Jack Higgins
Der Ire
scanned by AnyBody corrected by moongirl
Ein Mann im Teufelskreis des Verbrechens Sean Rogan ist...
17 downloads
480 Views
812KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Jack Higgins
Der Ire
scanned by AnyBody corrected by moongirl
Ein Mann im Teufelskreis des Verbrechens Sean Rogan ist ein starker, gutmütiger Kerl. Sein Kampf für die irische Freiheitsbewegung hat ihn hinter Gitter gebracht. Als ihm die Flucht gelingt, muß er erkennen, daß er nur noch tiefer in kriminelle Kreise geraten ist. Doch das wird ihm zu spät bewußt... ISBN 3-442-06591-7 Titel der Originalausgabe: The Violent Enemy Aus dem Englischen übertragen von Wulf Bergner 1983 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlagentwurf: Atelier Adolf & Angelika Bachmann, München Umschlagfoto: Studio Schmatz, München
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Sean Rogan ist ein starker, gutmütiger Kerl. Sein Kampf für die irische Freiheitsbewegung hat ihn hinter Gitter gebracht. Aber dann gelingt ihm die Flucht, und er muß erkennen, daß er damit tiefer in kriminelle Kreise geraten ist, als er es ahnen konnte ...
Autor Jack Higgins (eigentlich Patterson) wurde 1928 in Irland geboren. Er versuchte sich in mehreren Berufen: als Zirkushelfer, als Versicherungsvertreter und bei der Royal Horse Guard. Später studierte er Soziologie und Sozialpsychologie an der Universität London. Heute lebt er mit seiner Familie auf der Insel Jersey. Sein Roman »Der Adler ist gelandet« brachte ihm Weltruhm und wurde auch verfilmt.
1 Auf einem Hügelrücken, wo sich das Moor in scharf begrenzter ansteigender Linie von dem blauen Himmel abhob, machte Vanbrugh eine Pause, um Atem zu schöpfen, setzte sich; auf einen Felsbrocken und holte Pfeife und Tabaksbeutel aus der Tasche. Er war ein großer, schwerer Mann, Mitte vierzig, mit ergrauten Schläfen, muskulösen Schultern unter einer alten Tweedjacke und einer schwer zu definierenden Mischung von Eigenschaften, die fünfundzwanzig Jahre Dienstzeit als Kriminalbeamter besonders ausgeprägt hatten: Kraft, Autorität und Scharfsinn, der aus dem Blick seiner hellblauen Augen sprach. Wenig später kam auch Sergeant Dwyer heran und ließ sich schweratmend neben seinem Vorgesetzten nieder, »Sie sollten öfters wandern«, schlug Vanbrugh ihm vor. »Dazu brauche ich Urlaub«, antwortete Dwyer mürrisch. »Ich arbeite seit Februar siebzig Stunden in der Woche, und an meinen letzten freien Tag kann ich mich kaum noch erinnern.« Vanbrugh zündete sich grinsend die Pfeife an. »Sie hätten sich einen anderen Beruf aussuchen sollen.« Irgendwo in der Ferne erschütterte eine dumpfe Explosion die stille Luft. Dwyer richtete sich auf. »Was war das?« »Im Steinbruch wird gesprengt, nehme ich an«, erwiderte Vanbrugh. »Arbeiten dort Häftlinge?« »Ja.« Dwyer sah aufs Moor hinaus und kniff dabei die Augen zusammen. Er fühlte sich zum erstenmal seit Monaten wieder entspannt und zufrieden, weil die frische, klare Luft ihn London -3-
vergessen ließ. Es war ein glücklicher Zufall, daß der Alte beschlossen hatte, dem berüchtigtsten Gefängnis Ihrer Majestät ausgerechnet an diesem herrlichen Tag einen geheimnisvollen Besuch abzustatten. Dwyer fragte sich natürlich, ob sein Vorgesetzter bewußt einen schönen Tag abgewartet hatte. In seiner zweijährigen Dienstzeit bei der Sonderkommission hatte er die Erfahrung gemacht, daß Chefinspektor Dick Vanbrugh sich mit Vorliebe über Konventionen hinwegsetzte. Damit mußten Kollegen und Kriminelle sich abfinden. »Wir müssen weiter, glaube ich«, sagte Vanbrugh. Dwyer stand auf und entdeckte dabei das Skelett eines Schafs, das in einer Senke links von ihnen inmitten von Stechginster lag. »Der Tod ist überall«, murmelte er. »Selbst hier an einem Tag wie heute.« »Richtig, er verfolgt uns überallhin«, stimmte Vanbrugh zu und drehte sich noch einmal nach dem Moor um. »Sobald Nebel aufkommt, ist das hier eine Landschaft wie in einem Alptraum. Man kann einen ganzen Tag marschieren und abends wieder am Ausgangspunkt sein.« »Aus dem Moor kommt niemand 'raus«, meinte Dwyer leise. »So heißt es doch?« »Ganz recht«, antwortete der Chefinspektor. »Seitdem das Gefängnis dort steht, ist erst ein Ausbruchsversuch geglückt. Und selbst dieser Mann liegt vermutlich in einem der Tümpel im Moor. Manche könnten einen ganzen Lastwagen verschlucken.« »Die ideale Umgebung für ein Gefängnis.« »Das dachten sich seine Erbauer auch«, sagte Vanbrugh. Der Chefinspektor setzte sich in Bewegung und ging den Hügel hinab zum Wagen, den sie am Rand einer schmalen Straße geparkt hatten. Dwyer folgte ihm, stolperte dabei über -4-
große Grasbüschel und fluchte vor sich hin, wenn sumpfige Stellen zu überqueren waren, weil ihm dort Wasser in die Schuhe lief. Als er den Wagen erreichte, saß Vanbrugh bereits auf dem Beifahrersitz. Der Sergeant setzte sich ans Steuer, ließ den Motor an und fuhr los. Dwyer war erhitzt und müde. Er hatte nasse Füße, und sein durchgeschwitztes Hemd klebte ihm auf dem Rücken. Er war schlechter Laune, aber er versuchte sich zu beherrschen. »Hundertsiebzig Meilen Fahrt, nasse Füße und ein leicht verstauchter Knöchel. Hoffentlich ist das die Sache wert, Sir.« Vanbrugh warf ihm einen scharfen Blick zu. »Ich glaube es jedenfalls, Sergeant«, stellte er eisig fest. Dwyer holte tief Luft, weil er merkte, daß einer der Wutausbrüche bevorstand, für die Dick Vanbrugh berüchtigt war. Aber dieser kritische Augenblick ging vorüber. Der Chefinspektor hielt ein weiteres Zündholz an seine Pfeife, und Dwyer konzentrierte sich auf die Straße und die Schafe und Ponies, die oft von den uneingezäunten Weiden auf die Fahrbahn kamen. Zehn Minuten später erreichten sie eine kleine Anhöhe und sahen unten in der Senke das Gefängnis liegen. Das Moor erstreckte sich in purpurfarbenen Wellen bis zum Horizont, wo es jetzt fast unmerklich in den Himmel überging. An der Zufahrt zum Steinbruch flatterte eine rote Warnflagge in der leichten Brise. Das Echo der Detonation verhallte in der Ferne, wurde von den Hügeln zurückgeworfen und verebbte schließlich. Eine Felswand zerbarst in tausend Bruchstücke, während eine weißliche Rauchwolke geisterartig aus dem Fels aufstieg und übers Moor davonschwebte. Ein schriller Pfiff. Die Häftlinge kamen hinter ihrer Schutzwand hervor. In diesem Augenblick tauchte ein LandRover auf, rollte über die Asphaltstraße heran und hielt vor den -5-
Häftlingen. Der junge Mann am Steuer hatte blaue Augen und hellblondes Haar, das ihn jünger erscheinen ließ als er war. Seine Uniform war brandneu, und er schien sich dieser Tatsache offenbar peinlich bewußt, als er aus dem Land-Rover stieg und an einigen Häftlingen vorbeiging, die einen Lastwagen beluden. Mulvaney, der Aufseher, kam ihm entgegen. Sein schwarzgelber Schäferhund blieb ihm auf den Fersen. »Hallo, Drake«, sagte Mulvaney grinsend. »Müssen Sie schon arbeiten?« Drake nickte. »Ich soll einen gewissen Rogan abholen. Der Direktor will ihn sprechen. Hier ist der Zettel.« Er holte einen Papierstreifen aus der Brusttasche seiner Uniform. Mulvaney zeichnete ihn ab und deutete auf eine kleine Senke am Fuß der Felswand. »Das dort unten ist Rogan. Den können Sie gern haben, Drake.« Der Mann, auf den Mulvaney gezeigt hatte, arbeitete nur mit einer Hose bekleidet. Er war mindestens einsneunzig groß. Seine Muskeln spielten unter der braunen Haut, als er einen Vorschlaghammer schwang und auf einen Felsbrocken hinabsausen ließ. »Der Kerl ist ja ein Riese!« meinte Drake. Mulvaney nickte. »Das kann man wohl sagen. Grips und Kraft - das ist Sean Rogan. Einer der gefährlichsten Männer, die wir je hier gehabt haben.« »Warum ist dann niemand mitgekommen?« »Nicht nötig«, wehrte Mulvaney ab. »Er wartet täglich auf seine Entlassung. Deswegen soll er wahrscheinlich auch zum Direktor kommen. Er wäre dumm, wenn er jetzt zu fliehen versuchen würde.« Drake ging auf den Gefangenen zu. Sean Rogan, den die harte -6-
Arbeit fit gehalten hatte, wirkte gefährlich, und die häßlichen Schußnarben auf seiner linken Brust verstärkten diesen Eindruck. Jetzt hob Rogan den Kopf. Drake sah ein intelligentes Gesicht mit stahlgrauen Augen, die seinen Blick ruhig erwiderten. Rogan hatte kein Verbrechergesicht; er hätte eher Wissenschaftler oder Offizier sein können. »Sean Rogan?« fragte Drake. Der große Mann nickte. »Der bin ich. Was wollen Sie?« Er sprach mit irischem Akzent. Seine Stimme klang keineswegs unterwürfig, und Drake hatte das unerklärliche Gefühl, als Rekrut vor einem Vorgesetzten zu stehen. »Der Direktor möchte mit Ihnen sprechen.« Rogan griff nach seinem Hemd, das auf einem Felsen lag, zog es an und folgte Drake. Er nahm seinen Vorschlaghammer mit und ließ ihn neben dem Aufseher fallen. »Ein Geschenk für Sie.« Mulvaney grinste, holte ein Etui aus der Brusttasche und bot ihm eine Zigarette an. »Ist es wirklich möglich, Sean Rogan, daß wir uns heute zum letztenmal sehen?« Rogans Lächeln war natürlich und sympathisch. »Selbst in dieser schlechtesten aller möglichen Welten ist alles möglich. Das solltest du doch wissen, Patrick.« Mulvaney klopfte ihm auf die Schulter »Geh mit Gott, Sean«, sagte er leise auf Irisch. Rogan wandte sich ab und ging vor Drake her zu dem LandRover. Als sie an den Häftlingen vorbeikamen, die den Lastwagen beluden, rief jemand: »Viel Glück, Ire!« Rogan hob dankend die Hand und setzte sich in den Wagen. Drake fühlte sich unbehaglich. Er hatte den Eindruck, unter Rogans Befehl zu stehen, als könne der andere ihn plötzlich anweisen, rechts abzubiegen, anstatt geradeaus ins Gefängnis weiterzufahren. Der Ire rauchte langsam seine Zigarette und sah dabei aufs -7-
Moor hinaus. Drake beobachtete ihn aus dem Augenwinkel und versuchte ein Gespräch mit ihm zu beginnen. »Sie hoffen also, bald entlassen zu werden?« »Hoffen kann man immer.« »Wie lange sind Sie schon hier?« »Sieben Jahre.« Diese Antwort traf Drake wie ein Schlag ins Gesicht. Er zuckte zusammen, als er an die langen Jahre dachte, an den Wind, der den Regen vor sich her übers Moor peitschte, an graue Morgen, an kurze Sommer, denen ein langer Herbst und ein grimmiger Winter folgten. Der junge Mann rang sich ein Lächeln ab. »Ich bin erst ein paar Tage hier.« »Ist das Ihr erster Posten?« »Nein. Ich war vorher in Wakefield. Ich habe beim Militär ein Stellenangebot für Gefängniswärter gelesen und wollte es einmal damit versuchen.« »Tatsächlich?« Drake wußte selbst nicht, warum er rot wurde. »Irgend jemand muß es schließlich tun«, meinte er entschuldigend. »Das Gehalt könnte schlechter sein, und man ist pensionsberechtigt. Man kann sich also kaum beschweren, nicht wahr?« »Ich wäre lieber in der Hölle«, versicherte ihm Rogan. Er wandte sich ein wenig ab, verschränkte die Arme und starrte demonstrativ schweigend aufs Moor hinaus. »Ein verdammt langes Vorstrafenregister«, stellte der Gefängnisdirektor fest und sah auf die Personalakte, die vor ihm lag, »aber das wissen Sie selbst, Chefinspektor. Ich hatte wirklich gehofft, daß wir ihn diesmal loswerden würden.« »Ich auch, Sir«, antwortete Vanbrugh. »An manchen Tagen bin ich froh, daß ich in zehn Monaten -8-
pensioniert werde.« Der Direktor schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »Er müßte in etwa einer Viertelstunde kommen. Bis dahin habe ich noch einiges zu tun. Wenn Sie mich also entschuldigen wollen ...« Als die Tür sich hinter ihm schloß, verließ Dwyer seinen Platz am Fenster. »Ich weiß nicht viel über Rogan, Sir. Das war vor meiner Zeit. War er nicht einer der leitenden Männer der I. R. A.?« »Ganz recht. Er ist 1956 zu zwölf Jahren verurteilt worden, weil er in England und Ulster mehrere Gefangenenbefreiungen organisiert hat. Erinnern Sie sich an den berühmten Überfall auf Peterhead? Damals sind drei Häftlinge bei Nacht und Nebel befreit worden.« »War Rogan daran beteiligt?« »Er hat die Leute angeführt.« Vanbrugh schlug die Personalakte auf. »Hier steht alles. Rogan ist in Frankreich und Deutschland aufgewachsen. Sein Vater war irischer Diplomat. Rogan studierte gerade am Trinity College in Dublin, als er bei einem Überfall in Ulster verwundet und festgenommen wurde. Das war kurz vor dem Krieg.« »Was hat er dafür bekommen?« »Sieben Jahre. Aber er ist schon 1941 auf Betreiben des Geheimdienstes freigelassen worden, weil er fließend Deutsch und Französisch spricht. Damals habe ich ihn zum erstenmal kennengelernt. Er hat die übliche Ausbildung bekommen und ist dann über Frankreich abgesprungen, um die Widerstandsbewegung in den Vogesen zu organisieren. Er hat gute Arbeit geleistet, ist bis Kriegsende dort geblieben, hat Auszeichnungen abgelehnt und ist nach Irland zurückgekehrt, sobald sich eine Möglichkeit bot.« »Was hat er dann getan?« »Er hat im alten Stil weitergemacht. 1947 ist er in Belfast zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden. Das Strafmaß wäre -9-
höher gewesen, wenn das Gericht nicht seine Leistungen während des Krieges berücksichtigt hätte. Die Strafhöhe spielte allerdings keine Rolle, denn Rogan ist nach kurzer Zeit ausgebrochen.« Vanbrugh grinste. »Das hat er sich so angewöhnt. 1956 ist er aus Parkhurst ausgebrochen, ohne die Insel verlassen zu können. Im nächsten Jahr ist er aus Peterhead entwischt und erst nach drei Tagen von Suchhunden im Moor aufgespürt worden.« »Und deshalb ist er hierher verlegt worden?« »Richtig. Hier sind alle nur möglichen Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden. Hier kommt keiner heraus.« Vanbrugh stopfte sich seine Pfeife. »Rogans Personalakte enthält aber auch eine vertrauliche Eintragung. Sie betrifft einen Vorfall, von dem offiziell nicht gesprochen wird. Im Juli 1960 ist Sean Rogan erwischt worden, als er nachts das Feld hinter den Wohnhäusern der verheirateten Beamten überquerte.« Dwyer runzelte die Stirn. »Stehen diese Häuser nicht außerhalb der Mauer?« Vanbrugh nickte. »Der Oberwärter hatte in einem anderen Haus bei Kollegen Karten gespielt. Er hatte seinen Schäferhund bei sich, und das Tier hat auf dem Nachhauseweg Rogans Spur aufgenommen.« »Aber wie konnte er überhaupt ausbrechen?« »Das hat er nicht gesagt. Die Öffentlichkeit sollte nichts davon erfahren, deshalb sind die Ermittlungen geheimgehalten worden. Nach offizieller Darstellung muß Rogan sich in einem nach draußen fahrenden Personen- oder Lastwagen versteckt haben.« »Um diese Zeit?« »Keine Angst, daran glaubt natürlich kein Mensch. Rogan hat daraufhin einige Jahre in Einzelhaft unter schärfster Bewachung gesessen. Als der Direktor ihm endlich einige Erleichterungen -10-
gewährte, versicherte ihm Rogan, daß er es mit ruhigem Gewissen tun könne, weil er nicht wieder ausbrechen wolle. Der Ausbruch selbst sei leicht, aber die Fortsetzung der Flucht ohne fremde Hilfe sei um so schwieriger. Deshalb wolle er jetzt seine Strafe absitzen und auf vorzeitige Entlassung wegen guter Führung hoffen.« »Hat er jetzt einen Straf nachlaß beantragt?« Vanbrugh nickte. »Als die I. R. A. ihren Feldzug an der Grenze von Ulster aufgegeben hat, löste sie sich praktisch auf. Die meisten ihrer Mitglieder, die noch in englischen Gefängnissen saßen, sind entlassen worden. Das Innenministerium ist sogar von mehreren Seiten aufgefordert worden, sie alle freizulassen.« »Und wie hat es in Rogans Fall entschieden?« »Ihm traut noch niemand«, antwortete Vanbrugh. »Deshalb muß ich ihm jetzt mitteilen, daß er weitere fünf Jahre vor sich hat.« »Warum gerade Sie, Sir?« Vanbrugh zuckte mit den Schultern. »Wir haben während des Krieges zusammengearbeitet. Seither habe ich ihn dreimal festgenommen. Man könnte mich als den Rogan-Experten von Scotland Yard bezeichnen.« Er stand auf und trat ans Fenster. »Wußten Sie übrigens, daß England als einziger zivilisierter Staat keine besonderen Strafen für politische Verbrechen kennt, Sergeant?« »Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht, Sir.« »Das sollten Sie aber, Sergeant!« Der Gefängnisdirektor kam zurück. »Er wird gleich heraufgebracht.« Er nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. »Diese Sache ist mir wirklich unangenehm, Chefinspektor. Ich bin froh, daß Sie hier sind.« Die Tür wurde wieder geöffnet. Der Oberwärter erschien auf -11-
der Schwelle. »Er ist hier, Sir.« Der Direktor nickte. »Bringen Sie ihn herein.« Drake wartete neben der Tür. Rogan lehnte mit nachlässig verschränkten Armen an der Wand und sah aus dem vergitterten Fenster am Ende des Korridors, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Hier glaubten alle - sogar die Wärter -, daß er begnadigt werden würde. Für Rogan war das allein Grund genug dafür, daß seine Hoffnungen sich nicht erfüllen würden. Als der Oberwärter ihn hereinwinkte, war er aufs Schlimmste gefaßt. Vanbrughs Gegenwart bestätigte, was Rogan bereits ahnte. Der Gefangene blieb vor dem Schreibtisch des Direktors stehen, behielt die Hände auf dem Rücken verschränkt und sah über den Kopf des Mannes hinweg aus dem Fenster. Ihm fiel auf, daß die Bäume auf dem Hügel jenseits der Mauer nicht mehr sehr dicht belaubt waren, so daß die Krähennester deutlich zu erkennen waren. Er beobachtete eine Krähe, die von einem Baum zum anderen flog, und merkte erst dann, daß der Direktor mit ihm sprach. »Wir haben eine Mitteilung aus dem Innenministerium erhalten, Rogan. Chefinspektor Vanbrugh ist deswegen hergekommen.« Rogan sah zu dem Kriminalbeamten hinüber, der verlegen aufstand. »Tut mir leid. Sean. Tut mir verdammt leid.« »Mehr ist dazu wohl nicht zu sagen, was?« erkundigte sich Rogan gelassen. Der Direktor warf Vanbrugh einen hilflosen Blick zu und seufzte dann. »Wahrscheinlich ist es besser, wenn Sie eine Weile nicht mehr im Steinbruch arbeiten, Rogan.« »Überhaupt nicht mehr, Sir?« Der Direktor schluckte trocken. »Das hängt ganz von Ihnen ab ...« »Selbstverständlich, Sir.« Rogan machte kehrt und ging zur -12-
Tür, ohne den Befehl des Oberwärters abzuwarten. Er blieb im Korridor stehen. »Sie können jetzt gehen, Drake«, sagte der Oberwärter. Dann wandte er sich an den Häftling und forderte ihn auf: »Los, mitkommen, Rogan!« Sie gingen die Treppe hinunter, überquerten den Hof und betraten einen der Gefängnisblocks. Als Rogan darauf wartete, daß die Tür geöffnet wurde, sah er es dem Schließer an, daß der Mann Bescheid wußte. Das war nicht einmal überraschend. In spätestens einer halben Stunde würden sämtliche Gefangenen und Wärter informiert sein. Das Gefängnis war in den Reformjahren des neunzehnten Jahrhunderts nach einem für alle Strafanstalten Ihrer Majestät vorbildlichen System erbaut worden. Ein halbes Dutzend dreigeschossiger Zellenblocks waren wie die Speichen eines Rades um eine zentrale Halle angeordnet, die in dreißig Meter Höhe durch eine Kuppel aus Glas und Eisenträgern abgeschlossen wurde. Aus Sicherheitsgründen war jeder Zellenblock von dieser Halle durch ein Drahtgitter abgetrennt. Der Oberwächter schloß die Tür zum Block D auf und ließ Rogan vorausgehen. Sie stiegen die Eisentreppe hinauf, die ebenfalls mit Maschendraht eingezäunt war, damit kein Häftling sich über das Geländer stürzen konnte. Rogans Zelle lag im obersten Geschoß. Er blieb vor der Tür stehen, bis der andere heran war. »Machen Sie keine Dummheiten, Rogan«, mahnte der Oberwärter, als er die Zellentür aufschloß. »Sie haben jetzt alles zu verlieren.« Rogan verlor einen Augenblick die Beherrschung und drehte sich wütend nach dem Mann um, der erschrocken vor ihm zurückwich. Dann fiel die Tür hinter Rogan ins Schloß. Der Oberwärter schloß sie hastig ab. Rogan stand jetzt in seiner Zelle von zwei mal drei Meter mit -13-
einem winzigen vergitterten Fenster. Ein Waschbecken und das WC waren bei späteren Modernisierungsversuchen eingebaut worden. An den freien Wänden stand je ein schmales Bett. Auf dem linken Bett lag ein Mann und las ein Magazin. Er schien etwa fünfundsechzig zu sein, hatte weißes Haar und fröhliche blaue Augen, die aus einem runzligen Gesicht leuchteten. »Hallo, Jigger«, sagte Rogan. Das Lächeln auf Jigger Martins Gesicht erstarb. Der Alte setzte sich auf. »Diese Schweine!« knurrte er. »Diese verdammten Schweinehunde!« Rogan starrte schweigend aus dem vergitterten Fenster. Martin holte eine Packung Zigaretten unter seiner Matratze hervor und bot sie ihm an. »Was hast du jetzt vor, Ire?« Rogan lachte humorlos. »Was glaubst du, mein Junge? Was glaubst du denn?« Als das Tor sich hinter ihnen schloß, atmete Dwyer unwillkürlich erleichtert auf. Er hatte das Gefühl, als sei eine schwere Last von seinen Schultern genommen worden. Er holte seine Zigaretten aus der Tasche. Der Sergeant bot Vanbrugh, der jetzt selber fuhr, eine Zigarette an, aber er lehnte ab. Als sie die erste Anhöhe erreichten, bremste Vanbrugh, drehte sich um und sah mit finsterer Miene zu dem Gefängnis hinab. »Was wird er wohl tun, Sir?« fragte Dwyer halblaut. Vanbrugh machte eine ungeduldige Handbewegung. »Menschenskind, überlegen Sie doch selbst! Sie haben ihn doch gesehen, oder? Für einen Mann wie ihn gibt es nur eine Möglichkeit.« Er gab wieder Gas und fuhr rasch weiter.
-14-
2 Der September war warm und klar gewesen, aber am letzten Tag des Monats schlug das Wetter plötzlich um. Dunkle Wolken hingen drohend über dem Moor, Regen tropfte von den Dächern, und als Rogan ans Fenster trat, wirbelte der Wind das Laub aus dem Garten des Direktors über den Hof. Hinter ihm mischte Martin die Karten. »Spielen wir noch einmal, Ire?« »Lohnt sich nicht mehr«, entschied Rogan. »Bald gibt's Essen.« Er runzelte die Stirn, während sein Blick über den First des nächsten Zellenblocks bis zum Gefängnislazarett glitt. Martin kam heran. »Ist das zu schaffen, Ire?« Rogan nickte. »Natürlich! Beim letztenmal habe ich es in gut zwei Stunden geschafft.« Er sah auf Martin hinab. »Du würdest es nie schaffen, Jigger. Du würdest dir unterwegs das Genick brechen.« Martin grinste. »Warum sollte ich ausbrechen wollen? In neun Monaten können mich alle. Meine Alte hat eine nette kleine Pension in Eastbourne. Hier sieht mich keiner wieder!« »Das habe ich schon einmal gehört«, stellte Rogan fest. »Beherrschst du den Trick mit der Tür noch?« »Klar!« Martin nahm einen Blechlöffel aus dem Fach neben seinem Bett und ging damit zur Tür. Er horchte einen Augenblick, bevor er sich auf die Knie niederließ. Das Schloß befand sich unter einer fünf mal fünf Zentimeter großen Stahlplatte. Martin schob den Löffelstiel zwischen die Platte und das Türblatt. Er bewegte ihn einige Minuten lang, bis ein leises Klicken zu hören war. Nun ließ sich die Tür öffnen. -15-
»Das beeindruckt mich immer wieder«, stellte Rogan anerkennend fest. »Dahinter stehen dreißig Jahre Berufserfahrung, Ire. Ich war der anerkannt beste Tresorknacker.« Martin seufzte. »Aber leider war ich so gut, daß ich mich dadurch immer selbst verraten habe.« Er drückte die Tür zu und bewegte den Löffel, bis das Schloß erneut klickte. Dann stand er auf. »Einen Mann wie dich hätte ich manchmal gut brauchen können«, sagte Rogan. »In deinem Alter willst du dich doch nicht mit Kriminellen abgeben, Irish!« Martin grinste. »Das ist ein uralter Trick, den hier viele beherrschen. Diese altmodischen Einriegelschlösser sind leicht zu öffnen. Eines Tages werden sie bestimmt durch bessere ersetzt.« Er trat an sein Bett, holte eine Packung Zigaretten unter der Matratze hervor und warf Rogan eine zu. »Bis du auf den Hof kommst, mußt du weitere sechs Türen überwinden, von denen die meisten bewacht sind. Da braucht man schon mehr als einen Löffel, Ire.« »Was man will, kann man auch«, behauptete Rogan entschlossen. »Komm ans Fenster, dann zeige ich dir, wo ...« Martin hob abwehrend die Hand. »Nein, nein! Was ich nicht weiß, kann dir nicht schaden.« Rogan runzelte die Stirn. »Du würdest mich doch nicht verpfeifen, Jigger?« Der Alte zuckte mit den Schultern. »Hier kann man ganz schön in die Mangel genommen werden.« An der Tür klapperte etwas. Rogan drehte sich um und sah ein Auge am Spion. Dann wurde die Tür geöffnet. Der Oberwärter stand draußen. »Mitkommen, Rogan. Sie haben Besuch.« Rogan runzelte die -16-
Stirn. »Von wem?« »Von einem gewissen Soames. Er ist Anwalt in London. Anscheinend geht es um Ihr Gnadengesuch. Ihre Freunde haben sich offenbar für Sie eingesetzt.« Als Rogan in der Schlange vor dem Besuchszimmer wartete, fragte er sich, was Soames' Kommen zu bedeuten hatte. Soviel er wußte, war es zwecklos, die Entscheidung des Innenministeriums vor Ablauf eines Jahres anzufechten, und er war davon überzeugt, daß draußen niemand für ihn arbeitete. Seit die Organisation sich im vergangenen Jahr freiwillig aufgelöst hatte, interessierte sich niemand mehr für ihn. Dann war er an der Reihe. Der Aufseher ließ ihn eintreten und wies ihm einen Platz vor dem Gitter an. Rogan wartete ungeduldig, ohne auf die Gespräche zu achten, die links und rechts von ihm geführt wurden. Endlich wurde die Tür geöffnet. Soames kam herein. Er war klein und dunkelhaarig mit einem sorgfältig gepflegten Bärtchen und weichen rosa Händen. Er trug eine Melone und eine Aktentasche. Sein dunkelgrauer Anzug mit den Nadelstreifen war hochelegant. Er setzte sich und lächelte Rogan durch den Maschendraht hindurch zu. »Sie kennen mich bestimmt nicht, Mr. Rogan. Ich heiße Soames - Henry Soames.« »Ja, das habe ich gehört«, stimmte Rogan zu. »Von wem kommen Sie?« Soames sah sich um. Als er merkte, daß ihnen niemand zuhörte, beugte er sich vor. »Colum O'More.« Vor Rogans innerem Auge erschien ein Bild. Er hatte sich mit siebzehn als Freiwilliger gemeldet und war zu dem entscheidenden Gespräch in ein Haus außerhalb von Dublin gebracht worden. Dort hatte er in einem kleinen Raum warten -17-
müssen. Dann war die Tür geöffnet worden, und ein wahrer Riese war grinsend hereingekommen und hatte jemand, den Rogan nicht sehen konnte, etwas Aufmunterndes zugerufen. Colum O'More - der Große Mann, dessen Mut und Ausdauer vorbildlich waren. »Colum schickt Sie also?« fragte Rogan. »Nicht direkt.« Soames lächelte schwach. »Soviel ich weiß, hat er hierzulande noch die zweite Hälfte einer zehnjährigen Freiheitsstrafe zu verbüßen. Er ist im Augenblick in England, aber ich habe nur einmal mit ihm gesprochen. Seitdem arbeite ich über eine Deckadresse für ihn.« »Falls Sie vorhaben, meine Angelegenheit dem Innenminister zu unterbreiten, vergeuden Sie nur Ihre Zeit.« »Ich bin ganz Ihrer Meinung«, versicherte Soames ihm. »Colum O'More hat an etwas ungewöhnlichere Methoden gedacht, um es ehrlich zu sagen.« »Beispielsweise?« fragte Rogan gelassen. »Er möchte Ihnen helfen, diese Umgebung ohne Erlaubnis des Innenministers zu verlassen.« »Und wie kommen Sie darauf, daß ich das könnte?« »Mein Informant ist ein Mann namens Pope«, erwiderte Soames. »Hat er nicht ein Jahr in Ihrer Zelle gesessen? Er ist vor einem halben Jahr entlassen worden.« »Ach, der!« sagte Rogan verächtlich. »Ein schäbiger kleiner Gauner. Von der schlimmsten Sorte. Er war früher Polyp und hat wegen Bestechung gesessen. Pope würde seine eigene Schwester auf den Strich schicken, wenn jemand ihm genug dafür böte.« »Er hat eine interessante Geschichte erzählt, Mr. Rogan. Seiner Darstellung nach sind Sie 1960 eines Nachts außerhalb der Gefängnismauern aufgegriffen worden. Angeblich hat niemand herausbekommen, wie Ihnen das gelungen ist.« -18-
»Pope ist ein Schwätzer«, wehrte Rogan ab. »Eines Tages wird ihm jemand endgültig das Maul stopfen.« »Stimmt das?« fragte Soames drängend. »Können Sie wirklich hinaus?« »Und wenn ich das könnte?« »Dann wäre Colum O'More froh, Sie bei sich begrüßen zu dürfen.« »Wie ließe sich das arrangieren?« fragte Rogan. Soames beugte sich noch weiter vor. »Sie kennen doch den Steinbruch und den Weiler Hexton, der ganz in der Nähe am Fluß liegt?« »Natürlich. Ich habe lange genug im Steinbruch gearbeitet.« »Etwas weiter flußabwärts finden Sie einen Eisensteg für Fußgänger. Am anderen Ufer stoßen Sie auf ein kleines Landhaus. Es ist nicht zu verfehlen, weil es völlig allein liegt.« »Wartet Colum dort?« »Nein, Pope.« »Warum ausgerechnet er?« »Er hat sich als sehr nützlich erwiesen. Er hat Kleidung, einen Wagen und sogar Ausweispapiere für Sie. Damit können Sie das Moor in einer halben Stunde verlassen.« »Und wohin soll ich fahren?« »Pope erklärt Ihnen den Weg, auf dem Sie zu Colum O'More gelangen. Mehr kann ich Ihnen jetzt nicht sagen.« Rogan runzelte nachdenklich die Stirn. Die Sache mit Pope gefiel ihm nicht, und dieser Soames schien ein Halunke zu sein. Aber konnte er es sich leisten, den Vorschlag abzulehnen? Und wenn Colum O'More das Unternehmen organisierte ... »Nun?« fragte Soames. Rogan nickte. »Wann ist Pope bereit?« »Schon jetzt. Ich habe gehört, daß Sie ein Mann rascher -19-
Entschlüsse sind.« »Heute ist Donnerstag«, stellte Rogan fest. »Ich warte lieber bis Sonntag.« »Aus welchem Grund?« »Um sechs wird es dunkel, und in meinem Block werden die Zellen am Sonntag um halb sieben abgeschlossen. Von dann an hat nur noch ein Wärter in der mittleren Halle Dienst. Falls niemand auf die unwahrscheinliche Idee kommt, nach mir zu sehen, wird meine Flucht erst am Montagmorgen um sieben bemerkt, wenn die Zellen wieder aufgeschlossen werden.« »Hm, das klingt vernünftig«, gab Soames zu. Er zögerte. »Wissen Sie bestimmt, daß Sie ausbrechen können?« »In diesem Leben läßt sich nichts bestimmt sagen, Mr. Soames. Das müßten Sie inzwischen selbst wissen.« »Sie haben natürlich recht, Mr. Rogan.« Soames griff nach seiner Aktentasche und seiner Melone. Er schob den Stuhl zurück. »Mehr gibt es wohl nicht zu besprechen. Ich bin gespannt, was am Montag in den Zeitungen stehen wird.« »Ich auch«, stimmte Rogan zu. Er sah Soames nach, der zur Tür ging und dort wartete. Kurze Zeit später wurde er von dem Oberwärter abgeholt. »Gute Nachrichten?« fragte dieser ihn, als sie über den Hof gingen. Rogan zuckte mit den Schultern. »Sie wissen selbst, wie die Anwälte sind. Große Versprechungen und Honorare, aber wenig Hoffnung. Ich mache mir längst keine Illusionen mehr.« »Das ist am vernünftigsten, Rogan.« Als sie den obersten Treppenabsatz erreichten, wurde zum Mittagessen geläutet. Martin hatte bereits ihre Teller auf den kleinen Tisch gestellt. Er sah Rogan fragend entgegen. »Na, was war los?« -20-
Rogan wollte ihm schon erzählen, was er mit Soames besprochen hatte, aber dann fiel ihm die Warnung des Alten ein. Martin hatte natürlich recht. Sean Rogan hatte in dreizehn Jahren hinter Gittern gelernt, daß niemand völlig zuverlässig war. Er zuckte mit den Schultern. »Einige meiner Freunde haben sich zusammengetan und einen Rechtsanwalt angeheuert. Er wollte selbst mit mir sprechen, bevor er sich an den Innenminister wendet.« Auf Martins runzligem Gesicht erschien das ewig hoffnungsvolle Lächeln des alten Sträflings. »Hoffen kann man immer«, antwortete Sean Rogan und trat ans Fenster. Es regnete noch immer. Leichter Nebel ließ die Umrisse des Hügels verschwimmen, hinter dem der Steinbruch lag. Wenn man genau hinhörte, konnte man fast den Fluß rauschen hören: dunkles Moorwasser, das auf dem langen Weg zur See über große Felsbrocken strömte.
