Johanna und Günter Braun erzählen in diesem phantastischen Roman von Oliver Input, der aus einer halbverfallenen Provinz...
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Johanna und Günter Braun erzählen in diesem phantastischen Roman von Oliver Input, der aus einer halbverfallenen Provinzschule in die Hauptstadt Integral geholt wird. Multi Multiplikato, der Herrscher des Landes Plikato, der die Menschen mit einer von ihm gezüchteten Birne in Apathie hält und mit Maschinen regiert, sucht einen intelligenten, aber noch formbaren Adoptivsohn und Nachfolger. Er steckt Oliver in die nur zu diesem Zweck geschaffene Kybernetische Akademie und hofft, daß seine Rechnung aufgeht.
Illustrationen von Ruth Knorr
© Verlag Neues Leben, Berlin 1972
3. Auflage, 1975
Lizenz Nr. 303 (305/110/75)
LSV 7001
Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin
Bestell-Nr. 642 008 6
EVP 3,80 Mark
Scann, Layout, k-Lesen: Magic Eye (fix 1.1 28.07.2004)
Kapitel 1 Auf einem fernen Breitengrad, im Land Plikato, lebte ein Mann, dessen wahrer Name nicht überliefert ist, er selbst nannte sich Multi Multiplikato, davor setzte er die Bezeichnung Großer Zauberer. Er erschien den meisten Leuten von Plikato tatsächlich als großer Zauberer. Er hatte eine unscheinbare Birne, die in Plikato wuchs, zu einer besonderen Birne, der Plikato-Birne, herangezüchtet, die den, der sie aß, in heitere Gelassenheit versetzte. Bei häufigem Genuß steigerte sich die Gelassenheit der Birnenesser bis zur Gleichgültigkeit und sogar bis zum Stumpfsinn, so daß es dem Zauberer gelang, Grund und Boden an sich zu reißen und allein die Macht auszuüben, er verbot, andere Früchte in Plikato anzubauen, und legte sich elektronische Maschinen in solchen Mengen zu, daß er glaubte auf Menschen verzichten zu können. Er gab auch kein Geld für Volksbildung mehr aus und ließ die Schulen, wo sie noch vorhanden waren, einschlafen, so daß ich mir nicht vorstellen kann, daß irgendein anderer Junge in einem anderen Land oder zu einer anderen Zeit sich in der Schule so langweilen mußte wie ich. Ich wundere mich noch heute, daß in meiner Schule keine Todesfälle aufgrund von Langeweile vorkamen. Als es mir zuviel wurde, stieg ich heimlich in die Schulbibliothek ein, die Schülern wegen der Kostbarkeit der dort vorhandenen Werke verboten war. Ich entdeckte weiter nichts als drei Nachschlagewerke, eins über Mathematik, eins über Physik und eins über allgemeine Technik, deren Papier so gelb und trocken war, daß ich befürchtete, es würde beim Umblättern zu Staub zerfallen. Aber ich freute mich, daß es Bücher waren. Im Unterricht benutzten wir nämlich keine. Unser Lehrer erwähnte manchmal eine Zeit, in der die Schule die Fetzen einiger Rechenfibeln besessen hätte, neue hatte es seitdem nicht mehr gegeben. Der Lehrer schrieb, was er uns unbedingt beibringen wollte, mit Kreide an die Wand. Es war nicht viel. Ich steckte die drei Nachschlagewerke in einen Plastbeutel und verzog mich damit in den Urwald, wo ich auf einen Baum stieg und mich in eine Astgabel setzte. Das war äußerst unbequem, doch ich hoffte, dort in Ruhe lesen zu können. Aber bald kreischten die Affen, und auch die Papageien machten einen widerlichen Lärm, schließlich schissen mir die Affen in die Bücher. Wenn ich auch ab und zu die Affenscheiße von den Blättern blasen mußte, kam ich doch dahinter, was eigentlich Geometrie und Arithmetik bedeuten sollten, daß die Physik angeblich die Lehre von den Körpern sei und welcher technischen Errungenschaften die Leute sich vor fünfzig Jahren rühmten. Denn in der Schule buchstabierten wir immer aus der Zeitung und schrieben oder rechneten auf den weißen Zeitungsrändern. Und wir zerlegten zum tausendsten Mal die Birne, wir zählten ihre Kerne, bestimmten Farbe und Struktur des Fruchtfleisches und hörten immer wieder vom einzigen Lehrer, der an unserer Schule tätig war, daß ihm vor
dreißig Jahren, als noch strengere Maßstäbe gegolten hätten, der damalige Landesboß den Titel Schuldirektor feierlich verliehen hätte und daß wir Herr Direktor zu ihm sagen müßten. Ich hielt es leider im Urwald nicht länger als drei Tage aus, ich wurde schwach vor Hunger, und darauf ist es auch zurückzuführen, daß mich der Schuldirektor schnappte, als ich durchs Bibliotheksfenster steigen wollte, um die Bücher wieder hinzulegen. Der Name Bibliothek war hochtrabend, es handelte sich um eine Bude, nicht größer als ein Toilettenhäuschen, roh gezimmert und von Schlingpflanzen bewachsen. Das Schild Schülern Benutzung untersagt! nahm eine ganze Wand ein. Auf dieses Schild wies der Direktor, als er mich ergriff. Du hast die Bücher weggenommen, um drin zu lesen, obwohl es streng verboten ist.
Warum ist es streng verboten? Ich habe es verboten, sagte er, weil diese Bücher unersetzlich sind. Es wird vielleicht in unserem Land nie wieder solche Bücher geben. Es ist doch so, daß keine mehr gedruckt werden. Warum werden keine mehr gedruckt? Ich merkte, er wollte es nicht sagen. Er war Direktor betitelt worden, als die Maßstäbe noch strenger waren, und ich war nur ein Schüler. Er sagte wütend, es ist im Lehrplan nicht vorgesehen, daß Schüler solche Bücher lesen. Hast du schon den Querschnitt der Birne angefertigt, wie ich es aufgegeben hatte? Nein, sagte ich, ich habe es schon tausendmal gemacht, es stinkt mich an. Mein guter Junge, bedenke, das hier ist eine der wenigen Schulen in unserm Land, wo überhaupt noch was gelehrt wird. Wenn ich mal sterbe, kommt kein Nachfolger. Unser Beruf stirbt aus. Meine Strafe bestand darin, daß ich Herkunft Aufbau Verwendungszweck Wirkungsweise der Birne sowie ihre Bedeutung für das Land schriftlich niederlegen mußte. Warum ist die Plikato-Birne unsere nationale Frucht? Das konnte ich schon singen. Wir führten jeden Morgen, bevor der Unterricht begann, ein gemeinsames Birnenfrühstück durch. Jeder mußte dabei auf Kommando eine große Birne an den Mund setzen und auf Kommando reinbeißen, die Bisse erfolgten rhythmisch, alle bissen gleichzeitig. Wenn einer hinterher biß, kriegte er einen Minuspunkt. Wenn wir alles bis auf den letzten Kern zerkaut hatten, mußten wir dem Direktor sagen, daß die Birne so bedeutend wäre, weil sie das einzige Produkt unseres Landes sei, das wir in Massen anbauten und exportierten. Daß sie keine gewöhnliche Birne sei, sondern das Vitamin Gamma enthalte, welches den Menschen heiter und zufrieden stimme. Daß aus ihr das berühmte Getränk Mostonic hergestellt werde, das ebenfalls heiter und zufrieden stimme und auch als Mittel für einen gesunden Schlaf erprobt sei. Wer Mostonic trinke, werde nie bösartig anderen gegenüber. Der Erfinder dieses Getränks sei unser Herrscher Multi Multiplikato. Es fiel mir nicht schwer, die Strafarbeit auf einen Zeitungsrand hinzuschreiben, ich schrieb aber noch dazu, daß ich mich nach dem gemeinsamen Birnenfrühstück immer sehr schläfrig fühlte, fühlte, daß ich sogar mehrmals auf meiner Bank eingeschlafen wäre. Du hast gut beobachtet, sagte der Schuldirektor, es freut mich, daß du etwas Eigenes in den Text gebracht hast. Ich werde die Birne morgen mal nicht mitessen, sagte ich, dann werde ich sehen, ob ich wacher bleibe.
Das geht nicht, sagte er, die Birne muß laut Vorschrift jeden Morgen verspeist werden. Aber zu Experimentalzwecken könnte ich doch? Hier wird nicht experimentiert, sagte er, hier ißt jeder die Birne. Am Morgen stopfte ich mir die Backen wie ein Hamster voll und spuckte dann alles heimlich in meinen Frühstücksbeutel. So machte ich es eine ganze Woche lang. Nach und nach merkte ich, daß meine Schläfrigkeit nachließ, ich langweilte mich allerdings mehr als sonst, weil mir jetzt erst recht die müden Gesichter und Wackelköpfe der andern auffielen. Der Direktor, der ebenfalls jeden Morgen seine Birne kaute, nickte auch immer mit dem Kopf, der Kopf schlug mehrmals nach vorn, und über sein Hemd zog sich ein Faden Birnenspucke. Nach den ersten drei Stunden waren sie so im Tran, daß sie nicht merkten, wie ich mich verdrückte. Seitdem aß ich die Birne nicht mehr mit und ging nach der dritten Stunde weg. Einmal merkte es der Direktor doch, seine Birne war vielleicht an dem Morgen etwas kleiner gewesen. Wo willst du hin? Schlafwandelst du? Ich glotzte ihn an und murmelte, ja. Schlafwandler wissen aber nicht, daß sie schlafwandeln, und somit hast du dich verraten. Um das Gesicht zu wahren, torkelte ich ein paarmal durch den Raum, als wäre ich besoffen. Setz dich jetzt, sagte der Direktor, und eins kannst du mir glauben, wenn du so weitermachst, wird einmal was Entsetzliches mir dir geschehen. Ich ging von nun an vorsichtshalber erst nach der vierten Stunde weg, wenn sie noch mehr beduselt waren. Natürlich konnte ich nicht einfach so frei durch unsere Stadt Vitagam laufen, ich hielt mich mehr an den geschützten Stellen auf, zum Beispiel in der Abfallgrube auf dem Gelände der Birnen-Companie. Die Stadt war nämlich eine typische Birnenstadt, sie stank nach der Birne, von wo der Wind auch wehte, aber in der Grube stank es nicht so sehr. Ich wühlte da gerne in den weggeworfenen Sachen, und um die Zeit, als ich aufhörte, die Frühstücksbirne mitzuessen, fand ich in der Grube zwei alte Rechenautomaten. Der eine war total kaputt, der andere ging noch ein bißchen, ich schlachtete den total kaputten aus und reparierte mit den Teilen den anderen. Mit Hilfe des Nachschlagewerks über allgemeine Technik, das ich mir aus der Bibliothek ent-
lieh, und dadurch, daß ich täglich nach der vierten Stunde in die Abfallgrube ging und bis zum Abend an der Maschine rumprobierte, möbelte ich das alte Ding so auf, daß es multiplizierte und dividierte, wenn auch asthmatisch. Ich klaute meinem Vater von der Ölfarbe, mit der er unsere Küche renovieren wollte, und malte das Gehäuse der Maschine knallig blau. Das Klima in unserer Gegend ist heiß und trocken, es dauerte nur einen Tag, bis die Maschine nicht mehr klebte. Sie sah ganz eindrucksvoll aus, über die Vorderplatte war allerdings ein schlangenähnliches Tier gekrochen, ich sah es an der Wellenspur, aber ich hatte keine Geduld mehr, noch mal daran herumzupinseln. Ich lud den Apparat auf einen alten Kinderwagen und fuhr damit zur Schule. Bevor wir unsere Morgenbirne rhythmisch kauen sollten, sagte ich zum Direktor, ich hätte eine Sensation, es wäre vielleicht besser, wenn wir nicht allzu schläfrig seien, er solle die Birne heut doch ausfallen lassen. Nun kamen aber schon die meisten vom ersten Birnenfrühstück zu Hause beduselt in die Schule und wollten aus ihrem Tran nicht raus. Sie sperrten bereits die Münder auf, um rhythmisch loszubeißen, der Direktor sagte, Achtung, alle zur gleichen Zeit, aber ich sah, daß er selbst nur ein Stückchen abbiß. Ich spuckte meine Birne vor die Tür und holte die Maschine rein. Ich wollte den trüben Tassen zeigen, was man alles machen kann, wenn man nicht stumpfsinnig Birnen kaut. Ich sagte zum Direktor, stellen Sie mir eine Aufgabe, und er stellte mir was zum Multiplizieren, ich tippte ein paar Tasten meiner Maschine an, als ob ich zufällig mit dem Finger drankäme, und sie schnarchte ein bißchen und stöhnte, dann kroch eine kleine Papierschlange raus, auf der das Ergebnis stand. Ich sagte, stellt ihr Aufgaben. Sie grinsten mich freundlich an, einige wollten was sagen, aber dann stießen sie nur nach Birne auf. Schließlich fragte Bibo, mein Nachbar, wie macht man denn das, Aufgaben stellen? Du sagst einfach drei mal sieben, das ist eine Aufgabe, sagte ich, und ich tippe jetzt auf die Tasten, und dann rechnet die Maschine, und hier siehst du die kleine Papierschlange. Und was steht da drauf, einundzwanzig? fragte mich Bibo. Richtig geraten, aber bis du es gelesen hast, hättest du es auch ausrechnen können. Wozu ist denn die Maschine da, wenn du es nicht schnell genug abliest, dann ist sie vollkommen uneffektiv. Was ist denn das, uneffektiv? fragte Bibo. Es ist, sagte ich, wenn in einer Sache keine Effiziens drin ist, denn ich hatte nicht umsonst drei Tage lang im Urwald drei Nachschlagewerke studiert. Effektiv ist es, wenn die Maschine schneller rechnet als du und du in der Zeit was anderes tun kannst. Was soll ich in der Zeit denn anderes tun? Zum Beispiel eine neue Aufgabe ausdenken.
Und wozu? Damit die Maschine sie rechnen kann, und in der Zeit kannst du dann wieder eine neue Aufgabe ausdenken. Aber wozu? fragte Bibo. Ja, wozu, das wußte ich auch nicht. Einfach so, sagte ich, weil es Spaß macht. Ich merkte, sie wußten mit meiner Maschine noch nichts Richtiges anzufangen. Man kann mit ihr spielen, sagte ich, sie ist so etwas wie die Spielautomaten im Mostonic-Zentrum, bloß intelligenter. Wenn ihr da einen Klax reinschmeißt, fangen ein paar Bälle an zu hopsen, und wenn der Ball, für den ihr den Klax
reingeschmissen habt, meinetwegen der grüne Ball, nicht ins Ziel springt, ist euer Klax futsch, aber bei dieser Maschine verliert ihr nichts. Und was gewinnen wir? fragte Bibo. Das konnte ich ihm nicht beantworten. Gewinnen tut ihr auch nichts, es macht eben Spaß. Im Mostonic-Zentrum, sagte Bibo, geht es leichter. Manchmal gewinnt man da sogar was. Ich habe schon mal drei Klaxe gewonnen, hintereinander. Und was hast du damit gemacht? Drei Portionen Birneneis geholt, aber große. Und ich sagte, darin sehe ich keine Effizienz, ich meine, was hattest du davon? Einen guten Geschmack, sagte Bibo, und was habe ich von deiner Maschine? Eben den Spaß, sagte ich, und du kannst schneller rechnen, kannst also schneller ins Mostonic-Zentrum. Na gut, sagte Bibo, laß die Maschine noch mal rechnen. Ich ärgerte mich furchtbar, daß sie so stöhnte und zitterte. Ich sagte zum Direktor, das hört sich bloß so an, sie arbeitet sehr schnell. Wenn Sie mal auf die Uhr sehen wollen. Der Direktor legte seine Taschenuhr auf den Tisch neben die Maschine. Er stellte eine kompliziertere Multiplikationsaufgabe und hinterher gleich eine Divisionsaufgabe, und für beide brauchte die Maschine noch nicht mal zehn Sekunden. Wir könnten damit Wettrechnen machen, schlug ich vor, mal sehen, wer schneller rechnet, Sie oder die Maschine. Warum ich, fragte der Direktor, bin ich hier Schüler? Sie sind unser Lehrer, von Ihnen erwartet man, daß Sie am schnellsten rechnen. Wenn die Maschine keinen richtigen Gegner hat, macht der Wettkampf keinen Spaß. Ihr könnt doch auch ganz schön schnell rechnen, und ihr könntet es schließlich lernen, ihr könntet euch üben, sagte er.
Aber weil er sich so sperrte, sagte ich, Herr Direktor, seien Sie kein Frosch. Schluß, sagte er, die Maschine gehört nicht in den Unterricht, wir befassen uns jetzt mit dem heutigen Thema. Warum ist die Birne als nationale Frucht unseres Landes auch gleichzeitig das Gold unseres Landes? Könntest du mir diese Frage beantworten, Input? Ich heiße nämlich Oliver Input. Meinen Eltern war kein anderer Name eingefallen. Oliver heiße ich nach meinem Vater, aber es war Pflicht, auch einen eigenen Namen zu tragen, und da suchten sie einfach einen aus dem öffentlichen Namenskatalog, in dem solche Namen wie Tangens, Sinus, Cosinus, Antenna, Koordinata und auch Input und Output standen. Ich fragte meine Eltern, nachdem ich im Urwald die Nachschlagewerke studiert hatte, wieso sie gerade auf Input gekommen wären, ich bin das, was nach neun Monaten rausgekommen ist, ich müßte Output heißen. Meine Mutter sagte, Input höre sich niedlicher an. Ich wäre als Baby so niedlich gewesen. Ich, Oliver Input, meistens Input genannt, beantwortete also die Frage, warum die nationale Frucht auch das Gold unseres Landes sei. Die nationale Frucht ist das Gold unseres Landes, weil wir mit ihr hohe Einnahmen durch Exporte erzielen, so bekommen wir das Geld, um noch mehr Birnen anbauen zu können. Wer ist wir? fragte der Direktor. Wir sind nicht wir, sagte ich, sondern Herr Multi Multiplikato, der Herrscher unseres Landes Plikato, durch welches der Fluß Diagramm fließt und dessen Hauptstadt Integral heißt. Und dienen die Einnahmen, die durch die Birne erzielt werden, ausschließlich der Vermehrung der Birnenproduktion? Sie dienen auch, leierte ich, dem vermehrten Ankauf und der Installation von hochintelligenten Maschinen, welche mehr und mehr alle anfallende Arbeit im Land Plikato verrichten, so daß die Bevölkerung es immer weniger nötig hat zu arbeiten. Gut, sagte der Direktor, und jetzt schaff diese Maschine raus. Er sagte es angeekelt, und ich überlegte den ganzen Tag, was er an meiner Maschine so ekelhaft
finden mochte, vielleicht die Schlangenspur in der blauen Ölfarbe. Ich übermalte sie, und ich ließ dem Direktor einen Tag Pause, dann rückte ich wieder mit meiner Maschine an. Er sah mich kommen, als er grade in die Baracke gehen wollte, die unsere Schule war. Ich hatte mich verfrüht, und es waren außer mir noch keine Schüler da. Der Direktor tat so, als ob er meine Maschine auf dem alten Kinderwagen nicht bemerkte. Er sagte, schön, daß du so früh da bist, Input, du kannst mir gleich bei der Schlangenkontrolle helfen, sieh auch in den Ecken genau nach und unter den Pulten. Ich wußte, daß eigentlich kein Schüler die Schlangenkontrolle durchführen durfte, weil sie zum Schutz der Schüler da sein sollte, denn unsere Schule wurde dauernd von Schlangen besucht, die manchmal auch welche von uns bissen, aber sie bissen niemals morgens, sondern erst, wenn alle durch die Birne schläfrig geworden waren. Sie hatten auch schon in der alten Schule öfter jemand gebissen. Die alte Schule, die ausgesehen hatte wie ein kleines weißes Schloß, war verfallen. Die Baracke hatte uns die Birnen-Companie abgetreten, weil sie zur Aufbewahrung der Geräte zu schäbig war. Die Schlangen waren aus der alten Schule mitgekommen. Wenn auch keiner darüber sprach, wußte jeder genau, daß hinter den weißen Trümmern des ehemaligen Schulgebäudes Schüler eingebuddelt lagen, die von Schlangen gebissen worden waren, natürlich waren sie nicht nur eingebuddelt, sie hatten je einen weißen Grabstein aus Schultrümmern, und bei manchen waren die Namen sogar mit Gold ausgemalt, aber eingebuddelt ist eingebuddelt, und totgebissen ist totgebissen. Ich dachte, wenn dich der Direktor an der Schlangenkontrolle beteiligt, hat bei ihm etwas ausgehakt. Er sah mich durch seine grünliche Brille verschwommen an. Du hast wohl schon zu Hause einen Mostonic gekippt, dachte ich, aber er roch nicht, und ich sagte, wenn Sie meinen, die Schlangen hauen vor mir ab, aber er hörte nicht hin, er huschte in alle Ecken und zischte wie verrückt und klatschte in die Hände, und ich rannte hinter ihm her. Ich sagte mir, zuerst wird die Schlange ihn beißen, aber es zeigte sich an dem Morgen keine einzige, wir hörten auch keine davonrascheln, und dabei lagen genug Papierschnipsel und zerknautschte Birnentüten rum, mit denen sie hätten rascheln können. Manchmal sind sie wie weggeblasen, sagte der Direktor, und plötzlich schießt unerwartet eine hervor. Ich bin aber froh, daß du hier bist, da habe ich einen Zeugen, daß ich die Kontrolle ordnungsgemäß durchgeführt habe, denn mir wirft man es vor, wenn wieder einer gebissen wird. Wir müßten mal Fenster einsetzen und vielleicht die Löcher im Fußboden und in den Wänden vergipsen, schlug ich vor. Sehr richtig, Input, sehr richtig, das denke ich auch jeden Morgen, wenn ich die Schlangenkontrolle durchführe, aber dann überfällt mich eine derartige Müdigkeit. Du hast ganz recht. Fenster müßte man irgendwie mal einsetzen, das ist
wirklich ein guter Gedanke, wobei ich mich allerdings frage, woher wir die Mittel bekommen. Die Schule hat nichts. Ein paar Glasscheiben würden vielleicht unsere Alten spendieren, sagte ich. Er strahlte und nahm die grünliche Brille ab und setzte sie wieder auf. Sehr richtig, eure Eltern, sie könnten vielleicht daran interessiert sein, daß die Schlangengefahr vermindert wird. Du hast sehr recht, Input. Man sollte die Eltern ins Auge fassen, und jetzt, würde ich sagen, fangen wir mit dem Unterricht an. Aber die andern sind ja noch nicht da, sagte ich. Ach richtig, manchmal merke ich gar nicht, ob sie da sind oder nicht. Sie sind alle so still, viel zu still für Schüler. Vor dreißig Jahren, als mir der Direktortitel verliehen wurde, waren die Maßstäbe, die man anlegte, strenger, da waren die Schüler nicht so still. Mußte man damals auch jeden Morgen gemeinsam Birnen frühstücken? Nein, das nicht. Ich merkte ihm an, daß er es ohne Birnenfrühstück besser gefunden hatte, und er merkte anscheinend, daß ich es gemerkt hatte, und er sagte rasch, es ist ja jetzt viel gemütlicher, das gemeinsame Frühstück, nicht wahr, und die Birne ist ja auch so gesund. Ich glaube, wir werden von dieser Birne ein bißchen bescheuert. Er sah mich an, als ob ich gerade jemand ermordet hätte. Input, das darfst du nicht sagen. Wenn es aber so ist. Es ist nicht so, es ist nicht so. Aber ich merkte genau, gerade weil er es wiederholte, daß es so war. Ich konnte nicht kapieren, warum er, wenn er wußte, daß es so war, täglich mit uns die Birne kaute. Wir brauchen doch die Birne nicht zu essen, formen uns meinetwegen Birnen aus Gips, die malen wir an und bringen sie jeden Tag mit. Und Sie geben die Kaukommandos, dann hört es sich draußen an, als ob wir wirklich kauen.
Du hast natürlich recht, fing er an, und dann verbesserte er sich, du hast vollkommen unrecht, und ich verbiete dir, solche betrügerischen Gedanken zu äußern. Wir können doch unseren Landesvater, der das Birnenfrühstück angeordnet hat, nicht einfach hintergehen. Möchten Sie lieber verblöden? Ich mache das hier doch euch zuliebe, murmelte er, ihr würdet sonst überhaupt nichts mehr lernen. Ich habe die Rechenmaschine mit, sagte ich, wollen wir heute Wettrechnen machen? Die Maschine bleibt draußen. Auch am nächsten Tag sagte er es. Ich wollte aber mit aller Gewalt erreichen, daß er sich stellte, du alter Feigling, du wirst den Kampf mit ihr aufnehmen, ich sagte, wie können Sie ein Direktor aus der Zeit sein, wo noch strengere Maßstäbe angelegt wurden, wenn Sie nicht mal mit einer klapprigen Rechenmaschine, die ich aus der Abfallgrube gezogen habe, konkurrieren wollen. Er sah mich traurig an und sagte leise, also, wenn ihr es wollt. Die andern wollten es natürlich auch, aber ich war so fair, die Aufgabe an die Wand zu schreiben, bevor ich sie in die Maschine gab. Trotz seines Vorlaufs wurde der Direktor von dem asthmatischen Kasten um eine drittel Minute geschlagen. Der Direktor nahm die Brille ab und sagte, ja, sie hat mich geschlagen. Aber anstatt zu sagen, eine Maschine rechnet eben so schnell, da kann man nichts machen, darin ist sie uns überlegen, wollte er es nicht zugeben, und er verlangte eine neue Aufgabe, und die Maschine schlug ihn wieder. Er verlangte den ganzen Vormittag über Aufgaben, mit denen er die Maschine schlagen wollte, und er rechnete immer langsamer, obwohl ich ganz leichte Aufgaben nahm, zum Schluß brauchte er für die Aufgabe 9352:7 acht Minuten. Am andern Tag brachte ich die Maschine wieder mit, und als der Direktor sie sah, tat er das Birnenfrühstück ganz kurz ab. Ich glaube, er leckte noch nicht mal an seiner Birne. Unter seinen Augen hingen dunkle Säcke. Wahrscheinlich hatte er die ganze Nacht geübt, er sagte energisch, eine Aufgabe, schnell. Die Maschine gab einen ungewohnten Ton von sich, arbeitete aber, obwohl es klang wie durch eine verstopfte Nase geschnarcht. Aber diesmal lief der Direktor mit
ihr gleich, und er hätte beinah gewonnen. Bei der nächsten Aufgabe gewann er. Er freute sich kindisch und rief, euer Direktor hat gewonnen. Sogar bei der dritten, die komplizierter war, gewann er. Er fing an, uns einen Vortrag darüber zu halten, daß im Grunde der Mensch mit seiner Willenskraft auch Maschinen besiegen könnte. Es ist nicht wahr, daß wir er Maschine verfallen sind, sagte er, der Mensch bleibt immer der Mensch. Er begeisterte sich und kriegte einen glühenden Kopf, daß es mir peinlich war. Seht ihr, Kinder, das dürft ihr nie vergessen, was ihr soeben erlebt habt. Der Mensch ist mehr als die Maschine. Ich wollte ihn ärgern, Sie haben uns beigebracht, daß Multi Multiplikato lehrt, auf Menschen wäre kein Verlaß, deshalb müßten immer mehr Maschinen eingesetzt werden. Trotzdem, sagte er, der Mensch ist mehr als die Maschine, er ist mehr, und er kann mehr, er hat eine größere moralische Kraft. In diesem Moment knackte es in der Maschine, und eine kleine Schlange schoß aus dem Gehäuse. Was war das? fragte der Direktor, noch ganz von seinem Sieg beduselt. Eine Schlange hatte sich drin verkrochen, Bibo hielt sie mit der Hand gefangen. Wollen Sie es noch mal versuchen, Herr Direktor? Fragte ich. Er wollte es immer wieder beweisen, er gierte nach Aufgaben, und diesmal schnarchte die Rechenmaschine wie durch eine gut ausgeschnaubte Nase. Sie schlug unsern Lehrer mit großem Vorsprung. Ich bin ermüdet, entschuldigte er sich, ich habe es ja vorher gekonnt, ich habe es ja bewiesen, ich bin nur ermüdet. Sehen Sie, sagte ich, die Maschine ermüdet nicht, sie ist Ihnen überlegen. Sie sind ein Mensch, Sie ermüden. Er tat mir gleich wieder leid. Sie sind nicht ermüdet, Sie sind prima in Form, bloß vorher war diese Schlange drin, da war die Maschine gehemmt. Es lag nicht an der Schlange, sagte er, ich habe sie wirklich besiegt. Plötzlich drohte er mir. Es wird noch etwas Entsetzliches geschehen, Input. Etwas Unvorhergesehenes und etwas Entsetzliches. Und dabei tue ich es nur für euch.
Das fand ich faul. Unseretwegen brauchen Sie sich nicht zu bemühen. Sie sitzen auch nicht unseretwegen hier, sondern Ihretwegen. Sie würden sich auch vor Affen aus dem Urwald setzen und denen die Birnenkaukommandos geben, Hauptsache, Sie können überhaupt Kommandos geben. Du bist sehr roh, Oliver Input. Ich glaube, daß er weinte. Aber nun war ich einmal roh und wollte es auch sein. Die Wahrheit ist nur roh zu genießen, wenn sie gekocht ist, ist sie keine Wahrheit mehr. Hier werden niemals Affen zum Unterricht erscheinen, sagte er, nie kommen Affen über diese Schwelle. Nicht genug, daß wir jeden Morgen unsere Birne kauen mußten, nicht genug, daß die ganze Stadt nach der Birne stank, nicht genug, daß die Läden von Birnenkonfekt Birnenmarmelade Birnenschnaps Birnenkompott Kandisbirnen Birnenpomade Birnenparfüm Birnenpuddingpulver Birnenbabybreipulver instant und von Mostonic-Kanister voll waren, nicht genug, daß die Stadt von einem Birnenplantagenring umschlossen war, nicht genug, die Leute mußten auch noch ihren eigenen Birnbaum im Garten haben. Meine Eltern besaßen einen besonders alten, dreimal so hoch wie unser Haus, der sich schwer abernten ließ, und als die Birnen reif wurden, sagte mein Vater, mein lieber Input, du könntest vielleicht, wenn dir deine anstrengenden Schulpflichten Zeit dazu lassen, die Birnen vom Baum nehmen, aber laß nach Möglichkeit keine fallen, und sieh dich besonders oben vor, die Äste sind morsch, sie könnten leicht abbrechen, wenn du auf einen drauftrittst, und es wäre doch schade um den schönen alten Baum. Er gab mir einen Korb mit Holzwolle drin und eine Leine, an der ich den vollen Korb jedesmal runterlassen sollte. Fang von unten an, Input, pflück zuletzt die Birnen an der Spitze, sonst zertrittst du womöglich welche oder stößt an, und sie fallen runter. Ich war schon wütend, und ich dachte an die Birnenmarmelade, die meine Mutter zurechtmantschen, und an den Birnenwein, den mein Vater ansetzen würde, und am liebsten hätte ich die Birnen nicht in den Korb gelegt, sondern meinem Alten auf die Glatze geschmissen. Aber es kam mir nicht sehr intelligent vor, Affen würden so reagieren. Nun mach mal ein bißchen, rief mein Vater, der unten stand, siehst du die Birne da links oben, rechts neben der großen, die links neben dem krummen Ast hängt, die solltest du nicht vergessen, die hängt dir direkt vor der Nase. Und in diesem Stil rief er dauernd, aber ich riß mir kein Bein aus. Ich mache es vorsichtig, sagte ich.
Nasch nicht, rief mein Vater, kann sein, daß die eine oder andere Birne in Gärung übergegangen ist, kann sein, daß sie alkoholisch sind, also nasch nicht, sonst wirst du betrunken und brichst die schönen Äste ab und läßt die Birnen fallen, und leg immer eine Schicht Holzwolle drüber, wenn du eine Schicht Birnen im Korb hast, sonst stoßen die sich. Als er noch lange so rief, biß ich in eine rein, die mir gerade vor der Nase hing. Mein Vater konnte mich nicht mehr genau beobachten, so hoch war ich schon gestiegen, daß mich das Laub und die ineinander verschlungenen Äste teilweise verdeckten. Ich biß in die Birne, sie schmeckte tatsächlich wie Schnaps. Sie war ein riesiger Brocken, gelbrosagrünlich mit braunen Flecken, und ich fraß sie bis aufs Kernhaus ab, während sie noch am Stiel hing. Was machst du da, rief mein Vater, geht es nicht weiter? Mir ist ein bißchen duselig, hier riecht es wie in einer Schnapsbude. Ach, heiliger Multi, rief mein Vater, nasch da bloß nicht. Ist der Korb noch nicht voll? Er ist voll, ich ließ ihn langsam am Strick nach unten. Tatsächlich, rief mein Vater, sie sind schon gegoren, nasch auf keinen Fall. Ich setzte mich auf einen Ast, der schon aus den Tagen der ersten Menschen stammte, und ließ langsam den Alkohol auf mich wirken. Ich wurde nicht müde, wie von der Schulbirne, sondern wach, ich hätte am liebsten den ganzen Baum von oben bis unten im Affentempo leergemacht, ich hätte gern an den morschen Ästen geschaukelt und gesungen. So wie diese Birne müßten die Birnen immer schmecken, sie hatten einen einmaligen Geschmack, und dieser alte Baum war auch ein einmaliger Baum, und eine einmalige Sonne schien da hinter unserem Haus, sie fiel in einem einmaligen Winkel ein. Schade, daß meine Eltern aus diesen einmaligen Birnen Wein und Marmelade machten, der Birnenwein schmeckte nach Hefe, ich hatte einmal aus dem Ballon genascht, und danach war ich überzeugt, ich müßte sterben, so tat mein Kopf weh, und die Marmelade, die meine Mutter von diesen einmaligen Birnen kochte, zog sich wie Gummi, wenn sie aufs Brot geschmiert werden sollte, und sie schmeckte wie Fensterkitt, weil meine Mutter Marmeladensteifmacher drantat. Warum ziehst du den Korb nicht hoch? rief mein Vater. So gegoren waren die Birnen noch nie. Dann brauchst du keinen Wein mehr zu machen.
Sie müßten veredelt werden, da müßte die richtige Hefe dran. Mich ergriff ein gewaltiger Appetit auf die anderen Birnen. Vielleicht würde ich nie wieder solche- Birnen kosten, vielleicht war es eine Sonnenbestrahlung gewesen, die alle tausend Jahre einmal zustande kommt, und mein Vater wollte das Einmalige mit Hefe vermantschen. Ich haute mein Gebiß in die nächste Birne, sie schmeckte wieder alkoholisch, die nächste und übernächste auch. Dann packte ich den Korb voll und ließ ihn runter. Bist du verrückt, Input, rief mein Vater, du hättest beinah den Korb auf meinen Kopf sausen lassen. Ich setzte mich auf einen Ast und gab mich der Wirkung der Birnen hin, ich wurde nicht müde, im Gegenteil, ich wollte steigen, steigen, steigen. Zieh den Korb hoch, Input. Ich zog den Korb und stieg los, die Äste knackten und splitterten, ich merkte es nicht, ich trat wie auf Stufen aus federndem Schaum, ich dachte, das bedeutet es wohl, wenn vom Durchschreiten ungeahnter Räume die Rede ist, die Welt war ein Birnbaum aus Ästen aus den ersten Tagen der Menschheit, ich schnellte von Ast zu Ast, bis ich merkte, daß mein Schädeldach heiß wurde. Die Sonne fiel in einem einmaligen Winkel ein, und mit einemmal bog sich die Welt vornüber, da war kein Ast mehr, auf den ich schnellen konnte, weder ein morscher noch einer, der wie Schaum federte, eine Birne baumelte mir über der Nase. Die kriegst du auch noch, hörte ich meinen Vater. Ich kriege sie nicht, brüllte ich, oder es kam mir so vor, daß ich brüllte. Sie baumelte rosagelbgrünlich und braungefleckt über mir und benebelte mich mit ihrem Duft. Die mußt du kriegen, Input, das wäre ja noch schöner, wenn du die nicht kriegen würdest, wo du alle gekriegt hast, rief er. Ich fühlte mich aber, weil kein Ast mehr über mir war und die Welt über meiner Nase aufhörte, ganz schlapp, kein Unternehmungsgeist rührte sich mehr, ich wäre gern unten gewesen, ich hätte gern im Schatten des alten Birnbaums geschlafen, es mußte ein einmaliger Schatten sein. Ich lasse sie hängen, rief ich, auf die eine kommt es nicht an. Auf die kommt es gerade an, es kommt immer auf die letzte an. Gerade die eine zeigt, ob wir Ordnungssinn haben. Entweder man pflückt alle, oder man läßt es überhaupt, sei nicht inkonsequent, Input. Wie sieht denn das aus, wenn da
noch was hängt und später als Verwesungsprodukt auf den Boden klatscht? Glaub mir, Input, es sieht ordentlicher aus, und sie ist doch die letzte, und es ist ein schönes Gefühl, wenn man alle abgepflückt hat, das ist doch erleichternd, sie sind alle runter, keine hängt mehr, man hat es geschafft, man war konsequent, man darf ruhig schlafen. Ich hatte keinen Nerv für das schöne Gefühl. Ich finde es langweilig, wenn alle runter sind, ein ganz kahler Baum ist langweilig. Das verstehe ich nicht, Input, einmal wird er sowieso kahl sein, wenn die letzte Birne runtergefallen ist. Ich lasse sie hängen, rief ich. Es ist nur ein Griff, rief mein Vater, er war Buchhalter bei der MultiplikatoBirnen-Filiale, es regte ihn gewaltig auf, wenn eine seiner Maschinen, die er überwachte, mit einem Rest nicht fertig wurde. Es war eine schlechte Buchführung, wenn da ein Rest blieb. Hast du sie? fragte er. Ich ließ den Korb runtersausen, ich stieg langsam ab, die Äste knackten und splitterten, und als ich unten war, sagte mein Vater, sieh dir das an, du hast .beinah alle Äste abgebrochen, die mußt du jetzt aufsammeln. Und wieder ankleben? Da oben hängt ja noch die Birne. Er sah mich an, als ob ich noch mal raufsteigen sollte, dann schnüffelte er, du hast genascht, Input, hauche mich an. Ich wurde plötzlich ganz müde und ließ mich wie eine trübe Tasse ins Haus bringen, ich schlief drei Tage ununterbrochen. Als ich wach wurde, kochte meine Mutter schon die Birnenmarmelade, der Geruch des Steifmachers zog durch das ganze Haus, ich hörte, wie meine Mutter sagte, wem soll man denn die Marmelade anbieten, du bist ja nach einer Stulle schon besoffen, ich muß sie wegkippen. Man könnte eine Torte damit füllen, sagte mein Vater, eine Herrentorte, wenn ich Geburtstag feiere. Meine Mutter wollte aber zu meiner Großmutter gehen, um deren Rat einzuholen. Ich deckte in der Küche den großen Waschtopf auf und naschte von der Marmelade. Sie schmeckte natürlich nicht so gut wie die erste Birne, in die ich auf dem Baum gebissen hatte, immerhin, ich füllte mir eine alte Konservenbüchse voll ab, nicht, um das Zeug zu essen, ich war von Birne, und wenn sie noch so einmalig und noch so alkoholisiert war, wieder einmal bedient, aber ich
sagte mir, vielleicht ist die alkoholisierte Marmelade noch zu irgendwas gut. Ich versteckte die Büchse unter meinem Bett und duselte vor mich hin. Hinterm Haus schwappte etwas aus. Jetzt haben sie sie weggeschmissen, dachte ich. Plötzlich guckte Bibo, mein Banknachbar, durchs Fenster. Lebst du noch? Sollte ich ihm von der Marmelade anbieten? Eine innere Stimme sagte mir, ich müßte sie zu etwas noch Besserem aufheben. Ich fragte Bibo, ob er dichthalten könnte. Na klar, sagte er. Gerade kam unsere Katze rein, ich holte die Marmelade, schmierte sie an den Bettfuß, und die Katze lief davor auf und ab, immer ein Stückchen näher ran und immer ein Stückchen näher, sie lief wieder weg, zog im Zimmer verschlungene Bogen, kam wieder, roch ein bißchen am Bettfuß, lief wieder weg, steckte langsam die Zunge raus, tupfte mit der Zungenspitze die Marmelade, schüttelte sich und leckte mit einemmal wie wild den Bettfuß sauber, dann hockte sie im Zimmer, ich sagte, komm ins Bett, und sie sah mich an und kam, ich sagte, geh raus, und sie ging raus, ich rief, spring auf den Stuhl, und sie sprang, sie machte, was ich ihr sagte, aber plötzlich wurde sie müde und legte sich hin und streckte alle viere von sich, wir dachten, sie wäre tot, aber sie schlief und rollte sich allmählich zusammen. Kannst du wirklich dichthalten, Bibo? Wem soll ich denn was erzählen, sind ja doch immer alle müde. Ich sagte ihm, er sollte am Morgen kommen, wenn noch keiner auf wäre, und ab sofort dürfte er nichts Birnenhaltiges mehr zu sich nehmen. Damit du morgen fit bist. Als er morgens angetrabt kam, war er schon nicht mehr so eine ganz trübe Tasse, er stellte sich geschickt an, als er den großen Plastsack aufhielt, in den ich die weggeschüttete Birnenmarmelade warf, ein großes, wabbeliges Stück in Form des Waschkessels. Wir wechselten uns beim Tragen ab, und als wir in den Urwald kamen, wo ich mit den drei Kostbarkeiten aus der Schulbibliothek auf einer Astgabel gesessen hatte, fragte ich Bibo, siehst du hier Affen? Er sah keine, und ich öffnete den Plastsack, riß ein Stückchen von der Marmelade ab und legte es unter einen Baum, dann versteckten wir uns mit unserem Sack hinter einem Vorhang aus Schlinggewächsen. Bibo fragte, was ich eigentlich wollte.
Ich möchte ein Experiment machen. Siehst du jetzt schon irgendein affenähnliches Wesen? Er sah nur uns beide, und ich hob das Stück Marmelade auf und gab Bibo die Hälfte, es hilft nichts, wir müssen es essen und uns dabei so anstellen, als ob es uns gut schmeckt, ich grunzte gleich genießerisch los, als ich das Stückchen im Mund hatte, klopfte ich mir den Bauch, und Bibo äffte mich nach, eine schöne Reklameschau für Birnenmarmelade, dann verzogen wir uns hinter die Schlingpflanzen, und ich hielt Bibo, der mich was fragen wollte, die Hand auf den Mund. Es waren nämlich eine Masse Affen in der Nähe, sie hatten still auf den Bäumen gehockt, nun sprang einer runter und fing an, auf dem Waldboden etwas zu suchen. Der sucht Marmelade, sagte ich leise zu Bibo. Der Affe klopfte mit seinen Händen den Boden ab, er schnüffelte, andere Affen sprangen herab und suchten auch, und als sie nichts fanden, wurden sie wild und trommelten mit Händen und Füßen auf den Boden und boxten sich und zogen sich an den Schwänzen, bis der alte Oberaffe vom Baum plumpste und ein paar Unteraffen biß. Er teilte die Bisse mit gelangweilter Miene aus, die Gebissenen hielten still und rannten dann weg. Ich sagte zu Bibo, jetzt den Sack fest zumachen, damit die nichts riechen, sonst überwältigen sie uns und klauen die Marmelade, und dann schnell mit dem Sack abhauen, den können wir hier nicht liegenlassen, der ist sonst morgen früh weg. Ein Stück vom Urwald entfernt warf Bibo den Sack hin und fragte, was soll das alles bedeuten? Morgen ziehen wir hier wieder dieselbe Schau ab, mit dem Unterschied, daß wir sie ein Stück kosten lassen. Aber was soll es bedeuten? fragte Bibo. Es ist ein Experiment. Und in diesem Stadium der Geschichte war es das wirklich noch. Am nächsten Tag, als wir drei Marmeladefladen hinlegten, nachdem wir unsere mit allen äußeren Zeichen des Hochgenusses gegessen hatten, meldete sich bei mir die entscheidende Idee. Sie kam, während einige Affen, umhockt von ihren Mitaffen, die Marmelade kauten und die Mitaffen immer neidischere Gesichter zogen. Ich riß noch ein paar Stückchen Marmelade ab und warf sie hinter dem Schlingpflanzenvorhang hervor, die Affen balgten sich gierig darum.
Plötzlich plumpste wieder der alte Oberaffe vom Baum, nahm einem Affen das Stück Marmelade weg und kaute es selber mit gelangweilter Miene, danach fing er laut an zu schreien. Ich dachte zuerst, ihm schmeckte der Marmeladensteifmacher nicht, warf noch ein Stück aus unserem Versteck, aber er grapschte danach und fraß es grunzend. Ich packte Bibo den Plastsack auf. Als wir den Urwald hinter uns hatten, wollte er protestieren. Ich sagte, bis jetzt war es ein Experiment, ich wollte ausprobieren, ob Affen diese ekelhafte Marmelade überhaupt fressen. Wir haben sie ihnen vorgekaut, und sie haben sie nachgekaut, und darum werden wir sie zu unserem Herrn Direktor in die Schule bringen. Wie ich den alten Oberaffen kenne, wird er auch mitkommen. Aber was sollen die Affen in der Schule? fragte Bibo entsetzt. Sie sollen auf unseren Bänken Platz nehmen. Das kannst du nicht machen, Input. Der Direktor hat doch erklärt, hier werden niemals Affen zum Unterricht erscheinen. Nie wird ein Affe über diese Schwelle kommen. Das war sein Fehler, sagte ich. Ach, Input, warum willst du so was machen? Was bringt dir das denn ein? Das ist doch Unsinn. Wir sollten zum Mostonic-Zentrum gehen und ein bißchen spielen, da sollen jetzt ganz neue Automaten sein, mit goldenen und silbernen Kugeln, die Musik machen, wenn sie aneinander- stoßen, und wenn die richtige Musik kommt, hat man gewonnen. Was gewinnst du durch die Affen? Es ist nur deshalb, sagte ich, weil ich es nicht vertragen kann, wenn einer sagt, nie kommt ein Affe über diese Schwelle. Wenn sich jemand so aufbläst und behauptet, etwas wird nie geschehen, möchte ich, daß es geschieht. Der gute Bibo sah mich traurig an. Es wird etwas Entsetzliches geschehen, wenn du so weitermachst. Nichts wird geschehen, was soll denn schon geschehen? Der Direktor wird sich erschrecken, und er wird nicht mehr sagen können: Nie kommt ein Affe über diese Schwelle. Vielleicht wird das für ihn entsetzlich sein. Nein, sagte Bibo, er meint dich, mit dir wird was Entsetzliches geschehen.
Und er wird wieder unken, daß was Entsetzliches geschehen wird, das ist das ganze Entsetzliche, was er zu bieten hat. Wenn du dich nur nicht irrst, sagte Bibo, du brauchst jetzt bloß zu sagen, nie wird Entsetzliches mit dir geschehen, dann bist du nicht anders als unser Lehrer. Es wird dann geschehen. Wir müssen einen Plan entwerfen, sagte ich. Zuerst müssen wir die Marmelade in kleine Stücke teilen. Morgen früh gehen wir hier wieder her und streuen ein Stück nach dem andern auf den Weg zur Schule. Vor die Schultür legen wir auch ein Stück und auf jede Bank auch eins. Auf dieser Spur locken wir die Affen aus dem Urwald auf unsere Bänke. Ich versteckte den Plastsack mit der Marmelade an einem sicheren Ort in der Abfallgrube der Multiplikato-Birnen-Filiale, wo ich die Rechenmaschinen gefunden hatte. Als ich am andern Morgen mit dem Sack auf dem Rücken zum Treffpunkt kam, fand ich Bibo nicht vor. Es wurde eine Hundearbeit, die Marmeladenspur allein zu legen, aber dadurch, daß Bibo mich sitzenließ, trieb er mich erst recht an. Zuerst balgten sich die Affen um die Marmelade, dann erschien der alte Oberaffe und kam auf die Idee, mir meinen Plastsack abzujagen. Besonders schnell konnte er nicht rennen, er war zu schwer. Am Waldrand zeigte ich dem Oberaffen die Marmeladenstücke, er grunzte laut, sammelte sie auf, setzte sich an die Spitze des Affenzuges in Richtung Schulbaracke, wurde bald stinkbesoffen und entwickelte ein Affentempo, das die anderen, die nichts mehr abkriegten, aufnahmen. Es sah jetzt so aus, als ob der Oberaffe sie zur Schule führte, Affen beiderlei Geschlechts, ergraute und junge, dicke und dünne, kleine mit Spinnenbeinchen und Babygesichtern, und weil Affen alles nachmachen müssen, hatten sich ihnen unterwegs immer mehr Affen angeschlossen, obwohl kaum Aussicht für sie bestand, noch Marmelade abzukriegen. In unserer Schulbaracke waren fünfundsiebzig Plätze, und ich überlegte, was ich mit den anderen Affen machen sollte, der Zug war unübersehbar geworden, ich schätzte die Zahl der Affen auf mindestens dreihundert. Jetzt bereute ich, daß ich sie aus dem Urwald gelockt hatte, ich überlegte auch, ob es nicht gemein gegenüber dem Lehrer war, der sich vielleicht wirklich nur wegen uns in diese alte Baracke stellte. Er kriegte kein Geld dafür, bloß Erwerbslosenunterstützung, wie alle, die keinen Job mehr hatten, und keinen einzigen Klix mehr. Eins wunderte mich doch, daß er, wenn er es unseretwegen tat, uns solchen Schwachsinn beibrachte und uns täglich auf Kommando die Birne rhythmisch kauen ließ. Vielleicht hatte er sich übernommen, er wollte uns vielleicht phantastische Sachen beibringen, dann traute er sich nicht und kam nicht über die verdammte Birne weg. Immerhin tat er mir ein bißchen leid, als ich die dreihundert Affen in die Stadt marschieren sah.
Die Stadt Vitagam lag noch vollkommen still, die Straßen waren leer, vom Turm der Multiplikato-Birnen-Filiale schlug es sieben, um die Zeit schlief bei uns noch alles, die meisten schliefen bis zehn, und eine ganze Menge schlief bis elf oder zwölf, und die bis zwölf schliefen, blieben dann gleich liegen, weil es mittags zu heiß war. Der eigentliche Betrieb ging erst nachmittags los, wenn das Mostonic-Zentrum aufmachte. Mein Vater, der seinen Job bei der MultiplikatoBirnen-Filiale hatte, stand meistens um halb neun auf, und unsere Schule fing um neun an. Als die Affen in die Stadt einzogen, war ich der einzige Mensch auf der Straße, jedenfalls glaubte ich, daß ich es wäre. Ich überlegte noch, was ich mit den überschüssigen Affen machen sollte, da sah ich auf der anderen Straßenseite einen Mann hinter den Affen her glotzen, als ob er noch nie Affen gesehen hätte.
