LOTHAR HEINZ
Der grünen Hölle entronnen
Verlag Neues Leben Berlin 1954
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LOTHAR HEINZ
Der grünen Hölle entronnen
Verlag Neues Leben Berlin 1954
Alle Rechte vorbehalten Lizenz Nr 303 (305/99/54) Umschlagzeichnung Fritz Ahlersv Prieros (Mark’ Gestaltung und Typographie Kollektiv Neues Leben Druck: Karl-Marx-Werk Pößneek. V 15 30
Wie tastende Polypenarme glitten die Lichtkegel der Scheinwerfer über die Plätze und Baracken des Ausbildungslagers in Sidi bei Abbes. Es mochte gegen ein Uhr sein. Aus dem Offizierskasino schallten amerikanische Tanzmusik und das Grölen und Gelächter der zechenden Offiziere. In der Baracke CP 7 hörte man nichts davon. Nur alle Viertelstunde tönten die Schritte der wachhabenden Lagerstreife durch die dünnen Holzwände. Der Legionär Werner Scholz lag auf seiner Pritsche und lauschte auf die verhallenden Schritte der Streife. Für Sekunden warf der Scheinwerfer sein grelles Licht in den Raum. Man wachte gut über die Männer der „Legion etrangere“. Werners Kameraden ruhten nach den Strapazen des Tages in tiefem Schlaf. Die Tage im Ausbildungslager Sidi bei Abbes waren lang und hart. Man nannte es treffend: das „Tor zur Unterwelt“. In Werners Ohr drangen die Atemzüge der schlafenden Legionäre. „Nein! Nein! Nicht schlagen…“ Das war der Lünebur-
ger, er phantasierte wieder. Seine Stimme ging in ein Röcheln über. „… Du elendes Schwein, dann laß mich doch nach Hause…“ „Halt dei Goschen, jetzt wird’s g’schlafen!“ Das war Sepp, ein Münchner, auch so ein blutjunges Kerlchen. In seinen Papieren stand zweiundzwanzig Jahre. Wie alt mochte er in Wirklichkeit sein? Vielleicht achtzehn, höchstens neunzehn Jahre. Jetzt war es wieder still im Raum. Auch die Ratten raschelten nicht mehr. Die Stimme der Kameraden hatte sie für kurze Zeit in ihre Löcher gescheucht. Wenn er nur schlafen könnte. Werner drehte sich vorsichtig auf die andere Seite. Er biß die Zähne zusammen, um nicht aufzuschreien. Die Schultern schmerzten ihn unerträglich. Das verdankte er dem Sergeanten Gandon, diesem Leuteschinder. Er war ständig auf der Suche nach Gründen, um die Legionäre bestrafen zu können. Gandon fand seine Befriedigung darin, sie in der schlimmsten Mittagshitze über den Lagerplatz zu jagen und dabei immer neue Schikanen und Quälereien zu ersinnen. So mußte Werner mit 25 Kilo Gepäck straf exerzieren. Die Tragegurte des Tornisters waren durch Telephondraht ersetzt und schnitten tief in das Fleisch ein. Besonderes Vergnügen bereitete es dem Sergeanten Gandon, ihn in Kniebeuge hüpfen zu lassen. Bei jedem Sprung verursachten die tief in Schultern und Achselhöhlen einschneidenden Drähte qualvolle Schmerzen. Nach etwa vier Stunden brach er ohnmächtig zusammen. Kameraden hatten ihn in die Baracke getragen und die blutenden Schultern verbunden. Die ganze Schinderei mußte er nur deshalb ertragen, weil er für lumpige
800 Francs an einen Eingeborenen seine Taschenuhr verkauft hatte, um seine miserable Löhnung zu verbessern. Gandon sah darin eine finanzielle Vorbereitung zur Flucht. Dabei war eine Flucht aus Sidi bei Abbes glatter Selbstmord. Die meisten Legionäre, die es versuchten, wurden bald wieder blutiggeschlagen ins Lager zurückgebracht. Manchen erschoß man auch auf der „Flucht“. Man war nicht kleinlich im Umgang mit Menschenleben und schon gar nicht mit dem der Legionäre. So sah sie aus, die nackte Wirklichkeit in den marokkanischen Ausbildungslagern der französischen Fremdenlegion. Nichts war von den Vorstellungen und Hoffnungen eines „schönen Soldatenlebens unter tropischem Himmel“ geblieben, nur Flüche und Enttäuschungen. Legionär Werner Scholz, zweiundzwanzig Jahre, Ausbildungslager Sidi bel Abbes (Marokko), Baracke CP 7. Das war er, der Werner, dem die Verwandten eine gute Laufbahn prophezeit hatten. Er hatte doch die Mittelschule besucht und Dentist gelernt. Ja, und dann wurde er arbeitslos. – Danach kam der Krach mit den Eltern und schließlich traf er den „guten Kameraden“ – in Gedanken sah er ihn noch vor sich sitzen: „Noch zwei Helle, Herr Ober, und ‘nen Doppelten für den jungen Freund hier.“ Und Werner schüttete ihm sein Herz aus: Keine Arbeit, kein Geld, den Eltern auf der Tasche liegen – er hatte eben die Schnauze richtig voll. Das sei doch kein Problem hatte der „Kamerad“ gesagt. „Hier in Deutschland ist ja sowieso nichts mehr los. Du mußt ins Ausland gehen, mein Junge!“
„Wohin?“ „Na, da gibt’s viele Möglichkeiten, vielleicht nach Frankreich. Ober, noch zwei Helle!“ Werner trank und hörte zu. Ja, das schien ihm richtig. Zwei Jahre Fremdenlegion – Kleinigkeit! Haufen Geld, fremde Länder sehen, dann die französische Staatsbürgerschaft erwerben und ‘ne Praxis aufmachen. „Weißt du, in Frankreich nimmt man das nicht so genau. Du hast doch schon .ein bißchen Ahnung. Allez hopp geht das, und du bist Arzt. Ja, ja, wirst sehen. Na, denn Prost! Ober! bringen Sie…“ Am nächsten Tag schon fuhr er per Freifahrtschein von Düsseldorf nach Landau zur französischen Panzerkaserne. Als er, zusammen mit vielen anderen jungen Menschen, den in Französisch abgefaßten Dienstvertrag unterschrieb, ahnte er noch nicht, daß er sich für fünf Jahre der „Grande Nation“ verpflichtet hatte. Man ließ sie in dem Glauben, die Dienstzeit währe lediglich zwei Jahre. Der Abtransport in Militäromnibussen nach Frankreich erfolgte sehr rasch. Sie hatten Anweisung, sich nicht als Deutsche auszugeben, damit es an der Grenze mit dem deutschen Zoll keine Schwierigkeiten gäbe. Dann ging es nach Marseille. Nach der Einkleidung und einer kurzen Ausbildung wurden sie nach Marokko eingeschifft. Fünf Monate waren vergangen, angefüllt mit Strapazen, Schikanen und bitteren Enttäuschungen. Das alles ließ er noch einmal an sich vorüberziehen. Schändlich hatte man sie alle belogen und betrogen. Der Werber kassierte seine Kopfprämie, Frankreich hatte einen Kolonialsoldaten mehr, und er, der Düsseldorfer Dentist Werner Scholz, war Legionär Scholz, eine
Nummer, der jeder hergelaufene Sergeant einen Tritt geben konnte. Wie mochte es den Eltern gehen? Ob sie wußten, wo er war? Heimlich hatte er sich von zu Haus davongestohlen. Auf seine Briefe kam keine Antwort. Die Postkontrolle der Legion war streng. Vielleicht wanderten seine Briefe alle in den Papierkorb. Er mußte wohl trotz seiner Schmerzen in den Schultern doch noch eingeschlafen sein, denn am Morgen rüttelten ihn die Kameraden aus dem Schlaf. Der französische Zehntausendtonnenfrachter „Madelaine“ stampfte mit großer Fahrt voraus ostwärts. Tausend Legionäre, leichte Artillerie, Waffen und Munition für den Kolonialkrieg waren seine Ladung. Längst war die marokkanische Küste am Horizont verschwunden, aber Werner Scholz stand noch immer an der Reling und blickte starr auf den Punkt, an dem er im leichten Dunst die letzten Hügelketten des schwarzen Kontinents aus den Augen verloren hatte. Es war bald Mittag, die Hitze wurde immer unerträglicher. In einer schattigen Ecke ließ sich Werner auf einer Rolle Tauwerk nieder. Durch das rhythmische Stampfen der Maschinen vibrierte der ganze Schiffskörper, und das sollte nun für Wochen die ständige Begleitmusik sein. „Hast du Feuer, Kamerad?“ Werner schreckte aus seinen Gedanken und griff mechanisch nach seinem Feuerzeug. „Wenn’s brennt, ja.“ „Danke.“ Der Fremde tat behaglich einen kräftigen Pfeifenzug und setzte sich neben Werner auf die Taurolle. „Aus Oran?“, begann er die Unterhaltung.