-21-
3 Regentropfen liefen an der Fensterscheibe herab, als Rogan in die Dunkelheit hinausstarrte. Nach einiger Zeit ging er zur Zellentür und blieb dort horchend stehen. Unten schlug der Wachhabende krachend ein Stahltor zu. Rogan drehte sich um und grinste flüchtig. Sein Gesicht war im Halbschatten nur undeutlich zu erkennen. »Verdammt schlechtes Wetter dafür.« Martin lag auf seinem Bett und las. Jetzt richtete er sich auf. »Wofür?« Rogan kauerte neben ihm. »Ich breche aus, Jigger«, antwortete er ruhig. »Auf wessen Seite stehst du?« »Natürlich auf deiner, Ire, danach brauchst du nicht zu fragen!« Der Alte war blaß vor Aufregung, als er aufstand. »Was soll ich tun?« »Du brauchst mir nur die Tür zu öffnen«, erklärte ihm Rogan. »Laß sie hinter mir offen, leg dich ins Bett und bleib dort bis zum Wecken am Montagmorgen.« Martin fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. »Was soll ich sagen, wenn ich zum Direktor muß?« »Erzähl ihm, daß du zu Tode erschrocken bist, als ich die Tür geöffnet habe, und daß du aus Angst in deinem Bett geblieben bist, ohne dich um midi zu kümmern.« Rogan grinste humorlos. »Mehr kann er schließlich nicht erwarten. Jeder Häftling, der etwas anderes täte, hätte innerhalb von vierundzwanzig Stunden die Kameraden auf dem Hals. Das weiß der Direktor so gut wie du.« Die versteckte Drohung wirkte. Martin beteuerte hastig: »Menschenskind, du weißt doch, daß ich dich nicht hereinlegen will, Ire!« -22-
Rogan drehte seine Matratze um, schob an einer Stelle die Hand unter die Naht und holte ein aufgerolltes Nylonseil und eine Trittschlinge mit einem Karabinerhaken heraus. »Wo hast du das her?« fragte Martin erstaunt. »Aus dem Steinbruch. Dort muß man manchmal klettern, um Sprengladungen anzubringen.« Rogan steckte sich einen langen Schraubenzieher und eine Kneifzange in den Gürtel. »Andenken aus der Werkstatt.« Er nickte zur Tür hinüber. »Okay, Jigger, mach dich an die Arbeit. Ich hab's eilig.« Martin holte seinen Löffel und kniete vor der Tür nieder. Seine Hände zitterten merklich. Aber bald zeigte ein Klicken an, daß das Schloß geöffnet war. Martin drehte sich um und nickte schweigend. Rogan stopfte rasch sein Kissen und einige Kleidungsstücke unter seine Bettdecke, so daß man glauben konnte, dort liege ein Mensch. Dann ging er zur Tür. »Mir ist eben etwas eingefallen«, sagte Martin heiser. »Du weißt doch, wie der Wachhabende auf Filzpantoffeln herumschleicht?« »Er sieht höchstens durch den Spion«, erklärte Rogan ihm, »und wenn er bei dieser Beleuchtung merkt, daß ich nicht in meinem Bett liege, hat er bessere Augen als ich.« Martins Gesichtsausdruck veränderte sich plötzlich. Er wirkte zehn Jahre jünger, als er leise lachte. »Ich bin gespannt, wieviel Aufregung das morgen gibt.« Er klopfte Rogan auf die Schulter. »Nur weiter, Ire, und laß dich nicht erwischen!« Der Treppenabsatz war schwach beleuchtet. In dem Zellenblock herrschte Ruhe. Rogan blieb einen Augenblick an die Wand gedrückt stehen und schlich dann zu der anderen Treppe am Ende des Korridors. In der großen Halle brannte nur eine einzige Lampe, so daß die Eisenträger und die Glaskuppel über ihm in der Dunkelheit -23-
lagen. Er kletterte auf das Geländer und an dem Maschendrahtgitter bis zum Dach des Zellenblocks weiter. Dort hängte er den Karabinerhaken seiner Schlinge ein, um sich zu sichern, und griff nach der Kneifzange. Er brauchte nicht lange, um einen knapp meterhohen Schlitz entlang der Wand in den Maschendraht zu schneiden, durch den er sich zwängte. Auf der anderen Seite schloß er die Öffnung wieder sorgfältig, so daß man schon sehr genau hinsehen mußte, um die Beschädigung zu erkennen. Letztesmal war er von Block B auf der anderen Seite der Halle aus geflohen. In den vergangenen drei Jahren hatte niemand diesen Fluchtweg entdeckt. Stahlträger ragten in die Dunkelheit hinein. Jeder von ihnen ruhte auf einem Mauervorsprung. Rogan erreichte den ersten mühelos, blieb an die Wand gedrückt stehen und konzentrierte sich auf die eineinhalb Meter breite Lücke zum nächsten Träger. Ein Atemholen, ein Sprung in die Dunkelheit, dann stand er auf dem nächsten. Das wiederholte sich noch dreimal, bis er den Stahlträger vor Block B erreicht hatte. Als eine Tür ins Schloß fiel, sah Rogan nach unten und erkannte den Wachhabenden und den Oberwärter, die durch den Lichtkreis der Lampe zu einem Schreibtisch gingen, wo der Wachhabende eine Eintragung im Wachbuch machte. Die beiden Männer sprachen halblaut miteinander. Dann lachten sie, schlössen die Tür zum Wachraum auf und verschwanden darin. Rogan legte die Seilschlinge um den Stahlträger und um seine Brust, ließ den Karabinerhaken einschnappen und begann zu klettern. Die größte Schwierigkeit lag darin, daß der Träger sich der Krümmung der Wand anpaßte, so daß dahinter nur vier oder fünf Zentimeter Platz für die Schlinge waren. Jetzt erwiesen sich Rogans Kraft und Körperbeherrschung als wertvoll. Er biß die Zähne zusammen, schob sich Zentimeter für Zentimeter in die -24-
Dunkelheit hinauf und ließ den Lichtkreis der Lampe weit unter sich. Dann hatte er sein Ziel vor sich: die Austrittsöffnung eines großen Luftschachts mit etwa achtzig Zentimeter Durchmesser. Der Luftschacht war unten mit einem Eisengitter abgeschlossen, das mit zwei großen Schrauben befestigt war. Rogan stemmte sich von der Wand ab, um besser arbeiten zu können, und griff nach dem Schraubenzieher. Die Messingschrauben ließen sich leicht lösen, aber er schraubte eine nur halb heraus, so daß das Gitter noch daran hing. Jetzt mußte er alle Kräfte zusammennehmen. Er hakte die Schlinge aus, ließ sie in den Luftschacht gleiten, griff mit den Fingern hinter den Stahlträger und schob sich an der Wand entlang höher, um dann mit den Füßen voraus in den Zinkblechschacht zu schlüpfen. Trockener Staub reizte seine Schleimhäute. Er unterdrückte ein Husten, griff nach draußen und zog das Gitter zu sich heran. Dann tastete er nach dem Loch für die Schraube und setzte sie wieder ein, so daß seine Spur völlig verwischt war. Bei seinem letzten Versuch hatte er eine Taschenlampe gehabt, aber diesmal besaß er keine. Von jetzt an mußte er in völliger Dunkelheit arbeiten und sich auf sein Gedächtnis verlassen. Er hatte sich diesen Fluchtweg innerhalb von zehn Minuten eingeprägt, als ein Heizungsingenieur einen Plan der Lüftungsanlage des Gebäudes nachlässigerweise auf einer Werkbank im Fabriksaal des Gefängnisses liegengelassen hatte. Aber das war vor drei Jahren gewesen, und die Anlage war seitdem umgebaut worden. Er konnte nur hoffen, daß dieser Teil unverändert geblieben war. Rogan bewegte sich rückwärts durch die Dunkelheit. Feiner Staub drang ihm in Mund und Nase. Sein Gesicht war schweißnaß. Nach einiger Zeit erreichte er eine Abzweigung. Er -25-
glitt mit dem Kopf voran schräg nach unten und bremste seine Bewegung mit den Händen ab. Dann ging es waagrecht weiter an mehreren Abzweigungen vorbei. Sechs oder sieben? Nein, nach der sechsten mußte er sich am Seil in die Tiefe lassen. Er schob sich an Abzweigungen vorbei, bis er den richtigen Schacht links von sich hatte. Dort tastete er den Rand ab und fand sofort die Halteklammer, die er bei seinem ersten Versuch aufgebogen hatte, um das Seil darüber ablaufen zu lassen. Er glitt rückwärts in den Schacht hinein und hielt sich an seinem Seil fest. Zehn Meter tiefer krümmte sich der Luftschacht rechtwinklig und führte dann waagrecht weiter. Rogan holte das Seil ein, rollte es sorgfältig zusammen und kroch rückwärts davon. An einigen Stellen fiel Licht in den Schacht. Er sah durch eine Öffnung in die Hauptküche hinunter. Dort brannten einige Neonröhren, aber der große Raum war menschenleer. Rogan kroch weiter und erreichte einen etwas größeren Schacht, in dem er sich umdrehen konnte. Er befand sich jetzt am äußersten Ende des mittleren Blocks und war etwa vierzig Minuten unterwegs. Er bewegte sich rasch weiter und kam zu einem senkrechten Schacht, in dem verschiedene Lichtstreifen zeigten, daß dort Austrittsöffnungen in beleuchtete Räume führten. Das Zinkblech war in diesem Schacht mit stählernen Halteklammern befestigt, an denen Rogan rasch in die Höhe kletterte. Sein Ziel war ein oben abzweigender Schacht, der durch das Dach und über den Hof zum Krankenhaus führte. Dann spürte er einen starken Luftzug und hörte gleichzeitig ein Summen. Er runzelte besorgt die Stirn. Das war neu! Sekunden später erreichte er die Abzweigung und fand seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Wo vorher eine Schachtöffnung gewesen war, befand sich jetzt ein Metallgitter vor einem Ventilator. Rogan rüttelte vorsichtig daran, sah dann -26-
aber ein, daß er hier nicht weiterkam, und kletterte wieder nach unten. Die erste Öffnung, die er erreichte, war viel zu klein. Die nächste hatte etwa sechzig Zentimeter Durchmesser. Das mußte reichen. Rogan sah einen düster beleuchteten Korridor und überlegte sich, daß dies die Unterkunft für ledige Wärter sein mußte. Er zögerte nicht lange, nahm seinen Schraubenzieher so zwischen die Finger, daß er ihn dicht unterhalb des Griffes anfaßte, und steckte die Hand durch das Gitter. Er tastete nach der linken Schraube. Zu seiner Erleichterung ließ sie sich gut herausdrehen. Als sie zu Boden gefallen war, drückte er das Gitter mit aller Kraft nach draußen. Rogan kroch etwas weiter in den Schacht hinein, um mit den Füßen voran hinausrutschen zu können. Die Öffnung war so eng, daß er zunächst steckenblieb. Aber dann drückte er sich von der Schachtwandung ab, wobei er sich das Hemd zerriß, und landete zwei Meter tiefer im Korridor. Er stand sofort auf, drückte das Metallgitter an seinen Platz zurück und schlich den Flur entlang. Irgendwo spielte ein Radio. Dann lachte jemand. Rogan kam an die Treppe, beugte sich über das Geländer und sah zwei Stockwerke tiefer die schwach beleuchtete Eingangshalle. Er eilte, immer dicht an die Wand gedrückt, die Treppe hinab. Unten sah er sich nach allen Seiten um, bevor er zur Tür lief und sie öffnete. Dann zögerte er auf der Schwelle. Die Lampe neben dem Eingang beleuchtete den Fußweg. Rogan sprang die Stufen hinab und tauchte im Mauerschatten unter. Der Regen war stärker geworden und klatschte Rogan ins Gesicht, als er zu dem Luftschacht aufsah, der hoch über ihm in den Krankenbau hinüberführte. Ursprünglich hatte er auf diese Weise das Dach des anderen Blocks erreichen wollen; jetzt mußte er einen anderen Weg finden. -27-
Er glitt im Dunkel bis zu dem Krankenbau und blieb kurz stehen. Dann fiel ihm die Feuerleiter ein. Er entdeckte sie in unmittelbarer Nähe und begann mit gesenktem Kopf nach oben zu klettern. Der letzte Absatz führte zu einer Tür unter der Regenrinne des Gebäudes. Rogan stellte sich auf die Zehenspitzen und rüttelte prüfend an der Rinne. Sie schien fest genug zu sein. Er holte tief Luft, machte einen Klimmzug und kletterte aufs Dach. Dann hockte er rittlings auf dem First und rutschte darauf entlang. Er brauchte etwa fünf Minuten, um das Ende des Gebäudes zu erreichen, wo der Kamin der Müllverbrennungsanlage aufragte. In kaum fünfzehn Meter Entfernung sah Rogan undeutlich die mit Eisenspitzen bewehrte Krone der Außenmauer. Unter sich erkannte er ein eisernes Abflußrohr, das zur Mauer hinüberführte. Rogan wickelte sein Nylonseil ab, warf es um den Kamin und hielt sich daran fest, während er geradewegs nach unten kletterte. Er rutschte auf den nassen Dachziegeln aus, verlor den Halt, schlug sich die Fingerknöchel auf und prellte sich die Schulter. Aber dann hatte er das Eisenrohr unter den Füßen. Rogan saß rittlings darauf, zog das Seil zu sich heran, um es aufzuwickeln, und rutschte endlich weiter. Es war nicht leicht, auf dem dünnen Rohr das Gleichgewicht zu behalten, und er bemühte sich, nicht an das Pflaster zwölf Meter unter ihm zu denken, sondern konzentrierte sich auf seine gegenwärtige Aufgabe. Schließlich berührten seine Fingerspitzen Steine. Rogan hob den Kopf und sah die dunkle Mauer vor sich. Er stand langsam auf, griff nach den rostigen Eisenspitzen und zog sich daran empor. Er gönnte sich keine Atempause, sondern schlang sein Seil um einige Spitzen und ließ sich dann in die Tiefe gleiten. Sekunden später war er am Ende des Seils angelangt, sprang drei Meter ins nasse Gras hinunter und zog -28-
das Seil nach. Rogan war bis auf die Haut durchnäßt. Er blieb einen Augenblick im Gras liegen. Dann kam er wieder auf die Füße, wickelte das Seil auf, nahm es über die Schulter und tauchte in der Dunkelheit unter. Diesmal machte er einen weiten Bogen um die Häuser der Verheirateten und marschierte den Hügel hinauf, hinter dem das Moor und der Steinbruch lagen. Die Dunkelheit begünstigte seine Flucht. Wenige Minuten später erreichte er den Hügelrücken und sah sich noch einmal um. In der Senke unter ihm lag das Gefängnis wie ein Urweltungeheuer, das auf Beute lauerte: eine gestaltlose dunkle Masse, die nur hier und dort von einzelnen Lampen erhellt wurde. Rogan konnte sich plötzlich nicht mehr beherrschen. Er rannte laut lachend übers Moor davon. Nach einer Viertelstunde hatte er den Steinbruch passiert und stand vor dem vom Regen angeschwollenen Fluß. Mitten auf dem Eisensteg blieb er stehen und warf Seil, Schraubenzieher und Kneifzange ins Wasser. Das war eine abschließende Geste. Diesmal würden sie ihn nicht wieder erwischen. Rogan lief weiter, erreichte das andere Ufer und sah ein beleuchtetes Haus unter einigen Bäumen stehen.
-29-
4 Es war kalt in der Küche mit dem Steinboden, und Jack Pope hatte eine Gänsehaut, als er sich Holzscheite auf den linken Arm stapelte. Er ging durch den Flur in den Wohnraum des kleinen Hauses zurück. Der Feuerschein tanzte über die Deckenbalken und malte seltsame Schatten an die Wände, als er Holz auf das bereits hell brennende Feuer im Kamin warf. Er trat an einen Schrank, nahm eine Flasche Whisky heraus und schenkte sich ein Glas halb voll. Draußen pfiff der Wind ums Haus und trieb den Regen gegen die Fenster. Pope fuhr zusammen, als er sich an ein anderes Gebäude in der Nähe erinnerte, in dem er fünf Jahre seines Lebens zugebracht hatte. Er leerte das Glas in einem Zug, hüstelte und griff wieder nach der Flasche. Er hörte keinen Laut, aber er spürte plötzlich einen kalten Luftzug an der rechten Backe. Seine Nackenhaare sträubten sich. Er drehte sich langsam um. Rogan stand auf der Schwelle. Seine durchnäßte Kleidung klebte ihm am Körper und unterstrich dadurch noch seinen athletischen Bau. Er war unglaublich schmutzig. Der feine Staub aus den Lüftungsschächten vermischte sich mit dem Regenwasser zu einer schmierigen Schicht, die sein Gesicht, seine Kleidung und seine Hände bedeckte. Jack Pope fürchtete sich vor diesem schwarzen Riesen; er hatte Angst wie ein Kind, das einen unheimlichen Fremden vor sich sieht, und mußte sich beherrschen, um nicht laut aufzuschreien. Er fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen und rang sich ein mühsames Lächeln ab. »Du hast's also geschafft, Ire. Prima!« -30-
Rogan durchquerte wortlos den Raum, nahm Pope das Glas aus der Hand und schüttete den Whisky in sich hinein. Er schloß die Augen, holte tief Luft und sah Pope an. »Wie spät ist es?« Pope sah auf seine Uhr. »Kurz nach halb neun.« »Gut«, sagte Rogan. »Ich muß spätestens um neun weiter. Kann ich hier baden?« Pope nickte eifrig. »Ich habe den Boiler schon nachmittags angestellt.« »Kleidung?« »Im Schlafzimmer auf dem Bett. Willst du etwas essen?« Rogan schüttelte den Kopf. »Keine Zeit. Hast du eine Thermosflasche? Gib sie mir voll Kaffee mit und mach mir ein paar Sandwiches. Ich kann unterwegs essen.« »Okay, Ire, wie du willst. Das Bad ist im Flur links.« Rogan wandte sich ab und ging schweigend hinaus. Popes Lächeln verschwand schlagartig. »Was bildet er sich eigentlich ein, dieser Affe?« murmelte er vor sich hin. »Wenn ich ihn bloß verpfeifen könnte ...« Er ging in die Küche und setzte den Wasserkessel auf. Dann nahm er das Brotmesser aus der Schublade, griff nach einem Laib Brot und begann wütend, dicke Scheiben herunterzusäbeln. Das Bad war erst nachträglich eingebaut worden, und die Wanne war klein. Aber das spielte keine Rolle. Rogan ließ heißes Wasser einlaufen, zog sich aus und kletterte hinein. Einen Augenblick lang blieb er ruhig sitzen, um die Wärme zu genießen; dann begann er sich zu waschen. Fünf Minuten später stieg er aus der Wanne, trocknete sich rasch ab und ging mit einem Handtuch um die Hüften den Flur entlang ins Schlafzimmer. Dort fand er alle Kleidungsstücke, die er brauchte, auf dem Bett ausgebreitet. Unterwäsche, ein Hemd mit Krawatte, -31-
Socken, Schuhe in seiner Größe und ein gutsitzender Tweedanzug. Auf dem Bett lagen auch ein abgetragener Regenhut und ein alter Trenchcoat. Das bewies sorgfältige Planung, wie er widerstrebend zugeben mußte. Er nahm Hut und Mantel mit, als er in den Wohnraum zurückkehrte. Pope kam aus der Küche herein. Er stellte eine Thermosflasche und eine Keksschachtel aus Blech auf den Tisch. »Das sind die Sandwiches. Auf diese Weise brauchst du unterwegs nicht zu halten.« »Wohin soll ich überhaupt?« »O'More will dich sprechen.« »Und wo finde ich ihn?« Pope zuckte mit den Schultern. »Weiß der Teufel! Ich kenne nur eine Deckadresse in Kendal. Ist dir klar, wo Kendal liegt?« »Im Seengebiet? Westmorland, nicht wahr?« »Richtig. Du hast eine lange Fahrt vor dir, Dreihundertfünfzig Meilen, schätze ich, und du mußt bis sieben Uhr morgens dort sein.« Also genau dann, wenn die Häftlinge geweckt werden, dachte Rogan und lächelte unwillkürlich. In Kendal würde ihn niemand suchen. Sie würden einige Tage brauchen, um zu erkennen, daß er aus dem Moor entkommen war - und sogar das ließ sich nicht genau feststellen. »Warum bis sieben Uhr?« »Weil dort jemand auf dich wartet. Du fährst einfach auf den Parkplatz des Woolpack Inn in Stricklandgate und bleibst dort, bis du abgeholt wirst.« »Von wem?« »Das weiß ich nicht. Ich kenne nur die Deckadresse in Kendal. Vielleicht sollst du von dort aus weiterfahren.« Rogan schüttelte den Kopf. »Erzähl mir mehr, Pope. In meiner Lage kann man nicht vorsichtig genug sein.« -32-
»Das ist die Wahrheit, Ire, die reine Wahrheit! Ich gebe zu, daß ich nach meiner Entlassung manchmal von deinem ersten Fluchtversuch erzählt habe. Das muß irgendwie herumgekommen sein. Du weißt selbst, wie das ist.« »Was ist mit Soames, diesem Anwalt?« »Er hat schon seit fünf Jahren Berufsverbot. Ein Erzgauner vom Scheitel bis zur Sohle. Er ist vor ein paar Wochen zu mir gekommen. Einer seiner Klienten soll von deinem ersten Fluchtversuch gehört haben, und Soames hat erfahren, daß ich davon wußte. Er hat mich gleich angeworben.« »Und was bekommst du dafür?« »Daß ich hier die Stellung halte? Ein paar Hunderter und meine Spesen.« Rogan zündete sich eine Zigarette aus der Packung auf dem Tisch an. Das klang alles sehr verwirrend. Aber Colum war ein alter Fuchs, der es verstand, seine Fährte zu verwischen. »Okay, vorläufig nehme ich dir das ab«, entschied er. »Wie komme ich nach Kendal?« Pope nahm grinsend einen weißen Umschlag aus der Jackentasche. »Ich wollte nichts falsch machen und hab' dir deshalb einen Streckenplan besorgt. Er fängt in Exeter an und führt geradeaus nach Kendal.« Er sprach die Strecke mit Rogan durch. In Exeter sollte Rogan der A 38 folgen, die durch Bristol und Gloucester führte, wo er auf der M 5 an Worcester und Birmingham vorbei nach Norden weiterfahren konnte. Schließlich würde er auf die M 6 abbiegen, die durch Lancashire zum Seengebiet führte. »Auf den Autobahnen wird teilweise noch gebaut«, sagte Pope, »aber im allgemeinen müßtest du gut vorankommen.« »Was für einen Wagen bekomme ich?« »Nichts Besonderes. Einen zwei Jahre alten Ford Kombi. Aber der Motor ist in Ordnung. Hinten im Wagen liegen -33-
Futterproben - du bist nämlich Vertreter einer Fabrik für Viehfutter.« Er legte eine Aktentasche auf den Tisch und öffnete sie. »Hier sind Geschäftskarten mit dem Namen Jack Mann und ein Führerschein. Du kannst doch noch fahren?« Rogan zuckte mit den Schultern. »Keine Angst, ich komme schon zurecht.« Auch die Versicherungspapiere und das Fahrtenbuch trugen den gleichen Namen. Rogan bekam selbst einen Mitgliedsausweis der Automobile Association. Er steckte alles ein. »Ausgezeichnet«, murmelte er. »Freut mich.« Pope gab ihm ein abgeschabtes Lederportemonnaie. »Da drin sind vierzig Pfund. Es hat keinen Zweck, dir mehr mitzugeben. Falls du angehalten und durchsucht wirst, erregt das nur Mißtrauen.« »Ah, da spricht der ehemalige Polizist aus dir, was?« Pope rang sich ein Lächeln ab. »Das ist alles.« Er sah auf die Uhr. »Schon fast neun. Du mußt los, Ire.« Rogan zog den Mantel an und griff nach dem Hut. Sie verließen das Haus durch die Küche. Pope öffnete das Garagentor, und Rogan sah zwei Wagen: einen grauen Kombi und eine grüne Limousine. Er starrte sie an. »Zwei?« fragte er. »Wie soll ich sonst um diese Zeit von hier wegkommen?« fragte Pope zurück. »Mir hat es schon gereicht, daß ich gestern nachmittag fünf Meilen weit zur nächsten Bushaltestelle laufen mußte, nachdem ich den Ford hierher gebracht hatte. Die Limousine habe ich heute morgen aus Plymouth mitgebracht.« Das wäre eine gute Story gewesen, wenn die Räder beider Fahrzeuge nicht noch naß und schmutzig gewesen wären, als seien sie erst vor einigen Stunden über regennasse Straßen gefahren. -34-
Aber Rogan ignorierte diese Tatsache. »Okay, ich verschwinde jetzt lieber.« Pope nickte. »Paß auf, daß du dich nicht verfährst. Keine Umwege über Holyhead, wo das Fährschiff nach Irland abgeht.« Rogan drehte sich mit ausdruckslosem Gesicht langsam nach ihm um. »Und was meinst du damit?« Pope rang sich ein Lächeln ab. »Nichts, Ire, wirklich nichts. Aber der Große Mann hat einen Haufen Geld für dich ausgegeben. Diese Investition muß sich auch lohnen, kannst du das verstehen?« Im nächsten Augenblick fühlte er sich von einer starken Hand im Kragen gepackt. Er rang nach Luft, wurde hochgehoben und grob geschüttelt und bekam einen roten Kopf. »Wenn ich etwas tue, muß ich es auch tun wollen«, sagte Rogan halblaut. »Merk dir das, Pope. Sean Rogan läßt sich keine Vorschriften machen.« Pope wurde losgelassen, stolperte rückwärts gegen die Garagenwand und sackte keuchend zusammen. Er kauerte dort, rang nach Atem und nahm kaum wahr, daß der Ford in den Hof hinausfuhr und davonrollte. Dann hörte er Schritte hinter sich. »Freund Rogan ist gewalttätig, was?« fragte eine ruhige Stimme. »Ein gefährlicher Mann, wenn er sich hereingelegt fühlt.« Pope sah zu Henry Soames auf und fluchte. »Hoffentlich wissen Sie, was Sie tun!« Er kam stöhnend auf die Beine. »Wenn ich vernünftig wäre, würde ich mich aus dieser Sache heraushalten.« »Und auf das ganze schöne Geld verzichten?« Soames klopfte ihm auf die Schulter. »Kommen Sie, wir gehen hinein und reden miteinander. Sie sehen bestimmt ein, daß ich recht habe.« Rogan stellte den Ford nach der ersten Kurve an einem Gatter ab und ging zu Fuß zurück. Dafür hatte er mehrere Gründe. -35-
Erstens konnte er Pope nicht leiden. Zweitens traute er ihm nicht. Und drittens waren die Reifen beider Wagen naß gewesen, obwohl der Ford seit dem Vortag im Trockenen gestanden haben sollte. Als Rogan sich dem Haus näherte, verließ er die Straße, durchquerte ein Wäldchen und erreichte die Rückseite des kleinen Gebäudes. Die Vorhänge im Wohnzimmer waren zugezogen, aber Rogan fand einen Spalt, durch den er hineinsehen konnte. Henry Soames und Pope saßen am Tisch, hatten die Whiskyflasche zwischen sich und sprachen ernsthaft miteinander. Rogan beobachtete sie nur kurz. Dann wandte er sich ab und ging zu seinem Auto zurück. Merkwürdig. Aber am merkwürdigsten war es eigentlich, daß Colum O'More sich mit solchen Leuten abgab. Aber diese Fragen ließen sich erst in Kendal beantworten. Rogan gab Gas und konzentrierte sich auf die Straße.
