Der Hexenmeister
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 133 von Jason Dark, erschienen am 28.04.1992, Titelbild: Sanjulian...
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Der Hexenmeister
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 133 von Jason Dark, erschienen am 28.04.1992, Titelbild: Sanjulian
Er kam aus dem Dunkel als Rächer. Er nannte sich Valentin oder Hexenmeister und war ein Feind der Engel. Er jagte sie überall, denn er konnte es nicht hinnehmen, daß sie den Tod überwunden hatten. Aber die Engel waren stark. Sie beschützten die Menschen. So auch meinen Kollegen Romano Testi, mit dem zusammen ich in London Rauschgifthaie jagte. Da sah ich den Engel zum erstenmal und erlebte, wie er die für Testi gedachten Kugeln auffing. Bis der Hexenmeister eingriff. Und diesmal war er stärker. Er vernichtete den Engel. In einem sizilianischen Kloster stand ich ihm schließlich gegenüber und erkannte, wer sich tatsächlich hinter diesem Namen verbarg. Es war Cigam, das Kunstgeschöpf des Satans!
In dieser mondhellen Nacht erlebte Flavio Testi Himmel und Hölle zugleich. Dabei hatte er den Eindruck, mit einem Bein am Rand der Ewigkeit zu stehen und Geheimnisse der Welt offenbart zu bekommen. Es fing mit der Hölle an! Dabei gab es kaum einen Grund, an die Hölle zu denken, denn es war eine Nacht wie immer, und Testi, der Fischer, hielt sich unter Deck seines Kutters auf, aß Tomaten mit Mozzarella, trank roten Landwein dazu und hoffte auf einen guten Fang. Die Netze hatte er noch nicht ausgelegt, das wollte er während der Morgenstunden tun. Erst einmal mußte er sich stärken. Der Motor des kleinen Kutters war abgestellt worden, das Boot dümpelte auf der langen Dünung, die sich hier in Küstennähe in Grenzen hielt, so daß die Gefahr des Wegtreibens nicht bestand. Testi kannte die Gewässer vor Sizilien. Er wußte genau, wo er seine Netze auslegen mußte, um sie noch einigermaßen voll zu bekommen. Die großen Fänge wie früher gab es längst nicht mehr. Davon konnten die Fischer nur träumen oder darüber sprechen, um dann die verdammten Fischereiflotten zu verfluchen, die die Gründe fast leergefischt hatten. Testi war knapp über fünfzig. Ob er noch zehn Jahre Fischer bleiben konnte, wußte er nicht, das mußte erst einmal abgewartet werden. Seine Söhne jedenfalls waren nicht in seine Fußstapfen getreten, die arbeiteten in Turin und Mailand. Einer war sogar bei der Polizei. Der andere bei Fiat und hatte Angst um seinen Job. Der Fischer seufzte. Nichts als Sorgen, nichts als Ärger, keine Ruhe, aber so war nun mal das Leben. Zum Glück schmeckten ihm der Käse und auch die Tomaten. Er hatte sie in Viertel geschnitten, gesalzen, gepfeffert und aß sie zusammen mit dem weichen Käse. Auf dem Meer fühlte er sich wohl. Vor allen Dingen in der Nacht, wenn es dalag wie eine schwarze Platte, unter die sich dann die Kraft der Wellen schob und sie mit einem zitternden Muster bedeckte, falls sich Mondlicht auf den schmalen Wellenkämmen brach. Plötzlich hörte er Schreie! In der klaren Luft trieb der Schall sehr weit, sie konnten auch aus großer Distanz gehört werden. Deshalb wußte Testi nicht, ob sie an Land oder auf See aufgeklungen waren. Die Richtung deutete aber mehr zur Küste hin. Testi legte das Besteck zur Seite und erhob sich. Er blieb zunächst stehen, weil er horchen wollte, ob sich die Schreie wiederholten. In der Tat war das der Fall. Wieder vernahm er sie.
Diesmal noch schriller, aber er hörte auch andere Rufe dazwischen. Laute der Wut und des Hasses. Testi hatte sogar unterscheiden können, daß zwei verschiedene Personen schrien. Ein Mann und eine Frau! Plötzlich bekam er Furcht. Er wollte sich verkriechen und dabei unter Deck bleiben. Gleichzeitig meldete sich sein Gewissen. Er konnte nicht einfach darüber hinweggehen. Wenn sich ein Mensch in Not befand, mußte versucht werden, ihm zu helfen. Was tun? Testi entschied sich dafür, an Deck zu klettern. Er lief den schmalen Niedergang hoch, zog den Kopf ein, trat in die kühle Nachtluft und hörte es wieder. Diesmal sehr deutlich. Er schaute zur Küste hin. In der mondhellen Nacht war sie klar zu erkennen. Die steilen Wände schoben sich aus dem Wasser und bildeten eine gewaltige Mauer, gegen die die langen Wellen schäumend anliefen. Sehr scharf konturiert lag die Mauer vor ihm. Beinahe wie gezeichnet. Darüber der blaugraue Himmel, bedeckt von einem Heer von Gestirnen, eine dunkelnde Pracht. Er befand sich zwar nicht weit von der Küste entfernt, aber auch nicht sehr nah, so daß er hätte hinspucken können. Trotzdem war alles zu erkennen, besonders die beiden Gestalten, die hoch auf dem Rand der Klippe standen, wobei zumindest eine der Gestalten um das nackte Leben kämpfte. Es waren eine Frau und ein Mann. Die Frau hate langes, blondes Haar, das bei jeder Bewegung hochgeweht wurde. Testi war auf eine schaurige Art und Weise fasziniert und abgestoßen zugleich. Beides hielt sich die Waage, und so stand er da und schaute den Kämpfenden zu. Der Mann befand sich im Vorteil. Er war bewaffnet. Wenn Testi sich nicht zu sehr täuschte, hielt die Person sogar zwei Messer in ihren Händen. Jedesmal wenn er seine Arme bewegte und die Klingen vom Licht getroffen wurden, blitzten sie auf. Die Frau mit dem langen Blondhaar war nicht bewaffnet. Jedenfalls wehrte sie sich nicht mit einem Messer oder einem anderen Gegenstand. Sie versuchte nur, den Stichen zu entgehen und turnte praktisch am Rand der Klippen entlang. Sie schrie nicht mehr, konzentrierte sich nur noch darauf, ihr Leben zu retten oder es zu verlängern. Testi konnte nicht wegschauen. Er verachtete sich deswegen selbst, doch er brachte es nicht fertig, wieder unter Deck zu gehen. Er drückte der Frau die Daumen, für die es wahrscheinlich besser gewesen wäre,
wenn sie über den Klippenrand hinweg ins Meer sprang, um wenigtens noch eine geringe Chance zu haben, am Leben zu bleiben. Das tat sie nicht. Zudem war es auch schlecht möglich, denn immer wieder versperrte ihr der Mann den freien Weg. Er stach zu. Blitzschnell, aber nie mit beiden Waffen zugleich. Oft täuschte er mit der einen an, um dann die zweite Klinge folgen zu lassen. Bisher war es der Frau gelungen, durch schnelle, aber gezielte Bewegungen, einem tödlichen Stoß zu entwischen, aber es war trotzdem nur eine Frage der Zeit, bis er sie erwischte. Testi drückte ihr die Daumen. Mehr konnte er nicht tun. Er wußte auch nicht, wer dieser Messermann war, doch er fürchtete sich vor ihm und hoffte, daß es niemals zu einer Begegnung zwischen ihnen beiden kommen würde. Wieder hörte er die Frau schreien. Diesmal mehr vor Wut, denn sie hatte den Halt verloren, rutschte aus und fiel hin. Der andere lachte. Er stürzte sich vor. Die Frau hockte auf dem felsigen Boden. Sie versuchte noch, in die Höhe zu kommen, aber eines der Messer war schneller. Wie ein räumlich begrenzter Blitzstrahl fuhr die Klinge schräg in die Tiefe und erwischte sie mitten in der Bewegung. Sie fiel zusammen. Der Mann sprang zurück. Wieder lachte er auf, während die Blonde versuchte, sich über den Boden zu wälzen und dabei in eine Position zu gelangen, die es ihr erlaubte, wieder auf die Beine zu kommen. Das ließ der Mann nicht zu. Er trat sie. Wieder fiel sie hin. Vor ihr blieb er stehen. Er sprach sie sogar an. Seine Stimme war so laut, daß Testi sie hörte. Nur konnte er keine Worte verstehen, die gingen auf dem Weg zu ihm unter. Die Blonde quälte sich auf die Beine. Sie konnte sich nur mehr langsam und unter starken Schmerzen bewegen. Sicherlich verlor sie viel Blut, und Testi, der Fischer und Beobachter, hörte sich selbst tief und schwer stöhnen. Es war grauenhaft, diesen ungleichen Kampf mit ansehen zu müsen, aber er kam nicht weg. Jede Einzelheit prägte er sich ein wie die Szene eines gut ausgeleuchteten Films. Die Frau kam wieder auf die Beine. Sie ging geduckt, humpelte und hatte eine Hand auf die getroffene Stelle in der Körpermitte gepreßt, und Testi hörte das widerliche und gemeine Lachen des Mannes. Für den Fischer stand fest, daß der andere die Lage der Frau ausnutzte, daß er sie sogar genoß, um seinen Haß richtig auskosten zu können. Dieser Hundesohn war schlimmer als ein Mafiakiller. Der machte zumeist mit einer Garbe aus der Maschinenpistole kurzen Prozeß und quälte sein Opfer nicht auf eine derartig perfide Art.
Die Frau hob ihren Kopf an. Der Mann sagte etwas zu ihr. Danach lachte er wieder, ging einen Schritt auf sie zu, dann noch einen, und die Frau hob beide Arme ruckartig in die Höhe. Es half ihr nichts. Die Hand mit dem Messer war schnell wie eine zustoßende Schlange. Sie huschte an den Armen vorbei und traf den Körper. Im selben Augenblick stieß der Mann auch mit der linken Hand zu. Dieses Messer traf ebenfalls. Testi schloß die Augen. Er konnte nicht mehr hinsehen. Er glaubte an einen bösen Traum, seine Lippen bewegten sich, als er die Gebete flüsterte und dabei die Madonna anflehte. Dennoch schaute er hin, als wäre er im Innern von einem Motor angetrieben worden. Die Frau lag am Boden. Sie rührte sich nicht mehr. Der Mann stand vor und über ihr. Er hatte seine beiden Messer verschwinden lassen und betrachtete jetzt die Frau. Sie ist tot, dachte Testi. Die Frau mit dem herrlichen Blondhaar ist unter den verfluchten Messerstichen gestorben. Es gibt keine andere Möglichkeit. Der Mann bückte sich noch tiefer. Dabei streckte er die Arme aus. Seine Hände wühlten sich in die Kleidung der Toten, faßten noch einmal zu, so daß er einen sicheren Griff bekam. Dann erst schaffte er es, die Tote in die Höhe zu heben. Er stemmte sie über seinen Kopf, drehte sich dabei, so daß er mit dem Gesicht zum Meer stand. Es sah für Testi so aus, als wollte er zunächst die Entfernung zum Klippenrand abschätzen, und der Fischer verspürte plötzlich eine wahnsinnige Angst davor, daß der Mörder ihn und sein Boot sehen konnte. Testi duckte sich. Im selben Augenblick drückte der Mörder seine Arme zurück. Es sah so aus, als wollte er Anlauf nehmen. Dann aber wuchtete er sie vor und schleuderte die Leiche weg. Wegen ihrer weiten Kleidung sah sie aus, als würde sie durch die Luft flattern. Der Mann hatte ihr genug Schwung gegeben, um sie über den Rand der Klippen werfen zu können. Sie fiel. Er schaute ihr nicht nach. Dafür sah Testi sehr deutlich, wie sie dem Wasser entgegenraste. Der Fallwind spielte dabei mit ihrem langen Haar, hob es ab, breitete es aus, Arme und Beine bewegten sich wie von allein und zuckten dabei auf und nieder. Schließlich klatschte sie in den Schaum der Brandung. Testi schloß die Augen.
Verdammt, dachte er. Keine Chance, das ist Mord gewesen, das ist einfach grauenvoll. Als er wieder hinsah, fiel ihm nichts mehr auf. Die Leiche war verschwunden, und auch von ihrem Mörder war nicht einmal mehr ein Schatten zu sehen… *** Testi wußte nicht, wie lange er bewegungslos auf dem Fleck gestanden hatte. Die Zeit schien eingefroren, und um ihn herum war ebenfalls alles zu Eis geworden. Es war einfach grauenhaft. Er merkte nichts mehr. Seine Hände hatte er in einer unnatürlichen Haltung verkrampft. Da erwachte er aus der Starre und hörte sich laut atmen. Wie viele Jahre fuhr er jetzt hinaus aufs Meer? Er konnte es selbst nicht genau sagen. Jedenfalls war es eine sehr lange Zeit, aber so etwas hatte er noch nie erlebt. Er war in Stürme geraten, er hatte seine Kollegen kentern und ertrinken sehen, das Leben hatte ihn hart gemacht, doch so etwas wie in dieser Nacht war einmalig. Er wandte sich ab. Mit der Schulter lehnte er sich gegen das Ruderhaus und dachte darüber nach, was zu tun war. Er zündete sich eine Zigarette an und schaute dem dünnen Rauch nach, der im schwachen Wind zerflatterte und einen letzten Rest an Würze zurückließ. Die Polizei alarmieren. Das war eine Möglichkeit. Die Küstenwache würde die Gegend hier absuchen und die Leiche der Frau irgendwann finden. Mit ihrem blonden Haar sah sie aus wie eine Touristin, die auf Sizilien ihren Urlaub verbracht hatte. Aber warum war sie auf so schlimme Art und Weise getötet worden? Ihr Mörder mußte von einem irrsinnigen Haß gegen diese Person befallen worden sein. Wie ein Berserker hatte er auf sie eingestochen. So etwas war einfach unerklärlich. Testi war nur ein Fischer. Er kannte sich in seinem Fach aus, aber nicht mit dem komplizierten Seelenleben der Menschen. Gefühle gab es, auch er kannte sie, aber er wäre nie in die Lage gekommen, eine derartige Tat zu begehen. Was steckte dahinter? Natürlich gab es für jede Tat ein Motiv, auch bei dieser war es bestimmt nicht anders gewesen. Erkannt hatte er keine der Personen. Die Blonde konnte auch nicht aus dieser Gegend stammen, dann hätte er sie sicherlich gekannt. Wer war sie dann?
Noch einmal vergegenwärtigte er sich die letzten Sekunden, bevor die Tote von der See verschlungen worden war. Sie war senkrecht die Klippen hinabgefallen und dann verschwunden. Testi kannte die Strömungen nahe der Brandung. Sie waren nicht besonders wild, aber zielstrebig. Es konnte durchaus der Fall eintreten, daß die Leiche nicht wieder an den schmalen Strand der Küste gespült, sondern hinaus ins Meer gezerrt wurde. Wenn dies eintrat, dann müßte er sie unter Umständen sehen können. Testi ging wieder unter Deck, wo er sein Fernglas holte. Es war kein Nachtglas, aber die Sicht verbesserte sich durch die Optik schon. Testi stellte sich breitbeinig hin, glich so das Schaukeln des Boots aus und schaute nicht gegen den wuchtigen Küstentreifen, sondern auf die Wellen. Sie bildeten einen wogenden Teppich. Nahe der Küste zeigten sie Schaumkronen auf den Kämmen, da blitzten sie dann jedesmal auf, wenn sie das Mondlicht traf. Zum Boot hin liefen sie aus. Da war die See wirklich nichts anderes als ein großer, dunkler Teppich. Und auf ihm tanzte etwas Helles! Zuerst dachte Testi an eine Täuschung, an eine Mondlicht-Reflexion, was. ja normal gewesen wäre, aber dieser helle Fleck blieb und bewegte sich schaukelnd weiter. Das konnten ebensogut Haare sein. Blonde Haare! Er schluckte. Verdammt, natürlich, die Tote! Sie war auf das offene Meer hinausgetrieben worden und schaukelte jetzt allmählich in seine Richtung vor. Wenn er lange genug wartete, würde sie in seiner Nähe vorbeitreiben, aber das wollte er nicht. Er mußte sie aus dem Wasser holen. Testi sah dies als seine Christenpflicht an. Er verschwand im Ruderhaus. Jetzt bewegte er sich schnell, ohne hektisch zu wirken. Seine Arbeit kannte er im Schlaf. Er stellte den Motor an, und dessen tuckernde Geräusche rissen ihn wieder zurück in die Wirklichkeit, so daß er den erlebten Schrecken zunächst einmal vergaß. Er fuhr einen Bogen und drehte seinen Kahn nach backbord. Mit nur sehr geringer Motorleistung schob er sich vor. Der Bug seines Kahns warf kaum Schaum hoch, als er die Wellen durchschnitt. Testi hörte das Klatschen des Wassers, wenn es gegen die Bordwände schlug, hielt seinen Blick auf eine bestimmte Stelle gerichtet und war froh darüber, daß er den hellen Fleck noch immer sah. Er brauchte die eingschlagene Richtung nur beizubehalten, um sein Ziel zu erreichen.
Der blonde Fleck trieb auf und nieder. Er bewegte sich genau im Rhythmus der Wellen. Es gab keine Gegenkraft, die ihn abgetrieben hätte. Alles war so normal. Er tuckerte auf sein Ziel zu. Die Heckschraube wühlte das Wasser zu einem schaumigen Blasenteppich hoch. Testi korrigierte einige Male den Kurs und schaute sich auch nach einem Enterhaken um. Er hing an der gleichen Stelle, was sehr wichtig war. Zwischen dem Verschwinden des Mörders und seiner Fahrt war eine ziemliche Zeitspanne verstrichen, so daß Testi daran denken konnte, seine neueste Errungenschaft in Betrieb zu setzen. Er hatte sein Boot seit einigen Wochen mit einem Suchscheinwerfer ausgerüstet, der sich zudem drehen ließ und von einem kleinen Motor angetrieben wurde. Da er den Scheinwerfer gebraucht gekauft hatte, war er nicht so teuer gewesen. Er schaltete ihn ein. Ein langer, weißer Strahl, der mit der Entfernung an Breite zunahm, huschte über das Wasser und machte die Wellen zu gläsernen Kämmen. Er mußte die Richtung noch ändern, um die treibende Leiche direkt erwischen zu können. Der Strahl drehte sich nach rechts. Noch ein Stück weiter, dann war es geschafft. Auf dem Wasser bildete er eine helle Insel. Und in ihrer Mitte schwamm die Tote! Jetzt sehr deutlich zu erkennen. Die Kraft des Wassers hatte nicht nur die Haare in die Höhe geschwemmt, sondern auch die Kleidung aufgebläht, denn nun wirkte sie wie ein dunkler Ballon. Da die Blonde auf dem Bauch lag, konnte er ihr Gesicht nicht sehen, doch er nahm an, daß sie schön war, sehr schön sogar, und ihm fiel dabei der Vergleich mit einem Engel ein. Das Boot tuckerte näher. Es fuhr noch zu schnell, und der Fischer nahm etwas Fahrt weg. In dieser Nacht würde er seinem eigentlichen Job nicht mehr nachgehen, das stand fest. Leiche und Boot näherten sich einander. Er brauchte den Motor nicht mehr. Wenn er ihn abstellte, würde der Schub noch ausreichen, um das Boot an die Leiche herantreiben zu lassen. Es wurde still. Testi verließ das Ruderhaus und griff sofort nach dem eisernen Enterhaken, mit dem er besser umgehen konnte als manch anderer mit seinem Besteck. An der Reling blieb er stehen, schaute darüber hinweg und sah, wie die Leiche immer näher trieb. Die Wellen schienen sich mit ihm verbündet zu haben, sie hoben den durch die Kleidung aufgebläht wirkenden Körper dichter heran. Sie trieb etwas ab.
Bevor sie zu weit wegdriften konnte, beugte sich Testi nach vorn und über die Reling hinweg. Der Enterhaken faßte zu. Sein krummes Ende verhakte sich in der Kleidung. Sie war naß und sehr schwer. Testi keuchte, als er den Körper kraftvoll dicht bis an die Bordwand heranzog. Der Haken hing fest, als wäre er eine eiserne Hand. Testi wuchtete den Körper hoch. Er schleifte ihn an der Bordwand entlang. Die Kleidung hatte sich mit Wasser vollgesaugt und war sehr schwer geworden. Der Fischer keuchte, er fluchte auch, als er mit der freien Hand Zugriff, eisern festhielt, und es ihm schließlich gelang, den Körper über den Rand hinweg in das Boot zu rollen. Er hörte den dumpfen Aufprall gegen die Planken, der durch die nasse Kleidung noch gedämpft wurde. Geschafft! Testi stand neben der Toten. Sie lag auf dem Bauch. Das lange blonde Haar bestand nur mehr aus nassen Strähnen, die ihren Kopf umgaben wie dicker Leim. Er atmete tief durch. Dann bückte er sich, faßte die nasse Kleidung an, zögerte aber noch, die Tote herumzudrehen. Er hatte die Vorstellung von einem wunderschönen Gesicht, wobei er damit rechnen mußte, daß dies nicht mehr zutraf und sich die Züge jetzt zu einer schmerz- und angstverzerrten Grimasse verändert hatten. Reiß dich zusammen, schalt er sich selbst. Es ist nicht die erste Leiche, die du siehst. Er rollte sie herum. Ein lebloser Arm geriet ebenfalls in Bewegung und schlug mit dem Handrücken hart auf. Die Tote lag auf dem Rücken. Er schaute in ihr Gesicht, das zu einer Leiche gehörte, aber zufällig durch das Mondlicht getroffen wurde, so daß es einen wächsern wirkenden Ausdruck bekam. Dennoch konnte diese Tatsache die Schönheit und Ebenmäßigkeit des Gesichts nicht verdecken, und der von Testi angestellte Vergleich mit einem Engel stimmte. Ja, so weich, so engelrein, einfach wunderbar. Selbst jetzt, wo die Frau nicht mehr lebte. Er wischte mit einer Hand über seine Stirn. Die Lippen zuckten. Beinahe hätte er angefangen zu weinen, denn er begriff nicht, daß es jemand fertigbrachte, eine derartige Schönheit einfach auszulöschen. »Madonna mio, wer macht so etwas?!« Minutenlang blieb er neben der Leiche knien und lauschte nur dem Klatschen der Wellen. Seine Kehle wirkte wie zugeklemmt, er mußte sich räuspern und wunderte sich einen Moment später über die nasse
Kleidung. Er wunderte sich noch über etwas anderes. In diesem Aufzug lief keine Frau herum, wenigstens keine normale. Die paßte nicht zu ihr. Er wußte, was es war. Er mußte nur noch den richtigen Dreh finden. Dann hatte er die Lösung. Die Kleidung gehörte einer Nonne! War sie eine Frau aus dem Kloster? Hatte sich so viel Schönheit hinter Klostermauern versteckt? Er schüttelte den Kopf, weil er es kaum glauben konnte. Das Gesicht war so rein, kein Messerstich hatte es getroffen, im Gegensatz zum Körper, wo er drei tiefe und schon ausgeblutete Wunden zählte. Ja, das war die Hölle. Der Teufel mußte seine Hand im Spiel gehabt haben, der Gehörnte in der Gestalt eines Killers, der dieser jungen Frau das Leben genommen hatte. War sie überhaupt eine Nonne? Wie Testi wußte, trugen Nonnen Kreuze und Rosenkränze bei sich. Nach beiden Gegenständen suchte er vergeblich. Sie hatte nichts dabei, was darauf hingewiesen hätte. Also nicht…? Er wußte nicht Bescheid. Es war alles irgendwie schiefgelaufen in dieser verdammten Nacht, die so wunderschön begonnen hatte, aber jetzt der Hölle gehörte. Testi fühlte sich aufgewühlt. Es war genau der Zustand, wo ihm nach einem Schnaps war, nach einem Grappa. Die Flasche stand unten. Bekannte brauten ihn selbst. Das Zeug war leicht ölig, jedenfalls sah es so aus, aber es schmeckte vorzüglich, vorausgesetzt, man war Grappatrinker. Einen letzten Blick schickte er auf die Leiche, bevor er sich abwandte und unter Deck verschwand, wo er die Flasche mit dem Grappa aufbewahrte. Sie war mit einem Korken verschlossen. Testi zog ihn hervor und nahm einen großen Schluck. Das tat gut. Es spülte sich die Hölle und das Grauen aus der Kehle. Gleichzeitig arbeitete er an seinem Plan. Daß er mit der Toten nicht über das Meer schippern konnte, lag auf der Hand. Er mußte sie irgendwo >loswerden<. Deshalb wollte er so schnell wie möglich den kleinen Hafen ansteuern und von dort aus die Carabinieri benachrichtigen. Dann mußte er eine Aussage machen, denn er war der wichtigste Zeuge. Wieder sah er das Bild des Klippenmörders vor sich. Testi schauderte. Er wußte nicht, wie mächtig der Mann war und welche Beziehungen er besaß, doch Testi konnte sich vorstellen, daß ihm die Aussagen irgendwann zu Ohren kommen und er sich auf die Suche nach dem Zeugen machen würde. Dann konnte es für den Fischer böse enden. Er nahm noch einen Schluck, stellte die Flasche wieder weg und wollte an Deck gehen, als er das Geräusch hörte. Waren das Schritte?
Wieder fror er ein. Seine Augen weiteten sich, denn er hatte die Geräusche an Deck gehört. Doch außer der Toten war da niemand. Und die konnte nicht mehr gehen. Sollte der Killer sich dem Boot heimlich genähert haben, um den Zeugen schon jetzt zu töten? Durch Testis Kopf zuckten die wildesten Gedanken und Vorstellungen. Womit sie sich auch beschäftigten, eines stand fest: Über ihm geschah etwas Ungeheuerliches, wobei sich sein Verstand weigerte, dies überhaupt zu erfassen. Er duckte sich und schlich nach oben. Nein, es waren keine direkten Trittgeräusche. Er hörte nur ein Kratzen und dumpfes Schlagen, traute sich nicht direkt an Deck, sondern blieb in einer Haltung stehen, die es ihm erlaubte, den Kopf durch die Luke zu strecken und das Deck teilweise zu überblicken, zumindest den Platz, wo die tote Frau lag. Sie war noch da, aber sie war… sie war… Seine Gedanken wurden unterbrochen. Der Vorgang war für ihn nicht faßbar, er war einfach ungeheuerlich, er konnte ihn nicht begreifen, es war unmöglich, und er schrie innerlich auf, ohne daß nur ein einziger Laut zu hören gewesen wäre. Die tote Frau lebte! *** Sie stand nicht auf ihren Füßen, aber sie war auch nicht mehr weit davon entfernt, sich in die Höhe zu schrauben. Aus ihrer rückwärtigen Lage hervor hatte sie sich schon auf die Seite gewälzt und einen Arm ausgestreckt. Ihre Hand lag dabei flach auf dem Boden, und sie hatte einige Male auf die Planken geklopft, als wollte sie sich selbst damit ein Zeichen geben. Dann winkelte sie den Arm an und drückte sich hoch, wobei gleichzeitig die nasse Kleidung von ihrem Körper glitt, damit die lebende Tote sich nackt präsentieren konnte. Das… das glaubt dir keiner! schoß es Testi durch den Kopf. Das ist wie die Vorschau zum Jüngsten Gericht, wo die Toten ebenfalls auferstehen und in die… Seine Gedanken brachen ab, denn die Frau hatte ihren Kopf gedreht. Sie schaute jetzt in seine Richtung. Testi duckte sich. Zitternd stand er auf der Sprosse. Er bekreuzigte sich einige Male und machte sich schon Vorwürfe, die Frau überhaupt aus dem Wasser gezogen zu haben. Angst quälte ihn… Er schluckte, er atmete nicht, er lauschte aber. Was er da hörte, das waren Tritte oder Schritte.
Testi hatte sich soweit erholt, daß er über den Lukenrand hinwegschauen konnte. Er wollte es jetzt sehen, es gab keinen anderen Weg mehr. Er mußte sich den Tatsachen stellen. Eine Strähne seines schwarzen Haars war ihm bis über die Stirn hinweg gegen das linke Auge gerutscht. Er strich sie zur Seite und drückte sich weiter hoch. Die Tote stand auf dem Deck wie eine Statue! Nackt, noch mit feuchtem Körper, der im Licht des Mondes einen blassen Glanz bekommen hatte. Das blonde, lange Haar wirkte jetzt so, als wäre es zu einer Frisur zusammengelegt worden, es sah nicht mehr unverteilt und wirr aus. Die jetzt lebende Person hatte auch die Arme gehoben und fuhr mit gespreizten Fingern durch die Strähnen, als wollte sie sich noch besser frisieren. Testi packte es nicht. Es war ihm einfach unmöglich, für diesen Vorgang eine logische Erklärung zu finden, aber er schaute weiter hin, und er verspürte nicht einmal mehr Furcht. Es war seltsam, diese Erscheinung kam ihm plötzlich so vertraut vor. Sie flößte ihm dieses Vertrauen ein. Von ihr ging etwas aus, das ihn seine Sorgen vergessen ließ, und ihn überkam eine nie erlebte Ruhe und gleichzeitige Geborgenheit. Dieses Gefühl mußte er auch nach außen hin dokumentieren, und er zeigte dies durch ein Lächeln. Zuckten die Lippen der >Toten< auch? Hatte sie etwa sein Lächeln erwidert? Das konnte er nicht glauben, aber was stimmte schon alles in dieser rätselhaften Nacht, wo die Gesetze der Natur buchstäblich auf den Kopf gestellt waren? Nichts mehr, alles war anders geworden. Tote lebten, Lebende waren tot… Unsinn. Er schalt sich einen Narren, so etwas zu denken, aber er schaute weiter hin und bekam mit, wie die Tote einen Arm ausstreckte und ihm durch diese Geste klarmachte, daß er nicht mehr stehenbleiben, sondern zu ihr kommen sollte. Zu einer Toten? Testi überwand seine Scheu und kletterte die restlichen Stufen des Niedergangs hoch. Etwas wehte ihm von der nackten Gestalt mit der alabasterfarbenen Haut entgegen, das er noch nie zuvor gespürt hatte. Es war keine Wärme, sondern ein deutlich spürbares Vertrauen und gleichzeitig Geborgenheit. Unwahrscheinlich… Dennoch traute er sich nicht, die Person zu berühren. Er blieb zwei Schritte von ihr entfernt stehen und schaute sie aus dieser Nähe forschend an.
Ihr Körper war nicht perfekt, sondern nur beinahe. Da waren noch die drei Wunden, die sich auf der bleichen Haut wie Male abzeichneten und auch tief in die Gestalt hineingedrungen waren. Sie mußte tot sein, sie konnte nicht leben. Was er hier mitmachte, war alles nur Einbildung, das gaukelte ihm seine überreizte Phantasie vor. Die >Tote< lächelte wieder. Sie bewegte nur kurz die Lippen. Wieder überkam Testi dieses wunderbare Gefühl, und zum erstenmal traute er sich, eine Frage zu stellen. »Wer bist du?« »Ich heiße Maria.« Er lauschte dem Klang der Stimme nach. Sie war so sanft und auch weiblich. »Danke, ich…« Fast hätte sich der Fischer verschluckt. Wieder lief ein eisiger Schauer über seinen Rücken, denn jetzt erst dachte er über die Antwort nach. Maria, hatte sie gesagt! »Du… du bist doch nicht etwa die Heilige Jungfrau Maria. Du bist mir doch nicht erschienen wie damals dem Mädchen in Fatma. Du kannst es nicht sein, du…« »Nein, das bin ich nicht.« Irgendwo war er froh darüber, die Antwort zu hören. »Aber wer bist du dann?« »Maria…« Testi wußte, daß es keinen Sinn mehr hatte, noch weitere Fragen zu stellen, deshalb nickte er nur. Die Frau vor ihm senkte den Kopf. Es machte ihr überhaupt nichts aus, nackt zu sein. Sie hob die Arme an und streckte dabei die Hände aus, damit diese eine größtmögliche Fläche bildeten. Dann geschah etwas, das der Fischer ebenfalls nicht fassen konnte. Mit beiden Handflächen strich die Nackte über ihren Körper. Es sah so aus, als wollte sie dabei irgendeine Creme verteilen. Sie rieb über jede Stelle hinweg, schien das Streicheln zu genießen und hörte erst dort auf, wo auch der flache Bauch endete. Das alles bekam er mit, das war nichts Besonderes im Gegensatz zu dem, was noch alles folgte. Plötzlich fing die Haut an zu leuchten. Ein silbriggrüner Schimmer legte sich über die Haut. Er konzentrierte sich dort besonders stark, wo sich auch ihre Hände befanden, und die wanderten weiter, auch den Wunden entgegen. Einige Male strichen die Handflächen darüber hinweg. Sie drehten sich dabei, als wollten sie die Ränder der Wunden besonders massieren. Das seltsame Licht blieb dabei bestehen, es intensivierte sich sogar, wobei Flavio Testi immer stärker in den Bann dieser Bewegungen hineingeriet. Er hätte tausend Fragen gehabt, doch es gelang ihm nicht einmal, eine einzige zu stellen.
