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John Brix Der Hammerhai 1. Dumpf dröhnten Axtschläge vom Vorschiff, auf dem Hauptdeck kreischte eine Handsäge. Ferris Tucker hatte sieben Männer der Besatzung abkommandiert, um ihm beim Ausbessern der Schäden zu helfen, welche die ›Isabella‹ im Gefecht mit einer sizilianischen Galeere erlitten hatte. »Paß doch auf, du Walroß! Mußt du mir unbedingt die Bohle an die Birne knallen!« rief Smoky empört. »Selber Walroß!« schrie der riesige GambiaNeger Batuti zurück. »Erstens du laufen mir hinein, und zweitens ist kleines Brettchen nicht Bohle!« Er warf die drei Zoll starke Planke, die er auf der Schulter trug, in die Luft und fing sie spielerisch wieder auf. Smoky sprang erschrocken zurück. »Jetzt läßt er mir das Ding auch noch auf die Quanten fallen!« Philip Hasard Killigrew grinste. Solange die Männer sich gegenseitig anschrien, war die Stimmung an Bord in Ordnung. Er trat an die Balustrade des Achterdecks und blickte auf das Hauptdeck hinunter. Der Segelmacher und zwei andere Männer waren dabei, das Großsegel zu flicken, das von einer Kettenkugel zerfetzt worden war. Eine Bresche, die von einer anderen Kugel der Galeere ins Schanzkleid gerissen worden war, hatte Ferris Tucker rechteckig zugeschnitten, und jetzt sägte er die Planken zurecht, mit denen sie ausgebessert werden sollte. »Der Kutscher hat den Hammel geschlachtet!« schrie jemand über das Deck. »Er sagt, es gibt Kohl dazu und richtige Klöße!«
Die Männer brüllten begeistert. Und auch Hasard wurde der Mund wässerig. Genau wie sie hatte auch er sich in den letzten Wochen hauptsächlich von Bohnen und Pökelfleisch ernährt. Und in den Bohnen steckten auch noch schwarze Maden, die das Essen auch nicht gerade bereicherten. Die Durchsuchung einer Galeone aus Ibiza, auf die Keymis und Burton Hasards Zwillinge gebracht hatten, hatte dem Kutscher endlich Gelegenheit gegeben, die mageren Bestände der ›Isabella‹ wieder aufzufüllen. Aber seine entführten Kinder hatte Hasard auf dem Schiff nicht gefunden. Sie waren in der vorhergehenden Nacht von Keymis und Burton auf ein griechisches Kaiki umgeladen worden, das sich auf der Heimreise nach Piräus befand. Hasard und Philip, seine beiden Söhne, das einzige Vermächtnis, das Gwen ihm hinterlassen hatte, als sie starb. Hasard und Philip ... Er sah die Zwillinge wieder vor sich: dunkelhaarig und blauäugig wir ihr Vater, mit dem helleren Teint ihrer Mutter. Aber das Bild stimmte nicht mehr. Damals waren sie erst wenige Wochen alt gewesen, und inzwischen steuerten sie auf ihren ersten Geburtstag zu. »Schiff voraus!« rief Luke Morgan aus dem Großmars. Hasard zog das Fernrohr auseinander und blickte zu dem Segler hinüber, dessen Rumpf gerade über der Kimm erschien. Es war eine arabische Dau, wie sie auch häufig von den Piraten der Barbarenküste benutzt wurde. Aber hier, im Seegebiet des Osmanischen Reiches, sollte es keine Seeräuber geben. Angeblich. Aber auf solche Angaben verließ Hasard sich nie. Das war einer der Gründe, warum er noch lebte. »Luv um drei Strich an, Sten«, sagte er zu dem blonden Schweden, der Ruderwache hatte. »Wir wollen dem Burschen lieber ein bißchen aus dem Weg gehen.« »Aye, aye, Sir.« Stenmark drehte das Rad nach Backbord. Die ›Isabella‹ war eins der ersten Schiffe, bei dem der
Kolderstock durch ein Radruder ersetzt worden war. Ferris Tucker, der Schiffszimmermann, hatte um das Rad einen stabilen Verschlag gebaut, wahrscheinlich das erste Ruderhaus der Seefahrtsgeschichte. Aber heute stand Stenmark ungeschützt am Rad. Bei dem Gefecht in der Straße von Messina war der Besanmast in Trümmer gegangen und hatte das Ruderhaus unter sich zerquetscht. Das ebenfalls stark beschädigte Rad hatte Hasard sofort erneuern lassen, aber für das Ruderhaus war jetzt keine Zeit, und bei dem milden Südwestwind, der in diesem Herbst 1581 im östlichen Mittelmeer wehte, war es auch nicht so wichtig. Sie hatten die Straße von Kythera hinter sich gelassen und segelten auf Kurs Nordnordost in Richtung Piräus. Backbord voraus lag die Insel Paralõla, ein schroffer Felsenkegel, die aus dem Wasser ragende Spitze einer unterseeischen Landschaft. Die Dau lag jetzt gut drei Meilen vor dem Steuerbordbug. Sie schien auch etwas abgedreht zu haben, um die fremde Galeone mit reichlich Abstand zu passieren. Wahrscheinlich ein Frachtkahn auf dem Weg von Piräus nach der Insel Melos, überlegte Hasard. »Nichts von dem Kaiki zu sehen?« rief er zu Luke hinauf. »Keine Spur!« Es war auch eine rein rhetorische Frage gewesen. Durch den Zusammenstoß mit der Galeere in der Straße von Messina hatten sie zuviel Zeit verloren, und mit dem Besanmast hatten sie auch einen guten Teil ihrer Geschwindigkeit eingebüßt. Hasard wußte, daß sie das Kaiki vor Piräus nicht mehr einholen würden. Erst an Land konnte er versuchen, die Entführer und seine Kinder wiederzufinden, falls es Keymis und Burton nicht gelang, ihre Spuren sehr gründlich zu verwischen. Sie hatten jetzt immerhin einige Stunden Zeit dazu.
»Der hält direkt auf uns zu«, sagte Dan O’Flynn empört. »Das merke ich auch.« Hasard warf einen raschen Blick in die Segel. »Luv noch ein bißchen an, Sten. Mal sehen, ob er wirklich was von uns will.« Während das Schiff nach Backbord drehte, starrte er durch das Fernrohr zu dem anderen hinüber. Es war eine Karavelle, offensichtlich in Spanien erbaut, aber an ihrem Besanmast wehte die grüne Flagge des Propheten. Ein Schiff der Osmanen, also. Ein Kriegsschiff der Osmanen, berichtigte er sich sofort, als er die Stückpforten ihrer Backbordseite gezählt hatte. »Sie meint wirklich uns«, sagte Dan. »Soll ich Gefechtsbereitschaft geben?« »Ja. Aber niemand feuert ohne meinen Befehl, verstanden!« Dan schwirrte ab, und kurz darauf dröhnten die Kommandos von Al Conroy, des Stückmeisters der ›Isabella‹, über Deck. Die Männer liefen zu den sechzehn Culverinen, rissen die Stückpforten auf und luden die plumpen Rohre der Kanonen. Blacky und Sam Roskill hängten Luntenschnüre neben die Culverinen und stellten Becken mit glühender Kohle bereit, in denen sie angezündet werden sollten. Der schwarze Riese Batuti und der fast genauso gigantische Shane, früher Schmied und Waffenmeister auf Arwenack, machten ihre gewaltigen Bogen schußbereit und legten Brandpfeile zurecht. Andere Männer liefen zu den Drehbassen, von denen je zwei auf dem Bug- und Achterkastell montiert waren. Die Männer beherrschten ihre Rollen im Schlaf, stellte Hasard zufrieden fest. Jeder wußte genau, was er zu tun hatte. Jeder Handgriff saß, jede Bewegung war hundertmal erprobt. »Schiff hat Geschützpforten geöffnet!« rief Luke Morgan. »Der will wirklich was von uns«, knurrte Ben Brighton, der
Erste Offizier auf der ›Isabella‹. Er war ein etwas untersetzter, schweigsamer Mann. Aber er handelte lieber, als lange darüber zu reden. Die Karavelle war jetzt nach Steuerbord abgefallen, stellte Hasard grinsend fest. Mit dem letzten Anluven hatte er die Türken dazu gezwungen, gegen den Wind anzukreuzen. So würde es etwas länger dauern, bis sie die ›Isabella‹ erreichte. Aber das war nur ein Aufschub, wußte Hasard. Mit dem fehlenden Besan würde er der Karavelle nicht weglaufen können. Wenn die Leute etwas von ihm wollten, würde er kämpfen müssen. »Lunten anstecken!« hörte er die Stimme Al Conroys rufen. Die Männer an den Culverinen hielten die Enden der langen Luntenschnüre in die Kohlebecken. »Wollen wir noch etwas anluven, Hasard?« Ben Brighton starrte zu dem Türken hinüber, der jetzt hart am Wind kreuzend hinter die ›Isabella‹ zu gelangen suchte, um vor den Wind gehen zu können. »Nein, Ben. Wir laufen auf ihn zu, bevor er uns den Windvorteil genommen hat.« Er wandte sich an Stenmark. »Kurs Nordost.« »Nordost, Sir.« Die Männer auf dem Achterdeck der Karavelle steckten aufgeregt die Köpfe zusammen, und einer deutete mit ausgestrecktem Arm auf die ›Isabella‹, die jetzt auf sie zudrehte. Hasard grinste und setzte das Fernrohr ab. »Steuerbordbatterie klar zum Feuern!« rief er zum Hauptdeck hinunter. »Aber kein Schuß ohne meinen ausdrücklichen Befehl, ist das klar!« Die Männer starrten an den Rohren ihrer Culverinen vorbei durch die offenen Stückpforten zu dem Türken, der jetzt noch knapp eine halbe Meile entfernt war.
Aus einer der Stückpforten quoll Rauch. Zwei Sekunden später hörten sie den dumpfen Abschußknall der Kanone, und im selben Moment sprang weit vor ihrer Bordwand eine kleine Fontäne aus dem Wasser. »Ein Warnschuß«, murmelte Ben Brighton. »Der will, daß wir stoppen.« Hasard nickte. Er hatte etwas Ähnliches erwartet. England war zur Zeit nur an der Neuen Welt interessiert, die vor knapp hundert Jahren entdeckt worden war, und seine Feinde waren nur die Mächte, die ihr den Zugang zu den Schätzen des neuen Kontinents verwehren wollten, vor allem Spanien. Hier im Osten Europas hatte die Krone überhaupt keine Interessen und deshalb auch keine Konflikte mit dessen Herrschern. »Segel in den Wind brassen!« rief er ins Hauptdeck. »Steuerbordkanonen bleiben feuerbereit!« »Na los, ihr langschwänzigen Affen!« dröhnte die Stimme Edwin Carberrys. »An die Brassen, und rum mit dem Holz! Holen nennt ihr das? Ihr Muselmänner braucht wohl ein Gangspill, um die Zahnstocher herumzubringen, was?« Die Rahsegel standen in Windrichtung, die ›Isabella‹ verlor an Fahrt. Nur die stehengebliebene Blinde hielt sie noch vor dem Wind und im Ruder. Hasard starrte durch das Fernrohr zu der türkischen Karavelle hinüber. Es wirkte etwas seltsam, auf dem Achterdeck Männer mit wallenden Bärten und Turbanen zu sehen. Das Schiff lag jetzt etwas achterlich und drehte vor den Wind, genau wie es Hasard erwartet und berechnet hatte. »Schade, wir nicht dürfen schießen«, sagte Batuti zu Shane und spannte seinen gewaltigen Bogen, der die Pfeile vierhundert Yards weit trug. »In zwei Minuten könnten machen schönes, warmes Feuer aus Segel.« »Ist dir noch nicht warm genug?« knurrte der frühere Schmied von Arwenack. Aber auch ihm schien es nicht zu
passen, daß die Karavelle sich jetzt von achtern in ihren Feuerbereich schob, ohne daß sie etwas unternehmen konnten bis es vielleicht zu spät war. Jetzt wurden auch drüben die Rahsegel herumgebraßt. Auch die Türken wollten ihr Schiff innerhalb von Sekunden wieder in Fahrt bringen können, falls die Umstände es erfordern sollten, und sie hielten sich gut vierhundert Yards von der Steuerbordseite der ›Isabella‹ entfernt, außerhalb der Reichweite ihrer Kanonen. »Jetzt bin ich neugierig, wie es weitergeht«, murmelte Stenmark gespannt. »Das kann ich dir genau sagen. Sie werden uns einen von den Turbanheinis herüberschicken«, antwortete Jeff Bowie, der seine Gefechtsstation bei den Heck-Drehbassen hatte. Und genau das geschah auch. Auf der Karavelle wurde ein Langboot zu Wasser gelassen, das auf die ›Isabella‹ zuhielt. Die Männer mußten sich mächtig in die Riemen legen. Selbst mit gebraßten Hauptsegeln liefen die beiden Schiffe noch erhebliche Fahrt. Im Heck des Bootes, neben dem Mann an der Pinne, saß ein feister Kerl mit einem bestickten Turban. »Klar bei Jakobsleiter!« schrie Ed Carberry. Die Jakobsleiter wurde ausgebracht, und kurz darauf lag das Boot längsseits. Dan und drei andere Männer hatten sich mit Pistolen und Säbeln bewaffnet und standen für alle Fälle bereit. Batuti und Shane hielten ihre Bogen in den Händen, und es sah wie zufällig aus, daß sie dabei mit einem Pfeil spielten, den sie innerhalb von Sekunden auf die Sehne spannen und abfeuern konnten. Die Männer der Backbordwache standen bei den Brassen, bereit, die Rahen herumzuwuchten. Und die Crew an den Steuerbordkanonen starrte durch die offenen Stückpforten zu ihren türkischen Kollegen hinüber, die genau wie sie ihre
Rohre gerichtet hatten und glimmende Lunten in den Händen hielten. »Bon jour«, sagte der fette Mann, der jetzt an Deck kletterte. »Ich hoffe, Sie sprechen französisch, Monsieur?« Soweit reichte es bei Dan O’Flynn gerade noch. »Der Kapitän kommt gleich.« Hasard ließ sich bewußt ein wenig Zeit. Er hatte von Kennern des Ostens erfahren, daß es als würdelos galt, einen Besucher sofort zu empfangen oder ihn gar zu erwarten. Je wichtiger sich die Herren einschätzten, desto länger ließen sie andere warten. Und deshalb stieg er erst den Niedergang hinunter, als der Turban an Bord geklettert war, und ließ sich auch dann noch reichlich Zeit dabei. »Selamun aleykum«, sagte der Dicke, als Hasard auf ihn zutrat. »Ich bin Hassan ben Iskander, Vertreter des Paschas von Athen und Piräus.« »Selamun«, sagte Hasard kurz. »Ich bin der Kapitän dieses Schiffes. Was wünschen Sie?« »Ich bin beauftragt, Sie bei uns willkommen zu heißen, Monsieur. Es ist nicht häufig, daß Gentlemen aus England uns besuchen, und darum wollen wir alles tun, um Ihnen den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten.« »Danke. Sehr aufmerksam von Ihnen und von Ihrem Pascha.« Er sah den Fetten aufmerksam an. Sein Turban verlieh dem Kopf das Aussehen einer Ameise. Der Bauch wurde von einer grünseidenen Schärpe zusammengehalten, in der ein breiter, krummer Dolch in einer Silberscheide steckte. Die Steine, mit der sie verziert war, wirkten echt, sah Hasard mit Kennerblick, waren aber nicht groß und von minderer Qualität. Aber der Dicke war ja auch nur ein Vertreter. »Sie haben sicher nichts dagegen, daß wir unsere Fahrt jetzt fortsetzen, nicht wahr?« »Sie wollen nach Piräus, nehme ich an?« erkundigte sich der Dicke mit dem Turban. »Allerdings.« Er blickte zu der Karavelle hinüber, die sich in
respektvollem Abstand auf gleicher Höhe hielt. »Sie haben hoffentlich nichts dagegen?« »Aber nein, mon Capitain«, sagte Hassan ben Iskander mit einem breiten Lächeln. »Ich bitte Sie, sich als unser Gast zu betrachten. Wir möchten, daß Sie recht lange bei uns bleiben.« Hasard wechselte einen raschen Blick mit Dan O’Flynn. War diese Einladung eine Falle oder lediglich der Ausdruck einer etwas übertriebenen, orientalischen Gastfreundschaft? »Dann haben Sie sicher nichts dagegen, wenn wir wieder vor den Wind gehen, Monsieur«, sagte Hasard. »Natürlich werden wir warten, bis Sie wieder an Bord Ihres Schiffes sind.« »Nicht nötig. Ich werde Ihnen selbstverständlich Gesellschaft leisten, mon Capitain.« »Und die Karavelle ist unsere Ehreneskorte, nicht wahr?« »So ist es, mon Capitain.« »Verstehe.« Hasard wandte sich um. »Ed, laß die Segel ...« »Sie haben etwas vergessen, Monsieur«, unterbrach ihn Hassan ben Iskander mit einem öligen Lächeln. »Und das wäre?« »Unsere Gesetze der Etikette erfordern, daß ein fremdes Schiff Salut schießt, wenn es in einen fremden Hafen einläuft.« Der Brauch bestand in den westlichen Ländern ebenfalls, und er hatte weniger etwas mit Höflichkeit zu tun als mit dem Wunsch nach Sicherheit: Das einlaufende Schiff sollte seine Rohre freischießen. »Al!« »Sir?« Conroy blickte Hasard erwartungsvoll an. »Laß die Geschütze Salve feuern. Nimm dafür zuerst die Steuerbordseite.« Al Conroy blickte Hasard ein paar Sekunden fragend an. Erst als er sicher war, sich nicht verhört zu haben, sagte er: »Aye, aye, Sir.« Hasard wandte sich an Dan O’Flynn, der mit mißtrauisch gerunzelter Stirn seitlich hinter dem fetten Türken stand.
»Dan«, sagte Hasard mit seinem freundlichsten Grinsen und in breitestem schottischen Dialekt. »Sage Shane und Batuti, sie sollen ihre Brandpfeile bereithalten, für den Fall, daß die Muselmänner irgendwelche Tricks aus dem Ärmel ziehen.« »Geht klar.« Dan war erleichtert, daß die ›Isabella‹ ihre Geheimwaffe als As im Ärmel behielt. »Feuer!« schrie Al Conroy. Die Steuerbordbreitseite donnerte. »Feuer!« Sekunden später waren auch die Backbordrohre frei. »Zufrieden, Monsieur?« Hasard grinste den dicken Hassan an. »Sehr zufrieden, mon Capitain.« »Bringt das Schiff vor den Wind, Ed!« rief Hasard dem Profos zu. »Darf ich Sie jetzt zu einem Begrüßungsschluck in meine Kammer bitten, Monsieur?« Der fette Türke schüttelte den Turban. »Aber nicht doch, Monsieur. Ich bin der Gastgeber und werde Sie sofort zu einem Bankett bitten, wenn Sie vor Anker liegen. Und jetzt wollen wir doch lieber an Deck bleiben, damit ich Ihnen die Schönheiten von Piräus zeigen kann.« Das war natürlich genauso eine Finte wie dieses Salutschießen, erkannte Hasard. Der Dicke wollte nur an Deck bleiben, um darauf zu achten, daß die Culverinen nicht wieder neu geladen wurden. »Es wird mir eine Ehre sein, Monsieur«, sagte er lächelnd. Hassan ben Iskander grinste über sein ganzes, ölig glänzendes Gesicht, und dann begann er Konversation zu machen. Das heißt, die Unterhaltung blieb sehr einseitig. Hasard hörte kaum zu, und der Türke schien es auch nicht zu erwarten. Vor dem Bug der ›Isabella‹ lag jetzt die Reede von Piräus. Zwei große Galeeren kreuzten ihren Kurs. Kaikis und Fischerboote wichen dem größeren Schiff aus. »Entschuldigen Sie, Monsieur«, unterbrach Hasard den
Redeschwall des Dicken. Er wandte sich um. Sechs, sieben Männer der Mannschaft standen wie zufällig in seiner Nähe, zum sofortigen Eingreifen bereit, falls es notwendig werden sollte. Hasard schüttelte unmerklich den Kopf. »Klar bei Buganker«, sagte er dann zu Ed Carberry. »Aye, aye, Sir.« Die Situation war für den Profos so unverständlich, daß er sowohl Vokabular als auch Stimme verloren zu haben schien. Schweigend gab er den Männern einen Wink, zum Ankerspill zu traben. »Schon gut, Ed«, sagte Hasard beruhigend. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.« »Wir hätten ihnen eine Breitseite verpassen sollen«, knurrte der Profos und blickte den fetten Türken haßerfüllt an. »Wir sind doch schon mit ganz anderen Leuten fertiggeworden als mit diesen Muselmännern.« »Stimmt, Ed«, gab Hasard zu. »Aber mit diesen Muselmännern steht England nun mal nicht im Krieg. Willst du etwa dafür verantwortlich sein, wenn sich unsere Leute nicht nur mit den Spaniern herumschlagen, sondern auch noch eine ganze Flotte in diese Gegend schicken müssen?« »Du hast wahrscheinlich recht«, gab Carberry widerstrebend zu. »Aber es ist doch eine himmelschreiende Sauerei, daß wir uns mit diesen ungläubigen Heiden ...« »Verzeihen Sie, mon Capitain«, unterbrach der dicke Hassan, »haben Sie Befehl zum Ankern gegeben?« Er deutete auf ein paar Männer, die an einem der beiden Buganker arbeiteten. »Allerdings. Wir sind fast schon am Nordrand der Reede.« Er hatte diesen Platz mit Berechnung gewählt. Wenn er die ›Isabella‹ außerhalb des Hauptfahrwassers und frei von der Masse ankernder Schiffe vor Anker legte, konnte er sich jederzeit absetzen, wenn es notwendig werden sollte. »Lassen Sie sich noch etwas Zeit«, sagte Hassan ben Iskander mit seinem öligen Lächeln. »Wir haben einen besonders günstigen Ankerplatz für Ihr Schiff vorgesehen. Dort vorn.« Er
deutete auf die schmale Wasserstraße zwischen dem Festland und der Insel Salamis, die Backbord voraus lag. »Dort liegen Sie besonders gut geschützt.« Wie eine Maus in der Falle, erkannte Hasard. Auslaufen, ohne mit sehr kurzen Schlägen kreuzen zu müssen, konnte er nur bei Südwest- oder Nordostwind, und wenn die Türken an jeden Ausgang ein Schiff zur Bewachung legten, war selbst das unmöglich. »Sie ankern an einem historischen Ort, mon Capitain«, erklärte ihm Hassan ben Iskander mit seinem wie festgeölt wirkenden Lächeln. »In dieser Seestraße wurde die persische Flotte von den Griechen vernichtet. Dort oben«, er deutete auf den Berg von Perama, »auf dem Ostufer hat König Xerxes gesessen und den Untergang seiner Schiffe miterlebt.« »Und heute haben Sie dort oben einen Posten, der alle Schiffsbewegungen in der Straße von Salamis beobachtet, nicht wahr?« Hasard blickte zu den kahlen Hängen des Peramaberges hinauf. »Es ist nun mal eine überaus günstige Position dafür«, sagte der fette Türke und hob entschuldigend beide Hände. »Wenn Sie jetzt Befehl zum Ankern geben würden ...« 2. Das Serail des Paschas lag unterhalb des Lykabettos-Hügels am Stadtrand von Athen. Durch das Fenster der weiträumigen Halle sah Hasard auf den anderen Berg, der diese antike Stadt beherrschte: die Akropolis mit den Tempelruinen einer Zeit, in der Griechenland Wurzel und Pol abendländischer Kultur war. Daß diese Zeit vorüber war, bezeugte das Gesicht der Stadt, die zwischen Lykabettos und Akropolis lag. Es wurde beherrscht von den Kuppeln der Moscheen, den schlanken, spitzen Minaretts, die wie mahnende Finger zum blauen
Himmel emporragten. Irgendwo in diesem Häusermeer steckten Keymis und Burton mit seinen beiden Kindern, überlegte Hasard. Wenn er sie verstecken müßte, würde er auch zusehen, sie möglichst schnell ins Inland zu bringen. In einer Hafenstadt fanden sich Seeleute sehr rasch zurecht, und es gab auch immer Menschen, die scharf beobachten konnten und begriffen, was gespielt wurde. Das gehörte in Hafenstädten zum Überleben. Ja, Athen, dachte er wieder. Nicht auf einer kaum bekannten Insel. Das hatten sie in Spanien versucht und würden ihren Fehler nicht wiederholen. In einer großen Stadt wie Athen mit ihrem Völkergemisch aus Türken, Griechen, Arabern, Negersklaven und einem Dutzend anderer Rassen würde ein Fremder kaum auffallen. Hier konnten die beiden Halunken in aller Ruhe abwarten, bis ... Bis was? Er hatte noch immer nicht begriffen, was sie eigentlich vorhatten. Gut, beide Männer hatten einen abgrundtiefen Haß gegen ihn. Sie hatten nicht eine Sekunde gezögert, Menschen zu ermorden, nur um ihn zu treffen. Aber er war sicher, daß sie nicht die Absicht hatten, die Zwillinge nur umzubringen. Das hätten sie schließlich längst tun können. Nein, die Entführung der beiden Kinder war nur Mittel zum Zweck, ein Druckmittel, um ihn zu erpressen. Aber zu was? Alles, was sie erreichen konnten, hatten sie doch schon erreicht. Seine Frau war auf der Flucht vor ihren Nachstellungen ertrunken, die Königin hatte einen bereits erteilten Kaperbrief widerrufen und gegen ihn Haftbefehl erlassen. Durch die Schuld von Keymis und Burton war seine Familie zerstört, sein Ruf ruiniert und er selbst zu einem Flüchtigen vor dem Gesetz geworden. Was also konnten sie noch wollen? Was wollten sie noch aus ihm herauspressen? Es konnte höchstens sein, daß sie bei ihm noch einen Schatz vermuteten. »Seine Exzellenz, der allergnädigste Pascha lassen bitten«,
