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Ein 18 000-Tonnen-Fr achter in einer der Schleusen des Wellandkanals
KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
V1TALIS PANTENBURG
Der große Strom St. Lorenz - Seeweg ins Innere Nordamerikas
VERLAG SEBASTIAN LUX MURNAU • M Ü N C H E N ; - I N N S B R U C K • Ö L T E N
Im Sommer des Jahres 1954 erfolgte im Nordosten des nordamerikanischen Kontinents der erste Spatenstich zu einem der gewaltigsten Ingenieurwerke, die je von Menschenhand in Angriff genommen wurden. Wenn in wenigen Jahren der letzte Spatenstich getan ist. wird unter dem Geheul der Schiffssirenen der erste Ozeandampfer, über die Toppen geflaggt, seine 4000 Kilometer lange Fahrt in das Herz Kanadas und der USA antreten. An den Ufern des St. LorenzStromes und der großen Süßwasser-Seen Amerikas, auf den Hafenkais von Detroit, Milwaukee, Chicago und Buffalo werden Millionen aus beiden Ländern Zeugen dieser historischen Fahrt auf einer neuen Welthandelsstraße sein.
Fahrt nach Neufundland O e c h s Tage und fünf Nächte schon pflügt unser 22 000-Tonner das weite Meer — von Europa her, vom ,,01d Country,", der Alten Welt. Es ist eine stürmische überfahrt, selbst jetzt, mitten im Sommer; der nördliche Atlantik zeigt sich nur selten von seiner freundlichen, spiegelglatten Seite. Die Passagiere der großen Dampfer aber spüren, sofern sie nicht seekrank werden, nur wenig von der Unruhe des Meeres; denn die modernen Ozeanschiffe sind für die Fahrgäste schwimmende Hotels mit allen Bequemlichkeiten. Man sitzt im Rauchsalon oder Kaffeeraum eines solchen Schiffes behaglich im Ledersessel und schmökert in den Büchern, in denen von den ersten Seefahrern berichtet wird, die vor einem Jahrtausend in diesen Breiten den Atlantik überquert haben. Ihre offenen Langschiffe von kaum dreißig Meter Länge waren zwar seetüchtig, aber nach unserer Auffassung doch so gefährlich, daß keiner sich ihnen heute anvertrauen würde. Sie besaßen kaum einen Schutz gegen Sturzseen und Regenfluten, außer dem Schiffszelt, das unter dem einzigen Segel aufgebaut war. Da der Kompaß fehlte, diente bei Tage der Stand der Sonne zur Orientierung, bei Nacht die Stellung der Sterne, bei bedecktem Himmel die Windrichtung, in der Nähe des Landes der Flug der Vögel oder die Tiefenmessung mit dem Lot. Diesen frühen Meerfahrern fehlte jede erdkundliche Vorstellung von dem, was sie jenseits des Ozeans erwartete, ob er überhaupt einmal ein Ende nahm, ob sie jemals wieder zurück an die heimatlichen Gestade gelangen würden. Welch 2
ein Wagemut, welch unbändiger Trieb nach der Ferne mußte in solchen Männern stecken! Die ersten Amerikafahrer, die Norweger des 9. und 10. J a h r hunderts, haben den Weg über das Westmeer in Etappen gewagt. Im ersten großen Sprung erreichten sie Island, von Island aus entdeckten sie Grönland. Den Weiterweg nach Westen aber fanden sie verschlossen durch das ewige Eis der Arktis. Es blieb ihnen nur die Route hinter den treibenden Kolossen der Eisberge her, die von den Gletschern der großen arktischen Inseln ins Meer entsandt werden. So erreichten sie die buchtenreiche Atlantikküste des heutigen Kanada als das Land der Verheißung; denn es bot ihnen das in Grönland fehlende Holz in Hülle und Fülle und glitzernde Massenheere nahrhafter Fische, Seehunde und Wale vor der Küste. In den Wäldern zeigten sich Wild und Pelzgetier mehr als genug, und nahe der Küste lockte saftiges Weideland. Sie entdeckten, daß auch dieses entlegene Land nicht ohne Menschen war. Rote Krieger, Indianer, die irgendwann in grauer Vorzeit, vielleicht vor zehntausend Jahren, von Asien her über die Beringstraße nach Amerika eingewandert waren, wurden ihnen zu verhängnisvollen Gegnern. Sie waren den weißen Männern an Zahl überlegen, ihre Waffen waren kaum schlechter als die der Eindringlinge, im listenreichen Waldkampf konnte sich niemand mit ihnen messen. Die ersten Siedler erlagen im zermürbenden Buschkrieg den Rothäuten. Für Jahrhunderte versank die Erinnerung an die Gegenküste der Alten Welt. Als Columbus nach Westen aufbrach, hatte er keine Kenntnis von den ein halbes Jahrtausend zurückliegenden Unternehmungen der Nordleute. Es war ein völlig neuer Beginn.
Zwischen den Eisbergen Während die Gedanken sich mit den kühnen Seefahrern des frühen Mittelalters beschäftigen, hat unser Dampfer die Küstenzone der Insel Neufundland erreicht, durch welche die Nordleute einst Kurs auf das nordamerikanische Festland genommen haben. Die See hat sich beruhigt. Wir spüren wieder das leise vibrierende Beben, das die vieltausendpferdigen Maschinen auch dem letzten 3
Winkel des Schiffes mitteilen. Jetzt wird das Zittern merklich geringer, hört schließlich ganz auf — das Schiff steht still. Aber wir sind noch nicht an unserem Ziel, können die Trichtermündung des St. Lorenz-Stromes noch nicht erreicht haben. Wir streifen die Wettermäntel über und gehen nach draußen. Es ist recht spät am Abend, aber noch sehr hell. Langgezogen schauerlich heult in bestimmten Abständen das Nebelhorn. Es ist mit einem Mal eisigkalt hier draußen. Und doch ist es die Zeit um die Sommersonnenwende. Als sich unsere Augen an die Dämmerung der Nacht, an den wallenden, leichten Nebel gewöhnt haben, bietet sich uns ein unerwartetes Bild. Das Schiff befindet sich mitten in einem Feld von Eisbergen. Eine eisige, schweigende Drohung geht von ihnen aus. Der Eindruck wird noch verstärkt durch das kalte Blau und Grün ihrer steilen Flanken und Zinnen. Diese Eisschlösser sind die Boten des höchsten Nordens und treiben von der Arktis in die Hauptroute der Atlantikschiffahrt. Von den über 40 000 „Kälbern" der gewaltigen Gletscher dort oben kommen freilich nur ein paar Hundert in die Gegend um Neufundland. Das ist gut so; denn an den felsigen Küsten dieses großen Insellandes führt eine der lebhaftesten und wichtigsten Schifffahrtsrouten der Erde vorbei. Sie zielt auf die Ostküste Nordamerikas und auf den Großen Fluß, der Sankt Lorenz heißt. Starke Meeresströmungen, Stürme, Nebel, Eisberge und Schifffahrt —• das verträgt sich nicht gut miteinander. Kein Wunder, daß sich in dieser Gegend einer der größten Schiffsfriedhöfe der Weltmeere befindet. Hier in der Nähe vollzog sich auch der grauenvolle Untergang der stolzen „ T i t a n i c " im Jahre 1911, die nach einem Anprall auf einen Eisberg mit mehr als 1000 Fahrgästen und Schiffsleuten unterging. Aber wir Menschen in der Mitte des 20. Jahrhunderts brauchen selbst in dieser Gefahrenzone keinen Schrecken mehr zu empfinden. Mit Hilfe von Schiffssirenen, Radar-Funkortungsgeräten, den Funkstellen an Bord und den Wetterwarten ist die Gefahr, im Nebel mit einem anderen Schiff, mit einem Eiskoloß oder dem riesigen „ F u ß " oder „Sockel" eines Eisberges — sieben Achtel seiner Masse schwimmen unter Wasser — zusammenzustoßen, sehr gering geworden. Eispatrouillenschiffe, Luftaufklärung, Lagemel4
