Patricia Highsmith
Der Junge, der Ripley folgte Roman Aus dem Amerikanischen von Anne Uhde
Diogenes
Ein Millionärs...
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Patricia Highsmith
Der Junge, der Ripley folgte Roman Aus dem Amerikanischen von Anne Uhde
Diogenes
Ein Millionärs-Sohn hat seinen Vater umgebracht, er sagt es jedenfalls; er möchte von Tom Ripley erfahren, wie man damit leben kann; er folgt Ripley von Paris nach Berlin und Hamburg, und als er ihm auch nach Amerika gefolgt ist, ist er nicht mehr folgsam. »›Der Junge, der Ripley folgte‹ verbindet auf äußerst subtile und aufregende Weise die Ripley- und die NichtRipley-Bücher miteinander. Es ist ein Werk von beängsti gender Klarsicht und großer Tiefe, das sich aber nie als solches gebärdet. Wie Graham Greene weiß auch Patri cia Highsmith, daß sie nicht zu gestikulieren braucht. ›Der Junge, der Ripley folgte‹ ist die große Leistung einer Autorin von unerschöpflicher Faszination.« Craig Brown / Times Literary Supplement »Patricia Highsmith im Vollbesitz ihrer schriftstellerischen Mittel: dieser Sinn für Konkretes, Details, Schauplätze, von den Holzameisen, die Ripleys Regale zerfressen, bis zu den Transvestiten-Bars in West-Berlin.« Claude Courchay / Le Monde »Die geniale Komposition dieses vierten Ripley ist nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Für mich besteht sie darin, daß eine aussichtslos erscheinende Grundlage für einen erfolgreichen Kriminalroman – die ungesicherte Annahme eines Verbrechens – zu einem spannenden Plot werden kann, dessen kleinere und kleinste Span nungsbögen dauernd den großen Bogen erhalten, variie ren und den Leser der Antwort entgegenfiebern lassen: Hat der Junge seinen invaliden Vater tatsächlich ins Meer geworfen?« Thomas Rüst / Tages Anzeiger, Zürich
Vorlage für dieses eBook: Titel der Originalausgabe: ›The Boy who Followed Ripley‹
Heinemann, London 1980
Copyright © 1980 by Patricia Highsmith
Die zitierten Songs ›Make-up‹ und
›Satellite of Love‹ sind aus der LP ›Transformer‹
von Lou Reed (1972 registered RCA Records,
New York; Copyright © 1972
Oakfield Avenue Music).
Abdruck mit freundlicher Genehmigung der
Oakfield Avenue Music.
All rights reserved.
Umschlagzeichnung von Tomi Ungerer
Veröffentlicht als Diogenes Taschenbuch, 1982
ISBN 3 257 20649 6
Dieses eBook ist NICHT FÜR DEN VERKAUF bestimmt!
Für Monique Buffet
1
Tom schlich auf dem Parkettboden so leise wie möglich vorwärts, schob sich über die Schwelle des Badezim mers, hielt an und horchte. Zz-zzz---zz-zzz---zz-zzz. Wieder waren die geschäftigen kleinen Biester am Werk, obgleich Tom noch das Xylamon riechen konnte, das er nachmittags sorgfältig in die Ausgangslöcher – oder was sie sonst waren – gespritzt hatte. Das Sägen ging immer weiter, als ob seine ganze Mühe umsonst gewesen sei. Er warf einen Blick auf ein zusammenge legtes rosa Handtuch unter einem der Holzregale und sah, schon jetzt, ein ganz kleines Häufchen aus feinem bräunlichem Sägemehl. »Aufhören!« sagte Tom und schlug seitlich mit der Faust gegen den Schrank. Sie hörten tatsächlich auf. Schweigen. Tom stellte sich vor, wie die kleinen Viecher mit der Säge in der Hand innehielten und einander besorgt ansahen, vielleicht aber auch nickten, als wollten sie sagen: »Das kennen wir schon. Es ist mal wieder der ›Hausherr‹, aber der geht gleich wieder.« Tom kannte das auch schon: wenn er mit normalen Schritten ins Badezimmer ging und gar nicht an Holzameisen dachte, konnte er manchmal das geschäfti ge Surren schon hören, bevor sie ihn hörten; aber ein weiterer Schritt oder das Aufdrehen des Wasserhahns genügte, um sie ein paar Minuten zum Schweigen zu bringen. Heloise fand, er nehme es zu ernst. »Es dauert Jahre, bis der Schrank umfällt.« Aber Tom paßte es nicht, daß die Ameisen ihn über trumpft hatten, daß sie ihn zwangen, ihren Sägestaub 6
von den sauber zusammengefalteten Pyjamas zu blasen, wenn er einen aus dem Regal nahm, daß der Kauf und die Anwendung eines französischen Fabrikats namens Xylophene (Phantasiename für Kerosin) und das Nach schlagen in zwei Enzyklopädien zu Hause vergeblich gewesen waren. Camponotus nagt Gänge in Holz und baut Nester; siehe Campodea. Flügellos, blind, wurmar tig, scheut das Licht, lebt unter Steinen. Tom konnte sich seine Schädlinge nicht wurmartig vorstellen, und unter Steinen lebten sie auch nicht. Er war gestern eigens nach Fontainebleau gefahren, um das bewährte alte Xy lamon zu besorgen. Ja, gestern hatte er mit seinem Blitz krieg eingesetzt, heute war der zweite Angriff erfolgt, und wieder war er geschlagen worden. Natürlich war es schwierig, das Xylamon nach oben zu spritzen, was not wendig war, weil die Löcher an der Unterseite der Bretter auftraten. Das Zz-zz-zz setzte von neuem ein, gerade als die Musik aus Schwanensee vom Plattenspieler unten eben falls beschwingt in ein anderes Tempo überging, einen graziösen Walzer. Es war, als mache sie sich über ihn lustig, wie es die Insekten taten. Na schön, geben wir´s auf, sagte sich Tom, jedenfalls für heute. Aber gerade für heute und gestern hatte er sich konstruktive Arbeiten vorgenommen: er hatte seinen Schreibtisch ausgeräumt, Papiere weggeworfen, das Treibhaus ausgefegt, ein paar geschäftliche Briefe ge schrieben, darunter einen wichtigen an Jeff Constant, an Jeffs Privatadresse in London. Diesen Brief hatte Tom schon ein paarmal hinausgeschoben, aber heute hatte er Jeff nun geschrieben und ihn gebeten, den Brief sofort zu vernichten. Tom riet ihm dringend, mit den angeblichen Entdeckungen Derwatt´scher Gemälde oder Skizzen so fort aufzuhören, und Tom hatte die rhetorische Frage ge 7
stellt, ob denn der Gewinn aus der immer noch florieren den Zeichenmaterialfirma und aus der Kunstakademie in Perugia nicht genüge? Die Galerie Buckmaster, vor allem Jeff Constant, von Beruf Fotograf, aber jetzt Teilhaber der Galerie Buckmaster, zusammen mit Edmund Banbu ry, einem Journalisten, hatte mit der Idee gespielt, noch mehr von Bernard Tufts mißlungenen oder weniger guten Derwatt-Imitationen zu verkaufen. Bisher hatten sie damit Erfolg gehabt, aber aus Sicherheitsgründen wünschte Tom, daß sie jetzt Schluß machten. Tom beschloß, einen Spaziergang zu machen und bei Georges einen Kaffee zu trinken, um auf andere Gedan ken zu kommen. Es war erst halb zehn. Heloise war im Wohnzimmer und unterhielt sich auf Französisch mit ihrer Freundin Noëlle. Noëlle, die verheiratet war und in Paris wohnte, blieb heute über nacht, aber ohne ihren Mann. »Succès, chéri?« fragte Heloise fröhlich und setzte sich auf dem gelben Sofa auf. »Non!« sagte Tom mit einem schiefen Lachen. »Ich gebe mich geschlagen. Besiegt von Holzameisen.« »A-aaaah«, stöhnte Noëlle mitfühlend, dann platzte ihr Lachen heraus. Sie dachte bestimmt an ganz was anderes und konnte es kaum erwarten, ihr Gespräch mit Heloise wieder auf zunehmen. Tom wußte, sie planten für Ende September oder Anfang Oktober eine Abenteuer-Kreuzfahrt zusam men, vielleicht in die Antarktis, und Tom sollte mitkom men. Noëlles Mann hatte bereits abgelehnt, aus ge schäftlichen Gründen. »Ich will einen kleinen Spaziergang machen, in einer halben Stunde oder so bin ich zurück. Braucht ihr Ziga retten?« fragte er beide. »Ah, oui!« sagte Heloise. Sie meinte eine Packung Marlboros. 8
»Ich hab´s aufgegeben!« sagte Noëlle. Mindestens zum dritten Mal, soweit Tom sich erinner te. Tom nickte und ging durch die vordere Haustür nach draußen. Madame Annette hatte das Eingangstor im Garten noch nicht geschlossen; das wollte er tun, wenn er zu rückkam, dachte Tom. Er ging links hinunter, auf das Zentrum von Villeperce zu. Es war kühl, für Mitte August. Eine Fülle von Rosen blühte in den Vorgärten der Nach barn; man sah sie hinter den Drahtzäunen. Dank der Ein führung der Sommerzeit war es heller als normal, aber Tom wünschte auf einmal, er hätte für den Rückweg eine Taschenlampe mitgenommen. Die Straße hatte keinen richtigen Fußweg. Tief zog Tom die Luft ein. Lieber an morgen denken, an Scarlatti und das Cembalo und nicht an die Holzameisen. Lieber an Heloise, mit der er viel leicht Ende Oktober nach Amerika fahren wollte. Das wä re das zweite Mal für sie. Sie hatte New York herrlich ge funden, und San Francisco wunderschön. Auch den blauen Pazifik. In einigen der kleinen Häuser im Dorf brannte jetzt gelbliches Licht. Da war das schräge rote Tabac-Schild, über der Tür von Georges, darunter schimmerte Licht. »Marie«, sagte Tom beim Eintreten mit einem grüßen den Kopfnicken zur Inhaberin, die gerade einem Kunden ein Bier auf die Theke knallte. Das hier war eine Arbei terkneipe, sie lag für Tom näher als das andere Lokal im Dorf und war oft amüsanter. »Monsieur Tome! Ça va?« Eine Spur von Koketterie lag in der Art, wie Marie die schwarzen Locken zurück warf, und der große, hellrot geschminkte Mund lachte Tom unbekümmert zu. Sie war bestimmt keinen Tag we niger als fünfundfünfzig. »Dis donc!« schrie sie und stürz te sich zurück in die Unterhaltung mit zwei Männern, die 9
über ihrem Pastis an der Theke hockten. »Dieses Arsch loch – dieses Arschloch!« rief sie, als glaubte sie, Auf merksamkeit zu erregen mit diesem Wort, das im Lokal den ganzen Tag lang zu hören war. Als die Männer jetzt laut und gleichzeitig redeten, ohne auf sie zu achten, fuhr sie fort: »Dieses Arschloch spielt sich auf wie ´ne Nutte, die zuviel Kunden annimmt! Jetzt hat er sein Fett weg!« Ob sie von Giscard sprach, dachte Tom, oder von ei nem Maurer im Dorf? »Café«, schob er ein, als sie ihm eine halbe Sekunde ihre Aufmerksamkeit zuwandte, »und ein Päckchen Marlboros.« Er wußte, Georges und Marie waren pro-Chirac, den sogenannten Faschisten. »Eh, Marie!« Georges, links von Tom, versuchte mit seinem Bariton seine Frau etwas zu dämpfen. Georges, ein Faß von einem Mann mit feisten Händen, war damit beschäftigt, Stielgläser blankzureiben, die er dann vor sichtig in das Regal rechts von der Kasse zurückstellte. Hinter Tom war ein lärmendes Tischfußballspiel im Gang: vier halbwüchsige Jungens jagten die Stangen hin und her, und kleine Bleimänner in bleiernen Shorts drehten sich vor- und rückwärts und kickten den marmelgroßen Ball. Tom bemerkte auf einmal ganz links an der Run dung des Schanktischs einen Teenager, den er vor ein paar Tagen in der Nähe seines Hauses gesehen hatte. Der Junge hatte braunes Haar und trug eine Arbeitsjacke im üblichen französischen Blau, dazu Blue jeans, wie Tom sich erinnerte. Als Tom ihn zum erstenmal sah – Tom hatte nachmittags das Gartentor geöffnet, weil er Besuch erwartete –, hatte der Junge seinen Standort un ter einer großen Kastanie auf der anderen Straßenseite aufgegeben und war fortgegangen, weg von Villeperce. Hatte er Belle Ombre überwacht, die Gewohnheiten der Familie ausspioniert? Auch nicht weiter schlimm, dachte Tom. Wie die Holzameisen. An was anderes denken. 10
Tom rührte seinen Kaffee um, nahm einen Schluck, blick te zu dem Jungen hinüber und sah, daß der Junge ihn ansah. Sofort senkte der Junge den Blick und nahm sein Bierglas in die Hand. »´coutez, Monsieur Tome!« Marie lehnte sich über die Theke zu Tom hinüber und wies mit dem Daumen auf den Jungen. »Américain!«, flüsterte sie laut über das gräßliche Getöse der Musikbox hinweg, die gerade ein gesetzt hatte. »Er sagt, er will hier arbeiten, diesen Sommer. Ha-ha-haah!« Sie lachte heiser, als sei es ü beraus witzig, daß ein Amerikaner arbeiten wollte, oder vielleicht weil sie glaubte, in Frankreich gebe es gar kei ne Arbeit und darum herrsche Arbeitslosigkeit. »Wollen Sie mit ihm sprechen?« »Merci, non. Wo arbeitet er?« fragte Tom. Marie zuckte die Achseln und nickte einem Gast zu, der nach Bier rief. »Du kannst mich mal!« schrie sie ver gnügt einem anderen zu und zog am Bierzapfhahn. Tom dachte an Heloise und an die Amerika-Reise, die sie vielleicht machen wollten. Diesmal müßten sie bis nach New-England hinaufkommen. Boston. Der Fisch markt dort, Independence Hall, mit Milk Street und Bread Street. Es war Toms Heimat, auch wenn er sie jetzt wohl kaum wiedererkennen würde. Tante Dottie mit ihren knauserigen 11.79 Dollar Geschenken – damals in Form von Schecks – war gestorben und hatte ihm zehntausend Dollar hinterlassen, nicht aber ihr muffiges kleines Haus, das Tom gern gehabt hätte. Aber Tom konnte Heloise das Haus, in dem er aufgewachsen war, wenigstens zei gen, von außen zeigen. Tom nahm an, daß die Kinder von Tante Dotties Schwester das Haus geerbt hatten, denn Tante Dottie hatte selbst keine Kinder gehabt. Tom legte sieben Francs für Kaffee und Zigaretten auf den Schanktisch, warf noch einen Blick auf den Jungen in der 11
blauen Jacke und sah, daß er ebenfalls bezahlte. Tom drückte seine Zigarette aus, rief allen und niemandem ein »´soir!« zu und verließ das Lokal. Es war jetzt dunkel. Im nicht sehr hellen Schein einer Laterne ging Tom über die Hauptstraße und bog in die dunklere Straße ein, an der sein Haus stand, ein paar hundert Meter weiter weg. Toms Straße war fast gerade, zweispurig und gepflastert, und Tom kannte sie gut, aber er war doch froh, als ein Wagen kam und er im Licht der Scheinwerfer die linke Seite der Straße sehen konnte, auf der er entlang ging. Sobald der Wagen vorbei war, hörte Tom schnelle weiche Schritte hinter sich. Er wandte sich um. Eine Gestalt trug eine Taschenlampe. Tom sah Blue jeans und Tennisschuhe. Der Junge aus der Kneipe. »Mr. Ripley!« Tom straffte sich. »Ja –?« »Guten Abend.« Der Junge blieb stehen und hantierte mit der Taschenlampe. »Ich bin – ich heiße Billy Rollins. Ich hab eine Taschenlampe mit – darf ich Sie damit viel leicht nach Hause bringen?« Undeutlich sah Tom ein eckiges Gesicht mit dunklen Augen. Er war kleiner als Tom. Er sprach höflich. Wollte der ihn überfallen, oder war Tom heute abend überängst lich? Er hatte nur ein paar Zehn-Francs-Scheine bei sich, aber er hatte heute nacht auch keine Lust auf eine Schlägerei. »Danke, ist nicht nötig. Ich wohne hier ganz in der Nähe.« »Ich weiß. Nur – ich hab den gleichen Weg.« Tom streifte die Dunkelheit, die vor ihm lag, mit einem etwas besorgten Blick, dann ging er weiter. »Amerika ner?« fragte er.
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»Ja, Sir.« Der Junge hielt die Taschenlampe sorgfältig nach vorn gerichtet, bequem für beide, aber er blickte mehr auf Tom als auf die Straße. Tom hielt Distanz zu dem Jungen und ließ die Hände frei hängen, bereit zum Einsatz. »Auf Urlaub hier?« »Kann man so nennen. Arbeite aber auch ein bißchen. Gärtner.« »Ach? Wo denn?« »In Moret. Privathaus.« Tom wünschte, es käme wieder ein Auto, damit er den Gesichtsausdruck des Jungen besser erkennen konnte, denn er spürte eine Spannung, die gefährlich werden konnte. »Wo in Moret?« »Chez Madame Jeanne Boutin, achtundsiebzig Rue de Paris«, erwiderte der Junge sofort. »Sie hat einen ziemlich großen Garten. Auch Obstbäume. Aber ich mach´ vor allem das Unkrautjäten und Mähen.« Tom ballte nervös die Fäuste. »Und du schläfst auch in Moret?« »Ja. Madame Boutin hat ein kleines Gartenhaus, mit einem Bett und einem Ausguß. Nur kaltes Wasser, aber im Sommer geht es.« Tom war jetzt ehrlich erstaunt. »Ungewöhnlich für ei nen Amerikaner, lieber aufs Land zu gehen statt nach Paris. Wo kommst du her?« »New York.« »Und wie alt bist du?« »Ich werde neunzehn.« Tom hätte ihn für jünger gehalten. »Hast du Arbeits papiere?« Zum erstenmal sah Tom den Jungen lächeln. »Nein. Formlose Vereinbarung. Fünfzig Francs pro Tag, das ist billig, weiß ich, dafür läßt mich Madame Boutin dort schlafen. Sie hat mich sogar einmal zum Lunch eingela 13
den. Ich kann mir natürlich Brot und Käse besorgen und in dem kleinen Haus essen. Oder in einem Café.« Der Junge kam nicht aus der Gosse, das merkte Tom an seiner Sprechweise; und nach der Art zu urteilen, wie er ›Madame Boutin‹ aussprach, konnte er auch etwas Französisch. »Wie lange machst du das schon?« fragte Tom auf Französisch. »Cinq, six jours«, antwortete der Junge. Er hielt die Augen immer noch auf Tom gerichtet. Tom war froh, als jetzt die große Ulme in Sicht kam, die sich schräg zur Straße neigte. Sein Haus war nun noch etwa fünfzig Schritt entfernt. »Warum hast du dir gerade diesen Teil von Frankreich ausgesucht?« »Ach – vielleicht wegen der Wälder von Fontaine bleau. Ich laufe so gern durch den Wald. Und es ist nahe bei Paris. Ich war eine Woche in Paris und hab mich um gesehen.« Tom ging jetzt langsamer. Wieso war der Junge so in teressiert an ihm, daß er wußte, wo er wohnte? »Gehen wir rüber.« Jetzt sah man, nur ein paar Meter entfernt, unter der Lampe bei der Tür, den gelblichen Kies der Einfahrt von Belle Ombre. »Woher wußtest du, wo ich wohne?« fragte Tom und spürte die Verlegenheit des Jungen im Ducken des Kopfes, in der Drehung des Taschenlampenstrahls. »Ich hab dich doch hier auf der Straße gesehen, vor zwei, drei Tagen, nicht?« »Ja«, erwiderte Billy mit tieferer Stimme. »Ich hatte Ih ren Namen in den Zeitungen gesehen – drüben in Ameri ka. Ich wollte mir gern mal ansehen, wo Sie wohnten, weil ich gerade in der Nähe von Villeperce war.« In den Zeitungen, dachte Tom. Wann und warum? Tom wußte allerdings, es gab eine Polizeiakte über ihn. »Hast du ein Fahrrad hier im Dorf?« 14
»Nein«, sagte der Junge. »Wie willst du dann heute abend nach Moret zurück kommen?« »Oh – per Anhalter. Oder ich geh zu Fuß.« Sieben Kilometer. Warum kam einer, der in Moret ü bernachtete, abends nach neun ohne Fahrzeug sieben Kilometer weit nach Villeperce? Tom sah links von den Bäumen einen schwachen Lichtschein: Madame Annette war noch auf, aber in ihrem Zimmer. Toms Hand lag auf einem der beiden eisernen Torflügel, die nicht ganz ge schlossen waren. »Komm rein auf ein Glas Bier, wenn du Lust hast.« Die dunklen Brauen des Jungen zogen sich leicht zu sammen, er biß sich auf die Unterlippe und blickte be drückt auf zu den beiden Türmchen vorn am Haus, als ginge es bei der Frage, ob er reingehen solle oder nicht, um eine wichtige Entscheidung. »Ich –«. Sein Zögern verwunderte Tom noch mehr. »Mein Wa gen steht hier. Ich kann dich nach Moret zurückfahren.« Unentschlossenheit. Ob der Junge tatsächlich in Moret arbeitete und schlief? »Gut. Vielen Dank. Dann komm ich einen Augenblick mit rein«, sagte der Junge. Sie traten durch das Tor, das Tom hinter ihnen zu machte, aber nicht abschloß. Der große Schlüssel steck te an der Innenseite. Nachts wurde er unter einem Rho dodendron nahe am Tor versteckt. »Meine Frau hat heute abend eine Freundin zu Be such«, sagte Tom, »aber wir können in der Küche ein Bier trinken.« Die Haustür war nicht abgeschlossen. Eine Lampe brannte im Wohnzimmer, aber Heloise und Noëlle waren offenbar nach oben gegangen. Noëlle blieb oft lange auf
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und unterhielt sich mit Heloise, entweder im Gästezim mer oder in Heloises Zimmer. »Bier? Kaffee?« »Wie hübsch Sie es hier haben!« sagte der Junge und blickte sich um, wo er stand. »Können Sie Cembalo spie len?« Tom lächelte. »Ich nehme Stunden, zweimal wöchent lich. Komm mit in die Küche.« Sie gingen nach links in die Diele. Tom machte in der Küche Licht, öffnete den Kühlschrank und nahm eine Sechsflaschenpackung Heineken-Bier heraus. »Hunger?« fragte Tom, als er den Rest vom Roast beef sah, der unter Alufolie auf einer Fleischplatte lag. »Nein, Sir, danke schön.« Als sie wieder im Wohnzimmer waren, ging der Blick des Jungen zu dem Bild »Mann im Sessel«, das über dem Kamin hing, und von dort zu dem etwas kleineren, aber echten Derwatt, »Die roten Stühle« an der Wand nahe der Glastür. Nur Sekunden hatte der Blick darauf geruht, aber Tom war es nicht entgangen. Warum die Derwatts und nicht der größere Soutine mit den leuch tenden roten und blauen Tönen, der über dem Cembalo hing? Tom wies mit der Hand auf das Sofa. »Nein, da kann ich mich nicht hinsetzen, in diesen Jeans. Die sind zu schmutzig.« Das Sofa war mit gelbem Satin überzogen. Ein paar ungepolsterte Stühle waren auch da, aber Tom sagte: »Komm mit rauf in mein Zimmer.« Sie stiegen die gewundene Treppe hinauf, Tom trug das Bier und den Flaschenöffner. Noëlles Zimmertür stand offen, und drinnen brannte Licht; auch Heloises Tür war halb geöffnet, und aus ihrem Zimmer hörte Tom
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Stimmen und Lachen. Tom ging nach links auf sein Zim mer zu und machte Licht. »Hier, nimm meinen Stuhl. Holz«, sagte Tom und drehte seinen Schreibtischstuhl, der Armlehnen hatte, zur Zimmermitte. Er öffnete zwei Flaschen. Der Blick des Jungen verweilte auf der viereckigen Wellington-Kommode. Wie immer hatte Madame Annette die Oberfläche, die Messingecken und eingelassenen Schubladengriffe auf Hochglanz poliert. Der Junge nickte beifällig. Er hatte ein gut geschnittenes Gesicht, der Aus druck war eher ernst, das Kinn stark und bartlos. »Sie führen ein schönes Leben, nicht?« Der Ton konnte beides sein: spöttisch oder nachdenk lich. Hatte der Junge seine Akte eingesehen und ihn als Gauner eingestuft? »Warum nicht?« Tom reichte ihm eine Bierflasche. »Gläser hab ich vergessen, sorry.« »Darf ich mir erst die Hände waschen?« fragte der Junge ernsthaft und höflich. »Selbstverständlich. Gleich hier.« Tom machte Licht im Badezimmer. Der Junge stand über das Waschbecken gebückt und schrubbte fast eine Minute an seinen Händen herum. Er hatte die Tür nicht zugemacht. Lächelnd kam er zurück. Er hatte weiche Lippen, kräftige Zähne und glattes dun kelbraunes Haar. »So ist´s besser. Heißes Wasser!« Er lächelte über die eigenen Hände und hob sein Bierglas. »Wonach riecht es dort drin – Terpentin? Malen Sie?« Tom lachte ein wenig. »Ja, manchmal, aber heute hab ich mich über die Holzameisen hergemacht, in den Rega len drüben.« Er hatte nicht die Absicht, jetzt über Holz ameisen zu reden. Als der Junge Platz genommen hatte – Tom saß auf einem zweiten Holzstuhl – fragte Tom: »Wie lange willst du in Frankreich bleiben?«
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Der Junge schien zu überlegen. »Vielleicht noch vier Wochen oder so.« »Und dann gehst du zurück aufs College? Bist du auf einem College?« »Noch nicht. Ich weiß noch nicht, ob ich aufs College will. Das muß ich erst sehen.« Er fuhr sich mit den Fin gern durchs Haar und schob es auf die linke Kopfseite. Einige Haare wollten oben aufrecht stehenbleiben. Toms prüfender Blick schien ihn verlegen zu machen; er trank einen großen Schluck Bier. Jetzt bemerkte Tom einen kleinen Fleck, einen Leber fleck, auf der rechten Wange des Jungen. »Du kannst gern heiß duschen, wenn du Lust hast«, sagte Tom bei läufig. »Macht gar keine Umstände.« »Oh nein, vielen Dank. Vielleicht seh ich schmuddelig aus. Aber ich kann mich gut in kaltem Wasser waschen, wirklich. Ich kann das. Jeder kann das.« Die vollen jun gen Lippen versuchten zu lächeln. Der Junge stellte sei ne Bierflasche auf den Boden; dabei fiel sein Blick auf etwas, das im Papierkorb neben seinem Stuhl lag. Er blickte genauer hin. »Auberge Réserve des Quatre Pat tes«, las er von dem weggeworfenen Umschlag ab. »Ist ja komisch. Sind Sie da gewesen?« »Nein. Sie schicken mir ab und zu Rundschreiben, in denen sie um Spenden bitten. Warum?« »Weil ich gerade diese Woche, als ich im Wald spazie ren ging – irgendwo östlich von Moret, auf einem Wald weg, da traf ich einen Mann und eine Frau, und die frag ten mich, ob ich wüßte, wo diese Auberge Réserve sei. Es sollte irgendwo in der Nähe von Veneux-les-Sablons sein. Die Leute sagten, sie hätten schon stundenlang danach gesucht, sie hätten ein paarmal Geld hinge schickt und wollten sich das Haus mal ansehen.«
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»In ihren Briefen heißt es immer, Besucher seien ih nen nicht sehr lieb, weil sie die Tiere nervös machten. Sie versuchen, auf brieflichem Weg ein Heim für die Tie re zu finden, und dann schicken sie Erfolgsstories und sagen, wie wohl sich der Hund oder die Katze im neuen Heim fühlt.« Tom lächelte, als er an die sentimentalen Worte in einigen der Stories dachte. »Haben Sie Geld hingeschickt?« »Ach – zwei-, dreimal dreißig Francs.« »Wohin haben Sie es geschickt?« »Sie haben eine Adresse in Paris – Postfach, glaube ich.« Auch Billy lächelte jetzt. »Wäre es nicht witzig, wenn es das Haus gar nicht gäbe?« Die Möglichkeit amüsierte auch Tom. »Ja. Bloß ein Wohltätigkeitsschwindel. Warum ist mir das nie eingefal len?« Tom öffnete zwei weitere Bierflaschen. »Darf ich´s mir mal ansehen?« Billy meinte den Um schlag im Papierkorb. »Klar, warum nicht!« Der Junge fischte auch die hektografierten Seiten her aus, die in dem Umschlag gekommen waren. Er überflog sie und las laut vor: ». . . ›bezauberndes kleines Ge schöpf. Das paradiesische Heim, das ihm die Vorsehung verschaffte, hat das Tierchen wirklich verdient.‹ Das ist ein Kätzchen. ›Und nun hat sich ein völlig abgemagerter braunweißer Foxterrier zu unserer Schwelle verirrt, er braucht Penicillin und noch andere Schutzimpfun gen . . .‹« Der Junge blickte zu Tom auf. »Möchte bloß wissen, wo diese Schwelle zu finden ist? Wenn es nun alles Betrug ist?« Er schien das Wort ›Betrug‹ zu genie ßen. »Wenn es das Haus wirklich gibt, hätte ich Lust, es zu suchen. Es macht mich neugierig.«
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Tom beobachtete ihn interessiert. Billy – Rollins, so hieß er doch? – war plötzlich zum Leben erwacht. »Postlagernd Box zweihundertsiebenundachtzig, 18. Arrondissement«, las der Junge. »Welches Postamt im achtzehnten? Kann ich das behalten – Sie hatten es ja weggeworfen, nicht?« Der Eifer des Jungen beeindruckte Tom. Woher hatte er, in so jungen Jahren, die Begeisterung dafür, Betrüge reien aufzudecken? »Natürlich, behalt´s nur.« Tom setzte sich wieder. »Bist du vielleicht selber schon mal auf ei nen Betrug reingefallen?« Billy lachte rasch, dann schien er über die Vergangen heit nachzudenken und darüber, ob dem so sei. »Nein, eigentlich nicht. So ein richtiger Betrug, nein.« Vielleicht irgendein fauler Trick, dachte Tom, beschloß aber, nicht weiter nachzubohren. »Wäre doch amüsant«, sagte Tom, »den Leuten zu schreiben, unter falschem Namen, und zu sagen: Sie sind durchschaut, Sie kassie ren Gelder für nichtexistente Tiere, machen Sie sich auf einen Besuch der Polizei in Ihrem – in Ihrem Postfach gefaßt.« »Nein, warnen dürften wir sie nicht, wir müßten ihre Wohnungsadresse ausfindig machen und dort ohne Vor anmeldung erscheinen. Nehmen Sie mal an, es sind ein paar üble Kunden, die eine schicke Wohnung in Paris gemietet haben! Wir müßten ihre Spur aufnehmen – an gefangen mit dem Postfach.« In diesem Augenblick hörte Tom ein Klopfen an der Tür und stand auf. Im Flur stand Heloise im Pyjama und einem rosa Krepp-Morgenmantel. »Oh – du hast jemand bei dir, Tome! Ich dachte, die Stimmen kämen aus deinem Radio.«
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»Ein Amerikaner, den ich eben im Dorf getroffen habe. Billy –« Tom wandte sich um und zog Heloise an der Hand mit. »Meine Frau Heloise.« »Billy Rollins. Enchanté, Madame.« Billy war aufge standen und verneigte sich leicht. Tom fuhr auf Französisch fort. »Billy arbeitet als Gärt ner in Moret. Er kommt aus New York. Ein guter Gärtner, Billy?« Tom lächelte. »Ich – geb mir Mühe«, erwiderte Billy, senkte den Kopf und stellte seine Bierflasche wieder vorsichtig neben Toms Schreibtisch auf den Fußboden. »Hoffentlich haben Sie ein paar schöne Wochen in Frankreich«, sagte Heloise obenhin, aber die Augen hat ten Billy schnell gemustert. »Ich wollte bloß Gute Nacht sagen, Tome, morgen früh – Noëlle und ich wollen in das Antiquitätengeschäft in Le Pavé du Roi und dann zum Lunch nach Fontainebleau in den Aigle Noir. Willst du nicht hinkommen zum Lunch?« »Lieb von dir, aber ich glaube nicht, danke schön. Amüsiert euch gut. Ich seh euch doch noch morgen früh, bevor ihr wegfahrt, nicht? Gute Nacht, schlaf gut.« Er küßte Heloise auf die Wange. »Ich bringe Billy mit dem Wagen nach Hause, erschrick also nicht, wenn du mich später heimkommen hörst. Ich schließe hinter mir ab, wenn ich geh.« Billy sagte, er finde bestimmt jemand, der ihn mitneh me, da sei er ganz sicher, aber Tom bestand darauf, ihn heimzufahren. Tom wollte feststellen, ob es das Haus in der Rue de Paris in Moret wirklich gab. Als sie im Wagen saßen, sagte Tom: »Und deine Fa milie lebt in New York? Was macht denn dein Vater – wenn die Frage nicht indiskret ist?«
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»Er – Elektronik. Sie machen Meßinstrumente. Zur e lektronischen Messung von allerhand Apparaten. Er ist da einer der Manager.« Tom spürte, daß Billy log. »Und du stehst gut mit dei ner Familie?« »Oh, klar. Sie –« »Sie schreiben dir?« »Klar, ja. Sie wissen, wo ich bin.« »Und nach Frankreich, wo willst du dann hin? Nach Hause?« Pause. »Vielleicht geh ich nach Italien. Ich weiß noch nicht.« »Ist das hier die richtige Straße? Muß ich hier abbie gen?« »Nein, zur anderen Seite«, sagte der Junge gerade noch rechtzeitig. »Aber die richtige Straße ist es schon.« Dann gab der Junge an, wo Tom halten sollte: vor ei nem bescheidenen mittelgroßen Haus; die Fenster waren jetzt alle dunkel, den Vorgarten trennte eine niedrige weiße Mauer vom Gehweg, das Einfahrtstor an der Seite war geschlossen. »Mein Schlüssel«, sagte Billy und holte einen ziemlich langen Schlüssel aus der inneren Jackentasche. »Ich muß leise sein. Ich danke Ihnen sehr, Mr. Ripley.« Er öffnete die Wagentür. »Laß mich wissen, was du über das Tierheim rausfin dest.« Der Junge lächelte. »Ja, Sir.« Tom sah ihm zu, wie er zum dunklen Tor ging, den Strahl der Taschenlampe auf das Schloß lenkte und dann den Schlüssel umdrehte. Billy ging durch, winkte Tom zu und schloß das Tor. Als Tom den Wagen zum Wenden zurücksetzte, sah er deutlich die Nummer 78 auf dem offiziellen blauen Metallschild neben der Haupttür. 22
Komisch, dachte Tom. Warum sollte der Junge eine so langweilige Arbeit annehmen, selbst für kurze Zeit, es sei denn, er wollte sich verstecken? Aber wie ein Rechtsbre cher sah Billy nicht aus. Am wahrscheinlichsten war es, dachte Tom, daß Billy einen Streit mit seinen Eltern ge habt hatte oder daß er von einem Mädchen enttäuscht worden war und einfach das nächste Flugzeug genom men hatte, um alles zu vergessen. Tom hatte das Gefühl, daß der Junge über reichlich Geld verfügte und es nicht nötig hatte, Gartenarbeit für fünfzig Francs pro Tag an zunehmen.
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Drei Tage später, an einem Freitag, frühstückten Tom und Heloise am Tisch in der Nische beim Wohnzimmer und überflogen Briefe und Zeitungen, die um halb zehn gekommen waren. Es war Toms zweiter Kaffee; den ers ten hatte ihm Madame Annette zusammen mit Heloises Tee nach acht gebracht. Draußen war ein Gewitter im Anzug oder von fern her spürbar, es lag eine Spannung in der Luft, die Tom um acht, vor Madame Annettes Er scheinen, geweckt hatte. Jetzt war es bedenklich dunkel, draußen rührte sich kein Lüftchen, und man hörte fernes Donnergrollen. »Eine Postkarte von den Cleggs!« Heloise hatte die Karte unter Briefen und einer Zeitschrift entdeckt. »Nor wegen. Sie machen eine Kreuzfahrt – du weißt doch noch, Tome? Sieh mal, ist das nicht herrlich?« Tom blickte von seiner International Herald Tribune auf und nahm die Karte, die Heloise ihm reichte. Sie zeigte ein weißes Schiff, das zwischen sehr grünen Ber gen durch einen Fjord fuhr; im Vordergrund schmiegten sich ein paar kleine Häuser in einen Knick der Küste. »Sieht tief aus«, sagte Tom. Aus irgendeinem Grund mußte er plötzlich ans Ertrinken denken. Tiefe Gewässer machten ihm Angst, er haßte Schwimmen und jeden Versuch dazu, und oft dachte er, daß er einmal im Was ser enden werde. »Lies mal die Karte«, sagte Heloise. Sie war englisch geschrieben und unterzeichnet von beiden Cleggs, Howard und Rosemary, den englischen Nachbarn, die etwa fünf Kilometer entfernt wohnten. »Herrlich geruhsame Fahrt. Wir spielen Sibelius vom Tonband, wegen der passenden Stimmung. Alles Liebe, 24
Rosemary. Schade, daß Ihr beide nicht hier seid mit uns, in der Mitternachtssonne –« Tom hielt inne, der Donner rumpelte und grollte wie ein entschlossener Hund. »Heu te kriegen wir gründlich was ab«, sagte Tom. »Hoffentlich halten sich die Dahlien.« Er hatte sie freilich alle mit Stüt zen versehen. Heloise griff nach der Karte, die Tom ihr zurückgab. »Du bist so nervös, Tome – das ist doch nicht unser ers tes Gewitter. Ich bin ganz froh, daß es jetzt kommt und nicht heute abend; ich muß doch zu Papa, weißt du.« Ja, das wußte Tom. Chantilly. Heloise hatte Freitag abend eine feste Verabredung zum Dinner mit ihren El tern und hielt sie gewöhnlich auch ein. Manchmal ging Tom mit und manchmal nicht. Lieber war es ihm, nicht mitzugehen; ihre Eltern waren spießig und langweilten ihn, ganz zu schweigen davon, daß sie sich aus ihm nie viel gemacht hatten. Tom fand es interessant, daß Heloi se stets sagte, sie gehe zu ›Papa‹ anstatt zu ihren ›El tern‹. Papa hielt den Daumen auf der Geldbörse. Mama war von Natur aus sehr viel großzügiger; aber im Fall einer wirklichen Krise – wenn irgendwie etwas platzte, wie es Tom um ein Haar passiert wäre in dem Schlamas sel mit Derwatt und Bernard und dem Amerikaner Mur chison –, dann hätte Mama vermutlich nicht mehr viel zu melden, falls Papa den Hahn zudrehen wollte. Und von dem Geld waren sie abhängig, um Belle Ombre in Schuß zu halten. Tom zündete sich eine Zigarette an, wappnete sich mit einer Mischung aus Lust und Angst für den nächsten Blitzstrahl und dachte an Heloises Vater; Jacques Plisson war ein untersetzter wichtigtuerischer Mann, der die Zügel der Geschicke (und den Verschluß der Geldbörse) fest in der Hand hielt, wie ein Wagenlen ker des zwanzigsten Jahrhunderts. Ein Jammer, daß Geld so viel Macht besaß, aber so war es nun mal. 25
»Monsieur Tome, encore du café?« Neben Tom stand plötzlich Madame Annette mit der silbernen Kaffeekanne, die ganz leicht zitterte, wie Tom bemerkte. »Danke, Madame Annette, jetzt nicht, aber lassen Sie die Kanne hier, vielleicht trinke ich später noch was.« »Ich will mal die Fenster nachsehen«, sagte Madame Annette und stellte die Kaffeekanne auf einen Untersatz in der Tischmitte. »Diese Dunkelheit! Da kommt ein Sturm.« Einen Augenblick traf der Blick aus den blauen Augen unter den normannischen Lidern mit Toms Blick zusammen, dann war sie schon auf die Treppe zugeeilt. Sie hatte die Fenster schon einmal nachgesehen, dachte Tom, vielleicht sogar einige Fensterläden zugemacht; aber der Gedanke, sie noch einmal nachzusehen, mach te ihr Freude. Auch Tom machte er Freude. Er hatte kei ne Ruhe; er ging ans Fenster, wo es etwas heller war, und besah sich die Leute-Spalte auf der letzten Seite der Trib. Frank Sinatra hatte einmal mehr einen letzten Auf tritt, diesmal in einem Film, der erst kommen sollte. Frank Pierson, 16, Lieblingssohn des verstorbenen MammutLebensmittelgroßhändlers John Pierson, hatte den Wohnsitz der Familie in Maine vor fast drei Wochen ver lassen, und die Familie war in Sorge, weil sie seitdem nichts von ihm gehört hatte. Der Tod seines Vaters, im Juli, hatte Frank tief getroffen. Tom erinnerte sich an einen Artikel über John Pier sons Tod. Sogar die Sunday Times in London hatte ein paar Zeilen darüber gebracht. John Pierson hatte die letzten Lebensjahre im Rollstuhl verbringen müssen, ähnlich wie George Wallace in Alabama und aus dem gleichen Grund: jemand hatte versucht, ihn umzubringen. Er war enorm reich gewesen, nicht ganz so reich wie Howard Hughes, aber das Vermögen betrug immerhin Hunderte von Millionen, die er mit Lebensmitteln verdient 26
hatte, mit Feinschmecker-, Gesundheits- und Diätkost. Tom erinnerte sich besonders darum an die Nachrufe, weil es nicht klar gewesen war, ob er Selbstmord verübt und sich von einer Klippe auf seinem Grundstück herun tergestürzt hatte, oder ob ein Unfall vorlag. John Pierson hatte immer gern von der Klippe aus den Sonnenunter gang beobachtet; ein Schutzgitter hatte er abgelehnt, weil es die Aussicht beeinträchtigt hätte. Ka-a-rack! Tom fuhr von der Glastür zurück und blickte mit aufge rissenen Augen nach draußen, um zu sehen, ob die Glasfenster im Treibhaus noch heil waren. Jetzt kam der Wind und schob rasselnd etwas über die Dachziegel nach unten. Hoffentlich nichts weiter als einen Zweig, dachte Tom. Heloise las in einer Zeitschrift; ihr machten die Ele mente nichts aus. »Muß mich anziehen«, sagte Tom. »Du hast doch kei ne Verabredung zum Lunch, oder?« »Non, chéri. Ich gehe nicht vor fünf. Du bist immer am falschen Platz nervös. Das Haus ist sehr solide!« Etwas mühsam nickte Tom; ihm kam es ganz natürlich vor, nervös zu sein, wenn es rundherum blitzte. Er nahm die Trib vom Tisch und ging nach oben, wo er vor sich hinträumend duschte und sich rasierte. Wann mochte der alte Plisson wohl sterben, eines natürlichen Todes ster ben? Nicht daß Tom und Heloise Geld brauchten, mehr Geld: nein, das nicht. Aber er war eine solche Nervensä ge, eine klassische Figur wie die böse Schwiegermutter. Jacques Plisson setzte natürlich auch auf Chirac. Tom war jetzt angezogen; er öffnete das Seitenfenster in sei nem Schlafzimmer, und ein Schwall von Regen und Wind fuhr ihm ins Gesicht, den er tief einatmete, weil er erfri schend und anregend war, aber er machte das Fenster 27
gleich wieder zu. Wie gut das roch, Regen auf trockene Erde! Tom ging hinüber in Heloises Schlafzimmer und sah, daß die Fenster geschlossen waren. Jetzt zischte der Regen an ihnen herab. Madame Annette war gerade dabei, auf dem Doppelbett, in dem er und Heloise ge schlafen hatten, die Decke richtig über die Kissen zu zie hen. »Alles in Ordnung, Monsieur Tome«, sagte sie, gab zum Abschluß dem Kissen einen kleinen Klaps und rich tete sich auf. Die eher kurze, kräftige Gestalt schien e nergiegeladen wie die eines viel jüngeren Menschen. Sie war Ende Sechzig, aber sie hatte noch viele Jahre vor sich, dachte Tom, und das war ein beruhigender Gedan ke. »Ich seh mal schnell nach dem Garten«, sagte Tom, wandte sich um und verließ das Zimmer. Er lief die Trep pe hinunter, zur Haustür hinaus und ums Haus herum zum hinteren Rasen. Seine Dahlienstäbe und die Bindfä den waren noch intakt. Die Crimson Sunbursts nickten ganz närrisch mit dem Kopf, aber umblasen ließen sie sich nicht, auch nicht die ausgefransten orangefarbenen Dahlien, die Tom am liebsten hatte. Die Blitze fuhren jetzt im Südwesten über den schieferfarbenen Himmel; Tom blieb stehen und wartete auf den Donner, während ihm der Regen über das Gesicht lief. Auftrumpfend rollender Donner zerriß die Luft. Wenn nun der Junge von neulich Frank Pierson war? Sechzehn Jahre alt. Das war ganz gewiß wahrscheinli cher als neunzehn, was der Junge angegeben hatte. Maine, nicht New York. War nicht beim Tod des alten Pierson ein Bild von der ganzen Familie in der IHT gewe sen? Ein Bild des Vaters jedenfalls; an das Gesicht, das war Tom klar, konnte er sich nicht erinnern. Oder war es in der Sunday Times gewesen? Aber an den Jungen von 28
vor drei Tagen erinnerte er sich besser, als er sich sonst an Leute erinnerte. Das Gesicht des Jungen war eher nachdenklich und ernst, und er lächelte nicht oft. Ein fes ter Mund, gerade dunkle Augenbrauen. Und der Leber fleck auf der rechten Wange, vielleicht für ein Durch schnittsfoto nicht groß genug, aber immerhin ein Kenn zeichen. Der Junge war nicht nur höflich gewesen, son dern vorsichtig. »Tome! Komm doch rein!« Das war Heloise, sie rief von der Glastür aus. Tom lief auf sie zu. »Willst du vom Blitz getroffen werden?« Tom säuberte die Desert boots auf der Fußmatte. »Ich bin gar nicht naß. Ich dachte bloß an was anderes!« »An was denn? Komm, trockne deine Haare.« Sie reichte ihm ein blaues Handtuch aus der unteren Toilette. »Roger kommt heute nachmittag um drei«, sagte Tom und fuhr sich mit dem Handtuch über das Gesicht. »Ich bin dran mit Scarlatti. Ich muß heute morgen noch üben und nach dem Lunch auch.« Heloise lächelte. Im Regenlicht sah man in ihren blau grauen Augen lavendelfarbene Strahlen, die wie Spei chen von den Pupillen ausgingen und die Tom sehr lieb te. Ob sie das lavendelfarbene Kleid eigens für heute ausgesucht hatte? Wahrscheinlich nicht, es war wohl nur ein ästhetischer Glückszufall. »Ich wollte gerade selber üben«, erwiderte Heloise et was steif auf Englisch, »da sah ich, wie du auf dem Ra sen standest, wie ein Idiot.« Sie trat an das Cembalo und setzte sich hin, straffte sich und schüttelte die Hände – wie ein Profi, dachte Tom. Er ging in die Küche. Madame Annette war dabei, das Schränkchen über der Anrichte rechts vom Ausguß aus zuräumen. Sie hatte einen Staublappen in der Hand, 29
stand auf einem dreibeinigen Hocker und wischte ein Gewürzglas nach dem anderen ab. Für die Vorbereitun gen zum Essen war es noch zu früh, und die Besorgun gen im Dorf hatte sie vermutlich des Gewitters wegen auf den Nachmittag verschoben. »Ich will bloß was nachsehen in den alten Zeitungen«, sagte Tom und bückte sich an der Schwelle zum nächs ten Flur, der nach rechts in Madame Annettes Räume führte. Die alten Zeitungen wurden in einem Henkelkorb, wie sie für das Feuerholz benutzt werden, aufbewahrt. »Suchen Sie was Bestimmtes, Monsieur Tome? Kann ich Ihnen helfen?« »Danke schön, ich hab´s gleich. Amerikanische Zei tungen brauch ich. Ich komme allein zurecht.« Tom rede te geistesabwesend, während er die Julinummern der IHT durchblätterte. Nachrufseite oder Meldungen, das war die Frage, aber er meinte sich zu erinnern, daß der Pierson-Artikel in einer Spalte links oben auf einer rech ten Seite gestanden hatte, zusammen mit einem Foto. Es waren nur noch etwa zehn IHTs da, die andern waren schon weggeworfen. Tom ging nach oben in sein Zim mer. Hier fand er noch mehr IHTs, aber in keiner war der Artikel über John Pierson. Heloises Bach-Invention hörte sich recht gut an aus Toms Zimmer. War er eifersüchtig? Tom wollte lachen. Würde sein Scarlatti heute nachmittag weniger gut klin gen (in den Ohren von Roger Lepetit, natürlich) als He loises Bach? Jetzt lachte Tom wirklich, dann stemmte er die Hände in die Hüften und betrachtete etwas enttäuscht den kleinen Haufen Zeitungen auf dem Fußboden. Who´s Who, dachte er und ging über den Flur in das an dere, nach vorn gelegene Zimmer mit dem Türmchen; das war ihre Bibliothek. Tom nahm sich den Who ´s Who vor und fand keine Eintragung über John Pierson. Er ver 30
suchte es mit dem Who´s Who in America, der Band war älter als die englische Ausgabe, aber auch der enthielt nichts über John Pierson. Beide Who´s Who waren etwa fünf Jahre alt. Außerdem war John Pierson vielleicht der Typ, der seine Einwilligung für die Aufnahme verweiger te. Heloise beschloß ihre dritte Darbietung der Invention mit einem zart ausklingenden Schlußakkord. Ob der Junge namens Billy ihn noch einmal aufsuchen würde? Wahrscheinlich. Tom übte seinen Scarlatti nach dem Lunch. Er brachte es jetzt fertig, dreißig Minuten oder länger konzentriert zu üben, ohne einmal zu unterbrechen und in den Garten zu gehen; das war ein Fortschritt, verglichen mit den fünf zehn Minuten vor einigen Monaten. Roger Lepetit (›petit‹ war er wirklich nicht, ein großer, rundlicher junger Mann, ein französischer Schubert, dachte Tom, Brille und locki ges Haar) sagte, Gartenarbeit sei ruinös für die Hände eines Pianisten oder Cembalisten, aber Tom war ein Kompromiß lieber: er mochte die Gartenarbeit nicht auf geben, doch das Ausreißen von Kreuzblumen und ähnli chem Zeug konnte er vielleicht dem Gärtner Henri, der stundenweise kam, überlassen. Er wollte es auf dem Cembalo ja nicht bis zur Konzertreife bringen. Das ganze Leben war ein Kompromiß. Gegen viertel nach fünf sagte Roger Lepetit: »Das hier ist Legato. Es braucht viel Mühe auf dem Cembalo, um ein Legato hinzukriegen –« Das Telefon klingelte. Tom hatte versucht, die richtige Spannung, den richti gen Grad an Lockerung zu erreichen, um das einfache Stück angemessen zu spielen. Jetzt holte er tief Luft, stand auf und entschuldigte sich. Heloise war oben und
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zog sich um für den Besuch bei den Eltern, ihre Stunde hatte sie gehabt. Tom nahm den Hörer unten auf. Heloise hatte bereits oben abgenommen und sprach Französisch. Tom erkannte Billys Stimme und unter brach. »Mr. Ripley«, sagte Billy, »ich war in Paris. Sie wissen doch, wegen der Auberge. Es war – interessant.« Der Junge hörte sich verlegen an. »Hast du was gefunden?« »Etwas, ja, und – es macht Ihnen vielleicht Spaß, – ich dachte, – wenn Sie ein paar Minuten Zeit hätten heute abend so um sieben –« »Heute abend paßt es gut«, sagte Tom. Sie legten gleich auf, bevor Tom Zeit hatte zu fragen, wie der Junge herkommen wolle. Nun, er war ja schon mal hergekommen. Tom bog die Schultern vor- und rückwärts und ging zurück zum Cembalo. Er setzte sich aufrecht. Als er jetzt die piccola sonata von Scarlatti noch einmal spielte, fiel sie, wie er meinte, besser aus. Roger Lepetit nannte sie flüssig. Großes Lob. Der Gewittersturm hatte sich um Mittag ausgetobt, und spätnachmittags lag der Garten hell und sauber in unge wöhnlich staubfreiem Sonnenlicht. Heloise fuhr ab, um Mitternacht oder früher wollte sie zurück sein. Die Fahrt nach Chantilly dauerte anderthalb Stunden. Sie und ihre Mutter schwatzten immer noch eine Weile nach dem Dinner; ihr Vater zog sich spätestens um halb elf zurück. »Der amerikanische Junge kommt heute abend um sieben«, sagte Tom. »Billy Rollins, du weißt.« »Oh. Der von neulich abends, ja.« »Ich werd ihm was zu essen anbieten. Vielleicht ist er noch da, wenn du zurückkommst.« Das war nicht weiter wichtig, und Heloise sagte nichts dazu. »Bye-bye, Tome!« sagte sie und nahm den Strauß 32
aus Riesenmaßliebchen und einer einzigen roten Pfingst rose, fast der letzten im Garten. Vorsichtshalber trug sie einen Regenmantel über ihrem Rock mit der Bluse. Tom hörte sich gerade die Siebenuhr-Nachrichten an, als es draußen an der Einfahrt klingelte. Tom hatte Ma dame Annette gesagt, er erwarte einen Gast um sieben. Tom traf sie jetzt im Wohnzimmer und sagte, er werde seinen Bekannten selbst einlassen. Billy Rollins schritt über den Kiesweg zwischen dem Einfahrtstor, das offen gewesen war, und der Haustür. Heute trug er eine graue Flanellhose, Hemd und Jackett. Unter dem Arm hielt er etwas Flaches in einer Plastiktüte. »´n Abend, Mr. Ripley«, sagte er lächelnd. »´n Abend. Komm rein. Wie bist du hergekommen – und so pünktlich?« »Taxi. Heut wollt ich mal über die Stränge hauen«, sagte der Junge und putzte die Schuhe auf der Fußmatte ab. »Hier – das ist für Sie.« Tom machte die Plastiktüte auf und zog eine Schall platte mit Schubertliedern, gesungen von FischerDieskau, heraus. Es war eine neue Aufnahme, von der Tom kürzlich gehört hatte. »Ich danke dir sehr. Genau was ich mir gewünscht habe, wie man immer sagt. Aber es stimmt wirklich, Billy.« Der Junge sah tadellos angezogen aus, ganz anders als vor einigen Tagen. Madame Annette kam herein und fragte nach den Wünschen. Tom machte die beiden be kannt. »Setz dich, Billy. Bier – oder lieber was anderes?« Billy setzte sich auf das Sofa. Madame Annette ging hinaus, um Bier zu holen und es dem Sortiment auf dem Barwagen hinzuzufügen. »Meine Frau ist heute abend bei ihren Eltern«, sagte Tom. »Da ist sie gewöhnlich am Freitag abend.« 33
Heute versuchte es Madame Annette mit Toms Gin und Tonic und einer Zitronenscheibe. Je mehr Arbeit Madame Annette hatte, desto glücklicher war sie, und an den Drinks, die sie für Tom machte, hatte er nie etwas auszusetzen. »Hatten Sie heute eine Cembalostunde?« Billy sah die Noten auf dem offenen Instrument liegen. Ja, sagte Tom, mit Scarlatti, und seine Frau mit der In vention von Bach. »Macht viel mehr Spaß als ein Bridge nachmittag.« Tom war dankbar, daß Billy ihn nicht auf forderte, etwas vorzuspielen. »Und was war nun mit Paris – mit unseren vierbeinigen Freunden?« »Ja«, sagte Billy und legte den Kopf zurück, als denke er sorgfältig nach, bevor er zu reden begann. »Mittwoch vormittag habe ich mich erst mal vergewissert, daß es die Auberge tatsächlich nicht gibt. Ich habe in einem Café gefragt und dann noch in einer Garage, wo sie sagten, es hätten schon mehr Leute danach gefragt – und dann hab ich mich auch noch bei der Polizei in Veneux erkundigt. Die sagten, sie hätten nie was davon gehört, und sie konnten es auch auf einer genauen Karte nicht finden. Dann habe ich noch in einem großen Hotel dort nachge fragt, und die hatten auch nie davon gehört.« Tom wußte, das war vermutlich das Hotel Grand Ve neux, ein Name, bei dem Tom immer an »großer Veneri scher« denken mußte und einen ungeheuren Lüstling vor sich sah. Tom erschrak über seinen eigenen Gedanken. »Du bist ja am Mittwochmorgen recht fleißig gewesen.« »Ja, und dann hab ich natürlich Mittwoch nachmittag gearbeitet, denn fünf oder sechs Stunden habe ich jeden Tag für Madame Boutin zu tun.« Er trank einen Schluck Bier aus seinem Glas. »Donnerstag, gestern, bin ich dann nach Paris gefahren, ins achtzehnte Arrondisse ment. Mit der Metrostation Les Abesses habe ich ange 34
fangen. Dann kam Place Pigalle. Ich bin auf die Postäm ter gegangen und habe nach dem Postfach 287 gefragt. Darüber gäben sie keine Informationen an Unbefugte, sagten sie. Ich hatte nach dem Namen des Postfachin habers gefragt.« Billy lächelte etwas. »Ich hatte mein Ar beitszeug an, und ich erzählte ihnen, ich wollte einem Tierheim zehn Francs zukommen lassen, und ob das nicht die Postfachnummer eines Tierheims sei. Wie die mich ansahen! Man hätte glauben können, ich sei ein Gauner.« »Meinst du, das war das richtige Postamt, wo du ge fragt hast?« »Das konnte ich nicht feststellen, denn sämtliche Postämter im Achtzehnten – oder jedenfalls vier – wollten mir nicht sagen, ob es bei ihnen ein Postfach zweisie benundachtzig gab. Deshalb tat ich eben das nächstbes te – das logische, dachte ich«, sagte Billy und sah Tom an, als könne dieser erraten, was er getan hatte. Tom riet es nicht gleich. »Was?« »Ich hab einen Briefbogen und eine Marke gekauft, mich ins nächste Café gesetzt und einen Brief an die Au berge geschrieben, etwa so: ›Werte Auberge undsowei ter, Ihre hektografierte Organisation existiert gar nicht. Ich bin einer der vielen düpierten‹ – Sie wissen, trompés –« Tom nickte beifällig. »›– und habe mich zusammengetan mit anderen wohlmeinenden Freunden Ihres karitativen Schwindels. Rechnen Sie also mit dem Eingreifen der zuständigen Behörde‹.« Billy beugte sich vor; in seinen Gesichtszü gen oder Gedanken schien Belustigung mit gerechter Entrüstung zu kämpfen. Die Wangen waren gerötet, er lächelte und runzelte gleichzeitig die Stirn. »Ich hab noch gesagt, man werde ihr Postfach von jetzt an beobach ten.« 35
»Ausgezeichnet«, sagte Tom. »Hoffentlich schlottern sie.« »Bei dem einen Postamt habe ich mich noch eine Wei le rumgetrieben in der Hoffnung, es werde jemand kom men. Ich fragte ein Mädchen am Schalter, wie oft die Eingänge abgeholt würden, aber sie wollte es mir nicht sagen. Typisch französisch, sowas. Dabei muß sie nicht mal versucht haben, jemanden zu schützen.« Tom kannte das. »Wie kommt es eigentlich, daß du so viel über die Franzosen weißt? Und Französisch sprichst du doch auch ganz gut, oder?« »Ach – das hatten wir natürlich in der Schule. Und dann – vor ein paar Jahren, da hab ich – da war ich mit meiner Familie einen Sommer in Frankreich. Unten im Süden.« Tom hatte das Gefühl, als sei der Junge schon mehr fach in Frankreich gewesen, zum ersten Mal vielleicht schon mit fünf. Kein Mensch lernte anständiges Franzö sisch in einer normalen amerikanischen High School. Tom öffnete am Barwagen eine weitere Flasche Heine ken und brachte sie an den Couchtisch. Er hatte be schlossen, es drauf ankommen zu lassen. »Hast du das gelesen, von dem Tod des Amerikaners John Pierson, vor ungefähr einem Monat?« Einen Augenblick lang stand Überraschung in den Au gen des Jungen, dann schien er nachzudenken. »Ja, ich glaube, ich habe sowas gehört – irgendwo.« Tom wartete etwas und sagte dann: »Einer der beiden Söhne ist verschwunden. Frank heißt er. Die Familie macht sich Sorgen.« »Ach –? Wußte ich gar nicht.« War der Junge etwas blaß geworden? »Ich dachte ge rade – daß du es sein könntest«, sagte Tom.