„Nein, Sidi bei Abbes.“ „Schönes Sanatorium, was?“ Er lachte wie über einen gelungenen Witz. „Ich war in Moknes, fünf Monate. Du bist Kölner, stimmt’s?“ „Nein, Düsseldorfer.“ „Also doch von da unten, aus der Gegend jedenfalls. Ich bin in Bremen zu Hause. Es ist schon ein paar Jahre her, seit ich von da weg bin. Zuletzt war ich im Oldenburgischen beim Bauern.“ Er schob sein Käppi blanc ins Genick und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. „Verfluchte Affenhitze.“ Werner fand Gefallen an seinem neuen Bekannten. Er schätzte ihn auf vierundzwanzig. Das offene, freundliche Gesicht mit der immer wieder keck in die Stirn fallenden Haarsträhne flößte ihm Sympathie ein. „Weißt du, wo es hingeht?“ forschte Werner nach dem Reiseziel. Der Bremer zuckte mit den Schultern. „He, Schwarzer!“ rief er einen gerade vorübereilenden Negerheizer an und winkte ihn mit seiner Pfeife heran. „Wohin fahren wir?“ Der Schwarze blickte sich ängstlich um und flüsterte geheimnisvoll: „Indochina.“ Und damit war er auch schon aus dem Blickfeld der beiden verschwunden, denn ein Schiffsoffizier bog gerade um die Ecke. Der Bremer klopfte seine Pfeife am Stiefelabsatz aus und fragte ganz unvermittelt: „Wie heißt du eigentlich, Kamerad?“ „Werner Scholz.“ „Gut, Werner. Ich heiße Karl, Karl Leonhardt. Hör mal, hast du noch Kameraden auf dem Schiff, ich meine so richtige Kameraden, gute Freunde?“
„Nein, ich bin mit keinem richtig warm geworden. Nur mit einem, aber der mußte in Sidi bel Abbes im Lazarett bleiben.“ Karl Leonhardt schien befriedigt. „Also paß auf, was uns der Schwarze eben erzählt hat, bleibt unter uns.“ Werner nickte zustimmend. „Ich habe noch ‘nen prima Kumpel hier, Kuddel, ‘n Hamburger. Wenn du Lust hat, treffen wir uns heute abend hier zu einem kleinen Snagg. Mir knurrt nämlich jetzt der Magen. Mal sehen, wie weit es mit dem Essen ist.“ Werner war froh, einen neuen Kameraden auf dem Schiff gefunden zu haben und willigte freudig ein. Während die Tropennacht hereinbrach, fanden sich die drei, wie sie es vereinbart hatten, in ihrer Ecke auf den Taurollen ein. Die meisten Legionäre vertrieben sich an Bord die Zeit mit Glücks- und Kartenspielen oder lagen schon in ihren Hängematten und schliefen. Die drei waren ungestört und berieten ihre Lage. Jetzt, nachdem sie durch den Negerheizer das Ziel der „Madelaine“ erfahren hatten, bereuten sie ihren verhängnisvollen Schritt, in die Fremdenlegion gegangen zu sein, noch mehr. Aber davon wurde natürlich nichts besser. Es gab nur eine Möglichkeit, dem furchtbaren Dschungelkrieg in der grünen Hölle zu entrinnen: die Flucht! Karl und Kuddel hatten die Lage bereits am Nachmittag besprochen und weihten nun Werner in ihre Pläne ein. Sie wollten versuchen, auf der Fahrt durch den Suezkanal das Schiff zu verlassen und schwimmend zu fliehen. Das war nach ihrer Meinung die günstigste Gelegenheit. In den Häfen, die von der „Madelaine“ noch angelaufen würden, rechneten sie mit einer strengen
Bewachung des Schiffes durch die französischen Offiziere. Auf hoher See aber schien ihnen ein Fluchtversuch aussichtslos. Werner war mit dem Vorschlag einverstanden. Allein hätte er nicht den Mut zur Flucht aufgebracht, aber mit den beiden Kameraden gemeinsam war er bereit, diesen Schritt zu riskieren. Sie beschlossen, von ihrer Verpflegung etwas aufzusparen, um sich eine eiserne Ration für die ersten Tage nach der Flucht zu schaffen. Als einzige Waffe sollte jeder nur sein Messer umschnallen. Karl übernahm den Auftrag, ein langes Tau zu besorgen und an Bord zu verstecken. Daran wollten sie sich hinablassen, damit sie sich beim Sprung von Bord nicht verrieten. Einige Stunden später: Die Legionäre schliefen längst. In den Decks war eine stickige Luft. Werner lag immer noch wach in seiner Hängematte. Die Erregung über ihren abenteuerlichen Fluchtplan wühlte noch in ihm. Ob er es schaffen würde, das Kanalufer zu erreichen? Wie breit mochte wohl der Suezkanal sein? Im Erdkundeunterricht in der Schule hatte er nur von dessen Existenz erfahren. Das war alles. Wie er aber beschaffen war, darüber wußte er nichts. Und wenn man sie nun schon vorher entdecken würde? Vielleicht passierte das Schiff auch am Tage den Kanal, dann war sowieso alles Essig. „Man muß eben beide Daumen drücken und etwas Schwein haben“, hatte Kuddel gesagt.
Port Said, das am nördlichen Kanalende liegt, passierte die „Madelaine“ kurz nach Einbruch der Nacht. Das Lichtermeer der Stadt war bereits achteraus versunken. Verschiedene Male glitt backbord ein hell erleuchteter Passagierdampfer vorüber, und gedämpfte Tanzmusik vermischte sich mit dem Geräusch der monoton stampfenden Schiffsmaschine. Wohl keiner der Passagiere auf den Luxusdampfern ahnte, daß ganz in der Nähe tausend Legionäre einem ungewissen Schicksal in der grünen Hölle Indochinas entgegenfuhren. Werner Scholz fieberte in seiner Hängematte dem vereinbarten Zeitpunkt der Flucht entgegen. Etwa alle zehn Minuten blickte er auf die Armbanduhr. Noch zwei Stunden. Ihm schien es, als sei die Zeit stehengeblieben. Alles war vorbereitet. Er tastete zum soundsovielten Male nach dem Proviantsäckchen und seinem Dolch. Nur jetzt nicht einschlafen. Aber dazu war er viel zu aufgeregt. Von seiner Hängematte aus konnte er durch ein Bullauge steuerbords auf die Wellen schauen. Sonst war nichts zu erkennen. Die Nacht war ziemlich dunkel. Um so besser. Den Verlauf des Kanalufers verrieten nur hin und wieder Lichtzeichen an Land. Weit schienen sie nicht entfernt zu sein. Somit war das Schwimmen kein Problem. Die „Madelaine“ fuhr mit halber Maschinenkraft durch den Kanal. Man würde also in nur geringen Abständen das Kanalufer erreichen und sich auch in der Finsternis schnell wieder gefunden haben. Die Kanalzone war von Tommys streng bewacht. Aber immer noch besser, hier den Briten in die Hände zu fallen, als in Indochina zu verrecken. Wenn alles klappte, hofften sie, am nächsten
Mittag schon in Port Said zu sein. Langsam füllte sich der Raum mit Legionären. Einige schliefen bereits. Werner sah mit Befriedigung, daß die Hängematten allmählich alle belegt wurden. Um so weniger Betrieb würde oben an Deck sein. Endlich war es soweit. Werner kletterte aus seiner Hängematte heraus und tastete sich durch den nur spärlich beleuchteten Raum, vorbei an der Kombüse und am Maschinenraum und dann die Stiege hoch an Deck. Am vereinbarten Treffpunkt stand noch keiner der Freunde. Zehn Sehritte weiter lehnte eine Gestalt an der Reling, aber das war weder Karl noch Kuddel. Vor Aufregung zitterten Werners Hände, als er sich eine Zigarette anbrannte. „Na, Kamerad, noch ‘ne Zigarette rauchen vor dem Schlafengehen?“ Karl Leonhardt lehnte sich neben Werner an die Reling und zündete sich seine Pfeife an. „Kuddel kommt gleich. Wer ist denn das da vorne?“ fragte er flüsternd. „Keine Ahnung, wird hoffentlich bald abhauen.“ Sie hörten Schritte hinter sich. Kurt Johannsen trat zu ihnen. „Alles klar, Jungs?“ Er war ganz ruhig und beherrscht, während Werner und Karl sehr aufgeregt zu sein schienen. „Ich habe vorhin schon ‘ne Weile aufgepaßt“, flüsterte Karl. „Die Streife kommt alle zehn Minuten hier vorbei. Die Brüder sind ganz pünktlich, kann also nichts passieren… Da kommen sie.“ Ein Doppelposten schritt langsam auf die Gruppe zu. „In zehn. Minuten hat alles unter Deck zu sein! Verstanden?“ „In Ordnung, in zehn Minuten nicht mehr auf Deck
sein“, antwortete Kuddel laut. „Unter Deck sind wir in zehn Minuten auch nicht mehr“, setzte er leise lachend hinzu. Die Streife entfernte sich auf ihrem Rundgang wieder. Auch die Gestalt an der Reling war verschwunden. „Also los, Jungs! Karl, du gehst zuerst, dann Werner! Ich pass’ auf, daß hier oben die Luft rein bleibt, und komme als letzter. Karl wartet am Ufer. Wir beide laufen ein Stück zurück, bis wir auf ihn stoßen. Klar?… Gut.“ Karl schleppte ein Tau heran, das er hinter einem Entlüftungsschacht versteckt hatte und befestigte es an der Reling. Sekunden später verschwand er in der Nacht. Das Deck war , glücklicherweise schon wie leergefegt. „Los!“ Der Hamburger sah abwechselnd das Deck entlang und auf Werner, der gerade über die Reling stieg. Dann war alles dunkel um Werner. Unter ihm rauschte gurgelnd das Wasser an der Bordwand entlang. Je tiefer er am Seil hinabglitt, um so mehr begannen seine Hände zu brennen. Plötzlich wurden ihm vom Sog die Füße weggerissen. Er ließ das Seil los und begann mit kräftigen Zügen zu schwimmen. Von Karl war bereits nichts mehr zu sehen. Die Schiffswand glitt schnell vorüber, und dann wurde er auch schon vom Wirbel des Schraubenwassers erfaßt. Als er wieder auftauchte, sah er für Bruchteile von Sekunden einen Schatten über sich, und dann -klatschte es neben ihm aufs Wasser. Das muß Kurt sein, durchzuckte es ihn. Warum ist er nicht am Seil ‘runtergekommen? Hat man uns entdeckt? Das Heck der „Madelaine“ befand sich jetzt ungefähr
fünfzig Meter von der Stelle entfernt, an der Werner dem Ufer zustrebte. Da hörte das Geräusch der Schiffsschrauben jäh auf. Eine Trillerpfeife ertönte, laute Kommandorufe erschallten von Deck. Aufflammende Scheinwerfer zerschnitten die Dunkelheit und tasteten suchend über das Wasser. Da waren die Flüchtenden auch schon vom grellen Lichtkegel eingefangen. Neben Werner tauchte Kuddels Kopf aus den Wellen auf. Beide schwammen unter Aufbietung all ihrer Kräfte dem rettenden Land zu. Auf der „Madelaine“ ließ man zwei Rettungsboote aus den Davits zu Wasser. Sekunden später nahmen sie Kurs auf die Schwimmenden. „Wenn sie ‘ran sind, dann wegtauchen!“ rief Kuddel. Das erste Boot mochte nur noch fünfzehn Meter entfernt sein. „Haltet an, ihr Kanaillen! Wir haben euch sowieso gleich.“ Jetzt entdeckte Werner vor sich Karl Leonhardt. Nur noch wenige Längen trennten ihn vom Ufer! Im Scheinwerferlicht sah er Karls Haarschopf deutlich aufund abtauchen. Da peitschten kurze Feuerstöße aus Maschinenpistolen über das Wasser. Dicht um Karl spritzten kleine Wasserfontänen auf. Werner sah den Bremer nicht mehr. Entweder war er getaucht, oder die Kugeln der Häscher hatten ihr Ziel erreicht. Das Boot war jetzt, fast zum Greifen nahe, herangekommen. Kurt Johannsen tauchte schon unter. Jetzt hieß es auch für Werner, dem Beispiel zu folgen. Tief Luft geholt und dann weg. Werner schwamm, bis ihm die Lungen zu platzen drohten. Er mußte doch bald am Ufer sein;
aber als er wieder auftauchte, waren es noch ein Dutzend Längen. In unmittelbarer Nähe des Bootes kam er wieder hoch. Einer der Matrosen schlug ihm mit voller Wucht den Riemen auf den Kopf. Dann wurde es dunkel um Werner, und er wußte nicht mehr, was mit ihm geschah. Eine widerlich-ölige Stimme war das erste, was er hörte. Es war Capitaine Munier, der militärische Leiter des Transports. „Habt ihr die Schweine zurückgebracht? Wo ist der dritte ,Boche’? Habt ihr ihn abgeknallt, diesen Hund…? Gut so!“ Mit voller Wucht ließ Munier seine Reitpeitsche über Werners Gesicht klatschen. Das Blut spritzte sofort aus der aufgeplatzten Haut. Munier geriet förmlich in einen Blutrausch und bearbeitete den zu Boden stürzenden blindwütig mit Fußtritten und Peitschenhieben. Noch vor Anstrengung keuchend, befahl er mit überschnappender Stimme, den Mißhandelten in einen Schiffsbunker zu werfen. Während Legionäre Werner Scholz wegschleiften, zerrte man soeben Kurt Johannsen aus dem zweiten Rettungsboot. Capitaine Munier stürzte sich auf sein neues Opfer und empfing den Hamburger auf dieselbe Weise. Blutig geschlagen wurde er wenige Minuten später ohnmächtig zu Werner Scholz geworfen. Die „Madelaine“ setzte ihre nächtliche Fahrt fort. Matrosen gingen daran, das Deck von den Blutspuren zu säubern. Um die beiden Mißhandelten kümmerte sich niemand.