Die Hände blieben noch in Bewegung. Es sah einfach wunderbar aus, so leicht, so gleitend, bis zu dem Augenblick, als sie zur Ruhe kamen und dabei die drei Wunden verdeckten. Testi konnte sich vorstellen, daß dies mit Absicht geschah. Zu fragen wagte er allerdings nicht. Er brauchte auch nicht lange zu warten, denn Maria löste ihre Hände wieder. Sie glitten dabei an ihrem Körper herab und an einer Haut, die wunderbar war. Sie zeigte keine Verletzungen mehr. Nicht eine Wunde war zu sehen. Nichts unterbrach diese wundersame glatte Schönheit, die wie perfekt modelliert wirkte. Flavio staunte und schluckte… Aber Maria lächelte. »Ich bin nicht tot«, sagte sie. »Aber ich möchte dir danken. Ich möchte dir sagen, daß ich auf dich und deine Familie aufpassen werde, auch dann, wenn ich in Gefahr bin, denn du sollst wissen, daß ich gejagt werde. Der Hexenmeister Valentin ist mir auf der Spur. Er will verhindern, daß ich Gutes tue und mich in seine Angelegenheiten einmische. Er hat versucht, mich umzubringen, er konnte es nicht schaffen, noch bin ich stärker. Doch mein Versprechen an dich gilt, mein Freund. Es gilt, solange dir der Herrgott die Kraft gibt, am Leben zu bleiben.« Sie nickte ihm zu, als wollte sie durch diese Geste ihre Worte noch einmal untermauern. Dann drehte sie sich um. »Aber… aber…« Testi sprach gegen den Rücken der Person, ohne noch weitere Worte hervorbringen zu können. Er war einfach zu stark geschockt worden. Was er erlebt hatte, konnte man als unglaublich bezeichnen, das war einfach nicht möglich. Maria ging davon. Sie schritt auf die Reling zu, als wollte sie darüber hinwegsteigen und ins Wasser gehen. Das geschah tatsächlich. Testi wollte sie noch aufhalten, doch wie festgenagelt stand er auf dem Fleck. Er konnte über die Reling auf das Meer hinausschauen und sah dort einen silbriggrün schimmernden Fleck, aber keine Frauengestalt mehr. Der Fischer überwand seine Starre, lief zur Reling, schaute darüber hinweg und stöhnte auf. Auch das Licht war verschwunden. Nur das dunkle Wasser schaukelte vor ihm. Es hatte diesen Spuk oder diese Erscheinung verschluckt. Einfach so, als wäre es niemals dagewesen. Testi bekreuzigte sich. Er war ein gläubiger Mensch, und jetzt wußte er, daß er mit seiner Religion immer richtig gelegen hatte. Da hatte sich ihm jemand offenbart. Ob es nun die Heilige Jungfrau gewesen war oder
eine normale Heilige, es spielte für ihn keine Rolle mehr. Seine Freude am Leben hatte von diesem Moment an stark zugenommen. Er hatte viele Geschichten über Wunder und wundersame Dinge gehört und sie eigentlich nicht so recht glauben können. Von nun an würde sich das ändern. Sehr lange noch blieb Flavio Testi an der Reling stehen und schaute über das Wasser. Dabei merkte er nicht, daß Tränen über seine Wangen liefen. Aber es waren Tränen der Dankbarkeit. Vor kurzem noch hatte er die Hölle kennengelernt, nun aber den Himmel. Nie hätte er damit gerechnet, daß beide Dinge so dicht beieinander lagen… *** Wir saßen im Rover, der im Schatten einer Mauer stand, und starrten durch die Frontscheibe in die Dunkelheit der Nacht hinaus, die nicht weit von uns entfernt von der hohen Lichterkette eines Luxushotels durchbrochen wurde. »Wollen Sie noch weiter vorfahren?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das müßte hier reichen. Es sind nur wenige Schritte.« »Bene, einverstanden.« Diese Antwort hatte Romano Testi gegeben, ein junger italienischer Kollege, der sich darauf spezialisiert hatte, der Rauschgiftmafia die Krakenarme abzuschlagen. Er war zwar kein Kommissar Cartani und kämpfte auch nicht > Allein gegen die Mafia<, aber in Italien hatte er schon einige spektakuläre Erfolge zu verzeichnen gehabt und dem großen Kraken schon manche Verletzung beigebracht. Jetzt war er in London, und ich hatte ihn praktisch unter die Fittiche genommen. Im Prinzip nicht mein Job, aber Sir James, mein Chef, hatte mich darum gebeten. Vielleicht auch deshalb, weil die Drogenspur bei einem gewissen Logan Costello enden sollte. Der wiederum war ein besonderer Freund von mir und der Londoner Polizei. Er war der Mafiachef hier in London, er regierte, er hatte sein gewaltiges Imperium aufgebaut, und er war es, der das große Sagen hatte. Es gab praktisch kein Gebiet, das er nicht kontrollierte, und das Rauschgift stand gewissermaßen an der Spitze ganz oben. Noch hatten wir kein Mittel gefunden, Costello zu stoppen. Vor Jahren hatte er sich mit dem Teufel verbündet gehabt, aber die Zeiten seiner Schwarzen Magie waren angeblich vorbei, und er konzentrierte sich nur auf die >normalen< Geschäfte.
Testi hatte in Mailand herausgefunden, daß in einem Londoner Hotel am Hyde Park ein Paket mit diesem weißen Gift direkt übergeben Werden sollte. Keiner wußte, wie es nach Großbritannien gelangt war, aber die Bande hatte es geschafft und Romano Testi hatte es zu spät herausgefunden. Jetzt konnte er nur hoffen, daß er den Kurier und auch den Abnehmer erwischte. Die Übergabe sollte in der Tiefgarage des Hotels stattfinden. Um sie zu erreichen, brauchten wir den hohen Kasten nicht erst zu betreten, sondern konnten den Fußgängerweg neben der Zufahrt benutzen und uns dann in der Garage verstecken. Ich hatte mit dem Wagen hineinfahren wollen, aber Testi war dagegen gewesen. Wenn es dann zu einer Auseinandersetzung kam, würde er die Typen am liebsten mit seinem Totmacher stoppen wollen, darunter verstand er eine 9-mm-Schnellfeuerpistole, das beste Modell, das der Waffenhersteller Beretta liefern konnte. »Die reißt riesige Löcher!« hatte er mir erklärt. Er mußte es wissen. Testi schlug die Tür auf. Ich schloß den Wagen ab und schaute auf den breiten Rücken des Kollegen. Als dick konnte man Romano Testi nicht bezeichnen, er war eher stabil gebaut und muskulös. Eine Portion Action auf zwei Beinen, wobei ihn der dunkle, an den Mundseiten herabhängende Schnurrbart das leicht traurige Aussehen eines Seehundes gab. Er ging vor, bis wir den Rand der Hotelzufahrt erreicht hatten. Dort holte ich ihn ein. Es war noch nicht sehr spät. An der beleuchteten Zufahrt herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Taxen fuhren vor oder wurden zum Hotel hingeordert. Ein normaler Betrieb, an dem nichts Außergewöhnliches zu erkennen war, wie auch Testi meinte, der ruhig auf dem Fleck stand und seinen mächtigen Schnauzbart nachzeichnete. »Nun?« Er hob die Schultern. »Ich rieche keinen Ärger.« »Sind Sie denn so gut?« »Meine Nase schon.« Er lachte, weil er auf seinen Riechkolben hingewiesen hatte, der mich beinahe an eine leicht nach unten hängende Gewürzgurke erinnerte. Aber Testi war stolz auf seine Nase. Er behauptete, damit die Dealer und Rauschgift-Schweine schon kilometerweit riechen und bemerken zu können. Testi haßte die Mafia vor allem deshalb, weil der Sohn eines Freundes durch ihre Dealer süchtig geworden war. Er würde bis an sein Lebensende gegen die Bande kämpfen.
Der Eingang zur Tiefgarage lag links von uns. Wir mußten die Hotelauffahrt überqueren, konnten aber auch einen Bogen schlagen, wofür Testi stimmte. »Man kann nie wissen, ob unsere Freunde nicht Aufpasser in die Nähe gestellt haben. Und mich kennen sie. So gut ich auch aussehe, ich falle nicht nur Frauen auf.« Über seinen Humor mußte ich lachen. Eingebildet war der aus Sizilien stammende Mann überhaupt nicht. Er summte leise vor sich hin, als er sich zurückzog und den Bogen schlug. Daß auf ihn bewaffnete Killer warten konnten, daran schien er nicht zu denken. Ich dachte nicht daran, ein Lied zu summen. Dazu war ich einfach nicht entspannt genug. Ich schaute mich immer wieder um, suchte nach verdächtigen Personen, ohne allerdings welche entdecken zu können. An der äußeren Tiefgaragenmauer blieb Testi stehen. Er grinste mich an. »Haben Sie was, John?« »Warum?« »Nun ja«, sagte er lächelnd. »Sie machen mir einen so angespannten Eindruck, als stünden sie unter Strom.« »Das könnte hinkommen.« Lässig winkte er ab. »Brauchen Sie nicht, John, überhaupt nicht. Die Sache geht klar.« »Ihren Optimismus möchte ich haben. Oder zumindest ein Drittel davon.« Er drehte sich mir zu, streckte den Zeigefinger hoch und bewegte ihn winkend. »Wissen Sie, John, wir brauchen uns keine Sorgen zu machen, das packen wir schon. Außerdem haben Sie mich einen Optimisten genannt, was nicht ganz stimmt. Ich bin ein SuperOptimist, was meinen Job angeht. Glauben Sie mir.« »Was macht Sie da so sicher?« »Das Leben an sich.« Mit dieser Antwort konnte ich nicht viel anfangen. Vielleicht mußte man eben Südeuropäer sein, um so denken zu können. Ich war da wohl zu nordisch unterkühlt. Da momentan kein Wagen in die Garage hineinfuhr und auch niemand hinauswollte, fragte Testi mich: »Wollen wir eintauchen?« »Meinetwegen.« »Bene, ich gehe vor.« Ja, er ging vor, und ich wunderte mich, wie leichtfüßig sich dieser Mann bewegen konnte, als hätte er eine Ausbildung als Balettänzer hinter sich gebracht. Bei ihm hätte mich gar nichts gewundert. Zum Glück summte und pfiff er nicht mehr.
Stickiges Halbdunkel, Abgase, Schmutz und Abfall auf dem Boden, niedrige Decken, verschmierte Säulen, all diese Vorstellungen kamen mir zumindest in den Sinn, wennTiefgaragen beschrieben wurden. Auf diese hier traf das Gegenteil zu. Zwar war die Decke nicht sehr hoch, aber im Innern des großen Komplexes leuchteten derartig viele Lampen, daß es auf den beiden zur Verfügung stehenden Parketagen taghell war. Neben einem Kassenautomat blieb Testi stehen. »Drin wären wir ja«, sagte er. »Okay. Und wohin jetzt?« »Eher nach unten.« »Und warum das?« »Da herrscht weniger Betrieb.« »Wie Sie meinen.« Wir verschwanden durch die schmale Tür des Treppenzugangs, sahen die Hinweisschilder, die zum Hotel-Fahrstuhl führten, ignorierten sie und wandten uns statt dessen der schmalen Treppe zu, die in das untere Parkdeck führte. Die Betonstufen waren schmal, dafür aber hoch und kantig. Wieder hatte der italienische Kollege die Führung übernommen, öffnete dann die Eisentür und schaute in die ebenfalls hell erleuchtete Garage. »Was zu sehen?« fragte ich. »Ja, Autos.« Er drehte den Kopf, grinste mich an. Dann ging er vor. Die Garage war hier nicht so gut besetzt wie oben. Vielleicht zur Hälfte. Ich schaute mich um. »Die Frage ist, wo stellen wir beide uns hin? Wo könnten sie kommen?« »Richtig. Da gibt es zwei Möglichkeiten.« »Nein, drei«, sagte ich, weil ich wußte, worauf er hinauswollte. »Wieso?« »Passen Sie auf. Einmal können die Kameraden mit dem Fahrzeug über die normale Zufahrt einfahren, zum zweiten können sie den Weg über dem Hotelfahrstuhl nehmen und hier erscheinen, dann bleibt ihnen noch die Treppe, die wir gegangen sind.« »Stimmt genau.« »Danke.« Er lachte. »Also suchen wir uns einen Platz, von dem aus wir die drei Alternativen im Auge behalten können.« »Würde ich meinen.« »Fragt sich nun, wo wir das finden.« Nun war ich es, der ihm zuwinkte und veranlaßte, mit mir eine Runde zu drehen. Was wie ein kleiner Spaziergang aussah, war es auf keinen Fall, denn es gab noch eine vierte Möglichkeit. Wir mußten damit rechnen, daß die
Hundesöhne bereits das Parkhaus erreicht hatten, in einem Wagen hockten und uns von dort unter Kontrolle hielten. So gut wie möglich schauten wir in die einzelnen Fahrzeuge hinein, aber wir sahen in keines, das belegt war. Das gab uns Hoffnung. Einen günstigen Standort fanden wir an der Breitseite der Tiefgarage. Hier war der Überblick gut, nur gab es keine Deckung, was auch wieder schlecht war. »Dann müssen wir uns eine bauen«, sagte Testi. »Gut. Und wie?« Er schaute sich um, grinste dann und fand das Gesuchte. Es war eine schmale Reklamewand, die man hier unten abgestellt hatte. Sie stand auf zwei schrägen Beinen, die so wie Dreiecke ausgerichtet waren. Der untere Teil der Wand selbst reichte fast bis zum Boden. Wenn überhaupt, dann waren nur unsere Schuhe zu sehen. Romano Testi fand die Idee so gut, daß er sich in lauter Vorfreude schon die Hände rieb. Dann zerrte er die Reklamewand herbei. Ich brauchte ihm dabei nicht zu helfen, das schaffte er allein. Nicht hinter, sondern vor der Wand blieb Testi stehen und schaute auf das Geschriebene. Seine Zunge fuhr über die Lippen. »Wenn man das liest, kann man direkt Appetit bekommen.« Da hatte er nicht unrecht. In bunten und großen Buchstaben wies das Geschriebene auf eine italienische Freßwoche hin, die in allen Restaurants des Hotels durchgeführt wurde. »Ihr habt ja dazugelernt, ihr Engländer.« »Wie meinen Sie das?« »Essen aus Italien. Art vivendi – die Kunst zu leben. Das ist das Allerhöchste.« »Sie essen gern, nicht?« »Und wie.« Er zeigte auf seinen Bauch. »Wenn die Sache hier ausgestanden ist, lade ich Sie zum Essen ein. Dann schlagen wir uns mal so richtig durch.« Ich schüttelte innerlich nur den Kopf über ihn. Es war eigentlich unmöglich, wie sich dieser Kollege benahm. Wir gingen nicht zu einer Betriebsfeier, sondern wollten den harten Drogendealer stellen, aber Testi tat so, als wäre das alles normal. Er nahm es völlig locker. Hinter der Wand bauten wir uns auf. Blieben aber an deren Rand stehen, so daß wir ohne Verrenkungen um die Tafel herumschauen konnten. Ab nun begann das Warten. Eine genaue Uhrzeit hatte mir Testi nicht angeben können. Er rechnete damit, daß die Übergabe noch weit vor Mitternacht durchgezogen wurde. So sollten sie es angeblich immer gehandhabt haben, und sie wußten auch nicht, wer ihnen auf der Spur war.
Ich fühlte mich weniger wohl als Romano Testi. Es mochte daran liegen, daß ich ja kein normaler Polizist war, sondern mich mit Fällen beschäftigte, die rational oft nicht zu erklären waren. Natürlich hatte ich mich dabei oft genug mit Gangstern herumschlagen müssen, aber so direkt wie heute, war ich selten mit ihnen konfrontiert worden. Drogengangster waren gefährlich und tödlich. Daran gab es nichts zu rütteln. Wenn sie ihre Geschäfte gefährdet sahen, schössen sie rücksichtslos, aber Testi schien das nicht so zu sehen. Jedenfalls gab er sich äußerlich mehr als locker. Er lehnte mit dem Rücken an der Wand, hielt die Augen halb geschlossen und summte ein sizilianisches Volkslied vor sich hin. Bis zu dem Augenblick, als gleich vier Wagen in die untere Etage der Tiefgarage fuhren. Sofort waren wir hellwach. Testi zog sogar seine mächtige Kanone. Ich hatte die Beretta hervorgeholt. Nicht die mit den Silberkugeln. Ich hatte mir für eine zweite normale Munition geben lassen, 6-mm-Patronen. Vier Autos, das sah nach einem Gangstertreffen aus. Sie rollten nebeneinander in die Parlücken, und Testi schüttelte den Kopf. »Wieso nicht?« flüsterte ich. »Ganz einfach. Sie würden nie mit der Schnauze zur Wand parken. Ein Wenden in der Garage wäre ihnen viel zu aufwendig.« »Stimmt.« »Man bekommt eben einen Durchblick, wenn man sich mit den Typen beschäftigt.« Es stiegen Leute aus, die sich kannten, sehr gut gekleidet waren und wahrscheinlich im Hotel essen oder feiern wollten. Wir steckten unsere Waffen wieder ein. »Pech gehabt, John.« »Wäre es Ihnen anders lieber gewesen?« Testi nickte. »Dann hätten wir es jetzt schon hinter uns. So beginnt die Warterei von vorn, und mein Hunger wird immer größer. Das paßt mir gar nicht. Wenn so etwas eintritt, kann ich zum Tier werden und leicht durchdrehen.« Ich schüttelte den Kopf. »Sie haben vielleicht Nerven, Testi. Denken Sie denn nicht daran, daß auch etwas schiefgehen könnte?« »Nein.« »Was macht Sie so sicher?« Testi lächelte breit. »Sie können es Gefühl oder Intuition nennen, Sinclair.« »Nur das?« Er schaute mich mit einem ungewöhnlichen Blick an, als wäre er dabei zu überlegen, ob er mir etwas mitteilen sollte. Er ließ es bleiben und sprach von seiner Heimat Sizilien, wo das Wetter nicht so herbstlich, sondern noch sommerlich warm war. »Sind Sie schon lange von Catania weg?«
Er nickte. »Mehr als sieben Jahre. Aber ich fahre immer wieder zurück zu meiner Familie.« »Leben die Eltern noch?« »Mein Vater schon, meine Mutter nicht mehr. Sie ist vor kurzem gestorben. Es war schlimm…« Seine Stimme versickerte, er mußte sich räuspern. Es war zu sehen und auch zu hören, daß Testi sehr an der Mutter gehangen hatte. »Wie geht es denn Ihrem Vater?« »Gut. Er lebt von einer kleinen Rente. Früher war er Fischer. Was ihm an eigenem Geld fehlt, bekommt er von seinen Söhnen, auf die er sehr stolz ist.« »So müßten mehr Menschen denken«, sagte ich. »Das ist bei uns eben anders. Man kann doch seine Eltern nicht im Stich lassen.« »Das stimmt.« »Und Ihre?« »Leben beide noch.« »Da gratuliere ich Ihnen.« »Danke, ich bin auch froh darüber.« Unser Gespräch hatte uns von der eigentlichen Aufgabe abgelenkt, aber wir waren trotzdem wachsam geblieben und schauten immer wieder in die Garage hinein. Es kamen nur wenige Wagen, die meisten Fahrer stellten ihre Autos ein Parkdeck höher ab, wo es noch genügend freie Plätze gab. »Kann es auch sein, daß Sie auf eine Finte hereingefallen sind?« fragte ich den Kollegen. Romano Testi schüttelte den Kopf. »Der Tip ist wasserdicht, glauben Sie mir.« »Na denn…« Wieder verstrich Zeit. Wir warteten bereits eine Stunde. Ich war nahe daran, einen Krampf und kalte Füße zu bekommen, als sich doch noch etwas tat. Sie kamen, aber sie waren nicht mit einem Fahrzeug unterwegs. Es öffnete sich genau die Tür, durch die auch wir die Tiefgarage betreten hatten. Zwei Männer erschienen. Mir waren sie unbekannt, aber ich brauchte sie nur anzusehen, um zu wissen, daß sie zur Bande gehörten. Einer trug eine Segeltuchtasche in der rechten Hand. Er war mit einer Lederjacke bekleidet und dicken Winter-Jeans. Das braune Haar umwuchs ein kantiges Gesicht wie ein zotteliger Pelz. Der zweite war eleganter. Ein moderner rehbrauner Wintermantel stand offen und schwang bei jedem Schritt hin und her. Er war jünger als sein Begleiter, wirkte wie ein Rechtsanwalt, der auf dem Weg zu seiner Kanzlei war.
Romano Testi nickte nur. Er hatte längst seine Waffe gezogen, und auch ich hielt meine mit normalen Kugeln geladene in der Hand. Die beiden Männer blieben nicht weit von der Tür entfernt stehen. Neben ihnen stand der helle Kassenautomat. Der Elegante schaute auf die Uhr. Sein Kumpan hatte die Segeltuchtasche abgestellt und blickte sich aufmerksam um. Ich bekam zu den kalten Füßen eine Gänsehaut. Hoffentlich entdeckten sie nicht unsere Schuhe. Aber die Wand lag etwas im Schatten, so war die Gefahr nicht so groß. »Das sind Typen aus London«, hauchte Testi. »Mein Freund muß noch kommen.« »Die beiden hier sind mir unbekannt. Wie heißt denn Ihr Freund aus Italien?« »Sie nennen ihn den Fuchs.« »Nie gehört.« »Ist auch nicht wichtig.« Inzwischen waren mehr als zwei Minuten vergangen, und es hatte sich nichts weiter getan. Sie blieben noch immer allein. Der Elegante hatte seine Hände in den Taschen des Mantels vergraben. Er ging in kleinen Kreisen immer in der Runde. Testi hatte die Stirn gerunzelt. Diese Geste des Unmuts zeigte mir, daß ihm die Entwicklung auch nicht paßte. Doch als Polizist hatte er es gelernt, Geduld zu haben. Es fuhr auch kein Wagen ein. Stille breitete sich aus. Wir hörten das Geräusch der Tritte, als der Elegante seine Kreise zog. Wieder verging eine Minute. Leider konnte ich nur einen Ausschnitt des Geländes hier unten überblicken. Ich hätte mir da schon ein besseres Sichtfeld gewünscht und dachte darüber nach, aus welchen Ecken noch jemand erscheinen konnte. Noch blieb es ruhig… Dann aber passierte es. Leichte Schritte schreckten uns auf. Ein Mann war plötzlich da. Er trug eine blaue Steppjacke, dazu eine Röhrenhose und Turnschuhe, die bis über die Knöchel reichten. »Der Fuchs!« hauchte Testi. Er sah nicht mehr gemütlich aus. Mich erinnerte er eher an einen startbereiten Kampfroboter. Der Fuchs erreichte die beiden Männer. Auch er trug eine Tasche bei sich. Damit hätte er auch zum Tennis gehen können. Die drei Männer begrüßten sich durch Kopfnicken. Sie sprachen so gut wie nichts. Wenigstens konnten wir nichts verstehen.
Der Elegante deutete auf die Tennistasche. Der Fuchs nickte. Er stellte sie ab, bückte sich, und der Mann mit der Lederjacke tat das gleiche. Synchron zogen sie die Reißverschlüsse ihrer Taschen auf. Selbst wir hörten die Geräusche. Testi nickte. Ich wußte, wann er eingreifen würde, aber wir hatten unsere Aktion nicht abgesprochen, was mich sehr ärgerte. Testi hatte es nicht gewollt und mich gebeten, ihn nur machen zu lassen. Ich sollte als Deckung hinter ihm bleiben. Der Fuchs griff in die Tasche. Er mußte schon beide Hände zu Hilfe nehmen, denn das Paket war doch ziemlich groß. Mich erinnerte sein Anblick an eine große Tüte mit Traubenzucker. Testi nickte. Dabei knurrte er. »Das ist es«, sagte er. Bevor ich noch etwas unternehmen konnte, schob er sich vor. Er huschte aus der Deckung hinter der Reklamewand, gab sich auch keine Mühe, seine Schritte zu dämpfen, so daß er gehört werden mußte. Die Männer fuhren herum. Der Fuchs ließ seine Beute los. Sie fiel wieder zurück in die Tasche. Da war Testi schon stehengeblieben. Er hielt seine Waffe mit beiden Händen fest und zielte auf die Gestalten. »Wenn sich einer von euch nur falsch bewegt oder nur etwas Dummes denkt, dem schieße ich dann das bißchen Gehirn aus dem Schädel…« Was sie dachten, wußte wohl keiner. Aber sie standen regungslos auf der Stelle und zuckten nicht einmal mit den Augenwimpern. Am Boden schienen sie festgeklebt worden zu sein. Romano Testi lachte und sprach den Fuchs an. Da ich einigermaßen Italienisch konnte, wußte ich, was er sagte. »War ein weiter Weg von Mailand bis nach London, Fuchs. Und er hat sich nicht einmal gelohnt für dich.« Der Fuchs war blaß geworden. Das dunkle Haar wuchs wie eine Kappe auf seinem Kopf. Er zischte irgend etwas durch die schmalen Lippen. »Nicht fluchen, Fuchs, nicht fluchen.« Ich hatte meine Deckung ebenfalls verlassen und mich so aufgebaut, daß die Typen auch in meine Mündung schauen konnten. Keiner sprach. Es reichte auch, daß Testi redete. »Mein lieber Fuchs, ich habe mir schon immer gewünscht, von dir etwas geschenkt zu bekommen. Und wenn es Kokain ist. Los, hol das Zeug wieder aus der Tasche!« Der Mann zögerte, was Testi in Rage brachte. Er hatte sich breitbeinig hingestellt, ich hörte ihn knirschen. »Verdammt noch mal, hol es wieder hervor.« »Si, Testi, si!« »Und ihr anderen zur Seite!«
»Das meine ich auch!« erklärte ich in meinem gefärbten Italienisch. »Nach links!« Sie taten, was ihnen befohlen wurde. Der Elegante starrte mich dabei an. Seine Augen besaßen den hypnotischen Ausdruck einer Schlange. Er würde sich mein Gesicht genau merken, das stand fest. Der Fuchs hatte sich gebückt. Seine Hände waren in der Tasche verschwunden. »Solltest du da noch eine Kanone versteckt halten, dann sag es lieber gleich!« »Nein, Testi, nein!« Er drückte sich wieder hoch. Mit beiden Händen hielt er das weiße Paket fest. Testi lachte. »Das ist ja wunderbar, Fuchs. Ich bedanke mich auch. Streck die Arme weit von dir. Dann geh du nach rechts und bleib erst stehen, wenn ich es dir sage. Ich habe hier eine Kanone, die kann dich in Einzelteile schießen. Sie wurde bei einer Elefantenjagd getestet. Sind aber nur kranke Tiere getötet worden. Bist du auch krank, Fuchs? Bestimmt bist du krank. So Scheißtypen wie du können nur krank sein. Andere in den Tod schicken, sie dahinsiechen lassen wie Tiere, das paßt zu dir. Aber das treibe ich dir aus. Ich werde dich durch die Krankenhäuser schleifen und dich die Opfer sehen lassen. Vor jedem einzelnen Kind oder Heranwachsenden sollst du Bastard in die Knie sinken und diesen Menschen um Verzeihung bitten, das schwöre ich dir.« Der Fuchs hörte die Worte. Sie erwischten ihn wie Schläge, und er zuckte bei jedem ängstlich zusammen. Anscheinend kannte er Testis Ruf und wußte, daß der Mann seine Versprechen hielt. Nichts mehr erinnerte an die Lockerheit von vorhin. Jetzt war er ein harter Gangsterjäger, der voll in seiner Aufgabe steckte. »Genug, Fuchs, genug! Stehenbleiben!« Der Italiener gehorchte. Er sah mitgenommen aus. Der Schweiß strömte ihm aus den Poren. Seine Augen bewegten sich und gaben dem Blick etwas von einem flackernden Laternenlicht. »Was jetzt?« »Stell das Geschenk auf den Boden!« »Bene!« Er ließ das Paket fallen. Es klatschte auf, doch die Tüte zerplatzte nicht. »So, das war gut!« Testi ging noch einen Schritt näher. »Ich habe es gern, wenn ihr Brüder euch vor mir auf den Boden legt und Arme sowie Beine ausstreckt. Gibt mir immer ein irres Feeling.« Er grinste, dann brüllte er, daß es durch das Parkhaus hallte: »Los, runter mit euch!« Vielleicht hätten sie es mit einer Gegenwehr versucht, wenn Romano Testi allein gewesen wäre, aber es gab noch einen zweiten Mann, und ich paßte auf wie ein Wachhund.
Der Fuchs bewegte sich als erster. Er konnte gar nicht schnell genug auf die kalte Erde kommen und richtete sich voll und ganz nach Testis Befehlen. Dann folgte der Elegante. Testi ging es nicht schnell genug. »Los, du Stenz! Im Knast brauchst du keinen schicken Mantel! Leg dich auf deine Schnauze, Hundesohn!« Der dritte Mann folgte dem Beispiel. Irgendwo wirkten die drei Typen lächerlich, als sie endlich lagen. Sie sahen aus wie große Käfer mit unterschiedlich eingefärbten Panzern. »Hast du Handschellen, John?« »Aber immer!« »Dann werden wir unsere Freunde jetzt verpacken. Nimm dir den Stenz vor und kette seinen Arm mit dem Fuß des anderen Hundesohns zusammen.« Da ich bei dieser Aktion bisher nur eine Statistenrolle eingenommen hatte, blieb ich auch jetzt dabei und tat, was man mir gesagt hatte. Ich behielt die Beretta in der Hand und sah, daß der Elegante den Kopf angehoben hatte. »Keine Chance«, sagte ich ihm. Er grinste dünn. Ich bückte mich neben ihn, ohne den Lederjackentyp aus den Augen zu lassen. Beide lagen ziemlich günstig. Wenn ich den Eleganten erwischt hatte, brauchte ich den anderen nicht einmal zu verrücken, um den anderen Kreis um dessen Fußgelenk zu schließen. Er beschimpfte mich, als das geschehen war. »Das ist doch alles wunderbar!« lobte Romano Testi mich. Er lachte sogar. Doch das Lachen verging ihm. Mir ebenfalls. Ich weiß nicht, was mich gewarnt hatte. Es konnte der wärmere Luftzug gewesen sein, der über meinen Nacken strich und mich zwang, den Kopf nach rechts zu drehen. Dort befand sich die Eisentür, durch die wir und die Gangster gekommen waren. Geschlossen war sie nicht mehr. Körperbreit stand sie offen, und aus dem Spalt lugte der Lauf einer Maschinenpistole. Die Mündung zeigte nicht auf mich, sondern auf den Rücken meines italienischen Kollegen. Ich wollte ihm eine Warnung zurufen, dazu kam ich nicht mehr, denn der nicht sichtbare Schütze drückte ab und jagte die tödliche Garbe auf Romano Testi zu… ***
Er hätte sterben müssen. Sein Rücken wäre nur noch eine blutige Masse gewesen, doch da geschah das Unwahrscheinliche. Wie aus dem Nichts erschien eine Gestalt. Es war eine Frau, sehr blond, sehr schön, aber von einer ätherischen Schönheit, und sie stellte sich zwischen Testi und den Schützen. Sie schützte den Rauschgiftjäger mit ihrem Körper – und fing dabei die ihm zugedachten Kugeln auf. Es war ein Wunder. Die Geschosse zerplatzten Funken stiebend, als hätte jemand Magnesiumpulver in die Schußbahn hineingestreut. Testi stand da und lächelte. Er hatte sich halb gedreht, ich konnte ihn im Profil sehen, aber der Killer schoß weiter. Er wollte es nicht wahrhaben, er schrie und verließ sogar seine Deckung. Ich feuerte auf ihn. Auch Testi hatte geschossen. Er schrie auf, fiel gegen die Wand, und Testis Kugel hatte in seinen Körper ein gewaltiges Loch gerissen. Die Wand der Garage zeigte eine rote Spur. Der Schießer lag am Boden. Die anderen rührten sich nicht. Sie waren so gschockt und überrascht, daß sie nicht einmal zu atmen wagten. Ich sah die Frau. Mein Gott, war sie schön! Schön, überirdisch und mit einem Lächeln versehen, auf das der Begriff engelhaft zutraf. Testi nickte ihr zu. Dann winkte er und warf ihr eine Kußhand entgegen. Im nächsten Moment war sie weg. Ich stand da und wischte mir über die Augen. Noch einmal rief ich mir die Szene in Erinnerung, konnte es nicht fassen, obwohl gerade ich mit vielen übersinnlichen Dingen konfrontiert wurde. Das hier war einfach zu stark gewesen. Romano Testi aber tat so, als würde ihn das alles nicht berühren. Er ging seinem Job nach. Auch der Fuchs bekam Handschellen verpaßt. Testi entwaffnete nicht nur ihn, auch seinen Kumpanen nahm er die Schußwaffen ab. Zusammen mit dem Rauschgift verstaute er das Zeug in einer der beiden Taschen. »Ruf die Mordkommission an, Sinclair.« »Sicher, gern.« Ich grinste gequält. Mit den Gedanken war ich noch immer bei dieser ungewöhnlichen Szene. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, eine Person aus Fleisch und Blut gesehen zu haben. Das war eine Erscheinung gewesen, ein Astralleib, und er hatte Testi beschützt. Wahnsinn war das. An der Rezeption telefonierte ich und sagte auch dem Chefportier Bescheid.