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»Ich?« Der Junge saß vorgebeugt, das Bierglas in der Hand; sein Blick ließ Tom los und heftete sich auf den offenen Kamin. »Ich würde doch wohl nicht als Gärtner arbeiten, wenn ich –« Tom ließ etwa fünfzehn Sekunden verstreichen. Der Junge sagte nichts mehr. »Wollen wir mal deine Platte spielen? Woher hast du gewußt, daß ich Fischer-Dieskau gern habe? Vom Cembalo?« Tom lachte. Er schaltete die Hi-Fi-Anlage ein, die auf einem Regal links vom Kamin stand. Das Klavier setzte ein, dann kam Fischer-Dieskaus heller Bariton mit einem deutschen Lied. Tom fühlte sich sofort lebendiger, glücklicher; dann lächelte er und dach te an den schrecklichen tiefen Bariton, den er zufällig gestern abend in seinem Transistor aufgefangen hatte, ein stöhnender Engländer war das gewesen, der Eng lisch sang und Tom an einen sterbenden Wasserbüffel erinnerte, der vielleicht im Schlamm lag, die Füße in der Luft, obgleich es in dem Lied um ein liebliches Mädchen aus Cornwall ging, die er vor Jahren geliebt und verloren hatte – vor ziemlich vielen Jahren, der Reife der Stimme nach zu urteilen. Tom lachte plötzlich laut auf und merk te, daß er ungewöhnlich angespannt war. »Was lachen Sie?« fragte der Junge. »Ich dachte an einen Titel für ein Lied, den ich mir ausgedacht hatte. Auf Deutsch klingt es besser, so: ›Seit Donnerstag nachmittag ist meine Seele nicht dieselbe, denn ich fand beim Durchblättern eines Bandes von Goe thegedichten eine alte Wäscheliste.‹« Auch der Junge lachte – war er ebenso angespannt? Er schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht viel Deutsch. Aber komisch ist es. Seelen – ha!« Die süße Melodie klang fort. Tom zündete sich eine Gauloise an, ging langsam im Zimmer hin und her und 37
überlegte, wie er weitermachen sollte. Den Jungen ohne Umschweife stellen und sich den Paß zeigen lassen oder sonst etwas, etwa einen an ihn adressierten Brief, um die Sache zu erledigen? Als ein Lied zu Ende war, sagte der Junge: »Ich möch te jetzt lieber nicht die ganze Seite hören, wenn´s Ihnen recht ist.« »Ja, natürlich.« Tom stellte den Apparat ab und schob die Platte zurück in die Hülle. »Sie fragten mich – nach diesem Mann namens Pier son.« »Ja.« »Wenn ich Ihnen nun sagte –« die Stimme des Jungen wurde leise, als ob ein Dritter im Zimmer oder vielleicht Madame Annette in der Küche zuhörte – »ich bin sein Sohn, der weggelaufen ist?« »Ach«, sagte Tom gelassen, »ich würde sagen, das ist deine Sache. Wenn du nach Europa kommen wolltest, inkognito: das haben schon andere getan.« Das Jungengesicht sah erleichtert aus, ein Mundwin kel zuckte. Aber er schwieg und rollte das halbvolle Glas zwischen den Handflächen hin und her. »Nur ist die Familie anscheinend in Sorge«, sagte Tom. Madame Annette kam herein. »Entschuldigen Sie, Monsieur Tome, wird der –« »Ja, ich denke schon«, sagte Tom, denn Madame An nette hatte fragen wollen, ob der junge Gast zum Dinner bleibe. »Du kannst doch zum Essen bleiben, nicht wahr, Billy?« »Gern, ja. Vielen Dank.« Madame Annette lächelte dem Jungen zu, mehr mit den Augen als mit den Lippen. Sie hatte gern Gäste, sie
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war glücklich, wenn sie ihnen eine Freude machen konn te. »In einer Viertelstunde, Monsieur Tome?« Als Madame Annette hinausging, rutschte der Junge an den Rand des Sofas und fragte: »Können wir mal durch den Garten gehen, bevor es dunkel wird?« Tom stand auf. Sie gingen durch die Glastür und stie gen die paar Stufen hinunter zum Rasen. In der linken Ecke des Horizonts ging die Sonne unter, rosa und oran ge leuchtete es durch die Fichtenstämme. Tom spürte, es drängte den Jungen weiter weg aus Madame Annettes Hörweite, doch im Augenblick nahm ihn die Szenerie ge fangen. »Das ist wirklich gut – wie der Garten angelegt ist. Schön, aber nicht zu streng.« »Das Design ist nicht mein Verdienst, das war schon hier. Ich versuche nur, es zu erhalten.« Der Junge bückte sich und betrachtete ein paar Bart nelken (die jetzt nicht blühten). Tom war überrascht, daß er sie mit Namen kannte. Dann wandte er sich zum Treibhaus. Da waren vielfarbige Blätter, Blüten und Pflanzen, bereit zum Verschenken an Freunde, und alle in der angemessen feuchten Temperatur und fetten Blu menerde. Der Junge zog die Luft tief ein, er schien sie gern zu haben. War das wirklich der Sohn von John Pier son, im Luxus aufgewachsen, der einmal die Leitung der Geschäfte übernehmen sollte, außer wenn dafür viel leicht der ältere Sohn bestimmt war? Warum redete er jetzt nicht, hier im Treibhaus, wo sie ungestört waren? Aber der Junge besah sich immer noch weitere Töpfe, und eine Pflanze berührte er vorsichtig mit einer Finger spitze. »Gehen wir wieder rein«, sagte Tom etwas ungedul dig.
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»Ja, Sir.« Der Junge straffte sich, als habe er etwas Falsches getan, und folgte Tom nach draußen. Was war das für eine Schule, in der heute noch »Ja, Sir« verlangt wurde? Eine Militärschule? Sie aßen zu Abend in der Nische beim Wohnzimmer. Das Hauptgericht war Huhn mit Klößen; um die Klöße hatte Tom gebeten, als der Junge am Nachmittag ange rufen hatte. Tom hatte Madame Annette beigebracht, wie man Klöße auf amerikanische An macht. Der Junge aß mit gutem Appetit, und auch der Montrachet schien ihm zu schmecken. Höflich fragte er nach Heloise, wo ihre Eltern wohnten und wie sie seien. Tom verzichtete dar auf, ihm seine offene Meinung über die Plissons, vor al lem über den Vater, zu sagen. Die Mutter war ja nicht so übel. »Spricht Ihre – spricht Madame Annette Englisch?« Tom lächelte. »Sie sagt nicht mal ›Good morning‹. Sie mag Englisch nicht, glaube ich. Warum?« Der Junge fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und beugte sich vor. Mehr als ein Meter Tischfläche trennte sie noch voneinander. »Wenn ich Ihnen nun sagte, daß ich der – die Person bin, von der Sie sprachen. Frank.« »Ja, das hast du mich schon mal gefragt«, sagte Tom, dem es klar war, daß Frank die Wirkung des Alkohols spürte. Umso besser. »Du bist also hier – einfach um eine Weile von zu Hause wegzukommen?« »Ja«, sagte Frank ernsthaft. »Sie werden mich doch nicht verraten, hoffe ich.« Er flüsterte fast und versuchte dabei, Tom gerade anzusehen, aber sein Blick war ein wenig verschwommen. »Ganz bestimmt nicht. Du kannst mir vertrauen. Ver mutlich hast du deine Gründe –«
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»Ja. Ich möchte gern ein anderer sein –« der Junge unterbrach sich – »vielleicht für –« Er hielt inne. »Es tat mir leid, einfach so wegzulaufen, aber – aber ich –« Tom hörte ihm zu. Er merkte, daß Frank nur mit einem Teil der Wahrheit herausrückte und heute abend viel leicht nicht viel mehr sagen würde. Tom war dankbar für die Wirkung des vino und seiner veritas. Man konnte so nicht mehr einfach drauflos lügen, vor allem nicht, wenn man so jung war wie Frank Pierson. »Erzähl mir von dei ner Familie. Gibt´s da nicht einen John junior?« »Ja, Johnny.« Frank drehte den Stiel seines Weingla ses in den Fingern. Er starrte jetzt auf die Tischmitte. »Ich habe seinen Paß mitgenommen. Hab ihn aus sei nem Zimmer gestohlen. Er ist achtzehn – beinahe neun zehn. Ich kann seine Unterschrift nachmachen – jeden falls so gut, daß ich damit durchkomme. Das soll nicht heißen, daß ich es früher schon mal versucht habe. Bis jetzt noch nie.« Frank schwieg und wiegte den Kopf hin und her, als bedrängten ihn vielerlei Gedanken auf ein mal. »Und was hast du gemacht, nachdem du weggelaufen warst?« »Ich nahm eine Maschine nach London; da bin ich dann – ich glaube fünf Tage geblieben. Dann bin ich nach Frankreich gefahren. Nach Paris.« »Aha. Und Geld hattest du genug? Du hast keine Rei seschecks gefälscht?« »Nein, nein, ich hatte ja Bargeld mitgenommen, zweioder dreitausend. Das war ganz einfach – zu Hause. Ich kann ja den Safe öffnen.« Jetzt kam Madame Annette herein, um ein paar Schüsseln abzuräumen und die Erdbeerschnitten – frai ses de bois – mit Schlagsahne zu servieren.
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»Und Johnny?« sagte Tom, um den Ball wieder ins Rollen zu bringen, als Madame Annette hinausgegangen war. »Johnny ist auf der Uni in Harvard. Jetzt sind natürlich Ferien.« »Und wo ist das Haus?« Wieder verschwammen Franks Augen, als überlegte er: welches Haus? »In Maine. Kennebunkport. – Das Haus?« »Die Beisetzung war doch in Maine, nicht wahr? Ich meine mich zu erinnern. Und von dem Haus in Maine aus, da bist du fortgegangen?« Tom war überrascht, denn die Frage schien den Jungen zu erschrecken. »Von Kennebunkport, ja. Da sind wir gewöhnlich um diese Jahreszeit. Dort war die Beisetzung – die Ein äscherung.« Tom wollte ihn fragen: Glaubst du, daß dein Vater sich umgebracht hat, aber dann dachte er, die Frage sei vul gär und hätte nur den Zweck, seine Neugier zu befriedi gen, deshalb stellte er sie nicht. »Und deine Mutter?« fragte Tom stattdessen, als kenne er Franks Mutter und erkundige sich nach ihrer Gesundheit. »Ach, die – sie ist recht hübsch, obgleich sie schon über vierzig ist. Blond.« »Du kommst gut mit ihr aus?« »O ja. Sie ist fröhlicher als – als mein Vater gewesen ist. Sie hat gern Gäste und Parties. Und Politik.« »Politik? Was für welche?« »Republikanische.« Frank blickte lächelnd zu Tom. »Sie ist die zweite Frau deines Vaters, glaube ich.« Tom meinte sich aus dem Nachruf daran zu erinnern. »Ja.« »Und du hast deiner Mutter gesagt, wo du bist?«
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»Nnn-nein. Ich hab einen Zettel dagelassen, ich ginge nach New Orleans, weil sie wissen, daß ich New Orleans gern mag. Im Hotel Monteleone hab ich schon mal ge wohnt – allein. Ich mußte von zu Hause aus zu Fuß zur Busstation gehen, sonst hätte mich Eugene – das ist der Fahrer – zum Bahnhof gebracht, und dann hätten sie vielleicht irgendwie gewußt, daß ich nicht nach New Or leans gefahren bin. Ich wollte einfach auf eigenen Füßen wegkommen, ohne Hilfe, und das hab ich dann auch ge tan. Ich kam nach Bangor und dann nach New York, und da erwischte ich ein Flugzeug. – Darf ich?« Frank griff nach einer Zigarette aus dem silbernen Becher. »Sicher haben sie im Monteleone angerufen und festgestellt, daß ich nicht dort war, deshalb – ich weiß es, ich hab´s in der Trib gelesen, die kaufe ich manchmal.« »Und wie lange bist du nach der Beisetzung noch geblieben?« Frank gab sich Mühe, richtig zu antworten. »Eine Wo che – vielleicht noch etwa acht Tage.« »Und warum schickst du jetzt nicht ein Telegramm an deine Mutter und sagst, es gehe dir gut, du seist in Frankreich und möchtest noch eine Weile bleiben? Fin dest du nicht, daß es lästig ist, sich verstecken zu müs sen?« Aber Tom dachte auch: vielleicht macht es ihm Spaß. »Im Augenblick möchte ich jetzt – keinen Kontakt mit ihnen. Ich möchte allein sein. Frei.« Er sagte es mit Ent schiedenheit. Tom nickte. »Ich weiß jetzt wenigstens, warum dein Haar immer so hochsteht. Der Scheitel war früher links.« »Ja, das stimmt.« Madame Annette brachte ein Tablett mit Kaffee ins Wohnzimmer. Frank und Tom erhoben sich, und Tom warf einen Blick auf seine Uhr. Es war noch nicht mal 43
zehn. Wie war Frank Pierson darauf gekommen, daß Tom Ripley ihm Verständnis entgegenbringen werde? Weil Ripley einen zweifelhaften Ruf hatte, nach den alten Zeitungsausschnitten zu urteilen, die der Junge vielleicht gesehen hatte? Hatte auch Frank etwas angestellt? Viel leicht seinen Vater umgebracht – ihn über die Felskante gestoßen? »Hm-mm«, sagte Tom ohne Grund und schwang den Fuß, als er zum Couchtisch hinüberging. Ein beunruhi gender Gedanke. Und war es überhaupt das erste Mal, daß es ihm in den Sinn gekommen war? Tom war da nicht sicher. Jedenfalls wollte er abwarten, bis der Junge selber damit herauskam, wenn er das überhaupt vorhat te. »Kaffee«, sagte Tom entschlossen. »Vielleicht wäre es Ihnen lieber, wenn ich jetzt gehe?« fragte Frank. Toms Blick auf die Uhr war ihm nicht ent gangen. »Nein, nein, ich dachte nur an Heloise. Sie wollte vor Mitternacht zurück sein, aber bis dahin ist ja noch lange Zeit. Setz dich.« Tom nahm die Kognakflasche vom Bar wagen. Je mehr Frank heute abend redete, desto besser. Tom würde ihn dann nach Hause bringen. »Kognak.« Tom schenkte ein und füllte auch sein eigenes Glas, ob gleich er Kognak nicht mochte. Frank blickte jetzt ebenfalls auf die Uhr. »Ich möchte gehen, bevor Ihre Frau zurückkommt.« Heloise, dachte Tom, war auch jemand, der entdecken könnte, wer Frank war. »Leider werden sie die Fahndung noch ausdehnen, Frank. Wissen sie nicht bereits, daß du in Frankreich bist?« »Das weiß ich nicht.« »Setz dich doch. Das wissen sie bestimmt. Sie könn ten schließlich mit der Fahndung auch bis zu einer so
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kleinen Stadt wie Moret vordringen, wenn sie mit Paris fertig sind.« »Nicht wenn ich alte Sachen trage und einen Job habe – und einen anderen Namen.« Kidnapper, dachte Tom. Das kam vielleicht als nächs tes – eine Möglichkeit war es ganz sicher. Tom wollte Frank nicht an den Fall des jungen Getty erinnern, an die minuziöse Suche, die dann doch erfolglos geblieben war. Die Kidnapper hatten dem Jungen ein Ohr abgeschnitten zum Beweis dafür, daß sie ihn in ihrer Gewalt hatten, und die drei Millionen Dollar Lösegeld waren bezahlt worden. Auch Frank Pierson war kostbares Gut. Wenn Gauner ihn erkannten (und die würden sich stärker bemühen als das normale Publikum), so hatten sie mehr davon, wenn sie ihn entführten, als wenn sie die Polizei auf ihn auf merksam machten. »Warum«, fragte Tom, »hast du den Paß deines Bruders mitgenommen? Hast du keinen ei genen?« »Doch. Einen neuen.« Frank hatte sich hingesetzt, in der gleichen Sofaecke wie vorher. »Ich weiß es nicht. Vielleicht weil er älter ist und ich mich sicherer fühlte. Wir sehen uns etwas ähnlich. Nur ist er blonder.« Frank zog die Schultern ein, als schäme er sich. »Und du kommst gut aus mit Johnny? Du hast ihn gern?« »Och ja, ganz gut. Klar.« Frank blickte Tom an. Die Antwort war aufrichtig, das spürte Tom. »Und mit deinem Vater bist du auch gut ausgekommen?« Frank blickte zum Kamin hinüber. »Es ist schwer, dar über zu sprechen, weil –« Er kämpfte mit sich, und Tom ließ ihn. »Erst wollte er, daß Johnny sich für Pierson interes sierte – ich meine die Firma. Dann war ich dran. Johnny schafft es nicht in die Handelshochschule in Harvard, 45
oder er will einfach nicht. – Johnny interessiert sich für Fotografie.« Frank sprach das Wort aus, als sei Fotogra fie etwas Absonderliches, und sah Tom dabei an. »Des halb nahm Dad dann mich vor. Das war – ach, das ist schon über ein Jahr her. Ich hab immer wieder gesagt, ich wüßte es noch nicht sicher. Die Firma ist sehr – groß, wissen Sie, und ich sah nicht ein, warum ich mein Leben für sie hingeben sollte.« In Franks braunen Augen blitzte Zorn. Tom wartete. »Deshalb – nein, vielleicht doch nicht. Wir kamen nicht sehr gut miteinander aus, wenn ich ehrlich sein soll.« Frank griff nach seiner Kaffeetasse. Er hatte den Kognak noch nicht probiert und brauchte ihn vielleicht auch gar nicht, denn er sprach jetzt recht gut. Sekunden vergingen, und Frank sagte nichts mehr. Tom hatte Mitleid mit ihm; er sah, es kam noch mehr, und das war schmerzhaft, und deshalb sagte er: »Ich habe gemerkt, du hast dir den Derwatt angesehen.« Mit einer Kopfbewegung wies er auf den »Mann im Sessel« über dem Kamin. »Gefällt er dir? Ich hab ihn am liebsten.« »Ich kannte diesen noch nicht. Den da kannte ich – aus einem Katalog«, sagte Frank mit einem Blick über die linke Schulter. Er meinte »Die roten Stühle«, einen echten Derwatt, und Tom wußte auch sofort, welchen Katalog der Junge wahrscheinlich angesehen hatte: es war einer, den die Galerie Buckmaster erst kürzlich herausgegeben hatte. Die Galerie bemühte sich jetzt, die Fälschungen aus den Katalogen herauszuhalten. »Waren da wirklich welche gefälscht?« fragte Frank. »Ich weiß es nicht«, sagte Tom und versuchte dabei, so aufrichtig wie möglich auszusehen. »Bewiesen wurde nie etwas. Nein. Mir ist so, als ob Derwatt damals nach 46
London gekommen sei, um bestimmte Bilder zu verifizie ren.« »Ja – ich dachte, Sie wären dabei gewesen, weil Sie doch die Leute von der Galerie kennen, nicht?« Frank lebte jetzt etwas auf. »Mein Vater hat nämlich einen Derwatt.« Tom war froh, das Thema umbiegen zu können. »Welchen denn?« »Es heißt ›Der Regenbogen‹. Kennen Sie es? Unten ist alles beige, und darüber ein Regenbogen, hauptsäch lich in Rot. Alles zerfasert und gezackt. Man weiß nicht, welche Stadt es ist, Mexiko oder New York.« Tom wußte Bescheid. Eine Fälschung von Bernard Tufts. »Ich weiß«, sagte Tom, als denke er liebevoll zu rück an einen echten Derwatt. »Hatte dein Vater Derwatt gern?« »Wer nicht? Es ist so etwas Warmes in seinen Sachen – menschlich, meine ich, und das findet man nicht immer bei modernen Malern. Ich meine – wenn jemand Wärme sucht. Francis Bacon ist hart und realistisch, aber das ist dieses hier auch, auch wenn es nur zwei kleine Mädchen sind.« Der Junge blickte über die linke Schulter auf die beiden kleinen Mädchen in den roten Stühlen, mit dem rotflammenden Feuer hinter sich. Es war ein Bild, das man gewiss warm nennen konnte wegen seines Themas, aber Tom wußte, Frank meinte die Wärme in Derwatts Sehweise, die sich in der Wiederholung der Körper- und Gesichtskonturen zeigte. Tom war irgendwie persönlich gekränkt, weil der Jun ge anscheinend den »Mann im Sessel« weniger gern hatte, der doch ebensoviel von der Wärme des Malers zeigte, auch wenn weder der Mann noch der Sessel in Flammen stand. Aber das Bild war eine Fälschung, und deshalb liebte Tom es besonders. Wenigstens hatte 47
Frank noch nicht gefragt, ob es vielleicht eine Fälschung sei; wenn die Frage noch kam, dachte Tom, dann beruh te sie auf etwas, das der Junge gehört oder gelesen hat te. »Offenbar magst du Bilder gern.« Frank wand sich ein wenig. »Rembrandt mag ich sehr gern. Sie finden das vielleicht komisch. Mein Vater hat einen, den hält er irgendwo in einem Safe aufbewahrt. Ich habe ihn aber schon ein paarmal gesehen. Nicht sehr groß.« Frank räusperte sich und setzte sich auf. »Aber so richtig Freude –« Und genau darum ging es bei der Malerei, dachte Tom. Auch wenn Picasso sagte, Bilder seien dazu da, um Krieg zu führen. »Ich mag Vuillard und Bonnard. Die sind so behaglich. All das moderne Zeug, die Abstrakten – vielleicht werde ich sie eines Tages mal verstehen.« »Dann hattest du doch jedenfalls etwas Gemeinsames mit deinem Vater: ihr hattet beide Malerei gern. Hat er dich zu Kunstausstellungen mitgenommen?« »Na, ich bin hingegangen. Ich meine, ich hatte Freude daran, ja. Seit ich ungefähr zwölf war, das weiß ich noch. Aber mein Vater war immer im Rollstuhl, seit ich ungefähr fünf war. Einer hat auf ihn geschossen, haben Sie das gewußt?« Tom nickte. Ihm wurde plötzlich bewußt, daß Franks Mutter wegen dem Zustand seines Vaters wohl die letz ten elf Jahre lang ein seltsames Leben geführt haben mußte. »Nichts als Business, das wunderbare Business«, sagte Frank zynisch. »Mein Vater wußte, wer dahinter war – ein anderer Lebensmittelkonzern. Gedungener Kil ler. Aber mein Vater hat nie versucht, die Verfolgung – ich meine Klage einzureichen, weil er wußte, dann kä men sie nochmal. So geht´s eben zu in Amerika.« 48
Das konnte Tom sich vorstellen. »Probier mal deinen Kognak.« Der Junge nahm sein Glas, trank einen Schluck und zog ein wenig die Schultern hoch. »Wo ist deine Mutter jetzt?« »In Maine, nehme ich an. Vielleicht auch in der New Yorker Wohnung, ich weiß es nicht.« Tom wollte ihn noch einmal drängen und sehen, ob er etwas Neues sagen würde. »Ruf sie doch an, Frank. Du weißt bestimmt beide Nummern. Da steht das Telefon.« Es stand auf einem Tisch nahe der Haustür. »Ich geh nach oben, dann kann ich nichts hören, was du redest.« Tom erhob sich. »Ich will aber nicht, daß sie wissen, wo ich bin.« Der Blick, mit dem er Tom ansah, war jetzt fester. »Ein Mäd chen würde ich schon anrufen, wenn ich könnte, aber nicht mal ihr will ich sagen, wo ich bin.« »Was für ein Mädchen?« »Teresa.« »Und sie wohnt in New York?« »Ja.« »Aber warum rufst du sie nicht an? Sorgt sie sich denn nicht? Du brauchst ihr doch nicht zu sagen, wo du bist. Ich geh nach oben –« Aber Frank schüttelte langsam den Kopf. »Sie kriegt womöglich heraus, daß der Anruf aus Frankreich kommt. Das kann ich nicht riskieren.« Vielleicht war er wegen des Mädchens weggelaufen? »Hast du Teresa gesagt, daß du fortgehst?« »Ich hab ihr gesagt, ich wollte vielleicht eine kleine Reise machen.« »Hast du Streit mit ihr gehabt?« »O nein, nein.« Ein Ausdruck ruhiger glücklicher Hei terkeit legte sich über Franks Gesicht, etwas Träumeri
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sches, das Tom noch nicht kannte. Dann blickte der Jun ge auf seine Armbanduhr und stand auf. »Sorry.« Es war erst knapp elf, aber Tom wußte, Frank wollte nicht, daß Heloise ihn noch einmal traf. »Hast du ein Bild von Teresa?« »O ja!« Wieder strahlte er, als er in die Innentasche seines Jacketts griff und die Brieftasche herausholte. »Hier, dieses. Mein Lieblingsfoto, wenn´s auch nur ein Polaroid ist.« Er gab Tom ein kleines quadratisches Foto in einem transparenten Umschlag, in den es gerade hi neinpaßte. Tom sah ein braunhaariges Mädchen mit lebhaften Augen; ein übermütiges Lächeln auf den geschlossenen Lippen, die Augen leicht zusammengekniffen. Das Haar war glatt und glänzend und ziemlich kurz, und das Ge sicht verriet eigentlich eher Freude als Übermut – so als habe man sie beim Tanzen aufgenommen. »Sie hat Charme«, sagte Tom. Frank nickte, wortlos und glücklich. »Macht es Ihnen wirklich nichts aus, mich nach Hause zu bringen? Meine Schuhe sind zwar ganz bequem, aber –« Tom lachte. »Überhaupt nichts.« Frank trug Schuhe von Gucci, schwarzrunzliges Leder im Mokassin-Stil, heute gut geputzt. Sein Jackett aus hell- und dunkel braunem Harris-Tweed hatte ein interessantes Rhom benmuster, das Tom vielleicht auch für sich gewählt hät te. »Ich will mal nachsehen, ob Madame noch wach ist, dann sag ich ihr, daß ich nochmal fortgehe und bald zu rück bin. Sie wird manchmal unruhig, wenn sie einen Wagen hört, aber sie erwartet ja Heloise. Du kannst die Toilette hier unten benutzen, wenn du willst.« Tom wies auf eine schmale Tür in der Diele. Der Junge verschwand hinter der Tür, und Tom ging durch die Küche bis zu Madame Annettes Zimmertür. Sie 50
hatte kein Licht mehr, das sah er an dem Spalt unter der Tür. Tom ging an das Telefontischchen und kritzelte ei nen Zettel: »Bringe einen Freund nach Hause. Bin wahr scheinlich vor Mitternacht zurück. T.« Tom legte ihn auf die dritte Treppenstufe, wo Heloise ihn bestimmt sehen würde.
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Tom wollte sich heute abend gern Franks »kleines Haus« mal ansehen. Beiläufig fragte er ihn unterwegs: »Kann ich mal sehen, wo du wohnst? Oder stört das Madame Boutin?« »Ach, die geht schon gegen zehn ins Bett. Sie können es gern ansehen, klar.« Sie hatten gerade Moret erreicht. Tom kannte den Weg jetzt, er bog nach links ein in die Rue de Paris und verlangsamte die Fahrt vor dem Haus Nummer 78 auf der linken Straßenseite. In der Nähe des Hauses war ein Wagen geparkt. Da kein Verkehr mehr auf der Straße war, fuhr Tom jetzt nach links um zu parken, seine Scheinwerfer erhellten das Vorderteil des anderen Wa gens, und Tom sah, daß das Nummernschild auf 75 en dete, was bedeutete, daß der Wagen in Paris zugelassen war. Im gleichen Augenblick gingen die Scheinwerfer des Wagens an, leuchteten blendend auf Toms Windschutz scheibe, und der Pariser Wagen setzte eilig zurück. Tom meinte, zwei Männer auf den Vordersitzen zu sehen. »Was ist das?« fragte Frank. Es klang etwas nervös. »Möcht ich auch gern wissen.« Tom sah, wie der Wa gen rückwärts in die nächste linke Nebenstraße kurvte, dann herauskam und schnell davonfuhr. »Pariser Wa gen.« Tom hatte angehalten, aber die Scheinwerfer brannten noch. »Ich werde mal da um die Ecke parken.« Das tat Tom, in der dunkleren und kleineren Straße, in der der Pariser Wagen gewendet hatte. Tom machte die Lampen aus und verschloß drei Türen von innen, nach dem Frank ausgestiegen war. »Vielleicht war es gar nichts weiter«, sagte Tom, aber er war doch etwas ner 52
vös. Vielleicht lauerte jetzt ein Mann, oder zwei, in Ma dame Boutins Garten. »Taschenlampe«, sagte Tom und nahm seine aus dem Handschuhfach. Dann verschloß er die vordere Wagentür, und sie schritten auf Madame Boutins Haus zu. Frank nahm den langen Schlüssel aus seiner inneren Jackentasche und öffnete das Einfahrtstor zum Garten. Tom wappnete sich innerlich, falls es zu einem Faust kampf gleich hinter dem Tor kommen sollte, das keine drei Meter hoch und trotz der eisernen Spitzen nicht schwer zu überklettern war. Die Gartentür wäre noch leichter gewesen. »Schließ wieder ab«, flüsterte Tom, als sie durchgin gen. Das tat Frank. Jetzt hielt Frank die Taschenlampe, und Tom ging hinter ihm her, zwischen Weinstöcken und ei nigen Bäumen – es mochten Apfelbäume sein – hindurch auf ein kleines Haus zu, das rechts lag. In Madame Bou tins Haus auf der linken Seite war alles dunkel. Tom hör te keinen Laut, nicht mal aus dem Fernsehapparat eines Nachbarn. Ein Dorf in Frankreich kann um Mitternacht totenstill sein. »Aufpassen«, flüsterte Frank und zeigte mit der Ta schenlampe auf drei zusammengestellte Eimer, denen Tom ausweichen sollte. Frank zog einen kleineren Schlüssel aus der Tasche, öffnete die Tür des kleinen Hauses, machte Licht und gab Tom die Taschenlampe zurück. »Einfach, aber daheim«, sagte Frank fröhlich und schloß die Tür hinter sich und Tom. Der einzige Raum war nicht sehr groß. Er enthielt ein Bett, einen weißgestrichenen Holztisch, worauf mehrere Paperbacks, eine französische Zeitung und ein Kugel schreiber lagen. Ein halbgeleerter Becher mit Kaffee stand auch da. Über einem Stuhl hing ein blaues Arbei 53
terhemd. Am einen Ende des Zimmers waren ein Aus guß, ein kleiner Holzfeuerherd, ein Papierkorb, ein Hand tuchhalter. Ein brauner Lederkoffer – nicht neu – lag auf einem hohen Regal, darunter war eine Stange zum Auf hängen von Kleidung angebracht, und Tom sah einige Paar Hosen, Jeans und einen Regenmantel. »Auf dem Bett sitzt es sich bequemer als auf diesem Stuhl«, sagte Frank. »Anbieten kann ich Ihnen Nescafé – mit kaltem Wasser.« Tom lächelte. »Du brauchst mir gar nichts anzubieten. Ich finde dein Zimmer ganz – anständig.« Die Wände sahen frischgetüncht aus, vielleicht von Frank. »Und das da ist hübsch.« Tom hatte ein Aquarell auf einer weißen Pappe entdeckt (die Pappe, mit der Briefblocks unterlegt sind); sie stand, an die Wand gelehnt, auf Franks Nacht tischchen. Der Nachttisch war eine Holzkiste, auf der auch noch ein Glas mit einer roten Rose und ein paar Wildblumen stand. Auf dem Aquarell sah man das Tor, durch das sie eben gekommen waren; auf dem Bild war es halb geöffnet. Es war ein frech hingeworfenes, gar nicht überarbeitetes Bild. »Ach ja, das. Ich hatte die Kinderwasserfarben hier gefunden, in der Schublade.« Der Junge sah jetzt eher schläfrig als betrunken aus. »Ich muß jetzt gehen«, sagte Tom und griff nach dem Türknauf. »Ruf mich mal an, wenn du Lust hast.« Tom hatte die Tür halb geöffnet, als ein Licht anging in Mada me Boutins Haus, geradeaus in etwa zwanzig Meter Ent fernung. Auch Frank hatte es gesehen. »Was soll denn das?« fragte Frank irritiert. »Wir waren doch wirklich nicht laut.« Tom wollte flüchten, aber plötzlich hörte er in der laut losen Stille Schritte, anscheinend auf Kies und ziemlich nahe. »Ich versteck mich im Gebüsch«, flüsterte Tom 54
und war auch schon hinausgeschlüpft, nach links; er wußte, dort herrschte Dunkelheit, entweder vor der Gar tenmauer oder unter einem Baum. Die alte Dame tastete sich mit Hilfe des schwachen, bleistiftschmalen Strahls ihrer Taschenlampe den Weg entlang. »C´est Billy?« »Mais oui, Madame!« sagte Frank. Tom kauerte, mit einer Hand auf dem Boden, etwa sechs Meter von Franks kleinem Häuschen entfernt. Ma dame Boutin berichtete, gegen zehn Uhr seien zwei Männer erschienen und hätten nach Frank gefragt. »Nach mir? Wer waren die Leute?« sagte Frank. »Ihre Namen haben sie nicht angegeben. Sie sagten, sie wollten meinen Gärtner sprechen. Ich kannte sie gar nicht. Merkwürdig, um zehn Uhr nach einem Gärtner zu fragen, finde ich.« Madame Boutin hörte sich verärgert und argwöhnisch an. »Das ist nicht meine Schuld«, sagte Frank. »Wie sa hen sie denn aus?« »Ich habe nur einen gesehen. Er war vielleicht dreißig. Fragte, wann Sie wiederkämen. Das konnte ich ja nicht wissen!« »Es tut mir leid, daß Sie gestört wurden, Madame. Ich bin nicht auf der Suche nach anderer Arbeit, das kann ich Ihnen versichern.« »Das will ich auch nicht hoffen! Ich schätze es nicht, wenn solche Leute nachts an meiner Tür klingeln.« Die kleine, etwas gebückte Gestalt war jetzt im Begriff zu ge hen. »Ich halte die Tür und das Tor stets geschlossen, aber ich bin den ganzen Weg bis zur Gartentür gegan gen, um mit den Leuten zu reden.« »Wir sollten – – lassen wir´s jetzt, Madame. Es tut mir leid.« 55
»Gute Nacht, Billy, und schlafen Sie gut.« »Danke gleichfalls, Madame!« Tom wartete und blickte ihr nach, wie sie ins Haus zu rückging. Er hörte, wie Frank seine Haustür zumachte; dann wurde in Madame Boutins Haus eine Tür abge schlossen, ein zweiter Schlüssel quietschte leicht, dann kam das feste Klack, mit dem sie einen Riegel vorschob. Vielleicht war das noch gar nicht alles? Weitere Geräu sche vom Zuschließen waren nicht mehr zu hören, aber Tom wartete immer noch. Im Stockwerk über dem Erd geschoß brannte hinter einer Mattglasscheibe trübes Licht. Dann ging es aus. Frank wartete offenbar darauf, daß Tom den nächsten Schritt tat; das war intelligent von ihm, dachte Tom. Leise kroch Tom aus dem Gebüsch, schlich an die Tür des kleinen Hauses und klopfte mit den Fingerspitzen an. Frank öffnete die Tür nur halb, und Tom schlüpfte hin ein. »Ich habe das mit angehört«, flüsterte Tom. »Ich glau be, du gehst am besten fort, noch heute, gleich.« »Meinen Sie?« Frank sah erschreckt aus. »Ja, ich weiß, Sie haben recht. Ich weiß, ich weiß.« »Also – dann laß uns mal mit dem Packen anfangen. Heute übernachtest du bei mir, und an morgen kannst du dann morgen denken. Hast du nur den einen Koffer?« Tom nahm ihn von dem hohen Regal herunter und öffne te ihn auf dem Bett. Sie arbeiteten Hand in Hand. Tom reichte Frank alles zu: Hosen, Hemden, Schuhe, Bücher, Zahnbürste und Zahnpasta. Frank hielt beim Packen den Kopf gesenkt, und Tom spürte, er war den Tränen nahe. »Alles in Ordnung, wenn wir den Widerlingen heute abend aus dem Wege gehen«, sagte Tom leise. »Mor gen schicken wir dann der lieben alten Dame einen klei 56
nen Brief – du kannst vielleicht sagen, du hättest heute abend mit deiner Familie telefoniert und müßtest sofort zurück nach Amerika. Irgend so etwas. Aber damit kön nen wir uns jetzt nicht aufhalten.« Frank preßte seinen Regenmantel zusammen und machte den Koffer zu. Tom nahm seine Taschenlampe vom Tisch. »Warte noch eine Sekunde, ich will sehen, ob sie zurückgekom men sind.« So geräuschlos wie möglich schritt Tom über das ge mähte Gras auf das Tor zu. Ohne die Taschenlampe konnte er nicht weiter als drei Meter um sich herum se hen, und er wollte die Lampe nicht anmachen. Es stand jedenfalls kein Wagen vor Madame Boutins Haus. Ob sie vielleicht um die Ecke warteten, bei seinem Wagen? Un angenehmer Gedanke. Das Tor war jetzt verschlossen, so daß Tom nicht um die Ecke gehen und nachsehen konnte. Er ging zu Frank zurück und fand ihn bereit zum Gehen, den Koffer in der Hand. Frank ließ den Schlüssel im Türschloß des kleinen Hauses stecken, nachdem er abgeschlossen hatte, und sie gingen zum Tor. »Bleib mal eine Minute hier stehen«, sagte Tom, als Frank das Tor aufgeschlossen hatte. »Ich schau mal e ben um die Ecke.« Frank stellte den Koffer hin; er war nervös und wollte Tom begleiten, aber Tom schob ihn zurück, überzeugte sich, daß das Tor geschlossen aussah, und ging auf die Straßenecke zu. Er fühlte sich ziemlich sicher, denn auf ihn hatten es die beiden Männer bestimmt nicht abgese hen. Sein Wagen war der einzige, den er sehen konnte. Das war beruhigend. In dieser Gegend hatten die Leute Garagen, am Randstein sah man keine parkenden Wa gen. Tom hoffte bloß, daß die beiden Männer seine Au 57
tonummer nicht notiert hatten, denn sonst konnten sie sich über die Polizei seinen Namen und seine Adresse besorgen, indem sie als Grund irgendein erfundenes Vergehen oder einen Streit angaben. Tom ging zu Frank zurück, der immer noch hinter dem Tor stand. Der Junge kam heraus, als Tom winkte. »Ich weiß nicht, was ich mit diesem Schlüssel machen soll«, sagte Frank. »Schmeiß ihn hinter das Tor«, flüsterte Tom. Frank hatte das Tor wieder verschlossen. »Wir erklären es ihr morgen in dem Brief.« Sie gingen los, Frank trug seinen Koffer und Tom eine kleine Reisetasche; sie bogen um die Ecke und stiegen in den Wagen, wo sich Tom, als die Türen zu waren, ge schützt vorkam. Tom konzentrierte sich darauf, aus der Stadt herauszukommen, und zwar auf einem anderen Weg als bei der Hinfahrt. Soweit er sehen konnte, folgte ihnen niemand. Im Hauptteil der Stadt, bei der alten Brü cke mit den vier Türmen, brannten nur wenige Straßenla ternen, eine Bar war im Begriff zu schließen, und nur zwei oder drei Wagen waren in Fahrt und kümmerten sich gar nicht um ihn. Tom nahm die große N 5 und bog nach rechts ab, in Richtung auf das kleine Städtchen Obélique. Auf dieser Straße würden sie schließlich nach Villeperce kommen. »Sorg dich nicht«, sagte Tom. »Ich kenne den Weg, und ich glaube nicht, daß uns einer folgt.« Frank schien tief versunken in seine eigenen Gedan ken. Die kleine Welt um Madame Boutin war zusammen gebrochen, dachte Tom, und der Junge wußte nicht, wo er nun war. »Ich muß Heloise sagen, daß du bei uns ü bernachtest«, sagte Tom. »Aber für sie bleibst du Billy Rollins. Ich sag ihr, du willst ein bißchen Gartenarbeit für 58
uns machen, und –« Tom blickte wieder in den Rück spiegel, aber es war niemand hinter ihnen. »Ich sag ihr, daß du Teilzeitarbeit suchst. Mach dir keine Gedanken.« Tom blickte zu Frank hinüber. Der Junge starrte durch die Windschutzscheibe und nagte an der Unterlippe. Sie kamen nach Hause. Tom sah das weiche Lampen licht auf dem Vorplatz, das Heloise für ihn angelassen hatte, und fuhr durch das offene Einfahrtstor in die Gara ge rechts vom Haus. Tom sah, daß Heloise den roten Mercedes im rechten Teil der Garage abgestellt hatte. Tom stieg aus, bat Frank, noch einen Moment zu warten, dann holte er den großen Schlüssel unter dem Rhodo dendronstrauch hervor und schloß das Einfahrtstor ab. Inzwischen stand Frank mit Koffer und Reisetasche neben dem Wagen. Im Wohnzimmer brannte eine Lam pe. Tom schaltete noch ein Licht an, das die Treppe er hellte, machte das Licht im Wohnzimmer aus, ging dann hinaus und winkte Frank, ihm zu folgen. Oben an der Treppe wandten sie sich nach links, und Tom machte im Gastzimmer Licht. Heloises Tür war geschlossen. »So – mach´s dir bequem«, sagte Tom zu Frank. »Hier ist der Kleiderschrank –« Er öffnete eine cremefar bene Tür. »Hier sind Schubladen – und heute abend nimmst du mein Badezimmer, weil das hier Heloise ge hört. Ich bin sicher noch eine Stunde oder so wach.« »Vielen Dank.« Frank hatte seinen Koffer auf die klei ne Eichenbank gestellt, die am Fuß des einen Betts stand. Tom ging in sein Zimmer hinüber und machte dort Licht, ebenso im Badezimmer. Dann konnte er nicht wi derstehen: er trat an das Straßenfenster, an dem Mada me Annette die Vorhänge zugezogen hatte, und spähte nach draußen, um zu sehen, ob unten ein Wagen parkte oder langsam vorbeifuhr. Er sah nichts als Dunkelheit, 59
bis auf den Lichtschein unter einer Straßenlaterne weiter links. Natürlich war es möglich, daß da unten ein abge dunkelter Wagen parkte, aber Tom nahm lieber an, daß dort keiner stand. Frank klopfte an die halboffene Tür und kam herein, barfuß im Schlafanzug, die Zahnbürste in der Hand. Tom machte eine Handbewegung zum Badezimmer. »Bitte«, sagte Tom, »und laß dir Zeit.« Tom lächelte und blickte dem müden Jungen nach – er hatte jetzt Schatten unter den Augen –, wie er ins Badezimmer ging und die Tür schloß. Tom schlüpfte in seinen Schlafanzug. Er war gespannt, was die IHT in den nächsten Tagen über Frank Piersons Verschwinden bringen würde. Si cher wurde die Suche heftiger. Tom ging über den Flur bis zu Heloises Zimmer und blickte durchs Schlüsselloch. Wenn drinnen Licht brannte, konnte er es immer sehen, obgleich der Schlüssel innen steckte. Kein Licht. Tom ging in sein Zimmer zurück. Er lag im Bett und blätterte in einer französischen Grammatik, als Frank lä chelnd und mit feuchtem Haar aus dem Badezimmer kam. »Heiß geduscht! Toll!« »Geh ins Bett und schlaf. Schlaf so lange du magst.« Dann ging Tom ins Bad. Seine Gedanken waren bei dem Wagen vor Madame Boutins Haus. Wer die beiden Männer auch gewesen waren, sie hatten keinen ge räuschvollen Kampf riskieren wollen – nicht mal ein Zu sammentreffen mit Frank und einem anderen. Trotzdem verhieß es nichts Gutes. Andererseits konnte es auch blanke Neugier sein; vielleicht hatte irgendjemand in Mo ret erwähnt, er habe einen fremden Jungen gesehen, einen Amerikaner, der Frank Pierson sein könnte. Und der Jemand hatte vielleicht einen Freund in Paris. Die Männer hatten ja offenbar nicht nach Frank gefragt, son 60
dern nur nach Madame Boutins »Gärtner«. Franks Nach richt für Madame Boutin, überlegte Tom, brachte er am besten morgen selber hin, ohne den Jungen und so bald wie möglich.
