DER GROSSINQUISITOR
CIVITAS TERRENA #3
ACHIM HILTROP / MARTIN HOYER
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AE-Firmenzentrale, Atlanta (EUMON) „Eintrag ...
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DER GROSSINQUISITOR
CIVITAS TERRENA #3
ACHIM HILTROP / MARTIN HOYER
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AE-Firmenzentrale, Atlanta (EUMON) „Eintrag beendet, Tagebuch schließen.” Horaz lehnte sich zurück. Nach fast zwei Monaten verlief nun offenbar doch alles wieder in seinen gewohnten Bahnen. Die Aufregung über den geplanten Anschlag auf die Firmenzentrale von AE und den damit in Verbindung stehenden Angriff auf das Überführungsgefängnis, bei dem die Terroristen und zwei Polizisten ums Leben gekommen waren, hatte sich aber schon früher wieder gelegt. Die Ermittlungen liefen nur noch auf Sparflamme, sowohl bei den lokalen Behörden als auch beim FBE. Selbst die Nachforschungen von Horaz waren irgendwann im Sande verlaufen, was bei diesem wieder einen gelinden Unmut Frust wachrief, als er daran dachte. Er griff nach seiner Kaffeetasse, stellte diese aber wieder ab, als er feststellte, daß das Getränk inzwischen kalt geworden war. Demonstrativ schob er die Tasse weit von sich, tippte mit der linken Hand eine Tastenfolge und die Polizeiakte zu dem Fall erschien auf dem Monitor. Horaz’ Blick wanderte zu dem Eintrag Leitender Ermittler und er grinste. Cosano ist ein verflucht zäher Hund, dachte er. Der Ermittler sich nicht daran gestört, daß er den Fall schon eine Woche nach Akteneröffnung ans FBE hatte abgeben müssen. Ein weiterer Tastendruck ließ die Akte wieder verschwinden. Die Frist betrug nur 20 Sekunden, dann bemerkten sogar die veralteten Sicherheitsprotokolle des Polizeirechners den unberechtigten Zugriff. Es war nicht so, daß man die Fährte hätte zurückverfolgen können, aber Horaz wollte in kein Wespennest stochern. Er war schon froh, daß sich die Cops nach dem Mord zweier ihrer Leute nun wieder beruhigten, nachdem sie wochenlang unnachgiebig die Stadt umgekrempelt hatten. Das bei dieser Gelegenheit gleich tüchtig ausgemistet worden
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war, stellte einen positiven Aspekt an dieser leidigen Sache dar. Erneut betätigte Horaz eine Taste und endlos scheinende Zahlenkolonnen, unterbrochen von gelegentlichen kurzen Textpassagen und verschiedenen Diagrammen wanderten über die Wände des Projektraumes. Horaz warf kaum einen Blick darauf, seine Aufgabe war es lediglich, die aus der ganzen Welt zusammenlaufenden Daten in den Hauptrechner einzuspeisen um sie filtern, analysieren und archivieren zu lassen. Die Wirtschaft war nicht sein Gebiet und ihm reichte es zu wissen, daß sowohl die Bilanzen von AE als auch die des Partnerkonzerns AMGA sehr gut aussahen. Wie die Bilanzen zwischen Aheema McGerwyn und Vincent Alexander privat standen, das war derzeitiges Lieblingsthema lokaler Boulevardblätter. Horaz interessierte sich im Grunde nicht für die Privatangelegenheiten seines Chefs, aber er konnte zwei und zwei zusammenzählen und wußte, daß die beiden seit anderthalb Monaten Tag und Nacht zusammen waren. Soweit sich dafür Platz in seinem durch die ausschließliche Beschäftigung mit Datenverarbeitung geprägten Denkprozessen fanden, hielt er Aheema und Vincent für zwei Leute, die sich nicht gesucht und dennoch gefunden hatten. Mit größtenteils identischen Zielen, Übereinstimmung der Ansichten und vergleichbaren Interessen hielt er sie für ein faszinierendes Paar. „So ein ausgemachter Blödsinn.” Aheema warf die Zeitung achtlos auf den Tisch, sie rutschte weiter und fiel auf den Boden. „Wenn es nach der Presse geht, sind wir schon seit Jahrzehnten verheiratet.” „Wäre das so abwegig?”, fragte Vincent lächelnd und legte von hinten beide Arme um sie. Aheema blickte über ihre Schulter in sein Gesicht. „Soll das ein Antrag sein?”, lächelte sie zurück.
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„Es könnte einer werden”, entgegnete er. „Unsere Beziehung ist niemandem ein Geheimnis mehr, aber ...” „Du möchtest dich nicht binden, oder?”, mutmaßte sie. Es war keine Spur von Enttäuschung dabei, sondern einfach nur eine Feststellung. „Ich brauche keinen Trauschein um zu wissen, woran ich mit dir bin”, fügte sie sanft hinzu. „Ich weiß, aber nein, das ist es nicht.” Er schüttelte leicht den Kopf. „Ich habe gute Gründe und wenn alles so läuft, wie ich erwarte, wirst du sie heute beim Abendessen erfahren.” „Werde ich überrascht sein?”, fragte sie mit gespielter kindlicher Neugier. Vincent nickte. „Mit ziemlicher Sicherheit...”
Rom, der Vatikanstaat Kardinal Eugenio Maria Lopez nahm die goldene Lesebrille mit den runden Gläsern von seiner sichelförmigen Nase und legte sie vor sich auf den mit Büchern übersäten Schreibtisch. Obwohl der Hochsicherheitstrakt der päpstlichen Bibliothek etliche Stockwerke unter dem Boden des Vatikans lag und die Sonne, die über Rom strahlte, nicht in diese Tiefen vordringen konnte, und obwohl die Klimaanlage die Räumlichkeiten mit angenehmer Temperatur und Luftfeuchtigkeit versorgten, kam sich Lopez vor wie in einer Sauna. Sein Blick fiel fast automatisch auf die in der Wand eingelassene digitale Anzeigetafel der Klimaanlage. Nein, nichts hatte sich geändert. Alles war in Ordnung, die Anlage war noch immer auf Werte eingestellt, die das kostbare Papier der jahrhundertealten Manuskripte schonen sollte. Trotzdem schwitzte Lopez. Vermutlich machte ihm sein Alter zu schaffen, oder die Umstellung auf das Mittelmeerklima, nachdem er bis vor einigen Tagen seinen Recherchen im eisigen Norden von Grönland nachgegangen war.
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Lopez setzte die Brille wieder auf und wandte sich seufzend seiner Lektüre zu. Vor ihm ausgebreitet lag eine Papyrusrolle, deren ungefähres Alter man schon anhand der Brüchigkeit des Materials und dem verblaßten Aussehen der altägyptischen Hieroglyphen abschätzen konnte. Neueste Untersuchungen hatten ergeben, daß dieses Manuskript schon uralt gewesen sein mußte, als Jesus geboren worden war. Der Kardinal schüttelte nachdenklich den Kopf, als er die fragliche Textpassage, die ihm so viel Kopfzerbrechen bereitete, wieder und wieder las. Von einem Wesen war dort die Rede, so gräßlich und abscheulich, daß dem unbekannten Chronisten glatt die Hieroglyphen fehlten, um es zu beschreiben. Allen Anschein nach handelte es sich um ein übernatürliches Wesen, dem geheimnisvolle Kräfte nachgesagt wurden. Nun gut, davon gab es in den Sagen und Mythen fast jeder Kultur mindestens eins, und Wesen mit geheimnisvollen Kräften kamen selbst in der Heiligen Schrift vor. Was Lopez beunruhigte, war der Ausdruck, den der ägyptische Chronist für das besagte Wesen gewählt hatte. „Der Zuchtmeister“, sagte Lopez nachdenklich und rieb sich gedankenversunken das Kinn. Der Zuchtmeister-Mythos also. Mal wieder. Nun auch in ägyptischen Manuskripten aus dem Jahre 5000 vor Christus ... Lopez rollte den Papyrus wieder zusammen und versiegelte es in einem schützenden Kunststoffröhrchen. Dann legte er das kostbare Schriftstück auf einen großen Stapel neben seinem Schreibtisch, wo sich bereits aramäische Manuskripte, mittelalterliche Bücher, babylonische Tontäfelchen und Skizzen von Lukas Cranach aufeinandertürmten. Seit Jahren studierte Kardinal Lopez die Mythen, Märchen und Sagen aller bedeutenden Weltreligionen und Kulturkreise. Was als ein simpler Versuch begonnen hatte, Überschneidungen und Gemeinsamkeiten zu finden und den Anspruch des Heiligen Stuhls auf die Verkündung des einzig wahren Glaubens zu untermauern, war im Laufe der Recherchen zu einem
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verwirrenden Puzzlespiel ausgeartet, welches immer neue Fragen aufwarf, statt sie zu beantworten. Zum Beispiel, warum ein mächtiges, monströses und unerklärbares Wesen in einer altägyptischen Handschrift ebenso vorkam wie im Tagebuch eines irischen Mönchs, der mit Erik dem Roten gesegelt war, dessen Wikinger die Neue Welt beinahe ein Jahrtausend vor ihrer Entdeckung betreten hatte. Oh ja, die Kirche hatte von der Existenz der Neuen Welt gewußt. Angst und Unsicherheit hatten jedoch verhindert, daß aus diesem Wissensvorsprung Kapital geschlagen werden konnte. Lopez hatte errechnet, daß ein weniger zögerliches Vorgehen den papsttreuen europäischen Königshäusern enorm profitable Kolonien und dem Vatikan einen unermeßlichen Reichtum beschert hätte. Aber es war alles anders gekommen, und spätestens seit Papst Franziskus von Assisi seine Dogmen von Armut und Demut zum Fundament des Glaubens erhoben hatte, war der Machtfaktor Kirche von der politischen Weltbühne so gut wie verschwunden. Das Zuchtmeister-Mythos also ... Lopez lehnte sich zurück und faltete die Hände hinter seinem Kopf. Die Vielzahl der Quellen, in dem dieses Wesen auftauchte, war beeindruckend. Halb Mensch, halb Tier – so oder ähnlich wurde der Zuchtmeister immer wieder beschrieben. Allmächtig, allwissend, scheinbar allgegenwärtig ... fast schon wunderte sich Lopez, daß sich nicht sogar eine eigene Religion um diesen Mythos gebildet hatte. Andererseits, wer konnte schon mit Gewißheit sagen, daß es nicht irgendwo in der Welt tatsächlich eine geheime Sekte gab, die diese Kreatur anbetete? In den Völkern der Afrikanischen Allianz oder auf den Inseln des Südpazifiks gab es hunderte, wenn nicht gar tausende von okkulten Religionen, von denen höchstens die Hälfte von päpstlichen Agenten untersucht und dokumentiert worden war. Lopez nahm sich vor, auch diese Möglichkeit zu überprüfen.