-36-
5 Nach Mitternacht hatte Rogan die Straße für sich allein, aber zwischen Bristol und Birmingham und nördlich davon in Richtung Lancashire waren viele Lastwagen unterwegs. Gegen zwei Uhr morgens tankte er in der Nähe von Stoke und blieb dabei im Wagen sitzen, so daß der Tankwart sein Gesicht nicht deutlich sehen konnte. Er kam gut voran, obwohl er sich überall peinlich genau an die vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeiten hielt, und bei Tagesanbruch fuhr er über die M 6 östlich von Lancaster nach Norden. Der Morgen war trübselig. Schiefergraue Regenwolken zogen niedrig über den Himmel. Im Westen sah Rogan die weißen Wogenkämme auf dem Wasser der Morecambe Bay. Er kurbelte sein Fenster herunter, atmete die salzhaltige Luft tief ein und fühlte sich zum erstenmal seit Jahren wieder richtig lebendig. Er erreichte Kendal kurz nach sieben. Die kleine Stadt wachte um diese Zeit erst auf, so daß auf den Straßen noch wenig Verkehr herrschte. Rogan fand den Woolpack Inn in Stricklandgate ohne Schwierigkeiten, fuhr auf den dazugehörigen Parkplatz und stellte den Motor ab. Es war seltsam, nach so langer Zeit wieder in einem Wagen zu warten - wie damals in Frankreich, als er die Widerstandskämpfer unterstützt hatte. Er erinnerte sich an einen regnerischen Morgen in Amiens und den Verbindungsmann, der sich als Abwehragent erwiesen hatte. Aber man konnte sich eben auf niemand verlassen ... Rogan wollte sich eine Zigarette anzünden und stellte fest, daß seine Packung leer war. Er knüllte die leere Packung zusammen. In diesem Augenblick sagte eine ruhige Stimme: »Ein schöner Morgen, Mr. Rogan.« -37-
Sie war ungefähr zwanzig, bestimmt nicht älter. Sie trug einen alten Trenchcoat, dessen Gürtel sie achtlos zusammengeknotet hatte. Einige schwarze Haarsträhnen, die unter ihrem Kopftuch hervorkamen, waren feucht vom Regen. Sie ging um den Wagen herum, öffnete die Tür und setzte sich neben Rogan. Er warf ihr einen prüfenden Blick zu und sah ein fast südländisches Gesicht mit makellosem Teint, schwarzen Augenbrauen und Wimpern, dunklen Augen und blitzend weißen Zähnen hinter vollen roten Lippen. Solche Gesichter waren an der Westküste von Irland nicht selten, besonders in der Umgebung von Galway, wo sich im Lauf der Jahrhunderte viel spanisches Blut mit irischem vermischt hatte. »Woher haben Sie das gewußt?« fragte er. Sie zuckte mit den Schultern. »Ich kenne die Nummer Ihres Wagens, und Colum hat mir ein Bild von Ihnen gezeigt. Sie haben sich verändert.« »Tun wir das nicht alle?« meinte Rogan. »Was haben Sie mit der ganzen Sache zu tun?« »Das erfahren Sie noch. Wenn Sie mich ans Steuer lassen, können wir losfahren.« Rogan rutschte auf der Sitzbank zur Seite und ließ die junge Unbekannte ans Steuer. Eine Sekunde lang sah er nur noch die Frau in ihr; er roch einen Hauch von Parfüm und sah den hochgerutschten Mantel. Sie zog ihn zurecht und ließ den Motor an. »Ich möchte mir irgendwo Zigaretten kaufen«, sagte Rogan. Sie holte eine Packung aus der Manteltasche. »Nicht nötig. Ich habe genug.« »Müssen wir weit fahren?« »Ungefähr vierzig Meilen.« Sie fuhr ausgezeichnet und kam in den engen Gassen erstaunlich rasch voran. Rogan lehnte sich zurück und -38-
beobachtete sie unauffällig. Eine hübsche junge Frau, die eine große Enttäuschung erlebt hat, entschied er. Das sieht man in ihren graugrünen Augen. Sie ist ungebrochen, aber sie hat sich bestimmt vorgenommen, nie wieder jemand zu lieben. Und das ist schade, das ist die eigentliche Tragödie. »Erkennen Sie mich nächstesmal wieder?« fragte sie in seine Gedanken hinein. »Wäre das schlimm?« Rogan grinste. »Eine Irin aus Liverpool?« »Merkt man das?« »Der Akzent ist unverkennbar.« Sie lächelte unwillkürlich. »Sie sprechen selbst nicht wie ein englischer Gentleman.« »Und warum sollte ich das tun wollen?« »Sie waren doch Major in der englischen Armee ...« »Hm, Sie scheinen mich gut zu kennen.« »Kein Wunder! Ich habe mir lange genug von dem großen Sean Rogan erzählen lassen müssen.« Sie fuhren jetzt durch die Außenbezirke der Stadt. Dann hielt sie an einem schmiedeeisernen Tor, das in eine niedrige Mauer eingelassen war und zu einer im Hintergrund sichtbaren Kirche führte. »Darf ich?« fragte sie Rogan. »Ich habe nicht oft Gelegenheit dazu.« »Bitte.« Rogan sah ihr nach, als sie durch das Tor ging: eine kleine, wohlproportionierte Gestalt mit nach englischen Begriffen etwas zu breiten Hüften. Sie ging also noch zur Kirche. Das war interessant, denn es bewies, daß sie kein aktives Mitglied der I.R. A. war, als das sie automatisch exkommuniziert worden -39-
wäre. Er gab einem Impuls nach, öffnete die Tür und folgte der jungen Frau in die Kirche. Er blieb am Eingang stehen, sah sie in der ersten Reihe knien und setzte sich selbst in die letzte. In der Kirche war es halb dunkel und sehr still. Rogan beobachtete die junge Frau, wie sie aufstand und durch den Mittelgang zum Portal zurückkam. Dann sah sie ihn dort im Halbdunkel sitzen und blieb abrupt stehen. »Das war unklug von Ihnen. Sie hätten gesehen werden können.« Er zuckte mit den Schultern, stand auf und ging neben ihr her zum Ausgang. »Wer so denkt, benimmt sich auch verdächtig; wer sich verdächtig benimmt, wird erwischt. Das weiß ich aus eigener Erfahrung.« Sie standen unter dem Portal. Draußen hatte es zu nieseln angefangen. Die junge Frau warf Rogan einen prüfenden Blick zu und lächelte dann plötzlich. »Hannah Costello, Mr. Rogan«, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen. Er schüttelte sie grinsend. »Ich heiße Sean, Hannah, aber das weißt du bereits. Darf ich jetzt fragen, wohin du mich bringst?« »Zu einem Haus auf dem anderen Ufer der Seen. Es liegt an der Küste in der Nähe von Whitbeck.« »Ist Colum O'More dort? »Er wartet auf dich.« »Komm, dann fahren wir gleich weiter. In Kerry liegt eine Farm, die mein Vater bald nicht mehr allein bewirtschaften kann. Es wird Zeit, daß ich nach Hause komme.« Das Lächeln von Hannahs Gesicht verschwand. Sie sah fragend zu Rogan auf, schien etwas sagen zu wollen und schwieg dann doch. Sie ging zum Auto voran. Dick Vanbrugh war müde, verdammt müde, und der Regen, -40-
der gegen das Fenster im Bad klatschte, hob seine Stimmung nicht gerade. Vanbrugh rasierte sich fertig und trocknete eben sein Gesicht ab, als seine Frau hereinkam. »Telefon, Liebling. Der Chef selbst.« Vanbrugh starrte sie an und runzelte die Stirn. »Soll das ein Witz sein?« »Leider nicht. Ich mache dir gleich dein Frühstück. Wahrscheinlich hast du es nachher eilig.« Vanbrugh zog sein Hemd an und stopfte es sich in die Hose, während er nach unten ging. Seine Müdigkeit war verschwunden. Es mußte sich um etwas Wichtiges handeln. Sein Chef hätte nicht um halb acht bei ihm angerufen, nur weil nachts in irgendeinem Lagerhaus eingebrochen worden war. Er nahm den Telefonhörer auf und lehnte sich gegen die Wand. »Hier ist Vanbrugh, Sir.« »Morgen, Dick. Tut mir leid, aber ich glaube, daß ich Ihnen das Frühstück verderben muß.« »Nicht zum erstenmal«, stellte Vanbrugh fest. »Rogan ist ausgebrochen.« Vanbrugh fühlte einen leichten Schwindel. Er holte tief Luft, schloß die Augen und öffnete sie wieder. »Wann?« »Irgendwann letzte Nacht. Sein Fehlen ist erst morgens beim Wecken bemerkt worden. Der Direktor hat gleich angerufen.« »Wie hat Rogan das geschafft?« »Das weiß kein Mensch. Vielleicht findet sich noch ein Hinweis, aber vorläufig ist er spurlos verschwunden.« Vanbrugh lachte leise. »Haben Sie gewußt, daß die Widerstandskämpfer ihm den Spitznamen ›der Geist‹ gegeben haben, Sir?« Sein Chef überhörte diese Bemerkung. »Sie leiten die -41-
Fahndung, Dick.« Vanbrugh holte tief Luft. »Das würde ich in diesem Fall nicht gern tun, Sir.« »Sie sind der beste Mann für diese Aufgabe, Dick, Sie kennen Rogan besser als jeder andere.« »Das ist eben der springende Punkt, Sir.« »Kurz nach neun geht ein Schnellzug vom Bahnhof Paddington ab. Nehmen Sie Dwyer mit. Ich sorge dafür, daß Sie von den dortigen Polizeibehörden unterstützt werden. Je länger er in Freiheit bleibt, desto schwieriger wird die Sache für uns. Wenn die Presse sich erst einmal mit Rogans Verdiensten befaßt, haben wir nichts mehr zu lachen.« »Wäre das so schlimm, Sir?« fragte Vanbrugh. »Vielleicht würde der Innenminister sich dann umstimmen lassen ...« »Soll er etwa auf solche emotionellen Erpressungsversuche eingehen?« knurrte Vanbrughs Chef. »Denken Sie gefälligst daran, daß Sie ein Kriminalbeamter sind, Mann, und machen Sie sich an die Arbeit!« Vanbrugh legte auf, dachte kurz nach und rief dann Sergeant Dwyer zu Hause an. Danach ging er in die Küche, wo seine Frau ihm erwartungsvoll entgegensah. »Bitte nur eine Tasse Kaffee, Schatz. Ich muß fort.« Sie goß ihm Kaffee ein. »Wir sind jetzt fünfundzwanzig Jahre verheiratet, Dick. Da lernt man einander kennen. Was ist schiefgegangen?« »Sean Rogan ist ausgebrochen«, antwortete er bedrückt. »Der Alte will, daß ich die Fahndung selbst leite.« »Nein!« Sie sank enttäuscht auf einen Stuhl. »Hast du noch nicht genug getan?« »Ich habe meinen Beruf, Nell«, sagte er. »Das hast du gewußt, als wir geheiratet haben. Und Sean hat auch gewußt, daß ich Kriminalbeamter bin.« -42-
»Aber er hat dir das Leben gerettet, Dick!« »Glaubst du etwa, daß ich das vergessen habe?« Als sie den Kopf schüttelte, hatte sie Tränen in den Augen. Er ergriff ihre Hand, als sie ihm über die Haare strich, und küßte sie. »Ich muß jetzt fort, Schatz. Ich darf keine Zeit verlieren.« Er stand auf und ging langsam hinaus. Es regnete noch immer, als Rogan und die junge Frau Bowness erreichten und die Fähre über den Lake Windermere benützten. Sie standen allein am Heck und genossen die herrliche Aussicht. »Was hältst du davon?« fragte Hannah ihn. »Wunderschön!« »Der schönste Fleck Englands. Im Sommer wimmelt es hier von Touristen. Aber um diese Jahreszeit begegnet man keiner Menschenseele mehr. Deshalb gefällt es mir jetzt am besten.« Auf dem anderen Ufer fuhren sie nach Hawkshead weiter und bogen hinter Coniston Water in Richtung Broughtonin-Furness und Whicham ab. Dort nahmen sie die Küstenstraße nach Norden und sahen eine Meile hinter Whitbeck Station einen Wegweiser mit der Aufschrift Marsh-End. Dort bog Hannah ab. Der Ford holperte über eine schlechte Straße zum Meer. Sie folgten dem Lauf eines Bachs, der sich wie eine Schlange durch die Marschen wand, wo die Wildenten nisteten. Vom Meer her zog leichter Nebel auf und ließ alle Konturen verschwimmen, so daß man glauben konnte, sich in einer Traumwelt zu bewegen. Der Ford bog auf einen Weg ab, der von einigen Fichten eingesäumt wurde. Dahinter stand ein einsames Farmhaus an der Mündung des Bachs. Das Haus lag unter Buchen am Rand des Wassers: ein altes Gebäude aus grauen Steinen mit einer großen Scheune und einer -43-
Mauer um den Hof. Erst als sie näher herankamen, sah Rogan, wie verwahrlost alles war. Zwischen den Pflastersteinen, auf denen der Ford zum Stehen kam, wuchs Gras. Hannah Costello stellte den Motor ab und verzog das Gesicht. »Nicht gerade ein Palast, was? Im Lauf der Zeit hat das Meer die Weideflächen erodiert. Man müßte schon Jäger und Fischer sein, um hier leben zu können. Die Hausverwalter haben es uns gern für ein Jahr vermietet.« Rogan runzelte die Stirn. »Für so lange?« »Eine kürzere Mietdauer wäre verdächtig gewesen.« Sie zögerte, bevor sie Rogan fragte: »Wann hast du Colum O'More zuletzt gesehen?« »Vor zehn Jahren.« »Er hat sich sehr verändert. Nimm dich in acht, damit du dir nichts anmerken läßt. Das würde ihn kränken, glaube ich.« Bevor Rogan antworten konnte, wurde die Tür hinter ihm geöffnet. Er drehte sich rasch um. Dort stand ein Mann in gebückter Haltung, der sich schwer auf einen Stock stützte und wie ein alter Vogel den Kopf vorstreckte. »Sean«, sagte er mit heiserer Stimme. »Sean Rogan, bei allem, was heilig ist!« Der Schock war groß, aber Rogan beherrschte sich und ging mit ausgestreckter Hand auf O'More zu. »Colum, du alter Teufel. Wie lange haben wir uns schon nicht mehr gesehen!« Colum O'Mores Händedruck erinnerte einen Augenblick an frühere Zeiten, aber diese Illusion der Stärke hielt nicht lange an. Der Alte lachte humorlos. »Die Zeit ändert alles, nicht wahr, Sean? Mir hat sie einen Fußtritt verpaßt. Ich bin froh, daß sie dich etwas besser behandelt hat.« Er drehte sich um und humpelte durch den weißgestrichenen Flur davon. Rogan folgte ihm langsam. Ihm fiel auf, wie mager -44-
Colum O'More geworden war; der Anzug schlotterte um seinen Körper. Der Mann hatte sich völlig verändert. Das Wohnzimmer war einfach möbliert. Um den offenen Kamin standen einige Sessel auf einem Schilfteppich. Colum O'More ließ sich in einen Sessel fallen und sah zu Hannah hinüber. »Im Schrank stehen eine Flasche und Gläser, Mädchen, und erzähl mir nicht, daß ich keinen Alkohol trinken darf. Darum mache ich mir keine Sorgen mehr.« Rogan zog seinen Mantel aus und setzte sich ebenfalls. »Was ist passiert, Colum?« Der Alte zuckte mit den Schultern. »Ich büße jetzt für die Sünden der Vergangenheit. Aber spielt das eine Rolle?« Er schüttelte den Kopf. »Selbst nach sieben Jahren in einem englischen Gefängnis siehst du noch glänzend aus.« Hannah brachte zwei Gläser Whisky. Der Alte legte ihr einen Arm um die Taille. »Sie hat nur Glück, daß ich nicht dreißig Jahre jünger bin, Sean. Das Mädchen ist hundertprozentig in Ordnung.« Er lächelte zu Hannah auf. »Machst du ihm sein Frühstück, während wir miteinander reden?« Sie warf Rogan noch einen vielsagenden Blick zu, bevor sie den Raum verließ. O'More trank einen Schluck Whisky, seufzte zufrieden und begann sich seine Pfeife zu stopfen. »Du bist eben in den Nachrichten erwähnt worden. Inzwischen hat die Polizei bestimmt schon sämtliche Straßen abgeriegelt, die aus dem Moor herausführen, und du bist hier dreihundertfünfzig Meilen weit entfernt, wo dich niemand vermutet!« Rogan trank ihm zu. »Das verdanke ich dem Großen Mann.« »Die Organisation sorgt für ihre Leute«, sagte Colum O'More. »Das hat einige Zeit gedauert, aber dafür kann ich nichts.« Nach einer kurzen Pause fragte Rogan: »Wie komme ich von hier aus am schnellsten nach Kerry, Colum?« -45-
»Siehst du, darüber wollte ich eben mit dir sprechen, Sean.« Rogan spürte wieder etwas unter der Oberfläche, das er schon nicht verstanden hatte, als Soames bei ihm im Gefängnis war. Er zündete sich eine Zigarette an. »Wir kennen uns lange genug, um auf Vorreden verzichten zu können, Colum. Sag also, was du zu sagen hast.« Der Alte zuckte mit den Schultern. »Das ist rasch erzählt. Wir haben einen Job für dich.« »Wir?« »Die Organisation.« »Ich dachte, sie sei aufgelöst worden, als der Krieg an der Grenze eingestellt wurde.« Colum O'More lachte. »Ein Märchen für Narren und alte Weiber, aber wir haben es nicht leicht gehabt, Sean. Wir reorganisieren in großem Maßstab, und dazu brauchen wir Geld.« »Wo wollt ihr es herbekommen?« Der Alte stand auf und holte eine große Karte, die er auf dem Boden ausbreitete. Sie zeigte den Lake District. Colum O'More benützte seinen Stock als Zeigestab. »Der Postzug von Glasgow nach London fährt durch Carlisle und Penrith. Aber nicht durch Kendal. Von dort aus gibt es eine Nebenbahn, die in Rigg Station Anschluß an die Hauptstrecke hat.« »Und?« »Jeden Freitag schickt die Central Banks Association einen gepanzerten Geldtransport von Penrith aus auf eine Rundfahrt durch den Lake District und die Küste entlang. Dort hält er in Keswick, Whitehaven, Seascale und so weiter. Von Broughton aus, das du bereits kennst, fährt er nach Ambleside und über Windermere nach Kendal hinunter. Um drei Uhr nachmittags erreicht er Rigg Station, wo der Schnellzug nach London hält.« -46-
»Was transportiert der Wagen?« »Die üblichen Kassenüberschüsse vom Wochenende, hauptsächlich alte Scheine, die eingezogen werden sollen. Du weißt ja, wie die Banken sind. Sie wollen das Geld nicht in ihren Filialen herumliegen lassen. Meistens über eine Viertelmillion.« »Nicht schlecht!« »Die Organisation könnte das Geld brauchen.« Rogan lachte sarkastisch. »Hast du mir deshalb nach sieben Jahren zur Flucht verhelfen, Colum?« »Du bist unser klügster Kopf«, stellte O'More gelassen fest. »Du kannst organisieren. Wir brauchen dich.« »Und wo wäre ich, wenn ihr ohne mich ausgekommen wärt?« wollte Rogan wissen. »Es war nicht leicht, dich herauszuholen, mein Junge. Das hat nicht nur Geld gekostet. Ich zähle auf dich.« »Dann muß ich dich leider enttäuschen!« Rogan schüttelte den Kopf. »Ich habe die Nase voll, Colum, begreifst du das nicht? Von meinen vierzig Jahren habe ich zwölf im Gefängnis verbracht. Ich will nichts mehr mit der Organisation zu tun haben.« Der Alte nickte. »Was hast du vor?« »Du weißt selbst, daß in Kerry eine Farm auf mich wartet. Mein Vater wird allmählich alt, Colum, und ich werde es auch.« »Werden wir das nicht alle?« O'More seufzte. »Gut, wie du willst, Sean. Nördlich von hier liegt Ravenglass. Du brauchst dort nur nach Richard Clay zu fragen. Er bringt dich für hundert Pfund nach Irland.« Er holte ein Bündel Geldscheine aus der Tasche und zählte hundert Pfund ab, die er Rogan gab. »Alles Gute, Sean.« Rogan wog das Geld in der Hand. »Und du?« »Ich habe einen Job zu erledigen. Meine Männer warten darauf. Ich werde mich selbst um diese Sache kümmern.« -47-
Rogan starrte ihn sekundenlang an. Dann wandte er sich schweigend ab, öffnete die Tür und ging hinaus.
-48-
6 Die Flut kam heran und bedeckte das Wattenmeer mit einem silberglänzenden Spiegel. Rogan überquerte einen schmalen Steindamm und folgte dem Fußweg durch mannshohes Schilf. Er entschied sich impulsiv für einen nach rechts abzweigenden Pfad, bahnte sich einen Weg durch das Gestrüpp und stand plötzlich an einer Bucht. Am Ufer lag ein Kabinenboot. Als Rogan niemand sah, sprang er an Deck und ging ins Ruderhaus. Das Boot befand sich trotz seines Alters in gutem Zustand. Es schien erst kürzlich geputzt worden zu sein. Das Kompaßgehänge und andere Messingteile blitzten geradezu. Rogan hörte eine Bewegung an Deck hinter sich. Er drehte sich um und sah dort Hannah Costello stehen. Er verließ das Ruderhaus, und sie warf ihm seinen Trenchcoat zu. »Den kannst du bestimmt brauchen.« Rogan zog den Mantel an, schlug den Kragen hoch und zündete sich eine Zigarette an. »Ist das Colums Boot?« »Ja, er hat es selbst von Ravenglass hierher überführt.« »Will er damit verschwinden, sobald der Job erledigt ist?« Als Hannah nickte, fügte er hinzu: »Na, das geht mich nichts mehr an. Ich verschwinde jetzt.« »Daran hindert dich niemand.« Der bisherige Nieselregen wurde stärker, und die beiden zogen sich ins Ruderhaus zurück. Rogan warf dem hübschen Mädchen an seiner Seite einen neugierigen Blick zu. »Was hast du eigentlich mit dieser ganzen Sache zu tun, Hannah?« »Das ist schnell erklärt. Ich wohne bei meinem Onkel Paddy Costello in Scardale. Das liegt nördlich von Ambleside in den Hügeln. Mein Onkel hat dort oben eine Schaffarm, die in den -49-
letzten Zügen liegt. Er und mein Vater sind während des Krieges in Nordengland Mitglieder von O'Mores Organisation gewesen. Onkel Paddy hat vor einem halben Jahr von diesen Geldtransporten erfahren und sich mit Colum in Verbindung gesetzt.« »Warum hat er das getan?« »Weil er betrunken oder nüchtern - das ist er allerdings nicht oft - in einer Traumwelt lebt, in der es Heldentaten, Leidenschaften und eine schwärmerische Liebe zu unserer Heimat gibt. Er sieht sich noch immer als Helden, der für Irland weiterkämpft.« »Und ist das so schlimm?« »Das ist ein närrischer Traum«, antwortete Hannah energisch. »Ein dummer Traum. Ein Echo aus einer Zeit, die es nicht mehr gibt. Die Welt hat sich verändert und braucht keine Leute wie meinen Onkel mehr.« »Oder wie mich?« »Wem der Stiefel paßt, der zieht ihn sich an. Willst du von Ravenglass aus mit dem Boot weiterfahren?« »Ich wäre dumm, wenn ich das nicht täte!« Hannah starrte aufs Wasser hinaus. »Als kleines Mädchen in Liverpool habe ich viel von Sean Rogan gehört - von dem großen Sean Rogan. Mein Vater war von dir begeistert. Das hat er jedenfalls in allen Bars behauptet.« Sie machte eine Pause. »Nach dem Tod meiner Mutter ist er zu einem richtigen Säufer geworden.« »Das kommt vor«, meinte Rogan. »Bedauerlich.« »Eigentlich seltsam, daß sich jemand auf diese Weise selbst zerstören kann«, murmelte sie. »Er hat selbst meine Liebe zu ihm zerstört. Ich habe ihn später nicht gehaßt, aber er war mir gleichgültig. Als er dann angefangen hat, unsere Zimmer zu verwechseln, wenn er betrunken nach Hause kam, wollte ich -50-
fort. Er ist ein Jahr danach gestorben.« »Was hast du gemacht?« »Was jedes Mädchen in meiner Lage tut - ich bin nach London gezogen.« »Wie alt warst du?« »Erst sechzehn, aber das hat sich als Vorteil erwiesen. Mädchen in diesem Alter üben auf manche Männer eine starke Anziehungskraft aus.« »Ja, ich weiß«, stimmte Rogan ernsthaft zu. »Ich habe einen Job als Serviererin angenommen, aber davon konnte ich nicht leben. Dann hat mir ein Gast einen Job in seinem Club angeboten. Ich war schon immer eine gute Tänzerin.« Sie lächelte gelassen. »Die Kirche hat eigentlich recht, wenn sie von der Bedeutung kleiner Sünden spricht. Es ist erstaunlich, wie rasch man etwas werden kann, das man sich nie hätte vorstellen können.« »Das klingt nicht gut.« »Es kommt noch schlimmer. Eines Tages wurde der Chef verhaftet, weil er mehrere Gäste erpreßt hatte. Er hat drei von uns mit hineingerissen.« »Was hast du dafür bekommen?« »Sechs Monate. Nach der Entlassung habe ich an Onkel Paddy geschrieben. Seine Frau war gestorben, und er brauchte eine Haushälterin. Sein Sohn Brendan ist jetzt siebzehn. Er hat als kleiner Junge Gehirnhautentzündung gehabt.« Sie tippte mit dem Zeigefinger an ihre Stirn. »Jemand muß sich um ihn kümmern.« »Und jetzt steckst du bis zum Hals in dieser Sache? Warum verschwindest du nicht einfach?« Hannah zuckte mit den Schultern. »Warum tut man überhaupt irgend etwas? Weil man wie in einem Netz gefangen ist, glaube ich. Man kann sich drehen und wenden wie man will, man -51-
kommt doch nicht frei.« Sie sah zu ihm auf. »So kenne ich das Leben. Als unsichtbares Netz, in dem ich gefangen bin.« Ihre graugrünen Augen beobachteten ihn erwartungsvoll, als hoffe sie, daß er etwas sagen oder vielleicht sogar irgendeinen Ausweg vorschlagen würde. Aber er konnte ihr nicht helfen. »Ich habe mein Leben lang versucht, aus etwas auszubrechen, und bin jetzt vierzig.« Sie nickte langsam. »Ich glaube, daß du dich zu sehr von alten Bindungen halten läßt.« Rogan zuckte mit den Schultern und wechselte das Thema. »Welche Organisation hat Colum in den Bergen aufgebaut?« »In Scardale? Er hat zwei Ganoven aus Manchester angeheuert. Berufsverbrecher. Die beiden sind schon eine Woche dort.« »Was für Leute sind das?« »Sie bahnen sich ihren Weg mit Gewalt, sie decken ihren Rückzug mit Gewalt, und Gott schütze alle, die ihnen in den Weg kommen. Du kennst doch diesen Typ. Aber nur einer von ihnen ist wirklich gefährlich. Morgan, Harry Morgan. Er ist nicht dumm. Fletcher ist nur sein Werkzeug.« »Nette Leute, mit denen Colum O'More sich abgibt.« Sie zuckte mit den Schultern. »Für einen Job dieser Art braucht man Fachleute, und das sind Morgan und Fletcher.« »Wie hat er Verbindung zu ihnen bekommen?« »Soames hat sie aufgetrieben, glaube ich.« »Kennst du ihn?« Hannah schüttelte den Kopf. »Nur Colum hat einmal mit ihm gesprochen. Das war in Liverpool. Seitdem haben wir eine Deckadresse benützt, eine kleine Anzeigenannahme in Kendal. Ich habe die Briefe immer selbst abgeholt.« »Soames weiß also nichts von diesem Haus?« -52-
»Marsh-End?« Sie schüttelte wieder den Kopf. »Selbst mein Onkel ist noch nicht hier gewesen. Morgan hat mehrmals versucht, mir zu folgen, aber ich habe ihn jedesmal abgeschüttelt.« »Jack Pope hat mich erwartet«, sagte Rogan. »Welche Rolle spielt er?« »Soviel ich weiß, ist er dafür bezahlt worden, daß er einmal für O'More arbeitete. Aber damit war die Sache erledigt. Soames hat die Verhandlungen übernommen.« »Wieviel hat Soames bekommen?« »Fünfhundert und seine Spesen.« Rogan schüttelte den Kopf. »Das genügt ihm bestimmt nicht. Er will wahrscheinlich mehr.« Sie runzelte die Stirn. »Wie sollte er zu mehr Geld kommen?« »Das weiß ich nicht, aber er und Pope haben etwas vor, das Colum nur schaden kann.« Rogan nickte ihr zu. »Komm, wir müssen zurück.« Hannah hielt ihn am Ärmel fest. »Was hast du vor?« »Colum ist ein alter Mann«, erklärte ihr Rogan. »Ich kann nicht zusehen, wie er seinen Kopf in die Schlinge steckt.« Er wandte sich ab, kletterte über die Reling und ging auf dem nassen Pfad zur Farm zurück. Colum O'More saß im Wohnzimmer und hatte eine große Karte vor sich auf dem Tisch ausgebreitet. Er drehte sich nicht um, als die Tür hinter ihm geöffnet wurde. Rogan kam heran und setzte sich auf die Tischkante. Er sah mit gerunzelter Stirn auf die Karte hinab. »Etwas verstehe ich nicht, Colum. Warum gerade du? Wo sind die jungen und aktiven Mitglieder? Zu Hause im Bett?« Der Alte zuckte mit den Schultern. »Ich habe von diesen -53-
Geldtransporten von einem alten Kameraden erfahren - Paddy Costello, Hannahs Onkel.« »Ja, ich weiß.« »Ich habe den Fall im Hauptquartier in Waterford vorgetragen. Aber dort wollte niemand etwas davon wissen. Angeblich ist die Sache zu riskant.« O'More grinste sarkastisch. »Ich wollte den anderen zeigen, daß sie mich noch nicht abschreiben dürfen.« »Woher stammt das Geld, das du für meine Befreiung ausgegeben hast?« wollte Rogan wissen. »Ist das wichtig?« »Vielleicht.« Colum O'More zuckte mit den Schultern. »Ich habe meine Ersparnisse angegriffen und eine Hypothek auf mein Haus in Lismore aufgenommen« Rogan schüttelte den Kopf. »Alte Narren sind eben die schlimmsten.« »Keine Angst, diesmal bekomme ich meine Auslagen bestimmt zurück!« »Nein, das ist aussichtslos, Colum«, widersprach Rogan. »Du bist schon zu alt.« O'More wurde kreidebleich. Seine Augen blitzten. Er hob seinen Stock, als wolle er damit nach Rogan schlagen. Aber dann sackte er mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammen. Rogan sprang auf, um ihn zu stützen, bevor Colum vom Stuhl fiel. Er hörte einen leisen Aufschrei. Hannah kam herein. »Am besten legen wir ihn aufs Bett.« Das Schlafzimmer lag im Erdgeschoß nach hinten hinaus. Rogan trug den Alten zu seinem Bett, zog ihm die Jacke aus und lockerte seinen Kragen. Colum O'More sank seufzend zurück. Rogan deckte ihn zu. -54-
Dann ging er mit Hannah zur Tür. »Hast du ihn schon einmal so erlebt?« Sie nickte. »Einmal. Er hatte einen ähnlichen Anfall gehabt. Aber nach einer halben Stunde war er wieder auf den Beinen.« Rogan hörte ein leises Lachen hinter sich. Als er sich umdrehte, beobachtete O'More ihn aus halbgeschlossenen Augen. »Ich habe das Urteil schon vor einem Vierteljahr vom besten Arzt Dublins gehört, mein Junge. Noch zwei, drei Jahre, dann ist's mit mir zu Ende.« Rogan kehrte an das Bett zurück. »Können wir noch etwas für dich tun?« »Nein, danke. In einer halben Stunde fehlt mir nichts mehr. Ich kenne diese Anfälle.« »Ausgezeichnet«, sagte Rogan. »Ruh dich gut aus und mach dir keine Sorgen.« Als er die Tür schloß, starrte ihn Hannah an. »Warum...? Das verstehe ich nicht!« Er hätte ihr antworten können, daß er es nicht übers Herz brachte, einen alten Mann zu enttäuschen, der stolz sagen konnte, noch nie einen Freund im Stich gelassen zu haben. Aber er spürte, daß diese Antwort nicht ausreichte, um seine Entscheidung zu erklären. Deshalb wechselte er lieber das Thema. »Machst du ihm eine Tasse Tee mit Whisky?« fragte er Hannah. »Ich bleibe dann bei ihm.« Er schob sie in Richtung Küche, drehte sich um und betrat wieder das Schlafzimmer. Er setzte sich auf die Bettkante und zündete sich eine Zigarette an. »Ich muß alles wissen, Colum«, sagte er zu O'More. »Namen, Orte, wer was wann tut.« »Machst du doch mit, Sean?« meinte der Alte erleichtert. »Übernimmst du die Organisation?« -55-
»Ich befasse mich damit«, antwortete Rogan. »Ich fahre zu Costello und sehe mir die Sache an. Mehr kann ich nicht versprechen.« Colum O'More atmete tief aus. »Das genügt mir!«
-56-
7 Harry Morgan wachte auf und starrte die Zimmerdecke an, von der die Farbe abblätterte. Mit etwas Phantasie sah man dort oben eine Karte von London. Er dachte wehmütig an die kleine Bar in der Dean Street in Soho zurück, in der er früher oft gewesen war. Und die junge Griechin, der die Bar gehört hatte ... Seine Kehle war trocken. Er hatte einen schlechten Geschmack im Mund. Er tastete unter dem Bett nach der Flasche, fand sie leer und ließ sie mit einem Fluch fallen. Dann stand er auf: ein magerer Mann mit rotbraunem Haar, dunklen Augen und einem schmalen Mund, der stets spöttisch zu lächeln schien. Er zog sich einen alten Pullover über und ging zur Tür. In diesem Augenblick schrie jemand im Flur wütend auf. Als Morgan aus seinem Zimmer trat, stolperte Costellos schwachsinniger Sohn mit vor Angst weit aufgerissenem Mund gegen ihn. Und Fletcher war ihm dicht auf den Fersen. Fletcher, ein muskulöser, grobschlächtiger Kerl, wollte nach dem Jungen greifen, aber Morgan hinderte ihn daran. »He, was soll das?« »Das Schwein hat mir alle Kippen geklaut! Ich hatte drei Packungen unter dem Kopfkissen. Jetzt sind sie weg!« »Du hast sie gestern abend beim Pokern an mich verloren«, behauptete Morgan. »Du warst nur zu betrunken, um dir das zu merken.« »Das sagst du jetzt!« Fletcher stieß Morgan zur Seite und griff nach dem Jungen, der vor ihm durch die Tür am Ende des Korridors fliehen wollte. Was dann geschah, ereignete sich so rasch, daß Fletcher sich später nicht mehr genau an den Ablauf erinnern konnte. -57-
Eben griff er noch nach dem Jungen. Im nächsten Augenblick stolperte er durch die Tür in den gepflasterten Hof hinaus. Als er sich aufraffen wollte, spürte er einen Fuß im Nacken. Sowie er sich zu befreien versuchte, wurde der Druck stärker. Dann ließ er plötzlich ganz nach, so daß Fletcher sich umdrehen konnte. Er sah einen großgewachsenen Mann über sich stehen. Fletcher hatte noch nie Angst gehabt und empfand auch jetzt keine. Aber sein Instinkt warnte ihn vor diesem Mann, der bestimmt zu kämpfen verstand. »Steh auf!« befahl Sean Rogan ihm. Hannah Costello stand neben dem Ford und hatte dem Jungen einen Arm um die Schultern gelegt. Morgan lachte darüber. Er trat vor, als Fletcher auf die Beine kam. »Ich bin Harry Morgan, Mr. Rogan, und dieser Neandertaler ist Jesse Fletcher. Sie müssen seine schlechten Manieren entschuldigen. Er hat leider ein bißchen wenig Gehirn mitbekommen.« »Eines Tages stopfe ich dir noch das Maul!« drohte Fletcher und hinkte ins Haus. »Wo ist mein Onkel?« wollte Hannah wissen. »Er ist nach Ambleside gefahren, um einzukaufen. Es würde mich wundern, wenn er zurückkäme, bevor die Pubs schließen.« Morgan trat spöttisch grinsend zur Seite, und Rogan ging an ihm vorbei ins Haus. Als er in das geräumige Wohnzimmer kam, hockte Fletcher dort mit einer Flasche und einem Glas am Fenster. »Wo ist der Junge?« fragte Rogan, als Hannah und Morgan hereinkamen. »Irgendwo in den Hügeln«, antwortete sie. »Er kommt oft erst abends zurück.« »Wie steht es mit Betten?« »Oben stehen zwei. Ich schlafe in einem. Mein Onkel und Brendan teilen sich das andere.« -58-
»Jesse und ich sind drüben auf der anderen Seite«, warf Morgan ein. »Sollen wir vielleicht ausziehen?« knurrte Fletcher. Rogan erwiderte seinen Blick gelassen. »Ob ihr das müßt, erfahrt ihr rechtzeitig.« Er ließ Morgan stehen und ging mit Hannah in die Küche. Fletcher leerte sein Glas mit einem Fluch. »Der große Sean Rogan ... daß ich nicht lache! Nur ein großer Bauernlümmel. Ein richtiger Schlag, und schon platzt er aus den Nähten.« »Warum sagst du ihm das nicht selbst, Jesse?« »Das kommt vielleicht noch.« Morgan grinste. »Rufst du mich rechtzeitig? Das möchte ich erleben!« Rogan setzte sich auf den Rand des Küchentisches und zündete sich eine Zigarette an. Hannah zog ihren Mantel aus. »Rührei mit Schinken?« »Gern«, antwortete er und trat ans Fenster. Der Wind riß das letzte Herbstlaub von den Birken am Haus. Rogan betrachtete die mit Heidekraut bewachsenen Hügel und die Berge dahinter. »Kommen oft Fremde hierher?« erkundigte er sich. »Nur manchmal Bergsteiger oder Wanderer, aber meistens im Frühjahr oder Sommer. Die Straße hört ein paar hundert Meter hinter dem Haus auf. Vor hundertfünfzig Jahren hat es hier noch ein Bleibergwerk gegeben, das jetzt aufgelassen ist. Brendan kann dir den alten Stollen zeigen, wenn du willst.« »Er hat einen ganz netten Eindruck gemacht.« Hannah nickte. »Er ist nur ein bißchen langsamer als andere Leute. Onkel Paddy behandelt ihn wie einen Hund. Das schadet ihm natürlich.« Sie machte eine Pause. »Was hältst du von den beiden dort drinnen?« -59-
»Fletcher ist nur ein zweitklassiger Gauner. Ein nützlicher Mann, wenn es zu einem Kampf kommt. Morgan ist gefährlicher. Er scheint intelligent zu sein.« »Fletcher ist aus Dummheit zum Verbrecher geworden«, behauptete Hannah. »Aber Morgan hat Spaß daran, schlecht zu sein. Nimm dich vor ihm in acht, Sean. Er hetzt mit Vorliebe Leute gegeneinander auf und freut sich, wenn es Streit gibt.« »Dabei kann man sich gewaltig die Finger verbrennen«, meinte Rogan. »Das müßte man ihm sagen.« Sie stellte ihm seinen Teller auf den Küchentisch und beobachtete zufrieden, wie er die doppelte Portion verschlang. »Das hast du gebraucht«, stellte sie fest, als er den leeren Teller fortschob. Rogan lächelte. »Ich war nicht einmal sehr hungrig - aber das war ein symbolisches Mahl. Das Essen im Gefängnis ist nicht schlecht. Aber hier draußen schmeckt alles anders.« Sie saßen am Küchentisch und rauchten, als Morgan hereinkam. Er schenkte sich eine Tasse Tee ein und lehnte sich gegen den Küchenschrank. »Wie geht's O'More?« »Gut«, antwortete Rogan. Morgan lachte. »Das können Sie mir nicht erzählen! Als Jesse und ich ihn vor ein paar Wochen in Manchester kennengelernt haben, war er verdammt klapprig.« »Und?« »Wie ich die Sache sehe, hat er ausgespielt. Diesen Job kann nur ein starker Mann organisieren.« »Ich weiß«, entgegnete Rogan. »Deshalb bin ich hier.« »Wer sagt das?« Jesse Fletcher erschien an der Tür. Sein häßliches Gesicht war zornrot. »Wer sagt, daß wir Sie brauchen? Vielleicht haben Morgan und ich andere Absichten.« »O'More hat mir erzählt, daß Sie je fünftausend für Ihre Arbeit bekommen. Stimmt das?« -60-
»Das steht in unserem Vertrag«, gab Morgan zu. »Dann sagen Sie dem anderen Arbeiter, daß er seine große Klappe halten soll.« Fletcher wollte auf Rogan losgehen, aber Morgan sagte rasch: »Immer mit der Ruhe, Jesse!« Er wandte sich schulterzuckend an Rogan. »Jesse braust leicht auf. Das ist in unserer Lage verständlich, denn wir haben O'More seit dem Treffen in Manchester nicht mehr gesehen. Hannah ist unsere einzige Verbindung mit ihm. Selbst ihr Onkel weiß nicht, wo O'More steckt.« »Er ist eben vorsichtig«, gab Rogan zu. »Aber das schadet nichts. Sie bekommen ihn noch früh genug zu sehen.« Er stand auf. »Wie sieht Ihr Plan aus?« »Ich habe eine Karte im Wohnzimmer«, antwortete Morgan. »Am besten sehen wir sie uns gleich an.« Im Wohnzimmer war es dunkel, obwohl der Regen nachgelassen hatte. Hannah zündete eine Petroleumlampe an und stellte sie auf den alten Mahagonitisch. Morgan breitete darauf eine große Landkarte aus. »Hier ist Scardale«, sagte er. »Fünf Meilen nördlich von Ambleside unterhalb von Scardale Fell. Von Ambleside nach Windermere sind es reichlich vier Meilen. Dann geht es geradeaus nach Kendal weiter. Rigg Station liegt fünf Meilen südlicher.« »Also insgesamt fünfundzwanzig Meilen.« »Richtig. Rigg ist nur ein kleiner Bahnhof. In der Urlaubszeit herrscht dort Hochbetrieb, aber jetzt ist er wie ausgestorben.« »Wie steht es mit dem Postzug am Freitagnachmittag? Kann man in Rigg zusteigen?« Morgan schüttelte den Kopf. »Rigg ist keine Schnellzugstation mehr wie früher. Auch der Bahnhofsvorsteher wohnt nicht mehr dort, sondern kommt jeden Tag aus Kendal.« -61-
»Was ist mit dem Geldtransportwagen? Soviel ich von Colum gehört habe, muß er eine harte Nuß sein.« »Nur ein großer Stahlkasten auf Rädern, wie er heutzutage üblich ist. Der Fahrer hat Sprechfunkverbindung mit der County Police. Er meldet sich alle halbe Stunde.« »Wo ist die schwache Stelle? Rigg Station?« »Nein«, antwortete Morgan. »Der Wagen kommt meistens erst fünf Minuten vor Abfahrt des Zuges an. Er wird rückwärts an die Laderampe gefahren und bleibt dort stehen, bis der Zug hält.« »Wissen Sie das bestimmt?« »Fragen Sie Hannah. Sie hat am letzten Freitag in Bahnhofsnähe gewartet, und in der Woche zuvor haben Fletcher und ich alles von einem Hügel aus mit dem Fernglas beobachtet. Dort ist nichts zu holen. Wir hätten nicht genug Zeit. Außerdem sind die Züge seit dem großen Postraub mit Sprechfunkgeräten ausgerüstet.« »Ein schwieriger Fall.« Morgan nickte. »Der Alte scheint geglaubt zu haben, wir könnten den Wagen zwischen Kendal und Rigg anhalten und ausrauben. Aber das zeigt nur, wie weit er hinter der Zeit herhinkt.« »Haben Sie eine bessere Idee?« Fletcher lachte stolz. »Die beste, die Sie sich vorstellen können, Rogan. Los, erzähl's ihm, Harry!« »Wir haben draußen in der Scheune einen alten Lastwagen stehen«, fuhr Morgan fort. »Wie ich die Sache sehe, müssen wir versuchen, die beiden Wächter aus ihrem Wagen zu locken zum Beispiel durch einen schweren Unfall.« »Sie wollen einen vortäuschen?« »Richtig. Wir wissen eine gute Stelle, die zwei Meilen von Rigg Station entfernt ist. Dort kippen wir den alten Lastwagen -62-
um und zünden ihn an. Vielleicht legt sich auch einer von uns als Verletzter auf die Straße. Dann halten sie bestimmt. Daran kann niemand vorbeifahren.« »Und dann treten die anderen in Aktion, was?« Morgan nickte. »Ganz einfach, nicht wahr?« »Zu einfach«, entschied Rogan. »Haben Sie vielleicht einen besseren Vorschlag?« erkundigte sich Fletcher. »Noch nicht«, antwortete Rogan, »aber er kann jedenfalls nicht schlechter sein.« Er wandte sich an den sichtlich wütenden Morgan. »Ihr Plan hat zwei große Fehler. Erstens benachrichtigen die Wächter sofort die County Police, sobald sie den angeblichen Unfall sehen. Innerhalb der nächsten fünf Minuten fährt dann ein Streifenwagen von Kendal aus los, und die Polizei erwartet einen weiteren Funkspruch, sobald der Unfall untersucht worden ist. Sonst leitet sie nämlich sofort eine Großfahndung ein.« Morgan und Fletcher schwiegen betroffen. »Der zweite Punkt ist nicht weniger wichtig«, erklärte ihnen Rogan. »Nehmen wir einmal an, die Wächter hätten in der Aufregung vergessen, die Polizei zu benachrichtigen. Was passiert dann in Rigg Station, wenn der Wagen nicht kommt?. Sie haben selbst gesagt, daß alle Postzüge jetzt mit Sprechfunk ausgerüstet sind. Folglich würde die Polizei von dort aus alarmiert. Und dann beginnt die gleiche Großfahndung, für die es bestimmt schon einen Alarmplan gibt.« Als Hannah leise lachte, drehte sich Fletcher wütend nach ihr um. »Halt gefälligst die Klappe!« Morgan legte ihm eine Hand auf den Arm. »Nein, er hat recht, Jesse.« Er sah zu Rogan hinüber. »Haben Sie einen besseren Vorschlag?« »Es gibt immer bessere Möglichkeiten, wenn man sie nur -63-
findet«, antwortet Rogan. »Ich muß mich morgen früh erst einmal umsehen.« In diesem Augenblick rollte ein alter Lastwagen mit hohen Bordwänden durchs Tor in den Hof, streifte es mit einem bereits verbeulten Kotflügel und kam erst dicht vor dem Haus zum Stehen. Dann öffnete sich die Tür, und ein alter Mann fiel fast hinaus. Als er schwankend am Fenster vorbeiging, schüttelte Morgan angewidert den Kopf. »Er war bestimmt wieder in jeder Kneipe von Ambleside, hat die Klappe aufgerissen und massenhaft Geld ausgegeben.« »Das geht euch nichts an«, stellte Hannah aufgebracht fest. Dann erschien Paddy Costello an der Tür. Sein rotes Gesicht war zu einem blöden Grinsen verzogen. »Gott segne euch alle!« rief er aus. Die anderen schwiegen, bis Rogan gelassen antwortete: »Gott segne Sie.« Der Alte starrte ihn an. Sein Unterkiefer hing herunter. »Heilige Muttergottes«, flüsterte er schließlich. Er stolperte auf Rogan zu und griff nach seiner Hand. »Das ist ein großer Tag für mich, Mr. Rogan. Der größte Tag überhaupt!« Seine wäßrigen Augen blinzelten mehrmals, und Rogan verzog das Gesicht, als er die Bierfahne des Alten roch. »Sie waren in Ambleside?« »Ja, Mr. Rogan. Ich war geschäftlich dort - wegen der Farm, wissen Sie.« »Haben Sie etwas über mich gehört?« Der Alte holte eine zusammengefaltete Abendzeitung aus der Tasche und gab sie Rogan. »Unten auf der zweiten Seite steht etwas.« Die Meldung war kaum ein halbes Dutzend Zeilen lang. Rogans Flucht und die eingeleitete Fahndung wurden knapp -64-
geschildert. Die Zeitung brachte kein Foto. Rogan warf die Zeitung auf den Tisch und wandte sich wieder an Costello. »Sie fahren weder nach Ambleside noch sonstwohin, ohne meine Erlaubnis einzuholen. Verstanden?« »Selbstverständlich, Mr. Rogan.« »Und das gilt auch für alle anderen.« Er verließ den Raum, trat ins Freie und blieb bei dem Lastwagen stehen. Von dort aus konnte er das ganze Tal in Richtung Ambleside übersehen. In der Ferne glitzerte der Lake Windermere wie Silber in der Abenddämmerung. Rechts und links stiegen die Berge steil an. Rogan hörte Schritte hinter sich, drehte sich um und sah Fletcher und Morgan an der Tür stehen. »Die Straße hört talaufwärts nach einigen hundert Metern einfach auf?« fragte er sie. Morgan nickte. »Dort oben stehen ein paar zerfallene Hütten am Eingang eines alten Bleibergwerks. Ich bin erst einmal hinaufgegangen. Dort ist es mir zu unheimlich.« Rogan verfolgte die staubige Landstraße talabwärts. »Nur ein einziger Weg, das klingt nicht gerade günstig.« »Allerdings!« stimmte Fletcher zu. »Ein halbes Dutzend Polypen mit zwei oder drei Wagen können die ganze Straße sperren. Dann sitzen wir hier in der Falle. Weiß der Teufel, warum O'More dieses Versteck ausgesucht hat!« »Weil ihr anderswo sofort aufgefallen wärt«, erklärte ihm Rogan und ging quer über den Hof ans Tor. Die beiden Männer sahen ihm nach, als er die Straße talaufwärts ging. Fletcher spuckte aus. »Verdammt noch mal, wie gern ich diesem Kerl zeigen würde, mit wem er es zu tun hat!« »Laß das, Jesse«, forderte Morgan ihn auf. »Wir haben wichtigere Probleme.« Sie gingen ins Wohnzimmer zurück, wo Costello mit einem -65-
Glas Whisky in der Hand am Kamin saß. »Wo ist das Mädchen?« fragte Morgan. »Hannah macht mir in der Küche ein Sandwich.« »Hast du mit Pope gesprochen?« Der Alte nickte. »Er wohnt in einem kleinen Hotel außerhalb von Ambleside -›The White Grange‹. Ich habe ihm gesagt, daß du ihn morgen anrufen wirst.« »Und wie soll ich das können?« »Unten an der Kreuzung,, wo unser Weg von der Hauptstraße abzweigt, steht eine Telefonzelle.« Morgan setzte sich auf die Tischkante, runzelte die Stirn und sah auf die Landkarte hinab. »Ich möchte nur wissen, was Rogan vorhat.« »Das weiß er selbst erst, wenn er sich umgesehen hat«, meinte Fletcher. Morgan schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich. Rogan hat es nämlich hier hoben.« Er tippte sich gegen die Stirn. »Er weiß schon etwas, das habe ich gemerkt.« »Dann muß er es uns auch erzählen«, warf Costello ein. »Schließlich kann er das Ding nicht allein drehen.« Er trank einen Schluck, kicherte blöde und ließ dabei etwas Whisky aus den Mundwinkeln laufen. Morgan packte ihn am Hemd und schüttelte ihn durch. »Laß gefälligst die Sauferei, Dad. Du machst mich nervös. Denk lieber daran, daß wir alle im gleichen Boot sitzen. Und Rogan ist kein Dummkopf. Er darf nicht merken, wohin der Hase läuft, und ich habe keine Lust, mindestens fünfzigtausend Pfund einzubüßen, nur weil ein alter Säufer wie du sich nicht ein bißchen zusammenreißen kann.« Er spürte einen schwachen Luftzug und drehte sich um. Hannah stand hinter ihm. Ihr Gesicht war ausdruckslos, als sie ihr Tablett auf den Tisch stellte. »Wenn du weiter so herumschleichst, müssen wir dir eine -66-
Glocke umhängen«, drohte ihr Morgan. Sie ignorierte ihn und wandte sich an ihren Onkel. »Kaffee und Sandwiches. Wenn du mehr willst, mußt du sie dir selbst machen.« Sie verließ den Raum und ging kurz darauf über den Hof zum Tor. »Glaubt ihr, daß sie etwas gehört hat?« fragte Fletcher. Morgan runzelte die Stirn. »Jedenfalls müssen wir sie im Auge behalten. Mir gefällt nicht, wie sie den großen Kerl anhimmelt.« »Unsinn!« widersprach Fletcher. »Er ist doch doppelt so alt wie sie.« Morgan schüttelte mitleidig den Kopf. »Ist das etwa dein Ernst, Jesse? Manchmal überraschst du mich wirklich, weißt du.« Er drehte sich um, schlug nach Costellos Hand, als der Alte sich ein Sandwich nehmen wollte, und fiel selbst darüber her. Rogan saß auf dem Hügel hinter der Farm und zündete sich eine Zigarette an. In der Ferne lag der Lake Windermere zwischen den Hügeln. Sein Wasser schimmerte jetzt in der Mitte, wo es am tiefsten war, schwarz und an den Rändern purpurrot und grau. Die untergehende Sonne beleuchtete die Berggipfel orangerot. Er genoß diesen herrlichen Anblick, atmete den zarten Duft des regenfeuchten Heidekrauts ein und war in Gedanken versunken, als er eine Stimme hinter sich hörte. »Eine schöne Aussicht, nicht wahr?« fragte Hannah Costello. Er drehte sich nach ihr um. Sie stand kaum fünf Meter hinter ihm. »Ich habe dich nicht gehört«, gab er zu. »Anscheinend werde ich schon alt.« Er bot Hannah eine Zigarette an, und als sie sich über das Streichholz zwischen seinen Händen beugte, warf er einen Blick -67-
in ihre unergründlichen Augen, in denen ein Mann ertrinken konnte. Sie ließ sich neben ihm auf einem Felsbrocken nieder und rauchte zunächst schweigend. »Dort unten geht irgend etwas vor«, stellte sie dann fest. »Zwischen Morgan und Fletcher?« »Mein Onkel hat auch etwas damit zu tun. Die drei haben sich gestritten. Das habe ich vom Flur aus gehört. Es ging um diesen Pope, der auf dich gewartet hat, als du ausgebrochen bist. Er ist jetzt in Ambleside.« Als Rogan nickte, runzelte sie die Stirn. »Überrascht dich das nicht?« »Nein.« Er erzählte ihr von Jack Pope und Soames, die er beobachtet hatte, als sie glaubten, er sei bereits unterwegs. »Was haben sie noch gesagt?« »Morgan soll ihn morgen von der Telefonzelle an der großen Straße aus anrufen. Ich nehme an, daß er damit wartet, bis du gesagt hast, was du von dem Job hältst.« »Ja, das kann ich mir vorstellen.« »Noch etwas, Sean. Er hat von fünfzigtausend Pfund als Anteil gesprochen. Ich dachte, sie sollten jeder nur fünftausend bekommen.?« »Anscheinend will Morgan den Kuchen anders aufteilen.« »Macht dir das keine Sorgen? « »Keine Angst, damit werde ich schon fertig.« Er lächelte Hannah zu. »Aber es ist immerhin erfreulich, daß jemand auf meiner Seite steht.« Sie wurde rot und sah zum Himmel auf, wo jetzt schon der Abendstern erschien. Rogan blieb einige Minuten lang schweigend sitzen, bis Hannah fragte: »Woran denkst du?« »An Kerry«, antwortete er. »Ich habe dort eine Farm - oder mein Vater hat eine.« »Und du möchtest dorthin zurück?« -68-
»Es ist wunderschön in Kerry. Meer und Hügel, weiches Gras, warmer Regen, Fuchsien an den staubigen Hecken und die hübschesten Mädchen der Welt.« Er lachte leise. »Das hätte ich fast vergessen.« Er drehte sich nach Hannah um. Sie starrte ihn an, und er sah, daß sie Tränen in den Augen hatte. Er griff instinktiv nach ihrer Hand. »Du würdest dort ausgezeichnet hinpassen.« Sie warf ihm einen prüfenden Blick zu. Dann lächelte sie plötzlich, und ihr Gesicht schien von innen heraus zu leuchten. Rogan zog sie zu sich hoch und küßte sie leicht auf die geöffneten Lippen.