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Ein einzelner Vogel – keine Lerche – weckte Tom mit einem Sechstonlied. Was war das für ein Vogel? Die Stimme klang fragend, fast schüchtern, aber auch neu gierig und voller Lebenskraft. Dieser oder ein verwandter Vogel weckte Tom häufig im Sommer. Mit halbgeschlos senen Augen besah er seine grauen Wände mit den dunkleren grauen Schatten, die wie eine lavierte Zeich nung aussahen. Tom liebte das alles: den Schattenklum pen der messingbeschlagenen Kommode, den dunkleren Klumpen des Schreibtisches. Er seufzte und drückte den Kopf tiefer ins Kissen zum letzten Dösen. Frank! Plötzlich fiel Tom ein, daß der Junge im Haus war. Das ließ ihn ganz wach werden. Sieben Uhr fünfunddrei ßig war es auf seiner Uhr. Heloise Bescheid sagen, daß Frank hier war – oder vielmehr Billy Rollins. Tom zog Slippers und Morgenrock an und ging nach unten. Es würde ihm wohltun, zuerst mit Madame Annette zu spre chen, und er war noch vor acht, seiner üblichen Morgen kaffeezeit, unten. Gäste machten Madame Annette nie etwas aus; sie fragte auch nicht, wie lange sie blieben, außer wenn es sich um die nächsten Mahlzeiten handel te. Der Kessel hatte gerade angefangen zu summen, als Tom in die Küche trat. »Bonjour, Madame!« rief er fröh lich. »Monsieur Tome! Vous avez bien dormi?« »Ausgezeichnet, danke schön. Wir haben heute mor gen einen Gast, Billy Rollins – der junge Amerikaner, den Sie gestern abend kennenlernten. Er ist oben im Gast
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zimmer und wird vielleicht ein paar Tage bleiben. Er ar beitet gern im Garten.« »Ja –? Ein netter junger Mann!« sagte Madame Annette beifällig. »Wann möchte er denn frühstücken? – Ihr Kaffee, Monsieur Tome.« Toms Kaffee war schon fertig, das Wasser im Kessel war für Heloises Tee. Er sah zu, wie Madame Annette schwarzen Kaffee in eine weiße Tasse goß. »Ach, ma chen Sie sich keine Mühe. Ich hab ihm gesagt, er soll so lange schlafen, wie er mag. Vielleicht kommt er runter. Ich kümmere mich darum.« Jetzt war Heloises Tablett fertig, und Madame Annette nahm es auf. »Ich komme mit Ihnen hinauf«, sagte Tom und folgte ihr mit seiner Tasse Kaffee. Tom wartete, bis Madame Annette angeklopft und mit ihrem Tablett – Tee, Grapefruit und Toast – das Zimmer betreten hatte, dann ging er an die offene Tür. Heloise war gerade aufgewacht. »Ach, Tome, komm rein! Ich war so müde gestern abend –« »Ja, aber du bist wenigstens nicht spät gekommen. Ich war, glaube ich, um zwölf auch zu Hause. Hör zu, ich habe den jungen Amerikaner aufgefordert, über Nacht hier zu bleiben. Er will ein bißchen im Garten arbeiten. Er ist drüben im Gastzimmer. Billy Rollins, du weißt.« »Ach«, sagte Heloise und löffelte ihre Grapefruit. Sie war nicht weiter überrascht, aber sie fragte: »Hat er gar kein Zuhause? Und kein Geld?« Tom antwortete vorsichtig. Sie sprachen Englisch. »Er hat bestimmt Geld, genug um irgendwo zu wohnen, aber er sagte gestern abend, er fühle sich nicht recht wohl da, wo er jetzt sei, da hab ich ihm gesagt, komm doch über Nacht zu uns, und dann haben wir seine Sachen geholt. Er ist ein Junge aus gutem Haus. – Achtzehn«, fügte Tom noch hinzu, »arbeitet gern im Garten und scheint 63
auch allerhand davon zu verstehen. Wenn er eine Weile für uns arbeiten will – bei den Jacobs kann er billig woh nen.« Die Jacobs waren ein Ehepaar in Villeperce mit einem kleinen Restaurant und drei »Hotelzimmern« im oberen Stockwerk. Heloise biß in ihren Toast. Sie war jetzt aufmerksam geworden und sagte: »Du bist so impulsiv, Tome. Ein amerikanischer Junge bei uns im Haus – einfach so! Wenn er nun ein Dieb ist? Du läßt ihn über Nacht bei uns bleiben – woher willst du wissen, daß er jetzt noch da ist?« Tom senkte einen Augenblick den Kopf. »Du hast recht. Aber dieser Junge – das ist kein Gammlertyp. Du brauchst –« Jetzt hörte Tom ein leises Surren, es klang ganz ähnlich wie sein eigener Reisewecker. Heloise schien es nicht gehört zu haben, sie war nicht so nahe am Flur. »Ich glaube, er hat seinen Wecker gestellt. Bis gleich.« Tom ging hinaus, die Kaffeetasse noch in der Hand, schloß Heloises Tür und klopfte bei Frank an die Tür. »Ja? Herein –?« Frank saß im Bett, auf einen Ellbogen gestützt. Auf dem Nachttisch stand ein Reisewecker, der Toms We cker sehr ähnlich war. »Morgen«, sagte Tom. »Guten Morgen, Sir.« Frank schob sich das Haar aus der Stirn und schwang die Beine über die Bettkante. Tom war belustigt. »Willst du nicht noch weiter schla fen?« »Nein, ich dachte, acht Uhr ist richtig zum Aufstehen.« »Kaffee?« »Ja, gern. Ich kann aber runterkommen.« Tom sagte, er wollte den Kaffee lieber heraufbringen, und ging nach unten in die Küche. Madame Annette hat te schon ein Tablett bereitgestellt mit Orangensaft, Toast 64
und den üblichen Dingen, und Tom wollte es mitnehmen, aber Madame Annette sagte, der Kaffee sei noch nicht umgeschüttet. Sie goß den Kaffee in die vorgewärmte silberne Kanne auf dem Tablett. »Wollen Sie es wirklich hinaufbringen, Monsieur Tome? Wenn der junge Mann ein Ei haben möchte –« »Ich glaube, so ist es genau richtig, Madame Annet te.« Tom ging nach oben. Frank probierte den Kaffee und sagte: »Hm-mmm!« Tom füllte die eigene Tasse aus der Kaffeekanne nach und setzte sich auf einen Stuhl. Das Tablett hatte er auf den Schreibtisch gestellt. »Du mußt gleich heute morgen den Brief an Madame Boutin schreiben. Je eher desto besser, und ich bring ihn hin.« »Schön.« Frank genoß seinen Kaffee, jetzt wurde er wach. Das Haar oben auf seinem Kopf stand aufrecht, wie im Wind. »Und wo der Torschlüssel ist. Gleich hinter dem Tor.« Der Junge nickte. Tom sah zu, wie er in seinen Toast mit Orangenmar melade biß, und fragte dann: »Weißt du noch, an wel chem Tag du von zu Hause fortgegangen bist?« »Siebenundzwanzigster Juli.« Und heute war Samstag, der neunzehnte August. »Du warst doch ein paar Tage in London, und dann – wo hast du in Paris gewohnt?« »Hotel d´Angleterre. Rue Jacob.« Tom kannte das Hotel, hatte aber nie dort gewohnt. Es lag im Gebiet von Saint-Germain-des-Prés. »Kann ich mal den Paß sehen, den du jetzt hast? Den von deinem Bruder?« Frank ging sofort an seinen Koffer, holte den Paß aus der oberen Tasche und gab ihn Tom. 65
Tom schlug ihn auf und hielt ihn schräg. Er sah das Bild eines jungen Mannes mit blonderem Haar, rechts gescheitelt, mit schmalerem Gesicht, aber in Augen, Stirn und Mund hatte er Ähnlichkeit mit Frank. Und doch: wie war er damit durchgekommen, dachte Tom. Glück, ge habt, bisher. Dieser Junge da war wohl fast neunzehn, einsachtzig groß, also etwas größer als Frank heute war. In französischen Hotels brauchte man keinen Paß oder Personalausweis mehr vorzulegen. Aber bei den Paß kontrollämtern in England und Frankreich war man jetzt bestimmt darüber informiert, daß Frank Pierson vermißt wurde; vielleicht lag dort auch schon ein Foto von Frank vor. Und sein Bruder mußte doch inzwischen auch ge merkt haben, daß sein Paß verschwunden war. »Na, du kannst es ebensogut gleich aufgeben.« Tom versuchte es mit einem neuen Kurs. »Wie willst du so in Europa weiterkommen? Die halten dich an jeder Grenze fest. Vielleicht gerade an der französischen.« Der Junge war offenbar verblüfft, aber auch gekränkt. »Ich versteh gar nicht, warum du dich verstecken willst.« Der Junge wandte die Augen ab, aber nicht Unehrlich keit stand darin. Frank schien mit sich zu Rate zu gehen, was er tun sollte. »Ich möchte einfach Ruhe haben – nur noch ein paar Tage.« Tom sah das leichte Zittern in der Hand des Jungen, als er die Serviette auf das Tablett zurücklegen wollte, sie dann abwesend halb zusammenfaltete und fallen ließ. »Deine Mutter muß doch jetzt wissen, daß du Johnnys Paß mitgenommen hast und daß deiner zu Hause ist. Sie könnten deine Spur nach Frankreich leicht verfolgen. Wenn die Polizei dich hier festnimmt, dann ist das viel unangenehmer, als wenn du ihnen jetzt einfach Bescheid gibst.« Tom stellte seine Tasse auf Franks Tablett. »Ich 66
geh jetzt runter, damit du den Brief an Madame Boutin schreiben kannst. Heloise hab ich gesagt, daß du hier bist. Hast du Papier zum Schreiben?« »Ja, Sir.« Tom hatte ihm einen Bogen Schreibmaschinenpapier und einen einfachen Umschlag anbieten wollen, denn das Briefpapier im Gastzimmer trug die Adresse von Bel le Ombre. Tom ging in sein Zimmer, rasierte sich mit dem Batterierasierapparat und zog eine alte grüne Kordhose an, die er oft bei der Gartenarbeit trug. Es war ein schö ner Tag, sonnig und etwas kühl. Er goß ein paar Pflan zen im Treibhaus, überlegte, was er und Frank heute vormittag tun könnten, und legte Gartenschere und Forke zurecht. Er wartete auf die Morgenpost, die in ein paar Minuten kommen mußte. Als Tom das vertraute Knarren der Handbremse des Postwagens hörte, ging er hinüber zur Torpforte. Er wollte sehen, ob die IHT irgendwo etwas über Frank Pierson brachte. Das suchte er deshalb zuerst, obgleich er einen Brief von Jeff Constant aus London sah. Merkwürdig, daß Jeff, ein freischaffender Fotograf, ein regelmäßigerer Briefschreiber war als Edmund Ban bury, dem eigentlich nur das Management der Galerie Buckmaster oblag, wo er den größten Teil seiner Zeit verbrachte. Auf den Nachrichtenseiten oder in der LeuteSpalte stand kein Wort über Frank Pierson. Plötzlich fiel Tom France-Dimanche ein, das alte WochenendKlatschblatt. Heute war Samstag, da erschien eine neue Nummer. France-Dimanche befaßte sich fast ausschließ lich mit Sex-Geschichten, aber das zweitwichtigste war Geld. Er öffnete Jeffs Brief im Wohnzimmer. Jeff erwähnte Derwatts Namen nicht, das sah Tom nach einem Blick auf die maschinengeschriebene Seite. Jeff sagte, er sei damit einverstanden, daß Schluß ge 67
macht werde, und habe – nach einem Gespräch mit Ed – die entsprechenden Leute informiert. Mit den entspre chenden Leuten, das wußte Tom, meinte er einen jungen Londoner Maler namens Steuerman, der mehrere falsche Derwatts – bis jetzt vielleicht fünf – für sie hergestellt hat te. Aber neben der hingebungsvollen Arbeit von Bernard Tufts verblaßten seine Bilder völlig. Derwatt war zwar angeblich gestorben, drüben in dem kleinen mexikani schen Dorf, dessen Namen er nie preisgegeben hatte, aber Jeff und Ed hatten nun seit Jahren alte Werke von Derwatt »entdeckt« und versucht, sie auf den Markt zu bringen. Jeff schrieb weiter: »Das wird unsere Einkünfte erheblich reduzieren, aber du weißt, wir haben immer auf deinen Rat gehört, Tom . . .« Am Schluß bat er Tom, den Brief zu zerreißen. Tom war etwas erleichtert und be gann, den Brief langsam in kleine Schnipsel zu zerrei ßen. Frank kam mit einem Umschlag in der Hand herunter. Er hatte Blue jeans an. »Fertig. Würden Sie es mal an sehen? Ich glaube, es ist in Ordnung so.« Tom kam sich vor wie ein Lehrer, dem sein Schüler einen Aufsatz überreicht. Tom fand zwei kleine Fehler im Französischen, die er für normal hielt. Frank hatte ge schrieben, er habe mit Zuhause telefoniert und müsse wegen einer Krankheit in der Familie sofort zurückkeh ren. Er dankte Madame Boutin für ihre Freundlichkeit und gab an, der Torschlüssel liege direkt innerhalb des Gar tentors, dort habe er ihn hingeworfen. »Das geht gut so, meine ich«, sagte Tom. »Ich fahre schnell hin damit. Du kannst dir inzwischen die Zeitung ansehen oder in den Garten gehen. In einer halben Stunde bin ich wieder da.« »Die Zeitung«, sagte Frank leise, sein Mund verzog sich vor Schreck, so daß die Zähne sichtbar wurden. 68
»Gar nichts drin. Ich habe nachgesehen.« Tom wies auf die IHT auf dem Sofa. »Ich geh mal in den Garten.« »Aber nicht vorne vors Haus, klar?« Das verstand Frank. Tom ging hinaus und nahm den Mercedes; die Schlüssel hatte er vom Tischchen in der Diele genom men. Es war nicht mehr viel Benzin im Tank, auf dem Rückweg wollte er nachfüllen lassen. Tom fuhr so schnell, wie die Geschwindigkeitsbegrenzung zuließ. Schade, daß der Brief in Franks Handschrift war, aber es hätte komisch ausgesehen, wenn er ihn getippt hätte. Doch wenn nicht gerade die Polizei bei Madame Boutin anklopfte, würde sich wohl kein Mensch für Franks Handschrift interessieren, hoffte Tom. In Moret parkte Tom etwa hundert Meter von Madame Boutins Haus entfernt und ging zu Fuß weiter. Dummer weise stand eine Frau draußen vor der Gartentür und unterhielt sich vermutlich mit Madame Boutin; sehen konnte Tom die letztere nicht. Vielleicht redeten sie über Billys Verschwinden. Tom drehte sich um und ging lang sam ein paar Minuten lang in die andere Richtung. Als er wieder hinsah, kam die Frau, die draußen auf dem Geh weg gestanden hatte, auf ihn zu. Tom schritt jetzt auf das Boutinsche Hause zu und sah die Frau nicht an, als er an ihr vorüberging. Tom ließ den Umschlag in den Briefkas tenschlitz mit dem Aufdruck LETTRES in der geschlos senen Gartentür fallen, ging um den Häuserblock herum und kam wieder zu seinem Wagen. Dann fuhr er ins Zentrum der Stadt, in Richtung auf die Brücke über die Loing, wo er einen Zeitungsladen kannte. Tom hielt an und kaufte einen France-Dimanche. Wie immer waren die Schlagzeilen rot, aber es ging darin um Prinz Charles´ Freundin und in der zweiten Schlagzeile 69
um die katastrophale Heirat einer griechischen Erbin. Tom fuhr über die Brücke, ließ Benzin einfüllen und schlug die Zeitung auf, während der Tank gefüllt wurde. Er fuhr zusammen, als er das en face-Foto von Frank sah, mit dem Scheitel auf der linken Seite und dem klei nen Leberfleck auf der rechten Wange. Ein quadratischer Zweispalten-Artikel. Die Überschrift lautete: AMERIKANISCHER MILLIONÄRSSOHN VERSTECKT SICH IN FRANKREICH, und unter dem Foto stand: Frank Pierson – wer hat ihn gesehen? Der Artikel lautete: Knapp eine Woche nach dem Tode des Multimillionärs John J. Pierson, des amerikanischen LebensmittelTycoons, verließ sein jüngerer Sohn Frank, 16, das luxu riöse Heim in Maine/USA, nachdem er den Paß seines älteren Bruders John an sich genommen hatte. Der ge wandte junge Mann ist bekannt für große Selbständig keit. Er war nach Aussage seiner schönen Mutter Lily Pierson äußerst bestürzt über den Tod seines Vaters. Frank Pierson hinterließ einen Brief mit der Nachricht, er fahre für ein paar Tage nach New Orleans/Louisiana; die Familie und auch die Polizei fanden jedoch keinerlei An haltspunkte dafür, daß er je dorthin ging. Die Suche führ te inzwischen nach London und jetzt, nach Angaben der Behörden, nach Frankreich. Die märchenhaft reiche Familie ist der Verzweiflung nahe. Es heißt, der ältere Bruder John beabsichtige, mit einem Privatdetektiv nach Europa zu kommen und hier nach Frank zu suchen. »Ich finde ihn leichter, weil ich ihn kenne«, sagte John Pierson jr. John Pierson sen. war Invalide und lebte im Rollstuhl, seit vor elf Jahren ein Attentat auf ihn verübt wurde. Am 22. Juli d. J. verunglückte er tödlich, als er von einer 70
Klippe auf seinem Grundstück in Maine stürzte. Selbst mord oder Unfall? Die amerikanischen Behörden gaben als Todesursache »Unfall« an. Doch welches Geheimnis steckt hinter der Flucht des Jungen aus seinem Zuhause? Tom bezahlte den Tankwart und gab ihm ein Trinkgeld. Er mußte das Frank gleich berichten und ihm die Zeitung zeigen, dachte Tom. Das würde ihn ja wohl dazu antrei ben, irgend etwas zu unternehmen. Dann mußte er die Zeitung vernichten, damit nicht Heloise oder (was wahr scheinlicher war) Madame Annette sie sich ansah. Es war halb elf, als Tom durch das Tor von Belle Ombre und in den Schatten der Garage einfuhr. Er faltete die Zeitung zusammen, steckte sie unter den Arm und ging links um das Haus herum, vorbei an Madame An nettes Tür, an der auf jeder Seite ein hübscher Topf mit rotblühenden Geranien stand – ihr großer Stolz, dachte Tom, denn sie hatte sie selber gekauft. Ganz hinten im Garten sah er Frank, er kauerte gebückt und schien Un kraut auszureißen. Vom Hause her hörte er durch die etwas offenstehende Glastür, wie Heloise brav ihren Bach übte. Nach einer halben Stunde, wußte Tom, würde sie entweder eine Platte mit jemand, der das gleiche Stück spielte, auflegen oder eine, die sie in völlig andere Stimmung versetzte, wie etwa Rockmusik. »Bil-ly«, rief Tom halblaut. Er versuchte, sich einzu prägen, daß er ihn Billy nennen mußte, und nicht Frank. Der Junge erhob sich aus dem Gras und lächelte. »Haben Sie´s hingebracht? Haben Sie sie gesehen?« fragte er ebenso halblaut, als könnte ihn drüben im Wald jemand hören. Auch Tom war auf der Hut wegen des Waldes hinter dem Garten – nach zehn Metern buschigem Unterholz 71
wurden die Stämme dicker. Tom war dort mal vergraben gewesen, etwa eine Viertelstunde lang. Man konnte nichts sehen durch das Gewirr der hüfthohen Brennes seln und der wilden dornigen Brombeerranken, die zwei oder drei Meter lang wurden und keine Früchte trugen, ganz zu schweigen von den hohen Linden mit so dicken Stämmen, daß ein Mann, der sich dahinter verstecken wollte, nicht zu sehen war. Tom machte eine Kopfbewe gung, und der Junge kam näher. Sie gingen hinüber in den freundlichen Schutz des Treibhauses. »Über dich steht was in dem Klatschblatt«, sagte Tom und schlug die Zeitung auf. Er stand mit dem Rücken zum Haus, aus dem Heloises Spiel noch immer herüberklang. »Ich fand, du müßtest es sehen.« Frank nahm die Zeitung, und Tom sah am plötzlichen Zucken der Hände, wie sehr er erschrak. »Verdammt«, sagte er leise. Er las mit zusammengebissenen Zähnen. »Meinst du, dein Bruder könnte rüberkommen?« »Das halte ich für – ja. Aber von meiner Familie zu behaupten, sie sei ›der Verzweiflung nahe‹ – das ist ab surd.« Tom sagte leichthin: »Und wenn nun Johnny heute hier aufkreuzt und sagt: ›Na, da bist du ja!‹« »Warum sollte er hier aufkreuzen?« fragte Frank. »Hast du je von mir gesprochen, mich bei deiner Fami lie erwähnt? Oder bei Johnny?« »Nein.« Tom sprach jetzt mit Flüsterstimme. »Und das Derwatt-Bild? Gab es da nicht Gespräche darüber? Weißt du das noch – vor ungefähr einem Jahr?« »Ja, das weiß ich noch. Mein Vater hat es erwähnt, weil da was in den Zeitungen stand. Das war aber nicht speziell über Sie, überhaupt nicht.«
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»Aber als du – du hast doch gesagt, du hast was über mich in den Zeitungen gelesen.« »In der öffentlichen Bibliothek in New York. Das war erst vor ein paar Wochen.« Was er meinte, war das Zeitungsarchiv. »Und da hast du mich auch nicht in deiner Familie erwähnt, oder sonstwo?« »O nein.« Frank sah Tom an, dann heftete sich der Blick auf irgendetwas hinter Tom, und wieder zog sich die Stirn besorgt zusammen. Tom drehte sich um – und wer da gemächlich wiegend auf ihn zukam, war Henri, der alte Bär, groß und stark wie etwas aus dem Märchenbuch. »Unser TeilzeitGärtner. Lauf nicht weg und hab keine Angst. Fahr dir mal durchs Haar. Und laß es lieber wachsen – für die Zukunft. Red nicht, sag nur ›Bonjour‹. Er bleibt nur bis Mittag.« Der französische Riese war inzwischen fast bis auf Hörweite herangekommen, und jetzt rief Henri mit tief und laut dröhnender Stimme: »´jour, Monsieur Ripley!« »´jour«, erwiderte Tom. »François«, sagte Tom mit ei ner Handbewegung zu Frank. »Rupft ein bißchen Un kraut aus.« »Bonjour«, sagte Frank. Er hatte sich den Schädel ge kratzt und dadurch sein Haar durcheinandergebracht, und jetzt zog er schlurfend nach hinten in den Garten, wo er am Rasenrand Schachtelhalme und Winden ausge rupft hatte. Franks kleine Komödie gefiel Tom. Der Junge hätte in seiner schäbigen blauen Jacke ebensogut ein Einheimi scher sein können, der bei den Ripleys um ein paar Stunden Arbeit nachgefragt hatte. Henri war weiß Gott nicht sehr zuverlässig, der konnte sich über die Konkur renz kaum beklagen. Henri war offenbar nicht imstande, 73
zwischen Dienstag und Donnerstag zu unterscheiden. Der Tag, den er sich vorgenommen hatte, war niemals der Tag, an dem er dann erschien. Henri schien auch nicht überrascht beim Anblick des Jungen, er behielt sein abwesendes Lächeln unter dem braunen Schnurrbart und dem ungepflegten Vollbart. Er trug ausgebeulte blaue Arbeitshosen, ein kariertes Baumwollhemd und eine blaßblau-weiß gestreifte Schirmmütze, ähnlich den Eisenbahnermützen in Amerika. Henri hatte blaue Au gen. Er machte den Eindruck, als sei er immer leicht be schwipst, war aber, so weit Tom sehen konnte, niemals wirklich betrunken, und Tom meinte, er habe vielleicht sich seinen Alkoholschaden irgendwann in der Vergan genheit geholt. Henri war ungefähr vierzig. Tom zahlte ihm fünfzehn Francs pro Stunde, egal was er tat, auch wenn sie bloß herumstanden und über Blumenerde rede ten oder über Methoden, Dahlienknollen über den Winter zu lagern. Tom schlug jetzt vor, auch den hundert Meter langen hinteren Rand des Gartens in Angriff zu nehmen, wo Frank noch arbeitete, aber Frank war weit links nahe dem kleinen Weg, der dort in den Wald führte. Tom gab Henri die Gartenschere; er selber nahm Forke und Harke mit, eine starke Metallharke. »Wenn Sie hier ´ne niedrige Steinmauer bauen, haben Sie diese Scherereien nicht mehr«, murmelte Henri ver gnügt und nahm den Spaten. Er hatte die Bemerkung schon häufig gemacht, und Tom hatte nicht die Absicht, ihre Fadheit zu steigern, indem er wiederholte, ihm und seiner Frau sei es lieber, daß der Garten so aussähe, als ginge er in den Wald über. Dann hätte Henri ihm geant wortet, der Wald gehe in den Garten über. Sie arbeiteten beide, und als Tom nach etwa fünfzehn Minuten über seine Schulter blickte, war Frank nicht zu 74
sehen. Gut, dachte Tom. Wenn Henri fragte, wo der Jun ge geblieben sei, würde Tom sagen, er hätte sich wahr scheinlich davongemacht, weil er gar nicht richtig arbei ten wollte. Aber Henri sagte nichts – umso besser. Tom ging durch den Lieferanteneingang in die Küche. Mada me Annette wusch etwas am Spülstein. »Madame Annette, ich habe eine kleine Bitte.« »Oui, Monsieur Tome?« »Der junge Mann, der bei uns ist – der hat gerade was Trauriges erlebt mit seiner Freundin aus Amerika. Er war zusammen mit ein paar jungen Amerikanern in Frank reich. Deshalb möchte er ein paar Tage Ruhe haben und bei uns bleiben, glaube ich. Es wäre gut, wenn Sie nie mand im Dorf erzählten, daß Billy bei uns ist. Er möchte nicht, daß seine Freunde ihn hier aufsuchen, verstehen Sie?« »Ah-h.« Madame Annette verstand. Herzensangele genheiten waren etwas Persönliches, Dramatisches, Schmerzhaftes, und der Junge war noch so jung: das schien ihr Gesicht auszudrücken. »Sie haben doch Billy bei niemandem erwähnt, oder?« Tom wußte, Madame Annette kehrte häufig bei Georges ein, setzte sich an einen kleinen Tisch und trank eine Tasse Tee. Andere Haushälterinnen machten es ebenso. »Bestimmt nicht, Monsieur.« »Gut.« Tom ging wieder hinaus in den Garten. Es war fast Mittag, als Henri begann, sein ohnehin schon langsames Arbeitstempo noch etwas zu verlang samen, und bemerkte, es sei warm. Es war nicht warm, aber Tom hatte nichts dagegen, mit dem Harken aufzu hören. Sie gingen ins Treibhaus; dort hielt Tom einen Vorrat von sechs oder mehr Flaschen Heineken Lager bier in einer quadratischen zementierten Bodenvertie
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fung, die als Abfluß diente. Tom holte zwei Flaschen her aus und öffnete sie mit einem rostigen Flaschenöffner. Die nächsten Minuten blieben verschwommen für Tom; er dachte an Frank und wo er sein könne. Henri murmelte immer noch etwas von der mageren Himbeer ernte dieses Sommers, während er mit seiner kleinen Bierflasche herumwanderte und sich bückte, um diese oder jene Pflanze auf Toms Regalen zu betrachten. Hen ri trug alte Schnürstiefel, die ihm weit über die Knöchel reichten und die dicke weiche Sohlen hatten – der Inbe griff von Bequemlichkeit, wenn auch nicht von Chic. Er hatte die größten Füße, die Tom jemals, soweit er sich entsann, bei einem Mann gesehen hatte. Ob Henris Fü ße diese Stiefel tatsächlich ausfüllten? Aber nach den Händen zu urteilen, taten sie es wohl. »Non, trente«, sagte Henri. »Wissen Sie nicht mehr – letztesmal? Da hatten Sie fünfzehn zu wenig.« Tom wußte es nicht mehr, aber er wollte keinen Wort wechsel und gab Henri dreißig Francs. Dann ging Henri mit dem Versprechen, am nächsten Dienstag oder Donnerstag wiederzukommen. Tom war das egal. Henri war »im Ruhestand« oder »repos« we gen einer Verletzung, die er sich vor Jahren bei einer Ar beit zugezogen hatte. Er führte ein leichtes sorgenloses Leben; in vieler Hinsicht war er zu beneiden, dachte Tom, als er der hohen Gestalt nachsah, wie sie da vonstelzte, vorbei an der Hausecke mit dem beigen Türmchen. Tom spülte sich die Hände am Ausguß im Treibhaus ab. Wenige Minuten später trat Tom durch die Vordertür ins Haus. Die Stereoanlage im Wohnzimmer spielte ein Brahmsquartett, und vielleicht war Heloise dort. Tom ging nach oben und sah sich nach Frank um. Franks Tür war zu, und Tom klopfte. 76
»Herein?« sagte Franks Stimme in dem fragenden Ton, den Tom kannte. Tom trat ein und sah, daß Frank seinen Koffer ge packt, sein Bett abgezogen und die Laken sauber zu sammengelegt hatte. Auch seine Arbeitskleidung trug er nicht mehr. Und Tom sah auch, daß Frank einem Zu sammenbruch oder den Tränen nahe war, obgleich der Junge sich straff hielt. »Na-a«, sagte Tom halblaut und schloß die Tür. »Was ist denn los? Beunruhigt wegen Henri?« Er wußte, es war nicht wegen Henri, aber er mußte den Jungen zum Reden bringen. Aus einer von Toms hinteren Hosentaschen sah immer noch die Zei tung hervor. »Wenn´s nicht Henri ist, dann wird´s jemand anders sein«, sagte Frank mit bebender, aber ziemlich tiefer Stimme. »Was ist denn schon passiert – bis jetzt?« Johnny kam herüber, mit einem Privatdetektiv, dachte Tom, und dann war es vielleicht bald aus mit dem Spiel. Aber mit welchem Spiel eigentlich? »Warum willst du denn nicht zurück nach Hause?« »Ich habe meinen Vater umgebracht«, sagte Frank flüsternd. »Ja, ich habe ihn von der Klippe herunter –« Der Junge gab auf. Der Mund schien einzuschrumpfen wie der eines alten Mannes, und er senkte den Kopf. Ein Mörder, dachte Tom. Und warum? Tom hatte noch nie einen so sanftmütigen Mörder gesehen. »Weiß es Johnny?« Frank schüttelte den Kopf. »Nein. Keiner hat mich ge sehen.« Die braunen Augen glänzten vor Tränen, aber es waren nicht genug zum Herunterrollen. Tom verstand – oder begann zu verstehen. Sein Ge wissen hatte den Jungen fortgetrieben. Oder jemandes
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Worte. »Hat irgend jemand irgendwas gesagt? Deine Mutter?« »Meine Mutter nicht. Susie – die Haushälterin. Sie hat mich aber nicht gesehen. Konnte sie auch gar nicht, sie war im Haus. Außerdem ist sie kurzsichtig, und die Klippe kann man vom Haus aus gar nicht sehen.« »Und sie hat was zu dir gesagt, oder zu sonst je mand?« »Beides. Die Polizei – die haben ihr nicht geglaubt. Sie ist alt – und ´n bißchen durchgedreht.« Frank bewegte den Kopf, als würde er gefoltert, und suchte nach seinem Koffer, der auf dem Boden stand. »Jetzt hab ich´s Ihnen gesagt – okay. Sie sind der einzige Mensch auf der Welt, dem ich es sagen würde, und es ist mir gleich, was Sie sagen. Ich meine, was Sie der Polizei oder sonst jemand sagen. Aber jetzt ist es am besten, wenn ich gehe.« »Was soll das heißen – wohin gehen?« »Das weiß ich nicht.« Tom wußte es. Er käme nicht einmal aus Frankreich heraus mit dem Paß seines Bruders. Und verstecken konnte er sich nirgends, nur in den Feldern. »Außerhalb Frankreichs kannst du nirgendwo hingehen, und inner halb auch nicht mehr weit. Hör zu, Frank, wir besprechen das nach dem Lunch. Dann haben wir –« »Lunch?« Es hörte sich an, als sei das Wort eine Be leidigung. Tom ging auf ihn zu. »Jetzt geb ich dir Befehle. Es ist Zeit zum Lunch. Du kannst jetzt nicht einfach verschwin den, das würde komisch aussehen. Nun reiß dich mal zusammen, iß ordentlich, und nachher reden wir weiter.« Tom langte nach der Hand des Jungen, um sie zu schüt teln, aber Frank wich zurück. »Ich geh, solange ich noch kann!«
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Tom packte mit der linken Hand die Schulter des Jun gen, mit der rechten seine Kehle. »Das tust du nicht. Das tust du nicht!« Tom schüttelte ihn an der Kehle und ließ ihn dann frei. Die Augen des Jungen hatten sich vor Schreck gewei tet. Das war, was Tom gewollt hatte. »Komm jetzt mit nach unten.« Tom machte eine Handbewegung, und der Junge ging vor ihm auf die Tür zu. Tom trat noch schnell in sein Zimmer, um den France-Dimanche loszuwerden. Um ganz sicher zu sein, steckte er die Zeitung in eine hintere Schrankecke zu den Schuhen. Er wollte nicht, daß Madame Annette sie fand, auch nicht im Papierkorb.
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Unten war Heloise damit beschäftigt, orangefarbene und weiße Gladiolen – Tom wußte, sie mochte sie nicht, Ma dame Annette mußte sie geschnitten haben – in einer hohen Vase auf dem Couchtisch anzuordnen. Sie blickte auf und lächelte Tom und Frank zu. Um sich zu entspan nen, zog Tom absichtlich die Schultern hoch, als wollte er sein Jackett zurechtrücken – er wollte kühl und gelassen erscheinen. »Schön heute morgen, nicht?« fragte Tom Heloise auf Englisch. »Ja. Wie ich sehe, hat Henri beschlossen zu kom men.« »Und so wenig wie möglich getan, wie immer. Billy ist da besser.« Mit einer Kopfbewegung forderte er Frank auf, ihm in die Küche zu folgen, aus der, wie Tom meinte, der Duft gebratener Lammkoteletts kam. »Madame An nette – excusez-nous. Ich hätte gern einen kleinen Apéri tif vor dem Essen.« Es stimmte: sie kontrollierte gerade die Lammkoteletts in dem Grill über dem Herd. »Aber Monsieur Tome, das hätten Sie mir sagen sollen! Bonjour, Monsieur!« sagte sie zu Frank. Frank antwortete höflich. Tom trat an den Barwagen, der jetzt in der Küche stand, goß einen Whisky – weder zu groß noch zu klein – in ein Glas und schob es Frank in die Hand. »Wasser?« »Ein bißchen.« Tom fügte etwas Wasser aus der Leitung am Spülstein hinzu und gab Frank das Glas zurück. »Damit du gelös ter bist, aber nicht unbedingt deine Zunge«, murmelte Tom. Tom machte sich einen Gin-und-Tonic ohne Eis, 80
obgleich Madame Annette sofort Eis aus dem Kühl schrank holen wollte. »Gehen wir wieder rüber«, sagte Tom zu Frank und nickte zum Wohnzimmer hin. Sie gingen zurück, setzten sich mit ihren Drinks zu Tisch, und fast sofort brachte Madame Annette den ers ten Gang, ihr selbstgemachtes consommé froid. Heloise plauderte von ihrer Abenteuer-Kreuzfahrt Ende Septem ber. Noëlle hatte sie am Morgen angerufen und ihr noch weitere Einzelheiten gegeben. »Die Antarktis«, sagte Heloise voll Freude. »Da brau chen wir vielleicht – oh, stell dir bloß mal die Kleidung vor! Zwei Paar Handschuhe auf einmal!« Lange wollene Unterhosen, dachte Tom. »Oder ob sie da irgendwo die Zentralheizung anstellen, bei dem Preis?« »O-oh, Tome!« sagte Heloise vergnügt. Sie wußte, ihm waren die Kosten völlig egal. Wahrscheinlich schenk te Jacques Plisson seiner Tochter die Reise, in der An nahme, daß Tom nicht mitfuhr. Frank erkundigte sich, wie lange die Kreuzfahrt dauern werde und wieviele Passagiere das Schiff mitnehme. Daß Frank auf Französisch fragte, bemerkte Tom voll Anerkennung für die Erziehung des Jungen nach den alten Regeln, die Dankeschön-Briefe innerhalb von drei Tagen nach dem Erhalten eines Geschenks vorschrie ben, gleichgültig ob man das Geschenk oder die Tante, von der es gekommen war, mochte oder nicht. Der durchschnittliche sechzehnjährige Amerikaner, dachte Tom, wäre nicht imstande gewesen, unter diesen Um ständen einen so kühlen Kopf zu bewahren. Als Madame Annette die Platte mit den Lammkoteletts zum zweiten mal herumreichte – vier lagen noch auf der Platte, Heloi se hatte nur eins gegessen – legte Tom dem Jungen ein drittes Kotelett auf den Teller. 81
Dann klingelte das Telefon. »Ich geh hin«, sagte Tom. »Entschuldigung.« Merk würdig, daß jemand zur geheiligten französischen Mit tagszeit anrief. Tom erwartete keinen Anruf. »Hallo«, sagte Tom. »Hallo, Tom! Hier ist Reeves.« »Bleib dran, ja?« Tom legte den Hörer auf das Tisch chen und sagte zu Heloise: »Ferngespräch. Ich nehm oben ab, dann brauche ich nicht zu schreien.« Tom lief die Treppe hinauf, nahm den Hörer in seinem Zimmer ab und bat Reeves, weiter dranzubleiben. Tom ging nach unten und legte dort den Hörer auf. Inzwischen überlegte er, wie gut es sich traf, daß Reeves anrief, denn ein neu er Paß für Frank war wohl genau das, was dieser brauch te, und dafür war Reeves gerade der richtige Mann. »Ich bin wieder da«, sagte Tom. »Was gibt´s Neues, alter Freund?« »Oh, nicht sehr viel«, sagte Reeves Minot mit seiner heiseren amerikanischen Stimme, die immer etwas naiv klang. »Bloß etwas – na ja, deshalb rufe ich an. Kannst du einen Freund bei dir unterbringen – für eine Nacht?« Tom war nicht sehr angetan von der Idee, gerade jetzt. »Wann?« »Morgen abend. Er heißt Eric Lanz. Kommt von hier. Er kann nach Moret kommen, du brauchst ihn nicht vom Flugplatz abzuholen, aber – es wäre besser, wenn er nicht in einem Pariser Hotel übernachtet.« Tom preßte nervös die Finger um den Hörer. Der Mann hatte natürlich irgendwas bei sich. Reeves war in erster Linie Hehler. »Klar. Ja, klar«, sagte Tom. Machte er Schwierigkeiten, so würde Reeves sich weniger ent gegenkommend zeigen, wenn Tom seine eigene Bitte vorbrachte. »Nur für eine Nacht?«
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»Ja, das ist alles. Er geht dann nach Paris. Du wirst schon sehen, ich kann jetzt nichts weiter erklären.« »Und ich soll ihn in Moret treffen? Wie sieht er denn aus?« »Er wird dich erkennen. Er ist Ende dreißig, nicht sehr groß, schwarzes Haar. Ich hab hier den Fahrplan vor mir, Tom – Eric kann den Achtuhrneunzehn erreichen, mor gen abend. Ankunftszeit, heißt das.« »Sehr – schön«, sagte Tom. »Du klingst nicht gerade begeistert. Aber es ist schon wichtig, Tom, und ich wäre –« »Selbstverständlich mach ich das, Reeves, alter Jun ge! Und da du gerade da bist – am Apparat – ich werd einen amerikanischen Paß brauchen. Ich schicke dir Montag ein Foto, per Eilboten, das müßtest du spätes tens Mittwoch haben. Du bist doch in Hamburg?« »Klar – alte Adresse«, sagte Reeves behaglich, als führe er einen Tea-room, dabei war in Reeves´ Wohn haus an der Alster – und speziell Reeves´ Apartment – schon einmal eine Bombe gelegt worden. »Für dich sel ber?« fragte Reeves. »Nein, jemand jüngeren. Nicht über einundzwanzig, Reeves, also keinen alten vielbenutzten Paß. Kannst du das machen? Du hörst dann von mir.« Tom legte auf und ging wieder nach unten. Das Him beereis war serviert worden. »Sorry«, sagte Tom. »Nichts Wichtiges.« Er sah, daß Frank besser aussah, er hatte wieder Farbe im Gesicht. »Wer war das?« fragte Heloise. Selten nur fragte sie ihn, wer angerufen hatte, und Tom wußte, sie mißtraute Reeves Minot oder mochte ihn jedenfalls nicht sehr, aber Tom sagte: »Reeves aus Hamburg.« »Will er herkommen?« 83
»O nein, er wollte bloß mal Guten Tag sagen«, erwi derte Tom. »Möchtest du Kaffee, Billy?« »Nein, danke.« Heloise trank gewöhnlich keinen Kaffee zum Lunch und tat es auch jetzt nicht. Tom sagte, Billy wolle gern seine Sammlung von »Janes Schlachtschiff-Büchern« ansehen; alle drei erhoben sich also, und Tom und der Junge gingen nach oben in Toms Zimmer. »Verdammt ärgerlich, dieser Anruf«, sagte Tom. »Ein Freund von mir in Hamburg möchte, daß ich morgen a bend einen Freund von ihm hier unterbringe. Nur für die Nacht. Ich konnte nicht gut Nein sagen, denn er ist sehr hilfsbereit – Reeves.« Frank nickte. »Soll ich in ein Hotel gehen oder sowas – hier in der Nähe? Oder einfach gehen?« Tom schüttelte den Kopf. Er lag auf seinem Bett und stützte sich auf einen Ellbogen. »Ich werde ihm dein Zimmer geben, du nimmst dann meins, und ich schlafe bei Heloise im Zimmer. Dann bleibt diese Tür hier ge schlossen, und – ich werde unserem Gast sagen, wir sind dabei, die Holzameisen auszuräuchern, und die Tür darf nicht geöffnet werden.« Tom lachte. »Mach dir keine Gedanken – ich glaube sicher, er wird Montag morgen abreisen. Ich hab schon früher Übernachtungsgäste von Reeves hier gehabt.« Frank hatte sich auf den Holzstuhl gesetzt, den Tom am Schreibtisch benutzte. »Gehört der Mann, der da kommt, zu Ihren – interessanten Freunden?« Tom lächelte. »Der Mann, der da kommt, ist ein Frem der.« Reeves gehörte zu seinen interessanten Freunden. Möglicherweise hatte Frank auch Reeves Minots Namen in Zeitungen gelesen. Tom wollte nicht danach fragen. »Jetzt also«, sagte Tom ruhig, »zu deiner Lage.« Tom wartete, er spürte die Unsicherheit des Jungen, das 84
Stirnrunzeln. Tom war selber auch unsicher, und ostenta tiv streifte er die Schuhe ab, schwang die Füße aufs Bett und zog sich ein Kissen unter den Kopf. »Ich fand übri gens, du hast dich gut gehalten beim Essen.« Frank blickte zu Tom hinüber, doch sein Ausdruck veränderte sich nicht. »Sie haben mich schon mal ge fragt«, sagte der Junge leise, »und ich hab´s Ihnen ge sagt. Sie sind der einzige, der es weiß.« »So wollen wir´s auch lassen. Sag keinem was davon – nie. Und nun erzähl mal – zu welcher Tageszeit hast du´s getan?« »So um sieben, oder acht.« Die Stimme des Jungen brach. »Mein Vater hat immer den Sonnenuntergang be obachtet – im Sommer fast jeden Abend. Ich hatte –« Eine lange Pause. »Ich hatte überhaupt nicht geplant, sowas zu tun. Ich war nicht einmal besonders wütend, eigentlich gar nicht wütend. Später dann – schon am nächsten Tag, da konn te ich irgendwie – nicht glauben, daß ich es getan hatte.« »Das glaub ich dir«, sagte Tom. »Gewöhnlich ging ich nicht mit meinem Vater hinaus zum Sonnenuntergang. Ich glaube sogar, er wollte da lieber allein sein, aber an dem Tag, da bat er mich mitzu kommen. Er hatte gerade mit mir über die Schule ge sprochen, daß ich mich ganz gut machte und daß nun bald die Hochschule in Harvard käme und wie leicht das alles – na ja, wie gehabt. Er versuchte sogar, ein paar nette Worte über Teresa zu sagen, weil er wußte, daß ich – daß ich sie gern habe. Aber vorher immer – nein. Er tat immer so verstopft, wenn mal die Rede davon war, daß Teresa uns besuchen sollte – sie war erst zweimal im Hause gewesen. Immer sagte er, wie blöd es sei, sich mit sechzehn zu verlieben und womöglich früh zu heiraten, und dabei habe ich nie ein Wort von Heiraten gesagt, ich 85
habe nicht einmal Teresa gefragt! Auslachen würde sie mich! Na jedenfalls, an dem Tag stand´s mir wohl auf einmal bis zum Hals. Dieses Getue, dieses total verloge ne Getue, wo ich auch hinschaute.« Tom wollte etwas sagen, aber der Junge unterbrach ihn nervös. »Die beiden Male, wo Teresa zu uns kam, nach Mai ne, war mein Vater recht taktlos mit ihr. Unfreundlich, verstehen Sie? Vielleicht einfach weil sie hübsch ist, und mein Vater weiß – wußte –, daß sie beliebt ist. Als ob ich sie von der Straße aufgelesen hätte! Aber Teresa ist sehr höflich, sie weiß sich zu benehmen. Und das paßte ihr nicht – klar. Sie wollte nie mehr zu uns kommen, und mehr oder weniger hat sie mir das gesagt.« »Das muß sehr hart gewesen sein für dich.« »Ja.« Frank schwieg sekundenlang und blickte zu Bo den. Er schien nicht weiter zu wissen. Tom nahm an, daß Frank Teresa zu Hause besuchen oder sie ab und zu in New York treffen konnte, aber Tom wollte nicht vom Hauptthema abweichen. »Wer war an dem Tag im Haus? Die Haushälterin, Susie. Deine Mut ter?« »Und auch mein Bruder. Wir spielten Krocket, und Johnny hörte dann auf. Johnny hatte eine Verabredung. Er hat eine Freundin, ihre Familie wohnt – na jedenfalls war mein Vater vorne auf der Veranda, als Johnny im Wagen wegfuhr, und mein Vater sagte ihm Auf Wieder sehen. Johnny hatte aus dem Garten eine Menge Rosen mitgenommen für seine Freundin, das weiß ich noch, und ich weiß noch, daß ich dachte, wenn mein Vater nicht so wäre, hätte Teresa an dem Abend bei uns sein können, irgendwie, und wir hätten zusammen ausgehen können, irgendwohin. Mein Vater läßt mich noch nicht mal Auto fahren, ich kann aber fahren. Johnny hat´s mir beige 86
bracht, in den Dünen. Mein Vater dachte immer, ich wür de ´n Unfall bauen und umkommen, dabei gibt´s in Loui siana oder Texas Jungens, die sind noch nicht mal fünf zehn und fahren, wenn sie Lust haben.« Das wußte Tom. »Und dann? Nachdem Johnny fort war. Du hattest mit deinem Vater gesprochen –« »Ich hatte ihm zugehört – unten in der Bibliothek. Ich wollte verschwinden, aber er sagte: ›Komm mit nach draußen, schau den Sonnenuntergang an, wird dir gut tun.‹ Meine Laune war lausig und ich versuchte, es zu verbergen. Ich hätte sagen sollen, nein, ich geh rauf in mein Zimmer, aber ich hab´s nicht gesagt. Und dann Su sie – sie ist schon in Ordnung, bloß ´n bißchen kindisch aufs Alter, das macht mich nervös – die war da und schaute, daß mein Vater auch die Rampe runterkam, in seinem Rollstuhl. Von der hinteren Terrasse führt eine Rampe runter in den Garten, speziell für meinen Vater gemacht. Aber sie hätte sich gar nicht zu kümmern brau chen, mein Vater wird gut alleine fertig. Sie ging dann zurück ins Haus, und mein Vater fuhr weiter den Weg rauf – ein breiter Weg mit Steinplatten – auf den Wald und die Klippe zu. Und als wir hinkamen, fing er wieder an zu reden.« Frank senkte den Kopf, ballte die rechte Hand zur Faust und öffnete sie. »Irgendwie konnte ich´s nach vier oder fünf Minuten einfach nicht mehr aushal ten.« Tom blinzelte; er war nicht länger imstande, den Jun gen anzusehen, der ihn jetzt anblickte. »Die Klippe dort ist steil? Geht sie bis zum Meer runter?« »Ziemlich steil schon, aber nicht senkrecht runter. A ber immerhin – steil genug, um einen zu töten, gewiß. Da gibt´s Felsen.« »Auch viele Bäume?« Tom überlegte immer noch, wer ihn gesehen haben konnte. »Boote?« 87
»Nein, keine Boote. Ist ja kein Hafen da. Bäume, klar. Kiefern. Gehört zu unserem Grundstück, aber wir lassen es da oben wild wachsen und halten nur den Weg offen, bis zur Klippe.« »Und du hättest vom Haus aus nicht gesehen werden können, auch nicht mit einem Fernglas?« »Nein, das weiß ich. Selbst im Winter, wenn mein Va ter an der Klippe stand – das war vom Hause aus nicht sichtbar.« Der Junge stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich danke Ihnen, daß Sie sich das alles angehört haben. Ich sollte es vielleicht aufschreiben – oder irgendwie versu chen, es loszuwerden. Es ist schrecklich. Ich weiß nicht, wie ich es analysieren soll. Manchmal kann ich nicht glauben, daß ich es getan habe. Es ist seltsam.« Frank blickte plötzlich zur Tür, als sei ihm soeben die Existenz anderer Leute eingefallen, aber von der Tür war kein Laut gekommen. Tom lächelte ein wenig. »Warum nicht aufschreiben? Du könntest es nur mir zeigen – wenn dir danach ist. Dann könnten wir es vernichten.« »Ja«, sagte Frank leise. »Ich weiß noch – ich hatte das Gefühl, ich könnte seine Schultern und seinen Hin terkopf keine Sekunde länger ansehen. Ich dachte – ich weiß nicht, was ich dachte, aber ich stürzte vorwärts und trat den Bremshebel runter und schlug auf den Fahrt knopf und gab dem Stuhl auch noch einen Stoß. Dann schoß er vorwärts, kopfüber. Ich hab dann nicht hingese hen. Ich hörte bloß, wie er aufschlug.« Tom wurde einen Augenblick übel, als er es sich vorstellte. Fingerabdrücke auf dem Rollstuhl? dachte Tom. Aber die hatte man wohl erwartet, wenn Frank seinen Vater bis zur Klippe beglei tet hatte. »Hat jemand was gesagt von Fingerabdrücken an dem Stuhl?« »Nein.« 88
Nach Fingerabdrücken hätte man sofort gesucht, dachte Tom, wenn irgend ein Verdacht auf eine strafbare Handlung bestanden hätte. »Und am Knopf, von dem du sprachst?« »Ich glaube, ich hab seitlich mit der Faust draufge schlagen.« »Der Motor muß noch gelaufen sein, als sie zu ihm runterkamen.« »Ja, ich glaube, das sagte auch jemand.« »Was hast du dann gemacht – gleich hinterher?« »Ich hab nicht runtergesehen. Ich ging wieder aufs Haus zu. Ich war auf einmal sehr müde. Es war merk würdig. Dann fing ich an, aufs Haus zuzulaufen, weil – um aufzuwachen. Auf dem Rasen war niemand, aber Eugene – unser Fahrer und auch sowas wie Butler – der war unten im großen Speisezimmer, allein, und ich sagte: ›Mein Vater ist eben über die Klippe gestürzt.‹ Dann sag te Eugene, ich sollte es meiner Mutter sagen und sie bit ten, das Krankenhaus anzurufen, und er rannte hinaus, auf die Klippe zu. Meine Mutter war mit Tal oben im Wohnzimmer vor dem Fernseher, ich hab´s ihr gesagt, und dann hat Tal das Krankenhaus angerufen.« »Wer ist Tal?« »Ein Freund meiner Mutter, aus New York. Talmadge Stevens. Er ist Rechtsanwalt, aber keiner von den Anwäl ten meines Vaters. Ziemlicher Brocken. Er –« Wieder hielt der Junge inne. War Tal vielleicht der Liebhaber seiner Mutter? »Hat Tal irgendwas zu dir gesagt? Fragen gestellt?« »Nein«, sagte Frank. »Na ja – ich hab gesagt, mein Vater hätte sich selber runtergestürzt. Tal hat nichts ge fragt.« »Dann also – der Krankenwagen – und dann wohl die Polizei?« 89
»Ja. Beide. Es schien mir wie eine Stunde, bis sie ihn oben hatten. Und den Rollstuhl. Sie hatten starke Scheinwerfer dabei. Dann kamen natürlich die Reporter, aber mit denen sind Mom und Tal schnell fertig gewor den. Da kennen sie sich aus. Mom hatte eine Wut auf die Reporter, aber es waren bloß die lokalen Reporter, an dem Abend.« »Und später – die anderen Journalisten?« »Ein paar mußte Mom empfangen. Ich hab mit min destens einem gesprochen – das mußte ich.« »Und du sagtest was – genau?« »Ich sagte, mein Vater sei nahe am Rand gewesen. Es sei mir so vorgekommen, als habe er wirklich vorge habt, sich hinunterzustürzen.« Beim letzten Wort schien es, als habe Frank keine Luft mehr. Er stand auf und trat ans Fenster, das etwas geöffnet war. Frank wandte sich um. »Ich habe gelogen. Ich sagte es Ihnen.« »Hat deine Mutter dich verdächtigt – irgendwie?« Frank schüttelte den Kopf. »Das wüßte ich. Nein, das hat sie nicht. Sie halten mich für – mm – ziemlich ernst haft, wenn Sie wissen, was ich meine. Und für ehrlich.« Frank lächelte nervös. »Johnny war viel rebellischer, als er so alt war wie ich, sie mußten Hauslehrer nehmen, weil er so oft aus Croton weglief und nach New York fuhr. Es wurde dann besser mit ihm – etwas. Nicht daß er je gesoffen hätte, das meine ich nicht, aber Hasch nahm er manchmal, klar. Bißchen Kokain. Jetzt ist das besser. Ich wollte nur sagen, verglichen mit ihm bin ich für sie der reine Pfadfinder. Deshalb hat ja mein Vater bei mir die Schraube angesetzt – damit ich mich für seine Firma in teressiere, für das Pierson-Imperium!« Frank warf die Arme in die Luft und lachte. Tom sah, der Junge war müde.
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Frank schlenderte zu seinem Stuhl zurück, setzte sich und ließ den Kopf in den Nacken hängen. Die Augen wa ren halb geschlossen. »Wissen Sie, was ich manchmal denke? Daß mein Vater ohnehin schon nahezu tot war. Halbtot in seinem Stuhl, und vielleicht wäre er schon bald gestorben. Ob ich das vielleicht bloß denke, um mich ein bißchen zu entlasten? Schrecklicher Gedanke!« sagte Frank schaudernd. »Nochmal kurz zurück zu Susie. Sie glaubt, du hättest den Stuhl hinuntergestoßen, und hat das zu dir gesagt?« »Ja.« Frank blickte Tom an. »Sie hat sogar gesagt, sie hätte mich vom Haus aus gesehen, deshalb glaubt ihr ja keiner. Die Klippe kann man vom Haus aus gar nicht se hen. Aber Susie war sehr aufgeregt, als sie das sagte. Schon beinahe hysterisch.« »Susie hat auch mit deiner Mutter gesprochen?« »O ja, bestimmt, das weiß ich. Meine Mutter hat ihr nicht geglaubt. Meine Mutter mag Susie eigentlich nicht. Mein Vater mochte sie, weil sie sehr zuverlässig ist – war – und sie ist schon so viele Jahre bei uns, fast seit John ny und ich noch Babies waren.« »Sie war eure Erzieherin?« »Nein, sie war mehr die Haushälterin. Wir hatten im mer noch andere – Frauen als Erzieherinnen. Meistens Engländerinnen.« Frank lächelte. »Stützen der Hausfrau. Die letzte sind wir erst losgeworden, als ich ungefähr zwölf war.« »Und Eugene? Hat er etwas gesagt?« »Über mich? Nein. Kein Wort.« »Magst du ihn?« Jetzt lachte Frank ein bißchen. »Der ist in Ordnung. Er kommt aus London. Hat Sinn für Humor. Aber jedesmal, wenn Eugene und ich zusammen scherzten, dann sagte mein Vater hinterher zu mir, ich sollte mit dem Butler oder 91
dem Chauffeur nicht scherzen. Eugene war meistens beides.« »Sonst noch jemand im Haushalt? Andere Dienstbo ten?« »Jetzt gerade nicht. Stundenweise Leute ab und zu. Der Gärtner Vic, der hat Ferien im Juli oder vielleicht noch länger, da haben wir dann manchmal Aushilfen. Mein Vater wollte immer so wenig Dienstboten und Sek retäre wie möglich um sich haben.« Tom dachte, daß Lily und Tal über John Piersons Ab leben vielleicht nicht allzu unglücklich waren. Was moch te da vorgehen? Er stand auf und ging an den Schreib tisch. »Falls du doch Lust kriegst, es alles aufzuschrei ben«, sagte Tom und reichte dem Jungen etwa zwanzig Bogen Schreibmaschinenpapier, »von Hand, mit dem Kugelschreiber oder mit der Schreibmaschine. Es hat beides hier.« Toms Schreibmaschine stand mitten auf dem Schreibtisch. »Danke.« Grübelnd starrte Frank auf die Bogen in sei ner Hand. »Du würdest wahrscheinlich gern einen Spaziergang machen – aber leider geht das nun nicht.« Frank erhob sich mit dem Papier in der Hand. »Genau das würd ich gern.« »Du könntest es mal versuchen auf dem Weg da hin ten«, sagte Tom. »Es ist ein schmaler Pfad, den kein Mensch benutzt, außer manchmal ein Farmer. Du weißt doch – etwas weiter hinten als dort, wo wir heute früh gearbeitet haben.« Der Junge wußte Bescheid und ging auf die Tür zu. »Und ja nicht laufen!« sagte Tom, denn Frank sah nervös und energiegeladen aus. »Komm in einer halben Stunde wieder, sonst werde ich unruhig. Du hast doch eine Uhr?« »Ah, ja. – Zwei Uhr zweiunddreißig.« 92
Tom kontrollierte seine eigene, die eine Minute vor ging. »Wenn du später die Schreibmaschine haben willst, komm ruhig rein und hol sie.« Der Junge ging nebenan in sein Zimmer, um dort das Papier hinzulegen, und stieg dann die Treppe hinunter. Von einem Seitenfenster aus konnte Tom sehen, wie Frank über den Rasen ging, sich durch ein Stück Unter holz durcharbeitete, sprang, einmal stolperte und auf die Hände fiel und dann geschmeidig wie ein Akrobat auf sprang. Der Junge wandte sich nach rechts und war hin ter Bäumen verschwunden, als er dem schmalen Pfad folgte. Einen Augenblick später ertappte sich Tom dabei, daß er seinen Transistor anstellte. Es war zum Teil, weil er um drei die nächsten französischen Nachrichten hören wollte, und zum Teil, weil er spürte, er brauchte einen Wechsel in der Atmosphäre nach Franks Geschichte. Im Grunde war es erstaunlich, daß der Junge beim Erzählen nicht wirklich zusammengebrochen war. Ob das noch nachkam? Oder war es schon in der Nacht gekommen, vielleicht vor mehreren Nächten, als der Junge in London war, oder allein bei Madame Boutin, voller Angst vor ei nem eingebildeten Urteilsspruch von irgendwoher? Oder hatten die paar Sekunden Tränen, heute vor dem Lunch, genügt? In New York gab es Jungen (und Mädchen) von zehn oder so, die Morde miterlebt hatten, die in Banden ihre Altersgenossen oder Fremde umbrachten, aber so ein Typ war Frank wohl kaum. Ein Schuldbewußtsein, wie Frank es fühlte, würde irgendwie und irgendwann sichtbar werden. Tom dachte, daß jedes starke Gefühl wie Liebe, Haß oder Eifersucht schließlich einen Aus druck fand, nicht immer in der Form einer klaren Illustra tion dieses Gefühls und nicht immer so, wie die Person selber oder die Umwelt es vielleicht erwartete. 93
Tom war rastlos, er ging nach unten und wollte mit Madame Annette sprechen, die gerade die gräßliche Aufgabe vor sich hatte, einen lebenden Hummer in einen riesigen Topf mit kochendem Wasser zu schmeißen. Sie hob ihn in den Wasserdampf, das Krustentier bewegte die Beine, und Tom fuhr auf der Schwelle zurück und gab mit einer Handbewegung zu verstehen, daß er einen Au genblick im Wohnzimmer warten würde. Madame Annette lächelte ihm verständnisvoll zu; sie hatte solche Reaktionen schon früher an ihm erlebt. Hatte Tom ein protestierendes Zischen von dem Hummer vernommen? Nahm Tom noch jetzt mit einem hochempfindlichen Teil seines Gehörs einen Schmerzund Wutschrei aus der Küche wahr, ein letztes hohes Kreischen, als das Leben entwich? Wo hatte das un glückselige Wesen die Nacht verbracht, denn Madame Annette mußte es gestern, Freitag, von der fahrenden poissonnerie gekauft haben, die in Villeperce parkte? Dies war ein großer Hummer, nicht wie die kleinen Tiere, die Tom jeweils gesehen hatte – vergeblich zappelnd, auf dem Rücken liegend an den Gittern im Kühlschrank fest gebunden. Als Tom das Klack des Topfdeckels hörte, trat er mit leicht gesenktem Kopf wieder in die Küchentür. »Ah, Madame Annette«, sagte er. »Es war nichts Wichtiges, nur –« »Oh Monsieur Tome, die Hummer tun Ihnen immer so leid! Und sogar die Muscheln, nicht wahr?« Ihr Lachen war sehr vergnügt. »Ich hab´s meinen Freundinnen er zählt, mes copines Geneviève und Marie-Louise –« Das waren ebenfalls Hausangestellte in Landhäusern der Umgegend; Madame Annette traf sie auf dem Markt, und an Abenden mit einem guten Fernsehprogramm besuch ten sie einander auch, denn Fernsehen hatten sie alle, und die Zusammenkünfte gingen reihum. 94
Mit höflichem Lächeln und einem Nicken gab Tom sei ne Schwäche zu. »Hasenschwanz«, sagte Tom auf Französisch, was aber, wie er merkte, zwecklos war, denn er hatte Hasenfuß oder Schlappschwanz überset zen wollen. Egal. »Madame Annette, morgen kommt noch ein Gast, aber nur von Sonntag abend bis Montag morgen. Ein Herr. Ich bringe ihn so um halb neun mit nach Hause. Er bekommt das Zimmer des jungen Man nes, und ich schlafe im Zimmer meiner Frau. Monsieur Billy schläft in meinem Zimmer. Ich werde Sie morgen daran erinnern.« Aber er wußte, er brauchte sie nicht daran zu erinnern. »Schön, Monsieur Tome. Auch ein Amerikaner?« »Nein, er – ein Europäer«, sagte Tom achselzuckend. Er meinte, den Hummer zu riechen, und wich aus der Küche zurück. »Merci, Madame!« Tom ging wieder in sein Zimmer und hörte sich auf ei nem französischen Pop-Sender die Drei-Uhr-Nachrichten an, die nichts über Frank Pierson brachten. Als die Nach richten zu Ende waren, sah er, daß Frank gerade seit einer halben Stunde weg war. Tom blickte wieder aus dem Seitenfenster nach draußen. Keine menschliche Gestalt war im Wald an der Ecke des Gartens zu sehen. Tom wartete, zündete sich eine Zigarette an und ging wieder ans Fenster. Sieben nach drei. Absolut kein Grund zur Sorge, sagte sich Tom. Zehn Minuten mehr oder weniger. Wer benützte den Weg da? Träg aussehende Farmer mit Pferd und Wagen, ab und zu ein alter Mann auf einem Traktor, auf dem Weg zu einem Feld jenseits der Landstraße. Und trotzdem sorgte sich Tom. Wenn nun jemand schon seit Moret auf der Lauer gelegen und Frank bis nach Belle Ombre verfolgt hatte? Tom war eines Abends allein auf einen Kaffee in Georges´ und Maries lärmendes Lokal gegangen, um zu 95
sehen, ob da jemand Neuer aufgetaucht war, der auch auf ihn neugierig wäre. Tom hatte keine neuen Leute ge sehen, und vor allem hatte die geschwätzige Marie ihm keinerlei Fragen gestellt nach einem Jungen, der bei ihm wohnte. Tom war etwas erleichtert gewesen. Um zwanzig nach drei ging Tom wieder nach unten. Wo war Heloise? Tom trat durch die Glastür nach drau ßen und ging langsam über den Rasen auf den kleinen Weg zu. Er hielt die Augen auf das Gras geheftet, jeden Augenblick erwartete er einen Hallo-Ruf des Jungen. Tat er das wirklich? Tom klaubte einen Stein aus dem Gras und warf ihn ungeschickt mit der linken Hand zum Wald hinüber. Er trat eine wilde Brombeerranke zur Seite und kam schließlich auf den Weg. Jetzt konnte er wenigstens dreißig Meter den Pfad hinunter sehen, der zwar etwas überwachsen war, aber gerade verlief. Tom machte sich auf den Weg, lauschte, hörte aber nichts als das harmlos-zerstreute Gezwitscher der Spatzen. Irgendwo gurrte eine Taube. Keinesfalls wollte er Franks Namen oder auch nur »Billy!« rufen. Tom blieb stehen und horchte wieder. Gar nichts, kein Ton von einem Auto, nicht einmal hinten von der Straße her, die zu Belle Ombre führte. Tom setzte sich in Trab, er wollte doch mal einen Blick auf das Ende des Wegs werfen – das heißt, was war das Ende? Tom glaubte, er führe noch etwa einen Kilometer weiter und treffe dann mit einer Straße zusammen, und rund herum lagen Felder mit Futtermais, manchmal Kohl und Senf pflanzen. Tom hatte jetzt angefangen, auf beiden Seiten des Weges Ausschau zu halten nach zerbrochenen Zweigen, die vielleicht auf einen Kampf hindeuteten, aber er wußte, auch ein Wagen hätte welche zerbrechen kön nen, und im Blattwerk war gar nichts Ungewöhnliches zu sehen. Er ging weiter. Er war jetzt bis zur Kreuzung ge 96
kommen, die Straße war größer, wenn auch noch unge pflastert, und mit ihr endete das, was für ihn der Wald war. Weiter hinten lagen abgeerntete Felder, sie gehör ten Bauern, deren Häuser er nicht sehen konnte. Tom holte tief Atem und kehrte um. Ob der Junge vielleicht ins Haus zurückgegangen war, vielleicht schon zurück ge wesen war, bevor Tom fortging? Womöglich war er sogar jetzt in seinem Zimmer? Tom beugte sich vor und fing wieder an zu laufen. »Tom?« Die Stimme kam von rechts. Tom schlidderte mit seinen Desert boots und blickte in den Wald. Frank kam hinter einem Baum hervor – so je denfalls schien es Tom –, nahm plötzlich Gestalt an in mitten der grünen Blätter und braunen Baumstämme, seine grauen Hosen und der beige Pullover waren im flackrigen Sonnenlicht fast verschmolzen mit der grünen Umwelt. Er war allein. Erleichterung überkam Tom wie ein Stich. »Was ist denn? Bist du in Ordnung?« »Klar.« Der Junge senkte den Kopf und begann, ne ben Tom herzugehen, zurück nach Belle Ombre. Tom begriff. Der Junge hatte sich absichtlich versteckt, um zu sehen, ob Tom daran lag, ihn wiederzufinden. Frank hatte sehen wollen, ob er ihm vertrauen konnte. Tom steckte die Hände in die Taschen und hob den Kopf. Er fühlte den scheuen Blick des Jungen. »Du bist ein bißchen spät gewesen – später als du gesagt hat test.« Der Junge sagte nichts und rammte die Hände in die Taschen, genau wie Tom.