Der wurde nicht nur bleich, sondern auch leicht nervös und erkundigte sich, ob die Kollegen so diskret wie möglich vorgehen könnten, denn der Ruf des Hauses stand auf dem Spiel. Ich beugte mich ihm entgegen. »Ja, das werden sie. Außerdem brauchen sie nicht durch die Halle zu gehen. Sie können direkt auf das untere Parkdeck fahren.« »Natürlich, Sir. Ich werde unsere Direktion dennoch informieren.« »Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, sagte ich, ließ ihn stehen und fuhr wieder zurück in die Unterwelt. Dort stand Romano Testi wie der große Sieger. Er hatte die drei gefesselten Rauschgifthändler nebeneinander gelegt und nickte mir zu, als ich auf ihn zuging. »Fette Beute, Sinclair!« »Ja, ich weiß. Gratuliere.« »Danke.« Er grinste, als er meinen Blick sah. Dann dröhnte sein Lachen hervor. »Jetzt hast du tausend Fragen auf einmal, wie ich dich kenne. Sie stehen schon auf deinem Gesicht geschrieben.« »Ist das ein Wunder?« »Nein.« »Außerdem weißt du, womit ich mich beschäftige.« Ich blieb auch beim Du. »Klar, deshalb habe ich ja gewünscht, daß du an meiner Seite bist. Unsere Chefs haben das geregelt.« »Wie schön, daß ich davon auch schon erfahre.« Er schlug mir auf die Schulter. »Sei nicht sauer, Kollege. Ich habe dir einiges zu erzählen.« »Sogar sehr viel, schätze ich.« »Si.« Er schaute zu Boden und dachte über seine nächsten Worte nach. »Von einer Person namens Maria und einem verdammten Typ, der Valentin heißt und sich als Hexenmeister ausgibt…« *** Das Licht schien warm und brach sich im Kristall meines Weinglases, das ich zwischen den Händen balancierte. Testi saß mir gegenüber, tupfte mit einer Serviette die Lippen ab und sagte: »Jetzt weißt du alles, John!« »Nein, mein Freund.« »Wieso?« »Es kann doch nur ein Teil sein. Es ist der Knochen, der dem Hund zugeworfen wurde, damit er schon mal den Geruch in die Nase bekommt. Das Fleisch aber liegt woanders.« Romano Testi widersprach nicht. Er schlürfte seinen Grappa und sah sehr nachdenklich aus. Vielleicht dachte er auch an die vergangene
Nacht, wo er auf so wundersame Weise gerettet worden war und diese Tatsache als Selbstverständlichkeit hingenommen hatte, was mich trotz seiner Erklärungen noch immer wunderte. Wir saßen uns bei einem Italiener gegenüber, den ich für gut hielt. Auch Testi zeigte sich zufrieden. Nach dem Fisch trank er einen Grappa. »Was willst du noch?« »Sagen wir so. Hinter meinem Rücken lief zwar kein Spiel ab, aber schon ein Spielchen. Unsere Chefs haben uns zusammengebracht. Ich habe dir mehr oder minder geholfen, den Gangster zu stellen, und dann passierte etwas, was keiner von uns voraussehen konnte. Plötzlich tauchte diese Gestalt auf. Sie fing die Kugeln ab, die dir zugedacht waren. Du hättest diese Garbe nicht lebend überstanden, sie hätte dich zerfetzt. Aber das gehört der Vergangenheit an. Im Prinzip geht es jetzt um deinen Vater.« »Si, damit begann es.« »Wann?« »Hab’ ich dir gesagt. Vor einigen Jahren. Er holte eine tote Frau aus dem Meer, eine gewisse Maria. Was dann passierte, weißt du. Diese Frau ist etwas Besonderes, und ich habe dir auch den Namen gesagt, wie mein Vater sie sieht.« »Sie ist der Schutzengel.« »Schon, aber du kannst es noch genauer sagen, John. Maria ist der Schutzengel unserer Familie. Sie ist wunderbar, sie ist etwas Besonderes. Sie muß einmal eine Nonne gewesen sein, glaube ich. Eine noch junge Nonne. Sie hat herrliches Blondhaar, sie ist überirdisch schön, aber irgendwie neutral, doch was rede ich da? Das alles hast du ja selbst gesehen.« »Dazu war die Zeit wohl zu kurz«, hielt ich dagegen. »Außerdem kam sie mir nicht menschlich vor, sondern ätherisch. Als hätte sich zwischen uns ein Geist geschoben.« Er nickte. Ich gönnte mir eine Verdauungszigarette und nahm einen Schluck von dem Roten. »Und trotzdem brauchst du noch einen Helfer? Trotz des Schutzengels?« »Das ist das Problem«, antwortete Romano. »Also ja.« »Stimmt und stimmt nicht. Ich brauche den Helfer eigentlich nicht. Es ist Maria, die ihn benötigt. Sie hat einen gewaltigen Feind, dessen Namen ich dir nannte.« »Valentin.« »Si.« »Du hast mir die Geschichte von deinem Vater erzählt«, sagte ich leise. »Er hat ja gesehen, wie Maria durch drei Messerstiche auf der Klippe
stehend ums Leben kam. Können wir davon ausgehen, daß dieser, sagen wir mal Mörder, ein gewisser Valentin gewesen ist?« Testi grinste. »Nicht schlecht gedacht.« »Sie ist aber nicht tot, trotz der Messerstiche. Wenn ich das mal aus meiner Sicht interpretieren darf, dann kann sie nicht sterben. Dann braucht sie keine Angst vor diesem Valentin zu haben, den du ja auch als Hexenmeister bezeichnet hast.« »So scheint es zumindest«, gab Testi zu. »Und was ist dann falsch?« »Es geht nicht immer gut. Es ist vorbei. Auch Maria ist nicht unsterblich. Wenn sie beim nächstenmal auf den Hexenmeister trifft, wird sie sterben. Und dem möchte ich zuvorkommen und dich dabei um Mithilfe bitten. Das ist das Problem.« »Woher weißt du das?« »Von meinem Vater.« »Dann kennt er sich besser aus?« Testi leerte sein Glas. Er verzog das Gesicht und hob die Schultern. »Natürlich kennt er sich besser aus als ich, viel besser sogar. Er weiß es von Maria. Sie ist ihm erschienen, sie hat ihm erklärt, daß sie ihr Versprechen nicht mehr richtig einlösen kann. Es geht um kurze Zeiten, wenn ich das so sagen darf. Sie ist wie auf dem Sprung. Das nächste Zusammentreffen würde sie nicht mehr überleben. Da ist ihr Schutzpanzer durchbrochen worden. Diesmal wird der Hexenmeister stärker sein, wieder stärker sein, aber endgültig.« Ich schwieg, und zwar so lange, bis Testi nervös wurde und mich fragte, ob ich ihm überhaupt zugehört hatte. »Natürlich.« »Schön. Glaubst du mir auch?« »Das ist nicht einfach. Aber die Szene in der Tiefgarage hat mich natürlich überzeugt. Jetzt soll ich dir helfen, diesen Valentin zu finden und ihn aus dem Weg zu schaffen.« »Bevor er Maria findet.« »So ist es.« Mein Lächeln fiel etwas gequält aus. »Einfacher ging es nicht – oder?« »Was ist schon simpel?« Ich hatte keine Lust, darüber zu philosophieren, sondern versuchte es mit konkreten Fragen. Mir war auch klar, daß ich aus dieser Zange nicht mehr herauskam. »Dann verrate mir doch mal, wo wir ihn und sie suchen müssen? Wo fangen wir an?« »Nicht hier. Italien, meine Heimat, aber nicht dort, wo ich herkomme, sondern in einem Kloster. Es liegt auch in Sizilien. Es ist das Kloster, in dem Maria einmal gewesen ist.« »Warum verließ sie es. Sie ist noch jung.« »Sie starb!«
Ich schaute Testi an, als hielte ich ihn für verrückt. »Sie… Sie starb?« hauchte ich. »Si.« »Und trotzdem gibt es sie.« »Sowohl als auch«, sagte er. »Als Geist und Körper, nehme ich an.« Dann schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch. Andere Gäste drehten sich um. »Wir müssen es akzeptieren, John«, sagte er mit wesentlich leiserer Stimme, »daß sie in verschiedenen Gestalten oder Zuständen auftritt und von einem Hexenmeister namens Valentin gejagt wird.« »Ja, das habe ich verstanden, aber nicht begriffen. Kommen wir mal auf den Namen Valentin zurück. Hast du dir über ihn schon einmal Gedanken gemacht?« »Nein, warum?« »Du weißt also nicht, was er bedeutet?« »Es ist ein Vorname.« »Da gebe ich dir recht. In Mitteleuropa gibt es den Begriff des Bruder Valentin. Und das bedeutet soviel wie der Tod. In manchen österreichischen Liedern wird er so genannt. Der Bruder Valentin, der Tod eben.« Testi schaute mich an. »Tatsache?« »Ich habe keinen Grund, dich zu belügen. Zudem gehe ich davon aus, daß alles stimmt, was du mir erzählt hast. Wenn wir Valentin mit dem Tod gleichsetzen, dann ist es Maria gelungen, ihn zu überwinden. Dann hat sie es geschafft, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, und er will das nicht hinnehmen. Deshalb jagt Valentin oder der Hexenmeister die ehemalige Nonne. So sehe ich das Motiv.« Das Gesicht meines italienischen Kollegen war starr geworden. Er konnte kaum fassen, was ich ihm da gesagt hatte. Schließlich nickte er. »Das ist ein Hammer gewesen, John, ein richtiger Hammer. Aus diesem Blickwinkel habe ich den Fall noch nicht gesehen. Ging ja auch nicht, weil du mich erst über diesen Valentin aufgeklärt hast. Dann ist Maria also der Tod auf den Fersen.« »Genau. Um sie endgültig zu sich zu holen.« Er schluckte, bestellte noch einen Grappa, der sehr schnell gebracht wurde. Dann sprach er weiter. »Das macht die Aufgabe nicht lösbarer. Wir müßten uns also mit dem Tod herumschlagen, wenn ich dich recht verstanden habe, John.« »So ungefähr.« »Aber können wir da gewinnen? Ist der Tod nicht etwas Endgültiges, was unsere körperliche Anwesenheit hier auf Erden angeht? Wir können es doch eigentlich nicht schaffen, ihn zu besiegen. Das ist für mich unmöglich. Er wird uns alle holen.« »Sollte man meinen.« »Dann kann ich gleich fahren.«
»So einfach ist das nicht, Romano. Dieser Valentin muß nicht unbedingt der Tod sein, der das Ende bedeutet. Dahinter kann sich ein Dämon verbergen, der nur seinen Namen angenommen hat. Ich denke, daß es da zahlreiche Möglichkeiten gibt.« »Konkret kannst du nicht werden?« »Nein. Ich weiß einfach zu wenig. Aber es würde mich schon sehr interessieren.« Mein Gegenüber atmete erleichtert auf. »Ja, das ist gut, da bin ich beruhigt. Du willst also mitkommen und mit mir gemeinsam versuchen, Maria zu finden.« »Es bleibt dabei.« »Italien ist angesagt.« »Auch das. Was mir, ehrlich gesagt, nicht leicht fällt. Ich gehe aus London nur ungern weg. Ich erzählte dir ja von meinem Freund, der sich in einer anderen Gestalt wiedergefunden hat, allein durch die Manipulation des Teufels.« »Stimmt, du hast davon berichtet. Wenn das so ist, dann verstehe ich dich…« »Keine Sorge, ich fahre mit. Ich muß meinem Job nachgehen und kann nicht einfach hier in London bleiben, Däumchen drehen und darauf warten, daß etwas passiert. Wir werden schon gemeinsam fahren, vorausgesetzt, du bist dir sicher, daß wir bei euch in Sizilien den Hebel ansetzen müssen.« »Ja.« »Hast du keinen Fall mehr am Hals?« Er winkte ab. »Das hier war vorläufig der letzte. Es ist mit meinem Vorgesetzten abgestimmt, daß ich mich um andere Dinge kümmern darf und soll. Wir brauchen da keine Sorgen zu haben.« Er lächelte schief. »Erst einmal muß ich diese Familienangelegenheit ins Reine bringen. Danach sehen wir weiter.« »Finde ich auch.« »Wann bist du startklar?« fragte er. »Morgen?« Testi nickte. »Das geht voll und ganz in Ordnung. Wir fahren erst zu uns, dann in das Kloster. Vielleicht finden wir dort einen Hinweis, der uns weiterbringt.« »Hast du dich nie selbst darum gekümmert? Ich meine, du mußt doch neugierig geworden sein.« »Und ob ich das gewesen bin. Ich sage dir aber auch, daß es keinen Sinn gehabt hat. Allein von der Zeit her habe ich es nicht schaffen können. Mir kam immer wieder etwas dazwischen. Jetzt und mit dir an der Seite habe ich endlich die Chance, da aufzuräumen.« »Ich bin dabei.«
Auf Testis Wink erschien der Ober. Der Kollege aus Italien übernahm die Rechnung. Ich dachte derweil darüber nach, auf was ich mich da wieder eingelassen hatte. Wenn es je einen rätselhaften Fall in meiner Laufbahn gegeben hatte, dann war es dieser. Flavio Testi fischte schon längst nicht mehr, aber die Sehnsucht nach dem weiten Meer war geblieben. Das steckte einfach in einem Menschen drin, der sein halbes Leben auf See und mit Fischen seinen Lebensunterhalt verdient hatte. Die Fischerei brachte nichts mehr. Zu stark waren die Konzerne geworden, sie kontrollierten alles, machten die Kleinen kaputt und wurden wahrscheinlich von der Mafia unterstützt. Jedenfalls sprach man hinter vorgehaltener Hand davon. Testi interessierte das nicht mehr. Er genoß die Ruhe eines Rentners, obwohl er noch keine sechzig Jahre alt war. Er fühlte sich auch noch fit und hatte sich sein Leben entsprechend eingerichtet. Er machte sich nützlich, half bei Nachbarn aus, reparierte auch hin und wieder Boote oder flickte Netze. Manchmal fuhr er auch hinaus. Dann wollte er ganz für sich allein sein, um nachdenken zu können über die Begegnung mit Maria, die sein Leben so geprägt hatte. Sie war zu seinem Schutzengel geworden, sie hatte ihr Versprechen gehalten und dieses auch auf seine Familie ausgeweitet. Von seinen beiden Söhnen wußte er das. In der letzten Zeit aber spürte er Angst. Da hatte er das Gefühl, als ginge es nicht mehr gut, weil dieser Feind der Maria an Stärke gewonnen hatte. Nie würde der Mann den Namen vergessen. Es war der Hexenmeister Valentin. Er schwebte wie ein böses Omen über Flavios Leben, obwohl er ihn nie wieder gesehen hatte, seit dieser schrecklichen Zeit auf der Klippe. Und doch war er da. Das spürte Testi. Er lauerte schon, er saß in irgendeinem Winkel, um aus ihm hervorhuschen und zuschlagen zu können. Flavio Testi war von seinem Sohn Romano über einen phantastischen Plan informiert worden. Zusammen mit einem Geisterjäger aus London wollte er versuchen, diesen Valentin zu finden, zu stellen und ihn aus dem Weg zu schaffen. Maria sollte nicht mehr bedroht werden. Bisher hatte sie nur immer geholfen, jetzt brauchte sie selbst Hilfe, und da wollten die Menschen nicht abseits stehen. Testi hoffte nur, daß der Plan Erfolg hatte. Der Mann hieß John Sinclair, mehr wußte Flavio Testi nicht.
An diesem Tag saß er in einer kleinen Cantina bei Mama Rosa und genoß deren Essen. Sie kochte gut, und Testi kam so oft wie möglich zu ihr, um seinen Hunger zu stillen. An diesem Tag aß er Nudeln, dazu eine Soße aus Tomaten, Gewürzen und Fleisch. Dazu trank er Wein. »Du siehst traurig aus«, sagte Mama Rosa, als sie sich zu Testi an den Tisch setzte. Er war der einzige Gast. Bei diesem herrlichen Herbstwetter hielten sich die Menschen lieber draußen auf oder fuhren hinaus auf das Meer. »Traurig?« »Ja, Flavio, das sehe ich dir an. Du hast Sorgen, und du weißt nicht, wie du sie loswerden kannst.« Er wischte Soßentropfen von seinem Kinn. »Wer hat denn keine Sorgen? Hast du nicht auch Kinder?« »Si.« »Denkst du auch an sie?« »Natürlich.« »Ich auch.« »Es geht unseren Kindern doch gut, Flavio.« Er nickte. »Zum Glück. Aber hat sich nicht deine Mutter auch um dich Sorgen gemacht?« »Da hast du recht.« »So geht es mir auch. Ich muß immer hoffen, daß es meinen Söhnen gutgeht und daß dies so bleibt. Wenn da nichts dazwischenkommt, kann ich aufatmen.« »Alles richtig.« Flavio lächelte. Er schaute über den Teller hinweg. Mama Rosa war keine körpergewaltige Patronin, sondern klein und schmächtig. Sie fiel unter Menschen kaum auf, weil sie so klein war und zudem ein schmales Gesicht hatte. Doch wer in ihre Augen schaute, der sah darin das Temperament wie eine Flamme leuchten. »Wann kommen dich deine Söhne denn wieder besuchen, Flavio?« Er lächelte strahlend. »Romano hat seinen Besuch bereits angekündigt. Es wird nicht mehr lange dauern, schätze ich. Vielleicht schon übermorgen.« »Hat er Sehnsucht? Gefällt ihm der kalte Norden nicht?« »So wird es wohl sein.« Mama Rosa nickte. »Noch einen Schluck Wein?« »Ja bitte.« Sie stand auf und holte einen kleinen Tonkrug. Den hielt sie unter den Hahn eines Fasses. Der Rote lief in den kühlen Krug und füllte ihn bis zum Rand aus. Testi stand vor dem Fenster, betrachtete darin sein Gesicht. Er war älter geworden, die Furchen hatten sich tiefer in seine Haut gegraben. Der Ausdruck in seinen Augen gefiel ihm auch nicht mehr. Er sah so müde aus. Das Haar erinnerte in seiner Farbe an schmutzigen Schnee.
Die Zeiten vergingen, das Meer aber blieb. Er konnte es von seinem Platz aus sehen. Wunderbar ‘ sah es aus. An manchen Stellen lag es wie glatt gestrichen unter dem Glanz der Herbstsonne. Sie ließ die Oberfläche blau grau aussehen. Nur in der Ferne wogte es höher, ansonsten zeigte es sich sehr friedlich. Es war ein schöner Tag. Es gab eigentlich keinen Grund zur Beunruhigung, dennoch fühlte sich Testi unwohl. Schon am Morgen war er nervös gewesen. Er spürte, daß etwas in der Luft lag, und auch jetzt war dieses Gefühl nicht vergangen. Mama Rosa kehrte mit dem Wein zurück an seinen Tisch. Sie schenkte ihm ein und setzte sich. Er lächelte ihr zu. »Du bist traurig«, sagte sie. »Warum?« »Es ist dein Lächeln, Flavio. Es kommt nicht von innen, es wirkt einfach aufgesetzt.« »Das täuscht.« »Nein, Flavio, ich kenne mich aus.« Sie hob ihr Glas an und prostete ihm zu. Auch Flavio trank und dachte daran, daß Rosa ja recht hatte. Nur wollte er es nicht zugeben. Auf keinen Fall durfte sie etwas erfahren. Keinem Fremden hatte er je davon berichtet, nur seine Familie war eingeweiht worden. »Wenn du es mir nicht sagen willst, dann laß es.« Testi hob die Schultern. »Ich wüßte nicht, was ich dir noch sagen sollte.« »Schon gut.« Das lief auf einen Streit hinaus. Rosa war neugierig. Schon oft hatte sie sich mit Flavio gestritten. Es machte ihm auch Spaß, jedoch nicht an diesem Tag. »Ich werde wohl gehen«, sagte er. »Und der Wein? Du hast ihn nicht ausgetrunken.« »Stell ihn kalt.« »Hör auf, Flavio, hör auf!« Wütend winkte sie ab. Sie würde nicht erfahren, was ihn wirklich bedrückte. Flavio zahlte. Er stand auf, nahm seinen Hut vom Haken und ging mit einem knappen Gruß auf den Lippen davon. Die Frau schaute ihm nachdenklich hinterher. Sehr langsam ging Flavio die lange Treppe hoch, die vom Hafen her in das Wohngebiet des Küstendorfes führte. Dort oben standen die Häuser dicht zusammen. Die Plätze waren dem Fels abgetrotzt worden. Es gab nur eine Straße, die mit einem Auto befahren werden konnte. Ansonsten mußten sich die Bewohner zu Fuß durch die schmalen Gassen bewegen. Nur Jugendliche versuchten es ab und zu mit ihren kleinen Motorrädern. Da rasten sie sogar die Stufen der Treppe hinab.
Das kleine Küstendorf wirkte um die Mittagszeit wie ausgestorben. Nur hier und da ließ sich ein Mensch blicken. Vor einem kleinen Tabakladen saß die Eigentümerin und war eingeschlafen. Die Herbstsonne schien ihr ins Gesicht. Testi lächelte, als er sie passierte. Er mußte nach links einbiegen, wo die kleine Gasse zwischen den Hauswänden wie eine Schlucht wirkte. Dorf befand sich auch sein Haus. Es war sehr schmal, vor kurzem noch mit hellgrüner Farbe bestrichen worden, und die Zimmer verteilten sich auf zwei Etagen. Parterre und erste. Darüber lag noch der Dachboden, aber der war nicht geeignet. Kein erwachsener Mensch konnte dort aufrecht stehen. Flavio schloß die Tür auf und betrat das Haus. Es war kühl. Der Steinboden und die schmalen Fenster sorgten dafür, daß die Kühle auch im Sommer blieb. Nur wenig Sonnenlicht fiel hinein, so lagen die Räume meist im Dunkeln. So schmal und irgendwie auch unansehnlich das Haus an der Vorderseite auch wirkte, an der Rückseite aber vergaß man all dies wieder. Von dort konnte man bis weit hinaus auf das Meer schauen, wo Himmel und Wasser miteinander verschmolzen. Es war ein Blick, den Flavio oft genug am Abend genoß, um dem Sonnenuntergang zuzuschauen. Dann hatte er immer das Gefühl, als würden sich in den letzten Strahlen der verschwindenden Sonne die Umrisse seiner Retterin oder seines Schutzengels abzeichnen. Es gab Maria noch. Sie war nicht verschwunden, sie war auch nicht vernichtet worden, noch nicht, aber sie befand sich in Gefahr. Er betrat die Küche. Sie war quadratisch angelegt worden. Die Möbe! hatten schon seinen Eltern gehört. An der Wand hingen Töpfe und Pfannen; Geschirr stand in dunklen Regalen. Der Tisch bestand ebenfalls aus einem dunklen Holz. Es lag keine Decke auf ihm, deshalb fiel dem Mann auch der helle Zettel auf, der ihn regelrecht anleuchtete. Eine Nachricht! Er griff nicht zu. Einen Schritt vor dem Tisch blieb er stehen. Plötzlich zitterten seine Hände. Auf einmal war ihm klar, daß diese Nachricht eine schlimme Botschaft war, daß sie sein Leben noch einmal verändern konnte. In Testis Hals kratzte es. Gib dir einen Ruck, befahl er sich – und ging auf den Tisch zu. Mit spitzen Fingern hob er den Zettel hoch. Er mußte ihn dicht vor seine Augen halten, um lesen zu können, was dort geschrieben stand. Für einen Moment hatte er die Hoffnung, daß die Nachricht von seinem Sohn stammen könnte, doch dieser Wunsch zerflatterte wie Rauch im Wind.
Allein an der Handschrift erkannte er, daß nicht Romano ihm die Nachricht geschrieben hatte, und auch von Carlos, seinem zweiten Sohn, stammte sie nicht. Wer war es dann? Er rieb über seine Augen. Plötzlich spannte sich die Haut auf seinem Rücken. Er wußte Bescheid. Flavio las einmal, dann noch einmal, er spürte den Druck der Tränen hinter seinen Augen. In der Stille hörte sich sein Seufzen überlaut an. »Ich kann dir nicht mehr helfen. Ich muß jetzt auf mich achtgeben. Es tut mir so leid…« Halblaut hatte er die Nachricht vorgelesen, und er wußte natürlich, wer sie geschrieben hatte. Das war sie gewesen. Maria, sein Engel, seine Beschützerin. Sie war am Ende. Bisher hatte sie allen Angriffen widerstehen können, nun war ihre Energie verbraucht. Er strich durch sein Haar. Der Zettel rutschte ihm aus der Hand und flatterte zu Boden. Testi hob ihn nicht auf. Er rückte den schweren Stuhl heran, setzte sich an den Tisch und starrte ins Leere. Er wollte eigentlich nachdenken, aber dazu kam es nicht. Sein Kopf wirkte wie leergebrannt. Was sollte er jetzt noch tun? Es gab nur eines. Sein Sohn und dieser Fremde mußten helfen. Ihnen allein konnte es gelingen, Maria zu retten, denn ihre Zeit war abgelaufen. Valentin ließ nicht locker. Aber konnte man einen Engel töten? Oder war sie doch kein Engel? War sie nur ein Mensch, der besondere Fähigkeiten besaß? Testi wußte es nicht. Er hatte ja nie mit ihr ausführlich darüber gesprochen. Ihm blieb einfach nur das Wissen, nichts mehr für sie tun zu können. Wie ging es weiter? Würde sich dieser Valentin damit zufrieden geben? Oder würde er sich auch an ihm rächen, wo er doch diesem Engel zur Seite gestanden’und geholfen hatte? Wie weit war Valentin informiert? Wußte er etwa, daß Helfer unterwegs waren? Flavio traute ihm alles zu, und noch stärker als sonst wünschte er sich seinen Sohn herbei. Er stand auf. Mit schweren Schritten verließ er die Küche. In dem kleinen, überladen wirkenden Wohnzimmer blieb er vor der Anrichte stehen. Auf ihr standen die Bilder seiner Familie. Er sah seine Frau, die beiden Söhne, auch seine Eltern und Schwiegereltern waren hier verewigt. Lebende und Tote gemeinsam. Flavio konnte sich vorstellen, daß er bald zur Gruppe der Toten zählte. Das grausame Spiel hatte sich verdichtet, er stand vor dem Finale.
Zum Glück aber lebte Maria noch, sonst hätte sie ihm nicht die Nachricht hinterlassen können. Er hatte erfahren, daß sie aus einem Kloster in den Bergen stammte. Bisher war er nie dorthin gefahren, nur sein Sohn Romano war eingeweiht worden. Nun überlegte Flavio, ob er sich auf den Weg dorthin machen sollte. Offiziell hatte Maria das Kloster zwar verlassen, nur wollte er daran nicht so recht glauben. Auch hieß es, daß sie gestorben wäre, und dies schon in sehr jungen Jahren. Tief atmete er durch. Es war schwer, die Wahrheit herauszufinden, sehr schwer sogar. Er drehte sich um. Da stand er. Er war so lautlos gekommen wie der Tod und hatte seinem Namen damit alle Ehre gemacht… Flavio Testi wunderte sich über sich selbst am meisten, daß er nichts tat. Er stand einfach nur da, nahm den Anblick hin, und seine Gedanken kehrten um Jahre zurück, als er auf der Klippe diese Gestalt auf Maria hatte einstechen sehen. Und jetzt war sie hier. Unverändert, denn noch immer wurde der Körper durch eine lange Kutte verborgen, die eine Kapuze besaß. Er hatte sie hochgezogen, aber nicht ganz vor sein Gesicht gestreift. Der Saum endete dort, wo die Augenbrauen wuchsen. Der Stoff war dunkelgrau, jedenfalls so dunkel, daß Valentins Gesicht in einem krassen Gegensatz dazu stand. Es wirkte so kalt, so teigig, so abweisend und auch schaurig. Testi fürchtete sich davor, und das Rieseln auf seinem Rücken kam nicht von ungefähr. Er schwieg. Auch der andere bewegte seinen Mund nicht. Aber er hielt seine Messer in den Händen. Die Arme hatte er gespreizt, die Klingen der Dolche wiesen zu Boden. Sie bestanden aus einem ziemlich hellen Material, als hätten sie einen Teil des Sonnenlichts eingefangen und konserviert. Es war schon seltsam, daß Testi keine Angst verspürte. Er wäre sogar etwas enttäuscht gewesen, wenn dieser Hexenmeister nicht erschienen wäre, deshalb schaffte er es auch, ihm ruhig entgegenzuschauen. Nichts störte sie. Keine Stimmen, keine Geräusche, kein Ticken irgendeiner Uhr. Die Stille stand zwischen ihnen wie eine Wand. Testi nickte schließlich. »Ich habe dich schon erwartet, Hexenmeister. Und doch möchte ich dich fragen, weshalb du zu mir gekommen bist? Warum hast du diesen Weg auf dich genommen?« »Weil ich dich töten werde!« Spätestens jetzt hätte Flavio erschrecken müssen, auch das trat nicht ein. Er blieb stehen und legte seine Stirn in Falten. »Reicht dir das?« fragte der Hexenmeister. »Nein.«
»Weshalb nicht?« Flavio breitete die Arme aus. »Was soll ich dazu sagen? Ich habe dir nichts getan, aber ich sehe ein, daß es besser ist, wenn ich sterbe und sie am Leben bleibt.« Valentin war irritiert. »Wie meinst du das?« »Sie kann noch Gutes tun.« Das Lachen drang aus seinem Mund, als wäre es zuvor durch eine Blechschachtel gefahren. »Sie wird nichts Gutes mehr tun. Nichts, was in deinem Sinne gut ist. Ihre Zeit ist abgelaufen. Zuerst hole ich dich, dann ist sie an der Reihe. Zweimal ist sie mir entwischt, da konnte sie dem Tod entgehen. Ein drittes Mal passiert das nicht. Damit ist auch ihr Schicksal besiegelt.« Testi blieb noch immer gelassen. »Bist du denn der Tod?« erkundigte er sich. »So ist es.« »Aber der Tod ist unsichtbar. Du kannst nicht der Tod sein, du bist ein Mensch. Seit wann, so frage ich dich, ist der Tod ein Mensch? Das kann ich nicht glauben.« »Ich bin die Reinkarnation des Todes. Der Tod hat ein Gesicht bekommen, nämlich mich, den Hexenmeister Valentin. Endlich kann man ihn sehen. Die Menschen werden sich wundern. Ich bin der Meister über das Leben und über das Sterben.« »Oder bist du der Teufel?« »Nein, nur der Tod!« Flavio Testi nickte. »Bevor du mich umbringst«, sagte er, »will ich dir noch erklären, daß ich es immer wieder getan hätte. Ich hätte ebenso gehandelt, wie ich es damals tat. Denke nur nicht, daß ich keine Angst vor dem Sterben habe, aber Wesen wie Maria sind in dieser schlimmen Welt einfach zu selten, um sie auslöschen lassen zu können. Es müßte mehr von ihnen geben.« Der lippenlose Mund in dem bleichen Gesicht verzog sich zu einem kalten Grinsen. »Vielleicht ist sie tatsächlich nicht allein. Es kann durchaus sein, daß es noch mehr dieser Wesen gibt. Ich aber werde sie suchen und finden.« »Warum tötest du sie?« »Weil es nicht angeht, daß jemand den Tod überlistet. Und so bin ich erschienen, um alles in die Reihe zu bringen. Ich bin der Hexenmeister Valentin, der Bruder Tod, der Richter ohne Sense, aber die Menschen kennen mich. Sie…« Es war nicht mehr nur seine Stimme, die Flavio Testi hörte. Eine andere drang ebenfalls an seine Ohren. Ein Ruf. »Vater? Bist du im Haus?«
Das war sein Sohn Romano. Das Schicksal hatte ihn ausgerechnet zu dieser Zeit herbestellt. Auch Valentin hatte die Stimme gehört. Seine Gestalt zog sich etwas zusammen. Er sah dabei aus, als wollte er sich für die Tat sprungbereit machen. »Romano? Attentione! Du mußt…« Die Warnung erstickte, denn Valentin schleuderte seine beiden Messer auf Testi zu, der das Gefühl hatte, von glühenden Pfeilen durchbohrt zu werden, in die Knie sackte, den rechten Arm noch bewegte und durch die Bewegung die Bilder von der Anrichte räumte. Sie prallten zu Boden, und auch Flavio Testi prallte auf die Bilder, denn nun gehörte er dazu… »Hier also wohnst du«, sagte ich, als Romano den Alfa gestoppt und mich zum Aussteigen aufgefordert hatte. Er stand auch vor der Kühlerhaube und deutete mit beiden Händen dorthin, wo wir die Häuser sahen, die das Dorf Locanto bildeten. Viel war nicht zu sehen. Beherrscht wurde das >Bild< von dem Meer. »Ein romantischer Flecken ist Sizilien«, sagte ich. »Sonst noch was John?« Ich hob die Schultern. »Komm, sag es mir. Ich bin nicht beleidigt.« »Ein Ort für alte Leute, nicht?« Romano nickte traurig. »Ja, es ist ein Ort für alte Leute. Die Jungen ziehen weg. Sie sehen keine Zukunft mehr. Die großen Städte liegen einfach zu weit entfernt. Du kommst her, schaust dich um, bleibst eine Woche und spürst dann den Drang, wieder verschwinden zu müssen, weil es hier zu einsam ist. Die Menschen leben hier einfach vor sich hin, das ist alles. Keine Chance für die Jugend.« »Leider.« »So ist es an vielen Stellen der Küste. Auch ich bin gegangen, aber das Gefühl von Heimat steckt noch immer in mir. Und es steigert sich, wenn ich Locanto sehe.« »Das kann ich verstehen.« Er stieg wieder ein. Ich klemmte mich ebenfalls auf den Beifahrersitz, um mich die letzten Meter fahren zu lassen. Testi hatte mir schon erklärt, daß es uns nicht möglich sein würde, bis vor das elterliche Haus zu fahren. Die Gassen waren zu eng, da kam man nicht durch. Außerdem standen die Häuser im Fels der Steinhänge. Erst unten am Wasser, wo der kleine Hafen ein offenes Karree bildete, war das Land flacher. Auch der Asphalt der Straße hatte aufgehört. Die Reifen knirschten über kleine Steine. Eine südliche Sonne stand am Himmel und gab noch so viel Wärme ab, daß ich schwitzte. Wir stoppten an der Kirche. Sie lag am nächsten. Neben der Mauer war noch Platz, und über sie hinweg, von der Innenseite her, wuchsen
knorrige Büsche, deren karges Blattwerk von einer Staubschicht bedeckt war. Als wir ausstiegen, wurde ein kleines Tor quietschend geöffnet. Der Pfarrer trat uns entgegen. Er war ein sehr alter Mann. In seiner schwarzen Kleidung wirkte er wie ein düsteres Gespenst. »Ich habe einen Wagen gehört, Romano, und freue mich, daß du wiedergekommen bist.« Er reichte ihm die Hand. »Geht es dir gut, mein Junge?« »Ja, ich kann nicht klagen. Das ist ein Freund aus England. Er heißt John Sinclair.« Der Pfarrer blinzelte mich an. Er machte den Eindruck eines Kurzsichtigen. »Ah, es freut mich, einen Freund von Romano kennenzulernen. Seien Sie willkommen.« »Danke, Hoch würden.« »Du willst sicherlich zu deinem Vater, Romano?« »Natürlich. Wie geht es ihm?« »Ich sah ihn gestern. Da war er noch munter. Er hat auch von dir erzählt. Er freut sich darauf, daß du kommst. Deshalb war ich nicht überrascht, dich hier zu sehen.« »Dann wollen wir ihn auch nicht warten lassen, ; Hoch würden«, sagte Testi und nickte mir zu. »Recht so.« Wir gingen, und ich wollte wissen, ob der Pfarrer in die mystischen Vorgänge eingeweiht worden war. »Nein, das ist er nicht. Es weiß nur unsere Familie Bescheid.« »Dein Bruder Carlo auch?« »Si.« Das Dorf schwieg. Es konnte an der Zeit liegen, schließlich war Mittag, da ruhten sich zahlreiche Menschen aus, aber ich glaubte nicht daran, daß später mehr Betrieb herrschen würde. An Locanto war die Zeit vorübergestrichen. Die Luft flirrte. Sie war klar und trocken, trotz Meeresnähe. Ein stabiles Hochdruckgebiet über dem Mittelmeer brachte einen wunderschönen Oktober. Schon bald ging es abwärts. Romano kannte sich aus. Leichtfüßig lief er die Stufen einer Steintreppe hinab. Niemand kam uns entgegen. Die meisten Fensterläden auf der Sonnenseite waren verschlossen. Man wollte die Wärme aus den Häusern lassen. Unten am Hafen fuhren Autos. Die Geräusche drangen hoch bis zu uns. Sie erinnerten mich daran, daß es hier doch noch Leben gab. Die Treppe mündete nahe einer Gasse. In sie tauchte Romano hinein. Ich blieb hinter ihm. Es tat gut, durch den Schatten zu gehen. Nur von unseren Trittgeräuschen wurde die Stille unterbrochen.
