »Friede, Mythor von Leone. Vielleicht sehen wir uns unter anderen Umständen wieder, und dann werde ich dir wegen meiner Freunde und Knechte gebührend danken können.« »Warten wir es ab.« Die einundzwanzig Reiter aus Leone warteten nicht, bis die Karawane verschwunden war. Sie bestiegen ihre Pferde. Mythor schwang sich in Pandors Prunksattel und sagte zum Kommandanten: »Wir reiten zurück und suchen uns eine Stelle für ein Nachtlager. Und morgen früh breche ich auf, um diesen falschen Sohn des Kometen zu stellen.« Die Truppe ritt durch den Staub, den die Karawane hochgewirbelt hatte. Ein letzter Händedruck wurde mit dem Schmied Congolf gewechselt, der ebenfalls dankte. Dann waren die Reiter wieder unter sich, und ihre Pferde trabten mit letzten Kräften auf der Straße dahin nach Westen. Vor ihnen lief mit leuchtenden Augen der Bitterwolf und suchte nach Spuren. Die Nacht brach herein. Und von links, aus der Vulkanwüste, kamen knisternde Geräusche und klagende Schreie, als ob sich dort ununterbrochen riesige Tiere wie jene Panzerechse bekämpften. Mythor blinzelte, streckte seine schmerzenden Muskeln und sah nachdenklich in die Reste des Feuers. Irgendwann war abseits der Karawanenstraße ein Lasttier mit einer großen Holzlast zusammengebrochen. Sabesch und seine Reiter hatten den Vorrat gut gebrauchen können. Die Pferde und Pandor waren versorgt. Sie standen friedlich da, fraßen ihr Futter; sie waren gestriegelt und von den Sätteln befreit worden. Der Schneefalke krallte sich an Pandors Horn fest und bewegte im Schlaf schwach beide Schwingen. Mythor stemmte sich hoch. Er ahnte, daß der Tag der Ent55
scheidung angebrochen war. Ohne auf Sabesch und die anderen Reiter zu achten, sattelte er Pandor mit äußerster Sorgfalt. Als er fertig war, trat der Kommandant der Garde auf ihn zu und murmelte gähnend: »Zurück nach Leone, König?« Mythor schüttelte den Kopf. »Nein, Sabesch! In dieser Wüste entscheidet sich, ob Mythor oder Luxon der Sohn des Kometen ist. Ich muß diese Entscheidung suchen. Aber ich werde mit dem Einhorn, dem Wolf und meinem Falken allein hinter Luxon herjagen. Jetzt gleich, sobald es hell geworden ist.« Am östlichen Horizont zeigte sich bereits der erste rosafarbene Streifen. Mythor trank aus dem Kessel einen Schluck kräftigen Tee. Sabesch bückte sich, hob seinen Sattel und sagte: »Man hat mir befohlen, dich nicht allein zu lassen. Wir reiten mit dir und bringen dich heil zurück nach Leone. Ich bleibe an deiner Seite.« Einige Krieger standen auf, schüttelten den Sand aus den Umhängen und sattelten schweigend ihre Pferde. Einer rief zu Mythor herüber: »Diese Bestie von gestern, Herr, war nur ein Teil der höllischen Wüste. Noch niemals kam jemand zurück von dort. Es gibt niemanden, der berichten könnte, was sich dort abspielt. Du siehst selbst, daß die Lavawüste unter Wolken und Schleiern versteckt ist.« »Und Schreie ertönen am Tag und in der Nacht. Ihr habt sie selbst gehört!« rief ein anderer der Reiter. »Jeder hat sie gehört!« stimmte Mythor zu. »Trotzdem.« Sabesch zog die Schultern hoch und spuckte in den Sand. Resigniert sagte er: »Es bleibt nichts anderes übrig. Macht euch fertig. Wir begleiten unseren König auf diesem Ritt der Entscheidung.« »Danke!« erwiderte Mythor. Er wußte, daß er Sabesch nicht umstimmen konnte. Sie alle räumten das flüchtige Lager auf, stellten ihre Stiefel in die Steigbügel und ritten hinter Mythor her auf den vulka56
nischen Kern der Wüste zu. Als die ersten Sonnenstrahlen sich an den vielfarbigen Gebilden aus geschmolzenem Stein brachen, schleppte ein erster Windstoß nicht nur Rauchwolken, sondern auch vielfarbige Gase, Sand, Staub und Nebel herbei und machte aus ihnen eine undurchsichtige Barriere vor den vulkanischen Schlacken und den bizarren Formen der erstarrten, glasähnlichen Masse. Der letzte Reiter verirrte sich in diesem Dunst, und niemand wußte, ob er sterben oder wieder zur Karawanenstraße zurückfinden würde. Der Bitterwolf lief geradeaus, kehrte wieder um und lief in seiner eigenen Spur zurück. Nach fünfzig Schritten war der Dunst so dicht geworden, daß die Reiter vom Sattel aus kaum den Boden erkannten. Der Nebel fing an, stechend zu stinken. Ein kleiner Wald aus Säulen tauchte auf. Jede Säule hatte eine andere Farbe, die schwach durch die Nebelschwaden schimmerte. Die aufragenden Pfeiler bestanden aus Lava und sahen aus, als wären sie aus einzelnen Teilen aufeinandergeschichtet. Die Pferde tappten zwischen den Säulen hin und her, und die Reiter begannen sich an den Geräuschen zu orientieren. Unter den Hufen knirschten Sand und grober Schutt. Alle Farben wechselten einander ab. Wenn der Nebel aufriß, wurden die Sonnenstrahlen funkelnd von den verschiedenen Flächen zurückgeworfen. Zwei weitere Reiter aus Leone, die den Anschluß an ihre Kameraden verloren hatten, verirrten sich in der trüben Umgebung und begannen, als sie es merkten, in Panik wie rasend zu schreien. Der Nebel verschluckte ihre Rufe, und die vielfältigen Laute, die aus allen Richtungen auf die Reiter eindrangen, machten die menschlichen Stimmen unkenntlich. Mythor schrie hinüber zu dem Schatten, der Sabesch sein mußte: »Ich glaube nicht, daß wir hier Luxon finden!« 57
Der Kommandant rief zurück: »Ich habe es dir gesagt. Du hast es uns nicht geglaubt. Kehren wir um, solange noch Zeit ist!« Fast im gleichen Augenblick rissen die Dunstschleier auf. Die Sonne blendete die Reiter. Noch immer hockte Horus auf dem Horn Pandors. Der Wolf kauerte keine zehn Mannslängen vor den Reitern und starrte Mythor an. Vor ihnen erstreckte sich eine phantastische Landschaft. Sie waren in eine schüsselförmige Vertiefung hineingeritten. An den oberen Rändern dieses kleinen Tales erhoben sich phantastische, skurrile Gebilde. Sie sahen aus wie Tiere oder sagenhafte Wesen und zeichneten sich vielfarbig scharf gegen den hellen, sonnenlichtdurchfluteten Horizont ab. Von einigen hingen lange Ranken mit erstaunlich wenigen Blättern herunter; sie wirkten wie verdorrende Tiere, unbeweglich und drohend. Der Boden war von schwarzem, rotem, gelbem und braunem Sand bedeckt. Es gab nur eine einzige Spur. Sie führte in einen Einschnitt, der sich quer durch das Tal zog. Große Schlangen mit stummelartigen Gliedmaßen wanden sich in rasender Eile durch den Sand und schienen sich ununterbrochen gegenseitig zu bekämpfen. Ein Tier, das wie ein Vogel mit einem Echsenkopf aussah und einen langen, peitschenartigen Schwanz besaß, flog quer durch das Tal. Das Ende des Schwanzes berührte den Boden und zitterte hin und her, und wenn eines der Schlangentiere sich in diesem lebenden Köder verbiß, überschlug sich der Echsenvogel in der Luft und schnappte die Beute. Während Mythor langsam weiterritt, deutete Sabesch auf den Boden und sagte: »Wir haben Luxon nicht verloren. Da! Eine frische Hufspur. Sie ist nicht älter als ein Tag.« »Schwierig wird es, wenn er den sandigen Untergrund verläßt«, stimmte Mythor zu. »Schneller, Freunde!« Sie kamen an einigen gewölbten Mauern vorbei, die aussa58
hen, als wären sie mitten im Umfallen in gewelltes Glas verwandelt worden. Aus kleinen, kreisrunden Kratern im Sand fauchten in rhythmischen Abständen farbige Dampfwolken und verwehten. Die Pferde scheuten, und ein Reiter wurde, als sein Tier nach einer Serie wilder Drehungen den Weg zurückgaloppierte, halb aus dem Sattel gerissen und zerschmetterte sich den Schädel an einer Lavasäule. Die Huftritte und das aufgeregte Wiehern des Pferdes wurden von den Dämpfen und Nebeln geschluckt. Einige Schritte weiter ragte ein seltsames Gebilde aus dem Boden. Es sah aus wie ein abgestorbener Busch mit tausend Ästen, Zweigen und Zweiglein. Die Borke des Busches war feuerrot. In den Zweigen hingen dünne, ausgebleichte Knochen und Federn. Instinktiv wichen die Tiere und Menschen den leicht zitternden Zweigen aus. Als ein weiß gefiedertes Ding mit einem Fächerschwanz sich mit keckerndem Schreien auf eine Schlange stürzte, verfing es sich im Schwebeflug in den kleinen Ästchen. Sofort verwandelte sich der scheinbar abgestorbene Baum in ein lebendes Wesen. Sämtliche Äste krampften sich zusammen und packten das weiße Tier. Wie Krallen drangen die Enden der Zweige in den Körper ein. Das Tier kreischte gellend auf und starb. Schaudernd sahen die Reiter zu. Das gleiche Entsetzen packte sie, als sie weiter der oftmals kaum erkennbaren Spur folgten und einige Mannslängen weiter einen noch größeren Busch entdeckten, der ein pferdgroßes Tier in langsamen Bewegungen zerriß. Das strömende Blut erreichte nicht den Sand des Bodens… die Pflanzenbestie saugte es durch seine Rinde ein. »Ich habe unter Wasser einst solche Dinge gesehen«, stieß Sabesch, halb gelähmt vor Schrecken, hervor. »Man nennt sie Raubkorallen!« sagte Mythor. »So weiß ich 59
es.« Einer der Reiter, der unachtsam dem kleinen, purpurfarbenen Krater zu nahe gekommen war, verschwand mitsamt seinem zusammenbrechenden Pferd in einer Wolke gelben, giftigen Dampfes, der ihn und das Tier zuerst erstickte und dann kochte. Aber sein Vordermann merkte nichts davon und die anderen noch weniger. Trotzdem drängten sich die Tiere zitternd und mit Schaum vor den Nüstern enger zusammen. Sie spürten die Gefahren, die ringsum auf sie zukrochen. Pandor folgte dem Bitterwolf. Dieser gehorchte seinem tierischen Instinkt, aber er rettete vielen Männern das Leben und führte sie durch diesen Talkessel. Immer wieder lief er im Zickzack, wich allen erdenklichen Fallen und Gefahren aus, kreuzte ein ums andere Mal die schwächer werdende Hufspur von Luxons Pferd und kehrte wieder zu Sabesch und Mythor zurück. Von hinten kam ein Ruf: »Sabesch! Wir sind nur noch vierzehn Reiter!« Sabesch hielt sein Pferd an und schrie verzweifelt: »Wo sind die anderen?« »Verschwunden. Wir haben sie nicht sterben sehen. Vielleicht sind sie geflohen!« »Undenkbar«, murmelte der Anführer, dann sagte er, zu Mythor gewandt: »Wir müssen umkehren. Wir reiten alle in unseren Tod.« In Mythor war während der letzten Stunde ein Entschluß gereift. Die Entscheidung mußte sein. Starb er hier, hatte er versagt, und alles war vergebens gewesen. Tötete er Luxon oder fand er dessen Leiche, dann konnte er sicher sein, daß er der Sohn des Kometen war und alle kommenden Anstrengungen einen Sinn besaßen. Er schickte einen brennenden Gedanken 60
zu dem Bild auf dem zusammengefalteten Pergament unter seinem Wams, und es war ihm für kurze Zeit, als erfülle ihn eine neue Kraft. Die Sonne verbarg sich noch immer hinter den brodelnden Schleiern. Unaufhörlich flüchteten kleine und große Schlangen vor den Hufen der Pferde. Ununterbrochen stießen kleine Fumarolen ihre Dampfwolken aus. Immer wieder umschlangen und erdrückten feuerrote Raubkorallenbüsche und kriechende Pflanzen, die sich hinter der Farbe des Sandes und dem Aussehen von Lavafladen versteckten, irgendwelche fliegenden, schwebenden und springenden Tiere. Einmal riß das Bild auf, dann wieder schoben sich tiefhängende Schichten von sonnendurchflutetem Gas oder Rauch vor die Säulen und Gebilde aus Lava. »Kehrt um!« drängte Mythor. »Bringt euch nicht in Gefahr! Wartet auf mich, dort draußen!« »Nein! Wir haben es geschworen!« beharrte Sabesch. Ein kaum wahrnehmbarer Windstoß riß den Nebel zur Seite. Keine zwanzig Schritt vor ihnen lag ein Tier, dessen gekrümmter Schwanz schwach zuckte. Ein langer Pfeil steckte im Körper des echsenartigen Wesens. Dort, wo Blut aus dem Körper geflossen war, wuchsen im Sand seltsame, blau schimmernde Kristalle. »Luxon!« rief Mythor aufgeregt. »Wir sind auf seiner Spur!« Es gab kein Wasser, keinen Schatten und keinen Platz, an dem man anhalten und sich ausruhen konnte. Das Zeitgefühl ging verloren, und die Schreie, die Geräusche tobender Kämpfe gruben sich erschreckend in die Herzen der Männer ein. Bisher hatte der Wolf die Reiter davor bewahrt, in eine der vielen Fallen zu tappen, wenigstens die Reiter an der Spitze des schrumpfenden Zuges. Die Pferde hielten trotz der beißenden Schwüle und des einmal stärker, dann wieder schwächer werdenden Gestanks 61
einen kurzen, langsamen Galopp durch. Pandors ungewöhnliche Kräfte waren ungebrochen, das spürte Mythor bei jedem Sprung. Und kaum hatten die Pferde den Kadaver passiert, kamen von allen Seiten kleine und große Tiere herbei und zerfetzten ihn in atemberaubender Geschwindigkeit. Das Geräusch der reißenden Zähne und der mahlenden Kiefer jagte den Männern eisige Schauer über die Haut. Sie fürchteten sich schon lange, aber ihre Treue band sie an Sabesch und an Mythor. Zwei Pferde und ihre Reiter atmeten betäubende Gase ein. Die Tiere rasten wild wiehernd davon. Die Männer glaubten in manchmal blinder Angst, sich gegen irgendwelche Bestien wehren zu müssen, und zerschmetterten ihre Waffen, als die Pferde aus der Wüste hinausflüchteten, an den glasharten Gesteinssäulen. Eine Bewegung lenkte Mythor ab, nicht mehr als ein Schatten, der irgendwo dort vorbeistrich, wo sich die. Sonne grell hinter den Wolken und den Staubfahnen verbarg. Sofort blickte er nach oben. Seine Hand fuhr zum Gürtel, und Alton schien in seine Faust zu springen. Kühl schmiegte sich der Griff des Schwertes in die zupackenden Finger des Mannes. »Achtung, Sabesch! Über uns!« Ein riesiges Tier flatterte dort und schwebte auf die beiden ersten Reiter zu. Es hatte auf den ersten Blick starke Ähnlichkeit mit der Bestie, die gestern die Menschen hungrig angegriffen hatte. Aber zwei riesige Fledermausflügel hielten die Kreatur in der kochenden Luft. Sie war weitaus kleiner als der Tiergigant, aber nicht minder gefährlich. Mit einem spitzen, hornbewehrten Krokodilsrachen und langen Doppelreihen weißer, blitzender Zähne stürzte sie sich auf Pandor und Mythor. Das Gläserne Schwert beschrieb einen Halbkreis über Mythors Kopf. Gleichzeitig rammte Mythor den linken Arm mit 62
dem Rundschild hoch. Das Schwert gab einen leisen Klagelaut von sich und funkelte in einem verirrten Sonnenstrahl auf. Sabesch zwang sein scheuendes Tier zur Seite und krachte schwer gegen einen Torbogen aus tiefschwarzer Lava. Der Greifvogel oder die Flugechse, was immer es war, stürzte sich mit vorgestrecktem Schnabel, nach vorn gereckten Krallen und den langen Dornen an den Flügelenden auf Mythor, wurde durch den Schild geblendet und abgelenkt und fiel im Angriff in die Spitze des Gläsernen Schwertes. Mythor wurde halb aus seinem Prunksattel geworfen, fing sich wieder, zog das Schwert aus dem schweren Körper und sah erstaunt, daß die wilden Flügelschläge der Echse Pandor in die Höhe rissen. Wieder holte er aus und schlug zu, und mit einem einzigen Schlag durchschnitt er den Reptilienhals des Greifvogels. Mit einem Sprung brachte sich Pandor in Sicherheit. Der blutende, zuckende, wild um sich schlagende Kadaver krachte zwischen Mythor und den folgenden Reitern in den weißen Vulkangrieß. »Weiter!« Die Tiere übersprangen einen schmalen Spalt im Boden. Nur die Geschwindigkeit verhinderte, daß es weitere Tote gab, denn aus der Spalte entwichen kriechende Schwaden giftigen Gases. Eine plötzliche Hitzewelle kam auf die Reiter zu. Wieder folgten sie den Spuren des Bitterwolfes, der ihnen vorauslief. Eine Mauer aus schwarz-rot gestreiftem Vulkanausfluß wölbte sich den Reitern entgegen. Breite Spalten erschienen in dem Gestein, das klirrend und prasselnd wie Glas barst und die winzigen Splitter wie Geschosse auf die Eindringlinge abschoß. Hinter den Sprüngen und Rissen zeigte sich eine weißglühende, breiige Masse, die aus der abgrundtiefen Unterwelt dieser Wüste hochgepreßt wurde. Als sie an die Luft trat, verwandelte sie sich in dünnflüssige Lava, die nach den Hufen 63
der Pferde griff. An den Rändern der Lava, die abkühlte und sich rot färbte, züngelten Flammen und Rauch auf. Mythor war sicher, daß sie ein Gebiet betreten hatten, das aus der Alten Zeit stammte, aus jenen Jahren, als noch die Dunklen Mächte die Welt beherrschten. Aus der Zeit, die vor der Ankunft des Lichtboten lag. Eine derartige Fülle an Schrecken kannte er nur aus dem Meer der Spinnen. Sabeschs Stimme dröhnte auf. Sie erreichte nur noch elf Reiter: »Vorwärts, Männer! Laßt euch nicht abdrängen! Näher heran und die Waffen bereit!« »Luxon hat sich lange auf dem Pferd halten können«, sagte Mythor. Die Spuren waren noch immer einigermaßen deutlich zu sehen; auch an den Stellen, wo sie über Fels verliefen, glänzten helle Flecken und Streifen. »Das Pferd hat sich gut gehalten!« verbesserte ein erschöpfter Reiter. Die Leoniter verließen den kleinen Talkessel. Hinter den letzten Pferden brach die Wand auseinander, und breite Lavaströme ergossen sich in die Erdspalten. Leichte Erschütterungen gingen ununterbrochen durch den Boden und ließen die Reittiere taumeln. Wieder fauchte eine Wand stinkenden Gases heran. Pandor spannte seine Muskeln und trug Mythor in einem holprigen Schwung zwischen Lavabrocken, stufenartigen Fladen und Sandverwehungen den Hang hinauf. Hinter Mythor zwangen die Leoniter ihre schweißtriefenden Rösser aus dem Kessel hinaus. Als die Reiter die Kante erreicht hatten, bebte wieder der Boden. Hinter der Senke erstreckte sich eine Ebene. Sie war bedeckt von großen und kleinen Kegeln, die aus Schlacketrümmern bestanden. Zwischen den spitzen Trümmerhaufen brodelte aus Bodenspalten, Löchern und Kratern Dampf herauf und vermischte sich mit den waagrechten Schleiern und Wolken, die der Wind hin und her 64
trieb. »Grauenvoll!« stöhnte Mythor und trieb Pandor mit einem harten Schenkeldruck an. Die Brocken und Bruchstücke, aus denen die Berge ausgeglühten Gesteins sich auftürmten, bewegten sich. Wieder gingen zwei Pferde vor Schreck durch und schleppten ihre halb betäubten Reiter irgendwohin wahrscheinlich in den Tod. Aus der Luft ertönte grauenvolles Schreien. Ein großes Tier, eine Flugechse von gelber Farbe, stürzte wirbelnd und sich überschlagend ab. Sie schlug gegen die Wand eines der größten Schlackenkegel. Undeutlich erkannten Sabesch und Mythor den Pfeil, der dieses Tier getötet hatte. »Luxon ist nicht mehr weit!« rief Mythor und wich dem wild um sich schlagenden Tier aus. »Du mußt lebensmüde sein, Mythor!« rief Sabesch wütend. »Kehren wir um! Die besten Reiter sind tot oder verschwunden.« Einige Augenblicke lang herrschte atemlose Stille. Selbst das Fauchen der Geiser hatte aufgehört. Dann, als sich die Reiter wieder in Bewegung setzten – es waren nicht mehr als neun Tiere und ebenso viele Männer –, ertönte erneut die Flammenorgel. Diesmal sahen die Reiter, halb verborgen hinter dem Dunst und dem aufleuchtenden Gas, daß die Flammenorgel ihren Namen zu Recht verdiente. In unbestimmbarer Entfernung schossen sieben mächtige Feuersäulen senkrecht in die Luft. Ihre Flammen entzündeten ringsum weithin Gase, die in verschiedenen Farben aufloderten und sich in riesige, auseinanderbrechende Feuerbälle verwandelten. Die Feuersäulen lagen weit auseinander und waren verschieden hoch, aber mindestens so gewaltig wie ein Stadtturm. Sie kamen, soweit es Mythor und Sabesch sehen konnten, aus stumpfen Röhren. Diese bestanden aus Lava, aus 65
erkaltetem, einst flüssigem Gestein. »Diese Orgel…«, murmelte Mythor, und dann hallte ein zweiter Schrei von rechts an seine Ohren. Das Feuer flammte heulend aus verschieden dicken und unterschiedlich hohen Säulen aus den Schloten. Es glich einer Fontäne, die munter aus sieben verschiedenen Öffnungen sprudelte. Solange es heulte und kreischte und diesen schauerlichen, grauenerregenden Laut erzeugte, zitterte die Erde unter den Hufen der Pferde. Mythor riß den Kopf herum. In den chaotischen Lärm hatte sich ein anderes Geräusch gestohlen, ein Schrei aus einer menschlichen Kehle. Im gleichen Augenblick schrie Sabesch: »König Mythor! Ich werde dich mit Gewalt zwingen, nach Leone zurückzureiten! Nicht weiter!« Mythor begriff, daß es Sabesch ernst meinte. Aber dann riß das Dröhnen und Gellen der Feuerorgel ab. Das Beben des Bodens hörte auf. Von einem der Schlackenbrockenkegel rutschten einzelne Steine herunter. Ein breiter Spalt öffnete sich in dem Kegel, und ein zweiter, noch lauterer Schrei ertönte. Sabesch schrie auf: »Dort oben! Es ist Luxon!« Entweder hatte sich Luxon auf dem Berg aus Schlacke, der sich auf rätselhafte Weise bewegte, verstecken wollen oder sich einiges von einem Hinterhalt erhofft. Die Hülle aus kalter Schlacke barst auseinander und gab eine gigantische Pflanze frei, deren lanzenförmige Blätter dicht aneinander lagen und von graugrüner Farbe waren. Hinter jedem der Blätter, die sich jetzt nach außen aufrollten, wurde eine Öffnung sichtbar, eine Art Rachen, der mit langen Dornen bestückt war. An den Spitzen der Blätter schlängelten sich lange, klebrige Fäden, dick wie Seile und von Borsten oder Stacheln besetzt. Eines dieser Fangtaue hielt Luxon umklammert und ringelte sich 66
abwärts. Längst hatte Mythor sein Schwert in der Hand. Pandor stieg hoch, der Schneefalke sprang von seinem Horn und landete unbeholfen auf dem Nacken des Bitterwolfs. Die Reaktionen von Sabesch und den wenigen Reitern kamen schnell und sicher. Ihre Waffen fuhren heraus, und dicht nebeneinander griffen sie diese seltsame Pflanze an. Keine Rede war mehr davon, daß Sabesch seinen König mit Gewalt in die Stadt zurückbringen wollte. Er brüllte: »Haut dieses Ding in Stücke!« Noch mehr Brocken fielen aus der Wand des Schuttkegels wie Teile einer häßlichen Eierschale. Ein weiterer Arm dieser unwirklichen Pflanze peitschte durch die rauchgeschwängerte Luft und wickelte sich eng um Luxons Füße. Ein halbes Dutzend Reiter schlug mit Streitäxten und Schwertern auf die schuppenartig übereinander haftenden Blätter los. Jedes Blatt war halb so groß wie ein Mann und bewegte sich, als sei es Teil eines Tieres. Unaufhaltsam wurde Luxon nach unten gezogen und schwebte schreiend und sich erbittert wehrend auf einen der zahlreichen Schlünde zu. Noch war er nicht in der unmittelbaren Nähe von Mythors Schwert. Die Reiter aus Leone schlugen wild um sich. Ihre Waffen schnitten tiefe Kerben in die harten, lederartigen Blätter. Ab und zu kappte ein Schwerthieb einen der pflanzlichen Tentakel. Längst waren die Flammen der Orgel erloschen, und nur die Geräusche des erbarmungslosen Kampfes waren hörbar. Ein Reiter wurde aus dem Sattel gerissen, in der Luft herumgewirbelt und in einen der Schlünde geschleudert. Die langen Dornen bohrten sich gierig in seinen Körper, und seine entsetzlichen Schreie brachen ab. Die Pflanze war so groß wie ein Haus, und sie war unaufhörlich in Bewegung. Das Gläserne Schwert zerschnitt wieder ein Blatt, und die 67
Bruchstücke fielen in den Sand. Das Einhorn trat auf Geröllbrocken und strauchelte. Über Mythors Kopf beschrieb die Axt seines Kommandanten blitzende Halbkreise. Ein Pferd wurde von den klebrigen Flagellen ergriffen und in die Dornen hineingezogen. Dieses tödliche Geschöpf schien lange Zeit unter seiner Kruste geruht zu haben, und erst der Versuch Luxons, sich zu verstecken, mußte es geweckt haben. Ein großer Schwarm schwarzer Echsen näherte sich mit schrillen Schreien und umkreiste die Kampfstätte. Mythor durchtrennte den Schaft, der Luxons Beine umklammert hielt, und dann entsann er sich seiner Samenzapfen. Sie hatten an anderer Stelle gewirkt – vielleicht konnte er damit auch dieses Monstrum besiegen. Er holte den ersten Zapfen aus der Gürteltasche, zielte kurz und schleuderte ihn in eines der weit aufgerissenen Löcher, aus denen klebriger Saft geiferte. Die Wirkung ließ lange auf sich warten, und in den folgenden Augenblicken versuchten die Reiter, die Spitzen der Blätter abzutrennen. Aber immer wieder hagelten die klebrigen Fäden auf sie herunter, rissen ihnen die Waffen aus den Händen und hoben mühelos den Kadaver eines erstickten Pferdes in die Höhe. Die Flugechsen stürzten sich wahllos auf alles, was sich bewegte, und auch auf die Fäden und Schlingen des Pflanzenmonstrums. Dann wirkte der erste Samen des Lebensbaums. Der Schlund schloß und öffnete sich krampfhaft. In seiner Umgebung rollten sich die Dornen zusammen. Das Blatt stülpte sich nach unten und hing leblos vor der nächsten Öffnung. Mythor holte, während er das Schwert schwang und abermals große Stücke aus dem lederähnlichen Material herausschlug, den zweiten Samenzapfen hervor. Er schleuderte ihn dorthin, wo Luxon baumelte und strampelte, und die Fangarme wurden schlaffer und weicher. Der Körper Luxons sank an der 68
Seite des Dinges herunter. Wieder starb ein Reiter, der sich gegen die Echsen wehrte und zu spät erkannte, daß er von den Fangarmen umklammert war. Die Farbe der Blätter und Ranken änderte sich dort, wo die Zapfen in die Riesenpflanze eingedrungen waren. Aus dem stumpfen Grün wurde binnen kurzer Zeit ein fleckiges Braungelb. Immer wieder schlug Mythor mit dem Schwert nach den Flugechsen und den langen, klebrigen Fäden, die mit krachenden Geräuschen von der Pflanze abgeschossen wurden. »Hilf mir, Mythor!« röchelte Luxon von oben. Mythor schleuderte den dritten und vierten Samenzapfen in die nächsten Rachenöffnungen der Pflanze. Einige Flugechsen wurden aus der Luft gerissen und verschwanden in den Dornenmäulern. Wieder bewies ein dumpfer Fall, daß ein Krieger aus dem Sattel gerissen worden war. Ein Hieb Altons kappte das letzte Pflanzentau, das Luxon noch umklammert hielt. Der Mann löste sich aus den klebrigen Schlingen, schlug schwer gegen die Seite des Räubers und rutschte über das Geröll abwärts. Den Sternenbogen hatte er fest umklammert gehabt, und die Schlingen hatten ihn an Luxons Körper gepreßt. Mythor schrie: »Achtung! Der Dornenschlund!« Gleichzeitig warf er den fünften Zapfen dorthin, wo sich eben das Maul öffnete, um Luxon zu verschlingen. An mindestens vier Dutzend Stellen zog die Pflanze die zappelnden Flugechsen aus der Luft und fütterte damit die eigenen Mäuler. Mit einem riesigen Satz sprang Mythor zurück zu Pandor und dem Bitterwolf. Luxon kam auf die Beine und stolperte in Mythors Richtung. Als Mythor sich umblickte, mußte er erkennen, daß er mit Luxon allein war. »Sabesch!« schrie er. Einige tote Pferde lagen am Fuß des Ringes aus Asche und 69
Felstrümmern. Waffen steckten zwischen den Brocken. Aber hier befand sich kein lebender Mann mehr. Mythor rannte in großem Abstand einmal um das gewaltige Ding herum, aber er fand nur die Spuren eines erbarmungslosen Kampfes. Erschüttert schlug er die Hände vor sein Gesicht und stapfte durch kochendheiße Asche zurück zu Luxon. »Ich kann nicht sagen«, murmelte er, »daß ich dich gern gerettet habe.« Luxon wischte sich Staub und Schweiß aus dem Gesicht und lächelte vage. »Ich danke dir trotzdem. Hören wir mit dem Kampf auf, bis wir aus dieser Hölle entkommen sind.« »Ich traue dir keine zwei Schritte weit!« sagte Mythor. »Trotzdem bleibt uns nichts anderes übrig. Ich habe nichts zu trinken.« Mythor hob die Schultern. »Keine Vorräte?« »Mit meinem Pferd irgendwo dort verschwunden. Ich hole mir, was ich brauche.« Mythor legte seinen Arm um Pandors Hals und ließ sich von dem Tier aus der Gefahrenzone schleppen. »Was wir hier finden, wird nicht gerade nahrhaft sein«, schränkte er ein. »Alle meine Reiter aus Leone! Sie sind tot!« »Oder sie haben sich betäuben lassen und irren umher. In welcher Richtung ist Norden?« fragte Luxon laut. Mythor suchte hinter den Schleiern und kochenden Dampfwolken die Sonne. Sie stand hoch über ihren Köpfen. Dort drüben, höchstwahrscheinlich, war sie am Morgen gewesen, also war Norden… »Dort ist Norden!« sagte er. »Das müßte der kürzeste Weg aus der Todeszone hinaus sein«, meinte Luxon. »Übrigens, was unsere Gegnerschaft betrifft – ich habe nicht das geringste gegen dich. In meinen Augen bist du ein fabelhafter Kämpfer, eine Spur zu edel und zu uneigennützig, aber sonst ganz brauchbar.« »Sollte das etwa eine Erklärung der Freundschaft sein?« frag70
te Mythor, während sie sich mit schleppenden Schritten zwischen den Kegeln über die Ebene tasteten. »Halte es damit, wie du willst. Aber ich werde mir auch weiterhin aus den Fixpunkten des Lichtboten holen, was ich brauche.« »Zumindest einer hindert dich daran!« versicherte ihm Mythor grimmig und reichte ihm den Wasserschlauch. »Nämlich ich!« Er fragte sich, ob wohl aus den verdorrenden Resten der Riesenpflanze irgendwann ein anderer Baum des Lebens wachsen würde. Er schaute über die Schulter, und er mußte erkennen, daß das Pflanzenmonstrum mit deutlich schwächeren Kräften und langsameren Bewegungen die Reste des Flugechsenschwarms in die dornigen Löcher stopfte. Wenigstens hatten die Zapfen den sicheren Tod zumindest eines Mannes verhindert. Trauer erfüllte Mythor, wenn er an Sabesch und die mutigen Reiter dachte. Noch immer war er entschlossen, wenigstens für einen kurzen Zeitraum nach Leone zurückzureiten. »Versuch es ruhig!« meinte Luxon und gab ihm den Sack zurück. Der Sternenbogen hing neben dem Mondköcher über seiner Schulter. Seine prachtvolle Kleidung sah gar nicht mehr gut aus; sie war zerfetzt und über und über von mehrfarbigem Staub bedeckt. Aber das Lächeln des Mannes war unverschämt und strahlte tatsächlich eine unbekümmerte Fröhlichkeit aus, die das Geschehene leicht vergessen ließ. »Wie bist du auf dieses tödliche Ding hinaufgeklettert? Und warum?« »Ich wollte mich verstecken«, bekannte Luxon freimütig. »Vor euch. Und das Hinaufklettern war leicht. Dieses Pflanzenungeheuer kann sich tatsächlich bewegen. Es ist mindestens zehn Mannslängen mit mir auf der Spitze auf euch zugewandert. Dabei gab es die Risse.« »Und dann diese Flammenorgel!« brummte Mythor. 71
Der Schneefalke hatte wieder auf Pandors Horn Platz genommen und starrte Luxon, wie es schien, voller Hunger oder Wut an. »Also… bleibt es bei einem Friedenspakt auf Zeit? Ich habe die Orgel auch gesehen und gehört, konnte aber das Schauspiel nicht mehr so recht in seiner Schönheit würdigen«, sagte Luxon und schüttelte Staub und vulkanischen Sand aus seinem Haar. »Meinetwegen. Und nach Verlassen der Wüste wirst du den Händlern und Kaufleuten Kalathee und Samed wieder abjagen? Ich meine, daß sie nur Figuren auf deinem Spielbrett sind!« sagte Mythor zu Luxon. »Kalathee ist mehr als nur das«, erwiderte Luxon nach einer Weile. »Du mußt wissen, daß bei Vollmond, vor sechs Monden, drei geheimnisvolle Männer zu mir kamen. Sie sagten mir, daß ich aus Logghard stamme. Sie gaben mir dieses Amulett und erklärten, ich sei der wahre Sohn des Kometen.« »Man soll nicht alles glauben, was die Leute erzählen!« spottete Mythor. »Zeig mir das Amulett!« Luxon kam näher und hob das kleine Amulett hoch. Es hing an einer abgegriffenen Lederschnur, hatte einen Durchmesser von zwei Fingerbreiten und war kreisrund. Auf einer Seite zeigte die Metallplatte eine Stadt aus der Vogelsicht, reliefartig gearbeitet, von Mauern umgeben und ebenfalls kreisförmig. Auf der anderen Seite verlief eine Schrift in Runen, die Mythor nicht lesen konnte. »Die Männer gaben mir eine Karte. Ich habe sie verloren, aber ich kenne noch heute jeden Strich auf ihr. Es sind dort alle Punkte des Lichtboten genau eingezeichnet gewesen. Jetzt, da ich durch die harte Schule des Lebens gegangen bin, fühle ich mich reif, dieses Erbe anzutreten.« »Eine Menge hochtrabender Worte für den Versuch, sich wichtig zu machen«, sagte Mythor, aber ganz wohl war ihm 72
dabei nicht. »Trotzdem werde ich dich nicht unterschätzen, Arruf. Seit der Nacht auf dem Floß warte ich darauf, die Entscheidung herbeizuführen.« »Am Rand der Wüste!« vertröstete ihn Luxon. »Ich sammle alle Hinterlassenschaften des Lichtboten auf und kehre nach Logghard zurück, um das Böse dort zu besiegen… dort und auf dem Weg dorthin.« »Dann solltest du bei dir anfangen. Auch dein eigenes Böses sollte besiegt werden. Dabei helfe ich dir gern!« meinte Mythor ironisch. Sie gingen, so hofften sie es wenigstens, auf den Rand dieser tödlichen Zone zu. Mythor begann sich vor der Nacht zu fürchten. Falls sie es nicht schafften, bis zum Einbruch der Dunkelheit dieses chaotische Gebiet zu verlassen, würde es ihnen ebenso ergehen wie den Reitern aus Leone.
Mythor dachte, während sie versuchten, der Hölle zu entrinnen, über die letzten Worte Luxons nach. Zweifellos war dieser Mann ein ernstzunehmender Gegner und Rivale. Dazu kam die Unsicherheit, wer nun wirklich der Sohn des Kometen sei. Mythor dachte an das Pergament mit Fronjas Bild, und einige seiner Selbstzweifel vergingen. Immerhin konnte Mythor von seinen Erlebnissen hinter den Wasserfällen von Cythor einen entscheidenden Vorteil und Vorsprung für sich beanspruchen. Er war jenen Weg gegangen, der dem Sohn des Kometen vorgeschrieben war. »Deinetwegen sind gute Männer getötet worden«, sagte Mythor schließlich. »Bekümmert es dich nicht?« »Sie sind dir freiwillig gefolgt und wußten, in welche Gefahren sie sich stürzen. So wie ich und du!« antwortete Luxon. »Für mich waren es lediglich fremde Reiter.« »Du bist ein merkwürdiger Mann«, erklärte Mythor schließ73
lich. »Du hast Kalathee am Nadelfelsen kennengelernt, nicht wahr?« »So war es«, entgegnete Luxon und schilderte kurz, was seit dieser Begegnung vorgefallen war. Daß er dabei in Mythors Augen ziemlich schlecht abschneiden mußte, schien ihn nicht im geringsten zu stören. Schließlich beendete er seine Erzählung: »Und diese drei Männer, von denen ich die verlorene Karte und das Amulett habe, verliehen mir den neuen Namen Luxon. Das ist für mich eine deutliche Aufforderung und Legitimation.« Sie hatten inzwischen die Ebene mit den Schlackenbergen verlassen. Vor ihnen lag abermals eine Senke, ein breites Tal, das sich in nordsüdlicher Richtung durch die vulkanische Hölle hinzog. Auf dem letzten Teil des Marsches durch die stinkenden Nebel waren sie nicht ein einziges Mal angegriffen worden, obwohl immer wieder kleine und bedrohlich große Echsen in ihrem merkwürdigen Zickzackflug über die Schrunde und die skurrilen Formen der Lavagebilde hinweggehuscht waren. Jenseits des Tales, das ebenso mit allen nur denkbaren Wänden, Spalten, Barrieren und Lavaflächen ausgefüllt war, behinderten Wolken aus Rauch und Dampf die Sicht. Für kurze Augenblicke kam die Sonne zwischen den Schleiern hervor. Einmal fuhr ein kräftiger, heißer Windstoß über den Hügelkamm und vertrieb die stinkenden Gase. »Es ist unfaßbar, daß es hier überhaupt Leben gibt!« sagte Mythor und kletterte mühsam in den Sattel Pandors. »Halte dich am Steigbügel fest.« »Gefährliches Leben!« bekräftigte Luxon. Riesige Käfer mit gepanzerten Rücken und schwarzen Scheren krabbelten durch den heißen Sand und hinterließen in der Asche breite Kriechspuren. Hin und wieder trafen zwei von 74
ihnen aufeinander, und dann entbrannte augenblicklich ein wütender Kampf, der mit den klappernden Scheren ausgetragen wurde. Mit kurzen Sätzen wich der Bitterwolf den handgroßen Tieren aus. Aber je tiefer die Männer in die Senke eindrangen, desto größer wurde die Anzahl dieser Tiere. Das Geräusch ihrer klirrenden und krachenden Scheren war überall. Mythor stieß hervor: »Halte dich fest! Wir müssen schneller vorwärts kommen.« Er gab Pandor einen Schenkeldruck und schlug mit der flachen Hand auf die Kruppe des schwarzen Tieres. Pandor begriff und riß seine Hufe höher hinauf, als er in einem langsamen Galopp über Sand und durch Staub hinwegsetzte. Ab und zu packten die Zangen auch seine Hufe, aber das Tier schüttelte die Angreifer mühelos ab. Auch der Wolf wich aus und sprang über schräge, glatte Lavaflächen, auf denen sich die gepanzerten Käfer nicht halten konnten. Luxon zog sich immer wieder am Sattel hoch und machte auf diese Weise weite Sprünge. Seine weichen Stiefel traten auf die krachenden Panzer der Riesenkäfer. Das Klappern und Knistern begleitete die Männer bis hinunter zu einer Erdspalte, die sich im Zickzack quer durch das flache Tal hinzog. Aus zahllosen Öffnungen fauchten Dampfwolken. Die Steine und Lavabrocken waren von intensiv gefärbten Kristallen übersät, messerscharfen Auswüchsen, die wie seltsame Blüten aussahen. Jeder Hufschlag Pandors ließ einen Hagel von klirrenden Brocken aufstieben. Zwanzig Sprünge weiter, die Masse der wild durcheinanderkrabbelnden und wahllos zupackenden Käfer nahm bereits wieder ab, schrie Luxon: »Hast du diese Steinplatte gesehen?« »Nein, welche?« Der Wolf hatte einen runden Lavabrocken erreicht. Jetzt 75
stand Hark dort, den Schneefalken zwischen den Fängen. Die spitzen Ohren richteten sich auf und spielten, dann erstarrte das Tier und schien etwas im Mittelpunkt des Tales zu mustern. »Da war eine Art Bild darauf. Eingemeißelt oder eingeritzt!« rief Luxon und sprang neben Hark auf den Felsen. »Ich habe nichts gesehen«, bekannte Mythor. »Es war eine der Flugechsen abgebildet. Tiefe Rillen und Punkte auf einer glatten Lavaplatte«, behauptete Luxon. »Ich meine, es deutlich gesehen zu haben.« Sein löwenlederner Umhang wirbelte eine Staubwolke auf, als er sich umdrehte. Er zeigte auf eine Steinfläche, die hinter ihnen lag. Die Käfer hatten an ihrem Fuß einen Halbkreis gebildet und wimmelten hin und her. Wieder bebte der Boden. Der Lavablock wankte hin und her. Knurrend sprang der Bitterwolf hinunter in den Sand. Aber diesmal heulte die Flammenorgel nicht. Es war nur eine leichte Erschütterung. Ein Teil des Bodens sackte nach innen, fiel in eine unbestimmte Tiefe, und aus dem riesigen Loch wallten Staub und Dampf in die Höhe. Sofort änderten die Männer ihre Richtung. Und nach kurzer Zeit, als er mit den Augen den Flug einer mittelgroßen Echse verfolgte, sah Mythor, was Luxon gemeint hatte. Pandor blieb stehen. »Dort! Das Abbild eines Käfers!« rief Mythor unterdrückt durch das Zischen und Fauchen der Fumarolen. Sie sahen es deutlich vor sich. Zwanzig Schritt entfernt, auf der glatten Fläche eines kantigen Lavawürfels, war unverkennbar der Umriß eines Käfers abgebildet. Mit einem Werkzeug hatte jemand tiefe Linien hineingeschabt und punktförmige Löcher herausgeschlagen. Das Tier war vier- oder fünfmal größer als in der Natur, und von einer Ecke der Fläche deutete ein Strich – war es ein Pfeil oder die Darstellung eines Speeres? – in die Mitte des runden Rückenpanzers. 76
»Das haben Menschen gemacht!« sagte Luxon voller Verwunderung. »Ausgeschlossen«, gab Mythor zurück und zog sein Schwert, das er vorübergehend in die Schlaufe am Löwensattel geschoben hatte. »Hier lebt niemand und nichts außer diesen Bestien.« »Vielleicht sind die Abbildungen schon alt?« »So muß es sein«, knurrte Mythor und schüttelte sich. Er hatte vor sich in einem Spalt eine undeutliche Bewegung erspäht. Er gab Luxon einen Wink, und sein ungeliebter Kampfgefährte zog langsam einen Pfeil aus dem Mondköcher. Aus einem Mondköcher, der ihm nicht zusteht, dachte der dunkelhaarige Krieger und fluchte lautlos in sich hinein. »Sie kommt näher.« Eine riesige Echse strich dicht über Nebel und Dampfwolken über das Tal. Die sichelförmigen Schwingen bewegten sich nur wenig. Der schauerliche Kopf drehte sich hin und her – das Tier suchte Beute. Dann geschah etwas Sonderbares. Ein hohles, unterirdisches Summen und Brausen wurde lauter. Wieder zitterte der Boden. Der Steinwürfel mit der eingravierten Zeichnung fiel um, kollerte, eine tiefe Spur im Staub hinterlassend, den leichten Hang hinunter und verschwand in einer Bodenspalte voller kochender Lava. Ein scharfes Heulen spaltete den Nebel. Aus einer unsichtbaren Öffnung im Staub zischte ein Strahl hervor, halb Dampf, halb Wasser. »Ein Geiser!« schrie Luxon, der den Pfeil auf der Sehne hatte und mit den Augen den Flug der riesigen Echse verfolgte. Mythor wußte, daß er die Fähigkeit besaß, Menschen schnell und meist richtig einzuschätzen. Er hatte einen sicheren Blick und war bisher kaum einmal wirklich enttäuscht oder überrascht worden. Aber Luxon entzog sich allen gängigen Beurteilungen. Er war kräftig, ausdauernd, schnell und außeror77
dentlich mutig. Man konnte ihn kühn nennen, ohne fehlzugehen. Andererseits schien die gesamte Welt nur um ihn zu kreisen; er nahm, ohne zu geben, und er selbst war sich stets und in jeder Hinsicht das Wichtigste. Er war wie ein Kind, überlegte Mythor, das noch nicht gelernt hatte, daß ein einzelner Mensch immer nur ein Teil eines höheren Ganzen war. Und dabei konnte niemand LuxonArruf wirklich böse sein, denn sein jungenhaftes, harmlosunschuldiges Lächeln schlug jeden in seinen Bann. Fast jeden. Mythor war dagegen immun. Hingegen war er sicher, daß für Luxon kein Gesetz, kein Versprechen und kein Schwur jemals gelten würde. Unbedenklich brach er jede Vereinbarung, wenn es zu seinem Vorteil war. Mythor, sagte er sich, sei auf der Hut. Die Auseinandersetzung ist noch lange nicht entschieden. »Ja, es ist ein Geiser«, sagte er, als aus dem Krater ein mächtiger Wasserstrahl mindestens sechzig Mannslängen in die Luft schoß. Das Röhren und Fauchen erfüllte die vulkanische Landschaft und machte seine Worte unhörbar. An der Spitze blähte sich das Wasser pilzförmig auseinander, und ein schwacher Wind verteilte es in weitem Umkreis. Ein Wasserschleier prasselte auf Pandor, Luxon und Mythor nieder, und der Krieger merkte, daß es weder giftiges Wasser war noch daß es stank oder nach Schwefel schmeckte. Die Flugechse steuerte mit plötzlich schnelleren Flügelschlägen mitten auf die riesige, auseinanderbrechende Fontäne zu. Sie schien von dem Wasser magisch angezogen zu werden. Aber auch Mythor und Luxon änderten abermals die Richtung und versuchten, in den Bereich des Regens zu kommen, der schräg auf die Lavaplatten herunterpeitschte und jedes Staubkorn von den glasähnlichen Flächen spülte. Gierig, in einer Art Rausch, zog die Echse am obersten Punkt des aufstiebenden Wassers ihre Kreise. 78
Im Nu waren die beiden Männer und die Tiere triefend naß. Das Wasser war nicht gerade kalt, aber nur mäßig erwärmt. Und es schmeckte wie Quellwasser. Pandors Horn glänzte. Der Wolf sprang, noch immer Horus zwischen den Fängen, in den Regen hinein und legte den Vogel vorsichtig auf einen flachen Stein. Dann stürzte sich der Bitterwolf mitten in den dichten, prasselnden Regen des warmen Wassers hinein, schnappte immer wieder nach den Wassertropfen, badete sein Fell und trank und schleckte Wasser. Pandor tat genau das gleiche, und auch die beiden Männer versuchten, ihr Haar, ihre Gesichter und die Kleidung flüchtig zu säubern. Das warme Wasser war mehr als eine Wohltat, und mitten im Regen schrie Luxon: »Wenn der Geiser regelmäßig erscheint, ist es möglich, daß hier in der Todeszone auch Menschen leben!« Das Hemd aus kostbarem blauem Stoff klebte ebenso an seiner Haut wie der gelbe Umhang aus Löwenhaut. Seine Lederstiefel waren schwarz vor Nässe. Nicht anders erging es Mythor, aber er wartete, bis Pandor sich satt gesoffen hatte. Dann erst lenkte er das Tier wieder in die trockene Zone hinaus. Keinen Augenblick zu früh. Die Flugechse hatte unter sich die kleinen Fremdlinge erspäht. Sie breitete die Schwingen wieder aus, die jetzt vor Nässe glänzten. Dann stürzte sie sich auf Mythor und Pandor. Flatternd und mit gesenktem Schädel, aufgerissenem Rachen und vorgestreckten Krallen griff das Tier an. Luxon spannte seinen Bogen und zielte sorgfältig. Dann, als die Echse zehn Mannslängen von Mythor entfernt war, löste sich der Pfeil von der Sehne. Er drang mit einem trockenen Krachen in den kantigen Schädel ein. Das Tier zuckte in der Luft zusammen, legte die Schwingen an und spreizte sie wieder. Dann fiel die große Echse direkt auf Mythor zu. Sie lebte noch, als Mythor sein Gläsernes Schwert schwang 79
und Pandor die Schenkel gegen die Flanken preßte. Das schwarze Einhorn machte einen Sprung nach vorn, als das Schwert herunterzuckte und den Schädel der Flugechse halb spaltete. Mit einem schweren Krachen schlug die Echse in die aufstiebende Vulkanasche. Unter dem zuckenden Körper brach ein Teil der Kruste ein, und langsam rutschte die Echse über die bröckelnde Kante in die Vertiefung hinein. »Wenn hier jemand lebt«, rief Mythor, als sie ihren Weg fortsetzten, »dann besteht sein Tag aus ununterbrochenem Kampf!« »Wir langweilen uns auch nicht gerade«, stellte Luxon fest. »Jedenfalls jetzt nicht.« Wieder rannten, stolperten und galoppierten sie durch die Hölle. Neben ihrem Fluchtweg tauchten zwei andere Darstellungen auf. Eine Schlange oder ein ähnliches Wesen und ein unbekanntes Tier, das einem Marder glich. Beide waren auf die gleiche Weise wie die anderen Bildwerke in den farbigen Stein geritzt und gehämmert. Luxon deutete darauf, Mythor nickte; er hatte sie ebenfalls deutlich gesehen. Der Boden unter den Hufen und Stiefelsohlen war fest und hart, nur von einer dünnen Sandschicht bedeckt. »Kann das eine Art Weg sein, so etwas wie ein Bildzauber?« überlegte Luxon laut. »Dann hätten wir etwas gewonnen!« rief Mythor. »Was?« »Vielleicht einen Weg aus dem verdammten Lavafeld hinaus.« »Schon möglich. Vielleicht sogar direkt nach Theran!« sagte Luxon grimmig. Noch zwei Bildwerke tauchten zwischen Sand und Bodennebeln auf. Wieder eine Schlange und eine Echse. Einige Schritte weiter entdeckten sie ein anderes Zeichen. Es schien so etwas wie eine magische Figur zu sein. Luxon betrachtete es 80
kopfschüttelnd und sagte: »Also doch Bildmagie!« »Ja. Was hast du über Theran gesagt? Meinst du das Orakel von Theran?« Instinktiv taten sie das Richtige. Sie hielten sich auf ihrem Fluchtweg stets zwischen den magischen Zeichen. Je weiter sie kamen, desto häufiger wurden die Bildwerke. Auch Hark, der ihnen wie immer vorausrannte, bewies, daß es tatsächlich der am wenigsten gefährliche Weg durch das Inferno war. »Ja, ich meine das Orakel«, sagte Luxon später. »Das Orakel von Theran. Es soll entscheiden, denn es heißt, daß das Orakel alles weiß und sich niemals irrt.« Mythor erinnerte sich, daß Thonensen ihm dasselbe geraten hatte. Daß Luxon ausgerechnet jetzt das Orakel erwähnte, machte ihn nachdenklich und überraschte ihn. Hark blieb plötzlich stehen und starrte nach links. Mythor blickte in dieselbe Richtung. Hinter einem Felsen, halb verborgen in einem Spalt zwischen breiten Streifen aus erkalteter Lava, kauerte ein Mann. Er beobachtete den Reiter und den anderen, der sich am Halteriemen des Steigbügels anklammerte. »Wir werden beobachtet. Also gibt es doch Menschen in dieser Hölle.« »Wahrscheinlich mehr, als uns lieb ist.« Der Mann gehörte zu den Wilden dieses Landstrichs. Sein Oberkörper war voller Linien und Zeichen. Luxon und Mythor warfen nur einen kurzen Blick auf ihn, dann galoppierte Pandor einen Hang aus Sand und Geröll hoch, wieder zwischen einer Doppelreihe von magischen Symbolen. Auch auf der rechten Seite dieses seltsamen Weges kauerte ein Eingeborener. An seinem Körper erkannten die beiden Männer ebenfalls Streifen, Punkte, Flecken und Zeichnungen, die ähnlich aussahen wie die Linien der Bildwerke in den Steinen. Die Kegel und Wälle aus Lava warfen lange Schatten. 81
»Sie sind tätowiert, und sie greifen uns nicht an.« Der Bitterwolf erreichte, einen halben Bogenschuß weit vor Pandor dahinrennend, die oberste Kante des jenseitigen Hanges. Wieder blieb er stehen, legte den Falken ab und stieß ein lautes, schauerliches Heulen aus. Pandor und Luxon keuchten den Hang hinauf und zwischen zwei hochkant gekippten Platten hindurch, auf denen Linien und Kreise eingegraben waren. Die Männer blickten direkt in die riesige, feuerrote Kugel der Sonne. Sie stand einige Handbreit über dem Horizont. Der Horizont… Vor ihnen lag die Sandwüste. Pandor blieb stehen, ohne daß Mythor etwas getan hätte. »Wir haben es geschafft!« stieß Mythor überrascht hervor. »Die Sanddünen!« »Tatsächlich. Wir haben die Zone des Todes hinter uns gelassen.« Langsam drehte sich Mythor um und warf einen Blick zurück. Die Schatten und der Dunst, der zwischen den Bodenspalten wogte, nahmen wieder Besitz von diesem furchtbaren Land. Hoch in der Luft, über den Geisern und den Spiralen des vulkanischen Rauches, zog eine riesige Flugechse ihre Kreise. Die beiden Eingeborenen hatten ihre Verstecke verlassen und starrten hinter Luxon und Mythor her. Es waren häßliche, gedrungene Wesen – das konnte Mythor erst jetzt erkennen, noch einfacher und primitiver als die Eingeborenen in den Karsh-Bergen. Aber sowohl die Gestalten in den Steinen und den Flanken der Lavarillen als auch die Tätowierungen auf den breiten Brustkörben waren alles andere als einfach oder häßlich. Mehr konnte Mythor nicht sehen, denn die Tätowierten verschwanden blitzschnell zwischen den Schatten und Felsen. »Wir haben überlebt!« sagte Mythor, vor Erleichterung seufzend. Für ihn war der Anblick, der sich ihnen bot, eine Art 82
Erlösung. Wieder dachte er an die toten Reiter. Er konnte nur hoffen, daß einige von ihnen entkommen waren. »Wir sind ziemlich weit im Süden«, sagte Luxon und sah zu, wie Mythor aus dem Sattel rutschte und zu Hark hinüberstapfte. »Ja. Richtig. Dort hinten…«, antwortete Mythor bedächtig und zeigte auf das dunkle Band hinter der Kulisse aus scharfkantig abfallenden Dünen, »… das muß die Straße des Bösen sein.« »Das ist die Straße des Bösen!« knurrte Luxon und warf den Bogen über die Schulter. Die Sehne gab einen zirpenden Laut von sich. Unterhalb des Hanges, der aus einer breiten und langen Bank aus wallförmig aufgetürmten Lavamassen bestand, gab es, so weit das Auge reichte, nichts anderes als hellen Sand. Düne reihte sich an Düne. Zwischen den langgestreckten Verwehungen, deren Oberflächen vom Wind geriffelt und ohne tiefe Spuren dalagen, zeichneten sich die schwarzen Schatten ab. Hinter den ersten Ketten der Dünen lag das schwarze Band. In unregelmäßigen Abständen wuchsen Dämonenpflanzen an den Rändern und mitten in der Straße des Bösen. Von hier aus wirkten sie wie schwarze, drohende Wesen, die zu den beiden Männern herüberstarrten und den Eindruck vermittelten, als könnten sie ihre Wurzeln aus dem Boden reißen und jeden, der sich in ihre Nähe wagte, angreifen. Luxon bückte sich, hob mit der rechten Hand einen mehr als faustgroßen Stein auf und ging auf Mythor zu. Mythor hielt Horus in der Hand, streichelte über das weiße Gefieder und sah zufrieden, daß die Wunde im Flügel verheilt war. Bald würde der Schneefalke wieder fliegen können, bald würde er ihn vor Gefahren warnen. Der Falke blitzte ihn aus kühnen Augen an und stieß ein aufforderndes, krächzendes Fauchen aus. 83
Luxon zielte sorgfältig, dann holte er aus und schmetterte Mythor den Stein gegen die Schläfe. Mythor schrie ächzend auf, kippte zur Seite und blieb liegen.
Er konnte alles sehen, aber kein Muskel gehorchte ihm. Vor seinen Augen zogen Nebel vorbei, und er fühlte den tiefen, schmerzenden Stich der Enttäuschung. Der Schlag hatte ihn von hinten getroffen und zu Boden geschmettert. Wieder einmal hatte ihn Luxon, dieser heimtückische Schurke, überrumpelt, betrogen und wehrlos gemacht. Wie durch einen Nebel sah Mythor, wie sich Luxon mit unbewegtem Gesicht in den Sattel Pandors schwang. Er hatte nichts von seiner Kraft und Stärke und Schnelligkeit verloren. Die Nebel wichen zurück; noch immer konnte sich Mythor nicht rühren. Luxon lachte nicht, als er sich im Sattel zurechtsetzte und den Bitterwolf anblickte. Der Wolf ging mit kleinen Schritten auf den Falken zu, der aus Mythors Händen geflattert war. Vorsichtig nahm er ihn ins Maul und sah dann hinauf zu Luxon, als sei der Fremde sein neuer Herr. Warum ließ Pandor zu, daß ihn ein Fremder bestieg? War es der Sattel? Oder ist vielleicht wirklich Luxon der Auserwählte, der Sohn des Kometen? Der Gedanke kam erneut. Mythor lag auf dem Rücken und sah die Silhouette Luxons, der Pandor jetzt die Hacken in die Seiten schlug, direkt vor der riesigen Sonnenscheibe. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Enttäuschung und Schmerzen wechselten in rascher Folge ab. Pandor galoppierte an, und der Bitterwolf lief den sandbedeckten Hang hinunter. Er sicherte den Weg des Fremden! Luxon hatte sich an die Abmachung gehalten, tatsächlich, aber Mythor hatte vergessen, daß sie einander versprochen hatten, nur bis zum Verlassen der vulkanischen Hölle einen 84
Scheinfrieden zu halten. Wieder drehten sich schwarze Spiralen vor seinen Augen. Dann blendete ihn die Sonne. Sie wuchs an, wurde heller und heller, und in ihrem grellen Schein glaubte Mythor zu sehen, daß er plötzlich von einem Kreis der tätowierten Eingeborenen umgeben war. Sie näherten sich ihm schweigend und blickten ihn an, als empfänden sie Ehrfurcht. Dann wieder glaubte er zu sehen und zu hören, daß der Bitterwolf und der Falke zu ihm kamen und um ihn kämpften. Er konnte Wirklichkeit und Traum nicht mehr unterscheiden. Die Sonne drang wie mit Speerspitzen durch seine geschlossenen Augen, und ein lautlos zerspringender weißglühender Ball löschte seine Gedanken aus.