Ratten, Wasser, Hunger, Schmerzen und Dunkelheit waren für den Rest der Überfahrt die Gefährten von Werner Scholz und Kurt Johannsen. Nur etwas dünne Wassersuppe und halbverschimmeltes Brot reichte man ihnen in das dunkle Loch. Ihre Verletzungen waren zum Teil in eitrige Entzündungen übergegangen. Kurt und Werner erwarteten mit Bestimmtheit, daß sie nach der Ankunft in Indochina von einem Militärgericht abgeurteilt würden. In Haiphong aber kam alles ganz anders. Es ging dem Ende der Regenzeit entgegen, und das französische Hauptquartier in Hanoi rechnete mit einer großen Herbstoffensive der vietnamesischen Volksarmee. General Gonzales de Lenares brauchte jeden Mann, um bei den außerordentlich hohen Verlusten die Stellungen halten zu können. Werner und Kurt wurden einer Strafeinheit zugeteilt und nach Nghialo, 150 Kilometer nordwestlich Hanoi im Thai-Gebiet, transportiert. Fahl dämmerte der Morgen herauf. Langsam hoben sich in der Ferne die zweitausend Meter hohen Berge aus dem Dunst. Die ersten Sonnenstrahlen spiegelten sich im glitzernden Wasser der Reisfelder. Dahinter stand dunkel und drohend die Wand des unendlichen Dschungels. Seit wenigen Tagen hatte der alljährlich „große Regen“ aufgehört. Der zu grundlosem Morast aufgeweichte Boden begann unter der glühenden Sonne Indochinas wieder fest und trocken zu werden. Aber niemand bereitete sich hier auf die bevorstehende Reisernte vor. Die Felder waren verwaist. Die Bauern
erschossen, erschlagen, zu Tode gequält, in Bao-Dais Söldnerarmee gepreßt, oder sie schmachteten in den Gefängnissen. Ein Teil von ihnen kämpfte in der vietnamesischen Volksarmee, ein anderer im Hinterland der französischen Eindringlinge. Das halbzerstörte Reisbauerndorf La-Bong, einer der nördlichsten Vorposten der Stadt Nghialo, diente als Stützpunkt der Legion. Eine Gruppe von fünfzehn Legionären der in Haiphong zusammengestellten „Compagnie de discipline“ war vor einer Woche zur Verstärkung der Besatzung von LaBong eingetroffen; unter ihnen Werner Scholz und Kurt Johannsen. Sergent-major Degorce befehligte jetzt insgesamt zweiunddreißig Mann, einschließlich des Sous-officiers Menzel, einem stiernackigen SS-Mann übelster Sorte, und dem vietnamesischen Koch der Truppe. Außer drei Italienern, einem Spanier und einem Belgier waren alle Deutsche. Werner Scholz hatte in den Tagen seit der Ankunft in La-Bong den ersten Vorgeschmack des Dschungellebens bekommen. Die Legionäre, die schon längere Zeit hier eingesetzt waren, berichteten, daß alle drei Monate die Einheit wieder aufgefüllt werden mußte. Die zahlreichen, zum Teil schon halbverwitterten Holzkreuze am Südende des Dorfes waren der grauenhafte Beweis für die Richtigkeit ihrer Worte. Schwarzfieber, Tropenkoller, Schlangenbisse, Malaria, standrechtliche Erschießungen und der Kampf selbst dezimierten unaufhörlich die Reihen der Legionäre. Werner hatte, mit einem anderen Kameraden zusam-
men, die letzte Nachtwache. In einer halben Stunde sollte die Ablösung kommen. Schweigend hockten sie in ihrem Schützenloch und spähten über das Reisfeld zum Dschungelrand. Die Rauchwölkchen ihrer Zigaretten wurden schnell vom Morgenwind zerrissen. Um diese Tageszeit war es noch einigermaßen erträglich. Aber bereits ein bis zwei Stunden später ging niemand mehr freiwillig aus den Bambushütten und Erdbunkern. „Warum bist du denn von zu Hause weggegangen?“ nahm Werner plötzlich das abgebrochene Gespräch wieder auf. „Ja, warum?…“ Thomas Dienhardt blies die Zigarettenasche zu Boden und ließ spielerisch eine Handvoll Sandkörner durch die Finger rieseln. „Man hat bei uns in Gera so viel vom Westen erzählt, wie schön man dort leben könnte… und dann sprachen welche im RIAS, das war dann der letzte Anstoß…“ Werner lachte bitter und äffte ironisch nach: „Schönes Leben… alles Quatsch! Und was ist aus deinem Mädel geworden? Die hast du doch auch noch nach Westberlin mitgenommen?“ „Ich weiß nicht, wir wurden im Lager getrennt. Ein Kumpel erzählte mir, daß sie sich mit einem amerikanischen Offizier angefreundet habe.“ „Also ein Flittchen“, stellte Werner fest. „Wenn du es so nennen willst, ja.“ „Wahrscheinlich jetzt am Ku-Damm ,tätig’, und du darfst hier die gesegnete Freiheit der westlichen Welt genießen.“ Werner richtete sich jäh auf und lauschte angespannt auf das näher kommende mahlende Geräusch von Raupenketten und Motorenlärm.
„Ein Panzer.“ Dienhardt lachte und zog Werner wieder auf den Boden ihres Erdloches zurück. „Die Roten haben hier keine Panzer. Na ja, das kannst du noch nicht wissen. Das ist ein Spähwagen aus Nghialo, der will bloß sehen, ob wir noch nicht krepiert sind.“ Dann war es wieder ruhig. Jeder hing seinen Gedanken nach, während der Panzerspähwagen auf dem Dorfplatz vor dem Erdbunker haltmachte. An demselben Vormittag trafen noch fünfzig Legionäre aus Nghialo im Dorf ein. Zusammen mit dem Panzerspähwagen und einem Dutzend Legionären aus LaBong brachen sie am gleichen Tage zu einer „Strafexpedition“ nach Nordwesten auf. Eine Gruppe von Legionären war vor einigen Tagen in dieser Gegend von Partisanen beschossen worden. Der Befehl lautete: „Alle Militär- und Zivilpersonen sind ohne Anruf unter Feuer zu nehmen.“ Stundenlang zogen sie in langer Kolonne am Fuß des Thai-Gebirges durch Dschungel, Sumpfgelände und verlassene Dörfer. Überall stießen sie auf Spuren des Vernichtungswerkes der Legion. Verbrannte und zerstörte Bambushütten, bleichende Tierkadaver und hin und wieder auch Teile menschlicher Skelette. Aber was sie nicht trafen, waren Menschen. Aufgescheuchte Affenherden in den Bäumen begleiteten mit einem ohrenbetäubenden Spektakel die Männer ein kurzes Stück. Es mochte etwa eine Stunde vor Einbruch der Nacht sein, als die Kolonne stoppte und die Vorausabteilung ein bewohntes Dorf meldete. Man beschloß, mit drei
Gruppen das Dorf zu umzingeln, während die vierte mit dem Panzerspähwagen warten und, nach vollzogener Einschließung, in das Dorf einbrechen sollte. Werner Scholz und Kurt Johannsen gehörten zu der Gruppe, die sich südlich durch den Dschungel heranarbeiten mußte. Ein ortskundiger gefangener Vietnamese, den man aus Nghialo mitgebracht hatte, führte sie. Zwei Schritte hinter ihm folgte der französische Sous-officier, seine entsicherte Pistole auf den Rücken des Vietnamesen gerichtet. Die Kolonne kam verhältnismäßig schnell voran. Der einheimische Führer schien die Gegend gut zu kennen. Nach einer halben Stunde aber waren immer noch keine Anzeichen des Dorfes zu bemerken. Im Gegenteil, während zu Beginn des Marsches hin und wieder Pfade und schmale Waldwege auftauchten, befand man sich jetzt in der unberührtesten Wildnis. Der französische Offizier wurde langsam nervös und fragte den Vietnamesen wieder und wieder, wie weit es noch bis zum Dorf sei. „Gleich da, nicht mehr weit“, lautete stets die Antwort. Werner Scholz wußte, daß es im Dorf ein ungeheures Gemetzel geben würde. Noch nie ‘in seinem Leben hatte er einen Menschen getötet. In wenigen Minuten sollte er nun seine Maschinenpistole auf wehrlose Frauen und Kinder richten, auf Menschen, die ihm nichts getan hatten, denen er noch nie im Leben begegnet war. Der Gedanke allein war ihm schon entsetzlich; Grauen schüttelte ihn innerlich, daß ihn trotz der unerträglichen Hitze fröstelte. Seinetwegen hätte sich der Marsch noch über Stunden hinziehen können. Der Sous-officier aber war anderer Auffassung. Er trat dem Vietnamesen plötzlich
mit aller Gewalt in die Kniekehlen und versetzte dem Taumelnden einen Fausthieb ins Gesicht. „Schwein, denkst wohl, du kannst uns noch länger durch diese gottverdammte Gegend scheuchen? Wo ist das Dorf? Los, antworte!“ Aber die Antwort erhielten sie in diesem Augenblick durch in der Ferne einsetzenden Gefechtslärm. Der Überfall auf das Dorf hatte ohne sie begonnen, vier oder fünf Kilometer entfernt. Der Vietnamese hatte sie falsch geführt und sie bewußt vom Dorf fortgelockt, um seinen Landsleuten zu helfen, so gut er es in seiner Lage konnte. Die sekundenlange allgemeine Verwirrung ausnutzend – auch der Offizier hatte sich von ihm abgewandt – war er mit drei, vier riesigen Sätzen den Blicken der Legionäre entschwunden. In seiner Wut feuerte der Sous-officier aufs Geratewohl sein Magazin leer, aber kein Aufschrei verriet, daß er getroffen hatte. „Allez! Marcher en arriere!“ Was blieb ihnen auch anderes übrig, als den Rückweg anzutreten? Aber schon nach kurzer Zeit wußte niemand mehr den richtigen Weg. Auch die Schüsse waren verstummt, schnell sank die Tropennacht herab und breitete ihren dunklen Schleier aus. Im Osten aber leuchtete der Himmel jetzt purpurn. Wie eine riesige Fackel loderte die Feuersbrunst in die Nacht. Stätten friedlicher Arbeit verwandelten sich in Rauch und Asche. Ein furchtbarer Marsch begann in Richtung auf das brennende Dorf. Zur gleichen Strecke, zu der die zwölf Legionäre am Abend eine Stunde benötigten, brauchten sie jetzt fast sechs. Sie stießen sich an Bäumen blutig, versanken bis zu den Hüften im Morast, rissen sich aus
Schlingpflanzen heraus und strauchelten immer wieder über Hindernisse, die sie in der Nacht nicht erkennen konnten. Werner und Kurt tasteten sich dicht nebeneinander durch die Wildnis und halfen sich gegenseitig, so gut es in der Dunkelheit möglich war. Werner litt besonders unter Schmerzen, die von den Gurten des Tornisters herrührten. Die Wunden von Sidi bei Abbes platzten immer wieder auf. Kurt trug beide Maschinenpistolen und übernahm schließlich auch noch Werners Tornister. Kurz vor Morgengrauen passierten sie die Posten am Dorfrand. Die Truppe mit dem Panzerspähwagen hatte sich nach ihrem Mord-und Zerstörungsakt in den noch heilgebliebenen Bauernhütten einquartiert. Glimmende Aschenhaufen und verkohlte Bambusstangen kennzeichneten die Stellen, an denen noch vor wenigen Stunden die Wohnstätten fleißiger Reisbauern gestanden hatten. Das war alles, was die kleine Gruppe erschöpfter Legionäre noch wahrnahm. Wahllos warfen sie sich auf die Erde und schliefen nach den Strapazen des Gewaltmarsches sofort ein. Als Werner von Kurt Johannsen wachgerüttelt wurde, stand die Sonne schon hoch über dem Dschungelrand. Man bereitete sich zum Aufbruch vor. In kleinen Gruppen saßen die Legionäre zusammen und verzehrten ihre Marschverpflegung. Die beiden Freunde machten sich auf die Suche nach einer Stelle zum Waschen. Auf der anderen Seite des Dorfes sollte ein Bach sein.