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Sein Blick fiel auf die Rohrpostanlage neben der Tür. Dort wartete ein vergoldeter Nachrichtenzylinder auf ihn. Lopez runzelte die Stirn; wann war das Ding denn angekommen? War er so vertieft in seine Arbeit gewesen, daß er das Rumpeln, mit dem sich die ankommenden Rohrpostbomben ankündigten, überhört hatte? Lopez öffnete das Entnahmefach und griff nach dem Zylinder. Vergoldet, also vom Chef, also wichtig. Mit zitternden Fingern schraubte er den Behälter auf und zog den zusammengerollten Zettel heraus. „Ihr wolltet mich sprechen, Eure Heiligkeit?“ Lopez blieb in respektvollem Abstand stehen, nachdem ein Soldat der Schweizer Garde die Tür des päpstlichen Audienzzimmers hinter ihm geschlossen hatte. „Ah, Eugenio. Komm doch rein. Nimm Platz.“ Papst Gregor XXVII. deutete auf den einzigen noch freien Ledersessel im Raum. Die anderen beiden Sitzgelegenheiten waren bereits vom Papst selbst und einem Gardisten belegt. „Ihr kennt Euch?“ fragte der Papst, als Lopez näher trat. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort. „Kardinal Eugenio Maria Lopez, Großinquisitor der Kongregation für die Glaubenslehre. Hauptmann Urs Schlatter, Sondereinsatzkommando der Schweizer Garde.“ „Angenehm“, sagte Lopez und lächelte dünn. „Eminenz.“ Schlatter deutete eine Verbeugung an. „Eugenio, wir haben ein Problem“, wandte sich der Papst an den Kardinal. „Erinnerst du dich noch an das Projekt Pecunia?“ Lopez schmunzelte. Das Projekt Pecunia war sozusagen sein Baby. Er hatte das Projekt vor Jahren selbst entwickelt, bevor er seine jetzigen Studien aufgenommen hatte. Die Idee des Projekts war es, durch fingierte Testamente von Millionären einen Teil ihres Vermögens zu erben, sobald diese starben. Daß an dieser Stelle im Zweifelsfall auch nachgeholfen werden mußte, war ein notwendiges Übel, welches man billigend hätte in Kauf
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nehmen können. Das Projekt war aber schon vor Jahren eingefroren worden. „Natürlich, Eure Heiligkeit.“ „Hauptmann Schlatter ist von mir mit der Wiederaufnahme des Projekts und der praktischen Durchführung der Phase Eins beauftragt worden“, sagte der Papst und forderte den Gardisten mit einer Handbewegung auf, fortzufahren. „Sehr wohl“, Schlatter nickte eifrig. „Wir haben als Zielobjekt für Phase Eins den perfekten Kandidaten gefunden, oder? Aufgewachsen in einem kirchlichen Waisenhaus, keine lebenden Verwandten, eingefleischter Junggeselle und dazu der Direktor eines der einflußreichsten internationalen Konzerne mit Standorten auf beiden Seiten des Atlantiks, oder?“ Lopez blinzelte verwirrt, bis er begriff, daß das „oder?“ des Schweizers nur eine Redewendung war und keinesfalls eine Antwort seinerseits erwartet wurde. „Ich verstehe“, sagte er dann langsam, „wenn jemand wie Ihr Zielobjekt sterben würde, wäre es sehr plausibel, daß er sein Vermögen einer gemeinnützigen Organisation vermacht. Der Kirche zum Beispiel.“ „Ja genau, oder?“ Schlatter sah von Lopez zu Papst Gregor XXVII. und zurück. „Wir haben auch in der Zwischenzeit einen unserer Agenten in den Konzern eingeschleust, auf oberster Ebene, oder? Jemand, der das uneingeschränkte Vertrauen des Zielobjekts genießt und jederzeit aktiviert werden könnte.“ „Von wem ist eigentlich die Rede?“ fragte Lopez. Der Name des Zielobjekts war noch immer nicht gefallen. „Vincent Alexander“, sagte der Papst ruhig. „Vincent Alexander“, wiederholte Lopez nachdenklich und bemühte sich, seine Überraschung nicht nach außen dringen zu lassen. Der Papst gab sich offenbar nicht mit Kleinigkeiten ab. Wenn Phase Eins schon auf einen Multimillionär von Alexanders Größenordnung abzielte, wie mochte das Projekt dann erst weitergehen…? „Und genau hier liegt das Problem, oder?“ fuhr Schlatter fort. „Weil nämlich unser eingefleischter Junggeselle inzwi-
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schen auf Freiersfüßen ist und, wenn man der Regenbogenpresse glauben darf, schon so gut wie verheiratet.“ Die Mundwinkel des Kardinals sackten nach unten. Dafür hatte man ihn bei seinen Studien unterbrochen? Er hatte wirklich Besseres zu tun, als hier zu sitzen … „Dann müssen Sie den Zeitplan wohl beschleunigen, damit nicht etwa seine Frau am unserer Stelle in den Genuß der Erbschaft kommt. Wo ist das Problem?“ Lopez machte bereits Anstalten aufzustehen, doch die Hand des Papstes auf seinem Arm hielt ihn zurück. „Bleib sitzen, Eugenio.“ Der Tonfall war freundlich, aber unmißverständlich. Lopez sank in den Sessel zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „So einfach ist die Sache nicht, Eugenio“, ergänzte der Papst mit bebender Stimme. „Da du in Grönland nach alten Wikingerknochen gegraben und dich ins Archiv zurückgezogen hast, bist du vielleicht nicht ganz auf dem laufenden. Die Freundin von Mr. Alexander ist niemand anderes als Aheema McGerwyn.“ Lopez atmete hörbar ein. Ausgerechnet ... „Du kannst dir vorstellen, Eugenio, daß die Infiltration des AE-Konzerns weder einfach noch billig war. Wir haben viel, viel Zeit und Geld in die Sache gesteckt, um unseren Agenten dorthin zu bekommen, wo er heute ist. Ein Wort von mir, und unser Return Of Investment kommt ins Rollen – betriebswirtschaftlich gesprochen. Aber ...“, der Papst stach mit seinem Zeigefinger nach der Brust des Kardinals, „... ich werde auf keinen Fall zulassen, daß so ein mohammedanisches Flittchen daherkommt und ...“ „Atheistisches Flittchen“, verbesserte Hauptmann Schlatter nach einem Blick in den Aktenordner auf seinem Schoß verlegen. „Wie auch immer“, winkte der Papst unwirsch ab. „Niemand – ich wiederhole, niemand – kommt uns bei diesem Projekt in die Quere. Habe ich klar und deutlich ausgedrückt, meine Herren?“
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„Jawohl, Eure Heiligkeit.“ Das Gesicht des Kardinals war eine wächserne Maske. „Wobei mir meine Rolle in diesem Szenario noch nicht ganz klar ist, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.“ Der Papst massierte sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. „Du, Eugenio, warst die treibende Kraft bei der Konzeption des Projekts. Wir sind nun mitten in der Durchführung und müssen uns auf neue Rahmenbedingungen einstellen. Hauptmann Schlatter braucht deine Hilfe.“ „Meine mythologischen Studien ...“ „... können warten“, unterbrach ihn der Papst. „Müssen warten.“ „... sind in einem entscheidenden Stadium“, führte Lopez seinen Satz unbeirrt zu Ende. „Ich stehe kurz vor einer wichtigen Entdeckung.“ „Eugenio“, sagte Papst Gregor drohend und lehnte sich in seinem Sessel etwas vor, „Du hast einen direkten Befehl vom Papst der Heiligen Mutter Kirche bekommen. Von wie weit oben muß ein Befehl eigentlich kommen, bis du ihn als verbindlich akzeptierst?“ Lopez schluckte die Antwort, die er auf den Lippen gehabt hatte, hinunter. „Meinetwegen.“ Der Papst lächelte Hauptmann Schlatter zufrieden zu. Der Gardist hatte den Wortwechsel zwischen den beiden Würdenträgern sprachlos verfolgt. „Aber sagen Sie mal, Hauptmann Schlatter“, fragte Lopez unvermittelt, „was in aller Welt spricht eigentlich dagegen, zuerst Miß McGerwyn und dann Mr. Alexander zu beseitigen?“ Schlatter kaute einen Moment lang auf seiner Unterlippe herum. „Wenn Miss McGerwyn unverheiratet und kinderlos stirbt, wird sie wohl kaum die Kirche als Universalerben einsetzen. Eher Greenpeace oder die Friedensbewegung. Das wäre ja eine Verschwendung, oder?“
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„Dann eben andersrum“, Lopez zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Was meinst Du damit?“ Der Papst runzelte fragend die Stirn. „Laßt die beiden meinetwegen heiraten. Dann beseitigen wir Aheema Alexander, und Vincent Alexander erbt ihren Konzern. Und dann stirbt dieser wiederum an gebrochenem Herzen und vermacht alles dem Waisenhaus, in dem er aufgewachsen ist. Und von dort aus fließt das Vermögen über ein paar Zwischenstufen in unsere Kassen.“ Das Gesicht des Gardisten hellte sich auf. „Ja ... So könnte es gehen, oder?“ Der Papst nickte. „Sie sehen, Hauptmann, es war doch eine gute Idee von mir, den Großinquisitor mit ins Boot zu holen. Ich schlage vor, Sie beide setzen sich jetzt zusammen und bereiten alles vor. Je weniger ich von der ganzen Sache weiß, desto besser für uns alle.“ „Selbstverständlich, Eure Heiligkeit.“ Schlatter sprang auf und salutierte. „Kann ich danach mit meinen Studien weitermachen?“ brummte Lopez. Der Papst seufzte. „Alles zu seiner Zeit, mein lieber Eugenio, alles zu seiner Zeit.“
Rejissa-Stiftung, Atlanta „Ich bin überrascht”, meinte eine dumpfe und dennoch scharfe Stimme, „daß Sie schon Erfolge vorweisen können.” „Danke”, meinte Sander. Er konnte seinen Gesprächspartner nicht sehen, aber da er auch keine Lust hatte, in das Dunkel zu starren, welches den hinteren und gleichzeitig größten Teil der riesigen Halle ausfüllte, konzentrierte er sich auf den Aktenordner, welchen er auf seinem rechten Arm balancierte.
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„Es ging schneller als erwartet”, fuhr er fort, „weil sich wider erwarten recht schnell geeignete Leute finden ließen.” „Damit habe ich gerechnet”, stellte die Stimme aus dem Dunkel sachlich fest und etwas schabte über die Fliesen, die den Boden des Saals bedeckten, als hätte ein schwerer Körper seine Position geändert. „Die Menschen folgen Vorbildern und Versprechen und sind dann wesentlich effizienter, als wenn man sie nur bezahlt.” „Ja, das tun sie”, bestätigte Sander und versuchte, das unangenehme Gefühl loszuwerden, welches ihn bei der Art und Weise ergriffen hatte, wie sein Arbeitgeber das Wort Menschen betont hatte. Die Stimme wurde eine Spur schärfer und in gewisser Weise lauernd. „Sie tun das auch, nicht wahr?” „Ich kenne Ihre Möglichkeiten, Mr. Toshing, und ich respektiere Sie”, gab Sander zu. „Aber ich weiß, daß auch Ihnen Grenzen gesetzt sind.“ „Ihre Aufrichtigkeit ist wie immer erfrischend”, meinte die Stimme. „Ich möchte auch aufrichtig zu Ihnen sein: Ich kenne Ihre Gedanken genauso gut wie Sie selbst, wenn nicht sogar besser. Sie sind skrupellos und das macht Sie effektiv. Sie sind intelligent und das macht Sie vielseitig. Aber Sie sind auch sehr ehrgeizig und das macht Sie steuerbar.” „Wie Sie meinen, Mr. Toshing ...”. Sander hatte bereits die Erfahrung gemacht, daß man in solchen Diskussionen mit dem Chef nur den Kürzeren ziehen konnte. „Sie gönnen mir nicht einmal mehr die Freude eines Gesprächs”, stellte Toshing fest. „Aber wie dem auch sei, ich schätze Ihre Eigenschaften wirklich, Mr. Sander. Und ich weiß, daß Sie hauptsächlich deshalb für mich arbeiten, weil Sie hoffen, an meiner Seite aufzusteigen. Ich billige das, aber machen Sie nicht den Fehler, den schon Andere schon vor Zeiten gemacht haben. Sie werden mehr Einfluß erringen, als irgend ein Mensch vor Ihnen hatte, aber damit sollten Sie sich auch begnügen.”
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„Das werde ich”, bestätigte Sander. Er gab sich nicht die Mühe, sein Desinteresse daran zu verheimlichen, daß sein Chef wieder einmal über ihn philosophierte. „Soll ich nun mit der Aufstellung der Einheiten fortfahren?” „Ja. Aber denken Sie an meine Worte.” „Das werde ich”, versicherte Sander. „Und was soll im Fall von Mr. Alexander geschehen?“ „Meine Anweisung besteht nach wie vor: Er darf auf keinen Fall umkommen, es sei denn, Sie können sicherstellen, daß seine Firmenzentrale zeitgleich geschleift wird.“ „Ich verstehe zwar Ihre Anweisung, aber nicht, was Sie damit bezwecken.“ Toshing machte eine längere Pause, bevor er antwortete. „Wenn Alexander stirbt, könnten unkontrollierbare Ereignisse ins Rollen geraten, die unseren Plänen schaden würden. Ist Ihnen diese Antwort verständlicher?“ „Allerdings“, log Sander. Er hätte gern Toshings Gründe erfahren. „Ich werde alles Nötige in die Wege leiten.“ Er wandte sich um und lenkte seine Schritte zur Tür. Jedesmal, wenn er Toshing persönlich aufsuchte, fühlte er sich versucht, weiter in den Raum zu treten und ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. Und jedes Mal, wenn er ging war er froh, daß er es nicht getan hatte. Ein überlegenes Grinsen wanderte auf sein Gesicht. Vielleicht bin ich ja krankhaft ehrgeizig, dachte er, aber damit bin ich auch verrückt genug, mich mit Ihnen anzulegen, Mr. Toshing. „Möglicherweise hast du einen Fehler gemacht und überschätzt deinen Einfluß auf mich”, murmelte er tonlos und verließ festen Schrittes das Gewölbe unter den Gebäuden der Rejissa-Stiftung.
AE-Firmenzentrale, Atlanta,
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Der Konferenzraum war an diesem Abend nicht wiederzuerkennen. Sämtliche Projektionswände zeigten statt ihrer mattschwarzen Grundfarbe grüne Waldlandschaften, die jedem Anwesenden das Gefühl vermittelt hätten, sich auf einer Lichtung in freier Natur zu befinden. Sogar die Geräuschkulisse stimmte. Das Einzige, was der Raum nicht darstellen konnte, waren die typischen Gerüche eines Waldes, aber das störte Vincent, der in dem Raum allein war, nicht. Er wollte keine perfekte Illusion, sondern nur die Stimmung einfangen. Deshalb hatte er die letzten zwei Stunden damit verbracht, den Saal eigenhändig umzuräumen. Wenn er etwas selbst tun konnte, dann zog er es vor, dies auch eigenhändig zu erledigen. Von den zahlreichen Konferenztischen war nur noch einer übrig geblieben, welcher in der Mitte des Raumes stand, auch die Stühle hatten bis auf zwei in einem nahegelegenen Lagerraum verschwinden müssen. Der Tisch war bereits eingedeckt und kritisch begutachtete Vincent sein Werk. Für jemanden, der davon nichts verstand, sah es recht gut aus, wie er fand. Er korrigierte noch schnell die Position des Kerzenhalters, bevor er die Kerzen anzündete. „Beleuchtung dämpfen”, befahl er und die Sprachsteuerung des Raumes stellte die Beleuchtung bis auf die kleinen Leuchtpaneele an den Fußleisten der Wände ab. Zusammen mit dem Streulicht der Projektionswände und dem warmen Schein der Kerzen ergab sich genau die Atmosphäre, die er hatte erreichen wollen. Er zuckte kurz zusammen, als es an der Tür klopfte und warf einen raschen Blick auf die Uhr. Tatsächlich, ich bin gerade noch rechtzeitig fertig geworden, stellte er fest. Mit schnellen Schritten war er an der Tür und öffnete sie langsam. „Treten Sie ein, Mylady”, näselte er und lächelte, als er Aheemas überraschtes Gesicht bemerkte. Sie trat ein und blickte sich um. „Ich dachte, wir wollten die weiteren Projekte besprechen”, fragte sie unsicher und musterte
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das Ambiente. Dann bemerkte sie Vincents Grinsen und lachte auf. „Du bist ein hoffnungsloser Romantiker, weißt du das?” „Ganz im Gegenteil”, konterte er, „ich bin ein hoffnungsvoller Romantiker. Im Augenblick hoffe ich zum Beispiel, daß dir das Ambiente zusagt... Und das du alteuropäische Küche magst.” Sie lächelte, als sie zum Tisch gingen. „Natürlich ... Vorausgesetzt, du hast nicht wieder selbst gekocht. Ich kann mich noch an unser letztes romantisches Abendessen erinnern.” „Keine Panik, diesmal habe ich es Leuten überlassen, die sich darauf verstehen”, beruhigte er sie und zog einen Stuhl zurück. „Aber bitte, setzt dich, wir haben nichtsdestotrotz etwas zu besprechen.” Sie nahm Platz. „Geht es um das, was du heute morgen schon angesprochen hast?” „Ein wenig”, meinte er und setzte sich ebenfalls. „Aber hauptsächlich geht es um die Informationen, auf die ich lange gewartet habe und die heute Nachmittag endlich eingegangen sind ... Was jedoch viel wichtiger ist, es sind Informationen, auf die du schon lange gewartet hast.” „Die Nachforschungen hatten Erfolg?”, fragte sie ruhig, aber sie merkte selbst, daß sie von einer gewissen Unruhe erfaßt wurde. Vincent nickte. „Ich weiß, du mußtest lange darauf warten, daß ich diese Bedingung für die Partnerschaft unserer Unternehmen erfülle, aber die entsprechenden Kreise halten sich sehr bedeckt, wie du weißt.” „Sicher”, bestätigte Aheema. „Aber du hast das Ganze hier doch sicher nicht arrangiert, nur um mir das zu eröffnen, oder?” Sie lächelte wieder. „Ich kenne dich dafür zu gut.” „Kann sein, daß ich in privaten Dingen zu leicht zu durchschauen bin”, gab Vincent zu. „Deshalb möchte ich das Folgende auch möglichst einfach halten. Ich habe die Nachforschungen in den letzten Tagen noch mehr forciert, als es ohnehin schon der Fall war und dafür gibt es einen guten Grund. Ich
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kann vielleicht Geschäftspartner warten lassen, aber ...” Er zögerte. „Aber bei der Frau, die vielleicht in eine Verlobung mit mir einwilligt, kann ich es nicht.” Sie senkte kurz den Blick, dann lächelte sie ihn an. „Du bist auch hoffnungslos altmodisch, weißt du das?“ Vincent stand auf, trat neben sie und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Vielleicht. Ist das dein einziger Hinderungsgrund?“ „Vincent”, meinte sie im gespielten Ärger, „wie kannst du nur todernst sein und gleichzeitig Witze reißen.“ Ihre Stimme senkte sich und sie blickte zu ihm hoch. „Jetzt wo die Informationen verfügbar sind, kann es sein, daß es an meiner Seite sehr gefährlich wird. Es gibt einige Dinge, die ich nun erledigen muß und in die ich dich nicht hineinziehen.” „Bitte, Aheema...”, unterbrach er sie. „Ja oder nein?” Sie senkte den Blick erneut und schwieg für weitere unerträgliche Sekunden. Dann blickte sie auf. „Ja.” Ihre Lippen fanden sich und für lange Zeit war alles vergessen: Von den Problemen um sie herum bis hin zu dem Abendessen, welches immer noch unbeachtet unter seiner Abdeckung kalt wurde. Schließlich ergriff Vincent wieder das Wort. „Weißt du, wir leben beide nicht ungefährlich, aber zwischendurch ist es schön, daß alles einmal außen vor zu lassen. Ich habe übrigens bereits eine Idee für unsere Verlobungsreise.“ „Hm?“ „Was hältst du von Kairo?” Sie blickte ihn überrascht an. Kairo lag mitten in dem Teil von Ägypten, der in einem vor Jahren stattgefundenen Kämpfen zwischen den Emiraten und den Staaten der Afrikanischen Konföderation durch chemische und biologische Kampfstoffe im höchsten Maße verseucht worden war und trotzdem auch heute noch einer der Schauplätze des ewigen Grenzkrieges war. Fast ganz Oberägypten war Niemandsland, ein Schmelztiegel von religiösen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen
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Konflikten, die dort ausgetragen wurden. Kairo lag in dessen Zentrum und war alles mögliche, nur nicht für eine Urlaubsreise geeignet. Es sei denn ... „Gibt es dort Leute, die ich aufsuchen sollte?”, fragte sie und lächelte hintergründig. Er grinste. „Allerdings. Aber nur mit mir zusammen.” Er deutete auf die Projektionswände, auf denen die rauschenden Wälder nüchternen Satellitenfotos, Kartenmaterial Nordafrikas, verschwommenen Personenaufnahmen und Auszügen aus Akten mit dem Siegel von Interpol wichen. „Ich hoffe, du bereust diese Entscheidung nicht”, meinte sie skeptisch, aber der unternehmungslustige Zug in ihrem Gesicht strafte den Tonfall Lügen. Vincent bemerkte noch die Spur eines anderen, weniger erfreulichen Ausdrucks darin, aber er wollte in diesem Moment nicht darüber nachdenken, was es damit auf sich haben könnte. Horaz schaltete die Überwachung des Brainstormingraumes ab. „Da haben sich wirklich die Richtigen gefunden”, stöhnte er auf. „Ich arbeite in einem Unternehmen, daß von Selbstmördern geleitet wird. Warum können sie nicht nach Paris oder Peking reisen, wie alle anderen normalen Paare auch?” Kopfschüttelnd stand er auf. Wenn sie hofften, daß er sie begleiten würde, dann hatten sie sich geirrt, soweit reichte Sympathie dann doch nicht. Damit erschöpfte sich Horaz’ Beschäftigung mit diesem Thema... Abgesehen davon, daß er in diesem Zusammenhang noch etwas Unangenehmes zu tun hatte.