Etwa zur selben Zeit erreichte der lange Zug der halb verhungerten Flüchtlinge aus Aspira den ersten kleinen Tümpel am Rand der Karawanenstraße. Das Fleisch der riesigen Bestie hatte den meisten von ihnen nicht nur Kräfte, sondern auch den Lebensmut wiedergegeben. In den Stunden der schweigenden Wanderung war keiner von ihnen gestorben oder kraftlos zurückgeblieben. Sie dachten an die Stadt Leone, und diese Hoffnung beflügelte ihre Schritte. Aber das Essen schien in ihren Mägen Verheerungen anzurichten. In den Körpern knurrte und gurgelte es. Trotzdem schleppten sie sich weiter. Als die ersten von ihnen den Tümpel erreichten und mit den hohlen Händen Wasser schöpften und voll rasender Gier tranken, fing die nächste Katastrophe an. Das Wasser, das kristallklar und gut war, richtete zusammen mit dem Fleisch der Bestie aus der vulkanischen Wüste in den geschwächten Körpern der Menschen Schlimmes an. Sie tau85
melten vom Rand des Teiches weg und in den Sand hinaus. Dort übergaben sie sich, und die schweren Anfälle schwächten die Körper, versetzten sie in Krämpfe, und die Ältesten und Schwächsten starben, während ihr Herzschlag immer schneller raste. Wer nicht von dem Fleisch gegessen hatte, war besser dran. Aber auch die Stärkeren fühlten, daß dieser Zusammenbruch ihnen das Leben rettete. Zuerst stillten sie ihren Durst, unabhängig davon, daß neben ihnen die Kameraden der langen Wanderschaft sich zuckend im Sand wälzten und irre Schreie ausstießen. Es war, als strömten neue Kraft und ein zweites Leben in sie hinein. Dann versuchten sie, den anderen zu helfen. Viele mußten begraben werden, aber zum erstenmal seit einer langen Reihe qualerfüllter Tage strahlte das Nachtlager so etwas wie Ruhe aus und die Sicherheit, daß die meisten von ihnen überleben würden. Draußen, in der Wüste, kauerten und knieten die Frauen und Männer und spien aus, was ihre Körper abermals geschwächt und beinahe zerstört hatte. Die Formen des Lebens, die in der vulkanischen Kernzone der Wüste zwischen Leone und der Oase von Theran vegetierten und kämpften, waren etwas Besonderes. Eine tödliche Besonderheit, giftig, ungenießbar, nicht von dieser Welt. Es waren Geschöpfe, die entstanden waren, ehe der Lichtbote diese Welt betreten hatte. Kreaturen aus der dunklen Zeit. War es ein Traum? Oder war es das Abbild der Wirklichkeit? Mythor erwachte. Oder er glaubte zu erwachen. Vielleicht gaukelte ihm sein gequälter Verstand in der Form eines Traumes vor, daß er aufwachte. »Wo ist Pandor?« In der Folge der Gedanken, die einander in rasender Schnelligkeit ablösten, erschienen Dünen und Sonnen, Lichter und Dunkelheit, aber immer wieder schob sich das Bild in den 86
Vordergrund, wie Luxon auf dem schwarzen Einhornhengst von der Lavabarriere in die Dünen hinuntergaloppierte. Durch dieses Chaos hindurch spürte Mythor, daß etwas mit seinem Gesicht geschah und etwas anderes mit seinem Oberkörper. Es war, als wachse in dem Gewebe der gebräunten Haut etwas heran. Ein unerträglicher Juckreiz überfiel ihn, und in seinen Visionen erlebte er mit, wie er sich mit krallenartigen Fingernägeln die Gesichtshaut zerfetzte. Der Schmerz machte ihn rasend, aber es kitzelte, schwärte und juckte immer noch. Es war, als habe irgendein fremdes Etwas in seinem Gesicht Platz genommen und breitete sich dort aus. Es wuchs und wuchs, wurde größer und mächtiger. Eine neue Vision. »Wo ist Hark, der Bitterwolf?« Das letzte Bild, das Mythor in seinen wirren Träumen immer wieder sah, war der Ausdruck auch dieses Verrates. Nach Pandor, der diesem Schurken Luxon willig gehorchte, hatte auch Hark sich dem wahren Sohn des Kometen angeschlossen. Er sicherte den Weg Luxons, wohin auch immer er führte. Oder doch nicht? Die Geräusche eines Kampfes zwischen den Tätowierten, dem flügellahmen Schneefalken und dem Wolf schoben sich in Mythors zitternde Erinnerungen. Die Wilden… waren sie wirklich oder auch nur ein Bestandteil seines Traumes? In Wirklichkeit lag der falsche Sohn des Kometen auf der Lavabarriere und würde in der bald hereinbrechenden Nacht von den wilden, beutegierigen Bestien entdeckt und zerfleischt werden. Alle Anstrengungen, Kämpfe und Zweifel waren vergeblich und sinnlos gewesen! Mythor wußte, daß einer der tiefsten Punkte in seinem Leben erreicht war – JETZT. Ein Traum? Oder die Realität? »Wo bin ich?« 87
Er entsann sich der Menge von mittelgroßen, über und über tätowierten Wilden, die um ihn herumstanden und ihn anstarrten, als sei er ein Wunder. Dann träumte er von Fronja, dem unbekannten Ziel seiner Wünsche und seiner Sehnsucht. Immer wieder sah er sie vor sich, wie ihre Finger ihn berührten und sein Gesicht streichelten. Aber ebensooft sank er wieder zurück in die Tiefen seiner Erschöpfung. Hier, wo er lag, war es wunderbar dunkel und kühl. Nur wenige Lichter wanderten immer wieder rund um ihn herum, tauchten auf, erloschen wieder. »Fronja!« stöhnte er. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren. Irgendwann wachte er auf und sah sich um. Die Schmerzen in seinem Schädel erinnerten ihn wieder daran, was geschehen war. Augenblicklich überfiel ihn der Schrecken. »Alles verloren!« Er sah, daß er sich in einem Gewölbe befand. Die Wände bestanden aus schwarz glänzendem Lavagestein, und viele Säulen wirkten so, als wären sie von der Wut der unterirdischen Kräfte geformt worden, nicht von Menschenhand. An vielen Flächen befanden sich, ineinander verlaufend, dieselben magischen Zeichen und Tiere, die er draußen in der Wüste gesehen hatte, zwischen den Fumarolen und Kratern. Er fühlte einen zweiten Schmerz. Aber es war kein stechender Schmerz, sondern mehr ein unangenehmes Gefühl, wie von einer fast verheilten leichten Wunde. Seine Finger fuhren ziellos umher und erstarrten, als er den Wilden sah, der zu seinen Füßen stand. Die Fingerspitzen berührten die Brust, und erst jetzt merkte Mythor, daß er halb nackt war. Er lag auf einem Lavablock, über den man Tierfelle und weiches Leder geworfen hatte. »Wo bin ich?« fragte er. Der Wilde öffnete seinen Mund zu einem Grinsen und zeigte schwarze, zugefeilte Zähne. Auch er war am ganzen Körper 88
mit Tätowierungen bedeckt. Er hielt einen Gegenstand in der kurzfingrigen Hand, der an einen kurzen, großen Kamm aus zusammengebundenen Holzsplittern erinnerte. Die Spitzen waren dunkelblau oder schwarz. Der Wilde gab einige summende und brummende Laute von sich und kam näher auf Mythor zu. Unter den Fingerspitzen spürte Mythor vertrocknetes Blut. Er richtete sich auf und unterdrückte, so gut es ging, einen Schwindelanfall. »Was… was habt ihr mit mir gemacht?« fragte er heiser und erkannte durch das Dröhnen in seinem Schädel seine eigene Stimme nicht mehr. Wieder lachte der Wilde und winkte nach rechts und links. Andere Männer mit Fackeln in den Händen kamen aus den Nebenräumen oder hinter den wuchtigen Säulen hervor. Keiner der Primitiven zeigte Angriffslust. Im Gegenteil, sie betrachteten Mythor schweigend und voller Ehrfurcht. Er blickte endlich seine Brust an – und erstarrte vor Entsetzen! »Ihr Wahnsinnigen!« schrie er auf. Jedes Wort jagte einen stechenden Schmerz durch seinen Kopf. »Ihr habt mich tätowiert!« Während er bewußtlos gewesen war, hatten sie ihn vom Rand der Wüste hierhergeschleppt. Er befand sich irgendwo innerhalb der höllischen Vulkanzone mit all ihren Schrecken. Und seine Bewußtlosigkeit war von diesen »Künstlern« ausgenutzt worden, seine Brust mit ihren verdammten Holzspitzen zu verunzieren. Niemals wieder würde er diese Spuren aus der Tiefe der Haut loswerden können; nicht einmal Feuer half dagegen. Er wußte es. Aber dann lächelte auch Mythor. Er konnte zwar das Bild nur verkehrt herum sehen, aber etwa zwei Handteller groß stand das Bild Fronjas auf seiner Brust! Fronja! Sie war ebenso abgebildet wie auf dem Pergament in seinem Wams! Allerdings nur in dunklen Linien, Punkten und Schattierungen. 89
»Ihr verrückten Teufel!« strahlte Mythor. Seine Stimme gewann mit jedem weiteren Wort mehr Festigkeit. »Ihr habt… Fronja… Es ist unglaublich.« Vorübergehend vergaß er Luxons Verrat und den Verlust seiner Tiere. Und wo waren die Waffen, die übrige Ausrüstung? Mindestens drei Dutzend der Tätowierten umstanden jetzt sein Lager. In steinernen Vertiefungen an den Säulen loderten die rußenden Flammen von Öllampen. Die meisten Fackeln staken an den Wänden in ledernen Riemen. Die kleinen und großen Flammen riefen auf den glasartigen Oberflächen der Lavastrukturen zuckende und zitternde Blitze hervor. Mythor schwang seine Beine zur Seite und stellte die Sohlen der Stiefel auf den Boden. Die magischen Zeichen! Die am ganzen Körper tätowierten, sprachlosen Wilden! Und dieses Gewölbe, halb natürlich, halb künstlich geschaffen. Wo befand er sich wirklich? Die Tätowierten starrten ihn mit leuchtenden Augen an, wiegten ihre Körper hin und her und stießen ihre seltsamen Brummlaute aus. Mythor versuchte es mit der Zeichensprache. Er deutete auf das Bild Fronjas, das er zu gern in einem Spiegel gesehen hätte. Dann zeichnete er mit den Fingern die Bewegung in der Luft nach, mit der man ein Pergament auffaltete. Schließlich deutete er auf den kleinen Steinhammer und das kammartige Instrument, klatschte in die Hände und stand ganz auf. Ehrfurchtsvoll blickten ihn die Tätowierten an. Einer reichte ihm ein Stück Stoff oder dünnes Leder. Es war in kaltes Wasser getaucht worden, und Mythor hielt es gegen seine Schläfe. Nur langsam wich der Schmerz von Luxons Hieb. »Danke!« sagte er und deutete wieder auf das Bild. Ein anderer Tätowierter kam, drängte seine Unterarme zur Seite und wischte mit einem anderen Stück Leder das verkrus90
tete Blut aus den vielen winzigen Einstichen weg. In einem einfachen Holzkübel befand sich eine stark schweflig riechende Flüssigkeit. Sofort vergingen die letzten Schmerzen der Tätowierung. Das Bild Fronjas schien bei jeder Bewegung, die Mythor machte, zu einem trügerischen Leben zu erwachen – es schien, als lächle sie ihn selbst aus dieser unnatürlichen Perspektive an. »Wahrscheinlich betet ihr mich an«, sagte Mythor und sah sich um, ob er nirgendwo seine Ausrüstung und seine Kleidung fand, aber er sah nur die Körper der Tätowierten mit ihren kunstvollen Mehrfachlinien, mit den kleinen magischen Zeichen und den größeren Tierdarstellungen. Die Männer – er entdeckte kein einziges eindeutig weibliches Wesen in diesen Kavernen – umstanden ihn und blickten ihn, wie er meinte, erwartungsvoll an. »Nur, weil ich einige eurer Ungeheuer erschlagen habe?« fragte Mythor, obwohl er sicher war, daß ihn keiner verstand. »Der andere Mann hat auch einige Echsen mit seinen Pfeilen heruntergeholt.« Das Bild Fronjas, bisher auf dem weichen Pergament gemalt, war nun sicher. Es konnte ihm nicht mehr gestohlen werden, er konnte es nicht mehr verlieren, und es würde nicht einmal verblassen, wenn er starb oder getötet wurde. Er trug es an sich, in seiner Haut! Wieder mußte er lachen. Diese Reaktion schien die Tätowierten zu freuen, denn sie vollführten um ihn eine Art langsamen Tanz und zeigten immer wieder auf das Bild auf seiner Brust. »Und wo ist das Pergament?« versuchte sich Mythor zu erkundigen. Niemand verstand ihn. Er deutete es wieder mit den Händen an, aber die Männer schüttelten nur die Köpfe und lachten ihn fröhlich an. Es gab es auf. Also war das Pergament verschwunden, und er würde nie91
mals erfahren, was sie damit gemacht hatten. Vielleicht bewahrten sie es auf, um von dem erbarmungslosen Töter der schwebenden Bestien erzählen zu können… und von dem vertrauensseligen Mann, der sich von seinem Widersacher hatte betäuben lassen. Der Lappen in seiner Hand war warm und halb trocken geworden. Aber der Schmerz in seinem Kopf ließ nur zögernd nach. Mythor sagte sich, daß es besser sei, wenn er sich hinlegte und wartete. Vielleicht schlief er wieder ein, und Schlaf war für ihn das Beste und im Augenblick die einzige Lösung. Zufällig richtete er seinen Blick zur Höhlendecke. Dort war keine Decke! Unregelmäßig geformte, runde Öffnungen durchlöcherten das Gewölbe. Mythor sah einige Sterne und immer wieder helle Schleier, die vor den Lichtpünktchen vorbeigetrieben wurden. Er begriff. Sie befanden sich hier irgendwo so tief in der Zone zwischen Wüste und Vulkanzone, daß die Wände kühl und nicht kochend heiß waren. Er legte sich wieder zurück und schloß die Augen. Noch einige Zeit lang blieben die Tätowierten bei ihm. Sie betrachteten ihn schweigend und zogen sich dann einzeln zurück. Viele von ihnen nahmen die Fackeln wieder mit, die sie an den Wänden und Pfeilern befestigt hatten. Als Mythor einschlief, verschwand auch der letzte Wilde. Keiner hatte mit ihm auch nur ein einziges Wort gewechselt. Er schlief. Und diesmal suchten ihn weder Visionen noch Alpträume heim. Er vergaß sogar Luxon und den überaus schmerzlichen Verlust seiner Tiere.
Die Helligkeit weckte ihn auf. Noch immer war es kühl. Er öffnete die Augen und sah, daß er in dem Gewölbe ganz allein war. 92
Neben seinem Arm stand eine Holzschale. Körner und Beeren lagen darin, daneben stand ein Krug aus dickem, schwerem Gestein. Mythor versuchte den Inhalt. Es war kühles, wohlschmeckendes Wasser. Langsam aß er dieses einfache Mahl und stand schließlich neben seinem harten Nachtlager. Kein Tätowierter zeigte sich. Mythor ging nach rechts, trat in eine andere Höhle ein, suchte eine Treppe oder einen Ausgang. Die Löcher in den Decken waren hell erleuchtet; längst war die Sonne aufgegangen. Sein Gesicht brannte und fühlte sich geschwollen an. Als er es abtastete, konnte er nichts feststellen; trotzdem war es ihm, als würde unter der Haut etwas wachsen, sich ausdehnen oder straffen – ein Eindruck, der ihn lange nicht losließ. In einer dritten Höhle fand er, bis auf sein Schwert, alle Teile seiner Kleidung und Ausrüstung. Sie waren von den Tätowierten gesäubert worden. Langsam zog er sich an und sah sich immer wieder um. Aber es gab niemanden, der ihn beobachtete. Die Höhlen und die Abteilungen zwischen den bilderübersäten Wänden und Säulen waren leer. Schließlich sah er einen breiten Spalt in einer Wand und dahinter schmale, ausgetretene Spuren. Er zog den Dolch, schob ihn in den Ärmel und machte sich vorsichtig an den Aufstieg. Etwa vier Dutzend Stufen wanden sich zwischen schrundigen Wänden aufwärts. Es wurde immer heller. »Und niemand beobachtet mich. Niemand folgt mir wahrscheinlich«, flüsterte er unbehaglich im Selbstgespräch. »Warten sie an der Oberfläche auf mich?« Aus welchem Grund sie ihm das Pergament mit Fronjas Bild weggenommen und ihm dieses Bild auf die Brust tätowiert hatten… er konnte es nicht einmal erraten. Vielleicht tätowierten sie jeden, den sie fanden, und vielleicht war ihr Hang, jedes Stück Fels mit diesen Gravuren zu versehen, genauso aus93
geprägt wie derjenige des Steinmetzen, der den Berg der Gesichter geschaffen hatte. Mythor trat von der obersten Stufe in die Helligkeit eines Morgens hinein und kletterte über knirschenden Sand. Ein dumpfes, freudiges Wiehern empfing ihn. Dann stieß der Bitterwolf sein knurrendes Heulen aus und sprang an Mythor hoch. Vor Mythor lag Alton, das Gläserne Schwert, im Sand. Er stand nur wenige Schritte von der Stelle entfernt, an der er gestern – oder war es vor einigen Tagen gewesen? niedergeschlagen worden war. »Pandor! Hark! Und Horus!« sagte er entgeistert, als er den Schneefalken auf dem Horn des schwarzen Einhorns hocken sah. Die Tiere waren also zurückgekommen. Oder sie waren niemals mit Luxon gegangen. Er wußte es nicht. Er war bewußtlos oder fast bewußtlos gewesen, als die Dinge geschahen. Aber in diesem Augenblick vergaß er alles. Er musterte die Tiere; sie sahen prächtig und ebenso erholt aus, wie er selbst sich fühlte. Wo war Luxon? Fragen, die er nicht beantworten konnte. Seine Ausrüstung war vollzählig, und der lange Schlaf samt dem frugalen Mahl hatte ihn erfrischt. Er zog die Schultern hoch, legte den Arm um Pandors Hals und griff dem Wolf in das graue Nackenfell. »Was jetzt, Mythor?« fragte er sich halblaut. »Und wohin? Zum Orakel von Theran etwa?« Er wußte es nicht. Wieder betastete er sein Gesicht. Es gab keine Spannung mehr, das Gefühl, als habe ein unfaßbares Etwas dort eine neue Kraft gebracht, war vorbei. Trotzdem blieben die Eindrücke in der Erinnerung zurück. Ein anderer Gedanke schoß ihm durch den Kopf. Die Tätowierten waren Wesen der vulkanischen Zone dieser mörderischen Wüste, und sie gewannen ihr Trinkwasser aus den wenigen Quellen, die es hier gab. Sie tö94
teten die Tiere und aßen sie. Oder sie brieten das Fleisch vorher an der kochenden Lava. Wie hatte Luxon gesagt? Überall ist Leben. Sogar hier in dieser Hölle. Mythor versuchte sich zu erinnern. Unweit von dieser Stelle war er einst gefunden worden. Die Leute von Churkuuhl hatten ihn aufgenommen. Es gab hier, zwischen den Dünen und der Oase von Theran, einige kleine Wasserlöcher, die von ständigem Grün umgeben waren. Dorthin würde er am besten seinen Weg richten. Der wichtigste Grund, weswegen er das Wasser aufsuchen wollte, war nicht der Durst. Ihn dürstete nicht. Der Grund war, daß er im Spiegel eines Tümpels oder Wasserlochs das Bild Fronjas auf seiner Brust sehen wollte. Zwar würde er ihr Gesicht, das Haar und die Linie des! unvergleichlichen Halses nur wie in einem silbernen Spiegel sehen, aber aus der richtigen Perspektive. Der Sternenbogen und der Mondköcher waren für ihn vorläufig verloren. Die Straße des Bösen, der Yarl-Pfad, würde für ihn unter diesen Umständen trotzdem leicht zu erreichen sein. Er griff nach dem geschnitzten und verzierten Löwenkopf des Sattels, stemmte seinen Fuß in den Steigbügel und zog sich hoch. Der Schneefalke flatterte auf und setzte sich wieder auf Pandors Horn. Seine Bewegungen waren schnell und sicher, aber der Flügel war noch immer nicht restlos ausgeheilt. »Pandor, Hark und Horus!« rief Mythor mit neu erwachendem Mut. »Wir reiten zuerst zum Yarl-Pfad.« Willig trabte Pandor die Düne abwärts. Der Bitterwolf schnürte voraus und suchte den besten Weg. Vor zwei Stunden war die Sonne aufgegangen.
Luxon-Arruf empfand nicht einmal Freude oder Befriedigung, 95
daß es ihm gelungen war, seinen Plan durchzuführen, ohne gegen die Vereinbarung zu verstoßen, ohne Mythor zu belügen. Alles war streng nach den Worten ihres flüchtigen Paktes abgelaufen. Nachdem sie miteinander die Abenteuer in der Hölle durchgestanden hatten, war die Zeit abgelaufen, und er war wieder ein Gegner statt eines Partners. Jetzt saß er auf diesem herrlichen Einhorn und ritt in scharfem Galopp auf den Rand der Straße des Bösen zu. Er mußte möglichst viel Entfernung zwischen sich und Mythor bringen. Mythor würde ihn, wenn er wieder aufstehen konnte, erbarmungslos verfolgen. Er, der Glücksritter aus Sarphand, hatte wieder einmal Glück gehabt. Glück, sagte er sich und beugte sich im Sattel vor, hatte auf die Dauer nur der Tüchtige. Er war, ohne jeden Zweifel, außerordentlich tüchtig. Er ritt in den Tälern der Dünen. Die Sonnenscheibe wurde dunkler und verlor ihre kreisrunde Form. Der Wolf, ien Falken in den Fängen, lief vor Pandor auf den Rand der Straße zu und gab keinerlei Zeichen, ob er es richtig fand, daß ein anderer Mann Pandor ritt. Die Dämonenpflanzen ragten am Rand der Straße auf und färbten sich dunkler. Als der schwarze Streifen deutlicher wurde, blieb Pandor mitten aus einem Galoppsprung heraus stehen. Sand stob auf. Luxon konnte sich gerade noch im Sattel halten. Dann stieg das Einhorn fast senkrecht hoch, wirbelte mit den Füßen durch die Luft, sank wieder auf den Boden und keilte mehrmals aus. Wieder warf er sich zur Seite, hob sich auf die Hinterbeine und schleuderte Luxon aus dem prächtigen Sattel. Luxon überschlug sich in der Luft und landete weich im Sand. »Verdammtes Vieh!« schrie er haßerfüllt. Das Einhorn warf sich herum, der Wolf stieß einen grollenden Laut tief aus der Kehle aus und rannte neben Pandor in den Spuren zurück, die sie bis hierher hinterlassen hatten. 96
Luxon stand langsam auf und sah den Tieren nach, deren Körper lange Schatten auf die hellen Dünenhänge warfen. Sein Vorteil war nicht viel geringer geworden. Er hatte noch den Bogen und den Köcher. »Die Jagd geht weiter!« sagte er sich, und als er sich umdrehte, hörte er das dumpfe Geräusch von Pferdehufen. Er blieb starr stehen und blickte in nördliche Richtung. Im schwindenden Licht sah er vier Reiter, die über die Mitte der Straße des Bösen dahinsprengten. Luxon erkannte, daß die Reiter schwarz vermummt waren. Ihre Köpfe waren von schwarzen Kapuzen bedeckt. Er drückte sich eng an den borkigen Stamm einer Dämonenpflanze und sah den Reitern bewegungslos und schweigend entgegen. Die Pferde keuchten und hatten weißen Schaum vor den Mäulern. Zaumzeug und Sporen klirrten. Als die vier Reiter etwa zehn Mannslängen von Luxon entfernt waren, rissen sie die Pferde zurück. Sie ritten auf Luxon zu und blieben vor ihm in einer Reihe stehen. Luxon merkte, daß er plötzlich wie gelähmt war. Er konnte sich nicht mehr bewegen. Von den Augen, die unter dem Dunkel der schwarzen Kapuzen verborgen waren, ging ein dämonischer, lähmender Bann aus. Langsam schoben die Reiter die Kapuzen in den Nacken. Noch während er versuchte, mit dieser neuen Erfahrung fertig zu werden, sah er, daß die Gliedmaßen der Reiter von einer Schlangenhaut umhüllt waren. Sie lag so eng an wie eine normale Haut, bildete eine Art glänzende Schicht, wie aus dünnem Glas, über den Gliedern der Reiter. Luxon verlor binnen weniger Augenblicke seinen eigenen Willen. Er starrte in Gesichter, die wie mit Glas überzogen waren. Er glaubte, in dieser schimmernden Umhüllung feine Sprünge zu sehen. Ihm war klar, daß er hilflos ausgeliefert 97
war. Noch kannte er die Namen und die Bedeutung dieser vier dämonischen Reiter nicht. Doch er ahnte, daß er sie niemals erfahren würde. Namenlose Angst packte ihn. Sie würden ihn fragen und seinen Willen brechen, falls er versuchte, sich ihnen zu verweigern. Am besten war es, er sagte ihnen freiwillig, daß er und Mythor »beschlossen« hatten, das Orakel von Theran entscheiden zu lassen. Luxon erkannte weder Coerl O’Marn noch Oburus, weder Nyala noch Herzog Krude. Er wußte auch nichts vom Bußgewand. Aber er wußte genau, daß in wenigen Augenblicken das Schicksal seine Glückssträhne unterbrechen und ihn damit vernichten würde. Luxon begann vor Furcht zu zittern. Schließlich richtete einer der Reiter eine Frage an ihn, und er antwortete willenlos. Er konnte nichts anderes als die Wahrheit berichten.
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Ernst Vlcek
DAS ORAKEL VON THERAN Etwas Was das Licht nicht kennt, kann auch nicht ermessen, was das Dunkel ist, in dem es erwacht. Und etwas, das keine Ahnung von der Vielfalt des Lebens hat, kann sich über seine eigene Unfertigkeit kein Urteil bilden. Dieses Etwas fühlte zuallererst eine Regung in sich, einen ersten Impuls des Werdens. Etwas war für sich allein, aber es verspürte noch keine Einsamkeit. Denn das Alleinsein im Dunkeln war die erste Erkenntnis seiner Existenz; von anderen Formen des Lebens oder des Zusammenlebens wußte es noch nichts. Etwas war gerade erwacht. Es hatte die beengende Hülle abgestreift, hatte einen Kerker verlassen. Etwas fühlte sich nun frei. Es folgte ein Aufatmen, ein erstes Atemholen, eine Umschau und eine Einkehr in sich selbst. Doch da war noch nicht viel. Überall Schwärze, worin Etwas trieb. Selbst sah es sich als formloses Ding und als nicht viel mehr als das schwarze Nichts ringsum. Doch in Etwas war ein steter Strom, es spürte, wie es von einer Kraft durchflutet wurde, die es formte und stärker werden ließ. Etwas regte sich und dehnte sich aus. Etwas hatte einiges auf den Weg aus dem Gefängnis mitbekommen. Diese Hinterlassenschaft von Unbekannt, das Erbe von einem anderen Etwas, war Wissen und diese nicht zu erklärende Kraft. Mit dem Wissen konnte Etwas noch nichts an99
fangen, denn es mußte erst selbst Erfahrungen sammeln, um vergleichen und urteilen und solchermaßen erkennen zu können. Der Kraftfluß aus unerklärlicher Quelle trieb Etwas dazu an, das vererbte Wissen einzusetzen und das Dunkel zu erforschen. Es dauerte, bis Etwas erkannte, daß Regungen und Anstöße nicht nur aus ihm selbst kamen, sondern auch ringsum waren. Und das umliegende Dunkel war nicht nur eintönige Schwärze, sondern es besaß sehr wohl eine Formenwelt. Aus dem vormals dunklen Einerlei schälten sich Formen heraus, nahmen immer mehr Gestalt an, und sie bewegten und veränderten sich. Diese Erkenntnisse erregten Etwas in höchstem Maß. Es begriff, daß das noch weit mehr war als das Dunkel des ersten Augenblicks und auch viel mehr als die Formen des ersten Erkennens. Etwas forschte weiter und lernte. Etwas nahm alle Eindrücke in sich auf, verarbeitete sie mittels seines ererbten Wissens und erlernte die Fähigkeiten des Sehens und des Hörens, und es entwickelte diese Fähigkeiten immer weiter, baute sie aus, bis es schauen konnte. Und das, was Etwas sah, ließ es gebannt innehalten. Fasziniert und mit steigender Erregung ließ es die Bilder auf sich einströmen, die von irgendwo kamen, von Orten, die Etwas noch nicht bestimmen konnte. Diese sich bewegenden Bilder hatten eine Sendung, die Etwas deutlich hören konnte. Nur war es noch nicht in der Lage, die Botschaft zu verstehen, zu sehr war der Inhalt noch verschlüsselt. Aber Etwas lernte rasch, und so erkannte es bald, daß die Sendung nichts weiter als reine Kraft war, die auf es überfloß und es stärkte. Und es kam schnell dahinter, daß zwischen dem Kraftstrom und den Bilderformen ein Zusammenhang bestand, daß alles einer bestimmten Ordnung unterlag. Wenn einer der Schemen sich veränderte, in sich zusammen100
sank oder sich einfach auflöste, dann empfing Etwas eine der Sendungen, dann wurde jene Lebenskraft frei, die Etwas so gierig in sich aufsog. Es wurde viel von dieser Kraft frei in diesen Momenten. Viele der schönen, fremdartigen Formen verloren sich, wurden ausgelöscht, hörten einfach auf zu sein. Davon lebte Etwas, davon wurde es stark, diese Kraft ließ es wachsen. Was Etwas sah, waren Bilder vom Kämpfen und Sterben. Unzähliges Leben mußte vernichtet werden, um Etwas zu stärken, damit es mächtig genug wurde, um aus sich selbst ein lebendes Wesen zu formen. Es war schon ein solches Sterben notwendig, wie es bei der Schlacht im Hochmoor von Dhuannin stattfand, um ein Wesen wie Etwas entstehen zu lassen. Viele Krieger mußten ihre Kraft geben, um Etwas ein Dasein zu ermöglichen. Aber damit war Etwas noch längst nicht vollkommen, es blieb ein unfertiges Ding – ein Schatten in der Schwärze. Es trug viel in sich, doch um die gespeicherte Kraft und das ererbte und neu beschaffte Wissen richtig anwenden zu können, benötigte es noch etwas: einen Körper! Einen solchen Körper, wie ihn viele im Hochmoor von Dhuannin aufgegeben hatten, brauchte es, um von einem Etwas zu einem Jemand zu werden. Denn im richtigen Körper war es noch weiter entwicklungsfähig, das spürte Etwas. Und so machte es sich auf die Suche, berauscht von den Lebenssendungen, die auf es einströmten und es stärker und stärker machten, bis es schier zum Bersten prall war. Aber obwohl unzählige solcher Körper zur Verfügung standen, fand Etwas nicht den richtigen. Es wurde immer wählerischer und stellte von Mal zu Mal höhere Ansprüche, während es gleichzeitig von dem Wunsch verzehrt wurde, raschest jemand zu werden. Endlich glaubte Etwas, ein geeignetes Opfer gefunden zu ha101
ben. Doch der Träger des auserwählten Körpers war ein gar widerspenstiger Geist, ein Kämpfer und ein Denker, der sich mit den anderen nicht in einem Atemzug nennen ließ. Und da wußte Etwas, daß es dieser und kein anderer sein mußte. Etwas strebte einzig und allein diesem Ziel zu. Es kam ihm nahe und immer näher. Doch als es zuschlagen und die Geistesbrücke überwinden wollte, die von der Schwärze in dieses andere Reich geschlagen worden war, da brach die Verbindung auf einmal zusammen. Etwas empfing keine Sendungen mehr, die vor Leben pulsierenden Bilder verblaßten allmählich – die Schlacht war geschlagen, der Sturm ebbte ab… Etwas stürzte in die Abgründe des Schattenreichs zurück und mußte von seinem auserwählten Opfer ablassen, das zum Greifen nahe gewesen war, nun jedoch fern und immer ferner lag. Doch Etwas ließ nicht locker. Es kannte nun den Geschmack des Lebens und kam nicht mehr davon los. Es wollte sich nicht mit der Erinnerung zufriedengeben, sondern wollte den Kelch, von dem es gekostet hatte, in vollen Zügen genießen. Etwas war nun stark genug, um sich zu behaupten. Es fiel nicht mehr ins Nichts zurück und konnte sich erfolgreich dagegen wehren, daß die Kerkermauern des Dunkels sich um es schlossen. Etwas blieb auf der Spur seines Opfers, stellte ihm unermüdlich nach und lauerte auf eine passende Gelegenheit, um sich aus der Dunkelheit auf dieses stürzen zu können. Es gab nun eine starke, wenn auch unsichtbare Verbindung zwischen dem Etwas aus dem Schattenreich und dem Jemand aus dem Reich des pulsierenden Lebens. Und Etwas erkannte, daß es seine Bestimmung war, diesen Jemand zu bezwingen.
Mythor bot sich ein grauenvoller Anblick, als er die Höhe der 102
Sanddüne erreichte und von dort in die Senke hinunterblickte. Was er sah, traf ihn nicht völlig unerwartet. Der Rauch und die über diesem Gebiet kreisenden Totenvögel, die sich ausschließlich von Aas ernährten, hatten ihn vorgewarnt. Trotzdem verursachte ihm dieses Bild der Zerstörung und des Todes Übelkeit. Es mochten an die fünfzig Flüchtlinge aus dem Norden gewesen sein, die hier, in der Wüste von Salamos, ihr Lager aufgeschlagen hatten. Der Überfall mußte des Nachts stattgefunden und die Flüchtlinge überrascht haben. Mythor erkannte das an verschiedenen untrüglichen Zeichen. Die Ochsen waren nicht vor die Wagen gespannt, sondern ihre von Lanzenstichen gezeichneten und von langen, rotgefiederten Pfeilen durchbohrten Kadaver lagen abseits. Einige der Flüchtlinge lagen noch wie im Schlaf da, aber der Wüstensand um sie war blutgetränkt und von dem Feuer rußgeschwärzt, das die Wegelagerer entzündet hatten. Offenbar hatten es die Angreifer nicht auf Beute abgesehen gehabt, denn sie hatten die Wagen mitsamt der Ladungen angezündet. In den halb verkohlten Überresten glosten noch einige Glutnester. Doch das störte die gefiederten und anderen Aasfresser nicht. Sie ließen sich nicht einmal von Mythors Anwesenheit in ihrem grausigen Mahl stören. Erst als Hark heulend ins Lager rannte, stob die Meute der wolfsähnlichen Vierbeiner erschrocken auseinander, erhoben sich die Totenvögel mit trägem Flügelschlag in die Lüfte. »Hark!« rief Mythor, und der Bitterwolf kam zurück. »Diese Tiere tun nichts Unrechtes, so ist eben ihre Natur. Die wirklich schändlich gehandelt haben, das waren Menschen.« Aber was waren das für Menschen! Caer? Nein, Mythor glaubte nicht, daß diese Vasallen der Dunklen Mächte bereits so tief in den Süden vorgedrungen waren. Die Caer würden noch lange damit beschäftigt sein, sich die nördlichen Länder 103
zu unterwerfen. Erst wenn ganz Tainnia, Ugalos und vielleicht auch Dandamar fest in ihrer Hand waren, würden sie nach Süden blicken. Nach der Schlacht im Hochmoor von Dhuannin hatte eine wahre Völkerwanderung eingesetzt. Es waren unzählige, die vor den Caer und ihren Dämonenpriestern nach Salamos flohen. Aber wie vielen war es so oder ähnlich ergangen wie diesem Häufchen Bedauernswerter. Andere würden sich in die Vulkanhölle verirren, der er gerade erst entronnen war, und dort ihr Grab finden. Vielen würde die trockene Geröllwüste oder die angrenzende Sandwüste zum Verhängnis werden. Wie viele würden verdursten, verhungern oder auf der Straße des Bösen umkommen? Mythor wollte nicht daran denken. Er überwand sich dazu, in das rauchende Lager hinunterzureiten. Vielleicht gab es einen Überlebenden, dem er helfen konnte. Er besaß einen Batzen des Harzes vom Baum des Lebens, der eine so wunderbare Heilwirkung hatte, daß er vom Tode Gezeichnete ins Leben zurückbringen konnte. Als Mythor sicher sein konnte, daß in keinem der Flüchtlinge mehr Leben war, verließ er schleunigst die Stätte des Grauens. Er wollte Pandor zur Eile antreiben, um zur Straße des Bösen zu gelangen und ihr in den Süden zu folgen, bis zu jener Stelle, wo er einst von den Marn aufgefunden worden war. Doch da entdeckte er am Rand der Kampfstätte, wo der Wüstensand nicht aufgewühlt war, einige seltsame Spuren, die ihn veranlaßten, das Einhorn anzuhalten. Er beugte sich aus dem leonitischen Königssattel, um diese Spuren genauer in Augenschein zu nehmen. Sie stammten weder von Menschen noch von Pferden, sondern sahen aus, als seien sie von großen Krallen hinterlassen worden. Es gab viele solcher Krallenspuren. Sie trafen aus südlicher Richtung am Lagerplatz der Flüchtlinge ein, führten um diesen herum und kreuz und quer durch diesen hindurch. An 104
anderer Stelle führten sie wieder in südliche Richtung fort. Mythor überlegte kurz, ob er den Spuren folgen sollte, wußte dafür aber keinen zwingenden Grund. Nichts konnte dieses Unrecht ungeschehen machen, und das Verlangen nach Sühne und Rache war nicht schwerwiegend genug, um sich in ein solches Abenteuer zu stürzen. Es gab mindestens dreißig verschiedene Krallenspuren. Was mochten das für Tiere sein, deren Krallen über eine Elle maßen und deren Schritt weit Übermannslang war? »Pandor! Nach Osten!« befahl er seinem Einhorn und unterstrich seine Worte durch den Druck seiner Schenkel. Pandor verstand und galoppierte in die Richtung, wo sich das dunkle Band durch die Wüste zog, das die Chur-kuuhlYarls auf ihrem Marsch nach Norden hinterlassen hatten. Mythor hatte damals auf den Rücken der Yarls diesen langen Weg mitgemacht, aber er hätte nicht einmal im Traum daran gedacht, daß er eines Tages diese Spur zu seinem Ursprung zurückverfolgen würde. Und hätte ihm ein Weiser der Marn prophezeit, daß die Yarls eine Saat des Bösen hinterließen, aus der einmal Dämonenpflanzen und unheimliches Getier hervorgehen würden, er hätte es nicht geglaubt. Und doch war es so: Die Spur, die die Churkuuhl-Yarls hinterließen, war zu einer Straße des Bösen geworden, die an jeder Stelle andere Schrecken für jenen bereithielt, der sie betrat. Mythor hatte einige davon kennengelernt. Hier, in der Sandwüste von Salamos, bot sich die Yarl-Linie jedoch als schwarzes, unbelebtes und trostloses Band dar. Mythor konnte weder Pflanzen noch irgendwelches Getier auf dem wie geschmolzen und verbrannt daliegenden Sandstreifen entdecken. Er hütete sich dennoch davor, auf dieser Straße zu reiten, denn aus eigener Erfahrung wußte er, daß es auch unsichtbare Schrecken auf ihr gab. So ritt er an ihr in südlicher Richtung entlang. 105
Mythor fühlte sich niedergeschlagen, und Hoffnungslosigkeit stieg in ihm auf. Die Ereignisse am Baum des Lebens, die trotz allem ein gutes Ende genommen hatten und für die nächste Zukunft eine günstige Entwicklung versprachen, verblaßten gegenüber den Schreckensbildern, die Mythor jüngst zu sehen bekommen hatte. In solchen Momenten hatte er früher das Pergament mit dem Frauenbildnis hervorgeholt, das Fronja darstellte. Die Ausstrahlung des so lebendig wirkenden Bildes hatte ihm stets Mut gemacht. Doch das war ihm nun nicht mehr möglich. Er trug Fronjas Bild jetzt als Tätowierung an seinem Körper; deshalb fiel es ihm schwerer, sich in ihren Anblick zu vertiefen. Mythor konnte sich noch so anstrengen und verrenken, es war ihm unmöglich, Fronjas Bild auf seiner Brust voll auszukosten. Die Sonne wanderte über den Himmel dem westlichen Rand der Welt zu. In der salamitischen Wüste hatte die Sonne trotz der Winterzeit mehr Kraft als in Tainnia. Nur in den Nächten wurde es sehr kalt. Aber wer die Kälte zur Wintersonnenwende kennengelernt hatte, dem konnten auch die Wüstennächte nichts anhaben. Eine Wolkenwand verdunkelte die Sonne und ein Wind kam auf, der den Sand diesseits der Yarl-Straße hochwirbelte und zu Wolken verdichtete. Auf der anderen Seite der Yarl-Straße herrschte fast Windstille. Es schien so, als hätten die Yarls nicht nur das Land zweigeteilt, sondern auch eine Grenze gezogen, an der sich das Wetter schied. Mythor beschloß, die Yarl-Straße zu überqueren, falls der Sandsturm noch heftiger wurde. Vorerst begnügte er sich damit, einen Schal aus leichtem, aber dichtem Gewebe aus der Satteltasche zu holen und damit sein Gesicht zu verhüllen. Hark war vorausgeeilt und in einer Sandwolke verschwunden. Da vernahm Mythor auf einmal sein Heulen, und 106
er wußte, daß der Bitterwolf etwas entdeckt hatte, auf das er ihn aufmerksam machen wollte. Mythor veranlaßte Pandor zu einer rascheren Gangart, bis Hark endlich aus den Sandwirbeln auftauchte. »Quyl!« entfuhr es Mythor überrascht, als er erkannte, was Hark entdeckt hatte. Es war der Rückenpanzer eines Yarls, der quer über der Straße des Bösen lag. Obenauf sah man noch die Reste der Stadtaufbauten aus Holz. Und Mythor erinnerte sich wieder. Manches aus der Vergangenheit war so wach in seiner Erinnerung, als habe er es erst gestern erlebt. Dazu gehörte auch dieser Zwischenfall, bei dem Churkuuhl einen Yarl verloren hatte. Schon einmal, auf dem Meer der Spinnen, war Mythor an dieses Ereignis erinnert worden, als er mit Nyala in Seenot geraten war und einen Yarl-Panzer auf dem Wasser treibend fand. Jetzt lag der Panzer jenes Yarls vor ihm, der einst im Treibsand der Wüste eingesunken war und die Beute irgendeines Tieres wurde, das in der Tiefe lauerte. Der Yarl war damals bei lebendigem Leib aufgefressen worden, und als die Marn ihn mit Hilfe der anderen Tiere aus dem Treibsand zogen, war von ihm nur noch der Rückenpanzer übriggeblieben. Die überlebenden Marn wurden auf andere Yarls umgesiedelt, die Güter umgeladen. Das Tier, das den Yarl aufgefressen hatte, bekamen die Marn nicht zu Gesicht. Mythor lenkte Pandor auf den Yarl-Panzer, der an dieser Stelle eine Brücke über die Straße des Bösen bildete. Das Einhorn fand auf den rissigen Hornplatten mit den Hufen guten Halt. Hark heulte wieder. Mythor ritt zum Rand des Panzers, wo der Bitterwolf ihn erwartete. Und da sah Mythor einen riesigen Wurm mit einem vielfach untergliederten Körper. Der übergangslos mit dem Körper verbundene Kopf ragte steil aus dem wie schwarz glasierten Boden heraus, der lange, dicke 107
Körper war in Schlangenlinien erstarrt. Am Kopfende befand sich ein riesiges Maul, das anstelle von Zähnen einen Borstenkranz hatte. Dieses Untier war längst tot und versteinert. Es mochte dasselbe Tier sein, das den Yarl aufgefressen hatte, aber das Fleisch seines Opfers war ihm offenbar nicht bekommen. Oder aber die Saat des Bösen war in diesen Riesenwurm gedrungen, hatte ihn getötet und vor Verwesung bewahrt. Mythor ritt weiter. Er erreichte die östliche Seite der Straße des Bösen. Der Sandsturm ließ nach, die Sicht wurde wieder besser. Mythor nahm das Tuch vom Gesicht und legte sich den Umhang über die Schultern. Die Sonne tauchte hinter den Wolken nicht mehr auf, und es wurde merklich kälter. Bald würde es dämmern, und Mythor mußte sich ein Lager für die Nacht suchen. Doch um ihn war nur Wüste, die im Osten bis zu den Ausläufern der Karsh-Berge reichte. Im Hügelland würde er sicher einen geeigneten Lagerplatz finden und vielleicht auch Holz für ein Lagerfeuer. Aber so weit wollte er sich von der Straße des Bösen nicht entfernen, denn sie wies ihm die Richtung nicht nur zum Ort seines Ursprungs, sondern auch zum Orakel von The-ran. Dieses wollte er unbedingt aufsuchen. Schon der Sterndeuter Thonensen hatte ihm dies auf Burg Anbur geraten. Und auch Luxon hatte ihm ja den Vorschlag unterbreitet, dieses Orakel darüber zu befragen, wer von ihnen beiden der Sohn des Kometen sei. Er fand eine windgeschützte Senke, in der das Gerippe irgendeines Tieres lag. Über dieses spannte er seinen Umhang, befreite Pandor vom Königssattel und benutzte ihn als Kopfunterlage. Nachdem er sich hingelegt hatte, kam Hark und kuschelte sich an ihn. So wärmten sie sich gegenseitig mit ihren Körpern. Mythor merkte erst jetzt, wie müde und hungrig er war; auch Durst machte ihm zu schaffen. Aber die Müdigkeit war 108
stärker. Noch ehe sich das schwarze Tuch der Nacht völlig über die Wüste gesenkt hatte, war er eingeschlafen.
Hunger und Durst weckten ihn. Die Sonne war noch nicht hinter den Karsh-Bergen aufgegangen, der neue Morgen zeigte sich erst in seinem ersten Dämmerlicht. Mythor sattelte Pandor und saß auf. Den Umhang verstaute er in der Satteltasche, wo auch der Harzbatzen und der letzte Samenzapfen vom Baum des Lebens untergebracht waren. Die Vorräte waren alle aufgebraucht. Es war hoch an der Zeit, sich etwas Eßbares und Wasser zu beschaffen. Er schickte Hark auf die Jagd, und der Bitterwolf eilte hechelnd davon. Der Schneefalke kreiste hoch über ihm, aber sein Flug blieb ruhig. Er zeigte durch nichts an, daß sein scharfes Auge eine Beute erspäht hatte. Wasser! Mythor konnte nun an nichts anderes mehr denken. Seine Kehle war ausgedörrt, das Schlucken bereitete ihm Schwierigkeiten. Im Osten schienen die Karsh-Berge ganz nahe zu sein. Mythor glaubte sogar, einen schneebedeckten Gipfel zu sehen. Warum schneite es nicht? Auf der anderen Seite der Yarl-Straße braute sich wieder ein Sandsturm zusammen. Aber er war zu weit entfernt, als daß Mythor ihn hätte fürchten müssen. Vor ihm lag ein hügeliges Land. Es kam Mythor vertraut vor, aber er kam im Augenblick nicht dahinter, an welches Erlebnis aus seiner Jugendzeit es ihn erinnerte. »Pandor!« Mit diesem Ruf trieb er das Einhorn zu größerer Eile an. Horus war am dunstigen Himmel nicht mehr zu sehen. Hark hatte im Sand deutliche Spuren hinterlassen, denen Pandor folgte, aber der Bitterwolf selbst ließ sich nirgends bli109
cken. War die Wüste wirklich tot? Lag dort im Süden, über den Felserhebungen, nicht ein Streifen Grün? Wenn es dort Pflanzen gab, dann mußte auch Wasser vorhanden sein. Vielleicht war aber auch alles nur Einbildung. Mythor wußte, daß Hunger und Durst einem trügerische Bilder vorgaukeln konnten. Er zwinkerte, rieb sich die Augen, aber der Grünstreifen blieb. Er war schon ganz nahe. Und da wußte er auf einmal, welche Erinnerungen aus seiner Marn-Zeit er mit dieser Gegend verband. Es war einige Monde vor dem Zwischenfall gewesen, bei dem jener Yarl in Treibsand geriet und von dem Riesensandwurm aufgefressen wurde. Damals hatten die Marn unter Wassernot gelitten. Es hatte schon lange Zeit nicht mehr geregnet, die Zisternen waren ausgetrocknet, einige Marn verdursteten. Da entdeckte Mythor, der als einziger die Wehr auf den Rücken der Yarls verließ, eine Wasserstelle. Die Yarl-Führer vermochten jedoch nicht, die Tiere dorthin zu treiben, und Mythor konnte keinen Marn dazu bewegen, Churkuuhl zu verlassen und das Wasserloch aufzusuchen. Vielleicht wären die Marn damals allesamt umgekommen, hätten an der kleinen Oase nicht Händler gelagert, die Mythor dazu brachte, die Marn im Austausch gegen Waren mit Wasser zu versorgen. Heute, wenn er an Feuerauges Erinnerungen dachte und nicht mehr daran zweifelte, daß die Marn wie die Yarls Geschöpfe der Schattenzone gewesen waren, verstand er ihr Verhalten besser. Mythor erkannte diesen Teil der salamitischen Wüste an den aus den Dünen ragenden Felsen wieder. Dort entsprang eine Quelle, und sie war von einem kleinen Pflanzenhain umgeben. Es war keine Einbildung. Er erreichte die Felsen, sah den 110
kleinen Teich und ließ sich von Pandors Rücken direkt in ihn hinunterfallen. Er lachte ausgelassen, als das Wasser beim Aufprall spritzte. Er wälzte sich in dem kleinen, flachen Gewässer herum und ließ sich das Wasser einfach in den Mund laufen. Erst als er seinen Durst gestillt hatte, suchte er das Ufer auf und ließ sich dort nieder. Er stützte sich mit den Armen auf und betrachtete sein Spiegelbild auf der sich glättenden Wasseroberfläche. Sein Wams stand weit offen und gab seine Brust frei. Da fiel sein Blick auf Fronjas Abbild. Es erschien ihm in diesem Moment wie ein Wunder, daß ihm dieses Geschöpf aus dem Wasser entgegenlächelte. Zum erstenmal konnte er die Tätowierung auf seiner Brust in einem Spiegel betrachten. Fronja schien zu leben; es war, als stehe sie ihm gegenüber. Das Verlangen, die Hand nach ihr auszustrecken und sie zu berühren, wurde übermächtig. Aber er besann sich noch rechtzeitig, daß er das Bildnis zerstören würde, wenn er mit seiner Hand das Wasser aufwühlte. Darum hielt er an sich und versank in der Betrachtung des überirdischen Spiegelbilds seiner Brusttätowierung. Fronja! Er sprach den Namen laut aus: »Fronja!« Aber da schienen sich ihre Gesichtszüge zu trüben, ihre Miene zu verdüstern. Das Wasser geriet in Wallung, ohne daß er es berührte. Die Luft war still, kein Windstoß brachte die Wasseroberfläche zum Kräuseln, und dennoch schien es auf einmal zu brodeln. Fronjas Bildnis zerbrach in viele Teile und verzerrte sich. Etwas Schwarzes tauchte im Wasser auf, reckte und streckte sich – und dann sprang es Mythor an. Mit einem Schrei wich er zurück. Etwas streifte wie mit messerscharfer Klinge sein Gesicht und verursachte ihm einen brennenden Schmerz, der sich von seinem Kopf bis tief in sei111
ne Brust ausbreitete und ihn zu durchbohren schien. Mythor wälzte sich über den Boden, schlug und trat um sich, bis endlich der flammende Schmerz nachließ. Dann lag er benommen da. Was war gerade passiert? War er wirklich von einem Schatten angefallen worden, der in diesem Wasserloch lauerte? Oder war alles nur ein böser Traum gewesen, den ihm seine von Hunger und Durst verwirrten Sinne vorgespielt hatten? Vorsichtig schob er sich zum Rand des kleinen Teiches vor, dessen Oberfläche sich wieder beruhigt hatte. Das Wasser war glatt und unbewegt, und nichts schien es in Unruhe versetzt zu haben. Gerade als Mythor den Kopf über das Ufer beugen wollte, bellte der Bitterwolf. Und ein Schatten fiel auf Mythor. Der Schatten kam jedoch nicht aus dem Wasser, wie Mythor zuerst geglaubt hatte, sondern von jemandem, der hinter ihm aufgetaucht war und sich vor die aufgehende Sonne schob. Mit einem unterdrückten Laut wirbelte Mythor herum und sah sich von einer großen Reiterschar umgeben. Es waren in wallende und sandfarbene Gewänder gehüllte Gestalten, die jedoch keine Pferde ritten. Sie saßen auf den Rücken von großen, gefiederten Tieren mit zwei langen Stelzbeinen, die im Vergleich zu den Körpern dünn wirkten. Obwohl Mythor gegen die Sonne nicht viele Einzelheiten erkennen konnte, fiel ihm sofort auf, daß die Beine dieser vogelähnlichen Reittiere in gefährlich wirkenden Krallen endeten. Sofort erinnerte er sich der Krallenspuren beim Lagerplatz der Flüchtlinge aus dem Norden. Er griff nach seinem Gläsernen Schwert. Aber noch ehe er es aus dem Gürtel ziehen konnte, war er von Vogelreitern umzingelt, und rotgefiederte Lanzenspitzen bedrohten ihn von allen Seiten. »Willst du sterben?« fragte einer der Reiter belus112
tigt. Es war eine aussichtslose Lage. Mythor mußte das einsehen, und so ließ er von seinem Schwert ab. Die Lanzen wurden zurückgezogen, und die seltsamen Reitvögel rückten auf Befehl ihrer Reiter von ihm ab. Sie taten es offenbar nur widerwillig und mit steifen, unruhig zuckenden Stelzenbeinen. Ihre Krallen vergruben sich im Boden. Mythor sah sich die Tiere nun genauer an. Obwohl sie einigen Abstand von ihm hielten, mußte er hoch zu ihnen aufblicken. Ihre flaumgefiederten Köpfe an den geschwungenen, dicken Hälsen befanden sich in einer Höhe von über zweieinhalb Mannslängen. Die furchterregenden Schnäbel waren wie bei Geiern nach unten gebogen. Mythor konnte sich vorstellen, daß ein Mann mit einem einzigen Schnabelhieb getötet werden konnte. Diese Schnäbel hatten zudem noch eine Art Kriegsbemalung, was sie noch bedrohlicher erscheinen ließ. Einer der Vögel begann plötzlich zu kreischen, reckte den Hals nach vorne und versuchte, mit dem Schnabel nach Mythor zu hacken. Augenblicklich wurden auch die anderen Tiere von diesem Wutausbruch angesteckt und fielen in das Geschrei ein. Ihre muskulösen Hälse zuckten vor und zurück, ihre Schnäbel schnappten mit knöchernem Geräusch. Die Reiter hatten alle Mühe, ihre gefiederten Reittiere zu bändigen. Aber erst als sie ihnen kapuzenartige Hauben über die Köpfe stülpten, beruhigten sie sich. Ihre gesträubten Federn glätteten sich, das Zittern ihrer Körper hörte auf, und sie erstarrten zur Bewegungslosigkeit. »Liebeskralle gefallen die Augen dieses Jünglings nicht«, sagte einer der Reiter, der in zwei Mannslängen Höhe hinter dem Hals seines Tieres saß und im Vergleich zu diesem geradezu winzig aussah. »Kußwind wird von seiner Ausdünstung gereizt«, sagte ein anderer Reiter. 113
Mythor musterte den Mann. Er trug einen Umhang mit Kapuze, der von der Farbe des Wüstensands war. Die Kapuze war ihm aus dem Gesicht gerutscht, so daß Mythor es betrachten konnte. Es hatte eine bräunliche Hautfarbe, die etwas dunkler war als die seine, und dunkle Augen. Die Stirn bedeckte ein rotes Band, darüber war schwarzes, kurz geschnittenes Haar zu sehen. Das tief über die Beine fallende Gewand des Mannes war in der Mitte mit einer ebenfalls roten Kordel gegürtet. Er hatte eine lange Lanze aufgepflanzt, an der ein Wimpel wehte. Dieser zeigte einen roten Kreis mit Strahlenkranz. Zweifellos stellte er die Sonne dar. Über der Brust trug er einen breiten Ledergürtel mit Messern, was Mythor unwillkürlich an Steinmann Sadagar denken ließ. Am Sattel seines Reitvogels waren noch weitere Waffen befestigt: ein Langbogen und ein Köcher mit überlangen und rotgefiederten Pfeilen, wie Mythor sie schon in den Leichen der Flüchtlinge stecken gesehen hatte. Außerdem hatte der Vogelreiter noch ein kostbar wirkendes Krummschwert in einer geschmückten Lederscheide. Mythor kam zu der Ansicht, daß er einen Krieger vor sich hatte, mit dem nicht zu spaßen war. Er erwiderte stumm Mythors Blick, dabei spielte um seinen Mund ein kaltes Lächeln. »Bist du der Anführer?« fragte Mythor ihn. Er bekam keine Antwort und fuhr deshalb fort: »Wer seid ihr, daß ihr friedliche Wanderer überfallt und bedroht?« »Worüber beklagst du dich?« fragte der Angesprochene spöttisch. »Du solltest uns dankbar sein, daß wir dich nicht von unseren Orhaken zerfleischen ließen. Dein Anblick hat sie ganz wild gemacht.« »Und was macht euch wild?« erkundigte sich Mythor zornig. »Der Anblick harmloser Flüchtlinge? Macht euch das so wild, daß ihr sie im Schlaf niedermetzelt?« 114
Der andere hob nur die Schultern zu diesem Vorwurf und fragte dann: »Wer bist du? Welchen Weg hast du? Was ist dein Ziel?« »Ich heiße Mythor und will zum Orakel von Theran«, antwortete Mythor. »Und wer seid ihr? Ich habe noch nie von Kriegern gehört, die Vögel statt Pferde reiten.« »Dein Reittier ist auch recht ungewöhnlich«, stellte der Vogelreiter fest. »Ich habe noch nie ein Pferd mit einem Horn auf der Stirn gesehen. Hat dieses Einhorn Vorzüge gegenüber normalen Pferden?« »Das Einhorn ist klüger, ausdauernder und schneller«, antwortete Mythor. »Wie schnell?« fragte der Vogelreiter lauernd. »Glaubst du, daß es sich mit einem Orhako messen kann?« »Das weiß ich nicht«, gestand Mythor. »Pandor wurde bisher noch nie von einem Laufvogel gefordert.« »Dann soll es jetzt geschehen«, sagte der Vogelreiter. »Dein Pandor soll zeigen, ob er es mit Kußwind aufnehmen kann.« Auf den Gesichtern der anderen Vogelreiter machte sich Belustigung breit, einige lachten wissend: Sie gaben einem Vierbeiner keine Chance gegen ein Orhako. »Ein Wettlauf also?« fragte Mythor in dem Bewußtsein, daß er sich davor nicht würde drücken können. »Einverstanden.« »Um den Preis deines Lebens«, sagte der Anführer der etwa fünfundzwanzig Vogelreiter, dessen Orhako Kußwind hieß, der seinen Namen aber noch nicht genannt hatte. Er wandte sich an seine Leute: »Macht Platz!« Die Vogelreiter ließen ihre Tiere rückwärts ausweichen, so daß ein schmaler Durchgang entstand. An dessen Ende sah Mythor Pandor. Das Einhorn stand mir erhobenem Kopf witternd da. »Besteige deinen Pandor!« befahl der Anführer. Mythor schritt durch die Gasse der Vogelreiter. Obwohl er 115
wußte, daß er von ihnen und ihren haubentragenden Orhaken im Augenblick nichts zu befürchten hatte, beschlich ihn ein seltsames Gefühl. Er hätte gerne erfahren, woher diese Vogelreiter kamen und wann sie in dieses Land eingefallen waren. Mythor erinnerte sich nicht, während der Wanderung der Nomadenstadt Churkuuhl durch Salamos je einen dieser Vogelreiter gesehen zu haben. Er erreichte Pandor und schwang sich in den Königssattel. Als er zurückblickte, sah er, daß ihm der Anführer der Vogelreiter gefolgt war. Er hatte Kußwind die Haube abgenommen, dennoch blieb das Tier nun überraschend ruhig. Drei Krallenschritte vor Mythor hielt es an. »Du sollst erfahren, mit wem du es zu tun hast«, sagte der Anführer nun zu Mythor. »Ich heiße Hrobon. Außer diesen fünfundzwanzig Orhako-Reitern unterstehen mir noch fünf Diatro- und zehn Diromo-Reiter. Aber diese werden sich nicht einmischen.« »Das ist wirklich anständig – fünfundzwanzig gegen einen«, sagte Mythor. »Fünfundzwanzig satte Krieger auf ausgeruhten Tieren.« Hrobon griff wortlos hinter sich in die Satteltasche und warf Mythor etwas zu. Als dieser es auffing, erkannte er, daß es ein Stück gepökelten Fleisches war. »Ich will noch großzügiger sein«, sagte Hrobon anschließend. »Siehst du dort die Düne, die wie die Brust einer Frau geformt ist? Bis dorthin bekommst du einen Vorsprung. Erst wenn du diese Düne erreicht hast, nehmen wir die Verfolgung auf. Das Orakel von Theran liegt etwa einen Tagesritt von hier entfernt. Du brauchst dich nur nach dem Stand der Mittagssonne zu richten, dann kannst du das Ziel nicht verfehlen. Wenn du das Orakel erreichst, wollen wir dir nichts anhaben. Holen wir dich jedoch vorher ein, mußt du um dein Leben kämpfen.« 116
»Warum nicht sofort?« fragte Mythor. »Ich gehe keinem Kampf aus dem Weg.« »Dies ist vor allem ein Wettstreit zwischen Kußwind und Pandor«, antwortete Hrobon. Dabei starrte er unentwegt auf Mythors Brusttätowierung. Als Mythor das merkte, zog er sein Wams vorne zusammen, um Fronjas Bildnis zu bedecken. Hrobon lachte rauh und meinte: »Ich werde das Bild dieser Frau an mich nehmen, wenn ich dich besiegt habe. Und ich werde es in Ehren halten, wenn dies dein letzter Wunsch sein sollte.« »Es wird sich noch weisen, wer wem seinen letzten Wunsch abnimmt«, erwiderte Mythor zornig. Er wußte, daß der andere ihn nur reizen wollte, aber das half ihm wenig. Für ihn war es, als entehre Hrobon das Bildnis Fronjas durch seinen Blick. »Nütze deine Zeit«, riet Hrobon spöttisch, »damit du mit deinem lahmen Einhorn das Orakel noch vor Sonnenuntergang erreichst.« Mythor preßte die Lippen zusammen und ritt los. Zuerst veranlaßte er Pandor nur zu einem gemächlichen Trab, um dabei etwas von dem Pökelfleisch zu sich zu nehmen. Es war überaus geschmackvoll, doch so gesalzen, daß es durstig machte. Mythor ärgerte sich über sich selbst, daß er nicht einen Vorrat an Wasser mitgenommen hatte. Sein Durst war fürs erste gestillt, aber der Tag war noch lang, und die Wüstenluft dörrte die Kehle aus. Nun, das war nicht mehr zu ändern, zur Wasserstelle konnte er nicht mehr zurückreiten. Als er die von Hrobon bezeichnete Düne erreichte, trieb er Pandor zu einer schnelleren Gangart an, verlangte ihm jedoch nicht das Letzte ab. Ohne daß sie es vereinbart hätten, stieß Hark erst jetzt zu ihm. Mythor war froh, daß der Bitterwolf sich versteckt gehalten hatte, so daß die Vogelreiter nichts von ihm wußten. Hark konnte ihnen noch eine böse Überraschung 117
bereiten. Mythor blickte hinter sich. Bei den Felsen der Wasserstelle erhob sich eine Staubwolke, die anzeigte, daß die Vogelreiter die Verfolgung aufgenommen hatten. Die ungleiche Jagd begann somit.