düngen aller hier fahrenden und Eisbergen begegnenden Schiffe wirken zusammen, um die Gefahr solcher Zusammenstöße in diesem Bereich noch mehr zu verringern. Die Maschinen beginnen wieder auf vollen Touren zu laufen. Das Schiff kann seine Fahrt fortsetzen. Während die Funker die vorgeschriebene Warnung an die Küstenstationen und Schiffe weitergeben, verschwinden die treibenden Eisberge, in der Morgensonne blitzend, fern am südlichen Horizont. Wir befinden uns jetzt über den Fischgründen, die zu den ergiebigsten der Erde zählen. Seit viereinhalb Jahrhunderten wird hier der Segen des Meeres geborgen, hauptsächlich ,,codfish", unser Kabeljau oder Dorsch, der bis dreißig und mehr Kilogramm schwer wird. Wie die Millionenheere dieser Raubfische dazu kommen, sich diese kalte, neblige Zone als Weidegrund auszusuchen, hat die ersten Hochseefischer, die anfangs des 16. Jahrhunderts zu ihrem Fang von den europäischen Küsten herübersegelten, nur wenig gekümmert. Sie füllten in kürzester Zeit ihre schwerfälligen, hölzernen Schiffe und hatten es eilig, in den abendländischen Häfen den Fang zu ver-, lockenden Preisen zu verkaufen und erneut auf die Neufundlandbänke Kurs zu nehmen. Heute weiß man, warum das Meer gerade vor dieser Küste fast unerschöpflich an Fisch ist. Hier kommt der eisgekühlte Labradorstrom von Norden, hier zieht ein warmer Golfstromausläufer gegenläufig an ihm vorbei nord-nordostwärts. Das gibt die richtige Mischung, die rechte Temperatur für die allerkleinsten Lebewesen pflanzlicher und tierischer Art, das Plankton. Es lebt in riesigen Massen über dem weit ins Meer reichenden, langsam abfallenden Festland- und Insel-Sockel, dem sogenannten Schelf. Vom Plankton ernähren sich kleine Fische, von ihnen wieder größere, Hering und Dorsch, Seehund und Tümmler. Unter ihnen ist der Dorsch, der Kabeljau, noch vor dem Hering Welthandelsfisch Nr. 1. ,
Hier irrte Columbus Die Seefahrer und Meeresfischer der frühen Neuzeit verdanken die Entdeckung der Nordküsten und der sagenhaft reichen neufundländischen Fischgründe nicht den Normannen, denn deren 5
Fahrtenberichte waren im 16. Jahrhundert in Europa noch unbekannt; sie ruhten als ungehobene Schätze in den Truhen isländischer Bauerngehöfte. Es waren andere Gründe, die so viele europäische Land- und Nahrungssucher in die Zonen des nordamerikanischen und kanadischen Festlandes geführt haben. Als Columbus von seinen Entdeckungsreisen an den vermeintlichen Ostrand Asiens zurückgekehrt war, der sich erst viel später als die Küste eines ganz neuen Erdteils, als eine „Neue W e l t " herausstellte, teilten sich Spanier utid Portugiesen in die Eroberung und Besitznahme der von Columbus und seinen Nachfolgern entdeckten Teile in der Mitte und im Süden der Neuen Welt. Die anderen europäischen Nationen mußten mit den kälteren Bereichen im Norden Amerikas vorliebnehmen. Um die Wende zum 16. Jahrhundert sind die Kapitäne und Generalkapitäne, die Handelsleute und Missionare an Bord der Segler noch immer in dem Glauben des Columbus befangen, daß alles Insel- und Festland, das man jenseits des Atlantik für, die, Könige des Westens in Besitz nimmt, zu Indien, China oder Ja-, pan gehört. Hier vor der vermeintlichen Küste „Ostasiens", die, man „Westindien", das heißt das von Westen her erreichte Indien nennt, hält man Ausschau nach Landschaften, Eilanden, Menschen, Kulturstätten, die den aus den Büchern gewonnenen Ansichten über Indien und China entsprechen. Die Suche nach einer Durchfahrt oder einem Landzugang zu den Gold- und Juwelenschätzen der japanischen, indischen und chinesischen Könige beginnt schon zu des Columbus Zeiten. Man tastet sich die Küste Brasiliens entlang und erkennt, wie lang sich dieses „Ostasien" gegen Mittag erstreckt. Die Amazonasmündung wird angesegelt, und immer tiefer dehnt sich die Landschaft, ohne daß sie sich irgendwo zum dahinter vermuteten Indischen Ozean öffnet. Inzwischen aber hat König Heinrich VII. von England bereits weit nach Norden ausgegriffen. Da den britischen Schiffen Mittel- und Südamerika verwehrt ist, in dem die Spanier und Portugiesen sich als Besitzer festgesetzt haben, und da Türken und Araber den altgewohnten Indienweg durch den Vorderen Orient und den neuentdeckten Indienweg um das Kap der Guten Hoffnung 6
Montreal, die größte Stadt Kanadas (1,5 Millionen Einwohner), ist trotz ihrer Lage 1600 km landeinwärts der zweitgrößte Ozeanhafen Amerikas
versperrt halten oder gefährden, entsendet er seine Schiffe auf einen ganz ungewohnten Kurs, den -vor ihm nur die Normannejn gewählt haben. Heinrich VII. glaubt, daß im Norden der heutigen USA der China- und Indienweg ausfindig gemacht werden könne. Im Dienste des Königs vollbringen die beiden Genuesen Giovanni und Sebastiano Caboto, Vater und Sohn, die die Engländer Cabot nennen, die erregende Nordfahrt. Durch diese Erkundungsreise, die im Jahre 1497 mit zwei Karawellen beginnt, wird offenbar, daß die in Brasilien und in der Äquatorzone bereits angetroffene Landmasse sich bis in die Regionen der Eisberge erstreckt. Die beiden Cabots fahren im Jahre 1497 hinauf bis Labrador und betreten dort das amerikanische Festland. Sie sind überzeugt, auch hier in Ostasien zu sein. ] Verwundert sind Vater und Sohn über das Gewimmel an Fischen in den Gewässern vor Neufundland und Labrador. Diesen Reichtum hat hier niemand vermutet. Sie füllen ihren Schiffsraum mit den wohlschmeckenden Dorschen. Aber den Plan, länger in diesen Breiten zu verweilen, müssen sie aufgeben. Der Befehl, den Seeweg nach Indien zu suchen, das irgendwo hinter dem Lande liegen muß, treibt sie weiter. So umfahren sie die zahlreicher werdenden Eisberge, bis der Sommer zu Ende ist und die Weiterreise nach Norden sich nicht mehr zu lohnen scheint. Auch die Ausreise im nächsten Sommer und das Absegeln der gesamten nordamerikanischen Küste in südlicher Richtung bis Westindien, wo die Spanier herrschen, führt an keine Querverbindung zu den Goldstädten Indiens. Diese Querverbindung gibt es in Nordamerika nicht. Und Indien und China liegen noch um eine halbe Erdumdrehung von Neufundland entfernt. Es bedarf noch weiterer Westfahrten, um den großen Irrtum des Columbus über das riesige von der Arktis bis zur Antarktis reichende Festland endgültig zu berichtigen. Entscheidend werden zwei Entdeckungsreisen: die Fahrt Magellans, der 1521 im Süden die Meeresstraße in den von Balbao erstmals gesehenen Ozean findet — die Magellanstraße — und bei der Durchquerung dieses Ozeans erkennt, daß es nicht der Indische Ozean, sondern ein eigenes Weltmeer ist, und die Reise, die im Jahre 1523 im Auftrag des französischen Königs Franz I. der Florentiner Giovanni de Ver8
razino mit dem „Delphin" bis an die Küste Neufundlands unternimmt. Von diesem Jahre an verliert Amerika im Weltbild der Zeit endgültig seine untergeordnete Stellung als „Ostrand Asiens" und erhebt sich zum Range eines eigenen Erdteils, der „Neuen W e l t " , wie es schon manche Geographen vermutet hatten. Feste Umrisse zeichnen sich ab. Aber vorerst offenbart dank der gründlicheren Durchforschung nur Süd- und Mittelamerika seine uns heute vertraute Gestalt. Nordamerika bleibt auf den Landkarten jener Zeit noch völlig verzeichnet als schmaler Landstreifen. Der St. Lorenz-Golf ist nur als Meeresbucht zu sehen, ohne Durchlaß, ohne irgendeinen mündenden Flußlauf, dem landein zu folgen verlockend gewesen wäre für die fernenhungrigen, seefahrenden Schatzsucher.