Testi wartete, bis ich ihn erreicht hatte. Er deutete nach rechts auf ein schmalbrüstiges Haus mit grünlichem Anstrich. »Hier ist es, John. Hier bin ich aufgewachsen. Hier lebt mein Vater noch immer, und er ist oft sehr allein.« Ich nickte. Er ging vor. Er blieb still, und deshalb hörten wir auch die Stimme des Mannes, die uns eine Warnung zuschrie, kaum daß Testi die Haustür geöffnet hatte. »Verdammt, das ist mein Vater!« Plötzlich war alles anders. Es gab keine Ruhe mehr. Da wurden Emotionen hochgepeitscht, durch meinen Körper raste ein Adrenalinstoß, ich hatte es ebenso eilig wie Romano. Er war bereits im Haus verschwunden. Ich stand im Flur und schaute mich um. Die Warnung hatte ich verstanden, aber jetzt war die Stimme nicht mehr zu hören. Ein Gefühl der Kälte durchrieselte mich. Ich hatte die Beretta gezogen, schaute gegen die Treppe, die sich wie ein dunkles Skelett in die Höhe wand, und hörte vor mir einen Schrei. Romano hatte ihn ausgestoßen. Kein Schrei der Angst oder des Entsetzens, nein, einer, aus dem alles Leid der Welt sprach. Ich hetzte hin. Der Raum war überladen. Die alten Möbel standen im Weg, aber das interessierte mich nicht. Mein Blick war auf die Anrichte an der linken Wand gefallen. Davor kniete Romano Testi. Ich sah nur seinen Rücken, konnte aber trotzdem erkennen, daß er den Kopf eines älteren und leblosen Mannes leicht angehoben hatte. Er stützte ihn mit den Händen ab und flüsterte immer nur ein Wort: »Vater…« Er weinte dabei, und da wußte ich Bescheid. Neben ihm lag Flavio Testi und war tot. Ich schob mich an einem Sessel vorbei. Mein Blickwinkel verbesserte sich. Jetzt sah ich den Mann besser – und die beiden Wunden in der Brust, die stark bluteten. Die Waffen hatten Gewebe und Adern zerrissen und dem älteren Menschen keine Chance gegeben. Mich überkam die kalte Wut! Auf meinem Rücken fraß sich der Schauer fest. Ich dachte dennoch sehr logisch und erinnerte mich daran, daß uns Flavio Testi eine Warnung zugerufen hatte. Da hatte er noch gelebt. Und das lag nicht einmal eine Minute zurück. Wir hatten seinen Mörder weder gesehen noch gehört. Es war also durchaus möglich, daß er noch im Haus steckte. Ich fuhr herum.
Romano kümmerte sich nicht um mich. Er wäre jetzt auch nicht in der Lage gewesen. Was nun folgte, war allein meine Sache, und die würde ich durchziehen. Der Flur war schmal. Die Treppenkonstruktion hatte so eben noch Platz. Ich glaubte einfach nicht, daß der Killer durch die normale Haustür verschwunden war. Wir hätten etwas hören müssen, zumindest ich. Ich ging auf die Treppe zu. Die Beretta hielt ich mit einer Hand fest und hatte das Gelenk so gekantet, daß die Waffe mit ihrer Mündung gegen die Decke wies. So konnte ich sie blitzschnell senken, zielen und auch schießen. Vor der ersten Stufe blieb ich stehen, schaute die Treppe hoch, die schon sehr bald einen Knick machte, weiter in die Höhe führte und danach erst in der ersten Etage endete. Tat oder bewegte sich dort etwas? Ich sah nichts. Durch ein kleines Fenster auf halber Höhe fiel blasses Licht, das ein bläulich schimmerndes Viereck auf die Breite zweier Stufen malte. Ich ging weiter. Meine Schritte schabten über das dunkle Holz der Stufen, auf denen eine dünne Schicht aus grauem Staub lag. Ich erreichte die erste Etage, ohne daß etwas passiert wäre. Dann stand ich vor einer Tür. Sie war geschlossen. Als ich sie auftrat und in das Zimmer zielte, sah ich, daß es ein Schlafraum war. Ein Doppelbett, ein Schrank, eine alte Kommode mit dazugehöriger Waschgelegenheit. Aber kein Mörder. Ich zog mich wieder zurück. Wenig später tauchte ich in die Enge eines schmalen Flurs und sah über mir eine offene Luke, durch die man auf den niedrigen Dachboden klettern konnte. Das war der Weg! Eine Leiter gab es nicht. Wer hoch wollte, mußte springen und sich an der Kante in die Höhe ziehen. Für mich war es zu spät. Ich hörte ein kaltes Lachen, dann noch einmal, aber es klang schon zu weit entfernt. An den sich über mir bewegenden Schatten aus hellem und grauem Licht entnahm ich, daß sich der Killer durch ein Fenster abgesetzt hatte, das von ihm geöffnet und nicht wieder geschlossen worden war. Wenn ich ihm nackletterte, würde zuviel Zeit vergehen. Die Schatten aber hatte ich an der linken Seite gesehen, und dort befand sich auch das Flurfenster. Ich hetzte hin. Die Sonne blendete mich, als ich durch die Scheibe schaute. Trotzdem sah ich die schwarze Gestalt, die mir den Rücken zudrehte und über ein Hausdach hetzte.
Als ich das Fenster aufgerissen hatte, sprang sie in die Tiefe. Ein letztes Lachen hallte mir noch entgegen, dann trat eine bedrückende Stille ein, die nur von meinem flüsternd gesprochenen Fluch unterbrochen wurde. Ich war verdammt sauer, daß mir der Killer entwischt war. Das mußte dieser Valentin gewesen sein, der auch unter dem Namen Hexenmeister bekannt war. Ein Ziel hatte er erreicht. Maria hatte es nicht mehr geschafft, Flavio Testi zu schützen. Die andere Seite war stärker geworden, und jetzt ging es für uns um Maria. Ich stieg langsam die Treppe hinab. Wohl war mir nicht, als ich den Wohnraum betrat. Romano hatte seinen Vater auf die Couch gelegt. Der harte Polizist weinte. »Er soll nicht so hart liegen«, sagte er dann. »Ich… finde es besser, wenn er dort liegt.« Ich nickte nur. Was sollte ich auch sagen? Jedes tröstende Wort wäre hier fehl am Platze gewesen. Durch diesen Tunnel mußte Romano allein gehen. »Um Sekunden zu spät!« flüsterte er. »Wir sind um Sekunden zu spät gekommen.« Dann schrie er plötzlich. »Verdammt noch mal, warum nur? Warum hat uns das Leben diesen Streich gespielt?« Er funkelte mich an. »Sag du es, Sinclair!« »Ich weiß es nicht.« »Es ist so verdammt ungerecht, das Leben. Ich kenne Killer, die haben zahlreiche Morde auf ihr Gewissen geladen. Die leben noch, verflucht, sie leben. Aber dieser Mann, der immer aufrecht durchs Leben ging, mußte sterben. Zwei Messerstiche haben ihn getötet. Er konnte nicht einmal würdig aus dem Leben abtreten.« Sein Schmerz war ebenso verständlich wie seine Reaktion. Ich wollte ihn allein lassen und ging in einen anderen Raum. In der Küche hielt ich mich auf. Da fand ich auch den Zettel. Ich hob ihn auf und las die Botschaft, die Maria hinterlassen hatte. Dabei durchzuckte mich Eiseskälte. Es war schon bedrückend, wie sehr Maria mit ihrer Naricht ins Schwarze getroffen hatte. Sie hatte also gewußt, daß die Chancen nicht mehr bestanden. Und sie wußte auch, daß sie jetzt an der Reihe war. Deshalb mußten wir sie so rasch wie möglich finden. Ich hörte schlurfende Schritte aus dem Flur. Romano betrat die Küche. Er bewegte sich wie ein alter Mann. In seinen Augen lag überhaupt kein Glanz mehr. Er setzte sich und starrte ins Leere. Ich suchte derweil im Schrank nach. Ein Glas fand ich und auch eine Flasche Grappa. Ich ließ den Schnaps in das Glas gluckern. »Gib mir die Flasche, John!«
Er bekam sie. Beide tranken wir. Romano mehr als ich. Dann setzte er die Flasche ab, schaute sie an, schrie tierisch auf und schleuderte sie zu Boden, wo sie auf den Steinfliesen klirrend zersprang. Ich sagte kein Wort. Er hatte das tun müssen, um seinen Frust und den Schock zu überwinden. »Nimm dir einen Stuhl, John.« Den Gefallen tat ich ihm. Beide hockten wir am Tisch zusammen. Romanos Blick hatte sich wieder geklärt. Ich konnte es riskieren und reichte ihm den Zettel mit der Botschaft. Er las sie, nickte einige Male und flüsterte dann: »So ähnlich habe ich mir das vorgestellt.« »Sie wird gejagt.« »Si, John, man jagt sie. Und dieser verfluchte Hexenmeister wird sie auch finden.« »Falls wir nicht schneller sind.« Er wischte durch seine Augen. »Du bist ein Optimist. Wo sollen wir denn anfangen zu suchen.« »Bei den Wurzeln.« Er schüttelte den Kopf und winkte gleichzeitig ab. »Nimm es mir nicht übel, aber jetzt verstehe ich fast gar nichts mehr. Was meinst du mit Wurzeln?« »Bei den Anfängen.« »Damit kann ich auch nichts anfangen.« Ich stellte die nächste Frage anders. »Wie weit ist dieses Kloster von hier entfernt? Du weißt, daß Maria dort aufgewachsen ist. Das haben wir gehört.« »Klar, ich weiß es.« »Kennst du es?« »Nein oder ja. Ich weiß zumindest, wie wir dorthin kommen. Wir fahren vielleicht eine Stunde ins Landesinnere. Glaubst du denn, daß wir den Hexenmeister in einem Nonnenkloster finden werden? Das will mir nicht in den Kopf.« »Zumindest habe ich ihn schon gesehen«, wich ich einer direkten Antwort aus. »Du hast was…?« Er wollte aufspringen, doch ich konnte ihn beruhigen und begann mit meinem Bericht. Romano durchlebte eine Hölle für sich, als er meinen Erzählungen lauschte. Er schüttelte dabei immer wieder den Kopf und fing an zu fluchen. Doch er machte mir keinen Vorwurf. An seiner Stelle hätte er ebenso gehandelt. »Dieser Valentin ist also unterwegs, John. Er wird sich nicht aufhalten lassen. Er hat meinen Vater getötet, weil er auf Marias Seite stand. Könnte es so werden, daß er seinen verfluchten
Rachefeldzug fortsetzt und sich all die Menschen vornimmt, die einmal gut zu Maria, dem Schutzengel, gewesen sind?« »Das wäre möglich.« »Und wer war alles gut zu ihr?« »Zumindest die Schwestern im Kloster.« »Ja, verdammt, ja, du hast recht. Die Schwestern im Kloster. An sie müssen wir herankommen, und es kann dann auch sein, daß wir auf den Mörder treffen.« »Das hoffe ich.« »Trotzdem fehlt mir noch der richtige Durchblick«, flüsterte er. »Leider wußte mein Vater auch nicht mehr.« »Wir werden es herausfinden.« »Gut, John, gut.« Er schaute auf die Uhr. »Ich muß dem Pfarrer und dem Leichenbestatter Bescheid geben. Das wird einige Zeit in Anspruch nehmen. Warte solange auf mich.« Er stand auf. »Du kannst hier im Haus bleiben oder in eine Cantina gehen. Das ist mir gleich.« Ich entschied mich für die Cantina und ließ mir von Romano den Weg beschreiben. Es war besser für ihn, wenn ich ihn jetzt nicht störte. Wieder einmal hatte ich erlebt, wie brutal und hart das Leben sein konnte. In derartigen Situationen machte mir der Job keinen Spaß. Die beiden Tische standen draußen vor der Cantina. Erst als ich mich niederließ, war einer besetzt. Ich hatte zuvor bei einer dunkelhaarigen Frau eine Bestellung aufgegeben. Sie servierte mir mein Mineralwasser. Dabei sah sie aus, als wollte sie mir eine Frage stellen, hielt sich aber zurück, denn mein Blick ließ darauf schließen, daß ich allein sein wollte, trotz des Trinkgeldes, das ich gab. War mein erster Eindruck von Locanto der einer Erstarrung gewesen, so hatte sich dieses Bild geändert. Es herrschte zwar kein Trubel, aber ich spürte die Veränderung. Da tat sich etwas hinter den Kulissen, obwohl es keine sichtbare Unruhe gab. Dafür hörte ich Stimmen. Manchmal laut, dann wieder leise, auch entsetzt und geschockt. Es hatte sich also herumgesprochen, was geschehen war. Zwei Männer rannten in meiner Nähe vorbei und verschwanden in einer schmalen Gasse, die zum Hafen führte. Ich konnte ebenfalls hindurchblicken und sah einen schmalen Ausschnitt des blaugrau daliegenden Meeres, auf dessen Oberfläche das Sonnenlicht einen hellen Teppich gelegt hatte. Romantik im Herbst. Zu schön, um wahr zu sein. Immer wieder mußte das Schicksal mit Brachialgewalt zuschlagen, und auch an diesem Tag war ich ihm nicht entwischt. Ich trank das Wasser. Es war angenehm, denn es hatte keinen so großen Gehalt an Kohlensäure aufzuweisen.
In kleinen Schlucken ließ ich es die Kehle hinabrinnen. Im Hals spürte ich das Prickeln. Sonnenlicht wärmte mein Gesicht. Hinter mir öffnete die Frau einen Fensterladen, um ebenfalls Licht in die etwas düstere Cantina zu lassen. Mich umgab eine gespannte Stille, die einen Menschen schon schläfrig machen konnte. Nur war ich davon meilenweit entfernt. Ich war hellwach und topfit. Zudem konnte ich mir vorstellen, daß irgend etwas passieren würde. Meiner Ansicht nach lag in der Luft eine gewisse Spannung, die wie ein leichtes Rieseln über meine Haut fuhr. Deshalb auch meine Unruhe, die mich zwang, mich immer wieder zu bewegen. Ich drehte mich auf dem roten Plastikstuhl nach rechts und links. Hörte mal eine Stimme, sah den Schatten eines Menschen, und alles kam mir vor, als läge zwischen mir und den anderen eine Glasplatte, die ich nur mühsam durchblicken konnte. Seltsam… Ich bewegte zwinkernd meine Augen. Dann spürte ich den plötzlichen Energiestoß. Genau auf meiner Brust, und zwar dort, wo das Kreuz seinen Platz gefunden hatte. Hielt sich ein Feind in der Nähe auf? Meine Muskeln krampften sich zusammen. Aus irgendeiner Ecke beobachtete man mich. Augen, die ich nicht sah, die mich aber entdeckt hatten. Ich schaute wieder hoch. Und da stand sie. Kein Mensch, kein Geist, eine Mischung aus beidem, einfach eine Gestalt, die blondes Haar hatte und eine lange Kutte trug. Eine Ordensfrau! Nur nicht irgendeine, sondern die Frau, die ich suchte – Maria! Wir schauten uns an. In der Tiefgarage hatte ich sie zum erstenmal gesehen, doch nicht so deutlich wie hier. Ich mußte zugeben, daß ihr Gesicht tatsächlich von einer schon überirdischen und auch geisterhaften Schönheit war, die mich schon beim ersten Sichtkontakt faszinierte. Ein Gesicht kann lächeln, es kann Trauerzeigen, aber auch ohne Ausdruck sein. Bei ihr entdeckte ich diese drei Eigenschaften in einem, und ich war sprachlos. Sie stand direkt vor meinem Tisch. Hinter mir hörte ich noch die Serviererin, aber sie schien die Gestalt nicht zu sehen, die war nur für mich bestimmt. Was war der Grund? »Du hast das Kreuz…« Es waren flüsternde oder gehauchte Worte, die mir entgegenwehten, und ich konnte nichts anderes tun, als zu nicken und dies zu bestätigen. »Maria?« hauchte ich ebenso leise zurück. Sie nickte.
Ich fragte weiter. »Ein Engel?« Da überzog ein Lächeln das ätherisch anmutende Gesicht. Es konnte alles bedeuten, vielleicht ja – oder auch nein. Ich ging auch nicht weiter darauf ein, sondern fragte wiederum sehr leise: »Was können wir für dich tun, Maria? Wir sind gekommen, um dich zu schützen. Ich habe das Kreuz und…« »Das spürte ich…« »Gut, dann weißt du ja, daß…« »Laß mich schnell reden, denn ich muß wieder weg. Geh dorthin, wo alles seinen Anfang nahm.« »In das Kloster?« Sie nickte. »Ja, nur dort könnt ihr alles über mich erfahren. Wo es begann, wird es enden.« Ich hatte Angst, daß sie verschwand und wollte sie weiter fragen. »Was ist mit Valentin, dem Hexenmeister?« »Er ist mein Feind, er ist der Tod, den ich überwunden habe. Er kann es nicht mehr hinnehmen. Er will, daß seine Zeit bald kommt, und sie ist schon angebrochen. Es tut mir so leid um Flavio, aber ich kann die Testis nicht mehr schützen. Das ist vorbei. Jeder hat seine Zeit, auch ich mache da keine Ausnahme. Und noch eines möchte ich dir sagen. Wichtig ist die nächste Nacht, wichtig ist das Kloster, mein Grab dort. Finde die Zusammenhänge, es gibt sie…« Natürlich lagen mir zahlreiche Fragen auf der Zunge, aber Maria machte mir einen Strich durch die Rechnung. Sie verschwand ebenso lautlos und so schnell, wie sie gekommen war. Vorbei… Ich holte tief Luft und spürte erst jetzt, daß mir vor Anstrengung der Schweiß aus den Poren getreten war. Mit wem hatte ich denn nun gesprochen? War es ein Engel gewesen? Nein, das wollte ich nicht akzeptieren. Engel sind keine Menschen, die mal gestorben sind. Engel sind andere Wesen. Das Wort stammt aus dem Griechischen. Angelos bedeutet soviel wie Bote. Im christlichen Glauben sind Engel Wesen, die zwischen Gott und den Menschen stehen. Man sagt auch, daß sie als Boten Gottes zu den Menschen werden. Auch unter den Engeln soll es Hierarchien geben. Ich kannte natürlich die mächtigen Erzengel. Die Anfangsbuchstaben der vier mächtigsten Erzengel waren ja in meinem Kreuz eingraviert, deshalb stand ich zu den Erzengeln in einem besonderen Verhältnis. Erst allmählich fand ich mich wieder zurecht. Die Serviererin mußte mich zweimal ansprechen, bevor ich es mitbekam und den Kopf anhob, um sie anzuschauen. Sie hatte ein breites, bäuerliches Gesicht und sehr dunkle Haare. Zudem war sie ziemlich kräftig. Mädchen wie sie konnten zupacken. An der
langen roten Schürze wischte sie ihre Handflächen ab und stellte die Frage noch einmal. »Ist es möglich, daß jemand bei Ihnen war, Signore?« »Bei mir?« Ich deutete auf meine Brust. »Haben Sie denn jemand gesehen?« Sie wußte nicht so recht, ob sie nicken oder verneinen sollte. »Ja und nein. Ich hatte das Gefühl und glaubte auch, daß Sie sich mit jemandem unterhalten haben.« »In der Tat. Aber mit mir selbst«, sagte ich schnell und schickte ein Lachen nach. Jetzt wußte die Kleine nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Sie entschied sich für das Lachen. »Dann ist es ja gut. Ich dachte schon, ich hätte einen Kunden übersehen.« »Nein, das haben Sie nicht.« Sie ging wieder, war aber nicht ganz zufrieden. Ich konnte mich wieder einmal wundern. Warum hatte die Serviererin die Gestalt nicht gesehen? Auch eine Frage, auf die ich keine Antwort wußte… *** »Es ist keine gute Zeit, Ehrwürdige Mutter«, sagte die Nonne, als sie das Essen vor der Äbtissin abstellte. Die Schüssel stand auf einem Tablett. Sie enthielt Nudeln, auf denen die Butterflocken allmählich schmolzen. Eine Gabel und ein Löffel lagen neben dem Teller. Die Äbtissin nahm beides in die Hände, aß aber noch nicht, sondern fragte: »Woher weißt du das?« »Ich habe es gespürt, Ehrwürdige Mutter.« »Dein zweites Gesicht?« »Si…« »Und weiter?« »Ich habe Unheil gesehen. Es… es war eine dunkle Wolke, die immer näher an unser Kloster herankam und sich über ihm zusammenballte, als wollte sie uns erdrücken.« Die Äbtissin atmete hörbar. So etwas hatte sie sich gedacht. Schon vor Tagen hatte die junge Nonne Solara darauf hingewiesen, daß sich etwas Schreckliches anbahnte. Die alte Frau hatte sehr genau zugehört und auch an eine Parallele gedacht. Vorjahren war es ähnlich gewesen. Viele im Kloster konnten sich noch an die rätselhaften Vorgänge um Maria erinnern. Sie war etwas Besonderes gewesen und hatte kurz vor dem Sterben behauptet, daß sie es schaffen würde, den Tod zu besiegen. Sie hatte es geschafft, denn sie war einigen Schwestern schon erschienen. Aber sie hatte auch darunter zu leiden, denn man war ihr auf
der Spur. Der Tod wollte nicht so einfach hinnehmen, von einem Menschen überlistet worden zu sein, wobei man sich bei Maria hatte fragen müssen, ob sie überhaupt ein normaler Mensch aus Fleisch und Blut gewesen war, oder ob Gott durch sie ein Zeichen hatte setzen wollen. Lucia, die Äbtissin, schaute Solara intensiv an, daß diese rot im Gesicht wurde. »Habe ich etwas an mir, Ehrwürdige Mutter?« fragte sie leise und vorsichtig. »Nein, meine Liebe, hast du nicht. Aber du bist ihr so gleich. Auch das Haar ist blond. Deine Haut ist so rein, du bist so übermäßig schön. Zudem hast du so etwas Ähnliches wie das Zweite Gesicht, und ich frage mich, ob sich das Schicksal wiederholen kann.« Solara schüttelte den Kopf. Sie hatte nichts begriffen. »Wie meinen Sie das, Ehrwürdige Mutter?« »Darüber werde ich später mit dir reden. Ich gebe dir nur einen guten Rat. Halte stets die Augen und Ohren offen, was immer auch geschieht. Schau genau hin.« »Das mache ich schon.« »Sieh in Zukunft noch genauer hin. Und tu mir einen Gefallen.« »Jeden, Ehrwürdige Mutter.« »Berichte mir von deinen Träumen.« Solara wurde rot. »Du hast schon geträumt?« Sie nickte. »War es so schlimm?« Die junge Nonne hob die Schultern. Dann drückte sie die Hände zusammen, knetete die Finger, spreizte sie und wußte nicht, was sie antworten sollte. Die Äbtissin schob das Tablett zur Seite. Sie wollte die kalt gewordenen Nudeln nicht mehr essen. Sie half Solara, indem sie sagte: »Es wäre keine Schande, wenn du von jungen Männern geträumt hättest. Immerhin fordert die Natur in deinem Alter ihr Recht. Darauf möchte ich auch nicht hinaus. Mir geht es um andere Träume, um ungewöhnliche Erscheinungen, die du gehabt haben könntest. Verstehen wir uns?« »Nein… nicht direkt…« »Gut, dann will ich deutlicher werden. Ist dir im Traum jemand erschienen, Solara?« Die Augen der jungen Nonne weiteten sich. »Ja«, flüsterte sie nach einer Weile. »Es stimmt, ich hatte diese Erscheinungen in der letzten Zeit. Es waren Wesen…« Als sie den Satz abrupt beendete, schüttelte Lucia den Kopf. »Du mußt weitersprechen, meine Liebe.« »Ich… ich schäme mich.« »Nicht vor mir. Wir sind allein.«
Solara saugte den Atem ein. Dann senkte sie den Kopf. »Es waren geisterhafte Wesen, erfüllt von Licht und…« »Engel?« Solara preßte ihre rechte Hand gegen die Brust. »Wie gut, daß Sie es ausgesprochen haben, Ehrwürdige Mutter. Ich habe gedacht, mich lächerlich zu machen, wenn ich so etwas sage.« »Nein, bestimmt nicht. Ich habe förmlich darauf gewartet. Hatten die Engel eine Botschaft für dich?« Sie hob die Schultern. »Das kann durchaus sein. Wenn ja, dann habe ich sie nicht verstanden. Ist das schlimm?« »Überhaupt nicht. Wir werden aber darüber reden müssen, Solara. Sehr bald schon.« »Ja, wenn Sie wollen, Ehrwürdige Mutter.« »Dann kannst du jetzt gehen.« Die junge Nonne verbeugte sich knicksend und eilte davon. Sie ließ eine sehr nachdenkliche Äbtissin zurück, die das Gefühl hatte, als würde sich bald alles wiederholen. Noch war Solara nicht soweit. Sie war noch zu jung, es würde dauern, bis sie den Durchblick endlich gefunden hatte, dann aber mußte sie darauf vorbereitet sein. Es war nicht so, daß man die Äbtissin in die gesamten Geheimnisse eingeweiht hätte, aber sie hatte Maria beobachten können, und sie wußte auch, welches Geheimnis sie umgab. Es war für Lucia so etwas wie eine Offenbarung, und diese Offenbarung schwebte in einer großen Gefahr. Bewußt hatte sie Solara nicht mehr auf die Wolke angesprochen. Sie war ja nur ein Sinnbild dafür, daß sich dem Kloster etwas näherte. »Den Tod überwinden, schon hier auf Erden von dem träumen, was uns die Offenbarung verheißt«, murmelte sie. »Das ist der Traum eines jeden Menschen. Maria hat ihn geschafft, aber der Tod läßt sich nicht bluffen. Er holt sich alles zurück.« Ihre Stimme war traurig geworden, und sie wischte über ihre Augen. Maria war tot, aber sie lebte trotzdem. Sie war zurückgekehrt, sie war reinkarniert, aber das wußte nur sie. In den langen, einsamen Nächten hatte sie Maria mehr als einmal durch die düsteren Gänge des Klosters streifen sehen. Ein Schemen, kein fester Körper mehr, der so viel Engelhaftes an sich hatte. Ein Engel? War sie wiedergeboren worden, um zu einem Engel zu werden, der vom Tod gejagt wurde? Wieder dachte sie an die schwarze Wolke, an dieses bedrückende Symbol, für das sie auch die richtige Schublade hatte. Sie war das Synonym für die Bedrohung, sie besaß auch einen Namen. Valentin, der Hexenmeister!
Er war der Tod, der Feind der Engel, und er würde nichts unversucht lassen, um Maria an sich zu reißen. Die Äbtissin stand auf. Trotz ihrer mehr als siebzig Jahre bewegte sie sich geschmeidig. Es tat ihr leid, das Tablett wieder wegschaffen zu müssen, ohne etwas gegessen zu haben, doch unter diesen Umständen war ihr der Hunger vergangen. In ihrem Gesicht regte sich nichts, als sie den Raum verließ. Sie nahm den Gang, der zur Küche führte, und hörte aus ihr das helle Lachen der dort arbeitenden Nonnen. Auch sie lächelte. Lucia freute sich darüber, wenn die Mitschwestern fröhlich waren. Sie hatte es ihnen auch immer wieder eingeschärft, daß es hinter diesen hohen Mauern keinen Trübsinn geben durfte. In der letzten Zeit waren sie wieder mehr geworden. Anscheinend hatte eine Trendwende stattgefunden. Es gab zahlreiche Mädchen, die sich für das Leben als Nonne entschieden. Vor der offenen Durchreiche blieb sie stehen, bückte sich und schob das Tablett auf den dahinter stehenden Tisch. Zwei Hände erschienen, nahmen es weg, dann tauchte ein Gesicht auf, das beim Anblick der Äbtissin Erschrecken zeigte. »Himmel, Ehrwürdige Mutter!« »Gesegnete Mahlzeit«, sagte sie, lächelte, drehte sich um und ging wieder fort, denn sie wollte so schnell wie möglich ihr nächstes Ziel erreichen, den kleinen Klosterfriedhof. Dort lag auch das Grab der Maria! Die Äbtissin verließ die schützenden Mauern des Klosters durch eine Hintertür und trat ein in den herrlichen Herbsttag, der mit Sonnenschein gefüllt war. Es blühten noch die Blumen; sie verströmten ihren manchmal betäubenden Duft. Der Sommer war in Sizilien lang. Manchmal hörte er gar nicht auf. Um das Kloster herum war eine Mauer gezogen. Früher hatte sie als Schutz gedient, heute wußten die Nonnen nicht, vor wem sie sich schützen sollten. Besucher waren willkommen, die alte Äbtissin dachte manchmal sehr modern und führte die Menschen gern herum. Dabei fiel immer wieder eine Spende für das Kloster ab. Die Frauen ernährten sich zum größten, Teil autark. Ein großer Garten, Obstbäume, an denen Datteln, Feigen und Orangen hingen. Dazwischen lag ein von Palmen flankierter Weg. Eine kleine Kapelle bot drinnen und draußen Schatten. Dahinter befand sich dann der Friedhof. Die Äbtissin wußte nicht, ob man sie vom Kloster aus beobachtete und sich fragte, weshalb sie den Weg zum Friedhof eingeschlagen hatte. Es hätte sie zudem nicht gestört. Sie betrat öfter den Platz der letzten Ruhe, um mit den Toten Zwiesprache zu halten, denn auch sie würde bald dort liegen.