unterbrach eine Stimme seine Überlegungen. Er wandte sich um. Der dicke Hassan ben Iskander trat auf ihn zu. Hasard zog mit einer mechanischen Bewegung seinen Lederkoller zurecht, den er über einem einfachen Baumwollhemd trug. Zwei bärtige Türken, die zu beiden Seiten einer breiten Tür standen und den Zugang mit gekreuzten Speeren versperrten, rissen ihre Waffen zur Seite, als Hassan und Hasard auf sie zuschritten. Einer von ihnen stieß die Tür auf. Sie traten in ein großes, rundes Zimmer, das völlig kahl war. Nur ein kleiner, runder Tisch stand auf den dicken Teppichen, die fast den ganzen Boden bedeckten. Die Luft war dumpf und roch nach irgendwelchen Kräutern, zwei trübe Ölfunzeln verbreiteten mattes Licht. Fenster gab es nicht, aber Hasard erkannte, daß dieser Raum früher welche gehabt hatte. Sie waren nur zugemauert worden. Der Pascha schien nicht sehr beliebt zu sein. Er hockte mit untergeschlagenen Beinen auf einem thronartigen Divan, der auf einem Podest stand. Der Pascha war ein alter, aufgeschwemmter Mann mit einem hennagefärbten Bart und einem Turban, der seinem Rang entsprechend bestickt und mit einem großen Rubin geschmückt war. Auch auf seinen dicken Wurstfingern trug er kostbare Edelsteine. Die rechte Hand spielte mit einer Kette aus dicken Bernsteinkugeln. Hassan ben Iskander verneigte sich, so tief es seine Fülle zuließ. »Sie müssen sich verbeugen«, flüsterte er Hasard zu. Hasard hielt ein leichtes Kopfnicken für völlig ausreichend. Er verstand nicht, was der dicke Hassan zu dem kaum weniger fülligen Pascha sagte, und was dieser ihm antwortete. Er war auch nicht sonderlich neugierig darauf. »Verbeugen«, zischte ihm Iskander kurz darauf wieder zu. Die Audienz schien beendet zu sein. »Sie Glücklicher«, sagte Hassan strahlend, als sie das düstere
Gelaß wieder verlassen hatten. »Seine Exzellenz hat Gefallen an Ihnen gefunden.« »Welche Ehre.« »Er bittet Sie, als sein persönlicher Gast im Serail zu bleiben.« »Das ist sehr nett von ihm, aber ich muß mich um mein Schiff kümmern.« »Das lassen Sie bitte unsere Sorge sein.« Das angefrorene Lächeln verschwand für ein paar Sekunden. »Sie kennen die Sitten des Orients noch nicht, mon Capitain. Es ist eine Beleidigung, die Gastfreundschaft eines Herrschers auszuschlagen. Eine tödliche Beleidigung.« »Trotzdem, sagen Sie bitte Seiner Exzellenz ...« »Ach, ehe ich es vergesse: Morgen findet ein sehr interessantes Schauspiel statt, zu dem ich Sie herzlich einladen möchte.« Das Grinsen erschien wieder auf dem feisten Gesicht. »Interessant - und sehr lehrreich!« * »Seid doch vernünftig, Leute«, sagte Ben Brighton mahnend. »Hasard hat uns ausdrücklich befohlen, nichts zu unternehmen, bis er zurück ist.« »Aber er ist nicht zurück! Darum geht es doch!« Matt Davies schlug seine Unterarmprothese mit dem Stahlhaken auf die Back. »Er hat gesagt, er würde gegen Sonnenuntergang zurück sein.« »Richtig! Und jetzt ist es zehn Uhr!« rief Jeff Bowie. Sie saßen im Mannschaftsraum im Vorschrift der ›Isabella‹. Das heißt, soweit sie auf den Kojenrändern Platz fanden. Die anderen drängten sich um die Back. »Du weißt genauso gut wie wir, daß Hasard sein Wort hält«, sagte Dan O’Flynn hitzig. »Wenn er bis jetzt noch nicht hier ist, dann muß was faul sein.«
»Das bedeutet, daß irgend etwas dazwischengeraten ist und er später zurückkehrt«, sagte Ben Brighton. »Oder er kann nicht kommen, weil er irgendwo eingesperrt worden ist«, sagte Blacky. »Ich traue diesen Ungläubigen nicht.« »Wozu denn die ganze Quatsctierei!« rief Bob Grey. »Ich schlage vor, wir gehen an Land und sehen uns mal ein bißchen um. Und wenn sie den Seewolf wirklich eingesperrt haben sollten ...« »Was dann?« fragte Ben Brighton ruhig. »Dann hauen wir ihn heraus.« »Gegen eine ganze türkische Garnison?« »Wir sind schließlich fast zwanzig Männer!« »Von denen wir höchstens zehn losschicken können«, sagte Ben Brighton. »Und warum können wir nicht alle gehen?« »Weil mindestens zehn Mann an Bord bleiben müssen«, erwiderte Ben Brighton ruhig. »Aber wir können doch nicht einfach hier herumsitzen und so tun, als sei alles in bester Ordnung!« »Das werden wir auch nicht«, sagte Ben Brighton. »Aber wir dürfen deshalb nicht den Verstand ausschalten. Ich schlage euch einen Kompromiß vor: Drei von euch gehen an Land und versuchen festzustellen, wo Hasard ist und warum er nicht zurückkehrt.« Er machte eine kurze Pause und blickte die Männer der Reihe nach an. »Dan, du wirst die Führung übernehmen. Und ich denke, du solltest Batuti und Smoky mitnehmen.« Ein paar der Männer, die damit von dem Unternehmen ausgeschlossen wurden, begannen zu murren. »Haltet die Schnauze und laßt Ben ausreden«, fuhr Dan O’Flynn sie an. »Er hat völlig recht. Zuerst müssen wir feststellen, wo Hasard überhaupt steckt, und das erreichen drei Männer besser und unauffälliger als eine ganze Horde.«
Ein paar der Männer maulten noch etwas, aber dann waren sie ruhig. »Also los, Leute«, sagte Dan zu BatutiundSmoky. Smoky griff nach seinem Wehrgehänge mit dem Säbel. »Das bleibt hier«, sagte Dan. »Wir nehmen nur Messer mit. Mit dem schweren Ding könntest du ja auch nicht schwimmen.« »Schwimmen?« fragte Smoky entgeistert. »Wie sonst sollten wir denn unbemerkt an Land kommen?« sagte Dan grinsend. »Macht’s gut.« Ben Brighton schlug Dan auf die Schulter. »Und seht euch ein bißchen vor, wenn ihr an Land schwimmt. Ich habe kurz vor Sonnenuntergang zwei Haie gesehen.« * »Sie haben den Ehrenplatz zur Rechten Seiner Exzellenz«, sagte Hassan ben Iskander. »Ich weiß es zu schätzen.« Hasard saß mit gekreuzten Beinen auf einem großen Kissen auf einer Empore. Links von ihm stand eine Art Thronsessel, der noch leer war. Vor ihm lag ein großer Platz. Männer mit Speeren und Krummsäbeln, wahrscheinlich Soldaten, hielten eine ständig anwachsende Menge zurück. »Was ist hier eigentlich los?« wandte er sich an Iskander. »Heute ist Donnerstag«, sagte der. »Und?« »Der Freitag ist uns heilig, und vor jedem Freitag müssen alle Sünden gesühnt werden, damit wir Allah morgen reinen Herzens preisen können.« Also eine Art Gerichtstag, folgerte Hasard. Das konnte ja gut werden. Die Menschenmauer wurde gespalten. Zwei Neger trugen eine Sänfte heran. Es war jedoch nicht der Pascha, wie Hasard
vermutet hatte, sondern ein hellhäutiger Mann in abendländischer Kleidung. Vielleicht sogar ein Engländer, dachte Hasard und blickte den Mann an, der jetzt ebenfalls auf das Podium kletterte. Jetzt hatte der Mann ihn ebenfalls entdeckt, blieb überrascht stehen und starrte ihn an. Dann ging er weiter und setzte sich auf eins der Kissen am linken Ende des Podiums. Wer war der Mann? Alle europäischen Mächte waren miteinander und mit der Neuen Welt beschäftigt und hatten weder Zeit noch Interesse, sich mit den Türken zu befassen. Und Geschäfte waren mit denen auch nicht zu tätigen. Was also hatte er hier zu suchen? Vor allem in Athen, einem zweitklassigen Außenposten Konstantinopels? Er blickte zu dem blonden Mann hinüber. Er mochte knapp vierzig Jahre alt sein, trug einen dünnen Schnurrbart und elegante, fast dandyhaft wirkende Kleidung. Und er schien gewisse Privilegien zu genießen, erkannte Hasard an der verbindlichen, fast devoten Art, mit der die Umsitzenden ihn behandelten. Auf jeden Fall sollte ich versuchen, mit diesem Mann zu sprechen, überlegte Hasard. Ein Mann in seiner Position mußte überall seine Informanten haben, um hier bestehen zu können. Er würde also auch wissen, wenn hier Fremde auftauchten, noch dazu Fremde, die Kinder bei sich hatten. Er würde bei der nächsten Gelegenheit mit diesem Mann sprechen. Lautes Rufen und erregtes Stimmengewirr rissen ihn aus seinen Gedanken. Auf der rechten Seite prügelten bewaffnete Türken eine breite Gasse in die Menschenmauer, und kurz darauf trugen vier riesige Neger eine Sänfte auf den Platz. Unter dem seidenen Baldachin erkannte Hasard den fetten Pascha. Die Träger stellten die Sänfte vor dem Podium ab. Ächzend schleppte sich der dicke Potentat zu seinem Thron. Ein müdes Winken seiner plumpen Hand war das Zeichen, daß die Vorstellung beginnen könne.
Ein Mann mit einem dichten, struppigen Vollbart trat vor den Thron und warf sich in den Staub. Zwei Soldaten schleppten einen gefesselten Mann heran und stießen ihn neben den anderen zu Boden. Auf einen Wink des Paschas erhoben sich beide, und der Bärtige begann eine erregte Suada. Augenscheinlich der Kläger, folgerte Hasard, und der Gefesselte, auf den der andere immer wieder mit dem Finger deutete, war der Beklagte. Als der Pascha genug gehört hatte, winkte er dem Kläger, zu schweigen, stellte eine kurze Frage an den anderen Mann und fällte dann sein Urteil. Der Bärtige grinste zufrieden und verneigte sich bis zum Boden. Der andere wurde von den Soldaten zu Boden gestoßen und mit Armen und Beinen an vier Pflöcken festgebunden. Ein stämmiger Neger entrollte eine lange Nilpferdpeitsche, und dann knallte das geflochtene Leder auf den Rücken des Delinquenten. »So, nun ist die Gerechtigkeit wiederhergestellt«, erklärte Hassan ben Iskander mit seinem breiten Grinsen. »Der Gerechte kriegt sein Geld, und der Sünder kriegt die Peitsche.« »Und niemand verteidigt den Angeklagten?« fragte Hasard sarkastisch. »Wozu? Wer angeklagt wird, ist auch schuldig.« Hasard hielt es für müßig, noch ein Wort über eine Rechtsprechung zu verlieren, die seit der Magna Charta in England unmöglich war. »Und das soll lehrreich sein?« fragte er nur. »Warten Sie ab, Monsieur. Warten Sie ab.« Es war der vierte Fall. Hasard konnte der »Verhandlung« genausowenig folgen wie den vorangegangenen. Aber daß das Urteil härter ausgefallen war, erkannte er daran, daß der Angeklagte, ein Mann, dessen Kleidung und Aussehen Wohlhabenheit verrieten, abwechselnd schrie und um Gnade flehte.
Der Neger steckte die zusammengerollte Peitsche in die Schärpe und griff nach einem breiten Krummschwert. »Was hat der Mann getan?« fragte Hasard. »Er hat es gewagt, den Unwillen Seiner Exzellenz hervorzurufen.« »Und nur deswegen wird er hingerichtet?« »Nur?« sagte Hassan ben Iskander gedehnt. »Das ist schlimmer als Mord, Monsieur.« Hasard starrte auf den Verurteilten, der jetzt von mehreren Sklaven in die Knie gezwungen wurde. Der riesige Neger hob das Richtschwert. »Sein Vermögen fällt sicher an den Staat, nicht wahr?« fragte Hasard. »Zugunsten Seiner Exzellenz«, korrigierte Hassan amüsiert. »Und außerdem belustigt eine Hinrichtung unser naives Volk.« Wie zur Bestätigung ertönten in diesem Augenblick Applaus und frenetischer Jubel. Hasard wandte sich um und sah den Kopf des Verurteilten in den Sand rollen. Der schwarze Henker hob das blutige Richtschwert und verbeugte sich wie ein Gladiator. »Nun, mon Capitain«, sagte Hassan maliziös, »habe ich Ihnen zu viel versprochen? Ich habe gesagt, daß Sie etwas Interessantes und Lehrreiches ...« Er sprach nicht weiter, weil auf der linken Seite des Platzes, gleich neben dem Podium, Tumult ausbrach. Männer fluchten, Weiber kreischten, und dann hörte Hasard das Klirren von Waffen. Hasard sprang auf. Er hatte eine düstere Vorahnung, was die Ursache dieses Krawalls sein könnte. Und er hatte sich nicht geirrt. Die riesige Gestalt Batutis ragte aus dem Knäuel von Zuschauern und Soldaten, und kurz darauf sah er auch Dan O’Flynn und Smoky. Sie hatten keine Chance gehabt. Eingezwängt zwischen Zuschauern hatte eine Übermacht von Soldaten sie sofort entwaffnen und überwältigen können.
Auf Anweisung des Blonden, wie Hasard jetzt erkannte. Der Mann hatte sie anscheinend vorher entdeckt und die Ablenkung der Menge während der Enthauptung dazu benutzt, die Männer der ›Isabella‹ überrumpeln zu lassen. Jetzt stießen sie die drei Männer auf den freien Platz. Dan O’Flynn versuchte, einem der Soldaten den Krummsäbel zu entreißen. Er wurde niedergeschlagen und halb bewußtlos weitergeschleift. Batuti stieß ein wütendes Knurren aus und schüttelte die vier Männer, die ihn festhielten, zu Boden wie ein Bär, der kläffende Köter abschüttelte. Einem der Männer entriß er den Krummsäbel und schwang ihn über dem Kopf. »Batuti!« schrie Hasard scharf. »Laß das!« Der schwarze Riese wandte den Kopf, und in der nächsten Sekunde hingen wieder vier, fünf Türken an ihm und rissen ihn nieder. »Laßt meine Leute in Ruhe!« rief Hasard. Dann fiel ihm ein, daß die Türken ihn ja nicht verstehen konnten, und er wandte sich an Hassan ben Iskander. »Sagen Sie ihnen, sie sollen meine Männer loslassen.« Der dicke Hassan schien auszulaufen. Dicke Schweißbäche rannen über sein feistes Gesicht, und er blickte mit einem entschuldigenden Grinsen immer wieder seinen Pascha an. Der Potentat starrte unwillig von dem Spektakel vor seinem Thron zu Hassan. Der dicke Hassan war von diesem Zeichen der Ungnade so entsetzt, daß er zum Thron watschelte, sich dort zu Boden warf und den rechten Schnabelschuh seines Herrn zu küssen versuchte. Der Pascha gab ihm einen Tritt, daß er auf den Rücken flog und wie ein Käfer mit Armen und Beinen strampelte. Die Fairneß gebot es Hasard, die Verantwortung für den Zwischenfall zu übernehmen. Er trat neben den dicken Hassan und sagte: »Ich rnuß Sie um Verzeihung bitten, Exzellenz, auch für meine Männer. Aber Hassan ben Iskander trifft keine
Schuld daran.« Der dicke Hassan rappelte sich auf, blieb aber auf den Knien hocken und sprach rasch und mit vielen Verneigungen auf den Pascha ein, der ihm mit ein paar Worten antwortete und dann gelangweilt abwinkte. »Seine Exzellenz zeigt Ihnen unverdienten Großmut«, sagte Hassan und wischte sich den Schweiß mit dem weiten Ärmel seiner Jelaba vom Gesicht. »Er verzeiht Ihnen die Störung der Gerichtssitzung und ...« »Sagen Sie Seiner Exzellenz, daß ich diesen Mann beanspruche«, unterbrach ihn eine kalte, schneidende Stimme in fließendem Französisch. Hasard wandte den Kopf und starrte den Blonden an, der mit vier bewaffneten Männern hinter ihm stand. »Monsieur«, stotterte Hassan erschrocken. »Warum wollen Sie den so mühsam erhaltenen Frieden wieder stören? Seine Exzellenz hat in seinem erhabenen Großmut verziehen, und ich verstehe nicht, warum Sie sich um diesen Mann kümmern.« »Weil ich hier die britische Krone vertrete«, sagte der Blonde scharf. »Und gegen diesen Mann liegt ein Haftbefehl meiner Königin vor. Bitte, sagen Sie Seiner Exzellenz, ich hoffe, daß er die Befehle meiner Königin respektiert und es nicht auf politische - Unstimmigkeiten ankommen lassen will.« Während Hassan die Worte des Blonden auf türkisch wiederholte und der Pascha ihm antwortete, blickte Hasard diesen Vertreter der britischen Krone aufmerksam an. Er war mittelgroß, hatte plumpe Hände mit abgekauten Nägeln, und die blasse Gesichtsfarbe zusammen mit dem weißblonden Haar gaben ihm etwas von dem Aussehen eines rosigen Schweinchens. Nein, einer rosigen Ratte, korrigierte sich Hasard sofort. Das hohlwangige, kadaverig wirkende Gesicht mit den wässerighellen Augen, die ständig hin und her huschten und immer auf Ausschau zu sein schienen nach Beute oder nach einem Loch zum Verkriechen, erinnerten sehr an
eine Ratte. »Tut mir leid, mon Capitain«, hörte Hasard den dicken Hassan sagen. »Aber Sie müssen verstehen, daß wir Ihretwegen nicht einen Bruch mit England riskieren wollen.« »Schon gut.« Hasard wandte sich an den Mann. »Gratuliere. Ich vermute, daß Keymis und Burton Sie über meine Anwesenheit informiert haben.« »Das geht Sie nichts an.« Die wasserblauen Augen funkelten triumphierend. »Sie sind verhaftet.« Er gab seinen Männern einen Wink. »Ihre Waffe, Killigrew.« »Moment!« Hasard trat einen Schritt zurück. »Ich bin bereit, mich widerstandslos zu ergeben, unter der Bedingung, daß meine Männer freigelassen werden.« »Sie sind nicht in der Lage, irgendwelche Bedingungen zu stellen, Killigrew«, sagte der Blonde sarkastisch. »Aber ich bin nur an Ihnen interessiert, nicht an dem Piratengesindel, das Sie an Bord haben. Ich werde die Burschen aus der Stadt jagen lassen.« Einer der Männer griff nach Hasards Arm. Hasard rammte ihm die Faust in die Achselhöhle. Der Arm sank kraftlos herab. »Ich gehe freiwillig mit, sowie meine Männer frei sind.« Der Blonde blickte ihn mit seinen wässerigen, unsteten Augen an. »Na schön, was soll ich mit dem Pack«, sagte er schließlich und gab den Männern auf dem Platz ein Zeichen. Widerwillig ließen sie von den drei Männern ab. »Zurück zum Schiff!« rief Hasard ihnen zu. »Dan, du bist mir dafür verantwortlich, daß solche Dummheiten nicht noch einmal geschehen. Ganz egal, was passiert. Verstanden?« »Verstanden!« rief Dan O’Flynn wütend. »Also verschwindet!« Hasard wartete, bis die drei Männer in der Menschenmenge untergetaucht waren, ohne daß sie verfolgt wurden. Dann wandte er sich an den blonden Vertreter der Krone: »Gut, Mister. Wohin gehen wir?«
3. Dr. Freemont starrte durch das Loch, das er in das Holz der Tür gebohrt hatte. Er sah wild wuchernde Büsche, einen Oleanderstrauch, einen steilen Hang, auf dessen Scheitelpunkt ein palaisartiges Gebäude stand. Wahrscheinlich das Haus dieses Mister Samuel Stark, der hier die britische Krone repräsentierte. Keymis und Burton hatten ihn sofort nach ihrer Ankunft in Piräus aufgesucht, und Stark hatte sich nach einem kurzen Gespräch bereit erklärt, die Kinder des »Feindes der Krone«, wie die beiden ihn bezeichnet hatten, bis zur Ergreifung ihres Vaters gefangenzuhalten. Es war ein leichter Arrest, hatte Dr. Freemont sofort festgestellt. Ihr Gefängnis war anscheinend ein früheres Gesindehaus, mit dünnen Wänden und einer ebenso leichten Tür, und die Bewachung war einem alten Griechen übertragen worden, der sich lieber mit einer Ouzo-Flasche beschäftigte, als mit den Gefangenen. Dr. Freemont grinste. Jetzt lag der Alte wieder im Schatten der großen Pinie und schnarchte. Diesmal mußte es klappen. Heute würde es ihm gelingen, die Zwillinge in Sicherheit zu bringen. Dr. Freemont hatte es aufgegeben, mit ihnen fliehen zu wollen. Das war nun schon zweimal schiefgegangen, und es war ein Wunder, daß die Kinder überlebt hatten. Außerdem würde er diesmal ohnehin nicht weit kommen. Die Schußwunde im linken Oberschenkel war zwar längst nicht so gefährlich und schmerzhaft, wie er tat - der wichtigste Grund für den Verzicht auf wirkliche Bewachung , aber er humpelte doch noch immer ziemlich, und im Ernstfall wäre die Blessur eine entscheidende Behinderung. Es war ein verdammt riskanter Plan, den er ausgebrütet hatte,
seit er durch das Dorf gefahren und dort das Waisenhaus neben der Kirche entdeckt hatte. Aber das Risiko betraf nur ihn. Die Kinder würden in Freiheit sein, wenn der Plan gelang. Dr. Freemont warf einen raschen Blick auf die beiden Kinder. Hasard und Philip schliefen tief und fest auf einer Schütte von Reisstroh. Dafür sorgte die allerletzte Portion Opium, die er ihnen in ihre Milch verrührt hatte, als er hörte, daß Stark für mehrere Stunden nach Athen gefahren war. Er zog einen stabilen Vierzollnagel aus der Hosentasche, den er sich vorsorglich an Bord des griechischen Kaikis besorgt hatte, mit dem sie hierher gefahren waren. Mit ihm hatte er das Guckloch in das Holz der Tür gebohrt, und jetzt benutzte er ihn dazu, den von außen angebrachten Überfallriegel vorsichtig nach oben zu schieben. Es dauerte eine Weile, bis er ein leises Klicken hörte und die Tür einen Spalt aufsprang. Dr. Freemont warf den Nagel zu Boden und blickte wieder durch das winzige Loch. Ihr Wächter lag noch immer in den Armen des Gottes Morpheus, der ja aus dieser Gegend stammte. Außer ihm war niemand zu sehen. Dr. Freemont trat zu der Strohschütte und nahm die beiden Kinder auf den Arm. Einer der beiden fühlte sich ziemlich feucht an. Wahrscheinlich wieder Philip. Er humpelte zur Tür und öffnete sie etwas weiter. Die Lage war unverändert. Dr. Freemont seufzte erleichtert auf, als er die Tür ganz aufdrückte und hinaustrat. Dann stieß er sie wieder zu. Der Überfallriegel schnappte ein. Ein Glück, daß es nicht weit war bis zum Dorf und der Weg bergab führte, sonst hätte er es wahrscheinlich nicht geschafft. Immer wieder und in immer kürzeren Abständen mußte er stehenbleiben und sich an einen Baum lehnen, um sein schmerzendes linkes Bein zu entlasten. Zuletzt hatte er wirklich Sorge, ob er es noch bis zum nächsten Baum schaffen würde. Was ihm den Mut zu diesem gewagten Unternehmen gegeben