Rom, der Vatikanstaat Eugenio Maria Lopez saß in seinem spartanisch eingerichteten Appartement und blätterte in einem schweren, ledergebunde-
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nem Buch aus dem späten siebzehnten Jahrhundert, welches er entgegen den Vorschriften aus dem Hochsicherheitstrakt der päpstlichen Bibliothek mitgenommen hatte. „Ganz erstaunlich“, murmelte er halblaut, während er ehrfürchtig die eng beschriebenen und reich illustrierten Seiten umblätterte. Es handelte sich um eine Chronik aller damals bekannten Gottheiten und Götzenbilder, von ägyptischen Totengöttern und babylonischen Fruchtbarkeitsgöttinnen über griechische Zyklopen bis hin zu den mysteriösen Wesen, welche die indischen und fernöstlichen Mythologien bevölkerten. Beim Lesen des Buches fiel dem Großinquisitor immer wieder auf, wie viele Gottheiten als Zwitterwesen dargestellt wurden – halb Mensch, halb Tier. Da gab es indische Götter mit Affen- und Elefantenköpfen, griechische Zentauren, Meerjungfrauen und viele ähnliche Kreaturen. Die Idee, ein übernatürliches Wesen könnte sich als eine Kreuzung von Mensch und Tier manifestieren, schien in allen bedeutenden Kulturkreisen der Welt zu existieren. Für Lopez war dieses Phänomen ebenso rätselhaft wie die Tatsache, daß alle Mythologien der Welt ausnahmslos an irgendeiner Stelle detailliert auf Drachen eingingen – egal, aus welcher Epoche oder aus welchem Erdteil die jeweiligen Sagen stammten. Nun gut, die Archäologen von heute vertraten die Ansicht, daß es sich bei den Schilderungen von Drachen tatsächlich um die Beschreibung von Dinosauriern handelte – aber waren die Dinosaurier nicht Millionen Jahre ausgestorben, bevor sich die Menschen überhaupt entwickelt hatten? Demnach hatten Menschen und Dinosaurier niemals zusammen die Erde bevölkert, und nie hatte ein Mensch einen lebenden Dinosaurier zu Gesicht bekommen. Oder etwa doch? Jemand pochte energisch an der Tür und schreckte den Kardinal aus seinen Gedanken. Er klappte das Buch zu und deckte schnell die aktuelle Ausgabe des Osservatore Romano über das brisante Dokument. „Herein!“
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Die Tür ging auf, und Hauptmann Schlatter trat ein. „Guten Abend, Euer Eminenz“, sagte er und steckte sein Handy, mit welchem er offenbar bis eben telefoniert hatte, wieder in die Brusttasche seiner dunkelgrauen Uniformjacke. „Es hat schlechte Neuigkeiten, oder?“ Lopez runzelte die Stirn. „Was ist jetzt wieder?“ „Ich habe gerade unserem Agenten bei AE ein Telefon gegeben, oder?“ „Bitte?!“ Schlatter räusperte sich. „Ich habe unseren Agenten angerufen“, verbesserte er sich dann. „Es könnte sein, daß Mr. Alexander unseren Zeitplan wieder über den Haufen wirft, Euer Eminenz. Ich habe gerade erfahren, daß Mr. Alexander und Miß McGerwyn verreist sind. Und es besteht durchaus die Gefahr, daß es nicht mehr zu der von uns angestrebten Hochzeit kommt, oder?“ „Warum?“ fragte Lopez scharf und nahm seine Lesebrille ab, um sich die Nasenwurzel zu massieren. „Weil die beiden Turteltauben sich ausgerechnet Kairo als Urlaubsziel ausgesucht haben“, sagte Schlatter mit einem schiefen Grinsen. „Kairo?“ Der Mund des Kardinals blieb offen stehen. „Kann man da eigentlich schon wieder ungeschützt herumlaufen?“ Schlatter zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Das Auswärtige Amt der EUMON rät natürlich von einem Aufenthalt im Freien ab, oder? Aber wenn man regelmäßig die entsprechenden Dosen Medikamente zur Prophylaxe gegen Folgeschäden nimmt, kann man es dort aushalten. So lange man nicht das Wasser ungefiltert trinkt, oder?“ Lopez ging nachdenklich auf und ab. Anubis und Poseidon waren vergessen. Seine Gedanken kreisten bereits um ein anderes Thema. „Warum um alles in der Welt Kairo? Warum fliegen zwei junge, verliebte Menschen ausgerechnet in so ein Höllenloch und nicht an einen romantischeren Ort?“
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„Abenteuerlust?“ schlug Schlatter vor. Junge Menschen aus reichen Verhältnissen kamen manchmal auf selbstmörderische Ideen, wenn sie sich langweilten. „Nein, es muß etwas anderes sein. Sagen Sie, diese McGerwyn ... Die ist doch keine Britin, sondern Araberin, nicht wahr?“ Die dunklen Augen des Kardinals musterten den Gardisten prüfend. Schlatter dachte kurz nach. „Iranerin, Euer Eminenz. Aber sie wohnt schon seit Jahren nicht mehr dort. Man munkelt, sie habe sich mit ihrer Familie überworfen, oder?“ „Richtig, richtig ... Daher ja auch die Adoption durch den alten McGerwyn ...“ Lopez schnippte plötzlich mit den Fingern: „... welcher von einem Trupp nordafrikanischer Terroristen umgebracht wurde!“ Schlatter zog fragend eine Braue hoch. „Rache? Ist es das?“ Lopez kratzte sich am Kinn. „Nach allem, was ich über unseren guten Mr. Alexander gehört habe, ist er alles andere als ein eiskalter Killer. Und was seine Freundin angeht ... Nein, ich halte sie auch nicht für so abgebrüht. Vielleicht spielen die beiden nur Detektiv. Aber Neugierde kann eine ebenso starke Motivation sein wie Rache, Hauptmann Schlatter.“ „Ich verstehe, Euer Eminenz.“ „In der Tat?“ Lopez blieb abrupt stehen. „Dann sollten Sie sich mal schleunigst ein Ticket nach Ägypten besorgen. Die beiden Amateure ahnen vermutlich noch nicht mal, in welcher Gefahr sie schweben. Sie könnten einen Schutzengel gebrauchen.“ Schlatter nickte, griff in seine Gesäßtasche und präsentierte dem staunenden Kardinal zwei Umschläge. „Unsere Tickets“, sagte er mürrisch, „wir fliegen in zwei Stunden.“ „Wir?“ fragte Lopez verdattert. „Befehl vom Chef. Sie kommen mit.“
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Nordafrika, Niemandsland Die Sonne brannte heiß auf die Landebahn, und Unmengen feinen Sandes wurden von der Piste aufgewirbelt, als der Learjet aufsetzte, immer mehr verlangsamte und schließlich zum Stehen kam. Auf dem Seitenruder prangte groß die miteinander verknüpften Buchstaben A und E. Es dauerte eine Weile, dann klappte die seitlich angebrachte Ausstiegsluke des Privatflugzeuges auf und Vincent Alexander erschien. Er warf einen Blick nach hinten, als wollte er sich vergewissern, daß die Zwillingsstrahltriebwerke am Heck noch vorhanden waren, dann blickte er nach vorne und schob sich grotesk langsam die Sonnenbrille von der Nase auf Stirnhöhe. Vor der Nase des Flugzeugs gab es noch etwa anderthalb Meter unsauber betonierte Piste, dahinter kam nur noch Sand ... Mit kleinen Steinen und Geröllbrocken durchsetzter, mindestens knöcheltiefer Sand, beschienen von der gleißenden Sonne Nordafrikas. Kommentarlos stupste er die Sonnenbrille wieder an ihren Platz und überwand im Sprung den halben Meter bis zum Boden, darauf verzichtend, die Klapptreppe herunterzulassen. Auf relativ fester Erde angekommen, blickte er sich noch einmal um. In einiger Entfernung konnte er die Funkbaracke des kleinen Privatflugplatzes erkennen, ebenso eine Gestalt, die sich heftig winkend von dort aus auf ihn zu bewegte. Er wandte sich um, als Aheema federnd schräg hinter ihm aufkam. „Du hast gesagt, du könntest fliegen“, meinte sie vorwurfsvoll, nachdem sie ebenfalls einen Blick nach vorn geworfen hatte. „Ich habe gesagt, ich habe einen Pilotenschein“, korrigierte er sie grinsend. „Außerdem wird die Landebahn in den Flugkarten als mindestens 50 Meter länger ausgewiesen.“ „Erzähl das dem da“, meinte sie und deutete auf den immer noch hektisch winkenden Mann, der sie inzwischen erreicht hatte. Es handelte sich offenbar um den Besitzer der Lande-
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bahn und er weckte sowohl vom Alter als auch von seiner Kleiderwahl und Gebaren her den Eindruck, als hätte er irgendwann in den Dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts beschlossen, alle weiteren Neuerungen zu ignorieren. Er hätte einen guten Statisten in einem Remake von „Casablanca“ abgegeben. Der noch überaus agile Greis blieb vor den beiden stehen, lüftete seinen Fez und senkte grüßend den Kopf. Die höfliche Geste war von einem weniger höflichen Gesichtsausdruck begleitet. Vincent ahnte bereit, was jetzt gleich kommen würde und hob abwehrend die Hand. „Auftanken und für einen schnellen Abflug vorbereiten“, meinte er knapp und unterstrich die Aufforderung mit ein paar größeren Scheinen lokaler Währung. „Die falsche Klassifizierung dieses Flugplatzes vergessen wir beide, oder?“ Er zwinkerte dem Mann verschwörerisch zu. Der Alte schaltete schnell. „Gute Weiterreise“, nickte er höflich, nahm das Geld und deutete eine weitere Verbeugung an. Sein Arm wies dabei auf einen Jeep, der an der Trasse stand, die am Flugplatz vorbeiführte. „Es ist alles vorbereitet.“ Vincent wandte sich an Aheema. „Prüf du bitte den Wagen, ich hole schnell unser zusätzliches Gepäck.“ Sie nickte und verschwand in Richtung des Fahrzeuges, während Vincent noch einmal ins Flugzeug kletterte. Kurze Zeit später kehrte er zurück, in jeder Hand einen flachen Koffer aus grauem Kunststoff. Er verschloß die Luke des Flugzeugs und ging zum Jeep, dessen Motorhaube gerade von Aheema geräuschvoll zugeschlagen wurde. „Alles in Ordnung, soweit ich sehen konnte“, meinte sie, „die Ausrüstung auf der Ladefläche scheint ebenfalls vollständig zu sein, Wasser- und Benzinkanister sind voll.“ „Sehr gut. Ich schlage vor, wir brechen sofort auf.“ Er schaute auf die Uhr. „Wir sollten den späten Nachmittag und den Abend noch nutzen, um eine größere Strecke zurückzule-
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gen, dann erreichen wir Kairo morgen noch vor der größten Hitze.“ „Okay. Ich schlage vor, wir meiden den Stroms, in der Nähe von Vater Nil trifft man leicht auf ungemütliche Zeitgenossen.“ Sie deutete auf die Koffer, die Vincent in diesem Augenblick griffbereit in der Fahrerkabine verstaute. „Und was ist das?“ „Du hast mir immer nicht gesagt, was du genau vorhast, deshalb habe ich uns eine Ausrüstung für ...“ Er stockte kurz. „... für besondere Situationen zusammenstellen lassen. Wir kümmern uns heute Abend darum, wenn wir rasten.“ Sander sprang aus dem Cockpit und nahm den Helm ab. Er griff in die Kanzel, zog eine Wasserflasche hervor und trank in kleinen Schlucken, wobei er in die Sonne blinzelte. Nach einer Weile warf er die leere Flasche ins Cockpit zurück und untersuchte den Tiger auf eventuelle Landeschäden. Der Helikopter war lediglich eine Leihgabe von jemandem, der ihm noch einen Gefallen schuldig gewesen war und Sander hatte ihn nun eingefordert. Das hieß jedoch nicht, daß er sich mit dem Betreffenden verscherzen wollte, man wußte nie, wann man noch einmal militärisches Equipment brauchen konnte. Und ein Aufsetzen an dieser Stelle war sehr dazu geeignet, teure Technik in wertlosen Schrott zu verwandeln. Sander erinnerte sich nur zu gut an den Sand und die kleinen Steine, die er mit seiner Landung aufgewirbelt hatte. Aber er hatte diesen Auftrag selbst übernommen, einerseits um endlich mal wieder aus der Stiftung zu entkommen und andererseits, um in Form zu bleiben. Zufrieden stellte er fest, daß bis auf ein paar Kratzer in der Außenverkleidung nichts lädiert war, und diese Schrammen waren eher Beschädigungen kosmetischer Natur. Im Nordosten, wo sich die alte Nachschubtrasse wie ein Strich durch die Wüstenlandschaft zog, wirbelte an einer Stelle eine gewaltige Sandwolke, dort mußte sich das Fahrzeug mit
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den Leuten befinden, nach denen Sander suchte. Er bezweifelte, daß noch jemand auf dieser Strecke unterwegs war. Er spuckte in den Sand, wobei er dem Boden mehr Wasser zukommen ließ, als dieser in den letzten zwanzig Jahren auf einmal gesehen hatte und kletterte zurück in die Maschine. Besser, er ließ den Leuten keinen zu großen Vorsprung. Eine kleine Echse verschwand mit einem ärgerlichen Zischen in ihrem Versteck, als der Motor des Helikopters aufheulte und der Rotor erneut einen kleinen Sandsturm entfachte. „Wir schlafen wohl besser im Wagen“, meinte Aheema, als sie sah, wie Vincent das Material für ein Zelt von der Ladefläche nehmen wollte, „dann kommen wir im Ernstfall schneller weg. Wir sind in einem Gebiet, in dem sich ständig irgendwelche kleinen Gruppen bekriegen, selbst wenn die großen Gefüge, zu denen sie sich bekennen, gerade Waffenruhe halten.“ „In Ordnung, dann rüsten wir uns wohl besser gleich jetzt aus.“ Er warf die Zeltstäbe wieder zurück auf die Ladefläche und zerrte statt dessen die beiden Koffer herunter, die Aheema schon vor ihrer Abfahrt aufgefallen waren. Er legte sie beide auf den Boden und öffnete einen in seine Richtung. Als erste zog er ein grob gefaltetes Stück Stoff heraus und entfaltete es. Zum Vorschein kam ein langer Staubmantel. Das Material erinnerte Aheema an dunkelgraues Segeltuch und sie warf Vincent einen fragenden Blick zu. „Kinflex“, erklärte er. „Ein Material, daß wir vor zwei Jahren entwickelt haben. Es ist eine Art Bimetall, wenn ein Geschoß irgendwo auf das daraus bestehendes Kleidungsstück schlägt, verhärtet sich das gesamte Teil für einen Moment und Energie wird auf eine größere Fläche verteilt. Eigentlich war es für die Behörden gedacht, aber im Endeffekt war die Produktion zu teuer und aufwendig, um einen Markt dafür zu finden. Außerdem müssen die Westen auf den Träger maßgeschneidert werden.“ Mit einiger Mühe knüllte er das Kleidungsstück zu einem Ballen zusammen und reichte diesen an Aheema.