Eine breite Staubwand zeigte an, daß die Verfolger ausgeschwärmt waren. Mythor blickte sich immer wieder um und erkannte, daß die Staubwolke auf der linken Flanke immer näher kam. Mythor wartete noch etwas, dann trieb er Pandor zu rascherem Lauf an. »Schneller, Pandor, schneller!« Das Einhorn flog förmlich über den Wüstensand dahin. Mythor stellte mit einem Blick zurück fest, daß er vor den Verfolgern wieder einen größeren Vorsprung gewonnen hatte. Als er sich wenig später jedoch wieder umdrehte, mußte er erkennen, daß ihm die Vogelreiter der linken Flanke schon wieder bedrohlich nahe waren. Und sie holten weiter auf. Bald waren sie ihm schon so nahe, daß er durch die Staubwolke drei Vogelreiter erkennen konnte, die mit aufgepflanzten Lanzen heranpreschten. Mythor sah ein, daß er einer Auseinandersetzung nicht mehr ausweichen konnte, und ließ Pandor langsamer werden. Er wollte die Kräfte des Einhorns schonen und es nicht schon jetzt überfordern. Lieber würde er sich zum Kampf stellen. Die Vogelreiter waren nun schon bis auf einen Steinwurf herangekommen und rückten weiter auf. Mythor konnte ihre Rufe hören, mit denen sie ihre Reittiere aufstachelten, und wie als Antwort vernahm er deren heiseres Krächzen. »Pandor, wenden!« rief Mythor und riß das Einhorn im gleichen Moment herum. »Vorwärts!« befahl er, als Pandor in Richtung der her an118
stürmenden Angreifer stand. Es traf die Vogelreiter völlig überraschend, als der Gejagte plötzlich auf sie zukam. Für einen Moment zügelten sie ihre Orhaken, ihre Lanzenspitzen fuhren in die Höhe. Sie überwanden ihre Überraschung jedoch sofort wieder und setzten ihre Attacke fort. Offenbar waren sie zu dem Entschluß gekommen, ihren Gegner einfach niederzurennen. Das kam Mythors Plan entgegen, denn er war sicher, daß das Einhorn viel wendiger war als die Vögel in vollem Lauf. Er hatte das Gläserne Schwert gezogen und ließ es über dem Kopf kreisen. Mit der freien Hand hielt er sich am Sattelknauf fest, so preschte er geradewegs auf die Verfolger zu, die unbeirrbar ihre Richtung beibehielten. Als ein Zusammenstoß schon unausweichlich schien, drehte Mythor ab und trieb Pandor von der Seite auf einen Vogelreiter zu. Pandor senkte im Laufen den Kopf und bohrte das Horn dem Laufvogel von unten in die Seite. Das Orhako kreischte schrill auf. Es knickte mit einem Bein ein und versuchte, mit den Flügelstummeln das Gleichgewicht zu halten. Es schlug mit den Krallen aus, sein zuckender Hals durchpeitschte die Luft, und es hackte blindwütig mit dem Schnabel um sich. Der Reiter glitt vom Rücken und stürzte in den Sand. Mythor sah noch, wie er unter dem schweren Vogelkörper begraben wurde, dann wandte er sich bereits dem nächsten Gegner zu. Aber er kam zu spät. Ein dunkler Schatten schoß von hinten heran, schnellte sich vom Boden ab und riß mit wuchtigem Aufprall den Reiter vom Rücken seines Orhakos. Mythor bedankte sich in Gedanken bei Hark und wandte sich dem dritten Vogelreiter zu. Dieser war gerade bemüht, sein Orhako, das in vollem Lauf übers Ziel hinausgeschossen war, zu zügeln und zu wenden. Aber das ging nicht so einfach, denn wie Mythor richtig vermutet hatte, waren die Laufvögel für solche raschen Manöver zu behäbig. 119
Bevor der Vogelreiter sein Tier noch gewendet hatte, war Mythor mit Pandor bereits heran. Der Vogelreiter verrenkte sich im Sattel und versuchte Mythor mit vorgehaltener Lanze abzuwehren. Mythor schlug ihm die Lanze mit dem Gläsernen Schwert ab und holte ihn mit einem zweiten Streich aus dem Sattel. Das Orhako stieß ein abgehacktes Krächzen aus und ging mit mörderischen Schnabelhieben gegen den Angreifer vor. Doch da hatte sich Mythor bereits mit Pandor außer Reichweite gebracht und ritt in südlicher Richtung davon. Über der Kampfstätte hing eine dichte Staubwolke, die das Geschehen verhüllte. Bis sie sich aufgelöst hatte und den nachfolgenden Vogelreitern den Blick freigab, so daß sie die Niederlage ihrer Kameraden erfassen konnten, würde Mythor wieder einen Vorsprung herausgeholt haben. Er hoffte auch, daß sich zumindest einige um die Verwundeten kümmern würden, so daß er es mit weniger Gegnern zu tun hatte. Er machte sich jedoch nichts vor. Die Übermacht war immer noch zu groß, und durch diese Niederlage würde die Wut seiner Verfolger nur noch mehr geschürt werden. Und erneut konnte er nicht auf die gleiche Weise vorgehen. Er mußte sich etwas anderes einfallen lassen. Am Himmel brauten sich dunkle Wolken zusammen. Mythor lenkte Pandor in westliche Richtung, zur Straße des Bösen. Im Reiten setzte er den Helm der Gerechten auf für den Fall, daß er gezwungen wurde, sich auf das dunkle Band hinauszuwagen, das die Churkuuhl-Yarls auf ihrem Marsch nach Norden hinterlassen hatten. Der Helm sollte ihn vor möglichen Einflüsterungen des Bösen schützen. Der Himmel verfinsterte sich immer mehr. Ein Sturm kam auf, der den Sand aufwirbelte und ihn in Schleiern vor sich hertrieb. Mythor erreichte die Straße des Bösen, dicht gefolgt von ei120
ner Gruppe von Vogelreitern. Diesmal waren es fünf, und sie trieben ihre Orhaken offenbar dazu an, ihr Äußerstes zu geben, denn sie holten rasch auf. Die Spur der Yarls sah hier nicht anders aus als weiter nördlich, wo Mythor sie überquert hatte. Sie bot sich als breites, verbrannt wirkendes Band dar. Der Sand war zu einer schwarzen, harten Masse geschmolzen, die durchscheinend und spröde wie Glas wirkte, jedoch rauh und uneben war und zahlreiche Sprünge aufwies. Mythor ließ die Verfolger bis auf Rufweite herankommen, dann ritt er mit Pandor auf die Straße des Bösen hinaus. Sie war an dieser Stelle an die dreihundert Schritt breit, und er begab sich bis fast auf die gegenüberliegende Seite, wo ihn Pfeile nicht mehr erreichen konnten. Vom Rand vernahm er die wütenden Rufe der Vogelreiter, während er Pandor vorantrieb. Die Vogelreiter berieten sich eine Weile, dann wagte sich einer von ihnen auf das schwarze Band hinaus. Nichts geschah. Der Vogelreiter winkte den anderen, und sie folgten ihm. Als sie vereint waren, nahmen sie die Verfolgung Mythors auf. Mythor war enttäuscht. Er hatte geglaubt, daß nur er von den Einflüssen des Bösen verschont blieb, weil er den Helm der Gerechten trug. Aber nun sah es so aus, als halte die YarlStraße an dieser Stelle auch für seine Verfolger keine Schrecken bereit. Die Vogelreiter kamen wieder näher; ihre Rufe, mit denen sie ihre Orhaken anfeuerten, gellten Mythor schon deutlich in den Ohren. Da erklang der schaurige Schrei eines Orhakos, in den gleich darauf die anderen Laufvögel einfielen. Mythor drehte sich um und stellte fest, daß sich die Orhaken plötzlich wie wild gebärdeten. Sie waren völlig außer Rand und Band geraten, 121
schlenkerten ihre Köpfe hin und her und vollführten ungestüme Luftsprünge. Die Reiter versuchten verzweifelt, ihre Tiere im Zaum zu halten. Doch sie ließen sich einfach nicht bändigen, wurden immer wilder. Sie breiteten ihre Flügelstummel aus, als wollten sie sich in die Lüfte erheben, rannten ein Stück rasend schnell und standen dann still. Und plötzlich, von einem Augenblick zum anderen, fielen sie übereinander her. Sie hackten mit ihren Schnäbeln aufeinander ein und schlugen mit den mörderischen Krallen um sich. Die Reiter versuchten nun, ihrer tollwütigen Tiere dadurch Herr zu werden, daß sie ihnen die Kapuzenhauben über die Köpfe stülpten. Aber diesmal half nicht einmal das, die Orhaken gebärdeten sich trotz ihrer Blindheit eher noch wilder. Mythor sah noch, wie zwei der Vogelreiter ihre Tiere verließen und sie am Zügel zum Rand der schwarzen Fläche zu zerren versuchten, aber dann kümmerte er sich nicht mehr um sie. Er verließ die Straße des Bösen auf der östlichen Seite und entfernte sich von ihr. Von den Vogelreitern war bald nichts mehr zu sehen. Aber das hatte nichts zu bedeuten, denn die Sicht reichte hier keine hundert Schritt weit. Der Sturm hatte zugenommen und trieb den Sand in immer dichter werdenden Wolken vor sich her. Mythor holte den Umhang aus der Satteltasche und schützte Gesicht und Oberkörper damit. Er wußte nicht mehr, wie lange er im Sandsturm unterwegs gewesen war. Gelegentlich tauchte Hark an seiner Seite auf und sah aus geröteten Augen mitleiderregend zu ihm auf. Der feine Sand, der auf ihn niederprasselte und ihm durch Maul und Nase und Ohren drang, schien ihm arg zu schaffen zu machen. Die Wüste war bestimmt kein Gebiet, in dem sich der Bitterwolf zu Hause fühlte. Mythor dachte, daß es besser gewesen wäre, ihn im leonitischen Lebensgärtchen zurückzulas122
sen. Aber andererseits wollte er Hark bei sich haben, wenn er jene Stelle erreichte, wo er einst von den Marn aufgefunden worden war. Hatten ihm Curos und Entrinna, seine Zieheltern, nicht gesagt, daß damals der Bitterwolf geschrien habe? Auf einmal hörte Mythor über sich Flügelschlag. Für einen Moment erschien ihm im Geist das Bild eines Orhakos, das von oben zum tödlichen Schnabelhieb ausholte. Aber da glitt ein Schatten über ihn, der die sanderfüllte Luft mit majestätischem Flügelschlag durchteilte. Horus, sein Schneefalke! Als habe er Hark ein Zeichen gegeben, folgte der Bitterwolf in die Richtung, in der der Schneefalke geflogen war. Bald darauf hörte Mythor durch das Heulen des Sturmes zornige Rufe und Schmerzensschreie. Einmal, als sich der Sandsturm lichtete, entdeckte er unweit vor sich den Schemen eines Vögelreiters, der von Hark angesprungen wurde. Nun wußte er, daß seine Tiere die Vogelreiter von ihm ablenken wollten, und er änderte die Richtung. Doch er war noch nicht weit gekommen, als er wieder einen Schatten vor sich auftauchen sah. Er wechselte erneut die Richtung, doch der Vogelreiter mußte ihn bereits entdeckt haben, denn er blieb ihm im Nacken. Mythor feuerte Pandor an in der Hoffnung, daß der Verfolger ihn aus den Augen verlor und sich im Sandsturm verirrte. Aber der Vogelreiter ließ sich nicht abschütteln. Zu allem Unglück ließ der Sandsturm noch nach und hörte schließlich ganz auf. Nur noch vereinzelte Sandschleier tanzten in der Luft. Die Sonne brach durch; Mythor erkannte überrascht, daß sie schon weit jenseits von Mittag stand. Demnach konnte es nicht mehr weit bis zum Orakel von Theran sein, falls er nicht die falsche Richtung eingeschlagen hatte. »Pandor, schneller!« rief Mythor seinem Einhorn ins Ohr und unterstrich seine Worte durch Schenkeldruck. Mythor wußte, 123
daß der Wettlauf nun in einen entscheidenden Abschnitt getreten war. Pandor mußte alles geben, seine letzten Kräfte aufbieten, um den Abstand zu den Verfolgern zu halten. Ein Blick zurück ließ Mythor jedoch überrascht feststellen, daß es sich nur um einen einzelnen Verfolger handelte. Und er war so nahe, daß er ihn erkennen konnte. Es war Hrobon auf seinem Orhako Kußwind, das mit vorgestrecktem Kopf und wirbelnden Beinen über den Wüstensand eilte. Aber der Vogelreiter kam nicht näher, obwohl er seinem Tier zweifellos alles abverlangte. Mythor lachte ungestüm auf. »Du schaffst es, Pandor!« rief er ausgelassen. »Du hängst das Orhako ab. Das hätte ich dir nie…« Mythor konnte nicht zu Ende sprechen. Die Worte blieben ihm in der Kehle stecken, als Pandor auf einmal strauchelte und er in hohem Bogen durch die Luft gewirbelt wurde. Er fiel weich im Wüstensand auf, rollte sich geschickt ab und zog dabei das Gläserne Schwert. Doch kaum war er auf den Beinen, da tauchte das Orhako über ihm auf. Hrobons Lanzenspitze wies auf seine Brusttätowierung, genau auf Fronjas linkes Auge, wo sein Herz lag. Doch diese Waffe fürchtete Mythor weniger als die des Orhakos. Denn dessen gebogener Schnabel hob sich zum tödlichen Hieb gegen ihn. Da tat Hrobon etwas Seltsames. Er stülpte seinem Reittier schnell die Haube über. Und als sich das Orhako beruhigt hatte, sagte er: »Du hast es nicht verdient, einen so unwürdigen Tod zu sterben. Es sei dir gegönnt, im Kampf Mann gegen Mann zu fallen.« Er zog sein Krummschwert und ließ sich an Kußwinds Seite zu Boden gleiten. Die beiden Kämpfer standen einander lauernd gegenüber. Hrobon verlor als erster die Geduld. Er lief unvermittelt auf Mythor zu, das rechte Bein vorgestreckt, das linke nachzie124
hend. Dabei hielt er das Krummschwert mit ausgestrecktem Arm vor sich. Mythor wich zurück und dann zur Seite aus. Aber Hrobon folgte ihm in dieser Haltung. Als Mythor das Gläserne Schwert schwang, um mit Hrobon die Klinge zu kreuzen, ließ dieser sein Krummschwert sinken, beschrieb eine Schleife damit und führte es seitlich gegen Mythor, der den Hieb gerade noch parieren konnte. Hrobon nahm daraufhin eine andere Kampfhaltung ein. Er hielt das Krummschwert mit beiden Händen; die Klinge wies nach unten. Es schien, als gebe er sich damit eine Blöße. Doch als Mythor sein Schwert zum Schlag senkte, wirbelte Hrobons Klinge in die Höhe, schlug Alton zur Seite und beschrieb wieder eine Schleife in Mythors Richtung, so daß er keine andere Wahl hatte, als zurückzuweichen. Da Hrobon jedoch mit wirbelndem Schwert nachrückte, kam Mythor in Rückenlage und verlor den Halt. Im Fallen riß er jedoch das Gläserne Schwert hoch, um den zu erwartenden Angriff abzuwehren. Auf dem Boden liegend, wurde Mythor von einer Reihe von spielerisch geführten Hieben eingedeckt. Hrobon umtänzelte ihn mit einer seltsam anmutenden Schrittfolge, die so eingelernt wirkte wie die Abfolge seiner Schwertstreiche. Es war, als kämpfe der Vogelreiter nach einem für ihn bindenden Bewegungsablauf, als sei der Schwertkampf für ihn ein Ritual. Mythor bekam keine Gelegenheit, sich auf die Beine zu erheben. Ihm war auch klar, daß er mit seiner ungestümen Art gegen diesen gelernten Schwertkämpfer keine Chance hatte, wenn er sich dessen Regeln aufzwingen ließ. Er mußte ihm mit anderen Mitteln beizukommen versuchen. Als Hrobon eine Lücke in Mythors Deckung sah, machte er einen Schritt nach vorne. Mythor hatte dies erwartet, umschlang ihn blitzschnell mit beiden Beinen und brachte ihn so zu Fall. Hrobon stand jedoch ebenso schnell wieder wie er. »Du 125
kämpfst wie ein Barbar«, sagte er abfällig. »Ich verlange auch nicht, daß du meine Kampfweise annimmst«, erwiderte Mythor. »Jeder auf seine Art.« Hrobon führte die Waffe wieder mit beiden Händen. Diesmal stellte er sich seitlich zu Mythor. Es war geradezu eine Einladung zum Angriff, aber Mythor wußte, daß Hrobon dies absichtlich tat und eine wirkungsvolle Antwort darauf wußte. Darum tat Mythor etwas Unerwartetes. Anstatt Hrobon in den Rücken zu fallen, sprang er auf die andere Seite und griff ihn von vorne an. Das verblüffte Hrobon dermaßen, daß er die einstudierte Abwehrbewegung zur anderen Seite nicht mehr rückgängig machen konnte. Dadurch gab er sich eine Blöße. Mythor hätte ihn in diesem Augenblick töten können. Aber er begnügte sich damit, seinem Gegner die Waffe aus der Hand zu schlagen. Hrobon schrie vor Wut auf, griff an seinen Gürtel und hatte auf einmal in jeder Hand ein Messer. »Was für eine Klinge!« keuchte der Vogelreiter anerkennend. »Du brauchst dieses Schwert nicht zu handhaben, denn es führt deine Hand. Damit wäre ich unbesiegbar!« »Dieses Schwert ist auch etwas Besonderes«, sagte Mythor. »Denn nur der kann damit umgehen, der es sich verdient hat.« »Ich werde es mir holen!« schrie Hrobon. Er war nun nicht mehr so ruhig wie anfangs, die Gefühle gingen mit ihm durch. Er konnte es nicht verkraften, daß ein ungeschulter Schwertkämpfer ihn entwaffnet hatte. Mythor wußte selbst, daß er diesen Vorteil einzig dem Gläsernen Schwert verdankte. Mit jeder anderen Waffe wäre er seinem Gegner unterlegen gewesen. Hrobon ging mit überkreuzten Dolchen auf Mythor los. Er parierte jeden Hieb Altons zwischen den Klingen und versuchte, das Gläserne Schwert darin einzuklemmen und Mythor zu entwinden. Aber Mythor war mit Alton wie ver126
schmolzen; die Schwertklinge glitt wie von selbst zwischen den Dolchen hindurch. In den Pausen zwischen Mythors Angriffen versuchte Hrobon, seinerseits zum Angriff überzugehen. Aber er hatte eine zu kurze Reichweite und konnte Mythor nicht in Bedrängnis bringen. Mythor merkte, wie Hrobon zudem allmählich die Kräfte verließen. Kein noch so kräftiger Mann konnte auf die Dauer ungestraft einen Angriff nach dem anderen abwehren. Mythor beschloß, dem Kampf ein Ende zu machen. Er gab sich absichtlich eine Blöße, um Hrobon kommen zu lassen. Der Vogelreiter verzichtete schon längst auf die Einhaltung des Kampfrituals, das ihm anfangs solche Vorteile verschafft hatte. Er hatte die Beherrschung über sich verloren und sich Mythors Kampfart aufzwingen lassen. Und darum fiel er auch auf Mythors Finte herein. Wie kopflos stürmte er heran, als er sah, daß Mythor ungedeckt war. Doch Hrobon stieß ins Leere, als Mythor zur Seite wich. Mythor stellte ihm ein Bein und stürzte sich auf den am Boden Liegenden. Hrobon machte keinen Versuch der Gegenwehr, als die Spitze des Gläsernen Schwertes seine Kehle berührte. Ergeben schloß er die Augen. Mit gebrochener Stimme sagte er: »Gewähre mir, daß der Unterlegene an den Sieger einen Wunsch äußern darf. Versprich mir, daß du meinen Körper nach Logghard bringst und dort beisetzt.« Mythor zog Alton zurück, stand auf und wandte Hrobon den Rücken zu. »Ich will dein Leben nicht«, sagte er. »Ich wollte nicht einmal den Kampf mit dir. Warum nur warst du so versessen darauf?« »Wie kannst du das fragen?« sagte Hrobon. »Es ist meine Aufgabe, den Süden vor Eindringlingen aus dem Norden zu schützen. Ich darf nur Reisende ziehen lassen, die mir einen gewichtigen Grund nennen können. Damit sind vornehmlich 127
Händler gemeint. Du aber stelltest eine Herausforderung dar mit deinem Einhorn, dem Kriegsschmuck und dem zauberhaften Frauenantlitz auf deinem Körper.« Mythor drehte sich um und blickte Hrobon in die Augen. »Und was war mit den Flüchtlingen?« fragte er. »Sollen wir zusehen, wie unser Land von dem Gesindel aus dem Norden überschwemmt wird?« fragte Hrobon zurück. Mythor schüttelte verständnislos den Kopf. Es hatte wohl keinen Sinn, Hrobon zu erklären zu versuchen, warum diese Menschen ihre Heimat verließen. Entweder er wußte es, oder er würde es auch nicht verstehen wollen. »Besteht eine so große Kluft zwischen dem Norden und dem Süden, daß es keinen Weg zur Verständigung gibt?« fragte Mythor. »Die Südländer treiben doch Handel mit Nordsalamos, Tainnia und Ugalien, und dennoch verachtet ihr diese Völker?« »Sie sind Ungläubige, die nicht die wahren Worte kennen«, antwortete Hrobon. »Nur darum ist es möglich, daß sie von den Dunklen Mächten besiegt wurden. Gibt es dafür einen besseren Beweis als die verlorene Schlacht von Dhuannin? Das Böse wohnt nun auch in den Herzen der Verlierer.« »Woran glaubst du, Hrobon, daß du dich ermächtigt fühlst, die Menschen des Nordens abzuurteilen?« fragte Mythor. Hrobon sah ihn an und legte sich beide Hände auf die Brust, als er sagte: »Verfüge über mich, töte mich, demütige mich! Aber verlange nicht, daß ich diese Dinge mit dir erörtere.« »Gut, lassen wir das«, sagte Mythor. »Wenn ich über dich verfügen kann, möchte ich dich bitten, mir sicheres Geleit bis zum Orakel von Theran zu geben. Damit hättest du deine Schuld mir gegenüber abgelöst.« »Im Namen Shallads!« rief Hrobon aus. »Das ist ein Wort.« Er ging zu seinem Orhako, kletterte über den Steigbügel auf seinen Rücken und nahm ihm die Haube ab. Beim Anblick 128
Mythors, der gerade das Einhorn bestieg, stellte der Laufvogel seine Kopffedern zu einem fächerförmigen Kranz auf. Dabei stieß er durch den halb geöffneten Schnabel ein wütendes Krächzen aus. Hrobon beugte sich vor und flüsterte ihm irgend etwas zu. Daraufhin beruhigte sich das Orhako. »Es ist nicht mehr weit bis zur Oase«, sagte Hrobon dann. »Ich möchte, daß wir dort sind, bevor meine Leute zu uns stoßen.« »Fürchtest du, daß sie sich nicht an unsere Abmachung halten?« erkundigte sich Mythor, während er in sicherem Abstand neben dem Vogelreiter ritt. »Das geht nur uns beide etwas an«, sagte Hrobon. »Von mir hast du nie mehr etwas zu befürchten. Wann und wo immer es sich ergibt, werde ich dein Leben beschützen, wie du meines geschont hast… Es sei denn, du verstößt gegen die guten Sitten.« Mythor fragte sich, was Hrobon unter einem Verstoß gegen die guten Sitten verstand, dachte aber nicht weiter darüber nach, denn der Vogelreiter fuhr fort: »Für meine Männer gilt das aber nicht, und ich möchte mich nicht gegen sie wenden. Wenn du die theranische Oase mit dem Orakel betrittst, kann dir niemand mehr etwas anhaben. Dies ist nämlich eine Freistätte, und du genießt den Schutz des Lichtboten. Dort werden sich unsere Wege trennen.« Als Hrobon den Namen des Lichtboten nannte, war Mythor nahe daran zu sagen, daß sich die Werte der Nordländer von denen des Südens doch nicht so sehr unterscheiden konnten, aber dann unterließ er es doch. »Welchem Volk gehörst du an, Hrobon?« fragte er statt dessen. »Meine Heimat sind die Heymalländer«, antwortete Hrobon. Als Mythor nichts darauf sagte, fuhr er fort: »Du fragst dich sicher, was ich als Heymal in Salamos zu suchen habe. Ich 129
kann es dir sagen. Wir Heymals sind nicht als Eroberer in diesem Land, sondern als Beschützer. Wir wachen darüber, daß die Völker aus dem Norden nicht in dieses Land einfallen.« »Wie kommt es, daß ich keinen von euch nördlich der Wüste gesehen habe?« wollte Mythor wissen. »Die Wüste ist die natürliche Grenze«, antwortete Hrobon. »Was nördlich davon liegt, das gehört für uns nicht mehr zu Salamos. Aber ist dir das wirklich neu, Mythor? So unwissend kann nicht einmal ein Tainnianer sein, und du siehst mir nicht einmal wie ein Nordländer aus.« »Welchem Volk würdest du mich zuordnen?« fragte Mythor. »Ist das ein Ratespiel?« fragte Hrobon gereizt. »Nein«, sagte Mythor. »Ich weiß nur selbst nichts über meine Herkunft. Ich dachte, daß du mich vielleicht einem Volk zuordnen könntest.« »Ich sehe kein besonderes Merkmal an dir, das deine Abstammung verrät«, sagte Hrobon. »Ich könnte dich nur aufgrund bestimmter Eigenheiten des Verhaltens und der Sprache einem Volk zuordnen. Doch falls du aus dem Süden stammst, mußt du sehr lange im Norden gelebt haben. Du bist mir fremd. Wie bist du dorthin gekommen?« Mythor erzählte ihm seine Geschichte in groben Zügen, verschwieg ihm jedoch alles, was mit dem Sohn des Kometen und den Fixpunkten des Lichtboten zusammenhing. Hrobon war ein geduldiger Zuhörer. Nur als sie sich einem ausgedehnten Grünstreifen näherten, der sich als üppiger Pflanzengürtel erwies, unterbrach er ihn, um ihn darauf hinzuweisen, daß vor ihnen die Oase Theran lag. Mythor schloß seine Erzählung über sein Leben bei den Marn und seine Abenteuer nach dem Untergang von Churkuuhl mit der Aussage, daß er das Orakel aufsuchen wolle, um etwas über seine Herkunft zu erfahren. Als er geendet hatte, meinte Hrobon: »Wie unglaublich deine 130
Geschichte auch klingt, verrätst du durch deine Unwissenheit, daß sie nicht gelogen sein kann. Nur wer in solcher Abgeschiedenheit gelebt hat, kann die Welt so wenig kennen. Was weißt du denn über das Orakel von Theran?« »Nicht viel mehr, als daß die Ugalier durch den Spruch des Orakels ihren L’umeyn bestimmen lassen.« »Ja, siehst du, solche gewichtige Entscheidungen trifft das Orakel«, meinte Hrobon. »Und dann kommst du, ein unbedeutender Namenloser, und willst den Wahrspruch des Orakels hören! Du tätest besser daran, irgendeinen Wahrsager in Sarphand aufzusuchen, als deine Zeit an der Orakelstätte zu vergeuden.« Mythor schwieg dazu. Er überlegte sich, ob er Hrobon seine wahren Beweggründe verraten sollte. Er hatte während ihres Rittes Zutrauen zu dem Vogelreiter gewonnen. Hrobon war bestimmt nicht der Schlächter, für den er ihn anfangs gehalten hatte. »Ist es Zufall oder Absicht?« rief da Hrobon in seine Gedanken. »Was?« fragte Mythor verwirrt. »Du hast den Pfad des Geistes gewählt, um in die Oase einzureiten«, sagte Hrobon und deutete auf den steinigen Weg vor ihnen, der sich zwischen Büschen und astlosen, hochstämmigen Bäumen dahinwand. Mythor hatte solche Bäume noch nie gesehen, die nur eine Krone aus großen und. mannslangen, lanzenförmigen Blättern trugen. Auch die anderen Pflanzen, die durch ihre Üppigkeit und bunte Vielfalt bestachen, waren ihm unbekannt. Hrobon fuhr fort: »Es führen sieben Straßen zum Orakel von Theran, von denen man sagt, daß sie zu den sieben Säulen der Welt führen. Das muß jedoch ein Aberglaube sein, denn vier der Pfade weisen in den Norden. Doch wie auch immer, du hast dein Einhorn auf den Pfad des Geistes gelenkt, und das 131
gilt als gutes Omen.« Mythor nickte abwesend. »Ich möchte dir ein Geheimnis anvertrauen, Hrobon«, sagte er. »Ich glaube, ich habe eine Berechtigung, das Orakel aufzusuchen. Zumindest deswegen, um mir Gewißheit darüber zu beschaffen, ob ich jener bin, für den ich manchmal gehalten werde.« Hrobons Augen wurden schmal. »Und für wen wirst du gehalten?« »Für den Sohn des Kometen.« Mythor sagte es in der Absicht, dem Vogelreiter sein Vertrauen zu zeigen und dadurch vielleicht einen Freund und Verbündeten zu gewinnen. Darum traf es ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel, als Hrobon aufschrie. Der Vogelreiter ließ sein Orhako tänzelnd vor ihm zurückweichen. Auf einmal hatte er seinen Bogen in der Hand, spannte einen Pfeil ein und zielte damit auf Mythor. »Elender Frevler, was willst du sein?« rief er mit bebender Stimme. »Ich sagte nur, daß es möglich sei…«, begann Mythor verwirrt, wurde jedoch von Hrobons wütender Stimme unterbrochen. »Das ist Anmaßung genug!« schrie der Vogelreiter und spannte den Bogen weiter. »Wage nicht zu wiederholen, wofür du dich hältst, sonst durchbohrt dich mein Pfeil.« »Du kannst mich nicht schrecken«, sagte Mythor. »Du sprachst vorhin von den sieben Säulen der Welt und kannst damit nur die Stützpunkte des Lichtboten meinen. Ich war in fünf von ihnen. Dort habe ich mir meine Tiere, das Schwert und den Helm beschafft. Und man hat mir gesagt, daß es nur dem Sohn des Kometen möglich sei…« Mythor hielt entsetzt inne, als er den Ausdruck in Hrobons Gesicht sah. Dieser Ausdruck war ihm bekannt, er hatte ihn schon oft bei zu allem entschlossenen Männern gesehen. Hro132
bon war in diesem Moment bereit, den Pfeil von der Sehne schnellen zu lassen! »Beim Orakel! Halte ein!« rief da eine Stimme. Hinter einem Gebüsch links von Mythor trat ein älterer Mann in einer Kutte hervor: »Willst du das Schutzrecht verletzen? Was immer dieser Mann getan hat, er hat die Freistätte betreten und ist dadurch unverletzlich. Hier darf ihm nichts Böses widerfahren, und er darf anderen nichts Böses zufügen.« Hrobon ließ langsam den Bogen sinken und starrte auf den Grenzstein, der zwischen ihm und Mythor lag. »Ich war wie blind«, sagte er entschuldigend. Dann hob er den Blick und sah Mythor an. Aus seinen Augen sprach unbändiger Haß, als er sagte: »Flehe zum Shallad, daß sich unsere Wege nicht wieder kreuzen. Denn sonst bist du des Todes.« Damit wendete er sein Orhako und ritt davon. »Fürchte nichts, unbekannter Bruder, hier kann dir nichts geschehen«, sagte der Mann in der Kutte. »Danke, du hast mir das Leben gerettet«, sagte Mythor mit belegter Stimme. »Wer bist du?« »Nur ein unbedeutender Diener des Orakels«, sagte der Alte. »Ich heiße Gorel, aber auch das ist nicht von Wichtigkeit. Ich zähle nichts, so jeder einzelne nichts zählt, wie wichtig er sich selbst auch nimmt. Merke dir das, unbekannter Bruder.« »Man nennt mich Mythor.« »Gut denn, Mythor. Was immer dich bedrückt, kehre hier ein und schöpfe neue Hoffnung.«
Der Alte in der Kutte ging vor Mythor den Weg entlang, den Hrobon den Pfad des Geistes genannt hatte. Links und rechts davon standen vereinzelt die Bäume mit den Kronen aus großen Lanzenblättern. Sie kamen zu einer hölzernen Brücke, die über einen träge dahinfließenden Bach führte. Dahinter tauch133
te eine Zeltstadt auf, in der ein buntes Treiben herrschte. Menschen verschiedener Hautfarben, manche so dunkel wie die Nacht, andere hell wie Eislander, lagerten hier dicht nebeneinander. Sie unterschieden sich nicht nur durch ihre Hautfarbe voneinander, sondern auch durch ihre Kleidung und Haartracht. »Was sind das für Leute?« erkundigte sich Mythor, und Gorel gab ihm bereitwillig Auskunft. »Dies sind fast durchwegs Händler«, erklärte der Orakeldiener. »Sie kommen aus den Ländern des Südens und des Nordens und treffen einander hier, um Waren zu tauschen, einander Neuigkeiten zu erzählen und sich gegenseitig zu beraten und Erfahrungen auszutauschen. Theran ist ein wichtiger Knotenpunkt zwischen Nord und Süd.« »Aber hat Theran seine große Bedeutung nicht wegen des Orakels?« wollte Mythor wissen. »Bist du darum hier?« fragte Gorel. Er war stehengeblieben und sah zu Mythor hinauf. Mythor versuchte in seinem Gesicht zu lesen, doch war seine Miene ohne Ausdruck. »Ja, ich möchte das Orakel befragen«, sagte Mythor. »Aber ist das so verwunderlich? Ich dachte, dies sei das Hauptanliegen aller, die nach Theran kommen.« »Ist dir die Welt so fremd, daß du einen so kindlichen Glauben hast?« fragte Gorel verwundert. »Nicht jedermann kann das Orakel befragen. Es hätte viel zu tun, wenn es Leute in Liebesdingen beraten sollte und Händler in Geschäftsfragen. Wo bliebe dem Orakel dann Zeit, über wichtige Fragen des Lebens zu entscheiden, die Rätsel der Welt zu lösen und die geheimen Dinge zu benennen?« »Du machst mir nicht gerade Mut, Gorel«, sagte Mythor enttäuscht. »Wie du mit mir sprichst, so scheinst du mir verstehen geben zu wollen, daß ich keine Aussicht habe, zum Orakel 134
vorgelassen zu werden.« »Von vornherein ist niemand ausgeschlossen«, sagte Gorel salbungsvoll. »Es kommen fast jeden Tag Hunderte von Fragestellern, und keiner wird sogleich abgewiesen. Die Leute nennen ihre Gründe, die von uns Orakeldienern geprüft werden. Zehn von hundert sind es in der Regel, die in die engere Wahl gezogen werden. Sie haben Zeit, in sich zu gehen und sich selbst darüber klarzuwerden, ob ihre Fragen von solcher Wichtigkeit sind, daß sie damit vor das Orakel hintreten wollen. Wir Diener des Orakels helfen diesen Brüdern nach bestem Gewissen, zu sich selbst zurückzufinden. Bei neun von zehn gelingt uns das, und sie verlassen Theran in Frieden mit sich und der Welt, ohne das Orakel gebraucht zu haben.« »Ich verstehe«, sagte Mythor bitter. »Klingende Münze ist gewiß ein gewichtiger Grund. Ein anderer mag sein, welche Stellung man im Leben hat oder welcher Abstammung man ist. Ich habe nichts von alldem zu bieten, dennoch glaube ich, daß auch mein Anliegen wert ist, vom Orakel gehört zu werden.« »Dann brauchst du nicht mutlos zu werden«, sagte Gorel. »Finde dich am Tor des Feuers und des Wassers, der Luft und der Erde ein und trage dein Anliegen vor. Mir brauchst du deine Gründe nicht zu nennen, ich glaube auch so, daß wir uns bald im Inneren Orakel sehen werden. Du hast einiges an dir, was weder mit Gold noch mit Stammbaum aufzuwiegen ist.« »Du meinst gewiß meine Tiere und meine Ausrüstung«, stellte Mythor fest. Sie waren auf ihrem Weg in das Zeltlager gekommen. Links von ihnen trugen braungebrannte Männer in buntgestreiften Gewändern und mit dichten schwarzen Barten gerade ein Zelt ab. Sie hielten in ihrer Tätigkeit inne und starrten finsteren Blicks zu Mythor herüber. Auch andere Händler unterbrachen ihre Verrichtungen und 135
blickten neugierig zum Einhornreiter. Gespräche verstummten, Verhandlungen wurden unterbrochen, das Stimmengewirr erstarb allmählich. Aller Aufmerksamkeit wandte sich Mythor zu. »Du erweckst beträchtliches Aufsehen«, stellte Gorel fest. »Für einen Bittsteller ist es jedoch besser, nicht so sehr in den Vordergrund zu treten. Zurückhaltung und Bescheidenheit wären auch für dich ein wichtiges Gebot. Wir haben ein eigenes Gehege für die Tiere. Ich rate dir also, deine tierischen Weggenossen dort unterzubringen. Du bekommst sie später wohlbehalten zurück.« Sie kamen zu einer weiteren Brücke, die über einen Bach führte. »Wenn du dich nach links begibst und dem Wasserweg folgst, kommst du zum Pfad der Tiere«, erklärte Gorel. »Diener des Orakels werden dich empfangen und dich in allen Belangen beraten. Es wäre auch klug, deine kriegerische Ausrüstung als Pfand zu hinterlegen. In der Oase herrscht Friede.« »Was kannst du mir sonst noch raten?« fragte Mythor. »Zum Orakel führt nur ein Weg, der auf der Straße der Elemente«, sagte Gorel. »Betritt sie, geh sie entlang, und es wird sich alles finden. Ich muß jetzt wieder meinen Pflichten nachkommen.« Gorel wollte sich abwenden, doch Mythor rief ihm zu: »Noch eine Frage. Hast du am Pfad des Geistes auf mich gewartet, weil mir die Kunde von meinem Kommen vorausgeeilt ist?« Gorel sah ihn erstaunt an. »Sprichst du deine Gedanken immer so klar aus?« »Ich bin geradeheraus und erwarte mir auch klare Antworten. Hast du also einen Einhornreiter erwartet?« Gorel überlegte kurz, dann antwortete er: »Ich hatte eine Eingebung, die mir riet, zum Ende des Pfades des Geistes zu gehen. Eine innere Stimme sagte mir, daß ich einem den Weg 136
nach Theran zu verstellen hätte, der einen Schatten des Unheils mit sich bringt.« »Wovor willst du mich warnen? Und warum wolltest du mir den Zutritt verwehren?« fragte Mythor. »Ich habe nicht gesagt, daß ich von dir spreche, Bruder Mythor«, antwortete Gorel. »In dir sah ich einen vom Tode Bedrohten, der den Schutz des Orakels brauchte. Aber wer weiß, vielleicht wirfst du noch einen Schatten…« »Meinst du einen Schatten, der aus dem Wasser kam?« unterbrach ihn Mythor. »Du fragst wie ein Kind, das wissen will, wieso die Sonne jeden Abend von der Dunkelzone gefressen und jeden Morgen wieder von ihr ausgespien wird«, sagte Gorel, während er ganz dicht an Mythor herantrat. Jetzt flüsterte er ihm eindringlich zu: »Verlange keine klaren Antworten, das Orakel müßte sie dir geben. Flieh die Oase, bevor die Schatten bedrohlich werden können. Geh fort!« »Ich dachte, dies sei eine Freistätte«, sagte Mythor laut. »Flieh!« raunte ihm Gorel zu, dann wandte er sich ab und ging eilenden Schrittes fort. Gleich darauf war er zwischen den Zelten verschwunden. Mythor sah ihm verwundert nach, während er mit Pandor entlang dem Wasserlauf zum Pfad der Tiere ritt.
Mythor hatte sich das Orakel von Theran ganz anders vorgestellt: als einen Ort der geheiligten Stille, wo man die Kraft und Herrlichkeit des Überirdischen spürte. Er hatte geglaubt, hier Monumente wie Xanadas Lichtburg und Althars Wolkenhort vorzufinden, die von Menschen bestaunt und verehrt wurden. Er hatte erwartet, auf Schritt und Tritt die Kraft der Weißen Magie zu spüren, umgeben zu sein von Eingeweihten und Wissenden und Weisen, wie der Sterndeuter Thonensen 137
einer war. Doch die Wirklichkeit enttäuschte ihn. Theran war wie ein riesiger Marktplatz, beherrscht von gemeinem Volk, das nur weltliche Bereicherung im Sinn hatte. Hier bot ein Händler seine Gewürze mit hallender Stimme an, dort feilschte ein verhülltes Weib um den Preis für einen kupfernen Kessel. Da war ein Bezirk aus gemauerten Häusern, aus denen das Gegröle der Saufbrüder kam und das Schmatzen derer, die sich der Völlerei hingaben. Tierhälften wurden an Spießen über Feuern gebraten – und das entlang dem Pfad der Tiere. Wurden die Tiere hier auch geschlachtet? Mythor fragte sich, ob es überhaupt klug gewesen war, hierherzukommen. Aber wenn er schon sonst nichts in Theran gewann, so hatte ihn die Freistätte davor bewahrt, von Hrobons Pfeil durchbohrt zu werden. Eine Schar Kinder tauchte schreiend auf und umringte Mythor auf seinem Einhorn. Sie reckten ihm die offenen Händchen hin, zerrten ihn an den Beinen, bettelten ihn mit ihren hohen Stimmchen an. »Ihr haltet mich wohl für einen hohen Herrn, der die Silberlinge nur so aus dem Ärmel schüttelt«, sagte Mythor lachend. Aber ihm verging das Lachen, als die Kinder immer zudringlicher wurden, und Ärger stieg in ihm auf. Plötzlich stob die Kinderschar schreiend auseinander und verteilte sich in alle Richtungen. Mythor erkannte sofort den Grund. Vor ihm tauchte ein Orakeldiener in seiner Kutte auf und kam geradewegs auf ihn zu. »Ist dies der Pfad der Tiere?« fragte Mythor ihn. »Ich suche das Gehege, in dem ich mein Einhorn und den Wolf unterbringen kann.« »Ich habe dich erwartet, Mythor«, sagte der Orakeldiener. »Dein Wolf und dein Falke befinden sich bereits in unserer 138
Obhut. Tiere haben einen feineren Sinn als Menschen und spüren, wo sie gut aufgehoben sind.« Mythor fiel erst jetzt auf, daß Hark schon die längste Zeit nicht mehr bei ihm war, und auch Horus war seinen Blicken längst entschwunden. Der Orakeldiener ging voran, und Pandor folgte ihm ohne Mythors Zutun. Sie ließen die Häuser und den Lärm hinter sich und kamen in einen Park, der von Tieren bevölkert war. Mythor sah Pferde und Hunde, Kühe und Schafe und schafähnliche Tiere, aber auch viele, die ihm unbekannt waren. Es war fast so wie im Lebensgärtchen um den Baum des Lebens. Aber der erste Anschein trog, denn es gab keine Raubtiere, und Tiere, die in natürlicher Feindschaft zueinander standen, waren auch hier sorgsam voneinander getrennt. Mythor kam mit seinem Führer an eine hohe steinerne Mauer, die völlig schmucklos war und verwittert. Sie wirkte uralt, war von Moosen bewachsen. Aus einer Mauerritze wuchs einer der Bäume mit den Lanzenblättern und reckte sich mit verkrüppeltem Stamm dem Licht zu. Als der Orakeldiener Mythors Blick bemerkte, sagte er erklärend: »Die Palme ist das Sinnbild für pflanzliches Leben. In der Oase ist uns dieser Baum heilig. Willst du nun absteigen und deine Pfänder hinterlegen?« Der Orakeldiener deutete auf eine Reihe von Öffnungen in der Mauer. Leute, vollgepackt mit Gütern, verschwanden darin und kamen mit leeren Händen wieder heraus. Mythor dachte daran, daß das Leben in der Oase, die Betreuung seiner Tiere und die Aufbewahrung seines Besitzes etwas kosten würden. Denn soviel wußte er längst schon von der Welt, daß man nichts geschenkt bekam. Darum fragte er besorgt: »Werde ich meine Pfänder wieder auslösen können?« »Aber gewiß«, sagte der Orakeldiener. »Es ist noch keiner 139
nach Theran gekommen, der seine Schulden nicht tilgen konnte. Du aber hast ein großes Guthaben.« Mythor sattelte Pandor ab und trug den leonitischen Königssattel mit dem Helm der Gerechten zu dem Eingang, den der Orakeldiener ihm wies. Mythor kam in eine leere Kammer mit einem steinernen Pult darin und einer Tür, die in irgendwelche Räume dahinter führte. Hinter dem Pult stand ein Orakeldiener. Er bedeutete Mythor mit einer Handbewegung, seine Habe vor ihm hinzulegen. Mythor tat es, aber der Orakeldiener forderte mit einer stummen Geste auch sein Gläsernes Schwert. Mythor zögerte, sein Gegenüber wartete geduldig. Da tauchte in der Tür im Hintergrund ein anderer Orakeldiener auf und sagte: »Fällt es dir leichter, dich von deinen weltlichen Gütern zu trennen, wenn ich dir sage, daß du für alles einen Gegenwert bekommst – und bei der Abreise deine Habe noch dazu? Ich bin Maluk, dir zu Diensten.« Mythor legte das Schwert ab. Der stumme Orakeldiener lud es zu dem Sattel und dem Helm und verschwand damit durch die Tür. »Soll ich das so verstehen, Maluk, daß du mir als Begleiter oder Aufpasser zugeteilt bist?« fragte Mythor. »Deine Unkenntnis in vielen Belangen des Lebens hat sich herumgesprochen, Mythor«, sagte Maluk. »Ich soll dich beraten und dir helfen, alle Hürden zu nehmen. Du kannst mich alles fragen, nur nicht jene Dinge, die dir das Orakel beantworten soll.« »Hat Gorel dich auf mich aufmerksam gemacht?« fragte Mythor, ohne eine klare Antwort zu erwarten. Er erhielt sie auch nicht. Maluk sagte: »In Theran gibt es Ohren, die für das Orakel hören, und Augen, die alles sehen. Wer zum erstenmal hier ist, bleibt nicht unbemerkt. Ihm wird ein kundiger Führer beigestellt, der ihm in allen Belangen hilft und ihn vor Torheit 140
schützt. Du bekommst nur, was jedem Neuling zusteht.« Mythor konnte das nicht recht glauben. Wenn die Orakeldiener sich jedes Neulings persönlich annahmen, dann hätten sie nichts anderes zu tun, als für die Fremden Führer zu spielen. Er vermutete eher, daß er ein Sonderfall war. Aber warum taten Gorel und Maluk so geheimnisvoll? Der stumme Orakeldiener kam und überreichte Mythor ein verknotetes Lederband. Es waren sieben mal sieben Knoten, die in verschiedenen Abständen zueinander standen. Maluk erklärte dazu: »Das Knotenleder weist dich als Bittsteller aus. Alles, was die Oase zu bieten hat, ist für dich frei.« Mythor band das Knotenleder an seinem Gürtel fest und trat zusammen mit Maluk ins Freie. Jetzt erst erkannte er, daß der Orakeldiener noch ziemlich jung war, nicht viel älter als er selbst. »Kann ich mir mit dem Knotenleder auch Speis und Trank verschaffen?« fragte Mythor. »Ich bin hungrig.« »Die Weisen wissen, warum sie fasten«, sagte Maluk salbungsvoll. »Enthaltsamkeit schärft und stärkt den Geist. Du bist doch nicht hier, um leibliche Genüsse zu suchen, Mythor!« Mythors Magen gab mit einem nicht zu überhörenden Knurren die Antwort. Aber er hatte keine andere Wahl, als sich zu fügen.
Die Nacht brach herein, und jetzt erwachte die Oase erst wirklich zum Leben. Mythor kam sich selbst schon als Jünger eines Ordens vor, als er an Maluks Seite den Weg zurückschritt, den er gekommen war. Ihm stiegen verlockende Düfte in die Nase, die Ohren waren ihm voll von ausgelassenem Gesang, doch durfte er an dem fröhlichen Treiben nicht teilhaben. »Es gibt sieben Wege nach Theran«, erklärte Maluk. »Du solltest sie wenigstens alle einmal betreten haben. Auf dem 141
Pfad des Geistes bist du gekommen, den Pfad der Tiere hast du kennengelernt. Nun will ich mit dir den Strom des Wissens aufsuchen.« Sie überquerten den Pfad des Geistes und kamen bald an einen breiten Wasserlauf. Über diesen führte keine Brücke, sondern man mußte ihn auf Trittsteinen überwinden. »Die Quelle entspringt im Inneren Orakel«, sagte Maluk. »Das Wasser wird über Kanäle durch die ganze Oase geleitet. Es gibt Wasserstellen als Tränke für die Tiere, andere für Menschen – und eine gibt es, wo man ein reinigendes Bad nehmen kann. Aber vom Strom des Wissens kann man nur überflutet werden, wenn man die Trittsteine in Andacht begeht.« Mythor faßte das als Aufforderung auf und überquerte den Strom des Wissens auf die einzig mögliche Art. Aber anscheinend war er nicht bei der Sache, denn als Maluk ihn, auf der anderen Seite angekommen, fragte, ob neues Wissen auf ihn eingeströmt sei, mußte Mythor verneinen. Sie setzten den Weg fort und kamen durch eine Siedlung von Lehmhütten, die dicht beieinanderstanden. Hier brannten nirgends Lichter, nur der Schein des vollen Mondes wies ihnen den Weg. Es war still hier, was Mythor zu der Frage bewog, ob hier das Viertel sei, in dem die Orakeldiener wohnten. »Unsere Unterkünfte sind hinter den Mauern des Orakels«, antwortete Maluk. »Hinter diesen geschlossenen Fenstern verstecken sich die Kranken, die Hoffnungslosen und Lebensmüden. Sie harren hier aus, bis das Orakel sie ruft, um sie zu heilen, manchmal auch bis zu ihrem Tod.« »Warum läßt das Orakel zu, daß Menschen sterben, die es heilen könnte?« fragte Mythor. »Was ist wichtiger, das Schicksal der Welt oder das des einzelnen?« fragte Maluk zurück. »Du bist durch eine gute Schule gegangen«, sagte Mythor anerkennend, »du weißt auf alles eine ausweichende Ant142
wort.« Sie kamen zum Pfad der Sinne. Er war durch keine Monumente, keine großartigen Statuen oder Prunkgebäude gekennzeichnet. Er war nur ausgetreten. Mythor erfuhr, daß der Pfad der Sinne als Karawanenstraße nach Nordsalamos, Tainnia und in die nördlicheren Länder weiterführte. Und er endete an der Mauer der Besinnung. Hier endete auch noch eine zweite Karawanenstraße, die von den Lanzenblattbäumen umsäumt wurde und Palmen-Allee hieß. Diese führte nach Leone, in das Gebiet der Sarronen und zur Bucht von Aspira. »Ich war in Leone und auf dem Baum des Lebens«, sagte Mythor. Aber Maluk ging nicht darauf ein. Er wies auf die Reihe von Männern und Frauen, die mit überkreuzten Beinen vor der hohen, verwitterten Mauer saßen und sie anstarrten. »Diese Pilger warten auf Erleuchtung«, erklärte Maluk flüsternd. »Schon mancher hat hier gefunden, was er zeitlebens vergeblich suchte. Du glaubst, die Mauer sei unbehauen, glatt und leer. Aber wenn du lange genug vor ihr verweilst, wirst du sehen, daß sie voller Bilder ist.« Mythor harrte lange sitzend vor der Mauer aus. Ihm war, als verbringe er die halbe Nacht in Bewegungslosigkeit davor. Doch als er zu Maluk zurückkehrte, sagte ihm dieser, daß er ebensolange, wie Mythor dagehockt sei, den Atem angehalten habe. Und er fragte: »Was hast du gesehen?« »Nichts.« Maluk wirkte enttäuscht. Wortlos machte er kehrt und führte Mythor wieder zurück über den Strom des Wissens, den Pfad des Geistes und den der Tiere mit dem angrenzenden Tiergehege, um das sie jedoch einen Bogen machten. »Wohin bringst du mich?« fragte Mythor, als sie schon endlos lange dahingegangen waren. Die Beine waren ihm so schwer, als steckten sie in eisernen Sandalen, in seinen Eingeweiden tobte der Dämon Hunger, und seine Sinne waren wie 143
taub. »Du mußt noch den Steinernen Weg kennenlernen«, sagte Maluk. »Der meine ist mir beschwerlich genug«, sagte Mythor murrend, aber der Orakeldiener überhörte es. Endlich kamen sie zu einem ausgetretenen Pfad, der von großen, unbehauenen Steinen umsäumt war. Manche dieser Felsen trugen kleinere auf sich, die den Eindruck erweckten, als könnten sie beim leisesten Windhauch herunterfallen. Am Ende dieses Steinernen Weges, gerade vor der Mauer, die das eigentliche Orakel umgab, war das Standbild eines kauernden Riesen zu sehen. Bei genauerem Hinsehen erkannte Mythor jedoch, daß es sich um gewachsenen Fels handelte, der nur im Mondlicht wie ein kauernder Riese aussah. Davor vollführten Männer und Frauen und sogar Kinder seltsame Verrenkungen und erweckten den Eindruck, als würden sie mit Unsichtbaren ringen. »Der Fels der Bewährung. Hier kannst du dich selbst besiegen«, sagte Maluk. Es war wiederum eine Aufforderung, der Mythor Folge leisten mußte. Aber er beschloß bei sich, daß es das letzte Mal sein würde, daß er auf derartige Wünsche des Orakelpriesters eingehen wollte. Lieber verzichtete er auf dessen Unterstützung. Mythor betrachtete den Fels der Bewährung eingehend, aber er verspürte nicht den Wunsch, mit der Luft zu ringen. Er harrte diesmal auch nur ganz kurz aus. Als er zu Maluk zurückkehrte, befragte der ihn auch gar nicht. Der Orakeldiener hatte selbst gesehen, daß Mythor nur eine einzige Bewegung machte, und zwar zum Gürtel, um ihn sich enger zu schnallen. »Nun bleibt dir nur noch übrig, die Straße der Elemente aufzusuchen«, sagte Maluk mit feierlichem Ernst. »Gehst du sie entlang, kommst du zum Tor des Feuers und des Wassers, der Luft und der Erde. Hier wird sich entscheiden, ob das Orakel 144
dich erhört oder nicht.« »Du meinst, ich soll es sogleich versuchen, ohne mich entsprechend vorbereitet zu haben?« fragte Mythor. »Du hast alle Bedingungen erfüllt, bist auf allen Pfaden gewandelt, die nach Theran führen. Jetzt verbleibt nur noch das eine«, antwortete Maluk. Mythor betrachtete ihn von der Seite, um festzustellen, ob er sich mit ihm einen Scherz erlaubte. Aber der Orakeldiener blieb ernst. Mythor wollte einwenden, daß der Strom des Wissens ihn nicht erfaßt und daß er an der Mauer der Besinnung ebenso versagt hatte wie am Stein der Bewährung, und hätte er nicht wenigstens ein reinigendes Bad nehmen müssen? Aber er brachte diese Einwände nicht vor, denn da sagte Maluk vertraulich: »Ich weiß, daß der Weg zum Orakel für dich offensteht, Bruder Mythor. Ich weiß auch, daß es Kräfte gibt, die dir diesen Weg versperren wollen. Aber laß dich nicht beirren.« Mythor dachte an die Warnung Gorels, der ihm zur Flucht geraten hatte. Warum wollte der Alte verhindern, daß er das Orakel befragte? Hatte er Angst, daß Mythor die Wahrheit über sich erfahren konnte? Er straffte sich und folgte Maluk.