Das Land, „das Gott Kain gab" Erst elf Jahre nach Verrazinos Neufundlandreise erscheint 1534 in den gleichen Gewässern der Mann, der auch das Nord-Festland zu durchforschen entschlossen ist. Es ist der französische Seefahrer Jacques Cartier. Der französische König Franz I. hat ihm den Auftrag gegeben, erneut nach einem Durchlaß quer durch den Erdteil zu forschen, um auf diesem Wege, unter Umgehung der Spanier und Portugiesen, an die goldreiche mittelamerikanische Küste zu kommen. Cartier segelt an der Westküste Neufundlands entlang, dann läuft er hier und da die Küste an, pflanzt Kreuze auf und nimmt fleißig Land und die hier spärliche rothäutige Bevölkerung für seinen König in Besitz. Von dem geheimnisdunklen felsigen Lande Labrador hält er sehr wenig. In seinem Bericht an den französischen Hof ist diese Gegend das Land, das „Gott für Kain übrig1 h a t t e " . Das ist damals die schlimmste Charakteristik, die man einem Lande geben kann. Als der kurze Sommer zu Ende geht, wendet Cartier sein plumpes Schiff und kehrt nach Frankreich zurück. Als lebendigen Beweis für seine Taten hat er sich kurzerhand zwei Rothäute gegriffen und bringt sie mit zum Hof seines Königs. Seiner ersten Erkundungsfahrt folgt 1535 die zweite historische Seereise. 9
Entsprechend dem, was Franz I. von Cartiers neuer Entdeckungsfahrt erwartet, rüstet er ihn nunmehr mit einer ganzen „ F l o t t e " aus. Sie besteht aus drei Hochseeschiffen. Von ihnen mißt die „Grande-Ermine" 120 Tonnen, das kleinste, die „Petite Ermine", nur halb so viel. Verglichen mit unserem von Turbinen getriebenen Ozeanrenner, sind diese Fahrzeuge lächerliche Kästen, aber immerhin sind sie recht seetüchtig. Am 19. Mai 1535 nimmt Jacques Cartier von St. Malo aus erneut Kurs über den Ozean, am 26. Juli steht seine Flottille in der Belle-Isle-Straße zwischen Neufundland und dem „Land, das Gott Kain gab". Dieses Kainsland Labrador betritt er diesmal nicht, sondern wendet seine Schiffe in den großen Golf, der sich hinter der Insel Neufundland nach Westen öffnet. Jacques Cartier findet an dessen Ende den Mündungstrichter eines Flusses. Trotz der großen Breite von über 50 Kilometer kann es keine ins Land führende Meeresstraße sein; denn das Wasser ist süß und anders gefärbt als das der See. Es scheint ein gewaltiger Strom zu sein, der seine graugrünen Wassermassen aus irgendeinem fernen Innern, einem ungeheuren Speicher, beziehen muß. Am 10. August, dem Tag des heiligen Laurentius, stemmen sich die breitbugigen Schiffe der Entdeckerflottille Jacques Cartiers unter günstigem Wind stroman. St. Laurentius tauft er den breiten Strom. Die Eingeborenen freilich, mit denen die französischen Entdecker alsbald in Berührung kommen, nennen ihn „ F l u ß ohne Ende". Die Rothäute meinen, er höre überhaupt nicht mehr auf. Cartier und seine Franzosen wundern sich, als sie Tag um Tag, Woche um Woche landein fahren können, ohne Gefahr zu laufen, auf Untiefen zu geraten. Am 1. September gehen die Entdecker an der Mündung des Saguenayflusses an Land. Sie sind erstaunt über die Freundlichkeit, mit der die rothäutigen Menschen sie empfangen, über den Reichtum an köstlichen Flußwasserfischen, über das fruchtbare Land. Obwohl die Europäer die beiden Rothäute aus Frankreich als Dolmetscher an Bord haben, ergeben sich viele Mißverständnisse. Hinter dieser waldbestandenen Küste, so meinen sie aus dem Kauderwelsch der Eingeborenen und der beiden indianischen Begleiter entnehmen zu können, müsse das märchenhafte „Königreich Saguenay" liegen. Aber was die Europäer 10
Der Wellandkanal, der Ontario- und Erlesee verbindet
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aus dem Gespräch heraushören, ist nur Gespinst ihrer gold- und beutelüsternen Phantasie. < Stromauf geht die Fahrt weiter, immer noch durch den seenartig erweiterten Trichter, Hunderte und aber Hunderte Seemeilen. Es ist wie ein Wunderland. Nie haben es, außer vielleicht den Normannen, Weiße gesehen. Manchmal verengt sich der ungeheure Strom, dann wieder verbreitert er sich zu riesigen Buchten. Endlos dehnen sich die Wälder, in denen nunmehr der frühe kanadische Herbst mit seinen zauberhaften Farben, dem vorherrschenden Gold der Silberpappeln, dem leuchtenden Braunrot des Ahorn und dem Gelb der Eichen seinen Einzug gehalten hat. Manchmal steigt Rauch von indianischen Lagerfeuern oder aus den Rauchfängen buntbemalter Lederzelte auf — für die Franzosen ein Zeichen, daß dieses Lönd auch im Innern von Menschen bewo'iff wird. Die Landnahme für den König wird nicht ohne Konflikt möglich sein; denn das sehen die Weißen: Hier ist Weideland in Menge, fruchtbarer Ackerboden in Hülle und Fülle, den sie den Eingeborenen abringen müssen. Die Seefahrer werden vorsichtiger, langsam nur dringen sie weiter vor. Denn es gibt keine Karten von diesem Strom und den nun beginnenden Gefahrenstellen, die Schiffe halten sich in der Mitte des Flußlaufs, es muß ständig gelotet werden, um die Tiefe des Wassers unter dem Kiel zu messen. Doch es schurrt nicht über tückische Riffe, noch bleibt es auf zähen Lehm- und Sandbänken hängen. So tief ist der Strom! Viel größere Schiffe, mit einem Mehrfachen des Tiefganges der 120 Tonnen messenden „Grande Ermine", werden ihn befahren können. Als die Flottille fast tausend Kilometer zurückgelegt hat, verengt sich der Stromtrichter auf 1200 Meter. Eine kleine Ansammlung von Eingeborenenhütten an der Stromenge nennen die hier hausenden Rothäute Stadacona. Die Stromenge selbst heißt in indianischer Sprache „Kuibek". Hier läßt Jacques in einer Bucht zwei Schiffe zurück und fährt mit seiner „Grande Ermine" weiter stromauf, weitere Hunderte Meilen. Endlich gebietet der Große Fluß den kühnen Entdeckern unwiderruflich Halt.
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Die Natur setzt eine Grenze Der wagemutige Vorstoß mitten in das Herz des neuen gewaltigen Kontinents ist vorläufig zu Ende. Die Franzosen sind vor einer für Seefahrer zunächst unüberwindlichen Barre aus Klippen, Felsen, Strudeln und reißenden Wassern angekommen. Es sind die Lachine-Stromschnellen. Hier gehen die Entdecker im kilometerbreiten Strom vor Anker. Die Eingeborenen begrüßen sie achtungsvoll und freundlich. Auf einer Insel, die von den Mün-/ dungsarmen des hier einströmenden Ottawa River umflossen wird, liegt das Indianerdorf Hochelaga. Die Rothäute bieten ihre Gastfreundschaft an und führen die Weißen inmitten der Insel auf einen hohen Bergkegel, der einer natürlichen Warte gleich das ganze Land ringsum beherrscht. Jacques Cartier nennt ihn Berg des Königs, Mont Royal. Er gibt damit der künftigen Stadt, die sich einmal hier ausbreiten wird, den Namen Montreal. Dieser 230 Meter hohe Mont Royal bietet eine unerhörte Sicht. Von seinem Gipfel überblickt man ein Land ohne Maß, ohne Ende. Da sind die leichtgewellten, fruchtbaren Ebenen südlich des Großen Stromes, die beängstigenden Wirbelwasser in seinem Oberlauf. Wohin mag er nur führen, wenn man die Kaskaden der( Stromschnellen hinter sich läßt? Da ist der vielfältig gewundene, breite Ottawa River, dessen Ursprung sich im grenzenlosen nordöstlichen Urwald verliert. Nach Norden dehnen sich unermeßliche Nadelwälder, deren Ende nicht abzusehen ist. j Es ist nun Mitte Oktober und empfindlich kalt, höchste Zeit, die Anker zu lichten und nach Stadacona zur Stromenge zurückzukehren. Hier haben sich die Zurückgebliebenen inzwischen eingerichtet, um zu überwintern. Mitte November schon frieren die Schiffe ein. Dieser erste Winteraufenthalt endet fast mit einer Katastrophe. Im Februar 1536 sind von den hundertzehn Gefährten Jacques Cartiers nur noch zehn zu Arbeiten zu gebrauchen; fünfundzwanzig Europäer sind den Krankheiten erlegen. Vermutlich war es Skorbut, Mangel an Vitamin „ C " , der den Überwinterern fo furchtbar zusetzte. Wie durch ein Wunder genesen die Überlebenden, als sie einen natürlichen „Balsam" aus Pflanzen zu sich nehmen. 13
Am 6. Mai 1536 verlassen die drei Segler Cartiers Stadacona und kehren in die Heimat zurück. Am 16. Juli laufen die Schiffe in den Hafen von St. Malo ein. Vielleicht hat der Entdecker des Großen Stromes gehofft, auf einer späteren Reise dem St. Lorenz weiter folgen, eine Durchfahrt finden und an einer Meeresküste herauskommen zu können. Vorerst jedoch hat sein König andere Sorgen, als neue Expeditionen ins Ungewisse zu senden. Aber Jacques Cartiers Entdeckerreise hat gezeigt, daß ein Tauschhandel — Pelze des Landes gegen europäische Waren — sehr vorteilhaft sein müsse und daß die Fischgründe vor dem St. Lorenz-Golf Westeuropa mit köstlicher Nahrung in Überfülle versorgen könnten. Während die Forschungsreisen an den St. Lorenz-Strom für J a h r zehnte unterbrochen werden, gehen die Hochseefischer vor Neufundland weiter dem Fanggeschäft nach. Flotten bis zu fünfzig Schiffen tauchen hier auf. Für die Engländer wird die Hochseefischerei im Nordatlantik zur hohen Schule der Seefahrt und eine der Grundlagen für ihren Aufstieg zur führenden Seemacht.