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Sie wog ihn prüfend in der Hand. „Ziemlich leicht“, meinte sie, „aber trotzdem wird das Zeug unsere Beweglichkeit sehr einschränken.“ „Das tut eine Kugel auch.“ Sie schaute ihn kurz verärgert an, lachte dann auf und warf das Bündel nach ihm. „Scherzkeks.“ Vincent fing es auf und warf es wieder zu ihr zurück. „Wir werden sie nicht ständig tragen, nur wenn wir der Ansicht sind, das es nötig wird.“ Er grinste. „Und wenn wir nicht laufen müssen.“ Der Mantel hatte die oberen zwei Drittel des Koffers an Raum gebraucht, das letzte Drittel wurde durch Schaumstoffpalette eingenommen, in der verschiedene kleinere Gegenstände in passenden Aussparungen lagen. Vincent ergriff zuerst ein kleines Headset und gab dieses an Aheema. „Das solltest du kennen. Den Knopf mit der Schlinge klemmst du dir hinter das Ohr, der andere an dem Bügel ...“ „Ich weiß schon.“ Sie legte das Funkgerät an. „Welche Reichweite?“ „Einen Kilometer unter Idealbedingungen. Das ist nicht viel, aber dafür ist schon ein ordentliches Hindernis notwendig, um das Signal in diesem Radius zu blockieren. Nicht gesund, aber auch nicht schädlicher als ein Handy.“ Er wollte wieder in den Koffer greifen, überlegte es sich aber noch einmal. Statt dessen drehte er den Koffer in Aheemas Richtung. Sie zog eine Augenbraue hoch, aber der vorwurfsvolle Blick, den Vincent erwartet hatte, blieb aus. „Nur für den absoluten Notfall, nicht wahr?“, fragte sie. Er nickte. „In Ordnung.“ Sie griff in den Koffer und holte die Waffe und eines von zwei Magazinen heraus. „Uzi-75, Gewicht 750 Gramm, Einzel- und Dauerfeuer, Kaliber 9mm, 24 Schuß pro Magazin. Illegal in den Pachtgebieten, Nordosteuropa und Asien. Wie bis du daran gekommen?“ Sie blickte auf und bemerkte Vincent verwirrten Blick. „Die Wachen auf dem Anwesen
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meines Adoptivvaters hatten das gleiche Modell“, erklärte sie. „Also, wie?“ „Horaz hat die beiden Waffen besorgt und ich habe nicht gefragt, woher.“ Sie steckte das Magazin in den Griff und lud durch, dann legte sie die Waffe vorsichtig beiseite, ohne die Sicherung angerührt zu haben. „Ist sicher auch besser so.“ „Allerdings.“ Sie ging nicht weiter darauf ein, sondern holte das letzte Ausrüstungsstück aus dem Koffer: Eine Sonnenbrille. Jedenfalls sah es wie eine aus. „Und wozu ist die gut?“, fragte sie. „Sei bloß vorsichtig“, stieß Vincent hervor, sprang auf, trat um den Koffer herum, hockte sich neben sie und nahm ihr die Brille aus der Hand. „Du legst sie so an“, erklärte er und setzte sie ihr ganz vorsichtig auf die Nase, „dann drückst du die Bügel über deinen Ohren nach unten, daß sie fest aufliegen.“ „Und dann?“ „Nun, wenn alles so klappt, wie der Erfinder es vorgesehen hat, dann wirst du nicht geblendet, wenn dir die Sonne ins Gesicht scheint.“ „Du ...!“ Sie riß die Brille herunter, schubste ihn zu Boden und hielt ihn fest. „Du kannst es einfach nicht lassen, oder?“, lachte sie. Er lächelte zurück und machte keine Anstalten, sich zu befreien. „Warum sollte ich? Du siehst ja, die Frauen fallen förmlich über mich her, wenn ich so bin.“ „Mag sein, aber jetzt bist du mit mir zusammen und ich mag es gar nicht, wenn andere als ich über dich herfallen.“ „Also gut, ich werde mich bessern“, meinte er und zwinkerte verräterisch. „Bloß nicht“, wehrte sie ab und beugte sich ganz zu ihm hinunter. Diese Bewegung rettete ihr vermutlich das Leben. Es gab ein kurzes, pfeifendes Geräusch, dann explodierte der Jeep in einem gelbroten Glutball. Kleine Metallteile zischten über die
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beiden am Boden Liegenden hinweg und die Druck- und Hitzewelle raubte ihnen den Atem. Vincent schaltete schnell. Er rollte Aheema herum, daß auch sie direkt auf dem Boden lag, griff nach der geladenen Waffe neben sich und entsicherte sie. Aus dem Augenwinkel hatte er gesehen, aus welcher ungefähren Richtung das Geschoß gekommen war, daß den Jeep gesprengt hatte: Eine mit lichtem Wüstengras bewachsenen Düne auf der gleichen Trassenseite, auf der sie gehalten hatten. Er deckte die Kuppe der Erhebung mit kleinen Salven auf Dauerfeuer ein, die ersten Schüsse gingen noch über das Ziel hinweg, weil er den Rückstoß der kleinen Waffe unterschätzt hatte. Neben ihm begann Aheema, sich zu bewegen und aufzustehen. Gerade, als er sie daran hindern wollte, erkannte er, was sie wirklich vorhatte: Sie kroch in den Mantel, der aufgefaltet am Boden lag ... Was eine gute Idee war. Ohne sein sporadisches Feuern einzustellen, öffnete er den anderen Koffer, in dem sich seine Ausrüstung befand und holte mit einer Hand den Mantel hervor. Trotz seiner ungünstigen Lage konnte er ihn halb überwerfen, genau im gleichen Moment, als ein ergebnisloser Druck auf den Abzug signalisierte, daß das Magazin leer war. Er ließ die Waffe fallen und beeilte sich, ganz in den Mantel zu kommen. Keinen Augenblick zu früh, wie sich gleich darauf herausstellte, denn mit dem Abbrechen seines Abwehrfeuers hatten sich auch die unbekannten Angreifer daran erinnert, daß sie über Waffen verfügten. Auch im Halbdunkel sehr gut sichtbares Mündungsfeuer flackerte über der Böschung auf und unzählige Geschosse schlugen um ihn und Aheema herum ein. Obwohl Vincent Kinflex bereits im Praxistest erlebt hatte, bekam er doch einen gehörigen Schreck, als das erste Geschoß im flachen Winkel in seinen Rücken einschlug. Doch er spürte nur einen harten Ruck und den zunehmenden Druck, den der Mantel plötzlich auf seine Schultern, Oberarme und den Brust-
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korb ausübte. Für einen Moment schnappte er nach Luft, dann ließ der Druck nach und er zwang sich, trotz eines weiteren Einschlags und gleichmäßig zu atmen. Er hoffte nur, daß auch Aheema die Nerven behielt. Das schien der Fall zu sein, sie robbte zwar näher an ihn heran, aber erkannte, daß dies zur Absicht hatte, daß sie sich gegenseitig die Köpfe deckten, die nicht geschützt wurden. Eine weitere gute Idee, die jedoch auch nur einen kurzen Aufschub gewähren würde, denn irgendwann würden die Angreifer sie für tot einstufen und hierher kommen. Sie hatten keine Waffen mehr zur Hand und aus nächster Nähe half auch der beste Schutzanzug nichts mehr. „Irgendeine Idee?“, fragte er gerade laut genug, um die Schüsse zu übertönen. „Uns ergeben?“, fragte Aheema zurück. „Okay, ich sag’s ihnen, wenn sie danach fragen“, erwiderte er in einem Anflug von Galgenhumor und wollte noch etwas Tröstliches hinzufügen, als sich zu dem Geräusch der Schüsse ein weiterer Ton gesellte, der rasch anschwoll. Weder Aheema noch Vincent hatten aus ihrer Position heraus einen Blickwinkel, um den Helikopter zu bemerken, der dem Verlauf der Trasse folgend heranraste, über der Szenerie hielt, eine suchende Vierteldrehung machte und seine Nase schließlich der Böschung zuwandte. Das ohrenbetäubende Flattern der Rotoren veranlaßte sowohl Aheema als auch Vincent alle Vorsicht außer Acht lassen und einen Blick nach oben werfen ... Gerade rechtzeitig um zu sehen, wie der Helikopter das Feuer eröffnete. Die Böschung explodierte förmlich in gewaltigen Staubfontänen, die über die Kuppe und das Gelände davor und dahinter wanderten. Dann, von einem Augenblick auf den anderen, brach das Rattern des Geschützes ab und der Rotorenlärm entfernte sich. Totenstille legte sich über die Wüste.