Die Straße der Elemente: Sie war breit und mit Stein gepflastert. Der Stein war abgewetzt, ausgetreten von unzähligen Füßen, die während vieler Menschenalter zum Orakel von Theran gepilgert waren. Links und rechts standen Steinstatuen auf Quadern, davor brannten Öllichter. Ihr flackernder Schein schien den Statuen Leben zu verleihen. Zum erstenmal spürte Mythor die Bedeutung dieses Ortes. Ein Hauch des Geheimnisvollen, Mystischen, den er sonst noch nirgends in Theran gespürt hatte, lag über dieser Straße, die von zwölf Statuen auf jeder Seite begrenzt wurde. Sie 145
wurden zum Tor hin, dem Zugang zum Orakel, immer größer und eindrucksvoller, mächtiger und phantastischer. Links von sich sah Mythor die Darstellung eines Tieres mit sieben Beinpaaren. Es hatte einen kleinen Kopf und einen buckeligen Rücken, der Schwanz endete in einem kugeligen Busch. Mythor sah, daß diese Tierstatue durchlöchert war, und er stellte staunend fest, daß daraus ebensolche Tiere auftauchten, wie eines vergrößert dargestellt war. Die lebenden Tiere waren etwa unterarmlang und sehr possierlich. »Das ist der Siebenläufer«, raunte ihm Maluk zu, der an seiner Seite ging. »Er ist ein seltenes und heiliges Tier und gilt als Glücksbringer.« Dem Siebenläufer gegenüber war ein Tier dargestellt, das den Kopf eines Ochsen, den Vorderkörper von einem Hirsch und das Hinterteil einer Echse hatte, der Schwanz aber wurde von einer Schlange mit Mammutkopf gebildet. In der nächsten und übernächsten Reihe standen sich Gottheiten mit menschlichen Körpern gegenüber. Eine hatte jedoch einen Berg als Kopf, die andere war überhaupt kopflos, aus dem Hals der dritten ergoß sich ein Wasserschwall, und der Kopf der vierten Gottheit brannte: die vier Elemente. Mythor betrachtete die Gottheiten fasziniert. Dabei vergaß er beinahe, daß er mit Maluk allein auf der Straße der Elemente schritt. Er wurde sich dessen erst bewußt, als er hinter einer der Statuen eine Bewegung wahrnahm. Bei genauerem Hinsehen erkannte er, daß im Dunkeln eine dichte Menschenmenge stand und ihn beobachtete. Plötzlich entstand dort ein Tumult. Ein Mann brach aus der Reihe aus und kam auf die Straße gerannt. Er schloß sich Mythor an. Mythor besah ihn sich jedoch nicht genauer, denn ihm war, als habe er in der Menschenmenge ein bekanntes Gesicht gesehen. Er verharrte kurz und blickte genauer hin. Da war das Gesicht wieder. Für einen Moment tauchte es in der Masse 146
auf, verschwand aber sofort wieder. Mythor war sicher, daß es sich um Luxon handelte. Er wollte die Straße verlassen, um sich den Abenteurer aus Sarphand vorzunehmen. Doch Maluk stellte sich ihm in den Weg. »Nur Mut, Bruder Mythor«, sagte er zu ihm. »Du brauchst jene nicht zu fürchten, die dir Knüppel zwischen die Beine werfen. Ich werde alle Hindernisse aus dem Weg räumen und dich zum Orakel geleiten.« Mythor fügte sich. Inzwischen hatte sich Luxon bestimmt schon längst aus dem Staub gemacht. Zudem war Mythor sich seiner Sache gar nicht ganz sicher; er mochte auch nur einer Täuschung zum Opfer gefallen sein. Wieder brach jemand aus der Reihe der Schaulustigen aus, diesmal war es eine Frau, und schloß sich ihnen an. Mythor sah zu seiner Linken die fünfmannshohe Statue eines Vielarmigen. Ihm gegenüber kauerte ein tierisches Wesen mit einem Frauenkopf. Mythor mußte immer höher zu den Statuen aufblicken, und er war beeindruckt. Eine seltsame Spannung hatte von ihm Besitz ergriffen. Luxons Anblick – falls er es wirklich gewesen war – hatte ihm wieder Gorels Warnung in Erinnerung gerufen. Aber konnte sie wirklich auf Luxon bezogen gewesen sein? Es erschien Mythor als unwahrscheinlich, daß dieser Glücksritter irgendeinen schädigenden Einfluß auf das Orakel ausüben konnte. Maluk, der Andeutungen über Bestrebungen gemacht hatte, die gegen ihn im Gange seien, müßte ihm eigentlich Auskunft geben können. »Kennst du einen Mann, der sich Arruf oder Luxon nennt?« fragte er den Orakeldiener und gab ihm eine genaue Beschreibung. »Hast du in letzter Zeit einen solchen Mann in Theran gesehen?« »Wäre dieser Mann hier, so wüßte ich es«, antwortete Maluk. »Vergiß ihn und widme deine Gedanken wichtigeren Dingen. 147
Du bist an der Pforte, Mythor!« Mythor stellte überrascht fest, daß er das riesige Tor erreicht hatte. Ihn schwindelte, als er emporblickte und die Reliefs, die den Torbogen zierten, entschlüsseln wollte. Die Darstellungen waren ineinander verschlungen und nicht auseinanderzuhalten. Er bemühte sich vergeblich, Einzelheiten zu erkennen. Mit dem nächsten Schritt kam er unter den steinernen Bogen und stand an dem großen Tor. Es hatte ein Gerüst aus dicken Holzbalken, die von schweren Eisenklammern zusammengehalten wurden. Die Zwischenräume waren mit Steinblöcken ausgefüllt. Mythor blickte zurück und sah, daß inzwischen ein ganzes Dutzend Leute seinem Beispiel gefolgt waren. Er zuckte leicht zusammen, als er vom Tor ein Quietschen und Ächzen vernahm. Er drehte sich wieder um und sah, wie sich vor ihm eine kleine Pforte öffnete. Maluk schob ihn hinein, und Mythor sah im Schein der Öllichter einen Gang. Dann schloß sich die Pforte, und völlige Finsternis umgab ihn. Er kam sich in diesem Augenblick hilflos und verloren vor. Er hätte nicht sagen können, ob er Ehrfurcht empfand, ob er lediglich voll banger Erwartung war oder einfach Angst vor der Wahrheit hatte. Er begann zu schwitzen, er atmete süßliche Luft, die sich ihm auf die Atemwege legte und ihm den Kopf schwer machte. Etwas berührte ihn – es mußte Maluk sein – und zog ihn nach links. Mythor stieß gegen eine Wand und tastete sich an ihr entlang, als Maluk ihn weiterschob. Nach einigen Schritten griff seine suchende Hand ins Leere, seine Füße stießen gegen eine Stufe, und er stieg hinauf, als Maluk ihn drängte. »Ich muß dich jetzt dir selbst überlassen«, flüsterte der Orakeldiener hinter ihm. »Du wirst nun über deine Beweggründe befragt werden und mußt Auskunft geben. Sage alles, verheimliche nichts und bleibe bei der Wahrheit. Dann wird man 148
dir den Zutritt zum Orakel nicht verwehren dürfen.« Gleich darauf entfernten sich leise Schritte, und Mythor wußte, daß er allein war. Er tastete um sich und stellte fest, daß er sich in einer Nische befand. Vor ihm befand sich in Kopfhöhe ein Geflecht aus Holzstäben. Durch dieses Gitter wehte der süßliche Duft, der Mythors Sinne benebelte und ihm den Atem raubte. Nach einigen weiteren Atemzügen wußte er nicht mehr, wo oben und unten war, und hatte das seltsame Gefühl, kopfzustehen. »Wer bist du?« fragte da eine leise Stimme durch das Holzgeflecht. »Ich werde Mythor genannt«, sagte Mythor mit belegter Stimme. »Und bist du das auch?« »Man gab mir diesen Namen nach dem sagenhaften Helden des Lichts, der einst die Dunkelheit besiegt haben soll. So glauben wenigstens die Marn, die mich gefunden und großgezogen haben.« »Ein bedeutungsschwerer Name. Fühlst du dich ihm verpflichtet?« »Ich bin bestrebt, die Werte des Lichtes hochzuhalten. Aber sollte das nicht jeder tun?« »Ich bin nicht das Orakel«, sagte die Stimme zurechtweisend. »Aber wäre ich es, würdest du mir dann diese Frage stellen?« »Nein, mich bewegen andere Dinge.« »Welche?« »Als die Marn mich fanden, war ich fünf Sommer alt, meine Herkunft liegt im dunkeln. Ich möchte wissen, wer ich bin.« »In vielen mit einem ähnlichen Schicksal nagt diese Neugierde.« »Bei mir ist es nicht die bloße Neugierde. Ich möchte meine Vergangenheit erforschen, um zu erfahren, ob sie Einfluß auf 149
die Zukunft hat.« »Deine Zukunft?« »Das und mehr – die Zukunft der Lichtwelt.« »Solches Gewicht willst du haben?« »Ich möchte erfahren, ob ich es habe.« »Was wirst du das Orakel also fragen?« »Ob ich der Sohn des Kometen bin.« Schweigen folgte, das lange andauerte. Mythor brach der Schweiß aus. Er fragte sich, was der Frager in der Dunkelheit hinter dem Holzgitter so lange zu überlegen hatte, bevor er sich zu seinen Worten äußerte. Hrobons Handlungsweise fiel ihm ein, aber jene Situation war wohl nicht mit der augenblicklichen zu vergleichen. Doch er ertrug das Schweigen nicht mehr länger. Er leckte seine Lippen und fragte: »Warum schweigst du? Du kannst mir das Recht nicht abstreiten, diese Frage zu stellen.« »Weshalb nicht?« »Ich habe mich einige Male bewährt«, antwortete Mythor fest. »Ich war an fünf Fixpunkten des Lichtboten und habe die mir auferlegten Prüfungen bestanden. Was ich von dort mitgebracht habe, hinterlegte ich in Theran als Pfand. Zum Beweis habe ich ein Knotenleder.« »Reiche es mir.« Mythor überlegte und entschloß sich dann, sich dieser Forderung zu widersetzen. Er hatte diese Fragerei satt und war nicht gewillt, sich alles gefallen zu lassen. »Nein«, sagte er. »Du kannst nachfragen, ob ich ein Einhorn, einen Schneefalken und einen Bitterwolf im Tiergehege zurückgelassen habe. Prüfe nach, ob ein Prunksattel, der Helm der Gerechten und das Gläserne Schwert Alton hinterlegt wurden. Das alles sind meine Pfänder. Und noch eines. Kannst du im Dunkeln sehen? Wenn nicht, dann entzünde ein Licht und betrachte das Mädchenbildnis auf meiner Brust. Es stellt 150
Fronja dar, und sie ist mir wie aus dem Gesicht geschnitten.« In der Dunkelheit war ein lang anhaltender Seufzer zu hören. »Ich hätte Lust, dich auf die sieben Straßen zurückzuschicken, damit du zur Besinnung kommst«, sagte die Stimme dann. »Ich weiß, was ich will. Du kannst mir den Zutritt zum Orakel nicht verwehren.« »Bestehe nicht darauf!« Die Stimme sagte es eindringlich, und sie klang auf einmal ganz anders. Mythor erkannte sie sofort wieder. »Gorel?« fragte er und fügte, als keine Antwort kam, hinzu: »Du mußt Gorel sein. Warum willst du mir den Zutritt verweigern?« »Geh!« sagte Gorel keuchend, es klang gehetzt. »Aber wähle den richtigen Weg. Kehr um, du eigensinniger Narr!« »Ich gehe die eingeschlagene Richtung weiter«, sagte Mythor fest. In den Gang hinter ihm fiel auf einmal ein Lichtschein, der auch die Nische erhellte. Mythor erkannte durch das Holzgitter die Umrisse eines Gesichts. Es wirkte uralt, aber er war nicht ganz sicher, ob es Gorel gehörte. Er sah es nur einen Moment lang, dann zog es sich zurück. Er trat aus der Nische. Zwei Männer in Kutten, die jeder ein Öllicht hielten, kamen den Gang entlang. Als sie ihn sahen, blieben sie stehen. Der eine sagte: »Du hast das Fragerecht erworben. Folge uns, wir zeigen dir deine Unterkunft.« »Wenn ich das Fragerecht erworben habe, möchte ich auch sogleich davon Gebrauch machen«, sagte Mythor forsch. Er hatte die Befürchtung, daß man ihn weiter hinhalten wollte, um ihn vielleicht doch noch zur Aufgabe zu bewegen. »Das Fragerecht kann nicht sogleich in Kraft treten«, sagte der Orakeldiener, der zuvor das Wort an ihn gerichtet hatte. 151
»Eine gewisse Zeit der Vorbereitung ist nötig.« »Und wie lange wollt ihr mich warten lassen?« fragte Mythor angriffslustig. »Das hängt allein von dir ab. Du mußt dich in Geduld üben.« »Stellt sie aber nur nicht auf eine zu harte Probe.« Darauf wurde ihm nichts entgegnet. Mythor konnte sich gut vorstellen, daß solche Redensarten den Orakeldienern mißfielen. Aber er bereute nichts, er konnte noch eine ganz andere Sprache sprechen, wenn man mit ihm Unfug trieb. Er würde sich nicht einschüchtern und nicht verscheuchen lassen, denn er wußte, daß er mit Maluk einen Verbündeten hatte, der ihm zu seinem Recht verhelfen würde. Sie erreichten das Ende des Ganges und kamen durch eine Tür ins Freie. Mythor stellte fest, daß der Mond nicht mehr schien. Es war stockdunkel geworden. Er konnte im Lampenschein nur die nächste Umgebung erkennen. Er sah überall nur Mauern mit gerade mannshohen Durchgängen. Er kam sich wie in einem Irrgarten vor, als er den Orakeldienern folgte, und konnte sich bald nicht mehr zurechtfinden. Gewiß wurde das bezweckt, um die Fragesteller zu verwirren und in Abhängigkeit zu den Orakeldienern zu halten. Zwischen den Mauern waren kleine Gärtchen angelegt. Es gab steinerne Bänke unter Palmen und Ruheplätze zwischen Sträuchern. Wenn man Abgeschiedenheit suchte, konnte man sie hier gewiß finden. Als sie wieder durch einen Torbogen traten, fand sich Mythor im Inneren eines Gebäudes wieder, dessen Anordnung von Gängen und Räumen sich jedoch von der des Irrgartens nicht unterschied. Nur eine niedrige Decke, an der er sich fast den Kopf stieß, vermittelte zusätzlich das Gefühl von Enge. Außerdem gab es Treppen, die in höhere Bereiche führten. Mythor wurde über drei solcher Treppen nach oben geführt, mußte eine andere wieder hinuntersteigen, die jedoch nur halb 152
so viele Stufen hatte. Dann ging es wieder hinauf und wieder hinunter, so daß er am Ende nicht mehr wußte, von welcher Seite er das Gebäude betreten hatte und auf welcher Ebene er war. Endlich hielten seine Führer vor einer Öffnung an. Der eine leuchtete mit dem Öllicht in einen Raum, der völlig leer und durch drei Stufen in drei Ebenen unterteilt war. »Hier wirst du deine Wartezeit verbringen«, sagte der Sprecher der beiden Orakeldiener. »Ruhe, wenn dir danach ist, bewege dich frei, wenn du einen Drang dazu verspürst, aber vergiß nicht, genügend Zeit den Dingen zu widmen, die deinen Geist bewegen. Wenn du Aussprache brauchst, wird stets jemand für dich dasein.« »Das ist gut zu wissen«, sagte Mythor und zwängte sich durch den niedrigen Durchlaß in den Raum. »Ich möchte mit Maluk sprechen.« »Wir sind alle deine Diener. Wenn du willst, leihe ich dir gerne mein Ohr.« »Gut, dann lausche«, sagte Mythor grimmig. »Hörst du mein Magenknurren? Ich bin hungrig wie ein Mammut.« »Ein voller Magen macht den Geist träge«, sagte der Orakeldiener und blies seine Öllampe aus. Der andere folgte seinem Beispiel. Dann waren nur noch ihre schleichenden Schritte zu hören, die sich in verschiedene Richtungen entfernten. Mythor fühlte sich überrumpelt, als ob die beiden seine Absicht, ihnen im Schein ihrer Öllampen zu folgen, durchschauten. Er tröstete sich damit, daß ihm das ohnehin nichts eingebracht hätte, und legte sich auf das Lager aus einem mit Stroh gefüllten Sack auf der untersten Stufe. Eigentlich hatte er sich den Besuch des Orakels ganz anders vorgestellt. Nicht etwa, daß er geglaubt hätte, nur sagen zu brauchen, daß er sich für den Sohn des Kometen hielt, um im Triumphzug zum Orakel geführt zu werden. Er hatte mit 153
Schwierigkeiten, Prüfungen oder Bewährungsproben gerechnet, aber diesbezüglich war es ihm noch nicht einmal schwergemacht worden. Irgend etwas stimmte hier nicht. Warum wollte ihn Gorel verjagen? Maluk wiederum legte ihm nichts in den Weg, machte ihm sogar Mut und förderte ihn. Es schien, als ob es zwei Strömungen unter den Orakeldienern gebe, von denen eine für und eine gegen ihn war. Oder bildete er sich zuviel ein? War er es überhaupt wert, daß man sich um ihn bemühte, auf welche Weise auch immer? Wie dem auch war, es stand fest, daß er zumindest einen Verbündeten und einen Gegner hatte. Er konnte nur hoffen, daß Maluk sich durchsetzte und daß er ihn bald vor das Orakel führte. Er brannte darauf. Er hätte jetzt gerne ein Licht gehabt und einen Spiegel, um sich die Zeit mit der Betrachtung Fronjas vertreiben zu können. Aber in dieser Finsternis war ihm dies nicht vergönnt. So ließ er seine Finger über die Tätowierung wandern, um wenigstens die Umrisse ihres zauberhaften Antlitzes ertasten zu können und ihr Bildnis vor seinem geistigen Auge deutlicher entstehen zu lassen. Aber es war nur ein schwacher Ersatz für die Wirklichkeit. Wann würde er endlich erfahren, wo dieses Wesen zu finden war und wie er zu ihm gelangen konnte? Wann würde er sie sehen? Er würde auch diese Frage dem Orakel stellen. Mythor schlief ein und träumte von Fronja.
Fronjas liebreizendes Antlitz verlor sich allmählich. Es war, als ob es aus vielen Teilen bestünde, und irgendeine Macht zerlegte das Gesicht Stück um Stück. Jede Pore war ein solches Teil, und der unsichtbare Bildhauer fegte mit seinem Werkzeug Teil um Teil weg. Wenn Mythor jenen, der das Bild zer154
störte, weiter gewähren ließ, dann würde Fronja bald ganz verschwunden sein. Mythor schrie auf, er wußte sich nicht mehr anders zu helfen. Und das wirkte. Der unsichtbare Bildzerstörer ließ von seinem Tun ab. Er verlor seine Unsichtbarkeit. Mythor erwachte. Er riß die Augen auf. Für eine winzige Zeitspanne sah er alles klar und deutlich vor sich. Auf seiner Brust kauerte ein haarloser Gnom. Er hielt eine dicke Nadel mit dünner Spitze in der Hand. Damit stach er auf Mythors Brust ein. Jeder Nadelstich kostete Fronjas Bildnis ein kleines Teilchen. Daneben kroch ein kinderfaustgroßer Käfer. Er hatte eine prächtige Zeichnung, und von dieser ging ein Leuchten aus. Der Käfer war die einzige Lichtquelle. Mythor überwand den Schreck und schrie wieder. Gleichzeitig schleuderte er den Gnomen mit einer ruckartigen Armbewegung von seiner Brust. Dieser fiel gegen die Wand und sank an ihr wimmernd zu Boden. Der Käfer war ebenfalls zu Boden gefallen. Er lag auf dem Rücken und strampelte mit seinen dünnen Beinen. Er leuchtete nun schwächer. Dennoch konnte Mythor erkennen, daß der häßliche, haarlose Gnom auf allen vieren zu fliehen versuchte. Mythor sprang von seiner Liege und stellte sich ihm in den Weg. Da bekam er einen Stoß in den Rücken, der ihn zur Seite beförderte. Diese Gelegenheit nützte der Gnom zur Flucht. Als Mythor ihm folgen wollte, verstellte ihm ein Körper den Weg. »Nicht, nicht«, flehte eine bekannte Stimme und klammerte sich an Mythors Armen fest. Mythor hatte unter den wallenden Tüchern einen knochigen Körper zu fassen bekommen, hob ihn hoch und wollte ihn von sich schleudern. »Nicht, beim Orakel, halte ein!« flehte Gorel. Mythor ließ ihn langsam zu Boden gleiten. »Was hat das zu bedeuten?« fragte er schwer atmend. »Ich wollte dich aufsuchen, um mit dir zu reden«, antwortete 155
Gorel. »Und warum brachtest du diesen abscheulichen Zwerg mit?« erkundigte sich Mythor, dessen Zorn allmählich verrauchte. »Er hat sich an dem Mädchenbildnis zu schaffen gemacht.« »Das bildest du dir nur ein«, beteuerte Gorel. Er bückte sich nach dem Käfer und hielt ihn auf offener Handfläche an Mythors Brust. »Du mußt schlecht geträumt haben. Sieh selbst, du hast deine Tätowierung immer noch.« Mythor blickte an sich hinunter. In dieser Haltung konnte er nicht erkennen, ob etwas an Fronja fehlte. Er war geneigt zu glauben, daß seine Tätowierung unversehrt war. »Da war ein Gnom!« sagte Mythor fest. »Ich war schon längst wach, als ich ihn gegen die Wand schleuderte und du verhindert hast, daß ich ihn mir griff.« »Nein, nein«, versicherte Gorel. »Du hast alles nur geträumt. Ich muß es besser wissen. Da war niemand außer mir.« Mythor betrachtete im fahlen Schein des Käferpanzers das Gesicht des alten Orakeldieners und konnte keine Falschheit darin erkennen. Er konnte ihm die Lüge nicht beweisen und mußte seine Behauptungen hinnehmen. So setzte er sich und fragte: »Was wolltest du mir sagen?« »Ich habe gehört, daß du nach Maluk verlangt hast«, sagte Gorel. »Hüte dich vor ihm, Mythor, er übt einen schlechten Einfluß auf dich aus.« »Das finde ich nicht. Er ist der einzige, der mich ermuntert, das Orakel zu befragen.« »Eben darum!« rief Gorel aus. »Das wäre sehr gefährlich. Du schwebst in großer Gefahr, Mythor.« »Wer sagt das?« Gorel schwieg betreten und senkte unter Mythors durchbohrendem Blick den Kopf. Dann murmelte er: »Das Orakel hat vorausgesagt, daß tödliche Gefahren auf dich zukommen, 156
wenn du diesen Ort nicht schnellstens verläßt.« »Ist dies nicht eine Freistatt, an der jeder den Schutz des Orakels genießt?« fragte Mythor. »Manchen Kräften steht selbst das Orakel hilflos gegenüber«, erwiderte Gorel, ohne den Blick zu heben. »Du solltest es selbst am besten wissen, daß die Dunklen Mächte in unserer Welt immer mehr um sich greifen.« »Auch in Theran?« fragte Mythor. Als Gorel ihm keine Antwort gab, fuhr er fort: »Ich will selbst mit dem Orakel sprechen und hören, was es über mich zu sagen hat.« »Nur das nicht!« rief Gorel entsetzt aus. »Das wäre das Ende!« »Das Ende von was?« fragte Mythor. Er erhielt keine Antwort mehr. Gorel deckte unvermutet mit der anderen Hand den Käfer ab, und es wurde augenblicklich dunkel. Mythor hörte das Rascheln von Stoff, als Gorel floh, und er handelte sofort. Er stürzte in die Richtung, in der er den Ausgang wußte, um dem Orakeldiener den Weg zu verstellen. Doch da war Gorel bereits an ihm vorbei. Mythor faßte nach ihm und bekam den Stoff seines Umhangs zwischen die Hände. Er zog daran, doch der Stoff riß. Gorels fliehende Schritte verloren sich in der Finsternis. Mythor schleuderte den Fetzen Stoff von sich und nahm die Verfolgung auf. Aber nach einigen Schritten stieß er gegen eine Wand. Er tastete sich an ihr nach rechts und fand nach einigen weiteren Schritten ihr Ende. Da sah er für einen kurzen Moment vor sich das Käferlicht aufblinken. Mythor hielt darauf zu, dabei bemühte er sich, so leise wie möglich zu sein. Er hielt den Atem an. Offenbar stand Gorel noch immer am selben Fleck, denn aus seiner Richtung kam kein Geräusch. Mythor schätzte, daß er ihm schon ganz nahe sein mußte, nicht weiter als zwei Armlängen von ihm entfernt. 157
Da erklang ein Zischen. Und wieder blinkte der Leuchtkäfer. Mythor erkannte die Umrisse einer Gestalt. Er schnellte sich vom Boden ab und stürzte sich mit vorgestreckten Armen auf den Schemen. Er bekam einen Körper zu fassen und umspannte ihn mit den Armen. Das war nicht Gorel! Mythor erkannte es an der beachtlichen Leibesfülle des Mannes, den er umfaßte. Und dann kam der Leuchtkäfer frei und fiel dem Mann aus den Händen. In dem fahlen Licht erkannte Mythor ein feistes Gesicht mit einem langen, dünnen Kinnbart. Der Schädel dagegen war kahl. Der Mund stand weit offen, die Lippen waren gespitzt und zu einem O geformt. Ihnen entrangen sich krächzende Laute. »Wer bist du?« fragte Mythor, ohne den Unbekannten loszulassen. »Sid-Nageb aus Sidyen an der Strudelsee«, sagte der Dicke und schüttelte seinen Kopf, daß seine Ohrgehänge metallen schepperten. »Laß mich los. Ist das der Dank dafür, daß ich dir den Weg geleuchtet habe?« »Du bist kein Orakeldiener!« wunderte sich Mythor und ließ den Mann, der sich Sid-Nageb nannte, los. »Wie kommst du dann an das Käferlicht?« Der Dicke kicherte. »Den Skarab habe ich meinem Diener Rahid abgenommen. Ich bin sehr flink mit den Fingern. Ich kann dir das Weiße aus den Augen nehmen, ohne daß du es merkst.« Mythor griff sich unwillkürlich an die Brusttätowierung. SidNageb merkte es und sagte beruhigend: »Das ist nur ein sidyerisches Sprichwort. Paß auf, daß du den Skarab nicht zertrittst!« Mythor zog den Fuß rasch zurück, als er sah, daß der Käfer auf ihn zukrabbelte. Sid-Nageb hob den Skarab auf und hielt ihn wie einen kostbaren Schatz zwischen den hohlen Händen. »In dieser Finsternis ist ein Licht unersetzlich«, sagte er dabei. 158
»Der Skarab ist nicht mit Gold aufzuwiegen. Wer bist du eigentlich?« »Ich heiße Mythor und bin gekommen, um das Orakel zu befragen«, antwortete Mythor. »Das wollen alle, die in dieses Labyrinth gesteckt werden«, sagte der Sidyer. »Du kannst mich Nageb nennen. Mythor… der Name hat einen geheimnisvollen Klang, aber er sagt mir nichts. Du mußt ein sehr bedeutender Mann sein.« »Wie kommst du darauf, Nageb?« »Ich bin Gorel zu deiner Zelle gefolgt und habe gesehen, wie er das haarlose Scheusal an dein Lager führte. Mir wurde diese Ehre noch nicht zuteil.« »Ehre?« fragte Mythor zwischen Abscheu und Verwunderung. »Ich empfand es als Heimsuchung, als der Gnom auf mir hockte. Was ist das denn für ein Wesen?« »Das weiß der Shallad allein«, meinte Nageb. »Aber ich habe schon von anderen gehört, daß sie von solchen haarlosen Ungeheuern aufgesucht wurden. Und stets wurden sie bald danach zum Orakel gerufen. Ich warte schon, ich weiß nicht, wie lange, auf einen solchen Besuch.« »Du hast Verbindung zu anderen Fragestellern?« erkundigte sich Mythor. »Anders könnte ich die lange Wartezeit nicht mit heilem Geist überstehen, das kannst du mir glauben, Mythor«, sagte der Sidyer. »Aber man muß vorsichtig sein. Die Orakeldiener schleichen dauernd herum und beobachten einen. Wenn sie einen erwischen, wie er sich mit anderen Bittstellern unterhält, dann quälen sie ihn mit Gewissenspredigten und Reinigungsritualen… brrr!« Nageb schüttelte sich, daß seine Fettmassen schwabbelten. »Kennst du auch einen Mann von gutem Aussehen, der aus Sarphand stammt und sich Luxon oder Arruf nennt?« fragte Mythor und schloß eine Beschreibung seiner Person an. »Er 159
müßte etwa gleichzeitig mit mir hier eingetroffen sein.« »Luxon… schon wieder ein so bedeutungsschwerer Name«, sagte Nageb. »Ich würde mich erinnern, wenn ich ihn kennengelernt hätte. Aber ich kenne eine andere bemerkenswerte Person, die auch dich fesseln wird. Wenn du willst, führe ich dich zu ihr.« »Werde ich zu meiner Kammer zurückfinden?« fragte Mythor besorgt. Er dachte daran, daß es sicherlich nachteilig für ihn wäre, wenn die Orakeldiener ihn holen kämen und ihn nicht vorfanden. Nageb kicherte wieder. »Ich habe überall in Höhe meiner Augen, die deiner Kinnhöhe entspricht, Pfeile in den Stein geritzt, die zu meiner Zelle weisen. Von hier findest du bestimmt zurück, auch wenn dir kein Skarab den Weg leuchtet. Willst du mich also begleiten?« »Warum nicht«, sagte Mythor. Nageb ging voran. In Abständen von zwei bis drei Schritten klappte er immer wieder seine Hände auf, damit ihm der Käfer den Weg leuchte. »Pst!« machte der Sidyer auf einmal und drängte sich mit Mythor in eine Nische. Bald darauf näherten sich schleichende Schritte, hielten vor ihnen kurz an und entfernten sich dann wieder. »Habe ich es nicht gesagt?« flüsterte Nageb. »Die Orakeldiener geistern hier ständig herum. Komm, wir sind gleich da.« Es ging noch um drei Ecken und eine Treppe hinauf. Dann ließ Nageb den Skarab ein letztes Mal vor einem Zugang aufleuchten. »Mach den Käfer aus!« erklang aus dem Raum dahinter eine strenge Stimme. Mythor zuckte bei ihrem Klang zusammen. Er glaubte im ersten Moment, diese Stimme zu kennen. Aber mußte sich ir160
ren, es war einfach unmöglich, daß… »Ich bringe Besuch«, meldete Nageb und drängte Mythor in den Eingang. »Ich bin sicher, daß du dich darüber freust.« »Wer ist es?« »Er nennt sich Mythor.« »Ha, du bist einem Schwindler aufgesessen. Mythor hätte mich sofort an der Stimme erkannt. Oder weißt du, wer ich bin?« Mythor mußte sich räuspern, bevor er mit rauher Stimme sagen konnte: »Nyala von Elvinon, Herzog Krudes Tochter. Bist du es?« Mythors Worten folgte ein deutliches Aufatmen, dann sagte die Frauenstimme: »Komm herein, Mythor.« Mythor betrat die Kammer wie ein Traumwandler. Er konnte es nicht fassen, Nyala hier anzutreffen, nachdem er sie vor einigen Monden auf der Insel der Caer in der Ebene der Krieger aus den Augen verloren hatte. »Nageb, laß uns allein!« befahl Nyala – oder dieses Wesen, das sich als Herzog Krudes Tochter ausgab. »Halt!« sagte da Mythor und verstellte dem Sidyer den Weg. Gleichzeitig griff er nach vorne, von wo Nyalas Stimme kam. Er berührte etwas Schuppiges, das ihn an einen Schlangenkörper gemahnte. Urplötzlich erinnerte er sich der Begebenheit mit der Nadelschlange, die ihm vorgetäuscht hatte, das Mädchen von seinem Pergament zu sein. Er wollte nicht wieder auf ein Trugbild hereinfallen. »Ich möchte mich im Schein des Käfers davon überzeugen, daß du Nyala bist«, sagte Mythor. »Verweigerst du mir einen Blick in dein Gesicht, muß ich annehmen, daß du die Falsche bist.« Eine geraume Weile herrschte Schweigen, dann sagte die Stimme: »Sid-Nageb!« 161
Der Dicke klappte seine Hände so weit auf, daß der Schein des Leuchtkäfers gerade auf ein Frauenantlitz fiel. Es hatte große, dunkle Augen mit langen Wimpern und einen betörend sinnlichen Mund. Der leicht ängstliche und bangende Ausdruck der Augen und das unsichere Beben der Lippen, das Zucken in den Mundwinkeln konnten der Schönheit dieses Gesichts nichts anhaben – es war das Nyalas. Und sie war immer noch schön, wiewohl Mythor die Sorgenfalten auf der Stirn entdeckte, die sie gealtert erscheinen ließen. Ihm entging auch nicht das geschuppte Kleid, das sie am Körper trug und das ihr bis über den Hals reichte. »Genug«, sagte Nyala keuchend. »Verschwinde jetzt, SidNageb!« Der Skarab erlosch, und der Sidyer entfernte sich mit tapsenden Schritten. »Bist du nun zufrieden, Mythor?« fragte Nyala. »Ich bin erleichtert«, sagte Mythor aufatmend. »Ich hatte schon gefürchtet, daß dein Gesicht eine gläserne Maske sein würde.« »Viel hat dazu nicht gefehlt«, erwiderte Nyala. »Frage mich bitte nicht, was ich durchgemacht habe. Ich möchte diese Erlebnisse vergessen.« »Ich würde es dir gerne ersparen«, sagte Mythor, »aber ich muß wissen, was passiert ist, nachdem du uns verlassen hast und Coerl O’Marn gefolgt bist.« »Ich konnte ihn nicht mehr retten, ich kam zu spät«, sagte Nyala bitter. »Auch für meinen Vater konnte ich nichts mehr tun. Er… er befindet sich in Drudins Gewalt.« »Ich weiß«, sagte Mythor. »Ich habe ihn nahe der Küste Elvinons in Begleitung dreier Reiter gesehen und später wieder. Es tut mir leid für dich, Nyala.« »Mißtraust du mir immer noch?« fragte Herzog Krudes Tochter. »Ich könnte es dir nicht einmal verübeln.« 162
Nyala machte eine Bewegung, so daß ein trockenes Rascheln entstand. »Was trägst du für ein Gewand?« fragte Mythor. »Besteht es aus Schlangenhaut?« »Dort, von wo ich komme, ist das so Mode«, erwiderte Nyala. »Aber willst du nicht lieber wissen, was ich hier zu suchen habe? Ich kann es dir sagen. Ich möchte das Orakel darüber befragen, was ich tun kann, um Coerl O’Marn und meinen Vater zu retten.« »Selbst wenn dir das Orakel Rat erteilen kann, müßtest du vorerst wissen, wo sie zu finden sind«, sagte Mythor. »Das wird nicht schwer sein.« Nyala lachte bitter auf. »Wohin sie kommen, hinterlassen sie Tod und Vernichtung. Ihre Fährte des Schreckens führt geradewegs in den Süden. Und so bin ich zum Orakel gekommen.« Mythor hatte auf einmal Mitleid mit dieser Frau. Er erinnerte sich an ihre erste Begegnung, bei der sie ihn als Sohn des Kometen bezeichnet hatte. Nyala war es gewesen, die ihn zu den Wasserfällen geführt hatte, hinter denen die Gruft der Gwasamee gelegen hatte – der erste Fixpunkt des Lichtboten. Ohne sie wäre er nie zu dem geworden, der er war, zu einem Kämpfer der Lichtwelt. Gewiß hatte sie eigennützig gehandelt, sie war selbstsüchtig und bei allem, was sie tat, auf ihren eigenen Vorteil bedacht gewesen. Und bestimmt hatte sie sich Einfluß und Macht davon erhofft, als sie ihn veranlaßte, die Prüfungen abzulegen, die ihn zum Sohn des Kometen machen sollten. Mythor vergaß auch das nicht. Doch es konnte seine Gefühle zu ihr nicht beeinträchtigen. Nyala hatte sich gewandelt, wie er selbst auch. »Wenn ich dir helfen kann, Nyala…«, begann er und griff nach ihr. Als er jedoch mit der Schlangenhaut in Berührung kam, zuckten seine Hände wieder zurück. 163
»Das kannst du, Mythor«, sagte sie. »Nimm mich mit zum Orakel. Ich weiß, daß du die besten Aussichten von allen hast, die hier untergebracht sind. Als Sohn des Kometen könntest du erreichen, daß ich dich begleiten darf. Mir geht es um das Schicksal meines geliebten Vaters.« »Ich werde sehen«, sagte Mythor zurückhaltend. Er wollte dem Mädchen nicht sagen, daß eine Gruppe von Orakeldienern gar nicht damit einverstanden war, ihm das Fragerecht zu gewähren. Er schwieg lieber, um Nyala keine Enttäuschung zu bereiten. »Versprich es mir!« verlangte Nyala. »Ich verspreche es!« gelobte Mythor und fühlte sich nicht wohl dabei, denn er hatte keine Ahnung, ob und wie er das Versprechen einlösen konnte. »Achtung!« rief da Nageb vom Eingang, und der Skarab blinkte kurz auf. »Eine Prozession von Orakeldienern ist zu Mythor unterwegs.« »Dann mach schnell, daß du in deine Kammer kommst«, rief Nyala. »Wenn sie dich holen kommen, dann denke bitte an mich.« »In diesem Fall weiß ich, was ich zu sagen habe«, erklärte Mythor, dem plötzlich ein Einfall kam. »Ich werde dich als Zeugin vor das Orakel bestellen, die mich als Sohn des Kometen bestätigen kann.« »Das ist gut«, rief Nyala. »Aber jetzt eile. Viel Glück, Mythor.« »Komm schon«, sagte Nageb und zog Mythor mit sich. Der dicke Sidyer watschelte vor Mythor durch die verwinkelten Gänge. Es ging über Treppen hinauf und über andere hinunter, und es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie zu Mythors Kammer gelangten. »Schnell hinein, und stell dich schlafend!« sagte Nageb gehetzt. »Die Orakeldiener können jeden Augenblick hiersein.« 164
»Richte Nyala aus, daß ich sie nicht vergessen werde«, rief Mythor dem Sidyer verhalten nach, wußte aber nicht, ob er seine letzten Worte noch gehört hatte. Mythor tastete sich zu seinem Lager und legte sich mit unter dem Kopf verschränkten Armen darauf. Er wollte den Eingang im Auge behalten. Er lag mit angespanntem Körper da, war sprungbereit. Aber die Zeit verging, und nichts ereignete sich. Die Stille lastete schwer auf ihm. Manchmal bildete er sich ein, Geräusche zu hören, vermeinte, einen Lichtschein zu sehen, den ein Skarab der Gruppe der näher kommenden Orakeldiener vorausschickte. Doch das konnte nur Einbildung gewesen sein, denn niemand erschien, der die Stille mit seiner Stimme durchbrach. Kein Leuchtschimmer zerriß die Finsternis. Oder waren die Orakeldiener bereits da? Versteckten sie sich, um ihn aus der Dunkelheit zu belauschen und darauf zu warten, bis er eingeschlafen war? Mythor atmete flacher, um kein Geräusch zu verursachen. Da stieg ihm ein süßer Geruch in die Nase. Er war jenem ähnlich, den er an der Pforte des Orakels eingeatmet hatte, und er benebelte diesmal seine Sinne mehr als ehedem. Er sprang auf und hielt das Fell des Wamses vors Gesicht, um die Wirkung des schweren Duftes zu mildern. Er taumelte und hatte das Gefühl, sich im Kreise zu drehen. Lichter glommen in der Dunkelheit auf und barsten. Stimmen wurden laut, ein ferner Singsang drang zu ihm. Mythor wurde ganz seltsam zumute, er glaubte zu fallen, in einen endlosen Abgrund zu stürzen.
Obwohl kein Aufprall erfolgte, stand er auf einmal wieder auf den Beinen. Die gewölbte Öffnung des Eingangs erhellte sich 165
allmählich. Schritte kamen näher. Ein Glöckchen läutete, ein Gemurmel aus mehreren Kehlen erklang. Mythor trat durch den Eingang und sah sich einer Gruppe von sechs Orakeldienern gegenüber. Von der Handfläche des vordersten leuchtete ein Skarab. Es war Gorel. Als Mythor den Orakeldiener erkannte, ballte er die Hände zu Fäusten, denn er konnte sich denken, was dieser von ihm verlangen würde. Die kleine Prozession hielt an. Gorel hob die Hand mit dem Leuchtkäfer, so daß Mythor beschienen wurde. Und dann fragte der Orakeldiener: »Hast du es dir endlich anders überlegt, und willst du meinen Rat annehmen, diesen Ort auf dem geradesten Weg zu verlassen?« »Nein«, sagte Mythor fest. »Nichts kann mich von meinem Vorhaben abbringen.« Ein unverständliches Gemurmel erhob sich unter den Orakeldienern. Als es verstummte, sagte Gorel: »Wenn es dein fester Wille ist, das Orakel zu befragen, dann will ich ihn achten, wenn auch wider besseres Wissen. Folge mir.« Gorel und zwei der Orakeldiener setzten sich in Bewegung. Die anderen warteten, bis Mythor sich ihnen anschloß, dann folgten auch sie. »Laß dich belehren, Mythor«, sagte Gorel im Gehen. »Bist du bereit, dich an die hier herrschende Ordnung zu halten, dann bejahe es.« »Ja, ich bin bereit«, sagte Mythor. »Er ist bereit«, murmelten die Orakeldiener. Gorel sagte: »Die Ordnung sieht vor, daß du dem Orakel deine Ehrerbietung zeigst und dich ihm unterordnest als Wesen niedrigerer Ordnung. Willst du dich untertänig und demütig vor dem Orakel zeigen, dann sage es.« »Ich will!« »Er will!« 166
»Wirst du ehrlich und aufrichtig in Worten und Gedanken sein?« »Ich werde!« »Er wird!« »Wirst du darauf verzichten, Fragen zu stellen, durch deren Antworten du dich bereichern oder dir sonst persönlich nützen, anderen schaden und dem Bösen auf dieser Welt dienlich sein könntest?« »Ich verzichte!« »Er verzichtet!« Sie erreichten das Gebäude mit seinen verwirrenden Gängen und den ineinander verschachtelten Räumen und kamen in den Irrgarten im Freien. Sie durchwanderten ihn langsam und standen doch schnell vor dem stufenförmigen Gebäude im Mittelpunkt. »Neid, Haß, Mißgunst, Selbstsucht, Hoffart, Wollust, Lügenhaftigkeit, Verschlagenheit, Gewissenlosigkeit, all dies und ähnliche verdammenswerte Wesensart sollen dir in diesen Augenblicken fern und fremd sein.« »Sie sind mir fremd!« »Sie sind ihm fremd!« Das Spiel von Frage und Antwort ging weiter, während sie einen Rundgang durchquerten, der sich dem Inneren zu wie eine Spirale verengte. Endlich erreichten sie das Ende des Spiralgangs und kamen in einen dunklen Raum. »Bist du rein im Sinne der hier herrschenden Ordnung?« fragte Gorel ein letztes Mal. »Ich bin rein!« sagte Mythor. »Er ist rein!« wiederholten die Diener. Auf einmal erstrahlte der Raum in Dutzenden von Lichtern, die von umherfliegenden Leuchtkäfern stammten. Sie umflogen ein Geschöpf, bei dessen Anblick Mythor den Atem an167
hielt. »Dann tritt vor das Orakel hin!« sagte Gorel. Mythor tat es wie benommen. Er sah vor sich auf einem steinernen Podest einen formlosen Körper, einen unförmigen Fleischklumpen, bloß, ohne Arme und Beine. Aus dieser zuckenden Fleischmasse ragten zwölf lange Hälse mit Köpfen. Die Hälse pendelten wie Schlangen hin und her, und die Köpfe mit den menschlichen Gesichtern wogten über Mythor auf und ab. Die Münder öffneten sich, und dann sagten sie alle zwölf im Chor: »Du bist Mythor, ich weiß alles über dich. Stelle deine Fragen.« Mythor überlegte sich seine Worte gut, bevor er sie aussprach. Er fragte: »Bin ich der rechtmäßige Sohn des Kometen, der das Erbe des Lichtboten antreten soll, um die Lichtwelt gegen die Einflüsse des Bösen aus der Schattenzone zu verteidigen?« Und die pendelnden Köpfe gaben ihm die Antwort wieder im Chor. Das Orakel gab Mythor erschöpfend Auskunft. Er wußte nun alles über sich und seine Bestimmung, und er war gewappnet für seinen weiteren Weg. Die Leuchtkäfer flogen aus der Orakelhalle, und Dunkelheit breitete sich wieder aus. »Komm!« Die Orakeldiener nahmen ihn erneut in die Mitte und führten ihn den Spiralgang zurück, durch den Irrgarten und zur Pforte, die aus dem Orakel hinausführte. Mythor war von dem eben Erlebten noch viel zu benommen, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Er versuchte, sich die Antwort des Orakels ins Gedächtnis zu rufen und das Gehörte zu überdenken. Doch da stellte er entsetzt fest, daß er keine Erinnerung mehr daran hatte. Er hatte die Antwort des Orakels vergessen! Panik erfaßte ihn. Er wollte den Orakeldienern klarmachen, was mit seinem Gedächtnis 168
passiert war. Er hatte es verloren, es war wie ausgelöscht. Er wollte es hinausschreien, aber sein Mund war versiegelt. Er brachte keinen Ton über die Lippen. Was war mit ihm geschehen? Die sieben Orakeldiener schienen nichts von seinem Zustand zu bemerken. Sie hielten die Köpfe gesenkt, hatten die Augen auf den Boden gerichtet, schritten zielstrebig dem Ausgang zu, ohne nach links und rechts zu blicken. Sieben Orakeldiener? Es waren doch nur sechs gewesen, das wußte er ganz bestimmt. Irgend etwas war da nicht in Ordnung. Mythor wußte selbst nicht, warum er der Zahl der Orakeldiener solche Bedeutung beimaß. Er betrachtete sie eingehender. Da hob einer von ihnen den Kopf und grinste Mythor an. Es war Luxon. Mythor blieb vor Überraschung stehen. Die anderen Orakeldiener gingen weiter, nur Luxon blieb ebenfalls zurück. Als die Orakeldiener durch ein Tor gegangen waren, schlug Luxon es hinter ihnen zu und verriegelte es. »Folge mir, mein gutgläubiger, getäuschter Freund«, sagte er lachend zu Mythor und eilte in die entgegengesetzte Richtung voraus. Mythor folgte ihm.
