Berndt List
Der Goldmacher Inhaltsangabe Berlin im Herbst 1701. Zeitungsberichten zufolge ist es dem jungen Alchemiste...
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Berndt List
Der Goldmacher Inhaltsangabe Berlin im Herbst 1701. Zeitungsberichten zufolge ist es dem jungen Alchemisten Johann Friedrich Böttger gelungen, künstlich Gold herzustellen. Die Kunde verbreitet sich schnell im ganzen Land und Böttger wird zum preußischen König August II. bestellt, der in der vermeintlichen Gabe des Alchemisten seine Chance sieht, die Staatsfinanzen aufzubessern. Zunächst hofiert, verbringt Böttger lange Zeit als Gefangener des preußischen Königshofes. Dennoch gibt er niemals auf, weiter an der Goldherstellung zu forschen. Zwar vermag er Gold auch nach jahrelangen Experimenten nicht herzustellen, doch dann macht er eine andere, höchst erstaunliche Entdeckung …
Lizenzausgabe für die Naumann & Göbel Verlagsgesellschaft mbH, Köln Copyright © 2003 by Berndt List Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schluck, Garbsen © Aufbau Verlagsgruppe GmbH, Berlin 2003 Der Roman erschien erstmals 2003 im Aufbau Taschenbuch Verlag. Aufbau Taschenbuch ist eine Marke der Aufbau Verlagsgruppe GmbH. Diese Lizenz wurde vermittelt durch die Aufbau Media GmbH, Berlin. Gesamtherstellung: Naumann & Göbel Verlagsgesellschaft mbH Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-625-21042-9 www.naumann-goebel.de Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
Für Susanne Die Alchemie ist die Morgenröte des naturwissenschaftlichen Zeitalters, welche durch das Dämonium des wissenschaftlichen Geistes die Natur und ihre Kräfte in den Dienst der Menschen gezwungen hat. C.G. Jung
Erstes Kapitel
L
eise schloß Johann die Haustür hinter sich. Er zog den Dreispitz tief in die Stirn und machte sich auf den Weg über den Marktplatz. Ein eiskalter Novemberwind wirbelte die letzten Blätter durch das vom Regen aufgeweichte Berlin. Nur wenige Dienstboten waren noch unterwegs, von den schneidenden Böen zur Eile angetrieben. Das ungemütliche Wetter war auf Johanns Seite. Niemand würde sich wundern, wenn er den Umhang vor dem Gesicht zusammenzog, um unerkannt die Stadt zu verlassen. Morgen um die Mittagszeit war er zum preußischen König bestellt, eine ›gnädig bestimmte Audienz‹, so umschrieb Seine Königliche Majestät Friedrich I. den Befehl. Johann Friedrich Böttger wollte dieser Begegnung unter allen Umständen entgehen. Denn diese Audienz konnte ihn das Leben kosten. Man schrieb den 15. November 1701. Bevor Johann in Richtung Schloßpark abbog, warf er einen letzten Blick zurück zur Marktapotheke, wo er seine fünf Lehrjahre verbracht hatte. Eine sorglose Zeit, sogar unter dem grauverhangenen Himmel wirkte die Apotheke mit ihrer barocken Fassade heiter. Als er mit vierzehn aus Magdeburg nach Berlin gekommen war, um seine Lehrstelle anzutreten, war er staunend am Rand des Markplatzes stehengeblieben. Noch nie hatte er so viele Menschen gesehen wie hier. Mägde, Hausfrauen, Bürger, ja sogar Gardisten wimmelten zwischen den Marktbuden, von denen fremdartige Gerüche ausgingen. Eine weite, aufregende Welt tat sich vor ihm auf. Nie hatte er sich vorstellen können, Berlin zu verlassen, auch nicht, als ihm der Apotheker Zorn vor einem Monat feierlich den Brief zum freigesprochenen Gesellen überreichte. Stolz hatte er zum Zeichen der neuen Würde den Griff seines Degens vergoldet, nun hielt er ihn un1
ter dem flatternden Umhang versteckt. Zu leicht konnte man ihn daran erkennen. Die Wolkendecke über dem Marktplatz hatte sich graublau verfärbt, ein sicheres Zeichen für Schnee. Der Winter kündigte sich früh an in diesem Jahr. Bis zum Steglitzer Tor würde er bestimmt zwanzig Minuten brauchen, und mit Anbruch der Dunkelheit wurden die Stadttore geschlossen. Johanns Blick wanderte zum Kirchturm. Halb fünf. Er mußte sich beeilen. Pfützen zwangen Johann immer wieder zu kleinen Sprüngen, ein heikles Unterfangen mit dem schweren Reisesack auf dem Rücken. In der Straßenmitte war der matschige Lehmboden vollends unpassierbar, von Pferdehufen zu einer Morastlandschaft aufgewühlt. Pflastersteine gab es nur vor dem Berliner Schloß. Sie waren im Juli gelegt worden, als Friedrich I. seine Krönung zum König in Preußen ausgiebig feierte und sich von seinen Untertanen bejubeln ließ. Den ganzen Juli über hatten die Festlichkeiten Berlin in Atem gehalten, auch die kleinsten Gassen waren mit bunten Lampions geschmückt. Gaukler, Musikanten und Taschendiebe strömten in die Stadt. Für die unzähligen Spektakel hatte man auf den Plätzen der Stadt Tribünen errichtet, die für die Damen und Herren von Rang reserviert waren. Zusehen durften alle Berliner; und wem das tatsächlich gelang, der schwärmte den weniger Glücklichen von den farbenfrohen, prachtvoll ausgestatteten Opern- und Ballettaufführungen vor. Die Berliner wetteiferten darin, ihre Häuser mit Fahnen und Girlanden zu schmücken. Sie waren stolz, weil sie nun Untertanen eines Königs waren und nicht bloß Bürger eines der unzähligen kleinen Fürstentümer, die der Dreißigjährige Krieg in Deutschland hinterlassen hatte. Vor Johann tauchte das hohe, verzierte Gitter auf, das den Schloßpark umgab. Rechts neben dem Park lag der Garnisonsflügel. Dort ließ der König Laboratorien und Räume herrichten, in denen Johann vom folgenden Tag an hatte arbeiten sollen. Johann ballte die Faust unter dem Umhang. Er wollte dem König weder sein Talent noch sein Können zur Verfügung stellen – und erst recht nicht seinen Schatz, das ›Arkanum‹, diese sagenhafte, geheimnis2
volle Substanz, welche die Verwandlung von unedlem Metall zu Gold möglich machte. ›Das große Werk‹ oder die ›Transmutation‹, wie die Alchemisten es nannten. Das Arkanum befand sich in seinem Reisesack, sicher verpackt in einer mit Samt ausgepolsterten, silbernen Schatulle. Es gehörte ihm, Johann Friedrich Böttger, dem Goldmacher, nicht dem König. Der König sollte gar nicht erst Gelegenheit bekommen, Anspruch darauf zu erheben. Schloßpark, Gärtnerstraße, Matthäusplatz. Johann nahm auf seiner Flucht genau den gleichen Weg, der ihn vor vier Monaten zum Arkanum geführt hatte. Die Erinnerung an jenen warmen Sommertag stieg in ihm hoch, und wieder überlief ihn ein Schauder. Dieser Tag hatte sein Leben verändert.
Es war ein Sonnabend vor vier Monaten, im Juli, während der Krönungsfeierlichkeiten für den preußischen König. Eigentlich hätte Johann den ganzen Tag arbeiten müssen, doch er wollte sich in den Trubel stürzen und die vielen Lustbarkeiten genießen, die Berlin in diesen Tagen zu bieten hatte. Deshalb bat er den Apotheker Zorn um einen freien Tag, den dieser ihm auch gewährte. In bester Stimmung machte sich Johann in seiner Mansardenkammer stadtfein. Er zwängte sich in seinen Gehrock mit passender Weste, der Mode entsprechend eng geschnitten, was seine schlanke Gestalt bestens zur Geltung brachte. Beide Kleidungsstücke hatte er erst vor kurzem anfertigen lassen. Vorsichtig setzte er die etwas mürbe Allongeperücke auf, ein Geschenk seiner Mutter zu seinem neunzehnten Geburtstag. Wenn man ein berühmter Mann werden wolle, hatte sie geschrieben, und ihr Sohn sei ja wohl auf dem besten Wege dazu, müsse man sich auch entsprechend präsentieren. Johann hielt die Perücke in Ehren, obwohl sie bei näherer Betrachtung einige Mängel aufwies. Ihr Zustand entsprach mehr der Vorliebe seiner Mutter für günstige Einkäufe. Deshalb bestäubte er sie mit viel 3
Puder, um die dünnen Stellen zu kaschieren. Der dunkelblaue Gehrock, die makellosen weißen Strümpfe und die schwarzen, blankgeputzten Schnallenschuhe machten diesen Makel allemal wett. Mit dem stolzen Gefühl, sich wie ein reicher Bürger die Zeit mit Müßiggang vertreiben zu können, war er aus der Apotheke getreten. Prompt blieben zwei Gardisten stehen, um ihn vorbeizulassen. Es war Markttag und die Zeit des stärksten Andrangs. Es gab die üblichen Stände mit Kohl und trägen Bauern, Handwerker, die grobe Steinguterzeugnisse feilboten. Zahlreiche Schlachter, die während der Festlichkeiten auf gute Umsätze hoffen durften, hatten ihre Stände mit Schweineköpfen dekoriert, auf Holzbänken darunter lagen blutige Schweinehälften. Schafe, deren Lebensdauer von der Nachfrage abhing, blökten in engen Gattern. Bürgersfrauen schwatzten in kleinen Gruppen, während ihre Dienstboten mit Marktweibern feilschten. Geschickt wich Johann voluminösen Einkaufskörben aus und schlenderte zu den Fleischständen. Er überlegte, ob er sich nicht eine der leckeren Würste kaufen sollte, als er plötzlich Barbara entdeckte. Sie wartete auf ein schönes fettes Huhn, dem die Marktfrau soeben den Kopf abschlug. Barbara war die temperamentvolle Magd eines Kaufmanns, der häufig auf Reisen war, so daß sie über viel Zeit verfügte. In einer langen, trunkenen Nacht hatte Barbara ihn in zahlreiche Variationen der körperlichen Liebe eingeführt, die seine wildesten Phantasien übertrafen. Ausgelaugt und zerschlagen nach dieser Nacht voller Ekstasen war er im Morgengrauen von der Regentonne über das Dach in sein Mansardenzimmer gekrochen. Heute würde Barbara allerdings keine Zeit haben. Gemüse ragte aus ihrem Korb, ein sicheres Zeichen dafür, daß ihre Herrschaft in Berlin war und Gäste erwartete. Als Barbara Johann erblickte, erhellte sich ihre Miene. Sie blinzelte ihm zu, hielt seinen Blick fest und machte einen lasziven Augenaufschlag. Dabei fuhr ihre Hand ganz langsam in Richtung ihres Schoßes. Johann errötete verschämt. Barbara lächelte zufrieden über ihren Erfolg und fuhr sich lustvoll mit der Zunge über die Lippen. 4
Johann schaute sich schnell um, niemand schien sie zu beobachten. Gespielt selbstvergessen ließ er seine Hand über seinen Schritt gleiten und rieb sich dann den Bauch. Dabei streckte er sich genüßlich und schielte zu Barbara hinüber. Die brach in schallendes Gelächter aus, was die Händlerin, die ihr gerade das geköpfte Huhn reichen wollte, verwirrt aufblicken ließ. Barbara winkte Johann leicht zu, der ebenfalls lachte und sich mit einem höflichen Neigen des Kopfes verabschiedete. Er war mit seiner erfolgreichen Replik zufrieden. Allerdings hatte die Begegnung mit Barbara seine erotischen Phantasien geweckt: Nicht Würste, sondern Brüste junger Mägde und Damen zogen nun seine Blicke an. Er versuchte zu erahnen, wie sie nackt aussehen würden. Doch schon bald mußte er das Spiel aufgeben. Zu viele bekannte Gesichter begegneten ihm, die mit einem Neigen des Kopfes zu begrüßen waren. Die Marktapotheke war bekannt in der Stadt. Zorns Medikamente genossen einen ausgezeichneten Ruf, woran Johann, wie jedermann wußte, seinen Anteil hatte. Seine alchemistischen Studien hatten schon mehrmals unerwartete Früchte getragen. So hatte er eine Schrift des Paracelsus ausgegraben, in dem dieser ein hochwirksames Medikament gegen die Gicht beschrieb. Johann hatte das Elixier nachgebraut, und es war ein unerwartet großer Erfolg geworden. Daher förderte der Apotheker Johanns alchemistische Studien im Labor, die häufig bis zum Morgengrauen dauerten. Gerade arbeitete sich Johann durch die dickleibige Geheimschrift des ›Basilius Valentinus‹. In zwölf Schritten wurden dort die Versuchsreihen beschrieben, an deren Ende man künstliches Gold herstellen konnte. Der Apotheker glaubte zwar nicht daran, ließ Johann aber experimentieren, schließlich kam ja auch Nützliches dabei heraus. Wie das Präparat gegen die Gicht. Vor allem imponierte Zorn, daß sich inzwischen hochgebildete Alchemisten in der Marktapotheke die Klinke in die Hand gaben, um den ›jungen Herrn Böttger‹ zu konsultieren. Sogar vom Hof kamen sie, darunter der berühmte Baron Kunckel von Löwenstein, der bei seinen alchemistischen Studien zufällig das Geheimnis des Rubinglases ent5
deckt hatte. Bei den unzähligen, mit gemeinsamen Experimenten verbrachten Stunden war Kunkel von Löwenstein zu einem väterlichen Freund Johanns geworden. Die Rubinglasmanufaktur des Barons hatte Johann auf den Gedanken gebracht, sich nebenher Einkünfte zu verschaffen. Er braute und verkaufte heimlich Aphrodisiaka und Schönheitssalben, obwohl ihm das nicht erlaubt war. Dank dieser Einkünfte hatte er es schon zu einigem Wohlstand gebracht, für einen Gesellen jedenfalls, dessen üblicher Lohn aus zwei Groschen die Woche bestand. Inzwischen zählte eine beträchtliche Anzahl Berlinerinnen aller Altersklassen zu seinen Kundinnen. So war es nicht verwunderlich, daß er vielen von ihnen an diesem schönen Julitag begegnete, wo überall in der Stadt Attraktionen lockten. Johann war schließlich am Schloßpark angelangt, als einige Meter vor ihm ein prächtiges Paar aus dessen hochaufragendem Tor trat. Der Mann trug einen reich mit silbernen Ornamenten bestickten Gehrock, neben dem sein eigener wie ein armseliger Fetzen wirkte. Das schwingende Kleid der Dame war aus hellgelber Seide, so leicht und fließend, wie es kein Berliner Schneider herzustellen wußte. Ihr Sonnenschirm wippte keck, ebenso ihre kleinen, schwarzen Locken, die sich von ihren Schläfen herabringelten. Bewundernd blieb Johann stehen. Die Anmut der Dame faszinierte ihn, obwohl er sie nur von hinten sah. Sie schritt hoheitsvoll und mit natürlicher Grazie, ohne die Geziertheit, die er von den Damen des Hofes kannte. Neugierig folgte Johann dem Paar in gebührendem Abstand. Der Herr war schon in den mittleren Jahren, beleibt, wahrscheinlich über Vierzig, dafür sprach sein schwerer Gang. Die Bewegungen der Dame verrieten, daß sie wesentlich jünger war. Aber wie jung? Wie könnte das Gesicht aussehen, das dieser Figur entsprach? In Gedanken ging er nacheinander alle hübschen Mädchen durch, die er kannte. Keines schien dieser Figur gerecht zu werden. Als die Unbekannte das Gitter spielerisch mit der Hand streifte, sah er, daß sie eine kleine weiße Rose in der Hand hielt. Das paßte. 6
Das Paar bog ab in die Gärtnerstraße, die zum Matthäusplatz mit den derberen Vergnügungen führte. Johann war es recht. Dort im Gedränge würde sich mit Sicherheit eine Gelegenheit ergeben, ihr Gesicht zu sehen. Und wenn sie nun häßlich war? Es gab Mädchen, die alles mit ihrer Anmut wettmachten. Egal, selbst wenn sie ein Pferdegesicht hätte, sie mußte etwas Besonderes sein! Als sie den Matthäusplatz erreichten, war es tatsächlich ganz einfach. Das Paar gesellte sich zu einer kleinen Menge, die sich um einen Gaukler versammelt hatte, der mit vier Keulen jonglierte. Johann umrundete die Zuschauer und postierte sich genau gegenüber, kaum fünf Schritte entfernt. Nun konnte er sie in Ruhe betrachten. Natürlich hatte sie kein Pferdegesicht; sie war schön und etwa in seinem Alter. Ihr relativ kleiner Mund stand im Kontrast zum kräftigen Kinn, die Nase war wohlgeformt und gerade, und die kühlen, dunkelbraunen Augen verrieten Temperament und Intelligenz. Ihre Haltung wirkte selbstbewußt, und in ihren Zügen meinte Johann, Eigensinn zu lesen. Alles andere als eine unkomplizierte Dame, aber was für eine Herausforderung, eine solche Frau zu besitzen! Plötzlich blickte sie zu ihm. Ihr Blick traf Johann, bevor er wegsehen konnte. Er fand sich ertappt, schlug die Augen nieder und spürte, wie er errötete. Das zweite Mal an diesem Morgen. Fühlte sie sich durch sein Starren belästigt? Er war bestimmt nicht ihr erster Bewunderer. Sein eigenes Aussehen war respektabel, die Makel der Perücke im hellen Sonnenlicht nicht sichtbar. So gelassen wie möglich schaute er wieder auf. Sie sah ihn immer noch an, auf ihrem Gesicht hatte sich ein kleines, spöttisches Lächeln gebildet. Johann lächelte zurück, während ihr Mann Pfennige in einen Hut zählte, der herumgetragen wurde. Die Schöne hob die weiße Rose unter die Nase, zwirbelte sie ein bißchen zwischen den Fingern und atmete genüßlich den Duft ein, während sie Johann weiterhin unverwandt ansah. In diesem Augenblick krähte eine kindliche Stimme. »Johann … Johann …« Direkt neben der unbekannten Schönen hatte sich Friederike durch7
gedrängelt, die zehnjährige Nachbarstochter, die treuherzig für Johann schwärmte. Er winkte der Kleinen zu. Die unbekannte Schöne beugte sich zu ihr hinunter, als der Jongleur sich verneigte und die Zuschauer applaudierten. Fröhlich erregt zeigte Friederike mit ausgestrecktem Arm auf Johann und plapperte unentwegt. Selbst wenn sie ihn in den glühendsten Farben beschrieb, in den Augen der vornehmen Dame mußte er augenblicklich zum simplen Apothekerlehrling schrumpfen. Da halfen weder Gehrock noch Perücke. Mit einem Schlag war sie unerreichbar. Bedauernd wandte Johann sich ab, ohne irgend etwas wahrzunehmen. Wenn man in die Sonne verliebt ist, wird alles andere zu Schatten. Die Zuschauer zerstreuten sich, Johann verharrte noch immer am selben Fleck. Vielleicht konnte er wenigstens herausfinden, wer sie war. Also folgte er der Unerreichbaren. Das Paar blieb auf dem Matthäusplatz und ging zu einem Zelt auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes. Im Näherkommen konnte Johann auf dem Tisch vor dem Zelt erstaunliche Artikel erkennen: Phiolen, Glasgefäße, zierliche, kleine Waagen und diverse verschiedenfarbige Substanzen in kleinen, runden Tiegeln. Hinter diesen Utensilien wachte ein hagerer, älterer Mönch über seine Ware. Erst als das Pärchen an den Stand herangetreten war, bemerkte Johann am First des Zeltes geheimnisvoll verschlungene Symbole, die sich bei längerer Betrachtung als kyrillische Buchstaben entpuppten. Es dauerte eine Weile, bis er sie entziffert hatte. ›Lascarius‹ stand da. Sein Herz setzte einen Moment lang aus. Konnte das wahr sein? Lascarius war der Name eines sagenumwobenen griechischen Mönches. Man munkelte in Alchemistenkreisen, daß Lascarius das Geheimnis des Arkanums besaß. Die unbekannte Schöne hatte Johann direkt zu dem Mann geführt, den er schon lange sehnlichst zu treffen wünschte. Sie suchte gerade zielsicher einige Tiegel aus, aber Johann traute sich nicht näher heran. Wenn er den Mönch ansprach, mußte das ohne fremde Ohren geschehen. Vielleicht war der Mann auch bloß ein Hochstapler, der sich den Namen Lascarius anmaßte. Johann brach vor Aufregung der Schweiß aus. 8
Endlich hatte das Paar seine Einkäufe erledigt und ging weiter. Johann sah der Unerreichbaren einen Moment hinterher. Lascarius war nun wichtiger. Als Johann sich zum Stand zurückwandte, war schon eine Magd herangetreten und hielt einen Tiegel in der Hand. Die Magd war unsicher. Johann näherte sich langsam. »Und diese Salbe läßt die Pusteln wirklich verschwinden?« fragte die Magd den Mönch. »Es ist eine überlieferte Rezeptur der heiligen Mönche!« Der Mann hinter dem Tisch hatte eine ungewöhnlich helle Stimme und einen weichen Akzent. Die Magd war nicht überzeugt. »Heilige Mönche?« überlegte sie weiter unentschlossen. »Wirkt die Salbe denn auch bei Evangelischen?« Der Mönch blieb verbindlich. »Ihre heilsame Wirkung entfaltet die Creme bei allen, die an Gott glauben …« Die Magd wollte etwas einwerfen und begann: »Unser Pastor …«, doch der Mönch beendete unbeirrt seinen Satz: »… und ist nicht Christus, unser Herr, für uns alle gestorben?« »Er soll mir nicht etwas mit Christus aufschwatzen!« Brüsk wandte die Magd sich ab. Der Mönch schaute ihr belustigt hinterher, während sich Johann den Tiegel mit der abgewiesenen Salbe griff und den Inhalt fachmännisch beschnupperte. »Ihr habt Zinksulfor darin, nicht wahr? Ein gutes Mittel.« Der geheimnisvolle Verkäufer der Salben schaute ihn zurückhaltend mit leicht fragendem Ausdruck an. Johanns ungeduldige Anspannung wuchs. Vor ihm stand vielleicht einer der größten Alchemisten seiner Zeit. Er mußte doch gemerkt haben, daß er etwas von Pharmazie verstand. Johann sah sich um, kein Kunde drängte zum Tisch. Vorsichtig begann er: »Ist Er der, dessen Name das Zelt verkündet?« Der Mönch musterte Johann mit seinen kleinen, stechenden Augen, ohne daß zu erkennen war, ob er die Frage mit ›ja‹ oder ›nein‹ beantworten würde. »Es gibt nur wenige Menschen in Berlin, die diesen Namen über9
haupt entziffern können, und noch weniger, die wissen, was er bedeutet, es sei denn …« Er ließ den Satz in der Schwebe. Johann vollendete ihn fast drängend. »… er ist ein ausgewiesener Alchemist. Darf ich mich vorstellen? Johann Friedrich Böttger, Apotheker … Lehrling noch, aber bald Geselle, bewandert in der Chemie und vor allem der Alchemie.« Der Mönch strahlte. »Dann ist Er der, von dem Baron Kunckel von Löwenstein immer spricht. Ich hatte schon gehofft, daß wir uns einmal treffen.« »Wir haben viele gemeinsame Experimente gemacht, und ich stehe im lebhaftesten Schriftverkehr mit dem Baron …« Johann schaute sich um, ob auch niemand lauschte, und flüsterte dann: »… insbesondere über die Experimente des Basilius Valentinus, das Arkanum betreffend – bis zur 10. Stufe!« Wenn Johann begeistert war, sprühte ein Feuer in seinen Augen, dem man sich schwer entziehen konnte. Der Mönch sah Johann ernst an. »Dann hat der Allmächtige Ihn geschickt. Sei Er willkommen, trete Er ein in mein Zelt, dort sind wir ungestört.« Und er rief nach einem jungen Mönch, der auf den Stand aufpassen sollte. Kein Tageslicht drang in das Zelt, das nur von Kerzen erleuchtet war. Johann fielen sofort einige Erzklumpen auf, die in der Mitte eines Tischchens aufgehäuft waren. Goldene Adern und Einschlüsse blitzten im Schein der Kerzen. Der Mönch begann in hohem, singendem Tonfall: »Er sieht hier die Grundsubstanz, so wie Gott sie schuf, die Grundlage all meiner Arbeiten. Denn ich bin Lascarius, dessen Namen Er entziffert hat und …« Er machte eine bedeutungsschwere Pause, in der Johann kaum zu atmen wagte. »… ich kenne das Geheimnis des Arkanums. Ich vermag künstliches Gold herzustellen!« Die Worte hallten in Johanns Kopf nach. Er hatte dies vielleicht erwartet, aber es dauerte eine Weile, bis die Bedeutung, die ungeheure Tragweite dieser Eröffnung sich in seinem Bewußtsein zu einem Bild formte. Was seine Augen sahen, hatte nichts mit Reichtum zu tun. Ein 10
Mönch in seiner einfachen Kutte in einem Zelt, das kärglich eingerichtet war. Ein Strohlager, der Reisekoffer aus Weidengeflecht, die große, abgewetzte Ledertasche an einem Pfosten, zwei Hocker und in der Mitte das Tischchen mit den Kerzen, die ihr Licht einem Erzklumpen spendeten, das war alles. Trotzdem zweifelte Johann nicht an Lascarius' Worten. Die Suche nach dem Arkanum war immer auch eine Suche nach sich selbst, wie es die uralten Regeln vorschrieben. Das Eindringen in die Geheimnisse der Schöpfung Gottes, nicht das Erlangen von Reichtum war das Ziel. Aber durfte man nicht wenigstens etwas mehr Gebrauch von seinen Erkenntnissen machen? »Wieso lebt Er dann so … so armselig, hat keinen Palast … Lascarius?« »Mein Gelübde verbietet es mir, in Reichtum zu leben«, erwiderte der Mönch demütig. »Keinem Fürsten darf ich mein Wissen zur Verfügung stellen. Auch ich selber wende meine Kunst nicht an. Es genügt mir, Gott zu dienen und das Arkanum zu besitzen.« Johann wurde immer aufgeregter. »Hat Er das Arkanum tatsächlich selber hergestellt? Könnte Er es jederzeit wieder hervorbringen?« Lascarius' Antwort fiel anders aus, als Johann erwartet hatte. »Im Grunde ist es einfach, wenn man nur Gottes Schöpfung folgt.« Lascarius nahm einen der Erzbrocken vom Tisch und drehte ihn so, daß die Einschlüsse und metallischen Adern aufblitzten. Seine Stimme fiel wieder in den hellen Singsang. »Als Gott die Erde erschuf, verbarg er die kostbarsten Elemente tief in der Erde, damit sie dort reifen. So wie die Menschen mit der Zeit reifen, so reifen die Metalle im Gestein zu immer edleren Metallen. Hier kann Er es deutlich sehen …« »Man sagt, es dauert tausend Jahre!« flüsterte Johann. Lascarius hob Hände und Augen zum Himmel. »Wie lange das gemeine Metall in der Erde ruht, um sich in Gold zu verwandeln, liegt allein in Gottes Hand!« Dann beugte er sich wieder über den Erzklumpen und strich immer wieder mit den Fingerspitzen über die blitzenden Adern. Sie schienen vor Johanns Augen lebendig zu werden, begannen zu strahlen, changierten, schienen flüssig zu werden und ganz allmählich die Farbe und den Glanz von Gold anzunehmen, überirdisch schön. Lascarius' Stimme erreichte Johann wie aus weiter Fer11
ne. »Gott hat mir den Weg gezeigt. Ich bin ihm als sein demütiger Diener mit meinem alchemistischen Wissen gefolgt, und so ist es mir gelungen, das Arkanum herzustellen, um das Wunder der Transmutation zu vollbringen.« Johann versuchte, seinen rauschhaften Zustand abzuschütteln. »Es ist also kein Traum, sondern Wirklichkeit?« »Der Mensch kann alles verwirklichen, wovon er träumt, wenn er nur die Kraft dafür findet! Gott offenbart seine Schöpfung dem, der sich tief darin versenkt und sich würdig erweist. Die Wandlung geschieht, so wie beim Abendmahl aus Brot der Leib Christi wird, aus Wein sein Blut.« Johann war, als erwache er langsam aus einer Vision. Noch eine Weile starrte er auf den Erzklumpen, der nun wieder ganz gewöhnlich aussah, gänzlich unmagisch. Lascarius stand auf, ging zu der abgewetzten Ledertasche und holte eine kleine, silberne Schatulle hervor. Innen war sie mit Samt ausgeschlagen, darauf lag eine Phiole mit einer Flüssigkeit und daneben ein abgegriffenes, mit alchemistischen Zeichen verziertes Oktavheft. Er hielt die Phiole ins Kerzenlicht. Die Flüssigkeit funkelte rubinrot. »Diese Phiole birgt das Arkanum. Die Tinktur verwandelt unedles Metall in Gold. Und in diesem Heftchen wird Er die Anleitung dazu finden. Bitte nehme Er beides von mir an. Mir genügt es zu wissen. Mit Hilfe dieser beiden Dinge wird es Ihm möglich sein, die verborgensten Geheimnisse der Natur zu entschlüsseln.« Immer noch kam Johann das alles unwirklich vor. Er fühlte sich ungeheuer geehrt, gleichzeitig war sein Verlangen nach der Phiole und dem unscheinbaren Heftchen unendlich groß. Er rang um Worte des Dankes. »Ich hatte nur Hinweise erwartet … und nun dieses … Er tut mir eine große Ehre an … ich bin tief in Seiner Schuld … ich weiß nicht … Wie soll mein Dank Ihm je gerecht werden?« Lascarius lächelte über Johanns unbeholfene Freude. »Er ist den Weg des Basilius Valentinus gegangen, hat Paracelsus studiert, hat die besten Empfehlungen!« Dann lachte er leise. »Und Er hat, wie ich hörte, ein gutes Mittel gegen die Gicht gemischt, die mich plagt. Wenn Er mir 12
davon etwas bringen will? Frei von Schmerzen zu sein bedeutet nicht eben wenig …« Der Mönch übergab Johann die unschätzbar wertvolle Phiole und das Heft. Sofort begann Johann begierig in dem Heft zu blättern. Es enthielt nicht nur Texte, sondern auch symbolische Bildnisse, den Kreis der Urelemente um eine menschliche Figur, die Wirkung der Planeten, deren Anordnung die Metalle beeinflußte. Gekrönt wurde die Zeichnung von einer alles überstrahlenden Sonne, die für Gold stand. Johann kannte das alles, vermochte es einzuordnen und zu interpretieren. Doch der Mönch ließ ihm keine Zeit, drängte zum Aufbruch. »Bringe Er mir von dem Gichtmittel. Gehe Er.« Erneut legte er große Intensität in seine Stimme: »Ich will die Welt rühmen hören, daß Er Gold macht!« Mit diesen eindringlichen Worten entließ er Johann, der immer noch voller widerstreitender Empfindungen war und behutsam die kleine Schatulle in seinem Rock verstaute. Er spürte ihr Gewicht in seiner Tasche. Sie war Realität, sie enthielt einen Schatz, ein Versprechen. Ein Glücksgefühl begann ihn zu durchströmen, und immer strahlender erschien ihm die Zukunft. Er, Johann Friedrich Böttger, würde der Welt zeigen, wie man Gold erschafft. »Ich werde Ihn nicht enttäuschen, Lascarius, die Welt wird von mir sprechen, und ich werde es Ihm immer danken!« Lascarius gab nur trocken zurück: »Vergesse Er mir nicht das Gichtmittel.« In Hochstimmung trat Johann vor das Zelt. Er brauchte einen Moment, um sich an das blendende Sonnenlicht zu gewöhnen. Wie ein Schlafwandler trieb er über den Matthäusplatz, bis ein Bettler mit amputierten Beinen ihn aus seinen Gedanken aufscheuchte. »Eine milde Gabe, hoher Herr, eine milde Gabe …« Johann erwachte aus seinen Gedanken, fingerte einen Groschen heraus und warf ihn dem Bettler zu. Dann stürmte er los. Er mußte ins Labor! Verblüfft über die großzügige Gabe, brüllte der Bettler hinter ihm her: »Habt Dank, edler Herr! Gott möge eure Großzügigkeit reich belohnen!« 13
»Das wird er!« gab Johann lachend zurück und eilte, so schnell es die Würde seines Rockes erlaubte, zur Apotheke. Kaum eine Stunde später, das Gichtmittel war ausgeliefert und sein schöner Gehrock hing wieder in der Mansarde, begann Johann im Labor mit dem Arkanum zu experimentieren. Die Versuche erstreckten sich über Wochen. Tatsächlich gelangen ihm einige Transmutationen, häufiger jedoch endeten seine Versuche in einem Fehlschlag. Die unedlen Metalle wurden nur golden eingefärbt, obwohl jeder Nichtfachmann sie für echtes Gold gehalten hätte. Einer gründlichen, chemischen Prüfung hielt dieses künstliche Gold jedenfalls nicht stand. Waren es Fehler bei der Durchführung des Prozesses? Die Texte im Oktavheftchen waren vieldeutig. Alle Alchemisten pflegten ihre Texte zu verschlüsseln, damit kein Unbefugter damit etwas anfangen konnte. Zunächst einmal ersetzten Symbole die Namen der Elemente, was den Text für Uneingeweihte unverständlich machte. Das war für ihn kein Problem, er kannte sie alle. Die Crux waren die Handlungsanweisungen. Sie waren vage und voll blumiger Umschreibungen, was bei alchemistischen Texten ebenfalls der Geheimhaltung diente. Nie konnte er sich sicher sein, ob die Temperatur des Feuers zu hoch oder zu niedrig gewesen war. Hatte der Schmelzvorgang lange genug angehalten? Hatten die Ingredienzien die nötige Reinheit erreicht? Es ließen sich so viele Möglichkeiten aus den Vorschriften ableiten, es gab so viele Fehlerquellen! Johann zog daraus die Konsequenz, die Experimente noch feiner abzustufen und penibelste Protokolle darüber zu führen. Über diesen Forschungen, die er nach seinen Tätigkeit in der Apotheke meist des Nachts erledigte, verflog die Zeit. Im September hatte sich der Mangel an Schlaf gerächt. Es war zu einer Explosion im Labor gekommen. Nach der Beschreibung im Oktavheft sollte er eine fragile Bleimischung erhitzen, der ein Körnchen Gold beigemischt war. Man durfte den Tiegel nicht einfach ins Feuer setzen, sondern man mußte ihn stundenlang mit einer Zange über der Glut schwenken. Im Sitzen wäre er eingeschlafen, also stellte er sich dabei hin. Je länger die Prozedur 14
dauerte, desto mehr setzten ihm die Dämpfe zu. Schließlich schwankte er, versuchte sich abzufangen, stolperte und stieß eine Spirituslösung in die Feuerstelle, während er zu Boden fiel und ohnmächtig wurde. Die Spiritusflasche explodierte. Glut wurde aus der Feuerstelle geschleudert, Glaskolben zerbrachen, Johanns Aufzeichnungen fingen Feuer, auf dem Dielenboden bildeten sich Flammenherde. Der Tiegel in der Feuerstelle war umgekippt, die goldschimmernde Schmelze vermischte sich mit Glut und Asche zu einem unansehnlichen grauen Brei. Zum Glück hatte der Knall die ganze Straße geweckt. Der Apotheker Zorn schleppte den bewußtlosen Johann aus dem Labor. Nachbarn kamen gleich mit ledernen Wassereimern und Decken gelaufen, und das Feuer war bald gelöscht. Die Gefahr eines großen Brandes war gebannt. Als Johann aus seiner Ohnmacht erwachte, sah er, wie Zorn mit wütenden Bewegungen im verwüsteten Labor aufräumte, wobei ihm Tränen über das Gesicht liefen. Voller Schuldbewußtsein hatte Johann sich hochgerappelt und dem Apotheker das hochheilige Versprechen gegeben, den Schaden binnen zweier Monate zu ersetzen. Unermüdlich würde er dafür arbeiten, und tatsächlich war der Apotheker einige Wochen später so zufrieden gewesen, daß er ihm den lang ersehnten Gesellenbrief im Oktober nicht verweigerte. Anfang November war Johann dann auf die Idee gekommen, die Zweimonatsfrist seines Versprechens mit einer grandiosen Vorführung zu krönen. Sie hatte allerdings geheim bleiben sollen. Johann hatte die Zeugen seiner Transmutation darum gebeten, niemandem davon zu erzählen. Trotzdem hatte sein Experiment vorgestern groß im ›Berliner Boten‹ gestanden! Dieser Zeitungsbericht war schuld daran, daß er nun Hals über Kopf fliehen mußte!
Johann machte einen wütenden Schritt, rutschte aus und landete mit 15
dem rechten Fuß in einer tiefen Pfütze. Wasser lief ihm in den Stiefel. Irgendeiner mußte geplaudert haben, oder es hatte einen heimlichen Lauscher gegeben, so daß nun seine Transmutation aller Welt bekannt war. Auch die ›Frankfurter Zeitung‹ hatte die Meldung gebracht. Eine ganze Seite war seinem Experiment gewidmet: ›Es ist uns von höchst vertrauenswürdiger und kompetenter Seite berichtet worden, daß in Berlin in der Marktapotheke des Herrn Zorn der Apothekergeselle Johann Friedrich Böttger vor vier honorigen und glaubwürdigen Zeugen aus zwölf Groschen künstliches Gold hergestellt hat!‹ Es folgten noch Abhandlungen über die jahrtausendealte Kunst der Alchemisten und den wissenschaftlichen Durchbruch, den dieser geniale Apothekergeselle endlich erzielt hatte. Sogar Leibniz hatte man zitiert. Johanns Name war jetzt in aller Munde. Vor zehn Tagen hatte die Vorführung stattgefunden, die Johann plötzlich so bekannt gemacht hatte. Mit Bedacht hatte er vier hochangesehene Männer als Zeugen ausgewählt: den Prälaten Lechenberg, einen Vertreter der Kirche, ganz wichtig, um zu bezeugen, daß keine Schwarze Magie im Spiel war. Dann den königlichen Medizinalrat Winkler, einen hervorragenden Chemiker, wie die meisten guten Ärzte. Als dritten den Rechtsgelehrten Dr. Paschen, der auch als Kaufmann bekannt war, und schließlich seinen Lehrherrn, den Apotheker Zorn. In einer perfekt durchdachten Vorführung hatte er aus kupfernen Groschen Gold gemacht – Gold, künstliches Gold erschaffen. Zu Beginn der Vorstellung mußten die Zeugen ihm zwölf Groschen aus ihren Börsen geben, die Johann in einem spitz zulaufenden Tiegel einschmolz. Er ließ die Fenster öffnen, bevor er Alaun und Arsenpulver dazugab, damit die giftigen Dämpfe abziehen konnten. Zwischendurch betätigte er immer wieder den Blasebalg, damit die Schmelze die richtige Hitze behielt und Blasen warf. Als dieser Prozeß abklang, begann Johann zu beten. Er hielt auch die Zeugen dazu an. Andacht war unerläßlich, denn dies war ein Schöpfungsprozeß. Nach vier Stunden war die Schmelze reif, und er gab einige weni16
ge Tropfen der rubinroten Flüssigkeit hinein. Noch einmal brachte er den Kern des Feuers mit dem Blasebalg zu fast weißer Glut und ließ den Tiegelinhalt aufwallen. Dann stellte er ihn zum Abkühlen beiseite. Die Zeugen waren jeder Handbewegung mit Spannung gefolgt, Hilfe hatte er abgelehnt. Nun aber sprangen sie ungeduldig auf und traten heran, beugten sich über die erstarrende Schmelze. Kein Zweifel, sie schimmerte eindeutig golden. Voll gespannter, mit Vorfreude durchmischter Erwartung stießen sich die Herren mit den Ellenbogen in die Seite, um erst nach einer Weile widerstrebend auf ihre Plätze zurückzukehren. Endlich war der Tiegelinhalt so weit erstarrt, daß Johann ihn in einem Bottich mit kaltem Wasser abschrecken konnte. Mit einem Haken schob er ihn im Wasser noch ein wenig hin und her, krempelte sich dann den rechten Ärmel hoch, griff hinein und holte das hervor, was einmal die Groschen gewesen waren: ein Stück Gold, geformt wie der spitz zulaufende Tiegelboden, nicht unähnlich einer Pyramide, ein Goldregulus. Die vier Herren waren fassungslos, Johann genoß seinen grandiosen Erfolg. Der Prälat Lechenberg lobte besonders Johanns vorbildliche Gottesfurcht. Dann begannen der Medizinalrat und Zorn, das Gold chemisch zu prüfen. Johann sah der Prozedur gelassen zu. In diesem Augenblick zog ihn Paschen beiseite und bot ihm in aller Heimlichkeit fünftausend Taler, wenn er mit ihm eine Goldmanufaktur gründen würde. Eine gigantische Offerte, damit hätte Johann für sein Leben ausgesorgt. Doch er lehnte ebenso diskret ab. Nach einer weiteren halben Stunde hatte der Goldregulus alle Prüfungen bestanden: Das Gold war echt. Die Herren verneigten sich vor Johann, suchten nach Dankesworten für die hohe Ehre, als Zeugen zu diesem epochalen Experiment geladen worden zu sein. Das war der Moment, in dem Johann darum bat, das Gesehene als Geheimnis zu betrachten – nur eine Weile noch. Er führte aus, daß sein Verfahren noch nicht stabil genug sei und er weiter daran arbeiten müsse. Sie alle wußten, wie schwierig eine Transmutation war, von wie vielen Faktoren ihr Gelingen abhing. Die 17
Mondphasen waren zu bedenken, ebenso wie die Konstellation der Planeten, von denen ein jeder ein Metall repräsentierte. Alle wußten um diese Probleme, und die Argumente leuchteten ihnen ein. Überdies beeindruckte sie Johanns Bescheidenheit. Doch nun war sein Experiment doch nicht geheim geblieben; die Zeitungsmeldung hatte ihn in eine verzwickte Lage gebracht. Denn Johann hatte einen Trick angewandt, um seine Transmutation gelingen zu lassen und einen sicheren Erfolg vorweisen zu können. Das war der wahre Grund, weswegen das Experiment geheim bleiben sollte. In ein paar Wochen wäre Johann vermutlich am Ziel gewesen. Dann hätte er sich öffentlich feiern lassen können, wäre mit einer prächtigen Kutsche durch Berlin gefahren. Die Leute hätten den Straßenrand gesäumt und ihm zugejubelt. Schon oft hatte sich Johann diese Szene ausgemalt. Die voreiligen Zeitungsberichte hatten alles verdorben und konnten natürlich auch dem König nicht entgehen, der ständig mit seinen knappen Kassen kämpfte. Also hatte Friedrich den Apotheker zu sich bestellt, um mehr zu erfahren. Hätte Zorn sich beim König nicht irgendwie herausreden können? Statt dessen sollte Johann schon morgen, am 16. November, um 12 Uhr bei Seiner Majestät König Friedrich I. erscheinen. Vor weniger als einer Stunde war der Apotheker von der königlichen Audienz mit dieser Nachricht zurückgekehrt. Verärgert schilderte Zorn, wie der König den von Johann fabrizierten Goldregulus einfach in seine Tasche hatte gleiten lassen. Johann lächelte zwar, doch unaufhaltsam beschlich ihn ein Gefühl der Furcht. Und kurz darauf betrat auch noch der Medizinalrat Winkler in bester Laune die Apotheke. Voll Freude erzählte er, daß man im Garnisonshaus, also gleich neben dem Schloß, zwei Räume für Johann herrichte. Winkler hielt das für eine ungeheure Ehre, aber in Johanns Kopf formte sich ein ganz anderes Bild: Er würde Tag und Nacht unter Bewachung stehen. Der König wollte seinen Besitzanspruch offensichtlich auch auf seine Person ausdehnen. Bei diesem Gedanken war ihm heiß und kalt geworden. Selbst wenn der König Geduld mit ihm aufbrächte, er säße in der Falle! In diesem Augenblick hatte Johann beschlossen zu fliehen. 18
Er überzeugte seinen Lehrherrn, daß man sich für einen so großen, aber auch heiklen Herrscher wie Friedrich, der so viel auf seine Reputation gebe, gut präparieren müsse. Er bat um die Erlaubnis, sich für den Rest des Tages frei nehmen zu dürfen. Auch seine Kleidung müsse er entsprechend richten. Es war ganz leicht gewesen, der Apotheker zeigte Verständnis. Strahlend hatte Johann sich verabschiedet. Kaum hatte er den Raum verlassen, fiel das Strahlen von seinem Gesicht ab wie ein nasser Lappen. Weiß Gott, wer zu seiner preußischen Majestät Friedrich I. geladen war, sollte vorher besser seine Taschen zunähen. Oder gar nicht erst hingehen. Seine Majestät hoffte auf Gold, Johann würde es ihm nicht liefern können – noch nicht. Wahrscheinlich würde der König toben, wofür er bekannt war. Er würde Johann für einen falschen Goldmacher und Betrüger halten und ihn hängen lassen, weil er sich in seiner königlichen Ehre gekränkt sähe. Friedrich war ein dürrer, kleiner Mann Anfang Fünfzig. Sein Mangel an Imposanz machte ihn empfindlich und rachsüchtig. Daß er nach jahrelangem diplomatischem Tauziehen beim Kaiser die Erlaubnis erwirkt hatte, sich König in Preußen zu nennen, hatte daran nichts geändert. Johann wäre auch nicht der erste Goldmacher, den man an einem Galgen mit Flattergold aufknüpfte. In Frankfurt hatte man gerade wieder einen gehängt, und Johann verspürte nicht die geringste Lust, dessen Schicksal zu teilen oder auch nur das Risiko einzugehen.
Johann bog in die nächste Gasse ein, die ihn zur Steglitzer Straße bringen würde, wo das südliche Stadttor lag. Er atmete auf. Auch hier hatte der eisige Wind die Gassen leergefegt. Sogar die allgegenwärtigen Bettler und Invaliden hatten sich verkrochen. Es war immer dunkler geworden, und er hoffte, daß man das Tor heute nicht zeitiger schloß, weil die Wachsoldaten keine Lust hatten, im schneidenden Wind herumzustehen. 19
Es begann zu schneien, der Wind jagte dicke Flocken vor sich her. Bei einer besonders starken Böe geriet Johann in Versuchung, zur Poststation abzubiegen und ein Pferd zu mieten. Nein, das wäre unklug, es würde für die Häscher des Königs einfacher sein, seine Spur aufzunehmen. Friedrich würde sich nicht damit abfinden, daß sein Goldmacher plötzlich verschwunden war. Niemand sollte wissen, in welcher Richtung er Berlin verließ. Selbst wenn seinen Verfolgern Sachsen als sein wahrscheinlichstes Ziel erscheinen würde, sollten sie dennoch nicht gleich in Berlin seine Fährte aufnehmen können. Endlich bog er in die Steglitzer Straße ein. Das Tor stand noch offen. Zwei Kutschen und einige Berittene in Jagdkleidung kamen gerade herein. Die Wachsoldaten standen stramm. Johann beschleunigte die Schritte. Er würde den Paß vorzeigen müssen, wenn man das Tor schloß. Er zog den Dreispitz noch tiefer ins Gesicht. Ob es den Wachsoldaten seltsam vorkam, bei diesem Wetter jemanden zu Fuß unterwegs zu sehen? Wieder wurde er von einer heftigen Windböe vorwärts geschoben. Die Wachposten blinzelten in seine Richtung. Johann bemühte sich um einen würdevollen, energischen Schritt, sein Degen stach unter dem Umhang hervor. Sie sollten in ihm einen Mann von gehobenem Stand sehen, den man bei solchem Wetter besser nicht aufhielt. Den Wachposten trieb der Schnee direkt ins Gesicht. Schutzsuchend wandten sie die Köpfe wieder ab und traten frierend von einem Bein auf das andere, wodurch sie leicht schwankten. Wie kostümierte Pendel. Unter anderen Umständen hätte das bei Johann Heiterkeit, vielleicht sogar Spott ausgelöst. Doch nun war er einfach nur froh, daß sie mit sich selbst beschäftigt waren. Nur ein paar Schritte noch, dann war er auf gleicher Höhe, sie schauten kaum auf, er murmelte einen Gruß – und schon war er durch das Tor, überquerte die Spreebrücke. Er war heraus aus Berlin, die erste Hürde war genommen. Links und rechts der Straße lagen noch einige Häuser und verschneite Gärten. Die Anspannung wich aber erst richtig von ihm, als er die Landstra20
ße erreichte. Er ballte die Faust. Die Stadt mit dem unberechenbaren Friedrich versank hinter ihm im Schneetreiben. Sein erstes Ziel war das Gut des Barons Kunckel von Löwenstein, das an einer Nebenstraße nach Sachsen lag. Ungefähr vier Stunden Wegs lagen vor ihm. Der Nordostwind schob ihn, und je dunkler es wurde, desto mehr lernte er den Schnee zu schätzen, der an den Gräsern haftenblieb und in den Pfützen der Spurrinnen schmolz, zwei dunkle Rinnen wiesen ihm die Richtung. Seine Umgebung war immer weniger auszumachen, alles versank im ungewissen Grau. Nur die dunklen Räderspuren boten seinem Blick einen beruhigenden Halt. Er begann seinen Marsch zu genießen. Jetzt hatte er einen schönen Vorsprung. Seine Zuversicht kehrte zurück, das Gefühl, bald ein berühmter Mann zu sein, gewann wieder Oberhand in ihm. »Ich kann etwas«, versicherte er den beiden Wegen, die sich vor ihm gabelten, »so einer wie ich wird überall mit offenen Armen empfangen!« Er schlug den linken nach Großbeeren ein und zog eine Spur in den noch unberührten Schnee.
Zweites Kapitel
Z
ur gleichen Stunde jagte dreihundertfünfzig Meilen weiter östlich ein Kurier durch das unwegsame Polen auf Warschau zu. Seine Nachricht würde einen herben Rückschlag für die politischen Ambitionen König Augusts II. von Polen bedeuten. August II., in Personalunion auch Kurfürst von Sachsen, stand die bitterste Zeit seines Lebens bevor, die ihn an den Rand des Ruins bringen und zutiefst demütigen würde. Es würde ausgerechnet den Mann treffen, den der Volksmund ›August den Starken‹ nannte. Während die einen damit seinen Verschleiß an Frauen meinten, verstanden andere es als Anspielung auf die enormen Körperkräfte des Einunddreißigjährigen. 21
Tatsächlich überragte August seine Zeitgenossen um Haupteslänge. War er wütend, knüllte er schon einmal Silberteller zusammen und nutzte sie als Wurfgeschosse, denen man besser auswich. Ausländische Gesandte beeindruckte er damit, daß er ein Hufeisen mit bloßen Händen in zwei Teile zerbrach. August sah sich als ›Hercules Saxonis‹, als einen Fürsten mit antiken Herrschertugenden, der mit Mut und Kraft sein Land und dessen Kultur schützte. Was seinen Verschleiß an Frauen anging, so fand August selbst alles Gerede maßlos übertrieben. Seine kleinen Abenteuer sah er als gerechtfertigte Zerstreuung an. Er hatte sie sich verdient, wenn er die täglich zu bewältigende Kette offizieller Termine hinter sich hatte. Abgesehen davon war er treu. Seine protestantische Ehefrau Christiane Eberhardine behandelte er mit allem gebührenden Respekt. Und auch Ursula Lubomirska, seine polnische Mätresse, hielt er in Ehren. Zudem war es ein Gebot politischer Klugheit, sich in Polen eine offizielle, katholische Mätresse zuzulegen. Sie war die Nichte des mächtigsten Mannes im Lande, des Kardinalprimas von Polen, Radziejowski. Im Augenblick ruhte Ursula erschöpft unter dem Baldachin des Himmelbettes, dessen duftige Seidenvorhänge nur ihre langen, blonden Haare erahnen ließen. Vor ein paar Momenten hatte sich August vom Bett erhoben. Den Rückzug in den Schlafsalon hatte er dem vollen Terminplan abgetrotzt, bevor es in die abendliche Tretmühle ging. August lächelte. Ursula war eine rassige, junge Frau mit allen körperlichen Vorzügen, die ein Mann sich wünschen konnte. Selbstverständlich besaß sie ihr eigenes Palais, wo sie ihn zu empfangen pflegte, wie es sich gehörte. Nur heute hatte es sich eben anders ergeben, die kurzfristige Änderung der Termine hatte sie in seinem Schlafzimmer zum Liebesspiel zusammengeführt.
August fühlte sich gelöst und zufrieden. Er hatte sich einen leichten Hausrock übergeworfen und es sich in einem Fauteuil bequem gemacht, um die ›Leipziger Posaune‹ zu lesen, deren Ankunft ihr Schä22
ferstündchen beendet hatte. Die Zeitung war mit der regelmäßigen Kurierstafette eingetroffen, die zwischen Dresden und Warschau eingerichtet war. Sie bewältigte die Strecke in zwei Tagen. Die normale Post benötigte zehn. Der König liebte seine ›Leipziger Posaune‹, und die Dienerschaft war angewiesen, sie ihm unverzüglich zu überbringen. Aus diesem Blatt glaubte August die allgemeine Stimmung seiner Sachsen besser herauslesen und -fühlen zu können als aus den regelmäßigen Berichterstattungen seiner Würdenträger. Diese neigten dazu, ihre Ausführungen zu schönen, um ihre Arbeit in ein möglichst glänzendes Licht zu rücken. August begann in der Zeitung zu blättern. Den großaufgemachten Klatsch und Tratsch von den Höfen überschlug er und stürzte sich sofort auf die leider viel zu spärlichen Wirtschaftsmeldungen. Immerhin gab es diesmal eine Abhandlung über die hervorragende Ausbeute der kurfürstlichen Silberminen, seiner solidesten Einnahmequelle. War das nicht ein passender Anlaß, der schönen Ursula durch ein prächtiges Geschenk zu schmeicheln? Sein Blick glitt zu Ursula hinüber. Ein zweireihiges Collier mit schönen Steinen von seinem Hofjuwelier Dinglinger vielleicht? Aquamarine würden gut mit ihren hellbraunen Augen und dem blonden Haar kontrastieren. Es wäre auch für den polnischen Hof ein sichtbares Zeichen seiner Wertschätzung. Es klopfte dezent. Ursula zog die Decke hoch und drehte sich zur Wand. Mit einer Klingel gab August das Zeichen, daß man eintreten durfte. In gebückter Haltung, ohne die Verneigung abzubrechen, erschien der zweite Kammerherr mit Kaffee. Vorgestreckt balancierte er ein Kaffeeservice aus purem Gold auf einem Tablett. Kännchen und Tassen waren mit feinen emaillierten Ornamenten in Blau und Rot durchzogen. Sie funkelten im Kerzenlicht des goldenen Kandelabers. Das zierliche Service war ein Erinnerungsstück, das August von den Türken anno 1695 erbeutet hatte. Damals waren die Türken nahe daran gewesen, ganz Europa zu 23
überschwemmen. In einer gigantischen Schlacht vor Wien war es den vereinten europäischen Kräften gelungen, die Türken entscheidend zurückzuschlagen. August hatte die sächsischen Truppen angeführt, seine erste Ruhmestat als frischgebackener Kurfürst. Im Jahr zuvor war August noch ein Prinz gewesen, ohne jegliche Aussicht auf den Fürstenthron. Auf dem saß sein zwei Jahre älterer Bruder. Doch dann kam der Februar 1694. Sein Bruder war so sentimental gewesen, seine an Blattern gestorbene Geliebte nach ihrem Tod stundenlang in den Armen zu halten. Das kostete ihn das Leben. Mitleid war unangebracht, als Herrscher mußte man seine Gefühle besser im Griff haben. Der Kammerherr hatte inzwischen das goldene Service auf dem Tischchen neben dem Fauteuil arrangiert. Auf ein Nicken Augusts hin goß er zwei Tassen ein und zog sich rückwärts gehend zurück. Kaum hatten sich die Türflügel geschlossen, sprang Ursula aus dem Bett, kam, ohne sich etwas überzuziehen, zum Tischchen und ergriff die Tasse. »Vorsicht«, wollte August noch sagen, doch ihre Hand zuckte schon zurück. Der goldene Henkel der Tasse war noch zu heiß. »Warum haben wir kein Kaffeeservice aus Porzellan? Man kann diese Tassen kaum anfassen«, beschwerte sich Ursula. »Die Chinesen sind Teetrinker, also fabrizieren sie Teeschalen. Ich habe Minher van Dropen vor zwei Jahren eine Zeichnung von diesem Service mitgegeben. Er soll es mir in China anfertigen lassen. Vielleicht hat er es bei seiner nächsten Lieferung dabei.« »Das wäre hübsch.« »Es wäre einmalig. Zumindest solange niemand in Europa Porzellan herstellen kann. Und die Chinesen werden ihr Geheimnis nicht verraten, um sich weiterhin ihr Porzellan mit Gold aufwiegen zu lassen.« Ursula griff zur Untertasse und zog sich mit dem Kaffee zum Bett zurück. August schaute verträumt dem Auf und Ab ihrer Pobacken nach. Sie betätigte ihr Glasglöckchen, deren heller Klang ihre Zofe herbeirief, um sie anzukleiden. August wandte sich wieder seiner Zeitungslektüre zu. Plötzlich stieß er auf einen Artikel, der ihn faszinierte. Ein Berliner Apothekergeselle 24
hatte vor vier glaubwürdigen Zeugen aus Groschen künstliches Gold gemacht. Der Bursche mußte ein Genie sein. »Mein Vetter Friedrich wird reich werden«, brach es höchst unzufrieden aus August heraus. Ursula schaute zu ihm hinüber und bemerkte spöttisch: »Hat er sich noch eine Königskrone erschlichen?« Doch August war viel zu erregt, um auf die Anspielung einzugehen. »Weit besser. Unvorstellbar … Ihm ist ein Goldmacher in den Schoß gefallen.« »Goldmacher zu sein behaupten viele. Aber bei den meisten stellt sich heraus, daß sie Scharlatane sind. Vielleicht fällt Friedrich gerade auf so einen herein? Das wäre doch ganz amüsant.« August winkte ab. »Leibniz spricht sogar von einem wissenschaftlichen Durchbruch. Das ist so ungewöhnlich, daß man es ruhig als Beweis nehmen kann. Dieser Herr Leibniz ist so unerträglich eitel, daß er noch niemanden außer sich selbst irgendwelche Lorbeeren gegönnt hat.« Und nach einer kleinen Pause: »Und mir ist der Gedanke zuwider, daß Friedrich jetzt über so ein Genie verfügt.« Die Zofe war in der Zwischenzeit eingetreten und legte Ursula das Korsett an, daß ihre schmale Taille um eine Handbreit enger einschnürte. Nach Atem ringend stieß sie hervor: »So ein … Goldmacher … ist sicherlich sehr nützlich.« »Dieser Mann ist ein Grund zur Besorgnis, Madame. Die Waagschale der Macht pflegt sich dorthin zu neigen, wo das Geld ist.« Einen Machtzuwachs Friedrichs durch diesen Goldmacher konnte er überhaupt nicht gebrauchen. August stand beunruhigt auf und kontrollierte sein Aussehen im Spiegel. Selbst im Hausmantel wirkte er majestätisch. Er trug Schuhe mit hohen Absätzen, und die Perücke türmte sich derart hoch auf, daß beides zusammen fast zwanzig zusätzliche Zentimeter ausmachte. Niemand durfte ihn überragen. Er wandte sich ab und ging einige Schritte zum Fenster. Ursula wollte ihn beruhigen. »Habt Ihr mir nicht einmal davon er25
zählt, daß es in Dresden ein Goldhaus mit alchemistischen Schriften gibt? Könnte man dieses Goldhaus nicht zu neuem Leben erwecken?« Statt einer Antwort starrte August auf das verschneite Warschau. Nur wenige Lichter waren zu sehen. Noch Jahre würden vergehen, bis Warschau dem quirligen Dresden, Sachsens Hauptstadt, gleichkommen würde. Dort stand das nutzlose, verriegelte Goldhaus, ein Anbau am Nordflügel des Dresdner Schlosses. Es war nur über den ›schwarzen Gang‹ zu erreichen, der stets streng bewacht wurde. Sein Vater hatte dort mit berühmten Alchemisten laboriert. Das geheime Ergebnis dieser Arbeiten war eine Münze, die aus künstlichem Gold geschlagen worden war; auf der Vorderseite trug sie das Porträt seines Vaters, auf der Rückseite das Wappen ihres Geschlechts, der Wettiner. In einem beigefügten Dokument hatte sein Vater durch seine Unterschrift bezeugt, bei der Herstellung dabeigewesen zu sein. Es war schade, daß er die Studien seines Vaters nicht hatte fortsetzen können. Als Knabe hatte August das Goldhaus geliebt. Die riesigen, alten Folianten, seltsam geformte Gefäße, betäubende Dämpfe, fremdartige Substanzen mit unaussprechlichen Namen, das alles war August als eine Welt voller Wunder in Erinnerung geblieben. Doch seine politischen Ambitionen hatten Labor und Alchemie in den Hintergrund gerückt. Er hatte die Chance ergriffen, die polnische Königswürde zu erringen. Denn dies sollte ihn seinem geheimen Ziel näher bringen – der Kaiserkrone. Es sah ganz so aus, als ob der deutsche Kaiser in Wien in einigen Jahren ohne männlichen Erben sterben würde. Dann mußten die deutschen Kurfürsten zusammenkommen, um den neuen Kaiser aus ihrer Mitte zu wählen. August wollte dann so glanzvoll und mächtig dastehen, daß keiner mehr an ihm vorbeikam. Ein Wettiner auf dem Kaiserthron, davon träumte August insgeheim. Dafür verschuldete er sich, diesem Ziel ordnete er alle Entscheidungen unter. August trat vom Fenster zurück. Die Zofe kniete vor Ursula und zog ihr gerade die Strümpfe an. Auch Ursula würde einer anderen Mätresse weichen müssen, wenn es die politische Opportunität erforderte. So wie ihre Vorgängerin. 26
Plötzlich hörte August, wie im Vorzimmer Unruhe entstand. Gleich darauf klopfte es. August griff zur Silberglocke, und sein erster Kammerherr trat ein, der als sichtbares Zeichen seiner Würde einen goldenen Schlüssel am Hosenbund trug. Graf Alphons, sonst immer ein Muster an Gelassenheit, schien erregt. »Königliche Majestät, ein Bote von Graf Flemming wünscht dringend, Eurer Königlichen Majestät eine Botschaft übergeben zu dürfen.« Die spürbare Erregung des Kammerherrn konnte nur darauf zurückzuführen sein, daß es sich um eine schlechte Nachricht handelte. August blickte zu Ursula hinüber und machte eine kurze Kopfbewegung, die sie sofort verstand. Nichts haßte er mehr als Frauen bei Regierungsgeschäften. Diese Aversion hatte er aus Paris mitgebracht. Dort war der einstige Sonnenkönig nur noch Spielball seiner frömmelnden Madame d'Aubigné de Maintenon. Mätressenwirtschaft nannte August das verächtlich. Ursula sank schon in den Hofknicks und zog sich mit ihrer Zofe ins Ankleidezimmer zurück. Der Kurier durfte endlich eintreten. Der Mann war verschmutzt und erschöpft, brachte aber dennoch einen gehörigen Kratzfuß zustande und händigte dem Kammerherrn das Schreiben aus, das dieser mit einer Verneigung an August weiterreichte. Ohne ein Wort erbrach er das Siegel, trat zum Leuchter und begann zu lesen. Je mehr er las, desto ausdrucksloser wurde sein Gesicht, nur hin und wieder spielte seine Kinnmuskulatur. Die Nachricht, die ihm Graf Flemming sandte, war niederschmetternd. Graf Flemming sollte mit einer vierfachen Übermacht den frech nach Litauen eingefallenen, unerfahrenen, erst achtzehn Jahre alten Schwedenkönig Karl XII. vertreiben. Doch offensichtlich hatte alle Welt Karl unterschätzt. Denn der Schwede hatte den Spieß umgedreht, hatte Flemmings Truppen umgangen, ihn geschickt überrumpelt und schmählich in die Flucht geschlagen. Und um die Katastrophe komplett zu machen, hatte er alle vierzig sächsischen Kanonen erbeutet, 27
die kein einziges Mal zum Einsatz gekommen waren. Die Schweden waren nun im Besitz von schweren Geschützen samt Munition, deren Herstellung Sachsen ein halbes Jahr und ein Vermögen gekostet hatte. Eine solche Wendung der Dinge hatte sich niemand vorstellen können. Die Kämpfe um Litauen waren die Folge eines Versprechens, das August bei seiner Thronbesteigung den Polen gegeben hatte. Er hatte feierlich gelobt, das von den Schweden besetzte Litauen zu befreien und den Polen zurückzuerstatten. Vor einem Jahr war es ein Kinderspiel gewesen, die schwache schwedische Besatzung zu verjagen. Keiner hatte mit einer ernsthaften Gegenwehr des Jünglings gerechnet, der gerade auf den schwedischen Thron gestiegen war. Doch jetzt hatte dieser nicht nur den alten Zustand wiederhergestellt, sondern seinen Gegner auch noch lächerlich gemacht. Flemming schrieb außerdem, Karl XII. wolle sich nicht damit zufriedengeben. Er sei vielmehr entschlossen weiterzumarschieren, um August zur Abdankung in Polen zu zwingen. August ließ das Schreiben sinken. Das würde das Ende seiner politischen Träume bedeuten. Contenance, befahl er sich. Er winkte seinen Kammerherrn herbei, ihm Kaffee nachzuschenken. Dann nahm er die Tasse auf und wandte sich ab, kontrollierte seine Züge in der blassen Reflexion der Fensterscheibe. Er durfte sich nicht beeindruckt zeigen. Scheinbar gelassen nippte er am Kaffee, während er aus dem Fenster starrte. Die gefährlichste Konsequenz dieser Niederlage stand nicht in dem Schreiben. Durch den unerwarteten Sieg gegen einen scheinbar übermächtigen Gegner umgab Karl von nun an ein unvergleichlicher Glorienschein. Erfolg und Jugend würden Karl den Nimbus des Unbesiegbaren eintragen. Das würde nicht nur die üblichen Söldner und Glücksritter aus allen Ländern anlocken, sondern auch scharenweise junge Habenichtse, die als zweite, dritte Söhne ohne Erb- und Zukunftsaussichten dastanden und sich in Karls siegreicher Armee ein gutes Auskommen erhofften. Eine siegreiche Armee auf fremdem Territorium pflegte nicht dafür zu bezahlen, was sie brauchte. Sie plünderte. 28
Seinen eigenen Truppen hingegen konnte August derartiges nicht bieten, wollte er nicht die Bevölkerung Polens gegen sich aufbringen. Er mußte Preßkommandos losschicken, um neue Soldaten zu rekrutieren. Das brauchte Zeit, die er nicht hatte, und erhebliche Mittel, über die er ebensowenig verfügte. Von den Kanonen einmal ganz abgesehen. Auf die Polen konnte er nicht zählen, sie waren zerstritten und besaßen kein stehendes Heer. Augusts einzige vage Hoffnung ruhte jetzt auf Zar Peter I. Der russische Zar hatte ein vitales Interesse an den auch im Winter meist eisfreien, litauischen Ostseehäfen. Dem Rauswurf der Schweden aus Litauen war damals ein mehrtätiges Treffen von Peter und August vorangegangen. Sie waren ein Bündnis eingegangen und hatten dieses ausgiebig gefeiert. Tagelang. Am letzten Tag hatten sie zur Besiegelung der Freundschaft die Degen getauscht. Der Zar stand mit seinen Truppen nördlich der schwedischen Armee. Vielleicht gelang dem Zaren ein Sieg, bevor die Schweden zu stark wurden? Doch der Zar besaß keine Kanonen, der verfluchte Schwede aber hatte jetzt Augusts schöne Geschütze und würde die Russen zusammenschießen, bevor sie überhaupt wußten, wie ihnen geschah. Karl XII. hatte Flemming genial überrumpelt. August verstand genug vom Kriegshandwerk, um dies klar zu erkennen. Es waren mitnichten ›unglückliche Umstände‹, von denen in Flemmings Bericht die Rede war. Der König stellte die Kaffeetasse auf dem Tisch ab. Dabei fiel sein Blick auf den Zeitungsartikel über den Goldmacher. Der Goldmacher? Dieses neue Jahrhundert schien Talente hervorzubringen, die dem Fortschritt in der Wissenschaft entsprachen. Es schienen bewundernswert junge Männer zu sein, die ihr Wissen in Taten umsetzen konnten. Nur mit ihnen geriet man nicht ins Hintertreffen. Das forderte die neue Zeit von ihm. Ihm mußte es gelingen, diesen Goldmacher auf seine Seite zu ziehen, um Karl XII. niederzuringen. Alles, was er nun in die Waagschale werfen konnte, war Geld … viel Gold. »Graf Alphons, lassen Sie mir mein Schreibzeug bringen. Und bitten Sie meinen Kanzler zu mir!« August fühlte sich schon besser, weil er etwas unternahm. 29
Gleich darauf erschienen zwei Kammerdiener mit den Schreibutensilien, zwei weitere trugen ein zierliches Stehpult heran. August wies auf einen Platz vor dem Fenster. »Dorthin.« Mit den gebotenen würdevollen Bewegungen wurde das Pult abgestellt und die Schreibutensilien hübsch ordentlich arrangiert. Die Diener zogen sich rückwärts gehend und sich verneigend zurück. August griff zur goldenen Feder, strich sie am Tintenfaß ab und begann zu schreiben: ›Seine Exzellenz, Statthalter Seiner Königlichen Majestät von Polen und des Kurfürsten von Sachsen, Fürst Anton Egon von Fürstenberg, wir haben von einem Goldmacher in Berlin gehört, der sein Handwerk versteht. Er wäre eine Bereicherung für unser Land, und wir würden ihn unter unseren aller gnädigsten Schutz stellen. Alles übrige lege ich in Ihr Ermessen. Ich bitte um äußerste Diskretion in dieser Sache. Friedrich August, Rex.‹ Sorgsam faltete er das Schreiben, erhitzte das Siegelwachs an einer Kerze, strich es über die offenen Spalten des Briefes, legte die königliche Kordel ein und drückte sein Siegel auf. Ein erster, vielleicht sein wirkungsvollster Schritt gegen Karl. Fürstenberg war sein bester Mann. August hatte den schwäbischen Fürsten wegen seines diplomatischen Geschicks zu seinem Statthalter in Sachsen gemacht. Ausgleichend vermittelte er zwischen Adel, Klerus und dem aufkommenden dritten Stand, den Bürgern der Städte. Dank seiner eleganten Erscheinung und Eloquenz gewann er mit spielerischer Leichtigkeit erst das Vertrauen der Menschen, dann ihre Herzen. Er war ein Verführer. Er lockte seine Opfer in Situationen, die sich für die Gefoppten als Sackgassen oder Labyrinthe erwiesen. Dort ließ er sie eine Weile schmoren, bis er sie als ›Retter‹ aus der Situation befreite – gegen eine kleine Gefälligkeit. So gewann er Agenten für sich, Graf Nehmitz am Hof Friedrichs war ein typischer Fall. Nehmitz war ein ehemaliger Minister seines Vaters Johann Georg II., den dieser wegen Unfähigkeit entlassen hatte. Fürstenberg hatte den abgebrannten Grafen mit Lobeshymnen in Augusts Namen ausgestattet, die Nehmitz die sehr angesehene Position eines Vizemarschalls für die kurfürstlichen Jagdreviere am Bran30
denburger Hof einbrachten. Der Fürst mußte den dankbaren Grafen daraufhin nur bitten, ein wenig über die Vorgänge an Friedrichs Hof informiert zu werden. Nehmitz wurde zu einem verläßlichen Berichterstatter, so wie viele andere ihm verpflichtete Männer, die der Statthalter an den diversen deutschen Höfen plaziert hatte. Diese geheimen Truppen würde Fürstenberg in Bewegung setzen, um den Goldmacher in Augusts Dienste zu bringen, freiwillig oder unfreiwillig. Darauf vertraute August, ja es erfüllte ihn sogar mit vorsichtiger Zuversicht. Er winkte Graf Alphons, den Brief zu übernehmen. »Per Eildepesche an Seine Exzellenz, den Statthalter Fürst Fürstenberg.« In der Tür wartete schon sein Kanzler, Graf Haxlingen, korpulent, schwammig, gefährlich. Graf Haxlingen lächelte ein wenig zu süß. August wußte, daß Haxlingen vor Neugier fast starb, weil er den Inhalt seines Schreibens an Fürstenberg nicht kannte. Zwischen seinem Kanzler und seinem Statthalter, den mächtigsten Männern nach ihm, herrschte eine eifersüchtige Konkurrenz, die noch dadurch verstärkt wurde, daß Fürstenberg katholisch, Haxlingen aber wie alle Sachsen evangelisch-lutherisch war. Bewußt schürte August diese Gegnerschaft, garantierte sie ihm doch die bestmöglichen Ergebnisse. »Graf Haxlingen, wie schön, daß Sie gleich kommen konnten.« Haxlingen, dessen Kanzlei nur ein paar Schritte entfernt im Seitenflügel des Schlosses lag, trat unter einer tiefen Verbeugung vor. August fand es immer wieder erstaunlich, wie geschmeidig sich dieser fette Mann bewegen konnte. Als Geldbeschaffer gab es niemanden, der tüchtiger war als der Graf. Und verschlagener. Dann bemerkte er, daß Haxlingen nach der ›Posaune‹ schielte. Ob er erriet, daß sein Brief mit einem Zeitungsartikel zu tun hatte? »Graf Haxlingen, ich fürchte, Sie werden Arbeit in unserem Sachsen bekommen. Es sind eine ganze Reihe von Aktivitäten in die Wege zu leiten, weil uns der schwedische König Ungelegenheiten bereitet …« August umriß die Aufträge: Zehntausend Soldaten mußten rekrutiert werden, Exerzierlager waren einzurichten, Uniformen, Gewehre 31
usw. zu beschaffen. Neue Kanonen mußten in Auftrag gegeben werden. Dann sprach August von Haxlingens eigentlichem Bereich, der Geldbeschaffung. Vielleicht könnte man neue Münzen prägen, an die Einrichtung von gut verkäuflichen Ämtern sei zu denken und natürlich an neue Steuerquellen. Insbesondere das neue Steuervorhaben des Finanzministers sei zu prüfen. Am besten veranlasse Haxlingen, daß der Herr von Schönberg einen Zwischenbericht über die Fortschritte schicke … Als er endlich alles aufgezählt hatte, was ihm eingefallen war, entließ er Haxlingen in seine Kanzlei, damit er seine Emissäre auf den Weg bringen konnte. August war zufrieden mit sich, mehr konnte er im Moment nicht tun. Er mußte sich wieder dem Tagesgeschäft zuwenden. In einer halben Stunde war der Empfang für einen der wichtigsten polnischen Fürsten, den Wojwoden Demblonsky, und er war noch im Hausmantel. Es war höchste Zeit, sich ankleiden zu lassen.
*** Im Dresdner Haus des Finanzministers von Sachsen, Magnus von Schönberg, hatte man ebenfalls die ›Leipziger Posaune‹ abonniert. Vornehmlich seine Ehefrau, Charlotte, las gerne den Klatsch und Tratsch über das Hofleben, von dem ihr Gatte sie ausschloß. Er behauptete, das Leben dort sei zu verderbt und er wolle seine hübsche junge Gattin dem nicht aussetzen. Indem er ihre Schönheit hervorhob, war ihr der Wind aus den Segeln genommen. In Wirklichkeit war er rasend eifersüchtig, weswegen er keine männlichen Besucher in seinem Haus zuließ. Das zumindest vermutete Charlotte. Seit einiger Zeit hegte sie allerdings die Hoffnung, daß sie Zugang zur Hofgesellschaft bekommen könnte. Sie hatte die Gräfin Krahl eingeladen, und die Gräfin war neugierig genug gewesen, die Einladung anzunehmen. Bei einer Tasse Kaffee hatten sie dann besprochen, daß man die nächste Abwesenheit des Herrn von Schönberg nutzen werde, um Charlotte ›zufällig‹ einer hochgestellten Persönlichkeit des Hofes 32
der Form gemäß vorzustellen. ›Ich habe die große Hoffnung, daß sich recht bald diese Gelegenheit ergeben wird‹, hatte sie vor ein paar Tagen Charlotte geschrieben, ›ich habe da schon etwas in die Wege geleitet.‹ Vorderhand war Charlotte jedoch noch auf die ›Posaune‹ angewiesen, in der sie nach Hofnachrichten und spannenden Artikeln suchte. Magnus saß wie meist über seine geliebten Steuerakten gebeugt. Als Charlotte auf den Artikel über den Apothekergesellen stieß, fiel ihr der amüsante Blickwechsel mit dem jungen Mann in Berlin wieder ein. Johann Friedrich Böttger war der Name, den das kleine Mädchen in ihrem schwärmerischen Redeschwall mehrmals stolz wiederholt hatte. Ein gutaussehender Bursche, trotz der kräftigen Nase. Sein Lächeln hatte Charme, doch noch beeindruckter war sie von der Intensität seiner Augen gewesen. Ihr Mann hatte gottlob von diesem Zwischenspiel nichts bemerkt. Nun aber war Charlotte neugierig, seine Meinung zu der Geschichte zu erfahren. ›Gold‹ fiel schließlich in sein Ressort. Also unterbrach sie ihn bei seinem Aktenstudium und las ihm den Artikel vor. Ihr Mann tat die Meldung mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. »Das ist gewiß alles erfunden, Teuerste, man weiß doch, wie Zeitungen gern übertreiben.« ›Teuerste‹, dieses schreckliche Wort war die Quittung für die Störung. Arrogant setzte er noch hinzu: »In Berlin ist man derartig rückständig, da hält man schon vergoldetes Kupfer für echtes Gold.« Er liebte seine Vorurteile. »Aber wenn selbst Herr Leibniz die Sache bestätigt. Er ist immerhin Vorsitzender der Berliner Akademie der Wissenschaften und dürfte nicht so leicht zu täuschen sein.« »Ich würde es erst glauben, wenn Techniker von unseren Silberminen es bestätigten. Die kennen sich mit Metallen aus wie niemand sonst«, beharrte ihr Mann. Das war kein schlechtes Argument. Die Techniker der sächsischen Erzminen waren in ganz Europa begehrte Fachleute. Ihre Hauptleute 33
galten am Hof soviel wie Adlige, was letztere oft genug verdroß. Nicht jedoch ihren Mann, dem waren Fähigkeiten lieber als Titel. Darin war er fortschrittlich. Schönberg beugte sich bereits wieder über seine Akten. Er arbeitete wie besessen an der Generalakzise, einer neuartigen Konsumtionssteuer, die mit einem bestimmten Prozentsatz auf allen Verbrauchsgütern liegen sollte. Vorerst hatte man einen kleinen Landstrich als Versuchsgebiet ausgesucht. Die Menschen dort schienen zufrieden. Wer viel kaufte, zahlte viel. Wer arm war und wenig kaufen konnte, zahlte entsprechend wenig. Da auch der König diese Steuern zahlte, hielten alle das Verfahren für gerecht. Einer der Geistesblitze ihres Mannes. Sie schätzte seine Intelligenz. Gerade diese Eigenschaft hatte Magnus von Schönberg vor einem halben Jahr in ihren Augen wie einen Retter erscheinen lassen. Damals hatte sie eine angesehene Stellung als erste Hofdame der Prinzessin Amélie am bemühten, jedoch provinziellen Wolfenbüttler Hof bekleidet. Die Langeweile hatte dazu geführt, daß sie sich mit einem abenteuerlustigen, aber verarmten Baron eingelassen hatte, der zu allem Überfluß auch noch verheiratet war. Doch ihr Drang nach Abwechslung hatte die Vorsicht besiegt. Ausgelassen war sie mit ihm durch das sommerliche Harzgebirge gestreift, im Männersattel, so wie es auf dem Holsteinischen Gut ihres Vaters üblich war. Der Harz war ein sanftes Mittelgebirge, dessen unzählige kleine Bäche, Teiche und einsame Seen zur Rast einluden. Die Folge war ihre inzwischen einjährige Tochter Cecilie. Charlotte war zur Niederkunft unter größter Geheimhaltung auf das väterliche Gut geflüchtet, wo Cecilie nun unter der Obhut ihrer Mutter aufwuchs. Was eine standesgemäße Heirat betraf, hatte Charlotte ihre Ansprüche herunterschrauben müssen, sie war immerhin schon zwanzig. Nach Ansicht der Wolfenbüttler war es ein Glücksfall, als dieser gescheite, sächsische Minister auftauchte und um sie warb. Er war weltgewandt und hatte Esprit. Daß er doppelt so alt war, spielte für Charlotte keine Rolle. Er war eine gute Partie, erlöste sie aus der Provinz 34
und eröffnete ihr die Chance des berühmten Dresdner Hofs. So also war sie zur Frau Baronin von Schönberg geworden. Doch das erhoffte glanzvolle Hofleben ließ auf sich warten, vorläufig wenigstens. Die Fesselung ans Haus brachte es allerdings mit sich, daß sie die Selbstzufriedenheit ihres Mannes als immer unerträglicher empfand. Seine Rechthaberei. Seine Besserwisserei wie gerade eben. Wie er so dasaß und die zu enge Weste fast über dem Bauch platzte … Immer ließ er sich von den Schneidern seine Garderobe zu eng anmessen. Es sah grotesk aus. Sie begann ihn für diese Nichtigkeiten zu hassen. Plötzlich blickte ihr Mann herüber. »Und überhaupt, wenn dieser Apothekergeselle jetzt Gold macht, kann es bald alle Welt, und das Gold wird im Wert sinken, bis es nichts mehr wert ist. Am Ende bringt diese ganze Goldmacherei gar nichts!« Charlotte mußte wider Willen lächeln. Die Geschichte hatte ihn so lange beschäftigt, bis er sich bewiesen hatte, daß seine eigene Arbeit mehr Erfolg versprach.
*** Johann marschierte seit fast drei Stunden durch die Nacht. Es schneite nicht mehr, der böige Wind hatte die Wolkendecke aufgerissen, und die schmale Sichel des Mondes erhellte leidlich den Weg. Es hatte zu frieren begonnen. Längst hatte er Lankwitz hinter sich gelassen. Die meiste Zeit führte der Weg durch Wälder. Selten gaben die Bäume den Blick auf Felder und einzelne Gehöfte frei. Dann bellten die Kettenhunde und erhielten aus der Ferne Antwort. Manchmal tat sich eine Tür auf, und eine Stimme rief: »Hallo, wer da?« Dann erstarrte Johann oder trat schnell hinter einen Baum, wartete, bis sich die Tür wieder schloß. Er war jedesmal froh, wenn der Weg wieder im Wald verschwand. Inzwischen war er viel zu müde, um irgend etwas Vernünftiges zu denken. Die Füße schmerzten, sein Reisesack schien mit Blei gefüllt. Am liebsten hätte er sich hingesetzt und ausgeruht. Doch dann be35
stand die Gefahr, daß er einschlief. Es hatte etwas Hypnotisches, sich auf das unregelmäßige Weiß vor seinen Füßen zu konzentrieren. Es gab nur den Meter vor seinen Füßen, Unebenheiten, die er in der Dunkelheit zu erahnen suchte. Das Knirschen seiner Schritte im Schnee war das einzige Geräusch. Irgendwann verlor er das Zeitgefühl. Entfernte trunkene Gesänge weckten ihn aus der Trance. Vor ihm lag Großbeeren. Es mochte aus fünfzig, sechzig Holzhäusern bestehen, dazu kamen Schuppen und Hütten der Leibeigenen. Die Gesänge kamen offensichtlich aus dem Wirtshaus. So sehr spät konnte es also noch nicht sein. Nur noch eine Viertelstunde bis zu Kunckels Hof. Dann würde er am prasselnden Feuer eines Kamins sitzen, einen herrlich heißen Punsch in den Händen halten und mit dem Baron über die Alchemie diskutieren. Die Vorstellung beschleunigte seine Schritte, doch diese letzte Viertelstunde kam ihm unendlich lang vor, aber dann bog endlich der Weg zum Gutshof ab. Hunde schlugen an, und das Bellen klang in Johanns Ohren wie ein Willkommensgruß. Schnell nahm er die Stufen zum Eingangsportal und hämmerte gegen die Tür. Eine Weile tat sich nichts. Erst da fiel ihm auf, daß im Haus keine Lichter brannten. War man schon schlafen gegangen, war es doch schon viel später, als er gedacht hatte? Endlich hörte er von drinnen eine mürrische, männliche Stimme. »Wer da?« Johann räusperte sich. »Johann Friedrich Böttger!« Es kam keine Antwort, daher ergänzte er ungeduldig: »… der Apothekergeselle aus Berlin!« »Was wollen Sie?« Johann wurde unsicher. Wieso kannte der Mann ihn nicht? »Ich bitte vielmals um Verzeihung wegen der späten Stunde, aber eine nicht aufzuschiebende Reise zwang mich auf diesen Weg. Ich wollte gern dem Herrn Baron Kunckel von Löwenstein meine Aufwartung machen!« Ein Riegel wurde zurückgeschoben, und die Tür öffnete sich. Ein 36
ihm unbekannter Diener versperrte den Eingang und musterte ihn unfreundlich. »Der Herr Baron wird ihn nicht empfangen können. Der Herr Baron ist auf der Pfaueninsel in der Rubinglas-Manufaktur. Und die Baronin ist zu Verwandten in Trebbin. Man hat mir aufgetragen, keine Fremden einzulassen … Es tut mir leid, mein Herr, aber Er ist mir fremd!« Mit einem Schlag empfand Johann gähnende Leere in sich. Der Diener wurde eine Spur freundlicher. »In Großbeeren, im Wirtshaus, wird der Herr sicher ein Quartier finden. Soll ich etwas ausrichten, wenn der Herr Baron zurückkommt?« Johann zwang sich zu einer freundlichen Entgegnung. »Die besten Empfehlungen von Johann Friedrich Böttger, bitte auch an die Frau Baronin selbstredend.« Er wollte Stärke beweisen. »Ich werde es ausrichten, eine gute Nacht der Herr.« Schon schlug ihm der Mensch die Tür vor der Nase zu. Johann atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Der stete Spruch seiner Mutter fiel ihm ein: »Man weiß nie, wozu es gut ist.« Es war doch nur ein kleines Stück zurück. Er kannte schließlich das Wirtshaus, hatte dort schon bei großen Festen des Barons geschlafen. Preiswert und ordentlich war es und in jedem Fall warm. Der Weg zurück nach Großbeeren erschien Johann endlos. Aber schließlich stand er vor dem Wirtshaus. Die Gesänge drinnen waren verstummt, und so pochte er laut an die Tür, bevor er eintrat. Die verräucherte Wirtstube war recht groß, und das Mobiliar bestand aus sauber geschrubbten, langen Tischen und einfach zusammengezimmerten Hockern und Bänken. Nur drei einfache Soldaten mit ihrem Sergeanten hockten am besten Platz neben dem Kamin. Ausgerechnet Soldaten. Sie lallten trunken vor sich hin und schauten schwerfällig zu ihm herüber. Furcht kroch in Johann hoch, obwohl er wußte, daß man ihn erst am nächsten Morgen vermissen würde. Er riß sich zusammen, nickte ihnen möglichst gleichmütig zu und ließ seinen Reisesack vorsichtig zu Boden gleiten. »Das ist aber eine Überraschung, daß der Herr Apothekergeselle uns beehrt.« Johann zuckte zusammen. 37
Vor ihm stand der Wirt, ein fröhlicher, zäher Alter mit flinken Augen zwischen unzähligen Runzeln. Er bemerkte Johanns Unsicherheit und fuhr gutmütig fort: »Er hat sich da ja einen späten Zeitpunkt ausgesucht, der Herr Apothekergeselle, aber Er hat wohl zu dem Hof des Herrn Baron gewollt, nicht, und nun ist der Herr Baron nicht da.« Johann beruhigte sich. Zum Glück hatte der Wirt nicht laut gesprochen. Auf jeden Fall wollte Johann vermeiden, daß die Soldaten irgend etwas mitbekamen, etwas, das sie in Berlin, und wenn auch nur zufällig, ausplaudern konnten. Er zog den Wirt zur Seite. »Es war ein unangemeldeter Besuch, tatsächlich, ein dringendes Experiment, das keinen Aufschub duldete, daher …« Er machte eine unbestimmte Geste. »… Es ist ein sehr geheimes Experiment, das ich keinem Papier anvertrauen wollte.« Die Vorliebe des Barons für die Alchemie war allgemein bekannt. Der Wirt reagierte mit vertraulich gesenkter Stimme. »Dann werden wir es den Herren dort drüben besser nicht erzählen.« Augenzwinkernd fügte er hinzu: »Nachher verlangen sie noch von Ihm, daß Er ihnen Gold macht.« Johann wurde aschfahl. Zum Glück schien der Wirt nichts zu bemerken. Wußte er etwas, kannte er die Zeitungsartikel? »Nun ja … wer weiß«, brachte Johann vorsichtig hervor. Der Wirt sah ihn an, deutete seine Blässe anders, sah noch einmal zu den Soldaten hinüber und begann sehr laut: »Aber nun setze Er sich doch endlich, Herr Kaufmann.« Die Soldaten sollten mitbekommen, daß dieser Gast ein Kaufmann war. Falls sie dazu noch in der Lage waren. »Ich werde sehen, was ich der Elfriede noch für den Herrn Kaufmann abringen kann. Er ist ja völlig erschöpft, der Herr Kaufmann. Einen Punsch erst einmal?« »Das wäre herrlich.« Dankbar lächelnd ließ sich Johann auf den nächstbesten Hocker fallen und sah dem alten Schlitzohr nach, wie er hinter einer Tür entschwand. Johann war leicht schwindlig gewesen, doch jetzt begann er sich zu entspannen. Mühsam beugte er sich vor und zog die Stiefel Stück für 38
Stück von den malträtierten Füßen. Eine schöne, fette Blase hatte sich an der rechten Hacke gebildet. Falls er den Stiefel je wieder anbekam, weiterlaufen konnte er damit nicht. Ohne Pferd ging jetzt nichts mehr. Johann öffnete den Reisesack und kramte nach Strümpfen. Es war ein schöner Ledersack, innen mit Wachstuch ausgekleidet, keine Feuchtigkeit war eingedrungen. Er tastete nach der Schatulle. Es beruhigte ihn, seinen Schatz zu berühren, auch den Basilius Valentinus, seinen anderen kostbaren Besitz. Er kramte weiter und fand schließlich Strümpfe. Zwei Paar zog er vorsichtig übereinander an. Die Blase durfte nicht platzen, sonst konnte es eine Entzündung geben. Währenddessen waren die Soldaten aufgestanden, und auch ihr Sergeant erhob sich. »Stillgestanden …«, nuschelte er. Die Soldaten hielten sich mühsam am Tisch fest, der Sergeant blies die Backen auf: »Abtreten … Marsch!« Sich gegenseitig stützend wankten sie zur Tür. »Auf Wiedersehen, der Herr!« Der Sergeant bemühte sich um einen würdevollen Abgang. Schwankend blieb er vor Johann stehen und machte eine Verbeugung, verlor sein Gleichgewicht und landete in Johanns Armen, mit dem Gesicht auf dessen Brust. Alkoholdunst stieg zu Johann auf. »Pardon, mein Herr … Entschuldigung«, brummelte der Sergeant. »Schon gut.« Johann half dem Sergeanten hochzukommen. »Nochmals pardon, der Herr.« Seine Soldaten wankten heran, um ihrem Unteroffizier weiterzuhelfen. Es gab noch ein paar unfreiwillige Pirouetten, dann waren sie endlich hinaus. Johann wechselte zum Tisch am Kamin, legte zwei Holzscheite nach und setzte sich. Aufseufzend streckte er die Füße zum Feuer. Der Wirt kam mit dem Punsch. »Wo schlafen denn die Herrn Soldaten?« fragte Johann. »Beim Elbert, dem Großbauern. Der ist ein Friedrich-Anbeter. Nur zum Saufen will er die Kerle nicht bei sich haben, seine Frau ist strenge Pietistin und duldet's nicht. Deswegen gönnt er sie mir und zahlt morgen die Zeche …« 39
Johann nickte erleichtert, rutschte noch näher ans Feuer und schlürfte den heißen Punsch. »Das ist richtig, daß Er es sich jetzt bequem macht. Ich habe der Elfriede einen Brei mit einem Hühnerbein abluchsen können. Geht das?« »Alles, nur heiß muß es sein!« Der Wirt verschwand wieder in Richtung Küche. Johann genoß die Wärme des Kamins und die wohlige Müdigkeit, die Besitz von ihm ergriff. Er hatte eine enorme Etappe geschafft, einen richtig schönen Vorsprung herausgelaufen. Träge hing sein Blick am Spiel der Flammen. Der Wirt rüttelte ihn wach. Vor ihm stand ein dampfender Brei mit einem duftenden Hühnerbein. Johanns Lebensgeister erwachten. Begierig begann er zu essen. »Er sollte wohl besser bald ins Bett gehen, der Herr. Ich werde Ihm einen warmen Stein hineinlegen lassen.« Der Wirt schaute zum großen Reisesack. Johann ahnte, was gleich kommen mußte. Nichts würde er von seiner Flucht erzählen, nur sein Ziel herausstreichen. Das ersparte Fragen. »Ich wollte übrigens morgen gleich weiter nach Wittenberg, zur Universität.« Johann sprach möglichst beiläufig. Der Wirt strahlte daraufhin völlig unvermutet. »Wittenberg?« »Genau. Man empfiehlt die Universität überall. Nächstes Jahr feiert sie ihr zweihundertjähriges Bestehen!« »Das trifft sich glänzend. Meine Vorräte an Bier und Wein gehen nämlich zu Ende, und an der Elbe kauft man weit günstiger als in Berlin. Dort gibt es auch Hamburger Bier!« Er schnalzte mit der Zunge. »Man zahlt mir dafür hier das Anderthalbfache! Und bei diesen durstigen Soldaten …« »Was machen die eigentlich hier?« »Rekrutieren.« Die hatten also ihre eigenen Sorgen. »Und wann wollte Er nach Wittenberg?« »Die nächsten Tage eigentlich, aber da Er auch dorthin will, kann ich ebensogut morgen früh fahren. Dann hätte ich wenigstens auf dem Hinweg Gesellschaft.« 40
Das war Glück, schieres Glück, so erschöpft, wie Johann sich fühlte. Er schloß die Augen und genoß noch eine kleine Weile die Wärme des Kamins.
Drittes Kapitel
E
s war stockdunkel, als ein Knecht Johann aus dem Bett scheuchte. Wenig später saß er neben dem Wirt auf dem Planwagen, beide in dicke Decken gehüllt. Mühelos zogen die beiden Pferde, ein dunkelbrauner Wallach und eine braune Stute, den leichten Planwagen, eine Fackel in einer Halterung seitlich am Kutschbock beleuchtete ihren Weg. Es war kurz nach vier Uhr morgens, niemand begegnete ihnen. Nur aufgeschreckte Wachhunde bellten ihnen hinterher. Im leichten Trab ging es aus dem Dorf hinaus, und bald hatten sie auch den Gutshof des Barons Kunckel hinter sich gelassen. Vor ihnen lag eine morastige Senke, die man nur bei Frost oder aber im trockenen Hochsommer passieren konnte – eine Abkürzung, die gut anderthalb Stunden ersparte. Dürres, gelbes Schilf beiderseits des Weges, das aus dem Schnee herausragte, kündigte die Senke an. Der Wirt feuerte die Pferde zum Galopp an. Beim Passieren der Senke ließen gefrorene Grasbuckel den ungefederten Wagen wilde Luftsprünge vollführen, so daß sie auf dem Bock herumgeschleudert wurden. Als es wieder bergan ging, ließ der Wirt die Pferde in Trab fallen. Johann nickte seinem Kutscher anerkennend zu. »Fünfzehn Jahre Postkutscher, das Fahren verlernt man nicht!« bemerkte der Wirt daraufhin stolz. »Aber meine Margarete lag mir ständig in den Ohren, das Reisen aufzugeben, und so kaufte ich die Schenke.« Im Wald ging es im gemäßigten Trab weiter, Baumwurzeln ragten 41
aus der Erde, und daher blieb die Fahrt unruhig. Allmählich lernte Johann, die Stöße schon im voraus zu ahnen und seinen Körper entsprechend abzufangen. Schneebedeckte Kiefern und Tannen wölbten sich über den Weg, ein märchenhafter Tunnel im unsteten Schein der Fackel. Der Wald schien endlos, Meile um Meile. Johann begann zu dösen. Die Erinnerung an seine erste Kutschfahrt stieg in ihm hoch. Es ging von Schleiz nach Magdeburg, der Umzug mit Mutter und seiner kleinen Schwester nach dem Tod des Vaters. Knapp vier Jahre alt war Johann damals gewesen, im Februar 1686. Nach der Beerdigung des Vaters hatte der Großvater seiner Mutter vorgeschlagen, zu ihm zu ziehen. Die Großmutter war schon lange tot, und daher hatte er genug Platz, sie aufzunehmen. Vielleicht fühlte er sich auch einsam. Der Großvater war Münzmeister in Magdeburg. Seine Wohnung lag direkt über der Münzmeisterei, einem zweckmäßigen, aber keineswegs hübschen Ziegelbau an einem Bach. Johann war enttäuscht gewesen, daß es in Magdeburg nicht so schöne, bunte Fachwerkhäuser gab wie in Schleiz. Seltsam, wie ihm das in Erinnerung geblieben war, während er das Bild des Vaters nicht mehr heraufbeschwören konnte. Schon nach wenigen Wochen lernte seine Mutter einen Witwer kennen, einen Herrn Thiemann, Vater von Zwillingen, Philip und Martin, ein halbes Jahr jünger als Johann. Und nur einen Monat später war Herr Thiemann sein Stiefvater. Mit den Zwillingen verstand er sich nicht, jeden Tag rauften und stritten sie. Am Abend bekam er vom Stiefvater regelmäßig eine Tracht Prügel. Seine Mutter traute sich nicht dazwischenzugehen, sondern schaute nur traurig zu. Tagsüber floh Johann zum Großvater in die Münzmeisterei. Dort war es immer gemütlich warm, weil die Gesellen ständig Öfen zum Schmelzen von Metallbarren beheizten. Das Quietschen des Wasserrades und das Knarren und Ächzen der hölzernen Zahnkränze und Wellen wurden für ihn zur schönsten Melodie. Die mechanischen Prägestöcke schlugen den Takt dazu. Es roch nach Pech und Wachs, das man zum Trennen der Münzen von den Prägestöcken benötigte, und er machte sich durch kleine Botengänge für die Gesellen nützlich, die ihn daher gern um sich hatten. Johann war glücklich. 42
Sobald er das Hufgetrappel von Pferden hörte, verkroch er sich hinter den Vorratskisten, um ja nicht hinausgeschickt zu werden. Neugierig lauschte er auf die Gespräche zwischen dem Großvater und den vornehmen Besuchern, Herren in Röcken aus Brokat, mit Seidenstrümpfen, blitzenden Schnallenschuhen und makellosen, weißen Perücken. Ein Graf hatte sogar kleine silberne Knöpfe an seiner Weste. Meist sprachen sie mit dem Großvater über die Wappen auf neuen Münzen, über Liefertermine und manchmal auch über das Mischungsverhältnis der Legierungen. Es kam vor, daß der Großvater ihnen sorgenvoll nachschaute, wenn sie davonritten. Dann grummelte er meist von engen Terminen, die es nötig machten, viele Nächte durchzuarbeiten. Johann jedoch schien es, als ob dahinter noch etwas anderes, Geheimnisvolles verborgen war. Inzwischen wußte er es. Die Herren verlangten, daß man den Kupferanteil in den Münzen durch mehr Eisen ersetzen sollte. Falschmünzerei, die den Herren Gewinn brachte. Den Großvater aber konnte das an den Galgen bringen. Doch anscheinend gelang es dem Großvater, diese Ansinnen immer wieder abzuwehren. In einem kleinen Anbau widmete sich der Großvater metallurgischen Experimenten in dem Labor, dessen Regale bis unter die Decke mit Büchern vollgestopft waren. Stundenlang sah Johann den geheimnisvollen Vorgängen an der Feuerstelle zu. Es war wie Zauberei, am Ende hatten sich die Substanzen völlig verändert. Das waren weit größere Wunder als in der Kirche, wo eigentlich nichts geschah, außer daß man sang und der Pfarrer redete, obgleich dort ständig von Wundern die Rede war. Bei seinen Versuchen konsultierte der Münzmeister oft den ›Agricola‹, das Standardwerk für alle Experimente mit Metall, wie Johann inzwischen wußte. Agricola war ein sächsischer Bergbauingenieur gewesen, der systematisch beschrieb, wie Metalle im höchsten Reinheitsgrad zu erhalten waren. Diese Prozesse zogen sich häufig über Stunden hin, außer nachzufeuern gab es währenddessen nichts zu tun. Da ergab es sich ganz von selbst, daß der Großvater ihm während der Wartezeit lesen und schreiben beibrachte. Da war Johann fünf. Zu Hause 43
erzählte er nichts davon. Es brachte ihm so viel Spaß, daß er fürchtete, sein Stiefvater könnte es ihm verbieten. Als der Großvater ein Jahr später zu lateinischen Texten überging, zeigten sich seine bruchstückhaften Kenntnisse. Daher entschloß er sich, dem Stiefvater von Johanns Fertigkeiten zu erzählen, damit er ihn auf eine Lateinschule schicke. An diesem Tag schob der Stiefvater Johann nach dem Abendessen die Bibel zu und zeigte ihm den ausgewählten Text. Seine Stiefbrüder kicherten, doch Thiemann gebot ihnen streng Ruhe. Während der Bibellesungen duldete er keine Störung. Aufgeregt überflog Johann die ersten Zeilen des Textes. Es war einer der Briefe an die Korinther. Unsicher begann er. Doch je länger er las, desto flüssiger kamen die Sätze, und er merkte, wie sein Publikum staunte. Euphorie beflügelte ihn. Immer stärker versetzte er sich in Paulus, machte die Ratschläge im Text zu einem eindringlichen Appell, leise, ohne Pathos, und nahm sein Publikum gefangen. Johann spürte eine Macht, die von seinem Vortrag ausging, und kostete von diesem Glücksgefühl. Er hätte wohl noch lange weitergelesen, wenn ihm der Stiefvater nicht Einhalt geboten hätte. Die Augen seiner Mutter glänzten vor Stolz und Rührung, die Stiefbrüder waren eingeschüchtert, und seine kleine Schwester strahlte ihn bewundernd an. Sogar der Stiefvater war beeindruckt. Aber eine Lateinschule war dem Stiefvater zu teuer, und daher erhielt Johann dreimal die Woche Unterricht beim Pfarrer. Sobald er einige Vokabeln beherrschte, stürzte er sich auf die lateinischen Bücher in der Münzmeisterei und begann, die alten Schriften zu entziffern. Die Gesellen nannten ihn ›unser kleiner Professor‹. Als er zwölf war, starb der Großvater. Ein junger, forscher Münzmeister wurde eingesetzt, bestrebt, alles besser zu machen. Er entließ zwei alte Gesellen und wollte Johann als Lehrjungen anwerben. Johann mochte ihn nicht, außerdem wußte er bereits alles über das Münzmachen. Glücklicherweise hatte er damals gerade ein neues, höchst mysteriöses Interessengebiet entdeckt: Mädchen. Stundenlang hockte er 44
mit seinen Altersgenossen zusammen und diskutierte die Formen von Busen und Hintern und ihre mögliche Willfährigkeit, eine Melange aus Aufgeschnapptem, Phantasien und Wunschvorstellungen.
Das energische Knallen der Peitsche weckte Johann aus seinen Erinnerungen. Sie waren inzwischen auf dem breiteren Verbindungsweg zwischen Potsdam und Wittenberg angelangt, und der Wirt spornte die Pferde für ein Ausweichmanöver an. Ein Sechsspänner kam in vollem Galopp auf sie zu, eine Postkutsche, der er ausweichen mußte. Die Kutsche preschte vorbei. »Aus Leipzig«, bemerkte der Wirt sachkundig, »um zwölf werden sie in Berlin sein.« Obwohl sie erst drei Stunden unterwegs waren, hatten sie schon ein Drittel der Strecke geschafft.
*** Im ersten der drei Vorzimmer Seiner Kurfürstlich-Königlichen Majestät, dem Reich des dritten Kammerherrn, der ersten Wartestation für Besucher des Königs, war man beunruhigt. Böttger hätte sich schon längst einfinden müssen. Die Uhr zeigte bereits halb zwölf an, noch dreißig Minuten bis zur ›gnädig bestimmten Audienz‹ für den Apothekergesellen. Der Kammerherr schickte daher einen Reiter zur Marktapotheke, den säumigen Herrn abzuholen. Doch der Soldat kam unverrichteter Dinge zurück. Böttger war nicht auffindbar. Bangen Herzens mußte der Kammerherr darum bitten, beim König vorgelassen zu werden, um ihm diese ungeheure, die erlauchte Majestät so mißachtende Meldung zu überbringen. Friedrich I. hatte Böttgers Besuch voller Ungeduld erwartet. Er hatte ihn auf das ehrenvollste behandeln wollen und sich eine wohlgesetzte Rede zurechtgelegt. Denn der Bursche sollte ihn von seinem erdrückenden Schuldenberg von sieben Millionen Talern befreien, die ihn die Krönungsfeierlichkeiten gekostet hatten. Um so härter traf ihn daher 45
die Mitteilung des Kammerherrn, daß der Herr Apothekergeselle die Audienz wohl versäumt habe und unauffindbar sei. Kaum bezähmbare Wut stieg in Friedrich hoch. Krampfhaft bemühte er sich, Ruhe zu bewahren, mochte das Gehörte kaum glauben, es war einfach ungeheuerlich. Dieser Nichtsnutz von einem Gesellen besaß die Dreistigkeit, ihn, den König, sitzenzulassen, ihn vor dem innersten Kreis der mächtigsten Männer seines Reiches zu blamieren. Seine Würde war in einer Weise verletzt worden, wie er es nie für möglich gehalten hätte. Mit wippenden Rockschößen schritt er im Kabinett auf und ab. »Wieso erscheint der Kerl nicht?« Er funkelte Kanzler Fuchs, Staatsrat Mannteufel und Graf Haugwitz an, die betreten zu Boden schauten. Ein gewöhnlicher Untertan schlug die Ehre einer Audienz aus, die eigentlich nur höchsten Würdenträgern gewährt wurde. Böttger war verschwunden, und niemand wußte, wo er sich befand. »Wieso hat man diesen Kerl echappieren lassen? Warum hat man auf diesen wichtigen Mann kein Auge gehabt?« Friedrich tastete in seiner Rocktasche nach dem Goldregulus. Dem Beweis für das Genie dieses Apothekergesellen. Was sollte nun aus seinen Plänen werden? Aus dem Aufstieg des Landes, dem Aufstieg Berlins? Es war empörend. Er mußte ein deutliches Zeichen setzen. »Man soll ihn herbeischaffen, unter allen Umständen. Als mein Untertan ist dieser Kerl mir Rechenschaft über seine Tätigkeiten schuldig … 1.000 Taler dem, der ihn mir beibringt!« 1.000 Taler, das war eine gewaltige Summe. Friedrichs Blick fiel auf Graf Haugwitz, dem die Garden unterstanden. »Graf Haugwitz. Er sorge mir dafür. Vite, vite!« Graf Haugwitz, ein drahtiger Mittvierziger, verneigte sich lächelnd. »Es wird mir eine Ehre sein, Eure Königliche Majestät, diesen pflichtsäumigen Herrn alsbald vor Euch zu bringen.« Haugwitz verließ das Kabinett und durchschritt die Vorzimmer, in denen adlige Besucher darauf warteten, vorgelassen zu werden. Lakaien rissen die Türen für ihn auf, Türposten salutierten, doch er nahm es kaum wahr, wog den Auftrag ab. Die Aufgabe weckte zwiespältige 46
Gefühle in ihm. Er kannte Böttger, der nur für seine Experimente lebte, teilte dessen Leidenschaft für die Alchemie wie so viele Herrn am Hof, seit die Erkenntnisse der Naturwissenschaften an Ansehen gewonnen hatten. Mehr als einmal hatte er sich bei diesem Apothekerburschen Rat geholt. Es war natürlich töricht von ihm, sich der Gnade des Königs zu entziehen, sich dessen guten Willen zu verscherzen. Aber Böttger war kein Dummkopf, er mußte die Konsequenzen bedacht und seine Gründe haben. Das Gesicht des Apothekers gestern hatte Bände gesprochen, als der König einfach dessen Goldregulus eingesteckte hatte. Der Bursche wollte sich offensichtlich nicht genauso einstecken lassen, das war es. Der König selbst hatte die Sache verdorben, die er jetzt mit der hohen Belohnung wieder ins Lot zu bringen suchte. Böttger versuchte sicher, aus seinem Machtbereich zu fliehen und über die nächstbeste Grenze zu kommen. Wahrscheinlich nach Sachsen. Da allerdings nützte die hohe Belohnung nichts, es sei denn, man griff zu ungesetzlichen Mitteln, die Haugwitz nicht anordnen würde, um nicht seine guten Verbindungen zu August und seinem Hofstaat aufs Spiel zu setzen. Im Gegenteil. Es wäre sinnvoll, sich am Hof des starken August in Erinnerung zu bringen. Ein amüsanter kleiner Bericht über die Begebenheiten hier verdarb in Berlin nichts und konnte ihm dort vielleicht später einmal nützlich sein. Am besten wäre es dennoch, wenn er Erfolg hätte. Das verschaffte einem überall das sicherste Entrée. Dazu brauchte er einen umsichtigen Offizier. Leutnant Rebmann. Der Leutnant war äußerst tüchtig und besaß exzellente Umgangsformen, denen er seine Erfolge verdankte. Eine weitere Karriere war ihm bisher verwehrt geblieben, weil er ein Bürgerlicher war. Er war der beste Fänger von Deserteuren, und dieser Auftrag konnte ihm helfen, befördert zu werden. Rebmann war genau der richtige Mann. Graf Haugwitz beschleunigte seine Schritte und trat auf die Galerie der großen Eingangshalle, von der zwei geschwungene Marmortreppen nach unten führten. Er lief auf den Hof hinaus und zur Wachstube im Garnisonsflügel. 47
Einen Moment lang verhielt er auf dem Hof, sah einer Kolonne von Lakaien zu, die Holzscheite von einem Wagen entluden. Wahrscheinlich hatte man den Lieferanten im Preis so weit gedrückt, daß er sich weigerte, Hilfskräfte zu stellen. Die Sparsamkeit am Hof trieb kuriose Blüten. Wichtig war die Begründung für Böttgers Verhaftung, überlegte Haugwitz. Man durfte ihn nicht als ›Goldmacher‹ suchen, das würde Habgier wecken. Wie leicht konnte jemand auf die Idee verfallen, den Alchemisten zu verstecken, weil er sich von diesem Mann einen noch größeren Gewinn als die 1.000 Taler versprach. Suchte man ihn als Dieb, durchwühlten die Leute seine Sachen und zerstörten womöglich das kostbare Arkanum, das er zweifellos mitgenommen hatte; suchte man ihn als gefährlichen Kriminellen, meinte womöglich noch irgendein tumber Mensch, sich eine Belohnung verdienen zu können, wenn er ihn kurzerhand erschlug. Die Anschuldigung mußte anders gehalten sein, vage und respekteinflößend. ›Landesverrat‹ vielleicht oder noch besser: ›Kriminelle Machenschaften‹! Das klang nach Intrige von hochgestellten Persönlichkeiten, daran würde sich niemand die Finger verbrennen wollen. Haugwitz lächelte dünn. Mehr würde er auch Leutnant Rebmann gegenüber nicht eröffnen. Der Posten kündigte die Ankunft seiner Exzellenz Graf Haugwitz in der Wachstube an, die Anwesenden schlugen in gebührend strammer Haltung die Hacken zusammen, als er eintrat. »Leutnant Rebmann, zu mir!« Eifrig trat der junge Offizier auf Haugwitz zu und salutierte. »Zu Diensten, Herr Graf, was kann ich für Eure Exzellenz tun – mir scheint, es eilt?« Haugwitz winkte ihn beiseite und gab ihm leise die Instruktionen nebst einer Beschreibung von Böttger. Mit der Erwähnung der Belohnung empfahl er vorsichtig umzugehen oder sie besser gar nicht zu gebrauchen. Dieser Haufen Geld könnte viele Menschen zu unnützen und zeitraubenden Hinweisen verführen. Die Augen des Leutnants leuchteten. Dieser Auftrag befreite ihn vom langweiligen Dienst in der Garnison. Und im Erfolgsfall winkte nicht 48
nur ein Anteil an der Belohnung, sondern auch die Aussicht auf Beförderung. Obwohl Haugwitz den wahren Grund für die Jagd nach Böttger verschwieg, wußte Rebmann genau, was es mit ihm auf sich hatte. Die Vorbereitungen für den Alchemisten im zweiten Stock des Garnisonsflügels waren ihm nicht entgangen. Er kannte Böttger und hatte von dessen erfolgreichem Goldexperiment gehört. Rebmann bedankte sich förmlich für das in ihn gesetzte Vertrauen. Kaum war der Graf gegangen, gab er seinem Adjutanten und seinem Burschen eine Beschreibung des Apothekergesellen und schickte den einen zur Poststation, um zu eruieren, ob Böttger sich ein Pferd gemietet hatte. Den anderen jagte er zu den Berliner Toren, um zu erfahren, ob und wann ihnen ein Reiter aufgefallen war, auf den Böttgers Beschreibung paßte. Wenn sie ihre Aufträge erledigt hatten, sollten sie zur Marktapotheke kommen. Wenige Minuten später ritt er zur Apotheke des Herrn Zorn, von dem er sich Hinweise auf den Verbleib seines Gesellen versprach. In der Marktapotheke hatte Zorn zur Stunde des Frühstücks einen Lehrbuben zu Johanns Stube geschickt, um den säumigen Gesellen zu wecken. Doch das Zimmer war leer, der Lehrjunge fand nur einen kleinen Brief. In eilig hingeworfenen Zeilen bedankte sich Johann bei Zorn und bat um Verständnis für die überstürzte Abreise. Im ersten Moment konnte der Apotheker sein Entsetzen kaum beherrschen. Dann allerdings fiel ihm sein eigener Groll vom Vortag gegen den König ein, und er empfand eine gewisse Schadenfreude. Dennoch, eigentlich mußte er Johanns Verschwinden melden, überlegte er, andererseits war es immer gefährlich, als Bürgerlicher in Angelegenheiten des Hofes verwickelt zu werden. Daher entschloß er sich, lieber den Ahnungslosen zu spielen. Leutnant Rebmann war ein äußerst höflicher Mann. Er bemühte sich, verständnisvoll zu sein, meinte, es sei eine Crux mit den jungen Leuten, die immer nur taten, wozu sie gerade Lust hätten, und nicht ihrer Pflicht nachkämen. Zorn hütete sich zu widersprechen. Dann fragte der Leutnant nach Johanns Freunden und Eltern. Zorn berichtete bereitwillig von Johanns Eltern in Magdeburg und dem Freund 49
in Spandau, bei dem er manchmal experimentiert und übernachtet hätte. Der Leutnant notierte sich die Adressen und erkundigte sich weiter nach befreundeten Alchemisten, die in der Apotheke verkehrten, als Zorns Frau die Treppe herunterkam, die es vor Neugier oben in der Stube nicht mehr ausgehalten hatte. Charmant fuhr Rebmann fort, daß in einem so hoch angesehenem Haus wie dem ihrigen gewißlich beste Kreise verkehrten. Da platzte die Apothekerin damit heraus, daß sie sich rühmen dürfe, beispielsweise den Herrn Baron Kunckel von Löwenstein recht häufig zu bewirten. Und auch der Geselle hätte wohl einen recht freundschaftlichen Kontakt zu diesem bedeutenden Mann gepflegt. Vielleicht, daß Böttger dem Herrn Baron einen Besuch in Großbeeren abstatte, wie er es schon häufiger getan habe. Zorn gab zu bedenken, daß Johann mit vielen Persönlichkeiten am Hof in Kontakt gestanden hätte, beispielsweise mit Graf Haugwitz und noch einigen weiteren Herren. Rebmann notierte die Namen. Diese Liste würde er an Graf Haugwitz schicken, da er selbst es nicht wagen konnte, bei den hochgestellten Höflingen zu recherchieren. Das mußte Graf Haugwitz mit seinen Spionen erledigen. Abgesehen davon glaubte er nicht, daß Böttger derart unverfroren war, in Berlin zu bleiben. Nacheinander erschienen dann sein Bursche und sein Adjutant wie befohlen in der Apotheke. Beide hatten nichts herausfinden können. Böttger mußte die Stadt zu Fuß verlassen haben. Von Berlin aus war es etwa gleich weit nach Mecklenburg wie nach Sachsen. Mecklenburg bestand aus Wäldern und Seen, wo wesentlich mehr Wildschweine als Menschen hausten, kein lohnendes Ziel für einen Alchemisten. Ganz anders stand es mit Sachsen, wo es reiche Städte gab. Und genau auf dem Weg dorthin lag das Gut des Barons Kunckel. An Böttgers Stelle hätte er diesen Weg genommen. Wenn er gestern ordentlich marschiert war, konnte er das Anwesen am späten Abend erreicht haben. Rasch verabschiedete sich der Leutnant und schickte seinen Adjutanten zum Schloß, dem Grafen einen ersten Bericht zu erstatten und 50
ihm die Liste mit den Namen der Höflinge zu übergeben, mit denen Böttger in Kontakt gestanden hatte. Daß der Graf auch seinen eigenen Namen dort finden würde, spiegelte nur die korrekte Recherche wider. Rebmann war optimistisch. Ohne viel Rücksicht auf Fußgänger zu nehmen, galoppierten sie aus Berlin hinaus.