Die großen Seen werden entdeckt Nach zwei vergeblichen französischen Besiedlungsversuchen um die Mitte und in den achtziger Jahren des 16. Jahrhunderts erscheint ein neuer energischer und weitblickender Mann am unteren St. Lorenz. Samuel de Champlain, Seemann und Landmesser, segelt um die Wende zum 17. Jahrhundert den Großen Strom hinauf. Von da an läßt das unermeßliche neue Land ihn nicht mehr aus seinem Bann. Auch ihn stoppen die Stromschnellen oberhalb des Mont Royal, und er bekennt ehrlich, daß ihr Donnern und Brausen ihm Furcht eingeflößt habe. Champlain aber entdeckt eines Tages, daß die Indianer diese Barriere mit ihren federleichten Birkenrinden-Kanus auf ausgetretenen Tragpfaden, den ,,portages", spielend zu umgehen wissen. Ganz klar erkennt der große Franzose, daß der Platz um den Mont Royal der Schlüssel cum Herzen des Kontinents ist, daß aber der Besitz der Stromenge von Stadacona darüber entscheidet, wer Herr des ganzen mittleren St. Lorenz und des ungeheuren Hinterlandes ist. Samuel de Champlain gründet im Jahr 1608 zur Sicherung des Stromtales an der 14
Stromenge einen befestigten Handelsposten und gibt ihm den Namen „kuibek", „Stromenge". Er trägt ihn als „Quebec" in seine Karte ein; andere Handelsniederlassungen folgen. Von den Handelsposten am Strom ziehen die Händler zu den Indianerstämmen in die Wälder, um gegen billige Europäerware herrliche Pelze, vor allem Felle des Bibers, einzutauschen. Champlain aber bemüht sich um die weitere Erschließung des Landes. Der neuen in ihrem Umfang noch nicht übersehbaren Kolonie gibt er den Namen „Neu-Frankreich", wie man in dieser Zeit vielen der entdeckten Länder in der Neuen Welt den Zunamen „ N e u " gibt: Neu-England, Neu-Spanien, Neu-Schottland, Neu-Niederlande u. a. Es geht die Kunde bei den Indianern, daß sich gegen Abend — von Montreal aus den St. Lorenz aufwärts — große Seen ausbreiteten, an denen viele ihrer „Roten Brüder" Jagdgründe hätten. Da entschließt sich Champlain, nach diesen Seen zu suchen. Zu kühn erscheint es ihm, gegen die Stromschnellen anzugehen. Aber ist nicht der Ottawa-River, der sich vor Montreal mit dem St. Lorenz vereinigt, der vielleicht sicherere Weg? Mit wenigen Begleitern fährt Champlain 1615 den Ottawa River aufwärts. Als der Stromlauf zu weit nach Norden ausgreift, wählen die Männer den Landweg und folgen dann einem Fluß, der ihre Boote in schneller Fahrt bis an das Ufer eines unübersehbar großen Gewässers führt. Sie nennen es „La mer douce", Süßwasser-Meer — es ist der Huron-See. In der Folge werden auch die anderen Seen der großen nordamerikanischen Seenplatte entdeckt. Um das Jahr 1700 weiß man, wenigstens in groben Zügen, von der ungeheuren Ausdehnung der großen Wasser. Aber noch immer ist das Tal des St. Lorenz-Stromes, der eigentliche Einlaß, die natürlichste Straße in das Innere des Kontinents, nicht restlos bezwungen. Erst als alle fünf Seen bekannt sind, wagt sich der Franzose La Salle über die Lachine-Stromschnellen hinauf, vor denen Cartier und Champlain Halt machen mußten, und findet bestätigt, was die Eingeborenen berichtet hatten, daß der Große Strom aus großen Seen gespeist werde. Nur zweihundert Kilometer liegen zwischen den Lachine-Stromschnellen und dem ersten großen Seebecken, dem Ontario-See. Inzwischen sind Pelzhändler, Jäger, Pflanzer und Abenteurer 15
von den großen Seen aus in die Flüsse vorgedrungen, aus denen die Seebecken gespeist werden. Da das Land zumeist eben ist, nähern sich die in verschiedenen Richtungen fließenden Wasserläufe an vielen Stellen so sehr, daß die Rindenkanus leicht von einem Fluß zum andern getragen werden können. Die Rothäute wissen von einem besonders großen Strom, den sie das „Westliche Wasser" oder „Vater der Ströme" — Mississippi — nennen und der nicht weit von den Seen, ohne Verbindung mit ihnen, gegen Mittag fließe. Zwei Missionare, Jolliet und Marquette, verfolgen die Spur und gelangen auf Land- und Wasserwegen tatsächlich an den Oberlauf dieses „Westlichen Wassers". In wochenlanger Fahrt treiben sie mit dem Mississippi zu Tal, an den Mündungen der Riesenströme Missouri und Ohio vorüber bis dorthin, wo der gewaltige Arkansas von Westen her seine Wasser mit dem Mississippi vereinigt. Da bis hierhin die Hauptleute des Spaniers de Coronado vom Süden her bereits gekommen sind und Zusammenstöße befürchtet werden müssen, kehren die beiden Missionare zu den Großen Seen zurück. La Salle setzt ein Jahrzehnt später ihr Werk fort und gelangt über den Unterlauf des Mississippi bis in den Golf von Mexiko. Das ganze Stromtal des Mississippi bis zur Mündung wird als schmaler, langgestreckter Zipfel an das Kolonialgebiet „Neu-Frankreich" angeschlossen. Allzu dünn ist die Besiedlung „Neu-Frankreichs" durch den
SaultS^M-Schleuse
Weiland-Kanal
Internati
Das Kanal- und Schleusensystem, das den Ozean-
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Weißen Mann. Die spärlichen Militärposten und wenigen Handelsniederlassungen reichen nicht aus, das unförmige Kolonialreich auf die Dauer zu halten. Aus den immer stärker besiedelten britischen Kolonien an der Ostküste dehnen die Kolonisten und die mit ihnen verbündeten Indianerstämme sich immer mehr ins Mississippi-Stromgebiet aus. Mit blutigen Grenzüberfällen, Raubzügen, Massakern, Belagerungen und Wegnahme von Forts und Handelsplätzen beginnt zwischen den Franzosen und Engländern ein grausamer Krieg auf Leben und Tod. Indianer stehen gegen Indianer, Europäer gegen Europäer. Seit 1689 gibt es kaum noch Ruhe für die Bewohner „Neu-Frankreichs". 1759 fällt Quebec in die Hände der Briten, ein Jahr darauf Montreal. Neunzigtausend Franzosen erliegen der Übermacht der Briten, die mehr als eineinhalb Millionen Einwohner zählen. Durch den Frieden von Paris im Jahre 1763 wird England Herr im nordamerikanischen Hause. Frankreich verliert sein ganzes Kolonialreich in der Neuen Welt.