Mythor war, als erwache er aus einem Traum. Er fand sich in dem Irrgarten unter freiem Himmel wieder, und das war die Wirklichkeit. Aber alles, was davor lag, erschien ihm nun unwirklich und fremd. Es war Tag, und Mythor konnte das Orakelgebäude zum erstenmal in seiner ganzen Größe sehen. Es war etwas mehr als turmhoch, hatte einen breiten Sockel und verjüngte sich nach oben stufenförmig. Es war ein Rundbau und ähnlich wie ein 169
Schneckenhaus angeordnet, in Form einer Spirale. Die niedrigste Stufe bildete zugleich den äußersten Ring und wand sich nach innen zu auch in die Höhe, bis die Spirale in die mittlere Turmerhebung mündete. »Komm schon, du Sohn des Kometen«, drängte Luxon. Er sagte es mit solchem Spott, daß Mythor Zorn in sich aufsteigen fühlte. War alles, was er vorher erlebt hatte, wirklich nur ein Traum gewesen? Er war nun geneigt zu glauben, daß Gorel mit ihm gar nicht im Orakel gewesen war. Mythor spürte noch den süßlichen Geruch in der Nase, der seine Sinne benebelt hatte. Luxon eilte zielstrebig durch den Irrgarten. Er schien sich hier gut auszukennen. »Wohin bringst du mich?« rief Mythor ihm nach. Luxon gab keine Antwort. Er kam zu einem Gebüsch und drang in dieses ein. Als Mythor ihm folgte, kam er zu einer Schachtöffnung. »Da hinunter müssen wir«, sagte Luxon. »Und wohin führt dieser Schacht?« »In ein weitverzweigtes Netz von Tunneln«, erklärte Luxon. »Unter dem Orakel gibt es viele Geheimgänge. Ich habe einige erforscht. Aber stell jetzt keine Fragen mehr, klettere hinunter.« »Du zuerst«, sagte Mythor. Luxon zuckte mit den Achseln und verschwand im Schacht. Mythor folgte ihm über eine hölzerne Leiter. Er zählte zwanzig Sprossen, bevor seine Füße wieder festen Boden berührten. »Gib mir die Hand«, verlangte Luxon. »Du würdest dich hier sonst hoffnungslos verirren.« Mythor spürte den festen Griff seiner Hand und gehorchte dem Zug. Während sie durch die Finsternis gingen, mal nach links und dann wieder nach rechts abbogen, erklärte Luxon: »Ich habe in der Oase einen ehemaligen Orakeldiener kennengelernt. Er hat sich irgend etwas zuschulden kommen lassen 170
und wurde daher ausgestoßen. Es fiel mir nicht schwer, seinen Groll gegen das Orakel zu schüren und ihn dazu zu bringen, mir einen Zugang zu den unterirdischen Geheimgängen zu zeigen. Auf diese Weise gelangte ich hinein und kam gerade noch zurecht, um dich vor der Ausweisung zu bewahren.« »Ich war fest überzeugt, beim Orakel gewesen zu sein es befragt zu haben«, sagte Mythor. Luxon lachte. »Man hat dich hereingelegt. Ich habe inzwischen einiges über die Tricks der Orakeldiener erfahren. Sie benebeln die Sinne mancher Bittsteller und machen ihnen weis, daß sie sie ans Ziel ihrer Wünsche gebracht hätten. Dabei haben sie alles nur geträumt.« Luxon hielt an – und auf einmal leuchtete ein Skarab in seiner Handfläche. Mythor blickte sich um. Sie befanden sich in einem gemauerten Gewölbe. In den Wänden gab es Nischen, in denen sich menschliche Gebeine auftürmten. In einer Nische waren grinsende Totenschädel zu einer Pyramide aufgeschichtet, in einer anderen lagen Armknochen übereinander, und in einer dritten standen halbe Gerippe aneinandergereiht. »Das alles sind die Gebeine von Orakeldienern«, erklärte Luxon. »Es gibt unzählige solcher Beinhäuser. Wenn ein Orakeldiener stirbt, wird er nach hier unten gebracht und aufgebahrt. Dann kommen die Skaraben und halten Mahlzeit, bis nur noch die blanken Knochen übrig sind. Ja, die Leuchtkäfer sind die Totengräber der Orakeldiener, sie hausen hier unten zu Tausenden. Angeblich haben sie ihre Leuchtkraft von den Geistern der Verstorbenen.« »Woher hast du all das Wissen?« fragte Mythor verblüfft. Luxon lachte wieder. »Bevor ich einen Plan ausführe, hole ich umfangreiche Erkundigungen ein. Das war auch am Baum des Lebens so. Ich stürze mich nie kopflos in ein Unternehmen, sondern sichere mich zuerst nach allen Seiten hin ab. Jetzt weiß ich genug, um ohne Hilfe der Diener bis zum Orakel 171
vorzudringen. Machst du mit?« »Du denkst wohl nie daran, auf ehrliche Weise ein Ziel zu erreichen«, tadelte Mythor. »Diesmal tust du mir unrecht«, sagte Luxon. »Zuerst habe ich versucht, auf normalem Weg eine Fragestunde beim Orakel zu bekommen. Ich habe sogar meinen Bogen und den Köcher mit den Pfeilen im Pfänderhaus hinterlegt. Da, siehst du?« Zum Beweis, daß er die Wahrheit sagte, hob er ein Knotenleder hoch. »Aber ich habe schon bald erkannt, daß ich von den Orakeldienern nur hingehalten wurde. Da versuchte ich es eben auf meine Weise. Du hast ja auch nicht gerade die besten Erfahrungen mit den Orakeldienern gemacht, Mythor. Man wollte dir zwar weismachen, daß du beim Orakel gewesen bist, aber darauf fällst du doch nicht herein, oder?« »Ich beginne daran zu zweifeln«, gestand Mythor. »Aber ich verstehe nicht, warum die Orakeldiener mich täuschen wollten.« »Ich wüßte einen Grund«, sagte Luxon. »Es heißt, daß irgend etwas mit dem Orakel nicht stimmt. Es geht sogar das Gerücht, daß es das Orakel gar nicht mehr gibt und daß die Diener selbst seine Rolle übernommen haben.« »Du meinst, das Orakel ist gestorben?« fragte Mythor. »Möglicherweise… wenn es ein sterbliches Wesen war«, antwortete Luxon. »Dann haben es längst die Skaraben aufgefressen. Aber vielleicht hat es sich beim Orakel auch nur um einen Geist gehandelt, ich weiß es nicht, denn darüber konnte mir der verfemte Orakeldiener keine Auskunft geben. Nur ganz wenige der Orakeldiener sind Eingeweihte, und diese schweigen.« »Das wäre wirklich eine Erklärung, warum Gorel mich drängte, Theran wieder zu verlassen«, meinte Mythor nachdenklich. Er schüttelte den Kopf. »Es ist kaum vorstellbar, daß es gar kein Orakel gibt.« »Wir können uns gemeinsam davon überzeugen«, sagte Lu172
xon. »Ich kenne den Geheimgang, der ins Innere Orakel führt. Ich bin fest entschlossen, ihn zu benutzen und die Wahrheit herauszufinden. Und was ist mit dir?« Mythor dachte nach. Aber das nicht deshalb, weil er um eine Entscheidung mit sich ringen mußte, ob er das Orakel immer noch befragen wollte. An dieser seiner Absicht hatte sich nichts geändert, und ihm war es letztlich egal, auf welche Weise er an das Orakel herankam. Er überlegte sich nur, welche Möglichkeiten Luxon diesmal hätte, ihn zu übervorteilen. Luxon war mit allen Wassern gewaschen, und Mythor traute ihm jede Gemeinheit zu, wenn es ihm einen persönlichen Vorteil brachte. »Hast du Angst vor der Wahrheit?« stichelte Luxon. »Ich kann verstehen, daß du den Wahrspruch des Orakels fürchtest. Es wäre auch eine große Demütigung, wenn es mir in deiner Gegenwart bestätigt, daß ich der Sohn des Kometen bin.« »Ich frage mich nur, was du im Schilde führen magst«, sagte Mythor wahrheitsgetreu. »Aber egal, ich habe den Orakelspruch weniger zu fürchten als du. Ich schließe mich dir an.« »Ich wußte es«, sagte Luxon und klopfte Mythor auf die Schulter. »Bald werden wir erfahren, wer von uns beiden wirklich der Auserwählte ist, falls es überhaupt noch ein Orakel gibt. Ich muß dir gestehen, Mythor, daß ich gar nicht so siegessicher bin, wie ich mich gebe.« Mythor war von diesem Geständnis überrascht, aber gleichzeitig mußte er sich fragen, was Luxon mit der zur Schau getragenen Ehrlichkeit denn nun wieder bezweckte. Möglicherweise war er in diesem Augenblick aber eben nur ehrlich und sonst nichts, vielleicht zum erstenmal in seinem Leben. »Komm, Mythor«, sagte Luxon. »Wir sollten keine Zeit mehr verlieren. Denn die Orakeldiener suchen bereits nach dir. Und wenn sie dich oben nicht finden, werden sie ihre Suche auch 173
auf die unterirdischen Grüfte ausdehnen.« »Ich bin bereit«, sagte Mythor. Luxon, den Leuchtkäfer in der offenen Hand vor sich haltend, ging voran. Sie kamen von diesem Gewölbe in ein anderes, das sich von dem vorangegangenen in keiner Weise unterschied. Auch hier türmten sich menschliche Gebeine in Nischen. »Bist du mir noch böse, daß ich mir dein Einhorn geborgt habe?« fragte Luxon unvermittelt. »Geborgt?« staunte Mythor. »Hattest du nicht ganz andere Absichten mit Pandor?« »Auf mir muß ein Fluch liegen, daß man mir nie glaubt«, sagte Luxon seufzend. »Ich wollte mir nur einen kleinen Vorsprung verschaffen, aus keinem anderen Grund habe ich mir dein Einhorn geliehen. Ich habe es doch zu dir zurückgeschickt, oder?« »Weil es dich abgeworfen hat«, sagte Mythor überzeugt. »Du konntest es nicht bändigen, aus keinem anderen Grund habe ich es zurückbekommen.« Luxon sagte darauf nichts, und das war für Mythor die Bestätigung, daß er den Abenteurer aus Sarphand durchschaute. Mythor folgte ihm durch einen Gang, der in zwanzig Schritt Entfernung vor einer Treppe endete. »Achtung!« rief Luxon. »Es kommt jemand.« Luxon lief in einen Seitengang. Mythor lauschte kurz den Schritten und Stimmen auf der Treppe. Als der Schein eines Leuchtkäfers herabfiel und die Schatten einiger Gestalten vorauswarf, folgte Mythor Luxon. Sie kamen in ein Gewölbe mit jenen Nischen für die Gebeine verstorbener Orakeldiener. Luxon fluchte, als er erkannte, daß es keinen zweiten Ausgang gab. »Es geht nicht weiter«, stellte er fest. »Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als uns in einem dieser Beinhäuser zu verste174
cken. Nimm du diese Nische, Mythor, ich verkrieche mich in der daneben. Ich hoffe, du hast vor Toten keine Angst.« Ohne eine Antwort zu geben, kletterte Mythor in eine Nische und versteckte sich hinter einem Berg übereinandergetürmter Totenschädel. Kaum hatte er seinen Platz eingenommen, als sich durch den Gang auch schon Schritte näherten. Und im selben Moment verspürte Mythor bei seinen Zehen ein Kribbeln, das über seinen Fuß langsam das Bein heraufkroch. Bevor er sich fragen konnte, was ihn da heimsuchte, wurde sein Bein in ein fahles Leuchten gehüllt. Da wußte er, daß es sich um einen Skarab handelte. Schnell griff er zu und bedeckte den Käfer mit der Hand, denn die Schritte hatten das Gewölbe erreicht. Und draußen breitete sich der Schein mehrerer Skaraben aus. »Da scheint niemand zu sein«, sagte eine Stimme. »Es ist sinnlos, alle Gräberstätten zu durchsuchen«, sagte eine andere Stimme. »Klüger wäre es, die Zugänge zum Orakel zu bewachen und den Eindringling abzufangen, wenn er versucht, in den Inneren Bezirk zu gelangen.« Mythor stellte entsetzt fest, daß erneut etwas über seine Füße krabbelte. Gleichzeitig begannen mehrere Skaraben aufzuleuchten. Mythor erkannte, daß ihre schön gezeichneten Rückenpanzer erst aufleuchteten, nachdem sie sich eine Weile auf seinem Körper aufhielten. Brauchten sie die Wärme eines lebenden Wesens, um ihre ganze Leuchtkraft entfalten zu können? »Gehen wir wieder«, sagte einer der beiden Orakeldiener, die das Gewölbe durchsuchten. Mythor biß die Zähne zusammen, denn nun krabbelten bereits zwei Dutzend Skaraben auf ihm herum. Plötzlich verspürte er einen stechenden Schmerz in der Hüfte. Dort hatte sich ein Leuchtkäfer mit seinen Scheren in sein Fleisch verbis175
sen. Gleich darauf zwickte ihn ein Skarab mit seinen Beißwerkzeugen in den Oberschenkel. Mythor verbiß den Schmerz. Er mußte noch ein wenig ausharren, bis die beiden Orakeldiener das Gewölbe verlassen hatten, dann erst konnte er sich dieser lästigen Tiere erwehren, die ihn offenbar bei lebendigem Leib aufzufressen gedachten. »Suchen wir woanders weiter…« Die Schritte der beiden Orakeldiener entfernten sich bereits wieder. Da vernahm Mythor in der Nische nebenan ein Rumoren. Jemand schrie unterdrückt auf, und Mythor war klar, daß Luxon auf die gleiche Weise wie er von Leuchtkäfern belästigt wurde. Plötzlich war ein Poltern zu hören. Mythor sah förmlich vor sich, wie Luxon um sich schlug, um sich der Käfer zu erwehren, und wie er dabei die Pyramide aus Totenschädeln zum Einsturz brachte. Ohne lange zu zögern, sprang Mythor nach vorne. Er rollte seinen Körper über den nachgebenden Berg aus Totenschädeln und kam unter lautem Gepolter mit den Beinen außerhalb der Nische auf dem Boden des Gewölbes auf. Neben ihm tauchte Luxon auf und stürzte zu den beiden Orakeldienern, die starr vor Entsetzen dastanden. Sie waren zu keiner Bewegung fähig und hatten nicht einmal die Kraft, die Arme zur Abwehr zu heben, als Mythor und Luxon sie erreichten. Mythor fällte seinen Gegner mit einem Schlag. Ohne einen Laut von sich zu geben, brach dieser zusammen. Als er sich nach Luxon umdrehte, stand dieser über dem am Boden liegenden zweiten Orakeldiener. Auch dieser rührte sich nicht mehr. »Der Lärm wird die anderen Orakeldiener herbeilocken«, sagte Mythor. »Es gibt nur einen Ausweg. Wir müssen die Kutten dieser beiden anziehen und ihre Körper in den Bein176
häusern verstecken.« »Das ist genau meine Absicht«, meinte Luxon grinsend. »Du vergißt dabei nur, daß ich bereits Dienerkleidung trage.« Mythor schlüpfte schnell in eine Kutte, während Luxon die Körper der beiden Bewußtlosen in die Nischen verfrachtete, in denen sie sich zuvor selbst versteckt hatten. Dann zogen sie sich gemessenen Schrittes aus dem Gewölbe zurück. Im Gang kamen ihnen drei Orakeldiener entgegen. »Was war das für ein Lärm?« fragte einer von ihnen. »Irgendein Tier muß sich nach hier unten verirrt haben«, sagte Luxon mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze. »Es war so erschrocken, daß es zwei Schädeltürme zum Einsturz brachte.« Die Orakeldiener gaben sich mit dieser Erklärung zufrieden. Sie kehrten mit ihnen den Hauptgang zurück. Mythor und Luxon ließen sich etwas zurückfallen. Als die Orakeldiener im Zugang eines Gewölbes verschwanden, machten sie kehrt und begaben sich zu der Treppe, die nach oben führte. Sie hasteten hinauf. Sie hatten ihr Ende noch nicht erreicht, als zwei Gestalten auftauchten. »Nyala!« rief Mythor überrascht aus. An ihrer Seite befand sich der Orakeldiener Maluk. »Hat dir Luxon nicht gesagt, daß wir zusammen gekommen sind?« fragte Nyala erstaunt. »Erst von ihm habe ich erfahren, daß du zum Orakel kommen wirst.« »Das ist jetzt nicht wichtig«, erklärte Luxon. »Es kommt nur darauf an, daß wir in den Innersten Bezirk gelangen.« »Das ist richtig, ich werde euch führen«, sagte Maluk und wollte davoneilen. Aber da packte ihn Mythor an der Schulter. »Nicht so hastig«, sagte er zu dem Orakeldiener. »Bevor ich mich auf dieses Abenteuer einlasse, möchte ich wissen, was gespielt wird. Es sieht mir nämlich so aus, daß ihr alle unter einer Decke steckt, und das will mir nicht recht gefallen.« 177
»Für Fragen haben wir später Zeit«, versuchte ihn Maluk hinzuhalten. »Nein, ich möchte auf der Stelle über die Hintergründe aufgeklärt werden«, verlangte Mythor fest. »Wie du meinst«, sagte Maluk. »Viel gibt es dazu nicht zu sagen. Dir wird nicht entgangen sein, daß eine Gruppe Orakeldiener unter Gorel versucht, dich vom Orakel fernzuhalten. Sie fürchten, daß du die Wahrheit über dich erfährst. Damit ist Lassat nicht einverstanden, und er hat mich beauftragt, dir mit allen Mitteln zur Fragestunde zu verhelfen.« »Wer ist Lassat?« fragte Mythor. »Einer der persönlichen Betreuer des Orakels, wie Gorel auch«, antwortete Maluk ungeduldig. »Er hat beschlossen, dir gegen alle Widerstände aus den eigenen Reihen zu helfen.« »Und was hat er mit Nyala und Luxon zu tun?« fragte Mythor. »Nichts!« sagte Nyala schnell. »Das ist wahr«, stimmte Maluk zu. »Als ich in deine Unterkunft kam, war Nyala dort. Von ihr erfuhr ich, daß Gorel dich fortgebracht hat, und nahm sie mit mir. Du weißt hoffentlich, daß Gorel dich nur getäuscht hat, Mythor. Er setzte dich sinnverwirrenden Dämpfen aus, so daß du dir einbildetest, vor das Orakel hinzutreten. Genügt dir das? Willst du dir jetzt endlich zu deinem Recht verhelfen lassen?« »Ich möchte auch noch mit Lassat sprechen«, sagte Mythor. »Du wirst ihn beim Orakel treffen«, versprach Maluk. »Jetzt stell dich nicht so an, Mythor!« rief Luxon aufgebracht. »Oder hast du wirklich Angst vor der Wahrheit?« »Gehen wir«, beschloß Mythor, ohne von Maluks lauteren Absichten überzeugt zu sein. Sein Mißtrauen gegenüber seinem Helfer blieb. Während er mit Luxon und Nyala dem Tempeldiener folgte, dachte er nach. Was ihm am meisten mißfiel, war, daß Nyala 178
mit Luxon gemeinsames Spiel machte. Oder war es umgekehrt? Herzog Krudes Tochter tauchte nach so langer Zeit im Süden von Salamos auf – und ausgerechnet in der Begleitung Luxons, der sein Gegenspieler war. Er wollte nicht an einen Zufall glauben. Kalathee kam ihm in den Sinn. Sie hatte ihm am Baum des Lebens die reuige Sünderin vorgespielt, nur um Luxon einen Vorsprung auf der Jagd nach Sternenbogen und Mondköcher zu verschaffen. Und er war auf sie hereingefallen! Würde sich dies auf ähnliche Weise nun mit Nyala von Elvinon wiederholen? Als habe sie seine Gedanken gehört, legte sie ihm auf einmal die Hand auf die Schulter und sagte: »Ich glaube an dich, Mythor.« Sie wirkte so ehrlich und überzeugend, daß Mythor sich fast schämte, ihr zu mißtrauen. Aber andererseits kannte er Luxons Wirkung auf Frauen inzwischen und wußte, wozu er sie treiben konnte. Als er seinen Blick tiefer in Nyalas Augen senkte, da glaubte er, so etwas wie Trauer und Mitgefühl darin zu entdecken. Tat es ihr im Grunde ihres Herzens leid, daß sie ihn an Luxon zu verraten gedachte? Ich darf mir den Kopf nicht mit solchen Gedanken füllen, sagte er sich. Ich muß mich an die tatsächlichen Gegebenheiten halten, um mich im Ernstfall der Gefahren erwehren zu können. »Sind wir im Innersten Orakelbezirk?« fragte Luxon. »Jawohl, das ist die Orakelstätte«, antwortete Maluk. »Wir befinden uns in dem Wendelgang, der zum Orakel führt. Bald ist es soweit.« Bis jetzt waren die örtlichen Gegebenheiten noch genauso wie in der Vision, die Gorel ihm durch die süßlichen Dämpfe bereitet hatte. »Warum stellen sich uns Gorels Getreue nicht in den Weg, 179
wenn wir dem Ziel schon so nahe sind?« fragte Mythor. »Lassats Wort hat kein geringeres Gewicht als das Gorels«, antwortete Maluk. »Gorel wird seinen Widerstand aufgegeben und sich damit abgefunden haben, dich zum Orakel vorlassen zu müssen.« Das klang einleuchtend, dennoch bewahrte sich Mythor seine Zweifel. Er war immer noch der Meinung, daß es ein Ränkespiel um seine Person gab. Aber der Wunsch, das Orakel aufzusuchen und zu befragen, war stärker als der, die Intrige aufzudecken. Der Gang, durch den sie schritten, führte immer in eine Richtung im Kreise, und es wurde einem nicht bewußt, daß er sich wie eine Spirale verjüngte. Mythor hatte das Gefühl, daß sie den Mittelpunkt des Orakels schon zweimal umgangen hatten. Bis jetzt war ihnen noch niemand begegnet. Kein einziger Orakeldiener hatte sich blicken lassen. Einige Male kamen sie an verschlossenen Räumen vorbei. Als Mythor wissen wollte, was sich hinter den geschlossenen Türen verbarg, antwortete Maluk: »Das sind die Räume, in denen sich die Fragesteller einer letzten geistigen Reinigung und Einkehr zu unterziehen haben, bevor sie vor das Orakel hintreten dürfen. In deinem Fall ist dies jedoch nicht nötig.« »Und was ist mit Luxon?« wollte Mythor wissen. »Ihr habt zusammen ein Problem«, sagt Maluk. »Die Antworten, die du bekommst, gelten auch für ihn.« Diese Begründung war nicht von der Hand zu weisen. Der Gang endete auf einmal vor einem verschlossenen Tor. Im Schein von Skaraben, die auf den Gesichtern von einem halben Dutzend bewegungslos dastehenden Orakeldienern herumkrabbelten, bemerkte Mythor, wie sie durch Scharten in der Wand beobachtet wurden. Als er den Blick eines Augenpaares hinter einem der Wandschlitze auffing, lief ihm ein Schauer über den Rücken. Wann war er zuvor schon einem so kalten 180
und stechenden Blick begegnet? Zum Vergleich fielen ihm eigentlich nur die Dämonenpriester der Caer mit ihren wesenlosen, wie gläsern wirkenden Gesichtern ein. Er schüttelte sich unbehaglich. Als er wieder zu den Wandschlitzen blickte, war dahinter nur Finsternis. Niemand beobachtete ihn mehr von dort. Nein, sagte er sich, es ist unmöglich, daß Caer-Priester das Orakel besetzt haben! Maluk trat vor das Tor und klopfte mit dem großen, eisernen Ring dagegen. Die dumpfen Laute hallten durch den Raum und pflanzten sich hinter dem Tor fort. Die sechs Orakeldiener, deren Gesichter unter den leuchtenden Rücken der Skaraben versteckt waren, rührten sich noch immer nicht. Sie standen wie Statuen da. Jetzt wurde in derselben Folge von der anderen Seite gepocht. Nachdem das Pochen verhallt war, schlug Maluk den Eisenring noch dreimal gegen das Tor. Es dauerte einige Atemzüge, bevor die beiden großen, eisenbeschlagenen Flügel nach außen aufschwangen. Mythor hielt erwartungsvoll die Luft an. War es nun endlich soweit, daß er vor das Orakel hintreten durfte, um Antworten auf die ihn bewegenden Fragen zu erhalten? Oder was sonst erwartete ihn hinter diesem Tor? Er sah noch die Orakeldiener, die jeweils zu dritt einen der mächtigen Torflügel aufschoben. Dann erloschen alle Skaraben auf einmal, als senkten sich schwere Tücher über die Gesichter der in Bewegungslosigkeit erstarrten Träger der Leuchtkäfer. »Du mußt durch das Tor gehen!« flüsterte Maluk in der Dunkelheit Mythor zu. »Laß dich nicht beirren.« Mythor setzte einen Fuß vor den anderen. »Halt!« rief ihm da eine bekannte Stimme entgegen, und Mythor verhielt unwillkürlich den Schritt. Er erkannte die Stimme 181
als die Gorels. Der Orakeldiener fuhr fort: »Besinne dich, überlege dir, was du tust. Wenn du über diese Schwelle trittst, dann mußt du alle Hoffnung fahrenlassen.« »Laß dich nicht einschüchtern«, flüsterte ihm Maluk zu. »Du hast einen mächtigen Fürsprecher. Lassat ist auf deiner Seite.« Jetzt ertönte eine andere Stimme aus der Dunkelheit vor Mythor. Sie klang verzerrt und geisterhaft hohl. »Wenn es dein freier Wille ist, das Orakel zu befragen, und wenn dieser Wunsch stärker ist als die Angst vor der Wahrheit, dann sollst du diese Schwelle bedenkenlos übertreten.« »Das war Lassat!« raunte ihm Maluk zu. Mythor gab sich einen Ruck und schritt durch das Tor. Ein enttäuschtes Raunen wurde hörbar. Hinter Mythor schloß sich das schwere Tor mit einem dumpfen Laut. Er war im Innersten Orakel. Er spürte, wie etwas nach seinem Arm griff, und zuckte zusammen. »Von mir hast du nichts zu befürchten«, hörte er Gorel sagen. »Ich werde dir den Weg weisen.« »Du hast mich schon einmal in die Irre geführt«, sagte Mythor in der Dunkelheit zu seinem Begleiter. »Wie kann ich dir trauen?« »Was ich tat, geschah nur zu deinem Besten«, sagte Gorel, und er fügte hinzu: »Und es geschah zum Schutz des Orakels.« »Du wirst mich wieder zu täuschen versuchen«, meinte Mythor. »Ich will mich lieber Lassat anvertrauen.« »Du bist zu weit vorgedrungen, ich kann dich nun nicht mehr hindern, das Orakel zu befragen«, sagte Gorel. »Du kannst aber noch immer darauf verzichten, die Fragen zu stellen.« »Nie!« sagte Mythor. »Ich werde um keinen Preis der Welt verzichten.« »Auch nicht, wenn du dich und das Orakel… und vielleicht 182
die gesamte Lichtwelt in Gefahr bringst?« fragte Gorel, während er ihn durch die Finsternis geleitete. »Du bist noch immer gegen mich«, stellte Mythor fest. »Darum möchte ich statt deiner lieber Lassat an meiner Seite wissen. Warum gestehst du mir das nicht zu?« »Weil Lassat sich schon seit Tagen versteckt«, erwiderte Gorel. »Er tritt nicht mehr in Erscheinung, sondern läßt nur seine geisterhafte Stimme hören. Von seinen Verstecken sieht und hört er alles, und von dort übt er auch seine Macht aus. Aber ich bin sicher, daß auch fremde Ohren und Augen alle Vorgänge in der Orakelstätte sehen und hören. Das Böse hat sich hier eingeschlichen und übt einen immer stärker werdenden Einfluß aus. Darum habe ich alles versucht, dich am Besuch des Orakels zu hindern.« »Du hättest mit mir offen über deine Beweggründe sprechen sollen«, sagte Mythor, »anstatt mich hinterlistig zu vertreiben zu versuchen.« »Jetzt kennst du die Wahrheit – warum machst du nicht einfach kehrt?« »Ich glaube dir nicht mehr, Gorel«, sagte Mythor. »Du willst mich bange machen, weil du aus irgendeinem Grund verhindern willst, daß ich die Wahrheit erfahre.« »Ich würde es noch immer tun, notfalls auch mit Gewalt«, sagte Gorel. »Aber ich habe meinen Eid geleistet und bin dadurch verpflichtet, mich an die Ordnung zu halten. Obwohl ich weiß, daß das Böse um uns ist und das Orakel unter seinem Einfluß leidet. Hoffentlich erkennst du das selbst noch rechtzeitig und wirst von deinem Fragerecht keinen Gebrauch machen.« »Dann laß mir wenigstens diese Freiheit«, sagte Mythor verärgert. »Versuche nicht mehr, mich zu beeinflussen. Ich kann sehr gut selbst entscheiden.« »Ich habe getan, was ich konnte«, sagte Gorel niedergeschla183
gen. Mythor stieß in der Dunkelheit gegen ein Gespinst und glaubte, sich in einem Spinnennetz verfangen zu haben. Er versuchte, die klebrigen Fäden zu umgehen, stieß dabei aber gegen eine Wand. »Nur dieser Weg führt zur Orakelstätte«, sagte Gorel, wie um ihm dem Mut am Weitergehen zu nehmen. Aber Mythor straffte sich und schritt weiter. Der Vorhang aus klebrigen Fäden wurde dichter. Doch nachdem sich daran gewöhnt hatte, verursachte ihm die Berührung kein Unbehagen mehr. Von der anderen Seite drangen Lichter durch den Vorhang und spiegelten sich in den Fäden, die sich mit jedem Schritt, den Mythor tat, wieder lichteten. Und dann hatte auch dieses letzte Hindernis überwunden und erreichte die Orakelstätte. Der sich ihm bietende Anblick ließ ihm den Atem stocken. Er glaubte, durch die im Sinnesrausch erlebten Trugbilder vorbereitet zu sein. Doch die Wirklichkeit sah ganz anders aus. Das Orakel war kein zuckender Fleischberg, aus dem sich Köpfe auf schlangengleichen Hälsen reckten. Das Orakel war kein so furchteinflößendes Ungeheuer, es war überhaupt kein einzelnes Wesen. Es hatte, wenn man es wertfrei betrachtete, überhaupt nichts Göttliches, nichts Erhabenes an sich. Es war nicht fremdartig oder sonderlich ungewöhnlich, und sein Anblick beeindruckte nicht. Mythor sah in einer Nische zwölf solche haarlose Gnomen, wie ihn einer in Gorels Begleitung in seiner Kammer heimgesucht hatte. Damals hatte Mythor Entsetzen und Abscheu verspürt. Doch hier, an der Orakelstätte, waren ihm solche Gefühle fremd. Die zwölf Gnomen krabbelten wie Neugeborene umher. Dazwischen tauchten gelegentlich Orakeldiener auf, die sich fürsorglich um sie bemühten. Sie säugten sie aus Darmschläu184
chen, oder wuschen und salbten sie. Wenn ein Gnom zu nahe an den Rand des Podests geriet und hinunterzufallen drohte, wurde er von einem Orakeldiener zurückgeholt. Es kam auch vor, daß zwei oder mehrere der Gnomen sich mit Armen und Beinen verstrickten oder einfach miteinander balgten. Auch dann war sofort ein Orakeldiener zur Stelle und löste sie voneinander. Mythor konnte es nicht fassen. Diese zwölf hilflosen und unfertigen Geschöpfe sollten das Orakel von Theran sein, das im weiteren Sinne die Geschicke der Lichtwelt lenkte? Sie boten ein so rührendes Bild, daß Mythor sich nicht vorstellen konnte, warum er vor einem dieser Gnomen Ekel und Furcht empfunden hatte. Warum hatte ihm Gorel in dem Traum dann das Bild eines zuckenden Fleischbergs mit Schlangenhälsen vorgegaukelt? Offenbar nur, um ihn abzuschrecken. Jetzt entdeckte Mythor, daß sich zwischen den Gnomen auch kleine, buckelige Pelztiere mit mehreren Beinpaaren tummelten. Er erinnerte sich an das Standbild eines solchen Tieres an der Straße der Elemente. Maluk hatte es einen Siebenläufer genannt und als Glücksbringer bezeichnet. Offenbar waren diese Tiere auch Spielgefährten für die Orakel-Gnomen. Oder kam ihnen noch eine zusätzliche Bedeutung zu? Mythor riß sich von dem Bild los und blickte sich um. Die Orakelstätte war eine weiträumige runde Halle, die vom Leuchten unzähliger Skaraben erhellt wurde. Hoch oben wurde der Raum von einer gewölbten Decke abgeschlossen. Entlang den Wänden führten gemauerte Rundgänge. Darin gab es Gucklöcher. Mythor hatte das unbestimmte Gefühl, von dort beobachtet zu werden. Gorel, der seinen prüfenden Blick bemerkte, raunte ihm zu: »Dort oben verbirgt sich Lassat. Und ich weiß, daß das Böse bei ihm ist. Die Trolle spürten es, und sie sind darob 185
ganz verwirrt. Die Ausstrahlung des Bösen verursacht ihnen geradezu Schmerzen. Deine Fragen, Mythor, werden den Trollen noch mehr weh tun. Denn sie werden dir antworten müssen, obwohl sie wissen, daß das Böse mithört.« »Du willst mich nur schrecken, Gorel«, sagte Mythor überzeugt. »Sage mir lieber, was ich zu tun habe, um das Orakel zu befragen.« »Tritt näher, bis du die Aufmerksamkeit der Trolle auf dich gelenkt hast«, sagte Gorel. »Und dann frage, wenn du sie quälen und dich und die Welt ins Unglück stürzen willst.« Mythor ballte die Hände vor Wut. Er hatte endgültig genug von dem Geschwätz des greisen Orakeldieners. Er setzte sich in Bewegung und näherte sich langsam dem Podest, auf dem die kindlichen Trolle tollten. Als Mythor nur noch etwa sieben Schritte von ihnen entfernt war, hielten sie in ihrem Spiel inne. Die Trolle hörten auf, miteinander zu balgen, und hoben ihre haarlosen Köpfe. Sie starrten aus blicklosen Augen in Mythors Richtung, wie witternde Tiere, die einen fremden Geruch auffingen. Sie sind blind! erkannte Mythor. Blinde Trolle mit seherischen Fähigkeiten! Mythor tat noch einen Schritt. Da begann einer der Trolle mit wimmernder Stimme zu wehklagen. Mythor ging weiter. Beim nächsten Schritt, den er machte, krümmte sich ein Troll plötzlich zusammen, ein anderer hielt sich den Kopf. Mythor blieb stehen und sah zu, wie die Trolle sich schutzsuchend zusammendrängten. Die Siebenläufer zogen sich rasch zurück und verschwanden in irgendwelchen Löchern. Die Orakeldiener rückten ebenfalls ab und nahmen entlang der Nischenwand Aufstellung. Nun stimmten weitere Trolle in das leise Wehklagen ein. Sie rückten noch enger zusammen, drängten ihre haarlosen Kör186
per fester aneinander und umschlangen einander mit den Armen. Sie bildeten jetzt ein dichtes, schier unentwirrbares Knäuel. Aber seltsam – Mythor konnte trotzdem alle Gesichter sehen. Sie hatten sie ihm zugewandt, ihre toten Augen waren auf ihn gerichtet, doch schienen ihn die starren Blicke zu durchdringen. Und jetzt – als er noch einen Schritt näher kam – merkte er, daß diese Gesichter uralt wirkten. Die zerknitterte Haut war aschfahl, ja, wie die Asche versengten Pergaments! Mythors Mund war wie versiegelt. Er war beklommen, ein Zittern durchlief seinen Körper. Du mußt deine Fragen stellen! sagte er sich. Ein Schrei, schrill und durchdringend, gellte auf. Und dann fielen weitere Trolle darin ein. Ihr Kreischen hallte schaurig von den Wänden wider. Endlich ebbten die schmerzlichen Klagelaute wieder ab und gingen in ein Wimmern über. Wehklagten die Trolle, weil sie vor den drohenden Schatten Angst hatten, die Mythor auf sie warf? Oder klagten sie, weil das Wissen sie drückte und sie endlich von dieser Last befreit werden wollten? Mythor schwankte zwischen Erbarmen und Wißbegierde. Es muß sein! sagte er sich. Er wußte nur nicht, wie er die in ihm nagenden Fragen stellen und ob er sich an ein bestimmtes Zeremoniell halten sollte. Und niemand war bei ihm, der ihm sagte, wie er sich zu verhalten habe. Er konnte den Anblick der zwölf gequälten Kreaturen nicht mehr ertragen. Es mußte ihnen Erleichterung ver- schaffen. Er mußte seine Fragen stellen. »Ich bin Mythor«, sagte er mit rauher Stimme, »und ein Mann ohne Vergangenheit. Ich verlange Auskunft darüber, wer ich bin und woher ich stamme.« Kaum hatte er ausgesprochen, da erhoben die Trolle ihre hellen Stimmen zu einem vogelartigen Zwitschern, das zuerst unverständlich war. Dann aber merkte Mythor, daß sich im187
mer deutlicher Worte herausbildeten. »Stein… ein Stein! Ein Stein fiel… er fiel herab…«, erklang es durch das Gezwitscher. Dazwischen waren immer wieder schrille Schreie zu hören. Mythor lauschte gebannt. »Es fiel vom Weltendach ein Stein herab auf diese Welt!« riefen die zwölf Orakel-Trolle jetzt ganz deutlich im Chor. Ein Stein, der vom Himmel fiel, damit konnte nur ein Meteor gemeint sein, durchfuhr es Mythor. Was hatte es mit diesem Meteorstein auf sich? Die Orakel-Trolle verfielen wieder in unverständliches Geplapper. Ihre Körper wogten durcheinander, und einer versuchte sich am anderen festzuhalten. »Es fiel ein Stein vom Himmel…«, gaben sie dann wieder im Chor von sich. Sie verstummten unwillkürlich, und ein einzelner Troll rief: »Der teilte sich in zwei…« Diesem Ausruf folgte Stille, und dann riefen einige Trolle zusammen: »… der teilte sich in Licht und Schatten.« Es folgte ein vielkehliger Aufschrei, und dann riefen mehrere Trolle wie unter höchsten Qualen: »Doch hüte dich vor Stein!« Mythor krampfte es das Herz zusammen, als er sah, wie die Trolle daraufhin wie unter unsichtbaren Schlägen zu zucken begannen. Aber er konnte jetzt nicht aufhören zu fragen, konnte sich mit diesen unbestimmten Andeutungen nicht zufriedengeben. Er wollte klarere Antworten haben. »Hüte dich vor Stein!« schrie ein Troll gellend und brach danach wie erschöpft zusammen. Mythor öffnete entschlossen sein Wams und hielt den blinden Gnomen Fronjas Abbild hin. »Seht her, das ist Fronja. Wer ist sie? Was ist sie mir?« In die Orakel-Trolle kam wieder Bewegung, und vereinzelt ließen sie spitze Schreie hören. Mythor beeindruckte das nun 188
nicht mehr so wie anfangs; er glaubte, daß dies ein völlig normales Verhalten sei, das die Trolle immer zeigten, wenn man sie befragte. Er wartete, bis ihre Erregung abflaute und sie sich wieder verständlicher äußerten. »Das Licht…!« rief ein Troll, und zwei andere fügten an: »Das Licht ward geboren…!« Andere schrien dazwischen: »Das Licht ward…« Und dann riefen sie alle: »Das Licht ward geboren in…« Ihre Stimmen verloren sich wieder in unverständlichen Lauten. »In wem ward das Licht geboren?« rief Mythor ungehalten. »In Fronja? Sagt es!« Den Kehlen einiger Gnomen entrangen sich schrille Klagelaute, andere wimmerten, krümmten ihre Körper wie unter Schmerzen. »So sprecht endlich!« rief Mythor, dem der Anblick dieser leidenden Kreaturen allmählich zuviel wurde. »Das Licht ward geboren in…«, gaben die Trolle wieder von sich. Und eine andere Gruppe rief: »Das Weib… das Weib, das bedrängt wird von Schatten…« Die Worte gingen wiederum in Wimmern und Wehklagen über. »Meint ihr Fronja?« rief Mythor verzweifelt. Er war so durcheinander, daß er nicht mehr wußte, wo ihm der Kopf stand. Er vergaß alle wichtigen Fragen, die in seinem Geist brannten, und bald vermochte er sich im Chaos seiner Gedanken selbst nicht mehr zurechtzufinden. Der Aufruhr der Orakel-Trolle griff auf ihn über. »Hüte dich vor dem Stein!« schrien die Gnomen. »Der Stein, der vom Himmel fiel…« Wieder gingen die Worte im Schreien unter. »Hüte dich davor!« gellte es. Und: »Hüte dich vor Stein!« Diese Warnung kam so eindringlich, daß Mythor davor förmlich erschauerte. Aber er wußte mit dieser Warnung 189
nichts anzufangen. Mythor sah entsetzt, wie die Trolle auf einmal mit zuckenden Gliedern übereinander herfielen. Aus dem Hintergrund schoben sich die Orakeldiener heran und versuchten, ihre sich wie rasend gebärdenden Schützlinge zu trennen. Die Siebenläufer tauchten aus ihren Löchern auf und fuhren quietschend in die Reihen der Gnomen. Unmenschliche, schrille Schreie gellten durch die Halle. Einige der Gnomen hatten sich getrennt und krochen blind davon. Die Orakeldiener hatten alle Hände voll damit zu tun, sie zurückzubringen. Aber die Trolle brachen immer wieder aus. Mythor sah, wie einer von ihnen einen Siebenläufer zwischen den Händen hielt und ihn würgte. »Sagt mir«, rief Mythor verzweifelt, »bin ich der Sohn des Kometen?« Aber er erhielt als Antwort nur einen vielkehligen Schrei der Qual. »Gib auf, Mythor!« verlangte Gorel, der plötzlich vor ihm erschien. »Siehst du denn nicht, was du angerichtet hast? Die Trolle fühlen die Nähe des Bösen, das mithört. Die Trolle zerbrechen daran. Sie müssen dir Antwort geben, wissen aber gleichzeitig, daß sie das Geheimnis damit auch an die Dunklen Mächte verraten.« »Mythor!« hallte da eine hohle Stimme von einem Rundgang herab. »Du hast das Recht, die Wahrheit über dich zu erfahren. Mache davon Gebrauch!« »Das ist Lassat!« stellte Gorel fest und blickte nach oben. Mythor folgte der Richtung seiner Augen und entdeckte auf dem untersten Rundgang gegenüber der Orakelnische einen der Diener in seiner Kutte. Aber er hatte ein maskenhaftes und gläsernes Gesicht! »Lassat ist von einem Dämon besessen«, stellte Mythor entsetzt fest. Nun wurde ihm klar, daß sich die schlimmsten Be190
fürchtungen bewahrheitet hatten. Die Dämonenpriester der Caer hatten nach dem Orakel von Theran gegriffen und hielten es im Würgegriff der Dunklen Mächte. Während Lassat noch auf dem Rundgang stand, wurde sein Körper auf einmal von einem Zittern erfaßt. Sein Gesicht wurde spröde, zersprang förmlich wie Glas unter einem Hammerschlag. Und während es barst, lösten sich die Splitter gleichzeitig in Staub auf. Lassats Körper schrumpfte, die leere Kutte fiel in sich zusammen. Mythor beobachtete den Vorgang mit schreckensweiten Augen. »Ist das das Ende des Orakels?« fragte er. »Vielleicht können wir das Schlimmste abwenden«, sagte Gorel. »Aber du mußt nun endlich fliehen.« Der Orakeldiener zog ihn am Arm zu dem Podest, wo die Beschützer der Trolle immer noch verzweifelt darum bemüht waren, der Lage Herr zu werden. In diesem Moment war Mythor bereit, auf alles zu verzichten und diesen Ort zu verlassen. Doch da rief eine vertraute Frauenstimme seinen Namen. Die drei dunklen Gestalten beobachteten die Vorgänge in der Orakelhalle durch die Löcher in den Wänden. Ihre wie aus Glas gegossenen Gesichter waren dabei ausdruckslos. Nyala von Elvinon, die im Hintergrund stand, sah nur ihre Rücken. Einer davon gehörte ihrem Vater, der einst Herzog Krude von Elvinon gewesen war. Jetzt war er ein Werkzeug der Dämonen. Der Mann neben ihm war Coerl O’Marn, der Ritter, dessen zurückhaltende Verehrung ihre Liebe zu ihm geweckt hatte. Mit beiden verbanden sie noch immer menschliche Bande und Gefühle, die das Böse nicht abzutöten vermochte, obgleich sie sich in Drudins Gewalt befanden. Nyala durfte noch immer hoffen, daß Drudin ihr beide Männer zurückgeben würde. Den Preis dafür kannte sie, er war 191
hoch. Der Preis war Mythor. Das Schreien aus der Orakelhalle wurde immer unerträglicher. Schließlich drehte sich der dritte Mann um. Es war Oburus, der Hüne mit der wie gerußten Haut, der Anführer von Drudins Todesreitern. Er wandte sich dem Orakeldiener Lassat zu, der sich längst in seiner Gewalt befand, und trug ihm auf: »Bringe Mythor dazu, dem Orakel das Wissen über sich zu entreißen. Versagst du, dann…« Oburus brauchte die Drohung nicht auszusprechen. Er hätte sie sich überhaupt ersparen können, denn Lassat war so und so verloren. Der Orakeldiener trat auf den Rundgang hinaus und kam nicht wieder zurück. Jetzt wandte sich Oburus ihr zu. Als sein gläsernes Gesicht sich ihr näherte, wurde ihr bang zumute. »Lassat hat versagt, nun ist die Reihe an dir, Nyala«, sagte Oburus, aus dessen Mund Drudin sprach. »Du hast Mythors Vertrauen zurückgewonnen. Jetzt mache Gebrauch davon. Geh zu ihm und gib ihm den Dämonenkuß. Wenn du ihn bezwingst, dann sind Krude und O’Marn frei.« Ohne eine Antwort zu geben, entfernte sich Nyala und ging in die Orakelhalle hinunter.
»Nyala!« rief Mythor, als er die Frau in der Schlangenhaut auf sich zukommen sah. Er wurde sich bewußt, daß er Herzog Krudes Tochter in dem allgemeinen Chaos völlig vergessen hatte. Und wo war Luxon? Mythor riß sich von Gorel los und eilte Nyala entgegen. Doch als er nur noch drei Schritte von ihr entfernt war, zögerte er. Ihr schönes Gesicht war seltsam gezeichnet, es lag ein Ausdruck darin, den er nicht deuten konnte. »Was ist mit dir?« fragte er. 192
»Du hast mich vergessen, Mythor«, sagte Nyala und blieb ebenfalls stehen. »Dabei habe ich dich so sehr gebeten, mich an deiner Seite sein zu lassen, wenn du vor das Orakel hintrittst.« »Weißt du denn eigentlich, was um uns vorgeht?« fragte er. »Besser als du«, antwortete Nyala. Sie lächelte auf einmal und kam wieder auf ihn zu. Als sie ihn erreicht hatte, legte sie ihm die Hände auf die Schultern. Mythor stellte fest, daß ihr Gesicht nicht mehr verkrampft war. Sie wirkte gelöst, so als habe sie ihren inneren Frieden gefunden. »Ich hatte einen harten Kampf mit mir auszufechten«, sagte sie, und ihre Lippen waren ihm dabei ganz nahe und kamen näher. Dabei fuhr sie fort: »Ich brauche den Wahrspruch des Orakels nicht, ich weiß auch so, wer du bist. Du bist der Sohn des Kometen, Mythor. Es ist sogar besser für dich, daß das Orakel nicht gesprochen hat.« »Wie… meinst du das?« wollte Mythor zögernd wissen. Ihre Lippen waren nun schon so nahe, daß sie die seinen fast berührten. Es war Wahnsinn! Um ihn brach die Ordnung des Orakels zusammen, drängten die Dunklen Mächte nach und trieben die Orakel-Trolle in geistige Umnachtung – und er ließ sich von dieser Frau betören. »Rühre dich nicht vom Fleck, Mythor«, sagte Nyala flüsternd und betrachtete ihn mit tränenfeuchten Augen, die über sein Gesicht irrten, als wolle sie noch einmal jede Einzelheit darin auskosten. Sie fuhr fort: »Behalte deinen Gesichtsausdruck bei, auch wenn es dich noch so entsetzt, was ich dir nun sage. Ich möchte dich so in Erinnerung haben, wie du jetzt bist. Du hast mir erzählt, daß du meinen Vater in Begleitung dreier schwarzer Reiter gesehen hast. Zwei von ihnen sind Coerl O’Marn und ein Hüne namens Oburus. Dieser ist der Anführer von Drudins Todesreitern, die den Auftrag haben, dich zur Strecke zu bringen. Der vierte bin ich.« 193
Mythor wollte im ersten Moment erschrocken zurückweichen, doch er hielt an sich. Nyalas Gesicht bot einen so lieblichen Anblick, während sie diese schrecklichen Worte sagte, daß er seinen Ohren nicht traute. »Oburus hat mich geschickt, dir den Dämonenkuß zu geben«, sagte Nyala. »Aber ich kann es nicht, ich kann dich nicht verraten. Denn nichts, was Dämonen mir bieten könnten, wäre diesen Verrat wert.« Der Ausdruck ihres Gesichts wandelte sich plötzlich, es spiegelten sich Angst und Verzweiflung darin. Sie stieß Mythor von sich und schrie: »Flieh, lauf um dein Leben, Sohn des Kometen!« Mythor taumelte zurück. Er faßte sich und wollte zu Nyala zurückeilen. Doch da bannte ihn das Entsetzen auf seinen Platz. Nyalas letzte Worte hallten deutlich durch die Orakelhalle. Zweifellos waren sie auch von den Todesreitern gehört worden, die im Bann Drudins standen. Und Drudin nahm furchtbare Rache für Nyalas Verrat. Ein markerschütternder Schrei. Nyalas Körper krümmte sich, als sich die Schlangenhaut um ihren Körper zusammenzog und sich immer enger um sie schloß. Ihr Gesicht verfiel, wurde alt und runzlig. Ihr schwarzes, volles Haar kräuselte sich und bleichte aus. Das Fleisch ihres Körpers verdorrte. Und dann blickte Mythor in einen Totenschädel ohne Lippen, mit leeren Augenhöhlen. »Du kannst ihr nicht mehr helfen, Mythor«, drang Gorels Stimme zu ihm. »So rette wenigstens dich!« Mythor ließ sich von dem Orakeldiener fortführen. Er wußte, daß Nyalas schrecklicher Anblick ihn noch lange verfolgen würde. Mythor stolperte durch die Reihen der aufgescheuchten Orakel-Trolle. Er sah, wie Gorel ein halbes Dutzend von ihnen 194
auseinandertrieb und etwas aufhob, an dem sie sich zu schaffen machten. Es war ein Leder, das Mythor in der Form an eine Pyramide oder an die Umrisse eines Nadelbaums erinnerte – von ähnlichem Aussehen war auch der Baum des Lebens gewesen. Gorel nahm diese Tierhaut an sich und verschwand mit Mythor durch einen Ausgang in der Nische. Andere Orakeldiener schoben eine Steinplatte vor die Öffnung. »Du wirst auf einem Weg aus dem Orakel geführt, auf dem du vor Verfolgung sicher bist«, sagte ihm Gorel. »Du bekommst deine Tiere und deine Ausrüstung wohlbehalten und unversehrt. Mehr kann ich jedoch nicht mehr für dich tun. Wenn du willst, kannst du einige Tage bei uns bleiben. Hier bist du sicher.« Die Todesreiter Drudins, die nach Nyalas Opfergang nur noch zu dritt waren, würden seine Fährte bestimmt wiederaufnehmen. Und dann war da noch der Vogelreiter Hrobon, der ihm Rache geschworen hatte. Mythor wollte sich dennoch nicht verkriechen. »Danke, ich muß weiter«, sagte er zu Gorel. »Ich muß dir auch noch Abbitte dafür leisten, daß ich dir mißtraut habe. Aber warum hast du mir nicht vom ersten Augenblick an reinen Wein eingeschenkt?« »Eine Gefahr zu ahnen und sie zu kennen, das ist zweierlei«, erwiderte Gorel. »Und nicht jeder ist ein solcher Mundschenk wie du, dessen Redefluß die Ehrlichkeit des Denkens ausdrückt. Wahrheitsliebe ist eine Tugend, sie kann aber auch zu einer Schwäche werden. Doch geh deinen Weg weiter, Mythor! Um ihn dir zu erleichtern, will ich dir dies mitgeben.« Gorel überreichte ihm das Leder, an dem sich die OrakelTrolle zu schaffen gemacht hatten. »Was stellt es dar?« fragte Mythor. »Es ist die Haut eines Siebenläufers, und das Orakel hat dar195
auf eine Mitteilung geschrieben«, antwortete Gorel. »Du mußt sie selbst entziffern.« »Wird das Orakel wieder zu sich selbst finden?« fragte Mythor. »Wer kann das schon sagen«, meinte Gorel ungewiß. »Aber man darf die Hoffnung nie aufgeben.« Der unterirdische Gang endete an einer Treppe. Dort wurden sie von zwei jüngeren Orakeldienern erwartet. »Diese Brüder werden dir deinen Besitz zurückgeben und dich bis an die Grenze der Oase begleiten«, sagte Gorel. »Weißt du schon, wohin du dich nun wenden wirst?« »Ich habe bei Abmond eine Verabredung beim Koloß von Tillorn«, antwortete Mythor. »Aber ich fürchte, daß ich sie nicht werde einhalten können. Da mir das Orakel nicht die gewünschte Auskunft geben konnte, muß ich sehen, ob ich sie mir andernorts beschaffen kann.« »Ich kann dir mit solchen Auskünften leider nicht dienen«, sagte Gorel bedauernd. Das war der Abschied. Mythor folgte den beiden Orakeldienern nach oben. Er ließ sich seine Ausrüstung geben, sattelte Pandor und ritt los, mit dem Bitterwolf und dem Schneefalken im Gefolge. Luxon fiel ihm ein. Er konnte ihm trotz allem nicht böse sein. Er konnte sich um das Schicksal des Sarphanders auch nicht sorgen, denn selbst wenn die Todesreiter Drudins ihn als Köder für ihn verwendet hatten, so besaßen sie nun keinen Einfluß mehr auf ihn. Luxon war kein Sklave dämonischer Mächte gewesen. Die Frage, wer von ihnen beiden das Recht hatte, sich als Sohn des Kometen zu bezeichnen, harrte noch der Beantwortung.
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Etwas Etwas war voll Kraft und Tatendrang, aber es war ihm nicht gegönnt, sich zu entfalten. Etwas benötigte dringend einen Körper. Ah, es hatte einen solchen längst auserwählt und es zu seiner Bestimmung gemacht, sich in dessen Besitz zu bringen. Schon zweimal war es ganz nahe seinem Ziel gewesen, doch war es knapp an seiner Verwirklichung gescheitert. Doch Etwas gab nicht auf. Es machte sich an die Verfolgung seines Opfers und nutzte alle seine Möglichkeiten aus, um auf seiner Fährte zu bleiben. Etwas hatte viele Möglichkeiten, sich in dem anderen Reich zurechtzufinden, wie fremd es ihm auch sein mochte. Etwas hatte bald gelernt, die verschlungenen Zeichen und Omen zu deuten, Räume und Orte voneinander zu unterscheiden und die Entfernungen, die sie voneinander trennten, zu überbrücken. Und Etwas lernte weiter und begann, das Fremde immer besser zu verstehen, seine seltsame Ordnung und die Gesetze, denen es unterworfen war, für sich selbst nutzbar zu machen. Etwas fand heraus, daß es sich viel von dem nutzbar machen konnte, was das Lebendige abwarf, so da waren Schatten, Spiegelbilder… Etwas war in diesem anderen Reich selbst nicht mehr als ein Schatten. Es gierte nach einem Körper, nach jenem einen, dem einzigen Körper. Etwas jagte ihm weiterhin nach.
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Hubert Haensel
STEIN DER DÄMONEN Die Landschaft, in die er langsam hinabglitt, schien einem Alptraum zu entstammen, Tarmino ahnte, daß tief unter ihm das Verderben lauerte. Alles war fremd und verwirrend. Die bizarren Formen schienen tödliche Gefahren zu bergen und waren doch von einer gleichermaßen düsteren Schönheit, daß jeder der langgezogenen Schatten auf unheimliche Weise lebendig wirkte. Der Krieger aus Arlond, einer der westlichsten Grafschaften Ugaliens, der die Schrecken der Schlacht im Hochmoor von Dhuannin überstanden hatte, ohne an Leib oder Seele Schaden zu nehmen, der viele Caer besiegt hatte, aber auch seine Kampfgefährten unzählige Tode hatte sterben sehen, begann zu zittern. Ein Hauch des Bösen streifte ihn. Die Finger seiner Rechten, mit der er krampfhaft das schartige Schwert umklammert hielt, wurden klamm. Eine eisige Kälte fraß sich durch seine Fellkleidung hindurch und ließ ihn frösteln. Von irgendwoher erklangen schaurig schrille Töne. Verzweifelt suchte Tarmino nach einem Halt, aber sein eigenes Gewicht zog ihn unbarmherzig weiter, tiefer in die Schlucht hinein, deren unwirkliches Rot in seinen Augen schmerzte. Es gab kein Erbarmen. Das Seil, das sie um seinen Leib geschlungen hatten, spulte sich immer schneller ab. Die Felsen sahen aus wie ein Meer versteinerter Pflanzen. Winzige Kristalle, vom Wind aufgewirbelt, stachen schmerzhaft in die Haut des Kriegers. 198
Gleichzeitig wurde der unwirkliche Klang lauter. Dämonen schienen durch die Schluchten und Abgründe zu streifen – auf der Suche nach wehrlosen Opfern. »Aqvitre, hilf!« Der Wind riß Tarmino die Worte von den Lippen und trug sie mit sich fort. Wie tief mochte er inzwischen sein? Zwanzig Mannslängen, vielleicht gar dreißig? Wenn er den Kopf weit in den Nacken legte, konnte er über sich den wolkenüberzogenen Himmel erkennen. Die Sonne stand hoch, und ihre Strahlen blendeten ihn. Dennoch war er sicher, daß die Salamiter unentwegt zu ihm herabstarrten und jede seiner Bewegungen verfolgten. Allmählich begann Tarmino zu bedauern, daß er nicht auf dem Schlachtfeld geblieben war. Wieviel leichter mochte es sein, durch die Klinge eines Caer schnell zu sterben, als Auge in Auge mit dem Unheimlichen, dem Unbegreifbaren, einen inneren Kampf auszufechten, dessen Ausgang von vornherein unumstößlich feststand! Beinahe schlagartig brach das dämonische Heulen ab. Auch die Kraft des Windes erlahmte. Die folgende Stille war erfüllt von den Schrecken menschlicher Vorstellungskraft. Da entpuppten sich faustgroße Steine als lauernde Bestien, wurden schlanke Felsnadeln zu peitschenden Schlangenleibern. Mit einem harten Ruck kam das Seil zum Stillstand. Es hatte sich an einem Vorsprung verfangen. Hilflos pendelte Tarmino zwischen Himmel und Hölle, ausgeliefert einem unbeschreiblichen Etwas, das er kommen fühlte, das von allen Seiten her auf ihn eindrang – gefährlich, lauernd und von unersättlicher Gier; schlimmer noch als die Begegnung mit einem Moortoten oder der Anblick der Krieger, die ihr Ende in den Ästen einer Runengabel gefunden hatten. In jäh aufwallendem Entsetzen schwang der Ugalier sein Schwert. Als die Klinge auf Widerstand stieß, drosch er wie besessen darauf ein. Steine splitterten und verschwanden pol199
ternd in der Tiefe. Ein Ächzen schien durch den Berg zu gehen, ein Aufbäumen. Aber es war nicht der Fels, der sich bewegte. Tarmino fiel, und noch während der Boden rasend schnell näher kam, erkannte er, daß das Seil sich durch seine heftigen Bewegungen wieder gelöst hatte. Der Aufprall fiel weit weniger hart aus als erwartet, wohl weil Staub und weiches Moos den Fall dämpften. Eine Wolke glitzernder Kristalle hüllte den Krieger ein. Ihr Zauber ließ ihn für wenige Augenblicke vergessen, doch war er dann schnell auf den Beinen, und das Schwert in seiner Hand lag ruhig wie schon lange nicht mehr. Nur wenige Sonnenstrahlen drangen bis hierher vor, wo ein trüber, rötlicher Dämmer beherrschend war. Etliche Schritte von ihm entfernt gewahrte der Ugalier mächtige Halme, von denen er wohl kaum zwei zugleich umfassen konnte. Ohne erkennbaren Übergang wuchsen sie aus dem harten Boden heraus und verzweigten sich etwa in Mannshöhe zu Dutzenden von Blüten, deren Blätter wie Flammen züngelten. Tarmino tastete nach dem großen ledernen Beutel, den die Salamiter ihm gegeben hatten, um eben diese Blüten einzusammeln. Ein Gefühl drohender Gefahr beschlich ihn, und rasch führte er den ersten Hieb gegen die Pflanzen. Die Klinge schnitt in einen der Halme, vermochte ihn aber nicht einmal zur Hälfte zu durchtrennen. Ein zweites Mal ließ der Ugalier sein Schwert niedersausen. Ein schriller, kaum hörbarer Ton zerriß die Luft. Zuerst verspürte Tarmino nur ein kaum merkliches Zittern unter seinen Füßen, dann brachen vereinzelt Steine aus der Steilwand und polterten zu Boden. Das Seil, an dem er hing, zog sich plötzlich enger. Er taumelte, mußte mühsam um sein Gleichgewicht kämpfen, schaffte es schließlich doch, auf den Beinen zu bleiben, und erstarrte. Vier tastende Fühler schoben sich auf ihn zu – jeder so lang 200
wie sein ausgestreckter Arm. Eine riesenhafte, mindestens fünf Schritt messende Schnecke. Und mehr als mannshoch das gewundene Haus, das sie trug. Wieder ertönte dieses schrille Geräusch, das Tarmino Schauder über den Rücken jagte. Es kam aus einem Rachen, der übersät war mit winzigen spitzen Zähnen. Für die Dauer eines bangen Herzschlags war der Krieger unfähig, sich zu bewegen. Aus irgendeinem Grund mußte er gerade jetzt daran denken, daß er auf seinem Weg nach Süden während der letzten Tage Hunderte solcher schleimigen Geschöpfe verspeist hatte, um überleben zu können. Keines von ihnen war aber länger gewesen als ein Finger. Tarmino warf sich herum. Das Seil zog sich noch enger und preßte ihm die Luft aus den Lungen. Er wollte schreien, wollte den Salamitern auf der Brücke zurufen, sie sollten nachlassen oder ihn zurückziehen, doch kein Laut kam über seine Lippen. Und dann sah er, daß sich hoch über ihm der Fels bewegte. Steine, die deutlich pflanzliche Strukturen erkennen ließen, hatten das Seil umschlossen. Eine schleimige Spur hinter sich herziehend, kam die Riesenschnecke näher. Tarmino war gezwungen zu kämpfen. Doch sein Hieb, mit ungestümer Wucht geführt, ging ins Leere und riß ihn fast von den Beinen. Mit einer unwahrscheinlich schnellen Bewegung hatte das Tier seine Fühler eingezogen. Aber schon schnellten diese wieder vor und trafen den Krieger mit der Härte eines Morgensterns. Den nächsten Angriff ahnte er mehr, als er ihn wirklich kommen sah. Sein Schwert bohrte sich in zuckendes, weiches Fleisch. Schon wollte Tarmino die Klinge erneut hochreißen und das Seil durchtrennen, um sich ungehindert bewegen zu können, da klatschte es, völlig zerfasert, trieben ihm auf den Fels. Gleichzeitig vermeinte er ein höhnisches Gelächter zu 201
hören, indes mochte es nur der Wind sein, der in diesem Moment wieder durch die Schlucht strich. Zur Rechten des Kriegers ragte die Steilwand in die Höhe, hinter ihm wuchsen die Pflanzen, die, wie er von den Salamitern erfahren hatte, keineswegs ungefährlich waren. Nur auf der anderen Seite schien der Boden zwanzig oder gar dreißig Schritt weit lediglich von Geröll bedeckt zu sein. Tarmino wich den abermals zustoßenden Fühlern geschickt aus, bückte sich nach einem scharfkantigen Stein und schleuderte ihn dem Angreifer entgegen, ohne jedoch irgend etwas zu erreichen. Die Schnecke folgte ihm mit schnellen Bewegungen, und die Geräusche, die sie dabei erzeugte, gingen durch Mark und Bein. Wieder schwang der Krieger sein Schwert. Ein Schwall klebrigen Blutes traf ihn und durchnäßte seine Kleidung. Er achtete darauf ebensowenig wie auf den Schrei des Tieres, der in vielfachem Echo durch die Schlucht hallte. Es war wie ein Rausch, der über ihn kam. In diesem Augenblick hätte Tarmino es wohl auch mit einem Caer-Priester aufgenommen. Selbst wenn er es sich nicht eingestand, die Schrecken des Erlebten, die Furcht davor, daß alles sich wiederholen könnte, hatten sich tief in seine Seele eingebrannt. Nur das Singen des Schwertes, wenn dieses durch die Luft schnitt, ließ ihn vergessen. Wie ein Besessener drosch er auf die riesige Schnecke ein, aber obwohl er einen zweiten Fühler abschlug, vermochte die stumpfe Klinge nicht mehr zu töten. Tarmino verspürte plötzlich Haß auf alles, was sich bewegte. Wieder ertönten gespenstische Laute. Das Echo klang jetzt näher. Kaum fingerdicke Ranken, die aus Felsritzen hervorwucherten, peitschten über den Boden. Sie griffen nach den Beinen des Ugaliers und schnellten sich wie Schlangen in die 202
Höhe. Schritt für Schritt mußte Tarmino zurückweichen. Allmählich machte sich ein Brennen bemerkbar, als würden glühende Messer in sein Fleisch gestoßen. Es war am schlimmsten, wo das Blut des Tieres seine Kleidung verkrustete. Während er unablässig die zuckenden Ranken abwehrte, riß Tarmino sich die Felle vom Leib. Er erschrak, als er die winzigen schwarzen Bläschen sah, die seine Haut überzogen und eine eitrige Flüssigkeit absonderten. Die Kälte um ihn her brachte nur für kurze Zeit ein wenig Linderung. Ein Stöhnen entrang sich Tarminos Lippen. War es nicht besser, wenn er das Schwert gegen sich selbst richtete? Denn seine Ahnungen hatten ihn nicht getrogen. Er würde sterben! Das wußte er mit um so größerer Sicherheit, je tiefer sich das Blut der Schnecke in sein Fleisch einbrannte. Die Schmerzen wurden immer unerträglicher. Sie ließen den Ugalier Dinge sehen, von denen er wußte, daß sie nicht Wirklichkeit waren. Aber doch konnte er sich ihrer nicht erwehren. Finsternis senkte sich herab, die das Licht der Sonne schluckte und den nahenden Tod erahnen ließ. Das Böse griff nach ihm. Es rief seinen Namen mit düsterer Stimme, um Macht über ihn zu erlangen. »Nein!« schrie der Krieger auf, und noch einmal erlangte sein Schwertarm dieselbe Kraft wie beim Kampf gegen die Caer. »Neiiin!« Er würde nicht aufhören, die Lichtwelt zu verteidigen. Niemals! Wenn der Tod nun kam, um ihn mit sich zu nehmen, würde er Tarmino gewappnet vorfinden. Jedes Blatt, das er abtrennte, jeder Strunk, der bewegungslos zurückblieb, war ein kleiner Sieg gegen die Dunkelheit. Der Krieger lachte. Sein Lachen klang irr und hallte schaurig von den Felsen wider. 203
Aber eine plötzliche Berührung in seinem Rücken ließ ihn verstummen. Als er herumwirbelte, sah er sich gleich zwei Riesenschnecken gegenüber, deren Fühler nach ihm tasteten. Blindlings schlug Tarmino zu. Doch das Schwert wurde ihm aus der Hand geschlagen und blieb außer Reichweite liegen. Schon wollte er sich zur Flucht wenden, als ein harter Schlag ihn von den Füßen riß. Schwer prallte er zwischen den Steinen auf. Seine Bemühungen, sich zu erheben, scheiterten, weil eine unheilvolle Kraft ihn lähmte. Er war nicht einmal mehr fähig, abwehrend die Arme zu heben. Auf dem Rücken liegend, mußte er hilflos mit ansehen, wie die Schnecken näher kamen. Die Berührung war Schlimmer als alles, was er jemals erlebt hatte. Sein Körper schien in siedendes Öl getaucht zu werden. Tarmino schrie. Es war ein grauenvoller, nicht endenwollender Schrei. Ein schleimiger Körper wälzte sich auf ihn. Stinkender Atem schlug ihm entgegen. Tarminos Gedanken schweiften ab zu den Göttern Ugaliens. Was hatte er getan, daß sie ihr Antlitz von ihm wandten? Dann erstickte sein Schrei unter den zähen Ausscheidungen des Tieres.