*** Zur gleichen Zeit zockelten der Wirt und Johann einen nur dünn verschneiten Abhang hinauf. Ein leichter Frost war geblieben. Hin und wieder waren Johann und der Wirt vom Wagen gesprungen und nebenhergelaufen, um sich warm zu halten. Johann hoffte, daß man in Berlin erst jetzt die Suche nach ihm aufnahm. Nach Wittenberg waren es nur noch zwei, drei Stunden. Er fühlte sich schon sicherer. Der Wirt begann von seiner verstorbenen Frau zu erzählen. Sie war vor drei Jahren ein Opfer der Pest geworden. Verseuchtes Wasser hielt er dafür verantwortlich. Wie die meisten Menschen war er davon überzeugt, Wasser berge alle gefährlichen Übel dieser Welt und sei daher zu meiden. Johann hielt dagegen, daß Paracelsus erfolgreich Pestkranke behandelt habe. Als Grund dafür, daß er sich nicht angesteckt habe, nannte er häufiges Waschen der Hände, ja sogar des ganzen Körpers, auch die Kleidungsstücke seien so zu behandeln. Wasser aus einem Bach im Dorf, in den die Leute mit Vorliebe ihre Nachttöpfe leerten, sei allerdings wenig geeignet. Quellwasser oder ein guter Brunnen böten noch die beste Gewähr für reines, klares Wasser. Er habe jedenfalls noch nie gehört, daß aus reinen Brunnen Krankheiten entstanden wären. Der Wirt ließ sich nicht von seiner Meinung abbringen. Das schlimme sei eben, daß man Wasser nichts ansehen könne. Darum meide er es. Aber wo er nicht nur Apotheker, sondern auch Alchemist sei, wäre es ja kein Problem für ihn. Er müsse nur diesen sagenumwobenen ›Stein der Weisen‹ finden, dann wäre er vor allen Krankheiten sicher. Johann schüttelte lachend den Kopf. »Das ist dann doch eine zu 51
simple Vorstellung. Mit dem Stein der Weisen hat es eine besondere Bewandtnis. Vor allem ist es nicht wirklich ein Stein.« Und Johann begann, vom Ursprung der Sage zu erzählen. Als erster hatte Aristoteles vom Stein der Weisen gesprochen, welcher nicht nur unedles Metall in Gold verwandeln sollte, sondern auch das ewige Leben verhieß. Im Lateinischen hieß er ›Lapis philosophorum‹, eine Substanz, die Erkenntnis vermittele. Und die Krönung der Erkenntnis sei, Gottes Schöpfung zu verstehen. Da Gottes Schöpfung ewig währte, hatten die mittelalterlichen Übersetzer von Aristoteles dieser Substanz auch die Kraft zugeschrieben, ewiges Leben zu gewähren. Ein Mißverständnis. Ewiges Leben, führte Johann aus, sei eine ganz andere Sache. Kein Mensch, kein Tier lebe ewig auf dieser Welt. Übrigens habe ihn seine Tätigkeit in der Apotheke davon nur noch mehr überzeugt. Ganz anders lag die Sache bei den Metallen, bei dem Übergang eines Metalls in ein anderes. Metalle konnte man analysieren, klassifizieren, zuordnen. Und so wie alles in der Natur sich mit den Jahren veränderte, reifte auch das Gold in der Erde – aus unedleren Metallen wie Blei, Quecksilber und Kupfer. Es wuchs und reifte wie das Korn auf dem Feld, wurde mächtig wie der Samen, aus dem ein Baum entstand. Eine natürliche, fortdauernde Verwandlung der Materie, die man Transmutation nannte. Die Alchemie tat nun nichts anderes, als diesen Prozeß nachzuvollziehen und künstlich zu beschleunigen. Der Fortschritt der Naturwissenschaft erlaubte es, methodisch vorzugehen. Die Naturwissenschaft hatte inzwischen viele althergebrachte Vorstellungen über den Haufen geworfen. Vor noch gar nicht langer Zeit hatte man angenommen, die Erde sei der Mittelpunkt des Universums. Nachdem Galilei das Fernrohr erfunden und durch Beobachtung die Berechnungen der Planetenbahnen des Kopernikus bestätigt habe, daß die Erde und alle Planeten um die Sonne kreisen, lache man darüber. Mithin sei es nur eine Frage der Zeit, bis sich das Geheimnis der Goldherstellung wissenschaftlich lüften ließe. Als Johann geendet hatte, blickte ihn der Wirt mit großen Augen an. 52
»Wem immer diese Umwandlung gelingt, er wird der reichste Mann der Welt sein!« »Es geht bei der Transmutation nicht um Reichtum, es geht um die tiefsten Einsichten in die Abläufe der Natur in Gottes Schöpfung«, erwiderte Johann in tiefster Überzeugung. »Ach, Herr Geselle, so ist die Welt aber nicht gestrickt. Wem immer es gelingt, diese geheimnisvolle Transmutation durchzuführen, der sollte sich in acht nehmen. Man wird hinter ihm hersein. Jeder will Gold, alle. Ich würde niemandem glauben, der sich öffentlich als Goldmacher feiern läßt. Ein wirklicher Goldmacher wird sein Geheimnis bewahren. Denn er weiß, in welche Gefahr er sich begibt. Er tut jedenfalls gut daran, niemandem zu verraten, was er kann. Denn jeder Fürst wird sich seiner bemächtigen wollen.« Johann verzog keine Miene, obwohl er dem Wirt recht gab. Sein Geheimnis war zu früh an die Öffentlichkeit gelangt. Wäre es nicht sicherer, erst einmal im verborgenen weiterzuarbeiten? Aber wie sollte er das anstellen? Für eine gewisse Zeit – nur eben so lange, bis er die Transmutation sicher beherrschte – könnte er sich des Namens seines Stiefvaters Thiemann bedienen. Doch wie sollte er sich unter falschem Namen an der Universität immatrikulieren? Er würde gefälschte Papiere brauchen. Er schob das Problem auf, er mußte einfach sehen, wie sich die Dinge in Wittenberg entwickelten. Am besten wäre es natürlich, man würde die Zeitungsartikel, die seinen Namen in aller Munde gebracht hatten, in Wittenberg nicht kennen. Sie mußten einen flachen Höhenzug überwinden, von da an ging es sanft abwärts in die Elbniederung. Von einer Hügelkuppe erblickten sie dann endlich Wittenberg und das breite Band des Elbstroms, über dem dünner Nebel lag. Eine halbe Meile vor der Stadt verlief die Grenze zwischen Brandenburg und Sachsen. Johann klopfte dem Wirt auf die Schulter. Am liebsten hätte er die Zügel selbst in die Hand genommen und die Pferde zum Galopp angefeuert. Statt dessen ging es im Schritt ohne Eile auf den geschlossenen Schlagbaum zu. Ein Brandenburger Sergeant trat aus dem verwitterten Wachhäus53
chen und verlangte nach den Pässen, während seine Soldaten vor dem rot-weiß gestreiften Schlagbaum Aufstellung nahmen. Johanns prunkvoller Gesellenbrief imponierte dem Sergeanten weit weniger, als er gehofft hatte. Der Sergeant inspizierte den Planwagen, dann fragte er nach dem Inhalt von Johanns Bündel, um ›Schmuggel vorzubeugen‹. Nichts als Schikane, fand Johann, doch er blieb höflich. Zu häufig hatte er von der Willkür von Uniformträgern gehört. Im winzigen Raum des Wachhäuschens mußte Johann seine Habseligkeiten auf einem wackligen Tischchen ausbreiten, auf dem unzählige Bierkrüge ihre Spuren hinterlassen hatten. Mißtrauisch beäugte der Sergeant den dicken Band des Basilius Valentinus mit den seltsamen Zeichen, und Johann mußte das Buch für ihn aufschlagen und darin blättern. Schließlich schaute der Sergeant Johann ernstlich beunruhigt und ratlos an. »Sind das nun Teufelsbeschwörungen?« Johann mußte grinsen. »Nein, das ist ein Buch über chemische Reaktionen.« Er vermied das Wort Alchemie. Man konnte nicht wissen, was sich der Mann darunter vorstellte. »Hier sieht Er das Zeichen für Eisen. Es rostet schnell, darum ist rot seine Farbe und sein Planet der Mars. Hier ist Gold, sein Zeichen natürlich die Sonne. So sind die Metalle in Relation zu den Planeten gesetzt.« »Es ist wohl eine sehr geheime Wissenschaft, diese Chemie.« »Wäre sie wirklich geheim, stände doch nicht alles in einem Buch.« Beruhigt überging der Sergeant Johanns verschlüsselte Aufzeichnungen und ließ sich das Silberkästchen öffnen. Die Phiole mit der rot schimmernden Tinktur weckte seine Neugier, so daß er nach ihr griff und sie hochhielt. »Was ist das?« »Es ist ein Reagenz, Herr Sergeant, keine Arznei …« Und ein wenig übermütig fügte er hinzu: »Es ist … Froschblut … hauptsächlich.« »Iiihgitt.« Dem Sergeanten entglitt die Phiole. Nur durch einen geistesgegenwärtigen Sprung konnte Johann sie auffangen. Zitternd schloß er die Augen und atmete tief durch, die Phiole fest in der rechten Faust geborgen. 54
»Er hätte nicht sagen sollen, daß es Froschblut ist«, beschwerte sich der Sergeant. »Schon gut«, krächzte Johann, dem übel geworden war. »Es gibt eben keine Frösche um diese Jahreszeit.« Er rappelte sich hoch und legte die Phiole mit dem unersetzlichen Arkanum noch etwas zittrig in die Schatulle zurück. »Es ist ja zum Glück nichts passiert, Herr Apothekergeselle, Er kann zusammenpacken. Viel Glück in Sachsen.« Johann hätte am liebsten alles eilig zusammengerafft und in den Reisesack gestopft. Doch er zwang sich, keine Panik zu zeigen. Das Zittern ließ nach. Als er fertig war, trat er aus dem Häuschen, hievte den Reisesack auf den Bock und ließ sich danebensinken. »Alles in Ordnung?« fragte der Wirt. Johann nickte und bemühte sich zu lächeln. Die Schranke ging hoch, der Wirt schnalzte, die Pferde zogen an. Johann atmete tief durch, doch der Schreck saß ihm noch immer in den Gliedern. Am sächsischen Grenzposten hatte man natürlich mitbekommen, wie die Brandenburger Johann gefilzt hatten, und da man darauf bedacht war, sich von ›denen da drüben‹ zu unterscheiden, wurden sie äußerst höflich und schnell abgefertigt. Ein Blick in die Pässe und in den Planwagen, und sie durften passieren. Sie waren in Sachsen. Johann blickte noch einmal zurück. Er schwor sich, Brandenburg nicht so schnell wieder zu betreten. Glücklich umarmte er den Wirt. Vor ihnen ragte die alte Stadtmauer auf, die nur von Kirchtürmen und einigen Dächern überragt wurde. Wittenberg war offensichtlich vom Dreißigjährigen Krieg weitgehend verschont geblieben. Sie fuhren durch das mittelalterliche Tor, dessen Fallgitter eisenbeschlagene Zähne zeigte, und waren in der Stadt. Triumphgefühl stieg in Johann auf. Sie konnten ihn nicht mehr kriegen. Man konnte den Sachsen schlecht sagen: »Gebt ihn raus, der Mann hatte keine Lust, unseren König zu besuchen.« Sie würden sich nicht derart lächerlich machen wollen. Er war frei. 55
Alte Fachwerkhäuser säumten die Straße, so wie er sie aus Schleiz in Erinnerung hatte, nur viel höher, mit bis zu drei Stockwerken. Es paßte zum Stadtbild, daß es nur wenig modisch-barocke Fassaden gab, alles wirkte enger als in Berlin, dafür aber gemütlicher, eine Stadt zum Wohlfühlen. Alles, was er sah, gefiel ihm. Sie kamen an der Kirche vorbei, an der Luther 1517 seine Thesen angeschlagen hatte. Ein prunkvolles Schild neben dem Eingang kündete von diesem folgenschweren Ereignis. In seiner euphorischen Stimmung stellte Johann sich vor, wie man auch für ihn so eine Gedenktafel aufstellen würde, prächtiger, mit Gold natürlich. Eigentlich hätte er sich schon vom Wirt verabschieden können, aber er genoß die Fahrt durch die Stadt. Es ging weiter hinunter zur Elbe, die man aber nur erahnen konnte, da die Stadtmauer sich am Ufer der Elbe hinzog. Durch eine geöffnete Pforte für den Warenverkehr sah man den Fluß und hölzerne Stege, an denen die Lastkähne festgemacht waren. Der Wirt steuerte auf das größte Haus an der Uferstraße zu, an dem ein pompöses Schild ›Klausen‹ hing. Sie hielten vor dem Tor. Ein intensiver Geruch nach Bier und Wein drang aus dem Haus und weckte Johanns Durst. Knechte eilten herbei und spannten die müden Pferde aus, Johann tätschelte sie zum Abschied. Das Erdgeschoß war ein einziger großer Lagerraum mit Dutzenden von Bierfässern. Rechts führte eine breite steinerne Treppe zum Keller, daneben gab es eine Rutsche mit einem Schlitten, auf dem Knechte Weinfässer in den Keller hinunterließen. »Der Großbeerenwirt, was für eine angenehme Überraschung.« Aus dem Büro im ersten Stock kam der dicke Händler Klausen in grellroter Weste die Holzstiege herunter, freudig den breiten Mund verzogen. »Schön, daß Ihr nicht vergessen habt, wo es die guten Biere und Weine gibt.« Die beiden begrüßten sich, und der Händler wandte sich Johann zu. »Und wer ist dieser junge Mann? Er sieht nicht gerade wie Euer Knecht aus.« 56
»Ein Apothekergeselle aus Berlin, der hier studieren will.« Der Blick des Händlers schien plötzlich schärfer zu werden. Er kannte die Zeitungsmeldung. Johann machte eine tiefe Verbeugung, während er fieberhaft überlegte. »Johann Thiemann, wenn es gestattet ist.« Der Wirt sah ihn irritiert an, Johann sprach schnell weiter. »Der Name meines Stiefvaters, den ich in Ehren halte. In Berlin habe ich meine Lehre absolviert, doch aufgewachsen bin ich in Magdeburg, einer Stadt, die sich nicht mit dem schönen Wittenberg vergleichen kann.« Die Schärfe im Blick des Händlers verschwand. Statt dessen wiegte er den Kopf. »Ach, Wittenberg ist provinziell. Dresden ist die kommende Stadt. Ich trage mich mit dem Gedanken, mein Kontor dorthin zu verlegen.« Immer noch starrte der Wirt Johann an, Johann ging darüber hinweg. »Er wollte mir doch ein Gasthaus empfehlen, bis ich ein Privatquartier gefunden habe. Oder weiß der Herr Klausen mir etwas zu empfehlen. Es sollte natürlich nicht zu teuer sein …«, endete er etwas lahm. Der alte Wirt ließ sich nicht beirren, schaute ihn an, als ob er die Frage nicht gehört hätte. Dann begann sich das typische verschmitzte Lächeln in das Gesicht des Wirtes zu schleichen. »Er kann wirklich hübsche Geschichten erzählen, der Herr Apothekergeselle … Thiemann!« Er betonte es so verschwörerisch wie am Abend zuvor das falsche ›Herr Kaufmann‹. Johann sah ihn dankbar an. Dann besann sich der Wirt auf Johanns Frage. »Ach ja, ich hatte an den ›Goldenen Löwen‹ gedachte, was hält Er davon? Die Zimmer sind sauber und bezahlbar.« Klausen nickte und erklärte Johann den Weg. Froh, sich verabschieden zu können, wollte Johann dem Wirt allerdings noch seine Dankbarkeit zeigen. Er hätte den Abschied sonst als stillos empfunden. »Darf ich Ihm diesen kleinen Obolus für die freundliche Mitnahme nach Wittenberg überreichen? Es wäre mir nicht recht, wenn ich mich in Seiner Schuld fühlen müßte.« 57
Er reichte dem Wirt einen Taler, ein fürstlicher Fuhrlohn, wie Johann sehr gut wußte. Kopfschüttelnd nahm der Wirt den Taler. »Ich nehme ihn als … Glücksbringer.« Schweigegeld wäre der treffendere Ausdruck gewesen, dachte Johann, als er, den Reisesack geschultert, auf die Uferstraße trat. War er übervorsichtig, daß er seinen Namen verschwiegen hatte? Ihm fiel Lascarius ein. In eingeweihten Kreisen hatte man gewußt, daß er Gold künstlich herstellen konnte. Doch niemand hatte ihn verfolgt. Das einzige, worüber Lascarius sich beklagt hatte, war seine Gicht. Dagegen erschienen Johann sein Versteckspiel und die überstürzte Flucht unwürdig. Und wie zum Teufel sollte er ein Inkognito aufbauen? Andererseits, der Wirt hatte recht gehabt. In den Augen des Händlers hatte Gier gestanden. Das Zwischenspiel hatte seine Euphorie gedämpft. Als er auf die Straße trat, begann es zu dämmern, und statt glücklich fühlte Johann sich plötzlich ein wenig verloren.
*** Etwa zur gleichen Zeit erreichte Leutnant Rebmann die Grenze. Sein Riecher hatte ihn nicht getrogen. Erst war er zum Hof des Barons geritten, dann zum Wirtshaus und von dort zur Grenze. Stramm erstattete der Sergeant dem Erschöpften die Meldung, wonach der beschriebene Planwagen nebst der in Rede stehenden Person vor wenigen Minuten passiert habe. Und Rebmann mußte sich auch die Geschichte von dem Froschblut anhören, von dem er ahnte, daß es etwas weit Kostbareres war. Maßlose Enttäuschung über die knappe Niederlage stieg in Rebmann auf, aber er beherrschte sich. Sofort schickte er eine Eildepesche nach Berlin, um den Sachstand zu berichten, und bat um ein Auslieferungsersuchen, damit er seinen Auftrag ausführen konnte. Im Grunde war die Froschblut-Geschichte ein Lichtblick. Böttger schien bemüht, sein Talent geheimzuhalten. Um so einfacher würde es werden, ihn aus Sachsen herauszubekommen. 58
*** In der Mitte einer Brücke blieb Johann stehen. Auf einer Steinplattform am Bach unter ihm wuschen Mägde im letzten Tageslicht die Wäsche. Ihre Hintern kreisten dabei in anregender Gegenbewegung zu ihren Armen. Seine Lebensgeister kehrten zurück. Eines der Mädchen richtete sich auf, streckte ihr Kreuz und sah zu ihm hoch. Johann winkte ihr zu, sie lächelte und winkte zurück. Na also. Wieso fühlte er sich allein? Er mußte es nicht bleiben. Wesentlich heiterer setzte er den Weg fort. Der Wegbeschreibung folgend bog er in die Schmiedegasse ein. Von irgendwoher erhob sich wildes Geschrei. Dumpfe Laute, dann ein Klirren und vielstimmiges Fluchen, eindeutig Kampfgeräusche, vielleicht auch nur eine Prügelei. Er blieb stehen, um in dem Gassengewirr die Herkunft der Geräusche besser orten zu können. Plötzlich näherte sich das Gejohle. Als er sich umdrehte, bogen gerade drei Gardisten in panischer Flucht in die Gasse ein und rannten an ihm vorbei, verfolgt von einer Gruppe von sechs Studenten, unschwer am bunten Band am Dreispitz zu erkennen. Sie hatten ihre Degen gezückt und stießen saftige Beschimpfungen aus. Sie rannten Johann einfach um. Gleich darauf waren alle in der nächsten Gasse verschwunden. Noch immer waren die Beschimpfungen zu hören, hier und da gingen Fenster auf, aus denen Bürger mit mißbilligenden Mienen schauten, einige hatten in der Eile vergessen, ihre Perücken aufzusetzen. Johann war zu verdattert, um wütend zu sein. Was war das? Eine Fata Morgana? Was ging hier vor? Gestattete es die Obrigkeit, daß sich die Studenten mit den Garnisonssoldaten anlegten? Das war undenkbar. Man würde die Studenten zur Rechenschaft ziehen. Johann rappelte sich auf. Wittenberg fing an, richtig spannend zu werden. Der ›Goldene Löwe‹ stellte sich als älteres Fachwerkhaus heraus, das schon bessere Tage gesehen hatte. Die recht umfangreiche Wirtin konnte er durch sein charmantes Lächeln bezirzen, und so bekam er das beste Zimmer, riesengroß in den Augen Johanns, der nur seine winzige Mansarde gewohnt war, und natürlich nicht ganz billig. Vor 59
allem hatte es einen Kamin. Johann fand, daß er sich diesen Luxus verdient hatte. Er warf sich auf das Bett und entspannte sich wohlig. Nur ein paar Tage noch, dann würde er wieder an seinen Experimenten arbeiten können. Morgen würde er sich immatrikulieren. Er dachte an die kuriose Verfolgungsjagd der Studenten. Außerdem hatte er Durst. Er sprang aus dem Bett, schlafen konnte er später.
Viertes Kapitel
D
as Gasthaus ›Zum Pfeifenden Eber‹ befand sich am Markplatz. Dort sollte der mißbilligenden Beschreibung der Wirtin zufolge der Treffpunkt der Studenten sein. ›Kuckucks‹ wurden sie genannt, nach dem Bier, das sie mit Vorliebe tranken. Johann betrat den schummrigen Schankraum, der rappelvoll war mit Studenten, die lange Tabakspfeifen pafften. Schankknechte drängten sich zwischen den Tischen hindurch und tauschten leere gegen volle Bierkrüge aus. Es war genau der richtige Ort, um Durst, Hunger und vor allem seine Neugier zu stillen. Johann fand an einem kleinen Tisch in der Ecke einen freien Platz. Sofort bekam er einen Krug Bier vorgesetzt, den er in einem Zug leerte. Der nächste Krug kam postwendend, und er bestellte sich etwas zu essen. Schon gelöster, ließ Johann den Blick durch den Raum schweifen. An einem großen Tisch saß eine lärmende Gruppe, in denen er die Verfolger der Gardisten vom Nachmittag wiedererkannte. Sie lachten unentwegt und stießen auf ihren Sieg an. »Auf die blauen Flecken der Gardisten, prost.« »Auf ihre Kopfschmerzen.« »Auf ihre müden Beine.« »Auf den Stadtkommandanten.« 60
Ein Student fiel auf die Knie und reckte die Arme empor: »Bitte, bitte, lieber August, gib mir doch noch ein paar Gardisten.« Mitten in die Lachsalve stellte sich ein anderer in Positur. »Hochgeschätzter Herr Stadtkommandant von Rosenberg, leider gebricht es mir an der Zeit, mich mit ihren Sorgen auseinanderzusetzen, ich habe gerade eine überaus wichtige Audienz mit der Lubomirska.« Dabei vollführte er höchst eindeutige Bewegungen mit dem Becken, was wieder eine Lachsalve hervorrief. Mit offenem Mund verfolgte Johann die Reden. Wie konnte ein Souverän so etwas dulden? Wie konnten sich die Studenten so sicher fühlen? Er sah sich um. In der gegenüberliegenden Ecke saßen Fuhrleute, die das Treiben der Studenten wenig zu kümmern schien. Zwei Handwerksburschen dagegen neben ihnen verfolgten die Darbietung höchst interessiert. Am Nebentisch saßen vier Studenten, deren seidene Röcke und Strümpfe ihre adlige Herkunft verrieten. Sie amüsierten sich prächtig und beklatschten einzelne Sätze. »Verzeihen Sie«, sagte Böttger neugierig, »man führt hier eine so freie Rede, in Berlin würde das keiner wagen.« Die vier adligen Studenten starrten ihn an, danach ihren Wortführer. Herablassend drehte der sich zu Johann um und sog an seiner Pfeife. Er hatte ein schmales Gesicht mit einer kräftigen Hakennase. Er stieß eine Rauchwolke aus. »Berlin ist provinziell, dort vegetiert man. Man hat dort keine Kultur. Sachsen ist das Land des Fortschritts, hier lebt man.« »Hmmhm« war alles, was Johann abwartend hervorbrachte. Ein anderer setzte nach: »In Sachsen gibt es keine Leibeigenen. Alle sind frei. Das muß bedeuten, daß jeder seine Meinung frei äußern darf. Die Würde des Individuums gebietet es, verstehst du, und das müssen wir durchsetzen.« »Indem Ihr, verzeiht, die Gardisten verprügelt?« warf Johann zweifelnd ein. Der adlige Student sah Johann mitleidig an. »Der Stadtkomman61
dant schickt seine Gardisten aus, damit sie verhindern, daß wir uns versammeln und unsere Gedanken austauschen. Es sind die senilen Theologen, die ihn dazu anstacheln. Sie kapieren nichts von der neuen Zeit … Wir dagegen sind die Jünger der neuen Philosophie. Kennst du Descartes oder Spinoza?« »Natürlich habe ich von ihnen gehört, doch sie gelesen leider nicht«, gestand Johann und nahm einen Schluck Bier, um sich für den kommenden Vortrag zu wappnen. Der adlige Student seufzte. »Ein Frischling, na gut. Also, jeder Mensch ist frei geboren, die Natur kennt keine Standesunterschiede, das ist der Kern. Das kratzt natürlich auch an den Privilegien meines Standes, aber noch mehr an den alleinseligmachenden Vorstellungen der Theologen. Das verbittert sie. Sie wollen uns solches Freidenken nicht gestatten. Darum hetzen sie den Stadtkommandanten gegen uns auf, um unsere Versammlungen aufzulösen. Sie sind entsetzt und verbittert, daß nicht der Glaube, sondern begründetes Wissen unser Denken bestimmt. Doch nur in der Vernunft liegt der Fortschritt.« Der Dozierende erhob nun den Finger. »Versteh mich nicht falsch. Der Glaube an sich ist durchaus eine gute Sache. Glaube unterscheidet den Menschen vom Tier, ebenso wie Wissen. Nur ist es mittlerweile mit der evangelischen Kirche so weit gekommen wie mit der katholischen zu Luthers Zeiten. Sie will Macht über ihre Schäflein haben. Doch Macht, gepaart mit Religion, ist eine unheilige Allianz, die ins Verderben führt.« Er legte eine kleine Pause ein, um an seiner Pfeife zu ziehen. »Damit wären wir wieder bei der Philosophie. Die Theologen stellen in Wittenberg die stärkste Fraktion. Sie knechten die Philosophen, damit sie in ihren Vorlesungen die veraltete scholastische Lehre verbreiten. Auch für die Philosophen kämpfen wir.« »Auf diesen Kampf stoße ich gerne an.« Johann prostete den Studenten am Nebentisch zu und nahm einen großen Schluck. »Ich will hier studieren.« »Was kannst du denn?« 62
»Ich bin … Apothekergeselle.« Plötzlich starrten alle ihn an. »Aus Berlin? … Kennst du etwa diesen fabulösen Goldmacher?« Johann fluchte in sich hinein. Alle Welt kannte ihn. Gab er sich für jemand anderen aus, würde es bei der Immatrikulation auffliegen. Das war albern. Er war nun mal berühmt, das spiegelte sich in den erwartungsvollen Gesichtern um ihn. Es war die Gelegenheit, sich hier und jetzt ein hohes Ansehen zu verschaffen. Johann ließ sich Zeit, spürte, wie die Spannung stieg. Nachdenklich nippte er an seinem Bier, blickte dann ernst in die Runde. »Nun ja … dieser ›Fabulöse‹ …« Er verlängerte die Pause mit einem Rundblick, dann platzte es aus ihm heraus: »… das bin ich.« Er stand gemessen auf und verneigte sich. »Johann Friedrich Böttger, Apothekergeselle und … erfolgreicher Alchemist.« Der hakennasige Student sprang nun ebenfalls auf und rief in den Schankraum: »Freunde, hört, hört und seht: Hier unter uns weilt der berühmte Goldmacher aus Berlin. Kommilitonen, verneigt euch.« Er vollführte eine übertriebene Verbeugung. »Hermann Baron von Riedesel, Jurist, Philosoph und Mediziner, dem es eine Ehre ist, dem berühmtesten Alchemisten unserer Zeit gegenüberzustehen. Durch Euch, mein Herr, wird Wittenberg zur glänzendsten Universität des Universums – goldglänzend.« Stürmischer Applaus folgte, während die Studenten ihn umringten. Ein wahres Gewitter von Fragen und Wünschen prasselte auf ihn ein, die in der Forderung gipfelten, Johann möge auf der Stelle seine Kunst beweisen und Gold machen. Auch die Handwerksburschen und Fuhrleute reckten die Hälse. Hermann gebot mit einer Handbewegung Ruhe und wiederholte mit großem Nachdruck: »Los, mach Gold, hier und jetzt. Zeig's uns. Wir werden dir sonst nicht glauben können.« Johann schaute ihn einen Moment unentschlossen an. »So mal eben, ja? Hier, ja? …« Dann grinste er. »Nun gut!« Er hob die Hand. Als es still geworden war, streckte er Hermann seine Hand hin. »Zeig, was du in den Taschen hast, an Talern, meine ich …« 63
»Vier Groschen sind meine ganze Barschaft …«, bemerkte Hermann betrübt. Die Studenten feixten. »Gut, das wird zwar schwieriger, aber es geht auch. Gib mir zwei davon.« Hermann legte zwei Groschen in Johanns Hand. Der schob sie aus der Handfläche zu den Fingerspitzen, hob die Hand und zeigte seinem Publikum die wenig ansehnlichen Groschen. »Seht her, hier habe ich zwei Groschen. Etwas Platz bitte …« Die Studenten traten zurück, rückten Stühle beiseite und bildeten einen Kreis um ihn. Johann begann sich in den Hüften zu wiegen und verschlungene Bewegungen mit den Armen auszuführen, als sei er in Trance. Dann begann er mit geschlossenen Augen einen magischen Singsang. »Mercurio, erhöre mein Flehen, mein Geschrei, Aureus, komme herbei, verwandele diese zwei, diese zwei, diese zwei, Dum … dum … didideldei … eins, zwei, drei, in was ihr hier wollt, nämlich … in Gold!« Langsam drehte Johann sich dreimal um die eigene Achse. Schwankend landete er vor Hermann, führte die Hand an dessen Ohr, und mit einem Ruck zog er zwei Golddukaten heraus, zeigte sie und verneigte sich. Das Publikum johlte. Einige drängten nach vorne, um ihm auf die Schulter zu klopfen. Johann ließ die Golddukaten in seiner Hosentasche verschwinden und gab Hermann seine Groschen zurück. Er hatte sich glänzend eingeführt, er war nun einer von ihnen. Sogar die Fuhrleute hatten applaudiert. Nur einer der Handwerksburschen verließ eilig die Schenke.
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Wenig später stand eben dieser Handwerksbursche in der Kommandantur des Wittenberger Schlosses und erstattete Bericht. Stadtkommandant von Rosenberg trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch. Er wandte sich zu seinem Ordonnanzoffizier. »Was halten Sie davon, Leutnant?« »Es gibt da eine seltsame Koinzidenz, Herr Kommandant. Heute nachmittag wurde ein Leutnant mit zwei Leuten aus Berlin an der Grenze gemeldet, übrigens ziemlich kurz nachdem dieser eben beschriebene junge Mann nach Wittenberg einreiste … Es könnte sein, daß man auf Seiten der Brandenburger hinter diesem … Goldmacher her ist.« Rosenberg nickte und blies die Backen auf. »Das ist kein Zufall. Da werden wir fein Obacht geben müssen, daß uns dieser Fisch nicht von der Angel springt. Man muß herausfinden, wo er wohnt. Weiß man, wo er geboren ist?« »Der Paß ist in Berlin ausgestellt, an mehr konnte sich unser Grenzposten nicht erinnern.« »Man soll es herausfinden. Es genügt vorläufig, wenn man dem Burschen verwehrt, die Stadt zu verlassen. Er soll's nicht merken, daß wir hinter ihm her sind. Vor allem dürfen die Studenten davon nichts erfahren. Entsprechende Befehle an alle Torwachen, auch am Hafen. Und dann, zwei Eilkuriere, einen für seine königliche Majestät in Warschau, einen für seine Exzellenz den Fürsten in Dresden. Ich will vorbereitet sein. Denn wenn sich alles so entwickelt, wie ich denke, werden wir bald eine preußische Petition zu erwarten haben.« Als der Offizier gegangen war, saß Rosenberg noch einen Augenblick nachdenklich am Schreibtisch. Hatte er endlich einmal Glück? Ein Goldmacher in seiner Stadt, das entschädigte für die Unannehmlichkeiten mit den elenden Studenten. Er würde seiner Majestät und dem Statthalter seine Qualitäten beweisen. Er zog eine Schublade mit Briefpapier auf.
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Zur gleichen Zeit nahm Seine Kurfürstlich-Königliche Majestät Friedrich I. im Berliner Schloß eine kleine Abendmahlzeit zu sich. Im Hintergrund wartete ein Kurier ungeduldig darauf, seine Meldung zu übergeben, doch Friedrich konzentrierte sich auf die Pastete, die ihm der erste Kammerherr vorgelegt hatte. Mißvergnügt wandte er sich um. »Diese Pastete entspricht keineswegs meiner Vorgabe, was ist mit dem Lieferanten?« Der Kammerherr druckste herum. »Nun, der Lieferant, die Zahlung für die letzte Lieferung … äh …« Friedrich unterbrach das Gestammel. »Man soll ihn zum Hoflieferanten ernennen.« Er wandte sich an den Kurier. »Was hat Er für eine Meldung?« Der Kurier händigte den Brief von Leutnant Rebmann dem zweiten Kammerherrn aus, der ihn an den ersten Kammerherrn weitergab, der ihn schließlich dem König überreichte. Ungeduldig erbrach Friedrich das Siegel und lehnte sich zurück, um die Meldung zu lesen. Je weiter er las, desto mehr rötete sich sein Gesicht, bis er explodierte. »Froschblut … Froschblut.« Er lachte hysterisch auf. »Dummheit, Aberglaube. Wer fällt denn auf so etwas noch herein?« Er versuchte, sich zu konzentrieren. »Graf Haugwitz soll sofort eine Delegation mit einem Auslieferungsersuchen nach Wittenberg entsenden. Er muß deutlich machen, daß die Sachsen dem Ersuchen nachkommen müssen. Andernfalls werde ich es als unfreundlichen Akt gegen unsere Souveränität betrachten. Auf alle Fälle soll ein Regiment in Alarmbereitschaft versetzt werden.« »Sehr wohl, Eure Königliche Majestät. Wie soll die Sache begründet werden?« »Bin ich der Jurist? Graf Haugwitz und Herr Fuchs sollen sich gefälligst eine geschickte Strategie ausdenken.« Der erste Kammerherr verzog keine Miene und verbeugte sich. »Ich werde die Herren sofort zu einer Konferenz zusammenkommen lassen, Königliche Majestät.« »Morgen früh muß dieser Leutnant in Wittenberg vorstellig werden.« Friedrich I. blickte zurück auf die Pastete, starrte sie an. »Frosch66
blut.« Er stach mit der Gabel in die Pastete und ließ sie angeekelt wieder fallen.
*** Noch immer schrieb man den 16. November 1701, es war kurz vor Mitternacht. Seine Exzellenz Fürst Anton Egon von Fürstenberg war gerade auf das angenehmste im Schlafsalon auf der Moritzburg beschäftigt. Eine verborgene Gestalt unter der seidenen Decke sorgte für rhythmische Bewegungen über seinen Lenden. Immer stärker spannte der Fürst die Muskeln, während sich der Rhythmus unter der Decke beschleunigte. Die Decke rutschte zur Seite, gab den Blick auf einen blonden Jüngling frei, der mittlerweile nur noch langsam das Glied des Fürsten bearbeitete. Die rechte Hand des Fürsten suchte die Haare des Jünglings, fand sie und wühlte darin, während er lustvoll entlud. Ermattet sank er zurück in die Kissen. Der blonde, schlaksige Bursche war Fürstenbergs bevorzugter Gespiele, der als Jagdpage auf dem Jagdschloß Seiner Majestät, der Moritzburg, beschäftigt war. Am Wochenende hatte sich der Fürst hierher zurückgezogen, um der Langeweile und dem gräßlichen evangelischen Buß- und Bettag in Dresden zu entgehen. Als Katholik war er während dieser hohen evangelischen Feiertage ohnehin nicht gern gesehen, da die Pastoren stets um die Reinheit ihres Luthertums fürchteten. Es war für sie schon schlimm genug, daß ihr Landesherr zum katholischen Glauben konvertiert war und sie ihn dennoch achten mußten. Daß aber auch sein Stellvertreter Katholik war, nahmen sie ihm richtig übel, mehr als die schwäbische Herkunft Fürstenbergs. Der Fürst hatte sich auch beim sächsischen Adel höchst unbeliebt gemacht, als er im Auftrag Seiner Majestät mit starker Hand eine Kommission geleitet hatte, die Unterschlagung und Korruption in der Adelsbürokratie bekämpft hatte. Nur als ein in keine Fraktion eingebundener Mann hatte Fürstenberg den Willen des Königs durchsetzen können. Er brauchte nicht auf anmaßende oder angemaßte Privilegien des eingesessenen Adels Rücksicht nehmen. 67
Es war eine undankbare Aufgabe gewesen. Doch nur durch diesen Druck hatte der Adel zusammen mit den Vertretern der Kirche im Geheimen Rat dem König eine Million Taler bewilligt. Die Mitglieder des Geheimen Rates, der Ständevertretung, sahen in Fürstenberg seitdem einen Feind. Ein weiterer Anlaß, weswegen sich Fürstenberg gern aus Dresden entfernte, war der Mangel an geistreichen Gesprächspartnern wie der König, mit dem er gern spottete. Ohnehin drängte sich der größte Teil des Hofstaats um die Majestät in Warschau, in Dresden war nur ein kläglicher Rest verblieben. Es gab daher eine Menge Gründe für Fürstenberg, aus Dresden zu fliehen, ganz abgesehen davon, daß die Protestanten an ihren hohen Festtagen wenig Lebensfreude ausstrahlten. Fürstenberg nutzte daher die Gelegenheit, einmal mehr zur Moritzburg zu fliehen, die bei scharfem Ritt nur eine knappe Stunde von Dresden entfernt lag. Hier erwartete ihn eine luxuriöse Zimmerflucht im Westflügel, in der er ungestört seiner Leidenschaft nachgehen konnte. Die Moritzburg war ein vierflügeliges, feudales Jagdschloß, maß rund achtzig Meter im Quadrat mit vier wuchtigen Ecktürmen, von Generationen sächsischer Kurfürsten immer weiter ausgebaut. Weithin sichtbar erhob sich das Schloß inmitten eines künstlich angelegten Sees auf einem aufgeschütteten Hügel, zu dem eine breite Auffahrt führte. Zum Schloß gehörten Fasanerien und diverse Waldgehege für Rot- und Schwarzwild; dazu kam ein stark abgesichertes Gelände, das der Zucht weißer Rentiere diente. Man trainierte sie, in vergoldetem Zaumzeug als Sechsspänner Kutschen und Schlitten zu ziehen. Mit diesem einzigartigen Gespann plante der König einen überraschenden Auftritt vor internationalen Gästen bei einem Fest. Das Ereignis würde seinen Ruhm um die Welt tragen, kein anderer Fürst konnte mit dergleichen aufwarten. Als Statthalter des Königs war es Fürstenbergs Pflicht, sich um den Erhalt und den geregelten Ablauf auf der Moritzburg zu kümmern. Er hatte vor, am nächsten Tag mit seiner Jagdequipage auszureiten, zu der siebzig Pferde, über einhundert Jagdhunde und einhundertzwan68
zig Jagdbedienstete gehörten, nebst der nötigen Ausrüstung. 1697 hatte er August die Jagdequipage abgekauft, als der junge König Geld für ein Diadem brauchte, das er seiner damaligen Mätresse, Aurora von Königsmark, seiner ›Göttin der Morgenröte‹, zum Geschenk machen wollte. Seine Majestät hatte ihm damit den Unterhalt für die Jäger aufgehalst und trotzdem die Gewähr, bei seinen Besuchen auf der Moritzburg eine eingespielte Jagdmannschaft zur Verfügung zu haben. Für die Überreichung des Geschenkes hatte der König ein bis in alle Einzelheiten geplantes, rauschendes Fest arrangiert, das sich über vierzehn Tage hinzog und in der würdigen Übergabe des Diadems an seine Mätresse gipfelte: In der Mitte des Sees, dem Schloß gegenüber, lag eine kleine Insel. Auf ihr hatte August ein Zelt mit üppigen SeidenDrapierungen errichten lassen, ausgelegt mit kostbaren Teppichen und quastenverzierten Kissen. Dort empfing er, als ›Sultan‹ kostümiert und umgeben von Dienern und Mohren in türkischen Phantasieuniformen, seine geliebte Aurora. Sie trat in einem Kostüm aus federleichten, weißen Spitzen auf, als ›orientalische Schneeprinzessin‹. Eine nachgebaute, ägyptische Piroge diente Aurora als Fähre, scheinbar gewichtslos bauschte sich ihr Gewand im leichten Wind. Dreimal umsegelte das schlanke Boot unter dem Applaus des Hofstaats die Insel, bevor es anlandete. Dort warf sich die ›Prinzessin‹ vor dem ›Sultan‹ zu Boden und erhielt, von Paukenschlägen und Fanfaren begleitet, das Diadem. Es klopfte zaghaft, dann noch einmal, diesmal energischer. Fürstenberg setzte sich auf. Gnade Gott, es mußte schon etwas wirklich Wichtiges sein, wenn man es wagte, ihn zu stören. Das Nachtmahl konnte nicht so schnell fertig sein. Er warf sich einen gelbseidenen Kaftan über, den er sich nach türkischem Vorbild hatte anfertigen lassen, und begab sich zum offenen Kamin. Dann griff er zur Silberklingel. Ein Kammerdiener trat ein, stolperte fast vor Aufregung. Vor sich trug er ein silbernes Tablett mit einem Brief. »Verzeiht die späte Störung, Exzellenz, ich bin untröstlich, aber hier, per Eilkurier von Seiner Königlichen Majestät aus Warschau.« Fürstenberg war mit einem Schlag hellwach. Er griff nach dem Brief. An der flüchtigen Art der Versiegelung erkannte er, daß der Brief von 69
August persönlich verschlossen worden war. Gespannt erbrach er das Siegel und trat unter einen Kerzenleuchter. Als er die wenigen Zeilen überflogen hatte, faltete er das Blatt nachlässig zusammen und warf es in den Kamin, wo es in Flammen aufging. Ein Goldmacher, da schau einer an. Er selbst war ein respektabler Alchemist und unterhielt ein erstklassiges Labor in seinem Palais in Dresden. Es wurmte ihn, daß August vor ihm von dem Kerl erfahren hatte. So ein Talent konnte in diesen Zeiten die Macht verschieben. Schon begann sich in ihm ein Plan zu formen. Nehmitz, den er vor so langer Zeit mit seinen Empfehlungsschreiben in Berlin installiert hatte, mußte aktiviert werden. Er drehte sich um, vor ihm stand Ralf mit leicht vorwurfsvoller Miene. Fürstenberg tätschelte ihm entschuldigend die Wange, Ralf verstand und zog sich zurück. Fürstenberg rief nach seinem Schreibzeug. Nehmitz mußte alles über diesen Apothekergesellen in Erfahrung bringen und herausfinden, was man in der Umgebung des preußischen Königs unternahm. Wenig später war der Brief auf dem Weg. Fürstenberg lehnte sich zurück, es war eine höchst reizvolle Aufgabe, die ihm sein König da anvertraut hatte, weitaus spannender als die geplante Jagd, wenn auch weniger ästhetisch. Schließlich war er genauso begierig auf den Goldmacher wie sein Souverän. Von Dresden aus wollte er die geheime Operation starten. Das Nachtmahl kam, geröstete Scheiben vom Fasan aufgeraspeltem, rohem Weißkohl mit einer pikanten Sauce, dazu badischer Wein, den er sich aus seiner Heimat schicken ließ. Wieder klopfte es, fast verschluckte er sich am Wein. Noch eine Eildepesche, diesmal aus Wittenberg vom Stadtkommandanten von Rosenberg. Er schrieb nach den üblichen weitschweifigen Vorreden, daß ein gewisser Johann Friedrich Böttger, dem Vernehmen nach ein Goldmacher, von einem größeren Trupp Brandenburger Gardisten bis zur Grenze verfolgt worden sei und sich nunmehr in Wittenberg aufhalte. Er erwarte, daß deren Offizier sich Order einholen und am morgigen Tag mit einem Auslieferungsersuchen vorstellig werde. Er selber ließe gerade in Erfahrung bringen, wo der in Rede stehende 70
Herr Böttger sein Quartier genommen habe, wolle aber vorerst nichts weiter unternehmen, da sich der junge Mann schon mit den bekanntermaßen aufmüpfigen Studenten angefreundet habe. Daher wolle er es vorläufig bei einer Observation belassen, bis seine Exzellenz geruhe, ihm weitere Instruktionen zukommen zu lassen. Der in Rede stehende Herr Böttger führe im übrigen ein geheimnisvolles Kästchen mit sich, in dem eine Phiole mit rubinroter Flüssigkeit sei daß er an der brandenburgischen Grenze als ›Froschblut‹ ausgegeben habe, in dem man aber sein ›Arkanum‹ vermute. Selbstverständlich habe er Seiner Kurfürstlich-Königlichen Majestät von diesem Vorgang ebenfalls Mitteilung gemacht. Was für eine grandiose Nachricht! Ein umsichtiger, vorsichtiger Mann, dieser von Rosenberg, er würde schon gut auf den kostbaren Vogel aufpassen. Damit war er den Berlinern mehr als einen Schritt voraus. Es sei denn, Friedrich I. deklarierte die Nichtauslieferung als ›unfreundlichen Akt‹. Dann konnte es zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen. Am besten, man zögerte in Wittenberg die Annahme des Ersuchens hinaus. Solange das Ersuchen nicht geöffnet war, war Berlin jede juristische Handhabe genommen. Er mußte einen Tag Zeit gewinnen. Der Stadtkommandant mußte seine Leute und die Beamten entsprechend instruieren. Fürstenberg formulierte eine entsprechende Depesche, Einzelheiten mußte sich der Stadtkommandant ausdenken. Er fügte allerdings hinzu, daß man in der kommenden Nacht Posten auch außerhalb des östlichen Stadttors postieren solle. Dann ließ er seinen Hofmarschall rufen und befahl, die vierspännige Reisekutsche und sechzehn Mann Eskorte um fünf Uhr früh bereitzuhalten. Ein Ziel gab er nicht an, vielleicht gab es auf der Moritzburg Spione, die für Friedrich arbeiteten.
*** Um acht Uhr morgens begehrte Leutnant Rebmann mit seinem Adjutanten Einlaß am Wittenberger Tor. Erst ließ man ihn zwei Stunden 71
warten, es war schließlich höchst ungewöhnlich, daß der Offizier eines anderen Landes nach Wittenberg hineinwollte. Man mußte sich Order einholen. Als man ihn dann endlich in die Stadt eskortiert einließ, erlebte Rebmann in den darauffolgenden Stunden eine Odyssee, die seine Geduld überstrapazierte. Unverrichteter Dinge verließ er am Abend Wittenberg, um die unglaubliche Behandlung nach Berlin zu vermelden. Eingefädelt hatte diese Odyssee von Rosenberg. Erst um neun war die Antwort von Fürstenberg eingetroffen, doch vorsorglich hatte er die für ein Auslieferungsersuchen zuständigen Beamten informiert. Der Plan, Zeit zu gewinnen, lag nahe. Zunächst wurde Rebmann zum Amtmann begleitet. Der hielt ihm einen längeren Vortrag, warum er als untergeordneter Beamter das Ersuchen mit dem Siegel Seiner Kurfürstlich-Königlichen Majestät nicht annehmen, geschweige denn öffnen dürfe. Darüber wurde es Mittag. Der zuständige Oberamtmann war zu Tisch. Später schickte der Oberamtmann den schon weißglühenden Rebmann zum Stadtkämmerer. Der erklärte sich für nicht zuständig, da Rebmann eine Militärperson sei. In der Stadtkommandantur hieß man ihn endlich willkommen, und er bekam sogar Erfrischungen serviert. Doch der Offizier bestand darauf, daß nur der Stadtkommandant befugt sei, den Brief zu öffnen. Eine Ordonnanz wurde losgeschickt. Bedauerlicherweise zeigte sich, daß der Stadtkommandant erst am nächsten Morgen wieder greifbar wäre. Darüber war es sieben Uhr abends geworden, und man bot Rebmann an, in der Garnison zu übernachten. Doch in Leutnant Rebmann hatte sich inzwischen eine tiefe Abneigung gegen die Sachsen und ihre Bürokratie im besonderen gebildet. Er ließ sich aus der Stadt begleiten.
*** Zu dem Zeitpunkt, als sich Leutnant Rebmann den Vortrag des Amt72
manns anhören mußte, stand Johann vor dem Haus des Dekans der medizinischen Fakultät. Er hatte beschlossen, die Bekanntschaft des Professors mit Baron Kunckel zu nutzen, und ließ dessen Grüße ausrichten. Es wirkte ebenso gut wie ein Empfehlungsschreiben, und man ließ ihn vor. Ganz offensichtlich wußte der Professor nichts von den Zeitungsmeldungen, prüfte lediglich wohlwollend Johanns medizinische Vorkenntnisse, ohne lästige Fragen zu stellen, eine einfache Angelegenheit, bei der Johann glänzte. Seiner Immatrikulation stand nichts im Weg. Beschwingt trat Johann wieder auf die Straße. Er würde Zugang zum Labor der Universität haben, die Vorlesungen dagegen waren ihm herzlich gleichgültig. In Gedanken schon wieder bei seinen Experimenten, schlenderte er die Straße hinunter, als eine bekannte Stimme ihn anrief. Es war der hakennasige Student aus der Schenke. Hermann erbot sich, ihm die Stadt zu zeigen. Es war ein sonniger Tag, wie geschaffen, um zu flanieren. Doch Johann war begierig, das Labor zu sehen, und so führte Hermann ihn direkt zur Universität. Sie betraten das ehrwürdige Universitätsgebäude. Johann war durch dessen düsteren Ernst beeindruckt. Dunkles Holz dominierte, die alten Dielen knarrten. Generationen von Professoren und Studenten hatten die Stufen ausgetreten, die Stühle in den vergangenen zweihundert Jahren abgewetzt. Doch seine Ehrfurcht legte sich, als er die dürftige Ausstattung des Labors erblickte. Es fehlte an Werkzeugen und Tiegeln, die er für seine alchemistischen Experimente brauchte. Das war Wasser auf Hermanns Mühlen, der nichts von der ganzen Altehrwürdigkeit hielt. Er schwärmte Johann von Leipzig vor, an deren Universität die fortschrittlichsten Juristen aus allen deutschen Ländern unterrichteten, und das sogar auf deutsch. »Und warum bist du dann nicht dort?« warf Johann ein. »Eine unziemliche Liaison …« Hermann grinste und zuckte mit den Achseln. »Hast du sie geliebt?« 73
»Ach was, Liebe ist eine Krankheit. Ich danke Gott, daß sie mich noch nie erwischt hat. Man ist nicht mehr Herr seiner selbst. Kann es etwas Unwürdigeres geben?« Johann fiel plötzlich die schöne Unbekannte in Berlin wieder ein. Wie wäre es, wenn er diese Frau tatsächlich in den Armen halten könnte? Ein eigentümliches Kribbeln breitete sich in seinem Körper aus. Versonnen widersprach er: »Ich glaube, es kann eine wunderbare Krankheit sein.« Spät am Abend wankten sie Arm in Arm singend die Gasse hinunter zu Johanns Gasthaus, dem ›Goldenen Löwen‹. Sie sangen – laut und falsch –, bis ein Fenster aufging und jemand energisch »Ruhe«! brüllte. Johann blieb stehen und reckte den Arm in die mondhelle Nacht. »Noch nie hab' ich mich so frei gefühlt … Schau … Ich ziehe die Freiheit in meine Lungen ein … so …« »Stadtluft macht eben frei«, nuschelte Hermann. »Ein goldenes Zeitalter wird anbrechen, jawoll … Durch mich.« Hermann verbeugte sich. »Natürlich, Euer Gnaden … Wir sind vor Eurem Schloß, darf ich bitten? Eure Mätresse erwartet Euch schon … sehnsüchtig.« Johann fiel beinah aufs Pflaster, als er sich ebenfalls verbeugen wollte, und kam schwankend wieder hoch. »Ich arbeite dran, ich arbeite dran … Gute Nacht, danke für den schönen Tag, Herr Baron.« Damit öffnete er die Haustür, während Hermann weitertorkelte. Der Hausflur war stockdunkel, Johann fluchte. Dann ging alles rasend schnell. Er bekam einen Knebel in den Mund, die Haustür wurde zugestoßen. Ein Sack wurde ihm über den Kopf gestülpt. Johann schlug und trat um sich, traf wohl auch, wie er an einem Aufstöhnen bemerkte. Aber es fiel kein Wort. Kräftige Arme umklammerten ihn, Stricke wurden ihm um seinen Oberkörper geschlungen, dann um die Beine, bis man ihn fest verschnürt hatte. Als er sich trotzdem nach Kräften weiter wand und aufbäumte, bekam er einen Schlag auf den Kopf.
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Das Quietschen eines Torflügels weckte Johann aus der Ohnmacht. Johann versuchte, Klarheit in seinen benebelten Kopf zu bekommen und seine Angst hinunterzuwürgen. Sich wehren war zwecklos, brachte ihm höchstens noch einen Schlag auf den Kopf ein. Vier Männer glaubte er an den Schritten unterscheiden zu können. Weiter und weiter trugen sie ihn, dann schien der Weg uneben zu werden. Das konnte nur eins bedeuten: Sie waren aus der Stadt heraus. Jemand hatte die Torwachen bestochen. Der Preußenkönig hatte es doch noch geschafft. Sie näherten sich dem Schnauben von Pferden, eine Menge Hufe scharrten. »Schön ruhig bleiben, ja, du hast keine Chance«, murmelte eine Stimme. Johann blieb ruhig. Sie nahmen ihm die Fesseln ab und schoben ihn in eine Kutsche. Dann befreite man ihn von Sack und Knebel. Sein Reisesack fiel ihm vor die Füße, dann sein Degen. Ein Klopfen, und die Kutsche fuhr an. Gegenüber im Dunkel saß ein Mann, an dessen makellos schwarzen Schuhen goldene Schnallen im Mondlicht glänzten. Die Schuhe paßten nicht zu einem Brandenburger Offizier. Der Mann hatte offensichtlich keine Eile, sich vorzustellen. Johann räusperte sich. »Sind … der Herr … aus Berlin?« »Ich hoffe, die ganze Prozedur war nicht zu unangenehm, Herr Böttger. In Brandenburg hat man tausend Taler auf Ihren Kopf ausgesetzt … Ich denke daher, daß Sie meiner ungewöhnlichen Maßnahme Verständnis entgegenbringen.« »Ja?« Johann wollte sich weder beeindrucken lassen, noch durfte der andere seine Angst spüren. »Seine Königliche Majestät, August II. von Polen und Kurfürst von Sachsen, läßt Ihnen ausrichten, daß er sie allergnädigst protectoriert und Sie daher unbesorgt sein können.« Augusts Mann machte eine Pause. Langsam wurde Johann klar, daß sein Gegenüber die Situation genoß. Aber Johann verspürte wenig Lust, nur der Spielball zu sein. »Bitte richten Sie Seiner Kurfürstlich-Königlichen Majestät aus, daß ich hocherfreut über diese Versicherung bin … Darf ich fragen, wie 75
ich zu der Ehre komme, die Sie zu Ihrer ›ungewöhnlichen Maßnahme‹ veranlaßt hat?« platzte es unwirsch aus ihm heraus. Wieder trat eine Pause ein, dann kam die Antwort wie ein Geschoß. »Gold.« Was sonst? Johann schalt sich einen Idioten. Das war sein benebeltes Gehirn. Es war wichtig, Haltung zu bewahren. »Dürfte ich erfahren, mit wem ich die Ehre habe?« Statt einer Antwort zog der Unsichtbare die Vorhänge zu und sperrte das Mondlicht aus. Ein Streichholz flammte auf, und der Mann zündete die Kerze einer Laterne an, die von der Decke der Kutsche herabbaumelte. Sein Gegenüber war Anfang Vierzig, hatte scharf geschnittene Gesichtszüge und sah blendend aus. Er war eleganter gekleidet, als Johann es je gesehen hatte. »Mein Name ist Fürst Anton Egon von Fürstenberg, Statthalter Seiner Kurfürstlich-Königlichen Majestät in Sachsen.« Er begleitete seine Vorstellung mit einem angedeuteten Neigen des Kopfes. Johann war beeindruckt und neigte gleichfalls den Kopf. »Ich möchte mich auch bei Ihrer Exzellenz für die Fürsorge bedanken.« Das kam ganz unwillkürlich. Die Ausstrahlung des Fürsten zwang einen dazu, bestes Benehmen zu zeigen. Der mächtigste Mann Sachsens bemühte sich um ihn, wenn auch als Entführer. »Sie werden bemerkt haben, daß diese Mission absolut geheim ist. Vergessen Sie Ihren Namen und Ihre Occupation. Sie heißen ab jetzt ›Monsieur le Baron‹. Man soll Sie in Dresden für einen gewöhnlichen Gast halten. Kein Wort über Alchemie, es sei denn, ich habe es vorher gestattet. In gewissem Sinne, denke ich, ist dies in unser beider Interesse.« »Exzellenz denken an die Brandenburger?« »Nicht nur die. Die Zeitungsmeldungen scheinen Ihren Ruf ziemlich weit verbreitet zu haben.« Johann fühlte sich geschmeichelt. »Exzellenz können sicher sein, daß ich gern Ihrem Wunsch nach Geheimhaltung nachkomme, das schwöre ich.« 76
Ton und Ausdruck des Fürsten waren während ihrer Unterhaltung freundlicher geworden. Johann vermeinte sogar, eine gewisse Sympathie für sich darin zu lesen, und begann sich zu entspannen. »Sie sind ein stattlicher junger Mann, Herr Böttger.« »Danke, Exzellenz.« »Erzählen Sie doch von sich, das wird uns die lästige Reisezeit verkürzen.« Johann überlegte einen Moment. Der Fürst hatte die Situation weidlich ausgekostet, nun lag es an ihm, mit gleicher Münze zurückzuzahlen. »Ich stamme aus einer Familie von Münzmeistern. Man könnte sagen, ich hätte drei Väter …« Der Fürst hob nur die Augenbrauen. »Nach den Aussagen meiner Mutter haben sich zwei Väter um meine Vaterschaft gestritten: Der Münzmeister Friedrich Adam Böttger und Lascarius, ein geheimnisvoller Mönch, ein Archimandrit aus Griechenland. Kurz nach meiner Geburt verschwand Lascarius spurlos, und mein Vater starb, als ich ein Jahr alt war … Meine Mutter war sich nie sicher, wer es war. Jedenfalls widersprach sie sich, je nach Stimmungslage. Kennengelernt habe ich jedoch nur meinen Stiefvater, einen Herrn Thiemann, der mich wie seinen eigenen Sohn vergötterte …« Munter mischte Johann Erfundenes und Wahres, wie es ihm gerade einfiel, bis er bat, sich erleichtern zu dürfen. Die Wittenberger Biere drängten. Der Weg führte direkt an der Elbe entlang. Der Mond lockte Johann zum Ufer, und er pinkelte in den ruhigen Strom. Glitzernde Kreise bildeten sich. Die Fahrt endete im Morgengrauen. Man nahm in einem versteckten Bauernhof fernab von der Hauptstraße Quartier, um nicht von eventuell herumstreunenden Brandenburgern gesehen zu werden. Doch Böttger fand nicht in den Schlaf. Wunschvorstellungen wechselten mit furchterregenden Zukunftsvisionen. In der folgenden Nacht ging es weiter, und am nächsten Morgen nahm man wieder ein verstecktes Quartier. In der dritten Nacht erreichten sie endlich Dresden. 77
Als Johann erwachte, fand er sich zwischen Seidenlaken in einem Alkoven. Todmüde war er bei der Ankunft ins Bett gefallen. Jetzt, bei Tageslicht, staunte er über den Luxus, der ihn umgab, strich mit der Hand über die rotseidene Tapete, zählte acht in Gold gefaßte Spiegel im Raum. Es war also doch kein Traum gewesen. Auf einem Fauteuil hatte man frische Kleidung für ihn bereitgelegt: einen blauen Brokatrock mit passender Weste, Manschetten zum Einknöpfen, ein weißes Halstuch mit durchbrochenen Spitzen, seidene, weiße Strümpfe. Auf einem Ständer prunkte eine Allongeperücke, wie er sie sich schon immer erträumt hatte. Das machte es ihm leicht, die Entführung zu vergeben. An der Waschschüssel im Schrank machte er sich frisch und verwandelte sich peu à peu in Monsieur le Baron. Er bewunderte sich gerade im Spiegel, als der Fürst eintrat. Prüfend ging er um Johann herum und zupfte zum Schluß das Halstuch zurecht. »Die Spitzen immer schön auffalten, der Schneider muß die Ärmel noch etwas kürzen.« Der Fürst trat ans Fenster und schaute hinaus. Johann bewunderte seine Haltung. War die Eleganz des Fürsten erlernbar? Er versuchte, ebenso lässig zu stehen, als nach diskretem Klopfen ein Diener mit großem Tablett hereinkam. »Das Frühstück für Monsieur le Baron, Exzellenz.« »Stell es dort ab, Albert, danke«, befahl der Fürst. »Danke«, beeilte sich auch Johann zu sagen, bevor der Diener sich zurückgezogen hatte. »Albert ist für Sie eingeteilt. Wenn Sie Wünsche haben, hier ist die Klingel, die ihn herbeiruft.« Der Fürst begutachtete die Platten mit Fleischscheiben und schien zufrieden. Er wies auf eine Weinkaraffe. »Sie finden hier ein wenig Wein aus meiner Heimat, einen Badischen. Genießen Sie ihn mit Bedacht, es ist ein gutes Gewächs.« »Ich werde ihn auf das Wohl Ihrer gnädigen Exzellenz trinken.« »Ich schicke Ihnen nachher noch einen Juristen. Sie werden mit ihm ein Schreiben aufsetzen, in dem Sie darum ersuchen, unter den Schutz 78
Seiner Kurfürstlich-Königlichen Majestät Augusts II. aufgenommen zu werden, da Ihr Geburtsort Schleiz in Thüringen liegt, also zu Sachsen gehört. Ist Ihnen das recht?« »Selbstverständlich, Exzellenz, gern.« Johann war es recht. Er war im Paradies gelandet. Kaum war sein Gastgeber aus der Tür, brach Johann in Jubel aus. Was war das für ein gewaltiger Sprung von Berlin zu alldem hier. Kein König konnte vornehmer wohnen. Er machte kleine Trippelschritte, einen höfischen Tanz nachahmend, und stellte sich vor, wie die federleichte Hand einer Dame – natürlich seiner ›Unerreichbaren‹ – auf seiner rechten Führungshand ruhte. Als er sich vor seiner imaginären Partnerin verneigte, traf ihn ein Strahl der Morgensonne. Er trat ans Fenster und öffnete es. Das also war Dresden. Rechts hinter der Elbe lag die Altstadt hinter mächtigen Wallanlagen, links die Neustadt. Das Fenster lag im ersten Stock und ging auf eine breite Straße, kleine Bäumchen deuteten an, daß dies einmal eine prächtige Allee werden sollte. Eine dünne Schneeschicht bedeckte den Boden. Aus Richtung der Neustadt näherten sich zwei Reiterinnen, beide in Capes, die Pelzschals ins Gesicht gezogen. Neugierig beugte er sich ein wenig hinaus. Eine der Damen ritt im Herrensattel, Sachsen war wirklich fortschrittlich. Sie näherten sich im Bogen dem Palais des Fürsten. Gespannt wartete Johann, daß er mehr von den Damen zu sehen bekommen würde. Am Eingang zum Palais schräg unter seinem Fenster eilten Lakaien die Treppe hinunter, um die Pferde der Damen zu übernehmen. Johann konzentrierte sich auf die Dame im Herrensattel, die einen kleinen, silbrig schimmernden Hut trug. Sie war jung, soviel konnte er trotz des Pelzschals sehen, der nur Augen und Stirn freiließ. Genau unter ihm saß sie ab, und er beugte sich weiter hinaus. Da rutschte seine rechte Hand ab, und eine Manschette segelte genau vor ihre Füße. Sie sah zu ihm hoch. Verzeihung zu sagen schien ihm dümmlich, also leistete er für seine Ungeschicklichkeit mit einer unbestimmten Geste Abbitte. Er hatte sich blamiert. Ihre Stirn kräuselte sich, während sie ihn weiter anblickte. Irritiert über den steten Blick, verneigte er sich. 79
Als er wieder zu ihr schaute, hatte sie den Pelzschal gesenkt, der ihr Gesicht bisher verborgen hatte. Und da traf es ihn wie ein Schlag, und das Blut schoß ihm ins Gesicht. Leise und verhalten lachte sie, dieses Biest, die unbekannte Schöne aus Berlin. Er wollte etwas sagen, doch kein Wort kam über seine Lippen. Ein spöttisches Nicken von ihr, das war alles. Sie wandte sich ab und schritt die Treppen zum Eingang hoch. Später gestand sich Johann ein, daß er wahrscheinlich selten ein einfältigeres Gesicht gezogen hatte. Der ganze Blickwechsel hatte nur wenige Momente gedauert. Ein Lakai hatte sich der Manschette erbarmt, Albert, der Diener, hatte sie ihm gebracht. Johann knöpfte sie diesmal sorgfältig ein. Zwischen ihm und der Unbekannten klaffte ein unüberbrückbarer Standesunterschied. Noch war er bloß ein Apothekergeselle. Aber es sollte doch mit dem Teufel zugehen, wenn es ihm nicht bald gelang, zu Recht den Titel Monsieur le Baron zu tragen.
Fünftes Kapitel
C
harlottes Gedanken waren noch immer bei Böttger, als sie hinter der Gräfin Krahl das fürstliche Palais betrat. Sie nahm nur am Rande wahr, wie ihnen das Spalier der Dienerschaft formvollendet Capes, Schals, Hüte und Handschuhe abnahm und an Pagen weiterreichte. Gedankenverloren entledigte sie sich der Winterkleidung, während sie sich mit dem Grund für Böttgers Anwesenheit in Dresden beschäftigte, mit seiner feinen Garderobe. Es war erst vier Tage her, seit sie die Meldung in der ›Posaune‹ gelesen hatte – und schon war er Gast des Fürsten. Eine erstaunlich rasante Karriere, obwohl ein Goldmacher sicher überall ein gefragter Mann sein mußte. Dennoch hätte sie sich dafür ohrfeigen können, daß sie den Schal gesenkt hatte, um sich Böttger zu erkennen zu geben. Sie war hier, um Seiner Exzellenz 80
dem Statthalter vorgestellt zu werden, den ersten Schritt in die feine Hofgesellschaft zu tun, um zu reüssieren. Da paßte es nicht, einen kleinen Apothekergesellen wie einen alten Bekannten zu grüßen. Das roch nach Provinz. Entschlossen vertrieb sie Böttger aus ihrem Kopf und schaute sich um. Über den Türstöcken in der Halle schwebten Putten aus Stuck mit ihren Füllhörnern, aus denen sich verschwenderische Ströme von Trauben ergossen. Das Palais, äußerlich ein Renaissance-Bau, war innen aufs feinste à la mode in Barock gestaltet. Der Boden bestand aus einem verschlungenen Muster aus rotem und ockerfarbenem Marmor. Eine dunkelrote Marmortreppe schwang sich im Bogen zur Galerie, die der Haushofmeister vor ihnen hinaufstakste. Marmorstatuen standen zwischen den Pilastern. Alles kündete von der Macht und dem Reichtum des Fürsten. Das Vorzimmer dagegen war nicht umgebaut und besaß noch die alte, dunkle Holztäfelung. Der Haushofmeister entschuldigte den Fürsten, der noch mit dringenden Angelegenheiten beschäftigt sei, und ließ sie allein. Zwei Lakaien schlossen hinter ihm die Tür zum Audienzzimmer. Die Gräfin Krahl ließ sich aufseufzend auf einer schmalen Sitzbank nieder, deren Lehne von unzähligen Rücken blankgescheuert war. Charlotte zog es zum riesigen Kamin und tat, als wärme sie sich die Hände, blickte in die Flammen, ohne sie zu sehen. Die Begegnung mit Böttger hatte ihr inneres Gleichgewicht gestört. Diese Bekanntschaft war nicht standesgemäß und konnte alles verderben. Sie würde vorgeben, den Alchemisten nicht zu kennen, was ja eigentlich auch stimmte. Falls es zu einer Vorstellung kam, würde Böttger hoffentlich die Contenance haben, die Begegnung in Berlin nicht zu erwähnen. »Wer war dieser junge Herr am Fenster?« kam es auch schon neugierig von der Sitzbank, »und warum senkten Sie den Schal, Madame?« fragte die Gräfin vergnügt. Charlotte hatte inzwischen eine passable Antwort. »Meine Geste war wohl ein wenig unbedacht, Gräfin … Ich glaubte, in dem jungen Mann 81
jemanden zu erkennen, dem ich bei der Hochzeit der Prinzessin Amélie in Wolfenbüttel bei einem Tanz begegnet bin. Leider ließen mir damals meine Pflichten keine Zeit, den Kavalier näher kennenzulernen. Sie wissen, wie es bei solchen Hochzeiten zugeht.« Die Gräfin nickte mitfühlend. Als Hofdame einer Prinzessin war man bei einer Hochzeit über und über mit Arbeit eingedeckt. Die vielen unumgänglichen Kleiderwechsel, das fortwährende Umsorgen der Braut, all das hielt eine Hofdame ständig in Atem. »Wieso haben Sie damals nicht versucht, seinen Namen zu erfragen?« »Ich war in einen Kammerherrn verliebt und nicht weiter interessiert«, log Charlotte und errötete. Schnell fuhr sie fort: »Als sich der Herr im Fenster weiter vorbeugte und seiner Manschette hinterherstarrte, sah ich, daß ich mich getäuscht hatte. Hoffentlich habe ich den jungen Mann nicht zu sehr verwirrt.« Die Gräfin seufzte. »Ach ja, die Liebe. Jetzt scheint sie den Herrn am Fenster getroffen zu haben. Ich muß gestehen, daß ich Sie beneide. Solch einen leidenschaftlichen Blick habe ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen, und ich wünschte, dieser Blick hätte mir gegolten. Ich würde mir so einen Verehrer nicht entgehen lassen.« »Sie vergessen, Gräfin, daß ich erst seit einem halben Jahr verheiratet bin – was würde man von mir halten?« »Ja, ja, der Ruf.« Mehr amüsiert als beeindruckt faltete die Gräfin die Hände im Schoß. »In jedem Fall werden wir dem Fürsten entlocken, welchen unbekannten Gast er da beherbergt. Ich würde ihn gern zu meinen abendlichen Zusammenkünften einladen. Er sieht fabelhaft aus.« Wieder huschte ein prüfender Blick zu Charlotte hinüber, die das nicht bemerkte, bevor die Gräfin träumerisch hinzusetzte: »Vielleicht ist er ein Prinz auf Kavalierstour durch Europa.« Charlotte verspürte einen kleinen Stich im Herzen. Auf einmal empfand sie Eifersucht. Hatte sich die Gräfin in diesen Böttger verguckt, oder sollte sie nur aus der Reserve gelockt werden? »Wenn er auf der Durchreise ist, Gräfin, wird er wenig Gelegenheit haben, Herzen zu brechen.« 82
Doch die Gräfin strahlte unbekümmert. »Um Herzen zu entflammen, genügen Sekunden. Ein so stattlicher Bursche. Ich sehe schon die dahinschmelzenden Damen vor mir.« Sie klatschte sich vergnügt in die kleinen, dicken Hände. Das Einfädeln von Amouren war ihr Steckenpferd. Ihre eigenen verstand sie allerdings geschickt geheimzuhalten. Nur ein einziges Gerücht über eine Liaison der Gräfin Krahl war Charlotte zu Ohren gekommen. Es bezog sich auf den mächtigen Kanzler des Königs, Graf Haxlingen, den Charlotte noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Vor drei Jahren war Graf Krahl gestorben, der langjährige Generalfeldmarschall der sächsischen Armee. Nach dem obligatorischen Trauerjahr hatte die Gräfin befunden, daß sie mit fünfunddreißig für ein Leben ohne galante Abenteuer noch zu jung wäre. Tatsächlich hatte sie es bemerkenswert gut verstanden, sich ihre jugendliche Frische zu bewahren; überall wohlgepolstert, wirkte sie wie eine fröhliche Putte, deren Augen gern vor Übermut sprühten. Eine begehrenswerte Frau, mit der man sich gut amüsieren konnte. Die Türen zum Audienzraum wurden aufgerissen, und es fiel Charlotte schwer, sich auf den Zweck ihres Besuchs zu konzentrieren. Der Duft von Rosenwasser schwebte ihnen entgegen. Fürstenberg erwartete die Damen in aufgeräumter Stimmung. Die Gräfin war gefragte Gastgeberin der in Dresden verbliebenen Aristokraten, seine Informantin über allen Klatsch und Tratsch, den er als Schwabe und Katholik von der sächsischen Fraktion nicht zu hören bekam. Die Vertrautheit zwischen Fürstenberg und der Gräfin beruhte auf einer Begegnung, die äußerst kompromittierend begonnen hatte. Eines Abends hatten sie sich beide unversehens im Salon eines hübschen jungen Mannes gegenübergestanden. Der Raum wurde größtenteils von einer orientalischen Kissenlandschaft eingenommen, die keinerlei Zweifel über den Zweck ihrer Anwesenheit aufkommen ließ. Da Ausreden sinnlos waren, übertrafen sich beide in höflichen Wendungen, dem anderen den ›Vortritt‹ zu lassen. In diesem Moment tänzelte der Liebhaber nichtsahnend in einer kurzen römischen Toga herein, den Körper 83
wohlriechend eingeölt. Blankes Entsetzen überfiel ihn angesichts zweier Besucher, und er blieb wie angewurzelt stehen. Die Situation war so grotesk, daß die Gräfin und der Fürst gleichzeitig in Lachen ausbrachen. Übermütig ließen sie sich in die Kissen sinken, und der Liebhaber verwöhnte sie mit Wein und kleinen Leckereien. Eine laszive Stimmung breitete sich aus, der sie sich nicht entziehen mochten und so glitt der Abend sanft hinüber in wunderbare, gelöste Liebesspiele. Immer, wenn Fürstenberg die Gräfin traf, stand ihm diese wunderbare Nacht vor Augen, die ein einzigartiges Vertrauen zwischen ihnen begründet hatte. Trotz seiner Ungeduld, mit Böttger ins Labor zu gehen, freute er sich über den Besuch der Gräfin Krahl und zupfte nur ein wenig ungeduldig an den Manschetten. In ihrer Ankündigung hatte sich die Gräfin darauf beschränkt, Frau von Schönberg als geistreich und vertrauenswürdig zu beschreiben. Fürstenberg hatte sie sich als eine zähe Ziege vorgestellt. Nun war er überrascht, eine so junge und anmutige Frau vor sich zu haben. Mit einem kleinen Seitenblick zur Gräfin verneigte er sich vor Charlotte und nahm elegant die dargebotene Rechte. »Madame, es ist ein Jammer, daß mir nicht jeden Tag ein solch bezaubernder Anblick vergönnt ist, den Herr von Schönberg wohl jeden Tag genießen kann.« Charlotte war tief in einen Knicks gesunken und gab lächelnd zurück: »Es ist nur das Licht, das von Eurer durchlauchten Exzellenz ausgeht, und sich in mir widerspiegelt.« Um die Mundwinkel Fürstenbergs zuckte es kurz, dann wandte er sich zur Gräfin. »Liebe Gräfin, seien Sie bedankt für Ihren Besuch, der mir so unverdient die charmante Gegenwart der zwei schönsten Damen Dresdens beschert.« Die Gräfin erhob sich aus ihrem Knicks und bemerkte trocken: »Wie schön, daß die Leuchtkraft Eurer Exzellenz Ihnen die Augen trübt und mich alte Frau so schmeichelhaft erscheinen läßt.« Beide lachten fröhlich, Charlotte fiel vorsichtig ein. Sie war es nicht gewohnt, daß man sich derart ungeniert über die üblichen Höflichkeitsfloskeln amüsierte. 84
Fürstenberg klatschte kurz in die Hände. Sofort erschienen vier Diener mit Gläsern, Wein und Marzipangebäck. Kaum saßen sie, bat Fürstenberg die Gräfin zu berichten. Genüßlich breitete die Gräfin den neusten Klatsch aus, berichtete von Amouren und Mätressen. Die Gräfin und der Statthalter waren so sehr in dieser Welt zu Hause, daß häufig Andeutungen genügten, eine Geheimsprache fast. Da Charlotte die meisten Namen nichts sagten, fühlte sie sich ein wenig überflüssig und begann den Raum zu betrachten, die hellen Tapeten, die mit chinesischen Motiven bemalt waren. Bunte Vögel saßen dort im Blätterwerk, und Charlotte ertappte sich bei der Vorstellung, Fürstenberg und die Gräfin zwitscherten sich ihre Nachrichten in der unverständlichen Sprache der Vögel zu. Ihr Blick wanderte zur Decke. Rechts oben entstieg ein wild dreinschauender Neptun dem Meer, links gegenüber eilte ein muskulöser Merkur durch die Wolken, perspektivisch so geschickt gemalt, daß der Eindruck einer hohen gewölbten Decke entstand. Unvermutet sprach der Fürst sie an. »Sie sind, wie mir scheint, eine Bewunderin der Malerei, Madame Schönberg?« »Die Figuren sind höchst kunstvoll ausgeführt, besonders der wilde Neptun gefällt mir. Ist es ein sächsischer Maler?« »Ich habe ihn aus Italien kommen lassen, ein gewisser Corbacci.« »Es ist stark im Ausdruck. Ich wünschte mir auch in unserem Hause so ein Meisterwerk.« Aus ihrer Stimme klang kein Neid, sondern wirkliche Bewunderung. Fürstenberg fühlte sich geschmeichelt. »Auch Ihr Gemahl, Madame, wird sicher bald mehr Zeit haben, um sich dem Ausbau seines Hauses zu widmen.« Und um Herrn von Schönberg zu entschuldigen, fuhr er fort: »Noch muß er bei der Einführung seiner neuen Steuer, die unserer Königlichen Majestät so am Herzen liegt, gegen viele Widerstände beim Adel kämpfen, doch das dürfte bald abgeschlossen sein.« Charlotte warf Fürstenberg einen kurzen, dankbaren Blick zu. »Haben es nicht alle neuen Ideen am Anfang schwer, Exzellenz? Zumal wenn alte Privilegien davon berührt werden? Diese Verbrauchssteu85
er, Exzellenz, ist in meinen Augen eine geniale Idee, gerechter als jedes bisherige Steuermodell. Die Generalakzise erhält auch weit mehr Zustimmung, als es den Anschein haben mag.« »Wie meinen Sie das?« Fürstenberg lehnte sich scheinbar interessiert vor, ein kleiner arroganter Zug umspielte seinen Mund, der Charlotte ärgerte. Mit Bestimmtheit sah sie ihm daher in die Augen, als sie fortfuhr: »Die Städte, Exzellenz, die Manufakturen und der Handel kommen glänzend mit dem neuen System zurecht. Sie können besser im voraus kalkulieren, weil die Steuer auf jede Ware genau festgelegt ist und sie nicht mehr einer unvorhersehbaren Abgabenwillkür unterworfen sind. Nur haben ihre Stimmen in der Ständevertretung nicht das Gewicht, das ihnen nach ihrer wirtschaftlichen Potenz eigentlich zusteht, weil der hohe Adel und die von ihm abhängige Ritterschaft die Versammlung dominieren. Und die Stimmen der Universitäten folgen ihnen nach, weil sie um ihre Finanzierung fürchten. Die Vertreter der Kirche sind mit der Materie überfordert, und daher stehen die Städte, die den Handel vertreten, meist alleine da. Wenn Sachsen aber blühen soll, ist diese Art Steuer der richtige Weg.« Am beifälligen Nicken des Statthalters sah Charlotte, daß es ihr gelungen war, ihn zu beeindrucken. Fürstenberg wandte sich zur Gräfin Krahl. »Meine liebe Gräfin, Sie haben mir wirklich einen großen Gefallen getan, mir Frau von Schönberg vorzustellen, die so imponierend die Arbeit ihres Gemahls zu verteidigen weiß. Auf Ihr Wohl, Madame von Schönberg.« Achtungsvoll hob er sein Weinglas und deutete eine Verneigung zu Charlotte an, die ebenfalls ihr Glas hob und die Verneigung bescheiden erwiderte. »Das Kompliment, Eure Exzellenz, geht an Euch zurück. Nicht alle Herren schätzen es, wenn wir Frauen uns gestatten, selbständig zu denken.« Charlotte jubelte innerlich. Sie wußte, daß sie sich bei Fürstenberg eine gute Position geschaffen hatte. Auch am Hof. Niemand konnte es sich leisten zu übersehen, wer in der Gunst des Statthalters Seiner Majestät stand, auch nicht seine Feinde. Ungeduldig hatte die Gräfin Krahl den Austausch der Artigkeiten 86
abgewartet. Da der offizielle Teil ihres Besuchs erledigt war, brannte sie darauf, ihre Neugier bezüglich des ominösen Mannes am Fenster zu stillen. »Exzellenz, auch mir könnten Sie die Freude einer neuen Bekanntschaft machen. An einem Fenster im ersten Stock bemerkte ich bei unserer Ankunft einen mir unbekannten Kavalier. Darf man fragen, wer dieser ehrenwerte Gast ist, den Sie uns vorenthalten?« Charlotte senkte den Kopf, damit ihr Gesicht nicht ihre Neugier verriet. Fürstenberg zögerte. »Ein Ihnen unbekannter Kavalier?« Er überlegte. »Hatte er einen dunkelblauen Brokatrock an?« »Genau, Exzellenz«, strahlte die Gräfin. Der Fürst schüttelte mißbilligend den Kopf. »Ich fürchte, daß sich einer meiner Pagen einen Scherz erlaubt hat. Er hat sich wohl heimlich einen abgelegten Rock von mir übergestreift, eine ziemliche Frechheit. Verzeihen Sie bitte, daß sich dieser Lümmel vor Ihnen aufspielte. Ich werde dem nachgehen, Gräfin.« Charlotte war froh, den Kopf gesenkt zu haben, andernfalls wäre ihre maßlose Verblüffung offenbar geworden. Aus den Augenwinkeln sah sie, daß Fürstenberg zur Gräfin schaute, die gutmütig bemerkte: »Verfahren Sie nicht allzu streng mit Ihrem Pagen, immerhin ist er ein hübscher Bursche. Nicht nur wir Damen putzen uns gern heraus.« Dabei zwinkerte sie ihm zu. Doch Fürstenberg reagierte ungehalten. »Es zeugt von einem schwachen Charakter, Gräfin, wenn man sich etwas anmaßt. Man sollte seinen Platz kennen.« Überrascht nickte die Gräfin Krahl schließlich beifällig. Charlotte aber überlegte, ob es gut oder schlecht für den Alchemisten war, daß Fürstenberg ihn verleugnete. Wahrscheinlich war sie der einzige Mensch in der Stadt, der um den Goldmacher wußte – außer Fürstenberg natürlich. Sie teilte nun ein Geheimnis mit dem Statthalter, und plötzlich erkannte sie die Tragweite dieser Situation. Was verbarg sich hinter der Geheimnistuerei des Fürsten? Was bedeutete es für Böttger? Sie gestand sich ein, daß es ihr nicht gleichgültig war. Vielleicht aber konnte ihr das Wissen um seine Identität noch einmal nützlich sein – oder ihm. 87
Nachdem er die Damen verabschiedet hatte, sah Fürstenberg ihnen vom Fenster aus nach. Diese Frau von Schönberg war etwas Besonderes. Geschmack für Kunst konnte man von einer Dame erwarten, nicht aber derart klare Vorstellungen von Zusammenhängen zwischen Politik und Wirtschaft. Sie war nicht nur schön. Sie hatte auch Verstand. Er würde alles daransetzen, sie zu seiner Verbündeten zu machen. Allerdings hatte das noch Zeit. Er würde der Gräfin empfehlen, sich Frau von Schönberg warmzuhalten. Der Augenblick für ihren Auftritt war noch nicht gekommen. Aber wenn Seine Majestät in Dresden war … August liebte starke Frauen.
Als Fürstenberg wenig später zu Böttger ins Zimmer trat, stürmte der sofort auf ihn zu. »Exzellenz, haben Sie nicht gerade überaus charmanten Besuch bekommen …« »Das ist genau der Grund, warum ich mit Ihnen im höchsten Maße unzufrieden bin. Haben Sie mit den Damen gesprochen?« »Nein, nichts dergleichen, ich stand nur am Fenster, um mir Dresden anzuschauen. Die jüngere der beiden Damen, wer ist sie? Sie war so voller Anmut.« »Sie wissen, daß Ihr Aufenthalt absolut geheim bleiben muß. Und Sie? Sie stehen winkend am Fenster. Sie verspielen Ihren Kredit, Monsieur.« Böttger reagierte eigensinnig. »Weder habe ich meinen Namen genannt, Exzellenz, noch meine Occupation in irgendeiner Weise preisgegeben. Ich stand am Fenster, mehr nicht. Wollen Sie mir das verbieten?« Er unterstrich seine Worte mit einem kurzen, verächtlichen Lachen. »Wollen Sie mir ernsthaft vorwerfen, daß ich eine Frau bewundere?« Fürstenberg wurde noch ungehaltener. »Ah ja? Kann der Monsieur einen außerordentlichen Rang vorweisen?« Böttger starrte ihn angriffslustig an. »Wie viele Goldmacher haben Sie, Exzellenz?« 88
Sie maßen sich mit Blicken, keiner bereit nachzugeben. Schließlich knurrte Fürstenberg: »Seien Sie nicht unbedacht, junger Freund. Die Gunst des Königs kann schneller dahin sein, als sie gekommen. Das gilt auch für meine.« Böttger änderte die Taktik. In gespielter Verzweiflung schüttelte er den Kopf und hob die Augen zum Himmel. »Man darf doch den Namen der Sonne nennen, auch wenn sie weit über uns steht, Exzellenz, also verraten Sie mir, wer diese bezaubernde junge Dame war – bitte.« Fürstenberg seufzte. »Die Gemahlin unseres Finanzministers, Charlotte von Schönberg. Wie Sie sehen, ist die Entfernung tatsächlich sehr groß.« »Und doch, Exzellenz, war sie nur wenige Meter von mir entfernt.« Böttgers Augen leuchteten träumerisch. »Charlotte …« »Vergessen Sie die Dame besser.« Böttger machte einige Schritte zum Fenster, wie um das Bild, das er dort gesehen hatte, noch einmal heraufzubeschwören. Dann drehte er sich zurück. »Ich glaube, sie liebt mich.« Fassungslos streckte Fürstenberg den Kopf vor. »Was?« »Was wäre denn verwerflich daran? Sie lächelte anmutig, winkte mir zu. Auch der Ausdruck ihrer Augen … Glauben Sie mir, Exzellenz, es stand Ermutigung darin.« Fürstenberg haderte einen Moment mit sich, schüttelte dann energisch den Kopf. »Das reicht jetzt. Das wird Konsequenzen haben.« Er machte ein paar Schritte zur Tür, wandte sich dann noch einmal um. »In einer Stunde lasse ich Sie abholen, Monsieur. Wir werden dann in mein Labor gehen. Ich brenne darauf, mit eigenen Augen zu sehen, wovon die Zeitungen berichteten. Bitte bereiten Sie sich darauf vor.« Doch Böttger war nicht in der Stimmung, sich herumkommandieren zu lassen. »Das wird nicht so schnell gehen. Die Transmutation ist ein langwieriges, schwieriges Experiment, das äußerst aufwendiger Vorbereitungen bedarf.« Fürstenbergs Ton wurde eine Nuance verbindlicher. »Das ist mir wohl bewußt. Wäre es einfach, hätten es wohl schon viele vollbracht.« 89
Damit drehte er sich endgültig um und klopfte an die Tür. Ein Gardist, der vor der Tür gewartet hatte, ließ den Statthalter hinaus. Böttger starrte auf die sich schließende Tür. Noch vor zehn Minuten hatte er wie auf Wolken zu schweben gemeint; um so bitterer traf ihn die Erkenntnis, daß man ihn gefangenhielt. Es war gekommen, wie der Wirt es vorausgesagt hatte. Er hatte nur einen Trumpf. Keiner konnte sich mit seinen chemischen Kenntnissen messen. Warum sollte er sich nicht zu seinem eigenen Nutzen Zeit nehmen, den Faden seiner Experimente dort aufnehmen, wo er ihn in Berlin hatte abbrechen müssen, um endlich auch sich selbst zu beweisen, daß sein Arkanum funktionierte? Er würde den Fürsten mit Reinigungs- und Destillationsprozessen schwindlig experimentieren und damit Zeit gewinnen. Inzwischen konnte er den Diener bitten, mehr über Charlotte von Schönberg in Erfahrung zu bringen. Charlotte, der Name paßte zu ihr. Ein Finanzminister nicht. Die Sonne war inzwischen weiter herumgekommen und warf ihre Strahlen tief in den Raum. Charlotte, seine Sonne. Dann erinnerte er sich aufseufzend daran, daß er sich vorbereiten mußte, und suchte im Raum nach Schreibzeug, fand es in einer Konsolenschublade und breitete alles auf dem Tisch aus. Er schlug im Oktavheft die Tabelle mit dem Lauf der Gestirne auf. Es war bald Vollmond. Der Mond spiegelte die Kraft der Sonne. Merkur stand wie der Mond in Konjunktion zur Sonne, Saturn war irgendwo auf halbem Weg. War das nun gut? Der Saturn stand für Quecksilber, das unerläßliche Element, wenn es ums Goldmachen ging. Er warf die Feder hin. Im Grunde gab er nicht viel auf die Macht der Gestirne; gegenüber den Zeugen seiner Transmutation war die Sternenkonstellation bloß eine Ausrede gewesen. Weit mehr vertraute er seinen chemischen Kenntnissen, seiner Erfahrung, seiner Intuition, die er in ungezählten Experimenten erworben hatte. Johann Friedrich Böttger lehnte sich zurück, beschloß, alles auf sich zukommen zu lassen. Nach einer Weile beugte er sich wieder vor und nahm die Feder auf. 90
Er zeichnete die Sonne, das Symbol für Gold, und versuchte der Sonne die Züge der Frau von Schönberg zu geben. Die erste Zeichnung mißlang völlig. Er zerknüllte das Blatt und begann von neuem. Plötzlich fiel ein Schatten auf seine Zeichnung, und es wurde dunkler im Raum. Hammerschläge ertönten, Scheiben klirrten. Verdutzt sah Böttger auf. Draußen vor dem Fenster zeichnete sich die dunkle Silhouette eines Mannes ab, der am Fensterflügel nagelte. Böttger sprang auf und brüllte: »He, Sie, was soll das, lassen Sie das!« Ohne Antwort verschwand der Mann nach unten. Böttger wollte das Fenster aufstoßen, doch es war am Rahmen festgenagelt. Eine Leiter war an die Hauswand gelehnt, die unten von Gardesoldaten und einem Offizier bewacht wurde. Der Offizier reichte dem Handwerker ein zusammengerolltes Tuch, mit dem der die Leiter wieder hinaufkletterte. Perplex mußte Böttger zusehen, wie der Mann das Tuch oben am Fensterrahmen festnagelte und dann vor seiner Nase ausrollen ließ. Es war die sächsische Fahne, gelb-schwarz gestreift, mit einem diagonalen Ornamentband, die ihm jetzt den Ausblick verwehrte. Böttger überlegte, ob er die Scheibe des Fensters zertrümmern sollte, entschied sich aber vorerst dagegen. Er warf sich in einen Fauteuil und starrte blicklos umher, lachte bitter. Ebensogut hätte er in Berlin bleiben können. Apathisch sah er zu, während der Mann die gleiche Prozedur am zweiten Fenster wiederholte. Das mußte er dem Fürsten heimzahlen. Das Arkanum war sein Eigentum, nur er selbst, Johann Friedrich Böttger, wußte es zu gebrauchen. Das war schließlich auch eine Art Macht.
*** Nach ihrem Besuch bei Fürstenberg ritten Charlotte und die Gräfin die Straße zu den Elbauen hinunter. Die Gräfin verlor kein Wort über den ›Pagen‹, der sich für einen Kavalier ausgegeben hatte, und Charlotte war froh darüber. Sie passierten die langgestreckten, königlichen Marställe, aus deren Innenhof Exerzierrufe herüberschallten. Im Gegenlicht zeichnete sich 91
dunkel die mächtige Wallanlage auf der anderen Seite der Elbe ab, aus deren Kasematten die Kanonenrohre hervorstachen, um die Dresdner Altstadt zu schützen. Überragt wurde die Wallanlage vom Schloß der Wettiner, imponierend in seinen Ausmaßen. Schwarze Rauchspuren um die Fensterhöhlen des Nordflügels erinnerten an einen Brand, der vor einem halben Jahr große Teile des Inneren vernichtet hatte, vor allem den Riesensaal, mit dessen Restaurierung man vor kurzem begonnen hatte. Auf den Gerüsten wimmelten Handwerker, trotz des leichten Frostes hatte man die Arbeiten nicht unterbrochen. Zum ersten Mal seit langem fühlte sich Charlotte unbeschwert, sah eine Zukunft für sich. Sie wollte noch nicht nach Hause. Als sie unten am Fluß die breiten Elbauen entlangritten, bat sie die Gräfin, den Ausritt bis zu den Karpfenteichen auszudehnen, die man unterhalb der Stadt am Elbufer gegraben hatte. Sie beobachteten die dicken, trägen Fische, die man hier für die Weihnachtszeit heranzog, Tag und Nacht bewacht von zwei Gardisten, damit sich kein Unbefugter den Prachtstücken für die königliche Tafel nähern konnte. Der Fischmarschall kam herangeritten und erzählte, daß man in den nächsten Tagen eine Lieferung Austern erwarte und dann die Küchenkutsche des Königs nach Warschau starten würde. Es war ein langsamer Sechsspänner, der die schwere Last der Fässer, in denen man die Austern und Karpfen lebend transportierte, innerhalb von drei, vier Wochen nach Warschau bringen würde. Der Gräfin Krahl stiegen angesichts dieser Genüsse, die ihr entgingen, Tränen in die Augen. Auch Charlotte wäre gern mit den Austern und Karpfen gereist, um am Ziel an der Tafel Seiner Majestät zu sitzen. Doch noch war sie nicht einmal Mitglied der Hofgesellschaft, durfte auf keine Einladungen zu Banketten oder Spielabenden hoffen, solange sie nicht offiziell vorgestellt war, widersprach das der Etikette. Sie mußte sich mit Kaffeestunden tagsüber begnügen, wie mit der Gräfin Krahl, der von der Gräfin veranlaßte Besuch beim Fürsten lag gerade noch im Bereich des Erlaubten. Es war ein kleiner erster Erfolg, den sie als Genugtuung empfand. 92
Vor drei Tagen hatte ihr Mann wie geplant Dresden in Richtung der Grafschaft Mansfeld verlassen, wo er die Auswirkungen seiner Generalakzise studieren wollte. In ohnmächtiger Wut hatte sie am Fenster gestanden und zusehen müssen, wie eine ihr unbekannte junge Frau, kurz bevor die Pferde anzogen, noch schnell in seine Kutsche sprang. Sie war klein und sehr schlank, mit brünettem Haar und graziösen Bewegungen. Schon vor einiger Zeit hatte ihre Zofe Andeutungen über eine ehemalige Mätresse ihres Mannes fallenlassen, die immer noch irgendwo in Schönbergs großen Haus wohnen sollte. Charlotte hatte es nicht für nötig befunden, diesem bösartigen Gerede nachzugehen. Wozu auch? Sie war frisch vermählt, sie war schön, sie war geistreich. Was sollte ihr Gemahl mit einer Mätresse? Und nun fuhr dieses Weibsbild mit ihm auf die Reise, und das nach nur einem halben Jahr Ehe. Was war das für eine obskure Abhängigkeit, der ihr Mann da verfallen war. Welche Schamlosigkeit vor der Dienerschaft. Aus tief verletztem Stolz hatte sie einen gläsernen Leuchter ergriffen und zertrümmert. Nie mehr würde sie ihrem Mann glauben, wenn er von ihrer Schönheit sprach. Er war pervers. Was konnte sie als Frau schon damit anfangen, wenn er sie wie ein kostbares Kleinod in einen Tresor wegschloß und nur bei Bedarf zum Anschauen hervorholte. Zum Teufel mit Herrn von Schönberg. Sie hatte sich dazu entschlossen, sich jetzt jede Freiheit zu nehmen, nach der ihr der Sinn stand, und seine Anweisungen zu durchbrechen. Sollte ihr Herr Gemahl doch toben, wenn er erfuhr, daß sein Kleinod den Tresor verlassen hatte. Und die Gräfin Krahl war gern bereit gewesen, sie dabei zu unterstützen.
Zurück in der Stadt, verabschiedete sich Charlotte von der Gräfin Krahl vor ihrem Palais und dankte ihr noch einmal für ihre Unterstützung. Charlotte war noch nicht danach, nach Hause zurückzukehren, und so verließ sie die Dresdner Neustadt in Richtung der Anhöhen, von de93
nen man einen weiten Blick über das weite Elbtal genießen konnte. Im scharfen Galopp legte sie dort eine längere Strecke zurück. Auch solche Ausritte gehörten zu den Vergnügungen, die ihr Herr von Schönberg nicht gestattete – aus Rücksicht auf ihre Gesundheit, wie er vorgab. Eine Stunde später stieg sie verschwitzt vom Pferd und übergab die Stute vor der Toreinfahrt dem Knecht. Schönbergs Haus lag in einer dicht bebauten Straße der Neustadt, ein zwanzig Meter breites, zwei Stockwerke hohes Gebäude aus Fachwerk, rot und schwarz bemalt. Sie rümpfte die Nase, als sie die hohe, holzgetäfelte Diele betrat. Gegen das Palais des Fürsten roch es muffig, alles erschien ihr altmodisch. Noch während sie die Treppe nach oben stieg, befahl sie, ein heißes Bad zu richten; an diese Eigenart, die sie von ihrem Vater in Holstein übernommen hatte, war man inzwischen gewöhnt.
*** Die Wut über die vernagelten Fenster gärte noch immer in Böttger, als der Diener Albert ihn abholte. Sie passierten zwei Gardisten, die im Vorraum seines Zimmers postiert waren, und traten auf den Flur, wo zwei weitere Gardisten standen, die sich ihnen anschlossen und sie bis zum Labor im Kellergeschoß begleiteten. Die Schatulle mit seinem Arkanum und das Oktavheft hatte Böttger in die Rocktasche gesteckt. ›Solve et coagula‹, löse auf und füge zusammen, stand über der Tür des Labors, der Wahlspruch der Alchemisten. Immerhin, dachte Böttger brummig, als er eintrat. Die Wachposten und Albert blieben draußen. Im Labor hatte es sich Fürstenberg an einem Schreibtisch schon bequem gemacht. Vor ihm lag ein Stapel Papier mit Schreibzeug. Ohne abzuwarten, daß Fürstenberg sich erhob, und ohne Begrüßung baute Böttger sich vor ihm auf. »Exzellenz. Ich respektiere durchaus Ihren Wunsch nach Geheimhaltung. Aber daß man mir die Außenwelt vernagelt und verhängt, ist absurd.« Ungerührt sah Fürstenberg ihn an. »Diese Maßnahmen dienen einzig und allein Ihrem Schutz.« 94
»Das ist doch lächerlich«, widersprach Böttger wütend. »Niemand kennt mich in Dresden, vor wem also soll ich geschützt werden?« Fürstenberg erweckte den Eindruck, als ob es ihm selbst schmerzlich wäre. »Es ist nun einmal so, daß an Ihrer Person ein reges Interesse besteht. Ein Regiment der Brandenburger lagert inzwischen vor Wittenberg.« Böttger tat überrascht. »Ach ja? Und was habe ich damit zu tun?« »Man ist überzeugt, daß der Stadtkommandant Sie in Wittenberg gefangenhält. Man läßt Ihnen regelmäßig Essen in ›Ihre‹ Zelle bringen und abends eine Kerze brennen. Es wird alles getan, diese Fiktion nach außen aufrechtzuerhalten. Unsere Spione berichten, daß Brandenburger Provokateure durch die Stadt streunen, um die Studenten aufzuhetzen, Sie zu befreien. Es gärt in Wittenberg. Der Schwindel wird sich nicht mehr lange aufrechterhalten lassen.« »Und der Brief nach Berlin, wegen des Schutzes Seiner Majestät?« »Den werden wir so spät wie möglich aus Wittenberg abschicken. Man soll Ihre Spur verlieren.« Böttger biß sich auf die Lippen. Beinahe mitfühlend fuhr Fürstenberg fort: »Verstehen Sie jetzt, warum ich so vorsichtig sein muß? Ihre kleine romantische Begegnung hat mir gezeigt, wie schnell sich die Nachricht Ihrer Anwesenheit verbreiten könnte. Ein unbekannter Mann in meinem Palais fordert Neugier heraus.« Böttger ließ sich auf einen Hocker fallen, um das Gesagte zu verdauen. Nach einer Weile wandte er ein: »Aber Sie gaben mir doch das Inkognito mit dem Monsieur le Baron. Keiner außer Ihnen weiß, wer ich bin.« Fürstenberg wiegte den Kopf. »Nicht nur die Brandenburger, auch andere Länder haben bei uns ihre Spione und Gewährsleute, und zwar mehr, als uns lieb ist. Jemand könnte Sie erkennen.« »Die Spione wissen nichts von mir.« »Noch nicht. Aber das kann sich schnell ändern, Monsieur. Alle Höfe setzen Spione als Nachrichtenquellen ein. Mein Palais, alles, was um das Schloß herum passiert, alles, was man am Hof tratscht, all das wird den anderen Höfen hinterbracht. Wir machen es umgekehrt ge95
nauso. Mit einem Wort: Alle müssen sich vor Spionen in acht nehmen. Ich könnte nicht beschwören, daß nicht der eine oder andere meiner Diener für eine ausländische Macht spioniert. Deswegen habe ich Sie ausschließlich Albert anvertraut, der mir absolut ergeben ist.« Fürstenberg lehnte sich vor und hob den Finger. »Die Artikel mit Ihrem Experiment sind in fast allen deutschsprachigen Zeitungen erschienen. Ihr Ruf dürfte inzwischen bis Paris, London und Rom gedrungen sein. Man wird hinter Ihnen hersein, Sie uns neiden; man kann nicht voraussehen, was daraus erwächst.« »Eine Entführung vielleicht?« konnte sich Böttger nicht verkneifen einzuwerfen. »Auch Mord. Auch das ist eine Möglichkeit, dem Nachbarn seinen Vorteil zu rauben. Daher hat Seine Majestät Sie unter seinen ganz besonderen Schutz gestellt. Ich hafte dafür, daß Ihnen kein Haar gekrümmt wird.« Böttger gab sich geschlagen. »Wie lange wird dieser Zustand andauern?« »Bis die Beschreibung des Prozesses bei Seiner Kurfürstlich-Königlichen Majestät sicher hinterlegt ist. Machen wir uns also an die Arbeit.« Das erschien Böttger ein absehbarer Zeitraum zu sein, auch wenn er das Hinterlegen der Prozeßbeschreibung für einfältig hielt. Die Transmutation war doch kein Kuchenrezept, das Arkanum kein Bratwürstchen. Doch erst einmal mußte er mitspielen, bis er eine Möglichkeit fand, die Geschichte irgendwie selbst zu lenken. Er vertraute auf seine Virtuosität. Pharmazie und Kosmetik, Metallurgie und Alchemie, wer außer ihm war schon so umfassend chemisch gebildet? Sein Königreich, seine Quelle der Macht war das Labor, das sollten die hohen Herren unmißverständlich zu spüren bekommen, damit er seine Freiheit zurückgewann. Er stand auf und begann, sich im Labor genauer umzusehen. Dominiert wurde der Raum von einer großen Feuerstelle mit eisenbeschlagenem Blasebalg und einem ausladenden Rauchfang darüber. Gegenüber befand sich ein kleiner Probierofen aus Schamottsteinen, 96
dessen runde Höhlung über der Brennkammer mit Türen verschlossen werden konnte. Davor stand ein kleiner Vorlagetisch auf Rollen mit den Greifzangen, alles geradezu vorbildlich. Daneben reichten Regale bis zur Decke, angefüllt mit großen Mengen ordentlich gestapelter Tiegel, Glaskolben, Schmelztöpfe und eiserner Hilfsstellagen. Wände und Decke waren hell verputzt und wiesen kaum Rauchspuren auf. Ein Durchgang führte in einen Nebenraum, der eine umfangreiche Bibliothek nebst einem gemütlichen Sessel beherbergte. Alles war so akkurat und sauber, daß Böttger das Gefühl befiel, in einer sorgfältig dekorierten Studierstube zu stehen, nicht in einem Arbeitsraum. Er trat zum Regal hinter dem Schreibtisch, in dem die akkurat beschrifteten Vorräte an chemischen Substanzen, Reagenzien und Hilfsmaterialien alphabetisch angeordnet waren: Alaun, Antimon, Aqua forte, Aqua sulfris, Armoniac, Blei, Corall, Blutstein, Bolus, Bruchsilber, Eisen, Essig, Glasschaum, Goldschlag, Harn, Hutrauch, Kupfer, Kuhmist, Messing, Öl, Pferdemist, Quecksilber, Salpeter, Sauermilch, Salz, Schotten, Schwefel, Silber, Spießglas, Vogelleim, Wandlüst, Zink, Zinn, Zinnober. »Mein Kompliment, Exzellenz, für metallurgische Experimente sind Sie wirklich bestens bevorratet«, meinte Böttger anerkennend zu Fürstenberg, der daraufhin zur Feder griff und sich ein Blatt Papier zurechtlegte. »Dann lassen Sie uns unverzüglich beginnen, Monsieur. Was ist der erste Schritt?« Böttger griff nach einer hohen Schale, deren Boden so dick war, daß nur eine kleine Mulde zur Aufnahme von Material übrigblieb. ›Kapelle‹ hieß das Gefäß in der Sprache der Chemiker. Der dicke Boden sorgte dafür, daß die Kapelle hohen Temperaturen standhielt. Als Böttger sie genauer betrachtete, verzog er das Gesicht. Der Boden war stark grün verfärbt. Er griff nach der nächsten Kapelle. Dort zeigte sich ebenfalls eine starke Verfärbung, nur war sie schwarz. Schnell prüfte er die anderen im Regal. Alle Kapellen wiesen starke Verfärbungen auf. Er ging die Tiegel durch, dort sah es noch schlimmer aus. Sie wiesen dicke eingebrannte Schmelzrückstände auf. Böttger fluch97
te vor sich hin, Fürstenberg beobachtete ihn mit wachsender Besorgnis. Schließlich griff Böttger nach irgendeiner Kapelle und ging zur eisernen Einfassung der Feuerstelle. Er holte weit aus, zerbrach das Gefäß mit Wucht in zwei Teile und hielt sie dem entgeisterten Fürstenberg unter die Nase. »Hier, Exzellenz, wer auch immer hier gearbeitet hat, er muß einen großen Schwund an Metallen gehabt haben. Sehen Sie diese Verfärbung – rötlich: in die Kapelle hinein ist Blei verschwunden. Andere sind grün, da wurde mit Kupfer gearbeitet und, wo war sie noch …« Er suchte im Regal eine andere heraus, zerschmetterte sie ebenso rücksichtslos wie die erste. »Sehen Sie? Schwarz.« Er legte beide Teile ins Licht der Kerzen vor Fürstenberg. »Hier hinein ist Silber verschwunden … Ihr Silber, oder?« »Das erkennen Sie am Zustand der Kapelle?« »Sie haben einen der besten Chemiker der Welt vor sich, Exzellenz, vielleicht sogar den besten.« Fürstenberg schaute skeptisch. Böttger fühlte sich verletzt und gefordert. »Lassen Sie sich durch mein Alter nicht täuschen, Exzellenz. Möchten Sie, daß ich es Ihnen beweise? Ich kann Ihnen an diesen Scherben den Versuchsablauf rekonstruieren. Kennen Sie ihn?« »Ich glaube, ja. – Bitte, wenn Sie meinen.« Man merkte Fürstenberg an, daß er Böttgers Behauptung für Prahlerei hielt. Böttger irritierte das nicht im mindesten. Er setzte sich neben ihn und hob eine der Kapellenhälften näher ans Kerzenlicht. »In diese Kapelle haben Sie zunächst Taler hineingegeben, um sie einzuschmelzen; hier in den Poren sind kleine Partikel Silber und Kupfer. Es waren Taler, richtig?« Böttger schaute zum Fürsten. Der nickte verdrossen, hielt die Schlußfolgerung wohl für einen Zufallstreffer. Da er sich bestätigt sah, drehte Böttger die Kapellenstücke im Licht hin und her, sein Tonfall bekam etwas Dozierendes. »Gut, sehen wir uns die Kapelle weiter an. Von der Schmelze haben Sie dann die dünne Schlackenschicht abgekratzt – hier am Rand sieht man kleine Riefen des Messers und schwarze Schlackenspuren. Es war sogar etwas Eisen in den Talern. Sehen Sie dort den kleinen rostroten Kratzer? Es 98
war sicher nur wenig Eisen, aber es ist Falschmünzerei. Da macht es die Menge der Münzen.« Böttger grinste. »Was waren das für Taler?« Dazu wollte Fürstenberg sich nicht äußern. »Weiter«, sagte er nur mit rauher Stimme. »Meinetwegen, ist ja auch egal.« Böttger beugte sich wieder über die Kapellenscherben. »Als nächstes haben Sie Aqua sulfris zugegeben, damit es das Kupfer aus der Legierung raube, um dann den leichten Kupferschwefel, der sich vom Silber getrennt haben sollte, abzugießen. Das haben Sie auch getan, diese grüne, leicht zulaufende Spur beweist es.« Er wies auf die Spur am Rand, hielt sie dann ganz dicht unter die Kerze und beugte sich darüber. »Es können auch mehrere Spuren sein, ja, mir scheint, daß der Vorgang mehrmals wiederholt wurde …« Böttger schaute auf. »Es würde daraufhindeuten, daß die Konzentration der Säure zu schwach war. Der meiste Schwefel in der Säure hat nicht mit dem Kupfer reagiert, sondern ist verdampft. Darum mußten Sie den Vorgang mehrmals wiederholen. Ein bißchen Schwefel ist auch geschmolzen und an der Kapelle hängengeblieben. Dort, der feine, unregelmäßige, rote Strich über der Mulde. Das übrige Silber sah sicherlich ein wenig golden aus durch den Schwefel. Trotzdem, es war bloß Silber, und dazu noch recht wenig.« Böttger drehte nun den Bruch ins Licht und schloß triumphierend: »Das meiste Silber war längst in die Kapelle hinein verschwunden. Die Kapelle ist porös, alle hier sind es. In ihren Hohlräumen ist Luft, und mit der Luft verbinden sich die Metalle, wenn man sie erhitzt. Silber wird dabei schwarz, so wie die Verfärbung hier. Sehen Sie, wie tief die Schwärzung in das Material der Kapelle gedrungen ist? Das ist Ihr Silber.« Fürstenberg blickte schweigend zwischen der Kapelle und Böttger hin und her. Die unglaubliche Analyse seines Versuchs anhand einer simplen Scherbe ärgerte ihn. »Das ist Teufelswerk, Hexerei.« Solche Anwürfe führten auf gefährliches Terrain, und Böttger wurde vorsichtig. »Exzellenz, Sie sind Alchemist, Sie sind ein aufgeklärter Mann, dies alles hat nichts mit Teufelswerk zu tun. Es ist …« 99
»Männer der Kirche würden genau so darüber urteilen«, unterbrach Fürstenberg. »Sie würden Ihre Ausführungen übernatürlichen Fähigkeiten zuschreiben, die Ihnen nur der Teufel verliehen haben kann. Für die Kirchen – gleich, ob evangelisch oder katholisch – ist der Teufel eine feste Größe.« Böttger konnte Fürstenberg nicht ansehen, wie ernst es ihm mit diesem Vorwurf war. Er begann zu schwitzen. »Mit Verlaub, Exzellenz, das sind keine Ansichten, die unserer aufgeklärten Zeit entsprechen. Viele Erkenntnisse der Naturwissenschaften wurden verteufelt, weil sie nicht ins Weltbild der Kirchen paßten.« »Sie lesen aus einer Scherbe. Ebensogut könnten Sie mir aus Tiergedärm vorlesen.« »Nein, Exzellenz, bei all dem, was ich gesagt habe, hat mir allein mein chemisches Wissen zur Seite gestanden, deren Wurzeln sich in der Alchemie finden. Wir betrachten nicht mehr Feuer, Wasser, Luft und Erde als die Grundelemente, wie die alten Griechen. Wir wissen wesentlich mehr. Und doch gibt es in der Natur unendlich viele Verbindungen, die wir bisher nicht einmal zu benennen wissen. Wir arbeiten daran. Ich jedoch habe nichts anderes gemacht, als die Spuren der mir bekannten Elemente in diesem Gefäß zu analysieren, und gefolgert, wie sie entstanden sein könnten.« Fürstenberg starrte auf die Scherben, die ihm Böttger immer noch hinhielt, dann hoch zu ihm und gab seinen inneren Widerstand auf. »Ich glaube Ihnen, Monsieur, auch wenn es mir nicht leichtfällt.« Böttger war erleichtert. Jetzt mußte er seinen Vorteil ausnutzen und konnte kostbare Zeit herausschlagen. »Exzellenz, dies alles hier im Labor ist zwar recht hübsch anzusehen, aber mit dem vorhandenen Material kann ich nicht arbeiten.« »Und wie kann man dem abhelfen, Monsieur?« »Ich brauche Schädelknochen von Kälbern oder Schafen. Man muß sie zu Asche verbrennen und daraus Kapellen fabrizieren. Haben Sie denn noch nie davon gehört oder gelesen?« »Durchaus. Aber mir erschien das etwas … eklig.« Böttger winkte unwillig ab. »Ohnehin wären Hirschgeweihe am be100
sten. Sie ergeben die trockenste Asche, und die Kapellen, die man daraus schlägt, nehmen keine Metalle auf.« »Hirschgeweihe?« »Hirschgeweihe. Haben Sie dort drüben nicht eine Ausgabe des Agricola? Dort würden Sie alles beschrieben finden.« Fürstenberg pochte mit der Feder auf seine unbeschriebenen Blätter. Böttger hingegen genoß die Revanche für die vernagelten Fenster. Zu deutlich hatte er gespürt, wie beinhart dieser Mann zu handeln vermochte. »Schon Morgen, Exzellenz, kann ich damit beginnen, das nötige Experimentiergeschirr herzustellen. Ich benötige dafür etwa fünfzehn Pfund Hirschgeweihe, die Größe spielt keine Rolle, dazu einen Zentner feingesiebte rote Tonerde. Dann brauche ich Leinenstreifen und Bolus zum Abdichten, denn ich werde einige Destillations- und Deszensionsvorrichtungen bauen müssen, um neue, bessere Substanzen herzustellen. Konzentrierteres Aqua sulfris zum Beispiel. Das alles dauert länger als eine Woche, vielleicht sogar zwei. Besonders die Säuren beanspruchen viel Zeit.« Der Fürst wirkte angeschlagen, darum setzte Böttger schnell eine letzte Forderung hinterher. »Und schließlich, Exzellenz, die Luft in meinem Zimmer beginnt stickig zu werden. Das ist nicht gut für jemanden, der mit dem Verstand arbeitet. Quartieren Sie mich bitte um. Das Zimmer braucht keine Aussicht zu haben, aber bequem sollte es sein. Läßt sich das arrangieren?« Fürstenberg sah keinen vernünftigen Grund, Böttgers Forderung abzulehnen, auch wenn es ihn ärgerte, derart vorgeführt worden zu sein. »Ich werde Ihnen morgen ein anderes Zimmer herrichten lassen. Für heute nacht, Monsieur, müssen Sie noch mit dem jetzigen Zimmer vorliebnehmen.« Fürstenbergs Stimme schien voller Verständnis zu sein, doch er nahm sich vor, sich bei nächster Gelegenheit bei diesem aufsässigen Burschen zu revanchieren. Genie hin, Genie her. Er mußte ihn seine Grenzen spüren lassen. Danach betrachtete er Böttger ruhiger, der schon wieder im Labor herumging und prüfte. Ein verdammt gut aussehender Bursche, dieser Böttger. Und noch sehr jung. Vielleicht sollte er doch nicht zu streng sein. 101
Sechstes Kapitel
A
m nächsten Morgen wurde Böttger von lautstarker Geschäftigkeit vor dem Palais geweckt, obwohl es draußen noch ziemlich dunkel war. Neugierig stand er auf, um nachzusehen. Das Wetter mußte umgeschlagen sein. Nur trübe drang Licht durch die Fahnen, die naß und schlapp vor den Fensterscheiben herunterhingen. In der Luft hing der Geruch vom Nachttopf, und niemand kümmerte sich darum, ihn wie versprochen in einem anderen Zimmer unterzubringen. Er klingelte nach Albert. Der Diener wußte nichts von einem anderen Zimmer, versprach Böttger, sich danach zu erkundigen. Er zündete einen Kandelaber an, heizte den Ofen und entfernte den Nachttopf. Wenig später kam er mit dem Frühstück zurück und berichtete, daß seine Exzellenz völlig in Anspruch genommen sei durch die Besuche der Mitglieder des Geheimen Rates. Monsieur le Baron müsse sich gedulden, denn mit niemand anderem als Seiner Exzellenz dürfe er über Monsieur le Baron sprechen. Auch sei es ihm nicht erlaubt, über die Hintergründe der plötzlichen Geschäftigkeit zu sprechen. Vergeblich versuchte Böttger die stoische Miene des Dieners zu durchdringen, Mitgefühl war dort nicht zu entdecken. Er fragte nur ungerührt: »Brauchen Monsieur le Baron sonst noch etwas?« »Im Moment nicht, danke, Albert.« Böttger gestand sich ein, daß er keine Ahnung im Umgang mit herrschaftlichen Dienern hatte, wie man sie bestach oder auf seine Seite zog, ohne sie zu verprellen oder zu beleidigen. Lustlos stocherte er in seinem Frühstück herum, obwohl die gebratenen Kapaunscheiben appetitlich dufteten. Von der Hochstimmung des 102
Abends zuvor, als er im Labor den Fürsten so nachhaltig beeindruckt hatte, war nichts mehr übrig.