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Sander flog gegen Norden, sein Blick galt ebenso der Wüste unter ihm wie der Tankanzeige und in beiden Fällen sah das Ergebnis trostlos aus. Er mußte sich eingestehen, daß er nur eine sehr einseitige Ausbildung als Pilot genossen hatte, Treibstoffmanagement hatte nicht zu den Dingen gehört, die er als Söldner gebraucht hatte. Weder in Südamerika noch in Asien hatte er jemals mehr als kurze Einsätze geflogen, nicht sehr viel anders als den, welchen er soeben erfolgreich beendet hatte. Ihn interessierte auch nicht, wer in der Wüste unter dem Beschuß aus dem Bordgeschütz gestorben war. Es nicht zu wissen belastete das Gewissen weniger, diese Feststellung hatte er schon zu Anfang seiner Karriere machen müssen und bisher hatte sie sich außerordentlich gut bewährt. Nein, was ihn beschäftigte war schlicht und ergreifend die Tatsache, daß dieses Intermezzo zur Rettung Vincent Alexanders und die damit verbundene Abweichung von der günstigsten Verfolgungsroute seine Treibstoffvorräte außerordentlich geschmälert hatte und er hoffte, daß es trotzdem genügte, um es bis nach Kairo zu schaffen. Wenn nicht, würde er eben improvisieren müssen. Das Gleiche galt auch für Alexander und seine Begleiterin, die hoffentlich clever genug waren, sich der Ausrüstung der Leute zu bedienen, von denen sie angegriffen worden waren. Wenn nicht, würde er zurückkehren und sich auch darum kümmern müssen. Vincent Alexander durfte nicht sterben, die Anweisung des Vorsitzenden der Rejissa-Stiftung war sehr eindeutig gewesen. Sander lächelte zufrieden, als er im Licht der nun endgültig untergehenden Sonne, die unscharfe Silhouette von Kairo vor dem Rot der Abenddämmerung ausmachte. Wenn alles wie geplant verlief, würde er dort auch nachtanken können. Die Nacht war hereingebrochen und das Wrack des Geländewagens hörte bereits auf zu brennen, als sich einige Schritte
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davon entfernt eine feine Sandschicht um mehrere Zentimeter hob. Nur wenige Augenblicke später tauchten zwei schemenhafte Gestalten aus dem Sand auf, richteten sich erst in gebückte Haltung und schließlich zur Gänze auf. Mit starrem Blick versuchte Vincent, die plötzlich hereingebrochene Dunkelheit zu durchdringen, als er sich umsah. Aheema schüttelte den gröbsten Sand aus dem Haar und legte ihm dann die Hand auf die Schulter. „Kannst du etwas sehen?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich erkenne gerade noch dich.“ „Reicht dir das nicht?“, versuchte sie, die Situation aufzulockern und es gelang ihr. „Normalerweise schon“, grinste Vincent und trat dann an das Wrack des Geländewagens, der vollständig ausgebrannt war. Etwas abseits glimmte etwas im Sand und Vincent trat hinzu. Es war eines der Kanthölzer, die zur Befestigung der Ladung gedient hatten. Er hob es auf und trat zu einem undefinierbaren, leicht schwelenden Haufen, der einmal Teil der Ladung gewesen war. Dort zögerte er kurz, lauschte in die Richtung, aus welcher der Angriff stattgefunden hatte und hielt dann das Holz kurzentschlossen an den Haufen. Kurze Zeit später fingen die Lumpen, die wohl einmal Teile des Zeltes gewesen waren Feuer und verbreiteten ein unstetes Licht. Doch es reichte aus, daß Aheema den Handscheinwerfer fand, mit dem zuvor Vincent den Lagerplatz hatte erkunden wollen. Er funktionierte noch und bald wanderte ein suchender Lichtfinger über die angrenzende Umgebung. Aheema trat zu den Koffern, die ebenfalls von der feinen Sandschicht bedeckt waren, die der Helikopter aufgewirbelt hatte und barg sowohl Waffen als auch die Magazine. Letzteres dauerte etwas länger, inzwischen hatte Vincent im Licht seiner improvisierten Fackel das Fahrzeugwrack und sei-
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ne nähere Umgebung abgesucht und kam wieder zu seiner Verlobten. „Es ist nicht viel übrig geblieben“, berichtete er. „Sie haben wohl mit einem tragbaren Raketenwerfer auf uns geschossen, vermutlich dachten sie, wir gehören zu einer ihrer vielen Feinde.“ „Hier ist jeder der Feind von jedem“, meinte Aheema und reichte ihm eine der Waffen. „Was haben wir noch?“ Er zupfte sich am Mantel. „Das, was wir anhaben und“, er deutete auf die Waffen und die Taschenlampe, „daß, was wir in den Händen halten.“ Sie nickte nachdenklich. „Bis Kairo kann es nicht mehr weit sein, zu Fuß brauchen wir vermutlich bis morgen Nacht. Wir können es schaffen, wenn wir der Trasse folgen und morgen während der größten Tageshitze rasten“, meinte sie dann. „Aber dafür brauchen wir Wasser.“ Er deutete in die Richtung, aus der zuvor die Schüsse auf sie gefallen waren. „Vielleicht finden wir welches bei denen, die uns angegriffen haben.“ Er verzog das Gesicht zu einer schwer deutbaren Grimasse. „Die brauchen es sicher nicht mehr.“ „Ja ...“, grübelte sie. „Hast du eine Ahnung, wer uns gerettet hat?“ „Nein.“ Er deutete in Richtung der Düne. „Vermutlich wollte uns niemand retten, sondern nur die erledigen und wir leben noch, weil wir neben einem brennenden Fahrzeug wie tot am Boden lagen. Schauen wir nach, ob wir von ihrer Ausrüstung noch etwas finden.“ Die Erhebung war kaum noch als solche zu erkennen, aber der strenge Geruch von Blut und einsetzender Verwesung verriet ihnen, daß sie die Stelle erreicht hatten. Vincent ging ein paar Schritte vor Aheema, die ihm leuchtete, als er sah, was halb im Sand vergraben vor ihm lag, drehte er sich rasch um. „Schau am besten nicht hin“, warnte er sie, aber sie war bereits neben ihn getreten.
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„Sie sind tot“, meinte sie und machte einem Bogen um die zwei zerfetzten Leichen, „und wie sie gestorben sind erschreckt mich weniger, als daß es so ist.“ „Richtig“, murmelte Vincent und versuchte, nicht weiter daran zu denken. Er richtete sein Interesse auf eine Stelle, die unwesentlich heller wirkte als ihre Umgebung. „Leuchte bitte mal dorthin“, rief er und deutete in seine Blickrichtung. Der Strahl der Lampe enthüllte eine Plane, die auf dem Boden lag und etwas bedeckte. Eine Stelle am Rand der Plane waren mit einem kleinen Tupfer einer fluoreszierenden Farbe versehen, vermutlich, damit man sie auf kurze Sicht auch im Dunkeln wiederfand. Vincent deckte die Plane auf und es kamen zwei Rucksäcke mit einem sandfarbenen Tarnmuster zum Vorschein. „Das muß die Ausrüstung der Toten sein“, stellte Aheema fest. „Ich frage mich nur, wo sie ihr Fahrzeug gelassen haben.“ „Vermutlich wurden sie hier als Beobachtungsposten abgesetzt. Ich schlage vor, wir nehmen das Zeug erst einmal unbesehen mit und legen bis zum Morgengrauen noch ein ordentliche Stück Weg zwischen uns und diesen Ort.“ „Du meinst, bevor jemand erscheint, der sie abholen will.“ „Genau.“ Sie schulterten jeder einen der Rucksäcke und gingen zurück zur Trasse. Dort angekommen, warfen sie einen nachdenklichen Blick zurück, ob sie vielleicht etwas vergessen hatten, dann machten sie sich auf den Weg. Um die Batterien zu schonen und die Gefahr einer Entdeckung zu reduzieren, schaltete Aheema die Taschenlampe aus. Ohne ein weiteres Wort wanderten sie durch die Dunkelheit.
Kairo, Nordafrika,
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Die Skyline von Kairo zeichnete sich wie ein schwarzes, zerklüftetes Gebirge vor dem dunkelblauen, sternenübersäten Nachthimmel ab. Eine bedrückende Stille hing in der Luft. Hier und da glommen vereinzelt Lichtpünktchen von Zigaretten oder Öllampen in der Finsternis auf, ansonsten wirkte die Stadt seit dem letzten Krieg wie eine Geisterstadt. Die eingestürzte Kuppel der Madrasa von Sultan Hassan, einstmals eines der beeindruckendsten Bauwerke Afrikas, rückte in den Bildausschnitt, den Vincent Alexander mit seinem Nachtsichtgerät betrachtete. Der junge Multimillionär lag bäuchlings auf einer Sanddüne am Stadtrand und betrachtete mit einem leichten Gruseln die vielen Warntafeln in fünf verschiedenen Sprachen, welche eindringlich von dem ungeschützten Betreten der Stadt abrieten. Neben ihm kauerte Aheema McGerwyn, vom ausgebrannten Wrack eines Mercedes halb verdeckt. „Al-Qâhira“, murmelte sie und blickte nachdenklich zu der Stadt hinüber. „Ich war schon einmal hier, als kleines Mädchen. Vor dem Krieg.“ „Hm“, machte Vincent abwesend. „Damals war das hier das Paradies. Museen, Restaurants, Casinos, Hotels ... Na ja, und Touristen halt.“ Sie seufzte leise. „Werden wohl kaum Touristen unterwegs sein in der Stadt heute Nacht, was?“ Vincent setzte das Nachtglas ab und blinzelte, um seine Augen wieder an die Dunkelheit zu gewöhnen. Er kniete sich neben Aheema und streichelte aufmunternd ihre Wange. „Keine außer uns, mein Schatz.“ „Wir sollten nicht dort hingehen“, sagte sie unruhig. „Das war vielleicht keine gute Idee.“ „Nun sind wir aber schon mal hier“, sagte Vincent und förderte zwei Ampullen aus einem der erbeuteten Rucksäcke zu Tage. „Gegengift, Nachsichtgeräte ... Die Jungs waren gut ausgerüstet. Sie waren wahrscheinlich öfter in dieser Gegend unterwegs.“
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Aheema griff zögernd nach dem Medikament, welches ihr Immunsystem gegen die Restrisiken diverser biologischer Kampfstoffe mobilisieren sollte. „Also schön.“ Im Sucher der digitalen Hochleistungskamera erschienen Vincent Alexander und Aheema McGerwyn zum Greifen nah, obwohl sie fast zwei Kilometer entfernt in beinahe völliger Dunkelheit am Rande der Stadt hockten. „Die Wunder der modernen Technik“, stellte Sander mit einem zufriedenen Grinsen fest und betätigte den Auslöser. Ein weiteres Bild wurde auf der Festplatte der Kamera abgespeichert und sofort über das Satellit an einen Computer in der Zentrale der Rejissa-Stiftung gesandt. Mr. Toshing sollte nicht behaupten können, man hätte ihn nicht über jedes Detail der Mission auf dem Laufenden gehalten. Ein leises Schaben von Stoff gegen Stein ließ Sander aufhorchen. Er war nicht allein auf dem Dach dieser Ruine; jemand schlich sich von hinten an ihn heran. Er ließ die Kamera sinken und in seine linke Hand wandern, während die rechte sich um den Griff seiner Beretta schloß. In einer fließenden Bewegung drehte er sich um einhundertachtzig Grad und ließ sich dabei gleichzeitig auf das linke Knie fallen, um ein kleineres Ziel zu bieten. Der Schalldämpfer seiner Waffe unterdrückte die Mündungsblitze und das Geräusch der Schüsse, als er zweimal in schneller Folge abdrückte. Ein gedämpfter Aufprall belegte, daß er getroffen hatte. Vorsichtig legte er die Kamera auf dem Boden ab und huschte gebückt zu dem reglosen Körper. Mit dem Fuß fixierte er sicherheitshalber den rechten Arm des am Boden Liegenden, legte den Daumen an dessen Halsschlagader und nahm dann die Waffe des Toten an sich. „Merkwürdig“, brummte Sander, steckte seine Beretta weg und befühlte die andere Waffe. Er empfand es als ungewöhnlich, daß jemand von hier ebenfalls einen Schalldämpfer benutzte, aber bei den vielen verfeindeten Stämmen in der Ge-
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gend konnte es sich bei dem Toten auch gut um einen Kundschafter handeln. Er entschied, daß es an dieser Stelle müßig war, darüber zu spekulieren und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem eigentlichen Grund seines Hierseins zu. Nachdem er seine Beobachtungsposition wieder eingenommen hatte, richtete er die Kamera neu aus. „Scheiße“, murmelte er. Alexander und seine Verlobte waren verschwunden. Was nun? Sein Auftrag sah vor, daß er dem Millionär unbedingt dicht auf den Fersen bleiben sollte. Andererseits beschlich ihn ein ungutes Gefühl, daß vielleicht noch andere Ruinenbewohner in dieser Nacht ihr Unwesen trieben und dabei über seinen sorgfältig getarnten Hubschrauber stolpern könnten. War es nicht besser, mal schnell nach dem rechten zu sehen, ehe er die Jagd fortsetzte? Er wollte schließlich nicht unmotorisiert seine Mission fortsetzen, so wie Vincent Alexander ... Mit routinierten Griffen zerlegte er die Kamera in handliche Module, verstaute diese in den zahlreichen Beintaschen seines Pilotenoveralls und verließ seinen Beobachtungsposten. Mit großen Schritten sprintete er nahezu lautlos durch die Nacht. Der Treffpunkt, den Vincents Kontaktleute für ihn vereinbart hatten, lag im Herzen des alten islamisch geprägten Viertels Sayida Zainab. „Man kennt ihn nur als Hassan Le Lapin“, sagte Vincent zu Aheema und flüsterte unwillkürlich, als sie die menschenleeren Straßen hinabgingen, in denen einst lebhaftes Treiben geherrscht hatte. „Einer der größten Waffenschieber des Nahen Ostens.“ „Aha“, brummte Aheema, die mißmutig neben ihm hertrottete. Vincent war nicht entgangen, daß die Stimmung der jungen Frau stetig zu sinken schien, während sie sich dem Ziel ihrer Reise näherten. Vincent blieb abrupt stehen und nahm sie in den Arm. „Was hast Du, Schatz?“ fragte er sie direkt.