Von der Unruhe war im Kloster nichts zu merken. Sie hatte nur die Äbtissin überfallen, die genau wußte, daß sich sehr bald etwas verändern würde. Während sie auf den Friedhof zuging, befaßten sich ihre Gedanken immer wieder mit den beiden jungen Nonnen. Auf der einen Seite stand Maria, auf der anderen Solara. Sie wunderte sich über die Parallelen, denn auch bei Maria hatte es damals so angefangen wie jetzt bei Solara. Mit Ahnungen, mit Träumen, mit einem starken Leiden, das bis zum Tod geführt hatte. Sie hatte sich nicht dagegen wehren können. Solara würde es auch nicht schaffen, aber die Äbtissin dachte weiter. Wenn sie mit Maria Kontakt aufnehmen konnte, dann konnte es ihr möglicherweise gelingen, eine Chance für Solara herauszuholen. Sie gab zu, daß es eine gewagte Theorie war, doch wer nicht experimentierte, der kam auch zu keinem Erfolg. Das Forschen und Suchen war wichtig im Leben. Sie passierte die kleine Kirche. Zwischen ihr und dem Friedhof wuchsen drei Fächerpalmen, die mit ihren ausgebreiteten Blättern Schatten spendeten. Dort blieb die Frau. Sie schaute auf die schlichten Gräber. Es war kein Prunk betrieben worden. Jede Tote bekam ihr Grab, das Kreuz, und damit hatte es sich. Keine Engel, keine Figuren, auch die letzte Ruhestätte sollte ein Spiegelbild des Lebens darstellen. Marias Grab war, von ihr aus gesehen, das vierte in der zweiten Reihe. Wege durchkreuzten das kleine Gräberfeld. Sie waren sorgfältig gepflegt. Es war still geworden. Zudem ging kaum Wind. Die warme Luft roch noch ein wenig nach Meer, obwohl die Küste einige Kilometer entfernt lag. Lucia blieb nicht länger auf ihrem Platz stehen. Sie wollte direkt an das Grab der Maria herantreten und mit ihr >sprechen<. Der Ausdruck stimmte nicht, das wußte die Frau selbst, aber sie fand den Begriff kontakten zu geschäftsmäßig, deshalb hatte sie sich für den anderen Begriff entschieden. Sie war tot und lebte! Ihr Körper war längst verwest, aber der interessierte auch nicht. Es zählte allein die Seele, und es zählte das, was aus ihr gemacht wurde. Die Klostermauer war nah. Sie hielt den Wind ab. Innen wuchsen dunkelgrüne Pflanzen am Mauerwerk hoch und verdeckten es fast völlig. Es waren ideale Nistplätze für Vögel. Innerhalb der grünen Wand hatten Blumen ihren Platz gefunden. Sie leuchteten in den Farben Weiß und Rot.
Es gab nur wenige Menschen, die von Marias Geheimnis wußten. Die Äbtissin gehörte dazu. Sie hatte sich daran gewöhnt und war froh, daß es ausgerechnet ihr Kloster getroffen hatte. Aber nun lief einiges nicht mehr zusammen. Es würde Schwierigkeiten geben. Man spürte, daß fremde Kräfte eingegriffen hatten. Es gab einen Feind, vor dem sich Maria schon immer gefürchtet hatte. Valentin, ein Hexenmeister! Er und Maria jagten sich. Beide konnten nie mehr… Ihre Gedanken stockten. Etwas war anders geworden. Zwar hatte sich das schmale Grab nicht verändert, aber sie spürte doch, daß sie Besuch bekommen hatte. Ein Hauch nur. Kühl… anders… Die Äbtissin drehte sich um. Sie tat es wie unter Zwang, aber gleichzeitig mit dem Wissen, daß sie sich richtig verhalten hatte. Und es stimmte. Maria war gekommen! Wie ein Geist stand sie zwischen den Gräbern und wirkte nicht einmal unheimlich, wahrscheinlich wegen des Sonnenlichts, das den Friedhof überflutete. Die Äbtissin lächelte. Sie schaffte es, obwohl ihr Herz noch immer heftig klopfte. Schon einige Begegnungen mit der feinstofflichen Maria lagen hinter ihr, doch gewöhnen würde sie sich daran nie. Es war unerklärlich. Was war sie denn? So genau hatte sie sich nie offenbart, aber für die Äbtissin war sie ein Engel. »Ich wußte es«, sagte Lucia. »Ich habe gewußt, daß ich dich hier treffen würde.« »Warum…?« »Es gibt jemand, der ähnlich reagiert wie du damals. Du wirst eine Nachfolgerin bekommen. Dies könnte bedeuten, daß deine Aufgabe endgültig vorbei ist.« Maria gab keine Antwort. Sie drehte sich herum und glitt lautlos über ihr eigenes Grab hinweg, was die alte Äbtissin als gespenstisch ansah. Selbst in der warmen Luft fing sie an zu frösteln. Es wäre unsinnig gewesen, hier nach Erklärungen zu suchen. Man mußte Maria als eine Tatsache oder als eine Offenbarung hinnehmen. Eine andere Möglichkeit gab es da nicht. Andere Welten hatten sich einen Spalt breit gelockert, um bestimmte Menschen damit zu konfrontieren. Maria schaute die Äbtissin wieder an. Und sie redete auch. Es waren keine normal gesprochenen oder normal klingenden Laute, sie wehten der älteren Frau entgegen wie ein leises Zischen. »Es ist gut, daß du gekommen bist, ich habe auch gespürt, daß du den Weg finden würdest, denn der Kreis hat begonnen, sich wieder zu drehen. Es wird sich etwas
wiederholen, und meine Zeit ist vorbei. Ich kann nicht mehr in meiner Eigenschaft auftreten, zu der ich berufen wurde. Ich werde gejagt, der Tod kann es sich nicht leisten, überwunden zu werden. Deshalb ist er mir auf den Fersen, und es wird zu einer Entscheidung kommen. Gleichzeitig trifft die Gegenkraft schon Vorbereitungen, um die neue Kraft schon bei der Geburt zu vernichten. Sie will nicht, daß es noch einmal geschieht. Es darf keine Parallele geben.« »Solara«, sagte die Äbtissin. »Ich wußte es. Sie wird sterben und dann in deine Fußstapfen treten.« »Nein – treten wollen. Aber sterben soll sie, das stimmt schon. Nur darf es nicht mehr ablaufen, wie es schon einmal abgelaufen ist. Der Hexenmeister hat sich nur einmal überlisten lassen. Jetzt will Valentin alles im Keim ersticken. Aber ich stehe nicht allein. Einer meiner Schützlinge hat das Richtige getan und sich an einen Mann gewandt, der auch Sohn des Lichts genannt wird. Beide sind unterwegs, um diesem Kloster einen Besuch abzustatten.« »Wann werden sie eintreffen?« »Noch an diesem Tag. Ich hoffe auch, daß sie es vor Anbruch der Dunkelheit schaffen.« Die Äbtissin nickte. »Was soll ich ihnen sagen?« »Alles.« »Kann ich das riskieren?« »Ja, du kannst ihnen voll und ganz vertrauen. Ich weiß auch, daß es der Hexenmeister versuchen wird. Valentin wird sich ebenfalls hier in der Nähe aufhalten. Ich rechne sogar damit, daß er das Kloster betritt oder schon hier ist. Er lauert nur auf einen günstigen Zeitpunkt. Einen Mord hat er heute schon begangen. Seine Aufgabe ist schrecklich. Er wird dafür sorgen, daß man die alten Gesetze einhält. Der Tod muß stärker sein als die Kraft der Engel. Es gab immer wieder Zeiten, wo sich die Engel offenbart haben, doch selten waren sie so intensiv wie heute. Die Zeit der Engel ist da, aber auch die Zeit des Bösen. Darauf solltest du dich nicht konzentrieren, Lucia. Lade die beiden Männer ein, zeige ihnen alles, weihe sie ein, sie werden dich ebenfalls einweihen…« Die Äbtissin nickte. Sie hatte noch Fragen. »Und du? Was ist mit dir, Maria?« »Ich suche Valentin. Ich muß ihn finden, bevor er hier ein gewaltiges Unheil anrichtet. Ihm würde es nichts ausmachen, nur Leichen zu hinterlassen, denn er ist der Tod. Er sieht sich selbst so. Er ist die Vernichtung des Lebens…« »Das hört sich furchtbar an.« »Es ist auch furchtbar«, gab Maria zu. Sie schwebte zurück. Für Lucia sah es so aus, als würde sie hinein in die Sonnenstrahlen gleiten und sich dort auflösen. Das war in der Tat so.
Plötzlich war sie nicht mehr zu sehen. Ihr Geist hatte diese Sphäre verlassen. Die Leiterin des Klosters blieb unbeweglich stehen und atmete tief durch. Sie lauschte dem Summen der Insekten, dem leisen Rascheln der Blätter und hörte sich selbst atmen. Schweiß lag auf ihrer Stirn. Eine Begegnung mit Maria wühlte sie jedesmal auf. Schon oft hatte sie sich gefragt, ob sie mit den anderen darüber reden sollte. Sie hatte es immer wieder abgelehnt. Es gab Geheimnisse, die nicht allen zugänglich gemacht werden sollten, sondern nur denen, die damit auch umgehen konnten. Vielleicht würde die Menschheit irgendwann einmal reif genug sein, um auch Engel zu akzeptieren, aber das konnte noch sehr, sehr lange dauern. Da machte sich die Äbtissin keinerlei Illusionen. Nichts war mehr von Maria zu sehen. Sie schaute noch einmal über die Gräber, die vom Sonnenlicht gebadet wurden. Eine geisterhafte Gestalt war nicht zu sehen. Aber sie war da, das wußte die Äbtissin. Sie würde das Kloster nicht im Stich lassen, obwohl es ihr immer schwerer fiel, so etwas wie einen Schutz zu bilden. Lucia war eine zähe Frau. Obwohl sie so einsam lebte, kannte sie das Leben. Sie war stets mutig gewesen, hatte in ihrer frühen Jugend den Faschisten getrotzt und auch einmal Kontakt mit der Mafia gehabt, als sie bei einer spektakulären Entführung als Vermittlerin eingeschaltet worden war. Seltsam, da hatte sie keine Angst verspürt und war mehr als mutig gewesen. Nicht heute. Zum erstenmal überkam sie die kalte Angst… *** Solara war völlig durcheinander! Die junge Nonne mit dem herrlichen Blondhaar wußte nicht, was sie unternehmen oder wie sie sich verhalten sollte. Etwas anderes hatte sie mit der Kraft eines Sturmwindes überfallen und sie völlig aufgewühlt. Welche Kraft war das? Hatte sie tatsächlich das Zweite Gesicht, vor dem sie sich fürchtete? Wenn ja, dann hätte sie es hinnehmen müssen, denn als gläubiger Mensch war sie davon überzeugt, daß auf der Welt nichts ohne Grund geschah und daß es jemand gab, der alles lenkte. Weshalb ausgerechnet nur sie? Warum hatte sich das Schicksal keine andere ausgesucht? Es gab ein Geheimnis im Kloster, das stand fest. Solara war noch nicht lange genug da, um eingeweiht zu werden, doch sie hatte es sehr genau gespürt, und sie wollte auch versuchen, das Geheimnis zu lüften. Es
mußte im Zusammenhang mit einer Nonne stehen, deren Namen hin und wieder flüsternd und auch ehrfurchtsvoll ausgesprochen wurde. Maria hatte sie geheißen. Natürlich hatte Solara versucht, mehr über sie herauszubekommen, da aber waren die Lippen ihrer Mitschwestern verschlossen gewesen. Nur einmal hatte ihr eine ältere Nonne einen Satz gesagt, den sie nie vergessen würde. »Sie war wie du. Sie war so schön, sie hatte das gleiche blonde Haar. So herrlich dicht und gesund…« Nachzufragen hatte keinen Sinn gehabt. Die Nonne wollte nicht mehr sagen. Mit einem wissenden Lächeln auf den Lippen war sie verschwunden. Solara war allein mit ihren Gedanken, Überlegungen und vor allen Dingen Zweifeln geblieben. Ihr Zimmer war nicht groß. Es hatte ein Fenster, durch das sie in den Garten schauen konnte. Sie sah die Bäume und Blumen, wenn sie hinausschaute. Dagegen stand die Einrichtung des Zimmers im krassen Gegensatz zu dieser blühenden Pracht. Sie war sehr karg, und man hätte sie höchstens als zweckmäßig ansehen können. Das Waschbecken, der Schrank, das schlichte Bett. Das Regal mit den Büchern, der Tisch und der Stuhl, aber auch die kleine Betbank, die Solara von ihrer Familie geschenkt bekommen hatte, als sie sich entschloß, ins Kloster zu gehen. Noch hatte sie ihr endgültiges Gelübde nicht abgelegt. Man gab ihr Zeit, aber der Tag der Entscheidung kam immer näher. Und damit wuchsen auch die Zweifel, ob sie überhaupt die richtige Person war, um den langen Rest ihres Lebens hinter Klostermauern zu verbringen. Besonders jetzt, wo sie von diesen schrecklichen Träumen geplagt wurde, die zu einer regelrechten Qual geworden waren. Vorhin, bei der Äbtissin, hatte sie der Frau nicht die ganze Wahrheit gesagt. Es war ja nicht nur die drohende Wolke, die sie gesehen hatte, die Einzelheiten ihrer Träume waren viel schlimmer gewesen. Sie endeten stets in einem Chaos aus Blut und Tod, und es waren zwei Gestalten, die stets so etwas wie den Mittelpunkt bildeten. Einmal eine unheimliche Schattengestalt, ein grausam und kalt wirkender Kapuzenmann, zum zweiten eine lichterfüllte Gestalt, die mit ihr einige Ähnlichkeit aufwies. Sie sah aus wie ein Engel… Darüber hatte sie oft nachgedacht, aber nie eine Erklärung gefunden. Solara war aber sicher, daß die Erscheinung mit der jungen Nonne zusammenhing, die unter dem Namen Maria hier im Kloster Geschichte geschrieben hatte. War sie ihr im Traum als Geist erschienen, um sie vor irgendwelchen schlimmen Folgen zu warnen? Alles war möglich, nur eine konkrete Erklärung konnte sie nicht finden.
Der Traum war in seiner Intensität nie gleichgeblieben. Er hatte sich von Nacht zu Nacht verstärkt. Solara war dabei in eine Starre gefallen, die sie als unnatürlich ansah. Sie hatte sich nicht mehr bewegen können und mußte alles so hinnehmen, wie es eintraf. Und sie fühlte sich immer einsamer. Nicht allein in der Nacht, wenn sie von den Träumen geplagt wurde, auch am Tag hatte sie den Eindruck, ständig überwacht zu werden. Von den Augen des Bösen, vielleicht unter der Kontrolle des Teufels? Wenn sie daran dachte, floß es eiskalt über ihren Körper. Allein der Name machte ihr Angst. Der Teufel war nicht faßbar, aber sie glaubte daran, daß es ihn gab. Oft war von ihm in Gleichnissen gesprochen worden. Man hatte ihn vermenschlicht, doch das wiederum wollte sie auf keinen Fall akzeptieren. Der Teufel war etwas anderes, er hatte mit einer menschlichen Gestalt nichts zu tun, er war das Böse schlechthin und konnte sich in die Herzen der Menschen einschleichen. Immer wieder und immer stärker hatten sie diese Gedanken überfallen. Auch jetzt, nach dem Besuch bei der Äbtissin, mußte sie daran denken, aber sie wollte es nicht, und sie suchte nach einer Möglichkeit, um aus diesem Trauma zu flüchten. Mit ihren Schwestern konnte sie darüber nicht reden, die hätten auch keinen Rat gewußt, und die Äbtissin hielt ihr Wissen bewußt zurück, dvon war sie fest überzeugt. Es gab deshalb nur eines. Die Flucht ins Gebet! Wieder freute sie sich darüber, daß sie ihre kleine Bank mitgenommen hatte. Sie hatte sie unter das schlichte Holzkreuz gestellt. Die Kniebank war gepolstert, bestand aus dunklem Holz und war sehr stabil gebaut. Das Gebet hatte ihr bisher immer Mut gegeben, doch die Angst nie ganz verschwinden lassen können. Oft genug versuchte sie, mit zum Gebet gefalteten Händen einzuschlafen, um sich schon im voraus gegen die bösen Träume zu wehren. Es war ihr nie gelungen. Solara kniete nieder. Ihre Hände legte sie mit den Handflächen zusammen, die Finger hielt sie ausgestreckt. Dann senkte sie den Kopf und dachte an die zahlreichen Gebete, die sie auswendig gelernt hatte, deren Text ihr aber seltsamerweise nicht einfiel. Sie konnte sich nicht konzentrieren. In Solaras Hirn war eine Blockade entstanden, die sie nicht überwinden konnte. Warum denn nur? Sie stöhnte auf, versuchte es von vorn, rutschte auf den Knien unruhig auf der schmalen Bank hin und her, aber es war ihr nicht vergönnt, auch nur die ersten Textzeilen der ihr bekannten Gebete zu sprechen. Sie klappte die Hände wieder auseinander. Ihr Herz schlug schneller. Sie stellte auch fest, daß sie in Schweiß gebadet war, gleichzeitig aber fror
sie, und der Vergleich der beiden Kräfte, die in ihrem Körper tobten, kam ihr in den Sinn. Schlimm… Sie stand auf. Unruhe und Gehirnblockade zugleich erfüllten sie. Scheu schaute sie sich um, ohne jedoch etwa erkennen zu können. Niemand außer ihr hielt sich in dem Raum auf, obgleich sie den Eindruck hatte, daß jemand bei ihr war. Ein Unsichtbarer… Sie lief zum Fenster. Die Kammer kam ihr düster wie ein altes Grab vor. Sie mußte einfach nach draußen schauen, um das Sonnenlicht genießen zu können. Das gab ihr vielleicht Mut. Da hörte sie das Kichern! Die junge Nonne erstarrte. Diesmal rieselte die zweite Haut noch stärker über ihren Körper, und sie hatte sogar den Eindruck, als würden Eiskörner auf ihren Rücken prasseln. War doch jemand hier? Solara drehte sich um. Nein, nichts. Aber das Kichern blieb. Es drang aus dem Unsichtbaren. Dort mußte sich jemand aufhalten, der sie genau unter Kontrolle hielt. Eine rationale Erklärung dafür hatte sie nicht, und sie fand auch nicht heraus, ob das Kichern nun von einer männlichen oder weiblichen Person ausging. »Ich bin der Tod…« Vier Worte, ein Satz, den Solara genau verstanden hatte. Warum der Tod? Wieso meldete er sich bei ihr? Konnte sich der Tod überhaupt melden oder ankündigen, abgesehen von Krankheiten? »Wer bist du?« Sie stellte die Frage und ärgerte sich im selben Augenblick darüber, es überhaupt getan zu haben. Als Antwort vernahm sie wieder das Kichern. In der Mitte der Zelle blieb sie stehen. Zuerst steif, dann bewegte sie sich und drehte sich auf der Stelle. Dabei dachte sie an ihre Träume, die plötzlich und von einem Augenblick zum anderen Wirklichkeit zu werden schienen. Dann würde sie tatsächlich das Grauen überfluten und sie mit sich reißen. Nicht nur ihre Hände zitterten, ihr gesamter Körper befand sich in Bewegung. Sie holte nur stockend Luft und ließ auch dies sein, weil sie ein anderes Geräusch gehört hatte. Das Schaben… Hinter ihr! Sie drehte sich um. Von der Wand her war das Geräusch erklungen, wo auch ihr Betstuhl stand. Genau über ihm sah sie das Schreckliche und Unwahrscheinliche. Dort hing das Kreuz!
Nur nicht mehr ruhig, still und vertraueneinflößend. Jetzt bewegte es sich von links nach rechts, als wären geheimnisvolle Kräfte dabei, es unter ihre Kontrolle zu bekommen. Es schabte über die Wand, es pendelte, es schwang, es wurde immer hektischer und schneller. Das konnte nicht gutgehen. Und es ging nicht gut. Noch ein letzter Schwung, dann löste es sich vom Dübel und fiel zu Boden. Solara schrie auf. Was sie eben erlebt hatte, war so furchtbar, daß sie es nicht begreifen wollte. Da war ein Stück Hoffnung zerstört worden. Sie hatte immer darauf gesetzt, auf seinen Schutz, und jetzt mußte sie erleben, daß es andere Kräfte gab, die stärker waren. Trug der geheimnisvolle Sprecher auch für diesen Vorgang die Verantwortung? Es lag auf dem Boden, als hätte es jemand weggeworfen. Aber das war nicht alles, nur das Vorspiel, denn das eigentliche Grauen begann Sekunden später. Plötzlich schlugen Flammen aus dem Holz des Kreuzes. Bläulich und grün schimmernd, im Innern mit einem roten Kern versehen. Das Feuer bildete ein zuckendes Dreieck über dem Kreuz, bevor es mit einem fauchenden Laut zusammensank und nur mehr bleiche Asche zurückblieb. Solara starrte die Reste an. Sie hörte sich weinen, dann überkam sie die Panik. Sie rannte nicht aus dem Zimmer, sondern verkroch sich wie ein verletztes Tier in die Ecke, wo sie hockenblieb, den Rücken gegen die Wand gelehnt und die Beine angezogen. Jetzt kannte sie nur mehr ein Gefühl. Die Angst! *** Wir hatten das Kloster erreicht und auch keinerlei Schwierigkeiten bekommen. Im Gegenteil, wir waren sehr freundlich begrüßt worden und warteten nun auf die Äbtissin. Der Warteraum für Besucher war groß. Er besaß eine gewölbte Decke, einen Steinboden und hohe Regale, die mit Büchern gefüllt waren. Aber auch Blumen standen hier. Ihre bunten Blüten lockerten die schon asketische Strenge auf. Schlichte Stühle standen als Sitzplätze zur Verfügung, auf die wir aber verzichteten, denn wir hatten lange genug im Wagen gesessen. Romano Testi war noch immer nicht richtig auf dem Damm. Der Tod seines Vaters und vor allen Dingen dessen Umstände hatten ihn sehr mitgenommen. Er konnte es einfach nicht überwinden, nur um Sekunden zu spät gekommen zu sein. Er wäre auch gern noch in Locanto
geblieben, um würdig Abschied zu nehmen, aber in diesem Fall ging der Job vor. Wir mußten diesen Mörder einfach stellen, bevor er noch mehr Unheil anrichten konnte. Es ging nach wie vor um den Hexenmeister, den wir zwar nicht mehr gesehen hatten, von dem wir aber überzeugt waren, daß er sich in unserer Nähe aufhielt und dabei jeden der Schritte überwachte. Er war da, er war nur nicht zu sehen und zu spüren. Einige Minuten vergingen. Ich stand still und lehnte dabei an der Wand. Mein italienischer Kollege konnte diese Haltung nicht einnehmen. Unruhig durchwanderte er den Raum und schien dem Echo seiner eigenen Schritte nachzulauschen. Manchmal bewegte er seine Lippen und synchron dazu den Kopf, ohne allerdings etwas zu sagen. Er hatte schwer an der Vergangenheit zu knacken. Es würde lange dauern, bis er sie überwunden hatte. »Setz dich lieber, Romano!« »Nein, das kann ich nicht.« »Aber du brauchst dich auch nicht zu quälen…« »John, ich habe meinen Vater verloren.« Er blieb stehen und holte Luft. Es sah so aus, als wollte er sich aufpumpen. Seine Augen glänzten, die harte Fassade war zerbrochen. »Ich hätte ihn retten können, ich hätte mich mehr beeilen müssen und…« »Ich glaube nicht, daß dir das gelungen wäre, Romano!« Er starrte mich an. »Warum nicht?« Ich hob die Schultern. »Soll ich es Schicksal nennen? Es kann so vorbestimmt gewesen sein.« »Kann, muß aber nicht.« Eine Tür wurde geöffnet, und die Äbtissin, Mutter Lucia, betrat den Besucherraum. Sie durchschritt die Lichtstreifen nahe der Fenster. Ihr Gesicht war zu erkennen, trotz der Haube, die sie trug. Ich sah das Lächeln auf den Lippen, das jedoch den eigentlichen ernsten Ausdruck nicht überdecken konnte und mir deshalb gezwungen vorkam. Sie grüßte sehr freundlich. Wir konnten erkennen, daß sie schon älter war. Bestimmt jenseits der Siebzig. Ihr Gesicht zeigte die Spuren des Lebens. Sie sah nicht verhärmt aus, doch irgendwie gespannt, und sie bewegte sich trotz allem sehr geschmeidig, als wollte sie ihr Alter Lügen strafen. Wir stellten uns vor. Ihr Lächeln verstärkte sich, und dann sagte sie einen Satz, der uns überraschte. »Ja, Signores, ich weiß genau, wer Sie sind.« »Ach ja?« fragte Romano Testi.
»Man sagte es mir.« Sie ging nicht auf Einzelheiten ein, sondern bat uns, ihr zu folgen. Die Äbtissin führte uns in ihr Arbeitszimmer, das sehr aufgeräumt aussah. Einen Computer gab es nicht. Dafür einen großen Schreibtisch, Aktenschränke und eine Sitzgruppe, wo wir unsere Plätze fanden und die Äbtissin fragte, ob wir etwas trinken wollten. »Wir entscheiden uns für Wasser.« »Danke, das nehme ich auch.« Drei kleine Flaschen und drei kleine Gläser standen schließlich vor uns. Wir tranken die ersten Schlucke, dann stellte ich schon die Frage. »Sie haben uns also erwartet?« »Ja.« »Warum?« Die Äbtissin stellte lächelnd ihr Glas ab. »Würden Sie mir glauben, daß man Sie beide avisiert hat und sogar von einem Sohn des Lichts gesprochen wurde?« Damit konnte Testi nichts anfangen, ich um so mehr. »Sohn des Lichts? Damit kann ich etwas anfangen, Ehrwürdige Mutter.« »Sehen Sie.« Sie nickte mir zu. »Dann werden Sie auch das Kreuz besitzen?« »Richtig.« »Dürfte ich es sehen? Es soll kein Mißtrauen sein, aber ich bin wirklich gespannt.« »Gern.« Ich holte das Kreuz hervor. Die Augen der Äbtissin weiteten sich schon beim ersten Sichtkontakt mit dem Kreuz. »Gütiger Himmel, ist das wunderbar«, hauchte sie. »Darf ich es anfassen?« »Bitte sehr.« Sie nahm es mit zitternden Händen entgegen, ließ es auf der Handfläche liegen und mußte mehrmals schlucken, bevor sie einen Ton sagen konnte. »Es ist einmalig, es ist perfekt, und es hat etwas an sich, das ich nie zuvor gespürt habe.« Da sie mich bei den letzten Worten anschaute, wollte sie auch von mir eine Antwort bekommen. »Es kann schon sein, daß dem so ist. In der Tat, ich muß Ihnen sagen, daß es wirklich einmalig ist.« »Und woher stammt es, bitte?« Ich wiegte den Kopf. »Das ist eine sehr lange Geschichte, Ehrwürdige Mutter. Würden Sie mir denn glauben, wenn ich Ihnen sage, daß es der Prophet Hesekiel erschaffen hat?« Zuerst blickte sie mich ungläubig an, dann aber nickte sie heftig. »Ja, ich würde es Ihnen glauben. Sie haben Augen, Signore Sinclair, denen man trauen kann.« »Danke.« Sie gab mir das Kreuz wieder zurück und beobachtete mich dabei, wie ich die Kette über den Kopf streifte und meinen Talisman unter der
Kleidung verschwinden ließ. »Aber jetzt würde uns wohl interessieren, wer Ihnen von unserem Kommen berichtet hat?« »Sie müßten die Person kennen.« »Maria?« fragte Testi. »Ja, sie war es.« Romano stand auf und setzte sich wieder. »Dann ist sie Ihnen auch erschienen?« »Sogar heute. Ich stand an ihrem Grab, und sie schwebte als Geist darüber. Es war für mich gespenstisch, aber durchaus wunderbar und faszinierend. Sie wußte Bescheid, daß Sie hier eintreffen, und sie hat mich auch vor den Gefahren der nächsten Nacht gewarnt.« »Wurde sie konkret?« fragte Testi. Die Äbtissin nickte. »Sie sprach vom Hexenmeister, vom Tod mit dem Namen Valentin. Ich weiß, daß er kommen wird, daß er vielleicht schon da ist, daß er es nicht hinnehmen kann, daß Maria den Tod überwunden hat. Die absolute Macht des Bösen muß ihn geschickt haben, damit er in ihrem Sinne handelt. Maria kann ihn nicht mehr überwinden, es ist vorbei, ihre Kräfte sind erloschen. Jetzt gibt es für sie nur noch eines, und zwar den Tod. Das endgültige Auslöschen. Ihr Körper ist bereits verwest, aber ihr Geist lebt weiter, sogar sichtbar weiter, wie ich es des öfteren erlebt habe.« Ich nickte. »Da geben wir Ihnen recht, Ehrwürdige Mutter. Aber ich bin nicht mit allem einverstanden, was Sie uns eben gesagt haben.« »Was stört Sie?« »Ich glaube einfach nicht daran, daß es der Geist der jungen Nonne Maria ist. Es ist nicht ihr Astralleib, wenn Sie verstehen.« »Nein…«, sie schüttelte den Kopf. »Ich… ich kann es noch nicht begreifen. Gesetzt den Fall, es ist nicht der Geist. Können Sie mir dann sagen, was ich da gesehen habe.« »Eine Reinkarnation.« Mehr sagte ich nicht, ich wollte diese Antwort erst wirken lassen. Die Äbtissin lehnte sich zurück. Das Leder des Sessels knarrte leise. Es war ein Thema angesprochen worden, das sie nicht so ohne weiteres akzeptieren konnte, weil sie als strenge Katholikin nicht an eine Reinkarnation glaubte, wie es zum Beispiel die Buddhisten taten. Da mußten erst Grenzen überwunden werden. »Ich habe mich nicht verhört, Signore Sinclair?« »Nein, das haben Sie nicht.« »Sie glauben also daran?« Ich wollte sie nicht schocken und wiegte den Kopf. »Es ist manchmal nicht anders zu erklären. Ich rede jetzt von Erfahrungswerten, die ich in langen Jahren habe sammeln können.« Die Frau nickte. Sie dachte noch nach, dann kam sie wieder auf die Wiedergeburt zu sprechen. »Wenn ich davon ausgehe, daß Sie recht
haben, möchte ich Sie fragen, als was Maria wiedergeboren ist oder wer in ihr wiedergeboren wurde.« »Ich kann Ihnen die Antwort geben.« »Bitte.« »Es war ein Engel!« Lucia, die Äbtissin, schwieg, klimperte aber mit den Augenlidern. »Ein Engel?« hauchte sie schließlich. »Hat er sich in ihr offenbart?« »Ja, in ihrem Geist, vielleicht in ihrem Astralleib, der von einem Engel übernommen wurde.« »Aber von welchem?« Ich legte meine Stirn in Falten. »Ist es nicht so, daß jeder Mensch einen Schutzengel hat?« »Das sagt man.« »Gut, deshalb gehe ich davon aus, daß wir es hier mit Marias Schutzengel zu tun haben, der dasselbe Aussehen besitzt wie sie. Deshalb hat sie den Tod überwinden können. Sie hat auch andere Menschen dank ihrer Kraft gerettet. Es ist alles abgelaufen wie ein Wunder. Das auf der einen Seite. Die andere aber, die dunkle, wird es kaum hinnehmen können, daß ein Schutzengel gewisse Gesetze einfach auf den Kopf stellt oder sie über Bord wirft. Sie wird sich immer dagegen wehren, und sie hat den Hexenmeister geschickt, um so etwas nicht mehr vorkommen zu lassen. Dieser Valentin wird versuchen, den Engel zu töten. Eiskalt, ohne Erbarmen. Er wird die Befehle der Hölle ausführen.« »Ja, das kann ich akzeptieren«, sagte die Äbtissin. »Nur möchte ich Sie jetzt fragen, wer sich hinter diesem Valentin verbirgt. Was ist er denn genau?« »Ich greife mal weit vor. Er ist ein Dämon.« »So allgemein?« »Noch kenne ich zu wenige Einzelheiten. Es kann auch ein gefallener Engel sein. Einer, der so mächtig sein wollte wie der Herrscher und damals zu Beginn der Zeiten bestraft wurde. Er kann aus den Tiefen der Dunkelheit gestiegen sein, um eine schreckliche Rache oder Abrechnung durchzuführen, das ist alles möglich.« »Rache an Maria?« »Ja.« Die Äbtissin nickte. »Ich habe dies auch geahnt oder sah es voraus. Aber wir haben nicht nur das Problem Maria. Es gibt da noch eine junge Nonne in meinem Kloster, deren Lebensweg erschreckende Parallelen aufweist. Sie ist zwanzig und heißt Solara. Sie ist ebenso schön und ebenso blond, wie es Maria war oder noch immer ist. Und ihr Weg kann nur mit dem der Maria verglichen werden. Da stimmt einfach zuviel überein.« »Woher wissen Sie das?« fragte Testi.