Der Ofen verbreitete zwar wohlige Wärme, doch die Luft im Raum wurde zunehmend stickiger. Schlechte Luft war Böttger vom Labor gewöhnt, auch unangenehme Gerüche und Hitze. Aber das hatte immer mit seiner Arbeit zu tun und brachte Ergebnisse. Nun aber fühlte er sich in diesem prächtigen Zimmer, das er gestern morgen noch für das Paradies gehalten hatte, wie lebendig begraben. Suchend blickte er im Raum umher, um etwas zu finden, mit dem er seine Niedergeschlagenheit vertreiben konnte. Sein Blick blieb schließlich am Fenster hängen. Kurz entschlossen holte er ein Handtuch, wickelte es sich um die Faust und schlug eine Fensterscheibe ein. Der Bann war gebrochen, die kalte Luft tat gut. Wieder ratterte unter ihm eine Kutsche heran, die Kommandos eines Offiziers tönten herauf, mit lärmenden Stiefeln präsentierte die Garde. Böttger nahm einen Schluck Wein, ging hinüber zur Waschschale, griff zur Kanne daneben und füllte sie. Er zog sein Hemd aus und klatschte sich Wasser ins Gesicht. Auch das half ein wenig. Nur etwas Geduld brauchte er, ermahnte er sich selber. Aus Langeweile kaute er auf einer Bratenscheibe herum. Viel Hunger hatte er nicht, der Wein hatte in ihm eine angenehme Mattigkeit erzeugt und ließ ihn seine Umgebung erträglicher erscheinen. Er streckte sich auf dem Bett aus und ließ seine Gedanken schweifen. Hirschgeweihe als Material für Kapellen. Davon hatte er bisher nur träumen können. Die Jagd und damit Geweihe waren ein ausschließliches Privileg des Adels. Hirsch-, Reh- oder Wildschweinbraten hatte Böttger noch nie kosten dürfen. Sie waren viel zu teuer für Normalsterbliche, wenn sie denn überhaupt auf den Fleischbänken des Markts angeboten wurden. Nur einmal hatte er Hasenrücken bekommen, beim Baron Kunckel. Er stand auf, probierte noch einmal vom Braten, hatte aber immer noch keinen Hunger. Ihn langweilte. Viel103
leicht konnte er ein paar Bücher aus dem Labor bekommen. Er klingelte nach Albert. Nach einer halben Stunde kehrte der Diener unverrichteter Dinge zurück. Der Fürst war immer noch zu beschäftigt und das Labor selbstverständlich verschlossen gewesen. Um nicht mit leeren Händen zurückzukommen, hatte er ein Gedichtbändchen aufgetrieben. Böttger bedankte sich, orderte weiteren Wein und legte sich mit dem Buch aufs Bett. Die Gedichte waren von einem Herrn Knut von Reichenbach. Das erste beschrieb über drei Seiten den Mond, dessen silberblauer Schein das Land mit einem hellen Leichentuch bedeckte, holprig und schwülstig. Das nächste sprach von der Vergänglichkeit der Liebe und schwelgte in sehnsuchtsvoller Trauer. Es schüttelte Böttger. Mit Gedichten hatte er noch nie viel anfangen können, und die von Herrn Reichenbach waren unerträglich deprimierend. Er feuerte das Bändchen in den Sessel und starrte die dicken Holzbalken der Decke an und schloß schließlich die Augen. Unten ratterte eine Kutsche davon. Johann malte sich aus, wie es sein mußte, wenn er mit ›seiner‹ Charlotte darin säße. Es müßte eine offene Kutsche sein. Bei strahlendem Sonnenschein wie gestern. Wie in Berlin. Die Kutsche wäre weich gefedert und die Pferde trügen vergoldetes Zaumzeug. Ein herrschaftliches Paar, das zu seinem Plaisier durch die Stadt fuhr. Die Leute neigten die Köpfe: der Goldmacher mit seiner Gemahlin. Irgendwann döste er ein. Fürstenberg weckte Böttger am späten Nachmittag. Mühsam rappelte Johann sich auf und schüttelte den Kopf, um die Benommenheit abzuschütteln. Er sah an sich herab. Sein Rock war zerknittert, eine Manschette hatte Rotweinflecken. Unauffällig versuchte er den Fleck nach unten zu drehen, während er aufstand. Der Fürst rümpfte die Nase. »Was ist mit Ihnen?« »Vielleicht, Exzellenz, sehen Sie mich nicht in dem Zustand, den Sie sich wünschen, aber man hat versäumt, mich umzuquartieren«, beschwerte er sich. »Außerdem habe ich nichts Vernünftiges zu lesen und 104
auch sonst nichts, mit dem ich mich zerstreuen könnte. Seit Stunden sitze ich unnütz in der Finsternis herum, mit Verlaub.« Der Fürst hob nur die Augenbrauen, was Böttger noch aggressiver machte. »Man vergeudet meine Zeit und mein Talent, Exzellenz. Ich langweile mich. Und Langeweile ist für mich näher am Tod als am Leben. Hängen Sie mich doch auf, wenn es Ihnen beliebt. Bereiten Sie diesem unwürdigen Zustand ein Ende.« Fürstenberg wedelte spöttisch mit der Linken. »Das wäre unserer Majestät sicher gar nicht recht. Ich werde Sorge tragen, daß Sie jetzt umgehend Ihr anderes Zimmer bekommen … Wie ich sehe, haben Sie sich ja schon ein wenig Luft verschafft«, fügte er mit Blick auf die zerbrochene Fensterscheibe hinzu. Böttger zuckte mit den Achseln. Entschuldigend fuhr Fürstenberg fort. »Tut mir leid, es gab tatsächlich vordringlichere Dinge zu erledigen. Ohnehin mußten wir auf die Hirschgeweihe warten, die ich von der Moritzburg habe kommen lassen. Fühlen Sie sich bereit, jetzt gleich ans Werk zu gehen?« »Was ist mit dem roten Ton?« »Man hat ihn geliefert … Ich möchte übrigens um Eile bitten.« »Das Herstellen der Gefäße dauert seine Zeit, das habe ich Ihnen doch alles erklärt. Zunächst muß ich …« »Bitte, keine Einzelheiten, machen Sie nur, so schnell es eben geht. Ich lasse Sie gleich zum Labor bringen.« »Hat die Eile mit den Besuchern heute zu tun?« Fürstenberg nickte. »Unangenehme Nachrichten. Die Schweden haben in Litauen unsere Armee geschlagen und obendrein noch alle Kanonen erbeutet. Es gibt kein anderes Thema mehr in Dresden. Wir brauchen Ihr Gold dringend, Monsieur, ich rechne fest damit.« Diese sachlich-kühle Forderung und auch die Idee, die dahintersteckte, trafen Böttger wie ein Schlag und erschienen ihm völlig absurd. »Solche Mengen, wie Sie es sich vorstellen, Exzellenz, kann ich nicht produzieren. Das ist einfach nicht möglich – jedenfalls nicht in absehbarer Zeit.« Fürstenberg beruhigte ihn. »Vorerst wird der Kanzler das Geld be105
sorgen. Die Herren aus der Kanzlei des Grafen Haxlingen sind in Dresden eingetroffen und werden sicher bald beginnen, die Anordnungen des Kanzlers umzusetzen.« Um den Zeitraum abzuschätzen, der ihm zur Verfügung stand, fragte Böttger: »Anhebung von Steuern, oder wie werden die Maßnahmen aussehen? Müssen alle in den nächsten Wochen und Monaten bluten?« Fürstenberg lächelte abschätzig. »Ich kenne die Maßnahmen noch nicht im einzelnen, aber wahrscheinlich werden die Gelder in den nächsten zwei Monaten beigetrieben sein. Opfer werden allen abverlangt werden, den Bauern, Städten, Bürgern und der Ritterschaft, bis auf den höheren Adel. Der Kanzler hat ein unbestreitbares Talent, seine sächsischen Freunde bei solchen Gelegenheiten zu schonen. Meist macht er sogar noch einen Gewinn dabei. Darin ist er außerordentlich erfinderisch.« Trotz des abschätzigen Tonfalls sah man Fürstenberg an, daß er den Kanzler für diese spezielle Erfindungsgabe bewunderte. Als er sich dessen bewußt wurde, wischte er diesen ärgerlichen Gedanken mit einer kleinen, exaltierten Handbewegung beiseite und fixierte Böttger. »Ihr Gold aber, Monsieur, ist ein geheimes Projekt des Königs. Seine Majestät braucht diesen Erfolg. Es ist geht um das Prestige und ist daher schnellstmöglichst voranzutreiben.« Böttger hatte den Kopf gesenkt und nickte ernst. »Natürlich, Exzellenz.« Dann schaute er an Fürstenberg vorbei und ging zu seiner Schatulle und dem Oktavheftchen, das auf einer Konsole bereitlag, wie um es zu holen. In Wirklichkeit überlegte er fieberhaft. Wieder war er in eine Lage geraten, die ihm keinen Raum ließ, ohne Chance, den Transmutations-Prozeß in Ruhe ausreifen zu lassen. Dennoch durfte er Fürstenberg weder die Enttäuschung noch seine Unsicherheit spüren lassen. Er mußte ihn überzeugen. Fürstenberg war ihm zum Tischchen gefolgt. Böttger nahm seine Schatulle und das Heftchen, richtete sich auf und drehte sich um, hob mit burschikoser Geste strahlend die Hand, um Fürstenberg auf die Schulter zu klopfen. Gerade noch rechtzeitig fiel ihm ein, daß dies beim Statthalter völlig unangebracht war, woraufhin er sinnlos mit der 106
überflüssig erhobenen Rechten in der Luft herumfuchtelte. »Natürlich wird unser Projekt Erfolg haben, Exzellenz. Uns gehört die Zukunft. Ich mache Ihnen das Gold … Wir werden es machen.« Irritiert blickte Fürstenberg auf Böttgers herumfuchtelnde Hand, bis dem eine passende Lösung einfiel und er sie Fürstenberg entgegenstreckte. »Besiegeln wir es.« Beruhigt nahm der sie an. »Besiegeln wir es«, bestätigte er ernst.
*** Die Nachricht von der Niederlage des Königs erreichte Charlotte, kurz nachdem sie beschlossen hatte, trotz des schlechten Wetters auszureiten. Schnell schrieb sie ein Billett an die Gräfin Krahl, um sie für den Nachmittag einzuladen. Vielleicht wußte sie nähere Einzelheiten über die Geschehnisse in Polen. Sie selbst fand die Niederlage halb so schlimm. Konnte es nicht dazu führen, daß der König sich nach Dresden zurückzog? Den Worten der Gräfin zufolge war das augenblickliche Hofleben ohne Seine Majestät ohnehin kaum der Rede wert, trotz der Soupers, die sie veranstaltete. Mit dem König in Dresden konnte ihr Mann nicht umhin, sie irgendwann in die Gesellschaft einzuführen. Das verlangte seine Position. Nachdem Sie einen Diener mit dem Billett zur Gräfin geschickt hatte, zog Charlotte ihre alte Jagdkleidung an – eine lange, feste Lederhose, einen gefütterten Lederrock und gespornte hohe Stulpenstiefeln, alles derb und wenig damenhaft, aber dem schlechten Wetter angepaßt – und schwang sich aufs Pferd. Die Stadt glich einem aufgescheuchten Bienenstock. Trotz des unwirtlichen Wetters herrschte reger Verkehr. Menschen und Kutschen drängten sich durch die Straßen und Gassen. Kleine Gruppen von Bürgern und Dienstpersonal standen überall herum und diskutierten. Gassenjungen kungelten wichtigtuerisch zusammen. Erst als sie eine Weile unterwegs war, merkte sie, daß man ihr befremdet hinterhersah. Ihre Jagdkleidung war denkbar unpassend in der Stadt, aber sie war bequem, und es amüsierte Charlotte, daß man 107
sie nicht als Frau erkannte. Das gab ihr ein Gefühl von zusätzlicher Freiheit. Ihr Haar hatte sie unter den breitkrempigen Hut gesteckt, ein ausgeblichenes, verwegenes Ding – ein Talisman – eigentlich ein Männerhut, den sie als Dreizehnjährige ihrem Vater abgebettelt hatte. Ihr Vater hatte sie wie einen Sohn erzogen, den er sich gewünscht hatte, und ihr Pistolenschießen, Fechten und Jagen im Herrensattel beigebracht. Bis er eines Tages einsehen mußte, daß sie sich unübersehbar zur Frau entwickelte. Unwillkürlich hatte Charlotte den Weg zum Palais des Fürsten eingeschlagen. Als sie es bemerkte, schüttelte sie über sich selbst den Kopf. Dieser Böttger übte eine magische Anziehungskraft auf sie aus, obwohl er nur ein kleiner Bürgerlicher war, ein Geselle. Sie gestand sich ein, daß der Standesunterschied sie weniger störte, als es allgemein üblich war. Ihre Mutter stammte aus altem dänischem Adel, eine Gräfin. Ihr Vater dagegen war nur ein ›von Darsdorf‹, ein Habenichts geradezu. Aber die zärtliche Zuneigung ihrer Eltern hatte Anfeindungen wegen dieser Mesalliance überstanden. Vor allem die Mutter hatte stets zu ihrem Vater gehalten, obwohl der ein ziemlich aufbrausender Mann war, unnachgiebig zu seinen Leibeigenen, konservativ, was die Wirtschaft im Gut anging. Doch im Umgang mit der Familie mäßigte er sich, war ein Kamerad, mit dem man Pferde stehlen konnte. Nun war es Cecilie, die bei ihren Eltern aufwuchs. Sie war jetzt anderthalb und konnte schon ganz gut sprechen, hatte ihre Mutter geschrieben. Ein fremdes kleines Mädchen. Glück für die Kleine, daß sie nicht im Haus des unbegreiflichen Herrn Schönberg leben mußte mit einer Mätresse unter demselben Dach. Einmal hatte sie dort einen verwahrlosten Jungen herumhuschen sehen, von dem sie nicht wußte, ob er zum Hausstand gehörte. Im Grunde fühlte sich Charlotte in Schönbergs Haus inzwischen ziemlich einsam. Vielleicht ließ deswegen ihre Neugier für Böttger nicht nach. Böttger. Immer stand dieser Mann im Sonnenlicht, gestern genauso wie in Berlin. Heute nieselte es. Es war kein Böttger-Tag. Trotzdem ritt sie zum Palais des Fürsten, obwohl sie nicht glaubte, daß sie ihn sehen würde. 108
Sie bog in die Friedrich-August-Allee ein, an der das fürstliche Palais lag. Schon von weitem sah man eine Schlange von Kutschen, die vor dem Palais aufgereiht waren. Verwundert bemerkte sie, daß sächsische Fahnen die Fenster von Böttgers Zimmer bedeckten, und sie hielt ihre Stute gegenüber dem Palais an. Ihr fielen die seltsamen Ausflüchte des Fürsten ein, mit denen er die Anwesenheit des Goldmachers hatte vertuschen wollen. Warum eigentlich diese Geheimnistuerei? Böttger war ein Genie. Warum schmückte sich der Fürst nicht mit ihm? Offensichtlich hielt der Fürst seinen Goldmacher ebenso versteckt, wie es sich der Herr von Schönberg mit ihr in den Kopf gesetzt hatte. Ein Wachoffizier aus der Garde vor dem Palais schritt energisch auf sie zu. »Haben Sie hier ein Geschäft zu erledigen, mein Herr?« Charlotte schüttelte verblüfft den Kopf, hütete sich aber zu sprechen. »Dann möge der Herr bitte weiterreiten, wenn's beliebt.« Der Offizier fügte dem Befehl eine unmißverständliche Handbewegung hinzu. Gestern hatte derselbe Offizier bei ihrem Anblick strammgestanden. Sie hütete sich, das Mißverständnis aufzuklären, und gab dem Pferd die Sporen. Als Charlotte zur Elbe kam, schlug sie den ihr noch unbekannten Weg flußaufwärts ein. Das Tal wurde hier allmählich enger, die Hügel rückten näher heran, kahle Rebstöcke gaben ihnen ein schwarzes Muster. Weiß getünchte, kleine Häuser standen dazwischen, eine beruhigende, kultivierte Landschaft. Immer weiter galoppierte Charlotte den Treidelweg am Elbufer hinauf. Niemand außer ihr war unterwegs. Nur einmal überholte sie ein schwerfälliges Pferdegespann, das einen Lastkahn elbaufwärts schleppte. Nach etwa einer Stunde bog der Weg landeinwärts. Der Park des Schlosses Pillnitz, des einstigen Schauplatzes glänzender Sommerfeste des jungen Kurfürsten, versperrte ihr den Weg. Gelangweilte Wachen am Tor glotzten zu ihr herüber. Unbekümmert sprang Charlotte vom Pferd und ging einige Schritte zum Strom hinunter. Man hatte das Schloß mit seiner weit ausschwingenden Freitreppe zum Wasser hin an einer scharfen Linksbiegung der 109
Elbe erbaut. Flußabwärts konnte man gerade noch die Turmspitzen Dresdens, flußaufwärts bis zum Elbsandsteingebirge sehen. Gegenüber waren Auen, dahinter ein Waldgebiet, wahrscheinlich ein herrliches Jagdrevier für Fasane und Rotwild. Wie schön mußte es ein, wenn der König diesem attraktiven Platz wieder Leben einhauchen würde. Während Charlotte sich auf den Weg zurück nach Dresden machte, spürte sie, daß der stetige Nieselregen ihre Reithose durchnäßt hatte. Sie klebte an ihren Schenkeln. Rechts am Hang tauchte eine Schenke auf. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, dort einzukehren und sich aufzuwärmen. Aber es wäre doch reichlich frivol gewesen, sich als Jäger auszugeben und der Serviermagd den üblichen Klaps auf den Hintern zu geben.
*** Anfang Dezember und weit nach Mitternacht klopfte Böttger ein kleines, pyramidenförmiges Stück Gold aus einem spitz zulaufenden Tiegel, geformt wie das Stück, das der Preußenkönig besaß. Mit glänzenden Augen betrachtete Fürstenberg den Goldregulus, stolz, als hätte er ihn selber geschaffen. Erschöpft von zwei Wochen harter Arbeit, der Hitze im Labor, aber glücklich über den Erfolg ließ sich Böttger gegenüber von Fürstenberg auf den Stuhl fallen. Ihre rußverschmierten Gesichter glänzten vor Schweiß, ihre Hemden hatten kaum noch weiße Stellen. Nur zum Auffüllen der Bierkannen hatte Albert das Labor betreten dürfen. Fürstenberg hatte darauf bestanden, selbst zuzupacken. Sie hoben ihre Bierkannen und prosteten sich zu. Böttger ließ seinen Blick durch das Labor schweifen, das seinen Studierstubencharakter völlig verloren hatte. Böttgers Stolz war eine neue Rauchabzugsregulierung, mit der sich die Hitze in der Feuerstelle besser steuern ließ. Der Holzvorrat war bis auf kümmerliche Reste zusammengeschmolzen, in einer Ecke lagen die Scherben von Töpfen und Tiegeln, verbogene Greifzangen, verkrustete Lochbleche. Behutsam griff Fürstenberg nach der Phiole mit dem Arkanum und ließ die rubinrote Flüssigkeit im Schein des Feuers funkeln. Dann 110
nahm er eine zweite Phiole mit Quecksilber hoch. Allein zwei Tage und Nächte hatte Böttger daran gearbeitet, das Quecksilber in einem aufwendigen Diszensionsverfahren in absoluter Reinheit zu gewinnen. Eine einmalige, hochwirksame Substanz, wie der Alchemist betont hatte. Nur wenige Tropfen vom Quecksilber wie vom Arkanum hatte Böttger zur Herstellung des Goldes benötigt. Beide Phiolen waren noch fast voll. Fürstenberg räusperte sich. »Monsieur le Baron, es ist nun der Wunsch unserer Majestät, das Experiment höchstpersönlich zu wiederholen.« Böttger sah ihn erstaunt an. »Dann reisen wir also nach Warschau?« »Nein, ich reise allein.« Fürstenberg schob den Stapel beschriebener Blätter zusammen, stand auf, ging in den Nebenraum, wo sein Rock hing, und holte ein vergoldetes, mit Edelsteinen besetztes Kästchen aus der Tasche, stellte es auf den Tisch und klappte es auf. Innen war es mit blauem Samt ausgepolstert. Behutsam legt er die beiden Phiolen hinein. Wie hypnotisiert folgte Böttger Fürstenbergs Bewegungen, und in seinem Gesicht begann sich Panik abzuzeichnen. Fürstenberg deutete es auf seine Weise. »Monsieur le Baron, niemand außer Seiner Majestät und mir wird diese Kostbarkeiten je zu Gesicht bekommen. Gleiches gilt für meine Aufzeichnungen, das versichere ich Ihnen.« Das beruhigte Böttger keineswegs, denn die Transmutation des Königs mußte fehlschlagen. Am Ende dieser zwei Wochen hatte er sich gezwungen gesehen, seinen Berliner Trick anzuwenden. Vier seiner Golddukaten, die er in einem schmalen Leinenband versteckt am Körper trug, hatte er opfern müssen. Natürlich hätte er Fürstenberg aus Blei, ein wenig Schwefel und seinem Arkanum einen Goldklumpen fabrizieren können. Zumindest etwas, das aussah wie ein Goldklumpen. Doch das wäre gefährlich gewesen, denn das Gold sollte noch von einem Metallurgen der Erzbergwerke geprüft werden. Vor dem Fürsten lag daher echtes Gold, nur eben kein künstliches. Letzteres konnte er unmöglich zugeben. 111
Wie aber sollte er Fürstenberg aufhalten, ohne Mißtrauen zu erregen? Andererseits – mußte es eigentlich gefährlich für ihn werden, wenn der König und sein Statthalter scheiterten? Zumal sie nicht völlig scheitern würden? Höchst kunstvoll hatte Böttger ein wenig Gold im Quecksilber aufgelöst, weswegen er es innerlich schmunzelnd als ›hochwirksam‹ bezeichnet hatte. Der König und sein Statthalter würden daher ein klein wenig Gold in ihrer Legierung haben. Mußten sie das nicht als Beweis für das Funktionieren seines Arkanums nehmen? Wenn man dann das Gold untersuchte und den geringen Anteil von Gold feststellte, konnte man diesen Umstand nicht auf die Unzulänglichkeit der Experimentierenden schieben? Wenn alles so lief – und weswegen sollte es anders laufen –, mußte das seine eigene Position aufwerten, ihn erst recht unentbehrlich machen! Er mußte ein Grinsen unterdrücken und setzte statt dessen eine sehr bedenkliche Miene auf. Er durfte Fürstenberg nicht enttäuschen, der Widerstand erwarten würde. »Unmöglich, Exzellenz. Das geht nicht.« »Und wieso? Ich habe alles genauestens aufgezeichnet.« »Die Transmutation, Exzellenz, ist, wie Sie wissen, äußerst schwierig. Sie gelingt nicht immer … und nicht jedermann. Die Kunst …« »Nennen Sie Seine Majestät ›jedermann‹, Monsieur?« unterbrach Fürstenberg ihn scharf. »Bei allem gebührenden Respekt vor den mit Sicherheit beispiellosen Fähigkeiten Seiner Königlichen Majestät, Exzellenz, chemische Substanzen sind keine Untertanen, sie sind … äh … wenig gehorsam.« Fürstenberg tat den Einwand ab. »Ich habe jede Kleinigkeit, jede Handbewegung und Phase aufgeschrieben. Warum sollte also Seiner Majestät und mir die Transmutation nicht gelingen?« Eine Spur von Mißtrauen schien im Ton von Fürstenbergs Stimme zu liegen. Böttger beeilte sich, seine Argumente zu untermauern. »Es gehört sehr viel Erfahrung dazu, Exzellenz. Die richtige Hitze des Feuers, das Abpassen des rechten Augenblicks, das verlangt Gefühl, Intuition. Beides erwirbt man nicht von einem Blatt Papier. Vor allem aber muß al112
les mit der größten Gottesfurcht geschehen, das Beten um Gottes Segen für die Transmutation, es ist ein Schöpfungsakt … Sie selbst sagten doch: Wenn es einfach wäre, so hätten es schon viele vollbracht.« Für einen kurzen Moment unsicher geworden, glitt Fürstenbergs Blick zwischen dem Goldregulus und seinen Aufzeichnungen hin und her. Dann klappte er den Deckel über den kostbaren Phiolen entschlossen zu. »Im Gegensatz zu Ihnen habe ich durchaus Vertrauen in unsere Fähigkeiten. Seine Majestät und ich werden uns auf das genaueste an Ihre Anweisungen halten … Ich verspreche Ihnen feierlich, daß es an Lob und Anerkennung nicht fehlen wird, wenn ich zurückkomme.« »Und meine Freiheit?« »Darüber werden wir dann reden.« »Sie müssen mich Frau von Schönberg vorstellen.« »Das Thema hatten wir schon. Langweilen Sie mich nicht mit Ihrer Impertinenz.« Böttger sprang auf. »Sie werden doch noch wissen, wie es ist, wenn man liebt, Exzellenz.« Fürstenberg sah Böttger spöttisch an. »Wäre es nicht viel schlimmer für Sie, wenn Sie erkennen müßten, daß die Dame Sie gar nicht wahrnimmt – einen Apothekergesellen? Seien Sie vernünftig.« »Einen Goldmacher, Exzellenz, einen Künstler in der Naturwissenschaft. Halten Sie nicht auch den Hofgoldschmied Dinglinger oder den Bildhauer Permoser in Ehren? Sind nicht erworbene Verdienste den ererbten gleichzusetzen?« »Lassen Sie diese Spitzfindigkeiten. Gott hat die Menschen an ihren Platz gestellt, wo sie ihre Pflicht erfüllen sollen. Und noch steht der größte Teil von Ihnen aus. Dies hier«, dabei klopfte er auf das Kästchen, »ist doch nicht mehr als ein kleiner Anfang.« Böttger nickte ernüchtert. »Natürlich, Exzellenz.« Fürstenbergs Miene wurde freundlicher. »Ich denke, ich werde dafür sorgen, daß sich Ihre Säfte nicht zu sehr anstauen. Das wird Sie auf andere Gedanken bringen.« Böttger sah ihn fragend an, doch Fürstenberg hatte sich schon zum Ausgang des Labors gewandt. Er hatte es eilig, nach Warschau zu kommen. 113
Wachen begleiteten Böttger zu seinem Quartier. Der Statthalter hatte ihm eine gemütliche Mansardenkammer im rückwärtigen Teil des Palais zugewiesen, von dem man nur auf Dächer schaute. Wieder war er eingesperrt, Wachen standen auch hier vor der Tür, aber das hatte ihn bisher wenig gestört, weil er die meiste Zeit im Labor verbracht hatte. Doch schon bald nach Fürstenbergs Abreise fiel Böttger die Decke auf den Kopf, trotz der vielen Bücher, die ihm der Fürst hatte bringen lassen. Auch die Speisen änderten sich. Er bekam das normale Dieneressen, meistens Brot und Brei, dazu dünnes Dresdner Bier. In der Küche sollte nichts auf einen Gast mit gehobenen Ansprüchen im fürstlichen Palais hinweisen. Zwei Tage nachdem der Fürst abgereist war, kündigte Albert für den Abend den Besuch einer Dame an, die wohl willig wäre, ihm den einen oder anderen Wunsch zu erfüllen. Die Dame war vollbusig, hieß Lena, hatte lange, dunkelbraune Haare, eine kleine Stupsnase und war von erfahrener Lüsternheit. Ihre Scham war rasiert. Fasziniert strich Böttger wieder und wieder über die stimulierenden, kleinen, dunklen Stoppeln auf dem Venushügel und mußte an sich halten, um nicht vorzeitig zu kommen. Dann zeigte er ihr, was er bei Barbara gelernt hatte. Vielleicht waren Lenas Liebkosungen ein wenig routiniert, aber der Fürst hatte recht: Sie machten die Gefangenschaft erträglicher. Es blieb nicht bei einem Abend. Aber mit jedem ihrer Besuche verlor sich der Reiz. Böttger begann Abscheu vor sich selbst zu empfinden. Nicht, weil Lena eine Hure war. Es war ein unbestimmtes Gefühl, fast ein schlechtes Gewissen, daß er Charlotte verriet, die er sich in den Momenten höchster Lust vorstellte. Schließlich befahl er Albert, Lena nicht mehr zu bringen und auch keine andere, willige Dame. Die kurzen Augenblicke der Lust wogen seine unbefriedigte Sehnsucht nach Charlotte nicht auf.
*** Ungeduldig schnauzte Seine Kurfürstlich-Königliche Majestät Au114
gust II. den Coiffeur an, weil die Perücke noch nicht perfekt saß. Der schwammige Kleine umtanzte den König und stach gezielt mit dem Stiel des Kammes in die Locken, hob sie hier ein wenig, klopfte sie dort ein wenig zurück, bis August ihn fortscheuchte und nach dem mit Silberfuchs gefütterten, strahlend roten Rock rief, den er zur neuen, golddurchwirkten Weste mit den Aquamarinknöpfen tragen wollte. Er betrachtete sich im Spiegel. Die polnischen Fürsten geizten auch nicht gerade mit prunkvoller Garderobe; manche dieser Magnaten verfügten über Ländereien, die sein Sachsen an Größe übertrafen. Aber er war ihr König und mußte es beweisen. Außerdem hatte er heute alle ausländischen Gesandten geladen, Franzosen, Österreicher, Russen, Dänen, Litauer, Brandenburger usw. um ihnen ein ungewöhnlich eindrucksvolles Schauspiel höchster handwerklicher Kunst zu bieten. Minher van Dropen, der holländische Porzellanhändler, war endlich aus China zurückgekehrt und hatte eine höchst exquisite Porzellankollektion mitgebracht. So wenigstens lautete die Ankündigung, und August kannte den Händler lange genug, um sich darauf zu verlassen. Die Kollektion wurde beim Pelzhändler Radorsky aufgebaut, der sich in wenigen Jahren einen sagenhaften Reichtum erworben hatte, ermöglicht durch die polnisch-sächsische Personalunion des Königs. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, seinen Saal für diese einmalige Ausstellung zur Verfügung zu stellen. Porzellan war rar. Porzellan war teuer. Man wog es mit Gold auf. Vielleicht gerade deshalb war es die große Mode an allen europäischen Höfen. August war geradezu verrückt nach Porzellan, bezeichnete es selbstironisch sogar als seine ›maladie de porcelaine‹. Ungeheure Mengen Geld opferte er dieser Leidenschaft, obwohl er längst die prächtigste Sammlung Europas besaß. August hatte sogar Sachsens renommiertesten Wissenschaftler, Ehrenfried Walther von Tschirnhaus, durch ganz Europa geschickt, um in allen Töpfer-, Fayence- und Kachelmanufakturen nach dem Rezept für das Porzellan zu spionieren. Vergeblich. Nichts hatte Tschirnhaus, dem als Mitglied der exklusiven Académie française in Paris alle Türen offenstanden, herausgefunden. 115
Nach wie vor besaß der Ferne Osten das unschätzbare Porzellanmonopol. Noch einmal kontrollierte August sich im Spiegel, drehte sich ins Profil nach links, dann nach rechts. Alles saß perfekt. Face bella figura, die unabdingbare Maxime der italienischen Männer war ihm seit seinen unbeschwerten Tagen in Venedig zur zweiten Natur geworden. August mußte mit großem Abstand der strahlendste am Hof sein. Zufrieden nickte er seinem Kammerherrn zu. Der Kammerherr gab das Nicken an den Kammerdiener weiter, der an den Pagen, der an die Lakaien. Letztere rissen sofort die Türen auf, und ein Wachsoldat rief den Gang hinunter: »Seine Königliche Majestät!« Der Ruf setzte sich durch alle Gänge und Treppenhäuser fort. Jedermann sollte auf den König vorbereitet sein. Fünf Schritte hinter dem König folgte der Haushofmeister, der bei jeder dieser kleinen Paraden durch das Schloß mit Argusaugen über die Einhaltung der Etikette wachte. Mit schnellen Schritten verließ der König sein Gemach. Links und rechts vor ihm paßten sich zwei Schweizer Gardisten seinem Tempo an. Augusts Abteilung Schweizer Gardisten war eine Reverenz an den Papst, die seine Treue zu Seiner Heiligkeit und dem katholischen Glauben dokumentieren sollte. Vor dem Schloß wartete die goldverzierte Sänfte, aus der man bei Ankunft des Königs den heißen Stein vom Sitz entfernen würde. Vier Träger, sechzehn Fackelläufer und zwanzig mit goldenen Tressen geschmückte magyarische Reiter, die Leibgarde des Königs, bildeten die Begleitung. Dazu kamen noch zwei berittene Trompeter und zwei Pauker aus der Janitscharenkapelle. Fanfaren erklangen, und die Trommeln dröhnten, als der König in der Tür erschien. Jedermann sollte hören, daß sich Seine Majestät auf den Weg durch die Stadt begab, auch wenn keine Menschenseele in dieser kalten Dezembernacht zu sehen war. Der König bestieg die Sänfte, und der Zug setzte sich im Laufschritt in Bewegung. 116
Die unbeleuchtete Straße wurde von einstöckigen Holzhäusern gesäumt. Noch war Warschau eine ärmliche Hauptstadt. Erst partiell gewann sie durch neue Palais an Glanz. Es war eins der königlichen Projekte, diesen betrüblichen Zustand zu ändern. Krakau, die alte Königsstadt Polens, war zwar bei weitem prächtiger, lag aber verkehrsmäßig ungünstig. Darum sollte Warschau zum zentralen Handelsplatz Polens aufgebaut werden. Doch all das dauerte, und die Kosten waren enorm. Allein der Ausbau des katastrophalen Straßennetzes Polens verschlang Unsummen. Man bog in ein neueres Viertel mit vielen Steinhäusern ab, und kurz darauf erreichte die Kavalkade das Palais des Pelzhändlers. Wieder erklangen Fanfaren und Trommelwirbel. Die Fackelträger bildeten ein Spalier zum Eingang, Rufe kündigten die Ankunft Seiner Majestät an. Die Wachen salutierten, der Pelzhändler eilte dem König entgegen, um ihn unter tiefen Demutsbezeigungen zu begrüßen. Die barocke Pracht seines Palais konnte sich durchaus mit sächsischen Bauten messen. Das Spalier der Diener setzte sich in der Eingangshalle fort und führte nach rechts durch eine hohe, zweiflügelige Tür zum Prunksaal. Er war an die dreißig Meter lang und wurde von Hunderten von Kerzen erleuchtet, die Wände hatte man mit gelben chinesischen Seidenbahnen drapiert. Auf der rechten Seite zwischen vielarmigen Kandelabern hatte man die Porzellankollektion auf mit blauem Samt bedeckten Tischen aufgebaut. Gegenüber wartete, wie hinter einer unsichtbaren Schnur aufgereiht, an die Wand gedrängt der Hofstaat. Vorne in der ersten Reihe standen die ausländischen Gesandten, der Kanzler Graf Haxlingen, Oberhofmarschall Graf von Pflug und Ursula Lubomirska. Als Mätresse des Königs kam sie in der Hierarchie des Hofes noch vor der hohen polnischen und sächsischen Aristokratie, die in der zweiten Reihe vorne stand, nach hinten zu staffelte sich der niedere Adel. Zwischen dem Hofstaat und dem Porzellan hatte man einen langen Tisch mit rotem Samt aufgestellt, auf dem man die Porzellanstücke absetzen würde, die sich der König aussuchte. 117
Beim Betreten des Saals durch den König verneigten sich die Herren lang anhaltend, während die Damen in den Hofknicks sanken. Ohne Eile ließ der König seinen Blick über die hundert Geladenen schweifen, die gebückt verharrten. Dann verbeugte er sich lächelnd und gestattete damit dem Hofstaat, sich wieder aufzurichten. Am Ende des Saales befolgte Minher van Dropen, um Korrektheit bemüht, peinlich genau das Ritual und gab einem Cembalospieler und einem Geiger ein Zeichen. Leise französische Tanzmusik setzte ein. August notierte für sich die glänzende Idee des Holländers, die Ausstellung mit Musik zu untermalen. Er würde sie den Händlern auf der Leipziger Messe empfehlen. Er nickte Minher van Dropen anerkennend zu und deutete dabei ein kleines Händeklatschen an. Dann wandte er sich dem Porzellan zu. Schon ein erster Rundblick zeigte ihm, daß der Holländer nicht zuviel versprochen hatte. Es war tatsächlich eine wunderbare Partie. Er schritt zum ersten Tisch, auf dem verschieden große Aufsätze thronten, wodurch sich eine Stufenpyramide ergab. Jeder Stufe waren bestimmte Figuren zugeordnet. Auf der untersten gab es Lastenträger, Frauen mit Körben, Bauern und Katzen. Auf der zweiten Stufe folgten sitzende Figuren, einige schienen in kleinen Kammern zu sitzen, die Schuhe ordentlich davor abgestellt, andere hatten winziges Teegeschirr vor sich, wieder andere saßen nur gemütlich lachend da. Auf der dritten Stufe tummelten sich Tänzerinnen und Akrobaten, und ganz oben wurden chinesische Heilige von Vögeln umrahmt. Die meisten Stücke waren mit feinen Pinselstrichen bunt bemalt, die feinsten Arbeiten aber waren unbemalt und schimmerten weiß im Kerzenlicht. Die Lebendigkeit der Tänzerinnen stach besonders ins Auge. Mit großer Behutsamkeit ergriff August eine von ihnen, drehte sie behutsam in seinen kräftigen Händen, was die grazile Figur noch zerbrechlicher wirken ließ. Strahlend wandte er sich zum Hofstaat und hielt sie hoch. »Wie unglaublich zart, wie fließend die Form!« Beifälliges Gemurmel erhob sich, man nickte sich zu. Als das Raunen abgeklungen war, winkte August einem Diener und ließ die Tänzerin auf den freien Tisch in der Mitte des Raumes stellen. Der Hof118
staat applaudierte. August quittierte den Beifall mit einer leichten Verneigung. Diese kleine Zeremonie wiederholte sich häufig. Bei den Vasen pickte sich August Stücke mit besonders gelungener Bemalung heraus, die kleine Gesellschaften in Pavillons an Teichen unter fremdartig breit ausladenden Bäumen darstellten. Und dann noch einen riesigen Kübel, eine Wanne fast, der zur Kühlung von Getränken gedacht war. Bevor sich August dem letzten und längsten Ausstellungstisch zuwandte, gab er dem Hofstaat ein Zeichen. Die Gesandten und andere aus der ersten Reihe durften nun ebenfalls mit dem Begutachten der Kollektion beginnen und kaufen. Graf Haxlingen war einer der ersten, der die übriggebliebenen Figuren mit gierigen Augen betrachtete. August verzog keine Miene. Er kannte die Sucht des Kanzlers. Sie war seiner eigenen durchaus ähnlich, der Kanzler hatte schon ganze Partien in Amsterdam aufkaufen lassen. Augusts Blick wanderte weiter und suchte Ursula Lubomirska. Er fand sie am Tisch mit den von ihm ausgesuchten Stücken. Als sie seinen Blick spürte, hob sie einen dicken, fröhlich lachenden Chinesen an, auf dessen Knie ein Frosch saß. August zwinkerte ihr zu. Er würde ihr die Figur schenken. Plötzlich entstand Unruhe an der Tür. Der Haushofmeister trat vor, klopfte mit dem Stab auf den Boden, und die Musik brach ab, bevor er verkündete: »Seine Exzellenz, der Statthalter Seiner Majestät, Fürst Anton Egon von Fürstenberg.« Porzellan klirrte zu Boden. August fuhr herum. Vor den Füßen des litauischen Gesandten und Grafen Haxlingen lag eine zerbrochene Tasse. Beide sahen sich ebenso erschrocken wie vorwurfsvoll an. Absolute Stille herrschte. Augusts erster Impuls war, die beiden anzubrüllen. Er lief rot an bezwang sich aber. Kanzler und Gesandter standen sich nun wie Kampfhähne gegenüber. Er würde ihre Wut nur noch schüren, ein Duell konnte daraus entstehen. Er haßte Streit – vor allem in seiner Gegenwart. Streit verdarb ihm die Stimmung. Sein Blick streifte zufällig Pater Vota, seinen Beichtvater, der die zusammengelegten Hände nach 119
oben öffnete, als er seines Königs Aufmerksamkeit spürte. August verstand. Von einer Sekunde zur nächsten lächelte er und befand mit einer charmanten, resignierten Geste: »Un malheur … Gott hat es gegeben, Gott hat es genommen.« Die Spannung löste sich. Nur Pater Vota warf wegen dieser doch etwas blasphemischen Ausdrucksweise einen leicht verzweifelten Blick gen Himmel. Am Eingang wartete inzwischen Fürstenberg mit einem leicht mokanten Lächeln auf den Lippen. Als ihn der Blick des Königs traf, machte er einen kleinen Ausfallschritt und verneigte sich nach allen Seiten. »Eure Königliche Majestät, Exzellenzen, Mesdames et Messieurs. Bitte verzeihen Sie mir mein verspätetes Eintreffen. Aber ich wollte es mir nicht nehmen lassen, bei dieser hervorragenden Schau fernöstlicher Kunstfertigkeit dabeizusein, auch wenn ich kein so hervorragender und unerreichter Kenner bin, wie Seine Königliche Majestät es sind.« Fürstenbergs Erscheinen irritierte August. Warum verließ sein Statthalter seine pflichtgemäße Position in Sachsen? Warum hatte Fürstenberg die beschwerliche Reise in der schon winterlichen Kälte auf sich genommen, obwohl lange Reisen ihm zuwider waren? Warum vertraute er seine Botschaft nicht einem geheimen Kurier an? Dennoch quittierte er Fürstenbergs Schmeichelei und Begrüßung mit einem geübten Lächeln. »Willkommen, Exzellenz, wie schön, daß Sie uns die Freude Ihrer überraschenden Gegenwart gönnen.« Das war eine Rüge. Man überraschte den König nicht, während er seiner Leidenschaft frönte. Fürstenberg verneigte sich erneut und verharrte länger gebückt, zum Zeichen, daß er die Rüge akzeptierte. August warf noch einen letzten Blick zu den beiden Kampfhähnen, die sich wieder beruhigt zu haben schienen, und gab ein Zeichen. Die Musik setzte wieder ein. Nach der Unterbrechung brauchte August eine Weile, um seine Konzentration wiederzufinden. Er starrte die Porzellanstücke an, ohne die Feinheiten der Bemalungen würdigen zu können. Noch einmal ging er den langen Tisch mit den verschiedenen Service ab. Zwei Service sta120
chen ihm ins Auge, eins mit feinem Blumenmuster und ein anderes mit Schmuckelementen in kräftigem Kobaltblau, das auf dem strahlenden Weiß des Porzellans leuchtete. Er entschied sich für das Geschirr mit dem Blau. Man räumte es auf seinen Tisch. Glücklich überflog er die herrlichen Stücke, die jetzt in seine Sammlung übergehen würden, und ließ sich auf einem Sessel nieder, selbstverständlich die einzige Sitzgelegenheit im Saal. Man hatte ihn so postiert, daß er den Tisch mit seiner Auswahl bequem betrachten konnte. Die Herren und Damen des Hofstaats hielten Abstand, um ihn nicht zu stören. Augusts Blick schweifte durch den Raum, ohne jemanden genau anzuschauen, damit es nicht als Aufforderung mißverstanden werden konnte, sich ihm zu nähern. Zufrieden sah er, daß Haxlingen und der litauische Gesandte darin wetteiferten, dem anderen bei der Auswahl der Vasen den Vortritt zu lassen. Ein mühsam gedämpftes Lachen hinter ihm machte ihn neugierig, und der König schaute sich um. Ertappt, mäßigten Fürst Fürstenberg und Pater Vota ihre Heiterkeit unter Augusts Blick. August winkte dem Statthalter. »Sie sind mir noch eine Erklärung schuldig, Exzellenz. Was hat Sie hierher getrieben?« Während Fürstenberg näher trat, sah er den König geheimnisvoll triumphierend an und beugte sich zu ihm hinunter. »Königliche Majestät. Sie erinnern sich sicher noch an die kurze Eildepesche, die Sie mir gesandt haben?« August nickte, sein Gesicht wurde ausdruckslos. »Weiter«, knurrte er leise. »Es wurde ein voller Erfolg, Königliche Majestät. Wir werden … mit großer Sicherheit … etwas sehr Kostbares künstlich herstellen können.« Fürstenberg griff in seine Rocktasche und holte in der geschlossenen Rechten etwas hervor. Lediglich für August zu sehen, öffnete er die Hand ein wenig, so daß der Goldregulus aufblitzte. Fürstenberg schloß die Finger um ihn. »Der Herr, der dieses Teil her121
zustellen vermochte, ist wohlverwahrt in Dresden, Königliche Majestät.« Augusts Kinnmuskeln spielten, mehr verriet sein Gesichtsausdruck nicht. »Sie sind ein Genie Fürstenberg! … Wer weiß davon?« »Niemand außer mir, Königliche Majestät.« »Sicher?« »Vielleicht ahnen die von Brandenburg-Preußen etwas, aber höchstens, daß der Mann in Sachsen … verschwunden ist, mehr nicht. Sie haben keine Spur.« »Gut, das muß so bleiben.« Sie hatten so leise gesprochen, daß niemand ihr Gespräch hätte belauschen können. Da es Menschen gab, die von den Lippen lesen konnten, vermieden beide, etwas beim Namen zu nennen. »Das erklärt aber immer noch nicht Ihre Anwesenheit hier, Exzellenz.« Fürstenberg begegnete dem Tadel mit Enthusiasmus. »Majestät, ich habe nicht nur genaueste Aufzeichnungen über den ›Vorgang‹, sondern führe auch alle notwendigen Utensilien mit mir, um ihn mit der sachkundigen Hilfe Eurer Königlichen Majestät durchzuführen.« Augusts Augen begannen zu glänzen. Vielleicht sollte er doch das Geschirr mit dem feinen Blumenmuster auch noch kaufen.
*** Nur ein Mann in Warschau glaubte zu wissen, daß es bei Fürstenbergs Auftauchen um Gold ging: Graf Haxlingen. Er behielt seine Vermutungen für sich, da es Seine Majestät für richtig befunden hatte, ihn in diese Angelegenheit nicht einzuweihen. Als der König im November die geheime Eildepesche an Fürstenberg sandte, hatte ihm das keine Ruhe gelassen. Er durchforstete die ›Leipziger Posaune‹ und fand unter anderem den Artikel über den Goldmacher. Aber sosehr ihn dieser Artikel auch bewegte, ergab es noch keinen Zusammenhang mit Fürstenberg. Erst als er wenig später einen Brief von Graf Haugwitz aus Berlin erhielt, in dem dieser amü122
sant über das Verschwinden des begehrten Goldmachers berichtete, bekam die Sache Konturen. Den Brief aus Berlin verschwieg er dem König, teils aus gekränkter Eitelkeit, teils weil er sehen wollte, was weiter geschah. Im nächsten Brief von Graf Haugwitz erfuhr er dann vom vergeblichen Sturm der Studenten auf das Schloß des Stadtkommandanten in Wittenberg. Zwei Tage später wurde in Berlin ein von Böttger geschriebener Brief übergeben, begleitet von dem Gutachten eines Leipziger Juristen. Böttger führte darin aus, daß er sich zu Recht in den Schutz Seiner Kurfürstlich-Königlich Sächsischen Majestät begeben habe, da er in Schleiz geboren sei. Das Gutachten bestätigte diese Rechtsauffassung. Haxlingen war sofort klargeworden, daß sich dieser Goldmacher die Rechtfertigung seiner Flucht nicht selbst ausgedacht hatte. Schleiz lag in der rechtlich selbständigen Grafschaft Thüringen, die mit Sachsen zwar konföderiert war, aber Steuern an den Kurfürsten nur nach eigenem Gutdünken zu zahlen brauchte. Ein derart windiges Gutachten, das diese Tatsache beiseite ließ, kam nicht auf Initiative eines Apothekergesellen zustande. Alles deutete auf einen gerissenen Mann hin der im Hintergrund die Fäden zog. Stellte man die Eildepesche des Königs in Rechnung, konnte dies nur Fürstenberg sein. Als nun Fürstenberg plötzlich in Warschau auftauchte, hatte Haxlingen die Bestätigung seiner Vermutungen derart aufgewühlt, daß ihm die Porzellantasse, die ihm der litauische Gesandte gerade übergeben wollte, aus der Hand gerutscht war. Sein wütender Blick auf den Gesandten war bloße Tarnung gewesen, hatte allerdings darum besonders echt gewirkt, weil es ihn zutiefst kränkte, daß nur Fürstenberg vom König in die Geschichte eingeweiht war. Gleich nach der Porzellanausstellung eilte Haxlingen zurück in die Staatskanzlei und alarmierte die Spionageabteilung. Seine Männer sollten herausfinden, ob nicht mit Fürstenberg ein weiterer Herr aus Sachsen angekommen war. Doch schon wenige Stunden später stand fest, daß Fürstenberg allein gekommen war, einmal abgesehen von seinen Dienern und einer ungewöhnlich zahlreichen Garde: Fünf123
zig Mann hatte er zur Bedeckung mitgenommen. Er ließ sie unter die Lupe nehmen, aber keiner kam als Goldmacher in Frage. Haxlingen hielt die Spione weiter zur Wachsamkeit an, vielleicht ließ man den Goldmacher inkognito nachkommen. Daß er die Spionageabteilung ohne Wissen des Königs einsetzte, war alltäglich. Die höchst engen Kontakte des Kardinalprimas zu den politischen Gegnern des Königs bedurften ständiger Aufmerksamkeit. Der König zog es vor, nichts über diese Observierungen zu wissen, die er selbstverständlich von Haxlingens Leuten erwartete. Als seine Majestät ihn, seinen Kanzler, auch einen Tag nach Fürstenbergs Ankunft nicht ins Vertrauen zog, fühlte Haxlingen sich erneut brüskiert. Er war es doch, der dem König bisher stets die so dringend benötigten Mittel besorgt hatte, die der Hof verschlang. Und Polen, dieses Faß ohne Boden. Wie er das bewerkstelligte, hatte Seine Majestät noch nie interessiert. Seine Majestät hielt einfach die Hand auf. Hätte er es nicht verdient zu erfahren, wenn sich eine neue, unermeßliche Geldquelle erschloß? Gerade die Geheimhaltung um den Alchemisten war ja der Beweis dafür, wie wertvoll dieser Mann für die Zukunft sein mußte.
Zwei Tage später erschien Herr von Schönberg in Warschau. Voller Selbstbewußtsein verkündete er dem König den Erfolg bei der Einführung seiner Generalakzise, die Haxlingen gern als uneffektiv darstellte, weil sie bisher nur Kleckerbeträge eingebracht hatte. In Wirklichkeit aber wollte er die Steuer verhindern, weil der Adel bei dieser Art Steuer jeglichen Einfluß verlor. Und dann wurde dem Federfuchser Schönberg auch noch die Gunst erwiesen, am Hof in Warschau zu bleiben, ›damit Seine Majestät über den Fortgang seiner Generalakzise immer bestens unterrichtet sei‹. Für Haxlingen jedenfalls war Herr von Schönberg ein Rivale. War der König dabei, ihm, seinem Kanzler, die Gunst zu entziehen? Haxlingen, der schon als Page dem König gedient hatte, teilte nicht 124
gern die Huld des Königs. All das brachte das Faß zum Überlaufen, und er beschloß, sich schadlos zu halten. Er erfand zusätzliche neue Ämter mit klingenden Titeln und minimalem Geschäftsbereich. Marschälle für Aufsicht über kleinste Waldstückchen, Elbabschnitte, Erfassung des Viehbestands usw. deren Obliegenheit nicht größer war, als den Titel zu tragen, weil die Arbeit längst von den verschiedensten Ämtern erledigt wurde. Das störte niemanden, solange der Titel den Inhaber in der Hofhierarchie nach oben klettern ließ. Ehrgeizige Ritter verkauften dafür ihre Güter. Es würde nicht das erste Mal sein, daß Haxlingen den Löwenanteil am Gewinn aus diesen Geschäften einstrich und nur einen kleinen Rest an die königliche Schatulle weiterleitete. Dies war um so einfacher, als keiner der neuen Amtsinhaber erpicht darauf war hinauszuposaunen, was er für den Titel bezahlt hatte. Beim Bergamt, dem das Münzwesen unterstellt war, mußte er anders vorgehen. Offiziell konnte er keine Anweisung geben, Münzen mit unzulässig ›mageren‹ Legierungen zu prägen. Das erledigte er durch Erlaß, der die Münzmeister verpflichtete, die Produktion von Groschen um ein Drittel zu erhöhen. Den Münzmeistern blieb nichts anderes übrig, als mangels ausreichender Mengen Kupfer mehr Eisen in die Groschenlegierung zu geben. Folgten sie nicht seinem Erlaß, würde man sie ihres Amtes entheben und in den Kerker stecken. Natürlich konnten sie Klage über das Vorgehen des Kanzlers führen und Beschwerden einreichen. Da dem Kanzler aber auch das Gerichtswesen unterstand, hatte er jede Möglichkeit zur Verschleppung eines Prozesses. Entschloß sich ein Münzmeister dennoch zur Beschwerde, würde diese erst dann am Hof landen, wenn die Münzen im Umlauf waren und der König seinen Gewinnanteil längst ausgegeben hatte. Indirekt machte er so den König zu seinem Komplizen und sich selbst unangreifbar. Graf Haxlingens Erlasse gingen wie üblich ohne Absprache mit dem König nach Sachsen. Seine Majestät war schließlich anderweitig beschäftigt – wie immer. 125
Siebtes Kapitel
F
ürstenberg war vom König beauftragt worden, einen geeigneten Raum zu finden, um ein Laboratorium darin einzurichten. Ein vorhandenes bei einem Apotheker oder Adligen anzumieten war wegen der Geheimhaltung undenkbar. Der Statthalter wählte einen Raum zum Innenhof des Warschauer Schlosses aus, der leicht vor neugierigen Blicken geschützt werden konnte. Der Platz hatte bisher zur Lagerung von Getreidesäcken gedient und besaß einfache Dielenbretter über einem gestampften Lehmboden, war trocken und geräumig; zudem lag er ebenerdig, weswegen man problemlos Rauchabzüge für die Feuerstelle und den Probierofen aufmauern konnte. Man setzte sie einfach vor die Außenwand. Die Bauausführung überwachte ein Festungsbaumeister, der eigentlich polnische Städte hätte befestigen sollen. Doch da der schwedische König schon an der Grenze stand, war es dazu zu spät. Der Konstruktion der Feuerstelle und des Ofens lagen Skizzen und Anweisungen Böttgers zugrunde. Jeden Tag erschien Fürstenberg, inspizierte den Fortgang der Arbeiten und drängte auf Fertigstellung. Um die Arbeit zu beschleunigen, ordnete der Baumeister an, nachts rund um das neue Mauerwerk Feuer zu unterhalten, damit der Mörtel trotz der winterlichen Kälte schneller aushärtete. Dennoch zogen sich allein die Maurerarbeiten zwei Wochen hin. Das Aufsehen, das dies hervorrief, spielte keine Rolle. Denn sich Labors einzurichten war die absolute Mode an den Höfen, weil jeder sich gern mit dem Nimbus eines Alchemisten schmückte. Die Größe des neuen Labors wunderte erst recht niemanden, schließlich war es für den König bestimmt. Dem König bot die Vorweihnachtszeit reichlich Gelegenheit, seine geliebten festlichen Aktivitäten noch zu steigern. Niemand sollte be126
haupten, daß die Niederlage gegen die Schweden ihn irgendwie beeindruckt hatte, noch, daß er an irgend etwas sparte. Dieser Gedanke war ihm geradezu unerträglich, und so hatte er gleich nach der Niederlage eine Theater- und einer Ballettkompanie aus Italien kommen lassen. Inzwischen verging kein Abend ohne Aufführungen. Die Ballettabende waren feinsinnige Unterhaltungen, die der König besonders liebte. Die graziösen Bewegungen der Tänzerinnen betörten seine Sinne. Ungeniert flirtete er mit ihnen während der Vorstellung, und wenn es sich ergab, landete er mit der Primaballerina im Bett. Die italienischen Mimen dagegen boten drastische Anzüglichkeiten, wobei es keine Rolle spielte, daß viele der polnischen Wojwoden kein Italienisch verstanden. Die eindeutige Gestik, mit der auf offener Bühne gepinkelt, gekackt und kopuliert wurde, bedurfte keiner Sprachkenntnisse. Die Handlung war nebensächlich. Die drastische Darstellung bildete einen befreienden Ausgleich für die streng einzuhaltende Etikette, und August gönnte dem Hofstaat sein Amüsement. Tagsüber arrangierte August gern Parforcejagden auf kapitale Hirsche. Sie dienten ihm als Beweis seiner ungebrochenen Stärke, da er jedermann in dieser Art der Jagd übertraf, die einen gut trainierten Reiter und erstklassig ausgebildete Pferde voraussetzte. Schon Tage vorher durchforschten Jagdgehilfen und Bauern die Wälder und meldeten dem Hof geeignete Hirsche. Wies der Hirsch wenigstens zehn Enden auf, riegelte man das Waldstück weiträumig ab, und die Jagd konnte beginnen. August führte die Jagdmannschaft an, die aus zwanzig, dreißig Reitern bestand. Vor ihnen lief die Hundemeute. War die Fährte des Wildes aufgenommen, kreisten sie den Hirsch ein und hetzten ihn so lange, bis dieser erschöpft zusammenbrach. Immer war August als erster zur Stelle, pfiff die Hundemeute zurück, die nun einen Kreis bildete, damit der Hirsch nicht doch noch verzweifelt versuchte auszubrechen. Vier von Augusts speziell ausgebildeten Jagdhunden nahmen ihren Platz direkt um den Hirsch ein und hielten ihn knurrend in Schach. August wartete, bis die übrige Jagdgesellschaft eingetroffen war. 127
Dann schwang er sich vom Pferd, ging zum Hirsch, zog dessen Kopf mit dem Fangeisen an seine Brust, griff nach seinem langen Dolch, dem Hirschfänger, und gab dem Tier in perfekter Manier den Todesstoß ins Herz. Unter dem Applaus der Jagdgesellschaft schnitt er ihm die Ohren ab und hielt die Trophäen in die Höhe, bevor er sie seinen Hunden zur Belohnung hinwarf. Jede Jagd bedeutete auch eine Bereicherung des Küchenzettels. Der Küchenmarschall verfügte über ein reiches Repertoire an Wildrezepten. Teile des Hirsches legte er in Olivenöl, Rosmarin und Salbei ein. Oder er rieb sie mit Ingwer ein und ließ sie mit Lorbeer, Wacholderbeeren, Pfeffer und Salz in Milch mürbe werden. Bei den fleischlosen Banketten an den hohen kirchlichen Feiertagen gab es Karpfen und Austern. Und immer floß der Wein in Strömen. In alle Welt sollte die Kunde hinausgehen, daß August noch immer ›der Starke‹ war, der sich nicht von einem schwedischen Jüngling unterkriegen ließ. Obwohl diese Bankette sich häufig bis weit nach Mitternacht hinzogen, stand August als passionierter Frühaufsteher zwischen fünf und sechs Uhr morgens wieder auf, um Staatsgeschäfte zu erledigen. Wichtige und besonders geheime Zusammenkünfte legte er gern in diese Zeit, wo er mit einem Minimum an Protokoll handeln konnte. Eine Woche vor Weihnachten empfing August in eben diesen Morgenstunden die Äbtissin von Quedlinburg, die aus altem schwedischem Adel stammte. Durch sie hoffte er, den jungen schwedischen König Karl XII. zu überzeugen, Frieden zu schließen. Die Äbtissin war niemand anders als Aurora von Königsmark, seine ehemalige Mätresse, die Prinzessin der Morgenröte. Nicht also wegen neu entflammter Liebe, sondern aus Gründen der Diplomatie hatte August sie zur geheimen Privataudienz kommen lassen, denn ein öffentlicher Auftritt Auroras in Polen verbot sich von selbst. Aurora trug ein schlichtes schwarzes Kleid, die dunkelblonden Haare aufgesteckt und durch einen schmalen goldenen Reif gehalten. Einen Moment lang sah August im Geist seine ehemalige ›orientalische Schneeprinzessin‹ mit dem Diamantdiadem vor sich. Die Schlichtheit 128
ihres Auftritts paßte zu ihrer Mission bei dem puritanischen schwedischen König. Trotz ihres Alters von Ende Zwanzig war Aurora immer noch eine umwerfend schöne Frau. Sie hatte ein wenig zugelegt, ihrem schmalen Gesicht aber hatte das Alter noch nichts anhaben können. Ein Madonnengesicht. Mußte Karl nicht von dieser Frau bezaubert werden, hinter deren ebenmäßigem, schönem Gesicht sich ein scharfer Verstand verbarg? Ihr Anblick überzeugte August vollends vom Gelingen seines Plans. Aurora empfand den Auftrag, Frieden zu stiften, als höchst ehrenvoll. Sie zweifelte nicht am Erfolg ihrer Mission und glaubte sich damit einen Platz in der Geschichte zu verdienen. Ebenso wie August hielt sie nichts von Krieg, der so unnütz Ressourcen verschleuderte. Außerdem kannte sie Augusts Abneigung gegen Streit, seine Schwäche, Konflikten aus dem Weg zu gehen, obwohl er ein mutiger Kämpfer war. Wenn es darauf ankam und sein Zorn entfacht war, stürzte er sich rücksichtslos ins dichteste Kampfgetümmel, so daß seine Leibgarde Mühe hatte, ihm dorthin zu folgen. Die Verletzungen ertrug er stolz. Sie selber hatte eine lange Streifschußwunde an seinem Kopf gepflegt, die er sich bei den Gefechten mit den Türken zugezogen hatte, ein häßlicher, rot vernarbter Striemen auf der rechten Schädelseite, der ihn veranlaßte, nie die Perücke abzulegen. Der unausgesprochene Teil der Übereinkunft zwischen Aurora und August beinhaltete, daß sie sich, wenn nötig, auch nicht scheuen würde, Geliebte des Schwedenkönigs zu werden. Und daher glaubten beide fest an den Erfolg ihrer Mission. Schließlich umarmten sie sich herzlich zum Abschied, und schon am folgenden Tag reiste Aurora, mit ausreichender Eskorte versehen, zum jungen schwedischen Monarchen.
Auroras Kommen bescherte August nicht nur die Hoffnung auf Frieden mit Karl XII. sondern auch privat einen besonders beglückenden 129
Umstand. Eine der Zofen Auroras war in Warschau geblieben: Fatima, eine Türkin, die August sich 1696 aus Wien mitgebracht hatte und die seitdem seine heimliche Mätresse war. Er hatte sie praktischerweise mit einem seiner Kammerdiener verheiratet. Es kam nicht in Frage, Fatima als offizielle Mätresse am Hof verkehren zu lassen. Zudem war Heimlichkeit angebracht, denn August fürchtete die Eifersucht von Ursula Lubomirska. Fatima wurde daher diskret in einem gepflegten Haus nahe dem Schloß untergebracht. So genoß August nicht nur die Liebesfreuden mit der temperamentvollen Ursula, sondern auch die weicheren Liebkosungen von Fatima. All das hob Augusts Stimmung beträchtlich, seine Zuversicht wuchs. Er fieberte dem Moment entgegen, wo er endlich das fertige Labor betreten konnte, um das große, das epochale Werk auszuführen, das seinen Vorsprung gegenüber allen anderen deutschen Fürsten uneinholbar steigern würde. Kurz nach Weihnachten konnte Fürstenberg ihm melden, daß die Maurerarbeiten am Labor beendet waren und er sich nun der Inneneinrichtung widmete. Vorsichtig wurden die Kisten, die Fürstenberg aus Dresden mitgebracht hatte, ausgepackt und eingeräumt: Kapellen, Tiegel, Glaskolben, Werkzeuge und eine größere Anzahl von Säuren, die Böttger hergestellt hatte, da er nur seinen eigenen vertraute. Diener nahmen Feuerstelle und Ofen in Betrieb, feuerten sie Tag und Nacht an, um die Sprünge und Ritzen abzudichten, die sich unweigerlich bei der Aushärtung im frischen Mauerwerk bildeten. Anschließend nahm Fürstenberg selbst erste Schmelzversuche vor und prüfte die Regulierungen der Abzüge. Einen Tag vor Silvester funktionierte alles zu seiner Zufriedenheit. Doch August verschob das Experiment. Er wollte das neue Jahr mit dem Triumph der Transmutation beginnen.
Am 2. Januar 1702 um zehn Uhr morgens war es dann soweit. Die Diener, die Ofen und Feuerstelle angeheizt hatten, übergaben Fürstenberg 130
das Labor, der anordnete, daß niemand, absolut niemand ihn und Seine Königliche Majestät bei ihrer Arbeit stören durfte. Die schweren Vorhänge vor den Türen des Labors zum Hof waren zugezogen, die Türen dahinter aber offen. So würde man eine gute Luftzufuhr haben und war gleichzeitig vor Blicken geschützt. In der Mitte des Labors stand ein kleiner Kirschbaumtisch mit geschwungenen Beinen, auf dem das goldene Kästchen Fürstenbergs im Licht von drei Dutzend Kerzen schimmerte. Den Tisch, der ein wenig höher war als üblich, hatte Fürstenberg extra anfertigen lassen, um dem Arkanum und dem ›hochwirksamen‹ Quecksilber einen gebührenden Platz einzuräumen. Als der König erschien, verneigte sich Fürstenberg stolz. Andächtig trat August auf den Tisch zu und öffnete das Goldkästchen: Da lagen sie auf blauem Samt, die kostbarsten Substanzen, die er je zu Gesicht bekommen hatte, die Quellen seines zukünftigen Reichtums, mit denen sich ihm eine ruhmreiche Zukunft eröffnen würde. Er konnte endlich den Ausbau Polens zu einem effizienten, modernen Staat vorantreiben, und die strahlende Pracht seines Hofes würde schon bald alles bisher Dagewesene übertreffen. Vor ihm lag der Schlüssel zur Kaiserkrone. Er blickte zum Fürsten, der mit selbstsicherem Lächeln neben seinem Schatz stand. Überwältigt von den unglaublichen Möglichkeiten, die das Arkanum verhieß, nahm August den Fürsten in den Arm, was er sonst allerhöchstem in weinseliger Stimmung tat. »Gehen wir es an, Egon.« Fürstenberg wischte sich über die Nase. Einen solchen Moment echter, innerer Bewegung hatte er bei seinem König noch nie erlebt. »Unser Experiment, Königliche Majestät, wird die Welt verändern. Es wird Ihrer Majestät zu unvergleichlichem Ruhm verhelfen.« Noch einmal wischte Fürstenberg sich über die Nase. Dann ging er hinüber zum Tisch, wo die Aufzeichnungen lagen, und begann den ersten Absatz zu verlesen. »Als erstes ist der Tiegel mit dem Kupfer ins Feuer zu bringen und so lange dort zu belassen, bis es geschmolzen ist und sich etwaige Unreinheiten als Schlacke auf ihm bilden.« 131
In diesem Augenblick erhoben sich Stimmen vor der großen Tür zum Innenhof. August erkannte sofort die Stimme von Ursula Lubomirska. Offensichtlich wollte sie zu ihm, und selbstverständlich verwehrten ihr die Wachen im Hof den Zutritt. Sie begann daraufhin, die Wachen zu beschimpfen. August fühlte sich in seiner Konzentration derart gestört, daß er Fürstenberg abwinkte. Seine Nächte mit Ursula waren in letzter Zeit wesentlich rarer geworden, und ihm kam der bange Gedanke, daß Ursula etwas über Fatima herausgefunden hatte. Wenn das zutraf, war es besser, die Auseinandersetzung gleich abzuhandeln, ohne daß der Hofstaat zugegen war. Doch als er den Vorhang beiseite schob und auf den Hof trat, begrüßte ihn seine Mätresse zu seiner Erleichterung in aufgeräumter Stimmung, ihren gemeinsamen zweijährigen Sohn auf dem Arm. »Verzeiht, daß ich störe, Königliche Majestät, aber Ihr Sohn wollte sich bei Ihnen für die Geschenke bedanken, die Ihr ihm zugedacht habt, besonders das Schaukelpferd …« August unterbrach sie sanft, aber bestimmt. »Wie überaus lieb von dem kleinen Mann, Ursula, aber ich hatte Order gegeben, nicht gestört zu werden. Sosehr mich der Dank meines Sohnes freut, er kommt im Moment etwas ungelegen.« Die Lubomirska gab nicht so schnell klein bei. »Verzeiht, ich wußte nicht, das dies auch für mich und Euren Sohn galt«, bemerkte sie spitz. August lachte herzlich, um Ursula zu besänftigen, und strich seinem Sohn freundlich über die Wange. Gerade zweimal hatte er den Knirps bisher gesehen, der ihm ein wenig ängstlich aus großen Augen ansah. August focht das nicht an. »Es ist sehr schön, daß du dich herbemüht hast, kleiner Mann. Das Pferd soll dir zeigen, daß du einmal ein tüchtiger Reiter werden sollst, verstehst du?« Der Knabe nickte ehrfürchtig, August richtete sich zufrieden auf. »Aber nun, liebe Ursula, Sie wissen, daß mir Ihre Gegenwart stets angenehm ist. Ich habe etwas außerordentlich Wichtiges zu tun.« Gehorsam sank die Lubomirska in den Hofknicks. »Verzeiht, daß 132
ich störte, Königliche Majestät. Möge Ihnen ein glücklicher Erfolg bei Ihrem Tun beschieden sein.« »Ich danke für die guten Wünsche, wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen …« Damit drehte August sich zurück zum Labor, erleichtert, daß nichts von Fatima ans Tageslicht gekommen war. Offensichtlich hatte sich Ursula nur in Erinnerung bringen wollen und zur Stärkung ihres Auftritts ihren Sohn mitgebracht. Als er an der Tür war, sprach er den Wachoffizier an. »Das haben Sie richtig gemacht. Wir dürfen jetzt unter keinen Umständen mehr gestört werden, verstanden?« »Sehr wohl, Eure durchlauchtigste Königliche Majestät. Keine Störung.«
Vier Stunden später waren August und Fürstenberg an einem heiklen Punkt der Transmutation angelangt. Die Reinigung der bisherigen Schmelze. August kontrollierte die Kapelle im Feuer, während Fürstenberg am Blasebalg für die Erhöhung der Temperatur des Feuers sorgte. »So, ja … Und was jetzt?« Fürstenberg ging zu seinen Aufzeichnungen hinüber. »Ähm … Beten.« August schaute gebannt auf die Kapelle, in der eine Legierung leicht brodelte. Am liebsten hätte er jetzt schon das Arkanum in die Schmelze geschüttet und hatte nur halb zugehört. »Was war das?« »Beten an dieser Stelle. Darauf hat Böttger besonderen Wert gelegt. Man muß höchst andachtsvoll beten, es sei der entscheidende Schöpfungsakt. Das hat er immer wieder betont. Was meinen Sie, Majestät?« Fürstenberg schien irgendwie unsicher zu sein. August richtete sich auf und drehte sich um. »Nun, dann beten wir eben. Das gebührt einem gottgefälligen Werk.« Fürstenberg war immer noch unsicher. »Aber wir sind katholisch, Böttger ist evangelisch …« 133
Nach einem Moment des Überlegens erhellte sich Augusts Miene. »Sie beten katholisch, ich übernehme das evangelische.« »Aber Majestät, Sie sind doch … ebenfalls katholisch.« »Gelernt habe ich das Beten aber evangelisch. Machen wir beides, das treibt den lieben Gott ein bißchen in die Enge, und er wird uns um so besser zuhören.« Fürstenberg kniete sich zum Beten hin, August stand mit gefalteten Händen neben dem kleinen Tisch. August richtete seinen Blick auf die Phiolen auf dem blauen Samt, in denen das Arkanum und das Quecksilber im Schein der Kerzen glänzten. Beide waren so aufgeregt, daß ihre Andacht zu wünschen übrigließ. August schielte zu Fürstenberg, der gerade zu ihm schielte. »Andächtiger, Exzellenz, konzentrieren Sie sich. Es geht hier schließlich um Gold.« Entschlossen wandte August die Augen wieder auf die Phiolen, dann schloß er sie. Eine Weile beteten beide leise flüsternd vor sich hin, während draußen im Hof Pferdegetrappel ertönte. Auf einmal stürmten Augusts Jagdhunde unter den Vorhängen hindurch ins Labor und umsprangen ihren Herrn. Einer rempelte gegen den Tisch mit dem Arkanum, der ins Schwanken geriet. Augusts Augen weiteten sich vor Entsetzen, und mit einer grotesken Verrenkung versuchte er das Kästchen noch zu erwischen, bevor es vom Tisch rutschte. Der Jagdhund drehte sich mit ihm, gab dem Tischchen mit seinem Hinterteil noch den letzten, entscheidenden Stoß. Das Goldkästchen hüpfte hoch, rutschte von der Platte, überschlug sich im Fallen, die Phiolen machten sich selbständig. Mit einem verzweifelten Satz versuchte August sie aufzufangen und stürzte über den Tisch. Knapp vor seiner ausgestreckten Hand zerbarsten die Phiolen auf den Dielenbrettern. Die umherspritzende Tinktur sprenkelte sein Gesicht rubinrot. Silberne Quecksilberkügelchen kullerten über den Boden und verschwanden in den breiten Ritzen zwischen den Dielenbrettern, wohin auch der Rest der Tinktur tröpfelte. Entsetzt mußte August zusehen, wie die kostbaren Garanten seiner großartigen Zukunft vor sei134
nen Augen buchstäblich verrannen. Einer der beiden Jagdhunde leckte seinem Herrn die roten Spritzer aus dem Gesicht, während Tränen der Wut und Enttäuschung in die Augen des Königs stiegen. »Das kann nicht sein … das darf nicht sein«, flüsterte er, unfähig, sich zu rühren. Fürstenberg gewann seine Fassung schneller wieder. »Königliche Majestät. Es ist zwar ein sehr lästiges Mißgeschick. Der Goldmacher wird uns schon ein neues Arkanum schaffen. Er ist ein Tausendsassa, was die Chemie angeht, wenn auch etwas schwierig im Umgang. Er hat ein hitziges Temperament.« August setzte sich auf, rieb seinen schmerzenden Brustkorb, in den sich ein Tischbein gebohrt hatte, wischte sich mit der Manschette über das Gesicht und betrachtete die roten Flecken. »Dann lassen Sie eben die nötige Vorsicht walten. Sehen Sie zu Fürst, daß der Bursche uns schleunigst Ersatz schafft. Aber es soll ihn den Kopf kosten, wenn er nicht pariert.«
*** Im Audienzzimmer seines Dresdner Palais stand Fürstenberg leicht gebückt am Fenster. Er litt unter einem starken Anfall von Gicht, die er sich auf der Rückreise von Warschau zugezogen hatte. Er war nervös. Gleich würde er Böttger mitteilen müssen, daß es sein Arkanum nicht mehr gab. So wie er Böttger kannte, erwartete er einen Wutanfall. Böttger war bester Laune, als man ihn abholte. Endlich waren die Zeiten in der einsamen Mansarde vorbei, und vielleicht konnte er Charlotte irgendwie näherrücken, sie wenigstens auf einem Empfang sehen, ein paar Worte mit ihr wechseln. Er war so voller Hoffnung, daß er den vergangenen, faden Monat über Weihnachten und Silvester vergaß und sich beim Eintreten mit fröhlicher Grandezza vor dem Fürsten verneigte: »Wie schön, Sie wohlbehalten zurück zu sehen, Exzellenz. Es war mir doch recht langweilig ohne Sie.« Fürstenberg zwang sich zu einem Lächeln. »Danke, Monsieur.« »Aber Ihnen scheint es nicht gutzugehen. Sie stehen so … ungewohnt.« 135
»Gicht.« »Das ist ganz recht, daß so ein Zipperlein auch mal die hohen Herren plagt.« Böttger hielt seine offene Schadenfreude für gerechtfertigt. Das war Fürstenbergs Strafe dafür, ihn eingesperrt zu halten. Doch dann fuhr er verbindlich fort: »Seien Sie unbesorgt. Ich kann Ihnen ein hervorragendes Mittel dagegen brauen. In Berlin haben sich die Leute darum gerissen.« »Das wäre sehr freundlich bei Gelegenheit. Vordringlich jedoch brauche ich neues Arkanum.« Ein eisiger Schreck durchfuhr Böttger, und er stand plötzlich stocksteif da. Nie hatte er in seiner Euphorie Lascarius danach gefragt, wie das Arkanum zusammengesetzt war. Panik stieg in ihm hoch, Schweiß trat ihm auf die Stirn, und um Zeit zu gewinnen, krächzte er: »Wieso? Ist alles verbraucht? Wo ist das Gold, das Sie gemacht haben?« Fürstenberg erzählte von dem Desaster durch die Jagdhunde. Böttger zerriß es beinah vor widerstreitenden Gefühlen. Er war vernichtet, er kannte die Formel für das Arkanum nicht. Zugleich hatte er Glück. Niemand konnte ihm mehr einen Trick nachweisen. Böttger konnte nur mühsam einen hysterischen Lachanfall unterdrücken und wandte sich ab, damit Fürstenberg es nicht bemerkte. Wie aus weiter Ferne drang Fürstenbergs Stimme zu ihm. »Der Befehl Seiner Königlichen Majestät lautet, unverzüglich Ersatz zu schaffen.« Böttger atmete tief durch und schaffte es, sich zusammenzureißen. »Selbstverständlich, Exzellenz. Nur wird dies nicht von heute auf morgen geschehen können und einige Zeit dauern. Es ist tatsächlich derart langwierig, daß ich während dieser Zeit nicht eingesperrt sein will. Daher fordere ich im Gegenzug während dieser Experimente meine Freiheit. Diese Forderung erscheint mir …« Fürstenberg fuhr dazwischen. »Ich glaube, Sie verkennen die Situation völlig, Monsieur, ich habe …« Böttger unterbrach den Statthalter ebenfalls. »Meine Situation ist die eines Goldmachers, Exzellenz, des einzigen mit Erfolg, wenn ich nicht irre.« Da zog Fürstenberg einen Brief aus seinem Rock, den er Böttger mit 136
bedauernder Miene übergab. »Ich hoffte, daß dies nicht notwendig sein würde.« Abschätzig entfaltete Böttger den Brief und überflog ihn. Nach den ersten Zeilen mit den üblichen höflichen Floskeln kam der Brief zur Sache. ›Seine aller gnädigste Kurfürstlich-Königliche Majestät ist höchst erfreut, daß Herr Schrader sich unter seinen höchst fürsorglichen Schutz begeben hat, den wir ihm auch weiterhin allergnädigst gewähren und aufrechtzuerhalten zusichern. Wir sichern zu, diesen Schutz für den besagten Herrn Schrader erst dann aufzuheben, wenn das große Werk getan ist und Ingredienzien und Rezeptur wohlverwahrt in den Händen Seiner Kurfürstlich-Königlichen Majestät sind.‹ Dann folgten noch einige Beschreibungen, wie dies im einzelnen zu geschehen habe, die Böttger langweilten. Aggressiv schaute er auf. »Ich soll jetzt Schrader heißen?« »Bis Seine Majestät das Arkanum wie beschrieben erhalten hat.« Böttger warf sich in einen Sessel. »Weswegen sollte der beste Chemiker seiner Zeit auf den besonderen Schutz Seiner Majestät Wert legen, Exzellenz? Nennen Sie mir einen Grund, weswegen ich meine Freiheit dafür aufgeben sollte. Jeder Fürst dieser Welt wird mich mit Freuden aufnehmen, jeder. Sie haben kein Recht dazu, mich meiner Freiheit zu berauben. Ich weigere mich, in Unfreiheit zu arbeiten, Exzellenz.« Fürstenbergs Ton wurde kalt und scharf. »Sie vergessen wohl den Brief an Brandenburg-Preußen, in dem Sie sich ausdrücklich als Bürger Sachsens ausgeben und unter den Schutz Seiner Kurfürstlich-Königlichen Majestät Augusts II. stellen. Als sein Untertan sind Sie rechtlich verpflichtet, den Wünschen Seiner allergnädigsten Königlichen Majestät zu gehorchen. Benötigen der Herr Schrader ein juristisches Gutachten dafür?« Böttger blieb trotzig. »Sie können mich nicht zwingen. Ohne mich – kein Gold.« Da Fürstenberg vorausgesehen hatte, daß Böttger rebellisch reagieren würde, blitzte er ihn spöttisch an. »Oh, mir scheint, Sie haben den Brief nicht bis zum Ende gelesen.« Böttger hob den Brief wieder an und las den letzten Satz. ›Sollte der 137
in Rede stehende Herr Schrader nicht unverzüglich dem Ersuchen Seiner Kurfürstlich-Königlichen Majestät nachkommen, so wird man ihn als falschen Goldmacher ansehen und ihn tradieren, wie es einem solchen gebührt.‹ Diese unverhohlene Drohung mit dem Galgen beeindruckte Böttger kaum. Er schüttelte den Kopf. »Man schlachtet seinen Goldesel nicht, Exzellenz. Das wäre …« Das Wort ›dumm‹ verschluckte er gerade noch rechtzeitig angesichts der wachsamen Miene Fürstenbergs. Es war ein ungünstiger Augenblick für Majestätsbeleidigungen. Böttger rang mit sich, fühlte sich aber unfähig, alle seine Hoffnungen aufzugeben. »Verzeihen Sie, Exzellenz. Sie werden bei mir nichts mit Drohungen erreichen. Ich bin kein Lakai. Ich bin … Ach was, wozu soll ich mich wiederholen.« Er funkelte Fürstenberg an. Einen Augenblick herrschte Stille zwischen beiden. Dann erschien ein freundliches Lächeln auf Fürstenbergs Gesicht, als er an der Klingelschnur zog. »Wie der Herr Schrader es wünscht. Guten Tag.« Noch bevor Böttger seine Verbeugung beendet hatte, waren zwei Gardisten eingetreten, packten ihn an den Armen und führten ihn hinaus. Dieser Abschied, der mehr einer abrupten Festnahme glich, überraschte Böttger, der keinen Ton hervorbrachte. Fürstenbergs Satz zum Abschied war nichts als blanker Hohn. Sicher würde der Fürst sich wieder beruhigen. Am besten braute er dem Fürsten möglichst bald sein Gichtmittel, das würde ihn milder stimmen. Die Gardisten führten Johann in sein Zimmer. Langsam kroch so etwas wie Angst in Böttger hoch. Er war kein Goldesel, auch kein Goldmacher. Nicht einmal das Rezept für das Arkanum besaß er. Lascarius hatte seine Leichtgläubigkeit ausgenutzt, ihn überrumpelt, in eine Art Trance versetzt. Wie sonst war es möglich, daß er nie auf den Gedanken gekommen war, den Mönch nach der Rezeptur zu fragen? Nach seinen großartigen Vorstellungen, Behauptungen und den Zeitungsartikeln war es zu spät dazu, dies irgend jemandem einzugestehen. Noch weniger konnte er zugeben, einen Trick angewandt zu haben. 138
Bei den endlosen mißglückten Experimenten in Berlin hatte er manchmal vage den Verdacht gehabt, daß mit Lascarius' Arkanum etwas nicht stimmte. Man konnte mit ihm vergolden oder etwas Goldschimmerndes herstellen. Doch genau bedacht, hatte er kein einziges Mal echtes, künstliches Gold damit erzeugt. Oft hatte er schon die Anweisungen im Oktavheft verflucht. In seiner Euphorie hatte er einfach an das Arkanum glauben wollen. Inzwischen gestand er sich ein, daß er blind gewesen war. Wenn er aber jetzt, unbelastet von falschen Wegen, an die Transmutation heranging und alles neu durchdachte, war das vielleicht gar nicht so schlecht. Ein Neuanfang würde natürlich viel Zeit brauchen und eine Menge Geld kosten. Alles hing davon ab, wie weit der König und sein Statthalter Geduld haben würden und seinen Fähigkeiten vertrauten. Die Frage war nur: Was hatte Fürstenberg mit seinem Satz gemeint, wie er es wünsche …?
*** »Ich brauche frische Milch, Eier und Flomen.« Damit schickte Charlotte ihre Zofe fort. Sie stand in einem groben Kleid mit Schürze in ihrem kleinen kosmetischen Laboratorium und blätterte in dem Rezeptbuch ihrer Mutter. Wie ihre Mutter und manche Damen der Gesellschaft traute sie selten fertiger Schminke, die durch schlechte Zutaten die Haut ruinieren konnte. Charlotte ging die Reihe der dichtgedrängten Flaschen mit Kräutern und Ölen in den Regalen durch und wählte provenzalisches Lavendel aus. Es war Mitte Februar, Herr von Schönberg weilte noch immer in Warschau und schrieb ihr nette, kurze Briefe, während sie sich in Dresden langweilte. Nur für einen Tag war er Anfang Dezember in Dresden aufgetaucht. Der König hatte ihn nach Warschau beordert, und so war er eilends aus der Grafschaft Mansfeld nach Hause zurückgekehrt. Die grazile Brünette, seine Mätresse, war nicht mehr bei ihm. Ihr Mann war höf139
lich und äußerst zuvorkommend, wie zu Zeiten, als sie sich kennenlernten. Also schluckte Charlotte ihren Stolz hinunter und besänftigte sich mit dem Gedanken, daß die Geschichte mit der Mätresse erledigt sei. Sie war auch nicht in der Stimmung, groß aufzubegehren, als er sie nicht mit auf seine Dienstreise nahm. Sie half also bei den Reisevorbereitungen, Zeit für Diskussionen verblieb ohnehin nicht an dem einen hektischen Tag, den er zu Hause war. Als er endlich in der Kutsche saß, lobte er Charlottes Umsicht beim Packen und versprach gutgelaunt, Anfang des neuen Jahres wieder in Dresden zu sein. Aber dann war er im Januar nicht zurückgekehrt. Seine Antworten auf ihre langen, liebevollen Briefe enthielten nur kurze Dankesworte, da ihm die Zeit zum Schreiben fehle. Bestenfalls erfuhr sie, ob es in Warschau schneite oder fror. Die Tage dehnten sich. Ausritte waren auf dem vereisten Boden gefährlich, und so hatte sie sich auf das Rezeptbuch ihrer Mutter besonnen und verbrachte viel Zeit in ihrem Labor, in das sie sich einen Herd hatte mauern lassen. Sie wollte verschiedene Rezepte mit leicht veränderten Mixturen ausprobieren. Ihre Zofe kam mit den gewünschten Zutaten zurück und übergab ihr gleichzeitig ein Billett. Die Gräfin Krahl fragte an, ob Charlotte sie nicht zum Kaffee besuchen wolle. Charlottes Stimmung hob sich augenblicklich. Nun hatte sie wenigstens einen Grund, sich hübsch zu machen. Am nächsten Tag saß sie bei der Gräfin, die aufgekratzt vom neusten Klatsch aus Warschau berichtete. Vergnügt schilderte sie die verschiedenen Liebschaften des Königs, wußte sogar von einer Türkin, die der König sich heimlich neben seiner offiziellen Mätresse hielt. Bezogen auf ihre eigene Situation, empfand Charlotte dies als schmerzlich. Männer konnten sich alles erlauben, Ehefrauen nichts. Die Affäre ihres Mannes verschwieg sie lieber. Die Gräfin würde es vielleicht normal finden oder, schlimmer noch, Mitleid mit ihr haben, wie mit Christine Eberhardine, der Frau von August, die, fern von Dresden, in Thorgau mit kleinem Hofstaat ein frommes Leben führte. Charlotte wollte nicht als Verliererin dastehen. 140
Zur Überraschung von Charlotte brachte die Gräfin das Gespräch auf den geheimnisvollen Kavalier am Fenster im letzten November. Die Gräfin bekannte, den seltsamen Ausflüchten Fürstenbergs über den ›ungezogenen Pagen‹ nicht geglaubt zu haben. Jedenfalls war im fürstlichen Palais niemand bestraft oder entlassen worden. Durch Verbindungen ihrer Dienstboten zur Küche im Palais des Fürsten wußte sie auch, daß man dort schon lange nichts mehr für einen Gast kochte. Der Kavalier hatte sich wie ein Phantom in Luft aufgelöst. So war sie zu der Überzeugung gekommen, daß es sich bei diesem Mann um einen hochrangigen Geheimagenten gehandelt haben mußte. Auch in Charlottes Vorstellung hatte Böttger inzwischen etwas Unwirkliches bekommen. Alle erreichbaren Zeitungen hatte sie sich schicken lassen. Nirgends stand auch nur eine Zeile über den Goldmacher. Dennoch war sie überzeugt, daß der Mann wieder auftauchen würde. Begegnete man jemandem zweimal, dann auch ein drittes Mal. Die Sonne würde scheinen, wie jedes Mal bisher. Sie lächelte bei dem Gedanken. »Meine liebe Frau von Schönberg, ich sehe Ihnen an, daß es irgend etwas gibt, das Sie über diesen jungen Mann wissen und das Sie mir vorenthalten.« »Ach, es ist nichts. Nur die etwas alberne romantische Vorstellung einer Ehefrau, die einsam ist. Ich denke, daß Ihre Vermutung gut auf ihn paßt, Gräfin. Zumindest erklärt es seine Vorliebe, sich nur selten zu zeigen.« »Ein Herzensbrecher als Geheimagent ist sehr nützlich, denn wir Frauen hüten viele Geheimnisse … Haben Sie eigentlich eine Vertraute unter den Dienstboten, Madame?« »Nein, eigentlich nicht.« »Schaffen Sie sich eine Vertraute. Über Dienstboten erfährt man häufig mehr Geheimnisse als über die Herrschaften.« Charlotte war der Gedanke unangenehm. »Vielleicht bin ich nicht neugierig genug, Gräfin. Ich achte die Sphäre anderer.« Die Gräfin schüttelte mißbilligend den Kopf. »Neugier ist eine Tugend, Madame, nichts Verwerfliches. Sie schützt uns vor unangeneh141
men Überraschungen.« Sie sah Charlotte eine Weile nachdenklich an, gab sich dann einen Ruck. »Sie wissen, daß Ihr Gemahl vergangenen November mit einer Mätresse auf Reisen gegangen ist?« Charlotte wurde blaß. »Ich hatte da eine Vermutung …« »Der Herr von Schönberg ist zwar respektabel, aber durchaus kein Adonis. Ich würde mich an Ihrer Stelle nicht weiter grämen, sondern sehen, wie ich auf meine Kosten komme.« »Ehebruch ist impertinent, Gräfin«, stieß Charlotte hervor, »wir sind erst ein dreiviertel Jahr verheiratet. Ich will es nicht.« »Ich verstehe. Aber wenn Sie Ihren Mann zurückgewinnen wollen, müssen Sie Trümpfe sammeln. Und die bekommen Sie nur über die Dienstboten.« Charlotte wußte nicht, was sie erwidern sollte. Ungeduldig setzte die Gräfin nach. »Wehren Sie sich, Madame. Sie sind doch sonst nicht so zurückhaltend. Warum gerade in diesem Punkt?« »Vielleicht, weil ich romantisch bin und die Institution der Ehe heilighalte«, verteidigte sich Charlotte. Die Gräfin lachte laut auf. »Verzeihen Sie, Madame. Gott hat Ihnen einen beachtlichen Verstand gegeben. Nutzen Sie ihn, um Ihren Gefühlen zu folgen. Solange Ihr Mann in Ihnen ein braves Schaf sieht, wird er nur frecher. Und vergessen Sie nicht: Mätressen haben Macht. Woher wollen Sie wissen, was für Sie aus seinem Verhältnis erwächst?« »Was würde es ändern? Ich habe doch jetzt schon keine Macht mehr über meinen Gemahl.« »Machen Sie ihn eifersüchtig. Wenn Sie ein Auge auf jemanden werfen, der gesellschaftlich über ihm steht, wird er wieder gefügiger.« »Auf den Fürsten vielleicht? Er ist sympathisch. Aber man sagt, er habe besondere Vorlieben.« »Wie wäre es denn mit dem Geheimagenten?« »Das meinen Sie nicht im Ernst, Gräfin.« »Geheimnisse können weit mehr Macht in sich tragen als gesellschaftliche Stellungen.« 142
Charlotte mußte lächeln. »Sie glauben offenbar immer noch, ich wüßte etwas über diesen Herrn.« »So ist es«, gab die Gräfin fröhlich zurück. »Erzählen Sie. Ich schwöre Ihnen, ich werde niemandem ohne Ihr Einverständnis davon erzählen.« Charlotte hob die Hände und lachte. »Genug, Gräfin, Sie täuschen sich. Wer auch immer dieser Herr ist … Fragen Sie den Fürsten. Unter vier Augen gibt er vielleicht das Geheimnis preis.« Schmollend verzog die Gräfin die Lippen. »Das habe ich schon versucht, aber auf dem Ohr ist er taub. Was die Sache natürlich noch reizvoller macht. Wie sollte er auch ahnen, was unserem geheimnisvollen Freund entgeht.« Sie warf Charlotte einen verschwörerischen Blick zu. Doch die hatte eine abwehrende Miene aufgesetzt und zuckte nur mit den Schultern.
*** Die Aussicht aus dem Fenster war phantastisch. Über zweihundert, vielleicht sogar dreihundert Meter unter Böttger schlängelte sich das schiefergraue Band der Elbe durch das verschneite Elbsandsteingebirge. Bis auf die dunklen Waldränder war alles weiß, die Welt sah ungemein friedlich aus. Es war ein sonniger, frostiger Tag Ende Februar. Er trat vom Fenster zurück. Es hatte kein Glas und war etwas über eine Elle hoch, so daß er sich hätte hindurchzwängen können. Darunter fiel die Wand über hundert Meter senkrecht ab. Deswegen hatte man auf der Festung Königstein bei den Zellenfenstern auf die üblichen Gitterstäbe verzichtet. Sie lag uneinnehmbar auf einem senkrecht abfallenden Felssockel im Elbsandsteingebirge. Es war unmöglich, aus ihr zu fliehen. Fürstenberg hatte Böttger auf den Königstein bringen lassen, das Gefängnis für politische Gefangene Sachsens. Sein Rock war inzwischen zerrissen und dreckig, seine Stirn blutig. Ungezählte Male war er brüllend wie ein Stier mit dem Kopf gegen die Wand gerannt, dann wieder 143
in tagelanges Nachdenken versunken. Tausendmal war er im Kopf seine Experimente durchgegangen, um den Fehler bei seinen Transmutationen zu finden. Mit Lascarius' Arkanum hatte er innerlich abgeschlossen. Trotzdem konnte er sich nicht verzeihen, nicht nach der Zusammensetzung des Arkanums gefragt zu haben. Wenn die Verzweiflung über seine Dummheit zu groß wurde, rannte er mit dem Kopf gegen die Wand und ertrug grimmig den Schmerz. Die Festungshaft war ihm als Buße für seine Leichtgläubigkeit auferlegt worden. Böttger gefiel der Gedanke, sich zu kasteien. Es hatte etwas Archaisches. So wie die Mönche früher durch Selbstkasteiung Gott näherzukommen suchten. Außerdem ergaben seine Anfälle nach außen ein schönes Bild. Sie hatten den Festungskommandanten wiederholt veranlaßt, ihn aufzusuchen, um ihn zu beruhigen. Als das nichts bewirkte, hatte er Böttgers Bierration auf acht Kannen pro Tag erhöht, in der Hoffnung, daß sein Gefangener von seinem schädlichen Tun abließ. Vor allem Böttgers Gebrüll ging allen auf die Nerven. Doch Böttger dachte gar nicht daran, davon abzugehen. Es war unumgänglich, durchzuhalten und sich nicht bezwingen zu lassen. Erlaubte er dies auch nur einmal, wäre sein Nimbus dahin, und er würde nur noch ein Spielball des Fürsten sein. Lieber wollte er sich selbst zerstören als einen derart unwürdigen Zustand ertragen. Wenn er hier herauskam, dann nur zu seinen Bedingungen, den Bedingungen des Goldmachers Johann Friedrich Böttger. Es war kalt in der Zelle. Böttger warf sich auf das dünne Strohlager, wickelte sich in die Decke und starrte gegen die Steine an der Decke. Es waren 127 oder 128, irgendwie verzählte er sich immer. Die gezackten Linien der Fugen hatte er schon unzählige Mal verfolgt und sich bemüht, Zeichen darin zu erkennen. Meistens blieb sein Blick an einer Ecke hängen, wo man sich mit etwas Phantasie einen Galgen vorstellen konnte. Wieder starrte er in die Ecke und sah den Galgen. In seiner Vorstellung flatterten Fähnchen aus Katzengold am Gebälk, machten ein sirrendes Geräusch im Wind. Der Galgen schwankte. Schwankte er unter seinem Gewicht? Er griff sich an die Kehle. Da war kein Strang. 144
Gereizt sprang Böttger auf und brüllte, um das Phantasiebild zu vertreiben. »Ich werde dieses stinkende Rattenloch in die Luft sprengen.« Er schlug den Kopf gegen die Wand, bis ihm das Blut in die Augen rann und er den Geschmack des Bluts auf den Lippen spürte. Erschöpft, aber zufrieden ließ er sich auf das Strohlager fallen. Schlüssel rasselten vor der Tür, Böttger sprang wieder auf und begann von neuem zu brüllen: »Das Gold, es kommt zu mir … Es fließt aus meinen Händen, schwillt an zu einem reißenden Strom …« Die Tür öffnete sich. Böttger linste aus halbgeschlossenen Lidern hinüber und erkannte Fürstenberg. Erneut schlug er den Kopf gegen die Zellenwand. »Niemand wird mir das Gold entreißen, niemand.« Fürstenberg war entsetzt auf der Türschwelle stehengeblieben. Aber seine Stimme klang kühl. »Was soll das, Monsieur?« Böttger hielt inne und starrte ihn mit vorgebeugtem Körper von unten an. »Ich zermartere mir den Kopf, Exzellenz.« »Sie sollten das weniger wörtlich anstellen.« Trotz seines kühlen Tonfalls merkte man Fürstenbergs Besorgnis. »Ihre Jugend gibt Ihnen seltsame Grillen ein. Lassen Sie diesen Unsinn.« »Warum? Wenigstens in dieser Zelle kann ich tun, wonach mir der Sinn steht!« Mit verächtlicher Miene schlug er noch einmal den Kopf gegen die Wand. Fürstenbergs Tonfall wurde jetzt fast bittend. »So ändern Sie nichts, Monsieur. Richten Sie sich endlich auf die Arbeit, die zu tun ist.« Böttger wankte in die Mitte der Zelle, schloß theatralisch die Augen und legte die Hände ineinander wie zum Gebet, mit gesenktem Kopf, ein Märtyrer, dem das Blut über das Gesicht lief und von den Augenbrauen auf den Boden tropfte. Eine ganze Zeit verharrte er so, nur das Tröpfeln des Bluts war zu hören. Fürstenberg wagte es nicht, Böttger in seiner Versenkung zu stören. Nach einer Minute des Schweigens öffnete Böttger die Augen und verkündete höchst sachlich: »Wenn ich weiterarbeiten soll, brauche ich 20.000 Dukaten.« Dieser abrupte Wandel und die horrende Geldforderung machten Fürstenberg gleichermaßen sprachlos. Sie starrten sich an. Dann zuck145
te Fürstenberg mit den Achseln. »Gut, dann schreiben Sie diese Forderung Seiner Majestät. Wie Sie das formulieren wollen, überlasse ich Ihnen.« Damit wandte er sich zu den wartenden Soldaten um und ging. »Man hat versäumt, mir Schreibzeug zu geben«, rief Böttger grollend hinter ihm her. Fürstenberg drehte sich noch einmal um. »Sie werden es bekommen, Monsieur. Und versuchen Sie, gesünder zu leben. Ich schicke Ihnen einen Arzt.« Die Tür schloß sich hinter dem Fürsten, der Schlüssel rasselte im Schloß, und die Schritte entfernten sich. Böttger ließ sich erschöpft auf die Strohmatte sinken und lächelte trotz der schmerzenden Wunde am Kopf. Er hatte gesiegt, mochte der Statthalter noch so kühl erscheinen. Kurz darauf erschien ein brummiger Bader und träufelte Jodtinktur auf die Stirnwunde, und nachdem sich der Mann fluchend verabschiedet hatte, überfiel Böttger bleierne Müdigkeit. Zum ersten Mal seit langem gelang es ihm, sich richtig zu entspannen. Eine Stunde später weckten ihn zwei Wärter. »Aufstehen. Sie sollen einen Spaziergang machen, Anordnung vom Bader. Man hat Ihre Einzelhaft aufgehoben.« Böttger traute seinen Ohren kaum. Sein Sieg zeigte Wirkung, jetzt würde alles gut werden. Die Wärter führten Böttger eine Wendeltreppe nach oben, und sie betraten die Wallanlagen, die wie eine riesige Terrasse rings um die Festungsanlage führte, auf deren Vorsprüngen Kanonen standen. Der Blick war atemberaubend schön, ging weit die Elbe hinunter. Die letzten Strahlen der Sonne erzeugten goldorange glänzende Schneefelder und tiefschwarze Schatten. Gegenüber auf der anderen Flußseite, der sich tief unter ihm schlängelte, türmte sich das Elbsandsteingebirge, deren bizarre, senkrechte Felsnadeln golden glühten. Den Anblick kannte Böttger noch nicht. Lange starrte er auf diese fremdartige Landschaft. Irgendwo weit dahinter im Osten war der König, dem er seine Forderung schreiben würde. Egal, wie lange es brauchen würde, bis er Antwort aus Polen 146
erhielt: Die Tage auf der Festung waren gezählt und die Zeit der erzwungenen Untätigkeit vorbei. Mit einem Aufschrei wilder Lust stieß er die Fäuste in den Himmel, vollführte Luftsprünge und rannte eine kurze Strecke. Als die verblüfften Wächter ihn endlich wieder eingeholt hatten, griff einer von ihnen ziemlich unsanft nach seinem Arm und brummte: »Vorsicht, der Herr, keine Dummheiten, ja?« Böttger grinste ihn nur an. »Dummheiten gehören nicht zu meinem Repertoire.«
Achtes Kapitel
W
ie ein brauner Lindwurm zog sich die endlose Karawane der Kutschen und Reiter durch die winterlich verschneite Landschaft, immer wieder aufgehalten von Radbrüchen einzelner Kutschen. Der König von Polen war mit seinem Hofstaat seit Mitte Februar auf dem Weg nach Krakau. Dieser Umzug mitten im tiefsten Winter geschah nicht freiwillig. Karl XII. hatte angekündigt, im Frühjahr in Warschau einzumarschieren, nachdem er die schlecht ausgebildete russische Armee erwartungsgemäß aus Litauen verjagt hatte. Die sächsischen Truppen waren noch nicht aufgefüllt, und dem König war nichts anderes übriggeblieben, als vorsorglich seine Residenz in die alte Königsstadt Krakau zu verlegen. Die Drohung des Schweden hatte ausgerechnet Aurora von Königsmark überbringen müssen, eine herbe Demütigung für die mit soviel Hoffnung ausgezogene Friedensbotin. Der junge Schwedenkönig hatte die Sendbotin Augusts gar nicht erst empfangen. Nutzlos hatte Aurora zwei Wochen im Zelt vor seinem Lager verbracht und auf einen Audienztermin gewartet, bis der Schwedenkönig ihr endlich mittei147
len ließ, er wisse nicht, wozu ihr Besuch dienen sollte. An Gesprächen über Frieden sei er nicht interessiert. Sie verfluchte Karl XII. der sie wissen ließ, daß er sich in seinem kriegerischen Geschick mit Alexander dem Großen verglich. Getreu seinem Vorbild verlangte er die bedingungslose Abdankung seines Feindes August als König von Polen und dessen Rückzug nach Sachsen. Andernfalls werde er im Frühjahr nach Warschau marschieren, um den anmaßenden Wettiner zu verjagen. Außerdem hatte Aurora durch diskrete Gewährsleute bei den Schweden, die sie als schwedische Adlige respektierten, in Erfahrung gebracht, warum Karl so wenig an ihrer Person und Schönheit interessiert war: Wie sein antikes Vorbild hatte Karl eine Vorliebe für Knaben. Ihre Mission war nicht nur gescheitert, sie war auch von vornherein lächerlich gewesen. Gekränkt war Aurora daraufhin direkt nach Quedlinburg abgereist. Sie mochte August nicht mehr unter die Augen treten und berichtete ihm alles brieflich mit der Bitte, daß ihre Zofe Fatima ihr zur Abtei folgen möge. Alle am Hof, die in die Vorgänge eingeweiht waren, waren entsetzt über das Verhalten Karls und seine Forderungen. August war weniger bestürzt als beeindruckt. Auch er selbst suchte sich gern seine Vorbilder in der Götterwelt der Antike, kleidete sich bei Kostümfesten gern als Jupiter. Er verstand sich – wie auf der Münze, die er hatte prägen lassen – als Hercules Saxonicus, der den polnischen Stall ausmistete und auf Hochglanz brachte. Er begann daher, Karl auch als Persönlichkeit ernster zu nehmen. Ein Vorbild wie Alexander der Große gab dem Heißsporn eine Aura, die seinen Leuten Ehrfurcht einflößen mußte. Und was die Knabenliebe anbetraf, so machte es ihn nur gefährlicher: Keine Frau konnte ihn binden, kein Herd ihn reizen, Karl war ein Ruheloser. Darauf mußte er sich einstellen. Seine einzige Chance lag darin, ihn vernichtend zu schlagen. August konferierte mit Haxlingen, ließ die Anstrengungen verdoppeln, ein neues Heer aufzustellen und Kanonen anzufertigen. Gleichzeitig bemühte er sich, die polnischen Magnaten zu überzeugen, sich 148
seiner Streitmacht anzuschließen. Dabei rechnete er damit, daß sich Karl bei seinem Aufenthalt in Polen Feinde machen würde. Die Schweden zahlten nicht für das, was sie sich nahmen, und so wuchs die Bereitschaft zur Unterstützung gegen Karl. Das alles lief nicht schlecht an, nur die sanften Liebkosungen Fatimas fehlten ihm. Kurz darauf, am 5. Februar, hatte den König eine weitere Hiobsbotschaft erreicht. Seine brandenburgisch-preußische Majestät, Friedrich I. ließ ihn wissen, daß er August in seinem Kampf gegen Karl nicht unterstützen wolle, sondern ›fein stille sitzen und zusehen wolle‹. Graf Haugwitz, der am Berliner Hof für die Unterstützung Augusts eingetreten war, traf eine Woche nach Friedrichs abschlägigem Bescheid ein. Er war durch sein Engagement für August beim Preußenkönig in Ungnade gefallen. August empfing ihn in seiner frühmorgendlichen Privataudienz, um Näheres über die Stimmung in Berlin zu erfahren. Haugwitz deutete an, daß die Ablehnung des Beistands von Friedrich mit dem Abhandenkommen des Goldmachers in Sachsen zu tun habe. Beim Erhalt des Schreibens von Böttger mit dem Gutachten, das den Alchemisten als Sachsen deklarierte, sei der preußische König einem Tobsuchtsanfall anheimgefallen. August tat, als habe er nur am Rande von dieser Angelegenheit gehört, und fragte den Grafen, ob er Näheres über diesen Goldmacher wisse. In allen Einzelheiten schilderte ihm Graf Haugwitz daraufhin die Berliner Experimente und die fachliche Kompetenz Böttgers, die er ja aus eigener Anschauung kannte. Auch Böttgers freundschaftlichen Umgang mit dem berühmten Baron Kunckel, dem Erfinder des Rubinglases, erwähnte er. Dem Baron hatte der Preußenkönig inzwischen die Leitung der Rubinglasmanufaktur entzogen, so daß dieser sich gezwungen sah, seinen Unterhalt als hochwillkommener Metallurge bei den schwedischen Erzbergwerken zu verdienen. Vielleicht stand auch dies Geschehnis im Zusammenhang mit Böttger. August bewies der detaillierte Bericht, daß Haugwitz keinerlei Loyalität mehr gegenüber Friedrich empfand. Der Vater von Graf Haugwitz 149
war immerhin Mitglied des Geheimen Rates am Hof von Johann Georg III. Augusts Vater, gewesen, bevor ihn eine Heirat nach Brandenburg verschlug. Wenn sich nun die Loyalität des Sohnes wieder seiner Dynastie zuwandte, mußte das belohnt werden. August versorgte den Grafen daher mit der Position eines zweiten Kammerherrn, damit er den ihm gebührenden hohen Platz in der Hofhierarchie einnehmen konnte. Haugwitz bedankte sich und bat noch um eine Stellung für einen gewissen Leutnant Rebmann, den er wärmstens empfehlen könne. Der junge Offizier, ein tüchtiger und aufgeweckter Mann, sei bei der preußischen Majestät in Ungnade gefallen, weil er den Alchemisten nicht habe fassen können. August versprach, ihn Haxlingens Garde zuweisen zu lassen, dessen Leutnant gerade einem der aus Frankreich und Spanien in Mode gekommenen Duelle, dem Karakolieren, zum Opfer gefallen war. Bei dieser Art Duell versuchte man sich statt zu Fuß vom galoppierenden Pferd aus mit Pistolen zu treffen, während man umeinander kreiste. Dies Karakolieren war derart beliebt, daß die sächsischen Offiziere schon die lächerlichsten Anlässe zum Duellieren nutzten. Ein Verbot dieser Duelle ließ sich zur Zeit einfach nicht durchsetzen. Nachdem Haugwitz gegangen war, hatte August sich das Frühstück bringen lassen. Draußen war es noch dunkel, es war halb sieben. Die Absage Friedrichs konnte auch ein Vorteil sein. Zog sein Vetter Friedrich nicht mit ihm an einem Strang, konnte er sich beim Friedensschluß auch keinen Happen von Polen abbeißen, an dem ihm gelegen sein mußte, da seine preußischen Besitzungen hinter Polen lagen. Außerdem hatte Friedrich drei gute Männer verloren, Graf Haugwitz, den Leutnant und vor allem Johann Friedrich Böttger. August ließ sich Schreibzeug bringen. Er wollte Fürstenberg anweisen, ihm einen Plan zu machen, wie man den störrischen Goldmacher endlich zu effektiver Arbeit bekam. Außerdem beschloß August an diesem Morgen, der Drohung des Schweden, nach Warschau zu marschieren, auszuweichen und seinen Hof nach Krakau zu verlegen. Über den winterlich-gefrorenen Boden 150
war der meilenlange Treck des Hofstaats viel leichter zu bewegen als im morastigen Frühjahr. Überdies hatte man genug Zeit, in den Gütern am Wegesrand Hallen herzurichten, damit die abendlichen Bankette stattfinden konnten, als wäre man in der Stadt. Er hatte den Troß in zwei Abteilungen eingeteilt. Die erste Abteilung sollte vorausziehen und alles so arrangieren, daß sie stets in bestens vorbereitete Quartiere kamen. Der zweiten Abteilung oblag es, alles abzubauen. In der Nacht zog dann diese zweite Abteilung am Quartier vorbei und wurde zur Vorausabteilung, die wieder alles vorbereitete. Auf diese Weise würde der Umzug nach Krakau einem fortdauernden festlichen Akt gleichen und nicht einer unwürdigen Flucht. So hatte sich die Karawane am 12. Februar von Warschau in Bewegung gesetzt. Der Zeitplan sah vor, daß man Krakau in den ersten Tagen des März erreichen würde. Es waren noch zwei Tage bis zur alten Königsstadt, als August seinen Beichtvater, Pater Vota, in seine Kutsche bat, um mit ihm über die ungewöhnlich starke Verehrung der Polen für die heilige Maria zu diskutieren. Von weitem glich Pater Vota einem Asketen, so dürr und hoch war seine Figur. Von nahem aber verwischten die lebendigen Augen, von deren Winkeln Lachfältchen wie Strahlen ausgingen, diesen Eindruck. Seine Offenheit machte ihn zu einem idealen Gesprächspartner für August, der mit Theorien und Doktrinen wenig anfangen konnte, sondern alles gern auf die Praxis reduzierte. Ihr Gespräch wurde jedoch von einem Eilkurier aus Dresden unterbrochen. Die Depesche kam von Fürstenberg. Auf Augusts Wink hin beugte sich ein Offizier in die Kutsche und reichte eine Laterne herein. August lehnte sich in die weichen Polster der Kutsche zurück und erbrach das Siegel. Ihm gegenüber schaute der Pater diskret aus dem Fenster in die schneelose, dunkelgraue Ebene. August begann zu lesen. Seine Züge wurden undurchdringlich, als er die exorbitanten Forderungen des Goldmachers las: 20.000 Golddukaten. Der Bursche mußte wahnsinnig geworden sein, war er wohl auch, wenn man Fürstenbergs Ausführungen glaubte. Doch Fürsten151
berg drängte gleichzeitig, der Forderung nachzugeben. Der Mann sei einerseits zu unstet, als daß man ihm viel mehr zumuten könne, andererseits zu talentiert, um ihm nicht die Chance zu geben. Der Brief sank auf Augusts Schoß, während er unschlüssig den Pater ansah. Pater Vota war genau die vertrauenswürdige Person für einen Rat. »Haben Sie schon einmal von dem Aurifex aus Berlin gehört, Pater?« »Angelegentlich, Königliche Majestät«, entgegnete Pater Vota vorsichtig. »Ich denke, ich muß Sie in ein Geheimnis einweihen.« August erzählte ihm vom Goldmacher, der Feindschaft seines Vetters Friedrich, dem mißglückten Experiment, und gab ihm am Ende den Brief zu lesen. Als Pater Vota ihn zurückreichte, zündete August sich eine Pfeife an und verbrannte den Brief mit dem Zündholz. »Der Fall ist singular, Königliche Majestät. Ich möchte um etwas Bedenkzeit bitten und meinerseits Erkundigungen einziehen, wenn Sie gestatten.« Eine Woche später – August hatte inzwischen Quartier im alten Krakauer Königsschloß genommen – schickte er nach dem Pater, denn er begann sich zu langweilen. Die Lubomirska war auf Wunsch ihres Onkels, des Kardinalprimas, in Warschau geblieben. Eine kleine Abwechslung würde ihm guttun, und seine Antwort auf Fürstenbergs Schreiben stand noch aus. Pater Vota hatte in der kurzen Zeit zwar nicht viel herausfinden können, aber er billigte Augusts Plan, dem jungen Alchemisten zu zeigen, daß man dem König nicht ungestraft Forderungen stellen konnte. Dieser widerspenstige, unverschämte Apothekergeselle sollte das zu spüren bekommen.