Aus dem Tagebuch Major Rogers Um die Mitte des 18. Jahrhunderts befindet sich unter den Kolonialtruppen der Engländer, die „Neu-Frankreich" erobern, ein Major Rogers, der uns vom St. Lorenz und den Großen Seen die erste umfassende geographische Beschreibung hinterlassen hat. Kei-
achiffen den Weg vom Atlantik zum Oberen See öffnet 17
ner vor ihm hat vom Großen Strom und der Seenlandschaft so viel gesehen oder durch Befragung der Indianer erfahren. Major Rogers ist den Lorenzstrom aufwärts gefahren. Quebec hat in dieser Zeit fünfzehnhundert Häuser und mehrere prächtige Verwaltungsgebäude. Noch mehr imponiert dem Reisenden die Stadt Montreal mit ihren regelmäßigen Häuser- und Straßenzügen. Die Stadt zieht sich den Hügel hinauf. In den Gärten wächst wohlgepflegtes Obst. Die Inseln im Flußlauf liefern bestes Gemüse in die nahegelegenen Städte und Siedlungen. „Das Klima ist hier k a l t " , schreibt Rogers, „und der Winter lang und verdrießlich, besonders in den nordöstlichen Gegenden; trotzdem ist der Boden keiner von den schlechtesten und bringt die meisten Gattungen an Getreide und an Früchten in großer Menge hervor. Die Sommer sind ungemein angenehm und so fruchtbar, daß der Landmann seine Ernten in sechzehn Wochen nach der Aussaat einzubringen hoffen kann. Das Land liegt zwar größtenteils nicht an der See, doch genießt es durch den St. LorenzStrom, auf welchem man sehr leicht von einer Gegend zu der anderen kommen kann, alle Vorteile einer sich weit erstreckenden Seeküste. Die vornehmsten Waren, die ausgeführt werden, sind Bauholz, Felle, Wildpret, Elke (Wapiti-Rothirsche) und Häute des Moostieres, einer Art Tannhirsche (Elche)." Rogers folgt dem Flußlauf. Hier, noch in Meeresnähe, trifft er nur wenige Indianer an. Viele sind der Zivilisation oder im Kampf erlegen, die meisten aber haben sich weit ins Innere zurückgezogen und sind in den Stämmen längs der Seen aufgegangen. An der Einmündung des St. Lorenz in den ersten der Großen Seen, den Ontario-See, trifft der Offizier auf ein kleines Fort der Franzosen, das auf einer der Inseln liegt und jetzt von Engländern besetzt ist. Der See, obwohl der kleinste in der Fünferzahl, erscheint ihm wie ein Meer; die jenseitigen Ufersäume und Berge liegen außer Sicht. In mehreren Blockhäusersiedlungen, Schanzen und Forts sichern die Briten sich den Besitz des Landes. Fähren überqueren die einströmenden Flüsse. Der Reisende wandert zu den merkwürdigen Quellen hinauf, die an einem der Flüsse dem Boden entströmen; ihr Wasser wird von den Indianern als Heilmittel gegen fast alle Krankheiten begehrt. Mit dem Wasser kommt Öl 18
aus der Erde. Die Flüsse sind reich an Lachsen, am Ontario-See scheint sich auch der Fang der Weißfische zu lohnen, die Jagd auf Wasservögel und auf das reichlich vorhandene Wild. Dort, wo der Ontario-See sich mit der Ostspitze des Erie-Sees verbindet, besichtigt Rogers das Fort Niagara, ein schönes, wohlgebautes Festungswerk von ziemlicher Stärke. Dber niedrigen Wasserfällen kreuzen die Adler und nähren sich von den in den Stromschnellen umgekommenen Rehen, Elchen und Bären. Mächtige Kastanienwälder bedecken die Ufer. Schon von hier aus hört er das Getöse der Niagarafälle, und fünfzehn Meilen weit sieht er die Wolken der sprühenden Wasser des großen Kataraktes und darin die Farben des Regenbogens. Angesichts der brausenden Flut schreibt Rogers: „Keine Worte können die Bestürzung der Reisenden bei dem ersten Anblick beschreiben, wenn eine so große Masse W a s ser von einer solchen Höhe auf die unteren Felsen herunterfallen oder gewaltsam geworfen werden, von den Felsen wieder zu großer Höhe zurückprallen und weiß wie Schnee aussehen, da diese wiederholten heftigen Bewegungen alles in Schaum verwandeln." Oberhalb der Fälle haben englische Soldaten Winden aufgestellt, um ihre kleinen Boote über die reißende Strömung zu bringen bis zum Fort Erie, das neu angelegt ist. Auch der Eriesee ist durch mehrere militärische Stützpunkte gegen Indianerüberfälle geschützt; denn hier zeigen sich oftmals große Scharen streifender Rothäute, die das Ostufer als Jagdgebiet für sich in Anspruch nehmen, es aber nicht bewohnen. Ihre ständigen Siedlungen liegen auf der Landbrücke, die vom Erie-See zum Huron-See hinüberleitet. Sie gelten als die reichsten Indianer, sie halten Pferde, Hornvieh und Schweine, und ihre Frauen bauen Korn auf den guten Äckern, nicht nur für den eigenen Stamm, sondern auch für verschiedene Nachbarstämme. Auch Erie- und Huron-See verbindet eine Wasserstraße. Die Reise des Engländers führt an dem Fort Detroit vorüber, das aus Schanzen und etwa dreihundert Häusern besteht. Der Fluß windet sich durch weitreichende Sümpfe und durchquert einen großen Binnensee, ehe der Huron-See in Sicht kommt. Hier haben etwa dreitausend Indianer, darunter sechshundert „streitbare Männer", ihre Wohnsitze, viertausend indianische Krieger siedeln um den 19
anschließenden Michigan-See. Rogers nennt die Landschaft dieser ineinandergreifenden Seen wegen ihrer Fruchtbarkeit „eine sehr schätzbare Landschaft, die einträglicher Verbesserungen fähig ist; es sollte für die englische Nation von großer Wichtigkeit sein, bald daselbst eine Kolonie anzulegen und sich der vorteilhaften Posten zu versichern". Die Schanzen, welche die Franzosen hier angelegt hätten, seien von den Indianern zerstört worden, und die kleine Garnison der Engländer von hundert Mann zu Michtimakana genüge keineswegs. Auch fehle es an gesitteten, fleißigen Einwohnern, die das Land nutzbar machen könnten. Selbst Trauben wüchsen hier, und die Indianer hatten bereits erfahren, „ d a ß der Saft der Trauben das menschliche Herz erfreuen könne". Sie verwahrten den Saft in alten Rumfässern. Rogers besucht auch den letzten der Seen, den Oberen See. Hier findet sich bestes Bauholz und ein großer Vorrat an Eisenerz. Die Strömung verlocke zur Anlage von „allerlei Wasserwerken". Die Zahl der Indianer hier und an den Ufern des Oberen Sees) schätzt Rogers auf sechzehntausend „streitbare Männer". Sie wohnen in Hütten, die wie Kegel gebaut sind. In den Sommern leben sie in Zelten an den Ufern der Flüsse und Seen, wo sie Fische und Korn gewinnen, im Winter gehen sie auf die Jagd. Aus dem Saft des Ahornbaumes gewinnen sie Zucker. Ihr Gemeinschaftsgefühl ist hoch entwickelt. „Obwohl ein jeder unter ihnen sein Ei-* gentum hat, das sie durch Tausch einer auf den andern bringen,! so läßt man doch keinen einzelnen Menschen und keine Familie durch Armut, Krankheit oder andere Unglücksfälle leiden, wenn die Nachbarn ihren Bedürfnissen abhelfen können; und dies tun sie aus dem ganz einfachen und natürlichen Grunde, weil auch sie und ihre Familien einmal von den gleichen Unglücksfällen, in denen sich ihre Freunde befinden, befallen werden können". Alle Indianer hier sind mit dem Wasser vertraut, ihre Kanus fertigen sie aus der Rinde der Birken oder Ulmen. Rogers glaubt, daß dieses Land am Sankt Lorenz und an den „Great Lakes" für die Zukunft den Briten viel verspreche. „Man kann sich die künftige Hoffnung machen, es werde daraus nicht nur eine blühende Provinz, sondern ein großes Reich werden, das an Umfang die meisten Reiche Europas übertreffen wird." 20