-69-
8 Der Morgen war kalt, aber es regnete nicht mehr, als Rogan hinter dem Haus am Zaun lehnte und zum wolkenverhangenen Scardale Fell hinaufsah. Er hatte die Nacht auf einem Feldbett in einer Kammer über dem Stall verbracht. Beim Frühstück war er mit Hannah und Brendan allein gewesen, weil die anderen noch schliefen. Jetzt wartete er gespannt und zufrieden darauf, daß Hannah den Wagen aus der Scheune fahren würde. Hinter ihm wurde die Haustür geöffnet. Paddy Costello rief wütend: »Hinaus mit dir, Trottel! Marsch, in die Hügel - und laß dich ja nicht ohne die Schafe blicken!« Brendan wich einem Fußtritt aus und rannte über den Hof. Als er an Rogan vorbeilief, warf er ihm einen ängstlichen Blick wie ein gehetztes Wild zu. Rogan hatte instinktiv Mitleid mit ihm. Der Junge verschwand, und Costello kam auf Rogan zu. Seine Augen waren blutunterlaufen, die Tränensäcke waren geschwollen und das Gesicht war aufgedunsen. Die runzlige Haut wirkte schmutzig. »Dieser Junge bringt mich noch ins Grab, Mr. Rogan.« Er stopfte sich das Hemd in die Hose. »Sie brechen aber früh auf ...« »Ich habe viel zu tun«, antwortete Rogan. »Sind Morgan und Fletcher noch im Bett?« Der Alte nickte. »Was ist von solchen Kerlen schon anderes zu erwarten, Mr. Rogan?« Ein Motor sprang an. Hannah kam mit dem Ford Kombi aus der Scheune. Rogan stieg ein, kurbelte das Fenster herunter und sah zu Costello hinaus. »Falls Sie heute mit dem Lastwagen oder dem alten Morris -70-
wegfahren wollten, müssen Sie sich das aus dem Kopf schlagen. Ich habe die Schlüssel mitgenommen. Richten Sie Morgan aus, daß ich nachmittags zurückkomme.« Als der Alte enttäuscht das Gesicht verzog, kurbelte Rogan das Fenster hoch und nickte Hannah zu. Sie löste die Handbremse und lenkte den Wagen durchs Tor auf die Straße hinaus, die talabwärts im leichten Nebel verschwand. Sie trug dunkelblaue Hosen und eine schwere Lammfelljacke und hatte ihr Haar mit einem roten Seidentuch zusammengebunden. Rogan beobachtete sie von der Seite her und stellte fest, daß er sie um so hübscher fand, je länger er sie kannte. Hannah schien zu erraten, was er dachte, denn sie lächelte, ohne den Blick von der Straße zu wenden, während sie eine scharfe Kurve durchfuhr. »Dein Onkel hat den Jungen hinausgejagt«, erzählte Rogan. »Er hat irgend etwas von Schafen gesagt.« Sie nickte. »Er verkauft in letzter Zeit immer fünf, sechs auf einmal. Sein Durst wird immer größer. Die Schafe weiden irgendwo auf den Hügeln. Sie sind oft nicht leicht zu finden.« »Müßte Brendan nicht einen Schäferhund haben?« »Er hat einen gehabt. Einen Collie namens Thrasher, für den er rührend gesorgt hat. Aber der Hund ist vor einigen Wochen in einen Bergwerksschacht gefallen und war sofort tot. Manche dieser Schächte sind über hundert Meter tief.« Rogan schwieg nachdenklich. Beim Frühstück hatte der Junge nicht viel gesagt, aber wenn er sprach, stotterte er ziemlich. Das konnte psychisch bedingt sein und wäre bei einem Vater wie Paddy Costello kein Wunder gewesen. »Du kannst meinen Onkel nicht leiden, was?« erkundigte sich Hannah. Rogan lachte spöttisch. »Das ist noch bescheiden -71-
ausgedrückt! Ich habe schon zu viele Leute wie ihn kennenlernt, weißt du. Ein großer Mann, wenn er beschwipst ist und das Maul aufreißt. Aber ich kann ihn mir vor einem Polizeiinspektor vorstellen wie er leichenblaß ist, nervös seine Mütze in den Händen dreht und alles erzählt, was er weiß. Mich würde nur interessieren, was Colum O'More an ihm findet.« »Nichts«, stellte Hannah fest. »Mein Onkel hat sich über einen alten Kameraden in Liverpool mit ihm in Verbindung gesetzt, und Colum ist einen Monat später unangemeldet bei ihm erschienen. Von Onkel Paddy war er nicht sehr begeistert. Er hat ihm eine Flasche Whisky eingeflößt, um ihn gesprächiger zu machen, und hat sich dann mit mir befaßt.« »Hast du ihn damals schon gekannt?« »Nein. Er hat mir erklärt, ihm sei es lieber, über einen Dritten mit Onkel Paddy und den anderen in Verbindung zu stehen. Er hat mir diesen Job angeboten.« »Und du hast angenommen.« »Weil Colum O'More mir eine große Chance geboten hat: zweitausend Pfund in bar und die Überfahrt nach Irland für Brendan und mich.« »Ist dir das wichtig?« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich kann nicht einfach weggehen und ihn zurücklassen. Onkel Paddy macht es nicht mehr lange, wenn er so weitertrinkt. Was würde dann aus Brendan?« »Du weißt also als einzige, wo Colum steckt? Das gefällt deinem Onkel bestimmt nicht.« Hannah nickte lächelnd. »Er hat schon mehrmals versucht, mir zu folgen. Morgan übrigens auch. Aber ich habe sie abgehängt.« »Du scheinst dich dabei ganz gut amüsiert zu haben«, stellte Rogan fest. -72-
Sie lächelte nicht mehr. »Was hätte ich sonst tun sollen? Ich wollte hier draußen leben. Folglich bin ich in diese Sache verwickelt worden, ob es mir Spaß machte oder nicht.« Von Ambleside aus fuhren sie am See entlang nach Windermere und folgten dann der Straße über Staveley nach Kendal. Der Verkehr war schwach, aber der Nebel wurde immer dichter. In Kendal regnete es sogar. Sie kamen rasch voran und ließen die Stadt hinter sich zurück. Hannah zeigte ihm die Stelle, wo das römische Fort Alavna gestanden hatte. »Die Römer sind nie nach Irland gekommen, nicht wahr?« »Dazu waren sie zu schlau«, antwortete Rogan und grinste breit. Sie beobachtete ihn und lächelte dann ebenfalls. »Eben hast du zum erstenmal richtig gelacht, Sean. Ich dachte schon, du hättest das Lachen verlernt.« Rogan erwiderte ihr Lächeln. »Laß mir nur noch etwas Zeit, Hannah. Mehr brauche ich nicht.« Sie legte ihm ihre Hand auf den Arm. Er suchte nach den richtigen Worten, aber bevor er sie fand, fuhren sie über den letzten Hügel. In der Senke unter ihnen lag Rigg Station. Hannah hielt am Rand des kleinen Parkplatzes. Rogan kurbelte sein Fenster herunter und zündete sich eine Zigarette an. Das kleine, eingeschossige Bahnhofsgebäude war aus grauen Granitquadern errichtet worden und hatte ein rotes Ziegeldach. Über dem Torbogen des Eingangs hing eine elektrische Uhr. In einem Schaukasten an der Wand war eine Karte des Bezirks zu erkennen. Am anderen Ende des Gebäudes war die Güterabfertigung hinter einem doppelten Schiebetor untergebracht. »Das müssen wir uns aus der Nähe ansehen«, entschied Rogan. -73-
Sie stiegen aus dem Ford und gingen über den Kies zum Eingang des Bahnhofsgebäudes. Dahinter lag der Schalterraum mit einigen Bänken und dem Fahrkartenschalter, der mit einem hölzernen Rolladen verschlossen war. Die Tür zum Bahnsteig stand offen, und sie hörten jemand fröhlich pfeifen. Als Rogan vorsichtig um die Ecke sah, sah er einen weißhaarigen älteren Mann, der den Bahnsteig kehrte. »Sprich mit ihm«, wies Rogan Hannah an. »Frag ihn, ob man hier in den Zug nach London zusteigen kann. Frag ihn irgend etwas, aber sorg dafür, daß er auf dem Bahnsteig bleibt. Ich sehe mich inzwischen hier um.« Hannah nickte wortlos und ging hinaus. Der alte Mann erblickte sie erst, als sie schon in seiner Nähe war, und lehnte sich lächelnd auf den Besen. Rogan wartete, bis er die Stimmen der beiden hörte, bevor er die Tür mit der Aufschrift »Dienstraum - Kein Zutritt« öffnete. Dahinter fand er wie erwartet ein unordentliches Büro. Die Einrichtung bestand aus einem Schreibtisch, einem Stuhl und zwei hölzernen Aktenschränken. An den Wänden hingen vergilbte Kalender. Die beiden anderen Türen führten zu einer winzigen Toilette und zu dem länglichen Gepäckraum, der eine Verbindung zwischen dem Bahnsteig und der Güterabfertigung darstellte. Rogan trat auf die Rampe hinaus, sprang zu Boden und ging zu dem Ford zurück. Als Hannah fünf Minuten später auftauchte, rauchte er nachdenklich eine Zigarette. Hannah setzte sich ans Steuer und schloß die Tür. »Er hat mich kaum noch fortgelassen. Hast du alles gesehen, was du sehen wolltest?« Rogan nickte. »Was hat er dir erzählt?« Hannah lächelte. »Er heißt Briggs und wird nächsten Monat pensioniert. Er hat zwei Töchter und sechs Enkel, und seine Frau ist vor zwei Jahren gestorben. Er hat mir auch gesagt, daß -74-
man von hier aus nicht nach London fahren kann, aber das war nicht die Hauptsache.« »Ein gesprächiger Mann.« »Ich könnte mich noch immer mit ihm unterhalten. Er hat hier fast nichts zu tun und langweilt sich deshalb. Übrigens ist nicht immer derselbe Mann da. Wer in Kendal gerade Zeit hat, wird hierher geschickt.« Rogan betrachtete das Bahnhofsgebäude und runzelte dabei die Stirn. »Wo warst du letzten Freitag, als der Wagen mit dem Geld angekommen ist?« »Dort drüben unter dem Baum auf der anderen Straßenseite. Ich habe Brendan mitgenommen. Wir haben ein kleines Picknick veranstaltet.« »Hast du dir den Fahrer und seinen Beifahrer gut angesehen, als sie ausgestiegen sind?« »Gut genug, hoffe ich.« »Wie sehen ihre Uniformen aus?« »Das ist einfach. Ich habe vor einigen Wochen in einem Cafe in Kendal neben einem von ihnen gesessen. Er hat einen dunkelblauen Zweireiher getragen, als sei er Bootsmann bei der Marine. Nur seine Mütze war ungewöhnlich - eine schwarze Schirmmütze mit goldener Litze und prächtigem Abzeichen.« »Hast du auch die Geldsäcke gesehen?« »Als sie aus dem Wagen auf die Rampe gezogen wurden. Das Geld steckt in ganz gewöhnlichen Postsäcken. Ist das wichtig?« »Vielleicht.« Rogan nahm eine Straßenkarte aus dem Handschuhfach, suchte etwas und nickte dann. »Gut, wir fahren zurück. Von Kendal aus in Richtung Staveley. Ich sage dir rechtzeitig, wo du halten sollst.« Hannah fuhr auf der gleichen Straße zurück. Kurz vor der Abzweigung nach Bowness nickte Rogan ihr zu. Sie bremste und hielt vor einem alten Tor, hinter dem ein Weg zu einem -75-
Wäldchen führte. Rogan stieg aus, ging an das Tor und hantierte an der rostigen Kette, mit der es verschlossen war. Dann öffnete er das Tor und kam zum Wagen zurück. »Langsam weiter«, wies er Hannah an. »Der Karte nach sind dort vorn ein paar vollgelaufene Kiesgruben.« Hannah fuhr im ersten Gang auf das Wäldchen zu. Der Weg war von Unkraut überwuchert und nicht leicht zu finden. Dann führte er plötzlich nach unten und endete auf einer Lichtung. Dort stand ein alter Schuppen aus grauem Stein, dessen Dach längst eingefallen war, und dahinter glitzerte eine Wasserfläche. Hannah stellte den Motor ab. Rogan stieg aus. Er betrachtete die alten Mauern, ging dann quer über die Lichtung und blieb am Rand der Kiesgrube stehen. Fünfzehn Meter unter ihm lag der dunkle Wasserspiegel. Rogan sah in die Tiefe und runzelte dabei die Stirn. Nach einiger Zeit nickte er, als habe er eine Entscheidung gefällt, und drehte sich zu Hannah um, die einige Meter hinter ihm stand. »Glaubst du, daß die Sache klappt, Sean?« Er warf seine Zigarette ins Wasser und lächelte dabei. »Ich muß noch einmal mit Colum O'More sprechen.« Er nahm ihren Arm, und sie gingen zum Wagen zurück.
-76-
9 Vanbrugh fluchte, als er im Sumpf versank, so daß ihm kaltes Wasser in die Gummistiefel lief. Der Sergeant und ein weiterer Polizeibeamter, der sie begleitete, zogen ihn auf festen Boden zurück. Dann stapften sie neben ihm her einen Hügel hinauf. Auf dem Hügelrücken überschüttete sie eine Wolke mit eisigem Regen. Der Nebel hing in dichten Schwaden über dem Moor, so daß sie kaum fünfzig Meter weit sehen konnten. Vanbrugh wandte sich an den Sergeant. »Wie lange kann sich ein Mann unter solchen Bedingungen versteckt halten?« »Erstaunlich lange, Sir. Die Jagd dauert oft eine Woche. Geradezu klassisch ist der Fall eines Ausbrechers, den wir vor etwa fünf Jahren auch im Winter erst nach vierzehn Tagen erwischt haben.« »Wie hat er sich so lange gehalten?« »Er hat sich in einem Wochenendhaus keine drei Meilen vom Gefängnis entfernt versteckt. Das macht die Fahndung so schwierig. Hier im Moor gibt es viele solcher Häuschen, die jetzt leerstehen. Wir können sie nicht alle überwachen. Dazu fehlen uns die Leute.« »Ich weiß, Sergeant, ich weiß.« Vanbrugh kehrte um und ging den Hügel hinab zu seinem Wagen und dem daneben geparkten Land-Rover der Landpolizei. Er war müde und durchgefroren - und der Gedanke an Sean Rogan, der sich dort draußen im Nebel verstecken mußte, war keineswegs angenehm. Als er sich den beiden Fahrzeugen näherte, tauchte ein zweiter Land-Rover aus dem Nebel auf. Sergeant Dwyer stieg aus. »Na, wie sieht's bei Ihnen aus?« fragte Vanbrugh. -77-
Dwyer zuckte mit den Schultern. »Bisher haben wir noch keine Spur von ihm gefunden. Der hiesige Polizeichef hält es für erforderlich, als nächstes alle Häuser in der näheren Umgebung zu durchsuchen. Anscheinend gibt es im Moor zahlreiche Ferienhäuser, die um diese Jahreszeit unbewohnt sind. Dort könnte Rogan sich versteckt haben.« »Aber wer garantiert uns, daß er sich nicht eines aussucht, das schon durchsucht worden ist?« fragte Vanbrugh. »Haben Sie sich die Liste aus dem Gefängnis beschafft?« Dwyer holte ein Blatt Papier aus der Tasche und gab es seinem Vorgesetzten. »Hier, Sir. Seine Freunde stehen nicht auf der Liste, weil er keine gehabt hat, aber dies sind die Namen von einigen Männern, die mit ihm in einer Zelle gesessen haben. Vanbrugh las die Liste rasch durch. »Eine schöne Ansammlung von Ganoven«, stellte er fest. »Mindestens einer von ihnen sitzt bereits wieder, soviel ich weiß.« Er runzelte die Stirn und machte ein angewidertes Gesicht. »Er hat also auch Jack Pope in der Zelle gehabt?« »Kennen Sie ihn, Sir?« »Allerdings! Pope war früher selbst Polizeibeamter. Er ist vor zehn oder zwölf Jahren wegen Bestechung verurteilt worden und hat seitdem nochmals wegen Betrugs gesessen.« Vanbrugh schüttelte den Kopf. »Für unehrliche Polizisten habe ich nichts übrig«, stellte er grimmig fest. Er gab Dwyer die Liste zurück. »Noch etwas?« »Inzwischen ist Ihre Anfrage wegen des Anwalts, der Rogan besucht hat, von London beantwortet worden. Diesen Mann scheint es nicht zu geben.« Vanbrugh fluchte leise vor sich hin. »Dann ist Rogan also nicht ins Blaue geflüchtet. Die ganze Sache war sorgfältig arrangiert. Weshalb hätte ihn dieser angebliche Anwalt sonst einige Tage zuvor besuchen sollen?« »Das bedeutet auch, daß Soames gewußt haben muß, daß -78-
Rogan einen Fluchtweg kannte, Sir. Das haben nicht viele Leute gewußt, und Rogan ist bestimmt kein Mann, der Dinge erzählt, die er für sich behalten möchte.« »Zwei Männer, die in der gleichen Zelle sitzen, erfahren erstaunlich viel voneinander, Sergeant. Wir müssen damit rechnen, daß jeder dieser Männer auf Ihrer Liste diese Nachricht mit nach draußen genommen haben kann, als er entlassen wurde.« Der Regen wurde stärker. Die beiden Männer kletterten in den Land-Rover. Vanbrugh schraubte eine Thermosflasche auf und füllte zwei Plastikbecher mit Kaffee. Einen davon gab er Dwyer, der dankend nickte. »Wenn Sie recht haben, könnte Rogan überall sein, Sir«, stellte der Sergeant nach dem ersten Schluck fest. »Vielleicht sogar schon in Irland.« Vanbrugh schüttelte den Kopf. »Das hätten wir längst erfahren. Er ist doch eine Art Nationalheld in seiner Heimat. Seine Rückkehr wäre bestimmt gefeiert worden.« Dwyer zögerte, bevor er fragte: »Glauben Sie, daß wir ihn erwischen, Sir?« »Hoffentlich nicht, Sergeant. Hoffentlich nicht!« Vanbrugh zündete sich seine Pfeife an und lächelte dabei. »Das überrascht Sie, was?« »Vielleicht könnten Sie es mir erklären, Sir.« »Die Sache ist ganz einfach.« Vanbrugh blies das Zündholz aus. »Sean Rogan ist kein Verbrecher. Er hat eine politische Straftat begangen. Das bedeutet nicht, daß ich ihn für unschuldig halte, aber es bedeutet, daß ich unser System für falsch halte, weil es ihn wie einen gewöhnlichen Verbrecher behandelt. Da die I. R. A. jetzt ihre Untergrundorganisation offiziell aufgelöst hat, sehe ich nicht ein, was wir davon haben, wenn Männer wie er ihre Strafe bis zum bitteren Ende absitzen müssen.« -79-
»Das verstehe ich auch nicht, Sir.« Vanbrugh nickte. »Aber ich gebe mir natürlich trotzdem alle Mühe, ihn und seine Helfershelfer zu finden.« »Ein bemerkenswerter Mann ...«, murmelte der Sergeant. »Allerdings!« Vanbrugh starrte in den Regen hinaus, als sehe er dort die Vergangenheit. »Während des Krieges hatte ich einen Sonderauftrag in Frankreich durchzuführen - in dem Gebiet, in dem Rogan die dortige Widerstandsbewegung organisiert hatte. Jemand hat nicht dichtgehalten, und ich wurde vom Abwehragenten festgenommen.« »Scheußlich«, sagte Dwyer mitfühlend. »Ich sollte mit einem Truppentransport von Blois aus nach Deutschland gebracht werden und wurde auf der Fahrt zum Bahnhof von einem Zug Infanterie und zwei Panzern begleitet. Die französischen Widerstandskämpfer sollten keine Chance haben, mich zu befreien.« »Und was ist dann passiert?« »Am Bahnhof Blois blieb die Eskorte vor dem Gebäude, während ich von zwei Posten in den Warteraum geführt wurde. Dort standen bereits Rogan in der Uniform eines deutschen Obersten und fünf seiner Leute. Meine Begleiter wurden lautlos überwältigt.« »Und dann?« »Rogans Leute hatten einen bewußtlosen Kollaborateur auf einer Tragbahre mitgebracht. Während ich eine deutsche Uniform anzog, ließ Rogan den Mann auf den Bahnsteig schaffen und übergab ihn dem Transportführer als den gesuchten Engländer. Dann verließen wir das Bahnhofsgebäude vor den Augen meiner Eskorte, bestiegen die wartenden Dienstwagen und rasten davon. Das alles hatte kaum fünf Minuten gedauert.« »Dazu muß man eiserne Nerven haben!« -80-
»Und einen messerscharfen Verstand, der überall einen Ausweg findet.«, stimmte Vanbrugh zu. »Das ist der wahre Sean Rogan!« »Sie glauben also, daß wir hier unsere Zeit vergeuden, Sir?« fragte Dwyer nach einer Pause. »Möglich«, antwortete Vanbrugh. »Deshalb habe ich einen anderen Auftrag für Sie. Fahren Sie nach London zurück und befassen Sie sich mit diesem Soames. Erkundigen Sie sich bei der Anwaltskammer nach ihm. Männer, die sich als Anwälte ausgeben, haben oft schon selbst praktiziert. Lassen Sie sich die Namen der Mitglieder sagen, die in den letzten Jahren ausgeschlossen worden sind.« »Und wie steht's mit dieser Liste, Sir?« »Mit Rogans ehemaligen Mithäftlingen?« Vanbrugh nickte. »Lassen Sie alle ausfindig machen und überprüfen. Wahrscheinlich bringt das nichts, aber man kann nie wissen ...« »Wird gemacht, Sir.« Als der Sergeant aus dem Land-Rover stieg, um zu seinem Dienstwagen zu gehen, rief ihm Vanbrugh nach: »Noch etwas, Dwyer!« Der Sergeant drehte sich um. »Ja, Sir?« »Alles mit höchster Dringlichkeitsstufe. Wir haben keine Zeit zu verlieren.« Dwyer zögerte, schien etwas sagen zu wollen, ging dann aber doch weiter. Als er davonfuhr, lehnte Vanbrugh sich in seinen Sitz zurück und überlegte, warum er das gesagt hatte. Er hätte keine vernünftige Begründung dafür angeben können, aber sein in fünfundzwanzig Dienstjahren erworbener Instinkt sagte ihm, daß hinter dieser Sache mehr steckte, als sie alle ahnten. Viel mehr.
-81-
10 Regen klatschte gegen die Fenster. Colum O'More sah hinaus. »Schon wieder Regen! Er hört gar nicht mehr auf. Das ist wirklich zum Verrücktwerden.« Er saß am Kamin und hatte seinen Stock zwischen den Beinen. Rogan saß ihm gegenüber und trank Kaffee. Er war entsetzt, wie sehr sich der Zustand des Alten verschlechtert hatte. »Wann warst du zuletzt bei einem Arzt?« O'More machte eine ungeduldige Handbewegung. »Mach dir meinetwegen keine Sorgen. Mir geht es nicht so schlecht, wie ich aussehe. Wir haben wichtigere Dinge als mein schlechtes Aussehen zu besprechen, Sean.« »Wie du willst.« Rogan zündete sich seine Zigarette an einem Span aus dem Kamin an. »Was hältst du davon?« »Von dem Plan?« O'More grinste. »Er besteht aus genau der richtigen Mischung von Einfachheit und Kaltblütigkeit, die ich von dir erwartet habe.« »Glaubst du, daß er klappt?« »Ich weiß nicht, wie er fehlschlagen sollte, wenn du den Zeitablauf richtig berechnest.« »Wo könnte es Schwierigkeiten geben?« Der Alte runzelte die Stirn. »Eine halbe Stunde nach dem Postzug hält ein Güterzug in Rigg, um dort Landmaschinen und Düngemittel auszuladen.« Rogan nickte. »Wir hätten trotzdem mindestens fünfundzwanzig Minuten Vorsprung.« »Ja, aber in dieser Zeit würdet ihr es nicht bis hierher schaffen, und sobald Alarm gegeben worden ist, wimmelt es überall von Polizisten. Die wenigen Straßen in den Bergen -82-
lassen sich rasch sperren.« »Ich bin schon zufrieden, wenn wir Costellos Farm in Scardale erreichen. Wir kommen dann am Samstag hierher.« O'More schüttelte besorgt den Kopf. »Dann wird aber jeder Wagen kontrolliert.« »Ich habe schon eine gute Idee.« Hannah kam aus der Küche und schenkte Rogan Kaffee nach. »In dieser Lage kann man keinen schlimmeren Fehler machen, als sich einen schnellen Wagen zu beschaffen. Das weiß ich noch aus Frankreich. Ein uralter Lastwagen, der mit einer Heuladung kaum zwanzig Meilen in der Stunde schafft, ist gerade richtig. Es kommt darauf an, den Eindruck zu erwecken, als kümmere man sich nur um seinen eigenen Kram.« »Das klingt logisch«, gab O'More zu. »Was hast du vor?« Rogan wandte sich an Hannah. »Dein Onkel hat in letzter Zeit Schafe verkauft, nicht wahr? Wo?« »Manchmal gleich an Fleischer in Kendal, manchmal auch auf Viehmärkten.« »Findet irgendwo in der Gegend samstags ein Markt statt?« Hannah nickte. »In Millom. Das liegt fünf oder sechs Meilen südlich von hier.« »Ausgezeichnet! Wir fahren in Paddy Costellos altem Lastwagen mit zwölf oder fünfzehn Schafen hin. Die Polizei hält uns bestimmt nicht auf.« »An Markttagen sind auch viele andere Farmer unterwegs«, warf Hannah ein. »Gut, dann sind wir uns also einig.« Colum O'More nickte zögernd. »Ich bin nur mit einer Kleinigkeit nicht ganz zufrieden. Soviel ich weiß, muß der Fahrer des Geldtransportwagens sich zweimal mit der Polizei in Verbindung setzen. Zuerst meldet er seine Ankunft in Rigg. Und später bestätigt er über Funk, daß die Säcke übergeben worden -83-
sind. Wie willst du den zweiten Funkspruch durchgeben? Wenn die Polizei ihn nicht bekommt, wird sofort ein Streifenwagen losgeschickt.« »Das habe ich mir schon überlegt«, entgegnete Rogan. »Aber mir ist auch ein Ausweg eingefallen. Wir müssen erreichen, daß die Wächter im Zug die Meldung an die Polizei durchgeben. Wir behaupten einfach, unser Funkgerät sei ausgefallen. Das klingt ganz normal. Schließlich kann das einmal vorkommen.« Sie saßen sich einige Zeit schweigend gegenüber, bis der Alte sich auf die Knie schlug. »Ja, das müßte klappen, Sean!« Er wandte sich an Hannah. »Was hältst du davon?« »Ihr seid die Fachleute.« Sie nahm das Tablett mit. »Ich mache euch ein paar Sandwiches.« Sie ging in die Küche zurück. O'More lachte. »Du hast mich bereits zehn Jahre jünger gemacht, Sean.« »Nur nicht zu voreilig!« wehrte Rogan ab. Er trat ans Fenster und sah in den Regen hinaus. »Wieviel haben Soames und Jack Pope mit dieser Sache zu tun?« »Gar nichts«, antwortete Colum O'More. »Sie sind im voraus für ihre Arbeit bezahlt worden. Ich weiß nicht einmal, ob sie eine Ahnung haben, wo wir sind und was wir tun. Ich habe erst einmal mit Soames gesprochen. Pope kenne ich nur von einem Foto. Ich habe eine Deckadresse angegeben und meine Spuren sorgfältig verwischt. Deshalb habe ich auch Hannah als Vermittlerin eingeschaltet. Nicht einmal ihr Onkel weiß, wo ich mich aufhalte.« »Mir hat Popes Art nicht gefallen«, erklärte ihm Rogan. »Nachdem er mir den Ford gegeben hatte, habe ich an der Straße gehalten und bin zu Fuß zurückgegangen. Er und Soames haben im Wohnzimmer des kleinen Hauses die Köpfe zusammengesteckt.« Der Alte runzelte die Stirn. »Und?« -84-
»Jack Pope ist jetzt in Ambleside. Er hat bereits mit Morgan Verbindung aufgenommen. Hannah hat gehört, daß Morgan mit Fletcher darüber gesprochen hat. Auch ihr Onkel hat dabei die Finger im Spiel.« »Diese verdammten Kerle haben mich verraten und verkauft!« murmelte Colum O'More. »Du hast sie von Soames anwerben lassen. Die Verbindung hat also von Anfang an bestanden. Wieviel haben Morgan und Fletcher im voraus bekommen?« »Jeder fünfhundert Pfund. Den Rest sollen sie zwei Wochen nach dem Überfall von einem Mann bekommen, den ich in Liverpool kenne.« Rogan schüttelte den Kopf. »Das genügt nicht, Colum. Die beiden sind Profis. Wenn sie einen Auftrag übernehmen, verlangen sie die Hälfte im voraus und den Rest nach getaner Arbeit. Du hättest gleich mißtrauisch werden müssen, als sie mit einer so geringen Anzahlung zufrieden waren.« »Woher hätte ich das wissen sollen?« fragte O'More aufgebracht. »Wann habe ich es bisher nötig gehabt, mich mit solchem Gesindel abzugeben?« »Nur keine Aufregung!« Rogan hob lächelnd die Hand. »Die Sache interessiert mich langsam.« »Mich auch, darauf kannst du dich verlassen!« Der Alte öffnete die Tischschublade und nahm eine amerikanische Armeepistole heraus, die er Rogan zuwarf. Rogan fing die Waffe geschickt auf, zog das Magazin heraus, überprüfte es und schob es zurück. »Hoffentlich kann ich noch damit umgehen.« »Ich schlage nicht etwa vor, daß du deine Helfer nach dem Überfall umlegen sollst, aber vielleicht kannst du die Pistole doch gut brauchen«, erklärte O'More ihm grinsend. »Wann rechnest du mit Schwierigkeiten?« -85-
»Erst auf der Farm nach dem Überfall. Wenn sie früher losschlagen, können sie alles verderben. Für so dumm halte ich Morgan nicht.« O'More fluchte und rieb sich sein schmerzendes Bein. »Ich hocke als Krüppel hier und kann dir nicht einmal helfen, Sean!« »Vergiß Hannah nicht. Auf sie kann ich mich wenigstens verlassen.« Rogan stand auf. »Mach dir keine Sorgen, Colum. Mir ist schon viel geholfen, wenn ich weiß, mit wem ich es zu tun habe.« Hannah kam aus der Küche und zog ihren Mantel an. »Die Sandwiches stehen auf dem Tisch, Colum.« Sie wandte sich an Rogan. »Fertig?« »Natürlich.« Rogan schlug dem Alten auf die Schulter. »Schuster bleib bei deinen Leisten, Colum, und das sind eben meine. Dafür habe ich schon immer Talent gehabt.« Er verließ das Haus. Der Regen war stärker geworden. Rogan lief über den Hof, setzte sich in den Ford und schaltete das Radio ein. Sekunden später begannen die Nachrichten. Als Rogan zuhörte, öffnete Hannah die andere Tür und setzte sich ans Steuer. Im Fernen Osten drohte eine politische Krise, die Autoarbeiter streikten wieder einmal, und die Opposition meldete schwere Bedenken gegen die Einwanderungspolitik der Regierung an. Die letzte Meldung befaßte sich mit Rogan. Der Ausbrecher war noch flüchtig, aber die Polizei durchkämmte das Moor und war davon überzeugt, ihn bald festnehmen zu können. Rogan stellte das Radio ab und nickte Hannah lächelnd zu. »Bisher ist alles in Ordnung. Komm, wir müssen zur Farm zurück.« Sie legte den Gang ein und ließ den Ford aus dem Hof rollen.