*** Es war Ende März 1702 und noch stockfinstere Nacht, als der Wärter Böttger wach rüttelte. »Los, aufstehen! Sofort! Los, los!« 152
Verschlafen dreht sich Böttger um und öffnete mühsam ein Auge. »Was ist?« Vor seiner Nase baumelte eine Laterne. »Aufstehen, Beeilung, der Herr!« Böttger blieb unwillig liegen und maulte. »Warum denn?« »Ich soll Sie abholen! Los!« Der Wärter begleitete den Satz mit einem kräftigen Stoß in die Rippen. Böttger kam hoch. »Wohin denn? Es ist doch mitten in der Nacht.« »Nach unten. Machen Sie gefälligst.« Zwei mit Pistolen bewaffnete Gardisten standen in der Tür, da hatte es wenig Sinn, zu streiten. Ihm wurde mulmig. Was zum Teufel hatte das zu bedeuten? ›Nach unten‹ hieß zum Kommandanten, konnte aber auch den Festungseingang bedeuten. Ergeben griff sich Böttger seinen schmutzigen Rock und streifte ihn über. Die Wunde auf seiner Stirn war verheilt, übriggeblieben war nur eine kleine weiße Narbe unter seinem Haaransatz, die manchmal pochte. Sobald er fertig angezogen war, führte man Böttger auf den großen Platz in der Mitte der Festung. Von dort ging es eine finstere, gepflasterte Rampe hinunter zum Festungseingang, einem gewaltigen, in den Felsen gehauenen Tunnel, in dem zwei Kutschen bequem aneinander vorbeifahren konnten. Ihre Schritte hallten, die Laterne warf gigantische Schatten an die Tunneldecke. Einige hundert Meter entfernt flackerte am Tunnelende ein Lichtpunkt. Böttger fröstelte. Der Marsch durch die abschüssige Röhre dauerte endlose Minuten. Dann wurde es heller, sie erreichten das Tunnelende, kamen unter dem schweren Schutzgitter hindurch und überquerten die Zugbrücke zum Vorhof, der von zwei Fackeln erhellt wurde. Unbeweglich wie Statuen standen die Wachsoldaten links und rechts der Zugbrücke. Böttger drehte sich noch einmal um und blickte hoch zur Festung, die aus dem senkrechten Felsen wuchs und sich im Nachthimmel verlor. Man bugsierte ihn in die Wachstube. Dort standen zwei Wärter neben einem Zuber voll Wasser bereit. Er mußte seine schmutzstarrenden Kleider ablegen und wurde geschrubbt, der Flaumbart abrasiert. Einen Moment lang vermochte er sogar das Bad im heißen Wasser zu 153
genießen. Man steckte ihn in frische Wäsche und einen sauberen, aber groben Rock. Seinen Degen händigte man ihm nicht aus, und auf seine Fragen erhielt er keine Antworten. Böttger wurde wieder in den Vorhof geführt. Ohne ein hörbares Kommando glitt plötzlich das gut geölte, große Tor zur unteren Befestigungsanlage auf und ließ ihn mit seinen Begleitern passieren. Auf dem Vorplatz warteten eine größere Anzahl berittener Soldaten und eine Kutsche, deren Türwappen abgehängt war. Alles erinnerte Böttger an seine Entführung durch Fürstenberg. Er zählte zwanzig Berittene, zwei mit Fackeln, und einen Leutnant. Neben dem Tor stand der Festungskommandant mit Brett und Schreibzeug. Der dickliche Leutnant watschelte wichtigtuerisch auf Böttger zu und starrte ihm ins Gesicht, nickte dann zufrieden und trat zum Festungskommandanten, der ihm sein Brett mit der Quittung hinhielt. Der Leutnant unterschrieb. »Adieu, der Herr.« Dem Gesichtsausdruck des Kommandanten war anzusehen, daß er froh war, diesen Gefangenen los zu sein. Man hatte Böttger als Herrn ohne Namen auf dem Königstein eingeliefert, und ebenso wurde er nun wieder abgeholt. »Adieu, Herr Kommandant.« Hierher würde er also nicht mehr zurückkommen. Befremdlich war allerdings, daß der Offizier wie seine Soldaten Galauniformen angelegt hatten. Der Leutnant ergriff ihn am Arm. »Kommen Sie.« Ohne viel Hoffnung auf eine Antwort fragte er den Offizier: »Wohin geht es, Herr Leutnant?« »Dorthin.« Der Leutnant wies zur Kutsche, deren Fenster verhängt waren. Die Antwort war wenig überraschend. Vermutlich kannte auch der Leutnant selbst nicht den Grund für diese Fahrt, nur das Ziel. Ergeben stieg Böttger ein, der Leutnant folgte ihm ächzend, und noch während er sich Böttger gegenübersetzte, knallte die Peitsche, und die Pferde zogen an. Es war nicht wie vor den Toren Wittenbergs. Kein Mond schien, und ihm gegenüber saß ein Mensch mit zugeknöpftem Mund. 154
Langsam und vorsichtig holperte die Kutsche den steilen Berghang hinunter, dann wurde der Weg ebener, die Fahrt schneller. Zu Böttgers Überraschung ratterten sie bald darauf über eine Brücke. Es ging also über die Elbe und nicht, wie Böttger erwartet hatte, nach Dresden. Das war mysteriös. Soweit er von der Festung aus hatte sehen können, gab es dort nur Gebirge. Bald darauf wurde Böttger nach hinten in den Sitz gedrückt, der Weg führte steil bergan. Hin und wieder öffnete sich ein schmaler, etwas hellerer Spalt zwischen den Vorhängen. Die Dämmerung brach an. Dann hörte Böttger noch mehr Pferdegetrappel und kurze Kommandos. Weitere Reiter waren dazugestoßen. Da draußen begleitete ihn allmählich eine halbe Armee. Böttgers mühsam genährte Hoffnung, es ginge ins Labor, brach völlig zusammen. Die vielen Soldaten verunsicherten ihn. Was hatte das zu bedeuten? Konnte es sein, daß man ihn hängen wollte? Ihm fiel ein, daß Fürstenberg sich das Gichtmittel kurzerhand aus Berlin vom Apotheker Zorn hätte schicken lassen können. Zorn war der einzige, dem er etwas von Lascarius erzählt hatte. Allerdings hatte er nur von ›Hinweisen‹ gesprochen, nicht vom Arkanum. Konnte es sein, daß Fürstenberg diesen Hinweisen nachgegangen war, Lascarius aufgestöbert hatte und nun um die Unzulänglichkeit des Arkanums wußte? Würde der Mönch zugeben, daß er dem Apothekergesellen eine nutzlose Substanz gegeben hatte? Wenn man ihn folterte, war jede Aussage möglich. Johann Friedrich Böttger würde daraufhin als Betrüger dastehen, dem man aufgesessen war. Und daß er weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt war, kam erschwerend hinzu. Das konnte die Wut auf ihn noch mehr anfachen und einigen Aufwand beim Hängen rechtfertigen. Andererseits wußte Zorn eigentlich nichts Genaues, und der Mönch zog ständig in der Welt umher. Böttger seufzte. Die Forderung von 20.000 Golddukaten war horrend gewesen. 20.000 Golddukaten entsprachen zehn Jahresapanagen eines Ministers. Vielleicht gedachten die hohen Herrn, wegen dieser Unverschämtheit ein Exempel an ihm zu statuieren. In diesem Fall würde 155
am Ziel der Kutsche ein Priester auf ihn warten, neben ihm der Henker. Die Paradeuniformen der Soldaten würden dazu passen. Er starrte zum Leutnant und versuchte, im spärlichen Licht der anbrechenden Dämmerung, das zwischen den Vorhängen hindurchkroch, irgend etwas in dessen Gesichtszügen zu lesen. Nichts. Vielleicht brachte man ihn auch nur an einen geheimen Ort, wo er laborieren sollte. Doch ausgerechnet im Gebirge? Der Ort würde auch kaum geheim bleiben, wenn man ihn mit einem derart großen Aufgebot dorthin brachte. Unwahrscheinlich. Doch der Galgen? Es gab schließlich genug Gründe dafür. Böttgers Atem beschleunigte sich, seine Hände krallten sich in die Oberschenkel. Er schloß die Augen. Nein, es durfte nicht sein. Es konnte nicht sein, beruhigte er sich, bemüht, ruhiger zu atmen. Er wollte dem Leutnant kein jämmerliches Schauspiel bieten. Es war doch einfach nur so, daß er sich keinen Reim auf diese seltsame Fahrt machen konnte, weiter nichts. Am Ziel würde Fürstenberg dasein. Trotz aller Streitigkeiten zwischen ihnen, Fürstenberg mochte ihn. Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Wo war eigentlich sein Degen? Eigentlich hätte er ihn vom Festungskommandanten zurückbekommen müssen. Es war zum Verrücktwerden. Wollte man das? Plötzlich erschien ihm das als sein erster vernünftiger Gedanke. Man wollte ihn mürbe machen, wie schon auf der Festung. Um seinen Mut zu beweisen, grinste er den Leutnant breit an. Doch der schaute indigniert nur noch hochnäsiger drein. Böttgers Grinsen fiel resigniert in sich zusammen. Aber ein wenig von seiner Angst hatte er besiegt. Die Dämmerung war dem ersten Tageslicht gewichen, als die Kutsche zum Halten kam. Die Pferde schnaubten vor Anstrengung, niemand schien abzusitzen. Der Leutnant hatte den Kopf ein wenig gehoben und lauschte nach draußen. Die Warterei zerrte mehr an Böttgers Nerven als die Fahrt. Worauf wartete man? Weit entfernt war das harte Aufschlagen von Hufen auf Felsen zu hören. Noch mehr Reiter. Zum ersten Mal kam Böttger der Gedanke, daß dieser ganze Auftrieb unmöglich ihm allein gelten könnte. 156
»Drinnen bleiben, der Herr«, raunzte der Leutnant, sprang hinaus und knallte die Tür hinter sich zu. Böttger lauschte angestrengt. Die galoppierenden Hufe des näher kommenden Trupps. Leise unverständliche Meldungen, Stimmengemurmel. Pferde im Schritt, die Reiter schienen sich zu verteilen. Dann kamen zwei Pferde näher. Böttgers Herz klopfte wild. Gleich darauf wurde die Tür aufgerissen. »Aussteigen!« brüllte einer der Berittenen. Nach der Dunkelheit in der Kutsche blendete Böttger die Sonne, die gerade über einen felsigen Kamm gestiegen war. Scharf zeichnete sich vor ihm die Silhouette eines abgestorbenen Baumes gegen den Himmel ab. An einem weit ausladenden Ast drehten sich drei Gehängte langsam im leichten Morgenwind. Der Baum stand einsam inmitten eines mit Gras und Felsen bedeckten Plateaus, um das sich die Reiter im Halbkreis aufgestellt hatten. Unwillkürlich suchte Böttgers Blick nach einem Priester. Es gab keinen. Seine berittenen Begleiter saßen nicht ab, ritten vielmehr eng nebeneinander, so daß Böttger, eingezwängt zwischen ihren Stiefeln, Schritt halten mußte. Sie führten ihn auf den Baum mit den Gehängten zu, die nach ihrer zerrissenen Kleidung zu urteilen wohl Räuber gewesen waren, die man ohne viel Aufhebens aufgeknüpft hatte. Böttger schauderte. Dann entdeckte er Fürstenberg. Ohne zu ihm herüberzusehen, ritt er an den formierten Reitern vorbei auf das gegenüberliegende Ende des Plateaus zu, wo über einem Felskamm soeben die Sonne aufging. Als Böttger beim Baum angelangt war, bedeuteten ihm die Reiter, dort stehenzubleiben, und reihten sich bei den anderen Reitern ein. Die Füße der Gehängten baumelten neben Böttgers Kopf und strömten Verwesungsgeruch aus. Er stand jetzt allein unter dem Baum inmitten des Plateaus, um das die Reiter einen Kreis gebildet hatten. Nur dort, wo die Sonne die ersten Strahlen flach über das Plateau warf, klaffte eine Lücke. Eine Welle der Angst schwappte in Böttger hoch. Er spannte die Muskeln an und biß sich auf die Zähne, um nicht zu zittern. Nicht be157
eindrucken lassen, knurrte er sich selbst zu. Nur nicht beeindrucken lassen. Erst erschien nur der Kopf eines Reiters über dem Bergrücken, dann die ganze Silhouette, ihm folgte ein zweiter und in größerem Abstand ein Trupp von vierzig oder fünfzig. Sie kamen alle direkt aus der Sonne. Die Gesichtszüge des hochgewachsenen, führenden Reiters auf seinem mächtigen Pferd waren im Gegenlicht nicht zu erkennen. Der Reiter hob die Hand, und der Trupp hinter ihm stoppte, während er selbst zu Fürstenberg ritt. Bei der Armbewegung glaubte Böttger, es golden aufblitzen zu sehen. Die erhabene, wuchtige Gestalt, die Galauniformen seiner Begleiter. Böttger wußte plötzlich, wer der Reiter war: Seine Königliche Majestät, August der Starke. Sein Herz begann wild zu klopfen. Und noch bevor der Reiter zum Stand gekommen war, verneigte er sich tief. Vielleicht hatte er noch eine Chance. Mit der Ankunft des Königs hatte sich der Kreis der Reiter um Böttger geschlossen. Fürstenberg verneigte sich vor dem König. Der folgende kurze Wortwechsel war zu leise, als daß Böttger etwas hätte verstehen können. Dann gab Fürstenberg ihm einen Wink. Während Böttger auf den König zuging, betete er, daß dies ganze Arrangement ihm nur einen Schreck einjagen sollte. Der König kam doch nicht, bloß um einen Apothekergesellen hängen zu sehen. Vielmehr würde er gleich seine Forderung verteidigen müssen, so wie er es im Geist auf der Festung schon hundertmal geübt hatte. Seine Angst wich Nervosität. Als er fünf Schritte vom König entfernt war, verneigte Böttger sich tief. »Euer untertänigster Diener, der Herr ohne Namen von der Festung Königstein, begrüßt voll Ehrfurcht und tief empfundenen, inneren Glücks Eure Kurfürstlich-Königliche Majestät.« Obwohl er laut gesprochen hatte, schien Böttger seine Stimme kümmerlich. Verstohlen spähte er zu Fürstenberg, doch dessen Miene war nichts zu entnehmen. Er sah wieder auf zum König, der ihn heranwinkte, bis Böttger das Schnauben des Schimmels im Gesicht spürte. Hoch über ihm saß die 158
Majestät, die Gesichtszüge kaum erkennbar, weil die Gloriole der Perücke im harten Gegenlicht der Sonne alles überstrahlte. Böttger fiel es schwer, nicht zu blinzeln. August betrachtete ihn lange. Dieser Böttger war kein Federfuchser, kein blutleerer Gelehrter, sondern stattlich und mit faszinierend starken Augen. »Sie wissen, wer vor Ihnen steht«, begann August streng. »Man hat mir von Ihren Forderungen berichtet. Falls ich sie annehmen sollte, verlange ich, daß Sie auch meine Bedingungen ohne Eskapaden befolgen. Ich will Ihr Wort darauf.« Mit seinem charmantesten Lächeln verbeugte sich Böttger erneut. »Selbstverständlich, Eure durchlauchtigste Kurfürstlich-Königliche Majestät, gebe ich mein Wort. Ihr untertänigster Diener ist nur allzugern bereit, allen Wünschen Ihrer Königlichen Majestät, so wie sie nur ausgesprochen sind, zu erfüllen.« »Sie verlangen eine sehr hohe Summe für die Herstellung der bewußten Substanz. Wie rechtfertigen Sie das? Wir wollen Garantien.« »Königliche Majestät, Ihr untertänigster Diener versichert Ihnen, daß ich Ihrer durchlauchtigsten Königlichen Majestät nach einer gewissen Zeit das Hundertfache dieser Summe werde erstatten können – in der in Rede stehenden Substanz.« »Wieviel ist das?« »Zwei Tonnen.« Dies kam mit so selbstbewußter Überzeugungskraft von Böttger, daß August beeindruckt war. »Wie lange werden Sie brauchen?« »Es ist ein komplizierter, langwieriger Schöpfungsprozeß, Königliche Majestät, dessen Dauer sich nicht vorhersagen läßt. Auch Wachstumsprozesse in der Natur lassen sich nicht beschleunigen, und es ist eine heikle Sache, dies im Experiment künstlich herbeizuführen, und bedarf des Segens Gottes.« »Sie weichen aus, Monsieur«, kam es unerwartet scharf von August. Böttger begann trotz der Morgenkühle zu schwitzen. »Ich hoffe, bis Anfang nächsten Jahres könnte es gelingen.« August war noch nicht zufrieden. »Wie erklären Sie mir Ihre unge159
heure Geldforderung? Sie haben das Arkanum doch schon einmal hergestellt und haben in Berlin wohl kaum über derartige Mittel verfügt. Wiederholen Sie einfach die Herstellung, ohne Ausflüchte. Falls Sie das verweigern, gibt es Mittel, Sie dieser Sorgen zu entheben.« Böttger fühlte sich, als verliere er den Boden unter den Füßen und rutsche unkontrolliert einem Abgrund entgegen. Wie sollte er den König überzeugen, ohne ihm zu widersprechen? »Königliche Majestät, bitte, nur etwas Geduld. Meine Aufzeichnungen über die Herstellung des Arkanums für die bewußte Substanz wurden bei einer Explosion im Labor meines Lehrherrn vernichtet. Das war im letzten September. Die Explosion weckte die ganze Straße, alle können es bezeugen, das Labor brannte fast ab. Ich konnte nur das Arkanum retten. Jetzt muß ich ganz von neuem beginnen.« »Sie langweilen mich mit Ihren Ausführungen. Sie sind noch jung, also auch nicht vergeßlich. Bei einem so hohen Einsatz will ich Erfolg garantiert haben.« Böttger schwitzte, obwohl von den Gehängten hinter ihm Kälte auszugehen schien. Er war es gewohnt, sich in der Sicherheit eines Labors zu bewegen, umgeben von den gewohnten Utensilien. Er kam sich vor wie ein Orgelspieler, der ohne die gewohnte Partitur plötzlich etwas Mitreißendes spielen sollte. Er senkte den Kopf, beschimpfte sich innerlich als Angsthase, erinnerte sich an die überzeugenden Sätze, die er auf dem Königstein einstudiert hatte. Böttger richtete sich auf und sah dem König so unbefangen wie möglich in die Augen. »Den Erfolg kann ich selbstverständlich garantieren, nur der Zeitrahmen darf nicht zu eng sein. Ihre Königliche Majestät haben ein Recht auf einen sicher funktionierenden Prozeß. Bisher jedoch sind alle Experimente nur im allerkleinsten Maßstab durchgeführt worden. Um aus der Transmutation etwas zu machen, das einer Manufaktur vergleichbar wäre, bedarf es vieler Voraussetzungen. Bestimmte Grundmaterialien, die man in Sachsen nicht findet, müssen importiert werden. Hochkomplizierte und sensible Substanzen müssen in bisher nicht gekannten Mengen hergestellt werden. Und obwohl ich mich der besten chemischen Kenntnisse rühmen darf, die 160
in den deutschen Landen anzutreffen sind, wird es doch ein schweres, langwieriges Stück Arbeit. Jede chemische Substanz folgt ihren eigenen Gesetzen, jede Verbindung offenbart andere Eigenschaften. Und je weiter ich in diesen Erkenntnissen fortschreite, desto mehr Lücken werden auch in meinem Wissen offenbar.« »Keinen philosophischen Exkurs, Monsieur Schrader. Fakten«, warf August ein. Es klang aber schon weniger unfreundlich. »Vor allem, Königliche Majestät, muß man die technischen Voraussetzungen schaffen, neue Labors mit Feuerstellen und Öfen bauen, wo sich die Hitze präzise steuern läßt. Nur so wird aus einem einmaligen Experiment ein Verfahren, das wiederholbar ist. Allein diese vorbereitenden Arbeiten werden eine Menge Zeit verschlingen und viel Geld kosten. Ich brauche Mitarbeiter, geschulte Männer, die mir bei dieser Arbeit helfen. Wir haben also Material-, Lohn- und …« August hatte die Hand gehoben und Böttgers Redefluß gestoppt. »Ersparen Sie mir die Einzelheiten. Immerhin scheinen Sie eine Vorstellung von dem zu haben, was zu tun ist.« Mit einer Handbewegung bedeutete er Böttger, einige Schritte zurückzutreten, und wandte sich Fürstenberg zu. »Monsieur Schrader soll im Goldhaus arbeiten. Man kann es bei dieser Gelegenheit auf den neusten Stand der Technik bringen. Und geben Sie ihm alle Unterstützung, damit die Sache jetzt schnell vorangeht.« »Ich dachte daran, Königliche Majestät, Herrn Schrader Männer aus unseren Erzbergwerken beizugeben. Ihre Kenntnisse in der Metallurgie könnten hilfreich sein.« »Arrangieren Sie das, Exzellenz.« »Wie steht es mit den notwendigen Mitteln?« fragte Fürstenberg vorsichtig. Er hatte schon oft genug erlebt, daß er alles hatte vorschießen müssen, und es war immer höchst unangenehm, den König an seine Schulden erinnern zu müssen. August seufzte. »Ich lasse Ihnen eine Anweisung aus meiner Hofkasse geben. Keiner soll später sagen, daß das Unternehmen an meinem guten Willen gescheitert sei.« Dann winkte er Böttger noch einmal heran. »Die Sache eilt, Monsieur Schrader, denken Sie daran.« 161
»Ich werde alle Anstrengungen unternehmen, den königlichen Willen akkurat zu erfüllen, und meine zukünftigen Mitarbeiter antreiben. Ich hoffe zuversichtlich, daß wir es bis Oktober geschafft haben werden …« Dann holte er tief Luft. »Es gehört dazu allerdings eine nicht unwesentliche Kleinigkeit.« Böttger machte eine Pause, sah, wie sich die Stirn des Königs runzelte, und fuhr schnell im leichten Plauderton fort. »Königliche Majestät, es ist nur so, die Naturwissenschaft ist eine … recht eigenwillige Geliebte, die sich nicht einfach hingibt. Sie will umworben sein, nicht mit bloßem Fleiß, sondern mit Denken. Nur wer sich von alten Vorstellungen frei machen kann und neue Gedanken wagt, dem offenbart sie ihre Geheimnisse. Man braucht Freiheit. ›Mens sana in corpore sano‹ – Körper und Geist sind untrennbar, Freiraum zum …« Eine unwillige Handbewegung Augusts brachte Böttger zum Verstummen. »Wir haben jetzt einen Vertrag, Monsieur Schrader, der so lange gelten soll, wie ich lebe: Erst das Arkanum, dann die Freiheit!« Böttger blieb nichts anderes übrig, als sich gehorsam zu verneigen, obwohl er innerlich fluchte. Andererseits lebte er noch und hatte sich eine gigantische Summe erkämpft. »Ihr untertänigster Diener dankt Seiner Königlichen Majestät für die Gnade des Schutzes und das in seine Person gesetzte Vertrauen, ferner dafür, in dem sagenumwobenen Goldhaus arbeiten zu dürfen.« Böttger richtete sich auf und blickte zu August hoch. Sein Gesicht zeigte den Ausdruck von Ehrerbietung und Freude, der von ihm erwartet wurde. August deutete ebenfalls eine Verneigung an. Aber er lächelte nicht. Eine Handbewegung, Böttger war entlassen. Fürstenberg drehte sein Pferd und gab Böttger einen Wink, ihm zu folgen. Immer noch stand der Kreis der Reiter unbewegt um das Plateau, auf dessen anderer Seite die Kutsche wartete. Die Morgensonne begann den Schweiß in Böttgers Nacken zu trocknen. Irgendwie hatte er es sich alles einfacher vorgestellt. Er hatte ja auch nicht erwartet, dem König direkt gegenüberzustehen. Immerhin hatte er seine Angst überwunden, war nicht zitternd in die Knie gegangen, hatte nicht um 162
Gnade gebettelt, trotz des bedrohlichen Arrangements, das ihn hatte einschüchtern sollen. Erst allmählich wurde ihm bewußt, welche ungeahnten Chancen sich ihm mit der Bewilligung dieser Summe boten. Nie hatte er damit gerechnet, sie in voller Höhe zu bekommen. Er hatte jetzt Geld ohne Ende. Damit konnte man sich zur Not auch eine Flucht erkaufen. Ohne einen weiteren Blick auf die Gehenkten schritt Böttger stolz hinter Fürstenbergs Pferd auf die Kutsche zu. Er fühlte sich wie ein siegreicher Gladiator, der aus der Arena geführt wird. August wendete sein Pferd zu Pater Vota. Sein Gesicht spiegelte höchste Zufriedenheit. »Was halten Sie von dem Mann, Pater? Wenn wir ihn doch hängen, gewinnen wir vielleicht die Gunst meines Vetters Friedrich zurück.« Pater Vota antwortete ernst. »Ein totes Genie wird ihn kaum umstimmen, Königliche Majestät. Und es spricht für einen starken Charakter, daß sich dieser junge Mann trotz der Umstände zu benehmen wußte. Was er ausführte, klang vernünftig. Nehmen wir noch die von Seiner Exzellenz dem Statthalter beschriebene Kompetenz dazu, ebenso wie seinen Leumund, so denke ich, können wir ihm vertrauen. Sogar Seine Heiligkeit hält ihn für ein Jahrhundertgenie. Er könnte der wichtigste Mann Sachsens werden.« August lächelte. »Auf dies Urteil von Ihnen hatte ich gehofft. Man muß dem Mann nur ein wenig Feuer unterm Hintern machen, damit er pariert.« Er hob die Hand, sein Major kam herangeritten. »Wir reiten weiter nach Leipzig zur Frühjahrsmesse, Major.« Der Offizier dreht sich im Sattel um und gab dem Trompeter einen Wink. Die Reiter formierten sich zur Kolonne. Pater Vota sah Böttger nach, der in die Kutsche stieg. »Wollt Ihr dem jungen Mann nicht doch ein wenig Freiheit geben, Königliche Majestät?« August schaute Pater Vota spöttisch an. »Ein Jahrhundertgenie frei herumlaufen lassen? Wo denken Sie hin, Pater!« 163
*** Wie eine Kröte hockte Herr von Schönberg über seinen Papieren, warf Charlotte einen nachlässigen Blick zu und bemerkte milde: »Eine Mätresse zu haben ist nun mal Brauch, meine Teuerste. Seine Majestät ist das Vorbild. Es mag eine kleine Schwäche meinerseits sein. Andererseits gehört es doch heutzutage zum guten Ton. Sie sollten sich damit abfinden.« Mit kleinen harten Schritten wanderte Charlotte auf und ab, blieb dann vor ihrem Mann stehen und funkelte ihn mit der ganzen angestauten Wut der vergangenen Woche an. »Nein, Monsieur. Sie haben nicht den Rang eines Königs. Sie können nicht darauf verweisen, nur dem Allmächtigen Rechenschaft schuldig zu sein. Auch haben Sie mich nicht aus Gründen der Staatsräson heiraten müssen. Sie folgen nur einer Mode; daraus erwächst kein Anspruch. Sie leben in Sünde.« »Das ist alles nur Unsinn, Madame. Gehen Sie in Ihr Zimmer, beschäftigen Sie sich. Im übrigen dulde ich keinen Angriff auf meine Person. Lassen Sie das.« »Ich denke nicht daran«, fauchte Charlotte. Zornig ließ Schönberg die Feder sinken. »Wie Sie wollen. Ich werde Anweisung geben, daß Sie nicht mehr ohne Begleitung meiner Garde das Haus verlassen dürfen. Das wird Ihnen schon die Flausen aus dem Kopf treiben und zwingt Sie, besser über Ihre Worte nachzudenken. Ich warne Sie, meinen Ruf zu schädigen.« Charlottes Ton wurde noch schärfer. »Wie schön, daß Sie um Ihren Ruf besorgt sind. Was gilt Ihnen eigentlich der Ruf Ihrer Ehefrau? Welches Recht billigen Sie mir zu?« »In der Bibel steht: Das Weib sei dem Manne Untertan. Ich fordere Sie auf, gehorsam zu sein. Hoffart gehört zu den sieben Todsünden, Madame.« »Wollust ebenfalls, Monsieur.« »Dann sind wir ja quitt.« Damit wandte sich Schönberg wieder seinen Akten zu. Der Fall war für ihn erledigt. Verdattert starrte Charlotte ihren Ehemann an. Der sah noch einmal 164
auf und bemerkte friedlich: »Lassen Sie mich jetzt bitte weiterarbeiten und beruhigen Sie sich … Nach wie vor verehre ich Sie, auch wenn es Ihnen anders erscheinen will. Jeden Tag erfreue ich mich an ihrem Anblick, Madame.« Schönberg hatte es tatsächlich geschafft, die letzten zwei Sätze mit einem charmanten Lächeln zu unterstreichen. Abrupt drehte sich Charlotte auf dem Absatz um, verließ das Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Tränen der Wut standen in ihren Augen, als sie die Treppe zu ihrem kleinen Salon hochging. Ihr Mann ließ sich nicht beikommen. Er hatte sie wieder in den Tresor geschlossen. Leider galt nur in bürgerlichen Kreisen Ehebruch bei Männern als strafwürdiges Vergehen. Beim Hofadel wurde anders gemessen. Dort gereichte die Zahl der Eroberungen einem Mann zur Ehre. Es war sinnlos, gegen diese Ordnung anzukämpfen, zumal er ja nichts von ihrer Tochter wußte. Forderte sie nicht das Schicksal heraus, wenn sie ihn verdammte? Zwei Wochen zuvor, als Herr von Schönberg Anfang April nach Dresden zurückgekehrt war, hatte Charlotte große Hoffnungen auf eine Versöhnung gesetzt. Amüsant berichtete er vom außerordentlichen Lob des Königs, in dessen Augen sich die zukünftigen Einnahmen zu Bergen anhäuften. Er erzählte von dem ständigen Gerangel der Höflinge, die sich mit den schmutzigsten Tricks und Intrigen irgendwie in die Nähe des Königs zu rücken suchten. Er imitierte sie, spielte ihr Szenen vor, und sie hatten viel gelacht. Charlotte verzieh ihm und erwähnte die Mätresse mit keinem Wort. Sie dachte, ein neuer Anfang sei in ihrer Ehe gemacht. Die Erinnerung an die Zeit, da er um sie geworben hatte, war in ihr wieder lebendig geworden. Schönberg bot ihr den sympathischen und gescheiten Mann, dessen Heiratsantrag sie so bereitwillig angenommen hatte, den Freigeist, den sie bewunderte und liebte. Doch schon eine Woche später tauchte ihr Mann in ihrem Schlafzimmer nicht mehr auf. Mit neu entfachtem Mißtrauen huschte sie ins Treppenhaus und versteckte sich zusammengekrümmt im Dielenschrank. Es war ihr entsetzlich peinlich, aber sie beruhigte sich mit den Worten der Gräfin: Neugier schützt. 165
Lange brauchte sie nicht zu warten, bald ächzten die Stufen unter dem Gewicht ihres Gemahls. Er bemühte sich keineswegs, leise zu sein. Durch den Spalt zwischen den angelehnten Schranktüren sah Charlotte ihn die Treppe zum Dienstbotentrakt hinaufsteigen. Sie hörte sein leises Pochen, eine Tür tat sich auf, eine unbekannte Stimme lachte leise, und die Tür schloß sich wieder. Sie kroch aus dem Schrank und lauschte mit versteinertem Gesicht auf weitere Geräusche. Doch es war still im Haus. Tastend schlich sie in ihr Zimmer zurück. Um sicherzugehen, befragte sie am nächsten Morgen ihre Zofe. Errötend gestand diese, daß Herr von Schönberg seine Mätresse wieder ins Haus geholt hatte. Sie hieß Maria. Ausgerechnet. Was für eine Demütigung. Eine Woche lang ließ Charlotte ihrem Mann Zeit, streute nur hin und wieder eine Bemerkung ein, ob er sie nicht wieder einmal besuchen wolle. Stets tat er es mit Überarbeitung und Müdigkeit ab. Eine Woche lang ließ sie ihn gewähren, bis sie ihn heute endlich zur Rede gestellt hatte. Aufgewühlt schritt sie in ihrem Zimmer hin und her. Draußen lockte der Frühling. Ihr Ausbruch hatte dazu geführt, daß sie nun eingeschränkter sein würde als je zuvor, von den geliebten Ausritten ganz zu schweigen. Was trieb diesen Mann überhaupt zu einer Mätresse? Charlotte blieb vor einem Spiegel stehen. Sie atmete tief durch, beruhigte sich. Sie war jung, sie war schön, sie begriff nicht, warum sie für ihren Mann nicht begehrenswert war. Sie haderte mit sich. Ihre Verletzung stand dem letzten Funken Dankbarkeit gegenüber, den sie für ihre Erlösung aus der Provinz empfand, und der Achtung, die sie seinem wachen Verstand entgegenbrachte. Ihr aufbrausendes Temperament hingegen brachte ihr nur zusätzliche Schwierigkeiten, die Gräfin Krahl hatte sie gewarnt. Die zärtliche Zuneigung, die sie bei ihren Eltern gesehen hatte, war eine exotische Ausnahme. Wenn sie Liebe suchte, dann nicht bei ihrem Mann, sondern dort, wo sie zu finden war. Beim Goldmacher vielleicht, diesem Phantom. In seinem Blick hatte leidenschaftliche Liebe 166
gestanden. Charlotte schüttelte diesen lächerlichen Gedanken wieder ab und schalt sich eine romantische Provinzlerin. In ihrer gesellschaftlichen Position war die Ehe eine vertragliche Zweckgemeinschaft, gestiftet durch die Kirche, bestimmt aber durch die Hofetikette. Hier wie dort hatte nur der Mann das Sagen, eine Frau galt nichts. Es gab nur einen Weg aus dem Dilemma: Kalt ihren Verstand gebrauchen.
Neuntes Kapitel
D
as Goldhaus war äußerlich ein unscheinbarer, dreistöckiger Anbau am Westflügel des Dresdner Schlosses. Über dem Eingang zeigte eine kunstvolle Schnitzerei mit vergoldeten alchemistischen Symbolen auf dunkelblauem Grund den Lauf der Planeten um die Sonne. Das Tor darunter war seit Menschengedenken verrammelt. In das Goldhaus gelangte man einzig durch den schwarzen Gang vom Schloß aus, der ständig bewacht wurde. Seit gut fünfzehn Jahren hatte niemand die geheimen Räume hinter der schweren, eisenbeschlagenen Eichentür betreten dürfen. Der Schlüssel zu dieser Tür ruhte in einer Schatulle im ›Grünen Gewölbe‹, der Schatzkammer der Wettiner, die aus fünf aufeinanderfolgenden Sälen mit grün gestrichenen Decken bestanden, die den Räumen ihren Namen gaben. Zum ersten Mal durfte Böttger in Fürstenbergs Gefolge das mächtige Dresdner Schloß betreten, dessen vier Flügel einen monumentalen Innenhof umschlossen, der genug Platz für Reiterspiele bot. Die Dienerschaft begrüßte den Statthalter mit tiefen, anhaltenden Verbeugungen. Sie durchschritten den hundert Meter langen Riesensaal, in dem Vergolder und Kunstmaler letzte Hand an die Ausschmückung des durch ein Feuer zerstörten Raumes legten. Man hatte die Gelegenheit genutzt und dem Saal eine moderne, barocke Note gegeben. An der Fen167
sterfront trugen herkulische Figuren ausladende Baldachine, wodurch sich großzügige Erker ergaben. Unwillkürlich paßte sich Böttger den gemessenen Schritten des Statthalters an. In seinem Gesicht spiegelte sich die Vorfreude auf das Goldhaus, das durch die lange Schließung nicht nur beim Volk zu einem Mythos geworden war. Baron Kunckel hatte ihm in Berlin von den perfekten Labors vorgeschwärmt, in denen der junge Baron ein Jahr als Discipulus hatte arbeiten dürfen, und voller Ehrfurcht von der unvergleichlichen, alchemistischen Bibliothek erzählt. Böttger fieberte daher der Öffnung des Goldhauses entgegen. Auch Fürstenberg freute sich auf diesen erhebenden Moment, für den er den blauen Brokatrock an Böttger ausgeliehen hatte; Fürstenberg selbst trug einen Prunkrock aus goldgelber chinesischer Seide mit breiten, goldenen Bordüren. Vor der breiten Flügeltür zum Grünen Gewölbe erwartete sie Drahnsfeld, ein magenkrank dreinschauender Mann mit scharfen Falten um den Mund, Oberst der Schloßgarde, mit einer Abteilung aus fünf Mann. Mit Leichenbittermiene gab Oberst Drahnsfeld einen entsagenden Wink mit der Linken, der anzeigen sollte, daß er zutiefst mißbilligte, wenn jemand in seine geheiligten Räume eindrang, obwohl Seine Majestät nicht im Schloß weilte. Die Flügeltüren zum Grünen Gewölbe öffneten sich, zwei Diener empfingen sie. Der Oberst ging voran, ihm folgten Fürstenberg und Böttger, dahinter steif die Gardisten. Der erste Saal war angefüllt mit Bronzeplastiken. Sie standen auf kunstvoll geschnitzten Konsolen an den Wänden bis unter die Decke und rechts und links auf einer Säulenreihe: Hirsche, Löwen, Jagdszenen mit Reitern auf temperamentvollen Rossen und kleine Statuen griechischer Helden nach antiken Vorbildern. Dominiert wurde der Saal jedoch von einem Ebenholzpodest in der Mitte, das eine majestätische Reiterstatue trug – August der Starke im polnischen Krönungsornat. Die Diener und der Oberst blieben kurz stehen und verbeugten sich. Auch Fürstenberg deutete eine Verbeu168
gung an, die Böttger ungeduldig nachahmte. Das Anerbieten der Diener, Exponate der Ausstellung zu erklären, lehnte Böttger höflich ab. Er war nicht in der Stimmung, die Werke zu würdigen, zumal er das dunkle Bronzematerial nicht besonders reizvoll fand. Es drängte ihn zum Schlüssel. An den Flügeltüren zum Silbersaal übergab man die kleine Prozession dem nächsten Dienerpaar. Der Raum mutete unendlich an, ein Trugbild, hervorgerufen durch Spiegel an allen Wänden. Auf gläsernen Konsolen prunkten Pokale aus Silber und Glas, facettenreiche Leuchter, Trinkschalen und Krüge, handwerkliche Meisterwerke, deren Ursprünge bis ins 12. Jahrhundert zurückreichten. Unzählige Male wurden ihre Abbilder in den Spiegeln vervielfältigt. Trotz seiner Ungeduld verlangsamte Böttger den Schritt. Dergleichen hatte er noch nie zu sehen bekommen, daran konnte er nicht einfach vorbeihasten. Staunend blieb er vor einer Silberschale stehen. Köpfe und Blumenranken waren üppig vergoldet, in der Mitte erhob sich eine feinziselierte Kanne aus Silberbändern mit einem goldenen Drachenmaul. Stolz ließ Fürstenberg Böttger in seiner Bewunderung gewähren. Darin lag schließlich der Sinn des Grünen Gewölbes. Jedem, der hier hindurchgeführt wurde, sollten die Macht und die Größe der Wettiner bewußt werden, in deren Abglanz sich Fürstenberg als Statthalter Seiner Majestät sonnen durfte. Allenfalls der französische Sonnenkönig Ludwig XIV. konnte vergleichbare Schätze sein eigen nennen. Im nächsten Saal funkelten Kästchen und kleine Kommoden aus purem Gold, üppig verziert mit Bändern aus Edelsteinen, in allen Farben; Trinkgefäße aus Muscheln oder fein geschliffenem Halbedelstein, eingefaßt in Gold, ausladend dekoriert mit Figuren aus Elfenbein, Alabaster oder Ebenholz prunkten auf schlanken Säulen, nicht zum profanen Gebrauch, sondern einzig zur Augenweide bestimmt, hier eine Diana mit Hirschen, dort eine badende Venus, alles nur Beiwerk für die Gefäße, die nur noch entfernt an ihre ursprüngliche Bestimmung erinnerten. Und auf einem vergoldeten Podest in der Mitte des Raumes erhob sich drei Etagen hoch ein goldenes Kaffeeservice, überreich mit Edelsteinen besetzt, gesäumt von Dutzenden feingliedriger Figu169
ren aus feinstem Elfenbein. Fast ungläubig bestaunte Böttger diese einmalige Kostbarkeit. »Die Figuren hat der Hofbildhauer Permoser gemacht, alles übrige ist das Werk unseres Hofgoldschmieds Dinglinger«, ließ sich Fürstenberg vernehmen. »Seine Majestät hat es ihm letztes Jahr abgekauft. Nirgendwo auf der Welt gibt es etwas Vergleichbares.« Böttger schluckte, stieß schließlich die Luft aus, fand aber keine Worte, die Pracht zu würdigen. Unendlich fein gearbeitet war das silberne und vergoldete Rankwerk mit Blüten aus Edelsteinen. Einzig die Henkel der vier Tassen, die an den Ecken der Pyramide auf goldenen Tellern hervorgehoben waren, wurden durch feine Streifen aus blauem Emaille geschmückt, Porzellan imitierend. Auch der Henkel der Kanne, die auf der obersten Etage des Kunstwerkes thronte, war mit Emaille überzogen. Vom Deckel der Kanne schließlich schien sich ein goldner polnischer Adler in die Lüfte zu erheben. Unaufgefordert hoben die beiden Diener die oberste Etage des Kaffeeservice an. Darunter kam ein kleiner Raum zum Vorschein, eine Miniatur-Kaffeerunde mit Tisch und winzigem Service und vier Herren mit Tabakpfeifen. Einer von ihnen trug einen diamantbesetzten Rock, offensichtlich der König. Ein ums andere Mal umrundete Böttger fasziniert das grandiose Kunstwerk mit seinen Miniaturskulpturen. »Wenn Sie erst einmal Gold gemacht haben, werden Sie Monsieur Dinglinger sicher kennenlernen. Es gibt keinen genialeren Goldschmied.« Eingeschüchtert nickte Böttger Fürstenberg zu. Seine Fähigkeit, künstliches Gold zu machen, schrumpfte in seiner Vorstellung angesichts dieser phantastischen Arbeit. Zum ersten Mal wurde ihm bewußt, daß seine Arbeit nur ein Teilaspekt des Goldes war, eine Voraussetzung, kein Zweck an sich. Dahinter lag eine Welt der künstlerischen Gestaltung, die Gold erst zu seiner höchsten Würde verhalf. Sein künstliches Gold würde solche Kunstwerke ermöglichen, seine Schöpfung krönen. Ungeduld ergriff ihn. »Exzellenz, dies alles bestärkt mich, treibt 170
mich, mit meiner Arbeit anzufangen.« Und zum Obersten gewandt: »Lassen Sie uns bitte jetzt zum Schlüssel gehen, wenn es beliebt.« Ein viertes Dienerpaar nahm Fürstenberg und Böttger in Empfang, die über den Pretiosensaal wachten, der durch Vorhänge vor den Fenstern völlig abgedunkelt war. Über und vor den Vitrinen standen vielarmige Kerzenleuchter, die den in Jahrhunderten gesammelten Schmuck der Wettiner illuminierten. Knöpfe aus Amethyst, Rubinen und Aquamarinen, schwere goldene Ketten mit Rubinen, Bänder mit Brillanten, Halsketten mit Diamanten, zarte Diademe funkelten im Kerzenlicht. In einer hohen, senkrechten Vitrine blitzten das edelsteinbesetzte Kronschwert des Königs und seine Kroninsignien. Doch Böttger hatte für all die Pracht kaum einen Blick übrig. »Im Namen Seiner allergnädigsten Majestät ersuche ich Sie, uns den Schlüssel zum Goldhaus auszuhändigen«, befahl Oberst Drahnsfeld säuerlich, den die Herausgabe dieses Schatzes offensichtlich schmerzte. Einer der goldbetreßten Diener führte sie zu den Kroninsignien und öffnete eine reich verzierte Goldschatulle, trat beiseite und verneigte sich stumm. Dort ruhte ein großer, vergoldeter Schlüssel mit verschlungenem Bart auf einem kleinen roten Kissen. Andachtsvoll hob der Oberst das Kissen samt dem Schlüssel heraus und präsentierte ihn Fürstenberg und Böttger: Der Schlüssel zum sagenumwobenen Goldhaus, in dem seit fast zweihundert Jahren Alchemisten gewirkt hatten, mit seiner berühmten Bibliothek, in der man alles Wissen zusammengetragen hatte. Der Weg führte sie nun zurück durch die Säle des Grünen Gewölbes. Im Nordturm ging es eine Wendeltreppe hoch zum fensterlosen, schwarzen Gang, so benannt, weil in über zweihundert Jahren der ständigen Bewachung des Goldhauses Tausende von Fackeln die Steine geschwärzt hatten. Der schwarze Gang erweiterte sich vor der eisenbeschlagenen Tür zum Goldhaus zum Wachraum. Salutierend traten die Gardisten beiseite und gaben die uralte Tür frei. Die Ankömmlinge formierten sich im Halbkreis, während der Oberst mit dem Kissen neben die Tür trat und sich würdevoll verneigte. »Bitte, Exzellenz.« 171
Feierlich ergriff Fürstenberg den Schlüssel und steckte ihn ins Schloß. Es knirschte, aber drehen ließ sich der Schlüssel nicht. Erneut probierte er es mit größerer Kraft. Umsonst. Das Schloß rührte sich nicht. Der Oberst befahl, Elgard, den königlichen Schlosser, zu holen. Kurze Zeit später hatte man Elgard herbeigerufen, Fürstenberg und Böttger traten zurück, und der Mann begann, mit Öl und gutem Zureden das Schloß gangbar zu machen. Es dauerte. In schweigender Ungeduld traten die Wartenden von einem Bein aufs andere. Nach einer halben Stunde hatte Elgard es geschafft und stieß die Tür auf. Ein Schwall muffiger Luft schlug ihnen entgegen. Fürstenberg rümpfte die Nase. Es wunderte ihn nicht. Fünfzehn Jahre hatte man das Goldhaus nicht gelüftet. »Gehen wir, Monsieur Schrader. Monsieur Drahnsfeld, Sie und Ihre Leute muß ich bitten, hier zu warten.« Voll gespannter Erwartungen durchschritten Böttger und Fürstenberg die Tür und betraten das sagenumwobene Haus. Die Tür hatte einen Flur freigegeben, der sofort scharf nach rechts abbog und zu einer Treppe führte, von deren unterem Ende Licht nach oben drang. Sie stiegen die verstaubten Stufen hinunter, dunkle Abdrücke hinterlassend. Der muffige Geruch verstärkte sich. Die Treppe mündete in einen großen, hallenartigen Torraum, in dem ein halbes Dutzend geborstener Fässer windschief herumstanden, deren durchgerostete eiserne Reifen bizarr in die Luft ragten. Gegenüber in der Ecke türmte sich unter Spinnweben und Staub kaum mehr identifizierbares Gerümpel. Über den Boden krochen Schläuche wie schimmlige Lava. Böttger schubste mit dem Stiefel einen Tiegel beiseite. Asseln flüchteten. Entgeistert verzog Böttger die Miene. Das sagenumwobene Goldhaus war ein Dreckloch, ein Danaergeschenk, eher ein Fluch als eine großzügige Geste des allergnädigsten Königs. Warum nur hatte er Fürstenberg auf dem Rückweg vom Treffen mit dem König in seinem Hochgefühl versprochen, die nötigen ›kleinen Schönheitsreparaturen‹ aus seinem eben bewilligten Etat zu bezahlen? Jetzt verfluchte er seine Großspurigkeit und stand hilflos mit einer Mischung aus Verbitterung und Enttäuschung in dem muffigen Raum. Fürstenberg, obwohl höchst indigniert, zuckte mit den Achseln. 172
»Man mußte darauf gefaßt sein.« Und wie um zu beweisen, daß alles halb so schlimm sei, stieg Fürstenberg mit gekünstelter Forschheit die Treppe nach oben in den ersten Stock. Im ersten Labor mußten sie über die herumliegenden Steine eines zusammengebrochenen Rauchfangs hinwegsteigen. Der Modergeruch verstärkte sich, von den Regalen tropfte Wasser. Zwischen den Deckenbrettern und unter den Balken hingen Stalaktiten aus Kalk und Moos. Als sie den nächsten Raum betraten, scheuchten sie Tauben auf, die durch ein zerbrochenes Fenster zum Schloßgarten flüchteten. Ein scharfer Geruch hing in der Luft. Fast in der Mitte des Raums stand ein Pult mit kastenförmigem Aufbau, auf dem sich Vogelexkremente häuften. Böttger sah sich um. Nur bei diesem Kasten konnte es sich um die Vitrine mit dem berühmten Goldtaler handeln. Er suchte sich ein kantiges Stück Holz, um den Dreck wegzukratzen, und begann vorsichtig damit zu schaben. Es war hoffnungslos. Der Vogelmist war steinhart. »Soll ich die Vitrine aufbrechen?« Böttger war längst über den Punkt hinaus, enttäuscht zu sein. In diesem verrotteten Haus war ihm nichts mehr heilig, nicht einmal das legendäre Zeugnis einer Transmutation. Fürstenberg zupfte pikiert an seinen Manschetten. Ihm war die Anhäufung von Dreck körperlich unangenehm, und er wollte die Besichtigung so schnell wie möglich hinter sich bringen. »Es bleibt wohl nichts anderes übrig.« Böttger setzte das Holzstück unter der Umrandung an und schlug kräftig mit der Faust zu. Ein Spalt öffnete sich. Beim zweiten Schlag sprang der Deckel auf. Wie befreit hüpfte ein Pergament nach oben und fiel zusammengerollt zurück. Böttger und Fürstenberg traten heran. Dort lag er, ein wenig blind vom Staub, aber unversehrt: Der berühmte Goldtaler mit dem Porträt des Kurfürsten Johann Georgs III. des Vaters des Königs. Vorsichtig nahm Fürstenberg das zusammengerollte Schriftstück und zog es auf. Die schwungvolle Unterschrift des Kurfürsten, die seine Gegenwart bei der Transmutation bezeugte, kam zum Vorschein, daneben das Siegel mit dem Wappen des Hauses Wettin. Voller Ehrfurcht wan173
derte Fürstenbergs Blick zwischen den Zeugnissen dieses naturwissenschaftlichen Triumphes hin und her, der ihn allen Dreck vergessen ließ. »Na bitte. Was sagen Sie dazu, Monsieur?« Böttger schleuderte das Holzstück beiseite. »Ein hübsches Vorbild, Exzellenz. Nur wissen wir leider nicht, wie das Experiment ablief. Darüber steht nichts in dem Zeugnis. Warum hat man die Transmutationen eigentlich nicht fortgesetzt?« »Das ist nicht überliefert«, wich Fürstenberg aus. Ihn ärgerte der Zweifel, der aus Böttgers Worten klang. »Dank der Gnade seiner Majestät verfügen Sie ja nun über die notwendigen Mittel, den Erfolg zu vollenden.« Böttger ließ seinen Blick mißmutig durch seine zukünftige Wirkungsstätte wandern. »Wir sollten uns die übrigen Räume des Hauses ansehen. Vielleicht sieht es da besser aus«, bemerkte er mit einem letzten Funken Optimismus und schritt entschlossen zur nächsten Tür. Die Tür ächzte müde und gab den Blick frei auf die zusammengebrochenen Regale der Bibliothek. Auf dem Fußboden türmten sich verstreut dickleibige, in Leder gebundene Bücher und kostbare Folianten in Holzeinbänden, teilweise verschimmelt und von Mäusen angefressen. Böttger verschlug es die Sprache. »Wie konnte man das Goldhaus nur derart verludern lassen«, flüsterte Fürstenberg zornig. »Kann man die Bücher retten?« Böttger wiegte den Kopf. »Ich glaube schon.« Er erinnerte sich an einen zerschundenen Band aus der Bibliothek seines Großvaters, den ein Bibliothekar wieder irgendwie gerichtet hatte. »Es gibt versierte Bibliothekare, die darauf spezialisiert sind. Durch meine Heimatstadt Magdeburg kam einmal ein Mönch, der sich darauf verstand. Er badete die Blätter in irgendwelchen Flüssigkeiten. Wir sollten nichts anrühren, um nicht versehentlich noch mehr zu zerstören.« »Vielleicht kennt man in Leipzig so einen Mann. Es ist die Hochburg sächsischer Druckerkunst.« »In jedem Fall sollte ein Fachmann die Bücher auslagern. Wir würden möglicherweise nur noch mehr Schaden anrichten.« Böttger raffte 174
seinen Rock auf den Rücken, ging in die Hocke und hob vorsichtig den Deckel eines Holzeinbandes. Seine Hand erstarrte. Es war ein Band mit Texten des Paracelsus. ›Alterius non sit, qui suus esse potes‹ stand da als Geleitwort. Sein Magen krampfte sich zusammen. »Sei niemandes Knecht, wenn du dein eigener Herr sein kannst.« Sein Atem beschleunigte sich, und er stierte auf diese Worte. Ihm war, als ob der berühmte Alchemist ihm die Worte mit Wucht entgegenhielt. Sie brannten sich ihm ein. Und noch etwas anderes bedrückte ihn, eine Vermutung, eine Hoffnung, die ihn erfüllt hatte und noch im selben Moment starb, als er den Blick hob. In diesem schrecklichen Haufen, der hochgerühmten Sammlung alchemistischer Literatur, irgendwo zwischen den angeschimmelten Seiten konnte die Lösung um das Geheimnis der Transmutation stecken, die man in diesen Räumen vollzogen hatte, wie der Goldtaler bewies. Aber es war wesentlich wahrscheinlicher, daß alles verrottet und, von den Mäusen vertilgt, zu einem Teil des allgemeinen Unrats geworden war. Fürstenberg schaute Böttger mitfühlend an, dem Tränen in den Augen standen, und legte ihm leicht zögernd die Hand auf die Schulter. Ihn selbst verwunderte seine intuitive Geste des Trostes, und er gestand sich ein, daß seine Zuneigung zu diesem jungen Alchemisten auch etwas Väterliches in sich trug. Böttger spürte diese Anwandlung, faßte sich und richtete sich auf. »Schauen wir uns noch den Rest an. Schlimmer kann's ja nicht mehr werden, Exzellenz.« Sie kehrten in den Laborraum zurück, und Böttger öffnete eine andere Tür, die zu einem kleinen Flur führte. Modrige, nasse Luft schlug ihm entgegen, die Stiege zum zweiten Stock war über und über mit Moos bedeckt. Die erste Stufe brach schmatzend vor Nässe unter Böttgers Gewicht zusammen. Sein Blick wanderte hoch. Im Dach darüber klaffte ein Loch, durch das man den Himmel sehen konnte. Jahrelanger Regen hatte die Stufen aufgeweicht. Erneut verfluchte Böttger sein Versprechen, das Goldhaus herzurichten. Es würde ihn Hunderte von Dukaten kosten, einen Teil des Etats, den er mit so hohem Einsatz her175
ausgeholt hatte. Die Euphorie, die er noch im Grünen Gewölbe empfunden hatte, war gänzlich verflogen. Vor sich sah er nur einen Haufen mühselige, zeitraubende Arbeit, bevor er seine Experimente würde fortsetzen können. Böttger blickte zu Fürstenberg, der nicht weniger desillusioniert wirkte. Entschlossen schüttelte Böttger seine Enttäuschung ab. Es wäre gut, wenn er sich jetzt stark zeigen würde. »Exzellenz, ich glaube, das alles sieht schlimmer aus, als es ist. Sicher läßt sich ein ordentlicher Baumeister auftreiben, und in sechs bis acht Wochen ist das Goldhaus wieder in Schuß – bis auf die Bibliothek vielleicht.« Das weckte Fürstenberg aus seiner bitteren Stimmung, der das ersehnte künstliche Gold schon in weite Ferne hatte entschwinden sehen. »Gehen wir in den Garten, Monsieur, das haben wir uns verdient.« »Den Garten?« »Aus dem Torraum unten führt eine Tür zum Schloßgarten, die nur von innen zu öffnen ist. Dahinter liegt der ehemalige Kräutergarten des Goldhauses. Er ist durch eine Hecke vom übrigen Schloßgarten getrennt. Ich selbst war noch nie dort«, fügte er vage entschuldigend hinzu. »Vermutlich wird alles verwildert sein. Aber immerhin gibt es dort frische Luft.« Als sie hinaustraten, erwartete sie eine Überraschung. Die Schloßgärtner hatten den Garten des Goldhauses über die Jahre weiter gepflegt. Schnurgerade und frei von Unkraut erstreckten sich mehrere kleine Kräuterbeete vor ihnen, in denen sich schon kräftige Sprößlinge zeigten. Fürstenberg atmete tief durch, seine Haltung wurde aufrechter, der gewohnte, leicht arrogante Zug trat wieder um seine Mundwinkel. Böttgers Blick hingegen wurde sofort von einer Reihe unbekannter Büsche angezogen, die als Nachzügler gerade ihre ersten hellgrünen Blätterspitzen trieben. »Was sind das für Büsche, Exzellenz? Ich dachte, ich kenne mich aus – aber die dort sind mir unbekannt.« »Feigenbüsche aus dem Orient«, warf ihm Fürstenberg abwesend hin. Pflanzen interessierten ihn nicht. Ihn quälte immer noch das 176
Unbehagen über die Zustände im Goldhaus. Er mußte einen Bericht für Seine Majestät verfassen, natürlich ohne daß der leiseste Vorwurf spürbar werden durfte. Dennoch war es ratsam, dem König auf eine Verzögerung bei der Aufnahme der Arbeiten an dem Arkanum vorzubereiten. Mit Mißständen wollte der König nicht behelligt werden, die hatten seine Untergebenen zu beseitigen. Die Restaurierungsarbeiten mußten zu einer Würdigung des Königs umgemünzt werden, an deren Ende eine Feier stand. Währenddessen hatte Böttger ein Blatt vom Feigenbusch abgezupft und zerrieb es schnuppernd zwischen den Fingern. »Sind Feigen Heilpflanzen? Haben Sie ein Buch darüber?« »Nicht, daß ich wüßte«, beschied Fürstenberg unwirsch. »Sie sollen hier keine Apotheke aufmachen, sondern das Arkanum finden und Transmutationen durchführen, Monsieur.« Böttger sah zurück zum Goldhaus. Außen war es vor nicht allzu langer Zeit frisch gestrichen worden, hellblau wie das Schloß, die Fachwerkbalken dunkelblau abgesetzt. »Vor zwei Monaten werde ich kaum anfangen können, Exzellenz, das haben Sie selbst gesehen. In der Zwischenzeit kann es durchaus nützlich sein, neues Wissen zu erwerben. Jedes Wissen führt zu neuem Wissen. Häufig weiß man am Anfang nicht, wozu es gut ist. Ich brauche neue Anregungen, Exzellenz.« Dann sah er Fürstenberg offen ins Gesicht, während er an Paracelsus' Worte dachte. »Die Zeit auf dem Königstein war alles in allem doch recht langweilig.« »Das hatten Sie sich selber zuzuschreiben«, gab Fürstenberg kühl zurück. Er hatte zu seiner üblichen hoheitsvollen Haltung zurückgefunden. »Die Restaurierung muß in sechs Wochen abgeschlossen sein. Am 12. Mai, dem Geburtstag des Königs. Kümmern Sie sich darum. Und um Ihre eigentliche Aufgabe …« »Keine Sorge, Exzellenz. Sie kennen die Vereinbarung mit dem König. Die Vollendung meines Werkes liegt schließlich auch in meinem eigenen Interesse.«
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Am Hof Seiner Kurfürstlich-Königlichen Majestät in Krakau sonnte sich Graf Haxlingen in seinem neuen Status als Großkanzler Sachsens und Polens, obwohl Karl XII. inzwischen die Königstadt Warschau besetzt hatte. Mit der Ernennung Graf Haxlingens zum Großkanzler war aller Welt bewiesen, daß August II. noch immer die Herrschaft in Polen innehatte. Es interessierte Haxlingen wenig, daß er in Polen kaum etwas ausrichten konnte, die Magnaten selten den Anweisungen seiner Verwaltung folgten. Jeder von ihnen war eifersüchtig darauf bedacht, dem anderen keinen Vorteil zu lassen. Um überhaupt eine Verbesserung der Infrastruktur in Polen zu erreichen, mußte man mit den Magnaten wie mit verfeindeten Mächten diplomatisch verkehren, so daß jede vom König gewünschte Verbesserung endlos verschleppt wurde. Statt ihnen zu befehlen, mußte man sie umschmeicheln, was Haxlingen auf die Nerven ging. Lieber hätte er es gesehen, August hätte das polnische Abenteuer an den Nagel gehängt. Viel wichtiger war Graf Haxlingen, daß sich die ausländischen Gesandten jeden Morgen zur Audienz bei ihm einfanden, um seine Gunst und Fürsprache beim König zu gewinnen. Wenn er dann – wie üblich – am späten Vormittag zum König gerufen wurde, trug er deren Anliegen nur sehr zurückhaltend vor, damit der König nicht darauf einging. Dies fiel ihm um so leichter, weil die Franzosen, Österreicher und Engländer darauf drängten, August solle auf ihrer Seite in den Spanischen Erbfolgekrieg eintreten, von dem sich alle märchenhafte Gewinne durch Spaniens überseeische Provinzen erhofften. August hatte dazu, wie Haxlingen wußte, nicht die geringste Neigung. Er hatte genug mit dem kriegerischen Karl zu tun. Ihm selbst jedoch sicherte das Hinhalten der Gesandten, die nie eine definitive Antwort erhielten, einen steten Strom an Gastgeschenken oder Vergünstigungen bei Handelsgeschäften mit dem Ausland. Den Veräußerungsgewinn verleibte er seinem Vermögen ein, das ständig wuchs, trotz der Ausgaben, die er für den König zu tätigen hatte. Und die Anhäufung von Vermögen war ihm, der als armer Baronssohn bei August als Page angefangen hatte, das wichtigste, wichtiger noch als sein Titel. 178
Zudem beruhigte er sein Gewissen damit, daß er im Grunde die einzig richtige Diplomatie betrieb. Man brauchte sich doch nur anzusehen, wie sich die Hannoveraner Welfen durch ihre Bündnispolitik gegen Frankreich die Nachfolge auf die englische Krone gesichert hatten. Etwas Vergleichbares schwebte Haxlingen für Sachsen vor – aber möglicherweise nicht mehr mit einem Wettiner an der Spitze, sondern mit ihm selber. Ausgestattet mit dem Prestige des Großkanzlers, seinem eigenen prächtigen Hofstaat und ausreichenden Mitteln, würde sich kein anderer Adliger in Sachsen mit ihm messen können. Es war doch jetzt schon so, daß der König von ihm abhängig war. Ohne ihn konnte er den Unterhalt für seinen verschwenderischen Hofstaat mit seinen Extravaganzen nicht bestreiten, ganz zu schweigen von seinen übrigen finanziellen Verpflichtungen. Nur eine Geldquelle des Königs war ihm bisher verschlossen geblieben: der Goldmacher. Mitte April erfuhr Graf Haxlingen durch seine Spione, daß man das Goldhaus zu neuem Leben erweckte und die Arbeiten von einem gewissen Schrader geleitet wurden. Um diesen Schrader als Johann Friedrich Böttger zu identifizieren, schickte er seinen Gardeleutnant Rebmann nach Dresden, der den Berliner Apothekergesellen von Angesicht kannte. Nur eine Woche später erhielt Haxlingen per Eildepesche von Rebmann die Bestätigung seines Verdachts. Schrader war Böttger. Haxlingen rieb sich die Hände. Nun wußte er immerhin schon, wo der Goldmacher steckte. Durch seine Dresdner Kanzlei ließ Haxlingen die Gegend um das Goldhaus ausforschen und jubilierte, als man ihm meldete, schräg gegenüber in der Gasse stünde das Losewitzsche Haus zum Verkauf. Per Eilanweisung kaufte er es im Namen seiner Frau, einer geborenen Haugwitz, deren Bruder, Graf Haugwitz, aus Berlin an den Hof des Königs gestoßen war. Haxlingen verachtete ihn, weil er geradezu lächerlich puritanisch und ehrlich war. Er hatte am Hof Friedrichs versagt, er würde auch bei August versagen. Die Kunst der Gunsterhal179
tung lag darin, die eigenen Fehler nach unten weiterzudelegieren. So machte es der König, und es war jedermanns Pflicht, ihm nachzueifern. Besonders, wenn es darum ging, die eigene Weste sauberzuhalten. Da Leutnant Rebmann mit Graf Haugwitz aus Berlin gekommen war, fand Haxlingen es besser, ihn fern von dessen Einfluß in Dresden zu belassen. Der Mann war zweifellos tüchtig und geeignet, schwierige Operationen durchzuführen, die sich über kurz oder lang um den Goldmacher ergeben mochten. Seinem Dresdner Hausmarschall übertrug er die Aufgabe, eine Wachstube im ersten Stock des Losewitzschen Hauses einzurichten, in der man über alle Vorgänge um das Goldhaus genauestens Protokoll führen sollte. Bewachung, Besucher, alles sollte registriert werden, jede Lieferung, ob Holz, Erz oder was auch immer. Außerdem galt es herauszufinden, wann Goldlieferungen zum König auf den Weg gebracht werden sollten. Jeweils am Ende der Woche war ihm das Wachbuch nach Krakau zu schicken, damit er stets auf dem laufenden blieb. Wenn erst einmal die Goldlieferungen anfingen, war der Zeitpunkt für Haxlingen gekommen, sich Böttger zu schnappen und seinen Traum verwirklichen, den er durch den exzellenten Maler, Fernando Picarello, schon vorwegnehmen ließ: Graf Haxlingen im Hermelinmantel. Es war für Picarello bestimmt ein leichtes, seinem Haupt eine Krone hinzuzufügen.
*** Die Restaurierung des Goldhauses ging besser voran, als Böttger gedacht hatte. Für die Handwerker war es eine Ehre, Zutritt zum Goldhaus zu haben, und überdies hatte Fürstenberg Böttger einen jungen Baumeister namens Daniel Pöppelmann zur Verfügung gestellt, der alle umsichtig antrieb und sehr auf Sparsamkeit bedacht war, um sich einen guten Ruf am Hof zu erwerben, wo die lukrativen Aufträge winkten. Unstimmigkeiten ergaben sich mit den Handwerkern trotzdem. Sie entzündeten sich an den neuen Sechser-Groschen bei der Bezahlung. 180
Böttger hatte gut zweihundert Golddukaten in Taler, Groschen und Pfennige eintauschen lassen und dafür reichlich von den Sechs-Groschen-Stücken erhalten. Schon als er die Stücke das erste Mal sah, wurde er wütend. Man mußte kein Sproß aus einer Familie von Münzmeistern sein, um zu merken, daß die Legierung nicht stimmte. Die Kupfermünzen waren zu blaß – zuviel Eisen. Die Handwerker weigerten sich, die Münzen zum Nennwert anzunehmen, sondern ließen sie nur für zwei Groschen gelten. ›Seufzergroschen‹ nannte man sie in Dresden. Böttger schrieb einen aufgebrachten Brief an den König und beklagte diesen Mißstand, mahnte, daß die bewilligte Summe für sein Projekt unter solchen Umständen möglicherweise nicht ausreichen würde, und fügte als Beweis einen Sechser bei. Sein Versprechen, das Goldhaus instand zu setzen, konnte er natürlich nicht zurücknehmen. Aber er wollte dem König lieber frühzeitig klarmachen, wieviel von der bewilligten Summe schon ausgegeben war, noch bevor er überhaupt mit den Transmutationen angefangen hatte. Nicht noch einmal sollte ihn ein Versprechen unvorbereitet in eine Notlage bringen. Zum Geburtstag des Königs war dann, wie von Fürstenberg befohlen, das Dach neu gedeckt, die Fenster repariert, die Maurer- und Tischlerarbeiten fertig. Zusammen mit einem versierten Buchbinder aus Leipzig hatte Böttger sich vor allem um die Bibliothek gekümmert, nach dessen Vorgaben feine Säuren und Laugen angemischt, in denen sie die Blätter durch behutsames Baden oder Einstreichen mit dem Pinsel von Schimmel befreiten. Sehr bald zeigte sich, daß die Arbeiten zu umfangreich waren und die übrigen Gewerke behinderten. In der dritten Woche lagerten sie die komplette Bibliothek mit größter Vorsicht um und über der Kaserne am anderen Elbufer ein, wo für hinreichende Bewachung gesorgt war. Den schon restaurierten Band mit Texten des Paracelsus behielt Böttger im Goldhaus, ebenso eine ältere Ausgabe des Basilius Valentinus, in dem er ursprünglichere, eindeutigere Beschreibungen der Transmutations-Schritte zu finden hoffte. Nacht für Nacht kämpfte er sich durch die wie immer verklausulierten lateinischen Texte, ohne allerdings nennenswerte, ihm unbekann181
te Hinweise für seine Arbeit zu finden. Tagsüber fertigte er Reihen von Töpfen und Tiegeln in allen Größen. Das einzige, was am 12. Mai noch fehlte, waren kleine, geschlossene Versuchsöfen, in denen man extrem hohe Temperaturen erzeugen konnte. Um sie zu bauen, sollte Böttger Unterstützung durch Freiberger Gesellen bekommen, die ihre Kenntnisse beim Verhütten der sächsischen Erze gewonnen hatten. Sie sollten zur festlichen Einweihung zusammen mit Fürstenberg eintreffen. Böttger beauftragte Albert, den Fürstenberg wieder als Diener für ihn abgestellt hatte, erlesene Leckereien zu besorgen, um die Begehung feierlich zu gestalten. Der Diener hatte sich schnell zu einer Art Majordomus im Haus entwickelt und sorgte in der Umbauzeit dafür, daß die Handwerker aufräumten, und kommandierte eine Putztruppe, damit kein Mörtelstaub beim Essen zwischen den Zähnen knirschte. Nach Böttgers Vorgaben baute Albert im Hauptlabor auf mehreren Tischen eine weiß eingedeckte Tafel auf, in deren Mitte ein mit Blumen umranktes Podest mit einer Nachbildung des Goldhauses aus rosa Zuckerguß thronte. Das Dach war mit Schindeln aus Blattgold belegt und warf strahlende Blitze unter einem zwölfarmigen Kandelaber. Auf einer Art Wallring darunter waren alle möglichen Küchlein aus Marzipan und Sahne in Silberschalen drapiert. Auf der untersten Etage lockten die deftigeren Happen auf silbernen Tabletts: Heringsfilets in unterschiedlicher Zubereitung, geräucherter Aal und Forelle, gegenüber Wildpasteten, Ragouts und Fleischbällchen mit diversen Saucen. Auf einem Bock neben der Tafel ruhte ein Fäßchen Bier, darunter warteten sechs Krüge. »Mein Kompliment, Albert.« Böttger umrundete die Tafel und naschte ein Fleischbällchen. »Aber warum diese Mengen?« »Seine Exzellenz hat angekündigt, daß er vier Herren aus Freiberg mitbringen wird. Einer der Gäste war so freundlich, ein Fäßchen Freiberger Bier vorauszuschicken, da ihm das Dresdner Bier nicht mundet.« »Haben Sie es schon mal gekostet, Albert?« »Es ist vorzüglich, Monsieur.« »Dann lassen Sie es uns anstechen. Ich muß das Bier probieren.« 182
Geübt schlug Albert den Hahn in das Faß, so daß es kaum spritzte, und begann, einen Krug zu füllen. Während der Wartezeit, in der sich der frische Schaum setzte, umrundete Böttger noch einmal den Tisch. Es war für ihn ein neues, ungewohntes Glücksgefühl, Gastgeber zu sein. Außerdem hob es seine Stellung und würde Eindruck machen, wenn er seinen Gästen eine so opulente Tafel präsentierte. Der Clou war natürlich das Goldhaus aus Zuckerguß, eine Würdigung und Verneigung vor dem König. Der Diener reichte ihm den Krug Bier. Böttger probierte einen kleinen Schluck, mehr so, als koste er Wein. Ein seliges Lächeln verklärte sein Gesicht. Das Bier schmeckte phantastisch, sogar besser als Hamburger Bier, das er für unschlagbar gehalten hatte. Erneut setzte er den Krug an, saugte und schluckte bis zur Neige. Dann rülpste er genußvoll. »Wunderbar. Mögen Sie auch einen Schluck, Albert?« »Ich möchte mich gerne enthalten, wenn Sie gestatten. Wer weiß, ob der Vorrat für Ihre Gäste ausreicht, Monsieur.« Albert weigerte sich beharrlich, die Anrede ›Monsieur Schrader‹ zu benutzen. Er fand den Namen genauso abscheulich wie Böttger. »Nun, dann eben nach dem Empfang.« Böttger ließ Albert den Krug am Becken spülen und abtrocknen. Das Goldhaus verfügte über fließend Wasser, einen Luxus, den es seiner Nachbarschaft zum Schloß verdankte. Die Fenster zum Schloßpark standen offen, und ein warmer Frühlingswind trug den Duft von Flieder herein. Böttger warf sich in einen der leidlich bequemen Stühle und überlegte, ob er sich eine Pfeife anzünden sollte, entschloß sich dann aber, bis nach dem Imbiß zu warten. Er hatte den Statthalter seit der ersten Begehung des Goldhauses nicht mehr gesehen und war stolz darauf, was er in den anderthalb Monaten aus der Ruine gemacht hatte. Ein Ordonnanzoffizier kündigte steif Seine Exzellenz, den Statthalter seiner Majestät, Fürst Anton Egon von Fürstenberg an und befahl Albert, sich mit ihm in den schwarzen Gang zurückzuziehen, wo drei Freiberger Gesellen warteten. Erst danach erschien Fürstenberg in Begleitung eines untersetzten 183
Herrn, dessen braunroter Samtrock ihn als hohen Beamten der Bergwerke auswies. Noch während sich Böttger verneigte, entfuhr es Fürstenberg: »Wunderbar, Monsieur, das haben Sie wunderbar angerichtet.« Böttger wurde rot. Dies spontane Lob in Gegenwart eines ihm fremden Mannes tat ihm wohl. »Exzellenz, es ist schließlich meine Pflicht, den Geburtstag Seiner Allergnädigsten Königlichen Majestät und diesem traditionsreichen Haus meine Reverenz zu erweisen. Auch muß ich den seltenen Besuch Eurer Exzellenz gebührend würdigen, zudem, wenn Sie einen hohen Gast mitbringen.« Befriedigt registrierte Fürstenberg Böttgers wohlgesetzte Rede und erkannte darin den Stolz des Alchemisten auf die geleistete Arbeit. »Eine wirklich schöne Ehrung Seiner erlauchten Majestät.« Er wandte sich zu seinem Gast, der sich die Zeit damit vertrieben hatte, einen abschätzenden Rundblick durch das renovierte Laboratorium zu tun. Der Mann kannte offensichtlich genau, was er dort sah. »Monsieur Böttger, ich möchte Ihnen den Oberzehnten unserer Bergwerke, den Kurfürstlich-Königlichen Bergrat Gottfried Pabst von Ohain vorstellen. Der Herr Bergrat ist Sachsens erfahrenster Chemikus in allen Bereichen der Metallurgie.« Elegant wendete sich Fürstenberg dem Bergbeamten zu. »Herr Bergrat, vor Ihnen steht der Alchemist Johann Friedrich Böttger, der sich unter den Schutz und in die Dienste unserer Königlichen Majestät begeben hat.« »Es ist mir eine große Ehre, Sie kennenzulernen, Herr Böttger. Natürlich habe ich von Ihrem unglaublichen Experiment gelesen. Ich bin äußerst gespannt auf die vor uns liegende Arbeit.« »Ich meinerseits bin glücklich, Herr Bergrat, einen beschlagenen Naturwissenschaftler im Goldhaus begrüßen zu dürfen«, erwiderte Böttger artig. Er mochte den Bergrat auf Anhieb. Sein Ton klang nicht höfisch, sondern klar und freundlich und erinnerte ihn an Baron Kunckel. Böttger warf einen Blick zu den Bierfäßchen. »Darf ich den Herren einen Begrüßungsschluck anbieten? Wir sollten die liebenswürdige Gabe des Herrn Bergrats nicht verkommen lassen.« 184
»Später, später.« Fürstenberg winkte ab und fuhr feierlich fort: »Messieurs, im Auftrag Seiner Majestät muß ich Sie zuvorderst bitten, mir einen Eid abzulegen. Alle Ihre chemischen Arbeiten, die Sie hier durchführen werden, unterliegen absoluter Geheimhaltung. Dazu gehört, den Namen ›Böttger‹ vor niemandem zu nennen. Weder Diener noch Gesellen dürfen von seiner wahren Identität wissen. Die Arbeiten im Goldhaus leitete Monsieur Schrader. Punktum. Das allerdings darf ruhig verbreitet werden. Es soll zeigen, daß man im Goldhaus nichts zu verbergen hat – außer den Ergebnissen der Arbeit selbstverständlich. Das verwundert niemanden, denn jeder in Dresden kann verstehen, daß wir die Geheimnisse um unsere sächsischen Erze wahren wollen … Ich habe dazu einen Vertrag vorbereitet. Wo kann ich ihn hinlegen?« Mit einigem Bedauern über den Aufschub räumten Böttger und Ohain Tabletts mit Pasteten und Fleischbällchen auf die Umrandung der Feuerstelle, während Fürstenberg ein Pergament aus der Rocktasche holte und entfaltete. »Allen Berggesellen, die noch zur Arbeit dazustoßen, ist übrigens stets nur ihre jeweilige Aufgabe mitzuteilen, niemals aber das Ziel unserer Unternehmung. Auch Teilergebnisse, die diesem Ziel dienen, dürfen nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Stimmen Sie sich also bei Ihren Anweisungen ab, damit es keine Widersprüche gibt.« Fürstenberg legte das Pergament auf die freigeräumte Ecke. »Alle erwähnten Punkte sind ausführlich im Vertrag aufgeführt. Nach außen hin wird Ihre Arbeit als wissenschaftliche Erkundung neuer Verfahren zur Aufschließung des sächsischen Erzes deklariert. Auch dort erwarte ich übrigens Ergebnisse.« Böttger und der Bergrat beugten sich über den Vertrag und gingen Fürstenbergs fünfzehn Paragraphen durch. Zwei Paragraphen betrafen neue Verfahren zur Erzaufschließung, die restlichen zwölf waren der Transmutation und der Geheimhaltung gewidmet. Einer der Paragraphen erlaubte Böttger Spaziergänge im Garten, allerdings nur in Begleitung, sprich ›Bewachung‹, dachte Böttger. Aber immerhin besser, als gar nicht aus dem Haus zu können. Den Schlüssel zur Garten185
tür sollte Oberst Drahnsfeld verwahren. Schulterzuckend richtete sich Böttger auf. »Ich sehe kein Problem, Exzellenz.« Der Bergrat dagegen deutete auf den fünften Paragraphen. »Exzellenz, das Tor zur Gasse darf nicht verrammelt bleiben, zumal der Schlüssel zum Garten nicht immer verfügbar ist. Erstens aus praktischen Erwägungen. Man kann die Erzlieferungen nicht treppauf, treppab durch das ganze Schloß schleppen. Zweitens, wegen der Gefahr, daß ein Feuer ausbricht. Diese Gefahr ist in Laboratorien immer gegeben. Wir brauchen das Tor als stete Fluchtmöglichkeit.« Fürstenberg zögerte. Das bedeutete vier Gardisten mehr für die Bewachung des Goldhauses, zwei im Torraum, zwei vor dem Tor in der Gasse. Diese Kosten fielen nicht in den Etat des Goldhauses, sondern in seinen, während der Schloßgarten ohnehin bewacht wurde, was in den Etat des Obersten fiel. Der Statthalter trat zum Tisch, besah sich den Paragraphen und richtete sich auf. »Haben Sie irgendwo eine Feder, Monsieur Schrader?« Böttger zuckte bei diesem Namen immer noch leicht zusammen, holte Schreibzeug und beglückwünschte sich zu Pabst von Ohain. So sachlich hätte er die Geschichte mit dem Gassentor nie durchsetzen können. Fürstenberg ergriff die Feder, tunkte sie ein und machte einen kleinen Haken über den Satz. Darüber schrieb er ›zeitweise‹. Der Satz hieß jetzt: »… das Tor zur Gasse zeitweise unpassierbar bleiben muß.« »So wird es gehen, denke ich.« »Was ist bei Feuergefahr, Exzellenz?« hakte der Bergrat nach. »Es wird eine durchgehende Wache innen im Torraum postiert. Dann brauchen wir für die Gasse nur Wachen, wenn Lieferungen kommen«, beschied Fürstenberg. Nachdem Fürstenberg als letzter unterschrieben hatte, richtete er sich feierlich auf. »Bitte erheben Sie Ihre Hände. Schwören sie bei Gott dem Allmächtigen und in Treue zu Seiner Königlich-Kurfürstlichen Majestät, diesen Vertrag einzuhalten. Schwören Sie!« Böttger und der Bergrat folgten der Aufforderung und hoben die Hände. Fast im Chor sagten sie: »Ich schwöre.« Fürstenberg lächelte zufrieden. »Na bitte.« 186
Böttger sprang sofort zum Bierfaß und begann, drei Krüge zu zapfen. »Lassen Sie uns auf unseren Vertrag anstoßen und unseren Eid begießen.« Während Böttger mit dem Bierzapfen beschäftigt war, nahm Fürstenberg Ohain beiseite und führte ihn zum vergitterten Gassenfenster. Er sprach so leise, daß Böttger es nicht hören konnte. »Übrigens hat der Großkanzler das Losewitzsche Haus dort drüben gekauft. Kennen Sie es?« »Ja. Was ist damit?« »Ich weiß nicht recht. Das Seltsame ist, daß man Gardisten darin einquartiert hat. Haben Sie eine Vorstellung davon, weswegen?« Der Bergrat schüttelte den Kopf. »Für die Unterkunft von Gardisten ist das Haus zu schade. Die Einquartierung hat etwas anderes zu bedeuten.« »Man kann von dort das Goldhaus gut beobachten«, warf Fürstenberg scheinbar sinnierend ein, dem daran lag, daß der Bergrat selbst seine Schlüsse zog. »In diesem Fall sollten wir dafür sorgen, daß immer reichlich Erzbrocken vor der Tür herumliegen«, schlug Ohain gewitzt vor, der Fürstenbergs Gedanken erriet. »Eine gute Idee, aber übertreiben Sie es nicht, auch das könnte mißtrauisch machen. Haben Sie auf alle Fälle ein Auge auf das Haus.« »Ich werde darauf achten, was sich dort tut, Exzellenz«, versprach Ohain, während Fürstenberg sich wieder zurückdrehte und Böttger zusah, der den Krügen gerade mächtige Schaumkronen aufsetzte. »Bin gleich fertig, Exzellenz.« Leise fuhr Fürstenberg zu Ohain gewandt fort: »Der Kreis der Eingeweihten ist sehr klein. Ihre Königliche Majestät, meine Person und Sie. So soll es bleiben.« »Sonst wirklich niemand?« fragte Ohain erstaunt. »Niemand«, bekräftigte der Statthalter. »Nicht einmal seine Durchlaucht der Großkanzler Graf Haxlingen ist in das Projekt eingeweiht. Bleiben Sie jedem anderen gegenüber mißtrauisch. Sie sind ab jetzt für das Projekt mitverantwortlich.« 187
»Seien Sie unbesorgt. Ich werde meine Gesellen entsprechend instruieren. Es wird nicht schwer sein, sie dazu anzuhalten, denen aus dem Losewitzschen Haus besser aus dem Weg zu gehen und in der Schenke den Mund zu halten.« »Ausgezeichnet … Ist denn das Bier endlich fertig, Monsieur? Wir wollen auf den Vertrag anstoßen.« »Kommt schon, Exzellenz.« Böttger packte die gefüllten drei Krüge zwischen die Hände und reichte erst Fürstenberg, dann Ohain das Bier. Hochaufgerichtet prostete ihnen Böttger zu. »Auf unseren Vertrag, den Eid und unseren Erfolg.« Sie prosteten sich zu. Böttger war hochzufrieden. Als Leiter dieses mit opulenten finanziellen Mitteln ausgestatteten königlichen Projekts hatte er eine beneidenswerte Position inne. Und das mit gerade einmal zwanzig Jahren. Die Stimmung hatte sich gelöst. Der Bergrat bediente sich ohne Hemmungen an der Tafel bei den delikaten Heringshappen, Fürstenberg häufte sich Ragout auf den Teller und bemerkte kauend: »Ich glaube, meine Herrn, Sie werden eine höchst erfolgreiche Forschungsgemeinschaft bilden.« Der Optimismus in Fürstenbergs Stimme freute Böttger. »Ich hoffe, Exzellenz, daß sich die Verzögerung durch die Restaurierung bald wieder hereinholen läßt.« Fürstenberg brach sich ein Stück vom Dach des Zuckerguß-Goldhauses ab und hielt es hoch. »So ein opulentes Mahl wie heute muß allerdings eine einmalige Ausnahme bleiben, Messieurs. Ich erwarte ein verantwortungsbewußtes Augenmaß bei der Verwendung Ihrer Mittel. Zur Unterstützung werde ich Ihnen einen Verwalter zuteilen.« Böttgers gelöste Stimmung verflog mit einem Schlag. Hilfesuchend ging sein Blick zum Bergrat. Zu seinem Erstaunen lächelte der unbefangen. »Eine gute Idee, Exzellenz, dann müssen wir uns nicht mit der Buchhaltung quälen.« Als Fürstenberg eine halbe Stunde später gegangen war, platzte Böttger heraus: »Warum, um Himmels willen, haben Sie der Bevormundung durch einen Verwalter zugestimmt?« 188
Der Bergrat grinste überlegen. »Was meinen Sie, wie viele Verwalter es beim Bergbau gibt. Sie zeichnen alles brav ab, weil sie keine Ahnung von der Materie haben. Also kann man ihnen sonst etwas vorlegen … Und wenn die Rechnungen erst einmal abgezeichnet sind, hält es niemand mehr für nötig, sie nochmals zu prüfen.« Böttger kicherte erleichtert. »Das klingt gut … Ich freue mich aufrichtig, daß Sie da sind. Auf Ihren kühlen Kopf und gute Zusammenarbeit.« Erneut hob Böttger schon leicht beschwipst den Krug und nahm genußvoll einen weiteren Schluck. Seit Ewigkeiten hatte er sich nicht mehr so wohl gefühlt. Ohain prostete ihm zu. »Ich hoffe nur, das alles dauert nicht zu lange, … Monsieur ›Schrader‹ … Ich werd' mich schon an den Namen gewöhnen … Sehen Sie, ich habe Familie in Freiberg und möchte möglichst wenig an Dresden gefesselt sein.« Er griff erneut nach den Heringshappen, einer Delikatesse, die er bisher noch nie gekostet hatte. Kauend wies er auf die Tafel, der man kaum ansah, daß sie berührt worden war. »Was halten Sie davon, Ihre zukünftigen Gesellen zu holen. Sie warten im schwarzen Gang. Es sind tüchtige Männer. Es wird ihre Bereitschaft, ordentlich anzupacken, sicher noch erhöhen, wenn wir sie bitten, diesen Berg hier abzutragen.« »Nur zu. Männer von Ihrem Schlag sind mir hoch willkommen. Ich hatte wenig Gesellschaft in letzter Zeit, im Grunde, seit ich letzten November aus Berlin fort bin.«
Zehntes Kapitel
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ebmann fühlte sich überflüssig. Ihn ärgerte, von Graf Haxlingen in Dresden festgenagelt zu sein, während sich in Krakau die neue Armee des Königs sammelte. Schmachvoll saß er in der Etappe herum, 189
wohingegen sich seine Kameraden gegen die Schweden würden auszeichnen können. Und wieder – wie schon in Berlin – hing seine Karriere von diesem verfluchten Goldmacher ab, der bestens bewacht im Goldhaus saß. Schwer wog auch, daß er hier fern vom glänzenden Hofstaat Augusts kaum Abwechslung hatte. Aber eine Petition an den König um Versetzung kam nicht in Frage. Das wäre beleidigend für den Großkanzler. Also versah er tagaus, tagein seinen Dienst im sogenannten Losewitzschen Haus. Im April listete er peinlich genau alle Handwerker auf, die im Goldhaus aus und ein gingen, desgleichen auch im Mai. Dann änderte sich das Bild. Gigantische Holzlieferungen, Erzkisten, Säureampullen und andere, ihm häufig unbekannte Gerätschaften aus Freiberg trafen ein, und nur noch der Bergrat Pabst von Ohain und drei Bergwerksgesellen verkehrten im Haus. Tag für Tag schrieb er seine Berichte ins Wachbuch, schickte es jede Woche nach Krakau, pünktlich ausgetauscht gegen das Wachbuch der vorangegangenen Woche. Der Befehl des Grafen sah vor, daß er das Haus nicht verlassen durfte, immer auf dem Sprung zu sein habe. Des weiteren sollte er Möglichkeiten auskundschaften, wie man Böttger entführen könne, falls der das Goldhaus verlasse. Doch Böttger trat nie auf die Gasse. Und in den Schloßgarten ließen die Wachgardisten nur Leute von Fürstenberg passieren, das hatte Rebmann eruiert. Ohne Gewalt war nichts zu machen. Doch die verbot sich von selbst. Es war ein lausiger, langweiliger Dienst. Als dann die Vorbereitungen zum Sonnenwendfest begannen, deren Dauer auf drei Tage angesetzt war, wurde Rebmanns Stimmung noch mißmutiger. Von seinen Leuten erfuhr er, wie die Plätze der Stadt mit Fahnen und Girlanden geschmückt wurden und daß man rund um das Schloß Buden zimmerte. Seine Königliche Majestät hatte auf allen Plätzen der Stadt eine Botschaft verlesen lassen, daß jeder Dresdner an dem Fest teilnehmen könne. Das Fest solle so prächtig ausgerichtet werden, als sei Seine Königliche Majestät selbst zugegen. All das erinnerte Rebmann an die grandiosen Feierlichkeiten, die er vor einem Jahr in Berlin hatte miterleben dürfen. Nur diesmal war er im Haus auf 190
seinem Wachposten gefangen, nicht besser als Böttger, und sein Groll gegen seinen Dienstherrn wuchs. Tatsächlich hob sich die Stimmung der Dresdner beträchtlich, trotz der Steuerlast wegen der Kriegsvorbereitungen gegen die Schweden. Es erfüllte sie mit Stolz, daß ihr Kurfürst-König sie auch in der Ferne nicht vergaß und keine Kosten scheute, sie zu unterhalten. In ihren Ohren klangen die dröhnenden Hammerschläge der Schmiede und Zimmerleute wie die Ouvertüre zu lang vermißten Lustbarkeiten. Der Schloßpark wurde besonders prächtig hergerichtet. In der Mitte baute man eine Orchestermuschel aus Holz und bemalter Leinwand, davor legte man eine Tanzfläche für das Ballett aus. An den seitlichen Wegen wurden kleine Lauben errichtet, die Plätze zum Ausruhen boten. Einhundert mit Eisenblätterwerk verzierte Stellagen wurden geschmiedet, die im Park, mit Fackeln versehen, LichtAlleen bilden würden. Um die Farbenpracht des Festes zu vervollständigen, hatte der König das Motto ›Orientalisches Paradies‹ für die Kostüme der Hofgesellschaft im Schloßpark vorgeschrieben. Maskenfeste standen auf der Beliebtheitsskala ganz oben, und jeder wollte bei diesem Fest in einem besonders prächtigen, phantasievollen Kostüm erscheinen. Die Schneider der Stadt arbeiteten die Nächte durch, ihre Nadeln liefen heiß, doch am Ende mußten sie sich Unterstützung aus den Nachbarstädten holen, sogar aus Leipzig kamen Gesellen.
Im Hause Schönberg hatte sich seit April nichts verändert. Der Rat der Gräfin an Charlotte, selbst ein Verhältnis anzufangen, war natürlich undurchführbar, weil sie nicht alleine das Haus verlassen durfte. Herr von Schönberg nahm sie weder zu Gesellschaften noch ins Theater mit, während er sein Verhältnis mit Maria, seiner Mätresse, für jeden im Haus ersichtlich fortsetzte. Charlotte hatte sich vorläufig mit dem Unabänderlichen abgefunden, gab sich zwar verschlossen, aber verbindlich. Sie wartete auf ihre 191
Chance zum Ausbruch, las viel, vor allem in lateinisch, französisch und italienisch, damit ihre Sprachkenntnisse nicht verlorengingen. Ihre Zofe Amalie hatte Charlotte mit kleinen Geschenken und unbedeutenden Geheimnissen zu ihrer Vertrauten gemacht. Amalie war eine aufgeweckte, leicht pummelige Blondine, die gern mit den Männern kokettierte. Ohne daß die Herren es merkten, zog sie ihnen alles Wissenswerte aus der Nase. Munter plauderte Amalie mit Charlotte über alles, was sich in den vielen Zimmern des Hauses abspielte, auch über Dinge, welche die Dienerschaft betraf, und natürlich über Schönbergs Mätresse Maria. Diese Dame selber kennenzulernen empfand Charlotte als unter ihrer Würde. Anfang Juni reiste Maria plötzlich zu ihrer Mutter ab, und Charlotte lebte auf. Ihrem Mann gegenüber blieb sie jedoch unverändert kühl. Einige Tage später klopfte er nachts an ihre Tür. Charlotte stellte sich taub, hatte vorsorglich abgeschlossen. Wenn er eine Versöhnung wollte, mußte er sich schon etwas anderes einfallen lassen. Die Gelegenheit ergab sich durch das Fest zur Sonnenwende. Um Charlotte wieder zum Lächeln zu bringen, gab er ihrer Bitte nach und versprach, sie mitzunehmen. Ein Ball, wo Charlotte ihre Schönheit hinter einer Maske verstecken mußte, schien ihm wohl ungefährlich. Charlotte wurde daraufhin zugänglicher, und ihr Mann war so erleichtert, daß er richtig aufblühte und ihre Unterhaltungen wieder den geistreichen, mit Scherzen durchsetzten Tonfall annahmen, wie zur Zeit ihrer Hochzeit ein Jahr zuvor. Schönbergs Zusage kam fast zu spät. Nur mit Mühe und dank der Empfehlung der Gräfin Krahl gelang es Charlotte, noch Termine bei einem der renommierten Schneider der Stadt zu bekommen. Sie ließ sich ein Kleid mit zweifarbigem Gazeüberwurf fertigen, eine Seite rotbraun, die andere beigegelb. Eine Antilopen- und Löwenmaske ergänzte die Ausstattung. Mit dieser doppelten Maske wollte sie ihrem Mann auf dem Fest ein Schnippchen schlagen. Herr von Schönberg würde sie nur in der Antilopenmaske mit der rotbraunen Seite des Umhangs zu sehen bekommen. Wenn es sich ergab, würde sie den Überwurf umdrehen, die Antilopen- gegen die Löwenmaske vertau192
schen und im Gewühl verschwinden. Erst wenn es ihr gefiel, würde er seine ›Antilope‹ wiederfinden, ein unschuldiger Trick, um für ein paar Augenblicke seiner Aufsicht zu entkommen. Grund zur Klage wollte sie ihm nicht geben, um nicht das sich bessernde Verhältnis zwischen ihnen aufs Spiel zu setzen. Zwei Wochen vor dem großen Ereignis ergriffen Schönberg heftiger Schüttelfrost und hohes Fieber. Dr. Bartholomäi, ein tatkräftiger, junger Arzt der neuen Schule, der nicht mehr bloß auf Aderlaß setzte, diagnostizierte eine schwere Lungenentzündung. Charlotte bangte um das Leben ihres Mannes, pflegte ihn gewissenhaft nach den Anweisungen des Arztes und ließ sich ein provisorisches Bett in seinem Zimmer einrichten. Stundenlang saß sie neben ihrem schweißgebadeten Gemahl. Alle zwei Stunden ließ sie Eimer mit frischem, kaltem Wasser herbeischaffen, um seine fiebernasse Stirn zu kühlen. Zweimal am Tag brachte sie ihn dazu, daß er, brav über eine Schale gebeugt, heißen Kamillensud inhalierte. Um die Schmerzen zu lindern, hatte sie immer ein Glas Rotwein parat, auch damit nicht wieder sein Zittern anfing. Nur wenn er schlief, wagte sie es, für kurze Zeit das Zimmer zu verlassen. Am dritten Tag saß Charlotte gerade bei einer dieser kurzen Pausen bei einer kleinen Mahlzeit im Salon, als Dr. Bartholomäi angekündigt wurde. Mit schnellen Schritten trat der kleingewachsene, agile Arzt ein, in der Hand einen Tiegel, den er wie eine Trophäe hochhielt. »Madame, verzeihen Sie, daß ich störe, aber ich habe hier eine Salbe, mit der Sie Ihrem Mann dreimal täglich die Brust einreiben sollen. Nicht zu dick, bitte, und waschen Sie sich danach gut die Hände. Sie dürfen die Salbe nicht in Ihre schönen Augen bekommen.« Er lächelte gewinnend. Dr. Bartholomäi verehrte Frau von Schönberg mit der distanzierten Inbrunst, die kleine Männer häufig gegenüber schönen, großgewachsenen Frauen empfinden. Charlotte war zu abgespannt, um diese Anbetung zu würdigen, und schnüffelte an der Salbe. Sie roch scharf nach Minze und anderen, 193
unbekannten Ingredienzien. Vorwurfsvoll sah sie den Arzt an. »Sie scheint gut. Warum bringen Sie mir diese Salbe erst heute?« Mit selbstbewußter Abwehr hob Dr. Bartholomäi die Hand. »Diese Salbe habe ich extra von einem gewissen Herrn Schrader im Goldhaus anfertigen lassen.« Charlotte stutzte, plötzlich war sie hellwach. »Man kann im Goldhaus Arzneien machen lassen? Ein Herr Schrader, sagten Sie?« Der Arzt nickte beflissen. »Durchaus – eben dieser Herr Schrader hat die Salbe dort in meinem Auftrag gefertigt.« »Dieser … Herr Schrader … Das ist doch so ein älterer kleiner Herr, nicht wahr, mit Zwickel, oder …« »Nein, nein«, unterbrach sie der Arzt, »es ist ein noch recht junger Herr, dafür aber erstaunlich beschlagen.« »Ach ja? Erstaunlich beschlagen?« wiederholte Charlotte, darum bemüht, mehr aus dem Arzt herauszubekommen, wobei sie sich scheinbar unbeteiligt zum Fenster drehte. Bartholomäi war nur zu gern bereit, weiter über Schrader zu reden. »Es ist schon alles ein wenig … eigenartig im Goldhaus.« Er faßte sich ans Ohrläppchen und rieb es, um den ungewissen Tatbestand zu untermauern. »Es war vor vierzehn Tagen. Man rief mich ins Goldhaus und führte mich zwischen zwei Gardisten eingekeilt zum Kranken, so daß ich möglichst wenig sehen konnte. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätten mir die Augen verbunden.« Dr. Bartholomäi grinste breit. »Ich verstehe eine Menge von Chemie, müssen Sie wissen, und man war besorgt, ich könnte etwas von ihren geheimen Arbeiten erkennen«, brüstete er sich und reckte das Kinn. »Na gut. Also, ich schaue mir den kranken Gesellen an, ein Fall von Lungenentzündung, wie bei Ihrem Mann, nur fast noch schlimmer. Da kommt plötzlich aus dem Nebenraum ein junger Mann, stellt sich mit Schrader vor und fragt, welche Arzneien ich vorschlüge. Er kennt sich gut aus mit Arzneien, sehr gut sogar …« »Ein Sachse?« Der Arzt überlegte einen Moment, dann schüttelte er den Kopf. »Keinesfalls, eher norddeutsch, vielleicht Berlin.« 194
Charlotte sah wieder zum Fenster hinaus, um ihre Erregung zu verbergen. Sie war sich plötzlich sicher, daß Herr Schrader identisch mit Böttger sein mußte. Leichthin fragte sie: »Und konnten Sie erkennen, was man dort macht?« »Oh, das ist kein Geheimnis. Man sucht nach verbesserten Verfahren zur Ausbeute des sächsischen Erzes. Die Gerätschaften waren eindeutig. Aber Genaueres soll natürlich niemand erfahren, vor allem das Ausland nicht. Das hieße, Sachsens Vorteil fortzugeben.« »Verständlich«, meinte Charlotte und schloß: »Hauptsache, die Salbe des Herrn Schrader hilft.« »Da können Sie beruhigt sein, Madame. Bei dem Gesellen im Goldhaus hat sie sehr gut geholfen. Er war derart schwach, daß ich um sein Leben fürchtete. Es sterben nicht wenige an Lungenentzündung, und sie grassiert in diesem Sommer. Daher habe ich mir gleich eine größere Menge von der Salbe brauen lassen.« »Kann man diesem Herrn Schrader irgendwie seinen Dank abstatten?« »Ein Billett wird ihn wohl erreichen, denke ich … Ich habe ihn auch schon einmal während meines Krankenbesuchs in den Schloßgarten gehen sehen. Aber Madame, so schwer es mir fällt, ich muß mich empfehlen, meine Patienten warten. Bis heute abend.« Damit eilte er aus dem Raum. Charlotte stocherte in ihrem Essen herum. Ob Böttger wußte, daß er mit seiner Salbe ihrem Mann half? Andererseits wußte sie ja nicht sicher, ob ihre Vermutung stimmte. Monsieur Schrader verdiente in jedem Fall ein kurzes Dankschreiben. War Schrader allerdings Böttger, konnte es verletzend wirken, wenn sie nicht einen kleinen Hinweis einbaute, der ihm zu verstehen gab, daß sie um seine Identität wußte. Sie sah ihn wieder vor sich und merkte, daß es eigentlich um etwas ganz anderes ging. Man kann einem Mann, den man liebt, nicht einfach schreiben: »Ich weiß, wer du bist.« Sie überlegte noch eine Weile, wälzte Formulierungen hin und her, bis sie zufrieden zur Feder griff.
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Gegen Abend des nächsten Tages traf der Bergrat aus dem Erzgebirge mit einem sechsspännigen schweren Fuhrwerk in Dresden ein, beladen mit einer umfangreichen Lieferung für das Goldhaus. Sie enthielt neben diversen Erzkisten Stellagen mit empfindlichen Glaskolben und Phiolen, die Ohain in einer Glasbläserei hatte anfertigen lassen, große Ampullen mit Aqua forte, Eisenwerkzeuge, die man in der Bergwerkshütte geschmiedet hatte, und diverse chemische Substanzen und Erden. Zwölf Berittene beschützten die kostbare Fracht. Pabst von Ohain war vor dem Fuhrwerk geritten und hatte dafür gesorgt, daß der Kutscher grobe Unebenheiten im Schneckentempo nahm, um die empfindliche Ladung nicht zu beschädigen. Quälend langsam ging die Fahrt zwei Tage lang die dreißig Meilen durch die ungewöhnlich starke Junihitze hinunter nach Dresden, vorbei an verdorrenden Sommerwiesen und durch schattige Wälder. Vor dem Goldhaus sprang Ohain vom Pferd und hämmerte ungeduldig ans Tor. Die Wache drinnen machte nicht auf. Er mußte warten, bis die Außenwache herbeigerufen war. Drinnen wurde Ohain von den Gesellen sehnsüchtig begrüßt. Bis gestern, so erzählten sie, hätte Monsieur Schrader nach einer langen Unterredung mit Dr. Bartholomäi fleißig gearbeitet, nur heute sei ein Billett gekommen und seitdem sei nicht mehr mit ihm zu reden gewesen. Schnell ordnete Ohain an, wie mit den herbeizurufenden Hilfskräften zu entladen sei, und stieg innerlich fluchend die drei Stiegen zu Böttgers geheimem Labor hinauf, die durch eine Tür extra abgesichert war. Auf einem Hocker neben der Tür saß Albert, neben sich ein Tablett mit einer vorbereiteten Mahlzeit. Als er Ohain erblickte, sprang er auf. »Gut, daß Sie kommen, Exzellenz. Monsieur will mich nicht vorlassen und hat heute noch nichts gegessen.« »Geben Sie mir das Tablett, Albert.« Ohain übernahm das Tablett und pochte kräftig an die Tür. »Ich bin's, Johann, Pabst. Machen Sie auf.« Nach einer Weile dreht sich der Schlüssel im Schloß, und Böttger öffnete ihm mit einem Ausdruck trauervoller Seligkeit. »Wie schön, daß Sie wieder da sind. Willkommen.« 196
Damit dreht er sich wieder um, ließ sich aufseufzend in den einzigen Lehnstuhl fallen und schaute verträumt aus dem Fenster. Ohain stand mit dem Tablett in der Tür und kam sich ziemlich albern vor. Keine Frage von Böttger nach der Ladung, nur dieser weggetretene Gesichtsausdruck. Er setzte das Tablett auf dem Tisch ab und deutete mit dem Kopf darauf. »Albert meint, Sie sollten etwas essen.« »Nicht jetzt, keinen Hunger, Pabst«, kam es klagend vom Lehnstuhl. Ohain wurde allmählich wütend. Er trat zu Böttger und rüttelte ihn an der Schulter. »Aufwachen! Was ist das für eine Begrüßung? Unten habe ich Ihnen die schönsten Sachen mitgebracht, und Sie rühren sich nicht?« Endlich bequemte sich Böttger, ihn anzuschauen. »Ich liebe – ohne Aussicht auf Erfüllung.« »Ach herrje«, prustete Pabst mit wenig Anteilnahme, was ihm einen vernichtenden Blick von Böttger einbrachte. Ungerührt fuhr er fort: »Kommen Sie mit mir runter in den Torraum. Ich habe herrliche Sachen aus Freiberg mitgebracht, Ihre ganze lange Einkaufsliste.« »Ich kann nicht.« Ohain zuckte daraufhin ergeben mit den Schultern und setzte sich auf einen Hocker. »Um wen geht es denn?« »Frau von Schönberg. Sie schrieb mir einen Dankesbrief, daß ich Ihren Mann vor dem Tod gerettet habe.« Böttgers Miene drückte sowohl Stolz als auch Trauer aus, was Ohain nicht verstand. »Nett von ihr. Aber was hat das mit Ihrem Liebeskummer zu tun?« »Ich liebe sie.« »Nur wegen ihres Dankschreibens?« stieß Ohain ungläubig hervor. »Nein, ich kenne sie.« Eine Pause entstand. Ohain überlegte, wie er Böttger aus seiner Stimmung reißen könnte. Böttger schien die Sache sehr ernst zu nehmen. Ohains Ton wurde mitfühlender. »Weiß die Dame von Ihrer Leidenschaft für sie?« »Jedenfalls bin ich ihr nicht gleichgültig«, behauptete Böttger. Dann erzählte er Ohain von den zwei Begegnungen mit Charlotte und wie die kleine Friederike bei ihrer ersten Begegnung in Berlin seinen Na197
men hinausposaunt hatte. Ohain zog ein höchst zweifelndes Gesicht. Böttger wollte aber, daß dieser einzige Freund, den er hatte, ihm glaubte. Es verletzte ihn, für einen bloßen Schwärmer gehalten zu werden, und so endete er: »In ihrem Brief bezieht sie sich sehr vorsichtig auf diese Begegnung, Pabst, aber für mich ist es deutlich genug. Wenn sie diese Begegnung so wie ich erinnert, bin ich ihr demnach nicht gleichgültig.« Den Bergrat hielt es nicht mehr auf seinem Hocker. Er wanderte zum Fenster und wieder zurück zu Böttger. »Damit ist unser Eid gebrochen, Johann. Zugegeben, man kann es Ihnen kaum zum Vorwurf machen. Aber wir müssen Fürstenberg verständigen. Die Dame darf nichts weitererzählen. Das kann nur Fürstenberg ihr beibringen.« Böttger erschrak. »Unmöglich, Pabst. Fürstenberg weiß von meiner Leidenschaft für Frau von Schönberg. Er wird Ihnen kein Wort glauben, nicht, daß es Zufall war, und auch nicht, daß ich die Sache nicht absichtlich herbeiführte.« »Dann bleibt mir nur, bei der Dame vorstellig zu werden … Aber nicht als Postillion d'amour, Monsieur Johann. Ich muß mir die Dame ansehen.« »Warum, Pabst? Sie hat bisher von diesem Wissen keinen Gebrauch gemacht. Sie hat den Brief so umsichtig formuliert, daß es ganz so aussieht, als wisse sie darum, daß sie die Geheimhaltung um meine Person wahren muß.« »Tut mir leid, Johann, aber wenn ich Ihnen glauben soll, muß ich den Brief sehen.« Fordernd streckte der Bergrat seine Hand aus. Böttger zögerte, doch Ohain insistierte: »Johann.« Resignierend zog Böttger den Brief aus seinem Hemd und reichte ihn Ohain. Der Bergrat überflog ihn und nickte schließlich zufrieden. »Gut, unverfänglich, wirklich.« Dann schaute er noch einmal auf den Brief, und ein sarkastisches Lächeln umspielte seinen Mund, als er laut vorlas: »Ein Licht gleich der Sonne möge die vornehme Gestalt des Monsieur Schrader bescheinen, wie in Dresden, so auch an jedem anderen Ort, wo ich ihm vielleicht schon begegnet bin, ohne von Seiner hohen Kunst zu wissen, die sich si198
cherlich im Gleichklang mit Seinem edlen Charakter befindet, die mein Herz nicht unberührt gelassen hat.« Der Bergrat ließ den Brief wieder sinken. »Hübsch, vielleicht nur ein wenig … übertrieben.« »Sie …« Böttger war drauf und dran, auf Ohain loszugehen, der beschwichtigend die Hand hob. »Ist ja schon gut. Ohne mehr zu verraten, ging es wahrscheinlich kaum anders.« »Ihr Herz ist berührt«, betonte Böttger nachdrücklich. »Sie haben jetzt selbst gesehen, daß dieser Brief keine Gefahr birgt.« »Meinetwegen, also gut. Dann beweisen Sie mir gefälligst, daß die Worte über den ›edlen Charakter‹ gerechtfertigt sind. Kommen Sie gefälligst mit mir nach unten. Die ganze letzte Zeit habe ich nichts anderes getan, als Ihre ellenlangen Bestellisten abzuarbeiten. Ich möchte, daß Sie das würdigen.« Der Bergrat wandte sich zum Gehen, nahm sich vom Tablett eine Scheibe Braten und steckte sie in den Mund. Böttger sah ihm nach, brummelte noch etwas Unverständliches, nahm sich ebenfalls eine Bratenscheibe und folgte Ohain. Nun, da er seine Liebe anerkannt wußte, fühlte er sich besser und war neugierig darauf, Ohains Ladung zu begutachten. Doch ein Rest seines Unmuts schickte er dem Rücken des Bergrats hinterher: »Sie haben keinen Sinn für Romantik. Waren Sie denn nie verliebt?« Ohne sich umzudrehen, stieg der Bergrat die knarrende Treppe weiter hinunter. »Sicher. Aber ich war ein freier Mann. Wenn Sie diesen Zustand erreichen möchten, rate ich Ihnen, nicht herumzutrödeln.« Böttger grunzte unwillig, während er noch kaute. »Ich komme ja schon.« Während sie im ersten Stock das Labor passierten und hinüber zur breiteren Treppe schritten, die in den Torraum hinunterführte, fiel dem Bergrat noch etwas ein. »Haben Sie eigentlich wegen der Ausgabe dieser Medizin Seine Exzellenz den Fürsten um Erlaubnis gefragt?« »Nein. Wieso?« Ohain war stehengeblieben. »Nun, ein angeblicher Metallurge, der 199
sich besser auf Arzneien versteht als Dresdner Apotheker, könnte Verdacht erregen«, bemerkte Ohain sorgenvoll. »Denken Sie an den Eid.« Entrüstet verteidigte sich Böttger. »Ich habe doch bloß auf Bitten des Arztes geholfen.« »Sicher, aber das war heikel. Ich muß mit dem Fürsten darüber sprechen. Tut mir leid, Johann, aber ich riskiere nicht meinen Kopf. Ich habe eine Familie zu ernähren.«
*** Eine Woche später gingen Schönbergs Schmerzen in der Brust zurück. Doch sein Fieber blieb noch hoch. Schon Tage vor dem Sonnenwendfest war klar, daß Schönberg nicht würde aufstehen können. Dennoch wiegte sich Charlotte in der Hoffnung, daß ihre Fürsorge während seiner Krankheit ihren Mann milde gestimmt hatte und er ihr erlauben würde, das Fest zu besuchen. Doch bis zum Nachmittag vor dem Fest fand sie nicht den Mut, ihn darum zu bitten. Nachdem er gerade wieder von einem kurzen Gesundungsschlaf erwacht war und nach Rotwein verlangte, reichte sie ihm das stets bereite Glas, wobei sie sich liebevoll über ihn beugte. In seinen Augen stand Dankbarkeit, ein günstiger Augenblick, wie Charlotte fand. »Monsieur, ich möchte Sie herzlich bitten, mir morgen abend den Besuch des Sonnenwendfestes zu gewähren. Wenn Sie es wünschen, gern in Begleitung ihres Gardeleutnants. Oder ich könnte mich der Gräfin Krahl anschließen. Es wäre doch ein Jammer, mein schönes Kostüm im Schrank hängenzulassen und dieses außerordentliche Fest, an dem ganz Dresden teilnimmt, zu versäumen.« Ihr Mann verzog das Gesicht. »Das geht nicht, Madame, tut mir leid. Sie werden für Ihr Kostüm sicher noch andere Gelegenheiten finden, es auszuführen.« Er sah Charlottes unglückliche Miene und versuchte, ihr Verständnis zu gewinnen. »Sie kennen doch dort niemanden, Madame, und alle tragen Masken. Sie werden gar nicht wissen, mit wem Sie es zu tun ha200
ben, wenn ich nicht dabei bin, Madame. Das ist nicht gut. Es könnte höchst kompromittierend sein.« Charlotte sah ihren Mann konsterniert an. Es war schließlich der Sinn eines Kostümfestes, daß man ungezwungen mit jedem plauderte, dessen Maske einem gefiel. Es gelang ihr aber, ihren freundlichen Ausdruck beizubehalten. »Aber wenn mich doch, wie Sie sagen, keiner auf dem Fest erkennt und ich Ihnen verspreche, niemandem meinen Namen zu nennen, dann, Monsieur, könnten Sie mir dieses Amüsement doch leichten Herzens gewähren. Wie ein Geist werde ich durch die Gesellschaft schweben, nur um ein wenig zu schauen.« Doch schon während sie sprach, sah Charlotte den Unwillen in seinen Augen. »Stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie sind, Madame«, stieß er krächzend hervor. »Ich will einfach nicht, daß Ihnen ein fremder Mann zu nahe kommt.« Schönberg mochte körperlich geschwächt sein, sein rundliches Gesicht ausgezehrt, aber seine unnatürlich glänzenden Augen verrieten verbohrte Härte. Charlotte biß sich auf die Lippen, um ihn nicht mit einer unbeherrschten Erwiderung zu reizen. »Dann werde ich wohl die einzige Frau Dresdens sein, die heute abend zu Hause sitzen muß«, versuchte sie sein Mitleid zu wecken. Unter leichtem Stöhnen drehte Schönberg sich zu ihr um und ergriff tröstend ihre Hand. »Ist das denn so schlimm? Ich brauche Sie an meiner Seite … Charlotte, nur in Ihrer Gegenwart kann ich genesen. Sie sind meine Göttin. Ich lasse nicht zu, daß ein anderer Mann Sie auch nur ansieht.« Flehentlich blickte er sie an. »Mich würden Alpträume plagen. Es wird heiß sein auf dem Fest, Sie nehmen – vielleicht ganz unwillkürlich – die Maske ab, um sich abzukühlen. Und dann wäre es geschehen … Diese Vorstellung kann ich nicht ertragen.« Charlotte saß regungslos neben ihm. Ihr Vorrat an Gutwilligkeit war aufgebraucht, Kälte breitete sich in ihr aus. Und das Gefühl, ohnmäch201
tig zu sein. Nicht wegen seiner Weigerung, sie zu dem Fest gehen zu lassen, sondern wegen seiner noch nie so offen gezeigten, krankhaften Eifersucht. Ihre Gefühle interessierten ihn nicht. Über die ging er hinweg, wenn nur sein eigenes Gefühlsleben heil blieb, von ihren Interessen, ihrem Willen ganz zu schweigen. Mechanisch antwortete sie: »Ich verstehe, Monsieur, wie Sie wünschen, Monsieur.« Sie betrachtete sein vom Fieber gerötetes Gesicht. In seinen Augen stand etwas zutiefst Unterwürfiges, das sich Charlotte nicht erklären konnte. Krankhafter Besitzanspruch, gepaart mit Unterwürfigkeit. Verachtung stieg in ihr auf. Sie empfand Abscheu vor ihm, und dann schlugen ihre Empfindungen plötzlich um, wurden zur Wut auf diesen unerträglichen Mann. Irgendwie mußte sie sich Luft verschaffen. »Wünschen Sie vielleicht, ein wenig abgekühlt zu werden?« Er lächelte. »Ja, gern, das tut immer recht gut.« Ruhig schob Charlotte das nasse Tuch vom Rand des Wassereimers, ergriff den Henkel, hob den Eimer hoch und goß ihn mit zornigem Lächeln über Schönberg aus. Mit gelähmtem Entsetzen war der ihren Bewegungen gefolgt, unfähig zu glauben, was Charlotte ihm antat. Dann erst stemmte er sich prustend und schüttelnd aus den nassen Kissen hoch. Charlotte ließ den Eimer achtlos fallen und funkelte ihn an. »In Zukunft werden Sie sich an meine Art, Ihnen Ihre Wünsche zu erfüllen, gewöhnen müssen, Monsieur.« Schönberg hatte seine Sprache wiedergefunden und brüllte. »Sie … Sie … Ungeheuer. Das werden Sie mir büßen!« Noch bevor der gerufene Kammerdiener eingetreten war, riß Charlotte Schönbergs Kopf an ihre Brust, hielt ihm den Mund zu und setzte sich auf den Rand des Bettes. Der hereinstürzende Kammerdiener erblickte eine Charlotte, die mit entsetzter und mitfühlender Miene ihren geliebten Mann in den Armen hielt. »Walter, es ist schrecklich, ein Mißgeschick meines armen Gatten. Bitte lassen Sie schnell frische Laken bringen.« »Sofort, Madame.« Der Kammerdiener verschwand. Charlotte gab ihren Mann frei. Schönberg keuchte. »Das werden Sie mir büßen, Madame. Das werden Sie mir büßen.« 202
Charlotte blieb gelassen. »Sie wiederholen sich, Verehrtester. Sie sprechen im Fieber, Monsieur, keiner wird Sie ernst nehmen.« Schönberg sah sie entgeistert an. »Ich melde Sie dem Konsistorium … Sie … Hexe!« »Machen Sie sich nicht lächerlich, Monsieur. Die Zeiten sind vorbei. Wir leben im achtzehnten Jahrhundert.« Schwankend kam Schönberg aus dem Bett hoch und baute sich vor ihr auf, krallte sich mit der Rechten in ihre Schulter und schob sein Gesicht ganz nah an Charlottes heran, die rotgeränderten Augen zu Schlitzen verengt. »Die Zeiten werden nie vorbei sein, nie. Jedes Weib hat das Zeug zur Hexe. Immer. Das Böse wohnt in Ihnen.« Einen Moment noch starrte er ihr in die Augen, dann ließ er seine Hand von ihrer Schulter fallen und sackte auf die Bettkante. Charlotte hoffte schon, sein Irrsinnsanfall sei vorüber. Doch dann richtete sich Schönberg noch einmal schweratmend auf und schüttelte seine Faust gegen sie. »Ich tue der Welt sogar einen Gefallen, wenn ich Sie nicht ausgehen lasse. Ich sorge dafür. So krank bin ich nicht, daß ich nicht mehr Herr in meinem eigenen Haus bin. Ohne meine Einwilligung tun Sie keinen Schritt mehr – überhaupt gar nichts mehr.« Charlottes Wut verebbte, an deren Stelle wuchs Verachtung in ihr für diesen Fremden, der nichts mehr mit dem gescheiten, witzigen Mann zu tun hatte, den sie zu lieben gemeint hatte. Statt dessen erschien ihr der Mann vor ihr nur noch unwirklich, seine Drohung absurd. »Sie sind krank im Kopf, Monsieur. Falls Sie in Zukunft Hilfe benötigen, nicht von mir. Auch Ihre Genesung liegt mir nicht mehr besonders am Herzen, Monsieur.« Damit drehte sie sich um und ließ ihn mit seinem klitschnassen Bett allein. Im Gang atmete sie heftig aus. Sie bereute zwar, daß sie ihren Gefühlen freien Lauf gelassen hatte, weil sie sich dadurch verwundbar gezeigt hatte. Aber was machte es schon für einen Unterschied, ob er sie aus übermächtiger Eifersucht, Bösartigkeit oder Wut gefangenhielt. Der Effekt war immer derselbe. Sie drehte sich um und stieg schnell zu ihrem Zimmer hinauf. Keiner sollte sie heulen sehen. 203
*** Am Abend des Sonnenwendfestes stand Böttger im zweiten Stock des Goldhauses und beobachtete das Treiben im Schloßpark. Verborgen im Schatten hinter einem Fenster, hielt er ein kleines Fernrohr ans Auge gepreßt und beobachtete einen Mann im Wesirskostüm, der einen dicken, langen Bart trug. Das Fernrohr war eine Leihgabe Fürstenbergs, damit Böttger, so gut es unter den gegebenen Umständen möglich, am Fest teilnehmen könne, wie der Statthalter im beigefügten Billett geschrieben hatte. Gefertigt worden sei das Fernrohr von Herrn Tschirnhaus, den man übrigens aufgefordert habe, seine Europareise möglichst bald zu beenden und nach Dresden zurückzukehren, um mit Böttger zusammenzuarbeiten. Als Böttger diese Zeilen las, durchlief ihn eine Woge der Genugtuung. Tschirnhaus war immerhin Mitglied der exklusiven Académie française in Paris. Das wertete auch Böttgers Status als wichtigster, geheimer Wissenschaftler des Königs auf, dem der König nicht nur Geld, sondern auch Sachsens beste Naturwissenschaftler zur Verfügung stellte. Böttger hielt das Fernrohr weiter auf die bärtige Gestalt gerichtet. Es war phantastisch, wie nah man damit die Menschen heranholen konnte. Nun zog ein junges Mädchen neckisch am Bart des Wesirs. Ein kräftiger Schmerzensschrei, der sogar die Musik übertönte, signalisierte, daß der Bart echt war. Böttger mußte lachen. Wahrscheinlich kam der Mann aus Rußland oder Bayern, denn überall sonst waren Bärte verpönt. Böttger schwenkte das Fernrohr weiter über die unter ihm flanierenden Turbane, verschleierten Gestalten und Phantasietiere: Da ragten Schnäbel und Hörner hervor, Mähnen wallten von den Köpfen bis über Schultern. Setzte er das Fernrohr ab, sah die treibende Menge aus wie eine bunt-changierende Schlange, die sich auf den Wegen zwischen den Lauben schlängelte. Kaum einer schien das italienische Orchester zu beachten, zu dessen Klängen eine Balletttruppe tanzte. Alle waren damit beschäftigt, sich zu begrüßen und zu verneigen und einander zu bestaunen. Diener in roten Pumphosen, weißen Hemden und 204
mit rotem Fez auf dem Kopf liefen eilig umher, um die Gesellschaft mit Getränken zu bedienen. Und immer wieder übertönte Gelächter die Musik. Böttger schwenkte das Fernrohr weiter. Er wollte in der Menge Charlotte finden und hielt nach dem Ehepaar Schönberg Ausschau. Ihre hohe, schlanke Gestalt und ihre anmutigen Bewegungen mußten neben der gedrungenen Gestalt des Finanzministers trotz Kostüm auffallen. Stückchen für Stückchen suchte er systematisch die Gruppen ab. Er entdeckte Fürstenberg als Mandarin, in einem Scheich erkannte er Pabst von Ohain. Doch das Finanzminister-Ehepaar war nirgends zu finden. Daraufhin suchte er nur noch nach Charlotte und verfolgte jede weibliche Gestalt. Nichts. Vielleicht kam sie verspätetet, und so richtete er das Fernrohr auf den Eingang zum Schloßpark. Doch dort tat sich nichts mehr. Die Dämmerung setzte ein, und schließlich war durch das Fernrohr nichts mehr auszumachen. Er legte es beiseite. Unten zündete man jetzt die Fackeln an, die dem bunten Treiben im Park einen noch magischeren Anstrich verliehen. Ab und zu verschwanden Pärchen in Lauben und kamen nicht wieder zum Vorschein. Böttger seufzte und verließ seinen Aussichtsplatz, um seine Bierkanne am im Wasserbad gekühlten Fäßchen nachzufüllen, und trank sie auf einen Zug aus, schenkte sich gleich noch einen Krug ein und postierte sich wieder hinter dem Fenster, stierte leicht schwankend auf das bunte Treiben und lauschte der beschwingten Musik. Wenn ganz Dresden feierte und er allein hier oben hocken mußte, durfte er sich doch wohl betrinken. Außerdem fand er, daß er sich mit den guten Ergebnissen bei den ›Nebenwerken‹ eine Belohnung verdient hatte. Nur mit der Transmutation kam er nicht so richtig voran. Neben der Feuerstelle auf seinem Schreibtisch lagen im matten Widerschein der Fackeln seine Aufzeichnungen der letzten Wochen. Er zündete eine Kerze an, stellte sie auf das Bord neben dem Fenster, zog sich einen Hocker heran und blätterte in ihnen. Vor zwei Wochen hatte er seine Transmutations-Versuche wieder aufgenommen. Als er in den Aufzeichnungen zu lesen begann, stiegen in seiner Erinnerung die Bilder an die Experimente in ihm hoch. 205
Bei seinen Experimenten hatte Böttger häufig eine Spur Gold als ›Samenkorn‹ in die Mischungen gegeben, damit es wachse und aufblühe – wie in der Natur. Gold hatte er genug. Jeder Dukaten enthielt nach dem Gesetz 3,4 Gramm Gold. Das war der Grund gewesen, warum er ausdrücklich auf Dukaten bestanden hatte und nicht die Summe in Talern ausgezahlt bekommen wollte. Wenn es hart auf hart kam, konnte er also auf einige Kilogramm Gold zurückgreifen, seine Sicherheitsreserve. Bei seinen modifizierten Versuchsreihen hatte sich Böttger allmählich vom Ansatz des Basilius Valentinus entfernt, der ihm zu verschwommen schien. Noch genauer als in Berlin hatte er alles auf bisher noch nicht dagewesene Weise protokolliert. Er definierte die Hitze des Feuers durch Kegel, die er vorher aus Blei, Kupfer, Zink, Silber, Gold und Eisen herstellte. Für die höchsten Temperaturen ließ er sich in der Glashütte Kegel aus bestimmten Erden und Glas herstellen. So schuf er sich eine Tabelle für Hitzegrade des Feuers. Der andere bisher nie genau angegebene Faktor war die Zeit. Er stoppte genau die Zeit aus, wie lange ein Prozeß bei der vorbestimmten Hitze anhalten sollte. Die so gewonnenen Unterlagen erlaubten es ihm, bestimmte Vorversuche an die Gesellen zu delegieren, denen er exakte Vorgaben machte. Sie deszendierten ihm reines Quecksilber, reinigten Blei und ähnliches, eine schöne Zeitersparnis. Dennoch rechnete Böttger nicht mit einem schnellen Erfolg. Zu viele Alchemisten hatten schon ihr Leben lang geforscht, und es war nichts dabei herausgekommen. Aber mit seiner neuartigen Systematik, die sich auf die Naturwissenschaft gründete, waren seine Erfolgsaussichten um ein vielfaches höher. Er stand sogar schon kurz davor, die Substanz des Lascarius imitieren zu können, mit der man vergoldete. Denn um nichts anderes hatte es sich bei dessen sogenanntem Arkanum gehandelt, davon war er inzwischen überzeugt. Ihm war ein Gerücht zu Ohren gekommen, wonach Lascarius das Silberbesteck einer Gräfin angeblich in ein goldenes verwandelt haben soll. Dies bestätigte seinen Verdacht. Eine solche ›Transmutation‹ war unmöglich, war eindeutig Augenwischerei, Hokuspokus, Betrug. 206
Damit war auch klar, warum der Mönch so sehr darauf bedacht gewesen war, sein Gelübde herauszustellen, nicht für einen Fürsten arbeiten zu dürfen. Zu leicht hätte ihn das an den Galgen bringen können. In seiner ersten wütenden Enttäuschung über diese Erkenntnis war Böttger drauf und dran gewesen, das einst so hochgeschätzte Oktavheftchen zu verbrennen. Doch dann hatte er es doch aufgehoben – aus Sentimentalität und weil man nie wissen konnte. Das Heft ebenso wie Lascarius' Arkanum standen in Zusammenhang mit dem Tag, an dem er Charlotte begegnet war, dem Tag, der seinem Leben eine so unglaubliche Wendung gegeben hatte. Mochte der Mönch auch ein Hochstapler sein, ihn hatte er auf eine neue Lebensstufe katapultiert. Statt täglich bis in alle Ewigkeit Kräuter zu zerstoßen, arbeitete er mit Gesellen im Goldhaus des Königs, wohnte in derselben Stadt wie Charlotte. Böttger, der gefeierte Goldmacher, dem die Welt zu Füßen lag, auf dem Thron der siegreichen Naturwissenschaft, mit sicherem Platz im Pantheon der Geschichte. Charlotte würde ihm anbetend zu Füßen liegen und zusehen, wie sich die Majestäten vor ihm verneigten. Beflügelt von diesem Gedanken, stemmte er sich hoch, genehmigte sich noch einen Krug Bier, holte sich Feder und Tintenfaß, um seinen Aufzeichnungen Anmerkungen hinzuzufügen. Es war nicht ganz einfach, das Tintenfaß zielsicher auf dem Fensterbrett abzustellen, noch schwieriger, den Korken herauszuziehen, ohne hinzufallen. Er kniff ein Auge zu, um mit der Feder ins Tintenfaß zu zielen, ließ sich erleichtert auf den Hocker sinken und machte prompt einen dicken Klecks Tinte auf seine Hose. Er fluchte, streckte sich nach oben zum Fensterbord, wollte die Feder erneut eintunken, um seine genialen Anmerkungen an den Seitenrand zu kritzeln. Er stieß das Tintenfaß um, und es zersplitterte auf dem Fußboden. Böttger hatte Mühe, seine Augen auf die sich ausbreitende Tinte auf den Dielenbrettern zu fokussieren. Der Fleck verschwamm. Er lehnte sich nach hinten, fiel vom Hocker auf den Boden. Liegen war überhaupt viel bequemer als sitzen. Seine Hand lag in der Tinte. Sie war angenehm kühl. 207
Verkatert erwachte Böttger in der Morgendämmerung. Noch immer schwindlig, rappelte er sich hoch, klatschte sich etwas Wasser ins Gesicht und löschte seinen Durst mit einem Bier und kroch ins Bett. Als Albert ihn wecken wollte, brüllte er ihn übellaunig aus den Kissen heraus an, er solle verschwinden. Er hatte keine Lust zu arbeiten, drehte sich zur Wand und schlief weiter. Albert ging folgsam nach unten und berichtete den Gesellen, daß Böttger unpäßlich sei und nicht gestört werden dürfe. Am späteren Vormittag erschien Pabst von Ohain im Goldhaus, stieg schnell die Treppen zu Böttgers Reich hinauf und trat ein. »Guten Morgen, Johann. Was ist mit Ihnen?« »Hauen Sie ab, Pabst, ich will nicht«, brummte er übellaunig. Aber der Bergrat kümmerte sich nicht darum. »Los, stehen Sie auf.« Böttger schaute nicht zu Ohain, sondern starrte die Wand an. »Tut mir leid, Pabst. Aber heute kann ich nicht. Morgen vielleicht. Lassen Sie mich bitte in Ruhe. Guten Tag.« Ohain vermutete, daß es bloß der Kater war, der seinem Schützling zu schaffen machte, und blieb stehen. »Sie sollten vielleicht weniger trinken, Johann. Reißen Sie sich zusammen, und raffen Sie sich auf, wir haben zu tun. Unsere Majestät erwartet Ergebnisse.« »Seit ich in Sachsen bin, erwartet man nichts als Ergebnisse von mir, Pabst. Und zum Lohn und Ansporn sperrt man mich ein. Ich habe Sie gestern abend gesehen, Pabst, wie Sie sich da unten fröhlich amüsiert haben. Alle in Dresden durften teilnehmen. Nur ich nicht. Ich habe die Nase voll davon.« »Dies Gejammer von Ihnen kenne ich hinreichend, und Sie kennen meine Antwort. Es langweilt, aber ich wiederhole es Ihnen: Niemand hat bessere Arbeitsbedingungen als Sie. Und dabei sind Sie erst zwanzig. Mein Gott, Sie haben doch noch soviel Zeit vor sich, in der Sie Ihren Erfolg genießen können.« Der Bergrat setzte sich auf den Bettrand, um Böttger aus seiner trüben Stimmung zu helfen. »Sie brauchen sich nicht um den nächsten 208
Tag zu sorgen, nicht um Essen, Miete, Kleidung. Sie leben doch fast wie im Schlaraffenland. Was also soll die Jammerei?« Mürrisch drehte sich Böttger zu ihm um und schaute aus den zerknautschten Kissen auf den Bergrat, dreht sich dann wieder zur Wand und klagte dumpf: »Sie haben Familie, Pabst. Sie haben eine Frau, die Sie liebt. Auch ich liebe, aber deren Freuden verwehrt man mir.« »Ach, Frau von Schönberg mal wieder«, seufzte Ohain leicht gereizt. Böttger brauste auf. »Ich liebe sie, egal, was Sie davon halten oder die restliche Welt davon hält. Solange ich hier wie eine Ratte gefangengehalten werde, kann ich nicht arbeiten. Ich bringe einfach nicht die nötige Konzentration für die Transmutation auf. Es geht nicht, verstehen Sie, Pabst?« Böttger schaffte es tatsächlich, dies so überzeugend vorzubringen, daß der Bergrat überlegte, ob Böttgers trauriger Seelenzustand tatsächlich ein Arbeitshemmnis darstellen könnte. Ohain war durchaus bewußt, daß Depressionen einem die Arbeit verleiden konnten. Vielleicht war so ein junges Genie stärker von Stimmungsschwankungen betroffen. Plötzlich setzte sich Böttger bolzengerade im Bett auf. »Ausgerechnet ich habe für ihren Mann eine Arznei gebraut. Gift hätte ich hineinmischen sollen.« »Sie versündigen sich, Johann. So etwas dürfen Sie nicht einmal denken. Es ist Ihre Christenpflicht zu helfen. Gibt es nicht auch für Apotheker … so eine Art hippokratischen Eid?« Anstatt zu antworten, stand Böttger auf und starrte zum Fenster hinaus. Er klammerte sich so heftig ans Fensterbrett, daß seine Knöchel weiß hervortraten. »Ausgerechnet dem Ehemann.« Der Bergrat wurde ärgerlich. »Na und? Wo sind wir denn? Wo bleibt Ihre Contenance?« Ohain wußte, daß Böttger stolz auf sein höfliches Benehmen war. Tatsächlich entspannte sich Böttger und drehte sich melancholisch zum Bergrat um. »Es ist so schwer, Pabst.« Ohain wollte nichts sehnlicher, als das unselige Thema schnellstens zu beenden, und meinte daher wegwerfend: »Lassen Sie uns endlich an 209
die Arbeit gehen. Unten sind Kisten mit den neuen Erzproben angekommen, die leider nur wenig Silber enthalten sollen. Ich würde gern probieren, ob wir nicht trotzdem das bißchen Silber mit einer Ihrer neuen Methoden herauslösen können. Das wäre ein großer Gewinn. Und dann ist da noch eine Kiste mit Eisenerz. Ich hoffe, daß sich auch Kupfer darin befindet. Eisen und Kupfer liegen gern nah beieinander.« »Wie Liebende.« »Vergessen Sie doch um Himmels willen endlich diese Frau von Schönberg. Ein paar Blicke, ein freundlicher Brief, was bedeutet das schon.« Böttgers Körper spannte sich, und er funkelte Ohain an. »Alles, Pabst. Diese Frau ist für mich bestimmt.« »Sie sind krank, Johann. Es ist einfach lächerlich, was Sie sich einbilden. Kommen Sie endlich in die Wirklichkeit zurück. Es gibt schließlich noch mehr Frauen auf der Welt.« Doch die Worte des Bergrats schienen Böttger nicht zu erreichen, dessen Blick sich nach innen gekehrt hatte. »Ich brauche einen Zuber kaltes Wasser. Ich muß mich abkühlen. Man soll mir einen großen Zuber bringen. Fische sollen darin schwimmen. Ich muß mich abkühlen«, wiederholte er noch einmal, ohne Ohain anzusehen, ohne überhaupt irgend etwas anzusehen. Der Bergrat kannte Böttgers Launenhaftigkeit, wenn er auch bisher keinen derart starken Anfall erlebt hatte. Doch er glaubte, daß es das beste wäre, unnachgiebig zu bleiben, und fuhr ihn schroff an. »Ich lasse mich durch Ihre Komödie nicht irreführen, Johann. Finden Sie sich damit ab, daß es ›Ihre‹ Charlotte gar nicht gibt, nur eine Frau, die mit unserem Finanzminister verheiratet ist.« Böttger reagierte nicht darauf, sondern flüsterte für sich: »Die Fische werden mir guttun. Sie sind meine Freunde. Sie werden mich verstehen.« »Sie reden ja irre. Das geht nicht gut. Man wird Sie in eine Anstalt stecken, wenn Sie so weitermachen. Davon haben Sie nichts.« Dabei sah Ohain Böttger scharf an, hoffte endlich eine Bestätigung dafür zu entdecken, die bewies, daß Böttger ihm Theater vorspielte. Denn im 210
Grunde war er ratlos und wußte nicht, ob er den absurden Wunsch erfüllen sollte. Doch Böttger starrte mit apathisch hängenden Schultern durch ihn hindurch. Es war unmöglich, mit ihm zu reden. Ohain drehte sich resigniert ab. »Ich leite alles in die Wege. Sie kriegen Ihren Zuber.« Eine halbe Stunde später stand ein großes Faß mit Forellen unten im Torraum. Böttger stieg langsam die Treppen hinunter, zog sich im Torraum das Hemd aus und steckte erst die Arme, dann den Kopf ins Wasser und verharrte so lange darin, daß es alle schon mit der Angst bekamen. Endlich tauchte er aus dem Wasser auf, sah sich mit erstauntem Gesichtsausdruck um, als sähe er die Wachen, Gesellen und Ohain zum ersten Mal. »Wie schön, daß Sie mich besuchen, Messieurs.« Rechts in der Tür zur Zähl- und Schreibstube stand der Geselle Köhler, ein Hüne mit unglaublicher Körperkraft, der den Zuber abgefüllt und hingestellt hatte. Köhler verehrte Böttger, seit er durch dessen Salbe von der Lungenentzündung geheilt worden war. Als Böttger kein Zeichen des Erkennens von sich gab, trat Köhler besorgt vor, hob Böttgers Hemd vom Schemel und hielt es ihm hin. »Monsieur Schrader. Sie sollten vorsichtig sein und sich nicht erkälten.« »Vielen Dank, mein Herr«, erwiderte Böttger verträumt, »aber ich brauche die Kälte. Mein Herz muß kalt werden. Ich muß kalt werden. Ich brauche das.« Ohain gab sich einen Ruck und verabschiedete sich. Er würde sich an den Fürsten wenden. Man mußte einen Arzt holen. Er war sich immer noch nicht sicher, ob Böttger Theater spielte oder sein Verstand ernsthaft beschädigt war. Aber so etwas konnte ein geschickter Arzt herausbekommen. Er wollte sich nicht zum Narren halten lassen.