Irgendwann – der Schleier des Vergessens senkte sich mit jedem Winter, der ins Land zog, tiefer herab – hatte ein ungnädiges Schicksal ihn nach Südsalamos verschlagen. Aber nach langen Jahren der Wanderung und Ruhelosigkeit lebte er nun für eine neue Aufgabe, und seine Magie war geachtet. Was kümmerte es ihn da, daß das Böse mit jedem Sonnenuntergang deutlicher spürbar wurde. Er hatte es schon damals gewußt, vor fünf oder sechs Wintern, aber er hatte es hingenommen ohne den Versuch, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Die Yarl-Linie trug das Verderben in sich, und er bediente sich 204
dessen, was die Finsteren Mächte hervorbrachten. Sinnend näherte er sich dem Gehäuse der Riesenschnecke, das den kleinen Raum fast zur Hälfte ausfüllte. Im Schein des prasselnden Kaminfeuers wirkte dessen Oberfläche wie poliert. Doch zogen sich unzählige winzige Linien durch das Perlmutt, die zwar mit dem Auge nicht zu sehen, dafür aber um so besser mit den Fingerspitzen zu ertasten waren. Magische Zeichen – nicht von einer Laune der Natur geschaffen, sondern von den Mächten der Schattenzone so gewollt. Her Thylon hätte viel dafür gegeben, zu erfahren, welche Bedeutung ihnen innewohnte. Gleichzeitig aber wußte er, daß seine Magie niemals ausreichen würde, das herauszufinden. Er fluchte unbeherrscht. Ein Dutzend Männer hatten ihre Arbeitskraft zur Verfügung gestellt und gegen Waren für ihre Familien eingetauscht, ohne jedoch zu ahnen, daß sie ihr Leben für dieses seltene Exemplar eines Schneckengehäuses hingeben mußten. Nicht, daß die Fischer nicht viele davon aus den Korallen geborgen hätten. Aber das waren kleinere, gerade gut genug, um daraus Sänften, Möbel oder auch nur Musikinstrumente zu fertigen. Keinesfalls aber, um in ihnen die Zukunft zu erkennen. Beschwörend hob Thylon die Arme und spreizte die Finger ab. Mit einemmal schien das Feuer weniger hell zu brennen. Flackernde Schatten huschten durch den Raum, ruhelose Schemen, die zweifellos der Düsterzone entstammten. Der Magier hatte das Gefühl, in ein Meer der Stille hinabzutauchen, als er sich nach der Öffnung des Schneckenhauses bückte. Düsternis wallte ihm entgegen. Er wußte, daß sich in diesem Moment die von ihm herbeigerufenen Schatten vor dem Kamin drängten und das Feuer darin erstickten. Dennoch wurde es nicht völlig dunkel in dem fensterlosen Raum. Das Tosen ferner, sturmgepeitschter See drang jetzt an das Ohr des Magiers. Er bediente sich der Kräfte, die auf ihn über205
strömten, ohne eigentlich zu wissen, was er damit auslöste. Irgendeine innere Stimme warnte ihn davor, daß er mit jedem Blick, den er in die Zukunft warf, mehr den Mächten des Bösen verfiel. Aber wie stets hörte er nicht darauf. Das Geschehen schlug ihn in seinen Bann. Her Thylon fühlte sich plötzlich unsagbar leicht. Er glaubte zu schweben, frei wie ein Vogel dem Firmament entgegen, von dessen samtener Schwärze die Sichel des abnehmenden Mondes gleißte. Weit in der Ferne sah er das Band der Himmelssteine, von denen er nicht wußte, was sie darstellten. Dieses Spiel von Licht und Schatten faszinierte ihn. Dort war das Reich der Finsternis. Der Magier vermeinte Stimmen zu hören, als das Rauschen endlich leiser wurde – menschliche Stimmen, die sich miteinander unterhielten. Aber noch konnte er nicht verstehen, was sie sagten, er wußte nur, daß eine dieser Stimmen dem Fischer Rochad gehörte. Thylon erkannte die Gefahr, als er das ausgefranste Ende eines Seiles sah. Und dann kamen sie… Es waren viele, und nie zuvor hatten sie in solcher Anzahl angegriffen. Die Brücke erzitterte unter der Gewalt ihrer Schläge. Schleimige Körper wälzten sich über die hölzernen Bohlen. Entsetzen zeichnete sich in den Gesichtern der Menschen ab, denen der Rückweg abgeschnitten war. Ausgerechnet mit Rochad verband Thylon ein inniges Verhältnis, denn der Fischer hatte ihn bei sich aufgenommen, als jeder den Magier wie einen Aussätzigen behandelte. »Ich muß ihn warnen!« murmelte Her. Schlagartig verblaßte die Vision. Nur noch Düsternis erfüllte den Raum. Als Thylon sich zögernd aus dem Gehäuse zurückzog, versagten ihm die Beine den Dienst. Schweißüberströmt brach er zusammen. Er nahm nicht mehr wahr, daß die Schatten ihn 206
gierig umtanzten und sich auf ihn herabsenkten. Das Böse, das er immer wieder gerufen hatte, schickte sich an, von seinem Körper Besitz zu ergreifen.
Undeutlich zeichneten sich am Horizont die Umrisse einiger Reiter ab. Das Land, das eben war und ohne nennenswerte Erhebungen, machte es schwer, die Entfernung abzuschätzen. Zudem verschwammen die Verfolger fast mit den tief hängenden Wolkenbänken. Es würde Schnee geben, viel Schnee möglicherweise, denn die Sonne war von einem stechenden, beinahe violetten Schein. Aber das konnte Mythor nur recht sein. Ein Wettersturz, der mit heftigen Stürmen einherging, würde seine Spuren verwischen und es jedem schwermachen, ihn aufzuspüren. Pandor schnaubte leise. Sein dichtes schwarzes Fell glänzte von Schweiß, denn ein scharfer Ritt lag hinter ihm. Mythor würde das Einhorn abreiben müssen, wenn wirklich die Kälte hereinbrach, wie er befürchtete. Als sein Blick wieder über die Steppe huschte, waren die Reiter verschwunden. Wer immer ihm folgte, er konnte nichts Gutes im Schilde führen. Vielleicht die drei von Drudins Dämon gelenkten Todesreiter, denen er in der Oase erstmals begegnet war? Doch sie hätten es wohl besser verstanden, sich seinen Blicken zu entziehen. Oder Hrobon, von dem er in Unfrieden geschieden war, und seine Krieger? Der Wind frischte auf. Er brachte Staub mit, der in die Kleider kroch und das Atmen zur Qual machte. Auch jetzt verspürte Mythor wieder die drängenden Einflüsterungen seines Helmes, die ihn gen Sonnenaufgang wiesen. Seit seinem überstürzten Aufbruch vom Orakel von Theran waren sie laufend 207
stärker geworden. Und mehr als nur einmal war der Kämpfer des Lichtes versucht gewesen, ihnen nachzugeben. Aber die Straße des Bösen lag im Westen. Wenn er das Geheimnis seiner Herkunft lösen wollte, mußte er dorthin. Und letztlich war ausschlaggebend gewesen, daß auch seine Tiere in diese Richtung drängten, allen voran der Bitterwolf. Konnte Hark ihn zu jener Stelle der Yarl-Straße führen, wo er einst als Kind von den Marn aufgefunden worden war? Die Dämmerung senkte sich auf die Steppe, als erste große Flocken fielen. Es kam wohl nur selten vor, daß so weit im Süden ein Schneesturm über das Land fegte. »Vorwärts, Pandor!« Die Hufe des Einhorns schienen kaum noch den Boden zu berühren. Während der Falke mit schwerem Flügelschlag in den wirbelnden Flocken verschwand, blieb Hark an Mythors Seite. Allmählich wurde es kälter, und der Schnee, zu harten Kristallen gefroren, fiel dichter. Kaum mehr als zwanzig Schritt weit reichte die Sicht. In nicht allzu großer Entfernung mochte die Straße des Bösen die Steppe durchschneiden. Hin und wieder glaubte Mythor, die Laute wilder Tiere zu hören, doch konnte das ebensogut eine Täuschung sein, hervorgerufen durch das Heulen des Windes. Im Lauf der Zeit verfiel Pandor in einen gleichmäßigen Trab. Es schneite heftiger, und sämtliche Spuren waren innerhalb weniger Augenblicke verweht. Das Unwetter dauerte an. Den Verfolgern, selbst wenn sie ebenfalls Schnee und Eis trotzten, mußte es schwerfallen, Mythor nun noch aufzuspüren. Er wich von der bisher eingeschlagenen Richtung ein wenig nach Süden ab. Auch so würde er sein Ziel erreichen. Alles an ihm war angespannte Erwartung. Was würde er vorfinden? Endloses, ebenes Land, bar jeglicher menschlicher 208
Siedlung? Hatte nicht Curos geschworen, daß niemand weit und breit gewesen sei, der ihn, den wohl fünf Sommer zählenden Knaben, dorthin gebracht haben konnte? War er wirklich vom Himmel herabgestiegen, als ausersehener Retter der Lichtwelt, den man in vielen Legenden den Sohn des Kometen nannte? »Vielleicht bin ich auch vom Himmel gefallen«, murmelte Mythor leise vor sich hin. Es war ein vergeblicher Versuch, sich abzulenken. Immer öfter eilten seine Gedanken weit voraus, denn nie war er der Erkenntnis näher gewesen als gerade jetzt. Und doch scheute er sich gleichzeitig vor der Wahrheit. Sie mochte hart und grausam sein – ganz anders, als die alten Legenden zu berichten wußten. Der Schrei des Bitterwolfs schreckte ihn aus seinen Überlegungen auf. Hark schien ihn auf etwas aufmerksam machen zu wollen. Tatsächlich zeichneten sich kurz darauf die Umrisse eines einsamen Gehöftes durch das Schneetreiben hindurch ab. Mythor brachte das Einhorn zum Stehen und sprang ab. Hark war sofort neben ihm, als er mit gezogener Klinge vorsichtig weiterging, jeden Augenblick auf einen überraschenden Angriff gefaßt. Die Zeiten waren unsicher, und nur die Götter mochten wissen, welche versprengten Heerscharen in dieser Gegend ihr Unwesen trieben. Doch alles blieb ruhig. Der Hof schien verlassen. Kein Rauchfaden kräuselte sich aus dem Kamin des Haupthauses. An manchen Stellen hatte der Wind mannshohe Wächten aufgetürmt, aber nirgendwo zeigten sich die Spuren von Mensch oder Tier. Mythor ging langsam auf den Stall zu, dessen Tür schräg in den Angeln hing. Der Spalt war breit genug, um ihn und Hark hindurchzulassen. 209
Im Innern des recht baufälligen Gebäudes herrschte ein dämmriges Zwielicht. Durch unzählige Löcher im Dach wirbelte Schnee herein. Eine Berührung wie von Geisterhand streifte Mythors Gesicht. Über klebrige Fäden huschte eine Spinne von der Größe zweier Fäuste auf ihn zu. Er schlug sie mit der Breitseite seines Schwertes zur Seite und wischte sich mit einer unwilligen Bewegung die Reste ihres Netzes ab. Zum Teil wagenradgroße Gespinste hingen rings um den Eingang. »Komm, Hark! Hier war schon lange niemand mehr.« Mythor verließ den Stall und schritt auf das Wohnhaus zu, das einen nicht minder verfallenen Eindruck machte. Er fand nur einen einzigen großen Raum vor, mehrere wurmstichige Möbel und zwei mit Stroh aufgeschüttete Nachtlager. Die Asche im Kamin war längst erkaltet, sie roch nicht einmal mehr nach Feuer. »Hier bleiben wir wenigstens so lange, bis das Schneetreiben nachläßt«, entschied Mythor. Dann holte er Pandor, dessen Fell inzwischen eisverkrustet war, in die Stube und rieb ihn mit dem vorhandenen Stroh ab, so gut ihm dies möglich war. Seine Gedanken weilten jedoch anderswo – in der Oase von Theran, bei den am Rand des Wahnsinns stehenden OrakelTrollen. Welche Bewandtnis mochte es mit dem Leder haben, das er von Gorel erhalten und sich in aller Eile um den Oberschenkel gebunden hatte, um es nicht zu verlieren? Wenn ihn der flüchtige Augenschein nicht trog, dann war es voller Schriftzeichen – Runen, die er nicht zu deuten vermochte. Es wurde Zeit, daß er sich näher damit befaßte, wollte er entscheiden, ob er es behielt oder lieber vernichtete. Immerhin wußte er bereits, daß es aus der Haut eines Siebenläufers gegerbt worden war, eines seltenen Tieres, das südlich der salamitischen Wüste beheimatet war und dort als Glücksbringer 210
galt. Weshalb sollte es ihm dann nicht weiterhelfen? Enthielt es gar die Antworten, die er sich vom Orakel über seine Herkunft, seine Bestimmung und über Fronja erhofft, die er aber nur in undeutlichen, bruchstückhaften Aussagen erhalten hatte? Plötzlich konnte er es kaum noch erwarten, das Leder zu lösen. Es war weich und geschmeidig, etwa unterarmlang und ließ deutlich die Ansätze der sieben Beinpaare erkennen. Ein Fellbesatz fehlte, dafür war das Leder allerdings bedeckt mit Runen, deren Bedeutung Mythor ein Rätsel blieb. Wenn Fahrna noch lebte, hätte sie ihm sicher mehr darüber sagen können, in ihrer Gier wohl aber auch nach seinem Leben getrachtet. Doch ihr Leichnam ruhte in Nyrngor. Sieben Beinpaare… Sieben! Sinnbild für die Fixpunkte des Lichtboten? Magische Zahl oder nur durch das Spiel des Zufalls entstanden? Mythor wurde von einer schier unerklärlichen Erregung gepackt. Was hatten die Trolle ihm sagen wollen? Er verstand die Runen nicht. Mythor seufzte, als der Bitterwolf herankam und ihm mit seiner feuchten Schnauze über das Gesicht fuhr. Eine unwillige Handbewegung schickte Hark an seinen Platz zurück. Dann wandte der Kämpfer des Lichtes sich erneut dem Leder zu. Und plötzlich fiel sein Blick auf zwei Symbole, die er kannte: das Fünfeck und der Doppelbogen! Beide befanden sich auch auf dem Gläsernen Schwert Alton. Und da waren noch andere Zeichen, die er glaubte deuten zu können. Jeweils in der Mitte des Leders zwischen zwei Beinpaaren, untereinander angeordnet und zusammen mit den Runen die Form einer schlanken Pyramide darstellend. 211
Sieben waren es, wenn er das Sonnensymbol in der Kopfhaut des Tieres nicht mitzählte. Denn möglicherweise stand dieses für die Welt, für das Licht, das die Sonne brachte und das Tag und Nacht, Gut und Böse voneinander trennte. Oder für den Lichtboten, der einst auf seinem Kometen- tier erschienen war und die Mächte der Finsternis zurück- gedrängt hatte? Mythor betrachtete die Zeichen der Reihe nach: … eine doppelte Wellenlinie… … das schon bekannte Fünfeck zusammen mit dem Doppelbogen… Auf Alton indes fand sich zusätzlich das Sonnenbild, das in dieser Reihe jedoch fehlte. … ein Auge, das von einem nur angedeuteten Helm gekrönt wurde… … ein aufrecht stehendes, spitz zulaufendes Dreieck, vielleicht ein Horn… … darunter ein Pfeil, dessen Spitze nach links zeigte… … dann sechs jeweils zu dreien ineinander liegende und sich gegenüberstehende Halbkreise, die sich an den Enden überlappten… … und eine Spirale, die weder Anfang noch Ende besaß und immer wieder in sich selbst zurückführte. »Endlos«, murmelte Mythor leise vor sich hin, »wie der Lauf der Welt, deren Beginn irgendwo im Dunkel der Geschichte verborgen liegt und deren Zukunft wohl ebenso ungewiß ist.« Die Bedeutung einiger dieser Zeichen war klar. Die Wellenlinie mochte für die Wasserfälle von Cythor stehen; der Helm mit dem Auge, falls es sich tatsächlich um einen solchen handelte, für den Helm der Gerechten; das Horn – auch das war nicht völlig deutlich – für das verwunschene Tal und der Pfeil für den Baum des Lebens, wo jedoch Luxon ihm zuvorgekommen war und Sternenbogen und Mondköcher an sich gebracht hatte. 212
Demnach mußten die sechs Halbkreise den vorletzten und die Endlosspirale den siebten Stützpunkt des Lichtboten darstellen. Nun, da er zumindest eine Ahnung davon hatte, welch unschätzbaren Wert das Leder für ihn haben konnte, glaubte Mythor plötzlich, auch die Runen schon früher einmal gesehen zu haben. Und das in eben dieser Anordnung. Es war wie ein Gefühl der Verheißung, das ihn nicht mehr ruhenließ. Wo auf seinem bisherigen Weg im Kampf für die Werte der Lichtwelt hatte er schon vor diesen Runen gestanden? Sicher nicht innerhalb der Mauern von Churkuuhl. Seine Finger tasteten nach der kreisförmigen Narbe hinter seinem Ohr. In Gedanken kämpfte er wieder zwischen den Klippen von Elvinon, erwachte in den schützenden Mauern der Stadt, die ihm soviel Neues zu bieten hatte, aber letztlich dem Ansturm der Caer doch nicht widerstehen konnte. Die Gruft der Gwasamee… Mythor begann zu zittern. Das Blut in seinen Adern schien aufzuwallen und pochte schmerzhaft in seinen Schläfen. Bilder, die er schon vor Monden vergessen hatte, erschienen plötzlich wieder vor seinem geistigen Auge, und sie waren lebendiger denn je. Brachten sie die Botschaft vom Wirken des Lichtboten? Der Sohn des Kometen war seltsam berührt. Um ihn herum versank die Welt in Bedeutungslosigkeit. Er vergaß den Ort und die Zeit, achtete nicht mehr auf die Gefahren, die ihm drohten. Er wußte nur noch, daß diese Linien und Zeichen, rätselhafte magische Schriften, sich auf wundersame Weise zu Bildern zusammenfügten, die ihm Bedeutungsvolles zu berichten hatten. Es waren Eindrücke von unvorstellbaren Schrecken, von Leid, Verderben und Tod. Die Erde brach auf, es regnete Feuer und Schwefel, und die Meere spien ihre tosenden Wasser auf 213
das Land. Und über allem hingen wesenlose Schatten vereinten sich die Mächte der Finsternis. Mythor hatte solches in der Gruft der Gwasamee gesehen, aber es war ihm unmöglich gewesen, entschwundene Bilder ein zweites Mal zu schauen. Waren diese Ereignisse vielleicht nie wirklich geschehen, sondern Prophezeiungen, die eintreffen würden, wenn die Lichtwelt fiel? In seine Gedanken drängte sich das Bild eines Schwertes und etlicher anderer Gegenstände, die darum angeordnet waren. Und Runen. Aber noch immer vermochte er nicht zu verstehen, was sie ihm zu berichten hatten. Nur eines wußte er plötzlich: Das Schwert war Alton! Dann waren die anderen Dinge ebenfalls dazu bestimmt, ihn zu rüsten. Indes verschwammen die Abbildungen vor seinen Augen, verblaßte erneut die Erinnerung an sie. Mythor glaubte eine Stimme zu hören, weich und einschmeichelnd, sanft und zärtlich, wie das leise Flüstern eines Mädchens, das er in seinen Armen hielt. Doch da war niemand. Nur Hark hob den Kopf und ließ ein drohendes Knurren vernehmen. Die Stimme rief ihn. Mythor! klang es auf. Versuche, dich zu erinnern. Wie von magischen Kräften getragen entstanden diese Worte in ihm. Als spreche jemand aus dem Reich der Toten zu ihm. Verzage nicht, weil du die Zeichen nicht deuten konntest. Es war die Stimme einer Frau. Ähnliches hatte Gwasamee ihm auch zu verstehen gegeben. Eines Tages wirst du den Bildern wieder begegnen, und dann solltest du ihre Botschaft vernehmen können. War heute dieser Tag, oder würde es weitere geben, in einer Zukunft, die so ungewiß war wie die düsteren Schatten, die vom Rand der Welt nach den Ländern des Nordens griffen? 214
Mit einemmal wußte Mythor, daß er den Weg zu Ende gehen mußte, den er hinter den Wasserfällen von Cythor beschritten hatte. Irgendwann würde er wohl verstehen lernen, welche Nachricht das Orakel-Leder enthielt. Hoffentlich noch zur rechten Zeit. Hark hatte die Lauscher aufgestellt. Aus seiner Kehle drang ein dumpfes Grollen. Pandor begann unruhig mit den Hufen zu scharren. Doch da war nichts außer dem hohlen Brausen des Windes, der allmählich abflaute. Unschlüssig hielt Mythor das Leder. in Händen. Er glaubte, daß die Trolle ihm damit eine Antwort auf all seine Fragen zugespielt hatten. Sicher sollte es auch auf die Fixpunkte des Lichtboten hinweisen, aber bestimmt ging es nicht nur um die Ausrüstung, die er dort gewann. Jeder dieser Orte mochte eine zusätzliche Bedeutung haben, so, wie der Baum des Lebens die Saat des Lichtboten in alle Winde verstreuen sollte, damit sie aufging, wo das Gute noch Bestand hatte, und Nacht und Schatten verdrängte und das Böse am Wurzeln hinderte. Für einen Augenblick wurde es still. Nur der heisere Schrei eines Vogels war zu vernehmen. Hark sprang auf, und Mythors Rechte fuhr unwillkürlich an den Schwertknauf. Dann aber brach der Sturm mit neuer Stärke los. Schnee und Graupeln prasselten gegen die Scheiben. In einem solchen Wetter trieben Geister und Dämonen ihr Unwesen. Immer mehr wich das Licht des Tages und machte einer trügerischen Finsternis Platz. Jeder einsame Wanderer war gut beraten, auf der Hut zu sein. Mythor schickte sich an, das Orakel-Leder wieder um seinen Oberschenkel zu binden, als ihm auffiel, daß auch auf dessen Rückseite die Zeichen zu fühlen waren. Mit einem Eisen oder ähnlichem eingestanzt, schimmerten sie ihm dunkel entgegen. Vorsichtig strich er mit dem Fingern darüber. Mit Hilfe eines 215
Spiegels oder einer unbewegten Wasserfläche mochte ein Eingeweihter sie lesen können. Es waren dieselben Symbole, und doch waren sie von den anderen so grundverschieden, wie nur zwei Dinge einander fremd sein konnten. Aber auch hier die Pyramidenform. Hell und Dunkel… Licht und Schatten… Mythor wendete das Leder mehrmals. Dessen Rückseite erschien ihm immer deutlicher wie eine Umkehrung der Werte des Lichtboten ins Böse. Wieder ertönte der Schrei eines Vogels. Diesmal in unmittelbarer Nähe. Im ersten Moment dachte Mythor an den Schneefalken, aber als Hark mit lautem Wolfsgeheul antwortete, wurde er sich der nahenden Gefahr bewußt. Heymals! schoß es ihm durch den Sinn. Wo, bei Quyl, hatte er bloß seine Gedanken gehabt? Dabei war es völlig gleichgültig, wie sie ihn gefunden hatten, denn nun galt es zu kämpfen. Mit fliegenden Fingern zog Mythor den Schwanzbuschen des Siebenläufers durch den Schlitz im Sonnensymbol und straffte das Leder über seinen Muskeln. Fast zur gleichen Zeit wurde die Tür von außen her aufgestoßen, und zwei Krieger in dicker Fellkleidung stürmten herein. Die Schwerter in ihren Händen redeten eine deutliche Sprache. Mythor riß Alton aus dem Gürtel und parierte noch mit angewinkeltem Arm einen Streich, der ihm zweifellos den Schädel gespalten hätte. Hark stürzte sich auf den zweiten Angreifer, einen Recken von beinahe sieben Fuß Länge, doch ein wütender Tritt beförderte ihn zurück, bevor er zubeißen konnte. Winselnd blieb der Wolf liegen. Altons Leuchten war wie ein Blitz, der abwechselnd auf die beiden Heymals herabfuhr. Sie waren geschickte Kämpfer und verstanden es, Mythor in Bedrängnis zu bringen. 216
Mit bebenden Flanken stand das Einhorn in einer Ecke des Raumes, gerade so, als warte es darauf, eingreifen zu können, ohne seinen Herrn dabei zu gefährden. Ein Schlag traf den Helm der Gerechten und glitt daran ab. Mythor spürte den kalten Stahl auf seiner Schulter, dem zum Glück aber bereits die Wucht genommen war. Er unterlief den Hieb des Gegners und stieß seinerseits zu. Tief drang Alton in die Brust des Angreifers ein, dessen Augen sich in ungläubigem Erstaunen weiteten. Das Schwert löste sich aus seiner schlaff werdenden Hand. »Im Namen Shallads!« Mythor ahnte die in diesem Moment auf ihn herabzuckende Klinge mehr, als er sie erkennen konnte. Noch während er sich fallen ließ und mit federnder Bewegung abrollte, zersplitterte hinter ihm der hölzerne Tisch. Ein Ausruf der Enttäuschung folgte, dann lautes Bellen und ein gellender Schmerzensschrei. Wieder wurde Hark durch die Luft gewirbelt und schlug hart auf. Allerdings hatten seine Zähne diesmal zupacken können. Eine tiefe und heftig blutende Bißwunde schwächte den Schwertarm des Hünen. Außerhalb des Hauses rief jemand etwas, das Mythor abermals nicht verstand. Immerhin wußte er nun, daß er es nicht nur mit zwei Gegnern zu tun hatte. Doch egal, wie viele es auch waren, die eigentliche Gefahr stellten sicher nicht die Krieger dar, sondern deren Kampfvögel. Wieder prallten die Schwerter aufeinander. Der Heymal kämpfte mit zäher Verbissenheit. Einen solchen Mann zum Freund zu haben mochte wirklich ein Gewinn sein. Nur leider war dem nicht so. Ein Schlag wie von einer schweren Ramme ließ das Haus in seinen Grundfesten erzittern. Krachend zersplitterten Balken. Staub erfüllte plötzlich die Luft und ließ die Augen tränen. Jeder Atemzug brannte wie Feuer in den Lungen, und Mythor 217
hatte mit einem schier unwiderstehlichen Niesreiz zu kämpfen. Aber auch seinem Gegner schien es keinen Deut besser zu ergehen. Dessen Ausfälle wurden langsamer, seine Hiebe verloren an Kraft und Geschicklichkeit. Mythor bekam einen Hocker zu fassen und schleuderte ihn dem Krieger entgegen. Dieser konnte nicht mehr ausweichen. Er taumelte, und sofort war Hark über ihm. Ein erneuter heftiger Rammstoß drückte die halbe Wand zu Mythors Linken ein. Bretter und Balken knickten wie dünne Äste. Ein mächtiger Schnabel schob sich durch die so entstandene Öffnung. Zwei eiskalt stechende Augen blickten in das Halbdunkel des Raumes, und ein Fächer aus handspannenlangen blutroten Federn stellte sich auf. Für die Dauer eines bangen Atemzugs herrschte entsetztes Schweigen. Selbst Hark verstummte. Dann ließ ein gellender Schrei die Luft erzittern. Es war ein Orhako. Hrobon ritt einen solchen Vogel, dessen flaumiges Gefieder meist hellbläulich gefärbt war. Doch dieser hier wirkte merkwürdig zerrupft. Und dann die rote Färbung der Federn, die noch abschreckender wirkte als jede Bemalung! Das Orhako hatte die Mauser, war deshalb aber wohl nicht weniger gefährlich. Wieder splitterte Holz. Dachsparren rissen aus ihren Verankerungen und polterten zu Boden. Mit zwei Sätzen war Mythor bei dem Vogel, hütete sich jedoch davor, in die Nähe von dessen Schnabel zu kommen. Auf den Heymal brauchte er nicht mehr zu achten. Hark hatte mittlerweile dafür gesorgt, daß der Krieger während der nächsten Monde kein Schwert mehr führen konnte. Das Orhako stieß ein drohendes Krächzen aus und stellte die Kopffedern noch steiler auf. Mit aller Kraft zwängte es sich 218
durch das entstandene Loch, wobei seine Krallen laut über den gefrorenen Hof scharrten. Und wieder rief jemand unverständliche Befehle. Da die Heymals mindestens zu dritt gewesen waren, mußte Mythor mit derselben Anzahl von Kampfvögeln rechnen. Er schwang Alton mit aller Kraft, deren er noch fähig war. Das Gläserne Schwert ließ ein durchdringendes Wehklagen hören. Das Orhako schrie gellend auf, als die Schwertspitze quer über seinen Hals schnitt und dann an der Unterseite des Schnabels abglitt. Der Kopf des Tieres fuhr hoch, riß die halbe Wand mit sich. Mythor setzte nach. Unmittelbar über sich sah er jetzt das Brustgefieder des Vogels. Schräg von unten stieß er mit Alton zu, und die leuchtende Klinge drang tief zwischen die Flügelstummel. Der weit aufgerissene Schnabel, der gleichzeitig auf ihn herabfuhr, verfehlte ihn nur um Haaresbreite. Mythor sah die funkelnden Augen des Tieres direkt vor sich. Seine Linke bekam einen Mauerstein zu fassen, und noch während er zur Seite sprang, schleuderte er ihn hoch und traf, und das Orhako bäumte sich geblendet auf. Abermals zischte Alton klagend durch die Luft und bohrte sich in die Kehle des Tieres. Ein letztes Zittern durchlief den mächtigen Körper, ein Aufbäumen, in dem die Lebensgeister durch die tödliche Wunde flohen. Das Gläserne Schwert wurde Mythor beinahe aus der Hand gewirbelt. Dann stürzte das Orhako. Seine zuckenden Läufe vollendeten das Werk der Vernichtung und legten das halbe Haus in Trümmer. Mythor hörte ein ängstliches Wiehern hinter sich. Ein grauer Schemen huschte an ihm vorbei, gefolgt von dem Einhorn, das ebenfalls aus dem zusammenbrechenden Gemäuer hervorstürmte. 219
Aber da war noch etwas. Aus den Augenwinkeln heraus gewahrte Mythor einen Schatten und warf sich instinktiv zurück. Dort, wo er eben noch gestanden hatte, bohrte sich eine gefiederte Lanze in das aufgewühlte Erdreich. Bevor er Alton hochreißen konnte, war der Reiter schon im Schutz der Nacht verschwunden. Alles in Mythor war angespannte Erwartung, aber ein zweiter Angriff blieb aus. Der Heymal, dessen Tier eines der schnellen, aber weniger streitbaren Diatren gewesen war, würde wohl in Kürze mit einer unbesiegbaren Übermacht wiederkehren. Mythor wischte die blutige Klinge im Schnee ab und schob das Gläserne Schwert dann in den Gürtel. Er hatte nicht vor, sich auf einen aussichtslosen und in seinen Augen unnötigen Kampf einzulassen, denn die Heymals stritten wie er für die Werte der Lichtwelt. Ihre Beweggründe mochten von den seinen nicht einmal so verschieden sein, wie es vielleicht den Anschein hatte, glaubten sie doch an ihren Gottkönig Hadamur als den rechtmäßigen Nachfolger des Lichtboten. Nur weil Mythor das Sakrileg begangen hatte, sich Hrobon gegenüber als Sohn des Kometen zu erkennen zu geben, hatte er dessen Feindschaft heraufbeschworen. Wie eine aus schwarzem Marmor gehauene Statue stand Pandor vor ihm. Das Horn auf seiner Stirn leuchtete fahl durch die Finsternis. Mythor schwang sich in den Sattel. Einen Herzschlag später hatte auch ihn das Schneetreiben verschluckt. Die Spuren von Einhorn und Bitterwolf verwehte der Wind. Niemand würde zu sagen vermögen, in welche Richtung er sich gewandt hatte.
Mit einem Geräusch wie von zerspringendem Glas verschoben 220
sich die versteinerten Pflanzen gegeneinander. Überhaupt wirkte das im Lauf von mehr als einem Dutzend Jahren aus unfruchtbarem Boden gewachsene Gebirge wie die Küstenlandschaft eines Meeres, dessen düster gefärbte Korallenbänke in zähem Ringen Schritt um Schritt für sich eroberten. Sie mochten dafür eine Ewigkeit Zeit haben. Aber auch die Menschen kämpften um jeden Fußbreit des Landes, das einst ihnen und ihren Herden gehört hatte, nun aber durch die dämonische Saat in zwei Hälften gespalten war. Es schien ein aussichtsloser Kampf, der Leid und Tränen, Tod und Verzweiflung mit sich brachte. Die Brücke aus roh zugehauenen Balken erzitterte wie unter schweren Schlägen. Eine der seitlichen Verstrebungen brach knirschend aus ihrer Verankerung, hing für einen kurzen Moment frei schwebend in der Luft und verschwand dann polternd in der dunkel gähnenden Tiefe. Von unten herauf erscholl der Schrei eines Menschen. Furcht und unsagbares Grauen drückten sich darin aus. Als Tochter eines Fischers hatte Mistra viele sterben sehen, Gefangene, die irgendwann in die Hände der Heymals gefallen waren, aber auch Freiwillige, welche die Not dazu zwang, sich anzubieten, in die Schrecken der Korallen hinabzutauchen, um im Ausgleich dafür mit der Familie einen Winter lang unbeschwert und sorgenfrei leben zu können. Wenn sie nicht mit ihrem Leben dafür bezahlten. Dennoch wuchs die Gier nach den Schwarzperlen und all dem anderen, was dieses junge Gebirge im Süden von Salamos – viele nannten es eine Bastion der Schattenzone und mochten damit recht haben – hervorbrachte. Ein erneuter heftiger Stoß warf Mistra beinahe von den Füßen. Doch sie fand Halt an einem der straff gespannten Taue und klammerte sich daran fest. Nur wenige Schritte von ihr entfernt wuchs urplötzlich eine Felssäule in die Höhe. Deutlich 221
waren die bizarren Äste zu erkennen, die sich eng aneinanderdrängten, in Windeseile verhärteten und dann der Brücke zuneigten. Mistra wollte fliehen, doch die Beine versagten ihr den Dienst. Aus angstvoll aufgerissenen Augen sah sie den Steinen entgegen. Indes verfehlten die Korallen das Mädchen um mehr als eine Armlänge. Faustgroße Brocken schlugen auf die mühsam festgezurrten Bretter und hinterließen brüchiges, verkohlt wirkendes Holz. Aber da waren keine Flammen, die überraschend aufzüngelten und die Brücke in ein Feuermeer verwandelten, wie dies hin und wieder geschah. Mistras Erleichterung löste sich in einem lauten Schluchzen. Doch wieder erzitterte das Bauwerk zwischen den Felsen. »Komm her!« Rochads Stimme klang hart und befehlsgewohnt. Selbst Mistra, die Freude seines Herzens und zugleich einzige Tochter, war gegen seine Launen nicht gefeit. Oft genug hatte er sie schon gezwungen, nur an einem dünnen Seil hängend, in die Schluchten hinabzutauchen. Weil er einer der Fischer war, die mit menschlichen Ködern die Schätze des Bösen an sich zu reißen versuchten, mußte auch sie ihr Leben einsetzen. Manchmal haßte sie ihn dafür, und es gab Zeiten, in denen sie lieber tot gewesen wäre. Sie hatte schon viele der Riesenschnecken gesehen, hatte ihren stinkenden Atem verspürt, der die Haut vergiftete. Rochad hielt ihr das Seil entgegen, an dem sie den Fremden aus dem Norden hinabgelassen hatten. Es war zerschlissen. Der Fischer funkelte Mistra wütend an. Es war nicht der Tod eines einzelnen Menschen, der ihn und die anderen berührte, sondern der Verlust erhoffter Schätze, die der Krieger hatte bergen sollen. »Du wirst an seiner Stelle hinabsteigen, Sproß meiner Lenden!« 222
Ein Widerspruch war unmöglich, denn das hätte für Mistra bedeutet, daß Rochad sie verstieß und sie damit zur leichten Beute der Burschen machte, die ihr nachstellten. Deshalb verbarg sie auch ihre zarten Brüste hinter einem enganliegenden Tuch und betonte ihre knabenhafte Figur, wo es nur möglich war. Sie hatte herausgefunden, daß es vor allem die üppigen Formen waren, denen die Männer Beachtung schenkten. Doch bisher hatte Rochad stets seinen schützenden Arm über sie gehalten. Vielleicht weil er Angst davor hatte, sie würde eines Tages schwanger werden. Denn dann konnte er sie für viele Monde nicht mehr in die Tiefe schicken. Ich verabscheue sie alle, dachte Mistra, während sie auf ihren Vater zuging. Ich hasse diese Berge, dieses ganze Leben. Sollte sie hinabspringen, um allem ein Ende zu setzen? Gewiß würde sie nicht viel spüren. Ihre Hände verkrampften sich um das Tau. Es bedurfte nur einer geringen Anstrengung, und der Abgrund lag vor ihr – ein winziger Ruck, den dann niemand mehr rückgängig machen konnte. Mistras Blick schweifte ab. Ihr Vater hielt noch immer das Seil in seinen Händen, und die anderen musterten sie mit unverhohlenem Interesse. Ihre Blicke brannten wie Feuer auf ihrer Haut. Von irgendwoher erklangen die schrillen Laute einer Riesenschnecke. Die Bestie schien sogar in der Nähe zu sein. War da nicht eine Bewegung, dort, wo die Schatten der sich dem Abend zuneigenden Sonne eins wurden? Das Ungewisse Licht machte es schwer, Einzelheiten zu erkennen. Zu dieser Stunde schien es, als bargen die Felsen geheimnisvolles, unwirkliches Leben, das den Tag scheute und erst dann aus seinen Verstecken hervorbrach, wenn die Dämmerung über dem Land lag. Jeder Stein, jeder Vorsprung wurde zur grinsenden Fratze. 223
Fast konnte man meinen, gierige Klauen reckten sich in die Höhe. Eiseskälte griff nach den Herzen der Menschen. Die Sonne verschwand hinter düsteren Wolken. Ein Geruch wie von Schwefel lag plötzlich in der Luft. Weit im Norden schien ein Unwetter zu toben. Mistra begann zu zittern. Für einen Moment schloß sie die Augen und lauschte in sich hinein. Sie hatte Angst, hatte zu lange gezögert, den entscheidenden Schritt zu tun. Nun konnte sie es nicht mehr. Das Mädchen spürte die Bretter unter seinen Füßen beben. Ein heftiger Wind streifte ihren Nacken und wirbelte das schulterlange Haar mit sich. »Mistra! Sieh dich vor!« Erst die gellende Stimme ihres Vaters riß sie aus der beginnenden Gleichgültigkeit. Da war etwas, nur wenige Schritte von ihr entfernt, das spürte sie ganz deutlich. Und noch während sie die Augen öffnete, schlug ihr stinkender Atem entgegen. Ein schleimiger, dunkelbrauner Körper glitt über die Felsen, ein Schädel, so breit wie eine Elle lang, reckte sich drohend empor. Mistra blickte in ein weit aufgerissenes Maul, aus dem ihr mehrere Reihen nadelscharfer Zähne entgegenfunkelten. »Nein!« kreischte sie auf. Ihre Hand tastete nach dem Dolch, der in ihrem Gürtel steckte. Doch der kühle Griff der Waffe konnte sie nicht beruhigen. Die Schnecke – es war eine jener Bestien, die kein Gehäuse mit sich herumschleppten und deshalb in ihren Bewegungen schneller waren – schob sich auf die Brücke. Ihre Fühler tasteten bereits nach Mistra. »Her zu mir, Tochter!« rief Rochad entsetzt aus. Einer seiner Männer stand plötzlich neben dem Mädchen. Noch während er mit dem Schwert zuschlug, packte er Mistra an der Schulter und stieß sie zurück. Sie taumelte und wäre 224
wohl gestürzt, hätte nicht Rochad im letzten Moment noch zugreifen können. Von überall her ertönten nun die schrillen Laute der Schnecken. Als die Sonne für kurze Zeit durch die Wolken brach, sah man ringsum an den Hängen wohl ein Dutzend dieser großen Tiere. Zielstrebig kamen sie näher, und einige waren bereits am Ende der Brücke, wo eine Leiter aus Stricken und Brettern hinabführte auf die wie verbrannt wirkende Straße des Bösen. »Diesmal meinen sie es verdammt ernst«, stieß jemand hervor. »Wir müssen uns durchschlagen, solange dies noch möglich ist, denn allein ihr Gewicht kann uns in die Tiefe reißen.« Aber der Weg führte an der Schnecke vorbei, die sich mittlerweile fast zur Gänze auf die Brücke geschoben hatte und gegen die ein Schwert allein nicht viel auszurichten vermochte. Fatal war, daß schon zwei Mann, die nebeneinander kämpften, sich gegenseitig behinderten. Zudem verstand die Bestie es, ihre Fühler wie Keulen schwingen zu lassen. Eine unbedachte Bewegung, ein flüchtiger Augenblick der Ablenkung, und der Mann, der Mistra vorhin zurückgestoßen hatte, verschwand mit einem gellenden Aufschrei im düster gähnenden Abgrund. »Wohin?« Niemand wußte eine Antwort auf die in höchster Verzweiflung ausgestoßene Frage. Die einzige Lanze, die sie mit sich führten und die geeignet gewesen wäre, die Tiere auf Distanz zu halten, bohrte sich in den Rumpf einer der Schnecken, die von der Seite her angriffen. Der Schaft splitterte, bevor Rochad die Waffe wieder an sich bringen konnte. Die schmale Brücke schwankte heftiger. Nach Halt suchend, verlor Mistra ihren Dolch. Sie sah, daß die Schwerter der anderen sich in zuckende Leiber bohrten, doch mit einemmal 225
erschien ihr alles sinnlos. Blut und Schleim verwandelten das Holz allmählich in eine gefährliche Rutschbahn. Erneut glitt einer der Männer aus und stürzte, wild mit den Armen rudernd, in die Tiefe. Es war hoffnungslos. Während die Schnecken zielstrebig näher kamen, mußten die vier Menschen, die noch am Leben waren, immer mehr darauf achten, keine unvorsichtigen Bewegungen zu machen. Dabei schien es fraglich, ob nicht ein schnelles Ende mit zerschmetterten Gliedern einem letztlich vergebenen Hoffen vorzuziehen war. Nur wenige Schritte von der Brücke entfernt wuchsen neue schroffe Felsen in die Höhe. Den Schnecken folgten die ersten Pflanzen, die nicht versteinerten und die man sonst nur auf dem Grund der Schluchten vorfand. Wie die Fangarme riesiger Kraken peitschten ihre Äste durch die Luft. Gierig griffen sie nach allem, was sich bewegte. Das Gesicht in die Handflächen vergraben, wartete Mistra auf das Ende, das unweigerlich kommen mußte. Sie konnte es nicht mehr mit ansehen, wie der Tod sich unaufhaltsam näherte.
Zuerst klang es wie ferner Donner, der jedoch rasend schnell anschwoll. Ein greller Blitz riß das noch immer herrschende Schneetreiben auf, aber er verging nicht, sondern blieb und schoß der Erde entgegen. Nur Augenblicke später schien der Boden zu beben, und als hätten dämonische Mächte eingegriffen, brach der Sturm schlagartig ab. Die dicken Flocken fielen spärlicher. Ein irrlichterndes Glühen erfüllte den südlichen Horizont. Pandor scheute. Offenbar spürte das Einhorn die Kraft der Schwarzen Magie, die von jener Stelle ausging. Mythor mußte ihm gut zureden, bevor es wieder in einen gleichmäßigen Trab 226
verfiel. Ein Stein war vom Himmel gefallen… Keine Seltenheit in diesen Tagen, in denen das Schicksal der Lichtwelt besiegelt zu sein schien, in denen immer öfter die Erde bebte, als wollten die Schlünde der Hölle sich auftun und die Länder des Nordens verschlingen. Mythor fühlte eine seltsame Erregung, die von ihm Besitz ergriff. Etwas, das stärker war als er, zwang ihn dazu, von der bisherigen Richtung abzuweichen. Selten war ihm ein fallender Himmelsstein näher gewesen. Hatten die Dämonen der Finsternis diesen geschleudert, ihn zu verderben oder die Verfolger erneut auf seine Spur zu setzen? Wenn Mythor das Einhorn zu einem scharfen Ritt antrieb, konnte er das Glühen schon in Kürze erreicht haben. Pandor gehorchte dem sanften Druck der Schenkel zunächst nur zögernd, doch dann schienen seine Hufe über den kargen Boden zu fliegen. Hark hatte Mühe, mitzuhalten. Von irgendwo zwischen den wehenden Wolkenschleiern erklang der heisere Schrei des Schneefalken. Rechter Hand zeichnete sich ein schmaler Silberstreifen ab, der möglicherweise eine Wetterbesserung verhieß. Dort mußte auch die Straße des Bösen verlaufen. Mythor glaubte, die schroffen Zacken einiger Berge erkennen zu können, war sich dessen aber keineswegs sicher. Immerhin hatte er die Sandwüste, die sich wie eine natürliche Grenze zwischen Nordsalamos und dem Süden des Landes erstreckte, noch nicht lange hinter sich gelassen, und die fruchtbarere Region, in die er allmählich gelangte, konnte bisher kaum nennenswerte Erhebungen aufweisen. Vielleicht trug die Eintönigkeit ein wenig dazu bei, daß er ins Grübeln verfiel. Vielleicht war aber auch die nagende Ungewißheit schuld daran, daß seine Gedanken zu den Geschehnis227
sen innerhalb des Orakels von Theran abschweiften. Was hatten die Trolle ihm mitteilen wollen? Es fiel ein Stein vom Himmel… der teilte sich in Licht und Schatten. Sprengte er deshalb dem lodernden Leuchten entgegen, über dem sich allmählich dichte Rauchwolken bildeten? Hoffte er, an Ort und Stelle Antworten auf die Fragen zu erhalten, die ihn immer heftiger quälten? Das Flüstern, das von dem Helm der Gerechten ausging, schien ihn warnen zu wollen. Er achtete jedoch nicht darauf, sondern suchte sich zu erinnern, was in der Gruft der Gwasamee wirklich geschehen war. Irgendwie, das fühlte er, war es für ihn von ungeheurer Wichtigkeit. Die Worte der Kometenfee hallten in ihm nach, als spreche sie in diesem Augenblick noch einmal zu ihm: Deiner Aufgabe kannst du nur gewachsen sein, wenn du lernst, die Schatten mit ihren eigenen Waffen zu bekämpfen. »Ja«, nickte Mythor zögernd. Aber besaß er mit Alton und dem Helm der Gerechten wirklich bereits einen Teil dieser Waffen? Hatte Gwasamee ihn nur auf diese Ziele hingewiesen, damit er dort seine Ausrüstung vervollständigen konnte? War da nicht doch etwas, das er hartnäckig übersah und auf das ihn vielleicht das Orakel-Leder hinweisen sollte? Alles auf der Welt war im Gleichgewicht gewesen – bis zu jenem verhängnisvollen Tag der Wintersonnenwende. Der Triumph des Bösen war vollkommen gewesen. Des Bösen, das wohl in jedem Menschen schlummerte, wie auch das Gute in jeder Seele wohnte. Zwei Gegensätze, die krasser nicht denkbar waren, von denen aber stets nur einer herrschen konnte. Verhielt es sich ähnlich mit den Waffen, die in den Fixpunkten des Lichtboten für den Sohn des Kometen bereitlagen? »Möglicherweise ist mir ihre wahre Bedeutung verborgen«, murmelte Mythor leise vor sich hin. »Obwohl ihr ei228
gentlicher Zweck der Kampf sein mag, der sicherlich notwendig ist. Aber man kann sich mit jeder gut geschliffenen Klinge wacker schlagen.« Der Geruch von Rauch und brennendem Harz lag in der Luft. Mittlerweile konnte Mythor erkennen, daß er auf eine Feuersbrunst zuritt. Die Bäume eines kleinen Wäldchens loderten wie ein weithin sichtbares Fanal. Es war müßig, hier noch auf Erkenntnisse zu hoffen. Der Meteor mochte unter einer dicken Schicht aus Glut und Asche verborgen liegen, und es würden Tage vergehen, bevor man sich ihm gefahrlos nähern konnte. Zu lange für einen, der von Dämonen besessene Todesreiter und einen zu allem entschlossenen Trupp Heymals in seinem Nacken wußte. Mythors Weg konnte nur noch gen Sonnenuntergang führen. Ein letzter bedauernder Blick galt dem Flammenmeer, das hin und wieder prasselnd aufstob, wenn weit ausladende Bäume zusammenbrachen. Plötzlich ließ der Bitterwolf ein deutliches Knurren hören. Er wandte sich um, lief einige Sätze weit, blieb dann stehen und bellte laut. »Was ist, Hark, was willst du mir zeigen?« Mythor war klar, daß der Graue Witterung aufgenommen hatte. Der Wolf entfernte sich nun schnell. Pandor folgte ihm. Vielleicht tausend Schritt entfernt verhielt Hark und stieß sein langgezogenes Heulen aus. »Bei Quyl!« Mythor sprang aus dem Sattel und lief zu dem Krieger hin, der bewußtlos zu sein schien. Dem Aussehen und der arg zerschlissenen Kleidung nach zu schließen, stammte der Mann aus Tainnia. Möglich, daß er einer von Cannon Bolls Rebellen war. Sein Körper war von Schwären bedeckt und trug die Narben so manchen Schwertstreichs, aber keine Wunde, die frischer sein mochte als einige Tage. Der Atem des Mannes ging flach, doch regelmäßig. 229
Mythor fand Zeit, sich umzusehen. Da lag ein großer, vierrädriger Ochsenkarren, umgestürzt und mit zerbrochener Achse. Unweit davon entdeckte Mythor den noch warmen Kadaver des Zugtiers. Der Sohn des Kometen sah auch die Fußspuren, die sich in Richtung auf den brennenden Wald hinzogen. Sie waren von unterschiedlicher Größe, als ob sie von Frauen und Männern stammten. Wieder bellte Hark und begann, dem Krieger das Gesicht zu lecken. Dieser schien langsam zu sich zu kommen. Mythor eilte hin zu ihm. Er blickte in ein Paar stechende Augen, in denen ein verzehrendes Feuer loderte. Der Mann schien dem Wahnsinn nahe zu sein. Er röchelte, stöhnte und versuchte mühsam, sich aufzurichten. Mythor half ihm dabei, so gut er konnte. »Die Schwärze… immer wieder. Sie… verschlingt alle…« Der Krieger aus Tainnia zitterte. Seine Stirn und die Schläfen waren heiß wie von hohem Fieber. »Was ist geschehen?« Ebensogut hätte Mythor versuchen können, mit einem Stein zu reden. Der Mann stierte ihn aus blutunterlaufenen, geschwollenen Augen an; sein Blick ging auf seltsame Weise durch ihn hindurch. Der Kämpfer der Lichtwelt verspürte ein eigenartiges Prickeln, einen Schauder, der seinen Rücken hinablief. »Wer bist du?« fragte er. Für den Bruchteil eines Herzschlags glaubte Mythor, in den Augen des Kriegers den Abgrund der Unendlichkeit zu sehen. Der Blick war fahrig und doch gleichzeitig von einer unbeschreiblichen Drohung. »Tra… lam…« Das mochte sein Name sein, der eines Ortes oder gar ein Zauberwort, denn der Krieger kam plötzlich auf schwan230
kenden Beinen hoch. Erkennen huschte über seine Züge und für einen kurzen Moment so etwas wie unsagbare Trauer, als er die Spuren im allmählich wieder tauenden Schnee bemerkte. »Deine Begleiter?« fragte Mythor schnell. Fast sah es aus, als wolle der Tainnianer nicken, als er Pandor gewahrte. Schlagartig verdunkelte ein Schatten sein Gesicht, seine Rechte zuckte zur Hüfte, wo ein Kurzschwert in einer kostbar verzierten Scheide steckte. Mit einer blitzschnellen Bewegung, die Mythor ihm niemals zugetraut hätte, riß er die Waffe heraus. Aber der Kämpfer der Lichtwelt war schneller. Er bekam das Handgelenk des Kriegers zu fassen und fing so den Hieb ab, noch ehe die Klinge auf ihn herabsausen konnte. Es bedurfte keiner großen Anstrengung, dem vom Fieber geschwächten Mann das Schwert zu entwinden. Und doch war da etwas, das eine geradezu unbändige Kraft ausstrahlte. Ein Hauch von Fremdartigkeit umgab den Mann. Mythor erkannte dies erst jetzt. Auch wenn er aus Tainnia zu kommen schien – er mochte gleichzeitig vom Ende der Welt stammen. »Zeitlos« war der richtige Ausdruck dafür. Obwohl der Krieger kaum mehr als dreißig Sommer zählte, wirkte er gebeugt von der Last jahrhundertealter Erfahrung. Sein Blick saugte sich regelrecht an Pandor fest. Das Einhorn tänzelte unruhig. Mythor wurde aber erst darauf aufmerksam, als es sich mit einem lauten Wiehern herumwarf und davongaloppierte. »Du…«, der Mann stieß es aus wie einen Fluch, »… du warst im Moor!« Mit einer heftigen Bewegung schüttelte er Mythors Hand ab. Sein Gesicht glühte, doch nicht im Fieber. Es schien sich auflösen zu wollen, verschwand für einen Augenblick hinter wallenden Nebelschleiern, die es zur ausdruckslosen Fratze ver231
zerrten. Irgendwo über ihnen erklang der Warnschrei des Schneefalken, und Hark ließ ein drohendes Knurren hören. Doch der Bitterwolf griff nicht an. Im Gegenteil. Dicht an den Boden gekauert, kroch er langsam rückwärts. Von dem Tainnianer ging eine kaum noch zu übersehende Drohung aus. Etwas Unheimliches hatte von ihm Besitz ergriffen. Mythor wußte nicht, weshalb, aber er wich vor dem Mann zur Seite aus. Der Krieger folgte ihm, und obwohl der Sohn des Kometen deutlich sah, daß dessen Füße in den Schnee einsanken, zeichneten sich keine Spuren ab. »Bleib stehen!« kam es dumpf über blutleere Lippen. Stechende Augen schienen Mythor bannen zu wollen. Zwei Arme streckten sich ihm entgegen, deren Fleisch klar wie Glas war. Bleiche Knochen zeichneten sich darunter ab. Der Kämpfer der Lichtwelt fühlte kalten Schweiß auf seiner Stirn. Immer schwerer fiel es ihm, sich zu bewegen. Harks Knurren veränderte sich bis hin zum tiefen Grollen und verstummte schließlich schlagartig. Gleichzeitig schien die Luft ringsum dickflüssig zu werden wie zäher Morast. Das Atmen wurde zur Qual. Mythors Rechte schwebte nur eine Handbreit über dem Knauf seines Schwertes, mitten in der Bewegung erstarrt. Der Krieger, umgeben von wallenden Schleiern, griff nach ihm. Sein Mund öffnete sich zu höhnischem Gelächter, doch kein Laut war zu hören. Etwas Unsichtbares schlich sich in Mythors Körper, während er wie gelähmt dastand. Alton! hämmerte es in seinem Schädel. Du mußt das Schwert ziehen und den Krieger töten, oder es bedeutet dein Ende. Du mußt…! Nur noch einen Schritt, dann hatte der Tainnianer ihn er232
reicht. Weshalb kamen seine Tiere nicht, um ihm beizustehen, gerade jetzt, da er ihrer bedurfte? Waren sie vor dem Unbegreiflichen geflohen? Fronja fiel ihm ein. Würde er ihr jemals begegnen? Nur ihr Bildnis konnte ihm niemand mehr nehmen, ihr edles Gesicht, das weiche Haar und die sanften Lippen. Wie sehr sehnte er sich nach einem Kuß von ihr, einer Berührung. Als verleihe ihm die Vorstellung Kraft, umklammerte er plötzlich Alton, und das Schwert schmiegte sich in seine Hand und sandte wohlige Wärme in seinen Körper. Ein gellender Schrei zerriß die Stille. Mythor stieß zu, aber die Klinge schnitt nur noch durch wehende Nebelfetzen, die sich schnell verflüchtigten. Vor seinen Augen hatte der Krieger sich aufgelöst, war verschwunden, als habe er niemals gelebt. Von irgendwoher erklangen leise Schritte. Mythor wirbelte um die eigene Achse, doch da war niemand. Die Schritte entfernten sich, dabei immer schneller werdend. Und dann hallte ein Schrei über das Land, der unsagbare Pein und Verzweiflung ausdrückte. Als Mythor das Gläserne Schwert in den Gürtel zurückschob, fiel sein Blick auf ein kleines Stück Eis, das unmittelbar neben dem umgestürzten Karren lag. Er konnte nicht anders, als es aufzuheben. Aus der wie poliert wirkenden Fläche schaute ihm ein bleiches Gesicht entgegen. Es war das Antlitz des Kriegers. »Magie!« Mythor schmetterte das Eis auf den Wagen, und der Brocken zersplitterte in Dutzende winziger Stücke. Niemand würde wohl je erfahren, was geschehen war, außer, daß ein unbarmherziges Schicksal den Krieger eingeholt hatte. Er war den Spiegeltod gestorben. Als er sich endlich abwandte, wußte er, daß das Böse noch unzählige Opfer fordern würde. Es schickte sich an, die ganze Welt erneut mit Finsternis und Verderben zu überziehen. 233
Mythor hatte das Einhorn nicht anzutreiben brauchen, es schien selbst die Magie zu spüren, die von diesem unheimlichen Ort ausging. Tralam, falls dies wirklich der Name des bedauernswerten Opfers gewesen war, mochte noch immer im Bann der Caer-Priester gestanden haben. Fast unvorstellbar, da seit dem schrecklichen Tag der Wintersonnenwende inzwischen mehr als ein Mond vergangen war. Aber vielleicht hatten die Kräfte des Bösen nur in ihm geschlummert und waren durch den Meteor zu neuem Leben erweckt worden. »Stein, der vernichtet…« Eine schreckliche Bedeutung schien diesen Worten innezuwohnen, die Mythor aussprach, ohne es eigentlich zu wollen. Die Straße des Bösen war in greifbare Nähe gerückt. Irgendwo vor ihm lag der Schlüssel zu seiner Vergangenheit, möglicherweise auch zu seiner Zukunft. Dort mußte sich zeigen, ob er wirklich der Sohn des Kometen war. Vieles sprach dafür, aber es gab auch berechtigte Zweifel. Durfte der wirkliche Kometensohn Fehler begehen, wie sie ihm unterlaufen waren? Er konnte nicht anders, als Alton halb aus dem Gürtel zu ziehen. Das Gläserne Schwert gab ein fahles Leuchten von sich. Mythor bedauerte den schändlichen Verrat an Herzog Krude, und er hätte wahrlich viel dafür gegeben, hätte er alles rückgängig machen können. Doch dazu war es leider viel zu spät. Wenn er wirklich ausersehen war, mußte er sich dann nicht vor der Aufgabe fürchten, die vor ihm lag? Würde sie nicht unüberwindlich sein für jemanden, der schon am Anfang seines Weges große Schuld auf sich geladen hatte? Wenn der Lichtbote eines Tages von seiner langen Reise zurückkehrte, mußte sein Schein auf eine reine Welt fallen, oder 234
er würde vergehen wie die Flamme einer Kerze im Wind. Es galt, den Frieden zu bringen, Liebe und Verständnis. Dabei faßte das Böse immer wieder Fuß, manifestierten sich die Finsteren Mächte in Gestalt von Zauberpriestern und überzogen die Herzogtümer des Nordens mit Furcht und Verderben. »Ich muß endlich wissen, wer ich wirklich bin!« Je näher er seinem Ziel kam, desto deutlicher fühlte Mythor seine eigene Unzulänglichkeit. In einiger Entfernung wuchsen Berge vor ihm auf. Sie waren von einem schmutzigen Dunkelrot, dessen Anblick bereits Beklemmung hervorrief. Mythor konnte sich nicht entsinnen, daß die Marn jemals von einem solchen Gebirge gesprochen hätten. Im Gegenteil: Die Landschaft, in der sie ihn als Kind gefunden hatten, war von Horizont zu Horizont eben gewesen. Nach einer Weile erkannte er, daß die schroffen Felsen aus der Straße des Bösen herauswucherten. Manche sahen aus wie versteinerte Pflanzen, und sie wuchsen turmhoch auf und teilten das Land auf eine Breite von mehr als dreihundert Schritt. Wie weit das Gebirge sich nach Süden . erstreckte, konnte Mythor von seinem augenblicklichen Standort aus nicht erkennen. Doch dafür sah er anderes, was ihm mindestens ebenso wichtig erschien. Zwischen bizarren Schrunden, teilweise in schwindelnder Höhe, spannten sich Brücken, viele von ihnen wenig vertrauenerweckend und wohl nur noch durch eine Unmenge von Seilen notdürftig zusammengehalten. Andere hatten Wind und Wetter nicht zu trotzen vermocht. Zum Teil hingen ihre kläglichen Überreste von steilen Zinnen herab. Der Wind trug Mythor einen Schrei zu. Er brachte Pandor zum Stehen und lauschte. Hoch über ihm kreiste der Schneefalke. Als er plötzlich krächzend nach Süden strich, wußte der Kämpfer der Licht235
welt, daß Horus’ scharfe Augen gefunden hatten, wonach er selbst vergeblich suchte. »Vorwärts, Pandor!« Mythor drückte dem Einhorn die Hacken in die Flanke. Wie ein grauer Schemen huschte Hark neben ihnen her. Da war es wieder – diesmal deutlich zu vernehmen. Der verzweifelte Schrei einer Frau in größter Todesangst. Nur wenige Schritte vor Mythor begann die Straße des Bösen. Schwarze, verbrannt wirkende Erde kennzeichnete den Weg, den einst die Yarls genommen hatten. Auch wenn in der Steppe an manchen Stellen noch der Schnee lag, hier hatte die weiße Pracht sich nicht halten können. Horus verschwand zwischen den Felsen. Mythor sah ihm nach und entdeckte dabei ein Gebilde aus Stricken und kurzen Brettern, das unweit von ihm über einen Felsvorsprung herabhing. Sehr vertrauenerweckend sah die Strickleiter aber nicht aus. Mythor wäre wohl kaum auf den Gedanken gekommen, sich ihr anzuvertrauen, hätte er nicht plötzlich den Kampflärm vernommen, der aus der Höhe zu ihm drang. Fast klang es, als würden Schwerter gegen den gewachsenen Fels geschlagen. Im Nu war er aus dem Sattel und kletterte behend nach oben. Die unmittelbare Nähe der Felsen wirkte beklemmend, denn ein Hauch des Bösen ging von ihnen aus. Etwa zwanzig Mannslängen über dem Boden erreichte Mythor eine kleine Plattform aus Holz, von der aus ein Steg weiter schräg in die Höhe führte. Unter ihm gähnte ein tiefer Abgrund, der seinen Schritt unweigerlich anzog. Es gab kein Geländer, und von den beiden Seilen, die einmal eine Begrenzung gebildet haben mochten, zeugten nur noch die aufgebogenen Halterungen. Vorsichtig ging Mythor weiter. Seine Füße fanden nur schlechten Halt. Das Holz war glatt und an manchen Stellen 236
von Schleim überzogen. Nur zwei Bretter lagen hier nebeneinander, jedes etwa eineinhalb Fuß breit. Ein einziger Fehltritt würde genügen… Irgendwo polterten Steine einen Abhang hinunter und lösten eine Geröllawine aus. Deutlich konnte Mythor jetzt mehrere Stimmen unterscheiden, vermochte aber noch immer nicht zu verstehen, was sie riefen. Unverkennbar war jedoch die Angst, die in ihnen mitschwang. Dann endlich erreichte er die Felsnase, die ihm bisher so hartnäckig die Sicht versperrt hatte. Was er sah, ließ ihm den Atem stocken. Da spannte sich eine Brücke über einen Abgrund hinweg bis zum mehr als hundert Schritt entfernten nächsten Gipfel. Und auf ihr focht eine Handvoll Menschen einen verzweifelten Kampf aus, dessen Ende schon abzusehen war. Riesenhafte Schnecken zogen sich an den Hängen empor. Von allen Seiten kamen sie, doch nur wenige hatten bereits die Brücke erreicht. Mythor machte sich keine Gedanken darüber, daß er vielleicht blindlings in eine Falle tappte, aus der es keinen Ausweg mehr gab. Er wußte Leben in Gefahr, und nur das zählte für ihn. Alton schien so hell aufzuleuchten wie nur selten zuvor. Das Gläserne Schwert gab ein durchdringendes Klagen von sich, als Mythor es schwang. Jeder Schritt kostete ihn größere Überwindung und war so etwas wie ein Spiel mit dem Tod. Die schleimige Spur einer Schnecke zog sich über die Bretter hin, die zum Teil mehr als eine Handbreit weit auseinanderlagen. Mythor vermied es, in die dunkle Tiefe hinabzublicken. Zum Glück war in halber Mannshöhe ein Tau gespannt, an dem er sich festhalten konnte. Und schon nach den ersten vorsichtigen Schritten hatte er sich an das stete Schaukeln ge237
wöhnt. Die Brücke schwankte wie unter einem heftigen Sturm. Aber sich auf ihr zu halten war nicht schwerer, als an Bord eines von Brechern überspülten Segelschiffs das Ruder festzuzurren. Für einen kurzen Moment glaubte Mythor sich an Bord der Kurnis zurückversetzt. Noch ungefähr dreißig Schritte trennten ihn von den Kämpfenden, als diese endlich auf ihn aufmerksam wurden. »Zurück, Fremder!« rief einer von ihnen. »Du rennst in dein Verderben. Gegen die Schnecken hilft auch deine Klinge nicht.« Aber Mythor sah die Angst in ihren Gesichtern und spürte förmlich die Verzweiflung, mit der sie sich ihrer Haut wehrten. Er sah aber auch, daß ihre Schwerter nur harmlose Wunden schlugen, die keines der Tiere aufzuhalten vermochten. Völlig überraschend peitschte von der Seite her ein rötliches Gebilde auf ihn zu. Mythor duckte sich instinktiv und entging dadurch gerade noch einem zupackenden Tentakel. Fast gleichzeitig wurde er auf die flüchtige Bewegung zwischen den Felsen aufmerksam. Die Farbe des Gesteins war die perfekte Tarnung für den Angreifer, der halb Tier, halb Pflanze zu sein schien. Im nächsten Augenblick zuckten gleich zwei der armdicken Gebilde auf Mythor zu. Als Alton sie unmittelbar unterhalb der mit feinen Fäden besetzten Spitzen durchtrennte, wurde ein Klagen laut, das sich wie ein Lauffeuer in den verzweigten Schluchten des Gebirges fortpflanzte. Schnell schwollen die Laute an und wurden zum unwirklichen Gewittersturm, der die Felsen klingen und die Brücke bis in ihre Grundfesten erzittern ließ. Donnernd brach eine der unzähligen Felsnadeln auseinander. Irrlichternde Staubwolken verdunkelten die Sonne; auch sie bildeten Tentakel aus, deren Bestreben war, nach dem Sohn des Kometen zu greifen. Mythor schüttelte die Benommenheit von sich ab, die er mit 238
einemmal verspürte. »Zur Hölle mit aller Schwarzen Magie!« Als er Alton erneut zum Schlag hob, war ihm, als durchbreche der Schein des Gläsernen Schwertes die heraufziehende Dämmerung. Krachend bohrte sich die Klinge in den Fels, sprengte faustgroße Brocken ab und zerschnitt etliche der pflanzlichen Greifarme. Weiter, nicht aufhalten lassen… Mythor achtete nicht auf das, was hinter ihm geschah. Der heisere Schrei eines Raubvogels erinnerte ihn daran, daß Horus in der Nähe sein mußte. Ekelerregender Gestank schlug ihm entgegen, als er endlich die erste der auf der Brücke befindlichen Riesenschnecken erreichte. Mit zuckenden Bewegungen des plumpen Körpers, die die Brücke in heftige Schwingungen versetzten, ließ das Tier sich halb von den Brettern herabgleiten. Nur so konnte es sich dem neuen Gegner zuwenden. Und das mit einer Schnelligkeit, die Mythor niemals erwartet hätte. »Paß auf die Fühler auf!« Der Zuruf kam zu spät. Schon wurden Mythor mit der Gewalt von Wurfkeulen die Beine weggerissen. Ein heftiger Schmerz durchzuckte ihn, er sank vornüber auf die Knie, hielt jedoch Alton abwehrend von sich und trennte die beiden Fühler unmittelbar hinter ihren verdickten Enden ab. Er war selbst überrascht zu sehen, wie leicht das Gläserne Schwert die Schwarte durchschnitt. Mit der linken Hand zog er sich am Seil wieder hoch und stieß erneut zu. Ein wenig fühlte er sich mitschuldig an dem Grauen, das bis weit hinauf nach Norden Land und Leute bedrohte. Denn Churkuuhl war es gewesen, das die Saat des Bösen mit sich gebracht hatte. Doch das alles konnte nicht der Grund dafür sein, daß er sein Leben wagte, um einigen Salamitern zu helfen, die in Bedrängnis geraten waren. Allein das Gebot der Menschlichkeit 239
hieß ihn so zu handeln. Unter seinen kraftvoll geführten Hieben brach das Untier endlich zusammen. Gelber Schleim quoll aus der Unterseite seines Körpers, als mehrere Fußtritte es gänzlich von der Brücke stießen. Für einen Moment achtete Mythor nicht auf sicheren Stand. Prompt glitt er aus und schlug der Länge nach hin. Nur mit der Linken konnte er sich abfangen, wollte er nicht Gefahr laufen, Alton zu verlieren. Deutlich spürte er wieder die bedrohliche Ausstrahlung des Gebirges. Dann wurde ihm schwarz vor Augen. Erst schwerer Flügelschlag schreckte ihn wieder auf. »Horus!« kam es leise über seine Lippen. Der Schneefalke rüttelte unmittelbar neben ihm, und die Fänge des Tieres schienen nach ihm greifen zu wollen. Mythor hing mit den Beinen in der Luft. Lediglich sein Oberkörper ruhte noch halb auf den Brettern, und auch das nur, weil er mit der Hand in einen der Zwischenräume geraten war. Lange würde er sich so aber nicht halten können. Und mit der Rechten nach einem sicheren Griff suchen hieß, Alton im Abgrund verschwinden sehen. »Halte aus!« Das war wieder der Mann, der ihm schon die Warnung zugerufen hatte. Mythor konnte den Kopf nicht weit genug heben, um mehr als ein Paar fellbesetzter Stiefel zu erkennen, die sich vorsichtig heranschoben. Allmählich wurde sein linker Arm taub. Die Finger verloren den Halt, glitten ab. Da spürte er eine Berührung, die sich von den Beinen aus langsam an seinem Körper hochzog. Die Pflanzen greifen wieder an, schoß es ihm durch den Kopf. Jetzt mußt du Alton fahrenlassen, willst du nicht ein unrühmliches Ende finden. »Halte das Schwert fest! Ich habe dich in der Schlinge. Du 240
wirst nicht stürzen.« In dem Moment, in dem er endgültig abglitt, spürte Mythor das Seil, das sich eng um seinen Leib zog. Für die Dauer eines bangen Atemzugs schwebte er in der Luft, dem Tod näher als dem Leben, doch dann wurde er langsam in die Höhe gezogen und kam schließlich schwer atmend auf der Brücke zu liegen. »Danke!« Mehr vermochte er nicht zu keuchen. Der Mann, der ihm geholfen hatte, zeigte zuerst auf das Gläserne Schwert und dann auf Mythor selbst. »Einen Krieger wie dich kann ich nicht einfach sterben lassen.« Eine besondere Betonung lag in diesen Worten, die nachdenklich stimmte. Aber für derlei Überlegungen blieb keine Zeit. Mythor streckte seinem Retter die Hand entgegen, die dieser mit Bärenkräften drückte. »Ein Zauberschwert?« Der Sohn des Kometen verzichtete auf eine Antwort, denn das begehrliche Funkeln in den Augen seines Gegenübers war ihm nicht entgangen. Wortlos erhob er sich. Und dann schien das Klagen des Gläsernen Schwertes nicht mehr enden zu wollen. Mehr als ein Dutzend zuckender Tentakel zerschlug Mythor, und etliche der Riesenschnecken verschwanden in der Tiefe, bevor ihr Angriff ins Stocken geriet. Als hätten sie plötzlich erkannt, daß der Gegner übermächtig war, verschwanden die Tiere von den unmittelbar bis an die Brücke heranreichenden Hängen.