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Gegen fünf Uhr an diesem Samstagnachmittag sagte Tom zu Heloise: »Ich habe keine Lust, heute abend zu den Grais zu gehen, Liebes. Ist es so wichtig? Du kannst ja gehen.« Sie waren zum Dinner eingeladen und sollten etwa um acht Uhr da sein. »Ach Tome, warum denn nicht? Wir können doch fra gen, ob wir Billy mitbringen können. Sie werden bestimmt Ja sagen.« Heloise blickte von dem dreieckigen Tisch chen auf, das sie am Nachmittag auf einer Auktion ge kauft hatte und das sie jetzt mit Möbelwachs einrieb. Sie kniete in Blue jeans auf dem Boden. »Es geht nicht um Billy«, sagte Tom, obgleich es nur um Billy ging. »Sie haben ja immer noch ein paar andere Leute –« Tom meinte andere Leute, die Heloise unterhal ten würden. »Was macht es schon? Ich rufe sie an und finde irgendeine Entschuldigung, wenn du möchtest.« Heloise schob das blonde Haar zurück. »Antoine hat dich letztes Mal beleidigt – ist es das?« Tom lachte. »Hat er? Wenn, dann hab ich´s verges sen. Er kann mich gar nicht beleidigen, ich würde nur lachen.« Antoine Grais war vierzig, ein hart arbeitender Architekt und fleißiger Gärtner in seinem Landhaus; er hatte eine gewisse Verachtung für Toms bequemes Le ben, aber seine leicht verletzenden Bemerkungen prall ten an Tom einfach ab, und Tom meinte, Heloise be komme davon noch weniger mit als Tom selber. »Alter Puritaner«, fügte Tom hinzu. »Gehört nach Amerika, vor dreihundert Jahren. Ich möchte einfach lieber zu Hause bleiben. Über Chirac hör ich schon genug von den Ein heimischen.« Ein Rechter war er, Antoine Grais – so ü berheblich, daß er sich nie mit France-Dimanche sehen 98
lassen würde, aber genau der Typ, der im Lokal, wo je mand das Blatt liest, ihm verstohlen über die Schulter sieht. Daß Antoine Billy als Frank Pierson erkennen könnte, war das letzte, was sich Tom wünschte. Antoine und Agnès, seine Frau – sie war etwas weniger steif als er, aber nicht viel – würden es niemals für sich behalten. »Soll ich sie anrufen, Darling?« fragte Tom. »Nein, ich geh einfach hin und –«, sagte Heloise und fuhr mit dem Einwachsen fort. »Sag doch, ich hätte Besuch von einem meiner schrecklichen Freunde. Jemand gesellschaftlich unmög licher«, sagte Tom. Er wußte, für Antoine war auch die Liste seiner Bekannten suspekt. Wen hatte doch Antoine einmal zufällig bei ihm kennengelernt? Ja: den genialen Bernard Tufts, der oft verlottert ausgesehen hatte und manchmal zu sehr in Gedanken verloren gewesen war, um höflich zu sein. »Ich finde Billy ganz nett«, sagte Heloise, »und ich weiß, es geht dir auch gar nicht um Billy, du magst bloß les Grais nicht leiden.« Das langweilte Tom, und er war auch so unruhig, weil Frank im Haus war, daß er eine weitere Bemerkung über die Grais – daß sie Erzlangweiler seien – unterdrückte. »Sie haben wohl ein Recht zu leben – nehm ich an.« Tom beschloß plötzlich, den Mann namens Eric Lanz, der morgen abend kommen sollte, nicht zu erwähnen, ob gleich er vorgehabt hatte, es Heloise jetzt zu sagen. »Wie gefällt dir der Tisch nun wirklich? Er soll in mein Zimmer, in die Ecke, auf der Seite, wo du schläfst. Der Tisch, der jetzt da steht, würde sich besser zwischen den beiden Betten im Gastzimmer machen«, sagte Heloise und blickte bewundernd auf die nun schimmernde Tisch platte.
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»Gefällt mir gut – wirklich«, sagte Tom. »Was hast du dafür bezahlt?« »Nur vierhundert Francs. Chêne – und es ist eine Louis-Quinze-Kopie, das Stück ist selber hundert Jahre alt. Ich hab darum gekämpft – hart.« »Gut gemacht«, sagte Tom aufrichtig, denn der Tisch war hübsch und sah solide genug aus zum Draufsitzen, was freilich nie jemand tun würde; und Heloise war so froh, wenn sie meinte, ein gutes Geschäft gemacht zu haben, was häufig gar nicht der Fall war. Seine Gedan ken waren woanders. Tom ging in sein Zimmer zurück, wo er sich die eintö nige Aufgabe gestellt hatte, sich eine Stunde – nach der Uhr – mit seinen monatlichen Einnahmen und Ausgaben für seinen Buchprüfer zu befassen. Besser gesagt: es war der Buchprüfer von Heloises Vater. Dieser Mann, ein gewisser Pierre Solway, hielt natürlich Toms und Heloi ses Konten getrennt von denen des großen Jacques Plisson, aber Tom war froh, das Honorar des Buchprü fers (das Jacques Plisson übernahm) nicht bezahlen zu müssen und auch zu wissen, daß Plisson mit der Buch haltung einverstanden war, denn der alte Herr nahm sich ganz bestimmt die Zeit, sich alles anzusehen. Heloises Einkommen oder Zuschuß von ihrem Vater wurde ihr in bar ausgehändigt und fiel daher nicht unter die Einkom mensteuer auf Tom Ripleys Steuererklärung. Toms Ein kommen aus dem Unternehmen Derwatt – etwa zehn tausend Francs monatlich oder fast zweitausend Dollar, wenn der Dollar stark genug war – fiel in Form von Schweizerfranken-Schecks ebenfalls unter den Tisch, da diese Gelder fast ausschließlich über Perugia gefiltert wurden, wo sich die Derwatt-Kunstakademie befand. Et was kam allerdings auch aus Verkäufen der Galerie Buckmaster. Toms Anteil von zehn Prozent der Derwatt 100
Gewinne stammte auch aus den mit dem Derwatt-Etikett versehenen Zeichenartikeln, von Staffeleien bis zu Ra diergummis, aber es war leichter, Geld aus Norditalien in die Schweiz zu schmuggeln, als es von London nach Vil leperce zu bringen. Dann war da noch das Einkommen aus Dickie Greenleafs Nachlaß an Tom, das vor Jahren drei- oder vierhundert Dollar im Monat betragen hatte und inzwischen auf etwa achtzehnhundert gestiegen war. Merkwürdigerweise mußte Tom darauf die volle USAEinkommensteuer bezahlen, die recht erheblich war, weil es sich um Kapitalertrag handelte. Ironisch und ganz an gebracht, dachte Tom, denn nach Dickies Tod hatte er Dickies Testament gefälscht. Er hatte es auf Dickies Rei seschreibmaschine in Venedig geschrieben und dann Dickies Unterschrift daruntergesetzt. Aber letzten Endes, dachte Tom (er dachte das jeden Monat), wovon lebte denn Belle Ombre nach außen hin? Einem Pappenstiel. Nachdem Tom fünfzehn Minuten lang mühsam die Ausgaben notiert hatte, begannen die Gedanken vor Öde zu flattern, und er stand auf und zün dete sich eine Zigarette an. Na schön, er hatte keinen Grund zu klagen, dachte er, als er aus dem Fenster starrte. Tom gab einen Teil sei nes Einkommens aus der Firma Derwatt – aber nicht al les – in seiner französischen Steuererklärung an; die Herkunft war ausgewiesen als Anteile an Derwatt Ltd. Tom besaß jetzt eigene Anteile und ein paar USSchatzanweisungen, deren Erträge er versteuern mußte. Seine französische déclaration betraf nur Einkommen aus französischen Quellen (etwas für Heloise, nicht für ihn), aber die Amerikaner verlangten sein Gesamtein kommen zu wissen. Tom war zwar ansässig in Frank reich, hatte aber seinen amerikanischen Paß behalten. Tom mußte für Pierre Solway eine getrennte Aufstellung 101
in Englisch machen, denn Solway erledigte auch die USA-Steuersachen der Ripleys. Zum Verrücktwerden, das alles. Papiere waren der Fluch Frankreichs; selbst der bescheidenste Bürger mußte ein Dutzend Formulare ausfüllen, wenn er eine staatliche Krankenversicherung beantragte. Mathematik oder einfache Arithmetik mach ten Tom Spaß, aber es ödete ihn an, die Portoausgaben vom letzten Monat zu übertragen. Er starrte auf das rati onell wirkende blaßgrüne Formular, Einkommen oben, Ertrag unten, und verwünschte es mit einem saftigen Fluch. Einen Anlauf noch, dann war die Stunde um und die Sache war erledigt. Das hier war für Juli, es hätte En de Juli fertig sein sollen, und jetzt war bald Ende August. Tom dachte an Frank, der dabei war, seinen Bericht über den letzten Tag seines Vaters zu schreiben. Ab und zu hörte Tom schwach das Klicken der Schreibmaschine; der Junge hatte sie in sein Zimmer genommen. Einmal hörte Tom ein »Uff!« von Frank. Machte er Agonien durch? Manchmal schwieg die Schreibmaschine so lan ge, daß Tom sich fragte, ob der Junge vielleicht einiges mit der Hand schrieb. Mit dem Häufchen Quittungen in der Hand – Telefon, Elektrizität, Wasser, Autoreparaturen – machte sich Tom bereit zum letzten Kampf; er wollte nun fertig werden. Er wurde auch fertig; die Aufstellung und die Quittungen – nicht aber die eingelösten Schecks, die behielt die fran zösische Bank – kamen in einen festen Umschlag, der zusammen mit den anderen monatlichen Angaben für Pierre Solway in einem größeren Umschlag aufbewahrt wurde. Den großen Umschlag schob Tom in eine untere linke Schreibtischschublade, dann erhob er sich mit ei nem Gefühl der Freude und Tugendhaftigkeit. Er reckte sich. Und im gleichen Augenblick setzte un ten eine von Heloises Rock´n Roll-Platten ein. Genau 102
was er brauchte! Dies war Lou Reed. Tom ging ins Ba dezimmer und wusch sich das Gesicht mit kaltem Was ser. Wie spät war es? Schon fünf vor sieben! Tom beschloß, Heloise jetzt von Eric zu erzählen. Eben kam Frank aus seinem Zimmer. »Ich habe die Musik gehört«, sagte er auf dem Flur zu Tom. »Radio? Nein, es ist eine Platte, nicht?« »Sie gehört Heloise«, sagte Tom. »Komm auch mit runter.« Der Junge hatte seinen Pullover ausgezogen, er trug jetzt ein Hemd, und der Rand hing über die Hose. Mit glücklichem Lächeln glitt er die Treppe hinunter – wie jemand in Trance, dachte Tom. Die Musik hatte eine Sai te in ihm angeschlagen. Heloise hatte laut aufgedreht; sie tanzte allein, die Schultern hoben und senkten sich, aber als Tom und der Junge die Treppe herunterkamen, blieb sie verlegen ste hen, dann stellte sie die Musik leiser. »Stellen Sie es meinetwegen nicht leiser! Es ist schön«, sagte Frank. Tom sah, daß sie, was Musik und Tanz betraf, gut miteinander auskommen würden. »Ich bin fertig mit den blöden Rechnungen!« verkündete Tom laut. »Schon an gezogen? Hübsch siehst du aus!« Heloise trug ein blaßblaues Kleid mit schwarzem Lackgürtel, und dazu Schuhe mit hohen Absätzen. »Ich hab Agnès angerufen. Sie sagt, ich solle früh kommen, damit wir noch plaudern können«, sagte Heloi se. Frank blickte Heloise mit neuer Bewunderung an. »Sie haben diese Platte gern?« »Oh ja!« »Ich spiele sie auch, bei mir zu Hause.«
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»Dann tanzt doch mal«, sagte Tom fröhlich, aber er sah, daß wenigstens Frank im Augenblick noch gehemmt war. Was für ein Leben für den Jungen, dachte Tom. Vor ein paar Minuten hat er über Mord geschrieben, und nun läßt er sich von Rockmusik überschwemmen. »Weiterge kommen, heute nachmittag?« fragte Tom leise. »Siebeneinhalb Seiten, einige mit der Hand. Ich hab immer gewechselt.« Heloise stand neben dem Plattenspieler, sie hatte die Worte nicht gehört. »Heloise«, sagte Tom, »ich hole morgen abend einen Freund von Reeves ab. Der Freund bleibt bloß eine Nacht bei uns. Billy kann dann mein Zimmer nehmen, und ich schlafe bei dir.« Heloise wandte Tom das hübsche zurechtgemachte Gesicht zu. »Wer ist es denn?« »Reeves sagte, er heißt Eric. Ich hole ihn in Moret ab. Wir haben doch morgen abend nichts vor, oder?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich denke, ich geh jetzt.« Sie trat an den Telefontisch, wo sie ihre Handtasche hinge legt hatte, und holte vorn aus dem Schrank einen durch sichtigen Regenmantel, denn das Wetter sah unsicher aus. Tom ging mit ihr hinaus zum Mercedes Benz. »Ach ja, Darling, bitte sag doch bei den Grais nichts davon, daß jemand bei uns ist. Sag nichts von einem amerikanischen Jungen. Sag, ich erwarte einen Anruf heute abend. Das ist einfach.« Ihr Gesicht erhellte sich plötzlich, als ihr etwas einfiel. »Du – versteckst du Billy vielleicht? Um Reeves einen Gefallen zu tun?« Sie sprach durch das offene Wagen fenster. »Nein, Liebes. Reeves hat von Billy noch nie gehört. Billy ist bloß ein amerikanischer Junge, der ein bißchen 104
für uns gärtnert. Aber du weißt doch, was für ein spießi ger Snob Antoine ist. ›Einen Gärtner laßt ihr in eurem Gastzimmer schlafen!‹ Also – amüsier dich schön!« Tom beugte sich vor und küßte sie auf die Wange. »Ver sprichst du´s?« Er hatte gemeint, ob sie verspräche, nichts von Billy zu sagen, und an ihrem ruhigen belustigten Lächeln und Nicken sah er, daß sie es versprach. Sie wußte, Tom tat Reeves ab und zu einen Gefallen; manchmal ahnte sie, um was es ging, und manchmal ahnte sie nichts. Die Ge fallen bedeuteten, daß Geld verdient oder jedenfalls empfangen wurde, und das war nützlich. Tom hatte die großen Torflügel für sie geöffnet und winkte ihr zu, als sie durchfuhr und dann nach rechts abbog. Abends gegen viertel nach neun lag Tom auf seinem Bett, die Schuhe hatte er ausgezogen, und las Franks Manuskript oder Bericht. Sonnabend, der 22. Juli, hatte für mich wie ein ganz ge wöhnlicher Tag angefangen. Nichts Besonderes. Die Sonne schien; es war ein Tag, den jeder großartig nennt und damit das Wetter meint. Für mich ist der Tag jetzt doppelt merkwürdig, weil ich morgens keine Ahnung hat te, wie er enden würde. Ich hatte gar keine Pläne. Ich weiß noch, daß Eugene mich um etwa drei Uhr fragte, ob ich Tennis spielen wollte, weil keine Besucher (Gäste) da waren und er Zeit hatte. Ich sagte Nein, ich weiß nicht, warum ich Nein sagte. Ich versuchte dann, Teresa anzu rufen, und ihre Mutter sagte, sie wäre ausgegangen (Bar Harbour), auch abends, sie käme vielleicht erst nach Mit ternacht nach Hause. Ich war sehr eifersüchtig und über legte, mit wem sie wohl aus war, mit mehreren Leuten oder bloß mit einem, das Gefühl wäre das gleiche gewe sen. Ich nahm mir vor, am nächsten Tag nach New York 105
zu fahren, egal was war, auch wenn ich unsere Wohnung nicht benutzen konnte, die war den Sommer über ge schlossen, die Möbel waren alle mit Tüchern verhängt. Ich würde Teresa anrufen und sie überreden, nach New York zu kommen, dann konnten wir entweder ein Hotel zimmer nehmen, für mehrere Tage, oder sie konnte mit mir in der New Yorker Wohnung wohnen. Ich wollte et was unternehmen, und ich fand, ihr New York vorzu schlagen, das war großartig und darauf konnte man sich freuen. Ich hätte bereits in New York sein können, aber mein Vater wünschte, ich sollte ein »Gespräch« führen mit einem Mann namens Bumpstead oder so ähnlich, der wollte in Hyannisport ein paar Wochen Urlaub machen. Dieser Bumpstead ist eine Art Geschäftsmann, ungefähr dreißig, sagte mein Dad. Sicher dachte mein Dad, dreißig wäre jung genug, um mich zu bekehren. Zu seiner Art von Leben, Geschäft. Dieser Bumpstead sollte am nächsten Tag kommen. Er ist dann nicht gekommen, wegen dem, was geschehen ist. (Hier war Frank zum Kugelschreiber übergegangen.) Ich versuchte, an größere Dinge zu denken, an mein ganzes Leben, soweit ich konnte. Ich versuchte, zurück zublicken auf mein Leben, wie Maugham das nennt in einem Paperback, das ich hab, das »Rückblick auf mein Leben« heißt, aber ich bin nicht sicher, daß ich es konnte oder daß ich sehr weit damit kam. Ich hatte einige Short Stories von Somerset Maugham gelesen (sehr gut), die schienen mir alles zu verstehen und auf nur wenigen Sei ten. Ich versuchte zu überlegen, wofür mein Leben be stimmt ist, als ob mein Leben ohnehin einen Zweck hätte, was ja nicht unbedingt so ist. Ich versuchte, mir auszu 106
denken, was ich vom Leben wünschte, und ich konnte an nichts anderes denken als an Teresa, weil ich so glück lich bin, wenn ich bei ihr bin, und sie scheint dann auch glücklich zu sein, und ich dachte, wir beide zusammen könnten etwas erreichen, einen Sinn, oder Glück, oder Weiterkommen. Ich weiß, ich möchte glücklich sein, und ich finde, jeder sollte glücklich sein und nicht von irgend was oder irgendwem eingezwängt sein. Damit meine ich physisches Wohlbefinden, und die Art wie man lebt. Aber (Frank hatte das ›Aber‹ ausgestrichen und schrieb nun wieder auf der Maschine.) Ich weiß noch, nach dem Lunch war Tal bei uns, der Freund meiner Mutter, und wie üblich machte mein Vater eine Bemerkung über die Großvateruhr in der unteren Diele und daß sie repariert werden müßte. Sie geht seit ungefähr einem Jahr nicht mehr, und immer hat Dad da von geredet, sie machen zu lassen, aber er hatte kein Vertrauen zu den Geschäften am Ort und wollte sie auch nicht nach NY schicken. Die Uhr ist alt, sie stammt aus seiner Familie. Das Essen ödete mich an. Meine Mutter und Tal brachten es fertig, ganz viel zu lachen, aber sie haben ihre privaten Witze über Leute in NY, die sie ken nen. Nach dem Essen hörte ich, wie mein Vater in der Bib liothek laut schreiend mit Tokio telefonierte. Ich schaltete ab und wartete in der Diele. Mein Vater sagte, er wolle mir noch etwas sagen. Es lief darauf hinaus, daß ich ihn gegen sechs in der Bibliothek aufsuchen sollte. Ich fand, das hätte er mir auch beim Essen sagen können. Ich war wütend und ging in mein Zimmer. Die andern begannen, auf dem Rasen Krocket zu spielen. 107
Ich verabscheute meinen Vater, das gebe ich zu. Ich habe gehört, daß viele Menschen ihren Vater verab scheuen. Das heißt aber nicht, daß man seinen Vater umbringen muß. Ich glaube, ich bin immer noch nicht imstande, ganz klar zu sehen, was ich getan habe, und deshalb kann ich herumgehen wie ein mehr oder weniger gewöhnlicher Mensch, obgleich ich das nicht dürfte, und innerlich ist mir auch anders, ich bin verkrampft, und viel leicht werde ich das nie wieder loswerden. Das ist der Grund, warum ich, nachdem ich es getan hatte, beschloß, T. R. aufzusuchen, für den ich mich irgendwie stark interessierte. Das lag zum Teil an dem Geheimnis mit den Derwatt-Bildern. Wir haben zu Hause einen Der watt, mein Vater hat sich vor ein paar Jahren dafür inte ressiert, als bei einigen Derwatt-Bildern der Verdacht aufkam, sie seien Fälschungen. Ich war ungefähr vier zehn. In den Zeitungen wurden mehrere Namen genannt, hauptsächlich englische Namen in London; Derwatt lebte in Mexiko, und ich las damals allerhand Spionagesachen, und das interessierte mich, ich ging in die große Biblio thek in NY und suchte alles heraus, was ich über die Namen in den Zeitungsbänden fand, so wie es Detektive für ihre Arbeit immer tun. Die Eintragungen über T. R. schienen mir am interessantesten, Amerikaner, wohnhaft in Europa, hatte in Italien gelebt, irgendwas mit einem Freund, der ihm sein Einkommen hinterließ, als er starb – er muß also T. R. gern gehabt haben – und dann noch etwas über einen verschwundenen Amerikaner, Murtchi son, im Zusammenhang mit dem Derwatt-Geheimnis, der Amerikaner verschwand nach einem Besuch bei T. R. Ich dachte, vielleicht hatte T. R. auch jemanden getötet, möglicherweise, aber jedenfalls sah er nicht knallhart aus, nicht mal abweisend, denn bei den Zeitungsartikeln waren zwei Fotos von ihm. Er sah eigentlich gut aus, gar 108
nicht grausam. Und ob er jemanden umgebracht hatte, schien eigentlich unbewiesen. (Hier hatte Frank wieder den Kugelschreiber genommen.) Ich dachte an dem Tag – und nicht zum erstenmal –, wa rum sollte ich eigentlich mitmachen bei dem alten Sys tem, das bereits die Ratten, die mitmachten, umgebracht hatte? Oder sie umbrachte und umbringen würde durch Selbstmord, Zusammenbruch oder einfach durch Wahn sinn? Johnny hatte sich bereits schlankweg geweigert, und er war älter als ich und mußte wissen, was er tat, dachte ich. Warum sollte ich nicht lieber Johnny folgen als meinem Vater? Dies ist ein Geständnis, und ich gestehe einem einzi gen Menschen, T. R., daß ich meinen Vater getötet habe. Ich habe seinen Stuhl über die Klippe gestoßen. Manch mal kann ich nicht glauben, daß ich es getan habe, aber ich weiß, ich hab´s getan. Ich habe von Feiglingen gele sen, die sich dem nicht stellen wollen, was sie getan ha ben. So will ich nicht sein. Manchmal habe ich einen grausamen Gedanken: mein Vater hatte lange genug gelebt. Er war grausam und kalt zu Johnny und mir – meistens. Er konnte auch anders, okay. Aber er hat ver sucht, uns zu brechen oder umzukrempeln. Er hat sein Leben gehabt, zwei Frauen, früher andere Mädchen, reichlich Geld, Luxus. In den letzten elf Jahren konnte er nicht mehr gehen, weil ein »Geschäftsfeind« versucht hat, ihn zu erschießen. Wie schlimm ist das, was ich tat? Ich schreibe diese Zeilen nur für T. R., weil er der ein zige Mensch auf der Welt ist, dem ich diese Tatsachen erzählen würde. Ich weiß, er verabscheut mich nicht, 109
denn ich bin in diesem Augenblick unter seinem Dach, er gewährt mir Gastfreundschaft. Ich will frei sein und mich frei fühlen. Ich will nur frei sein und ich selber sein, was immer das ist. Ich glaube, T. R. ist frei im Geist, in seinen Anschauungen. Er ist an scheinend auch freundlich und höflich gegenüber ande ren. Ich glaube, ich sollte jetzt aufhören. Es ist wohl ge nug. Musik ist gut, jede Art Musik, klassische oder was im mer. Nicht in irgendeiner Art von Gefängnis zu sein, ist gut. Nicht andere Menschen zu manipulieren, ist gut. Frank Pierson Die Unterschrift war gerade und klar und unterstrichen mit einem Anlauf zum Schwung. Normalerweise unter strich wohl Frank seinen Namen nicht, dachte Tom. Tom war bewegt, nur hatte er auf eine Beschreibung des genauen Augenblicks gehofft, da Frank seinen Vater von der Klippe stieß. War das zu viel erhofft? Hatte der Junge es aus seinem Gedächtnis getilgt, oder war er un fähig, den Augenblick der Gewalt in Worte zu fassen – was sowohl eine Analyse wie eine Beschreibung eines physischen Vorgangs erfordern würde? Vermutlich, dachte Tom, hinderte ein gesunder Drang zur Selbster haltung Frank daran, in Gedanken den Weg bis zu jenem Augenblick zurückzugehen. Tom mußte sich eingestehen, daß er die sieben oder acht Morde, die er verübt hatte, auch nicht gern noch einmal durchleben oder analysieren würde. Der schlimmste war zweifellos der erste, der Mord an Dickie Greenleaf, dem jungen Mann, den er mit dem vorderen oder hinteren Teil eines Ruders totgeschlagen hatte. Immer war etwas seltsam Geheimnisvolles und eben so Entsetzliches damit verbunden, daß man einen ande 110
ren Menschen ums Leben brachte. Vielleicht wollten die Menschen es nicht wahrhaben, weil sie es einfach nicht begreifen konnten. Es war so leicht, jemand umzubrin gen, dachte Tom, wenn man ein gedungener Killer war, irgendein Bandenmitglied oder einen politischen Feind umzulegen, den man gar nicht kannte. Aber Tom hatte Dickie sehr gut gekannt, und Frank hatte seinen Vater gekannt. Daher kam vielleicht das blackout, nahm Tom an. Jedenfalls hatte Tom nicht die Absicht, den Jungen weiter auszuholen. Doch Tom wußte, der Junge wartete darauf, von Tom zu hören, was er von dem Bericht hielt; mindestens wollte er ein Wort des Lobes für seine Aufrichtigkeit hören, und Tom spürte, der Junge hatte wirklich versucht, aufrichtig zu sein. Frank war jetzt im Wohnzimmer. Nach dem Dinner hatte Tom den Fernseher für ihn eingeschaltet, aber das Programm hatte Frank offenbar gelangweilt (an einem Samstag abend sehr wahrscheinlich), denn er hatte wie der die Lou-Reed-Platte aufgelegt, aber nicht so laut, wie Heloise sie gespielt hatte. Tom ging nach unten; das Schriftstück des Jungen ließ er in seinem Zimmer. Der Junge lag auf dem gelben Sofa; die Füße hielt er sorgfältig über den Rand, um den gelben Satin nicht zu beschmutzen. Die Hände lagen hinter dem Kopf, die Au gen waren geschlossen. Er hatte Tom nicht einmal die Treppe herunterkommen hören. Ob er vielleicht schlief? »Billy?« sagte Tom. Er wollte sich ›Billy‹ im Gedächt nis einprägen, so lange es noch nötig war – wie lange mochte das noch sein? Frank setzte sich sofort auf. »Ja, Sir.« »Ich finde es sehr gut, was du da geschrieben hast. Was da steht, ist sehr interessant.« »Ja –? Was meinen Sie mit ›was da steht‹?« 111
»Ich hatte gehofft –« Tom blickte zur Küche hinüber, aber das Licht war dort schon aus, wie Tom durch die halboffene Tür sah. Tom wollte aber nicht weiterreden. Wozu einem Sechzehnjährigen die eigenen Gedanken aufdrängen? »Nur – der Augenblick, als du es tatst, als du auf den Klippenrand zustürztest –« Der Junge schüttelte schnell den Kopf. »Erstaunlich, daß ich nicht selber hinunterfiel. Daran muß ich oft den ken.« Das konnte Tom sich vorstellen, aber das hatte er nicht gemeint. Er meinte die Erkenntnis, daß er das Le ben eines andern beendet hatte. Wenn der Junge bisher dieses Geheimnis oder seine Rätselhaftigkeit nicht erfah ren hatte, dann war es vielleicht besser so. Was kam schon dabei heraus, wenn man darüber grübelte, selbst wenn man es schließlich begriff? War das überhaupt möglich? Frank wartete auf ein weiteres Wort von Tom, aber Tom wußte nichts zu sagen. »Haben Sie schon mal jemanden umgebracht?« fragte der Junge. Tom rückte näher zum Sofa; es war eine Bewegung der Entspannung, aber er wollte auch etwas weiter von Madame Annettes Zimmer weg sein. »Ja, das habe ich.« »Sogar mehr als einen?« »Ehrlich gesagt, ja.« Der Junge hatte offenbar seine Akte im Zeitungsarchiv der New Yorker Staatsbibliothek ganz gut durchgekämmt und dann noch ein bißchen Phantasie walten lassen. Verdacht, Gerüchte – mehr nicht, das wußte Tom. Anklage war niemals erhoben worden. Bernard Tufts Tod an einem Bergrücken nahe Salzburg: das war der Fall, bei dem für Tom die Gefahr einer Anklage am größten gewesen war, und Bernard –
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Gott gebe seiner gepeinigten Seele ewige Ruhe – Ber nard hatte Selbstmord begangen. »Ich glaube, das, was ich getan habe, ist noch gar nicht in mich eingedrungen«, sagte Frank mit kaum hör barer Stimme. Der linke Ellbogen lag jetzt auf der Sofa lehne, die Haltung war ein wenig entspannter als vor ei nigen Minuten, aber er war alles andere als entspannt. »Ob es überhaupt jemals eindringt?« Tom zuckte die Achseln. »Vielleicht können wir ihm nicht ins Auge sehen.« Das »wir« hatte hier für Tom eine besondere Bedeutung. Er hatte keinen gedungenen Killer vor sich, und er hatte schon einige kennengelernt. »Hoffentlich macht es Ihnen nichts aus, daß ich diese Musik nochmal aufgelegt habe. Ich hab das immer mit Teresa gespielt. Sie hat die Platte – wir haben sie beide. Deshalb –« Der Junge konnte nicht weitersprechen, aber Tom verstand und war froh, daß Franks Gesicht jetzt eher nach Selbstvertrauen, sogar eher nach einem Lächeln aussah als nach den Tränen eines Zusammenbruchs. Wie wär´s, wenn du Teresa jetzt anriefst, wollte Tom sa gen, du könntest die Musik lauter stellen und ihr sagen, es sei alles in Ordnung und du kommst jetzt nach Hause –? Aber Tom hatte das schon vorher zu Frank gesagt, und es hatte nichts genützt. Tom zog sich einen der Pols tersessel heran. »Hör mal zu, Frank – wenn keiner dich verdächtigt, hast du doch gar keinen Grund, dich zu ver stecken. Jetzt, wo du alles aufgeschrieben hast, kannst du vielleicht – bald nach Hause gehen. Meinst du nicht?« Franks Augen trafen sich mit Toms Blick, »Ich muß mit Ihnen zusammen sein, ein paar Tage noch. Ich will gern arbeiten, verstehen Sie? Ich möchte Ihnen nicht zur Last fallen. Aber vielleicht meinen Sie, ich wäre eine Gefahr für Sie?« 113
»Nein.« Er war es, tatsächlich, – eine geringe Gefahr, aber Tom hätte nicht genau sagen können wieso, außer daß der Name Pierson ein Risiko barg, denn für den könnten sich Kidnapper interessieren. »Ich krieg einen neuen Paß für dich – bis nächste Woche. Mit anderem Namen.« Frank lächelte, als habe Tom ihn mit einem Geschenk überrascht. »Wirklich? Und wie?« Wieder blickte Tom ganz unnötig zur Küche hinüber. »Laß uns mal Montag nach Paris fahren und ein gutes Foto machen lassen. Der Paß wird in – in Hamburg ge macht.« Tom war nicht daran gewöhnt, seinen Hambur ger Mittelsmann, Reeves Minot, preiszugeben. »Ich hab ihn bestellt. Der Anruf heute mittag, beim Essen. Du kriegst einen anderen amerikanischen Namen.« »Großartig«, sagte Frank. Die Platte ging über in ein anderes Lied, einen ande ren, einfacheren Rhythmus. Tom sah den Traum im Ge sicht des Jungen. Dachte er an die neue Identität, die er bekommen sollte, oder an das reizende Mädchen Tere sa? »Teresa – liebt sie dich auch?« fragte Tom. Frank zog an einer Seite die Lippe hoch, es wurde nicht ganz ein Lächeln. »Sagen tut sie´s nicht. Einmal hat sie´s gesagt, das ist schon Wochen her. Aber da sind noch ein paar andere Jungens – nicht daß sie sie gern hat, aber sie lungern immer bei ihr herum. Ich weiß das, weil – ich glaube, ich hab´s Ihnen schon erzählt, ihre Leute haben ein Haus bei Bar Harbour, und auch eine Wohnung in New York. Daher weiß ich es. Es ist besser, keine großen Sprüche zu machen über das, was ich füh le – weder ihr noch sonst jemand gegenüber. Aber sie weiß es.« »Ist sie deine einzige Freundin?«
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»Oh ja.« Frank lächelte. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß man zwei Mädchen auf einmal gern hat. Vielleicht ein bißchen, aber nicht richtig.« Tom ging hinaus und überließ ihn der Musik. Tom war oben in seinem Zimmer, im Pyjama, und las Christopher and his Kind von Christopher Isherwood, als er hörte, wie ein Wagen unten in die Einfahrt einbog. He loise. Tom sah auf seine Uhr: fünf vor zwölf. Frank war noch unten und spielte Schallplatten, bestimmt in seine Träume versunken, dachte Tom, glückliche Träume hof fentlich. Tom hörte ein tiefes Rr-u-mm, bevor der Motor abgestellt wurde, und wußte jetzt, das war nicht Heloise. Er sprang vom Bett auf, langte nach seinem Hausmantel und zog ihn an, während er die Treppe hinunterging. Tom öffnete die Haustür einen Spalt und sah Antoine Grais´ cremefarbenen Citroën auf dem Kies vor der Ein gangstreppe stehen. Eben stieg Heloise auf der Mitfah rerseite aus. Tom machte die Tür zu und drehte den Schlüssel um. Frank stand im Wohnzimmer, er sah beunruhigt aus. »Geh rauf«, sagte Tom. »Es ist Heloise, sie hat einen Gast mitgebracht. Geh einfach rauf und mach deine Tür zu.« Der Junge lief nach oben. Tom ging auf die Tür zu, als Heloise den Griff zu dre hen versuchte. Tom schloß auf und Heloise trat ein, ge folgt von Antoine, der freundlich lächelte. Tom sah, wie Antoine die Treppe hinaufblickte. Hatte er etwas gehört? »Tag – wie geht´s dir denn, Antoine?« fragte Tom. »Tome, sowas Merkwürdiges!« sagte Heloise auf Französisch. »Der Wagen wollte nicht anspringen eben jetzt, um keinen Preis. Deshalb war Antoine so gut, mich nach Hause zu bringen. Komm doch rein, Antoine! Antoi ne meint, es ist bloß –« 115
Antoines Baritonstimme unterbrach sie. »Ich glaube, es ist die Batterie – schlechter Kontakt. Ich habe nachge sehen. Man braucht einen großen Schraubenschlüssel, dann muß man mit der Feile dahinter. Einfach – bloß, ich hab keinen großen Schraubenschlüssel. Haha! Und wie geht´s dir, Tome?« »Sehr gut, danke schön.« Sie standen jetzt im Wohn zimmer, wo noch immer Musik ertönte. »Kann ich dir et was anbieten, Antoine?« fragte Tom. »Setz dich doch.« »Ah – keine Cembalomusik mehr«, sagte Antoine. Er meinte den Plattenspieler, und er schien schnüffelnd die Luft einzuziehen, als hoffe er, einen Hauch Parfüm einzu fangen. Er hatte schwarze und graue Haare, die Figur war untersetzt; jetzt wippte er auf den Zehen. »Hast du was gegen Rock?« fragte Tom. »Ich bin ge schmacklich noch nicht festgefahren, hoff ich doch.« Tom sah zu, wie Antoine seine Blicke über das Wohnzimmer schweifen ließ, vielleicht suchte er nach Anzeichen dafür, wer da wohl die Treppe hinaufgelaufen sein könnte. Es erinnerte Tom an den langweiligen Wortstreit, den er mit Antoine gehabt hatte wegen des blaßblauen gummi schlauchartigen Gebäudes, das Centre Pompidou hieß, oder Beaubourg. Tom verabscheute es, Antoine vertei digte es damit, daß er sagte, es sei eben »zu neu«, als daß Toms ungebildetes Auge (das war jedenfalls der Un terton) es zu würdigen wüßte. »Du hast Besuch? Tut mir leid, wenn ich störe«, sagte Antoine. »Männlich oder weiblich?« Das sollte witzig sein, aber die Neugier klang häßlich durch. Tom hätte ihn liebend gern geohrfeigt, doch er lächelte nur schmallippig und sagte: »Rate mal.« Heloise war währenddessen in der Küche, erschien aber bald mit einer kleinen Tasse Kaffee für Antoine. »Hier, lieber Antoine. Force für die Rückfahrt.« 116
Antoine war enthaltsam, nur zum Dinner trank er et was Wein. »Setz dich doch, Antoine«, sagte Heloise. »Nein, meine Liebe, es geht gut so«, sagte Antoine und nahm einen Schluck. »Weißt du, wir sahen das Licht in deinem Zimmer, und im Wohnzimmer war auch Licht, deshalb – habe ich mich hereingebeten.« Tom nickte höflich, wie ein Trinkvogel. Ob Antoine an nahm, ein Mädchen oder ein Junge sei eilig in Toms Schlafzimmer geflüchtet, und Heloise duldete das? Tom verschränkte die Arme, und jetzt war auch die Platte zu Ende. »Tome fährt mich morgen nach Moret, Antoine«, sagte Heloise. »Wir sagen dem Mechaniker in der Werkstatt Bescheid und nehmen ihn dann mit zu dir, wegen des Wagens. Marcel – kennst du ihn?« »Gut, Heloise.« Antoine stellte die Kaffeetasse hin. Dynamisch wie immer, trank er auch heißen Kaffee schnell aus. »Ich muß jetzt gehen. Guten Abend, Tome.« Antoine und Heloise tauschten an der Tür französi sche Küsse aus: eins, zwei, ein Schmatz auf jede Wan ge. Tom war das verhaßt. Keine französischen Küsse im amerikanischen Sinn, nichts daran war sexy, nur ver dammt albern. Ob Antoine Franks Beine hatte sehen können, wie sie die Treppe hinauf stürzten? Tom glaubte es nicht. »Antoine meint also, ich hätte eine Freundin!« sagte Tom leise lachend, als Heloise die Tür zugemacht hatte. »Ach woher denn! Aber warum versteckst du Billy?« »Ich verstecke ihn nicht, er versteckt sich selber. So gar mit Henri ist er leicht gehemmt, ausgerechnet. Jeden falls, Darling, werde ich mich um den Mercedes kümmern – Dienstag.« Es mußte Dienstag sein, denn morgen war Sonntag, und Montag war ihre übliche Werkstatt ge 117
schlossen, wie die meisten Werkstätten in Frankreich, weil sie Sonnabends geöffnet waren. Heloise schlüpfte aus den hochhackigen Schuhen. Jetzt war sie barfuß. »War´s denn nett heute abend? War sonst noch je mand da?« Tom schob eine Platte zurück in die Hülle. »Ein Paar aus Fontainebleau, er ist auch Architekt – jünger als Antoine.« Tom hörte kaum zu. Er dachte an Franks geschriebe ne Seiten, die oben auf seinem Schreibtisch lagen, wo gewöhnlich die Schreibmaschine stand. Heloise ging jetzt die Treppe hinauf. Meistens benutzte sie jetzt sein Bade zimmer, da der Junge das Gastzimmer hatte. Aber Tom legte weiter die Platten weg – jetzt war es nur noch eine. Heloise würde kaum stehen bleiben und sich irgendwel che Papiere auf seinem Schreibtisch ansehen. Tom machte alle Lampen im Wohnzimmer aus, schloß die Haustür ab und ging nach oben. Heloise war wohl in ih rem Zimmer und zog sich aus. Er nahm die Briefbogen des Jungen, heftete sie mit einer Büroklammer zusam men und schob sie in die rechte obere Schublade, be sann sich und legte sie in eine Mappe, auf der ›Persön lich‹ stand. Der Junge mußte die Blätter loswerden, selbst wenn sie literarischen Wert hatten, dachte Tom. Sie mußten verbrannt werden, gleich morgen. Mit dem Einverständnis des Jungen natürlich.