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Aheema atmete tief durch, ehe sie mit einem Zittern in der Stimme fortfuhr. „Ich habe jahrelang darauf gewartet, den Namen desjenigen zu erfahren, der meinen Adoptivvater auf dem Gewissen hat, aber jetzt, so kurz davor ...“ Er drückte sie zärtlich an sich. „Angst vor der eigenen Courage, mein Schatz?“ Aheema schmiegte sich an ihn. „Vielleicht. Aber vielleicht habe ich mir auch nur unsere Verlobungsreise anders vorgestellt. Irgendwie romantischer.“ Vincent rang sich ein gezwungenes Lächeln ab. „Hey, was könnte romantischer sein? Wir haben eine ganze Stadt ganz für uns alleine! Wir könnten hier nackt herumlaufen, ohne dafür belangt zu werden.“ Sie knuffte ihm vor die Brust. „Du bist unmöglich“, lachte sie. Vincent grinste breit. „Aber jetzt müssen wir zu unserer Verabredung. Vielleicht kommen wir hinterher auf meine Idee zurück, was meinst du?“ „Ich mein, daß ...“ Sie hielt inne und deutet auf einen Punkt hinter Vincent. „Für was hältst du das?“ In den tiefen Schatten unter den teilweise eingestürzten Bogengängen der Toulon-Moschee glühte in regelmäßigen Abständen ein kleiner roter Lichtpunkt auf. „Das muß er sein“, sagte Vincent zu Aheema und deutete auf den Mann mit der Zigarette, der dort auf sie wartete. Aheema nickte und übernahm die Führung. „Masa'a Al Kair“, rief sie dem Wartenden zu. „Ahalan“, entgegnete der Mann und trat seine Zigarette knirschend auf dem mit Schutt übersäten Boden der Moschee aus. „Ma Ismok?“ „Aheema McGerwyn, Vincent Alexander“, stellte Aheema sich vor. „Sorirart Biro'aitak. Dann sollten wir vielleicht Europarl reden“, schlug der Mann vor und trat aus dem Schatten. Im Mondlicht erkannte Vincent, daß es sich um einen beinahe
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zwei Meter großen Araber handelte, dessen freundlicher Tonfall in krassem Widerspruch zu der entsicherten Kalaschnikow standen, mit welcher er in ihre ungefähre Richtung zielte. „Äh... kaifa halok?“ kramte Vincent sein dürftiges Arabisch hervor. „Danke, gut“, sagte der Araber grinsend. „Folgen Sie mir.“ „Sie sind nicht Hassan Le Lapin?“ fragte Vincent verwirrt und warf einen undefinierbaren Seitenblick zu Aheema. „Ich bringe Sie zu ihm“, sagte der Mann und gestikulierte mit dem Lauf seines Gewehrs ins Innere der Moschee. Vincent zuckte mit den Schultern. Irgendwie verlief das Treffen ganz anders als die geschäftlichen Meetings, die er sonst mit den Top-Managern weltumspannender Konzerne zu halten pflegte. Es gefiel ihm nicht, plötzlich nicht mehr Herr der Lage zu sein. Und noch weniger gefielen ihm die zwei zusätzlichen zwielichtigen Gestalten, die unerwartet aus der Dunkelheit neben ihm auftauchten und ihm und Aheema ihre Ausrüstung abnahmen. „Da sind lebenswichtige Medikamente drin“, protestierte Aheema, als man ihr den erbeuteten Rucksack entriß. „Keine Sorge, Miß McGerwyn“, höhnte eine brüchige Stimme von irgendwoher, „wir haben immer Verwendung dafür. Ob Sie beide die Medikamente noch brauchen, wird sich gleich zeigen.“
Flughafen Rom „Sie sind auf der richtigen Spur, Eure Eminenz“, sagte Urs Schlatter, als er neben Kardinal Lopez in der Business Class der Linienmaschine Rom-Jerusalem Platz nahm und sein Mobiltelefon ausschaltete. „Ich habe noch einmal bei unserem Kontaktmann im AE-Konzern nachgehakt, mit wem sich Mr. Alexander in Kairo treffen will, oder?“
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„Und?“ fragte Lopez interessiert. Seine Laune war momentan nicht die beste; er mochte es nicht, ungefragt und kurzfristig auf Dienstreisen geschickt zu werden, während im Vatikan noch Arbeit auf ihn wartete. Und dann gab es noch nicht mal einen Direktflug nach Kairo, sondern man mußte zweimal umsteigen. Er nahm sich vor, mit dem Papst nach seiner Rückkehr ein paar Worte unter vier Augen über dieses Thema zu wechseln. „Haben Sie schon einmal von Hassan Le Lapin gehört?“ „Lölapeng?“ „Le Lapin“, verbesserte Schlatter schmunzelnd die Aussprache des Großinquisitors. „Das heißt Hase auf französisch.“ „Was ist mit diesem Hassan? Ist das der, den Vincent in Kairo zu treffen hofft?“ fragte Lopez unruhig. „So ist es, oder? Hassan Le Lapin ist ein libanesischer Waffenschieber, der aber regelmäßig in Ägypten unterwegs ist, um die streitenden Parteien mit Nachschub zu versorgen. Und er steht im Verdacht, ein ehemaliger Auftragskiller zu sein“, strahlte Schlatter triumphierend. „Großartig.“ Lopez sah verdrossen aus dem Fenster auf den nächtlich beleuchteten Flughafen. „Das wird sicher spaßig, Hauptmann Schlatter, oder?“
Kairo, Nordafrika Die letzten Worte hallten noch eine ganze Weile durch die Weite der verfallenen Moschee und Vincent wartete, bis Ruhe herrschte, bevor er reagierte. „Wir sind hier mit Le Lapin verabredet“, knurrte Vincent und drückte aufmunternd Aheema Hand. Da er dieses Treffen angeleiert hatte, überließ sie ihm vorerst das Reden. „Und um ehrlich zu sein“, fuhr Vincent fort und versuchte ein wenig humorvolle Unbefangenheit in seiner
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Stimme mitklingen zu lassen, „habe ich schon bessere Beispiele arabischer Gastfreundschaft erlebt.“ „Dies hier sind nicht die Emirate, Mr. Alexander, dies ist Niemandsland.“ Eine Gestalt trat aus der Finsternis in Halbdunkel, das Gesicht allerdings blieb weiterhin unkenntlich. Vincent registrierte beiläufig ein leichtes Schlurfen, wie es entsteht, wenn jemand nicht in der Lage ist, die Füße beim Gehen anzuheben. Es konnte nur eine Person geben, die sich mit einem solchen Handikap in dieser Gegend aufhalten würde. „Hassan Le Lapin persönlich, nehme ich an?“, mutmaßte Vincent und nickte grüßend. „Einen guten Abend.“ „Ich würde Ihren Gruß gerne in gleicher Weise erwidern“, entgegnete Le Lapin und trat ins Licht. Sein Gesicht war im Vergleich zu dem seiner Leute nahezu freundlich und es war auch ein Gesicht, in dem Entbehrungen und auch das Alter deutliche Spuren hinterlassen hatten. Le Lapin mochte an die 70 Jahre alt sein. „Aber ich weiß nicht, ob es ein guter Abend bleiben wird.“ „Wollen Sie uns vielleicht drohen?“ Vincent trat ein paar Schritte auf den alten Mann zu, ohne von dessen Männern aufgehalten zu werden. Kurz vor ihm riß er die Arme hoch ... Und legte sie dem alten Mann auf die Schultern. „Hassan, du alter Schwerenöter“, lachte er auf, „Du hast dich kein bißchen verändert. Willst du die Schmierenkomödie nicht endlich beenden und meine Verlobte begrüßen?“ Le Lapin grinste nur und deute auf einen Punkt hinter Vincents Rücken. Er wandte sich um und bemerkte ein nicht sehr amüsierte Aheema, die mit verschränkten Armen dastand. „Ich hoffe, du hast dafür eine Erklärung“, meinte sie. „Natürlich Liebling... Aber zieh bitte nicht so ein Gesicht, Mhamoud ist leicht zu erschrecken.“ „Wer ist ...“ Sie beendete den Satz nicht und wandte sich zu dem zwei Meter großen Araber um, der sie zuerst so unfreund-
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lich begrüßt hatte. Dieser stand nur da, die Waffe nun über die Schulter gehängt und grinste sie schräg an. Er wirkte auf einmal kein bißchen bedrohlich mehr. „Mhamoud, richtig?“, fragte sie und ein vorsichtiges Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. „Ich nehme an, du wirst mir auch nicht erzählen, was hier vor sich geht, oder?“ Der Angesprochene nickte verneinend und deutet auf Vincent und Hassan. „Nein, Miss McGerwyn, das können die Zwei besser.“ Der Bereich hinter der Moschee hatte einst Wohn-, Arbeitsund Vorbereitungsräume für die Betreuer des Gotteshauses und der Muezzins gedient, nun war er zum Lebensbereich von Hassan Le Lapin geworden. Und dieser wußte offenbar, wie es sich leben ließ. Der Raum, in dem die drei zusammen saßen, wies allen erdenklichen orientalischen Luxus auf. Die Wände, an denen der Krieg sicher ebensowenig vorbeigegangen war der Zahn der Zeit, wurden durch prächtige Teppiche gnädig verdeckt. Aheema balancierte die zierliche Mokkatasse geschickt auf Daumen, Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand und winkte dankend ab, als Mhamoud hinzutrat, um nachzuschenken. Der Riese schien eine ganze Reihe von Aufgaben in Hassans Diensten zu versehen. „Und du hast mich die ganze Zeit in Unwissen darüber gelassen, daß ihr euch schon seit Jahren kennt?“, fragte sie Vincent, der im Gegensatz zu ihr einige Probleme hatte, auf dem Polsterkissen die senkrechte Sitzhaltung zu wahren. „Du hast nicht gefragt“, verteidigte sich Vincent. „Ja, wir kennen uns seit etwa sechs Jahren. Hassan war damals an der Grenze zum Reich des Khan in der zollfreien Umschlagsbranche tätig.“ „Sie haben geschmuggelt?“, wandte sich Aheema an Hassan selbst. „Ich dachte, sie würden mit Waffen handeln?“
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„Das ist lange her“, winkte Hassan ab. „Es ist ein unruhiges Geschäft und sowohl mein Alter als auch die Vorhaltungen Ihres Verlobten haben mich dazu gebracht, diesen Zweig meiner Aktivitäten einzustellen.“ Er räusperte sich. „Sie müssen wissen, Aheema, Vincent hat mir damals den Hals gerettet. Einer unserer Transfers ging schief und wir mußten die Ware und zwei Leute den Zöllnern des Khans überlassen. Es hätte auch Mhamoud und mich erwischt, aber Vincent brachte uns raus. Er unterhielt damals geschäftliche Beziehungen mit Personenkreisen nahe dem Khan und genoß beschränkte Immunität. Damals war ich noch gerade noch fit genug, um mich im Kofferraum einer Limousine zu verstecken. Nur mit dem Langen“, er deutete mit einem Lächeln auf den Ausgang, durch den Mhamoud verschwunden war, „gab es ein paar Probleme.“ Aheema wandte sich wieder an Vincent. „Du hast mir auch nicht erzählt, daß du solche Aktionen durchgezogen hast.“ Vincent zuckte mit den Schultern. „Meine Geschäftspartner wollten mich damals übers Ohr hauen und die Rettung Hassans war meine dezente Art der Revanche.“ Er wurde schlagartig ernst. „Aber zu etwas anderem, Hassan. Wir wurden auf dem Weg hierher angegriffen und es hätte uns beinahe erwischt. Wir erhielten Hilfe durch den Piloten eines Kampfhubschraubers ... Hast du neuerdings so ein Ding in deinem Flugpark?“ „Einen Helikopter?“ Hassan hob abwehrend die Hände. „Nein, mein Junge, ich habe zwar gute Kontakte, aber diese beschränken sich auf Nordafrika. Nur einige Häuser der EUMON haben solche Maschinen.“ „Wenn du sagst, daß du selbst keinen hast, dann glaube ich es dir auch“, versicherte Vincent und rieb sich grübelnd das Kinn. „Dieses Rätsel wird warten müssen, aber vielleicht kannst du mir sagen, wer uns überfallen hat.“ „Das kann ich sofort“, versicherte Hassan und seine Stimme bekam einen zornigen Klang. „Das kann ich sogar sehr gut.“ Mit einer Geschwindigkeit, die ihm niemand zugetraut hatte, schnellte er hoch und begann, in seinem schlurfenden Gang auf
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und ab zu gehen. „Kurz nach unserem letzten Kontakt wurden sämtliche Zufahrten in die Stadt abgeriegelt, es ist beinahe eine Belagerung. Ich wollte dich noch informieren, konnte dich aber nicht erreichen, unser Funk wird massiv gestört und wir haben leider keine Satellitentelefone.“ Wie zur Bestätigung hielt Aheema Vincent das Kopfhörerteil ihres Headsets ans Ohr, aus dem nur das abgehackte Rauschen und Zischen starker Interferenzen drang. „Und wer riegelt die Zufahrtsstraßen ab?“, hakte er nach. Hassan ließ sich wieder auf seinen Diwan sinken. „Chebh Le Lapin“, seufzte er. „Dein Neffe, von dem du mir erzählt hast?“, stieß Vincent hervor. „Ich beginne langsam zu glauben, daß ich ohne Verwandtschaft doch gar nicht so schlecht dran bin.“ Hassan nickte, wobei unklar blieb, ob es eine Geste abendländischer Bestätigung oder morgenländisches Unverständnis war. „Ich hielt ihn lange Zeit für den Richtigen, irgendwann auch meine Unternehmungen fortzuführen, aber das war ein Irrtum.“ „Offensichtlich“, bestätigte Vincent. „Inwiefern?“, hakte Aheema nach, deren Gespür für Untertöne besser ausgeprägt war als das Vincents. „Unser Geschäft mag nicht sauber sein, Aheema, aber wir sind auch bestrebt, es unbeeinflußt von den Ansichten der Kunden zu lassen. Chebh ist da anders, er spielt die Parteien aus und verfolgt selbst politische Ziele, hier und auch anderswo.“ Aheema überlegte eine ganze Weile, bevor sie ihre nächste Frage aussprach. „Ist er es, weswegen wir beide hier sind?“ Hassan antwortete nicht und hielt den Blick gesenkt, es schien, als wäre er eingenickt und hätte er ihre Frage nicht verstanden. Schließlich blickte er auf. „Ja“, seufzte er. „Chebh führte den Anschlag, dem Thomas McGerwyn zum Opfer fiel.“
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Eine geraume Weile herrschte Schweigen, welches schließlich von Vincent unterbrochen wurde. „Was willst du unternehmen?“, fragte er. „Ich kann nicht zulassen, daß jemand wie mein Neffe meinen Einfluß übernimmt. Erst recht nicht auf diese Weise. Mein Entschluß steht seit dem Zeitpunkt fest, an dem ich dich kontaktierte, Vincent.“ Er erhob sich wieder. „Noch diese Nacht werden meine über das Stadtgebiet verstreuten Leute zusammengetrommelt. Im Morgengrauen brechen wir auf und bevor die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hat, wird nur noch ein Le Lapin im Geschäft sein.“ Aheema stand ebenfalls auf. „Ich bin dabei“, stellte sie fest und es war ihr anzumerken, daß sie es ernst meinte. Vincent faßte sich an die Stirn. „Jetzt schnappt auch noch meine Verlobte über“, jammerte er in gespielter Verzweiflung. „Und ich kann wieder einmal nur zu retten versuchen, was noch zu retten ist.“ Aheema beugte sich zu ihm herunter und lächelte ihn an. „Du mußt es doch geahnt haben, als du mir die Verlobung angeboten hast, oder?“ „Um ehrlich zu sein“, grinste er sie an. „Ich steh drauf.“ Hassan schüttelte den Kopf. „Kinder ...“, murmelte er unhörbar. „Sie müssen sich immer erst verletzen, bis sie eine Gefahr als solche erkennen.“ Es gibt Arbeit, dachte Sander, der wie eine übergroße Eidechse lang ausgestreckt auf dem flachen Dach lag und sich eng an den Blechbeschlag preßte. Er wußte nicht genau, wo in und auf den umliegenden Gebäuden noch Leute von Le Lapin postiert waren und er wollte das Risiko einer Entdeckung nicht eingehen. Ohne seine Position merklich zu verändern, verstaute er den flachen Geräuschverstärker mit den Kopfhörern wieder in der Seitentasche seines Pilotenoveralls. Es war ein handelsübliches Gerät, wie es auch ältere Leute bisweilen beim Fernsehen nutz-
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ten, aber es genügte, um einen Großteil des Gesprächs in dem Raum unter ihm zu verstehen. Es war auch keine Sparsamkeit, welche Mr. Toshing bewogen hatte, ihn nach Möglichkeit improvisieren zu lassen, sondern reiner Pragmatismus, verbunden mit einer gehörigen Portion Paranoia. Sollten Sie gefangen genommen oder getötet werden, dachte Sander in bitterer Ironie, wird kein Teil ihrer Ausrüstung einen Rückschluß auf Ihren Auftraggeber zulassen – Sander, übernehmen Sie. Der rationale Teil seines Denkens wußte aber im gleichen Moment, daß er seinem Chef Unrecht tat. Der mysteriöse Vorsitzende der Rejissa-Stiftung hatte Sander nie bewußt in die Klinge laufen lassen oder auch nur gezwungen, sich auf lebensgefährliche Aufträge einzulassen. Seit dem Ereignissen am nördlichen Polarkreis, denen die Frau zum Opfer gefallen war, welcher er erstmalig echte Zuneigung entgegengebracht hatte, war er selbst derjenige gewesen, der sich um diese Aufträge förmlich gerissen hatte. Toshing weiß das, dachte er, aber er hat es nie ausgenutzt oder auch nur erwähnt. Und letztendlich war Aktivität immer noch das beste Mittel, um von den trüben Gedanken wegzukommen. In einer zeitlupenhaften Bewegung stemmte er sich wenige Millimeter über den Boden und kroch in der gleichen Geschwindigkeit zu dem Punkt, an dem er das Dach unbemerkt erklommen hatte: Ein brüchiger, unregelmäßig geformter Mauervorsprung. Dieser stammte von einem der höheren Gebäude, die damals zum Verwaltungstrakt der Moschee gehört und den Krieg nicht so glimpflich überstanden hatten. Kaum hatte er wieder den mit Schutt übersäten Boden unter den Füßen, beschleunigte er seine Schritte. Er hatte noch einiges vorzubereiten, bevor er sich ein Plätzchen zum Ausruhen suchen konnte. Und morgen früh mußte er ausgeschlafen sein.