-86-
11 »Ich gehe alles noch einmal durch«, sagte Rogan. Er beugte sich über die Karte. Die anderen drängten näher heran, und Fletcher hätte fast die Petroleumlampe umgeworfen. »Paddy fährt als erster mit dem Lastwagen los und wartet an der Kiesgrube vor Kendal. Wir folgen fünf Minuten später mit dem Morris; Hannah fährt den Lieferwagen, wir sitzen mit den falschen Säcken hinten. Wir nehmen Paddy unterwegs mit.« Er sah zu Morgan hinüber. »Du und Fletcher tragen Uniformen.« »Der Ehrenposten«, meinte Morgan spöttisch. »In diesem Fall gibt es keinen. Wir sind frühestens fünf Minuten vor dem Geldtransportwagen in Rigg. Ich gehe mit Paddy hinein und nehme mir den Bahnhofsvorsteher vor. Hannah fährt rückwärts an die Laderampe, und ihr schafft die Säcke in die Güterabfertigung. Dann verschwindet sie und wartet an der Kiesgrube auf uns.« Als Hannah gelassen nickte, fuhr Rogan fort: »Paddy zieht sich die Uniform des Bahnbeamten an und kehrt den Bahnsteig. Wir warten auf den Geldtransport.« »Die Wächter steigen erst aus, wenn sie erfahren, daß der Zug kommt«, warf Morgan ein. »Wir haben also nicht viel Zeit.« »Wir müssen eben schnell arbeiten. Sobald sie mit den ersten Säcken hereinkommen, werden sie niedergeschlagen. Ihr braucht nicht zimperlich zu sein - schließlich geht es um einen Haufen Geld.« »Und dann?« »Du und Fletcher setzen ihre Mützen auf. Das ist der Teil der Uniform, den wir nicht kopieren können.« »Aber wenn sie nicht passen?« »Sie müssen passen. Setzt sie euch irgendwie auf. Dann öffnet -87-
ihr die Tür und schleppt die falschen Säcke hinaus.«.»Wie viele?« »Keine Ahnung. Wir nehmen sechs mit, Falls es mehr sind, bekommen sie etwas Geld zurück. Ein Sack voll Geldscheine kann über einen Zentner wiegen. Wir können uns nicht lange damit aufhalten.« »Was passiert auf dem Bahnsteig?« »Das muß sich erst herausstellen. Nach O'Mores Auskunft wechseln die Zugbegleiter so oft wie die Fahrer der Geldtransporte, so daß niemand mißtrauisch werden dürfte. Laßt euch den Empfang quittieren, macht einen Witz und verschwindet dann.« »Wie steht's mit dem Bahnhofsvorsteher? Woher wissen wir, daß ihnen Paddy nicht verdächtig vorkommt?« »In Rigg gibt es keinen richtigen Bahnhofsvorsteher. Wer in Kendal abkömmlich ist, wird hinausgeschickt.« Fletcher sah zu Morgan hinüber. »Was hältst du davon?« »Sieht gut aus.« Er wandte sich an Rogan. »Was ist mit den Postsäcken? Die sind nicht leicht zu beschaffen.« »Hast du nicht eine Quelle?« »Ich kenne einen Kerl in Manchester, der uns welche beschaffen kann.« »Ausgezeichnet«, meinte Rogan. »Am besten fahrt ihr morgen zu ihm. Besorgt euch auch zwei Uniformen in einem Geschäft für ausgemusterte Militärkleidung.« »Das paßt mir prima«, antwortete Morgan. »Ich möchte endlich wieder einmal eine Großstadt sehen.« »Treibt euch ja nicht herum«, warnte Rogan ihn. »Bei Anbruch der Dunkelheit seid ihr zurück, verstanden? Und laß die Sauferei«, sagte er zu Fletcher, der eine Whiskyflasche öffnete. »Am Freitag mußt du auf Draht sein.« »Was ich trinke, ist meine Sache, Jack«, behauptete Fletcher -88-
und ging hinaus. Morgan zündete sich eine Zigarette an. »Mir ist nur etwas nicht klar: Was passiert, sobald wir wieder hier auf der Farm sind?« »Wir bleiben bis Samstag hier und trennen uns dann.« »Wann teilen wir?« »Überhaupt nicht. Ihr bekommt euer Geld zwei Wochen später von O'Mores Agent in Liverpool.« »Warum nicht gleich hier?« »Du enttäuschst mich, Morgan. Ich dachte, du wärst intelligent.« Rogan schüttelte den Kopf. »Nein, wir halten uns an die Vereinbarung.« »Das paßt dir natürlich«, sagte Morgan. »Dein Rückzugsweg steht schon fest, aber was ist mit Fletcher und mir? Wie sollen wir durchkommen, wenn es überall von Polypen wimmelt?« »Dann bleibt ihr eben noch zwei Wochen hier und wartet ab, bis die Aufregung sich gelegt hat.« Morgan nickte. »Das ist wahrscheinlich am besten.« Er gähnte. »Ich mache noch einen kleinen Spaziergang.« Als er gegangen war, lachte Paddy Costello nervös auf. »Ah, ich kann den großen Tag kaum noch erwarten, Mr. Rogan. Da fühlt man sich gleich wieder jung! Ich will nur in der Küche nachsehen, ob Fletcher mir allen Whisky weggetrunken hat.« Er ging hinaus. Hannah, die bisher schweigend zugehört hatte, stand jetzt auf. »Was ist mit Morgan? Glaubst du, daß er Pope anrufen will?« »Das will ich feststellen. Du hältst inzwischen hier die Stellung. Ich komme bald zurück.« Rogan nickte Hannah zu, trat in den Flur hinaus, zog seinen Mantel an und verließ das Haus. Es regnete noch immer. Er lief in der Dunkelheit zur Hauptstraße hinunter. Dort sah er Morgan in der beleuchteten Telefonzelle stehen. Er bewegte sich -89-
vorsichtig darauf zu und fand hinter einem kaum zehn Meter entfernten Busch Deckung. Morgan telefonierte noch, aber er hängte bald auf. Er öffnete die Tür und sah in den Regen hinaus. Rogan wartete im Regen. Einmal fuhr ein Lastwagen in Richtung Ambleside vorbei, aber ansonsten hätte Morgan in seiner beleuchteten Telefonzelle der einzige Mensch weit und breit sein können. Etwa zwanzig Minuten später hörte Rogan ein Auto aus Ambleside herankommen. Er duckte sich hinter den Busch. Dann hielt ein Austin-Mini neben der Telefonzelle, und Jack Pope beugte sich aus dem Fenster. Morgan stieg ein. Die beiden unterhielten sich, aber Rogan verstand nicht, was sie sagten. Er beobachtete die beiden noch einen Augenblick und machte sich dann auf den Rückweg. Pope und Morgan hatten sich getroffen, um irgend etwas zu besprechen. Das stand fest. Aber wo war Soames? Welche Rolle spielte er? War er der Drahtzieher hinter den Kulissen? Dabei hatte er nicht sonderlich aktiv gewirkt. Der Regen wurde heftiger. Rogan stapfte mit hochgezogenen Schultern weiter. Die Farm tauchte vor ihm auf. Er sah beleuchtete Fenster - und hörte Hannah verzweifelt seinen Namen rufen! Er rannte die letzten Meter. Dann sah er Hannah als Silhouette im Türrahmen. Sie wehrte Fletcher ab, der sie umklammert hielt. Brendan kniete in einer Pfütze. Er hatte Nasenbluten und wirkte völlig benommen. Rogan war jetzt schon fast heran. Hannahs Kleid war bis zur Taille aufgerissen, und als Fletcher sich betrunken lachend über sie beugte, um sie zu küssen, sah Rogan ihr Gesicht. Sie hatte keine Angst, sondern war nur wütend und angewidert. Er packte Fletcher am Kragen und riß ihn zurück. -90-
Fletcher stolperte rückwärts, verlor das Gleichgewicht und sank auf die Knie. Er blieb einen Augenblick in dieser Haltung und starrte Rogan verwirrt an. Dann sprang er mit einem Wutschrei auf. Rogan wich ihm mühelos aus und brachte einen Handkantenschlag gegen die Nieren an, als Fletcher ihn angreifen wollte. Der andere prallte gegen die Wand. Als er sich umdrehte, versetzte ihm Rogan genau unterhalb des Brustbeins einen Haken. Fletcher sank auf die Knie und rang nach Atem. Jetzt machte Rogan den Fehler, ihm zu nahe zu kommen. Fletcher packte ihn mit einer Hand am Knöchel und brachte ihn mit einem kurzen Ruck zu Fall. Dann tasteten seine großen Hände nach Rogans Kehle. Rogan hielt seine Handgelenke fest und rollte sich zur Seite. Die Kämpfenden wurden von der Wand neben dem Brunnentrog aufgehalten. Rogan machte sich mit einem Ruck von seinem Gegner frei. Fletcher griff nach dem Rand des Trogs und zog sich daran hoch. Als er halb aufgerichtet war, traf Rogans Stiefelspitze seine Magengrube. Fletcher klappte zusammen, und Rogan tauchte seinen Kopf unter Wasser. Rogan ließ ihn erst los, als der große Mann verzweifelt um sich zu schlagen begann. Er gab ihm noch einen Stoß, so daß Fletcher auf den Rücken fiel und liegenblieb. Als er sich umdrehte, sah er Hannah und Morgan hinter sich stehen. Als er sprach, klang seine Stimme heiser. Er holte keuchend Luft. »Du kannst ihm ausrichten, daß ich ihm die nächste Flasche, mit der ich ihn erwische, auf dem Schädel zerschlage!« Er stieß Morgan zur Seite und taumelte ins Haus. Dann ließ er sich auf einen Stuhl in der Küche fallen und nahm undeutlich wahr, daß Hannah sich um ihn bemühte. Sie wusch ihm mit Tränen in den Augen das Blut vom Gesicht. Und dann lag sie in seinen Armen, und er küßte sie, weil er spürte, daß sie zu ihm gehörte. -91-
Draußen kauerte Morgan im Regen neben Fletcher, der sich stöhnend bewegte. »Wie hast du ihn genannt, Jesse? Nur ein großer Bauernlümmel, was? Ein richtiger Schlag - und schon platzt er aus den Nähten.« Er begann zu lachen, stand auf, ging ins Haus und ließ Fletcher im Regen liegen.
-92-
12 Am nächsten Morgen fuhren Morgan und Fletcher gleich nach dem Frühstück nach Manchester. Fletcher war mürrisch und wütend; er hob kaum den Kopf und warf Rogan nur gelegentlich einen haßerfüllten Blick zu. Rogan stand am Tor und sah dem Ford nach. Dann drehte er sich um, hatte die Berge vor sich und genoß die herrliche Aussicht. An diesem klaren Herbstmorgen fühlte er sich glücklich und zufrieden. Er hörte Hannah herankommen. Sie lächelte ihm zu. »Ein wunderbarer Morgen, was?« »Seitdem die beiden fort sind, ist er noch schöner.« Rogan holte tief Luft. »Der Herbst ist meine liebste Jahreszeit«, sagte Hannah leise. »Aber er ist auch ein bißchen traurig. Alte Träume hängen einen Augenblick wie Rauch in der Luft, bevor sie endgültig zerflattern.« Rogan legte ihr tröstend einen Arm um die Schultern und streichelte mit der anderen Hand ihr Gesicht. Hannah küßte sie leicht. Dann sah sie mit strahlenden Augen zu ihm auf. »Was möchtest du tun?« fragte Rogan sie. »Wir haben den ganzen Tag für uns allein.« Hannah zeigte auf die Berge. »Ich würde am liebsten dort hinaufgehen, glaube ich. Es wäre schön, ein paar Stunden hoch über der Welt zu sein. Wir könnten Sandwiches mitnehmen.« »Einverstanden«, meinte Rogan. »Was ist mit deinem Onkel?« »Der schläft noch seinen Rausch aus. Brendan ist vor einer halben Stunde fortgegangen. Wahrscheinlich begegnen wir ihm irgendwo dort oben.« -93-
Sie gingen ins Haus zurück. Hannah verschwand in der Küche, während Rogan sich rasierte. Als er fertig war, zog er eine alte Windjacke an, die im Flur hinter der Haustür hing, und wartete draußen auf Hannah. Sie kam wenige Minuten später aus dem Haus. Diesmal trug sie kniehohe Stiefel, Jeans und ihre Lammfelljacke. In der Hand hielt sie einen ausgeblichenen Militärrucksack. »Gib her«, sagte Rogan und nahm ihr den Rucksack ab. Der Himmel über den Bergen hatte sich bezogen. Die Sonne schien nicht mehr, aber selbst der drohende Regen konnte die beiden nicht von ihrem geplanten Ausflug abhalten. Sie verließen die Farm und wanderten talaufwärts. Die alte Straße war im Lauf der Jahre fast völlig von Gras und Unkraut überwuchert worden. Sie stieg bald nach der Farm steil an. Rogan und Hannah erreichten den ersten Hügelkamm und blieben stehen. Unter ihnen lagen die Ruinen der ehemaligen Bergarbeitersiedlung. Als sie die zerfallenen Hütten schon fast erreicht hatten, begann es heftig zu regnen. Große Tropfen klatschten durch die zerfallenen Dächer ins Innere der Hütten. Das machte die ganze Szenerie noch unheimlicher. »Früher scheint hier viel los gewesen zu sein«, sagte Rogan. Hannah nickte zustimmend. »Ich war einmal in Ambleside in der Bücherei und habe mich darüber informiert. Damals haben hier zwei- bis dreihundert Menschen gelebt. Hier ist zur Zeit der Napoleonischen Kriege Blei abgebaut worden.« »Und dann?« »Das Vorkommen war um achtzehnhundertzwanzig bereits erschöpft.« Hannah seufzte. »Eigentlich traurig, wenn man darüber nachdenkt. Hier haben früher Menschen gelebt, haben sich geliebt, haben Kinder bekommen und sind sonntags in die Kirche gegangen - und dann war das Bleivorkommen plötzlich -94-
erschöpft.« »So ist eben das Leben«, sagte er leise. »Solche Enttäuschungen kommen immer, wenn man sie am wenigsten erwartet.« Hannah nickte resigniert. »Das ist eigentlich unfair, nicht wahr? Dabei muß man ja den Mut verlieren. Man arbeitet und hofft und bekommt dann vom Schicksal einen Tritt.« »Gott läßt keinen Menschen zu lange leiden.« Rogan lächelte. »Das hat meine Großmutter oft gesagt.« »Glaubst du daran?« Er zuckte mit den Schultern. »Ich gebe die Hoffnung nie vorschnell auf, Hannah. Ohne Hoffnung könnte ich nicht leben.« Sie blieben vor der kleinen Kirche stehen, und Rogan entzifferte die Inschrift auf der Steinplatte über dem Portal. Scardale Primitive Methodist Chapel 1805. »Das Jahr von Trafalgar«, murmelte er. »Das ist schon lange her.« »Ein weiterer englischer Sieg?« Rogan grinste. »Zur Besatzung von Nelsons ›Victory‹ gehörten über fünfzig Amerikaner und mehr als doppelt so viele Iren. Die Engländer konnten eben gut mit ihnen umgehen.« Sie gingen weiter die ansteigende Hauptstraße entlang und" kamen an einen großen Damm aus Granitblöcken, die von einer dicken Moosschicht überzogen waren. Am Fuß des Damms trat ein Bach aus. Jenseits des Damms begann das eigentliche Bergwerk. Dort waren zwölf oder fünfzehn Schafe in einem alten Steinpferch zusammengedrängt. In ihrer Nähe saß Brendan Costello und warf Steine ins Wasser. Er drehte sich fast erschrocken um, als er Hannahs Stimme hörte. Dann kam er auf sie zu und erwiderte Rogans Gruß verlegen lächelnd. Hannah fuhr ihm liebevoll mit der Hand durch das -95-
Haar. »Was tust du hier?« Der Junge sprach in kurzen Sätzen und bemühte sich offenbar, nicht zu stottern, indem er alle schwierigen Worte ausließ. »Er wwill mmehr Schafe.« Hannah nickte. »Wir essen heute mittag hier oben. Willst du mitkommen?« Brendan sah zu Rogan hinüber und wurde dann rot vor Freude. »Ddarf ich?« »Wenn du willst.« »Ich kkönnte Ihnen den ›Langen Stollen‹ zeigen, Mr. Rogan. Dder gefällt Ihnen bestimmt.« Rogan wandte sich an Hannah. »Den ›Langen Stollen‹?« Sie zeigte auf das Westende des Damms, wo die Mauer unter einer steilen Felswand im dichten Unterholz verschwand. »Der Eingang ist von hier aus nicht zu sehen, aber dort beginnt ein Kanal, der durch die Felsen ins nächste Tal führt. Früher ist das Erz auf diesem Weg abtransportiert worden.« Sie folgten dem Damm bis zu der Stelle, wo eine dunkle Tunnelöffnung zwischen den Bäumen sichtbar wurde. Als Rogan sich bückte, sah er einen winzigen Lichtpunkt am anderen Ende des niedrigen Stollens. »Wie lang ist er? »Sechs- oder siebenhundert Meter.« Er stieß einen Pfiff aus. »Alle Achtung!« »Soviel ich weiß, ist hier nur ein bereits vorhandenes Höhlensystem ausgebaut worden. Es hat sich erst nach dem Dammbau mit Wasser gefüllt.« »Trotzdem keine schlechte Leistung.« »Wir können durchfahren, wenn du willst.« Rogan drehte sich um und sah Brendan mit einem Tau in der -96-
Hand aus dem Unterholz kommen. Er zog einen uralten Kahn hinter sich her, in dem das Wasser zentimeterhoch stand. »Und wenn der Kahn absäuft?« fragte Rogan grinsend. Hannah stieg in das Boot. »Dann wirst du auch nicht nasser, als du schon bist.« Rogan setzte sich neben sie. Dann fuhren sie in eine unheimliche dunkle Welt ein, in der Wasser von den Wänden tropfte, die manchmal zu einer so niedrigen Decke zusammenliefen, daß Rogan den Kopf einziehen mußte. Als er sich nach Brendan umsah, stellte er zu seiner Überraschung fest, daß der Junge auf dem Rücken lag und das Boot vorwärtsbewegte, indem er sich mit den Füßen von der Decke abstieß. Sie durchquerten eine große Höhle mit gewölbter Decke, die das Echo ihrer Stimmen zurückwarf. Hier stakte Brendan das Boot vorwärts. Dann wurde der Stollen wieder enger, führte durch zwei weitere Höhlen und endete schließlich auf der anderen Seite des Berges auf einem ähnlich angelegten Stausee. Brendan stieg als erster aus, um den Kahn zu vertäuen. Rogan folgte ihm und half Hannah an Land. Sie gingen durch ein Wäldchen und kamen an mehreren baufälligen Häusern vorbei. Nur ein Stallgebäude hob sich von den anderen Bauten durch sein Wellblechdach und sein neues Holztor ab, das mit einem großen Vorhängeschloß gesichert war. »Was wird dort aufbewahrt?« fragte Rogan. Brendan lief voraus, griff unter einen flachen Stein am Tor und holte einen Schlüssel hervor. Er öffnete das Tor. Dahinter stand ein alter Jeep. Das Originalverdeck war durch einen Aluminiumaufbau ersetzt worden. Der olivgrüne Anstrich war zerkratzt und abgeblättert. Rogan ließ seinen Rucksack zu Boden gleiten und setzte sich -97-
ans Steuer. »Ich habe schon lange keinen Jeep mehr gefahren. Er muß über zwanzig Jahre alt sein.« Als er auf den Anlasserknopf drückte, sprang der Motor sofort an. »Wem gehört der Jeep?« »Der größte Teil dieses Tals gehört einer Genossenschaft von Schaf Züchtern«, erklärte ihm Hannah. »Sie hat hier ständig einen Jeep oder einen Land-Rover bereitstehen, falls die Hirten ein Fahrzeug brauchen. Früher hatten sie Pferde oder Ponies.« Rogan stieg aus dem Jeep. Brendan schloß das Tor und legte den Schlüssel an seinen Platz zurück. Vor ihnen sank der Talboden bis zu einer schimmernden Wasserfläche ab. »Was ist das?« wollte Rogan wissen. »Rydal Water. Wenn wir etwas hinuntergehen, kannst du die Ausläufer von Grasmere westlich davon sehen.« Er holte eine Generalkarte dieser Gegend aus der Tasche und breitete sie im Gras aus. »Nehmen wir einmal an, mein Plan wäre fehlgeschlagen und ich wollte nach Marsh-End. Wie käme ich von hier aus dorthin?« Hannah runzelte die Stirn, während sie die Karte betrachtete. »Es gibt eine alte Straße durch die Berge. Ich habe sie zufällig entdeckt, als Onkel Paddy mir folgen wollte. Vielleicht kann ich sie dir zeigen, wenn wir etwas weiter hinuntergehen.« Sie gingen hundert Meter weiter. Von dort aus war nicht nur Rydal Water, sondern auch Grasmere deutlich zu sehen. »Siehst du den Bach zwischen den beiden Seen?« fragte Hannah. »Dort führt eine kleine Brücke nach einem Gatter übers Wasser, und der Weg geht nach Elterwater. Von dort aus folgt man einer kaum befestigten Straße über den Wrynose Paß. Ungefähr sechs Meilen von hier gabelt sich die Straße. Wenn man den Duddon River entlang durch Seathwite und Ulpha fährt, kommt man nach etwa zehn Meilen auf die Straße nach Whicham.« -98-
»Und wie weit ist es dann noch dorthin?« »Neun oder zehn Meilen.« »Und Marsh-End ist nur ein paar Meilen von Whicham entfernt.« Rogan nickte zufrieden und faltete die Karte zusammen. »Ist die Straße wenig befahren?« »Um diese Jahreszeit würdest du unterwegs wahrscheinlich keinen Menschen sehen. Aber bei schlechtem Wetter wäre es nicht leicht, über den Paß zu kommen. Du würdest einen guten Wagen brauchen. Onkel Paddys alter Lastwagen wäre dafür ungeeignet.« »Den würde ich in dem Fall, den ich meine, auch nicht benutzen.« Rogan zündete sich eine Zigarette an. »Scardale ist kein ideales Versteck, weil von dort nur eine Straße wegführt. Notfalls könnte Brendans Stollen sich als gute Hintertür erweisen, und dieser Jeep wäre dann auch praktisch.« »Willst du den Lastwagen nicht mehr benützen?« Rogan schüttelte den Kopf. »Nein, dabei bleibt es vorläufig. Weiß dein Onkel von dem Stollen?« Hannah nickte. »Ja, aber er ist nie durchgefahren. Das hält er für unmöglich, glaube ich.« »Morgan und Fletcher wissen also auch nichts davon?« Rogan lächelte zufrieden. »Das soll auch so bleiben. Was tun wir jetzt?« Der Regen, der vorhin nachgelassen hatte, setzte nun wieder ein. Hannah sah zum Scardale Fell hinauf, dessen Gipfel in Wolken gehüllt war. »Wir könnten dort oben in einer Hütte essen. Brendan könnte das Boot zurückbringen, von der anderen Seite herauf klettern und sich oben mit uns treffen.« Der Junge nickte eifrig und lief zwischen den Bäumen davon. Rogan und Hannah folgten dem steilen Weg, der sich in Serpentinen in die Höhe wand. Es regnete unaufhörlich, aber sie achteten schon gar nicht mehr darauf. Hannah ging voraus, und -99-
Rogan folgte ihr schweigend. Er war so in Gedanken versunken, daß er zusammenzuckte, als Hannah ihn anrief. Er hob den Kopf und sah sie zehn Meter vor sich neben einer niedrigen Steinhütte stehen. Sie lächelte ihm aufmunternd zu. »Ist Brendan schon zu sehen?« wollte er wissen. Sie schüttelte den Kopf. »Er braucht mindestens noch zwanzig Minuten. Auf der anderen Seite kommt man schlechter voran.« In der Hütte standen ein Tisch, zwei Holzbänke und ein Eimer mit Brennholz. Rogan setzte sich an den Tisch und nahm den Rucksack ab. Hannah holte Sandwiches, Obst und eine Thermosflasche daraus hervor. »Fangen wir gleich an oder warten wir auf Brendan?« »Wir trinken Kaffee und warten noch.« Hannah ließ sich Feuer für ihre Zigarette geben. »Hast du das Gefühl, daß alles klappt, Sean?« fragte sie dann zögernd. Rogan nickte gelassen. »Es klappt bestimmt«, versicherte er. »Was tust du dann?« »Dann fahre ich nach Hause«, antwortete er. »In Kerry wartet eine Farm auf mich.« »Und eine Frau?« Rogan berührte zart ihr Gesicht. »Ich bin zwanzig Jahre zu alt für dich, ist dir das klar?« »Du hast aber lange im Gefängnis gesessen«, antwortete Hannah lächelnd, »und diese Zeit zählt natürlich nicht.« Er lachte schallend. Hannah stimmte ein, aber dann verstummte ihr Lachen. Sie senkte den Kopf und küßte seine Hand. Rogan stand auf, zog sie zu sich hoch und hielt sie mit ausgestreckten Armen fest. »Hier ist nicht gerade die richtige Umgebung dafür, aber ... -100-
willst du mich heiraten?« Sie starrte ihn ungläubig an. Dann nickte sie stumm, als könne sie nicht mehr sprechen, und warf sich in seine Arme. Rogan drückte sie an sich. Als draußen Steine polterten, weil jemand sich der Hütte näherte, machte Hannah sich los und wischte sich die Tränen aus den Augen. Sie trat an den Tisch und packte die Sandwiches aus. Im nächsten Augenblick kam Brendan herein. Rogan klopfte ihm auf die Schulter, als der Junge verlegen stehenblieb. »Setz dich, wir haben auf dich gewartet.« Brendan biß in den Sandwich, den Hannah ihm gab, und seufzte zufrieden. Als er sprach, stotterte er seltsamerweise nicht mehr. »Ich wollte, dieser Tag wäre ewig lang, Mr. Rogan. Wünschen Sie sich das manchmal auch?« Rogan sah zu Hannah hinüber, weil er wußte, was sie dachte, und schüttelte den Kopf. »Nichts dauert ewig, mein Junge. Das muß man im Leben frühzeitig lernen.« Am Spätnachmittag, als über die Täler bereits die Abenddämmerung herabsank, kamen sie zur Farm zurück. Als sie nur noch wenige hundert Meter vom Tor entfernt waren, sahen sie den Ford Kombi in den Hof einfahren. Die beiden Männer stiegen aus. Fletcher verschwand sofort im Haus, aber Morgan blieb stehen und wartete auf sie. »Verdammt schlechtes Wetter für eine Bergwanderung«, meinte er spöttisch lächelnd. »Schwierigkeiten gehabt?« fragte Rogan knapp. Morgan schüttelte den Kopf. Er ging zum Heck des Wagens, öffnete die Tür und hob einen alten Teppich hoch. Darunter lagen vier sorgfältig zusammengefaltete Postsäcke und zwei braune Pakete mit den Uniformen. »Habt ihr nur vier bekommen?« Morgan nickte. »Die hier hatte er sozusagen auf Lager. Er hätte uns bis heute abend noch mehr beschaffen können, aber -101-
ich bin lieber zurückgekommen, damit du nicht denkst, daß wir uns herumtreiben.« Hannah und Brendan waren ins Haus gegangen. Die beiden Männer standen im Regen allein. »Dann müssen wir eben damit auskommen«, entschied Rogan. »Vorläufig können wir nur warten.« »Richtig«, stimmte Morgan zu. Seine Stimme klang dabei merkwürdig spöttisch. Rogan betrachtete ihn nachdenklich. Erst als Morgan verlegen den Kopf senkte, wandte er sich ab und ging ebenfalls ins Haus.