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An nächsten Tag, Sonntag, machte Tom mit Frank einen Ausflug in die Wälder von Fontainebleau, westlich von Fontainebleau, wo Frank noch nicht gewesen war; es war eine Gegend, von der Tom wußte, daß nicht viele Wanderer oder Touristen hinkamen. Heloise hatte nicht mitkommen wollen, sie sagte, sie wolle lieber in der Son ne liegen und einen Roman lesen, den ihr Agnès Grais geliehen hatte. Für eine Blondine ging das Braunwerden bei Heloise erstaunlich gut. Sie blieb nie zu lange in der Sonne, doch manchmal nahm die Haut eine etwas dunk lere Tönung an als das Haar. Vielleicht waren ihre Gene passend gemischt: ihre Mutter war blond und ihr Vater offenbar brünett, denn was er von seinem Haar noch be halten hatte, war ein dunkelbrauner Rand um einen inne ren grauen Kreis – was an einen Heiligen gemahnte, fand Tom, obgleich nichts weniger zutraf. Gegen Mittag fuhren Tom und Frank auf der Straße nach Larchant, einem stillen Dorf ein paar Kilometer westlich von Villeperce. Die Kathedrale von Larchant war seit dem zehnten Jahrhundert durch Feuer mehrmals teilweise zerstört worden. Die kleinen Privathäuser, alle nahe beieinander in kopfsteingepflasterten Gassen, sa hen aus wie Illustrationen aus Kinderbüchern – Bauern häuschen, für Mann und Frau fast zu klein zum Wohnen, wobei Tom der Gedanke kam, es könnte vielleicht inte ressant sein, wieder allein zu wohnen. Aber wann hatte er je allein gewohnt? Von Kindheit an bei der tattrigen Tante Dottie – nur in Geldfragen war sie gar nicht tattrig gewesen –, bis er als Teenager ihr Bostoner Haus ver ließ, dann schäbige Zimmer in Manhattan, immer für kur ze Zeit, wenn er sich nicht bei wohlhabenderen Freunden 119
einquartierte, die ein Zimmer übrig hatten, oder ein Sofa im Wohnzimmer. Und danach Mongibello und Dickie Greenleaf, da war er sechsundzwanzig. Und warum ging ihm das alles gerade jetzt durch den Kopf, während er da stand und das creme- und staubfarbene Innere der Ka thedrale in Larchant betrachtete? In der Kathedrale war niemand außer ihnen beiden. Larchant zog so wenige Touristen an, daß Tom nicht be fürchten mußte, einer werde Frank entdecken. Im Schloß von Fontainebleau mit seinem internationalen Besucher strom hätte Tom Angst gehabt. Und das hatte Frank wahrscheinlich auch schon gesehen; Tom fragte ihn nicht. An einem unbeaufsichtigten Tisch an der Tür erstand Frank einige Postkarten von der Kathedrale und steckte pflichtgemäß den richtigen Betrag in den Schlitz eines Holzkastens. Als er sah, daß seine Hand noch voller Francs und Centimes war, hielt er die Hand schräg und ließ den Rest hineingleiten. »Geht deine Familie in die Kirche?« fragte Tom, als sie einen steilen Kopfsteinweg zum Wagen hinuntergin gen. »Nnn-nein«, sagte Frank. »Mein Vater sagte immer, die Kirche sei kulturell zurückgeblieben, und meine Mut ter langweilt sie nur. Sie läßt sich nichts vorschreiben.« »Ist deine Mutter in Tal verliebt?« Frank warf Tom einen Blick zu und lachte. »Verliebt? Meine Mutter gibt sich kühl. Vielleicht ist sie verliebt, aber sie würd´s nie zeigen und niemals Dummheiten machen. Sie war Schauspielerin, wissen Sie. Ich glaube, sie kann auch im Leben schauspielern.« »Magst du Tal?« Frank zuckte die Achseln. »Na ja – er ist schon in Ordnung. Ich kenne schlimmere. Er ist so ein Freiluft 120
Typ, physisch sehr kräftig, wenn man bedenkt, daß er Anwalt ist. Ich kümmere mich nicht viel um sie, wissen Sie.« Tom war immer noch neugierig – aber warum eigent lich? – ob Franks Mutter vielleicht Talmadge Stevens hei raten würde. Dabei war Frank doch wichtiger, und Frank machte sich nichts aus dem Geld seiner Familie, soweit Tom sehen konnte, auch falls seine Mutter und Tal aus irgendeinem Grund, vielleicht sogar wegen des Ver dachts auf Vatermord, beschließen sollten, den Jungen vom Erbe auszuschließen. »Die Blätter, die du da geschrieben hast«, sagte Tom, »die müssen vernichtet werden, weißt du. Gefährlich, die aufzubewahren, meinst du nicht?« Der Junge achtete auf seine Schritte; er schien zu zö gern. »Ja«, sagte er dann fest. »Wenn jemand sie findet, könntest du nicht gut sagen, es sei eine Kurzgeschichte – mit all den Namen drin.« Natürlich könnte er, dachte Tom, aber es wäre leicht ver rückt. »Oder spielst du mit dem Gedanken, ein Geständ nis abzulegen?« fragte Tom in einem Ton, der besagte, das wäre vollkommen verrückt und käme überhaupt nicht in Frage. »Oh nein. Nein.« Das entschiedene Nein freute Tom. »Okay. Wenn du nichts dagegen hast, werd ich die Blätter heute nachmit tag vernichten. Oder willst du sie noch einmal durchle sen?« Tom öffnete die Wagentür. Der Junge schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube nicht. Ich hab´s schon einmal durchgelesen.« Nach dem Lunch in Belle Ombre ging Tom mit den zweimal gefalteten Seiten in den Garten (denn im Wohn zimmer, wo der Kamin war, übte Heloise am Cembalo). Nahe beim Treibhaus schwang Frank seinen Spaten; er 121
hatte die Blue jeans an, die Madame Annette in die Waschmaschine gesteckt und auch schon gebügelt hat te. Tom verbrannte die Papiere hinten in einer Ecke des Gartens, wo bald der Wald begann. Abends kurz vor acht fuhr Tom nach Moret, um Ree ves´ Freund Eric Lanz vom Bahnhof abzuholen. Frank wollte mitfahren und dann zurückgehen, und er beteuer te, er könne zu Fuß nach Belle Ombre zurückkommen. Zögernd hatte Tom eingewilligt. Vor der Abfahrt hatte Tom zu Heloise gesagt: »Billy möchte heute abend in seinem Zimmer essen. Er will nicht gern mit einem Frem den zusammenkommen, und ich möchte auch nicht, daß er mit diesem Freund von Reeves zusammentrifft.« He loise hatte gesagt: »Ach – warum nicht?« und Tom hatte erwidert: »Weil der vielleicht versuchen würde, Billy ir gendwo einzuspannen. Ich will nicht, daß der Junge in Schwierigkeiten gerät, auch wenn er dafür gut bezahlt wird. Du kennst doch Reeves und seine Kumpane.« Ja, die kannte Heloise; Tom hatte oft zu ihr gesagt: »Reeves ist aber nützlich – manchmal«, was bedeuten konnte (und auch bedeutet hatte), daß Reeves einem Gefallen erweisen konnte, die zuweilen sehr notwendig waren: neue Pässe besorgen, als Vermittler auftreten, in Ham burg ein sicheres Haus bieten. Zur Hälfte verstand Heloi se manchmal, was da vor sich ging, und die Hälfte, die sie nicht kannte, wollte sie auch nicht kennen. Umso besser. Auf diese Weise konnte auch ihr neugieriger Va ter nicht viel aus ihr rauskriegen. An einer Lichtung am Wegrand fuhr Tom an die Seite und hielt an. »So – jetzt schließen wir einen Kompromiß, Billy. Hier bist du drei oder vier Kilometer vom Haus ent fernt, das ist ein schöner Spaziergang. Ich möchte dich nicht ganz bis Moret mitnehmen.« »Gut.« Der Junge wollte die Wagentür öffnen. 122
»Hier – noch was. Eine Sekunde.« Tom zog eine fla che Schachtel aus der Hosentasche; es war eine Dose mit wasserlöslicher Körperschminke, die er aus Heloises Zimmer geholt hatte. »Ich will nicht, daß man den Leber fleck sieht.« Er tupfte Frank ein wenig von der Schminke auf die Wange und verrieb sie. Frank grinste. »Ich komm mir ganz blöd vor.« »Behalt das. Ich glaube nicht, daß es Heloise fehlen wird, sie hat noch so viel anderes Zeug. – Ich fahre jetzt einen Kilometer zurück.« Tom wendete. Es war kaum Verkehr auf der Straße. Der Junge sagte nichts. »Ich möchte, daß du vor mir zu Hause bist. Es geht nicht, daß du vorn durch die Haustür kommst.« Es war nur noch ein Kilometer bis Belle Ombre, als Tom den Wagen anhielt. »So – mach einen schönen Spaziergang. Madame Annette hat dein Essen in mein Zimmer gestellt – oder sie tut es noch. Ich hab ihr gesagt, du wolltest früh zu Bett gehen. Bleib also in meinem Zimmer. Alles klar, Billy?« »Ja, Sir.« Jetzt lächelte der Junge, hob winkend die Hand und machte sich auf den Weg nach Belle Ombre. Noch einmal wendete Tom den Wagen und fuhr nach Moret, wo er eben ankam, als der Pariser Zug seine Fahrgäste entließ. Tom kam sich etwas komisch vor, weil Eric Lanz wußte, wie er aussah, und er keine Ahnung hatte, wie Eric aussah. Langsam ging Tom zur Aus gangssperre, wo ein etwas schäbiger kleiner Fahrkarten kontrolleur mit Schirmmütze sich über jede Fahrkarte beugte, um zu sehen, ob sie für heute gültig sei, obgleich Tom annahm, daß dreiviertel aller französischen Fahr gäste ohnehin zum halben Preis reisten, weil sie Studen ten, Senioren, Beamte, Kriegsversehrte waren. Kein Wunder, daß die französische Eisenbahn sich immer für 123
bankerott erklärte. Tom zündete eine Gauloise an und blickte zum Himmel auf. »Miss-ter –« Tom blickte vom blauen Himmel in das lächelnde Ge sicht eines untersetzten Mannes mit rosigen Lippen und schwarzem Schnurrbart; er trug ein schrecklich kariertes Jackett und einen grell gestreiften Schal. Die runden Bril lengläser waren schwarzgerändert. Tom wartete schwei gend. Der Mann sah nicht im mindesten aus wie ein Deutscher, aber das konnte man nie wissen. »Tom –?« »Tom, ja.« »Eric Lanz«, sagte er mit kurzer Verbeugung. »Guten Tag. Vielen Dank, daß Sie mich abholen gekommen sind.« Eric trug zwei braune Plastikkoffer, beide so klein, daß sie auf einer Flugreise als Handgepäck durchgegan gen wären. »Viele Grüße von Reeves!« Sein Lächeln war jetzt breiter, als sie auf Toms Wagen zugingen; Tom hat te den Standplatz mit einer Geste angezeigt. Eric Lanz sprach mit deutschem Akzent, der aber nur leicht war. »Sind Sie gut gereist?« fragte Tom. »Ja. Und ich bin immer so gern in Frankreich!« sagte Eric Lanz. Es klang, als sei er gerade an einem Strand der Côte d´Azur angekommen oder sei im Begriff, ir gendwo eins der herrlichen Museen französischer Kultur zu betreten. Tom war aus irgendeinem Grunde finsterer Laune, aber was machte das schon? Er hatte vor, höflich zu sein, Eric zum Dinner einzuladen, ihm ein Bett plus Frühstück anzubieten, und was konnte Eric sonst noch von ihm wollen? Eric lehnte es ab, seine Koffer auch nur hinter die vorderen Sitze des Renault Kombiwagens zu stellen, er behielt sie zu seinen Füßen. Tom raste los, nach Hause. 124
»Aahh«, sagte Eric und riß sich den Schnurrbart ab. »So ist es besser. Und dann das ganze Groucho-MarxZeug.« Auch die Brille kam herunter, das sah Tom mit einem Blick nach rechts. »Dieser Reeves! Too much, wie es in England heißt. Zwei Pässe für sowas wie das hier?« Eric Lanz machte sich daran, seine beiden Pässe auszuwechseln: der eine steckte in der inneren Jackentasche, der andere irgend wo unten, offenbar in der untersten Tasche eines Rasier beutels, den er einem der schrecklichen Plastikkoffer entnahm. Der Paß, der jetzt in der Jackentasche steckte, sah ihm wohl ähnlicher, vermutete Tom. Was war sein richti ger Name? War sein Haar wirklich schwarz? Was tat er sonst noch, außer daß er gelegentlich Aufgaben für Ree ves erledigte? Safe-knacken? Schmuckdiebstahl an der Côte d´Azur? Tom wollte lieber nicht fragen. »Sie woh nen in Hamburg?« fragte Tom auf Deutsch, aus Höflich keit und auch, um sein Deutsch zu üben. »Nein! In West-Berlin. Macht viel mehr Spaß«, sagte Eric auf Englisch. Und bringt wohl auch mehr ein, dachte Tom, wenn der Kerl ein Mittelsmann für Rauschgift oder illegale Einwan derer war. Was mochte er jetzt bei sich haben? Nur seine Schuhe sahen nach Qualität aus, das sah Tom. »Sie ha ben morgen eine Verabredung mit jemand?« fragte Tom, wieder auf Deutsch. »Ja, in Paris. Morgen früh um acht sind Sie mich wie der los, wenn Ihnen das recht ist. Es tut mir leid, aber Reeves konnte es nicht so einrichten, daß der – der Mann, den ich treffen soll, mich am Flughafen trifft. Weil er noch gar nicht hier ist. Nicht hier sein konnte.« Sie kamen nach Villeperce. Da Eric Lanz ihm recht of fenherzig vorkam, riskierte es Tom zu fragen: 125
»Sie bringen ihm etwas, nicht wahr? Was – wenn ich so unverschämt sein darf?« »Schmuck!« sagte Eric Lanz fast kichernd. »Sehr hübsch. Perlen – ich weiß, kein Mensch macht sich heute was daraus, aber die hier sind echte. Und ein Halsband – Smaragde!« Sieh mal an, dachte Tom. Er sagte nichts. »Mögen Sie Smaragde?« »Offen gesagt, nein.« Gerade Smaragde mochte Tom nicht, vielleicht weil Heloise, die blaue Augen hatte, Grün ablehnte. Frauen, die Smaragde liebten oder Grün tru gen, mochte er überhaupt nicht, dachte Tom, und würde sie auch nie mögen. »Ich wollte sie Ihnen zeigen. Ich freue mich sehr, daß ich hier bin«, sagte Lanz offenbar erleichtert, als Tom durch die offenen Torflügel von Belle Ombre fuhr. »Jetzt kann ich Ihr wunderschönes Haus sehen, von dem mir Reeves erzählt hat.« »Würden Sie einen Moment hier warten?« »Sie haben Gäste?« Eric Lanz schien auf der Hut. »Nn-ein.« Tom zog die Handbremse an. Er hatte Licht im Fenster seines Zimmers gesehen; vermutlich war Frank dort. »Ich bin sofort wieder da.« Tom sprang die Eingangstreppe hinauf und trat ins Wohnzimmer. Mit dem Gesicht nach unten lag Heloise auf dem gel ben Sofa und las in einem Buch, die nackten Füße lagen auf der Sofalehne. »Allein?« fragte sie erstaunt. »Nein, nein, Eric ist draußen. Ist Billy zurück?« Heloise drehte sich um und setzte sich. »Er ist oben.« Tom ging nach draußen und holte Eric Lanz herein. Er machte Heloise mit dem Deutschen bekannt und erbot sich dann, ihm sein Zimmer zu zeigen. Als jetzt Madame Annette ins Zimmer kam, sagte Tom: »Monsieur Lanz,
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Madame Annette. Lassen Sie, Madame, ich werde unse rem Gast sein Zimmer zeigen.« Oben in dem Zimmer, das eben noch Franks gewesen und wo jetzt nichts mehr von ihm zu sehen war, fragte Tom: »War das in Ordnung – daß ich Sie meiner Frau als Eric Lanz vorgestellt habe?« »Ha-ha, mein richtiger Name! Natürlich ist es hier ganz in Ordnung.« Eric stellte seine Plastikkoffer auf den Fuß boden nahe dem Bett. »Gut«, sagte Tom. »Das Bad ist dort. Kommen Sie dann runter und trinken Sie ein Glas mit uns.« War es wirklich notwendig gewesen, überlegte Tom abends gegen zehn, daß Eric Lanz bei ihm übernachte te? Lanz wollte morgen früh um neun Uhr elf den Zug von Moret nach Paris nehmen, und er versicherte, er könne nach Moret sehr gut ein Taxi nehmen, wenn Tom das lieber sei. Tom wollte morgen mit dem Wagen bis nach Paris fahren, mit Frank, aber er hatte nicht vor, Eric das zu erzählen. Sie saßen beim Kaffee, Eric Lanz erzählte von Berlin, aber Tom hörte nur halb zu. Was da alles los war! Viele Lokale die ganze Nacht offen. Und die Leute – so ver schieden, individualistisch, ungebunden, jeder wie er wollte. Kaum Touristen, nur die meist steifen Ausländer, die zu irgendeiner Konferenz eingeladen waren. Ausge zeichnetes Bier. Lanz hatte ein Bier, das Mutzig hieß, vor sich, das gab es im Supermarkt in Moret, und er fand es besser als Heineken. »Dazu braucht es nicht viel«, fügte er hinzu. »Aber mein Bier ist Pilsner Urquell – vom Fass!« Eric Lanz schien Heloise zu bewundern, er war offenbar bemüht, einen guten Eindruck zu machen. Hof fentlich, dachte Tom, ließ Eric sich nicht dazu hinreißen, heute abend seine Schmucksachen vor ihr auszubreiten. Das wäre was! Einer hübschen Frau seinen Schmuck zu 127
zeigen und ihn dann wieder wegzupacken, weil er nicht das Recht hatte, ihn jemandem zu verehren. Eric sprach jetzt von möglichen Streiks in der deut schen Industrie; wenn es wirklich dazu kam, sagte er, wären es die ersten seit der Zeit vor Hitler. Eric hatte et was Umständliches, eine gewisse Adrettheit an sich. Er stand jetzt zum zweitenmal auf, um die beige-schwarze Tastatur des Cembalos zu bewundern. Heloise war vor Langeweile dem Gähnen nahe. Kaffee sie nicht gewollt. Sie entschuldigte sich und sagte: »Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nacht, Monsieur Lanz«. Dann ging sie lächelnd nach oben. Eric Lanz starrte ihr nach, als hätte er gern ihr Bett ge teilt und seine Nacht dadurch noch angenehmer ge macht. Er war aufgestanden und fast vornübergefallen, und jetzt machte er eine zweite kleine Verbeugung. »Ma dame!« »Was treibt Reeves denn so?« fragte Tom beiläufig. »Immer noch in der Wohnung?« Tom lachte leise. Ree ves und Gaby, die Stundenhilfe, waren nicht in der Woh nung gewesen, als die Bomben explodierten. »Ja, und immer noch mit dem gleichen Hausmädchen. Gaby! Sie ist reizend. Überhaupt keine Angst! Na ja, sie mag Reeves – er bringt ein bißchen Aufregung in ihr Le ben, wissen Sie.« Tom wechselte das Thema. »Könnte ich die Schmucksachen mal sehen, von denen Sie sprachen?« Vielleicht konnte er noch was dazulernen, dachte Tom. »Warum nicht?« Eric Lanz war schon wieder auf den Füßen und warf einen letzten Blick – hoffentlich blieb es der letzte, dachte Tom – auf seine leere Kaffeetasse und sein leeres Drambuie-Glas. Sie stiegen die Treppe hinauf, ins Gastzimmer. Unter der Tür von Toms Zimmer sah man Licht. Er hatte dem 128
Jungen gesagt, er solle die Tür von innen abschließen, und Tom nahm an, daß Frank das auch getan hatte, weil es ein bißchen dramatisch war. Eric hatte jetzt einen der dicken Plastikkoffer geöffnet, er wühlte sich bis zum Bo den durch – vielleicht gab es da noch einen falschen Bo den – und holte ein samtartiges lila Tuch heraus, das er auf dem Bett ausbreitete. In dem Tuch lagen die Schmucksachen. Die Halskette aus Brillanten und Smaragden ließ Tom kalt. Er hätte das Ding, auch wenn er es sich hätte leisten können, nie gekauft, nicht nur für Heloise nicht, auch nicht für sonst jemand. Drei oder vier Ringe lagen auch noch da, der eine ein Brillantring von anständiger Größe, der andere ein einzelner Smaragd. »Und da, die zwei – Saphire«, sagte Eric, der das Wort genoß. »Ich sag Ihnen nicht, woher die kommen. Aber die sind wirklich wertvoll.« Ob Elizabeth Taylor kürzlich bestohlen worden war, fragte sich Tom. Merkwürdig, dachte Tom, daß Leute Wert legen auf so absolut häßliche, sogar grell auffallen de Gegenstände wie dieses Halsband aus Brillanten und Smaragden. Ein Stich von Dürer oder ein Rembrandt wä re Tom viel lieber gewesen. Vielleicht war sein Ge schmack besser geworden. Hätten ihn diese Schmuckstücke beeindruckt, als er sechsundzwanzig war und mit Dickie Greenleaf in Mongibello? Vielleicht, aber bestimmt nur wegen des Geldwertes. Und das war schlimm genug. Aber heute beeindruckte ihn nicht einmal das. Er hatte sich gebessert. Tom seufzte und sagte: »Sehr hübsch. Und kein Mensch hat in Ihre Koffer rein gesehen, am Charles-de-Gaulle-Flughafen?« Eric lachte leise. »Kein Mensch achtet auf mich. Mit dem verrückten Schnurrbart und der langweiligen? – ja, langweiligen Kleidung, billig und geschmacklos, da be 129
achtet mich kein Mensch. Man sagt, der Durchgang beim Zoll ist nichts als Technik – Haltung. Meine ist richtig: nicht zu lässig, aber ja nicht besorgt. Deshalb schätzt mich Reeves. Zur Beförderung von Sachen, meine ich.« »Wo sollen diese mal hinkommen?« Eric war dabei, das lila Tuch mit den Schmuckstücken darin zusammenzufalten. »Das weiß ich nicht. Ist nicht mein Bier. Ich treffe morgen jemand in Paris.« »Wo?« Jetzt lächelte Eric. »In aller Öffentlichkeit. Gegend von St. Germain. Aber ich glaube, ich sollte Ihnen nicht ge nau sagen, wo oder zu welcher Zeit«, sagte er scherzend und lachte. Auch Tom lächelte. Ihm war das egal. Es war fast so albern wie die Sache mit dem italienischen Grafen Berto lozzi. Der Graf war für eine Nacht Gast in Belle Ombre gewesen und hatte, ohne es zu ahnen, in seiner Zahn pastatube einen Mikrofilm mitgebracht. Auf Reeves´ Bitte hin hatte Tom, das wußte er noch, die Zahnpastatube aus dem Badezimmer stehlen müssen, das jetzt Eric Lanz hatte. »Haben Sie eine Uhr, oder soll ich Madame Annette bitten. Sie zu wecken, Eric?« »Oh, ich habe einen Wecker, vielen Dank. Ich würde sagen, wir fahren dann kurz nach acht? Ich würde es gern vermeiden, ein Taxi zu nehmen, aber wenn es Ih nen zu früh ist –« »Kein Problem«, unterbrach ihn Tom liebenswürdig. »Ich bin sehr flexibel, was die Zeit angeht. Schlafen Sie gut, Eric.« Tom ging hinaus. Er wußte, Eric fand, daß er die Schmucksachen nicht genügend bewundert hatte. Tom merkte, daß er seinen Pyjama vergessen hatte, und er schlief nicht gern nackt. Tom fand, ausziehen konnte man sich immer noch im Laufe der Nacht, wenn 130
man Lust hatte. Etwas zögernd klopfte er sanft mit den Fingerspitzen an die Tür seines Zimmers. Unter der Tür war immer noch Licht zu sehen. »Tom«, flüsterte er an der Türritze, als er den leichten und wahrscheinlich bar füßigen Schritt des Jungen hörte. Frank öffnete, ein breites Lächeln auf dem Gesicht. Tom legte einen Finger auf die Lippen, trat ein, verschloß die Tür wieder und flüsterte: »Pyjama, Ent schuldigung.« Er holte ihn aus dem Badezimmer, ebenso die Hausschuhe. »Ist er da drin? Wie ist er denn?« fragte Frank und wies auf das Nebenzimmer. »Das laß mal. Kurz nach acht morgen früh ist er schon weg. Du bleibst hier im Zimmer, bis ich aus Moret zu rückkomme. Klar, Frank?« Tom sah, daß der Leberfleck auf der rechten Wange des Jungen wieder sichtbar war, weil Frank sich gewaschen oder gebadet hatte. »Ja, Sir«, sagte Frank. »Gute Nacht.« Tom zögerte einen Moment und gab dem Jungen einen Klaps auf den Arm. »Bin froh, daß du sicher nach Hause gekommen bist.« Frank lächelte. »Gute Nacht, Sir.« »Schließ die Tür ab«, flüsterte Tom, bevor er die Tür aufmachte und hinausging. Tom blieb stehen, bis er hör te, wie der Schlüssel umgedreht wurde. Unter der Zim mertür des Deutschen sah man Licht, undeutlich hörte Tom Wasser in die Badewanne laufen, dann ein melodi sches Summen, und Tom erkannte »Frag nicht, warum ich weine –«, einen sentimentalen kleinen Walzer. Tom krümmte sich lautlos lachend. Vor Heloises Tür blieb Tom stehen. Er dachte plötzlich daran, ob und wann Johnny Pierson wohl mit seinem Pri vatdetektiv in Frankreich auftauchen würde, um seinen Bruder zu suchen. Das war wirklich dumm – ein kleines 131
Problem. Wenn Tom morgen mit dem Jungen in die Ge gend der Amerikanischen Botschaft kam – dort konnte man so bequem Paßbilder machen lassen –, dann war es immerhin möglich, daß sich Johnny gerade auf der Botschaft nach seinem Bruder erkundigte. Nur ruhig, sagte sich Tom, es war ja noch nicht geschehen. Und wenn es nun geschah? Warum eigentlich sollte er Frank so unermüdlich abschirmen, nur weil der sich unbedingt verstecken wollte? Verfiel er auch schon in die Räuberpistolen-Denkweise, wie Reeves Minot? Tom klopfte bei Heloise an die Tür. »Komm rein«, sagte Heloise. Am nächsten Morgen brachte Tom den immer noch schnurrbartlosen Eric Lanz mit dem Wagen nach Moret zum Neunuhrelf-Zug. Eric war sehr aufgeräumt, er redete über das Ackerland zu beiden Seiten, über den minder wertigen Viehmais, den die Menschen selber essen könnten, wenn die Qualität besser wäre, über die allge meine subventionierte Untüchtigkeit französischer Land wirte. »Immerhin – es ist schön, in Frankreich zu sein. Ich werde mir heute noch ein paar Kunstausstellungen an sehen, denn mit meinem Rendezvous bin ich um – eh – bin ich schon früh fertig.« Tom war es ganz egal, wann das Rendezvous statt fand, aber er hatte vorgehabt, mit Frank Beaubourg zu besuchen, wo gerade eine größere Ausstellung »ParisBerlin« lief. Es mußte doch wohl mit dem Teufel zuge hen, wenn Eric dort war, wenn er mit dem Jungen hin kam; es war nicht ganz ausgeschlossen, daß Eric von Frank Piersons Verschwinden wußte. Eigentlich komisch, bisher war keine Zeitung auf die Idee gekommen, Frank könnte entführt worden sein, obgleich natürlich die Kid 132
napper ihre Lösegeld-Forderungen meistens sehr bald bekanntgaben. Die Familie war offenbar der Meinung, Frank sei allein ausgerückt und sei noch immer allein. Fabelhafte Gelegenheit für Gauner, Lösegeld zu verlan gen und zu behaupten, sie hätten den Jungen, ohne ihn zu haben. Warum nicht? Tom lächelte, als er sich das vorstellte. »Was ist daran so komisch? Ich finde, für Sie als Ame rikaner ist das gar nicht sehr komisch«, sagte Eric, um einen leichten Ton bemüht, aber es klang überaus ger manisch. Er hatte sich über den fallenden Dollar ausge lassen und über die unzureichenden Maßnahmen von Präsident Carter im Gegensatz zur umsichtigen Haus haltsführung der Regierung von Helmut Schmidt. »Entschuldigung«, sagte Tom, »ich dachte an Schmidts oder sonst jemands Bemerkung, ›Die Finanzen Amerikas sind heute in den Händen blutiger Anfänger‹.« »Sehr richtig!« Sie waren jetzt vor dem Bahnhof von Moret, und Eric hatte keine Zeit zum Weiterreden. Händeschütteln und vielen Dank. »Schönen Tag noch!« rief Tom. »Gleichfalls!« Lächelnd verschwand Eric Lanz. Die beiden Plastikkoffer hatte er fest im Griff. Tom fuhr nach Villeperce zurück, entdeckte in der Dorfmitte den gelben Postwagen auf der üblichen Runde und wußte, die Post kam heute pünktlich um halb zehn. Dabei fiel ihm jedoch etwas ein, das hier leichter zu erle digen war als im überfüllten Paris. Er hielt vor dem Post amt und ging hinein. Am Morgen früh war er mit seiner ersten Tasse Kaffee nach unten gegangen und hatte ei nen kurzen Brief an Reeves geschrieben. ». . . Der Junge ist 16, 17, aber nicht jünger, 1 Meter achtzig, glattes braunes Haar, geboren irgendwo in USA. Schick mir das 133
Ding so schnell wie mögl. express. Sag mir was ich Dir schulde. Dank im voraus, in Eile. E. L. hier, offenbar alles okay. Tom.« Jetzt im Postamt von Villeperce bezahlte Tom die Extragebühr von neun Francs für das rote EXPRESS-Etikett, das die Schalterbeamtin für ihn auf den Umschlag klebte. Sie wollte den Brief an sich neh men und sagte, er sei nicht zugeklebt, und Tom sagte, er wolle noch etwas hineinstecken. Tom nahm den Um schlag mit nach Hause. Frank war im Wohnzimmer, angezogen, fast fertig mit dem Frühstück. Heloise war offenbar noch oben. »Guten Morgen, wie geht´s?« fragte Tom. »Gut ge schlafen?« Frank hatte sich erhoben, wieder mit dem Ausdruck von Respekt für Tom, der Tom leicht verlegen machte. Der Junge strahlte manchmal – fast als sehe er das Mädchen Teresa, in das er verliebt war. »Ja, Sir. Sie ha ben Ihren Freund nach Moret gebracht, hat mir Madame Annette gesagt.« »Ja, er ist fort. Wir können in etwa zwanzig Minuten fahren. Okay?« Tom warf einen Blick auf den braunen Rollkragenpullover des Jungen. Das war in Ordnung für ein Paßbild. Auf dem Foto in France-Dimanche – viel leicht seinem Paßfoto – trug Frank ein Hemd mit Krawat te. Umso besser, wenn Frank weniger formell aussah. Tom trat näher an den Jungen heran und sagte: »Den Scheitel kannst du rechts lassen, aber für das Foto heute mußt du das Haar obenauf und an den Seiten so gut wie möglich auflockern. Ich werde dich nochmal daran erin nern. Hast du einen Kamm bei dir?« Frank nickte. »Ja, Sir.« »Und die Schminke?« Tom sah, daß der Junge den Leberfleck überdeckt hatte, aber der Fleck mußte den ganzen Tag verdeckt bleiben. 134
»Ja, hab ich.« Der Junge legte die Hand auf die rechte hintere Hosentasche. Tom ging nach oben und sah, daß Madame Annette dabei war, in dem Zimmer, wo Eric Lanz übernachtet hat te, die Bettwäsche abzuziehen; ökonomisch wie sie nun einmal war, bezog sie das Bett dann mit der gleichen Bettwäsche, in der Frank vorher geschlafen hatte. Es erinnerte Tom an gestern, als der Junge darauf bestan den hatte, daß Madame Annette Toms Bett für Frank nicht frisch bezog. Frank hatte offenbar lieber so darin geschlafen, wie es war, und Madame Annette hatte das ganz vernünftig gefunden. »Sie und der junge Mann kommen heute abend zu rück, Monsieur Tome?« »Ja – ich denke, rechtzeitig zum Essen.« Tom hörte den Wagen des Postboten und die Handbremse. Aus dem Kleiderschrank in seinem Zimmer nahm Tom einen alten blauen Blazer, der ihm immer etwas zu klein gewe sen war. Tom wollte nicht, daß auf dem Paßbild Franks Tweedjacke mit dem Karomuster zu sehen war, falls Frank die heute tragen wollte. Toms Blick fiel auf die Reihe der Schuhe, die auf dem Boden des Kleiderschranks standen. Alle wunderbar blank geputzt! Und alle aufgestellt wie Soldaten! Nie hat te er einen solchen Schimmer auf den Mokassins von Gucci und einen so tiefen Glanz auf den rotbraunen Cor dovans gesehen. Selbst die Lackslippers für den Abend mit ihren albernen Seidenschleifen erstrahlten in neuem Glanz. Alles Franks Werk, das wußte Tom. Auch Mada me Annette putzte sie gelegentlich, aber das war hiermit nicht zu vergleichen. Tom war beeindruckt. Frank Pier son, Millionenerbe, putzte seine Schuhe! Tom machte die Schranktür zu und ging mit dem Blazer nach unten.
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Die Post sah uninteressant aus, zwei oder drei Bank umschläge, die Tom ungeöffnet ließ, ein Brief an Heloise, auf dessen Umschlag die Adresse in der Handschrift ih rer Freundin Noëlle geschrieben war. Tom riß das braune Papier von der International Herald Tribune ab. Frank war noch im Wohnzimmer, und Tom sagte: »Hier – zieh diese an statt der Tweedjacke. Eine alte von mir.« Vorsichtig und mit sichtlicher Freude zog Frank die Ja cke an. Die Ärmel waren etwas lang, aber der Junge beugte leicht die Arme und sagte: »Fabelhaft! Vielen Dank.« »Du kannst sie eigentlich behalten.« Frank strahlte. »Vielen Dank – wirklich. Entschuldi gung, ich bin gleich wieder unten.« Er lief nach oben. Tom blätterte durch die Trib und fand unten auf Seite zwei eine kurze Meldung. Piersons schicken Detektiv, hieß die unauffällige Überschrift. Ein Foto war nicht da bei. Tom las: Mrs. Lily Pierson, Witwe des verstorbenen LebensmittelMagnaten John J. Pierson, hat einen Privatdetektiv nach Europa geschickt mit dem Auftrag, ihren verschwunde nen Sohn Frank, 16, zu suchen. Der Sohn hat sein El ternhaus in Maine Ende Juli verlassen, seine Spur führt nach London und Paris. Der ältere Sohn John, 19, des sen Paß der jüngere Bruder bei seinem Fortgang mit nahm, begleitet den Detektiv. Die Fahndung wird vermut lich in der Gegend von Paris einsetzen. Es gibt bisher keinerlei Hinweise auf eine Entführung. Tom fühlte, wie Unsicherheit, fast Bestürzung beim Le sen in ihm aufstieg – aber was konnte schon passieren, wenn sie heute Franks Bruder und dem Detektiv in die 136
Arme liefen? Die Familie wollte ja nichts als den Jungen finden. Tom wollte Frank nichts von der Meldung sagen, und die IHT würde er zu Hause lassen. Heloise sah die Zeitung zwar gewöhnlich kaum an, aber vielleicht würde sie sie gerade vermissen, wenn er sie mitnahm und ir gendwo wegwarf. Was würden aber jetzt die französi schen Zeitungen über den Privatdetektiv und den älteren Bruder berichten? Und womöglich fügten sie noch einen Abzug von Franks Foto hinzu? Frank war fertig. Tom ging nach oben, um sich von Heloise zu verabschieden. »Du hättest mich auch mitnehmen können«, sagte He loise. Der zweite Mißton heute morgen. Es sah Heloise gar nicht ähnlich – sie hatte immer anderes zu tun. »Das hät test du auch gestern abend sagen können.« Sie hatte rosa-blau gestreifte Jeans an und eine ärmellose rosa Bluse. Es war unwichtig, was eine so hübsche Frau in Paris im August trug, nur wollte Tom Heloise nicht wissen lassen, daß Frank sich ein Paßbild machen ließ. »Wir gehen ins Beaubourg, und du hast doch die Ausstellung schon mit Noëlle zusammen gesehen.« »Was ist eigentlich los mit diesem Billy?« fragte sie und zog fragend die blonden Brauen hoch. »Wieso – was ist los?« »Er sieht wegen irgendwas beunruhigt aus. Und dich betet er offenbar an. Ist er eine tapette?« Ein Homosexueller, meinte sie. »Nicht soviel ich sehe. Glaubst du?« »Wie lange will er noch bei uns bleiben? Er ist jetzt fast eine Woche hier, nicht?« »Ich weiß, daß er heute zu einem Reisebüro gehen will. In Paris. Er sprach von Rom. Diese Woche wird er
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wohl gehen.« Tom lächelte. »Bye-bye, Darling. Gegen sieben sind wir zurück.« Im Hinausgehen nahm Tom die IHT, faltete sie zu sammen und stopfte sie in eine hintere Hosentasche.
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Tom nahm den Renault, obgleich ihm der Mercedes lie ber gewesen wäre. Er machte sich Vorwürfe, weil er He loise gar nicht gefragt hatte, ob sie heute einen Wagen brauche, denn der Mercedes stand noch bei den Grais. Aber Heloise hätte wohl etwas gesagt, wenn sie einen Wagen brauchte, dachte Tom. Frank sah glücklich aus, er hielt den Kopf zurück, und der Wind fuhr durch das offene Fenster. Tom legte eine Kassette ein, zur Ab wechslung mal Mendelssohn. »Ich lasse meinen Wagen immer hier stehen – im Stadtzentrum parken ist so schwierig.« Tom hatte an ei ner Garage nahe der Porte d´Orléans angehalten. »So gegen sechs bin ich zurück«, sagte Tom auf Französisch zu einem Angestellten, den er vom Sehen kannte. Tom war durch die Sperre eingefahren, wo er automatisch ein Ticket mit der eingedruckten Ankunftszeit erhielt. Dann nahm er mit Frank ein Taxi. »Avenue Gabriel, bitte«, sag te Tom zu dem Fahrer. Er wollte nicht direkt vor der Bot schaft aussteigen und hatte den Namen der Straße ver gessen, die im rechten Winkel zur Avenue Gabriel verlief und wo das Fotoatelier war. Tom wollte dann den Fahrer bitten, sie aussteigen zu lassen, sobald sie dort in der Nähe waren. »Ach, ist das wunderbar, in Paris mit Ihnen im Taxi zu fahren!« sagte Frank, immer noch träumend von – wo von? Freiheit? Der Junge bestand darauf, das Taxi zu bezahlen. Er zog die Brieftasche aus der Innentasche von Toms altem Blazer. Tom fragte sich, was die Brieftasche wohl sonst noch enthielt – falls der Junge durchsucht würde. Tom wies den Fahrer an, eben um die Ecke der Avenue Gabriel in 139
der Straße, die er suchte, zu halten. »Da ist das Fotoate lier«, sagte Tom und zeigte auf ein kleines Schild über einer Tür, etwa zwanzig Meter entfernt. »Marguerite oder sowas heißt es. Ich geh nicht mit dir rein. Dein Leberfleck sieht jetzt ganz gut aus, aber faß ihn nicht an. Fahr dir mal durch die Haare. Und dann setz mal ein – ein kleines Lächeln auf. Ja nicht zu ernst aussehen!« Tom sagte das, weil der Junge meistens ernst aussah. »Du wirst unterschreiben müssen. Schreib einfach Charles John son, zum Beispiel. Nach Ausweisen werden sie nicht fra gen, das weiß ich, weil ich kürzlich auch hier war. Alles klar?« »Okay. Ja, Sir.« »Ich warte hier«, sagte Tom und zeigte auf ein Café auf der anderen Straßenseite. »Komm dann rüber zu mir; sie werden dir sagen, du mußt eine Stunde warten, bis die Bilder fertig sind, es sind aber bloß fünfundvierzig Minuten.« Tom ging hinüber zur Avenue Gabriel und wandte sich nach links in Richtung Concorde, weil er wußte, dort war ein Zeitungsstand. Er kaufte Le Monde, Figaro und IciParis, ein lautes Skandalblatt mit Blau, Grün, Rot und Gelb auf der Titelseite. Tom sah auf dem Rückweg zum Café mit einem Blick, daß Ici-Paris der überraschenden Heirat von Christina Onassis mit einem russischen Prole tarier eine ganze Seite gewidmet hatte, und eine zweite Seite war dem – vermutlich imaginären – neuen Begleiter von Prinzessin Margaret, einem italienischen Bankmann, der etwas jünger war als sie, eingeräumt worden. Alles Sex, wie üblich, wer es mit wem trieb, wer vielleicht damit anfangen würde, und wer es mit wem nicht mehr trieb. Als Tom Platz genommen und einen Kaffee bestellt hat te, nahm er sich jede Seite von Ici-Paris vor und fand nichts über Frank. Hier war natürlich mit Sex nichts zu 140
machen. Die vorletzte Seite brachte einen Haufen Anzei gen, wie der richtige Partner zu finden war – »Kurz ist das Leben, verwirklichen Sie Ihre Träume noch heute« – und Inserate mit Illustrationen verschiedener aufblasba rer Gummipuppen zum Preis zwischen neunundfünfzig und dreihundertneunzig Francs, die Puppen konnten an geblich alles, Versand in neutraler Verpackung. Wie man die wohl aufblies, dachte Tom. Ein Mann würde ganz schön außer Atem kommen, wenn er das machte, und was würden seine Haushälterin und seine Freunde sa gen, wenn sie eine Fahrradpumpe und kein Fahrrad in seiner Wohnung entdeckten? Noch komischer wäre es, dachte Tom, wenn ein Mann die Puppe einfach im Wa gen zu seiner Autowerkstatt brächte und den Monteur bäte, sie für ihn aufzupumpen. Und wenn nun die Haus hälterin des Mannes die Puppe in seinem Bett fand und dachte, es sei eine Leiche? Oder wenn sie den Kleider schrank aufmachte, und die Puppe fiel ihr entgegen? Ein Mann könnte ja auch mehr als eine Puppe kaufen, eine als Ehefrau und zwei oder drei als Freundinnen, und auf diese Weise könnte er ein reges Phantasieleben führen. Sein Kaffee war gekommen, und Tom zündete sich ei ne Gauloise an. Er fand nichts in Le Monde und nichts im Figaro. Wenn nun die französische Polizei einen Mann drinnen in dem Fotoatelier postiert hatte, einen Mann, der außer Frank Pierson noch anderen gesuchten Leuten auflauerte? Solche Leute mußten häufig ihre Pässe und ihre Personalpapiere auswechseln. Frank kam zurück, er lächelte. »Eine Stunde – genau wie Sie sagten.« Der Leberfleck war noch verdeckt, sah Tom, und das Haar des Jungen stand oben etwas hoch. »Du hast mit anderem Namen unterschrieben?« »Ja, in dem Buch da. Charles Johnson.« 141
»Na, dann können wir ja ein bißchen rumlaufen – fünf undvierzig Minuten«, sagte Tom. »Außer wenn du hier einen Kaffee möchtest.« Frank hatte sich noch nicht an den kleinen Tisch ge setzt; plötzlich, als er über die Straße blickte, versteifte sich sein Körper. Tom sah ebenfalls hin, aber es fuhren gerade einige Wagen vorüber. Der Junge setzte sich, wandte das Gesicht ab und fuhr sich unruhig mit der Hand über die Stirn. »Da war eben –« Tom stand jetzt auch auf und blickte auf den Gehweg, den Gehweg auf der anderen Seite der Straße, und in diesem Augenblick drehte sich eine von zwei Männergestalten um, und Tom erkannte Johnny Pierson. Tom setzte sich wieder. »So so«, sagte Tom und warf einen Blick auf die Kellner hinter dem Schanktisch, die anscheinend gar nicht auf sie achteten; deshalb stand Tom schnell auf und trat an die Tür, um noch einmal hinüberzublicken. Der Detektiv (Tom nahm an, daß es der Detektiv war) trug einen grauen Sommeranzug ohne Hut, er war untersetzt und hatte welliges rötliches Haar. Johnny war größer und blonder als Frank und trug ein fast weißes Jackett, das ihm bis zur Taille reichte. Tom wollte feststellen, ob sie in das Paßfotogeschäft gingen – das sich nicht eigens so nannte, es war einfach ein Geschäft, das Kameras verkaufte und Paßbilder machte – und Tom war erleichtert, als er sah, daß sie daran vorbeigingen. Aber sie hatten vermutlich Erkundigungen angestellt bei der Botschaft, die gerade um die Ecke war. »So –«, sagte Tom noch einmal und setzte sich. »Bei der Botschaft haben sie jedenfalls nichts herausgefunden, das ist mal sicher. Mindestens nichts, das wir nicht wissen.« Der Junge sagte nichts; er war deutlich blasser ge worden.
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Tom zog ein Fünf-Francs-Stück aus der Tasche – reichlich für eine Tasse Kaffee – und winkte dem Jungen. Sie gingen hinaus und wandten sich nach links, Rich tung Concorde und Rue de Rivoli. Tom blickte auf seine Uhr und sah, daß die Fotos bis viertel nach zwölf fertig sein sollten. »Keine Aufregung.« Tom ging nicht sehr schnell. »Ich werde zuerst einmal allein in das Geschäft gehen und schauen, ob sie da vielleicht stehen und war ten. Aber sie sind gerade eben daran vorübergegangen.« »Wirklich?« Tom lächelte. »Wirklich.« Natürlich konnten sie sich umdrehen und zurückkommen, in das Geschäft, wenn sie sich bei der Botschaft erkundigt hatten, wo die Leute gewöhnlich Paßbilder machen ließen. Sie konnten fra gen, ob ein Junge, auf den Franks Beschreibung paßte, kürzlich dort gewesen sei, undsoweiter. Aber Tom hatte es satt, über Dinge nachzugrübeln, an denen er nichts ändern konnte. Sie betrachteten Schaufenster in der Rue de Rivoli – seidene Schals, Miniaturgondeln, protzig aus sehende Hemden mit französischen Manschetten, Post karten auf Ständern draußen vor den Läden. Tom hätte gern einen Blick in die Buchhandlung von W. H. Smith geworfen, aber er lotste Frank vorüber und sagte, der Laden sei immer voll von Amerikanern und Engländern. Tom hätte sich gefreut, wenn dem Jungen das Räuber pistolenspiel Spaß gemacht hätte, doch in Franks Ge sicht stand Angst, seit er seinen Bruder gesehen hatte. Jetzt war es Zeit, in das Fotogeschäft zurückzugehen. Tom sagte Frank, er solle langsam den Gehweg entlang gehen, und falls er seinen Bruder und den Detektiv noch einmal sehe, solle er sich umdrehen und zu den Arkaden der Rue de Rivoli zurückkehren, dort werde Tom ihn dann finden.
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Tom ging zu dem Fotogeschäft und trat ein. Ein ame rikanisch aussehendes Paar saß auf Stühlen und warte te, und der gleiche magere hochgewachsene junge Mann, an den sich Tom von vor einigen Monaten erinner te, der Fotograf selber, legte gerade einer neuen Kundin, einer jungen Amerikanerin, das Buch zum Unterschrei ben vor. Dann verschwand der junge Mann mit dem Mädchen hinter einem Vorhang, wo das Atelier war, das wußte Tom. Tom hatte so getan, als betrachte er die Kameras in einem Glaskasten, und jetzt ging er hinaus und sagte Frank, daß die Luft rein sei. »Ich warte hier auf der Straße«, sagte Tom. »Du hast doch die Bilder schon bezahlt, nicht wahr?« Tom kannte das Verfahren; der Junge hatte fünfundddreißig Francs im voraus bezahlt. »Und nun mal ganz ruhig, ich warte hier.« Tom lächelte ihm ermutigend zu. »Langsam«, sag te Tom, als der Junge losging. Gehorsam verlangsamte er seine Schritte und sah sich nicht um. Tom ging nicht schnell, aber so als habe er ein Ziel, bis zum Ende der Straße. Er hielt die Augen offen für den Fall, daß Johnny und der Detektiv zurückkämen, aber er sah sie nicht. Als Tom an der Kreuzung bei der Avenue Gabriel angekommen war und sich umdrehte, kam ihm Frank vom Fotogeschäft her entgegen. Frank überquerte die Straße, zog einen kleinen weißen Umschlag aus der Jackentasche und reichte ihn Tom. Die Bilder sahen anders aus als das im FranceDimanche, das Tom gesehen hatte: das Haar war oben etwas zerwühlt, das unsichere Lächeln war da, das Tom angeraten hatte, der Leberfleck war nicht sichtbar – doch Augen und Stirn waren fast gleich. Bei sorgfältiger Prü fung mußte man selbstverständlich sehen, daß es zwei Bilder desselben Jungen waren.
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»So gut wie´s zu erwarten war«, sagte Tom. »Jetzt wollen wir ein Taxi nehmen.« Frank hatte mehr Lob erhofft, das konnte Tom sehen. Sie hatten Glück, noch vor der Place de la Concorde er wischten sie ein Taxi. Tom schob eins der Fotos in den Umschlag, den er für Reeves Minot vorbereitet hatte. Tom klebte den Umschlag zu; er war erleichtert. Er hatte den Fahrer angewiesen, zum Beaubourg zu fahren, dort in der Nähe gab es sicher eine Snack-Bar und einen Briefkasten. Tom fand beides wenige Meter entfernt von dem aufgedunsenen Bau des Centre Pompidou. »Erstaunlich, was?« sagte Tom. Er meinte das monst röse blaue Äußere des Museums. »Ich finde es häßlich – jedenfalls außen.« Es sah aus wie viele lange blaue Ballons, die man bis zum Platzen aufgeblasen und umeinander gewickelt hat te. Es hatte deutlich etwas von einem Leitungssystem an sich, nur wäre es schwer zu sagen gewesen, ob die Bal lons von drei Meter Durchmesser Wasser oder Luft ent hielten. Wieder fielen Tom die aufgeblasenen Sexpuppen ein, er stellte sich vor, daß eine unter dem Gewicht eines Mannes platzte, was bestimmt zuweilen passierte. Was für ein Reinfall! Tom biß sich auf die Lippen, um nicht zu lachen. In einem Bar-café-tabac verzehrten sie ein mit telmäßiges Steak mit Pommes frites, nachdem Tom draußen seinen Eilbrief in den gelben Briefkasten gewor fen hatte. Leerung war um vier Uhr nachmittags. In der Ausstellung »Paris-Berlin« schien Frank am stärksten beeindruckt von Emil Noldes »Tanz um das goldene Kalb«, ein wild tobendes Trio oder Quartett ordi närer Damen, von denen eine ganz nackt war. »Das gol dene Kalb – das ist Geld, nicht wahr?« sagte Frank, mü de und mit leicht glasigem Blick nach allem, was er schon gesehen hatte. 145
»Geld, ja«, sagte Tom. Das Bild war nicht dazu ge malt, den Betrachter zu entspannen, und Tom war auch angespannt, weil er meinte, er müßte sich ab und zu nach Johnny Pierson und dem Detektiv umsehen. Es war ein seltsamer Versuch, Aussagen von Künstlern über die deutsche Gesellschaft der zwanziger Jahre aufzunehmen – Anti-Kaiser-Plakate aus dem ersten Weltkrieg, Kirch ner, Porträts von Otto Dix, dazu seine hervorragenden »Drei Dirnen auf der Straße« – und gleichzeitig aufpas sen zu müssen wegen des möglichen Erscheinens von zwei Amerikanern, die diesem Vergnügen ein plötzliches Ende bereiten würden. Ach, zum Satan mit den Amerika nern, dachte Tom und sagte zu Frank: »Halt mal die Au gen auf nach – du weißt schon, nach deinem Bruder. Ich möchte dies hier gern auskosten.« Tom sprach etwas streng, aber die Bilder ringsum waren wie Musik, die sich lautlos in die Ohren ergoß, oder jedenfalls in die Augen. Tom holte tief Luft. Ah – die Beckmanns! »Hat dein Bruder Kunstausstellungen gern?« fragte Tom. »Nicht so gern wie ich«, war die Antwort. »Aber gern hat er sie schon.« Das war nicht sehr ermutigend. Frank stand jetzt ganz still vor einem Bild, das aussah wie eine Kohlezeichnung vom Inneren eines Raumes, hinten links war ein Fenster, und im Vordergrund stand eine männliche Figur in einer Haltung, die Anspannung und Eingeschlossensein an deutete. Die Perspektive von Wänden und Fußboden wies auf Gefangenschaft hin. Vielleicht keine glänzende Zeichnung, aber die Überzeugung und Intensität der Ge danken des Künstlers war eindeutig. Der Raum, was im mer er war, wirkte wie ein Gefängnis. Tom wußte, warum Frank so gebannt davorstand.
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Tom mußte dem Jungen die Hand auf die Schulter le gen, um ihn fortzuziehen. »Entschuldigung.« Frank schüttelte leicht den Kopf und sah hinüber zu den zwei Türen des Raumes, in dem sie standen. »Mein Vater hat uns oft mitgenommen zu Ausstellungen. Er hat die Impressionisten immer gern gehabt, vor allem die französischen. Schneestürme auf den Pariser Straßen. Davon – haben wir einen Renoir zu Hause. Von einem Schneesturm, meine ich.« »Das war doch etwas Nettes an deinem Vater, er mochte Bilder. Und er konnte es sich leisten, sie zu kau fen.« »Na – jedenfalls – ich meine, Bilder – ein paar hun derttausend Dollar –« Frank sagte das, als sei es gar nichts. »Es fällt mir auf, daß Sie immer versuchen, was Nettes über meinen Vater zu sagen«, fügte er leicht ge reizt hinzu. Stimmte das? Die Ausstellung löste Emotionen aus in Frank. »De mortuis«, sagte Tom achselzuckend. »Ob er Renoirs kaufen konnte? Allerdings.« Frank beugte die Arme, als bereite er sich vor, jemanden zu schlagen, aber er blickte eher leer geradeaus. »Sein Markt war die ganze Welt – jeder Mensch. Zumindest jeder, der es sich leisten konnte. Viele seiner Waren wa ren Luxusartikel. ›Mehr als halb Amerika ist zu fett‹, hat er oft gesagt.« Sie schritten langsam zurück durch einen Raum, in dem sie schon gewesen waren. Links von ihnen lief eine der drei oder vier Miniatur-Kinovorführungen, sechs oder acht Leute saßen auf Stühlen und sahen zu, andere standen. Auf der Leinwand sah man russische Panzer, die Hitlers Armee angriffen. »Ich sagte Ihnen schon«, fuhr Frank fort, »neben den normalen und den Gourmet-Sachen gibt´s noch diesel 147
ben Sachen mit geringem Kaloriengehalt. Es erinnert mich an das, was von Glücksspiel oder Prostitution ge sagt wird – sie profitieren von den Lastern anderer Men schen. Erst mästet man sie, dann läßt man sie abneh men, und dann fängt man nochmal von vorn an.« Tom lächelte über die Intensität des Jungen. Welche Bitterkeit! Versuchte er, sich zu rechtfertigen, weil er sei nen Vater umgebracht hatte? Es war wie ein Kessel, der etwas Dampf abläßt, wenn der Deckel sich hebt und wie der fällt. Wie wollte Frank jemals die große Rechtferti gung erreichen, die seine ganze Schuld tilgen würde? Vielleicht fand er niemals eine völlige Rechtfertigung, a ber irgend eine Einstellung mußte er finden. Jedem Feh ler im Leben, dachte Tom, mußte mit einer Einstellung begegnet werden, der richtigen oder der falschen, einer konstruktiven oder selbstzerstörerischen Einstellung. Ei ne Tragödie für den einen Menschen war keine für den anderen, wenn er die richtige Einstellung dazu fand. Frank hatte Schuldgefühle gehabt, deshalb hatte er Tom Ripley aufgesucht, und merkwürdigerweise hatte Tom solche Schuldgefühle nie gekannt, er hatte sich nie ernsthaft beunruhigen lassen. Darin, das wußte Tom, war er anders als andere. Die meisten Menschen hätten Schlaflosigkeit, schlimme Träume durchgemacht, vor al lem nach einer Tat wie dem Mord an Dickie Greenleaf. Tom nicht. Frank ballte plötzlich die Hände zur Faust, aber nicht weil er etwas gesehen hatte. Die eigenen Gedanken wa ren schuld an der Geste. Tom nahm ihn beim Arm. »Hast du genug? Komm, wir gehen hier raus.« Tom steuerte sie beide zu einem Raum, von dem er glaubte, er führe zum Ausgang, dann zurück durch einen anderen, wo Tom das Gefühl hatte, er schreite an Soldaten vorüber – den Bildern –, an ei 148
nem nach dem andern, als wären sie ein Heer von Kämpfern in verschiedener Aufmachung, irgendwie bis an die Zähne bewaffnet, obgleich einige Abendkleidung anhatten. Tom kam sich seltsam besiegt vor, und das mochte er nicht. Woher kam das? Er war sicher, es war irgendwas außerhalb der Bilder. Er würde den Jungen wegschicken müssen – die Situation wurde reichlich warm, gefühlsbetont oder noch schlimmer. Plötzlich lachte Tom. »Was?« fragte Frank, wie immer auf dem Quivive, wo es Tom betraf, und er blickte sich um, ob etwas Komi sches zu sehen war. »Laß nur«, sagte Tom. »Ich hab immer verrückte Sa chen im Kopf.« Tom hatte gedacht, wenn der Detektiv und Johnny nun Tom Ripley mit Frank zusammen sähen, würden sie zunächst vielleicht denken, Tom hätte ihn ent führt, denn Tom hatte ja einen so schlechten Ruf. So weit konnte es immer noch kommen, dachte Tom, wenn der Detektiv auf die Idee kam, seinen Wohnsitz ausfindig zu machen, und dann erfuhr, daß ein Junge im Hause Rip ley gewohnt hatte. Andererseits: wer in Villeperce wußte das schon außer Madame Annette. Und Tom hatte ja auch keinerlei Forderungen gestellt. Sie nahmen ein Taxi bis zur Garage und waren kurz nach sechs wieder in Belle Ombre. Heloise war oben und wusch sich das Haar, und Tom wußte, dazu brauchte sie noch zwanzig Minuten mit dem Fön. Umso besser, denn er wollte es noch einmal mit Frank versuchen. Der Junge hatte sich ins Wohnzimmer gesetzt und betrachtete eine französische Zeitschrift. »Willst du nicht Teresa mal anrufen und ihr sagen, daß es dir gut geht?« fragte Tom mit munterer Stimme. »Du brauchst ihr ja nicht zu sagen, wo du bist. Daß du in Frankreich bist, wird sie ohnehin schon wissen.« 149
Beim Namen Teresa richtete sich der Junge ein wenig auf. »Ich glaube, Sie – Sie möchten, daß ich verschwin de. Das kann ich verstehen.« Frank erhob sich. »Wenn du in Europa bleiben willst, kannst du das ja tun. Das ist deine Sache. Aber du wirst glücklicher sein, wenn du mal mit Teresa sprichst und ihr sagst, daß es dir gut geht. Meinst du nicht? Glaubst du nicht, sie macht sich Sorgen?« »Kann sein. Hoffentlich.« »In New York ist jetzt Mittag. Sie ist doch in New Y ork? Du mußt erst eins-neun-eins wählen und dann zweieins-zwei. Ich geh nach oben, da hör ich kein Wort.« Tom machte eine Handbewegung zum Telefon hin und ging zur Treppe. Tom wußte, der Junge würde es tun. Tom ging nach oben in sein Zimmer und machte die Tür zu. Nicht ganz drei Minuten später klopfte der Junge an Toms Tür. Auf Toms Herein trat er ein und sagte: »Sie ist aus – Tennis spielen.« Er verkündete das, als sei es eine sehr schlimme Nachricht. Frank konnte sich wohl nicht vorstellen, daß Teresa sich so wenig aus ihm machte, daß sie Tennis spielen ging, dachte Tom; und der Schmerz wurde noch dadurch verschlimmert, daß sie mit einem Jungen Tennis spielte, den sie lieber hatte als Frank. »Hast du mit ihrer Mutter gesprochen?« »Nein, mit dem Mädchen – Louise. Ich kenne sie. Sie hat gesagt, ich soll in einer Stunde nochmal anrufen. Louise sagte, sie sei mit ein paar Jungens ausgegan gen.« Der letzte Satz klang nach schmerzerfüllten Anfüh rungsstrichen. »Hast du gesagt, daß bei dir alles in Ordnung ist?« »Nein«, sagte der Junge nach kurzem Nachdenken. »Warum auch? Es wird sich schon so angehört haben.« 150
»Von hier kannst du nicht nochmal anrufen, fürchte ich«, sagte Tom. »Wenn das – wenn Louise es erwähnt, wird die Familie vielleicht den Anrufsort herausfinden las sen, wenn du zurückrufst. Jedenfalls ist mir das zu ris kant. Das Postamt in Fontainebleau ist jetzt geschlossen, sonst würde ich dich hinfahren. Ich glaube, heute abend kannst du Teresa nicht mehr erreichen, Billy.« Tom hatte gehofft, daß der Junge Teresa heute abend erreichen würde und daß sie vielleicht etwas sagte wie: ›Oh, Frank, geht es dir gut? Du fehlst mir! Wann kommst du wieder?‹ »Ich verstehe«, sagte der Junge. »Billy«, sagte Tom fest, »du mußt dich entscheiden, was du tun willst. Du wirst nicht verdächtigt. Es wird keine Anklage erhoben. Susie zählt doch anscheinend so gut wie gar nicht, weil sie nichts gesehen hat. Wovor also hast du Angst? Darüber mußt du dir klar werden.« Frank verlegte das Gewicht auf den anderen Fuß und schob die Hände in die hinteren Hosentaschen. »Vor mir selber, glaube ich – das sagte ich schon.« Tom wußte es. »Was würdest du tun, wenn ich nicht hier wäre?« Der Junge zuckte die Achseln. »Vielleicht mich um bringen. Vielleicht am Piccadilly übernachten. Da sitzen doch so viele um den Springbrunnen herum und die Sta tue. Ich würde Johnnys Paß an ihn zurückschicken, und dann – ich weiß nicht, was ich dann täte – bis mich je mand anhielte. Dann würden sie mich nach Hause schi cken –« Erneutes Achselzucken. »Und dann weiß ich nicht. Gestehen würde ich vielleicht nie –« er hatte das Wort betont, aber er sprach im Flüsterton. »Vielleicht würd ich mich umbringen, nach ein paar Wochen. Und da ist noch Teresa. Ich weiß nicht weiter, zugegeben – wenn da irgendwas schief geht – wenn da schon was schief
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gegangen ist – Sie kann mir ja nicht schreiben. Es ist ein fach schrecklich.« Tom verzichtete auf die Bemerkung, daß Frank sich vermutlich noch in siebzehn andere Mädchen verlieben werde, bevor er die eine fand, die er dann schließlich hei ratete. Mittwoch kurz nach Mittag war Tom freudig über rascht, als ein Anruf von Reeves kam. Die fragliche Sa che werde heute am späten Abend fertig sein und mor gen um Mittag in Paris ankommen. Wenn Tom in Eile war und es selber abholen wollte, könnte er in Paris in eine bestimmte Wohnung gehen; sonst konnte es ihm von Paris aus eingeschrieben zugeschickt werden. Tom woll te es lieber abholen. Reeves gab ihm eine Adresse und einen Namen, dritter Stock. Tom bat ihn um die Telefon nummer dort, falls er sie brauchte, und auch die gab ihm Reeves. »Sehr prompte Arbeit, Reeves, ich danke dir.« Es hät te auch genügt, dachte Tom, wenn man es in Hamburg eingeschrieben abgeschickt hätte. Immerhin, durch die Lieferung per Flug wurde ein Tag gespart. »Zweitausend für dieses kleine Geschäft, wenn´s dir recht ist, Tom. Dollars«, sagte Reeves in seiner kräch zenden Altmännerstimme, obgleich er noch nicht vierzig war. »Nicht zu viel – es war nämlich nicht ganz einfach, sozusagen ein neuer, weißt du. Und ich denke, dein Freund kann sich´s leisten, was?« Reeves´ Ton war a müsiert und freundlich. Tom begriff. Reeves hatte Frank Pierson erkannt. »Ich kann hier nicht mehr reden«, sagte Tom. »Ich schick´s dir so wie immer, Reeves.« Tom meinte, durch einen Auftrag an seine Schweizer Bank. »Bist du in den nächsten Ta gen zu Hause?« Tom hatte weiter keine Pläne, aber er
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wollte es wissen. Reeves konnte außerordentlich hilfreich sein. »Ja, warum? Willst du herkommen?« »N-nein«, sagte Tom vorsichtig, immer auf der Hut, falls seine Leitung abgehört würde. »Du bleibst, wo du bist.« Tom nahm an, Reeves wußte, daß er Frank Pierson bei sich hatte, wenn nicht unter seinem Dach, dann wo anders. »Was ist denn los? Kannst du´s jetzt nicht sagen, was?« »Nein, kann ich jetzt nicht. Vielen Dank, Reeves.« Sie legten auf. Tom ging an die Glastür und sah Frank in seinen Levis und dem dunkelblauen Arbeitshemd, wie er mit dem Spaten den Rand eines langen Rosenbeets bearbeitete. Er arbeitete langsam und stetig, wie ein Bauer, der wußte was er tat, nicht wie ein Anfänger, der fünfzehn Minuten lang schnell und mit aller Kraft losge legt hätte und dann erschöpft gewesen wäre. Merkwür dig, dachte Tom. Vielleicht betrachtete der Junge die Ar beit als eine Art Sühne? Gestern und heute hatte Frank seine Zeit mit Lesen, Musikhören und verschiedenen Ar beiten wie Wagenwaschen und Keller-Ausfegen zuge bracht, was mit dem Verschieben und Zurückstellen von ziemlich schweren Weingestellen verbunden gewesen war. Die Arbeiten hatte sich Frank selber ausgedacht. Sollten sie vielleicht nach Venedig fahren, überlegte Tom. Ein Szenenwechsel würde den Jungen vielleicht aufrütteln, zu einer Entscheidung kommen lassen, dann könnte Tom ihn in Venedig in ein Flugzeug nach New York setzen und darauf nach Hause fahren. Oder Ham burg? Das wäre dasselbe. Nur wollte Tom Reeves nicht damit behelligen, Frank Pierson bei sich aufzunehmen, und im Grunde hatte er selber auch keine Lust, sich noch 153
lange um ihn zu kümmern. Vielleicht würde Frank jetzt mit dem neuen Paß wieder Mut fassen und von selber fortgehen und sein privates Abenteuer auf eigene Art zu Ende bringen. Donnerstag mittag rief Tom die Pariser Telefonnum mer in der Rue du Cirque an, und eine Frau meldete sich. Sie sprachen französisch. »Hier ist Tom.« »Ah oui. Ich denke, es ist alles in Ordnung. Kommen Sie heute nachmittag her?« Sie sprach nicht wie ein Dienstmädchen, sondern wie die Frau des Hauses. »Ja, wenn das recht ist. Ungefähr halb vier?« Das wäre in Ordnung. Tom sagte Heloise, er werde schnell mal nach Paris fahren und sich mit ihrem Bankmanager unterhalten; zwischen fünf und sechs werde er zurück sein. Tom hatte nicht etwa sein Konto überzogen, aber einer der Mana ger der Morgan Guarantee Trust gab ihm manchmal ei nen Rat hinsichtlich des Wertpapiermarktes, unwichtig und ganz allgemein, fand Tom, denn er ließ seine Papie re lieber ruhen, anstatt Zeit mit riskanten Börsenspekula tionen zu verlieren. Jedenfalls war Toms Vorwand gut genug, denn Heloises Gedanken waren heute nachmit tag bei ihrer Mutter. Die Mutter, eine jugendliche Fünfzi gerin, die nicht zu Krankheiten neigte, mußte ins Kran kenhaus zu einer Untersuchung, die vielleicht eine Tu moroperation zur Folge haben würde. Tom meinte, Ärzte bereiteten einen immer auf das Schlimmste vor. »Sie sieht glänzend aus. Sag ihr, ich wünsche ihr alles Gute, wenn du mit ihr sprichst«, sagte Tom. »Billy fährt mit dir?« »Nein, er bleibt hier. Er will noch ein paar kleine Arbei ten erledigen – für uns.«
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In der Rue du Cirque gelang es Tom, eine freie Park uhr zu finden; dann ging er zu dem Haus, einem guter haltenen alten Gebäude, wo man wie üblich an der Haus tür auf den Knopf drücken mußte. Die Tür öffnete sich, das Treppenhaus oder Foyer hatte eine Pförtnerloge mit Tür, doch damit hielt sich Tom nicht weiter auf. Er nahm den Fahrstuhl zum dritten Stock und klingelte links, wo ›Schuyler‹ stand. Eine hochgewachsene Frau mit dichtem rotem Haar öffnete die Tür einen Spalt. »Tom.« »Ah – kommen Sie herein. Hier, bitte.« Sie führte ihn in ein Wohnzimmer auf der gegenüberliegenden Seite der Diele. »Ich glaube, Sie kennen sich.« Im Wohnzimmer stand Eric Lanz, lächelnd und mit den Händen auf den Hüften. Ein Kaffeetablett stand auf ei nem niedrigen Tisch vor einem Sofa. »Hallo, Tom. Ja, da bin ich wieder. Wie geht´s Ihnen?« »Danke, ganz gut. Und Ihnen?« Auch Tom lächelte überrascht. Die rothaarige Frau war hinausgegangen. Aus einem anderen Zimmer der Wohnung kam das leise Brummen von Nähmaschinen. Was ging hier vor? dachte Tom. Vielleicht noch ein Hehlerlager, wie Reeves´ Wohnung in Hamburg? Mit Schneiderinnentarnung? »Und hier hätten wir´s«, sagte Eric Lanz und öffnete eine beige Pappmappe, die mit Bändern zugebunden war. Zwischen anderen, dickeren Umschlägen zog er einen weißen Umschlag hervor. Tom nahm den Umschlag und blickte über die Schul ter, bevor er ihn öffnete. Niemand sonst war ins Zimmer gekommen. Der Umschlag war nicht verschlossen, und Tom fragte sich, ob Eric den Paß schon betrachtet hatte? Vielleicht. Tom wollte ihn eigentlich nicht gern in Erics 155
Gegenwart ansehen, gleichzeitig aber wollte er wissen, ob Hamburg gute Arbeit geleistet hatte. »Ich denke, Sie werden sich freuen«, sagte Eric. Franks Paßbild trug den amtlichen erhabenen Stem pel, dazu PHOTOGRAPH ATTACHED DEPARTMENT OF STATE PASSPORT AGENCY NEW YORK, teils auf dem Foto, teils unterhalb. BENJAMIN GUTHRIE ANDREWS war der Name, geboren in New York; Größe, Gewicht und Geburtsdatum entsprachen Franks Daten ganz gut. Nach dem Geburtsdatum war er jetzt allerdings siebzehn. Unwichtig. Tom, der Erfahrung hatte, fand die Sache gelungen; man konnte wohl nur mit einem Ver größerungsglas feststellen, daß der erhabene Stempel auf dem Foto sich nicht völlig deckte mit dem Stempel auf dem Papier. Oder doch? Tom wußte es nicht. Nach der ersten Seite stand die volle Adresse, anscheinend die der Eltern in New York. Der Paß war etwas mehr als fünf Monate alt und enthielt Einreisestempel von Heath row, dann Frankreich, dann Italien, dort hatte der Inhaber wohl das Pech gehabt, ihn loszuwerden. Für den jetzigen Aufenthalt lag kein französischer Einreisestempel vor, aber wenn an der Paßkontrolle niemand bei Franks Er scheinen Verdacht schöpfte, dann sah sich kein Mensch die Ein- und Ausreisestempel näher an, das wußte Tom. »Sehr gut«, sagte Tom schließlich. »Fehlt nur noch die Unterschrift, quer über das Foto.« »Wissen Sie zufällig, ob der Name geändert wurde, oder wird der richtige Benjamin Andrews vielleicht nach seinem Paß suchen?« Tom hatte beim maschinenge schriebenen Namen auf der ersten Innenseite keine Ra dierspuren festgestellt, und der Rest der früheren Unter schrift neben dem Foto war sorgfältig entfernt worden. »Der ist geändert worden, der Familien-Name, das sagte mir Reeves. – Tasse Kaffee? Der hier ist alle, aber 156
ich kann das Mädchen bitten, noch welchen zu machen.« Eric Lanz wirkte schlanker, sogar aus einer sozial geho beneren Schicht, als wie ihn Tom vor drei Tagen gese hen hatte – als wäre er ein Wundermann, der eine Ver wandlung durch reines Denken hervorbringen konnte. Er trug jetzt die Hose eines dunkelblauen Sommeranzugs, ein gutes weißseidenes Hemd und die Schuhe, die Tom wiedererkannte. »Setzen Sie sich, Tom.« »Danke – ich habe zu Hause gesagt, ich käme bald wieder. – Sie reisen ziemlich viel, scheint mir.« Eric lachte – rosige Lippen, weiße Zähne. »Reeves hat immer Arbeit für mich. Auch Berlin. Diesmal verkaufe ich Hi-Fi-Zubehör«, sagte er etwas leiser mit einem Blick auf die Tür hinter Tom. »Sagt man. Haha! Wann kommen Sie mal nach Berlin?« »Keine Ahnung. Keine Pläne.« Tom hatte den Paß wieder in den Umschlag zurückgesteckt; er machte eine Handbewegung damit, bevor er ihn in die Innentasche seines Jacketts schob. »Ich habe mit Reeves vereinbart, daß ich das mit ihm erledige.« »Ich weiß.« Eric zog jetzt eine Brieftasche aus seiner blauen Jacke, die auf dem Sofa lag, nahm eine Karte heraus und reichte sie Tom. »Wenn Sie je in Berlin sind – ich würde mich freuen, Sie zu sehen, Tom.« Tom warf einen Blick auf die Karte. Niebuhrstraße. Tom wußte nicht, wo das war, aber es war in Berlin. Mit Telefonnummer. »Danke. – Sie kennen Reeves schon lange?« »Ach – zwei oder drei Jahre, ja.« Wieder lächelte der sympathische rosige Mund. »Viel Glück, Tom – auch für Ihren Freund!« Er brachte Tom an die Tür. »Wiederse hen!« sagte Eric auf Deutsch leise, aber deutlich. Tom ging hinunter zum Wagen und fuhr nach Hause. Berlin, überlegte Tom. Keineswegs wegen Eric Lanz, 157
falls er überhaupt je zu Hause war, sondern weil Berlin nicht allzu sehr überlaufen war von Touristen. Wenn Frank sich noch ein paar Tage länger verborgen halten wollte, war Berlin vielleicht das Richtige für ihn. Venedig war attraktiver und schöner, aber es war auch ein Ort, wo Johnny und der Detektiv sich auf ihrer Suche ein paar Tage aufhalten mochten. Was Tom vermeiden wollte, war, daß die beiden bei ihm in Villeperce an die Tür klopften.