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Urs Schlatter prüfte das Satellitentelefon im Licht der zwischen die Zähne geklemmten kleinen Taschenlampe, öffnete die Verschalung und reichte es Kardinal Lopez wieder zurück, nachdem er einige Gramm Sand herausgeklopft und es wieder verschlossen hatte. „Ein vom Vatikan geprüftes Qualitätsprodukt, Eure Eminenz“, stellte er fest. „Allerdings auch nicht für diese Gegend gedacht, oder?“ Lopez verzichtete auf einen Kommentar und nahm das Gerät im Empfang, welches tatsächlich der von Vertretern der Heiligen Stadt hauptsächlich verwendete Typ war. Man munkelte, daß man damit sogar Gott persönlich erreichen konnte, wenn man nur die richtige Durchwahl kannte. Dem Kardinal genügte es, wenn er selbst damit erreichbar war und die nächste Person unter Gott, nämlich den Papst erreichen konnte. Also genau das, was er gerade vorhatte. Während das Gerät die Verbindung aufbaute, betrachtete er mißmutig die karge Umgebung, soweit diese im schwachen Licht des Mondes und der Sterne überhaupt erkennbar war und ihm wurde bewußt, warum Moses sein Volk unbedingt von hier hatte wegführen wollen. Er selbst wollte auch aus diesem Sandloch heraus, aber im Gegensatz zum Volke Israels waren er und Hauptmann Schlatter dazu auf einen fahrbaren Untersatz angewiesen, der nun allerdings mit krepiertem Motor neben ihm auf der Straße stand. Außerdem mußte es auch nicht unbedingt 40 Jahre dauern ... „Buongiorno, hier das Vorzimmer seiner Heiligkeit, Oberleutnant Huber am Apparat. Mit wem spreche ich und was kann ich für Sie tun?“ „Kardinal Lopez. Ich muß den Heiligen Vater sprechen“, antwortete Lopez und sandte ein Stoßgebet zum Chef. Es hatte Zeiten gegeben, in dem man im Vorzimmer noch kirchliche Mitarbeiter sitzen hatte. „Es tut mir leid, Eure Eminenz, aber der Heilige Vater möchte nicht gestört werden.“
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„Es ist immens wichtig, mein Anliegen duldet keinen Aufschub. Die Sicherheit des Heiligen Stuhls könnte davon abhängen“, schöpfte Lopez aus den Vollen und ein kleiner, gemeiner Winkel seines intellektuellen Verstandes ließ ihn verstehen, warum Atheisten mit dem Begriff des Heiligen Stuhls zuweilen unflätige und an einem menschlichen Stoffwechselendprodukt orientierte Wortspielereien trieben. „Sie müssen verzeihen, Eure Eminenz, aber ich habe strikte ...“ Lopez hörte bereits nicht mehr hin und überlegte bereits, welchen klerikalen Bannspruch er ohne Einberufung eines Kirchengerichts über unkooperative Schweizer Gardisten verhängen durfte, als ihm eine bessere Lösung einfiel. Er reichte das Telefon an Schlatter weiter. „Ein Oberleutnant Huber“, meinte er. „Sie haben eine Minute.“ Er hörte geflissentlich weg, als Schlatter begann, den untergeordneten Offizier nach allen Regeln der Kunst und massiven Gebrauch heimatlichen Sprachguts ordinärer Natur zuzutexten. Die Minute war noch nicht ganz um, als der Schweizer Gardist das Gerät an Lopez zurückgab. „Der heilige Vater, Eure Eminenz.“ „Danke.“ Es dauerte eine Weile, bis ein erneutes Freizeichen ertönte. „Mein lieber Eugenio, was gibt es, daß du mich bei meinem Nickerchen stören mußt?“ „Eure Heiligkeit, wir bedürfen dringend Unterstützung. Der Wagen ist defekt und wir könnten auch ein paar Spezialisten für delikate Aufgaben gebrauchen. Wir stecken auf einer der Zufahrtsstraßen nach ...“ „Eugenio, ich bin weder Kfz-Mechaniker noch Kommandosoldat und du hast doch selbst alle nötigen Befugnisse. Warum willst du mich wirklich sprechen?“ Der alte Hund ist nicht halb so senil, wie er immer tut, schoß es dem Kardinal durch den Kopf, aber es gelang ihm, die Stimme neutral zu halten. „Nun, da wir die Lage vor Ort be-
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gutachtet haben“, meinte er diplomatisch und ließ den Blick über die undeutlichen Konturen der Einöde schweifen, als würde dies seinen Worten eine gewisse Glaubhaftigkeit zu verleihen, „scheint es mir unangebracht, in dieser Weise vorzugehen. Wir befinden uns an der Grenze zum Einflußbereich unseres Glaubensgegners und haben keine echte Spur von Alexander und seiner Verlobten.“ „Wie der Zufall es will, habe ich inzwischen Informationen erhalten, die deine Anwesenheit in Ägypten tatsächlich überflüssig machen. Es wird dich sicher freuen, daß du deine eigenen Nachforschungen in Kürze fortsetzen kannst. Ich habe bereits alle Schritte eingeleitet, dich so schnell wie möglich dort herauszuholen. Der Bergungstrupp bricht in diesem Augenblick von Port Said auf und erreicht dich morgen früh.“ „Ich weiß nicht, ob dies hier ein Ort ist, an dem man die Nacht über bleiben sollte.“ „Ich fürchte, du hast keine andere Wahl, auch unsere Leute brauchen etwas Zeit. Aber keine Sorge, Schlatter ist für solche Situationen ausgebildet und auch Gott wird bei dir sein.“ Mit einem Knacken brach die Verbindung ab und Kardinal Lopez blieb mit Gott und Urs Schlatter allein in der Wüste. Im Folgenden stellte er fest, daß er die Fähigkeiten des Hauptmanns zum Aufbau eines Zeltes beim kargen Licht eines Handstrahlers für diesen Moment mehr schätzte als jeden metaphysischen Beistand. Auch Sander hielt in einem abgelegenen Winkel, nur wenige Straßenzüge entfernt und immer noch im Stadtviertel Sayida Zainab, Rücksprache mit seinem Vorgesetzten. Das von ihm verwendete Satellitentelefon war nicht vom Vatikan geprüft. „Habe ich Sie richtig verstanden“, faßte Ra`Tosh ruhig zusammen, „daß die Situation soweit unter Kontrolle ist, was unsere Belange angeht?“ „Ja. Ich habe mir einen Überblick verschafft und werde mir morgen eines der Fahrzeuge nehmen, die nicht von Le Lapin
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für seinen kleinen Privatkrieg vorgesehen sind, und mir auch die entsprechende Ausrüstung borgen. Egal wie diese Fehde ausgeht, Vincent Alexander wird überleben.“ „Haben Sie bitte auch ein Auge auf seine Verlobte, wenn es sich einrichten läßt“, sagte Toshing, „das könnte sich irgendwann auszahlen.“ „Das wird sich machen lassen, die Beiden werden sich ohnehin nicht trennen.“ „Sehr gut, ich bin überaus zufrieden mit Ihrer Arbeit. Deshalb habe ich übrigens auch eine kleine Überraschung für Sie, sobald Sie wieder hier sind.“ „Was haben Sie vor?“ „Wie gesagt, lassen Sie sich überraschen. Ich bin sicher, es wird Ihnen gefallen. Gönnen Sie sich jetzt ein paar Stunden Schlaf.“ „Das werde ich.“ Vincent klammerte sich an den Überrollbügel des Geländewagens, als dieser erneut über einen Stein fuhr und dabei in bedenklichem Winkel von Boden abhob. Mhamoud fuhr einen Stil, der seinem ruhigen Charakter hohnsprach, während Hassan Le Lapin auf dem Beifahrersitz saß und sich die Gegend betrachtete, als säße er in einem Golfkarren. Der Konzernchef tippte ihm auf die Schulter. „Ich wußte gar nicht, daß du jetzt so viele Leute hast“, meinte er laut, um den heulenden Motor ihres Wagens und die der anderen in ihrer Kolonne zu übertönen. Hassans Fuhrpark bestand aus sechs Fahrzeugen, durchgehend geländegängige Modellen, die Hälfte mit Ladeflächen. Auf einem davon war ein MG montiert, auf den anderen klammerten sich dichtgedrängt jeweils rund ein halbes Dutzend Leute fest, bemüht, auf der unebenen Strecke nicht aus dem Wagen geschleudert zu werden. „Für halblegale Geschäfte braucht man mehr Personal als für rein illegale“, antwortete Hassan und blinzelte Vincent und
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auch Aheema grinsend an. „Aber das wißt ihr beiden sicher selber.“ Aheema blickte zu ihrem Verlobten und zog bedeutungsvoll eine Augenbraue hoch. Dieser hob spielerisch abwehrend die Hände. „Ich habe ihm nicht erzählt, daß die europäischen Geschäftsleute auch alles Betrüger sind.“ „Ich bin sicher, das hat er selbst bemerkt“, antwortete Aheema mit einen süffisanten Lächeln, welches jedoch gleich darauf verschwand, als sie mit der Schulter gegen den Überrollbügel schlug. Ihr Schutzmantel wurde sofort hart und für ein paar Sekunden konnte sie sich nicht bewegen und war den Schwankungen des Wagens ohne Möglichkeit des Mitfederns ausgeliefert. Hassan entging dies nicht. „Nicht übel, was deine Leute da wieder entwickelt haben“, meinte er. „Aber ich kann mir vorstellen, daß die Idee mit dieser Schutzkleidung zuweilen auch nach hinten losgeht.“ „Nichts ist perfekt, Hassan.“ Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Zumindest für diese Gegend sind sie ganz offensichtlich ungeeignet. Aber bevor man sich eine Kugel einfängt ...“ Sein Gesicht wurde schlagartig wieder ernst, als er sich an die Entdeckung erinnerte, die Hassans Leute noch vor ihrem Aufbruch gemacht hatten. „Und du bist sicher, daß es einer von Chebhs Männern war?“, hakte Aheema nach, der die Wendung des Gesprächs nicht entgangen war. Hassan musterte die Ränder des ausgetrockneten Flußbettes, in welchem sie sich Chebhs Lager unbemerkt zu nähern hofften. „Einige meiner Leute kannten den Mann, dessen Leiche wir am Stadtrand fanden, es war einer von Chebhs Scouts. Er kam offenbar gar nicht bis zu uns, um etwas zu erfahren, aber was mir Sorge macht ist, wer ihn getötet hat. Bei Allah, von meinen Leuten war es jedenfalls keiner und ...“
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Er brach ab, als ein anderes Geräusch die heulenden Motoren übertönte. Dem Pfeifen folgte eine Explosion und eine Fontäne aus Sand und kleinen Steinen schien neben dem ersten Wagen ihrer Kolonne aus dem Boden zu schießen. Der Staub hatte sich noch nicht wieder gelegt, als Hassan auch schon das Funkgerät ergriffen hatte. „Ein Minenfeld!“, brüllte er in das Sprechteil. „Das muß ein Hinterhalt sein. Alle anhalten, raus aus den Wagen und Dekkung suchen!“ Mhamoud hatte bereits eine Gewaltbremsung vollzogen. Binnen kürzester Zeit waren sie aus dem Fahrzeug heraus und suchten Schutz hinter der Motorhaube. Vincents Blick schweifte über die an dieser Stelle recht hohen Ränder des Flußbettes und er war nicht erstaunt, als dort oben kurz einige Umrisse auftauchen sah. Das Wadi war sehr gut zum Anschleichen ... Aber es war auch eine gute Falle. „Sind Sie wach, Eure Eminenz?“ „Seit gestern“, knurrte Kardinal Eugenio und kroch aus dem Zelt. Unter dem Licht der morgendlichen Wüstensonne besann er sich auf seine Würde und erhob sich, kaum daß er den niedrigen Zelteingang hinter sich gelassen hatte. „Einen gesegneten Guten Morgen“, meinte er kurz darauf zu Hauptmann Schlatter und nichts deutete mehr auf den vorherigen Unmut hin. „Ebenfalls, Eure Eminenz“, entgegnete der Schweizer Gardist. „Mit Verlaub, Sie wirken sehr ausgeruht, oder?“ „Ich bin es gewohnt, ab und zu eine Nacht durchweg munter zu bleiben, aber nicht ...“ Er blickte auf das kleine Notzelt herab und für einen Moment glitt wieder Unmut über sein Gesicht. „... in so einem Ding zu schlafen.“ „Jesus schlief sogar unter freiem Himmel, oder?“, erinnerte Schlatter ihn. Der Hauptmann wirkte ebensowenig verschlafen wie der Kardinal, doch auch er hatte die Nacht über kein Auge zugemacht, wenn auch eher aus seiner Wachpflicht heraus.