»Ich habe heute noch mit ihr gesprochen, und sie berichtete mir von ihren schrecklichen Träumen, die immer schlimmer wurden. Einzelheiten hat sie mir nicht genannt, wahrscheinlich aus Scham nicht, aber die Parallelen zu Maria sind unverkennbar.« »Was bedeutet das?« Testi blieb am Ball. »Daß Solara sterben wird und daß anschließend das passiert, was Signore Sinclair erwähnt hat. Sie wird wohl Kontakt mit einem Engel bekommen, ich drücke es mal so aus, und ich frage mich, ob wir das zulassen oder nicht doch etwas unternehmen sollen.« »Dazu müßten wir mit ihr reden.« »Das meine ich auch, Signore Testi.« »Sie ist hier im Kloster?« »Sicher.« Romano schaute mich an. »Dann können wir uns doch auf den Weg machen, falls du nichts dagegen hast.« »Einen Augenblick noch. Wir haben meines Erachtens zu wenig über den Hexenmeister gesprochen. Sind Sie über ihn informiert? Oder haben Sie die schreckliche Gestalt vielleicht gesehen?« Ich gab ihr eine kurze Beschreibung des Valentin. Die Nonne überlegte lange, bevor sie den Kopf schüttelte. »Nein, ich habe diese Gestalt nie konkret gesehen, wenn Sie das meinen. Ich habe nur von ihm gehört. Dieser Valentin ist nach wie vor für mich eine Bedrohung, die keine konkrete Gestalt hat.« Das hatte ich akzeptiert, ich wollte trotzdem noch weitere Informationen von der Äbtissin und erkundigte mich, was sie am Grab und mit der Erscheinung noch erlebt hatte. »Nichts mehr. Maria warnte mich nur vor der kommenden Nacht. Sie wird die Entscheidung bringen.« »Was Sie konkret damit gemeint haben könnte, wissen Sie nicht?« fragte Testi. »Nein, da kann ich nur etwas annehmen oder raten. Ich gehe davon aus, daß Maria nicht mehr die bleiben wird, die sie ist. Man wird versuchen, sie zu töten.« Romano Testi mußte lachen. »Haben Sie schon einmal versucht, einen Engel oder Schutzengel zu töten?« »Das bestimmt nicht.« »Ich glaube auch nicht, daß es Ihnen gelingen wird, Ehrwürdige Mutter.« »Das kannst du nicht so hinnehmen«, warnte ich meinen Kollegen. »Den Schutz kann sie nicht mehr geben, dafür ist das beste Beispiel dein Vater gewesen. Jetzt ist auch sie sterblich. Und ich weiß sehr genau, daß dieser Hexenmeister nur darauf gewartet hat.« »Kann sein.«
Schwester Lucia breitete die Hände aus. »Wie haben Sie sich denn entschieden, meine Herren?« Ich gab die Antwort. »Sie sprachen von Solara und sahen schon Parallelen. Wäre es nicht günstig, wenn wir uns mit ihr unterhalten würden? Vielleicht weiß sie mehr, denn wir haben konkretere Fragen als Sie, da wir schon länger und auch intensiver mit diesem Fall beschäftigt sind. Wir könnten an gewissen Stellen nachhaken.« Die Äbtissin lächelte. »Keine Sorge, Sie brauchen mich nicht erst zu überzeugen.« »Danke.« Lucia stand auf. »Ich werde selbst gehen und Solara persönlich abholen. Das vermeidet Aufsehen, und Unruhe können wir jetzt nicht gebrauchen. Die Schwestern werden sowieso schon über Ihren Besuch informiert sein. Hier bleibt nichts geheim, denn auch Klostermauern sind durchlässig, manchmal zu sehr.« Das konnte ich weder leugnen noch bestätigen. Ich wußte einfach zu wenig. Es war wohl am besten, wenn die Äbtissin die internen Dinge in die Hand nahm. »Ich bin gleich wieder da«, sagte sie und verschwand durch dieselbe Tür, durch die sie vorhin gekommen war. Wir blieben zurück, schweigend, dann seufzte Testi und strich über seinen Oberlippenbart. »Ich komme mir allmählich vor wie jemand, der sich im Kreis bewegt und nur darauf wartet, daß er an irgendeiner Stelle eingerissen wird.« »Ein guter Vergleich«, gab ich zu. »Reißt du ihn denn auf?« Ich hob die Schultern. »Das kann ich dir beim besten Willen nicht sagen. Ich werde es zumindest versuchen, brauche aber eine Waffe dazu, wenn du verstehst.« »Dein Kreuz müßte es packen, John. Hast du mir nicht davon berichtet, daß die vier Erzengel ihre Insignien an den Seiten hinterlassen haben? Das ist doch schon was. Damit kann man diesem Hexenmeister doch entgegentreten.« Ich stand auf und wanderte zu einem Fenster. Draußen war die Sonne verschwunden, die ersten Schatten der anbrechenden Dämmerung legten sich über das Land. Es war schwer, auch ich spürte die Bedrückung, die über allem lag. Was hier passierte, war ein Aufeinandertreffen zwischen Gut und Böse, das rüttelte an den Grundfesten zwischen Tod und Leben. Geburt, Tod – Engel und Dämonen, es war ewiger Kreislauf, der uns alle mitriß. »Die Nacht bringt es, John!« hörte ich die Stimme meines italienischen Kollegen. »Nur frage ich mich, ob man warten soll, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist?« »Dann mußt du es vorher retten.«
»Da hast du auch recht. Aber wie?« Ich konnte ihm keine Antwort geben. Wir bewegten uns auf einem fremden Gelände. Hier herrschten andere Gesetze. Wir konnten sie nicht einfach übertreten, wir mußten warten, bis sich die andere Seite zeigte und etwas unternahm. Von einer dunklen Wolke, die sich als Sinnbild des Bösen über dem Kloster zusammenbraute, hatte Solara gesprochen. Ich schaute zum Himmel und beobachtete die dunklen Wolken, die im Wind trieben. Schlug das Wetter um? Sah es nach Regen aus? »Vielleicht müssen wir das Kloster und auch das Gelände sehr genau durchsuchen«, schlug Testi vor. Ich drehte mich wieder um. »Es wäre eine Möglichkeit.« »Verstecke gibt es hier bestimmt, auch für einen Hexenmeister und für einen Engel.« Er senkte den Kopf und schüttelte ihn. »Wenn ich gewußt hätte, wie dies hier…« Wieder wurde die Tür geöffnet. Diesmal schneller, fast schon hektisch. Als die Äbtissin die Schwelle überschritt, da taumelte sie und schien mit ihren Nerven am Ende zu sein. Ich lief hin, um sie zu stützen. Rasselnd drang ihr Atem aus dem Mund. Testi reichte ihr ein Glas Wasser. Sie trank es mit hastigen Schlucken. Etwas Farbe kehrte wieder in ihr Gesicht zurück, doch ihre Augen hatten noch immer den starren Blick und stierten ins Leere. »Was ist denn passiert?« flüsterte ich. »Solara, Signore Sinclair, mein Gott, sie ist…« Der Schreck jagte durch meine Glieder. »Doch nicht etwa tot?« »Nein, aber sie ist verschwunden. Und niemand konnte mir sagen, wohin sie gegangen ist…« *** Solara kauerte noch immer in der Ecke. Sie hörte sich selbst keuchen und weinen. Tränen liefen über ihr Gesicht, und immer wieder zuckten ihre Lippen, ohne daß sie auch nur ein Wort hervorbrachte. Der Druck lag auf ihrem Körper wie eine gewaltige Masse. Ihre Augen brannten, und durch ihren Kopf tobten die schlimmsten Gedanken, die sie aber nie kontrollieren konnte. Alles war so schrecklich. Sie wäre am liebsten eins mit dem Steinboden ihres Zimmers geworden. Sie zitterte. Es war die innere Kälte, die in ihr hochkam und sich beinahe um ihre Kehle drehte, als sollte sie davon erwürgt werden. Ihr war übel, und manchmal nahm sie einen ätzenden Geruch wahr, der an ihren Nasenlöchern entlangzog. Er stammte von den Resten, die einmal ein Kreuz gewesen waren.
Es war ohne sichtbare Fremdeinwirkung vor ihren Augen entflammt. Allein diese Tatsache hatte ihr zu verstehen gegeben, daß sie nicht mehr allein war und der Feind im Hintergrund unsichtbar lauerte. Das Kichern, die Stimme, die Flammen… Eigentlich reichte das aus, um dafür zu sorgen, daß sie ihre Zelle verließ. Dies wiederum traute sich Solara nicht. Sie blieb hocken, denn sie fürchtete sich davor, die Tür zu öffnen, weil sie dahinter den Eingang zur Hölle erwartete und nicht den normalen Klostergang. Es war nicht mehr so wie früher, alles hatte sich verändert, zwar nicht äußerlich, doch in ihrem Innern, in ihrer Seele, da sah es nicht so aus wie früher. Wieviel Zeit seit diesen schrecklichen Vorgängen vergangen war, wußte sie nicht. Sie hatte sie einfach nicht nachhalten können, aber ihr war allmählich klar geworden, daß sie etwas unternehmen mußte. Sehr vorsichtig und sich dabei nach allen Seiten umschauend, erhob sich die Nonne. Zuerst schaute sie zum Fenster. Es war nur mehr ein schmaler viereckiger Ausschnitt, der nicht viel von der Umgebung preisgab. Allerdings erkannte sie, daß die Sonne verschwunden war. Bald würde die Dämmerung kommen, dann die Dunkelheit – und dann kam auch er. Allein bei dem Gedanken daran fing sie an zu zittern. Die Schauer rannen wie Wellen über ihren Rücken. Ihr Mund schien mit Papier ausgestopft worden zu sein, so trocken fühlte er sich an. Deshalb ging sie zum Waschbecken, drehte den Krahn auf und trank ein paar Schlucke, dann wusch sie sich das Gesicht. Sie drehte das Wasser wieder ab und ging fröstelnd zurück. Nichts war zu hören. Die dicken Klostermauern hielten die Geräusche ab. Auch aus den unmittelbaren Nachbarzellen hörte sie kein Geräusch. Klar, ihre Schwestern waren noch mit der täglichen Arbeit beschäftigt, und sehr bald würden sie zur Abendmesse gehen. So sah es der tägliche Ablauf des Klosters nun mal vor. Bei dem Wort Abendmesse blieben ihre Gedanken hängen. Es war für sie so etwas Wunderbares. Die Messe fand in der kleinen Kirche statt, und in der Kirche fühlte sie sich sicher. Es war wirklich der einzige Ort, wo das Böse sich nicht hintraute. Oder doch…? Nein, nicht schon wieder diese Zweifel, die ihren jetzigen Optimismus aufbrachen wie eine Kruste. Das gab es nicht, das war einfach zu verrückt. Sie mußte darüberstehen. Mit diesem Entschluß hatte sich Solara selbst Mut eingeflößt. Sie ging mit forschen Schritten zu der Zellentür, zog sie ebenso forsch auf – und der Schrei erstickte in ihrem Hals. Vor ihr stand jemand. Ein schwarzer Unhold mit bleichem Gesicht. Das mußte der Kicherer sein, und er sprach sie an.
»Ich bin gekommen, um dich zu holen, Kleine…« *** Diesmal erlebte sie keinen Traum, das hier war echt, und sie wich vor der Gestalt zurück. Die folgte ihr, drang lautlos in ihr Zimmer ein und löste jetzt ihre Arme, die sie bisher hinter dem Rücken verborgen gehalten hatte. Die Augen der jungen Nonne weiteten sich noch stärker, als sie sah, was der Eindringling in den Händen hielt. Es waren zwei Messer! Lange, breite Klingen, die einen unheimlichen Glanz abstrahlten, als wären sie Stücke aus dem Spiegelbild des Teufels. Und wer war der Unheimliche? War es der Satan persönlich? Hatte er sich in dieser Gestalt gezeigt? Er kam näher. Sie sah ihn genauer, merkte sich Einzelheiten. Die Kutte mit den sehr weiten Ärmeln erinnerte an die Kleidung der Mönche, doch dazu gehörte er sicherlich nicht. Eine Kapuze hatte er so weit über den Kopf gestreift, daß sie den Großteil der Stirn bedeckte und mit ihrem unteren Rand in Höhe der Augenbrauen abschloß. Darunter zeichnete sich ein bleiches, gelblich schimmerndes Dreieck ab, in dem der Mund kaum auffiel. An diesem Gesicht war alles starr. Der Mund wirkte wie eine Klappe, die sich beim Sprechen öffnete. Die Nase sah breit aus, die Augen wirkten völlig kalt wie Lichter aus Laternen. Er ging vor und drängte die junge Nonne zurück. Sie konnte schließlich nicht mehr weiter, sie war in die Ecke gedrängt worden und sah den Unheimlichen nicken. »Ich bin Valentin. Ich bin der Tod…« Trotz ihrer Angst hatte Solara alles verstanden. Sie dachte nach, aber sie bekam keinen Sinn in ihre Gedanken und fragte trotzdem: »Du bist nicht der Teufel?« »Nein, nicht der Gehörnte. Ich bin alles, ich bin auch deine Träume, die Wolke, die Bedrohung. Aber letztendlich bin ich der Tod und komme, um dich zu holen.« Es war Solara klar, daß sie sterben sollte, aber sie konnte beim besten Willen den Grund dafür nicht einsehen. Außerdem war sie erst einundzwanzig! Weshalb gerade sie? Was hatte sie diesem Valentin getan? Solara kostete es Überwindung, die Frage zu stellen. Nur Bruchstücke drangen über ihre Lippen, aber der Böse hatte sie auch so verstanden, denn er gab ihr eine Antwort. »Einmal hat es gereicht…«
Damit konnte die junge Nonne überhaupt nichts anfangen. Sie schüttelte den Kopf, glaubte, falsch gehört zu haben und brachte die nächsten Worte ebenso mühsam hervor. »Was hat denn einmal gereicht?« »Daß jemand den Tod überlisten konnte.« »Aber ich…« »Du bist auf dem besten Weg dazu. Du sollst ihre Nachfolgerin werden, und ich muß es verhindern.« Solara begriff noch immer nichts. »Von wem hast du gesprochen? Wer ist meine Vorgängerin? Wem soll ich nachfolgen?« »Du kennst sie.« »Nein…« »Maria!« Ja, diesmal hatte er nicht gelogen, Solara kannte sie tatsächlich. Zwar nicht persönlich, aber im Kloster war oft genug über sie gesprochen worden, weil sie auf dem Friedhof begraben lag. Manche hatten gemeint, daß sie nie ihre Ruhe finden konnte, andere wiederum wollten sie sogar als Festkörper und als Geist gesehen haben, doch wie alles zusammenhing, wußte Solara nicht. »Ihre Zeit ist abgelaufen«, erklärte der Eindringling. »Sie wird ihre Zustände nicht mehr wechseln können. Sie kann nicht mehr einmal nur Geist sein und dann wieder einen Körper haben. Das ist vorbei. Sie wird immer schwächer werden, und schließlich bleibt nur noch ihr Körper zurück, der allmählich verwest. Ihr Tod soll für dich ein Neubeginn sein, doch ich bin erschienen, um dies zu verhindern. Einmal reicht aus, niemand soll den Tod betrügen können, niemand. Seit Urzeiten war er immer der Mächtige, und das wird er auch bleiben. Es darf keinen anderen Gewinner geben.« Solara begriff nicht alles. Sie sah nur ein, daß sie gegen Valentin keine Chance hatte. Er winkte mit seinen Messern. Ihr Körper zog sich zusammen, da sie den tödlichen Stich erwartete. Er aber lachte. »Nein, so nicht. Ich werde dich mit mir nehmen. Du wirst an meiner Seite bleiben, denn den Ort deines Todes habe ich mir ausgesucht.« »Und wo?« hauchte sie zitternd. »Wo soll das sein? Ich… ich weiß es nicht und…« »Keine Sorge. Dazu brauchen wir das Kloster nicht zu verlassen. Wir bleiben hier, wir gehen nur etwas tiefer. Ich weiß einen Ort, er ist ideal für dich. Da will ich dich und auch Maria vergehen sehen, um meinen Sieg feiern zu können.« Sollte sie schreien? Sollte sie versuchen, den anderen wegzustoßen, um an ihm vorbei aus dem Zimmer zu huschen?
Solara schrak zusammen, als sich etwas Glattes, Kaltes unter ihr Kinn legte. Es war eines der Messer. Allein die Berührung an ihrer Haut reichte aus, um sie ihre Gedanken vergessen zu lassen. »Du kommst mit mir«, sagte er nur und schaute zu, wie die junge Nonne gehorchte. Nie zuvor hatte sie sich so schrecklich allein und hilflos gefühlt. Dabei konnte sie nicht einmal die Zusammenhänge begreifen. Sie hatte das Gefühl, zwischen zwei mächtigen Kräften zerrieben zu werden… *** In der Nähe von Palermo war er geboren worden, und in der Stadt selbst wagte kaum jemand, seinen Namen laut auszusprechen, es sei denn, der Sprecher gehörte zum inneren Kreis der Mafia, denn Rudi Rosati zählte zu den besten Killern, die die Stadt aufzubieten hatte. Falls er nicht überhaupt der beste war. Er tötete und kassierte. Nicht ganz so brutal und >erfolgreich< war Tassilo Scotto. Auch er hatte schon gekillt, sich dann aber mit anderen Dingen beschäftigt. Er war ein perfekter Überwachungsmensch, jemand, der den anderen immer sah und dabei nie selbst gesehen wurde. Wahrscheinlich deshalb, weil er nicht auffiel. Er war nicht groß, immer etwas blaß, trug sein Haar normal geschnitten und machte den Eindruck eines schüchternen Jungen, der in dieser Welt nicht so richtig zurechtkam. Ein Irrtum. Denn Scotto hatte die Spur eines Romano Testi wieder aufgenommen, seine entsprechenden Meldungen abgegeben und war zusammen mit Rosati losgefahren. In Locanto hatten sie sich umgehört. Es gab da einige Leute, die ihnen gern etwas mitteilten, und so wurden beide sehr schnell über den Tod des alten Testi informiert. Im Ort war von einem sehr rätselhaften Ableben gesprochen worden. Fest stand nur, daß der alte Testi durch zwei Messerstiche in die Brust ums Leben gekommen war. Das hatte nach einer glatten Arbeit ausgesehen, was weder Rosati noch Scotto gefiel. »Ob uns da jemand ins Handwerk pfuschen will?« »Nein, Rudi.« »Was macht dich so sicher?« »Mein Gefühl.« »Hör auf, das ist…« »Es wäre zumindest unlogisch, wenn die Organisation außer uns noch jemand geschickt hätte.« Das sah Rudi Rosati ein. »Aber was willst du tun?«
»Mich umhören. Du kannst hier warten. Soviel Zeit haben wir noch. Außerdem will ich herausfinden, wo die beiden Freunde geblieben sind, denen wir unsere Grüße bestellen werden.« »Bene. Aber nicht zu lange.« »Keine Sorge, du kennst mich.« Scotto verschwand und ließ seinen Kumpan in dem Lokal bei Kaffee und Grappa zurück. Rosati gehörte zu den Typen, um die man als Fremder einen Bogen machte. Es lag nicht an seinem Aussehen, da wirkte er ziemlich normal, nein, von ihm ging etwas aus, das mit dem Begriff Gefühlskälte umschrieben werden konnte. Rosati wirkte wie ein Eisschrank auf zwei Beinen. Er brauchte nur den Kopf zu heben und jemand anzuschauen, dann zuckte der andere zurück, weil er wußte, woran er war. So erging es auch der Bedienung. Die junge Frau hütete sich, in der Nähe ihres Gastes zu bleiben. Sie war froh, wenn sie auf dessen Rücken schauen konnte. Wenn er bestellte, schnickte er nur mit den Fingern. Dann wußte sie, daß sie ihm zwei Grappa und einen Kaffee bringen mußte. Als sie Tasse und Gläser auf das Tablett stellte, zitterten ihre Hände, und die Gegenstände stießen zusammen. Das leise Klirren begleitete ihren Weg bis zu Rosatis Tisch. Als das Mädchen das Tablett abgestellt hatte und verschwinden wollte, hielt Rosati es fest. Die Kleine erschrak, wurde blaß und konnte nichts machen, als der Mann sie zu sich heranzog. »Hör zu!« »Si?« »Wir suchen zwei Männer, Fremde, du verstehst?« »Si.« Rosati fragte geschickt. Schon sehr bald wußte er, daß die etwas dralle Person einen der beiden, einen Blonden, bedient hatte. Da wollte der Killer natürlich mehr wissen. Aus Angst redete die Kleine wie ein Wasserfall. Sie brachte einiges durcheinander, Dichtung und Wahrheit lagen da sehr eng zusammen, aber es kristallisierte sich auch etwas hervor, und Rosati spitzte die Ohren. Die beiden waren weggefahren, ohne daß sich Testi um seinen ermordeten Vater gekümmert hätte. »Wohin sind sie denn gefahren?« »Nicht an die Küste.« »Das weißt du?« »Si, sehr genau. Sie wollten ins Innere der Insel, denn die beiden unterhielten sich hier.« »Die ist auch groß.« Er starrte das Mädchen aus seinen kalten, dunklen Augen an, und die Kleine bekam eine Gänsehaut. Sie schien sogar
zusammenzuschrumpfen, so sehr fürchtete sie sich. Dabei schien die Sonne warm in das kleine Lokal hinein. Glücklicherweise kehrte Scotto zurück. Rosati ließ das Mädchen los und stieß es noch zur Seite. Am Gesicht seines Kumpans las er ab, daß Tassilo fündig geworden war. »Und?« »Komm mit!« Rosati kippte den Grappa weg und stand auf. Er dachte nicht daran, auch nur eine Lira zu zahlen. Und es war niemand da, der es wagte, ihn danach zu fragen. Rosati wirkte allein durch sein Auftreten. Auf der Straße wurde Scotto konkreter. »Sie müssen zu einem Kloster gefahren sein.« »Was?« »Zu einem Nonnenkloster.« »Was wollen sie denn da?« Scotto grinste. »Das werden wir herausfinden. Los, wir haben keine Zeit mehr!« Als der Wagen mit den beiden Männern den Ort verließ, gab es nicht wenige, die sich vor Glück darüber bekreuzigten… *** Wir mußten die Äbtissin stützen, als wir mit ihr durch das Kloster schritten, um die Zelle der Solara zu erreichen. Lucia war völlig durcheinander und erzählte uns wieder, daß so etwas noch nicht vorgekommen wäre. Sie hatte überhaupt keine Erklärung dafür, und andere Schwestern waren beauftragt worden, noch einmal das Kloster zu durchsuchen. »Gab es denn Spuren von Gewaltanwendung?« erkundigte sich Romano Testi. »Ich habe nichts gesehen, aber dazu fehlt mir wohl auch der Blick«, schränkte sie ein. Die Gänge waren breit und düster. Wenn Lampen ihr Licht verstreuten, hinterließ es auf dem Boden einen blassen Schimmer. Die Nonnen, die wir sahen, schauten uns ängstlich und auch fragend an. Sie wirkten eingeschüchtert. Das Verschwinden ihrer Mitschwester mußte sich rasch herumgesprochen haben. Wir hatten die Äbtissin in die Mitte genommen. Sie wirkte wie eine Frau, die sich selbst nur Vorwürfe darüber machte, daß sie nicht richtig aufgepaßt hatte. Sicherlich waren auch Erinnerungen an Maria wach geworden. Die Tür zum Zimmer der Verschwundenen stand offen. Ich hatte mich schon öfter in Klöstern aufgehalten, am Mobiliar der Zellen hatte sich kaum etwas geändert. Man konnte es als schlicht und zweckmäßig ansehen.
Als sich Lucia an mir vorbeidrängen wollte, bat ich sie, vor der Tür zu warten. »Ja, wenn Sie es wollen.« Sie sprach mit zwei älteren Nonnen. Die Frauen redeten allerdings so leise, daß ich kein Wort davon verstehen konnte. Romano Testi war mir gefolgt. Er stand inmitten des Raums, hatte die Hände in die Seiten gestützt, schaute in die Runde und schüttelte den Kopf. »Da ist nichts.« »Und was ist das?« fragte ich, wobei ich auf den Aschehaufen deutete, der einen grauen Fleck auf den Boden malte. Testi beugte sich vor. »Sieht aus wie Asche.« »Ist es auch.« »Daraus folgert man, daß die Verschwundene noch etwas verbrannt hat. Oder liege ich da falsch?« »Eigentlich hast du recht.« Ich holte die Äbtissin herein, die sich über die Asche wunderte. »Kann ich mir nicht erklären, Signore Sinclair. Das ist mir unverständlich.« »Was könnte sie denn verbrannt haben?« »Ich weiß es doch nicht.« Sie stand neben mir. Ihre Blicke wechselten zwischen der grauen Asche und der dahinterliegenden Wand hin und her. Sie war eigentlich nicht in der Lage, einen Kommentar abzugeben. Die Frau zeigte die gleiche Ratlosigkeit wie wir, und trotzdem war sie es, die eine Lösung fand. Sie deutete plötzlich auf die Wand über dem Ascherest. »Da ist der Umriß!« »Welcher?« »Der von dem Kreuz!« Für mich war es einfach zu dunkel. Deshalb nahm ich meine Lampe und leuchtete die Stelle an. Die Äbtissin hatte sich nicht geirrt. Auch Testi, der neben mir stand, sah es und nickte. »John, da muß ein Kreuz gehangen haben. Man kann noch den Umriß erkennen.« Wir schwiegen. Jedem zuckten Gedanken und Vermutungen durch den Kopf. Vielleicht wollte auch niemand als erster einen Kommentar abgeben, so machte sich die Nonne zum Vorreiter. »Sie wird es von der Wand genommen und verbrannt haben«, flüsterte sie. »Mein Gott, wie konnte sie das nur tun! Es gleicht schon einem Verrat. Das begreife ich nicht.« Ich hielt dagegen. »So einfach wollen wir es uns nicht machen, Ehrwürdige Mutter. Wer sagt uns denn, daß dies tatsächlich passiert ist.« »Haben Sie eine andere Lösung?«
Ich konnte mir eine Antwort sparen. Testi, der vor dem Aschehäuflein hockte und mit dem Finger darin herumgerührt hatte, runzelte die Stirn, bevor er sich hochdrückte und uns kopfschüttelnd anschaute. »Das ist eine seltsame Asche.« »Wieso?« »Kann ich dir auch nicht genau sagen. Ich verlasse mich da einfach auf mein Gefühl und meine Routine. Ich habe schon oft in Asche herumgestochert, denke dabei nur an die Brandbomben, mit denen Gegner der Mafia umgebracht wurden, egal, ob in ihren Fahrzeugen oder in ihren Häusern. Da habe ich öfter vor Ascheresten gestanden, und damit meine ich nicht nur die Menschen, auch Holzasche. Ich habe sie kontrollieren können, aber diese hier ist anders.« »Wie denn?« Testi hob die Schultern. »So genau kann ich es dir nicht sagen, aber ich will einfach nicht glauben, daß es Asche von dem Kreuz ist. Die hätte ganz anders ausgesehen. Viel amorpher und auch schwärzer. Die hier ist so seltsam. Die rieselt, wenn ihr versteht.« »Noch nicht.« Testi schaute uns an, hob die Schultern, sah gequält aus. »Nun ja, ich kann es nicht genau erklären. Das Kreuz ist jedenfalls nicht normal verbrannt.« Wir schauten ihn an und waren sehr skeptisch. Testi hatte aber ein Wort gesagt, über das ich nachdachte. Normal in Verbindung mit verbrennen. Darüber stolperte ich. »Was hast du, John?« Testi wunderte sich über meine Nachdenklichkeit. Ich lächelte knapp. »Du hast da etwas gesagt, das mich mißtrauisch machte. Dieses Wort normal in Zusammenhang mit dem Verbrennen. Es gibt auch andere Feuer.« »Und welche?« »Magische.« Das Wort schwebte im Raum und zwang beide Zuhörer dazu, sich näher damit zu beschäftigen. Wer sich nicht mit den Fällen so beschäftigt wie ich, für den ist es schwer, meine Folgerungen zu begreifen. Diesmal stellte die Äbtissin die Frage. »Können Sie das näher erklären?« »Nehmen Sie es einfach hin, daß es die Flammen des Bösen, meinetwegen auch das Feuer der Hölle gewesen ist.« Sie erschrak. »Das meinen Sie doch nicht im Ernst?« »Doch.« »In meinem Kloster hier?« Ich hob die Schultern. »Sie solltea selbst wissen, Ehrwürdige Mutter, daß die Wege unserer Gegner sehr verschlungen sind. Sie greifen auch an Orten an, wo man nicht mit ihnen rechnet. Es ist schlimm, ich weiß es, aber diese Erklärung muß Ihnen reichen.«
»Nein!« sagte sie entschieden. »Das ist mir viel zu allgemein. Wenn alles stimmt, was Sie da gesagt haben, Signore Sinclair, muß es dem Feind gelungen sein, hier einzudringen.« »Richtig.« Sie schaute mich an, dann senkte sie den Blick und meinte: »Wir sind zu spät gekommen. Wenn alles so stimmt, wie Sie es angedeutet haben, dann ist unser Kloster nicht mehr sicher.« »So sehe ich es.« »Und was ist mit Solara?« »Sie wurde entführt. Es ist die einzige Möglichkeit, die mir dazu einfällt.« Die Äbtissin schwieg ebenso wie Romano Testi. Ihnen beiden war wie mir klar, daß wir versagt hatten. Lucia sprach es auch aus, wobei sie die Hände rang. »Was wollen wir denn jetzt unternehmen? Ich weiß mir keinen Rat mehr.« »Wir müssen Solara finden.« »Und wo, Signore Testi?« »Überall.« Sie senkte den Blick. »Das heißt mit anderen Worten, Sie wollen das Kloster durchsuchen.« »Ja.« »Auch außen«, sagte ich. »Es kann durchaus sein, daß er sie in den Garten geschleppt hat.« »Sogar auf den Friedhof«, meinte Testi. Die Äbtissin wußte nicht mehr, was sie noch erwidern sollte. Schließlich hob sie die Schultern. »Ich habe den Eindruck, daß mir hier einiges über den Kopf gewachsen ist. Wenn Sie wollen, dann tun Sie alles, was Sie tun müssen. Aber bringen Sie mir um Gottes willen Solara wieder zurück. Tun Sie uns allen den Gefallen.« Ich schickte ihr ein Lächeln. »Darauf können Sie sich verlassen. Wir werden Solara finden, davon bin ich überzeugt.« Das war sie auch, doch sie bat uns, ihr die junge Nonne auch lebend zurückzubringen. Das konnten wir ihr nicht garantieren, behielten es allerdings für uns. *** Daß wir Herbst hatten, war daran zu merken, daß es früher dunkler wurde. Die Oktobersonne war verschwunden, die grauen Boten der Dämmerung fluteten lautlos heran. Viele Gegenstände waren nicht mehr so scharf und klar zu erkennen wie bei Tageslicht. Zu ihnen gehörte auch der hinter der kleinen Kirche liegende Friedhof mit den gepflegten Grabstätten, die ohne Prunk waren, aber gerade wegen ihrer Schlichtheit wirkten. Jedes Grab wurde von einem Rand aus
hellen Steinen eingefaßt, die manchmal die Form von bleichen Gebeinen aufwiesen. Die Grabsteine waren ebenfalls schlicht. Flach lagen sie auf den letzten Ruhestätten. Die Klostermauer warf einen Schatten über die Gräber. Er kam uns wie ein Omen vor. Ich drehte mich von der vor mir liegenden Grabreihe weg und schaute auf die andere. Laut Beschreibung sollten wir dort das Grab der Maria finden. Ich entdeckte es und machte Testi darauf aufmerksam. Starr blieb er neben mir stehen, den Kopf gesenkt. Ich gönnte ihm diese Ruhe, denn seine Beziehung zu der Toten war eine andere als die meine. Wahrscheinlich durchtosten ihn zahlreiche Gedanken. Ich sah, wie er über sein Gesicht wischte, die Erinnerung wühlte ihn auf. Bestimmt dachte er auch an seinen toten Vater. »Hier liegt sie also und ist tot«, murmelte er. Ich nickte. »Oder lebt sie noch, John?« Das war eine schwere Frage. »Ich kann dir keine genaue Antwort geben. Ihr Leib wird vermodert sein.« »Mein Vater hat ihn aber gesehen.« Er räusperte sich. »Er hat ihn aus dem Wasser gezogen, und er fühlte sich nicht anders an als du oder ich. Darüber komme ich nicht hinweg.« »Es muß mit der Wiedergeburt zusammenhängen«, erwiderte ich leise. Lautes Reden hätte hier nur gestört. »Maria ist wiedergeboren, davon gehe ich erst einmal aus. Das ist der Stamm meiner Überlegungen. Welche Äste davon dann abzweigen, kann ich dir nicht sagen, aber so ist es nun einmal.« »Sehr wenig.« »Sicher. Ich würde sie zu gern finden.« »Und wo könnte sie sein?« Testi drehte sich bei der Frage um. Er wollte möglichst viel von dem Außengelände innerhalb der Klostermauer überblicken. Da stand die Kirche, da waren die Gärten, wir sahen auch die Zypressen und die Obstbäume. Einige Fächerpalmen spendeten Schatten. Durch die lange Hitze des Sommers sah die Natur vertrocknet und verstaubt aus. Man wartete auf den Regen. »Vielleicht haben wir in der Kirche Glück«, sagte ich. »Nicht schlecht. Das wäre sogar ein guter Platz, um sich zu verstecken. Ich frage mich nur, wen du damit meinst? Maria oder Solara?« »Beide?« »Nein, John. Nicht Solara. Ich glaube kaum, daß sich der Hexenmeister in die Kirche traut.« »Wir werden nachschauen.«
»Bene.« Es war nicht weit. Den kleinen Friedhof hatten wir schnell verlassen. Über einen mit hellen Steinen belegten Weg schritten wir dem Eingang der kleinen Kirche entgegen. Wir waren allein. Man konnte den Eindruck bekommen, von der Ruhe erdrückt zu werden. Nur das Knirschen unserer Tritte war zu hören. Bevor wir die Tür erreicht hatten, wurde sie von innen wuchtig aufgestoßen. Da löste sich dieses dunkle Rechteck aus der weißen Mauer. Damit hatten wir überhaupt nicht gerechnet, und deshalb gelang den beiden Männern die Überraschung. Wir kamen nicht einmal dazu, ein Wort zu sagen, denn gegen zwei Revolvermündungen ist man machtlos… *** »Auch das noch – Rosati!« Ich hatte Testis Flüstern gehört und vernahm das Lachen des einen Mannes. Er war ein kantiger, glatter Typ mit glatten Haaren und einfach widerlich kalten Augen. Der zweite neben ihm fiel kaum auf, doch er war sicherlich nicht weniger gefährlich. »Du kennst ihn, Romano?« »Den kennt jeder Polizist in Italien.« »Danke, das reicht.« Die Eingangstür der Kirche war ziemlich breit. Sie hatten beide darin Platz. Es war Rosati, der sprach. »Los, kommt zu uns! Wir haben euch einen schönen Platz zum Sterben ausgesucht. Direkt am Altar. Kann es einen wirklich originelleren Ort geben?« Testi rührte sich nicht. Er wollte Fragen beantwortet haben. »Was hast du hier zu suchen, Rosati?« »Dich!« »Das glaube ich dir nicht.« Der Killer grinste. »Doch, ich bin dir gefolgt. Du hast dich in London zu schlecht benommen. Das verlangt nach Rache. Der Fuchs war außerdem ein Freund von mir. Und jetzt kommt, ich will aus dieser Gegend so schnell wie möglich weg.« Der kleinere der Männer trat tiefer in die Kirche zurück. »Er heißt Tassilo Scotto«, flüsterte mir Testi zu. »Unterschätze ihn nicht, der ist in der Branche auch bekannt. Beide werden keine Rücksicht nehmen. Die schießen.« Wenn Romano das sagte, mußte es stimmen. Er kannte die Branche besser als ich. In der Kirche war es kühl. Und auch still. Ich konnte mir vorstellen, daß diese Stille plötzlich von Schüssen zerrissen wurde, das Krachen der
Echos, das Pfeifen der Kugeln, das alles konnte passieren im seichten Dämmerlicht, das durch die Fenster sickerte und sich in der schlichten Kirche verteilte. Die Typen hatten uns in die Zange genommen. Und sie machten nicht den Eindruck, als könnten sie Spaß vertragen. Rosati zielte auf Testis Kopf, Scotto hielt mich in Schach. Vor die Mündungen der Waffen waren keine Schalldämpfer geschraubt, und Rosati hatte das Kommando übernommen. »Zum Altar!« flüsterte er, »wenn wir euch schon umlegen, dann richtig stilecht.« Testi blieb stehen. »Damit holst du deine Kumpane auch nicht zurück.« »Aber du folgst ihnen. Darauf habe ich schon lange gewartet. Du bist ein Geschwür, du bist die Pest in unserem Leib, Testi.« »Ist der nicht schon verrottet genug?« »Wirst du sehen!« Ich hatte mich herausgehalten und Scotto beobachtet. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen. Er ließ keinen Blick von mir. Ich konnte ihm ansehen, wie scharf er überlegte. Er schaffte es wohl nicht, mich irgendwo einzuordnen. Ich gehörte nicht zur italienischen Gegenseite, und das machte ihn nachdenklich. Er sagte etwas zu Rosati. »Was ist?« »Wer ist dieser Mann?« »Weiß nicht.« Da ich die beiden verstanden hatte, konnte ich auch antworten. »Ich komme aus London.« »Ein Bullenkollege?« »So ähnlich.« »Um den ist es nicht schade!« flüsterte Rosati. »Der gehört ebenfalls ins Jenseits.« Er lachte leise, bevor er sich wieder an Testi wandte. »Auch deine Hilfe hat dir nichts genutzt, Hundesohn. Wir packen euch, wir packen euch alle.« »Dann habt ihr auch Scotland Yard auf den Fersen«, sagte ich. »Was macht das schon?« »Und Costello wird sich bestimmt freuen, wenn wieder ein Bulle umgelegt worden ist«, erklärte Scotto. Da hatte er recht. Wir saßen in der Klemme. Ich wußte nicht, wie ich da rauskommen sollte. Die beiden Waffenmündungen glotzten mich an. Ich stand im Kreuzfeuer der Kanonen, die Finger lagen am Abzug, die beiden gaben sich keine Blöße. Sie waren Killer, sie waren Kenner, die taten dies nicht zum erstenmal. Es gab in der Kirche nur wenige Bänke. Sie standen links und rechts, ein Mittelgang trennte sie. Er endete dort, wo der Altar begann. Dieser
wiederum stand etwas höher. Wir mußten eine Stufe hinaufgehen, um die breitere Plattform zu erreichen. Ein schlichter Altar. Zwei Kerzen rechts und links, dazwischen stand ein Kreuz. Es war aus Holz gefertigt und besaß einen steinernen Sockel. Sie waren jetzt hinter uns. Auf meinem Rücken spürte ich das unangenehme Kribbeln, den Schauer des Wissens, daß jeden Moment der Tod in meinen Rücken hineinjagen konnte. Eine schmucklose Kapelle. Keine Wandmalereien, kein Blumenschmuck, ein blanker Steinboden, über den wir schritten, dann mußten wir vor der Stufe stehenbleiben. »Mach den Altar frei, Scotto!« »Bene.« Der Killer wußte, was er zu tun hatte. Er schlug einen Bogen, um nicht in die Schußlinie hineinzugeraten, gelangte hinter den Altar und grinste uns kalt an. Mir schoß in diesem Augenblick ein Vergleich durch den Kopf. Als hätte sich der Teufel in Scottos Gestalt Zeit genommen, um der Kirche einen Besuch abzustatten. Dieser Killer sah so sicher aus. Er zielte auf uns, aber eine Hand hatte er frei. Mit der räumte er die Kerzen zur Seite. Wir schauten zu, wie sie zu Boden fielen und noch ein Stück zur Seite rollten. Dann schleuderte er das Kreuz weg. Neben mir zuckte Testi zusammen. Auch ich spürte, wie sich ein Kloß im Magen bildete. »Frei zum Sterben!« flüsterte Rosati. »Los, geht hin. Aber schnell, ihr beiden verdammten Bullen!« Ich wartete noch und fragte: »Was geschieht dann? Kannst du mir das sagen?« »Ja. Hinlegen, auf den Altar!« Er lachte und fand sich wohl komisch dabei. Neben mir knirschte Testi mit den Zähnen. Auch er erstickte fast an seiner Wut. Er sah aus, als wollte er jeden Augenblick herumfahren und seine Waffen ziehen. Doch er tat nichts. Ich drehte den Kopf. Mein Blick erwischte Rosatis Gesicht. Es sah aus wie eine kalte Maske. Ohne Gefühl, nur Mordlust in den Augen. Dieser Mensch widerte mich an. Hier hatte der Teufel so etwas wie sein Ebenbild gefunden. »Geht schon!« flüsterte Rosati scharf. »Wir wollen nicht mehr länger warten!« Testi räusperte sich, er hob seine Augenbrauen, der Bart auf der Oberlippe zitterte. Was sein Blick bedeutete, konnte ich mir denken. Versuchen wir es, oder versuchen wir es nicht?