Dabei hatten die Affen sicher noch nie so einen Mann gesehen. Er hatte einen weißen Anzug an und einen weißen Hut auf, sogar die Schuhe waren weiß und auch die Handschuhe, und in der Hand trug der Mann einen weißen Schirm, den er als Stock benutzte. Das einzige nicht Weiße an diesem Mann waren sein Gesicht, das von der Sonne verbrannt war, und seine dunklen Brillengläser. Das Brillengestell war auch weiß, und er sah aus, als ob er keine Augen hätte, die Gläser hatten nämlich dieselbe Farbe wie sein Gesicht. Er stand plötzlich am Ende der nächsten Straße und sah dem Affenzug entgegen, dann war er wieder weg, und ich bemerkte ihn erst wieder an der großen Kreuzung, wo es zur Abfallgrube der Multiplikato-Birnen-Filiale geht und wo die Straße zur Schulbaracke abbiegt. Er stützte sich auf seinen Schirm und warf einen langen schwarzen Schatten. Er glotzte mich mit seinen dunklen Gläsern an und zeigte langsam, als ob es ihm schwerfallen würde, auf meine Affen. Was geht hier vor? fragte er mich. Die Affen begeben sich zur Schule. Er fand es komisch. Ich finde es ganz normal, sagte ich, warum sollen Affen nicht in die Schule gehen? Denken Sie, es ist zu hoch für sie? Da irren Sie. Diese Schule ist zu primitiv. Der Oberaffe ist vollkommen blau, er könnte es sonst nicht verantworten, seine Affen in so eine Schule zu führen. Ich hörte mitten im Reden auf. Der Mann erschien mir unheimlich. Mit dem stimmte was nicht, er war so schrecklich weiß angezogen. Wo kommen Sie eigentlich her? Aus der Hauptstadt, aus Integral. Dann war er sicher ein Weißeingekleideter. Das waren die Leute, die bei unserem Großen Zauberer Multi Multiplikato eine gewaltige Nummer besaßen, das sollten ganz wenige sein. Die fuhren in weißen Luftkissenautos, und wenn sie Pech hatten und von einem anderen weißen Auto gerammt wurden und dabei kaputtgingen, kriegten sie einen weißen Sarg mit weißen Kissen und lagen weißangezogen drin und wurden von weißen Pferden auf den Ehrenhain für die Verkehrsopfer gebracht. Ich verkrümelte mich unter die Affen, der dicke Rücken des alten Oberaffen verdeckte mich einigermaßen. Der Oberaffe konnte sich schon nicht mehr nach
den Marmeladenportionen bücken, so besoffen war er. Jedesmal schnellte ein anderer Affe vor und riß ihm den Happen vor der Nase weg. Ich war froh, als wir die Baracke erreicht hatten. Ob Bibo sich wenigstens jetzt blicken ließ, um mir ein bißchen bei der Unterbringung der neuen Schüler zu helfen? Er hatte nicht mal den Nachschlüssel in das Loch unter der Türschwelle gelegt, wie es abgemacht war, und wir kamen auch viel zu früh an. Der Schuldirektor war noch nicht zur Schlangenkontrolle erschienen. Ich wollte eigentlich, daß die Affen über die Schwelle kommen sollten, wenn der Direktor schon da war. Mir lag sehr viel daran, daß sie über die Schwelle kamen und nicht durch die offenen Fenster. Nie kommt ein Affe über diese Schwelle, das sollte wörtlich widerlegt werden. Wenn Affen durchs Fenster stiegen, konnte es ein zufälliges Naturereignis sein, aber wenn sie wie Schüler die Schwelle überschritten, würde es dem Direktor zu denken geben. Trotzdem mußte ich sie durch die Fenster einsteigen lassen, weil Bibo unseren selbstgebastelten Nachschlüssel nicht hingelegt hatte. Sie rochen schon die Marmelade, die auf den Schulbänken lag, stürmten durch die Fenster, zerbrachen dabei ein paar und leckten die Schulbänke ab, als ob sie sie auffressen wollten. Der Direktor kam zur Schlangenkontrolle wie immer in seinen verschrumpelten Lederhosen und in seinem grauen Segeltuchhemd. Ich ging ihm entgegen. Darf ich wieder bei der Schlangenkontrolle helfen? Meinetwegen, Input, aber du siehst müde aus. Hast du nicht geschlafen? Wo warst du überhaupt? Ich habe dich mehrere Tage nicht gesehen. Ich hatte mir den Magen mit Birnen verdorben. Ich dachte, es wäre schön, wenn die Affen sich alle auf die Bänke gesetzt hätten, so wie wir Schüler sitzen, aber das war ein Traum. Welcher Affe setzt sich von sich aus so hin? Mir scheint, da ist schon wer drin, sagte der Direktor, als er aufschloß. Er ging rein und blieb nach drei Schritten stehen. Ich dachte, er würde schreien, aber er sagte nichts. Auch ich stand sprachlos da. Die Affen hatten sich alle, soweit die Plätze reichten, auf unsere Bänke gesetzt. Die anderen hockten auf den Tischen und auf dem Fußboden. Sie sprangen dem Direktor nicht entgegen, sie sahen ihn an wie Musterknaben. Einer wollte wohl ein bißchen hampeln, da knurrte der Oberaffe, der vor Alkohol nicht mehr stehen konnte und etwas windschief vorn auf dem ersten Tisch hockte, und der Ermahnte saß wieder still. Es war doch gut, daß sie alle dem Oberaffen, auch wenn der nicht mehr zurechnungsfähig war, gehorchten. Ich freute mich kindisch, als sie alle so dasaßen, und tippte den Direktor von hinten an: Die Affen
erwarten, daß Sie den Unterricht eröffnen. Was ist hier los, Input, ich begreife das nicht. Der Oberaffe knurrte und sah den Direktor drohend an. Sie müssen sich auch hinsetzen, erklärte ich, alle müssen machen, was der Oberaffe macht. Ich ließ mich mit gekreuzten Beinen nieder. Den Direktor, der sich sträubte, zog ich nach. Ich dachte immer, nie würden Affen hier zum Unterricht erscheinen, aber wenn sie nun doch gekommen sind, müssen Sie auch zu ihnen sprechen. Aber Input, wie soll ich mich diesem Wesen verständlich machen? Genauso, wie Sie sich uns verständlich machen. Aber wie sind sie hierhergekommen? Sie können doch nicht zufällig hier vorbeigekommen sein, und noch dazu so viele, und unter Führung ihres Oberaffen. Mir scheint das sehr organisiert, Input. Sieh mich an, Input, hast du mir was zu sagen? Nein, Herr Schuldirektor. Dann hilf mir wenigstens, die Affen zu entfernen, bis die Schüler kommen, damit wir unseren Unterricht durchführen können. Er klatschte in die Hände und zischte, wie er es bei der Schlangenkontrolle machte. Geht nach Hause, Affen, liebe Freunde, es hat mich sehr gefreut, euer Interesse rührt mich, aber ihr seid noch nicht soweit. Bei den meisten Affen wirkte jetzt der Birnenalkohol so, daß sie schläfrig wurden. Der Ober äffe lag auf der Bank und schnarchte. Sein schwarzer Lederbauch stieg auf und ab. Kein Affe hörte auf den Direktor. Guck doch mal, ob schon Schüler kommen, bat mich der Direktor, sag ihnen, daß der Unterricht ausfällt. Ich sah tatsächlich welche kommen, auch Bibo, der nicht wagte, mich anzublicken. Ich winkte ihnen, sie sollten kommen, die Affen mußten sie gesehen haben! Im Winken bemerkte ich den weißen Herrn aus Integral, mit seinem weißen Schirm stakte er genau auf unsere Schule zu. Hier sind leider Affen eingedrungen, sagte der Direktor, als die Schüler kamen. Eure Plätze sind besetzt. Könnt ihr euch erklären, wie das geschehen ist? Alle schüttelten die Köpfe, und Bibo, den ich finster ansah, auch. Ich fürchte, wenn einer von euch der Anstifter war, wird etwas Entsetzliches
mit ihm geschehen, sagte der Direktor, vorausgesetzt, er würde es nicht zugeben. Wie kann ihm was Entsetzliches geschehen? fragte ich. Wenn er es nicht zugibt, weiß doch keiner, daß er es war. Es gibt auch eine höhere Einsicht, ein höheres Walten, eine höhere Macht, die nicht auf ein Geständnis angewiesen ist. Es wäre aber besser, wenn der Schuldige gestehen würde, es würde seinen guten Willen zeigen, die Untat zu bereuen, und das Entsetzliche würde vielleicht nicht geschehen. Durchs Fenster sah ein dunkles Gesicht ohne Augen mit weißem Brillenrand. Ich starrte das Gesicht an. Der Direktor dachte wohl, ich würde nicht kapieren, was er sagte. Mein lieber Input, derjenige, der es getan hat, versuchte er mir zu erklären, hat eine unverantwortliche Kritik geübt, eine unreife Kritik, er hat, ob er es wollte oder nicht, die schulischen Zustände unseres Landes dem Affenniveau gleichgestellt und, um noch deutlicher zu werden, den Großen Zauberer Multi Multiplikato, ob er es wollte oder nicht, als den Beherrscher von einer Masse Affen hingestellt, denn er hat diese Affen den Menschen unseres Landes gleichgestellt, und damit hat er behauptet, daß es nur Affen ähnlich sieht, sich unter der Herrschaft Multi Multiplikatos wohl zu fühlen. Glaubst du, Input, daß jemand, der das getan hat, ob er es wollte oder nicht, wenn es herauskäme, von dem Entsetzlichen verschont bliebe? Ich will nicht, daß die Sache hochgespielt wird. Derjenige soll gestehen und helfen, die Affen zu entfernen, und ich verzeihe ihm. Ich möchte ihm aber sagen, wenn er so weitermacht, wird er einem entsetzlichen Geschehnis eines Tages nicht mehr entgehen. Ich merkte, daß nun auch Bibo das Gesicht im Fenster sah. Er mutmaßte vielleicht, daß es mit dem Entsetzlichen zusammenhing, das angeblich geschehen sollte, er wurde blaß, und plötzlich heulte er. Ich war es nicht, Input war es. Ich habe nichts gemacht, ich habe bloß zwei Tage meine Birne nicht gegessen, weil es Input wollte, ich habe aber heute früh dafür gleich drei gegessen. Das merkt man, sagte ich und spuckte aus. Das dunkle Gesicht am Fenster sagte: Guten Morgen, Sie dehnen Ihre Bildungstätigkeit jetzt auch schon auf die Affen aus, mein Herr? Der Schuldirektor wurde rot, ich dachte, jedes Haar an seinem grauen Vollbart zittert. Sie sind durch einen Zufall hier reingeraten.
Ich wäre Ihnen sehr verbunden, Herr Pädagoge, wenn Sie mir Ihren Schüler Input herausreichen würden. Ich reiche meinen Schüler nicht irgendwem heraus. Sie müssen mir schon sagen, zu welchem Zweck. Ich hätte es nicht nötig, Herr Pädagoge, immerhin, treten Sie näher. Er zeigte dem Direktor etwas kleines eckiges Weißes. Der Direktor wurde auch weiß, als er es sah. Geh raus, Input, und, als ich gleich durchs Fenster wollte, durch die Tür, Input. In diesem Augenblick hörten wir alle ein donnerndes Geräusch. Ein Schatten
fiel auf den Platz vor unserer Baracke, es wurde vor den Fenstern grau. Ich hatte das Gefühl, wenn ich rausginge, käme ich nicht wieder. Jetzt ist es soweit, Input, murmelte der Direktor. Es tat ihm leid, und wie die Leute, die in den Filmen in ihrem letzten Stündlein am Marterpfahl oder wo sie es sonst erleben noch einmal richtig ihre Meinung sagen, rief ich, daß ich die Affen hergelockt hätte. Dann ging ich auf den Platz. Da stand ein großer silbergrauer Pfeilflügler. Der Weißeingekleidete aus der Hauptstadt schob mich auf eine Treppe, die mich direkt in die Luke fuhr, ich drehte mich um und sah durchs Schulfenster den Bauch des Oberaffen. Nicht umdrehen, sagte der weiße Mann.
Kapitel 2 Ich stellte fest, daß ich in einem kleinen Zimmer saß, das ungemütlich sauber war und gleichmäßig hell beleuchtet, obwohl ich eine Lampe nicht bemerken konnte. Ich saß auf einem grauen Teppich, der struppig war wie trocknes Gras, einen Stuhl gab es nicht, auch kein Fenster und keine Tür, kein Bild an der Wand, keinen Spiegel, nichts, ich dachte, jetzt sitzt du drin. Aber wo drin? Ich saß in etwas, aus dem ich nicht raus konnte, soviel war sicher. Mit einemmal kam es mir vor, als ob sich jemand räusperte. Dann sagte eine tiefe Stimme, Oliver Input, ich beglückwünsche dich zu deinem Eintritt in die Kybernetische Akademie. Eintritt ist gut, ich bin nicht eingetreten, jemand hat mich reingesetzt, wer bist denn du, daß du mich hier beglückwünschst? Ich bin diese Akademie, in die du dich begeben hast. Ich habe mich nicht reinbegeben. Das wollte ich unbedingt richtigstellen. Und was bist du für eine Akademie? Ich bin die größte komplizierteste teuerste Maschine im ganzen Land. Das ist sicher sehr angenehm für dich, aber ich möchte raus. Die Maschine sagte darauf nichts, vielleicht war sie beleidigt. Ich untersuchte die Wände, und eine kam mir vor, als ob sie eine Tür wäre, sie hatte eine senkrechte Mittellinie, aber keinen Ritz und keine Klinke, da war nichts zu machen, und der graue Teppichboden zeigte keine verräterische Stelle. Ich klopfte ihn mit der Faust ab, es klang dumpf, wer weiß, in was für einem Steinkasten oder in was für einem tiefen Keller ich eingesperrt war. Immerhin gab es keine Schlangen, und es roch auch nicht nach Birnen, es roch nach nichts, nicht einmal nach Maschinenöl, danach rochen wahrscheinlich nur billige Maschinen. Gehörte die sprechende Maschine zu einer vornehmeren Sorte? Mir war es ganz egal, ob die Maschine vornehm war und ob sie roch, ich wollte wissen, was sie mit mir machen wollte oder sollte, Maschinen wollen nicht, sondern sollen, Maschinen müssen immer etwas machen, wenn sie nicht gerade kaputt sind, und mir war klar, daß die teuerste komplizierteste Maschine des Landes etwas mit mir vorhatte, es konnte nichts Angenehmes sein, sicher würde sie mich quälen. Aber nichts rührte sich, der Teppich blieb, die Beleuchtung blieb, die Geruchlosigkeit, die ungemütliche Sauberkeit, die Temperatur, nicht warm, nicht kalt. Ich legte mich auf den Teppich. Ich dachte, auf welche Weise wird dich die Maschine quälen? Nachdem ich lange überlegt hatte, fand ich, daß sie schon dabei
war, indem sie überhaupt nichts tat. Trotz der unerfreulichen Aussichten schlief ich ein. Bekannter Geruch stieg mir in die Nase. Vor mir lag auf dem Teppich eine gewaltige Plikato-Birne, rosagelblichgrün mit braunen Flecken, am Stiel ein blaues Pappsiegel, Exportqualität. Ich dachte gleich, die faßt du nicht an. Ich überlegte auch, wie die Birne reingekommen war, ich sah mir die Zimmerdecke an, aber da war keine Falltür, kein Rohr, durch das sie gefallen sein konnte, aber die Wand mir gegenüber schien verändert, erst war sie grün gewesen, nun war sie schwarz. Plötzlich leuchtete von dieser Wand die Aufforderung: Löse folgende Aufgaben. Die Aufgaben erschienen sofort, drei einfache Gleichungen, die aber zu dem Kompliziertesten gehörten, was ich bei unserem Schuldirektor durchgenommen hatte. In der Zeit vor der neuen Birnenernte, wenn die alten eingekellerten Birnen ihre meisten Vitamine und vor allem das Vitamin Gamma verloren hatten, gab er denen von uns, die nicht ganz bekloppt waren, ein bißchen Unterricht aus dem Nachschlagewerk für Mathematik, aber viel kam dabei nicht heraus. Er jammerte, wir hätten nicht die richtigen Grundlagen, uns fehle alles, und er rechnete uns die Aufgaben dann selbst vor, und wenn es ein paar von uns zu dämmern schien, war auch schon wieder die neue Birnenernte da, und das Vitamin Gamma konnte wieder wirken. Etwas von diesen Gleichungen mußte bei mir hängengeblieben sein, ich hatte ja im Urwald auf der Astgabel gesessen und im Nachschlagewerk studiert, und wenn ich keine Birnen aß, war mein Gedächtnis ganz brauchbar, und ich dachte, daß ich diese Gleichungen, wenn ich mich ein bißchen anstrengte, schon lösen würde, also, wenn es ums Leben geht oder darum, daß ich hier rauskomme, werde ich es schon können. Aber ich mußte erst mal rauskriegen, ob es wirklich um so was ging, ich sagte, ich habe nichts zum Schreiben. Untersuch die Wand, sagte die tiefe Maschinenstimme, am unteren Ende befindet sich ein System von Knöpfen mit Zahlen Buchstaben mathematischen Zeichen. Die hatte ich schon gesehen, aber man muß nicht alles sagen, was man sieht. Drück den Knopf mit der Bezeichnung Eins, sagte die Maschine. Ich ließ mir dabei Zeit. An der Wand erschien, als ich schließlich drückte, eine feurige Eins. Drück den Knopf mit dem Zeichen Plus. Ich drückte, aber gemütlich, an der Wand tauchte ein feuriges Plus auf. Das machte mir Spaß, ich fing an, die ganze Wand mit Zeichen zu mustern. Ein häßlicher Klingelton störte mich. Das Muster verschwand, bloß die Aufforderung, die Aufgabe zu lösen, und die drei Gleichungen leuchteten weiter. Man soll es jemand, der angibt, die größte teuerste komplizierteste Maschine im ganzen Land zu sein, nicht leicht machen, denn erstens mußte mir diese Maschine erst mal beweisen, daß sie wirklich die größte teuerste komplizierteste
war. Und zweitens, wenn man eingesperrt ist, kann man es sich nicht erlauben, eine trübe Tasse zu sein und alles zu machen, was einem befohlen wird, dann macht die Maschine mit einem nämlich alles. Ich nahm die dicke Plikato-Birne mit dem Siegel und schmiß sie an die Wand, der Saft lief langsam über die feurigen Gleichungen, ich tippte auf dem Knopf System: Für Birnen arbeite ich nicht. Der Saft bekleckerte auch diesen Satz. Ich machte die Augen zu, um der Maschine großzügig Gelegenheit zu geben, mir besseres Essen hinzulegen, aber als ich sie aufmachte, stand an der Wand noch immer der blöde Text, und auf dem Fußboden lag noch immer die zermatschte Birne. Vielleicht geht diese mit glattem grauem Kunststoff belegte Tür doch auf. Ich warf mich gegen sie und setzte auch meine Fingernägel ein, mit denen ich die Mittellinie der Tür auseinanderbiegen wollte, aber die Tür ging darauf nicht ein. Ich hatte inzwischen gewaltigen Hunger bekommen, seit dem Abend, auf den der Morgen folgte, an dem ich die Affen aus dem Urwald lockte, hatte ich nichts mehr gegessen, ich fühlte mich ganz schwach, ich dachte, wenn du so schwach bist, wirst du hier nie ausbrechen können, und dir fällt nichts ein. Ich klaubte die Birnenreste vom Teppich, sie schmeckten besser als die alkoholisierten Birnen von unserem Baum in Vitagam, ein bißchen bitter, wie nach Mandeln, aber feiner, bloß satt wurde ich nicht. Ich dachte, wenn du die Aufgaben löst, kriegst du vielleicht was Besseres, ich lieferte aber nur eine Aufgabe. Dann sagte ich, ohne Essen arbeite ich nicht weiter. Das regte die Maschine nicht auf. Ich ärgerte mich, daß ich den Kompromiß mit der Birne gemacht hatte, man soll das nicht, jetzt dachte die Maschine sicher, sie könnte mit mir umspringen, wie sie wollte. Mein Magen knurrte aber furchtbar, und ich rechnete auch noch die zweite Aufgabe, das fiel mir nicht leicht, ich mußte mehrmals ansetzen, und jedesmal erschien an der Wand das Wort: falsch. Und als ich fertig war und Essen verlangte, gab es wieder nichts, auch nach der dritten Aufgabe nicht, ich mußte noch drei neue Gleichungen ausrechnen, die waren schwieriger, und ich überlegte ernsthaft, ob ich nicht lieber hungern sollte. Bei jeder Gleichung, die ich löste, bildete ich mir ein, was zu kriegen, und jedesmal war ich der Dumme, ich war schon bei der zwölften Gleichung, als ich mittendrin aufgeben wollte. Ich spiele nicht mehr mit, sagte ich, aber die Maschine konnte unfertige Gleichungen nicht vertragen, sie klingelte widerwärtig. Lange hielt ich das Geklingel nicht aus, mein Kopf klingelte wie wild, mit Müh und Not erledigte ich auch noch die zwölfte Gleichung. Nun ist aber Schluß, sagte ich. Da erschien an der Wand das Wörtchen Pause. Ich wollte ein bißchen auf dem Knopfsystem spielen, aber es funktionierte nicht mehr. Aus der Wand sprang ein Streifen Schokolade, keine, die wie Sand zwischen
den Zähnen knirscht, sondern solche, die sahnig am Gaumen klebt. Nach der Pause funktionierte das Knopf System wieder, neue feurige Aufgaben tauchten auf, und ich rechnete noch eine Stunde. Nach jeder Aufgabe sagte ich zwar, daß ich Schokolade wollte, aber die Maschine stellte sich taub. Ich mußte auch noch Übungstexte mit dem Knopf System nachtippen. Ich tippte mit steifen Fingern und verhakelte mich dauernd hinter den Knöpfen. Plötzlich reagierten die Knöpfe nicht mehr. An der Wand hieß es, mein Tagespensum sei erfüllt. Als ich das hörte, faßte mich doch ein ziemliches Grauen. Ich befand mich also in diesem kleinen Zimmer zur Zwangsarbeit. Die Maschine spielte den Antreiber und Kontrolleur, und weil ich damals im Urwald auf der Astgabel einen Eindruck von der Mathematik gewonnen hatte, konnte ich mir etwa vorstellen, wie lange ich eingesperrt bleiben würde. Wie ich die Mathematik kannte, war es sogar möglich, daß ich nie wieder rauskam, kein Gebiet ist so unerschöpflich, was Aufgaben betrifft, wie die Mathematik. Es wäre vielleicht möglich, daß ich nach einer bestimmten Zeit hinter den Dreh sämtlicher Aufgaben kommen und sie sehr schnell erledigen könnte, aber das würde die Maschine nicht hindern, immer neue Aufgaben zu finden. Je schneller ich damit fertig werden würde, desto mehr würde sie mir aufhalsen. Ich saß ganz schön belämmert auf meinem grauen Grasteppich, und mein einziger Trost blieb, daß ich tatsächlich die Affen in die Schule gelockt hatte. Das war eine bleibende Leistung. Mit einemmal schnarchte es hinter der Wand. Das Geräusch erinnerte mich an die alte Rechenmaschine aus der Abfallgrube, und drei Klappen öffneten sich, eine als Sitzbrett, eine als Tisch und eine als Tablett. Auf dem Tablett lagen zwei heiße, mit Fleisch gefüllte Eierkuchen, daneben türmte sich ein Berg roter Rüben, und es war auch ein Silbernapf da mit einem Salat aus Apfelsinen Äpfeln Nüssen Bananen, und ein Glas mit Milch, die nach Honig schmeckte. Birnenteile waren nirgends untergemischt, das fand ich anständig von der großen Maschine. Ich aß alles auf und leckte Napf und Teller ab. Dann wollte ich mir die Öffnung, die durch das rausgeklappte Tablett entstanden war, näher angukken, um festzustellen, woher das Essen kam, aber ich mußte den Kopf einziehen, ein stählerner Greifer fuhr heraus, der das Geschirr zurückholte. Nacheinander knallten die Klappen zu, dagegen ging die Tür auf, an der ich mich so lange ausgetobt hatte, und ich wurde mit Dusche Seife Zahnbürste Badeöl konfrontiert. Leg deine Kleidung ab, verlangte die Maschine. Ich war nicht gerade ein Seifenfan, aber ein bißchen fing ich nach den Anstrengungen mit den Affen und den Gleichungen schon an zu stinken, und wenn man seinen Gestank schon selbst zu riechen anfängt, wird es makaber. Leider hörte die Dusche plötzlich auf, statt des Wassers fauchte Heißluft auf mich los, und als ich mich umdrehte, waren mein Hemd, meine Hose und meine Sommerstiefel verschwunden, dafür hatte mir die Maschine einen schneeweißen Slip und ein schneeweißes Turn-
hemd hingelegt. Die kleidet dich doch nicht etwa weiß ein, dachte ich, aber da waren noch hellblaue Schlaghosen, ein silberner Elastikpullover und silberne Lacksandalen mit Luftkissensohle. Leg diese Kleidung morgen an, sagte die Maschine. Geh in den Arbeitsraum zurück! Dort war inzwischen ein schneeweißes Bett aus der Wand gefahren, darauf ein schneeweißer Schlafanzug, Jacke und Hose. Die Farbe Weiß war mir, nach allem, was mit mir geschehen war, unheimlich. Ist das eine Nachthose? fragte ich, zu Hause schlief ich nackt. An der Wand erschien die Antwort: Nachtruhe. Meinetwegen, ich zog die Nachthose an und warf mich aufs Bett. Es federte dermaßen, daß ich dachte, ich schwebe. Allmählich zog ein frischer Duft durch das ganze Zimmer, ein Duft von Zitrusfrüchten und frischgefallenem Regen. Mit einemmal sagte dieses größte teuerste komplizierteste Ding im ganzen Land: Angenehme Nachtruhe, mein Freund. Freund würde ich vielleicht nicht sagen, dachte ich, aber ich sagte immerhin, danke, gleichfalls. Vor lauter Rechnen entging mir, wie lange ich schon im Kabuff saß. Eines Tages öffnete sich unverhofft eine Tür auf der Seite, wo ich sie nicht vermutet hatte, und ich fuhr auf meiner struppigen grauen Matte in ein dunkles Zimmer, das aber sofort hell wurde, als die Tür hinter mir zuschlug. Zur Abwechslung war die Decke in diesem Zimmer nicht grün wie im ersten, sondern apfelsinenfarben, die Wand gegenüber der Aufgabentafel zitronengelb, und diese Farben stimmten mich heiter. Das Zimmer war zwar ebenfalls ungemütlich sauber, aber es stand ein Drehstuhl drin, dessen Lehne federte, ein Tisch mit Zeichenplatte, die man beleuchten konnte, an einer Plastschnur hing ein Vierfarbenleuchtspurstift, und dann war noch ein Knipser da, mit dem ich das Geschriebene löschen konnte. Die schwarze Wand teilte mir in feurigen Worten mit, ich sollte mich mit analytischer Geometrie beschäftigen. Ich ahnte schwach, was das war, und dann beglückwünschte mich wieder die Maschine mit ihrer tiefen schnarchenden Stimme zu meinem Entschluß, in die Akademie eingetreten zu sein. Ich spiegelte mich in der Zeichenplatte, beinah erkannte ich mich nicht mehr, mein langes Haar hatte die Haarschneidemaschine gefressen, mein Gesicht war von der vielen Honigmilch rund und beinah fett geworden, ich war erschrocken, wie weich es sich anfühlte. Das einzige Angenehme an mir war der Duft, der dauernd von mir ausströmte, weil mich die Heißluftdusche täglich mit einem Duftgas parfümierte. Aus Langeweile beschäftigte ich mich ein bißchen mit der analytischen Geometrie, und ein paar Aufgaben brachte ich einigermaßen hinter mich. Aber ich konnte mich nicht besonders konzentrieren, denn in der Zeichenplatte spiegelte sich mein Kugelkopf mit abgeratztem Haar.
Eines Tages reichte es mir, ich gab dem Zeichentisch einen Tritt, riß die Knöpfe aus der Tastatur und schmiß den Drehstuhl gegen die Aufgabenwand, daß im schwärzen Belag ein Riß entstand. Ich war gespannt, wie sich die größte teuerste komplizierteste Maschine dazu verhalten würde. Sie verhielt sich nicht, ein bißchen flackerte das Licht, an der Wand erschien keine Aufgabe mehr, aber als es Zeit zum Essen war, klappten auch keine Essenklappen raus, und abends ging weder die Tür zum Waschkabinett auf noch kippte das Bett ins Zimmer. Nach einer langen Zeit, die ich nicht genau angeben kann, weil mir das Zeitgefühl abhanden gekommen war, ging langsam die Klappe auf, die sonst das Essen reichte. Ein Kasten mit Handwerkszeug kam zum Vorschein, und an der Wand erschien: Anleitung zur Reparatur der beschädigten Gegenstände. Reparieren tu ich nichts, bevor ich nicht mein Essen kriege. Ich wiederholte es vielleicht eine Stunde. Die Maschine antwortete nicht. Ich dachte, vielleicht solltest du es tippen. So mußte ich notgedrungen die Tastatur instand setzen, es war eine Hundearbeit. Ich schlief ein, bevor ich überhaupt etwas tippen konnte. An der Wand stand: Sämtliche beschädigten Gegenstände sind zu reparieren. Das Kabinett ist vom Schmutz zu befreien. Das war also hier ein Kabinett, ich tippte: Ohne Essen liefere ich keine Arbeit. Da zeigte sich, was diese Maschine für ein raffiniertes Aas war, sie behandelte mich wie Piraten ihre Gefangenen. Mein Großvater, der Seemann gewesen war, hatte mir davon erzählt, was Seeräuber auf einer einsamen Insel mit ihren Opfern machten. Sie setzten den Gefangenen gefesselt in einen leeren fensterlosen Raum, und während er da so nichtsahnend saß, tropfte ihm plötzlich ein Wassertropfen auf den Schädel, nach einer Weile wieder einer und wieder, in genauen Abständen, und plötzlich fiel ein Tropfen Vitriol, dann wieder Wasser und so weiter, aber wenn der Gefangene dachte, er könnte sich ausrechnen, wann das Vitriol kam, irrte er sich, es kam nicht immer nach der gleichen Anzahl Wassertropfen, manchmal kam es früher und manchmal später, aber der Gefangene dachte jedesmal, jetzt kommt es, und daß er immer daran dachte und nie wußte, woran er war, bevor das Vitriol auf seiner Kopfhaut brannte, das war schlimmer als das Vitriol. Besser wäre es für ihn gewesen, wenn jedesmal Vitriol gekommen wäre, aber auch ohne Vitriol, sagte mein Großvater, ist es eine schlimme Qual, dauernd in bestimmten Abständen einen Wassertropfen auf den Schädel zu kriegen. Und die größte teuerste komplizierteste Maschine war so raffiniert, mir jetzt immer ihren blöden Glückwunsch vorzuleiern. Sie beglückwünschte mich ununterbrochen zu meinem Eintritt in die Akademie. Das wäre schon furchtbar gewesen, wenn ich wirklich eingetreten wäre, aber mich hatte ja einer reingesetzt, und zwar, wie ich annahm, der Weißeingekleidete mit dem dunklen Gesicht ohne Augen, der mich mit dem Pfeilflügler abgeholt hatte, und deshalb wirkte auf mich der Glückwunsch zu meinem Eintritt ganz gemein, ich konnte mir das einfach nicht mehr
anhören. Manchmal dachte ich, die Maschine würde es aufgeben, sie redete davon, daß ich die Gegenstände laut Paragraph dreiundneunzig des Akademiegesetzes ordnungsgemäß instand zu setzen hätte. Sie brabbelte den Paragraphen vor sich hin. Plötzlich beglückwünschte sie mich wieder zu meinem Eintritt in die Akademie, und da wurde ich weich wie Birnenmarmelade, der der Steifmacher fehlt, und ich reparierte den Zeichentisch und stellte das Werkzeug wieder ordentlich auf die Wandklappe. Einen Schraubenzieher wollte ich in meine Hosentasche gleiten lassen, um mit ihm nach und nach ein Loch in die Tür zu bohren, da fuhr ein Magnet aus der Wand und zog ihn mir aus der Hand. Ich dachte, nun würde ich wenigstens was zu futtern kriegen, aber die Maschine rückte bloß drei gewaltige Birnen, Exportqualität, raus, ich tippte, Birnen ohne mich, und gleich klärte mich die Maschine darüber auf, daß ich an Vitamin-GammaMangelerscheinungen litte und bis zur Herstellung meines seelischen Gleichgewichts nichts anderes als Birnen essen dürfte, dadurch würde gleichzeitig der Wert des von mir zerstörten Vierfarbenleuchtspurstiftes rausgewirtschaftet. Ich wußte genau, worauf die Maschine hinauswollte, ich sollte eine trübe Tasse werden, am liebsten jeden Morgen rhythmisch Birne kauen, dazu würde ein Leuchtsignal den Takt flackern. So siehst du aus. Aber ich war vor Hunger nicht mehr zurechnungsfähig. Würde ich die Zwangsarbeit nicht besser aushalten, wenn ich jeden Tag meine Birne aß? Da sah ich neben den Birnen einen neuen Leuchtspurstift, und ich dachte, wenn diese Maschine, die dich hier in der Mache hat, auch die angeblich größte teuerste komplizierteste Maschine im ganzen Land ist, bleibt sie eine Maschine, und Maschinen haben einen mechanischen Charakter, diese hier ist darauf eingestellt, daß sie dir nach einer Anzahl von Aufgaben, die du löst, dein Essen gibt. Trotz des Hungers nahm ich also heldenhaft den Stift und ging an die verdammten Aufgaben. Es stimmt zwar, daß der Mensch erst essen muß, um arbeiten zu können, er sollte sich auf das Umgekehrte nicht einlassen, besonders nicht als Eingesperrter, aber wenn er was Besonderes erreichen will, muß er auch mal arbeiten, ohne vorher zu essen. Der Witz ist, daß er dann vielleicht besser arbeitet, als wenn er vorher gegessen hat. Mir drehte sich vor Hunger der Magen um, aber ich wollte nicht zur trüben Tasse werden, und ich zeichnete eine ganz hübsche Hyperbel im Kegelschnitt und kam noch am gleichen Tag bis zur Asymptotengleichung der Hyperbel. Ich geriet so in Fahrt, daß ich das Tagesprogramm noch vor der gewohnten Nachtruhe erfüllte, ich merkte es daran, daß zwar der Text Nachtruhe an der Wand erschien, mein Abendbrot aber nicht eher kam. Ich saß in den herausgewirtschafteten Stunden herum, ich sagte, was ist das für eine Sauerei, die große teure Maschine schien in sich zu gehen, am nächsten Tag, als ich wieder einen Vorsprung rausholte, servierte sie mein Essen sofort, aber die Küche war darauf nicht eingestellt, den Eierkuchen bekam ich als flüssige Pampe, daneben lag in einem Plastschlauch die automatisch abgemessene Bratölration, das Fleisch für die Füllung war noch roh, das Obst ein Feinfrostblock, die Milch pulverig. Der Eierkuchen fiel, abhängig von der Größe des Vorsprungs, jedesmal anders aus.
Manchmal war er einseitig angebacken, das Fleisch bis auf kleine Blutspuren gar, manchmal war der Eierkuchenteig noch nicht angerührt, die aufgebrochenen Eier wurden serviert, ein Beutel Mehl, ein Häufchen Salz, ein Häufchen Natron. Ich stellte eine Gleichung auf, in der ich die Zeit, die ich brauchte, um eine Aufgabe zu lösen, zu dem Verarbeitungszustand des Essens in Beziehung setzte. Dadurch konnte ich die Zeit, für die ich in meinem Gefängnis das Gefühl verloren hatte, bestimmen. Ich setzte sie als Unbekannte und ging rückschließend vom Zustand des Essens aus. Ich mußte einen tüchtigen Berg Informationen über verschiedene Zustandsformen des Essens sammeln, aber dann konnte ich auch ohne Uhr wissen, wie spät es war, wenn die Eier aufgebrochen erschienen, wenn der Eierkuchen einseitig gebacken war, wenn er zweiseitig gebacken, aber einseitig blaß oder wenn er zweiseitig goldgelb war, und ich dehnte die Arbeit auch auf das andere Essen aus, ich kriegte nicht jeden Abend Eierkuchen mit Fleischfüllung, und allmählich lernte ich auch die Zeit am Garzustand von Reis oder Gemüse und der Temperatur von Würstchen ablesen. Als ich eines Tages in ein Zimmer rutschte, in dem ich mit der Differentialrechnung beschäftigt werden sollte, besaß ich eine Uhr, die zwar gröber eingeteilt war als die üblichen Uhren, aber nicht gröber als vergleichsweise eine Sonnenuhr. Mein Magen hielt allerdings den halb oder ganz rohen Fraß nicht mehr aus. Ich kotzte auf die graue Unterlage, und natürlich fuhr sofort ein fieser Greifer mit Eimer und Schaufel aus der Wand, ein Befehl zum Saubermachen leuchtete auf, und ein Duft von Zitrusfrüchten und frischem Regen zog ein, aber ich beschwerte mich wütend. Bei dem Schweinefraß arbeite ich nicht mehr. Das Essen besserte sich, doch nicht, weil die Maschine ihren Fehler einsah, sondern weil ich die neuen Aufgaben nicht mehr so schnell erledigen konnte. Sie fielen mir ziemlich schwer, aber als ich hinter ihren Trick gestiegen war, verschlechterte sich das Essen proportional zur Schnelligkeit, mit der ich die Aufgaben hinlegte, bis es wieder ganz roh erschien. Die größte teuerste komplizierteste Maschine im ganzen Land war nicht in der Lage, sich meinem Tempo anzupassen. Ich hätte darüber triumphieren können, wenn sie mich nicht in der Gewalt gehabt hätte. Ich arbeitete also langsam, wo ich schnell gekonnt hätte, und dabei dachte ich an andere Sachen, zum Beispiel versuchte ich mir den Grundriß meines Gefängnisses vorzustellen. Mir schien sicher, daß es keine Stockwerke hatte; wenn ich von einem Zimmer ins andere rutschte, fuhr ich immer auf einer geraden Ebene. Als ich mit der Differentialrechnung fertig war, die in einem gelben Kabinett stattfand, und als ich auf meiner struppigen grauen Unterlage in das Kabinett fuhr, wo ich mit der Integralrechnung bestraft werden sollte, hatte ich das Gefühl, ein bißchen gedreht zu werden, und als ich ins Kabinett für Integralrechnung II fuhr, fiel mir auf, daß die Zimmerdecke genauso grün war wie die Decke im allerersten Zimmer, und in dem, wo ich mit der Vektorrechnung bestraft
wurde, entdeckte ich an der Aufgabenwand einen Riß, der kam mir bekannt vor, und am Knopfsystem erkannte ich meine Reparatur, der linke Außenknopf war nicht gerade montiert und sprang ab, wenn ich zu wild tippte, und da dämmerte es bei mir, womöglich bewegst du dich dauernd auf einem Kreis, und die Maschine ist gar nicht so groß teuer kompliziert, wie sie behauptet, deshalb muß es auch möglich sein, sie reinzulegen und aus ihr rauszukommen. Ich dachte, ich werde etwas Neues ausprobieren. Mitten in einer neuen Aufgabe ließ ich mich von Stuhl fallen und blieb wie ohnmächtig liegen, die Maschine kümmerte sich nicht darum, ich zuckte ab und zu ein bißchen, dann tat ich, als, ob ich weinte, dann lag ich still, dann strampelte ich, und plötzlich schnarchte die Maschine, sie fragte mit tiefer Stimme, Oliver Input, welche Beschwerden meldest du an? Ich bin deprimiert. Die Maschine reichte zwei Birnen raus, die ich nicht aß. Nach einer Weile sagte sie, nimm Kontakt mit dem Diagnosegerät auf, eine Schlange kroch aus der Wand, es war ein Schlauch mit Tastkopf, er legte sich um meine Brust, er wanderte den ganzen Körper ab und verschwand. Es dauerte ewig, bis die Maschine fragte, wünschst du etwas Bestimmtes? Ich glaubte, es wäre ein günstiger Augenblick, meine Forderung direkt auszusprechen, vielleicht würde die Maschine sie aus Versehen erfüllen. Ich will raus. Darauf tat sie, als ob ich nichts gesagt hätte, als ob ich nicht auf dem Boden gelegen und gezuckt hätte, sie flackerte mir eine Aufgabe vor und ließ sich auf nichts mehr ein, auf raus ist sie nicht programmiert, dachte ich, das ist ein Fremdwort für sie. Ich bastelte weiter an der Aufgabe, um wenigstens mein Essen zu kriegen. Vielleicht mußte ich immerzu sagen, ich möchte drinbleiben, und weil ich bestraft werden sollte, würde die Maschine das Gegenteil tun, was ich mir wünschte. Ich sagte jeden Tag mindestens zwanzigmal, daß ich drinbleiben wollte, es half nichts. Wenn ich die ganze Mathematik durch habe, ob ich dann rauskomme? Ob inzwischen ein neues Gebiet gefunden wird? Ob ich mit Physik und allgemeiner Technik und womöglich noch mit Landesgeschichte bestraft werde? Eines Tages ging wieder die Tür auf, und als das nächste Kabinett hell wurde, sah da an einem Tisch der Mann im weißen Anzug, hatte einen weißen Hut auf, weiße Schuhe an, neben ihm stand sein weißer Schirm, die Brille trug er auch, er sagte, bleib ruhig, Oliver Input, mach es dir bequem. Ich dachte, du denkst wohl, ich würde deinetwegen aufstehen, und ich rekelte mich auf dem Teppich. Der Weißeingekleidete zog seine Jacke aus, band die Krawatte ab und knöpfte sein weißes Hemd auf, sogar sein Fell, das auf der Brust wuchs, war weiß. Den Hut ließ er auf und auch die Brille. Hier ist es
warm, Oliver Input, aber sonst angenehm, nicht wahr? Ich sagte, ich möchte gern wissen, ob Sie überhaupt Augen haben. Ich hatte aber Angst, was für Augen zum Vorschein kommen würden. Bitte schön, er schob die Brille hoch, er hatte weiße Augenbrauen und braune Augen. Wenn einer braune Augen hat und sieht mich damit an, kann ich ihm nichts abschlagen. Warum rennen Sie immer mit dieser Brille rum? Es ist nicht immer möglich, sein eigenes Gesicht zu zeigen. Ich zeige immer mein eigenes Gesicht. Ich tastete plötzlich daran herum. Ich
habe mich verändert, ich bin zu fett geworden, ich bin nicht mehr Oliver Input aus Vitagam. Beruhige dich, du bist es noch. Was ist mit mir geschehen? Dir ist dein Wunsch erfüllt worden. Was für ein blöder Wunsch? Du wolltest nicht mehr in eine Schule gehen, die deiner Meinung nach für Affen zu primitiv war, jetzt bist du in der Kybernetischen Akademie, ich muß sagen, du hast gut gearbeitet, ich sage sogar, sehr gut, Oliver Input, ich muß dich loben. Das meiste habe ich im Urwald gelernt, wo mir die Affen in die Bücher schissen. Hier hast du nichts gelernt? Ein bißchen schon, aber hier ist es Strafe, im Urwald war es freiwillig. Es ist keine Strafe, Input, es ist eine Auszeichnung für dich. Na danke, sagte ich, dauernd sitzen und büffeln, das soll eine Auszeichnung sein? Im ganzen Land erhält kein Junge die Gelegenheit, sich so zu bilden, wie du es darfst. Du bist der einzige in ganz Plikato. Aber es ist nicht freiwillig. Darauf kommt es nicht an, und antworte mir ehrlich, hat es dir niemals ein bißchen Spaß gemacht, die Aufgaben zu lösen? Das hatte es natürlich, und manchmal hatte ich sogar vergessen, daß ich zur Zwangsarbeit verurteilt war, ich sagte aber, kaum. Das glaube ich dir nicht, so wie du diese Aufgaben gelöst hast, geht niemand an Aufgaben heran, die ihm keinen Spaß machen. Was sollte ich denn machen, hier ganz alleine, ohne einen Menschen? Noch nicht mal eine Schlange läßt sich hier blicken. Es ist furchtbar, dauernd mit einer
Maschine zusammen. Nie ist ein Mensch da, nicht mal Bibo, die trübe Tasse, die mich verpetzt hat. Was sollte ich denn vor Verzweiflung machen, als ab und zu ein bißchen Spaß an den Aufgaben finden? Ich wollte ihm noch erzählen, daß ich eine Akademieuhr erfunden hatte, daß ich dabei war, den Grundriß dieser sogenannten Kybernetischen Akademie herauszukriegen, ich ließ es vorsichtshalber, ich sagte, hier ist die schlimmste Marterhöhle, die es gibt. Nun hör mal zu, mein Junge, du sollst hier ja nicht immer drin sein, du hast jetzt nur noch Nomographie Wahrscheinlichkeitsrechnung Statistik Regelungsmathematik Zahlentheorie Probleme der Rechenautomaten Algorithmentheorie und die abstrakten Automaten vor dir. Und dann habe ich meine Strafe abgerissen? Er versuchte immer wieder mir einzureden, daß es keine Strafe, sondern eine Auszeichnung wäre. Eine Auszeichnung wofür, vielleicht dafür, daß ich dreihundert Affen mit alkoholisierter Birnenmarmelade aus dem Urwald in die Schulbaracke gelockt habe, und vielleicht dafür, daß ich unsern Schulboß mit der Rechenmaschine in die Pfanne gehauen habe, vielleicht dafür, daß ich die drei Nachschlagewerke aus der Schulbibliothek genommen und im Urwald drin gelesen habe? Ja, Input, es ist eine Auszeichnung. Und von wem kommt diese Auszeichnung? Er setzte plötzlich seine Brille auf. Dein Landesvater Multi Multiplikato hat dich ausgezeichnet. Ich fragte, der Mul? Wir sagten nämlich zu Hause zu Multi Multiplikato fast alle Mul. Ich möchte nicht, daß du dieses Wort noch einmal in den Mund nimmst, Input, sagte der Weißeingekleidete, ich wünsche, daß du höflich von deinem Landesvater sprichst, er hat dich ausgezeichnet. Aber ich habe nichts gemacht, was ihm gefallen könnte. Du hast die Affen in die Schule gelockt, du hast damit Kritik geübt, und Multi Multiplikato steht zur Schule kritisch, er steht sehr kritisch, er will sie ganz abschaffen, Input. Ich sagte, das hat doch mit den Affen nichts zu tun.
Mehr kann ich dir nicht sagen, Input, du bist auf Wunsch Multi Multiplikatos hier, das muß dir vorläufig genügen, wenn du weiter so gut arbeitest, wirst du die längste Zeit hier drin gewesen sein, dann möchte der Landesvater dich empfangen und dir eine sehr hohe Aufgabe anvertrauen. Soll ich noch andere Affen aus dem Urwald locken? Du wirst ein bißchen höhere Aufgaben bekommen. Womöglich dachte er, ich würde mich jetzt wer weiß wie geschmeichelt fühlen. Den Zahn zog ich ihm aber gleich. Ich habe keine Lust, für Mul die höheren Aufgaben zu lösen, er soll das selber machen, wozu hat er seine großen teuren komplizierten Maschinen, wie es immer in der Zeitung steht, er sagt doch dauernd, die wären zuverlässiger als Menschen, also, ich will nicht, er hätte mich ja vorher fragen können, ob ich will, anstatt mich in diese blöde Akademie zu stecken. Und Sie hätten damals auch ein bißchen mehr sagen können als: reichen Sie mir den Schüler Input raus, ich bin keine Maschine, die man rausreicht, ich bin Oliver Input, ich bin aber auch nicht derjenige, den man reinsteckt, ich bin derjenige, der rauskommt, ich komme bestimmt bald raus, darauf können Sie sich verlassen. Ich verlasse mich darauf, sagte er, hier ist übrigens eine Uhr, die ich dir geben wollte, sie läuft automatisch. Ist die von Mul? Gewöhn dir dieses Wort ab, sagte er böse, die Uhr ist ein Geschenk von mir. Er nahm die Brille ab. Als ich seine braunen Augen sah, nahm ich die Uhr, ich sagte sogar danke. Aber schon setzte er die Brille wieder auf, ich muß jetzt gehen, und er zog sich an. Ich war gespannt, wie er das machen würde, vielleicht könnte ich gleich mit verschwinden. Er hielt die Krücke von seinem weißen Schirm hoch, die Zimmerdecke klappte auf, und ein Magnet zog ihn am Schirm nach oben. Ich wollte seine Füße packen, um mitzuschweben, aber da war er schon verschwunden, die Decke war wieder geschlossen.
Kapitel 3 Kaum hatte ich die Wahrscheinlichkeitsrechnung überstanden, erwartete mich im neuen Kabinett jener Mann schon wieder. Er hatte eine Krawatte um, die in den Farben des Regenbogens schillerte, holte aus einem weißen Koffer einen weißen Anzug, rosa Schuhe, rosa Hemd, rosa Schirm. Zieh dich um, Input, wir gehen heute aus. In diesen Sachen soll ich auf die Straße? Es ist die neueste Mode für bessere Jugendliche, Input. Ich bin kein besserer Jugendlicher. Wenn ihr denkt, ich habe die Schule kritisiert, weil ich will, daß sie ganz abgeschafft wird, dann irrt ihr euch. Ich wollte, daß es da nicht so langweilig ist, daß man was lernt. Du darfst jetzt lernen, und trotzdem bist du unzufrieden, sagte er, ich fürchte, du weißt nicht, was du willst. Halt die Schirmkrücke hoch. Die Zimmerdecke klappte auf, ein Magnet zog uns an unseren Krücken in einen weißen Schmetterlingsflügler, der über dem Akademiedach mit den Flügeln schlug. Von oben sah mein Gefängnis wie eine Aluminiumtorte aus, als Torte vielleicht gewaltig, als Kybernetische Akademie aber kümmerlich. Ich sagte, größer ist das Ding nicht? Du dachtest natürlich, es wäre ein Riesenpalast. Der Weißeingekleidete grinste so überheblich, daß ich nicht an mich halten konnte. Das Ding ist weiter nichts als eine primitive Drehscheibe, auf der sich Kabinette drehen. Es gibt noch nicht mal so viele Kabinette wie mathematische Gebiete, und in der Mitte sind die Küche, die Brausekabine und ein Elektromotor, und das nennt sich Akademie. Du vergißt den Speicher, sagte er. Na, meinetwegen ist da auch noch der Speicher mit dem Datengerümpel, sagte ich. Und wo fliegen wir jetzt hin? Wir wollen das Refrigeratio besuchen. Er schoß aus einer Spraydose stink vornehmen Duft auf mich ab. Das ist das repräsentativste Hotel im ganzen Land, da
lernst du die repräsentative Gesellschaft von Integral kennen, da mußt du dich benehmen, Input. Er kämmte mich rasch mit einem weißen Taschenkamm. Die Maschine hat dein Haar etwas ungleich geschnitten, bemerkte er. Dann befummelte er meine Hand. Die Fingernägel sind auch etwas grob gefeilt, und eines möchte ich dir gleich raten, gähne nie hinter vorgehaltener Hand, das fällt erst richtig auf und wirkt dann besonders verletzend auf deine Umgebung, nimm statt dessen dein Taschentuch und tu so, als ob du dir die Nase putzt, für Schnupfen kann keiner, aber Gähnen ist Ausdruck einer Weltanschauung. Und was machen wir im Refrigeratio? Wir speisen, sagte er. Und was? Etwas Repräsentatives, sagte er. Ich habe aber Hunger, sagte ich. Wahrscheinlich machte ich einen bedauernswerten Eindruck auf ihn. Er nahm seine Brille ab und sah mich an. Input, dieser Besuch im Refrigeratio ist eine Idee von mir. Multi Multiplikato ist nicht besonders dafür, er möchte gern, daß du dich ganz und gar auf deine mathematischen Aufgaben konzentrierst, du sollst durch überhaupt nichts abgelenkt werden, und wenn du die Akademie geschafft hast, sollst du ohne Umwege zu Multiplikato kommen und dort deine Aufgabe übernehmen, ich bin aber der Meinung, du mußt ein bißchen das Leben in Integral kennenlernen, du mußt wissen, wie man hier auftritt, sonst bist du weiter nichts als ein trotteliger Aufgabenlöser, der schuftet und nicht mal weiß wozu. Multiplikato ist nicht dafür, daß wir ins Refrigeratio gehen, aber er hat mir deine Ausbildung anvertraut und muß mir ein gewisses Maß an Handlungsfreiheit lassen, das heißt, ich nehme mir dieses gewisse Maß. Warum sagen Sie mir das, ich könnte es dem Mul petzen, wenn ich die Aufgabe bei ihm übernehme. Ich glaube nicht, daß Leute, die dauernd Mul sagen, keinen verpetzen, aber dir sehe ich an, daß du mich nicht verpetzen wirst, außerdem geschieht unser Ausflug ins Refrigeratio unter den Augen aller möglichen Leute, die ihn sofort an oberster Stelle melden werden, und es befinden sich auch genügend Beobachtungsmaschinen im Haus. Ich werde Krach mit Multiplikato bekommen, aber ich werde meine Ansicht verteidigen. Er setzte seine Brille auf, seine Stimme klang nun fremd, ganz gequetscht klang sie plötzlich, als er sagte, ich hielt es für nötig, verehrter Multi Multiplikato, Oliver Input mit der Unzuverlässigkeit der Menschen vertraut zu machen, um ihn die Vorherrschaft der Maschinen schätzen zu lehren.