Her Thylon erwachte aus tiefer Ohnmacht. Er lag in völliger Schwärze und brauchte geraume Zeit, um sich in seinen eigenen Räumen wieder zurechtzufinden. Von Übelkeit geschüttelt, versuchte er sich zu erheben, was ihm nur mühsam gelang. In seinem Schädel schien ein Heer von bösen Geistern zu toben. Da war ein Dröhnen und Po241
chen, ein Stechen und Hämmern, weitaus schlimmer noch als nach etlichen durchzechten Nächten. Der Magier taumelte zu einem hölzernen Bottich hin, der randvoll mit kühlem Wasser gefüllt war. Ohne zu überlegen, tauchte er den Kopf hinein, und die Kälte wirkte tatsächlich wohltuend und belebend. Erst als er keine Luft mehr bekam, kam er prustend und spuckend wieder hoch. Die Wellen verzerrten sein Spiegelbild zu einem schattenhaften Fleck. Er versuchte sich zu erinnern, was vorgefallen war, doch in seinen Gedanken herrschte Leere. Nicht ganz allerdings, wie er schließlich feststellte. Da war die Erinnerung an eine funkelnde Steinwüste im grellen Schein der Sonne. Und darunter schier undurchdringliche Schwärze. Her Thylon glaubte ein leises Lachen zu hören. Erschrocken fuhr er herum. Indes war er in seiner Hütte noch immer allein. »Du bist furchtsam geworden, großer Magier.« Wer sprach diese Worte, die vor Hohn troffen? Her Thylon lauschte angespannt. Nur sein eigener Herzschlag pochte laut durch die entstandene Stille. »In… mir?« brachte er dann stockend hervor. »Du weißt es also.« Wieder dieses unheimliche, an den Rand des Wahnsinns treibende Gelächter. »Wer bist du?« »Schweigt deine Erinnerung, Her? Weißt du wirklich nicht mehr, was du gesehen hast?« Der Magier erschrak zum zweiten Mal. Jahrelang hatte er sich der Früchte des Bösen bedient und den Ruhm genossen, den sie ihm bescherten. Sein Blick in die Zukunft hatte nur selten getrogen. Doch nun war es zu spät, um zu bereuen. »Du… du bist ein Dämon?« 242
Her Thylon erhielt keine Antwort. Das war auch nicht nötig. Ein Blitz schien in seinem Innern aufzuzucken, der jeden Gedanken an Widerstand noch im Keim erstickte. Der Magier taumelte, krümmte sich vor Schmerzen. Nein! schrien seine Gedanken. Weiche von mir! Aber der Schatten blieb. Glühendheiß brannte er sich fest, tötete seine Seele und nahm von ihm Besitz. Ein letztes Aufbäumen… Von unsichtbaren Kräften wurde Her Thylons Körper hochgerissen, wirbelte etliche Schritte weit durch die Luft und stürzte dann mit seltsam verrenkten Gliedern zu Boden. Die Schwärze ballte sich zusammen und drang in ihn ein. Als der Magier sich nach einer Weile erhob, war er nur noch ein Werkzeug der Finsteren Mächte – eines von vielen. Und nicht viel mehr als eine leere, willenlose Hülle.
Keuchend und schwitzend kamen sie auf ihn zu. Sie waren am Ende ihrer Kräfte, doch aus ihren Blicken sprach ein unbeugsamer Wille, der Härte gegen sich selbst und andere ausdrückte. »Dank dir, Fremder, wer immer du sein magst.« Der Hüne, der Mythor vorhin beinahe die Hand zerquetscht hätte, legte ihm seinen Arm auf die Schulter. »Du verstehst zu kämpfen. Woher kommst du?« »Aus dem Norden.« »Von den Küsten des Meeres kommen dieser Tage viele. Krieger, Weiber und Kinder. Alle sind sie Gezeichnete, die von Not und Entbehrung, von Leid und Sterben zu berichten wissen.« »Es steht schlimm um Tainnia«, nickte Mythor. »Die Caer überschwemmen das Land unter dem Banner des Bösen.« »Also stimmt es, was man sich erzählt. Der Norden hat sün243
dig gelebt und so den Mächten der Finsternis Tür und Tor geöffnet. Uns im Süden von Salamos hätte ähnliches nie widerfahren können. Allein die lasterhaften Ausschweifungen der Ugalier sind weithin bekannt.« Mit einer unwilligen Bewegung schüttelte Mythor den Arm des Mannes von sich ab. »Du solltest nicht alles glauben«, erwiderte er. »Du warst nicht dabei, als die Schlacht im Hochmoor von Dhuannin geschlagen wurde. Also kannst du auch nicht wissen, welche Schrecken die Schwarze Magie der Caer-Priester zu verbreiten vermag.« »Aber«, lachte der Hüne, »du warst sicher dort und hast alles unbeschadet überstanden.« Für einen Augenblick sah es so aus, als wolle Mythor zuschlagen, doch dann wandte er sich abrupt um und schritt vorsichtig in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Überrascht stellte er fest, daß die Bretter längst nicht mehr so glitschig waren wie anfangs. Die schleimigen Spuren der Schnecken verhärteten zu einer fast schwarzen Masse, die das Licht zu schlucken schien. Wohin er seine Füße auch setzte, sie verschwanden scheinbar im Nichts. Mythor schickte sich an, die Strickleiter hinabzuklettern, als der Hüne ihn erneut ansprach. »Verzeih«, sagte er, und das klang ehrlich. »Es lag nicht in meiner Absicht, dich zu verletzen. Immerhin hast du bewiesen, daß du mit dem Schwert umzugehen verstehst wie kaum ein anderer.« Noch immer schweigend, kletterte Mythor in die Tiefe. Die Worte des Mannes, und mochten sie noch so gedankenlos hingesagt worden sein, hatten ihn zutiefst getroffen. Nie würde er das Hochmoor und seinen tausendfachen Tod vergessen können, nie den schaurigen Schall der Kriegshörner und das unglaubliche Schauspiel, als der Tag der Wintersonnenwende 244
Bahnen feuriger Lava über den Himmel ergoß und ein irrlichterndes Farbenspiel so manches Auge für immer blendete. Niemals hätte die Schlacht an jenem Ort und zu jener Zeit stattfinden dürfen. Vergebens war der Tod so vieler tapferer Krieger gewesen, das Leid so vieler Frauen und Kinder. Am Ende der Strickleiter angelangt, wurde Mythor schon von Hark und Pandor erwartet. Die Tiere schienen sich in der Nähe der versteinerten Felsen nicht wohl zu fühlen und versuchten sofort, ihn in die Steppe hinauszudrängen. »Das Einhorn…« Mythor vernahm den unterdrückten Ausruf und wandte sich um. Mit einer verlegen wirkenden Geste streckte der Hüne ihm die Hand entgegen. »Ich bin Rochad«, sagte er. »Und du mußt jener Mythor sein, von dem mancher erzählt. Sei unser Gast, solange du willst. Immerhin verdanken wir dir viel.« Er winkte die anderen zu sich heran und nannte auch ihre Namen. »Meine Tochter Mistra wird dir sicher bereits aufgefallen sein. Sie versteht es, wie ein Mann zu kämpfen, und hat auch sonst vieles mit mir gemein.« Unwillkürlich mußte Mythor grinsen. Ganz im Gegensatz zu ihrem Vater war das Mädchen nur etwa fünf Fuß und eine Handbreit groß, zartgliedrig, beinahe knabenhaft im Wuchs. Das rotbraune Haar fiel ihr offen bis auf die Schultern. Es harmonierte gut mit ihren großen dunklen Augen und unterstrich ihr verträumtes Wesen ebenso wie die kleine Nase und der ebenfalls kleine, aber vollippige Mund. Sie mochte etwa neunzehn Sommer zählen. Mythor fühlte ihren Blick zaghaft über seinen Körper tasten. Aber als er aufsah, stand in ihren Augen keine betörende Sinnlichkeit geschrieben, sondern eher Bewunderung und eine wohl schwärmerisch zu nennende Neugierde. Mistra zuckte zusammen, als sie endlich bemerkte, daß der 245
Krieger sie beobachtete. Die Röte der Verlegenheit huschte über ihre Wangen. Mythor versuchte ein Lächeln und wußte im selben Moment, daß er dieses Mädchen für sich gewonnen hatte. Rochad mochte es wohl ebenfalls nicht entgangen sein. »Du begleitest uns also«, stellte er geradeheraus fest. »Die Nacht ist nahe, und die Vogelreiter sehen nicht gerne Fremde aus dem Norden.« »Heymals?« »Ja. Auch sie haben sich entlang der Straße des Bösen niedergelassen, um die wachsenden Berge daran zu hindern, auf fruchtbares Land vorzudringen.« Aus der Ferne erklang Hufgetrappel, das rasch näher kam. Es war nur ein einzelner Reiter, aber er führte sieben Pferde hinter sich her. »Wir können die Tiere nicht den ganzen Tag über in der Nähe der Felsen anpflocken«, erklärte Rochad. »Über kurz oder lang würden sie scheuen und durchgehen.« »Was macht ihr eigentlich?« wollte Mythor wissen. »Ich bin Fischer«, erwiderte Rochad. Er schien der Meinung zu sein, damit alles gesagt zu haben. Drei der Pferde blieben ledig. Diejenigen, für die sie bestimmt gewesen waren, mochten beim Kampf mit den Schnecken den Tod gefunden haben. Mythor schwang sich in den Königssattel, dem manch bewundernder Blick galt, und ritt zwischen dem Fischer und seiner Tochter entlang der Straße nach Süden. Die Sonne senkte sich bereits zur Ruhe, und ihr Schein tauchte das Land in ein seltsames Licht, das die Entfernungen zusammenschrumpfen ließ, als man eine kleine Ansiedlung erreichte. Aus roh zugeschlagenen Steinen und Balken errichtete Hütten duckten sich tief in die Steppe. Mythor zählte zwölf dieser zum Teil windschiefen Gebäude, die alle zusammen 246
von einer fast mannshohen Mauer umgeben waren – vermutlich zum Schutz vor umherstreifenden Raubtieren. Die einzige Pforte, die er sah, konnte rasch verschlossen werden. Aus etlichen Kaminen kräuselte sich Rauch in den Abendhimmel. Es war längst nicht mehr so kalt wie während des Tages. Allerdings würde es auch eine Nacht ohne den Schimmer der Sterne sein, und selbst der Mond verbarg sich hinter den Wolkenbänken. »Du kannst in meinem Haus schlafen«, sagte Rochad, als sie abgesessen waren. »Mistra stellt dir sicher ihre Liegestatt zur Verfügung. Sie wird etwas anderes finden.« Das Mädchen nickte eifrig. »Ich bin es gewohnt, im Freien zu nächtigen«, wandte Mythor ein. Aber um den Fischer, der entschieden ablehnte, nicht zu beleidigen, stimmte er schließlich doch zu. »Nur eines noch«, wollte er dann wissen. »Wer nannte dir meinen Namen?« Da war die Hoffnung, Nottr und Steinmann Sadagar könnten es gewesen sein. Sicher warteten sie bereits beim Koloß von Tillorn auf ihn und machten sich Sorgen über sein Ausbleiben. »Ein ugalischer Krieger berichtete von dir«, antwortete Rochad. »Du wirst ihn nicht kennen. Tarmino, glaube ich, war sein Name.« »Wo hält er sich jetzt auf?« Der Fischer breitete die Arme aus. »Was weiß ich! Es zog ihn fort von hier, weiter nach Süden.«
Der Raum war winzig, maß vielleicht drei Schritt im Viereck. Obwohl die Müdigkeit ihn plagte, konnte Mythor nicht einschlafen. Er hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und starrte hinauf zur Decke, wo das Licht einer kleinen Öllampe 247
flackernde Schatten warf. In Gedanken vernahm er den Schrei des Bitterwolfs, hörte das Stampfen der Churkuuhl-Yarls, als diese die weite Steppe überquerten. Sosehr er sich auch mühte, er besaß keine Erinnerung an die Geschehnisse, die inzwischen etwa siebzehn Sommer zurücklagen. Aber Mythor hoffte, daß Hark ihn zu jener Stelle hinführen würde, wo die Marn ihn gefunden hatten. Das Geräusch leiser Schritte schreckte ihn aus seinen Überlegungen auf. Ein Luftzug bewegte den Vorhang, der diesen Raum abtrennte. Mythor richtete sich halb auf, seine Rechte griff nach dem Gläsernen Schwert. Lautlos kam er auf die Beine und huschte zum Vorhang. Er hörte hastiges, gepreßtes Atmen. Mit einer blitzschnellen Bewegung riß er den schweren Stoff zur Seite. Alton verbreitete einen gedämpften Schimmer, der ihn weiche, mädchenhafte Züge erkennen ließ. »Mistra!« Sie eilte auf ihn zu. »Ich mußte dich sehen, Mythor. Du bist so… so anders als die Männer, die ich kenne. Wenn sie mich ansehen, spüre ich ihr Verlangen, mich zu besitzen. Dein Blick hingegen war voll Verständnis und Güte.« »Bei Quyl, du verkennst mich.« »Gewiß nicht. Mein Gefühl sagt mir, daß du nicht fähig bist, Böses zu tun.« Mistra ließ sich auf einem Hocker nieder und sah ihn aus ihren dunklen Augen nachdenklich an. »Ich will dich nicht stören, falls du Schlaf brauchst. Aber bitte, schicke mich nicht fort.« »Und dein Vater…« »Rochad.« Wie sie es sagte, klang es beinahe verächtlich. »Er ist bei Freunden und läßt den Wein durch seine Kehle laufen. Das tut er oft. Bevor die Morgendämmerung heraufzieht, wird 248
er ganz sicher nicht zurückkommen.« »Hör zu, Mädchen«, Mythor streckte sich wieder auf seinem Lager aus und stützte den Kopf auf, »du kannst mir von euch und diesem Land erzählen. Ich glaube, du bist nicht für diese Wildnis geschaffen, obwohl du mit dem Schwert umzugehen verstehst.« Sie nickte. »Ich träume oft von einem Reich, in dem alles anders ist, wo Friede herrscht und die Menschen im Überfluß leben. Ich nenne es das Reich des Mondes, denn manchmal, wenn sein goldener Schein auf die Steppe fällt, scheinen meine Träume wahr zu werden. Dann wiegt sich das Gras im Wind wie die rauschenden Wogen des Ozeans, dann kann ich mich frei fühlen und glücklich… Sag mir, Mythor, gibt es dieses Land wirklich?« Der Kämpfer der Lichtwelt zögerte. Was Mistra gesagt hatte, berührte ihn auf eigenartige Weise. Durfte er ihre Hoffnungen zerstören? »Ich denke«, begann er schließlich, »dein Reich wird Wirklichkeit werden, wenn eines Tages die Schatten von dieser Erde verbannt sind und der Einfluß alles Verderblichen erloschen ist. Vielleicht existiert es auch jetzt schon, irgendwo, weit von uns entfernt. Du kannst es wohl spüren, wenn du daran glaubst, denn die Hoffnung vermag oftmals Berge zu versetzen.« Mistra beugte sich zu ihm hinab und hauchte ihm einen flüchtigen Kuß auf die Stirn. »Danke«, sagte sie. »Du gibst mir den Mut zurück, in Zeiten wie diesen auszuharren.« Aus irgendeinem Grund, den er selbst nicht ganz verstand, nahm Mythor das Mädchen nicht in seine Arme. Er fühlte, daß sie anders war – anders als so viele, die einem starken Mann gerne die Freuden der Liebe schenkten. Sie schien in einer Welt zu schweben, die nur halb der Wirklichkeit angehörte. Lange Zeit saß Mistra nur da und hielt die Augen ge249
schlossen. Auch Mythor brach das Schweigen nicht. Er beobachtete sie nur. An ihr war nicht viel Weibliches, und doch wirkte sie auf ihre Art anziehender als viele andere Frauen. Sie trug ein bis an die Hüften reichendes, weit geschnittenes Gewand aus rotem Wollstoff, das mit einer Kordel gegürtet war. Dazu enganliegende, abgewetzte Lederhosen und weiche Schuhe mit verstärkter Sohle. Also nicht unbedingt die Kleidung, die ein junges Mädchen reizvoll erscheinen ließ. »Du wolltest, daß ich dir von diesem Land erzähle«, sagte sie endlich. »Es ist nicht schön, und es fordert uns viel Schweiß und Tränen ab. Die Schatten sind allgegenwärtig, und niemand kann sie fassen. Aber sie verderben uns, lassen Frauen hysterisch werden und Männer zu Böcken. Immer wieder höre ich, daß es bei meiner Geburt noch anders war. Dann allerdings stampften Dämonen durch die Steppe, und das Gebirge des Schreckens begann zu wachsen. Anfangs noch unbeachtet, später unbesiegbar. Heute sind Salamiter und Heymals an vielen Stellen dabei, Brücken über die Versteinerungen zu schlagen. Aber alle ihre Bemühungen werden über kurz oder lang zunichte. Die Felsen bewegen sich unaufhaltsam und zermalmen, was ihnen im Weg ist.« »Dein Vater nennt sich Fischer…« »Weil die Felsen aussehen wie die Korallenbänke des Meeres und weil wir Männer und Frauen an langen Seilen in die Tiefe hinablassen, wo kostbare Dinge zu holen sind. Allein die Gehäuse der Riesenschnecken finden vielfache Verwendung. Mancher Magier vermag aus ihnen die Zukunft zu erkennen. Dann gibt es Pflanzen, deren Gifte einen Menschen über Monde hin lähmen oder gar töten. Sie sind eine begehrte Handelsware, aber schwer zu erbeuten. Noch gefährlicher ist die Suche nach den Schwarzperlen, von denen manche größer werden als meine halbe Faust. Ihnen haftet eine deutlich spürbare magische Ausstrahlung an, die allerdings außerhalb der Straße 250
des Bösen erlischt. Indes bleiben sie selbst dann von einer Schwärze, die jegliches Licht zu schlucken scheint.« »Diese Leute, die in die Schluchten hinabsteigen, sind das alles Freiwillige?« Mythor dachte daran, daß ein einzelner sich wohl kaum der vielen Gefahren erwehren konnte. Zum anderen ahnte er plötzlich, weshalb Rochad ihn des öfteren überaus interessiert und lauernd zugleich angesehen hatte. Glaubte der Fischer gar, in ihm einen »Freiwilligen« gefunden zu haben? Rochad schien nämlich durchaus der Mann zu sein, der dem Schicksal auf die Sprünge half, wenn es ihm einmal nicht wohlgesinnt war. Mistra wollte gerade antworten, als von draußen das kurze Bellen des Bitterwolfs erklang. »Ich sehe nach«, sagte sie, noch ehe Mythor sich aufrichten konnte. Er lauschte ihren leisen Schritten. Hark war wieder verstummt, hatte vielleicht nur ein nächtliches Raubtier gewittert, das auf seinem Beutezug in die Nähe der Siedlung gelangt war. Dennoch wurde Mythor das unbestimmte Gefühl nicht los, daß sich um ihn herum einiges zusammenbraute. Er glaubte das Verderben zu spüren, das in der Nähe lauerte. War da nicht ein ersticktes Röcheln, gefolgt von dem schweren Fall eines Körpers? Im nächsten Moment stand Mythor auf den Beinen und löschte die Lampe. Hastig warf er eine Decke über Altons Klinge, um das verräterische Leuchten zu verbergen. Jemand bewegte sich durch den Nebenraum, schlich näher. Es waren vorsichtige, schlurfende Schritte, nicht die von Mistra. Eines der Dielenbretter knarrte. Stille. Mythor ließ den Vorhang nicht aus den Augen. Einige Falten des schweren Stoffes bewegten sich wie unter einem leichten Windhauch. 251
Mit bösartigem Sirren flog etwas an Mythors Schläfe vorbei und ritzte fast seine Haut. Tief bohrte es sich in die Wand hinter ihm. Der Kämpfer der Lichtwelt sprang vor, riß mit der Linken den Vorhang beiseite und wirbelte Alton durch die Luft. Aber da war niemand. Der Raum mit der flackernden Glut im Kamin lag leer und verlassen vor ihm. Nur die Tür hing halb geöffnet in den Angeln, doch konnte niemand sie innerhalb eines einzigen Augenblicks erreicht haben. Da der Angreifer dennoch verschwunden war, mußte er sich wohl in Luft aufgelöst haben. Mythor trat ins Freie hinaus. Hier herrschte fast völlige Dunkelheit, und es war schwer, sich auf Anhieb zurechtzufinden. Nur an der Mauer brannte ein Feuer. Sein Schein blendete, und die Flammen warfen gespenstisch zuckende Schatten. Wenige Schritte von Mythor entfernt lag eine reglose Gestalt am Boden. Es war Mistra. Und neben ihr kauerte der Bitterwolf und stieß sie immer wieder mit seiner feuchten Schnauze an. Mythor war erleichtert, daß das Mädchen nur bewußtlos war. Mehrmals schlug er sie mit der flachen Hand ins Gesicht, bis sie endlich wieder zu sich kam. Mistra erwachte mit einem gellenden Schrei, der wohl jeden Schlafenden hochriß. Ihr Blick zeigte deutliche Verwirrung. Was immer sie gesehen hatte, mußte schrecklich für sie gewesen sein. Ringsum wurden nun Stimmen laut. Die Salamiter kamen mit brennenden Fackeln aus ihren Hütten herausgestürmt. Viele von ihnen waren zwar nur spärlich bekleidet, doch alle hielten sie Waffen in Händen. »Was ist geschehen?« Rochad schien mehr um den Fremden besorgt als um seine Tochter. Aus seinem Blick sprach der reichlich genossene Wein. 252
»Jemand wollte mich töten«, sagte Mythor. »Er muß aus einer der Hütten gekommen sein.« »Ganz ausgeschlossen«, protestierte der Fischer lautstark. »Niemand von uns würde einen… würde dir schaden wollen. Hast du Beweise für deine Behauptung?« »Komm mit!« Mythor wandte sich einfach um und ging voraus. In der Wand neben seinem Lager steckte noch der Dolch, den der Unbekannte nach ihm geworfen hatte. »Vorsichtig!« rief Rochad erschrocken aus, als Mythor die scharfe Klinge mit einer heftigen Bewegung aus dem Holz zog. Auf dem Metall glänzte eine ölige Flüssigkeit im Schein der Fackeln. »Das ist Gift aus den Bergen. Verletze dich nicht daran, denn das wäre dein sicheres Ende.« Abschätzend wog Mythor den Dolch in der Hand. Er kannte jemanden, der zwölf Stück besaß, die genauso aussahen. Aber Steinmann Sadagar würde ihm niemals nach dem Leben trachten. Noch dazu mochte er zu dieser Stunde etliche Tagesreisen weit entfernt sehnlichst auf ihn warten. Also nur ein Zufall? »Kennt jemand diesen Dolch?« Mythor hob die Waffe hoch, daß alle sie sehen konnten. In keinem der Gesichter zeichnete sich eine Regung ab. »Niemand? Nun gut.« Er stieß die Klinge tief ins Holz zurück, bevor er die Hütte wieder verließ. Die Menge zerstreute sich schnell, lediglich Mistra blieb bei ihm. »Ich wußte es«, sagte sie. »Ich ahnte es gleich, als ich dich sah, daß du etwas Besonderes bist. Der Gesichtslose wollte dich also töten.« Mythor horchte auf. »Wen hast du gesehen, Mistra? Erzähle!« »Das… war kein Mensch.« Das Mädchen begann hemmungslos zu schluchzen. Erst als Mythor ihm besänftigend seinen Arm um die Schultern legte, verstummte es. 253
»Ich muß wissen, wer dir begegnet ist. Es ist wichtig für mich. Wie sah er aus? War sein Gesicht vielleicht wie aus Glas, nicht aus Fleisch und Blut?« Mistra nickte stumm. »Wie schwarzer Nebel«, sagte sie schließlich. »Und eiskalt.« Ein Dämonisierter, vielleicht gar von Drudin selbst auf seine Spur gesetzt. Mythor begann zu begreifen, wie knapp er wirklich dem Tod entgangen war. »Komm!« Er nahm das Mädchen bei der Hand. »Wir gehen wieder hinein.« Sie schlossen die Tür hinter sich, und Mistra entzündete die kleine Lampe von neuem. »Wer war hier?« rief Mythor plötzlich aus. »Ich habe niemanden hineingehen sehen.« Mistra zuckte mit den Schultern. Sie schien noch immer unter dem Einfluß des Erlebten zu stehen. »Der Dolch ist verschwunden. Jemand muß ihn an sich gebracht haben.« »Vielleicht waren sie hier.« »Wer sind sie?« »Die Stummen Großen oder auch andere Große. Ich sagte dir doch, daß du etwas Besonderes bist.« »Niemand kann durch feste Mauern hindurchgehen.« »Glaub das nicht, Mythor! Die Großen vermögen Dinge zu tun, die du dir niemals würdest träumen lassen. Ich kenne sie besser als jeder andere in Salamos, weil ich ihre Sprache beherrsche und seit meiner Kindheit immer wieder Hilfsdienste für sie leiste. Sie sind so etwas wie ein Geheimbund.« »Ich habe nie von ihnen gehört. Kämpfen sie für das Licht?« »Das Licht…?« wiederholte Mistra verwundert. »Dann…« Sie schwieg plötzlich und schien angestrengt nachzudenken. »Du reitest das Einhorn. Ja, irgendwann habe ich Stumme Große davon reden hören. Sie warten auf jemanden, der…« 254
Schreie wurden laut, dazwischen Geräusche, die Mythor nur zu gut kannte. Es sah aus, als sollte er in dieser Nacht nicht mehr zur Ruhe kommen. Schon wurde die Tür aufgerissen. Rochad stürmte herein, in einer Hand eine halb geleerte Karaffe, in der anderen sein Schwert, das er heftig schwang. »Heymals!« brüllte er. »Sie greifen uns an.«
Her Thylon starrte auf den Dolch, von dem er nicht wußte, wie er in seine Hände gelangt war. Er verspürte eine nie gekannte Übelkeit in sich aufsteigen. »Töten solltest du ihn!« hallte es in ihm. »Töten, nicht ihn warnen.« »Aber ich…« »Du hast versagt, Magier, und dafür gibt es nur eine Strafe.« Her Thylon zitterte. Weshalb vermochte er den Blick plötzlich nicht mehr von dem Dolch in seiner Hand abzuwenden? Er verstand nicht ganz. Ohne daß er selbst es wollte, hob sich seine Hand mit der Waffe. Unaufhaltsam näherte sich die Klinge seinem Herzen. Her Thylon wollte schreien, aber die Kehle war ihm wie zugeschnürt. Krampfhaft schluckend rang er nach Atem. »Verdammt sollst du sein, verflucht in alle Ewigkeit!« preßte er hervor. Der Dämon, der von ihm Besitz ergriffen hatte, lachte nur. Bruchteile eines Augenblicks, bevor der eigene Arm ihn meuchelte, erkannte der Magier, was mit ihm geschehen war. Er würde zu den Unglückseligen gehören, vor denen sogar die Geier zurückschreckten. Schaum quoll aus seinem Mund, als er stürzte. Schnell zerfiel sein Körper zu Asche, und ein Wind hob an, der sie in alle Himmelsrichtungen verstreute. 255
Noch lange hallte dämonisches Gelächter über jenen Ort. Doch kaum einer hörte es, denn das Lachen verwehte schließlich mit dem Wind, das Klirren aufeinanderprallender Schwerter aber blieb.
Es mochten zwanzig Vogelreiter sein, die wie die wilde Jagd über die schlaftrunkenen Bewohner der Siedlung hereinbrachen. Für ihre Diromen war die schützende Mauer kein Hindernis. Die Stärksten ihrer Art, die bis zu drei Mannslängen hoch waren, schlugen allein mit ihren Schädeln weite Breschen. Hier und da suchten Salamiter ihr Heil in der Flucht. Die Heymals ließen sie gewähren, ohne ihnen auf ihren schnellen Tieren nachzusetzen. Mythor starrte durch eine beschlagene Scheibe hinaus in das Dunkel der Nacht. »Geschieht das öfters?« wollte er von Rochad wissen, der in diesem Augenblick keinen sehr tapferen Eindruck machte. Der Fischer schüttelte den Kopf und nahm einen tiefen Schluck aus der Karaffe, bevor er sie mit einer wütenden Bewegung von sich schleuderte. »Es ist das erste Mal, daß sie uns überfallen.« »Sie tun nichts, ohne einen Grund dafür zu haben«, sagte Mistra. »Mag sein, daß sie auf dasselbe Ereignis warten wie die Großen… Nur werden sie ihre Waffen sprechen lassen. Und das im Namen Shallads.« Brennende Fackeln tanzten durch die Nacht. Mythor konnte erkennen, daß ein Teil der Vogelreiter sich anschickte, die Hütten zu durchsuchen. Salamiter, die sich ihnen mutig entgegenstellten, wurden niedergeschlagen. »Nicht! Bleib hier!« Mistra wollte Mythor zurückhalten, als er zur Tür eilte. Aber er stieß sie kurzerhand zur Seite. 256
»Sie wollen dich!« rief sie ihm hinterher. »Ja.« Der Kämpfer der Lichtwelt blieb noch einmal stehen und drehte sich nach ihr um. »Ihr sollt da nicht mit hineingezogen werden. Ich habe den Shallad Hadamur gelästert.« »Du?« stieß Mistra hastig hervor. »Nur jemand, der sich berufen fühlt, wird es wagen…« Die letzten Worte hörte Mythor bereits nicht mehr. »Warte!« rief sie ihm nach. »Mythor, komm zurück!« »Laß ihn in Ruhe!« herrschte Rochad sie an. »Er soll kämpfen, wie es sich für einen seines Schlages gehört.« Ein listiger Zug umspielte seine Mundwinkel. »Ich bin sicher, daß er viele Schwarzperlen für uns holen wird.« Das Krächzen eines Tieres übertönte den aufbrandenden Lärm. Rochad konnte gerade noch sehen, daß ein Diromo stürzte und dabei die nächste Hütte in Trümmer legte. Jemand hatte dem Laufvogel mit wohlgezielten Schwerthieben die Fußsehnen durchtrennt. Die anderen, überwiegend kampfstarke Orhaken, begannen unruhig zu werden. Deutlich war zu erkennen, daß ihre Reiter Mühe hatten, sie zu bändigen. Die Verwirrung ausnutzend, gelang es einigen Salamitern, in den Rücken der Angreifer zu kommen. Rochad suchte nach Mythor. Er fand ihn schließlich dort, wo das Getümmel am größten war. Der Krieger aus dem Norden schien diese Art des Kampfes bereits gewohnt. Er wußte genau, daß ein einziger Schnabelhieb tödlich sein konnte, und er verstand es geschickt, den angreifenden Vögeln immer wieder auszuweichen. Mehr als hundert Schritt entfernt, in unmittelbarer Nähe der Mauer, schlugen Flammen aus einem der Häuser. Krachend brach das Gebälk des Dachstuhls in sich zusammen, und ein Funkenregen stob in den Himmel empor. Das Feuer drohte 257
auf die nächsten Gebäude überzugreifen. Rochad sah einige Beherzte mit ledernen Eimern rennen. Zischend erstarben die ersten Flammenzungen unter den Wassergüssen, doch nur um gleich darauf noch heftiger wieder aufzulodern. Dann fegte dröhnender Donnerhall über die Hütten hinweg. Gleichzeitig stieg eine blendende Feuersäule steil in den Himmel empor. Der Fischer wußte, daß damit nahezu sämtliche Ölvorräte vernichtet waren. Die Kampfvögel brachen endgültig in Panik aus. Mochten sie ihren Reitern noch so treu ergeben sein, das Feuer erschreckte sie. Manches Orhako verschwand mit weit ausgreifenden Sätzen im Dunkel, gefolgt von den noch schnelleren Diatren. Selbst die behäbigen Diromen gehorchten dem Zwang ihrer Herren nicht mehr. Nur fünf Heymals wußten sich in den Sätteln zu halten und die Tiere, die sie ritten, zu beruhigen. Ihnen galt nun der ganze Zorn der Salamiter. Breitbeinig stand Mythor da, das Gläserne Schwert zum Schlag erhoben. Mit dem Rücken lehnte er an der Wand einer Hütte. Er hätte von sich aus angreifen können, aber er tat es nicht. Sein Blick suchte nach einem ganz bestimmten Orhako und dessen Reiter, weil er überzeugt davon war, daß kein anderer einen Grund für diesen nächtlichen Überfall hatte. Kußwind hieß das Tier – so genannt wegen seiner mörderischen Schnabelhiebe und seiner geradezu unglaublichen Schnelligkeit. Zweifellos war es eines Anführers würdig. Ein Tier wie dieses würde niemals vor Schreck seinen Herrn abwerfen. Ein Schemen tauchte aus den träge über dem Boden dahintreibenden Rauchwolken auf. »Mythor!« Haß und Genugtuung zugleich schwangen in dem Ausruf mit. 258
Der Kämpfer der Lichtwelt sah Hrobon mit gemischten Gefühlen entgegen. Er hatte diesen Mann einmal besiegen können, ob ihm das aber wieder möglich sein würde, wagte er zu bezweifeln. Hrobon war gewarnt und wußte, worauf er sich einließ. »Sage deinen Leuten, sie sollen die Salamiter in Frieden lassen. Du hast nun, was du wolltest: mich.« »Ganz recht, Mythor.« Der Heymal brüllte einige Befehle, woraufhin der Kampflärm sofort verstummte. »Aber glaube ja nicht, daß ich meine Niederlage vergessen habe.« »Du bist gekommen, um mich zu töten?« »Im Namen von Shallad Hadamur.« Hrobon hieß einen seiner Krieger, auf Kußwind zu achten, dann ließ er sich zu Boden gleiten. Er war nur mit der Hälfte seiner Schar gekommen, hatte Mythors Spur vielleicht nur zufällig gefunden, während die anderen Vogelreiter noch immer irgendwo in der Steppe nach dem Frevler suchten. »Diesmal werde ich dich besiegen, Sohn des Kometen.« Verächtlich spuckte Hrobon aus. Über ihnen krächzte der Schneefalke, und Pandor, hinter einer der Hütten angepflockt, antwortete mit kläglichem Wiehern. In ohnmächtigem Zorn mußte Mythor mit ansehen, wie einer der Heymals seinen Bogen spannte. Doch Horus brachte sich mit einigen Flügelschlägen in Sicherheit. Den Augenblick, in dem Mythors Aufmerksamkeit abgelenkt war, verstand Hrobon auszunutzen. Mit schwungvoll geführter Klinge drang er auf seinen Widersacher ein, der dem Stoß nur deshalb noch entging, weil er sich blitzschnell fallen ließ und abrollte. Hrobon taumelte ins Leere, während Mythor zwei Schritt von ihm entfernt wieder auf die Beine kam. Der Heymal stieß einen wütenden Schrei aus und sprang erneut vor. Diesmal mußte Mythor seinen Hieb parieren. Altons Wehklagen vermischte sich mit dem Klirren der Waffen. 259
Hrobon legte die Kraft seines ganzen Körpers in die Schläge. Er führte sein Schwert mit beiden Händen und drängte Mythor weg von der Hütte, wo er fürchten mußte, seine Klinge an der Mauer zu zerbrechen. Noch verteidigte sich der junge Krieger mit scheinbar spielerischer Leichtigkeit, und sein Schwert zog blitzende Kreise. Aber allmählich wurde auch sein Arm schwer, bekamen seine Bewegungen etwas Eckiges. Der Kampf währte schon den vierten Teil einer Stunde, als es aussah, als würde Hrobon die Oberhand gewinnen. Der Heymal hatte auch allen Grund zu triumphieren. Unverhofft glitt Mythor aus und stürzte rückwärts zu Boden. Im Nu war Hrobon über ihm und stieß zu. Abermals entging Mythor der todbringenden Klinge, indem er sich im letzten Moment zur Seite wälzte. Neben seiner Schulter fuhr das Schwert in die weiche Erde. Hrobon schrie auf, als Mythors Beine auf ihn zuschnellten und sich wie eine eiserne Klammer um seine Hüfte legten. Dann stürzte auch er, und der Sohn des Kometen schmetterte ihm mit einem Fußtritt die Waffe aus der Hand. Schwer atmend und schweißüberströmt drückte Mythor ihm die Spitze Altons auf die Brust. »Du solltest in der Wahl deiner Gegner zurückhaltender sein, Hrobon«, keuchte er. »Ich werde dich nicht töten, doch ein gewisses Pfand…« »Nicht, Vater!« gellte Mistras Schrei. Aus den Augenwinkeln heraus sah Mythor einen Schatten auf sich zuhuschen. Aber als er herumwirbelte, war es bereits zu spät. Hart schmetterte etwas auf seinen Hinterkopf. Er nahm noch wahr, daß er fiel, dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Es war das Gefühl, haltlos durch die Luft zu fallen, das ihn 260
wieder zu sich brachte. Brennender Schmerz durchflutete ihn, als er versuchte, die Augen zu öffnen. Offenbar fiel er wirklich. Man hatte ihm ein Seil unter den Armen hindurchgeschlungen, an dem er nun langsam in eine Ungewisse Tiefe hinabglitt. Zum Greifen nahe sah Mythor rötliche Felsen vor sich. Überall hatte sich dunkler Staub angesammelt, der unzähligen Pflanzenarten als Nährboden diente. Sie wucherten selbst dort, wo ihre Wurzeln kaum noch ausreichenden Halt fanden, und sie streckten sich Mythor gierig entgegen. Seine Rechte zuckte zum Schwert. Aber da baumelten nur eine armlange Stange aus Eisen und ein lederner Beutel an seinem Gürtel. Der Blick zurück zeigte ihm spöttisch grinsende Gesichter. Rochad stand über ihm auf einem schmalen Steg und ließ das Seil langsam durch seine Finger laufen. Plötzlich erinnerte Mythor sich wieder daran, daß der Fischer es gewesen war, der ihn hinterrücks niedergeschlagen hatte. »Ich sehe, dir geht es besser«, rief Rochad zu ihm herab. »Du hast eine Aufgabe bekommen, Mythor, und ich bin sicher, du wirst sie zu meiner Zufriedenheit erfüllen. Bringe mir Schwarzperlen, so viele du erbeuten kannst. Die Schnecken lassen sie zwischen den Korallen zurück. Aber sieh dich vor, die Giftpflanzen sind heimtückische Gewächse.« Mythor blieb keine andere Wahl. Vielleicht bot sich ihm später eine Gelegenheit zur Flucht, wenn er das hier heil überstand. Denn zweifellos hatten schon viele vor ihm ihr Leben lassen müssen. »Was ist aus meinen Tieren geworden?« Er war gezwungen zu schreien, denn die Entfernung zu Rochad wuchs stetig an. »Und wo sind mein Schwert und der Helm?« Die Antwort, die er erhielt, wurde dumpf und verzerrt von den Felsen zurückgeworfen: »Hrobon hat deine Ausrüstung 261
als Beute an sich genommen. Der Falke ist verschwunden. Deinen Wolf haben wir verjagt. Er wird durch die Steppe streunen und irgendwann von den Vogelreitern erlegt werden. Das Einhorn allerdings konnten wir nur mit Mühe bändigen. Hrobon ist mit ihm als Geschenk für den Shallad in die Heymalländer unterwegs.« Endlich spürte Mythor festen Boden unter den Füßen. Ringsum herrschte ein düsteres Zwielicht, das es schwermachte, Gefahren rechtzeitig zu erkennen. Manchmal wollte es scheinen, die Felsen bewegten sich. Doch mußte der Kämpfer der Lichtwelt immer wieder erkennen, daß er sich von Schatten narren ließ. Er überlegte, ob er das Seil um seinen Körper lösen sollte, um sich ungehindert bewegen zu können, entschied sich schließlich aber dagegen. Von irgendwoher ertönten schrille Geräusche mit sich wiederholender Regelmäßigkeit. Noch schien ihr Ursprung weit entfernt zu sein, aber sie kamen unzweifelhaft näher. Mythor wußte, daß die Schnecken diese Laute hervorbrachten. Nachdenklich wog er die Eisenstange in Händen. Und dann schmetterte er sie mit zermalmender Wucht gegen die Felsen, gerade als sich ihm glitschige Fangarme entgegenstreckten. Ein Schwall dunkel gefärbter Flüssigkeit ergoß sich über den Boden, wo sie blasenwerfend verdampfte. Zurück blieben ein mehr als eine Handspanne tiefes Loch und ein geradezu abscheulicher Gestank, der sich lähmend auf die Atemwege legte. Mythor torkelte weiter. Das Seil verfing sich an einem Vorsprung und riß ihn von den Füßen. Er schlug hart auf, die Stange entglitt ihm. Für eine Weile blieb er schwer atmend liegen. Er fühlte, daß der Tod hier unten in vielerlei Gestalt lauerte. Die Begegnung mit einer Schnecke würde er ohne brauchbare Waffe kaum überstehen. Als er sich wieder erhob, gewahrte er eine merkwürdige 262
Dunkelheit vor sich. Inmitten der rötlichen Dämmerung gab es so etwas wie einen Ort vollkommener Finsternis. Die Schwärze schien ihren Ursprung zwischen den Felsen zu haben. Sie saugte das Licht an wie ein trockener Schwamm das Wasser. Vorsichtig, das Eisen fest umklammert, näherte Mythor sich. Die Ausstrahlung des Bösen wurde stärker, je weiter er kam. Noch etwa vierzig Schritt von ihm entfernt endete die Schlucht. Mythor konnte es von seinem Standort aus nicht erkennen, doch nahm er an, daß der Fels noch einmal steil in die Tiefe abfiel, denn da war kein Horizont, er sah nur düstere Wolken, die langsam über den Himmel trieben. Ihre Ränder erstrahlten im Schein der aufgehenden Sonne. Die Schwärze hingegen nahm ihren Ausgang von einem merkwürdig schillernden, etwa mannshohen Gebilde. Mythor hatte bisher nur Schnecken ohne Haus zu Gesicht bekommen, aber er vermutete, daß es sich um ein solches handelte. Die Dunkelheit begann ihn zu faszinieren. In ihr manifestierte sich etwas Geheimnisvolles, etwas, das den menschlichen Sinnen verschlossen blieb. Für Mythor war das düstere Wallen wie eine Prophezeiung. Er bemerkte nicht, daß sein Wille allmählich erlahmte. Ohne sich dessen bewußt zu werden, setzte er einen Fuß vor den anderen. Die Schlucht wurde enger, maß schließlich kaum noch zwei Mannslängen. Zu beiden Seiten stiegen die Felswände nun fast senkrecht in die Höhe. Überall wucherten Pflanzen, deren Äste in unaufhaltsamer Bewegung begriffen waren. Und doch schnellten sie sich Mythor nicht entgegen, sondern ließen ihn unbehelligt an sich vorüber. Das Böse trat immer deutlicher hervor. Komm! lockte es. Immer wieder. Der Kämpfer der Lichtwelt konnte den Einflüsterungen nicht widerstehen. Unmittelbar vor ihm gähnte der Abgrund. Im Osten stand die Sonne dicht über dem Horizont, ihre Strahlen 263
blendeten ihn, als er aufsah. Mythor wußte, daß es eine Schwarzperle war, die in der Leere des Schneckenhauses seiner harrte. Dieses runde Gebilde von der Größe eines Eis war es auch, von dem die geradezu undurchdringliche Schwärze ausging. Ein Sendbote der Schattenzone, geboren von den dämonischen Mächten, die Churkuuhl auf seiner Generationen währenden Wanderschaft in die Lande getragen hatte. Noch zögerte Mythor, die Hand danach auszustrecken, doch sein Geist litt unter einem fremden Einfluß. Immer stärker wurden die Zweifel an der Richtigkeit seines Tuns. Niemand würde je die Schatten vom Erdboden vertilgen können. Er hatte es in den Bildern in der Gruft der Gwasamee deutlich gesehen. Erst sprossen sie mit winzigen Wurzeln im Untergrund, dann brachen sie plötzlich aus der verbergenden Krume hervor und schlichen sich in die Herzen der Menschen, ein langsames, aber tödlich wirkendes Gift verbreitend. Mythor zitterte. Die Eisenstange, seine einzige Waffe, die er wieder aufgenommen hatte, schien mit einemmal unsagbar schwer. Erscholl da nicht der Schrei des Bitterwolfs – unten in der Weite der Steppe? Für einen flüchtigen Augenblick verdrängte der Laut die beginnende Mutlosigkeit. Mythor starrte hinab in die Tiefe, die sich ihm seltsam verschwommen darbot. Er sah die Bewegung, doch vermochte er nicht zu begreifen, was sie für ihn bedeutete. Endlich erkannte er, daß drei Reiter sich dem Felsen näherten. Im Licht der tief stehenden Sonne ging ein düsteres Funkeln von ihnen aus, als trügen sie eherne Rüstungen. Mythor fühlte einen Stich in seinem Herzen, als einer von ihnen sein Pferd zügelte und geradewegs zu ihm heraufsah. »Coerl O’Marn«, flüsterte er mit bebender Stimme. Der Name schien von geradezu magischer Wirkung, denn 264
kaum daß er ihn ausgesprochen, klärte sich sein Blick. Deutlich konnte er jetzt die Schlangenhaut erkennen, die sich eng anschmiegte. Wäre nicht Nyalas schrecklicher Tod gewesen, er hätte das Vorhandensein dieser zweiten Haut wohl kaum bemerkt. So aber wußte er, daß sich Drudins Dämon darin verbarg. Mittlerweile hatten die Todesreiter den Fuß der Steilwand erreicht und waren von ihren Pferden abgesessen. Herzog Krude blickte nun ebenfalls zu Mythor herauf. Er schickte sich an, die Felsen emporzuklettern. Nur wenig mehr als zehn Mannslängen trennten ihn vom Sohn des Kometen, aber die Wand war glatt und ohne sichtbare Vorsprünge. Doch wie von Zauberhand geleitet, fand der Herzog immer wieder ausreichenden Halt. Auch schien es, als würden die Versteinerungen vor ihm zurückweichen und ihm derart den Aufstieg erleichtern. Mythor wußte, daß Drudins Sendboten kamen, um ihn zu töten. Was konnte er schon mit seiner Stange aus Eisen gegen ihre Waffen ausrichten? Er durfte nicht an Nyala denken und daran, daß es ihr Vater war, dem er sich bald stellen mußte. Würde er es wirklich fertigbringen, Herzog Krude zu töten, um sein eigenes Leben zu retten? Freund, nannte er ihn in Gedanken. Ich habe dich einmal verraten und finsteren Mächten in die Fänge getrieben. Es tut mir leid. Er konnte es nicht tun. Den kantigen Felsbrocken, den er eben aufgehoben hatte, schmetterte er zwar in die Tiefe, doch flog dieser weit an Krude vorbei, ohne den Dämonisierten zu gefährden. Auch Coerl O’Marn und Oburus stiegen nun in die Wand ein. Völlig unerwartet straffte sich das Seil, das noch immer um Mythors Brustkorb lag. In seiner ersten Überraschung gab er 265
dem Zug nach und stolperte etliche Schritte weit zurück. Aber wenn Rochad ihn nach oben holte, würde das die Entscheidung nur hinauszögern. Der Kämpfer der Lichtwelt wußte, daß er sich Drudins Häschern stellen mußte. Indes kam er nicht dazu, das Seil zu lösen, weil sich plötzlich biegsame Tentakel um seine Beine schlangen. Noch während er fiel, zerschmetterte er mit der Stange das Schneckenhaus. Ein Ächzen schien durch den Berg zu gehen, als die Schwarzperle davonrollte und im Abgrund verschwand. Mythor war es, als streife ihn der Hauch des Todes, ohne ihn jedoch erreichen zu können. Schlagartig wich die Finsternis einem rötlichen Schein. Dornenbewehrte Äste peitschten sein Gesicht und rissen ihm das Eisen aus der Hand. Eng legten sie sich um seinen Körper und behinderten ihn in seinen Bewegungen. Aber noch wurde er von dem Seil, das tief in sein Fleisch einschnitt, über den Boden geschleift. »Mythor!« Im ersten Moment wußte er nicht, wer den Ruf ausgestoßen hatte, aber da klirrte auch schon neben ihm eine funkelnde Klinge auf den Fels und durchtrennte Äste und Wurzeln. Mistral Die Tochter des Fischers kämpfte wie ein Mann. Mit dem Mut, den die Verzweiflung ihr gab, ließ sie ihr Schwert kreisen. Mythor kam wieder frei. »Zurück!« rief das Mädchen ihm zu. »Sie bringen dich in Sicherheit.« »Ich werde nicht ohne…« »Geh endlich, oder alles war umsonst!« Ein Schwall ätzender Flüssigkeit ergoß sich über sie. Gleichzeitig peitschten unzählige Tentakel aus der Höhe herab. Mistra schrie auf. Dornen zerfetzten ihre Kleidung, giftige Nesseln verbrannten ihre Haut und hinterließen nässende Ge266
schwüre. Mit einem erstickten Gurgeln verstummte sie. Nur das Schwert führte sie noch immer mit ungestümer Wildheit. Abgeschlagene Pflanzenteile krümmten sich auf dem Boden; manche von ihnen schienen ein gespenstisches Eigenleben zu entwickeln und tasteten auch jetzt noch nach ihr. Mistra hörte nicht, was Mythor ihr zurief, sah nicht den verzweifelten Ausdruck in seinen Augen. Sie schien auch nicht zu spüren, daß an ihren Händen das Fleisch bloßlag. Dann stand der Kämpfer der Lichtwelt an ihrer Seite und schlug auf alles ein, was sich bewegte. Der Arm des Mädchens erlahmte rasch. Er nahm ihr das Schwert ab und zog sie mit sich tiefer in die Schlucht hinein. Ein flüchtiger Blick nach oben zeigte ihm den Steg, der sich als Schattenriß gegen den Himmel abzeichnete. Endlich hatte er jene Stelle erreicht, von der aus Rochad und seine Männer Mistra und ihn steil in die Höhe ziehen konnten. Mit dem Schwert mußte er sich noch immer die Pflanzen vom Leib halten. Ihre Angriffe wurden erst spärlicher, als sie bereits etliche Schritte über dem Boden schwebten. Das Mädchen hing schlaff in seinem Arm, aus seinen Augen sprach das Grauen. Herzog Krude erschien am Ende der Schlucht. Suchend sah er sich um, erblickte Mythor schließlich und eilte auf ihn zu, erreichte ihn jedoch nicht mehr. Aber er schickte sich an, seinem Opfer weiter zu folgen. Der Steg kam näher. Hilfreiche Hände griffen nach Mistra und zogen sie über den Rand hinweg. Mythor schaffte es aus eigener Kraft, wobei er das Schwert fest umklammert hielt. Vor ihm standen Männer in goldfarbenen Burnussen, die ihn sofort an Luxon und dessen Bande erinnerten. Aber sie trugen zudem seidene Tücher vor den Gesichtern, die nur die Augen frei ließen. Ihre Waffen waren Krummschwerter, Lanzen und Langbögen, letztere von wohl beachtlicher Durchschlagskraft. 267
Von den Fischern konnte Mythor weit und breit nichts sehen. Sie schienen geflohen zu sein, denn nirgendwo gab es Anzeichen, daß ein Kampf stattgefunden hätte. Es waren die Augen der Fremden – hart und dunkel und von verzehrendem Feuer –, die es ihm ratsam erscheinen ließen, zunächst abzuwarten. Aber die Vermummten schienen keine feindseligen Absichten gegen ihn zu hegen. Einige von ihnen postierten sich unmittelbar am Abgrund und schickten den heraufkletternden Todesreitern einen wahren Pfeilhagel entgegen. Als Mythor sich ebenfalls vorbeugte, konnte er erkennen, daß Herzog Krude schon gefährlich nahe gekommen, nun jedoch gezwungen war, hinter einer Felsnase Schutz zu suchen. Kein Wort fiel. Alles geschah mit einer geradezu beängstigenden Lautlosigkeit. Nur das Schwirren der Bogensehnen war zu hören und hin und wieder der keuchende Atem der Vermummten und schrille Pfiffe, die sie ausstießen. Nicht allzuweit entfernt polterten Steine in die Tiefe. Der Steg erzitterte. Mythor spürte eine Hand auf seiner Schulter, die ihn sanft vorwärts drängte. Als er sich umsah, blickte er in fanatisch glühende Augen. Der Fremde starrte ihn nur unentwegt an, sagte aber nichts. »Was ist?« fragte Mythor. »Was wollt ihr von mir?« Er erhielt keine Antwort. Statt dessen wurde der Griff auf seiner Schulter härter. Eine deutlich erkennbare Ungeduld schlug ihm entgegen. »Nicht ohne das Mädchen.« Mythor hatte nichts anderes erwartet als ein zustimmendes Nicken. Er schob das Schwert in seinen Gürtel und bückte sich nach Mistra, die inzwischen das Bewußtsein verloren hatte. Plötzlich schien der Steg sich aufzubäumen. Holz splitterte. Hinter Mythor klatschten Tentakel auf die Bretter. Die Erschütterungen wurden häufiger. 268
Mit seiner leblosen Last auf den Armen kam der Kämpfer der Lichtwelt nicht so schnell voran wie die Vermummten. Er erreichte als letzter das westliche Plateau, auf dem der Steg endete. Immer lauter war das Knistern und Krachen geworden. Einzelne Versteinerungen schoben sich stetig näher heran, und nichts konnte ihnen Einhalt gebieten. Donnernd verschwand dann ein Teil des Steges in der Tiefe, während Mythor Mistra und sich mit einem verzweifelten Sprung auf den Fels rettete. Nur den Bruchteil eines Herzschlags später, und er wäre mit ins Verderben gerissen worden. Auch hier führte, wie auf der anderen Seite der Berge, eine Strickleiter zur Straße des Bösen hinab. Es schien viele solcher Brücken und Stege zu geben. Trotzdem sah Mythor weder Heymals noch Salamiter. Aber Schnecken tauchten auf. Er hatte nicht viel mehr als die Hälfte des Abstiegs hinter sich gebracht, als ein erster schleimiger Schädel sich über einen zerklüfteten Hang hinweg auf die Leiter zuschob. Mit der Linken Mistras Körper umklammernd, mit der Rechten Halt an den Sprossen suchend, konnte er das Schwert nicht ziehen. Die Berührung der Fühler ließ die Strickleiter schwanken. Mythor schrammte am Fels entlang; ein heftiger Schmerz, vom Ellbogen ausgehend, durchzuckte plötzlich seinen rechten Arm. Jegliches Gefühl wich aus den Fingern. Aber da bohrten sich Pfeile in den Leib der Schnecke und rissen tiefe Wunden. Die Bestie verschwand daraufhin mit einer Schnelligkeit, die ihr wohl niemand zugetraut hätte. Wieder halfen ihm die Vermummten, und am Fuß des Felsens wartete schon eine Gruppe von Reitern auf ihn. Sie gaben Mythor ein Pferd, einen feurigen Rappen, der an Schnelligkeit wohl mit jedem anderen mithalten konnte. Mistra stöhnte leise, als der Kometensohn sie vor sich quer über den Rücken des Tieres legte. Sie war übel zugerichtet – kaum eine Stelle an ih269
rem Körper, die nicht von nässenden Geschwüren bedeckt war. Die junge Frau hatte ihr Leben gewagt, um Mythor zu retten. Zweifellos würde sie sterben, wenn nicht ein Wunder geschah. Aber wohl nur das Harz vom Baum des Lebens konnte ihr helfen, doch das steckte zusammen mit dem letzten Tannenzapfen in der Tasche des leonitischen Königssattels, und auf diesem wiederum ritt wahrscheinlich Hrobon gen Süden, um seinem Gottkönig Hadamur das Einhorn zum Geschenk zu machen. Mit stummen Gesten wurde Mythor von seinen Rettern bedeutet, daß auch sie nach Süden wollten. Sie sprachen nicht. Erachteten sie dies als für unter ihrer Würde, oder waren sie gar des Gorgan nicht mächtig? Mistras Worte fielen Mythor wieder ein. Hatte sie nicht von »Stummen Großen« gesprochen? Gab es da einen Zusammenhang, obwohl seine Retter eigentlich nur von mittelgroßer Statur waren? »Könntest du mir doch antworten.« Er bedachte das Mädchen mit einem verzweifelten Blick. Als Mythor sich dann umwandte und zurückschaute, sah er die drei Todesreiter auf dem höchsten Kamm des Korallengebirges stehen. Eine dunkle, Düsternis verbreitende Wolke schwebte über ihnen, mächtig und drohend zugleich. Er wußte, daß sie seiner Spur folgen würden, bis Drudins Dämon sein Opfer gefunden hatte.