*** Zwei Wochen später, Anfang Juli, saß Schönberg in einem hohen Lehnstuhl im Salon, den man ans offene Fenster gerückt hatte, durch das ein leichter Wind die durch die frühe Sommerhitze aufgeheizten Räume kühlte. Charlotte hatte Diener ausgeschickt, die ganze Gas211
se von Unrat zu säubern, damit möglichst wenig Gestank ins Zimmer drang. Schönberg war zwar genesen, aber immer noch recht schwach. Eine Decke lag über seinen Knien, auf denen er Akten balancierte. Ihm gegenüber stickte Charlotte an einem Kissenbezug, eine ihr verhaßte Arbeit, die Schönberg gefiel und womit sie ihn besänftigte. Sehr förmlich hatte sie sich bei ihrem Mann für ihre Unbeherrschtheit entschuldigt. Er hatte es akzeptiert und ihre angespannten Nerven dafür verantwortlich gemacht. Es herrschte Burgfrieden. Beide bemühten sich, die Spannung zwischen ihnen zu ignorieren, und Charlotte umsorgte ihn wie früher. Die Stille im Raum wurde nur durch das gelegentliche Rascheln der Akten beim Umblättern unterbrochen. Aus der Stadt drangen kaum Geräusche herauf, die neuen Regimenter für den Krieg gegen die Schweden waren abgezogen, das Hämmern der Schwertfeger war verstummt. In die friedliche nachmittägliche Stille hinein trat leise der erste Kammerdiener Schönbergs und meldete den ersten Sekretär von Schönbergs Kanzlei, einen schüchternen jungen Mann, der unter servilen Verbeugungen kurz darauf eintrat und seinem Minister eine kleine Mappe überreichte. »Mit den besten Empfehlungen des Herrn Notar. Beim Kauf von Radebeul ist alles erledigt, Exzellenz.« Schönberg strahlte. »Na endlich. Danke, Broding. Veranlassen Sie bitte ein Schreiben an den Geheimen Rat und Seine Exzellenz den Statthalter, daß ich ab nächster Woche dort zu finden sein werde. Zur Erholung.« »Ich lasse die Schreiben sofort ausfertigen. Weiterhin gute Genesung, Exzellenz.« Nachdem sich der Sekretär unter Verbeugungen zurückgezogen hatte, wandte sich Schönberg freudig an Charlotte. »Ich habe eine wunderbare Überraschung für Sie, Madame. Wir werden nach Radebeul gehen«, verkündete er. »Ich habe dort für uns ein kleines Gut in den Weinbergen erworben. Es wird Ihnen gefallen und Sie auf andere Gedanken bringen, Madame.« »Wann haben Sie es denn besichtigt?« fragte Charlotte bemüht interessiert. 212
Schönberg seinerseits war bestrebt, sie für das Projekt zu begeistern. »Ich kenne das Gut seit meiner Kindheit. Herr Reusch, mein verehrter Onkel, hat mir einen ziemlich hohen Preis abverlangt. Aber es ist wirklich zauberhaft. Es liegt halbhoch am Hang, und man hat einen herrlichen Blick über das Elbtal.« »Wird Ihnen dort Ihre … Abwechslung nicht fehlen, Monsieur?« Schönberg verstand die Anspielung auf seine Mätresse und starrte aus dem Fenster. Nach einer Weile nickte er. »Ich verspreche, daß eine gewisse Person sich dort nicht aufhalten wird. Genügt Ihnen das? Lassen Sie uns auf den gelungenen Handel anstoßen, Madame. Ich hoffe inständig, daß wir dort ein friedvolles Leben führen werden.« Charlotte klingelte nach dem Diener und bestellte Wein. Dann hoben sie die Gläser, prosteten sich zu. Schönberg stürzte sein Glas ziemlich schnell hinunter. Sein Gesicht rötete sich, er wurde gelassener. »Jetzt im Sommer ist es dort kühler als in der Stadt. Sie werden die Luft als angenehm und sauber empfinden. Eine Wohltat. Auch der Herbst ist dort voller Liebreiz, erst die Weinernte, dann das bunte Laub.« Charlotte nickte verhalten, sagte aber nichts. Obwohl Radebeul nur einige Meilen elbabwärts von Dresden lag, lebte man dort wie auf dem Land. Der Ort bestand aus einer Ansammlung von ein paar Dutzend Häusern um den Kirchturm, sie kannte ihn von Ausritten. Dort konnte sie mitnichten das Leben führen, das sie sich wünschte. Sie seufzte. Verzagt dachte sie, daß sie ihrem Mann die Chance einräumen mußte, ihr Verhältnis wieder in Ordnung zu bringen. Das gehörte sich so, das erwartete und verlangte man von einer Ehefrau, es war ihre Pflicht. Die Bälle und Soireen, die Spiel- und Tanzabende im Herbst würden wie schon im letzten Jahr ohne sie stattfinden. Sie fühlte sich wie eine abgeschobene alte Jungfer. Sie schenkte ihrem Mann immer reichlich Rotwein nach, nippte selber aber kaum an ihrem Glas. Nach einer halben Stunde hatte Schönberg die Flasche geleert und schnarchte im Lehnstuhl, kleine Trompetenlaute ausstoßend, die seine Lippen zum Flattern brachten. Alt sah er dabei aus, sein Kopf hing ein wenig schief. Charlotte erhob sich und stieg die Treppe hinauf in ihren kleinen Salon. Aus dem Geheimfach unter der Platte ihres Schreib213
sekretärs zog sie ein kleines Billett heraus. Es war Böttgers Antwort auf ihr Dankschreiben, verklausuliert wie das ihre, weil seine Briefe zensiert wurden. Wie gut, daß die Mode einen ausladenden Sprachstil verlangte. ›Aller gnädigste, hochwohlgeborene Madame von Schönberg, wohltätige Samariterin an ihrem Ehemann, deren huldvolle, gütige Dankesworte ein Zauber erfüllt, der tief in das Herz Ihres untertänigen Dieners gedrungen ist, der doch nur seine Christenpflicht erfüllt hat. Besagter Diener steht nicht an zu versichern, daß dies nur ein niedriger Dienst war und er sich dazu berufen fühlt, noch weit höhere und wertvollere zu leisten, wenn Madame sie von ihm fordern.‹ Dem Brief beigefügt hatte Böttger die Blüte einer Feige, die man – so führte er aus – in der Antike als Symbol für heitere Weiblichkeit angesehen hatte, was Charlotte für eine Umschreibung eines Aphrodisiakums hielt. Der Brief erschien ihr ganz schön dreist, zeugte jedenfalls von gesundem Selbstbewußtsein. Sie beschloß, Herrn Schrader darüber in Kenntnis zu setzen, daß die Gesundung ihres Mannes dank seiner Salbe abgeschlossen sei und man sich wegen der guten frischen Luft auf ein Landgut in Radebeul zurückziehe.
Elftes Kapitel
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erdrossen blickte August durch das kleine Fensterloch auf den grauverhangenen Himmel. Es goß schon den dritten Tag. Das Fensterloch besaß keine Glasscheibe, und so tropfte Regen in die düstere Stube des armseligen polnischen Bauernhauses. Rohe Balken zogen sich über die Decke, die Wände waren mit Lehm beworfen, und im Kamin brannte ein Feuer, obwohl es Hochsommer war, der 22. Juli 1702. Der Bauernhof, das einzige gemauerte Haus weit und breit, war der Zufluchtsort Augusts, des Königs und Kurfürsten, den seine Sachsen 214
den Starken nannten. Dort saß er nun im einzigen leidlich bequemen Stuhl in klammer Unterwäsche. Er prüfte den Sitz seines Dreispitzes auf der strähnigen, ruinierten Perücke, den er als Zeichen seiner Würde trug. Ungezähmt von Korsagen wölbte sich sein Bauch vor, auf dem die Hand mit der qualmenden Pfeife ruhte. Stoisch wartete er darauf, daß er wieder Weste und Rock anziehen konnte, die seine Diener irgendwo im Haus trockneten. Kleider zum Wechseln besaß er keine mehr, wie ihm sein Kammerdiener unter Tränen gestanden hatte. August führte die Pfeife zum Mund, sog und stieß langsam eine Rauchwolke aus. Sein Schwert, eine Pfeife und ein Beutel Tabak – das war alles, was von seinen Habseligkeiten übrig war. Kleider, Koffer, Tafelsilber, Prunkzelt mit vergoldeten Liegen und samtenen Kissen, alles war in die Hände der Schweden gefallen, kurz: der komplette sächsische Troß mit Zelten, Fuhrwerken und der Kriegskasse von 17.000 Talern – nebst 500 Damen unterschiedlichen Standes, die vergeblich auf die siegreiche Rückkehr ihrer Kavaliere gewartet hatten. Jeder, der den Schweden entkommen war, besaß nur noch das, was er am Leib getragen hatte. August war noch gut dran in dem Steinhaus. Der größere Teil seines Hofstaates mußte mit weit dürftigeren Quartieren in Hütten und Ställen vorliebnehmen. Nur die Oberbefehlshaber seiner Armee, Feldmarschall Schulenburg und General Flemming, hockten mit August in der Bauernstube, gleich ihm durchnäßt und in Unterkleidern. Sie saßen ihm gegenüber hinter einem einfachen Eßtisch und berieten leise über einer aufgeweichten Karte von Polen. Niemand hatte damit gerechnet, daß sie sich nach der Schlacht gegen Karl so wiederfinden würden. August hatte einen glorreichen Sieg erwartet. Den ganzen Winter über und im Frühjahr hatte der König die Zeit genutzt und sich gegen Karl gerüstet, neue Truppen aufgestellt, Kanonen gießen und Mannschaften an ihnen ausbilden lassen. Anfang Juli waren die Kriegsvorbereitungen abgeschlossen, und August verließ mit einer gewaltigen Streitmacht sein Quartier in Krakau. Voller Siegesgewißheit zog er dem prahlerischen Schweden entgegen, der sich für den Alexander den Großen der Neuzeit hielt. Allein Augusts 215
18.000 Mann starke Infanterie war dem Feind um fast das Doppelte überlegen. Dazu kamen 2.000 sächsische Reiter und die 45 neuen Kanonen. Befehligt wurde die Streitmacht von Feldmarschall Schulenburg, einem Freund und Kampfgefährten des Prinzen Eugen, des ruhmreichen Retter Europas, der vor Wien die Invasion der Türken zurückgeschlagen hatte. Mit Schulenburg als erfahrenem Schlachtenlenker an seiner Seite glaubte August, den Sieg schon in der Tasche zu haben. Außerdem hatten die Polen ihre Neutralität aufgegeben. Denn in der polnischen Bevölkerung war die Wut darüber gestiegen, daß sich Karl benahm, als sei er in Feindesland, und sich durch Requirieren und Plünderungen mit allem Lebensnotwendigen versorgte. Daher stieß die polnische Kronarmee zu seinem Heer, ein 1.000köpfiges, farbenprächtiges Ritterheer aus Kosaken, Husaren, Tartaren und Dragonern mit furchterregenden Streitäxten und wimpelbewehrten Lanzen. Gegen diese gewaltige Streitmacht würde Karl XII. mit seinen nur 13.000 Mann nichts ausrichten können. Im festen Glauben an den sicheren Sieg war fast der gesamte Hofstaat Augusts mitgezogen, polnische und sächsische Aristokraten, Hofbeamte bis hinunter zum Küchenpersonal. Jeder wollte Augenzeuge bei der Vertreibung der frechen Schweden sein. Doch es war ganz anders gekommen. August mußte sich eingestehen, daß der fest eingeplante Sieg zu einer übermütigen, nahezu arroganten Haltung und zur verheerenden Niederlage geführt hatte. Der Morgen des 19. Juli war schwül. Bleiern lag die Luft über dem Hauptlager Augusts, daß Schulenburg hinter der Nida hatte anlegen lassen, einem breiten Fluß, über den er zuvor eine Brücke für den Nachschub gebaut hatte. August und seine Oberbefehlshaber ritten auf einen luftigen Hügel vor dem Hauptlager, um von dort mit ihren Ordonnanzen die Schlacht zu dirigieren. Als erstes befahlen sie der sächsischen Reiterei den Angriff. Zu Augusts Entsetzen ritten die mit vergnügten Rufen in lockerer Formation auf die schwedische Kavallerie zu, um mit ihnen zu karakoieren, als ob der Krieg nur ein Duell sei. Sie wollten im Kreis um die Fein216
de herumreiten, um sie höchst kunstfertig mit Pistolen zu erschießen. Die Schweden machten sich diese lächerliche Attitüde zunutze und formierten sich zu einer lückenlosen Front. Stiefel an Stiefel, wie eine undurchdringliche Walze trieben sie die sächsischen Reiter vor sich her wie einen Hühnerhaufen, die in wenigen Minuten chancenlos zwischen einem Fluß und einem Moor eingeklemmt waren. Fast ein Viertel der Reiter fiel, etliche, die zu fliehen versuchten, versanken im Moor oder ertranken, die meisten gerieten in Gefangenschaft. Nach einer Viertelstunde war alles vorbei. Doch zu diesem Zeitpunkt schien noch nichts verloren, denn nun griff von der nördlichen Flanke die gefürchtete Kronarmee der Polen ein. Noch bevor die Reiter aber heran waren, hatte Karl seine Infanterie geordnet und effektiv formiert: Die erste Reihe streckte den anstürmenden Rittern überlange Lanzen entgegen, die den Reitern mit ihren Streitäxten keine Chance ließen. Die zweite und dritte Reihe der Infanterie feuerten abwechselnd ihre Musketensalven ab, die tiefe Schneisen in das Ritterheer riß. Schon nach kurzem Gefecht übersäten die Leichen der Angreifer und ihre bunt geschmückten Streitäxte das Schlachtfeld. Es kam nicht einmal mehr zu einem zweiten Angriffsversuch. Die Überlebenden suchten ihr Heil in der Flucht. Die glanzvolle polnische Kronarmee hatte aufgehört zu existieren. Dieser Anblick versetzte die sächsischen Infanteristen in derartige Panik, daß sie kopflos zu fliehen begannen. Vergeblich versuchten einige Offiziere, die Disziplin wiederherzustellen. Die Schweden nutzten die Chance und rückten unerbittlich von allen Seiten nach. Ungläubig verfolgte August auf dem Hügel das Debakel. Die Schweden jagten die Sachsen am Hügel vorbei auf den Fluß zu. August und seine Begleiter besaßen keine Deckung mehr, ihnen blieb nichts anders übrig, als auch zur Brücke zu fliehen. Das Hauptlager mit dem Troß blieb ungeschützt zurück, auch die 500 Damen im Lager fielen in die Hände der Feinde. Der plündernde Teil der schwedischen Streitmacht kümmerte sich daraufhin nicht mehr um die Schlacht. Das rettete vielen Sachsen das Leben. Schulenburg gelang es mit einigen stabilen Regimentern, den Übergang über den Fluß zu verteidi217
gen. Auch August hatte sich mit wilder Entschlossenheit ins Getümmel gestürzt. Doch die Niederlage war schon besiegelt. Kaum waren die letzten Sachsen über die Brücke, ließ Schulenburg sie sprengen. Danach half das Wetter. Über dem Schlachtfeld hatten sich Gewitterwolken aufgetürmt, und erste Sturmböen peitschten den Fluß. Alle Versuche der Schweden, eine neue provisorische Brücke zu errichten, wurden dadurch vereitelt. Die leichten Pontons wurden auseinandergetrieben, vom ansteigenden Fluß fortgeschwemmt. Das war Augusts endgültige Rettung.
Dreitausend seiner Männer waren gefallen, ihr Blut färbte den Fluß tiefrot. Die Verwundeten mußten unter freiem Himmel verarztet werden; nur wenige Glückliche fanden Aufnahme in armseligen Schuppen und Ställen der umliegenden Dörfer. Gestern hatte Karl seinem Vetter August die 500 Damen verschiedenen Standes, ›liederliche Weiber Ihres Trosses«‹, wie er schrieb, ›unversehrt‹ zurückerstattet. Wenn er Glück hatte, würde Karl ihm auch die Kisten mit seiner Kleidung schicken. Zum Glück waren die Insignien seiner königlichen Macht in Krakau geblieben. Alles, was dort noch an Schätzen lagerte, wurde jetzt eilends aus der Stadt zu einem geheimen Treffpunkt an die schlesische Grenze geschafft. Im Notfall konnte man sie von dort schnell über die Grenze nach Sachsen bringen. August gestand sich ein, daß er damit rechnen mußte. Karl wollte ihn, den König, vernichtet am Boden liegen sehen. Doch so weit war es noch nicht. Noch lebte er. August bückte sich nach der Wunde am Unterschenkel, wo ihn ein Streifschuß erwischt hatte. Die Wunde war verschorft und heilte. Er schaute auf. Immer noch debattierten Schulenburg und Flemming leise über der Karte. Monoton rauschte draußen der Regen, der die ohnehin schlechten Wege in einen grundlosen Morast verwandelte. Unter diesen Umständen war es unmöglich, seinen Hofstaat wieder zu sammeln. Wohin er dann ziehen konnte, darüber berieten Schulenburg und 218
Flemming. Sicher war er nirgendwo. Von nun an konnte der schwedische Alexander den Hercules Saxonicus scheuchen, wie und wohin er wollte. Trotzdem war August entschlossen, sich nicht aus Polen zurückzuziehen, sondern statt dessen neue Truppen zu sammeln. Er mußte die katastrophale Niederlage wieder wettmachen, die seinen Ruf als Feldherr ruiniert hatte, während Karls Nimbus ins schier unermeßliche gestiegen war. Es durfte einfach nicht sein, daß er untätig zusah, wie Karl triumphierend in die alte Königstadt Krakau einmarschierte. August richtete sich im Stuhl auf. Beiläufig kontrollierte er, ob der Dreispitz noch korrekt saß. Augustus – das hieß der Erhabene. Auch in Niederlagen. Ruhe und Gelassenheit demonstrieren, den ausländischen Diplomaten zeigen, daß er sich nicht geschlagen gab. Am Ende würde er Karl besiegen, das stand für ihn fest. August sog an seiner Pfeife und paffte schöne, dicke Wolken in die Luft. Was er jetzt am dringendsten brauchte, war Geld, sehr viel Geld. Graf Haxlingen mußte schnell Geld herbeischaffen. Der Großkanzler sollte nach Sachsen gehen, zumal die Polen ohnehin höchst ungern den Anweisungen der Kanzlei Graf Haxlingens folgten, weil sie sich in ihrer Souveränität beschnitten fühlten. Daher war es klüger, den verhaßten Grafen nach Sachsen zu schicken, wo er mehr ausrichten konnte. Allerdings war die Sache auch dort nicht einfach. Mittlerweile empfanden die Sachsen den Krieg gegen Karl XII. nur noch als lästige Bürde. Und ihr Unmut über den Großkanzler wegen der SechsGroschen-Stücke, die er im Winter hatte prägen lassen, war noch nicht verraucht. In der ersten Euphorie hatten die Sachsen gierig zugegriffen, bis sie merkten, daß sie betrogen wurden. Unbestreitbar hatte die Aktion der königlichen Kasse Gewinn gebracht. Doch seine Untertanen sollten besser nicht ihren König mit dieser Sache in Verbindung bringen, ihn schon gar nicht als verantwortlichen Auftraggeber ausmachen. Graf Haxlingen hatte die Sechser prägen lassen, er trug die Verantwortung dafür. Es war entschieden geschickter, zu seinem Finanzgenie auf Distanz zu gehen. Dem würden schon Mittel und Wege einfallen, wie er die kö219
nigliche Kasse für die angemessene Hofhaltung wieder auffüllte. Vorerst gab es keine Alternative zu dem Mann. Sein Goldmacher war noch nicht soweit. Der klagte in Briefen über die vielen unnötigen Ausgaben für das Goldhaus und die verlorene Zeit. Andererseits hatte er ihm versichert, wie ernst er die ihm übertragene Verantwortung nahm, und seinen Eifer bekundet, ›Seine Königliche Majestät unbedingt zufriedenstellen zu wollen‹. Dieser Böttger war geschickt, hatte dem Brief einen der Haxlingenschen Sechser beigelegt und betont, ihm niemals ›so wertloses Zeug‹ abzuliefern. August hatte den Sechser erst wegwerfen wollen. Aber Geld ist Geld. Und statt schöner Worte vom Goldmacher brauchte er Ergebnisse. Jedenfalls war es an der Zeit, den ›Monsieur Schrader‹ ein wenig mehr unter Druck zu setzen. August sah auf. Der Wind hatte gedreht und trieb den Regen direkt durch das Fensterloch, unter dem sich eine Pfütze auf dem Lehmboden bildete. Er rückte seinen Stuhl etwas herum, weil sich ein Rinnsal den Weg zu seinen in Strümpfen steckenden Füßen bahnte, und rief nach dem Kammerdiener. Er befahl, ihm Stiefel und Schreibzeug und Kaffee zu bringen. Doch was den Kaffee anbelangte, zuckte der Kammerdiener nur mit den Schultern und schlug vor, Bier aufzutreiben. August nickte resigniert. Gleich darauf brachte der Kammerdiener die Stiefel, kniete sich hin und zog sie dem König an. Sie waren immer noch feucht. August achtete nicht darauf. Flemming und Schulenburg waren mittlerweile nicht mehr über die Landkarte gebeugt und hatten offenbar darauf gewartet, daß August ihnen seine Aufmerksamkeit schenkte. Als der Kammerdiener wieder verschwand, warf August ihnen einen kurzen Blick zu. Flemming, der sich sonst auf dem Parkett mit der lässigen Eleganz eines Bonvivants zu bewegen wußte, stand linkisch hinter dem Tisch auf, weil er sich seiner Unterkleider schämte, die ihm feucht am Körper klebten. »Königliche Majestät?« fragte er zögernd. August tat ihm nicht den Gefallen wegzuschauen. Belustigt bemerkte er, daß unter dem Tisch Schulenburgs Storchenbeine in löchrigen Seidenstrümpfen steckten und Flemmings Oberkörper ohne 220
die Schulterpolster des Rockes eine wenig vorteilhafte Birnenform aufwies. Ergeben ließ Flemming die Musterung über sich ergehen und wartete, bis August sich endlich zu einem »Bitte, Flemming« bequemte. »Königliche Majestät, das beste wäre, wir würden uns nach Norden wenden. Damit könnten wir Karl im Rücken umgehen und würden uns nicht zu sehr von Sachsen entfernen. Was halten Sie davon? … Die Alternative wäre, nach Osten in Richtung des Zaren auszuweichen. Doch der Zar wird uns wohl kaum Unterstützung geben können. Wenigstens in nächster Zeit nicht.« »Dann brauchen wir dort auch nicht hinzugehen«, gab August brummig zurück. Schulenburg lächelte dünn. Die beiden mochten sich nicht, wagten aber in Gegenwart des Königs nicht, ihre Feindschaft offen auszutragen. Unbestreitbar verfügte Schulenburg über höhere Qualitäten, aber auch in seinen Truppenteilen hatten Offiziere kläglich versagt. Das war die Crux, wenn man eine Armee zu schnell aus dem Boden stampfen mußte. Er konnte es ihnen nur bedingt ankreiden. Um seinen brummigen Ton vergessen zu machen, ergänzte August daher freundlicher: »Dann möchte ich Sie bitten, ein Ziel im Norden zu bestimmen, Messieurs.« Vor allem Flemming war für August unersetzlich. Er entstammte dem hohen polnischen Adel und hatte exzellente Verbindungen in der Aristokratie. Durch geschickte Bestechung hatte der Gleichaltrige die Wahl Augusts zum König erst möglich gemacht. Seitdem waren ihre Interessen aufs engste verknüpft. Niemand vertrat loyaler Augusts Interessen. Zwei Kammerdiener erschienen und schauten unglücklich. »Königliche Majestät, Verzeihung, aber es gibt nur diesen einen Tisch hier im Haus.« Sie wiesen mit den Augen zu seinen Oberbefehlshabern. »Verzeihung, Majestät«, beeilte sich Flemming zu sagen und griff mit Schulenburg nach der Karte, um sie anzuheben. »Bitte stellen Sie ihn zu Seiner Königlichen Majestät hinüber.« Ein weiterer Kammerdiener kehrte mit ein paar Seiten schlecht gebleichten Papiers und einem hölzernen Tintenfaß zurück und setzte 221
alles auf dem Tisch vor August ab. August griff zur Feder. Sie war an der Spitze völlig ausgefranst. »Hat einer von Ihnen ein Messer?« Einer der Diener zog ein Jagdmesser aus dem Gürtel und reichte es dem König mit einer Verzeihung heischenden Miene. »Königliche Majestät, ich bitte um Vergebung, aber etwas Besseres als diese Utensilien ließ sich nicht finden.« August ergriff wortlos das Messer und schnitt der Feder eine ordentliche Spitze. Mit einem »danke« reichte August ihm das Messer zurück und setzte sich zum Schreiben zurecht. »Sorgen Sie bitte dafür, daß in einer Stunde ein Eilkurier nach Dresden abgeht. Außerdem möchte ich den Großkanzler zu mir bitten. Jetzt gleich.« August strich über das ungewohnt wellige Papier, griff zur Feder und überlegte, wie er den Brief an Böttger abfassen sollte. Der Bursche sollte merken, daß seine Geduld begrenzt war, spüren, daß August fest mit dem versprochenen Gold rechnete. Andererseits – der Goldmacher war kapriziös. Fürstenberg schrieb von seltsamen Anfällen, die ihn von der Arbeit abhielten. Geeignete Formulierungen, die dieses Genie auf Trab brachten, mußten genau überlegt sein, zumal seine Briefe davon zeugten, daß er sich seines Wertes sehr wohl bewußt war. Der König lehnte sich wieder zurück und starrte auf das Rinnsal am Boden, das sich inzwischen in einer Mulde unweit seiner Stiefel zu einer Pfütze sammelte. Vielleicht war es besser, den Brief erst nach dem Besuch des Großkanzlers zu schreiben. Dann hatte er mehr Ruhe. Es würde nicht einfach sein, dem Großkanzler seine Entsendung nach Sachsen plausibel zu machen. August hatte dessen intensive Kontakte zu den ausländischen Diplomaten geduldet, weil er hoffte, nach einem Sieg darauf zurückgreifen zu können. Nun aber wollte er Haxlingen vor seinen Generälen schwören lassen, rückhaltlos hinter dem Erhalt der polnischen Königskrone für seinen Souverän zu stehen. Eine abweichlerische Fraktion im sächsischen Adel oder gar am Hof, die sich mit dem Spanischen Erbfolgekrieg oder anderen Nebensächlichkeiten beschäftigte, konnte er sich nicht mehr leisten. Er brauchte jetzt alle Ressourcen für seinen Thron. 222
Plötzlich drangen durch das Fensterloch immer lauter werdende Stimmen aus dem Hof. Eine Frau keifte auf polnisch. August verstand zwar kein Wort, aber den Inhalt erriet er. Sie beschimpfte die Sachsen, vielleicht sogar ihn. August ignorierte es. Seine Aufgabe bestand jetzt darin, seinem Hof in kürzester Frist wieder den alten Glanz zu verleihen, damit er nicht zum bespöttelten Opfer an den europäischen Höfen wurde. Die ausländischen Zeitungen sollten keine Zeit haben, sich die Mäuler zu zerreißen. Nur die Pracht seines Hofes und ungebrochene Lebensfreude konnten die negativen Eindrücke hinwegfegen. Der Schein war alles, bewahrte er ihn, wuchs ihm auch die Macht wieder zu.
*** Zur Zufriedenheit Fürstenbergs war für die Dresdener das Goldhaus inzwischen als Ort für die ›Verbesserung der Metallausbeute der sächsischen Erze‹ etabliert. Einmal die Woche kamen Erzproben aus den Bergwerken in langen Gewehrkisten, genau beschriftet nach dem Herkunftsschacht, und Böttger hatte sich mit Verve auf die sogenannten ›Nebenwerke‹ geworfen. So nannten sie alle Arbeiten, die nicht auf das Arkanum, das ›Hauptwerk‹, gerichtet waren. Die Versuchsöfen für hohe Temperaturen waren fertiggestellt, deren neuartige Rauchgasführung Böttger zusammen mit den erfahrenen Freiberger Gesellen ausgeknobelt hatte. Die Experimente mit den Erzen erwiesen sich für Böttger als weitaus spannender, als er vorher angenommen hatte. Einerseits stellte für ihn das Herauslösen der Metalle aus dem Gestein ein völlig unbekanntes Gebiet dar, andererseits konnte er auf die früheren Versuche mit seinem Großvater in der Münzmeisterei zurückgreifen. Böttger schulte die Freiberger Gesellen mit seinen experimentellen Erfahrungen in der systematischen Arbeitsweise mit minutiös abgestuften Versuchsreihen und verlangte präzise Aufzeichnungen. Diese Vorgehensweise leuchtete allen schnell ein, und Pabst von Ohain begann, Böttger aufrichtig zu bewundern. Alle hatten sich vor223
gestellt, Böttger würde heimlichtuerisch vor sich hin zaubern. Nun sahen sie, wie Böttger geduldig die verschiedensten Säureansätze fabrizierte und mit ihnen erstaunlich unterschiedliche Ergebnisse bei der Scheidung von Metallen hervorbrachte. Es machte Spaß, für so einen Mann zu arbeiten, und sie waren überzeugt, daß es ihnen bald hohes Ansehen einbringen würde. Böttger wiederum genoß es, mit der Anwendung seines Wissens schnelle Erfolge zu erzielen, die ihm bei seiner Suche nach dem Arkanum noch versagt blieben. Eine der Vorbedingungen zur besseren Aufschließung der Erze war eine Mühle, die Böttger im Torraum errichten ließ, um das erzhaltige Gestein feiner zu zermahlen, als es – durch die Hammerwerke bei den Erzgruben zerschlagen – angeliefert wurde. Da im Torraum nicht genügend Platz für ein Pferdegespann war, mußten seine Gesellen die Walze drehen, die mit Hilfe von Zahnrädern zwei Granitwalzen über das Gestein trieb. Böttger empfahl ihnen, zur Ermunterung bei der öden Tätigkeit zu singen, wie es die Seeleute beim Lichten der Anker am Spill taten. Diesen Rat befolgten sie erst mürrisch, bis sie auf den Geschmack kamen und schließlich, beflügelt durch einige Krüge Bier, Gassenhauer sangen, deren Texte sie willkürlich veränderten. Eines Tages kam vor dem Goldhaus ein Pfarrer vorbei und unfreiwillig in den Genuß dieser Darbietungen. Aufgebracht beschwerte er sich beim Statthalter, woraufhin Fürstenberg den ›gottlosen‹ Gesang verbot, um Ärger mit dem protestantischen Klerus zu vermeiden. Doch da sich zu diesem Zeitpunkt das Prinzip der Erzmühlen schon bewährt hatte, ließ Ohain sie im größeren Maßstab in Freiberg nachbauen, und die Gesellen waren von der Plackerei befreit. Das feinzermahlene, erzhaltige Gestein, das sie nunmehr aus Freiberg erhielten, ließ sich besser schlemmen. In Fässern, die auf mehreren Ebenen Löcher aufwiesen, spülten sie das leichtere, taube Gestein durch wiederholte Zugabe von Wasser aus. Der schwere, metallhaltige Schlamm setzte sich auf dem Boden ab. Diesen Schlammkuchen trockneten sie anschließend, gaben ihn in feuerfeste Schamottwannen und schoben sie in die Feuerstellen. Hatte sich der Schlamm in der Gluthitze verflüssigt, kratzten die Gesellen 224
die Schlacke ab, zogen die Wannen mit langen Zangen heraus und gossen die Schmelze ab. Danach begannen die langwierigen Metallscheideverfahren, bei denen Blei, Kupfer, Silber und Eisen voneinander getrennt wurden. Böttger experimentierte dabei mit Schwefelsäuren unterschiedlicher Stärke und neuartigen Verdampfungsapparaturen, erfand neue Prozesse, die er immer präziser zu steuern vermochte, und sonnte sich in der wachsenden Achtung der Gesellen, die ja nichts von seinem eigentlichen Auftrag, dem Hauptwerk, wußten. In diese befriedigende Geschäftigkeit platzte die Nachricht von der unerwarteten Niederlage des Königs. Böttger war nicht weniger entsetzt als alle anderen. Dresden trug Trauer. Wieder standen die Menschen in Trauben auf Straßen und Plätzen zusammen. Es war die Rede von einem bösen Gewitter, das ihrem Kurfürst-König den sicheren Sieg geraubt hatte. Eine Woche später, am Abend des 28. Juli 1702, kam Ohain gerade wieder einmal mit einer Lieferung aus Freiberg nach Dresden. Böttger experimentierte im zweiten Stock, und Ohain eilte hinauf. Dort saß Böttger vor einem Versuch und starrte konzentriert in einen bauchigen Glaskolben, in dem eine rotgrüne Flüssigkeit brodelte, die er mit Kupfer und Hutrauch versetzt hatte. Das Arsen im Hutrauch reinigte die Lösung. Ätzende Dämpfe quollen aus dem Kolben. Ohain stürzte zu Böttger und riß ihn hoch. »Wollen Sie sich vergiften?« »Ich darf keinen Moment verpassen«, protestierte Böttger, während Ohain ihn unnachgiebig Richtung Fenster bugsierte. Dabei warfen sie einen Hocker um. Ein Brief, der darauf gelegen hatte, schlitterte quer über den Boden, und das königliche Siegel rutschte daraus hervor. Ohain stieß das Fenster auf, Böttger fest im Griff, der einen vergeblichen Versuch machte, den Brief vom Boden aufzuheben. Erst nachdem Ohain sich vergewissert hatte, daß Böttger frische Luft atmete, wandte er sich zurück und sah nach dem Brief. »Ein Brief vom König«, staunte er. Gleichgültig schaute Böttger aus dem Fenster und meinte nur ab225
schätzig: »Seine Majestät möchte wissen, wann ich das Gold zu liefern gedächte, ›um seine Maßnahmen und Reisen danach einzurichten.‹ Was könnte ich ihm da antworten?« »Der König ist zu bedauern. In der entsetzlichen Lage, in der er ist, darf er wohl auf jede Hilfe von Ihnen hoffen. Kein anderes Projekt hat Seine Königliche Majestät mit soviel Geld ausgestattet.« Ohain bückte sich nach dem Brief. »Sie erlauben?« »Bitte.« Ohain entfaltete den Brief nahezu andachtsvoll. Noch nie hatte er ein eigenhändiges Schreiben des Königs zu Gesicht bekommen, geschweige denn, in der Hand gehalten. Bedächtig und voller Respekt las er den Brief sorgfältig durch. »Seine Majestät scheint immerhin gewillt, Ihnen einen gewissen Spielraum zu lassen, möchte sich eben nur ein wenig darauf einrichten. Das ist doch nicht zuviel verlangt. Er hat noch nicht einmal eine genaue Frist gesetzt. Das sollte machbar sein.« Beruhigt ging Ohain hinüber zum Bierfäßchen, das wie immer in einem kühlen Wasserbad ruhte, und füllte sich eine Kanne ab. Die staubigen Straßen hatten seine Kehle ausgedörrt, und ein Schluck Bier war genau das richtige Mittel dagegen. »Ahh, wunderbar …«, seufzte er glücklich, als er die Kanne endlich absetzte, und wischte sich den Mund. »Wieviel Gold haben Sie dem König eigentlich zugesagt, Johann?« Böttger war wieder an die Feuerstelle herangetreten und beobachtete die brodelnde, rot-grüne Flüssigkeit, die nun kaum noch Dämpfe produzierte. Ohne sich umzudrehen, bemerkte er leichthin: »Zwei Tonnen.« Ohain, der gerade erneut den Krug ansetzte, prustete hinein, so daß der Bierschaum auf seinen Rock spritzte. »Was?« Erschüttert glotzte er Böttger an. »Sind Sie verrückt? … Wieso, um Himmels willen?« Böttger zuckte mürrisch die Achseln. »Ich stand unter einem Galgen, Pabst. Seine Majestät geruhte mich unter drei Gehenkten zu postieren …« Er ließ die Worte einen Moment auf Ohain einwirken, ehe 226
er fortfuhr: »Ich hatte gottserbärmliche Angst, Pabst … Da verspricht man viel.« In Ohain kämpfte das Entsetzen über das gigantische Versprechen mit dem Mitgefühl. Schließlich nickte er, setzte sich auf einen Hocker, klopfte sich nachdenklich mit den Fingerkuppen auf den Schenkel, stand dann entschlossen wieder auf. »Vor allem müssen wir etwas tun. Sie müssen sofort an Seine Majestät zurückschreiben. Wichtig ist, die Erfolge herauszukehren. Ihre Voraussage traf in etwa zu. Wir gewinnen fast zehn Prozent mehr Silber. Das ist richtig viel Geld, im Jahr könnten es 50.000 Taler sein, vielleicht sogar mehr, die der Kasse des Königs zugute kommen. Dieses Verdienst können Sie guten Gewissens herausstreichen.« »Fürstenberg hat dem König schon darüber berichtet, glaube ich wenigstens.« Ohain zog eine Grimasse, ließ sich aber nicht beirren. »Es war schließlich der ausdrückliche Wunsch Seiner Majestät, daß wir uns zur Tarnung des Hauptwerks mit den Verfahren zur verbesserten Erzausbeutung befassen. Da kann doch Seine Majestät froh sein, daß sich diese Tarnung als so außerordentlich lukrativ erweist. Weiß seine Exzellenz der Statthalter schon vom Schreiben Seiner Majestät?« »Noch nicht. Einen Brief vom König an mich darf nicht einmal seine Exzellenz vorher öffnen.« Böttger lächelte schief. Entschlossen stand Ohain auf. »Ich werde sofort beim Fürsten vorstellig werden. Wann erwartet man eigentlich Monsieur Tschirnhaus?« »Vielleicht Ende des Monats, heißt es.« »Na bitte.« Ohain strahlte schon wieder Optimismus aus. »Wenn Sie erst einmal mit Tschirnhaus zusammenarbeiten, wird es schon klappen. Vielleicht nicht ganz mit der Menge Gold, die Sie unvorsichtigerweise versprochen haben, aber immerhin. Machen Sie sich nicht zu viele Sorgen, Johann. Ich lasse mich erst einmal bei Seiner Exzellenz melden, um ihm von den Zahlen aus den Metallscheiden zu berichten. Das sind schließlich keine Pfennigbeträge.« Er klopfte Böttger zum Abschied auf die Schulter und lief eilig die Treppe hinunter. Etwas belämmert schaute Böttger ihm hinterher und wußte nicht 227
recht, wie er sich fühlen sollte. Er teilte Ohains Optimismus durchaus nicht. Zu wenig Greifbares war in letzter Zeit bei seinen Experimenten herausgekommen. Keiner seiner Versuche für die Transmutation hatte auch nur entfernt eine Substanz erbracht, die als Arkanum gelten konnte. Er mußte völlig neue Ansätze finden. Bis dahin konnte er natürlich mit ein paar eingeschmolzenen Dukaten die eine oder andere Unze Gold herstellen, ohne daß jemand etwas davon merkte. Rein theoretisch konnte Böttger sich aus dem Dukatenvorrat, den der König ihm bewilligt hatte, sogar einige Kilobarren Gold zusammenschmelzen. Lieferte er aber erst einmal Gold, erwartete man mehr von ihm. Niemand würde ihm glauben, daß sein Arkanum plötzlich nicht mehr funktionierte. Man würde annehmen, er übe Verrat – eine tödliche Sackgasse. Tricks kamen daher nicht in Frage. Was übrigblieb, war die Hoffnung auf Tschirnhaus, von dessen Unterstützung sich Ohain und Fürstenberg soviel versprachen. Wenn der Gelehrte ihm helfen sollte, mußte Böttger ihm – gegen alle Regeln der Alchemie – seine geheimen Aufzeichnungen zeigen und in seine Überlegungen einweihen. Vielleicht würde dieser erfahrene Naturwissenschaftler Ansatzpunkte erkennen, die er selbst übersehen hatte. Doch Tschirnhaus recherchierte immer noch im Auftrag des Königs, ob nicht irgendeine europäische Manufaktur dem Geheimnis des Porzellans auf die Spur gekommen war. Zur Zeit weilte er noch in den Niederlanden, in Delft, also war Böttger auf seine eigene Geschicklichkeit angewiesen. Er brauchte eine überzeugende, vorbeugende Argumentation, um das Verlangen des Königs zu mildern. Plötzlich fiel ihm die schlaue Überlebensstrategie des griechischen Mönches ein. Pathetisch hatte Lascarius geschworen: Kein Gold für Fürsten. Die Idee war ausbaufähig. Er mußte eine Art Vertrag aufsetzen, der dem König moralische Zügel bei der Verwendung des künstlich erschaffenen Goldes anlegte. Ad eins, der König dürfe das Gold nicht für die Vermehrung der Pracht nutzen, ad zwei, nicht für Mätressen, und, da es mit Gottes Hilfe geschaffen war, ad drei, auch nicht zum Töten. Das klang plausibel. Natürlich gehörten auch positive Verwendungszwecke in den Ver228
trag, um die Majestät nicht zu verstimmen. Böttger dachte an Pabsts ständige Klagen über die so ärmlich dahinvegetierenden Hinterbliebenen der Bergwerker, bei denen trotz aller Vorsicht hin und wieder Todesopfer zu beklagen waren. Solche Forderungen klangen moralisch hochstehend und beeindruckten den König mit Sicherheit, da er große Achtung vor den sächsischen Bergleuten empfand. Ein weiterer wirksamer Punkt könnte das Bestehen auf der unbedingten Gottesfurcht sein. Dabei setzte Böttger darauf, daß der König durch seine Konversion zum Katholizismus in Dingen des Glaubens äußerst vorsichtig operierte. Das gedachte er auszunutzen. Böttger warf einen Blick auf seinen Versuch in der Feuerstelle. Mindestens vier Stunden mußte der Prozeß noch anhalten, bis sich die erhofften Flöckchen Gold gebildet haben würden. Er legte einige Scheite Holz nach und betätigte den Blasebalg, bis die gewünschte Hitze erreicht war. Danach trat er ans Pult, zog sich ein Blatt Papier heran und stellte sich das Tintenfaß zurecht. Wenn Pabst vom Statthalter zurückkam, wollte er ihm einen Vertragsentwurf zeigen, damit er ihm half, die Sache mit der Pensionskasse für die Hinterbliebenen der Bergleute richtig darzustellen. Vielleicht hatte Pabst noch andere Ideen, die des Königs Begeisterung für das künstliche Gold bremsten. ›Eure aller gnädigste Kurfürstlich-Königliche Majestät‹, schrieb er, fuchtelte dann nach Worten suchend mit der Feder in der Gegend herum und kleckste prompt über dem Wort ›Majestät‹. Vom Tintenfleck aus verliefen Zacken, wie bei einer Krone. Es konnte auch eine Sonne ergeben. Böttger griff sich einen neuen Bogen, schrieb die Anrede und malte über ›Majestät‹ eine Sonne. Das würde dem König gefallen: Sonne – König – Gold.
*** In seiner Prunkkutsche befand sich August in Begleitung Fatimas Anfang September auf dem Weg nach Plodiszil, einem kleinen Provinzkaff im Norden Polens, seiner nächsten Residenzstadt, deren Namen er nie zuvor gehört hatte. So ging es jetzt ständig seit der Niederlage ge229
gen Karl: Er zog von einer ›zeitweiligen Residenzstadt‹ zur nächsten. Dabei tröstete er sich mit dem Gedanken, daß es die deutschen Kaiser, angefangen bei Karl dem Großen, jahrhundertelang auch nicht viel besser gehabt hatten. Im Augenblick stockte die Karawane der Kutschen mitten in einer weiten, moorigen Ebene. Eine Ordonnanz kam herangeritten und berichtete, daß der schmale, mit Stämmen und Ästen notdürftig befestigte Weg unterspült sei und die Begleitgarde dabei war, den Knüppeldamm zu ergänzen. Es war ein warmer, sonniger Spätsommernachmittag und die Gegend ausgesprochen friedlich. Nicht allzu unglücklich über den Aufenthalt befahl August bequeme Fauteuils auf eine nahe gelegene Grasinsel unter das lichte Dach einiger Birken zu stellen, verließ mit Fatima die stickige Kutsche und ließ sich mit seiner Mätresse dort nieder. »Was für ein wunderbar friedlicher Platz, Königliche Majestät«, seufzte Fatima. Erstaunt drehte sich August zu ihr um. Die wenigsten Damen am Hof nahmen überhaupt Notiz von der Natur. Er nahm ihre Hand auf und führte sie an die Lippen. »Tatsächlich, Madame, sogar der Himmel erscheint hier höher gespannt zu sein. Es ist ewig her, daß ich in Ruhe eine solche Weite genießen konnte.« Wie doch die Gegenwart einer schönen Frau die Wahrnehmung verändern konnte. Vor einer Woche war Fatima wieder zu seinem Hofstaat gestoßen. Er hatte sie nicht herbefohlen, nur Aurora einen Brief geschickt, er sei doch arg einsam in der Wüste dieses weiten Landes. Aurora hatte nicht gezögert, Fatima umgehend zu ihm reisen zu lassen. Es sei ihre Christenpflicht, hatte sie geschrieben, dem Wohlbefinden Ihrer Majestät in dieser ungemütlichen Lage aufzuhelfen. Fatima unterschied sich grundlegend von den willensstarken Frauen, die August sonst als Mätressen bevorzugte. Fatima war weich und ohne Capricen. Nur beim Liebesspiel duldete sie keine Gegenwehr bei ihren sanften Liebkosungen. Allein darin ähnelte sie seinen anderen Mätressen. Inzwischen kamen Diener mit Tabletts angerannt und boten Wein 230
und kleine Küchlein an, die sie aus dem Backwagen besorgt hatten. Verträumt nippte August am Wein und spielte mit der anderen Hand mit der Fatimas. Vögel zwitscherten in den Birken über ihnen, vom Kopf des Zuges drangen Rufe und knappe Befehle zu ihnen. Die Stimmung war träge, August hatte keine Lust, eine Unterhaltung anzufangen, und so schwieg auch sein Hofstaat. Die Minister, Kammerherren und Marschälle nebst ihren Damen gingen oder standen in angemessener Entfernung von August und Fatima im Gras wie ein Schwarm fremdartiger, bunter Papageien, deren Revier auf die Grasinsel beschränkt war. Sich in Gegenwart der Majestät ins Gras zu setzen, wäre ungehörig gewesen. Hinter der Grasinsel erstreckte sich das Moor bis zum Horizont, aus dem nur vereinzelte Birkeninseln ragten. Träge hob August den Kopf, als am Ende der Kolonne Unruhe entstand. Ein sächsischer Kurier drängte sich an der Schlange der Kutschen vorbei. Der Kurier saß vor Oberhofmarschall von Pflug ab, öffnete seine dicke Reisetasche und übergab ihm ein versiegeltes Bündel, das in Wachstuch eingeschlagen war. Noch während der Oberhofmarschall die versiegelte Kordel aufschnitt, kam er zum König und sortierte vor dessen Augen die Briefschaften. August entdeckte das Siegel Fürstenbergs und das von Monsieur Schrader und forderte beide Briefe wortlos mit einer gemessenen Handbewegung zu sich. Den Rest überließ er Graf Pflug, seinem engsten Vertrauten in Abwesenheit von Flemming, den er nach Berlin geschickt hatte. Zuerst öffnete er den Brief des Statthalters. Er gedachte ihn nur kurz zu überfliegen, weil er die üblichen Mitteilungen über die Ernte, Erzminen und ähnliches erwartete. Doch Fürstenberg berichtete davon, wie Graf Haxlingen mehr denn je selbstherrlich Ämter schuf und Verwandten Rittergüter zuschanzte, wobei nur ein Teil der Erlöse dem König zuflösse. Dies war der Sinn seiner Worte. Fürstenberg hatte es vorgezogen, den Sachverhalt weitschweifig und äußerst vorsichtig zu umschreiben. Er selber, führte Fürstenberg weiter aus, verlöre leider an Einfluß auf die Ständeversammlung, die mehr und mehr auf die Seite 231
des Grafen schwenke. Daher werde es zunehmend schwerer, von dort frische Impulse für die Kasse des Hofes zu erreichen. August war einmal mehr hin und her gerissen. Noch konnte er sich nicht dazu entschließen, den Schritt zu wagen, den ihm seit langem schon Flemming und nun auch Fürstenberg verschlüsselt nahelegten: den Grafen verhaften zu lassen und sein Vermögen einzuziehen. Aber nach diesen Ausführungen mußte er Konsequenzen ziehen. Er rang sich dazu durch, ein Gutachten durch die Leipziger Juristen anfertigen zu lassen, die das Finanzgebaren des Grafen unter die Lupe nehmen sollten. Danach würde er entscheiden. Er rief Graf Pflug zu sich und befahl ihm leise, einen geheimen Auftrag nach Leipzig abzusetzen. Noch durfte nichts publik werden, denn August war sich durchaus nicht sicher, wie groß die Fraktion der Anhänger um Haxlingen war. Pflug jedenfalls gehörte nicht dazu, für ihn hatte die Abwesenheit des Großkanzlers einen Karriereschub bedeutet. Pflugs Augen glitzerten geradezu bei der Entgegennahme des Befehls. Vielleicht, dachte August amüsiert, witterte Pflug darin auch die Chance, daß sich durch das Vermögen Haxlingens in absehbarer Zeit die Unbequemlichkeit ihrer zeitweiligen Residenzen erledigte, die dem Hofstaat häufig genug nur äußerst bescheidene Unterkünfte bescherte. August wandte sich dem letzten Teil von Fürstenbergs Brief zu, der endlich das enthielt, worauf er gewartet hatte: Dank der ›Schraderschen Verfahren‹ rechnete man überschlägig mit fast einhunderttausend Talern zusätzlich aus den Erzminen. Das ›Hauptwerk‹ jedoch sei zwar leider noch nicht vollendet, aber ›Schrader‹ arbeite fleißig, wie ja die oben aufgeführten Erfolge zeigten. Na ja, immerhin etwas, dachte August und öffnete den Brief seines Goldmachers. Die Anrede mit der Sonne darüber war hübsch. So etwas konnte nur einem Künstler einfallen. Mitfühlend kondolierte Böttger zur verlorenen Schlacht und erbat Gottes Hilfe für den Sieg über den unverschämten Feind. Die Worte waren wohlgesetzt, und August fand Gefallen daran, daß sein Goldmacher Lebensart bewies. 232
Auf der zweiten Seite forderte Böttger Seine allergnädigste Majestät auf, die Arbeit an der Transmutation – die ja immerhin ein Schöpfungsakt sei – mit gottesfürchtigem Beten zu unterstützen, was August mit Grunzen quittierte. Der Mann wiederholte sich. Er ließ den Brief seines Alchemisten auf den Schoß sinken. Wann hatte er schon Zeit zum Kirchgang und zum Beten? Natürlich war er in der Öffentlichkeit sehr darauf bedacht, die gebührende Frömmigkeit an den Tag zu legen. Pater Vota ermahnte ihn immer wieder eindringlich, dies häufiger und aus vollem Herzen zu tun. Hatte nicht der Allmächtige Seine Majestät mit einem Gewitter davor bewahrt, vor Karl in den Staub kriechen zu müssen? August glaubte dem Pater. Vielleicht war es auch Gottes Wille gewesen, der für das zufällige Zusammentreffen mit Vetter Karl vor vierzehn Tagen gesorgt hatte. Da hatten sie im Morgengrauen entdeckt, daß genau am gegenüberliegenden Flußufer der schwedische König mit einem kleinen Kontingent campierte. Das unerwünschte Zusammentreffen hatte eine bemerkenswerte Wendung genommen. Beim morgendlichen Ausritt begegneten sich die beiden Majestäten, jeder auf seinem Flußufer mit kleiner Begleitung. Bedacht darauf, keine Schwäche zu zeigen und seine Furchtlosigkeit zu demonstrieren, winkte August seinen Herold heran. »Rufen Sie hinüber: Lang lebe Karl XII.« Nachdem der Herold den Befehl ausgeführt hatte, hielt es Karl nicht für nötig, zu August herüberzublicken. Statt dessen beriet er sich eine Weile mit seinen Begleitern, bevor er einen Pagen losschickte, der zurückbrüllte: »Wir haben keine Lust, Ihnen das gleiche zu wünschen. Das Gegenteil wäre uns recht.« Starr vor Entsetzen über diese ungehobelte Antwort sahen die Begleiter ihren König in banger Erwartung an. Augusts Gesicht blieb ausdruckslos, dann zügelte er sein Pferd zum Stand. Unerwartet zog August eine bedauernde, mitleidsvolle Miene. »Die Gabe deutet auf den Gebenden … Was für ein Jammer um dieses Talent.« Begeistert brachen seine Hofleute in Applaus aus und ließen ihn, so laut sie konnten, hochleben. Pater Vota lobte ihn später. »Das war sehr 233
christlich gedacht, Königliche Majestät, und weise. Gott wird Ihnen beistehen.« Schon eine Woche später sah August, wie sich die Prophezeiung von Pater Vota erfüllte. Seinem Geheimkommando gelang es, die beiden Söhne des bei allen Polen hochverehrten Heerführers Jan Sobieski in einem Handstreich zu entführen, Konrad und Johann. Sie repräsentierten Karls einzige Kandidaten für den polnischen Thron, auf die sich die zerstrittenen Polen hätten einigen können. Johann Sobieski schmorte nun auf der Burg Stolpen, sein Bruder Konrad auf dem Königstein. Selbstverständlich gab es empörte Proteste der polnischen Fraktion, die gern mit Karl Frieden schließen wollte. Fürs erste aber waren sie gewissermaßen enthauptet, die Polen besaßen nun keine Alternative mehr zu August als König. Karls Pläne, ihn abzusetzen, waren vorerst gestoppt. Und Karl stieß noch auf weitere Schwierigkeiten, die er den brutalen Requirierungen und Plünderungen verdankte. Die Polen bildeten selbständige, unabhängige kleine Reitereinheiten, die unter Ausnutzung ihrer Ortskenntnisse Karls Truppen überfallartig angriffen und wieder verschwanden. Karl ließ Dörfer niederbrennen und die Einwohner abschlachten. Aber die Angriffe gingen weiter, er mußte seine Truppen zusammenziehen. Das Land war zu groß, weite Teile entzogen sich gänzlich seiner Kontrolle. August gewann mehr und mehr Bewegungsfreiheit. Diese kleinen Siege interpretierte August als Fingerzeige Gottes durchzuhalten. Karl zerstörte, er hatte sich immer darum bemüht aufzubauen. Gott mußte einfach auf seiner Seite sein. August sah auf Böttgers Schreiben hinunter und begriff ihn als Mahnung. Zweimal in der Woche wollte er sich Zeit für Gebete nehmen und auch den Goldmacher und dessen Schöpfung in seine Gebete einschließen. Gott würde das verstehen, schließlich brauchte er das Gold. Die Sonne war inzwischen unter die Zweige der Birke gesunken und tauchte den Brief in warmes Licht. Er hob den Brief wieder an. Böttger formulierte im folgenden einige Punkte zu einer Art Vertrag. Augusts milde Stimmung verflog sehr rasch, als er lesen mußte, wofür 234
das künstliche Gold nicht verwendet werden sollte: nicht zum Töten, nicht für Frauen, nicht für Prunk. Das war impertinent. Der Bursche wagte es, ihm, dem König, eine moralische Zwangsjacke anzulegen, was sich nicht einmal Pater Vota getraute. Augusts Kinnmuskulatur spielte. Dann lachte er plötzlich laut auf, was ihm verwunderte Blicke eintrug. Der Bursche war wirklich gerissen. Selbstverständlich würde sich August nicht vorschreiben lassen, wofür er sein Gold ausgab. Aber die Geschichte mit den Pensionskassen bewies, daß dieser Böttger seinen Verstand auch außerhalb des Labors zu gebrauchen wußte. Beschied er diese Forderungen abschlägig, hätte Böttger ein Dokument in Händen, das auf ihn, den König, ein schlechtes Licht warf. Ging er auf die Forderungen ein, konnte Böttger ihn darauf festnageln. »Dieser verdammte Hundsfott«, knurrte August leise halb ärgerlich, halb amüsiert. Fatima schreckte hoch. »Wie bitte, Königliche Majestät?« »Ach nichts«, erwiderte August. Im Grunde blieb ihm nur die Möglichkeit, mit keinem Wort auf diesen ›Vertrag‹ einzugehen. Damit die Arbeit weiter gut voranging, wollte er Fürstenberg anweisen, dem Alchemisten ein wenig mehr Freiraum zu geben. Die Mehreinnahmen rechtfertigten diese Maßnahme, und kleine Belohnungen motivierten. Allerdings sollte man nach wie vor streng darauf achten, daß Monsieur Schrader keine Möglichkeit zur Flucht erhielt. Nicht auszudenken, wenn der Mann verlorenginge, bevor alles getan war. Aber August schwor sich, dem Burschen bei passender Gelegenheit eine Lektion zu erteilen, als kleine Rache für die Zumutungen in Böttgers Brief. Er gab ein boshaftes, leises Lachen von sich, das Fatima erneut erschreckte. »Dieser Brief scheint Sie seltsam zu berühren, Majestät.« »Es ist nichts, Madame, beunruhigen Sie sich nicht. Es ist nur eine kleine, amüsante Geschichte, ein Streich, gewissermaßen.« »Der Brief?« »Genau, der Brief. Und ich gedenke, dem Schreiber bei passender Gelegenheit ebenfalls einen Streich zu spielen. Das ist alles.« »Wie amüsant.« 235
»Genau.« Es wäre fatal, Fatima zu beunruhigen, wo doch frühestens in zwei Wochen Gelegenheit war, sich eine neue Abwechslung zu suchen. Denn Ursula Lubomirska war zur Zeit unabkömmlich bei ihrem Onkel, dem Kardinalprimas, um ihn wegen der Entführung der SobieskiBrüder zu beruhigen. Vom Kopf des Zuges hallten langgezogene Befehle herüber. Es konnte weitergehen. August steckte die Briefe in die Tasche und erhob sich, reichte Fatima die Hand und geleitete sie zur Kutsche, während Diener eilig die Sessel fortschafften. »Was ist mit der übrigen Post, Majestät?« meldete sich Graf Pflug, bevor August in die Kutsche stieg. »Bearbeiten Sie die Briefe und geben Sie mir in Plodiszil einen Rapport, Graf, und …« Augusts Blick wanderte weiter zu Graf Haugwitz, der inzwischen die Position seines Reisemarschalls einnahm und darauf wartete, daß er die Kutsche bestieg. »Graf Haugwitz, bitte sorgen Sie dafür, daß heute abend noch ein Kurier nach Dresden geht.« Damit bestieg er endgültig die Kutsche, in der Fatima schon Platz genommen hatte. Bald darauf ruckte die Kutsche an. August winkte Fatima auf seine Seite herüber und lehnte sich genüßlich zurück. Es war an der Zeit, Fatima für ihre Treue zu belohnen. Ein paar goldene Ringe mit schönen Steinen konnte man sicher bei irgendeinem Juden in der Gegend auftreiben. Natürlich auf Kredit. Denn viel Geld kam nicht von Graf Haxlingen. Vielleicht sollte er mal wieder zur Michaelismesse nach Leipzig fahren. Allein die Ankündigung würde den Strom der Händler und Adligen verdoppeln – und damit den Umsatz. Es würde die wirtschaftlichen Kräfte Sachsens stärken. Andererseits war es ein schlechter Zeitpunkt, Polen zu verlassen. Man konnte es immer noch als Flucht auslegen. Nein, beschloß August dann doch, er würde nach Leipzig reisen. Er brauchte nichts mehr als Geld.
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Zwölftes Kapitel
A
nfang Oktober hatte sich Böttgers Laune beträchtlich gehoben. Er arbeitete mit großer Energie an weiteren Verfahrensverbesserungen zur Erzaufbereitung. Je mehr chemisches Neuland er beschritt, desto mehr faszinierte es ihn und ließ ihn den Mangel an Freiheit kaum spüren. Es gab wenig, was er wirklich vermißte, bis auf Charlotte. Sie tauchte immer wieder in seinen Gedanken auf. Mitte September traf die Antwort des Königs auf seinen ›Vertrag‹ ein, auf den er zwar mit keinem Wort einging, der aber im Ton weit huldvoller ausfiel, als er befürchtet hatte. Das befreite ihn vom größten unmittelbaren Druck. Der König versprach, Geduld zu haben, forderte ihn nur auf, sich weiterhin seinem Schutz anzuvertrauen. Darin solle er es allerdings so bequem wie eben möglich haben. Noch am Nachmittag desselben Tages erhielt er eine Einladung des Fürsten, sich bei ihm einzufinden. Um vier werde er eine Kutsche schicken. Als Böttger aus dem Torraum auf die Gasse trat, sah er, daß Fürst Fürstenberg seine eigene geschickt hatte. Das war eine ungeheure Ehre. Zudem zeigte es, daß die Tarnung des Goldhauses funktionierte und man die Geheimhaltung um seine Person lockern konnte. Er sah an sich herunter und suchte seinen Rock nach Flecken ab. Da war nichts. Er straffte sich, trat mit gemessenem Schritt auf die Gasse und erklomm mit erhobenem Haupt das Treppchen zur Kutsche, deren Vorhänge zurückgezogen waren. Kein Aufpasser erwartete ihn drinnen, es war ein ganz neues Gefühl. Lässig klopfte er gegen die Wand, und die Kutsche des Fürsten rollte an. Sie umrundeten den Schloßgarten und kamen zum Neuen Markt, den Böttger noch nie gesehen hatte. Er staunte über dessen Weite, die jeden der ihm bekannten Plätze um das Doppelte übertraf, bewun237
derte die vier-, teils sogar fünfstöckigen Häuser mit ihren reichgeschmückten Fassaden, die sich um den Platz drängten, in dessen Mitte nicht weniger als drei Brunnen plätscherten. Dresden war eine reiche Stadt. Böttger blieb vorgebeugt sitzen und streckte den Kopf aus dem Fenster, nickte freundlich jedem Menschen zu, der ihm auf der Fahrt begegnete, vom Gassenjungen über Mägde bis hin zu vornehmen Bürgern, die höflich die Köpfe vor dem vornehmen jungen Mann neigten, der in Fürstenbergs Kutsche saß. Was für ein Gefühl. Die begleitende Eskorte erhöhte noch seinen Status. Was tat es da, daß ihn keiner kannte. Sie durchfuhren das Tor der Wallanlagen, durch das sie direkt auf die Brücke über die Elbe gelangten, die sich durch die vielen Regenfälle der letzten Zeit ein wenig über ihr Bett hinausbegeben hatte und die Uferwiesen überschwemmte. Schon von weitem erkannte er das Palais des Fürsten, wo er vor unendlich langer Zeit am Fenster gestanden hatte. Gegenüber wimmelte es von Bauarbeitern und Gerüsten für das neue Palais. Die Neustadt wuchs. Geduldig wartete Böttger, bis man die kleine Trittleiter aus der fürstlichen Kutsche ausgeklappt hatte, bevor er sich erhob und würdevoll die Stufen hinabschritt. Die Eskorte verneigte sich ehrerbietig, Böttger grüßte huldvoll zurück. Es war ein Spiel, aber auch herrlich befreiend nach den Monaten im Goldhaus. Ein Aristokrat bei einem Nachmittagsbesuch beim Fürsten. Man geleitete ihn durch die Halle und führte ihn ins Audienzzimmer mit den Vogeltapeten, mit denen Böttger gern gezwitschert hätte, so euphorisch albern war ihm zumute. Doch Fürstenberg erwartete ihn mit einem Gast, und Böttger riß sich zusammen. Fürstenbergs Gast war hager, mit feinem Gesicht und nachdenklichen Augen. Tschirnhaus, schoß es Böttger durch den Kopf, noch bevor man sie einander vorstellte, und er verneigte sich tief und lange. »Exzellenz, wie schön, Sie nach so langer Zeit sehen zu dürfen, bei einem so heißersehnten Anlaß, vor allem …« Böttger setzte eine neuerliche Verbeugung an, »… wenn man die Ehre hat, wie ich annehmen möchte, den 238
weltberühmten Gelehrten Ehrenfried Walther von Tschirnhaus begrüßen zu dürfen.« Fürstenberg nickte Tschirnhaus heiter zu. »Sie sehen, Monsieur Tschirnhaus, ich habe nicht zuviel versprochen. Monsieur Böttger verfügt über eine rasche Auffassungsgabe.« Tschirnhaus blieb unbeeindruckt. »Das gehört sich für einen jungen Menschen. Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Monsieur Böttger. Sie haben ja allenthalben für sehr viel … Aufsehen gesorgt.« Seine leise Stimme hatte zum Schluß Zweifel anklingen lassen, die Böttger nicht gefielen. »Darf ich fragen, Monsieur Tschirnhaus, ob Sie an dem Grund für dieses Aufsehen zweifeln?« »Ich gestehe, daß es ist so, Monsieur. Ich habe genug von Ihnen gehört, um Ihre chemischen Kenntnisse zu bewundern, die so unabweisbare, gewinnbringende Ergebnisse für den Erzbergbau gebracht haben. Auch Ihre Kenntnisse in der Kunst, Arzneien herzustellen, wage ich nicht in Abrede zu stellen. Nur an Ihr ›Hauptwerk‹, wie man es wohl nennt, glaube ich nicht. Ich glaube einfach nicht, daß es möglich ist, Monsieur.« Tschirnhaus seufzte bedauernd und sah Böttger freundlich an. »Aber ich habe doch …«, wollte Böttger aufbrausen, aber Tschirnhaus ließ ihn innehalten, indem er leicht die Hand hob. Trotz seiner leisen Stimme und der kleinen Geste strahlte er eine unübersehbar Autorität aus. »Ich sagte: Ich glaube es nicht. Glaube aber ist nicht Wissen. Vielleicht ist es doch möglich.« Böttgers Augen blitzten. Das war der Spott des studierten Wissenschaftlers, der auf einen Apothekergesellen herabsah. Dennoch verneigte er sich höflich. »Die Möglichkeit, Monsieur, habe ich durchaus bewiesen und das Arkanum dazu besessen. Es ging nur – durch Unachtsamkeit, die nicht ich zu verantworten habe – verloren.« Eine Diskussion darüber wollte Fürstenberg jedoch keinesfalls zulassen und griff beruhigend ein. »Contenance, Monsieur Böttger … Messieurs, Ihr Disput wird in diesem Raum kaum zu einem Ergebnis führen. Sie beide werden genügend Zeit haben, in Ruhe über alles zu sprechen.« 239
Auch Tschirnhaus beschwichtigte Böttger. »Ich versichere Ihnen, daß ich Ihnen jede Unterstützung gewähren werde, deren ich fähig bin. Dies habe ich Seiner Exzellenz versprochen und verspreche es hiermit auch Ihnen.« Trotz dieser Worte fühlte sich Böttger immer noch verletzt. Der feste Glaube an die Möglichkeit der Transmutation war die Triebfeder seines Handelns. Böttger kam es vor, als ziehe Tschirnhaus ihm den Boden unter den Füßen weg, mache mit seinem ›Ich glaube es nicht‹ alle seine Hoffnungen zunichte. »Wie kann man forschen, Monsieur Tschirnhaus«, fragte Böttger ziemlich scharf, »ohne eine Zielvorstellung, an die man glaubt? Ergibt sich nicht das Wissen erst am Ende, wenn man alle Ergebnisse bewiesen hat? Der Glaube an das Ziel ist der Humus für neue Ideen und die Phantasie, ohne deren treibende Kraft es keinen Fortschritt in der Naturwissenschaft gibt.« Noch bevor Tschirnhaus darauf antworten konnte, beendete Fürstenberg den Dissens. »Messieurs, ich möchte Sie bitten, Ihre Diskussion bei anderer Gelegenheit fortzuführen. Morgen werde ich auf die Moritzburg reiten, und ich würde mich glücklich schätzen, wenn Sie am Wochenende und über die anschließenden Tage bei der Jagd meine Gäste wären. Das wird Ihnen Gelegenheit geben, sich erst einmal näher kennen- und schätzenzulernen, bevor Sie sich im Labor in die Arbeit vertiefen.« Die mit dieser Einladung verbundene Aufwertung seiner Stellung ließ Böttger seinen Streit mit Tschirnhaus fast vergessen, und er verbeugte sich überschwenglich. »Euer untertänigster Diener, ich danke für diese außerordentliche Gnade Seiner Exzellenz. Das Vergnügen der Jagd wird keinesfalls durch unseren kleinen Streit gestört werden, das verspreche ich.« Auch Tschirnhaus verbeugte sich, wenn auch weniger enthusiastisch: »Ein lang entbehrtes Vergnügen für mich, Exzellenz.« Fürstenberg sah es mit Genugtuung. Es würde ihm schon gelingen, seine beiden wichtigsten Naturwissenschaftler in der lockeren Atmosphäre auf der Moritzburg einander näherzubringen. »Wie gut sitzen Sie im Sattel, Monsieur Böttger? Halten Sie eine Parforcejagd durch?« 240
»Ich würde gern ein wenig trainieren, wenn es sich einrichten läßt, Exzellenz. Meine Reitkunst ist möglicherweise durch die Umstände …« Fürstenberg nickte. »Auf dem Ritt zur Moritzburg werden Sie ja bald merken, was Sie auf dem Pferderücken können. Wir reiten morgen früh um sechs.« »Was mich betrifft, Exzellenz«, warf Tschirnhaus ein, »mir wäre es angenehm, die Kutsche zu nehmen und als Zuschauer bei der Jagd im Lager zu warten. In meinem Alter wird man bequem.« »Wie Sie es wünschen, Monsieur Tschirnhaus«, schloß Fürstenberg. Obwohl Böttger schon wesentlich friedlicher gestimmt war, hatte er den Disput mit Tschirnhaus noch nicht vergessen. »Monsieur, erlauben Sie mir, Sie gleich nach unserer Rückkehr in das Goldhaus zu führen. Ich brenne darauf, Ihnen zu beweisen, daß mein Hauptwerk von Erfolg gekrönt sein muß.« »Nichts wäre mir lieber. Meine Schwäche ist die Neugier.« Böttger quittierte dies Eingeständnis mit einer Verbeugung. »Das ist mir höchst willkommen, Monsieur.« Da war immer noch eine gewisse Frostigkeit in Böttgers Stimme, der Fürstenberg durch Nonchalance entgegenzuwirken suchte. »Wunderbar, dann wäre das ja geklärt, Messieurs. Ich gestehe, daß ich an Ihrer theoretischen Diskussion wenig interessiert bin. Nur an praktisch verwertbaren Ergebnissen.« Die darin versteckte Forderung mochte Tschirnhaus so nicht stehenlassen: »Exzellenz, das Verwertbare läßt manchmal auf sich warten. In der Wissenschaft darf man nichts über das Knie brechen, Uneinigkeit muß ausgefochten werden, sollte befruchten. Möglicherweise liegt der Schlüssel zur Erkenntnis irgendwo zwischen den Anschauungen – womit nicht ein Kompromiß gemeint ist. Es zeigt sich vielleicht ein völlig anderer Lösungsweg. Wer nicht streitet, läuft Gefahr, in einer Sackgasse zu landen.« So höflich es vorgebracht war, verspürte Böttger doch den Tadel, den dieser Exkurs für seine eigene Erfolgsgewißheit enthielt, und war nahe daran, rot zu werden wie ein zurechtgewiesener Schüler. Im241
merhin konnte sich Tschirnhaus auf jahrzehntelange Grundlagenforschung stützen. »Es wäre äußerst töricht von mir, Monsieur Tschirnhaus, mich dem hohen Stand Ihres Wissens zu verschließen. Aber geben Sie mir die Chance, Ihnen zu zeigen, welche Forschungsergebnisse ich vorweisen kann.« »Sehr schön, Messieurs«, bemerkte Fürstenberg so locker, als ob der Konsens gefunden sei. »Dann wird es für Sie sicher kein Problem sein, mir recht bald, wenn wir von der Moritzburg zurückgekehrt sind, einen Plan über Ihre gemeinsame Vorgehensweise vorzulegen.« Böttger und Tschirnhaus schauten sich an. Fürstenberg nahm sie damit in die Pflicht zusammenzuarbeiten – ob sie es nun wollten oder nicht. Trotzdem fühlte sich Böttger immer noch in Konkurrenz zu Tschirnhaus. Er wollte dem Älteren beweisen, daß man ihm nicht ohne triftigen Grund die Leitung des Goldhauses anvertraut hatte. »Wir werden schon etwas zustande bringen … Vielleicht sogar mehr, als Monsieur Tschirnhaus bisher ahnt«, fügte er sibyllinisch hinzu. Das sollte den anderen zeigen, daß er auf seiner Vorgehensweise bestand. »Ahnen läßt sich viel, mich interessieren nur gesicherte Erkenntnisse, die sich auf wiederholbare Experimente stützen«, wandte Tschirnhaus milde ein. »Kein Problem.« »Haben Sie schon von meinen Versuchen mit Brennspiegeln gehört? Ich habe aus Frankreich Berechnungen mitgebracht, die es mir erlauben werden, ein Linsensystem von allerhöchster Präzision zu bauen. Mit ihm werde ich Ihnen unwiderlegliche Beweise über das Schmelzverhalten verschiedener Substanzen liefern.« »Ich habe eine Reihe von Säuren entwickelt«, versuchte Böttger ihn zu übertrumpfen, »die das Aufschließen der Erze in völlig neue Dimensionen vorangetrieben hat.« »Führen Sie mir Ihre Erkenntnisse vor, Monsieur, und ich werde Ihr folgsamer Schüler sein«, versetzte Tschirnhaus höflich. Fürstenberg schloß für einen Moment die Augen, um nicht aus der Haut zu fahren. Konkurrierende Naturwissenschaftler waren schon eine besondere Spezies, empfindlich wie Primadonnen. 242
Erleichtert schaute Fürstenberg den beiden hinterher, nachdem er sie entlassen hatte, und befahl seinen Gardeleutnant zu sich. »Wie weit sind die Vorbereitungen, Aschenbach?« Der untersetzte, quirlige Mittvierziger vermochte kaum stillzustehen, als er seine Meldung hervorhaspelte. »Unsere Gardisten streifen als Treiber und Bauern verkleidet durch die Gegend. Niemand kann uns entkommen.« Aschenbach strahlte Fürstenberg verschmitzt an. »Jeder, der möchte, kann hinein – aber keiner hinaus.« »Danke, Aschenbach.« Der Leutnant verneigte sich und entschwand. Aschenbach hatte Fürstenberg schon vor Wochen darüber informiert, daß Graf Haxlingen im Losewitzschen Haus die Entführung des Goldmachers plante. Der Graf hatte inzwischen um sich herum eine Adelsclique versammelt, die nichts sehnlicher wünschte, als dem König den Geldhahn zuzudrehen, um dessen ›polnische Abenteuer‹ zu beenden. In der Ständevertretung besaßen sie schon die Mehrheit, weswegen Fürstenberg den König davon abgehalten hatte, dies Gremium einzuberufen. Wenn der Großkanzler jetzt auch noch den Goldmacher einsackte, hatte der König keine Geldquellen mehr, über die er unabhängig vom Kanzler verfügen konnte. Der König wurde zum Spielball des Grafen und seiner Leute, und Fürstenbergs Position als Statthalter des Königs schrumpfte zu einem unerträglichen Nichts. Gegen diese trüben Zukunftsaussichten stemmte er sich mit einem gefährlichen Spiel. Aber der Einsatz lohnte.
*** Es war schon zehn Uhr abends, als Leutnant Rebmann sich bei Graf Haxlingen melden ließ, den man auf sein Drängen hin aus einer Spielrunde herausgeholt hatte. Ungnädig begrüßte der Graf den Gardeleutnant, doch bei dessen Rapport ergriff ihn zunehmende Erregung. »Irgendwie erscheint mir die Geschichte ein wenig ungereimt, wo man den Goldmacher doch sonst so stark bewacht hat. Was meinen Sie, Durchlaucht?« schränkte Leutnant Rebmann am Ende ein. 243
Graf Haxlingen starrte Rebmann aus schmalen Augenschlitzen an, während er überlegte. Da ergab sich die Gelegenheit, auf die er schon so lange gewartet hatte. Wenn er jetzt den Goldmacher in die Hände bekam, konnte sein Traum Realität werden. Einen Moment herrschte Schweigen. »Rücken Sie aus, Leutnant Rebmann, in kleinen, unauffälligen Trupps, nicht auf dem direkten Weg zur Moritzburg, sondern auf Umwegen. Alle Männer sollen zivile Kleidung tragen.« Angespannt überlegend trommelte Haxlingen mit den Fingern der Rechten auf seine Linke, die flach auf dem Bauch lag. »Noch besser, Jagdkleidung und weite Mäntel darüber. Damit fallen Sie und Ihre Männer im Wald um die Moritzburg nicht auf. Bei der Parforcejagd mischen Sie sich unter die Jäger und schnappen sich den Mann. Die Einzelheiten überlasse ich Ihnen. Erscheint Ihnen das machbar?« »Durchaus, Durchlaucht. Nur darf man nicht vergessen, daß dies für mich und meine Leute eine überaus gefährliche Mission ist – falls es doch schiefgehen sollte.« Bolzengerade und mit unbeweglicher Miene stand Leutnant Rebmann da. Nur zu gut erinnerte er sich noch an seine vergebliche Jagd auf Böttger im Auftrag des preußischen Königs. Einfach hatte der Auftrag ausgesehen – und zu seinem Abschied aus Berlin geführt. Wenn er dies Risiko schon einging, mußte für ihn etwas dabei herausspringen. Haxlingen erriet, worauf sein Gardeleutnant hinauswollte. »Wenn Ihnen der Coup gelingt, Leutnant, könnte ich mir vorstellen, daß ich Sie zum Hauptmann befördern lasse. Wie gefällt Ihnen das? Sie haben die Figur dazu …« Rebmann sog scharf die Luft ein. Als Hauptmann würde er zum mittleren Offizierscorps gehören, wo der Makel des Bürgerlichen keine Rolle mehr spielte. Nach einer angemessenen Zeit konnte er den Dienst beim Großkanzler quittieren und in jeder Armee der Welt eine Karriere antreten. Zufrieden sah Haxlingen in den Augen des Leutnants, daß er den Punkt getroffen und den Ehrgeiz geweckt hatte. »Behandeln Sie den Goldmacher vorsichtig, aber energisch. Der Kerl muß merken, daß wir 244
nichts dulden, vor allem nicht seine seltsamen Anfälle. Sorgen Sie dafür, daß er friedlich bleibt. Haben Sie verstanden?« Rebmann nickte. »Sehr wohl, Durchlaucht. Was ist mit Monsieur Tschirnhaus? Wir wissen schließlich nicht genau, wie wichtig der Mann für die Sache ist.« »Gehen Sie mir mit Tschirnhaus! Der Mann will eine Akademie, der kostet nur und bringt nichts ein.« »Und was, glauben Sie, Durchlaucht, hat seine Exzellenz dazu bewogen, den strengen Verschluß, unter dem Böttger stand, zu lockern?« wandte Rebmann vorsichtig ein. »Der Stern des Fürsten sinkt. Der Statthalter braucht einen Anlaß, sich wieder einmal zu präsentieren. Eine Unbedachtheit vielleicht … für seine Schwäche.« Haxlingen grinste verschmitzt. »Man sagt, daß dieser Böttger gut aussieht. Vielleicht will seine Exzellenz dem Burschen bei der Jagd imponieren? Wäre das nicht ein guter Grund?« Doch Rebmann schien noch nicht wirklich überzeugt, und Graf Haxlingen überlegte, daß es eher unwahrscheinlich war, daß der Statthalter derart leichtsinnig seinen Neigungen nachgab. Es mußte ein viel größerer Impetus dahinterstecken. Plötzlich blitzte ein phantastischer Gedanke in ihm auf, der ihn in Erregung versetzte. »Sie haben es, Leutnant, das ist es. Sie haben das Gold gemacht!« Haxlingens Augen glitzerten gierig, während ihn gleichzeitig die Sorge überfiel, der Schatz könnte ihm entgehen. »Sehen Sie es nicht vor sich, Leutnant? Sie haben einen Haufen Gold gemacht und verfügen jetzt über das Rezept! Das ist der Grund für die festliche Ausgelassenheit, das macht sie sorglos. Wir müssen den Goldmacher schnellstens dem Einfluß des Statthalters entziehen … Sie wissen doch, wie sehr der König meine Künste braucht. Man sieht ja, Fürstenberg beginnt schon das Gold für sich zu verprassen. Das darf nicht passieren. Es wäre ein Unglück für das Land. Sachsen muß von diesem eitlen, katholischen Schwaben befreit werden.« Er schaute Rebmann durchdringend an, der endlich überzeugt schien und eifrig nickte. »Wie recht Sie haben, Durchlaucht. Wohin sollen wir Böttger bringen?« 245
»Wir treffen uns auf meinem Gut Herderich in der Lausitz. Machen Sie einen Umweg über Meißen und dann durch die Berge. Ich werde schon erfahren, ob es geklappt hat.« Rebmann verneigte sich ehrerbietig. »Sehr wohl, Durchlaucht.« Zackig verabschiedete er sich und lief den Flur entlang zur Galerie über der Eingangshalle. Dort prangte das Bild Haxlingens im Hermelinmantel, lebensgroß. Zusammen mit diesem Mann konnte er weit aufsteigen. Außerdem gab die Entführung Rebmann die Gelegenheit, sich für die Schmach zu rächen, als Fürstenberg ihn in Wittenberg ausgetrickst hatte. Diesmal würde er es sein, der triumphierte. Es war ein Vergnügen, sich vorzustellen, wie dieser arrogante Knabenliebhaber seinem König den Verlust des unschätzbaren Goldmachers gestehen mußte.
*** Im Morgengrauen des nächsten Tages erschienen Bedienstete des Fürsten vor dem Goldhaus, und Böttger bestieg das erste Mal seit über einem Jahr ein Pferd. Es war ein phantastisches Gefühl, eine Ahnung von Freiheit, trotz der acht Mann Eskorte. Außerdem stand ihm der Sinn nicht wirklich nach Flucht. Nirgends konnte es ihm besser gehen, wie Ohain sagen würde, und er war neugierig auf die Moritzburg und die Parforcejagd, die nur von der höfischen Gesellschaft ausgeübt wurde. Er würde sein ganzes reiterisches Können brauchen, um beim Hetzen des Hirsches eine gute Figur zu machen. Sie ritten über die Elbe und erreichten das Palais des Fürsten, und der Statthalter mit seiner Eskorte vergrößerte den Trupp Reiter auf ansehnliche dreißig Mann. Fürstenberg warf ihm während der formellen Begrüßung einen kurzen, warnenden Blick zu. Böttger hob die Hand zur Beruhigung. Er würde nichts tun, was sein Inkognito gefährdete. Zu Böttgers Erstaunen wandte sich der Trupp aber noch nicht nach Westen zur Moritzburg, sondern zu einem ihm unbekannten, ba246
rocken Palais in der Neustadt, vor dem Lakaien ein mit rotgoldenen Schärpen geschmücktes Pferd mit Damensattel bereithielten. Fürstenberg saß ab. Im selben Moment öffnete sich die Tür, und es erschien eine vergnügte rundliche Dame, in der Böttger die Begleiterin von Charlotte unter dem Fenster vor einem Jahr wiedererkannte, die Gräfin Krahl, wie er inzwischen wußte. Ihr Blick blieb einen Moment an ihm hängen; er war sich aber nicht sicher, ob sie ihn erkannt hatte. Behende kam die Gräfin die Stufen herunter, begrüßte den Fürsten mit einem unbeschwerten Knicks und ließ sich auf ihr Pferd heben. Der Tambour schlug einen Wirbel, man wendete und schlug die Straße zur Moritzburg ein. Böttger hatte man bedeutet, sich auf einem Platz inmitten der Eskorte weiter hinten einzureihen. Es störte ihn nicht, er genoß es einfach, außerhalb irgendwelcher Mauern zu sein. Es war unendlich lange her, daß er normales Leben auf der Straße hatte verfolgen können. Hochbeladene Karren mit Brennholz kamen in die Stadt, andere mit Bauern und kleinen Haufen Gemüse, Arbeiter eilten zu ihren Baustellen, Mägde knicksten ehrfurchtsvoll, Kinder winkten ihnen scheu zu, quiekende Schweine flohen. Sie passierten die letzten Häuser der Stadt, vor ihnen fing der Hügelrücken die ersten Sonnenstrahlen auf, und zwischen einzelnen herbstbunten Bauminseln leuchteten die Stoppelfelder in hellem Gelb. Erst als sie den langgezogenen Hügelrücken hinaufritten, ließ Fürstenberg Böttger durch einen Wink aufschließen und stellte ihn der Gräfin vor. »Madame, ich möchte Ihnen einen jungen Chemikus im Dienste der Metallurgie vorstellen. Monsieur Schrader.« Die Augen der Gräfin musterten Böttger, huschten zurück zu Fürstenberg, um dann wieder auf dem Alchemisten zu verweilen. Ein mokantes Lächeln spielte um ihren Mund. Sie hatte ihn wiedererkannt. Böttger fiel siedend heiß ein, daß sie sich vor allem an die verfluchte davonsegelnde Manschette erinnern würde. Peinlich berührt verrutschte sein höfliches Lächeln, und er schlug die Augen nieder. »Exzellenz, es freut mich, daß Sie bei dem jungen Burschen Gnade haben walten lassen«, säuselte die Gräfin. 247
»Wie meinen Sie das, Madame?« Fürstenberg hatte den Zwischenfall ebenso wie seine damalige Ausrede längst vergessen. »Ach nichts, Exzellenz. Jedenfalls scheinen Sie recht … vielseitige Pagen zu haben«, neckte sie ihn daraufhin, was Fürstenberg vollends verwirrte. Es war undenkbar, daß die Gräfin in aller Offenheit über seine Knabenliebe sprach. Als er dann in Böttgers leicht verunsichertes Gesicht sah, fiel ihm die Geschichte wieder ein, und er zupfte sich an der Manschette. »Ich wußte damals nicht, daß Monsieur Schrader zu Besuch weilte. Man hatte versäumt, es mir zu berichten. Ihre Ankunft, Gräfin, war weitaus wichtiger«, schaffte Fürstenberg die Unstimmigkeit mit einem kleinen charmanten Lachen aus der Welt. Mit einem Blinzeln zeigte die Gräfin Böttger jedoch, daß sie dem Fürsten die Ausrede nicht abnahm. »Sie sind ein bekannter Mann in Dresden, Monsieur Schrader. Man erzählt sich, Sie verstünden sich auch auf Arzneien, möglicherweise sogar auf Aphrodisiaka. Was ist an diesen Gerüchten?« »Nur, daß mir das eine oder andere Rezept bei meinen alchemistischen Studien untergekommen ist, Gräfin, mehr nicht.« Bei dem Wort alchemistisch fuhr Fürstenbergs Kopf herum, und ein warnender Blick traf Böttger, der unbekümmert fortfuhr. »Neugier ist das Vorrecht der Jugend und für einen Naturwissenschaftler Pflicht«, zitierte er schamlos Tschirnhaus. »Man saugt eben alles Wissenswerte auf wie ein Schwamm, bestimmt auch manches gänzlich unnütze Zeug.« »Sie beschäftigen sich also mit der Alchemie?« hakte die Gräfin nach. »Haben Sie zufällig von diesem Berliner …« Abrupt unterbrach Fürstenberg die Gräfin. »Madame, Monsieur Schrader ist Metallurge. Aber welcher Naturwissenschaftler von Rang ist nicht gleichzeitig Adept? Auch dieser Engländer, Mister Newton, versucht sich in der Alchemie. Es ist doch ganz selbstverständlich.« Und ernst fügte Böttger hinzu: »Madame, als Alchemist bin ich verpflichtet, über gewisse Dinge Stillschweigen zu bewahren. Das gehört zum überlieferten Ethos, das auf die alten Griechen zurückgeht.« Enttäuscht blickte die Gräfin auf Böttger. Wahrscheinlich fiel so ziem248
lich alles unter die Schweigepflicht, was diesen Alchemisten anbetraf. Reizvoll. Deutlich erinnerte sie sich an den heißen Blick, den der geheimnisvolle Bursche Frau von Schönberg zugeworfen hatte, und fragte sich, woher die beiden sich kannten. »Ist Monsieur von Schönberg nebst seiner Gattin auch geladen?« fragte sie Fürstenberg scheinheilig. »Der Finanzminister kontrolliert zur Zeit die Einnahmen in der Grafschaft Monheim. Zudem ist er kein Freund der Jagd«, gab Fürstenberg leichthin zurück, der sehr wohl wußte, daß die Frage der Gemahlin des Finanzministers gegolten hatte. »Wie wär's, wenn wir das schöne Wetter ausnutzten und einen kleinen Umweg zum Elbhang nähmen? Von dort muß das Herbstlaub besonders prächtig anzusehen sein.« »Eine zauberhafte Idee, Exzellenz. Es ist schon lange her, daß ich den Ausblick von dort genossen habe«, pflichtete ihm die Gräfin bei. Fürstenberg rief nach vorne: »Über den Elbhangweg, Aschenbach.« Dann wandte er sich zu Böttger. »Ich danke für Ihre Gesellschaft, Monsieur Schrader.« Mit einer angedeuteten Verbeugung ließ sich Böttger ohne Bedauern zurückfallen. Er konnte sich wieder darauf konzentrieren, den Ritt zu genießen. An der nächsten Weggabelung bog die Kolonne der Reiter nach links ab. Böttger beobachtete, wie die Sonne ihre überlangen Schatten über die von Tautropfen glitzernden Gräser und Büsche gleiten ließ. Das Blau des Himmels vertiefte sich und versprach die milde Wärme eines goldenen Oktobertages.