Was sie aber auf dem Weg durch das zerstörte und geplünderte Dorf sahen, ließ sie bis ins Innerste erschaudern. Überall stießen sie auf verstümmelte Leichen. So, wie sie entsetzt zu fliehen versucht hatten, waren diese Menschen niedergestreckt worden. Hinter einer Hütte kniete ein Legionär bei einem toten Mädchen und bemächtigte sich ihres Schmuckes. Werner wandte sich ab; er mußte sich übergeben. Ohne ein Wort zu wechseln, schritten die beiden Freunde nebeneinander her. Erst am Bach beim Waschen brach Werner das Schweigen. „Ich kann nicht mehr, Kurt. Es ist ja entsetzlich.“ „Das ist die ,Legion etrangere’„ antwortete Kurt hart. „Aber können denn Menschen so etwas überhaupt tun?“ „Du siehst es ja, Werner. Diese Scheusale fühlen sich noch wohl dabei.“ „Gibt es denn keinen Ausweg? Wir müssen weg von der Legion, ganz weg, verstehst du, Kurt? Gleichgültig, wohin.“ „Du bist ein Narr.“ Kurt Johannsen beugte sich über das Wasser und ließ seine Feldflasche vollaufen. „Nimm dir auch Wasser mit, unterwegs gibt es nichts.“ Werner fuhr leidenschaftlich fort: „So antworte doch. Willst du deine Hände mit Blut besudeln?“ „Ich sagte dir, du bist ein Narr. Wo willst du denn hin? Wir sind hier nicht im Suezkanal. Wenn wir fliehen, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir werden erwischt, dann macht man kurzen Prozeß mit uns – du darfst nicht vergessen, daß wir Angehörige der ,Compagnie de discipline’ sind –, oder wir geraten in
Gefangenschaft, aber die wird nur von kurzer Dauer sein. Die Roten werden nicht danach fragen, ob du schuldig bist oder nicht. Für sie bist du Legionär, und Legionäre werden erledigt. So, jetzt hast du die Wahl.“ „Hast du denn gesehen, daß sie Gefangene erschießen?“ fragte Werner. Kurt lächelte mitleidig. „Du bist wirklich ein Narr, Werner. Sieh dir dieses Dorf an! Davon gibt es Tausende. Und du rechnest noch auf Gnade?“ Werner schwieg. Innerlich gab er Kurt recht. Es mußte schon stimmen, was die französischen Offiziere immer sagten. „Wen die Kommunisten erwischen, mit dem ist es aus. Den lassen sie einen furchtbaren und langsamen Tod sterben.“ – Es gab keinen Ausweg. Zehn Jahre seines Lebens hätte er mit Freuden dafür gegeben, um dieser Hölle zu entrinnen und wieder in Deutschland zu sein. „Komm, wir müssen zurück.“ Kurt Johannsen warf die Maschinenpistole über die Schulter und kletterte die Uferböschung hinauf. Im Dorf empfing sie ein Legionär: „Na, Kameraden, ihr seid ja diesmal schlecht drangewesen. Wir haben für euch mit Beute gemacht. Sind fette Brocken darunter.“ Er griente niederträchtig, schlug auf seine prallen Hosentaschen und fügte hinzu: „Aber wir haben ja schließlich auch die Arbeit gehabt.“ Dann schallten die Kommandos zum Sammeln durch das Dorf. Die Kolonne marschierte los.
Kurz vor La-Bong mußten sie eine besonders unübersichtliche Stelle passieren. Links war stark ansteigendes, mit Strauchwerk und Felsblöcken besetztes Gelände, rechts dichter Dschungel. Da krachten plötzlich Schüsse. Die überraschten Legionäre warfen sich in Deckung. „Liegenbleiben und schießen!“ befahl der französische Offizier. Aber niemand war zu sehen, auf den sie hätten schießen können. Der Panzerspähwagen versuchte vergeblich, die Höhe zu nehmen; an einem Felsblock mußte er stoppen: Ununterbrochen schössen die Vietnamesen. Für die Legionäre war die Situation äußerst brenzlig. Schlecht gedeckt saßen sie in der Zange, denn auch von rechts aus dem Dschungel wurden sie unter Feuer genommen. Werner Scholz und Kurt Johannsen kauerten zwischen zwei Felsblöcken und verfolgten das Gefecht. Auch sie sahen keinen Gegner. Wenige Schritte von ihnen entfernt lag ein Legionär hinter einem Baumstamm und feuerte wie wildgeworden seine Maschinenpistole leer. „Siehst du jemand?“ fragte Kurt, als der Legionär sein Magazin auswechselte. „Nein“, antwortete der verstört, „aber sonst fallen sie über uns her.“ Das waren seine letzten Worte. Sein Kopf sank vornüber. Die beiden Freunde blickten sich an, und wie einer gemeinsamen Abmachung folgend, sprangen sie auf. In wenigen Sekunden hatten sie den Legionär hinter die schützenden Felsblöcke getragen. „Kopfschuß“, stellte der Hamburger fest, „wird wohl nichts mehr zu machen sein.“ Kurt untersuchte die Taschen des Toten nach Papieren. Das erste, was er fand, war ein Brief. „Meine liebe Mutter!“ las er. Kurt steckte
ihn ein, um ihn später abzuschicken. Der Beschuß hatte aufgehört. Nach kurzem Zögern kamen die Legionäre wieder aus ihren Deckungen. Sieben Tote und zwölf Schwerverletzte waren das Ergebnis des Überfalls. Die Partisanen hatten ihre ermordeten Landsleute gerächt. Niemand hatte sie kommen oder gehen sehen. So war es immer. Plötzlich von irgendwoher Schüsse und wieder Stille. Der Dschungel stellte sich schützend und undurchdringlich, drohend und geheimnisvoll vor die gequälten Bewohner dieses Landes. Die Toten wurden in den Spähwagen geladen, für die Verwundeten fertigte man Tragbahren aus Bambusstangen an. La-Bong war bald erreicht. Nach kurzer Rast zog die Truppe mit den Verwundeten weiter nach Nghialo. Die Legionäre aus La-Bong meldeten sich – bis auf drei, die verwundet nach Nghialo ins Lazarett transportiert wurden – bei Sous-officier Menzel zurück. Nur mit einer Turnhose bekleidet, saß er im Kommandobunker. Auf dem Tisch vor ihm stand eine halbgeleerte Weinflasche. „Da kommt ihr ja, ihr Galgenvögel.“ Er mußte schon bedeutend mehr getrunken haben, als die halbgeleerte Flasche vermuten ließ. Er lallte und schwankte beim Aufstehen so, daß er sich mit beiden Händen auf den Tisch stützen mußte. „Was grinst ihr über euren Vorgesetzten? Saubande!“ Seine Stimme schnappte über. „Euch wird das Lachen schon noch vergehen, besonders euch von der Strafkompanie.“ Auf Kurt weisend, befahl er: „Los, mach
Meldung!“ Aus dem Nebenraum war Sergent-major Degorce eingetreten. Schweigend sah er auf die Legionäre und ließ Menzel gewähren. Kurt Johannsen nahm Haltung an und berichtete: „Ein Dorf zerstört und die Einwohner getötet. Auf dem Rückmarsch, zwei Kilometer vor La-Bong, von einer starken Partisanengruppe beschossen worden. Verluste: Sieben Tote, zwölf Schwerverletzte. Drei am schwersten Verwundete nach Nghialo ins Lazarett gebracht.“ „Danke. Wegtreten!“ Die Legionäre machten kehrt und verließen den Bunker. „Du Schwein bist schon wieder besoffen“, stellte Degorce fest. „Aber, Sergent-major, wo denken Sie hin? Von den paar Tropfen, hick, verfluchte Hitze – wahnsinniger Durst.“ Degorce winkte lässig ab und ließ sich auf einen Stuhl fallen. „In der Nähe operieren Partisanengruppen. Wir müssen unseren Wachdienst verstärken.“ „Ganz meiner Meinung, Sergent-major. Ich schlage vor, einen Streifendienst rund um La-Bong einzurichten.“ Degorce nickte. „Nicht übel. Richte einen solchen Streifendienst ab heute ein, Menzel! Und – was ich noch sagen wollte, laß die Toten eingraben; verpesten uns bei der Hitze sonst die ganze Gegend.“ Nachdem sie den Bunker verlassen hatten, gingen Werner und Kurt mit den anderen zur Hütte des vietnamesischen Koches Ho. Es gab Reis mit Hammelfleisch. Hungrig, wie sie wa-
ren, aßen sie ihre Portionen gleich in der Hütte. Ein vietnamesisches Mädchen, das man gezwungen hatte, für die Küche zu arbeiten, brachte ein Bündel Brennreisig und legte es neben die Kochstelle nieder. Obwohl dieses Mädchen sehr hübsch war, wagte keiner der Legionäre, sich ihm in anzüglicher Weise zu nähern. Sergent-major Degorce hatte vor einigen Tagen, als man sie ins Dorf brachte, erklärt, er würde persönlich mit dem abrechnen, der sich an sie heranmachte. Für die Legionäre war es klar, daß Degorce ein Auge auf sie geworfen hatte, und so galt sie in La-Bong als „tabu“. „Für dich ist Post da“, sagte Ho zu Werner. Post von zu Hause, dachte Werner, endlich. Er sprang auf und rannte zur Unterkunft. Im Halbdunkel der Hütte sah er den hellen Umschlag auf seiner Pritsche leuchten. Absender Düsseldorf Die Schriftzüge seines Vaters. Mit tränenfeuchten Augen las er vor der Hütte. Düsseldorf, am 26. Juli 1952 „Lieber Junge! Mutter und ich machen uns große Sorgen um Dich. Dein letzter Brief kam aus Marokko. Du schreibst, daß Deine Ausbildung nun bald zu Ende sei und Du dann zum Einsatz kommst. Hoffentlich nicht nach Indochina. Man hört soviel Schlechtes von dort, auch in den Zeitungen schreiben sie davon. Was hast Du bloß in den fremden Ländern verloren? Wir wünschen und sehnen den Tag herbei, an dem Du wieder zu Hause bist…“ Ein Schatten fiel auf den Brief. Kurt Johannsen war herangetreten und ließ sich neben Werner nieder. „Was
schreiben sie denn?“ „Sie machen sich Sorgen. Mein Vater will wissen, was ich hier verloren habe.“ „Das weiß wohl keiner von uns. Verloren haben hier Tausende Leben und Gesundheit. Aber das ist auch alles. Wir sind nur die Bauern, die im großen Schachspiel geopfert werden.“ Der blonde Hamburger zog einen Brief aus der Tasche. Es war der des toten Legionärs. „Hier ist der letzte Brief eines solchen geopferten Bauern“. Laut las er vor: Nghialo, den 21. 9.1952 „Meine liebe Mutter! Heute ist Sonntag. Aber man merkt hier nichts davon. Wir müssen unseren Dienst so wie an jedem anderen Tag versehen. Unsere Offiziere sind sehr gemein zu uns. Ich hasse sie. Kommandiert wird nur französisch, aber beim Einsatz wird mit ,Hurra’ gestürmt. Auch beim Sterben schreien sie deutsch. Wenn wir in Nghialo durch die Straßen gehen, dann nur immer in größeren Gruppen, denn an jeder Ecke lauert der Tod. Die Bevölkerung sieht uns lieber gehen als kommen. Das ist kein Wunder; denn wir haben ihr nur Elend und Vernichtung gebracht. Du wirst entsetzt sein, wenn Du meinen Brief liest. Aber warum soll ich Dich belügen? Wenn ich nicht wiederkomme, dann sollst Du wenigstens gewußt haben, wie es mir ergangen ist. Ich verfluche den Tag, an dem ich mich zur Legion gemeldet habe. Wenn Du meine Freunde siehst, dann warne sie davor. Morgen geht es zum Einsatz gegen Partisanen. Hoffentlich ver-