hatte, war die Kirche gewesen, die er bei der Durchfahrt entdeckt hatte. In Piräus und in Athen beherrschten die Moscheen der Eroberer das Stadtbild. Für die Konvertierung der Landbevölkerung schienen sich die neuen Herren nicht allzu sehr zu interessieren, und so waren die Menschen auf dem Dorf Christen geblieben, zwar orthodoxe, aber immerhin Christen. Um diese Vormittagsstunde waren nur wenige Menschen unterwegs. Die meisten Dorfbewohner arbeiteten auf den Feldern, und die wenigen Alten, denen er begegnete, nahmen kaum Notiz von ihm. Er erreichte das Waisenhaus, das unmittelbar neben der Kirche stand, legte die schlafenden Kinder auf den Boden und lehnte sich gegen die niedrige Steinmauer, hauptsächlich, um wieder das schmerzende Bein auszuruhen, aber außerdem peilte er die Lage. Es schien eine Menge Waisen in dieser Gegend zu geben, und wahrscheinlich noch mehr Kinder, die von ihren Müttern in aller Stille hinterlegt wurden. Im Schatten riesiger alter Pinien standen mehr als zwei Dutzend Säuglingsbetten. Das Geschrei der Kleinen mischte sich mit den Stimmen der größeren Kinder, die aus einem offenen Fenster schallten. Anscheinend fand dort Unterricht statt. Niemand schien auf die Kinder zu achten. Aber wer stiehlt schon Säuglinge? Davon gab es ohnehin mehr als genug. Dr. Freemont nahm die beiden schlafenden Kinder vom Boden auf und ging zum Gartentor. Er hielt fast den Atem an, als er mit dem Ellenbogen auf die Klinke drückte. Und er seufzte erleichtert, als sie nachgab. Aber, wie gesagt: Wer stiehlt schon Kinder? Er drückte die Tür auf und blickte aufmerksam in den Garten. Niemand zu sehen. Ein paar der Säuglinge schrien noch immer, und aus dem Fenster schallte der Chor der anderen Kinder. Dr. Freemont humpelte geduckt zu der Doppelreihe der
Säuglingsbetten. Einer der beiden Zwillinge stöhnte leise und begann zu wimmern. Schlaf, du Lausebengel! dachte Dr. Freemont und biß die Zähne zusammen. Die geduckte Haltung belastete sein angeschossenes Bein noch mehr. Jetzt mußte er die richtigen Ersatzkinder finden, dachte er, als er von einem Bett zum anderen humpelte. Natürlich gab es in diesem Land keinen blauäugigen Nachwuchs. Und schon gar keine blauäugigen Zwillinge. Aber er mußte mindestens zwei Jungen finden, die einander etwas ähnlich sahen. Ein Glück, daß es noch sehr warm war. Die Kinder lagen nackt in ihren Betten, und so würde er wenigstens nicht irrtümlich Mädchen erwischen. Aber es dauerte mehrere Minuten, bis er zwei Kinder gefunden hatte, die nicht allzu verschieden aussahen. Sie schrien natürlich, als er sie aus den Betten nahm und an ihrer Stelle Hasards Zwillinge hineinlegte, aber von den anderen schrien auch ein paar, und so fiel es nicht weiter auf. Dr. Freemont hatte das halboffene Tor erreicht und wollte schon erleichtert aufatmen, als er plötzlich erregtes Schreien hinter sich hörte. Ein Junge starrte aus dem Fenster im Oberstock des Waisenhauses und deutete mit ausgestrecktem Arm auf Dr. Freemont. Andere Jungen drängten sich neben ihn, und dann erschien das Gesicht eines bärtigen Priesters. Dr. Freemont stürzte auf die Straße und begann zu laufen, so schnell es ihm sein schmerzendes Bein gestattete. Was jetzt? Er wußte genau, daß er einer Horde kräftiger Jungen nicht entkommen konnte. Was sollte er tun? Ihm fiel nichts ein. Und sein Bein schmerzte wahnsinnig. Ein trockenes Schluchzen stieg ihm in die Kehle, als er hinter sich das Rufen der Verfolger hörte. Aber noch war er außer Sicht. Er hatte den Dorfrand erreicht. Rechts dehnten sich steinige Felder, links lag ein Piniendickicht. Vielleicht konnte er es erreichen, bevor die Verfolger ihn entdeckten und seine
allerletzten Kraftreserven erschöpft waren. Er schaffte es. Aber er fiel mehr in das Gestrüpp, als daß er sich in ihm verkroch. Die beiden Kinder schrien. Wenn es niemand hörte, so nur, weil seine Verfolger aufgeregte Kinder waren, die noch lauter schrien. Ihnen folgten, langsamer und mit erheblichem Abstand, drei jüngere Popen. Dr. Freemont rutschte auf der rechten Hüfte tiefer in das Gestrüpp, die beiden Kinder fest an seine Brust gepreßt. Das Schreien der Verfolger wurde leiser. Aber noch war er nicht außer Gefahr. Die Popen würden nicht kopflos durch die Gegend hetzen, sondern die Kinder zu einer planmäßigen Suche veranlassen. Irgendwann würden sie auch dieses Gebüsch durchsuchen und ihn hier entdecken. Sein rechter Fuß glitt plötzlich ins Leere. Er stieß einen kurzen Schrei aus, als er eine steile Wand hinabrutschte. Er schloß die Augen und preßte die beiden Kinder fest an sich. Wenigstens ihnen sollte nichts geschehen. Ein harter Stoß in den Hintern, und die Rutschpartie war zu Ende. Dr. Freemont öffnete die Augen. Er lag in einer etwa fünf Yards tiefen, schmalen Schlucht, die völlig von Gestrüpp überwachsen war, wahrscheinlich einer Rinne, die Tausende von Winterregen in den weichen Sandsteinboden gewaschen hatten. Die beiden Kinder hatten aufgehört zu schreien. Auch ihnen schien der Schock in die Glieder gefahren zu sein. Mit weit aufgerissenen Augen starrten sie den Arzt an. »Tut mir leid, Leute«, sagte er beruhigend und lächelte sie an. »Ich weiß, ihr könnt nichts dafür und habt mit dem ganzen Mist nichts zu tun, aber das Leben kümmert sich nicht darum, und je eher ihr das kapiert, desto besser für euch. Betrachtet die ganze Sache als eine Lehre für eure Zukunft, einverstanden?« Die beiden Kinder blickten ihn ernsthaft an. Einer der beiden griff nach Dr. Freemonts Hand, als ob er den Pakt besiegeln
wolle. »So, ich glaube, hier sind wir erst einmal sicher. Aber das hilft uns nicht viel weiter. Irgendwann müssen wir wieder in unser Kittchen zurück, bevor der versoffene Zerberus aufwacht.« Er warf einen Blick durch das dichte Blätterdach, das den schmalen Graben verdeckte, um sich nach dem Stand der Sonne zu orientieren. Dann richtete er sich auf und humpelte in die Richtung, in der das Haus Mister Starks liegen mußte. Es dauerte fast eine Stunde, bis er das Ende des schmalen Grabens erreichte, eine Viertelmeile oberhalb des Wäldchens. Als die Popen ihre Zöglinge zusammengetrommelt hatten und den Wald durchsuchten, war er mit den beiden Kindern schon ein ganzes Stück außerhalb. Vom Ende des Grabens waren es nur ein paar hundert Yards bis zu der Hütte, in der er und die KilligrewZwillinge gefangengehalten wurden. Vorsichtig blickte er sich um. Kein Mensch zu sehen. Auch nicht der versoffene Grieche! Dr. Freemont runzelte die Stirn. Ob er aufgewacht war und seine Abwesenheit entdeckt hatte? Möglich, mußte er zugeben, aber sehr unwahrscheinlich. Bisher hatte er noch nie einen Blick in die Hütte geworfen, ohne daß man ihn rief. Und selbst dann erschien er nur höchst ungern. Ein Glück, daß die Kinder jetzt still waren. Eins der beiden schien zu dösen, das andere blickte interessiert in die Gegend. Aus dem Bengel konnte noch was werden. Dr. Freemont biß die Zähne zusammen, als er zur Hütte humpelte. Die beiden Kinder waren nicht schwer, aber für sein angeschossenes Bein schien jedes Pfund Mehrbelastung zuviel zu sein. Geschafft! Am liebsten hätte er sich eine Weile gegen die Hauswand gelehnt und sich ausgeruht, aber er wollte keine Sekunde länger als nötig draußen bleiben. Erst wenn er die Tür hinter
sich geschlossen hatte, war er sicher - und auch Hasards Kinder. Mit dem Ellenbogen hob er den Überfallriegel und stieß die Tür auf. »Wieder zurück von Ihrem Ausflug?« sagte eine Stimme. Dr. Freemont starrte in das Halbdunkel, bis sich seine Augen daran gewöhnt hatten. Baldwin Keymis saß auf dem einzigen Stuhl in der Ecke des kleinen Raumes und grinste ihn höhnisch an. »Ich - ich mußte die Kinder ein bißchen an die Luft bringen«, sagte Dr. Freemont hastig. »Sie wissen doch, der kleine Philip ist so anfällig.« »Und da haben Sie ›Sesam, öffne dich‹ gesagt, und die Tür war auf, nicht wahr?« Keymis stand auf und trat auf Dr. Freemont zu. Dr. Freemont spürte, wie sein Bein zitterte. Er mußte sich setzen, bevor er zusammenbrach. Aber vor allem mußte er die Kinder auf die Strohschütte legen, bevor Keymis einfiel, sie genauer anzusehen. Ihm wurde schwindlig, als er sich vorbeugte, und er fiel auf die Knie. Eins der beiden Kinder begann zu schreien, als es etwas unsanft auf dem Stroh landete. »Wer ist denn dieser Schreihals«, hörte er die Stimme von Keymis dicht hinter sich. »Hasard oder Philip?« »Ich glaube, Philip«, murmelte Dr. Freemont. »Ich sagte Ihnen doch, er ist viel empfindlicher als Hasard.« Eine Faust packte seinen Kragen und riß ihn hoch. »Das Balg, das da schreit, heißt vielleicht Gregor oder Alexander oder wie diese griechischen Halbaffen ihre Gören sonst nennen mögen!« Er schleuderte Freemont gegen die Wand. Neben dem Bett der beiden Kinder brach der Arzt zusammen. Wie durch einen dicken, schwarzen Nebel hörte er Keymis Stimme sagen: »Sie wollten uns betrügen, Sie Bastard! Sie wollten uns diese
Wechselbälger als Killigrews Kinder unterschieben! Und um ein Haar wäre es Ihnen auch gelungen. Glücklicherweise liegt diesen Pfaffen etwas an ihren Bälgern, und so haben sie in der ganzen Umgebung herumgefragt, ob jemand einen Kerl mit zwei Gören gesehen hätte.« Ein harter Tritt traf Dr. Freemonts Niere. »Ich sollte Sie dafür umbringen, Sie Hundesohn!« Er packte die beiden Kinder wie junge Hunde und riß sie hoch. »Jetzt hole ich die richtigen Bälger wieder her. Und ich werde dafür sorgen, daß Sie mir nie wieder andere dafür unterschieben können.« * »Hier ist die Tinte«, sagte Burton und stellte ein Glas neben Keymis auf den Boden. »Und wo ist die Nadel, du Trottel?« »Ach so.« Der massige Burton zog eine Nähnadel aus dem Stoff seiner fliederfarbenen Jacke. »Her damit.« Sie war ziemlich rostig, stellte Keymis fest, es konnte Entzündungen geben, wenn er die beiden Kinder mit dem Ding tätowierte. Aber es war ja nicht sein Fell, und vielleicht wurde die Tätowierung dadurch noch dauerhafter. Keymis hatte so was noch nie getan. Er wußte nur, daß man das Muster mit Tinte oder Tusche auf die Haut auftragen und dann mit einer Nadel einstechen mußte. »Stell mal die Lampe näher«, wies er Burton an, als er sich neben die schlafenden Zwillinge auf die Strohschütte kniete. »Wie soll ich sonst was sehen?« Wortlos gehorchte Burton. Den feindseligen Blick bemerkte Keymis nicht. Jeden Tag wurde Burtons Haß auf seinen Komplicen stärker. Keymis hatte ihn immer mehr zu seinem Handlanger und Laufburschen degradiert und ließ ihn das auch merken. Irgendwann würde er dafür zahlen, nahm Burton sich vor. Irgendwann würde er es ihm zeigen!
»Steh mir doch nicht im Licht, du Idiot!« herrschte Keymis ihn an. »Du brauchst deinen Kopf auch nur, damit du deinen Hut irgendwo aufhängen kannst.« Irgendwann! Keymis tauchte ein dünnes Hölzchen in die Tinte. Ein Tropfen fiel auf den Lehmboden und bildete einen blauen Fleck in dem dunklen Braun. Was sollte er den beiden Kindern in die Haut tätowieren? Einfach ein K für Killigrew? Nicht sicher genug. Dieser Doktor war ein gerissener Hund, der würde es fertigkriegen, zwei anderen Kindern auch ein K einzutätowieren. Und außerdem war es zu simpel, zu einfallslos. Baldwin Keymis war ein überaus phantasievoller Mann, besonders, wenn es darum ging, seine sadistischen Neigungen zu befriedigen. Irgendein Muster also, überlegte er, ein Bild, ein Symbol, ein Memento für den Mann, den sein Haß treffen sollte: Philip Hasard Killigrew. Er starrte in die Gesicher der schlafenden Kinder und sah wieder das Gesicht ihres Vaters vor sich, an Bord der ›Isabella‹, als er ihn kielholen ließ, nur weil er versucht hatte, mit dieser Schlampe zu schlafen. »Was ist? Warum fängst du nicht endlich an?« hörte er Burton fragen. »Halt die Schnauze. Ich denke nach.« Ein kalter Schauer lief über Keymis Rücken, als er sich das grauenhafte Erlebnis in die Erinnerung zurückrief: gefesselt unter dem Kiel des Schiffes zur anderen Seite gezerrt zu werden - der helle Schatten, der auf ihn zuschoß. der gierig aufgerissene Rachen des Hais ... Ja, das war es. Ein Hai! Er würde den beiden Bälgern Hasards einen Hai auf die Schulter tätowieren, das Symbol seines Hasses auf den Seewolf. Und das Symbol seiner Angst.
4.
Der Schlüssel knirschte im Schloß. Ein schwerer Riegel krachte zu. Hasard starrte einen Augenblick auf die schwere Bohlentür, die sich eben hinter ihm geschlossen hatte. Dann wandte er sich ab und sah sich in seinem Gefängnis um. Es war ein Kellerverlies, wie er es aus alten Schilderungen kannte. Die Wände waren gewachsener Fels. Oben, dicht unter der Decke, befand sich eine schmale Öffnung, fast ein Schlitz, durch die er ein Stück des blauen Himmels sah. Die Pritsche war ebenfalls aus dem gewachsenen Stein geschlagen, darauf ein paar schmierige Decken. In einer Ecke befand sich ein Loch im Boden, aus dem es bestialisch stank. Daneben standen ein Becher und ein Krug aus Ton. Verdammt vorsichtig, dieser Stark, mußte Hasard zugeben. Kein Stück, das sich irgendwie als Werkzeug oder Waffe verwenden ließ, und kein Ausgang außer der dicken Bohlentür. Er würde sich etwas einfallen lassen müssen, wenn er hier herauskommen wollte. Durch das Holz glaubte er Stimmen zu hören. Er preßte sein Ohr an die Tür. Ja, zwei Männer, die erregt miteinander sprachen. Auf englisch! »... müssen Sie alles weitere mir überlassen«, hörte er das etwas schrille Organ dieses Mister Stark. »Sie haben mich gebeten, amtlich einzugreifen, und ich habe Ihnen den Gefallen getan. Sie müssen sich jetzt aber damit abfinden, daß alles weitere in meiner Hand liegt.« »Natürlich, natürlich ...« Keymis Stimme. Unwillkürlich trat Hasard von der Tür zurück. Die beiden waren also hier. Er hatte richtig vermutet. Die beiden hatten seine Festnahme veranlaßt! Er drückte wieder sein Ohr an die dicken Bohlen. »... halte ich es für sicherer, ihn sobald wie möglich nach
England bringen zu lassen«, hörte er Keymis sagen. »Auf die Türken können wir uns nicht verlassen. Mister Stark. Dieser launische Pascha kann es sich jeden Tag anders überlegen und Killigrew freilassen.« »Das wird nicht geschehen, Keymis.« In der Stimme Samuel Starks schwang sarkastische Arroganz. »Und was macht Sie so sicher?« »Wohin soll Killigrew denn gehen, wenn er kein Schiff mehr hat, Keymis?« »Sie meinen ...« »Was ich meine, sollten wir beide auf der Terrasse besprechen, Sie mögen doch griechischen Wein ...« Hasard trat von der Tür zurück. Was hatten die beiden vor? Wollten sie den Pascha dazu bringen, die ›Isabella‹ zu kapern? »Verdammt!« Er starrte auf die Felswände, auf die dicke Bohlentür. Er mußte hier raus, bevor sie ihm sein Schiff wegnahmen. * »Ich bin sehr froh, daß Sie den gleichen Gedanken zu haben scheinen wie ich«, sagte Baldwin Keymis, als sie auf der Terrasse des Hauses vor einer Karaffe Retsina saßen. »Ich wollte Ihnen ohnehin vorschlagen, daß meine Mithilfe zur Verhaftung dieses Verbrechers eine gewisse Belohnung verdient. Ohne mich hätten Sie diesen Killigrew schließlich niemals erwischt.« »Was wollen Sie eigentlich von ihm?« fragte Samuel Stark und blickte Keymis forschend an. »Ich? Er ist ein Feind Englands, und ich wollte nur meine patriotische Pf licht tun.« »Unsinn. Da steckt etwas anderes dahinter.« »Ich bin Friedensrichter von Falmouth gewesen, Mister Stark.«
»Aber nicht von Athen«, sagte der andere. »Was wollen Sie von Killigrew?« »Ich - er hat sich gegen die Königin aufgelehnt und muß dafür ...« »Enteignet werden, zu Ihren Gunsten, nicht wahr?« unterbrach Samuel Stark ironisch. Baldwin Keymis starrte in das albinohaftblasse Gesicht, in die wässerigen, unsteten Augen. Der Kerl war schlauer, als er angenommen hatte. Die offiziellen Vertreter der Krone, die er bisher kennengelernt hatte, waren zumeist stupide, einfallslose Typen gewesen, die ihre Pfründe nur dem Namen ihrer Familie verdankten - oder der Tatsache, daß man sie möglichst weit von London weg haben wollte. Aber dieser Stark konnte gefährlich werden. Er war aus dem gleichen Holz geschnitzt wie er selbst. »Wir wollten doch von der ›Isabella‹ sprechen«, wechselte er das Thema. »Sprechen wir denn von etwas anderem?« fragte Stark. »Selbstverständlich wird das Eigentum eines Staatsfeindes eingezogen - zugunsten der Krone«, setzte er mit Betonung hinzu. Keymis nickte schweigend. Er nahm einen Schluck von dem harzig schmeckenden Wein und blickte über die kahle, felsige Landschaft. Irgendwo ertönte der nasale Klang einer Schalmei. Wahrscheinlich ein Schäfer, der irgendwo im Schatten lag und vor sich hinträumte. Zwischen den wie von einer Riesenhand hingestreuten Felsen lagen weiße Bauernhütten und hinter ihnen das Häusermeer Athens, überragt von der Akropolis, die in der grellen Nachmittagshitze flirrte. »Die ›Isabella‹ wäre eine reiche Beute«, sagte er langsam, ohne Stark anzusehen. »Wie reich?« Stark brauchte sein Interesse nicht zu verhehlen. »Das Gold dürfte ausreichen, zwei Männer bis an ihr
Lebensende reich zu machen«, sagte Keymis und starrte weiter in die Landschaft hinaus. »Sie und Burton, meinen Sie?« »Ich habe nicht von Burton gesprochen.« Samuel Stark blickte Keymis nachdenklich an. »Verstehe«, sagte er schließlich. »Also deshalb schleppen Sie diese Kinder mit sich herum. Sie wollen Kiliigrew erpressen, Ihnen sein Schiff mit der gesamten Beute zu übergeben. Nicht schlecht.« »Nein, es ist ...« »Was ist?« fragte Stark, als Keymis nicht weitersprach. »Nichts. Ich hätte beinahe etwas Dummes gesagt.« Eine Dummheit begangen, korrigierte er sich. Fast hätte er Stark verraten, daß er durch die Entführung der Zwillinge viel mehr zu erlangen hoffte als alle Schätze, die die ›Isabella‹ an Bord haben mochte. Vielleicht war es sogar schon eine Dummheit gewesen, diesem Kerl überhaupt etwas von den Schätzen der ›Isabella‹ zu sagen. Aber ohne seine Hilfe konnte er die Galeone nicht in seinen Besitz bringen. »Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet«, erinnerte ihn Stark. »Ihre Frage? Ach, richtig, die Kinder. Die haben nichts damit zu tun. Dabei geht es um eine rein persönliche Sache.« Wieder der lange, prüfende Blick Samuel Starks. »Und wie wollen Sie an die Sachen herankommen?« fragte er schließlich. »Man müßte das Schiff entern.« »Wer, man? Sie vielleicht?« Keymis fuhr nervös durch seinen dünnen, grauen Ziegenbart. »Sie sind hier zu Hause. Sie könnten doch veranlassen, daß türkische Soldaten das Schiff überfallen.« »Und uns dann brav die Beute ausliefern? Sie kennen die Brüder nicht. Was die einmal in den Händen haben, das rücken sie nicht wieder heraus. Im Gegenteil, keiner von diesen Muselmännern darf erfahren, daß dort etwas zu holen ist. Sonst
können wir uns Killigrews Klunkern an den Hut stecken.« Keymis warf dem anderen einen raschen Blick zu. Das Vokabular war reichlich merkwürdig für einen Vertreter des Hofes von St. James. Solche Worte hatte der Friedensrichter bisher nur von Galgenvögeln gehört, die er in Falmouth abgeurteilt hatte. Er würde sich diesen seltsamen Vertreter Englands mal etwas genauer ansehen müssen. Vielleicht gab es da einiges zu entdecken, das sich zu seinem Vorteil ausnutzen ließ. »Sie scheinen keinen großen Einfluß beim Pascha zu haben«, sagte er tastend. »Den fetten Bock interessieren nur sein Wanst und sein - die Weiber, meine ich.« Er winkte ab, um dieses Thema zu beenden. »Aber ich glaube, ich wüßte einen Weg.« »Kennen Sie ein Dutzend handfeste Burschen, die das Schiff mit Gewalt nehmen könnten?« »Zuviel Aufsehen. Oder meinen Sie, es bleibt unbemerkt, wenn in der Straße von Salamis geballert wird? Außerdem wieder zu viele Mitwisser. Die Sache muß völlig geräuschlos geschehen.« »Und wie?« Keymis war sicherer als zuvor, daß dieser Vertreter Englands ein sehr schräger Vogel war, der so ein Ding nicht zum ersten Male drehte. »Man braucht dazu nur zwei Männer, die gut schwimmen und mit einem schweren Spiralbohrer umgehen können«, erklärte der hellblonde Stark und entblößte seine gelblichen Zähne. »Verstehe. Sie wollen das Schiff anbohren lassen. Aber dann sackt es doch ab.« »Ich glaube kaum, daß die Besatzung es dazu kommen lassen wird. Auf jeden Fall werden die Leute versuchen, die ›Isabella‹ in flacheres Wasser zu bringen und auf Grund zu setzen.« Keymis nickte. Ein teuflisch genialer Plan. Wenn das Schiff bis zum Oberdeck absoff, waren die Kanonen unbrauchbar, die
Pulverkammer überschwemmt, die Mannschaft ohne Bleibe, und man konnte sich in aller Ruhe Killigrews Beute von Bord holen, auch wenn man dabei etwas tauchen mußte. Er dachte an die Haie, und ein kalter Schauer lief über seinen Rücken. Aber für eine halbe Tonne Gold und Edelsteine konnte man schon ein bißchen schaudern. »Und die beiden Männer, die das Schiff anbohren?« sagte er und blickte Stark an. »Ich nehme an, daß sie in ein Messer fallen werden, sowie sie ihre Aufgabe erfüllt haben, nicht wahr?« »Ich glaube, das erledigen die Haie gründlicher, Mister Keymis«, sagte Stark grinsend. Verdammt, warum mußte der Kerl ausgerechnet von Haien sprechen ... 5. »Wir können doch nicht einfach hier herumgammeln und abwarten!« rief Smoky erregt. »Unser Kapitän ist eingesperrt, und wir hocken auf dem Schiff und drehen die Daumen!« »Du brauchst deinen Daumen, um deinen Rumbecher festzuhalten«, sagte Al Conroy. »Aber natürlich hast du recht. Wir dürfen nicht länger warten.« »Und was willst du unternehmen?« fragte Dan O’Flynn. Das Abenteuer auf dem orientalischen Markt hatte ihn etwas ernüchtert. »Man sollte ...« Smoky wußte nicht, was man sollte, und die anderen auch nicht. »Man sollte jetzt in die Koje gehen«, schlug Dan vor. »Es ist fast Mitternacht. Wer hat Mittelwache?« Batuti, Blacky und Stenmark standen auf. Der riesige Neger griff nach seinem Bogen, der an zwei Haken über seiner Koje hing.