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»Benjamin. Ben. Der Name gefällt mir«, sagte Frank. Jetzt strahlte er, als er, auf dem Bettrand sitzend, seinen neuen Paß betrachtete. »Hoffentlich macht er dir Mut«, sagte Tom. »Der hat was gekostet, das weiß ich. Sie können mir sagen wieviel, und wenn ich´s nicht jetzt – erledigen kann, dann kann ich´s später.« »Zweitausend Dollar. – Jetzt bist du frei. Laß dein Haar weiter wachsen. Du mußt den Paß unterschreiben, quer über das Foto, weißt du.« Tom ließ ihn den ganzen Namen auf einem Blatt Schreibmaschinenpapier auspro bieren. Die Handschrift war ziemlich hastig und eckig. Tom wies ihn an, das große B von Benjamin abzurunden, und ließ ihn den ganzen Namen noch drei- oder viermal schreiben. Schließlich unterschrieb der Junge mit einem von Toms schwarzen Kugelschreibern. »Wie ist das?« Tom nickte. »All right. Denk dran, wenn du irgendwas anderes unterschreibst – laß dir Zeit, dann wird das Gan ze flüssig.« Es war nach dem Dinner. Heloise hatte etwas im Fernsehen ansehen wollen, und Tom hatte den Jungen gebeten, mit ihm nach oben zu kommen. Der Junge sah Tom an, er blinzelte hastig. »Würden Sie mitkommen, wenn ich irgendwohin gehe? Ich meine, in eine andere Stadt?« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich weiß, es war eine Belastung, mich hier zu haben – mich zu verstecken. Wenn Sie mit mir in ein anderes Land kämen, könnten Sie mich einfach dalas sen.« Er schien plötzlich verzagt, blickte zum Fenster und dann wieder zu Tom hinüber. »Es wäre so schrecklich, 159
von hier fortzugehen, von Ihrem Haus. Aber ich könnte schon, nehme ich an.« Er reckte sich, wie um zu zeigen, daß er auf eigenen Füßen stehen konnte. »Wo möchtest du denn hin?« »Venedig. Vielleicht Rom. Die sind groß genug, da kann man sich verlieren.« Tom lächelte. Italien war ein idealer Boden für Kidnap per. »Jugoslawien? Gefällt dir das weniger?« »Mögen Sie Jugoslawien?« »Ja«, sagte Tom, doch nicht in einem Ton, der besag te, er würde jetzt gern hinfahren. »Nach Jugoslawien. Aber Venedig oder Rom würde ich dir nicht raten, wenn du noch eine Weile frei sein willst. Berlin wäre auch noch eine Möglichkeit. Abseits vom großen Touristenstrom.« »Berlin. Da bin ich noch nie gewesen. Würden Sie mit mir nach Berlin kommen? Bloß für ein paar Tage?« Die Idee war ganz attraktiv, denn Tom fand Berlin inte ressant. »Wenn du versprichst, nach Berlin dann nach Hause zu fahren«, sagte Tom ruhig und fest. Wieder lächelte Frank, ein so breites Lächeln wie bei dem Empfang des neuen Paßes. »Schön, das verspre che ich.« »Okay, wir fahren nach Berlin.« »Kennen Sie Berlin?« »Ich bin dagewesen – zweimal, glaube ich.« Tom fühl te sich plötzlich freudig erregt. Berlin wäre gerade richtig für drei, vier Tage, es würde sogar Spaß machen, und er würde den Jungen an sein Versprechen erinnern, von dort nach Hause zu fahren. Vielleicht war es gar nicht nötig, ihn daran zu erinnern. »Wann wollen wir fahren?« fragte Frank. »Je eher, desto besser. Morgen vielleicht. Ich werde mich morgen früh in Fontainebleau um die Flugkarten kümmern.« 160
»Etwas Geld hab ich noch.« Dann änderte sich der Gesichtsausdruck des Jungen. »Aber nicht viel, glaube ich – nur ungefähr fünfhundert Dollar in Francs.« »Das Geld laß nur – wir rechnen dann später ab. Und jetzt Gute Nacht. Ich will noch runtergehen und mit Heloi se reden. Du kannst natürlich auch wieder runterkom men, wenn du Lust hast.« »Danke schön – ich denke, ich werde an Teresa schreiben.« Frank sah glücklich aus. »All right, aber wir werfen es morgen in Düsseldorf ein, nicht hier.« »In Düsseldorf?« »Bei unserem Flug nach Berlin müssen wir in Düssel dorf oder Frankfurt zwischenlanden, und ich nehme im mer lieber Düsseldorf als Frankfurt, weil man dort nicht umzusteigen braucht, man muß nur ein paar Minuten raus aus der Maschine. Pässe. Noch etwas sehr Wichti ges: sag Teresa nicht, daß du nach Berlin fährst.« »All right.« »Sie würde es vielleicht deiner Mutter erzählen, und ich nehme an, du willst in Berlin in Ruhe gelassen wer den. Aus dem Düsseldorfer Poststempel wird sie sehen, daß du in Deutschland bist, aber sag ihr lieber – du gehst nach Wien. Was meinst du?« »Ja, Sir.« Frank hörte sich an wie ein eben beförderter Soldat, der freudig Befehle entgegennimmt. Tom ging nach unten. Heloise lag auf dem Sofa und sah eine Nachrichtensendung an. »Sieh mal«, sagte sie, »wie können die sich immer weiter umbringen?« Eine rhetorische Frage. Tom blickte abwesend auf den Bildschirm: man sah ein Etagenhaus, das in die Luft ge jagt wurde, rote und gelbe Flammenzungen, einen Eisen träger, hochgeschleudert in die Luft. Wahrscheinlich war es der Libanon. Vor ein paar Tagen war es ein Bus mit 161
israelischem Flugpersonal gewesen, der vor dem Hotel in die Luft gesprengt worden war. Und morgen die Welt, dachte Tom. Er dachte daran, daß Heloise bis morgen früh um zehn vielleicht eine Nachricht von ihrer Mutter hatte. Hoffentlich machten die Kliniktests keine Operation notwendig. Tom hatte vor, noch vor zehn nach Fontaine bleau zu fahren, die Flugtickets zu besorgen und zu He loise zu sagen, es handle sich um eine ganz dringende Angelegenheit für Reeves Minot, von der er telefonisch in der Nacht erfahren hätte. Irgend sowas. In Heloises Zimmer war kein Telefon, und bei geschlossener Tür konnte sie das Telefon in seinem Zimmer oder im Wohn zimmer unten nicht hören. Auf dem Bildschirm kamen immer neue Schreckensmeldungen, und Tom verschob alles, was mit Heloise zu besprechen war. Bevor er abends schlafen ging, klopfte Tom an Franks Tür und gab ihm ein paar Broschüren über Berlin und einen Stadtplan. »Interessiert dich vielleicht. Sagt auch einiges über die politische Situation und so.« Am nächsten Morgen zur Frühstückszeit hatte Tom seine Pläne etwas geändert. Sein eigenes Ticket wollte er in einem Reisebüro in Moret besorgen und wegen Franks Ticket den Flughafen anrufen. Er sagte Heloise, Reeves habe ihn frühmorgens angerufen und wolle, daß er sofort nach Hamburg komme, wo seine Anwesenheit und sein Rat bei einer Kunst-Transaktion notwendig wären. »Ich habe heute morgen mit Billy gesprochen. Er will gern mitkommen nach Hamburg«, sagte Tom, »und von da aus will er dann nach Amerika zurückfahren.« Tom hatte ihr erzählt, daß Billy sich am Montag in Paris noch nicht entschieden habe, wohin er wolle.
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Heloise war sichtlich erfreut – wie Tom es sich ge dacht hatte –, daß der Junge mit Tom gehen würde. »Und du – wann bist du wieder zurück?« »Ach – in drei Tagen, würde ich sagen. Vielleicht Sonntag, Montag.« Tom war angezogen und nahm im Wohnzimmer noch eine zweite Tasse Kaffee und Toast. »Ich fahre in ein paar Minuten los, wegen der Flugtickets. Und ich hoffe, du hast bis zehn gute Nachrichten, Dar ling.« Heloise sollte um zehn einen Arzt in einer Pariser Kli nik anrufen, wegen ihrer Mutter. »Merci, chéri.« »Ich habe das Gefühl, daß alles in Ordnung ist mit deiner Mutter.« Es war Tom Ernst damit, weil ihre Mutter sehr gesund aussah. Jetzt sah Tom, daß Henri, der Gärtner, gekommen war – obwohl heute weder Dienstag noch Donnerstag, sondern Freitag war – und sich träge daran machte, große Metallkrüge mit Regenwasser aus dem Tank am Treibhaus zu füllen. »Henri ist da. Das ist schön!« »Ich weiß. – Tome – es ist doch nichts Gefährliches, das mit Hamburg?« »Nein, Liebes. Reeves weiß, daß ich von einem Buckmaster-Verkauf weiß, der so ähnlich ist wie der in Hamburg. Und für Billy ist es auch nett, von da aus abzu fliegen. Ich kann ihm die Stadt ein bißchen zeigen. Was Gefährliches mache ich nie.« Tom lächelte und dachte an Schießereien, und in sowas – fand er – war er nie verwickelt gewesen, er erinnerte sich aber auch an einen Abend in Belle Ombre, wo damals ein, zwei MafiaLeichen auf dem Marmorboden hier im Wohnzimmer ge legen hatten; das Blut hatte Tom mit Madame Annettes kräftigen grauen Putztüchern aufwischen müssen. Das hatte Heloise nicht gesehen. Trotzdem, das war keine Schießerei gewesen. Die Mafiosi hatten zwar Schußwaf 163
fen gehabt, aber dem einen hatte Tom ein Holzscheit über den Kopf geschlagen. Tom dachte nicht gern daran. Von seinem Zimmer aus rief Tom in Roissy an und er fuhr, auf dem Air France-Flug um drei Uhr fünfundvierzig nachmittags seien noch Plätze frei. Er buchte einen Flug für Benjamin Andrews, das Ticket würde am Flughafen abgeholt werden. Dann fuhr er nach Moret und buchte seinen Hin- und Rückflug auf den eigenen Namen. Als er zurückkam, sagte er Frank Bescheid. Sie wollten das Haus etwa um ein Uhr verlassen und nach Roissy fah ren. Tom war froh, daß Heloise nicht nach Reeves´ Ham burger Telefonnummer fragte. Er hatte sie ihr bestimmt schon einmal bei einer anderen Gelegenheit gegeben, aber vielleicht hatte sie sie verlegt. Wenn sie sie fand und Reeves anrief, so wäre das peinlich; Tom dachte, er soll te wohl Reeves anrufen, sobald er in Berlin war. Aus ir gendeinem Grund wollte Tom es nicht jetzt tun. Frank war beim Packen. Und Tom ließ die Augen über sein Haus wandern, als wäre es ein Schiff, das er bald verlas sen würde, obgleich das Haus bei Madame Annette in guten Händen war. Nur drei oder vier Tage? Das war gar nichts. Tom hatte vorgehabt, den Renault zu nehmen und ihn in der Garage in Roissy stehen zu lassen, aber Heloise wollte sie hinfahren oder sie jedenfalls begleiten, und zwar in dem Mercedes, der jetzt wieder gut lief. So lenkte also Tom den Mercedes zum Flughafen Charles de Gaulle in Roissy und dachte, wie bequem und günstig der Flughafen in Orly gewesen war noch vor einem Jahr oder so, zwischen Villeperce und Paris gelegen, bis sie dann den Flughafen Roissy nördlich von Paris eröffnet hatten und alle Starts nach dort verlegten, selbst die Flü ge nach London.
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»Heloise – ich danke Ihnen dafür, daß Sie mich so vie le Tage beherbergt haben«, sagte Frank auf Franzö sisch. »Ein Vergnügen, Billy! Sie haben uns so viel geholfen – im Garten und im Haus. Ich wünsche Ihnen alles Gu te!« Sie streckte die Hand durch das offene Wagenfens ter und küßte – zu Toms Überraschung – Frank, als er sich zu ihr beugte, auf beide Wangen. Frank grinste verlegen. Heloise fuhr ab, und Tom und Frank gingen mit ihrem Gepäck in die Abflughalle. Heloises liebevoller Abschied erinnerte Tom daran, daß sie ihn nie gefragt hatte, was er dem Jungen für seine Arbeit bezahle. Gar nichts. Tom war überzeugt, der Junge hätte nichts angenommen. Heute morgen hatte Tom dem Jungen fünftausend Francs gegeben, das war der Höchstbetrag, den man aus Frankreich mitnehmen durfte, und Tom hatte den gleichen Betrag mitgenommen, obgleich er bei der Aus reise noch nie von den Franzosen durchsucht worden war. Wenn ihnen in Berlin das Geld ausging, was nicht wahrscheinlich war, dann konnte Tom sich telegrafisch Geld von einer Bank in Zürich kommen lassen. Jetzt sag te er zu Frank, er solle an den Air France-Schalter gehen und sein Ticket abholen. »Benjamin Andrews, Flug sieben-acht-neun«, ermahn te ihn Tom. »Und auf dem Flug sitzen wir nicht zusam men. Sieh mich nicht an. Wir sehen uns in Düsseldorf, vielleicht, und sonst in Berlin.« Er wollte zur Gepäckan nahme gehen und merkte, daß er zögerte, weil er sehen wollte, ob Frank sein Ticket ohne Schwierigkeiten bekam. Eine oder zwei Personen waren noch vor Frank dran, dann stand der Junge am Schalter, und Tom sah das Mädchen etwas kritzeln und Geld in Empfang nehmen, und er wußte, es war alles in Ordnung. 165
Tom lieferte seinen Koffer ab und ging dann an eine der nach oben gleitenden Rolltreppen, die ihn zum Gate Nummer sechs brachte. Diese Gates, die in England und überall sonst einfach Gates heißen, wurden hier absurd erweise »Satelliten« genannt, als ob sie, getrennt von dem eigentlichen Airport, um ihn herum durch die Luft wirbelten. In der letzten Halle, wo Rauchen erlaubt war, zündete sich Tom eine Zigarette an und musterte die an deren Passagiere, fast alles Männer, einer schon verbor gen hinter einer Frankfurter Allgemeinen. Tom war unter den ersten, die an Bord gingen. Er hatte sich nicht umge sehen, ob Frank überhaupt in die Lounge gekommen war. Tom machte es sich auf seinem Platz in der Rau cherabteilung bequem, schloß halb die Augen und blickte zu den Passagieren, die mit Aktenkoffern den Gang ent lang klapperten. Frank sah er nicht. In Düsseldorf wurde verkündet, die Passagiere könn ten ihr Handgepäck an Bord lassen, aber alle mußten aussteigen. Wie Schafe wurden sie einem nicht sichtba ren Bestimmungsort zugetrieben, doch Tom war schon einmal hier gewesen und wußte, das Ziel war nichts Schlimmeres als eine Paßkontrolle mit Stempel. Dann kam ein kleiner Warteraum, wo sie ebenfalls hineinge trieben wurden, und Tom sah, wie Frank mit jemandem wegen einer Briefmarke für seinen Brief an Teresa ver handelte. Tom hatte vergessen, dem Jungen etwas von dem Papiergeld und den Münzen zu geben, die Tom bei früheren Reisen übrigbehalten hatte und bei sich in der Tasche trug; aber die Deutsche lächelte jetzt, offenbar akzeptierte sie Franks französisches Geld, und der Brief ging in ihre Hand über. Tom bestieg die Maschine nach Berlin. Tom hatte zu Frank gesagt: »Der Flughafen in Berlin-Tegel wird dir bestimmt gefallen.« Tom hatte ihn gern, weil es ein Flughafen von menschlichem Maß war: 166
kein Firlefanz, kaum Rolltreppen, keine DreifachPlattformen oder Chromteile, nur eine überwiegend gelb gestrichene Empfangshalle mit einem runden KaffeebarTresen in der Mitte und einem gut sichtbaren WC, zu dem man nicht einen Kilometer weit laufen mußte. Tom wartete mit seinem Koffer nahe dem runden Erfrischungs-Tresen und nickte Frank zu, als er ihn kommen sah, aber Frank hielt sich offenbar so strikt an die Anwei sungen, daß er Tom nicht ansah. Tom mußte ihn anhal ten. »Na sowas – daß wir uns hier treffen!« sagte Tom. »Guten Tag, Sir«, sagte Frank lächelnd. Die etwa vierzig Passagiere, die in Berlin ausgestie gen waren, schienen auf kaum ein Dutzend geschrumpft zu sein, was wohltuend zu sehen war. »Ich werde mal was unternehmen wegen Hotelzim mern«, sagte Tom. »Warte hier mit dem Gepäck.« Tom ging zu einer Telefonzelle ein paar Meter entfernt, suchte in seinem kleinen Adressbuch die Nummer des Hotels Franke heraus und wählte. Tom hatte in diesem Mittel klassehotel einmal einen Bekannten besucht und hatte sich die Adresse notiert für den Fall, daß er sie später mal brauchte. Ja, man könne ihm zwei Zimmer anbieten, sagte das Hotel Franke. Tom buchte sie unter seinem Namen und sagte, er werde in etwa einer halben Stunde kommen. Die paar Leute, die in der freundlichen Flugha fenhalle noch übrig waren, erschienen Tom so harmlos, daß er mit dem Jungen zusammen ein Taxi riskierte. Ihr Ziel war die Albrecht-Achilles-Straße, eine Neben straße des Kurfürstendamms. Zuerst fuhren sie – kilome terweit, wie es schien – durch Flachland, vorüber an La gerhäusern, Feldern und Scheunen, dann begann all mählich die Stadt: einige ganz neu aussehende Gebäu de, beige und cremefarbene Hochhäuser, hier und da 167
etwas Chrom auf antennenartigen Turmspitzen. Sie ka men vom Norden und fuhren auf Toms Wunsch den Kur fürstendamm entlang bis zur Kaiser-WilhelmGedächtniskirche. Langsam und unbehaglich wurde Tom sich des taschenartigen, inselartigen Gebildes bewußt, das West-Berlin hieß und von sowjetisch kontrolliertem Gebiet umgeben war. Nun, sie waren innerhalb der Mau er und standen zumindest jetzt unter dem Schutz von französischem, amerikanischem und britischem Militär. Ein verwitterter Bau ließ Toms Herz höher schlagen, was ihn selber überraschte. »Das ist die Gedächtniskirche!« sagte Tom fast mit Besitzerstolz zu Frank. »Sehr wichtiges Wahrzeichen. Zerbombt, wie du siehst, aber sie haben sie so gelassen, wie sie war.« Das Taxi wendete. Frank blickte aus dem offenen Fenster – verzückt, fast als sei dies Venedig, dachte Tom, und Berlin war ja auf seine Weise ebenso einzigartig. Der zerbrochene schiefergraue Turm der Gedächtnis kirche blieb hinter ihnen zurück; dann sagte Tom: »Hier herum war alles dem Erdboden gleich, was du siehst. Deshalb sieht jetzt alles so neu aus.« »Ja, kaputt war´s!« sagte der Fahrer, ein Mann mittle ren Alters, auf Deutsch. »Sind Sie Touristen? Zum Ver gnügen hier?« »Ja«, sagte Tom. Er freute sich, daß der Fahrer zum Reden aufgelegt war. »Wie ist denn das Wetter?« »Gestern hat´s geregnet, heute so wie jetzt.« Es war bedeckt, regnete aber nicht. Sie fuhren schnell den Kurfürstendamm entlang Richtung Lehniner Platz und hielten, als die Ampel Rot zeigte. »Sieh mal, wie neu die Läden alle sind«, sagte Tom zu Frank. »Ich bin nicht so begeistert vom Ku´damm.« Er dachte an seine erste Reise nach Berlin, allein, als er 168
den langen geraden Kurfürstendamm auf- und abspaziert war und vergeblich versucht hatte, eine Atmosphäre zu spüren, die nicht zu finden war in hübschen Schaufens tern oder Chrom- und Glasschaukästen, in denen Porzel lan und Armbanduhren und Handtaschen ausgestellt wa ren. Kreuzberg, der etwas verwahrloste alte Stadtteil von Berlin, wo jetzt so viele Türken wohnten, hatte viel mehr Persönlichkeit. Der Fahrer bog nach links in die Brandenburgische Straße; die Pizzeria an der Ecke kannte Tom noch, dann kam rechts ein Supermarkt, der jetzt geschlossen war. Das Hotel Franke stand links an der Kreuzung mit der Albrecht-Achilles-Straße. Tom bezahlte den Fahrer mit einem Teil seines restlichen deutschen Gelds; er hatte noch fast sechshundert Mark. Beide füllten kleine weiße Karten aus, die der Emp fangschef ihnen gab, und sahen in ihrem Paß die richti gen Nummern nach. Ihre Zimmer lagen auf dem gleichen Flur, aber nicht nebeneinander. Tom hatte nicht in dem eleganteren Palace Hotel bei der Gedächtniskirche woh nen wollen, weil er dort früher einmal abgestiegen war und dachte, sie würden sich vielleicht an ihn erinnern und bemerken, daß er einen halbwüchsigen Jungen bei sich hatte, der mit ihm nicht verwandt war. Was sie daraus schließen würden – selbst hier im Hotel Franke – war Tom egal, aber er dachte, in einem bescheidenen Hotel wie dem Franke sei es weniger wahrscheinlich, daß man Frank Pierson erkannte. Tom hängte eine Hose auf, schlug die Bettdecke zu rück und warf seinen Pyjama auf das weiße, mit Knopfla ken versehene federgefüllte Oberbett, das sowohl als Laken wie als Zudecke diente: ein deutsches System, das Tom von früher her kannte. Die Aussicht aus seinem Fenster war bleiern langweilig; man sah einen fadgrauen 169
Hof, im rechten Winkel einen weiteren sechsstöckigen Betonbau, und in der Ferne ein paar Baumwipfel. Tom war auf einmal unerklärlich froh zumute, er hatte ein Ge fühl der Freiheit, das vielleicht illusorisch war. Er schob sein Paßfutteral mit den französischen Francs auf den Boden seines Koffers, schloß den Kofferdeckel, ging hin aus und schloß die Tür ab. Er hatte zu Frank gesagt, er werde ihn in fünf Minuten abholen. Tom klopfte an Franks Tür. »Tom? – Herein.« »Ben!« sagte Tom und lächelte. »Wie geht´s?« »Se hen Sie bloß mal dieses verrückte Bett!« Beide lachten sie plötzlich laut auf. Frank hatte eben falls die Bettdecke zurückgezogen und seinen Pyjama auf die geknöpfte Steppdecke gelegt. »Laß uns mal rausgehen und ein bißchen rumlaufen. Wo sind die beiden Pässe?« Tom vergewisserte sich, daß der neue Paß des Jungen außer Sicht war; dann fand er Johnnys Paß im Koffer und steckte ihn in einen Umschlag aus der Schreibtischschublade, den er ganz nach unten in den Koffer des Jungen schob. »Damit du nicht mal den falschen rausziehst.« Tom wünschte, er hätte Johnnys Paß in Belle Ombre verbrannt, denn Johnny mußte sich ja doch einen neuen besorgt haben. Sie gingen hinaus und hätten über die Treppe nach unten gehen können, aber Frank wollte wieder den Fahr stuhl nehmen. Er sah ebenso froh aus, wie Tom sich fühlte. Warum wohl, dachte Tom. »Auf E drücken. Das ist das Erdgeschoß.« Sie gaben ihre Schlüssel ab, gingen nach draußen und wandten sich nach rechts zum Kurfürstendamm. Frank starrte alles an, sogar einen Dackel, der spazie rengeführt wurde. Tom schlug ein Bier in der Pizzeria an der Ecke vor. Hier zahlten sie an der Kasse und stellten sich mit den Bons vor der Theke mit dem Bier an, dann 170
brachten sie die großen Krüge an den einzigen teilweise freien Tisch, an dem zwei Mädchen saßen und Pizza a ßen. Mit einem Kopfnicken erlaubten sie Tom und dem Jungen, sich zu ihnen zu setzen. »Morgen gehen wir zum Charlottenburger Schloß«, sagte Tom. »Da sind Museen und auch ein sehr schöner Park. Dann gibt´s auch noch den Zoo.« Und dann der Abend heute. In Berlin gab es vielerlei Lokale, wo man abends hingehen konnte. Tom blickte auf die Wange des Jungen und sah, daß der Leberfleck zugedeckt war. »Weiter so«, sagte Tom und wies auf die eigene Wange. Um Mitternacht oder etwas später saßen sie bei Romy Haag, und Frank war nach drei oder vier weiteren Glas Bier leicht betrunken. Frank hatte in einer Wurfbude vor einem Bierlokal einen Teddybär gewonnen; Tom trug nun den kleinen braunen Bären, das Symbol von Berlin. Tom war bei seinem letzten Besuch in Berlin auch bei Romy Haag gewesen. Es war eine Disco-Bar, etwas touristisch aufgemacht, mit einer Transvestiten-Show am späten Abend. »Warum tanzt du nicht?« sagte Tom zu Frank. »For dere doch eine von denen zum Tanzen auf.« Tom meinte die beiden Mädchen, die auf Hockern an der Bar saßen, ihre Drinks vor sich, aber die Augen auf die Tanzfläche geheftet, über der sich eine silberne Kugel drehte. Licht flecken, bald hell, bald dunkler spielten auf den Wänden. Das rotierende silberne Objekt, nicht größer als ein Was serball und an sich recht häßlich, sah aus wie ein Relikt aus den dreißiger Jahren, eine Erinnerung an das Berlin der Vor-Hitler-Zeit, seltsam faszinierend. Frank wand sich, als fehle ihm der Mut, die Mädchen anzusprechen. Er stand mit Tom an der Bar. »Keine Prostituierten«, sagte Tom über den Lärm der Musik hinweg. 171
Frank ging jetzt hinüber zu der Toilette nahe der Tür. Als der Junge wiederkam, schritt er an Tom vorbei auf die Tanzfläche, wo Tom ihn ein paar Minuten aus den Augen verlor, dann sah er ihn mit einem blonden Mäd chen unter der drehenden Kugel tanzen, wo noch ein Dutzend andere Paare und ein paar Einzelne tanzten. Tom lächelte. Frank sprang auf und nieder, er amüsierte sich. Die Musik war non-stop, aber Frank kam nach ein paar Minuten zurück – triumphierend. »Ich dachte, Sie würden mich für feige halten, wenn ich kein Mädchen zum Tanzen holte!« sagte Frank. »Nettes Mädchen?« »Oh ja, sehr! Hübsch! Nur daß sie Kaugummi kaute. Ich habe ›Guten Abend‹ gesagt und sogar ›Ich liebe dich‹, aber das kenne ich bloß aus Liedern. Ich glaube, die dachte, ich sei besoffen. Jedenfalls hat sie gelacht!« Er war zweifellos besoffen, und Tom hielt ihn an einem Arm fest, damit er ein Bein über den, Hocker schieben konnte. »Laß doch den Rest Bier stehen, wenn du nicht mehr magst.« Ein Trommelwirbel kündigte die Show an. Drei kräftige Männer stolzierten herein in bodenlangen Rüschenge wändern, rosa, gelb und weiß, mit breitrandigen Blumen hüten und mächtigen Plastikbrüsten mit imposanten ro ten Brustwarzen. Begeisterter Applaus! Sie sangen et was aus ›Madame Butterfly‹, dann folgten einige parodis tische Songs, die Tom nur zur Hälfte verstand, aber die Zuschauer schienen sie zu schätzen. »Sie sehen wirklich wahnsinnig komisch aus!« schrie Frank Tom ins Ohr. Das robuste Trio schloß mit »Das ist die Berliner Luft«. Sie schwangen die Röcke und stießen die Füße hoch in die Luft, während die Zuschauer Blumen auf die Bühne warfen. 172
Frank klatschte und schrie: »Bravo! Bravo!« und fiel fast von seinem Hocker. Ein paar Minuten später schritt Tom Arm in Arm mit dem Jungen – hauptsächlich um Frank aufrecht zu halten – einen dunklen Bürgersteig entlang, auf dem auch um halb drei Uhr früh noch mehrere Fußgänger unterwegs waren. »Was ist das?« fragte Frank, als ihnen ein Paar in merkwürdiger Aufmachung entgegenkam. Es sah aus wie ein Mann und eine Frau, der Mann in engen Harlekinhosen und einem Hut, dessen Rand vorn und hinten spitz zulief, während die Frau einer gehenden Spielkarte glich, und als sie näherkam, sah Tom, daß es das Kreuz-As war. »Die kommen wohl gerade von einer Party, oder gehen hin«, sagte Tom. Ihm war schon früher in Berlin aufgefallen, daß die Leute in ihrer Kleidung gern von einem Extrem ins andere fielen und sich sogar ver kleideten. »Die spielen ›Wer-bin-ich‹«, sagte Tom. »Die ganze Stadt ist so.« Tom hätte noch mehr erzählen kön nen. Die Stadt Berlin war bizarr genug, künstlich genug – zumindest im politischen Status, und vielleicht versuch ten daher die Bürger manchmal, sie durch ihre Kleidung und ihr Verhalten noch zu überbieten. Und es war auch die Art der Berliner zu sagen: »Wir existieren!« Aber Tom hatte jetzt keine Lust, seine Gedanken zusammenzufas sen. Er sagte nur: »Und dabei sind sie umgeben von die sen langweiligen Russen, die überhaupt keinen Humor haben!« »Oh, Tom, können wir uns Ost-Berlin ansehen? Das wäre wunderbar!« Tom preßte den kleinen Berliner Bären an sich; er ver suchte, sich drüben eine Gefahr für Frank vorzustellen, aber er konnte es nicht. »Klar. Die sind viel mehr daran interessiert, ihren Besuchern ein paar D-Mark abzuneh 173
men, als zu erfahren, wer die Besucher sind. – Da, ein Taxi! Komm, nehmen wir das!«
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Am nächsten Morgen um neun Uhr rief Tom Frank von seinem Zimmer aus an. Wie ging es denn Ben? »Sehr gut, danke. Ich bin vor zwei Minuten erst auf gewacht.« »Ich bestelle jetzt Frühstück für uns beide hier auf mein Zimmer. Komm also rüber, Nummer vier-vier-zehn. Und schließ deine Tür ab, wenn du rausgehst.« Um drei Uhr früh, als sie ins Hotel zurückgekommen waren, hatte sich Tom vergewissert, ob seine Pässe noch im Koffer lagen. Ja, sie waren da. Beim Frühstück schlug Tom das Charlottenburger Schloß vor, darauf Ost-Berlin, und dann den Zoo in WestBerlin, wenn die Kräfte noch reichten. Er gab dem Jun gen einen Artikel von Frank Giles aus der Londoner Sun day Times, den er ausgeschnitten und sorgfältig aufbe wahrt hatte, weil darin mit wenigen Worten eine ganze Menge über Berlin gesagt wurde. »Ist Berlin für immer geteilt?« hieß die Überschrift. Frank las den Ausschnitt, während er Toast und Marmelade verzehrte, und Tom sagte, es mache nichts, wenn ein Butterfleck draufkäme, er habe den Artikel schon lange. »Nur fünfzig Meilen bis zur polnischen Grenze!« sagte Frank in erstauntem Ton. »Und – dreiundneunzigtausend sowjetische Soldaten innerhalb von zwanzig Meilen um – um die Vorstädte von Berlin.« Dann blickte er Tom an und sagte: »Warum sind sie eigentlich so besorgt um Berlin? Mit der Mauer und so.« Tom genoß seinen Kaffee und hatte keine Lust, einen Vortrag zu halten. Vielleicht würde dem Jungen die Wirk lichkeit heute Eindruck machen. »Die Mauer geht durch ganz Deutschland, nicht nur durch Berlin. Über die Berli 175
ner Mauer wird am meisten geredet, weil sie West-Berlin einschließt, aber die Mauer geht runter bis nach Polen und Rumänien. Du wirst es ja heute sehen. Und morgen können wir vielleicht ein Taxi zur Glienicker Brücke neh men, wo sie manchmal Gefangene austauschen, Ost und West. Spione, meine ich. Da haben sie sogar den Fluß geteilt, man sieht Bojen auf der Oberfläche, die den Fluß in der Mitte teilen.« Wenigstens etwas ging rein, dachte Tom, denn der Junge las den Artikel gründlich durch. Darin wurde die dreifache militärische Besetzung oder Kontrolle West-Berlins durch englische, französische und amerikanische Truppen erklärt, und das half bei der Er klärung, warum die deutsche Lufthansa in Berlin-Tegel nicht landen durfte. (Für Tom allerdings war das keine Erklärung, er hatte immer das Gefühl bei allem, was Ber lin anging, daß er irgendwas nicht ganz verstünde.) Ber lin war etwas Künstliches, etwas Besonderes, nicht ein mal ein Teil von Westdeutschland, und vielleicht wünsch te es das auch gar nicht: die Berliner waren immer stolz darauf gewesen, Berliner zu sein. »Ich ziehe mich jetzt an und klopfe in ungefähr zehn Minuten bei dir«, sagte Tom und erhob sich. »Nimm dei nen Paß mit, Ben. An der Mauer brauchst du ihn.« Der Junge war angezogen, Tom war noch im Pyjama. Am Kurfürstendamm nahmen sie einen Bus zum Char lottenburger Schloß und verbrachten mehr als eine Stun de im Museum für Vor- und Frühgeschichte und vor den Gemälden. Lange hielt sich Frank bei den Modellen frü her Arbeitsmethoden im Berliner Gebiet auf, zum Beispiel den Kupferminen-Arbeitern in Tierfellkleidung um drei tausend vor Christus. Wie in Beaubourg merkte Tom, daß er ständig aufpaßte, ob jemand irgendwie Interesse an Frank zeigte, aber Tom sah nur Eltern mit neugierigen und schwatzenden Kindern, die in die Schaukästen guck 176
ten. Bisher bot Berlin ein freundliches und harmloses Bild. Dann zurück mit einem Bus zum S-Bahnhof Charlot tenburg und von dort bis zum Bahnhof Friedrichstraße und zur Mauer. Tom hatte seine Karte bei sich. Sie fuh ren die ganze Zeit oberirdisch, obgleich dies eine Art Un tergrundbahn war, und Frank starrte durchs Fenster auf die Häuserblocks, meist eher alt und schäbig, was be deutete, daß sie nicht von Bomben zerstört worden wa ren. Und dann die Mauer, grau, drei Meter hoch, wie ver sprochen, obendrauf Stacheldraht. Manche Stellen – das fiel Tom jetzt ein – waren von ostdeutschen Soldaten mit Farbe übersprüht worden, bevor Präsident Carter vor ein paar Monaten Berlin besuchte, damit das westdeutsche Fernsehen die anti-sowjetischen Slogans auf der Mauer nicht in die Häuser von Ostberlinern und vielen anderen DDR-Bewohnern, die westdeutsche Fernsehprogramme empfangen konnten, sendete. Tom und Frank warteten in einem Raum zusammen mit etwa fünfzig anderen Touris ten und West-Berlinern, viele beladen mit Einkaufsta schen, Obstkörben, Fleischkonserven und Kartons, die nach Konfektionsgeschäften aussahen. Es waren meist ältere Leute, die wahrscheinlich zum x-tenmal ihre seit 1961 durch die Mauer abgetrennten Geschwister und Vettern besuchen wollten. Endlich wurden Toms und Franks siebenstellige Zahlen von einem Mädchen hinter einem Gitterfenster ausgerufen, woraufhin sie weiterge hen durften in einen anderen Raum mit einem langen Tisch, an dem ostdeutsche Soldaten in graugrünen Uni formen saßen. Ein Mädchen gab ihnen die Pässe zurück; ein paar Meter weiter mußten sie bei einem Volkspolizis ten für 6,50 DM-Ost für 6,50 DM-West eintauschen. Tom hatte eine Aversion dagegen, das Geld anzufassen, und stopfte es in eine leere Hosentasche. 177
Jetzt waren sie »frei«. Tom mußte über den Gedanken lächeln, als sie begannen, die Friedrichstraße hinunter zuwandern, die hier hinter der Mauer weiterging. Tom wies auf die immer noch ungesäuberten Paläste der preußischen Könige. Warum zum Teufel reinigten die nicht einmal die Fassaden, dachte Tom, oder pflanzten Hecken drum herum, wenn sie auf die übrige Welt einen guten Eindruck machen wollten? Frank blickte sich überall um, er war minutenlang sprachlos. »Unter den Linden«, sagte Tom, nicht gerade heiter. Aber ein Gefühl der Selbsterhaltung ließ ihn nach etwas Munterem suchen, er faßte Frank am Arm und drehte ihn in eine Straße zur Rechten. »Laß uns mal hier runter ge hen.« Sie waren in einer Straße – ja, wieder in der Friedrich straße – wo aus Imbißlokalen lange Stehtische halb über den Gehweg hinausragten; die Gäste löffelten ihre Sup pe, aßen belegte Brote, tranken Bier. Manche sahen aus wie Bauarbeiter in gipsverschmutzten Overalls; die Frau en und Mädchen mochten Büroangestellte sein. »Ich könnte einen Kugelschreiber kaufen«, sagte Frank. »Wär nett, hier irgendwas zu kaufen.« Sie kamen an ein Papiergeschäft mit einem leeren Zeitungsständer vor dem Laden. An der Tür hing ein Schild mit der Aufschrift: GESCHLOSSEN WEIL ICH SCHLIESSEN WOLLTE. Tom lachte und übersetzte es für Frank. »Hier kommt sicher noch ein anderer Laden«, sagte Tom, als sie weitergingen. Es kam zwar ein anderer, aber er war ebenfalls ge schlossen. Auf dem Schild stand diesmal: GESCHLOSSEN WEGEN KATZENJAMMER. Frank fand das wahnsinnig komisch. 178
»Einen Sinn für Humor haben sie vielleicht, aber sonst ist es genau so, wie ich´s gelesen habe, irgendwie – trübsinnig.« Auch Tom fühlte, wie eine Depression in ihm aufstieg, an die er sich von seinem ersten Besuch in Ost-Berlin her erinnerte. Die Kleider der Leute sahen schlapp aus. Es war Toms zweiter Besuch, und er wäre nicht gekommen, wenn der Junge es nicht gewünscht hätte. »Laß uns mal was essen, das wird uns etwas munterer machen«, sagte Tom und zeigte auf ein Restaurant. Es war ein großes, modernes und offenbar gutgeführ tes Lokal, auf einigen der langen Tische lagen weiße Tischdecken. Wenn sie etwa nicht genug Geld bei sich hatten, dachte Tom, so würde der Kellner hier sicher mit Freuden Westgeld nehmen. Sie setzten sich. Nachdenk lich betrachtete Frank die Gäste: einen Mann in dunklem Anzug und Brille, der allein aß, und zwei rundliche Mäd chen an einem nahen Tisch, die sich beim Kaffee lebhaft unterhielten. Frank besah sie, als habe er eine neue Tierart im Zoo vor sich. Das amüsierte Tom. Für Frank waren das sicher »Russen«, mit einem Hauch Kommu nismus. »Es sind nicht alles Kommunisten«, sagte Tom. »Es sind Deutsche.« »Ja, ich weiß. Es ist nur die Vorstellung, daß sie nicht einfach fortgehen können nach Westdeutschland, wenn sie wollen. Das können sie doch nicht, oder?« »Stimmt«, sagte Tom. »Das können sie nicht.« Jetzt kam ihr Essen, und Tom wartete, bis die blonde Kellnerin mit dem freundlichen Lächeln sich wieder ent fernt hatte. »Die Russen behaupten aber, sie hätten die Mauer gebaut, um die Kapitalisten rauszuhalten. Das ist jedenfalls ihre Darstellung.«
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Sie stiegen auf den Turm am Alexanderplatz, den Stolz von Ost-Berlin, um die Aussicht zu bewundern und einen Kaffee zu trinken. Dann überkam beide das Ver langen zu gehen. West-Berlin, obgleich es so eingeschlossen war, kam ihnen vor wie weit offenes Land, als sie das Gebiet der Mauer hinter sich gelassen hatten und in der S-Bahn ent langjuckelten Richtung Tiergarten. Sie hatten noch ein paar Zehnmarkscheine gewechselt, und Frank besah sich jetzt seine Ostberliner Münzen. »Ich könnte sie als Souvenirs behalten. Oder ein paar an Teresa schicken, nur so aus Spaß.« »Aber nicht von hier aus, bitte«, sagte Tom. »Behalte die nur, bis du wieder zu Hause bist.« Es war erfrischend, im Zoologischen Garten die Löwen in scheinbarer Freiheit herumschlendern zu sehen, die Tiger zu betrachten, die an ihrem Schwimmbad lagen und den Besuchern ins Gesicht gähnten, obgleich ein Graben sie von den Zuschauern trennte. Der Trompeter schwan hob, gerade als Tom und Frank vorbeigingen, den langen Hals und trompetete. Langsam kamen sie dann zum Aquarium, und hier verliebte sich Frank in den Drückerfisch. »Unglaublich!« Franks Mund stand vor Verwunderung offen – er sah plötzlich aus wie ein Zwölfjähriger. »Diese Wimpern! Wie Make-up!«. Tom lachte und starrte auf den kleinen, leuchtend blauen Fisch, keine zwanzig Zentimeter lang, der da mit vielleicht mittlerer Geschwindigkeit herumschwamm, of fenbar ohne irgendwas zu suchen, nur der kleine runde Mund öffnete und schloß sich unablässig, als wollte er etwas fragen. Die Lider der übergroßen Augen waren schwarzgetönt, und über und unter ihnen hatte er etwas, das wie lange schwarze Wimpern aussah, graziös gebo 180
gen, als ob ein Karikaturist sie mit Fettstift auf die blauen Schuppen gezeichnet hätte. Es war eins der Wunder der Natur, dachte Tom. Er hatte den Fisch schon früher ge sehen. Er erstaunte ihn auch heute, und es freute ihn, daß der Drückerfisch bei Frank mehr Bewunderung her vorrief als der berühmte Picassofisch. Der Picassofisch, auch eher klein, trug auf dem gelben Körper einen schwarzen Zickzackstreifen, der an Picassos Pinselstrich in seiner kubistischen Periode erinnerte, und quer über dem Kopf ein blaues Band mit mehreren aufrechtstehen den Antennen – gewiß merkwürdig genug, aber mit den Wimpern des Drückerfisches doch nicht zu vergleichen. Tom wandte die Augen ab von der Wasserwelt der Fi sche und kam sich vor wie ein plumper Klumpen, als er, Luft atmend, weiterging. Die Krokodile in ihren geheizten und verglasten Be hausungen, über die eine Fußgängerbrücke führte, wie sen mehrere leicht blutende Wunden auf, die ihnen zwei fellos ihre Gefährten beigebracht hatten. Im Augenblick lagen sie alle im Halbschlaf scheußlich grinsend. »Hast du genug?« fragte Tom. »Ich hätte nichts dage gen, zum Bahnhof zu gehen.« Sie verließen das Aquarium und gingen ein paar Stra ßen weit zum Bahnhof Zoo, wo Tom sich mit seinen fran zösischen Francs noch etwas mehr deutsches Geld be sorgte. Auch Frank wechselte etwas ein. »Weißt du, Ben«, sagte Tom, als er seine DM ein steckte, »noch einen Tag hier, und dann mußt du wohl mal – an die Heimreise denken, was?« Tom hatte sich im Innern des Bahnhofs umgesehen: Treffpunkt für Huren, Hehler, Schwule, Zuhälter, Drogensüchtige und Gott weißwas. Er ging weiter, während er sprach; er wollte den Bahnhof hinter sich lassen, damit nicht einer der
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Herumlungernden sich aus irgendeinem Grunde für ihn und den Jungen zu interessieren begann. »Ich könnte vielleicht nach Rom gehen«, sagte Frank, als sie auf den Ku´damm zugingen. »Geh nicht nach Rom. Laß das für später. Du bist doch schon mal in Rom gewesen, sagtest du das nicht?« »Bloß zweimal, als ich ganz klein war.« »Geh erst nach Hause. Bring alles in Ordnung, auch mit Teresa. Nach Rom kannst du diesen Sommer immer noch fahren. Heute ist erst der sechsundzwanzigste Au gust.« Etwa dreißig Minuten später, als Tom sich in seinem Zimmer mit der Morgenpost und dem Abend ausruhte, rief ihn Frank von seinem Zimmer aus an. »Ich habe für Montag einen Flug nach New York re servieren lassen«, sagte Frank. »Abflug elf Uhr fünfund vierzig mit Air France, und in Düsseldorf muß ich umstei gen in die Lufthansa.« »Sehr gut – Ben.« Tom war erleichtert. »Sie müssen mir vielleicht noch etwas Geld leihen. Das Ticket kann ich bezahlen, aber dann bin ich vielleicht etwas knapp.« »Kein Problem«, sagte Tom geduldig. Fünftausend Francs, das war mehr als tausend Dollar; und warum sollte der Junge mehr brauchen, wenn er direkt nach Haus zurückkehrte. War er so daran gewöhnt, große Summen bei sich zu haben, daß er sich ohne viel Geld unbehaglich fühlte? Oder war Geld, das von Tom kam, für Frank zu einem Symbol der Liebe geworden? Abends gingen sie in ein Kino, liefen vor dem Ende raus, und da es nach elf war und sie noch nicht zu Abend gegessen hatten, steuerte Tom sie in die Rheinischen Winzerstuben, die nur ein paar Schritte entfernt waren. Halbgefüllte Biergläser – mindestens acht – standen auf 182
gereiht neben den Bierzapfhähnen und warteten auf Kunden. Die Deutschen brauchten mehrere Minuten, um ein Bier richtig abzuzapfen; das gefiel Tom. Er und Frank suchten sich ihr Essen an einer Theke aus, wo es haus gemachte Suppen, Schinken, Roastbeef und Lamm, Kohl, Salz- oder Bratkartoffeln gab, dazu sechs verschie dene Sorten Brot. »Es stimmt schon, was Sie über Teresa sagten«, sag te Frank, als sie einen Tisch gefunden hatten. »Ich muß die Dinge mit ihr ins reine bringen.« Frank schluckte, ob gleich er noch keinen Bissen gegessen hatte. »Vielleicht hat sie mich gern, vielleicht auch nicht. Es ist mir klar, daß ich nicht alt genug bin. Noch fünf Jahre Schule, wenn ich den College-Abschluß mache. Großer Gott.« Plötzlich schien Zorn auf das Schulsystem in Frank aufzusteigen, aber Tom wußte, sein Problem war die Un sicherheit mit dem Mädchen. »Sie ist anders als andere Mädchen«, fuhr der Junge fort. »Ich kann´s nicht beschreiben – in Worten. Sie ist nicht dumm. Sie ist sehr selbstsicher – das macht mir manchmal Angst, weil ich lange nicht so selbstsicher wir ke wie sie. Vielleicht bin ich´s auch nicht. Vielleicht wer den Sie sie irgendwann kennenlernen. Ich hoffe es.« »Ja, ich auch. Nun iß mal, solange es heiß ist.« Tom hatte das Gefühl, er werde Teresa nie kennenlernen, a ber Illusionen, Hoffnungen wie die, an die sich der Junge jetzt zu klammern versuchte – was sonst half den Men schen schon weiter? Ego, Stimmung, Energie und das, was so vage ›Zukunft‹ genannt wurde: hing nicht das al les für die meisten Menschen von einem anderen Men schen ab? Sehr wenige schafften es allein. Und er sel ber? Sekundenlang versuchte Tom, sich ein Leben in Belle Ombre ohne Heloise vorzustellen. Niemand wäre da, mit dem man reden könnte, außer Madame Annette, 183
niemand, der den Plattenspieler anstellte und plötzlich das Haus mit Rockmusik füllte oder zuweilen mit Ralph Kirkpatrick auf dem Cembalo. Obgleich Tom so vieles vor Heloise verheimlichte, alle seine illegalen und potentiell gefährlichen Unternehmungen, die – kämen sie heraus – das Ende bedeuten würden für Belle Ombre: Heloise war zu einem Teil seiner Existenz geworden, fast zu einem Teil seines Fleisches, wie es im Ehegelöbnis hieß. Sie schliefen nicht sehr oft miteinander, auch nicht wenn Tom das Bett mit ihr teilte, was nicht einmal die Hälfte der Nächte war: aber wenn sie es taten, war Heloise warm und leidenschaftlich. Ihr machte es offenbar gar nichts aus, daß es nicht häufiger dazu kam. Eigentlich merk würdig, sie war doch erst siebenundzwanzig – oder war sie achtundzwanzig? Aber ihm war es sehr recht so. Eine Frau, die mehrmals in der Woche Ansprüche an ihn stell te, hätte er nicht ertragen, das hätte ihn abgeschreckt, vielleicht sofort und für immer. Tom faßte Mut und fragte in einem Ton, der sowohl leicht wie höflich war: »Darf ich fragen, ob du mit Teresa geschlafen hast?« Mit schnellem und unsicherem Lächeln blickte Frank von seinem Teller auf. »Einmal. Ich – ja, es war natürlich wundervoll. Vielleicht zu wundervoll.« Tom wartete. »Sie sind der einzige Mensch, dem ich das erzählen würde«, fuhr Frank etwas leiser fort. »Ich hab´s nicht sehr gut gemacht. Ich glaube, ich war zu aufgeregt. Sie war auch aufgeregt, aber passiert ist eigentlich gar nichts. Es war in New York, in der Wohnung ihrer Familie. Alle wa ren aus, wir hatten die Türen abgeschlossen. Und sie hat gelacht.« Frank blickte Tom an, als habe er eine Tatsa che festgestellt; und zwar nicht mal eine, die ihm weh tat, einfach eine Tatsache. 184
»Dich ausgelacht?« fragte Tom und versuchte, nur leicht interessiert zu erscheinen. Er zündete sich eine Roth-Händle an, das deutsche Gegenstück zur Gauloise. »Ausgelacht – ich weiß nicht. Vielleicht. Mir war scheußlich zumute. Es war so peinlich. Ich wollte mit ihr schlafen – aber so ganz hab ich es doch nicht geschafft. Verstehen Sie?« Tom konnte es sich vorstellen. »Vielleicht hat sie mit dir gelacht.« »Ich habe versucht zu lachen. Das werden Sie doch nie weitersagen, nicht wahr?« »Nein. Wem sollte ich es denn schon weitersagen?« »Andere Jungens in der Schule, die geben immer an. Ich glaube, sehr oft lügen sie. Ich weiß, daß sie lügen. Pete – der ist ein Jahr älter – ich mag ihn gern, aber ich weiß, er sagt auch nicht immer die Wahrheit. Über Mäd chen, meine ich. Klar, wenn man ein Mädchen nicht so gern hat, dann ist es ganz leicht, glaube ich. Verstehen Sie? Dann denkt man einfach bloß an sich selber und was für ein Kerl man ist und daß man´s jetzt schafft und dann geht alles prima. Aber – ich liebe Teresa schon seit Monaten. Sieben Monate sind es jetzt. Seit dem Abend, als ich sie kennenlernte.« Tom versuchte, eine Frage anzubringen: hatte Teresa noch andere Freunde, mit denen sie vielleicht ins Bett ging? Er brachte die Frage nicht heraus, bevor ein lauter Akkord, der Lärm und Stimmengewirr im Lokal übertönte, etwas ankündigte. Auf der entfernten Wand ihnen gegenüber ging etwas vor sich. Tom hatte die Show schon einmal gesehen. Dort waren jetzt Lichter angegangen, und aus einem schäbigen Grammophon ertönte die lärmende Ouvertüre zum ›Freischütz‹. An der Wand schob sich eine flache Bildszene aus ausgeschnittenen Silhouetten von 185
gespensterhaften Häusern ein paar Zentimeter weit vor – eine Eule hockte im Baum, der Mond schien, Blitze zuck ten, und von rechts stürzte echter Regen aus Wasser tropfen herab. Auch Donner gab es – es hörte sich an, als würden hinter der Bühne große Bleche geschüttelt. Einige Leute erhoben sich von ihren Plätzen, um besser sehen zu können. »Toll!« lachte Frank. »Laß uns mal hingehen!« »Geh du hin«, sagte Tom, und der Junge ging. Tom wollte zurückbleiben, um Frank aus der Entfernung zu beobachten und zu sehen, ob jemand besonders auf ihn achtete. In Toms blauem Blazer und der eigenen braunen Kordhose – sie war etwas kurz, die Hose, der Junge mußte gewachsen sein, seit er sie gekauft hatte – schau te Frank, die Hände auf den Hüften, dem fastlebenden Bild zu. Tom sah niemand, der dem Jungen irgendwie Aufmerksamkeit schenkte. Die Musik endete mit krachenden Zimbeln, die Lichter gingen aus, der Regen vertröpfelte und die Zuschauer kehrten zurück auf ihre Plätze. »Fabelhafte Idee!« sagte Frank, als er zurückge schlendert kam. Er sah entspannt aus. »Der Regen fällt vorn in eine kleine Rinne, wissen Sie. Kann ich Ihnen noch ein Bier holen?« Frank war eifrig bestrebt, gefällig zu sein. Es war fast ein Uhr, als Tom einen Taxifahrer bat, sie zu einer Bar zu fahren, die ›Glad Hand‹ hieß und von der er nicht wußte, wo sie war. Irgendjemand – vielleicht so gar Reeves – hatte ihm davon erzählt. »Meinen Sie vielleicht ›Glad Ass‹?« fragte der Fahrer lächelnd auf Deutsch, nur den Namen der Bar nannte er auf Englisch.