Ich sah keine Chance, deshalb schüttelte ich leicht den Kopf. Hinter mir lachte der Killer. »Nein, Bulle aus London, du wirst nichts mehr erleben. Dein Weg ist hier zu Ende. Du wirst satt ins Jenseits segeln, du wirst…« »Sei ruhig!« keuchte Testi. »Angst?« Die beiden sprachen noch. Ich hielt den Blick nach vorn gerichtet und schaute über den Altar hinweg. Dahinter stand Scotto. Er hielt seine Kanone in der rechten Hand. Die Mündung zeigte über die Platte hinweg auf mich. Da traf er immer. Auf die Distanz konnte er nicht vorbeischießen. Ich ging auf den Altar zu. Ich wußte nicht, wie sie es machen wollten. Wahrscheinlich schössen sie zugleich. Rosati feuerte in Testis Rücken, mir würde Scotto in die Brust schießen. Damit war es dann aus! Plötzlich kam mir der Gedanke. Und er brachte mich erst jetzt darauf, wie nahe ich dem Tod war. Eine Kugel würde reichen. All das, was Dämonen und selbst der Teufel nicht geschafft hatten, würde diesem verfluchten Mafia-Killer gelingen. Die Kälte auf meinem Rücken wurde zu Eis. »Geht weiter, ihr…« Rosati verstummte. Ebenso wie wir hatte auch er das Singen gehört. Es war ein Gesang, der von irgendwoher kam. Aber wer sang? »Verdammt, was ist das?« Auch Scotto war nervös geworden. Den Kopf bewegte er nicht, nur seine Augen, und er schielte in verschiedene Richtungen, was schon einer Kunst gleichkam. Der Gesang aber blieb… War er bereits die für uns bestimmte Totenmelodie, die wir auf dem Weg ins Jenseits hörten? Der Gesang klang überirdisch, so engelhaft rein, und genau das mußte es sein. Engelhaft! Ich dachte an Maria, um die sich schließlich alles drehte. Aber sie war keine Lichtgestalt mehr, sie konnte nicht mehr eingreifen. Da mußten andere Kräfte im Spiel sein. Ich schaute mich um. Rosatis Gesicht war verzerrt. Er fluchte leise. Dann trat er mit dem Fuß auf. Er wollte etwas sagen, aber Scotto kam ihm zuvor. »Hier ist doch der Teufel…« »Los, schieß!« Und da stand sie.
Auf dem schlichten Altar malte sich ihre Gestalt ab. Wir sahen sie mit ihrem blonden Haar, mit dem engelhaften Gesicht und dem sich dort abzeichnenden Willen darin. Jetzt oder nie! »Weg, Testi!« Ich fiel schon zur Seite. Da krachten die Schüsse. Ob Testi erwischt wurde, konnte ich nicht sagen, an mir jedenfalls huschten die Kugeln vorbei. Sie waren auch nicht für mich bestimmt, sondern trafen die geisterhafte Gestalt, die sich genau in diesem Augenblick voll materialisierte, als hätte sie dies extra getan. Von zwei Seiten erwischten sie die Geschosse. Sie jagten nicht hindurch, sie blieben stecken, und wir bekamen mit, wie die Person wie unter Peitschenhieben zusammenzuckte. Es war ihr unmöglich, sich auf der Altarplatte zu halten. Sie brach in die Knie, von Kugeln getroffen, von Wunden gezeichnet, wobei aus einigen von ihnen Blut sickerte, denn die beiden Killer hatten mehrere Male abgedrückt. Mein Gott, wie gern hätte ich die Person in den Arm genommen und ihr Trost zugesprochen, aber diese Hölle war noch nicht beendet. Die Mafiosi hatten einen Auftrag, und den würden sie bis zum bitteren Ende durchführen. Beide hatten sich sehr sicher gefühlt und uns die Waffen gelassen. Aus ihrer Sicht war es ein Fehler, sich nicht der umständlichen Prozedur des Waffenabnehmens hingegeben zu haben, denn so konnten wir reagieren. Auf dem Boden liegend schössen wir zurück. Die beiden Killer gerieten in unser Kreuzfeuer. Ich trug diesmal meine Silberkugel-Beretta bei mir, und ich traf. Scotto erwischten meine beiden Kugeln. Hinter dem Altar brüllte es auf, dann knickte er ein und brach zusammen. Er schlug noch mit dem Gesicht gegen die Kante und riß es sich über der Nase auf. Sein Kumpan stand noch. Für mich sah es so aus, als weigere er sich, auf den Steinboden zu fallen. Dabei bewegte er sich zuckend. Er lief nicht, er irrte von einer Seite zur anderen. Ich hörte ihn jammern und schreien. Seine rechte Hand war ihm schwer geworden. Blut lief über seinen Arm. Vergeblich versuchte er, die Waffe in die Höhe zu bekommen und auf uns zu richten. Seine Hand knickte nach vorn. Die Faust öffnete sich, der Revolver rutschte ihm aus den Fingern und prallte zu Boden. Dann fiel auch er.
Getroffen hatte ihn Testi. Der Kollege saß auf dem Kirchenboden. Er hielt seine Waffe mit beiden Händen fest, dabei zitterte er. Ich sah die rote Nässe, die sich um seinen linken Oberschenkel herum ausbreitete. Auch er war getroffen worden. Als ich zu ihm wollte, wehrte er ab. »Ich bin okay, kümmerte dich um Maria.« Sie lag auf dem Altar, ohne sich zu rühren. Die Kugeln der Killer hatten sie voll erwischt. Dennoch ging ich hin und befühlte ihren Puls. Ich nahm keine Reaktion wahr. Das blasse Gesicht sah so schrecklich starr aus. Die wächserne Bleiche des Todes hatte es gezeichnet, und sie war gleich von drei Geschossen getroffen worden. Keine Chance mehr… Ich spürte in meiner Kehle den Klumpen, als ich um den Altar herumging und mich um Scotto kümmerte. Auch er rührte sich nicht mehr. Ich hatte ihn tödlich erwischt. Dann ging ich zu Rosati. Er war ebenfalls tot… Ich stand in einer Grube. Ich fühlte mich vom Grauen umgeben. Es war so schrecklich. Ich hatte zwar keine Angst, aber was da über meinen Rücken rann, konnte nur ein Schauer der Furcht sein, der sich bei mir festgefressen hatte. Mit schleppenden Schritten ging ich auf Testi zu. Er war zurückgerutscht und lehnte mit dem Rücken am Altar. Die Waffe hatte er neben sich gelegt. Als er den Kopf anhob und mich anschaute, waren seine Augen weit geöffnet und blutunterlaufen. »Sind sie…?« Mein Nicken unterbrach ihn. »Ja, Romano, sie sind tot. Wir haben sie erschossen.« Er hob nur die Schultern. »Was ist mit Maria?« »Auch sie wird keinen Menschen mehr beschützen können. Sie hat sich genau in dem Augenblick endgültig materialisiert, als die beiden Killer feuerten. Das ist ihre letzte Tat gewesen.« »Mit der sie uns beiden das Leben gerettet hat.« »So ist es.« Er schloß die Augen und atmete durch die Nase. Ich wußte nicht, was ihm alles durch den Kopf schoß, aber ich bückte mich, um nach seiner Wunde zu sehen. Es war ein Steckschuß. Die Kugel hatte den Oberschenkel nicht durchschlagen. Testi mußte unter Schmerzen leiden, aber er hielt sich trotz allem tapfer. »Ich werde es überstehen, John, aber ich kann dir nicht helfen. Ich… ich war nicht schnell genug. Du mußt diesen verfluchten Hexenmeister allein jagen.« »Worauf du dich verlassen kannst.« »Was willst du jetzt machen?«
»Ich werde die Äbtissin holen.« »Gut. Hoffentlich kann sie auch operieren. Die verfluchte Kugel steckt noch drin. Ich habe das Gefühl, daß das Loch hinten so groß ist wie ein Teller. Diese verfluchten Hundesöhne, sie…« Er wollte noch etwas sagen, aber der letzte Rest Farbe verschwand aus seinem Gesicht. Vor meinen Augen wurde er bewußtlos. Ich mußte jetzt schnell sein, denn er durfte nicht zu viel Blut verlieren. In der Kirche war es noch düsterer geworden. Ich ging wie durch ein großes Grab. Im Mund lag ein bitterer Geschmack, und ich war froh, als ich nach draußen trat. Die Dämmerung hatte bereits große Fortschritte gemacht. Im Westen, wo die Sonne gesunken war, da zeigte der Himmel ein intensives Purpurrot. Er stand dort in Flammen, als hätte die Hölle ihre Pforten geöffnet, um einen Teil des Feuers zu entlassen. Ich senkte den Kopf. Plötzlich kamen mir die Mauern des Klosters bedrohlich vor, war der kleine Friedhof in der Nähe zu einem Ort des Schreckens geworden, über den die Dämmerung hinwegfloß wie graue Nebelschwaden. Ich lauschte meinen eigenen Schritten, als ich auf das Kloster zuging. Bestimmt waren die Schüsse gehört worden, aber es hatte sich niemand getraut, nachzuschauen, was auch besser gewesen war. Die Äbtissin erwartete mich bereits. Sie kam mir sogar entgegen und schien mit hellseherischen Gaben ausgestattet zu sein. Sie blieb stehen und schaute mich an. Ich hob die Schultern. Sagen konnte ich nichts, die Kehle saß einfach zu. »Es hat Tote gegeben, nicht?« Ich nickte. »Wer?« »Zwei Killer – und Maria. Mein Partner ist verletzt. In seinem Oberschenkel steckt eine Kugel.« Sie sagte zunächst nichts. Dann meinte sie mit leiser Stimme. »Ich hole Hilfe und glaube, jetzt sind wir alle hier im Kloster gefordert…« *** Der Hexenmeister führte Solara in die Unterwelt des Klosters, und er bewegte sich, als hätte er schon immer hier gelebt. Er kannte sich aus. Er war wie ein Schatten, man hörte ihn nicht. Er ging hinter der jungen Nonne her, die seine Schritte nicht vernahm, so daß es ihr vorkam, als würde er über dem Boden schweben. Sie hatten die breite Treppe genommen und waren in die Kühle und die Düsternis hineingestiegen, vor der Solara sich eigentlich nie gefürchtet hatte, was allerdings jetzt anders war, denn sie hatte den Eindruck, als
wäre sie von einem nie abreißenden Spinnennetz umweht worden, das über Gesicht und Körper strich. Auf ihrem Rücken materialisierte sich die Furcht. Sie lag dort in der Größe von Hagelkörnern. Mit jedem Schritt, den sie vorging, schien sie ihrem Grab näher zu kommen. Sie dachte an die letzten Minuten. Es war furchtbar gewesen. Dieser Hexenmeister hatte ihr nicht die geringste Chance zur Flucht gegeben. Er hatte sie zwar nie berührt, sie empfand ihn trotzdem wie eine schleimige Klette, die sich um ihren Körper geschlungen hatte, um sie in die Tiefe zu zerren. Angst hatte sie bisher nie gekannt. Nun aber krallte sie sich fest. Der Schauer floß immer stärker, hinter sich spürte sie den Hauch des Todes, und wenn sie ihren Schritten lauschte, kam es ihr vor, als würde sie über Glasscherben schreiten. Sie zitterte. Das Kloster war sehr alt und hatte schon die langen Jahre überdauert. In den oberhalb liegenden Räumen war es zweimal umgebaut worden. Beide Male nach einem Brand. Hier unten hatte sich nichts verändert. Enge Gänge, feuchte Wände, gleichbleibende Temperaturen. Selbst im heißen Sommer herrschte hier die Kühle eines Grabes. Am Eingang des Kellers waren die Vorratsräume. Die allerdings interessierten den Hexenmeister nicht. Er wollte weiter, denn nur die Tiefe und Einsamkeit des Klosters gab ihm die Gewißheit, auch allein bleiben zu können. Manchmal, wenn es ihm zu langsam ging, spürte die Nonne den Druck seiner Hand in ihrem Rücken. Dann war es ihr, als wäre sie von einer Totenklaue angefaßt worden, und sie schauderte jedesmal zusammen. Ihre Beine zitterten. Die Füße berührten nur leicht den Boden, dennoch hatte sie den Eindruck, als würde es ihr schwerfallen, und sie ging wie durch tiefen Schlamm. Immer wenn sie Luft holte, schmerzte ihre Brust. Die lange Kutte kam ihr wie eine klebrige zweite Haut vor, die sich hin und wieder an ihren Körper schmiegte. Hinter den Schläfen hämmerte das Blut. Es schien zu kochen, und Schwindel überkam sie. Sie mußte sich an der feuchten Wand abstützen. Als ihre Handfläche Kontakt bekam, da war es ihr, als hätte sie in weichen Schlamm gefaßt, in dem Käfer und anderes Kriechgetier ihre Heimat gefunden hatten und nur darauf warteten, über ihre Finger krabbeln zu können. Es war einfach widerlich. Er faßte sie wieder an.
Die junge Nonne verzog ihren Mund. Eine Geste des Ekels, der sie überfallen hatte. »Weitergehen. Du wirst bald dort sein.« Er hatte eine Fackel mitgenommen, um Licht zu haben. Die Flamme tanzte und bewegte sich. Manchmal spürte Solara sie, wenn sie ihren heißen Atem über die Haut schickte. Sie fürchtete sich auch davor, daß Valentin sie kurzerhand in Brand steckte. Sie malte sich all die Schrecken aus, die ihr noch widerfahren würden, bevor sie endgültig starb. Warum sie? Der Gedanke an Maria überfiel sie. Hatte sie nicht denselben Weg erlebt wie sie? Hatte es bei ihr nicht auch so angefangen, hatte sie nicht auch die ungewöhnlichen Träume gehabt, die unheimliche Bedrohung, die immer näher kam und sich wie ein gewaltiger Schatten auf sie legte? Das alles wußte sie aus den Erzählungen der Äbtissin, und vor ihren Augen erschien das ernste und sorgenvolle Gesicht der älteren Frau, für die die jüngeren Nonnen wie Kinder waren. So sehr wurden sie von ihr behütet und beschützt. Bei jedem Schritt schwankte sie. Ihre Träume hatten sie nie tagsüber erreicht, obwohl sie dort auch einige Stunden schlief. Immer waren sie in der Nacht gekommen und hatten zugeschlagen. Sie waren so schlimm gewesen, daß sie sich an Einzelheiten nicht mehr erinnern konnte. Doch was sich aus ihrem Gedächtnis hervorstahl, waren Bilder des Schreckens, des Grauens, der Angst. Szenen, an die sich Solara nicht mehr hatte erinnern wollen, die aber trotzdem mit einer wahren Brachialgewalt auf sie einströmten, ausgerechnet jetzt, wo sie auf dem Weg war, der ihre Träume zur Realität werden lassen konnte. Ihre Augen brannten. Sie konnte bald nicht mehr. Der rußige Qualm der Fackel überholte sie und wischte über ihr Gesicht, als hätte ein Monster seinen heißen, stinkenden Atem ausgestoßen. Der Gang schien kein Ende nehmen zu wollen. Sie war ihn noch nie gegangen, sie wußte nur, daß an seinem Ende eine Tür lag und dahinter der letzte Raum. Ihr Todesverlies. In ihrem Körper kribbelte die Furcht. Über den geheimnisvollen Raum hatten die älteren Mitschwestern nur immer flüsternd gesprochen, als würden sie sich vor ihm fürchten. Er war etwas Besonderes, aber negativ gesehen. Dort hatten die alten Mauern das Schreien der Opfer gehört und es aufgesaugt wie Wasser. Da war gefoltert worden. Das lag lange zurück, aber die Überlieferungen hatten sich gehalten. Heidnische Krieger waren in das Kloster eingefallen und hatten das alte Verlies zum Raum des Satans und zu ihrer Folterkammer gemacht. Da
war die Rede von Teufelsanbetern gewesen, die sich im letzten Jahrhundert breitgemacht hatten. Sie sah die Tür. Das Licht der Fackeln huschte gegen das alte morsche Holz. Es gab ihm den Anschein, als würde es leben, als hätten sich zahlreiche Würmer im Holz breitgemacht. Sie mußte stehenbleiben. Der Hexenmeister erreichte es durch eine Geste. Er legte ihr seine knochige, kalte Hand auf die rechte Schulter. Ihr stockte der Atem. Die Hand war bleich. Sie besaß lange Finger und eine sehr dünne Haut, die straff wie Papier war. Solara sah auch die Nägel. Grau und schwarz sahen sie aus, als wären sie extra für diesen Weg mit Farbe bestrichen worden. Ihr Herz schlug noch schneller. Wenn sie Atem holte, hatte sie den Eindruck, als würde sie flüssige Luft trinken. In ihrem Kopf hämmerten die Gedanken. Sie stellte sich etwas vor, schreckliche Bilder, die aber verschwammen, als wäre eine gewaltige Hand über sie hinweggehuscht. Die andere Hand verließ ihren Platz und bewegte sich nach rechts. Sie rutschte dabei wie ein kaltes Stück Eis an ihrem Oberarm entlang nach unten. Am Handgelenk kam sie zur Ruhe. Solara erstarrte. Die Finger waren wie stählerne Spinnenbeine, aber sie drückten nicht zu. Dann beugte sich Valentin vor. Er brachte den Mund dicht an ihr Ohr. »Jetzt wirst du öffnen!« flüsterte er. Die junge Nonne nickte nur. Es gelang ihr kaum, sich zu bewegen. Auf einmal waren die Arme schwer wie Blei, was dem Hexenmeister nicht paßte. »Soll ich dich verbrennen?« »Nein, ich…« »Los, jetzt!« Die alte Klinke war von einer dicken Rostschicht bedeckt. Sie kratzte an ihren Handflächen, als sie mit den Fingern das Metall umschloß. Stoßweise kehrte die Gänsehaut zurück. Ihre Augen brannten, im Innern tobte ein gewaltiger Schrei. Warum hilft mir denn keiner? Die Tür gab fürchterliche Geräusche ab, als die junge Nonne sie aufzog. Sie schloß die Augen, weil sie den Eindruck hatte, von schreienden Ungeheuern umgeben zu sein. Das große Zittern überkam sie. Das Gefühl, einfach in den Boden versinken zu müssen, um dann nichts mehr hören und sehen zu müssen. Sie mußte stärker ziehen, um die Tür überhaupt so weit öffnen zu können, daß sie hindurchgehen konnte. Wieder merkte sie den Druck der widerlichen Hand. Der Hexenmeister schob sie vor. War das ihr Grab?
Die langen Jahre schienen in dem letzten Verlies ihre Spuren hinterlassen zu haben. Der Atem einer unheimlichen Welt wehte ihr entgegen. Es roch nach Moder, nach stockigem Blut und nach brackiger Feuchtigkeit. Sie stolperte über den rauhen Steinboden. Die Decke war ziemlich niedrig, aber Solara konnte noch stehen, und die unheimliche Gestalt des Hexenmeisters drückte sich an ihr vorbei, weil er mit seiner Fackel das Verlies ausleuchten wollte. Zuckendes Licht, eine tanzende Flamme, deren Spiel aus Hell und Dunkel über die Wände huschte. Solara sah fratzenhafte Gesichter schattenhaft auf sie zukommen und wieder verschwinden. Unzählige Ungeheuer schienen sie zu umringen. Der Boden bestand nicht aus Steinen, sondern aus festgestampftem Lehm. Eine sonderbare Kälte erfüllte das Verlies, sicherlich die Kälte des Todes. Die Schatten veränderten sich, je weiter der Hexenmeister die Fackel transportierte. Manchmal wurden sie zu springenden Tieren, die wieder auf die jungen Nonnen zuhuschten, als sollte sie von den verzerrten Mäulern verschlungen werden. Aber das Licht erhellte auch etwas, das diesen Raum auszeichnete. Es war die Steinplatte. Sie stand auf zwei Steinstempeln, war so dick, daß sie auch ein größeres Gewicht aushalten konnte, und zeigte ein Muster aus dunklen und breiten Flecken, wie es eigentlich nur das Blut der Opfer hatte hinterlassen können. Menschen, die getötet worden waren, die in diesen Mauern ihr Leben ausgehaucht hatten. Ein Schauer strich über ihren Rücken. Angst quoll wieder in ihr hoch. Der Druck steigerte sich. Sie glaubte, ihr Herz würde zerspringen. Mit jedem Schlag pumpte es mehr Blut durch die Adern, das an Hitze gewann und ihr Gesicht rötete. »Komm… komm her…« flüsterte der Hexenmeister und winkte mit der freien Hand. Solara wußte, was er meinte. Es gab nur diese verdammte Steinplatte. Sie kam ihr vor wie ein entweihter Altar, den der Teufel für sich beanspruchte. Sie wußte, daß es keinen Sinn hatte, fliehen zu wollen. Der Hexenmeister wartete auf sie. Er hatte sich leicht gedreht, streckte den Arm aus und fand zielsicher einen Spalt in der Wand, in den er das Ende der Fackel stecken konnte. Hier war alles alt, uralt, selbst das Licht empfand sie so. Solaras Gesicht war unbewegt, als sie dem Steintisch entgegenschritt. Nicht einmal die Lippen zuckten. Sie lagen so hart zusammen, daß sie beinahe einen Strich bildeten. Sie blieb so dicht vor dem Steinaltar stehen, daß sie ihn fast berührte.
Der Hexenmeister Valentin schaute sie an. Zwischen ihnen befand sich nur die Breite der Altarplatte. Noch nie hatte sie das Gesicht dieses blassen Teufels so nahe vor sich gesehen. Obwohl das Fackellicht über seine Schultern hinwegtanzte und auch Schatten auf das Gesicht malte, glaubte die Nonne, Einzelheiten erkennen zu können. Es war keine so glatte Fläche, wie sie angenommen hatte. Sie sah die feinen Risse und dachte an ein Puzzlespiel, aus dem das Gesicht zusammengesetzt war. War es echt oder künstlich? Der Rand der Kapuze hatte sich verschoben. So lagen die Augen zum erstenmal frei vor ihr. Augen? Nein, das waren kleine, mit einer bösen Schwärze ausgefüllte Flächen, in dem alles Grauen der Welt lag. Tückisch, gemein und bösartig. Begleitet von einem eisigen Glitzern, eine irrsinnige Vorfreude auf das kommende Grauen. Pfeilschnell griff er zu. Die blasse, breite Klaue schoß aus der Ärmelöffnung hervor und verfehlte ihr Ziel nicht. Sie hakte sich mit jedem Finger im Stoff der Nonnenkutte fest, drehte daran, wobei es keinen Sinn ergab, daß sich Solara widersetzte. Der Hexenmeister war stärker. Er zerrte sie auf die Steinplatte zu. Sie spürte den Schmerz in den Knien, als sie gegen die Kante stieß, dann wanderte die Klaue, erwischte ihr Haar, zerrte daran und zwang sie, sich auf den Altar zu legen. Dem Hexenmeister paßte es nicht, daß sie auf dem Bauch lag. Sie hörte ihn fluchen, er sprach mit einer widerlichen, kalten Stimme, dann drehte er sie herum. Jetzt lag sie auf dem Rücken. Valentin stand neben dem Steinaltar und schaute böse auf sie herab. In seinen dunklen und gleichzeitig leeren und nichtssagenden Augen blitzte kein Funke Gefühl. Solara wußte auch, was das zu bedeuten hatte. Nichts anderes als den Tod. Noch tat er nichts. Er schaute nur auf sie herab. Dann zog er die Kapuze zurück. Die junge Nonne erstarrte. Nie hätte sie mit diesem Gesicht gerechnet. Es war nicht das eines Monstrums, es war menschlich, und trotzdem konnte sie ihm nichts Menschliches abgewinnen. Vielleicht lag es an dem kahlen Schädel, auf dem nicht ein dünnes Haar wuchs. Es konnte aber auch an der glatten Haut liegen, die so aussah, als wäre sie mit einer dünnen Fettschicht eingerieben worden. Hinzu kamen die Risse, die eine regelrechte Landschaft bildeten, als wollten sie das Gesicht in gewisse Gebiete einteilen.