»Dann kommt, Leute«, sagte Dan und kletterte als erster an Deck. Das Achterdeck lag ungewohnt leer im hellen Mondlicht. Das ganze Schiff wirkte tot, ohne Leben, fand Dan, als er sich mit dem Rücken gegen die Balustrade lehnte. Die Segel waren an den Rahen aufgetucht, und die kahlen Masten und Rahen sahen aus wie Äste, von denen die Herbstwinde das Laub gerissen hatten. Eine Scheißlage, dachte Dan wütend und starrte zu den Bergen hinüber, auf denen der türkische Beobachtungsposten stand. Unmöglich, hier abzuhauen, selbst wenn sie gewollt hätten. Aber die Männer würden sich eher in Stücke reißen lassen, als ohne Hasard loszusegeln. Und eben das war es, was die Situation noch gefährlicher machte: Dan spürte, daß die Stimmung der Männer explosiv war wie ein Pulverfaß. Sie waren Männer der Tat, die etwas unternehmen wollten. Wenn sie noch einen oder zwei Tage hier herumlagen, würde ein Funken in das Pulver fallen, und was dann passierte, mochte der Himmel wissen. Die Kerle waren imstande, den Palast zu stürmen, den fetten Pascha gefangenzunehmen und die Herausgabe Hasards zu verlangen. Dan wandte sich um und blickte über das Deck. Vorn, im Vorschiff, war immer noch Licht. Warum gingen die verdammten Kerle nicht endlich in die Falle. Und wo steckte Batuti? Die beiden anderen Männer der Mittelwache lehnten mittschiffs am Schanzkleid und blickten aufmerksam in die helle Nacht hinaus. Dan bemerkte eine Bewegung vorn auf der Back. Unwillkürlich mußte er grinsen. Er konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, daß der Neger in der Nacht fast unsichtbar war. Batuti starrte auf das Wasser. Eigentlich hübsch hier, dachte er, fast wie in Gambia. Der Afrikaner war im Lauf der Jahre ein richtiger Seemann geworden. Aber irgendwie war es ihm
noch immer etwas unheimlich, wenn er nirgendwo Land sehen konnte. Diese Wasserstraße war wie ein breiter Fluß, fand er, und nicht wie ein Stück vom Meer. Voraus sah er ein paar Lichter. Wahrscheinlich ein Dorf. Und jetzt trieb ein Gestrüpp langsam auf den Bug des Schiffes zu, wahrscheinlich irgendwo herausgespült. Batuti stützte die Ellenbogen auf das Schanzkleid und starrte zu dem Gestrüpp hinunter, das von der trägen Strömung auf die ›Isabella‹ zugetrieben wurde. »He, Batuti!« Er wandte den Kopf. »Was wollen, Smoky?« Der stämmige Smoky glitt am Backbordschanzkleid entlang auf ihn zu. »Ich wollte dir nur sagen, daß ich morgen nach dem Kapitän suche. Auf eigene Faust und allein, wenn’s sein muß. Aber falls einer mitmachen will, hätt ich nichts dagegen.« »Klar, Batuti mitmachen. Du finden, wo Kapitän gefangen, Batuti brechen auf Gitter - so.« Er packte seinen riesigen Bogen an beiden Enden und bog ihn zusammen, als ob er ihn zerbrechen wollte. »In Ordnung, Batuti. Ich wußte ja, daß ich mich auf dich verlassen kann. Am besten, wir gehen kurz vor Sonnenaufgang über Bord. Dann sieht uns keiner.« Er lachte trocken. »Ist schon eine Scheißsituation, daß man sich jetzt sogar vor den eigenen Leuten verstecken muß.« Er schüttelte den Kopf und ging langsam nach mittschiffs zurück. Batuti wandte sich wieder um und blickte ins Wasser. Was hatte er noch vorhin gesehen? Richtig, da war dieses Gestrüpp gewesen, das auf die ›Isabella‹ zugetrieben war. Es mußte jetzt mindestens mittschiffs sein, überlegte er und blickte nach achtern. Aber da war es nicht. Ob es schon vorbeigetrieben war? Nein, das war kaum möglich. Trotzdem ging er zur anderen Bordwand und starrte achteraus. In dem hellen Mondlicht hätte er sogar eine
treibende Flasche sehen können, aber das Gestrüpp konnte er nicht entdecken, bis er sich über das Schanzkleid beugte und hinunterstarrte. Da war es. Es mußte sich am Bug verfangen haben. Aber wie konnte es sich am glatten Rumpf verfangen? Mit gerunzelter Stirn starrte er auf das Gestrüpp, und jetzt entdeckte er zwischen den dichtbelaubten Zweigen einen Schatten. Er fuhr herum und wollte Smoky heranwinken. Aber wozu? fiel ihm dann ein. Dem Burschen, der da unten am Schiffsrumpf herumfummelte, konnte er es ganz allein besorgen. »Batuti!« Er zuckte herum. Carberry stürmte aus dem Niedergang, die Pistole in der Pranke. »Psst!« zischte Batuti und legte den Finger an die Lippen. »Ich habe da eben ein Geräusch gehört. Als ob jemand das Schiff anbohrt«, sagte Carberry ungewohnt leise. Batuti nickte und deutete mit dem Finger nach unten. »Schon gesehen.« »Den schicke ich zur Hölle, wo er hingehört.« Carberry spannte die Pistole und trat an das Schanzkleid. Batuti hielt ihn zurück. »Ich machen«, sagte er und hob seinen Bogen. »Warum machen Krach und wecken Leute, die schlafen, und Türken da oben?« Er deutete auf den Berggipfel, auf dem auch Xerxes gesessen hatte. Das zweite Argument zog. »Na los, auf was wartest du dann noch?« zischte Carberry und entspannte seine Pistole. Batuti nahm einen Pfeil aus seinem Köcher und fuhr prüfend mit dem Daumen über seine Spitze. Dann legte er ihn auf die Sehne, spannte den Bogen und starrte nach unten. Das Gestrüpp hob und senkte sich mit den leichten Wellen. »Na?« fragte Carberry ungeduldig und starrte ebenfalls nach unten. Batuti wartete. Irgendwann mußte der Kerl schließlich Luft
holen. Eine schwache Bewegung unter dem Laub - ein runder Schatten wurde schwach sichtbar. Batuti ließ den Pfeil fliegen. Ein dumpfer Schlag, dann ein Schrei, der sofort erstarb. »Den hätten wir«, sagte Carberry zufrieden und schlug Batuti auf die nackte Schulter. »Ich seh mal unter Deck nach, ob er durchgekommen ist.« Er brauchte es nicht. »Wasser im Vorschiff!« hörten sie Al Conroy brüllen. »Ferris! Verdammt, wo steckt Ferris Tucker?« In armdickem Strahl schoß das Wasser in den vorderen Frachtraum des Schiffes. »Muß drei Fuß unter der Wasserlinie sein!« schrie Al Conroy. Er versuchte, eine Planke gegen das kreisrunde Leck zu pressen, aber das nutzte nicht viel. »Ein Segen, daß hier nichts Wertvolles rumliegt«, sagte der Kutscher. Er war der einzige Mann der Besatzung, der nachts ein knöchellanges Nachthemd trug - in kalten Breiten auch eine Nachtmütze - und diesen Aufzug für vornehm hielt. Jetzt schleifte sein Nachthemd bis zu den Knien im Wasser, als er mit den anderen Mannern Kisten, Säcke und Truhen aus dem Raum schleppte. »Na endlich«, sagte Carberry, als der Schiffszimmermann auftauchte »Du hast dir ganz schön Zeit gelassen, Ferris.« »Ich mußte schließlich erst mein Zeug holen«, sagte Ferris Tucker. In der rechten Hand trug er seine langstielige Axt, die im Nahkampf eine mörderische Waffe war. Unter den linken Arm hatte er ein Sortiment verschiedener Hölzer geklemmt. »Laßt doch den Blödsinn«, sagte er und drängte die Manner beiseite, die versuchten, den hereinschießenden Strahl mit Brettern und Tüchern etwas einzudämmen. Armdick schoß das Wasser wieder in den Raum. »Willst du uns denn absaufen lassen?« schrie Matt Davies
erregt. »Der Bug liegt schon mindestens drei Fuß tiefer!« »Du bist nur zu faul, das Wasser wieder herauszulenzen«, knurrte Ferris Tucker. Er warf einen kurzen, prüfenden Blick auf den hereinschießenden Wasserstrahl, ließ alles Holz bis auf ein starkes Rundholz in die Brühe fallen, und begann ein Ende des Rundholzes mit der Axt kegelförmig zuzuspitzen. »Alles klar. Jetzt könnt ihr etwas Vernünftiges tun«, sagte er schließlich. Zwei Männer packten das zugespitzte Ende und rammten es in das Leck. Die Fontäne wurde zum Rinnsal. Ferris Tucker schwang seine Axt und trieb das Rundholz mit wuchtigen Schlägen fest in das Loch. Dann hackte er das herausragende Ende ab. Nur noch Tropfen sickerten über die Eichenbohlen. »So, wenn ihr das jetzt noch ein bißchen kalfatert, ist es wieder dicht wie eine Jungfrau.«
»Es hat geklappt, Mister Stark!« rief Keymis erregt. »Sehen Sie, wie die Kerle über Deck sputen?« Er setzte das Fernrohr ab und reichte es dem Blonden. Sie standen auf den Uferfelsen, eine halbe Meile außerhalb des Dörfchens Perama, und starrten zur ›Isabella‹ hinüber, die wie auf einer Theaterbühne im hellen Mondlicht lag. »Wenn ich etwas organisiere, dann klappt es auch«, sagte Samuel Stark überheblich. »In spätestens zehn Minuten setzen sie ein paar Tücher und lassen das Schiff im flachen Wasser auflaufen.« »Und wir brauchen dann nur noch abzuräumen.« Keymis grinste. Beim Abräumen bist du vielleicht noch dabei, überlegte Samuel Stark, aber beim Teilen nicht mehr. Er blickte von der ›Isabella‹ auf das silbern schimmernde Wasser der schmalen Straße von Perama. Ein paar hundert
Yards achterlich vom Schiff schien etwas im Wasser zu treiben. Wahrscheinlich ein Faß oder Treibholz oder was die Leute sonst so alles über Bord warfen. Sie hatten ihren Beobachtungsposten so gewählt, daß die beiden griechischen Schwammtaucher, die sie für den Job angeheuert hatten, mit der Strömung schwimmen und hier an Land steigen konnten. »Ich hoffe, ich kann mich auf Sie verlassen«, sagte Stark und blickte Keymis mit seinen hellen Augen an, die im Mondlicht fahl wie die Augen eines Toten wirkten. »Wobei?« Keymis war noch dabei, die Beute abzuschätzen, die sie an Bord der ›Isabella‹ finden würden. »Sie haben versprochen, die beiden Männer zu erledigen. Es darf keine Mitwisser geben.« »Keine Angst.« Baldwin Keymis zog ein langes, schmales Messer aus dem Gürtel. »Mit dem Ding habe ich schon ein paar andere über den Jordan geschickt.« * »Wachen verdoppeln«, befahl Ben Brighton. »Und ich will geweckt werden, sowie irgend etwas sich auf hundert Yards dem Schiff nähert, und wenn es nur eine leere Pulle ist, verstanden?« Batuti starrte aufmerksam auf die fast unbewegte, silberglänzende Wasserfläche. Ein Glück, daß er aufgepaßt hatte. Aber doch nicht genug. Er blickte wieder über die Bordwand. Das Gestrüpp lag noch immer an derselben Stelle! Verdammt, ob die noch einen zweiten Mann geschickt hatten? Batuti griff nach seinem Bogen und legte einen Pfeil auf die Sehne. »He, Batuti«, sagte eine Stimme. Er wandte sich um und sah Smoky auf sich zugehen. »Also es bleibt dabei, nicht wahr?« sagte Smoky leise. »Um
vier Uhr, sofort nach der Wachablösung, schwimmen wir an Land, klar?« »Nicht reden, Smoky«, zischte Batuti. »Aber warum ...« Smoky begriff, trat neben Batuti ans Schanzkleid und starrte ebenfalls zu dem Gestrüpp hinunter, das wie festgeleimt am Bug hing. »Noch einer?« flüsterte er. Batuti nickte schweigend. Seine Muskeln zitterten bei der Anstrengung, den riesigen Bogen so lange gespannt zu halten. Ein leises Geräusch, eine kaum sichtbare Bewegung im Gebüsch. Batuti ließ den Pfeil von der Sehne schnellen. Ein Schrei hallte über das Wasser. Eine dunkle Gestalt stieß sich von der Bordwand ab und begann verzweifelt mit der Stömung zum Ufer zu schwimmen. »Verdammt. Schlecht getroffen.« Batuti griff nach einem neuen Pfeil. Der Mann im Wasser wandte hastig den Kopf, sah die drohende Silhouette des riesigen Negers mit dem gespannten Bogen und tauchte. Batutis Pfeil zischte ins Wasser. Er griff nach einem anderen. »Laß das, Batuti, den erwischst du nicht mehr.« Smoky griff nach seinem Arm. »Und der kommt auch nicht mehr zurück.« »Du haben recht. Aber nicht sagen, daß Batuti nicht getroffen, ja?« Sie starrten auf das Wasser hinaus. Der Mann war jetzt wieder aufgetaucht. Seine strampelnden Arme und Beine ließen das Wasser aufschäumen. * »Ich glaube, sie kommen zurück.« Baldwin Keymis griff nach dem Fernglas und starrte über das Wasser. Samuel Stark nickte gleichgültig. Sein Plan war schief gelaufen. Er wußte es, seit sich die kurze Aufregung an Bord der ›Isabella‹ wieder gelegt hatte und die Männer anscheinend
nicht daran dachten, Segel aufzuziehen und das Schiff auf Grund laufen zu lassen. Was jetzt folgte, ging nur noch Keymis etwas an. Anscheinend hatten diese griechischen Tölpel sich so dumm angestellt, daß sie entdeckt worden waren, überlegte er düster. Sonst würde dieser Idiot doch nicht wie ein Fisch an der Angel um sich schlagen. Ein gellender Schrei hallte über das Wasser, und die Arme und Beine des Schwimmers wirbelten in einem wahnsinnigen Tempo. Baldwin Keymis spürte, wie er am ganzen Körper zu zittern begann. Der Mann war nur ein paar hundert Yards vom Ufer entfernt. In der Vergrößerung des Fernglases sah er deutlich den Kopf, das angstverzerrte Gesicht, den aufgerissenen Mund, der nicht genug Luft in die Lungen pumpen konnte. Und er sah die sichelförmige Flosse, die auf den Mann zuschoß. Ein Hai! Wieder hallte der entsetzliche Schrei über das Wasser. Er erstarb in einem erstickten Gurgeln. Für den Bruchteil einer Sekunde sah Keymis den hellen Bauch des Hais, als der sich auf die Seite warf und die Schulter des Mannes packte. Ein letztes Mal schäumte das Wasser auf. Dann war es still. Samuel Stark zuckte mit den Schultern. »Schwein gehabt. Der Hai hat Ihnen die Arbeit abgenommen, Keymis.« Keymis hörte ihn nicht. Er starrte noch immer auf die Stelle, an der der Mann von dem Hai in die Tiefe gerissen worden war. 6. »Batuti und Smoky sind verschwunden«, sagte der Kutscher zu Ben Brighton.
»Was ist los?« Der Kutscher deutete auf die Jakobsleiter, die auf der Backbordseite über die Bordwand hing. »Ich habe das Ding entdeckt, als ich eben ein paar Pützen Wasser hochziehen wollte, und dann habe ich gleich nachgesehen, ob jemand fehlt.« Ben Brighton nickte schweigend. Diese verdammten Kerle! An sich konnte er stolz sein auf diese Männer, die ihren Kapitän nicht im Stich lassen und ihr Leben riskieren wollten, um ihn zu befreien. Aber auf der anderen Seite hatten die beiden gegen die Disziplin verstoßen, und in diesem Fall konnte ihre Eigenmächtigkeit unabsehbare Folgen haben. Sie befanden sich in einem neutralen Land und waren auf den guten Willen der Türken angewiesen. Vor allem, wenn sie ihre Aufgabe durchführen wollten. Schließlich waren sie hier, um Hasards Zwillinge zu befreien. »Danke, Kutscher. Da kann man nichts tun. Wir wollen nur hoffen, daß die beiden keine allzu großen Dummheiten anstellen.« * Bei Sonnenaufgang waren die beiden beim Serail des Paschas. »Du hier verstecken«, sagte Batuti. »Ich warten auf Negersklaven und fragen, wo Kapitän.« »In Ordnung. Manchmal hast du ganz brauchbare Gedanken in deinem schwarzen Schädel.« Es war wirklich die ungefährlichste Methode, sich nach Hasard zu erkundigen, sah Smoky ein. Sklaven hatten ein gewisses Solidaritätsgefühl füreinander und würden einem anderen Auskünfte geben, die sie einem Weißen verweigert hätten. Es dauerte eine halbe Stunde, bis Batuti zurückkehrte, und
Smoky hatte schon Sorge, daß ihm etwas passiert sein könnte. »Alles gut«, sagte Batuti grinsend. »Mußte etwas warten. Dummer Neger hat auch nicht gewußt, wo Kapitän ist, mußte erst anderen Neger fragen.« »Und der hat es gewußt?« Batuti nickte mit seinem wolligen Schädel. »Ist in Haus von englische Vertreter, auf andere Seite von Stadt.« Er deutete nach Süden. »Eine Stunde gehen, hat Neger gesagt.« »Na schön. Dann wollen wir mal mit dem Gehen anfangen«, sagte Smoky und grinste. Kurz nach acht Uhr gingen sie an der Hütte vorbei, in der Dr. Freemont und Hasards Zwillinge gefangengehalten wurden. »Wahrscheinlich das Haus da oben«, meinte Smoky und deutete auf ein palaisartiges Gebäude oberhalb des Hangs. »Worauf wir noch warten«, sagte Batuti grinsend. Sie gingen auf den Pinienwald zu, in dem vor knapp vierundzwanzig Stunden Dr. Freemont mit den gestohlenen Waisenkindern Schutz gesucht hatte, und nutzten diese Deckung, um ungesehen zu Samuel Starks Haus zu gelangen. Der Wald hörte knapp fünfzig Yards seitlich des Hauses auf. Sie versteckten sich hinter einem Gebüsch und starrten zum Haus hinüber. »Und was jetzt?« fragte Batuti. »Laß mich nachdenken.« Smoky pflückte einen Grashalm und steckte ihn zwischen die Zähne. Einer von ihnen mußte ins Haus und sich überzeugen, daß Hasard wirklich hier gefangengehalten wurde. Aber wer? Wenn es auch hier Negersklaven gab, war Batuti geeigneter für diesen Patrouillengang. Aber dieser Stark schien weiße Dienerschaft zu bevorzugen. Die beiden Männer, die gerade die Terrasse des Hauses fegten, waren jedenfalls Griechen. »Warum nicht einfach reingehen, Smoky?« sagte Batuti. »Wenn einer kommt in Weg, Batuti ihn umhauen. Und wenn finden Kapitän ...«
»Still!« zischte Smoky und packte ihn am Arm. Drei Männer waren auf die Veranda getreten. Zwei von ihnen kannte er. »Keymis und Burton, diese Hunde!« flüsterte Batuti erregt, und Smoky fühlte, wie sich die gewaltigen Armmuskeln des Negers spannten. »Der dritte muß Stark sein«, flüsterte Smoky zurück und starrte unverwandt zu den drei Männern hinauf. Stark sagte etwas zu den beiden Dienern und machte eine ungeduldige Handbewegung, als ob er lästige Insekten verscheuchen wollte. Die beiden Diener nahmen ihre Besen auf und schlurften ab. Der massige Burton setzte sich auf die Balustrade, und dann begannen die drei, sich zu unterhalten. »Ich schleichen näher ran, damit verstehen, was sagen«, flüsterte Batuti und wollte schon loskriechen. »Du nicht. Ich werde das tun«, sagte Smoky und hielt ihn zurück. »Warum du? Ich kann viel besser schleichen. Ich Krieger von Gambia.« »Aber nicht gut genug. Sonst hätten dich die verdammten Sklavenhändler nicht erwischt.« »Das war doch Überfall.« »Es ist besser, wenn ich das tue«, sagte Smoky beschwichtigend. »Warum du. Ich schleichen wie Wildkatze.« »Aber ich verstehe besser englisch, und darauf kommt es vor allem an.« Batuti blickte ihn ein paar Sekunden an, dann nickte er. »Ist richtig. Du etwas besser englisch als Batuti. Ich hier warten.« Smoky nickte ihm zu und kroch los. Zuerst am Waldrand entlang, bis er außer Sichtweite der Veranda war. Dann wurde es etwas schwieriger. Er mußte den Pinienwald verlassen. Aber auch jetzt bot ihm der unebene Boden mit seinen Büschen, Felsbrocken und grabenartigen Senken genügend Deckung.
Einmal mußte er fast eine Minute reglos liegenbleiben, weil einer der Diener aus der Seitentür des Hauses trat und die Treppenstufen abfegte. Aber dann verschwand er wieder, und Smoky kroch weiter. Er mußte an die Westkante der Veranda gelangen und dann unmittelbar vor der Mauer so weit kriechen, bis er unmittelbar unterhalb der Stelle war, an der sich die drei Männer befanden. Nur wenn einer von ihnen sich über die Balustrade beugen sollte, konnten sie ihn entdecken. Die einzige Gefahr drohte von Burton, der mit seinem fetten Hintern auf der Balustrade hockte und ihn durch einen dummen Zufall entdecken konnte. Ein Geräusch ließ ihn zusammenfahren. Gerade noch rechtzeitig konnte er hinter einem kantigen Felsstück verschwinden, das dicht vor ihm aus dem Boden ragte. Vorsichtig hob er den Kopf und spähte am Felsen vorbei. Der dicke Burton stieg die breiten Stufen der Veranda hinuner. Er schien schlechte Laune zu haben. Er hatte einen Stock in der Hand und schlug damit die Köpfe von den Wildblumen ab, die rechts vom Fußpfad standen. Der ziselierte Knauf seiner Pistole ragte aus der Schärpe, mit der er seinen Wanst zusammenhielt. In knapp zwei Schritten Entfernung ging er an Smokys Versteck vorbei. Smoky packte den Griff seines Messers und spannte die Muskeln, bereit, Burton anzuspringen, falls der ihn entdecken sollte. Aber Burton schien keine Augen für seine Umgebung zu haben. Er starrte auf den Boden, auf die Blumen, denen er die Köpfe abschlug, und fluchte leise vor sich hin. Smoky blieb reglos liegen, als er vorbei war. Und einmal wandte Burton sich auch kurz um und blickte zur Veranda zurück. Dann ging er weiter. Smoky wartete, bis er das kleine Haus am Fuß des Hangs erreicht hatte und darin verschwand. Erst dann kroch er weiter. Jetzt konnte er schon die Stimmen der beiden Männer hören, und als er zehn, zwölf Yards an der Terrassenmauer entlang
gekrochen war, verstand er auch, was sie sagten. »Sie haben Burton doch nur weggeschickt, um ihn loszusein, stimmt’s?« Die Stimme klang etwas schrill und schneidend. Wahrscheinlich dieser Stark, überlegte Smoky. »Natürlich«, antwortete Keymis Stimme. »Aber es kann trotzdem nicht schaden, daß er einmal nachsieht, ob unten alles in Ordnung ist. Dieser Doktor ist ein hinterhältiger Bursche. Ich wette, der wird uns noch eine Menge Schwierigkeiten bereiten.« »Dann sollten wir versuchen, ihn möglichst bald loszuwerden, denke ich. Wir könnten ...« »Wir?« fragte Keymis gedehnt. Ein paar Augenblicke herrschte Schweigen. Dann sagte Stark: »Ja, wir, Keymis. Oder glauben Sie, ich lasse mich einfach wieder ausbooten, nachdem ich Ihnen die Kastanien aus dem Feuer geholt habe?« »Mit diesem verpatzten Abenteuer heute nacht?« sagte Keymis ironisch. »Da sitzen Sie aber auf dem falschen Pferd, mein Lieber. Bis jetzt habe ich alles allein geschafft, und ich werde es auch in Zukunft schaffen.« »Und wie wollen Sie die beiden Bälger verstecken, wenn ich Sie hängenlasse? Ein Wort von mir, und die Türken kaschen die Kinder, entweder für den Vater Killigrew, oder für den Sklavenmarkt.« »Sie können doch nicht ...« »Und wie ich kann. Lassen Sie es nicht darauf ankommen, Keymis.« Wieder eine kurze Pause. Smoky hob vorsichtig den Kopf. Aber von hier unten konnte er nicht auf die Terrasse blicken. »Wenn Sie glauben, daß ich die ganze Beute mit Ihnen teile, dann sind Sie im Irrtum. Es ist schon zuviel, daß ich diesem Burton ein Stück vom Kuchen abgeben muß.« »Müssen Sie das, Keymis?« fragte Stark gedehnt. »Leider braucht man für meine Projekte einen zweiten
Mann.« »Den haben Sie jetzt. Und sogar einen, der mitdenkt. Wozu brauchen wir noch Burton?« Wieder eine Pause, diese noch länger als die vorigen. Smoky, grinste amüsiert. Wunderbar, jetzt versuchten diese Halunken, sich gegenseitig aufs Kreuz zu legen. Und dieser Stark? Ein seltsames Benehmen für einen Repräsentanten der Krone. Das schien auch Keymis zu finden. »Sie sind ein Hochstapler, Stark«, sagte er unverblümt. Vielleicht geht der andere jetzt mit dem Messer auf ihn los, hoffte Smoky. Aber Stark tat ihm den Gefallen nicht. »Stimmt«, sagte er kühl. »Sie sind im Grund genommen nicht besser als ich: ein Spieler und Glücksritter, der auf Beute aus ist.« »Wieso? Ist bei Ihnen auch alles nur Schwindel? Wie steht’s denn mit dem Friedensrichter?« »Doch, das war ich mal. Und damit bin ich Ihnen auch einen Punkt voraus.« »Und welche Schlußfolgerungen wollen Sie daraus ziehen, Keymis?« »Wenn wir zusammenarbeiten sollten - und bis jetzt bin ich von dieser Notwendigkeit noch nicht überzeugt - dann habe ich das Kommando. Schließlich war auch der ganze Plan meine Idee.« »Über die Einzelheiten können wir später sprechen«, erklärte Stark. »Zunächst einmal müssen wir sehen, daß wir diesen Killigrew loswerden. Und zwar noch heute.« »Warum denn die Eile? Aus dem Keller kommt er niemals heraus.« »Sie brauchen wirklich einen Komplicen, der mitdenkt, Keymis.« Deutlich klang die ironische Überheblichkeit heraus. »Glauben Sie, daß diese Piraten einfach zusehen, wie wir ihren Kapitän einsperren? Gestern waren schon drei von den Burschen auf dem Gerichtsplatz.
Ich bin überzeugt, daß mindestens ein Dutzend von ihnen jetzt in ganz Athen herumschnüffelt, und irgendwie werden sie es auch herausbringen, daß Killigrew in meinem Haus gefangengehalten wird. Vielleicht wissen sie es sogar schon.« Smoky nickte grinsend. »Nein, Keymis, er muß weg. Heute noch.« »Ja, Sie haben recht, Stark«, sagte Keymis nach kurzem Zögern. »Mir geht es dabei auch um die Kinder. Solange er und die ›Isabella‹ hier sind, besteht Gefahr, daß sie entdeckt werden.« Er schwieg einen Augenblick. »Vielleicht wäre es doch nicht so dumm, Sie anstelle von Burton ins Geschäft zu nehmen.« »Sie werden allmählich klug, Keymis«, sagte Stark. »Wie wollen Sie Burton loswerden? Am besten erledigen Sie ihn, und das möglichst bald!« »Nicht nötig, Stark. Der Kerl ist so dämlich, den brauche ich nur irgendwo stehenzulassen. Der findet nicht mal den Weg bis zur nächsten Straßenecke.« Er lachte meckernd über seinen Witz. »Und wie wollen Sie Killigraw wegschaffen?« »Mit einem Schiff, nach England. Er wird doch gesucht, nicht wahr? Oder war das mit dem Haftbefehl auch eine Lüge?« »Nein. Dann könnten wir uns eventuell sogar eine Fangprämie verdienen. Das heißt, ich könnte es. Sie haben sicher kein Interesse, daß der Hof in London von Ihrer Existenz erfährt, nicht wahr?« »An Kleingeld bin ich nicht interessiert«, sagte Stark arrogant. »Aber wenn Sie so scharf darauf sind, werden Sie gefälligst auch die ganze Sache organisieren. Irn Hafen von Piräus liegt ein englisches Schiff, die ›Harkness‹. Zufällig kenne ich den Kapitän und werde Ihnen einen Brief an ihn mitgeben. Sagen Sie ihm, er soll ab zehn Uhr nachts seeklar sein.« »Und Sie meinen, daß er nur aufgrund Ihres Briefes bereit sein wird, Killigrew an Bord zu nehmen?«
»Das allein genügt vielleicht nicht. Aber wenn Sie ihm sagen, daß Sie persönlich damit beauftragt worden sind, den Haftbefehl zu vollstrecken - Sie besitzen hoffentlich ein Dokument über Ihre Ernennung zum Friedensrichter?« In der Stimme Starks schwang unverhohlenes Mißtrauen. »Von seiner Exzellenz dem Lordkanzler persönlich ausgestellt, Stark«, sagte Baldwin Keymis schneidend. »Na, dann ist ja alles in Ordnung. Sie berufen sich auf Ihre richterliche Stellung und den allerhöchsten Befehl, dann kann er sich einfach nicht weigern.« »Ja, dann kann er sich nicht weigern«, wiederholte Keymis, »und in zwei Wochen steht Killigrew in London vor Gericht. Sie werden ihn aufhängen.« »Sicher, aber noch nicht so bald, wie Sie annehmen. Die ›Harkness‹ ist nämlich noch nicht auf der Heimfahrt, sondern läuft erst Saida an, ein kleines Nest an der ...« »Verdammt! Ich traue diesem Killigrew nicht. Wenn er lange genug Zeit hat, entwischt er aus dem sichersten Gefängnis.« »Eben darum müssen wir sehen, daß wir ihn so rasch wie möglich loswerden. Also, heute nacht schaffen wir ihn an Bord, und dann sind wir diese Sorge los.« Smoky hatte genug gehört. Sie mußten sich verdammt beeilen, überlegte er, als er an der Wand der Terrasse zurückkroch. Im ersten Augenblick war er dafür, Batutis Vorschlag durchzuführen, ins Haus zu stürmen und alles über den Haufen zu rennen, was sich ihnen in den Weg stellte. Aber dann sah er ein, daß sie damit Hasard nur gefährdeten. Wenn es auch nur einem Menschen gelang, Alarm zu schlagen, würden sie alle nicht mehr lebend Griechenland verlassen. Ein ausbruchsicheres Gefängnis, so hatte Keymis den Keller genannt, in dem sie Hasard festhielten. Aber selbst ein Keller mußte ein Fenster oder wenigstens einen Luftschacht haben. Smoky kroch auf Händen und Knien um das Haus herum und suchte nach dem Luftschacht.