*** Oberhalb ihres Guts in Radebeul stieg Charlotte den steilen Pfad des Weinbergs hoch, am Zügel neben sich führte sie Saturn, einen temperamentvollen Hengst. Zwischen den Rebstockreihen links und rechts des Pfades wippten Kopftücher und Hüte geschäftig auf und nieder, und heitere Worte flogen zwischen Knechten und Mägden hin und her. Die Weinernte war in vollem Gange. 249
Wer zufällig zu Charlotte hinübersah, erblickte einen Jäger mit verwegenem Hut, denn sie trug ihre alte, derbe Jagdkleidung, um unerkannt zu bleiben. Der Abgeschiedenheit Radebeuls und der Weitläufigkeit des Guts hatte sie es zu verdanken, daß ihr Gemahl nicht kontrollieren konnte, ob sie immer einen Gardisten als Aufpasser mitschleppte. Charlottes Ziel waren die Wälder um die Moritzburg, kaum zwei Meilen entfernt. Der Klang der Jagdhörner, auf denen man dort für die bevorstehenden Jagden übte, schallte bis ins Tal nach Radebeul herunter. Sie erinnerten Charlotte an die halsbrecherischen Jagden mit ihrem Vater und lösten ein Kribbeln in ihr aus, das sie unwiderstehlich in die Wälder zog. Ihr Gewehr hatte sie im Waffenschrank gelassen, weil sie sonst Gefahr lief, als Wilderer verhaftet zu werden. Denn alle Wälder um die Moritzburg herum gehörten dem König. Kurz bevor sie die Kuppe des Weinbergs erreichte, wurde der Pfad flacher, und sie schwang sich auf Saturn, der ungeduldig tänzelte. Charlotte blickte hinunter auf das Gut oberhalb des Dorfes, ein hübsches Ensemble aus drei Gebäuden, weiträumig eingefriedet durch eine Mauer und mit vielen alten Obstbäumen darin. Ein idyllischer Platz, wäre es nicht ihr Zwangsaufenthalt. Über sich auf dem Elbhangweg hörte sie das Getrappel eines größeren Trupps von Reitern. Neugierig trieb sie Saturn die letzten Meter nach oben. Die Reiter kamen aus Richtung Dresden. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, als sie in der Mitte auf einem schwarzen Wallach unverkennbar Fürstenberg in seinem gelben Rock erkannte und neben ihm, in rubinrotem, langem Mantel, die Gräfin Krahl. Sie wollte schon auf sie zusprengen, als ihr Herz einen Schlag auszusetzen schien. Etwas weiter hinten entdeckte sie Böttger. Sie kniff die Augen zusammen und öffnete sie wieder, um sicherzugehen, daß nicht ein Trugbild sie narrte. Unschlüssig neigte sie den Kopf, um sich dem führenden Gardeleutnant nicht zu verraten. Sie hielt ihn auch ehrerbietig gesenkt, als Fürstenberg und die Gräfin vorbeiritten. Erst als Charlotte die Hufe von Böttgers Pferd aus den Augenwinkeln herannahen sah, hob sie wie250
der den Kopf. Ihre Blicke trafen sich, Böttger erkannte Charlotte augenblicklich. Er zügelte sein Pferd zum Stand, und sie suchten jeder in des anderen Augen Bestätigung für die eigene Sehnsucht. Dann faßte sich Böttger, nahm schwungvoll den Dreispitz vom Kopf und verneigte sich schwungvoll. »Madame. Welch unverhoffte Freude, Sie zu sehen. Mein Name ist … Schrader, wenn Sie gestatten.« Und dabei zwinkerte er ihr zu. »Charlotte von Schönberg, Monsieur«, stellte Charlotte sich ironisch förmlich vor und zwinkerte zurück, zum Zeichen, daß sie verstanden hatte. Fürstenberg hatte die Veränderung bemerkt und drehte sich um. »Wer ist der Herr, Monsieur Schrader?« rief er ungehalten zurück. Böttger richtete sich auf. »Eine … ein guter alter Bekannter, Exzellenz. Gestatten Sie, daß der Herr ein Stück mit uns reitet?« »Nein, tut mir leid. Das kann ich nicht gestatten. Wer ist der Herr überhaupt? Kommen Sie bitte zu mir!« befahl er mißtrauisch, wobei er überlegte, ob dies schon eine erste Annäherung von Haxlingens Männern sein könnte. Gehorsam trabte Böttger nach vorne, während Charlotte erst noch zögerte, dann aber beschloß, ihre Identität preiszugeben. Sie nahm den Hut ab, schüttelte ihre langen, schwarzen Haare und trieb Saturn mit wenigen Galoppsprüngen zum Fürsten. »Mit Verlaub, Exzellenz, die Gräfin Krahl hatte schon einmal die Güte, mich Ihnen vorzustellen.« Sie verneigte sich leicht im Sattel. »Oh«, entfuhr es Fürstenberg, während die Gräfin Krahl in Lachen ausbrach. »Madame von Schönberg. Sie haben uns ganz schön an der Nase herumgeführt.« »Verzeihen Sie meine Aufmachung, Exzellenz, sie gehört zu meiner Jagdleidenschaft, eine, wie ich hoffe, läßliche Sünde. Gestatten Sie, daß ich für einige Zeit Ihrem Monsieur Schrader Gesellschaft leiste? Er hat meinem Gemahl durch seine Arznei das Leben gerettet, und ich hatte noch keine Gelegenheit, ihm meinen Dank abzustatten.« Fürstenberg sah zu Böttger, wollte das Ansinnen eigentlich kurz und bündig abwehren, als er in dessen Augen plötzlich ein hartes Feuer 251
auflodern sah und um den Mund einen entschlossenen Zug, den er so noch nie wahrgenommen hatte. Wenn er nicht nachgab, riskierte er, bei Böttger einen Anfall auszulösen. Oder schlimmer noch, daß er aus Wut einen Fluchtversuch unternahm. Sein Blick glitt zurück zu Frau Schönberg, und ihm kam eine glänzende Idee. »Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment … Leutnant Aschenbach zu mir«, rief er zur Spitze des Zuges und ritt ein paar Schritte beiseite, um mit seinem Leutnant allein zu sprechen. Als der heran war, fragte er so leise, daß keiner sonst sie hören konnte: »Wie weit sind die Vorbereitungen? Sind alle auf ihrem Posten?« »Seit heute morgen, Exzellenz«, gab Aschenbach ebenso leise zurück. »Sicher?« fragte Fürstenberg noch einmal nach. »Ganz sicher. Sie dürfen Ihren Männern vertrauen. Die Unsrigen betrachten es als eine Art Wettkampf, den sie natürlich gewinnen wollen.« Fürstenberg nickte zufrieden. »Gut. Nehmen Sie wieder Ihren Platz ein. Wundern Sie sich über nichts, was gleich geschieht.« Damit ritt Fürstenberg zurück zu seinen Gästen. Noch bevor er ganz bei ihnen war, rief die Gräfin ungeduldig: »Sie sollten den Wunsch Madame von Schönbergs respektieren, Exzellenz. Das Leben des Finanzministers Seiner allergnädigsten Majestät ist sicher ein Dankeswort wert. Reiten wir doch voraus, um Madame von Schönberg die Peinlichkeit zu ersparen, ihr Herz vor uns Unbeteiligten auszuschütten.« Fürstenberg tat, als denke er nach, und beschied dann ernst: »Gern. Aber ich würde mich freuen, Madame von Schönberg, wenn Sie mir vorher ein wenig Gesellschaft leisteten. Es ist soviel Zeit vergangen seit Ihrem letzten Besuch.« Charlotte schaute entschuldigend zu Böttger, der sich mit galanter Geste verneigte, um als perfekter Kavalier zu erscheinen, obwohl er seine Ungeduld kaum zu zügeln vermochte. »Selbstverständlich, Eure Exzellenz, gebührt Ihnen der Vortritt.« Als man sich wieder in Bewegung setzte und er den dreien folgte, konnte Böttger keinen klaren Gedanken fassen. Er bewunderte Charlottes Rücken, das schwarze, schwingende Haar, das nach zärtlicher 252
Berührung zu verlangen schien. In seinem Kopf jagten sich Bilder von Charlotte, gesehene und erträumte. Sie überlagerten und vermischten sich zu einer unentwirrbaren Abfolge. Er vertrieb die Bilder, und sein Blick saugte sich an ihrem Körper fest, glitt hinauf und hinunter, um sich nur ja kein Detail entgehen zu lassen. Begehren wuchs in ihm. Um die innere Anspannung zu lösen, zwang er sich, den Blick von ihr zu nehmen und den Trupp durchzuzählen. Ganz vorne ritt Gardeleutnant Aschenbach, dahinter zwei Tamboure und zwei Trompeter, dann die beiden Sergeanten und weitere acht Gardisten. Ihnen folgten Fürstenberg, Charlotte und die Gräfin Krahl, denen der ausgefahrene Fuhrweg gerade genug Platz bot, um nebeneinander reiten zu können. Danach kamen weitere vier Gardisten des Fürsten, danach zwei Zofen und zwei Gardisten der Gräfin Krahl. Dann noch einmal vier Gardisten von Böttgers Leibwache, seine Aufpasser, hinter ihm noch einmal vier von ihnen, und den Abschluß bildeten weitere vier Gardisten des Fürsten. Alles in allem neununddreißig Reiter, stellte er fest. Das Durchzählen beruhigte. Charlotte ritt immer noch neben dem Fürsten. Was zum Teufel gab es da so lange zu erzählen? Der Weg führte noch eine halbe Meile direkt am Elbhang entlang, dann bog er rechts ab, schlängelte sich einige hundert Meter durch abgeerntete Felder, bevor er in den herbstbunten Wald eintauchte. Bisher waren Charlotte und er sich immer im Sonnenlicht begegnet. Sonne gleich Gold. Die Sonne war sein Zeichen. Es würde Unglück bringen, wenn sie erst im Schatten der Bäume zusammenkamen. In dem Moment scherte die Gräfin Krahl ein wenig aus und ließ sich zurückfallen und wartete auf Böttger, der im Schrittempo mit der Kolonne trieb. Er beschleunigte sein Pferd nicht, wappnete sich vielmehr gegen die Gräfin. Bei ihr mußte er auf der Hut sein. Mit offensichtlich gespieltem Ärger reihte sie sich neben ihm ein. »Monsieur Schrader, mit Ihnen muß es ja wirklich etwas Besonderes auf sich haben. Selten habe ich seine Exzellenz so zugeknöpft erlebt. Man hat mich fortgeschickt. Was weiß Madame von Schönberg über Sie, das ich nicht wissen darf?« 253
Mit unschuldsvoller Miene zuckte Böttger die Achseln. »Es wird nicht mich betreffen. Woran ich arbeite, weiß ganz Dresden. Alles andere sehen Sie.« Frech setzte er hinzu: »Ich hoffe, es mißfällt Ihnen nicht.« Die Gräfin schaute ihn kopfschüttelnd an. »Wie ich sehe, weichen auch Sie mir aus. Na gut, dann nicht«, stellte sie nüchtern fest und musterte Böttger eine Weile, während sie gemächlich in der Kolonne mitritten. »Ach übrigens … nein. Ihr Anblick mißfällt mir nicht, Monsieur Schrader. Vielleicht bin ich auch immer noch ein wenig eifersüchtig auf diesen entzückenden Blickwechsel vor dem Palais des Fürsten. Können Sie mir den erklären?« Der Pfeil saß, und Böttger hatte Mühe, sich das nicht anmerken zu lassen. »Wäre es nicht für jeden Mann, nicht nur meines Alters, ausgesprochen unhöflich, über den Liebreiz Madame von Schönbergs hinwegzusehen, Gräfin? Fanden Sie meinen Blick zu aufdringlich?« »Sie geben es also zu«, stellte die Gräfin befriedigt fest. »Was bitte?« tat Böttger erstaunt. »Daß ich Madame von Schönberg reizend finde? Selbstverständlich. Aber Sie sollten keine voreiligen Schlüsse daraus ziehen, sondern es mir lieber nachsehen.« »Wie brav …« Die Gräfin hob die Augen unernst zum Himmel. »Ihnen fehlt etwas Entscheidendes.« »Was denn?« »Die Gabe und der Wille zur Verstellung.« »Verzeihen Sie, Gräfin, ich kann darin keinen Makel erkennen.« »Ich glaube Ihnen kein Wort.« Böttger antwortete nur mit einer Verzeihung heischenden hilflosen Geste. Sollte sie doch denken, was sie wollte. Wenn sie unbedingt wissen wollte, ob er in Charlotte verliebt sei, was war schon dabei? Fürstenberg hatte er es damals sofort gestanden. Aber irgend etwas hinderte ihn daran, es dieser Frau zu gestehen. Irgend etwas steckte hinter ihrer scheinbaren Unbeschwertheit, das ihn warnte, offen zu sein. In diesem Augenblick winkte ihnen Fürstenberg zu, aufzuschließen, und erlöste Böttger aus der Situation. In fast beiläufigem Tonfall erklärte der Fürst, als sie heran waren: »Monsieur Schrader, ich überlas254
se Sie jetzt Madame von Schönberg. Da Madame mir versichert hat, daß sie eine exzellente Reiterin ist, schlage ich vor, daß Sie mit ihr für die Parforcejagd trainieren, nachdem Madame Ihnen ihren Dank abgestattet hat. Ich erwarte Sie um zwölf auf der Moritzburg.« Am liebsten hätte Böttger ›nachts?‹ gefragt. Charlottes Augen funkelten vergnügt. Böttgers Puls beschleunigte sich augenblicklich. Fürstenberg sprach inzwischen zur Gräfin. »Sollen sich doch die beiden jungen Leute ein wenig austoben. Für uns, denke ich, steht schon ein Imbiß auf den Terrassen bereit.« Mit einem Zeichen zu Böttgers Gardisten – »Sie reiten mit uns zur Moritzburg« – wandte er sich nach vorn. Die Kolonne setzte sich in Bewegung, während Böttger konsterniert Fürstenberg und dem abziehenden Trupp hinterherstarrte. Die letzten Gardisten passierten, dann waren sie allein. Kopfschüttelnd sah er zu Charlotte hinüber. »Was haben Sie mit dem Fürsten angestellt, Madame?« »Seine Exzellenz hat mich vereidigt, Monsieur … Böttger.« Sie lächelte ihn spitzbübisch an. »Es fiel ihm allerdings nicht leicht.« Wie Schuppen fiel es Böttger von den Augen. Außer dem König, Fürstenberg, Ohain und Tschirnhaus war Charlotte der einzige Mensch in Sachsen, der seine wahre Identität kannte. »Aber wieso gestattet Fürstenberg, daß wir ohne Wachen sind?« Selbstbewußt hob Charlotte den Kopf. »Ich habe seiner Exzellenz mein Wort gegeben.« Als sie Böttgers immer noch verwunderte Miene sah, fügte sie gekränkt hinzu: »Seine Exzellenz hat Frauen gegenüber offenbar weit weniger Vorurteile als Sie.« »Verzeihung, Madame. So meinte ich das nicht. Sonst spricht er immer nur von dem Schutz, den er mir angedeihen lassen müsse«, versuchte Böttger Fürstenberg nachzuahmen, und dann sprudelte es aus ihm heraus. »Verstehen Sie das? Es ist das erste Mal seit einem Jahr, daß ich ohne Bewacher bin.« »Außer mir.« Charlotte hatte so plötzlich die Tonlage gewechselt, daß Böttger einen Moment brauchte, um zu begreifen, was nun gespielt wurde. Gespielt abschätzig ging er darauf ein. »Ha, dann beweisen Sie es doch.« 255
Und er gab seiner Stute mit Wucht die Sporen und jagte den Weg entlang auf den Wald zu, entdeckte einen Pfad, der nach rechts abbog, und lenkte die Stute hinein. Schon nach kaum fünfzig Metern hatte Charlotte ihn eingeholt und ritt locker über das Feld neben ihm her. »Monsieur, Ihr Schenkeldruck läßt zu wünschen übrig, das Kreuz mehr durchdrücken.« Böttger zog eine grimmige Grimasse und tat, als kümmere er sich nicht darum. Vor ihm schien der Laubwald wie eine Wand anzuwachsen. Hinter den ersten, sonnenbeschienen Bäumen war alles schwarz. Er zügelte die Stute, Charlotte bog vor ihm auf den Pfad und zog davon. Sie drückte ihr Pferd hart an Bäumen und Büschen vorbei, duckte sich unter den Zweigen hindurch und sah zurück. Böttger folgte ihr verbissen. Äste peitschten ihm ins Gesicht, weil er weniger geschickt auswich. Der Wald wurde lichter, der Pfad war unter den hohen Buchen kaum noch zu erkennen, doch ums Lenken der Stute brauchte Böttger sich nicht zu kümmern, sie folgte einfach Charlottes Hengst. Böttger reichte es, sich bei den kleinen Sprüngen über das herumliegende Gehölz im Sattel zu halten. Ein dicker Baumstamm tauchte vor ihnen auf, elegant setzte Charlotte mit ihrem Hengst darüber hinweg und schaute sich nach ihm um. Böttger konzentrierte sich auf die Hilfen fürs Pferd, verkürzte die Galoppsprünge und erwischte den Absprung perfekt. Im Hochgefühl des Fluges über das Hindernis vergaß er den Schenkeldruck und verlor beim Aufsprung den rechten Steigbügel und seinen Halt, warf sich nach vorne und krallte sich in der Mähne der Stute fest. Charlotte zügelte ihr Pferd zum Stand. Böttgers Stute fiel in Trab, dann in den Schritt, während sein Fuß suchend in der Luft herumstocherte, bis er den herumschlenkernden Steigbügel erwischte und sich wieder aufrichten konnte. »Alles in Ordnung?« fragte Charlotte mit belustigtem Unterton. Böttger knurrte bloß: »Sie haben den besseren Gaul.« »Sagen Sie niemals Gaul zu Saturn.« »Verzeihung, Saturn.« Er beugte sich zu Charlotte hinüber und tätschelte den Hals des Hengstes. Charlotte war besänftigt. »Sie sind nicht viel geritten, nicht wahr?« 256
»Nein, nicht wirklich. Eher selten. In Berlin hatte ich kaum Gelegenheit. Nur draußen auf dem Gut vom Baron Kunckel von Löwenstein.« »Ein Freund von Ihnen?« Er nickte. »Ein berühmter Alchemist, der Erfinder des Rubinglases.« Das sagte Charlotte zwar nichts, aber sie sah Böttger an, daß dieser Mann ihm wichtig war. »Ich verstehe.« Eine Pause entstand. Böttger sah sich verlegen um. Außer einigen weit entfernten Treibern war niemand zu sehen. Er fühlte sich lächerlich in seiner Befangenheit. Betont locker wandte er sich zurück. »Und nun, Madame.« »Ach, keine Reitstunde mehr?« fragte Charlotte unnötigerweise, um Zeit zu gewinnen. Böttger nahm seinen Mut zusammen. »Es wäre schade, Madame, wenn wir nichts Besseres anzufangen wüßten. Sie kennen sich doch hier aus. Wo soll es jetzt hingehen?« Er sah Charlotte fest in die Augen. Wieder entstand eine Pause. Böttger legte seinen ganzen Charme in einen fragenden Blick und hob die Brauen. Um Charlottes Mund begann es zu zucken. »Na gut. Ich wüßte einen Platz.« Frech blitzten ihre Augen ihn an, und Böttger spürte, daß er errötete. Sie wußte, wonach er sich sehnte. Er war aus der Übung. In Berlin war das doch immer ganz leicht gewesen. »Dann, Madame, würde ich vorschlagen, Sie reiten vor, ich folge …« Da Böttger den Satz ziemlich lahm fand, ergänzte er noch. »Wenn es sein muß, bis ans Ende der Welt«, und verneigte sich mit weitausholender Armbewegung. »Ganz so weit haben wir es nicht, Monsieur«, gab Charlotte trocken zurück, wendete ihren Hengst und rief: »Also los.« Sie ritt in gemäßigtem Galopp voraus, dem Böttger mühelos folgen konnte. Sie passierten eine Gruppe Treiber, dann ritten vorn quer zu ihnen einige Jäger vorbei, die Vorbereitungen für die Jagd schienen in vollem Gange zu sein. Der leicht hügelige, lichte Wald begann sich allmählich sanft nach unten zu senken, das Unterholz wurde dichter und zwang sie zu kleinen Haken. Vor ihnen tauchte ein dichter Birkenwald 257
aus dünnen Stämmen auf, an dem ein Weg entlangführte. Charlotte wandte sich nach links. Rechts zwischen den Birken blitzte ab und zu ein See auf. Charlotte fiel mit ihrem Hengst in den Trab und hielt nach irgendwelchen Zeichen Ausschau. Schließlich ritt sie in den Birkenhain hinein, ohne daß Böttger einen Pfad erkennen konnte. Unter den Hufen der Pferde begann Wasser zu platschen. Die Birken wichen hohem, hellgelbem Schilf, das im Sonnenlicht hart mit dem tiefblauen Himmel kontrastierte. Der See wurde tiefer, erreichte die Oberschenkel der Stute, und Böttger zog die Beine an. Vor ihm öffnete sich der Blick auf den fast kreisrunden See, gut eine Meile im Durchmesser und vollständig von Wald und Schilf umgeben. Charlotte drehte sich zu Böttger um. »Vorsichtig jetzt. Der Untergrund ist rutschig.« Böttger zuckte nur mit den Achseln. So schön der Ritt auch war, sein einziger Wunsch bestand darin, Charlotte in die Arme zu nehmen, anstatt am Schilfgürtel entlangzureiten. Einige Meter weiter wich das Schilf zurück, erst wurde ein Holzdach sichtbar, dann die dazugehörige große Fischerhütte auf Pfählen, durch die Sonnenreflexe scheinbar über dem Wasser schwebend. Auf der Seeseite gähnte eine breite Bootseinfahrt, hoch genug für ein Boot mit Segeln. Vom Pfahlsteg, der sich von der Hütte aus im Schilf verlor, flatterten Enten auf. Charlotte drehte sich kurz zu Böttger um, der nur kurz zustimmend nickte, zu aufgeregt, um die Idylle des Platzes zu genießen. Charlotte steuerte auf die Bootseinfahrt zu und verschwand darin. Ungeduldig trieb Böttger seine Stute vorwärts. Sie rutschte auf dem Untergrund aus, wodurch es Böttger nach vorne warf, richtete sich wieder auf und blieb dann zitternd stehen. Böttger redete ihr gut zu und unterstützte dies mit einem Klaps der Peitsche. Nichts. Sie rührte sich nicht. »Wo bleiben Sie, Monsieur?« hallte es dumpf aus der Fischerhütte. Böttger kam sich entsetzlich lächerlich vor, so kurz vor dem Ziel mit seinem Pferd im Wasser herumzustehen, und so sprang er kurz entschlossen ab. 258
Der Schock des kalten Wassers nahm ihm fast den Atem. Es reichte ihm bis zum Bauch. Wütend zerrte er kräftig an der widerstrebenden Stute. Doch der Grund war so nachgiebig, daß Böttger ausglitt und der Länge nach ins Wasser fiel. Prustend zog er sich an den Zügeln wieder hoch. »Komm jetzt, du blödes Vieh«, brüllte er die Stute an, die ihn verständnislos anglotzte. Er ließ die Zügel fahren und die Stute einfach stehen, drehte sich zur Hütte und pflügte durch das Wasser auf die Bootseinfahrt zu. Die Stute folgte ihm brav. Brummig ergriff er wieder die Zügel und erreichte endlich das Halbdunkel des Bootsanlegers im Inneren, wo Charlotte ihn auf einer Plattform stehend spöttisch empfing. »Hatte ich nicht gewarnt, es sei glitschig?« »Die Dame hier war ein wenig störrisch«, verteidigte Böttger sich und führte seine Stute eine Schlepprampe links an der Wand zur Plattform hoch, wo Charlotte ihren Hengst angebunden hatte. »Schön hier«, bemerkte Böttger, nachdem er die Zügel der Stute über einen Haken geworfen hatte, und besichtigte die Hütte, als ob er nicht tropfnaß wäre. Rechts lag ein flacher Kahn vertäut. Hinten an den Wänden hingen Netze, in der Mitte der Plattform dominierte ein Klotz mit Prügel zum Töten der Fische, daneben Ledereimer. In der rechten hinteren Ecke lag Stroh zu einem Lager ausgebreitet. Es roch nach Fisch, Modderwasser, Pech und altem Holz. Der Geruch hatte durchaus etwas Anheimelndes. »Woher kennen Sie diesen Platz?« »Der Unterschlupf eines Nachbarn«, gab Charlotte einsilbig zurück. »Schon häufig hier gewesen?« fragte Böttger ein wenig brüsk. Charlotte errötete. »Nein. Noch nie.« »Hm«, machte Böttger, die Luft war aus ihm raus. Er fror. Noch vor einer Minute hatte er gedacht, Charlotte jetzt in den Armen zu halten. Verbissen grinsend rieb er sich an der Stute, um sein Zittern zu verbergen. »Gibt es hier vielleicht irgend etwas Trockenes?« Charlotte schaute sich zweifelnd um. »Ich fürchte, nein.« Hinter ihr klatschte etwas auf die Planken. Böttger hatte sich seines Rockes entledigt. Unter dem nassen Hemd zeichneten sich seine Muskeln ab. Charlotte schluckte. »Sie müssen sich ausziehen, Johann.« »Ja, schon.« Böttger kümmerte sich nicht darum, sondern trat nahe 259
an Charlotte heran und schaute ihr in die Augen. Aus seinen Haaren tropfte Wasser, lief ihm über die Augen und die Wangen. Böttger griff nach ihrer Taille und hielt sie fest. Sie erschauerte, seine Hände wollten höher rutschen, doch sie nahm sie fort. »Sie sind naß, Monsieur.« Ein wenig hilflos schaute er an sich herunter. Ein Rinnsal suchte sich seinen Weg über seinen Nasenrücken. An der Nase bildete sich ein Tropfen. Charlotte beugte sich schnell vor und küßte ihn weg, löste sich im selben Moment von Böttger, zog sich die Lederjacke aus und hielt sie ihm hin. »Hier. Ziehen Sie vorher das Hemd aus.« Böttger starrte Charlotte an, Sonnenreflexe des Wassers spielten auf ihrem Gesicht, eine Fee. Ein amüsiertes Lächeln stahl sich in ihre Züge. »Sie werden sich noch eine Erkältung holen.« Böttger rührte sich immer noch nicht. Stocksteif stand er da, während sich um seine Füße langsam eine Pfütze bildete. Dann kam er auf Charlotte zu. Abwehrend streckte Charlotte den Arm vor. Doch Böttger ließ sich nicht aufhalten. Er nahm ihren Kopf in seine Hände, zog ihn an sich heran und küßte sie. Charlotte gab ihren Widerstand auf. Nach einer Weile drückte sie ihn sanft, aber entschieden von sich. »Bitte, Johann. Sie sind wirklich sehr naß.« Er begann sein Hemd abzustreifen, und als es auf den Boden fiel, griff er erneut nach Charlotte. Sein Glied wurde steif. Charlotte spürte es und drückte sich an ihn, schloß die Augen in aufsteigender Lust. Mit der einen Hand begann Böttger den Gürtel seiner Hose zu lösen und zerrte gleichzeitig mit der anderen an ihrer Bluse. »Moment, Johann«, flüsterte Charlotte. Sie lösten sich voneinander, und Böttger setzte sich auf den Boden, um seine Stiefel auszuziehen, kippte Wasser aus ihnen aus. Dann konnte er sich endlich der nassen, beengenden Hose entledigen. Böttger ließ Charlotte währenddessen keinen Augenblick aus den Augen, und als er sah, daß sie auf dem Rücken an den Bändern ihres Mieders nestelte, sprang er auf und nutzte ihre wehrlose Stellung. Fest drückte er sie an sich, fuhr mit seiner Hand durch ihre Haare. Ihr Haar roch nach Wald, ihre Haut verströmte das erotisierende Parfum ihres Schweißes. Ihre Münder fanden sich erneut, und sie begannen sich erst ruhig, 260
dann immer wilder zu küssen. Böttgers Sinne vernebelten sich. Immer fordernder fuhren seine Hände durch ihre Haare, glitten tiefer zu ihrem Rücken, zerrissen die halb geöffneten Bänder, so daß sie durch die Ösen schlüpften und das Mieder zu Boden fiel. Atemlos ließen sie einen Moment voneinander ab, um sich der Reste ihrer Unterkleidung zu entledigen, fielen mehr, als daß sie sich legten, auf das Strohlager, ohne in ihren Liebkosungen innezuhalten. Böttgers Lust steigerte sich schnell. Er befürchtete, zu kommen, bevor er in ihr war. Er hob den Kopf, schloß die Augen und bewegte sich nicht mehr. Dann stützte er sich hoch, um seinen Blick über ihren Körper schweifen zu lassen. Sie war schlanker, als er erwartet hatte. Er strich mit der offenen Hand über ihre festen Brüste, umkreiste ihren Bauchnabel mit dem Finger. Sie erschauerte und zog ihn wieder zu sich herunter. Seine Hand glitt weiter nach unten, fuhr spielerisch durch die kleinen, schwarzen Locken auf ihren Venushügel, rieb fester über ihre feuchte Scheide, so daß sie aufstöhnte und sich ihm entgegenbog. Es war keine Zeit mehr, das Bild ihres nackten Körpers in sich aufzunehmen, seine Erregung trieb ihn vorwärts, und er drang in sie ein. Mit heftigen Stößen, die er vergeblich zu verlangsamen suchte, kam er schnell zum Höhepunkt. Charlotte preßte die Lippen zusammen, um nicht wild herauszuschreien. In den Nachwehen ihres Orgasmus massierte sie sein Glied mit zuckenden Bewegungen ihrer Scheidenmuskeln, die Böttger mit sanften Stößen beantwortete. Dann stützte er sich langsam hoch, um sie zu betrachten, beugte sich wieder hinunter, und sie küßten sich lang anhaltend, ruhiger jetzt, kosteten und erforschten sich im Wechselspiel mit ihren Zungen. Aus der Ferne hörten sie Rufe, das Schlagen von Stöcken an Bäume, Pferdegetrappel und Hundegebell. Böttger unterbrach lauschend den Kuß, doch Charlotte lächelte beruhigend. »Sie treiben Wild zusammen, nichts weiter.« Beruhigt ließ sich Böttger neben sie fallen und wickelte ihre schwarzen Haare um seinen Finger. 261
»Was ist mit den Fischern?« »Die kennen nur den wackligen Steg hierher.« »Und woher wußten Sie den Weg zur Hütte?« bohrte Böttger weiter. »Der Verwalter unseres Nachbarguts hat mir davon erzählt. Es war das geheime Liebesnest seines Herrn.« »Wieso war?« »Er ist tot. Er hatte Streit mit dem Mann einer seiner Geliebten. Der andere war schneller.« Sie richtete sich auf. »Und jetzt entspannen Sie sich. Niemand wird auf die Idee kommen, uns hier zu suchen.« Sie biß ihm zärtlich in die Nase. »Na wunderbar.« Böttger drehte sich auf den Rücken, verschränkte die Arme unter dem Kopf und starrte an die Decke, auf der die Spieglungen der Sonne im Wasser ihre beruhigenden Muster warfen. Charlotte mißfiel Böttgers gelassene Untätigkeit. »Wir haben nicht alle Zeit der Welt. Wir müssen mittags auf der Moritzburg sein.« Doch Böttger wollte sich im Augenblick nicht stören lassen. Er dachte über Charlotte nach. Wenn sie etwas wollte, setzte sie es durch. Wie gegenüber Fürstenberg. Die Eigenwilligkeit in Charlottes Zügen hatte er schon in Berlin bemerkt. Und sie war sein. Das machte ihn stolz. Jedesmal, wenn sie ihm ihr Lächeln schenkte, tat sein Herz einen schmerzhaften, wilden Sprung, es war so unglaublich anziehend, anmutig, Verlustängste kamen auf. Unaufhaltsam krochen die Fragen nach der Zukunft in ihm hoch. Er bemühte sich, die Gedanken zu verscheuchen, doch es gelang ihm nicht, und eine gewisse Unsicherheit bemächtigte sich seiner. Charlotte bemerkte es und strich ihm übers Haar, dann über die Augen. »Nicht nachdenken, Johann. Genießen wir den Augenblick wie eine Gottesgabe, ohne zu fragen. Denken wir einfach nicht weiter.« »Ich möchte mit Ihnen fliehen, Charlotte. Fort von hier, irgendwohin, nur weit fort. Ich möchte immer mit Ihnen Zusammensein.« Mit einem Finger umfuhr Charlotte zärtlich seine Brustwarzen. »Und wohin sollen wir fliehen, Liebster? Wovon sollen wir leben?« »Ich bin Alchemist, Chemiker, mache Arzneien und Gold«, zählte Böttger auf, »man wird sich um mich reißen.« 262
Er versuchte sich aufzurichten, doch Charlotte drückte ihn zurück und wanderte mit ihren kleinen Bissen zu seinem Ohr. »Ein Mann, den alle haben wollen, den man überall sucht, der nirgends in Frieden leben kann.« Sie biß Böttger schmerzhaft ins Ohrläppchen, bevor sie ihn endgültig beschied: »Verzeihen Sie, Johann, ein solches Leben will ich nicht führen.« Es verwunderte Böttger fast, daß er nicht enttäuscht war, daß Charlotte eine Flucht mit ihm nicht einmal in Erwägung zog. Sie hatte Fürstenberg ihr Wort gegeben, so wie er selber an den Eid gebunden war. Alleine fliehen kam auch nicht in Frage. Dann wäre Charlotte wortbrüchig, deren Finger ihn zu irritieren begannen, weil sie lässig um seine Brustwarzen kreisten. Unter ihren zärtlichen Fingern bildete sich eine wohlige Gänsehaut auf seiner Brust. Immer weitere Gebiete eroberten sich die Fingerkuppen, und Böttger merkte, wie die Lust wieder in ihm hochstieg. Charlotte hatte sich auf die Hüfte gelegt, lässig hingegossen, provozierend in ihrer Nacktheit, der Busen nicht groß, dafür fest, der flach gerundete Bauch über den schwarzen Locken ihres Venusdreiecks, die ebenmäßige Rundung ihrer Hüften, die übergangslos in die Beine auslief. Charlotte ließ Böttgers bewundernden Blick mit aufsteigender Wollust über sich ergehen, spürte, wie sie wieder feucht wurde, ließ die Augenlider sinken und streckte ihre Hand aus. »Komm.« Mit einer kräftigen Armbewegung zog er sie an sich. »Ich liebe Sie«, flüsterte er. »Das sollen Sie auch«, gab Charlotte zärtlich zurück und antwortete mit langsamem, wellenartigem Druck ihres Beckens, der sein Glied in kürzester Zeit hart werden ließ. Sie vereinigten sich erneut. Böttger gab es auf, über die Zukunft nachzudenken.
263
Dreizehntes Kapitel
I
n mühsam gezügelter Erregung schritt Fürstenberg auf der Südseite der weitläufigen Terrasse hin und her, die auf einem Sockelgeschoß ganz um die Moritzburg herumführte. Die Diener standen diskret zurückgezogen an der Schloßwand, um seine Kreise nicht zu stören. Nur wenn er an der Gräfin Krahl vorbeikam, die unter einem Baldachin in einem der Fauteuils thronte und von einem Tablett mit Backwerk naschte, nötigte er sich ein abwesendes, höfliches Nicken ab. Er trieb ein gewagtes Vabanquespiel, zu dem ihn Madame Schönbergs Wissen um Böttgers Identität verleitet hatte. Von seinen Kundschaftern wußte er, daß Haxlingens Leute als Jäger verkleidet durch die Wälder der Moritzburg streiften. Sollten sie doch. Wenn sie gleichzeitig Madame Schönberg entführten, wäre der Eklat noch größer. Eigentlich hatte er Böttger erst während der morgigen Jagd unauffällig isolieren wollen. Das Auftauchen Madame Schönbergs hatte seinen Plan geradezu perfektioniert, gab ihm eine zusätzliche Würze, die sein Herz schneller schlagen ließ. Man hatte Böttger und Madame Schönberg in den See reiten sehen, und dort blieben sie verschwunden. Mysteriös zwar, aber sie würden schon wieder hervorkommen. Wenn sie wieder auftauchten, ergab sich jedenfalls für Haxlingens Leute die beste Gelegenheit, Böttger zu entführen, weil ihn scheinbar nirgends Bewacher auf dem Weg zur Moritzburg schützten. Man durfte gespannt sein, was Haxlingens Leute mit Madame Schönberg anstellen würden. Was Böttger anging, so würde Haxlingen wahrscheinlich vorgeben, von nichts zu wissen, und Fürstenberg anklagen, dem Goldmacher die Flucht ermöglicht zu haben. So wenigstens stellte sich Fürstenberg Haxlingens Überlegungen vor. Fürstenberg konnte nur hoffen, daß Aschenbachs Zuversicht, was die 264
Verläßlichkeit seiner verkleideten Leute im Wald betraf, berechtigt war. Nur kurz hatte Fürstenberg die Furcht gestreift, Böttger könne mit Madame von Schönberg fliehen. Sie machte nicht den Eindruck, als würde sie sich mit einem unsicheren Leben auf der Flucht zufriedengeben. Böttger war verliebt in sie, das war für Fürstenberg unverkennbar gewesen. Ob das gleiche umgekehrt galt, dessen war er sich nicht sicher. Was für eine Mesalliance, wenn dem so war. Aber man konnte es ihr nicht verdenken. Jeder in Dresden wußte, daß die Schönbergsche Ehe nichts taugte. Noch eine knappe Stunde, dann würden sie hier auftauchen – oder auch nicht. Fürstenberg schaute über die Terrasse und winkte einem Diener, Wein nachzuschenken, um seine Unruhe besser zu ertragen. Er nahm einen Schluck, ging zur Balustrade und schaute zum Wald hinüber, dessen bunte Blätter sich im See spiegelten. Schwäne mit gestutzten Flügeln zogen gemächlich ihre Bahn, träge und stolz ihrer Aufgabe als Augenweide nachkommend. Wieder näherte er sich bei seiner Wanderung über die Terrasse der Gräfin Krahl und blieb neben ihr stehen. Sie räkelte sich wohlig in ihrem Sessel und bemerkte neckisch: »Ihre Besorgnis, Exzellenz, ist völlig unnötig. Höchstens Monsieur von Schönberg müßte sich Sorgen machen. Vielleicht sollten wir diese kleine Episode für uns behalten.« »Was gäbe es auch an einer Reitstunde groß Berichtenswertes?« entgegnete Fürstenberg etwas übertrieben unschuldsvoll. Die Gräfin lächelte. »Exzellenz … mal y pense …« Der Klang von Trompeten unterbrach die Gräfin. Am Beginn des Dammes zur Moritzburg schlugen Tamboure ihre Trommeln, die Wachgarde präsentierte. In der Allee zur Moritzburg tauchte eine vergoldete Kutsche in Begleitung weniger grün-rot gekleideter Gardisten auf. Graf Haxlingen nahte uneingeladen. Das war unverfroren. Die zahlenmäßig geringe Begleitung war wohl darauf zurückzuführen, daß seine Leute im Wald herumschwirrten. Wahrscheinlich wußte er bereits, daß Böttger allein mit Madame Schönberg unterwegs war. Jetzt wollte er sich ein Alibi verschaffen. 265
Die kleine Kavalkade mit dem Großkanzler erreichte den Platz unterhalb der Terrasse, wo sich Graf Haxlingens Garde formierte und in Richtung Statthalter salutierte, während Lakaien zur Kutsche sprangen, die Tür aufrissen, das Treppchen ausklappten und sich zum Spalier formierten. Die Trompeter bliesen einen Willkommensgruß, und in der Tür der Kutsche erschien mit jovialem Lächeln der Graf. Fürstenberg eilte die Treppe hinunter dem Ranghöheren entgegen. »Was für eine Überraschung, Durchlaucht. Welch ein unvergleichlicher Glanz, den Sie meiner armseligen kleinen Gesellschaft verleihen wollen.« »Es war nur dieser schöne warme Herbsttag, der mich aus Dresden herauslockte, Exzellenz«, strahlte Haxlingen, womit er dem Ausdruck von der ›armseligen Gesellschaft‹ nicht widersprach, was im höchsten Maße unhöflich war. »Ein Traumwetter, nicht wahr?« bestätigte Fürstenberg unbeeindruckt. »Man bringe Wein für seine Durchlaucht, vite.« »Das ist sehr liebenswürdig, Exzellenz, ich bin nur auf einen Sprung hier. Die Aussicht von den Terrassen der Moritzburg ist immer wieder einen Besuch wert. Und was für eine schöne Überraschung, die Gräfin Krahl hier anzutreffen.« Er eilte auf die Gräfin Krahl zu. »Enchanté, Madame.« Die Gräfin hatte sich erhoben und verharrte im Hofknicks. »Welch unverhoffte Freude, Durchlaucht, uns durch Ihre Gegenwart zu ehren«, empfing sie den Kanzler. »Wollen Sie uns ein wenig Gesellschaft leisten? Die Luft hier wird Ihnen guttun.« »Seine Majestät würde es mir nie verzeihen, wenn ich Sie einfach so wieder gehen ließe«, ergänzte Fürstenberg scheinheilig. Um Haxlingens Mundwinkel zuckte es kaum merklich. Er wußte, daß er dem Fürsten höchst ungelegen kam und der sich mit Sicherheit fragte, was der Grund für sein Auftauchen war. Breit lachte er Fürstenberg an, deutete eine Verneigung an und ließ sich aufseufzend in einen Sessel fallen, den die Diener eilends herbeigebracht hatten. »Sie sind einfach zu beneiden, Exzellenz. Es ist ein Jammer, daß Seine Majestät so wenig Zeit erübrigen kann, diesen Platz zu genießen.« Haxlingen 266
hatte sich vorgenommen, so lange zu warten, bis man das Verschwinden des Goldmachers meldete, um das Erschrecken über den Verlust in den Zügen des Schwaben zu sehen. Hinter ihnen, vom Park her, ertönte das laute Gekläff einer Hundemeute, die soeben von einem Training mit Jagdpagen zurückkam. Uninteressiert ruhten Haxlingens Augen auf der Szenerie, während ein Diener ihnen Wein reichte. »Veranstalten Sie heute noch eine Jagd, Exzellenz?« »Nein, erst morgen, Durchlaucht. Eine Parforcejagd.« »Scheußlich anstrengend, hinter dem Wild herzureiten. Wo man es doch so viel bequemer haben könnte.« Für Graf Haxlingen ging nichts über die sogenannte eingestellte Jagd, bei der man das Wild tagelang zusammentrieb, um es dann auf einem umzäunten Platz den Jägern vorzusetzen, die bequem von einer Prunktribüne in der Mitte ihrem blutigen Handwerk nachgehen konnten. Der große Vorteil der eingestellten Jagd lag darin, daß die geladenen Gäste jeden Schuß bewundern konnten und die Zaungäste, niedrige Adlige und Ritter hinter den Barrieren, den Schützen bejubelten. Dieses hübsche Zeremoniell konnte es naturgemäß bei einer Parforcejagd nicht geben, wo nur die Jagdmannschaft in den Genuß kam, dem Blattschuß beizuwohnen. Als er noch Kammerherr des jungen Kurfürsten war, kurz nach Augusts Inthronisation in Sachsen, hatte man so eine prachtvolle eingestellte Jagd gegeben. Der Nachteil bestand zweifellos darin, daß die Wildbestände mehrere Jahre brauchten, um sich von solch einem Schlachtfest zu erholen. Ein Diener mit einem Tablett voll mit kleinen Küchlein trat zum Großkanzler, der sich reichlich bediente. »Wunderbar, danke. In letzter Zeit war ich zu beschäftigt, um mich dem wirklichen Leben zu widmen. Obwohl, Dresden fließt ja nicht gerade über an Attraktionen, wenn Seine allergnädigste Königliche Majestät nicht zugegen ist.« »Das gilt doch nicht für Sie, Durchlaucht«, widersprach die Gräfin. »Ich hörte von höchst amüsanten Spielabenden bei Ihnen.« »Es ist leider nicht ganz das gleiche, wenn vorher keine Theater- oder Ballettaufführungen zu sehen sind, Madame. Schade, daß Seine Königliche Majestät Polen vorzieht.« 267
Fürstenberg tat, als wolle er eine Fliege verscheuchen. Er hätte den Großkanzler gern aus dem Weg gehabt, um die Berichte seiner Kundschafter ungestört entgegenzunehmen. Der Gräfin Krahl war die kleine Geste nicht entgangen. »Nun, auch in Abwesenheit des Königs gibt es noch genügend Attraktionen. Wie wäre es, Durchlaucht, hatten Sie schon einmal die Gelegenheit, die weißen Rentiere zu sehen? Eine Rarität ohnegleichen. Ihr Gehege liegt versteckt am Ende des Parks, habe ich mir sagen lassen. Würden Sie uns einen Besuch dieser exotischen Tiere gestatten, Exzellenz?« »Mit dem größten Vergnügen, Madame. Seine Majestät wäre sicherlich entzückt bei dem Gedanken. Ich lasse Sie dorthin bringen.« Er schnippte mit den Fingern, ohne die Zustimmung des Großkanzlers abzuwarten, der hastig protestierte. »Nicht doch, nicht doch. Bitte ersparen Sie Ihren Leuten die Mühe. Gräfin, wie lieb von Ihnen. Ich bin ganz glücklich, hier zu sitzen. Nennen Sie mich ruhig einen faulen Grobian. Aber ich genieße es einfach. Heute nachmittag vielleicht, wenn die Sonne hinter den Hügeln verschwindet, werde ich Ihrer Einladung gerne nachkommen.« Wenn du Böttger im Sack hast, du Drecksack, dachte Fürstenberg. Laut sagte er. »Wie Sie wünschen, Durchlaucht.«
*** Die letzte Stunde hatten sie fest aneinandergeschmiegt gelegen, in stummer Zwiesprache. Mit verliebten Blicken und zärtlichen Liebkosungen hatten sie begonnen, voneinander Abschied zu nehmen, jede Minute auskostend. Sie achteten nicht darauf, daß es um sie herum im Wald zunehmend lebendiger wurde, rufende Reiter ihr Versteck passierten. Sie fühlten sich sicher, abgeschlossen und geborgen in ihrer Welt. Träge löste sich Charlotte von Böttger, richtete sich auf. Die durch das Wasser gespiegelten Sonnenreflexe erfüllten inzwischen fast den ganzen Raum. Sie stupste Böttger an: »Es ist Zeit aufzubrechen.« Böttger drehte sich auf den Rücken und maulte: »Ich mag nicht.« 268
»Monsieur, seien Sie nicht kindisch. Es bringt nichts, seine Exzellenz zu verärgern.« Widerstrebend kroch Böttger zu seiner Unterhose und gewahrte mit Schrecken, daß sein geheimer Leibgürtel mit den Golddukaten sichtbar war, den er stets mit wenigen Stichen darin befestigte. Schnell drehte er die Hose um. Es hätte zu nichts geführt, Charlotte dies Geheimnis zu verraten. Nicht heute, nicht jetzt. Während Charlotte sich anzog, verschlang er sie mit Blicken. Er wollte sich ihre Figur, ihre Bewegungen ins Gedächtnis einbrennen. Dann begann er sich selber anzuziehen. Die Hose war immer noch feucht und klebte unangenehm auf der Haut, mit Hemd und Rock war es nicht besser. Böttger ignorierte es, diese lästige Kleinigkeit sollte ihm nicht den Tag verderben. Als sie wenig später aus der Hütte ritten, schreckten sie wieder die Enten auf, die sich ärgerlich schnatternd in sicherer Entfernung wieder niederließen. Noch einmal drehten sie sich fast gleichzeitig zum Fischerhäuschen um, sahen durch die Bootseinfahrt in den kargen Innenraum, den die wabernden Sonnenreflexe des Wassers in eine verzauberte Grotte verwandelten. Böttger streckte seine Hand zu Charlotte, die ihm ihre überließ. Zart führte er sie zum Mund und hauchte einen Kuß darauf. In ihren Augen schimmerten Tränen. Böttger schluckte trocken. »Wann sehen wir uns wieder? Dieser eine Tag darf nicht alles gewesen sein.« »Müssen Sie nicht erst die Wünsche des Königs erfüllen, um sich frei bewegen zu können?« Böttger zuckte mit den Achseln. »Sicher.« »Gold zu machen ist allein Ihre Sache«, bemerkte Charlotte spöttisch, um die Sentimentalität des Abschieds zu brechen. »Ich sehne mich nur jetzt schon nach einem nächsten Zusammentreffen. Mag sein, ich bin ein Tagträumer, doch was bleibt mir sonst schon – versetzen Sie sich in meine Lage«, seufzte Böttger. Charlotte zog eine Grimasse. »Bitte kein Selbstmitleid, Monsieur. Sie haben schließlich alles in Ihrer Hand.« »Gut, dann werde ich Sie in einer goldenen Kutsche entführen.« 269
»Das klingt schon besser.« Böttger kam in Fahrt. »Selbstverständlich werde ich Ihnen mein Arkanum widmen und aller Welt verkünden«, sattelte er noch auf. »Die Welt muß vor Ihnen niederknien, es zu erhalten.« »Ich hätte nichts dagegen«, gab Charlotte vergnügt zurück. Die Beklommenheit war verflogen. Sie wandten sich endgültig von der Hütte ab und ritten am Schilfrand entlang durch den See zurück. Vom Ufer schallten entfernte Rufe zu ihnen herüber, und Böttger meinte, ihre Namen herauszuhören. Fragend blickte er zu Charlotte zurück, die nur mit den Schultern zuckte. »Offensichtlich sucht man schon nach uns«, meinte sie wegwerfend und setzte anzüglich hinzu: »Seine Exzellenz scheint Sehnsucht nach Ihnen zu haben.« Böttger lachte. »Eine seiner Schwächen im Auftrag Seiner Königlichen Majestät – leider nicht auszumerzen.« Sie fanden die Schneise, die sie bei ihrem Ritt zur Hütte ins Schilf geschlagen hatten. Das Wasser wurde seichter, und sie passierten das Wäldchen mit den dünnen Birken. Kaum hatten sie den Weg erreicht, der das Birkenwäldchen von dem hohen Buchenwald trennte, kam ein Trupp von vier Jägern mit einem Herrn in langem Mantel auf sie zugeritten und schwenkte parallel zu ihnen neben dem Weg ein. Die Männer verneigten sich, blieben jedoch auf Distanz. »Gestatten Sie, daß wir Sie zur Moritzburg geleiten, Messieurs«, rief einer von ihnen herüber. Einen Moment lang irritierte Böttger die Anrede. Die Männer des Fürsten mußten doch wissen, daß er sich in Begleitung einer Dame befand, wenn auch Charlottes weibliche Attribute unter der Jagdkleidung verborgen waren. Doch anscheinend hatte der Fürst diese Tatsache seinen Jägern diskret verschwiegen. Ein wenig ärgerte er sich über die unwillkommenen Begleiter, deren Auftauchen er auf das Mißtrauen des Fürsten zurückführte. Wehmut stieg in ihm auf, ein intimer Abschied von Charlotte war nicht mehr möglich. Er blickte zu Charlotte, die neben ihm ritt. Sie zuckte fatalistisch mit den Schultern. Kurz entschlossen zügelte Böttger sein Pferd zum Stand, um sich lieber gleich von Charlotte zu verabschieden, anstatt auf dem ganzen Weg zur Moritz270
burg beklommen unter den Augen der Bewacher neben ihr herzureiten. »Ich glaube, Monsieur, es erübrigt sich, daß Sie mich bis zur Moritzburg begleiten.« Bei der Anrede Monsieur spitzte Charlotte vergnügt die Lippen, und sie beugte sich zu ihm und flüsterte ihm zu. »Das wird mir Fürstenberg noch büßen, meinem Wort zu mißtrauen. Leben Sie wohl, Johann.« Dann fuhr sie erheblich lauter fort, damit die Jäger es hören konnten: »Ich hoffe, Monsieur, die Reitstunden haben Ihren Erwartungen entsprochen.« »Im höchsten Maße, M… Monsieur.« Doch noch bevor Böttger mit dem Satz zu Ende war, gab Charlotte ihrem Hengst mit unerwarteter Heftigkeit die Sporen und sprengte davon. Bei diesem abrupten Abschied krampften sich Böttgers Hände um die Zügel, und er mußte dem Impuls widerstehen, ihr hinterherzureiten. Sein Blick folgte Charlotte, die sich durch den lichten Buchenwald entfernte, hin und wieder von Sonnenklecksen getroffen. Dann war sie nicht mehr auszumachen. Leere breitete sich in Böttger aus. Unbeweglich starrte er in die Richtung, in die Charlotte verschwunden war. Er wünschte sich Charlotte zurück, wollte sie in den Armen halten, ihren Atem auf der Haut spüren. Oder sich wenigstens in sein Labor zurückziehen, um von ihr zu träumen. Die Jagd, die Moritzburg, der Statthalter – das alles konnte ihm gestohlen bleiben. Einer der Jäger riß Böttger aus seinen Gedanken. »Monsieur, lassen Sie uns bitte weiterreiten, Seine Exzellenz könnte ungeduldig werden.« In einiger Entfernung begannen Treiber mit Stöcken gegen die Bäume zu schlagen und begleiteten dies mit lauten Rufen. Wahrscheinlich hatten sie einen kapitalen Hirsch aufgetrieben. Böttger blickte zum Jäger und nickte, dann ritten sie an. Der Herr im weiten Mantel ritt voraus, dahinter reihten sich zwei der Jäger ein, dann Böttger und den Abschluß bildeten wieder zwei Jäger. Erst als sie nach Süden abbogen, erwachte Böttger aus seiner Gleichgültigkeit. »Ich dachte, die Moritzburg liegt nordwestlich«, rief er den führenden Herrn an. Der drehte sich um, die Kinnpartie im Kragen vergraben. »Wir rei271
ten einen Bogen, um die Jagd nicht zu stören.« Obwohl seine Stimme belegt klang, kam sie Böttger irgendwie bekannt vor. Der Mann hatte keinen sächsischen Akzent. Die Leere in Böttger wich Mißtrauen. Unbehaglich wollte er sich gerade zu den hinter ihm Reitenden umdrehen, als ein explodierender Schmerz seinen Kopf erfüllte.
Heftige Schmerzen in Brust und Bauch weckten Böttger aus seiner Ohnmacht. Er lag auf dem Bauch quer über dem Rücken eines Pferdes. Unter ihm raste der Waldboden vorbei, und er sah nichts als die in rasendem Galopp schleudernden Hufe des Pferdes. Sein Kopf schmerzte höllisch. Er versuchte sich irgendwie hochzurappeln, doch er war gefesselt. Man entführte ihn. Die Verblüffung darüber war größer als seine Angst. Entführungen schienen eine schlechte Angewohnheit der Sachsen zu sein. Er versuchte den Kopf anzuheben, aber der Schmerz ließ es nicht zu. »Darf ich … fragen, wer die Herrn Entführer sind?« stöhnte er zwischen den einzelnen Galoppsprüngen hervor, die ihm immer wieder den Atem nahmen, weil sie ihn hart auf Bauch und Rippen klatschen ließen. Seine Stimme war erschreckend dünn. Eine Antwort bekam er nicht. Sein Kopf wippte und schmerzte im Rhythmus der Galoppsprünge. Wo war Fürstenberg? War Charlotte in Sicherheit? Der Waldboden verwischte vor seinen Augen, ein Schleier legte sich über sie, und er schloß sie lieber. Die rhythmischen Schmerzen in der Brust hatten etwas Einlullendes, so daß er zurück in ein Dämmern sank. Vielleicht war alles nur ein Alptraum. Vielleicht fand er sich gleich in seinem Zimmer im Goldhaus wieder. Erneut umfing ihn völlige Dunkelheit.
Schüsse weckten ihn, Rufe ertönten, ein Schrei, der Ritt wurde langsamer, das Pferd, auf dem er bäuchlings lag, kam unruhig zum Stand, sein Reiter fluchte ausgiebig. Mühsam hob Böttger den Kopf. Um ihn 272
herum wimmelte es von Pferden. »Im Namen Seiner Königlichen Majestät und Seiner Exzellenz, des Statthalters seiner Majestät. Ergeben Sie sich«, rief eine befehlsgewohnte Stimme. »Sie sind umstellt, Leutnant Rebmann, so wie der ganze Wald. Strecken Sie die Waffen. Es ist sinnlos, fliehen zu wollen.« Gardistenbeine sprangen in Böttgers Blickfeld, und gleich darauf packte man ihn und zerrte ihn vom Pferd, stellte ihn auf die Füße. Um sich herum sah er jede Menge Reiter, angeführt von Leutnant Aschenbach. Sie hielten seine Entführer mit Pistolen in Schach, auch den Herrn im weiten Mantel. Aus dem Wald näherten sich Treiber mit Stöcken, in einem von ihnen erkannte Böttger einen Gardisten des Fürsten. Er begriff nichts. Ihm war schwindlig und übel. »Leutnant Rebmann, geben Sie mir Ihren Degen. Sie sind verhaftet«, hörte er Aschenbach befehlen. Mühsam hob er den Kopf. Der Herr in dem weiten Mantel verneigte sich und griff nach seinem Degen. Doch plötzlich gab er seinem Pferd energisch die Sporen. Zwei Pistolenschüsse fielen kurz hintereinander. Der Mann, der Leutnant Rebmann hieß, rutschte aufstöhnend kaum zehn Meter weiter vom Pferd und blieb mit schmerzverzerrtem Gesicht liegen, während sein Pferd reiterlos weitergaloppierte. Zwei Gardisten ritten hinterher, um es einzufangen. Böttger starrte auf Rebmann. Der Mann hatte schon einmal vergeblich versucht, ihn einzufangen, darüber hatten sie häufig genug im Goldhaus gesprochen. Soweit er gehört hatte, stand er mittlerweile in Diensten des Großkanzlers. Oder arbeitete er in Wirklichkeit immer noch für den preußischen König? War er tot? Die Übelkeit wurde übermächtig, und Böttger erbrach sich. Es kam kaum Mageninhalt, sondern nur gelbgrüne Galle. Benommen richtete er sich auf und stierte auf den Liegenden, zu dem sich Aschenbach hinunter beugte. »Ein Jammer, Leutnant, daß Sie dem falschen Herrn dienen«, hörte er Fürstenbergs Gardeleutnant sagen. Dann wandte Aschenbach sich um und kam zu Böttger. Der bemühte sich um ein dankbares Lächeln, doch viel mehr als eine schmerzhaft verzogene Fratze kam nicht dabei heraus. 273
»Wie geht's denn, Monsieur Schrader?« fragte er besorgt. Beschämt über seine eigene Schwäche und wütend darüber, daß alle sie gesehen hatten, antwortete Böttger trotzig: »Danke, Leutnant, bestens.« Aschenbach grinste. »Ich hätte da was für Sie.« Er griff zu seinem Wasserschlauch, hakte ihn aus dem Gürtel, entfernte den Korken und reichte ihn Böttger. »Trinken Sie. Mehr kann ich im Augenblick nicht für Sie tun.« Böttger trank begierig. Im Schlauch war Schnaps. Erst prustete er, dann gab er krächzend von sich: »Verbindlichsten Dank … Sie hätten mich warnen sollen.« Aschenbach lachte. »Hauptsache, Ihre Lebensgeister sind wieder erwacht.« Dann drehte er sich zu seinen Leuten um. »Aufsitzen, zur Moritzburg.« Die Männer führten Böttger zu einem Pferd. In seinem Magen brannte der Schnaps und stieg ihm vehement in den ohnehin schon benebelten Kopf. Ruhig blieb er vor dem Pferd stehen, um sich zu sammeln. Der Sattel schien ihm sehr weit oben, aber er mußte da hinauf. Er streckte seine Hände aus, zwei fremdartige Teile, die kraftlos herumfingerten und ihm nicht gehorchten. Der Sattel schien hochzurutschen, der Pferdekopf schwebte an ihm vorbei, und über ihm drehte sich das bunte Laub der Bäume. Zwei Gardisten konnten ihn gerade noch auffangen, bevor er auf den Boden aufschlug. Doch davon bekam Böttger nichts mehr mit.
Als Böttger erwachte, wußte er nicht, wo er war. Weiche Federkissen stützten seinen Kopf in einem Zimmer, dessen Wände grünseidene Tapeten und eine Menge Porträts hochadliger Vorfahren zierten. Ein rundes Gesicht beugte sich freundlich über ihn, in dem er Dr. Bartholomäi erkannte. »Schön, daß Sie endlich aufgewacht sind, Monsieur Böttger.« Der Arzt richtete sich auf. »Er scheint soweit in Ordnung zu sein«, sagte er zurückgewandt zu jemandem, der daraufhin nach vorne 274
trat. Es war Fürstenberg. »Bitte, Doktor, prüfen Sie noch einmal sorgfältig.« Erneut beugte sich Dr. Bartholomäi über Böttger und zog mit dem Daumen dessen Augenlider nach oben. »Gut. Es ist nichts weiter zu sehen. Allem Anschein nach hat er nur eine kräftige Gehirnerschütterung erlitten.« Er richtete sich auf und sah zu Fürstenberg hoch. »Das einzige, was ich da verordnen kann, ist Ruhe.« Er fixierte Böttger mit strengem Blick. »Sie müssen sich wirklich möglichst ruhig verhalten, nur dann kann sich Ihr Gehirn von dem Trauma erholen. Keine schnellen Bewegungen, auch nicht aufstehen. Haben Sie mich verstanden, Monsieur?« Böttger nickte vorsichtig. »Wird es seine geistigen Fähigkeiten beeinträchtigen?« fragte Fürstenberg mit kühler Besorgnis. »Ich glaube nicht, nein. Man hat von Spätfolgen berichtet, Ausfallerscheinungen in den Bewegungen, die sich vermehren – wahrscheinlich hervorgerufen durch einen Bluterguß im Gehirn. Ausschließen kann man das nicht gänzlich. Aber ich habe keine Anzeichen dafür in den Augäpfeln gesehen. Wichtig ist einfach, daß er zwei Wochen ruhig liegenbleibt – mindestens.« Böttger blickte zwischen dem Arzt und Fürstenberg hin und her. Zwei Wochen untätig herumliegen kam ihm endlos vor. »Mir geht es schon viel besser«, stammelte er protestierend, räusperte sich und setzte energischer hinzu: »Ich will aufstehen.« Er wollte sich aufrichten, doch der Arzt drückte ihn energisch in die Kissen zurück. »Liegenbleiben.« Er griff zu seiner Tasche, holte eine Flasche mit bräunlicher Flüssigkeit hervor und füllte zwei Fingerbreit in ein Glas ab. »Hier, trinken Sie das.« Er setzte das Glas an Böttgers Lippen. »Baldriansaft?« fragte der, bevor er einen Schluck nahm. Der Arzt nickte. »Und nun schlafen Sie. Schlafen Sie soviel wie möglich. Damit tun Sie sich selbst den größten Gefallen.« Bartholomäi stellte die Flasche neben das Bett auf einen Stuhl, klappte seine Tasche zu und stand auf. »Den Saft können Sie nach Bedarf nehmen, Monsieur Böttger. Sie kennen sich ja aus. Ich komme morgen wieder heraus und sehe nach Ihnen.« 275
Um Böttger die Bettruhe schmackhafter zu machen, schlug Fürstenberg vor: »Wie ist es, ich könnte Monsieur Tschirnhaus bitten hierzubleiben. Das könnte auch die anstehenden Arbeiten befördern.« »Das wäre nicht ratsam, Exzellenz. Die Arbeit muß warten. Wenn er danach verlangt, kann man dem Patienten Bücher geben. Aber keine Besuche. Er soll sich schonen. Setzen Sie einen Aufpasser neben ihn. Ich kenne Monsieur Schrader. Es ist doch typisch für ihn, so halsbrecherisch zu reiten, nicht wahr?« erklärte der Arzt grinsend zu Fürstenberg. Böttger begehrte auf. »Ich bin nicht vom Pferd gefallen, Bartholomäi. Man hat …« Mit einem Satz war Fürstenberg bei ihm und hielt ihm den Mund zu. Eindringlich zischte er leise: »Nichts davon. Sie sind unglücklich vom Pferd gestürzt, Monsieur. Haben Sie das vergessen? Ihr Gehirn hat einen Schock erlitten.« Böttger sah ihn mit großen Augen an und nickte schließlich. Fürstenberg entspannte sich. »Gut. Das ist die offizielle Version, zu der ich Sie hiermit verpflichte. Alles andere darf nicht bekannt werden. Muß ich Sie daran erinnern, daß Ihre Tätigkeit der Geheimhaltung unterliegt?« »Und was ist mit den Schüssen auf Leutnant Rebmann?« fragte Böttger ebenso leise, aber trotzig. »Ist er tot?« Unsicher, wie er antworten durfte, sah Dr. Bartholomäi Fürstenberg an, der nur lapidar bemerkte: »Ein unglücklicher Jagdunfall. Aber zu Ihrer Beruhigung, er wird durchkommen, sagt Dr. Bartholomäi, nicht wahr?« Dabei klopfe er dem Arzt fröhlich auf die Schulter. Fassungslos starrte Böttger den Fürsten an, der offensichtlich mit der Entwicklung der Dinge höchst zufrieden war. Böttger konnte sich keinen Reim darauf machen. »Warum wollen Sie die ganze Geschichte vertuschen?« Fürstenberg hob die Brauen. »Wen interessiert schon der wahre Hergang, wenn doch die Konsequenzen feststehen.« »Welche denn?« fragte Böttger sowohl verwirrt als auch mißtrauisch. »Oh, das betrifft nicht Sie. Man wird den Großkanzler des Hoch276
verrats anklagen. Doch begreiflicherweise ist es nicht ratsam, in der ganzen Welt herumzuposaunen, er habe Seiner Majestät den Goldmacher rauben wollen. Man würde sich plötzlich fragen: Welchen Goldmacher? Das Ausland würde davon erfahren, verstehen Sie? Für die Leute in Sachsen gibt es genügend andere gute Gründe, Graf Haxlingen anzuklagen. Denken Sie an die Geschichte mit den Sechsern. Und dann sind da noch Ämterpatronage, Vetternwirtschaft, konspirative Umtriebe«, zählte Fürstenberg genüßlich auf. »Und wer weiß, was wir noch alles in seinen Dokumenten finden.« »Warum hat er mich überhaupt entführen wollen? Er steht doch in Diensten Seiner Majestät.« »Darüber wird Graf Haxlingen genügend Zeit haben, auf dem Königstein nachzudenken.« Böttger schüttelte es. Der letzte Winter in dieser unwirtlichen, eisigen Behausung war ihm noch gut in Erinnerung. »Was wird aus Leutnant Rebmann?« »Darüber ist noch nicht entschieden. Jedenfalls kann man ihm wegen des Jagdunfalls schlecht einen Prozeß machen. Ich weiß es noch nicht.« Der Arzt fand es an der Zeit, sich einzumischen. »Da Ihre Neugier nun gestillt ist, Monsieur, ist es besser, Sie schlafen jetzt, oder ich verabreiche Ihnen noch eine weitere Dosis.« »Gute Genesung«, wünschte Fürstenberg erleichtert, der froh war, das Krankenlager verlassen zu können. Zudem hatte ihm der kurze Disput mit Böttger die Zuversicht gegeben, daß sein Goldmacher bald wieder bei Kräften sein würde. Als er in der Tür stand, befahl er Aschenbach, der draußen gewartet hatte: »Setzen Sie einen zuverlässigen Mann ans Bett von Monsieur Schrader. Er soll aufpassen, daß er ruhig liegenbleibt, und für ihn sorgen.« Kurz darauf öffnete sich die Tür, und ein Gardist setzte sich auf den Stuhl neben Böttgers Bett, ein gutmütiger, älterer Mann, den Böttger vom Sehen her kannte. Bedächtig legte er seine Mütze auf dem Boden ab und kratzte sich geräuschvoll die grauen Kraushaare. Als er 277
Böttgers Blick auf sich spürte, brummte er: »Stört Sie hoffentlich nicht, oder? … Sind die verdammten Läuse.« Böttger schüttelte instinktiv den Kopf. Sofort durchzuckte ein Schmerz seinen Kopf. Er ließ sich zurück in die Kissen sinken. Der Gardist grinste grimmig. »So is' besser. Schön liegenbleiben, hat der Doktor gesagt. Ich pass' schon auf Sie auf. Wenn Sie müssen, bringe ich Ihnen einen Topf.« »Danke. Wie heißen Sie?« »Bunde, wenn Sie gestatten, Monsieur.« »Ich hoffe, ich schnarche nicht«, versuchte Böttger einen Scherz zu machen. »Schlafen Sie man, Monsieur. Ob mit oder ohne Musik, ist mir egal.« Böttger drehte sich zur anderen Seite. Ein heller Lichtstreifen der Sonne beleuchtete das Porträt einer Dame aus dem letzten Jahrhundert. Die steifen Rüschen um ihren Hals unterstrichen den verkniffenen Mund und die strengen Augen, die aufmerksam zu ihm herübersahen. Es mußte schrecklich sein, mit so jemandem das Bett teilen zu müssen. Er schloß die Augen, und aus der Erinnerung tauchte das Gesicht Charlottes auf, wie es sich liebevoll über ihn beugte. Fast meinte er zu spüren, wie ihre schwarzen Haare seine Wange kitzelten. Er seufzte. Trotz dieses Bildes vor dem inneren Auge erschienen ihm die Stunden der Liebe mit Charlotte fern und unwirklich, wurden verdrängt von den Bildern der Entführung und Befreiung. Die Schüsse auf Rebmann. Plötzlich konnte er sich auch vage an seine Ankunft auf der Moritzburg erinnern, an den prunkvollen, dicken Großkanzler auf der Terrasse, seine traurigen Hängebäckchen, die so erbärmlich zitterten. Die Gräfin Krahl war auf ihn zugestürzt und hatte ihn liebevoll an ihren Busen gedrückt. Danach war wieder Dunkelheit. Unwillig schlug er die Augen auf. Das linke Auge der strengen Dame auf dem Porträt schien ihn anzufunkeln. Dann erlosch das Funkeln langsam, als der Sonnenstreifen weiterwanderte. Also gut, er war vom Pferd gestürzt. Aus Erschöpfung nach dem Liebesakt? Selbstironisch zuckten seine Mundwinkel. Fürstenberg mußte schon am Morgen von der Entführungsabsicht gewußt haben, sonst hätte er nie die Einwilligung gegeben, sich mit Charlotte zu entfernen. 278
Er hatte ihn als Köder benutzt. Das sah Fürstenberg wesentlich ähnlicher als diese ganze Geschichte mit dem Wort, das Charlotte ihm hatte geben müssen. Die Treiber mit ihren rhythmisch schlagenden Stöcken. Wie mit Buschtrommeln hatten sie Aschenbach alarmiert und zu den Entführern gelenkt. Was für ein gerissener Plan. Der Fürst konnte gefährlich sein, irgendwie hatte Böttger das vergessen. Das Zunageln der Fenster, sein eigener Aufenthalt auf dem Königstein, es war entschieden besser, sich immer gut daran zu erinnern. Er mußte aufpassen, in Zukunft vorsichtiger sein und sich die Gunst des Fürsten erhalten.
*** Die zwei Pistolenschüsse aus dem Wald hatten Charlotte aus ihren Gedanken aufgeschreckt, als sie gerade den Elbhangweg erreicht hatte. Man jagte nicht mit Pistolen. Die Schüsse waren aus südwestlicher Richtung gekommen. Einen winzigen Moment lang dachte sie daran, daß Johann vielleicht doch versucht haben könnte zu fliehen. Sie zügelte Saturn, der unruhig tänzelte, weil er ihre Unentschlossenheit spürte. Dann schalt sie sich eine Närrin. Wenn Johann floh, setzte er alles aufs Spiel, auch ihre Liebe. So dumm war er nicht. Sie ritt weiter, konnte aber nicht verhindern, daß eine gewisse Sorge blieb. Kaum war sie auf dem Gut, schickte sie einen Diener zum Jagdschloß, um zu erkunden, was vorgefallen war. Zurück kam er mit der Nachricht, Graf Haxlingen sei verhaftet worden, was alle Welt in Aufregung versetzte. Damit waren die Pistolenschüsse erklärt, Charlotte aber nicht beruhigt, die eigentlich etwas über ›Monsieur Schrader‹ hatte erfahren wollen. Der sei im Jagdschloß, hieß es nur. Aber was sollte schon sein? Johann hatte schließlich nicht das geringste mit Graf Haxlingen zu tun. Unerwartet kam ihr Mann am späten Abend aus der Grafschaft Monheim zurück. Er hatte unterwegs vom Sturz des Großkanzlers erfahren und seine Rückkehr beschleunigt. Anstandshalber tat er ein bißchen betroffen, frohlockte aber in Wirklichkeit, weil er sich ausrechnete, in der Hierarchie am Hof aufrücken zu können. Dieser Op279
timismus führte zu einer unerwarteten Wendung: Charlotte sollte mit ihm nach Dresden kommen, ›für alle Fälle‹, wie er sich ausdrückte. Zwar teilte Charlotte seine ambitionierten Hoffnungen nicht, aber sie hatte das Landleben gründlich satt, war ihm dankbar, daraus erlöst zu werden, und redete ihm deshalb gut zu, bestärkte seinen Ehrgeiz. In Dresden verschwand ihr Mann jeden Tag aufs Schloß, wo man pausenlos konferierte und die Dokumente des Großkanzlers sichtete. Charlotte nutzte die Zeit, ihr kleines, vernachlässigtes Labor wieder herzurichten, und begann sich neue Salben und Schminken zu mischen. Sie wollte strahlend aussehen, wenn es jetzt vielleicht endlich zu einer offiziellen Vorstellung am Hof kam. Ihre Unbeschwertheit blieb auch, als ihr Mann seine Mätresse Maria wieder ins Haus holte. Denn anders als früher begegnete sie dem Umstand nun mit Gleichmut. Sollte ihr Mann doch tun, was ihm beliebte. Sie sah darin einen Freibrief für sich selbst, schickte Amalie, ihre Kammerzofe, unter dem Vorwand zum Goldhaus, eine Arznei von Monsieur Schrader zu besorgen. Amalie kehrte mit der Nachricht zurück, Monsieur Schrader sei noch immer auf der Moritzburg, wo er sich von einem Jagdunfall erhole, einem Sturz vom Pferd. Das machte Charlotte stutzig. Irgendwie glaubte sie es nicht. Die Jagd war, soviel sie gehört hatte, ausgefallen, und sie hatte gesehen, daß Johann ganz leidlich reiten konnte. Statt dessen kamen ihr wieder die Pistolenschüsse in den Sinn, und in ihrer Besorgnis beschloß sie, ›Monsieur Schrader‹ zu schreiben. Nur einen Tag nachdem sie den Brief auf den Weg gebracht hatte, erhielt sie ein Billett der Gräfin Krahl, die sie für den Nachmittag zum Kaffee einlud. Auch Seine Exzellenz, der Statthalter seiner Majestät, werde anwesend sein, hieß es. Charlotte war erleichtert. Der Statthalter würde die Sache sicher aufklären. Sie wählte ein grünes Kleid, daß sie ein wenig blasser erscheinen lassen sollte, zerbrechlicher und fragiler, um beim Fürsten den Eindruck der derben Jägerkluft zu verwischen, die sie beim Ausritt getragen hatte. Die Gräfin Krahl empfing sie in ihrem rosa Salon, der ganz gegen die Mode mit vielen kleinen, purpurrot bezogenen Sesseln ausgestat280
tet war. »Sehen Sie. Überall muß alle Welt stehen, bei mir darf man sich setzen. Es ist ein wenig gegen die Etikette, aber jeder ist insgeheim glücklich darüber, auch wenn niemand es zugibt.« Doch beide setzten sich noch nicht, sondern traten zwischen die Vorhänge am Fenster, um ungeduldig nach dem Statthalter Ausschau zu halten, während sie über die Verhaftung Haxlingens sprachen. Sein Vermögen stellte sich als weniger umfangreich als erwartet heraus. Statt der erhofften fünf Millionen Taler hatte der König nur deren drei beschlagnahmen können. Doch auch das reichte, um den Hofstaat Seiner Majestät zwei Jahre zu unterhalten und außerdem eine neue Armee gegen Karl aufzustellen. Dies hob die Stimmung der Dresdner Bürger beträchtlich, weil sie hofften, daß man die Steuerschraube nun lockern würde. Im alteingesessenen Adel dagegen sprach man hinter vorgehaltener Hand von einem Akt der Willkür, wußte die Gräfin zu berichten. »Aber sie wagen es nicht, sich gegen das juristische Gutachten aus Leipzig aufzulehnen. Seine Majestät hat es offensichtlich schon vor einer ganzen Weile in Auftrag gegeben, und seine Exzellenz der Fürst hat es dem überrumpelten Geheimen Rat vorgelegt. Jetzt ducken sie sich wieder vor ihm, und er genießt es«, fügte die Gräfin anerkennend hinzu. »Übrigens war er es, der mich um diese Zusammenkunft bat. Ich glaube, es geht um das Geheimnis zwischen Ihnen beiden. Sie brauchen es mir nicht zu gestehen, meine Liebe, ich will, daß er es mir heute selbst offenbart.« Als Fürstenberg erschien, war er weit weniger gut gelaunt, als Charlotte es erwartet hatte. Schon gleich nach den unvermeidlichen Verbeugungen und Komplimenten zog Fürstenberg den Brief Charlottes an Böttger aus dem Rock und wedelte damit herum. »Madame, es tut mir außerordentlich leid. Ich möchte gar nicht in den Brief hineinschauen, sondern gebe ihn hiermit an Sie zurück. Ich muß Ihnen jeden Kontakt zu diesem Mann untersagen.« Charlotte ließ sich nicht einschüchtern und blitzte den Fürsten an. »Der Brief enthält nichts – selbst für einen uneingeweihten Leser – nichts, was dem …« 281
»Sie meinen, er enthüllt nichts?« blockte Fürstenberg weitere Ausführungen Charlottes vorsichtig ab, was die Gräfin dazu brachte, ihren Vorsatz in die Tat umzusetzen und um Aufklärung zu bitten. »Wäre es nicht angebracht, Sie würden mir enthüllen, was es mit diesem mysteriösen Monsieur Schrader auf sich hat? Exzellenz, er lag völlig erschöpft und am Kopf verletzt an meiner Brust, als …« »Er ist angeschossen worden?« fuhr Charlotte besorgt dazwischen. »Nein, nein. Es ist ihm nichts passiert«, meinte Fürstenberg beruhigend. »Das habe ich anders gesehen«, widersprach die Gräfin, und die beiden Damen setzten Fürstenberg nun gemeinsam mit Blicken unter Druck. Der sah indigniert zwischen beiden hin und her. »Sie wollen mich zu einer Erklärung nötigen?« fragte er überflüssigerweise. Die Damen nickten gleichzeitig. Fürstenberg rang mit sich, dann gab er nach. »Vielleicht ist es sogar besser so, bevor in Ihren Köpfen noch wildere Vorstellungen entstehen.« Er wandte sich zur Gräfin Krahl. »Ich muß Sie allerdings dazu unter Eid nehmen. Denn was ich Ihnen jetzt anvertraue, weiß nur ein sehr illustrer kleiner Kreis und darf niemals an die Öffentlichkeit dringen … Würden Sie also bitte die Hand erheben, Gräfin.« Nachdem das erledigt war und sie die Geschichte gehört hatten, atmete Charlotte innerlich auf. Den Schlag auf den Kopf schien Böttger gut überstanden zu haben. Vor allem hatte er nicht versucht zu fliehen, was ihren Stolz verletzt hätte. Höchst befriedigt strahlte die Gräfin Krahl Fürstenberg an. »Ich wußte doch, daß mehr hinter diesem jungen Mann steckt, Exzellenz, als Sie mir verraten wollten. Sie hüten da also ein Genie. Ich finde, man sieht es ihm an.« Fürstenberg hob nur die Brauen. »Deswegen soll er in Zukunft auch wieder hübsch im verborgenen wirken. Er ist nun mal ziemlich hitzig. Ablenkung ist Gift, verursacht bei ihm seltsame Anfälle.« Er zupfte kurz an seiner Manschette, bevor er zu Charlotte gewandt mit besorgter Miene fortfuhr: »Ich bitte Sie daher, sein Gemüt nicht zu beunru282
higen, Madame Schönberg. Monsieur Böttger hat eine sehr rege Phantasie. Ihre Briefe könnten seine Konzentration stören. In einem halben Jahr – das hoffe ich wenigstens – dürften seine Arbeiten abgeschlossen und das Gold gemacht sein. Sobald dann Seine Königliche Majestät das Rezept für das Arkanum in Händen hält, ist Monsieur Böttger frei. Dann können Sie meine Bitte als überholt und nichtig betrachten, das verspreche ich.« Seinen letzten Satz begleitete Fürstenberg mit einem forschenden Blick auf Charlotte. Die fragte sich, daß man ebensogut das gegenteilige Argument gelten lassen konnte, daß ein anregender Briefwechsel Böttger anspornen würde. Doch sagen konnte sie es nicht. Es käme fast einem offenen Eingeständnis ihrer Liebe zu Böttger gleich. Diese Blöße wollte sie sich nicht geben. »Ich werde mich daran halten, Exzellenz«, versicherte sie daher feierlich. Zufrieden hellte sich Fürstenbergs Miene auf, und er fiel in verbindlichen Plauderton. »Wie steht es eigentlich mit Ihrem Gemahl? Hat er immer noch nicht vor, Sie offiziell vorzustellen? Die Gräfin war so freundlich, mich über diesen unhaltbaren Zustand aufzuklären.« »Es hat sich nichts geändert.« »Nun, ich werde mir bei passender Gelegenheit etwas einfallen lassen, um dem abzuhelfen. Betrachten Sie das als ein Versprechen meinerseits – als Gegenleistung gewissermaßen.« Als man Charlotte in ihrer Sänfte nach Hause trug, kämpften widerstreitende Empfindungen in ihr. Einerseits ernüchterte sie die Aussicht, Johann längere Zeit nicht wiedersehen zu können, und stimmte sie traurig. Andererseits war sie gespannt, wie Fürstenberg ihren Mann zwingen würde, sie in die Hofgesellschaft einzuführen, vor allem wenn man das Gerücht bedachte, der König wolle zur Michaelismesse nach Leipzig kommen, und man ihn vorher in Dresden erwartete.
Was die Entführung anbelangte, war es Fürstenberg nicht gelungen, 283
den wahren Sachverhalt zu vertuschen. Zu viele Zeugen hatte es bei der versuchten Entführung Böttgers und der anschließenden Verhaftung Haxlingens gegeben. Was Böttger im Goldhaus trieb, pfiffen inzwischen die Spatzen von den Dächern Dresdens, auch wenn er nur als ›Monsieur Schrader‹ bekannt war. Jedermann wußte, daß es um Gold ging, auch wenn ihn kaum jemand von Angesicht kannte. Die Honoratioren der Stadt bedrängten Fürstenberg, den Goldmacher zu ihren Tischgesellschaften laden zu dürfen, was dieser selbstverständlich abschlug. Nur Herrn von Schönberg ärgerte der Ruhm des Alchemisten, dessen Identität ihm Charlotte wohlweislich verschwieg, vor allem, weil er darunter litt, nach der Verhaftung Haxlingens in der Hofhierarchie noch nicht weiter nach oben geklettert zu sein. Daher spöttelte er gerne über Schrader: »Da buhlen die Einfaltspinsel um die Ehre, mit einem Hasardeur am Tisch sitzen zu dürfen. Das ist lächerlich.« »Von diesem Mann wird man noch sprechen, wenn er längst tot ist, Monsieur, nicht aber von Ihnen. Wen interessieren schon die Steuern, denen Ihr hinterherjagt«, erwiderte Charlotte kalt, die wußte, wie leid ihm inzwischen die ganze Reiserei zwischen den Grafschaften und Polen war. Sie war stolz darauf, daß ihr Geliebter zu einer Berühmtheit geworden war. Das gab ihr Kraft, sich in Geduld zu fassen. Und sie hoffte auf den König, der ja zur Michaelismesse kommen sollte. Dann würde sie auch Johann wiedersehen, dessen war sie sich sicher. Doch Charlotte wartete vergebens. Der König kam nicht, nicht zur Michaelismesse, nicht zur Neujahrsmesse und ebensowenig zur Ostermesse. Und zu ihrer Enttäuschung kümmerte sich auch Fürstenberg nicht um sein Versprechen, sie in die Adelsgesellschaft einzuführen. Sie dachte daran, sich scheiden zu lassen. Doch das war ein Privileg des Mannes, das für die geschiedene Frau selten gut ausging. Ohne zu wissen, was dann werden sollte, fand sie nicht den Mut, weiter darüber nachzudenken. Und so wartete sie weiter. Nur einmal erhielt sie eine Nachricht durch die Gräfin Krahl: Die Zeit sei noch nicht reif. Reif wofür? fragte sich Charlotte und mußte weiter warten, ver284
brachte viel Zeit in ihrem kleinen Labor, destillierte sich Gesichtswasser und mischte sich Cremes und Salben. Wenigstens sie selber wollte sich nicht vernachlässigen. Irgendwann mußte die Zeit ja ›reif‹ sein, mußte eine Veränderung in ihrem Leben eintreten und Fürstenberg sein Versprechen einlösen.
Vierzehntes Kapitel
I
n seinem Arbeitszimmer schob Tschirnhaus mit einem Assistenten ein fahrbares, mannshohes Gestell in die Strahlen der tiefstehenden Novembersonne. Auf dem Gestell waren übereinander zwei schwenkbare Linsen mit einem Durchmesser von gut zwei Handspannen befestigt. Die obere Linse justierte Tschirnhaus so, daß die Strahlen der Sonne auf die zweite Linse darunter trafen. Von dort wurden die Sonnenstrahlen zu einem Eisenbarren gelenkt, auf dem sich ein blendendweißer Brennpunkt bildete. Schon nach wenigen Sekunden begann der Eisenbarren zu rauchen, warf Blasen, als begänne er zu kochen. Fasziniert beobachteten Böttger und Ohain, wie der Eisenbarren vor ihren Augen zu schmelzen begann. Vorsichtig trat Böttger näher heran. »Genial, Monsieur Tschirnhaus, genial! Statt Stunde um Stunde eine Probe zur Weißglut zu erhitzen, genügen mit Ihrer Apparatur Sekunden, um unglaubliche Temperaturen zu erreichen. Eine phantastische Abkürzung langwieriger Versuchsreihen!« Tschirnhaus verdrehte die obere Linse, so daß kein gefährlicher Brennpunkt mehr irgend etwas anzünden konnte, und lächelte stolz. »Begonnen habe ich mit Hohlspiegeln, wie man sie in Frankreich verwendet. Ich habe die Strahlengänge berechnet und bin dank meiner Berechnungen zur Konstruktion dieser Apparatur gelangt, indem ich das Fernrohr des Galilei gewissermaßen umgekehrt angewandt habe. 285
Keine andere Apparatur auf der Welt erzeugt höhere Temperaturen. Ein Hohlspiegel mit vergleichbarer Wirkung müßte einen Durchmesser von anderthalb Metern haben.« Böttger drehte an der oberen Linse und peilte über die Oberfläche. »Wie haben Sie es geschafft, die Gläser so ebenmäßig zu gießen? Spiegelblank, unglaublich, trotz der Wölbung.« »Das macht ein von mir konstruierter Polierautomat, der mit Wasserkraft betrieben wird. Tagaus, tagein schleift er die Linsen unermüdlich mit feinstem Schlamm, zwei Wochen lang, besser und ausdauernder, als ein Mensch es je könnte. Angewandte Mathematik!« setzte Tschirnhaus selbstbewußt hinzu. Böttger verstand es als Anspielung auf seine bisher fruchtlosen Transmutationsversuche, die trotz ihrer Zusammenarbeit seit einem Jahr nicht vorankamen. »Chemische Substanzen entziehen sich der Mathematik, Monsieur. Sicher … Ich kann vor dem Versuch die Substanzen genauestens abwiegen und so bestimmen, welche Gewichte ich als Resultat zu erwarten habe. Doch die Mathematik sagt nicht voraus, wie Schwefel sich mit Eisen verbindet. Ob es überhaupt zu einer Reaktion kommt, und wenn ja, bei welchen Temperaturen. Was ich weiß, beruht auf Empirie. Der Weg zur Erkenntnis führt nun mal über den mühseligen Weg langer Versuchsreihen. Schon die kleinste Verunreinigung einer Substanz verändert das Ergebnis.« Böttger trat zum Fenster und schaute auf den Hof, wo eine Kutsche mit acht Gardisten wartete. Seit einem Jahr hatte sich kaum etwas verändert. Es lebte sich zwar ganz bequem im Goldhaus, aber er war mit den Transmutationen nicht einen Schritt weitergekommen und hatte immer wieder die abenteuerlichsten Ausreden erfinden müssen. Noch milderte Haxlingens Vermögen die Ungeduld des Königs wie des Fürsten. Der Entführungsversuch hatte ihm zusätzliche Zeit verschafft. Fürstenberg hatte allerdings seine Sicherheitsmaßnahmen verschärft. Ein Sergeant und acht Gardisten begleiteten ihn ständig, sobald er einen Schritt vor die Tür des Goldhauses tat. Und solche Exkursionen wie heute mußten eine Woche vorher bei Fürstenberg angemeldet werden. 286
Böttger drehte sich zurück und betrachtete die obere Linse der Apparatur genauer. Spielerisch bewegte er sie ein wenig, so daß die untere Linse Licht auffing und ihren Brennpunkt auf den Boden warf. »Vorsicht!« rief Tschirnhaus erschrocken, und Böttger verdrehte schnell die Linse. Die halbe Sekunde hatte genügt, ein schwarzes Loch in den Dielenboden zu brennen. »Verzeihung, Monsieur Tschirnhaus. Wie nennen Sie diese bewunderungswürdige Apparatur?« »Einfach ›Brenngläser‹. Ich habe in letzter Zeit Reihenuntersuchungen durchgeführt, die Aufschluß über das Schmelzverhalten der Stoffe geben. Manche verdampften einfach. Auch Erden … Ich möchte Ihnen einige Ergebnisse zeigen …« Tschirnhaus führte Böttger und Pabst zu einem Regal, wo die verschiedensten Proben säuberlich beschriftet nebeneinander in kleinen Kästen lagen. »Mich hat insbesondere das Schmelzverhalten von verschiedenen Erden interessiert. Sehen Sie? Ein kleiner Teil verdampfte immer, das meiste wurde zu Schlacke, und bei längerer Einwirkung des Brennstrahls bildeten sich diese schwarz schimmernden Glaskügelchen.« Tschirnhaus ging das Regal entlang und holte schließlich aus einem der letzten Kästchen einen weißen, gezackten Scherben heraus, den die Einwirkung der Brennspiegel offensichtlich unversehrt gelassen hatte. »Sehen Sie sich dieses Bruchstück an. Erstaunlich, nicht wahr? Kennen Sie das Material?« »Porzellan?« riet Böttger. Tschirnhaus nickte gewichtig. »Genau. Es ist das Bruchstück einer chinesischen Vase.« Er reichte Böttger den Scherben, der damit zum Fenster trat und ihn gegen die Sonne hielt. »Unglaublich … durchscheinend sogar …« »Sie ahnen nicht, mit welchem Ausmaß an Zeit und Geld ich seit Jahren schon hinter diesem Geheimnis herjage. Das Arkanum des Porzellans zu finden wäre ein Triumph der Wissenschaft.« Bei diesen Worten hatte sich Tschirnhaus' Gesicht gerötet, und Böttger entdeckte darin plötzlich eine Leidenschaft, die er dem kühlen Wissenschaftler gar nicht zugetraut hatte und die ihm eine gewisse 287
Andacht gegenüber dem Scherben abnötigte. Behutsam legte er ihn ins Fach zurück. Einen Moment stand Tschirnhaus unschlüssig da, dann gab er sich einen Ruck und ging zum hinteren Teil des Labors zu einem mit Büchern vollgestopften Regal, in das eine Lade eingearbeitet war. Er fingerte einen Schlüssel aus der Rocktasche, schloß die Lade auf und winkte Böttger und Ohain, die ehrerbietig näher traten. »Obwohl ich schon seit fünf Jahren danach forsche, bin ich dem Porzellan immer noch nicht auf den Grund gekommen. Ich werde Ihnen einige Teile zeigen, Messieurs, die gelungensten Ergebnisse meiner bisherigen Versuchsreihen. Niemand hat sie bisher zu Gesicht bekommen.« In der geöffneten Lade standen eine Reihe kleiner Dosen, verkrümmt und unansehnlich, aber sie wiesen unverkennbar Ähnlichkeiten mit Porzellan auf, obwohl sie nicht ihre Form behalten hatten. Kleine Schilder unter den Objekten beschrieben Herkunft und das Aussehen der verwendeten Erden. Tschirnhaus hob eine der windschiefen Dosen heraus, die ein wenig beschliffen war. »Sie sehen, ich nähere mich dem Geheimnis des Porzellans. Wenn ich es finde, hoffe ich, daß mir der König den Wunsch nach einer sächsischen Akademie der Wissenschaften erfüllt – oder mir wenigstens ein ordentliches Stück Land gibt«, fügte er mit leicht resignierter Geste hinzu. »Nicht, daß mir an dem Reichtum gelegen wäre, Messieurs, aber es wäre doch hilfreich, mit einer Akademie im kleinen zu beginnen … Hier, nehmen Sie die Dose und betrachten Sie die Oberfläche genau.« Böttger tat Tschirnhaus den Gefallen und ging mit der Dose zum Fenster. Eine schöne Arbeit, das Material war allerdings nicht durchscheinend wie Porzellan, kam in seiner Färbung aber schon in die Nähe. In diesem Augenblick hätte Böttger viel darum gegeben, an Tschirnhaus' Stelle zu sein, nur den eigenen Träumen verpflichtet, ohne Zwang von außen. Damals, nach dem Wochenende auf der Moritzburg, hatte Fürstenberg gemeint, den Druck auf Böttger erheblich verstärken zu können. »Da ich Ihren Bedürfnissen nach einigen Stunden mit Ma288
dame Schönberg nachgegeben habe, dürften Sie jetzt wohl beflügelt genug sein, die Transmutation rasch fertigzustellen.« Böttger hatte daraufhin Fürstenberg klarzumachen versucht, daß Madame Schönberg mit der Transmutation nichts zu tun habe. Doch Fürstenberg blieb unbeirrbar. Für ihn stand ›glücklich sein‹ in einem direkten Zusammenhang mit ›Erfolg‹. Böttger widersprach nicht weiter, um nicht die Chancen auf ein Wiedersehen mit Charlotte zu gefährden. Um so brutaler traf ihn der Schock, als der Statthalter ihm mitteilte, der Ausflug mit Madame Schönberg sei eine einmalige Angelegenheit gewesen, die sich bestenfalls wiederholen könne, wenn er mit seiner Arbeit fertig sei. Dabei spielte es offensichtlich gar keine Rolle, wie weit Fürstenbergs Vermutungen hinsichtlich einer unziemlichen Affäre zwischen Böttger und Madame Schönberg gingen. Das schien ihm gleichgültig zu sein. Er wollte das Gold. Eine Zeitlang hatten Böttger das Erlebnis mit Charlotte und die Hoffnung auf ein Wiedersehen beflügelt. Doch als die Monate vergingen, ohne daß etwas Brauchbares bei seinen Versuchen herauskam, verließ ihn diese Motivation. Manchmal blieb er Tage im Bett liegen, schützte Unwohlsein vor, nur um seinen Träumen mit Charlotte nachzuhängen. Dann sah er sie vor sich, erinnerte sich an jede Einzelheit ihres Beisammenseins in der Fischerhütte, ihre dunkelbraunen Augen, die schwarzen Haare vor den wabernden Lichtspiegelungen des Wassers an der Decke, ihr Körper, greifbar nahe, real. In Dresden aber schien Charlotte nicht zu existieren. Lenkte er bei seinen Tischgesellschaften das Gespräch auf den Finanzminister, kam außer dessen Steuern nichts dabei heraus. Niemand kannte seine Ehefrau. In solchen Augenblicken verblaßte Charlotte zu einem unwirklichen Bild, das zerfloß, sobald er es deutlicher vor sein inneres Auge zu holen suchte. Wie bei einem Traum, den man nicht fassen kann. »Nun, was sagen Sie zu dem Kästchen, Monsieur?« fragte Tschirnhaus Böttger ungeduldig, der immer noch versonnen am Fenster stand. Der drehte die Dose noch einmal im Sonnenlicht. Irgendwie war es tröstlich, daß auch andere weit von ihren Träumen entfernt wa289
ren. Tschirnhaus' Traum verdiente Achtung. Ehrerbietig reichte Böttger dem Wissenschaftler sein Artefakt zurück. »Herzlichen Dank für die Gunst, Monsieur Tschirnhaus, mich in Ihre Arbeit einzuweihen. Aber mich ruft wieder dringend die meine. Angeblich erwartet man in den nächsten Tagen den König, wenn es denn diesmal stimmt. Ich werde ihm etwas vorweisen müssen. Hätten Sie morgen Zeit, ins Goldhaus zu kommen? Seine Exzellenz drängt auf einen neuen Arbeitsplan.« Tschirnhaus verneigte sich. »Selbstverständlich, Monsieur. Ich verstehe durchaus, daß Ihnen Ihre Arbeit unter den Nägeln brennt.« Kurz darauf saßen Böttger und Ohain in der braunen, geschlossenen Kutsche des Bergamtes, über die Ohain inzwischen verfügen durfte, seit er andauernd zwischen dem Erzabbaugebiet und Dresden hin und her fahren mußte. Der Weg von Tschirnhaus' Gut, oberhalb von Dresden an der Weissach gelegen, ging holprig bergab. Böttger und Ohain mußten sich gut festhalten, weil die Sitzbänke die harten Stöße nicht abfedern konnten. »Es müßte doch mit dem Teufel zugehen«, meinte Ohain zwischen den heftigen Stößen, »wenn wir diese Brennspiegel … nicht irgendwie nutzen könnten … Haben Sie denn gar keine Idee dazu, Johann?« »Ich wüßte nicht wie, Pabst … Autsch!« Ein hoher Buckel auf dem Weg hatte ihn gegen das Dach geschleudert. Als Böttger wieder besseren Halt hatte, fuhr er fort: »Das Problem ist, daß die Hitze nur auf einen sehr begrenzten Punkt einwirkt. Einer der alten Phönizier, der Name ist mir entfallen, oder war es Archimedes? … Wie auch immer. Er hat mit Spiegeln die gegnerische Flotte angezündet. Brennspiegel sind für meine Begriffe daher eher eine Waffe.« »Ich glaube nicht, daß Monsieur Tschirnhaus diesen Gedanken sehr zugetan wäre.« »Erinnern Sie sich noch an den Brief mit den Punkten, in dem ich dem König Vorschläge für die Nutzung des künstlichen Goldes gemacht habe? Daß er auf meine Punkte nicht eingegangen ist, verstehe ich ja noch – kein Gold für Mätressen …« Böttger grinste und machte eine wegwerfende Handbewegung. »… Aber nicht einmal auf Ihre löb290
lichen Punkte mit der Verwendung für die Hinterbliebenen der Bergleute … Nie ist er auch nur mit einem Wort darauf eingegangen. Um es kurz zu machen: Der König wird mit unseren wissenschaftlichen Errungenschaften ohnehin nur das tun, was ihm beliebt, und nicht das, was uns vorschwebt, glauben Sie nicht auch, Pabst?« »Was sonst erwarten Sie denn? So ist die Welt inzwischen. Die alten Griechen waren da klüger. Keinem Nichteingeweihten verrieten sie ihre naturwissenschaftlichen und mathematischen Erkenntnisse … Das geht heutzutage nicht mehr.« Sie erreichten den Hauptweg aus dem Erzgebirge zum südlichen Stadttor, und die Fahrt wurde ruhiger. Über den brachliegenden Feldern schickte sich die Sonne an unterzugehen und ließ einzelne Gehöfte feurig erglühen.
*** Eine andere Kutsche, weitaus prächtiger mit goldenen Muschelornamenten und Engeln geschmückt, näherte sich zur gleichen Zeit Dresden von Osten her. Seine Kurfürstlich-Königliche Majestät hatte den langsamen Treck seines Hofstaats hinter sich gelassen und seine Kutsche nebst der hundertköpfigen Begleitmannschaft unermüdlich angetrieben, um noch vor der Dämmerung das Dresdner Schloß zu erreichen, das er seit vier Jahren nicht mehr betreten hatte. Ihm gegenüber saß Pater Vota, den August mit amüsanter Unterhaltung über das Unbehagen hinwegzuhelfen suchte, das jener empfand, seit sie ins Kernland des Luthertums eingereist waren. Ironisch hatte August ihm die streng puritanische Gesinnung seiner Sachsen geschildert, die allerdings durch ihre Lebenslust gemildert wurde, die viele Pastoren teilten. Luther sei schließlich kein Kostverächter gewesen. Nur einige wenige Pastoren würden wirklich richtig puritanisch sein, fast calvinistisch, obwohl sie Calvinisten wie Papisten verabscheuten. »Jedenfalls kann ich in keinem Fall ihre Maßstäbe gelten lassen. Als von Gott eingesetzter König bin ich nur dem Herrn gegenüber verantwortlich. So ist es von Gott eingerichtet. Al291
lerdings habe ich den Pfaffen per Dekret erlaubt, mich und die Obrigkeiten in der halben Stunde während ihrer Predigten zu beschimpfen. Aber gnade ihnen Gott, wenn einer außerhalb des Gotteshauses über mich oder meinen Lebenswandel wettert. Dann betrachte ich es als Anstiftung zum Aufruhr. Niemand mischt sich ungestraft in meine Angelegenheiten ein.« Pater Vota schaute eine Weile nachdenklich aus dem Fenster, um etwas zu finden, mit dem er die Sicherheit des Königs erschüttern konnte. »Auch Ihre Mätressen nicht, Majestät?« »Gott bewahre … Sie dürfen allerdings über gewisse Angelegenheiten im Bett bestimmen, Pater«, gab August vergnügt zurück, »zu meiner Entspannung.« Pater Vota gestattete es sich, streng den Finger zu heben. »Körperliche Lust ist Sünde, Majestät.« August seufzte nur genießerisch. »Entspannung belebt den Geist, Pater, erhält ihn gesund. Mich gesund zu erhalten verlangt die Würde meines Amtes – und mein Land.« August wies aus dem Fenster und beugte sich vor. »Mein Sachsen. Schauen Sie doch, wie schön akkurat die Felder ausgerichtet sind, und dort drüben, die Weinhänge. Ohne die Sünde, Pater, gäbe es keine fleißigen Hände, die dies alles vollbringen. Ein erbaulicher Anblick, so eine kultivierte Landschaft, der mich stolz macht … Noch ein paar Minuten, dann müßten die Türme von Dresden zu sehen sein.« August lehnte sich wieder zurück in die Polster. »Sie werden Dresden lieben, Pater.« Davon war Pater Vota nicht sehr überzeugt. Durch Gesetz war es den Katholiken in Sachsen sogar an ihren höchsten Feiertagen verboten, ihre Umzüge abzuhalten, um nicht die Empfindungen der Protestanten zu beleidigen. Die Kutsche hatte den Hügelrücken erreicht, und es ging abwärts ins weite Becken und die Ebene um die sächsische Hauptstadt. Die Kirchtürme kamen in Sicht, ragten über kleine Waldstücke zwischen den Feldern empor, dunkel erhoben sich die Festungsanlagen im Gegenlicht. August genoß den Anblick, bis er eine dünne Rauchwolke über 292
der Altstadt entdeckte. Besorgt stand er auf und beugte sich weiter aus dem Kutschenfenster. Die Rauchwolke wurde zusehends dicker. Aufgeregt rief er nach vorne: »Tempo, Messieurs, schneller! Es brennt in der Altstadt!« Augenblicklich ertönte ein Trompetenstoß, und die Kutschpferde wechselten in den Galopp. August ließ sich wieder in den Sitz fallen und beantwortete den fragenden Blick des Paters. »Vor zehn Jahren brannte die ganze Neustadt ab. Man war schlecht organisiert. Meiner Regierungszeit darf kein solcher Makel anhaften.«
*** Vorsichtig hob Böttger immer mal wieder den Vorhang am Kutschenfenster an, den er auf Geheiß der Begleiteskorte am Stadttor hatte zuziehen müssen. Reich mit Schnitzereien verzierte Häuser der Altstadt zogen vorbei. Hier und da kündeten die Bauarbeiten davon, daß man zwei, drei kleine Häuser zu einem großzügigeren Palais verband. Es herrschte lebhafter Passantenverkehr, und sie kamen nur langsam voran, weil immer wieder Lastkarren den Weg versperrten. »Man ist geschäftig in Dresden«, bemerkte Böttger staunend. »Alle Welt wartet darauf, daß der König eintrifft. Jeder will dafür gerüstet sein«, freute sich Ohain. »Es ist bald vier Jahre her, daß er Dresden besuchte.« Böttger zog den Vorhang noch mehr zur Seite und lehnte sich hinaus. Sofort gab der Sergeant einen scharfen Pfiff von sich, und Böttger ließ sich gehorsam zurück in den Sitz fallen. »Was gäbe ich darum, jetzt da draußen zu flanieren, Pabst, einfach so, mit nichts anderem im Sinn, als dem Leben zuzuschauen.« Doch der Bergrat zuckte nur die Schultern. In einiger Entfernung hörten sie aufgeregtes Geschrei. Die Kutsche bog um die Ecke in die Kreuzergasse, und nun war es deutlich zu vernehmen. »Feuer, Feuer! Leute helft, ein Feuer in Schönbergs Haus!« Wenige Meter vor dem Schönbergschen Haus kam die Kutsche zum Stehen, weil panische Helfer die Straße verstopften. Sofort war Böttger 293
wieder am Fenster, die Gefahr einer Ausbreitung des Feuers setzte alle Regeln außer Kraft. Aus dem zweiten Stock des Schönbergschen Hauses drangen dichte Rauchwolken, im ersten Stockwerk stieß eine Frau das Fenster auf. »Sie da«, rief sie, »Sie alle da!« Mit einer Armbewegung umschrieb sie einen Kreis um die Leute vor der Kutsche, »Sie nehmen die Eimer und bleiben beim Brunnen, um zu schöpfen … Und Sie da«, sie deutete auf andere direkt vor dem Haus, »Sie bilden eine Kette und bringen die Eimer hierher – und Sie dort … kommen herein und helfen im Haus.« Die Frau im Fenster war Charlotte. Böttger blickte zum Sergeanten, der schon absprang, seine Leute folgten ihm und schlossen sich den Helfern an. Ohne auf den Protest Ohains zu achten, riß Böttger sich den Gehrock vom Leib und sprang aus der Kutsche. Sprachlos starrte ihm Pabst hinterher. Blitzschnell verschwand Böttger in einer Gruppe von Helfern, die mit gefüllten Wassereimern auf das Haus zurannten. Böttger nahm einem jungen Burschen den Eimer ab und herrschte ihn an: »Schnell, hol neue, gleich zwei!« Sofort kehrte der Junge um und lief in Richtung Brunnen zurück. Wenige Augenblicke später war Böttger im Haus. Drinnen herrschte hektisches Gedränge. Die einen hasteten mit Wassereimern die Treppe hinauf an Dienern vorbei, die versuchten, Möbel nach unten zu schleppen. Böttger wollte mit dem Eimer schon die Treppe nach oben stürmen, als er Charlotte entdeckte, die sich dicht am Geländer mit ihrer Schmuckschatulle im Arm nach unten durchschlängelte. Er blieb stehen. Ihr Gesicht war vom Rauch verschmiert, das Kleid an einer Seite zerrissen. Als Charlotte unten angekommen war, rannte sie ihn fast um, während er hastig hervorstieß: »Gnädigste … Madame, hier bin ich … zu helfen, zu retten, verfügen Sie über mich …« Charlottes Verblüffung währte nur kurz. »Was für ein überaus passender Moment. Was stehen Sie herum? Wollen Sie nicht löschen helfen?« Sie wies mit dem Kopf nach oben. Doch Böttger stand nur da, glotzte Charlotte an und wußte nur eins: Diese Chance mußte er nutzen. Die Nachbarn, die Dienerschaft, ja so294
gar die Leute aus seiner Eskorte, alle waren vollauf mit den Löscharbeiten beschäftigt, keiner kümmerte sich um sie. Kurz entschlossen ergriff er ihren Arm. »Es rennen schon genug Leute die Treppe rauf und runter. Kommen Sie aus dem Weg, Madame, damit die Helfer Platz haben.« Konsterniert ließ sich Charlotte von Böttger um die Treppe herum nach hinten ziehen, während Böttger fortfuhr: »Madame, nur einen winzigen Moment, Madame. Seit unserem, seit Sie …« Auf einmal wußte er nicht weiter. Charlotte sah ihn entgeistert an. »Es brennt, Monsieur. Sie sind wahnsinnig!« Böttger zuckte die Achseln. »Euridike holte ihren Orpheus aus der Hölle, nicht wahr? Um wieviel besser steht es einem Mann an, für seine Geliebte das gleiche zu tun.« »Sie aber tun genau das Gegenteil.« »Ich rette Sie vor der Gefahr, niedergetrampelt zu werden.« Das panische Schreien und Rufen der rennenden Leute, der Diener, die mit Möbeln die Treppe verstopften, der sich verdichtende Rauch, dies alles störte ihn nicht im geringsten. Böttger sah nur Charlotte, deren Unsicherheit seine Verliebtheit noch steigerte. Mit aufgeregt glänzenden Augen rückte er näher an sie heran, um sie in den Arm zu nehmen und zu küssen. Charlotte drehte sich ab und zog ihn noch weiter unter den Treppenabsatz, der unter den polternden, rennenden Füßen erzitterte. »Sie sind verrückt und haben eine höchst merkwürdige Art aufzutauchen.« Böttgers Blick hielt Charlotte fest, und sie begann das Chaos um sie herum zu ignorieren. »Haben Sie den Brand gelegt?« Charlotte schaute Böttger unbefangen in die Augen. »Nein. Die Kerze meiner Zofe entflammte einen Vorhang.« Charlotte hatte keine Chance gehabt, das Feuer zu löschen, obwohl sie es als erste entdeckt hatte. Auf der Suche nach Amalie, ihrer Zofe, war sie zum Ankleidezimmer in den zweiten Stock gestiegen, wo diese für gewöhnlich nähte. Das Nähzeug lag auch tatsächlich auf dem kleinen Tisch am Fenster, aber Amalie war nicht da, und daher hatte ihre 295
Kerze auf dem Tisch unbemerkt den Vorhang in Brand gesetzt. Auch der Fenstersturz hatte bereits Feuer gefangen, es mußte schon länger brennen. Sofort hatte Charlotte den Vorhang herunterreißen wollen, doch er war zu gut befestigt. Sie rief um Hilfe. Danach hatte sie regungslos aufs Feuer gestarrt und gedacht, daß es ein Zeichen war, daß Gott ihr Gefängnis abbrennen ließ. Um Hausstand, Möbel, sogar ihre Kleider tat es ihr nicht leid. Das alles konnte man ersetzen. Sie erwachte erst aus der Erstarrung, als sie die Diener nahen hörte. Gemeinsam bemühten sie sich, das Feuer auszuschlagen, doch auch ihre vereinten Bemühungen waren umsonst. Es gelang ihr lediglich, ihre Schmuckschatulle zu retten. Danach war sie auf den Flur an ein anderes Fenster gestürzt und hatte damit begonnen, die Löscharbeiten zu ordnen. Und nun stand Johann vor ihr, ausgerechnet in diesem Augenblick. War auch das ein Zeichen? Doch anstatt sie zu retten, zog er sie tiefer ins Haus. In ihr drehte sich alles, nichts war an seinem Platz. Wie von Fäden gezogen hob sie die Arme und schlang sie um seinen Hals, griff unter die Perücke in seine Haare und hob den Mund. Es wurde ein lang anhaltender Kuß. Ein ohrenbetäubendes Bersten und ein dumpfer Schlag rissen beide aus ihrer Trance. Durch die offene Hintertür hatte sich ein brennender Balken in den Flur hinein überschlagen und verbreitete beißenden Rauch. Unwillkürlich drängten sie sich noch tiefer unter den Treppenabsatz. Zwei Männer mit Wassereimern hasteten an ihnen vorbei und entleerten sie über den Balken. Der Qualm verstärkte sich. Tränen traten ihnen in die Augen, und Böttger ergriff Charlottes Hand. »Kommen Sie. Wir müssen hier raus.« Nur der unbestimmten Helligkeit folgend, zog er sie nach vorne zur Straße. Doch sie widersetzte sich, öffnete ihren Schmuckkasten, wühlte hastig darin herum und fischte ein Medaillon hervor. »Hier, Johann. Verwahr es gut! Es ist von meiner Mutter … Leb wohl.« Wie angewurzelt stand Böttger da und betrachtete das kleine goldene Herz in seiner Hand und klappte es schließlich auf. Es war leer. Er sah auf zu ihr. Sie hatte ihn geduzt. Das war fast noch unerhörter als 296
alles andere. »Ich werde ein Porträt von dir prägen lassen und in das Medaillon fügen lassen. Aus Gold natürlich«, setzte er enthusiastisch hinzu. Jetzt war es Charlotte, die an ihm zog. »Los, komm, Johann.« Sie blickte den Flur hinunter in Richtung Tür, wo durch den Qualm kaum mehr etwas auszumachen war. »Was ist, Johann, willst du versuchen zu fliehen? Hinten hinaus, durch den Garten?« Mit Tränen in den Augen, die gleichermaßen seiner Rührung wie dem beißenden Qualm zuzuschreiben waren, blickte Böttger sie nur verständnislos an. »Ich würde dich nie wiedersehen können … Nein! Um keinen Preis der Welt!« Er schüttelte den Kopf. »Ich bleibe. Es wird ein Tag kommen, wo wir beide frei sind, mein Tag, unser Tag.« Dumpf dröhnte von draußen die erste Kirchturmglocke herein. Feueralarm. Charlotte sah Böttger mit großen Augen an. »Wann wird das sein, Johann? Es scheint so weit weg, so unmöglich.« »Denkst du, ich schaffe es nicht?« brauste Böttger mehr verblüfft als zornig auf. »Um Himmels willen, nein«, wehrte Charlotte ab und lächelte verzweifelt. »Aber vergiß nicht, daß auch ich eine Gefangene bin, obgleich es dir nicht so erscheint.« Irritiert konstatierte Böttger diese Kleinmütigkeit, diese Verzagtheit, die so gar nicht zu seiner selbstbewußten Charlotte zu passen schien. »Der König wird mich adeln, Charlotte. Es wird geschehen. Alle Türen werden mir offenstehen. Und dann … kommst du zu mir.« Liebevoll strich Charlotte ihm über die Wange, doch in ihren Augen stand Zweifel. »Verzeih, Liebster, ich will mehr als nur einige kurze Augenblicke des Glücks.« Ihre Zweifel verletzten Böttger. Er mußte den Impuls unterdrücken, sie anzubrüllen, statt dessen preßte er mühsam hervor: »Du mußt eben noch Geduld haben.« Im Treppenhaus über ihnen barsten Balken. Das Husten und Rufen um sie herum verstärkte sich, und beide begannen sich nach vorne in Richtung Straße durchzutasten. 297
Das Gesicht eines Dieners tauchte aus dem Qualm auf. Erschrocken schrie er: »Madame, was machen Sie noch hier drinnen!« Er zerrte Charlotte mit sich. Böttger folgte ihr, beugte sich zu ihrem Ohr und flüsterte: »Bis bald, Liebste«, was sie wegen des Krachs mehr ahnte als hörte. »Adieu, Johann«, formten ihre Lippen. Sie erreichten die Straße, wo einige der Helfer in der Hektik die Wassereimer am Fuß der Häuser und über gerettete Möbel auskippten. Charlotte sah sich um. Gleich neben der Tür stand ein abgestellter Holzkarren. »Helfen Sie mir da hinauf«, befahl sie dem Diener, der sie eigentlich weiter fortziehen wollte. Doch Charlotte entwand sich seinem Griff, schürzte ihr Kleid und kletterte auf den Karren. »Die Möbel da weiter hinüber, weiter weg, sonst ist hier kein Durchkommen!« rief Charlotte mit kräftiger Stimme, die alle aufsehen ließ. »Lauft und tränkt die Nachbarhäuser mit Wasser. Aber von oben, vom Dach aus. Los, los, holt mehr Eimer, los schon!« Inzwischen waren alle Kirchenglocken Dresdens in den Feueralarm eingefallen. Von rechts kamen der Stadthauptmann und seine Garde mit Leitern angeritten, die sofort die zum Teil schon erschöpften Helfer ablösten und begannen, Leitern an die Nachbarhäuser zu legen, hinaufkletterten und Wassereimer über die Fassaden leerten. Da Böttger seinen Blick nicht von Charlotte lösen konnte, drückte er sich an die Hauswand gegenüber dem Karren. Charlotte sah an der Fassade des Schönbergschen Hauses hinauf, wo aus den Fenstern im zweiten Stock schon die Flammen schlugen. Plötzlich wurden die Bewegungen der Helfer langsamer, einige blieben sogar stehen und verneigten sich. Böttger folgte den Blicken. Dort war eine mit üppigem Schnitzwerk versehene, goldene Kutsche erschienen, prächtiger als alles, was Böttger je gesehen hatte. Die Tür öffnete sich, und ohne das Ausklappen des Treppchens abzuwarten, sprang der König heraus und stürmte, ohne auf die sich ebenso erschrocken wie ehrfurchtsvoll verneigenden Dresdner zu achten, zum Schönbergschen Haus, wo Charlotte gerade zwei Diener zurechtwies, die angekohlte Vorhänge aus dem Fenster im ersten Stock herunterwarfen. »Laßt das. Kommt endlich herunter. Unser Haus ist nicht mehr zu 298
retten. Helft lieber bei den Nachbarhäusern. Was ist? Was starrt ihr. Bewegt euch, verdammt noch mal.« Doch sie starrten weiter auf irgend etwas hinter Charlotte, die sich unwirsch umdrehte. »Was zum …« Die Worte blieben ihr im Halse stecken. Vor sich, fast auf gleicher Höhe erblickte sie eine hochaufgetürmte Perücke und darunter unzweifelhaft den König, den sie nur von Bildern kannte, groß, prächtig, stark, mit einem amüsierten Lächeln auf den Lippen. Vor Schreck verlor Charlotte fast die Balance auf dem Karren und stotterte: »Königliche Majestät …« Sie sank in den Hofknicks, was ihr die Balance auf dem Karren nahm, und nur die helfende Hand des Königs bewahrte sie davor abzustürzen. »Madame, wollen Sie nicht lieber herunterkommen.« Charlotte suchte ihre Haltung wiederzugewinnen. »Verzeihen Sie, Königliche Majestät, meine Worte … Aber es gilt, die Häuser, vielleicht sogar die Stadt zu retten.« August nickte wohlwollend. »Ganz recht, Madame.« Er warf den Kopf nach hinten und brüllte hoch zu den Dienern am Fenster: »Warum tun Sie nicht, was die Dame befohlen hat?« Dann drehte er sich zur Straße, wo einige Helfer und Schaulustige noch immer in ihrer Verneigung verharrten. »Hört auf, mir zu huldigen, das hat Zeit, macht weiter! … Stadthauptmann, zu mir. Warum hat man nicht schon längst die Dächer der Nachbarhäuser unter Wasser gesetzt? Wir brauchen mehr Leitern. Hoch mit dem Wasser, aufs Dach damit. Wehe, der Brand breitet sich aus.« Er wandte sich zurück zu Charlotte und setzte von einer Sekunde zur nächsten sein charmantestes Lächeln auf. »Madame, ich denke, Sie haben überaus tapfer und umsichtig gehandelt. Darf ich Ihren Namen wissen?« »Charlotte von Schönberg, Majestät.« Diesmal war Charlotte vorsichtiger mit ihrem Knicks. August streckte die Hand zu ihr aus und sagte mit Bewunderung in der Stimme: »Sie sind also die sagenumwobene Gattin meines Finanzministers.« 299
Doch Charlotte blieb oben stehen und ignorierte die Hand des Königs. Sie war sich durchaus nicht sicher, ob er sie nicht – gewissermaßen wörtlich – auf den Arm nehmen wollte, und wiederholte skeptisch: »Sagenumwoben, Majestät?« »Durchaus, Madame«, erwiderte August ganz ernsthaft. »Ob Ihrer Schönheit, Madame. Und nun sehe ich, daß Klugheit und Tatkraft noch hinzukommen …« Charlotte errötete leicht, was Augusts prüfendem Blick nicht entging, und so fuhr er sachlicher fort: »Doch verzeihen Sie bitte einen Moment, vorderhand haben wir ein Feuer zu löschen.« August sah wieder hoch zu den Häusern, wo inzwischen Helfer aus Dachluken mit größtmöglichem Schwung Wasser über die Dächer schütteten. Befriedigt wandte er sich wieder Charlotte zu, und er streckte seine Hand erneut aus. »Ich denke, es gibt jetzt genügend Männer, die Ihre Arbeit fortsetzen. Sie haben Ihre Schuldigkeit getan.« »Vielen Dank, Majestät, es geht schon.« Obwohl die Schmeichelei des Königs sie eingeschüchtert hatte, wollte Charlotte ihre Unabhängigkeit beweisen und sprang leichtfüßig vom Karren, ohne die dargebotene Hand des Königs zu nutzen.
Mit wachsender Unruhe hatte Böttger die Begegnung verfolgt. Obwohl er ihr Gespräch durch den Lärm nicht hatte verstehen können, war doch unschwer zu sehen, daß der König Charlotte beeindruckt hatte. Unwillkürlich trat Böttger von der Hauswand nach vorne, um sich Charlotte zu zeigen, als sie heruntergesprungen war. Da packte ihn die kräftige Hand des Sergeanten seiner Eskorte und riß ihn mit sich. »Ab hier. Los! Wenn Sie nicht noch mehr Ärger wollen.« Bevor Böttger sich wehren konnte, hatte ihn von der anderen Seite ein Wachgardist zu fassen bekommen. Zwei dicke Matronen, die sich neugierig dem König genähert hatten, beäugten ihn mißtrauisch und machten den Soldaten mit Böttger ängstlich Platz. Böttger spähte zu 300
Charlotte zurück und bemerkte, daß ihr Blick ihn verfolgte. Um kein unwürdiges Schauspiel abzugeben, richtete er sich auf und zischte die Soldaten an: »Laßt los, es ist ja schon gut. Ich komme mit.« August hatte den Blick Charlottes verfolgt und sich neugierig umgewandt, sah die Gardisten mit dem Mann zwischen sich. Erst als man den Mann in die Kutsche mit dem Emblem der Erzminen warf, erkannte er seinen Goldmacher. Die Frage, was der Kerl hier zu suchen hatte, verschob er auf später. Vor ihm stand die anmutigste, schönste Frau der Welt, die seine ganze Aufmerksamkeit erforderte. Er wollte sich wieder Charlotte zuwenden, als ihn ein Schwung Wasser traf. Die aufgetürmte Perücke sank in sich zusammen, Wasser lief ihm über das Gesicht. Der König sah nach oben und brüllte: »Ihr Hornochsen!« Auf dem Dach erstarrten die Helfer. August zuckte mit den Achseln, senkte seinen Blick wieder auf Charlotte und lachte: »Damit ist zumindest sichergestellt, daß ich nicht verbrenne … Nun Madame, ich denke, wenigstens Sie sollten einen kommoderen Platz aufsuchen. Ich lasse Sie im Schloß einquartieren. Ich möchte Sie bitten, diese Einladung anzunehmen.« Charlotte sah sich um. Dem Stadthauptmann und seinen Leuten war es inzwischen gelungen, eine durchgehende Kette für die Wassereimer zum Brunnen und in die Nachbarhäuser bilden zu lassen. Ein wenig weiter unten in der Straße stapelte sich der gerettete Hausrat aus dem Schönbergschen Besitz, darum herum standen ein wenig hilflos die Diener und Mägde. »Majestät, es wäre nicht schicklich, das Gesinde mit dem Hausrat allein zu lassen. Zudem erwarte ich jeden Augenblick meinen Gemahl.« »Was Ihre Leute und Habseligkeiten angeht, das erledige ich. Ihr Gemahl aber dürfte erst heute abend mit meinem Hofstaat eintreffen.« Ohne Charlottes Zustimmung abzuwarten, winkte August zum Hauptmann seiner Garde, der in gebührendem Abstand auf die Befehle seines Königs gewartet hatte. »Kümmern Sie sich darum, daß die Leute des Schönbergschen Hauses ein Quartier finden, sofern sie nicht bei ihren Familien wohnen können. Der Hausrat soll vorläufig zum 301
Schloß geschafft werden. Man soll dort Zimmer für Madame Schönberg und ihren Gemahl bereitstellen.« Zu Charlotte gewandt deutete er eine kleine Verbeugung an. »Sie sehen, Madame, Sie haben jetzt keine Ausrede mehr.«
»Bei der nächsten Ausfahrt fessele ich Sie!« hatte der Sergeant Böttger hinterhergerufen, als er ihn unsanft in die Kutsche geschubst hatte, so daß er vor Ohains Füßen zu liegen kam. Gleich darauf ruckte die Kutsche an. Böttger kümmerte es wenig. Er rappelte sich hoch und setzte sich auf die Bank, in der geschlossenen Faust Charlottes Medaillon. Unsichtbar für Ohain öffnete er die Hand und betrachtete das Pfand, steckte den Kopf aus dem Türfenster, um nach Charlotte und dem König zu sehen. Sofort traf ihn ein Hieb des Sergeanten auf den Kopf. Doch er hatte genug gesehen. Der König stand immer noch mit Charlotte vor dem Haus. Neugierig befragte Ohain ihn nach seinen Erlebnissen im Haus. Böttger wehrte die Fragen ab und brütete vor sich hin. Als sie im Goldhaus ankamen, stürmte er die Treppen hoch in sein Labor und war für niemanden zu sprechen. Zum ersten Mal in seinem Leben verspürte er ohnmächtige Eifersucht.