Kanäle und Schleusen Die fünf großen Seen, deren Lebenswelt im 18. Jahrhundert Rogers beschrieben hat, sind Reste eines einzigen riesigen Sees der Eiszeit und bilden heute die größte Binnenseegruppe der Erde, das gewaltigste, verkehrsreichste und wirtschaftlich wichtigste Wasserstraßennetz, das tief ins Innere eines Kontinents führt. Die Wasserfläche umfaßt ein Gebiet von 250000 Quadratkilometer. Der große Lorenz-Strom verbindet die einzelnen Glieder zur Kette. Die treppenartig übereinandergelagerte Seenfolge ist untereinander durch kurze Wasserläufe verbunden, die trotz ihrer andersartigen Namen meist als Fortsetzung des St. Lorenz angesehen werden. Der am weitesten westlich liegende Obere See ist mit 82 000 qkm nicht nur der größte in der Kette, sondern auch der größte Süßwassersee der Erde, er ist 152 mal größer als der Bodensee und liegt 184 Meter über dem Meere. Die Schiffsverbindung zu den nächsten Seen, dem Huron-See (59 500 qkm) und Michigan-See (58 000 qkm), die beide auf gleicher Meereshöhe liegen (177 m), führt an sechs Meter hohen Wasserfällen des Saint Mary-River vorbei durch die immer leistungsfähiger gemachten Schleusenwerke der Sault-Sainte-Marie-Kanäle. Um zum nächsten See, dem Erie-See (25 730 qkm) zu kommen, der wieder etwas tiefer liegt (174 m ü. M.), folgt die Schiffahrt den Flußläufen der kanalisierten Flüsse Detroit-River und St. Clair-River. Die letzte, östlichste Stufe, der Ontario-See — mit 19 520 qkm der kleinste der Seen, aber immer noch 36 mal so groß wie der Bodensee — hat nur noch eine Höhenlage von 75 m über dem St. Lorenz-Golf; vom ErieSee erreichen die Schiffe ihn durch den Wellandkanal, der in 20 Kilometer Entfernung die Niagara-Fälle umgeht. Der St. Lorenzstrom, der auf seinem Oberlauf „Tag der 1000 Inseln" genannt wird, und mehrere Kanäle verbinden die Seen mit dem Meer bzw. mit dem großen nordamerikanischen Elußsystem, mit Mississippi, Ohio und Hudson. Die ideale Wasserstraße der Seen auszunutzen und einen geschlossenen Schiffsweg von fast 4000 km Länge vom Eingang zum St. Lorenz-Golf bei der Insel Belle Isle bis an das äußerste Ende des Michigan- und des Oberen Sees zu schaffen — dieser Gedanke \ 21
hatte schon bald nach der Entdeckung der Großen Seen die Menschen beschäftigt. • Als das größte Hiridernis waren lange vor Rogers Reise außer der noch ungebändigten Stromstrecke des St. Lorenz die Niagarafälle zwischen Ontario- und Erie-See erkannt worden. Schon der französische Missionar Hennepin, der in der letzten Hälfte des 17. Jahrhunderts als erster Weißer an die Fälle von Onghiera kam — aus diesem indianischen Namen wurde dann der Name Niagara — und darüber nach Europa berichtete, hatte Überlegungen angestellt, wie man diese Stromsperre mit Schiffen umgehen könnte; ein Ingenieur Ludwigs XIV., machte den Vorschlag, einen Umgehungskanal mit Schleusentreppen zu bauen, um am Niagarafall vorbeizukommen. Doch vergingen noch mehr als hundert Jahre, bis die aus „Neu-Frankreich" entstandene britische Kolonie den ersten Kanal mit hölzernen Schleusen für Schiffe bis zu 2,4 m Tiefgang zwischen Ontario-See und Erie-See anlegte. Da die Holzschleusen-Umgehung der Niagara-Fälle auf die Dauer nicht genügte, baute vor hundertdreißig Jahren Kanada den schon erwähnten Welland-Kanal zur Überwindung des Höhenunterschiedes v o i 99 m zwischen Ontario- und Erie-See (Panama-Kanal: 26 m). Um mit dem zunehmenden Verkehr Schritt halten zu können, wurde der Kanal mehrmals vertieft und erweitert, zuletzt in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. Heute sind sieben große Doppelschleusen auf der 44 km langen Kanalstrecke eingeschaltet. Schiffe bis zu siebeneinhalb Meter Tiefgang und bis zu 260 m Länge können hier „Treppen steigen" und Stufe um Stufe die 99 Meter Höhendifferenz zwischen den beiden Seen über «in den. Der Welland-Kanal hat in der Periode des Schiffsverkehrs, die wegen der winterlichen Eisblockbildung nur von etwa Mitte Mai bis spätestens Ende November reicht, gewaltige Transporte durchzulassen. Die meisten Schiffe, die ihn befahren, sind „Carriers", Lastenträger, deren größte 20000 Tonnen Massengüter befördern können, hauptsächlich Erze, Kohle, Erdöl, Zellulose, Papier und Weizen. Diese Riesenfrachter sind heute die Blutkörper in dieser Schlagader Nordamerikas, aber sie sind noch immer Gefangene der Großen Seen — Gefangene aus mehreren Gründen: Erstens können sie nicht aus den Binnenseen heraus aufs Meer, weil die 22
Die mächtigen Schleusenanlagen des Wellandkanals
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Kanäle längs der Lachine-Stromschnellen des St. Lorenz zwischen Montreal und dem Ontario-See vorerst nur kleineren Schiffen bis zu 1500 Tonnen, Flußschiffen, die Durchfahrt gestatten; zweitens sind die „Carriers" ungewöhnlich lange Schiffe mit sehr flachen Böden. Auf dem offenen Meer könnten sie nicht fahren; sie brächen sehr bald durch. Die große Schiffahrt aber drängt aus den Seen hinaus in den Atlantik und vom Meer her in die Seen herein. Seit über drei Jahrhunderten träumen die Seefahrer und Reeder davon, die Meeresschiffahrt, ohne die Schiffsfrachten in Montreal in kleinere Schiffe oder in die Bahn umladen zu müssen, bis in die großen Seen durchführen zu können und den gleichen Schiffen meerwärts freie Bahn zu schaffen. Die Wirtschaft fordert, daß die Fahrrinne der Kanäle für Ozeanfrachter befahrbar gemacht wird.