Fast hätte er ihn übersehen. Der schmale Schlitz im Steinfundament des Hauses war kaum eine Elle lang und so schmal wie eine Schießscharte. Hohes Gras und Brennesseln verdeckten ihn zum größten Teil, und wahrscheinlich wäre Smoky weitergekrochen, ohne ihn zu bemerken, wenn er nicht jemanden pfeifen gehört hätte. Ein paar Sekunden hockte er regungslos. Dann bog er die wuchernden Pflanzen zur Seite und stieß einen leisen Fluch aus, als er die Brennnesseln berührte. Er drückte sie mit dem Knie zu Boden, brachte sein Ohr ganz nahe an den Luftschacht und lauschte. Da unten pfiff jemand ein altes englisches Lied! »Kapitän!« rief er leise. »Hasard!« Das Pfeifen brach ab. »Wer bist du?« »Smoky, Sir. Ich bin froh, daß wir dich endlich gefunden haben. Wir holen dich sofort raus, und dann ...« »Wer wir?« rief Hasard. »Wen hast du bei dir?« »Batuti. Er wartet am Waldrand darauf, daß ich ihn hole.« Hasard antwortete nicht. »Sir?« fragte Smoky besorgt. »Laß mich nachdenken. Nein, ihr beiden schafft es nicht allein. In dem Kellergang sitzen zwei Wächter, mit Musketen und Pistolen bewaffnet.« »Mit denen werden wir schon fertig, Sir.« »Habt ihr Schußwaffen?« »Nein. Das erschien uns zu auffällig.« »Na also. Geh zum Schiff zurück und sage Ben, er soll Dan ein Kommando von sechs, acht Männern herführen lassen. Heute nacht ...« »Heute nacht ist es zu spät, Sir. Sie sollen zwischen zehn und null Uhr auf ein Schiff gebracht werden, das nach London ausläuft.« »Na also. Besser konnte es doch gar nicht kommen!« rief
Hasard zurück. »Irgendwo zwischen diesem Haus und Piräus wird sich schon eine Gelegenheit ergeben, die drei Halunken zu überrumpeln. Also, sofort zurück zum Schiff und überlasse alles weitere Ben Brighton und Dan O’Flynn. Verstanden?« »Aye, aye, Sir.« Smoky begann zurückzukriechen. Aber dann fiel ihm noch etwas ein. »Hier habe ich noch etwas, das du vielleicht brauchen kannst«, rief er, zog sein Messer aus dem Gürtel und warf es in den Luftschacht. »Und mach dir keine Sorge, Sir. Wir hauen dich schon heraus.« 7. Zum zweiten Male an diesem Tag schlichen Männer der ›Isabella‹ an der Hütte vorbei, ohne zu ahnen, daß die beiden Kinder, hinter denen sie durch das ganze Mittelmeer gehetzt waren, sich in greifbarer Nähe befanden. Und Dr. Freemont konnte nicht wissen, daß er nur zu rufen brauchte, um den Kindern und sich die Freiheit zu verschaffen. Smoky hatte den Waldrand oberhalb der Hütte als Sammelpunkt angegeben, als er Ben Brighton und Dan O’Flynn die Situation geschildert und sie den Befreiungsplan abgesprochen hatten. Ben Brighton hatte geflucht, daß er nicht dabeisein konnte. Aber er mußte an Bord zurückbleiben, das Schiff bewachen und seeklar machen. Es konnte sein, daß sie sehr eilig von hier verschwinden mußten, wenn die Männer Hasard befreit hatten. Es war ein Glück, daß es um diese Jahreszeit schon früh dunkel wurde. Kurz nach fünf Uhr gingen die ersten beiden Männer, die Dan begleiten sollten, über Bord und schwammen zum Ufer. Sie hielten sich nicht damit auf, auf die anderen zu warten, sondern begaben sich sofort auf den Weg nach Athen. Zu zweien fielen sie nicht so sehr auf, als wenn sie im
geschlossenen Trupp marschiert wären. Gut zwei Stunden später, gegen halb acht, trafen die letzten beiden am Rand des Pinienwaldes ein. Dan O’Flynn blickte von einem zum anderen. Alles Männer, die er wegen ihrer besonderen Fähigkeiten ausgesucht hatte: den bärenstarken Batuti, Matt Davies, dessen geschliffener Haken an der rechten Unterarmprothese eine tödliche Waffe war, den erfahrenen Kämpen Ed Carberry, den schlauen Smoky und den flinken Blacky. Dan blickte eine Weile zum Haus hinüber. Nur drei Fenster des Erdgeschosses waren erleuchet. Außer dem Zirpen von ein paar Grillen war alles still. »Smoky, du kennst dich hier aus. Geh zusammen mit Matt zum Haus und sieh nach, was los ist. Einer von euch bleibt dort, der andere kehrt zurück und sagt uns Bescheid.« »In Ordnung, Dan.« Die beiden Männer gingen los. Der Mond war noch nicht aufgegangen, und die Nacht war ziemlich dunkel. Trotzdem bewegten sie sich vorsichtig, geduckt und jede Deckung ausnutzend. Hinter dem Felsen, der Smoky als Deckung gedient hatte, als Burton das Haus verlassen hatte, blieben sie stehen. »Alles ruhig«, flüsterte Matt Davies. »Zu ruhig«, sagte Smoky. »Hoffentlich sind wir nicht zu spät erschienen.« Er grinste, als er das Schnauben eines Pferdes hörte. »Los, Matt!« Sie liefen einen kurzen Bogen nach links, um seitlich hinter das Haus zu gelangen. »Sieh mal.« Matt Davies deutete auf einen zweiräderigen Wagen, der vor der hinteren Tür des Hauses stand. Es war einer der einspännigen Kastenwagen, mit denen die griechischen Bauern ihren Wein von den Feldern holten. Ein Mann mit einem dunklen Umhang stand an das hohe Rad gelehnt und blickte wartend zur offenen Tür.
»Zu spät, jetzt hier etwas zu unternehmen«, flüsterte Smoky. »Lauf zurück und sag den anderen, sie sollen den Wagen irgendwo abfangen. Ich schrei wie eine Möwe, wenn ich sehe, daß sie Hasard an Bord schaffen.« Matt Davies schenkte sich eine Antwort. Geduckt sprintete er los, auf den Waldrand zu, wo die anderen warteten. Smoky sah einen Mann aus der Tür treten und leise mit dem Kutscher reden. Wahrscheinlich Stark. Die beiden Männer verschwanden im Haus. Kurz darauf gingen in den wenigen erleuchteten Fenstern die Lichter au$. Smoky starrte auf den unbewachten Wagen. Wenn er jetzt die Karre entführte, hatten sie keine Möglichkeit, Hasard wegzubringen. Aber was nutzte ihnen das? Dann waren die Kerle gewarnt und wußten, daß sie ihnen auf der Spur waren. Und jetzt war es ohnehin zu spät. Smoky sah, daß drei Männer heraustraten. Einer von ihnen war der Kutscher. Die beiden anderen sahen sich sichernd nach allen Seiten um. Dann trat einer an die Tür und rief etwas. Smoky glaubte, den massigen Burton zu erkennen. Drei bewaffnete Männer traten heraus. Smoky sah das matte Sternenlicht auf Musketenläufen glitzern. Einer von ihnen schleppte ein schweres Bündel auf der Schulter, das wie eine Teppichrolle aussah. Er trat zur Kastenwand des Wagens und ließ das Bündel hineinfallen. Sie haben den Kapitän niedergeschlagen und wie ein Paket in Decken verschnürt, dachte Smoky wütend. Aber anders hätten sie den Seewolf auch kaum überwältigen können, sah er ein. Er duckte sich tiefer in den Schatten, legte beide Hände trichterförmig an den Mund und stieß den schrillen Schrei einer Möwe aus. Die Männer beim Wagen stutzten, zwei wandten sich mißtrauisch um. Aber als alles ruhig blieb, machten sie weiter. Die Männer mit den Musketen und ein anderer kletterten auf
den Wagen, der sich kurz darauf in Bewegung setzte. Zwei Männer blieben zurück und verschwanden wenig später im Haus. Wahrscheinlich Keymis und Stark, überlegte Smoky. Burton durfte wieder einmal die Dreckarbeit für die beiden erledigen. Smoky lief los, hinter dem Wagen her. Er wollte auf jeden Fall dabeisein, wenn die Keilerei losging. Wieder war die Dunkelheit günstig. In dem matten Sternenlicht konnte er sich dem Karren auf weniger als hundert Yards nähern, ohne gesehen zu werden. Der Sandweg führte an kleinen Hügelkuppen und Felsen vorbei hangabwärts, auf die Hütte und den Waldrand zu. Warum unternahmen die anderen nichts? fragte er sich, als die Karre die Hütte passierte, ohne daß etwas geschah. Er war noch knapp fünfzig Yards hinter dem Karren, als dieser zwischen den ersten Pinien verschwand. Und in diesem Moment brach die Hölle los. »Arwenack!« hörte er Dan O’Flynn rufen. Und Batuti sekundierte ihm mit dem Kriegsschrei seines Stammes. Zwei Schüsse krachten fast gleichzeitig. Eisen klirrten aufeinander, Männer schrien auf. Das Pferd wieherte. »Na also!« Smoky riß sein Messer aus dem Gürtel und begann zu laufen. »Hoffentlich lassen sie mir noch etwas übrig.« Aber er kam dann doch nicht dazu, weil er einen Mann zwischen den Bäumen verschwinden sah. Ohne zu überlegen, schlug er einen Haken und lief ihm nach. Der Mann spürte, daß er verfolgt wurde und versuchte, ihn abzuschütteln. Zuerst schlug er ein paar Haken. Aber das nutzte ihm nicht viel. Er hatte keine Erfahrung darin, sich lautlos zu bewegen, und brach durch das Unterholz wie ein wütender Eber. Wahrscheinlich der dicke Burton, folgerte Smoky. Jetzt schien er auch zu merken, daß seine Taktik ihm nichts
einbrachte. Vielleicht war er auch außer Puste. Jedenfalls blieb er reglos stehen. Smoky stoppte ebenfalls und lauschte. Kein Laut. Vorsichtig ging er weiter, blieb stehen. »Wo steckst du, du Bastard? Bist du zu feige, um dich zu stellen?« Er lauschte. Von rechts ertönte ein leises Knacken. Wahrscheinlich war der Kerl auf einen Zweig getreten. Vorsichtig ging er in die Richtung. Unter den Pinien konnte man kaum die Hand vor Augen sehen. Zehn Schritte, elf ... Er hörte das Geräusch den Bruchteil einer Sekunde zu spät. Ein harter Schlag traf seinen Hinterkopf, und die Knie knickten ihm ein. Bevor er bewußtlos wurde, hörte er einen Mann eilig fortlaufen. * »Scheiße!« fluchte Dan O’Flynn. In den Gesichern der anderen vier Männer stand ebenfalls tiefe Enttäuschung. Sie hatten gesiegt. Drei Männer lagen zusammengeschlagen am Boden, einer war in den Wald geflohen. Aber sie hatten nichts gewonnen. Als sie das zusammengeschnürte Bündel vom Wagen hoben und die Seile zerschnitten, starrten ihnen die gebrochenen Augen eines Toten entgegen, eines toten Griechen. »Die Hunde haben uns auf den Leim geführt!« schrie Carberry wütend. »Sie müssen irgendwie gemerkt haben, daß wir den Seewolf rausholen wollten und haben uns nur vom Haus weglocken ...« Er brach ab und starrte an Dan O’Flynn vorbei zum Waldrand. »Vorsicht, Dan!« Dan wirbelte herum. Deutlich erkannte er die Silhouette eines hochgewachsenen Mannes, der auf sie zuschritt. »Stehenbleiben!« Er riß das Messer aus dem Gürtel. Der Mann blieb stehen und lachte trocken. »Wollt ihr mich
etwa abstechen?« »Hasard!« Dan stürzte auf ihn zu. »Mann, wir dachten schon - wo kommst du denn her?« »Smoky hat mich heute morgen besucht und mir freundlicherweise ein Messer in den Käfig geworfen. Als mir dieser Bursche vorhin Essen brachte, habe ich ihn getötet. Als die anderen mich später holen wollten, habe ich ihnen den Toten in die Arme geworfen. Eigentlich hättet ihr euch also gar nicht zu bemühen brauchen. Aber ohne Smokys Hilfe hätte ich es wahrscheinlich nicht geschafft. Wo ist er eigentlich? Habt ihr ihn nicht mitgebracht?« »Natürlich. Glaubst du, der hätte sich zurückhalten lassen? Aber wo ist er denn?« Dan merkte erst jetzt, daß Smoky nicht da war. Und auch die anderen hatten ihn noch nicht vermißt. »Vielleicht noch oben bei Haus«, schlug Batuti vor. »Das glaube ich nicht«, sagte Dan. »jedenfalls nicht freiwillig.« Hasard nickte. Eine Keilerei hätte sich Smoky auf gar keinen Fall entgehen lassen. Irgend etwas mußte passiert sein. »Wir messen ihn suchen«, sagte er. »Dan, Batuti, Matt, ihr seht euch hier um.« »In Ordnung, Sir.« Vielleicht war Smoky von einem der beiden Schüsse getroffen worden, die die Männer Starks abgefeuert hatten. Oder er war bei dem Handgemenge im Dunkeln erstochen worden. »Ihr kommt mit zurück«, sagte Hasard zu Carberry und Blacky. »Und haltet die Augen offen.« Das taten sie. Aber sie fanden keine Spur von Smoky. Als sie die Hütte passierten, blieb Hasard einen Augenblick stehen. Aber warum sollten sie Smoky in die Hütte geschleppt haben, wenn sie ihn gefangen hatten? Sie gingen weiter, auf das Haus zu.
* »Sie sind weg«, sagte Burton aufatmend und trat von der Tür zurück, die er einen Spaltbreit geöffnet hatte. Stark stieß den angestauten Atem aus der Lunge. »Verdammt, das hätte ins Auge gehen können«, flüsterte er. »Jetzt aber nichts wie weg«, drängte Burton und wollte die Tür aufstoßen. »Warten Sie noch, bis sie etwas weiter weg sind.« Stark hielt ihn am Arm fest. »Haben Sie den Arzt gut gefesselt, Keymis?« fragte er dann. »Wollen Sie mir etwa da noch Unterricht geben, Stark?« zischte Keymis zurück. »Gefesselt und geknebelt.« »Idiot. Nenmen Sie ihm den Fetzen aus dem Mund! Wir müssen uns verdammt beeilen. Wollen Sie, daß er unterwegs erstickt?« »Den brauchen wir doch nicht mehr. Von mir aus kann er krepieren.« »Und was sagen wir, wenn sie die Leiche finden? Die Türken können da verdammt komisch werden.« »Dann lassen wir ihn eben hier.« »Damit er Killigrew alles haarklein erzählt? Sie sind wirklich ein Trottel, Keymis.« Er tastete sich durch das Dunkel, bis seine Hände den rauhen Stoff von Dr. Freemonts Jacke spürte. »Hören Sie zu, Freemont«, sagte er. »Wenn wir ein Stück von hier weg sind, nehme ich Ihnen den Knebel ab. Aber wenn Sie auch nur einen Ton von sich geben, steche ich Sie ab. Sie haben selbst gehört, daß Sie überflüssig geworden sind.« »Sie müssen fast beim Haus sein«, drängte Burton. »Also los. Jeder von Ihnen nimmt eins der Bälger. Wenn sie schreien, haltet ihnen einfach den Schnabel zu.« Er gab Dr. Freemont einen Stoß in den Rücken. Sie gingen im Geschwindschritt den Hang hinunter.
* »Abgehauen, die ganze Bande.« Carberry steckte sein Messer in den Gürtel zurück. Sie hatten das ganze Haus durchsucht. Niemand anwesend, aber in mehreren Räumen Anzeichen einer überstürzten Flucht. Hatten sie Smoky verschleppt? fragte sich Hasard, oder war der ihnen vielleicht gefolgt? Smoky war ein heller Kopf. Eventuell hatte er seine Freude an einer handfesten Keilerei im Zaum halten können und hier abgewartet, was die Burschen anschließend unternahmen. »Los, Männer. Wir müssen uns verdammt beeilen, wenn wir sie noch einholen wollen.« Hasard lief zur Tür. Als sie an der Hütte vorbeieilten, sah er, daß die Tür weit offenstand. Er war sicher, daß sie vorhin geschlossen gewesen war. »Augenblick!« Er blieb stehen und starrte in die dunkle Öffnung. Carberry begriff sofort, was Hasard vermutete. Lautlos trat er neben die Tür, die Hand am Griff seines Messers. Hasard trat an die andere Seite, preßte sich an die rauhe Holzwand und lauschte. Absolute Stille. Hasard zog das Messer aus dem Gürtel und sprang in die Hütte. Nichts rührte sich. Niemand griff ihn an. Niemand war hier. Aber es war jemand in diesem Raum gewesen. Sonst hätte die Tür nicht aufgestanden. Und er konnte riechen, daß sich bis vor ganz kurzer Zeit noch Menschen hier aufgehalten hatten. Es roch nach Schweiß - und nach Urin! Eine leise Ahnung stieg in ihm auf. Seine Nerven vibrierten, als er sich vorsichtig durch das Dunkel tastete. Hinter sich hörte er den Atem von Carberry und Blacky, die sofort nach ihm in die Hütte gestürzt waren, um ihm
Rückendeckung zu geben. Der Geruch nach Urin wurde stärker. Dann trat er in etwas Weiches, das unter seinem Stiefel knisterte Stroh. Eine Strohschütte. Er kniete sich auf den Boden und tastete. Hinter sich hörte er ein leises, kratzendes Geräusch. »Ich mach mal ein bißchen Licht«, sagte Blacky. Er hatte ein Ende Lunte, Stein und Stahl aus der Tasche gezogen und schlug Funken, bis das Luntenende zu glimmen begann. Dann kniete er sich neben Hasard und blies auf die Lunte, bis die Glut fast weiß wurde und genügend Helligkeit abgab, um Umrisse erkennen zu können. Das Stroh war zerwühlt und faulig, sah Hasard. Nein, nicht faulig, es war naß, naß von Urin, und auch ein paar alte Lappen, die im Stroh lagen, waren durchnäßt und rochen. Seine Kinder! Hier also hatten sie die beiden versteckt gehalten, nur eine Viertelmeile von seinem Gefängnis entfernt. Er stöhnte leise und ballte die Hände. Hasard und Philip waren ihm so nah gewesen wie noch nie zuvor, und wieder war er zu. spät gekommen, wahrscheinlich nur um Minuten. »Hasard!« hörte er jemanden rufen und erkannte Dan O’Flynns Stimme. »Hasard!« Carberry, der in Türnähe stehengeblieben war, trat hinaus. »Was ist, Dan?« »Ihr braucht nicht weiterzusuchen, Ed! Wir haben Smoky gefunden.« »Gib nicht so an, Dan«, widersprach Smoky. »Ich habe euch gefunden.« Vier Männer gingen auf die Hütte zu: Dan, Batuti, Matt und Smoky. Smokys rechte Wange war mit getrocknetem Blut verklebt, und er drückte die linke Hand auf seinen Kopf. »Hab nicht aufgepaßt, Sir«, sagte er verlegen grinsend, als Hasard aus der Hütte trat. »Sehen konnte ich nichts, und da hat
der Kerl einfach gewartet und mir eins auf die Birne gegeben.« Hasard nickte. Er hörte kaum zu. Wohin hatten sie die Kinder diesmal verschleppt? »War wohl etwas zu eifrig«, hörte er Smoky sagen. »Aber es war Burton, hinter dem ich her war. Ich wollte ihn um jeden Preis erwischen und alles aus ihm herausprügeln.« »Wir müssen ihnen nach, Hasard«, drängte Dan. Hasard antwortete nicht. Er stand vor einer schweren Entscheidung: seine Kinder oder das Schiff. Vielleicht konnte er sie noch erwischen, wenn sie jetzt sofort hinter ihnen herliefen. Niemand hatte das Geräusch von Wagen oder Pferden gehört, also waren sie zu Fuß. Und mit den Kindern würden sie nicht sehr rasch vorankommen. Aber er hatte keine Ahnung, was sie vorhatten. Vielleicht waren sie unterwegs nach Athen, vielleicht nach Piräus, vielleicht hatten sie auch ein Versteck in unmittelbarer Nähe. »Zurück zum Schiff«, sagte er entschlossen und setzte sich in Bewegung. »Aber Hasard! Wir können doch nicht einfach aufgeben!« sagte Dan O’Flynn. »Willst du mitten in der Nacht die ganze Gegend absuchen? Und hast du auch mal an die Möglichkeit gedacht, daß die beiden Halunken und dieser seltsame Stark den Pascha überreden könnten, die ›Isabella‹ zu kapern?« Dan O’Flynn antwortete nicht. Schweigend starrte er auf die Lichter des Dorfes, das sie jetzt umgingen. Hasard hatte wieder mal den Finger auf seine verwundbare Stelle gelegt. Er war ein erstklassiger Seemann geworden. Das wußte er, und er hatte schon einige Male bewiesen, daß er bei jedem Gefecht absolut Herr der Situation war. Aber bei Entscheidungen, die über das rein Seemännische hinausgingen, war er noch immer zu ungestüm, zu heißspornig. Eben noch zu jung, wie Ben Brighton oft sagte. »Sir?« Smoky trat an Hasards Seite. »Es gäbe da eine
Möglichkeit.« »Und welche?« »Ich habe dir vorhin am Luftschacht nicht alles sagen können, was ich gehört habe. Zunächst einmal: Dieser Stark ist ein Schwindler.« »Das habe ich mir fast gedacht«, sagte Hasard finster. »Wahrscheinlich ist er jetzt mit von der Partie, und dann muß er sehen, daß er so schnell wie möglich von hier verschwindet.« Hasard blieb stehen. »Du meinst, daß er zusammen mit den anderen und den Kindern an Bord dieses englischen Schiffes gegangen sein könnte?« »Ist doch möglich, Sir. Was würdest du denn tun, wenn du Feuer unterm Hintern hättest?« »Das ist doch Unsinn, Smoky«, mischte sich Blacky in das Gespräch. »Du hast uns doch selbst gesagt, dieses Schiff - wie heißt es noch?« »›Harkness‹«, sagte Smoky. »Richtig. Die ›Harkness‹ sollte den Kapitän nach London bringen. Und zumindest dieser Stark dürfte Gründe haben, sich dort vorläufig nicht sehen zu lassen.« »Schon, aber vielleicht wollen sie gar nicht nach London. Die ›Harkness‹ läuft nämlich erst einmal nach Saida. Ich hab keine Ahnung, wo das liegt.« »Saida«, murmelte Dan nachdenklich. »Irgendwo habe ich den Namen schon mal gehört.« »Ein kleiner Hafen in Syrien«, erklärte Hasard. Er starrte mit gerunzelter Stirn an Smoky und Dan vorbei. »Ja, das wäre eine Möglichkeit.« Er ging mit energischen Schritten weiter. »Los, Männer, wir müssen und beeilen!« 8.