läuft alles glatt.“ Hier endete der Brief. „Es verlief nicht alles glatt“, fügte Kurt hinzu. „Jemanden vom Tod seines Nächsten zu benachrichtigen, ist immer eine schwere, undankbare Aufgabe, aber es wird uns nicht erspart bleiben. Die amtliche Mitteilung der Legion wird seine Mutter wenig trösten können.“ Bevor sie ihren Wachdienst antreten mußten, schrieb Werner an seine Eltern nach Düsseldorf und Kurt nach Minden an die Mutter des gefallenen Legionärs. Es war an einem Spätnachmittag, wenige Tage darauf. Werner Scholz saß in der Hütte des Koches Ho und briet sich zwei Sumpfhühner, die er am Vormittag geschossen hatte. Völlig außer Atem und mit zerrissenem Brusttuch stürzte plötzlich das vietnamesische Mädchen in die Hütte. Aufgeregt berichtete sie Ho etwas in ihrer Sprache. Werner verstand nur immer den Namen Degorce. „Was gibt es denn?“ erkundigte sich Werner. „Ihr blonder Freund hat Ming vor Degorce in Schutz genommen. Der hat dann geschossen.“ „Geschossen – auf Kurt?“ Werner stand ungläubig und fassungslos. Er packte das Mädchen am Arm, daß sie leicht aufschrie. „Wo war das? Schnell! Erzähle! Ist ihm etwas geschehen?“ „Ich weiß nicht… ich bin nur gerannt, um von Degorce wegzukommen… Es war am Reisfeld, dort, wo der große tote Baum steht…“ „Der große tote Baum…“, stammelte Werner verstört und rannte hinaus. Verschiedene Legionäre blickten ihm
erstaunt nach, als er quer durch das Dorf hastete. Kurz vor dem Kommandobunker sah er Degorce. Schlendernden Schrittes, im Mundwinkel lässig eine Zigarette und in der Rechten seine unvermeidliche Reitpeitsche, kam er näher. Werner blieb stehen und starrte ihn an, sein Blick heftete sich auf die Pistolentasche, als könne sie ihm Antwort geben. „Kannst du nicht grüßen?“ herrschte ihn der Sergentmajor an. Aus seinen entsetzlichen Gedanken gerissen, zuckte Werner zusammen und salutierte. Erst als Degorce im Erdbunker verschwunden war, rannte er weiter. Da lag das Reisfeld vor ihm – dort hinten reckte der große tote Baum seine kahlen Äste in den Himmel. Werner lief den trockenen, lehmigen Weg durch das Reisfeld entlang. Weiter vorn schimmerte etwas Dunkles – Kurt! Der Freund lag auf dem Gesicht – zusammengekrümmt. Werner riß ihn an der Schulter herum. Das Gesicht war blutverschmiert, und ein kleines Loch in der Stirn zeigte den Weg, den die Kugel des Mörders genommen hatte. Langsam richtete sich Werner wieder auf. Grenzenloser Haß und unfaßbare Trauer ließen sein Herz wild schlagen. Er lud sich den schweren leblosen Körper des Freundes auf die Schulter und schritt zum Dorf zurück. Degorce und Menzel saßen vor dem Erdbunker. Sie schienen sich zu unterhalten. Der Sergent-major zeichnete dabei mit seiner Reitpeitsche Figuren in den Sand. Erst als Werners Schatten in ihr Blickfeld fiel, sahen sie auf. Werner bemerkte, wie Degorce zusammenzuck-
te, sich aber gleich wieder in der Gewalt hatte. Stumm legte Werner den Erschossenen zu Füßen der beiden nieder. Sein kalter, von Schmerz und Haß erfüllter Blick lag fragend und anklagend auf Degorce. Sekunden herrschte Schweigen. Menzel betrachtete abwechselnd den Toten und Werner. „Was soll das?“ fragte er schließlich. „Was soll schon sein? Partisanen.“ Gleichgültig sprach Degorce die Worte. „Mach nicht so ein Theater“, setzte er hinzu. „Schaff die Leiche weg und schreib ‘ne Meldung.“ Nur die warnende Stimme der Vernunft hielt Werner davon ab, sich auf Degorce zu stürzen. „Na los, nun mach schon!“ schnauzte Menzel. „Morgen früh ist die Beerdigung. Kümmere dich um einen Sarg und laß das Grab ausheben.“ Thomas Dienhardt, der gerade vorüberkam, half den Toten tragen. Im Weggehen hörte Werner noch, wie Menzel zu Degorce sagte: „War ja nur Strafkompanie, das Luder.“ Behutsam betteten sie den Toten in der Hütte auf eine Pritsche und wuschen das Blut ab. Als Dienhardt gegangen war, warf Werner sich auf sein Lager. Minuten war völlige Leere in ihm. Aber dann stürmten die Gedanken auf ihn ein. Warum mußtest du sterben? Warum nicht ein anderer, einer von denen, die man nicht mehr zu den Menschen rechnen konnte, einer, der kaltschnäuzig Leben vernichtete? Aber denen war er ja gerade im Wege gewesen. Degorce – ja, ihn sollte die gerechte Strafe treffen. Werner schwor es sich in dieser Stunde, angesichts des
toten Freundes. „Er war ein guter Mensch.“ Ming war unbemerkt in die Hütte getreten. Ihre Worte riefen Werner wieder in die Wirklichkeit zurück. Das Mädchen kniete vor der Pritsche des Toten nieder und betrachtete ihn lange. Dann küßte sie ihn auf die Stirn und erhob sich. Werner hatte Ming erstaunt und tief bewegt betrachtet. „Es gibt auch noch gute Menschen in der Legion. Es ist schwer, daran zu glauben, aber man muß es können.“ Sie setzte sich unbefangen zu Werner auf die- Pritsche und blickte ihn mit ihren großen dunklen Augen an. Werner suchte mühsam seine französischen Sprachkenntnisse zusammen und begann ein Gespräch. „Er hat es für dich getan.“ Ming nickte. „Er war noch zu jung zum Sterben. Aber wenn man leben will, darf man nicht in die Fremdenlegion gehen.“ Werner fühlte sich durch die Worte dieses einfachen vietnamesischen Mädchens tief beschämt. „Er mußte“, versuchte er zu entschuldigen. „Warum? Wer zwang euch alle dazu?“ „In unserer Heimat sind schlechte Zeiten. Es gibt keine Arbeit, und viele haben Hunger.“ „Es ist nicht gut, wenn man seiner Heimat den Rücken kehrt und in fremde Länder Elend und Vernichtung bringt.“ „Es gab keinen anderen Ausweg für uns. Auch in meiner Heimat sind fremde Soldaten, sind Franzosen und Amerikaner.“ Mings Augen blickten zornig. „Warum jagt ihr sie nicht davon?“ Ja, warum taten sie es nicht? Diese einfa-
che Logik verblüffte Werner derart, daß er nach einer Erwiderung suchen mußte. „Das geht nicht“, sagte er schließlich, ohne von seiner Antwort selbst überzeugt zu sein. „Wenn alle so denken wie ihr Legionäre, dann nicht.“ „Ming, denke nicht schlecht von meinem Volke. Es sind nicht alle Deutschen so wie Sous-officier Menzel. Auch hat man uns nicht gesagt, was wir in der Legion für Aufgaben haben würden.“ „Wärst du zur Legion gegangen, wenn du gewußt hättest, was euch erwartet?“ „Nein, nie hätte ich das getan.“ Ohne Zögern sagte es Werner. „Warum gehst du dann nicht weg?“ „Wir haben es versucht. Er war auch mit dabei“, Werner wies auf den toten Freund. „Man hat uns wieder gefangen und blutig geschlagen. Einer wurde erschossen. Dann steckten sie uns in Hai-phong in eine Strafkompanie.“ Ming schwieg eine Weile. „Ihr werdet nicht mehr lange hier sein.“ „Warum nicht?“ fragte Werner erstaunt. „Mein Volk wird euch aus dem Lande jagen wie die Chinesen die Amerikaner.“ „Die Legion hat gute Waffen, Panzer und moderne Flugzeuge. Ihr habt nur alte, schlechte Waffen.“ Das Mädchen lächelte. „Aber wir haben unsere Heimat zu verteidigen. Wofür kämpft ihr?“ Da war wieder dieses kleine Wörtchen „wofür?“. Niemand konnte es beantworten. Ja, wofür kämpften sie? Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht.“ „Du solltest darüber nachdenken.“
Werner sprang von der Pritsche auf. Draußen hatte man ihn gerufen. Drei Legionäre kamen auf die Hütte zu. „Sofort das Dorf nach Ming durchsuchen. Befehl von Degorce.“ Werner erbleichte. „Ich komme sofort, Kameraden.“ Ming flüsterte er zu: „Sie suchen dich, verstecke dich… schnell.“ Ihre Blicke hasteten durch das Innere der Hütte. „Krieche unter die Pritsche, dort sucht dich niemand.“ Mit katzenhaften Bewegungen kroch das Mädchen unter die Lagerstatt des Toten. Sergent-major Degorce schäumte vor Wut. Die Suchaktion war ergebnislos verlaufen. Das ganze Dorf hatten die Legionäre durchgekämmt. Menzel trat schweißtriefend in den Bunker und schmiß wütend seine Maschinenpistole in die Ecke. „Es hat keinen Sinn mehr. Drei Stunden suchen wir jetzt schon diese verfluchte braune Hexe.“ „Idioten!“ fauchte Degorce und nahm einen großen Schluck aus einer dickbäuchigen Weinflasche. „Dein Wachsystem taugt überhaupt nichts. Da können auch die Roten in der Dunkelheit einsickern wie das Wasser in den Sand.“ Menzel überlegte, wie er den Sergent-major beruhigen könne. „Ich fahre morgen nach Nghialo und hole ein Mädchen.“ „Du hast die Weisheit mit Löffeln gefressen, das kann ich selber. Scher dich raus, ich will deine blöde Visage nicht mehr sehen!“ Ming hatte in der Hütte den Einbruch der Nacht abgewartet und sich dann unbemerkt durch die Reisfelder in den nahen Dschungel geschlichen. Wahrscheinlich wäre