Die Augen starrten sie an. Darunter die flache Nase, dann der kaum erkennbare Mund, nicht mehr als ein breiter Spalt, ähnlich wie bei einem Frosch. Kein Ton wurde gesprochen. Nur das leise Fauchen der Fackel war zu hören, als wäre sie ein Monstrum, das tief und fest einatmete. Die Stille umgab sie wie eine Wolke. Es war auch die Stille des herannahenden Todes. Der Hexenmeister sagte kein Wort. Nur das Keuchen der Nonne war zu hören. Die Angst fraß sich weiter. Sie dünnte sie aus wie Säure. Auch ihre Träume waren sehr schlimm gewesen, aber da hatte sie stets Hoffnung gehabt, denn am Ende dieser alptraumhaften Botschaften hatte sie immer als Siegerin dagestanden. Immer ein wenig mehr… Und jetzt…? Wie die Krallen eines Monsters schwebten plötzlich die gespreizten Hände über ihr. Solara versteifte sich, sie konnte sich vorstellen, daß die Finger wie Messer erst die Kleidung und dann die Haut durchdrangen, aber das traf nicht ein. Sie blieben auf ihrem Körper liegen, spielten mit dem Stoff, dann aber packten sie richtig zu. Niemand hörte Solaras Schreie. Sie verging vor Furcht, als sie erlebte, was mit ihr geschah und welch eine Kraft in dieser widerlichen Gestalt steckte. Der Hexenrheister kannte kein Pardon. Er war wie von Sinnen, er sah rot, als er die Kleidung zerfetzte und ihr nur das schneeweiße Unterzeug noch ließ. Es war einfach nicht zu fassen. Sie bebte innerlich, sie hielt die Augen geschlossen, denn sie wollte nicht sehen, wie diese eisigen Krallen über ihren Körper wanderten und womöglich die nackte Haut berührten, um dort ein Muster von blutenden Wunden zu hinterlassen. Der Hexenmeister zerfetzte ihre Kleidung nicht geräuschlos. Er keuchte dabei, er brüllte, er lachte, und die Kälte kroch über die bloße Haut der Nonne. Endlich hörte er auf. Solaras Augen zuckten. Noch traute sie sich nicht, sie zu öffnen. Sie konnte ihn einfach nicht anschauen, zudem schämte sie sich, weil sie so gut wie nackt war. Er hatte ihr das Unterzeug gelassen. Den wollenen Unterrock, der sehr weit geschnitten war und jetzt wie ein Leichentuch ihren Körper umgab. Es paßte einfach alles zusammen… »Schau mich an!« Solara konnte dem Befehl nicht widerstehen. Sie öffnete die Augen. Sein weißes, leicht bläulich schimmerndes Gesicht schwebte wie ein Mond über ihr. Nur besaß dieser Mond zwei Augen. Wie Löcher wirkten sie, die
tief in das Gebilde hineingebohrt worden waren, um die Schwärze der Hölle zu dokumentieren. Die junge Nonne lag steif wie ein Brett auf dem kalten Altar. In ihren Augen brannte es; die Angst drückte sie zusammen und brachte gleichzeitig die Kälte mit. Der Hexenmeister richtete sich auf. Er legte seinen Kopf zurück, um gegen die Decke schauen zu können, als gäbe es dort etwas Außergewöhnliches zu sehen. Gleichzeitig bewegte er seine Arme, ohne sie allerdings von seinen Blicken zu kontrollieren. Die knochigen Hände mit den langen Fingern verschwanden in den tiefen Taschen seiner dunklen Kutte, als läge dort ein Geheimnis verborgen. Es war kein Geheimnis, es war der Tod! Als er sie wieder hervorzog, wollte es die Nonne kaum glauben, obwohl sie damit hatte rechnen müssen. Seine Hände umklammerten die Griffe der beiden Dolche. Seine Klingen wurden vom Fackellicht getroffen und schienen plötzlich zu lebenden, langen, tödlichen Zungen zu werden. Jetzt wußte Solara genau, wie sie den Tod finden sollte… *** Die Zeit drängte! Es kam auf Minuten an, und ich bewunderte die alte Äbtissin, mit welch einer Übersicht sie agierte. Sie hatte einige Nonnen in die Kirche geholt. Die Frauen taten schweigend ihre Pflicht. Sie trugen die Leichen hinaus, ohne Fragen zu stellen, während ich mich um Romano Testi kümmerte. Er lag auf meinen Armen wie ein Kind und war noch immer bewußtlos. Ich schritt mit ihm dem Ausgang entgegen. Um die endgültig tote Maria wollten sich andere Nonnen kümmern. Die Äbtissin blieb an meiner Seite und wies mir den Weg zur Krankenstation. Ich wollte wissen, zu welchen Leistungen die frommen Frauen in bezug auf die Behandlung von Kranken fähig waren. »Operieren können wir leider nicht.« »Das muß mein Partner aber.« »Ich weiß. Wir werden einen Arzt holen, der ihm die Kugel entfernt. Leider hat der Patient viel Blut verloren und ist dementsprechend schwach geworden.« Da hatte sie recht. Die Kugel steckte noch im Oberschenkel, mußte herausoperiert werden, und das war schlimm. Die Nonne öffnete mir eine Tür.
Der Krankenraum war nicht groß. Drei Betten verteilten sich dort. Zwei standen sich gegenüber, das dritte hatte vor dem Fenster seinen Platz gefunden. Ich legte Testi dort nieder. Wir hatten seine Wunde schon in der kleinen Kirche provisorisch verbunden, aber der Verband mußte erneuert werden. Ich richtete mich wieder auf. Die Nonne schaute den Verletzten an. »Ich werde jetzt mit einem Arzt telefonieren.« »Si, das ist gut.« »Soll ich ihm von den anderen Vorfällen auch etwas sagen?« »Nein, tun sie das nicht. Es ist wirklich besser, wenn Sie darüber schweigen. Ich werde das später erledigen. Außerdem habe ich noch eine große Aufgabe vor mir liegen.« »Solara?« »Natürlich.« Die Schwester senkte den Kopf. Sie gehörte zu den älteren Nonnen. Als ich die Tür schon beinahe erreicht hatte, hielt sie mich noch einmal auf. »Warten Sie bitte, Signore!« Ich drehte mich wieder um. Die Frau und ich schauten uns an. In ihren Augen lag keine Falschheit. Die Hände hatten sie wie zum Gebet zusammengelegt. »Wir alle wissen nichts Genaues, aber ich gehörte zu den Menschen, die vielleicht etwas mehr wissen.« Ich ging wieder vor. »Wollen Sie mir das bitte sagen?« »Natürlich.« »Bitte.« »Es geht um Solara, das weiß ich.« Sie sah sich durch mein Nicken bestätigt und fuhr fort. »Keiner hat sie gesehen, keiner weiß, wo sie sich befindet, aber ich könnte es mir vorstellen. Es gibt unter diesen Räumen einen Keller.« »Groß oder…« »Er nimmt die gesamte Fläche ein.« »Sehr gut«, sagte ich. Sie lächelte etwas ungläubig. »Ich weiß nicht, ob das so gut ist, doch dieser Keller bietet Verstecke und einen ganz besonderen Raum, der an seinem Ende liegt.« »Kommt es Ihnen darauf an?« »Das ist so, Signore Sinclair«, meldete sich hinter mir die Äbtissin. Ich hatte sie nicht kommen hören. Ich drehte mich um. Sie nickte nur. »Davon haben Sie mir nichts erzählt«, hielt ich ihr vor. Lucia hob die Schultern. »Bisher habe ich es nicht für wichtig gehalten. Es ist auch nicht sicher, ob unsere junge Schwester dorthin entführt wurde.«
»Aber es wäre ideal, nicht wahr?« Sie nickte. »Das muß ich leider zugeben. Nicht alle Schwestern kennen die Keller. Viele haben auch Angst. Es gab eine Zeit, wo unser Kloster geplündert und besetzt worden war. Da haben dann die Keller eine wichtige Rolle gespielt. Diese Verliese haben viel, sehr viel Blut gesehen. So leid mir dies tut.« Ich wollte nicht weiter fragen, ich mußte mich um den Hexenmeister und um dessen Opfer kümmern. Für mich gab es keine andere Lösung. Dort unten würde ich das Finale erleben. »Gibt es im Keller normales Licht?« Die Äbtissin schüttelte den Kopf. »Nein, Sie werden mit einer Kerze vorliebnehmen müssen.« »Danke, da nehme ich meine Lampe.« »Soll ich Sie hinbringen, Signore Sinclair?« »Ich bitte darum.« Sie nickte nur, ging dann vor. Ich warf einen letzten Blick auf den sehr bleichen Romano Testi und hoffte, daß man das Richtige für ihn tun konnte. Die Nonne beruhigte mich. Sie deutete auf eine zweite Tür. »Dahinter liegt ein Raum, in dem wir unsere medizinische Ausrüstung aufbewahren. Er wird in gute Hände kommen.« »Das wollte Gott«, sagte ich und ging. Die Äbtissin erwartete mich. Ihr Gesicht wirkte wie alter Stein, die Augen glänzten feucht, ein Zeichen, daß auch sie mit Gefühlen zu kämpfen hatte. Sie legte ihre Hand auf die meine. »Tun Sie alles, was in Ihrer Macht steht, Signore Sinclair.« »Ja, das werde ich.« »Dann bitte.« Sie ging vor und hatte es plötzlich sehr eilig. *** Die Messer schwebten über ihr! Solara lag auf dem Rücken. An nichts anderes konnte sie mehr denken. Sie sah nur die Klingen und zwischen ihnen diesen häßlichen, widerlichen, kahlen Schädel, der wie ein Kunstkopf aussah. Sie konnte kaum noch atmen. Ihr Mund war mit einer dicken Masse gefüllt. Etwas drückte auch von außen gegen sie, und die Furcht war wie eine kalte Klammer. Die Augen brannten, das Tränenwasser ließ Messer und Schädel verschwimmen. Noch stieß er nicht zu. Noch stand er da und genoß seine Pose. Als er sprach, klaffte eine breite Öffnung auf. »Wehret den Anfängen«, flüsterte
er. »Was Maria passierte, soll sich nicht wiederholen. Ich will dich töten, ich hoffe, daß ich früh genug erschienen bin, um alles zu verhindern.« »Was denn?« keuchte sie und wunderte sich, daß sie überhaupt noch sprechen konnte. »Deine Wiedergeburt. Deine Reinkarnation. Du sollst nicht als jemand anderer zurückkehren, du nicht. Du sollst kein Engel werden, einer hat gereicht. Du sollst nicht erleben, wie es ist, wenn man einmal den festen und zum anderen den feinstofflichen Zustand hat. Du sollst die Hölle nicht überwinden können, deshalb hat mich der Teufel geschickt, denn ich manifestiere den Tod. Ich bin der Valentin, der große, knöcherne Bruder, von dem viel gesungen und auch erzählt wurde. In Gedichten und Liedern hat man mich entstehen lassen, und der Teufel hat sich gefreut, darauf zurückgreifen zu können, Hexenmeister Valentin, der Tod gegen die Engel, und der Tod wird siegen.« Solara hatte sehr genau zugehört und alles verstanden. Dennoch war ihr so andes zumute geworden. Zwar lag sie auf dem kalten ekligen Stein, aber da war noch eine andere Persönlichkeit, die aus einer Tiefe hervorkam, von der sie nichts verstand. Irgend etwas Warmes, Beschützendes näherte sich ihr. Etwas, das in sie eindrang und ihre Seele einnahm. Es tat so gut, es war so wunderbar, so leicht, aber unerklärbar. Sollte das schon ein Gruß aus der anderen Welt, aus dem Jenseits sein? Kamen die Geister zu ihr? Waren sie jetzt frei? Wurde das Ende ihrer Träume nun Realität? Sie dachte daran, daß sie eigentlich immer die Siegerin gewesen war, doch nun sah es danach aus, als würde sie verlieren und trotzdem einen großen Sieg erringen. Eigentlich hätte sie vor Todesangst schreien müssen. Die Messer und die kalte Fratze waren grauenvoll genug, aber sie schrie nicht. Ihre Angst war zudem verflogen. Dafür zuckten zuerst ihre Lippen, dann bewegten sich die Wangen, und ein warmes Lächeln rann über ihr Gesicht. Das wiederum irritierte den Hexenmeister. »Wo bleibt deine Angst?« keuchte er. »Wo, zum Henker, bleibt die Furcht vor der Vernichtung?« Er erwartete eine Antwort, und er bekam sie auch. »Der Tod ist nicht das Ende. Er ist der Beginn eines neuen Lebens. Wir Menschen sind bereits erlöst worden, wir können dem leiblichen Ende mit ruhigem Gewissen entgegenschauen.« »Was sagst du da?« »Ich wiederhole es nicht, aber du weißt es. Ich spüre die Kraft, die mich schon jetzt erneuert.« Zur Unterstreichung ihrer Worte hob sie Kopf und Oberkörper an, um sich aufzusetzen.
Zum erstenmal funkelte es in den Augen des Hexenmeisters, und sie unterließ diese Bewegung. .»Nein!« keuchte er, »so haben wir nicht gewettet. So weit lasse ich es erst gar nicht kommen. Ich habe hier das Sagen. Ich bin derjenige, der bestimmt.« Die Nonne sank wieder zurück. Sie fühlte sich so seltsam, so anders. Sehr intensiv dachte sie über den Zustand nach, aber sie kam zu keinem Ergebnis, nur die Angst war verschwunden. Solara stand auf der Schwelle zu einem anderem Leben, und sie dachte in diesen Augenblicken an Maria. Auch ihr mußte es ähnlich ergangen sein, denn sie war ja etwas Besonderes. »Ich fürchte dich nicht!« sagte sie leise. Der Hexenmeister war verblüfft und schüttelte den Kopf. Darüber kam er zunächst nicht hinweg. Jeder fürchtete sich vor ihm. Warum nicht diese Person? War er doch zu spät gekommen? Er senkte den Kopf. Haargenau traf der Blick seiner düsteren Spiegelaugen das Gesicht der Nonne. Hatte es sich verändert? Lag möglicherweise ein heller Schleier über den Zügen? Fühlte sie sich bereits wie von den Kräften des Lichts getragen? Sein Gesicht nahm einen anderen Ausdruck an. Die Folge einer irrsinnigen Wut und übergroßen Konzentration. Gleichzeitig auch das Wissen darüber, daß er möglicherweise verloren hatte. »Nein, nicht auch du!« Es waren seine letzten Worte vor der Tat. Niemand war da, der ihn daran hinderte. Er stieß beide Arme nach unten und rammte die Klingen in die Körper. Tief drangen sie ein. Er blieb in der geduckten Haltung, hielt die Griffe fest, und ein wildes satanisches Lachen drang aus seinem Maul… *** Gewonnen, er hatte gewonnen. Diesmal war er der Bessere gewesen. Es gab keine zweite Maria. Es durfte sie nie wieder geben, es würde sie auch nicht mehr geben. Diese Gedanken durchzuckten seinen Kopf, als er die Griffe der Klingen noch immer festhielt. In seinen Augen strahlte es kalt und dunkel auf, als hätte ihm der Teufel persönlich eine Gratulation geschickt. Gewonnen! Er richtete sich auf, seine Hände zogen die Klingen aus dem Körper. Er schaute auf die Wunden, die beide tödlich gewesen waren. Keiner hatte ihn von seiner Tat abhalten können. Er war der Sieger in diesem
makabren Spiel. Es durfte niemanden mehr geben, der den Tod überwand und mit den Kräften des Lichts praktierte. Sein und der Haß des Teufels mußten endlich Früchte tragen. Er hatte den Anfängen wehren wollen, und das war ihm glänzend gelungen, dazu konnte er sich gratulieren. Valentin öffnete den Mund. Er kicherte. Eine dünne Zunge fuhr schlangengleich aus dem Spalt und leckte über die Haut. Er hatte es geschafft, es war alles glattgegangen. Jetzt gab es keine Schwierigkeiten mehr, Asmodis konnte sich auf ihn verlassen. Valentin hatte er sich genannt. Oder auch der Hexenmeister. Tatsächlich stimmte nichts. Er war beides nicht, er war ein anderer, der wieder einmal eine Aufgabe übernommen hatte. Sein Gesicht bewegte sich. Da sah es aus, als würden die einzelnen Teile übereinander hinweggleiten, sich verschieben und neue Arten und Formen bilden. Er ging weg. Mit langsamen Schritten umrundete er die Steinplatte, auf dem der Körper lag. Er war so bleich, er war so starr, aber der Ausdruck des Gesichts gefiel ihm überhaupt nicht. Er hätte gern in den Augen die Angst und das Grauen erlebt. Der Schrecken der letzten Sekunden hätte sich dort wie gemalt abzeichnen müssen. Statt dessen war genau das Gegenteil eingetreten. Er wollte es nicht glauben, als er diese Befriedigung sah. Sie wirkte so wunderbar, sie schien noch während des Todes nachzuleuchten. Stimmte da etwas nicht? War es der Nonne noch gelungen, ihn im letzten Augenblick zu überlisten? Es hörte sich schon böse an, wie der Atem aus seinem Mund pfiff. Sogar seine düsteren Augen bewegten sich unwillig, sie zwinkerten, sie… Er blieb stehen. Er hatte etwas gehört. Das Kratzen der Tür. Der Hexenmeister drehte sich um… *** Es war ein schlimmer Weg durch einen finsteren, engen, feuchten Keller gewesen. Ich wußte, daß die Äbtissin woanders gebraucht wurde, und hatte sie deshalb wieder weggeschickt, denn den Rest der Strecke konnte ich allein laufen, und es war auch meine Sache, wie ich den Fall beendete. Sie hatte mich gesegnet und war dann gegangen. Ich aber kam mir vor wie lebendig begraben. Eine fürchterliche Gegend, schaurig, stockfinster und feucht wie ein Schwamm, der das Wasser aufgesaugt hatte.
Zum Glück hatte ich meine kleine Lampe und brauchte mich nicht im Dunkeln zu bewegen. Diese kavernenartigen Gänge hätte ich hier nie vermutet. Sie bildeten ein Labyrinth, in dem sich ein Unkundiger leicht verlaufen konnte. Ich aber wußte den Weg. Die Lampe schaltete ich nur hin und wieder ein. Der starke Lichtstrahl hätte mich zu leicht verraten können. Immer noch geradeaus. Am Ende des Ganges lag die alte Tür. Und dahinter der Raum, der schon so viele Menschen hatte sterben sehen. Dessen Wände mit dem Blut unschuldiger Folteropfer bespritzt waren. Ich sah ihn, als ich die Lampe wieder aufblitzen ließ und das Ende des Strahls auf Widerstand stieß. Das genau war die Tür. In der nächsten Zukunft brauchte ich die Leuchte nicht mehr. Den Rest der Strecke konnte ich auch im Finstern zurücklegen. Ich hob nur die Beine an, denn der Boden war ziemlich uneben, und es bestand die Gefahr des Stolperns. Aufrecht konnte ich nicht gehen. Ich wäre sonst mit dem Kopf an der Decke entlanggeschrammt. Ein Licht wies mir den Weg. Es zuckte, es bewegte sich, es drang unter der Türritze ebenso hervor wie an den seitlichen Spalten. Ich glaubte nicht daran, daß es von einer Kerze stammte. Der Intensität nach mußte hinter der Tür eine Fackel lodern, damit der Hexenmeister auch etwas sah. Auf ihn freute ich mich. Meine Waffen waren griffbereit. Natürlich die Beretta, auch das Kreuz, das nicht mehr um meinem Hals hing, sondern in der linken Jackentasche steckte. Den Dolch trug ich auch bei mir. Um ihn aus der Scheide zu ziehen, bedurfte es nicht mehr als eine Sekunde. Das alles war okay. Mit sehr zwiespältigen Gefühlen legte ich die letzten Meter zurück. Es hört sich komisch an, aber ich konnte die Nähe der Tür riechen. Etwas Fauliges, Feuchtes wehte mir entgegen, als wäre das Holz dabei, sich allmählich aufzulösen. Es gab die Spalte. Unten ebenso wie an der Seite. Leider waren sie zu schmal, um hindurchschauen zu können. Sie gaben nur dem hellen und dunklen Lichtschein freie Bahn. Vor der Tür blieb ich stehen, lauschte… Nichts tat sich. Keine Stimmen, kein Schreien, Jammern oder Seufzen. Nur Stille? Nein, da waren die Schritte. Schleichend und leise knirschend. Sie bewegten sich nicht in eine Richtung, kamen zwar der Tür mal näher, die Geräusche wurden aber dann dünner.
Ich hatte nachgedacht. Meiner Ansicht nach konnte sich die Person nur im Kreis bewegen. Ich wußte auch, um wen sie diesen verdammten Kreis zog. Die Äbtissin hatte mir von diesem Blutaltar berichtet, der in diesem unheimlichen Verlies seinen Platz gefunden hatte. Mit der rechten Hand umfaßte ich den Rand der Tür. Ich schaffte es so eben noch, die Finger um die Kante zu klemmen, mehr war leider nicht möglich. Dann zog ich. Die Tür knarrte in den Angeln. Ich verfluchte sie im Innern dafür, aber es war nicht anders zu machen. Jetzt oder nie! Mit einer heftigen Bewegung zerrte ich sie auf. Es war mir alles egal, und ich sah sofort die Gestalt, die sich auf der Stelle drehte, um zur Tür schauen zu können. Ich sah auch etwas anderes. In Bruchteilen von Sekunden nahm ich diese schaurige, und unheimliche Szene auf. Solara lag auf diesem > Altar<. Sie rührte sich nicht, das würde sie nie mehr können, denn auf ihrem Körper zeichneten sich die beiden tiefen Messerwunden ab. Getötet hatte sie die Person, die mir schräg gegenüberstand. Die Arme halb erhoben, die Griffe der Killerdolche fest umklammert, ein böses Leuchten in den Augen. Wie hatte man ihn genannt? Einen Hexenmeister oder auch Valentin. Das war möglich, mochte auch stimmen. Ich aber kannte ihn unter einem anderen Namen. Vor mir stand Cigam! *** Ausgerechnet er! Ausgerechnet dieser gefährliche Widerling, die Ausgeburt der Hölle, dieses Kunstgeschöpf des Teufels, denn mit ihm hatte der Satan sein Meisterstück vollbracht. Cigam – ein Wesen aus reiner Magie, ein Monster der Hölle, als der Satan Frankenstein gespielt hatte. Er hatte es besser gemacht. Cigam war nicht nur gefühllos, er war auch schlau. Sein Gesicht empfand ich als ungewöhnlich glatt, doch bei genauerem Hinsehen sah ich auch, wie schief es war. »Also du!« »Sinclair…« Er sprach meinen Namen nicht aus, er flüsterte und schrie ihn nicht. Es war etwas anderes, er würgte ihn einfach hervor. Und während er das tat, dachte ich über ihn nach.
Er hätte es eigentlich nicht sein können, denn bei seinem ersten Auftritt vor einigen Jahren hatte es ihn noch nicht gegeben. Der Satan hatte ihn erst später erschaffen. Geduckt stand er da. Seine schwarzen Spiegelaugen starrten mich an. Er suchte nach einer Gelegenheit, um mich zu vernichten. Ich hielt nicht nur die Beretta fest, sondern auch das Kreuz in der Hand. Bei meinem Eintreten hatte ich beide Waffen gezogen. Dann stellte ich die entscheidende Frage. »Sie ist tot, nicht wahr? Du hast Solara umgebracht!« »Ja.« »Warum sie?« Er schaute auf seine beiden Dolche. »Wehret den Anfängen«, flüsterte er. »Einmal habe ich es nicht geschafft, ein zweites Mal soll es nicht passieren. Es darf keinen geben, der den Tod überwinden kann. Das wäre für die Hölle fatal.« »Wieso du?« hielt ich dagegen. »Du bist es doch nicht gewesen, der versucht hat, Maria zu vernichten.« »Nein und ja.« »Ich will eine richtige Antwort. Wir sind allein, du kannst sie mir geben.« Mit Wehmut dachte ich an die tote Nonne. Verdammt, sie war noch so jung gewesen, aber der Killer stand vor mir, nur das allein zählte für mich. »Ich habe die Gestalt des Valentin übernommen. Ich habe seine Waffen bekommen. Damals hat er es noch versucht und versagt. Dies hat ihm der Teufel nicht vergessen. Er vernichtete seinen Helfer und setzte mich an seine Stelle. Ich habe die Anfänge abgewehrt. Daß hier noch jemand den Tod überwinden kann, das wird es nicht mehr geben.« »Bist du da sicher, Cigam?« »Ja!« »Vielleicht kann ich den Tod nicht überwinden, bestimmt kann ich ihn nicht besiegen, aber ich bin in der Lage, dich zu vernichten. Ich weiß, wer du bist, wir beide haben uns schon manches Gefecht geliefert. Ich weiß auch, daß du mit Kräften ausgestattet bist, für die es keine Erklärung gibt. Aber du bist nicht stärker als der Teufel, du bist sein Geschöpf, sein Kunstgeschöpf, und ebenso wie der Teufel mein Kreuz haßt, wirst auch du es hassen.« »Ich!« Er wollte den Mund aufreißen und lachen, aber er änderte seine Haltung von einem Moment zum anderen. Plötzlich war ich nicht mehr interessant. Er drehte sich um und wagte es sogar, mir den Rücken zuzuwenden. Ich hatte ihn schon angreifen, die Messer mit dem Kreuz stoppen wollen, aber ich hielt mich zurück. Ich spürte, daß etwas geschah.
Ein rascher Blick auf das Kreuz. Es strahlte leicht auf. Nicht als Warnung, wegen des Bösen in diesem Verlies. Dieses Strahlen war irgendwie anders, heller, einfach optimistischer. So, als hätte ich es zum Teil aktiviert. Sehr ungewöhnlich… Cigam kümmerte sich nicht darum. Noch immer befand er sich in Bewegung. Er schlenkerte mit den Armen vor und zurück. Das Licht der Fackel warf Reflexe auf die Klingen, und ich war in diesem Moment nicht mehr als ein Statist. Dann blieb er stehen. Leicht geduckt sogar. Hätte er Haare besessen, sie hätten sich bestimmt auf seinem Schädel gesträubt. Mir drehte er sein Profil zu. Ich empfand es als flach und irgendwie fischig… Auch über sein graues Gesicht tanzte der Widerschein von Licht und Schatten. Er bewegte seinen Mund. Zunächst sagte er nichts, dann hörte ich ihn die Frage leise stellen. »Wo bist du…?« Keine Antwort. Er lachte auf, drehte den Kopf. Seine Blicke streiften mich. Bei dieser kalten und tintigen Schwärze der Augen bekam ich eine Gänsehaut. »Wo bist du? Du kannst nicht hier sein. Du bist doch tot!« Die Stimme war eigentlich keine Stimme mehr. Mehr ein Krächzen und Greinen. Stille… »Sinclair!« Er schüttelte sich und hob den rechten Arm mit der Klinge. Ich hielt ihm die Waffe entgegen. Er lachte. »Was hast du getan? Sie… sie ist tot. Sie kann nicht mehr leben, aber ich spüre sie. Ja, ich spüre sie. Sie ist wieder da. Ich merke es genau.« »Vielleicht bist du zu spät gekommen, Cigam. Auch der Teufel ist nicht allwissend.« Er heulte und kümmerte sich im nächsten Augenblick nicht mehr um mich. Etwas anderes war geschehen, hatte ihn abgelenkt und ihn zu einer Drehung gezwungen. Er starrte auf die Wand, die mir gegenüber lag. Dort schien sich das uralte Gestein geöffnet zu haben, als wollte es einen Blick ins Jenseits freigeben. Ich sah in einen langen Tunnel hinein, der mit einem ungewöhnlichen Licht gefüllt war. Es strahlte, aber es blendete nicht. Und im Hintergrund schimmerten Gesichter. Feinstofflich, sehr ernst, dabei fast überirdisch schön. Gesichter, die ich eigentlich kannte, die ich auch schon zusammen mit ihren Gestalten gesehen hatte.
Unwillkürlich senkte ich den Blick, weil ich auf die vier Buchstaben an den Enden meines Kreuzes schauen wollte. Eingraviert waren ein für M Michael, ein R Raphael, ein G für Gabriel und das ein für Uriel. Vier Buchstaben, vier Erzengel, deren Gesichter ich tief in der Wand erblickte. Aber das war nicht alles, auch nicht das Wichtigste in diesem Augenblick. Von meiner und auch Cigams Perspektive mußte es so aussehen, daß die fleisch- und knochenlose Gestalt vor den Gesichtern schwebte. Und diese Gestalt, so durchscheinend sie auch war, besaß eine doch starke Ähnlichkeit mit dem Körper, der reglos auf der Steinplatte lag. Es war Solara. Aber sie war nicht wiedergeboren worden, sondern kehrte als Engel zurück… *** Dieser Augenblick war so ehrfurchtseinflößend, daß ich den Atem anhielt. Ich wollte nicht direkt von einem Wunder sprechen, aber viel fehlte nicht. Hier in diesem alten Verlies, in einem Kloster, erlebte ich Grenzen meines Wissens und auch die Grenzen dieser Welt. Ein Engel kam… Er wollte kommen, er mußte kommen, denn es stand noch eine Rechnung offen. Vor mir lag die Tote. Ich konnte nicht sagen, daß ich damit zufrieden war, doch ich war beruhigter, daß sie denselben Weg wie Maria gegangen war. Der Hexenmeister hatte verloren! Wieder einmal war der Tod überwunden worden. Und sie schwebte näher… Trat sie aus der Wand, hielt sie sich dort noch auf? Ich wußte es nicht, es war einfach zuviel, was mir durch den Kopf ging. Mich durchströmte eine große Freude, ein gewaltiges Staunen, wie bei einem Kind, daß zum erstenmal den Sinn des Weihnachtsfestes wahrnimmt und zusätzlich noch vor einem Tannenbaum steht. Der Engel wollte den Günstling des Teufels, und Cigam wußte dies. Er wußte allerdings auch, daß er nicht mehr fliehen konnte, denn an der Tür stand ich mit meinem Kreuz. Er drehte den Kopf so schnell, daß er beinahe einen Kreis geschlagen hätte. Dann heulte er auf.
»Komm«, lockte ich ihn und war bereit, mein Kreuz zu aktivieren. Dann dachte ich daran, daß es dem Engel gegenüber unfair gewesen wäre, und ich hielt mich zurück. Er hatte die stärkeren Rechte. Cigam jaulte auf. Er konnte seine verfluchten Waffen nicht mehr halten. Durch seine Gestalt zuckte ein gewaltiges Zittern. Die Dolche entfielen seinen Händen, sie landeten am Boden, wo sie aufzischten und dann in einem weißen Feuer verbrannten. Der Engel Solara schwebte auf ihn zu. Er streckte seine Arme aus, wollte nach Cigam greifen. Der sprang zur Seite, krachte gegen die Wand und benahm sich wie ein Hund, der vergeblich versucht, aus seinem zu engen Zwinger zu fliehen. Es war nicht mehr möglich. Er kratzte an der Wand, er brüllte, und er schrie dabei nach dem Teufel. »Sataaannn!« heulte er auf. »Nein!« schrie ich dagegen. Im selben Augenblick hatte ihn der Engel erreicht. Der erste Kontakt, und Cigam bäumte sich auf. Er schlug mit einer Hand gegen das Gestein, krümmte dabei die bleichen, langen Finger, ohne jedoch einen Erfolg zu erzielen. Der jetzige Hexenmeister sollte nicht so enden wie der erste. Diesen Triumph wollte mir auch der Satan nicht gönnen, denn er wußte genau, daß ich in der Nähe war. Cigam hatte sich doch die richtige Stelle ausgesucht, denn die zweite unvorstellbare und unerklärliche Magie griff an. Das Böse stemmte sich dagegen. Da war die Wand plötzlich durchlässig und gleichzeitig von einem wilden, blaugrünen Feuer erfüllt. Die Flammen der Hölle! Radikal griffen sie zu. Und Cigam warf sich hinein. Ich sah, wie der Engel, der ihn festhielt, einen Brocken aus seiner Schulter herausriß. So etwas wie ein Stück graues, höllisches Kunstfleisch, das zwischen seinen Fingern verzischte. Aber der Teufel holte seinen Diener zurück. Die Kraft des Guten war einfach nicht stark genug gewesen. Seine, nein, eine andere Fratze zeichnete sich ab. Dieses kalte, angsteinflößende Gesicht Luzifers, der im Hintergrund zuschaute, wie auch die vier Erzengel. Es zog Cigam zu sich heran. Und der Engel verschwand ebenfalls. Er tauchte ein in seine Welt. Beide schlossen sich zur selben Zeit. Wie so oft hatte es keinen Sieger gegeben, der große Kampf war wieder einmal unentschieden ausgegangen.
Es dauerte eine Weile, bis ich mich gefangen hatte und wieder klar denken konnte. Das zuckende Muster des Widerscheins umtanzte mich. Ich spürte die Wärme des Feuers auf meiner Haut und sah dem Tanz der Schatten auf meinem Körper zu. Das war die Realität! Das war meine Welt, das Diesseits. Die andere hatte sich nur für einen kurzen Augenblick gezeigt. Doch es gehörte noch mehr in diese Weithinein. Eine junge Nonne mit herrlich blonden Haaren, die so kalt, starr und tot auf der Steinplatte lag. Ich ging zu ihr. Dabei bewegte ich mich wie im Traum. Ich schaute in ihr Gesicht und glaubte, ein Lächeln auf den Lippen zu sehen. Bestimmt war sie über die Entwicklung zufrieden. Ich konnte resümieren, daß es nun einen Engel mehr gab. Vielleicht war es gut so. Wenn es wieder einen Beschützer der Menschen gab, um so besser. Mehr konnte ich mir nicht wünschen. Ich hob den starren Körper hoch und legte ihn auf meine Arme. Dann verließ ich diesen Ort und schritt durch den finsteren Gang dem Licht entgegen, das die Äbtissin Lucia am Ende dieses unheimlichen Tunnels wie ein Zeichen der Hoffnung für mich aufgebaut hatte…
ENDE