»Scheißmond!« fluchte Luke Morgan, als er zum Großmars aufenterte. Bis Mitternacht war es stockdunkel gewesen, und ausgerechnet jetzt, als sie Tarnung brauchten, kroch er über die Kimm und beleuchtete die ›Isabella‹ wie eine Pechfackel. Er kroch auf den Mars, zog das Spektiv auseinander und musterte sorgfältig die Wasserstraße und das Land. Auf dem Berg von Perarna brannte ein Feuer. Wahrscheinlich war es den Beobachtungsposten da oben etwas kühl geworden. Das Dorf unterhalb des Berges war dunkel. Kein Schiff entdeckte er auf dem Wasser, auf der Insel Salamis sah er nur weit landeinwärts ein paar Lichter. »Alles klar?« rief Hasard leise. Er stand auf dem Achterdeck, die Hände um den Holm der Balustrade gekrampft. »Nichts zu sehen, Sir!« rief Luke leise. Von unten tönte ein dumpfes Poltern. »Ihr sollt doch keinen Krach schlagen!« rief Hasard irritiert. Es war natürlich Unsinn, sich über eine kleine Tolpatschigkeit aufzuregen. Er hatte befohlen, die Culverinen und Drehbassen lautlos zu laden. Er war sicher, daß die ›Isabella‹ genau beobachtet wurde. Wenn jemand merkte, daß sie auslaufen wollte, war die Hölle los. »Kanonen klar!« rief Al Conroy leise. »Ed!« rief Hasard den Profos. »Sir?« »Schick die Männer in die Wanten. Aber sie sollen die Segel erst fallen lassen, wenn der Anker oben ist, klar?« »Aye, aye, Sir.« Carberry trabte ab, und kurz darauf enterten zwölf Männer die Wanten hinauf, flink und lautlos wie Katzen. Scheißmond, dachte jetzt auch Hasard. Wie scharfe Scherenschnitte wirkten die Männer in dem hellen, weißlichen Licht. Und er hatte nicht genug Hände an Bord, um das Schiff in den Wind zu bringen, den Anker zu hieven und die Kanonen zu besetzen. »Hau ab, Sten! Ich übernehme das Ruder, bis wir unterwegs
sind.« Hasard wandte sich verblüfft um und sah Pete Ballie neben dem Rudergänger. Sein rechter Arm war gebrochen und mit Bandagen straff an seine Brust gebunden. »Aber du kannst doch nicht mit anpacken!« protestierte Stenmark. »Segel herumbrassen und so was kann ich wirklich nicht«, sagte Pete. »Darum sollst du das tun. Außerdem steht das Ruder falsch, Sten. Bei dem Ostwind mußt du nach Steuerbord einschlagen, damit wir nicht an die Küste gedrückt werden.« Er packte das Rand mit seiner linken Hand und wuchtete es herum. »Sten!« rief Hasard, als der Schwede zum Niedergang ging. »Sir?« »Sag Ferris, er soll das Ankertau kappen. Wir haben keine Leute übrig, um das Spill zu bedienen. Aber er soll die Säge nehmen. Die Axt macht zuviel Lärm.« »Aye, aye, Sir.« Kurz darauf hörte er das Knirschen der Säge vom Bug. Er warf einen Blick zu den Rahen hinauf, an denen die Männer hingen, die Enden der Bändsei in den Händen, mit denen die Segel aufgetucht worden waren. »Schiff Steuerbord voraus!« meldete Luke Morgan aus dem Mars. Hasard starrte in die angegebene Richtung. Aber vom Achterdeck aus war nichts zu sehen. Eine Landzunge der Insel Salamis verdeckte ihm die Sicht. Wie lange dauerte es denn noch, bis Ferris Tucker das Ankertau durchgesägt hatte? »Schiffstyp?« rief er leise. »Noch nicht zu erkennen. Auf jeden Fall ein Rahsegler.« Ein dumpfes Krachen ertönte. »Oben auf dem Berg hat es aufgeblitzt, Sir«, meldete Pete Ballie. »Wahrscheinlich ein Alarmschuß.«
Alarm wegen des Schiffes, das auf die Straße von Salamis zulief? Oder hatten sie gesehen, daß die ›Isabella‹ auslaufen wollte? Ein leises Knirschen vom Bug, und dann ein Platschen, als die gekappte Ankertrosse ins Wasser fiel. »Laßt fallen!« rief Ed Carberry halblaut. Die Segel rauschten nach unten. Vier, fünf Männer waren an Deck geblieben und braßten jetzt das Großsegel herum. Und dann waren auch die anderen wieder da und packten mit an. Die Segel füllten sich, die ›Isabella‹ nahm Fahrt auf und drehte langsam nach Steuerbord. »Galeere Backbord voraus!« meldete Luke Morgan. »Hält von der Reede auf die Straße zu!« »Gefechtsbereitschaft, Al! Lunten anzünden!« Jetzt war alles egal. Stiefel trampelten über das Deck. Ben Brighton und Dan, die wie alle anderen die Segel klargemacht hatten, rasten den Niedergang hoch, gefolgt von Smoky, der zwei brennende Lunten in der Hand hielt und sie neben den beiden Drehbassen an die Lafetten hängte. Die Galeere hielt genau auf sie zu. Und jetzt tauchte auch der Bug des anderen Schiffes hinter der Landzunge auf. Es war eine Karavelle, ein ziemlich altes Schiff mit einem hochaufragenden Achterkastell. Wieder dröhnte ein Böllerschuß vom Perama-Berg. »Zwei Strich Steuerbord!« rief Hasard. Die von Backbord auflaufende Galeere war der gefährlichere Gegner. Die Karavelle lag ziemlich hart am Wind. Wenn er sie erledigen konnte, bevor die Galeere auf Schußweite heran war, mochte die Sache klargehen. »Fall noch ein bißchen ab, Pete«, sagte er zu dem Rudergänger. Sie gerieten jetzt verdammt nah an die Felsenküste von Salamis. Aber er wollte versuchen, der Zange zu entwischen, in die beide Schiffe ihn nehmen wollten, und an
Steuerbord an beiden vorbeizulaufen. »Shane! Klar bei Brandpfeilen!« rief er zum Bug hinüber. Die Karavelle lag nur noch eine gute Viertelmeile voraus, und sie wich nicht einen Strich von ihrem Kurs ab. Auf der Galeere blitzte es zweimal kurz auf, und eine Sekunde später erreichten sie die Schallwellen der Schüsse. Aber die Bug-Drehbassen der Galeere hatten nicht auf die ›Isabella‹ gefeuert, sondern die Kugeln schlugen dicht vor dem Bug der Karavelle ins Wasser. »Sir! Die Karavelle ist ein Venezianer!« rief Luke aus dem Großmars. »Sie haben eben die Flagge gesetzt!« Wieder krachten zwei Schüsse aus Drehbassen, diesmal vom Bug der Karavelle. Der Mast der Galeere knickte zusammen und krachte auf das Deck. Das Schiff lief aus dem Ruder. »Wenn der nicht sofort abdreht, gibt es Kleinholz«, sagte Ben Brighton, der neben Hasard an die Balustrade getreten war. Es gab Kleinholz. Stur wie ein angreifender Bulle blieb die Karavelle auf ihrem Kurs und pflügte in die Breitseite der Galeere. Sie hörten das Krachen und Splittern von Holz und das Schreien von Menschen, als sie in weniger als hundert Yards Entfernung an den ineinander verkeilten Schiffen vorbeisegelten. Die Reede von Piräus glich einem aufgestörten Ameisenhaufen. Auf drei, vier Schiffen enterten Männer die Wanten hinauf, um die Segel fallen zu lassen. Mehrere Kaikis und kleinere Boote strebten zum Hafen. An Land donnerten Geschütze und ballerten Kugeln sinnlos ins Wasser. »Wir sollten uns bei dem Mister aus Venedig bedanken«, sagte Ben Brighton grinsend. »Auf diese Weise können wir unbehelligt von hier verschwinden.« Hasard nickte. Es hätte wirklich haarig werden können. Vor allem hatte die ›Isabella‹ noch immer keinen neuen Besanmast und würde nicht einmal einem Kaiki davonsegeln können. »Kurs Westsüdwest, Pete«, sagte Hasard, als Piräus und die
Insel Salamis hinter ihnen lagen und sie wieder offenes Meer vor sich hatten. »Aber du solltest dich wirklich wieder ablösen lassen. Ich habe dir doch gesagt, du hast dienstfrei, bis der gebrochene Arm wieder heil ist.« »Dienstfrei auf diesem Schiff?« fragte Pete grinsend und wuchtete mit der linken Hand das Rad herum. »Das möchte ich wirklich mal erleben.« * Kapitän James Bradley von der Galeone ›Harkness‹ runzelte ärgerlich die Stirn. Dieses widerliche Kindergeschrei! Es tat ihm längst leid, daß er sich dazu bereit erklärt hatte, diese Männer und die zwei Kinder mit nach Syrien zu nehmen. Er hatte sich auch anfangs weigern wollen. Erst war dieser unangenehme Burton bei ihm erschienen und hatte ihm gesagt, er solle einen Feind der Königin nach England bringen. Acht Stunden später waren drei Männer mit einem Gefangenen und zwei Kindern an Bord erschienen und hatten ihn fast gezwungen, sofort auszulaufen. Reichlich merkwürdig, die ganze Sache. Aber immerhin hatte sich einer der Männer als Friedensrichter von Falmouth ausgewiesen, und Samuel Stark, den britischen Vertreter in Athen, hatte er bei einer seiner früheren Reisen kennengelernt. Zwei Männer mit Autorität also, und vor Autorität hatte sich ein Kapitän Ihrer Majestät zu beugen. Die ›Harkness‹ war zwar offiziell kein Kriegsschiff, hatte aber eine starke Bestückung, und alle Mitglieder der Besatzung bildeten so etwas wie einen Kern der künftigen Marine Ihrer Majestät. Kapitän Bradley fuhr in geheimer Mission, und sie war vielleicht wichtiger als die Kaperschiffe, die den spanischen Seeweg zur Neuen Welt verunsicherten. Die Admiralität hatte zuverlässige Informationen, daß die
Spanier eine riesige Flotte bauten, um die britische Seemacht für alle Zeiten zu zerschlagen. Also mußte England ebenfalls rüsten, um den Spaniern gewachsen zu sein. Die Folge dieses Wettrüstens aber war, daß in England, und auch auf dem Kontinent, abgelagertes Eichenholz für den Schiffsbau schwer aufzutreiben war. Die ›Harkness‹ und zwei andere Galeonen mit breiten Rümpfen und riesigen Frachträumen pendelten seit über einem Jahr ständig zwischen Porthmouth und der Levante und schafften hartes Zedernholz aus dem Libanon-Gebirge nach England. Das Weinen des Kindes ging ihm auf die Nerven. Er sprang auf und riß die Tür seiner Kammer auf. »Mister Keymis!« Die Tür der gegenüberliegenden Kammer wurde geöffnet. Baldwin Keymis steckte den Kopf heraus. »Kapitän Bradley?« »Können Sie nicht das Kind ruhighalten?« sagte Bradley ärgerlich. »Es ist schon genug, daß Sie zwei Kammern beanspruchen und meine Offiziere im Frachtraum schlafen müssen!« »Sie wissen, daß ich im Auftrag der Königin handle«, sagte Keymis mit arrogant näselnder Stimme. »Ihre Leute können die kleine Unbequemlichkeit ruhig auf sich nehmen, wenn es um die Interessen der Krone geht.« Kapitän Bradley starrte einen Moment wütend in das blasse Gesicht mit dem grauen Ziegenbart, dann schlug er wortlos seine Kammertür zu. Baldwin Keymis grinste überlegen, als er in das Quartier zurücktrat, das er sich mit Stark und Burton teilte. »Sie sollten wirklich dafür sorgen, daß dieses verdammte Quäken aufhört«, sagte Stark, der ausgestreckt auf der Koje lag und an die Decke starrte. »Wir müssen den Kapitän bei Laune halten. Und mir geht es auch allmählich auf die Nerven.« »Dann gehen Sie doch selbst.« Stark wandte den Kopf und grinste. »Sie stehen gerade,
Mister Keymis.« Keymis starrte den anderen wütend an. Es reute ihn schon jetzt, Stark hereingenommen zu haben. Aber irgendwann würde er ihn schon wieder loswerden, sobald er ihn nicht mehr brauchte. »Na schön.« Nur nicht anmerken lassen, wie sehr dieser aalglatte Kerl ihm zuwider war. »Ich wollte mir sowieso gerade etwas die Beine vertreten.« Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, richtete Samuel Stark sich auf und blickte Burton an, der an dem winzigen Klapptisch an der Schmalseite der Kammer saß. »So muß man mit ihm reden«, sagte er, und sein krankhaft bleiches Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. »Sie haben sich immer zuviel gefallen lassen, Burton. Für Keymis sind Sie doch nur ein Fußabtreter, den er wegwirft, sobald er ihn nicht mehr braucht.« Henry Isaak Burton blickte ihn mißtrauisch an. Was wollte Stark von ihm? Hatte er ihm seinen Haß auf Keymis angemerkt? »Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, murmelte er ausweichend. »Dann will ich es Ihnen deutlicher sagen.« Samuel Stark schwang die Beine von der Koje und trat auf Burton zu. »Keymis hat mir gestern offen angeboten, an Ihrer Stelle sein Kompagnon bei diesem Geschäft zu werden.« »Das ist doch ...« Burton brach ab und starrte Samuel Stark entgeistert an. Samuel Stark trat auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Natürlich denke ich nicht daran, mich für so eine Gemeinheit herzugeben, Burton. Deshalb habe ich Ihnen auch eben gesagt, was los ist. Ich möchte nicht, daß Sie in ein offenes Messer laufen, verstehen Sie.« Burton wuchtete seinen massigen Körper hoch. »Ich werde diesen hinterhältigen Schuft sofort zur Rede stellen.« »Das werden Sie nicht tun, Mister Burton.« Stark drückte ihn
wieder auf den Stuhl. »Im Gegenteil, Sie werden von jetzt an besonders freundlich und nett zu Keymis sein. Wir müssen auf die richtige Gelegenheit warten!« * »Das Kind hat Fieber«, sagte Dr. Freemont scharf, als Keymis ihm befohlen hatte, den schreienden Philip zu beruhigen. »Und warum hat es Fieber? Sie sind schließlich Arzt.« »Deshalb«, sagte Dr. Freemont scharf und riß die Decke herunter, mit der die Zwillinge zugedeckt waren. Keymis starrte auf die Tätowierungen, die er bei den beiden vorgenommen hatte, bei Philip auf dem linken Schulterblatt, bei Hasard auf dem rechten. Und bei Philip, der schrie, hatten sich die Einstiche entzündet. »Na und? Bin ich etwa daran schuld? Sie haben mich gezwungen, die Bengels zu kennzeichnen, damit Sie mir nicht noch einmal andere unterschieben können.« »Ihre Logik ist bewundernswert«, erwiderte Dr. Freemont sarkastisch. Er war völlig erschöpft, erkannte Keymis. Wahrscheinlich hatte ihn der lange Fußmarsch nach Piräus bis ans Ende seiner Kraft gebracht. »Das Opfer ist schuld, und nicht der Mörder.« Er setzte sich auf den Kojenrand und legte dem kleinen Philip die Hand auf die heiße Stirn. Die Berührung schien das Kind zu beruhigen, das Weinen hörte auf. Keymis strich über seinen dünnen, grauen Ziegenbart und blickte den Arzt überlegend an. »Was halten Sie eigentlich von Mister Stark«, sagte er dann. Dr. Freemont blickte auf. »Genausowenig wie von Ihnen.« Keymis lächelte ironisch. »Ich kann Ihre Abneigung verstehen, Doktor. Aber mit Gefühlen gelangt man nicht weit.« Dr. Freemonts Augen wurden wachsam. »Was wollen Sie
von mir, Keymis?« »Ich möchte Ihnen ein Geschäft vorschlagen.« Er vollführte eine abwehrende Bewegung. »Nein, sagen Sie nichts. Hören Sie mich erst zu Ende an.« Er trat so nahe an Dr. Freemont heran, daß dem die körperliche Nähe unangenehm wurde. »Solange ich etwas zu bestimmen habe, wissen Sie zumindest, daß den beiden nichts passiert. Ich habe ein Interesse daran, Killigrews Kinder am Leben zu erhalten. Sonst hätte ich Sie schließlich nicht mitgeschleppt, nicht wahr?« Dr. Freemont blickte ihn mißtrauisch an. Auf was wollte er hinaus? »Stark ist ein Hochstapler und Betrüger und Burton ein unberechenbarer Idiot, dem jederzeit die Nerven durchgehen können. Habe ich mich klar ausgedrückt?« Dr. Freemont nickte. An sich hatte Keymis recht. »Und welche Folgerungen soll ich daraus ziehen?« Keymis grinste zufrieden. Jetzt hatte er ihn da, wo er ihn haben wollte. »Stark hat sich mir aufgedrängt«, erklärte er, »und in Athen hatte er alle Trümpfe in der Hand. Aber irgendwann werde ich ihn wieder abservieren. Und dazu brauche ich Hilfe.« »Warum sagen Sie das nicht Burton?« Keymis zögerte eine Sekunde. »Weil ich den auch loswerden will. Die Gründe dafür habe ich Ihnen genannt. Er ist zu unberechenbar.« Und weil er die Hälfte der Beute verlangt, wußte Dr. Freemont. »Reden Sie weiter, Keymis. Was haben Sie vor?« Es konnte nicht schaden, zum Schein auf Keymis Vorschlag einzugehen. Vielleicht ergab sich dabei eine Gelegenheit zur Flucht. »Bis jetzt waren mir die Hände gebunden«, erklärte Keymis mit leiser Stimme. »In Spanien hatte Burton die Oberhand, weil er Agent der Dons gewesen ist und einflußreiche Leute kannte, in Athen war es Stark. In Syrien sind beide völlig
fremd.« »Aber Sie auch, nicht wahr?« sagte Dr. Freemont. Keymis beantwortete die Frage nicht. »Ich werde irgendeine Gelegenheit finden, um die beiden über den Jordan zu schicken. Sind Sie dabei, Dr. Freemont?« Keymis konnte nicht wissen, daß im selben Augenblick Samuel Stark genau die gleiche Frage an Henry Isaak Burton richtete. 9. Der Sturm fiel über die ›Isabella‹ her, als die Gebirgskämme der Insel Kreta über der Kimm auftauchten. Der alte Donegal Daniel O’Flynn wußte als erster, daß es ein Unwetter geben würde. Er hockte am Schanzkleid der Backbordseite und spleißte ein zerrissenes Tau zusammen. Als Hasard auf dem Weg nach achtern vorbeiging, blickte er auf und sagte: »Ich glaube, heute gibt es noch ein bißchen Wind, Hasard.« »Könnten wir gebrauchen, Donegal. Ohne Besanmast laufen wir nicht genug Fahrt, um die ›Harkness‹ einzuholen.« »Vielleicht gibt es mehr Wind, als dir lieb ist«, meinte der alte O’Flynn. »Ich sage, es gibt einen gewaltigen Sturm.« Hasard blickte nach oben. Die leichte Ostbrise war kaum stark genug, um die Segel zu füllen, und nicht eine Wolke stand am strahlendblauen Himmel. »Ich glaube, du irrst dich, Donegal«, sagte er zu dem grauhaarigen Mann, dem Vater Dans und Gwens. »Ich könnte mich irren«, gab Donegal zu, »aber mein Stumpen hat sich noch nie täuschen lassen.« Er klopfte auf die Beinprothese. »Wenn es da zieht und sticht, gibt es ein Unwetter.« Hoffentlich hat er recht, überlegte Hasard, als er weiterging.
Bei diesem flauen Wind krochen sie vorwärts wie eine Schnecke. Ferris Tucker hatte versucht, aus dem zerschossenen Besanmast einen neuen herzustellen, aber er war zu kurz, und sie hatten nur ein kleines Sturmsegel aufziehen können. In Saida würde er sich einen kräftigen Zedernstamm besorgen und einen neuen Mast zimmern. Aber bis dahin waren es noch fast vierundzwanzig Stunden, bei dem Wind. »Wenn es nicht bald auffrischt, sind sie einen halben Tag vor uns da«, sagte Ben Brighton, als ob er Hasards Gedanken erraten hätte. »Und dann können sie wieder spurlos untertauchen.« »Donegals Restbein sagt Sturm voraus«, antwortete Hasard, »und der könnte uns retten.« Ben nickte. Ein Unwetter würde das Handicap der ›Isabella‹ ausgleichen. Dann müßte auch die ›Harkness‹ einen großen Teil ihrer Segel reffen und das fehlende Besansegel der ›Isabella‹ fiel nicht mehr ins Gewicht. Aber der Himmel sah überhaupt nicht nach Sturm aus, stellte er fest. »Ich fürchte, Donegals Bein irrt sich, Hasard. Du kannst dich doch an die Stürme bei den Cap Verden und in der Karibik erinnern. Da war der Himmel schon Stunden vorher schwarz.« »Das war im Atlantik, Ben«, erinnerte ihn Hasard. »Das östliche Mittelmeer kennen wir nicht. Warten wir ab, wer recht hat, deine Erfahrung oder Donegals Bein.« Das Bein behielt recht. Eine halbe Stunde später wurde es unerträglich schwül. Die Berge Kretas flirrten in einem plötzlich aufkommenden Dunst, der aus dem Meer aufzusteigen schien. Und dann erstarb der Wind. Die Segel killten, und die See wurde bleiern. »Sieh mal, dort an Steuerbord.« Ben Brighton deutete mit der Hand nach Südwesten. Eine dunkle Wolkenwand schob sich über die Kimm, und dazwischen war der Himmel schwefelgelb. Hasard zog das Fernrohr aus und starrte auf die schnell sich
nähernde Wolkenwand. Wie wallende Schleier wogte das Gelb zwischen den Wolken. »Sand«, sagte Hasard leise. »Ein Sandsturm aus der Sahara.« »Dann weiß das Bein Old O’Flynns also doch mehr als ich«, sagte Ben Brighton und ging zum Niedergang. »Am besten, wir lassen gleich Sturmsegel setzen, solange die Männer noch nicht aus den Wanten geblasen werden.« »Nein.« Hasard hielt ihn zurück. »Das Zeug bleibt stehen. Du läßt nur die Blinde und die Topsegel einholen.« »Aber ...« Ben Brighton wollte ihm sagen, daß der Sturm das Tuch zerreißen oder die Masten umknicken konnte, doch dann wußte er, daß sie das und noch mehr riskieren mußten, wenn sie den Vorsprung der ›Harkness‹ einholen wollten. »In Ordnung, Hasard.« Der Sturm fiel über die ›Isabella‹ her wie ein wildes, reißendes Tier. Knallend blähten sich die Segel, und das Schiff legte sich hart nach Backbord. »Fünf Strich Backbord!« rief Ben Brighton dem Rudergänger zu. Stenmark klammerte sich am Rad fest, um nicht von den Füßen gerissen zu werden. »Gut so«, sagte Hasard anerkennend. »Jetzt haben wir den Sturm voll von achtern.« Er mußte schreien, um sich gegen das Heulen des Orkans verständlich zu machen. Der feine Wüstensand peitschte ihm ins Gesicht, drang in Nase und Mund und verklebte ihm die Augen. Die ersten Wogen trafen das Schiff, gischteten über das Deck und drückten den Bug tief in die See. Ein unterdrückter Schrei gellte durch das Toben der Elemente. Hasard sah den Kutscher auf der Schaumkrone einer Welle über das Deck segeln. Er war sicher, daß der Mann über Bord gespült werden würde. Aber in dem Augenblick hob sich der Bug wieder, und die Welle knallte den Kutscher gegen das Bugkastell. Carberry und Luke Morgan stürzten sofort auf ihn zu, packten ihn und schleppten ihn zum Logis. Bevor sie das
Schott hinter sich zudrücken konnten, war die nächste Welle heran und schwemmte sie hinein. »Hasard!« Hasard hörte den Ruf kaum. Er wandte sich um und sah, daß Stenmark am Ende seiner Kraft war. Wie alle anderen hatte er genug damit zu tun, auf den Beinen zu bleiben. Dabei mußte er aber auch noch das schlagende Rad festhalten. »Ich schaff’s nicht allein!« schrie er. »Ich brauche einen zweiten Mann!« Ben Brighton taumelte über das wild schwankende Deck auf ihn zu und packte das Rad. Eine riesige Welle rollte von achtern auf die ›Isabella‹ zu, knallte gegen das Heck und gischtete über das Achterdeck. Hasard hörte Glas klirren, als die Heckfenster zu Bruch gingen, dann wurde er von Seewasser und Gischt fast von den Füßen gerissen. Mit beiden Händen krallte er sich an der Balustrade fest. Als er sich aufrichtete und das Seewasser aus seinem Gesicht wischte, sah er auf dem Hauptdeck einen Mann, der durchnäßt und halb benommen an den Strecktauen hing. »He!« Der Mann hob den Kopf, und Hasard erkannte Carberry. »Verschwinde unter Deck!« schrie Hasard ihm zu. »Ich will keinen von euch hier oben sehen, verstanden?« Carberry antwortete nicht, weil gerade wieder eine Welle über Deck rollte. Als die Wassermassen abgeflossen waren, zog sich Carberry am Strecktau in Richtung Bug. Aber er mußte noch einmal tauchen, bevor er das Schott zum Vorschiff erreichte. Hasard hatte sich in der Ecke von Balustrade und Backbordschanzkleid mit Armen und Beinen fest verkeilt, um nicht von den Wogen fortgeschwemmt zu werden. Das Wasser rauschte an der Bordwand vorbei. Hasard hatte das Gefühl, daß die ›Isabella‹ noch nie so rasant gesegelt war wie heute. Er hob
den Kopf, und als die nächste Gischtwelle über ihn hinweggebrandet war, blickte er in die Segel. Sie standen prall, und das Leinen war bis zur Grenze der Beanspruchung gedehnt. Aber sie hielten. Sie mußten, dachte er fast beschwörend. Genau wie die beiden Masten, die unter dem Druck der Segel wie Ruten bugwärts gekrümmt waren. Wieder gischtete eine Welle über das Achterdeck. Hasard krallte sich fest, um nicht mitgerissen zu werden und zog den Kopf zwischen die Schultern. Als er sich wieder aufrichtete und das Salzwasser aus seinen Augen wischte, sah er direkt vor dem Bug einen dunklen Schatten in der nebelartigen Brühe aus Gischt und fliegendem Sand. »Ben!« schrie er. Aber er wußte, daß es zu spät war. Bei dem Orkan würde das Schiff dem Ruder nicht schnell genug gehorchen. Und dann war die nächste Welle heran und preßte ihn gegen die Balustrade. Hasard duckte sich nicht ab und schloß auch nicht die Augen. Während er unter Wasser war, hörte er ein berstendes Krachen. Ein leichter Stoß ließ die Planken der ›Isabella‹ erzittern. Sein Kopf tauchte aus der Gischt, und er starrte auf das Wrack einer Karacke, die knapp drei Yards an Steuerbord vorbeitrieb. Ihre Masten waren dicht über dem Deck abrasiert und schleppten im Wasser. Anscheinend hatte die ›Isabella‹ einen davon gerammt. Wie ein Schemen verschwand das todgeweihte Schiff achteraus. Der Orkan tobte bis kurz nach Mitternacht und erstarb genauso plötzlich, wie er ausgebrochen war. Innerhalb weniger Minuten verwandelte er sich in einen sanften Südwestwind, Sterne brachen durch die Wolken, und dann war auch der Mond wieder da und ergoß sein milchiges Licht auf die hochgehenden Wogen. Das letzte Wasser floß durch die Speigatten ab, und plötzlich war wieder Leben auf dem Deck.