-102-
13 Vanbrugh kam am Donnerstag kurz vor zwölf Uhr auf dem Bahnhof Paddington an. Dwyer erwartete ihn an der Sperre. Sie gingen ins Bahnhofsrestaurant, nahmen an einem Ecktisch Platz und bestellten Kaffee. Vanbrugh sah müde aus und rauchte eine Zigarette, was er nur selten tat. »Wissen Sie schon, wo Pope steckt?« »Seit ich Ihnen gestern sein Fahndungsbild und die Fotos der beiden anderen Verdächtigen durchgegeben habe, bin ich auf eine weitere Adresse gestoßen. Übrigens gar nicht weit von hier. Die Wirtin hat mir erzählt, er sei vor einer Woche ausgezogen, ohne eine Nachsendeadresse anzugeben. Ich lasse die Spur weiterverfolgen, aber das ist ziemlich schwierig. Sie wissen ja selbst, wie wenig Leute wir haben.« »Ja, ich weiß.« Vanbrugh rieb sich die Augen. »Sie können die Ermittlungen abblasen. Pope hat eine Reise aufs Land gemacht.« »Haben Sie ihn gefunden, Sir?« Vanbrugh schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur, daß er letzte Woche in Taunton einen Wagen gemietet hat. Der Filialleiter des Mietwagenunternehmens hat ihn auf einem Foto wiedererkannt.« »Es ist natürlich noch kein Vergehen, sich ein Auto zu mieten, Sir.« »Nein, aber daß er zufällig in der Nähe des Gefängnisses war, als Rogan ausgebrochen ist, könnte eines sein.« »Sie glauben also nicht, daß Rogan sich noch in der näheren Umgebung aufhält?« Vanbrugh grinste. »Heißt es nicht, daß niemand aus dem Moor entwischen kann? Rogan scheint es geschafft zu haben! -103-
Wie die Dinge jetzt aussehen, ist er vermutlich schon eine Stunde nach der Flucht weitergefahren.« »Dann muß er längst in Irland sein, Sir. Schließlich ist er vor vier Tagen ausgebrochen.« Vanbrugh schüttelte den Kopf. »Das hätten wir gehört, verlassen Sie sich darauf! Nein, er ist noch immer hier. Das weiß ich einfach. Aber ich kann mir keinen Grund dafür vorstellen.« Er starrte in seine Tasse. »Was ist mit diesem Soames?« »Ich habe Scott auf seine Fährte gesetzt. Soames heißt in Wirklichkeit Bertram Greaves. Er ist vor zehn Jahren aus der Anwaltskammer ausgeschlossen worden wegen unehrenhaften Verhaltens. Seitdem hat er unter verschiedenen Namen alle möglichen krummen Dinge gedreht. Soames ist nur einer von vielen Namen.« »Vorbestraft?« »1958 hat er wegen arglistiger Täuschung sechs Monate bekommen. Das ist ungewöhnlich. Er scheint ein aalglatter Bursche zu sein, dem so leicht nichts nachzuweisen ist.« »Hoffentlich gräbt Scott etwas gegen ihn aus«, meinte Vanbrugh. »In der Zwischenzeit möchte ich gern selbst mit Popes Vermieterin sprechen. Das ist vermutlich Zeitvergeudung, aber wer weiß!« Dwyer fuhr Vanbrugh in einem Streifenwagen zu einem alten schmalbrüstigen Haus im Bahnhofsviertel. Auf ihr Klingeln erschien eine Frau im Morgenrock und Lockenwicklern an der Tür. Sie hatte eine Zigarette im Mundwinkel. »Schon wieder Sie?« fragte sie Dwyer, aber ihr ungesund blasses Gesicht trug keinen unfreundlichen Ausdruck. »Chefinspektor Vanbrugh möchte Sie sprechen«, erklärte ihr Dwyer. Die Frau öffnete die Tür weit. »Dann kommen Sie lieber -104-
herein.« In dem düsteren Hausflur stank es nach Kohl und Windeln. Ein ungewaschenes halbnacktes Kind stand in der Küchentür, starrte die Fremden mit großen Augen an und steckte seinen schmutzigen Finger in den Mund. Die Frau ging vor ihnen her die Treppe hinauf und öffnete die erste Tür rechts. »Er hat eine Woche hier gewohnt. Am Montag zieht ein Westinder ein. Er ist bestimmt sauberer als manche Weiße, die ich kennengelernt habe«, fügte sie hinzu. Die Einrichtung des trübseligen Raums bestand nur aus einem Bett, einem Kleiderschrank und einem Stuhl. Sie gingen wieder nach unten, und die Frau führte sie in die Küche. »Ich habe Ihrem Mann alles erzählt, was ich weiß, Mr. Vanbrugh«, versicherte sie dem Chefinspektor. »Ich wollte, ich hätte eine Ahnung, wo der Kerl steckt. Er schuldet mir nämlich die Wochenmiete.« »Können Sie sich wirklich an nichts erinnern?« fragte Vanbrugh. »An einen Ort, einen Namen, irgend etwas?« Sie schüttelte energisch den Kopf. »Hat er nie Besuch gehabt?« »Meinen Sie Damenbesuch? Nein, das gibt's bei mir garantiert nicht!« Vanbrugh seufzte. »Jack Pope hat also während seines Aufenthalts in diesem Haus mit niemand Verbindung aufgenommen? Er hat nicht einmal einen Brief bekommen?« »Richtig.« Als Vanbrugh bereits zur Tür gehen wollte, fügte die Frau hinzu: »Aber er hat eine Postkarte bekommen. Das muß letzte Woche gewesen sein.« Vanbrughs Müdigkeit verflog. »Eine Postkarte? Woher?« »Wie soll ich das wissen, Mr. Vanbrugh?« »Eine Ansichtskarte vom Meer?« half ihr Dwyer. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das war es nicht. Aber ich weiß -105-
noch, daß ich etwas überrascht war.« Sie schlug sich an die Stirn. »Windermere ... Lake Windermere!« Dwyer sah zu Vanbrugh hinüber. »Unsinn, Sir. Wen sollte Pope im Lake District kennen?« Vanbrugh wandte sich an die Frau. »Sie haben uns sehr geholfen - vielleicht mehr, als Sie ahnen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Dafür können Sie mir auch einen Gefallen tun. Wenn Sie den Kerl sehen, bestellen Sie ihm, daß ich meine Miete will.« Das Kind begann zu weinen, und als die Frau sich mit einem Fluch nach ihm umdrehte, verließen Vanbrugh und Dwyer rasch das Haus. Als sie auf die Straße traten, beugte sich der Fahrer des Streifenwagens aus dem Fenster. »Eine Nachricht für Sie, Sir. Eine dringende Meldung.« Vanbrugh nickte Dwyer zu. »Lassen Sie sich die Nachricht durchgeben. Hoffentlich taugt sie etwas.« Während Dwyer sich in den Wagen beugte, zündete Vanbrugh nachdenklich seine Zigarette an. Eine Ansichtskarte aus dem Lake District. Merkwürdig! Dort würde man einen Mann wie Pope oder die Leute, mit denen er verkehrte, bestimmt nicht vermuten. Dwyer drehte sich aufgeregt um. »Das war eben Scott, Sir. Er hat Soames bis zu einer Adresse in Hendon verfolgt. Soames hat seiner Vermieterin erklärt, er müsse eine Woche geschäftlich verreisen. Das war am letzen Samstag. Sie hat ihn seitdem nicht mehr gesehen.« »Los, wir fahren gleich hin«, entschied Vanbrugh. »Die Sache wird langsam interessant.« Sie erreichten ein ruhiges Viertel mit hübschen Reihenhäusern hinter gepflegten Hecken und inmitten sorgfältig angelegter Gärten. Pope und Soames mochten vieles gemeinsam haben ihr Lebensstandard war jedenfalls sehr unterschiedlich. -106-
Scott stand neben seinem Wagen am Ende einer Sackgasse. Hinter ihm erhob sich ein hübsches kleines Haus. Der Beamte war ein großer junger Mann, der sich militärisch gerade hielt. »Was haben Sie erfahren?« wollte Vanbrugh wissen. »Er ist letzte Woche verschwunden, Sir«, antwortete der junge Polizist. »Er hat der Hausbesitzerin erklärt, er müsse geschäftlich verreisen. Seitdem hat sie nichts mehr von ihm gehört.« Vanbrugh nickte. »Sie bleiben hier. Wir gehen hinein. Wie heißt sie?« »Mrs. Jones, Sir. Eine leicht erregbare Witwe, Sir.« Die Tür wurde geöffnet, als Vanbrugh und Dwyer sich ihr näherten. Folglich hatte Mrs. Jones sie hinter den Stores beobachtet. Sie war eine mollige Frau mit blaßblauen, hervorquellenden Augen, und trug ein grünes Hauskleid. »Mrs. Jones? Ich bin Chefinspektor Vanbrugh. Dies hier ist Sergeant Dwyer. Ich möchte mich nach einem gewissen Soames erkundigen, der hier bei Ihnen gewohnt hat.« »Ich habe dem jungen Mann, der vorhin da war, schon alles genau erzählt, Inspektor!« »Vielleicht hat er ein paar Einzelheiten übersehen«, antwortete Vanbrugh geduldig. »Würden Sie uns vielleicht Mr. Soames' Zimmer zeigen?« Mrs. Jones ging die Treppe hinauf. »Ich weiß gar nicht, was meine anderen Gäste dazu sagen werden«, jammerte sie. »Mr. Soames ist immer als Gentleman aufgetreten. Angeblich war er Rechtsanwalt, wissen Sie.« »Wie lange hat er bei Ihnen gewohnt?« »Seit Anfang dieses Jahres. Gerade ein halbes Jahr.« Sie öffnete die Tür am Ende des langen Flurs und ging in das Zimmer voraus. Der Raum war sauber und gemütlich. Im vorderen Teil sah Vanbrugh ein modernes Waschbecken, zwei -107-
Einbauschränke und ein breites Bett. Hinter einem als Raumteiler gedachten Bücherbord befanden sich ein offener Kamin, ein Schreibtisch, zwei Sessel und eine Doppeltür, die auf einen kleinen Balkon hinausführte. »Scott hat schon alles durchsucht, Sir«, erklärte Dwyer ihm. »Aber er hat nichts Schriftliches gefunden.« Vanbrugh zog die Schreibtischschubladen auf. Sie waren leer. »Ein vorsichtiger Mann«, stellte er fest. Dwyer hatte inzwischen die Schränke geöffnet und durchsuchte Soames' Garderobe. Vanbrugh half ihm dabei. Aber aus den Taschen kam nichts Wichtiges zutage. Mrs. Jones beobachtete die beiden Eindringlinge mit einer Mischung aus Unsicherheit und Entsetzen. Vanbrugh erwartete schon, daß sie einen Haussuchungsbefehl verlangen würde, den er nicht hatte. Deshalb ging er gleich zum Angriff über. »Soames ist also am Samstag abgereist, Mrs. Jones?« »Ganz recht, Inspektor. Kurz vor dem Mittagessen. Das weiß ich noch gut, weil er gefragt hat, ob er etwas früher essen könne. Er wollte zum Zug.« »Ist er mit einem Taxi zum Bahnhof gefahren?« erkundigte Dwyer sich hoffnungsvoll. »Nein. Am Ende unserer Straße liegt eine U-Bahnstation. Mit der U-Bahn kommt man heutzutage wesentlich schneller als im Taxi voran.« »Und Soames hat Ihnen nicht den geringsten Hinweis auf sein Reiseziel gegeben?« Mrs. Jones schüttelte den Kopf. »Er hat nur von einer kleinen Geschäftsreise gesprochen. Er wollte eine Woche oder höchstens zehn Tage wegbleiben.« »Ist er auch früher verreist?« »O ja, sogar oft.« »Und er hat nie eine Nachsendeadresse angegeben?« -108-
»Ich habe ihn einmal danach gefragt. Aber er hat gesagt, das sei zwecklos, weil er ständig unterwegs sei.« »Wie hat er hier gelebt? Hat er oft Besuch bekommen?« »Nein, niemals. Er hat mir einmal gesagt, er ziehe es vor, Geschäft und Privatleben strikt voneinander zu trennen. Er war ein ruhiger, wohlerzogener Mann, der sehr zurückhaltend auftrat. Abends ist er meistens bei›George‹an der Ecke gewesen, um ein Bier zu trinken, aber er ist nie länger als eine halbe Stunde fortgeblieben. Er hat gern ferngesehen und mir im Garten geholfen. Er verstand viel von Blumen.« »Hat er viel Post bekommen?« Sie zuckte mit den Schultern. »Zwei oder drei Briefe pro Tag. Meistens nur Drucksachen.« »Auch interessante Briefe?« Mrs. Jones richtete sich empört auf. »Ich interessiere mich nicht für die Post meiner Mieter, Inspektor.« »Das habe ich keineswegs behauptet«, antwortete Vanbrugh geduldig. »Aber Sie müssen die Post doch morgens sortieren, wenn sie kommt. Dabei wäre es ganz normal, wenn einem etwas Außergewöhnliches, irgendeine Abweichung auffiele.« Mrs. Jones antwortete so prompt, als habe der Chefinspektor damit einen Reflex ausgelöst. »Ja, Sie haben ganz recht. Früher hat Mr. Soames fast nur Post aus London bekommen. Aber in letzter Zeit kommen die Briefe von überall.« »Können Sie sich an ein paar Orte erinnern?« »Er hat einige aus Manchester und mehrere aus dem Lake District bekommen. Am Tag seiner Abreise ist einer aus Taunton angekommen. Das liegt im West Country«, fügte sie hinzu. »Ich habe letztes Jahr ganz in der Nähe Urlaub gemacht.« Dwyer war unwillkürlich einen Schritt vorgetreten, aber Vanbrugh hob warnend die Hand. »Können Sie sich daran erinnern, aus welcher Gegend des Lake Districts diese Briefe -109-
gekommen sind, Mrs. Jones?« »Ja, natürlich! Er hat sie immer gleich beantwortet, und ich habe sie manchmal mit zur Post genommen. Er hat an einen Mr. Grant in Kendal geschrieben.« »Wissen Sie die Adresse noch?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht. Aber die Briefe waren alle›zu Händen von‹adressiert. Daran erinnere ich mich genau. Ich nehme an, daß Mr. Grant in einer Pension oder dergleichen gewohnt hat.« Sie strich sich ungeduldig übers Haar. »Mehr kann ich Ihnen wirklich nicht sagen, Inspektor.« Vanbrugh lächelte charmant. »Meine liebe Mrs. Jones, Sie haben uns schon sehr geholfen. Ich glaube nicht, daß wir Sie nochmals belästigen müssen.« Er verließ mit Dwyer das Haus. Scott sah ihnen gespannt entgegen. »Haben Sie etwas erfahren, Sir?« »Allerdings!« Vanbrugh wandte sich an Dwyer. »Ein interessanter Zufall, nicht wahr? Soames und Pope hauen mit jemand im Lake District Verbindung.« »Aber was sollten sie dort wollen, Sir?« meinte Dwyer zweifelnd. »Das verstehe ich nicht.« »Warum nicht?« fragte Vanbrugh. »Dort ist es einsam... um diese Jahreszeit begegnet man im Lake District außerhalb der Ortschaften kaum noch Menschen...« »Wenn sie wirklich dort sind, Sir«, wandte der Sergeant ein. Vanbrugh grinste. »Wenn Sie dieses Geschäft so lange wie ich gemacht hätten, Dwyer, würde Ihnen eine interessante Tatsache auffallen. Unsere Arbeit besteht hauptsächlich daraus, daß wir Tatsachen auswerten und die Möglichkeiten erkennen, die sich daraus ergeben.« »Das weiß ich bereits, Sir.« »Aber das ist noch nicht alles«, fuhr Vanbrugh fort. »Im Lauf der Zeit werden Sie feststellen, daß Sie einen Instinkt -110-
entwickeln, der Ihnen hilft, bestimmte Schlüsse zu ziehen, ohne deren Richtigkeit jedoch beweisen zu können. Soames und Pope sind in Kendal oder ganz in der Nähe. Das weiß ich bestimmt.« »Und Rogan, Sir?« Vanbrugh schüttelte melancholisch den Kopf. »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Wenn er dort wäre, wüßte ich keine Erklärung dafür. Mir ist auch unklar, was er mit Leuten wie Pope oder Soames zu schaffen hat.« »Was tun wir als nächstes, Sir?« »Wir fahren in mein Büro zurück, damit ich gleich eine Dienstreise in den Lake District beantragen kann. Außerdem soll der Alte die dortige Polizei bitten, uns zu unterstützen.« »Wir kommen aber frühestens heute abend um neun oder zehn nach Kendal«, wandte Dwyer ein. »Vor morgen früh können wir also nichts unternehmen.« »Soames hat 1958 gesessen, nicht wahr?« fragte Vanbrugh unvermittelt. »Dann können wir wenigstens sein Erkennungsdienstfoto mit Popes Bild nach Kendal übermitteln. Je früher dort nach ihnen gefahndet wird, desto eher haben wir sie.« Als der Wagen anfuhr, sank er in den Sitz zurück. Seine Müdigkeit war von ihm abgefallen, und er schloß jetzt nur die Augen, um besser nachdenken zu können. Er war davon überzeugt, daß die Lösung dieses Rätsels in einer Gegend zu finden war, an die er sonst nie gedacht hätte. Zur gleichen Zeit kauerte Soames hinter Büschen am Rand der Küstenstraße, in der Nähe des Wegweisers nach Marsh-End. Die kleine grüne Limousine, die er in Broughtonin-Furness gemietet hatte, stand auf einer Lichtung in dem angrenzenden Wäldchen. Soames war nur zufällig hier. Er hatte am Rand der Straße nach Ambleside auf Pope gewartet, der zu Fuß das Tal -111-
hinaufgegangen war, um sich wie vereinbart mit Morgan zu treffen. Dann hatte er den Ford Kombi mit Rogan und Hannah Costello aus Scardale herunterkommen sehen. Er war geistesgegenwärtig genug gewesen, diese Gelegenheit zu nützen. Rogan rechnete nicht mit einem Verfolger. Er hatte sich impulsiv zu einem letzten Besuch bei Colum O'More entschlossen. Außerdem trug er die Zündschlüssel des alten Lastwagens und des Morris' in der Tasche. Hannah und Rogan wählten den längeren Weg über Hawkshead, Coniston und Broughton. Der Verkehr war verhältnismäßig dicht, was Soames nur recht sein konnte. Er war von Natur aus vorsichtig, hielt nichts von Gewalt und wußte genau, wann es sich lohnte, eine Chance auszunützen. Als der Ford nach Marsh-End abbog, fuhr er weiter, wendete und suchte an der Abzweigung ein Versteck, wo er den Wagen lassen konnte. Dann schlich er zu Fuß weiter, bis er das Farmhaus, in dessen Hof der Ford stand, vor sich hatte. Soames kehrte an die Straße zu seinem Versteck zurück. Er mußte stundenlang im Regen warten, bis schließlich der Ford zurückkam; er blieb hinter den Büschen und kam erst heraus, als das Motorengeräusch verklungen war. Soames ließ seinen Wagen stehen und schlich wieder zur Farm. Das Haus wirkte von außen unbewohnt. Er zögerte nur kurz, beobachtete die Fenster und durchquerte dann den Hof, um zur Haustür zu gelangen. Die Tür war offen. Soames ging den Flur entlang. Die Wohnzimmertür war nicht ganz geschlossen. Hinter ihr hustete jemand. Soames stieß sie auf. Colum O'More saß am Kamin und wollte sich eben seine Pfeife anzünden. Er starrte Soames sprachlos an. Seine Augen blitzten wütend. »Was haben Sie hier zu suchen, verdammt noch mal?« -112-
»Ich dachte, wir müßten uns einmal in Ruhe unterhalten.« Soames betrat den Raum, nahm seinen Hut ab und ließ sich in einen Sessel fallen. »Ich habe Ihnen nichts zu sagen«, antwortete O'More. »Sie sind für Ihre Arbeit gut bezahlt worden, und damit ist der Fall erledigt!« »Ich habe einen Freund in Dublin, Mr. O'More. Wußten Sie das?« Soames wärmte sich die Hände am Kaminfeuer. »Er hat einige Erkundigungen für mich eingezogen. Natürlich bei den richtigen Leuten.« Er lächelte leicht. »Im Hauptquartier Ihrer Organisation in Dublin scheint man schon seit über fünf Jahren nichts mehr von Ihnen gehört zu haben.« Soames schüttelte tadelnd den Kopf. »Sie haben nicht die Wahrheit gesagt, Mr. O'More. Oder wollen Sie das etwa bestreiten?« Als der Alte nicht antwortete, fuhr Soames spöttisch fort: »Das kann unangenehme Folgen haben. Stellen Sie sich nur vor, was Sean Rogan dazu sagen würde ...«
-113-
14 Der kalte Wind trieb den Regen gegen die Fensterscheiben, durch die Vanbrugh mürrisch auf den Platz hinaussah. Er hatte den Morgen damit verbracht, in sämtlichen Hotels von Kendal nach Pope und Soames zu fragen. Aber er hatte keine Spur von ihnen entdeckt, und dieser Fehlschlag besserte seine Stimmung nicht gerade. Jetzt fragte er sich, wo Dwyer stecken mochte. Ein junger Polizeibeamter klopfte an und brachte ihm eine Tasse Tee. Als er gehen wollte, kam Dwyer herein. »Bringen Sie mir auch eine?« bat er und zog sich den Mantel aus. »Puh, ist das hier ein Klima!« »Haben Sie etwas erreicht?« wollte Vanbrugh wissen. Dwyer schüttelte den Kopf. »Wir haben sämtliche Gästehäuser und Pensionen abgeklappert. Ich habe die Männer zum Mittagessen geschickt. Sie sollen in einer Stunde zurückkommen.« »In den Hotels waren die beiden auch nicht.« Dwyer bekam seinen Tee, nickte dankend und trank ihn langsam. »Es muß hier natürlich eine Menge Leute geben, die Privatzimmer vermieten.« »Zu viele«, entschied Vanbrugh. »Wir haben weder genug Leute noch Zeit, um sie alle ausfindig zu machen.« »Das würde aber erklären, weshalb Grants Briefe nicht unmittelbar an ihn adressiert waren.« »Ich habe mit dem Leiter des hiesigen Postamts gesprochen«, sagte Vanbrugh. »Vielleicht erinnert sich einer der Briefträger an etwas. Das ist unwahrscheinlich - aber immerhin möglich.« »Und?« »Ich warte noch. Die meisten Briefträger kommen erst von ihrer Runde zurück. Er will sie fragen und mich dann anrufen.« -114-
Vanbrugh sah auf seine Uhr. »Fünf nach zwei. Noch eine halbe Stunde.« »Gleich um die Ecke habe ich einen Pub gesehen«, erklärte Dwyer ihm. »Dort bekommen wir vielleicht ein paar Sandwiches oder dergleichen.« »Oder ein Bier?« »Der Vormittag war ziemlich anstrengend, Sir.« Vanbrugh nahm grinsend seinen Mantel vom Haken. »Wenn Sie zahlen, Sergeant ...« Rogan sah an Hannah vorbei durch die Windschutzscheibe, auf der die Scheibenwischer arbeiteten, und erkannte Paddy Costello einige hundert Meter vor ihnen am Straßenrand. Der kleine Mann setzte sich auf den Beifahrersitz, murmelte einen Fluch und knallte die Tür zu. »Verdammt noch mal, ich bin klatschnaß. Dieser verfluchte Regen geht bis auf die Haut durch.« »Hat alles geklappt?« fragte Rogan. »Der Wagen steht jetzt hinter der alten Scheune. An einem Tag wie heute kommt dort bestimmt niemand hin.« Rogan lehnte sich gegen die Seitenwand des Lieferwagens und zündete sich eine Zigarette an. Dann warf er die Packung Fletcher zu, der ihm in einer blauen Uniform gegenübersaß. Die Hände des großen Mannes zittern leicht, als er sich bediente. »He, was hast du?« erkundigte sich Morgan. »Machst du dir in die Hosen?« »Schnauze!« antwortete Fletcher. Er lehnte sich zufrieden zurück. »Heute klappt alles, das weiß ich.« »Hast du an eine Wahrsagerin geschrieben?« fragte Morgan spöttisch. Als Fletcher die Faust ballte, mischte sich Rogan ein. »Laßt -115-
den Unsinn!« forderte er die beiden auf. »Von morgen an könnt ihr euch meinetwegen totschlagen. Aber heute brauche ich euch noch.« Einige Minuten später fuhren sie durch Kendal. Rogan sah auf seine Uhr. »Noch eine Viertelstunde«, stellte er fest. Er sah, daß Costello vor Nervosität kaum stillsitzen konnte. Fletcher zeigte keine erkennbare Gefühlsbewegung mehr, und Morgan grinste nur, als Rogan ihm einen prüfenden Blick zuwarf. »Immer wieder aufregend, was?« Rogan antwortete nicht, aber er wußte, was der andere meinte. Er hatte keine Angst, aber die Spannung war fast unerträglich. Sie würde anhalten, bis ihr Unternehmen begann. Danach hatte man keine Zeit mehr, an etwas anderes als den Job zu denken. Der Lieferwagen fuhr eine schmale Straße zwischen hohen Hecken entlang. Dann hatten sie plötzlich Rigg Station vor sich. Hannah bremste, legte den Rückwärtsgang ein und beschrieb einen Bogen, so daß das Heck des Lieferwagens fast an die Laderampe stieß, als sie zum zweitenmal hielt. Rogan öffnete die Tür, stieg aus und betrat den Schalterraum. Er hatte bereits ein Halstuch im Nacken zusammengeknotet und zog es jetzt über die untere Gesichtshälfte, während die obere fast unter einer alten Schirmmütze verschwand. Rogan stieß die Tür zum Dienstzimmer des Bahnhofsvorstehers auf und trat in den Raum. Briggs stand am Ofen, hatte gerade eine Teekanne in der Hand und griff mit der anderen nach dem Wasserkessel. Als er sich langsam umdrehte, zog Rogan seine Pistole. Der Alte starrte ihn verwirrt an. Er öffnete den Mund, als wolle er sprechen, aber sein Unterkiefer sank herab, weil der Schock ihn jetzt mit der Gewalt eines Faustschlags traf. Paddy Costello kam herein, öffnete die andere Tür und -116-
verschwand im Gepäckraum. Als Rogan hörte, daß er das Tor zum Bahnsteig aufschob, wandte er sich an Briggs: »Tun Sie, was ich Ihnen sage, dann passiert Ihnen nichts. Ziehen Sie die Jacke aus und legen Sie sie mit der Mütze auf den Tisch.« Der alte Mann stand wie erstarrt. Er schien vor Angst gelähmt zu sein. Rogan trat an ihn heran und setzte ihm das kalte Metall der Pistolenmündung auf die Stirn. »Jetzt, nicht erst morgen!« Der erhoffte psychologische Effekt stellte sich sofort ein. Briggs nahm sich kaum noch Zeit, seine Teekanne abzusetzen, bevor er sich hastig seiner Jacke entledigte. Als Costello zurückkam, stand der Stationsvorsteher in Hemdsärmeln und ohne Mütze neben seinem Schreibtisch. Rogan nickte Costello zu, der sich dem Alten mit einem Tau zwischen den Händen näherte, und ging selbst in den Gepäckraum hinaus. Draußen spritzte der Kies, als Hannah mit dem alten Morris davonfuhr. Fletcher zerrte den vierten Postsack herein, und Morgan schloß das Tor hinter ihm. Er wandte sich an Rogan. »Alles klar?« Seine Augen glitzerten vor Erregung. Rogan nickte und sah auf die Uhr. »Noch fünf Minuten. Vielleicht auch weniger.« Costello hatte dem Alten einen Schal um die Augen gebunden und ihm den Mund mit einem breiten Stück Heftpflaster zugeklebt. Er fesselte ihm eben die Hände auf den Rücken, als Rogan wieder hereinkam und ihn mit der Fußspitze anstieß. »Überlaß das mir. Zieh dich lieber um.« Während Costello hastig seinen Regenmantel ablegte und die Uniformjacke anzog, kniete Rogan neben dem Alten, band ihm die Hände zusammen und klopfte ihm dann beruhigend auf die Schulter. »Ich bringe Sie jetzt woanders unter, wo Sie vorläufig in -117-
Sicherheit sind. Machen Sie keine Dummheiten, dann geschieht Ihnen nichts, verstanden?« Der alte Mann nickte. Rogan öffnete die Tür des Waschraums, trug Briggs hinein und legte ihn dort auf den Boden. Dann ging er ins Dienstzimmer zurück. Costello hatte die Jacke zugeknöpft und probierte eben die Mütze auf. Er betrachtete sich in einem fast blinden Spiegel an der Wand, drehte sich um und lachte nervös. »Ob das genügt?« »Klar!« versicherte ihm Rogan. »Verschwinde jetzt nach draußen und fang an zu arbeiten.« Er blieb an dem schmalen Fenster stehen, bis Costello mit einem Besen auf dem Bahnsteig erschien, und ging dann in den Gepäckraum zurück. Morgan hatte eine der Schiebetüren einen Spalt breit geöffnet und sah nach draußen. Als Fletcher etwas sagen wollte, machte Morgan eine warnende Handbewegung. Gleichzeitig war draußen Motorengeräusch zu hören. Rogan stellte sich neben Morgan. Er sah durch den Spalt hinaus und erkannte den Geldtransportwagen, der eben auf den Parkplatz abbog. Das dunkelblaue Fahrzeug mit den Panzerglasscheiben und der Antenne auf dem Dach hielt nur wenige Meter von ihnen entfernt. Fahrer und Beifahrer waren deutlich zu sehen: ein kräftiger älterer Mann mit Schnurrbart und ein hagerer junger Mann mit kurzgeschnittenen blonden Haaren und einer auffälligen Narbe auf der Stirn. Der Blonde gähnte, griff nach dem Mikrophon des Funkgeräts und sprach hinein. Dann hängte er es wieder an den Haken, zündete sich eine Zigarette an und sah auf die Uhr, die der Fahrer ihm zeigte. Die Tür zum Bahnsteig wurde geöffnet. Costello erschien dort. »Der Zug kommt!« »Okay, du gehst hinaus und nickst ihnen zu«, befahl Rogan -118-
ihm. Als Costello zögerte, gab Morgan ihm einen Tritt. »Los, mach schon, verdammter Kerl!« Costello öffnete das Schiebetor etwas weiter, beugte sich hinaus und hob die Hand. Der Fahrer nickte, legte den Rückwärtsgang ein und fuhr an die Rampe. Rogan hörte den Zug bremsen und gab Costello einen Stoß. »Auf den Bahnsteig mit dir! Aber bleib in der Nähe des Tores!« Rogan ging ins Dienstzimmer zurück. Morgan und Fletcher blieben im Gepäckraum. Sie standen rechts und links des Schiebetores und hielten beide einen Gummiknüppel schlagbereit. Dann schien alles gleichzeitig zu passieren. Als der Zug in den Bahnhof einfuhr, wurde das Tor zum Gepäckraum von außen geöffnet. Der Fahrer kam als erster herein; er trug das Quittungsbuch in der Hand und schleppte einen Sack hinter sich her. Der junge Beifahrer, in dessen Mundwinkel noch die Zigarette hing, folgte ihm mit einem zweiten Sack. Morgan und Fletcher schlugen gleichzeitig zu. Der Fahrer ging sofort zu Boden. Er war schon nach dem ersten Schlag bewußtlos. Sein Beifahrer ließ den Sack fallen, drehte sich um und wollte nach seinem eigenen Gummiknüppel greifen. Aber Fletchers nächster Schlag traf ihn im Nacken, und auch er sank zusammen. Rogan stürzte aus dem Dienstzimmer, packte die Füße des Fahrers und zog ihn hinter sich her. Als er ihn hinter dem Schreibtisch liegenließ, kam Fletcher mit dem anderen heran. Als Rogan wieder in den Gepäckraum ging, setzte Morgan sich eben die Schirmmütze des Fahrers auf. »Der verdammte Wagen ist leer«, meldete er. »Diesmal sind's nur zwei kümmerliche Säcke.« Colum O'More hatte sich also ausnahmsweise geirrt, aber damit konnte Rogan sich jetzt nicht befassen. Er kniete bereits -119-
neben den Postsäcken, hielt eine Kneifzange in der Hand und zertrennte damit den Draht, mit dem die Säcke verschlossen waren, an einer der Plombe gegenüberliegenden Stelle. Dann steckte er ihn rasch durch die Ösen eines der falschen Säcke, die Fletcher heranschleppte, und drehte die Enden zusammen. Als er mit dem zweiten beschäftigt war, meinte Morgan besorgt: »Hoffentlich sehen sie sich die Säcke nicht genau an.« »Warum sollten sie auch?« fragte Rogan gelassen und stand auf. »Los, hinaus mit euch!« Die Mütze des Beifahrers war Fletcher zu klein, aber er setzte sie sich weit in die Stirn und griff nach einem der Säcke. Morgan trug das Quittungsbuch, zog den zweiten Sack hinter sich her und ging voraus. Am Tor zögerte er kurz, öffnete es dann und trat auf den Bahnsteig. Rogan wartete mit angehaltenem Atem. Auf dem Bahnsteig war es merkwürdig ruhig. Nur die Dieselmotoren der Lokomotive brummten im Leerlauf. Paddy Costello stand in der Nähe des Tores auf seinen Besen gelehnt und sah demonstrativ auf seine Uhr. Die Tür des Postwagens war offen. Morgan ging darauf zu. Ein Mann in Uniform beugte sich grinsend ins Freie. »Na, ihr haltet wohl nichts von Pünktlichkeit, was?« »Wir fahren diese Tour heute zum erstenmal«, entschuldigte sich Morgan. Er hob seinen Geldsack in den Wagen. Fletcher folgte seinem Beispiel. Der andere Mann streckte die Hand nach dem Quittungsbuch aus. Morgan gab es ihm. Der Mann zeichnete die oberste Quittung ab, riß sie heraus und gab das Buch zurück. »Gut, das war's also.« Als er die Tür schließen wollte, sagte Morgan rasch: »Oh, das hätte ich fast vergessen! Tun Sie uns noch einen Gefallen? Unser Funksprechgerät funktioniert nicht richtig. Geben Sie für -120-
uns durch, daß wir das Geld abgeliefert haben und auf dem Rückweg sind?« »Klar, wird gemacht.« So einfach war die Sache. Der Mann schloß seine Tür, und Costello hob die Hand. Der Zugführer pfiff schrill. Im nächsten Augenblick röhrten die großen Motoren auf. Der Zug setzte sich in Bewegung und verließ den Bahnhof. Als der letzte Wagen im Regen verschwunden war, kamen die drei Männer aufgeregt in den Gepäckraum. »Wir haben's geschafft, wir haben's tatsächlich geschafft!« sagte Fletcher. »Nein, noch lange nicht«, widersprach Rogan. »Ladet die beiden Säcke in den Wagen und vergeßt die anderen nicht. Laßt nichts hier, was uns verraten könnte.« Er wandte sich an Morgan. »Du kannst mir drinnen helfen.« Der Fahrer und sein Beifahrer lagen noch immer bewußtlos im Dienstzimmer. Rogan untersuchte sie. Der Fahrer hatte eine blutende Platzwunde hinter dem Ohr. Rogan holte eine Rolle dicken Bindfaden aus der Tasche und fesselte die beiden damit. Morgan half ihm dabei. »Du setzt dich in den Wagen und läßt den Motor an«, befahl ihm Rogan. »Ich komme gleich nach.« Er ging in den Waschraum, ließ sich neben Briggs nieder und löste das Heftpflaster ab, damit der Alte besser atmen konnte. Briggs holte dankbar tief Luft. Rogan klopfte ihm auf die Schulter. »Alles in Ordnung, Dad. Der Güterzug müßte in fünfundzwanzig Minuten kommen.« Der Alte konnte ihn nicht sehen, aber er drehte den Kopf in seine Richtung. »Gott helfe Ihnen, mein Junge, denn damit kommen Sie niemals durch!« »Wer nichts riskiert, erreicht nichts.« Rogan trat auf die Rampe hinaus. Costello stand an der offenen Hecktür des -121-