Ich denke, es geht in diesem Refrigeratio vornehm zu, sagte ich, wieso lerne ich da die Unzuverlässigkeit kennen, ist Unzuverlässigkeit vornehm? Er nahm noch mal die Brille ab, es war auf diesem Flug das letzte Mal. Multi Multiplikato ist fest davon überzeugt, daß der Mensch als solcher unzuverlässig ist, deshalb strebt er mit aller Macht den Zustand an, in dem er, nur noch von Maschinen umgeben, herrscht. Die Leute, von denen wir im Refrigeratio einige treffen werden, haben noch bis vor kurzem für Multiplikato gearbeitet, sie wurden durch Maschinen ersetzt, aber sie haben so viel verdient, daß sie sich das Refrigeratio noch leisten können, wir werden da eine aussterbende Gesellschaftsschicht besichtigen können. Und Sie, sagte ich, werden Sie nicht auch eines Tages von einer Maschine ersetzt, sind Sie nicht auch unzuverlässig? Ja, sagte er, ich bin sogar sehr unzuverlässig, ich muß damit rechnen, durch eine Maschine ersetzt zu werden. Was soll dann ich bei Mul? Ich bin doch auch ein Mensch. Ich bin doch auch unzuverlässig. Bin ich nicht unzuverlässig? Bin ich eine Maschine? Du bist auf dem Wege, ein überdurchschnittlicher Mathematiker zu werden. Du bist arm. Hast keine Beziehungen. Dankst Multi Multiplikato alles. Genügt denn das, um einer Maschine gleichgesetzt zu werden? Wir müssen uns zum Ausstieg fertig machen. Er verdunkelte wieder seine Augen. Wie heißen Sie eigentlich? Komplikato, sagte er, Professor Komplikato, wußtest du das nicht? Die Leute aus der Hauptstadt denken immer, jeder kennt sie. Ich bin doch oft in der Television erschienen, sagte er. Solche Sendungen habe ich mir nicht angesehen, sagte ich, sie waren mir zu langweilig. Und was hast du gesehen? Märchensendungen für Drei- bis Sechsjährige. Immer wenn er die Brille auf
hatte, wurde ich ekelhaft zu ihm. Draußen, als wir auf das Refrigeratio losgingen, latschte ich absichtlich auf seinen Fuß. Ist das nicht ein imposanter Bau? fragte er. Ein Kühlschrank mit Luftlöchern, sagte ich. Gleich wirst du die angenehme Kühle selbst empfinden. Tatsächlich war es ungemütlich in dem Bau, da standen Palmen rum und Ständer und Wandschirme und Kunstfiguren. Tabaksqualm konnte sich nicht ausbreiten, er wurde abgesaugt, Schmutz wurde abgesaugt, Gerüche wurden abgesaugt. Es nützte nichts, daß Komplikato mich mit Spray beschossen hatte, der teure Duft, den ich an meine Umwelt abgeben sollte, wurde abgesaugt, im Ref-
rigeratio duftete überhaupt nichts, nicht mal das Essen. Die große Halle hatten sie blau gehalten, blaue Teppiche, blaue Sessel, blaue Wände, es sollte sicher zu den Leuten passen, die da drin rumsaßen, die waren nämlich fast alle weiß eingekleidet, sogar die Frauen. Ich war froh, daß ich wenigstens ein rosa Hemd und rosa Schuhe hatte, ich wäre mir wie ein Gespenst unter Gespenstern vorgekommen. Ich warf mich in einen Kühlsessel, aus seinen Ritzen fauchte ununterbrochen ein kaltes Lüftchen. Ich rief einen von den Kellnern, die herumstanden, und sagte, kann man das nicht abstellen, ich hab schon einen kalten Hintern. Mein Herr, sagte der Kellner, der Sessel ist einem System angeschlossen, einzeln kann ich ihn nicht abstellen. Dann stellen Sie es eben bei allen ab. Das würde nicht dem Charakter dieses Hotels entsprechen. Haben Sie wenigstens eine Decke, die ich mir unterlegen kann? Er behauptete keine zu haben. Wenn wir auch welche hätten, sagte er, dürfte ich Ihnen keine geben, weil es stilwidrig wäre, das ist hier ein Kühlhotel, in dem die Leute sich erquicken wollen. Wenn Sie nun eine Decke unterlegen, entsteht der Eindruck, daß man sich hier aufwärmt oder noch schlimmer, daß die Kühle unangenehm oder sogar gesundheitsgefährdend wirkt, das wäre dem Ruf des Hauses abträglich, wie Sie verstehen werden, und noch ein ganz persönlicher Rat von mir, es wirft auf Sie als noch sehr jungen Herrn kein günstiges Licht, wenn Sie sich hier in eine Wolldecke hüllen, während viel ältere Herrschaften und sogar Damen ohne Decke auskommen. Es war mir ungemütlich, daß mir dauernd unter den Hintern geblasen wurde, ich wollte unbedingt die Decke haben, ich wollte ausprobieren, wie ich mich in dem repräsentativsten Hotel durchsetzen könnte, der Professor hatte mich ja dahin geführt, damit ich mich in dieser Welt bewegen lernte. Also wissen Sie, Ihre persönlichen Ratschläge interessieren mich überhaupt nicht, und ob es nach Ihrer Meinung stilwidrig ist, interessiert mich noch weniger, es ist nicht stilwidrig und kann es niemals sein, wenn ich, Oliver Input, mir eine Wolldecke kommen lasse, was ich mir kommen lasse, ist immer stilvoll, merken Sie sich das, und ich möchte Ihnen persönlich raten, sofort eine Wolldecke zu bringen, und zwar eine rote, eine andere will ich nicht, sonst werden Sie in diesem Hause der erste sein, den ich durch eine Maschine ersetzen lasse. Ich hatte es nicht besonders laut gesagt, aber Komplikato, der mit ein paar Weißeingekleideten vom Nebentisch quasselte, kriegte es mit. Er sah mich starr mit seinem Gesicht ohne Augen an.
Wahrscheinlich dachte der Kellner, er sähe ihn an, er murmelte, gewiß, mein Herr, ganz wie Sie wünschen. In fünf Minuten war er mit einer roten Decke da, er wickelte mich ein und steckte sie hinten fest. Die Nieren muß man schonen, mein Herr, die Nieren sind das Kostbarste, was der Mensch besitzt. Nein, sagte ich, das kostbarste ist der Grips. Ganz wie Sie wünschen, nur möchte ich anmerken, daß ohne Nieren einem der sogenannte Grips auch nichts nützt. Er nützt einem auch nichts ohne Herz, sagte ich. Gewiß, sagte er, und wenn Sie Herz als Symbol für Mut setzen, nützen Ihnen weder Nieren noch Grips etwas ohne Herz, haben Sie noch einen Wunsch? Vorläufig nicht, sagte ich. Der Kellner war vielleicht so alt wie mein Vater, aber dünner. Durch sein schwarzes pomadiges Haar zog sich ein breiter Graustreifen, das war sicher vornehm und kellnerhaft, aber als er sagte, wenn Sie Herz als Symbol für Mut setzen, kam er mir nicht kellnerhaft vor, ich dachte, so könnte Professor Komplikato sprechen, und ich beschloß, diesen Kellner noch öfter zu bemühen, um rauszukriegen, was er für einer war. Na, hast du deinen Willen? fragte Komplikato nicht gerade freundlich, als er mich wie ein Baby in die Decke gewickelt sah. Ich muß dich aber bitten, noch einmal aufzustehen und mit mir zu dem Tisch zu gehen, wo meine Bekannten sitzen. Erwies auf einen Haufen Weißeingekleideter in einer Palmenecke. Wieso, sagte ich, können die nicht hierherkommen, hier ist doch Platz genug. Input, sagte er, ich bitte dich, blamiere mich hier nicht. Ich versuchte ihn zu überzeugen, daß er sich erst recht blamieren würde, wenn ich, eingewickelt in die rote Decke, durch das Lokal schob. Die Decke sollst du nicht mitnehmen, die wickle bitte ab. Multi Multiplikato hat mich zur Lösung großer Aufgaben vorgesehen, sagte ich, aber die kann ich nicht lösen, wenn meine Nieren entzündet sind, also muß ich die Herrschaften bitten, sich an meinen Tisch zu bemühen. Input, das hat doch gleich den Anschein, als ob du kränklich wärst, das weiß doch morgen sofort Multi Multiplikato, und er macht mir Vorwürfe, daß ich dich in diesen Kühlschrank geführt habe.
Das brauchten Sie ja auch nicht, sagte ich, und deshalb sollen die Leute hierherkommen oder dableiben, mir ist es egal, ich möchte jetzt was futtern, aber anständig, sonst falle ich, eingewickelt, wie ich bin, hier gleich vom Sessel. Aber auf der Speisekarte standen bloß ekelhafte Sachen: Insekten- und Schlangensalate Quallenspeise Schneckenmayonnaise Affenhoden Regenwürmer in Aspik, und je ekelhafter die Sache, desto mehr mußte man dafür blechen. Ich rief den Kellner. Haben Sie eine anständige Kalbskeule da? Kalb führen wir nicht, mein Herr.
Dann meinetwegen Rind oder Hammel oder auch Schwein.
Ich muß Sie enttäuschen.
Dann, verdammt noch mal, irgendein anderes Fleisch, meinetwegen Huhn und
eine ordentliche Schüssel Gemüsereis mit Soße. Das führen wir alles nicht, mein Herr, es würde dem Stil des Hauses zuwiderlaufen, aber ich kann Ihnen überbackene Qualle sehr empfehlen, sie schwimmt in diesem Augenblick noch in unserem Spezialbassin, kann also nicht frischer sein. Mich hatte nun mal der Durchsetzungsfimmel gepackt. Was essen Sie denn da hinten in Ihrer Küche, Sie essen doch sicher was Richtiges. Wir erhalten hier kein Essen, mein Herr, wir bringen es von zu Hause mit.
Und was haben Sie heute mitgebracht?
Saure Linsen mit Würstchen, sagte er.
Sind an den Linsen auch Pflaumen dran?
Gewiß, mein Herr, Pflaumen und grüne Walnüsse.
Das will ich essen, sagte ich, der Herr hier zahlt Ihnen einen repräsentativen
Preis.
Das darf ich nicht annehmen, sagte er, ich darf hier keine Geschäfte mit mei-
nem mitgebrachten Essen tätigen, aber ich würde Ihnen das Essen schenken.
Nein, sagte ich, Sie essen dafür die überbackene Qualle.
Ich schenke es Ihnen gern, sagte er, und das verstand ich nun auch wieder
nicht, so sympathisch konnte ich ihm nicht sein. Ich werde mich dafür in anderer Form erkenntlich zeigen, sagte ich, und dann brachte er eine große silberne Schüssel mit den sauren Linsen und zwei dicken braunen Würstchen und den Pflaumen und grünen Walnüssen, und der Geruch war so stark, daß er nicht gleich abgesaugt werden konnte und die Weißeingekleideten sekundenlang in der Nase kitzelte. Was essen denn Sie da, das wollen wir auch bestellen. Es ist eine einmalige individuelle Sonderanfertigung, sagte ich. Die Weißen waren gerade dabei, sich an meinen Tisch zu bemühen, und sie setzten sich um mich herum und beglotzten mich, während ich die Linsen mit der Zunge am Gaumen zerdrückte und leidenschaftlich in die glänzende Wurst biß, daß mir der Saft übers Kinn lief. Allmählich gewöhnten sie sich an meinen Anblick und fuhren fort, über ihre Probleme zu quatschen. Ich werde wohl mein drittes Luftkissenauto abschaffen, von der Rente kann ich höchstens zwei halten, mein Schmetterlingsflügler ist in Reparatur, aber fragen Sie nicht, was das kostet, es lohnt sich eigentlich nicht mehr, diesen Typ zu fliegen, zu aufwendig, und wohin soll man fliegen, man kennt alles, ich würde gerne mal in den Urwald fliegen, mal ganz naturhaft leben, die Natur ist das einzige Paradies, das uns geblieben ist, aber auch sie wird durch Maschinen ersetzt werden, stellen Sie sich vor, ich habe aus sicherer Quelle, daß die Affen und die Papageien, die die vorherrschenden Urwaldgeräusche erzeugen, durch Maschinen ersetzt werden sollen, im Prinzip habe ich nichts dagegen, ich finde es herrlich, durch Maschinen ersetzt zu werden, aber man sollte da wirklich eine Auswahl treffen, nicht jeder ist es wert, durch eine Maschine ersetzt zu werden, und ich denke, wir sollten auch verlangen, daß diese Maschinen dann wirklich so arbeiten, daß wir uns nicht schämen müssen, durch sie ersetzt worden zu sein, also, das würde ich nicht sagen, die Maschinen unseres geschätzten Landesvaters arbeiten sehr zuverlässig, zuverlässiger als Menschen, aber was besagt das, ich bitte Sie, rufen Sie nicht unnötig etwas hervor, die Maschinen des Landesvaters sind erstklassig, solche Maschinen mit solcher Präzision hat es noch nie gegeben, die Verkehrsunfälle sollen in letzter Zeit wieder zugenommen haben, ich gehe zu Fuß, es wurden auch schon Fußgänger vom Weißen Blitz überfahren, die Särge sollen auch nicht mehr so sein wie früher, die Qualität der Leichenstrümpfe ist saumäßig, früher gab es weiße Elastik-Strumpfhosen, seit die Maschinen das bearbeiten, geht es liebloser vor sich, ich bitte Sie, was soll dieses Thema, ich fahre immer vollkommen sicher, mir ist noch nie ein Weißer Blitz begegnet, unser geschätzter Herr Landesvater ist ja Ehrenpräsident der Gesellschaft zur Verhinderung von Verkehrsunfällen, kennen Sie seine letzte Rede, er äußerte sich besorgt, in der vorletzten äußerte er sich auch besorgt, es ist immer dieselbe Rede, ich habe Sie ihm seinerzeit ausgearbeitet, ich bitte Sie, ich bitte Sie, wollen wir nicht was bestellen, was der junge Freund dort gegessen hat, was war das, eine
Sonderanfertigung, das finde ich herzlos, man fängt an, uns herabzustufen, aber wieso, ich bitte Sie, kommen Sie doch auf ein anderes Thema, ich bestelle mir Qualle mit Mandelsoße, die Qualle ist auch nicht mehr so, gestatten Sie, das sage ich frei und offen, die Qualle ist nicht mehr so, das dürfen die Maschinen unseres sehr geschätzten Landesvaters ruhig auffangen, ich würde es ihm auch persönlich sagen, aber er läßt Sie nicht vor, ich würde es ihm sagen, welche Mißstände sich breitmachen, die Qualle ist nicht mehr so, das ist ein bedenkliches Zeichen. Ich zog ein Taschentuch aus Komplikatos Hose, und ich trompetete in das Tuch, und um die Sache echt zu gestalten, hielt ich es mir danach noch eine Weile vor, als ob ich mir das Ausgeschnaubte gründlich betrachtete. Ich habe einen Mordsschnupfen, sagte ich laut, in diesem Refrigeratio zieht es zu sehr, ich denke, man wird es demnächst abreißen. Sie sahen mich erschrocken an, das Refrigeratio ist unsere letzte Stätte, wo es ein bißchen gemütlich ist, wo sollen wir dann hin, ist es wahr, das Refrigeratio wird abgerissen, und wodurch wird es ersetzt? Muß denn alles durch was ersetzt werden? fragte ich. Natürlich, alles muß durch etwas ersetzt werden, sonst stehen wir ja vor dem Nichts. Komplikato verpaßte mir einen kleinen Seitenstoß, er sagte zu den Weißeingekleideten, mein junger Freund erlaubt sich gerne einen Spaß, du solltest etwas Qualle kosten, Oliver Input. Sie fingen an Silberzigarren zu rauchen, noch alte, von damals. Diese hier stammt aus der Kiste, die mir Multiplikato persönlich verehrte, es ist die vorletzte, der fette Mann, der das sagte, weinte fast. Du mußt taktvoll sein, flüsterte Komplikato, sie sind alle sehr deprimiert. Sicher war es traurig, abgeschoben zu sein, aber ich konnte mich noch so anstrengen, ich konnte mit diesen Weißeingekleideten kein Mitleid empfinden, ich dachte, Multiplikato tat recht daran, daß er sie durch Maschinen ersetzen ließ, ich hätte das auch gemacht. Diese Weißeingekleideten waren nicht die einzigen, die in der Hotelhalle rumhockten, mir fielen noch andere Leute auf, die normal angezogen, also in bunten Anzügen, ziemlich heiter sich in den Sesseln fläzten. Von deren Tischen hörte ich sogar lautes Lachen, da schien es auch was anderes zu essen zu geben, vielleicht hatten sie es sich mitgebracht, einige kauten mit großer Wonne, einige tranken ein gelbes Schaumwasser. Was trinken die denn da, fragte ich Kompli-
kato. Das ist Bier, erklärte er, ein ausländisches Getränk, das kann sich ein gewöhnlicher Weißeingekleideter heutzutage nicht leisten. Und was essen sie? Das ist lose Schlachtwurst, bestehend aus Blut und Grütze und einigen Gewürzen, ebenfalls ein ausländisches Gericht und für Weißeingekleidete unerschwinglich. Aber das steht nicht auf der Karte, sagte ich. Diese essen nicht nach der Karte. Und was sind das für welche? Drücken wir es höflich aus, sagte Komplikato, es sind Geschäftsleute, die Multi Multiplikato notwendige Dienste erweisen. Ich will auch Bier trinken und Schlachtwurst essen, sagte ich. Vielleicht wirst du es einmal können, Input, aber jetzt gehörst du noch nicht zu der Kategorie, die es kann. Trinkt Multi Multiplikato Bier? Gewiß, wenn er Appetit darauf hat. Also will ich auch Bier trinken. Tut mir leid, Input, ich kann es dir nicht bestellen, ich gehöre nicht zu der Kategorie. Und damit geben Sie sich zufrieden? Ich ging an den Tisch, wo das Bier stand. Entschuldigen Sie, meine Herrschaften, ich bin so scharf auf dieses Gesöff da, aber mein Onkel will mir keins kaufen, dürfte ich vielleicht einen kleinen Schluck kosten? Selbstverständlich, mein Junge, sagte ein Bartmann, der bei denen der Chef zu sein schien, sein Bart war jedenfalls rot und zottelte' bis zu den Knien oder noch weiter, ich konnte es nicht feststellen, weil der Mann saß. Bitte sehr. Er goß mir ein Glas voll, und der Schaum stand darauf so steif, daß ich Lust hatte, ihn mit einem Messer zu schneiden. Er kitzelte beim Trinken die Oberlippe, die Nase
und beide Mundwinkel. So einen Schaum hatte ich noch nicht mal beim Marmeladekochen gesehen. Das Bier schmeckte bitterlich. Es ist was für Kenner, sagte der Bartmann. Jetzt bin ich Kenner, ich goß es runter, es fuhr eiskalt in meine Gedärme. Könnte ich noch was haben? Bitte sehr, und er goß mir wieder das Glas voll. Input, sagte Komplikato, das geschieht ohne meine Billigung. Was kostet es, meine Herren, ich zahle selbstverständlich. 75 Klax und 3 Klix pro Glas, weil Sie ein notleidender Weißeingekleideter sind. Professor Komplikato suchte alles, was er hatte, aus seiner Brieftasche zusammen. Es stimmte gerade. Du leistest dir eine ganze Menge, Oliver Input. Ich denke, ich soll die repräsentative Gesellschaft von Integral kennenlernen.? Komplikato antwortete nicht, als ob er eine Stinkwut hätte, aber nach dem Bier konnte ich die Weißeingekleideten an unserm Tisch bedeutend besser aushalten, ich hörte sie gar nicht mehr, ich streckte unter dem Tisch ganz bequem meine Beine aus, allerdings so bequem, daß ich jemanden anstieß. Entschuldigung, mein Herr. Aber keiner der Weißeingekleideten fühlte sich angesprochen, ich stieß gleich noch mal, doch niemand reagierte, die weißen Herren redeten, redeten und redeten, da hob ich das Tischtuch, das am Boden schleifte, um genau zu beobachten, wen ich zum drittenmal anstieß, und um bestätigt zu finden, daß hemmungsloses Reden unempfindlich macht. Ich entdeckte unter dem Tisch aber etwas ganz anderes. Unter dem Tisch atmete etwas, da saß etwas mit angewinkelten Armen und Beinen, ich ließ die Decke runter, mein Kellner mit den vornehmen Haaren strich vorbei. Haben Sie noch einen besonderen Wunsch? Hier ist was unterm Tisch, sagte ich, gehört das zum Stil Ihres Hauses? Er hob das Tischtuch und ließ es rasch wieder fallen. Es befindet sich dort absolut nichts, mein Herr. Doch, da befindet sich was.
Ich sehe nichts, sagte er, lassen Sie bitte das Tischtuch los, Sie werden es noch herunterreißen. Ich hatte genau gesehen, daß das, was da saß, mit einer Schlangenhaut überzogen war, mit einer grünlichen glänzenden Haut. Ich bitte Sie sehr, mein Herr, sagte der Kellner, der Genuß von überbackenen Quallen kann bei dafür disponierten Personen zeitweilig Halluzinationen erzeugen. Ich habe keine Quallen gegessen. Schon die Ausdünstung anderer Esser kann bei sehr sensiblen Individuen wirksam werden. Er sah mich an, als ob er einen nicht ganz Normalen vor sich hätte, den er mit seinen Augen am Stuhl festbannen wollte. Na gut, sagte ich, na gut Ich wußte genau, da war was unterm Tisch. An den Tischen der Bunten ereignete sich nichts, die meisten waren gegangen, der Bart des Chefs reichte etwa zehn Zentimeter unters Knie, er warf ihn beim Rausgehen über die Schulter. Ein paar Leute mit Spiegelbrillen und ein paar Hotelgäste auf Socken saßen noch herum, lasen die Multiplikato-Zeitung, rauchten, zwei spielten böse Schach. Ich wollte es noch mal wagen, das Tischtuch ein bißchen zu heben. Da kroch eine Hand darunter vor und faßte meinen Fuß. Die Hand glänzte nicht schlangengrün, es war eine kleine menschliche Hand, die an meinem Fuß zog, mit einemmal hatte sie meinen rosa Schuh abgezogen; als ich danach greifen wollte, war der andere auch schon verschwunden, ich wollte sagen, na, das gibt sich da unten hoffentlich, aber ich kriegte kein Wort raus, ich hob die Decke. Da flüsterte was, Oliver Input, komm doch mal zu mir. Ich fragte benommen, warum haben Sie mir meine Schuhe geklaut? Damit du nicht wegläufst, Input. Ich sah mich noch mal am Tisch und in der Halle um. Als mich niemand beobachtete, ließ ich mich unter den Tisch rutschen, allerdings, wie ich zugebe, mit einem unheimlichen Gefühl, aber auch mit dem Gefühl, du mußt da runter, du mußt das da genau sehen und anfassen, was da atmet und dir die Schuhe abzieht und Oliver Input flüstert. Als ich die Tischdecke hinter mir runtergelassen hatte, war es da gar nicht so dunkel. Das zusammengeklappte Etwas war ein Mädchen in einem Overall aus
grüner Schlangenhaut, ihre richtige Haut sah ich bloß im Gesicht und an Händen und Füßen, sie war bräunlich wie meine. Vom Gesicht konnte ich allerdings nicht viel sehen, da hing eine Masse schwarzes Haar drüber. Woher wissen Sie überhaupt, daß ich Oliver Input heiße? Und warum sitzen Sie unterm Tisch? Sind Sie Detektivin? Das würde sich unter so einem Tisch kaum lohnen, sagte sie. Und warum sitzen Sie hier? Ich bin deinetwegen hier unterm Tisch, Oliver Input, ich habe alles gehört, was du gesagt hast.
Na und. Weißt du, Oliver, ich möchte, daß wir hier unterm Tisch bleiben, man lebt hier ganz gut. Man kann sich hier unterhalten. Warum können Sie das da oben nicht, Sie sind doch gut angezogen, ich finde, Sie sehen viel schöner aus als die Weißeingekleideten, wir könnten uns oben hinsetzen und essen. Oben können wir uns nicht unterhalten, da unterhält sich kein Mensch. Doch, sagte ich, sie reden, reden, reden. Die Sachen sind mir viel zu eklig, die da auf der Karte stehen, sagte sie. Ja, sagte ich, die sind wirklich sehr eklig, bleiben wir also hier unten. Sie schien zu erwarten, daß ich die Unterhaltung anfing, ich fragte, essen Sie gerne die Birne? Sie antwortete, wenn ich die gerne essen würde, säße ich nicht unterm Tisch. Aber was essen Sie dann? Sie hob ein bißchen das Tuch. Es kommt schon. Sie zog einen silbernen Becher rein, obendrauf saß eine weiße Schaumwolke. Sie nahm einen kleinen Löffel aus ihrer Overalltasche und fing an den Schaum zu löffeln, unter dem Schaum steckten kleine rote Früchte. Das steht aber nicht auf der Karte, sagte ich, was ist denn das?
Sie nannte mir die merkwürdige Bezeichnung: Erdbeeren mit Schlagsahne.
Ist wohl irrsinnig teuer? fragte ich.
Aber es schmeckt, sagte sie.
Möchtest du auch mal?
Ich sagte, ich könnte es mir auch bestellen.
Die schwarzen Glanzschuhe meines vornehmen Kellners strichen vorbei. Ich
tippte auf einen, hallo, ich möchte auch, was dieses nicht vorhandene Nichts hier löffelt.
Mein Herr, das ist eine vorbestellte Sonderanfertigung.
Ist schon gut, sagte ich, aber es wird ja noch etwas übrig sein.
Nur für besondere Sonderanfertigungsvorbesteller, mein Herr.
Aber könnte ich vielleicht diesem besondern nicht vorhandenen vorbestelltha-
benden Nichts etwas spendieren?
Möglich ist das nicht, sagte er, aber ich werde mich darum kümmern.
Wie heißen Sie, fragte ich das Mädchen.
Ich heiße Naida.
Ach, sagte ich, Naida, wie diese Schlange, die nicht so giftig ist wie die andern,
das heißt, die überhaupt niemals beißt, obwohl sie es sehr gut könnte. Warum tut sie es eigentlich nicht? Es ist ihr zu dumm, sagte Naida, es gibt andere Möglichkeiten, als gleich mit dem Giftzahn zuzuschlagen. Sie ist die klügste Schlange von allen, sagte ich. Das kann schon stimmen, und dann sagte Naida, die Erdbeeren mit Schlagsahne kommen, ich hob das Tuch und zog den silbernen Becher rein. So ein phantastischer Duft war noch nie in meine Nase gestiegen, dieser Duft füllte jetzt unser weißes Zelt, ich hätte gerne losgelöffelt, aber es war mir unangenehm, dieses Mädchen um seinen Löffel zu bitten, es steckte nämlich wieder keiner im Becher, ich hatte die Sonderanfertigung ja für sie bestellt, es ging nicht, daß ich wie ein Wilder selbst draufstürzte. Bitte schön, sagte ich. Sie nahm den Becher und löffelte ihn aus. Sagen Sie mir mal ehrlich, zu welcher Kategorie gehören Sie? fragte ich. Sie sah mich an, als ob sie nichts kapierte. Hier gibt es doch lauter Kategorien, die Weißeingekleideten, die dem Multiplikato nichts mehr nützen, die Bunten, die ihm was nützen, wieso sie ihm nützen, weiß ich nicht… Sie rief dazwischen, die kaufen ihm neue Maschinen ein.
Aber in welchem Verhältnis stehen Sie zu ihm, wo Sie dieses allerniveauvollste Essen, was es hier gibt, erhalten, noch niveauvolleres, als ich sonst kriege? Und was glaubst du, zu welcher Kategorie du gehörst? Ich bin gewissermaßen in der allerhöchstmöglichen, das heißt, perspektivisch gesehen, ich soll eine sehr hohe Aufgabe bei Multi Multiplikato erfüllen, das heißt, ich komme gleich hinter ihm, aber solche Sachen, wie Sie hier essen, habe ich noch nie gekriegt, Sie müssen in einem noch besseren Verhältnis zu ihm stehen, Sie essen nicht gerne die Birne. Ich esse sie nie, sagte sie. Dann sind Sie in der höchsten Kategorie. Oder auch in der tiefsten, sagte sie, wir sind jetzt hier in der allertiefsten, Input, es stimmt, daß ich zu Mul ein ganz besonderes Verhältnis habe. Warum Kriegt dieser Kellner bei sich zu Hause so ein phantastisches Essen, das sonst keiner kriegt, noch nicht mal die Bunten? Er gehört auch zur tiefsten Kategorie, sagte sie. Ich dachte immer, wer zur tiefsten Kategorie gehört, müßte hungern oder kriegt nur die Birne. Kommt drauf an, man muß in der richtigen tiefen Kategorie sein, sie lachte rauh und laut, ich hatte mir vorgestellt, daß sich ihr Lachen lieblicher anhören würde. Nicht so laut, sagte ich. Sie flüsterte schon lange nicht mehr. Die merken da oben nichts. Sie fing an, mit ihren kleinen Fingern auf den Schuhen der Weißeingekleideten, die schon etwas grau waren, Klavier zu spielen, die merken überhaupt nichts, wir könnten auch raufgehen und uns an einen Tisch setzen, die würden nichts merken, ich könnte diesen Schachspielern ihre Konstellation verstellen, den Zeitungslesern könnte ich die Nummer auswechseln, sie würden nichts merken, wollen wir, Input? Aber ich wollte nicht. Ich opfere mich gern der Entwicklung, sagte da oben am Tisch dauernd einer, aber mein zweites Luftkissenauto braucht neue Kissen, wo soll ich das Geld da-
für hernehmen. Komplikato wollte ihn überzeugen, das erste Auto zu verkaufen und von dem Geld die Kissen für das zweite zu bezahlen. Das wäre ein Abstieg, den ich nicht verdient habe, sagte der andere dauernd, Multi Multiplikato hat mich mit Dankschreiben verabschiedet. Er hat alle mit Dankschreiben verabschiedet, sagte Komplikato. Hier unten ist es wundervoll, sagte ich zu Naida, ich hätte ihr gern eine Liste mit Fragen an den Kopf geschmissen, was sind Sie, wo kommen Sie her, wie alt sind Sie, haben Sie einen Freund, wo gibt es solche Schlangenhäute zu kaufen, aber ich fühlte einen schrecklichen Drang, von mir selbst zu sprechen, und sie kam dem noch entgegen, indem sie mich die Sachen fragte, die ich sie eigentlich fragen wollte. Ich packte meine sämtlichen Personalien aus, aber als ich erwähnte, daß ich an der Kybernetischen Akademie studiere, sagte sie, jetzt schwindelst du, so eine Akademie gibt es hier nicht. Natürlich gibt es die, ich kann sie Ihnen sogar genau beschreiben, sie sieht wie eine überdimensionale Aluminiumtorte aus. Und wo soll diese Torte stehen? Ich hätte es ihr gern beschrieben, ich wußte es aber selber nicht, jedenfalls hier in Integral, das können Sie mir glauben. Plötzlich kam sie mir unheimlich vor, woher wissen Sie, daß ich Oliver Input bin? Sie wurden da oben am Tisch so vorgestellt. Und warum interessieren Sie sich für mich? Ich glaube, Input, du mußt jetzt wieder rauf, dein Komplikato redet schon vom Gehen. Ich möchte nicht, sagte ich, ich möchte hier unten bleiben, ich fühle mich hier viel wohler. Das glaube ich gerne, Input. Ich möchte in dieser tiefsten Kategorie sein. Man sollte den Unterschied zwischen tiefster und höchster nicht so betonen, Input, die tiefste kann auch die höchste sein und die höchste die tiefste, es kommt auf den Blickpunkt an. Da stimmte ich ihr zu. Der phantastische Duft von Erdbeeren und Schlagsahne umhüllte uns immer noch.
Vielleicht könnten wir uns hier wieder treffen?
Du mußt jetzt rauf, Input.
Aber einmal muß ich wenigstens Ihr Gesicht richtig sehen. Ich war plötzlich so
frech, daß ich einfach das dicke Haar von ihrem Gesicht schob. Im Gesicht war sie keine besondere Schönheit, allerdings kannte ich bloß die mondgesichtigen Schönheiten von Multi Multiplikatos Birnenreklame, so schön sollte man werden, wenn man regelmäßig die Birne kaute. Naida hatte eine gebogene Nase, die Augen waren grün und standen eng zueinander, angeblich ein Zeichen für Intelligenz, es wirkte, als ob sie ein bißchen schielte. Du mußt jetzt rauf, Input. Ich muß dein Gesicht erst in mich aufnehmen, sagte ich. Dann gehe ich, sagte sie. Ich wollte sie festhalten, aber sie rutschte mir aus den Händen und war verschwunden. Wer ist das Mädchen, das da eben gegangen ist, fragte ich meinen Kellner. Da ist kein Mädchen gegangen. Dann vielleicht in schlängelnder Weise gekrochen. Auch nicht gekrochen, auch nicht in schlängelnder Weise. Außerdem: Es gehört nicht zu den Gepflogenheiten des Hauses, über Gäste Dritten Auskunft zu geben. Wo hast du deine Schuhe, fragte Komplikato, wir wollen los. Der Kellner rechnete die Ausgaben vor. Es geht auf Rechnung, sagte Komplikato. Dann wären da noch zwei Becher mit Sonderanfertigungen. Hast du das bestellt, Input?
Ja, sagte ich, auch auf Rechnung. Auf wessen Rechnung? Eben auf Rechnung. Tut mir leid, sagte Komplikato zum Kellner, ich bin durch diesen jungen Mann derartig ausgeplündert worden, daß ich Ihnen nicht einmal eine kleine Zuwendung in bar geben kann. Geht auch auf Rechnung, mein Herr. Die müden Weißeingekleidetenhände rüttelten ein bißchen an meinen. Junger Mann, wir wünschen Ihnen eine lichtere Zukunft, aber wir sehen im Zeitalter der absoluten Maschine kaum berufliche Perspektiven für Sie, trotzdem, das Leben hat auch ohne Arbeit einen gewissen Reiz. Mir fiel auf, daß sie mich überhaupt nicht gefragt hatten, wer ich wäre, auch Komplikato nicht, sie hatten dauernd von sich geredet, Komplikato ließ seinen Mund grinsen, er schien ziemlich sauer zu sein. Gehen wir morgen wieder hierher? fragte ich. Du hast noch Statistik Regelungsmathematik Zahlentheorie Probleme der Rechenautomaten Algorithmentheorie abstrakte Automaten vor dir. Hinterm Refrigeratio schlug der Schmetterlingsflügler mit seinen weißen Flügeln, drin nahm Komplikato die Brille ab, ich wollte wissen, ob er sehr sauer auf mich war. Habe ich mich in dem Kühlschrank nicht fein benommen? Ich hab auch die Schuhe wieder an. Du hast dich wie Oliver Input benommen. Tut mir leid, kriegen Sie deswegen Ärger? Ich kriege immer Ärger. Nächstes Mal strenge ich mich noch mehr an. Benimm dich immer wie Oliver Input, darum bitte ich dich. Er setzte die Brille auf und sprach keinen Ton mehr. Im Kabinett für Statistik war mein Bett aus der Wand gefahren, der übliche Duft nach Zitronen und frischgefallenem Regen strömte über mich hin, ich fand ihn fad, nachdem ich den Duft unterm Tisch genossen hatte, ich schlief von ihm auch nicht ein, ich mußte mich mit der Frage beschäftigen, wieso ich nicht die
Kraft gehabt hatte, das Mädchen festzuhalten und mit ihr unter dem Tisch zu bleiben, sie war so dünn, aber ich hatte die Kraft nicht gehabt, ich war noch nicht mal dazu gekommen, mit ihr eine neue Zusammenkunft zu verabreden.
Kapitel 4 Ich brachte Statistik und Regelungsmathematik hinter mich, doch kein Komplikato ließ sich blicken. Bei Zahlentheorie stellte ich mich dumm, aber das half nichts, denen da draußen schien es egal zu sein, wann ich mich durchgefressen hätte, so dringend brauchte mich der Mul für seine Aufgaben anscheinend nicht. Dieser Gedanke hakte sich in mir fest, als auch im Kabinett für die Probleme der Rechenautomaten kein Komplikato saß, erst im Kabinett für Algorithmentheorie saß er. Neben sich hatte er einen Karton. Gehen wir wieder ins Refrigeratio? fragte ich. Wir gehen nirgends hin, antwortete er, Multi Multiplikato hat sein Mißfallen über unseren Besuch im Refrigeratio geäußert, er war sehr verstimmt, als er die Rechnung sah. Die hätten Sie ihm nicht zu zeigen brauchen. Habe ich nicht, die Maschine, die mir meine Auslagen erstatten sollte und die die Rechnungen des Refrigeratio bearbeitet hat, muß ihm Bescheid gesagt haben, auch über dein Benehmen im Refrigeratio war er genau informiert. Und wie fand er es? Nicht so skandalös, wie du dir vielleicht einbildest, er meinte nur, es wäre nicht nötig, daß du auffällst, er findet es, wie er sagte, unangebracht, wenn unfertige Wesen, die noch zu lernen haben, bereits ihren Individualismus zur Schau stellen, das wirke sehr hemmend auf ihre Entwicklung. Ich muß ihm recht geben, du hast, seitdem du im Refrigeratio warst, nicht besonders gearbeitet. Ich habe geschuftet wie eine Birnenerntemaschine. Mag sein, aber es ging sehr langsam, und viele Aufgaben mußtest du wiederholen, der Bericht der Akademie weist es aus. Wenn ich keine Ablenkung habe, kann ich nicht arbeiten, ist doch logisch, sagte ich. Dasselbe habe er Multi Multiplikato auch erklärt, aber der Große Zauberer sei immer noch sauer über die hohe Rechnung. Es wäre zu früh, daß ich mit so etwas anfinge, viel zu früh. Ich habe nichts angefangen, erwiderte ich, dazu bin ich gar nicht gekommen.
Lieber Input, ich habe das Mädchen gesehen, das sich von unserem Tisch entfernt hat, du bist ja ein aufgeklärter Junge, Input, über die Auswirkungen von geschlechtlichen Beziehungen und dergleichen weißt du sicher Bescheid, Multiplikato möchte eben, daß du den Geschlechtsmechanismus, der dir von der Natur beigefügt wurde, vorläufig ausklammerst, um deine wissenschaftlichen Erfolge nicht zu beeinträchtigen. Ich fragte, ob der Mul impotent wäre. Das wollte Komplikato nicht noch mal hören. Ich dachte, weil er nicht weiß, daß man immer an diesen Mechanismus, wie Sie das nennen, denkt, wenn man in einem Kabinett jeden Tag rechnen muß, wenn es nicht kalt und nicht heiß, sondern mulmig warm ist, wenn man nur sich selber hat. Du hast hier die Lernmaschinen. Die haben keinen Geschlechtsmechanismus. Mein lieber Input, das Gespräch tendiert nicht dahin, wo es hintendieren soll, Multi Multiplikato gab mir zu verstehen, daß er solche Unterbrechungen deines Studiums wie die im Refrigeratio absolut nicht mehr wünscht, er bedeutete mir, er würde mich umgehend durch eine Maschine ersetzen, falls wieder ein solcher Besuch erfolgt. Das möchte ich nun doch nicht riskieren. Sie passen sehr gut zu diesen Weißeingekleideten im Hotel, ich weiß genau, warum Multi Multiplikato sie durch Maschinen ersetzt hat, weil sie nämlich zu brav waren und alles genau befolgt haben, was er verlangt hat, dazu kann er besser Maschinen benutzen, da gebe ich ihm recht. Du sagtest eben nicht Mul, bemerkte Komplikato höhnisch, du entwickelst dich, Input. Ich sagte nicht Mul, weil ich ihn ganz vernünftig finde, Idioten sind diejenigen, die alles genau so machen, wie er es will, auf solche kann er sich nicht verlassen, das ist doch logisch. Ich gebe zu, sagte er, die Herrschaften an unserem Tisch machten einen etwas heruntergekommenen Eindruck, du darfst nicht vergessen, sie sind deprimiert, sie sind ohne Aufgabe, das demoralisiert gewaltig, aber du irrst dich, wenn du meinst, ich wäre zu brav. Ich habe mit Multi Multiplikato eine Stunde und sieben Minuten lang diskutiert, und zwar über Bildtelefon, was den Kontakt sehr erschwerte. Multiplikato hätte jeden Augenblick abhängen können, trotzdem ist
er auf mein Argument eingegangen, du müßtest das Leben von Integral kennenlernen, um den Aufgaben, die du für ihn einmal lösen sollst, gewachsen zu sein. Schnür bitte diesen Karton auf, er enthält ein Televisionsgerät, das ich hier installieren werde, nach Multi Multiplikatos Ansicht lernst du das wahre Leben, wie es in Integral spielt, am besten kennen, indem du regelmäßig televisionierst. Das fand ich nicht schlecht, aber ich hätte lieber das Mädchen in der Schlangenhaut wiedergetroffen. Es war ein sehr angenehmes Gefühl gewesen, von ihr ausgefragt zu werden. Warum kriege ich hier eigentlich niemals Post? Vermutlich schreibt die niemand. Aber wenn mir wer schreiben würde? Dann würdest du vielleicht Post kriegen, man könnte es technisch so einrichten, daß die Briefe dir mit dem Frühstück serviert würden, es weiß nur keiner deine Adresse. Aber wenn derjenige schreiben würde: Oliver Input, Kybernetische Akademie? Es weiß niemand, daß du in der Kybernetischen Akademie lebst, und es kennt hier auch niemand deinen Namen, außer Multi Multiplikato und mir weiß keine lebende Seele, daß hier überhaupt eine Kybernetische Akademie existiert. Aber wenn einer schreiben würde? Es könnte doch sein, daß einem zufällig so ein Name wie Oliver Input einfällt, und er schreibt aus Quatsch Kybernetische Akademie, was würde die Zentrale Postmaschine dann machen? Sie würde den Brief bestenfalls liegenlassen, schlimmstenfalls würde sie ihn Multi Multiplikato zustellen, hast du etwa jemand deine Anschrift gegeben? Nein. Du machst mir Sorgen, Input, ich bereue, daß wir im Refrigeratio waren. Ich auch, sagte ich, und das stimmte, denn ich fand es sinnlos, ein Mädchen zu treffen und es dann nicht wiederzusehen und nicht mal einen Brief von ihr kriegen zu können, weil sie meine Adresse zwar kannte, aber nicht glaubte, daß es eine Kybernetische Akademie gab, und selbst wenn sie es ausprobieren würde, der Brief käme nicht an. Dachte ich darüber nach, hatte ich keine Lust, in die Röhre zu gucken. Ich stellte den Televisionskasten überhaupt nicht an, ich arbeitete miserabel. Ich mußte das Kabinett für Algorithmentheorie zweimal durchmachen, und als ich schließlich mit Ach und Krach ins Kabinett für abstrakte Automaten kam,
fuhr der Televisionskasten mit. Als ich ihn immer noch wie Luft behandelte, stellte er sich plötzlich von selbst an. Von der Scheibe grinste augenlos Komplikato: Ich möchte dir sehr empfehlen, die heutige Sendung zu verfolgen, es handelt sich um die Feierlichkeiten zu Multi Multiplikatos fünfundvierzigstem Geburtstag, du könntest dabei einen tiefen Einblick in das wahre Leben der Hauptstadt gewinnen. Muß das sein? Der Große Zauberer wünscht, daß du seine Geburtstagsrede hörst. Wieso seine, hält er sich selbst eine Rede? Multiplikato ist der sehr richtigen Ansicht, Menschen würden ihm etwas vorheucheln, nur eine Maschine heuchelt nicht. Er hält die Rede nicht selbst, er hat nur die nötigen Daten in eine Maschine gegeben und läßt die Rede der Maschine während der Feier ablaufen. Das muß aber langweilig für Multiplikato sein. Keineswegs, er weiß ja nicht, wie die Maschine die Daten arrangieren wird, natürlich sind es nur Daten, die sich für eine Festrede eignen, und die gespeicherten Redewendungen sind Festredewendungen. Die Aufgabe lautet, arrangiere die bestmögliche Festrede. Welche Lösung wird die Maschine finden, das ist schon spannend, Input. Er zog sich in Televisionsnebel zurück. Dadurch, daß ich das Kabinett für Algorithmentheorie zweimal durchmachen mußte, war ich schon so am Boden, daß ich mir sagte, sieh dir lieber die Sache an, sonst lassen sie dich womöglich die abstrakten Automaten auch zweimal durchnehmen, und abstrakte Automaten war die letzte Station in der Akademie, danach würde ich hoffentlich entlassen werden, ich wollte zum Schluß keinen mehr verärgern, so sehr war ich geistig-moralisch auf den Hund gekommen. Zunächst schaltete ich den Televisionskasten ab, ich wollte nicht dauernd die vernebelte Röhre sehen, aber ich brauchte mich später nicht aufzuraffen, das Ding schaltete sich von selbst wieder ein. Ein bißchen aufdringlich, dachte ich, aber ich wurde besser gestimmt, als aus der Wand ein Becher mit Erdbeeren und Sahne kam und eine feurige Schrift mir mitteilte, ich könnte heute, weil Multi Multiplikatos fünfundvierzigster Geburtstag sei, so viel Erdbeeren mit Schlagsahne essen, wie ich wollte, ich brauchte
mich bloß durch Knopfdruck zu melden, aber ich aß die Erdbeeren mit Sahne nicht Multi Multiplikato zu Ehren, sondern zum Gedächtnis des Mädchens in der Schlangenhaut, ich dachte bei jeder Erdbeere, die ich am Gaumen zerquetschte, an sie, aber so ein phantastischer Duft wie unter dem Tisch stieg von ihnen nicht auf. Als in der Röhre Multi Multiplikato unter den Festbaldachin trat, drückte ich auf den Knopf, um die zweite Portion zu kriegen. Der Baldachin war schneeweiß mit silbernen Fransen und einer goldenen Troddel an jeder Ecke, auf der Spitze saß eine bombastische goldene Birne, die Baldachinstangen waren weiß und mit Goldbändern bewickelt. Multiplikato sah wie der König im Märchen aus, ganz weiß angezogen, aber er besaß keinen Kugelbauch wie die meisten Könige in den Märchen, er war mehr ein Prinz, und sein Gesicht war bräunlich und glänzte wie mit Butter geschmiert, und statt einer Krone hatte er eine Mütze wie der Portier vom Refrigeratio, bloß mit mehr Goldschnüren, seine Augen sah ich allerdings nicht, weil er eine Sonnenbrille auf hatte, das Gestell war aus teuren Steinen. Neben ihm stand, auch weiß angezogen, Professor Komplikato, aber dessen Brille war billiger. Und dann stand da noch jemand, der auch ganz weiß gekleidet war und auch eine Sonnenbrille trug und der ein scharfkantiges Kinn und sehr eckige Schultern hatte und dessen Nase mir wie ein Knopf vorkam, sein Gesicht war dunkelolivgrün. Professor Komplikato drehte wenigstens mal den Hals, aber der andere verhielt sich stocksteif, und als die feierliche Musik zum Glück aufhörte, fing dieser steife Kerl zu schnarchen an wie die Rechenmaschine, die ich in Vitagam aus der Abfallgrube gezogen hatte, dann fing er an, über Multiplikato zu reden, ihm hätten wir alles zu verdanken. Alles, was in den letzten Jahren in unserem Land Plikato entstanden sei, wäre sein Werk, er hätte von Anfang an mit eiserner Konsequenz das Ziel verfolgt, aus diesem Land ein Land zu machen, in dem es niemand nötig hätte, sein Gehirn zu benutzen, hier könnte jeder sein Gehirn ganz friedlich und mit gutem Gewissen verkümmern lassen, und je schneller das ginge, desto besser für den einzelnen, denn erst mit einem Gehirn, das auf die geringstmögliche Leistung eingestellt sei, könne der Mensch im Lande Plikato sich den Genüssen hingeben, die Multi Multiplikato für ihn vorgesehen hätte, und diese bestünden in einem glücklichen Leben, das dem Spiel und dem Mostonic geweiht sei. Und dann zählte der Kerl noch auf, wieviel Mostonic in den letzten Jahren mehr getrunken, wieviel Birnen oder birnenhaltige Artikel mehr gegessen und wieviel neue Spielautomaten in den MostonicZentren aufgestellt worden waren, er sagte auch, daß die überflüssige Geburt von Kindern sich in dem Maße verringert habe, in dem der Birnenverbrauch gestiegen sei, denn bekanntlich vermindere die Birne nicht nur eine Disposition zur geistigen Konzeption, sondern auch eine zur körperlichen. Überflüssige Kinder, die eine volle Ausnutzung der Mostonic-Zentren nur stören würden, seien also nicht zu befürchten, die Bevölkerungszahl des Landes gehe erfolgreich
zurück, so daß das Ziel, das sich Multiplikato gestellt habe, nach und nach das ganze Land durch Maschinen zu bevölkern, in greifbare Nähe gerückt sei. In diesem Stil machte der steife Kerl den armen Multi Multiplikato runter, und das an seinem fünfundvierzigsten Geburtstag. Ich wagte nicht, dem Großen Zauberer ins Gesicht zu sehen, ich sehe nicht gern enttäuschte oder gekränkte Gesichter, und ich erinnere mich trotz des großen Erfolges, den ich mit den Affen erzielte, nicht sehr gern an das Gesicht, das der Schuldirektor machte, aber Multiplikato drehte sich plötzlich um, und ich sah unter der Brille mit den teuren Steinen seinen Mund vor Vergnügen halb offen, die Unterlippe glänzte sogar, der Mul sabberte vor Befriedigung über das, was seine Maschine da arrangiert hatte. Erst dachte ich noch, er wollte sie abstellen, als er die Hand ausstreckte, aber er schüttelte dem steifen Kerl die Pfote, und der mußte den letzten Teil seiner Rede noch mal ablassen.