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„Jesus war es als Hirte gewohnt“, entgegnete Eugenio trokken, bedeckte seine Augen mit der Hand und ließ seinen Blick zum Horizont schweifen, über dem die Sonne trotz der frühen Stunde schon recht hoch stand. Nachdem die Nachtkälte gewichen war und jederzeit die Bergung erfolgen konnte, befand er sich in einer Laune, in der er zum lockeren religiösen Disput neigte. Allerdings ahnte er auch, daß Schlatter ein unergiebiger Gesprächspartner sein würde und ging daher nicht weiter auf die mutmaßlichen Camping-Erfahrungen des Heiland ein. „Ich habe statt dessen einige Überlegungen abgeschlossen, die mich seit langem beschäftigten“, beendete er das Thema. „Während Ihrer inneren Recherche gab es einen weiteren Anruf und ich wollte Sie nicht stören“, eröffnete Schlatter. „Es waren unsere Leute aus Port Said, die sich bereits auf dem Weg befinden. Vermutlich werden wir in einer, spätestens zwei Stunden bereits auf dem Heimweg sein, oder?“ „Dies scheint Sie zu freuen.“ „Hm, nun ja ...“ „Kein Grund zur Verlegenheit, in diesem Punkt sind wir uns einig.“ Schüsse peitschten durch das Wadi, wühlten den Boden auf, schlugen durch die Außenbleche der Geländewagen und jaulten als Querschläger davon, wo sie auf massive Teile der Motoren trafen. „Das sind immer die Momente“, meinte Vincent und schlug trotz der inzwischen noch mehr angestiegenen Temperaturen den Kragen seines Mantels hoch, „in denen ich darin bestätigt werde, daß passiver Pazifismus der Welt nicht weiterhilft.“ „Ich gratuliere dir zu deiner Erkenntnis, junger Freund“, meinte Hassan und warf einen Blick auf seine Leute, die einen Fußmörser luden. Ein glucksendes Geräusch und wenig später schoß eine Sandfontäne über die Ränder des Flußbettes. Es war
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nicht erkennbar, ob jemand von den Angreifern zu Schaden gekommen war. „Und wie hilft uns das hier weiter?“ „Das muß es nicht“, stellte Aheema mit überraschender Kaltblütigkeit fest. „Sie sitzen nur auf einer Seite des Flußbettes und werden gleich merken, daß das ein Fehler war und sie nur ihre Munition verschwenden.“ „Das macht Sinn, sie wollten die aufgehende Sonne im Rücken haben.“ „Trotzdem.“ Sie behielt recht. Ihre Worte waren kaum verklungen, als das Feuer eingestellt wurde. Eine Gestalt erschien am Rand des Flußbettes und schwenkte gut sichtbar ein weißes Stück Tuch. „Ich nehme an, Chebh will mit mir sprechen“, mutmaßte Hassan. „Und?“, fragte Vincent. „Wirst du mit ihm reden?“ „Sicher.“ „Und traust du ihm?“ „Natürlich“, meinte Hassan im Brustton der Überzeugung. „Er gehört doch zu Familie.“ Ein kurzes Blinzeln verriet Vincent, wie ernst der ältere Mann seine Antwort tatsächlich gemeint hatte. „Dann komme ich wohl besser mit“, sagte er. „Aber nicht ohne mich“, ergänzte Aheema. „Das Risiko ist zu groß“, meinte Hassan. „Es reicht, wenn ich mich in Gefahr begebe.“ Aheema klopfte vielsagend an das feste Gewebe ihres Mantels. „Wir sind nicht halb so gefährdet wie Sie.“ Hassan blickte Vincent fragend an, der nur resignierend mit den Schultern zuckte. „Mir gefällt es auch nicht, aber mein Schatz hat recht.“ „Also gut“, nickte Hassan, „vielleicht ist es sogar nützlich. Chebh kennt euch mit ziemlicher Sicherheit nicht und je nachdenklicher er ist, desto besser.“
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Er zog ein weißes Tuch aus seiner Weste und wedelte damit eine Weile über das Dach des Geländewagens. Dann ließ er den Arm sinken und wartete einen Moment, wobei er tief durchatmete. „Gehen wir“, sagte er und trat hinter dem Wagen hervor. Chebh Le Lapin beobachtete durch seinen Feldstecher, wie drei Leute hinter dem Wagen hervortraten. Zwei davon kannte er nicht, aber sie wirkten wie Europäer, vermutlich irgendwelche Spezialisten, die sich Hassan zur Unterstützung geholt hatte. Vermutlich waren sie gut, aber in dieser Situation war das egal. Ein feines Lächeln spielte um seine Lippen, als er mit einer abweisenden Geste seine zwei Leute wegwinkte, welche mit tragbaren Raketenwerfern bereitstanden. „Der Alte ist vernünftiger, als ich dachte“, murmelte er. „Wollen wir hoffen, das es so bleibt.“ Er wußte, daß es ihm keine Pluspunkte einbringen würde, wenn er die Geschäfte seines Onkels ohne zwingenden Grund durch dessen gewaltsamen Tod übernahm. Viele Größen der afrikanischen Unterwelt brachten dem alten Hassan eine hohe Wertschätzung entgegen. Außerdem wußten alle, daß er es ohne die anfängliche Unterstützung seines Onkels nie auf eine Position geschafft hätte, die es ihm nun ermöglichte, diesem gefährlich zu werden. Und wenn er ganz ehrlich zu sich war, mochte er den Alten auch irgendwie. „Blut ist dicker als Wasser, nicht wahr?“, meinte eine Stimme neben ihm in einem erbärmlichen Arabisch. Allerdings faßte der Inhalt der Worte genau zusammen, was Chebh zuletzt durch den Kopf geschossen war und so fuhr er zu der Person herum, die neben ihn getreten war. Der Mann trug einen kurzen, vorne offenen Kaftan, unter dem sich eine Art Pilotenoverall abzeichnete. Ein Zipfel des beigen Turbans verdeckte sein Gesicht, so daß nur die Augenpartie zu erkennen war. Es genügte jedoch, um den Mann als Europäer zu erkennen.
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Lediglich der kurz unter dem rechten der weiten Flügeln des Kaftans hervorblickende Pistolenlauf hinderte Chebh daran, seine Leute zu alarmieren, die offenbar keinen Verdacht schöpften. In so einer großen Organisation wie der seinen kannte nicht jeder jeden und speziell für diese Aufgabe hatte er eine ganze Reihe freischaffender Söldner angeworben. Falls es zum Äußersten kam, hatte er sich gedacht, würde es von Vorteil sein, niemanden dabei zu haben, der eventuell seinem Onkel mehr schuldete als ihm selbst. Dies schien sich jetzt zu rächen. „Was wollen Sie“, fragte Chebh ruhig in Europarl, welches er gut sprach und hütete sich, eine falsche Bewegung zu machen. Wer sich kaltblütig unter mehrere Dutzend zu allem entschlossene Leute begab und es wagte, deren Anführer zu bedrohen, mußte entweder ein Profi oder verrückt sein. Vielleicht auch beides, aber bei keiner der drei Varianten wollte Chebh ein Risiko eingehen. „Ich möchte nur dabei sein, wenn Sie mit Ihrem Onkel plauschen“, antwortete der Fremde. „Und vielleicht werde ich Ihnen den einen oder anderen Hinweis geben, wie Sie das Gespräch für alle Beteiligten angenehm gestalten können.“ „Ich verstehe. Aber Sie glauben nicht ernsthaft, damit durchzukommen, oder?“ „Dessen bin ich mir sogar sicher. Würden Sie nun so freundlich sein, mir gut sichtbar die Anweisung zu geben, Ihnen zu folgen?“ Chebh verzichtete auf weitere Diskussionen und tat so, als würde er Sander auffordern, ihm zu folgen. Während sie zu einer Stelle gingen, an denen sich der Uferhang abflachte, gab sich Sander gesprächig. „Mir ist ihre kleine Streitigkeit mit Ihrem Onkel ziemlich gleichgültig, müssen Sie wissen, von mir aus können Sie diese gerne zu einem anderen Zeitpunkt fortsetzen.“ „Erwarten Sie nun von mir, daß ich mich ergebe?“
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„Keine Sorge, ich habe einen Gedanken, der sowohl Ihrem Onkel als auch Ihnen helfen wird, diese Situation aufzulösen und die Angelegenheit bei Bedarf später zu klären. Ich stelle mir das so vor ...“ Der Platz, den Hassan ansteuerte, schien perfekt für eine Verhandlung. Er war von beiden Seiten etwa gleich weit entfernt und das Ufer des Flußbettes war hier eingebrochen, so daß sich Chebh bequem auf eine Höhe mit seinem Onkel begeben konnte. Er erschien in Begleitung eines seiner Männer, beide blieben abwartend stehen. „Einen schönen Morgen, mein Neffe“, begann Hassan als der Ältere das Gespräch. „Was führt dich in diese Gegend?“ „Bitte, Onkel“, winkte Chebh ab, „ersparen wir uns diese Spielereien.“ Er machte eine umfassende Geste, die sowohl Hassans als auch seine eigenen Leute einschloß. „Die Situation ist ziemlich verfahren. Deine Aktion ist genauso schiefgegangen wie mein Hinterhalt und nun belauern wir uns wie Mungo und Kobra. Wie mir auffiel, haben wir beide die Ausrüstung, uns gegenseitig unter den Sand zu bringen.“ „Ist es nicht das, was Du willst?“ „Nicht zwingend“, verneinte Chebh und musterte nun Aheema und Vincent, die Hassan flankierten. „Warum stellst du mir nicht auch deine Freunde vor?“ „Meine Begleiter tun nichts zur Sache“, winkte Hassan ab. „Sie könnten höchstens interessant werden, wenn du eine harte Lösung für unser kleines Patt anstrebst.“ „Wäre ich dann hier?“, erwiderte Chebh, hakte aber nicht weiter nach, was die Identität von Vincent und Aheema anging. „Ich hätte einen Vorschlag zur Güte: Wir vertagen unsere Streitigkeiten.“ „Ich hätte nichts dagegen. Und wie stellst du dir das vor?“ „Du schickst deine Leute weg. Einzeln, oder sagen wir besser, Wagen für Wagen. Wir werden nicht gegen sie vorgehen.
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Dazu müßten sich meine Leute auch aufteilen und bis wir uns wieder gesammelt haben ...“ „Woher weiß ich, daß du nicht bereits Leute plaziert hast, die meine Männer einzeln abfangen?“ „Deine Wagen haben Funkgeräte, du wirst wissen, wann die Fahrzeuge in Sicherheit sind. Solange bleibe ich hier als eine Art Sicherheit, während meine Leute in eine andere Richtung und ebenfalls einzeln abfahren.“ Hassan strich sich nachdenklich durch den Bart. „Eine interessante Konfliktlösung ... Du hast einige Dinge gelernt, die ich dir nicht beigebracht habe.“ „So geht es eben, Onkel. Bist du einverstanden?“ „Ich sehe keine bessere Möglichkeit.“ „Gut. Allerdings habe ich eine Bedingung.“ „Und die wäre?“ „Die Beiden“, erklärte er und deutete auf Vincent und Aheema, „sind die Ersten, die verschwinden. Ich weiß nicht, welche Rolle sie spielen, aber du wirst nichts umsonst Landfremde hinzuziehen und ich möchte kein Risiko eingehen.“ „Ich würde das gerne zuerst mit ihnen besprechen.“ „Bitte.“ Hassan trat mit seinen Begleitern einige Schritte abseits. „Ich weiß, ihr habt eine Rechnung mit ...“ „Schon in Ordnung“, unterbrach ihn Aheema zu seiner eigenen und besonders zu Vincents Überraschung. „Es ging mir darum, ihn zu finden und ihm gegenüber zu stehen. Ich weiß noch nicht, was ich weiterhin will und bevor ich andere gefährde, trete ich zurück. Jetzt, wo ich von Chebh weiß, werde ich ihn jederzeit wiederfinden, wenn ich eine Notwendigkeit dafür sehe.“ „Du weißt gar nicht, wie sehr mich das jetzt beruhigt, Liebling“, meinte Vincent. „Ich hatte schon befürchtet ...“ Ein undefinierbarer Zug wanderte auf ihr Gesicht. „Falls ich doch irgendwann an die Dummheit denke, die du mir heute
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schon zugemutet hast, bin ich sicher, daß du auch dann wieder mitkommen wirst.“ „Da bin ich sicher“, bestätigte Hassan an Vincents Stelle und warf diesem einen Schlüssel zu. „Ihr könnt meinen Wagen nehmen. Fahrt den Weg zurück, den wir gekommen sind, bei der nächstbesten Gelegenheit solltet ihr das Flußbett verlassen und zum Flugplatz fahren.“ „Wir sollen auch gleich das Land verlassen?“, fragte Vincent stirnrunzelnd. „Das hier ist nicht euer Kampf. Wenn sich Chebh wider Erwarten durchsetzt, kannst du tun, was du für nötig hältst.“ Er streckte die Hand aus. Vincent zögerte einen Moment, dann schlug er ein. „Falls Aheema es sich anders überlegt, werde ich mich einschalten, Hassan. Das Gleiche gilt, wenn das falsche Mitglied der Familie Le Lapin die Geschäfte übernimmt.“ „Das weiß ich, Junge. Seid vorsichtig.“ Aheema trat hinzu und legte Hassan die Hand auf die Schulter. „Du bist der sympathischste Kriminelle, der mit je begegnet ist“, meinte sie lächelnd. „Paß auch du auf dich auf, ja?“ „Das werde ich.“ Er zwinkerte. „Ich will noch erleben, ob eure Kinder genauso verrückt sein werden wie ihr.“ Vincent lachte leise auf. „Ein guter Vorsatz, dann mußt du nämlich noch etwas durchhalten.“ Er wandte sich halb zum Gehen. „Laß uns wissen, wie die Sache hier gelaufen ist.“ „Natürlich.“ Die beiden gingen zu dem Wagen und stiegen ein. Vincent saß am Steuer, der wendete das Fahrzeug in einem kleinen Bogen, um den verminten Bereich so gut wie möglich zu vermeiden. Als er den Kampfplatz hinter sich gelassen hatte, beschleunigte er und ließ den Schauplatz des Bandenkrieges hinter sich. Hassan blickte dem Wagen nach, bis er durch eine Biegung des Flußbettes aus seinem Sichtfeld verschwunden war, dann erst kehrte er zu seinem Neffen zurück, wo sich die Situation
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inzwischen geändert hatte. Chebhs Begleiter hielt die vorher versteckte Waffe nun für Hassan sichtbar auf dessen Neffen gerichtet. „Habe ich etwas verpaßt?“, fragte Hassan mißtrauisch. Da Chebh seinem Onkel nicht antwortete, ergriff Sander das Wort. „Ich vertrete die Interessen einer dritten Partei“, erklärte er, „aber das ist für Sie beide nicht von Bedeutung. Ich werde mich nun verabschieden und schlage vor, daß Sie meinen Vorschlag bezüglich einer augenblicklichen Deeskalation annehmen.“ Er ließ seinen Blick über die Umgebung schweifen. „Das hier ist ein miserabler Ort, sein Leben zu beenden.“ „Ich kann nicht behaupten, daß ich das Ganze verstehe, aber es wird wohl das Beste sein, nicht wahr, Neffe?“ Chebh nickte nur. Kardinal Lopez blickte nachdenklich durch die Seitenluke des Helikopters, welche der Hitze wegen auch während des Fluges offen geblieben war. Er hätte sich gerne mit Schlatter unterhalten, aber der Lärm der Rotoren machte jedes vernünftige Gespräch unmöglich. So blieb ihm nichts weiter übrig, als entweder auf die Hinterköpfe des Piloten und des Copiloten oder auf die karge Landschaft unter ihnen zu blicken. Er entschied sich für die zweite Alternative und beobachtete müßig, wie der Schatten des Helikopters über den trockenen Boden, vereinzelte Strauchgruppen oder Felsformationen jagte. Einige hundert Meter neben ihrer Flugbahn tauchte eine scheinbar endlose Trasse wie aus dem Nichts auf. Doch dieser kleine Hauch von Zivilisation war genauso leer und unbelebt wie die Wüste ringsum. Nun, nicht ganz leblos, erkannte er in diesem Augenblick: Ein kleiner Punkt folgte dem Straßenverlauf und zuweilen funkelte es gleißend, wenn Sonnenlicht auf die Seitenspiegel des Geländewagens fiel, der sich seinen Weg in nahezu die gleiche Richtung suchte.
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Die Frage, wer außer ihnen noch in dieser trostlosen Gegend unterwegs sein mochte, verschwand nahezu gleichzeitig aus seinem Kopf, wie das Fahrzeug hinter ihnen zurückblieb und er widmete sich wieder dem dahinrasenden Boden unter ihnen und dem eigenen Schatten, der ihnen beharrlich folgte.
ENDE
3. Auflage (07/2002) © 2001 Sonnensturm Media. Alle Rechte vorbehalten. Umschlaggestaltung: Sonnensturm Media www.webprojekt.org
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