Geldtransportwagens. Rogan trat neben ihn und schloß die Tür. Morgan hatte sie im Innenspiegel beobachtet, gab jetzt Gas und fuhr an. Als der Wagen mit Höchstgeschwindigkeit auf der schmalen Straße dahinraste, schaltete Rogan die Bordsprechanlage ein. »Nur nicht zu schnell, Morgan. Besonders durch Kendal nicht. Wir haben massenhaft Zeit.« »Hältst du mich vielleicht für einen Trottel?« fragte Morgan wütend. Rogan schaltete ab und sah zu Paddy Costello hinüber, der auf der anderen Bank hockte und sich nervös das Gesicht abwischte. »Alles klappt prima«, versicherte ihm Rogan. »Alles ist in bester Ordnung.« Der Alte nickte mit zusammengekniffenen Lippen, als habe er Angst, sich durch ein Zittern in seiner Stimme zu verraten. In Kendal herrschte nur wenig Verkehr. Morgan mußte zweimal an Ampeln halten. Auf der Straße nach Windermere fuhr er wieder schneller und bog genau acht Minuten nach der Abfahrt aus Rigg Station von der Straße auf den Weg zur Kiesgrube ab. Als der Wagen hielt, öffnete Rogan die Tür von innen und sprang hinaus. Hannah kam besorgt heran. »Hat alles geklappt?« Rogan nickte. »Tadellos. Wo ist der Morris?« »Hinter der Scheune.« Costello und Fletcher luden die Postsäcke bereits in den Lastwagen um. Morgan wartete, bis Fletcher ihm etwas zurief. Dann gab er Gas, ließ das Fahrzeug auf die Kiesgrube zurollen und sprang erst im letzten Augenblick ab. Eine Sekunde später klatschte der Wagen ins Wasser. Als Rogan und Hannah herankamen, war er bereits untergegangen. »Jetzt noch der Morris«, entschied Rogan. »Aber am besten etwas weiter oben.« -122-
Kurz danach versank auch der Lieferwagen in der Kiesgrube. Costello saß bereits am Steuer des Lastwagens und hatte Hannah neben sich. Als er den Motor anließ, kletterten Rogan und Morgan auf die Ladefläche und ließen sich dort neben Fletcher nieder. Hinter der hohen Bordwand waren sie von außen nicht zu sehen. Der Lastwagen fuhr zur Straße zurück, hielt dort kurz, während Hannah das Tor schloß, und rollte dann in Richtung Windermere weiter. »Wieviel Zeit haben wir noch?« wollte Morgan wissen. Rogan sah auf seine Uhr. »Der Güterzug müßte Rigg in zwölf Minuten erreichen - wenn er pünktlich kommt.« »Was er bestimmt nicht tut.« »Das Zugpersonal braucht mindestens fünf Minuten, um herauszubekommen, was dort passiert ist, und um die Polizei zu alarmieren. Die Polizei braucht ihrerseits zehn Minuten, bevor die Fahndung anlaufen kann. Folglich haben wir siebenundzwanzig Minuten Zeit.« »Und Ambleside ist nur zehn Meilen entfernt«, meinte Morgan grinsend. »Wir haben's wirklich geschafft!« Fletcher stieß den Postsack vor sich an. »Wieviel haben wir schätzungsweise erwischt?« »Das kann ich dir genau sagen«, antwortete Morgan. »Ich habe nur noch nicht nachsehen können.« Er holte das Quittungsbuch aus der Brusttasche seiner Uniform. »Hier steht ›Sendung wird eingestampft‹« »Also lauter alte Scheine«, stellte Fletcher fest. »Genau was wir brauchen.« »Sack Rs3, fünfundvierzigtausend in Einpfundscheinen, fünfundzwanzigtausend in Fünfern. Sack Rs4, fünfzigtausend in Einpfundscheinen, zwanzigtausend in Fünfern.« »Donnerwetter!« meinte Fletcher ehrfürchtig. »Hundertvierzigtausend Pfund in alten Scheinen!« -123-
»Nicht übel«, stimmte Morgan zu. »Das wären über fünfundvierzig Mille pro Mann, wenn man zu dritt teilt.« Er grinste. »Ein interessanter Gedanke.« »Komm, wir sehen einmal hinein!« sagte Fletcher aufgeregt und griff nach dem Sack. Aber Rogans Stiefel traf seine Hand. Fletcher knurrte wütend, warf sich herum und sah in eine Pistolenmündung. »Colum O'More öffnet die Säcke, sonst niemand.« Rogans Waffe blieb auf Fletchers Stirn gerichtet. »Noch einen Versuch dieser Art, dann knallt's. Darauf kannst du dich verlassen!«
-124-
15 Auf dem Parkplatz vor Rigg Station standen mehr Autos als je zuvor, und als Vanbrugh an die Rampe trat, sah er einen weiteren Streifenwagen heranrollen. Zwei Sanitäter kamen aus dem Gepäckraum. Sie trugen den Fahrer des Geldtransportwagens auf einer Bahre. Zwei weitere folgten ihnen mit dem Beifahrer. Vanbrugh stopfte sich eine Pfeife, während er beobachtete, wie die beiden in den Krankenwagen geladen und abtransportiert wurden. Vanbrugh und Dwyer waren zufällig in Kendal bei Inspektor Gregory gewesen, um mit ihm über ihren vergeblichen Besuch auf dem Postamt zu sprechen, als aus Rigg Station angerufen wurde. Vanbrugh hatte seinen Kollegen Gregory nicht nur aus beruflichem Interesse begleitet. Als er sich jetzt seine Pfeife anzündete, kam Dwyer aus dem Gepäckraum. »Eine kaltblütige Bande. Das muß man ihnen lassen. Diese Frechheit, vom Zug aus die Übergabe des Geldes melden zu lassen!« »Dahinter steckt ein kluger Kopf«, gab Vanbrugh zu. Dwyer zögerte, bevor er hinzufügte: »Kommt Ihnen diese Arbeitsweise nicht auch bekannt vor, Sir?« Vanbrugh seufzte schwer. »Eigentlich merkwürdig, daß ich Ihnen erst neulich von meinem Erlebnis in Frankreich erzählt habe. Dieser ganze Überfall trägt deutlich die gleiche Handschrift.« Gregory trat zu ihnen. Der Inspektor war groß und hager und trug eine maßgeschneiderte Uniform. »Ich habe mir die Sache durch den Kopf gehen lassen, Sir«, sagte er zu Vanbrugh. »Das waren Fachleute aus der Stadt. Glauben Sie, daß Ihr Sean Rogan etwas damit zu tun hat?« -125-
»Ich nehme es an«, erwiderte der Chefinspektor. »Kann ich einen Augenblick mit dem Bahnhofsvorsteher sprechen?« »Bitte sehr.« Sie gingen ins Dienstzimmer, wo der alte Briggs mit einer Tasse Tee an seinem Schreibtisch saß. Ein Polizeibeamter stand an der Tür. Ein Sergeant saß Briggs gegenüber und protokollierte seine Aussage. Er stand auf und trat zur Seite. »Na, geht's wieder besser, Mr. Briggs?« erkundigte Gregory sich. »Mir fehlt nichts, was sich nicht mit einem Schluck aus der Flasche kurieren ließe«, antwortete der Alte. »Dies hier ist Chefinspektor Vanbrugh von Scotland Yard. Er möchte Ihnen einige Fragen stellen.« Vanbrugh hatte einen Blick in das Notizbuch des Sergeanten geworfen. Jetzt hob er den Kopf. »Sie haben das Gesicht des Mannes mit der Pistole also nicht gesehen?« »Nein. Er hatte sich ein Tuch umgebunden.« »War er groß und kräftig?« »Ein wahrer Riese, Sir.« Vanbrugh nickte. »Wie hat er gesprochen?« »Wie soll er gesprochen haben?« fragte Briggs verwundert. »Ganz normal und keineswegs ungebildet.« »Hatte er einen leichten irischen Akzent?« »Möglich«, gab Briggs zu. »Irisch oder schottisch, das kann ich nicht sagen. Er war kein schlechter Kerl, wenn Sie mich fragen.« »Wie kommen Sie darauf?« wollte Vanbrugh wissen. Der Alte zuckte mit den Schultern. »Er hat sich nach dem Überfall noch die Zeit genommen, zu mir in den Waschraum zu kommen und mich vom Heftpflaster zu befreien. Ich hätte sonst fast keine Luft mehr bekommen.« -126-
Vanbrugh nickte langsam und wandte sich an Gregory, der interessiert zugehört hatte. »Das klingt alles sehr nach Rogan.« Sie gingen wieder in den Gepäckraum hinaus, und Vanbrugh schüttelte dabei den Kopf. »Aber warum nur? Das paßt nicht zu ihm. Ich kenne Sean Rogan seit Jahren. Das ist nicht seine Art.« »Er hat lange gesessen, Sir«, warf Dwyer ein. »Vielleicht hat er sich verändert.« Bevor Vanbrugh antworten konnte, beugte sich der Fahret des nächsten Streifenwagens aus dem Fenster und rief: »Inspektor Gregory, eine Meldung aus Kendal!« Gregory sprang von der Rampe, ging zu dem Wagen und ließ sich das Mikrophon geben. Einen Augenblick später richtete er sich auf und winkte Vanbrugh heran. »Die Deckadresse, die Sie suchen, scheint doch bekannt zu sein«, rief er ihm zu. »Offenbar weiß sie ein Briefträger, der mit einem verstauchten Knöchel zu Hause liegt. Deshalb war die erste Befragung erfolglos.« Vanbrugh kam voller Eifer heran. »Wissen Sie, was das bedeutet?« Gregory lächelte gelassen. »Jemand muß sich auf eine unangenehme Überraschung gefaßt machen, glaube ich.« Die angegebene Adresse gehörte einem Mann, der in Kendal eine kleine Anzeigenannahme betrieb. Dort stand bereits ein Streifenwagen, als Gregory und die beiden Beamten von Scotland Yard ankamen. Harvey, der Postbote, saß mit einem Spazierstock zwischen den Knien auf dem Rücksitz und unterhielt sich mit der Besatzung des Streifenwagens. »Mr. Harvey, ich bin Inspektor Gregory«, stellte Vanbrughs Begleiter sich vor. »Wissen Sie bestimmt, daß wir hier an der richtigen Adresse sind?« »Wegen der Briefe, die Tomlinson für einen gewissen Charles Grant in Empfang genommen hat? O ja, Sir. Ich erinnere mich -127-
noch gut daran, daß er mir erzählt hat, daß er für seine Mühe zehn Schilling wöchentlich bekommt.« Gregory sah zu seinen beiden Leuten hinüber. »Sind Sie schon bei ihm gewesen?« »Noch nicht, Sir.« Er nickte Vanbrugh zu. »Nach Ihnen.« Tomlinson war ein Mann in mittleren Jahren mit grauem Haar und einer mit Isolierband geflickten Hornbrille. Als sie hereinkamen, stand er hinter dem Ladentisch und beugte sich vor, um zu sehen, wer die ganze Aufregung verursachte. »Mr. Tomlinson?« fragte Gregory. »Ich bin Inspektor Gregory. Dies hier sind Chefinspektor Vanbrugh und Sergeant Dwyer von Scotland Yard. Soviel wir gehört haben, müßten Sie uns bei unseren Ermittlungen helfen können.« Tomlinson schüttelte verwirrt den Kopf. »Ich weiß gar nicht, wovon Sie reden.« »Sie haben Briefe für einen Mr. Charles Grant, die an diese Adresse gerichtet waren, in Empfang genommen?« Tomlinson nickte zögernd. »Das ist doch erlaubt, nicht wahr?« »Wir glauben, daß Mr. Grant ein Mann ist, den wir suchen. Wissen Sie, wo er sich jetzt aufhält?« »Nein«, antwortete Tomlinson. »Ich habe ihn nur einmal gesehen. Ein alter Mann mit einem Krückstock. Ein Ire, glaube ich, obwohl er einen schottischen Namen hat.« »Sind viele Briefe für ihn gekommen?« Tomlinson nickte. »Drei bis vier pro Woche. Eine junge Frau hat sie fast jeden Nachmittag abgeholt.« »Wissen Sie, wie sie heißt?« Tomlinson schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich habe sie ein paarmal in Ambleside auf dem Markt gesehen. Sie war dort mit -128-
dem alten Costello - Paddy Costello. Er hat eine Schaffarm bei Scardale. Costello ist in allen Kneipen bekannt.« Gregory eilte hinaus und wies den Fahrer des Streifenwagens an: »Rufen Sie die Zentrale. Jemand soll das Polizeirevier in Ambleside anrufen und sich nach einem gewissen Paddy Costello erkundigen, der eine Farm bei Scardale hat.« Vanbrugh und Dwyer kamen herein. Gregory bot ihnen sein Zigarettenetui an. Sie standen nervös rauchend neben dem Wagen, bis die Antwort eintraf. »Der Sergeant in Ambleside kennt Costello gut«, meldete der Fahrer schließlich. »Er ist schon mehrmals wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses vorbestraft. Ihm gehört eine Farm in Scardale unterhalb des alten Bergwerks.« »Wohnt er dort allein?« »Sein Sohn lebt bei ihm. Seit fast einem Jahr auch seine Nichte. Hannah Maria Costello. Ebenfalls vorbestraft, Sir.« Gregory wandte sich an Vanbrugh. »Ziemlich vielversprechend, was?« Der Fahrer unterbrach ihn. »Entschuldigen Sie, Sir, aber dieser Soames ist in Broughton festgenommen worden. Was soll mit ihm geschehen?« »Wir haben Wichtigeres vor«, entschied Vanbrugh. »Veranlassen Sie, daß er nach Kendal gebracht wird. Ich befasse mich später mit ihm.« Er drehte sich nach Gregory um. »Wir könnten ein paar Dutzend guter Männer brauchen.« »Das läßt sich arrangieren, Sir«, versicherte ihm Gregory. »Wir suchen die kräftigsten Männer aus. Dann kann sich Ihr Freund Rogan auf eine Überraschung gefaßt machen.«
-129-
16 Als sie Scardale erreichten, fuhr Costello den Lastwagen in die Scheune und stellte ihn hinter dem Ford ab. Rogan sprang von der Ladefläche und nickte Morgan und Fletcher zu. »Hinein mit euch! Und bleibt gefälligst dort!« Als Hannah und Costello aus dem Führerhaus kamen, sagte Fletcher wütend: »Was soll der Unsinn? Deine blöden Befehle habe ich allmählich satt!« Er stürzte sich auf Rogan, der seinen Angriff ruhig abwartete und erst im letzten Augenblick mit seiner Pistole zuschlug. Das Korn am vorderen Ende des Pistolenlaufs riß Fletchers Backe auf. Fletcher stieß einen Schrei aus und bedeckte sein blutendes Gesicht mit den Händen. »Das bereust du noch!« knurrte er. »Das zahl' ich dir noch heim!« Rogan warf Morgan einen eisigen Blick zu. »Noch Fragen?« Morgan schüttelte den Kopf. »Du bist der Boß.« Fletcher stolperte in den Hof hinaus. Morgan folgte ihm. Rogan hielt Costello zurück. »Gib mir den Zündschlüssel.« Costello gehorchte hastig. »Soll ich auch hineingehen?« »Ja, zumindest vorläufig.« Der Alte verschwand. Hannah band ihr Kopftuch los. »Ich hätte nie gedacht, daß du so brutal sein kannst.« »Bei solchem Gesindel muß man das sein«, erklärte ihr Rogan. Er zog sie an sich. »Wie geht's dir?« »Wie soll's mir gehen?« Hannah zuckte mit den Schultern. »Ich bin müde und fühle mich ausgebrannt. Ich könnte eine Woche lang schlafen.« -130-
»Du brauchst eine Tasse Tee mit Rum und ein paar Sandwiches.« Sie lächelte schwach. »Vielleicht hast du recht. Und du? Kommst du nicht mit?« »Ich komme etwas später. Ich habe noch hier draußen zu tun.« Rogan hörte ein Geräusch hinter sich und drehte sich hastig um. Der Junge kletterte aus dem Heu herab. Er war blaß vor Aufregung, versuchte zu sprechen, aber brachte kein Wort heraus. Hannah legte ihm die Hände auf die Schultern. »Laß dir Zeit! Wir haben genug Zeit!« Brendan holte tief Luft. »Im Haus ist ein Mann. Er ist kurz nach eurer Abfahrt zu Fuß gekommen.« »Ein großer, schwarzhaariger Mann?« »Ja.« »Jack Pope«, sagte Rogan zu Hannah. »Ich glaube, daß er mich gesucht hat«, fuhr Brendan fort. »Er hat überall nachgesehen, aber ich habe mich im Heu versteckt.« Hannah sah Rogan besorgt an. »Was haben die anderen vor?« »Ist das nicht klar?« Rogan runzelte die Stirn und nickte dann. »Du gehst jetzt hinein und kochst etwas.« Als sie widersprechen wollte, gab er ihr einen leichten Stoß. »Keine Angst, ich weiß, was ich tue.« Fletcher lehnte am Küchentisch und fluchte vor sich hin, während Morgan ihm ein großes Pflaster auf die Backe klebte. »Anscheinend hat er etwas gegen dich, Jesse«, meinte Morgan grinsend. Fletcher griff fluchend nach seinem Glas, das Costello eben voll Whisky geschenkt hatte. »Dem Schwein zeig ich's schon noch!« drohte er. »Na, da bin ich aber gespannt«, spottete Morgan. -131-
Er ließ die beiden in der Küche zurück und ging den Flur entlang zu seinem Zimmer. Rogan war ein gerissener Bursche und bestimmt kein leichter Gegner. Aber selbst unter diesen Voraussetzungen hatte Morgan nicht die Absicht, sich hundertvierzigtausend Pfund entgehen zu lassen, ohne den Versuch zu machen, sie an sich zu bringen. Er öffnete die Schlafzimmertür, drehte sich um, weil er sie schließen wollte, und sah Jack Pope mit einem schußbereiten Revolver in der Ecke stehen. Als er Morgan erkannte, atmetet er erleichtert auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ich dachte schon, Rogan käme herein.« »Er ist noch in der Scheune«, antwortete Morgan. »Bist du leicht hereingekommen?« »Ja, aber ich habe den Jungen nicht gefunden.« »Macht nichts«, entschied Morgan. »Er ist oft den ganzen Tag unterwegs.« Morgan nahm Pope den Revolver ab. »Wo hast du das Schießeisen her?« »Soames hat es mir besorgt. Ich dachte, es könnte ganz nützlich sein.« »Munition?« »Nur ein paar Patronen.« Pope gab sie ihm. »Wieviel habt ihr erwischt?« »Hundertvierzigtausend. Weniger als erwartet. Aber diesmal waren es nur zwei Säcke.« »Und Rogan hat sie?« »Richtig. Er will sie O'More intakt übergeben.« »Soames hat mich gestern abend angerufen«, sagte Pope. »Ihm ist es gelungen, O'More auf einer Farm namens MarshEnd aufzuspüren. Die Farm liegt an der Küstenstraße bei Whitbeck.« »Wahrscheinlich hat der alte Gauner dort ein Boot liegen, mit dem er nach Irland fahren kann.« -132-
»Natürlich. Was tun wir jetzt?« Morgan ging zur Tür und rief Fletcher und Costello herein. Die beiden kamen sofort. Fletcher brachte die Whiskyflasche und das Glas mit. »Du bist also hier?« knurrte er Pope an. »Das nützt uns auch nichts, wie die Dinge jetzt stehen.« »Woher willst du das wissen?« Morgan zeigte ihm den Revolver. »Das gleicht einiges aus, finde ich.« »Großer Gott!« flüsterte Paddy Costello. »Hast du noch den zweiten Zündschlüssel für den Lastwagen?« fragte Morgan ihn. Der Alte holte wortlos einen Autoschlüssel aus der Jackentasche und gab ihn Morgan, der am Fenster stand, um Hannah zu beobachten, die aus der Scheune kam. Sie betrat das Haus und ging in die Küche. Morgan blieb am Fenster stehen, sah Brendan mit einem Schubkarren voll Heu über den Hof gehen und runzelte die Stirn. »Was hat der Junge vor?« erkundigte er sich. »Ich habe ihn nicht einmal hineingehen gesehen.« Paddy Costello trat ebenfalls ans Fenster. »Um Brendan brauchst du dich nicht zu kümmern. Er schleicht überall herum.« Brendan schob den Karren aus dem Hof und wandte sich talaufwärts, wo das Bergwerk lag. »Wohin will er mit dem Heu?« wollte Fletcher wissen. »Wir haben dort oben Schafe in einem Pferch«, erklärte Costello ihm. »Die Schafe, die ich morgen zum Markt fahren soll. Brendan muß sie füttern.« Rogan kam aus der Scheune. Er hatte über jeder Schulter einen Postsack hängen. Er sah dem Jungen nach und ging dann ins Haus. »Ich bin dafür, daß wir die Sache gleich erledigen«, schlug Pope vor. -133-
Morgan schüttelte den Kopf. »Rogan ist bestimmt ein guter Schütze. Ich möchte mich nicht auf eine Knallerei mit ihm einlassen. Wir müssen den richtigen Augenblick abwarten.« Er wandte sich an Pope. »Du bleibst hier. Die anderen kommen mit.« Als Rogan das Wohnzimmer betrat, saßen Morgan und Fletcher am Kamin; Costello hockte am Tisch. Rogan blieb an der Tür stehen, warf die Säcke in eine Ecke und knöpfte sich den Mantel auf. Morgan mußte sich beherrschen, um nicht schon jetzt den Revolver zu ziehen. »Dein Junge wird mir langsam unheimlich«, sagte Rogan zu Costello. »Er hat oben in der Scheune im Heu gespielt. Ich hätte ihm eben fast eine Kugel verpaßt.« »Tut mir leid«, antwortete Costello hastig. »Wenn er nachher zurückkommt, kriegt er dafür eine Abreibung.« Hannah rief sie zum Essen. Rogan sog prüfend die Luft ein. »Ah, Schinken! Nach getaner Arbeit ist gut essen. Was haltet ihr davon?« »Ich habe keinen Hunger«, behauptete Fletcher und griff nach der Whiskyflasche. Rogan trat vor, nahm ihm die Flasche aus der Hand und stellte sie weg. »Wir essen jetzt!« Fletcher starrte ihn wütend an, bis Morgan ihm auf die Schulter klopfte. »Komm, Jesse.« Paddy Costello war bereits vorausgegangen. Fletcher folgte ihm. Morgan drehte sich an der Tür nach Rosan um. »Man kann Leute auch zu hart anfassen. Hast du dir schon einmal darüber Gedanken gemacht?« »Du hast ein gutes Mundwerk«, sagte Rogan. »Nur weiter so, dann redest du dir eines Tages noch ein, du könntest etwas gegen mich unternehmen!« Morgan wurde blaß. »Ich habe zwei Jahre in einem -134-
chinesischen Gefangenenlager in Korea gesessen, Rogan, und bin mit einem doppelten Leistenbruch und Tbc in der linken Lunge zurückgekommen.« »Und?« »Zu Hause hat sich kein Mensch darum gekümmert«, fuhr Morgan fort. »Die meisten Leute wußten anscheinend nicht einmal, daß es einen Krieg gegeben hatte.« »Soll das etwa eine Entschuldigung sein?« erkundigte sich Rogan. Morgan lachte verächtlich. »Ich brauche keine Entschuldigung. Aber ich möchte dir etwas erklären, mein Freund. Wenn ich die Chinesen überlebt habe, überlebe ich auch dich. Darauf kannst du dich verlassen!« Er verschwand im Flur. Rogan lächelte hinter ihm her. Eine offene Kriegserklärung hatte immerhin den Vorteil, daß die Fronten klar waren. Er zog seinen Mantel aus und steckte sich die Pistole hinten in den Hosenbund, wo niemand sie vermuten würde. Dann knöpfte er seine Jacke zu und ging in die Küche. Die Mahlzeit wurde unter unbehaglichem Schweigen eingenommen. Hannah ging um den Tisch, schenkte Tee ein und brachte frisches Brot. Sie warf Rogan mehrmals einen besorgten Blick zu, aber er reagierte nicht darauf. »So, das genügt mir«, meinte er schließlich und schob seinen Stuhl zurück. »Kommt, wir gehen wieder ins Wohnzimmer.« Morgan nickte Fletcher zu und ging voraus. Fletcher und Costello folgten ihm. Hannah hielt Rogan am Ärmel zurück. »Die anderen haben etwas vor, Sean. Das spüre ich ganz deutlich!« »Keine Angst, ich weiß, was ich tue«, beruhigte er sie. »Du bleibst hier, verstanden?« Als er ins Wohnzimmer trat, herrschte Schweigen. Er griff nach einem Glas und der Whiskyflasche und ließ sich damit auf -135-
der Tischkante nieder. »Eigentlich seltsam, wie man sich an manche Dinge erinnert. Den letzten Zug habe ich 1944 in Frankreich überfallen. Wir hatten gehört, daß in ihm der Monatssold für eine ganze Panzerdivision transportiert werden sollte. Das wäre ein schöner Batzen gewesen.« »Was ist schiefgegangen?« fragte Morgan. »Das haben wir nie genau erfahren. Jedenfalls wurde im Packwagen kein Geld transportiert. Statt dessen war der Zug mit einer ganzen Kompanie Fallschirmjäger besetzt - bis an die Zähne bewaffnete Soldaten, die es kaum erwarten konnten, über uns herzufallen. Und diese Kerle waren wirklich gut!« »Hat euch jemand verpfiffen?« erkundigte sich Fletcher. »Dafür kamen drei Männer in Frage«, antwortete Rogan. »Der erste war ein Bauer, auf dessen Hof wir unser Hauptquartier eingerichtet hatten. Er hat schon in die Hosen gemacht, wenn draußen ein Zweig gegen das Fenster schlug.« Costello wurde rot und sah zu Boden. »Der zweite war ein Berufsverbrecher mit ellenlanger Vorstrafenliste«, fuhr Rogan fort. »Ein großer, kräftiger Kerl, der in Marseille als Zuhälter gelebt hatte.« Diesmal reagierte Fletcher. Seine Hand zitterte, als er einen Schluck Whisky nahm. »Und der dritte?« fragte Morgan ruhig. »Er war der gefährlichste Mann von allen. Er war sogar drei Jahre in einem jesuitischen Priesterseminar gewesen.« Rogan tippte sich an die Stirn. »Ein Verbrecher mit Verstand. Das ist die schlimmste Sorte.« »Wie interessant«, meinte Morgan ironisch. »Was ist dann passiert?« »Wir - die wenigen Überlebenden meiner Gruppe - haben sie in den Wald getrieben und erschossen.« -136-
»Alle drei?« »Natürlich. Unter diesen Umständen hatten wir keine andere Wahl.« »Großer Gott!« flüsterte Paddy Costello. Rogan wollte sich eine Zigarette anzünden, griff nach einem brennenden Holzspan und kehrte Morgan dabei sekundenlang den Rücken zu. Morgan nützte diese Chance und zog den Revolver. »Halt!« sagte er laut. »Keine falsche Bewegung, sonst knallt's!« Als Rogan sich langsam mit erhobenen Händen umdrehte, rief er: »Pope, komm her!« Sekunden später erschien Pope. »Was geht hier vor?« »Hallo, Jack«, begrüßte Rogan ihn. »Merkwürdig, daß wir uns hier treffen, was?« »Nimm die beiden Säcke und laß sie nicht mehr aus der Hand«, befahl Morgan ihm. »Hol dir seine Pistole, Jesse.« Fletcher gehorchte zufrieden grinsend. Er tastete Rogan ab und drehte sich enttäuscht um. »Er hat sie nicht bei sich.« »Unsinn!« widersprach Morgan. »Sieh noch einmal nach. Aber sei vorsichtig, damit er dir keinen Streich spielt.« »Das haben wir gleich«, meinte Fletcher, holte aus und schlug nach Rogans Kinn. Rogan wich im gleichen Augenblick zurück, stolperte wie unabsichtlich über einen Sessel und landete dahinter. Sekunden später hielt er seine Pistole in der Hand und schoß ein Stück aus der Tischkante heraus. Morgan schrie erschrocken auf. »Los, wir müssen verschwinden!« Er schoß nach Rogan, der hinter dem alten Sofa an der Wand Deckung suchte. Morgan nutzte den Augenblick und schob Pope und Fletcher vor sich her in den Flur hinaus. Rogan schoß durch die Tür, so daß die Kugel als Querschläger durch den Korridor brummte. -137-
Costello stieß einen Angstschrei aus, rannte zur Haustür und riß sie auf. Pope schleppte die Postsäcke hinter ihm her. Morgan gab Fletcher einen Stoß. »Los, hilf ihnen, Jesse. Wir müssen mit dem Lastwagen weg.« Er schoß auf die Wohnzimmertür, schlich die Wand entlang und rannte dann hinter Fletcher her. Der große Mann hatte schon den halben Hof überquert. Pope und Costello verschwanden eben in der Scheune. Als Morgen ihnen folgen wollte, flog ein Stuhl aus dem nächsten Fenster. Morgan drehte sich um, schoß im Laufen, verfehlte sein Ziel um mindestens drei Meter und schlug auf dem Weg zur Scheune mehrere Haken. Rogans nächster Schuß blieb dicht hinter ihm in einem Heuballen stecken. Fletcher und Pope hatten die Säcke bereits auf die Ladefläche geworfen. Morgan schob Costello ans Steuer des Lastwagens, steckte den Zündschlüssel ins Schloß und ließ den Motor an. »Los, fahr schon!« Der Alte war leichenblaß und wie gelähmt. Morgan schlug ihn ins Gesicht. »Du sollst losfahren!« Rogan tauchte im Hof auf. Er ging hinter dem Brunnentrog in Deckung, zielte sorgfältig und schoß ein Loch in die Windschutzscheibe. Costello stieß einen Schrei aus und fuhr endlich los. Der alte Lastwagen riß das halbe Scheunentor ab und rumpelte über den Hof. Morgan schoß in Rogans Richtung, um ihn am Zielen zu hindern. Dann streiften sie den rechten Torpfosten mit einem gewaltigen Krachen und rollten auf die Straße hinaus. Costello schaltete aus dem zweiten in den dritten und vierten Gang und gab Vollgas. Seine Hände hielten das Lenkrad krampfhaft umklammert. Morgan sah sich nach Rogan um, der hinter ihnen auf die Straße hinauslief, und lachte spöttisch. »Das -138-
nützt auch nichts mehr!« Als er sich umdrehte und den Revolver einsteckte, bog der Lastwagen um eine Kurve. Morgan starrte entsetzt geradeaus. Ein Streifenwagen kam ihnen entgegen. Und dahinter wurden sechs oder sieben weitere Fahrzeuge sichtbar! Costello stieß einen heiseren Schrei aus. Der Streifenwagen bremste und stellte sich quer auf der Straße, die damit blockiert war. »Brems doch, du Trottel! Brems endlich!« rief Morgan. Costello schien völlig die Nerven verloren zu haben. Sein rechter Fuß trat nicht auf die Bremse, sondern auf das Gaspedal. Der Lastwagen schoß vorwärts. Seine äußeren Räder gerieten auf das regennasse Bankett und wühlten es auf. Costello verlor die Herrschaft über das Lenkrad. Morgan sah plötzlich einen steilen Hang unter sich. Fünfzig Meter tiefer schäumte ein Bach über große Felsbrocken. Morgan riß die Tür auf und sprang ab, als der Lastwagen von der Straße abkam. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß und traf Costellos Gesicht, als der Alte ihm zu folgen versuchte. Morgan überschlug sich zweimal, rutschte sechs, acht Meter den Hang hinab und landete in einem Ginsterbusch. Als er sich aufrichtete, prallte der Lastwagen fünfzehn Meter tiefer von einem Felsvorsprung ab und kippte fast im Zeitlupentempo um. Fletcher wurde mit weit ausgebreiteten Armen und Beinen hinausgeschleudert. Der Lastwagen landete mit einem ohrenbetäubenden Krachen auf den Felsbrocken des Bachbetts. Fletcher prallte dicht daneben auf. Der Benzintank explodierte wie eine Bombe. Orangerote Flammen und schwarzer Rauch hüllten die Überreste des Wagens ein. Morgan kletterte den Hang hinauf. Er hatte einen Schock und eine blutende Platzwunde über dem rechten Auge davongetragen, aber sein Lebenswille war stärker. Als er die Straße überquerte, hörte er Stimmen hinter sich und sah mehrere -139-
Polizisten herankommen. Er schoß und traf einen Polizisten, der der Länge nach zu Boden fiel. Die anderen suchten Deckung, und Morgan verschwand in einer Felsrinne, in der er bergauf stieg. Rogan war bereits umgekehrt, als er den Lastwagen in die Tiefe stürzen und explodieren hörte. Er lief zurück und erreichte die erste scharfe Kurve. Morgan hatte soeben den Polizisten niedergeschossen und rannte auf die Felsrinne zu. Ein Streifenwagen kam die Straße heraufgerast. Seine Besatzung schoß hinter Morgan her, um den verwundeten Polizisten zu schützen. Dann stieg ein großer, breitschultriger Mann in einem hellen Trenchcoat aus, lief zu dem Verletzten und beugte sich über ihn. Rogan erkannte Dick Vanbrugh sofort. Seltsamerweise war er nicht einmal überrascht. Aber er hatte jetzt keine Zeit, seine Gefühle zu analysieren. Er wandte sich ab und rannte zur Farm zurück. Hannah erwartete ihn am Tor. »Was ist los? Was ist passiert?« »Das erzähle ich dir später. Hol deine Jacke. Wir müssen weg! Zum Glück habe ich noch den Schlüssel für den Ford.« Als er aus der Scheune fuhr, zog Hannah sich die Jacke an. Er öffnete ihr die Tür und gab Gas, sobald sie eingestiegen war. Als er am Tor nach links taleinwärts fuhr, berührte sie seinen Arm. »Wohin willst du?« »Durch den›Langen Stollen‹. Brendan wartet dort oben mit den Postsäcken. Die beiden anderen waren falsche.« »Wo sind die anderen? Was ist dort unten passiert?« »Polizei hat die Straße abgeriegelt. Der Lastwagen ist in die Schlucht gestürzt.« Hannah wurde blaß. »Und mein Onkel?« »Der Wagen hat sofort gebrannt.« Sie wandte sich ab und bekreuzigte sich dabei automatisch -140-
Rogan griff nach ihrer Hand und hielt sie fest, als sie den erster Hügelrücken hinter sich ließen und in das alte Dorf hinunter fuhren.