Ich drückte zum dritten mal den Erdbeer-Sahne-Knopf und dachte, entweder besitzt der Mul einen großen Humor, oder er ist besoffen, dadurch kriegt er die Beleidigungen der Maschine nicht mit. Mir war der Vorgang etwas peinlich, ich hätte sagen können, was geht dich der Mul an, aber ihn und mich trennten bloß noch abstrakte Automaten, wenn ich die hinter mir hätte, würde ich mit ihm direkt zu tun kriegen. Es war mir zwar komisch dabei zumute, aber ich schämte mich etwas für ihn, wie er dastand und der Maschine die Hand schüttelte. Ich sollte schließlich für diesen Mann wichtige Aufgaben lösen, und da betraf es mich auch, wenn er so einer blöden Maschine für ihre Unverschämtheit noch dankte. Aber Professor Komplikato machte, soweit ich es trotz der Brille sehen konnte, auch ein befriedigtes Gesicht, er schämte sich anscheinend nicht. Ich wollte mich noch überzeugen, wie die Leute, die da unterhalb des Baldachins, der auf einer Art Balkon stand, der Feierlichkeit zusahen, die Sache aufnahmen, aber sie nahmen sie gar nicht auf. Vorne stand ein Haufen Weißeingekleideter, der dauernd klatschte, aber ganz stumpfsinnig guckte, ich konnte mir schon vorstellen, daß sie wieder bloß daran dachten, ob sie sich ihr zweites Luftkissenauto noch leisten könnten, und hinter den Weißeingekleideten standen normale Leute mit Mostonic-Flaschen vorm Hals, oder sie spielten Murmeln, manche saßen auch einfach da und pennten mit offenem Mund. Mit einemmal guckten sie aber alle wie vom Affen gebissen. Da schwirrte ein schwarzer Schatten oder eine schwarze Wolke, nein, da schwirrten Vögel, da schwirrten diese besonderen Raben, die es in unserem Land gibt und die so sprachbegabt sind, daß sie gleich alles nachsprechen, was man ihnen sagt, und es auch behalten. Ich schätzte diese Wolke auf etwa zweihundert Vögel, ich hörte auch, wie sie nervtötend kreischten, und dann sah ich Multi Multiplikato und Professor Komplikato und den steifen Maschinenredner nicht mehr, sie waren verschwunden hinter der Wolke schwarzer Raben, die mit ihren Schnäbeln gegen was Hartes hackten, und da merkte ich erst, daß der Baldachin von dicken Glaswänden umschlossen war, es hörte sich schlimm an, wie die Vögel mit den Schnäbeln hackten, und ich dachte, jetzt werden die im Glaskasten vor Angst die Hosen gestrichen voll haben – ob die Maschine dafür auch programmiert ist? Jetzt erhob sich die Wolke, die schwarzen Vögel setzten sich auf den Baldachin und kreischten, und ich konnte verstehen: Friß die Birne selber, Mul, sie ist gut für Harn und Stuhl, und dann riefen sie noch etwas, aber leider konnte ich keine weiteren Sprüche verstehen. Ich war so hingerissen, daß ich mich am liebsten selbst auf den Baldachin gesetzt und mitgeschrien hätte. An Muls Gefühle, die dadurch verletzt wurden, dachte ich überhaupt nicht. Doch Mul sah nicht so aus, als ob er die Hosen voll hätte, er machte auch keinen verletzten Eindruck, er hatte plötzlich ein Mikrophon vorm Mund und bedankte sich laut für die Glückwünsche, die ihm die Vögel dargebracht hätten, das wäre eine gute Idee gewesen, und er wäre sehr gerührt, er würde demjenigen, der ihm den nachweise, der die entzückende4dee gehabt hätte, belohnen, und nunmehr sei die Feier beendet.
In dem Moment hörte ich einen Ton, als ob einer auf einem großen Schlüssel pfeift, und sah die Vögel abschwirren. Die Leute trollten sich, und in dem kleinen Gedränge entdeckte ich plötzlich zwei grüne Augen, die so eng standen, daß es aussah, als ob sie schielten, das Mädchen, zu dem sie gehörten, hatte zwei lange schwarze Zöpfe und über den Kopf gestülpt einen Hut, hinter dessen Krempe sie das Gesicht gleich wieder versteckte. An ihrem Arm baumelte eine schäbige Einkaufstasche, und ich sah, wie sie da schnell einen schwarzen Federklumpen reinsteckte, nämlich einen von diesen Vögeln, und dann verschwand sie. Einmal sah ich sie noch ganz am Bildrand, ihre Augen steckten jetzt hinter einer schwarzen Brille. Ich ließ mir sofort noch eine Portion Erdbeeren mit Sahne kommen, obwohl mein Magen schon anfing sich zu drehen. Zu deinem Gedächtnis, Mädchen! Am liebsten hätte ich sie angesprochen oder ihr zugerufen: Ich verstehe dich, Mädchen, aber es war keine Bildtelefonsendung, und besser war es auch, daß ich sie nicht aufhielt. Sie hatte sich da etwas Ähnliches geleistet wie ich mit den Affen. Wir beide sind geistesverwandt, hätte ich gern zu ihr gesagt, und ich hätte mich von ihr bis auf die Haut ausfragen lassen. Ich war ganz sicher, daß sie das Mädchen unter dem Refrigeratiotisch war, obwohl sie bei der Geburtstagsfeier eben eine Hose aus grauem Plast und ein graues Plastblouson und die kindischen Zöpfe getragen hatte.
Kapitel 5 Am Abend vor meinem Antritt bei Multi Multiplikato arbeitete sich das Reinigungskabinett ab, mich auf Hochglanz zu bringen. Ich hatte schon Angst, die Maschinen würden mir alles abschnippeln, nicht bloß Haare und Nägel, der Duft, der auf mich ausgegossen wurde, betäubte mich, der neue Anzug, der neben meinem Bett bereitlag, war weiß, hellblaue Tressen liefen an den Schultern, Ärmelrändern, Hosenbeinen entlang, die weißen Schuhe hatten dicke silberne Luftkissensohlen, auf denen ich einige Zentimeter größer wirkte. Als ich mich zum letztenmal in mein Bett legte, bat mich die größte und komplizierteste teuerste Maschine, ich sollte freundlich an sie zurückdenken, sie hätte es nur gut mit mir gemeint, sie sei nur für mich dagewesen, ich sollte in dieser letzten Nacht etwas Schönes träumen, damit ich froher Stimmung zu Multi Multiplikato ginge, dort sollte ich mich anständig benehmen und verschiedene Ausdrücke nicht benutzen, die ich im Laufe meines Aufenthalts in der Kybernetischen Akademie benutzt hatte, trotzdem sollte ich mich ungezwungen benehmen, aber ich sollte Multi Multiplikato nicht widersprechen, wenn er es nicht ausdrücklich verlangte, ich sollte natürlich sein, das hätte er am liebsten. Morgens wachte ich sehr früh auf, ich dachte, es kann nicht wahr sein, daß du heute rauskommst, drei Jahre lang hast du im Kasten gesessen. Es kam mir vor, als ob ich mein ganzes Leben drin zugebracht hätte, nun sollte ich so etwas wie frei werden, ich hielt den Großen Zauberer für den freiesten Mann im ganzen Land, weil er über alles bestimmte, und wenn ich ihm dabei half, mußte ich beinah ebenso frei sein wie er. Ich kriegte einen Schreck, als die Zimmerdecke aufklappte und jemand runtersauste und direkt auf mein Bett fiel, aber nicht der Professor, sondern das Mädchen Naida aus dem Refrigeratio, das an Multiplikatos Geburtstag die schwarzen Vögel losgeschickt hatte. Sein grauer Plastanzug war an den Nähten ein bißchen geplatzt, sonst sah er flott aus, besonders gefiel mir Naidas rote Umhängetasche, da war ein Knopf dran, den konnte man als Spiegel benutzen. Naida sagte, nun sei mal nicht böse, Oliver Input, daß ich so bei dir einbreche, es ging leider nicht sanfter, ich habe auch nicht vermutet, daß ich genau auf deinem Bett landen würde, obwohl es für mich natürlich günstig war. Mir scheint, du willst mich abholen, es ist mir viel lieber, von dir als von Komplikato geholt zu werden, ich wäre damals auch gern mit dir unter dem Tisch im Refrigeratio geblieben. Sie zog einen Malkasten aus ihrer Tasche und malte ihr Gesicht zu einem Mondgesicht von der Birnenreklame um, sie kämmte ihr schweres Haar zurück,
und an die Ohren hängte sie diese roten Ringe für bissige Babys. Ich finde die Aufmachung selbst nicht geschmackvoll, sagte Naida, ich hoffe, du auch nicht, ich befinde mich aber in einer Lage, die mit gutem Geschmack nichts zu tun hat, ich werde verfolgt. Das machte mich traurig. Sie sagte, sie sei es gewöhnt, verfolgt zu werden. Ich möchte dich bitten, Input, mich hierzubehalten, bis die Luft draußen rein ist. Ach, so ein Mist, sagte ich, wenn ich mich im letzten Kabinett nicht so am Riemen gerissen hätte, könnten wir jetzt eine schöne Zeit hier verbringen, Erdbeeren mit Schlagsahne gibt es hier auch. Mich befiel wieder die Sucht, hemmungslos von mir zu sprechen. Ich erzählte Naida, wie ich die Affen aus dem Urwald in die Schule gelockt hatte, sie lächelte mit ihrem breitgepinselten Mund, ich fühlte mich gleich gehoben. Selbstverständlich kannst du bleiben, solange du willst, deine Vögel haben mir gut gefallen, sehr gut, Naida, sie gefallen mir beinah noch besser als meine Affen. Ach, Input, Input, sagte sie kläglich, das war eine alberne Spielerei, so was soll man nicht machen, die Wirkung steht in keinem Verhältnis zum Risiko, ich mache so was nicht wieder. Ich fand es wunderschön, sagte ich. Nein, sagte sie, das war kindisch, das war ein Fehler. Mir kommen öfter solche Ideen, ich will sie dann unbedingt ausführen, das ist so ein Spieltrieb bei mir, den muß ich mir abgewöhnen. Wenn ich nicht deine Adresse gewußt hätte, wäre ich jetzt schon vom Weißen Blitz überfahren. Und du wolltest nicht glauben, daß es die Kybernetische Akademie gibt. Ich fand sie trotz der mondgesichtigen Aufmachung echt, jetzt konnte ich wenigstens ihr Gesicht sehen, wenn es auch nicht ihr richtiges war. Ich war so gerührt über ihre Traurigkeit, daß ich anfing, das Gesicht mit meiner Nase und meinem Mund zu umkreisen. Wie bist du bloß reingekommen? Möglicherweise mit einer Leiter, sagte Naida, möglicherweise aus der Luft. Von einem Schmetterlingsflügler? Es wäre freundlich, wenn du nicht fragen würdest, und falls du jetzt nicht mehr
schlafen willst, wäre es freundlich von dir, wenn du mich eine Weile ins Bett lassen würdest, vielleicht für drei bis vier Stunden, ich bin sehr erschöpft. In einer Stunde wird es schon in die Wand gezogen, ich bin den letzten Tag hier, der Mul empfängt mich noch heute, damit ich bei ihm die wichtige Aufgabe übernehme. Du nennst ihn Mul? Natürlich, sagte ich, du nennst ihn auch Mul. Das waren die Vögel, aber du solltest ihn nicht Mul nennen. Wenn ich ihn Mul nennen würde, wäre nichts dabei, ich kann ihn nicht leiden, ich bin gegen ihn, ich ärgere ihn, wo ich kann, aber du nimmst von ihm einen Posten an, da darfst du nicht Mul sagen, das wäre inkonsequent. Ich nehme den Posten ja nicht freiwillig an, da werde ich hoffentlich Mul sagen können, wenn es mir paßt. Nein, Input, du kannst nicht tun, was dir paßt, aber beruhige dich, ich kann es jetzt auch nicht, ich muß in diesem Kasten sein. Ob ich nicht tun kann, was mir paßt, ist eine andere Frage, wahr ist, daß ich bloß noch zwei Stunden hier bin, was machst du dann, ich weiß nicht, ob die Küche noch programmiert ist, ob die Akademie nicht automatisch einschläft, sobald ich raus bin. Dann gehst du hier ein. Und wenn sie einer neu programmieren würde? Dann müßtest du mindestens drei Jahre lang hier drin mathematische Aufgaben knacken, wenn du keinen angeborenen Nerv für Mathematik besitzt, vielleicht sogar sechs oder sieben. Vielleicht auch bloß ein halbes Jahr. Bist du so eine scharfe Mathematikerin? Wer programmiert diesen Kasten neu? Vielleicht könnte ich es, wenn ich bei Multiplikato den Posten habe. Also, sagte Naida, die Akademie müßte so programmiert werden, daß ich höchstens eine Woche hier zubringe, die Aufgaben müßten schon gelöst sein, ich würde nur durch Knopfdruck mein Einverständnis geben und damit das Sy-
stem weiter bewegen, auf diese Weise könnte ich an einem Tag darstellende Geometrie Trigonometrie analytische Geometrie, Differentialrechnung schaffen. Das ist eine umwerfende Idee, Naida, die hätte ich haben müssen. Aber du hättest auch einen haben müssen, der dir das so programmiert, ich habe dich, du hattest keinen. Bist du so sicher, daß du mich hast? Verstehst du was von Maschinen? Nein, sagte sie, und eine scharfe Mathematikerin bin ich auch nicht. Du spielst sicher Schach. Ja, Input, ich spiele Schach, aber es kommt nicht drauf an, wie lange man in einem Kasten Mathematik paukt und was für Noten man dafür kriegt, man muß öfter mal eine Idee haben, sonst nützt einem die ganze Mathematik nichts, ich könnte hier zur Not drei Tage ohne Essen aushalten, aber dann müßte sich diese Akademie in Bewegung setzen, Oliver Input, darauf müßte ich mich verlassen können. Selbstverständlich kannst du dich auf mich verlassen, aber so sicher war ich mir nicht. Ich sah Naida bereits verhungert im Kabinett liegen. Gleich ist Komplikato mit dem Schmetterlingsflügler hier, der nimmt dich mit, unterwegs setzen wir dich an einem Ort ab, den du vorschlägst. Im Moment weiß ich keinen Ort, den ich vorschlagen möchte. Ob Komplikato sicher ist, ist nicht so wichtig, aber der Pilot? Ist eine Maschine, guckt bloß nach vorn, wir weisen ihn entsprechend an. Nein, Input, ich möchte hierbleiben, aber vorher mußt du mir noch die Frage beantworten, warum du bereit bist, mich zu verstecken. Denke bitte sehr genau nach. Das Ding mit den Vögeln hat mir gefallen: Friß die Birne selber, Mul. Und es hat mir unter dem Tisch im Refrigeratio so gut gefallen, ich kann den Duft unter diesem Tisch nicht vergessen, und wie du mir die Schuhe ausgezogen hast, vergesse ich auch nie. Kannst du dir denken, warum ich das mit den Vögeln gemacht habe? Du hast dich gelangweilt, wie ich in der Schule von Vitagam. Integral scheint stinklangweilig zu sein.
Aus Langeweile also, mein armer Input. Na, etwa nicht? Ich kann Mul nicht ausstehen, und du wirst sein Mitarbeiter. Das führe dir mal vor Augen. Du hilfst mir, weil du dich langweilst? Eine vernünftige Grundlage für eine edle Tat, wir sind verwandte Geister, Naida. Sie zog eine zweifelnde Miene. Natürlich willst du für deine edle Tat etwas haben. Was soll es sein? Ich war beleidigt, nichts, überhaupt nichts. Wenn du mir schon etwas geben willst, gib mir einen Kuß. Naida war im Begriff mich zu küssen, als über der Decke sich Flügelschlag lästig bemerkbar machte. Ich warf die Bettdecke über Naida, hoffentlich klappte das Bett jetzt nicht in die Wand, es war schon die Zeit, wo es jede Minute verschwinden mußte. Wenn ich drauf liege, sagte Naida, verschwindet es nicht. Ich steckte den Kopf zu ihr unter die Decke, ich bleibe bei dir, Naida. Aber, Input, es ist doch besser, wenn ich draußen jemanden habe, ich verlasse mich auf dich. In diesem Augenblick brach mit seinen langen weißen Füßen der lästige Komplikato durch die Decke des Kabinetts. Wir sind drei Minuten im Rückstand, ich komme nicht erst runter, schläfst du etwa noch, Input, faß gleich meine Füße, Input, in sieben Minuten müssen wir in Multi Multiplikatos Haus in der Lorbeerstraße erscheinen. Du mußt gehen, Input, den Kuß heben wir uns für später auf, wenn ich dir schon einen gebe, soll es ein richtiger sein. Im Schmetterlingsflügler setzte Komplikato die Brille ab und sah mich eindringlich an, ich bitte dich, Input, wenn du für Multiplikato arbeitest, sei ganz Oliver Input, und eins möchte ich dir heute anläßlich deiner Entlassung verraten, ich habe dich damals aus Vitagam mitgenommen, weil du mir unheimlich gefallen hast, weil ich große Hoffnungen auf dich setze, ich glaube, du könntest viel Gutes für unser Land erreichen, verstehst du, für unser Land.
Ich spürte noch immer Naidas Atem, und ich ahnte etwas von dem verlorenen Kuß. Vor Enttäuschung war ich nicht vollkommen bei mir.
Der Schmetterlingsflügler landete vor dem Haus in der Lorbeerstraße, das ein fünfundsiebzigstöckiges Hochhaus war, falls wir in der Schule nicht was Falsches gelernt hatten. Es war ein großer, von Fenstern gelöcherter Kasten, dreitausendsiebenhundertfünfzig Fenster, wenn die Schulinformationen stimmten, die Scheiben waren aus Spiegelglas, sie schimmerten grün, blau, violett, rosa. Durchgucken konnte man von außen nicht. Der Kasten wirkte langweilig. Vorm Eingang lagen zwei gewaltige Felsbrocken, die laut Schule dem Diagramm-Fluß entstammten, wo er am reißendsten war, und an diese Brocken waren zwei Silberlöwen gekettet, die sich tatsächlich so verhielten, wie wir es in der Schule durchgenommen hatten, sie standen langsam auf, um uns zu begrüßen. Mich störte bloß, daß sie ihre Sonnenbrillen aus schwarzem Spiegelglas nicht abnahmen, denn es ist furchtbar, wenn man der einzige weit und breit ist, der sich in die Augen gucken lassen muß. Die Tür war übrigens so eng, daß wir uns einzeln durchzwängen mußten, außerdem sprang sie erst vor Komplikato auf, und nachdem sie ihn verschluckt hatte, vor mir. Als wir beide in der Vorhalle standen, merkte ich, daß Komplikato zitterte, sein weißer Schirm klapperte auf dem Marmorfußboden, ich fragte, soll ich ihn halten? Komplikato legte mir die Hand auf den Mund, sie war kalt und feucht, und tatsächlich konnte es einem gruselig werden in der kahlen totenstillen Halle, wo einen bloß weiße Wände ansahen. Ich zuckte zusammen, als plötzlich eine tiefe Stimme sagte, willkommen, liebe Gäste, in meinem Hause, willkommen, hochverehrter Professor Komplikato, dessen Verdienste ich zu schätzen weiß, willkommen aber vor allem mein lieber Oliver Input, dem ich zur Absolvierung der Kybernetischen Akademie von Integral von ganzem Herzen gratuliere, ich erwarte euch zu einem gemütlichen kleinen Frühstück in meiner Wohnküche, dreiundsechzigster Stock. Es klang in dieser leeren Halle schauerlich, ich dachte, hier kommst du nie wieder raus, hier ist die Endstation. Dann leuchtete eine Wand rosa, schob sich beiseite, unter unseren Füßen bewegte sich ein Transportband, wir wurden in einen Fahrstuhl gezogen, im dreiundsechzigsten Stock zog uns ein Band wieder raus, genau vor eine Stahltür, die auf Hochglanz verchromt war, die keine Klinke und keinen Drücker hatte, bloß ein grünes Katzenauge, das uns anfunkelte. So weit bin ich seit dreieinhalb Jahren nicht mehr vorgelassen worden, murmelte Komplikato, er zitterte immer noch, und ich hielt seinen Schirm schließlich fest. Ich hatte das Gefühl, daß jemand hinter uns stand, aber hinter uns, auf der gegenüberliegenden Wand des Ganges, war bloß ein großer Spiegel, jetzt sah ich erst einmal, in was für einem kindischen Anzug ich steckte. Wie ein
Kind, das zum Fasching General spielen will. Und neben mir, lang wie eine Birnenspalierstange, der Großvater, Komplikato, der es hinbringt. Die grüne Pupille leuchtete stärker, sie weitete sich, wurde noch heller, die Tür schob sich auf, und das Transportband beförderte uns mitten in die Wohnküche von Multi Multiplikato. Die Wohnküche meiner Großmutter war mindestens zwanzigmal kleiner und vollgestopft mit einem großen Herd, einem Schrank, einer Liege, mehreren Korbstühlen, einem Radio und allen Utensilien zum Waschen und Zähneputzen, ganz abgesehen von den alten Klamotten, die an verschiedenen Haken hingen. In der Wohnküche des Großen Zauberers war eigentlich nichts, die Wände schienen unregelmäßig gekachelt, ab und zu saßen auf den Kacheln Knöpfe, von denen manche leuchteten und manche nicht. Eine Lampe, wie bei meiner Groß-
mutter, die man über den Tisch runterziehen kann, hing nicht, es war so hell wie in meinen mathematischen Kabinetten, der Fußboden weiß belegt, als ob Schnee gefallen wäre (der in unserem Land nur in den höchsten Höhen vorkommt). In einer Ecke am Fenster, das mit goldenem Leder verhängt war, standen zwei klotzige goldene Sessel und ein klotziger Tisch mit einer goldenen Lederdecke und dahinter eine Bank, bespannt mit goldenem Leder und besetzt mit Edelsteinen. Und von dieser Wohnküchenbank guckte uns Multi Multiplikato mit gleichgültiger Miene an. Er steckte in einem Pullover aus Goldwolle und in goldenen Hosen, er hatte wieder die teure Brille auf, wie an seinem Geburtstag, aber als wir nah dran waren, nahm er sie ab und sagte zu Komplikato, nehmen Sie auch die Brille ab, hier trägt jeder sein eigenes Gesicht, Sie sehen doch, daß Oliver Input auch keine Brille trägt, es wäre taktlos, wenn wir sie nicht absetzen würden. Multi Multiplikato hatte braune Augen wie der Professor, ein bißchen mit Gold gepunktet, aber hauptsächlich, braun, und wenn mich Leute mit braunen Augen ansehen, kann ich ihnen nichts abschlagen, braune Augen sind meine Schwäche. Nimm Platz, lieber Input, wir wollen frühstücken, worauf hast du Appetit? Auf alles, bloß nicht auf Birne. Und warum nicht? Ich hab sie mir übergegessen, und sie macht auch müde, man wird stumpfsinnig, wenn man sie dauernd ißt. Das mußt du mir näher erklären, Oliver Input. Na ja, man wird eine richtige trübe Tasse, es fällt einem nichts mehr ein, man denkt bloß noch an das Mostonic-Zentrum. Aber du weißt doch sicher, daß wir die Birne mit großem Erfolg exportieren. Die Leute im Ausland essen sie aber nicht jeden Tag, ich glaube auch nicht, daß sie sie morgen vorm Unterricht rhythmisch kauen. In geringen Mengen ist die Birne vielleicht gesund, beruhigt die Nerven, aber uns macht sie bescheuert, weil wir zuviel davon kriegen. Nun, Input, sagte Professor Komplikato, vielleicht solltest du dich etwas kürzer fassen. Er soll sich aussprechen, sagte Multi Multiplikato, ich finde es sehr interessant,
was er mir über die Wirkungsweise der Birne sagt, sehr gut beobachtet. Ich will dir gestehen, mein lieber Input, ich selbst esse die Birne auch nicht, ich hätte sie nur auf deinen ausdrücklichsten Wunsch auf den Tisch bringen lassen, und auch nur an diesem ersten Tag, ich habe bezüglich der Birne die gleichen Feststellungen getroffen. Du und ich, wir sind einer Meinung, aber für meine sonstigen Menschen, die ich ja auch noch ernähren muß und die sich nicht unnötig aufregen sollen, ist die Birne die geeignete Kost, vielleicht möchtest du Erdbeeren mit Schlagsahne essen. Das hätte er nicht sagen dürfen, ich mußte gleich an das Mädchen im Kasten denken, wie kriege ich die da raus. Ich wollte nicht ihr Lieblingsessen, aber Multi Multiplikato sah mich mit seinen braunen Augen an. Erdbeeren mit Schlagsahne. Das Mädchen hat grüne Augen, die stehen so eng zusammen, daß es aussieht, als ob es schielt, es hat grüne Augen, und trotzdem konnte ich diesem Mädchen nichts abschlagen, es hatte mich schon im Refrigeratio nach Strich und Faden ausfragen können, ich kann also braunen und grünen Augen nichts abschlagen, meine eigenen sind grau, ob es Leute gab, die mir auch nichts abschlagen konnten? Das Essen fuhr übrigens aus der Wand auf den Tisch. Wenn wenigstens im Kasten auch noch ein bißchen was aus der Wand käme, und wenn es bloß ein übriggebliebenes rohes Ei oder ein bißchen Mehl oder ein Tütchen Bratöl wäre. Je mehr ich von den Erdbeeren mit Schlagsahne futterte, desto schäbiger kam ich mir gegenüber Naida vor Der Große Zauberer Multiplikato klopfte meine Backe, die ein bißchen mit Sahne beschmiert war. Er fragte, wie es mir in der Kybernetischen Akademie gefallen hätte. Eigentlich schlecht. Du hast doch da eine Menge gelernt. Das schon, aber ich konnte nicht raus, ich war auch nicht freiwillig da. Aber es ist die modernste Akademie. Das glaube ich schon. Auch die teuerste, sagte er, ich habe sie, mußt du bedenken, für einen einzigen Schüler einrichten lassen. Wo gibt es das sonst noch.
Und wer wird da jetzt reingesteckt? Niemand, mein lieber Input, sie hat ihren Zweck erfüllt, mehr als einen Absolventen brauche ich nicht. Aber ich könnte zum Beispiel krank werden und die Aufgaben nicht lösen können, die Sie mir stellen. Du wirst bei mir medizinisch von der modernsten Maschine betreut. Ich könnte trotzdem krank werden und sogar sterben. Das wäre sehr traurig, ich wäre dann natürlich gezwungen, einen neuen Jungen mathematisch bilden zu lassen. Trotzdem hat die Akademie, wie sie jetzt ist, ihren Zweck erfüllt, ich werde sie abmontieren und ins Ausland verkaufen. Aber wenn ich nun wirklich sterbe oder wenn ich plötzlich verblöde, ich habe als kleines Kind schrecklich viel Birnen gefuttert. Du hast recht, Oliver Input, und ich finde es gut, daß du dir solche Gedanken machst, ich finde das nicht nur sehr intelligent, sondern weise vorausschauend, das freut mich sehr, aber wenn wirklich so ein trauriger Fall eintreten sollte, kann ich mir schnell wieder eine neue Akademie einrichten, im Augenblick brauche ich dringend Geld, um neue Maschinen zu kaufen, und darum wird die Akademie schon in den nächsten Tagen demontiert und verpackt. Ein bißchen hänge ich doch an ihr, sagte ich, und wenn ich morgen schon sterbe, was machen Sie dann? Denk doch nicht an den Tod, hier wollen wir vom Tod überhaupt nicht sprechen, sagte Multi Multiplikato. Ich wollte sagen, wenn ich Ihnen nun schon ein Mädchen ausgesucht hätte, das bereits in der Akademie sitzt und sich ausbilden lassen will, damit im Notfall Ersatz für mich da ist, aber ich hielt den Mund. Ich fragte Komplikato, was er dazu meine, daß die Akademie verkauft werden sollte. Er sagte, es ist bedauerlich, aber ökonomisch notwendig. Aber meinen Sie nicht, daß es leichtsinnig ist, für diese höheren Aufgaben, die ich hier lösen soll, bloß einen einzigen Mann auszubilden? Multi Multiplikato weiß, was er tut.
Sehr weise bemerkt, sagte der Landesvater, haben Sie Ihren Kaffee getrunken, Professor, es hat mich sehr gefreut. Ich dachte, ich sehe nicht richtig, der Sesselsitz hob sich, und Komplikato in seinem weißen Anzug und mit seinem weißen Schirm in der zittrigen Hand stand plötzlich auf dem Transportband. Es hat mich wirklich außerordentlich gefreut, sagte Multi Multiplikato, die Tür schob sich auf, der Professor glitt auf sie zu. Darf ich ihn rausbringen? fragte ich. Aber Multiplikato sagte, der findet allein raus. Bloß ein kleines Stück, er war schließlich mein Entführer. Nein, Input, ich möchte das nicht. An sich sah es ulkig aus, wie der weiße Mann einfach abgefahren wurde, aber ich konnte nicht lachen, ich dachte an Naida, ich sagte rasch, soll er die Akademie verpacken? Die ist so modern, daß sie sich selber verpacken kann. Was interessiert dich überhaupt diese Akademie, ich werde dir hier Maschinen zeigen, wie du sie noch nie gesehen hast, das ganze Haus ist voller Maschinen. Komplikato stand bereits in der Tür, er verneigte sich traurig, ich rief, besuchen Sie uns bald wieder, er fuhr schon auf den Gang. Den brauchen wir nicht mehr, sagte Multiplikato zu mir, er tatschte mir wieder die Backe, willst du mich nicht Papa nennen, mein Junge? Ich war schockiert. Ich habe ja schon einen Vater. Ich bin aber dein Landesvater, also hast du zwei Väter. Ich mußte an den alten Baum in unserem Garten denken, von dem ich die alkoholisierten Birnen gepflückt hatte und von dem ich die letzte, ganz oben, nicht abgenommen hatte, obwohl es mein Vater so dringend wollte, und bei meinem neuen Vater sollte ich auch die allerhöchsten Aufgaben lösen. Ich möchte jetzt die Maschinen sehen. Dahinter setze ich, um Multiplikato nicht sauer zu stimmen, Papa.
Kapitel 6 Multiplikato fuhr mit mir durch sämtliche fünfundsiebzig Stockwerke. Jede Tür, an der wir mit dem Transportband vorbeikamen, öffnete sich, ich sah Maschinen, die leise schnarchten oder still vor sich hin arbeiteten und hin und wieder mit bunten Knopfaugen blinzelten. Multiplikato sagte, mir ist klar, daß du nicht behalten kannst, was in den einzelnen Räumen arbeitet, dafür habe ich eine Maschine, die das Ganze hier überblickt und koordiniert und dir genau sagen kann, was in dem und dem Zimmer ist, ich möchte nur, daß du den Eindruck der fünfundsiebzig Stockwerke voller Maschinen erlebst. Mich beeindruckt das immer sehr stark, ich bin schon oft, wenn ich mich nicht ganz wohl fühlte, durch die Stockwerke gefahren, habe vor mir die Türen aufgehen lassen, mir meine Maschinen angesehen, wie sie in ihrer stillen zuverlässigen Art ihr Programm abarbeiten, danach ging es mir wieder gut, ich fühlte mich irgendwie moralisch gestärkt, falls du das verstehst, mein Junge, vielleicht wird es dir auch mal so gehen, daß du entmutigt vor einer Aufgabe stehst, dann empfehle ich dir, fahre durch diese fünfundsiebzig Stockwerke, laß die Türen vor dir aufgehen und wirf einen Blick auf die Maschinen, es geht von ihnen eine Kraft aus, das wirst du noch empfinden. Ich fragte, in welchem Stockwerk sind wir jetzt? Ich glaube im vierundsiebzigsten. Fahren wir auch ins fünfundsiebzigste? Natürlich, du mußt von dort unbedingt einen Blick über die Stadt werfen. Oben, im letzten Stockwerk, fiel das Tageslicht durch ein Glasdach, auch die Außenwände waren aus Glas. Von draußen undurchsichtig, sagte Multiplikato, schau dir alles genau an, das Refrigeratio, den Diagramm-Fluß mit seinen Buchten, dahinten, sagte er, liegt die Kybernetische Akademie. Ich konnte die Aluminiumtorte erkennen, ringsherum große leere Plätze, eine öde Gegend. Wie kriege ich bloß das Mädchen raus? Das ganze Pauken nützt dir nichts, Oliver Input, eine Idee muß man haben. Als ob ich nicht schon öfter eine Idee gehabt hätte, ich werde jetzt auch wieder eine haben, schlimm ist bloß, daß ich sie schnell haben muß. Ich würde furchtbar gern zusehen, wenn die Kybernetische Akademie sich sel-
ber verpackt, sagte ich. Das darfst du, mein Junge, von hier aus hast du den besten Blick. Aber es ist so entfernt, ich sehe die einzelnen Operationen nicht genau. Du nimmst natürlich ein Fernrohr. Da sehe ich wieder nur bestimmte Ausschnitte. Ja, dann, sagte er, bleibt dir nichts anderes übrig, als eins von den Televisionsgeräten zu nehmen, ich dachte nur, daß du es gerne mit eignen Augen, also direkt vom fünfundsiebzigsten Stockwerk aus sehen wolltest, weil es so ein origineller Anblick sein könnte, aber wenn du Einzelheiten verfolgen willst, brauchst du Television. Ich sagte, da sieht man alles so schattenhaft und auch nur unter einem bestimmten Winkel, man ist nicht richtig dabei, finde ich. Aber meine Geräte hier oben sind die schärfsten im ganzen Land, du kannst jedes Schräubchen und jeden Draht erkennen. Ach, Papa. vielleicht hältst du mich für gefühlsduselig, aber ich möchte noch mal die Sachen anfassen, mit denen ich in den Kabinetten zusammen war, zum Beispiel den struppigen grauen Teppich und die Knopftasten und den Tisch mit der Leuchtplatte, ich war da drei lange Jahre, und plötzlich verpackt sich das alles und ist nicht mehr da. Aber Input, dir hat es doch in der Akademie, wie du mir vorhin erklärt hast, gar nicht gefallen, du warst ungern dort. Wie soll ich es erklären, sagte ich, da ist eben etwas drin geblieben, was zu mir selbst gehört, es klang mir beinah zu kitschig. Multiplikato fragte: Hast du etwas drin liegen lassen? Das wird nicht mit eingepackt. Was nicht zum ursprünglichen Inventar gehört, bleibt zurück. Ist es eine Uhr, aber ich sehe, du hast deine um, was ist es denn, Input? Ach, sagte ich, es sind andere Werte, wie soll ich es ausdrücken, es ist ein Gefühl. Er sah mich mit seinen braunen goldgepunkteten Augen freundlich an, mein kleiner Input, ein Gefühl bleibt zurück, es wird nicht mit eingepackt, da brauchst du keine Angst zu haben, aber du sollst dich so einem Gefühl nicht zu lange hingeben. Sieh mal, jetzt bist du hier zu Hause, bei mir, und wenn dieses Gefühl
kommt, fährst du eben durch sämtliche Stockwerke und läßt die Türen vor dir aufgehen und siehst die Maschinen in ihrer leisen geschäftigen Art das Programm abarbeiten, du denkst, der einzige außer Multi Multiplikato, der mit diesen hochzuverlässigen Systemen, den zuverlässigsten im ganzen Land, in engstem Kontakt steht, bin ich, Oliver Input, und das Gefühl, das dich mit deiner alten Akademie verbindet, wird auf diese Maschinen übergehen. Aber ich würde wenigstens gern von den Sachen Abschied nehmen, einfach so, es ist vielleicht dumm, aber ich möchte es, als Komplikato mich holte, ging alles so schnell. Hast du von deinen Sachen in Vitagam Abschied genommen? Nein, da ging es auch so schnell, ich habe gerade noch vom Pfeilflügler aus unseren Birnbaum gesehen. Siehst du, sagte Multiplikato, und in Vitagam ließest du immerhin Vater und Mutter zurück, möglicherweise auch einen Freund, aber was läßt du in der Akademie zurück? Gegenstände. Obwohl ich einräume, daß es sich um eine der teuersten kompliziertesten größten Maschinen im ganzen Land handelt, daß eine Maschine im allgemeinen einen höheren Wert besitzt als ein Mensch, wenn man den Grad ihrer Zuverlässigkeit mit dem Grad der Zuverlässigkeit eines Menschen vergleicht, auch ihre Arbeitsintensität ist höher, sie ist teurer als ein Mensch, oft sehr viel sauberer taktvoller wahrheitsliebender leiser. Nun das weißt du selbst, ich kann mir durchaus denken, daß man an einer Maschine mehr hängen kann als an einem Menschen, meine Maschinen hier sind meine besten und intimsten Freunde, ich habe sonst keine, und wenn eine entzweiginge, würde ich körperliche und auch seelische Schmerzen empfinden. Trotzdem, lieber Input, solltest du jetzt nicht rückwärts blicken, die Akademie ist für dich ein abgeschlossenes Kapitel, ich hätte sie dir gar nicht mehr zeigen sollen. Jetzt stehen neue Aufgaben vor dir, auf die sollst du dich ohne Verzögerung konzentrieren, und darum möchte ich nicht, daß du noch mal zu diesem Lernkasten gehst, ich möchte es auch wegen deines seelischen Gleichgewichts nicht. Er faßte mich an den Schultern und drehte mich um, und wir fuhren den Gang wieder zurück. Ich dachte, es hat keinen Zweck, wegen der Akademie zu quengeln, ich muß mir was anderes einfallen lassen, ich sagte, also jetzt haben wir beinah dreitausendfünfhundert Türen aufgehen sehen, ich bin umgehauen, wirklich, Papa, und ich guckte in die nächsten Räume, als ob es mich wer weiß wie interessierte, was darin schnarchte oder leise klingelte, mein Genick tat schon vom vielen Reingucken weh. Plötzlich ging eine Tür nicht auf, das Transportband ruckte ein bißchen, fuhr aber weiter. Warum geht die nicht auf, fragte ich, ist was kaputt?
Durchaus nicht, aber da ist nichts Besonderes drin. Also das Klo, oder ist das nicht vornehm genug ausgedrückt? Nein, sagte er, eine Toilette ist es nicht, wozu braucht man hier oben eine Toilette, das gehört ja auch zu den Vorzügen der Maschine, daß sie nicht dauernd unappetitliche Produkte absondert wie der Mensch. Du wirst zugeben, daß der Mensch einen nennenswerten Teil seiner Zeit darauf verwendet, um seine inneren Abfälle zu beseitigen, der Mensch ist nicht sehr rationell eingerichtet, das läßt sich nicht leugnen, Input, der Mensch, Input… Und was ist hinter der Tür? Nichts Besonderes. An seinem gleichgültigen Ton ich, daß etwas sehr Besonderes dahinter sein Ich würde es trotzdem ganz gerne sehen, sagte ich. Also, das wäre für dich nicht interessant, mein Junge, wirklich, du hättest nichts davon, es ist einfach ein Raum wie alle die Räume, die du gesehen hast, du würdest da nichts anderes wahrnehmen als das Übliche. Warum ist die Tür dann zu, wenn sie nicht kaputt ist und nichts Besonderes hinter ihr steckt? Weil sie eben zu ist. Das ist keine Antwort, Papa. Weil etwas so ist, ist es nicht so, sondern etwas ist so, weil es so geworden ist, es muß dafür Gründe geben, daß es so ist, und wenn es so ist, muß es nicht so bleiben. Du bist ein kluger Junge, sagte Multiplikato angesäuert, ein sehr kluger Junge sogar. Weil du so klug bist, will ich dir auch verraten, warum diese Tür verschlossen ist, warum sie nicht aufgemacht wird. Es ist die einzige Tür, die wir nicht aufgemacht haben, rief ich dazwischen. Ja, sagte er, und du wirst sie auch nicht aufmachen, der einzige, der sie überhaupt aufmacht, bin ich. Hinter dieser Tür befindet sich nämlich ein Raum, in den ich mich hin und wieder zurückziehe, wenn ich allein sein möchte. Du wirst sicher verstehen, daß auch ein Mensch, der unter Maschinen lebt, einmal für sich allein sein will. So lieb du mir jetzt schon geworden bist, Input, ich würde ab und zu gerne auf deine Gesellschaft verzichten und mich in diesen Raum zu-
rückziehen, ich bitte dich, das zu respektieren, weder durch Klopfen noch durch weitere Fragen an diese meine Intimsphäre zu tasten, dieser Raum ist für dich tabu, weiter sage ich nichts. Und was ist drin, fragte ich, bloß so in groben Zügen, ich meine, ist da ein Sofa drin, oder ein Schwimmbad oder so was. Es ist nichts Besonderes drin, wenn nicht gerade ich mich drin aufhalte, sagte Multiplikato, jetzt möchte ich nicht mehr darüber sprechen, ich denke, du bist ein taktvoller Junge. Ja, sagte ich, ich verstehe, daß der Mensch mal allein sein will, darum möchte ich auch so ein Zimmer, das für dich tabu ist. Der Vorschlag schmeckte ihm nicht, aber er sagte, darüber wird sich später reden lassen, jetzt möchte ich dir erklären, was du bei mir tun sollst. Wir fuhren in die Wohnküche zurück, wo Multiplikato sich eine lange Silberzigarre aus der Wand reichen ließ, die schönen blauen Nebel erzeugte. Du kriegst keine, Input für dich ist Kaugummi da. Der Nebel machte mich fast besoffen, ich sah gerade noch Multiplikatos goldgepunktete Augen, das übrige Gesicht verschwamm. Oliver Input, mein Sohn, du bis als einziges menschliches Wesen im ganzen Land von mir dazu ausersehen, für meine Maschinen zu sorgen, für ihre Gesundheit, dafür, daß sie die Aufgaben, die ich ihnen stelle, in geeigneter Form übertragen bekommen, dafür, daß sie lernen, neue Aufgaben zu übernehmen, die sie vorher nicht kannten, dafür, daß sie durch neue Maschinen, die noch intelligenter, noch zuverlässiger sind als die jetzigen, ergänzt werden, dafür, daß nach meinen Plänen und den Berechnungen meiner Maschinen unser ganzes Land vollständig von Maschinen gelenkt und bewirtschaftet wird und keinerlei Arbeit mehr durch Menschenhand erniedrigt zu werden braucht. Ich mußte diese Aufgaben, die du jetzt übernimmst, vorher allen möglichen Menschen, Handwerkern und auch Wissenschaftlern, Ingenieuren, Datenverarbeitern, Programmierern und dergleichen unzuverlässigem Volk anvertrauen, ich hatte auch zeitweilig meine Weißeingekleideten, aber jetzt bin ich so weit, daß für mich Paladine arbeiten, die ausschließlich Maschinen sind, ich bin auch fast so weit, daß ich auf Zubringerdienste von Menschen verzichten kann, zumindest in diesem Haus, ich brauchte ab und zu noch ein paar Reparateure, aber jetzt wirst deren Aufgabe du übernehmen, im Land selbst sieht es augenblicklich noch nicht so gut aus, aber ich denke, du wirst es schaffen. Und was macht der Professor Komplikato?
Er hat seine Verdienste, aber er ist mir etwas zu trottelig geworden, ich möchte auf ihn verzichten, ich habe außerdem das unangenehme Gefühl, daß er nicht zuverlässig ist. Er ist ja ein Mensch, sagte ich, und ich bin auch ein Mensch, also bin ich auch unzuverlässig, darüber bist du dir hoffentlich klar. Ich glaube nicht, daß du so unzuverlässig bist wie der alte Komplikato, du bist jahrelang von einer hochorganisierten Maschine erzogen worden, bist in diesen entscheidenden Jahren so gut wie gar nicht mit Menschen zusammengekommen. Wenn vielleicht im Moment deine Zuverlässigkeit hinter der meiner Maschinen zurückbleibt, bin ich doch sicher, daß die Atmosphäre der Zuverlässigkeit, in der du von jetzt ab leben wirst, auf dich einwirkt. Die Maschinen werden dich allmählich zu ihrem Niveau hinauf entwickeln, du wirst ihnen immer ähnlicher
werden, davon bin ich fest überzeugt. Aber wenn ich ihnen immer ähnlicher werden soll, konntest du dir doch gleich eine Maschine nehmen. Mein lieber Sohn, da du so klug bist, wird dir auch nicht entgangen sein, daß die Maschinen zwar zuverlässiger sind als der Mensch, aber heute noch tun müssen, was er will, ohne den Menschen können sie noch nicht sein, es kommt dabei eben drauf an, welcher Mensch das ist, das darf nicht irgendein Mensch sein, er muß einen hohen Grad von Zuverlässigkeit, aber auch von Intelligenz besitzen, er muß ihnen darin ähnlich sein, aber er muß gleichzeitig Mensch sein, ich möchte gar nicht, daß der Tag kommt, an dem die Maschinen ohne den Menschen sein können, ich möchte nicht unter die Herrschaft von Maschinen geraten, ich möchte der Mensch sein, der sie beherrscht. Warum nimmst du dann auch noch mich? Weil ich es allein nicht schaffe, weil du jung bist, dein Gehirn noch beweglicher ist. Ich mache mir da nichts vor, ich bin fünfundvierzig, noch nicht alt, aber nicht so entwicklungsfähig wie du, darum habe ich dich, damit du mein Gehirn unterstützt, damit du mein erweitertes menschliches Gehirn bist, wie die Maschinen mein erweitertes automatisches Gehirn sind. Aber ich könnte dich ja eines Tages hintergehen. Er war umgehauen, du bist gut, sagte er, du bist wirklich gut, aber aufs Kreuz legst du mich nicht, dafür habe ich mir eine Sicherheit geschaffen. Nun wollen wir gleich an die erste praktische Aufgabe gehen. Wie dir sicher aufgefallen ist, haben sich bei der Feier zu meinem fünfundvierzigsten Geburtstag einige schwarze Vögel lästig gemacht, aber sind darauf nicht von selbst gekommen, sie wurden angestiftet, von Menschen natürlich, es ist nicht besonders wichtig, ob da ein paar Vögel vor meinem Festbaldachin herumflattern oder nicht, darunter leiden weder meine Maschinen noch ich. Aber ich möchte nicht, daß sich gewisse Leute einbilden, weil jetzt die Maschinen die Arbeit machen, könnten sie in ihrer dauernden Freizeit geistlose Scherze veranstalten, dazu ist die Freizeit nicht da, und vielleicht ist dir auch nicht entgangen, daß diese aufgehetzten Vögel, die von sich aus so etwas nie tun würden, herabsetzende Texte über die Birne verlauten ließen. Dieses schädigt, da auch die übrige Welt televisioniert, unser Birnenexportgeschäft, und da wird es ernst, und ich bitte dich jetzt, dir etwas einfallen zu lassen, wie wir dahinterkommen können, wer die Vögel manipuliert hat, mit wem es zusammenhängt. Dir stehen in der entsprechenden Maschinenabteilung einige Daten zur Verfügung, von denen aus du vielleicht eine Gleichung oder so etwas entwickeln kannst, ich überlasse es dir, und jetzt iß anständig was, dann schläfst du ein bißchen, dann gehst du gleich an die Arbeit. Er be-
tätigte ein paar Knöpfe. Mit einemmal fühlte ich, wie mich eine unsichtbare Hand aus dem Sessel hob. Mit mir machst du das nicht, Papa, sagte ich, wenn du das machst, fällt mir nichts ein. Ich fuhr aber schon auf dem Transportband. Mir fällt ganz bestimmt nichts ein, ich bin nicht dein Komplikato, den du einfach raussetzen lassen kannst. Ich kann es, Input, im Interesse unseres Arbeitsklimas nehme ich es aber zurück. Das Band blieb stehen. Ich würde es auch nett finden, sagte ich, wenn du mich das erstemal in mein Zimmer begleiten würdest. Selbstverständlich, mein Junge. Du mußt sagen, daß du mir einen guten Schlaf wünschst und einen schönen Traum und so weiter. Er murmelte etwas Ähnliches. Du bist anspruchsvoll, sagte er, aber ich finde dich gut, du hast die Kybernetische Akademie besucht, da kannst du Ansprüche stellen. Er fragte in meinem Zimmer sogar, ob mir mein Bett gefällt und ob die Maschinenporträts an den Wänden, von Kunstmaschinen gemacht, meinem Geschmack entsprächen. Ich hätte bloß gern noch eine Maschine, die mich morgens und abends zu meinem Entschluß beglückwünscht, dieses Haus betreten zu haben, sagte ich. Man muß dich beglückwünschen, du hast recht. Kaum war er raus, setzte ich mich aufs Bett und fing an, mich mit der Aufgabe zu quälen, allerdings nicht mit der, die er mir gestellt hatte. Mir fiel aber trotz angestrengten Nachdenkens nicht ein, wie ich Naida aus der Kybernetischen Akademie befreien konnte. Zuerst dachte ich, geh einfach runter und sieh zu, daß du rauskommst, denn im Gegensatz zu meinem Lerngefängnis ließ sich meine Zimmertür ganz leicht öffnen, sie öffnete sich sogar zu leicht, nämlich, wenn ich mich in einen bestimmten Abstand vor sie stellte. Gleich fing dann auch ein Transportband zu arbeiten an, aber es trug mich vor Multiplikatos Wohnküchentür, die nicht aufging. Aus einer anderen Tür trat mein neuer Papa im Schlafanzug und fragte, kannst wohl nicht einschlafen. Ich fahre ein bißchen rum, sagte ich, dabei läßt es sich besser nachdenken, aber
ich wollte dich nicht belästigen, das Band hat mich einfach hier raufgefahren. Er erklärte mir, wie ich es schon vom Zimmer aus zu programmieren hätte. Ich fuhr ins Zimmer zurück und ließ mich in die kahle weiße Vorhalle fahren, und was ich nicht erwartete, geschah, die Haustür öffnete sich, und ich konnte mich durch den schmalen Spalt nach draußen schieben. Es war schon dunkel, ich sah die Augen der beiden Silberlöwen, die ihre Sonnenbrillen abgesetzt hatten, leuchten. Die Tiere standen aber nicht auf, als ich rauskam, und ich fühlte mich schon ganz sicher. Da packte mich eine harte Hand und zog mich durch den Spalt zurück, das Transportband fuhr mich in mein Zimmer, und aus einem kleinen Lautsprecher über dem Bett kam Multiplikatos Stimme: Wenn du an die frische Luft gehen möchtest, melde es bitte vorher an, wir beide unternehmen dann einen kleinen Ausflug in unseren Garten, du darfst da später auch allein hingehen, aber vor den Haupteingang würde ich an deiner Stelle nicht gehen. Ich fand neben dem Bett auch ein Mikrophon, und ich fragte, wer hat mich denn da zurückgerissen? Vermutlich eine kybernetische Hand, sagte Multiplikato, und ich dachte, du weißt es ganz genau, deine Vermutungen kannst du dir sparen. Ich war sehr sauer, daß er mich so behandelte, aber ich war nicht mehr so kindisch, daß ich mich einfach hinwarf und tobte, obwohl ich am liebsten das ganze Haus in Stücke gehauen hätte. Ich dachte, hier mußt du ganz intelligent vorgehen, du mußt hier sein wie eine Schlange, ich sagte es mir immer wieder, aber mir fiel trotzdem nichts ein. Als mir nun überhaupt nichts einfiel, wie ich Naida befreien konnte, geschah mit mir etwas Merkwürdiges, ich wurde nicht auf Multiplikato wütend, sondern auf das Mädchen, das mir so eine schwierige Aufgabe gestellt hatte. Was war das überhaupt für ein Mädchen, das in dem seltsamen Refrigeratio unter dem Tisch gehockt und einem Mann wie mir die Schuhe ausgezogen hatte und dann plötzlich bei mir in der Kybernetischen Akademie eingebrochen war. Schön, sie wurde verfolgt, aber war das vielleicht intelligent, schwarze Vögel bei einer Geburtstagsfeier idiotische Sprüche rufen zu lassen, da war mein Experiment mit den Affen etwas schwieriger und auch sinnvoller gewesen, es drückte mehr aus, es war mehr symbolisch. Ich hatte mit Hilfe der Affen die Schule kritisch beleuchtet, aber was beleuchtete sie, sie beleuchtete nicht, sie schimpfte. Gewiß, sie hatte zugegeben, daß ihre Aktion unsinnig war, aber im gleichen Atemzug hatte sie mir zu verstehen gegeben, daß bloßes Pauken in einer Akademie zu nichts führt. Ideen müßte man haben, das war sehr weise bemerkt, als ob ich noch nie eine Idee gehabt hätte, aber nun saß sie drin in dem Kasten, und selber hatte sie keine Idee, wie sie rauskommen sollte; wie sie reinkommen sollte, hatte sie noch gewußt, aber nun sollte der liebe Input helfen. Die Birne mag sein, wie sie will, sie bringt uns Geld, und je mehr sie ins Ausland verkauft wird, desto weniger brauchen wir sie vielleicht zu essen, das heißt, ich brauche sie überhaupt nicht zu essen. Das fand ich sympathisch von meinem neuen Vater,
daß er auf Birnen überhaupt keinen Appetit zeigte, das war immerhin eine Grundlage, auf der man zusammenarbeiten konnte. Er hätte auch ein Birnenfreund sein können, und ich hätte bei ihm dauernd Birnen futtern müssen, vielleicht solche, denen der müde machende Wirkstoff abgezüchtet wäre, aber immerhin Birnen, so schlecht war Multiplikato also gar nicht. Daß er ein Zimmer hatte, in dem er allein sein wollte, mußte man auch verstehen, er hatte zwar eine ganze Menge anderer Zimmer, die kleine Wohnküche, sein Schlafzimmer, sein Arbeitszimmer zum Beispiel. Da konnte keiner rein, der nicht rein sollte, trotzdem war zu verstehen, daß er auch noch ein besonderes Zimmer wollte, eins, in das nie ein anderer kam. Mir hatte er, wenn auch noch etwas unbestimmt, versprochen, daß ich auch so ein Zimmer erhalten würde. Daß er mich nicht aus dem Haus ließ, konnte ich ihm auch nicht übelnehmen, schließlich hatte er mich nicht von der teuersten kompliziertesten größten Maschine ausbilden und verpflegen lassen, damit ich nachts in der Hauptstadt umherirrte und womöglich von einem Auto, vielleicht sogar von einem Weißen Blitz überfahren wurde. Er sagte ja, daß er mich gern hätte, irgendeine Macke haben alle Väter, etwas müssen sie alle verbieten, dafür hängen sie aber an einem und sorgen für einen. Naida hatte meine Erdbeeren mit Sahne achtlos runtergelöffelt, sie war zwar bereit gewesen, mir einen Kuß zu geben, wenn ich sie nicht verriet. Ich wollte sie auch weiterhin nicht verraten, aber mir war überhaupt nicht verständlich, was sie wirklich wollte, und als ich ihr sagte, wir wären verwandte Geister, hatte ich übertrieben. Schwarze Vögel und Affen sind nicht dasselbe, mein Kind. Ich überlegte, wie ich Multiplikatos Aufgabe lösen sollte, und ich wurde schon wieder wütend auf sie, meine erste Aufgabe konnte ich durch ihre Schuld nicht erfüllen. Ich hätte vor meinem Vater so glänzend dastehen können, bitte schön, die Vogelanstifterin sitzt in der Akademie, wie habe ich das gemacht, aber jetzt mußte ich gleich bei der ersten Aufgabe versagen, denn es war eine widerwärtige Aufgabe. Aber wer war schuld daran, sie natürlich. Wenn sie das mit den Vögeln nicht gemacht hätte, wäre es Multiplikato nicht eingefallen, mir so eine Aufgabe zu stellen. Ich überlegte, ob ich nicht einfach zu ihm gehen sollte. Papa, so eine Aufgabe kann ich nicht übernehmen, sie liegt mir nicht. Vielleicht will er damit bloß prüfen, ob ich einer bin, der andere anschwärzt, vielleicht liegt die Lösung der Aufgabe ganz woanders, vielleicht löse ich sie am besten, wenn ich sie nicht löse, vielleicht sollte ich wirklich hingehen und erklären, die Aufgabe ist mir zu widerlich, können das deine Maschinen nicht allein besorgen, aber womöglich besorgten sie es dann so, daß es für das Mädchen so schlecht wie möglich ausging. Ich schaltete das Mikrophon ein, Papa, entschuldige, daß ich dich wecke, aber mir scheint, die Aufgabe geht nicht auf, sie ist unlösbar, solche Aufgaben gibt es nämlich. Geknurr kam aus dem Lautsprecher, hast du dich überhaupt schon mit den Daten vertraut gemacht?