»Rohre entladen und neues Pulver rein!« hörte Hasard die Stimme Al Conroys rufen. »Das Zeug ist völlig naß geworden.« Seestiefel trampelten den Niedergang herauf. Luke Morgan und Jeff Bowie schleppten einen kleinen Pulversack auf das Achterdeck, um auch die Drehbassen wieder feuerbereit zu machen. Blacky kam herauf, um Stenmark und Ben Brighton abzulösen, die über acht Stunden am Ruder gestanden hatten. »Haut euch in die Falle«, sagte Hasard, als sie zu Tode erschöpft zum Niedergang stolperten. Ben Brighton blieb stehen und wollte ihm antworten, winkte dann aber nur ab. Er war zu müde, um den Mund auf zutun. »Willst du nicht auch runtergehen, Hasard?« Dan O’Flynn stellte sich neben ihn an die Balustrade. »Du hast Ruhe genauso nötig wie die anderen.« Als Hasard widersprechen wollte, sagte er drängend: »Nun hau schon ab. Ich bleibe an Deck, bis du wieder hochkommst.« »In Ordnung.« Jetzt erst spürte Hasard, wie todmüde er war. »Aber laß wieder alles Zeug setzen, was die Masten tragen können.« »Auch sämtliche Bettücher«, sagte Dan grinsend. »Nun hau endlich ab.« Hasard stieg den Niedergang hinunter, und er spürte, wie seine Beinmuskeln vor Erschöpfung zitterten. In dem schmalen Gang der Quartiere stand eine Handbreit Seewasser, und als er seine Kammertür öffnete, ergoß sich ein Schwall über seine Füße. Durch das eingedrückte Fenster fiel helles Mondlicht in die Kammer und zeigte ihm ein Bild der Verwüstung. Die Wucht der Wellen hatte den kleinen Tisch losgerissen und umgeworfen. Papiere, Seekarten und anderes Zeug trieb durchweicht in der dunklen Brühe, die den Boden bedeckte. Das Bettzeug war aus der Koje gerissen worden und klebte völlig durchnäßt in einer Ecke. Hasard starrte auf die Verwüstung und überlegte, ob er
wieder auf das Achterdeck gehen sollte. Aber der Gedanke, die zwölf Stufen des steilen Niedergangs hinaufklettern zu müssen, ließ ihn schaudern. Er ließ sich auf die harten Bretter der Koje fallen, und bevor er sich ausstreckte, war er eingeschlafen. * »Schiff voraus!« Luke Morgan beugte sich aus dem Großmars und deutete mit ausgestrecktem Arm nach Osten. Es war gegen zwei Uhr nachmittags. Der Himmel war strahlend blau. Nur die kabbelige See erinnerte noch an den Sturm der vergangenen Nacht, und der feine, gelbliche Sand, den er durch alle Ritzen in Kammern und Räume der ›Isabella‹ gepreßt hatte. Hasard blickte durch das Fernrohr. Ja, es war eine Galeone, erkannte er. Wahrscheinlich die ›Harkness‹. So viele große Schiffe liefen die Levante-Küsten nicht an, und vor allem nicht einen so winzigen Hafen wie Saida. »Na also«, sagte Ben Brighton befriedigt. »Dann haben wir sie ja doch noch erwischt. Ich begreife nur nicht, warum wir auch nach dem Sturm noch aufgeholt haben.« »Dann sieh mal genauer hin.« Hasard drückte ihm das Fernrohr in die Hand. An Groß und Besanmast der Galeone waren nur Notsegel aufgezogen, und ein Teil der Backbordwanten hing über die Bordwand. »Es lebe das Bein vom alten Donegal«, sagte Ben grinsend, als er Hasard das Glas zurückreichte. »Meinst du, daß wir sie noch vor der Küste erwischen?« Hasard schüttelte zweifelnd den Kopf. Über der Kimm waren schon ockerbraune, kahle Bergrücken zu sehen. Die Südausläufer des Libanon. »Nein, Ben, dazu wird es wahrscheinlich nicht mehr reichen. Aber entwischen werden sie uns nicht mehr. Diesmal nicht!«
10.
Genau das aber hoffte Keymis doch zu erreichen, und er war überzeugt, daß er auch diesmal gewinnen würde, wenn er nur seine Karten richtig ausspielte. Vielleicht würde ihm der verdammte Killigrew sogar dabei behilflich sein, Stark und Burton loszuwerden. Kapitän Bradley stand an der Heckreling und starrte wieder durch das Fernrohr zu der Galeone mit den überlangen Masten hinüber, die langsam aufschloß. An diesen Masten hatte Keymis auch erkannt, daß es die ›Isabella‹ war, die ihnen folgte. Er wandte den Kopf und blickte zur Küste. Die Sonne stand tief über den kahlen Bergketten, die im letzten Tageslicht wie scharfgeschnittene Silhouetten wirkten. Vor ihnen lagen weiße Tupfen: Die Häuser der kleinen Stadt Saida. Noch drei, vier Meilen entfernt, schätzte Keymis. Die Entfernung zur ›Isabella‹ betrug höchstens die Hälfte. »Mister Bellamy!« hörte er Kapitän Bradley rufen. »Lassen Sie Gefechtsbereitschaft geben!« Kommandos hallten über das Deck. Männer stürzten zu den Langrohrkanonen, rissen die Segeltuchplanen herunter und begannen, die Rohre zu laden. Langsam stieg Baldwin Keymis den Niedergang hinunter und trat ans Schanzkleid der Backbordseite. Er mußte überlegen, wie er aus dieser Situation den größtmöglichen Nutzen ziehen konnte. Drei dunkle Schatten glitten etwa zehn Yards entfernt durch das Wasser, und Keymis zuckte unwillkürlich zurück. Haie? Sie stießen zur Oberfläche vor, schnellten heraus und tauchten elegant wie ein Wasserballett wieder in die Wogen: Delphine, die neben dem Schiff spielten.
Keymis stieß einen leisen Fluch aus. Wenn er nur über diese fast hysterische Angst hinwegkommen könnte. Aber seit er einmal unter dem Kiel der ›Isabella‹ von mehreren Haien angefallen und fast getötet worden war, beherrschte ihn eine panische Angst vor diesen Bestien. »Keymis.« Samuel Stark trat auf ihn zu. Er sah noch blasser aus als sonst, und seine Kleidung war verdreckt und zerdrückt. Der Sturm der letzten Nacht hatte ihn besonders mitgenommen, weil er seekrank geworden war. »Was ist?« Keymis wandte sich zu ihm um. »Killigrew dürfte gleichzeitig oder kurz nach uns in Saida sein«, sagte Stark und fummelte nervös an seinen abgekauten Nägeln herum. »Irgendwelche Pläne?« »Vielleicht«, sagte Keymis ausweichend. Er war mit seinen Überlegungen noch nicht zu Ende gekommen. »Ich hätte einen Vorschlag.« Die wässerigen Augen blickten Keymis sekundenlang an. »Ich höre«, sagte Keymis und lehnte sich mit dem Rücken an das Schanzkleid. »Ich bin der Meinung, wir sollten uns sofort nach der Landung trennen«, sagte Stark. »Wenn wir zusammenbleiben, erleichtern wir es den Verfolgern. Wenn sie ihre Kräfte zersplittern müssen ...« Keymis unterdrückte ein triumphierendes Grinsen. Jetzt lieferte dieser Stark ihm auch noch den Tip für den eigenen Untergang. »Und wie stellen Sie sich das vor?« »Ich dachte, Burton nimmt eins der Kinder, ich das andere, und Sie passen auf den Doktor auf.« Er blickte Keymis verstohlen an. So also hast du dir das gedacht. Ihr haut mit den Gören ab, und ich habe nur den alten Freemont, den ihr sowieso loswerden wollt. »Gut, einverstanden«, sagte er. Samuel Stark starrte ihn verblüfft an. So einfach hatte er sich
die Sache nicht vorgestellt. »In Ordnung. Also hören Sie zu, wie wir es machen werden.« Keymis ließ ihn reden. Und während Stark sprach, entwickelte sein Gehirn den eigenen Plan. Nachdem er Stark wieder losgeworden war, ging er ins Quartier und schloß die Tür zu Dr. Freemonts Kammer auf. Er blieb stehen, um seine Augen an das Zwielicht zu gewöhnen. »Wie geht es Philip?« fragte er dann und warf einen raschen Blick auf die Koje. Die beiden Kinder waren mit einer Decke zugedeckt und nur ein vager Schatten bei dem ersterbenden Tageslicht. Wahrscheinlich schliefen sie. Jedenfalls waren sie ruhig. »Das Fieber ist so gut wie überstanden«, sagte Dr. Freemont kühl. »Aber Sie sind sicher nicht erschienen, um sich nach den Kindern zu erkundigen.« »Warum nicht? Ich erwarte schließlich noch eine Menge von den Kleinen.« Keymis setzte sich auf den Stuhl. »Aber im Ernst, es gibt tatsächlich einen anderen Grund.« Er schwieg einen Moment. »Die ›Isabella‹ ist uns dicht auf den Fersen.« Dr. Freemont starrte Keymis an und spürte, wie sein Puls rascher schlug. »Der Seewolf?« »Es besteht kein Grund, sich darüber zu freuen, Freemont, weder für uns noch für Sie.« Der Arzt erhob sich langsam. »Was haben Sie vor?« Keymis grinste. »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß wir zusammenhalten sollten, Freemont.« Er blickte dem Arzt in die Augen. »Wenn Sie tun, was ich Ihnen sage, passiert den Kindern nichts. Wenn nicht ...« Er zuckte mit den Schultern. »Sie wissen ja selbst, wie leicht jemand bei einem Kampf eine Kugel fangen kann, und hinterher weiß niemand, aus welchem Lauf sie abgefeuert worden ist. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?« »Sie widerlicher Erpresser!« Dr. Freemont biß sich auf die
Lippen, als das Wort heraus war. Gegenüber Keymis fiel es ihm schwer, sich zu beherrschen. Aber er mußte sich zusammennehmen, er mußte Keymis in Sicherheit wiegen. Vielleicht gab es dann irgendeine Chance. »Erpresser?« fragte Keymis gedehnt. »Es gibt leider Menschen, die man zu Ihrem Glück zwingen muß, und ich dachte, daß wir uns richtig verstanden hätten.« »Ich muß mich entschuldigen«, sagte Dr. Freemont rasch, ließ sich wieder auf den Stuhl fallen und stützte das Gesicht in die Hände. »Es war etwas viel in den letzten Tagen und dann noch dieser Sturm.« Keymis grinste zufrieden. Na also, dachte er. Jeder Mensch spurt früher oder später. Man muß ihn nur richtig anpacken. »Die beiden wollen mit den Kindern untertauchen und uns beide auf dem Trockenen sitzenlassen«, sagte er leise. »Und sie glauben wirklich, daß ich mich von den Kindern trennen lasse?« »Das soll ich für die beiden erledigen«, sagte Keymis. » Stark will Sie und die Kinder an Land schaffen, sobald wir festgemacht haben. Dann soll ich Sie irgendwohin verschleppen, um die Verfolger von Stark und Burton abzulenken.« Dr. Freemont lachte trocken. »Und darauf fallen Sie herein, Keymis? Merken Sie denn nicht, daß die beiden Sie opfern wollen?« Verdammt, das hätte er auch nicht sagen sollen! Er war einfach zu erschöpft, um richtig aufzupassen. Dieser Stark wollte also auch Alleinherrscher werden, erkannte er. Wenn er jetzt einen Fehler beging waren die Kinder und er die Opfer, die zwischen den Fronten auf der Strecke blieben. »Halten Sie mich wirklich für so dumm, daß ich denen auf den Leim gehe?« Keymis war jetzt für das Dunkel dankbar. So brauchte er sein überlegenes Grinsen nicht zu verstecken. »Ich habe bereits einen eigenen Plan und werde den Spieß
umdrehen, Dr. Freemont.« »Und wie wollen Sie das machen?« Er mußte wissen, was Keymis vorhatte, um danach seine eigenen Pläne richten zu können. »Ganz einfach, Freemont. Sobald wir an Land sind, werde ich sofort ...« Ein dumpfes Dröhnen riß seinen Satz auseinander. Ein Kanonenschuß, erkannte Keymis. Aber nicht von der ›Harkness‹, sondern von der ›Isabella‹. Wahrscheinlich ein Warnschuß, um das Schiff zum Beidrehen aufzufordern. »Verdammter Mist!« zischte er wütend. Wenn Bradley wirklich stoppte, waren sie alle geliefert. Dann würden sie in ein paar Stunden nebeneinander an den Rahen der ›Isabella‹ baumeln. Er lief zur Tür. »Moment, Keymis!« rief Dr. Freemont hinter ihm her. »Was wollten Sie sofort ...« Die Tür knallte ins Schloß. Keymis hatte es so eilig, daß er nicht einmal abschloß. Dr. Freemont stand auf und tastete sich durch den jetzt fast völlig dunklen Raum zur Tür. Er lauschte ein paar Sekunden, die Hand auf der Klinke, dann drückte er sie nach unten. Die Tür war wirklich nicht abgeschlossen. Baldwyn Keymis stürzte an Deck, lief zum Schanzkleid und starrte achteraus. Die ›Isabella‹ lag nur noch fünf oder sechshundert Yards achteraus, ein gespenstischer, drohender Schatten im letzten Glühen des Abendrots. Wieder krachte ein Schuß. Keymis sah das Aufblitzen auf dem Vordeck der ›Isabella‹. Den Einschlag der Kugel konnte er in dem kaum noch vorhandenen Licht gerade noch erkennen. Gut zweihundert Yards hinter dem Heck der ›Harkness‹ sprang eine kleine Fontäne aus dem Wasser. Hasard ließ absichtlich so kurz feuern, damit der Kapitän der ›Harkness‹ wußte, daß er keine feindlichen Absichten hatte, sondern nur mit ihm reden wollte. »Mister Bellamy!« rief Kapitän James Bradley vom
Achterdeck. »Sir?« Der junge Bootsmann trat auf den Niedergang zu. Kapitän Bradley starrte wieder durch das Glas zu dem Schiff, das die ›Harkness‹ verfolgte. »Der scheint irgend etwas von uns zu wollen, Mister Bellamy. Lassen Sie beidrehen.« Der Bootsmann blickte zweifelnd zum Achterdeck hinauf. »Mit Ihrer Erlaubnis, Sir: Ich traue dem Burschen nicht. Wenn er etwas von uns will, könnte er doch warten, bis wir festgemacht haben. In einer halben Stunde sind wir im Hafen und ...« Wieder krachte eine Drehbasse der ›Isabella‹, und dieses Mal hörten sie die Kugel hinter dem Heck der ›Harkness‹ ins Wasser klatschen. »Er setzt die Flagge, Sir!« rief der Ausguck aus dem Großmars. Kapitän Bradley wandte sich um und starrte durch das Fernrohr. Das andere Schiff hatte Lichter gesetzt, und außerdem brannten zwei riesige Fackeln am Oberdeck, gleich hinter dem Großmast, und ihr Schein fiel auf das Tuch, das jetzt langsam gehißt wurde. »Die britische Flagge!« rief der Ausguck. »Es ist ein Brite!« »Das sehe ich auch«, knurrte Bradley zufrieden. Er wandte sich wieder dem Bootsmann zu. »Sie sind zu mißtrauisch, Mister Bellamy. Wahrscheinlich hat er einen Kurier mit einer Nachricht für uns an Bord.« Er warf einen Blick auf die Notbesegelung und die zerfetzten Wanten. »Und weglaufen könnten wir ihm ohnehin nicht. Also lassen Sie beidrehen, Mister Bellamy.« »Beidrehen. Aye, aye, Sir.« Er machte auf dem Absatz kehrt und rief seine Befehle über Deck. Baldwyn Keymis, der dem Dialog zwischen Bellamy und dem Kapitän aufmerksam gefolgt war, stieß einen leisen Fluch aus. Die Korrektheit dieses Bradley konnte ihm das ganze
Konzept verderben. Er eilte den Niedergang hinauf zum Achterdeck. »Kapitän Bradley!« »Was wollen Sie denn hier!« herrschte ihn der Kapitän unwillig an. »Sie sehen doch, daß wir zu tun haben. Dieses Schiff will etwas von uns.« »Deswegen bin ich ja hier. Kapitän. Ich kenne die Galeone. Es ist die ›Isabella‹, und sie gehört einem der gefährlichsten Piraten, einem Feind Englands. Die Königin hat einen Haftbefehl gegen Philip Hasard Killigrew erlassen. Sie dürfen auf keinen Fall beidrehen!« »Killigrew - Killigrew«, murmelte Kapitän Bradley. »Irgendwo habe ich den Namen doch schon mal gehört.« »An die Brassen!« dröhnte die Stimme des Bootsmanns über das Deck. Kapitän Bradley starrte nachdenklich zu dem anderen Schiff hinüber. Das Deck und der untere Teil der Masten wurde von den Deckälampen erleuchtet, und noch immer brannten die Fackeln hinter dem Großmast. »Es wäre Selbstmord, sich diesem Mann auszuliefern!« rief Keymis drängend. Kapitän Bradley schob nachdenklich die Unterlippe vor. Wenn alles stimmte, was dieser Keymis sagte, waren sie wirklich in einer verdammt unangenehmen Situation. Aber irgendwie zweifelte er daran. Dieser hohlwangige ziegenbärtige Keymis war ihm vom ersten Augenblick an widerlich gewesen. »Kapitän!« Keymis umklammerte Bradleys Arm. »Dieser Mann ist ein Feind der Krone! Es ist Ihre Pflicht, ihn in Eisen zu legen und nach England zurückzubringen!« Bradley schüttelte seine Hand unwillig ab. »Sie haben das vermutlich nicht geschafft«, sagte er ironisch. »Ich vermute, Killigrew ist der Feind der Krone, den ich in Ihrem Auftrag eigentlich in Piräus an Bord nehmen sollte.« Er blickte Keymis
mißtrauisch an. »Ich glaube, daß es Ihnen um ganz andere Dinge geht, als um die Interessen Ihrer Majestät. Wenn Sie mir nicht die Ernennungsurkunde des Lordkanzlers vorgewiesen hätten, würde ich Sie erst mal in Eisen legen lassen, bis diese ganze, undurchsichtige Angelegenheit wirklich geklärt ist.« Die Rahen schwangen herum und standen back. »Kapitän!« Keymis fühlte, daß sein Mund trocken wurde und Schweiß auf seine Stirn trat. »Sie sind im Begriff, den größten Fehler Ihrer ganzen Laufbahn zu begehen, und ich warne Sie!« »Mister Keymis«, unterbrach Bradley scharf. »Die Entscheidung darüber liegt nach wie vor bei mir und nicht bei Ihnen. Und im Gegensatz zu Ihnen bin ich auch bereit, für meine Fehler einzustehen!« Er wandte Keymis den Rücken zu. »Kapitän! Sir!« Wieder umklammerte Keymis beschwörend den Arm James Bradleys. »Dieser Mann ist ein Verbrecher, ein kaltblütiger Mörder! Wenn Sie jetzt nachgeben, wird er Sie umbringen und Ihr Schiff versenken.« »Verschwinden Sie vom Achterdeck, Mister Keymis!« James Bradley befreite sich mit einem wütenden Ruck von der klammernden Hand. »Wenn Sie nicht augenblicklich gehen, lasse ich Sie in Ihre Kammer einsperren!« Nur das nicht! dachte Keymis in panischer Angst. Nur nicht hilflos eingesperrt sein und darauf warten müssen, daß der Bastard an Bord kam, um Rache zu nehmen. Er wußte, daß er Bradley nicht mehr umstimmen konnte. Jetzt mußte er verdammt aufpassen. Sein schlauer Plan war schon im Eimer, stellte er sachlich fest, und wenn ihm nicht sofort etwas Neues einfiel, würde er nicht einmal seinen Hals retten. Aber was sollte er jetzt unternehmen? überlegte er, als er den Niedergang hinunterstieg. Er trat ans Schanzkleid und warf einen Blick zum felsigen Ufer, das für ihn die Rettung bedeutete. Nur noch eine gute Meile entfernt sah er die Lichter von Saida. Und rechts voraus schob sich eine Landzunge ins Meer, bis dahin war es nur
etwas über eine halbe Meile, schätzte er. Keine große Leistung für einen guten Schwimmer, wie er es war. Wenn nur die Haie nicht wären. Eine halbe Meile konnte verdammt lang werden, wenn man in jeder Sekunde fürchtete, unter sich einen dunklen Schatten herauf schießen zu sehen. Er warf einen Blick zurück zur ›Isabella‹. Sie würde noch eine Weile brauchen, um die ›Harkness‹ zu erreichen. Killigrew war etwas nach Backbord abgefallen, um außerhalb der Kanonenreichweite auf Parallelkurs zu gehen. Der verdammte Kerl hielt sich peinlich genau an die seemännische Etikette, erkannte Keymis. Er würde sich keine Blöße geben, die den Kapitän der ›Harkness‹ veranlassen konnte, seine Haltung zu ändern. »Na, haben wir Sorgen, Mister Keymis?« Keymis wandte sich um und blickte in das hämisch grinsende Gesicht Samuel Starks. »Sie etwa nicht?« fragte er. »Warum sollte ich? Ich hatte schließlich nichts mit der Entführung der Kinder zu tun. Und gegen mich hat Killigrew auch keinen persönlichen Grund zur Rache.« Keymis starrte ihn schweigend an. Abkassieren wollte dieser Bastard, aber wenn es ums Bezahlen ging, schob er die Rechnung anderen zu. »Sie hängen genauso mit drin wie Burton und ich, Stark.« »Meinen Sie?« Der andere hob die weißblonden, fast unsichtbaren Brauen. »Ich habe mich Ihnen lediglich angeschlossen, Keymis. Meinen Sie wirklich, ich hätte Sie nur aus einer Laune heraus losgeschickt, um mit Kapitän Bradley zu sprechen?« Wieder das überlegene Grinsen. »Sie haben sich als Friedensrichter legitimiert und verlangt, daß Killigrew mit diesem Schiff nach England geschafft wird. Sie haben die Kinder an Bord gebracht. Wie gesagt, ich habe mich Ihnen lediglich angeschlossen. Vielleicht würde ich sogar behaupten, daß Sie mich dazu überredet haben - oder sogar genötigt.«
Sein Grinsen wurde noch arroganter, und er entblößte seine gelblichen Zähne. »Eventuell spiele ich sogar den Kronzeugen. Und Sie als Friedensrichter wissen doch, daß ein Zeuge der Krone außer Strafverfolgung steht.« Er lachte trocken auf und ließ Keymis stehen. Fast körperlich spürte er die haßerfüllten Blicke des anderen in seinem Rücken, und sein selbstzufriedenes Grinsen verstärkte sich. Haß ist eine der stärksten menschlichen Emotionen und schwächt den Verstand. Und er wollte Keymis Verstand schwächen. Das war ein wesentlicher Teil seines Plans. Er mußte Keymis zu unüberlegten Handlungen bringen, wenn er über ihn siegen wollte. Keymis war ein verdammt schlauer und durchtriebener Bursche, den man auf keinen Fall unterschätzen durfte. Aber die Saat war gesät, und sie würde aufgehen und ihm reiche Ernte bringen. 11. Keymis riß die Tür auf, trat in den schmalen Gang und griff nach der Klinke, um in die Kammer zu gehen, die er mit Stark und Burton teilte. Er zögerte und starrte mit gerunzelter Stirn auf die kleinen Seewasserpfützen, die noch immer auf den Bodenplanken standen. Es waren die Reste des Wassers, das der Sturm der vergangenen Nacht hereingepeitscht hatte. Ein fauliger Geruch hing in der Luft. Langsam wandte er sich um und trat auf die Tür der gegenüberliegenden Kammer zu. Er zog den Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn ins Schloß. Er starrte verblüfft auf die Tür, als der Schlüssel sich nicht drehen ließ. Dann stieß er die Tür auf und stürzte in die Kammer. Leer! Ungläubig starrte er auf die Koje, auf der noch vor einer
Viertelstunde die beiden Kinder geschlafen hatten. Jetzt lagen nur noch ein paar Fetzen auf der zerwühlten Decke. Dieser verdammte Freemont war getürmt! Aber wie hatte er herauskommen können. Er hatte doch die Tür verschlossen! Hatte er nicht, fiel ihm plötzlich ein. In seiner Hast, an Deck zu kommen und mit Kapitän Bradley zu sprechen, hatte er völlig vergessen, die Tür hinter sich wieder abzuschließen. Er mußte sie wiederfinden! Die beiden Kinder waren jetzt seine einzige Garantie, der Rache Killigrews zu entkommen. Er wußte, wie sehr der Seewolf an den Zwillingen hing, und das war die schwache Stelle, die er ausnutzen mußte, wenn er wenigstens sein Leben retten wollte. Aber vielleicht konnte er damit sogar mehr retten. Eventuell würde es ihm Killigrew selbst ermöglichen, mit den Kindern zu entwischen - und Stark und Burton abzuhängen. Wenn Killigrew vor der Wahl stand, entweder seinen Rachegefühlen nachzugeben oder das Leben seiner Kinder zu retten, würde er sogar dafür sorgen, daß er und die Kinder heil an Land kamen. Keymis grinste zufrieden. Ja, das war es. Das war die Möglichkeit, nach der er gesucht hatte. Ein kluger Kopf zieht eben selbst aus dem Unglück noch Vorteile. Aber dazu mußte er vor allem die Kinder finden. Sie waren die Garanten seines Erfolges - und seines Überlebens. * Dr. Freemont hielt den Atem an, als er Keymis auf die Tür seiner Kammer zugehen hörte. Hoffentlich fiel den beiden Kindern nicht ausgerechnet jetzt ein, zu schreien. Fast beschwörend blickte er in die Gesichter der Zwillinge, die er fest an seine Brust gepreßt hielt. Als er die näher kommenden Schritte auf dem Deck gehört hatte, war er auf gut Glück in die nächste Tür getreten. In einen winzigen, fensterlosen Raum, in