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»Wie Sie wollen«, sagte Tom. Er wußte, daß die Berli ner, wenn sie unter sich waren, die Namen der Bars oft veränderten. Diese Bar hatte draußen gar kein Schild, nur an der Wand neben der Tür hing hinter Glas eine erleuchtete Preisliste für Snacks und Getränke, aber von drinnen hörte man dröhnende Disco-Musik. Tom stieß die braune Tür auf, und eine große geisterhafte Gestalt stieß ihn scherzend zurück. »Nein, nein, hier kannst du nicht rein!« sagte die Ges talt, dann faßte sie Tom vorn am Pullover und zog ihn hinein. »Du siehst ja reizend aus!« rief Tom der Gestalt zu, die ihn hereingezogen hatte: über einsachtzig groß, das schlappe Baumwollgewand fegte über den Boden, das Gesicht eine Maske aus rosa und weißer Paste. Tom vergewisserte sich, daß Frank hinter ihm war, als er sich zur Bar durchkämpfte, was wegen der Menge unmöglich schien. Es waren ausschließlich Männer und Jungen, die sich gegenseitig anschrien. Offenbar waren zwei große Räume zum Tanzen vorhanden, vielleicht sogar drei. Frank wurde von allen Seiten angestarrt und begrüßt, als er Tom zu folgen versuchte. »Ach, zum Teu fel!« sagte Tom mit heiterem Achselzucken zu ihm; er wollte damit sagen, er werde es kaum schaffen, bis zur Bar vorzudringen und Bier oder sonstwas zu bestellen. An den Wänden standen Tische, aber sie waren alle be setzt und überbesetzt von Männern, die dort standen und sich mit den Sitzenden unterhielten. »Hoppla!« schrie eine andere Gestalt in Frauenklei dern Tom ins Ohr, und fast beschämt erkannte Tom: es lag vielleicht daran, daß er normal aussah. Ein Wunder, daß sie ihn nicht rauswarfen; vielleicht hatte er das Frank zu verdanken. Das brachte ihn auf einen glücklicheren 187
Gedanken: Tom selber war ein Gegenstand des Neides, weil er einen hübschen sechzehnjährigen Jungen bei sich hatte. Das erkannte Tom jetzt und mußte lächeln. Eine Erscheinung in Leder forderte Frank zum Tanzen auf. »Geh nur!« schrie Tom ihm zu. Frank sah einen Augenblick verwirrt aus, erschreckt, dann nahm er sich offenbar zusammen und folgte dem Ledermann. ». . . my cousin in Dallas!« schrie eine amerikanische Stimme jemandem links von Tom zu, und Tom entfernte sich etwas. »Dallas – Fort Wört!« sagte der deutsche Gefährte. »Nein, das ist ja der Scheiß-Flughafen! Dallas meine ich! Die Bar heißt Friday – ´ne Schwulenbar! Jungens und Mädchen!« Tom wandte ihnen den Rücken zu. Irgendwie brachte er es fertig, eine Hand auf den Rand der Bartheke zu le gen und zwei Bier zu bestellen. Die drei Barkellner oder Barkellnerinnen trugen verwaschene Blue jeans, aber dazu Perücken, Rouge, Rüschenblusen und ein grellge schminktes Lächeln. Niemand sah betrunken aus, aber alle schienen ausgelassen glücklich. Tom hielt sich mit einer Hand an der Bar fest, er stand auf den Zehenspit zen und hielt Ausschau nach Frank. Er sah, wie der Jun ge tanzte – er tanzte sogar noch beschwingter als mit dem Mädchen bei Romy Haag. Ein weiterer Mann gesell te sich offenbar zu ihnen, aber ganz sicher war Tom nicht. Jetzt schwebte von der Decke eine adonisartige Figur herab, überlebensgroß, goldgemalt, und drehte sich waagrecht über der Tanzfläche; farbige Ballons ka men herunter, drehten sich, stiegen wieder, getrieben von dem Gewühl unten. Auf einem der Ballons stand MOTHERFUCKER, in Fraktur, auf anderen sah man Bil 188
der und Worte, die Tom von seinem Platz aus nicht ent ziffern konnte. Frank kam jetzt zurück und drängte sich zu Tom durch. »Da – schauen Sie! Ein Knopf ist ab, schade. Ich konnte ihn auf der Tanzfläche nicht finden, und als ich ihn suchen wollte, haben sie mich umgeschmissen.« Er meinte den mittleren Knopf des Blazers. »Unwichtig. Hier – dein Bier!« sagte Tom und reichte dem Jungen ein hohes konisches Glas. Frank trank durch den Schaum hindurch. »Die amüsie ren sich hier alle so –« schrie er, »und ganz ohne Mäd chen!« »Warum bist du zurückgekommen?« »Die andern beiden fingen an zu streiten – etwas je denfalls! Der erste – der sagte etwas, was ich nicht verstand.« »Na laß nur«, sagte Tom, der es sich durchaus vorstellen konnte. »Du hättest ihn bitten sollen, es auf Englisch zu sagen.« »Das hat er, aber ich hab´s trotzdem nicht verstan den!« Einige Männer hinter Toms Rücken faßten Frank ins Auge. Frank versuchte, Tom zu erzählen, daß dies ein ganz besonderer Abend sei, jemand hatte Geburtstag, daher die Ballons. Die lärmende Musik machte Reden fast unmöglich. Natürlich war Reden ganz unnötig, denn das Angebot war für jeden Kunden klar ersichtlich, und man konnte entweder zusammen verschwinden oder Ad ressen austauschen. Frank sagte, er habe keine Lust, nochmal zu tanzen; nach dem einen Glas Bier verließen sie das Lokal. Sonntag morgen erwachte Tom kurz nach zehn und frag te unten an, ob es noch Frühstück gäbe. Ja, es gab. 189
Dann rief er im Zimmer des Jungen an. Keine Antwort. Machte Frank einen Morgenspaziergang? Tom zuckte die Achseln – willkürlich oder unwillkürlich? Und wenn der Junge nun auf der Straße in Schwierigkeiten geriet, wenn ein aufmerksamer Polizist ihn ansprach? »Darf ich um Ihren Namen bitten? Kann ich mal Ihren Paß oder Personalausweis sehen?« Gab es denn eine Nabel schnur zwischen ihm und Frank? Nein. Und wenn ja, so mußte sie zerschnitten werden, dachte Tom. Morgen wurde sie ja jedenfalls zerschnitten, wenn der Junge das Flugzeug nach New York nahm. Tom warf eine zerknüllte Zigarettenpackung in den Papierkorb, verfehlte ihn und mußte aufstehen und sie aufheben. Jetzt hörte Tom, wie jemand leise an die Tür klopfte? – mit den Fingerspitzen, wie er es selber jeweils tat. »Frank.« Tom öffnete die Tür. Frank trug einen durchsichtigen grünen Plastikbeutel mit Obst. »Bin spazieren gewesen. Sie sagten unten, daß Sie Frühstück bestellt hätten, drum wußte ich, daß Sie auf waren. Ich habe auf Deutsch gefragt – wie finden Sie das?« Kurz vor Mittag standen sie an einem Schnellimbiß in Kreuzberg, beide mit einem Dosenbier, Frank mit einer Bulette – etwas wie ein Hamburger ohne Brötchen, kaltes Hackfleisch, das man in der Hand halten und in Senf tau chen konnte. Neben ihnen stand ein Türke mit einem Bier und Frankfurter Würstchen, angetan nach dem aller letzten lässig-sommerlichen Schick: oben ohne, der be haarte Bauch quoll über den Rand der kurzen grünen Shorts, die nicht nur abgetragen, sondern größtenteils zerfressen waren, vielleicht von einem Hund. Die schmutzigen Füße steckten in Sandalen. Frank betrach
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tete den Mann von oben bis unten mit sachlichem Blick und sagte: »Berlin ist wirklich eine runde Sache. Man ist über haupt nicht eingeengt.« Das brachte Tom auf einen Gedanken, was sie am Nachmittag unternehmen könnten: der Grunewald, das große Waldgelände. Aber zuerst vielleicht noch die Glie nicker Brücke. »Ich werde diesen Tag nie vergessen. Mein letzter Tag mit Ihnen«, sagte Frank. »Und ich weiß nicht, wann ich Sie wiedersehen werde.« Die Worte eines Liebenden, dachte Tom. Ob Franks Angehörige – vor allem seine Mutter – begeistert wären, wenn Tom Frank auf seiner nächsten Amerikareise im Oktober dieses Jahres besuchte? Das bezweifelte Tom. Wußte seine Mutter irgendwas von dem Verdacht der Fälschung bei den Derwatt-Bildern? Vermutlich doch, denn Franks Vater hatte ja davon gesprochen, mögli cherweise bei Tisch. Ob sein Name bei Franks Mutter einen schlechten Geschmack hinterließ? Fragen wollte Tom nicht. Sie aßen spät zu Mittag, draußen im Freien, auf einem Hügel, von dem aus man über die Pfaueninsel im Wann see sah. Blätterschatten, Sand und Kiesel unter den Fü ßen, ein behäbiger freundlicher Kellner. Sauerbraten mit Kartoffelklößen, Rotkohl, Bier. Sie waren im Südwesten von Berlin. »Ach, ist das wunderbar – Deutschland!«, sagte Frank. »Findest du? Schöner als Frankreich?« »Die Leute hier kommen mir freundlicher vor.« Tom war der gleichen Ansicht, was Deutschland betraf, nur schien es komisch, sowas gerade in Berlin zu sagen. Am Morgen waren sie ein langes Stück der Mauer entlang gefahren, sie war 191
unbewacht von sichtbaren Soldaten, aber die Höhe von drei Metern war die gleiche wie an der Friedrichstraße, und die scharfen Hunde an den Gleitleinen hinter der Mauer hatten gebellt, sobald sie das Taxi hörten. Der Fahrer hatte sich gefreut über die Tour und hatte das Blaue vom Himmel heruntergeredet. Hinter der Mauer, außer Sichtweite und noch hinter den Hunden, lag ein verminter Streifen Land – »Fünfzig Meter breit!«, hatte der Fahrer auf Deutsch gesagt – und dahinter ein neun Meter tiefer Fahrzeug-Sperrgraben, und hinter dem Gra ben ein aufgepflügter Streifen, auf dem sich Fußspuren abzeichneten. »Was die sich für Mühe machen!« hatte Frank gesagt. Und Tom hatte angeregt erwidert: »Sie nennen sich Revolutionäre, aber heute sind sie die Rückständigsten von allen. Sie behaupten, jedes Land braucht eine Revolution, aber warum sich einige Grup pen immer noch mit Moskau verbünden –« Er hatte ver sucht, das zu dem Fahrer auf Deutsch zu sagen. »Ach, heute hat Moskau nur noch das Militär, mit dem sie ab und zu ihre Macht zeigen. Aber Ideen, nein«, hatte der Fahrer resigniert, oder doch mit einem Anschein von Re signation, gesagt. An der Glienicker Brücke hatte Tom dann Frank übersetzt, was dort auf einem großen Plakat auf Deutsch geschrieben stand: »Die ihr den Namen ›Brücke der Einheit‹ gaben, bauten auch die Mauer, zo gen Stacheldraht, schufen Todesstreifen und verhindern so die Einheit.« Tom hatte es übersetzt, aber der Junge wollte es gern im deutschen Original haben, und Tom schrieb es für ihn ab. Der Fahrer Hermann war so freundlich gewesen, daß Tom ihn gefragt hatte, ob er mit ihnen zu Mittag essen wolle, danach könne er sie dann noch woanders hinfah ren. Hermann hatte gern zugestimmt, aber höflich vorge schlagen, sich allein an einen anderen Tisch zu setzen. 192
»Grunewald«, hatte Tom zu Hermann gesagt, nach dem er die Rechnung bezahlt hatte. »Können Sie das machen? Dann sind Sie uns los, denn wir wollen da ein bißchen herumlaufen.« »Na klar, natürlich! Okay!« sagte Hermann und hievte sich aus seinem Stuhl in die Höhe; er sah aus, als habe er seit dem Essen zwei Kilo zugenommen. Es war ein warmer Tag, und er trug ein kurzärmeliges weißes Hemd. Jetzt lag eine Fahrt von fast sechs Kilometern nach Norden vor ihnen. Tom hatte seine Karte von Berlin auf dem Schoß, um Frank zu zeigen, wo sie sich befanden. Sie fuhren über die Wannseebrücke, wandten sich nach Norden und fuhren durch eine Anzahl waldreicher Stadt viertel mit Gruppen kleiner Häuser. Endlich kam der Gru newald, wo – das hatte Tom Frank erzählt – die französi schen, englischen und amerikanischen Truppen oft ihre Trainings-Tankfahrten und Schießübungen vornahmen. Kriegsspiele. »Können Sie uns am Trümmerberg absetzen, Her mann?« fragte Tom. »Trümmerberg, ja. Neben dem Teufelsberg«, erwider te er. Das tat Hermann, und sein Taxi fuhr einen Abhang hinauf. Der Trümmerberg, ein Berg, der aus den Trüm mern der Kriegsruinen bestand und mit Erde bedeckt war, stieg noch höher. Tom gab Hermann seinen Tarifbe trag und zwanzig DM extra. »Danke schön, und schönen Tag!« Ein kleiner Junge stand auf der halben Höhe des Ber ges und steuerte sein Modellflugzeug mit elektronischer Fernsteuerung. Eine gewundene Furche lief seitlich am Berg hinab, für Skiläufer und Rodler. »Die laufen hier Ski im Winter«, sagte Tom zu Frank. »Lustig, was?« Tom wußte eigentlich nicht, was daran 193
gerade jetzt so lustig war – ganz ohne Schnee –, aber ihm war euphorisch zumute. Es war phantastisch, auf der einen Seite ausgedehnte Wälder zu sehen und auf der anderen Seite die Stadt Berlin, tief und weit entfernt. Un gepflasterte Wege führten in den Grunewald, ein wild aussehendes Waldgebiet von etwa zwölf Quadratmeilen, so schätzte es Tom nach der Karte; und daß dieser Wald innerhalb der Stadtgrenzen von Berlin lag, kam ihm er staunlich oder irgendwie wundervoll vor, denn ganz West-Berlin war ja eingeschlossen, inklusive des Grune walds natürlich. »Gehen wir hier runter«, sagte Tom. Sie schlugen einen Weg ein, der in den Wald führte, und nach wenigen Minuten schlossen sich die Bäume über ihnen und ließen nur noch wenig Sonnenlicht durch. Ein Junge und ein Mädchen picknickten ein paar Meter entfernt auf einer Decke, die sie auf die Tannennadeln gelegt hatten. Frank blickte sie träumerisch, vielleicht so gar neidisch an. Tom hob einen kleinen Tannenzapfen auf, blies den Staub ab und steckte den Zapfen in die Hosentasche. »Sind die Birken nicht herrlich? Ich liebe Birken«, sag te Frank. Gefleckte Birken sah man überall, in allen Grö ßen, zwischen Fichten und manchmal auch Eichen. »Irgendwo hier ist das militärische Gebiet. Stachel drahtzaun drum herum und rote Warnzeichen, das weiß ich noch.« Aber Tom war unsicher, er mochte nicht re den, über gar nichts. Er spürte Traurigkeit in dem Jun gen. Morgen um diese Zeit flog Frank nach Westen, auf New York zu. Und was erwartete ihn drüben? Ein Mäd chen, dessen er nicht sicher war, und eine Mutter, die ihn einmal gefragt hatte, ob er seinen Vater getötet habe, und die ihm anscheinend geglaubt hatte, als er Nein sag 194
te. Hatte sich in Amerika etwas verändert? Hatte man neue Beweise gegen Frank? Vielleicht. Tom konnte sich nicht vorstellen, welche, aber eine Möglichkeit neuer Be weise gab es wohl sicher. Hatte Frank seinen Vater tat sächlich getötet, oder war das nur seine Phantasie? Tom überlegte das nicht zum erstenmal. Lag es daran, daß der sonnendurchflutete Wald so schön, der Tag so er freulich war, daß er sich weigerte anzunehmen, der Jun ge habe jemanden umgebracht? Tom sah links vom Weg einen großen gefallenen Baum liegen. Tom wies mit der Hand darauf hin, und der Junge folgte ihm. Tom lehnte sich an den Baum – er war gefällt worden, das sah er jetzt –, zündete eine Zigarette an und blickte auf seine Uhr: dreizehn Minuten vor vier. Tom wollte zum Trümmerberg zurückgehen, er wußte, dort gab es Wa gen, und wahrscheinlich war da auch ein Taxi zu kriegen. Sie konnten sich leicht verirren, wenn sie noch weiter wanderten. »Zigarette?« fragte Tom. Gestern abend hat te der Junge eine geraucht. »Nein, danke schön. Ich bin gleich wieder da – muß mal pinkeln.« Tom schob sich von dem Baum weg, als der Junge an ihm vorbeiging. »Ich warte hier.« Er zeigte auf den Weg, von dem sie gerade gekommen waren. Tom überlegte, daß er morgen nachmittag nach Paris zurückfahren könnte, wenn er nicht beschloß, Eric Lanz aufzusuchen und vielleicht den Abend mit ihm zu verbringen. Das könnte ganz lustig sein, mal zu sehen, was für eine Wohnung Eric hier in Berlin hatte und wie er überhaupt lebte. Er hätte dann auch Zeit, ein Geschenk für Heloise zu besorgen, etwas Hübsches vom Ku´damm, eine Handtasche vielleicht. Tom blickte nach rechts, er glaub te, etwas gehört zu haben, vielleicht Stimmen. Er sah sich nach dem Jungen um. »Ben –?« rief er. Tom ging 195
ein paar Schritte zurück. »Ben – hast du dich verlaufen? Hier lang!« Er ging zurück zu dem Baum, wo sie ange lehnt gestanden hatten. »Ben!« Hörte er das Knacken von Unterholz weiter vorn im Wald, oder war das der Wind? Frank wollte wieder Spaß mit ihm machen, dachte Tom, wie neulich auf dem schmalen Weg bei Belle Ombre. Wartete darauf, daß Tom ihn suchte und fand. Tom hatte wenig Lust, ins Unterholz zu gehen, durch das Buschwerk, das ihm die Hosenaufschläge zerreissen würde. Er wußte, der Junge war in Hörweite, deshalb schrie er: »Okay Ben, nun hör auf mit dem Quatsch! Wir wollen gehen!« Schweigen. Tom schluckte, was plötzlich schwierig war. Was ängstigte er sich? Er war nicht ganz sicher. Plötzlich fing er an, vorwärts zu laufen, geradeaus und etwas nach links, wo er glaubte, das Knacken von Zwei gen gehört zu haben. »Ben!« Keine Antwort. Tom lief weiter, nur einmal hielt er an und warf einen Blick zurück in den leeren dichten Wald, dann lief er weiter. »Ben –?« Jetzt kam er an einen Waldweg und lief dort weiter, immer noch nach links. Dann bog der Weg nach rechts um. Sollte er weiterlaufen oder umkehren? Er war neu gierig genug, immer weiterzugehen, jetzt im Trott, beschloß aber gleichzeitig, wenn er den Jungen nach dreißig Metern nicht fand, wollte er umkehren und es noch einmal im Wald versuchen. Ob der Junge vielleicht wieder weglief? Das wäre zu blöde, dachte Tom, und wo wollte er auch hin ohne seinen Paß, der ja im Hotel lag? Oder war Frank entführt worden? Vor ihm, etwas weiter unten als der Weg, auf einer kleinen Lichtung, hatte Tom plötzlich die Antwort vor sich: 196
ein dunkelblauer Wagen, beide Vordertüren geöffnet. In diesem Moment ließ der Fahrer den Motor anspringen und knallte seine Tür zu. Ein zweiter Mann rannte hinter dem Wagen hervor, wollte in den Beifahrersitz springen, sah aber Tom und blieb stehen, eine Hand auf der Tür; die andere griff in die Jackentasche. Sie hatten Frank, davon war Tom überzeugt. Er trat vor. »Was zum Teufel macht ihr –« Tom schaute auf eine schwarze, direkt auf ihn gerich tete Pistole, etwa fünf Meter entfernt. Der Mann hielt die Pistole mit beiden Händen. Dann schlüpfte er in den Wa gen, schloß die Tür, der Wagen setzte zurück. B RW 778 stand auf dem Nummernschild. Der Fahrer war mittel blond, der Mann, der in den Wagen gesprungen war, war ein schwerer Kerl mit glattem schwarzem Haar und Schnurrbart. Beide hatten Tom deutlich gesehen, das wußte er. Der Wagen fuhr los, nicht einmal sehr schnell. Tom hätte hinterherrennen können, aber wozu? Um eine Ku gel in den Magen zu kriegen? Was zählte schon eine Kleinigkeit wie der Tod von Tom Ripley im Vergleich mit einem Jungen, der ein paar Millionen Dollar wert war? Ob Frank im Kofferraum lag, geknebelt? Oder war er be wußtlos, nach einem Schlag über den Kopf? War da nicht noch ein Mann gewesen, ein dritter, auf dem hinte ren Sitz? Tom meinte, ja. Das alles ging ihm durch den Kopf, bevor der Wagen – ein Audi – um die nächste Wegbiegung im Wald rollte und außer Sicht war. Tom hatte einen Kugelschreiber, fand kein Papier und nahm sein Päckchen Roth-Händle-Zigaretten, riß das Zellophan ab und notierte auf der rosa Packung die Au tonummer, so lange er sie noch im Gedächtnis hatte. Sie konnten den Wagen stehen lassen oder die Nummern 197
schilder austauschen, weil sie wußten, daß er sie gese hen hatte, dachte er. Vielleicht hatten sie den Wagen auch für diesen Zweck gestohlen. Es gab auch noch die unbehagliche Möglichkeit, daß sie ihn als Tom Ripley erkannt hatten. Vielleicht waren sie ihm und Frank schon seit gestern oder so gefolgt. Würde es ihnen was nützen, ihn zu liquidieren? Fifty-fifty, dachte Tom. Im Augenblick konnte er nicht klar denken; seine Hand hatte gezittert, als er die Autonummer notier te. Natürlich hatte er Stimmen im Wald gehört! Vielleicht waren die Kidnapper mit irgendeiner harmlosen Frage an Frank herangetreten. Es war sicher das beste, keinen Tag länger in Berlin zu bleiben. Wieder stieg Tom hinab in den unangenehm dichten Wald und kürzte damit den Weg ab, weil er fürch tete, die Kidnapper könnten sich entschließen, die Straße zurückzufahren, um auf ihn zu schießen.
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Tom ging den Weg zurück, den er mit Frank zum Trüm merberg gegangen war; dort mußte er zermürbende zwanzig Minuten auf ein Taxi warten und erwischte dann nur durch Zufall eins, denn die meisten GrunewaldBesucher kamen im eigenen Wagen. Tom wies den Fah rer an, ihn zum Hotel Franke, Albrecht-Achilles-Straße, zu bringen. Wäre es nicht fabelhaft, wie Frank oft sagte, wenn der Junge sich auch diesmal einen Spaß gemacht hätte und jetzt schon wieder in seinem Hotelzimmer säße, und wenn die Männer, die Tom mit dem Wagen und der Pistole gesehen hatte, etwas ganz anderes im Schilde geführt hätten? Aber so war es nicht. Franks Schlüssel hing, wie der von Tom, am Haken an der Hotelrezeption. Tom nahm seinen Schlüssel und ging in sein Zimmer. Nervös schloß er die Tür von innen ab, setzte sich auf das Bett und griff nach dem Telefonbuch. Die Nummern der Polizeiressorts müßten vorne stehen, dachte er, und das taten sie auch. Er wählte die »Notruf«-Nummer und legte das Zigarettenpäckchen mit der Autonummer vor sich hin. »Ich glaube, ich habe ein Kidnapping gesehen«, sagte Tom und beantwortete dann die Fragen des Beamten. Wann? Wo? »Wie ist Ihr Name, bitte?« »Ich möchte meinen Namen nicht nennen. Ich habe die Autonummer notiert.« Tom gab sie an, ebenso die Farbe des Wagens, dunkelblau, ein Audi. »Wer war das Opfer? Kennen Sie das Opfer?« »Nein«, sagte Tom. »Ein Junge – er sah aus wie sechzehn, siebzehn. Einer der Männer hatte eine Pistole. 199
Darf ich Sie in zwei Stunden nochmal anrufen und fra gen, was Sie festgestellt haben?« Anrufen wollte Tom auf jeden Fall, egal was der Mann sagte. Der Mann sagte Ja, und mit brüskem Dankeschön leg te er auf. Tom hatte gesagt, das Kidnapping sei etwa um vier Uhr im Grunewald, nahe dem Trümmerberg, passiert. Jetzt war es fast halb sechs. Er müßte sich mit Franks Mutter in Verbindung setzen, dachte er, mußte sie war nen, daß sie mit einer Lösegeldforderung zu rechnen ha be, aber wozu die Warnung gut sein sollte, das wußte er auch nicht. Jetzt, da der Detektiv der Piersons eine echte Aufgabe zu erfüllen hatte, war er in Paris, und Tom wuß te nicht, wie er ihn erreichen konnte. Aber das würde Mrs. Lily Pierson sicher wissen. Tom ging zur Rezeption hinunter und bat um den Schlüssel für Herrn Andrews Zimmer. »Mein Freund ist aus, und er braucht etwas.« Der Schlüssel wurde ihm ohne weiteres ausgehändigt. Tom stieg nach oben und ging in Franks Zimmer. Das Bett war gemacht, das Zimmer in Ordnung. Tom sah sich auf dem Schreibtisch nach einem Adressbuch um, dann fiel ihm Johnnys Paß in Franks Koffer ein. Johnnys Ad resse in den Vereinigten Staaten war eine Adresse an der Park Avenue in New York. Seine Mutter war jetzt wahrscheinlich in Kennebunkport, aber die New Yorker Adresse war besser als nichts. Tom notierte sie und steckte den Paß wieder in den Koffer. Dann sah er in der Deckeltasche des Koffers ein kleines braunes Adress buch und schlug es schnell auf. Unter Pierson stand da nur eine Adresse und Telefonnummer in Florida. ›Pierson Sunfish‹ stand da. Pech. Sicher notierten sich nur wenige Leute die eigene Telefonnummer, weil sie die auswendig
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wußten; aber bei so vielen Häusern, wie die Piersons sie haben, mußten, hatte Tom doch Hoffnung gehabt. Tom hielt es jetzt für das beste, hinunterzugehen und sich von der Rezeption geben zu lassen, was er brauch te, denn heute war Sonntag und die Postämter waren geschlossen. Doch erst ging er zurück in sein eigenes Zimmer, legte Franks Schlüssel auf sein Bett, zog den Pullover aus und machte ein Handtuch naß. Er wusch Gesicht und Oberkörper bis zum Hosenrand, zog den Pullover wieder an und versuchte, nach außen hin ruhig zu erscheinen. Er merkte, er war tief verstört von dem Raub des Jungen, denn er war gewaltsam entführt wor den. Nie war Tom so verstört gewesen von etwas, das er selber getan hatte; in solchen Fällen war er immer Herr der Lage gewesen. Jetzt war er keineswegs Herr der La ge. Er verließ sein Zimmer, schloß ab und ging über die Treppe nach unten. An der Rezeption schrieb er mit Druckbuchstaben auf ein Blatt Papier: John Pierson, Kennebunkport, Maine (Bangor). Bangor war vermutlich die nächste größere Stadt, dort konnte man wahrscheinlich die Telefonnum mer in Kennebunkport erfahren. »Würden Sie die Auskunft in Bangor, Maine, um die Telefonnummer von Pierson bitten?« fragte Tom den Angestellten an der Rezeption, der auf Toms Zettel blick te und sagte: »Ja, sofort.« Er ging zu dem Mädchen, das rechts von Tom an einem Schaltbrett saß. Dann kam er zurück und sagte: »Etwa zwei oder drei Minuten. Möch ten Sie jemand Bestimmtes sprechen?« »Nein. Erstmal möchte ich nur die Nummer haben, bit te.« Tom blieb unten in der Halle und überlegte, ob das Mädchen wohl durchkommen würde, ob der amerikani sche Telefonist womöglich sagte, es sei eine Geheim nummer, die man nicht bekanntgeben könne . . . 201
»Herr Ripley, wir haben die Nummer«, sagte der Ho telangestellte, der einen Zettel in der Hand hielt. Tom lächelte. Er schrieb sich die Nummer auf einen anderen Zettel. »Können Sie dort anrufen? Ich möchte das Gespräch in mein Zimmer haben. Bitte sagen Sie meinen Namen nicht – nur daß Berlin anruft.« »Jawohl, gern, Sir.« In seinem Zimmer hatte Tom kaum eine Minute gewar tet, als das Telefon klingelte. »Hier Kennebunkport, Maine«, sagte eine weibliche Stimme. »Spreche ich mit Berlin, Deutschland?« Die Telefonistin im Hotel Franke bestätigte das. »Bitte sprechen Sie«, sagte Maine. »Guten Morgen, hier Haus Pierson«. Die Stimme war die eines Engländers. »Hallo«, sagte Tom. »Kann ich bitte mit Mrs. Pierson sprechen?« »Darf ich fragen, wer dort spricht?« »Es betrifft ihren Sohn Frank.« Die Förmlichkeit am anderen Ende der Leitung gab Tom die Kühle, die er nö tig hatte. »Einen Moment, bitte.« Tom mußte länger warten als einen Moment, aber es schien jedenfalls, daß Franks Mutter im Hause war. Tom hörte eine Frauenstimme und auch die eines Mannes, als Lily Pierson ans Telefon kam, vielleicht begleitet von dem Butler namens Eugene, wie Tom sich erinnerte. »Hal-loo«, kam die helle Stimme. »Hallo. Mrs. Pierson, können Sie mir sagen, in wel chem Hotel Ihr Sohn Johnny und Ihr Privatdetektiv woh nen? In Paris?« »Warum wollen Sie das wissen? Sie sind Amerika ner?« »Ja«, sagte Tom. 202
»Darf ich um Ihren Namen bitten?« Sie hörte sich vor sichtig und ängstlich an. »Das ist unwichtig. Viel wichtiger ist –« »Wissen Sie, wo Frank ist? Ist er bei Ihnen?« »Nein, bei mir ist er nicht. Ich möchte bloß wissen, wo ich Ihren Privatdetektiv in Paris erreichen kann. Ich wüßte gern, in welchem Hotel sie wohnen.« »Aber ich weiß gar nicht, warum Sie das wissen wol len.« Ihre Stimme wurde allmählich schrill. »Halten Sie meinen Sohn irgendwo fest?« »Nein, bestimmt nicht, Mrs. Pierson. Ich könnte wahr scheinlich feststellen, wo Ihr Detektiv wohnt, wenn ich die französische Polizei anrufe. Also können Sie es mir nicht sagen und mir die Mühe ersparen? Es ist doch wohl kein Geheimnis, wo sie wohnen in Paris, nicht wahr?« Kurzes Zögern. »Sie wohnen im Hotel Lutetia. Aber ich wüßte gern, wozu Sie das wissen wollen.« Tom hatte jetzt, was er wollte. Was er nicht wollte, war, daß die Berliner Polizei von Mrs. Pierson oder ihrem Detektiv alarmiert wurde. »Weil ich ihn in Paris gesehen habe«, sagte Tom. »Aber ich bin nicht ganz sicher. Dan ke vielmals, Mrs. Pierson.« »Gesehen – wo in Paris?« Tom wollte auflegen. »Im Amerikanischen Drugstore, St. Germain-des-Près. Ich komme eben aus Paris. Wie dersehen, Mrs. Pierson.« Er legte den Hörer auf. Er begann zu packen. Das Hotel Franke kam ihm auf einmal sehr riskant vor. Die zwei oder drei Männer, die Frank in der Gewalt hatten, konnten durchaus ihm und Frank schon seit Freitag abend irgendwann ins Hotel ge folgt sein; sie mochten ohne weiteres einen Schuß auf ihn abfeuern, wenn er das Hotel verließ, oder sogar he raufkommen in sein Zimmer. Tom nahm den Hörer auf und teilte der Rezeption mit, er werde das Hotel in weni 203
gen Minuten verlassen. Könnten sie bitte die Rechnung für ihn und auch für Herrn Andrews fertigmachen. Dann machte er seinen Koffer zu und ging mit Franks Schlüs sel hinüber in Franks Zimmer. Ihm war gerade eingefal len, daß er Eric Lanz anrufen konnte. Eric war vielleicht bereit, ihn aufzunehmen, wenn nicht, dann war jedes an dere Hotel in Berlin sicherer als dieses hier. Tom packte Franks Sachen ein, nahm die Schuhe vom Fußboden, Zahnbürste und Zahnpasta aus dem Bad, den Berliner Bären, schloß den Koffer und verließ damit das Zimmer. Den Schlüssel ließ er stecken. Er brachte den Koffer in sein eigenes Zimmer, fand Erics Karte noch in seiner Ja ckentasche und wählte die Nummer. Eine deutsche Stimme, tiefer als Erics, meldete sich und fragte, wer da sei. »Tom Ripley. Ich bin in Berlin.« »Ach, Tom Ripley! Einen Moment bitte – Eric ist im Bad.« Tom lächelte. Eric war zu Hause und saß im Bad! Nach wenigen Sekunden meldete sich Eric. »Hallo, Tom! Willkommen in Berlin. Wann können wir uns sehen?« »Jetzt gleich, wenn möglich«, sagte Tom so gelassen wie möglich. »Haben Sie zu tun?« »Nei-n. Wo sind Sie?« Tom sagte es ihm. »Ich bin im Begriff, das Hotel zu verlassen.« »Wir können Sie abholen. Haben Sie etwas Zeit?« fragte Eric vergnügt. »Peter! Albrecht-Achilles-Straße, leicht für uns . . .« Seine Stimme verlor sich – deutsch sprechend – und war dann wieder da. »Tom! In knapp zehn Minuten sehen wir uns!« Sehr erleichtert legte Tom den Hörer auf.
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Der Angestellte an der Rezeption hatte sich nicht wei ter erstaunt angehört, als Tom die Rechnungen verlang te. Aber vielleicht würde er es merkwürdig finden, wenn er den Koffer des Jungen mitnahm. Tom würde sagen, Herr Andrews erwarte ihn am Flughafen. Er bezahlte die beiden Rechnungen, plus die Kosten für die Telefonge spräche, und niemand stellte ihm Fragen. Schön. Er hät te geradezu einer von Franks Kidnappern sein können, dachte er, oder ein Komplize, weil er so einfach Franks Sachen mitnahm. »Gute Reise!« sagte der Mann an der Rezeption lä chelnd. »Danke schön.« Dann sah Tom, daß Eric die Halle betrat. »Hallo, Tom!« sagte Eric strahlend. Das dunkle Haar war noch feucht vom Baden. »Sie sind hier fertig?« fragte er mit einem Blick zur Rezeption. »Warten Sie, ich neh me den einen Koffer, ja? Sind Sie allein?« Es war ein Page da, aber er wartete nahe bei einem anderen Mann mit drei Koffern. »Ja, im Augenblick. Mein Freund wartet am Flugha fen«, sagte Tom, falls der Mann an der Rezeption oder sonst jemand sie hörte. Eric hatte Franks Koffer. »Kommen Sie – Peters Wa gen steht hier draußen, rechts. Meiner ist bis morgen in der Werkstatt. Momentan kaputt. Ha!« Ein blaßgrüner Opel stand in der Nähe am Bordstein. Eric machte Tom mit Peter Schubler – so jedenfalls klang der Name – bekannt, einem schlanken hochgewachse nen Mann von etwa dreißig, hohlwangig mit schwarzem kurzgeschnittenem Haar, das aussah, als sei es gerade frisch geschnitten. Das Gepäck hatte bequem Platz auf dem Rücksitz und Fußboden. Eric bestand darauf, daß sich Tom nach vorn zu Peter setzte. 205
»Wo ist denn Ihr Freund? Wirklich am Flughafen?« In teressiert beugte sich Eric vor, als Peter den Wagen star tete. Eric wußte nicht, wer der Freund war; aber vielleicht argwöhnte er, es sei Frank Pierson, Empfänger des Pas ses, den Eric für Tom nach Paris gebracht hatte. »Nein«, sagte Tom. »Ich sag´s Ihnen später. Können wir vielleicht jetzt zu Ihnen nach Hause fahren, Eric, oder ist das zu umständlich?« Tom sprach Englisch, er wußte nicht, ob Peter ihn verstand. »Aber selbstverständlich! Ja, wir fahren nach Hause, Peter! Peter war sowieso auf dem Weg nach Hause. Wir dachten, Sie hätten vielleicht ein bißchen Zeit.« Tom blickte prüfend auf beide Straßenseiten, genau wie beim Verlassen des Hotels; er betrachtete die Leute auf dem Gehweg, selbst die am Bordstein geparkten Au tos. Aber als sie am Kurfürstendamm ankamen, war ihm leichter. »Sie sind mit dem Jungen zusammen?« fragte Eric auf Englisch. »Wo ist er?« »Macht einen Spaziergang. Ich kann ihn später errei chen«, sagte Tom obenhin. Plötzlich fühlte er sich scheußlich elend. Er ließ das Fenster ganz herunter. »Mein Haus ist Ihr Haus, wie es in Spanien heißt«, sagte Eric unten im Treppenhaus eines alten, aber reno vierten Etagenhauses und zog einen Schlüsselring her aus. Sie waren in der Niebuhrstraße, einer Parallelstraße zum Ku´damm. Sie fuhren zu dritt mit den Koffern in einem geräumi gen Fahrstuhl nach oben, wo Eric noch eine Tür öffnete. Es folgten weitere Begrüßungsworte von Eric, und Tom stellte mit Peters Hilfe die Koffer in eine Ecke des Wohn zimmers. Es war eine Junggesellenwohnung ohne Firle fanz, mit schweren alten Möbeln, nur eine spiegelblank 206
polierte silberne Kaffeekanne auf einer Anrichte strahlte ein wenig Glanz aus. An den Wänden hingen mehrere deutsche Landschaften und Waldgemälde aus dem 19. Jahrhundert, die Tom als wertvoll erkannte, aber er fand solche Bilder ziemlich langweilig. »Entschuldige uns eine Minute, Peter. Nimm ein Bier, wenn du magst«, sagte Eric. Der schweigsame Peter nickte, griff sich eine Zeitung und nahm auf einem großen schwarzen Sofa unter einer Lampe Platz. Eric winkte Tom in ein danebenliegendes Schlafzim mer und schloß die Tür. »Was ist denn los?« Sie setzten sich nicht. Tom berichtete schnell, auch von seinem Telefongespräch mit Lily Pierson. »Mir ist eingefallen, daß die Kidnapper mich vielleicht aus dem Weg räumen wollen. Möglich, daß sie mich erkannt ha ben, im Grunewald. Sie können es auch aus dem Jungen rauskriegen. Deshalb wäre ich Ihnen mehr als dankbar, wenn Sie mich heute nacht bei sich aufnehmen könnten, Eric.« »Heute nacht? Zwei Nächte. Länger! Mein Gott, was für eine schreckliche Sache! Und jetzt – die Lösegeldfor derung, nehm ich an? An die Mutter?« »Nehm ich an, ja.« Tom zog an einer Zigarette und zuckte die Achseln. »Ich glaube eigentlich nicht, daß sie versuchen wer den, den Jungen aus West-Berlin rauszuschaffen. Zu schwierig. An den Ost-Übergängen wird jeder Wagen gründlich durchsucht.« Das konnte Tom sich vorstellen. »Ich möchte heute abend gern zwei Telefongespräche führen – eins mit der Polizei, um festzustellen, ob sie etwas über den Audi im Grunewald herausgefunden haben, und eins mit dem Hotel, um zu fragen, ob Frank vielleicht zurückgekommen 207
ist. Mir ist eingefallen, daß die Kidnapper vielleicht kalte Füße kriegen und den Jungen laufen lassen. Aber ich –« »Aber?« »Ich werde niemandem Ihren Namen oder Ihre Tele fonnummer nennen. Das ist nicht nötig.« »Danke – jedenfalls nicht der Polizei. Wichtig.« »Ich könnte auch von draußen anrufen, wenn Ihnen das lieber ist.« »Mein Telefon!« Eric winkte mit der Hand. »Ihre Ge spräche sind harmlos, verglichen mit dem, was hier so vor sich geht. Oft verschlüsselt, das gebe ich zu. Machen Sie nur, Tom, und bitten Sie Peter, es für Sie zu erledi gen.« Erics Ton war selbstsicher. »Im Augenblick ist Pe ter mein Fahrer, Sekretär, Leibwächter – alles. Kommen Sie mit und trinken Sie was!« Er zog Tom am Arm. »Sie vertrauen Peter.« Eric flüsterte. »Peter ist aus Ost-Berlin geflüchtet. Beim zweiten Versuch hat er´s geschafft, das heißt, da haben sie ihn rausgeschmissen. Beim ersten Mal kam er ins Gefängnis, da hat er sich so aufgeführt, daß sie es nicht aushalten konnten. Peter sieht ganz ›mild und leise‹ aus – aber er hat Schneid.« Sie gingen ins Wohnzimmer. Eric schenkte Whisky ein, und Peter ging sogleich in die Küche und holte Eis. Es war jetzt fast acht. »Ich werde Peter bitten, das Hotel Franke anzurufen und zu fragen, ob sie eine Nachricht haben von – wie hieß er doch?« »Benjamin Andrews.« »Ach ja.« Eric blickte Tom prüfend an. »Sie sind ner vös, Tom. Setzen Sie sich.« Peter drückte Eiswürfel aus einer schwarzen Gummi form in einen silbernen Kübel. Bald hatte Tom einen
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Scotch in der Hand. Eric wandte sich an Peter und be richtete ihm alles in schnellem Deutsch. »Wa-as?« sagte Peter konsterniert und warf Tom ei nen respektvollen Blick zu, als habe er plötzlich erkannt, daß Tom heute allerhand durchgemacht hatte. ». . . die Notruf-Zentrale«, sagte Eric auf Deutsch zu Peter. »Und die Autonummer, sagten Sie. Ihren Namen haben Sie wohl nicht genannt.« »Nein, natürlich nicht.« Tom schrieb die Nummer von dem Roth-Händle-Päckchen deutlicher ab auf einen Zet tel, der neben Erics Telefon lag, und fügte ›dunkelblauer Audi‹ hinzu. »Vielleicht noch zu früh, um was über den Wagen zu erfahren«, sagte Eric. »Vielleicht lassen sie ihn stehen, wenn er gestohlen ist. Das bringt uns nicht weiter – au ßer wenn die Polizei Fingerabdrücke nimmt.« »Rufen Sie erst mal das Hotel an, Peter«, sagte Tom. Er las die Nummer von der Hotelrechnung ab. »Je weni ger sie dort meine Stimme hören, umso besser, scheint mir. Können Sie fragen, ob eine Nachricht von Herrn Andrews vorliegt?« »Andrews«, wiederholte Peter und wählte dann die Nummer. »Oder irgendeine Nachricht für Herrn Ripley.« Peter nickte und gab die Fragen an das Hotel Franke weiter. Nach einigen Sekunden sagte er: »Okay. Danke schön.« Zu Tom gewandt, sagte er: »Keine Nachrich ten.« »Danke schön, Peter. Würden Sie jetzt mal die Polizei versuchen, wegen des Wagens?« Tom schlug in Erics Telefonbuch nach und vergewisserte sich, daß die Notruf-Nummer die gleiche war, die er angerufen hatte. Er zeigte sie Peter. »Hier – diese.«
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Peter wählte, sprach ein paar Minuten – mit längeren Pausen – mit jemandem und legte schließlich auf. »Sie haben so einen Wagen nicht gefunden«, sagte er. »Wir können es später nochmal versuchen – bei bei den«, sagte Eric. Peter ging in die Küche, und Tom hörte Geschirr klap pern. Eine Kühlschranktür wurde geschlossen. Peter war offenbar mit dem Haushalt vertraut. »Frank Pierson«, sagte Eric mit seinem charmanten kleinen Lächeln, ohne darauf zu achten, daß gerade Pe ter mit einem Tablett ins Zimmer trat. »Ist sein Vater nicht vor gar nicht langer Zeit gestorben? Ja. Ich hab´s gele sen.« »Ja«, sagte Tom. »Selbstmord, nicht wahr?« »Sieht so aus.« Peter deckte den Tisch. Er hatte kaltes Roastbeef und Tomaten bereitgestellt, dazu eine Schüssel mit frischen Ananasscheiben, die nach Kirsch dufteten. Sie zogen die Stühle heran und nahmen an dem langen Tisch Platz. »Sie haben mit der Mutter gesprochen. Sollen Sie jetzt mit dem Detektiv in Paris sprechen?« Eric schob sich das rote Fleisch in den Mund und ließ einen Schluck roten Wein folgen. Erics beiläufige Art ärgerte Tom. Für Eric war dies nichts als eine nicht ganz saubere Situation, und Eric war bereit, Tom ein bißchen zu helfen, weil Tom ein Freund von Reeves Minot war. Eric hatte Frank ja nie gesehen. »Ich brauche nicht mit Paris zu sprechen, nein«, sagte Tom; er meinte, er brauche sich nicht zum Vermittler zu berufen. »Ich sagte schon, die Mutter kennt meinen Na men gar nicht.« Peter hörte aufmerksam zu, vielleicht verstand er al les. 210
»Ich hoffe bloß, der Detektiv alarmiert jetzt nicht etwa die Berliner Polizei – wenn Mrs. Pierson eine Lösegeld forderung erhält. In so einem Fall ist die Polizei nicht im mer von Nutzen.« »Nein – nicht wenn man den Jungen lebend wieder haben will«, sagte Eric. Ob der amerikanische Detektiv jetzt wohl nach Berlin kam? dachte Tom. Der Junge würde sehr wahrscheinlich in Berlin freigelassen werden, da es so schwierig war, ihn irgendwo anders hinzubringen. Und welche Stelle wür den die Kidnapper für die Hinterlegung des Gelds ange ben? Das konnte man nur raten, dachte Tom. »Was macht Ihnen jetzt wieder Sorgen?« fragte Eric. »Keine Sorgen«, sagte Tom lächelnd. »Ich dachte, daß Mrs. Pierson ihrem Detektiv vielleicht rät, sich vor einem Amerikaner in Berlin in acht zu nehmen, weil er entweder eine Gaunerei vorhat oder mit den Kidnappern unter einer Decke steckt. Ich hab´ ihr gesagt, ich meinte Frank in Paris gesehen zu haben. Leider weiß sie, daß ich von Berlin aus sprach, das hatte ihr der Telefonist im Hotel gesagt.« »Tom, Sie grübeln zu viel. Aber das ist vielleicht der Grund, warum Sie Erfolg haben.« Erfolg? Hatte er Erfolg? Peter sagte zu Eric etwas auf Deutsch und so schnell, daß Tom nicht mitkam. Eric lachte, und als er herunter geschluckt hatte, was im Mund war, sagte er zu Tom: »Peter haßt Kidnapper. Er sagt, sie tun, als wären sie Linke, der ganze politische Scheiß, aber alles was sie wollen ist Geld, genau wie andere Gauner.« »Ich glaube, ich würde gern heute abend noch das Hotel Lutetia anrufen und feststellen, ob die was gehört haben«, sagte Tom. »Die Kidnapper haben vielleicht Mrs.
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Pierson angerufen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie ihr ein Telegramm oder ´n Eilbrief schicken.« »Nein«, sagte Eric und schenkte allen Wein nach. »Jetzt weiß der Pariser Detektiv vielleicht schon, wo das Geld übergeben werden soll und wo sie den Jungen freilassen wollen und all das.« »Und wird er Ihnen das alles erzählen?« fragte Eric und setzte sich wieder. Tom lächelte. »Vielleicht nicht. Aber etwas werd ich schon mitkriegen, nehme ich an. Übrigens, Eric, meine Telefongespräche will ich bezahlen.« Tom rechnete mit weiteren Gesprächen. »Was für eine Idee! Typisch englisch, sowas – Freun de und Gäste bezahlen ihre Gespräche. In meinem Hau se nicht – das ist Ihr Haus. Wie spät ist es? Würde es Ihnen helfen, wenn ich an Ihrer Stelle das Lutetia anriefe, Tom?« Eric blickte auf seine Armbanduhr und sprach weiter, bevor Tom antworten konnte. »Gerade zehn, auch in Paris. Lassen wir dem Detektiv noch etwas Zeit, sein französisches Dinner zu Ende zu essen – auf Pier sons Kosten. Ha-ha!« Eric schaltete den Fernseher ein, während Peter Kaf fee machte. Nach einigen Minuten kamen Nachrichten. Zweimal wurde Eric ans Telefon gerufen, beim zweiten mal sprach er sehr schlechtes Italienisch. Dann hörten Eric und Peter einem Politiker zu, der mehrere Minuten lang sprach; die ganze Zeit lachten sie und machten Be merkungen. Tom war nicht interessiert genug, um sich zu bemühen, das, was der Mann auf dem Bildschirm sagte, zu verstehen. Gegen elf schlug Eric vor, das Hotel Lutetia anzurufen. Tom hatte es nicht noch einmal erwähnt, damit ihn Eric nicht wieder nervös nannte.