-141-
17 Jesse Fletcher trieb mit dem Gesicht nach unten in einem einen Meter tiefen Tümpel. Seine Kleidung war zum größten Teil verbrannt. Unter der verkohlten Haut seines Rückens waren mehrere Rippen zu sehen. Gregory und Vanbrugh wateten auf den Toten zu und drehten ihn um. Eigenartigerweise war sein Gesicht unversehrt geblieben; es wies nur die Spuren des Kampfes mit Rogan auf. Die Augen des Toten starrten blicklos nach oben. »Kennen Sie ihn?« fragte Gregory. Vanbrugh schüttelte den Kopf. »Nein, dieses Gesicht kenne ich nicht.« Der Lastwagen brannte noch immer heftig. Als sie sich ihm vorsichtig näherten, drehte sich ein dort stehender Polizist um. »Einer von ihnen liegt noch im Führerhaus, Sir. Sie können ihn sehen, wenn Sie sich ganz tief bücken.« In der flimmernden Hitze waren die Umrisse der zusammengekrümmten Gestalt, die einen Arm nach dem zersplitterten Fenster ausstreckte, nur undeutlich zu erkennen. »Kein schöner Tod«, meinte Gregory. Vanbrugh nickte und watete neben ihm her durch das knietiefe, eiskalte Wasser bis zu der Stelle, wo ein anderer Polizist neben der dritten Leiche im nassen Gras kniete. Als sie herankamen, stand der Uniformierte auf. »Hier ist nichts mehr zu machen, Sir. Er hat sich das Genick gebrochen. Wahrscheinlich ist er beim Aufprall aus dem Wagen geschleudert worden.« Jack Pope lag auf dem Rücken. Sein linker Arm war mit verkrampften Fingern ausgestreckt. Die Augen lagen merkwürdig tief in ihren Höhlen, und der Kopf hing unnatürlich -142-
zur Seite. »Wie steht's mit dem hier?« fragte Gregory. »Jack Pope. Er hat früher mit Rogan in einer Zelle gesessen.« »Der ehemalige Polizeibeamte?« »Ganz recht.« Sie wandten sich ab. Vanbrugh kniff die Augen zusammen, um im Regen besser sehen zu können, und beobachtete ein halbes Dutzend Männer, die sich über der Straße in einer Linie hangaufwärts bewegten. Gregory stieß ihn an und deutete nach oben. »Dort ist er - dicht unterhalb des Kamms!« Vanbrugh sah Morgan hoch über seinen Verfolgern den Hügelkamm erreichen und dahinter verschwinden. »Rote Haare«, sagte Gregory. »Der Kerl ist also rothaarig.« Das war nicht Sean Rogan, dachte Vanbrugh. Sie wateten durch den Bach zurück, und er hob einen noch glimmenden roten Leinenstreifen auf, der von einem Postsack stammen mußte. »Damit wäre alles klar, was?« meinte Gregory. »Sieht so aus«, stimmte Vanbrugh zu. Sie kletterten zur Straße hinauf und sahen gerade noch, wie der angeschossene Polizist in einen Land-Rover geladen wurde. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, aber er rang sich ein Grinsen ab, als Gregory ihm eine Zigarette zwischen die Lippen schob »Na, wie geht's?« Der junge Polizist berührte den blutdurchtränkten Verband oberhalb seines rechten Knies. »Es wird schon wieder, Sir.« »Machen Sie sich keine Sorgen«, riet Gregory ihm. »Wir erwischen den Kerl noch. Darauf können Sie sich verlassen!« Als der Land-Rover davonfuhr, kam ein Streifenwagen die Straße herab. Sergeant Dwyer sprang heraus, sobald der Wagen -143-
hielt. »Dort oben ist niemand, Sir«, meldete er Vanbrugh, »aber sie scheinen sich gut amüsiert zu haben. Jemand hat ziemlich viel herumgeknallt.« »Was soll das wieder?« murmelte Vanbrugh vor sich hin. »Hundertvierzigtausend Pfund sind verdammt viel Geld«, warf Gregory ein. »Vielleicht wollte jemand sich einen größeren Anteil sichern.« Er wandte sich an Dwyer. »Was ist mit dem Wagen, der vorhin weggefahren ist?« »Wir haben ihn eine Meile von der Farm entfernt in der ehemaligen Bergarbeitersiedlung entdeckt. Ein grüner Ford Kombi.« »Und die Insassen?« »Spurlos verschwunden. Ein Sergeant ist mit zwei Mann oben, aber sie brauchen Unterstützung.« Vanbrugh wandte sich an Gregory. »Haben Sie nicht gesagt, daß es keinen anderen Weg aus dem Tal gibt?« Gregory nickte. »Es gibt keine Straße, aber man kann natürlich zu Fuß über die Berge.« Er holte eine Karte aus der Manteltasche. »Hier liegt das ehemalige Dorf. Das war früher das Bergwerk.« Vanbrugh runzelte die Stirn, als er den›Langen Stollen‹gestrichelt eingezeichnet sah. »Ist das ein Kanal?« »Vermutlich. Ich nehme an, daß er früher zum Transport von Erz gedient hat.« »Ein intakter Kanal wäre ein guter Hinterausgang. Wir müssen ihn so bald wie möglich sperren.« Gregory ging zum nächsten Streifenwagen, um seine Befehle zu erteilen. Vanbrugh beobachtete die Polizisten, die den Flüchtenden verfolgten. Sie erreichten den Hügelkamm erst jetzt. -144-
»Liegt dort unten jemand, den wir kennen?« wollte Dwyer wissen. »Jack Pope«, antwortete Vanbrugh. »Die anderen beiden kenne ich nicht. Einer war ohnehin völlig verbrannt.« »Könnte er Rogan 'gewesen sein?« »Nein, das glaube ich nicht. Er ist zu klein.« Gregory kam zurück. »Ich habe alle abkömmlichen Wagen und jeden entbehrlichen Mann angefordert, um die nähere Umgebung absuchen zu lassen.« »Was ist mit dem nächsten Tal?« »Zwei Wagen sind bereits dorthin unterwegs«, erklärte ihm Gregory. Er lächelte zuversichtlich. »Wir erwischen sie bestimmt. Hier kann man sich nicht wie in der Großstadt verstecken. Bei uns gibt es verdammt wenig Straßen. Wir können sie leicht alle sperren.« »Ausgezeichnet«, meinte Vanbrugh. »Ich möchte mir jetzt die Farm ansehen, wenn Sie nichts dagegen haben.« »Wie steht's mit diesem Soames? Soll ich ihn heraufbringen lassen? Vielleicht können wir etwas aus ihm herausholen.« »Ja, das ist eine gute Idee«, stimmte Vanbrugh zu und folgte Dwyer zu dessen Wagen. Soames' beweglicher Verstand machte Überstunden und suchte nach einem Ausweg aus der Klemme, in der er sich befand, als der Streifenwagen von der Straße in Richtung Scardale abbog. Er war mit Handschellen gefesselt und hatte links und rechts einen Polizisten neben sich sitzen. Als sie die Unfallstelle erreichten, fuhr der Fahrer langsam an den geparkten Wagen vorbei, und Soames sah mehrere Männer, die eine Tragbahre auf die Straße hoben. Soames starrte die leblose Gestalt unter der Wolldecke an. Ein Arm mit gräßlich verkohlten Fingern ragte darunter hervor. -145-
Soames fuhr zusammen, als der Wind den Geruch von verbranntem Fleisch durch das halboffene Fenster ins Wageninnere trieb. Der Polizist rechts neben ihm warf ihm einen eisigen Blick zu. »Na, Sie können sich jedenfalls auf ein paar Jahre Gefängnis gefaßt machen.« Soames wurde schwach. Er hatte in seinem Leben erst einmal den Fehler gemacht, die Grenze zwischen Recht und Unrecht zu überschreiten. Die Folgen waren unangenehm gewesen. Und diesmal saß er noch tiefer in der Patsche. Er schluckte trocken. Wenig später hielt der Streifenwagen im Hof des alten Farmhauses neben einem anderen an. Soames mußte aussteigen und wurde in einen Raum geführt, in dem drei Männer auf ihn warteten. Vanbrugh betrachtete ihn prüfend. »Henry Soames?« Soames fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. »Ja. Ich möchte wissen, warum ich hierher gebracht worden bin. Ich verlange einen Anwalt.« »Vorhin ist ein junger Beamter von einem Ihrer Komplicen angeschossen worden«, erklärte Vanbrugh ihm. »Von einem Rothaarigen. Falls der Mann stirbt, sorge ich dafür, daß Sie als Mittäter vor Gericht kommen.« Soames rang nach Atem. »Morgan heißt der Mann, den Sie suchen«, stieß er schließlich hervor. »Harry Morgan. Das ist der Rothaarige.« »Wer hat noch mitgemacht?« »Jesse Fletcher«, antwortete Soames eifrig. »Er und Morgan sind aus 'Manchester gekommen. Und Costello - ihm gehört diese Farm.« »Und seine Nichte?« »Ganz recht!« »Wie steht's mit Jack Pope?« warf Dwyer ein. -146-
Soames nickte heftig. »O ja, er war auch dabei!« »Haben Sie Sean Rogan im Gefängnis besucht, um die Einzelheiten seines Ausbruchs zu besprechen?« wollte Vanbrugh wissen. »Ja. Pope hat ihn nach dem Ausbruch mit Kleidung und einem Auto erwartet.« »Wer hat das alles organisiert?« »Ein gewisser Colum O'More.« Gregory runzelte die Stirn. »Den Namen kenne ich«, sagte er. »Natürlich«, stimmte Vanbrugh zu. »Er war einer der führenden Männer der I. R. A. - aber das ist schon lange her.« Er wandte sich an Soames. »Hat die I. R. A. den Überfall verübt, um sich Geld zu verschaffen?« »Das hat Rogan geglaubt.« »Augenblick!« sagte Vanbrugh. »Morgan und Fletcher haben gegen festes Honorar gearbeitet, stimmt's?« »Fünftausend pro Nase. Rogan sollte eine Ehrenschuld abtragen. O'More hat ihm eingeredet, das sei er der Organisation für seinen Ausbruch schuldig.« »Der Rest ist also für die I. R. A. bestimmt?« »Das hat O'More Rogan erzählt.« »Aber Sie wissen es besser, Soames?« »Klar! Der Alte will das Geld für sich.« Vanbrugh schüttelte den Kopf. »Ausgeschlossen, Soames! Dazu kenne ich O'More zu gut!« Soames zuckte mit den Schultern. »Er ist krank. Er hat Krebs, glaube ich. Das verändert manche Leute sehr.« Vanbrugh nickte langsam. »Wo steckt O'More jetzt?« Soames zögerte. »Können wir nicht ein kleines Geschäft machen?« »Kommt nicht in Frage«, entschied Vanbrugh gelassen. -147-
»Heraus mit der Wahrheit, sonst ...« »Er lebt in einem alten Farmhaus an der Küstenstraße bei Whitbeck«, sagte Soames mürrisch. »Es heißt Marsh-End.« »Ist dort jemand bei ihm?« Soames schüttelte den Kopf. »Nein, er lebt allein. Rogan sollte ihm morgen das Geld bringen.« »Aber Sie und Ihre Freunde hatten andere Absichten?« Vanbrugh wandte sich an Gregory. »Das wäre zumindest eine Erklärung für die Schießerei hier oben. Wahrscheinlich haben sie versucht, Rogan das Geld abzujagen. Kennen Sie eine Farm, die Marsh-End heißt?« »Nein, aber ich kenne Whitbeck. Bei diesem Wetter brauchen wir ungefähr eine Dreiviertelstunde dorthin.« »Dann fahren wir am besten gleich los!« Vanbrugh ging rasch hinaus. Gregory und Dwyer folgten ihm. Als Soames sich hastig nach einem Ausweg umsah, kam ein stämmiger Sergeant herein. »Sie glauben, doch nicht etwa, daß wir Sie hier vergessen haben?« fragte er grinsend. In diesem Augenblick wurde Soames erstmals ganz klar, was geschehen war. Er bekam weiche Knie und fühlte sich so einsam wie nie zuvor in seinem Leben. Der Graben war knietief voll Wasser. Morgan watete etwa fünfzig Meter weit darin und lief dann über die Straße, um in einer Fichtenschonung zu verschwinden. Wenig später kamen zwei Streifenwagen an dieser Stelle vorbei. Inzwischen waren bestimmt schon alle größeren Straßen durch die Berge gesperrt. Nur ein Wunder konnte ihm helfen, die Küste zu erreichen. Aber er mußte sich dorthin durchschlagen, denn in Marsh-End bei Colum O'More lag seine einzige Chance. -148-
Als er sich durch die Schonung voranarbeiten wollte, kam ein Motorradfahrer auf der Straße vorbei und hielt dreißig oder vierzig Meter weiter in einer Parkbucht. Morgan schlich lautlos heran und kauerte schließlich hinter einem Busch. Ein Polizist stand neben der Notrufsäule. Sein Motorrad war in der Nähe geparkt. Er studierte eine Straßenkarte und zündete sich eben eine Zigarette an. Morgan überlegte nicht lange. Er packte seinen Revolver beim Lauf, sprang mit zwei großen Sätzen auf den Polizisten zu und schlug ihn von hinten nieder. Der Uniformierte stieß einen erstickten Schrei aus und sackte zusammen. Morgan packte ihn unter den Achseln und schleppte ihn ins Gebüsch. Dann lief er zurück, holte das Motorrad und versteckte es in der Schonung. Er brauchte fünf Minuten, um den Polizisten auszuziehen und sich seine lederne Schutzkleidung überzustreifen. Als er fertig war, fesselte er den Bewußtlosen und ging zu dem Motorrad. In diesem Augenblick fuhr ein Streifenwagen vorbei. Morgan wartete, bis das Motorengeräusch in der Ferne verstummt war. Dann schob er das Motorrad auf die Straße hinaus, trat den Kickstarter herunter und schwang sich auf den Sitz. Er trug bereits den Sturzhelm; jetzt zog er noch die Schutzbrille herab und fuhr davon. Nach einer halben Meile kam er an eine Brücke. Auf der gegenüberliegenden Seite versperrte ein Streifenwagen die halbe Fahrbahn. Die andere Hälfte wurde von zwei Polizisten blockiert. Morgan schaltete herunter und bremste leicht, während er sich gleichzeitig bereithielt, notfalls sofort wieder zu beschleunigen. Auf dieser Straße würden ihn seine Verfolger unmöglich mit einem Auto einholen können. Aber alles war ganz einfach. Als Morgan sich der Brücke näherte, traten die beiden Polizisten zur Seite. Einer winkte ihm sogar noch zu. Morgan schaltete wieder hinauf und raste im Regen davon. -149-
18 Als Rogan den Motor abstellte und aus dem Ford sprang, war Brendan nirgends zu sehen. Das einzige Geräusch war in der Nähe des Damms zu hören, wo der Bach unter der Staumauer hervorrauschte. Hannah kam um den Wagen herum. »Wo kann er nur stecken?« »Weiß der Teufel, aber wir müssen jedenfalls weiter«, antwortete Rogan. »Wenn wir nicht innerhalb einer Viertelstunde durch den Tunnel kommen und die Straße nach Ambleside erreichen, sind wir geliefert.« Dann hörten sie Schafe blöken und sahen sie zwischen den Ruinen vor Brendan davonlaufen, der einen langen Stock schwang. Der Junge kehrte um, lief zu Hannah und Rogan und blieb atemlos vor ihnen stehen. »Ich wollte sie nur noch freilassen«, erklärte er ihnen verlegen grinsend. »Schon gut, schon gut! Wir müssen weiter. Wo sind die Postsäcke?« »Im Kahn, Mr. Rogan.« Sie liefen den Damm entlang bis zu den Bäumen, hinter denen sich die Öffnung des Stollens verbarg. Brendan hatte den alten Kahn dort festgebunden. Die Postsäcke lagen im Bug, wo es trocken war. Hannah setzte sich auf sie. Rogan kauerte mitten im Boot, während Brendan im Heck saß. Als sie in die feuchtkalte Dunkelheit hineinfuhren, sah Rogan auf seine Uhr. Kurz vor fünf. Richtig finster wurde es erst nach sieben, was ungünstig war. Sobald die Polizei den Ford fand, würde sie nicht lange brauchen, um die Zusammenhänge zu erkennen. Dann brauchte sie nur einen Streifenwagen an den -150-
Ausgang des anderen Tals zu schicken, um es zu blockieren. Wenn Dick Vanbrugh daran beteiligt war, hatte die Jagd ernstlich begonnen. Und wenn der Jeep nicht in seiner Garage stand? Rogan verdrängte diesen Gedanken absichtlich. Falls es ihnen gelang, die Straße nach Ambleside und von dort aus die Bergstraße zwischen Rydal Water und Grasmere nach Elterwater zu erreichen, hatten sie noch eine Chance. Danach kam der Wrynose Paß, der ohnehin nur mit einem Geländewagen zu überwinden war. Als sie aus dem Stollen hinaustrieben, regnete es heftig. Der Kahn stieß gegen die andere Staumauer. Brendan kletterte hinauf und machte das Boot fest. Dann half er Hannah beim Aussteigen und nahm Rogan die Postsäcke ab, bevor er vorauslief. Als Hannah und Rogan den alten Stall erreichten, hatte der Junge bereits das Tor aufgeschlossen. Brendan öffnete die Hecktür des Jeeps. Rogan hob die beiden Postsäcke hinein. »Los, wir müssen weiter!« Der Junge kletterte auf die Säcke. Hannah nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Rogan setzte sich ans Steuer, ließ den Motor an und fuhr rückwärts ins Freie. Dort wendete er, gab Gas und ließ den Jeep im zweiten Gang bergab rollen. »Wir müssen es auf der alten Straße versuchen, von der du mir erzählt hast«, sagte er zu Hannah. »Haben wir überhaupt noch eine Chance?« »Das hängt davon ab, wie schnell sie einen Wagen auf diese Seite des Tals schicken. Wenn wir die Bergstraße erreichen und nicht auf Hauptstraßen weiterfahren müssen, entwischen wir ihnen vielleicht noch.« Rogan fuhr so schnell wie möglich, und der alte Jeep ließ sie nicht im Stich. Fünf Minuten später durchquerten sie ein Waldstück und erreichten die Hauptstraße. -151-
Rogan hielt nicht einmal an, sondern bog nach rechts ab und fuhr nach Rydal. »Wie weit?« fragte er laut, um den Lärm des Motors zu übertönen. »Eine halbe Meile. Bestimmt nicht mehr.« Der Regen fiel jetzt so dicht, daß die Scheibenwischer kaum noch mitkamen. Rogan beugte sich nach vorn, als ihnen ein Lastwagen entgegenkam. Dann zog Hannah ihn am Ärmel. Er sah das Gatter unter einigen Bäumen fast gleichzeitig, bremste scharf und mußte den schleudernden Jeep abfangen. Als er kurz vor dem Gatter zum Stehen kam, sprang Hannah aus dem Wagen und öffnete es. Rogan fuhr durch und wartete, bis sie es wieder geschlossen hatte. Einen Augenblick später fuhren sie unter den Bäumen weiter. Als Rogan in den Rückspiegel sah, war die Straße nicht mehr zu erkennen. Sein Hals war ausgetrocknet. Er hatte Schweißperlen auf der Stirn. Seine Hand zitterte, als er sich den Schweiß abwischte. »Seht euch das an! Mir zittern die Finger.« Er grinste zu Hannah hinüber. »Vielleicht bin ich schon zu alt für solche Unternehmen.« »Unsinn!« Sie holte Zigaretten und Streichhölzer aus ihrer Jackentasche und schob Rogan eine brennende Zigarette zwischen die Lippen. Er nickte ihr zu. »Danke, das habe ich gebraucht.« »Die erste Hürde liegt hinter uns«, stellte sie fest. Rogan nickte. »Richtig, Hannah. Wie fühlst du dich dabei?« »Ich habe das Gefühl, zum erstenmal in meinem Leben wirklich aus etwas auszubrechen.« »Hoffentlich hast du recht!« Sie überquerten eine Brücke. Rogan schaltete herunter und folgte dem schmalen Weg zwischen den Bäumen. In drei oder vier Minuten waren sie auf der Straße nach Elterwater; fünf Minuten später erreichten sie das Dorf selbst, dessen Straßen im -152-
Regen menschenleer waren. Rogan folgte Hannahs Anweisungen und bog in Eltermere in eine Nebenstraße ab, die an Little Langdale vorbeiführte. Eine Viertelstunde nachdem sie die Straße nach Ambleside verlassen hatten, begann die Bergfahrt zum Wrynose Paß. Vor ihnen stieg die Straße steil empor und verschwand weiter oben im Nebel. Der Jeep fuhr langsamer weiter, und sein Motor arbeitete lauter, als Rogan immer weiter herunterschalten mußte. Der Nebel wurde ständig dichter. Als sie die Paßhöhe erreichten, betrug die Sichtweite nur noch zwanzig bis dreißig Meter. Rogan fuhr auch bergab im ersten Gang, bis sie den Duddon River erreichten. Zehn Minuten später hatten sie die Straßengabelung vor sich, wo ein Weg nach Hard Knott anstieg, während der andere dem Tal nach Seathwaite und Ulpha folgte. »Gib mir noch eine Zigarette«, verlangte Rogan. Hannah zündete ihm eine an. Brendan lehnte sich nach vorn. »Wwie kommen wir voran, Mr. Rogan?« »Bisher ganz gut.« Rogan hielt am Straßenrand. »Ich muß mir die Karte noch einmal ansehen.« Er runzelte dabei die Stirn. »Hm, anscheinend müssen wir doch durch Seathwaite und Ulpha.« »Ist das schlimm?« fragte Hannah. »Ja. Wer weiß, ob da nicht schon alle Welt nach uns Ausschau hält?« Hannah deutete auf eine gestrichelte Linie durch die Hügel. »Das ist eine unbefestigte Straße, die über Thwaites Fell zur Küste führt. Wir müßten zwar durch Seathwaite - aber nicht durch die übrigen Dörfer.« »Wo fängt sie an?« »Bei Beckfoot, einige Meilen vor Ulpha.« »Gut.« Rogan fuhr so schnell wie möglich weiter. Der Nebel schien sich etwas aufzulockern, als sie sich Seathwaite näherten, -153-
aber der Regen ließ nicht nach. Die Hauptstraße des Dorfs war menschenleer. Als jedoch das Gasthaus vor ihnen auftauchte, umklammerte Hannah Rogans Arm. Ein Polizeibeamter mit Schirmmütze und blauem Regenmantel stand unter dem Vordach und sprach mit einer Frau. Rogan fuhr nicht schneller. Im Rückspiegel sah er, wie der Polizist und die Frau ihnen auffällig nachstarrten. Dann drehte der Uniformierte sich um, sagte etwas zu der Frau und verschwand mit ihr im Gasthaus. »Hast du das gesehen?« fragte Hannah. Rogan nickte grimmig. »Jetzt müssen wir auf der unbefestigten Straße weiter. Uns bleibt nichts anderes übrig.« Er gab Gas, bis die Tachometernadel die Sechzig-MeilenMarke erreichte und der alte Jeep in allen Fugen klapperte. Sie brauchten nur wenige Minuten bis Beckfoot. Dort bremste Rogan und bog auf die Nebenstraße ab. Die unbefestigte Straße war in überraschend gutem Zustand, aber der Jeep wurde langsamer, als sie steil im Nebel anstieg. Bei Vollgas im ersten Gang röhrte der Motor fast unerträglich laut. Rogan warf einen Blick auf die Benzinuhr und stellte erschrocken fest, daß nur noch wenige Liter im Tank waren. »Wie weit müssen wir noch fahren?« rief er. Hannah sah auf die Karte. »Nach Bootle sind es sechs Meilen, aber wir können schon vorher zur Küstenstraße abbiegen. Von dort sind es noch etwa zwei Meilen nach Marsh-End. Haben wir genug Benzin?« Rogan nickte und schaltete wieder hinauf, als sie den höchsten Punkt der Straße erreicht hatten und im Nebel über eine zerklüftete Hochebene fuhren. Er stellte überrascht fest, daß sie es schon beinahe geschafft hatten, daß sie mit etwas Glück in zehn Minuten oder einer -154-
Viertelstunde Marsh-End erreichen mußten. Die Straße führte steil in ein graues Nichts hinab. Rogan ließ den Jeep bergab weiterrollen und bremste nur vor den Kurven, anstatt herunterzuschalten. Etwa eine Viertelstunde vor Bootle sahen sie einen Wegweiser nach Whicham und bogen auf den schmalen Weg ab, der eigentlich nur aus zwei Fahrspuren bestand. Drei oder vier Minuten später hatten sie die Küstenstraße vor sich. Über dem Marschland lag dichter Nebel. Rogan atmete die salzhaltige Meeresluft tief ein. Der Wegweiser nach Marsh-End tauchte aus dem Dunst auf. Rogan bog von der Straße ab. Der Jeep rumpelte über die holperige Zufahrt, fuhr unter den Bäumen durch und hielt schließlich im Hof des verfallenen Farmhauses. Als Rogan den Motor abstellte und sich nach Hannah umdrehte, leuchteten ihre Augen. »Wir haben's also geschärft?« Er drückte ihr grinsend die Hand. »Hoffentlich wirst du nicht leicht seekrank. Die Überfahrt in einem kleinen Boot ist kein Vergnügen.« Der Wind trieb über die Marschen Nebelschwaden vor sich her. Rogan stieg aus dem Jeep. Brendan lud die Postsäcke aus und zerrte sie nach vorn. Im Haus war es seltsam still. Die Fenster sahen wie erblindete Augen auf sie herab. Rogan runzelte die Stirn, lud sich die Säcke auf und ging zur Tür. Hannah öffnete sie ihm und ging durch den langen Flur voraus. Colum O'More lag in einem Sessel am Kamin. Sein Kopf hing wie leblos herab. Während Rogan die Säcke fallenließ, beugte Hannah sich über den Alten und untersuchte ihn hastig. »Ist er tot?« fragte Rogan. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, aber völlig ausgekühlt.« Im Kamin brannte kein Feuer. Rogan trat an den Schrank und kam mit einer Whiskyflasche und einem Glas zurück. Er flößte -155-
dem Alten etwas Whisky ein. Colum O'More begann zu husten und öffnete dann die Augen. Er starrte Rogan zunächst verständnislos an. »Sean, mein Junge, bist du wirklich da?« fragte er heiser. »Natürlich, Colum«, antwortete Rogan beruhigend. »Und du auch, mein Kind«, sagte O'More lächelnd zu Hannah. Sie sah zu Rogan hinüber. »Was hat er nur?« flüsterte sie dabei. »Laß nur, er erholt sich schon ...« O'More rieb sich die Augen, griff nach dem Glas Whisky und leerte es mit einem Zug. Dann fuhr er zusammen. »Das habe ich gebraucht«, meinte er und sah zu Rogan hinüber. »Aber was tust du hier? Was hat nicht geklappt?« »Wir sind nur einen Tag früher gekommen«, antwortete Rogan, »und die Polizei sucht überall nach uns. Wir müssen verschwinden, Colum.« »Habt ihr das Geld?« Rogan hob die Postsäcke auf den Tisch. »Hier! Mehr war nicht zu holen.« Der Alte starrte ihn ungläubig an. »Wie spät ist es?« »Kurz nach sieben.« »Ausgeschlossen!« Colum O'More schüttelte energisch den Kopf. »Ich habe heute morgen einen schlimmen Anfall gehabt und meine Tabletten genommen. Aber vielleicht hätte ich weniger nehmen sollen ...« »Das glaube ich auch! Hast du dein Zeug gepackt?« »Im Schlafzimmer liegt ein gepackter Koffer. Mehr brauche ich nicht.« »Gib ihm etwas Heißes zu trinken«, sagte Rogan zu Hannah. »Ich lasse Brendan den Koffer ins Boot bringen. Er kann uns -156-
helfen, damit wir schneller wegkommen.« Hannah nickte und ging in die Küche hinaus. Rogan holte O'Mores Koffer, gab ihn Brendan und erklärte dem Jungen, wo das Boot versteckt lag. »Du gehst hier geradeaus bis zu einem Steindamm«, wies er ihn an. »Gleich dahinter zweigt ein schmalerer Fußweg nach rechts ab. Er bringt dich zu einem Hausboot, das vorn und achtern vertäut ist. Du machst eine Leine los und hältst dich bereit, die andere zu kappen. Wir kommen in zehn Minuten nach.« Brendan nickte eifrig und schleppte den Koffer davon. Rogan kehrte ins Haus zurück. O'More saß noch immer in seinem Sessel am Kamin. Als Rogan das Wohnzimmer betrat, kam Hannah mit einer Kaffeekanne und Tassen auf einem Tablett aus der Küche. »Was passiert, wenn wir nach Irland kommen?« fragte sie, während sie einschenkte. »Legen wir einfach im nächsten Hafen an?« Colum O'More lächelte. »Nein, so einfach ist die Sache nicht. Ich kenne einen guten Anlegeplatz und habe ganz in der Nähe alte Freunde. Dort trennen wir uns.« Sie sah zu Rogan auf. »Und dann?« »Wir fahren zur Farm meines Vaters in Kerry. Ich habe es der Polizei noch nie leichtgemacht - nicht einmal irischen Polizisten. Sie sollen mich erst dort aufspüren.« Hannah senkte den Kopf. »Mußt du dann wieder ins Gefängnis?« O'More lachte. »Aber nicht lange, mein Kind, das ist der Vorteil. Du bekommst ihn innerhalb von vier Wochen zurück.« Sie sah wieder zu Rogan auf. »Stimmt das?« »Habe ich dich jemals belogen?« Er küßte sie auf die Stirn. »Zieh dir deine Jacke an. Wir müssen weiter!« -157-
Er spürte, daß sie in seinen Armen erstarrte, als sie über seine Schulter sah. Gleichzeitig spürte er einen kalten Luftzug im Nacken. In dem Spiegel über dem Kamin erkannte er auf der Schwelle einen Polizisten in Motorradkleidung: eine seltsam anonyme Gestalt mit weißem Sturzhelm und Schutzbrille. Die Gestalt nahm langsam Helm und Brille ab. Harry Morgan stand grinsend vor ihnen.
-158-
19 Morgans Gesicht war vor Erschöpfung eingefallen, und der Revolver in seiner Hand zitterte leicht. »Keine falsche Bewegung, sonst knallt's, darauf könnt ihr euch verlassen«, drohte er. »Hände hoch!« Er trat an den Tisch und betastete mit der freien Hand die Postsäcke. »Wir haben also auf der Farm die falschen mitgenommen? Gar nicht übel, Rogan. Dreh dich um!« Rogan gehorchte schweigend. Als er die Arme hob, wurde die Pistole in seinem Hosenbund sichtbar. Morgan nickte Hannah zu. »Zieh ihm das Schießeisen mit der linken Hand heraus und wirf es mir her.« Als sie zögerte, hob er drohend den Revolver. »Ich habe oben in Scardale einen Polizisten erschossen. Ich habe nichts mehr zu verlieren.« »Tu, was er sagt«, wies Rogan sie an. Hannah griff mit der linken Hand nach der Pistole und warf sie Morgan unbeholfen zu. Morgan konnte sie nicht auffangen. Die Waffe rutschte unter den Tisch. Morgan schüttelte den Kopf, als Hannah sich nach der Pistole bücken wollte. »Nein, laß sie liegen!« Rogan ließ die Arme sinken. »Was hast du vor?« »Ich und der Alte machen jetzt eine kleine Bootsfahrt, die er mit Soames vereinbart hatte.« Rogan runzelte die Stirn, drehte sich um und sah auf Colum O'More. »Was meint er damit?« Der Alte starrte Morgan an. »Er will uns nur gegeneinander aufhetzen, merkst du das nicht?« »Pennst du noch immer, Rogan?« fragte Morgan spöttisch. »Der alte Knabe hat dich von Anfang an getäuscht. Er wollte das Geld nie für seine verdammte Organisation. Mit dem Geld -159-
wollte er sich einen schönen Lebensabend machen. Er hat dich nur ausgenützt, Rogan, und Soames ist ihm auf die Schliche gekommen.« »Stimmt das?« erkundigte Rogan sich gelassen. Als O'More zu Boden sah, lachte Morgan laut. »Brauchst du da noch zu fragen? Deshalb sollten wir das Geld auf der Farm an uns bringen. Wir wollten uns morgen hier treffen, um zu teilen. Aber das hat leider nicht geklappt.« O'More hob den Kopf. »Ich weiß nicht, was die Kerle mit dir vorhatten, Sean. Soames hat die Wahrheit erkannt und mir gedroht, er werde sie dir erklären, wenn er keinen Anteil an der Beute bekomme. Aber das war schon alles.« »Du hast von Geld für die Organisation gesprochen.« »Ich hätte für dich gesorgt, mein Junge.« »Ein geringer Preis für meinen guten Namen.« Rogan deutete auf sich. »Ich bin Sean Rogan, ein Soldat der Irish Republican Army - aber kein Dieb.« »Der Teufel soll die I.R.A. holen!« Der Alte stieß mit seinem Stock auf den Boden. »Ich habe vierzig Jahre meines Lebens für die Organisation geopfert, Sean. Zwanzig davon habe ich hinter Gittern verbracht. Und was habe ich jetzt davon?« Er rang nach Atem. »Ich bin alt, krank und verbraucht. Deshalb • wollte ich wenigstens meinen Lebensabend anständig verbringen!« Rogan schüttelte mitleidig den Kopf. »Das ist zwecklos, Colum. Das kannst du nicht mehr.« »Laß dir nichts einreden, Alter«, warf Morgan ein. Er nahm ein Klappmesser aus der Tasche, ließ es aufschnappen und schnitt damit einen der Säcke auf. Dann legte er sein Messer auf den Tisch, griff in den Sack und holte ein Bündel Geldscheine heraus. Er warf es Rogan zu, der das Bündel instinktiv auffing. »Wieviel ist das, Rogan? Fünfhundert, tausend?« Er klopfte auf -160-
den Sack. »Hier steckt noch viel mehr, und du wirst mir die beiden Säcke zum Boot tragen.« Rogan betrachtete die Geldscheine in seiner Hand und begann zu grinsen. »Falls die anderen genauso aussehen, hätte das wenig Sinn.« Er ließ O'More das Bündel in den Schoß fallen. »Was hältst du davon, Colum?« Colum O'More hielt nacheinander mehrere Geldscheine gegen das Licht. Er riß verblüfft die Augen auf. »Heilige Muttergottes, sie sind alle durchlöchert!« Er gab Hannah einen Schein, die ihn hochhielt und dann erstaunt zu Rogan hinübersah. »Was bedeutet das?« »Vor ein paar Monaten war sogar im Gefängnis die Rede davon«, antwortete er. »Manche Banken perforieren jetzt alte Geldscheine, die eingestampft werden sollen. Eine Maschine stanzt eine Codezahl in großen Ziffern in ganze Bündel von Scheinen.« »Und dadurch sind sie wertlos?« »Allerdings! Das ist schließlich der Sinn der Sache!« »He, wovon redet ihr überhaupt?« Morgan leerte den Postsack auf dem Tisch aus, ohne auf die Bündel zu achten, die zu Boden fielen. Er griff nach dem ersten, untersuchte es, ließ es fallen und nahm das nächste in die Hand. Als er wieder den Kopf hob, war er leichenblaß. »Sie sind alle gleich, verdammt noch mal!« »Heute ist eben dein Unglückstag, Morgan«, behauptete Rogan. Colum O'More lachte schallend. »Wenn du jetzt dein Gesicht sehen könntest! Einfach unbezahlbar!« »Daran bist du schuld!« warf Morgan ihm vor. »Das ganze Unternehmen war bloße Zeitverschwendung. Und das verdanken wir dir!« »Niemand ist unfehlbar, mein Junge«, antwortete Colum -161-
O'More und wollte aufstehen. Morgan schoß zweimal. Die beiden Kugeln trafen O'Mores Brust und warfen ihn in den Sessel zurück. Während Hannah entsetzt aufschrie, warf Rogan sich der Länge nach unter den Tisch. Seine Finger schlössen sich um den Griff der Pistole. Morgan wich zurück, um besser zielen zu können. Aber er war zu langsam. Rogans erster Schuß traf seine Brust. Der zweite ging in den Magen und warf ihn gegen die Wand. Morgan ließ seinen Revolver fallen und sackte mit ausdruckslosem Gesicht zusammen. Dann fiel er nach vorn. Colum O'More hockte zusammengekrümmt in seinem Sessel. Hannah kniete neben ihm und versuchte seinen Kopf hochzuheben. Rogan legte die Pistole auf den Tisch und richtete den Alten in seinem Sessel auf. O'More hielt die Augen noch immer fest geschlossen. Auf seiner Stirn standen winzige Schweißperlen. Rogan schüttelte ihn leicht. »Colum, hör zu. Wie schwer bist du verletzt?« Als der Alte die Augen öffnete, sah der Tod sie an. »Mir ist nicht mehr zu helfen, mein Junge.« Er starrte an ihnen vorbei ins Leere. »Ich habe immer anständig gelebt, ich war stolz auf meine Ehrlichkeit - und jetzt das hier.« Als er hustete, rann ihm Blut aus den Mundwinkeln. »Das war nicht ich, Sean, das war nicht der Große Mann. Daran ist meine Krankheit schuld. Ich glaube, daß sie auch mein Gehirn angegriffen hat.« Rogan stand auf und wandte sich an Hannah. »Du bleibst bei ihm. Ich hole einen Arzt.« »Damit vergeudest du nur wertvolle Zeit«, rief O'More ihm nach, als Rogan in den Flur hinauslief. Rogan öffnete die Haustür und blieb erschrocken stehen. Von der Küstenstraße her drang Motorenlärm durch den Nebel. Mindestens ein halbes Dutzend Fahrzeuge! Er hörte sie auf dem schlechten Weg nach Marsh-End heranbrummen, knallte die Tür -162-
zu, schloß sie ab und rannte ins Wohnzimmer zurück. »Polizei!« Rogan riß Hannah am Arm mit, lief in die Küche und stieß die rückwärtige Tür auf. »Du kennst den Weg zum Boot. Warte dort auf mich!« Hannah wollte widersprechen, aber er gab ihr einen Stoß. »Tu, was ich dir sage! Habe ich nicht schon genügend andere Sorgen?« Er schob sie in den Nebel hinaus, schloß die Tür und rannte ins Wohnzimmer. »Sie müssen gleich da sein, Colum. Sie können mehr für dich tun als ich.« »Mir kann niemand mehr helfen«, murmelte der Alte mit zusammengebissenen Zähnen. »Aber du mußt dich retten. Gib mir die Pistole und verschwinde! Harry Morgans Tod soll auf meinem Gewissen lasten, nicht auf deinem.« »Colum, ich ...« »Gib die Pistole her!« knurrte O'More. Als Rogan ihm die Waffe übergab, bremste draußen der erste Wagen. Dann waren Schritte zu hören. »Verschwinde!« rief Colum O'More. Rogan lief in die Küche und stieß die Hintertür auf. Er hatte den Hof schon halb durchquert, als ein junger Polizist um die Ecke auf ihn zukam. Rogan schlug einen Haken, holte gleichzeitig aus und traf mit der Faust gegen Backenknochen. Der Polizist ging zu Boden. Rogan hörte Schreie hinter sich, dann tauchte er zwischen den Bäumen im Nebel unter. Morgan richtete sich langsam auf und sackte gegen die Wand zurück. Sein ganzer Körper schmerzte, und er hatte Blut im Mund. Aber er rang sich trotzdem ein Grinsen ab, als er zu Colum O'More hinübersah. »Ich halte durch, alter Knabe. Jedenfalls so lange, bis feststeht, daß Rogan als Mörder verurteilt wird.« »Tatsächlich?« fragte Colum O'More und streckte ihn mit -163-
einem Kopfschuß nieder. Als die Haustür nachgab, glitt ihm die Pistole aus der Hand. Er sank nach vorn. Vanbrugh kam als erster herein. Gregory folgte ihm dicht. Er beugte sich über den Alten und hob O'Mores Kopf behutsam hoch. Der Blick des großen Mannes war erstarrt. »Der braucht keinen Arzt mehr«, stellte Gregory fest und richtete sich auf. »Wie steht's mit dem anderen?« »Tot«, sagte Vanbrugh nur. Er griff nach einem Bündel Geldscheine. »Das viele Geld hat also doch niemand genützt, was?« Dwyer kam hastig aus der Küche herein. »Jemand ist durch die Hintertür entwischt und hat einen unserer Leute niedergeschlagen. Das könnte Rogan gewesen sein!« »Los, hinterher!« rief Gregory. Vanbrugh ging durch die Küche in den Hof. Inzwischen war es schon fast dunkel geworden. Die Finsternis und der Nebel verwandelten das Marschland in eine unheimliche Schattenlandschaft. »Lassen Sie alle Männer nach ihm suchen«, sagte Vanbrugh zu Gregory. »Dwyer und ich verfolgen ihn gleich. Er muß in der Nähe sein.« Gregory pfiff schrill auf seiner Trillerpfeife, während Vanbrugh zwischen den Bäumen verschwand. Dwyer blieb ihm auf den Fersen. Die beiden Männer mußten ihre Gesichter mit den Händen vor Zweigen schützen, stolperten immer wieder und liefen weiter. Dann erreichten sie den Fußweg, der zu dem Damm führte, rannten geradeaus und kamen zu der ersten Abzweigung. Vanbrugh blieb keuchend stehen. »Sie bleiben auf dem Damm, Dwyer, und ich versuche es hier. Aber lassen Sie sich auf keinen Kampf mit ihm ein! Er ist stärker als Sie. Pfeifen Sie, sobald Sie ihn sehen. Ich komme dann sofort.« -164-
Dwyer nickte, wandte sich ab und verschwand im Nebel. Vanbrugh folgte dem Fußweg. Rogan hörte überall Polizeipfeifen hinter sich, senkte den Kopf und lief durch die Fichtenschonung weiter. Er stolperte, fiel, rollte in einen Graben und blieb schweratmend liegen. Aber die schrillen Pfiffe, die jetzt aus allen Richtungen zu kommen schienen, trieben ihn erbarmungslos weiter. Er raffte sich auf, stolperte vorwärts und hatte plötzlich den schmalen Pfad zum Wasser vor sich. Jetzt konnte er schneller laufen. Sein Atem kam stoßweise. Wenige Augenblicke später ließ er die letzten Bäume hinter sich und erreichte die kleine Bucht, in der das Boot lag. Hannah kam ihm entgegen. Ihr Gesicht war in der Abenddämmerung blaß und verschwommen. »Ist alles in Ordnung?« »Los, wir müssen weiter!« drängte er. »Überall sind Polizisten.« Brendan stand mit einer langen Stange im Heck des Hausbootes und fragte aufgeregt: »Können wir abfahren, Mr. Rogan? Soll ich den Motor anlassen?« »Damit die Polizei gleich weiß, wo wir sind?« Rogan schüttelte den Kopf. »Nein, wir lassen uns von der Ebbe in die Flußmündung hinaustreiben.« Er lief zu der letzten Leine, die das Boot noch festhielt, und machte sie los. Das abfließende Wasser nahm das Boot sofort mit. Hannah rief erschrocken: »Schnell, Sean!« Als Rogan zu dem Boot waten wollte, stürmte Vanbrugh aus dem Unterholz und warf sich auf ihn. Die beiden Männer wälzten sich im Sand übereinander. Rogan lag zuletzt oben. Seine großen Hände umklammerten den Hals des anderen. Dann erkannte er Vanbrugh. Er ließ ihn los und stand auf. »Steh auf!« befahl er ihm. -165-
Die beiden Männer standen sich in der Abenddämmerung gegenüber. Beide atmeten schwer. Von überallher ertönten Polizeipfeifen aus den Marschen. Hannah stieß einen ängstlichen Schrei aus. Vanbrugh sah zu ihr hinüber. Ihre Gestalt verschwamm im Nebel, als das Boot immer mehr abtrieb. Er wandte sich an Rogan. »Worauf wartest du noch, verdammt noch mal? Verschwindet endlich!« Rogan stürzte sich ins Wasser. Er watete in die Bucht hinaus, mußte noch ein Stück schwimmen und holte das Boot ein. Die Frau und der Junge halfen ihm an Bord. Er nahm dem Jungen die Stange aus der Hand, drehte sich um und sah lange zu Vanbrugh zurück. Dann hob er grüßend die Hand und stakte das Boot in den Nebel hinein. Sekunden später war es verschwunden. Vanbrugh blieb am Strand stehen und starrte ins graue Nichts, als könne er Nacht und Nebel mit den Augen durchdringen. Nach einiger Zeit kam Dwyer zu ihm. »Haben Sie eine Spur gefunden, Sir?« Vanbrugh schüttelte den Kopf. »Haben Sie eine Zigarette für mich?« Dwyer bot ihm sein Etui an. Als er Vanbrugh Feuer gab, begann irgendwo draußen auf dem Wasser ein Motor zu brummen. Das Geräusch wurde rasch leiser. Der Sergeant runzelte die Stirn. »Haben Sie das eben gehört, Sir?« Sein Vorgesetzter legte den Kopf schief, als horche er angestrengt. Aber dann schüttelte er den Kopf. »Nein, ich habe nichts gehört, Sergeant. Kommen Sie, wir vergeuden hier nur unsere Zeit.« Er wandte sich ab und ging auf dem schmalen Fußweg zum -166-
Deich voran. Als das Hausboot aus der Flußmündung trieb, schlugen die ersten Wellen gegen seinen Rumpf. Rogan drückte auf den Anlasser. Der starke Motor sprang an, und er steuerte das Boot in einem weiten Bogen an der letzten Landzunge vorbei aufs Meer hinaus. Er sah auf Hannah hinab, die neben ihm stand, legte ihr einen Arm um die Schultern und zog sie an sich. Er hatte zum erstenmal in seinem Leben das Gefühl, wirklich ausgebrochen zu sein. Hannah lächelte zu ihm auf, und er erwiderte ihr Lächeln. ENDE
-167-