Nein, sagte ich, und trotzdem geht sie nicht auf, das heißt, bei mir nicht, ich habe zwar die Affen in die Schule gelockt, mit alkoholisierter Birnenmarmelade, dreihundert Affen, direkt aus dem Urwald, und der Oberaffe führte sie an, aber was du von mir verlangst, entspricht nicht meinem Charakter. Du Kindskopf, sagte Multiplikato, das ist eine Recherche, wie sie in den Krimis, die du, wie ich annehme, vor der Röhre massenweise verschlungen hast, von verantwortungsvollen Maschinen, die das Wohl des Landes im Auge haben, in größter Sachlichkeit und Wissenschaftlichkeit durchgeführt wird. Ich kann es auch nicht leiden, wenn jemand wegen jedem Dreck gerannt kommt, den einer abgelassen hat, aber wer weiß, was sich hier dahinter noch verbirgt. Mein Instinkt sagt mir etwas, aber ich folge nicht blind meinem Instinkt, ich will es mathematisch exakt wissen, weil es sonst verantwortungslos wäre, und in diesem Sinne, Input, löst du die Aufgabe, nachdem du anständig geschlafen hast. Schlafen konnte ich nicht, aber ich wollte mir die Daten wenigstens ansehen, die Vermutungen, Möglichkeiten, Hinweise. Merkwürdigerweise wurde auch Professor Komplikato genannt, ein anderer Hinweis lautete: ehemalige Allgemeine Universität Integral. Eine große Anzahl dort ausgebildeter Wissenschaftler, die keine Arbeit erhalten hatten, weil Multiplikato das Land auf Maschinen umstellte, und die an verschiedenen Orten der Stadt, auch im Refrigeratio, beim Herumhocken und Schwatzen beobachtet wurden, fielen unter Verdacht, besonders weil auch ein Zoologe herumhockend und schwatzend gesehen worden war. Es wurden noch die Wohnadressen, die Orte, an denen die Genannten sich am häufigsten aufhielten, und die Orte, an denen sie sich am Tag des fünfundvierzigsten Geburtstages zu den verschiedensten Zeiten aufgehalten hatten, angegeben. Und der Witz war, daß von den Verdächtigten niemand am Festplatz gesichtet worden war, der einzige, dessen Anwesenheit bei der Feier bewiesen werden konnte, war Professor Komplikato, der unter dem Baldachin neben Multiplikato und dem automatischen Festredner gestanden hatte. Wenn man maschinenmäßig vorging, war also Komplikato der am meisten Verdächtige. Ich kriegte sofort Lust, diese Schlamperei zu beenden und ein System zu finden, das jedesmal haargenau den Richtigen ermitteln würde. Ich rief gleich noch einmal meinen Alten an. Macht nichts, sagte er, ich bin Frühaufsteher, hast du die Aufgabe gelöst? Wie soll ich das, wenn die Daten oberflächlich rangeholt wurden? Ich habe eine sehr gute Maschine eingesetzt, sagte er etwas beleidigt. Ich fragte ihn, was er davon halte, daß Komplikato, der unterm Baldachin stand, als der Hauptverdächtige erschien. Solche Daten liefert einem eine Ma-
schine, die zuverlässiger als der Mensch sein soll! Urteile nicht vorschnell, natürlich mußte er seine geliebte Maschine in Schutz nehmen, es klingt zwar etwas absurd, daß Komplikato verdächtig sein soll, aber du solltest den Hinweis nicht einfach wegwerfen, Hinweis bleibt Hinweis, derjenige verkriecht sich vor der Realität, der ihn, weil er absurd erscheint, unter den Tisch fallen läßt. Es ist nämlich nichts so absurd, daß es nicht eines Tages vernünftig erscheinen könnte. Vor wenigen Jahren wäre es jedem absurd erschienen, daß Maschinen in unserem Land einen großen Teil der Arbeit verrichten, so daß die Menschen sich in Mostonic-Zentren amüsieren können. Aber Komplikato, rief ich, der kann doch nicht verdächtig sein, der doch nun wirklich nicht. Trotzdem möchte ich dich bitten, die vorhandenen Daten gewissenhaft zu verarbeiten, sagte er, dann wird die Wahrheit schon herauskommen, die Maschinen sind wahrheitsliebender als der Mensch. Ach, sagte ich, die verarbeiten doch jeden Mist, den man ihnen gibt. Ja, sagte er, dann kommt aber auch Mist heraus, darin zeigt sich ja ihre große Wahrheitsliebe. Aber gib mal einem Menschen den größten Mist, der bringt es fertig und macht was Vernünftiges draus. Willst du übrigens frühstücken, meine Küche hat einen ausgezeichneten Aktiv-Kakao, der macht fit. Das stimmte, nach drei großen Tassen Kakao kam ich auf die Idee, die Aufgabe, die mir Multiplikato stellte, mit der, die mir Naida stellte, zu kombinieren: Ich wollte meinen neuen Papa austricksen. Als wir in der Wohnküche zu Mittag aßen, sagte ich, Papa, ich habe die Aufgabe fast raus, ich habe alle Daten ein bezogen, aber nur auf diese Daten kann man sich nicht verlassen, ich muß auch etwas Eigenes dazugeben, dazu bin ich ja hier. Wenn ich richtig nachdenke, wäre ein Ort, wo sich jemand versteckt haben könnte, die Kybernetische Akademie, wer weiß, ob sie sich richtig geschlossen hat, nachdem Komplikato und ich rausgestiegen und mit dem Schmetterlingsflügler abgeflogen waren, da kann ohne weiteres jemand eingedrungen sein. Ich würde gerne, vielleicht zusammen mit dem Professor, den ich dabei gleich ein bißchen unter die Lupe nehmen könnte, zur Akademie fliegen. Du willst unbedingt deine Gefühle an dieser Akademie auslassen, du bist hartnäckig, Input, aber meinetwegen, geh hin. Ich lasse gleich Komplikato mit einem Schmetterlingsflügler holen, geh hin, und du wirst sehen, daß du nichts siehst, es ist schlimm mit dir, du bist so dickköpfig, daß du schon die Aufgaben, die ich dir stelle, dazu benutzt, deinen eigenen Kopf durchzusetzen, aber geh
ruhig hin. Multiplikato schob mich aufs Transportband, draußen wartete schon der Flügler. Komplikato nahm sofort seine Brille ab, ich bin froh, dich zu sehen, Input. Ich konnte nicht anders und teilte ihm mit, daß er ein Hauptverdächtiger war, aber von dem Mädchen sagte ich nichts. Da ist deine Akademie, sagte er. Ich erkannte sie von oben kaum Wieder, das Aluminiumdach war abgedeckt, die Außenwände lagen gestapelt, auf einer Drehscheibe sah ich die Kabinette, drei, und ich sah in der Mitte in einem Schacht die Küche und den gewaltigen Speicher, mein Bett klappte sich gerade zusammen, der Greifer, der immer das Eßgeschirr abgeholt hatte, trug es in eine Kiste, nirgends konnte ich aber das Mädchen erblicken. Wir landeten, und ich sah mir sämtliche Teile genau an, auch den Stapel der Aluminiumwände, obwohl ich nicht annahm, daß sie sich so platt gemacht haben könnte, um sich dazwischenzulegen. Komplikato und ich kriegten öfter eins von der sich selbstverpackenden Akademie verplättet, weil wir zwischen den Teilen wühlten. Dann kam ein Mann, der uns aufforderte, den Verpackungsprozeß nicht zu behindern, er habe die Akademie gekauft, wenn wir etwas beschädigten, müßten wir zahlen. Hier ist wirklich keiner, sagte Komplikato, ich hätte es mir denken können, wie sollte denn da einer reinkommen. Aber es wäre doch möglich gewesen, sagte ich ganz benommen. Was hättest du gemacht, wenn jemand drin gewesen wäre? Er hatte schon wieder die Brille abgesetzt. Ich hätte denjenigen laufen lassen, ich hätte irgendeine Möglichkeit gefunden, vielleicht hätten wir sie mit dem Schmetterlingsflügler ein Stück mitgenommen und irgendwo abgeladen, wo sie es gewollt hätte. Wieso sie? fragte Komplikato. Oder auch ihn, sagte ich, je nachdem. Und was hättest du Multiplikato gesagt? Ich hätte gesagt, Fehlanzeige.
Du siehst das alles sehr einfach, Input, es wird noch schwer für dich werden. In die Wohnküche durfte Komplikato nicht, mein neuer Vater stand grinsend da und klopfte mir ein bißchen grob die Backe. Nun hast du deine Akademie doch noch gesehen, du Dickkopf, ich möchte nicht noch einmal, daß du deine Gefühle in Aufgaben einbaust, die ich dir stelle, ich konnte dir gleich sagen, daß da niemand drin war. Weiter sehe ich keine Möglichkeit, sagte ich. Die Aufgabe läuft weiter, sagte er, es ist eine Daueraufgabe, du hast dafür Zeit, lerne von den Maschinen, Input, lerne Sachlichkeit, du hast das Mathematische vielleicht gut gelernt, aber bei mir und meinen Maschinen wirst du Charakter lernen.
Kapitel 7 Eines Tages sagte mein Vater Multiplikato zu mir, ich wäre nun schon einige Zeit in seinem Haus. Du hast gearbeitet, beinah wie eine Maschine, daß muß ich dir bescheinigen, und wenn es auch unpädagogisch ist, will ich dir sagen, daß ich mit dir sehr zufrieden bin, du hast kollegial mit meinen Maschinen zusammengearbeitet, hast dich gut in die Gemeinschaft gefügt, ohne die Überheblichkeit, die sich aus menschlichen Minderwertigkeitskomplexen gegenüber den automatischen Arbeitskollegen oft entwickelt, ich habe alle Maschinen gefragt, und sie sind einstimmig der Meinung, daß sie gern mit dir zusammenarbeiten, deshalb möchte ich heute, obwohl es, wie ich ganz genau weiß, unpädagogisch ist, ein kleines Fest veranstalten, wir wollen alle zusammen einmal richtig feiern. Ich fragte, wer sind alle. Die Maschinen und du. Ach, das sind alle, sagte ich. Natürlich nicht absolut alle Maschinen, nur die Paladine und einige Hauptmaschinen, wir machen es uns in meinem Arbeitszimmer gemütlich, erledige die notwendigste Arbeit bis Mittag und zieh dich hübsch an, am liebsten sehe ich dich in Weiß und Rosa. Ich dachte, er müßte auch den Professor einladen, aber ich sagte es nicht. Er wurde jedesmal sauer, wenn ich den Namen erwähnte, ich hatte ihn schon lange nicht mehr erwähnt, und ich vertrug mich mit Multi Multiplikato sehr gut. Ein paarmal war er während der vergangenen Zeit in seinem Zimmer verschwunden, in dem er allein sein wollte, ich hatte das respektiert, dafür respektierte er, daß ich an den Staatsbegräbnissen für die Leute, die in den Straßen von Integral vom Weißen Blitz überfahren wurden, nicht teilnehmen wollte. Er hielt jedesmal auf dem Verkehrsopferfriedhof eine Rede, es war immer dieselbe, sie lief vom Band ab, er stand unter einem weißen Baldachin und zeigte sich sehr traurig, ich konnte diese Friedhofsstimmung nicht vertragen. Du hast recht, Input, wir wollen an den Tod nicht denken, aber in meiner Stellung komme ich manchmal nicht umhin. So kramten wir beide sehr gut miteinander, und es war ja auch ein angenehmes Leben, das ich bei ihm führte, ich konnte essen, was ich wollte, aber auf Essen war ich gar nicht mehr scharf, und ich konnte sogar aus dem Haus gehen, allerdings nur in den Garten. Multiplikato spielte da mit mir Tennis, oder wir badeten im Marmorschwimmbecken und tauchten mit kybernetischen Delphinen um
die Wette. Mein Vater war ganz gut in Form, es machte Spaß mit ihm, aber mit der Zeit ließ mein Interesse nach, die Maschinen im Haus waren spannender. Multiplikato mußte mich meistens in den Garten treiben, und ich trottelte dann widerwillig hinter ihm her, manchmal hatte ich noch nicht mal Lust, mich in dem Marmorbecken naß zu machen, er warf mich aber rein und sagte, ich müßte fit bleiben. In die Stadt wollte ich überhaupt nicht gehen. Einmal fuhr er mit mir aus und zeigte mir die Hauptstraße mit den sehr hohen und weißen Wohnbäumen, das waren Gerüste, an denen die Wohnungen wie Gondeln hingen und, wenn Wind wehte, sogar schaukelten, und er fuhr mich auf den Ehrenhain für Verkehrsopfer, wo er die Gräber der Verunglückten lange betrachtete und auf den weißen Steinen ihre Namen las, als ob er einen Roman vor sich hätte. Einmal brachte er mich auch ins Refrigeratio, wo wir ganz allein in der Vorhalle speisten und damit etwa dreißig Kellner beschäftigten, aber es machte mir keinen Spaß. Ich arbeitete lieber mit den Maschinen, denn es haute mich um, wie die alles unter Kontrolle kriegten und alles durch ihren Drahtwanst schleusten, was im Land überhaupt vonstatten ging, nicht bloß die Birnenproduktion, auch die Spiele in den Mostonic-Zentren; sie erfanden immer neue Spiele, und ich ließ sie neue erfinden. Nicht zu intelligente, sagte Multiplikato, es gehört viel mehr Intelligenz dazu, primitive, aber immer noch zugkräftige Spiele auszutüfteln. Ich hätte nie geglaubt, daß es für einen intelligenten Menschen so anstrengend sein kann, Maschinen blöde Spiele erfinden zu lassen, und daß solche hochintelligenten Maschinen dazu gebraucht werden. Aber die Maschinen bauten auch Häuser, sie regulierten den Diagramm-Fluß, sie entwarfen Multiplikato-Statuen. Auch von mir entwarfen sie mehrere, die in der Hauptstraße aufgestellt werden sollten und die mir sogar ähnlich sahen. Ich brachte die Maschinen dazu, daß die Kunstkomponente in Form von Geometrie ins Spiel kam und die Statuen ihren Vorbildern unähnlicher wurden, zum Beispiel dadurch, daß die Köpfe eckig und die Beine säulenartig ausfielen. Die Maschinen regelten aber auch den Warenstrom in den Geschäften und Kaufhäusern. Es machte mir Spaß zu erfahren, daß beispielsweise Lärmschutzkugeln für die Ohren auszugehen drohten oder daß sauer eingelegte Birnen zuviel am Lager wären. Ich schloß auch Wetten mit der betreffenden Maschine ab, ob sie den Bedarf von Luftkissensandalen mit Rückstrahlern richtig eingeschätzt hatte, denn die Maschinen verschätzten sich auch, weil, wie Multiplikato sagte, auf Menschen kein Verlaß war und sie plötzlich trotz aller gegenteiligen Erfahrungswerte keine Rückstrahler an ihren Sandalen mehr wollten. Es verschätzten
sich aber eigentlich nicht die Maschinen, sondern die Menschen störten den automatischen Ablauf. Auch in das Wach- und Schließsystem, das unser Haus in der Lorbeerstraße umgab, kriegte ich nach und nach Einblick. Es wäre mir nicht mal schwergefallen, aus dem Haus ungesehen rauszukommen, ich hätte auch die mobilen Wachautomaten ausschalten können, die mir dahin gefolgt wären, wohin ich hätte gehen wollen, aber es war merkwürdig, ich hatte keine Lust mehr rauszugehen, es war zwischen den Maschinen viel zu interessant. Nur ein Raum wurde von dem Wach- und Schließsystem nicht erfaßt, nämlich der, in dem mein Vater allein sein wollte, dafür schien ein anderes System zuständig zu sein, aber ich forschte nicht nach, weil ich es automatisch respektier-
te. Eins schien mir auch noch zu fehlen, nämlich Maschinen, die den Verkehr der Hauptstadt und des Landes regelten. Im Verkehr fuhr jeder, wie er wollte. Ich schlug Multiplikato vor, ein solches Verkehrsregelungssystem anzuschaffen, ich wies ihn dabei auf die vielen Verkehrsopfer hin, vor deren Grabsteinen er tiefsinnig gestanden hatte. Er sagte, der Verkehr an sich ist schon ein System, das sich selbst regelt. Aber die meisten Autos werden noch von Menschen gesteuert, auf Menschen ist kein Verlaß, wäre es nicht besser, jedes Fahrzeug würde ferngesteuert und müßte sich in ein großes System einordnen, dann wäre jeder Verkehrsunfall ausgeschlossen. Er wollte darauf nicht eingehen, die Unzuverlässigkeit des Menschen ist einer der bewegenden Faktoren dieses Systems, es ist ein natürliches System, ein Abbild des Lebenskampfes, und irgendwo muß ja auch in unserem Land noch ein bißchen Lebenskampf sein, immer nur Spiele in den Mostonic-Zentren, das wäre zu billig, irgendwo muß jeder lernen, daß er sich in acht zu nehmen hat. Von dieser Meinungsverschiedenheit abgesehen, kamen wir beide gut miteinander aus. Ich spielte solche Meinungsverschiedenheiten auch nicht hoch, denn sonst ließ er mich machen, was ich wollte. Es war doch ein sagenhafter Fortschritt für mich, wenn ich mir vorstellte, mit was für einem alten Schnarcher von Rechenmaschine, die ich aus der Abfallgrube der Birnenfiliale in Vitagam gezogen hatte, ich früher zu spielen gezwungen war und mit was für Maschinen ich jetzt zu tun hatte. Damals war es mehr oder weniger ein technisches Gefühl gewesen, wodurch ich die alte Maschine wieder flottmachte, aber hier konnte ich durch meine Bildung in der Kybernetischen Akademie in das Innere der kompliziertesten Maschinen sehen und ein System erkennen, wo ich früher nur Drahtsalat gesehen hätte. Ich konnte in das Innere der Maschinen eingreifen, sie durch mathematische und technische Kunstgriffe beeinflussen, ich konnte mit ihnen in der Maschinensprache Multiplo sprechen, und ich war dabei, noch weitere Maschinensprachen zu erfinden. Ich besaß, um es mal ganz primitiv zu sagen, die größte Ansammlung technischen Spielzeugs, die jemals vor mir ein Mensch auf der Welt besessen hatte. Besessen stimmte sogar wörtlich, denn an dem Tag, an dem Multiplikato mit mir, den Paladinen sowie den Hauptmaschinen feierte, setzte er mich auch zu seinem persönlichen Erben ein: Du wirst einmal an meine Stelle treten, Input, dir wird das alles eines Tages gehören. Auch das war ein gewaltiger Fortschritt für mich, wenn ich bedachte, daß ich von meinem ersten Vater bloß ein reparaturbedürftiges Haus und einen alten Birnbaum geerbt hätte. Es hatte sich also gelohnt, die Affen aus dem Urwald zu
locken und die drei Jahre in der Kybernetischen Akademie abzureißen. Ich mußte Professor Komplikato dankbar sein, aber ich dachte selten daran, ich wurde immer mehr mir selbst dankbar. Und als Multiplikato eine neue Statue von mir entworfen haben wollte, gab ich der Maschine den Auftrag, neben mir, entsprechend kleiner, einen Affen zu gestalten, der meine Tat symbolisieren sollte. Multiplikato war dagegen, das führt zu Mißverständnissen. Ich widersprach nicht, ich dachte, wenn ich dein Erbe antrete, lasse ich mir den Affen doch gestalten, ich habe Zeit, denn ich dachte wirklich, daß ich ungeheuer viel Zeit hätte. In der Schule von Vitagam hatte ich immer gedacht, ich hätte keine Zeit, ich würde sie vertun, aber seit ich mit den Maschinen zusammenlebte, kam mir meine Zeit grenzenlos vor. Das Fest zog mein Vater Multiplikato anständig auf. Ich war eigentlich nie für Feierlichkeiten gewesen, weil man da immer so gucken muß, wie einem gar nicht ist, man muß allerhand Würde, Stolz und solche Gefühle zeigen, die einem von alleine nicht kommen, und ich hatte auch die Feier zu Multiplikatos fünfundvierzigstem Geburtstag nicht besonders gefunden. Aber als ich sein Arbeitszimmer betrat, um mich in seinem Hause befeiern zu lassen, änderte sich meine Ansicht. Ich muß zugeben, ein Gefühl von Würde, Stolz und solchen Sachen machte sich über mich her, ich stellte mich gleich ordentlicher hin, als mich das Transportband zu meinem Sessel fuhr, der mit einer Girlande aus goldenen Blättern und Edelsteinen, allerdings etwas billigeren als Multiplikatos, verziert war, ich drückte meinem Vater die Hand und klappte meinen Kopf in bißchen nach vorn. Im selben Augenblick arbeitete eine Kamera für die Zeitung von Integral, die eine Maschine nach Multiplikatos Ideen täglich anfertigte und die durch Rohrpost in die Stadt und von da mit Pfeilflüglern in die Provinz befördert wurde, ich grinste zur Kamera hin, und die ganze Zeit, als der automatische Redner, der meinem Vater zum fünfundvierzigsten Geburtstag die Rede gehalten hatte, auch mir eine hielt, grinste ich feierlich. Ich glaube, ich grinste zeitungsgemäß, obwohl es das erstemal war. Der steife Kerl war weiß gekleidet, die Augen gelbgrün, das Kinn scharfkantig, die Nase ein Knopf, das Gesicht dunkelolivgrün, der fing an zu schnarchen wie die Rechenmaschine aus der Abfallgrube, mir war natürlich klar, daß Multiplikato ihm die Daten betreffs meiner zu befeiernden Persönlichkeit eingegeben hatte, und ich war doppelt gespannt: Was hatte mein Vater für eingabewürdig befunden und wie arrangierte der steife Kerl die Daten, würde er mir auch Beleidigungen an den Kopf werfen wie damals Multiplikato? Ich wußte allerdings nicht mehr, inwiefern es Beleidigungen gewesen waren, aber gewesen waren es welche.
Jetzt sagte der Kerl, der übrigens aus nächster Nähe einen sympathischen Eindruck auf mich machte, ich wäre nach einer ungezwungenen Kindheit, in der ich noch meinen Impulsen nachgegangen wäre, in der Akademie zu einem strebsamen jungen Mann herangereift. Das Wort strebsam hatte mir nie geschmeckt, aus dem Mund des Steifen klang es ganz nett, er meinte es sicher nicht so. Er sagte, mir wäre es zu verdanken, daß Multiplikato in seiner Absicht, immer mehr Menschen ein sorgloses Leben in den Mostonic-Zentren zu schaffen, in der letzten Zeit ein gewaltiges Stück vorwärtsgekommen sei, auch sei durch meine Hilfe die Birnenproduktion ins fast Unermeßliche angewachsen, so daß jetzt nicht nur jeder Schüler vor Unterrichtsbeginn eine Birne gemeinsam mit den anderen Schülern rhythmisch kauen könne, sondern auch jeder, der irgendwo angestellt sei, mit seinen Kollegen morgens das rhythmische Birnenkauen durchzuführen imstande sei, und zwar nicht nur eine, sondern schon zwei bis drei Birnen, und es sei durch meine strebsame Arbeit auch erreicht worden, den Leuten in kleineren Orten, wo keine Mostonic-Zentren bestünden, das rhythmische Birnenkauen zu ermöglichen. Die Hebammen des Landes erzielten bei Neugeborenen, denen sie als erste Nahrung auf dieser Welt Birnensaft verabreichten, eine bedeutende Minderung der Schreitätigkeit, auch zeigten solche Säuglinge weniger Bewegungsdrang, seien somit leichter zu handhaben. In diesem Stil ging es weiter, irgendwie mußte ich schon was geleistet haben, was einen gewissen Wert hatte, sonst hätte Multiplikato es ja nicht nötig gehabt, der Maschine solche Daten einzugeben. Bloß das Wort strebsam gefiel mir nicht. Ich sagte, strebsam trifft nicht, ich würde sagen, vorausschauend, klug, eventuell auch initiativreich, aber strebsam, das klingt zu einfallslos, ich bin kein Streber. Ich nehme das Wort raus, sagte Multiplikato, sie soll es nicht wieder verwenden, es ist irgendwie reingerutscht, entschuldige, Input. Ich schüttelte dem steifen Herrn die Hand, er hatte es gut gemeint, und dann setzte ich mich in meinen goldumrandeten Sessel, aber ich mußte gleich wieder hoch, weil mir die Paladine die Hand schütteln wollten, sie fuhren nach einander auf dem Transportband rein: der Paladin für Finanzen, der Paladin für Birnenwirtschaft, der Paladin für Spielindustrie, der Paladin für Kunstindustrie, der Paladin der Wach- und Schließapparate, der Paladin für das Flüglerwesen, der Gesundheits-Paladin. Es war eine unheimlich lange Kette von Paladinen, meine Hand wurde schon wund von ihren maschinellen Händedrücken, als eine Maschinenpersönlichkeit reinfuhr, die ich nicht kannte und die sich mit schnarchender Stimme als der Paladin für Friedhofswesen vorstellte. Multiplikato war darüber schockiert, er sagte rasch, wie unpassend von dir, zu einer solchen Feier zu erscheinen, ich hatte dich nicht aufgefordert. Der Paladin war schneeweiß lackiert und hatte farblose Augen, in seinem Innern klingelte es ab und zu melodisch. Er schnarrte, er habe sich in Erinnerung bringen wollen.
Na schön, sagte Multiplikato, und nun verschwinde, aber die Maschine bockte und versperrte den Hauptmaschinen, die zu meiner Beglückwünschung reinfuhren, den Weg. Das tat mir leid, denn die Hauptmaschinen waren prima Kollegen; die Paladine reihten sich jetzt alle in einem Halbkreis um Multiplikatos und meinen Sessel. Multiplikato gab dem Paladin für Friedhofswesen einen Stoß, stell dich in die Reihe, wenn du einmal da bist. Ich mußte mich für ihn verwenden, er ist doch eine Maschine, man kann nicht so mit ihm umgehen, er ist doch kein Mensch, ich schob den Paladin für Friedhofswesen, der etwas verstört war, an das äußerste Ende des Halbkreises und begrüßte sehr freundschaftlich die Hauptmaschinen, die nämlich die anstrengendste Arbeit leisteten, besonders, weil sie immer die Arbeit an die Untermaschinen verteilen und deren Ergebnisse überprüfen mußten. Als sie sich auch um unsere Sessel gestellt hatten, war das Arbeitszimmer gedrängt voll von Maschinen, und die Küchenmaschinen waren so freundlich, kleine Wagen rauf zuschicken, die vor jeden unserer Gäste eine goldene Tasse mit Maschinenöl fuhren, das sie durch ein Plaströhrchen trinken durften, während Multiplikato und ich das gelbe Schaumwasser namens Bier in uns gössen und dazu tüchtig futterten, und zwar, wie ich es mir gewünscht hatte, saure Linsen mit Würstchen und Pflaumen und grünen Walnüssen, hinterher Erdbeeren mit Schlagsahne. Die Hauptmaschine für Kunstindustrie hatte eine kleine Musikmaschine mitgebracht, die eigene Kompositionen vortrug, durch die alle anwesenden Maschinen, außer dem Paladin für Friedhofswesen, dem die Stimmung versaut war, aufgepulvert wurden. Sie funkelten mit ihren Knöpfen, und manche klingelten den Rhythmus mit, ein paar verplemperten vor Begeisterung sogar ihr Maschinenöl, sonst benahmen sie sich anständig, und nach der Musik stand noch einmal der automatische Redner auf und verkündete Punkt für Punkt die Anweisung meines Vaters Multiplikato über meine Ernennung zu seinem Erben. Dann erschien eine Maschine, die die neuesten Katastrophenfilme aus den Teilen der Welt vorführte, wo man die Birne nicht kannte oder sie zu wenig einführte. Dann brachte eine Maschine ein neues Bildwerk über mich, wie ich dasitze und meinen Kopf stütze, es war aufblasbar und bunt angemalt, und quer über meinen Kopf lief der Satz, Oliver Input denkt für dich. Ohne Luft paßte es auch in eine Kindertasche. Multiplikato sagte, wie findest du das, ich halte es für sehr pädagogisch. Das mußt du als Vater besser wissen, sagte ich, bei dem Gedanken, aufgeblasen zu werden, fühlte ich mich nicht sehr wohl. Aber mein Vater in seiner Begeisterung sagte, er wollte das Ding in Massenproduktion geben, nicht immer das gleiche, es muß verschiedene Ausführungen
geben, sitzend stehend liegend lachend besinnlich. Die Aufschriften müssen verschiedene sein, zum Beispiel: Oliver Input ist ein guter Sohn, Oliver Input kaut täglich seine Birne. Das stimmt aber nicht, sagte ich. Das soll da doch nur aus pädagogischen Gründen stehen, Oliver Input ist der beste Freund der Maschinen. Das stimmt, aber wenn sie nun alle ihre klebrige Birnenspucke in mich reinblasen können, finde ich das unappetitlich und auch irgendwie unwürdig. Dadurch wirst du aber populär, sagte er. Und warum läßt du dich nicht aufblasen? Ich habe das nicht mehr nötig, mein Sohn, aber sei unbesorgt, die Hauptmaschine für Psychologie in der Kunstindustrie hat unter den verschiedenen Möglichkeiten der Popularisierung die Aufblasmethode für die wirksamste erkannt, besonders in unserem Land, wo sich die Menschen mehr und mehr den Spielen hingeben sollen. Na ja, sagte ich, dann könnte ich meiner alten Schule eine Kiste von diesen Gummidingern schicken. Ich stellte mir schon vor, wie sie alle mit aufgeblasenen Oliver Inputs dasitzen würden, wenn der Direktor die Baracke betrat. Ein Oliver Input auf jedem Platz, das würde ihn nervös machen, aber dann sagte ich, womöglich lassen sie die Dinger platzen, der Gedanke war mir unangenehm, wer weiß, was sie alles mit mir anstellen. Dadurch wirst du noch populärer, sagte Multiplikato, außerdem kann man ein Gesetz erlassen, daß mit Oliver Inputs nichts Unanständiges angestellt werden darf. Ja, das kann man, ich besah mir mein aufgeblasenes Abbild. Es gefiel mir eigentlich ganz gut, bloß einen Affen hätte ich gern dabei gehabt, aber das konnte ich später noch machen lassen, wenn ich Multiplikatos Erbe antrat. Wenn die Maschine diese Art der Popularisierung als optimal herausgefunden hatte, mußte schon etwas dran sein. Du kannst dich auf die psychologische Hauptmaschine verlassen, versicherte mein Vater, von ihr stammt auch die Idee der Mostonic-Zentren, und die Mostonic-Zentren sind ein Erfolg, das mußt du zugeben. Er goß mir neues Bier ein, es kam neue Musik, die Maschinen fingen in ihrer
etwas starren Art zu tanzen an, ich tanzte mit, sogar mein Vater Multiplikato tanzte, aber ich hörte mitten im Tanz auf und setzte mich in meinen Sessel und war mit einemmal traurig. Je toller die Musik spielte, desto trauriger wurde ich. Multiplikato tanzte wie verrückt mit dem Finanzminister, er sah mich gar nicht. Die Traurigkeit kriegte mich in den Griff. Sie war schon öfter über mich hergefallen. Ganz plötzlich, wenn ich in bester Stimmung bei den Maschinen saß, hatte sie sich von hinten über mich geworfen, ohne irgendeinen äußeren Anlaß, ich mußte dann immer an Naida denken, die ich aus der Kybernetischen Akademie hatte retten wollen und die seitdem verschwunden war. Die Traurigkeit und das Mädchen gehörten so zusammen, daß ich nicht unterscheiden konnte, ob zuerst der Gedanke an das Mädchen auftauchte und dann die Traurigkeit oder umgekehrt. Ich versuchte mir dann stets einzureden, daß dem Mädchen nichts passiert wäre, daß überhaupt mein Gewissen sauber wäre, weil ich ja alles unternommen hätte, um Naida aus der Akademie zu befreien. Aber mit dem Gewissen schien die Traurigkeit nicht zusammenzuhängen, sie kam auch nicht regelmäßig, sie war sehr launisch, und sie kam meistens, wenn sie nicht in meine Stimmung paßte. Wenn ich mich ganz obenauf fühlte, schlich sie mich plötzlich von hinten an. Ich meinte, sie würde vielleicht aufhören, mich zu belästigen, wenn ich wüßte, was mit Naida geschehen war, wo sie sich aufhielt, wie es ihr ging. Die Traurigkeit drückte mich tief in den Sessel. Multiplikato, der schweißtriefend vom Tanz in den Sessel neben mir fiel, sagte, als er sich etwas erholt hatte, was ist denn mit dir los, ist dir das Bier nicht bekommen? Ich bin todtraurig, sagte ich, warum, weiß ich nicht, es ist ganz plötzlich über mich gekommen, ganz plötzlich. Hast du das öfter? Hin und wieder, es vergeht jedesmal. Ist es in letzter Zeit öfter gekommen? Warum bist du traurig? Ich weiß es nicht. Das muß man wissen! Hat dir die Festrede nicht gefallen, das Wort strebsam ist irrtümlich eingeflossen, es ist bereits gelöscht, oder bist du über deine aufblasbaren Ebenbilder beleidigt, oder waren die Linsen nicht sauer genug? Ich sagte, das Fest ist Klasse, es ist hier überhaupt alles Klasse, trotzdem werde ich von Zeit zu Zeit traurig.
Wir werden das gleich beseitigen. Multiplikato wandte sich an den Gesundheits-Paladin und an die Hauptmaschine für Gesundheitsautomatik, die sofort die Hauptmaschine für Psychologie und Psychiatrie heranrief, und die klopfte mir mit einem Gummihammer an die Kniescheibe, wodurch ich ihr reflexartig einen Tritt vor die Vorderwand versetzte, und sie durchleuchtete meine Augen und fühlte meinen Puls. Ich mußte primitive Aufgaben lösen, daß mir schlecht wurde und sogar Multiplikato die Maschine um etwas mehr Niveau bat, sie fragte mich aus, mir wurde dabei wieder wohler, wenn auch nicht ganz so wohl, wie mir gewesen war, als das Mädchen mich ausgefragt hatte, ich mußte sagen,wie oft die Traurigkeit kam, ob sie morgens stärker als abends wäre, ob bei mir nächtliche Ereignisse stattfänden, ich druckste herum, sie fragte wie oft, sie fragte mich auch nach meinen Träumen, aber ich träumte selten, und nie von Naida. Das ist merkwürdig, sagte ich, daß ich hier so wenig träume, einmal habe ich von einer kleinen Maschine geträumt, die dauernd hinter mir herrannte und klingelte, einmal habe ich geträumt, ich müßte die Birne rhythmisch kauen, ich wollte immer sagen, das habe ich nicht mehr nötig, aber die Stimme blieb mir weg. Die Maschine für Psychologie und Psychiatrie schluckte alles und zerkaute und verdaute es. Multiplikato beriet sich mit ihr und dem Gesundheits-Paladin und der Hauptmaschine für Gesundheitsautomatik. Du brauchst dich nicht zu beunruhigen, du bist ganz normal, das einzige, was dir fehlt, ist ein Mädchen. Von dieser Antwort war ich erschlagen. Ich habe überhaupt nichts mit einem Mädchen zu tun, ich kenne kein Mädchen. Das ist es, sagte er, dies Problem müssen wir lösen. Er goß etwas anderes in mein Glas, etwas mit Cola, das mich beleben sollte, obwohl das auch maschinenmäßig gegangen wäre, aber wegen der Feierlichkeit des Anlasses machte er es selbst, und die kleinen Wagen aus der Küche brachten den Maschinen, weil die nämlich schon zuviel Maschinenöl getankt hatten, zum Nachspülen Petroleum in Sektgläsern, die Maschinen waren bester Stimmung, Multiplikato auch, ich wurde vom Trinken noch trauriger. Multiplikato sagte, wenn ich nicht ein besseres Mittel wüßte, würde ich dir am liebsten ein paar Birnen vorsetzen lassen, damit du heiter wirst. Aber das ist eine traurige Heiterkeit, sagte ich, das ist die Heiterkeit der trüben Tassen. Er legte sich breitbeinig im Sessel zurück. Ich konnte seinen weißeingekleideten goldbestickten Bauch bewundern, der alte Oberaffe hatte einen schwarzen
Lederbauch, vielleicht ist der Oberaffe inzwischen gestorben, ich konnte nur an traurige Sachen denken. Aber Multiplikato, mein Vater, ging ganz aus sich heraus. Mein lieber Input, ich könnte jetzt einfach sagen, wir Menschen haben gegenüber den Maschinen nicht nur den Nachteil, daß wir ständig Zersetzungsprodukte absondern, wir besitzen leider auch ein Sexualleben. An sich ist das Vorhandensein des Sexuallebens nicht zu bedauern, aber da es nicht Sinn der Sache ist, es solo zu betreiben, zeigt sich eine Schwierigkeit, denn es ist für solche Menschen wie mich und dich, also für Menschen, die keine eigentlichen, sondern Spezialmenschen darstellen, nicht damit getan, mit einer Frau zu schlafen, das kann jeder Affe, aber auf hohem Niveau mit einer Frau zu schlafen, auf der Höhe unseres Maschinenzeitalters, das ist trotz bester Bemühungen noch nicht einmal mir gelungen. Ich befinde mich in der Vollkraft meiner Jahre, sagte Multiplikato, die Maschinenatmosphäre, das leise Ticken und Surren und Schnarchen, wirkt ungeheuer anregend auf mich, die gleichmäßig milde Beleuchtung, die angenehme Temperatur, das gute Essen, also, ich könnte schon, ich könnte mehr als alle in diesem Land, ich heiße nicht umsonst Multi Multiplikato, aber ich habe in der Liebe eine solche Enttäuschung erlebt, daß ich nur sagen kann, auf Frauen ist ebensowenig Verlaß wie auf Menschen. Ich hatte eine Frau, sage ich dir, die bekam von der Hauptmaschine für Schönheitsfragen dreimal eine Goldmedaille. Ein paar Jahre lang ging es mit ihr auch gut, ich entwickelte mich in diesen Jahren auf einen sehr hohen Stand, eines Tages war ich ungeheuer glücklich, als meine Frau es auch bemerkte, denn wozu entwickelt man sich, wenn man liebt, doch vor allem, damit das Liebesobjekt merkt, mit was für einem niveauvollen Wesen es zu tun hat, Also, meine Frau sagte, nachdem ich sie gerade wieder erfolgreich geliebt hatte, wohlgemerkt zum siebentenmal an einem einzigen Vormittag, ja, und da sagte sie, während ich meinen Aktiv-Kakao trank, Multi, du bist in der Liebe wie eine Maschine. Das war das Schönste, was sie mir sagen konnte, ich ließ den Kakao stehen, ich war gleich wieder in Stimmung, ist das deine ehrliche Meinung, bin ich wirklich schon so? Vielleicht noch nicht ganz, sagte sie, aber mich würde es nicht wundern, wenn ich eines Morgens aufwache, und neben mir würdest nicht du, sondern eine Maschine schnarchen. Wirklich, fragte ich, vor Glück ganz benommen, denn kein Lob, lieber Input, das wirst du vielleicht schon gehört haben, ist für einen Mann so bedeutend wie das Lob seiner Qualität auf diesem Sektor. Er nimmt es nicht so schwer, beruflich politisch charakterlich eine Niete zu sein, wie gerade dort zu versagen, ich gebe zu, auch ich war von diesem menschlichen Überrest nicht ganz frei. Wirklich, fragte ich, bin ich wirklich schon so weit?
Sie sagte, du wirst eines Morgens deine Arme hart wie Stahl finden, es wird dir etwas schwerfallen, deinen eckigen Körper aus dem Bett zu bewegen, du wirst dich an deinem eckigen Kopf stoßen, vorm Spiegel wirst du vielleicht einen Schreck vor deinen glasigen Augen kriegen, deine Hände werden nicht gleich das Glas für den Aktiv-Kakao richtig fassen können, weil sie aus Haken bestehen, und mit deinen Beinen, scherenartigen Ständern, wirst du überall hängenbleiben, aber mit der Zeit wirst du dich daran gewöhnen, eine Maschine zu sein. Ich fand es reizend, wie sie mich als Maschine beschrieb. Meinst du wirklich, fragte ich, und wie wird es in meinem Innern aussehen, denn auf die Entwicklung des Innern kommt es am meisten an. Sie sagte, da wird sich nicht allzuviel ändern, es werden da eine Masse unordentlicher Drähte sein, hier und da ist eine Kontaktstelle durchgeschmort, der
Speicher wäre rausnehmbar und durch einen andern zu ersetzen, das ist vielleicht besser als jetzt, wo dein Gedächtnis zwar lückenhaft ist, aber nicht durch ein neues ersetzt werden kann. Wieso, fragte ich etwas erstaunt, ist mein Gedächtnis lückenhaft, das habe ich noch nie gemerkt. Aber ich, sagte sie, du vergißt immer, was ich dir sage und was ich dir schon so oft gesagt habe, du fällst stets in deinen Maschinenrhythmus, du arbeitest ein Programm ab. Ich arbeite es sehr gut ab, wirst du zugeben, sagte ich. Wollen mal sagen gleichbleibend, sagte sie, es wäre natürlich ein Vorteil, wenn du eines Tages als Maschine aufwachen würdest, dann könnte ich dir ab und zu ein neues Programm einhängen, du wärst dann wahrscheinlich auch nicht aus deinem Konzept zu bringen, du würdest es zuverlässig abarbeiten, aber eine kleine Variation wäre drin, und vielleicht könntest du noch so vervollkommnet werden, daß du von selbst kleine Abweichungen ins Programm aufnimmst, vielleicht wäre es dir eines Tages auch möglich, selbst den optimalen Weg zum Erfolg zu finden, oder vielleicht wäre es dir wenigstens möglich, auf Impulse zu reagieren oder selbst Impulse auszusenden, aber jetzt? Wie bin ich jetzt? fragte ich ungeduldig. Jetzt bist du eine von den einfacheren Maschinen, die nur über ein Programm verfügen. Ich sagte, aber immerhin wie eine Maschine, exakt wie eine Maschine, zuverlässig wie eine Maschine. Ich verspreche dir, mich auf höchstes Maschinenniveau zu heben. Das will ich nicht, sagte sie, ich möchte, daß du ein Mensch wirst. Du freust dich also nicht darüber, daß ich wie eine Maschine zu lieben imstande bin? Sie sagte hastig, deine Arme und Beine arbeiten wie Hebel, gegen Ende wird dein Gesicht immer härter und kantiger, die Augen sind wie Knöpfe, ich bin da ein Werkstück, das eingespannt ist und bearbeitet wird, das ist keine Liebe. Aber ich liebe dich doch, sagte ich, wenn ich dich sehe, kann ich nicht anders, darüber müßtest du dich doch freuen. Sie war wirklich eine sehr aufregende Frau, und sie durfte keine anderen Kleider anziehen als aufregende und in psy-
chologisch erforschten Farben, sie mußte auch ein Parfüm benutzen, das ich für mich individuell hatte entwickeln lassen. Freu dich doch, daß du mich so aktiv machst, sagte ich. Sie zog ein verbittertes Gesicht, ich will keine Maschine, ich will einen Menschen. Da merkte ich erst, auf welchem Niveau sie sich befand, Input. Stelle dir meine Enttäuschung vor, jahrelang hatte ich geglaubt, mit einer niveauvollen Frau auf hohem Niveau zusammenzuleben, und nun dies. Du willst dich also auf Menschenniveau im Schlamm unkontrollierter Gefühle suhlen? Diese Unanständigkeit empörte mich sehr. Auch ich, sagte ich, will dich kritisieren, ich habe es aus Takt bisher nicht getan, soviel du nämlich auch aufregende Kleider und mein individuelles Parfüm verbrauchst, du kannst nicht leugnen, daß du immer wieder aufs tiefste Menschenniveau abgleitest. Ich war böse auf sie, aber ich liebte sie immer noch, und ich sagte, du wirst dich schon noch entwickeln. Aber am nächsten Tag, als die Lieferanten mit neuen Kleidern kamen, flüchtete sie in einem Koffer. Ich komme nie wieder, du stumpfsinnige Maschine, hinterließ sie auf einem Zettel. Sie kam auch nie wieder, tragischerweise wurde das Auto der Lieferanten, in dem sich auch der Koffer mit ihr befand, von einem Verkehrsunfall betroffen, die Insassen waren alle sofort tot. Sie liegt im Ehrenhain für Verkehrsopfer. Obwohl sie mich so bitter enttäuscht hat, gab ich ihr ein wundervolles Begräbnis in Silberweiß, siebenundzwanzig weiße Ponys zogen den Sarg, so viel, wie sie Jahre alt gewesen war. Ein großer Erfolg, Input, aber trotz meiner Trauer fühlte ich mich besser, als ich hierher zurückgekehrt war und die reine Maschinenluft atmen konnte. Ja, ich fühlte mich gereinigt. Die Frauen, Input, zerren alles auf Menschenniveau, sie wollen dauernd, daß du mit ihnen sprichst, sie schütten dich mit ihren unappetitlichen Seelenabsonderungen bis obenhin voll. Ach, Input, der Fehler ist, daß wir noch keine Maschine entwickelt haben, die die Rolle der Frau übernehmen könnte. Ich spreche von einer hochorganisierten Maschine, nicht von den primitiven Versuchen, die zu allen Zeiten gestartet wurden. Ihr Äußeres müßte gefällig sein, es müßte zunächst noch dem Äußeren einer Frau entsprechen. In uns sitzen zu tief die menschlichen Gewohnheiten, wir haben einen rückständigen Schönheitsbegriff, Jahrtausende gehen an der Menschheit nicht spurlos vorüber, aber nach und nach könnten wir neue Reaktionsweisen auf Formen entwickeln. Warum soll die industrielle Formgebung uns eines Tages nicht ebenso anregen wie bisher die natürliche, warum muß es immer wild gewachsenes Frauenhaar sein, warum nicht systematisch geordnete Drähte, warum ein mehr oder weniger rund gewachsener Busen mit je einer Warze, warum nicht eine Anordnung von vielen Knöpfen, und warum überhaupt diese Sucht nach Rundungen, eines Tages wird uns Ecki-
ges oder Spitzes, an dem wir uns blaue Flecken zuziehen, vielleicht als Inbegriff der Lust erscheinen, vielleicht bringt uns das leise Klicken der Relais zur Raserei. Es gibt da Möglichkeiten, Input, die wir noch gar nicht absehen, ich denke sehr oft darüber nach. Sollen sich die Menschen, die wir in diesem Land noch durchfüttern müssen, sich meinetwegen suhlen, für uns müssen wir etwas entwickeln. Und wie soll es mit der Fortpflanzung werden? fragte ich. Darüber denke ich auch nach, die anderen, die wir durchschleppen, brauchen sich von mir aus nicht fortzupflanzen, die Birne senkt zum Glück die Fruchtbarkeit, aber wir müßten es wenigstens in bescheidenem Umfang, damit unsere Dynastie nicht ausstirbt, es sei denn, wir würden eines Tages wirklich als Maschinen aufwachen und uns selbst reproduzieren können. Die Vorstellung, als Maschine aufzuwachen, verschaffte mir kaltes Gruseln. Du denkst darüber nach, Papa? Vorläufig nur über die Entwicklung einer Maschinenfrau, sagte er, und da wurde mir klar, warum er sich öfter in das Zimmer verzog, das ich nicht betreten durfte, ich fragte ihn aber nicht. Vorläufig, sagte er, brauchen wir noch die menschliche Frau, ich selbst bin zwar zu enttäuscht, ich möchte keine Frau mehr haben, ich habe mich ausgeliebt, aber du, mein Junge, brauchst eine, wie die Maschine bestätigt hat, für deine seelische Gesundheit. Sicher wirst du eines Tages genauso enttäuscht sein wie ich, aber diese Erfahrung mußt du, wenn die Maschine es meint, schon machen, sie stärkt den Charakter. Und du, Papa, bist doch auch noch ein Mann. Ich dachte, womöglich sitzt in dem verbotenen Zimmer eine Frau, aber ich wußte, was die Küchenmaschinen täglich verarbeiteten und ausgaben, es reichte nur für meinen Vater und mich, eine Kleinigkeit müßte eine Frau schon essen, ich fragte aber wieder nicht. Du sollst jetzt ein Mädchen haben, Input. In zehn Minuten ist es hier, dann wirst du lustig werden, ich selbst möchte das Mädchen nicht sehen, das verstehst du vielleicht, am besten, du gehst auf dein Zimmer, und nachher kommst du zurück, und wir feiern weiter.