Degorces und Menzels Schlaf nicht so ruhig gewesen, hätten sie gewußt, daß Ming nach einer knappen halben Wegstunde in einem Unterstand der vietnamesischen Volksarmee als alte Bekannte lebhaft begrüßt wurde. In zwei Gliedern waren die Legionäre von La-Bong angetreten. Sous-officier Menzel hatte Sergent-major Degorce bereits Meldung erstattet. Werner stand in der zweiten Reihe. Sein Blick ruhte auf dem roh zusammengezimmerten Sarg, der neben der Gruft stand; dahinter befanden sich in langer Reihe Holzkreuze auf kleinen Hügeln. Seine Gedanken weilten bei dem toten Freund. „Legionäre!“ begann Degorce. Werner durchzuckte es heftig. Dieser Mörder erdreistete sich wirklich, die Rede am Grabe seines Opfers zu halten! „Die Feinde Frankreichs, die Feinde der Freiheit haben einen unserer Kameraden feige und hinterhältig ermordet. Die .Grande Nation’, für die Legionär Kurt Johannsen gefallen ist, wird ihn nicht vergessen und sein Andenken in Ehren halten.“ „… nur Strafkompanie, das Luder“, hörte Werner in Gedanken Menzel zu Degorce sagen. Degorce sprach weiter. Den Sinn seiner Worte aber erfaßte Werner nicht… bis ihn die Kameraden anstießen. Degorce hatte drei Schuß Salut befohlen. Der Dschungel warf das Echo vielfach zurück, dann war es um so stiller. Vier Legionäre ließen den Sarg in die Gruft hinab; dumpf polterte Erde auf die Bretter. Das Begräbnis war zu Ende. Die Legionäre verstreuten sich, Degorce und Menzel unterhielten sich lachend, während sie nebeneinander
herliefen. Werner aber schwor sich in dieser Minute, seinen ermordeten Kameraden zu rächen. Ein unbändiger Haß nicht nur gegen Degorce, sondern gegen das mörderische System der ganzen Legion hatte ihn erfaßt. In diesem Augenblick wußte er auch Antwort auf seine Frage zu geben, wofür kämpften sie hier? Diese sadistischen Ausgeburten wie Degorce, Menzel und viele Legionäre waren nur die willkommenen Werkzeuge für jene, die den Befehl zu Mord, Brand und Ausplünderung des Landes gaben. Die Habseligkeiten der Bevölkerung waren die Beute der Legionäre. Aber die große Beute, die Reichtümer des ganzen Landes, die rissen andere an sich. Werner erinnerte sich noch gut daran, was sie in Haiphong gesehen hatten. Riesige Schiffe mit Kautschuk- und Zinnladungen stachen in See. Ja, das mußte es wohl sein, warum Frankreichs Herrscher – damals wie heute – um jeden Preis ganz Indochina unter ihre Knute bringen wollten. Es war am Nachmittag desselben Tages. Werner hatte dienstfrei und war vor das Dorf geschlendert. Nicht weit von dem Platz, an dem Kurt Johannsen unter der Kugel von Degorce zusammengebrochen war, ließ er sich im Schatten eines Strauchwerks nieder. Nach einer Weile mußte er wohl eingenickt sein; denn plötzlich weckte ihn das Geräusch von Schritten aus seinem leichten Schlummer. Wenige Meter vor ihm stand Degorce! Mit einem Satz war Werner auf den Beinen. Den Schaft seiner Maschinenpistole hielt er fest umklammert. Degorce maß ihn mit einem spöttischen Blick.
„Auf diesen Augenblick habe ich gewartet“, stieß Werner leidenschaftlich hervor und senkte den Lauf der Waffe, bis sie auf Degorces Brust wies. „Ich glaubte nicht, daß ich mit dem Mörder meines Freundes so schnell abrechnen kann.“ Der Sergent-major erblaßte und griff instinktiv nach seiner Pistole. „Hände weg! Keine Dummheiten, sonst knallt’s“, warnte ihn Werner. „Was soll der Quatsch?“ knurrte Degorce unsicher. „Ich habe es nie für möglich gehalten, daß ein Mensch so frech und kaltschnäuzig sein kann, wie Sie, Monsieur.“ „Legionär Scholz, wie reden Sie mit ihrem Vorgesetzten? Ich werde Sie bestrafen lassen!“ versuchte Degorce Werner einzuschüchtern. „Sie werden nie mehr jemanden bestrafen noch töten können. Es ist aus, Monsieur Sergent-major Degorce, endgültig aus.“ Degorce, der sah, daß es keinen Sinn hatte, Werner mit Drohungen einzuschüchtern, wurde von jäher Todesangst gepackt. Er, der jahrelang kaltschnäuzig unschuldige Menschen hatte umbringen helfen, warf sich auf die Knie und bettelte wimmernd um Gnade. Dieser Sadist, der innerlich ein erbärmlicher Feigling war, widerte Werner dermaßen an, daß sich sein Haß in Ekel und Verachtung wandelte. „Für Mörder, die aus Lust töten, gibt es keine Gnade!“ Werner drückte ab – dann ging er zum Dorf zurück, ohne sich noch einmal umzusehen. Am nächsten Morgen fanden Legionäre bei einer
Suchaktion Degorce. In der Annahme, er sei von Partisanen erschossen worden, erstattete Menzel dem Kommandanten nach Nghialo Meldung. Sonst ging alles wie gewöhnlich seinen Gang. Nur die Legionäre waren furchtsamer geworden und fühlten sich, selbst am hellichten Tage mitten im Dorf, von vermeintlichen Partisanen bedroht. Besonders Menzel, sonst der größte Maulheld und Schläger, zitterte ständig um sein armseliges Leben. Als jedoch aus Nghialo die Nachricht kam, er sei zum Sergent-major und gleichzeitig zum Stützpunktkommandanten von La-Bong befördert worden, soff er sich einen gewaltigen Rausch an und zog grölend durch La-Bong. Es traf sich glücklich, daß Werner, als er mittags zum Essenempfang ging, den Koch Ho allein in seiner Hütte fand. „Ming ist ihnen entwischt, trotz der ganzen Sucherei hat sie niemand gefunden. Kurt hat sie auch noch im Tode beschützt. Sie versteckte sich unter seiner Pritsche.“ Der Vietnamese lächelte. „Du bist ein guter Kamerad. Ming läßt dich grüßen und dankt dir für die Hilfe.“ Werner blickte den Koch erstaunt an. „Ming läßt mich grüßen?“ „Ja, du hast richtig gehört, sie läßt dich grüßen.“ „Hast du sie gesehen? Woher weißt du, daß sie entkommen ist?“ „Ich weiß noch viel mehr.“ Ho lächelte verschmitzt, beugte sich zu Werner und flüsterte: „Du hast auch deinen Kameraden gerächt.“
„Wie meinst du das?“ fragte Werner scharf. „Du hast ihn gerichtet, peng… und aus.“ Er beugte sich wieder über seine Feuerstelle und rührte eifrig im Topf. Werner überlegte kurz, wie er sich verhalten sollte. Es war gefährlich, durfte er Ho trauen? Er mußte Gewißheit haben. „Also, wenn es so wäre. Was würdest du dann machen?“ „Nichts. Was sollte ich denn machen? Dich verraten? Nein, nein.“ Er schüttelte bei seinen Worten energisch den Kopf. „Sag mir lieber, was du jetzt machen willst, vielleicht kann ich dir helfen.“ Werner schoß eine Idee durch den Kopf. „Wo ist Ming jetzt?“ „Dort, wo sie in Sicherheit ist, bei guten Freunden.“ „Was sind das für Freunde, kennst du sie?“ Ho schaute Werner prüfend an. „Ja, ich kenne sie. Es ist die vietnamesische Volksarmee“, fügte er dann voller Stolz hinzu. Werners Gedanken wirbelten durcheinander. Bot sich ihm hier endlich eine Gelegenheit zur Flucht? Aber würden die Viet-Minh ihn nicht auch töten? Er erinnerte sich des Gespräches mit Kurt. „Was geschieht mit einem Legionär, der überläuft?“ fragte er unvermittelt. „Er kommt ins Gefangenenlager“, versichte Ho mit der selbstverständlichsten Miene der Welt. „Und dort wird er erschossen, ja?“ „Unsere Soldaten sind keine Legionäre, das darfst du nicht vergessen. Es gibt viele Legionäre, die überliefen.oder gefangengenommen wurden und heute schon wieder in ihrer Heimat sind.“
Werner stand nachdenklich auf und ließ sich das Essen in sein Kochgeschirr schütten. „Kommst du heute abend noch mal zu mir?“ fragte Ho. „Wir haben uns noch viel zu erzählen, glaube ich.“ Werner nickte und drückte dem Vietnamesen fest die Hand. „Ich komme!“ Und so war es dann auch. Werner suchte Ho auf, und sie sprachen über viele Dinge; Dinge, die für Werner neu und ungewohnt waren. Ho erzählte von seiner Heimat, erzählte, daß sie in Frieden lebten und ihre Volksrepublik aufbauten. Mit den Franzosen hatte die Volksregierung einen Vertrag abgeschlossen, der Vietnam Unabhängigkeit garantierte. Das war 1946. Aber was bedeuten schon Verträge, wenn die Banque de l’Indochina ihre Profite steigern will? Am 20. November 1946 brachen die Franzosen skrupellos den Vertrag und gingen zum Angriff über. Seitdem kämpft das vietnamesische Volk unter der Führung der La-Dong-Volkspartei und seinem Präsidenten Ho-Chi-Minh heldenhaft gegen den an Waffen und Kriegsmaterial weit überlegenen Feind. Im Herbst 1950 ging die vietnamesische Volksarmee zum Gegenangriff über und konnte bis heute große Teile des Landes von den Eindringlingen befreien. Das erzählte Ho alles an diesem für Werner so bedeutungsvollen Abend. Was Werner bisher instinktiv nur fühlte und ahnte, verdichtete sich in ihm zur Gewißheit. Ho sagte es mit den Worten: „Du kämpftest bisher auf der falschen Seite, dort kann aber nicht der Platz eines anständigen Menschen sein. Mach es so, wie es viele Legionäre getan haben, kehre dem ,schmutzigen Krieg’
den Rücken.“ „Ho, du mußt mir zur Flucht verhelfen, du weißt, wo deine Freunde im Dschungel sind. Führe mich zu ihnen!“ Über Hos Gesicht glitt ein befreiendes Lächeln, und er umarmte Werner impulsiv. „Es dauert nicht mehr lange, und die Volksarmee wird auch den Bauern von La-Bong ihre Heimat wieder zurückgeben. Wir können dabei aber am besten helfen, wenn wir hier auf unserem Posten aushalten!“ Werner blickte den Vietnamesen erstaunt an. „Wie wollen wir ihnen helfen, wenn wir in der Legion sind?“ „Sieh, Kamerad“, begann Ho, „unsere Volksarmee hat zwar viele Kämpfer, und es werden ihrer täglich mehr, aber Waffen und Munition sind knapp.“ Werner lachte verständnisvoll. „Na, gut, Ho. Aber wer soll das Zeug wegbringen?“ „Das laß mich nur besorgen; die Volksarmee hat tapfere und geschickte Männer. Na, du wirst sie ja noch kennenlernen.“ Es war nicht allzu schwer, an das Depot der Einheit heranzukommen. Eine Bauernhütte neben dem Erdbunker enthielt eine beachtliche Anzahl von Handgranaten, Infanteriemunition, Sprengladungen und Minen, nur durch eine verriegelte Tür gesichert. Am günstigsten war die Gelegenheit, unbemerkt in die Hütte zu gelangen, wenn Menzel sich wieder besoffen hatte, und das geschah fast täglich. In diesem Zustand war er besonders gemein, und die Legionäre mieden ihn dann wie die Pest. Wenn ein lautes Grölen aus dem Bunker scholl, machten alle einen weiten Bogen.