Das Erz Labradors Die Kanadier, auf deren Gebiet der größte Teil der Wasserstraße St. Lorenz—Große Seen liegt, sind schon seit langem bemüht, diese Binnenwasserstraße zu einer leistungsfähigen Hochseestraße auszubauen. Den Kanadiern geht es nicht nur um ein bedeutendes Verkehrsproblem, sondern ebenso um den Ausbau von Kraftwerken, die mit der Kanalisierung im St. Lorenz-Stromtal entstehen sollten. Nicht weit von den Seen sind auf kanadischem Gebiet neue Bodenschätze erschlossen, vor allem Nickel, Titan und Rohstoffe zur Erzeugung von Aluminium. Diese Industrien erfordern nicht nur günstige Verkehrsbedingungen, sondern auch die Anlage neuer Kraftwerke. In den an die Seen und den St. Lorenz angrenzenden kanadischen Provinzen Ontario und Quebec herrscht bereits Mangel an elektrischem Strom, von dem besonders die Aluminiumproduktion abhängig ist. Auch in den Vereinigten Staaten liegen seit mehr als 25 Jahren Pläne zur Verwirklichung des ,',St. Lawrence-Seaway" vor. Fast jeder Präsident der USA hat in dieser Zeit das Projekt dringend befürwortet. Die an Rohstoffen und landwirtschaftlichen Erzeugnissen reichsten USA-Staaten grenzen an die Seen und an den Strom. An den Südsäumen der Großen Seen arbeitet die größte Eisen- und Stahlindustrie der Erde. Orte wie Buffalo, Pittsburg, 2-1
Cleveland, Detroit, Toledo, Chicago, Racine, Milwaukee sind hier zu finden. Der Staat Minnesota lieferte bisher aus seinen Erzlagern mehr als zwei Drittel des Eisenerzes, das in den USA gebraucht wird, im Staate Michigan sind die führenden Betriebe der Kraftfahrzeugindustrie vereinigt, die mehr als 60 Prozent der Kraftfahrzeuge der USA herstellen. In Wisconsin, am Niagara, am Ontario-See und St. Lorenzstrom arbeiten Hunderte von Holzstoff- und Papiermühlen. In den Staaten Illinois, Ohio, Indiana, vor allem aber in Pennsylvanien werden weit über 100 Millionen Tonnen Kohle gefördert. Gewaltige Mengen Erdöl und Erdgas treten hier aus dem Boden. Die Eisenhütten, Fabriken, die chemische Industrie transportieren die Massenrohstoffe, die sie brauchen, und die Fertigerzeugnisse in der Hauptsache auf dem Wasserwege innerhalb des Seehgebietes, weil er der billigste ist. Mais, Hafer, Leinsamen, Soja, Weizen und Roggen werden in ungeheuren Mengen in den anliegenden „Brotkammern" der Neuen Welt geerntet und verschifft. Auf den Weideflächen der Uferstaaten der amerikanischen Seite zählt man mehr als zwanzig Millionen Rinder, und auch die fleischverarbeitende Industrie und die Milchwirtschaft bedienen sich im großen Umfange der Binnenschiffe. Der Schiffsverkehr durch die Seen, Kanäle und Durchlasse ist schon heute größer als der Verkehr durch Panama-, Suez- und Nordostsee-Kanal zusammengenommen. / Obwohl die Regierungen, die Gewerkschaften, die Stahlindustrie, die Wirtschaft des Mittelstandes und die Öffentlichkeit in den „Staaten" immer wieder die Beteiligung am Ausbau der Kanäle und der Stromschnellen des Großen Stromes gefordert haben, schien Kanada auf sich allein gestellt zu sein. Der Widerstand ging vor allem von den großen amerikanischen Häfen der Küste aus, die durch den geplanten Großschiffahrtsweg einen verheerenden Rückgang ihrer Hafenwirtschaft befürchteten. Die mächtigen Eisenbahngesellschaften sorgten sich um die Verluste im Frachtverkehr; ihr Einfluß war so groß, daß bereits mehrere große Binnenkanäie im Osten der Vereinigten Staaten durch Unterbietung der Frachtkosten lahmgelegt worden waren. Einspruch erhob auch die Elektrizitätswirtschaft, die den Konkurrenzkampf mit den vorgesehenen neuen 25
Kraftwerken scheute. Erst während des letzten Weltkrieges, der die beiden großen nordamerikanischen Staaten Kanada und die USA zu gemeinsamem Vorgehen zwang, kam man zu einer Übereinstimmung; der bis in Einzelheiten vorbereitete Vertrag wurde jedoch niemals ratifiziert. Unter der Präsidentschaft Trumans überließ man es den Kanadiern, den Seeweg allein in Angriff zu nehmen. In Kanada schätzten die Gegner des Projektes den Geldaufwand für die durchgehende Schiffbarmachung des Großen Stromes und die Elektrizitätswerke auf rund 3 Milliarden Mark. In jüngster Zeit erst haben sich die Vereinigten Staaten endgültig entschieden. Das Militär begann ein gewichtiges Wort mitzureden. Es verteidigte den Seeweg des St. Lorenz als einen besonders wichtigen und vor U-Booten sicheren Beförderungsweg im Falle eines Krieges. Vernehmlich wurden erneut auch die Stimmen der Stahl- und Eisenleute im Norden der USA. Die großen Erzquellen, aus denen die eisenschaffende und eisenverarbeitende Industrie bisher gespeist wurden, lagen zumeist in der Bergkette Mesabi Ranges am Südwestende des Oberen Sees. Der ungeheure Verbrauch in den beiden Weltkriegen hatte die Erzvorräte aber nahezu erschöpft. In naher Zukunft würde die letzte Tonne Roherz aus den Mesabi-Lagern in den Hüttenwerken verarbeitet sein. Die amerikanischen Stahlleute waren daher seit vielen Jahren schon in begreiflicher Sorge. Ihre Hochöfen mußten neues Futter haben, rasch und um jeden Preis. Seit einem Jahrzehnt suchten die amerikanischen Industrieherren nach frischen Erzlagern. Das Roherz durfte jedoch durch umständliche Transporte nicht übermäßig verteuert werden. Das nächste Eisenerzlager, das für den Bedarf der amerikanischen Schwerindustrie auf längere Sicht ausreichend war, lag außerhalb der Seebecken im äußersten Nordosten Kanadas, in Labrador, zwischen der Hudson-Bay, der Hudson-Straße und dem St. LorenzGolf. Es war das gleiche Gebiet, von dem der Franzose Jacques Cartier vor mehr als vier Jahrhunderten an seinen König berichtet hatte, daß Gott es wohl für Kain aufgespart haben müsse. Tief in der pfadlosen, fast menschenleeren Wildnis des felsigen Labrador, in einer Gegend, die von den wenigen hier lebenden Indianern treffend „Mitte des Nichts" genannt wird, hatte ein Geo26
Ein beladener Erzfrachter wird vom Schlepper aus einem Hafen des Oberen Sees In das Ireie Fahrwasser bugsien
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löge schon kurz nach der Jahrhundertwende riesige Eisenerzlager vermutet. Die Hüttenleute hatten sich für diese Nachricht nur wenig interessiert, da das Erzland allzuweit von den eisenverarbeitenden Hütten- und Walzwerken entfernt lag. Zwischen den beiden Weltkriegen aber brachte der Kanadier Dr. Low solch erregende Kunde aus Labrador, daß man die Funde nicht mehr, vernachlässigen konnte. Kanadische Forscher arbeiteten sich durch die Wildnis weit nach Norden vor und entdeckten im Jahre 1936 in der Nähe des Knob Lake einen unermeßlichen Block aus lauter Erz, dessen Eisenmasse auf fünfhundert Millionen Tonnen geschätzt werden durfte. Er war nicht einmal das einzige Erzmassiv in diesem Gebiet; inzwischen waren viele andere Lagerstätten erkundet worden. Was die Stahlleute besonders reizte, war die Tatsache, daß dieses Roherz bis über 60 Prozent reines Eisen enthielt — ein Anteil, der sonst auf der Erde sehr selten angetroffen wird. Zudem brauchte man in Labrador nicht erst Schächte oder Stollen in die Erde zu treiben, um diesen begehrten Rohstoff abzubauen; er bot sich, oft nur unter einer Decke aus Rentiermoos oder dünnen Sandablagerungen verborgen, dicht unter der Oberfläche dar. Als die Amerikaner in den letzten Jahren ihren Blick über die Grenzen ins Nachbarland auf diese Erzschollen im unzugänglichen Labrador zu richten begannen, ergab sich das Problem, wie die riesigen Mengen Erz, die laufend gebraucht würden, zu den weit entfernten Hochöfen und Stahlwerken geschafft werden könnten. Denn die Hochöfen konnte man nicht einfach in jene Einöden verpflanzen. Das Erz mußte billig und ohne große Umstände transportiert werden, damit der Eisengehalt preiswert herausgeschmolzen und das so gewonnene Roheisen preisgünstig verarbeitet werden konnte. Der Bau einer direkten Erzbahn von Labrador bis zu den Industriegebieten an den Großen Seen lag wegen der unüberwindlichen Geländeschwierigkeiten und der ungeheuren Baukosten selbst im „Lande der unbegrenzten Möglichkeiten" nicht im Bereich des Möglichen. Es kam nur der Schiffsweg über den St. Lorenz und durch die Seen in Frage. Aber die bisherigen Binnenschiffe reichten zur Verbilligung der Erztransporte nicht aus. Für Lastschiffe von etwa 15 000 Tonnen, wie sie erforderlich wurden, waren die Kanäle 28
und Schleusen nicht eingerichtet. Bei den bestehenden Verkehrsschwierigkeiten hätte das Erz mindestens zweimal umgeladen werden müssen, am oberen St. Lorenz und am Niagara. So entschlossen sich die USA endlich, mit Kanada gemeinsam an den Großausbau des „St. Lawrence Seaway" heranzugehen. Aber der genügend leistungsfähige Wasserweg in die großen Seen allein genügte nicht. Ehe man das Erz Labradors in 15 000Tonner laden konnte, mußte manf es erst an den St. Lorenz hinschaffen. Die mächtigen Erzlager befanden sich tatsächlich in einem „Reich des Nichts". Fünfhundertachtzig Kilometer ungebahnter, unverkarteter Wildnis, Urwälder, Seen, Moore, Flüsse, Schluchten und Berge lagen zwischen dem Knob-See und dem Schiffahrtsweg des St. Lorenz. Durch solch weltfernes Land eine leistungsfähige Bahn zu bauen, war eine Aufgabe, die auch den tüchtigsten Ingenieuren manche Nuß zu knacken aufgab, selbst wenn sie über die modernsten und wirkungsvollsten technischen Hilfsmittel verfügten. Doch die Hüttenleute konnten jetzt nicht mehr warten, ihre Hochöfen zwangen sie, die Ausnutzung der Labradorerze unverzüglich in Angriff zu nehmen. Der Start wurde auf den Spätwinter 1951 festgesetzt.