*** Im Schloß hatte man Charlotte die Zimmerflucht des Pferdemarschalls im zweiten Stock zugewiesen, den man in die Garnison umquartierte. Während sie sich im Bad frisch machte, heulte Amalie unentwegt und hörte nicht auf, sich anzuklagen, das Feuer verursacht zu haben. In dieser Sache war Charlotte machtlos, Schönberg würde sie davonjagen, selbst wenn sie ein gutes Wort für Amalie einlegte. Schließlich gingen Charlotte die nicht enden wollenden Selbstanklagen auf die Nerven, und sie warf sie aus dem Bad. Sie mußte in Ruhe nachdenken und setzte sich auf den Rand des Zubers. 302
In ihr jagten sich die Eindrücke der letzten Stunden. Ihre Gefühle befanden sich in heilloser Verwirrung. Einesteils triumphierte sie. Eine unglaubliche Fügung hatte sie unversehens in die höchsten Höhen des Hofstaats katapultiert. Sie war dem König nicht bloß angenehm aufgefallen, sie hatte Begehren in seinen Augen gelesen. Wenn sie es zuließ, würde sie noch heute nacht in seinem Bett liegen. Und er war nicht nur der König, sondern auch ein starker, charmanter, blendend aussehender Mann. Gleichzeitig war der schlimmste aller möglichen Fälle eingetreten: Nur eine Minute bevor der König auftauchte, hätte sie reinen Herzens schwören können, daß sie ausschließlich Johann liebte. Dachte sie an den König, wallte Ehrgeiz in ihr auf, der Wille, diesen Mann für sich zu erobern. Ihr Ehemann würde nichts dagegen unternehmen können. Der König war der König. Charlotte wußte, was es hieß, seine Mätresse zu sein. Sie würde neben ihm sitzen, und alle würden sich um ihre Gunst bemühen. Alle. Sie gestand sich ein, daß darin auch Berechnung lag. Wer aber schlug schon die Tür zu, hinter der sich alle Köstlichkeiten des Lebens auftaten? Ruhm und Ehre, ein angenehmes Leben im höchsten Luxus. Es war verlockend. Johann stand für etwas anderes. Noch immer weckte der Gedanke an Johann leidenschaftliche Gefühle in ihr. Sein Feuer, seine Unberechenbarkeit, dieser erotische Duft nach Abenteuer, der von ihm ausging. Sie konnte ihn nicht aus ihrem Herzen vertreiben, obwohl er ihr keinerlei Sicherheit bot. Wohl aber der König, wenn sie erreichte, nicht bloß die Laune einer Nacht für ihn zu sein. Sie mußte ihn hinhalten – ihm vielleicht in ein, zwei Wochen eine Nacht gestatten und sich danach zurückziehen. Der König sollte Mühe aufwenden, um sie kämpfen, damit sie in seinen Augen an Wert gewann. Er sollte warten, bis sie sich von Schönberg hatte scheiden lassen. Dieser Gedanke kam ihr plötzlich wie etwas Selbstverständliches vor, obwohl es eine höchst komplizierte Sache war, ja überhaupt fraglich, ob sie eine Scheidung durchsetzen konnte, ohne mit Schimpf und Schande außer Landes gejagt zu werden. Aber 303
sie hatte jetzt einen hohen Verbündeten, den höchsten, den man überhaupt haben konnte. Wenn sie es klug anstellte, würde ihr Sachsen bald zu Füßen liegen. Es klopfte an der Tür. »Die verehrte Gräfin Krahl wünscht Sie zu sprechen, Madame«, schniefte Amalie vor der Tür. Charlotte erschrak. Sie schaute in den Spiegel, sie war noch völlig unpräsentabel. »Komm herein, Amalie. Hilf mir, mich fertigzumachen.« Mit verheulten Augen trat ihre Zofe ein. Charlotte ließ ihr keine Zeit, wieder mit Jammern anzufangen. »Los jetzt, schnell. Ich muß der Gräfin in angemessener Garderobe begegnen.« Die Rolle, die Charlotte zu spielen gedachte, verlangte höchste Sorgfalt bei ihrer äußeren Erscheinung. Johann würde ihr trotzdem bleiben. Er gehörte zu einer anderen Welt. Sie durfte nicht die Chance vertun, in den sächsischen Olymp aufzusteigen. Als Charlotte wenig später beschwingt in den kleinen Salon lief, war sie verblüfft, die Gräfin Krahl nicht mit pflichtgemäß trauerndem Gesicht vorzufinden, sondern mit einem strahlenden Lächeln. »Ich weiß, Madame, ich sollte betrübt dreinschauen, liebe Freundin, doch da ich Ihr Herz kenne, erlaube ich mir, Sie zu beglückwünschen. Die Begegnung zwischen Ihnen und unserer Königlichen Majestät sorgt für mehr Gesprächsstoff in Dresden als der furchtbare Brand. Madame, meine Stunde ist gekommen. Ich will Sie auf den Umgang mit unserem König vorbereiten. Es ist mir ein Herzensbedürfnis, nach allem, was Sie durchgemacht haben.«
*** Spät am Abend erreichte Schönberg niedergeschmettert die Zimmerflucht im Schloß und jammerte über das grausame Schicksal, sein Haus zerstört vorzufinden. Charlotte empfing ihn in einem schlichten, grauseidenen Kleid, das ihr für den Anlaß angemessen erschien. Kühl stand sie auf und begrüßte ihn mit einem flüchtigen Kuß auf die Wange. »Es tut mir außerordentlich leid, Monsieur. Das Ganze ist sicher ein großes Unglück.« 304
»Sie können gar nicht ermessen, was es bedeutet, das Haus meines Vaters zu verlieren. Ich war so glücklich dort.« »Das kann ich von mir nicht unbedingt behaupten, Monsieur. Und da nun mal unser gemeinsamer Hausstand vernichtet ist, wollte ich die Gelegenheit wahrnehmen, Sie darum zu bitten, uns scheiden zu lassen.« Schönberg starrte Charlotte verständnislos an, und es brauchte eine ganze Weile, bis er die ungeheuerliche Forderung begriff, mit der Charlotte sein Unglück noch vermehren wollte. Eine Scheidung lag außerhalb seiner Vorstellungswelt. »Eine Scheidung, in meiner Position – das ist einfach nicht möglich! Meine Ehre, mein Ansehen stehen auf dem Spiel, meine Stellung, alles! Wie werde ich dastehen? Ich werde zu verhindern wissen, daß es überhaupt zu so etwas wie einer Verhandlung kommt.« Dann hatte er sich soweit gefaßt, daß er Charlotte in ihre Schranken weisen konnte. »Ich fordere Sie auf, Madame, diesen Unsinn zu vergessen und mir gehorsam zu sein, wie es sich gehört.« Drohend schritt er auf Charlotte zu, die sich ebenfalls erhob und ihm einen derart verächtlichen Blick zuwarf, daß er unwillkürlich stehenblieb. »Nun, Monsieur, ich werde behaupten, unsere Ehe wäre gar nicht vollzogen worden. Das beleidigt nicht nur mich, sondern widerspricht der Intention und Institution der Ehe. Statt dessen kann ich beweisen, daß sich Ihrer eine Hexe bemächtigt hat. Sie glauben doch an Hexen, nicht wahr? Dann wollen wir doch mal sehen, was das geistliche Konsistorium dazu sagt.« »Sie sind verrückt. Das Wort einer Frau hat vor Gericht kein Gewicht. Man wird Ihre Vorwürfe als Ergebnis einer allzu lebhaften Phantasie abtun. Noch nie wurde eine Ehe durch den Willen einer Frau gelöst – noch nie, Madame.« »Dann wird es höchste Zeit! Wir leben in einem neuen Jahrhundert, Monsieur. Die Dinge ändern sich.« Dann schoß Charlotte ihren letzten Pfeil ab. »Und nun, Monsieur, Seine Majestät hat schon nach mir geschickt, und da die Etikette nun mal vorschreibt, daß Sie mich offiziell vorstellen, begleiten Sie mich bitte zum König.« 305
Mit offenem Mund starrte Schönberg sie an und atmete schwer. Schließlich verzog er sein Gesicht zu einem maliziösen Lächeln. »Was versprechen Sie sich davon, Madame? Der Hof ist eine Schlangengrube, ein Gehege wilder Tiere, die einander belauern. Ich habe Sie vor diesem Intrigenspiel bewahren wollen, Sie beschützt. Am Anfang erscheint alles einfach. Aber Sie wissen nicht, wie man dort überlebt.« Charlotte lachte ihn aus. »Intrigen sind mir nicht fremd, Monsieur, und ich weiß mich meiner Haut zu wehren. Außerdem ist es der König, der mit mir plaudern möchte.« »Um so schlimmer. Der König lebt nur für sein Plaisir. Sie dürfen ihn nie beim Wort nehmen.« Aber bei seinen Augen, dachte Charlotte und antwortete nur: »Sie werden mich nicht davon abbringen.« »Geht es um eine Nacht mit dem König? Ist es das? Was glauben Sie, was das wert ist, Madame? Einen Ring. Zwei Nächte ein Armreif. Das sind die Sätze. Sie kennen den König nicht. Früher oder später läßt er jede Frau fallen – und meist ist es früher, glauben Sie mir. Und schlagen Sie sich die Scheidung aus dem Kopf. Wer nimmt schon eine geschiedene Frau. Ich sage es in Ihrem Interesse, Madame, jawohl, in Ihrem Interesse.« Charlotte trat auf ihn zu und strich ihm über die Wange. »Vielleicht, Monsieur, meinen Sie es tatsächlich ehrlich, was das anbetrifft. Dennoch vertun Sie Ihre Zeit. Es ist aus. Finden Sie sich damit ab. Trösten Sie sich meinetwegen mit Ihrer Mätresse.«
*** Fast mißbilligend schürzte August die Lippen. »Das wäre ein Novum, daß eine Frau eine Scheidung begehrt – ein höchst ungewöhnlicher Gedanke.« In einer Nische des restaurierten Riesensaales saß August mit Charlotte auf zwei Tabourets, während Fürstenberg ein wenig abseits wartete. Charlotte ließ sich nicht beeindrucken. »Königliche Majestät. Warum sollte eine Frau – anders als ein Mann – etwas aufrechterhalten 306
wollen, das niemandem dient, sondern nur Leid bringt? Warum sollte sie eine Bindung fortsetzen wollen, in der sie nichts als Mißachtung erfährt? Wo steht geschrieben, daß eine Frau so etwas ertragen muß? Darf eine unglückliche Heirat mein Leben verderben?« Gern hätte August geantwortet: ›Weil eine Frau dem Manne Untertan sein soll‹ und wußte doch, daß diese bei den Pfaffen abgekupferte Antwort Charlotte nur noch mehr aufbringen würde. August war zwiegespalten. Einerseits empfand er den Gedanken einer Scheidung, noch dazu von einer Frau vorangetrieben, als höchst fragwürdig. Andererseits bewunderte er Charlotte dafür, wie selbstbewußt sie sich verteidigte. Auch ihrer Logik vermochte er sich nicht gänzlich zu verschließen. Noch nie war ihm eine Frau begegnet, die so rücksichtslos für sich selbst eintrat und ihm so wenig nach dem Munde redete, und das war weit spannender als die übliche Hofkonversation. Auch seine Aurora war eine selbstbewußte, kluge Frau. Doch nie hatte sie aufbegehrt, nicht einmal seine kleinen Liebschaften mißbilligt. Wenigstens hatte sie es nie gezeigt. Charlotte aber trug ihr Herz auf der Zunge, wagte es, sich nicht in die Gegebenheiten zu fügen, sondern bestand auf ihrem Willen. Dickköpfig war sie, wie ein Kind, verband dies aber mit scharfem Verstand. Eine faszinierende Mischung, diese Charlotte. August liebte nun mal starke Frauen. »Sie sind, Madame nicht nur schön, Sie sind, wie mir scheint, auch ausgesprochen mutig«, schmeichelte August und fügte vorsichtig hinzu: »Ich würde es zu würdigen wissen« und garnierte dies mit einem gewinnenden Lächeln. Da war er schon, der Satz, den Charlotte erwartet hatte, nonchalant vorgebracht, lässig, fast nebenbei. »Ihre hohe Meinung, Königliche Majestät, wird eben nicht von dem Mann geteilt, an den ich noch gebunden bin. Darum wünsche ich mir nichts sehnlicher, als mich aus dieser Bindung zu lösen, um frei zu sein.« Am Ende des Satzes sah sie ihm offen in die Augen, so daß August keine Möglichkeit hatte, seine Reaktion zu verstecken. Nur eine winzige Sekunde trübte eine leichte Enttäuschung seinen Blick, dann fand er zu seiner Heiterkeit zurück. So schnell ließ er sich nicht entmu307
tigen, vor allem, da er gesehen hatte, daß seine Erscheinung bei Charlotte Eindruck gemacht hatte. Doch bevor er damit fortfuhr, seine Stellung und sein Geld in die Waagschale zu werfen, gab es noch etwas zu klären. August erhob sich, was für Charlotte hieß, seinem Beispiel zu folgen. Sie tat es mit Anmut, nicht hastig und übereilt, sondern souverän, wie August konstatierte. Diese Frau war wirklich alle Mühe wert. »Bitte verzeihen Sie mir, Madame von Schönberg, einen Augenblick nur, wir können unser Gespräch gleich fortsetzen …« Er winkte Fürstenberg. »Darf ich Sie eben zu mir bitten, Exzellenz?« Beide traten einige Schritte beiseite, Charlotte entfernte sich diskret in die Gegenrichtung. Wie immer, wenn ihm etwas besonders wichtig war, bemühte sich August um einen besonders ungezwungenen Tonfall: »Sie kennen ja Madame Schönberg. Sagen Sie ganz offen: Steckt hinter ihrer Scheidungsabsicht ein anderer Mann?« »Nicht, daß ich wüßte, Königliche Majestät.« »Ganz sicher?« »Völlig. Wenn es jemanden gäbe, wüßte ich es durch die Gräfin Krahl. Zudem ist allgemein bekannt, daß Monsieur Schönberg seine Gemahlin geradezu krankhaft unter Verschluß gehalten hat«, meinte Fürstenberg mit süffisanter Miene. August war noch nicht völlig beruhigt. »Ich habe da eine kleine, befremdliche Beobachtung gemacht, Exzellenz. Mag sein, daß ich mich getäuscht habe … Aber ich meinte vor dem Schönbergschen Haus unseren Monsieur Böttger entdeckt zu haben. Kann das sein?« Mit entwaffnender Bewunderung strahlte Fürstenberg den König an. »Ihr Auge ist unübertrefflich, Majestät. Tatsächlich kam Monsieur Böttger von einem Besuch bei Monsieur Tschirnhaus, wie mir berichtet wurde. Der Zufall führte seine Kutsche wohl genau in dem Augenblick vor das Schönbergsche Haus, als dort der Brand ausbrach. Monsieur Böttger stürmte ins Haus und hat wohl ordentlich löschen geholfen.« Doch Fürstenbergs Hoffnung, das Thema mit dieser hübschen Schilderung ad acta legen zu können, wurde enttäuscht. 308
»Sicher sehr löblich, doch es mißfällt mir, daß man ihm derartige Freiheiten erlaubt, Exzellenz«, erklärte August. Fürstenberg hob abwehrend die Hände. »Erlaubt hat man sie ihm sicher nicht, Königliche Majestät, doch bedenken Sie, daß Ihr Goldmacher nur der Erfüllung seiner Christenpflicht nachkam.« August ließ sich nicht beirren. »Er entwischte seinen Wachen, Exzellenz. Das ist schlimm.« »Die Eskorte half beim Löschen, ebenso wie Böttger. Wer weiß, ob es nicht ohne deren Hilfe schlimmer gekommen wäre. Überdies ist Böttger ein junger Mann voller Tatendrang. Darf man es ihm verübeln, impulsiv gehandelt zu haben, wie es jedem anderen jungen Mann recht gut angestanden hätte? Nur für ein paar Sekunden, Majestät, hat er sich in ein Abenteuer gestürzt, ein wenig … Urlaub vom Labor genommen.« August brach unvermittelt in Heiterkeit aus. »Urlaub vom Labor – wunderbar.« Dann wurde er genauso schnell wieder ernst. »Mir schien, Madame Schönberg blickte unserem Goldmacher hinterher. Kennt sie ihn?« Fürstenberg spürte, daß hier der eigentliche Knackpunkt der Sache lag, zupfte an seiner Manschette und kratzte eine Erklärung zusammen, um Böttger zu schützen. »Bedauerlicherweise ist es ja so, Königliche Majestät, daß durch die Affäre um Graf Haxlingen – durch dessen Verschulden wohlgemerkt – inzwischen jeder Dresdner weiß, daß ein Goldmacher für Sie arbeitet, auch wenn man ihn ›Schrader‹ nennt. Dies dürfte auch Madame von Schönberg nicht verborgen geblieben sein. Schrader ist inzwischen eine Berühmtheit. Kann man es einer jungen Dame verdenken, wenn sie einem so geheimnisumwitterten Mann nachschaut?« Dabei schwor sich Fürstenberg, sofort die Gräfin Krahl von dieser Version der Geschichte zu unterrichten. August sah Fürstenberg scharf an, der den Blick unbefangen zurückgab. Dann entschied er: »Unsere Berühmtheit sollte tatsächlich ein wenig Urlaub nehmen, Exzellenz. Auf der Albrechtsburg. In Dresden scheint er mir gefährdet. Machen Sie ihm das schmackhaft. Die Albrechtsburg ist immerhin der Stammsitz unseres Geschlechts. Arrangieren Sie das.« 309
Fürstenberg verneigte sich. »Ich werde umgehend das Nötige veranlassen, Königliche Majestät.« August sah Fürstenberg nach, wie er hochaufgerichtet den Saal verließ. Er war sich keineswegs sicher, ob Fürstenberg log oder es nicht besser wußte. Vor seinem geistigen Auge vergegenwärtigte er sich noch einmal den Blick, den Madame von Schönberg dem Goldmacher nachgeworfen hatte. War es wirklich nur der Ruf des Goldmachers, die magische Anziehungskraft des Geheimnisvollen? Ihm schien, als hätte mehr darin gelegen, obwohl das eigentlich undenkbar war. Jedenfalls war es besser, ihn aus dem Verkehr zu ziehen, und auf der Albrechtsburg in Meißen wäre der Mann sicher verwahrt.
Fünfzehntes Kapitel
E
inen Bierkrug in der Hand, aus dem er ab und an einen Schluck nahm, saß Böttger an einem kleinen, rechteckigen Fenster, das früher als Schießscharte einer Kanone gedient hatte. Es war Sommer, der 20. Juni 1706, sein sechstes Jahr in der Gewalt des sächsischen Herrschers. In der zwanzig Meter langen, tunnelförmig gewölbten Kasematte hinter ihm mühten sich seine Gesellen damit ab, die Kohlen in einer Feuerstelle zur Weißglut zu bringen. Über den Kohlen ruhte auf Kapellen und Sandhaufen ein komplizierter Aufbau aus feuerfesten Gläsern und Röhren, die mit Ton abgedichtet waren, nach Böttgers akribischem Protokoll Versuch Nummer 768 am 1.682. Tag seines Eingeschlossenseins. Nicht einen Tag hatte man es ihm gestattet, die Räume im weitläufigen Tunnelsystem mit zehn Kasematten unter der Albrechtsburg zu verlassen. So lautete der Befehl Seiner Königlichen Majestät. Darüber wachte Rebmann. Ausgerechnet Rebmann. Für ihn war die Position eines Wachoffiziers wie geschaffen. Seit der mißglückten Entführung 310
Böttgers war sein rechtes Bein steif. Fürstenberg hatte ihm die Chance gegeben, sich zu rehabilitieren. Für Rebmann, der sich als Halbkrüppel empfand, war dies eine lösbare Aufgabe, und Böttger hatte Glück, daß Rebmann den Verlust seiner Karriereträume nicht an ihm ausließ. Manchmal tranken sie sogar gemeinsam ein Glas Wein, und Rebmann beklagte sich, wie unglücklich sein Schicksal an das von Böttger gefesselt sei. Dann prosteten sich beide zu und tranken auf bessere Zeiten. Was aber mögliche Spaziergänge auf dem Hof oder gar noch weitere Ausflüge anbelangte, blieb Rebmann hart. Die Chance, die ihm Fürstenberg gewährt hatte, wollte er nicht durch Zugeständnisse an seinen Gefangenen aufs Spiel setzen. Mit seinen Leuten bewachte er die leerstehende Albrechtsburg, vor allem aber die zehn Zentimeter dicke Tür aus uralten, eisenharten Eichenbohlen, die einzige Tür, die aus den Kasematten hinaus ins Freie führte. Nur einmal war Böttger bisher hindurchgegangen: Als man ihn in die Kasematten führte. Vor der Tür lag eine kleine Wachstube, die zum Hofplatz vor der Albrechtsburg führte, der rechts von einer Propstei und links von einer Kathedrale begrenzt wurde. Den Platz konnte man durch ein großes, mit schweren Eisen vergittertes Fenster sehen. Sonntags setzte sich Böttger manchmal unter dies Fenster, nur um die Leute in die Kirche gehen zu sehen. Böttger blickte hinüber zu den Gesellen, stemmte sich aus dem Stuhl hoch und ging müde zur großen Feuerstelle, um den Fortschritt des Versuchs zu kontrollieren. Die letzten Nächte hatte er kaum geschlafen. Fast ohne Unterbrechung hatte er die Substanzen für den jetzt laufenden Versuch vorbereitet, sie mit Arsen gereinigt. Die Dämpfe zermürbten. Böttger vermied es inzwischen, beim Rasieren in den Spiegel zu sehen, um nicht die dunklen Ringe unter den Augen und sein aufgeschwemmtes, käsiges Gesicht sehen zu müssen, dem der Mangel an Sonne und die giftigen Dämpfe alle Frische genommen hatten. Manchmal blieb er tagelang betrunken auf seiner Lagerstatt liegen, scheuchte alle fort und dämmerte vor sich hin, suchte Vergessen in Bier und Wein. Nach einer solchen Phase sucht er durch besonderen 311
Fleiß die Zeit wieder einzuholen, so wie jetzt, wo seine erfahrenen Gesellen den Versuch zu Ende brachten. Milchiger Quecksilberdampf wurde durch eine Masse aus blubberndem Blei geleitet und erzeugte dabei schlierige Silberfäden. Die Gesellen wirkten müde. Enthusiasmus spürte Böttger schon lange nicht mehr. An der Sanduhr las er ab, daß der Versuch noch etwa eine halbe Stunde fortgesetzt werden mußte, und er nickte den Gesellen mundfaul zu. Wenn der Versuch abgeschlossen war, würde eine neue Grundmasse gewonnen sein, mit der er an einer weiteren Folge von Transmutationsexperimenten arbeiten konnte, den nächsten in einer endlosen Kette. Als ihn Fürstenberg entführt hatte, war die Wiedererlangung seiner Freiheit sein alles andere verdrängendes Ziel gewesen. Inzwischen aber, wo Charlotte seit zwei Jahren zur offiziellen Mätresse des Königs aufgestiegen war und er in diesen düsteren Räumen eingeschlossen war, erschien ihm der Gedanke an Freiheit unwirklich. Er wußte kaum noch, wozu. Charlotte in den Armen zu halten wäre ein Ziel. Immer noch trug er ihr Medaillon an einer zarten goldenen Kette um den Hals, die ihm der Hofgoldschmied Dinglinger angefertigt hatte. Auch das winzige, goldene Porträt von Charlotte im Medaillon war vom Hofgoldschmied. Da der gleichzeitig auch königliche Aufträge für Charlotte erhielt, hatte der Bergrat diese heikle Sache übernommen und dafür gesorgt, daß der Hofgoldschmied nicht erfuhr, für wen er die Arbeit ausführte. Pabst von Ohain stellte Böttgers einzige, kontinuierliche Verbindung zur Außenwelt dar. Von ihm erfuhr er, daß der König Charlotte mit Geschenken überhäufte, während sie mit seiner Unterstützung ihre Scheidung durchsetzte. Zur Zeit baute ihr der König ein kostspieliges Palais neben seinem Dresdner Schloß, obwohl er im fernen Polen nicht eine einzige Schlacht gegen den Schwedenkönig gewann und sich keine Soldaten mehr in Sachsen auftreiben ließen, die gegen Karl kämpfen wollten. Die wehrfähigen Männer flohen vor den Preßkommandos außer Landes. So einfach konnte es sein, wenn man sich frei bewegen konnte. 312
Eine Zeitlang schien es Böttger fast so, als habe der König ihn vergessen. Im ganzen letzten Jahr, 1705, kam nur ein Brief, dessen wichtigster Inhalt in dem Satz kulminierte: Monsieur Schrader möge ihm doch bitte wenigstens ein kleines Experiment zur Verfügung stellen, damit er sich unterwegs immer ein wenig Gold machen könne, um allzeit flüssig zu sein. Einen Lachkrampf hatte Böttger bekommen und sich tagelang nicht beruhigen können. Den Brief hatte er auch Tschirnhaus gezeigt, als der zum Besprechen einiger Experimente die Albrechtsburg besuchte. »Das ist doch keine unbillige Forderung, Monsieur Böttger«, hatte Tschirnhaus ganz ernsthaft gesagt, nachdem er den Brief gelesen hatte. Sie waren alle verrückt. Konnten oder wollten sie nicht begreifen, daß die Transmutation kein Hühnereintopf war, den man mal so eben auf dem Feuer zubereitete? Tschirnhaus kam danach nicht mehr. Ihn hatten die Experimente, die Böttger ihm auftrug – insbesondere die dabei entstehenden giftigen Dämpfe –, für längere Zeit ans Bett gefesselt, und er hatte Fürstenberg gebeten, ihn von der Arbeit zu entbinden. Seitdem kam nur noch Pabst alle zwei Monate mit Nachschub für das Labor aus den Erzminen herüber. Wäre Pabst nicht gewesen und seine drei Gesellen, Böttger hätte sich längst totgesoffen. Sie rissen ihn immer wieder aus seiner Lethargie, sprachen ihm Mut zu, freuten sich über kleine Erfolge, die in ihren Augen große waren. Seine neuen Verfahren zur Erzaufschließung hatten dazu geführt, neue Schächte in den Berg zu treiben, für Erze, die man vorher für nicht abbauwürdig gehalten hatte. Man war dabei auf Kobalt gestoßen, aus dem man ein unvergleichliches Blau gewann, eine neue einträgliche Einnahmequelle. Um Böttgers Verdienste zu würdigen, schickte ihm Fürstenberg Kisten mit gutem Weine aus seiner Heimat, die von aufmunternden Briefen begleitet wurden. Denn der Statthalter war nach wie vor felsenfest davon überzeugt, daß Böttger auch das ›Hauptwerk‹ zu einem glücklichen Ende bringen würde. Schützend hielt er seine Hand über ihn, auch wenn er sich in all den Jahren nicht ein einziges Mal auf der Alb313
rechtsburg hatte blicken lassen. Böttger selber verzweifelte allmählich an dem Hauptwerk, dem Maß aller Dinge, an dem er nun bald fünf Jahre erfolglos herumlaborierte. Da halfen auch die gutgemeinten Tröstungen nichts, daß Alchemisten vor ihm ihr ganzes Leben damit verbracht hätten. Im Umkehrschluß bedeutete das doch für ihn nichts anderes als lebenslange Einkerkerung. Doch dann hatte ihn vor sechs Wochen ein Brief des Königs aufgerüttelt, der in einem merklich verschärften Ton gehalten war. Des Königs finanzielle Lage war so verheerend, daß er sogar zu der Formulierung griff, Böttger solle nun umgehend zum Erfolg kommen, sonst müsse man sich ›geeignete Maßnahmen‹ überlegen. Da sich die Transmutation nicht erzwingen ließ, konnte das nur den Galgen bedeuten. An diesem Abend bat er Leutnant Rebmann, ein Glas Wein mit ihm zu trinken. Er mußte einfach mit jemandem sprechen. Als Böttger dann über sein ungerechtes Schicksal zu lamentieren begann, reagierte der Offizier völlig anders als erwartet. »Ich habe nachgedacht, Monsieur Böttger – Zeit habe ich ja weiß Gott genug dazu … Auch ich habe mich ja lange Zeit als Opfer der Umstände gefühlt, nicht wahr? Aber wenn man es genau bedenkt, sind die Klagen darüber, ein Opfer zu sein, häufig unberechtigt.« »Wieso, bitte?« fragte Böttger verblüfft. Rebmann fuhr nachdenklich fort: »Es ist wirklich so, Monsieur. Ich sehe mich inzwischen nicht mehr als Opfer der Umstände. Das wäre feige und unredlich.« »Immerhin gehorchten Sie doch Befehlen.« »Schon richtig. Mein Fehler lag aber darin, daß ich sie übereifrig ausführte, weil ich nur meine Karriere im Auge hatte, nicht aber die Konsequenzen durchdachte. Graf Haxlingen hätte ich gehorchen und trotzdem am Ende sagen können, es hätte leider nicht geklappt. Auch in Berlin hätte ich vorsichtiger sein können. Ich war so erpicht, Sie zu fangen, daß ich falsche Hoffnungen schürte. Wenn man zu sehr den Erwartungen anderer zu entsprechen sucht, vergißt man, seine eigenen Interessen genügend zu berücksichtigen. Gilt das nicht auch für Sie?« 314
»Warum für mich? Habe ich irgend etwas getan, was eine Einkerkerung rechtfertigt?« empörte sich Böttger. »Ich denke, ich darf mich mit Fug und Recht als Opfer fühlen.« »Ach, wirklich?« Rebmanns Stimme triefte vor Ironie. »Wer hat denn in Berlin damit geprahlt, ein Goldmacher zu sein?« »Geprahlt habe ich damit nicht … Es ist nur leider gegen meinen Willen bekannt geworden.« »Es war jedenfalls nicht frei erfunden, oder?« »Nein, das nicht.« »Monsieur Böttger, Ihnen mußte doch bewußt sein, daß Sie mit Ihrer Kunst die Aufmerksamkeit der Mächtigen wecken – und ihre Habgier.« »Mit anderen Worten: Ich bin selbst an meinem Schicksal schuld und habe keinen Grund, mich zu beklagen.« »So ist es.« Böttger versank in Schweigen. Rebmann sprach nichts anderes aus, als er es sich selbst vor Äonen auf der Flucht aus Berlin vorgeworfen hatte. Er hatte es nur vergessen, ebenso wie die Bedrohung durch den Galgen, die einem falschen Goldmacher drohte. Seit der Begegnung mit Charlotte hatte er sich in Illusionen geflüchtet. Doch Charlotte lag nun in den Armen des Königs, und ihm blieb nichts als sein nacktes Leben. »Wenn ich also selbst an meiner Misere schuld bin, was kann ich dann dagegen tun?« »Das weiß ich nicht, Monsieur. Jammern jedenfalls nicht. Das schlimmste wäre die Kapitulation. Gewöhnt man sich erst an den Gedanken, Opfer zu sein, bleibt man es auch.« Rebmann nahm sein Glas und prostete Böttger aufmunternd zu. »Schauen Sie nach vorn, überlegen Sie sich Ziele, die Sie aus eigener Kraft erreichen können, und vergessen Sie die Luftschlösser.« »Ich werde versuchen, an Ihre Worte zu denken.« Versonnen hob Böttger ebenfalls sein Glas. »Auf Ihr Wohl, Leutnant. Sie haben die Zeit gut genutzt. Ich wünsche Ihnen, daß Sie Ihre Ziele erreichen.« »Hochgesteckt sind die nicht, Monsieur.« Rebmann deutete grinsend 315
auf sein steifes Bein. »Aber manche haben gar keine. Also bin ich gar nicht so schlecht dran. Zum Wohl.«
Das Gespräch mit Rebmann hatte Böttger aufgerüttelt. Wenn er sein Schicksal wenden wollte, mußte er greifbare Ergebnisse liefern und schuften wie im Goldhaus. Verbissen stürzte er sich in die Arbeit und trieb auch seine Gesellen bis an den Rand der Erschöpfung an. Bestenfalls vier Stunden Schlaf gönnte er ihnen wie sich selbst, und das in den ewigen Rauchschwaden, die sich in den hohen Gewölben der Kasematten fingen und kaum abzogen. Er schaute in die müden, grauen Gesichter seiner Gesellen. Heute war Sonnabend. Wenn das laufende Experiment abgeschlossen war, würde er sie nach Hause schicken, und er durfte sich endlich einmal wieder in aller Ruhe betrinken, um seinen immerwährenden Brummschädel zu betäuben. Böttger ging zum Fäßchen Freiberger Bier, füllte sich einen neuen Krug ab und leerte ihn schon zur Hälfte, während er zurück zu seinem Stuhl am Fenster schlurfte. Angenehm breitete sich eine gewisse Wärme in seinem Bauch aus. Er schaute durch das Fensterloch über die Elbebene. Weit unter ihm blühten Büsche in den winzigen Gärten der Meißner, und die Wiesen am gegenüberliegenden Elbhang waren mit bunten Blumen gesprenkelt. Er sehnte sich danach, auf einer dieser Wiesen in der Sonne zu liegen, sich von Insekten umschwirren und von Ameisen beißen zu lassen. Dies Verlangen nach der Natur hatte sich erst in den Kasematten eingestellt. Immer war es dunkel in diesen Gewölben, die man hoch über der Elbe in den Felsen gehauen hatte, aus deren Schießscharten man mit Kanonen das ganze Tal bestreichen konnte. Darüber thronte die Albrechtsburg, eine trutzige, hochgotische Festung, deren Ursprünge bis ins 12. Jahrhundert zurückreichten. Den majestätischen Anblick von unten hatte Böttger bei seiner Ankunft genießen können. Mit wachsendem Reichtum und zunehmender Macht der Wettiner war daraus die aufragende Festung geworden, in deren Mitte sich eine gotische Kathedrale nebst einem 316
verfallenden Kloster befand. Das alles hatte Böttger bei seiner Ankunft gesehen. Seitdem war ihm nur der Blick aus den engen Schießscharten geblieben, den einzigen Fenstern der Kasematten. Die Albrechtsburg über ihm war unbewohnt, seit sich die Wettiner ihr weiträumiges Schloß in Dresden erbaut hatten. Um den Fuß des Festungsfelsens drängte sich die Stadt Meißen. Sie war in den letzten Jahren gewachsen, und auf der gegenüberliegenden Elbseite hatten sich Vororte gebildet. Dort hausten die Armen in ihren Lehm- und Holzhütten, und dort gab es verrufene Spelunken der Schiffer, in die sich kein rechtschaffener Bürger von der rechten, der ordentlichen Elbseite traute. Das erzählten ihm die Gesellen, wie er überhaupt alles nur aus zweiter Hand erfuhr. Sogar über die Mittel für seine Arbeiten konnte er nicht mehr frei entscheiden. Alle Investitionen aus seinem Etat wurden seit vier Jahren von einem Herrn Nehmitz kontrolliert, einem Geheimsekretär des Königs, der Böttgers Bestellungen häufig zusammenstrich. Nehmitz war andererseits geschickt genug, die Experimente nicht zu blockieren, so daß Böttger ihm nicht nachweisen konnte, daß der Geheimsekretär in die eigene Tasche wirtschaftete. Sein einziger Trost waren die regelmäßig eintreffenden Bierfäßchen von Pabst und der Wein, den ihm der Fürst schickte. Böttger drehte sich wieder dem laufenden Experiment auf der Feuerstelle zu, kniff die Augen zusammen und fixierte angestrengt die Sanduhr. Die halbe Stunde mußte gleich vorbei sein, doch genau erkennen konnte er es nicht. Mühsam stemmte er sich hoch. Das Bier war ihm schon ziemlich zu Kopf gestiegen, zumal er seit dem Morgen nichts mehr gegessen hatte. Kohler, der hünenhafte Geselle, sah zu ihm herüber und machte Anstalten heranzukommen, um ihn zu stützen. Mit einem Kopfschütteln wehrte Böttger die Hilfe ab und ging mit schleppenden Schritten zur Feuerstelle. »Wie sieht's aus?« »Silbrig, wie zu erwarten, Monsieur Schrader.« Albrecht, der älteste der Gesellen, ein kleiner drahtiger Mann, der ganz gegen die Mode einen altmodischen Schnurrbart pflegte, drehte den Tiegel mit einer langen Eisenzange geschickt aus dem Aufbau und setzte ihn vor Böttger 317
ab. Der umwickelte sich die Hand mit einem Lappen, griff sich einen kleinen Eisenstab und rührte in der flüssigen Legierung. Die silbrige Farbe war ohne Verunreinigungen. »Sehr schön«, brummte er. Ob diese Ausgangssubstanz bei der Transmutation bessere Ergebnisse erzielte, mußte sich noch zeigen. »Sie können dann gehen für heute. Sie haben frei bis morgen nachmittag zwei Uhr«, verkündete Böttger großzügig. Einmal die Woche durften sie sich ausschlafen. Sonntagsarbeit war jedoch unumgänglich. Wartete man bis Montag, wurden die Feuerstellen und Öfen zu kalt, und das Anheizen verschlang zuviel Brennholz und Zeit. Während die Gesellen ihre dicken Arbeitsschürzen weghängten, merkte Böttger, daß er wacklig auf den Beinen war. »Würden Sie mich bitte noch nach oben bringen, Kohler?« »Gern, Monsieur Schrader«, erwiderte der Hüne freundlich. Nach oben hieß zum Fenster, das auf den Kirchplatz hinausging, durch das zu dieser Nachmittagsstunde die Sonne hineinschien. Dort wollte Böttger den Rest des Tages in Ruhe bei einer Flasche Wein verbringen, dösen und träumen. Die übrigen Gesellen verabschiedeten sich und erklommen die lange, steile Treppe, die aus dem Reich der Kasematten zum Ausgang führte. Die Gesellen wohnten unten in der Stadt, denn in der Propstei neben der Albrechtsburg wollte man sie nicht beherbergen. Als sie verschwunden waren, legte Böttger den Arm um Kohlers Schulter, und gemeinsam stiegen sie nun ebenfalls die Treppe hinauf, wo vor dem Ausgang das einzige gemütliche Zimmer mit einem hohen Fenster zum Hof lag. Fürsorglich rückte Kohler das gepolsterte Rückenkissen im Armlehnstuhl zurecht, bevor Böttger sich aufseufzend hineinfallen ließ. Die Nachmittagssonne zeichnete das Muster der Gitterstäbe vor dem Fenster auf den Fußboden. Kohler ging zum hochbeinigen Vorratsschrank und holte eine Flasche Wein und ein kostbares Rubinglas daraus hervor, letzteres ein Geschenk des Barons Kunckel aus Schweden, daß er Böttger geschickt hatte, als er von dessen Festsetzung auf der Albrechtsburg erfuhr. 318
Wie immer trank Böttger den ersten Schluck auf den Baron, dem sein Souverän ebenfalls übel mitgespielt hatte, den zweiten Schluck stets auf Fürstenberg, dem er den Wein verdankte. Abergläubisch wich er nie von diesem einmal eingeführten Ritual ab. Es gab ihm Sicherheit. Lethargisch nickte er Kohler zu. »Danke, Kohler. Genießen Sie noch den schönen Tag.« Kohler verneigte sich. »Soll ich das Fenster ein wenig öffnen, Monsieur Schrader?« »Das wäre nett, ja.« Trotz der schweren Zunge schaffte es Böttger, kaum zu nuscheln. Erst wenn Kohler gegangen war, durfte er sich gehenlassen. Kohler entriegelte das Fenster, das sich jedoch wegen einer ins Mauerwerk eingelassenen Eisenstange innen nur einen Spaltbreit öffnen ließ. Vogelgezwitscher drang durch den Spalt. »Bis morgen, Monsieur Schrader.« »Ja, ja, bis morgen«, murmelte Böttger. Kohler pochte an die dicke Eichentür, und ein Gardist ließ ihn hinaus. Kaum war er allein, füllte Böttger das Weinglas auf und nippte einen um den anderen Schluck. Endlich spürte er, wie die Anspannung von ihm abfiel. Schläfrig schaute er Kohler nach, wie er mit seinem eigentümlich wiegenden Gang an der Kathedrale vorbei über den Platz schritt und in den Schatten einer Baumgruppe eintauchte, eine kleiner werdende Silhouette, die dem offenen Schloßtor in der wuchtigen Festungsmauer zustrebte, bis sie schließlich hinter der gewölbten Brücke vor dem Schloßtor verschwand. Verlassen und träge lag der Platz in der weichen Nachmittagssonne. Vereinzelte Spatzen hüpften ohne Eile auf Futtersuche herum, bis sie vor einer über den Hof streunenden, schwarzen Katze lärmend in die Bäume flüchteten. Die Katze schien es nicht weiter zu interessieren. Sie ließ sich nieder, leckte gelassen ihre Pfoten, trottete dann gemächlich weiter und entschwand hinter der Kathedrale. Böttger füllte sich ein weiteres Glas ein, trank und ließ seinen Blick gedankenlos über die Idylle schweifen. Plötzlich wurde die Ruhe des Spätnachmittags jäh durch zwei Jungen von acht und zehn Jahren ge319
stört, die rechts die kleine Vortreppe aus der Propstei hinunterstürmten, Hans und Georg, die Söhne des Propstes, denen es verboten war, mit ihm zu reden. Einmal hatten sie es dennoch gewagt und ihn in der schützenden Dämmerung am Fenster angesprochen. Das war auch schon wieder zwei Jahre her. Wilde Geschichten hatte er für sie erfunden, die keinen Schaden anrichten konnten. Der Gedanke daran entlockte ihm ein Lächeln. Die beiden Jungen hielten Holzschwerter in den Fäusten und stellten sich mitten auf dem Platz in Positur. Georg, der jüngere, krähte: »Heute werde ich dich endlich besiegen, du gräßlicher, schwedischer Wicht!« »Das sagst du nicht ungestraft, sächsischer Popanz«, plusterte sich Hans auf, »gleich wirst du am Boden liegen und winseln.« Sie begannen einander zu umkreisen, machten Finten und Ausfälle, tasteten einander ab. Dann riß die Geduld des Jüngeren, und ungestüm warf er sich nach vorne. Hans wich aus, stellte ihm ein Bein. Georg ging zu Boden. Sofort war Hans über ihm und setzte ihm triumphierend das Schwert an die Gurgel. »So, jetzt bete! Deine letzte Stunde hat geschlagen.« Nach kurzem Gerangel gab Georg auf und beklagte sich. »Das ist ein blödes Spiel. Immer muß ich verlieren!« »Unser König gewinnt ja auch nie gegen Karl. Das ist nun mal so. Ich melde mich zu Karls Soldaten.« »Dann wird man dich hängen, du Verräter«, entrüstete sich Georg. »Dazu muß man mich erst einmal fassen«, erklärte Hans grinsend und ließ den kleinen Bruder frei. Im selben Augenblick tauchte auf der Brücke hinter dem Tor ein Trupp Berittener mit einer Kutsche auf, die ohne Aufenthalt im Galopp über den Platz fegten. Böttger kniff die Augen zusammen, um das Emblem auf der Kutschentür zu erkennen. Doch es verschwamm vor seinen Augen. Die Flasche vor ihm war schon dreiviertel leer. Der Leutnant, der den Zug anführte, hielt auf den Eingang zur Albrechtsburg zu, und alle verschwanden aus Böttgers Blickfeld. Hans und Georg starrten der Kutsche hinterher. »Was wollen die denn?« fragte Georg und trat schutzsuchend zu seinem großen Bruder. 320
»Die holen bestimmt den Schrader«, meinte Hans abgeklärt. »Wieso das denn?« »Ich habe gehört, wie Vater gesagt hat, man sollte Schrader hängen. Er sei doch nur noch besoffen und zu nichts nütze.« Böttger wollte aufspringen und sie anbrüllen, doch bei dieser hastigen Bewegung brach ein Schmerz in seinem Kopf auf, der ihn fast betäubte, und bei dem Versuch, sein Gleichgewicht wiederzufinden, schmiß er den Stuhl um. Mit Mühe und Not konnte er sich auf dem Tisch abstützten. Schwer atmend und benommen stand er da. Die Jungen hatten den Lärm gehört und flohen aus der Nähe des Fensters. Böttger tastete nach dem Stuhl, erwischte die Sitzfläche, hob sie an, und beim zweiten Versuch gelang es ihm, ihn wieder auf die Beine zu kippen. Das Kissen lag auf dem Boden. Das war egal. Er sank auf den Stuhl, griff nach der Flasche, setzte sie an die Lippen und trank sie aus. Zur Hölle mit den Jungen. Zur Hölle mit den Kopfschmerzen. Irgendwann mußte er sie doch betäubt haben. Er wollte Ruhe, nichts als Ruhe. Eine Minute später öffnete sich die Tür, und ein ihm fremder Leutnant stand vor ihm, begleitet von Rebmann, der jedoch vor der Tür blieb. »Ich habe die Order, Sie mitzunehmen, Monsieur Schrader«, schnarrte der Leutnant. »Bitte folgen Sie mir.« Böttger erschrak trotz seines benommenen Zustands und glotzte ihn blöde an. »Wozu? Ich arbeite hier. Lassen Sie mich in Ruhe«, brachte er mühsam hervor. »Das ist ein Befehl. Sie sollen mitkommen. Sind Sie bereit?« »Bereit? Bereit wozu?« Böttger starrte ihn aus blutunterlaufenen Augen an. In Rebmanns Miene meinte er Mitleid zu lesen. War dies das Ende? Der Offizier trug eine sächsische Uniform. Warum half ihm Rebmann nicht? »Es ist mir ziemlich gleichgültig, Monsieur, wie betrunken Sie sind. Kommen Sie.« Der Offizier trat einen Schritt auf Böttger zu, der abwehrend die 321
Hände hob. Der Leutnant vor ihm schwankte, die ganze Stube schwankte. »Ich will nicht«, nuschelte er vor sich hin. »Ich will nirgendwohin.« »Mehr Respekt, Monsieur. Es handelt sich um einen Eilbefehl seiner Königlichen Majestät.« »Wozu Eilbefehl?« fragte Böttger, der sich zu konzentrieren versuchte. »Wenn ich hängen soll, is' das doch schließlich nich' eilig.« »Davon steht nichts in meinem Befehl, Monsieur«, gab der Offizier sachlich zurück. Rebmann ergriff das Wort. »Monsieur Schrader, Sie haben nichts zu befürchten. Man will Sie nur verlegen.« Mißbilligend brummte der Offizier zu Rebmann: »Der ist ja so hinüber, den müssen wir tragen … Wenigstens kann er uns in diesem Zustand nicht entwischen. Rufen Sie bitte zwei meiner Leute.« Böttger verfolgte die Unterhaltung wie durch einen Nebel. Immerhin drang soviel zu seinem Gehirn durch, daß man ihn nicht hängen wollte. Das war gut. Dann konnte er sich ja endlich ausruhen. Er stemmte sich langsam hoch und versuchte gleichzeitig mit der Hand den Nebel beiseite zu schieben, verlor das Gleichgewicht und krachte auf den Boden. Es tat gut zu liegen. Böttger entspannte sich. Sollten sie ihn doch tragen, wenn sie ihn unbedingt woanders hinhaben wollten.
*** Tief versunken betete August in der kleinen, katholischen Kapelle vor dem Altar, über dem ein schlichtes Kruzifix mit einer Jesusfigur hing, die in ihrem Leiden sehr ruhig und vergeistigt aussah. Im Seitenflügel vor einer vergoldeten Madonna brannten zwei Reihen Kerzen. Geduldig wartete in der dritten Bankreihe Pater Vota auf das Ende der Andacht des Königs. Endlich schaute August auf zum Altar, bekreuzigte sich vor dem Jesus am Kreuz und erhob sich schwerfällig. »Hat Ihnen die Zwiesprache mit dem Herrn geholfen, Majestät?« fragte Pater Vota sanft. »Wie kann man das wissen, Pater. Bisher jedenfalls nicht«, gab August sorgenvoll zurück. »Karl marschiert in mein Land, ohne daß ich 322
ihn daran hindern kann. Gibt es eine größere Demütigung für einen Herrscher?« »Bitten Sie Gott um Gnade für Ihr Land. Das ist Ihre Pflicht, Majestät.« »Es hat keinen Tag gegeben, an dem ich mir meiner Pflicht nicht voll bewußt war und dem Land Frieden geben wollte. Doch Karl hat sich allen Friedensbemühungen widersetzt.« Unwillig schüttelte er den Kopf. Gott um Gnade für sein Land zu bitten, erschien ihm wenig sinnvoll. Kein Unheil, das Karl in den letzten Jahren anrichtete, hatte Gott verhindert. Wo war Gott? Die Fernrohre der Astronomen hatten ihn nicht entdecken können. Es gab Tage, da fiel es ihm schwer, an einen Allmächtigen zu glauben. »Königliche Majestät, warum reisen Sie nicht nach Sachsen, um Ihr Land zu beschützen.« »Was könnte ich tun gegen diesen friedensunwilligen Starrkopf? Folgte ich Ihrem Rat, Pater, käme das einer Kapitulation gleich. Was würde man an den Höfen Europas schon von mir halten, wenn ich aufgäbe? Man würde mich am Boden wähnen. Dieses Schauspiel mag ich der Welt nicht bieten. Mein Land ist stark, Pater, und meinen letzten Trumpf habe ich in Sicherheit bringen lassen.« »Ihren letzten Trumpf, Majestät?« »Meinen Goldmacher, Pater. Ich habe ihn auf den Königstein bringen lassen. Der Mann darf nicht auch noch in die Hände Karls fallen.« »Sie halten immer noch an ihm fest, Majestät?« »Allerdings. Irgendwann wird Karl wieder abziehen. Dann muß Sachsen zu neuer Stärke geführt werden. Dazu brauche ich das Gold dieses Mannes. Darum bete ich. Vielleicht erhört mich Gott wenigstens in diesem Punkt. Vielleicht hätte ich mehr um den Erfolg bei seiner Transmutation beten sollen, wie er es von mir verlangt hat. Aber Sie wissen ja selbst, wie wenig Zeit mir immer für Andachten bleibt.« Diese Darstellung fand Pater Vota durchaus unzutreffend. Für seine Feste hatte der König immer Zeit, nicht aber für Gebete. Dieser Mangel an Gottergebenheit konnte in seinen Augen durchaus der Grund für Augusts mißliche Lage sein. »Ich werde um so mehr für Sie beten, Königliche Majestät.« 323
»Danke, Pater.« Der König begann von neuem zu beten. Die Kirchentür quietschte in den Angeln. Aus seiner Konzentration gerissen, drehte sich August unwillig um. Trotz des Gegenlichtes erkannte August Flemming, der zum Weihwasserbecken schritt, während ein Gardist hinter ihm die Tür zuzog. Nachdem sich Flemming bekreuzigt hatte, trat er wartend beiseite. Mit finsterer Miene winkte August seinen Minister heran und brummte: »Hoffentlich nicht wieder eine Hiobsbotschaft. Ich habe nachgerade genug davon« und fragte Pater Vota mit grimmigem Sarkasmus: »Wann sind meine schrecklichen sieben Jahre eigentlich um?« »Nur Gott allein …«, setzte der Pater an. August winkte ab und seufzte: »Schon gut, schon gut.« Mit eleganter Verbeugung und steinerner Miene übergab Flemming August einen Brief. August sah ihm an, daß er den wesentlichen Inhalt wohl schon kannte, wollte aber nicht fragen. Er nahm den Brief, zog sich in die Nähe eines Fensters zurück und erbrach das Siegel. Die Nachricht war weit schlimmer, als August es sich hatte vorstellen können: Der Geheime Rat, die Vertretung der Stände, hatte – ohne seine Einwilligung einzuholen – einen Friedensvertrag mit Karl XII. unterzeichnet. Als Exekutivorgan des Landes hatte dieses Gremium zweifellos das Recht dazu, wenn der Souverän außer Landes weilte. Das Ungeheuerliche daran war jedoch, daß der Geheime Rat keine von den Bedingungen durchgesetzt hatte, die August an einen Friedensvertrag geknüpft hatte. Ohne Gegenleistung sollte er als König in Polen abdanken und für immer auf die polnische Königswürde verzichten. Des weiteren wurden Reparationszahlungen gefordert, deren Höhe noch zu bestimmen war – von Karl natürlich. Andernfalls würde Karl Sachsen zerstören. »Danke, Sie können gehen«, verabschiedete August Flemming knapp, der noch einen Moment zögerte. »Es gibt nichts, was Sie tun können, Flemming«, beschied ihm daraufhin August barscher, als er es vorgehabt hatte. Er wollte allein sein. Mit bitterer Miene trat er vor den Altar. Noch nie in seinem Leben war er so gedemütigt worden. Wenn er diesen aufgezwungenen Frie324
den nicht akzeptierte, bestand seine einzige Chance darin, den russischen Zaren zu Hilfe zu rufen. Der hatte Zeit gehabt, sich aufzurüsten, und seine Ostseehäfen gehalten, während August sich im Inland mit Karl herumschlug. Zwar hatte ihm Zar Peter hin und wieder Geld zur Unterstützung geschickt, aber ansonsten nur schlecht ausgerüstete Verbände zur Verfügung gestellt. Viel zu spät, gerade jetzt erst, nachdem Karl Sachsen besetzt hatte, war eine frische, gut ausgerüstete russische Armee unter General Menschikow im Anmarsch. Nahm August diese Armee in Anspruch, wäre der Preis zu hoch: Karl – daran zweifelte August keinen Augenblick – würde seine Drohung wahr machen und Sachsen verwüsten. Marschierte er auch noch mit der russischen Armee in Sachsen ein, würde sein Land unter diesen zwei Armeen wahrscheinlich noch schlimmer leiden als im Dreißigjährigen Krieg. Soldaten pflegten nicht zu fragen, wenn sie etwas haben wollten. Der Blutzoll und die Verwüstungen würden Sachsen in ein Armenhaus verwandeln. Und gesetzt den Fall, es gelang, die Schweden zu vertreiben, wäre August nichts anderes mehr als ein Vasall des großen Zaren Peter, den ihr Freundschaftsbund von einst herzlich wenig interessierte. Akzeptierte er aber den Friedensvertrag des Geheimen Rates mit Karl, war sein Ruf in Europa ruiniert. Kein König mehr, nur noch ein Kurfürst, vorgeführt von seinen Aristokraten. August starrte auf den gekreuzigten Jesus und murmelte mit mühsam gebändigtem Zorn vor sich hin: »Es mag ja sein, daß ich Sünden auf mich geladen habe. Aber bist nicht Du dafür gestorben? … Ich kann einfach nicht glauben, daß Du mein Land in die Hände eines Kriegsfanatikers gibst und es ausrauben läßt. Karl muß seine Strafe erhalten. Ich erwarte Deinen Beistand.« August richtete sich auf und bekreuzigte sich. Die Forderung an Gott hatte ihn beruhigt, es war vielleicht doch eine Chance, obwohl er in seinem Glauben wankte. Er atmete tief durch, drehte sich abrupt um und trat zu Pater Vota. »Ich kenne Gottes Antwort nicht, Pater. Das einzige, was ich jetzt tun kann, ist, meinen Sachsen den Frieden zu erhalten. Ich muß sofort Karl sprechen und zusehen, was ich ihm abrin325
gen kann, bevor meine feigen Adligen und scheinheiligen Pastoren mit ihren Zusagen das Land ruinieren. Wir fahren noch heute.«
*** Charlotte saß vor einem Spiegel, nahm ein Diamantcollier aus einer vergoldeten Schatulle und reichte es Amalie, damit sie es ihr umlegte. Die Steine blitzen im Licht, die Goldfassungen paßten prächtig zu ihrem roten Seidenkleid. »Es ist wunderschön, Madame«, seufzte die Zofe träumerisch. Charlotte griff zu dem Brief, der neben der Schatulle lag, las ihn ein zweites Mal und ließ ihn lächelnd sinken. »Ein Trostpflaster Seiner Majestät für seine lange Abwesenheit …« Sie hauchte einen Kuß auf den Brief. »Es gibt wirklich niemanden, der es mit der Großzügigkeit seiner Majestät aufnehmen kann.« Träumerisch bewegte sie die Kette hin und her, um das Funkeln der Diamanten im Kerzenlicht zu bewundern. »Ach, Madame, paßt das nicht gut zusammen? Wer könnte es schon mit Ihrer Schönheit aufnehmen. So ist doch alles, wie es sein soll.« Übermütig blitzte Charlotte ihre Zofe im Spiegel an. »Das muß auch so bleiben, Amalie. Noch warte ich auf meine Erhebung zur Gräfin.« »Es heißt doch, der Kaiser sei schuld an der Verzögerung, Madame.« »Nicht nur. Es ist die Sache Seiner Majestät. Immerhin hat er seine polnische Mätresse auch zur Fürstin gemacht.« »Wir müssen eben Geduld haben, Madame. Die Lage Seiner Majestät …« Charlotte unterbrach sie: »Ich weiß, Amalie, es war mehr ein Scherz.« Es klopfte, und Amalie ging zur Tür und nahm von einem Diener ein Billett im Empfang. »Oh, wie schön«, entfuhr es ihr, als sie den Namen gelesen hatte, und beantwortete Charlottes fragenden Blick: »Die Gräfin Krahl, Madame.« »Gib schon her.« Charlotte erbrach das Siegel und drehte den Brief ins Licht. ›Liebe Freundin‹, begann die Gräfin, ›heute habe ich von einem Ge326
währsmann erfahren, daß man einen gewissen Herrn von der Albrechtsburg auf den Königstein geschafft hat. Meinem Gewährsmann zufolge ist er bei ziemlich schlechter Gesundheit. Könnten Sie von Seiner Exzellenz erfahren, was es damit auf sich hat? Es ist schwer, an den Fürsten heranzukommen, da Seine Exzellenz durch den Einmarsch der Schweden zur Zeit sehr okkupiert ist. Vielleicht können Sie Ihre Beziehungen nutzen und darauf drängen, daß man einen Arzt zu dem in Rede stehenden Mann sendet …‹ Johann! Weiß der Teufel, woher die Gräfin das erfahren hatte. Was geheime Informationen anging, war sie Charlotte immer noch um Längen voraus. Johann. Er gehörte zu einer anderen Welt, einer Welt vor dem König. Und neben ihm. Eine kostbare, immer gegenwärtige Erinnerung, federleicht wie eine schillernde Seifenblase, aber unzerstörbar, weil sie die abenteuerlichsten, freisten und glücklichsten Momente ihres Lebens enthielt. Charlotte blickte sich im Spiegel an und sah darin die mächtigste Frau Sachsens. Augusts Ehefrau Christiane Eberhardine, die Betsäule Sachsens, wie die Leute sie inzwischen hämisch nannten, führte fernab vom Hof in Thorgau ihr frommes Leben. Sie besaß weder Macht noch Einfluß, auch wenn August sie formal in Ehren hielt. Vor ihr jedoch, der Mätresse des Königs, verneigten sich die Höflinge unterwürfig, suchten ihre Gunst, um ein Ohr für ihre Anliegen beim König zu finden. Tag für Tag finden sich die ersten Männer des Landes in ihrem Vorzimmer ein, um zu ihr vorgelassen zu werden und ihre Anliegen vorzutragen. Wenn der König in Sachsen war, war sie es, mit dem er die letzten Worte des Tages wechselte, mit ihr begann der neue Tag. Sie liebte den König aufrichtig und bewunderte ihn. Sie hatte um ihn gekämpft, ihn klug hingehalten und ihn immer stärker an sich zu binden gewußt. Darin lag nichts, was sie sich vorwerfen mußte. Und doch versetzte ihr der Brief der Gräfin einen kleinen Stich ins Herz. Johann ging es schlecht. Vor allem wurmte es sie, daß die Gräfin Krahl davon wußte, sie selbst aber nicht. Nur bei Fürstenberg hatte sie sich in den ver327
gangenen Jahren nach Johann erkundigen können. Mehr wäre gefährlich gewesen. Schon seine Verbannung auf die Albrechtsburg glaubte Charlotte ihrem Blick zuschreiben zu müssen, den sie Johann beim Brand nachgeworfen hatte. August war eifersüchtig, und die Verletzbarkeit seiner Herrscherwürde verlieh dieser Eigenschaft zusätzliche Brisanz. Doch im Gegensatz zu ihrem ehemaligen Gemahl hielt er sie nicht versteckt, sondern schmückte sich mit ihr. Charlotte streckte den Arm aus und ließ den Brief an einer Kerze in Flammen aufgehen. In den Flammen sah Charlotte plötzlich wieder Johanns Augen vor sich, in denen die Leidenschaft irrlichterte. Erschrocken ließ sie den brennenden Bogen auf den Boden fallen. »Vorsicht, Madame. Wollen Sie das Schloß abbrennen?« »Lassen Sie ihn ausbrennen, Amalie«, befahl Charlotte kühl und zerstiebte die verkohlten Reste des Briefs mit dem Schuh. Sinnend betrachtete Charlotte die Asche und fragte sich, ob Johann noch das Medaillon aufbewahrte. Es war ihr rätselhaft, weswegen man ihn auf den Königstein zu den politischen Gefangenen gebracht hatte. Aber die Zeitläufe waren eben völlig durcheinandergeraten. Dresden war verbarrikadiert, und man erwartete halb und halb eine Belagerung durch die Schweden, weil man sich des Friedens mit Karl nicht sicher war. Keiner in der Stadt durfte mehr Menschen beherbergen, als er für ein halbes Jahr durchfüttern konnte. Auch wußte man nicht, was August zu unternehmen gedachte. Der hatte sich in sein undankbares Polen verbissen, und niemand wußte, ob er der Besetzung Sachsens tatenlos zusehen würde. Nichts war abzusehen. Unterdessen konnte Johann krepieren. Der Gedanke gab ihr Mut. Ein toter Goldmacher nützte dem König nichts. Sie handelte demnach in seinem Interesse, wenn sie sich um ›diese Angelegenheit‹ kümmerte, eine einigermaßen plausible Ausrede. Außerdem hatte Fürstenberg bisher über ihre frühere Begegnung mit Johann geschwiegen. Er würde es weiter tun. Sie brauchte den Statthalter nur zu bitten, Dr. Bartholomäi zum Königstein zu schicken. Auf den Arzt war Verlaß.
***
328
Es war Böttgers dritter Tag auf der Festung, der dritte in einer schier unaufhörlichen Abfolge von Kopfschmerzen, Übelkeit und Dahindämmern. Irgendwie hatte er es geschafft, dem Festungsarzt eine Flasche Schnaps abzuluchsen, um seine Kopfschmerzen zu bekämpfen. Sonst hatte er kaum etwas zu sich genommen. Dann baumelte plötzlich das Gesicht von Dr. Bartholomäi über ihm. Der Arzt zerrte ihn unsanft aus dem Bett. »Bewegen Sie sich.« Schwankend kam Böttger auf die Beine. »Weiter, da hin.« Rücksichtslos zwang er Böttger, sich vor einem Blecheimer hinzuknien. »Stecken Sie den Finger in den Hals. Kotzen Sie.« Schwankend gehorchte Böttger dem Befehl und führte den Finger in den Mund. »Tiefer rein«, befahl der Arzt unnachgiebig und drückte seine Hand in den Mund. Hart stieß Böttgers Finger in den Rachen, und augenblicklich überfiel ihn der Brechreiz. Dreimal erbrach er sich kurz hintereinander, während ihm Tränen über die Wangen liefen. Doch auch als sein Magen nichts mehr hergab, hörten die Würgereflexe nicht auf. Krampfhaft hielt er sich am Eimer fest, die Augen fest zusammengekniffen, völlig vom Elend und den zuckenden Eingeweiden in Anspruch genommen, bis die Reflexe abebbten. Schwer atmend blieb Böttger mit offenem Mund noch über den Eimer gebeugt knien, aus dem der säuerliche Geruch des Erbrochenen aufstieg. Schließlich richtete er sich erschöpft auf, seine Hände zitterten, als er sie vom festen Halt des Eimers löste. Beruhigend legte Dr. Bartholomäi ihm die Hand auf die Schulter und reichte ihm ein Handtuch. »Gut so. Und jetzt versuchen Sie bitte etwas zu essen. Sie sollten es nach Möglichkeit bei sich behalten.« Während Böttger sich langsam aufrappelte, ging der Arzt zur Tür und ließ durch einen Wachsoldaten den Eimer entfernen. Mit unsicheren Bewegungen setzte sich Böttger an den Tisch, vor sich einen Teller mit grünlichem Haferschleim, der für ihn nicht wesentlich appetitlicher als sein Erbrochenes aussah. Erneut stieg der Brechreiz in ihm hoch und schüttelte ihn. Hilfesuchend blickte er zum Arzt. Der zuckte nur mit den Schultern. Der Anfall ging vorüber. »Versuchen Sie es noch einmal«, ermunterte ihn der Arzt. »Betrachten Sie die Speise als Medizin.« 329
Böttger schaute den Arzt zweifelnd an und blies die Backen auf. Dann griff er folgsam mit zittriger Hand nach dem Löffel und zwang sich zu essen. Tatsächlich beruhigte der lauwarme Haferschleim seinen Magen, und nach und nach verlor sich die innere Anspannung, doch mehr als einen halben Teller brachte er nicht hinunter. In seinem Kopf hämmerte es wie in einer Schmiede. Er stieß sich von der Tischkante ab und sank erschöpft im Stuhl zurück. Sein Blick hob sich vom Teller, und zum ersten Mal betrachtete er in Ruhe sein Zimmer. Er war zwar auf dem Königstein, aber der Raum war luxuriös im Vergleich zu der Zelle, in die Fürstenberg ihn vor Jahren hatte werfen lassen. Die Wände des Zimmers waren weiß verputzt, in der Ecke stand ein ordentlicher hölzerner Bettkasten mit richtigem weißem Bettzeug. Auf dem Tisch stand ein Kerzenleuchter aus Messing, und gegenüber gab es ein großes Fenster mit Glasscheiben, aus dem der Blick weit über die Hügel nach Westen schweifen konnte. Rechts unten schlängelte sich die Elbe. Auf einem Hängeregal neben dem Fenster lagen eine Bibel und ein Stapel säuberlich geschichtetes, unbeschriebenes Papier nebst Tintenfaß und Feder. Der ganze Raum machte – bis auf die noch fehlenden Bücher – eher den Eindruck einer Studierstube als einer Zelle. Die Schlafkasematte in der Albrechtsburg war wesentlich schäbiger gewesen. Es gab sogar einen Besucherstuhl, von dem sich der Arzt erhob und auf den Teller schaute. »Versuchen Sie bitte, alles aufzuessen, Monsieur Böttger. Ihr Körper wird es Ihnen danken. Sie hatten eine ziemlich heftige Vergiftung.« Böttger fühlte sich schon viel besser und starrte widerwillig auf den Haferschleim. »Ich habe nicht soviel getrunken, als daß ich dies Zeug aufessen müßte.« »Ihre Vergiftung rührt vermutlich nicht nur vom Alkohol, sondern auch von den giftigen Dämpfen der letzten Zeit. Sie müßten doch eigentlich wissen, daß Sie vorsichtiger sein müssen – bei Blei und Quecksilber zum Beispiel.« »Kennen Sie die Kasematten der Albrechtsburg?« fragte Böttger. 330
»Man hat versäumt, sie nach den Erfordernissen von Laboratorien zu bauen, Monsieur. Es fehlt an Abzügen.« Der Arzt quittierte die Bemerkung mit einem zufriedenen Lächeln. »Na bitte, Ihre Lebensgeister kehren zurück …« Dann wurde er wieder ernst. »Bitte seien Sie vernünftig und bleiben Sie bei der Schonkost, die man Ihnen bringen wird. Nichts sonst, bis ich es erlaube. Und tun Sie etwas für Ihren Körper. Frische Luft, Spaziergänge, dergleichen.« »Wissen Sie eigentlich, wann ich das letzte Mal …« Der kleine Arzt unterbrach ihn mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Ja, ja, schon gut, man hat es mir berichtet. Darum habe ich auch seine Exzellenz, den Statthalter, gebeten, mir eine Vollmacht zu erteilen, alle Maßnahmen veranlassen zu dürfen, die ich für Ihre Genesung für nötig erachte.« Bei dem Wort Vollmacht hatte Dr. Bartholomäi das Kinn gehoben und war kurz auf die Zehenspitzen gewippt, was Böttger das erste Lächeln seit langem entlockte. Der Arzt war immer noch der alte. Das war irgendwie beruhigend. »Welche Maßnahmen sind das, außer … Haferschleim?« »Kein Schnaps, kein Wein, nur etwas Bier zur Beruhigung des Gedärms. Ansonsten Schonkost und frische Luft. Der Kommandant hat mir erzählt, Sie hätten bei Ihrem letzten Aufenthalt hier so etwas wie Laufübungen auf dem Wallring gemacht. Nehmen Sie die wieder auf.« »Warum hat man mich eigentlich hierhergebracht?« »Wegen der Schweden. Sie werden hierbleiben, bis die Schweden wieder abziehen – das sollte im nächsten Frühjahr sein, hofft man.« »Das verstehe ich nicht.« »Seine Majestät möchte Sie vor dem Schwedenkönig verstecken.« »Ach so, deswegen …« Böttger entspannte sich und fühlte sich sofort etwas besser. Es war gut zu wissen, daß der König offensichtlich immer noch auf seine Kunst zählte. »Seine Exzellenz Fürst Fürstenberg hat angeordnet, daß man Sie wieder als Herrn ohne Namen führt. Denken Sie bitte daran. Damit alle Geheimnisse gewahrt bleiben, hat man auch Ihre Gesellen hier untergebracht, im Festungsregister sind sie als Ihre Diener notiert. Sie ha331
ben einen Eid ablegen müssen, über alle Arbeiten zu schweigen, die auf der Albrechtsburg durchgeführt wurden. Daher wird man auf der Festung auch keine Labore einrichten.« Dann schaute sich der Arzt um, wie um sich zu vergewissern, daß wirklich niemand außer ihnen anwesend war. Dann trat er theatralisch näher und flüsterte: »Es war übrigens niemand anders als die zukünftige Gräfin Pillnitz, die um Ihre Gesundheit besorgt war und mich zu Ihnen geschickt hat.« Böttger schaute den Arzt ohne jedes Verständnis an. »Wer?« »Sie kennen sie vielleicht besser unter ihrem ehemaligen Namen, Madame von Schönberg.« Charlotte! Böttger spürte, wie sein Herz heftiger zu pochen begann. Wichtigtuerisch fuhr der Arzt fort: »Nicht offiziell natürlich. Nicht, daß sie mich beauftragt hätte. Ich schloß es nur daraus, daß Fürstenberg sagte, er hätte dem Schloß zu berichten. Da Seine Majestät in Polen weilt, residiert dort zur Zeit nur die bewußte Dame, solange ihr Palais noch nicht fertiggestellt ist. Wahrscheinlich verdanken Sie diese Gunst Ihrer früheren Hilfsbereitschaft bei der Lungenentzündung ihres Gemahls. Eine schöne Geste, nicht wahr?« Die letzten Sätze rissen Böttger brutal aus seinem kurzen Traum in die Wirklichkeit zurück, und er betrachtete den Arzt, der ihn anstrahlte. »Das ist wirklich sehr nett«, bestätigte ihm Böttger gezwungen lächelnd, um ihn nicht zu enttäuschen. Der Arzt bauschte die Sache auf. Es war entschieden besser, nichts darauf zu geben. Bald darauf verabschiedete sich der Arzt, und Böttger bemerkte zu seiner Verwunderung, daß die Tür seines Zimmers unverschlossen blieb. Kein Wächter mußte herbeigerufen werden. Doch die Erkundung seines Freiraums verschob er auf später, da ihn immer noch Kopfschmerzen quälten, und so legte er sich aufs Bett. Zeit hatte er mehr als genug. Kaum schloß er die Augen, begannen seine Gedanken um Charlotte zu kreisen. Das Gespräch hatte sie aus seiner Erinnerung hervorgeholt, die königliche Mätresse, die mit ihm das Strohlager unter dem Lichterspiel der Sonnenreflexe in der Fischerhütte geteilt hatte. Überfallartig 332
quälten ihn die seit langem sorgfältig verdrängten Vorstellungen. Nie wieder würde er Charlotte in den Armen halten, über ihre Brüste streicheln, niemals mehr von ihr liebkost werden. An seine Stelle war der König getreten … Eine Welle von Eifersucht und Haß durchfuhr Böttger und ebbte wieder ab. Wenn es wirklich Charlotte war, die den Besuch des Arztes veranlaßt hatte, dann hatte sie ihn immerhin noch nicht vergessen. Schließlich hatte er nie damit gerechnet, daß sie still und ergeben dasaß und auf ihn wartete. Das wäre nicht seine Charlotte. Böttger warf sich im Bett hin und her und versuchte die selbstquälerischen Phantasien zu verscheuchen. Doch sie ließen ihn nicht los. Er mußte irgend etwas tun, sich ablenken, setzte sich müde auf und stützte den Kopf in die Hände. Seine Finger glitten über die Bartstoppeln. Es würde ihn auch erfrischen, sich zu waschen. Böttger stand auf und rief im Gang nach einem Wachsoldaten, den er um einen Eimer mit Wasser, Seife, Spiegel, ein frisches Handtuch und Rasierzeug bat. Wenig später betrachtete Böttger erschrocken sein aufgeschwemmtes Gesicht und die tiefen Ringe unter den Augen im Spiegel. Er war erst fünfundzwanzig. Was ihm da entgegenblickte, war der Kopf eines ungepflegten Mannes, der mindestens zehn Jahre älter zu sein schien. Falls es jemals wieder zu einer Begegnung zwischen ihm und Charlotte kommen sollte, und sei es auch nur aus der Ferne, konnte er ihr nicht so unter die Augen treten. Nach zwei Stunden lag Böttger in frischer Wäsche und einem schäbigen, aber sauberen Rock auf dem Bett und fühlte sich schon wesentlich respektabler. Entschlossen, alles zu tun, um möglichst bald wieder auf dem Damm zu sein, hatte er sogar den widerlichen Rest Haferschleim aufgegessen. Auch zum Abendessen gab es Haferschleim, dazu einen halben Krug warmes Bier. Verbissen löffelte er den Brei auf und spülte ihn mit dem Bier hinunter. Er fühlte sich besser, blätterte sogar ein bißchen in der Bibel, legte sie aber schnell wieder weg. Das Lesen strengte zu sehr an. Er schloß die Augen und überdachte seine Lage. Der Einmarsch der Schweden hatte ihm eine Atempause verschafft. Doch wozu? Ohne sei333
ne Laboratorien fühlte er sich unnütz. Binnen kurzem würde er sich langweilen. Die anfängliche Freude über das freundliche Zimmer und die Zeit zum Müßiggang verflog. Er war eingesperrt wie eh und je, nur ein bißchen komfortabler.
Die Tage vergingen. Böttger nahm auf dem Wallring seine kurzen Läufe wieder auf. Er probierte es auch mit längeren Strecken, aber die sagten ihm nicht zu, die explosive Kraftanstrengung fand er befriedigender, und er setzte diese Übungen auch fort, als es tagelang regnete. Ein paarmal kam Dr. Bartholomäi noch zum Königstein heraus und stellte zufrieden auf den Zehen wippend fest, daß sein Patient gute Fortschritte machte. Danach blieb er aus, auch Seine Exzellenz der Statthalter ließ sich nicht sehen. Pabst von Ohain kam nicht und auch nicht Tschirnhaus. Vielleicht wußten sie nicht einmal, wo er war. Schreiben durfte er nicht, und mit den Gesellen Karten zu spielen, füllte auch nicht die Tage. Sie erzählten ihm von dem Gerücht, daß der schwedische König über zwanzig Millionen Taler Reparationszahlungen verlangte, eine für Böttger kaum vorstellbare Summe. Es würde ewig dauern, eine solche Menge Gold zu fertigen. Ansonsten sprachen sie meist über das erbärmliche Essen und hofften auf bessere Verpflegung. Wie vorausgesehen, begann Böttger sich zu langweilen, und so dehnte er seine Laufübungen und Spaziergänge auf dem Wallring aus. Als der Herbst mit Regen und ersten Stürmen über die Festung fegte, genoß er den peitschenden Regen im Gesicht und den Sturm in den Haaren, eine Ahnung von Freiheit, und schaute den dahinfliegenden Wolken nach. Dann klarte es auf, ein schöner Altweibersommer brach an, und Böttger verausgabte sich an diesem Tag besonders bei seinem Lauf. Anschließend suchte er sich ein sonniges Plätzchen und ruhte sich, angelehnt an das Rad einer Kanone, aus. Drei Herren kamen vorbei, was an und für sich nichts Besonderes war. Außer Böttger genossen noch weitere Gefangene auf dem Königstein gewisse Privilegien. Al334
lerdings war es allen streng verboten, miteinander zu sprechen. Einer von den dreien, der dicke in der Mitte, fixierte ihn jedoch, und plötzlich erinnerte sich Böttger, wo er ihn schon einmal gesehen hatte: auf der Moritzburg. Es war Graf Haxlingen. Als Böttger gerade überlegte, daß es sicher spannend sein mußte, sich mit dem geschaßten Grafen zu unterhalten, kam der auch schon auf ihn zu. Niemand schritt ein. Der ehemalige Großkanzler mußte außergewöhnliche Privilegien genießen. »Ich kenne Sie doch, Monsieur.« Böttger wollte dem Grafen deutlich machen, daß sein Name der Geheimhaltung unterlag, stand schnell auf und verbeugte sich. »Das ist kaum möglich, Monsieur, da man mich in diesem Etablissement als Herrn ohne Namen führt.« »Ohne Namen, so, so. Ich werde mich daran halten, Monsieur.« Er lachte. »Hübsch, daß der Hoffnungsträger Seiner Majestät keinen Namen hat.« Böttger sah ihn unsicher an. Graf Haxlingen wandte sich seinen Begleitern zu. »Sehen Sie, so sorgt dieser Räuber vor. Aber es nützt ihm nichts. Ich werde ihn dennoch übertrumpfen.« Einer der Herren zwinkerte Böttger zu. Der kannte den Mann nicht und befürchtete schon, daß man ihn auf den Arm nehmen wollte, und zog eine finstere Miene. Haxlingen wandte sich ihm wieder zu, ohne auf Böttgers Miene zu achten, und zischte. »Es wird ihm nichts nützen, denn er hat mir meinen Schatz gelassen. Und den bekommt er nicht, den nicht.« Dabei zog er aus der Rocktasche eine kleine Porzellanfigur heraus. Böttger hielt es für einen chinesischen Mandarin, vielleicht war es auch eine Gottheit. »Seine Majestät hat den hier vergessen. Das war nachlässig, nicht wahr? Durch diese Figur werde ich alles zurückgewinnen.« Dabei fixierte er Böttger hämisch grinsend. »Was zurückgewinnen, Monsieur?« fragte Böttger irritiert, aber höflich. »Meine Macht, Monsieur. Vor Ihnen steht der Großkanzler, Mon335
sieur. Meine Freunde warten nur darauf, daß ich sie rufe. In dieser Figur ist die Kraft gespeichert, die sie zu mir rufen wird, die Österreicher und Engländer, alle werden sie mir huldigen kraft dieser Figur. Auch Sie haben sich verbeugt. Es ist die Kraft.« Einer der Begleiter machte nun hinter dem Rücken des Grafen ein unmißverständliches Zeichen. Der Mann war irre geworden. Deswegen ließ man ihn wohl auch gewähren. Aber etwas faszinierte Böttger an Haxlingens Geschichte. Wieso konnte eine kleine Porzellanfigur im Kopf dieses Mannes eine solche Dimension annehmen? Er beschloß, dieser Frage nachzugehen und Bücher über China in der Festungsbibliothek aufzutreiben. Als Böttger später auf dem Bett die Begegnung mit Haxlingen rekapitulierte, fielen ihm seine eigenen Luftschlösser ein, die er sich während der langen Kerkerhaft gebaut hatte. Doch es waren nur Tagträume gewesen. Nur seine Sehnsucht nach Charlotte hatte sich erfüllt, für einen wunderbaren, glückseligen Moment, der wohl einzigartig bleiben würde. Nach der mysteriösen Andeutung von Dr. Bartholomäi hatte er nichts weiter von Charlotte gehört, außer dem, was alle von der Mätresse des Kurfürsten wußten: Sie war zur freien Reichsgräfin von Pillnitz erhoben worden und lebte in einer Sphäre, die Böttger nicht einmal zugänglich sein würde, wenn er das Gold machte. Standesgemäß bewohnte Charlotte inzwischen einen Teil des fertiggestellten Palais gegenüber dem Schloß. Es hieß, der König versäume keine Nacht, über den extra gebauten Brückengang vom Schloß zum Palais hinüberzupilgern. Die Monate vergingen, Böttger fühlte sich inzwischen so gesund wie schon lange nicht mehr. Aber obwohl die Festungsbibliothek durchaus reichhaltig war, fühlte er sich geistig unterfordert. Da wurden ihm im Dezember ein Dutzend Bücher über Mathematik von Tschirnhaus gesandt, der sie ihm durch Fürstenberg zukommen ließ. Dankbar stürzte sich Böttger in die wissenschaftlichen Abhandlungen zu lustvollem geistigem Training und verbrauchte Mengen an Papier, um die mathematischen Gesetze nachzuvollziehen. 336
Sechzehntes Kapitel
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as Frühjahr kam, doch die Schweden zogen immer noch nicht aus Sachsen ab. Sie rüsteten sich gegen den Zaren, der seine eroberten Seehäfen hatte halten können, weil sich Karl mit seinen Kräften auf die Vernichtung Augusts konzentriert hatte. Bei der Werbung neuer Soldaten hatte der Schwedenkönig leichtes Spiel. Sein Nimbus als unbesiegbarer Feldherr trieb ihm die Habenichtse aus allen deutschen Ländern zu, und seine Armee wuchs auf 34.000 Mann. Das Offizierscorps wurde durch verarmte Ritter aufgefüllt, vor allem zweite und dritte Söhne, die ohne Erbaussichten nur zwischen der Offizierslaufbahn oder einer Laufbahn in der Kirche wählen konnten. Doch da die protestantische Kirche weit weniger Posten bot als früher die katholische, entschieden sich die meisten dafür, das Kriegshandwerk auszuüben. Nur ein Drittel von Karls Truppen – die Eliteeinheiten – bestand daher aus Schweden. Und war er erst einmal losgezogen, würde er seine Verluste mit Kriegsgefangenen auffüllen. So war es üblich. Im Reparationsvertrag war festgeschrieben, daß August Karls Armee ausrüsten mußte, angefangen bei den Uniformen, Mützen, Koppeln, bis hin zu den Gewehren. Sachsens Manufakturen arbeiteten unter Hochdruck, aber es dauerte seine Zeit. Karl mußte noch warten, bevor er losziehen konnte, um Rußland zu bezwingen. Währenddessen gingen Augusts Feste am Hof in Dresden unvermindert weiter, als ächze sein Land nicht unter der Last der Besatzung. Niemand sollte sagen können, daß sich Sachsens Herrscher davon beeindrucken ließ. Nur bei der Ausführung der Feste sah August darauf, daß es ihn billiger kam. Häufiger gab es Schwarzwildhatzen, die zu den weniger aufwendigen Vergnügungen gehörten. 337
Man trieb ein gutes Dutzend Keiler in den Dresdner Schloßhof und verrammelte die Tore. August trat als erster an, um einen der Keiler mit Fanggeschirr und Hirschfänger zu erledigen. Er beherrschte die Kunst meisterhaft. Danach durfte sich auch jeder andere daran versuchen, dem der Sinn danach stand. Aber viele, die es August gleichzutun hofften, sahen dabei recht unbeholfen aus, was der Belustigung des Hofes diente. Einige Unvorsichtige wurden von den Keilern übel zugerichtet, bevor Jäger ihnen helfend beispringen konnten. Doch das tat dem Amüsement keinen Abbruch. Und am Abend bereicherten die Keiler festlich dekoriert die Speisetafel, wobei man die Köpfe erst kochte, um ihnen danach das Fell höchst kunstvoll wieder überzuziehen. Danach setzte man die rohen, glänzenden Augen wieder in den Kopf, ein Leckerbissen, der für Seine Majestät reserviert war. Kaum ein Abend verging, an dem sich nicht der abendlichen Tafel ein Trinkgelage bis weit nach Mitternacht anschloß, bei dem nur die Herren anwesend waren. August genoß es, daß es kaum einer mit seiner Trinkfestigkeit aufnehmen konnte, und so mancher Gast mußte, begleitet vom Spott der übrigen, vorzeitig hinausgetragen werden. Dennoch hielt August eisern an der Routine der Frühaudienzen fest. Um diese Stunde erschien ihm alles klar und übersichtlich. Als abzusehen war, daß sich der Abzug der Schweden immer weiter hinauszögern würde, bat er eines Morgens Fürstenberg zu sich, der inzwischen seinem Geheimen Kabinett vorsaß. Im Gegensatz zum Geheimen Rat, dem Exekutivorgan der Ständevertretung, war das Geheime Kabinett August direkt unterstellt und entzog der Ständevertretung peu à peu die Macht. Nie wieder sollte es ihm widerfahren, daß in Sachsen hinter seinem Rücken Beschlüsse gefaßt wurden. Die Aristokratie schrieb er als Unterstützer für seine Politik ab. Statt dessen setzte August auf das aufstrebende Bürgertum, die Kaufleute, die Gründer von Manufakturen, die als Nebeneffekt von Karls Forderungen einen beachtlichen technischen Vorsprung gegenüber anderen deutschen Landen herausarbeiteten. Karl war auf dem wirtschaftlichen Auge blind. Durch die enormen Lasten hatte er Sachsen niederzwingen wollen. Nun trug er ungewollt dazu bei, ein effizientes Manufakturwesen für die Zukunft 338
aufzubauen. Dies führte bei August zu der Überlegung, daß der nutzlos auf dem Königstein herumsitzende Goldmacher auch endlich zur längst fälligen Produktivität finden mußte. »Exzellenz«, begann August ohne Umschweife, nachdem Fürstenberg eingetreten war, »wie steht es um den Goldmacher? Man hatte mir von gesundheitlichen Problemen berichtet. Sind die behoben?« »Monsieur Böttger ist wohlauf, Majestät, man kann sogar sagen, er befindet sich in glänzender Verfassung.« »Dann wird es Zeit, daß er endlich seine Versprechungen erfüllt.« »Es gibt auf dem Königstein keine Labore. Wenn man sie jetzt dort einrichtet, wird es die Aufmerksamkeit der Schweden auf sich ziehen.« »Das weiß ich selber. Aber er kann doch theoretisch arbeiten. Sehen Sie sich Monsieur Tschirnhaus an. Dessen Arbeiten sind in aller Welt anerkannt – und die Grundlagen dazu hat er in der Studierstube gelegt. Das sollte Monsieur Böttger ebenfalls tun, richten Sie ihm das aus. Es ist mir gleichgültig, welche Schwierigkeiten zu bewältigen sind. Er hat mich genug gekostet, und Ausreden lasse ich nicht mehr gelten. Ich brauche sein Gold für den Wiederaufbau Sachsens. Wenn er mir nicht binnen eines Jahres das Gold schafft, wird er gehängt.« Fürstenberg erschrak, ließ sich aber nichts anmerken. August hatte das so nüchtern und leidenschaftslos gesagt, als ob er sich ein Pferd zum Ausritt bestellt hätte. Am nächsten Tag bestellte Fürstenberg Tschirnhaus zu sich. »Was Monsieur Böttger anbelangt, ist meine Macht zur Zeit sehr beschränkt, Monsieur Tschirnhaus. Es bringt nichts, wenn ich ihm diese schlechte Nachricht überbringe. Wenn überhaupt jemand, dann sind Sie es, der ihm da heraushelfen kann.« »Glauben Sie denn, es könnte funktionieren?« »Ich weiß es nicht sicher«, gab Fürstenberg zu. »Aber die Leidenschaft Seiner Majestät für Porzellan ist so groß, daß sie als Ersatz für das Gold herhalten könnte. Das wenigstens hoffe ich. Zudem wäre es ja wirklich ein großer Gewinn für die Staatskasse. Und Seine Majestät könnte vor aller Welt das erste europäische Porzellan auf einer Leipziger Messe präsentieren.« 339
»Ich habe mich seit bald zehn Jahren daran versucht, Exzellenz. Und doch ist nichts daraus geworden. Und Sie kennen Böttger. Er ist dickköpfig.« »Die Drohung mit dem Galgen wird ihm die Dickköpfigkeit schon austreiben. Bitten Sie ihn gleichzeitig um seine Hilfe. Das schmeichelt seinem Ego. Mit diesen beiden Argumenten versehen, müßten Sie es schaffen, Monsieur Tschirnhaus.« »Verzeihung, Exzellenz, aber Sie klingen so überzeugend, warum gehen Sie nicht selber, um ihn zu überreden?« »Weil er sich von mir nicht überzeugen lassen würde, Monsieur Tschirnhaus. Mir bedeutet Porzellan bei weitem nicht so viel wie Ihnen. Zweitens ist es nicht gut, wenn ich in dieser Sache als väterlicher Ratgeber auftauche. Dann hofft er, ich würde ihm beim König schon irgendwie heraushauen, wenn er versagt – womit er vielleicht sogar recht hätte. Drittens verkörpern Sie – und nicht ich – wissenschaftliche Autorität. Sie müssen ihn bei seinem Ehrgeiz packen.« Tschirnhaus nickte. »Ich verstehe.« Er seufzte. »Glauben Sie denn, wir könnten es schaffen?« fragte er etwas unglücklich. Fürstenberg nickte zuversichtlich. »Böttger ist ein genialer Chemiker. Der beste. Ich sehe eine gewisse Chance. Vor allem – ich wüßte keine andere.« Am nächsten Tag fuhr Tschirnhaus mit einem Passierschein zum Königstein und ließ sich zu Böttger führen. Der begrüßte ihn überschwenglich. »Endlich ein Mensch mit Verstand. Ihre Bücher über Mathematik waren ein Segen.« »Ich hatte es erhofft«, gab Tschirnhaus schmunzelnd zu. »Wie ich sehe, sind Sie auch sonst in exzellenter Verfassung. Bemerkenswert.« »Loben Sie dafür Dr. Bartholomäi, Monsieur. ›Mens sana in corpore sano.‹« Böttger hob vergnügt die Hände. Seine Haare, die auf der Albrechtsburg noch lang und ungepflegt gewesen waren, hatte er sich in Locken legen lassen und gepudert, so daß man sie für eine sehr volle Perücke halten konnte. Auch seine Figur schien Tschirnhaus muskulöser geworden. »Erstaunlich.« »Wieso erstaunlich?« 340
»Weil Sie ganz offensichtlich gegen Ihre sonstige Neigung auf jemanden mit Kompetenz gehört haben.« Böttger lachte. »O bitte, keinen Streit. Mir ist nach Harmonie. Nach konstruktiver Arbeit. Ohne mit mathematischen Formeln zu spielen, wäre ich hier geistig verkümmert.« »Ausgezeichnet. Ich habe eine neue Aufgabe mitgebracht. Wir müssen innerhalb eines halben Jahres Porzellan machen.« »Wie bitte? Das ist doch Ihre Sache, nicht meine.« »Es wäre aber erheblich gesünder für Sie, Sie würden sich dieser Arbeit anschließen. Seine Königliche Majestät möchte in einem halben Jahr Gold sehen oder …« Er machte eine unmißverständliche Handbewegung. Böttger tat es ab. »Nicht schon wieder.« »Doch. Und ich befürchte, diesmal ist es ernst. Seine Majestät hat keine Ablenkung mehr mit Polen und wird Sie nicht aus den Augen lassen. Oder glauben Sie, in einem halben Jahr die Transmutation zu einer Anwendung bringen zu können, die sich in einer Art Manufaktur auswerten ließe?« Böttger sah ihn wütend an. »Wie soll ich das wissen?« »Nun, dann mache ich Ihnen das Angebot, Ihnen alle meine Vorarbeiten zur Verfügung zu stellen – und Sie machen Porzellan.« »Wieso glauben Sie, daß ich das kann? Alle Chemiker Europas probieren seit zweihundert Jahren daran herum, und keiner hat es bisher geschafft.« »Weil Sie der beste Chemiker sind, darum.« Böttger sah ihn kurz an, ging aber nicht auf das Kompliment ein. »Und wieso glauben Sie, daß sich Seine Königliche Majestät damit zufriedengeben würde?« fragte er schließlich. »Porzellan wird mit Gold aufgewogen. Man könnte es als weißes Gold bezeichnen, Monsieur Böttger«, hielt ihm Tschirnhaus im Brustton der Überzeugung entgegen. »Weißes Gold. Stellen Sie sich eine Ausstellung auf der Leipziger Messe vor, wenn Seine Majestät den Aristokraten aus ganz Europa das erste europäische Porzellan vorstellt. Es wäre ein unglaublicher Prestigegewinn für ihn, ganz abgesehen von 341
seiner eigenen Leidenschaft. Seien Sie versichert: Der König wird es gelten lassen.« »Was sagt Fürstenberg dazu?« »Seine Exzellenz ist ebenfalls von diesem Weg überzeugt, Monsieur.« »Das haben Sie sich ja fein ausgedacht … Der Plan offeriert allerdings einige positive Aspekte.« Böttger rang mit sich. »Ich mache es, Monsieur Tschirnhaus. Ich knüpfe jedoch zwei Bedingungen daran: Erstens, ich will nicht zurück auf die Albrechtsburg, sondern in Dresden arbeiten. Zweitens, ich muß Künstler hinzuziehen dürfen. Porzellan wirkt nicht, wenn es nicht gestaltet ist. Es ist eine Kraft darin …«, setzte er plötzlich grinsend hinzu. »Was für eine Kraft?« fragte Tschirnhaus irritiert. »Ach nichts. Das war bloß so ein Ausspruch von einem Verrückten. Was meinen Sie? Halten Sie meine Bedingungen für durchsetzbar?« »Ich werde mit Fürst Fürstenberg darüber sprechen.« »Nicht nur mit Seiner Exzellenz«, erwiderte Böttger sehr nachdrücklich. »Seine Majestät muß ganz offiziell davon erfahren – und zwar vorher – und seine Einwilligung signalisieren. Ohne seinen Segen in der Sache kann ich mich nicht darauf einlassen. Ich will nicht reingelegt werden.« »Monsieur, wie sprechen Sie …« Mit brüsker Geste unterbrach Böttger die aufkommende Empörung des Gelehrten. »Seine Majestät hat mir niemals konkret auf einige Punkte in bezug auf die Nutzung des künstlichen Goldes geantwortet. Ich denke, er wird wissen, warum. Es ist zwar bald sechs Jahre her, aber noch niemand hat ihm Vergeßlichkeit nachgesagt.« Tschirnhaus sah ihn skeptisch an. »Wenn es so ist, wie Sie sagen, wäre ich an Ihrer Stelle lieber vorsichtig. Sie klingen, als hätten Sie das Porzellan schon gemacht.« »Ich habe einige allgemeine Ideen. In Marco Polos Bericht ist die Rede davon, daß die Chinesen das Grundmaterial für das Porzellan lange ruhen lassen und es der Witterung aussetzen.« »Sie kennen diese Beschreibung?« staunte Tschirnhaus. »Ich kam eher zufällig dazu. Der Irre, von dem ich vorhin sprach, 342
Graf Haxlingen, führte verrückte Reden von der Kraft, die dem Porzellan innewohne – er hatte da so eine Götzenfigur. Das inspirierte mich, Marco Polos Reisebericht zu lesen.« »Und was glauben Sie, was soll das ›ruhen lassen‹ bewirken?« »Die Materialien sollen sich durchdringen und vermischen. Es müssen demnach mindestens zwei verschiedene Rohstoffe sein, nach denen wir suchen müssen. Alle Töpfer Sachsens sollen uns Proben ihrer Erden schicken. Es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir unter ihnen nicht die gewünschten Erden finden. Die Chinesen graben ihre Erden auch bloß irgendwo aus wie unsere Töpfer. Vielleicht liegen bei ihnen die Substanzen nur rein zufällig genau beieinander, so wie bei uns bestimmte Metalle im Berg.« »Ich wage zu bezweifeln, daß es so einfach gehen wird«, bemerkte Tschirnhaus skeptisch, der sich nur zu gut an seine langen Versuchsreihen erinnerte. »Niemand sagt, daß es einfach ist, Monsieur Tschirnhaus. Ich brauche alle Unterlagen, die Sie über Ihre Experimente angefertigt haben. Und Ihre Brennspiegel. Dann können wir blitzschnell prüfen, ob sich die Erden zu einer Scherbe verbinden und ob sie sich verformen oder nicht.«
*** Es war fünf Uhr morgens. Vor den Fenstern zwischen den alten, nachgedunkelten Holztäfelungen im privaten Arbeitszimmer des Kurfürsten war noch nichts von der Morgendämmerung zu sehen. Aus dem großen Audienzsaal, der vor dem Arbeitszimmer lag, drang das Spiel eines Streichquartetts, das es unmöglich machte, die Geheimkonferenz zu belauschen. »Beeindruckend Ihr Vortrag, Monsieur Böttger.« August lehnte sich hinter seinem Schreibtisch zurück, der über und über mit Architekturplänen bedeckt war, und ließ seinen Blick über die angespannten Gesichter der Teilnehmer schweifen: Tschirnhaus, Böttger und Pabst von Ohain. Sie wahrten den gebührendem Abstand der Majestät ge343
genüber, an der Querseite bei einem sechsarmigen Leuchter stand Fürstenberg, der nun zum Kurfürsten trat, um ihm vier Pergamentblätter eines ausgearbeiteten Vertrages vorzulegen. »Wenn Ihre Majestät erlauben. Wir haben ein Programm ausgearbeitet, das alle Punkte berücksichtigt, die Monsieur Böttger eben skizziert hat, vor allem selbstverständlich die Geheimhaltung, damit das Porzellan sächsisches Monopol bleibt. Es sind insgesamt sechsunddreißig Punkte.« »Könnten Sie mir bitte erst einmal die Praxis der Geheimhaltung beschreiben, Exzellenz?« »Selbstverständlich, Majestät. Aus dem Arbeitsablauf ergibt sich, die Arbeit in drei Abteilungen aufzugliedern. In der ersten Abteilung wird man nur die Erden in Empfang nehmen, reinigen und mit Geheimnamen versehen. In der zweiten wird man die Erden aufbereiten und mischen. Durch die Geheimnamen ist gewährleistet, daß man dort nicht weiß, woher das Material kommt, das man verarbeitet.« Fürstenberg wartete ein kurzes Nicken des Kurfürsten ab, bevor er fortfuhr: »Zwischen der zweiten und dritten Abteilung sind die Töpfer und Künstler angesiedelt, die Herstellung der Gefäße also. In der dritten Abteilung erfolgen schließlich die Brände. Niemand – außer den Leitenden – wird also einen Überblick über den vollständigen Prozeß erhalten.« »Das klingt soweit ganz gut.« August lehnte sich im Sessel zurück und versank in Nachdenken. Ein wenig enttäuscht schaute Böttger zu Tschirnhaus und Ohain, um aus deren Gesichtern ihre Einschätzung abzulesen. Nach all dem Gerede über die Porzellan-Leidenschaft des Kurfürsten hatte Böttger eine enthusiastischere Reaktion erwartet. Auch seine Freunde schienen ein wenig enttäuscht. Böttger sah zurück zum Kurfürsten, der ihm skeptischer vorkam als früher, vorsichtiger. August beugte sich wieder nach vorne. »Gut also. Immer vorausgesetzt, Messieurs, der ganze Aufwand lohnt sich überhaupt. Immerhin wird überall in Europa nach dem Arkanum für Porzellan geforscht. Und Sie …«, er schaute sie nacheinander an, »wollen das Kunststück in einem halben Jahr vollbracht haben?« Böttger bemühte sich, souverän zu wirken. »Majestät, wir kennen die 344
Richtung, in der wir zu arbeiten haben. Monsieur Tschirnhaus hat mir Beispiele gezeigt, die schon recht nah am echten Porzellan waren. Ich habe alle Unterlagen studiert. Es erscheint mir machbar.« »Verzeihen Sie, Monsieur Böttger, einen Moment … Monsieur Tschirnhaus, da Sie selbst schon gut zehn Jahre daran arbeiten, was macht Sie da so sicher?« »Man könnte meine Experimente Vorstufen nennen, allergnädigste Majestät.« »Vorstufen, dieser Ausdruck besagt eigentlich gar nichts«, gab der Kurfürst ungeduldig zurück. Tschirnhaus versteifte sich beleidigt. August hob beschwichtigend die Hand. »Gut, mag sein, ich verstehe nicht genug davon … Nun zu Ihnen, Monsieur Böttger. Das sind nicht die ersten Versprechungen, die Sie machen.« Böttger spürte Wut über diesen Affront in sich aufsteigen und war nahe daran aufzubrausen. Obwohl er sich bezähmte, lag eine gewisse Schärfe im Ton seiner Antwort: »Ich habe Ihrer Majestät schon einmal gesagt, daß sich chemische Substanzen nicht befehlen lassen. Wir wissen, daß es sich bei dem Arkanum des Porzellans um eine Mischung von bestimmten Erden handelt. Stück für Stück, Experiment um Experiment, werden wir ihnen auf den Leib rücken und ihnen ihre Geheimnisse entlocken. Sie sind, wie alles um uns, Bestandteil der Schöpfung und können durch die gottesfürchtige Wissenschaft ihrer Bestimmung …« Böttger stockte, denn in diesem Augenblick öffnete sich eine Tür, und eine verschlafene Charlotte erschien neugierig im Türrahmen. »… zugeführt werden«, beendete Böttger seinen Satz, während Fürstenberg sich schon verneigte. »Guten Morgen, Gräfin.« Tschirnhaus, Ohain und mit leichter Verzögerung Böttger folgten Fürstenbergs Beispiel, während August zwischen leichter Verärgerung über die Störung und Entzücken über die bezaubernde Erscheinung seiner Mätresse schwankte, die in einem prunkvollen, goldbestickten Morgenmantel und leicht zerzauster Frisur im Türrahmen stand. Mit einem charmanten Lächeln kam Charlotte August zuvor. »Was für eine wunderschöne Musik am Morgen, Majestät.« 345
August tat geschmeichelt. »Nicht wahr, Madame!« Und während August noch nach den passenden Worten suchte, sie hinauszukomplimentieren, ließ Charlotte ihren Blick ungeniert über die Anwesenden schweifen, die mit leicht geneigten Köpfen dastanden. Schon bei ihrem Eintreten hatte Charlotte Böttgers Stimme erkannt. Ein verstohlener Blick wäre verräterisch gewesen, sie schaute daher offen zu Tschirnhaus, Böttger und Ohain, während sie unbefangen bemerkte: »Es muß angenehm sein, Messieurs, bei solchen Klängen zu konferieren.« Böttger ragte aus den dreien hervor. Trotz seiner leichten Verneigung lag etwas kraftvoll Angespanntes in seiner Haltung. Vielleicht trug die dunkle Lockenpracht dazu bei, die besser zu seiner markanten Nase zu passen schien als eine gepuderte Perücke. Böttger hob den Kopf ein wenig, und sein Blick traf sie, leidenschaftlich wie eh und je. Er währte kaum länger als eine Sekunde, und doch machte er Charlotte verlegen, was sie hinter einem Hüsteln verbarg, während August schon zu sprechen begonnen hatte: »Es tut mir außerordentlich leid, Madame, dies ist eine Geheimkonferenz. Ich muß Sie daher bitten, uns allein zu lassen.« Er machte eine höfliche, aber unmißverständliche Handbewegung und zog eine bedauernde Miene. »Verzeihen Sie, Majestät, es tut mir leid, Sie gestört zu haben. Ich wünsche den Herren eine erfolgreiche Konferenz und einen schönen Tag.« Sich verabschiedend, sank Charlotte in den Hofknicks. Wohlwollend blickte der König Charlotte nach. Manchmal genoß er es, wenn Charlotte morgens auftauchte, besonders wenn ein ausländischer Gesandter da war, und vor Bewunderung über seine schöne Mätresse schmolz. Das konnte Vorteile bringen. Häufig zog er sie auch bei seinen Bauvorhaben zu Rate, wenn er mit den Architekten diskutierte. Sie hatte Sinn für Proportionen und Details. Als sich die Tür langsam hinter Charlotte schloß, ergriff Fürstenberg sofort das Wort: »Allergnädigste Majestät. Um an die Ausführungen von Monsieur Böttger anzuknüpfen: Wir sollten Monsieur Böttger zugute halten, daß er, was die ordinäre Chemie angeht, schon erhebliche Erfolge nachweisen kann. Wenn es in Europa einen Chemiker gibt, 346
der den Chinesen ihr Geheimnis entreißen kann, dann ist er es. Dabei darf man auch nicht die Unterstützung der vor Ihnen stehenden, hervorragenden Wissenschaftler vergessen.« August nickte stumm zu diesen Ausführungen. Der kurze Auftritt Charlottes hatte ihn aus seiner skeptischen Stimmung gerissen. »Gut. Dann wollen wir einmal davon ausgehen, daß Monsieur Böttger tatsächlich in der Lage ist, das Arkanum für die Porzellanherstellung zu finden. Es würde manche Wunde heilen, Messieurs. Sachsen hat es bitter nötig. Es wäre ein Exportartikel von unschätzbarem Wert.« In Augusts Augen trat der schwärmerische Blick, den Böttger schon viel früher erwartet hatte. »Sie sind ein Tausendsassa, Monsieur Böttger. Auch Ihre Fürsprecher haben hohes Gewicht. Ich bin bereit, erneut meine Hoffnungen in Sie zu setzen.« Dann wandte sich August zu Fürstenberg. »Exzellenz, bitte die Paragraphen.« Als Fürstenberg den Vertrag vorzulesen begann, hörte Böttger kaum zu. Die Paragraphen kannte er, da sie das Papier zusammen ausgearbeitet hatten. Seine Gedanken schweiften zu Charlotte zurück. Sie war schön wie eh und je, hoheitsvoll und stolz. Trotzdem hatte sie ihn nicht von oben herab angesehen. Jetzt war er froh darüber, daß man sich auf dem Königstein so viel Mühe gegeben hatte, ihn für die Audienz beim Kurfürsten zu baden, zu parfümieren und ihm die Haare mit der Brennschere zu bearbeiten. Geflucht hatte er über den mitternächtlichen Aufwand, zumal sich daran noch die lange Kutschfahrt nach Dresden anschloß. Das kleine Hüsteln Charlottes bei seinem Anblick war ihm nicht entgangen. Irrsinnige Hoffnungen und Wunschbilder entstanden in seinem Kopf, die er nur mit Mühe verscheuchen konnte. Alles sprach dagegen. Man durfte die Mätresse des Kurfürsten höchstens aus der Ferne verehren. Charlotte würde ihre Position niemals leichtfertig aufs Spiel setzen. Fast gewaltsam schob Böttger seine Tagträumereien fort und kehrte in die Wirklichkeit zurück, sah den Kurfürsten, wie er mit gerunzelten Brauen den verlesenen Paragraphen folgte. Wenn er diesem Mann imponierte, mußten sich einfach neue Chancen für ihn auftun. 347
Der Kurfürst griff sich gerade das letzte Blatt des Vertrages und setzte schwungvoll seinen Namenszug darunter. »Ich folge übrigens dem Vorschlag von Monsieur Tschirnhaus und gebe Ihnen die Kasematten unter der Jungfrauenbastei in Dresden. Sobald die Schweden abgezogen sind, können Sie dort mit der Arbeit anfangen.« Auf der langen Kutschfahrt zurück zum Königstein kam Böttger Leutnant Rebmann in den Sinn: Man mußte sich erreichbare Ziele setzen, um selbst über sein Schicksal bestimmen zu können. Die Voraussetzungen dafür waren jetzt gegeben.