Nach langem Ritt blieben die Korallenberge hinter ihnen zurück und verloren sich im heraufziehenden Dunst des Tages. Die inzwischen hoch stehende Sonne leckte den letzten Tau von den Gräsern. Es wurde warm, beinahe schwül. Die Luft war stickig. Kein Windhauch vertrieb den Geruch dampfender 270
Erde. Hatten anfangs noch von Steinmauern umgrenzte grüne Weideflächen das Bild bestimmt, so erhoben sich schließlich vereinzelte Tafelberge aus dem flachen Land, an deren Flanken sich das Sonnenlicht brach. Mythor sah hohe, wuchtige Burgen, die auf den höchsten Erhebungen errichtet worden waren. Jede für sich mochte eine nahezu uneinnehmbare Festung sein. Doch würden sie auch den unbezähmbaren Kräften der Caer standhalten, wenn diese Salamos mit Schwert und Feuer verwüsteten? Mythor fühlte sich beobachtet. Er merkte, daß einer der Stummen ihn unablässig musterte. Der Mann schien besonders klein zu sein, mochte ihm vielleicht nur bis an die Schulter reichen. Er ritt einen Schimmel von makelloser Schönheit, dessen Muskelspiel Kraft und Ausdauer verriet. Das Tier wäre eines jeden Heerführers würdig gewesen. Doch das allein war es nicht, was Mythors Aufmerksamkeit fesselte. Vielmehr war es das kostbare Krummschwert, das mit einer Schlaufe am Sattel befestigt war und geradezu fatal an Nottrs Beutewaffe erinnerte. Für einen Moment glaubte Mythor sogar, daß es dasselbe Schwert sei. Doch stellten sich sofort Zweifel ein, denn das hätte bedeutet, daß der Lorvaner und vielleicht auch Steinmann Sadagar nicht mehr unter den Lebenden weilten. Verschiedentlich trafen sie auf ärmlich gekleidete Landleute, die sich, obgleich bewaffnet und in Gruppen, eiligst zurückzogen, sobald die vermummten Reiter sich ihnen näherten. Da Mythor die Stummen nicht nur geheimnisvoll, sondern auf gewisse Weise auch unheimlich erschienen, schloß er aus dem Verhalten der Salamiter, daß seine Retter gefürchtet waren. Schließlich fanden sie die Heymals, schon von weitem auf einen Schwarm Vögel aufmerksam geworden, die laut kreischend dicht über dem Boden kreisten. 271
Dort lagen jene Vogelreiter in ihrem Blut, die Pandor entführt hatten. Offenbar waren sie während einer Rast, möglicherweise noch vor dem Morgengrauen, überrascht worden. Denn die abgeschlagenen Köpfe der Orhaken, die jemand wie als stumme Mahnung zusammengetragen hatte, waren noch mit Hauben verhüllt. Beinahe hatte er bereits erwartet, Hrobon nicht unter den Getöteten zu finden. Aber auch von Pandor und der übrigen Beute war nirgends eine Spur. Einer der Stummen näherte sich ihm. Seine Handzeichen bedeuteten nichts anderes, als daß Mythors Retter dieses Blutbad angerichtet hatten. »Wie viele sind euch entkommen?« wollte der Kämpfer der Lichtwelt sofort wissen. »In welche Richtung sind sie geflohen?« Abermals erhielt er keine Antwort. Statt dessen bedeutete ihm der Vermummte, wieder aufzusitzen. Man entfernte sich nun von der Straße des Bösen, die von hier aus in südwestliche Richtung führte und sich in der Ferne verlor. Übermannshohes Steppengras erschwerte das Vorwärtskommen. Mythor orientierte sich am Stand der Sonne, die mittlerweile ihren höchsten Punkt überschritten hatte. Auf einmal zügelten die vor ihm reitenden Stummen ihre Pferde. Einer von ihnen kam auf Mythor zu und reichte ihm ein Krummschwert, eine kostbare Waffe von unerhörter Schärfe. Nach wie vor drang kein Wort unter dem dünnen Gesichtsschleier hervor, nur das Geräusch hastiger Atemzüge. Der Schrei eines größeren Vogels hallte über die Ebene, das Steppengras rauschte leise. Doch kein Windhauch bewegte die Halme. Dann waren sie auch schon heran. Ihre Orhaken rannten zwischen die aufgescheuchten Pferde. Mythor hatte alle Mühe, seinen Rappen zu beruhigen, was ihm nur leidlich gelang. 272
Immer wieder bäumte das Tier sich auf der Hinterhand auf. Mit der Linken hielt der Sohn des Kometen die Zügel straff und umfaßte gleichzeitig Mistras schlaffen Körper. Mit der Rechten schwang er das Krummschwert. Dessen Hauptschlagpunkt lag weiter hinten als bei den geraden Klingen. Es schnitt besser, vermochte jedoch nicht zu stechen und mit tödlicher Kraft einzudringen. Dafür lagen die Vorteile dieses Schwertes unzweifelhaft darin, daß man auch während des wildesten Galopps zuschlagen konnte, ohne befürchten zu müssen, sich selbst aus dem Sattel zu heben, wenn die Spitze den Gegner traf. Trotz seiner Nervosität wich der Rappe aus, wann immer ein weit aufgerissener Schnabel aus der Höhe herabstieß. Sein Reiter geriet dabei nicht ein einziges Mal in Bedrängnis. Es war von vornherein ein ungleicher Kampf, den auch die Orhaken nicht zugunsten der Angreifer entscheiden konnten. Einige der Stummen Großen – zwölf Mann waren es ohne Mythor, gegen sieben Heymals – hatten es gleich zu Anfang verstanden, ihre Langbögen sprechen zu lassen. Pfeil um Pfeil schwirrte von den Sehnen, bohrte sich in die Sprunggelenke der Vögel und ließ diese stürzen. Vergebens hielt Mythor Ausschau nach Hrobon. Er war weder bei den Gefallenen noch bei jenen, die, als sie die Aussichtslosigkeit ihrer Lage erkannten, in den Schutz des hohen Grases flohen. Die Stummen folgten ihnen nicht, sondern ritten nach kurzem Aufenthalt weiter. Noch immer empfand Mythor ihnen gegenüber Unbehagen. Doch nun besaß er wenigstens eine Waffe, auf die er sich verlassen konnte. Mistra stöhnte wie im Fiebertraum. Ihr Gesicht war blaß und ihr Atem kaum noch zu fühlen. Die Geschwüre waren zum Teil aufgebrochen und sonderten eine blutige Flüssigkeit ab. Zweifellos würde sie sterben, wenn ihr nicht bald Hilfe zuteil 273
wurde. Aber sosehr Mythor auch hoffte, die Götter schickten kein Zeichen. Und die Stummen machten ihrem Namen weiterhin alle Ehre. Sollte er sie zwingen, wenigstens das Ziel ihres Rittes preiszugeben? Er würde es tun müssen, wollte er Mistra noch retten. Schon hob er das Krummschwert an, als der Schrei des Schneefalken durch die Lüfte klang. Mit angelegten Schwingen zog Horus an Mythor vorüber und schwang sich wieder hinauf in die Wolken, wo er abermals sein Krächzen ertönen ließ. Ein anderer Ruf antwortete ihm. »Hark!« schrie Mythor voll freudiger Erregung. Der Bitterwolf stürmte aus dem dichten Gras hervor. Schweifwedelnd sprang er auf Mythor zu, der plötzlich wieder Mühe hatte, seinen Rappen zu zügeln. Und dann kam Pandor herangetrabt. Das Einhorn trug noch zwei Leinen um den Hals, deren Enden es hinter sich herzog. Mythor befreite es davon und wechselte dann auf seinen Rücken über. Mistra stöhnte, als er sie hochhob. Die Vermummten ließen es geschehen; einer von ihnen nahm den Rappen am Zügel. Ihre Haltung schien Zufriedenheit auszudrücken, und in ihren Augen glaubte Mythor so etwas wie versteckte Ehrfurcht zu erkennen. Aber er war sich dessen keineswegs sicher. Die Sonne hatte sich etwa um eine Handbreit weiter dem Abend zugeneigt, als man einige Steinhütten erreichte, die selbst aus der Nähe dem ungeübten Auge noch verborgen blieben. Sie verschwanden fast unter dem hohen Steppengras. Auf ihren flachen Dächern war zudem Erde angeschüttet, in der allerlei Pflanzen und sogar Sträucher wuchsen. Mit Gesten wurde Mythor aufgefordert, eines der kreisförmig angeordne274
ten Gebäude zu betreten. Er mußte sich bücken, um unter überhängenden Kletterpflanzen in einen Raum zu gelangen, dessen geheimnisvolles Halbdunkel wohl so manches vor seinen Blicken verbarg. Mistra, die er auf seinen Armen trug, ließ er sanft auf die Decken gleiten, die einer der Vermummten neben ihm ausbreitete. Ein schwerer, süßlicher Geruch lag in der Luft, der benommen machte. Mythor bemühte sich, möglichst flach zu atmen. Seine Hand ruhte auf dem Schwertgriff. Langsam gewöhnte er sich an die Dunkelheit. Nur wenige Schritt von ihm entfernt saß jemand. Anhand verschiedener Merkmale glaubte Mythor zu erkennen, daß es der Stumme war, der den Schimmel ritt. Der Mann starrte ihn auch jetzt aus großen Augen an. Komm her! schien sein Blick zu sagen. Mythor trat näher. Erst unmittelbar vor einem Tigerfell, das über irgendwelche Gegenstände auf dem Boden ausgebreitet war, verharrte er. In einer Ecke des Raumes standen noch ein kleiner Tisch und zwei Hocker. Weitere Möbel gab es nicht. »Wer bist du?« fragte der Kometensohn. »Weshalb hat man mich zu dir gebracht?« Die Antwort bestand aus ein paar einschmeichelnden Pfeiflauten von seltsamer Melodie. Der Stumme bückte sich und zog mit einer ruckhaften Bewegung das Fell zurück – und Mythor erstarrte. Da lag Alton vor ihm und leuchtete wie eh und je. Daneben lagen der Helm der Gerechten, der leonitische Königssattel und das Orakel-Leder. Quyl hatte sein Flehen also doch erhört. Mythor störte sich nicht daran, daß sein Gegenüber wütende Pfiffe ausstieß und schließlich aufsprang, um ihn daran zu hindern, das zu tun, was er tun mußte. Er riß die Satteltasche auf. Da war der letzte Zapfen vom Baum des Lebens, daneben der Lederbeutel mit dem Harz. 275
Mythor stieß die Hand des Vermummten zur Seite, als dieser ihn festhalten wollte. Ihm war völlig gleichgültig, was geschah, notfalls würde er sich mit der Waffe in der Hand den Weg freikämpfen. Er begann sich zu fragen, was der Stumme mit seiner Ausrüstung vorgehabt hatte. Wozu zeigte dieser sie ihm erst, wenn er doch nicht darüber verfügen durfte? Bleich und mit eingefallenen Wangen lag Mistra da. Zweifellos war sie dem Tod näher als dem Leben. Ihr Atem war kaum zu fühlen. Vorsichtig hob Mythor ihren Kopf, dann strich er Harz auf ihre Gesichtswunden. Hinter ihm wurden Schritte laut und aufgeregtes Pfeifen. Jemand legte eine Hand auf seine Schulter, wohl um ihm Einhalt zu gebieten, doch Mythor stieß ihn wütend beiseite. »Laßt mich!« schrie er. »Oder viele von euch werden die Schärfe meiner Klinge zu spüren bekommen.« Von da an bedrängten sie ihn nicht mehr, wohl aber machten sie beschwörende Gesten. Es war Mythor egal, ob sie ihre Götter anriefen oder Dämonen. Mit äußerster Behutsamkeit zerriß er die zum Teil blutverkrusteten Kleidungsstücke, die Mistras Körper ohnehin nur mehr dürftig verhüllten. Mit den Fingerspitzen verteilte er das wenige Harz, das ihm verblieben war, auf ihre Wunden. Täuschte er sich, oder hob und senkte sich ihr Brustkorb unter seinen Händen? Der Beutel war leer, als Mythor endlich glaubte, genug getan zu haben. Entschlossen, nun die Fragen zu stellen, die ihm auf den Lippen brannten, wandte er sich um. Der Stumme deutete auf das Leder. Wenn er auch noch immer schwieg, so zeigte doch der Blick seiner Augen, daß er ebenfalls auf eine Antwort wartete. Und hinter ihm standen weitere Vermummte mit gezückten Klingen. »Der Beutel gehört mir«, sagte Mythor. »Ebenso wie alles andere. Vogelreiter haben mich überfallen und mir die Sachen abgenommen.« 276
Woher hast du sie? schien jede Geste des Stummen zu fragen. Beschwörend streckte er die Arme aus. »Ich habe sie rechtmäßig erworben… in den Stützpunkten des Lichtboten.« Sein Gegenüber schritt zur Tür und deutete hinüber zu den Pferden, in deren Nähe sich Pandor und der Bitterwolf aufhielten, und schließlich zum Himmel hinauf, womit er wahrscheinlich den Schneefalken meinte. »Die Tiere begleiten mich«, nickte Mythor, woraufhin der Stumme eine Bewegung machte, als wolle er einen Pfeil auf die Sehne eines Bogens legen und schießen. Damit konnten nur Sternenbogen und Mondköcher gemeint sein. Woher wußte der Mann überhaupt, daß es diese Waffen gab? »Meine Ausrüstung stammt aus fünf Fixpunkten des Lichtboten.« Mythor fühlte, daß er damit nicht länger hinter dem Berg halten durfte. »Leider kam mir am Baum des Lebens ein anderer zuvor. Er nennt sich Arruf oder auch Luxon, und wer weiß, wie viele Namen er noch haben mag. Mir blieben nur das heilende Harz und ein halbes Dutzend Samenzapfen.« Er hatte kaum geendet, als der Stumme aufgeregt zu gestikulieren begann. Die Pfeiflaute, die er ausstieß, klangen schrill und abgehackt. Mythor verstand nicht, was sein Gegenüber ihm damit klarmachen wollte. Doch dann zeigte dieser auf sich selbst und streckte die Faust mit verdecktem Daumen hoch. Das Ganze wiederholte er noch zweimal. »Vierfaust«, sagte Mythor spontan. »Du zeigst mir vier Finger, die du zur Faust ballst. Ich werde dich also Vierfaust nennen.«
Sie betrachteten ihn wie ein seltenes Tier. Mythor empfand 277
Widerwillen dabei, und nur die Aussicht, vielleicht Dinge zu erfahren, die ihm bisher verborgen geblieben waren, ließ ihn ausharren. Zusammen mit Vierfaust saßen sechs weitere Vermummte im Kreis um ihn und seine Habseligkeiten. Jeder hatte auf einem Tierfell Platz genommen. Eine kostbare Silberschale machte die Runde, die gefüllt war mit goldglänzendem Öl, dessen Duft betäubend wirkte. Mit dieser Flüssigkeit wuschen die Stummen sich die Hände, und dann richteten sie sich auf und betasteten nacheinander das Mal hinter Mythors rechtem Ohr, was ihnen aufgeregte Pfiffe entlockte. Aus einer unergründlichen Falte seines Umhangs zauberte Vierfaust schließlich eine Pfeife hervor, die er mit Hilfe zweier winziger Feuersteine entzündete. Er reichte sie dem rechts neben ihm Sitzenden, der daraufhin seinen Gesichtsschleier löste. Mythor stockte der Atem. Alles hatte er erwartet, das nicht. Der Mund des Stummen war nur eine verschwollene, zum Teil von Krusten bedeckte Narbe. Deutlich konnte man noch die Einstiche erkennen, mit denen vor langer Zeit die Lippen zusammengenäht worden waren. Lediglich eine kleine Öffnung war geblieben, gerade groß genug zur Aufnahme flüssiger Nahrung. Die Pfeife wurde jedoch durch die Nasenlöcher geraucht. Jeder der Stummen machte etliche tiefe Züge, bevor er sie an seinen Nebenmann weiterreichte. Nach einer Weile hatten alle sieben ihre Schleier abgelegt. Mythor blickte in asketische Gesichter mit scharfrückigen, geraden Nasen, hervorstechenden Backenknochen und vorgewölbten Augenbrauen. Sie wirkten alle gleich, mit Ausnahme von Vierfaust, dessen Augen wegen fehlender Brauen besonders groß erschienen. Auch hatte er einen kahlen Schädel, wodurch sein knöchernes Gesicht noch kantiger wirkte, als dies 278
ohnehin der Fall war. Offenbar handelte es sich nicht um die Merkmale eines Volksstamms, sondern um bewußt herbeigeführte Eigenschaften, sei es nun durch eine besondere Auslese oder aber durch Knochenverformungen bei Neugeborenen. Doch nicht allein das versetzte Mythor in Erregung, sondern auch die Hautfarbe der Stummen, die der seinen glich und dunkel war wie ihre Haare. Verband sie und ihn gar noch mehr miteinander als diese bloße Äußerlichkeit? Vierfaust hielt ihm die Pfeife hin, und er mußte ebenfalls kräftig schmauchen. Der Rauch brannte in seiner Nase und trieb ihm Tränen in die Augen. Krampfhaft unterdrückte Mythor den aufkommenden Niesreiz. Ihm wurde schwindlig, seine Sinne umwölkten sich mit tanzenden Dunstschleiern. Es war wie im Rausch. Obwohl er noch erkannte, was mit ihm geschah, war er doch nicht mehr fähig, sich dagegen zu wehren. Leicht wie eine Feder im Wind flog er über die höchsten Gipfel der Welt dahin. Gleich einem Gemälde von göttlicher Hand lag das Land unter ihm, gleißend im goldenen Schein der Sonne. Mythor glaubte plötzlich, alle Zusammenhänge zu verstehen, aber es war ihm unmöglich, dieses Wissen zu fassen. Sobald er meinte, einen Zipfel des Geheimnisses gelüftet zu haben, senkte sich erneut der Schleier des Vergessens über ihn. Er war in einem Taumel befangen, der ihn bis ans Ende der Welt führte. Zwischendurch aber stürzte er immer wieder in die Wirklichkeit zurück, die kalt war und nüchtern und ihn abschreckte. Er sah, daß Vierfaust ihm die Handflächen entgegenstreckte und ihn durch Gesten dazu ermutigte, seine Hände dagegen zu drücken. Irgendwann tat er es auch. Ein Pulsieren sprang auf ihn über, das wie sein eigener Herzschlag war. Die Augen des Stummen schienen sich in den seinen festzubrennen. Schier unerträglich wurde der Blick, und doch schien Vierfaust ihm etwas Bedeutungsvolles mitteilen zu wollen. 279
Für einen Moment war es Mythor, als könne er eine lautlose Stimme in seinem Kopf hören. Da war ein Flüstern in ihm, das ihn bedrängte, aber er verstand nichts von dem, was es ihm zu sagen hatte. Wieder schwebte er über der Welt, diesmal jedoch sah er das düstere Band der Straße des Bösen unter sich, das schnell näher kam. Als er die Augen aufschlug und alles um ihn herum in einem wilden Reigen gefangen war, begriff der Kämpfer des Lichtes, daß der Rauch seine Sinne verwirrte. Vierfaust erhob sich wütend. Seine Gesten ließen Unzufriedenheit erkennen. Ohne sich Mythor noch einmal zuzuwenden, verließ er die Hütte! Die anderen folgten ihm. Als Mythor nach einer Weile taumelnd auf die Beine kam und noch immer ein wenig benommen die Tür aufstieß, bedeuteten ihm die Schwerter zweier Vermummter unmißverständlich, daß er von nun an ihr Gefangener war. »Der Stumme Große wird dich jetzt für einen Betrüger halten.« Das war Mistras Stimme, zitternd und voller Enttäuschung. Ihre Worte verrieten, daß sie schon vor einiger Zeit aus ihrer Ohnmacht erwacht sein mußte. Vorwurfsvoll fügte sie hinzu: »Du hast sein stummes Rufen nicht vernommen. Das muß ein schwerer Schlag für ihn gewesen sein.« Mythor konnte sehen, daß das Harz inzwischen seine Wirkung getan hatte. Die Schwären waren verschwunden, die Haut des Mädchens schimmerte wieder makellos und weich. War sie bisher stets darauf bedacht gewesen, ihre weiblichen Reize zu verleugnen, so schien sie sich zumindest im Augenblick ihrer Nacktheit nicht bewußt zu werden. »Und wer«, wollte Mythor von ihr wissen, »glaubte Vierfaust zuvor, daß ich sei?« »Er hielt dich für den Sohn des Kometen!« Mistra sagte es so, 280
als sei dies die natürlichste Sache überhaupt. »Schließlich habe ich selbst ihn darauf aufmerksam gemacht, sonst hätten die Stummen Großen dich wohl nie aus der Gewalt meines Vaters befreit. Du wärst ein Niemand für sie gewesen.« »Ist Rochad…?« »Er und die anderen sind gelaufen wie die Hasen, als die Stummen erschienen. Ich sagte dir bereits, daß ich deren Sprache verstehe. Das sind die Gesten und Zeichen und die Pfeiflaute. Daher weiß ich, daß die Großen auf die Rückkehr des Sohnes des Kometen warten, denn in diesem Gebiet, sagen sie, sei er verschollen. Von ihnen kenne ich auch den Ort seiner Wiederkehr.« »Wo?« platzte Mythor heraus, und er packte Mistra an den Schultern und starrte sie an. Ihm war klar, daß jener Ort, von dem das Mädchen sprach, gleichzusetzen war mit der Stelle, an der die Marn ihn aufgefunden hatten. »Du mußt mich hinführen«, bat er Mistra. Sie aber zögerte. »Die Stummen Großen werden es nun nicht mehr zulassen.« »Du mußt, Mistra, hörst du! Auch gegen ihren Willen. Versprich es mir, denn es hängt sehr viel für mich davon ab.« »Dann bist du wirklich der Sohn des Kometen?« »Ich glaube«, nickte Mythor, »daß du recht hast.« Und wieder hauchte Mistra ihm einen Kuß auf die Stirn. Die junge Frau schien über sich selbst erschrocken, als sie unverhofft Mythors Hände in ihrem Nacken spürte. Ein Ausdruck ungläubigen Erstaunens zeigte sich auf Mistras Gesicht, sei es, weil der Sohn des Kometen ihre Zärtlichkeit erwiderte oder, was wahrscheinlicher war, weil sie den Mut gefunden hatte, ihn zu umarmen. »Ich…«, begann sie, doch da wurde die Tür von außen aufgestoßen, und Vierfaust stürmte herein. Ungeduld und Verzweiflung drückten sich in seiner Haltung aus. Er stellte eine 281
brennende Öllampe auf dem Tisch ab. »Der Stumme will uns etwas mitteilen«, sagte Mistra überrascht. Vierfaust begann mit den Händen Figuren zu formen, die im Schein des flackernden Dochtes als große Schatten an den Wänden erschienen. Zunächst wurde Mythor nicht schlau aus den rasch wechselnden, ineinanderfließenden Bildern. Fragend wandte er sich an Mistra: »Weißt du, was er damit meint?« Sie nickte zögernd. »Ich glaube. Aber wenn es wirklich stimmt, dann…« Der Stumme begann von neuem. Diesmal blieben die Schatten länger stehen. Mythor konnte den Kopf eines Vogels erkennen, der drohend den Schnabel aufriß, daneben eine Gestalt, die wie ein Mensch aussah. »Ein Heymal mit seinem Tier«, stellte Mistra verblüfft fest. Der Schatten brach zusammen, als sei er von einer Klinge tödlich getroffen worden. Doch dafür tauchten viele andere auf. Und zwischen ihnen… »Das sollen die Hütten sein.« Mythor verstand plötzlich. »Vogelreiter haben uns umzingelt. Sie wollen Rache nehmen für das Blutbad, das die Stummen unter ihresgleichen angerichtet haben. Vielleicht ist sogar Hrobon ihr Anführer.« »Sie haben es auf dich abgesehen«, platzte Mistra erschrocken heraus. »Falls Hrobon weiß, daß ich hier bin… Aber wenn er dabei ist, dann weiß er es. Mein Einhorn sollte ein Geschenk für den Shallad Hadamur sein.« »… und Hrobon dazu verhelfen, als Befehlshaber nach Logghard berufen zu werden, auch ohne daß er sich zuvor im Kampf besonders auszeichnet. Diesmal wird er dich töten, um seine Niederlage auszumerzen.« 282
Mythor sah zu Vierfaust hinüber, der dem Gespräch interessiert gefolgt war. »Es gibt einen Ausweg«, stellte er fest, »der möglicherweise unnötiges Blutvergießen vermeidet. Wenn die Heymals mich haben wollen, sollen sie mich auch bekommen.« »Nein!« rief Mistra aus. Vierfaust hingegen nickte auffordernd. »Wir müssen eine Puppe auf Pandors Rücken festbinden«, fuhr Mythor fort. »Einige mit Gras ausgestopfte Kleidungsstücke dürften genügen. Während das Einhorn die Verfolger gen Sonnenaufgang lockt, fliehen wir nach Westen.« Der Stumme Große formte mit seinen Fingern das Bild eines Einhorns. Mythor wußte, was Vierfaust damit meinte. »Pandor wird zu mir zurückfinden«, versicherte er. »Darüber mache ich mir keine Sorgen. Die Frage ist nur, wann die Heymals angreifen.« Die Schatten an der Wand wechselten schnell. Sie besagten wohl, daß die Vogelreiter in der Morgendämmerung kommen würden. Bis dahin blieb nicht mehr viel Zeit. Doch die Puppe war fertig, bevor die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne die Schatten der Nacht vertrieben. Lediglich ein heller Schimmer im Osten ließ den neuen Tag erahnen. Die Heymals mochten sich täuschen lassen, solange sie nicht näher als bis auf ein halbes Dutzend Schritt an Pandor herankamen. Mythor tätschelte dem Einhorn den Hals, und als es dann lostrabte, gab es nichts mehr, was ihn selbst noch hätte halten können. Bevor die überraschten Stummen ihm den Weg versperrten, hatte er sich bereits auf den Rücken des Rappen geschwungen und ließ dem Pferd die Zügel schießen. Erschreckte Pfiffe begleiteten ihn. Als hinter ihm Hufschlag laut wurde und er sich umwandte, erkannte er Mistra, die ihm folgte. Der Bitterwolf hetzte ebenfalls heran. Unverständliche Befehle drangen aus der Ferne an sein Ohr – 283
und das Krächzen von Kampfvögeln. Mythor hielt sich nach Norden. Er wußte nicht, ob auch hier Heymals lauerten, doch sicher ritten die meisten von ihnen auf den Spuren des Einhorns. Mit den anderen mochten die Stummen Großen sich herumschlagen. Das hohe Steppengras versperrte die Sicht. Mythor bemerkte den einzelnen Vogelreiter erst, als dieser schon gefährlich nahe war. Mistra schrie auf. Im nächsten Moment riß der Sohn des Kometen sein Pferd herum und wollte sich auf den Angreifer stürzen. Aber der Bitterwolf kam ihm zuvor. Plötzlich bäumte sich das Orhako auf und warf seinen Reiter zu Boden. Mythor kümmerte sich nicht länger darum, wußte er doch, daß Hark selbst auf sich achten konnte. Als die Sonne später über den Horizont heraufstieg und ihre Strahlen die Ebene in ein unwirkliches Licht tauchten, zeichneten sich in einiger Entfernung die ersten schroffen Ausläufer des Korallengebirges ab, und davor zog sich das schwarze Band der Straße des Bösen durch die Steppe wie verbrannt wirkendes Land, das nur die Saat der Finsternis, aber kein Leben trug. Hark lief vor Mythor und Mistra über die Steppe. Immer wieder hielt er inne und wandte sich um, als wolle er die beiden Reiter auffordern, ihm zu folgen. War es hier gewesen? Verzweifelt suchte Mythor nach einer Antwort. Doch gab es nichts, an das er sich erinnerte. Nur der Schrei des Bitterwolfs verband die Vergangenheit noch mit dem Jetzt. Den Schrei von damals – hatte wirklich Hark ihn ausgestoßen? Mythor fühlte sich innerlich aufgewühlt und unruhig. Würde er endlich das ersehnte Wissen finden, den Schlüssel zu seiner Kindheit, oder würde er am Schluß gar bedauern, jemals wieder seinen Fuß auf dieses Land gesetzt zu haben? 284
Steil wuchsen die Felsen vor ihm auf. Düster und drohend, geheimnisvoll. Ein Sonnenstrahl fiel durch die Wolken herab. Für einen Augenblick blieb er zitternd stehen, dann bewegte er sich vor Mythor her nach Norden und verharrte schließlich auf der Straße des Bösen. »Sieh!« rief Mistra erschrocken aus. Ein Omen? Mythor erinnerte sich daran, daß ein seltsames Licht um ihn gewesen sein sollte, als die Marn ihn fanden. Doch der Strahl erlosch, bevor er ihn erreichte. Verwundert stellte Mythor fest, daß in unmittelbarer Nähe der Boden aufgebrochen war. Ein mächtiger Krater gähnte dort am Rand der Straße. Ringsum fanden sich Dutzende kleinerer Löcher, die sich bis weit in die Steppe hineinzogen. An ihren Rändern waren oftmals mannshohe Wälle aufgeworfen, die der Erde in diesem Gebiet ein pockennarbiges Antlitz verliehen. Immer öfter ließ Hark seinen Schrei hören. Als dann die ersten schemenhaften Gestalten aus dem Krater hervorkamen, begann er sich wie toll zu gebärden. Sein Heulen schien diese Wesen geradezu mit magischer Kraft anzuziehen. Mythor versank in einem Meer von Empfindungen. Plötzlich hatte er das Gefühl, alles dies schon einmal erlebt zu haben. Aber was hinderte ihn daran, den dünnen Schleier zu zerreißen, der noch über seiner Vergangenheit lag? Erst eine sanfte Berührung schreckte ihn auf. Zitternd deutete Mistra nach vorne. »Es sind Besessene«, sagte sie mit brüchiger Stimme. »Sie werden uns töten.« Mythor zögerte jedoch. Und dann waren sie heran und stürzten sich auf ihn. Mistra schrie gellend auf, als sie vom Pferd herabgezerrt wurde. Mythor schlug die nach ihm greifenden Hände zur Seite. Jetzt bedauerte er, seine gesamte Ausrüstung bei den Stummen Großen zurückgelassen zu haben. Er war einzig und allein auf die 285
Kraft seiner Fäuste angewiesen und auf seine Geschicklichkeit. Doch gegen diese wilde Horde, die sich gierig auf ihn stürzte, konnte er nicht bestehen. Sein Pferd scheute und schlug aus. Einige der Angreifer wurden von den Hufen getroffen und sanken zu Boden. Aber die Wut der anderen verdoppelte sich dadurch nur noch. Hark schien verschwunden – von einem Augenblick zum anderen. Mythor rief nach Mistra, erhielt jedoch keine Antwort. Mit den Ellbogen hielt er sich die Gegner vom Leib, vermochte aber dennoch nicht zu verhindern, daß sie ihn ebenfalls aus dem Sattel holten. Dann waren sie über ihm. Er sah in entstellte Gesichter, hohlwangig und mit tief in den Höhlen liegenden Augen. Es waren ausgemergelte Gestalten, doch gerade diese Entbehrungen ihres Lebens schienen ihnen Kraft zu geben. Und Mythor sah noch etwas anderes. Inmitten der Horde gab es auch etliche mit vernähten Mündern. Sie trugen keine Gesichtsschleier. Ihre Blicke brannten wie Feuer – genauso sengend wie die Strahlen der hoch stehenden Sonne, damals, vor nunmehr siebzehn Jahren… Um Mythor herum versank alles im dröhnenden Stampfen der Yarls. Die Erde erbebte im Rhythmus ihrer Säulenbeine. Eine gewaltige Mauer schob sich auf ihn zu, die gekrönt war von Zinnen und Türmchen, durchbrochen von Fenstern und engen Scharten. Und dazwischen die aufgerissenen Mäuler der riesigen Tiere, die diese Stadt auf ihren Rücken unaufhaltsam nach Norden trugen. Mythor schrie, wie ein Kind von fünf Sommern aus Angst schreit, und der Klang seiner eigenen Stimme führte ihn in die Wirklichkeit zurück. Er begriff, daß er soeben einen Fetzen seiner Erinnerung erlebt hatte. Doch sosehr er sich auch mühte, alles andere blieb ihm auch weiterhin verborgen. Die Besessenen stießen Mistra und ihn vorwärts. Etliche von 286
ihnen hielten klobig wirkende Waffen in Händen. Daß sie diese bisher nicht benutzt hatten, schien zu bedeuten, daß sie ihre Gefangenen wenigstens vorerst schonen würden. Von irgendwoher erklang das Heulen des Bitterwolfs. Erstaunt stellte Mythor fest, daß die Besessenen diesem Klang folgten. Wie von Sinnen taumelten sie durch das Gras. Der Sohn des Kometen konnte Hark nicht sehen, dessen Schrei drängender wurde. Aber er war überzeugt davon, daß der Wolf ihm etwas Wichtiges zeigen wollte. Einige der Stummen mit den vernähten Mündern hasteten neben ihm her durch die Steppe. Pfeifend ging ihr Atem. »Sie sind erregt«, stellte Mistra, die neben ihm herlief, keuchend fest. »Es ist, als hätten sie ihr Leben lang nur auf diesen Moment gewartet.« »Was weißt du von ihnen?« fragte Mythor. Das Mädchen schüttelte bedauernd den Kopf. »Nicht sehr viel. Nur daß die Stummen Großen hin und wieder einige der Ihren hierher entsandten, die aber nie zurückkehrten. Offensichtlich verfielen sie dem Bösen.« »Sie sehen nicht unbedingt aus, als wären sie besessen«, stellte Mythor fest. »Zumindest nicht alle.« Obwohl ihn immer häufiger Blicke aus verzerrten Gesichtern trafen, hinderte niemand ihn daran, mit Mistra zu sprechen. »An diesem Ort wohnen die Schatten, bis der Sohn des Kometen erscheint und sie verdrängt«, erwiderte das Mädchen. »Wir aus Salamos meiden diese Gegend. Es heißt, daß hier die Geister der Verstorbenen des Nachts zu neuem, gräßlichem Leben erwachen. Auch die Großen scheinen vor den Kratern zurückzuschrecken; nur selten reiten sie bis auf Sichtweite heran.« »Ich spüre nichts von alledem. Und Hark würde mich warnen, wenn Schwarze Magie das Land beherrschte.« »Trotzdem könnte es uns ergehen wie diesen bedauerns287
werten Kreaturen«, gab Mistra zu bedenken. Doch Mythor hörte nicht auf sie. Ihre Warnung erschien ihm belanglos angesichts der Tatsache, daß er sein Ziel wohl bald erreicht hatte. Nun würde er nicht mehr aufgeben, selbst wenn Drudin ihm mit einem Flammenschwert entgegentrat. Sie näherten sich den Korallenfelsen bis auf wenige Schritte. Düster gähnend lag der Eingang zu einer Höhle vor ihnen. Das Heulen des Bitterwolfs wurde lauter, und als dann die ersten Besessenen in der Dunkelheit verschwanden, hallte das Echo seines Schreis weit über die Straße des Bösen. Schwerfällig tappte Mythor hinter den anderen her. Er fühlte, daß etwas nach seinen Gedanken griff. Der Ruf des Bitterwolfs erklang jetzt nicht nur von vorne, aus einer Ungewissen Tiefe heraus, er kam auch von hinten, von dort, wo die Krater lagen. Das war kein Echo! Es fiel Mythor schwer, sich umzuwenden. Er tat es, obwohl einige Besessene ihn plötzlich vorwärts stießen. Da war Hark. In weiten Sätzen hetzte er über das schwarze Land, das einst die Churkuuhl-Yarls verwüstet hatten. Und wieder ertönte das Heulen des Bitterwolfs auch aus der Höhle. In diesem Augenblick erkannte Mythor, daß er blindlings in eine Falle getappt war. Jemand ahmte den Ruf des Wolfes täuschend nach. Aber es war zu spät, sich noch zur Wehr zu setzen. Von allen Seiten stürzten sich die Besessenen auf Mythor und die Frau. Und diesmal zögerten sie nicht, ihre Waffen zu gebrauchen. Ein Schlag mit der flachen Klinge eines Schwertes riß Mythor von den Füßen. Sofort packten sie ihn und schleppten ihn weiter. Hinter ihm schrie Mistra gellend auf. Tiefer ging es in den Fels hinein, bis der Stollen sich nach einer Weile zu einer mächtigen Höhle ausweitete. Das spärliche Licht einiger Fackeln zeichnete gespenstische Umrisse. 288
Ein jäh aufzuckender Blitz spaltete die Finsternis. Geblendet verhielt Mythor mitten im Schritt, doch knochige Hände stießen ihn weiter. Leise, wie aus endloser Ferne kommend, erklang noch immer der Ruf des Bitterwolfs. Mythor fühlte es mehr, als er es zu erkennen vermochte, daß vor ihm jemand war. Ein eisiger Hauch breitete sich aus, der durch seine Kleidung drang und ihn frösteln ließ. Es war mehr eine innere Kälte, die von den Felsen ausstrahlte. Der Kämpfer des Lichtes vernahm hastige Atemzüge. Allmählich kehrte dann sein Augenlicht zurück, und er sah ein in wallende Tücher gehülltes Wesen vor sich, dem der Wundbrand das halbe Gesicht zerfressen und zur Dämonenfratze hatte werden lassen. Seine Augen waren ein Spiegel des Grauens; in ihnen schienen Höllenfeuer zu lodern. Mythor zuckte zurück, als ihr Blick ihn traf. Neben ihm stöhnte Mistra entsetzt auf. Aber als der Stumme plötzlich begann, mit den Händen eine Geschichte zu erzählen, gab es für ihn nur noch die Schatten, die im Schein eines glühenden Steines über den Boden tanzten. Er verstand bei weitem nicht alles, doch immerhin genug, um zu erkennen, daß es seine Geschichte war, die mit schnellem Fingerspiel dargestellt wurde. Flüsternd übersetzte Mistra. Vor noch nicht langer Zeit, siebzehn Winter zogen seither ins Land, fiel ein Stein vom Himmel – in jenen Tagen ein seltenes Ereignis. Dieser zerbrach in zwei Hälften und gab preis, was sein glühendes Äußeres verborgen hatte: Ein Knabe entstieg der schützenden Hülle, ward hineingeboren in eine Welt voll Finsternis. Mächte aus höheren, den Menschen unzugänglichen Gefilden hatten ihn zur Welt gesandt, um eine Mission zu erfüllen. Er war… »Der Sohn des Kometen!« platzte Mythor heraus. Mistra nickte. »Du«, sagte sie, »warst dieser Knabe.« 289
Doch die Kräfte der Finsternis wußten um das von Licht umspielte Kind. Sie ließen es von Fremden entführen, die sein Erbe damit dem Verfall preisgaben. Dämonen aus der Schattenzone lenkten eine Nomadenstadt nach Salamos. Ihre Bewohner nahmen den Sohn des Kometen an sich und brachten ihn fort vom Ort seiner Bestimmung. »Wir alle«, schloß Mistra und gab damit wieder, was der Stumme auf seine Art zu sagen hatte, »warteten bis zum heutigen Tag voll Sehnsucht auf die Rückkehr des Knaben, der inzwischen zum Mann herangereift ist. Wir leben, um ihn seine Bestimmung finden zu lassen.« »Besessene?« fragte Mythor voll Argwohn. »Was kann das Böse mit dem Licht gemein haben?« Der Stumme erhob sich. Mit zwei Fingern der linken Hand tastete er nach der Narbe hinter Mythors Ohr. Er schien zufrieden, als er sie wirklich spürte. Ein Aufleuchten huschte über seine entstellten Züge. »Du bist der, dem unser Bangen galt«, deutete Mistra seine Gesten. »Wir, die Diener des Kometen, wollen dich zurückführen zu dem Stein, in den eingeschlossen du einst zu uns kamst.« Mythor fühlte eine freudige Erregung in sich aufsteigen. Alles paßte zusammen. Der Kreis schien sich geschlossen zu haben, denn nun war er zurückgekehrt. Und doch fühlte er sich als Fremder unter Fremden. Er hätte Freude empfinden müssen, indes machte ihm ein bohrendes Gefühl der Ungewißheit zu schaffen. Zweifel wurden wach, daß er wirklich im Inneren eines Kometen zur Erde gefallen war. Immerhin hatte er erst vor kurzem erlebt, mit welch zerstörerischer Wucht diese glühenden Steine vom Firmament herabstürzten. Der Stumme bedeutete Mythor, daß er ihm folgen solle. »Das Geheimnis deines Seins«, flüsterte Mistra ergriffen, »wartet auf dich.« 290
Im Lauf vieler Jahre hatten die Besessenen ein wahres Labyrinth von unterirdischen Gängen und Höhlen gegraben. Der Sohn des Kometen schätzte, daß sie sich mehr als drei Mannslängen tief unter der Erde bewegten. Die Luft war schal und stickig. Es roch nach Unrat und Verwesung. An manchen Stellen rann Wasser von den Wänden. Der Boden war glitschig, und leuchtende Moose fristeten hier ein kärgliches Dasein. Nach einiger Zeit gab Mythor es auf, die Schritte zu zählen. Wenn er am Ziel wirklich den Meteor vorfand, in dem er auf die Erde gefallen war, dann stellte der unterirdische Gang eine Verbindung zwischen dem Gebirge und den Kratern dar, zwischen dem sprießenden Samen des Bösen und der Hoffnung der Lichtwelt. Wieder einmal war Harks klägliches Heulen zu hören. Als Mythor stehenblieb, um zu lauschen, stieß der Stumme ihn einfach vorwärts. Mindestens zwei Dutzend Besessene folgten ihm. Kurz darauf wurde der Schrei des Bitterwolfs lauter. Vermutlich besaß der Stollen eine Verbindung zur Oberfläche. Dann zeigte sich ein erster heller Schimmer. Gleißendes Sonnenlicht ließ Mythor schließlich erkennen, daß man sich einem Krater näherte. Die nicht sonderlich steil abfallenden Wände waren von Pflanzen überwuchert, und nur im Mittelpunkt gab es eine größere freie Fläche. Dort, inmitten der verbrannte Erde, ruhte der Meteor. Alles war so, wie Mythor es erwartet hatte. Der Stein, in zwei Hälften auseinandergebrochen, war innen wirklich hohl und bot Platz genug für ein fünfjähriges Kind. Während seine Oberfläche zerfurcht war und von Ruß und Schlacke unansehnlich geworden, blitzten die Bruchstellen wie frisch geschliffener Marmor. 291
Der Stein faszinierte Mythor. Er vermochte den Blick nicht mehr abzuwenden. Harks langgezogenes Heulen wurde zum jämmerlichen Jaulen, zur unverkennbaren Warnung. Aber hätten die Besessenen den Sohn des Kometen töten wollen, wäre ihnen dies längst möglich gewesen. Kurz entschlossen schob Mythor alle Bedenken beiseite. Der Schrei des Bitterwolfs hatte auch über dem Land gelegen, als Curos und Entrinna ihn seinerzeit vor den stampfenden Beinen der Yarls gerettet hatten. Sollte es schon damals nur eine Warnung gewesen sein – vor den Mächten der Finsternis, die im Hintergrund lauerten? Mythor wollte einen Schritt weitergehen, aber er konnte es nicht. Auch seine Arme waren wie gelähmt. Als dann das entstellte Gesicht des Stummen vor ihm auftauchte und sich endgültig zur unmenschlichen Fratze verzerrte, begriff er, daß alles anders gewesen war, als er es eben noch geglaubt hatte. Mit dem Meteor war nicht der Sendbote des Lichtes, sondern etwas durch und durch Böses herabgefallen. Und dieses unheilbringende Etwas stürzte sich nun auf Mythor und schickte sich an, von ihm Besitz zu ergreifen. Es wühlte in seinem Schädel, bohrte sich mit gierigen Fängen in seine Eingeweide und griff nach seinem Geist. Es war ein lautloser Kampf, den Mythor in diesen Augenblicken ausfocht. Alles um ihn herum versank in Finsternis. Er nahm nicht wahr, daß er wie zur Salzsäule erstarrt noch immer am Rand der Höhle stand, die dunkel in den Krater mündete. Der Sohn des Kometen kämpfte um sein Leben, denn der Schatten, der ihn ins Verderben stürzen wollte, wurde stärker, je mehr Zeit verstrich. Mythor fühlte das Nichts, das auf ihn lauerte, einen unermeßlichen Abgrund, aus dem es nie eine Rückkehr geben würde. 292
Ähnlich war es gewesen, als vor wenigen Tagen aus dem Spiegel einer Wasserstelle heraus ein Schatten nach ihm gegriffen hatte. Nur zeigte sich das unheimliche Etwas diesmal ungleich stärker, und es ging unzweifelhaft von dem Meteor aus. Mythor war schweißgebadet. Er hörte Mistra gellend schreien, als die Besessenen sie überwältigten, aber er konnte ihr nicht helfen. Sogar seine Gedanken wurden träge. Hüte dich vor Stein! Die Worte des Orakels kamen ihm wieder in den Sinn. Nur dieser Meteor konnte damit gemeint sein. Es schien zwei Arten Himmelssteine zu geben – solche, die keine verhängnisvolle Ausstrahlung hatten, und andere wie diesen hier, die an seiner Lebenskraft zehrten. Mythor erinnerte sich des Meteors im thormainischen Brunnen, der ihm die Visionen von Einhorn, Schneefalke und Bitterwolf offenbart hatte, er dachte aber auch mit Schrecken an die Steine, die im Hochmoor von Dhuannin vom Himmel gefallen waren. Ohne den Helm der Gerechten war er ihrem Bann erlegen, hatte ihren Einflüsterungen Glauben geschenkt. Als bedürfe es tatsächlich nur dieser Gedanken, sah er plötzlich erneut Fronjas Antlitz vor sich. Kam sie, ihm zu helfen, ihm, der ihr Bildnis für immer im Herzen trug? Mythor fühlte einen fürchterlichen Schmerz in seiner Brust, als wolle die Finsternis ihm die Tätowierung aus dem Leibe brennen. Da war aber auch jenes seltsame Schiff wieder, das weder Bug noch Heck erkennen ließ und doch mit prall gebauschtem rundem Segel vor dem Wind trieb. Würde es Hilfe bringen, Krieger aus einem fernen Land? Indes zerschellte das Schiff an treibenden Eisbergen; tosende Strudel zogen es hinab auf den Grund des Meeres. Fronja! schrie alles in Mythor. Sein Herzschlag setzte aus, während der Schatten endgültig die Herrschaft über seinen Körper gewann. 293
Er fiel und blieb regungslos liegen. Die Besessenen eilten herbei, um ihn aufzuheben, und der Stumme bedeutete ihnen, den Sohn des Kometen auf seinen rechtmäßigen Thron zu setzen. Es sollte vollendet werden, was vor siebzehn Sommern verheißungsvoll begonnen hatte. Ein letztes Mal bäumte Mythor sich gegen das gnadenlose Schicksal auf. Mit erschreckender Deutlichkeit erkannte er, daß es sein Ende bedeutete, wenn er mit dem Meteor in Berührung kam. War er gar als Kind in dieser Einöde ausgesetzt worden, um von dem fallenden Stein vernichtet zu werden, und waren seine Zieheltern überhaupt erst durch den Schrei des Bitterwolfs auf ihn aufmerksam geworden und hatten ihn gerettet? Vor Mythors Augen tanzten blutige Schleier. Während schauriges Gelächter von den Kraterwänden widerhallte, schwanden ihm die Sinne. War es Traum oder Wirklichkeit? Der Kämpfer des Lichtes starb viele Tode, bevor der Stein sein Schicksal endgültig und für alle Zeit besiegelte.
Niemand hatte die Hufe ihrer Pferde gehört. Wie von einem magischen Zauber herbeigetragen, standen sie plötzlich am Kraterrand. Drei Reiter, denen der Hauch des Verderbens voraneilte. Ihr Ruf war Befehl, und ihre Waffen blitzten im Licht der Sonne wie pures Gold. Erschrocken starrten die Besessenen zu ihnen hinauf. Dann ließen sie Mythor fallen und stoben in wilder Hast davon. Einer der Reiter, ein schwarzporiger Hüne, saß ab und stieg in den Krater hinunter. Sein Schwert funkelte, als er es auf den Meteor schmetterte. Die Klinge spaltete ein mehr als faustgroßes Stück des Steines ab. 294
Dann erst wandte Oburus sich dem reglos daliegenden Mythor zu. Über sein Gesicht huschte das Lächeln des Triumphes; der Dämon in der Schlangenhaut gab ihm die Worte ein, die hart über seine Lippen kamen: »Mein Schwert könnte dich töten, doch niemals den Nimbus deines Seins. Aber du bist verloren, wenn dieser Stein dich berührt; seine Kraft vermag dich zu bannen. Sie macht dich hilflos, Sohn des Kometen. Darum stirb und gehe ein in das Reich der Schattenzone. Denn diese Welt gehört uns.« Langsam schritt er auf Mythor zu. Das Bruchstück in seiner Hand schien dabei dunkel aufzuglühen. Doch das Donnern vieler Pferdehufe ließ ihn herumfahren. Im gleichen Moment bohrte sich ein Pfeil unmittelbar vor ihm in den Boden. Oburus sah Coerl O’Marn und Herzog Krude fliehen. Ihre Pferde waren schneller als die der Verfolger, die jetzt am Kraterrand auftauchten. »Stirb!« Abermals wandte der Hüne sich Mythor zu. Er war dem Sohn des Kometen so nahe, daß niemand es noch wagen würde, auf ihn zu schießen. Aber einer der Stummen Großen drängte sein Pferd den Abhang hinunter. Und als das Tier in der Hälfte des Weges stürzte und sich überschlug, sprang er mit einem Satz aus dem Sattel und hastete heran. »Vierfaust«, schrie eine sich überschlagende Frauenstimme. »Hilf Mythor!« Plötzlich hatte Oburus es mit zwei Gegnern zu tun. Mit der Geschmeidigkeit einer Wildkatze sprang Mistra ihn an. Obwohl er sie mit einer einzigen Bewegung abzuschütteln vermochte, genügte diese kurze Zeitspanne dem Stummen Großen. Er schleuderte den letzten Zapfen vom Baum des Lebens auf den Meteor, der sofort aufglühte. Dann zog er sein Krummschwert. 295
Fassungslos starrte der Hüne auf den sich zersetzenden Stein. Er wußte, daß nur Staub zurückbleiben würde. Und er bangte um das Bruchstück, das er in den Händen hielt. Vierfaust kam zu spät, um ihn noch aufzuhalten. Oburus verschwand im Dunkel des Höhlensystems. Verzweifelt und vorwurfsvoll zugleich blickte Mistra auf den Stummen. Mythor schien tot zu sein. Daß Vierfaust ihn aus dem Krater holen ließ, konnte nicht viel mehr als ein letzter Dienst sein. Im Westen neigte sich die Sonne dem Horizont entgegen. Ihre blutroten Strahlen breiteten ein gespenstisches Leichentuch über dem Land aus. ENDE
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Der nächste MYTHOR-Band Der Sohn des Kometen ist in eine Todesstarre verfallen, in Besitz genommen von einem dämonischen Schatten. Ohne Hilfe von außen wird Mythor nicht mehr in der Lage sein, sich von diesem Dämon zu befreien und wieder der Kämpfer für das Licht zu sein. Deshalb beschließt der Anführer des Ordens der Weisen Großen, einen ganz besonderen Ort aufzusuchen, an dem man Mythor helfen kann. Und wieder erfährt der Kometensohn bei seinem Erwachen, daß andere Menschen sich für ihn opfern müssen, um sein Überleben zu sichern. Ist er dieser Opfer überhauptwürdig? Sie stützen auf jeden Fall seinen Glauben an seine Aufgabe als Kämpfer des Lichts – und an dieser Aufgabe will Mythor festhalten. Zuerst muß er jedoch seine Kampfgefährten wiederfinden, mit denen er sich am Koloß von Tillorn verabredet hat, dem nächsten Fixpunkt des Lichtboten. Auf dem Weg dahin warten erneut gefährliche Abenteuer auf ihn: Der Weg zur Strudelsee ist weit. Und dort müssen die Gefährten erst noch den Koloß auf einer geheimnisvollen Insel finden. Den spannungsgeladenen Weg unserer Helden in den Süden des Kontinents können Sie im nächsten Band der MYTHORSerie verfolgen:
DRACHENFLUG
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