Luftbrücken ins „Reich des Nichts" Eines Tages gingen in dem kleinen Fischerdorf Seven Islands auf Labrador (vergl. die Karte auf dem Umschlag), das keine 1000 Einwohner zählte, Geologen und Vermessungsleute an Land. Die Uferlage war hervorragend für die Einrichtung eines Hafens geeignet. Seven Islands sollte der südliche Endpunkt der Erzbahn werden und der Hafen Umschlagplatz für die Schiffe. Jeder neu ankommende Postdampfer brachte Fachkräfte in das Dorf. Eine Barackenstadt breitete sich hoch am Ufer aus. In riesigen Bauhöfen stapelten sich Baumaterial und Maschinen für den Straßenund Streckenbau. Frachtschiffe führten Traktoren, Lastwagen und Bagger heran. In den Baubüros meldeten sich die Eingeborenen zur Arbeit am Straßenbau. Eine schnell gebaute Straße, die für geländegängige Fahrzeuge geeignet war, sollte die erste Bresche in 29
die Felsen-, Wald- und Steppenwildnis schlagen. Dann konnte Stück um Stück der Schienenstrang verlegt werden. Es war daran gedacht, entlang der 580 Kilometer langen Bahnbaustrecke sieben große Arbeitslager einzurichten, von denen aus die stählerne Schienenstraße in Abschnitten verlegt werden sollte. Es waren Brücken, Tunnels und Dämme zu bauen, Felshindernisse zu durchbrechen und tiefe Tonschichten und Moore in festen Grund zu verwandeln. Zudem gab es den Wettlauf mit der Zeit. Wenn der Regen einsetzte, mußte in allen Abschnitten die Arbeit eingestellt werden; denn im aufgeweichten Boden wären die bis zu 70 Tonnen schweren Baumaschinen hoffnungslos versackt. Hector McNeil, der Ingenieur, dem zwei- bis dreitausend Bauarbeiter unterstanden, meinte, solch eine böse Arbeit habe er in 41 Jahren Streckenbau noch nicht zu Gesicht bekommen. Während von Seven Islands aus Schienenlänge um Schienenlänge auf den Schwellen verankert wurden und die Telegraphenmasten immer weiter ins Land ausgriffen, wurde auch an den sechs anderen Angriffspunkten die Arbeit begonnen. Bergingenieure, Landmesser, Arbeiter und ein ganzer Troß von Personal, alles sorgsam ausgewählte Männer, sollten dort tätig werden. Allerdings gab es in dieser Zeit nur einen einzigen Weg bis in diese entlegene Wildnis — den durch die Luft. Allen vorauf waren daher die Flieger. Sic errichteten eine „Luftbrücke", wie die Welt sie bisher bei solchen Ingenieurbauten noch nicht erlebt hatte. Die Schwimmerflugzeuge dieser nordland-erfahrenen, verwegenen Buschpiloten fielen, sobald das Eis aufgegangen war, auf den Seen ein, hier und dort und weiter landein, immer längs der geplanten Linienführung der Bahn. Denn das verlangte die Ungeduld der großen Stahlwerke; es mußte sehr rasch gehen, der Bau sollte mit mehr Maschinen- als Menschenkräften vorangetrieben werden. Kleine, behende Flugzeuge landeten die ersten Trupps, dazu Zelte, Verpflegung, Brennstoff und vielerlei Ausrüstung. Die Männer räumten zunächst einen Notlandeplatz, auf dem größere Flugzeuge aufsetzen und waldfressende Planierraupen und Kipplastwagen heranbringen konnten. Die Flugplätze wurden geräumiger. Jetzt konnten die langsameren, schwerlastigen Luftfrachter einfliegen. Sie schleppten größere und wirkungsvollere Baumaschinen 30
heran, Dieselschaufeln, Bagger, viele Tonnen schwere Ungetüme. ViTaren sie zu groß, zu schwer, nun, so schnitt man sie kurzerhand in Teile und schweißte sie am Bestimmungsort wieder zusammen. Das technische Wunderwerk gelang. In nur drei kurzen Nordlandsommern wurde die fast 600 Kilometer lange Labrador-Erzbahn von Seven Islands bis zu den Tagebauen am Knob Lake fertig. Seit dem Sommer 1954 rollen Züge mit hundert Spezialtransportwagen, von zwei der schwersten Diesellokomotiven gezogen, südwärts zum St. Lorenz. Wagenkipper entladen in kaum einer Minute einen 90-Tonnen-Güterwagen. Transportbänder befördern die Erze in die Erzfrachter an den Kais von Seven Islands. Auf dem mächtigen Strom, dann über die Großen Seen — vorerst noch mit Umladen in Montreal und am Ontario-See — gehen bereits heute große Mengen des unentbehrlich gewordenen Rohstoffes in die riesigen Hütten und Schmieden der Vereinigten Staaten. Diese umständliche Art des Transportes ist nur als Notlösung gedacht. Wenn der Seeweg ausgebaut ist, braucht das Erz nicht mehr umgeschlagen zu werden, dann werden allein die Lager am KnobSee den Bedarf der USA an Eisenerz auf Jahrzehnte decken.
Aus Binnenhäfen werden Ozeanplorieh Auch der Ausbau des „St. Lawrence-Seaway", das größte nordamerikanische Ingenieurprojekt, hat inzwischen in gemeinsamem Vorgehen begonnen. Die ersten Spatenstiche — sinnbildlich nur, denn hier herrschen die Maschinenkräfte — sind im Sommer 1954 getan worden. Seitdem dröhnen ununterbrochen die gewaltigen Maschinen auf den riesigen Bauplätzen, hallt der Donner der Sprengungen über das Land am Großen Strom zwischen dem OntarioSee und Montreal, schicken sich die Bewohner vieler Städtchen und Farmen an, in neue für sie vorbereitete Siedlungen umzuziehen. Tausende Ingenieure und das Heer ihrer Helfer, die modernsten Geräte und Hilfsmittel sind unablässig am Werk, um den Wunsch aller Seeleute, die den Großen Strom, als Tor ins Innere des Kontinents benutzen, zu verwirklichen. Im Jahre 1960, nach sechsjähriger Bauzeit, werden voraussichtlich zum ersten Male Schiffe mit einem Tiefgang von 8 Metern bei 31
einer Wasserverdrängung von etwa 15 000 Tonnen zunächst bis nach Toledo, den westlichsten Hafen am Ene-See, fahren können d die Binnenseehäfen Toronto in Kanada, Buffalo, Cleveland d Detroit in den USA zu echten Hochseehäfen machen. Zwischen dem Erie-See und dem anschließenden Huron-See muß die Fahrrinne noch um zweieinhalb Meter vertieft werden; dann liegt zugleich mit dem Huron-See auch der südlichste, der Michigan-See, mit den Städten Chicago und Milwaukee, der direkten Zufahrt vom Meere her offen. Zwischen Huron- und dein letzten der Großen Seen, dem Oberen See, bei Sault-Saint-Mary, werden die Schleusen auf neun Meter gebracht. In Verbindung mit den Staudämmen entstehen gewaltige Kraftwerke.
» Mit unseren kleinräumigen europäischen Vorstellungen ist der große „St. Lawrence Seaway" nicht zu begreifen, übertragen auf europäische Verhältnisse wäre es etwa so, als könnten 15000 Tonnen-Seeschiffe von Holland den Rhein aufwärts fahren und quer durch Süddeutschland, über den ganzen Balkan bis nach Konstantinopel, ja noch weiter, bis nach Kleinasien kommen und überall längs dieser gigantischen Wasserstraße Häfen für Schiffe dieser Größe vorfinden. Dieses Ingenieurwerk ist eines der größten, das je vom weißen Manne in Angriff genommen wurde. Kanadier haben dazu den Anstoß gegeben. Welch unverbrauchte Kraft steckt in dieser noch so jungen nordamerikanischen Nation, daß sie das große Werk in Angriff nahm und daß es ihr gelang, den industriestarken Nachbarn im Süden mitzureißen!
Bilder: The Naiional Film Board of Canada- Viialis Fantenburg -Zeidinung:Dobsky L u x - L e s e b o g e n 191 ( E r d k u n d e ) - H e f t p r e i s 25 Pfg. Natur- und kulturkundliche Hette - Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Verlag Sebastian Lux, Murnau, München, Innsbruck, Ölten — Druck: Buchdruckerei Auer, Donauwörth
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