*** In den frühen Morgenstunden des 12. September 1707 erklangen überall in Sachsen die Trommeln der Tamboure. Die Schweden rückten ab. August wollte sich diesen lang herbeigesehnten Moment nicht entgehen lassen und ritt in Begleitung von Fürstenberg und einer kleinen Eskorte, die ihnen in gebührendem Abstand folgte, auf einen Hügel nördlich von Dresden, von wo er einen guten Ausblick auf die Straße hatte, die teilweise gepflastert bis nach Polen führte. Unter ihnen schlängelt sich die endlose Marschkolonne des frisch eingekleideten und ausgerüsteten schwedischen Heeres vorbei. »Alles bezahlt von unserem guten Geld«, brummte August mißmutig. Dann bemerkte er, daß neben den Soldaten viele weinende Mädchen mit geschwollenen Bäuchen herliefen, und seine Miene erhellte sich. »Sehen Sie die Mädchen, Exzellenz? Das ist doch wenigstens mal ein Gewinn durch die Schweden. Bald wird es von tapferen kleinen Sachsen nur so wimmeln.« Fürstenberg hob amüsiert die Brauen. »Ein wenig werden Sie noch warten müssen, Majestät, bis Sie mit ihnen eine neue Armee aufstellen können.« »So bald wird es hoffentlich auch gar nicht nötig sein. Der Herzog von Marlborough hat Karl ein düsteres Ende in Rußland prophezeit.« »Was für ein Jammer um den Burschen. Dabei ist er durchaus ansehnlich«, meinte Fürstenberg bedauernd. 348
August sah ihn entgeistert an. »Fürst … Sie sind unverbesserlich.« »Jeder hat seine Schwächen, Majestät«, gab Fürstenberg würdevoll zurück. August zog ein grimmiges Gesicht. »Von mir aus kann Ihr angebeteter Karl so elendig verrecken, wie es nur geht. Überhaupt, der Anblick von Soldaten ermüdet mich, zumal es nicht unsere eigenen sind. Der Teufel möge sie holen. Ganz wörtlich.« August grinste vergnügt über seine Worte, und Fürstenberg lächelte zurück. Gelöst ritten sie in leichtem Trab zur Stadt zurück. Sie überquerten die Elbbrücke und ritten auf den hochaufragenden Wallring der Festungsmauern zu, über dem ein Lustschlößchen thronte, das man Jungfernbastei nannte. Aus den Schießscharten der Festungsmauern darunter ragten die Mündungen von Kanonen. Dahinter lagen die Kasematten, in denen Böttger arbeiten sollte. August wandte sich zu Fürstenberg. »Wie weit sind die Vorbereitungen um die Kasematten, Exzellenz?« »So gut wie fertig.« »Gut. Sie können jetzt von Monsieur Böttger und seinen Leuten eingenommen werden. Das wird wenigstens mal eine Besetzung sein, die mir gefällt. Nur sollen sie aufpassen, daß sie mir die Jungfernbastei dabei nicht anzünden.« Fürstenberg ging amüsiert darauf ein. »Diese Besetzer haben es mehr auf Lehm und Matsch abgesehen.« August lachte. »Wenn sie daraus auch noch Porzellan machen – wunderbar!« »Ich muß gestehen, ich habe unseren Goldmacher selten so motiviert gesehen – er ist mir fast schon ein wenig unheimlich.« »Seien Sie weiterhin vorsichtig mit ihm. Der Mann hat Feuer in den Augen. Der Blick, den er der Gräfin Pillnitz hinterherwarf …« Sofort bemühte sich Fürstenberg darum, von Böttger abzulenken. »Majestät, ich bitte Sie. Nennen Sie mir den Mann, der nicht durch die Schönheit der Gräfin gefesselt ist. Auch ich gestehe, daß sie mich bezaubert.« August nickte versonnen. »Ja, ja, das kann sie. Und solange ihre Aus349
strahlung dazu beiträgt, daß sich der Bursche schön anstrengt, soll es mir recht sein.«
*** Böttger staunte, als er eine Woche später vom Königstein vor den Dresdner Kasematten eintraf. Um den Eingang zu den Kasematten knapp hundert Meter neben dem Tor, das sich zur Brücke über die Elbe öffnete, hatte man einen vier Meter hohen Palisadenzaun mit einer Durchfahrt gezogen, die tagsüber mit einem Schlagbaum, nachts durch Torflügel abgesichert wurde. Ein großes Wachhäuschen daneben diente der Wachmannschaft als Aufenthaltsraum und enthielt auch eine kleine Stube für den wachhabenden Offizier. Kommandiert wurde die Wachmannschaft von Hauptmann Rebmann. Böttger beglückwünschte ihn aufrichtig zur Beförderung, verspürte aber gleichzeitig eine gewisse Bitternis. Wieder sperrte man ihn in Kasematten ein. Rebmann, der seine Gedanken erriet, tröstete ihn. »Monsieur, nur etwas Geduld. Sehen Sie dort drüben?« Er deutete auf einen zweistöckigen Bau neben dem Eingang zu den Kasematten, bei dem man gerade das Dach deckte. »Das ist Ihr Haus. In zwei Wochen spätestens können Sie einziehen, und es wird Ihnen zweifellos weit mehr Komfort bieten als die Albrechtsburg.« »Erlauben Ihnen Ihre Befehle, mich hinauszulassen?« fragte Böttger mit zynischem Unterton. Hauptmann Rebmann ignorierte ihn. »Innerhalb der Palisaden sind Sie ein freier Mann.« »So kann man es natürlich auch ausdrücken«, nickte Böttger, und plötzlich grinsten sich beide an. Im Grunde war Böttger nicht allzu deprimiert. War das weiße Gold gemacht, würde sich für ihn die Schranke heben. Böttger machte einen Rundgang durch die langgestreckten Kasematten, die weitläufiger waren als jene auf der Albrechtsburg. Es gab fünf gut vierzig Meter lange Räume. Sie waren acht Meter breit und 350
fast vier Meter hoch, das meiste gemauert, ein Teil in den Felsen getrieben. Tageslicht drang nur durch die Schießscharten über der Elbe ein, in denen Kanonen standen. Nach der ersten Orientierung wies Böttger den Räumen ihre Funktion zu. Die längste Kasematte sollte den Brennraum beherbergen, die kleinste als Fertigteillager dienen, dazu kamen Masselager, Raum für die Former und für die Masseaufbereitung. Die Kasematten waren durch Quergänge miteinander verbunden. Dort würden die Gardisten darüber wachen, daß kein Unbefugter von einer Abteilung zur nächsten wechseln konnte. Ganz hinten im Innern befand sich die hallenartige ehemalige Pulverkammer, die Böttger zum Zwischenlager für die Erden bestimmte. In der langgezogenen Eingangshalle schließlich sollten die Erden aus allen Teilen Sachsens angenommen, gereinigt und geschlemmt werden. Was die Erden anbelangte, hatten einige Versuche mit dem Brennspiegel schon Klarheit gebracht. Bei der am besten geeigneten Tonerde waren sich Böttger und Tschirnhaus ziemlich sicher: Colditzer Ton. Er war sehr hell, hielt die höchsten Temperaturen aus und wurde nach dem Brand fast weiß und ergab steinharte Schamottziegel. Böttgers Theorie bestand darin, daß man diesen Ton mit einem weichen Lehm mischen mußte, dessen Schmelzpunkt wesentlich niedriger lag und der sich beim Brand verflüssigte und in die unsichtbaren Zwischenräume des steifen Tons hineinsickerte. Sintern hieß dieser Prozeß, den die Bergleute von der Ziegelherstellung kannten. Der Lehm mußte noch eine weitere Aufgabe erfüllen: Colditzer Ton allein ließ sich in keine zierlich Form bringen. Erst der Lehm machte es möglich, töpferisch damit zu arbeiten. Lehm allein wiederum besaß nicht genug Festigkeit, um dünnwandige Gefäße herzustellen. Böttgers Theorie bestand darin, daß man beide optimal mischen mußte, wenn man Porzellan erhalten wollte. Doch schon nach der ersten Woche stellten sie fest, wie schwierig diese Theorie in die Praxis umzusetzen war. Erstens stellten sich die schon gereinigten Massen als noch viel zu körnig heraus. Böttger ließ feinere, doppellagige Haarnetze anfertigen, durch die man Ton und Lehm hindurchpreßte. 351
Das zweite Problem war schwerwiegender: Die Teller und Schälchen kamen krumm und schief aus dem Ofen, wobei natürlich auch das Mischungsverhältnis von Ton und Lehm eine Rolle spielte. Es dauerte eine Weile, bis Böttger herausfand, daß der Prozeß des Sinterns daran schuld war. Er lief unvollständig ab. Er schloß daraus, daß man einen Ofen benötigte, der höhere Hitze erzeugte und diese auch gleichmäßiger abgab. Böttger entwarf mit seinen Gesellen einen völlig neuartigen Brennofen, der einen Feuerschlund besaß, in den man bequem einen Tisch hineinschieben konnte. Darüber verjüngte sich der Ofen zu einem Rost aus feuerfesten Ziegeln mit Schlitzen dazwischen, auf denen das Brenngut stehen konnte. Anfang November war der neue Ofen fertig. Doch nun stellte sich heraus, daß die Lohe der Flammen die zu brennenden Teile schwärzte. Daraufhin mußten sie erst einmal feuerfeste Schamottformen herstellen, in die sie dann ihre Versuchsteile steckten. Böttger arbeitete wie im Rausch, und Tschirnhaus und der Bergrat bewunderten ihn dafür, mit welcher Entschlußkraft er das Projekt, die Arbeiter und Gesellen antrieb. Sie mischten jeden halbwegs brauchbar erscheinenden Lehm mit dem Colditzer Ton in unterschiedlichen Verhältnissen und machten nach Böttgers Vorgaben penible Aufzeichnungen. Hunderte von Proben hatten sie gesäubert und geschlemmt, miteinander vermengt, die Mischungsverhältnisse verändert und einfache Gefäße daraus gebrannt. Eine Versuchsreihe folgte auf die andere, und schon Ende November war sich Böttger seiner Sache recht sicher. Ziemlich perfekt gelang ihm ein rotes, dünnwandiges Porzellan, das er nach dem in Sachsen häufiger aufzufindenden Halbedelstein ›Jaspisporzellan‹ nannte. Das weiße Porzellan jedoch bereitete ihm Schwierigkeiten, weil es immer noch dazu neigte, sich beim Brand zu verziehen und außerdem gelblich statt weiß hervorkam. Böttger mischte Zusätze von Kreide und Alabaster in die Masse, doch ohne durchschlagenden Erfolg. Erst als er einen neuen Lehm bekam, sogenannte Schnoorsche Erde – benannt nach dem Eigentümer des Grundstücks, wo man den Lehm 352
gefunden hatte –, kam er auch mit dem weißen Porzellan voran. Die ideale Mischung schien aus etwa zehn Teilen Colditzer Ton und zu einem Teil Schnoorscher Erde zu bestehen. Diese Rezeptur variierten sie nun leicht, und endlich stellte sich der Erfolg ein. Mit dem ersten gelungenen Stück Porzellan, einem einfachen Schälchen, zog Böttger mit den Gesellen in einem Triumphzug durch die Kasematten, um allen zu zeigen, daß sie am Ziel waren. Sie fielen sich in die Arme, und an diesem Abend betrank sich Böttger das erste Mal seit langem vor Glück. Albert, der von Fürstenberg wieder zum Diener Böttgers bestimmt worden war, zerbrach die letzte Flasche Wein lieber ›aus Versehen‹. Am morgigen Tag um acht Uhr sollten Monsieur Tschirnhaus und der Bergrat kommen. Bis dahin mußte er seinen Herrn wieder präsentabel haben. Wahrscheinlich hätte es der Fürsorge des Dieners gar nicht bedurft, denn Böttger sprang schon um sechs am nächsten Morgen aus den Federn, um weitere Probebrände mit der gefundenen Mischung anzuordnen. Böttger selbst mischte die Grundmasse noch einmal gut durch und vergaß darüber den kommenden Besuch. Als Tschirnhaus und Ohain in bester Laune die Kasematte betraten, steckte er mit beiden Armen tief in einem Ton-Lehm-Gemisch. Ohain frotzelte: »Wenn ich gewußt hätte, daß wir kneten sollen, hätte ich einen anderen Rock gewählt.« Böttger säuberte sich die Arme in einem Wasserfaß. »Im Prinzip gern. Dann weiß ich wenigstens, daß es gut getan ist … Aber ich wollte Ihnen etwas anderes zeigen.« Er führte sie durch den Brennsaal zum Fertigteilraum. »Hier bitte, was sagen Sie?« Tschirnhaus ergriff das Schälchen, prüfte es von allen Seiten und hielt es gegen eine Fackel. Es war weiß und durchscheinend. Tränen der Rührung schossen ihm in die Augen. Vor sich sah er die Vollendung seines Lebenstraums. Porzellan, sächsisches Porzellan. Schnurstracks wollte er dies dem König melden. Doch Böttger redete es ihm aus. »Wenn wir Seine Majestät wirklich überzeugen wollen, müssen 353
wir ihm etwas präsentieren, was den Stücken seiner Porzellansammlung an Qualität gleicht. Sie kennen ihn doch, ihn interessieren nicht die Mühen des Produktionsprozesses. Er will Ergebnisse, mit denen er sich präsentieren kann. Wie wäre es, wenn Sie den Hofgoldschmied Dinglinger überredeten, uns zu besuchen? Er könnte uns helfen, Formen zu entwerfen, die dem Auge wohltun. Genußvoll muß der Anblick des Porzellans sein. Nichts wäre fataler, als wenn man an die Mühen der Herstellung erinnert wird.« Tschirnhaus bezähmte seine Ungeduld und stimmte widerstrebend zu. In der nächsten Zeit stellte sich heraus, daß Böttger nicht unrecht damit hatte, dem Kurfürsten noch nicht sein Porzellan zu präsentieren. Nur jedes zehnte Versuchsschälchen kam unverzogen aus dem Ofen heraus, und sie feuerten ihn zu immer höheren Temperaturen an. Trotz der winterlichen Kälte heizten sie damit auch den ganzen Kasemattenkomplex auf. Es wurde zunehmend heißer in den Räumen, während der Brennofen Berge von Holz verschlang. Was den Hofjuwelier anbelangte, gelang es Tschirnhaus tatsächlich, ihn zu einem Besuch in den Kasematten zu bewegen. Sofort stürzte sich Böttger auf den bedächtigen Mann und steckte ihn mit seinem Enthusiasmus an. Gravitätisch nahm Dinglinger im Töpfersaal Platz, und man zeigte ihm die bisherigen Formen. Bei den plumpen Gefäßen verstand er, was Böttger von ihm erbat, und ließ sich ein Zeichenbrett bringen. Schon bei seinen ersten Skizzen stöhnten die Töpfer, daß Dinglingers Vorschläge nicht hinzubringen seien. Derart zierlich hatten ihre Finger nie gearbeitet. Da nahm Dinglinger selbst ein kleines Häufchen der Masse, klopfte sie flach, ohne auf seinen guten Rock zu achten, griff sich ein Töpfermesser und schnitt kleine Blätter aus, die er anschließend zu einer Blüte zusammenklebte. »Sehen Sie, meine Herren? Schon solcher Zierat an Ihren Gefäßen wird den Genuß für das Auge erhöhen. Es ist ganz einfach. Man braucht dazu nur etwas Phantasie. Und auf der Scheibe müssen Sie das Gefäß nur hübsch nach dieser Vorlage formen. Das muß doch gehen.« Wie Böttger gehofft hatte, weckte der Besuch des berühmten Juwe354
liers den Ehrgeiz der Töpfer. Nach einigen Anläufen kam ein erstes zierliches Kännchen zustande. Zwei Tage mußte es im Ofen verbleiben, bis es vollständig durchgeglüht war. Doch es kam leider schief heraus. Sie fertigten weitere zehn Kännchen an. Bei einem brach der Henkel gleich ab, bei einem anderen war die sorgsam zusammengesetzte Blüte beim Brand abgefallen. Nur zwei hielten die Form. Der Grund war Böttger nicht ersichtlich, hatte man doch bei allen die gleiche Grundmasse benutzt. Offensichtlich mußte man noch besser schlemmen, reinigen und mischen, damit die Grundmasse gleichmäßiger wurde. Das hoffte Böttger schon noch in den Griff zu bekommen. Er ordnete an, die Massen noch einmal zu reinigen und dann weiter Kännchen vorzubereiten, und ließ Tschirnhaus und Ohain ausrichten, daß er ein präsentables Ergebnis vorzuweisen hätte. »Jetzt erkenne ich, daß Sie gut daran getan haben, diese Wochen noch dranzugeben«, gab Tschirnhaus beeindruckt zu. »Was für ein phantastisches Weihnachtsgeschenk für den Kurfürsten.« »Mein Gott, ich hätte nie gedacht, daß unsere Arbeit so schnell zu einem Erfolg führt«, flüsterte Ohain ganz ergriffen. »Wann wollen Sie zum Schloß?« »Gar nicht, Messieurs. Dieses eine Mal möchte ich, daß sich Seine Majestät zu mir bemüht.« Ungläubig starrte Ohain Böttger an. Tschirnhaus bemerkte vorsichtig mißbilligend: »Es erscheint mir nicht sehr klug, Seine Majestät zu etwas zwingen zu wollen, das nur Ihrer Eitelkeit dient. Was wollen Sie damit erreichen?« Böttger schüttelte den Kopf über so viel Unverständnis. »Es geht nicht um mich, Messieurs, überlegen Sie doch. Ist es nicht erheblich eindrucksvoller, dem König unsere ungeheuren Anstrengungen zu zeigen, die wir in seinem Auftrag unternommen haben? Muß ihn nicht – so wie uns – die Aufregung ergreifen, wenn er dem Ende eines Porzellanbrandes entgegenfiebert, wenn er die Geburtsstunde des sächsischen Porzellans hautnah miterlebt?« »Das klingt zwar plausibel. Doch wie wollen Sie sicherstellen, daß ausgerechnet der Brand, den Sie vorführen, gelingt?« 355
Böttger tat dies mit einer lässigen Handbewegung ab. »Keine Sorge. Dafür werde ich schon sorgen.«
Trotz der Meldung von Tschirnhaus über das fertige Porzellan ließ sich Seine Majestät Zeit. Er verbrachte die Weihnachtstage lieber mit der Reichsgräfin Pillnitz in ihrem gleichnamigen Schloß oberhalb Dresdens an der Elbe, daß der Kurfürst ihr symbolisch für einen Taler verkauft hatte. Danach zog es ihn zur Neujahrsmesse nach Leipzig, und so dauerte es noch bis zum 8. Januar 1708, bis ein Trompeter vor dem Palisadentor den hohen Besuch in den Kasematten ankündigte. Es herrschte klirrende Kälte, auf der Elbe trieben dicke Eisschollen, die sich in den Flußwindungen an den Ufern zu Bergen türmten. Doch im Brennraum herrschte durch die wochenlangen Versuche und die pausenlos befeuerten Öfen eine höllische Hitze, die sich längst auf den Boden übertragen hatte. Um den Raum überhaupt betreten zu können, wickelten sich alle dicke Lappen um die Schuhe. Den Versuch, den Boden mit Eisschollen zu kühlen, hatten sie schnell aufgegeben; Wasserdampf und Rauch hatten sich zu einem giftigen Gemisch vermengt, so daß sie aus dem Raum fliehen mußten. Vom Nachheizen am Feuerloch waren ihre Brauen längst abgesengt, auf dem Kopf trugen sie Turbane aus nassen Tüchern, um wenigstens ihre Haare zu schützen. Keiner trug mehr als eine Hose, alle glänzten vor Schweiß und tranken Unmengen Wasser, um nicht auszutrocknen, während Berge von Brennholz im gefräßigen Schlund des Feuerlochs verschwanden, aus dem die Glut hellgelb die Kasematte erleuchtete. Keiner hielt es länger als eine Viertelstunde aus, den riesigen Blasebalg zu treten. Und doch waren alle in dieser Hölle aus Hitze und Rauch aufgeregt und glücklich, weil sie wußten, daß jetzt der Kurfürst kam, um ihre Arbeit zu bewundern. Die Ankündigung des Besuchs hatte Böttger erst in den frühen Morgenstunden erreicht, und er war zum Brennraum gestürzt, um alles vorzubereiten. Nur schwach erreichte die Fanfare des Trompeters die 356
hinteren Kasematten, doch alle hörten sie, alle hatten darauf gewartet. Böttger atmete tief durch. Der entscheidende Moment war gekommen. Als letztes schleppten die Gesellen einen Zuber mit kaltem Wasser herbei, schoben noch einmal Brennholz in den Ofen, dann nickte Böttger ihnen zu. Sie konnten gehen. Die Präsentation wollte er allein durchführen. Im Nebenraum standen verhüllte Porzellanstücke, deren Brand gelungen war, zur Sicherheit, falls doch etwas schiefgehen sollte. Ungeduldig schlitterte Böttger auf seinen Lappen auf und ab. Setzen konnte man sich nirgends, alles war zu heiß. Für seine Gäste hatte er dicke, wollene Überschuhe vorbereiten lassen, damit sie sich keine Brandblasen holten. Schließlich kamen sie durch den dunklen Verbindungsgang angeschlurft, angeführt von Hauptmann Rebmann: der Kurfürst, der zu Böttgers Überraschung Charlotte am Arm führte, dann Fürstenberg und Flemming, zum Schluß Tschirnhaus und Ohain. Hauptmann Rebmann verneigte sich: »Allergnädigste Majestät, Exzellenzen, ich übergebe Sie hiermit Monsieur Schrader.« Er verneigte sich ehrerbietig, zwinkerte Böttger noch ein gutes Gelingen zu und entfernte sich. Böttgers Herz pochte heftig. Charlottes Gegenwart verlieh dem Augenblick eine noch höhere Bedeutung. Er war im Begriff, seine Kunst als genialer Alchemist zu beweisen. Seine Gäste sollten staunen und ihm am Ende zujubeln. Gleich nach der Begrüßung öffnete Böttger die Tür zum Brennraum. »In diesem Ofen entsteht das erste europäische Porzellan. Bitte werfen Sie einen Blick hinein.« Ein Schwall glühendheißer Luft überschwemmte die Besucher, die unwillkürlich zurückwichen. »Jesus und Maria, Jesus und Maria«, murmelte der Fürst benommen. August überwand sich und trat mutig vor. »Komm, Egon, schau hinein, das ist noch nicht das Fegefeuer«, in der Aufregung alle Form vergessend. Doch was er drinnen sah, war nur eine weißglühende Hölle. Sein gepudertes Gesicht schien zu verschwimmen, sich aufzulösen. Auch bei den anderen sorgte die Hitze dafür, daß sich Schweiß und 357
Puder zu einer unansehnlichen Schmiere verbanden, die von den Gesichtern herabtropfte. Fürstenberg schien wie im Zeitraffer zu altern, doch niemand kümmerte es in ihrer Aufregung, während Ohain mit niedergeschlagenen Augen um gutes Gelingen betete. Nur Tschirnhaus wahrte seine festlich gefaßte Miene. Ihm war nicht anzusehen, ob er sich wünschte, an Böttgers Stelle zu sein, oder ob er es genoß, daß dieser sein Lebenswerk vollendete. »Ich kann nichts erkennen«, beschwerte sich August und trat zurück. Böttger klappte die Ofentür wieder zu. »Nur eine kurze Weile noch, allergnädigste Majestät.« Er bückte sich, warf noch einige Scheite ins Feuer, trat zum Blasebalg und heizte mit wilden Tritten das Feuer noch einmal zur Weißglut an. Die Hitze im Raum verstärkte sich, und die Besucher zogen sich an die gegenüberliegende Wand zurück, bogen ihre Körper nach hinten, in dem vergeblichen Versuch, der Hitze auszuweichen. Tschirnhaus biß sich auf die Lippen. Scheinbar ohne auf die Pein seiner Zuschauer zu achten, trat Böttger weiter den Blasebalg, seine schweißglänzenden Muskeln spielten im Schein des Feuers. Aus den Augenwinkeln beobachtete er Charlotte, deren Augen hingerissen glänzten, und ein Gefühl tiefer Befriedigung durchströmte ihn. Fürstenberg murmelte: »Jesses, Maria und Josef«, der Kurfürst stöhnte, Flemming blies ständig die Backen auf, keiner nahm seinen Blick von Böttger. Unverwandt starrte Charlotte Böttgers unwirkliche Erscheinung unter dem hellroten Turban an, der ihn in ihren Augen zu einem wilden Faun verwandelte. Endlich ließ Böttger vom Blasebalg ab und trat feierlich vor den Ofen. »Kurfürstliche Majestät, in wenigen Augenblicken werden Sie die Geburtsstunde des ersten europäischen Porzellans erleben … 200 Jahre hat man in Europa vergeblich nach dem Arkanum des Porzellans gesucht. Doch uns ist es mit Gottes Hilfe gelungen, es zu finden, und das in dem Zeitraum, der uns zugemessen war.« August war nicht nach längeren Reden zumute. Die Hitze setzte ihm fürchterlich zu, und er wollte endlich sein Porzellan sehen. »Wenn es möglich ist, Monsieur Böttger, darf ich Sie bitten, sich zu beeilen.« 358
Böttger verneigte sich ehrerbietig. »Soeben haben Sie erlebt, wie ich dem Porzellan die letzte Härte gegeben habe. Jetzt ist es soweit, Majestät, ich danke für die Geduld.« Unwillkürlich trat August einen Schritt vor und wich auch nicht zurück, als Böttger die Tür des Brennraums aufklappte und sich erneut ein Schwall glühender Luft in den Raum ergoß. Mit einer langen Eisenzange ruckelte Böttger etwas Weißglühendes nach vorne, kaum erkennbar zunächst, das beim Abkühlen langsam eine orange Farbe annahm und sich als ein unansehnliches, plumpes Schamottgefäß entpuppte. Enttäuscht und irritiert sah der Kurfürst zu Tschirnhaus, der beruhigend lächelte. »Dies hier, allergnädigste Majestät, ist nur ein Schutzbehälter gegen Rauch und Flugasche.« Böttger stellte das Schamottgefäß vor dem Ofen ab, griff nach einer kürzeren Zange und zog dann langsam und vorsichtig ein hellorange glühendes Kännchen heraus. Er drehte sich um und schwenkte es triumphierend vor seinem Publikum, das in bewundernde Ausrufe ausbrach. Einen Moment lang ließ Böttger das Kännchen noch schweben, dann warf er das Kännchen mit Schwung in den Zuber mit kaltem Wasser. Ein Knall ertönte, Wasserdampf stieg auf, ein Aufschrei der erschrockenen und enttäuschten Zuschauer. Mit fast elender Miene stierte August auf den Zuber. »Das schöne Kännchen, was für ein Jammer.« Unbeeindruckt blickte Böttger in die Runde. In sein Gesicht stahl sich der Anflug eines spöttischen Lächelns, das jedoch keiner wahrnahm. »Das schöne Kännchen, wie schade …«, seufzte August noch einmal. »Wie Sie alle wissen«, ließ sich Böttger gelassen vernehmen, »besteht die Qualität des Porzellans unter anderem darin, daß es größte Hitze auszuhalten vermag.« Er wartete, bis sich alle Augen auf ihn gerichtete hatten. »Nun, dann wollen wir doch mal sehen …« Er hob den rechten Arm, tauchte ihn dann tief in den Zuber und holte das unversehrte Kännchen hervor, leicht, weiß, durchscheinend, vollendet in der Form – perfekt! Staunen, Erleichterung, Begeisterung. Die Anspannung der Zu359
schauer entlud sich in einem allgemeinen Stimmengewirr. Alle blickten auf das Kännchen, nur Charlotte blickte auf Böttger, und ihre Brust hob und senkte sich schnell. »Woran wir noch werden arbeiten müssen, Majestät, sind die Farben und eine Lasur, sie zu schützen …« August hielt es nicht mehr an seinem Platz. Er trat vor und streckte die Hand fordernd nach dem Kännchen aus. Mit Kennerblick prüfte er die Glätte der Oberfläche, die Feinheit des Materials und schließlich gegen den Brennraum die Lichtdurchlässigkeit. Aus einem kurzen Blick auf sich glaubte Böttger echte Bewunderung lesen zu können, vielleicht auch die Erleichterung, ihn am Leben gelassen zu haben. Und während sich der Kurfürst wieder auf das Kännchen konzentrierte, blickte Böttger triumphierend zu Charlotte, strahlte sie offen und stolz an. Er hatte gleichgezogen, mit dem weißen Gold hatte er den Apothekergesellen endgültig hinter sich gelassen. Vorbei war es mit dem Versteckspiel. Charlotte spürte, wie sie errötete, was Böttger bei dem Licht eher ahnte als sehen konnte. Gerade noch rechtzeitig nahm Böttger seinen Blick von ihr, bevor August zu ihm hinschaute. August wurde formell. »Ich danke Ihnen, Monsieur Böttger, und möchte Sie als Beweis meiner Gunst zum Baron erheben.« Böttger verneigte sich. »Ich danke Ihnen, Majestät.« August deutete ebenfalls eine Verneigung an, die sofort von den übrigen nachgeahmt und von Böttger nochmals erwidert wurde. »Kurfürstliche Majestät, ich hoffe, daß dies nur das erste Stück einer überaus großartigen Sammlung sein wird, die ich für Ihre allergnädigste Majestät zu schaffen gedenke.« August hatte es jetzt eilig. »Danke nochmals, Baron.« Schon bot er Charlotte den linken Arm, während er in der Rechten das Kännchen hielt, und strebte zum Ausgang. »Es ist doch arg heiß hier drinnen«, hörte Böttger ihn noch stöhnen, bevor alle bis auf den Bergrat in ihren Überschuhen schlurfend im Durchgang verschwunden waren. Dieser Abgang hatte sich so abrupt vollzogen, daß Böttger ihnen verdattert hinterherschaute, weil er nicht dazu gekommen war, den Kurfürsten um seine Freiheit zu bitten. 360
»Gratulation, mein Freund. Die hast du schön reingelegt«, pflaumte ihn Ohain an. »Wieso?« Empört drehte sich Böttger zu ihm um. Ohain griff in den Zuber und holte eine Handvoll unansehnliches Granulat, gespickt mit einigen kleinen Scherben, hervor. »Deswegen. Dies hier war mal Ihr formidables Kännchen aus dem Ofen.« »Na und, Pabst? Wem hat es geschadet? Habe ich auch das andere Kännchen gemacht, ja oder nein?« »Ja, schon.« »Na also.« Böttger lachte. »Aber war's denn nicht viel beeindruckender mit dem Knall? Geben Sie es wenigstens zu.« Kopfschüttelnd fiel Ohain in das Lachen ein, während Böttger ihn in die Arme nahm. »Das Porzellan wird mich berühmt machen, auch Sie, uns alle. Jetzt muß mir der Kurfürst die Freiheit geben.« Böttger zwang Ohain in einen Tanzschritt, und sie schlitterten auf ihren Lappen durch den Brennraum. »Die Welt steht uns offen, Pabst. Man wird uns das Porzellan aus den Händen reißen.« Nur mit sanfter Gewalt konnte sich Ohain von Böttger lösen. »Lassen Sie uns nach vorne gehen. Monsieur Tschirnhaus wartet dort.« Im Torraum herrschte eine angenehme Temperatur, weil sich die Hitze aus den Kasematten mit der Kälte von draußen die Waage hielt. Tschirnhaus hatte es sich dort auf einem umgekippten Schlemmfaß bequem gemacht. »Sie haben getrickst«, sagte er Böttger auf den Kopf zu und grinste breit dazu. »Es war köstlich, die Gesichter. Kommen Sie her, mein Sohn. Ich gratuliere.« Verblüfft ließ sich Böttger von Tschirnhaus drücken, dem er gar nicht einen solchen Gefühlsausbruch zugetraut hätte. »Ich hoffe für Sie, daß dies eine Wende bringen wird. An diesem Erfolg kann Seine Majestät nicht vorbei«, setzte der Gelehrte herzlich hinzu. Böttger errötete. »Danke, Monsieur Tschirnhaus. Aber ohne Sie …« »Gestatten Sie, Monsieur le Baron, eine Botschaft Ihrer Majestät«, unterbrach Hauptmann Rebmann die drei. »Ihre Majestät ersucht Sie, 361
Monsieur le Baron, morgen früh um sechs zu einer privaten Audienz zu erscheinen …« Dann fügte er mit aufrichtiger Freude hinzu: »Meine Gratulation. Ich denke, das war ein glorreicher Tag für Sie.«
Siebzehntes Kapitel
M
it Hochgefühl durchschritt Böttger am nächsten Morgen den großen Audienzsaal vor dem privaten Arbeitszimmer des Kurfürsten, frisch herausgeputzt in einem blauseidenen Rock und mit perfekt gepuderter Perücke. Zwei Stunden hatten er und sein Diener Albert an der Toilette gearbeitet, damit er würdig zur feierlichen Stunde seiner Freilassung erscheine. Nur schade, dachte Böttger, daß diesmal kein Kammerorchester zugegen war, um diesen Akt feierlich zu untermalen. Aber wozu auch. Diesmal galt es keine Lauscher abzuwehren. Im Gegenteil, was zu sagen war, konnte alle Welt wissen. Der Kurfürst empfing ihn hinter seinem Schreibtisch sitzend, allein, eine echte Privataudienz, und Böttger verbeugte sich erwartungsvoll. In lockerem Tonfall kam der Kurfürst sofort zur Sache. »Gemäß unserem Vertrag muß Sachsens Monopol auf das Arkanum unter allen Umständen gewahrt bleiben, nicht wahr, Baron Böttger?« »Das versteht sich von selbst, Majestät.« Böttger stellte sich in Positur, da er einen kleinen Vortrag im Kopf hatte. »Allergnädigste Majestät, ich muß selbstverständlich darauf hinweisen, daß die Entwicklung des Porzellans zu einer richtigen Kollektion Zeit und Geld kosten wird. Ich brauche versierte Töpfer, Glasschleifer und Maler, um das sächsische Porzellan dem ostasiatischen ebenbürtig zu machen, wenn nicht sogar bald zu übertreffen. Einzigartige, zeitgemäße Formen werden das Entzücken des Publikums auslösen, köstliche Malereien und 362
Vergoldungen die Stücke unwiderstehlich machen. Dennoch wird das sächsische Porzellan wesentlich preiswerter sein können. In nicht allzu ferner Zukunft werden nicht nur Fürstenhäuser, sondern auch wohlhabende Bürger danach streben, es zu besitzen.« »Schön, sehr schön. Das bereden wir noch.« August spielte desinteressiert an einem Diamantknopf seiner Weste, und Böttger war enttäuscht über die geringe Resonanz. Der Kurfürst sah auf und fuhr fort: »Wie ich schon sagte, meine Hauptsorge gilt dem Monopol, der Geheimhaltung … Man wird versuchen, hinter das Arkanum der Porzellanherstellung zu kommen. Ich bin gezwungen, dem vorzubeugen …« Die Haltung des Kurfürsten ließ in Böttger eine bittere Vermutung aufsteigen. »Tja, Baron Böttger, wie ich sehe, ahnen Sie es schon. Um es kurz zu machen: Ich sehe keinen anderen Weg, als unsere Schutzvorkehrungen für Sie aufrechtzuerhalten.« Regungslos empfing Böttger dieses Dictum. Eine Privataudienz hatte entschieden Nachteile, allein stand er dieser willkürlichen Auslegung der Vereinbarung gegenüber. Doch so einfach wollte er sich vom Kurfürsten seine Hoffnungen nicht zerstören lassen. »Majestät, bei allem Respekt, eine solche Maßnahme geht keineswegs aus dem Vertrag hervor. Alle Unterzeichner haben den heiligen Eid geschworen, das Geheimnis der Porzellanherstellung zu wahren. Bei einer solchen Auslegung, Majestät, könnten Sie ebensogut auch Seine Exzellenz Fürst Fürstenberg einsperren, ja, folgt man dem Wortlaut, sogar sich selbst. Das ist es, worauf Ihre ›Schutzvorschriften‹ hinauslaufen.« Böttger hatte gehofft, den Kurfürsten damit aus der Fassung zu bringen. Doch statt dessen wedelte der nur abwehrend mit der Hand und setzte ein spöttisches Lächeln auf. »Im Prinzip nicht schlecht, juristisch gesehen, Baron Böttger. Doch bedauerlicherweise scheinen Sie unsere erste Abmachung vergessen zu haben, die wir seinerzeit im Elbsandsteingebirge trafen, Sie erinnern sich? Sie gaben mir seinerzeit Ihr Wort …« Er machte eine Kunstpause, um seinen Ton zu verschärfen: »Unsere Abmachung lautet: Gold gegen Freiheit!« 363
Hochaufgerichtet schleuderte Böttger ihm die Antwort entgegen: »Ich habe Ihnen ›weißes Gold‹ gemacht, Majestät, das ganz Europa Ihnen neiden wird und Ihnen kontinuierliche Einkünfte sichert. Das ist so gut als goldenes Gold.« »Unsere Abmachung lautete eindeutig auf künstliches, goldenes Gold«, erwiderte August. Da Böttger einsah, daß er auf Granit biß, wechselte er den Ton und warb nun um Verständnis. »Majestät, sehen Sie, die Aufhebung der Leibeigenschaft in Sachsen hat dem Land nur Vorteile gebracht. Freie Menschen arbeiten besser, weil sie sich wohler fühlen … Ich bitte Ihre allergnädigste Majestät, dies zu bedenken.« Der Kurfürst starrte ihn einen Augenblick lang ausdruckslos an, dann erschien plötzlich ein gewinnendes Lächeln auf seinem Gesicht. »Baron, ich will Ihnen ja durchaus entgegenkommen. Sie bekommen genügend Mittel, für jede Art Mitarbeiter, die Sie sich wünschen. Den Herrn Hofjuwelier hinzuzuziehen war übrigens eine glänzende Idee … Die Mittel werde ich so bemessen lassen, daß sie auch für eine großzügige Bewirtung von Gästen ausreichen. Damit sind Sie besser gestellt als die meisten Ritter im Land …« August lehnte sich nach vorne. »Ich rate Ihnen dringend, dieses Angebot anzunehmen«, und fügte mit gefährlich leiser Stimme hinzu: »Im übrigen bestehe ich auf unserer ersten Abmachung.« Steifbeinig stand Böttger da, öffnete und schloß die Hände. Merkwürdige Laute drangen aus seiner Kehle, bei denen er selbst nicht wußte, ob sie einem verzweifelten Lachen oder Schluchzen entsprangen. Dann verneigte er sich endlich ehrerbietig und würgte heraus: »Ich danke Eurer Majestät für die Gnade, die Sie mir mit diesem Angebot erweisen.« Wortlos drehte er sich um, ohne abzuwarten, daß der Kurfürst ihn entließ. August sah ihm ohne Groll nach. Er achtete Böttger, auch für seinen Widerstand. Kurz bevor Böttger die Tür erreichte hatte, rief er ihm noch nach: »Baron, Sie haben schon viel erreicht. Setzen Sie das alles nicht unbedacht aufs Spiel.« 364
Böttger drehte sich verbittert um. »Majestät, ich habe erreicht, daß meine Gefangenschaft ins siebte Jahr geht. Das habe ich erreicht.« Was für ein miserabler, melodramatischer Abgang beschimpfte Böttger sich selber, als er im Vorzimmer vom Kammerherrn in Empfang genommen wurde, der ihn aus dem Schloß geleitete. Aber was hätte ihm angesichts der unnachgiebigen Haltung des Kurfürsten auch einfallen sollen. Das Versprechen, Gold zu machen, hing wie ein bleierner Klotz um seinen Hals. Zurück in den Kasematten, brauchte Böttger ein Ventil, um die aufgestaute Wut herauszulassen. Er pißte in die Porzellanmasse, kippte Regale um, auf denen fertiggetöpferte Rohlinge zum Brennen aufgereiht waren, bis es den Gesellen gelang, ihn festzuhalten. Wütend zappelte Böttger weiter und beschimpfte lautstark den Kurfürsten. »Dieser Hundsfott von einem Kurfürsten, dieser wortbrüchige, hinterhältige Bastard.« Besorgt über den Strom der Majestätsbeleidigungen, hielt Kohler Böttger den Mund zu und stopfte ihm dann kurzerhand sein Taschentuch hinein. Einer der Arbeiter rannte los, um Ohain zu holen, damit er Böttger zur Vernunft bringe. Doch Ohain war zu seiner Familie nach Freiberg gereist, dafür erreichte man aber Tschirnhaus. Als der endlich eintraf, hatte sich Böttger etwas beruhigt und hockte auf der Lafette einer Kanone am Ende einer Kasematte, wohin ihn ein Kordon von Gesellen sperrte, damit er nicht weiteren Schaden anrichten konnte. Sie hatten ihm einen Krug Bier gegeben, an dem Böttger ebenso grimmig wie lustlos nippte. Finster starrte er durch die Schießscharte auf den Elbstrom, der immer neue Eisschollen auf den Elbauen gegenüber auftürmte. »Sehen Sie das Packeis da drüben, Monsieur Tschirnhaus, so türmt der Kurfürst seine eisigen Verpflichtungen auf mich.« Der Gelehrte spähte an der Kanone vorbei. »Selbst wenn Sie recht hätten, Baron Böttger, so schmilzt das Eis doch spätestens in der Frühlingssonne. Haben Sie erst einmal eine Kollektion Porzellan zusammengebracht, so wird Ihr Ruhm auch die hinderlichen Verpflichtungen hinwegschmelzen.« 365
Böttger verzog das Gesicht. »Sie sind ein hoffnungsloser Optimist, Monsieur … Ich glaube nicht daran.« »Und Sie sind ein hoffnungsloser Pessimist. Waren Sie nicht viel glücklicher, seit Sie sich um das Porzellan kümmerten und nicht mehr um die Transmutation? Sie hocken doch sowieso nur im Labor. Was vermissen Sie eigentlich?« »Meine Freiheit, Monsieur Tschirnhaus, die Chance, zu reisen, die Welt zu sehen, Abenteuer zu erleben; noch nicht einmal ganz banale Dinge kann ich tun, nach denen ich mich manchmal sehne: Einfach mal durch unberührten Schnee stapfen, im Sommer auf der Wiese liegen und den Wolken nachsehen, abends mit Freunden in der Schenke sitzen, neue Menschen kennenlernen, wie ich will, freche Gassenjungen verfluchen, auf Märkten stöbern, Frauen schöne Augen machen, was weiß ich … Können Sie denn nicht begreifen, wie mir zumute ist? Man hat mich eingesperrt, seit ich neunzehn bin. Ich lebe in Käfigen, mal kalt und grausam, mal ein bißchen vergoldet …« Böttger machte eine Pause, wobei er nach den richtigen Worten suchte, um nicht Charlotte hineinzuziehen. »In meinem Alter, Monsieur Tschirnhaus, hat man sich längst eine Frau gewählt und genießt die Freuden der Liebe … Ich bin es so leid. Am liebsten würde ich Hand an mich legen, da seine Majestät so nachlässig war, dies zu versäumen. Dann hätte das Elend ein Ende.« »Ach was, selbst wenn Sie tot sind, würden Sie ein Labor vermissen«, entgegnete Tschirnhaus trocken. »Sie hartherziger …« Der Spott in den Augen des Gelehrten stoppte Böttger, und widerwillig grinsend schüttelte er den Kopf. »Sie sind grausam, Tschirnhaus.« »Bloß Realist, Monsieur«, verbesserte ihn Tschirnhaus. »Sie könnten gar nicht ohne Ihre Naturwissenschaften leben. Und was das anbetrifft, haben Sie ideale Bedingungen.« »Der Spruch hängt mir zum Hals heraus.« »Etwas mehr Bescheidenheit stünde Ihnen gut an. Sehen Sie mich an«, fuhr Tschirnhaus fort, »mein Traum vom Porzellan hat sich erfüllt, meine Akademie der Wissenschaften nicht.« Er machte eine viel366
sagende Geste. »Ich betrachte das als ein durchaus zufriedenstellendes Ergebnis.« Böttger schaute zu Tschirnhaus auf, gab sich geschlagen und hob den Krug. »Auf Ihre Akademie, Monsieur, ich wünsche Ihnen, daß auch daraus noch etwas wird.«
*** Charlottes Finger strich zärtlich über die Eisblumen am Fenster. Johann war nicht mehr der ferne, schillernde Geliebte. Ihn gestern so nah zu erleben, hatte sie aufgewühlt. Unwiderstehlicher als jemals zuvor war er Charlotte erschienen, ein Mann, der seine Kunst virtuos ausübte. Nicht einmal nach dem Brand des Schönbergschen Hauses hatte sie sich derart zwiegespalten gefühlt. Damals hatten sie die Ereignisse überrollt, die Wucht Augusts, die Aussicht auf eine Karriere am Hof. Als sie Johann gestern wiedersah, hatte sie es zum ersten Mal als schmerzlich empfunden, ihn dafür aufgeben zu müssen. Eine Mesalliance gewiß – damals verzeihlich durch ihre unglückliche Ehesituation – undenkbar heute. Doch das Undenkbare rumorte in ihrem Kopf, ließ ihr keine Ruhe. Bei der Tafel am gestrigen Abend hatte sie versucht, Tschirnhaus diskret auszufragen. Der Gelehrte hatte davon erzählt, daß sich Böttger als Belohnung die Freiheit versprach. In die heutige Privataudienz hineinzuplatzen wäre zu verräterisch gewesen. Nun wartete sie unruhig darauf, daß August in ihr Ankleidezimmer kam, wie er es nach seinen morgendlichen Audienzen zu tun pflegte. Erneut fuhr ihr Finger über die farnartigen Verästelungen einer Eisblume. Sie würden vergehen, schmelzen, wie es ihre Liebe zu Johann längst getan haben sollte. Sie liebte und achtete den Kurfürsten, der ihr jeden Wunsch von den Augen ablas, sie überreich beschenkte und sie stolz präsentierte: Seht her, ich habe die schönste Frau Sachsens an meiner Seite. Er gab Charlotte das Gefühl, seine Frau zu sein und nicht seine Mätresse. 367
Wenig später erschien August, und nach einigen Vorreden kam Charlotte auf die Porzellanvorführung und Böttger zu sprechen. »Geben Sie ihm nun eigentlich die Freiheit, Majestät?« »Wieso? … Was wissen Sie davon, Madame?« fragte August unmutig. Charlotte war ehrlich erstaunt. »Verzeihung, allergnädigste Majestät, … aber Monsieur Tschirnhaus erzählte gestern abend von den Hoffnungen des Alchemisten.« August war beruhigt und bemühte sich, sein eben gezeigtes Mißtrauen wettzumachen, indem er einen bedauernden Tonfall anschlug. »Leider nein.« »Aber warum nicht? Sind Sie mit seinen Leistungen nicht zufrieden?« »Ich bin sogar höchst zufrieden, Madame.« August sah Charlottes Unverständnis und senkte die Stimme fast konspirativ. »Wußten Sie, daß es Graf Haxlingen fast gelungen wäre, ihn zu entführen? Daß mein Vetter Friedrich wegen dieses Alchemisten schon mit Truppen an Sachsens Grenze stand? Und jetzt? In nur drei Monaten hat mir dieser Böttger das Porzellan gemacht! Können Sie überhaupt ermessen, wie hoch der Wert dieses Alchemisten damit gestiegen ist? Es wird sich herumsprechen, finsteres Gesindel wird in Dresden auftauchen. Da darf ich ihn doch nicht frei herumlaufen lassen und der Gefahr aussetzen, daß sich eine ausländische Macht dieses Burschen bemächtigt. Das gebietet die Staatsräson.« Charlotte bemühte sich, ihre Enttäuschung zu verbergen, und suchte nach einem unverfänglichen Argument. »Dieser Baron Böttger … Er macht doch einen loyalen und kräftigen Eindruck. Meinen Sie nicht, daß er sich nicht im Ernstfall seiner Haut zu wehren wüßte?« »Seine Entführung wäre schon einmal fast gelungen«, erinnerte August sie, »und zu Ihrer Beruhigung, Madame, ich habe es ihm so angenehm wie möglich gemacht. Außerdem habe ich gehört«, fügte August etwas boshaft hinzu, »daß auch gewisse leichtlebige Damen zu seinen Tischgesellschaften gehören. Man sagt, er solle sie nicht verschmähen.« 368
Charlotte lächelte honigsüß über Augusts Provokation. »Umgekehrt wird es nicht anders sein. Und warum auch? Er sieht gut aus, hat einen feurigen Blick.« Sie begleitete diese Worte mit einem absichtlich übertriebenen, sehnsuchtsvollen Augenaufschlag. »Sie geben also zu, daß der Bursche faszinierend ist?« »Aber selbstverständlich, Majestät. Wollen Sie etwa sagen, das wäre Ihnen entgangen?« fragte Charlotte mit großen Augen, was August prompt reizte. »Mir ist in der Tat nicht entgangen, Madame, wie er Ihnen einen seiner feurigen Blicke zuwarf.« »Mir auch nicht, Majestät. Ich fühlte mich geschmeichelt.« Charlotte lächelte ihn an, sehr wohl wissend, daß sie ihn damit zur Weißglut trieb. Aber Augusts ganze Art, dieses Verhör, das er mit ihr anstellte, lockte ihren Widerspruchsgeist dermaßen, daß sie alle Vorsicht außer acht ließ. Finster blickte August sie an. »Sie halten mich zum Narren.« »Aber nein, Majestät«, tat Charlotte unschuldig. »Ich möchte nur nicht glauben müssen, daß in Ihnen, Majestät, so wenig Selbstvertrauen steckt, daß Sie auf einen armen Gefangenen eifersüchtig sind.« Gegen einen so direkten Angriff auf seine Würde war August nicht gewappnet, und er steckte entschuldigend zurück. »Es tut mir leid, wenn Sie das annehmen sollten. Es ist wohl das Mißtrauen eines Mannes, dem so viele etwas vormachen.« Er machte eine hilflose Geste. »Sie wissen doch, wie das ist.« Charlottes Blick wurde weicher. Sie trat auf August zu und lehnte sich an seine Brust, während sie zu ihm aufsah. »Ich will Sie, Majestät, als August den Starken, verderben Sie mir nicht das Bild.« »Den Sie wie einen Tanzbären an der Leine führen können, nicht wahr, Madame?« »Das Bild stimmt nicht. Dort ist es so, daß der Bär nicht weiß, daß er der Stärkere ist.« »Das Bild stimmt. Sie haben Macht über mich, weil ich Sie liebe, Charlotte.« 369
Aber wehe, man verliert die Kontrolle über den Bären, dachte Charlotte nicht ohne Besorgnis.
*** Zwei Tage später hatte Böttger sich gefangen und vergrub sich in neue Versuche. Die Notwenigkeit, geeignete Lasuren zu finden, verdrängte seine Unzufriedenheit. Die Lust an der Alchemie und daran, Neuland zu erforschen, ergriff wieder Besitz von ihm. Der Prozeß der Porzellanherstellung mußte weiter systematisch verbessert werden. Dabei fand er heraus, daß das Liegenlassen des Materials, wie es bei den Chinesen üblich war, nicht der besseren Durchmischung diente, wie er angenommen hatte, sondern dazu, das Material für die Töpfer geschmeidiger zu machen, um dünnere Gefäße zu formen. Gruben zur Lagerung außerhalb der Kasematten wurden gemauert, Berge von Material türmten sich binnen kürzester Zeit innerhalb der Palisadenumzäunung. ›Böttgers goldene Berge‹ nannte er sie selbstironisch und lachte mit Tschirnhaus und Ohain darüber, daß er das künstliche Gold nicht zustande brachte. Doch kaum war er abends allein, überfiel ihn Wut über sein Unvermögen, die Transmutation nicht bewerkstelligt zu haben, und so nahm er nachts seine Forschungen für das Arkanum des künstlichen Goldes wieder auf. Der Zwiespalt, einerseits das Porzellan zu vollenden, weil dies sicheren Ruhm versprach, und andererseits sein eigentliches Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, zerriß ihn fast und ließ ihn kaum schlafen. Was seine mögliche Freilassung durch August anbelangte, hörte er auf, sich Illusionen zu machen. Nur weltweiter Ruhm konnte den Kurfürsten dazu zwingen, ihm die Freiheit zu geben. Also brauchte er überwältigende Erfolge – worin auch immer. Während Ohain umherreiste und nach vielleicht noch geeigneteren Lehm- und Tonerden fahndete, erschien Tschirnhaus regelmäßig einmal die Woche in den Kasematten, um ja nichts bei seinem Projekt zu verpassen. 370
Doch in der letzten Maiwoche blieb er plötzlich aus. Da er ohne Nachricht war, schickte Böttger einen Boten zum Gut von Tschirnhaus und erfuhr, daß den Gelehrten erst eine schwere Infektion und anschließend die rote Ruhr gepackt hatte. Die Krankheit war tödlich. Böttger zog sich zurück und verfluchte seine Gefangenschaft, die es ihm unmöglich machte, Tschirnhaus noch einmal zu besuchen und zu danken. Drei Tage später meldete man ihm den Tod des Wissenschaftlers. Eine Woche lang ging Böttger nicht aus dem Haus, lag im Bett, unfähig, irgend etwas zu tun. Dann stand plötzlich Dr. Bartholomäi über ihm und rüttelte ihn aus seiner Lethargie. »Das reicht jetzt, Monsieur le Baron.« Dr. Bartholomäi war vom Kurfürsten als Ersatz für den Gelehrten in den Zirkel der Eingeweihten um das Arkanum des Porzellans bestimmt worden. Keine schlechte Wahl, wie Böttger anerkannte, der Arzt stellte sich als glänzender Chemiker heraus. In kürzester Zeit eignete sich Bartholomäi Böttgers Systematik an. Schon nach zwei Wochen experimentierte er selbständig an dünnen Kacheln aus Böttgers Porzellanmasse, mit denen er den Delfter Kacheln Konkurrenz zu machen gedachte. Einen Monat später fand Böttger heraus, daß die Bemalung durch Lasuren mit hohem Bleianteil wesentlich besser erhalten blieb. Dr. Bartholomäi protestierte wegen der ungesunden Dämpfe. Doch Böttger blieb unnachgiebig. »Der Erfolg heiligt die Mittel«, beschied er den Arzt und setzte die Versuchsreihe fort. Daraufhin packte ihn der Arzt am Abend und schleppte ihn aus den Kasematten und verordnete, Böttger solle sich zwei Tage von den Dämpfen erholen. Böttger gehorchte nur teilweise. Nachts, wenn alle nach Hause gegangen waren, experimentierte er weiter, zwar nicht an den Lasuren, dafür aber an der Transmutation. Tagsüber hielt er sich brav fern von den Laboren und bemühte sich mit den Töpfern, neue Formen zu kreieren. Doch ihm fehlten die Anregungen des Hofgoldschmieds, und so schickte er nach Dinglinger. Der war jedoch auf Reisen. Unzufrieden warf Böttger Porzellanmaße an die Wand und wollte die Kasematten gerade verlassen, als ein Geselle aus dem Brennraum 371
hereinkam und erzählte, daß er eben zufällig gesehen hätte, wie die Gräfin von Pillnitz auf den Elbauen gegenüber ausritt. Augenblicklich vergaß Böttger seine Verärgerung. Charlotte wollte ihm zeigen, daß sie ihn nicht vergessen hatte. Sie wagte es wahrscheinlich, weil der Kurfürst von seinem alten Freund, dem Prinzen Eugen, zu einer Belagerung nach Belgien gerufen worden war. Aufgeregt wartete Böttger am nächsten Tag auf Charlottes Ausritt, saß auf der Lafette einer alten, schweren Vierzigpfünder, deren Mündung aus der Schießscharte ragte und einem imaginären Feind auf dem gegenüberliegenden Elbufer drohte, wo längst die Dresdner Neustadt wuchs. Während Böttger an dem Kanonenrohr vorbei wieder einmal zu den Elbauen hinüberspähte, kam Pabst von Ohain und verkündete, daß er eine kleine Ladung der begehrten Eisenschlacke für das rote Jaspisporzellan dabeihabe. Da Böttger nur abwesend dazu nickte, setzte er sich neben ihn und begann über seine vier Kinder zu jammern, die ihm allmählich die Haare vom Kopf fräßen. Bevor Ohain es verhindern konnte, hatte Böttger auch schon seine Perücke angehoben und nachgeschaut. »Tatsächlich, Pabst. Ihr Vorrat wird nicht mehr lange halten.« »Sie sind ein komischer Hund, Johann. Sie freuen sich nicht über die Schlacke, sind irgendwie ausgelassen und doch abwesend. Was treiben Sie hier eigentlich?« »Ich erwarte den Sonnenaufgang.« »Um diese Uhrzeit? Was soll … O Gott, ich ahne etwas. Wo soll Ihr Sonnenaufgang denn stattfinden? Da drüben?« Ohain deutete an der Kanone vorbei auf die Elbauen. »Genau.« »Warum vergessen Sie die Dame nicht einfach, Johann? Außerdem müßten Sie wissen, daß unser Kurfürst keine Nebenbuhler duldet.« »Ich weiß, Pabst. Lassen Sie mich einfach.« In dem Moment erspähte Böttger Charlotte. In leichtem Galopp schwenkte sie von der Brücke den Weg zu den Elbauen hinunter, ganz in Weiß, mit einem weit wehenden, leichten Überwurf, im scharfen 372
Kontrast zu ihrem Rappen. Am Flußufer unten angekommen ließ sie das Pferd in Trab fallen. Es schien Böttger, als schaue Charlotte zu den Kasematten herüber, und er ärgerte sich, daß er nicht an ein Fernrohr gedacht hatte. Mit aller Kraft drängte sich Böttger an dem Kanonenrohr vorbei in die Schießscharte, steckte den Kopf, so weit es ging, zwischen Schießschartenwand und Kanonenmündung hinein. Doch bevor er den Kopf wie erhofft durch den Zwischenraum nach draußen bekam, blieb er stecken. Daher konnte er Charlotte nur mit den Augen verfolgen. Als sie aus seinem Blickfeld entschwand, wollte Böttger den Kopf zurückziehen, ruckte und drehte sich, doch außer einem schmerzhaft gezerrten Nacken brachte sein Bemühen nichts ein, sein Kopf war eingeklemmt. »Pabst, helfen Sie bitte, ich stecke fest.« Ohain taxierte Böttgers Stellung. »Versuchen Sie den Kopf vorsichtig nach links zu drehen.« Böttger probierte es, vollführte die absurdesten Verrenkungen, zappelte wie ein Käfer, was dem Bergrat ein Lachen entlockte. »Das haben Sie jetzt davon.« Böttger erschlaffte und knurrte unwirsch. »Tun Sie doch was, Pabst. Die verdammte Kanone muß zurück.« »Wenn's weiter nichts ist.« Ohain sah sich um und griff mit aller Kraft in die Speichen des Rades. Die Lafette rührte sich nicht. »Festgerostet«, konstatierte Ohain. »Warten Sie!« Er brüllte in die Tiefe der Kasematte: »Ich brauche bitte einige Herren, die hier kurz mit anpacken.« Sofort kamen zwei Arbeiter angelaufen, gemächlich Kohler hinterher, der gemütlich brummelte. »Keine Sorge, das haben wir gleich.« Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, die Kanone Millimeter für Millimeter nach hinten zu schleifen. Vorsichtig zog Böttger den Kopf aus der Falle. »Vielen Dank, Messieurs.« Er rieb sich den Nacken. Die Helfer fragten nicht, was ihn in diese Lage gebracht hatte. Böttger war dankbar dafür. Als er Ohain zu seiner Ladung Eisenschlacke folgte, wiederholte Ohain noch einmal seinen Rat. »Vergessen Sie die Dame doch endlich, Johann. So was quält nur.« Böttger zuckte nur die Achseln. 373
Wenige Tage später ließ sich Dinglinger abends anmelden. »Mir ist zu Ohren gekommen, daß Sie meiner Hilfe bedürfen. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, daß ich so spät komme, morgen habe ich wenig Zeit, und so dachte ich, wir könnten schon mal ein wenig vorarbeiten. Dann haben Sie für Ihre Leute morgen früh immerhin schon Entwürfe. Was soll's denn diesmal werden?« Nachdem sie die Entwürfe für Vasen und geschwungene Schokoladenbecher fertig hatten, artete der Abend zu einem gemütlichen Besäufnis aus, und sie gerieten ins Philosophieren. Enthusiastisch beschrieb Böttger Dinglinger den steinigen Weg des Alchemisten zum Gold, der einer Besteigung des kostbarsten Gipfels der Menschheit gleiche, dem Olymp der Naturwissenschaften. In seiner Begeisterung entwarf er einen ›Mons philosophorum‹, auf dessen Spitze der ›Lapis philosophorum‹ ruhte. Dinglinger ließ sich Papier und Feder geben und begann, den Berg zu entwerfen. Der Berg sollte aus Silber und Gold getrieben sein, unten beginnend mit Brocken von Erz, zwischen denen ein nachdenklicher Alchemist stand, der zum Zeichen unermüdlicher Tag- und Nachtarbeit wegen der lang dauernden Prozesse auf dem Schlangenstab des Merkur eine Eule trug. Danach ein erstes silbernes Tor. Darüber skizzierte Dinglinger nach der Idee von Böttger eine Feuerhöhle mit zerbrochenen Tiegeln, zum Zeichen der immer wiederkehrenden Vergeblichkeit aller Mühen. Darüber sollte dann ein demütiger Alchemist stehen, der zur Mutter Natur aufblickt, der ›Magna Mater‹, der vielbrüstigen Göttin Kybele. Der Wein in ihren Köpfen bewirkte, daß sie an diesem Punkt den Faden verloren. Sie ergingen sich in ausführlichen Beschreibungen der Vielbrüstigen, der Form ihrer Brüste, dann der Taille, stritten darüber, wie ein klassischer Hintern geformt zu sein hatte. Jeder versuchte, dem anderen sein Frauenideal aufzuschwatzen, was Dinglinger auf die weinselige Idee kommen ließ, die Gräfin Pillnitz als Schiedsrichterin hinzuzuziehen. Stets sei sie zusammen mit Ihrer Majestät bei ihm gewesen und hätte bei der Beurteilung seiner Werke erlesenen Geschmack bewiesen. Diese Äußerung machte Böttger auf einen Schlag fast nüchtern. Er 374
schlug vor, daß Dinglinger die Gräfin zur Manufaktur mitbringen solle, da es doch sicher von Nutzen wäre, ihr Urteil über die Töpferarbeiten zu erfahren, die schließlich von Dinglingers Entwürfen abgeleitet seien. Derart bei seiner Ehre gekitzelt, begeisterte sich Dinglinger für die Idee und versprach alles daranzusetzen, dies so bald als möglich in die Tat umzusetzen. Doch dazu kam es nicht. Der Kurfürst kehrte aus Belgien zurück und zog sich mit Charlotte nach Pillnitz zurück, wo der Sommer weniger drückend war als in der Stadt.
Zwei Monate später weckte Böttger lautes Triumphgeschrei von draußen. Er sprang aus dem Bett und stürzte ans Fenster. Zu seiner Verblüffung fielen sich unter ihm Arbeiter der Manufaktur und Gardisten jubelnd in die Arme und führten Freudentänze auf. Ein Gardist erklomm das Palisadentor und schwenkte die sächsische Fahne, und immer wieder erschallten Hochrufe auf Zar Peter. Karl XII. war geschlagen, irgendwo im fernen Rußland. Aufgeregt kam Albert die Treppe hochgepoltert, um Böttger zu erzählen, daß nicht nur die schwedische Armee vernichtend besiegt sei, sondern Karl sich nur mit knapper Not in die Türkei hatte retten können. Da Ohain nicht da war, stieß er kurzerhand mit Albert auf den Sieg des Zaren an. Das Ereignis befeuerte Böttger in seiner Arbeit. Je eher er die Manufaktur auf die Beine bekam, desto besser. Kein Karl drohte mehr, den Rahm abzuschöpfen. Vierzehn Tage später war der Kurfürst nach Polen abgereist, und bald darauf versiegte der Geldstrom für die Manufaktur. Empört wandte sich Böttger an Fürstenberg. Doch der wies ihn ab. Seine Majestät sei mit seinen Verpflichtungen ihm gegenüber nachgerade schon genug in Verzug, und er lehne jeden weiteren Kredit ab. Außerdem sei die Finanzierung nun Sache des Magistrats. Böttger schrieb daraufhin an den Kurfürsten und schilderte ihm noch einmal ausführlich die 375
Vorzüge des Porzellanprojekts in den glühendsten Farben und bat um die zugesagten Mittel. Doch Antworten blieben aus, ebenso wie die Anweisungen für den Lohn der Arkanisten, wie man in Dresden inzwischen die Mitarbeiter der Manufaktur nannte. Sie murrten, und Böttger sah sich genötigt, ihnen den Lohn aus eigener Tasche zu zahlen, bis auch er keinen Pfennig mehr besaß. Die Golddukaten in seinem Leibgürtel rührte er jedoch nicht an. Sie waren seine letzte Reserve. Einen Monat lang tat sich nichts. Es kostete Böttger unendliche Überredungskunst, seine Leute bei der Stange zu halten. Dann endlich traf offensichtlich ein Brief Seiner Majestät beim Magistrat ein, der nun – wenn auch zögerlich – kleinere Summen herausrückte, so daß Böttger seine Leute halbwegs befriedigen konnte. Doch einige der besten Töpfer und Porzellanschleifer liefen wegen der schlechten Bezahlung davon, die künstlerische Arbeit an der Porzellankollektion stockte. Aus Polen kamen nur vage Nachrichten. Das Land sei in einen unübersichtlichen Bürgerkrieg verfallen, hieß es. Bauern, Kleinadel, Magnaten, Kirche, jeder kämpfte gegen jeden und wollte etwas anderes, man war dort zerstritten wie eh und je, der Kurfürst in großen Schwierigkeiten und bemüht, das Land mit sächsischen Truppen zu befrieden. Man bedeutete Böttger, daß in dieser angespannten Lage für seine Manufaktur leider nur die allernotwendigsten Mittel blieben. Böttger beschloß daraufhin, sich wieder dem künstlichen Gold zu widmen. Gelang es ihm, wäre die finanzielle Knappheit mit einem Schlag behoben. Er vergrub sich in seine Aufzeichnungen, studierte noch einmal seine Bücher und warf schließlich alles in die Ecke. Fast immer war von Blei und Quecksilber als Ausgangsstoffen die Rede. Danach hatte er gearbeitet. Vielleicht beruhte dieser Ansatz auf übermäßiger Gier, weswegen man unedle Metalle als Ausgangsstoffe nahm. In den Bergen aber lagen Silber und Gold häufig beieinander. Nicht, daß er es nicht schon mit Silber probiert hätte. Aber diesmal wollte er noch strenger, noch wissenschaftlicher herangehen. 376
*** Die Orgel der hochaufragenden, fünfschiffigen Kathedrale von Krakau begann leise zu spielen, als der Kardinalprimas von Polen in Begleitung des Kurfürsten von Sachsen den Kirchenraum betrat. Der Kardinalprimas geleitete seinen Gast erst zum Altar, wo sie kurz niederknieten, dann in den linken Seitenflügel vor die Kapellen. Ungestört ging das ungleiche Paar dort auf und ab, der Kardinalprimas hochgewachsen und knochig, ein Asket, beleibt und wuchtig der Kurfürst, ein Lebemann. Eine halbe Stunde lang hatte August dem Kardinalprimas seine Sicht der Dinge auseinandergesetzt, um die Unterstützung der Kirche zu gewinnen. »Ich kann dem Land den ersehnten Frieden bringen«, faßte August zusammen. »Polen wird durch mich als einzige Autorität zu geordneten Verhältnissen zurückfinden und unter meiner Herrschaft erblühen.« Der Kardinalprimas blieb bei seiner skeptischen Miene. »Ich nehme Ihnen ab, Majestät, daß Sie guten Willens sind. Doch gerade um von den Polen als einigende Autorität anerkannt zu werden, fehlt es noch an einigen Kleinigkeiten.« »Und die wären?« »Nun, Sie selber haben zwar den rechten Glauben angenommen. Aber das sollte auch für Ihre engste Umgebung gelten …« »Mein wichtigster Minister ist Flemming, Pole, Katholik und …« »Ich spreche nicht von den zweifellos fähigen Männern, die Sie um sich haben«, unterbrach ihn der Kardinalprimas, ohne den König anzuschauen. Statt dessen wandte er seinen Blick hoch zu einer gotischen Madonna mit Kind, unter der sie stehengeblieben waren. »Ich denke an Ihre protestantische Mätresse, Königliche Majestät. Nicht, daß ich Ihnen die Freuden der Liebe versagen will, aber Sie würden weit mehr Gegenliebe bei den Polen finden, wenn …« Nun war es August, der ihn unterbrach. »Die Gräfin ist nicht nur eine schöne, sondern auch sehr kluge Frau, Eminenz.« Der Kardinalprimas ließ eine Pause eintreten und wartete, bis er Augusts Ungeduld spürte. »Eine kluge Frau wäre in Dresden geblieben«, 377
konstatierte er ruhig. »Sie beleidigt die Polen durch ihren Glauben. Erscheint es Ihnen nicht auch wesentlich angemessener, daß auch die … die Dame eines Königs seinen und den Glauben des Volkes teilt?« August sah den Kardinalprimas ungehalten an. »Ich kann die Gräfin Pillnitz nicht einfach nach Sachsen schicken. Unmöglich.« »Dann wird sich die Kirche mit ihrer Unterstützung für Ihre Pläne zurückhalten, bis die Dame vielleicht freiwillig das Land verläßt, Majestät«, gab der Kardinalprimas sanft zurück. Ohne wirklich etwas zu sehen, starrte August auf das schwarzweiße Fliesenmuster zu seinen Füßen. Dann hob er den Kopf und blickte den Kardinalprimas eindringlich an. »Ich liebe die Gräfin Pillnitz, Eminenz.« Der Kardinal lächelte nachsichtig. »Nun, so etwas kommt vor. Auch Madame Lubomirska liebt Sie, Majestät. Darf ich Sie daran erinnern, daß sie einen Sohn hat, der seinen Vater lange nicht zu Gesicht bekommen hat?« Ursula. Ihr Name löste einen Strom von Bildern in August aus, warf ihn zurück zu einem Spätnachmittag vor acht Jahren, der sich unauslöschlich in seine Erinnerung eingraben hatte. Die wunderbar laszive Stimmung, er im Sessel, gelöst und zufrieden nach dem Liebesspiel, die Zeitung, die Meldung über den Goldmacher, sein Blick auf ihren wohlgeformten Hintern, als sie sich wieder ins Bett zurückzog, bevor die furchtbare Nachricht über den Einfall der Schweden kam. August seufzte. Natürlich würde es die Dinge in Polen einfacher machen. Mit Unterstützung der Kirche konnte er in Polen alles erreichen. Er sah jetzt ebenfalls auf zur Maria, die das Jesuskind auf dem Arm trug, daß seine Arme zwar zur Mutter ausstreckte, aber mit furchtsamem Blick auf ihn herunterschaute. »Ich denke, Eminenz, der Kleine hat es wirklich verdient, daß sich sein Vater um ihn kümmert.« Mehr wollte August dem Kardinal im Augenblick nicht zugestehen. Der Kardinalprimas schien zufrieden. »Wenn Sie gestatten, würde ich gern eine Zusammenkunft mit meiner Nichte arrangieren, Königliche Majestät.« »Gern, Eminenz.« 378
»Sehr schön. Darf ich Sie bitten, mir zu folgen?« Der Kardinalprimas querte mit August das Hauptschiff und schritt um das hohe gotische Kirchengestühl herum zum hinteren Teil der Apsis. August folgte ihm bereitwillig; in der Kirche war der Kardinal der Herr. Sie hielten auf eine Seitenkapelle zu, vor der eine verschleierte Frauengestalt versunken zu beten schien. Der Kardinal trat an die Frauengestalt heran und tippte leicht auf ihre Schulter. Ohne sich von den Knien zu erheben, drehte sie sich um und schob den Schleier aus dem Gesicht. Ursula Lubomirska. »Ursula, was für eine wunderbare Überraschung«, sagte August und beugte sich zu ihr hinunter. »Stehen Sie auf, Madame. Ich bin entzückt, Sie zu sehen.« Die Überraschung war echt, doch dahinter verbarg sich Betroffenheit. August hatte nicht erwartet, daß der Kardinalprimas den Sack so schnell zumachen würde.
*** Tief verneigte sich der Verwalter des Lustschlosses Pillnitz, als Charlotte mit ihrer Kutsche im Oktober 1709 das Tor passierte, gefolgt von zwei mit Gepäck beladenen Wagen. Sie fuhren durch die lange Allee zur Auffahrt, wo Diener in Erwartung ihrer Ankunft Spalier standen. »Nur für eine Weile, Madame, ziehen Sie sich bitte nach Sachsen zurück, bis ich die Krone Polens wiederhabe. Es ist eine politische Notwendigkeit, die ich bedaure – der Konfessionsstreit gebietet es leider.« Charlotte glaubte Augusts Worten. Furcht und Haß vor den Andersgläubigen wurden von den Kirchen eifrig geschürt. Charlotte hatte weichen müssen, als protestantische Mätresse bot sie eine zu große Angriffsfläche. Es war gekommen, wie Charlotte befürchtet hatte. Nur zu gut erinnerte sie sich noch an die Diskussion vor der Abreise aus Dresden. Leidenschaftlich hatte sie dafür plädiert, nicht nach Polen zu gehen. Angeblitzt hatte sie ihn, als er wehrlos hinter seinem Schreibtisch saß. »Majestät, Ihre Polen scheinen bar jeder Vernunft zu sein. Nicht einmal die Gewalt der Schweden hat sie einigen können. Einige hielten an 379
Ihnen fest, einige hielten zu Karl, die dritten wollten völlig unabhängig belieben, die vierten interessierte nur, ihre Pfründen zu behalten, egal wie und mit wem. Trotz der Besatzung sind sie sich nicht einiger geworden.« August schoß im Sessel nach vorne. »Das stimmt nicht. Es gab tapfere kleine Einheiten, die Karls Armee bekämpft haben.« Charlotte machte eine wegwerfende Geste. »Heroisch, gewiß, verarmte Kleinadlige und Bauern, chancenlos gegen Karl, weil sich die Magnaten heraushielten. Ihr Tod hat den Polen nichts genützt, im Gegenteil. Karl ist nur noch härter mit ihnen verfahren und hat die Einwohner unschuldiger Dörfer abgeschlachtet. Eine sinnlose Spirale der Gewalt. Die Polen haben nichts daraus gelernt, sind immer noch zerstritten. Warum wollen Sie über so ein Land herrschen?« Mit finsterer Miene kam August aus dem Sessel hoch, wanderte zum Fenster und schaute hinaus. Nach einer Weile begann er zu sprechen, ohne sich umzusehen. »Nehmen wir einmal an, einiges träfe – teilweise – zu, Madame. Demnach wäre es doch eine christliche, höchst ehrenvolle Aufgabe, das Land zu befrieden und ihm die Segnungen einer einzigen Autorität zukommen zu lassen.« Ohne Augusts Autorität in Frage zu stellen, konnte Charlotte dem nicht widersprechen, und so mäßigte sie ihren Tonfall. »Und was ist mit dem Friedensvertrag von Altranstädt? Dort haben Sie für immer auf die polnische Krone verzichtet.« Abrupt drehte sich August zu ihr um. »Nicht ich. Der Geheime Rat hat diesen Frieden hinter meinem Rücken geschlossen.« »Völkerrechtlich ist der Vertrag aber bindend, Majestät«, widersprach Charlotte. August kaute für einen Moment an dem Argument, bis er knapp beschied: »Alle Welt weiß, daß man mich hintergangen hat. Sogar der Zar sagt es.« »Bedenken Sie, Majestät. Es war der Zar, der Karl besiegte. Mit seiner militärischen Macht bestimmt er, was in Polen geschieht. Wollen Sie ein König sein von Gnaden des Zaren, Majestät, ein Lehnsmann, sein Vasall?« 380
August strich über die Locken seiner Perücke, ein sicheres Zeichen für seine Verunsicherung. Gereizt drehte er sich um. »Was ist es eigentlich, das Sie so übermäßig an Polen stört, Madame. Da scheint ein Unmut in Ihnen zu sein, den ich nicht verstehen kann.« »Mich quält die Sorge um Sachsen, Majestät.« Sie trat nah an August heran und blickte ihm fest in die Augen. »Polen war schon vor dem Krieg ein Faß ohne Boden. Wie ein reißender Strudel wird es Ihre Mittel verschlingen. Auf der anderen Seite blüht Sachsen auf, seit Sie im Land sind. Die Reparationszahlungen an Karl sind fast vergessen. Sachsen könnte zum glänzendsten Kurfürstentum in Deutschland aufsteigen.« »Eben! Das gedenke ich auch in Polen zu vollbringen, Madame.« August faßte Charlotte bei den Händen, hob ihre Rechte und küßte sie. »Ich werde und muß nach Polen reisen, Madame. Man hat den von Karl eingesetzten König verjagt und wartet auf mich. Ich kann die Hand nicht ausschlagen, die man hilfesuchend nach mir ausstreckt. Und was den Zaren anbetrifft, so verbindet uns ein alter Freundschaftsvertrag. Er kann kein Interesse daran haben, mich zu schwächen. Ich bin sein einziger Verbündeter …« August ließ Charlottes Hand sinken und richtete sich würdevoll auf. »Schon einmal habe ich erfolgreich um die polnische Krone gekämpft. Man würde mich einen Feigling nennen, wenn ich jetzt untätig in Dresden hockenbliebe. Ein abgesetzter König, der nicht die Chance ergreift, sich seine Krone zurückzuholen, würde in den Augen der Welt jegliche Achtung verlieren.« Gegen diese Gefühle zerstoben Charlottes Argumente, und so schlug sie trotz ihrer Zweifel die Augen nieder. »Verzeiht, Majestät, natürlich müssen Sie handeln, wie es Ihnen Ihr Ehrgefühl gebietet.« Charlotte reckte sich und gab dem überraschten August einen flüchtigen Kuß. »Ich liebe Sie, Majestät, und werde Ihnen überallhin folgen. Mit wem sonst sollte ich lachen, mit wem geistreiche Gespräche führen, wem meine Gunst erweisen?« Gerührt zog August Charlotte an sich und schloß sie in die Arme. Es wurde ein langer, zärtlicher Kuß. 381
Wenige Tage später waren sie nach Polen unterwegs gewesen, und nun, ein Jahr später, war Charlotte wieder zurück. Es würde in Pillnitz natürlich weit weniger amüsant sein ohne August, doch Dresden war schließlich nur anderthalb Reitstunden entfernt. In Polen wurde ihre Stellung nun von Ursula Lubomirska eingenommen. Charlotte fürchtete sie nicht. Ursula war fast so alt wie August, siebenunddreißig, und hatte ihre besten Jahre hinter sich. August würde sich eine jüngere Gespielin suchen, und spätestens zu Weihnachten wollte August wieder bei ihr in Pillnitz sein. Charlotte betrat die Schloßhalle, wo schon ihr Sekretär mit Briefschaften wartete, hauptsächlich aufgelaufene Rechnungen. Ein Päckchen vom Hofjuwelier Dinglinger stach heraus. Mit der übrigen Post wollte sie sich erst morgen abgeben, das Päckchen nahm sie mit nach hinten auf die Elbterrasse. Sie vermutete darin ein Trostpflaster Augusts und freute sich über diese hübsche Geste, die ihr die Einsamkeit versüßen sollte. Sie durchschritt den hohen, sonnendurchfluteten Saal zur Rückfront des Schlosses, dessen fünf hohe Glastüren zur Terrasse über der Elbe führten. Die Nachmittagssonne wurde von Spiegeln zwischen vergoldeten Pilastern zurückgeworfen, verliehen dem Saal eine schwebende Leichtigkeit, die Charlotte einen Moment innehalten ließ. Kein Saal im Dresdner Schloß, keiner in ihrem Dresdner Palais konnte es mit dem Zauber dieses Saales aufnehmen. Lakaien öffneten ihr die mittlere, fast vier Meter hohe Flügeltür zur Terrasse, die sich über die gesamte Rückfront des Schlosses von gut fünfzig Metern erstreckte. Von dort führte eine nach beiden Seiten weit ausschwingende Treppe bis ans Wasser der Elbe hinunter. Kleine Wirbel bildeten sich dort, wo die Strömung die untersten Stufen überspülte. Charlotte ließ ihren Blick über den Fluß nach links schweifen, wo immer höher aufsteigende Hügel das nahe Elbsandsteingebirge ankündigten, rechts konnte man über das flach auslaufende Ufer gegenüber im Dunst die Kirchturmspitzen Dresdens sehen. Langsam schritt Charlotte die Treppe hinunter bis zu einem Platz zwei Stufen oberhalb der Strömung, wo man ihr schon fürsorglich ein Kissen hingelegt hat382
te. Charlotte setzte sich und dachte träumerisch an die vielen Abende, die sie hier mit August verbracht hatte, beugte sich zu dem Päckchen, das ihr ein wenig unförmig erschien, und riß es neugierig auf. Verwundert hielt sie schließlich eine Porzellantasse in der Hand, bis es in ihrem Herzen plötzlich einen Stich gab und ihre melancholische Stimmung wachsender Erregung wich. Sie ahnte, von wem die Tasse kam, und griff nach dem Begleitbrief. Er war vom Hofjuwelier. Der schrieb, daß er und Böttger sich nicht einig darüber seien, ob die Form der Tasse wirklich gut gelungen sei oder nicht, und sie höflichst ersuchten, mit ihrem sicheren Geschmack den Fall zu entscheiden. Es gäbe zudem noch weitere Streitobjekte, über die man diskutieren wolle, kurz, der Hofjuwelier bitte Charlotte untertänigst, mit ihm die Porzellanmanufaktur in Dresden aufzusuchen. Charlotte begutachtete die Porzellantasse. Sie war elegant geschwungen, der Henkel paßte in den Proportionen, es gab nichts daran auszusetzen, offensichtlich nur ein Vorwand, den Johann sich ausgedacht hatte. Kein Geschmeide von August, dafür eine Einladung, die half, die Langeweile zu vertreiben. Charlotte gab dem Brief einen Kuß und sprang auf. Sie würde die Gräfin Krahl dazubitten.
Achtzehntes Kapitel
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nschlüssig stand Böttger vor einem Zuber kalten Wassers, daneben Albert mit Handtüchern über dem Arm. Spielerisch tauchte Böttger die Fingerspitzen ins Wasser, strich sich das kalte Naß über die Augen und das stoppelige Kinn und tätschelte den wartenden Diener. »Nur einen Moment noch.« Vor einer Woche hatte er erfahren, daß überraschend die Gräfin von Pillnitz allein aus Polen zurückkehren würde. Vielleicht hatte sich der starke August in Polen eine neue Mätresse gekürt und Charlotte fal383
lenlassen. Sofort hatte er Dinglinger an sein altes Versprechen erinnert und ihm eine Porzellantasse mit einer Strategie geschickt, um daraus eine Einladung zu machen. Inzwischen war Charlotte in Pillnitz eingetroffen, und Böttger erwartete nun täglich eine Antwort vom Hofjuwelier, vielleicht sogar von Charlotte selbst. Albert räusperte sich. »Soll ich erst das Frühstück anrichten lassen, Monsieur le Baron?« »Danke, Albert, noch nicht.« Da Böttger immer noch regungslos am Fenster stand, wagte Albert einen Scherz: »Hätte ich den Zuber mit Forellen füllen sollen, Monsieur le Baron?« »Gar nicht schlecht, Albert«, feixte Böttger, der sich gut an seine damalige Verzweiflung wegen Charlotte erinnerte. »Heute geht's auch ohne.« Er trat zum Zuber, umgriff den Rand und steckte den Kopf schwungvoll ins Wasser. Er hielt den Kopf so lange unten, bis ihm die Luft ausging. Nach Luft schnappend und prustend richtete er sich wieder auf. »Bitte, Monsieur le Baron.« Albert reichte ihm mit der Linken das Handtuch, während er in der Rechten den Spiegel für die Rasur bereithielt. Böttger rubbelte sich die Haare. Unten pochte es gegen die Tür, eine Magd öffnete, und Schritte kamen nach oben. Ein Gardist erschien ehrerbietig grüßend in der Tür, in der Hand ein Billett. »Monsieur le Baron, eine Nachricht von Monsieur Dinglinger.« Mit einem Satz war Böttger bei ihm und riß das Billett auf. Für kommenden Freitag meldete der Hofjuwelier sich in Begleitung ›zweier gewisser Personen‹ an. Sie kam also. Gegen seinen Willen begann sein Herz heftig zu pochen, und er riß Albert den Spiegel aus der Hand, um sich kritisch zu betrachten. Seine gepflegten, langen Haare, die beim Laborieren immer gestört hatten, waren seit langem gestutzt. Er sah strenger aus als vor zwei Jahren, asketischer, sein schmales Gesicht ließ ihn mehr als Wissenschaftler erscheinen, brachte seine Augen vorteilhaft zur Geltung. Böttger gefiel, was er sah. Schnell überschlug er die notwendigen Vorbereitungen. »Monsieur Dinglinger sagt sich für Freitag abend mit zwei weiteren Gästen an. 384
Wir werden ein Festmahl ausrichten. Holen Sie nur vom Besten. Es muß eine Prunktafel werden.« Albert zog eine Grimasse. »Wovon, Baron Böttger?« »Ich gebe Ihnen nachher Dukaten.« Die Augen des Dieners leuchteten auf. »Haben Sie Gold gemacht?« Böttger schüttelte lachend den Kopf. »Leider nein. Die Dukaten stammen aus einer eisernen Reserve. Ich denke, der Anlaß rechtfertigt dieses Opfer.«
Schon eine Stunde vor der festgesetzten Zeit schritt Böttger hinter dem Palisadentor unruhig auf und ab. Er hatte sich noch schnell einen neuen Rock aus braungolden schimmernder Seide anfertigen lassen und seine Haare mit einem Hauch Goldstaub gepudert, der ihnen einen magischen Schimmer verlieh. Alles war vorbereitet. Die Kasematten hatte er von hinten bis vorne so sauber putzen lassen, wie es bei dem Umgang mit nassen Erden überhaupt nur möglich war, in seinem Haus blitzte alles so sauber, als sei er eben gerade erst eingezogen. Den Salon hatte er bis auf vier Stühle und die vorbereitete Tafel mit ausgesuchten Porzellanstücken freiräumen lassen. Immer wieder sah Böttger die Straße zum Schloß hinunter, dann hinauf zur Uhr am Schloßturm, die Mischung aus Hoffen und Bangen zermürbte. Endlich erschienen zwei Kutschen auf der Gasse vor dem Tor und kamen den kleinen Abhang zu den Palisaden herauf. Die Wachen an der Schranke salutierten, aus dem Wachhaus trat ein älterer, griesgrämig dreinschauender Leutnant, den Böttger nicht kannte. War das nun gut oder schlecht, daß Hauptmann Rebmann nicht Dienst hatte? Seine Nerven waren so angespannt, daß alles ihn nervös machte. Aus der ersten Kutsche quälte sich der beleibte Hofjuwelier das Treppchen hinunter, die dabei heftig ins Schwanken geriet. Aus der zweiten Kutsche winkte die Gräfin Krahl zu Böttger herüber, bevor sie mit Unterstützung aufmerksamer Diener ausstieg. Die Anstands385
dame, dachte Böttger leicht gequält. Endlich erschien Charlotte hoheitsvoll im Türrahmen, in einem schlichten, hellrosa Seidenkleid mit weißen Spitzen um den weiten Ausschnitt am Busen. Außer goldenen Ohrhängern trug sie keinen Schmuck, aus den hochgesteckten schwarzen Harren fielen verspielt zwei Locken herab. Sie sah phantastisch aus. Böttger atmete tief durch und machte unwillkürlich einige Schritte nach vorne. Ein knapper Befehl ertönte, und vor Böttgers Brust kreuzten sich plötzlich die Gewehre zweier Gardisten. Der griesgrämige Leutnant wies auf die Schlagbaumlinie, die Böttger überschritten hatte. Noch immer ärgerlich, sah Böttger wieder zu Charlotte, das Gesicht eingerahmt von den blitzenden Bajonetten, und genau in dem Moment blickte sie zu ihm herüber. Er brachte nur ein schiefes Lächeln zustande. Irritiert blieb Charlotte mitten auf dem Treppchen stehen. Böttger beantwortete ihren Blick mit einer hilflosen Geste. »Man läßt mich nicht weiter vortreten, Madame.« Um Charlottes Mundwinkel begann es verräterisch zu zucken, Johann zwischen den Bajonetten bot einen zu absurden Anblick. Böttger fühlte sich an die dumme Manschette erinnert, an sein Ausgleiten im See, und in diesen wenigen Sekunden war die alte Vertrautheit zwischen ihnen wiederhergestellt und drohte offensichtlich zu werden. Charlotte spürte das und beendete schnell den Blickaustausch, indem sie sich an den Leutnant wandte. »Ich denke, Ihre Männer können die Bajonette jetzt herunternehmen, Leutnant.«
Wenig später führte Böttger seine Besucher ins Haus zum Salon. Sein Blick hing voller Spannung einzig an Charlotte, als sie vor die prunkvolle Tafel traten. An ihrer Reaktion, die mit Gold und Silber protzende Dekorationen kannte, wollte er seinen Erfolg messen. Die Gräfin 386
Krahl stieß spitze Schreie des Entzückens aus, Dinglinger fühlte sich sogar bemüßigt zu klatschen. Charlotte war stehengeblieben und ließ ihren Blick mit Bewunderung über die Tafel mit Blumen in Vasen aus rotem Jaspisporzellan und weißen Porzellantellern wandern. Was sie da sah, erschien ihr subtiler als der kalte Prunk von Silbergeschirr, farbenprächtiger durch die Bemalung der Teller, fröhlicher durch die zierlichen, roten Rosen mit dem grünrankenden Blätterwerk auf den weißen Schüsseln. Sie trat näher an die Tafel heran und vertiefte sich in die Details: hier den Schliff einer Vase, dort den Löwenkopf an einer Schüssel, das zarte Veilchenmuster auf einem der Teller. Kein Stück glich einem anderen, jedes Stück war ein Kunstwerk. Böttger, der eigentlich von der komplizierten Entwicklungsarbeit hatte erzählen wollen, saß ein Kloß im Hals. Es schmeichelte ihm, wie Charlottes Blicke über sein Porzellan glitten. Wenn ihre Hand sich nach einer Verzierung ausstreckte und zart darüberstrich, bekam er eine Gänsehaut. Ein Schauder überlief ihn. Noch nie in seinem Leben hatte Böttger sich so stolz gefühlt. Er hatte etwas geschaffen, das dem Tafelaufsatz mit dem goldenen Kaffeeservice Dinglingers ebenbürtig war, das ihn vor Jahren im Grünen Gewölbe so fasziniert hatte. Die Gräfin Krahl riß ihn aus dieser Stimmung. »So wunderbar Ihr Service auch anzuschauen ist, Baron, so sehr hoffe ich, daß Sie es auch zur Benutzung freigeben. Ich habe Hunger.« Damit war der Bann gebrochen, Böttger winkte Albert, die Mägde kamen, und es wurde aufgetragen, Albert schenkte den Wein ein. Doch schon bald senkte sich eine leicht beklommene, förmliche Stimmung über die Runde, da weder Böttger noch Charlotte es wagten, offen miteinander zu plaudern. Gestelzt lobte man die Fischsuppe, die Poularde und was sonst noch aufgetragen wurde. Mit Argusaugen beobachtete die Gräfin Krahl Charlotte und Böttger, obwohl sie sich gleichzeitig blendend mit dem Hofjuwelier unterhielt, den sie in eine Diskussion über italienische Malerei verwickelte. Böttger blieb nicht viel mehr zu tun, als darauf zu achten, daß die Gläser des Hofjuweliers und der Gräfin Krahl stets gut gefüllt blieben. Er selbst erlegte sich beim Wein 387
Zurückhaltung auf. Charlotte folgte unauffällig seinem Beispiel. Beide vermieden es, sich längere Zeit anzuschauen, um sich keine Blöße zu geben, und Böttger fieberte dem Ende des Essens entgegen, das sie aus der förmlichen Situation befreien würde.
*** Zur selben Zeit kam der Befehlshaber des Wachbataillons der Manufaktur, Hauptmann Rebmann, von einem Empfang des Dresdner Magistrats zurück, und der Leutnant am Palisadentor übergab ihm das Wachbuch zur Kontrolle. Rebmann bekam fast einen Herzschlag, als er den Namen der Reichsgräfin von Pillnitz darin entdeckte. Der Leutnant hätte den Besuch der Mätresse des Kurfürsten niemals eintragen dürfen. Im Wachbuch durfte man nicht korrigieren, und eine Diskussion mit dem Leutnant hätte die Situation höchstens noch brenzliger gemacht. Hauptmann Rebmann nahm das Wachbuch daher an sich, befahl, ein neues Wachbuch anzulegen, und machte sich auf den Weg zum Statthalter. Nur Fürst Fürstenberg konnte die Situation retten.
»Was erwarten Sie von mir, Hauptmann?« fragte Fürstenberg ihn, nachdem er die Eintragung gelesen hatte. »Ich finde die Eintragung wenig glücklich, Exzellenz«, gestand der Hauptmann ruhig. »Ich dachte, es sei besser, Sie wissen darum.« Fürstenberg hob die Brauen, deren Weiß kaum mehr durch Puder und Schminke abzudecken war. Er war müde geworden in letzter Zeit. Da der Kurfürst aber mit einer gewissen Neugier verfolgte, wer denn mit seinem Goldmacher verkehrte, ließ er sich gelegentlich aus dem Wachbuch die Liste der Besucher vorlesen. Und nun wollte Hauptmann Rebmann offensichtlich, daß er den Eintrag tilgte, um Böttger und die Mätresse des Kurfürsten vor dem Zorn der Majestät zu retten. Denn falls dieser jemals von dem Besuch erfuhr, würden die unkalkulierbaren Konsequenzen nicht nur die Gräfin Pillnitz, sondern 388
alle treffen, die ihren Ausflug nicht verhindert hatten. Der Hauptmann trug daher durchaus berechtigte Sorge um seinen eigenen Kopf. Fürstenberg hingegen interessierte nur die Gefahr, in der Böttger schwebte. Er liebte ihn, hatte ihn immer geliebt, und die Gräfin Pillnitz war immer schon eine Gefahr für den Alchemisten gewesen. Er stemmte sich aus dem Sessel hoch, neben dem ein rundes Blumentopftischchen mit einer Batterie Arzneifläschchen stand, und ging mühsam mit dem Wachbuch in der Hand zum Kaminfeuer, das er sich trotz der milden Witterung gönnte. »Es ist nicht schön, Hauptmann, wenn einen die Zipperlein plagen. Man wird so schwach …« Fürstenberg tat, als rutsche ihm das Wachbuch aus der Hand ins Kaminfeuer. »O je, … sehen Sie?« Gelassen neigte Fürstenberg den Kopf und sah zu, wie das Feuer gierig die Seiten fraß. »Was ist schon so ein Wachbuch, nicht wahr, Hauptmann?« Dann schaute er auf. »Hauptsache, alle, die hineingekommen sind, kommen auch wieder heraus. Regeln Sie das.« Hauptmann Rebmann verneigte sich, ohne eine Miene zu verziehen. »Zu Befehl, Exzellenz.« »Dieser Besuch hat nie stattgefunden.« »Zu Befehl, Exzellenz.« »In einer halben Stunde werde ich zur Manufaktur kommen, um zu prüfen, ob alles in Ordnung ist. Ich danke Ihnen, Hauptmann Rebmann.« Sichtlich erleichtert verabschiedete sich der Hauptmann, und Fürstenberg machte sich auf den mühsamen Rückweg zu seinem Sessel, ließ sich aufseufzend hineinsinken und starrte in die Flammen, in denen die letzten Reste des Wachbuchs verkohlten.
*** Im Versuchslabor der Kasematten, einem Nebenraum der ehemaligen Pulverkammer, war Böttger inzwischen bei einer Demonstrati389
on höchst eindrucksvoller Schau-Experimente angelangt, die den Höhepunkt der Führung durch die Kasematten bildeten. Gegenüber der Feuerstelle hatte er drei bequeme Sessel hinstellen lassen. Rechts gleich neben der Tür saß Charlotte, in der Mitte der Hofjuwelier und links die Gräfin Krahl. Gerade reichte Böttger einen Glaskolben mit klarer Flüssigkeit herum, hielt ihn dann gegen die Flamme einer Fackel und färbte die Flüssigkeit durch einen winzigen Brocken zitronengelb sowie durch Zugabe eines Tropfens farbloser Flüssigkeit durchscheinend blau. Dann streute er einige Körner hinein, die wie Salz aussahen, und verursachte feine weiße Fäden im Kolben. Die Zuschauer applaudierten. »Jetzt«, begann Böttger nach einer Verneigung, »kommen wir zum Höhepunkt. Das Experiment, das ich Ihnen vorführe, hat eine magische Eigenschaft. Es ist ein Mysterium, denn die Zeit gerät bei diesem Experiment aus den Fugen. Wundern Sie sich also nicht, wenn am Ende weit mehr Zeit vergangen ist, als Sie zu erleben vermeinten. Minuten werden zu Stunden, ohne daß man mehr als einen Traum erlebt zu haben glaubt.« Charlotte spürte, daß der entscheidende Moment gekommen war. Böttger holte eine große, flache Schale hinter ihr aus dem Regal und flüsterte ihr dabei zu: »Nicht atmen, wenn es gleich qualmt.« Charlottes Puls beschleunigte sich, bis auf ein kaum merkliches Zittern ihrer Hände war ihr jedoch die Aufregung kaum anzumerken. Sie fragte sich, wen sie mehr bewunderte, den Mann oder den Alchemisten. Die Gräfin Krahl und Dinglinger hingen wie hypnotisiert an seinen Lippen. Böttger streifte sich dicke Lederhandschuhe über und löschte die Fackel. Die Zuschauer traf nur noch der schwache Widerschein aus der Feuerstelle. »Achtung, bitte.« Er griff zu einer Schale mit weißem Pulver und häufte es sich auf die Fingerspitzen der linken Hand. Dann trat er zur Feuerstelle, und als er sich zurückdrehte, sprühte weißleuchtendes Feuer von seinen Händen. Mit wirbelnden Bewegungen begann er Feuerbällchen zu erzeugen, die fast schwerelos in der Luft zu schweben schienen, fing sie auf, schleuderte sie erneut in die Luft, während er aus den Augenwinkeln 390
zu Charlotte hinüberlinste. Unbemerkt von den Zuschauern, stieß er eine flache Schale mit dem Ellenbogen ins Feuer. Augenblicklich begann starker Qualm aus der Feuerstelle zu strömen, ein Gemisch aus Bilsenkraut und Opium. Böttgers Blick glitt zwischen der Gräfin und Dinglinger hin und her. Er bedeutete Charlotte mit einem kurzen Blick zur Tür, den Raum zu verlassen, während er sich schnell frisches Pulver griff und seine flammensprühenden Hände immer dichter vor den Gesichtern der Krahl und Dinglingers tanzen ließ, sah, wie deren Lider schwer wurden und sich endlich zu schließen begannen, stürzte dann selber schwankend aus dem Raum und schloß schweratmend die Tür hinter sich. Charlotte sah ihn an wie einen Irren. Böttger war es gleichgültig. Er griff nach ihrer Hand. »Los zur Schießscharte«, befahl er und zog sie durch den langen, tunnelförmigen Raum der frischen Luft entgegen. Bei der Schießscharte angelangt, stützte er sich auf die Kanone und lachte noch immer nach Luft ringend: »Die schlafen erst einmal … jetzt haben wir Zeit …« Charlotte hingegen fühlte sich alles andere als sicher. »Wann werden sie erwachen, Johann?« »Erst, wenn wir die Tür öffnen … Es ist ein Schlafmittel, gemischt mit einem starken, betäubenden Mittel aus Asien … Schwer zu bekommen.« »Ist es schädlich?« »Nein, man ist nur ein bißchen rammdösig hinterher.« Allmählich hatte sich Böttger erholt, aber Charlotte sah ihn keineswegs beruhigt an. »Manchmal ist alles mit Ihnen völlig unwirklich, Johann. In Ihrer Gegenwart verändert sich die Welt … seit ich Sie in Berlin sah. Die alberne Manschette, Sie tauchen beim Brand auf …« »Und die Hütte im See? Die haben Sie ausgelassen.« »Sie waren sehr naß«, versetzte Charlotte, um ihn zu bremsen. »Später weniger …« Eine Pause entstand. Böttger nahm seinen Mut zusammen. »Madame, ich weiß, es ist ungehörig, vermessen, und überhaupt bin ich bar jeder Vernunft. Aber ich möchte Sie küssen.« 391
Er trat auf Charlotte zu und streckte die Arme nach ihr aus. Charlotte wich zurück. »Sind Sie sich dessen wirklich sicher? Sie wissen, was Ihnen blühen kann.« Böttger hatte nicht erwartet, daß Charlotte ihn auf Distanz hielt. »Oh«, sagte er mit einer gewissen Ernüchterung, »ich habe wohl die Form vergessen, verzeihen Sie, Madame.« Steifbeinig verneigte er sich. »Natürlich. Ich bin nur ein armseliger Alchemist. Verzeihen Sie, Madame.« Charlotte sah ihn traurig an. »Damals, Johann, war es etwas anderes. Ich gehörte zu einem ungeliebten Mann. Jetzt gehöre ich dem Kurfürsten, den ich liebe und den ich achte. Das ändert alles, auch wenn ich mir Ihr Bild immer bewahrt habe.« Doch Böttger hörte kaum zu, seine wachsende Enttäuschung schlug in Zorn um. »Was haben Sie sich denn von diesem Abend versprochen, Madame? Wollten Sie mich leiden sehen? Sie wußten, daß ich Sie noch immer liebe. Sie wußten es.« Er schrie es fast, und seine Miene war hart geworden. »Und Sie wissen auch, daß Ihr Kurfürst mich immer noch in Gefangenschaft schmoren läßt. Erwarten Sie, daß ich mich zurückhalte, um diesem Mann kein … Herzeleid zuzufügen?« Böttger spie das alberne Wort geradezu aus, um sie aus der Fassung zu bringen. »Sie sind ungerecht und haben nicht zugehört, Johann«, antwortete Charlotte leise. »Vielleicht«, bemühte sich Böttger, kälter und ruhiger zu werden. »Für mich zählt nur, was jetzt und hier ist, nicht Bedenken, nicht, ob etwas schädlich ist für mich oder Sie. Wenn Sie behaupten, Sie lieben mich, warum tun wir es dann nicht?« »Weil, Johann«, sagte Charlotte mit sanfter Stimme, »es mir sehr weh tun würde. Es täte mir weh, Sie danach zu verlassen, Johann, und es täte mir weh, der Majestät in die Augen zu sehen. Er würde es merken und nachforschen, und das wäre Ihr sicheres Ende.« Böttger schloß die Augen und stieß bitter hervor: »Ich hätte es in Kauf genommen, Madame. Meine Liebe wäre es mir wert gewesen. Verstehen Sie das denn nicht?« Abrupt drehte er sich um und ging die Kasematte zurück. »Ich wecke jetzt die beiden.« 392
»Einen Moment noch«, rief Charlotte und lief ihm hinterher. »Glauben Sie, daß ich Ihnen beim Kurfürsten helfen kann?« Böttger drehte sich verächtlich um. »Wie denn?« Mit einer wütenden Bewegung griff er sich an die Brust und zerrte das Medaillon von Charlotte hervor. »Doch, hier. Das geht vielleicht. Drücken Sie ihm das hier in die Hand. Dann hat er wenigstens etwas Goldenes.« Er warf Charlotte das Medaillon zu. »Er kann sich's ja einschmelzen, dann hat er sein Gold.« Damit drehte er sich endgültig um. Charlotte starrte ihm hinterher, dann auf das Medaillon. Es war aufgeklappt und zeigte ihr Porträt. Verzweiflung stieg in ihr hoch. »Warte, Johann.« Böttger ging weiter. Charlotte rannte hinter ihm her. »Warte bitte.« Böttger ging noch zwei Schritte, dann blieb er stehen und wandte sich zu ihr um. Eine Träne lief ihm über die Wange. Charlotte flog an seine Brust und küßte ihn. Es dauerte einen Moment, bis Böttger in den Kuß einfiel und seine Arme um sie schloß. Ihr Atem ging schneller, ihre Umarmungen wurden leidenschaftlicher. Plötzlich hallte der unregelmäßige Schritt schwerer Stiefel aus einem Gang, und sie fuhren auseinander. »Rebmann. Was will dieser Idiot hier?« flüsterte Böttger. Gleich darauf erschien der Hauptmann im Durchgang zur nächsten Kasematte und verneigte sich. »Verehrte Gräfin … Baron … verzeihen Sie bitte vielmals die Störung …« Er verneigte sich nochmals, tiefer diesmal, wobei er sein steifes Bein nach hinten streckte. »Aber es ist nun so, daß in einer Viertelstunde seine Exzellenz Fürst Fürstenberg hiersein wird und mir auftrug, daß es besser wäre, wenn Sie, verehrte Gräfin, dann nicht mehr zugegen wären.« Charlotte hatte sich von Böttger gelöst, der mit gesenktem Kopf dastand. Zuckend öffneten und schlossen sich seine Hände. Charlotte fing sich schneller. »Ich verstehe, danke, Hauptmann. Wir werden gleich kommen.« Doch anstatt sich daraufhin zurückzuziehen, blieb Hauptmann Reb393
mann stehen. »Ich denke, für das äußere Bild wäre es angeraten, wenn alle Gäste gleichzeitig gingen. Darf ich fragen, wo sie sind?« Böttger kratzte sich am Kopf und blies die Backen auf. »Im kleinen Labor neben der Pulverkammer.« »Gut, ich hole sie.« Rebmann nickte diensteifrig und stakste los. Böttger hielt ihn auf. »Hören Sie, Rebmann, warten Sie. Ich muß sie wecken. Sie schlafen.« Rebmann sah ihn an wie eine Kuh mit zwei Köpfen. »Ich habe sie in den Schlaf gesungen, Hauptmann«, bemerkte Böttger mit leichter Verzweiflung in der Stimme, die Rebmann bedeuten sollte, sich nicht weiter darum zu kümmern. Der Hauptmann sah ihn zweifelnd an. »Gut. Nur bitte beeilen Sie sich, Monsieur le Baron.« »Halten Sie sich von der Tür fern«, warnte Böttger und warf Charlotte einen Blick zu, in dem schon Abschiedsschmerz lag. Dann drehte er sich ab, holte sich ein Tuch aus der Rocktasche, das er sich vor den Mund hielt, ging zur Tür, holte noch einmal tief Luft und öffnete sie. Drinnen griff er sich schnell einen großen Lappen und wirbelte ihn mit kreisenden Bewegungen über seinem Kopf, um den Rauch zu vertreiben. Nachdem die Luft klarer wurde, schöpfte Böttger Wasser aus einem Bottich neben der Feuerstelle und spritzte es erst Dinglinger, dann der Gräfin Krahl ins Gesicht. Dinglinger grunzte nur, fuhr sich mit der Hand unwillig über das Gesicht und schlief weiter. Böttger wiederholte die Prozedur bei ihm, und diesmal hob Dinglinger langsam die Lider. »Wir haben geschlafen«, konstatierte die Gräfin Krahl erstaunt. »Ja, Madame, der Zauber war mir wohl etwas zu stark geraten, ich bitte um Vergebung.« »Seltsame Sachen habe ich geträumt, höchst eigenartig.« Sie sah sich um. »Wo ist die Gräfin Pillnitz?« fragte sie argwöhnisch. »Schon erwacht. Sie wartet vor dem Labor beim Hauptmann der Manufakturwache.« »Himmelsakra noch amal. A grandiose Zauberei war dös, Baron«, 394
staunte Dinglinger in seinem bayrischen Dialekt, erschrak darüber und fuhr fast hochdeutsch fort: »Und gigantische Träume haben die Lichtlein gemacht. Wie war's bei Ihnen, Gräfin?« »Höchst eigenartig, wie ich schon sagte.« In ihrer Stimme lag immer noch Argwohn. »Wieviel Zeit ist vergangen, Baron?« »Nicht sehr viel. Eine Viertelstunde vielleicht.« Böttgers Antwort schien die Gräfin Krahl ein wenig zu beruhigen. Dinglinger stand auf. »Aber schlafen hätten wir doch eigentlich nicht sollen, oder?« »Nein, natürlich nicht«, bemerkte Böttger lustlos. »Wie ich schon sagte – der Zauber war zu stark. Ich selbst konnte mich nur mit Mühe wach halten.« »Und die Gräfin Pillnitz wohl auch, oder«, fragte die Gräfin Krahl nach. »Ich holte Hauptmann Rebmann zu Hilfe, der sie weckte, Madame.« Endlich nickte die Gräfin Krahl zufrieden, und Böttger bot ihr erleichtert seine Hand zum Aufstehen. »Lassen Sie uns nach vorne gehen. Der Hauptmann teilte mir mit, daß wir gleich unangenehmen Besuch zu erwarten haben, dem ich Sie nicht aussetzen möchte.« »Wer denn, um Himmels willen?« fragte die Gräfin schockiert. »Bedaure, Madame, Alchemistengeheimnis.« »Ach, das mal wieder«, brummelte die Gräfin ungehalten, griff nach Böttgers Hand und erhob sich aus dem Sessel. Sie traten aus dem Labor in den Pulverraum, wo der Hauptmann mit Charlotte wartete, deren Miene ihre innere Zerrissenheit kaum verbergen konnte. Schweigend traten sie den Weg zum Ausgang der Kasematten an. Weder Charlotte noch Böttger war danach, irgendwelche Belanglosigkeiten auszutauschen, und der Gräfin hatte das ›Alchemistengeheimnis‹ die Stimmung vergällt. Nur Dinglinger murmelte immer noch irgend etwas von grandioser Zauberei. Als sie in die Nacht hinaustraten, war vor dem Palisadentor noch nichts vom angekündigten Besuch zu sehen, aber Hauptmann Rebmann mahnte zur Eile, der Besuch könne jeden Moment eintreffen. Die Verabschiedung geriet kurz und förmlich. Eine letzte Vernei395
gung, Böttger blieb stehen und sah mit versteinerter Miene, wie die Damen in die Kutsche stiegen. Charlotte wagte nur einen kurzen Blick zurück und riß sich zusammen, damit ihr vor der Gräfin Krahl nicht die Tränen kamen. Die Kutschen fuhren an, Böttger starrte ihnen regungslos hinterher. Nach einer Weile fragte er Rebmann: »Wann kommt Seine Exzellenz?« »Er müßte jeden Moment hiersein.« »Bitte entschuldigen Sie mich bei Seiner Exzellenz, Hauptmann.« Damit wandte er sich um und ging in sein Haus. Erst am nächsten Tag erfuhr man in Dresden, daß der Fürst seinem Herzleiden erlegen war.
*** Im Krakauer Schloß fand am selben Abend Augusts Anprobe für die bevorstehende Krönung statt. Zwei Diener hoben den mit Schulterriemen verbundenen Rückenund Brustpanzer der goldenen Rüstung an und hängten sie über Augusts Schultern. Die Lederriemen, die Brust und Rückenteil seitlich zusammenhalten sollten, klafften weit auseinander. Bei seiner ersten Krönung war er ein schlanker Mann von sechsundzwanzig Jahren gewesen; dreizehn Jahre Wohlleben hatten ihre Spuren hinterlassen. August drehte sich im mannshohen Spiegel. »Das da ist egal.« August deutete auf die breite Lücke zwischen Brustteil und Rückenpanzer. »Das deckt der Mantel später ab.« Ein Diener bemühte sich, ihm die Armschienen anzulegen und die Riemchen festzuziehen. »Das geht nicht«, fuhr August den Diener an. »Ich bitte um Vergebung, Majestät, auf dem Lederriemen ist kein Platz für ein weiteres Loch.« »Dazu machen wir die Anprobe. Man muß eben längere Riemen dranmachen.« Als man ihm die Beinschienen anprobierte, wurde ihm Flemming gemeldet. »Verzeihen Sie, Majestät, Sie hatten nach mir gerufen?« 396
»Ich habe umdisponiert. Wir sind aber gleich fertig.« Flemming umschritt August bewundernd. »Majestät werden eine blendende Figur machen. Wenn man so sagen darf, noch majestätischer.« »Danke, Flemming, so fühle ich mich auch.« August sah zu den Dienern hinunter, die ihm die Beinschienen anlegen wollten. Auch hier offenbarte sich das gleiche Problem. »Neue Riemen, Messieurs. Das wär's dann wohl. Weiter.« Eilfertig entfernten die Diener die Rüstungsteile, brachten Augusts Weste mit den Rubinknöpfen und den dazugehörigen roten Rock mit verschlungenen, goldenen Ornamenten und kleideten die Majestät an. Erst danach schaute August zu Flemming. »Lassen Sie uns in mein Schlafzimmer gehen.« Nachdem sich die Türen hinter ihnen geschlossen hatten und sie allein waren, überraschte Flemming, daß August ganz ungewohnt herumdruckste und offenbar Schwierigkeiten hatte zu beginnen. »Geht es um Sachsen, Majestät«, versuchte er ihm zu helfen. »Ja und nein.« August faßte sich ans Herz. »Es geht mir um die Gräfin von Pillnitz, Flemming.« »Kann ich irgend etwas für die Gräfin tun, Majestät?« Flemming lächelte charmant. Nie durfte der König dahinterkommen, daß er hinter der Idee des Kardinalprimas gestanden hatte. Über Ursula Lubomirska hatte er inzwischen beträchtlich an Einfluß gewonnen, den ihm die sächsische Mätresse nie zugestanden hätte. »Sie wissen, ich schätze Madame von Pillnitz über alle Maßen, Flemming. Man könnte sogar sagen, unmäßig«, bemühte er sich um einen Scherz. »Sie können sich also vorstellen, wie schwer es mir gefallen ist, sie darum zu bitten, nach Dresden zurückzukehren.« August holte tief Luft. »Das ist die eine Seite. Ich wollte sie auch nicht den Anfeindungen wegen ihres Glaubens und ihres Status bei den Polen aussetzen.« Flemming befürchtete, August wolle seine sächsische Mätresse zurückholen, und bemühte sich um ein stützendes Argument. »Ein kluger Entschluß, Majestät, der Ihre hohe Empfindsamkeit beweist. Und andererseits wird Madame von Pillnitz in Sachsen sich auch nicht un397
wohl fühlen, weil Teile des Adels ihre wenig polenfreundliche Haltung teilen. Unter Gleichgesinnten wird ihr die Zeit ohne Sie sicher nicht zu lang werden, Majestät.« August sah ihn stirnrunzelnd an. »Man spricht also über ihre Haltung zu Polen?« Flemming verneigte sich und lavierte herum. »Einige schon, Majestät, und sie bedauern, daß die Gräfin zur Zeit Ihrem Einfluß entzogen ist.« »Genau dort liegen auch meine Befürchtungen«, gab August sinnierend zurück, froh darüber, daß er hinter diesen Argumenten seine schwelende Eifersucht verbergen konnte. »Die Gräfin ist eine kluge, höchst aktive Frau. Sie wird in Pillnitz und Dresden hofhalten, wie sie es gewohnt ist, und natürlich auch ausländische Diplomaten empfangen.« Noch immer wußte Flemming nicht genau, worauf sein Souverän eigentlich hinauswollte, außer daß er offensichtlich nach irgendwelchen Argumenten gegen seine Mätresse suchte. Er beschloß, die zu verstärken. »Das könnte höchst unliebsame Rückwirkungen auf den Status Ihrer legitimen Ehe mit der durchlauchten Madame Christiane Eberhardine haben, sie vielleicht sogar desavouieren.« August frohlockte innerlich. Seine Ehefrau interessierte ihn nicht. Ihn schüttelte es immer noch, wenn er daran zurückdachte, wie er sich mit diesem gottergebenen Fleischberg darum bemüht hatte, die Thronfolge sicherzustellen. Der Prinz war inzwischen zehn, seine Mutter verfügte über den gebührenden Hofstaat, damit war die Sache geregelt. Was ihn antrieb, war, Charlotte zu kontrollieren, solange sie sich außerhalb seiner Reichweite befand. In seiner Phantasie quälten ihn Bilder mit ihrer Untreue. Immer wieder redete er sich ein, daß seine Eifersucht auch ein großartiger Beweis seiner Liebe sei. Und eine Zeitlang fühlte er sich dann auch besser. Aber es hielt nicht an. Er wollte sich Charlotte bewahren – wie die polnische Krone, die er vorsorglich während des Krieges im Grünen Gewölbe eingelagert hatte. Trophäen des Sieges gab man nicht aus der Hand. Er sah zu Flemming, der immer noch abwartend vor ihm stand. Wie 398
sollte er ihm erklären, was er wollte, ohne sein Gesicht zu verlieren. »Ich bin ratlos, Flemming, wie soll ich verhindern, daß Madame von Pillnitz in Dresden Unruhe stiftet.« Verblüfft begriff Flemming endlich, daß es dem Kurfürsten gar nicht um Politik ging, denn das hätte ihm keine zwei Sekunden Kopfzerbrechen bereitet. Statt dessen wollte der Kurfürst seine Mätresse kaltstellen und übertrug ihm die Aufgabe, einen Plan zu erfinden. Am besten garniert mit einer hübschen Ausrede, mit der er sein Gewissen beruhigen konnte, denn es war Eifersucht, die ihn quälte. Dem mußte er Rechnung tragen. »Allergnädigste Majestät, das angenehmste wäre doch, die Gräfin im Schloß Pillnitz zu belassen, einem überaus reizvollen Ort, auf das engste mit der Erinnerung an Sie verknüpft, Majestät. Da wird es doch kaum ins Gewicht fallen, wenn Wachmannschaften um die Parkmauer patrouillieren. Ihre Gedanken und Träume können sich auf das vortrefflichste auf Sie konzentrieren, Majestät.« »Sie wird mich dafür umbringen, Flemming.« »In diesem Fall rate ich, ihr zuvorzukommen«, bemerkte Flemming leichthin, als wäre es ein Spaß, und lachte dazu. Aber August lachte nicht mit. »Ich werde mir Ihren Vorschlag überlegen, Flemming. Wenn ich wieder König von Polen bin, wird die Gräfin vielleicht anderen Sinnes.« Er nickte Flemming zu, zum Zeichen, daß er gehen konnte. »Wie Sie befehlen, Majestät.« Flemming war enttäuscht, aber ein besserer Vorschlag war ihm nicht eingefallen. Er verneigte sich und verließ den Kurfürsten. August war wieder allein. Und zum hundertsten Mal verfluchte er sich. Wie hatte es geschehen können, daß er sich derartig von einer Frau abhängig machte, wie der inzwischen alte Ludwig XIV. in Frankreich. Geschworen hatte er sich, so etwas nie zuzulassen. Sie ruinierte sein Bild, seine Würde, alles, was er sich aufgebaut hatte. Er klingelte nach einem Diener. »Man möge bitte Flemming zurückholen.«
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Seit dem Tod von Fürstenberg und dem Abschied von Charlotte fühlte Böttger sich elend. Er schlug die Ratschläge Dr. Bartholomäis in den Wind, trank unmäßig und schloß sich nächtelang in dem kleinen Labor neben der Pulverkammer ein. Verbissen suchte er sein Glück mit neuen Transmutationsversuchen. Doch die giftigen Dämpfe untergruben seine Gesundheit schneller als früher, verursachten Fieberanfälle mit Schüttelfrost. Böttger war tagelang ans Bett gefesselt. In diesem Zustand besuchte ihn Ohain und überbrachte die Nachricht, daß man die Mätresse des Königs auf ihrem Schloß Pillnitz festgesetzt hatte. Benommen dachte Böttger an den Besuch Charlottes und fühlte sich mitverantwortlich. Lakaien, Kutscher, Diener, Gardisten, es gab genug Leute, die geschwatzt haben konnten. Voller Schuldgefühle bat er Ohain, nach Pillnitz zu fahren, um Näheres zu erfahren. Der Bergrat kehrte unverrichteter Dinge zurück. Man hatte ihn gar nicht erst zur Gräfin Pillnitz vorgelassen, und aus dem Obersten der Wachmannschaft war nichts herauszubringen gewesen. Die Leute in Dresden schienen dagegen bestens informiert. Man sprach von politischen Motiven, der antipolnischen Haltung Charlottes. Es hieß, nur Leute, die Flemming nahestanden, würde Zutritt zur Gräfin gewährt. Böttger glaubte nicht daran. Er hatte in Charlottes Augen gesehen, daß sie von der Liebe des Königs fest überzeugt war. Eifersucht erschien Böttger das weitaus wahrscheinlichere Motiv. In seiner Niedergeschlagenheit schlug Böttger vor, dem König das Porzellan zu verweigern. »Oder wäre es noch besser, alles zu zertrümmern?« »Dann baumeln Sie, Johann«, entgegnete Ohain sachlich. »Der König von Preußen hat in Berlin gerade seinen Goldmacher, den Herrn Caetano, gehängt. August wird sich ein Vergnügen daraus machen, seinem Beispiel zu folgen.« »Caetano war ein Scharlatan.« »Mag sein, aber das spielt keine Rolle.« »Na und? Dann habe ich endlich meine Ruhe.« »Sie würden die Gräfin damit erst recht kompromittieren. Und dabei war doch gar nichts …« Böttger warf Ohain einen kurzen Blick zu, entschied sich dann aber 400
dafür, keinen Kommentar dazu abzugeben. Er richtete sich im Bett auf, drehte sich zum Nachttisch und nippte an seinem Weinglas. »Ich kann doch nicht einfach hier herumliegen und nichts tun.« »Warten Sie doch erst einmal ab. Vielleicht ist das alles nur vorübergehend. Jeder weiß, daß der König die Gräfin vergöttert … Pardon, Johann.« Ohain hob vorsorglich abwehrend die Hand. »Aber es geht doch darum, ob der König diese, diese …« »… Gefangenschaft, Pabst«, half Böttger aus. »Gefangenschaft nennt man das. Sie glauben, der König hebt sie wieder auf?« »Alles andere wäre unlogisch.« »Ach, Pabst. Die Logik ist nur dürftig im Menschen verankert.« Wenige Tage später saß Böttger an einer der Schießscharten. Seine Rechte spielte nachlässig mit einem Klumpen Porzellanmasse, während er nach draußen auf die Elbauen schaute. Der Dezember war milde in diesem Jahr. Noch immer wuschen vereinzelte Frauen Wäsche am Elbufer gegenüber. Bisweilen richteten sie sich auf, stemmten die Hände in den Rücken, um sich von der gebückten Haltung zu erholen. Böttger fühlte sich an Wittenberg erinnert, als er voller Zuversicht einem Mädchen am Fluß fröhlich zugelächelt und noch an seine goldene Zukunft geglaubt hatte. Sein Blick schweifte zurück in die Kasematte. »Noch ein Glas Wein, bitte«, rief er in die Tiefe des Raumes. Einer der jungen Arbeiter sprang zum Weinfäßchen und füllte ihm ein Glas ab. »Kann ich sonst noch irgend etwas für Sie tun, Monsieur le Baron?« »Danke, nein.« Böttger nahm einen Schluck. Gedankenverloren knetete seine Rechte die Porzellanmasse weiter. Immer hatte er von Ruhm geträumt. Nun war er in greifbare Nähe gerückt. Mit der Präsentation seines Porzellans auf der Neujahrsmesse in Leipzig würde sich sein Traum erfüllen. Sachsen würde reich werden. Ehrungen waren ihm sicher. Kohler winkte ihm vom Durchgang. »Monsieur le Baron, könnten Sie mal in den Brennraum kommen?« Böttger wollte erst verneinen, nickte dann aber doch und stand auf. Er überlegte, daß er für einen kurzen Besuch im Brennraum auf die mühselig anzuziehenden Lap401
penschuhe verzichten konnte. Der Zustand würde ohnehin nicht mehr lange anhalten. Er hatte vorgeschlagen, die Manufaktur nach Meißen zu verlagern, wo es auf dem Hof der Albrechtsburg genügend Platz für große Öfen gab. Im Brennraum schlug Kohler sofort die Kammerklappe auf. Durch den Wein machte Böttger der Schwall heißer Luft mehr zu schaffen als sonst. Kohler wies auf einen glühenden Kegel, der vorn im Brennraum stand. Blinzelnd kniff Böttger die Augen zusammen, um ihn in der weißen Gluthölle des Brennraums zu erkennen. »Der Kegel ist aus hart geschmiedetem Eisen, Monsieur le Baron. Erst wenn der zu schmelzen anfängt, haben wir die richtige Temperatur. Ich hab's jetzt ein paarmal ausprobiert«, verkündete der Geselle stolz. Böttger nickte, so enthusiastisch er es vermochte, und bedeutete Kohler, die Klappe zu schließen. »Eine schöne Idee, Kohler. Danke.« Die Hitze hatte den Wein aus Böttgers Kopf vertrieben. Er schlug den Weg zum Labor ein, um an der Transmutation weiterzuarbeiten. Er mußte es schaffen. Er war erst achtundzwanzig und hatte noch Zeit genug. Und irgendwann würde der König Charlotte gehen lassen. Als er die Tür zum Labor öffnen wollte, bemerkte er, daß er noch immer die Porzellanmasse in der Hand hielt. Eine Weile schaute er gedankenverloren auf den Klumpen, drückte und zupfte an ihm herum. Er wollte Charlotte ein Zeichen seiner Liebe senden. Entschlossen drehte Böttger sich um und entfernte sich zur Werkstatt.
*** Dick eingemummt gegen die Kälte saß Charlotte traumverloren auf ihrem Lieblingsplatz auf der unteren Stufe der großen Freitreppe zur Elbe. Man schrieb den 26. Dezember 1709. Sie wußte, daß August zwei Tage zuvor zu Weihnachten nach Dresden gekommen war. Gewiß würde er kommen, um sie zu sehen. Sie konnte einfach nicht glauben, daß er sie auf immer verstieß und wegschloß. Es war früher Nachmittag, ein kräftiger Südwestwind spielte mit 402
ihren Locken. Der hellblaue Himmel schien am Horizont mit dem Dunst über der Landschaft zu verschmelzen, die blasse Sonne näherte sich schon den Gipfeln der gegenüberliegenden Hügelkette. Noch eine Stunde, dann würde sie in der Elbe versinken. Es war relativ mild, und Charlotte öffnete ihren Umhang ein wenig, um mehr vom Wind zu spüren, um überhaupt etwas zu spüren in der Einsamkeit, in die August sie geworfen hatte. Nicht einmal geschrieben hatte er ihr. Wäre es wegen Polen und der Krone gewesen, hätte er es ihr offen sagen können. Ihre Schönheit mußte daran schuld sein. Schönberg hatte sie niemandem gegönnt. Es half auch wenig, Eifersucht lächerlich zu finden. Eifersucht war ein Gift, das ihr Leben zerstörte. Charlotte ließ ihren Blick über das Elbtal schweifen. Von der Oberelbe näherte sich ein schmaler Kahn, der an seinem kurzen Mast ein dreieckiges Segel an einer Gaffel hochgezogen hatte. Von den Hügeln gegenüber hatte sie vor einer Weile einen größeren Trupp Reiter kommen sehen, offensichtlich Jäger. Doch keine Fanfare hatte angekündigt, wer dort jagte. Jetzt kamen die ersten Reiter gegenüber aus dem Wald, und sie bemerkte einen besonders kräftigen, großen Reiter, der einen prachtvollen Rock trug. Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Der prächtige Reiter war unverkennbar August. Ihr Herz krampfte sich zusammen.
August starrte hinüber zu der einsamen Gestalt, die dicht über den Fluten des Stroms auf der Freitreppe vor dem Schloß saß. Näher heranreiten wollte er nicht. Da stand die Gestalt auf, winkte zu ihm herüber und breitete die Arme aus. Augusts Brust hob und senkte sich in tiefen Atemzügen, Wehmut stieg in ihm auf. Er kämpfte mit sich. Aber er wollte nicht als Kurfürst von Sachsen enden. Er gab dem Pferd die Sporen, um den schmerzlichen Anblick loszuwerden. Charlotte würde es verstehen. Sie 403
mußte ihm dieses Opfer bringen. Sie sollte immer zu ihm aufsehen. Er würde schon dafür sorgen, daß niemand ihre Würde antastete. Mit wilder Entschlossenheit trieb August das Pferd aus ihrem Blickfeld.
Charlotte sah ihm nach. Das war der Abschied. Mit furchtbarer Klarheit wurde ihr bewußt, daß August sie nicht hergeben wollte. Alles andere war eine Illusion. Sie sank auf die Treppe zurück. Das Plätschern der Bugwelle des Kahns kam näher, aber sie drehte sich nicht nach ihm um. Dann schabte das Boot an der Freitreppe entlang, und sie sah einen Mann, der ihr ein Päckchen zuwarf, das sie reflexartig auffing. Vor dem hellen Segel war das Gesicht des Mannes nicht zu erkennen, und dann war der Segler auch schon zu weit weg, glitt der untergehenden Sonne entgegen. Charlotte wandte sich dem Päckchen zu und riß mit zitternden Fingern die Verpackung auf. Ein blaues Seidentuch kam zum Vorschein, das sie hastig entfaltete. Und dann hielt sie eine weiße Rose aus Porzellan in der Hand. Liebevoll strich sie über die Blätter, drehte sie im Licht der tiefstehenden Sonne auf der flachen Hand. Die Blätter schimmerten nicht weiß, sondern blaß golden in der Abendsonne. Eine ganze Weile war Charlotte gefangen von dem Anblick, dann drückte sie die Rose an ihr Herz. Eine Träne fiel auf eins der Blätter. Sie hob die Rose an, um das Spiel der Sonnenstrahlen in der Träne zu sehen, und entdeckte auf der Unterseite zwei goldene, gekreuzte Schwerter mit einem Punkt dazwischen. Johanns Gesicht zwischen den blitzenden Bajonetten. Nie würde er aufgeben. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen.
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Epilog
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a Grande Exposition de la première porcelaine européenne de la Saxe à Leipzig« – so kündigte Seine Königliche Majestät August II. zum 1. Januar 1710 für die Leipziger Neujahrsmesse Böttgers Porzellan an. Kurfürsten und Bischöfe mit ihrem Hofstaat im Schlepptau zog es zur Messe, niemand wollte sich diese Sensation entgehen lassen. Leipzig platzte aus allen Nähten, und vor den Toren der Stadt entstand ein Zeltlager. Die Leipziger strömten vor die Tore, um sich diese einmalige Ansammlung von Prunkzelten anzusehen, während die Besucher in die Stadt pilgerten und sich um das Quartier des Königs von Polen und Kurfürsten von Sachsen drängten, um das Wunder des ersten europäischen Porzellans zu bestaunen. August war in seinem Element. Unter den ranghöchsten Fürsten, für die der Kurfürst eine Prunktafel mit Porzellangeschirr aufbauen ließ, befand sich auch sein Vetter Friedrich I., König von Preußen. Aus Bosheit setzte er den protestantischen Katholikenhasser Friedrich zwischen sich und den strengen Kardinal und Erzbischof von Köln. Als alle Platz genommen hatten, verkündete August: »Jedem an dieser Tafel ist der kostbare Teller zugedacht, von dem er gleich speisen wird. Ich hoffe sehr, daß mein sächsisches Porzellan bei Ihnen Anklang findet, Messieurs.« Nach dem Applaus für August griffen alle Gäste ausnahmslos zu ihren Tellern und begutachteten sie. Friedrich hatte August einen Teller mit prächtiger Goldumrandung zugedacht, und er drehte und wendete den Teller in der Hand – als einziger ziemlich unglücklich. »Königliche Majestät«, wandte sich da August scheinbar besorgt an seinen Nachbarn. »Ist irgend etwas mit dem Teller nicht in Ordnung? Soll ich einen anderen bringen lassen?« 405
Friedrich sah scheel zu August auf. »Nein, ist schon gut. Aber was für ein Jammer, daß dieser Apothekerbursche nicht hat in Berlin bleiben wollen. Da hätte er mir doch auch so etwas Schönes machen können.« »Da müssen Sie ihn schon selber fragen, werter Vetter. Bei mir jedenfalls fühlt er sich pudelwohl.« »Da habe ich aber anderes gehört. Man sagt, Sie hielten ihn gefangen – wie neuerdings auch Ihre Mätresse. Ist das Gefangenhalten eine neue Marotte von Ihnen?« August erbleichte. Ohne daß er es gewahr wurde, krampfte sich seine Rechte um sein Weinglas. Es knackte kurz, Glassplitter regneten auf den Tisch. Aus seinem Zeigefinger blutete es, und er knurrte: »Wenigstens sitze ich keinen Betrügern auf und muß sie dann hängen.« Der Bischof mischte sich ein. »Majestäten, dies ist ein völlig unwürdiges Gespräch, das die Gaben des Herrn beleidigt. Ich möchte Sie bitten …« Doch der preußische König ignorierte den Bischof. »Und, hat Ihnen denn dieser Böttger nun Gold gemacht?« »Was würden Sie für so einen Teller zahlen? Einhundert Taler, zweihundert?« »Also nicht!« frohlockte Friedrich. »Warum hängen Sie ihn dann nicht?« August blickte über die Tafel. »Sehen Sie sich die Diskussionen über mein Porzellan an. Meißen wird meine Goldgrube. Da brauche ich den ›Apothekerburschen‹ noch.«
*** Immer weiter auf der Suche nach dem Arkanum für künstliches Gold, starb Johann Friedrich Böttger durch Labordämpfe vergiftet mit 37 Jahren. Meißen stieg zur berühmtesten Porzellanmanufaktur der Welt auf, und August der Starke machte Dresden zur prächtigsten Stadt des Barock. Sein Traum, Kaiser zu werden, erfüllte sich nicht. 406
Nachwort und Danksagung Das abenteuerliche Leben des Alchemisten Johann Friedrich Böttger (1682–1719) hat mich zu dem Roman ›Der Goldmacher‹ inspiriert. Vor allem sein Kampf um Freiheit und Anerkennung, seine Besessenheit in der Alchemie und sein Forscherdrang – geprägt von der Aufbruchsstimmung zu Beginn des 18. Jahrhunderts – faszinierten mich. In Böttgers barocker Großmäuligkeit wie in seinem Gefangensein spiegelt sich der mühselige Prozeß der beginnenden Aufklärung, die Schwierigkeit, religiös geprägte Ansichten und Vorurteile abzuwerfen, um den Weg frei zu machen für naturwissenschaftliche Erkenntnisse und rationales Denken. Dabei habe ich mir die künstlerische Freiheit genommen, historische Figuren zu verändern oder wegzulassen, ebenso verfuhr ich mit historisch belegten Daten, auf denen der Roman gleichwohl fußt.
Der Aufstieg und Fall von Anna Constanze von Brockdorf, der späteren Reichsgräfin Cosel und Mätresse des Kurfürst-Königs August des Starken, hat mich zu der Figur der Charlotte angeregt. ›Die Cosel‹, wie sie von den Sachsen heute noch liebevoll genannt wird, kannte Böttger tatsächlich und traf ihn mehrmals – u.a. bei Böttgers Vorführung seines ersten Porzellanstücks vor August dem Starken. Im äußerst kargen Nachlaß der Cosel in ihrem kleinen Zimmer auf der Burg Stolpen, wo sie ihre letzten rund fünfzig Lebensjahre in Gefangenschaft verbrachte, fand sich neben einer kleinen Tasse aus Böttger-Porzellan auch eine gepreßte Orangenblüte aus dessen Dresdner Orangerie.
Bei meinen Recherchen zum Roman fand ich in Sachsen wertvolle Unterstützung beim Direktor der Meissner Porzellanmanufaktur, Dr. Hannes Walter, der mich in die Frühzeit der Manufaktur einführte und mir Anekdoten über Böttger erzählte. Bedanken möchte ich mich auch bei Professor Eberhard Wächtler, der sich viel Zeit nahm, um mich in den Zusammenhang von Bergbau, Alchemie und Porzellan einzuführen. Informationen über die gesellschaftlichen Umstände in Sachsen zur Zeit des Barocks, über das Hofzeremoniell und die Kunst vermittelte mir Professor Joachim Menzhausen. Zahlreiche Bücher verschafften mir Einblick in die Quellenlage. Hervorheben möchte ich die Biographie ›Johann Friedrich Böttger‹ von Klaus Hoffmann (Berlin, 1985) und Gabriele Hoffmanns akribischer Biographie ›Gräfin Cosel, die Geschichte einer Mätresse‹ (Bergisch Gladbach, 1984). Die Autoren Rudolf Werner Soukup und Helmut Mayer mit ihrer Untersuchung ›Alchemistisches Gold, Paracelsistische Pharmaka‹ (Wien, 1997) brachten für mich Licht in das Dunkel alchemistischer Theorie und Praxis. Grundlagenwissen zur Beschreibung der Porzellanerfindung schließlich erfuhr ich u.a. aus ›Johann Friedrich Böttger zu Ehren – Meißen, Frühzeit und Gegenwart‹ (Staatliche Kunstsammlungen Dresden, 1982), dort insbesondere aus dem Artikel von Ingelore Menzhausen.
Zum Schluß möchte ich mich noch ganz besonders bei meiner Frau Susanne Dembsky bedanken, ohne deren Ermutigung ich diesen Roman nie angefangen hätte und die mich während des Schreibens mit ihrer Kritik unterstützte.