Vor meiner Tür stand bereits das Mädchen. Ich sah von weitem, als ich auf dem Transportband anfuhr, den Schatten. Es müßte Naida sein, dachte ich, aber es war silberblond, fischäugig und auch stumm wie ein Fisch, es glitt mit mir in mein Zimmer, da blieb es stehen und bewegte sich nicht.
Nehmen Sie Platz, meine Dame. Sie blieb stehen, da merkte ich, sie steckte in einem nahezu unsichtbaren Plastbeutel, oben mit ein paar Luftlöchern und mit perforiertem Rand. Bitte, hier abreißen. Ich nahm eine Schere und schnitt die Tüte an der Längsseite auf, damit das Mädchen bequemer aussteigen konnte, es hatte übrigens nichts an. Ich wunderte mich, daß auf der Tüte nicht stand, zum alsbaldigen Verbrauch bestimmt. Ich sagte, mein Name ist Oliver Input. Es sah mich an und grinste, das Grinsen war umhauend, etwa so: Würdest du mich jetzt liebenswürdigerweise auffressen?
Wollen Sie sich nicht auch vorstellen? fragte ich. Das Mädchen grinste abermals und stellte sich vor, indem es sich vor mich hinstellte. Gegen dieses Mädchen aus dem Frischhaltebeutel war das Mädchen Naida häßlich, Naidas Nase war nach außen gebogen, ihre Augen waren grün und standen so eng beieinander, als ob sie schielten. Wo hat mein Vater Multiplikato Sie aufgetrieben, fragte ich, aber sie grinste und grinste, na schön, sagen wir, daß sie lächelte, aber sie lächelte in regelmäßigen Abständen, wie das Auge einer Maschine aufleuchtet, wenn eine Alarmsituation gegeben ist. Ich fragte, kannst du denn wirklich nicht sprechen, kannst du nicht wenigstens etwas fragen, irgendwas Blödes meinetwegen? Sie sah ängstlich aus und starrte auf das Mikrophon neben dem Bett, als ob da gleich eine Schlange oder sonst etwas Gefährliches rauskommen müßte. Ich stellte das Mikrophon ab, aber sie guckte weiter ängstlich, da ließ ich auch noch meinen Rasierapparat laufen, ich rasierte mich nämlich schon jede Woche zweimal. Ich sagte leise, die geheime Abhöranlage ist jetzt gestört, wie heißt du? Sie hielt die Hand vor den Mund und zischte in mein Ohr, ich darf nicht sprechen, ich habe einen Namen, aber den darf ich nicht sagen. Du kannst hier aus dir herausgehen, Mädchen, Multi Multiplikato hört wirklich nichts, wenn mein Rasierapparat läuft, ich hab das schon ausprobiert. Hast du öfter Mädchen hier oben? Klar, sagte ich, es ist noch nie was passiert, ich freute mich, daß sie mich wenigstens fragte, aber es blieb bei dieser einzigen Frage. Das Mädchen hielt sich plötzlich die Hand vor den Mund und legte sich stumm aufs Bett. Du brauchst wirklich keine Angst zu haben! Aber das Mädchen lag da wie ein Fisch, und ich wunderte mich, daß es mir nicht noch Messer und Gabel reichte, bitte, bedienen Sie sich, mein Herr, und dazu eine Serviette zum Wegwerfen. Ich setzte mich neben sie auf die Bettkante und betrachtete sie und wurde noch trauriger, als ich schon war. Ich vermißte so die Ausfragerei. Was bist du für ein Junge, Input, wo kommst du her, was machst du hier, wie gefällt es dir, warum bist du traurig? Ich sagte mir, dich braucht keiner mehr auszufragen, inzwischen wissen alle, daß du Oliver Input, der Sohn des Großen Zauberers Multi Multiplikato bist. Daß du sein Erbe antreten sollst, werden spätestens morgen die mei-
sten wissen, auch die Feier war zum Teil über Television gegangen, mich brauchte niemand mehr auszufragen, alles über mich wurde öffentlich breitgetreten, vielleicht gab es noch was zu fragen, zum Beispiel, warum ich so traurig war, aber das interessierte keinen, und als ich das dachte, wurde ich erst recht traurig, ich war so traurig, daß ich in einem See von Traurigkeit saß. Neben mir lag das Fischmädchen, aufs Trockne geworfen und ganz ratlos, mit einer Hand faßte es mich ein bißchen an, es grinste oder lächelte in regelmäßigen Abständen. Mit einemmal fragte aus dem Lautsprecher Multiplikato, wir müssen jetzt weiterfeiern, bist du fertig? Das Mädchen sah mich ängstlich an. Obwohl ihre Augen fischblau und nicht braun und nicht mal grün waren und kein bißchen schielten, ging mir dieser Blick ziemlich nahe. Ich stellte das Mikrophon an, alles in Ordnung, Papa, ich komme gleich. Das Mädchen steckst du in den Beutel zurück und schickst es nach Ebene Null. Hat es sich gut verhalten? Sehr gut, sagte ich. Da erschrak das Mädchen und packte mich und legte sich auf mich, aber vergebens, es klebte mir Küsse auf, hoffnungslos, ich fror vor Traurigkeit, plötzlich waren die Küsse salzig, es weinte. Du brauchst doch nicht zu weinen, Mädchen. Sie erhob sich und war ganz naß, als ob sie aus dem Flusse Diagramm gestiegen wäre, ich steckte sie wieder in den Plastbeutel, legte das silberblonde Haar ordentlich über ihre Schultern, klammerte den Beutel mit einem guten Dutzend Büronadeln zu, brachte sie zum Transportband und wünschte ihr gute Fahrt. Ich selbst hockte ein Weilchen auf meinem Bett, ich hätte ihr eine Nachricht an das Mädchen aus dem Refrigeratio, an Naida, die schwarze Vogelabrichterin, mitgeben sollen. Aber was für eine Nachricht und wohin? Bis du noch nicht fertig? drängte Multiplikato. Er war mit meinem Anblick gar nicht zufrieden, du siehst nicht so aus, als ob sich das Mädchen gut benommen hat, du bist nach wie vor traurig, stimmt es? Traurig bin ich, aber das Mädchen ist gut, vielleicht werde ich lustiger, wenn
sie wiederkommt. Die kommt nicht wieder, sagte Multiplikato, nächstes Mal kommt eine andere, jedesmal eine neue, bloß keine Vertraulichkeiten. Darum will ich auch nicht, daß die Mädchen hier wohnen, sie schnüffeln bloß rum, fassen alles an, verderben die Atmosphäre mit ihrem Geruch. Du glaubst nicht, was der Geruch, den eine Frau verbreitet, für Unstimmigkeiten bei den Maschinen hervorrufen kann. Seit ich meine Frau los bin, laufen die Maschinen exakter. Und jedesmal dieselbe würde die ganze Sache auf Menschenniveau zerren, deshalb dürfen sie auch nicht reden. Wo hast du das Mädchen her? Sie ist in einer Kiste gekommen und wurde auf Ebene Null wieder in eine Kiste verpackt. Mir gefiel das überhaupt nicht. Ich möchte, daß dieses Mädchen wiederkommt, sagte ich, ein anderes will ich nicht, ich möchte mich mit ihm unterhalten, es soll jeden Tag kommen. Ich sagte das, weil ich über die Art, wie Mul das Mädchen behandelte, wütend war, mir lag eigentlich nichts daran, es wiederzusehen. Wir sprechen noch darüber, sagte er, jetzt wollen wir weiterfeiern. Ich saß auf meinem Feiersessel mit einer finsteren Miene. Essen wir lieber anständig was, vielleicht kommst du dadurch in bessere Stimmung, was willst du? Ich wollte nichts, keine Erdbeeren mit Schlagsahne, keine sauren Linsen mit Würsten und Pflaumen und grünen Walnüssen. Unvermittelt erhob sich Multiplikato, stellte sich aufs Band und ließ sich rausziehen. Wahrscheinlich kutschte er durch die Stockwerke, um sich beim Anblick seiner Maschinen zu beruhigen, er kam aber ziemlich bald wieder. Das Mädchen übrigens hast du vollkommen aus der Fassung gebracht, es war so durchgedreht durch dein blödes Benehmen, daß es unterwegs nicht aufpaßte und überfahren wurde, soeben erhielt ich die Meldung. Das ist doch nicht möglich, das kann doch nicht sein. Es ist so, Input, sagte er finster, du mußt dich an den Gedanken gewöhnen, du solltest dich nächstes Mal zusammenreißen, dieser Unfall wäre wirklich nicht nötig gewesen. Ich war über die Nachricht so schockiert, daß ich nicht fragte, woher er es so
schnell erfahren hatte, und auch nicht darüber nachdachte, wohin er vielleicht auf dem Transportband gefahren sein könnte. Das ist nur passiert, weil wir kein System für Verkehrsregelung haben, wenn alle Fahrzeuge ferngelenkt wären… Wäre das auch passiert, sagte er böse, jetzt will ich was essen, und du ißt mit. Aber es kam kein Essen. Er drückte und drückte auf die Knöpfe. Es kam nichts. Die kleinen Wagen aus der Küche, die den Gästen Maschinenöl und Petroleum servierten, fuhren plötzlich unmotiviert und teils mit noch vollen Tassen ab, so daß der Gesundheits-Paladin und der Paladin für Friedhofswesen und fast alle Hauptmaschinen leer ausgingen, aber die übrigen Gäste, anstatt an den Plaströhrchen zu saugen, fingen an, das schon Ersaugte auszuspucken. Na na, sagte ich, benehmt euch mal, ich sagte das gallebitter benehmt euch, sagte ich, besabbert euch nicht so, wer soll die Schweinerei wegmachen. Das letzte sagte ich ganz mechanisch, es war einer der häufigsten Sätze meiner Mutter und meiner Großmutter gewesen, die immer behaupteten, ihr ganzes Leben bestände im Saubermachen, hier hatten wir Reinigungsmaschinen. Multiplikato verbot mir, die sabbernden Maschinen zu beleidigen, die Maschine hat ein höheres Gemeinschaftsgefühl als der Mensch. Ein Mensch, wenn er sieht, wie seine Mitmenschen leer ausgehen, schlingt seines in sich rein, damit es ihm nicht weggenommen wird, aber die Maschinen hier erklären sich mit denen, die leer ausgehen, solidarisch, wenn die nichts kriegen, wollen sie auch nichts. Ich hatte immer eine hohe Meinung von meinen Maschinen, aber daß sie eine derart hohe Moral zeigen, habe ich nicht erwartet. Und dann schalteten die Reinigungsmaschinen hinter den unteren Wandritzen ihre Saugdüsen ein, jedes Stückchen Papier, das in unseren Räumen hinfiel, wurde sofort von diesen Maschinen fortgesaugt, und Flüssigkeiten marschierten immer in kleinen Tropfen oder krochen als lange Zungen fort. Aber auch die Reinigungsmaschinen zeigten sich diesmal mit den leer ausgegangenen Gästen solidarisch, sie spuckten den Dreck, den sie in der letzten Woche aufgesaugt hatten, ins Zimmer zurück. So etwas hat man noch nicht gesehen, sagte Multiplikato begeistert, jetzt erklärt auch das Hilfspersonal seine Sympathie für die Leerausgegangenen, und weil wir ja auch leer ausgegangen sind, gilt diese Demonstration auch uns, ja, vielleicht begann sie sogar damit, daß die Küchenwagen sich weigerten, den Gästen zu trinken zu geben, nachdem wir kein Essen erhielten. Wo würdest du das bei Menschen finden, daß sie selbst nichts essen wollen, weil der Landeschef nichts zu essen kriegt, außerdem ist es ein unumstößlicher Beweis dafür, daß Maschinen und Menschen, allerdings Spezialmenschen, wohlgemerkt, die sich dem Niveau von Maschinen bereits sehr genähert haben, so miteinander harmo-
nisieren können, daß keiner es erträgt, wenn ein anderer benachteiligt wird. Aber sage ehrlich, Input, wärst du, bereit gewesen, sofort dein Lieblingsessen, sagen wir Erdbeeren mit Schlagsahne, auszuspucken, wenn du gesehen hättest, daß eine Maschine kein Öl erhalten hat? Ich glaube nicht, sagte ich. Ich muß dir gestehen, ich auch nicht, wir sind noch nicht so weit, Input, die Maschinen mußten uns erst beschämen. Aber warum haben wir kein Essen gekriegt, fragte ich, warum kam nichts, als du die Knöpfe drücktest? Das ist jetzt an sich vollkommen unwichtig, sagte Multiplikato, es war nur der Anlaß für diese grandiose Demonstration der hohen Moral meiner Maschinen. Du mußt ein Buch über diese Begebenheit schreiben, haben Maschinen eine Seele, eine bessere als der Mensch, Input, das mußt du wissenschaftlich darlegen, und eine Pop-Fassung des Werkes geht durch sämtliche Schulen, soweit noch welche vorhanden, jeder Haushalt muß es erwerben. Zusammen mit meinem aufgeblasenen Abbild, sagte ich mürrisch. Ich sah durchs Fenster. Im Hof, ganz unten, wo die Küchenanlage immer die Nahrungsmittel einnahm und die Abfälle auswarf, sah ich zwei Erdbeerbecher mit Sahne, einige schneeweiße Brötchen, unser Essen, das nicht gekommen war. Vielleicht drückst du noch mal die Knöpfe, regte ich Multiplikato an, und diesmal kam was, und es stank wie in den Schweineställen von Vitagam. Drück noch mal, sagte ich. Da fuhren die Abfälle wieder zurück, bloß der Gestank blieb uns erhalten. Was soll das für eine Sympathiekundgebung sein? Mein sogenannter Vater antwortete darauf nicht, er machte sich Arbeit, um nicht antworten zu müssen, er gab sofort dem Paladin für Friedhofswesen, der sauer in der Ecke stand, die Anweisung, für das überfahrene Mädchen ein mittleres Damenbegräbnis in Weißlich zu organisieren. Der Gestank allerdings verging nicht, die Vorrichtungen, die sonst jeden Geruch absaugten, fühlten sich angeregt, uns die konzentrierte Gestankmischung von Integral ins Zimmer zu blasen. Die Fenster ließen sich aber nicht öffnen, ich mußte eins einschlagen, sonst wären wir an den Autoabgasen erstickt. Ich steckte den Kopf aus dem Fensterloch und sah unten ein paar schmuddlige Weißeingekleidete umherschleichen.
Sie erblickten mich, winkten und zeigten mir Briefe. Keiner hört hier, rief einer, wir haben wichtige Post abzugeben. Vielleicht sind Sie so gütig und nehmen sie in Empfang. Das war leicht gesagt, das Transportband fuhr nicht, ich mußte erst den Knopf für Stillstand drücken und an den Türen die Knöpfe für Schließen, dann funktionierte es wieder. Als die Weißeingekleideten mir die Briefe aushändigten, merkte ich ihnen Schadenfreude an. Einige kamen mir bekannt vor, der eine hatte im Refrigeratio dauernd von seinem zweiten Luftkissenauto gequatscht, das er abschaffen müßte. Er sagte, er halte es für seine Pflicht, als Bürger und Weißeingekleideter des Landes Plikato, seinem Landesvater Multi Multiplikato, der ihn zwar durch eine Maschine ersetzt habe, durch wichtige Informationen zu dienen. Auch der Mensch, selbst wenn man ihn durch eine Maschine ersetzt habe, besitze eine gewisse Zuverlässigkeit, es sei zu bezweifeln, ob eine Maschine, die man ohne Programm in eine Ecke stellt, von sich aus einspringen würde, wenn der an ihren Posten gesetzte Mensch versagt Ich nahm die Briefe und fragte, ob sie Antwort wollten Wir stehen zu Multi Multiplikatos Verfügung, antworte, ten sie. Mein Vater riß die Briefe auf, las sie und schmiß sie mir an den Kopf. Alle Maschinen draußen tun angeblich das Gegenteil von dem, was sie sollen, die Mostonic-Automaten geben das Geld zurück und liefern keine Getränke, das geht noch, aber die Spielautomaten geben Geld raus, wenn einer verloren hat, und behalten es, wenn einer gewonnen hat. Du weißt, die Automaten sind so eingerichtet, daß bei ihnen mehr verloren wird als gewonnen. Auf der Post wird denjenigen, die einzahlen wollen, das Geld von der Maschine wieder zurückgegeben, wer abholen will, kriegt nichts, das geht ja noch, vorm Warenhaus ist eine Unmasse von Luftkissenschuhen mit Rückstrahlern eingetroffen, die kein Mensch mehr will. Birnen, die zwar auch keiner will, die aber zum täglichen Brot gehören und deshalb gekauft werden, sind überhaupt nicht gekommen, sie werden sogar aus den Geschäften eingezogen, dabei sollten Luftkissenschuhe mit Rückstrahlern eingezogen werden, zwecks Abmontierung der unmodisch gewordenen Strahler, was soll das, Input, habe ich dich die Kybernetische Akademie besuchen lassen, damit im Lande ein Chaos organisiert wird? Wahrscheinlich sind das alles Sympathieerklärungen, sagte ich, die Maschinen können sich bloß nicht so ausdrücken, es kommt bei ihnen ein bißchen falsch heraus, sie haben aber eine sehr hohe Moral, man darf es ihnen nicht übelnehmen.
Das brachte ihn gewaltig hoch, das einzige, was jetzt noch funktioniert, Idiot, ist der Verkehr, weil nämlich dafür kein zentrales System geschaffen wurde, wie du es wolltest. Und der Friedhofs-Paladin arbeitet vor sich hin, sagte ich. Was willst du damit sagen, fauchte der Mul mich wütend an. Daß er arbeitet, sagte ich. Mein Vater hatte den letzten Brief noch nicht gelesen, jetzt öffnete er ihn: Auf dem Ehrenhain für Verkehrsopfer beginnt die Bestattungsmaschine mit der Öffnung des Grabes Nummer 749. Mein Alter wurde schneeweiß im Gesicht, halt den Friedhofs-Paladin an, Input, das ist das Grab meiner Frau.
Ich mußte dem Kerl eine verplätten, damit er aufhörte er schnarchte kurz, seine Augen erloschen. Ich repariere ihn dir wieder, sagte ich. Den will ich nicht mehr, sagte mein Vater, der ist abgesetzt, der kommt auf den Schrotthaufen. Ich hatte gedacht, man würde bei derart hochstehenden Systemen von der Schrotthaufenstrafe absehen können, aber Multiplikato sagte, es geht nicht ohne, noch nicht, ehrlich gesagt, Input, ich würde mich jetzt gern in mein persönliches Zimmer zurückziehen, aber ich fürchte, ich werde da keine Ruhe finden. Das einzige, was noch funktioniert, ist der Straßenverkehr, wenn der ferngelenkt wäre… Er wurde tiefsinnig. Das Mädchen hätte nicht zu verunglücken brauchen, sagte ich, da ist was nicht in Ordnung, wenn ich es mir überlege, es fing eigentlich mit dem Mädchen an, daß nichts mehr funktionierte. Es funktioniert alles, dämlicher Bengel, alles funktioniert reibungslos, nur daß es umgekehrt funktioniert. Die Tür, die gar nicht aufgehen sollte, sprang auf, draußen summte das Band, ein leises Knistern hörte ich, da fuhr das Mädchen in dem Plastbeutel rein, es lächelte in gleichmäßigen Abständen, an der Beutelseite waren auch noch alle Büronadeln, mit denen ich ihn zugeklemmt hatte, ich riß ihm den Beutel vom Körper und küßte es von oben bis unten ab, weil es noch lebte, ich konnte einfach nicht anders. Multiplikato dagegen schien tot, jedenfalls lag er mit geschlossenen Augen im Sessel. Papa, das Mädchen lebt. Er faßte sich, murmelte, schön, aber es klang eher wie: schlimm. Ich dachte, er wollte sie nicht sehen, weil er die Augen nicht aufmachte. Ich brachte sie auf mein Zimmer und gab ihr einen von meinen Anzügen. Sie sah mich so an, als ob sie fragen wollte, willst du mich jetzt nicht ein bißchen lieben? Es wäre wirklich ein Grund gewesen, ich hätte es auch gewollt, ich war plötzlich überhaupt nicht mehr traurig, aber ich dachte zu sehr an das andere Mädchen, das die schwarzen Vögel hatte auffliegen und Anti-Mul-Verse rufen lassen, das in der Akademie gewesen und dann verschwunden war und von dem ich jetzt – plötzlich begriff ich es – ein Lebenszeichen erhalten hatte. Daß die
Maschinen das Gegenteil von dem taten, was sie sollten, besagte nichts anderes, als daß sie jemand umgepolt haben mußte, jemand hatte den Kreislauf der Energie umgelenkt, hatte Positiv in Negativ verwandelt, ich fand, daß so ein Streich nur diesem Mädchen Naida ähnlich sah, Naida und mir, Oliver Input, der die Affen aus dem Urwald in die Schule gelockt hat, uns ist so was zuzutrauen, wir sind verwandte Geister, leider hat sich die Verwandtschaft etwas entfernt, ich bin hier eine trübe Tasse geworden, auch ohne Birne, ich bin maschinenfromm geworden, Multiplikatos Maschinen haben mich verzaubert, aber ich war öfter traurig. Ich sagte zu dem Mädchen mit den silberblonden Haaren, das in meinem Anzug aussah wie ein kleiner Lord, jetzt geh, und wenn du eine siehst, die grüne Augen hat und beinah schielt und die schwarze Haare hat und furchtbar dünn ist, bestell ihr einen schönen Gruß von Oliver Input. Ich möchte hierbleiben, sagte das Mädchen, ich habe Angst. In Multiplikatos Arbeitszimmer lag die leere Plasthülle. Mein Vater sagte sehr sauer, wo hast du denn die Person? Rausgebracht, nach Hause geschickt. Einfach so? Hätte ich ihr noch ein bißchen Geld auf den Weg geben sollen? Ich hab ja keins. Man wird sie, wenn sie einfach nackt unterwegs ist, bald finden, irgendein mir immer noch treuer weißeingekleideter Idiot wird sie schon aufgabeln. Und nun zu dir, mein Sohn, was gedenkst du zu tun, hast du dir schon Gedanken über die Lage gemacht? Die Lage ist so, daß unsere Maschinen umgepolt wurden, und wir müssen sie wieder zurückpolen, ich werde mich mit der Energiezentrale in Verbindung setzen, es dürfte eine Kleinigkeit sein. Warum bist du mit einemmal so lustig? Es ist doch lustig, wenn plötzlich alles umgekehrt läuft, ich meine, im Prinzip ist es lustig. Als der lustige Zustand behoben war, ließ Multiplikato seine Verluste errechnen, für das Geld hätte man ein zweites Refrigeratio bauen können. Es läßt sich verschmerzen, sagte er, aber das Ansehen der Maschinen wurde untergraben, das wiegt schwerer, mir scheint es ziemlich sicher, daß zwischen dem Aufflie-
gen der schwarzen Vögel an meinem Geburtstag und dieser Umpolerei ein Zusammenhang besteht. Ich muß dir leider sagen, Input, daß dieses heute nicht geschehen wäre, wenn du die erste Aufgabe, die ich dir stellte, ernster genommen hättest, ich muß es dir sagen, und weiterhin muß ich sagen, daß ich es mir überlegen werde, ob ich dich nicht enterbe, aber es ist ja möglich, daß du die Aufgabe endlich löst, wer die schwarzen Vögel dressiert hat, wer die Maschinen verkehrt hat und wo derjenige zu finden ist. Besonders, wo derjenige zu finden ist, interessiert mich sehr, sagte ich, ich werde mir große Mühe geben, es zu ermitteln. Denke auch mal darüber nach, warum Professor Komplikato mich nicht über die Vorkommnisse in der Stadt informiert hat, obwohl er formal immer noch in meinen Diensten steht, sondern Weißeingekleidete, die ich entlassen habe? Komplikato rief am andern Morgen an, er sei in seinem Landhäuschen gewesen und gerade zurückgekehrt, in der Provinz habe es keine Umpolung gegeben, auch höre er, daß sie in der Stadt bereits rückgängig gemacht worden seien. Sie merken auch alles, sagte Multiplikato. Mich beauftragte er, den Professor unter allen Umständen in meine Forschungen einzubeziehen, er ist ein zu großer Trottel, um nicht verdächtig zu sein. Ich sollte mich aber auch um sämtliche entlassenen Weißeingekleideten kümmern und natürlich um die arbeitslosen Wissenschaftler. Ich beschloß, mich mit ihnen allen sehr gründlich zu beschäftigen, um die Aufgabe in die Länge zu ziehen. Ich war übrigens auch auf die Idee gekommen, während des Chaos mal kurz in den Raum zu blicken, der für mich tabu sein sollte, aber ich fand es dann unfair, die Notlage meines Vaters auszunutzen. Hast du in das bewußte Zimmer geguckt? Keine Angst, Papa, versprochen ist versprochen. Wenn du mir noch einen Gefallen tun könntest, sagte er, sei nicht zu lustig.
Kapitel 8 Du mußt doch irgendwo wohnen, fragte ich das Plastbeutelmädchen, es sah wieder ängstlich das Mikrophon an, ich ließ wieder meinen Rasierapparat laufen und stellte das Mikrophon ab. Ich wohne mit anderen Mädchen zusammen, das ist ein Haus hinter dem Refrigeratio, und die Fensterscheiben sind weiß gestrichen, damit keiner durchguckt, wir sitzen da in einem großen Zimmer auf unsern Betten, und an jedem Bett hängt ein Plastbeutel, und wir machen den ganzen Tag nichts weiter als uns duschen und einkremen und kämmen, und alle drei Stunden machen wir Gymnastik, dann müssen wir schlafen, dann müssen wir essen, nicht viel und hauptsächlich Vitamin-Speisen aus Birnen. Wenn du dauernd Birnen essen mußtest, warum hast du dann geweint, warum warst du nicht heiter, warum warst du nicht schläfrig, was waren denn das für Birnen? Birnen, sagte sie, ich war ja heiter, ich habe dauernd gelächelt. Aber geweint hast du auch. Ja, sagte sie, bei mir wirkt die Birne vielleicht nicht so, die meisten von uns weinen auch nie, sie schlafen, essen, machen ihre Gymnastik, und wenn ihr Name durch den Lautsprecher kommt, steigen sie in den Plastbeutel, stellen sich unter die Schließmaschine, die den Beutel zuschweißt, dann fahren sie von einem Band in die Kiste, und die wird von einem Schmetterlingsflügler fortgetragen. Ihr wißt, wo ihr hinfliegt? Uns wird durch den Lautsprecher gesagt, daß wir an einen höheren Ort fliegen, daß wir dort den Mund halten müssen und denjenigen, der uns in sein Bett nimmt, lieben müssen, und zwar so, daß er hinterher heiter und glücklich ist, auf keinen Fall dürfen wir sprechen, sonst so sagt der Lautsprecher, wartet auf euch das Grab. Was für ein Grab? Eben das Grab. Vielleicht eins auf dem Ehrenhain für Verkehrsopfer?
Ich weiß nicht, sagte sie.
Spricht niemals ein Mensch zu euch?
Da ist bloß eine Maschine, die gibt uns Essen Hautkrem, Parfüm, sie duscht
uns, wäscht uns die Haare, sie kommandiert unsere Gymnastik. Wie kommt ihr da überhaupt hin, wo bist du her? Aus Vitagam, sagte sie. Ich kenne dich nicht, ich habe dich da nie gesehen. Aber ich war ja schon lange nicht mehr in Vitagam gewesen. Ich habe in der Multiplikato-Birnen-Filiale gearbeitet. Eines Tages kriegten wir einen neuen Computer, das war ein Gesundheits-Computer oder so etwas, die Mädchen unter achtzehn mußten sich der Reihe nach reinstellen, er hat ein Weilchen gebrummt und geflackert, zum Schluß hat er geklingelt. Ich wurde auf den Hof geschickt, da stand ich allein, bei den anderen Mädchen hatte er nicht geklingelt, ein Schmetterlingsflügler holte mich und brachte mich in das Haus, ein Bett mit einem leeren Plastbeutel war gerade frei, es wurde öfter ein Bett frei, öfter mußte ein Mädchen wegfliegen. Und die Mädchen kamen nicht wieder? Es ist noch nie eins wiedergekommen. Und wo flogen sie hin? An einen höheren Ort. Aber du bist die erste, die zu mir gekommen ist. Habt ihr euch nie Gedanken darüber gemacht, wohin ihr fliegt, seid ihr nie darauf gekommen, daß Mul euch holt, was habt ihr denn den ganzen Tag über getan? Das alles, was ich dir sagte, dann hatten wir bei der Maschine Unterricht, Liebeskunde, das war sehr anstrengend, wir mußten alles so oft wiederholen, bis wir die ganze Liebeskunde auswendig konnten, eher kamen wir nicht weg. Und konntest du sie auswendig? Ich strengte mich an, weil ich an diesen höheren Ort wollte. Obwohl auf dich das Grab wartete?
Das war ja nur, wenn ich den Mund nicht halte.
Mein liebes Mädchen, mir kommt eine große Ahnung.
Geht dein Rasierapparat auch laut genug?
Da kannst du sicher sein, aber mir kommt eine Ahnung. Und wo willst du jetzt
hin?
Ich will hierbleiben, laß mich nicht allein, du bist der einzige, den ich habe.
Du kannst natürlich ein Weilchen hierbleiben, aber nur ein Weilchen. Von
meinem Essen kann ich dir die Hälfte abgeben, schlafen kannst du in meinem Bett, aber ich habe eine schreckliche Ahnung, der muß ich jetzt nachgehen. Das Mädchen wollte nicht schlafen, es hockte angezogen in meinem Sessel und sah mich ununterbrochen an. Ich muß noch arbeiten, sagte ich, leg dich hin oder mach, was du willst, den Rasierapparat kann ich wohl abstellen. Nein, sagte sie, vielleicht huste ich oder spreche ich versehentlich vor mich hin, vielleicht schlafe ich ein und schreie im Schlaf, laß den Apparat lieber an. In meinem Arbeitszimmer suchte ich auf dem zentralen Maschinenplan des Hauses das Zimmer, das ich nicht betreten sollte, ich schickte Signale rein, die aber zurückkamen, ohne dort aufgenommen worden zu sein. Multiplikato erschien, warum signalisierst du in mein persönliches Zimmer? Aus Versehen, antwortete ich. Das will ich hoffen, Input, aber du wirst da vergebens Signale hinschicken, das Zimmer ist so eingerichtet, daß es jeden Versuch, in es einzudringen, abweist. Ich wollte ja gar nicht eindringen. Ich will es hoffen, Input. Das brachte mich hoch, wie er das sagte, ich fragte ihn, warum er, wenn er sein heiliges Zimmer so gesichert hätte, mir dauernd vorhielt, ich sollte es nicht betreten. Ich soll es nicht betreten, hast du gesagt, von Signalen war nicht die Rede, aber ich interessiere mich für dein blödes Zimmer nicht.
Ich hoffe es sehr, Input. Arbeitest du bereits an der Aufgabe, die ich dir stellte, wer sind die Umpoler, wann können wir sie greifen? Ich bin ihnen hart auf der Spur, sagte ich, aber ich merkte, daß er es nicht glaubte. Ich hoffe, Input, ich hoffe es in deinem Interesse. Es war spät, er zog sich zurück. Ich konnte aus seinem Schlafzimmer über Funk bald seine Schnarchtöne hören, ich überlegte, wie ich an das Zimmer rankommen konnte. Ich folgte Multiplikatos Rat, den er mir am ersten Tag gegeben hatte, ich fuhr durch die fünfundsiebzig Stockwerke und sah in die halboffenen Türen, hinter denen die Maschinen in ihrer leisen Art vor sich hin arbeiteten, aber das Zimmer im vierundsiebzigsten Stock war wie immer verschlossen. Ich fand zwar kein Schlüsselloch und keinen Griff oder sonst etwas, aber ich sagte mir, es muß eine Stelle geben, von der aus die Tür geöffnet werden kann, und diese Stelle dürfte sich im Schlafzimmer des Großen Zauberers befinden, dort, wo er auch Kontakt mit meinem Zimmer hielt und meine Atemzüge zu belauschen pflegte. Er schnarchte laut, es war aber gefährlich, zu ihm zu gehen, er konnte wach sein und nur sein Schnarchband laufen lassen, und ich müßte dann sagen, du schnarchst so laut, Papa, ich dachte, du wärst krank, und tatsächlich lief so ein Band, als ich kam, aber Mul selbst war von seinem eigenen Schnarchen eingeschlafen. Er schnarchte auch noch original, es war ein Schnarchkanon, und ich überstieg die Lichtschranke zu seinem Schlafzimmer ungestört. Das Schaltsystem direkt neben seinem Bett fand ich gleich. Unter den vielen Knöpfen drückte ich vorsichtig einen, auf dem ein Blitz abgebildet war, er knackte zum Glück bloß leise, ich hatte mit einer Alarmklingel gerechnet, und ich hatte plötzlich das Gefühl, daß Mul wach lag und mir zusah. Multiplikato schnarchte nicht mehr, er atmete leise, einmal warf er sich rum, stöhnte ein bißchen und atmete weiter. Ich ging ungehindert in sein geheiligtes Zimmer, es war weder kleiner noch größer als die anderen Maschinenzimmer und taghell beleuchtet wie alle unsere Zimmer zur Dunkelheit. Ich war zuerst enttäuscht, wie ärmlich es eingerichtet war, keine Liege, keine Hausbar, keine geschwollenen Sessel, nicht mal ein Teppich und noch nicht mal Maschinenporträts an den Wänden, keine Gardinen. Die einzigen Möbel waren ein großer Tisch und ein Drehstuhl. Vielleicht ist das wirklich bloß ein Raum, in dem er ganz allein sein will. Daß er dort allein sein wollte, glaubte ich ihm, als ich die zwei Maschinen näher besah, die da auch noch standen, und als ich hinter das Spiel kam, das auf dem großen Tisch angebracht war. Die eine Maschine ähnelte dem Apparat, der in den Warenhäusern zum Maßnehmen verwendet wird, wenn sich jemand aus dem gekauften Stoff ein Kleid oder einen Anzug machen lassen will; die Maschine tastet den Körper
ab und überträgt die Maße auf einen Schnitt, nach dem der Stoff zugeschnitten wird, bloß hier war es anders: Die Maße, die in die Maschine gegeben wurden, sollten immer nur ein und derselben Figur entsprechen, mit minimalen Abweichungen, aber derselben weiblichen Figur, und das eingehängte Muster war die Schablone eines Frauenkörpers, auf die die eingegebenen Daten passen mußten. Hier arbeitete also mein lieber Vater am Frauenproblem. Ich gab ein paar Daten in Arbeit, sie paßten nicht in die Schablone und fielen aus der Maschine raus, aber die nächsten paßten, und die Maschine zitterte mit ihrem grünen Auge und warf eine Nummer aus, vermutlich die Nummer eines neu angenommenen Mädchens, das auf Multiplikatos Schablone paßte und das jetzt mit einem Schmetterlingsflügler in das Haus gebracht wurde, wo ein Bett mit Plastbeutel wartete, und das nicht kam, weil es ein von mir erfundenes Mädchen war. Ich sah mir die Maschine noch näher an, sie war vor meiner Ankunft in diesem Haus gebaut worden, die Zahl der abgearbeiteten Aufgaben ließ darauf schließen, daß mein Vater selbst die Mädchen bestellt hatte, deren Daten in der Kartei abgelegt waren. Es waren achthundertsiebenunddreißig. Das Mädchen mit dem Silberhaar und den fischblauen Augen, das er mir zugedacht hatte, war Nummer achthundertachtunddreißig. Er log also, wenn er behauptete, mit Frauen nichts mehr im Sinn zu haben, sie mußten nur seiner Schablone entsprechen. Später wollte er vielleicht wirklich Maschinenfrauen entwickeln, im Augenblick nahm er noch Plastbeutelmädchen, die den Mund halten mußten und nachher abgelegt wurden. Mich haute das im Grunde genommen nicht mehr um. Aus der Erzählung des Mädchens hatte ich mir schon fast alles zusammengereimt, so geheimnisvoll hätte er damit nicht zu tun brauchen, er hatte mir doch bereits seinen Seelenspeicher geöffnet, dazu seine Pläne bezüglich der Verwendung von Frauen als Liebesobjekte erklärt, da hätte er mir die Maschine mit der Mädchenschablone auch zeigen können, nahegelegen hätte auch, daß er mich meine individuelle Schablone einhängen ließ, ich verstand seine Geheimnistuerei nicht. Ich sah mir die andere Maschine an, zu der der Tisch gehörte. Auf dem Tisch lag, wie gesagt, ein Spiel, ein Verkehrsspiel, auf dessen Unterlage das Straßennetz von Integral verzeichnet war und die wichtigsten Gebäude, die hauptsächlichsten Bäume und Statuen und Springbrunnen. In den vier Ecken dieser Karte, in Nebenstraßen oder Sackgassen (durch Tore verschlossen), parkten je drei schneeweiße Autos. Ich schaltete die Maschine ein, sofort leuchtete das Spiel auf, ich sah den Verkehr von Integral sich durch die Straßen bewegen, Autos Roller Fußgänger. Mir kam die Idee, ein Auto zu verfolgen, es wäre meinem Auge fast entflohen, aber ich fand die Einrichtung, mit der ich das Auto markieren konnte, indem ich den Straßenverkehr einen Augenblick fixierte. Alles stand still, ich gab den Standort des Autos ein, ich konnte das auf den Millimeter genau, weil dem Stadtplan ein Koordinatennetz zugrunde lag. Dann ließ ich den Verkehr wieder laufen, das markierte Auto, inzwischen weitergefahren, leuchtete wie ein Glühwürmchen. Wenn ich ihm jetzt einen der weißen Blitze, die in den Sackgassen warteten, entgegengeschickt hätte, wäre ein tragischer Ver-
kehrsunfall entstanden. So einfach ließ sich das einrichten. Den Rest erledigte der Paladin für Friedhofswesen. Ich durchblätterte die Kartei, ich fand merkwürdigerweise Daten abgelegt, die eigentlich ins Friedhofswesen gehörten, unter anderen achthundert-siebenunddreißig mittlere Damenbegräbnisse auf dem Verkehrsopferfriedhof. Mir war nun klar, was mein verehrter Vater, der Große Zauberer Multi Multiplikato, in seinem persönlichen Zimmer trieb. Probeweise, und ohne jemand zu treffen, wollte ich den Weißen Blitz auslösen und ihn danach sofort wieder in seine Sackgasse zurückkommandieren. Er sollte höchstens hundert Meter fahren, die Fahrbahn sollte frei sein, aber die Schaltung für den Weißen Blitz war gesperrt. Ich fand einen Schlitz wie für einen Schlüssel. Sicher trug ihn Multiplikato an seinem Körper, den Weißen Blitz behielt er sich vor. Es konnte ihm gleichgültig sein, ob ich dieses geheime Zimmer betrat oder nicht und ob ich erfuhr, wer den Weißen Blitz lenkte, vielleicht hatte er moralische Bedenken, mich in die Verkehrspraxis von Integral einzuweihen, das wäre immerhin ein menschlicher Zug an ihm gewesen. In meinem Zimmer saß noch das Mädchen aus dem Plastbeutel. Multiplikato und ich hatten ein stillschweigendes Abkommen darüber, daß er nie in mein Zimmer guckte. Ein Zimmer, das ganz tabu für ihn war, konnte er mir prestigehalber nicht bewilligen, er ging eben zu mir nicht rein, wahrscheinlich, um mich nicht unnötig an sein persönliches Zimmer zu erinnern. Jetzt sagte ich zu der Kleinen, meine Ahnung hat sich erfüllt, du mußt verschwinden, wenn mein Alter merkt, daß ich in seinem Zimmer war, wird er auch in mein Zimmer kommen. Guten Abend, mein Junge, guten Abend, Madame, sagte Multiplikato, barfuß, im Schlafanzug. Lieber Input, du weißt, wie ich Damenbesuche zu regeln wünsche. Madame, es hat mich gefreut, ich wünsche Ihnen einen angenehmen Nachhauseweg. Sie bleibt hier, sagte ich, der Straßenverkehr ist zu unsicher. Er zog mich vor die Tür, warum ich sein geheiligtes Gemach betreten hätte, fragte er. Ich habe es nicht eigentlich betreten, es ist von ganz alleine aufgegangen, ich wollte es bloß zumachen. Warum hast du nicht rechtzeitig die optimale Ausrede bei einer Maschine in Auftrag gegeben, aber so wichtig ist es nicht, Input, eines Tages hättest du das Zimmer sowieso kennengelernt, ich frage mich nur, ob du jetzt schon reif genug dafür bist. Da du es aber gesehen hast, mußt du die Verantwortung für das Gesehene tragen.
Ja, Papa, gern.
Ist dir überhaupt klar, was ich da oben mache?
Du spielst, Papa.
Gewissermaßen spiele ich, du hast recht, aber ich spiele, ich, ich, ich. Und du
läßt die Finger davon, du darfst da spielen, wenn du mein Erbe angetreten hast, jetzt noch nicht, noch lange nicht, Input, ich lasse dich da nicht ran, und es ist noch nicht sicher, ob ich dich nicht vorher enterbe. Enterben kannst du mich jetzt nicht mehr.
Du weißt also, was ich da oben wirklich mache. Denke nicht, daß du mich damit erpressen kannst. Wenn ich will, enterbe ich dich, vielleicht brauche ich dich auch nicht zu enterben, man kann einen Erben auch anders loswerden, und jetzt wirfst du das Mädchen raus. Das Mädchen werfe ich nicht raus, das Mädchen bleibt bei mir, ich will es immer bei mir haben, ich will es ständig sehen. Wenn ich das Mädchen nicht behalten darf, kann ich nicht arbeiten. Übertreib mal nicht, seine Augen leuchteten golden, als ob ihm ein Licht aufgegangen wäre, du bist verliebt, armer Input, da gibt es nur eins, heirate sie. Wozu gleich heiraten? Wenn du sie nicht heiratest, fliegt sie raus, dir fehlt noch die Erfahrung der Ehe, du hast diese Enttäuschung noch nicht erlebt, du denkst noch zu gut von den Frauen, heirate sie oder wirf sie raus, aber ich fürchte, du bist noch nicht reif genug, um sie rauszuwerfen. Meinetwegen. Ich heirate sie, Papa, sie ist ganz nett. Du solltest sagen, sie ist ganz brauchbar, da könnte ich dir zustimmen, die Maschine hat sie nach meinen Angaben ausgesucht. Oliver Input als Ehemann kam mir lächerlich vor, aber um das Mädchen erst einmal zu retten, wiederholte ich, gut, Papa, ich heirate sie. Ich würde schon eine Möglichkeit finden, es abzubiegen. Morgen findet die Hochzeit statt, sagte der Mul. Ich war umgehauen. Aber dann ganz groß, sagte ich. Eine ganz große Hochzeit schafft der bis morgen nicht. Die größte Hochzeit Integrals, sagte er, außer der meinigen damals, sie läuft über Television. Und wie weit bist du mit deiner Aufgabe, wann erfahre ich, wer die Umpoler sind und wo sie sich aufhalten? Ich arbeite dran, sagte ich. Morgen wirst du es mir sagen, bei einer Hochzeit hocken alle Leute birnenkauend vorm Televisionsschirm, da verkünde ich die Auffindung der Umpoler. Ich arbeite dran, aber ich will, daß die Hochzeit im Refrigeratio stattfindet, da ist die vornehmste Atmosphäre.
Für eine Hochzeit ist es da etwas zu kühl, aber, bitte schön, es ist deine Hochzeit, und noch eins, Input, ich bin überzeugt, du wirst eines Tages erleichtert sein, wenn deine Frau beim Einkaufen in der Hauptstraße zufällig von einem weißen Blitz überfahren wird, du wirst den Blitz noch schätzenlernen.
Kapitel 9 Es schmeckte mir nicht, Sohn und Erbe des Multi-Mörders Multi Multiplikato zu sein. Als ich rausgekriegt hatte, was Mul in seinem persönlichen Zimmer trieb, dachte ich, jetzt machst du nicht mehr mit, Schluß mit dem Mul, wegrennen, die Maschinen in seinem Zimmer kaputt machen, am besten mit einer Axt. Aber wo war in diesem Haus so etwas Primitives wie eine Axt, jedenfalls Kampf bis aufs Messer, aber es gab in diesem Haus auch kein Messer, das Fleisch wurde uns schon in Stücken gereicht, wir brauchten es nur zu löffeln, dann eben Kampf bis auf die Scherbe von irgend etwas, das von uns benutzte Geschirr ging aber nicht in Scherben, es war aus Gold oder aus unzerbrechlichem Kunstmaterial, eine Fensterscheibe zerhauen und mit der größten Scherbe bei Multi eindringen und ihm den Hals durchschneiden, während er schlief, aber wenn ich mit der Scherbe auch bis zu ihm vordrang, mir lag es nicht, einem Menschen den Hals durchzuschneiden, auch wenn er ein Multi-Mörder war. Wenn er sich auf mich gestürzt hätte und ich mich hätte verteidigen müssen, hätte ich ihn vielleicht umbringen können, aber mit Absicht hinschleichen und es tun, wenn derjenige schläft, das kann ich nicht. Mir fiel allerdings auch nichts anderes ein, und weil mir nichts einfiel, wurde ich wieder mal wütend, diesmal auf mich selbst. Warum hatte ich in das blöde Zimmer geguckt? Es ging mir doch gut, warum mußte ich da reingucken, besser fühlt man sich, wenn man nichts weiß, aber dann hätte ich auch nicht wissen dürfen, daß hinter der verschlossenen Tür etwas war, was ich nicht wußte. Multiplikato war selber schuld, ich hätte nie nachgesehen, wenn die Tür offen gewesen wäre, es gab in dem Haus Zimmer, deren Türen offenstanden und in denen sich irgendwelche profanen Maschinen befanden, die irgendwelche uninteressanten Abläufe bearbeiteten, ich glaube Kanalisation Essenzufuhr Reinigung. Ich hatte da noch nie nachgesehen, weil mich das einfach nicht interessierte, und wenn mich mein mörderischer Vater auf seinem Sterbebett eingeweiht hätte, dann hätte ich eben seine Praxis nicht fortgeführt, aber ich hätte vorher von nichts gewußt, ich wäre an nichts mitschuldig gewesen, ich hätte mich auf mein Taktgefühl und meinen Respekt ihm gegenüber berufen können, wenn mich- jemand gefragt hätte. Aber hätte mich wer gefragt? Wer fragte jetzt Multi Multiplikato? Ich hätte seine Praxis bestimmt nicht fortgeführt. Aber ich hatte eine Ahnung gehabt! Muß man, wenn man was ahnt, dem auch nachgehen? Das Plastbeutelmädchen hatte erzählt, warum konnte es erzählen – weil es zurückkam, warum kam es zurück – , weil die Maschinen umgepolt worden waren und der Weiße Blitz nicht funktioniert hatte und das Mädchen noch auf dem Transportband gewesen war, das rückwärts lief. Daran war. das Schlangenmädchen aus dem Refrigeratio schuld, ganz bestimmt, immer wieder war sie schuld, wenn ich nicht weiterkam. Ich wollte auf sie wütend sein, aber konnte ich wütend sein, weil ich durch sie erfahren hatte, daß mein großartiger Vater mir den Job eines Multi-Mörders vererben wollte? Daß bei Mul nicht alles stimmte, hatte ich schon am ersten Tag gemerkt,
als er mir nicht sagte, was in seinem Zimmer steckte, aber die Maschinen hatten mich so verzaubert, daß ich mir nichts draus machte, daß ich das Schlangenmädchen vergaß. Aber ich war traurig geworden, obwohl ich ein Maschinenfan war und die größte Auswahl an kybernetischem Spielzeug hatte, die überhaupt jemand besaß. Obwohl ich das alles hatte, wurde ich traurig, ganz verzaubert war ich also noch nicht, ganz hatten es die Maschinen noch nicht geschafft. Ich sagte mir, den Mul legst du aufs Kreuz, daran mußt du jetzt arbeiten, das erwartet jetzt das Schlangenmädchen von dir. Professor Komplikato sagte, bleibe immer Oliver Input. Na klar bleibe ich Input, der die Affen aus dem Urwald gelockt hat, an der Spitze den alten Oberaffen, aber dieser Oberaffe war kein Multi Multiplikato, der schickte keinen Blitz los, der trug einen dicken Lederbauch und erschreckte die Unteraffen durch plötzliches Plumpsen vom Baum und allenfalls durch einen Biß in den Hintern. Trotzdem mußt du den Mul aufs Kreuz legen, und es war schlau, daß du der Hochzeit zugestimmt hast. Auf der Hochzeit wird Multi Multiplikato den ersten Schlag einstecken. Ich hatte inzwischen rausbekommen, wer die Umpoler waren. Die Wach- und Schließmaschinen der Energiezentrale hatten das Eindringen einer weiblichen Person registriert, die die Hauptschließmaschine beschädigt und die wichtigsten Energiemaschinen manipuliert hatte. Über ihren Fluchtweg konnten die Maschinen nichts aussagen, da sie umgepolt waren und die Umpolerin dies zur Flucht ausgenutzt hatte. Zwar waren ihre Körpermaße, Geruch und Gewicht aufgenommen worden, aber nun finde mal einer in der großen Stadt Integral ein Mädchen mit entsprechenden Daten wieder, außerdem konnte sie ihr Gewicht bei ihrem Eindringen in die Energiezentrale durch schwerere Kleidung oder durch Schaumpolster verändert und den eigenen Duft durch ein Parfüm überdeckt haben, das sie sonst nie trug. Natürlich wäre es nach Multiplikatos Geschmack gewesen, wenn ich ihm bei der Hochzeitstafel zugeflüstert hätte, in dem und dem Haus von Integral befindet sich der gewaltige Umpoler. Mul hätte sie sofort holen lassen und den Televisionisten des ganzen Landes vorstellen können, bitte schön, meine verehrte Umpolerin, es freut mich sehr, möchten Sie nicht mit mir auf unsere unverhoffte Begegnung anstoßen, und einen Tag später hätte er ihr das eleganteste Damenbegräbnis der letzten Jahre spendiert. Aber ich konnte ihm die Freude nicht bieten, selbst wenn ich es gewollt hätte, unsere Überwachungsmaschinen an den Punkten, wo sich Verdächtige zu sammeln pflegten, auch die im Refrigeratio, hatten zwar die Daten erhalten, einige hatten sogar das vorübergehende Auftauchen eines mit diesen Daten behafteten Körpers gemeldet, dann aber war der Körper plötzlich untergetaucht, die Information riß ab. Ich dachte, dieser verdächtige Körper wird nicht gerade an einem Platz bleiben, der als Sammelplatz der Verdächtigen gilt, insofern war unser Wach- und Schließsystem lückenhaft. Jede Straße, jeder Baum, jedes Lokal, jedes Haus, jedes Zimmer, jedes Klo in der Stadt hätte in das System einbezogen sein müssen, aber so weit war Multi-
plikato noch nicht. Ihm wollte ich jedoch, selbst wenn ich durch einen Zufall den Aufenthaltsort der Umpolerin herauskriegen sollte, nichts davon sagen, aber für mich selbst wollte ich es unbedingt wissen, dann wollte ich versuchen, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Das konnte ich nicht durch eine Maschine, das mußte durch einen Menschen geschehen. Ich stellte meinen Rasierapparat an und sagte zum Plastbeutelmädchen, das Delfina hieß, ich heirate dich natürlich nicht richtig. Wenn das Theater vorbei ist, kannst du gehen, wohin du willst, vielleicht müssen wir eine Weile so tun, als ob wir verheiratet wären, aber du bist zu nichts verpflichtet, du kannst dich als frei betrachten, es ist alles nur, um dich zu retten und den Mul aufs Kreuz zu legen. Kannst du mich denn nicht ein bißchen leiden? fragte Delfina. Leiden schon, aber richtig heiraten, ich meine aus Liebe, kann ich dich nicht, du bis vollkommen frei. Wenn ich den Mul aufs Kreuz gelegt habe, kannst du sofort nach Hause fahren. Nach Hause fahren will ich nicht wieder, da muß ich dauernd an der Birnenhalbiermaschine stehen, es ist alles so langweilig. Es wird nicht mehr langweilig sein, wenn der Mul weg ist, Birnen wird es dann überhaupt nicht mehr geben, und du kannst in Integral bleiben. Ich sagte ihr, sie sollte bei der Hochzeit, wenn ich sie auf den Fuß treten würde, auf die Toilette gehen, sich dann in den hinteren Räumen verstecken und sich von dem alten Kellner mit den grauen Haarstreifen, der sehr vornehm spreche, der sehr gefällig sei und mir selbst schon sein eigenes Mittagessen gegeben habe, etwas anderes zum Anziehen geben lassen und verschwinden. Ich hätte dabei nur eine einzige Bitte, sie sollte versuchen, ein Mädchen namens Naida ausfindig zu dachen, und sie sollte dieses Mädchen davon informieren, daß Oliver Input nicht daran denke, falls er ihren Aufenthaltsort erfahre, sie zu verraten, und daß er entschlossen sei, Multiplikato zu besiegen. Eventuelle Briefe würde Oliver Input aus der Erde des großen Palmenkübels im Refrigeratio oder auch von einem anderen Ort, den das Mädchen vorschlagen könnte, entnehmen oder entnehmen lassen, und das Mädchen Naida möchte nett zu dem Plastbeutelmädchen Delfina sein, es sei überhaupt nichts zwischen Input und Delfina gewesen. Vielleicht hat Naida Arbeit für dich, dir steht alles frei. Du bist sehr großzügig, daß du mir alles freistellst, sagte Delfina, deshalb werde ich gar nicht erst verschwinden, ich mache das nicht, Oliver Input, das macht man nicht, das gehört sich nicht bei einer Hochzeit, da hat die Braut so was nicht zu machen.