Werner kam gerade von Posten. Im Erdbunker wurde das Legionärslied gesungen. Menzel „feierte“ mit einigen Saufkumpanen. Werner blieb einen Augenblick stehen und prüfte die Umgebung. Niemand war zu sehen. Kurz entschlossen riegelte er die Hütte auf und huschte hinein. In kurzer Zeit hatten sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt. Dann sah er, fein säuberlich aufgeschichtet, die begehrten Dinge. Zehn Handgranaten, zwei Sprengladungen und etliche gefüllte Patronentaschen konnte er unter seiner Kleidung verstauen, ohne daß es beim flüchtigen Hinsehen besonders aufgefallen wäre. Vorsichtig spähte er durch die Türritze, ehe er wieder ins Freie trat. Freudig empfing ihn Ho. „Gib her, Kamerad, ich verstecke es bis heute nacht.“ In der Ecke seiner Hütte kam unter dem Brennholz eine kleine Grube zum Vorschein. Er hat gut vorbereitet, stellte Werner anerkennend fest. „Ich werde nochmals gehen.“ „Sei vorsichtig, Kamerad“, mahnte Ho. „Keine Angst, es wird schon nichts passieren. Menzel säuft heute wie ein Loch, und außerdem wird es bald dunkel.“ Werner ging in seine Hütte und wartete dort den Einbruch der Nacht ab. Dann nahm er seinen leeren Tornister unter den Arm und machte sich auf den Weg. Er wollte diesmal eine größere Ladung holen, damit es sich wenigstens lohnte. Alles ging gut. Unbemerkt hatte er sich wieder in die Hütte geschlichen und seinen Tornister bis zum Bersten mit Munition gefüllt. In jede Hand nahm er noch zwei
Kästen mit Maschinengewehrgurten. Plötzlich hörte er draußen Stimmen. Menzel war mit einigen Legionären aus dem Bunker getreten. Sie standen ungefähr drei Schritte vor der Hüttentür, und einer versuchte den anderen im Erzählen seiner Schandtaten zu übertrumpfen. „Damals bei Haiphong, das muß so im Februar oder März 1948 gewesen sein. Da hatten wir einen Legionär bei uns, Corporal Peligrinelli hieß der Kerl.“ Menzel brach in widerliches Lachen aus. „Ich muß jetzt noch lachen, wenn ich an den Burschen denke. Dieser Kerl war nämlich Schlächter von Beruf. In der Nacht hatte der Posten einen Vietnamesen über den Haufen geknallt. Morgens hat er uns dann gezeigt, was für ein Fachmann er ist. Mit seinem Messer hat er dem Kerl den Brustkorb aufgeschnitten und das Herz herausgeholt und dann…“, die anderen Scheußlichkeiten konnte Werner nicht mehr verstehen, da die Legionäre wieder in den Bunker zurückgegangen waren. Jetzt herrschte draußen wieder Stille. Der Mond warf sein fahles Licht auf La-Bong. Ein Papagei, aus dem Schlaf gescheucht, kreischte. Vorsichtig öffnete Werner die knarrende Hüttentür. Minuten später zog ihn Ho schnell in die Küche und befreite ihn von seiner schweren Last. Werner ließ sich erschöpft neben der Feuerstelle nieder und brannte sich eine Zigarette an. Ho hantierte mit der Munition und füllte sie in handliche Säckchen. In der Nähe der Hütte schrie ein Nachtvogel. „Sie sind da“, sagte Ho und trat vor die Tür. Eine Weile herrschte Stille. Werner war aufs äußerste gespannt.
Ob Ho die Männer mit in die Hütte bringt? In diesem Augenblick schoben sich lautlos zwei Gestalten herein. „Das ist Kamerad Werner, der Ming versteckte und die Munition aus dem Depot holte.“ Mit diesen Worten stellte ihn Ho den beiden Fremden vor. Mit festem Händedruck begrüßten sie sich. Jetzt konnte Werner die beiden Gesichter erkennen, denn ein Windstoß durch die nur angelehnte Tür ließ das Feuer aufflackern. Es sind ja noch Jugendliche, stellte Werner fest. Und so war es auch. Die beiden vietnamesischen Jungen mochten fünf zehn, höchstens sechzehn Jahre alt sein. Der größere von beiden sagte Ho etwas in seiner Muttersprache. Werner bedauerte, daß er nichts verstehen konnte. Dann nahmen sie die Säckchen mit der Munition, verabschiedeten sich und verschwanden wie ein Spuk in der Nacht. Eine Weile lauschte Werner noch angespannt. Die Posten konnten sie nicht entdeckt haben, denn alles blieb ruhig. Jetzt müssen sie längst im schützenden Dschungel sein, dachte Werner beruhigt nach einer Viertelstunde. Er wollte schon gehen, da hielt ihn Ho nochmals zurück. „Warte noch, die Kameraden haben mir eine wichtige Mitteilung überbracht. In drei Tagen, also am Dienstag, beginnt die Gegenoffensive der Volksarmee. Als erstes wird La-Bong überrannt. Die Kameraden bitten uns, ihnen dabei zu helfen. Du weißt, Werner, daß im Bunker bei Menzel drei schwere Maschinengewehre stehen. Ist es möglich, sie vorher rauszuholen oder wenigstens unbrauchbar zu machen?“
Werner überlegte eine Weile. „Es wird schwierig sein, aber ich werde es versuchen. Am besten wird es morgen passen. Menzel muß nach Nghialo zum Rapport. Ich will versuchen, den Posten dann aus dem Bunker zu locken.“ „Sei vorsichtig dabei, Kamerad Werner. Übrigens… morgen nacht kommt Ming mit einer kleinen Gruppe.“ „Ming ins Dorf?“ Werner dachte sofort an die große Gefahr, die dem Mädchen in La-Bong drohte. „Wenn einer der Legionäre sie sieht, ist es schlecht um sie bestellt.“ Der Koch lächelte über Werners Sorge. „Es wird sie schon keiner sehen. Ming hat Erfahrung. Sie ist schon viele Jahre bei der Volksarmee, war oft in der Legion und hat wichtige Nachrichten ausgekundschaftet.“ „Na gut. Also bis morgen.“ Auf dem Wege zu seiner Hütte wurde Werner plötzlich angerufen. „Legionär Scholz“, antwortete Werner. Der grelle Schein einer Taschenlampe blendete ihm ins Gesicht. „Was machst du noch so spät hier draußen?“ „Bißchen frische Luft geschnappt“, antwortete Werner harmlos. „Hau dich lieber auf deine Pritsche. Sonst kann es dir passieren, daß dich mal einer ohne Anruf über den Haufen knallt.“ Am nächsten Morgen tobte Sergent-major Menzel vor der Front der angetretenen Legionäre. „Ihr Nachtwächter, ihr verdammten! Die Viet-Minh haben uns heute nacht aus dem Depot Munition geklaut! Ich lasse alle
Posten erschießen!“ drohte er wild. „Wie ist so etwas möglich?“ Einer wußte, wie so etwas möglich war, nämlich Werner, der sich innerlich amüsierte. „Wer hat etwas Verdächtiges bemerkt?“ Menzel blickte wütend von Mann zu Mann. „Wer heute nacht Wache hatte, vortreten!“ schrie er. Die halbe Einheit war das. „Nun?… Los! Sprecht, ihr Halunken!“ „Legionär Scholz lief um Mitternacht durch das Dorf“, meldete ein Posten. „Scholz?!“ Menzel zog die Augenbrauen hoch. „Was wolltest du heute nacht im Dorf, he?“ „Nur etwas Luft schnappen, Sergent-major.“ Werner war aus dem Glied vorgetreten. Was wollte Menzel ihm schon anhaben? Beweisen konnte ihm niemand etwas. Menzel konnte sich schon seit dem Tage, als Werner mit seinem toten Kameraden am Bunker erschienen war, eines Mißbehagens nicht erwehren, wenn er ihn traf. „Strafkompanie, du Kanaille, he?“ „Jawohl, Monsieur Sergent-major.“ „Nimm dich in acht!“ Weiter wußte er jetzt nichts zu sagen. Gern hätte er diesem Scholz eins ausgewischt, aber er hatte absolut keine Handhabe. Einen Befehl, der den Legionären nachts das Verlassen der Unterkünfte verbot, gab es nicht. „Ab sofort wird das Depot bewacht, verstanden?… Wegtreten!“ Mittags fuhr Menzel mit zwei Mann Begleitung nach Nghialo zum Rapport. Vor dem nächsten Abend kam er dann meistens nicht zurück. In der Stadt gab es etliche
Lokalitäten, die den Legionären für viel Geld das boten, was sie suchten; Musik, Schnaps und Mädchen. Das war für Menzel gerade das richtige. Am Abend ging Werner zum Bunker. Vor der Tür saßen zwei Legionäre: der Stellvertreter Menzels, Legionär Ullrich, und der Posten für das Munitionsdepot. Werner setzte sich zu den beiden. Während die sich über alles mögliche unterhielten, überlegte Werner krampfhaft, wie er unbemerkt die Maschinengewehre aus dem Bunker holen könne. Plötzlich kam ihm eine Idee. Ja, so müßte man es versuchen. „Die Moskitos nachts sind fürchterlich. Mich haben sie schon halb aufgefressen. Wenn die Legion nicht so geizig wäre, dann hätten wir schon längst jeder unser Netz.“ Die beiden Legionäre nickten zustimmend. „Menzel kommt ja heute nacht sowieso nicht zurück. In Nghialo wird er wohl nicht an Langeweile leiden.“ Die Legionäre quittierten Werners Feststellung mit einem Grinsen. „Das Moskitonetz von Degorce liegt doch noch im Bunker. Wenn du nichts dagegen hast“, wandte er sich an Ullrich, „werde ich heute nacht mit im Bunker schlafen.“ „Na, um so besser“, stimmte Ullrich zu. „Nach den letzten Vorfällen reiße ich mich wahrhaftig nicht danach, allein zu schlafen.“ Werner atmete erleichtert auf. Sein Vorhaben ließ sich gut an. Ungefähr nach einer Stunde ging er mit Ullrich in den Bunker. Seine Maschinenpistole legte er wie immer neben sich. Für alle Fälle! Legionär Ullrich fiel schnell in tiefen Schlaf, und bald