dem es nach Tauwerk und Moder roch. Er hatte etwas zu lange gezögert, bevor er den Mut aufbrachte, die einmalige Gelegenheit zur Flucht zu benutzen. Die Mißerfolge der vergangenen Wochen hatten Dr. Freemont vorsichtig und mißtrauisch werden lassen. Und seine Lage war auch wirklich verdammt unsicher. Zuerst hatte er mit dem Gedanken gespielt, einfach zum Kapitän zu gehen und ihm die Wahrheit zu sagen. Aber dann hatte er es doch nicht getan. Er wußte ja nicht, was für Lügen Keymis und seine Kumpane dem Kapitän aufgetischt hatten. Immerhin war Keymis trotz allem der ehemalige Friedensrichter von Falmouth. Ihm und Stark würde man mehr Glauben schenken als ihm. Er hörte, wie die Kammertür wieder aufgestoßen und ins Schloß geworfen wurde. Dann trampelten eilige Schritte über das Deck. Trotz allem mußte Dr. Freemont lächeln. Er konnte sich vorstellen, wie sie jetzt verzweifelt nach ihm und den Kindern suchten. Auf keinen Fall durften sie sie finden! Dr. Freemont lauschte ein paar Sekunden. Es blieb alles still. Nur die Tür zum Deck, die anscheinend offenstand, knarrte mit den leichten Bewegungen des Schiffes. Mit dem Ellenbogen drückte er die Tür auf und spähte auf den Korridor. Eine trübe Funzel an der Decke verbreitete gelbliches Licht. Niemand zu sehen. Wieder eine Gelegenheit, die vielleicht nicht mehr wiederkehrte. Er mußte von hier verschwinden. Bis jetzt schienen sie noch zu glauben, daß er sich irgendwo unter Deck versteckt hatte, in einem der Frachträume oder in der Piekslast. Aber früher oder später würden sie auch die Kammern gründlich durchsuchen. Und auch dieses Schapp. Er mußte schleunigst verschwinden! Aber wohin? Wo würde man ihn am wenigsten vermuten? In der Höhle des Löwen, in der Kapitänskammer! Vorsichtig trat er hinaus und eilte die sieben, acht Schritte bis zu der Tür, die in James Bradleys Kammer führte. Er atmete erleichtert auf, als die Klinke unter dem Druck seines
Ellenbogens nachgab. Er drückte die Tür hinter sich wieder zu, legte die beiden Kinder behutsam auf die Koje und lehnte sich gegen die Wand. Der kleine Philip begann zu weinen. Nicht laut. Es war eher ein Wimmern. Aber Dr. Freemont hatte das Gefühl, daß es bis an Deck zu hören sein mußte. »Sei ruhig, Philip«, sprach er beruhigend auf das Kind ein. »In ein paar Minuten ist dein Vater hier, und dann ist der ganze Spuk vorbei.« Philip wimmerte noch ein paar Sekunden, dann war er still und schloß die Augen. Gerade rechtzeitig. Auf dem Gang ertönten eilige Schritte. Dr. Freemont hielt den Atem an und starrte auf die Tür. Aber sie waren nicht gemeint. Die Schritte hielten vor einer anderen Tür, und er hörte das trockene Knarren von Scharnieren. Noch einmal gutgegangen, stellte er aufatmend fest. Aber er sah jetzt ein, daß sie auch hier nicht wirklich sicher waren. Die drei Entführer hatten bestimmt nicht so viel Respekt vor der Privatsphäre des Kapitäns, daß sie nicht doch hier eindringen würden, um nach ihm zu suchen. Vor allem, wenn eins der Kinder wieder weinen sollte. Oder der Kapitän konnte einen Mann herunterschicken, um ihm etwas aus seiner Kammer zu holen. Aber wohin? Sein Blick fiel auf eine schmale Tür neben dem großen Heckfenster. Lautlos durchquerte er die Kammer und zog die Tür auf. Sie führte auf eine Galerie, die über die ganze Breite des Schiffshecks verlief. Das war die Lösung! Hier draußen würde bestimmt niemand nach ihnen suchen. Die Galerie war nur von der Kapitänskammer aus zugänglich und lag im tiefen Schatten. Vorsichtig legte er die Kinder auf die Planken. »Tut mir einen Gefallen und seid ruhig«, sagte er mit einem Blick zum über ihm liegenden Achterdeck. »Nur ein paar Minuten noch, dann könnt ihr wieder schreien, soviel ihr wollt.«
Er trat ans Backbordende der Galerie und peilte die Lage. Trotz der backstehenden Segel wurde das Schiff langsam auf die Küste zugetrieben, die jetzt nur noch etwas mehr als eine Meile weit entfernt war. Rechts voraus hob sich ein langgestreckter Bergrücken von dem sternenklaren Himmel ab. Eine Landzunge, vermutete Dr. Freemont, und sie war nur etwa sechshundert Yards entfernt. Die ›Isabella‹ lag in etwa gleicher Entfernung an Backbord, ebenfalls beigedreht, und etwa auf halber Entfernung sah er ein Boot, das von der ›Isabella‹ auf die ›Harkness‹ zuhielt. Philip Hasard Killigrew war schon unterwegs, um seine Kinder zu holen! Ich muß an Deck und sofort mit ihm reden, überlegte Dr. Freemont. Man durfte die drei Halunken auf keinen Fall unterschätzen. Und besonders jetzt, da ihr Leben auf dem Spiel stand, waren sie zu allem fähig. Er traute ihnen durchaus zu, daß sie den Kapitän dazu brachten, Hasard sofort festzunehmen, wenn er an Bord erschien. Auf jeden Fall aber würden sie versuchen, Hasard aufzuhalten, in der Hoffnung, inzwischen seine Kinder wieder in ihre Gewalt zu kriegen und als Druckmittel zu benutzen. Er mußte zur Stelle sein, wenn Hasard an Bord kam, und ihn warnen. Er warf noch einen Blick auf die beiden Kinder. Sie lagen ruhig, und es bestand keine Gefahr, daß sie von der Galerie ins Wasser fallen konnten. Vorsichtig öffnete er die Tür und warf einen Blick in die Kapitänskammer. Dann durchquerte er sie und lauschte an der Tür, die zum Gang führte. Kein Laut. Vorsichtig trat er hinaus und drückte die Tür hinter sich ins Schloß. Jetzt mußte er noch ungesehen an Deck schleichen, dann hatte er es geschafft. Er hatte es fast geschafft, als plötzlich hinter ihm eine Tür aufknallte. Die Tür seiner Kammer! »Da ist er ja!« schrie Stark und warf sich auf ihn. »Wo hast du die Gören, du Bastard?« schrie er und umklammerte
Freemonts Hals. Der Arzt wehrte sich verzweifelt. Und es gelang ihm auch, den würgenden Griff zu lockern. »Burton!« schrie Stark wütend. »Warum tun Sie nichts!« Dr. Freemont packte Starks rechten Arm und riß ihn nach hinten. Stark schrie vor Schmerz auf. Aber im nächsten Moment fühlte Dr. Freemont einen irrsinnigen Schmerz im Hinterkopf. Er merkte noch, daß ihm die Knie einknickten, aber bevor er zu Boden sank, war sein Bewußtsein bereits erloschen. »Verdammter Idiot!« zischte Samuel Stark wütend. »Warum haben Sie ihn zusammengeschlagen?« Burton steckte seine Pistole in den Gürtel zurück. »Sie haben doch selbst gesagt, ich soll Ihnen helfen. Der hätte Sie beinahe erledigt.« »Helfen, habe ich gesagt, aber nicht, daß Sie ihn gleich halb totschlagen sollen. Wie kriegen wir jetzt heraus, wo er die Gören versteckt hat?« »Ach ja, daran habe ich im Moment nicht gedacht.« Burton legte seine Stirn in Falten. »Ich wollte nur ...« »Quatschen Sie jetzt nicht, sondern helfen Sie mir, ihn in die Kammer zu bringen, bevor uns jemand hier überrascht.« Sie packten den bewußtlosen Dr. Freemont an Armen und Beinen und schleppten ihn in die Kammer. »Der ist vorläufig hin«, sagte Stark irritiert, als sie den Arzt auf die Koje legten. An seinem Hinterkopf bildete sich eine faustgroße Schwellung. Die Kopfhaut war aufgeplatzt, Blut sickerte in Dr. Freemonts Kragen und in das Kissen. »Ja, wo ich hinhaue, da wächst kein Gras mehr«, sagte der massige Burton grinsend. »Und darauf sind Sie wohl auch noch stolz, wie?« erwiderte Stark wütend. »Etwas weniger hätte es auch getan, und wir könnten jetzt ach, was soll’s.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. Dieser gehirngeschädigte Burton war wirklich
nur eine Belastung. Aber seine Dummheit würde ihm sehr gelegen kommen, wenn es galt, ihn abzuhängen. Sehr bald sowie er ihn nicht mehr brauchte. Vielleicht würde er ihn schon heute diesem Killigrew zum Fraß vorwerfen, überlegte er, zusammen mit Baldwin Keymis. * Das Boot der ›Isabella‹ schor längsseits. Die vier Männer zogen die Riemen ein. Dan O’Flynn packte die Jakobsleiter und vertäute das Boot mit der Bugleine. Er wartete, bis Hasard und die drei anderen Männer an der Jakobsleiter hingen, dann kletterte auch er hinauf. Das Boot trieb achteraus. Dan hatte die ganze Länge des Tampens genommen, damit das Boot nicht an der Bordwand der ›Harkness‹ scheuerte. Es trieb jetzt am Heck, frei von der Bordwand, stellte er zufrieden fest, als er einen Blick zurückwarf, bevor er an Deck stieg. Aber auch Stark und Burton, die im tiefen Schatten des Heckkastells standen, sahen das Boot unter dem Heck. »Wenn alles schiefgeht, kommen wir wenigstens heil an Land«, flüsterte Burton. »Wir brauchen nur ein langes Seil.« »Halten Sie doch jetzt die Schnauze!« zischte Stark wütend, Ihn fuchste vor allem, daß Burton diese Gelegenheit auch erkannt hatte. »Los jetzt«, drängte Burton jetzt. »Auf was warten Sie denn noch?« Stark antwortete nicht. Er starrte Philip Hasard Killigrew an, der jetzt über das Schanzkleid an Bord kletterte. Der Kerl war schlau, erkannte Stark. Wie die Figuren eines Schachspiels deckten er und seine vier Männer sich gegenseitig. An Hasard würde niemand herankommen, ohne sein Fell zu riskieren. Aber dieser Vorsicht verdankte er es auch, daß keine Wache im Boot zurückgeblieben war. Stark sah den Kapitän und Mister Bellamy auf Hasard
zugehen. Die Männer der ›Harkness‹, die sich an Deck aufhielten, starrten gespannt auf die Besucher des Piratenschiffes, wie dieser Keymis die ›Isabella‹ genannt hatte. Jetzt war die Gelegenheit günstig, ungesehen zu verschwinden. »Los, Burton«, flüsterte er hastig und zog den anderen mit sich. * »Mister Killigrew?« Kapitän Bradley musterte Hasard kühl und distanziert. Hasard nickte schweigend, abwartend. »Ich bin James Bradley, Kapitän der ›Harkness‹. Es ist üblich, den Kapitän eines anderen Schiffes an Bord willkommen zu heißen. Aber Sie verstehen sicher, daß das bei Ihnen anders ist. Also kurz und gut. Was wünschen Sie?« »Geben Sie meine Kinder heraus, die hier an Bord sind, und ich verlasse sofort Ihr Schiff, Mister Bradley.« James Bradley musterte die Leibwache, die Hasard mit an Bord gebracht hatte: Batuti, Dan O’Flynn, Matt Davies, Bob Grey. Alles Männer, die entschlossen und verwegen wirkten, genau wie ihr Kapitän. »Ich glaube kaum, daß Sie in der Lage sind, etwas von mir zu verlangen, Mister Killigrew. Ich bin davon unterrichtet, daß gegen Sie ein Haftbefehl Ihrer Majestät vorliegt. An sich bin ich verpflichtet, Sie festzunehmen und den Gerichten in London auszuliefern.« »Na, denn mal los!« rief Bob Grey hitzig. »Ruhe!« sagte Hasard scharf. Die Männer der ›Harkness‹, die wie zufällig an Deck herumstanden, waren genauso bewaffnet wie seine vier Männer, und Hasard wollte auf keinen Fall einen Kampf riskieren wenn er seine Kinder auf friedlichem Weg zurückerhielt. »Ich weiß, von wem diese Information stammt«, sagte Hasard
und sah sich suchend um. Aber er hatte nicht erwartet, daß Baldwyn Keymis sich in seiner Reichweite aufhielt. »Der Mann verdankt mir sein Leben. Meine Männer und ich haben ihn aus einem spanischen Kerker befreit, und zum Dank hat er mich beim Hof verleumdet und meine Kinder entführt. Ich verlange ...« »Mister Killigrew, ich bin genauso an einer Klärung der ganzen Angelegenheit interessiert wie Sie.« Kapitän Bradley blickte ihn nachdenklich an. Dieser Philip Hasard Killigrew gefiel ihm, und daß der seltsame Friedensrichter Keymis ein verdammt schräger Vogel war, hatte er ihm schon bei der ersten Begegnung in Piräus angesehen. Aber trotzdem: Gegen Killigrew lag ein Haftbefehl der Königin vor, das war nun einmal Tatsache. Hasard zuckte mit den Schultern. »Ich kann Ihnen nur sagen, daß ich Opfer einer hinterhältigen Intrige bin. Ich habe keine Beweise meiner Unschuld, die ich Ihnen vorlegen könnte.« »Sir?« Der Bootsmann trat einen Schritt auf seinen Kapitän zu. »Ich glaube, daß Mister Killigrew die Wahrheit sagt.« »Glauben, Mister Bellamy? Wir sind hier doch nicht in der Kirche.« »Sie wissen, daß ich der jüngste Sohn von Lord Selvin bin, Sir, und recht gute Beziehungen zum Oberhaus und zu Hofkreisen habe. Ich habe einiges über diesen Fall gehört und glaube, daß ich jetzt die Zusammenhänge durchschaue. Wenn Sie mir erlauben, will ich Ihnen gern erklären ...« »Entschuldigen Sie, daß ich unterbreche«, sagte Hasard. »Aber solange Keymis und die anderen hier an Bord sind, sind meine Kinder in Gefahr. Gestatten Sie, daß ich einen meiner Männer als Wache in Ihre Kammer schicke?« Kapitän Bradley schob die Unterlippe vor. »Auf meinem Schiff gehen meine Männer Wache, Mister Killigrew.« Er winkte. »Henderson! Gehen Sie ins Quartier und bewachen Sie die Kammer, in denen die beiden Kinder untergebracht sind.«
»Aye, aye, Sir.« Der Mann schwirrte ab, und Mister Bellamy sagte: »Wenn Sie gestatten, Sir: Soweit ich gehört habe, hat jemand das Gerücht verbreitet, Mister Killigrew habe sich an einem Schatz bereichert, der Ihrer Majestät der Königin zusteht ...« Der Seemann Henderson schloß die Tür und stellte sich vor die Kammer, die Dr. Freemont und den beiden Kindern zugewiesen worden war. Er kam genau drei Minuten zu spät. 12. Aus, erkannte Samuel Stark. Er hatte in seinen langen Jahren als Hochstapler ein Gespür für Reaktionen und Situationen entwickelt. Mit sicherem Instinkt hatte er erkannt, daß die beiden Seemänner, Bradley und Killigrew, aus dem gleichen Holz geschnitzt waren und sich früher oder später verstehen würden. Die schroffen Worte Bradleys waren weiter nichts als Abwehr, Reaktion auf eine instinktive Sympathie. Das hatte sogar der etwas beschränkte Burton erkannt. »Auf was warten wir denn noch? Kommen Sie, wir klauen uns das Boot und rudern an Land.« Stark antwortete nicht. Verdammt, bisher hatte er noch jede Situation zu seinem Vorteil ausnutzen können. Es mußte doch auch hier eine Möglichkeit geben! »Wir haben keine Zeit, lange zu überlegen«, drängte Burton. »Wenn wir uns nicht beeilen, ist Keymis schneller und dann ist es aus.« Das gab den Ausschlag. »Also los.« Um ans Boot zu gelangen, mußten sie auf die Galerie, wußte Stark, und die Galerie war nur von der Kapitänskammer aus zugänglich, wenn diese Galeone genauso gebaut war wie die üblichen Galeonen.
Er drückte die Tür der Kapitänskammer auf. Lautlos traten sie ein und öffneten die Tür, die auf die Galerie hinausführte. »Das ist doch ...« Stark blieb überrascht stehen. Auf den Planken der Galerie kniete Keymis über den beiden Kindern, ein langes Seil in den Händen. Mit einem Wutschrei sprang er auf und stürzte auf Stark zu. »Du elender Hund!« Wieder krallten sich Hände um den mageren Hals Samuel Starks. Stark würgte, und schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen. Ein dumpfes Geräusch, und die Hände ließen los. Keuchend sog er Luft in seine Lungen und starrte auf Baldwyn Keymis, der besinnungslos am Boden lag. »Diesmal habe ich nicht so fest zugeschlagen«, sagte Burton und steckte seine Pistole weg. »Falls wir ihn noch brauchen sollten.« »Wozu denn? Idiot!« zischte Stark. Aber er war nicht wütend. Nun habe ich es doch noch geschafft! dachte er triumphierend. Wäre ja auch gelacht, wenn ich nicht doch noch eine Lösung gefunden hätte. Und Keymis war auch noch so freundlich gewesen, ihnen den Fluchtweg zu ebnen, indem er das Seil besorgt hatte, das sie brauchten, um ins Boot zu gelangen. »Gut, ich klettere jetzt ins Boot, und Sie seilen die Kinder ab.« Burton schüttelte den Kopf. »So dumm. Und wenn die Gören unten sind, kappen Sie die Leinen und lassen mich hier hängen.« Stark zögerte. Genau das hatte er vorgehabt. Aber jetzt war nicht der richtige Augenblick für eine Auseinandersetzung. Es würden sich noch viele Gelegenheiten ergeben, den Dicken loszuwerden. Und außerdem brauchte er ihn noch, um das Boot an Land zu rudern. »Meinetwegen. Klettern Sie als erster ins Boot.«
»Es hat sich am Hof inzwischen eine Art Lobby für Mister Killigrew gebildet, die an seine Unschuld glaubt«, schloß Bellamy seinen kurzen Vortrag. »Aber noch sind die anderen in der Überzahl, die seinen Kopf fordern.« »Danke, Mister Bellamy.« Kapitän Bradley konnte sich denken, was für Männer in der Front gegen Killigrew waren: Die ganzen Schreibtischhengste, Leisetreter und Arschkriecher des Hofes, denen jeder richtige Mann ein Dorn im Auge war. Er wandte sich an Hasard. »Ich will Ihnen glauben, Mister Killigrew.« »Danke, Mister Bradley. Ich weiß, daß Sie mir entgegen kommen. Schließlich sind auch Mister Bellamys Erklärungen keine schlüssigen Beweise.« »Für mich zählt vor allem das Gesicht eines Mannes, Mister Killigrew«, sagte Kapitän Bradley. »Und Ihr Gesicht hat mir von Anfang an gefallen.« Er legte Hasard die Hand auf den Arm. »Kommen Sie. Ich weiß, daß Sie zu Ihren Kindern wollen.« Sie gingen ins Quartier. »Alles in Ordnung, Henderson?« wandte sich Bradley an den Mann, der vor der Kammertür Wache stand. »Aye, aye, Sir. Kein Mensch hat sich sehen lassen.« Die Ratten haben sich in ihre Löcher verkrochen, dachte Hasard. Aber da sind sie auch nicht mehr sicher. Irgendwann werde ich sie herauszerren! Henderson öffnete die Kammertür. Bradley und Hasard traten ein. »Dr. Freemont?« Hasard trat auf die Koje zu. Er glaubte, der Arzt schliefe nur. »Freemont!« Er rüttelte ihn an der Schulter. Und da sah er den breiten Blutfleck im Kopfkissen und wußte, daß Freemont bewußtlos war. Er fuhr herum. Ein Blick reichte, um zu wissen, daß die
Kinder verschwunden waren. Kapitän Bradley brauchte er nichts zu erklären. Der wußte sofort, was geschehen war. »Kommen Sie, Killigrew. Weit können sie ja nicht sein. Ich lasse das ganze Schiff durchsuchen, vom Kiel bis zu den Toppen, und wenn ich diese Halunken erwische, lasse ich sie kielholen, daß die eigenen Mütter sie nicht wiedererkennen.« Er stieß die Tür auf und trat an Deck. »Mister Bellamy! Lassen Sie das Schiff durchsuchen. Und wenn Sie die drei Halunken finden, brauchen die Männer sie nicht unbedingt mit Samthandschuhen anzufassen! Was stehen Sie denn noch herum! Tun Sie, was ich Ihnen sage.« »Nicht mehr nötig, Bradley«, sagte Hasard und wies auf den gekappten Tampen, der von der Jakobsleiter hing und im Wasser schwamm. »Verdammter Mist!« fluchte Kapitän Bradley, als er erkannte, daß das Boot verschwunden war. Dan O’Flynn trat näher und sah Hasard schuldbewußt an. »Meine Schuld. Wir hätten das Boot im Auge behalten sollen.« »Können Sie eins von Ihren Booten aussetzen lassen, Sir?« wandte sich Bob Grey an den Kapitän. »Vielleicht können wir die Bande noch einholen.« »Hat keinen Sinn«, wehrte Hasard ab. Der Mond war noch nicht aufgegangen, und in dem unsicheren Sternenlicht würden sie das Boot selbst auf fünfzig Yards Entfernung nicht sehen. Die Landzunge war nur knapp fünfhundert Yards entfernt. »Ihr Kapitän hat recht«, sagte James Bradley. »Außerdem sind wir gleich im Hafen. Sowie wir festgemacht haben, gehen wir auf Jagd nach den drei Burschen. Und wenn sie uns in die Hände fallen ...« Er brach ab, als er in Hasards Gesicht blickte, das wie versteinert wirkte. Er konnte sich vorstellen, was in diesem Mann vorging, dem man seine Kinder wieder weggenommen hatte. »Kommen Sie, Killigrew.« Er legte Hasard die Hand auf die
Schulter. »Ich weiß, daß Worte nichts ändern. Aber vielleicht hilft ein gutes Glas Rum.« Er zog Hasard mit sich, und sie betraten die Kapitänskammer. Keymis schlug die Augen auf und preßte seine Hand auf den schmerzenden Schädel. Er starrte zu den Sternen hinauf, und er brauchte eine halbe Minute, bis ihm einfiel, wo er war und was geschehen war. »Diese Hunde!« Er fuhr auf und starrte auf die Planken. Natürlich waren die Kinder fort. Und auch das Boot, stellte er fest, als er aufgesprungen und an die Reeling der Galerie getreten war. »Wenn ich die beiden noch einmal zu fassen kriege!« Aber dazu mußte er erst einmal von Bord kommen. Wenn nicht, würde er morgen früh von der Rahnock baumeln. Eiskalte Todesangst preßte seinen Magen zusammen, und er spürte, daß er am ganzen Körper zitterte. Er mußte weg! Jetzt ging es nur noch um das nackte Leben. Vielleicht hatten sie schon entdeckt, daß die Kinder fort waren, und dann würden sie das ganze Schiff durchsuchen. Er warf einen Blick auf die Lichter von Saida und hätte alles dafür gegeben, jetzt irgendwo dort an Land zu sein. Die Landzunge an Steuerbord lag noch näher - knapp fünfhundert Yards, schätzte er. Aber fünfhundert Yards, in denen Haie lauern konnten. Nein! Er starrte zu der dunklen Landzunge hinüber, die Entkommen und Sicherheit versprach - und doch unerreichbar blieb. Baldwyn Keymis trat zur Tür, drückte sie auf und erstarrte. Vor ihm saß sein Todfeind, der Mann, den er haßte und fürchtete wie nichts auf der Welt! Hasard stellte langsam das Rumglas auf die Tischplatte und blickte Keymis an. Dann stand er auf, ruhig, ohne ein Wort, und gerade in seinem Schweigen lag eine gnadenlose Entschlossenheit.
Baldwyn Keymis stieß einen schrillen Schrei aus, als er den Seewolf auf sich zugehen sah wie eine drohende Nemesis. Er wollte fortstürzen, aber seine Muskeln versagten ihm den Dienst. Er stand wie gelähmt und starrte Hasard entgegen. »Nein!« Der angstvolle Aufschrei löste die Erstarrung. Er warf sich herum, stürzte auf die Galerie und sprang über Bord. Hasard trat hinaus und lehnte sich an die Reling. Schweigend blickte er auf das dunkle Wasser. Nach einigen Skunden sah er einen Schatten auftauchen, einen Kopf und Arme, die wild um sich schlugen. Seine Hände umklammerten die Reling. »Lassen Sie ihn, Killigrew.« Kapitän Bradley war neben ihn getreten. »Wir erwischen ihn, wenn wir an Land sind.« Hasard antwortete nicht. Schweigend starrte er auf Keymis, der wild um sich schlagend an Land zu schwimmen versuchte. »Und wenn nicht, dann findet er anders seine Strafe«, fuhr Bradley fort. »Ich glaube fest an die Gerechtigkeit Gottes, der keine Sünde ungestraft ...« Er brach ab, als ein gellender Schrei über das Wasser hallte. Keymis schlug wild mit Armen und Beinen um sich, um dem Entsetzen zu entfliehen, das auf ihn zuraste. Und jetzt sah Hasard es auch. Die sichelförmige Rückenflosse eines Hais hielt genau auf Keymis zu. An ihrer Vorderkante schäumte eine kleine Bugwelle auf. Wieder gellte ein Schrei. Hasard sah einen Moment den hellen Bauch des Mörders, als er seitlich aus dem Wasser schnellte. Für den Bruchteil einer Sekunde tauchte der grauenerregende Kopf des Hammerhais aus dem Wasser. Mit weit aufgerissenem Rachen fiel er über Keymis her. Sein letzter Schrei erstickte. Schweigend starrte Hasard in das aufwirbelnde Wasser, dem einzigen Zeichen des aussichtslosen Todeskampfes eines Menschen gegen den Hammerhai. Dann glätteten sich die Wellen wieder. Baldwyn Keymis, der
ehemalige Friedensrichter von Falmouth war verschwunden. Nicht eine Spur von ihm blieb zurück, als ob es ihn nie gegeben hätte. »Die Gerechtigkeit Gottes«, sagte Kapitän Bradley leise, »die keine Sünde ungesühnt läßt ...« ENDE Der Malteserschatz von Fred McMason Sie waren wie im Rausch - die drei Halunken Burton, Stark und Al Hakim. Denn sie hatten den Schatz gefunden, in einer verfallenen Tempelruine. Sie wühlten in Gold und Silber und Edelsteinen, und die Gier verzerrte ihre Gesichter zu Fratzen. Aber dann erstarrten sie zu Stein, als sie die Stimme hinter sich hörten. Die Stimme sagte: »Ihr habt ihn also gefunden!« Sie wirbelten herum und blickten in die eisblauen Augen Philip Hasard Killigrews. »Der Seewolf ...«, ächzte Burton ...