Es ist aber keine richtige Hochzeit, und du bist keine richtige Braut, sagte ich. Wieso bin ich keine richtige Braut? Multi Multiplikato hat gesagt, wir sollen heiraten, du hast zugestimmt, also bin ich eine richtige Braut, ich will mir meine Hochzeit nicht durch deine Einfälle verderben lassen. Du sollst das Mädchen doch warnen, daß es sich vorläufig nicht zu oft an verdächtige Orte begibt, sonst liegt es bald auf dem Verkehrsopferfriedhof. Na und, sagte Delfina, da liegen viele, ich hätte da beinah auch gelegen. Ebendeshalb müßtest du das verstehen. Das verstehe ich auch, aber wer hat sich um mich gekümmert, als ich in dem Haus mit den milchigen Fenstern war, wer hat sich da für mich interessiert, ich wäre auch beinah überfahren worden. Du hast mir erzählt, daß mein Begräbnis bereits bestellt war. Und wer hat dich gerettet? Sie knabberte an ihrem langen silbernen Haar. Schön und gut, ich wurde gerettet, aber deshalb muß ich mich nicht gleich wieder vor den Weißen Blitz werfen. Sie fing an zu weinen, sie klammerte sich an meine Beine, ich habe solche Angst, Input. Ich war gerührt, du mußt dich ganz auf mich verlassen. Sie weinte so sehr, daß ich schließlich sagte, dann verschwindest du eben morgen nicht, aber wenn wir verheiratet sind, fährst du öfter einkaufen, und bei der Gelegenheit hältst du nach diesem Mädchen Ausschau. Ich heirate dich eben, weil du es unbedingt willst, du tust mir dafür diesen Gefallen. Sie hörte und hörte nicht auf zu weinen. Jedes Mädchen ist eben nicht so mutig wie meins aus dem Refrigeratio. Ich besiege Multiplikato bestimmt, Delfina, und du hilfst mir ein ganz kleines bißchen dabei. Das kannst du nicht, Input, das ist Spinnerei. Ich muß es, und ich werde es auch. Das darfst du nicht sagen. Ich sagte, der Rasierapparat läuft.
Aber sie hörte nicht hin. Mein Hochzeitskleid ist ganz in Weiß und mit goldenen Splittern benäht. Deine Maße hatte Mul ja, sagte ich finster. Dann hatte sie keine Zeit mehr, sie mußte in die Kosmetikmaschine, um für die Hochzeit ihr Gesicht und alles durchwalken zu lassen. Ich dachte, nun laß sie erst mal, sie will eben unbedingt heiraten, sie will eben Braut spielen. Die kleinen Mädchen in Vitagam wollten auch immer Braut spielen, mich wollten sie immer zwingen, den Bräutigam darzustellen. Ich dachte, das geht bei ihr vorüber, ich kann nicht zuviel auf einmal von ihr verlangen, vielleicht wird sie vernünftig, wenn ich die Hochzeit platzen lasse, ich wußte zwar noch nicht wie, ich mußte nach den Gegebenheiten handeln. Am Morgen lag mein Hochzeitsanzug fix und fertig da, und Delfina, meine sogenannte Braut, war schon aufgedonnert, repräsentativer hätte sie beim Galabegräbnis erster Klasse in einem Supersarg auch nicht aussehen können. Der Mul kam, als ob er in einen Leimtopf mit Brillanten gefallen wäre, und verpaßte ihr und mir einen Vaterkuß.
Kapitel 10 Unterwegs zum Refrigeratio fielen mir ein paar Ausreden ein. Ich bin noch nicht zwanzig, Papa. Er hielt mir das neueste Gesetzblatt unter die Nase, ab heute Ehealter in Sonderfällen, die Multi Multiplikato persönlich prüft, von zwanzig auf sechzehn herabgesetzt. Aber meine Eltern sind nicht dabei, und du hast selbst das Gesetz erlassen, wonach die Eltern, falls sie noch leben, ihre Zustimmung geben müssen. Darauf erwiderte er nichts, aber als wir vor dem Refrigeratio niedergingen, war auf dem Platz gerade ein Pfeilflügler gelandet, meine und Delfinas Eltern stiegen aus, meine Mutter in weißem Brokat wie eine festlich verpackte Birnentonne; mein Vater, auch in Weiß, wollte mich irgendwo klopfen, aber er wurde vom Festautomatisator zurückgeschoben, Delfinas Eltern, auch weiß aufgedonnert, wurden ebenfalls zurückgeschoben, obwohl Delfina keinen Kontaktversuch unternahm. Mul entschuldigte sich bei uns, er konnte mal wieder nicht an sich halten und mußte mit seinen Maschinen angeben. Der ganze Ablauf der Feier wird von der Lorbeerallee gesteuert, alles ist bis auf die Viertelminute geplant, wir müssen jetzt alle dem Festautomatisator, dem verlängerten Arm des Paladins für feierliche Angelegenheiten, gehorchen, sogar ich, er fand das witzig und sagte noch mal, sogar ich, und wenn der Automatisator klingelt, fängt die Televisionsübertragung an, wir schreiten auf dem weißen Läufer feierlich zu unseren Plätzen an der Festtafel, und ich bitte euch, seid nicht empfindlich, wenn euch der Automatisator vielleicht mal anfaßt, er arrangiert uns nur, denn wir sind jeder ein Teil des Programms, sogar ich, wir müssen uns so schieben lassen, wie es notwendig ist, sogar ich, damit der reibungslose Ablauf gewährleistet ist. Ist auch ein Gespräch mit unseren jeweiligen Eltern programmiert, fragte ich. Wir müssen uns alle dem Programm fügen. Der Automatisator sortierte uns mit seinen Stahlhänden, baute einen Festzug aus uns, vorne Multi Multiplikato, dann der automatische Festredner, dann auf Rollen die Attrappen der wichtigsten Paladine, weil es zu kostspielig gewesen wäre, sie selbst erscheinen zu lassen, dann meine und Delfinas Eltern, dann die Attrappen der wichtigsten Hauptmaschinen, dann Professor Komplikato, keine Attrappe, wie ich durch Anfassen feststellte, dann Delfina und ich, dann eine Gruppe einfacherer Maschinen, Mostonic-Automaten und Spielautomaten, zum
Schluß die ganze Hammelherde der Weißeingekleideten, die immer bei Muls Feiern mitlief, und ganz zum Schluß, in ordinärem Bunt, ein paar Leute, die Mul durch ihr Geschäftstalent dienten und im Refrigeratio Bier zu trinken pflegten, was sich sonst keiner leisten konnte. Die Hochzeit fand also im Beisein des Volkes von Integral statt, wie Mul voller Freude sagte. Bevor wir an die gewaltige Tafel geschoben wurden, hätte ich gern noch mit meinen Eltern gesprochen, vielleicht würden sie so nett sein und ihre Einwilligung zur Trauung nicht geben, aber ich kam nicht ran, Mul war schon drin, meine Eltern drängelten hinter den hohen Maschinenpersönlichkeiten her, so sahen sie nicht, wie ein schwarzer Vogel, einer von der sprachbegabten Sorte, die damals geschrieen hatten, Mul solle die Birne selber fressen, was auf mein superweißes Jackett fallen ließ und mit klappenden Flügeln wegflog. Laß es antrocknen, sagte Komplikato, nachher löst du es vorsichtig ab. Der Professor war noch magerer geworden, außerdem etwas krumm, sein Anzug trug einen Grauschleier. Als wir uns alle an der Tafel versammelt hatten, die mit Orchideen und überbackenen Quallen beladen war, merkte ich, daß Mul über die schlampige Aufmachung Komplikatos empört war. Er sah ihn nicht mehr an, um sich die Festlaune nicht verderben zu lassen. Ich nahm, von Mul unbemerkt, einen Stellungswechsel vor. Delfina wollte meutern, du mußt neben Papa stehen, und ich muß neben diesem Opa stehen. Wir stehen sehr richtig, sagte ich, wehe, du schmeißt das Programm, darin kennt Papa nichts, da läßt er es mal kurz blitzen. Komplikatos Arm hing so dicht neben meinem, daß ich unterm Tisch seine Hand antippen konnte. Die Musik, die plötzlich losging, war in der Eile falsch programmiert und daher die Musik für Verkehrsopferbegräbnisse, das deprimierte mich sehr. An meine Eltern kam ich überhaupt nicht ran. Nach den merkwürdigen Sitten, die Mul in unserem Land eingeführt hatte, konnte eine Ehe nicht geschlossen werden, wenn ein Teil der vier Elternteile oder ihrer Stellvertreter die Erlaubnis verweigerte, aber ich kam nicht an sie ran. Sie starrten von der anderen Tischseite aus drei Metern Entfernung zu mir rüber. Ich merkte, daß sie die Begräbnismusik schön fanden und sich gehoben fühlten, die hätten niemals nein gesagt, auch ohne Angst vor Mul, die kamen sich zu sehr geehrt vor, mit Delfinas Eltern war es ebenso. Sie waren alle aus dem Schlaf gerissen worden, in einen Pfeil-
flügler gesteckt und darin für die Hochzeit aufgedonnert worden. Sie schienen nicht ganz bei sich, aber das hinderte sie nicht daran, aufzupassen, ob Delfina und ich uns anständig benahmen. Ich hatte dauernd das Gefühl, sie zitterten, ich könnte gähnen, ohne die Hand vorzuhalten. Ich tat es probeweise, meine Mutter lief rot an, mein Vater guckte auf den Tisch, während Delfinas Mutter mich böse ansah; von solchen Eltern war keine Hilfe zu erwarten. Ich tippte unter dem Tisch an Komplikatos Hand, und er tippte an meine, da fühlte ich mich wenigstens nicht ganz so einsam, während der automatische Festredner sagte, daß Menschen leider noch nicht umhinkönnten, ein Liebesleben zu führen, daß Delfina und ich darin ein Vorbild sein sollten, daß es niemanden befremden möge, daß ich, Oliver Input, einziger Sohn und Erbe des Landesvaters Multi Multiplikato, noch einen anderen Vater hätte (mein richtiger Vater wurde in dem Augenblick automatisch aus seinem Stuhl gehoben, er verbeugte sich erschrocken). Multiplikato habe mich zwar nicht gezeugt, diese gewiß nicht zu unterschätzende praktische Leistung sei meinem Vater aus Vitagam zuzuschreiben, aber Multiplikato habe aus mir das maschinennahe Individuum Oliver Input Multiplikato gemacht, er sei mein geistiger Vater, und bei allem Respekt für die Leistung meines körperlichen Vaters komme niemand umhin, die geistige Zeugung für die eigentliche zu halten, das wäre es auch, was mich von anderen Menschen unterscheide. Oliver Input Multiplikato wurde zweimal gezeugt. Der Redner gab zu hoffen vor, daß auch eines Tages eine zweite Zeugung der schönen Delfina erfolgen würde, dies sei auch zum Teil meine Aufgabe, ich müßte versuchen, sie auf maschinennahes Niveau zu heben. Was hast du da für Dreck auf deiner Jacke? fragte Delfina. Was dieser schwarze Vogel da auf mich hatte fallen lassen, klebte, ließ sich aber leicht ablösen, bloß kam es mir nicht wie Vogelunrat, sondern wie zusammengedrücktes Papier vor, ich behielt das Kügelchen in der Hand unterm Tisch. Der Redner fragte meine Eltern, ob sie mir die Ehe mit Delfina erlaubten. Sie riefen beide, als ob sie bloß für diesen Moment gelebt hätten, ja. Delfinas Eltern warteten nicht mal, bis sie gefragt wurden, sie schmissen ihr Ja gleich mit dem Ja meiner Eltern zusammen. Drücken Sie zur Bekräftigung auf die vor Ihnen angebrachte Taste, sagte der Redner. Mein Vater schlug elegant auf die Taste, meine Mutter drückte sie sorgfältig. Ich dachte, ich sage nein, ich drücke die Taste nicht, dann wollen wir mal sehen, was aus dem Programm wird, dann kann die Ehe nämlich nicht zustande kommen, auf nein sind die Maschinen nicht vorbereitet. Eigentlich dachte ich nur an den Genuß, nein zu sagen, ich dachte an die schöne Überraschung für die Televisionisten im ganzen Land, wenn Oliver Input, der für sie alle denken
sollte, der kleine Gott, plötzlich nein sagen würde. Das wäre ein moralisch sehr eindrucksvoller Vorfall: Oliver Input denkt für dich, Oliver Input sagt nein. Unterm Tisch murkelte ich noch das Papierstückchen zwischen meinen Fingern, plötzlich nahmen Komplikatos Finger es mir weg, plötzlich lag ein graues Fetzchen im Schatten meines Tellers: Sag ja! Ich zwickte unterm Tisch Komplikatos Finger, er drückte ganz ruhig meine Hand, es sollte wohl bedeuten, sag ja, und ich dachte, ja, es ist das vernünftigste, was ist schon ein solches Ja, es verpflichtet zu nichts, ein Nein würde bloß den Mul in Kampfstellung bringen, soll er denken, ich bin mit ihm einverstanden, das erleichtert es mir, ihn zu besiegen; mit einem Nein vor der Televisionskame-
ra würde ich ihn blamieren, aufs Kreuz legen würde ich ihn damit nicht. Es tat mir sehr leid um mein Nein, aber ich streckte brav den Finger aus, um vom Festredner den Ehering entgegenzunehmen, und sagte ja, zur Bekräftigung drückte ich auch den Knopf, damit das Ja in der Lorbeerstraße ankäme. Aber als ich drückte, steckte der Festredner die Ringe, anstatt sie Delfina und mir aufzusetzen, in sein Inneres. Der Festautomatisator faßte mich an und schob mich in einem Affentempo durch die Halle und von da in den Waschraum und von da in den Fahrstuhl, er blieb stehen und glotzte mir nach, ich fuhr vielleicht zehnmal durchs Refrigeratio, beim elften mal blieb der Fahrstuhl im Keller stecken, aber so, daß ich rauskonnte, der feine Kellner, der mir bei meinem ersten Refrigeratiobesuch sein Mittagessen geschenkt hatte, leuchtete mir mit einer Taschenlampe bis zu einem Gerümpelhaufen, dann verzog er sich. Dieser Haufen erinnerte mich an die Abfallgrube in Vitagam, da war aber auch alles hingeworfen, kaputte Kühlsessel, leere Quallenfässer, ausgediente Rechenmaschinen, ein elektronischer Teppichkuli mit ausgeweidetem Bauch und ein Refrigeratiobett, von dem die Kühlschicht in Fetzen hing. Mir war nicht klar, was ich hier sollte. Da vernahm ich, daß das Gerumpel knarrte, quietschte und knisterte. Dann war ein Atemgeräusch zu hören, und ein Wesen kroch unter dem Kühlbett hervor. Sehr liebenswürdig, Herr Input Multiplikato, mich hier zu treffen. Naida sah murklig aus, um nicht zu sagen schmutzig. Ich stieg zu ihr auf den Gerümpelhaufen und setzte mich auf das zerfranste Bett. Ich bin umgehauen, Naida, bloß möchte ich kritisch anmerken, Input Multiplikato bin ich nicht, ich bin Oliver Input, der bleibe ich auch, und weiterhin möchte ich zu deiner Umpolungstätigkeit kritisch sagen, du hast viel Mut aufgebracht, es war auch ein toller Effekt für den Augenblick, aber es polt sich alles wieder sehr leicht zurück, und wenn ich mir vorstelle, daß die ganze Gesellschaft wieder an diesen blöden Tisch mit den Quallen zurückgepolt wird, könnte ich mir vor Wut in den Hintern beißen. Es war wohl ungeschickt, eine Begrüßung gleich mit einer Kritik anzufangen. Sie sagte, ich hätte mich früher zwar nicht niveauvoller, aber gepflegter ausgedrückt, benutzt du jetzt Vulgarismen, weil du die höchste Kategorie erreicht hast? Ich bin eben umgehauen, Naida, ein anderes Wort finde ich nicht für das, was ich im Augenblick bin, und daß ich Kritik übe, sollte dich nicht erschrecken. Um es dir gleich zu sagen, ich habe den Mul jetzt völlig durchschaut, ich weiß, wo die Weißen Blitze herkommen, Mul selber lenkt sie, er ist ein Mörder.
Na so was, sagte Naida, du kommst auch auf alles. Wußtest du das denn schon? Entschuldige, sagte sie, meine Eltern wurden vom Weißen Blitz überfahren, da werde ich es wohl wissen. Ich habe aber die Anlage gesehen, durch die er die Blitze aussendet, ich habe jetzt einen festen Beweis. Das ist großartig, sagte Naida, man müßte mit diesem Beweis etwas machen, du bist gut, Oliver Input, aber was macht man mit dem Beweis? Ich habe auf Grund des Beweises beschlossen, den Mul zu besiegen. Ich konnte ein bißchen Feierlichkeit nicht ganz vermeiden, ich lege ihn aufs Kreuz, Naida, darauf kannst du dich fest verlassen. Sie streichelte meinen Hinterkopf, aber mit einemmal standen die Finger still, als ob ihnen der Strom abgeschaltet wäre. Naida, es tut mir leid, daß deine Eltern vom Blitz überfahren wurden, und noch dazu, wie ich annehmen muß, zu meiner Zeit, aber ich besiege den Mul, wir beide werden zusammen den Mul besiegen. Wie denn, Input, wie sollen wir das schaffen? Sie fing wieder an, meinen Kopf zu streicheln. Nach einer Weile stockten die Finger wieder. Wie denkst du es dir? Ich mußte zugeben, daß ich es mir noch nicht genau überlegt hatte. Sieh mal, Naida, ich habe es gestern erst beschlossen, ich habe es erst mal abstrakt beschlossen, Naida, erst mußte der allgemeine Beschluß dasein, das ist das schwerste, das habe ich schon geschafft. Die Erkenntnis, Naida, ist da, die praktischen Schlußfolgerungen werden uns einfallen. Naida saß zusammengeklappt da, das Haar vorm Gesicht, und sagte, als du die Affen aus dem Urwald gelockt hast, war da auch zuerst ein allgemeiner Beschluß, vielleicht, tierische Lebewesen sind aus ihrer gewöhnlichen Umwelt in eine andere zu überführen zwecks indirekt kritischer Äußerung über eine vorhandene Einrichtung? Das ist was anderes, sagte ich, die Affengeschichte ist mir einfach eingefallen, die abstrakte Formulierung kam erst, als ich schön in der Kybernetischen Akademie saß oder noch später, aber die Erkenntnis, daß die Schule langweilig war, ist vor den Affen gewesen. Ich fragte, wie es mit ihren Vögeln und den Umpole-
reien gewesen wäre. Daß ich was gegen den Mul unternehmen wollte, war mir vorher schon klar. Mir eben nicht, sagte ich, darum haben für mich die Erkenntnis und der Beschluß, den ich gefaßt habe, eine Bedeutung, mir war nicht immer klar, daß ich den Mul besiegen müßte, darum komme ich jetzt vom Abstrakten zum Konkreten, anders als bei den Affen. Naidas Finger klopften auf meinem Hinterkopf ein leises Stakkato, dann strichen sie das Stakkato durch. Wir sind uns vollkommen einig, uns ist ganz klar, was wir brauchen, und je klarer es ist, desto weniger finden wir es. Vielleicht finden wir es, sagte ich, wenn wir uns nicht so einig sind, ich frage dich zum Beispiel, wieso bist du immer schon gegen den Mul gewesen? Meine Eltern waren schon gegen ihn, sagte sie, und mir gefiel es schon immer nicht, daß ich nichts lernen sollte und mir von Muls Maschinen vorschreiben lassen mußte, wie blöd ich zu sein habe. Ich sagte, ich mußte mir vorschreiben lassen, wie klug ich zu sein habe. Sagen wir mal wie gelehrt, sagte Naida, du hast eben einen Umweg gemacht, du warst zuerst auch gegen Mul, aber er hat dich verzaubert. Ja, sagte ich, verzaubert, das ist der richtige Ausdruck. Ach, du denkst, für Verzaubertsein kann man nicht. Weißt du, Naida, ich bin eben so unedel, daß ich mich habe verzaubern lassen, jetzt will ich aber den Mul besiegen. Was wir jetzt brauchen, Input, ist eine Idee, auf die Idee kommt es an. Vielleicht können wir sie auf Anhieb nicht finden. Das müssen wir aber, sagte Naida, wenn du zu deiner Tischgesellschaft ohne Idee zurückgehst, ist es zu spät. Ich will da nicht wieder hin. Du mußt, sagte Naida, du mußt Mul in seinem eigenen Haus überlisten. Dann wird mir dort schon was einfallen.
Nein, sagte sie, dort fällt dir bestimmt nichts ein, dort läßt du dich wieder verzaubern. Jetzt nicht mehr. Wenn du die leisen Maschinengeräusche hörst und das Maschinenöl riechst, wirst du alles wieder vergessen. Ich habe dich auch nicht vergessen, sagte ich, verpfiffen hab ich dich auch nicht. Du benimmst dich wirklich nicht fein, seit du höchste Kategorie bist, sagte Naida. Oder gibt man in dieser Kategorie damit an, wenn man jemand nicht verpfeift? Ach, Naida, du hast einen richtigen Schlangenzahn. Unter dem Tisch sagtest du, die Naidaschlange beißt nicht gleich mit dem Zahn direkt, das wäre nicht ihre Methode, aber du beißt mich andauernd, obwohl ich zu dir kam und zu allem bereit bin. Still, sagte Naida, jetzt kommt die Idee, nicht direkt zubeißen, gut, daß du mich daran erinnert hast. Wie wäre das: Eines Morgens guckt der Mul aus dem Fenster, und seine Silberlöwen sitzen nicht mehr da, sind spurlos verschwunden. Das müßte ihn stark verunsichern. Aber es geht nicht über die Vogelidee und die Umpolerei hinaus, sagte ich. Naida behauptete, die Idee hätte es in sich, es wäre ihre erste brauchbare Idee. Ich schaffte es nicht, ihr das klarzumachen, daß die Idee etwas genau Berechnetes, Kybernetisches sein müßte. Daran werde ich arbeiten, Naida. Die Silberlöwen müssen spurlos verschwinden, wenn du diese Idee fallen läßt, glaube ich nicht, daß du den Mul besiegen wirst. Es läßt sich doch mit Händen greifen, daß das die Idee ist. Ich griff nichts mit den Händen, außer vielleicht Naidas Haar, das ich ihr vom Gesicht nahm. Wenn du natürlich Angst hast, mußt du es lassen, sagte Naida, aber ich gehe dann fort von hier. Anspielung auf Angst konnte mich nicht erschüttern, ich hatte keine. Daß
Naida fort wollte, war schlimm.
Ich lasse es mir durch den Kopf gehen, Naida.
Vergiß es nicht.
Der feine Kellner strich mit der Taschenlampe an unserem Gerümpelhaufen
vorbei. Einen Moment, Eisvogel, sagte Naida, das ist nämlich Alcedo, der Eisvogel, dem kannst du Nachrichten für mich geben. Ich wollte dir auch noch danken, daß du mich von Delfina weggeholt hast. Ich dachte, es wäre passend, ihr klarzumachen, wie ich zu Delfina stand.
Sie sagte, vergiß meine Idee nicht, das Refrigeratiobett kippte um, Naida war verschwunden. Es wäre empfehlenswert, wenn sich der Herr jetzt in die Halle bemühen würde, sagte der Kellner, die Verhältnisse sind in ihren unnormalen Zustand zurückgekehrt. Die Hochzeitstafel sah wüst aus, das Essen war aufgrund der Umpolung von Abräummaschinen vorzeitig weggezerrt worden, überbackene Quallen, die Geistesgegenwärtige von den abfahrenden Schüsseln genommen und vor sich auf den Tisch gelegt hatten, waren in die Breite gegangen und hatten das Tischtuch ekelhaft durchfeuchtet. Meine und Delfinas Eltern standen verängstigt in einer Ecke. Multiplikato sprach auf Komplikato ein, der die Umpolung gerade rückgängig gemacht hatte. Es wird etwas geschaffen werden, sagte Mul, wodurch eine neue Umpolung unmöglich wird, nie wieder wird es eine Umpolung geben. Der Professor setzte zu einem Vortrag über den in jeder Maschine vorhandenen U-Effekt an, der U-Effekt, hochverehrter Multi Multiplikato, ermöglicht der Maschine überhaupt ihre Aktionen, einerseits oder andererseits, das ist das Prinzip jeder Ihrer Maschinen, entweder ja oder nein, plus oder minus, das birgt natürlich die Anfälligkeit für eine Umpolung in sich. Der Mensch ist differenzierter gebaut, aber auch nicht so zuverlässig, der Mensch hat viele Möglichkeiten Abstufungen Schattierungen, für ihn gibt es nicht nur ja oder nein, für ihn gibt es kein Nie wieder oder ein Immer nur, und darum hat er sich bisher auf der Erde gehalten, allerdings um den Preis der Zuverlässigkeit, Ihre verehrten Maschinen, hochverehrter Multi Multiplikato, sind zuverlässiger, aber um den Preis einer Umpolung. Es wird keine Umpolung mehr geben, sagte Mul, mein Sohn Input, falls er noch lebt, wird dafür sorgen. Umpolung begegnet man einfach mit Umpolung, sagte Komplikato. Mul sagte, das wissen die Umpoler anscheinend nicht, sonst würden sie nicht auf so kindische Art ihre Zeit vertun. Komplikato erwiderte, Sie müssen zugeben, daß der jeweilige Augenblick für die Umpolungen nicht schlecht gewählt war, ein gewisser Effekt ist nicht zu leugnen, aber ich denke auch, es werden keine Umpolungen mehr stattfinden. Was bringt Sie darauf, fragte Mul mißtrauisch, kennen Sie etwa die Leute? Ich vertraue der Intelligenz und dem starken Willen Oliver Inputs, sagte Kom-
plikato. Mul sah ihn immer noch mißtrauisch an. Sie sind schlampig geworden, Professor. Die Reinigungsmaschinen gaben mir aufgrund der ersten Umpolung meine Sachen unbearbeitet zurück. Es wird künftig keine Umpolung mehr geben, wiederholte Mul. Er erblickte mich. Wo hast du gesteckt? Irgendwo unter dem Dach, sagte ich. Und wie riechst du? Er beschnüffelte mich, du riechst nach Unrat. Komplikato beschnüffelte mich auch, das ist diese spezifische Mischung der Gerüche der Nebengelasse, gewürzt durch die Ausdünstungen der Waschräume. Na gut, sagte Mul mürrisch, fahren wir erst mal nach Hause. Aber die programmierte Zeit war noch nicht abgelaufen, wir mußten noch eine gute Stunde vor dem beschmutzten Tisch zubringen, bis Kaffee serviert wurde. Meine Eltern wurden schon vorher abtransportiert, ich kam nicht an sie ran, aber ich hatte ihnen auch nichts zu sagen. Delfinas Mutter heulte, ihre Tochter war nicht wiederaufgetaucht, Delfinas Vater äußerte, an sich müßte man protestieren, als der Automatisator ihn rausschob. Komplikato zeigte ein Gesicht wie aus Pappe, und die finstere Brille schien darauf festgeklebt. Warum bist du nicht lustiger, fragte mich Mul. Du bist ja auch kein Freund vom Heiraten, Papa. Vor dem Haus in der Lorbeerstraße hockte, ein bißchen entfernt von den Silberlöwen, den Rock ausgebreitet wie eine staubige Sofapuppe, Delfina.
Kapitel 11 Die Silberlöwen kriegten jeden Tag dreimal eine Schüssel mit Kraftfutter vorgefahren, das echtem Fleisch angeglichen war. Mul fand es geschmacklos, die Löwen vor seinem Haus blutiges Fleisch zerfetzen zu lassen. Jeden zweiten Tag kriegten sie nur eine Schüssel mit Wasser, damit sie nicht fett wurden, sie waren trotzdem schon leicht verfettet. An ihre Sonnenbrillen hatten sie sich so gewöhnt, daß sie ohne sie blind waren. Ihre Zähne und Klauen befanden sich noch in gutem Zustand. Einem, dem es gelungen war, gut dreihundert Affen samt ihrem Oberaffen aus dem Urwald in die Schule zu locken, sollte es nicht schwerfallen, zwei ältliche Silberlöwen verschwinden zu lassen, allerdings störte mich beim Nachdenken Delfina, sie saß frisch wie aus dem Beutel neben mir und kontrollierte mein Gesicht. Warum bist du wiedergekommen? Papa hat beschlossen, daß die Trauung morgen im kleinsten Kreis nachgeholt wird, die Zustimmung unserer Eltern ist ja gespeichert, fehlt bloß noch unsere. Wenn ich den Mul besiegt habe, ist die Ehe ungültig. Das darfst du nicht sagen, ich finde es gemein, er ist mein Schwiegervater, er ist nicht so. Es ist nicht gesagt, daß ich überfahren werden sollte, das vermutest du, das ist überhaupt eine gemeine Verdächtigung, das hast du dir zusammengesponnen. Und die anderen achthundertsiebenunddreißig Mädchen, wo sind die nach deiner Meinung geblieben? Das ist deren Sache, ich urteile danach, wie sich Papa mir gegenüber verhält, zu mir ist er gut. Du bist undankbar, Input, zu dir ist er auch gut, solche Väter tun mir leid, zu denen die Kinder undankbar sind. Da hatte der Mul genau den richtigen Fang gemacht, mußte ich die auch retten. Ich ließ Rasierapparat Massageapparat Zahnputzmaschine laufen. In dieser ruhigen Atmosphäre dachte ich darüber nach, wie ich Muls Silberlöwen spurlos verschwinden lassen konnte. Das einfachste erschien mir, sie loszumachen, damit sie laufen konnten, wohin sie wollten, in die Steppe, die sich vor Integral ausbreitet, oder in den Urwald, problematisch erschien mir nur, wie ich ihre Ketten aufkriegen sollte. Als Delfina schlief und ich aus Muls Schlafzimmer die berühmten Schnarchtöne vernahm, schlich ich hin und sah nach, ob er wirklich schlief, und er schlief, und
ich fuhr runter und besah mir die Ketten. Sie waren nicht so dick, ein paar Glieder schienen defekt zu sein, eine Kleinigkeit, sie auseinanderzubiegen, wenn man die richtige Zange hatte, ich verstand überhaupt nicht, daß Mul die Löwen seit Jahren an so verrotteten Ketten hielt, mir fehlte also bloß eine Zange, zur Not genügte auch ein Stück Eisen. Ich holte den Griff meiner Massagemaschine und stemmte damit die erste Kette und die zweite auf, versteckte mich in der Tür, dachte, die Löwen würden mit den Kettenresten davonrasseln, aber sie bewegten sich nicht. Ich trat dem einen in den Hintern, los, hau ab, er blieb sitzen, ich fuhr rauf und montierte den Griff, dann schlief ich, damit ich am Morgen besonders unschuldig wirkte. Als ich vormittags aus dem Fenster guckte, saßen die Löwen immer noch da, sie schienen jedes Freiheitsgefühl verloren zu haben, natürlich, wo sollten sie hin, ohne Brillen waren sie blind, mit Brillen nahm sie die Tierwelt nicht mehr für voll, verfettet waren sie auch, an regelmäßiges Essen gewöhnt, vielleicht wären sie losgerannt, wenn ich ihnen unter die Hintern Feuer gelegt hätte, aber Feuer, das wäre aufgefallen, ich wußte auch nicht, wo ich Feuer hernehmen sollte, offnes Feuer oder Streichhölzer hatten wir überhaupt nicht im Haus, wir hatten oben lediglich einen Anzünder für Muls Zigarren, und der war stationär. Ich sagte mir, die Löwen müßte man in einen Container locken, ans andere Ende des Landes fahren und dort aussetzen. Aber woher sollte ich einen Container beschaffen, ohne daß es dem Mul auffiel? Ich ahnte schon, daß ich die Löwen hier sterben lassen mußte, damit sie spurlos verschwinden konnten. Am besten transportierte ich die Kadaver dann vielleicht mit dem Wagen ab, der immer die Abfälle holte. Das allerdings brachte die Gefahr mit sich, daß sie auf den Müllfeldern gefunden werden konnten, sie sollten aber spurlos verschwinden. Ich erwog nun, aus dem Plastbeutel, in dem Delfina gekommen war, zwei Beutel, etwas größer als Löwenköpfe, zurechtzukleben, sie je an einem lassoähnlichen Strick zu befestigen, mit dem ich sie zuziehen konnte, nachdem ich sie den Löwen von hinten über den Kopf geworfen hatte. Die Tiere würden darunter ersticken. Ich bereitete also die Beutel vor, zog Enden von Verlängerungsschnüren von meinen Elektrogeräten durch; nachts stellte ich mich damit hinter die Löwen. Neben dem Eingang war es gerade laut, denn es wurde für die Küche frische Ware gebracht. Wir erhielten das Fleisch immer lebend, Mul wollte es am liebsten noch roh essen, solche Angst hatte er vor nicht mehr ganz frischem Fleisch. Wir hatten eine komplette Schlacht- und Verarbeitungsanlage im Haus, und es war manchmal ein bißchen laut, wenn neue Tiere ankamen. Hinter der sich automatisch öffnenden Tür kriegten sie automatisch den entscheidenden Schlag vor den Kopf. Ich hatte mir das noch nie angesehen, aber Mul sprach öfter davon, wenn er die Frische des Fleisches genoß. Es war also laut, als der Tierwagen vorfuhr, und ich dachte, die Löwen würden scheu werden und vielleicht doch noch wegrennen, aber sie saßen da, und ich
hätte mit einiger Konzentration die Plastbeutel über ihre Köpfe werfen und zusammenziehen können. Mir kam das mit einemmal etwas mörderisch vor, so hatte sich Naida die Lösung der Aufgabe wohl nicht gedacht, ich faßte, ohne viel zu überlegen, die durchbrochenen Ketten und führte die Löwen zum Wagen hin, sollten sie da lebendig einsteigen. Die Leute, die den Wagen aufmachten, würden schon durch die Laufritzen sehen, daß Löwen drin waren, sie würden sie höchstwahrscheinlich nicht zurückschicken, sie würden sie irgendwie beiseite schaffen, aus Angst, daß Mul ihnen vorwarf, einer von ihnen hätte die Löwen geklaut, obwohl das schlecht möglich war, denn die Fahrer setzten sich erst am Ausgang Lorbeerstraße wieder in den Wagen, in der Lorbeerstraße lief der Wagen unbemannt und ferngesteuert, weil Mul nicht alle möglichen Leute in seiner Straße wünschte. Niemand wird sie zurückschicken, niemand wird sie gefunden haben. Ich führte also die Löwen zum Tierwagen, zuerst mußte ich sie ein bißchen ziehen, mir war das unheimlich, weil ich sie dabei im Rücken hatte, aber dann trotteten sie von selbst und zogen mich, ein Instinkt schien ihnen wiederzukommen, als sie sich dem Wagen näherten, aber sie sprangen nicht in den Wagen, wo es nach Tieren roch, sondern liefen zum Gang, ich mußte sie loslassen, die Klappe fiel hinter dem Ochsen, der vor ihnen ging, sie warteten geduldig, bis sie wieder aufschnappte, dann lief der eine Löwe rein, ich hörte den Schlag, dann der andere, worauf der zweite Schlag fiel. Auf dem leeren Platz lagen die beiden Felsblöcke mit den Resten der Ketten, und ich dachte, ich träumte. Am anderen Tag war Sonntag, und sonntags ging Mul immer selbst hinunter und legte jedem Löwen ein Stück Vitamin-Zucker hin, diesmal sollte ihn Delfina begleiten, mit der ich inzwischen verheiratet war. Immer um dieselbe Zeit am, Sonntagvormittag brachte die Television den Großen Zauberer Mul, wie er Zucker hinlegte, die Leute konnten die Uhr danach stellen. Diesmal wurde ihnen gezeigt, wie er sein tierliebes Grinsen nicht abstellen konnte, mit dem er aus der Haustür getreten war, er variierte sein Programm aber im letzten Augenblick, er steckte den Zucker in Delfinas vor Schreck aufgerissenen Mund und grinste tierlieb. Beim Mittagessen saß er stumm, war blaß und rauchte, während wir aßen, er wurde immer blasser. Ich fragte, ob ihm etwas nicht bekommen wäre. Nein, danke, er habe übrigens die beiden Löwen freigelassen. Es ist nicht mehr mein Stil, derartige Torhüter, zu beschäftigen, sie haben in der letzten Zeit mehr und mehr den Charakter von Symbolen angenommen, nur noch Symbole, Input, er sagte das furchtbar traurig zu mir. Ich sagte, man müßte verhindern, daß sie auf den Straßen jemanden überfallen.
Ein bißchen spät, jetzt daran zu denken, Input, das hättest du dir früher überlegen müssen. Ich habe sie nicht freigelassen, Papa, ich hätte mich das nie getraut, ich fand es schön, wie sie da saßen mit ihren Sonnenbrillen und aufstanden, wenn wer kam. Wer ist denn in der letzten Zeit gekommen? Wir sind vom Hochzeitsfest zurückgekommen, sagte Delfina, und sie sind aufgestanden, sie waren süß. Es kommt aber keiner mehr. Das müßte dich doch freuen, sagte ich, du hältst doch von den Menschen sowieso nichts. Na eben, und deshalb habe ich die Löwen freigelassen, sie hatten keine Aufgabe mehr bei mir, sie wurden ja schon fett, das feierliche Aufstehen fehlte ihnen. Ich sagte, sie waren das gewisse Etwas an diesem ganzen Haus, wenn du mich fragst, man hätte, um sie fit zu halten, Gymnastik für sie arrangieren können, die Zeit der Silberlöwen war deine beste Zeit, Papa, das war noch Stil, ich hätte an deiner Stelle nicht so voreilig gehandelt. Es war nicht meine beste Zeit, Input, ich stehe erst am Anfang, und diese Löwen waren zu Symbolen herabgesunken, ich habe mich von ihnen frei gemacht. Er drückte die Zigarre krampfhaft zwischen feuchten Fingern. Wir könnten sie vielleicht noch einfangen, sagte ich. Er nebelte sich ein, ganz trocken verlangte er von mir einen Bericht über meine Recherchen betreffs der Umpoler. Ich sagte, was die Maschinen konnten, haben sie getan, es ist nicht ihre und auch nicht meine Schuld, daß sie nicht mehr ermittelt haben. Wir brauchten entsprechende Maschinen in jedem Baum, in jeder Toilette, in jeder Straßenlampe und in jedem Mostonic-Automaten und wo sonst nicht noch überall. So, sagte er, ich kannte einen, der konnte nicht ganz logisch denken, oder er wollte es vielleicht auch nicht, und jedesmal, wenn man ihn deshalb kritisierte, schob er es auf die Maschine. Ich weiß ganz genau, sagte er, diese Rechnung stimmt nicht, aber jetzt beschaffe ich mir eine neue Maschine, die hat ganz andere Möglichkeiten, dann wurde er wieder kritisiert, er redete wieder von einer noch neueren und noch besseren Maschine, die alle Probleme bestens lösen
würde, und dabei konnte oder wollte er bloß nicht denken. Papa, was redest du denn da, du widersprichst ja deiner eigenen Theorie, sind die Maschinen nicht dem Menschen überlegen? Natürlich, und das fällt um so schlimmer auf, wenn der Mensch nicht denkt. Er war sehr mißgestimmt, versuchte aber, das Gesicht zu wahren. Delfina, sagte er, du langweilst dich, ihr solltet euch jetzt zurückziehen. Ich wollte es schon sagen, Papa, könnte ich nicht alleine schlafen, Delfina möchte sicher auch ein eigenes Zimmer. Ich habe bereits das Ehebett bestellt, sagte Mul, und ihr bezieht gemeinsam ein größeres Zimmer. Mir war das unheimlich. Delfina war sicher zu manchem fähig, wenn ich mich nicht als Ehemann betätigte. Sie sagte auch gleich, als wir allein waren, die Löwen hat nicht Papa freigelassen, das war jemand anders, kannst du dir denken, wer? Nach einer ganzen Weile fragte sie, warum der Griff an meinem Massageapparat verkehrt rum angeschraubt sei. Ich weiß nicht, Produktionsfehler, sagte ich. Nein, sagte sie, du hast ihn abgeschraubt und wieder angeschraubt, ich habe es genau gesehen. Wann willst du das gesehen haben? Vor fünf Tagen, als ich schon schlief. Du siehst also mit geschlossenen Augen. Ich weiß auch, daß du die Löwen weggeschafft hast, ich habe genau gesehen, wie du abends an ihren Ketten rumgespielt hast. Wo habe ich sie deiner Meinung nach hingebracht? Das wird noch rauskommen, man kann so große Löwen nicht spurlos fortschaffen, irgendwo werden sie jemand anfallen, oder ihre Kadaver werden aufgefunden. Dann wirst du deinem lieben Schwiegerpapa einreden, daß ich es war.
Kommt auf dich an, sie legte sich mal wieder in ihrer blöden Nacktheit hin. Du kannst mir nichts beweisen, Delfina. Vielleicht könnte ich dich lieben, sagte ich notgedrungen, aber du müßtest dann auf meiner Seite stehen. Sie sagte, ich handle nicht um Liebe. Wir drehten uns voneinander weg, und ich verbrachte die Nacht erfolglos damit, darüber nachzudenken, wie die Beweise meiner Tat restlos zu tilgen wären. Am Morgen servierte uns die Küche eine ungeheure Fleischplatte. Mul griff trotz seiner schlechten Stimmung ordentlich zu. Man soll mehr Fleisch essen als Fett und Süßigkeiten, das hält fit. Willst du nicht auch? Wohl oder übel mußte ich, die leichte Fettschicht war in der Küche schon entfernt worden, das Fleisch war sehnig, wir brauchten nachher Zahnstocher. Es ißt sich schwierig, aber gerade solches Fleisch macht fit, sagte der Mul, in ihm steckt noch die Kraft der freien Steppentiere, was meinst du, wie alt dieser Ochse war? Ich schätzte sieben Jahre. Zehn Jahre schätzte Mul. Es ist ein Irrtum, daß altes Fleisch keine Kraft enthält, im Gegenteil, es ist viel ausgebildeter als junges, es hat lange genug die freie Steppenluft genossen. Ich denke, unser Vieh wird bloß noch automatisch aufgezogen, es kommt nicht an die Luft. Nicht dieses Vieh, das ich mir liefern lasse, so alte Ochsen gibt es gar nicht in der automatischen Erzeugung. Ich gebe zu, ein junges Tier verspeist sich angenehmer, dieses Fleisch hier verlangt dir etwas ab, es macht den Eßprozeß wieder zur harten Arbeit, das stärkt die Kauwerkzeuge, den Verdauungsapparat. Du solltest tüchtig kauen, und du auch, Delfina, ihr wißt, wie ich zu den Maschinen stehe, aber gerade, daß sie uns heute solches Fleisch servieren, empfinde ich nicht als Fehler, sondern als Zeichen tiefer Einsicht der Maschine in die Probleme der menschlichen Überreste in der Maschinengesellschaft. Die Maschinen wissen selbst, daß sie uns durch die konsequente Aufbereitung der Lebensmittel verunfitten, sie korrigieren das heute, indem sie uns den alten Ochsen schickten. Ist es überhaupt ein Ochse, fragte Delfina, mir schmeckt es mehr wie Hirsch oder Kamel.
Auch möglich, sagte Mul, die Leistung bleibt die gleiche.
Vielleicht schmeckt es auch wie Hund oder Katze, sagte Delfina.
Ich sagte, vielleicht wie Känguruh.
Mul sagte, ich habe nur Rindfleisch im Programm, Hammelfleisch, Büffel-
fleisch, Wildschwein. Ich mache, wenn ihr nichts dagegen habt, die Platte leer. Input, frag in der Küche an, ob davon noch mehr da ist, ich möchte heute mittag Saftbraten und abends Tatar, aber scharf gepfeffert, und etwas Brühe. So aßen wir den ersten Löwen in drei Tagen auf, das meiste fraß der Mul, auch Löwenwürstchen Löwenspeck Löwenleber Löwenschwanzsuppe Löwenhirn mit
Ei. Den zweiten schafften wir nicht so schnell. Falls noch was da sein sollte, sagte Mul, bestellt der Küche, sie soll es einfrieren, solch Fleisch gibt es so schnell nicht wieder, er nahm dann den Befehl zurück und fraß auch noch den zweiten Löwen. Ich streikte aber und Delfina auch. Ja, ihr seid jung, sagte der Mul, ihr braucht noch nicht so viel, er zog das Hemd aus, wärend er noch kaute. Seht mal, wie mich das fit gemacht hat, er zeigte seine Muskeln, die auf der Brust und an den Armen mächtig schwollen. Jetzt, lieber Input, werden wir den Kampf aufnehmen, es wird hier keine Umpolung mehr geben, auch die Löwen werden wiederkommen, sie werden wiederkommen, Input, verlaß dich drauf.