tönte sein Schnarchen durch den Bunker. Vorsichtig stand Werner auf und tastete sich zur gegenüberliegenden Wand. Hier lagen unter einer Zeltbahn die drei Maschinengewehre. Vor dem Bunker schrie wieder der Nachtvogel. Das verabredete Signal. Ho war da. Werner huschte zum Ausgang und öffnete. Behend schlüpfte der Vietnamese die Erdstufen herunter. Werner tastete im Dunkeln nach ihm. Ho hatte eine Maschinenpistole in der Hand. „Es hat alles geklappt. Der Posten vor dem Depot stört uns nicht mehr. Hast du die Maschinengewehre?“ flüsterte der Koch. „Ja, komm…. hier drüben an der Wand.“ Legionär Ullrich hörte nichts. Sein Schnarchen klang regelmäßig und beruhigte die beiden. „Wir müssen zweimal gehen“, flüsterte Werner. Jeder mit einem schweren Maschinengewehr bepackt, schlichen sie sich aus dem Bunker. Bis zu Hos Hütte hatten sie ungefähr dreihundert Schritte zurückzulegen. In einem Gebüsch neben der Tür erwartete sie bereits Ming mit einer dreiköpfigen Gruppe. Werner war es rätselhaft, wie sie es jedes Mal verstanden, völlig unbemerkt in das Dorf zu gelangen. Die Posten schliefen bestimmt nicht, dazu hatten sie viel zu sehr Angst vor einer Überrumpelung. Die beiden legten die Maschinengewehre ab und begrüßten die Freunde hastig. Viel Zeit hatten sie nicht. Es galt, so schnell wie möglich die Aktion zu beenden, denn die Postenablösung nahte. Plötzlich hörten sie Autogeräusche. Dann war es wieder still. „Was war das?“ fragte Ho beunruhigt. Werner zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.“ Vorsichtig machten die beiden sich wieder auf den
Weg zum Bunker, um das dritte Maschinengewehr und die von Ho erbeutete Maschinenpistole zu holen. Nichts Verdächtiges war unterwegs zu bemerken. Woher das Motorengeräusch gekommen war, blieb ebenfalls ungeklärt. Werner trat zuerst in den Bunker. Zwei Schritt hinter ihm folgte der Vietnamese. Von kräftigen Armen gepackt, wurden sie plötzlich die Stufen hinabgerissen. Eine Taschenlampe flammte auf. Menzel stand mit gezogener Pistole vor den beiden am Boden Liegenden. Der Sergent-major war überraschend mit seinen beiden Begleitern aus Nghialo zurückgekehrt. Gewarnt durch den toten Posten vor dem Munitionsdepot, hatten sie mit dem Legionär Ullrich zusammen Werner und Ho im Bunker aufgelauert. „So“, schrie Menzel, „jetzt haben wir endlich die Schweine!“ Unter wüsten Beschimpfungen und Drohungen traktierte er die beiden mit Fußtritten und gab den Befehl, sie zu fesseln. Den Rest der Nacht verbrachten Werner und Ho, schmerzhaft gefesselt, im Bunker auf der Erde. Ullrich mußte sie bewachen. Ihre Lage schien hoffnungslos. Werner überlegte, daß sie frühestens in zwei Tagen durch die angekündigte Offensive der Volksarmee auf Befreiung rechnen konnten. Schon am anderen Morgen aber würde man sie brutal foltern, um Aussagen zu erpressen, an wen Waffen und Munition weitergegeben worden waren. Dann würde man kurzen Prozeß machen, vorausgesetzt, sie überlebten überhaupt die unmenschlichen Mißhandlungen. An Schlafen war jetzt nicht mehr zu denken. Nach einer Ewigkeit begann es draußen zu dämmern, und ein
schwacher Lichtschein fiel durch die Ritzen der Bunkertür. Wo wird Ming mit ihrer Gruppe jetzt sein? überlegte Werner. In diesem Augenblick krachten Schüsse im Dorf. Ein Maschinengewehr begann zu hämmern, und dazwischen explodierten Handgranaten. Kopflos stürzte Ullrich aus dem Bunker. Menzel sprang von seiner Pritsche auf und folgte ihm schlaftrunken. „Unsere Freunde!“ jubelte Ho. Angespannt lauschten sie den Vorgängen im Dorf. Immer näher kam der Gefechtslärm, Aber dann wurden die Schüsse spärlicher, bis es schließlich wieder ruhig im Dorf war. Aufs äußerste erregt lauschten die beiden Gefesselten. Hatten die Legionäre La-Bong wieder fest in ihrer Hand? Eine Gestalt verdunkelte den Bunkereingang. Auf vietnamesisch rief sie etwas in den Raum. Ho antwortete in seiner Muttersprache, und ehe Werner recht zur Besinnung kam, war er bereits von den Fesseln befreit. Auf dem Dorfplatz standen die Legionäre mit erhobenen Händen. Menzel befand sich nicht unter ihnen. Später erfuhr Werner von Ho, daß man ihn auf der Flucht aus dem Dorf erschossen hatte. Um den Stoß der erbeuteten Waffen sammelten sich immer mehr Volksarmisten, die das Dorf durchsucht hatten. Sie tauschten teilweise ihre Gewehre in Maschinenpistolen um und ergänzten ihren Munitionsvorrat. Werner und Ho waren sofort von den braunen Männern umringt, die ihnen herzlich die Hände schüttelten. Ho wies dabei immer wieder auf Werner und erklärte seinen Landsleuten etwas auf vietnamesisch.
Werners anfängliche Verlegenheit schlug sehr schnell in unbeschreibliche Freude um, als die Soldaten ihm lachend auf die Schulter klopften und ihm versicherten, daß er von nun an ihr Freund sei und sie ihn nicht mehr zur Legion rechneten. Da drängte sich Ming durch den Kreis der Soldaten. Sie begrüßte Werner lebhaft und wies dabei hinter sich. Werner erblickte ehemalige Legionäre in der Uniform der Volksarmee. „Na, Kamerad, das war Hilfe zur rechten Zeit, was?“ „Das kann man wohl sagen“, lachte Werner. „Morgen geht’s nach Nghialo.“ „Nehmt mich mit, Kameraden!“ bat Werner. Statt einer Antwort drückte Ming ihm eine Maschinenpistole in die Hand. Ununterbrochen marschierten im Laufe des Tages singende Kolonnen der vietnamesischen Volksarmee in La-Bong ein. Ursprünglich sollte das Dorf erst am nächsten Tage mit Beginn der großen Herbstoffensive eingenommen werden. Ming benachrichtigte aber mit ihrer Gruppe in der Nacht die Einheit von der großen Gefahr, in der die beiden Freunde schwebten. Werner staunte über die gute Ausrüstung der Volksarmee. „Alles Beute“, klärten ihn die Kameraden auf. „Made in USA. Jetzt tragen Reisbauern diese Waffen, und sie verstehen gut damit umzugehen. Die Geschütze hatten wir auseinandergenommen und in wochenlanger Arbeit Stück für Stück über das Thai-Gebirge geschleppt.“ Begeistert vom Kampfgeist und der Moral, die in der Volksarmee herrschten, stellte Werner Vergleiche zur
Fremdenlegion an. Ja, diese Menschen wußten, wofür sie kämpften! Am nächsten Morgen wurde Werner vom Donner der Geschütze geweckt. Das waren die letzten Vorbereitungen des Angriffs auf Nghialo. Mit einer Gruppe Deutscher marschierte Werner durch den Dschungel. Endlos schlängelten sich die Kolonnen von allen Seiten auf die Stadt zu. Dann begann der Angriff. Gleich beim ersten Sturm wurde eine Kompanie marokkanischer Schützen überrannt, und bereits am Abend des 14. Oktober war Nghialo von der Volksarmee eingeschlossen. Rund dreieinhalbtausend Kämpfer bildeten einen eisernen Ring. Verzweifelt versuchten ihn die Eingeschlossenen zu sprengen. Das französische Hauptquartier in Hanoi war äußerst beunruhigt über die Funkberichte aus Nghialo und sandte B-26-Bomber. Vergeblich. Immer näher schob sich die Volksarmee in tagelangen, erbitterten Kämpfen an die Stadt heran. Am Sonnabendnachmittag trat auch Werner mit seiner Gruppe zum letzten Angriff auf die Stellungen der Legionäre an. Es war eines der erbittertsten Ringen um die Befreiung Vietnams von der französischen Kolonialherrschaft. Bis in die Nacht hinein wechselten Artillerieduelle mit blutigen Handgemengen. Nach eingebrochener Dunkelheit erhellten Leuchtgeschosse der feindlichen Bomber das Schlachtfeld. Als es gegen drei Uhr morgens von den Bergrändern zu dämmern begann, tobte der Kampf bereits zwischen
den ersten Häusern am Stadtrand. Fünf Stunden später wehte die Fahne der Volksrepublik Vietnam über Nghialo. Die Befreier zogen erschöpft, aber begeistert und singend durch die brennenden Straßen. Jubelnd empfing sie die Bevölkerung. Wochen später. In Düsseldorf halten zwei glückliche Menschen folgenden Brief in den Händen: Nghialo, am 19. Oktober 1952 „Meine lieben Eltern! Dieser Brief wird einen anderen Weg nehmen. Er kommt über China, die Sowjetunion und Polen zu Euch. Seit einer Woche bin ich nicht mehr in der Fremdenlegion, sondern auf vietnamesischer Seite. Nach schweren Kämpfen haben wir heute die Stadt Nghialo erobert. Macht Euch keine Sorgen um mich, denn es geht mir gut. Ich habe die erste freie Minute dazu benutzt, um Euch diese Zeilen zu senden und sitze zwischen den rauchenden Trümmern, während ich schreibe. Wie alles gekommen ist, daß ich heute ein freier Mensch bin und weiß, wofür ich kämpfe, werde ich Euch erzählen, wenn ich wieder in Deutschland bin. Lange wird das nicht mehr dauern, denn unsere vietnamesischen Freunde legen unserer Heimfahrt nichts in den Weg. Herzlichst, Euer Sohn Werner.“
Schlanke Segelflugzeuge schweben über Täler und Bergkuppen, klettern bei günstigem Aufwind zu großen Höhen hinauf bis dicht unter die weißen bauschigen „Wolken und kommen dann wieder sanft zur Erde herab. Manchmal wird auch bei schlechtem Wetter geflogen, in die “Waschküche“ dicker, grauer Regenwände hinein. Dann pfeift und heult der Sturm in den Verstrebungen, rüttelt an den Tragflächen und wirft die „Kiste“ wild herum. Wollt ihr das und Adalberts Bruchlandung miterleben? Dann lest das Buch von Hans-Joachim Härtung