Kapitel 12 Seit Mul die Löwen gegessen hatte, ging mit ihm eine Veränderung vor sich, nicht bloß seine Muskeln waren geschwollen, auch sein Selbstbewußtsein, und es schwoll von Tag zu Tag. Früher hatte er mit seinen Maschinen freundlich gesprochen, öfter hatte ich ihn dabei überrascht, wie er sie streichelte, und den Finanz-Paladin hatte er, wenn er sich unbeobachtet fühlte, sogar umarmt und auf die glasigen Augen geküßt, aber nun fauchte er die Maschinen öfter an, und er verlangte, daß sie ihn durch Aufleuchten der Augen grüßten, sobald er sich ihnen näherte, und man merkte jetzt immer schnell, daß er sich näherte, er war schwerer geworden, das Transportband stöhnte etwas unter seinem Gewicht, und er trat auch schwerer auf, wenn er sich bandlos bewegte, vielleicht wog er aber kilomäßig nicht mehr, die Energie wog auf eine geheimnisvolle Weise. Ich brach fast zusammen, als er mir die Hand auf die Schulter legte. Mein Sohn Input, ich habe mit dir zu sprechen. Er setzte, seit er die Löwen gegessen hatte, überhaupt keine Brille mehr auf, er sah mir mit seinen braunen goldgepunkteten Augen immer direkt und etwas starr ins Gesicht, und als er mir jetzt seine Pranke auf die Schulter haute, waren die Pupillen große goldene Flecken ohne Tiefe, und ich gebe zu, mich gruselte etwas. Mein Sohn, sagte er mit seiner jetzt lauter gewordenen Stimme, wir wollen es uns in der Wohnküche gemütlich machen. Aber es war dort ungemütlich, er ließ sich große Stücke halbrohen Büffelfleischs kommen, das er mit den Zähnen zerriß. Mir warf er auch ein Stück hin, aber ich ekelte mich. Dann nicht, sauf meinetwegen Milch, bleib meinetwegen ein Baby, aber eins will ich dir sagen, du kannst dich noch so naiv stellen, ich habe dich durchschaut, du bist unzuverlässig, mein Junge, sehr unzuverlässig. Wie könnte es anders sein, sagte ich, wo ich doch ein Mensch bin. Du bist auch mit Menschenmaßstab gemessen unzulässig unzuverlässig, du hast dich nicht bemüht, diejenigen zu finden, die die schwarzen Vögel und die Maschinen manipuliert haben, und die Löwen hast du in die Küche geschafft, erst hast du die Ketten auseinandergebogen, dann hast du den Tierwagen abgepaßt und hast die Löwen in den Gang gescheucht, damit sie verarbeitet wurden. Wie kommst du darauf? fragte ich. Er warf zwei Sonnenbrillen auf den Wohnküchentisch, zwei Sonnenbrillen mit
Spiegelglas und zwei Felle, meine Abfallmaschinen sind sorgfältiger als du, sie haben mir mein Eigentum zurückgegeben. Woher wollen die wissen, was dein Eigentum ist? Weil ich an jedem Löwen eine kleine Blechmarke angebracht hatte, nicht im Ohr, wo sie jeder sieht, sondern an verborgenen Körperstellen, und er zeigte mir die Marken an beiden Fellen, auch die Brillen sind von mir gezeichnet, er zeigte mir kleine Blechknöpfe an den Bügeln. Damit ist immer noch nicht bewiesen, daß ich die Löwen in die Küche geschickt habe. Da warf er den Griff meiner Massagemaschine auf den Tisch. Damit hast du die Ketten auseinandergebogen, hier ist eine Stelle, wo er verschrammt ist. Denk nicht, daß ich nicht gemerkt habe, wie du runtergeschlichen bist und an den Ketten gearbeitet hast, ich wußte alles. Warum hast du es mich machen lassen, du hast es nämlich nicht gewußt, aber wenn du wirklich gemerkt hast, daß da einer sich an den Ketten zu schaffen macht, warum hast du nicht eingegriffen? Ich wollte dir handfeste Beweise liefern, mein Sohn, ich schlage nicht immer gleich zu, was sagst du nun? Ich dachte, jetzt fehlt bloß noch, daß er sagt, es wird etwas Entsetzliches geschehen, wie der Schuldirektor in Vitagam. Wenn jetzt ein Pfeilflügler gekommen wäre, Komplikato hätte draußen gestanden und zu Multiplikato gesagt, Großer Zauberer, reichen Sie mir bitte Ihren Sohn Input heraus, und er hätte mich wieder nach Vitagam gebracht, wäre ich sehr glücklich gewesen. Was sagst du, Input? Die Löwen haben sich losgerissen und sind in die Küche gerannt, ich war es nicht. Ob du es nun zugibst oder nicht, ich selbst bin sehr froh, daß ich die Löwen gegessen habe und daß ihr so gut wie gar nichts davon genommen habt. Ich bin dir dankbar für deine Idee, mein Sohn, ich danke dir sehr, denn jetzt entwickle ich mich erst zu meiner vollen Größe, und du wirst mich jetzt erst mal kennenlernen. Seine Augen waren so schrecklich gelb, daß ich erstarrte, aber gerade in Augenblicken des Schreckens soll man nicht aufgeben. Ich sagte, du hast übrigens
noch ein Delikt vergessen, ich habe in das verbotene Zimmer geguckt, ich bin hinter das Geheimnis der Weißen Blitze gekommen. Wenn du auf der Straße spazierenläufst und ein Weißer Blitz überfährt dich, dann nützt dir dieses Wissen überhaupt nichts, eine Reinigungsmaschine kommt und fährt dich auf die Müllfelder. Zu diesem Zweck wäre es ganz gut, wenn du mir auch eine Erkennungsmarke geben würdest, vielleicht ein Fußkettchen mit Anhänger, damit ich dir zurückgebracht werde und du mich auf dem Ehrenhain beerdigen kannst. Ich weiß nicht, sagte er, ob ich dir jemals eine Marke einkneifen würde, denn meine Eigentumsmarken werden ins Fell oder ins sonstige Material gekniffen, und ich weiß auch nicht, ob ich dich noch als meinen Sohn betrachten möchte. Ich bin bitter enttäuscht, Input, sehr bitter, du wirst nicht mal ein unteres Verkehrsopferbegräbnis erhalten, Oliver Input, du wirst auf den Müllfeldern verfaulen, kein Weißer Blitz wird dich überfahren, dessen bist du nicht würdig. Bei Mul war oben mindestens ein Kontakt durchgeschmort, und diese Vermutung ließ mich hoffen. Als ich in mein Zimmer kam, hörte ich etwas rauschen und tröpfeln, in der Badekabine stand Naida und wusch ihren Overall, sie hatte ihn anbehalten, ließ Duschwasser auf ihn regnen, schüttelte sich. Ihr seid schlampig geworden, die Tür stand offen. Bei uns ist alles ungeordnet, seit Mul die Löwen gefressen hat, trotzdem solltest du dich noch nicht allzu großen Hoffnungen hingeben. Das tu ich auch nicht, vielleicht hast du so etwas wie eine Schnelltrockenmaschine. Ich stellte heißen Wüstenwind ein. Wie habe ich deine Idee praktiziert, Naida? Wenn wir Zeit hätten, sagte sie, würde ich dich dafür küssen, aber jetzt müssen wir die nächste Idee entwickeln. Du mußt jetzt den Mul zu etwas bringen, was er nicht will, was ganz und gar nicht in seinem Konzept steht, was seinen Ansichten gerade zuwiderläuft, das wird dann der Anfang vom Ende des Großen Zauberers Multi Multiplikato sein. Ganz und gar nicht in seinem Konzept steht, sagte ich im Schulton von Vitagam, Menschen für sich arbeiten zu lassen, der Mensch als solcher ist unzuverlässig.
Sehr richtig, Input, darum soll er jetzt nicht mehr Menschen durch Maschinen ersetzen, sondern, umgekehrt, Maschinen durch Menschen, das heißt, ein Mensch würde fürs erste genügen, ein einziger Mensch kann eine Menge in Unordnung bringen. Schon, sagte ich, aber was kommt danach? Das hängt davon ab, wie du es einfädelst, daß er eine Maschine durch einen Menschen ersetzt. Hast du so etwas wie eine Kämmaschine, mein Haar ist furchtbar verfitzt. Ich fühlte mich ziemlich gehoben, als ich Naida mit meinen Maschinen behilflich sein konnte. Ich stellte alle meine Geräte an. Wir sind jetzt gegen Horcher gesichert, du kannst mir ganz genau erklären, was das bedeutet, Muls Ende, zu dem ich den Anfang verursachen soll. Was wird sein, wenn Mul besiegt ist? Wir werden uns lieben, Input. Und was wird noch sein? Ist das nicht genug, es wird kein Großer Zauberer Multi Multiplikato mehr sein, und wir können uns lieben. Aber was wird mit mir sein? Du wirst mein Geliebter sein. Das ist kein Beruf. Wäre es ein schlechter Beruf? Naida, sagte ich ganz nervös, du mußt mir jetzt genau sagen, was werde ich tun, was werden die andern tun, wie wird es in unserem Land Plikato sein? Zum Beispiel, sagte sie, Professor Komplikato wird in den Ruhestand treten. Es hat ihn mitgenommen, die Doppelrolle zu spielen, meine Eltern waren Freunde von ihm, aber Alcedo, der Eisvogel, wird wieder Arzt sein, er war ein großartiger Wissenschaftler, ein Schlangenforscher, eine Kapazität der Serologie, bevor er durch eine Maschine ersetzt wurde, du könntest Mathematikprofessor sein, und ich zum Beispiel würde gern Kybernetik studieren, ich möchte über Maschinen und ihre Möglichkeiten alles erfahren. Ich dachte, du würdest alle Maschinen am liebsten zertrümmern, keine Maschine mehr in Plikato, nur noch Menschen.
Hast du vielleicht auch eine Manikürmaschine, ich finde Maschinen fabelhaft. Ich sehe bloß nicht ein, weshalb sie für einen einzigen Großen Zauberer dasein sollen, damit der seine verrückten Ideen ausführt. Es müßten Maschinen sein, durch die wir alle Zeit gewinnen, zum Beispiel Zeit für die Liebe, deine Kämmmaschine würde ich aber verbieten, sie reißt einem zuviel Haare aus. Was für Maschinen es geben soll, darf kein Multiplikato bestimmen, sondern wir nicht ganz bescheuerten Leute, feierlich ausgesprochen: das Volk von Plikato. Das Volk von Plikato hockt in Mostonic-Zentren und kaut rhythmisch die Birne, sagte ich. Heute noch, sagte Naida. Und wer soll die Maschinen besitzen, wenn es mit Mul zu Ende ist, wer bezahlt
sie, das muß genau festgelegt werden, sonst kümmert sich nämlich keiner darum, und wir sitzen auf einem Haufen Schrott. Alcedo sagt, sie müßten gemeinsames Eigentum werden, alle müßten für sie verantwortlich sein, und alle müßten anteilig für sie aufkommen. Ich finde das gut, aber so weit sind wir noch nicht. Seit Mul die Löwen gefressen hat, ist er mächtig geschwollen, sagte ich, bei ihm ist oben ein Kontakt durchgeschmort, aber sonst ist er mächtig in Form. Gerade solche, wo ein Kontakt durchgeschmort ist, halten sich manchmal sehr lange. Ich kann mir gar nicht konkret vorstellen, wie wir ihm das Ende bereiten sollen. Er wird es sich selber bereiten, er ist der Typ dafür. Obwohl er meine Eltern umgebracht hat, muß ich über ihn lachen, ich finde, der Große Zauberer Multiplikato ist ein aufgeblasener Hahn. Hähne, die zu laut krähen, bereiten sich selbst den Weg in den Kochtopf. Mach mir bitte das Fenster auf, Input, danke für den Service. Im Nu hatte sie auf dem Fensterbrett einen Ballon aus Seidenplast aufgepustet, mit dem flog sie in die Nacht.
Kapitel 13 Mul war zwar fürchterlich energiegeladen, man konnte sich fast einen elektrischen Schlag an ihm holen, das war ein Zeichen für einen Defekt, es kam jetzt drauf an, ihn vorsichtig anzufassen, ich ließ ihn erst mal Funken sprühen, um zu sehen, wo die durchgeschmorte Stelle saß. Ach, Input, sagte er, mein Sohn Input, warum hast du mir das angetan, und warum tun das immer, soweit man die Geschichte der Welt verfolgt, hochgestellte Söhne ihren hochgestellten Vätern an. Ist es der Reichtum, der sie verführt, wollen sie ihre Väter frühzeitig ins Grab bringen, ist es der Ruhm, die Macht, ich weiß genau, Input, daß ich hinterher weinen werde, aber du wirst auf den Müllfeldern verfaulen, mein Sohn Input, hast du mir wirklich nichts zu sagen? Ich mimte den Beschämten. Es mag ja sein, Papa, daß ich nicht immer zuverlässig war, aber es war bestimmt nicht meine Schuld, du sagst ja selber, daß hochgestellte Söhne zu hochgestellten Vätern immer schon so waren. Ja, sagte er, die höchsten Persönlichkeiten sind meistens Opfer des Verrats, je höher die Persönlichkeit, desto schlimmer der Verrat. Es war eben unmöglich, sagte ich, daß ich so sein konnte, wie du mich gerne wolltest, die imponierende Persönlichkeit des größten gewaltigsten kompliziertesten teuersten genialsten energievollsten Zauberers Multi Multiplikato zwang mich dazu. Ich bin das Opfer einer Gesetzmäßigkeit, dein großer Geist hat, ohne daß ich es wollte, eine Reaktion in mir hervorgerufen, ich wollte vielleicht auch ein großer Geist sein, der vielleicht nur ein ganz klein bißchen groß ist. Dein Vorbild leuchtete mir voran, natürlich konnte ich es nicht erreichen, aber ich wollte doch irgendeine Tat vollbringen, die des Sohnes eines solchen gewaltigen Geistes würdig ist, ich wollte auch so energievoll sein. Ich glaube, bei einem normal großen Zauberer wäre ich ganz brav gewesen, aber bei einer derartig überdimensionalen Persönlichkeit, wie du es bist, Papa, konnte ich nicht anders, es liegt an deiner Persönlichkeit, und es bleibt jetzt bloß noch zu überlegen, wie so eine Persönlichkeit wie du auf ein undiszipliniertes Verhalten ihres Sohns reagiert. Du wirst auf den Müllfeldern verfaulen, sagte Mul, schon schwächer, sagtest du übrigens genialster Zauberer? Ja, genialster gewaltigster energievollster geistreichster großzügigster einmaligster ruhmreichster Zauberer. Bei jedem Wort merkte ich, wie sein Gesicht sich in die Breite zog, die Unterlippe wurde glänzend, der Mul sabberte vor Be-
friedigung, seine Augen wurden wie magische Augen auf höchster Leuchtstufe, da hatte ich einen durchgeschmorten Kontakt gefunden. Es war ja überhaupt nicht mein Stil, jemanden so zu beschmusen, bis dahin hatte ich auch mit meinem sogenannten Vater immer normal gesprochen. Jetzt fragte er schon wieder, wie sagtest du, der genialste Zauberer. Wie meinst du das ganz genau, in welcher Hinsicht der genialste? In jeder Hinsicht, sagte ich. Aber in welchem Verhältnis, mit wem verglichen der genialste? Mit allen bisherigen und zukünftigen Zauberern. Aber wie kannst du mich mit den zukünftigen vergleichen? Prognostik, Papa. Er guckte mißtrauisch, sag mir lieber einen Vergleich, mit dem ich was anfangen kann. Naja, sagte ich, es hat noch nie ein Land gegeben, in dem so viele Maschinen tätig waren, wo fast alle Menschen schon durch Maschinen ersetzt waren, es hat noch nie ein Land mit Weißen Blitzen und Plastbeutelmädchen und automatischen Festrednern und einer nationalen Frucht, wie unserer Birne, gegeben, darum bist du der gewaltigste Zauberer, den es je gegeben hat. Ich weiß nicht, redest du mir das nicht bloß vor, ich möchte das mit Fakten belegt wissen, das läßt mir keine Ruhe, Input, ich muß das genau bewiesen haben, damit ich mich nicht lächerlich mache. Weißt du denn so gut in den alten und uralten Geschichten Bescheid, daß du ohne weiteres behaupten kannst, ich wäre der größte Zauberer, hat es vielleicht nicht doch einen gegeben, der ebensogroß war wie ich? Vielleicht hat es einen gegeben, der zu seiner Zeit als der größte betrachtet wurde. Aber da wußten die Leute noch nicht, was ein Zauberer alles machen kann, sie hatten keine Ahnung, was zum Beispiel du mit Maschinen anstellen würdest, von solchen Maschinen hatten sie noch keinen Schimmer, die hatten grade erst das Rad erfunden, aber bei dir spielen Millionen Rädchen ineinander, das hätten sie sich gar nicht vorstellen können, Millionen Rädchen und automatisch, die wären in Ohnmacht gefallen, wenn ihnen das wer gesagt hätte. Und wenn ihnen einer gesagt hätte, daß man gar kein Rad zum Fahren braucht, sondern viel besser auf Luftkissen schwebt oder sich mit Flüglern über die Dächer schwingt, hätten sie gesagt, das kann noch nicht mal der größte Zauberer fertig-
bringen. Trotzdem, Input, ich muß das wissen, und woher nimmst du deine Behauptung, hast du das in deiner Schule in Vitagam gelernt, was es für Leute gab und wann sie gerade erst das Rad erfunden hatten? Ich habe mal drei Bücher aus der Schulbibliothek geklaut, und in dem Buch über allgemeine Technik stand, daß vor 30.000 Jahren das erste Rad erfunden wurde, es soll eckig gewesen sein. Eckig, Input, das kann ich nicht glauben, sollten die Leute damals wirklich so dumm gewesen sein, daß ich nicht lache, aber ich möchte das alles genau bewiesen haben, und noch eins, Input, ich fürchte, du willst mich beschmusen, ich trau dir nicht mehr, mein Sohn. Dann mußt du es dir eben von einer Maschine beweisen lassen. Aber ich habe keinen Paladin für alte Geschichten. Dann mußt du dir eben einen zulegen, auf einen mehr oder weniger kommt es doch nicht an. Aber einer müßte ihn programmieren, der mich nicht beschmusen will und der ein phänomenales Wissen besitzt, ein Wissenschaftler von höchstem Niveau. So einen gibt es in unserem Land nicht, sagte ich. Er wurde wütend, in unserem Land gibt es alles, zum Beispiel gibt es Komplikato, der ist zwar zu nichts zu gebrauchen, aber er hat die alten Geschichten studiert, er hat sogar darüber geschrieben. Er ist aber deiner Ansicht nach unzuverlässig. Was hat das mit den alten Geschichten zu tun, wir werden ihm einreden, daß er Gelegenheit hat, sich für alle Zeiten mit dem Ruhm eines Spezialprofessors für alte Geschichten zu krönen. Er wird sich nicht blamieren wollen, er wird in seiner meckrigen Art alles aufzeichnen und die Maschinen der objektiven Wahrheit entsprechend programmieren, denn die Wahrheit will ich wissen, nichts als die Wahrheit, und von Komplikato erfährt man die Wahrheit, weil er so ein nörgliger Greis ist und weil er nicht weiß, wozu das sein soll. Wenn er es weiß, wird er die Leistungen der Alten eher höher schildern, als sie gewesen sind, um mich zu ärgern, aber mir macht das nichts aus, denn je höher die Leistungen der Alten, desto höher sind meine, aber du, mein Sohn, sprichst mit ihm kein Wort, du bist unzuverlässig. Geh auf dein Zimmer, ich spreche mit dem Professor selbst.
Mein angemaßter Vater legte sich also einen Paladin für uralte Geschichten zu, in dessen Programm hauptsächlich die alten Zaubererpersönlichkeiten und die Könige, die beides in einer Person darstellten, enthalten waren. Mit diesem Paladin verbrachte er Tage und Nächte. Eines Morgens sagte er beim Frühstück, du hattest recht, Input, es war keine Beschmusung, ich bin der größte Zauberer aller Zeiten, denn es hat zwar schon ein Rad und es hat schon eine Wasserleitung und es hat sogar schon eine schachspielende Maschine gegeben, aber einen Weißen Blitz hat es nie gegeben, so was hat nicht mal der weise König Salomo gehabt. Er sprach jetzt immer ganz ungeniert von seinem Weißen Blitz. Weißt du, Input, ich bin immer ehrlich gegen mich selbst gewesen, und ich habe mir die höchsten Leistungen abverlangt, darin besteht auch mein Erfolg. Ich habe mich nie beschmusen lassen, ich habe mir die Beschmusungen, wenn sie schon sein mußten, immer selbst gemacht, und wenn einer schmuste, war ich immer hellwach, ich will also nicht nur verglichen werden mit den gewaltigen Persönlichkeiten der alten Geschichten, ich möchte ganz praktisch beweisen, daß ich es auch so gekonnt hätte wie sie. Und wie denkst du es dir praktisch, Papa, wie willst du nun die ganzen verdammten Leistungen aus den uralten Geschichten nachschöpfend vollbringen? Ja, sagte er, ohne hinzuhören, da soll es auch einen Mann namens Hannibal gegeben haben, der war der größte Feldherr aller Zeiten, da soll so eine Schlacht gewesen sein, das soll überhaupt die klassische Schlacht aller Schlachten sein, Cannae heißt diese Schlacht. Papa, willst du jetzt auch so eine idiotische Schlacht noch mal durchführen? Es war die höchste geistige Leistung eines Schlachtengenies, sagte Mul. Na schön, aber willst du jetzt einen Krieg aufziehen, und mit wem? Kein Mensch hat daran Interesse, ein Krieg ist auch so eine Sache, die auf einen zurückschlagen kann. Dieser Hannibal soll nachher ganz schön was eingesteckt haben, willst du vielleicht, daß unser Land Plikato verwüstet wird und alle deine Maschinen zerstört werden? Das will ich nicht, aber ich muß doch beweisen, daß ich diese Schlacht ohne weiteres auch hätte siegreich durchführen können, hast du denn gar keine Ideen mehr, Input? Vielleicht solltest du dir noch einen Paladin für Kriegführung zulegen, der
müßte natürlich wie alle deine Paladine Hauptmaschinen und Untermaschinen zur Verfügung haben, diese Maschinen müßten so eingerichtet sein, daß du an ihnen die Schlachten der alten Geschichte modellmäßig schlagen kannst, du setzt dich an eine Maschine und siegst in diesen diversen Schlachten. Es könnte natürlich auch sein, daß ich verliere, sagte er mit einemmal jämmerlich. Du kannst dich auf mich verlassen, sagte ich, du wirst sie nicht verlieren. Aber keine Vertuschung der Probleme, Input, ich will den Problemen ins Auge sehen. Natürlich, Papa, und auf dieselbe Weise kannst du übrigens sämtliche Philosophien noch einmal erfinden und was du sonst noch willst. Ich dachte mir das alles genau durch, ich legte mich schräg über mein Bett auf den Bauch, das Denken fiel mir wieder leichter. Ich werde dem Mul die Maschinen so programmieren, daß er unbedingt gewinnen und unbedingt die jeweiligen Philosophien erfinden muß. Wenn er dann sagt, es wäre zu einfach, ich wollte ihn bloß beschmusen, erkläre ich ihm, daß er heute Maschinen hat und, eben weil er Maschinen hat, als der Große Maschinenzauberer Multi Multiplikato in der Lage ist, der gewaltigste Feldherr und der gewaltigste Philosoph aller Zeiten zu sein und auch noch in jeder Zeit der jeweils gewaltigste. Plötzlich kam durchs Mikrophon Muls Stimme, was meinst du, Input, von Rechts wegen müßte ich auch der größte Künstler sein, also bereite mir auch einen Paladin für Kunst vor. Aber den haben wir doch schon. Ach richtig, dann bereite mir Kunstmaschinen vor, an denen ich meine Künste unter Beweis stellen kann. Ich entwarf Maschinen, die Figuren kneten, und Maschinen, die Bilder malen, und solche, die komponieren und solche, die Geschichten in Versen und auch gewöhnliche Geschichten schreiben konnten. Eins muß ich sagen, zwar löcherte mich Mul die ganze Zeit gewaltig, ich schuftete schlimmer als eine Birnenexpreßerntemaschine, aber noch nie hatte ich Mul in einer so heiteren, glücklichen Stimmung gefunden. Es wurde sehr eng in unseren Räumen, das Arbeitszimmer, sogar die Wohnküche und auch Muls intime Gemächer, ja bereits die Korridore standen voll von Maschinen, man stolperte über ihre Leitungen, fast jede Woche kamen neue. Besonders beengt war es dort, wo Mul bewies, daß er der größte Bildhauer und Maler war, er benutzte
dazu die Eingangshalle, er selbst, im weißen Kittel, bediente die Maschinen, die an die Wände gewaltige Fresken malten und gewaltige Skulpturen schufen, zum Beispiel eine Gruppe, die einen Mann namens Laokoon darstellen sollte, der zusammen mit seinen Söhnen mit Schlangen ringt. Mul mußte sogar den Garten zu Hilfe nehmen, wir planten auch schon einen Anbau, und Mul war glücklich, er rannte auf mich zu, gerade habe ich die Laokoongruppe geschaffen, dann rannte er in das Zimmer, wo eine Geschichte namens Odyssee produziert wurde, und er setzte sich an die Maschine, und die Maschine spuckte die Geschichte in der Maschinensprache Multiplo aus, die nächste übersetzte sie, und Mul sagte gerührt, ich bin tatsächlich auch der größte Dichter. Es tat mir fast leid, daß ich ihm gerade in dem Augenblick mitteilen mußte, daß der Paladin für Finanzen streikte. Das kann ja wohl nicht wahr sein, sagte Mul, der Paladin für Finanzen ist mir ganz und gar ergeben. Er klopfte ihm vertraulich auf die eckige Schulter, alter Freund, wo fehlt es denn? Aber der Finanzgewaltige zeigte trübe Augen. Ich legte Mul die Bilanz vor, die der Paladin gerade ausgespuckt hatte, und die sah sehr ungünstig aus, wir hatten das Konto für Investitionen auf Jahre hinaus überzogen. Das kann nicht sein! Mul verlangte vom Paladin für Finanzen, alles noch mal durchzurechnen. Die Haupt- und Untermaschinen im Finanzbereich fingen in ihrer leisen, geschäftigen Art zu rechnen an. Das Bild änderte sich nicht, der Paladin für Finanzen, einer der wenigen Paladine, die mit einer Stimme ausgerüstet waren, sagte langsam, die Anschaffungen der Paladine für alte Geschichten Kunst Philosophie Kriegführung sowie die Anschaffung der dazugehörigen Hauptmaschinen und Untermaschinen entspricht nicht der Rentabilität. Wie meinst du das? fragte Mul. Diese Anschaffungen sind nicht ökonomisch. Wieso nicht? Es entstehen keine Werte. Es gibt auch noch andere Werte als rein materielle, sagte Mul.
Der Paladin antwortete, das Konto ideelle Werte ist durch aufblasbare Oliver Inputs, plus Ausgaben für die Hochzeit im Refrigeratio, plus laufende Kosten für Weiße Blitze, plus laufende Kosten für Plastbeutelmädchen, plus laufende Kosten für persönliche Haushaltsführung überzogen. Dann mußt du eben woanders was hernehmen, wozu bist du Paladin für Finanzen? Mul stellte ihm die Aufgabe, Reserven zu ermitteln. Mach ungenutzte Konten ausfindig. Die Hauptmaschinen und Untermaschinen arbeiteten wieder in ihrer stillen, geschäftigen Art drauflos. Der Paladin für Finanzen sammelte ihre Ergebnisse und antwortete, alle Konten sind bereits überzogen. Mul sagte, das kann nicht sein, vielleicht lassen wir die aufblasbaren Oliver Inputs fallen. Der Paladin antwortete, das ändere nichts, es wäre besser, die aufblasbaren Inputs nicht zu streichen, sie brächten Geld, während die Weißen Blitze oder die Plastbeutelmädchen kein Geld brächten, sondern noch Beerdigungskosten verursachten. Mul wurde darüber sehr traurig. Ich kenne dich überhaupt nicht wieder, mein Freund, erinnerst du dich denn nicht, wie schön wir auf dem Fest zu Ehren meines Sohnes getanzt haben, liebst du mich denn nicht mehr, antworte mir, liebst du mich? Der Paladin sagte, ich liebe dich, o Multi Multiplikato. Zu mir sagte Mul, wir kommen schon klar, Input, er ist mein ältester Freund, du kannst uns allein lassen, er wird mir schon sagen, wer ihn manipuliert hat, du kannst gehen. Er sah mir mißtrauisch nach. Auf dem Korridor streifte etwas Schnelles Glattes Kühles meinen Fuß. Ich sah eine kleine Schlange, eine Naida, über das Transportband schnellen, sie schnellte in das Zimmer des Paladins für Finanzen und seiner Mitarbeiter, und es dauerte nicht lange, da kam freudestrahlend Mul raus. Der Paladin ist wieder in Ordnung, es stimmt nicht, daß alle unsere Konten überzogen sind, ein paar sind vielleicht etwas stärker als sonst belastet, aber überzogen ist keins, er arbeitet jetzt genau aus, wieviel ich für ideelle Werte mehr verbrauchen kann. Ich widme mich inzwischen der Vorbereitung der Schlacht von Cannae, ich möchte nicht gestört werden, und ich möchte dich bitten, Input, spiel nicht wieder am Paladin für Finanzen rum, red ihm keinen Blödsinn ein, ich komme doch dahinter, und
Mul ging also, die Schlacht von Cannae noch mal zu schlagen. Ich muß das erzählen, es entspricht nun einmal der Wahrheit: Bevor sich Mul Delfinas bemächtigte, träumte ich eines Nachts sehr lebhaft von Naida. Ich träumte zum Beispiel genau, wie ich Naida ganz und gar aus ihrem Schlangenhautoverall schälte, wie die Haut neben das Bett fiel und wie Naida überhaupt nichts dagegen unternahm. Ich wunderte mich noch, daß sie so war, ich wachte auf, merkte, daß ich mich geirrt und Delfina mit Naida verwechselt hatte, vorsichtshalber sagte ich auch gleich zu Delfina, ich hatte nicht dich gemeint, ich hatte geträumt, nichts für ungut, aber ich hatte wirklich geträumt. Ja, sagte sie, du hast auch dauernd Naida zu mir gesagt, tu dir bloß keinen Zwang an, ich weiß schon, daß du mich nicht liebst. Kurz darauf hatte Mul sie mir weggenommen. Delfina war stinküberheblich geworden, beim Frühstück sah sie mich überhaupt nicht mehr an, sie erschien immer in Kleidern mit Löchern an Stellen, die Mul jeden Tag neu bestimmte, und sie roch nach einem schweren Raubtierparfüm, das nicht zu ihren Fischaugen paßte. Meine liebe Delfina, sagte ich, es gab hier schon mal eine Frau, die Löcher nach Wunsch trug und Muls Spezialparfüm, die liegt jetzt auf dem Verkehrsopferfriedhof, abgesehen von den anderen achthundertsiebenunddreißig. Delfina antwortete, laß mich in Ruhe, ich weiß jetzt auch, wovon du geträumt hast, du hast von einer Schlange geträumt, Naida, das ist eine Schlangenart, Multi hat es mir heute gesagt. Aber als Mul die Schlacht von Cannae schlug, kam Delfina in mein Zimmer gerannt, sie heulte, blind vom Heulen warf sie sich auf mein Bett. Ich halte es nicht mehr aus, Input, ich halte es nicht aus, der Mul ist ein Ungeheuer. Du weißt ja nicht, wie entsetzlich er ist. Er schließt uns beide an eine Maschine an, er hat da eine Prüfmaschine für Hochleistungssex, er will der größte Liebeskünstler aller Zeiten sein, und er geht mit mir die ganzen Liebeskünstler aller Zeiten durch, und die Maschine muß prüfen, ob wir es richtig machen, Mul als Künstler und ich als Kunstgegenstand, er guckt dauernd zur Skala, wie weit der Zeiger ausschlägt, wenn er ihm weit genug ausschlägt, schreit er, ich bin der größte Liebeskünstler. Da hörte ich den Mul lärmen, er hatte eine Auseinandersetzung mit dem Paladin für Finanzen, und ich ging zu ihm. Ich denke, es ist alles in Ordnung?
Von wegen, sagte Mul, jetzt behauptet er wieder alle unsere Konten wären überzogen, wo gibt es denn so was! Wenn alle unsere Konten überzogen wären, wären wir ja pleite, wir sind nicht pleite, dieser Kerl ist im höchsten. Grade unzuverlässig, erst sagt er, wir hätten nichts, dann sagt er, wir hätten was, nun sagt er wieder, wir hätten nichts, einen Paladin mit einer so schwankenden Meinung kann ich nicht gebrauchen. Ich habe das Gefühl, er rebelliert gegen mich. Mul brauste auf. Wie dankst du mir für meine jahrelange Zuneigung, immer habe ich dich vor allen anderen bevorzugt, du warst mir mein liebster und wichtigster Paladin, und nun dieser Verrat! Er ohrfeigte den Paladin rechts und links, dessen schwerer Körper schwankte, Mul trat ihm vor die Bauchplatte, riß die Platte ab, in höchster Raserei zerrte er dem armen Paladin die Drähte raus. Stirb, Verräter, ich werde ich werde ich werde… Mit einemmal sagte er ganz trocken, Input, ich werde diesem Verräter die höchste Strafe zumessen, ich werde mir eine Strafe ausdenken, die für eine Maschine noch schlimmer ist als der Tod, ich werde mir
eine ehrenrührige Strafe ausdenken, Schrotthaufen ist nicht abschreckend genug. Ich versuchte ein gutes Wort für den Paladin einzulegen, ich fummelte an seinen Drähten rum und hob ein Auge auf, das durch die Ohrfeigen rausgesprungen war. Ich werde ihn reparieren, Papa, er war vielleicht überarbeitet, er hat es nicht so gemeint, er ist doch eine sehr wertvolle Maschine, wir können nicht einfach auf ihn verzichten. Gerade dadurch wurde Mul entschlossener, den Paladin ehrenrührig zu strafen. Je mehr ich mich um den Paladin bemühte, ich streichelte ihn sogar ein bißchen und setzte ihm das herausgesprungene Auge wieder ein, desto höher brachte ich Mul. Schließlich sagte er, Oliver Input, es ist mein unerschütterlicher Entschluß, den ehemaligen Paladin für Finanzen durch einen Menschen zu ersetzen. Das wirst du doch nicht tun, das wäre ja ein Rückschritt, Papa. Ach so, du willst, daß ich weiter mit einem unzuverlässigen Paladin lebe. Als warnendes Beispiel für die anderen Paladine ersetze ich ihn durch einen Menschen, somit ist dies kein Rückschritt, sondern ein Fortschritt, denn es wird mir nicht wieder geschehen, daß ich durch einen Paladin verraten werde. Er schrieb eine Adresse auf einen Zettel und sagte, du wirst jetzt sofort diesen Mann aufsuchen und ihn in meinem Namen herbeordern. Auf dem Korridor fühlte ich etwas Glattes Schnelles Kühles an meinem Fuß, die Schlange sauste aus dem Zimmer des ehemaligen Paladins für Finanzen. Mir schien, sie hatte sich zeitweilig im Innern des Paladins aufgehalten und die vorübergehend befriedigenden Ergebnisse manipuliert.
Kapitel 14 Der Weißeingekleidete, zu dem Mul mich schickte, war derjenige, der sich im Refrigeratio über seine Luftkissenautoprobleme verbreitet hatte und der anläßlich der ersten Umpolung in der Lorbeerstraße erschienen war, um Mul zu informieren. Er saß jetzt in seinem Garten und flickte an seinem Luftkissenauto herum. Als er mich in dem Schmetterlingsflügler über sich flügeln sah, verbeugte er sich tief, er schien eine Kautschukfigur zu haben, ich stehe zu Ihrer Verfügung, verehrter Herr Input Multiplikato. Ich warf eine Strickleiter raus. Machen Sie sich darauf gefaßt, den Posten des früheren Paladins für Finanzen einzunehmen. Servikato stieg, so wie er war, mit schmutzigen Pfoten und in einem dünngescheuerten Freizeitanzug, in den Flügler. Ich sagte, vielleicht hätten Sie sich ein bißchen in Form bringen sollen. Nein, nein, sagte er, mein Aufzug beweist, daß ich keine Sekunde gezögert habe, mich Multi Multiplikato zur Verfügung zu stellen. Manchmal sollte man aber wenigsten eine Sekunde zögern, oder man sollte den Anschein erwecken, daß man gezögert hat. Niemals, Multi Multiplikato braucht nur in Erwägung zu ziehen, mich eventuell zu sich zu rufen, schon bin ich da und warte unten, daß er mich ruft, so bin ich eben. Und wenn er beschlossen hat, den Finanz-Paladin durch mich zu ersetzen, so kenne ich nichts anderes, als es wenigstens durch Schnelligkeit einer Maschine gleichzutun. Ich würde mich nicht unbedingt auf diesen Job freuen. Ich schilderte Servikato, wie Mul den Finanz-Paladin zugerichtet hatte. Und welchen Fehler hat der Gute begangen? fragte der Weißeingekleidete. Er hat keinen Fehler begangen, er hat Multiplikato über die Finanzlage aufgeklärt. Er hat ihn sicher nicht richtig aufgeklärt. Er hat ihn zu richtig aufgeklärt. Nun, ich werden nicht zögern, den Großen Zauberer ebenfalls aufzuklären, ich
werde ihm die reine Wahrheit sagen, nichts als die Wahrheit, soweit sie von mir gefordert wird. Beruhigen Sie sich, sie wird von Ihnen nicht gefordert werden, Multiplikato möchte, daß Sie Mittel auftreiben, mit denen er neue Maschinen anschaffen kann beziehungsweise gerade neu angeschaffte bezahlen. Der Finanz-Paladin war ein zu großer Wahrheitsfanatiker. Ja, sagte der Weißeingekleidete, als er merkte, wie vertrauensselig ich mit ihm sprach, das ist zum Beispiel das große Handikap der Maschinen, daß sie zu wahrheitsliebend sind, schon aus diesem Grunde war mir immer klar, daß uns der Große Zauberer eines Tages zurückholen würde. Jedenfalls danke ich Ihnen für die Information, ich werde nicht in den Fehler dieses unseligen Paladins verfallen, es wird allerdings schwierig sein: unter lauter Wahrheitsfanatikern ein Mensch. Sie meinen also, daß der Mensch nicht die Eigenschaft besitzt, aus ihm eingegebenen objektiven unverfälschten Daten die Wahrheit zu ermitteln? Zu ermitteln schon, aber er muß sie nicht unbedingt auswerfen, man muß einfach das Gespür dafür haben, was für eine Art Wahrheit, was für ein Grad der Wahrheit, was für eine Form der Wahrheit und ob überhaupt die Wahrheit gewünscht wird. Der Mensch muß die Gabe besitzen, sich nicht einfach Wahrheiten eingeben zu lassen und sie wie durch einen Schlauch als Wahrheit wieder rausrutschen zu lassen, das ist keine Kunst, man muß die Wahrheit aufbereiten können, man muß etwas draus machen, man darf sie auf keinen Fall so lassen, wie sie ist, das machen phantasielose Stümper. Ich ahnte gerade deswegen, daß Multiplikato mich wieder einstellen würde, ich bin zwar kein reiner Finanzfachmann, ich hatte früher bei Multiplikato die Post unter mir, aber ich sehe der Aufgabe mit Gelassenheit entgegen. Er grinste und machte nun doch etwas Toilette, indem er mit Spucke sein Haar glatt strich. Ich sagte, es ist für das Wohl des Landes sehr wichtig, daß Multiplikato die gewünschten Mittel bekommt, Sie müssen da vielleicht ein fast unmögliches Kunststück vollbringen, aber denken Sie immer an das Land Plikato. Wissen Sie, sagte er, das Land Plikato interessiert mich überhaupt nicht und schon gar nicht das sogenannte Wohl des Landes Plikato, da halte ich es mit meinem Chef, dem Großen Zauberer Multiplikato, den interessiert das auch nicht, so etwas kann einen weitblickenden Mann nicht interessieren, das Wohl des Landes. Mit wem glauben Sie zu sprechen, sehe ich so einfältig aus? Ich werde mich bemühen, Multiplikatos Wünsche zu erfüllen, damit diene ich sei-
nem und meinem Wohl, und wenn Sie so wollen, auch dem Wohl des Landes. Aber diese Floskel sollten Leute wie wir uns schenken, ich sage es Ihnen ganz offen, ich bin wieder eingestellt, ich will diesen Posten nicht mehr verlieren, ich halte mich an ihm mit Krallen und Zähnen fest, weiter interessiert mich nichts, als daß ich diesen Posten behalte. Und Sie würden dafür sogar lügen? fragte ich hoffnungsvoll. Niemals, sagte er, ich werde die Wahrheit bearbeiten. Vor Mul benahm sich Servikato keineswegs schleimig, wie ich erwartet hatte, er ließ sich würdevoll auf dem Transportband an Muls Tisch fahren und blieb während des Gesprächs todernst. Er tippte richtig, Mul wollte keine herzliche und auch keine tränendurchweichte Wiedersehensschau, ihm war die Rückberufung des Weißeingekleideten peinlich, und er versuchte das Gesicht zu wahren, indem er ihn bloß zum kommissarischen Paladin für Finanzen machte. Ich werde versuchen Ihr Vertrauen zu rechtfertigen, sagte der neue Paladin. Mul ordnete an, daß er sich in den Räumen seines maschinellen Vorgängers einrichten sollte. Es ändert sich nichts, betonte er mehrmals, es ändert sich im Grunde genommen überhaupt nichts. Nur sollte man, warf ich ein, dem Herrn Servikato kein Maschinenöl und kein Petroleum vorsetzen. Um diese Sachen kümmere du dich, sagte Mul, ich muß mich der Erschaffung des klassischen Trauerspiels widmen, ich werde nämlich auch der größte Tragödienschreiber aller Zeiten sein. Aber, Papa, liegt dir das überhaupt? O doch, ich glaube, das liegt mir sogar sehr, seine Unterlippe sackte schon tragisch ab. Für den neuen Finanz-Paladin kamen harte Tage. Ich gestehe, vertraute er mir an, noch nie ein solches finanzielles Chaos gesehen zu haben, wie konnte es geschehen, daß so viele Maschinen wild angeschafft und darüber hinaus so viele in Auftrag gegeben wurden? Es geschah auf Multiplikatos Wunsch, sagte ich. Er warf einen hämischen Blick auf seinen Vorgänger, dessen Leiche Multiplikato nicht hatte wegschaffen lassen. Sein Kommentar war gewesen: Es ist gut, mein Freund, daß Sie diese Maschine täglich vor Augen haben, sie hat natürlich
vollkommen versagt. Eben eine Maschine, und ihr ist etwas sehr Wichtiges entgangen, wir sind nämlich gar nicht so arm, wie dieser jetzt hier grausam zugerichtete herumliegende Kerl behauptet hat. Besitzen wir nicht das sogenannte Gold des Landes, die nationale Frucht, unsere Birne? Wir müssen das Birnengeschäft vergrößern, Birnen ins Ausland verkaufen, soviel wir können, da holen wir mächtig was rein. Ich war anwesend, als er Multiplikato den Plan vortrug. Mul sagte, nicht schlecht. Ich sagte, wir brauchen aber, wenn wir mehr Birnen erzeugen wollen, neue Maschinen, die alten schaffen es nicht so schnell, sie sind ja schon vollkommen überholt. Es wären heute bereits Maschinen möglich, die die Birnenblüten bestäuben, also kybernetische Bienen, Zufälle sind dann ausgeschlossen, keine Blüte bleibt unbestäubt, dazu brauchten wir fürs erste etwa fünfhundert Milliarden Bienen, aber es lohnt sich. Als der neue Paladin sah, daß Mul diese Idee zu schmecken schien, beeilte er sich zu erklären, es wäre durchaus möglich, das Geld für die ersten fünfhundert Milliarden Bienen durch Birnenexport hereinzuholen. Zu mir sagte er nachher, es wird schwierig, aber man muß die Wahrheit bearbeiten, ich werde es so jonglieren, daß ich etwas vom Birnenaufkommen für den inländischen Bedarf abzweige, es genügt ja, wenn jeder morgens eine Birne kaut anstatt zwei. Vielleicht, sagte ich, braucht man auch nur jeden zweiten Morgen eine kleine Birne zu kauen. Wenn Sie meinen, auch das. Aber Mul wurde wütend, als er davon erfuhr, ich kann doch nicht die Leute in Vitamin-Gamma-Mangelkrankheiten stürzen! Habt ihr kein Verantwortungsgefühl? Ich hatte durch Alcedo über Komplikato eine Tabelle besorgen lassen, die bewies, daß bereits in einer kleinen Birne von 100 Gramm genügend Vitamin Gamma enthalten wäre. Ich ließ die Maschinen, die unter der Leitung des Paladins für Gesundheit arbeiteten, ausrechnen, wieviel eigentlich jeder Mensch Vitamin Gamma brauchte. Mul ließ sich schwankend und nicht ganz glücklich dazu herbei, die verordnete Birnenration für die Inlandbewohner zu verringern. Die Birne ist das Gold des Landes, wir sollten uns viel mehr auf die Birne verlassen, seht ihr, das ist etwas,
was noch keiner erfunden hat, eine neue Frucht, darin bin ich einmalig, aber ich muß mich jetzt wirklich der Erschaffung von Tragödien widmen, darin hinke ich, zugegeben, noch etwas nach. Sei nicht zu bescheiden, Papa. Ich dachte, irgendwann müßte ich den Schlüssel für den Weißen Blitz bei ihm finden, aber den trug er anscheinend an einer ganz verborgenen Stelle seines Körpers.
Kapitel 15 Zwei Birnenernten später hatte es Servikato, der neue Finanz-Paladin, so weit gebracht, daß Mul durch seinen Paladin für Birnenwirtschaft ein paar neue Verträge mit dem Ausland perfekt machen konnte. Mul lebte auf, er war über seinen menschlichen Paladin gerührt, und er eröffnete mir: Irgendwie möchte ich Servikato belohnen, aus pädagogischen Gründen, damit die anderen Paladine sich anständig führen, ich habe beschlossen, ih
Sie sagte, ich tue es, aber was wird, wenn er nicht mehr ist, was wird dann aus mir? Darüber mach dir mal keine Sorgen, du kannst dich ganz auf mich verlassen. Sie beschäftigte sich mit Mul, so schlecht war sie gar nicht. Es war auch dringend notwendig, daß sie ihn ablenkte, denn ich plante meine nächste Zusammenkunft mit Naida. Während Mul sich anstrengte, der größte Tragiker und Liebeskünstler aller Zeiten zu werden, begab ich mich in die Hinterräume des Refrigeratio und bat Alcedo, er möchte Naida bestellen, die bewußte Sache sei erledigt. Man merkt es bereits, mein Herr, sagte der feine Kellner. Ich sollte Naida in Komplikatos Landhäuschen treffen, weit draußen, zwischen Urwald und Steppe, wo es nicht trocken und nicht ganz urwaldfeucht war, ein paar Drahtbüsche Fächerbäume Aluminiumbäume, mal umhauend modern gewesen, standen um das schmuddlige weiße Häuschen herum, das recht verfallen aussah. Den Aluminiumbäumen fehlten die meisten Blätter, die restlichen waren stumpf wie alte Löffel geworden, aber sie konnten noch im Wind klappern. Ich flog abends mit dem Schmetterlingsflügler hin. Naida lag zusammengerollt in Komplikatos weißem Schaukelstuhl und trank Erdbeersaft. Ich polterte rein: Es gibt in ganz Plikato keinen mehr, der die Birne ißt. Ich weiß, Input, jetzt mußt du erreichen, daß Mul sie ißt. Der weiß doch genau, wenn er sie ißt, befindet er sich den anderen gegenüber im Nachteil, das ist doch seine Idee, die andern die Birne essen zu lassen, damit sie sich alles gefallen lassen und ihm nicht in seine Sachen reinreden. Die Birne hat ihn doch erst zu dem gemacht, was er ist, alle Macht beruht bei ihm auf der Birne, der Große Zauberer Multiplikato hat mit der Birne das ganze Land verzaubert, die Birne ist sein Lebensnerv, er wird sie niemals essen, wir könnten höchstens versuchen, sie ihm unters Essen zu mischen, aber gekocht. Er muß sie roh essen, er muß sie genußvoll durchkauen, das Vitamin Gamma muß bei ihm voll zur Wirkung kommen, er darf nicht bloß eine essen, nicht bloß zwei oder drei und nicht hin und wieder mal welche, er muß sie dauernd essen, er muß wild auf sie werden. Das schaffe ich nie, sagte ich, versuchen will ich es, auch deinen dritten Wunsch zu erfüllen, aber ich zweifle sehr.
Naida fing fast an zu weinen, bitte, Input, streng dich an, sonst muß ich weggehen, ich halte es nicht mehr aus, ich gehe dann weg, wenn du es nicht schaffst, und ich komme nie wieder. Man müßte ihn fesseln, sagte ich, und ihm dann die Birne eintrichtern. Wenn man ihn gefesselt hat, braucht man aber die Birne nicht mehr, nur er läßt sich nicht fesseln, er ist dir körperlich über und mir erst recht, du siehst, wie klein und dünn ich bin, ich habe sogar noch neben dir in diesem Schaukelstuhl Platz, der eigentlich nur für eine Person gedacht ist, laß mich ein bißchen Erdbeersaft trinken, vielleicht fällt mir dann etwas ein. Er soll die Birne ja nicht sofort, also nicht morgen, essen, erst muß sich richtig auswirken, daß die andern sie nicht mehr essen, da ist noch einiges drin.
Und was soll ich machen, wenn er die Birne ißt, wie geht es dann weiter? Laß sie ihn erst mal essen, sagte Naida, kannst du die Zeit nicht abwarten? Das konnte ich wirklich kaum, Komplikatos Schaukelstuhl ist wunderbar, liebe Naida, dein Erdbeersaft macht mich betrunken, ich bin so betrunken, daß ich hierbleiben muß, das kommt sicher vom Schaukeln. Werde nüchtern, Oliver, sagte Naida, du sollst mich ein Stück im Schmetterlingsflügler mitnehmen. Wäre es nicht das beste, wir würden mit dem Flügler wegflügeln und Mul mit seinen Maschinen sitzenlassen, er wird sich schon langsam zugrunde richten. Dann kommen wir wieder, wir sind jung. Möchtest du dir entgehen lassen, wie Mul die Birne selber ißt? Das wollte ich nicht, da hatte sie recht, das Wegflügeln-wollen war eine fixe Schaukelstuhlidee. Ist im Flügler ein guter Fallschirm? fragte Naida. Die Sonne fing gerade an aufzugehen, als Naida am Rand von Integral unter mir wegfiel, ich konnte noch sehen, wie der silberne Schirm sich spannte und, rosa beleuchtet, gegen die gelbgraue Erde absackte.
Kapitel 16 Ich widmete mich der Aufgabe, Mul so weit zu bringen, daß er die Birne aß. Ich fing es zuerst simpel an, indem ich beim Frühstück sagte, eigentlich hätte ich mal wieder Appetit auf eine richtige schöne saftige Vollreife Birne, ich fing an, Mul vom Birnbaum im Garten meines Vaters zu erzählen. Das sind ganz besondere Birnen, weil da die Sonnenstrahlen in einem ganz besonderen Winkel einfallen, dieses Jahr, schätze ich, wird es wieder phantastische Birnen geben, manchmal sind sie schon ganz leicht alkoholisiert, es sind typische MostonicBirnen, die meine Eltern leider zu hefigem Wein und wabbeliger Marmelade vermantschen, ich war nie ein Birnenfan, Papa, aber an den Birnen von diesem Birnbaum konnte ich nicht vorbeigehen, leider durfte ich sie nicht essen. Ich stand oft unterm Baum, und das Wasser lief mir im Mund zusammen, über mir duftete es nach Birnen und Sonne und ein bißchen nach Schnaps, aber meine Eltern wollten die Birnen vermantschen. Wenn ich mir mal etwas wünschen dürfte, habe ich immer gedacht, würde ich mir diesen Birnbaum wünschen, ich würde ihn kahlessen, das ist nämlich ein Baum, der ist schon lange in unserer Familie, der ist ein Erbstück, davon würde ich zu gern wieder mal eine Birne essen. Ich habe sie immer nur heimlich runtergeschlungen, aber jetzt möchte ich eine ganz in Ruhe durchkauen, so richtig mit Genuß. Es würde mir gar nichts ausmachen, wenn mir der Saft aus beiden Mundecken fließen würde. Aber mir würde es was ausmachen, sagte der Mul, hier wird anständig gegessen. Er riß mit seinen Zähnen blutiges Fleisch. Und überhaupt sind diese alten Birnen nicht die typischen Birnen, die waren immer schon da, das sind nicht die echten Plikato-Birnen, die ich erfunden habe, das sind im Grunde genommen gewöhnliche Hausbirnen, die etwas zu reif geworden sind, ich möchte wetten, daß ihr Vitamin-Gamma-Gehalt gleich Null ist. In die Plikato-Birne wurden natürlich auch Eigenschaften der kommu-nen Hausbirne eingekreuzt, zum Beispiel die Form und Farbe hat die Plikato-Birne in etwa von ihr, ich habe aber nichts dagegen, daß du dir von diesen Birnen ein paar Körbe voll kommen läßt, das sind ja nicht die richtigen, die richtigen, die ich geschaffen habe, werden in diesem Hause niemals gegessen werden. Meinst du nicht, Papa, daß man manchmal, wenn man ganz mit den Nerven runter ist, die Birne als Beruhigungsmittel essen darf? Man soll damit nicht erst anfangen, grade die Birne, wie ich sie geschaffen habe, führt leicht zur Sucht, ich warne dich, Input, aber tu, was du willst. Ich merkte schon, auf direktem Weg konnte ich ihn auf die Birne nicht scharf machen, er hörte nicht hin, wenn ich ab und zu mal äußerte, ich würde gern eine saftige Birne kauen.