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»Ich glaube, ich hab die Nummer hier.« Eric blätterte in einem schwarzledernen Adressbuch. »Ja, da ist sie schon –« Er drehte die Wählscheibe. Tom stand neben ihm. »Fragen Sie nach John Pier son, ja? Ich weiß nicht, wie der Detektiv heißt.« »Wissen die denn nicht längst Ihren Namen?« fragte Eric. »Der Junge hat doch sicher –« Eric wies auf den kleinen runden Mithörer hinten an seinem Apparat. Tom nahm ihn und hielt ihn sich ans Ohr. »Hallo. Kann ich bitte mit John Pierson sprechen?« sagte Eric auf Französisch und nickte Tom befriedigt zu, als die Telefonistin sagte, sie werde ihn verbinden. »Hallo?« sagte eine junge amerikanische Stimme, sehr ähnlich wie Franks. »Hallo. Ich rufe an, um zu fragen, ob Sie etwas von Ih rem Bruder gehört haben.« »Wer sind Sie?« fragte Johnny. Man hörte, wie eine andere männliche Stimme etwas zu ihm sagte. »Hallo?« kam jetzt eine tiefere Stimme. »Ich rufe an, um nach Frank zu fragen. Wie geht es ihm? Haben Sie von ihm gehört?« »Darf ich Ihren Namen wissen? Von wo sprechen Sie?« Auf Erics fragenden Blick nickte Tom. »Berlin«, sagte Eric. »Wie lautet die Nachricht für Mrs. Pierson?« Eric sprach fast gelangweilt sachlich. »Warum soll ich Ihnen das sagen, wenn Sie nicht an geben, wer Sie sind«, erwiderte der Detektiv. Peter lehnte an der Anrichte und hörte zu. Mit einer Handbewegung forderte Tom jetzt Eric auf, ihm den Telefonhörer zu geben, und reichte ihm den kleinen Mithörer. »Hallo – hier ist Tom Ripley.« »Oh. Ja. Haben Sie mit Mrs. Pierson gesprochen?«
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»Ja. Ich wüßte gern, ob mit dem Jungen alles in Ord nung ist und welche Vereinbarung getroffen wurde.« »Wir wissen gar nicht, ob mit dem Jungen alles in Ordnung ist«, erwiderte der Detektiv kühl. »Sie haben Lösegeld gefordert?« »Hmm – Ja.« Es klang, als sei der Detektiv zu dem Schluß gekommen, er habe nichts zu verlieren, wenn er es zugab. »Das Geld soll in Berlin übergeben werden?« »Ich weiß gar nicht, warum Sie das interessiert, Mr. Ripley.« »Weil ich ein Freund von Frank bin.« Der Detektiv verzichtete auf eine Bemerkung. »Frank kann Ihnen das sagen – wenn Sie mit ihm sprechen«, sagte Tom. »Wir haben nicht mit ihm gesprochen.« »Aber die werden Sie mit ihm sprechen lassen, um zu beweisen, daß sie ihn haben, nicht wahr? Jedenfalls, Mr. – darf ich um Ihren Namen bitten?« »Ja-a. Thurlow. Ralph. Woher wußten Sie, daß der Junge gekidnappt wurde?« Tom konnte oder wollte das nicht beantworten. »Ha ben Sie es der Berliner Polizei gemeldet?« »Nein – das wollen sie nicht.« »Haben Sie eine Idee, wo in Berlin die sind?« fragte Tom. »Nein.« Thurlow schien entmutigt. Nicht ganz einfach, einem Anruf ohne polizeiliche Mit hilfe auf die Spur zu kommen, dachte Tom. »Was für ei nen Beweis wollen die Ihnen geben?« »Sie sagten, er würde mit uns reden – vielleicht heute nacht, später. Er habe Schlafmittel genommen, sagten sie. – Können Sie mir Ihre Telefonnummer dort geben?«
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»Tut mir leid, das kann ich nicht. Aber ich kann Sie er reichen. Nacht, Mr. Thurlow.« Als Thurlow noch etwas sagen wollte, legte Tom den Hörer auf. Eric sah Tom vergnügt an, als sei die Unterhaltung ein Erfolg gewesen, und legte den Mithörer hin. »Na schön, etwas hab ich erfahren«, sagte Tom. »Der Junge ist entführt worden, und ich hab mich nicht geirrt.« »Und was ist der nächste Schritt?« fragte Eric. Tom schenkte sich Kaffee aus der silbernen Kanne ein. »Ich möchte in Berlin bleiben, bis irgendwas passiert. Bis ich weiß, daß Frank in Sicherheit ist.«
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Peter ging jetzt, nachdem er Eric versprochen hatte, morgen früh zur Werkstatt zu gehen und dafür zu sorgen, daß man Erics Wagen vor seinem Haus abstellte. »Tom Ripley – viel Erfolg!« sagte Peter zu Tom. Sein Hände druck war fest. »Ist er nicht großartig?« sagte Eric, als er die Woh nungstür zugemacht hatte. »Ich habe ihm geholfen, aus Ostberlin rauszukommen, das hat er mir nie vergessen. Von Beruf ist er Buchprüfer. Er könnte hier auch eine Stellung kriegen – eine Weile hatte er mal eine. Aber im Augenblick hat er für mich so viel zu tun, daß er keinen Job braucht. Er versteht auch eine Menge von Einkom mensteuererklärungen.« Eric lachte. Tom hörte ihm zu, überlegte aber gleichzeitig, daß er Paris heute nacht noch einmal anrufen wollte, vielleicht so um zwei oder drei Uhr früh, um festzustellen, ob Thur low mit Frank gesprochen hatte. Schlaftabletten, natür lich. Das war wohl zu erwarten. Eric stellte eine Zigarrenkiste hin, aber Tom lehnte ab. »Gut, daß Sie dem Detektiv nicht meine Telefonnummer gegeben haben. Der könnte sie an die Kidnapper weiter geben. Viele Detektive sind Boobs, wissen Sie – ihnen liegt bloß daran, möglichst viele Informationen zu krie gen; andere Leute sind ihnen egal. Boobs! Ich hab ame rikanischen Slang sehr gern.« Tom verzichtete darauf, ihm mitzuteilen, daß Boobs neben ›Tölpel‹ auch noch ›Titten‹ bedeutete. »Ich schick Ihnen mal ein Buch darüber. Zürich, Basel, das ist die Frage«, sann er vor sich hin. Es freute ihn, daß er in E rics Gegenwart laut vor sich hin sinnen konnte, denn ge wöhnlich mußte er seine Gedanken für sich behalten. 216
»Sie meinen, dort wird das Geld übergeben werden?« »Ja, halten Sie das nicht für sehr wahrscheinlich? Au ßer wenn die Kidnapper es in Mark in Berlin brauchen, für ihre anti-Establishment-Zwecke oder sowas. Aber die Schweiz ist immer sicherer – meine ich.« »Was glauben Sie, wieviel die verlangen werden?« E ric zog sacht an seiner Zigarre. »Ach – ein, zwei Millionen Dollar? Thurlow kennt den Betrag vielleicht schon. Kann sein, daß er morgen in die Schweiz fährt.« »Warum sind Sie eigentlich so interessiert an diesem Fall, Tom – wenn ich fragen darf?« »Oh – ich – ich bin interessiert an der Sicherheit des Jungen.« Tom schlenderte, die Hände in den Taschen, im Zimmer umher. »Er ist ein merkwürdiger Junge, wenn man bedenkt, wie reich die Familie ist. Er fürchtet das Geld, oder haßt es. – Wissen Sie, daß er meine sämtli chen Schuhe poliert hat? Auch die, zum Beispiel.« Tom hob den rechten Fuß. Der Mokassin glänzte noch immer, auch nach dem Marsch durch den Grunewald. Tom dachte daran, daß Frank seinen Vater umgebracht hatte. Das war der Grund für Toms Mitgefühl. Aber für Eric füg te er nur hinzu: »Er hat ein Mädchen in New York, das er liebt. Sie konnte ihm nicht schreiben, seit er in Europa ist, weil er ihr keine Adresse angeben konnte. Er wollte eine Weile inkognito bleiben. Und nun sitzt er auf Kohlen – ich meine, er ist unruhig, weil er nicht weiß, ob das Mädchen ihn noch mag. Er ist ja erst sechzehn – Sie wissen, wie das ist.« Aber war Eric jemals verliebt gewesen? Tom konnte es sich kaum vorstellen. Bei Eric dachte man in erster Linie an Egoismus und Selbsterhaltung. Eric nickte nachdenklich. »Er war bei Ihnen im Haus, als ich bei Ihnen war. Ich wußte, es war jemand da. Ich dachte, vielleicht ein Mädchen – oder –« 217
Tom lachte. »Ein Mädchen, das ich vor meiner Frau versteckte?« »Warum ist er von zu Hause weggelaufen?« »Ach – das tun doch Jungens. Vielleicht hat ihn der Tod seines Vaters mitgenommen. Vielleicht war´s auch seine Freundin. Er wollte sich ein paar Tage verstecken – für sich sein. Er hat bei mir im Garten gearbeitet.« »Hat er in Amerika irgendetwas Illegales gemacht?« fragte Eric mit beinahe lehrerhafter Strenge. »Nicht daß ich wüßte. Aber er wollte eine Weile nicht Frank Pierson sein, deshalb hab ich ihm einen neuen Paß besorgt.« »Und Sie haben ihn nach Berlin gebracht.« Tom holte tief Atem. »Ich dachte, ich könnte ihn dazu überreden, von hier aus nach Hause zurückzukehren. Das habe ich auch getan. Er hat für morgen einen Flug gebucht, zurück nach New York.« »Morgen«, wiederholte Eric emotionslos. Warum sollte Eric auch irgendetwas fühlen, dachte Tom. Er betrachtete die Knöpfe an Erics Seidenhemd, sie spannten sich über der Wampe seines Bauchs. So wie die Knöpfe aussahen, fühlte sich Tom. »Ich möchte Thurlow heute nacht nochmal anrufen. Ganz spät viel leicht – gegen zwei oder drei Uhr früh. Hoffentlich stört Sie das nicht, Eric.« »Ganz gewiß nicht, Tom. Das Telefon steht hier zu Ih rer Verfügung.« »Ich darf Sie vielleicht fragen, wo ich schlafen soll. Hier vielleicht?« Tom meinte das große Roßhaarsofa. »Ach, wie gut, daß Sie das sagen! Sie sehen wirklich müde aus, Tom. Ja, hier auf dem Sofa, aber es ist ein Bettsofa. Passen Sie auf!« Eric nahm ein rosa Kissen vom Sofa. »Es sieht vielleicht antik aus, aber es ist was ganz Neues. Ein Knopf –« Eric drückte irgendwas, und 218
der Sitz klappte heraus, der Rücken legte sich flach, und jetzt war es ein Doppelbett. »Sehen Sie!« »Fabelhaft!« sagte Tom. Eric holte Decken und Bettwäsche, und Tom half ihm. Erst kam eine Decke, um die von den Sofaknöpfen ver ursachten Vertiefungen auszufüllen, dann die Laken. »Ja, es wird Zeit, daß Sie sich hinlegen. Hinlegen, ausle gen, überlegen, ablegen, umlegen. Manchmal finde ich, Englisch ist ebenso – beweglich wie Deutsch«, sagte Eric und klopfte die Kissen zurecht. Tom zog seinen Pullover aus; er wußte, er würde heu te nacht wie ein Stein schlafen, aber er hatte keine Lust zu einer etymologischen Unterhaltung über Wie-einStein-schlafen, falls Eric sich für den Ausdruck interes sierte; er sagte daher nichts und zog seinen Pyjama un ten aus dem Koffer hervor. Die Kidnapper konnten Frank gezwungen haben, seinen Namen zu nennen, dachte Tom. Ob Mrs. Pierson soviel Vertrauen zu ihm hatte, daß sie ihn das Lösegeld überbringen ließ? Tom merkte, daß er darauf brannte, den Kidnappern auf irgendeine Weise einen Schlag zu versetzen. Vermutlich war das unsinnig, total verrückt, weil er im Augenblick gereizt und viel zu müde war, um logisch zu denken. »Sie können das Badezimmer haben, Tom«, sagte E ric. »Ich sag Ihnen jetzt Gutenacht, dann brauche ich Sie nicht nochmal zu stören. Soll ich meinen Wecker für Sie auf zwei Uhr stellen, damit Sie telefonieren können?« »Ich denke, das wird schon gehen – ich wache auf«, erwiderte Tom. »Danke – vielmals, Eric.« »Ach, wo ich grad dran denke, noch eine kleine Frage. Heißt es im Englischen: waken, oder wake, oder awaken somebody?« Tom schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das wissen die Engländer selber nicht.« 219
Dann duschte Tom und ging zu Bett, wobei er ver suchte, sich innerlich auf drei Uhr einzustellen, damit er aufwachte; genau noch eine Stunde und zwanzig Minu ten. Lohnte sich das Risiko, selber entführt oder schlim mer noch: erschossen zu werden, um das Lösegeld zu überbringen, wenn irgendjemand anderes es auch tun konnte? Vielleicht bestimmten die Kidnapper einen eige nen Mann. Wen? Vielleicht bestanden sie darauf, daß Tom Ripley es überbrachte? Durchaus möglich. Gelang es den Kidnappern, ihn zu fassen, dann kriegten sie noch etwas mehr Geld. Tom versuchte sich vorzustellen, wie Heloise das Lösegeld zusammenbrachte – wieviel wohl, eine Viertelmillion? – und vielleicht ihren Vater bat – Himmel, nein, das nicht! Hier lachte Tom ins Kopfkissen. Würde Jacques Plisson Geld für seinen Schwiegersohn Tom Ripley herausrücken? Nicht sehr wahrscheinlich. Eine Viertelmillion – das wären sämtliche Wertpapiere, die Tom und Heloise besaßen; vielleicht müßte sogar Belle Ombre verkauft werden. Undenkbar. Und vielleicht geschah nichts von alledem, was er sich da ausdachte. Tom erwachte aus einem Angsttraum: er hatte ver sucht, einen Wagen eine unglaublich steile Straße hi naufzufahren, steiler als irgendein Hügel in San Francis co, und der Wagen war im Begriff, sich rückwärts zu ü berschlagen, bevor er die Höhe erreichte. Seine Stirn und Brust waren glitschig vor Schweiß. Aber es war eine Minute vor drei, genau richtig. Er wählte die Nummer des Lutetia-Hotels, die in Erics Adressbuch stand; auch die Vorwahlnummer hatte Eric notiert. Tom fragte nach Mr. Ralph Thurlow. »Hallo. – Ja – Mr. Ripley. Hier Thurlow.« »Haben Sie was Neues? Haben Sie mit dem Jungen gesprochen?« 220
»Ja, ungefähr vor einer Stunde haben wir mit ihm ge sprochen. Er sagt, er sei unverletzt. Klang sehr müde.« Auch Thurlow klang müde. »Und die Abmachung?«
»Sie haben den Ort noch nicht festgesetzt. Sie –«
Tom wartete. Wahrscheinlich wollte Thurlow Geld lie
ber nicht erwähnen, vielleicht hatte er auch einen harten Tag im Hotel Lutetia hinter sich. »Aber sie haben Ihnen gesagt, was sie wollen?« »Ja, das kommt morgen von Zürich – ich meine heute. Mrs. Pierson läßt es per Telex an drei Berliner Banken anweisen. Die verlangen drei Banken. Und Mrs. Pierson hat mit Zürich schon Kontakt aufgenommen.« Vielleicht war die Summe sehr groß und Mrs. Pierson wollte damit so wenig Aufsehen wie möglich erregen, dachte Tom. »Und Sie kommen nach Berlin?« »Das habe ich noch nicht arrangiert.«
»Wer holt es denn bei den Banken ab?«
»Das weiß ich nicht. Die wollen erst mal wissen, ob
das Geld in Berlin ist. Später wollen sie mir dann sagen, wo es übergeben werden soll.« »In Berlin übergeben, nehmen Sie an.« »Ich denke schon. Ich weiß es nicht.« »Die Polizei ist aber nicht informiert – und hört Ihre Te lefongespräche ab?« »Nein, bestimmt nicht«, sagte Thurlow. »So haben wir es ja gewollt.« »Wie hoch ist der Betrag?« »Zwei Millionen. Dollar. In deutscher Mark.« »Und Sie glauben, das wird alles von einem Bankbo ten erledigt?« Bei der Vorstellung mußte Tom lächeln. »Ich – es hört sich so an, als ob sie darüber selber noch nicht einig sind«, fuhr Thurlows amerikanische
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Stimme monoton fort. »Wegen Ort und Zeit. Mit mir spricht nur ein Mann, mit deutschem Akzent.« »Soll ich Sie nochmal anrufen, gegen neun heute morgen? Müßte das Geld dann nicht hier sein?« »Ja, das nehme ich an.« »Mr. Thurlow, ich bin bereit, das Geld abzuholen und es dahin zu bringen, wo die es wünschen. Wär vielleicht schneller, weil –« Tom hielt inne. »Bitte nennen Sie de nen gegenüber aber nicht meinen Namen.« »Der Junge hat ihn schon genannt und gesagt, Sie wären sein Freund. Hat er auch seiner Mutter gesagt.« »Na schön, aber wenn sie nach mir fragen, bitte sagen Sie, Sie hätten nichts von mir gehört, und da ich in Frank reich lebe, kann ich ja nach Hause gefahren sein. Bitte sagen Sie das auch Mrs. Pierson; ich nehme an, die ru fen sie an.« »Sie rufen nur mich an. Nur einmal haben sie den Jungen mit ihr sprechen lassen.« »Sie könnten Mrs. Pierson bitten, ihrer Schweizer Bank oder den Berliner Banken mitzuteilen, daß ich das Geld abholen soll – wenn Mrs. Pierson damit einverstan den ist.« »Ja, ich werde dafür sorgen«, sagte Thurlow. »Ich rufe Sie in ein paar Stunden nochmal an. Ich bin sehr froh, daß dem Jungen nichts fehlt – im Augenblick jedenfalls nichts Ernsteres als Schlaf.« »Ja, das stimmt – hoffentlich.« Dann legte Tom auf und ging wieder zu Bett. Er er wachte davon, daß Eric sich leise in der Küche zu schaf fen machte: der Kessel klapperte, die elektrische Kaf feemühle surrte – behagliche Geräusche. Es war zwölf Minuten vor neun, und heute war Montag, der achtund zwanzigste August. Tom ging in die Küche, um Eric die
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Resultate seines Gesprächs von drei Uhr früh mitzutei len. »Zwei Millionen Dollar?« sagte Eric. »Genau was Sie gedacht hatten, nicht?« Das schien Eric mehr zu interessieren als die Tatsa che, daß der Junge am Leben und wohl genug war, um mit seiner Mutter zu sprechen. Tom sagte nichts dazu und trank seinen Kaffee. Tom zog sich an und schaffte es, sein Bett wieder in Sofaform zu bringen; die Laken faltete er sauber zusam men, er würde sie vielleicht heute abend nochmal brau chen. Als das Wohnzimmer wieder ordentlich aussah, blickte Tom auf die Uhr, weil er an Thurlow dachte; dann trat er aus Neugier an die lange Reihe der Schillerbände in Erics Bücherbord und zog Die Räuber heraus. Es war tatsächlich ein Einzelband, in Leder gebunden. Tom hat te den Verdacht gehabt, bei den Sämtlichen Werken von Schiller handele es sich um eine Attrappe, hinter der sich ein Safe oder ein Geheimfach – vielleicht in den Büchern selber – verbarg. Tom nahm den Hörer auf, wählte die Nummer des Ho tels Lutetia und fragte nach Mr. Ralph Thurlow. Thurlow meldete sich. »Ja – hallo, Mr. Ripley. Ich hab jetzt die Namen der Banken, drei sind es.« Thurlow hörte sich erheblich wacher und munterer an. »Und das Geld ist hier eingetroffen?« »Ja, und Mrs. Pierson ist damit einverstanden, daß Sie es heute abholen – so bald wie möglich. Sie hat Zürich Bescheid gesagt, daß dies ein Transfer ist, der mit ihrer Genehmigung vorgenommen wird, und Zürich hat die Berliner Banken ebenso informiert. Die Banken dort scheinen komische Öffnungszeiten zu haben, aber das macht ja nichts. Sie müßten jede Bank anrufen und sa gen, wann Sie hinkommen, dann werden sie –« 223
»Verstehe«, sagte Tom. Er wußte, einige Banken öff neten erst nachmittags um halb vier, andere schlossen um eins. »Ja – die Banken –« Thurlow unterbrach ihn. »Die Leute, die – die mich an rufen, die wollen mich heute anrufen, später, um sicher zu sein, daß das Geld abgeholt worden ist, und dann wollen sie einen Ort angeben, wo es hinterlegt werden soll.« »Aha. Sie haben ihnen doch meinen Namen nicht ge nannt?« »Bestimmt nicht. Ich habe nur gesagt, es wird abge holt, es wird übergeben werden.« »Gut. Jetzt also die Banken, bitte.« Tom hatte einen Kugelschreiber und begann zu schreiben. Die erste war die Berliner ADCA-Bank im Europa-Center, die andert halb Millionen DM haben sollte, die zweite die Berliner Disconto-Bank mit dem gleichen Betrag, die dritte die Berliner Commerz-Bank mit »nicht ganz« einer Million DM. »Danke schön«, sagte Tom, als er alles aufge schrieben hatte. »Ich werde versuchen, es in den nächs ten Stunden abzuholen, und rufe Sie dann um Mittag herum nochmal an – wenn alles klappt.« »Ich bin hier.« »Noch etwas: sagten unsere Freunde was davon, daß sie zu einer Gruppe gehören?« »Gruppe –?« »Oder einer Gang? Manchmal geben sie sich doch ir gendwelche Namen, die sie einem dann gern nennen. Sowas wie die Roten Retter, wissen Sie.« Ralph Thurlow lachte unsicher, »Nein, das haben sie nicht getan.« »Glauben Sie, die telefonieren von einer Privatwoh nung aus?«
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»Nein, meistens nicht. Vielleicht das eine Mal, als der Junge mit seiner Mutter sprach. Sie schien das anzu nehmen. Aber heute morgen war es ein Münzapparat. Sie riefen gegen acht Uhr an und fragten, ob das Geld in Berlin angekommen sei. Wir waren die ganze Nacht auf Trab.« Als Tom auflegte, hörte er das Klicken der Schreibma schine in Erics Schlafzimmer. Tom wollte ihn nicht unter brechen; er zündete sich eine Zigarette an und dachte, er sollte Heloise anrufen, weil er versprochen hatte, heute oder morgen zurück zu sein, aber er wollte sich damit jetzt nicht aufhalten. Und wo mochte er morgen um diese Zeit sein? Tom stellte sich Frank vor, in einem Zimmer einge schlossen irgendwo in Berlin, vielleicht nicht gefesselt, aber Tag und Nacht unter Bewachung. Frank war der Typ, der einen Fluchtversuch riskieren, vielleicht sogar aus dem Fenster springen würde, wenn es nicht zu hoch war; und die Kidnapper mochten das gemerkt haben. Tom wußte auch, daß die Establishment-Gegner, die Gruppen, die Menschen entführten, in der Bevölkerung Freunde hatten, die ihnen Unterschlupf gewähren. Dar über hatte Reeves vor noch nicht langer Zeit am Telefon mit Tom gesprochen. Es war eine komplexe Situation, denn die Revolutionäre, die Gangs, behaupteten, zum politisch linken Flügel zu gehören, obgleich sie dort von der Mehrheit abgelehnt wurden. Tom kamen sie ganz ziellos vor, bis auf ihre offensichtlichen Bemühungen, eine Atmosphäre der Unruhe zu schaffen und die staatli chen Organe zu provozieren, damit sie zuschlugen und ihre vermutlich wahre, das heißt faschistische Farbe be kannten. Die Entführung und der Mord an Hanns Martin Schleyer, den manche als alten Nazi, als Repräsentanten des Managements und der Fabrikbesitzer hinstellten, 225
hatten unglückseligerweise eine behördliche Hexenjagd auf Intellektuelle, Künstler und Liberale entfacht. Und die Rechten, die sich den Augenblick zunutze machten, be haupteten immer wieder, daß die Polizei noch lange nicht hart genug zuschlage. Nichts in Deutschland war Schwarz oder Weiß und einfach, dachte Tom. Franks Kidnapper: waren das Terroristen oder überhaupt ir gendwie politisch motivierte Leute? Hatten sie vor, die Verhandlungen hinauszuziehen, sie bekannt zu machen? Tom hoffte nicht, noch mehr Publicity konnte er sich wirk lich nicht leisten. Eric kam ins Wohnzimmer, und Tom berichtete von den Banken. »Was für Summen!« Einen Augenblick sah Eric ver blüfft aus, dann blinzelte er und sagte: »Peter und ich können Ihnen heute morgen helfen, Tom. Die Banken sind alle um den Ku´damm herum. Wir können meinen Wagen nehmen, oder Peters. Peter hat immer eine Pisto le im Wagen, ich nicht. Ist natürlich nicht erlaubt hier.« »Ich dachte, Ihr Wagen wäre kapores.« »Kapores?« »Kaputt«, sagte Tom. »Ach – nur bis heute morgen. Peter sagte ja, er wolle versuchen, ihn bis zehn Uhr herzubringen. Grade neun fünfunddreißig. Wissen Sie, Tom, sicherheitshalber soll ten wir heute morgen alle zusammen losgehen, meinen Sie nicht?« Eric sah überaus vorsichtig aus, als er auf das Telefon zuging. Tom nickte. »Wir holen das Geld ab und bringen es hierher – wenn Ihnen das recht ist, Eric.« »Ja-aa, natürlich.« Eric ließ seinen Blick über die Wände schweifen, als werde er sie vielleicht in ein paar Stunden kahl und leer vorfinden. »Ich ruf jetzt einmal Pe ter an.« 226
Peter meldete sich nicht. »Er ist vielleicht schon weg und kümmert sich um mei nen Wagen«, sagte Eric. »Wenn er unten klingelt, jetzt bald, dann geh ich ihn fragen, ob er heute morgen mit uns kommen kann. Und wo soll das Geld später hin, Tom?« Tom lächelte. »Das werde ich hoffentlich bis Mittag festgestellt haben. Ach, übrigens, Eric – ich glaube, ich werde einen Koffer brauchen für den Fischzug heute morgen, meinen Sie nicht? Könnte ich wohl einen von Ihnen leihen, statt erst meinen oder Franks auszulee ren?« Eric war sofort bereit; er ging in sein Schlafzimmer und kam mit einem mittelgroßen braunen Schweinslederkof fer zurück, der weder neu noch sehr teuer aussah, aber vielleicht gerade die richtige Größe hatte. Tom hatte al lerdings keine Ahnung von dem Volumen von fast vier tausend Banknoten zu je tausend DM. »Vielen Dank, Eric. Wenn Peter nicht mitkommen kann, machen wir es einfach per Taxi, denke ich. Jetzt muß ich erst einmal die Banken anrufen.« »Ich rufe für Sie an, Tom. Die ADCA-Bank, nicht?« Tom legte die Liste neben das Telefon und schlug die Nummer der ADCA-Bank im Telefonbuch nach. Während Eric wählte, schrieb Tom die Nummern der anderen Ban ken auf. Eric sprach ruhig und gelassen; er fragte nach dem Herrn Direktor und sagte, er rufe an wegen des Geldes, das die Bank für Mr. Thomas Ripley bereithalte und das abgeholt werden solle. Das Gespräch dauerte mehrere Minuten, inzwischen steckte Tom seinen Paß zur Identifizierung ein und hörte dabei zu. Eric erreichte nicht jeden Manager persönlich, doch alle drei Banken bestätigten, daß bei ihnen ein Geldbetrag bereitliege.
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Eric erklärte, Mr. Ripley werde innerhalb der nächsten Stunde erscheinen. Beim letzten Telefongespräch ertönte die Hausglocke, und Eric bat Tom mit einer Handbewegung, den Türöff ner in der Küche zu drücken. Tom drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage und fragte: »Wer ist da?« »Peter hier. Erics Wagen ist unten.« »Moment bitte, Peter«, sagte Tom. »Hier ist Eric.« Eric trat an die Gegensprechanlage, und Tom ging aus der Küche. Er hörte, wie Eric fragte, ob Peter heute mor gen Zeit habe für »ein paar sehr wichtige Besorgungen«. Dann kam Eric ins Wohnzimmer und sagte: »Peter hat Zeit, und mein Wagen ist auch unten, sagt er. Ist er nicht fabelhaft?« Tom nickte und steckte die Namenliste der Banken ein. »Ja.« Eric zog ein Jackett an. »Also, gehen wir.« Tom nahm den leeren Koffer, Eric verschloß die Woh nungstür zweimal, und sie gingen hinunter. Peter saß in seinem Wagen am Bordstein, und Erics Mercedes war unweit der Haustür geparkt. Eric nahm auf Peters Mitfahrersitz Platz und bedeutete Tom, sich nach hinten zu setzen. »Ich muß dies bei geschlossenen Türen erklären«, sagte Eric zu Peter und informierte ihn dann auf Deutsch, daß Tom jetzt zu drei Banken fahren müsse, um das Lö segeld für die Kidnapper zu holen. Wollte Peter sie fah ren, oder sollten sie alle drei in Erics Wagen fahren? Peter blickte Tom lächelnd an. »Wir nehmen meinen, ja?« »Hast du deine Pistole mit, Peter?« fragte Eric und lachte kurz auf. »Wir werden sie hoffentlich nicht brau chen.«
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»Ja, die ist hier«, sagte Peter und wies auf das Hand schuhfach. Sein Lächeln schien zu sagen, daß es unsin nig wäre, die Waffe unter diesen Umständen zu benut zen, da ja Tom zum Abholen des Geldes autorisiert wor den war. Sie beschlossen gleich, als erstes zur ADCA-Bank zu fahren, denn die beiden anderen Banken lagen am Ku´damm und auf dem Rückweg zu Erics Wohnung. Sie konnten fast vor der Bank parken, denn das Hotel Palace hatte eine Parkbucht für die Wagen der Hotelgäste und der ankommenden und abfahrenden Taxis. Die Bank war geöffnet. Tom ging allein durch die Tür; den Koffer nahm er nicht mit. An der Rezeption nannte Tom seinen Namen und sag te auf Englisch, der Manager erwarte ihn. Das Mädchen sprach in ein Telefon und wies dann auf eine Tür weiter hinten links. Ein etwa fünfzigjähriger Mann öffnete sie, er hatte blaue Augen und graue Haare, hielt sich gerade und lächelte freundlich. Ein anderer Mann, der einige Mappen bei sich trug, war ebenfalls im Zimmer, ging je doch fast sofort hinaus, ohne Tom weiter anzusehen, was Tom erleichtert bemerkte. »Mr. Ripley? Guten Morgen«, sagte der erste Mann auf Englisch. »Möchten Sie sich nicht setzen?« »Guten Morgen, Sir.« Tom setzte sich nicht gleich in den angebotenen Ledersessel, sondern zog seinen Paß aus der Tasche. »Erlauben Sie? Mein Paß.« Der Manager oder Herr Direktor stand hinter seinem Schreibtisch, er setzte seine Brille auf und besah sich sorgfältig den Paß. Er verglich das Paßbild mit Toms Ge sicht, dann setzte er sich und machte eine Notiz auf ei nem Schreibblock. »Danke schön.« Er gab Tom den Paß zurück und drückte einen Knopf auf seinem Schreibtisch. »Fred? Alles in Ordnung. – Ja, bitte.« Er faltete die Hän 229
de und blickte Tom an, immer noch lächelnd, aber leicht verwundert. Jetzt trat der Mann, den Tom schon vorher gesehen hatte, mit zwei großen braunen Umschlägen ein. Die Tür schloß sich automatisch hinter ihm mit dump fem Klick; Tom hatte das Gefühl, sie sei doppelt und drei fach verschlossen. »Möchten Sie das Geld zählen?« fragte der Herr Di rektor. »Ich muß es mir wohl mal ansehen«, sagte Tom höf lich, als werde ihm auf einer Party ein Canapé gereicht, aber er hatte keine Lust, das Ganze zu zählen. Er mach te die beiden starken Umschläge auf, die von Gummi bändern zusammengehalten wurden, und sah darin Bün del von DM-Banknoten mit braunem Streifband. Es sah aus, als steckten in jedem Umschlag mindestens zwanzig kleine Bündel; beide Umschläge schienen gleich schwer. Es waren lauter Tausend-DM-Scheine. »Eine Million fünfhunderttausend DM«, sagte der Herr Direktor. »Hundert Scheine in jedem Streifband.« Tom riffelte durch das Ende eines Päckchens, das of fenbar hundert Scheine enthielt. Er nickte. Ob die Bank wohl die Seriennummern notiert hatte? Fragen wollte er nicht. Darüber mochten sich die Kidnapper den Kopf zer brechen. Über die Größenordnung der Noten hatten sie offenbar auch nichts gesagt, sonst hätte ihm Thurlow das bestimmt mitgeteilt. »Ich glaube Ihnen.« Die beiden Deutschen lächelten, und der Mann, der die Umschläge gebracht hatte, verließ das Zimmer. »Und die Quittung«, sagte der Herr Direktor. Tom unterschrieb eine Empfangsbestätigung für eine Million fünfhunderttausend DM; der Manager zeichnete sie ab, behielt die Durchschrift und reichte Tom das Ori ginal. Tom war aufgestanden und streckte ihm die Hand entgegen. »Ich danke Ihnen.« 230
»Ich wünsche Ihnen schöne Tage in Berlin«, sagte der Herr Direktor und schüttelte Tom die Hand. »Danke vielmals.« Die Worte hatten sich angehört, als halte der Manager es für möglich, daß Tom mit dem Geld, das er da mitnahm, eine Sauftour unternehmen wollte. Tom klemmte sich die dicken Umschläge unter den Arm. Der Manager sah belustigt aus. Dachte er an einen Witz, den er beim Lunch erzählen wollte, oder hatte er vor, eine Geschichte von einem Amerikaner zu erzählen, der fast eine Million Dollar in DM in der Bank kassiert und unter dem Arm mitgenommen hatte? »Soll ich Ihnen je mand mitgeben?« »Nein, danke schön«, sagte Tom. Tom schritt durch die Bank, ohne jemanden anzuse hen. Eric saß in Peters Wagen, und Peter stand daneben, das Gesicht zur Sonne gewandt, eine Hand in der Tasche, und rauchte eine Zigarette. »Hat alles geklappt?« fragte Peter, als er die Um schläge sah. »Prima«, sagte Tom. Auf dem Rücksitz des Wagens öffnete er den Koffer, schob die Umschläge hinein und zog den Reißverschluß zu. Tom sah, daß Eric beim Ab fahren die Leute auf dem Gehweg musterte. Tom tat das nicht; er gähnte ostentativ, lehnte sich zurück und schau te zu Peter, der jetzt nach links in den Kurfürstendamm einbog. Die nächsten beiden Banken lagen nahe beieinander an der breiten Straße mit ihrem hübschen Saum junger Bäume. Wieder glitzerten die Ladenfenster vor Chrom und Spiegelglas. Auch die beiden Gebäude, die Tom suchte, waren ganz neu; über den Scheiben, die viel leicht kugelsicher waren, standen die Namen in großen Buchstaben. Peter hatte an der Ecke vor der einen Bank 231
angehalten, wo keine Parkuhr frei war, aber Eric sagte, er werde irgendwo auf dem Gehweg auf Tom warten und ihm, wenn er herauskomme, sagen, wo der Wagen stand. Die Transaktion lief ab wie beim erstenmal: Anmel dung, ein Manager, Toms Paß zur Identifizierung, dann das Geld und die Quittung für den gleichen Betrag wie in der ADCA-Bank. Diesmal steckte das Geld in einem ein zigen größeren Umschlag. Auch hier wurde Tom gefragt, ob er es zählen wolle, und er lehnte ab. Wünschte er ei nen Bankwächter zur Begleitung bis zu seinem Bestim mungsort? »Nein, danke schön«, sagte Tom. »Soll ich den Umschlag nicht lieber zukleben – sicher heitshalber?« Tom warf einen Blick in den großen Umschlag und sah DM-Bündel, in der Mitte mit Streifbändern gehalten, ähn lich wie die Bündel, die er schon hatte. Er reichte den Umschlag dem Manager, der ihn mit einem breiten brau nen Klebeband verschloß, das er von einem Halter auf dem Schreibtisch abrollte. Eric war jetzt draußen auf dem Gehweg; er sah aus, als ob er einen Freund erwarte, der von links oder rechts kommen könne, aber bestimmt nicht aus der Bank. Er wies nach rechts, wo Peter neben einem anderen Wagen geparkt hatte. Eric und Tom stiegen ein, Tom wieder nach hinten, seinen Umschlag legte er in den Koffer. In der dritten Bank kassierte Tom etwa sechshundert tausend Mark, kam mit einem grünen Umschlag heraus und fand Eric wieder auf dem Gehweg. Peter stand rechts um die Ecke. Bang! Es tat wohl, die Wagentür zuzuschlagen. Tom ließ sich zurücksinken, den grünen Umschlag auf dem Schoß. Peter fuhr zu Erics Wohnung, wie Tom bei der 232
nächsten Biegung bemerkte. Peter und Eric plauderten; Tom versuchte gar nicht, dem Gespräch zu folgen. Ir gendwas über Bankräuber. Lachen. Tom schob den letz ten Umschlag in den Koffer. Die gute Laune hielt auch in Erics Wohnung an. Peter und Eric witzelten über den Koffer – Peter hatte darauf bestanden, ihn zu tragen, er sei doch der Fahrer. Peter stellte den Koffer neben der Anrichte an die Wand, auf der der Wohnungstür gegenüberliegenden Zimmerseite. »Nein, nein, in den Schrank, wo er immer steht!« sag te Eric. »Da sieht er genau so aus wie die anderen.« Peter tat, was man ihm sagte. Viertel vor zwölf. Tom dachte daran, Thurlow anzuru fen. Eric legte eine Platte von Dolores de los Angeles auf, die er immer spielte, wenn er in euphorischer Stim mung war, sagte er. Er sah gutgelaunt aus, aber eigent lich eher nervös als euphorisch, dachte Tom. »Vielleicht lerne ich heute abend Frank kennen!« sag te Eric zu Tom. »Ich hoffe es jedenfalls. Er kann hier ü bernachten – kann mein Bett haben, ich schlafe dann auf dem Fußboden. Frank soll mein Ehrengast sein!« Tom konnte nur lächeln. »Ich muß Sie bitten, die Mu sik etwas leiser zu stellen, wenn ich nochmal mit Thurlow spreche.« »Aber gern, Tom!« sagte Eric bereitwillig. Peter war mit einem Tablett mit kaltem Bier hereinge kommen, und Tom nahm ein Glas, stellte es neben das Telefon und wählte. Thurlows Anschlußleitung war besetzt, und Tom sagte der Hoteltelefonistin, er wolle warten. Er brauchte nur kurz zu warten, bis Thurlow sich meldete. »Alles in Ordnung hier«, sagte Tom. Er gab sich Mü he, gelassen zu sprechen. »Sie haben es?« fragte Thurlow. 233
»Ja. Und haben Sie den Ort?« »Ja. Im Norden von Berlin, haben sie gesagt. Lübars – ich werd´s Ihnen buchstabieren. L-ü-b-a-r-s. Haben Sie das? Und nun die Straßen –« Tom schrieb mit und bat Eric mit einer Handbewe gung, den kleinen Mithörer hinten am Apparat aufzu nehmen, was Eric eilig tat. Thurlow nannte einen Straßennamen, den er dann buchstabierte: Zabel-Krüger-Damm, der sich mit einer Straße namens Alt-Lübars kreuzen sollte. »Die erste Straße verläuft in Ost-West-Richtung, Alt-Lübars geht von der Kreuzung an nordwärts. Sie fahren weiter auf der Alt-Lübars bis zu einem kleinen Feldweg – so hörte es sich jedenfalls an – der keinen Namen hat. Etwa hundert Meter weiter sieht man auf der linken Straßenseite einen Schuppen. Haben Sie das alles?« »Ja, danke.« Tom hatte alles, und Eric nickte ihm er mutigend zu, als wolle er sagen, die Straßen seien gar nicht so schwer zu finden, wie Tom vielleicht annahm. Thurlow fuhr fort: »Sie sollen den – den Betrag in einer Schachtel oder in einem Sack dort lassen, und zwar um vier Uhr morgens. Das ist heute nacht, verstehen Sie?« »Ja«, sagte Tom. »Stellen Sie es hinter den Schuppen und fahren Sie ab. Nur ein Überbringer, haben sie gesagt.« »Und was ist mit dem Jungen?« »Sie wollen mich anrufen, sobald sie das Geld haben. Können Sie mich nach vier Uhr früh anrufen und mir sa gen, ob alles glatt gegangen ist?« »Ja, natürlich, das werde ich tun.« »Also dann – viel Glück, Tom.« Tom legte den Hörer auf. »Lübars!« Eric legte seinen Mithörer hin und wandte sich dann an Peter. »Lübars, Peter, um vier Uhr mor 234
gens! Das ist ein alter ländlicher Bezirk, Tom, im Norden, nahe der Mauer. Da wohnen nicht viele Leute. Die Mauer verläuft im Norden von Lübars. Peter, hast du eine Kar te?« »Ja. Ich war auch schon mal da, vielleicht zweimal – bin da so rumgefahren.« Peter sprach deutsch. »Ich kann Tom heute nacht hinbringen. Da draußen muß man ei nen Wagen haben.« Tom war ihm dankbar. Er vertraute Peters Fahrkunst und Peters Nerven. Und Peter hatte eine Pistole im Wa gen. Peter und Eric brachten Essen auf den Tisch, auch ei ne Flasche Wein. »Ich muß heute nachmittag nach Kreuzberg«, sagte Eric zu Tom. »Kommen Sie doch mit. Bringt Sie auf an dere Gedanken, wie die Franzosen sagen. Dauert viel leicht eine Stunde, kann sein auch weniger. Heute abend muß ich dann Max treffen, da können Sie auch gern mit kommen.« »Max?« fragte Tom. »Ja, Max und Rollo. Freunde von mir«, sagte Eric kauend. Peters blasses Gesicht lächelte Tom zu und hob leicht die Augenbrauen. Peter sah ruhig und sicher aus. Tom mochte nicht viel essen; er hörte auch kaum auf Erics und Peters vergnügte Unterhaltung über einen Feldzug gegen Hundekot, der, inspiriert von New York, jetzt auch in Berlin geführt wurde. Hundebesitzer sollten kleine Schaufeln und Papiertüten bei sich tragen. Das Berliner Gesundheitsamt beabsichtigte, Hundetoiletten zu bauen, die groß genug waren für Schäferhunde. Peter meinte, die Hunde könnten dadurch auf die Idee kom men, die Häuser ihrer Herrchen zu benutzen, nachdem es jetzt Verwechslungsmöglichkeiten gab. 235
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Eric und Tom fuhren in Erics Wagen nach Kreuzberg, was keine fünfzehn Minuten dauern würde, wie Eric sag te. Peter hatte sich verabschiedet, aber versprochen, ge gen ein Uhr früh zu Eric in die Wohnung zu kommen; Tom hatte ihm gesagt, er wäre dankbar, wenn sie mög lichst früh zu der Verabredung nach Lübars aufbrechen könnten. Auch Peter meinte, daß die Fahrt und dazu das Auffinden des Ortes eine Stunde in Anspruch nehmen konnte. Eric hielt in einer übel aussehenden Straße mit alten rotbraunen vier- oder fünfstöckigen Etagenhäusern, nicht weit von einer Eckenkneipe, deren Tür offen stand. Zwei Kinder – Tom fiel das Wort ›Straßengören‹ ein – stürzten herbei und bettelten um Pfennige, und Eric fischte in sei ner Tasche und sagte, wenn er ihnen nicht ein paar Münzen gäbe, würden sie vielleicht irgendwas mit sei nem Wagen anstellen, obgleich der Junge aussah wie höchstens acht und das Mädchen vielleicht wie zehn, mit lippenstiftverschmiertem Mund und Rouge auf den Wan gen. Sie trug ein bodenlanges Gewand, das aussah, als habe jemand eine braunrote Gardine zerschnitten und so etwas wie ein Kleid daraus zusammengestückt. Tom kor rigierte seinen ersten Eindruck, daß das Mädchen mit der Garderobe und dem Make-up seiner Mutter herumspiel te; was hier vor sich ging, war viel bedenklicher. Der klei ne Junge hatte einen dicken schwarzen Haarschopf, der an einigen Stellen durch den Schnitt zusammengehauen war, die dunklen Augen blickten leblos oder vielleicht auch nur ausweichend. Die vorgeschobene Unterlippe schien permanente Verachtung für die gesamte Umwelt
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anzudeuten. Der Junge hatte das Geld eingesteckt, das Eric dem Mädchen gegeben hatte. »Der Junge ist ´n Türke«, sagte Eric mit halblauter Stimme, während er den Wagen abschloß. Eric wies auf die Tür, durch die sie ins Haus gehen sollten. »Die kön nen nicht lesen, wissen Sie. Ist allen ein Rätsel. Sie sprechen Türkisch und Deutsch fließend, aber lesen können sie kein Wort!« »Und das Mädchen? Sie sieht deutsch aus.« Die Klei ne war blond. Das seltsame Kinderpaar stand neben E rics Wagen und blickte noch immer herüber. »O ja, die ist Deutsche. Prostituierte, die Kleine. Er ist ihr Zuhälter, oder versucht´s jedenfalls.« Schnarrend öffnete sich die Haustür, sie traten ein und stiegen drei schlechterleuchtete Treppen hinauf. Die Treppenhausfenster waren verschmutzt und ließen kaum Licht durch. Eric klopfte an eine dunkelbraune Tür, die Farbe war abgeplatzt, als habe man sie mit Tritten und Schlägen traktiert. Als schwere Schritte näherkamen, sagte Eric halblaut »Eric« durch die Türspalte. Die Tür wurde aufgeschlossen, ein großer breitgebau ter Mann ließ sie eintreten, er sprach undeutliches Deutsch mit tiefer Stimme. Noch ein Türke, das sah Tom; das Gesicht war so dunkel, wie es selbst schwarzhaarige Deutsche niemals erreichten. Ein scheußlicher Geruch umfing Tom, vermutlich von gekochtem Lamm mit Kohl. Und jetzt wurden sie auch noch in die Küche geführt, wo der Geruch herkam. Zwei kleine Kinder spielten auf dem Linoleumfußboden, am Herd stand eine alte Frau mit ei nem winzig wirkenden Kopf und dünnem wirrem Grau haar, die unruhig in einem Topf rührte. Wahrscheinlich die Großmutter, dachte Tom, und vielleicht eine Deut sche, denn wie eine Türkin sah sie nicht aus, aber sicher war es nicht. Eric und der schwere Mann setzten sich an 237
einen runden Tisch, an dem auch Tom gebeten wurde Platz zu nehmen. Er setzte sich etwas zögernd, obgleich er die Unterhaltung gern mit anhören wollte, wenn er konnte. Was hatte Eric hier vor? Erics mit Slang durch setztes Deutsch und der Mischmasch des Türken mach ten es Tom sehr schwer, irgendwas zu verstehen. Sie sprachen von Zahlen. »Fünfzehn – dreiundzwanzig . . .« und von Preisen, »vierhundert Mark . . .« Fünfzehn was? Dann fiel Tom ein, daß Eric erzählt hatte, der Türke betä tige sich als Vermittler für Berliner Rechtsanwälte, die Pakistanis und Indern Papiere für einen Aufenthalt in West-Berlin ausgaben. »Ich mag diese Drecksarbeit gar nicht«, hatte Eric ge sagt, »aber wenn ich da nicht ab und zu auch mal als Unterhändler mitmache, dann tut Haki auch nichts mehr für mich, und meine Sachen sind wichtiger als seine muf figen Immigranten.« Ja, das war der Punkt. Einige der Immigranten, Analphabeten auch in der eigenen Spra che, ohne Ausbildung, fuhren einfach mit der S-Bahn von Ost-Berlin nach West-Berlin, wo Haki sie abholte und zu den richtigen Anwälten lotste. Dann konnten sie, auf Kos ten West-Berlins, Unterstützung beantragen, während ihre Behauptung, sie seien »politische Flüchtlinge«, ü berprüft wurde – was Jahre dauern konnte. Haki war entweder ein full-time-Gauner, oder er bezog ebenfalls Arbeitslosenunterstützung – vielleicht auch bei des –, denn was machte er sonst um diese Zeit zu Hau se? Er sah aus wie höchstens fünfunddreißig, mit Kräften wie ein Ochse. Seine Hose, die ihm über dem Bauch längst zu eng geworden war, wurde in der Taille von ei nem Stück Schnur zusammengehalten, das die Lücke überbrückte. Am Schlitz waren mehrere offenstehende Knöpfe zu sehen.
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Ein scheußlicher Fusel, selbstgemachter Wodka, wie Tom erfuhr, wurde von Haki auf den Tisch gestellt. Oder wollte Tom lieber Bier? Ja, Tom wollte allerdings lieber Bier, nachdem er den Wodka probiert hatte. Das Bier kam in einer großen halbleeren Flasche, schal und lau warm. Haki ging hinaus, um aus einem anderen Zimmer etwas zu holen. »Haki ist Bauarbeiter«, erklärte Eric, »aber er arbeitet gerade nicht, weil er sich verletzt hat – bei der Arbeit. Ganz zu schweigen davon, daß er sich natürlich die Ar beitslosenunterstützung gern gefallen läßt.« Tom nickte. Jetzt kam Haki polternd zurück, in der Hand einen schmutzigen Schuhkarton. Der Fußboden bebte unter seinen Schritten. Er öffnete den Schuhkarton und nahm ein in braunes Papier gewickeltes faustgroßes Päckchen heraus. Eric schüttelte das Päckchen, und es rasselte. Perlen? Oder Pillen – Drogen vielleicht? Eric zog die Brieftasche heraus und gab Haki einen Hundert markschein. »Bloß ein Trinkgeld«, sagte er zu Tom. »Das langweilt Sie, was? Wir gehen gleich, noch eine Minute.« »Chaineminute!« wiederholte das schmierige kleine Mädchen auf dem Fußboden mit großen Augen. Es gab Tom einen Stich. Wie viel von all dem verstan den die Kinder? Auch die alte Frau, die wie eine Hexe aus Macbeth oder eine Irrenhaus-Bewohnerin in ihrem Topf herumrührte, starrte Tom an. Sie schien zu zittern, als litte sie an einer Nervenkrankheit. »Wo ist denn die Frau?« murmelte Tom. »Ich meine die Mutter der Kinder?« »O, die arbeitet. Deutsche, aus Ost-Berlin. Schlimm dran, aber sie arbeitet. Na ja –« Eric sprach leise und machte eine Bewegung mit seinen glatten Fingern, als wollte er sagen, er könne jetzt nicht mehr sagen. 239
Tom war sehr froh, als Eric sich erhob. Sie waren jetzt eine halbe Stunde da, und Tom kam es viel länger vor. Auf Wiedersehen – und plötzlich standen Tom und Eric auf dem Gehweg, wo die Sonne ihnen hell ins Gesicht schien. Das kleine Päckchen beulte Erics Jackentasche aus. Eric blickte sich um, bevor er die Wagentür öffnete. Sie fuhren ab. Tom war neugierig auf den Inhalt des Päckchens, aber es war vielleicht unhöflich, danach zu fragen. »Komisch, das mit seiner – Frau, wie Sie sie nannten. Prostituierte aus Ost-Berlin; amerikanische Soldaten ha ben sie in einer Art Jeep herübergeschmuggelt. Hier war dann das Leben für sie etwas leichter – als Prostituierte, aber sie ist auch noch drogensüchtig. Aber immerhin schafft sie es, einen Job zu haben – Toilettenfrau oder sowas, ich weiß es nicht. Wissen Sie was: die amerikani schen Soldaten können sich West-Berliner Prostituierte nicht mehr leisten, weil der Dollar so gefallen ist, deshalb müssen sie nach Ost-Berlin gehen. Die Kommunisten sind stinksauer, weil es bei ihnen offiziell ja keine Prosti tution gibt.« Tom lächelte leicht amüsiert und versuchte, sich inner lich in einen anderen Gang zu versetzen, um die nächs ten Stunden zu überstehen. Was für Leute waren die Kidnapper – junge Amateure? Einigermaßen geschickte Professionals? War ein Mädchen dabei? War manchmal sehr nützlich, ein Mädchen: es machte einen unschuldi gen Eindruck auf die Öffentlichkeit. Und vielleicht wollten sie nichts anderes als Geld, wie Eric gesagt hatte, und hatten gar nicht die Absicht, Frank oder sonst jemand physisch weh zu tun. Als sie wieder in Erics Wohnung waren, rief Tom in Belle Ombre an. Es hatte die gleiche Vorwahl wie Paris. Es klingelte sechs-, siebenmal, und Tom stellte sich vor, 240
daß Heloise vielleicht in Paris war, weil sie plötzlich Lust gehabt hatte, mit Noëlle zu einer Nachmittagsvorstellung ins Kino zu gehen; Madame Annette saß vielleicht bei einem Tee oder einem kalten Sprudel in Maries und Georges´ Café und tauschte mit einer anderen femme de ménage aus Villeperce die letzten Klatschnachrichten aus. Aber dann, beim neunten Klingeln, meldete sich Madame Annette. »Allô –?« »Madame Annette, c´est Tome! Wie geht´s zu Hau se?« »Très bien, Monsieur Tome! Wann kommen Sie wie der?« Tom lächelte, er war erleichtert. »Wahrscheinlich Mitt woch, ich bin nicht sicher. Machen Sie sich keine Sorgen. Ist Madame Heloise da?« Sie war da, aber Madame Annette mußte sie von oben herunterrufen. »Tome!« Heloise war so schnell am Telefon, daß Tom wußte, sie hatte den Hörer in seinem Zimmer aufge nommen. »Wo bist du? Hamburg?« »N-nein, ich fahr noch ein bißchen herum. Hab ich dich geweckt – hattest du dich ein bißchen hingelegt?« »Ich war dabei, meinen Finger in sowas zu baden, das Madame Annette mir zurechtgemacht hatte, deshalb hab ich sie ans Telefon gehen lassen.« »Deinen Finger hast du gebadet –?« »Ja, eins von den Vasistas im Treibhaus ist mir ges tern draufgefallen, als ich die Pflanzen goß. Der Finger ist geschwollen, aber Madame Annette glaubt nicht, daß der Nagel abfallen wird.« Tom stieß einen Seufzer des Mitgefühls aus. Sie mein te eins der aufgestützten Klappfenster im Treibhaus. »Um das Treibhaus kann sich doch Henri kümmern!« 241
»Ach, Henri. – Hast du den Jungen noch bei dir?« »Ja«, sagte Tom und fragte sich, ob vielleicht jemand in Belle Ombre angerufen und nach Frank gefragt hatte. »Er fliegt vielleicht morgen nach Hause. Heloise«, sagte er rasch, bevor sie etwas sagen konnte, »wenn jemand anruft und fragt, wo ich bin, dann sag, ich mache grad einen Spaziergang, in Villeperce. Ich bin zu Hause – nur grade nicht da. Wenn jemand von auswärts anruft, bitte sag das dann.« »Warum soll ich?« »Weil ich sehr bald zu Hause sein und einen Spazier gang machen werde. Mittwoch, denke ich. Ich fahre hier herum – in Deutschland – also kann mich jetzt ohnehin keiner erreichen.« Das wurde einigermaßen akzeptiert. »Ich küsse dich«, waren Toms letzte Worte. Tom war jetzt viel wohler zumute. Manchmal, das gab er vor sich selber zu, fühlte er sich wie ein verheirateter Mann, solide, geliebt, oder was sonst so dazu gehörte. Obgleich er seine Frau eben angelogen hatte – ein biß chen angelogen hatte. Aber jedenfalls nicht aus den übli chen Gründen. Gegen elf Uhr abends fand sich Tom in einer amüsan teren Umgebung als Kreuzberg wieder, einem Männerlo kal mit erheblich mehr Chic als die Bar, die er mit Frank aufgesucht hatte. Dies hier hatte eine Treppe, die hinter Glas nach oben zu den Toiletten führte; auf den Treppen standen Gäste und versuchten, mit anderen Männern unten in Kontakt zu kommen. »Lustig, was?« sagte Eric, der auf jemanden wartete. Sie standen an der Bar, denn freie Tische gab es nicht. Das Lokal war natürlich auch eine Diskothek. »Leichter, um –« Hier wurde Eric von jemandem angestoßen, der hinter ihm stand. 242
Eric hatte vermutlich sagen wollen, es sei in einem Lo kal wie diesem leichter, Sachen weiterzugeben, als etwa an einer Straßenecke, denn mit Ausnahme der Tanzen den waren alle Gäste entweder in lärmende Unterhaltung vertieft, oder sie starrten durch den Raum und hatten neue Bekanntschaften und keine illegalen Waren im Kopf. Einen Jungen mußte Tom bewundern: er trug Frauenkleidung, dazu hatte er sich eine lange schwarze Federstola oder was es sonst war um den Hals gelegt, ein Teil hing herab, und das Ende ließ er im Vorbei schlendern sacht hin- und herwehen. Es gab nicht viele Frauen, die sich ihres Aussehens wegen so viel Mühe machten. Erics Bekannter erschien, ein großer junger Mann in schwarzer Lederkleidung, die Hände hatte er in die Ta schen einer kurzen Lederjacke gesteckt. »Das ist Max!« schrie Eric zu Tom herüber. Toms Namen hatte er nicht genannt. Umso besser, dachte Tom. Das Päckchen, das Eric in Geschenkpapier verpackt und mit einem blauen Band versehen hatte, wechselte über zu Max und verschwand vorn in seiner Lederjacke, die er dann wieder zuzog. Das Haar von Max war sehr kurz geschnitten, die Fingernägel hatte er mit grellem Rosa angemalt. »Keine Zeit, um das wegzumachen«, sagte Max auf Englisch zu Tom, mit deutschem Akzent. »Viel zu tun den ganzen Tag. Gefallen sie Ihnen?« fragte er mit ironi schem Grinsen. Er meinte die Nägel. »Was zu trinken, Max? Dornkaat?« schrie Eric ihm über die hämmernde Musik zu. »Oder Wodka?« Der Gesichtsausdruck von Max änderte sich plötzlich, er hatte in einer Ecke etwas gesehen. »Danke, ich muß abhauen.« Er nickte in die Richtung, in die Tom ihn hatte blicken sehen, und schlug verlegen die Augen nieder. 243
»Der Typ da drüben – ich möcht ihn jetzt nicht sehen. Es tut mir weh. Schade, Eric, ´n Abend.« Er nickte Tom zu, wandte sich um und ging hinaus. »Netter Junge!« schrie Eric hinüber zu Tom und mach te eine Kopfbewegung zur Tür, wo Max verschwunden war. »Wirklich ein netter Junge – schwul, aber genau so verläßlich wie Peter. Der Freund von Max heißt Rollo – vielleicht lernen Sie ihn noch kennen!« Eric legte eine Hand auf Toms Unterarm und drängte ihn, noch ein Glas zu trinken – irgendwas – ein Bier vielleicht? Es sei bes ser, wenn sie nicht gleich wieder gingen, gab ihm Eric zu verstehen. Tom war zu haben für ein Bier und bezahlte den Bar mann im voraus. »Ich mag diese phantastischen Ver rücktheiten!« sagte er zu Eric. Er meinte die paar Männer in Frauenkleidung, das ganze Make-up, die übertriebene Anmache, das Lachen und die lustige Stimmung, die ü berall herrschte. Es beschwingte Tom, so wie ihn immer die Ouvertüre zum ›Sommernachtstraum‹ beschwingte, wenn er sich zum Kampf bereitmachte. Phantasie! Mut war doch eine Sache der Einbildung, nichts als ein geis tiger Zustand. Sinn für Realität half einem gar nichts, wenn man mit einem Revolverlauf oder mit einem Messer konfrontiert war. Tom sah jetzt – nicht zum erstenmal – die argwöhnischen oder zumindest gespannt aufmerksamen Blicke, die Eric über die Schulter warf. Eric suchte gar nicht nach einem alten oder neuen Be kannten unter den Männern und Jungen. Oder vielleicht doch? Nein, dachte Tom. Eric war Geschäftsmann mit einem offenbar weitgestreuten Geschäftsbereich. Der Blick über die Schulter war ihm zur Gewohnheit gewor den. »Gibt´s hier je Stunk mit der Polizei, Eric?« fragte Tom dicht an Erics Ohr. »Ich mein in dieser Art von Lokal?« 244
Aber Eric hatte ihn immer noch nicht gehört, das lag jetzt an der Musik, den krachenden Becken, einem zu ckenden Höhepunkt, der sekundenlang anhielt, bevor das tiefe Pulsieren wieder einsetzte, das auf die Wände loszuschlagen schien, als seien sie Trommelfelle. Män nergestalten auf der Tanzfläche sprangen auf und nieder und wirbelten herum wie in Trance. Tom gab es auf, schüttelte den Kopf und nahm sein frisches Bierglas. Er hatte keine Lust, hier lauthals das Wort »Polizei« zu schreien.
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Berlin, die Lichter der Stadt, blieben hinter ihnen zurück; Peter und Tom fuhren weiter durch halbländliche, etwas langweilige kleine Gemeinden, wo kaum ein Lokal noch erleuchtet war. Sie fuhren nach Norden. Eric hatte be schlossen, zu Hause zu bleiben, was ganz gut war: Tom konnte sich nicht vorstellen, was sein Mitkommen ihnen genützt hätte, und wenn die Kidnapper in Peters Wagen einen dritten Mann sahen, hielten sie ihn womöglich für einen Polizeibeamten. »So – das ist jetzt der Anfang von Lübars«, sagte Pe ter, als sie etwa vierzig Minuten gefahren waren. »Ich fahre jetzt zur richtigen Straße, und dann sehen wir uns mal um.« Er setzte sich aufrecht hin, als habe er eine wichtige Aufgabe vor sich. Er hatte eine kleine Skizze gemacht, die er Tom noch in Erics Wohnung gezeigt hat te und die jetzt über dem Armaturenbrett lag. »Ich glau be, ich hab eine falsche Straße erwischt. Verdammt – aber das macht nichts, wir haben viel Zeit. Es ist erst fünf nach halb vier.« Peter nahm eine kleine Taschenlampe von dem Bord über dem Armaturenbrett und hielt sie ü ber die Skizze. »Ja, ich weiß, was ich gemacht habe. Ich muß wenden.« Peter wendete; das Licht der Scheinwerfer fiel auf ein dunkles Feld mit Reihen voller Kohl- oder Salatköpfe, deren gleichmäßige grüne Tupfen wie Knöpfe auf der Erde saßen. Tom schob den dicken Koffer zwischen den Füßen und Knien zurecht. Die Nacht war angenehm kühl, und offenbar schien kein Mond. »Ja – hier ist wieder der Zabel-Krüger-Damm, hier muß ich links rauf. Die gehen hier alle so früh zu Bett – und stehen auch früh auf! – ja, hier: Alt-Lübars.« Vorsich 246
tig bog Peter nach links ein. »Rechts rauf muß der Dorf platz liegen«, sagte Peter leise auf Deutsch, »jedenfalls nach meiner kleinen Karte zu Hause. Die Kirche und so. Und sehen Sie die Lichter da vorne?« Seine Stimme nahm einen angespannten Ton an, wie ihn Tom noch nicht gehört hatte. »Das ist die Mauer.« Tom sah weit vorne einen flackernden weißgelben Schimmer, niedrig und lang, etwas niedriger als Straßen höhe: die Scheinwerfer auf der anderen Seite der Mauer. Die Straße verlief leicht abwärts. Tom sah sich nach an deren Wagen um, nach einem anderen Wagen, aber es war alles schwarz bis auf zwei vielleicht obligatorische Straßenlaternen in der Umgebung des Platzes, den Peter den Dorfplatz genannt hatte. Der Wagen kroch jetzt nur noch. Die Kidnapper, soweit Tom feststellen konnte, wa ren noch nicht erschienen. »Diese kleine Straße hier ist nicht für Autos, deshalb fahre ich so langsam. Jetzt müßten wir den Schuppen bald sehen, links. Da drüben vielleicht?« Der Schuppen. Tom sah ihn, ein niedriges Gebäude, weniger hoch als lang, an der Straßenseite anscheinend offen. Undeutlich konnte Tom in einem Feld rechts ein paar Anlagen sehen – vielleicht Pferdekoppeln. Vor dem Schuppen hielt Peter an. »So, nun gehen Sie rüber. Stellen Sie den Koffer hin ter den Schuppen«, sagte Peter auf Deutsch. »Dann set zen wir zurück, ich kann hier nicht wenden.« Peter hatte die Scheinwerfer abgeblendet. Tom war im Begriff auszusteigen. »Setzen Sie nur schon zurück. Ich bleibe hier. Keine Sorge, ich komme schon zurück nach Berlin.« »Was meinen Sie: Sie bleiben hier?« »Ich bleibe hier. Mir ist gerade was eingefallen.«
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»Wollen Sie mit der Bande zusammentreffen?« Peters Hand krampfte sich um das Lenkrad. »Etwa mit denen kämpfen? Sie sind verrückt, Tom!« Tom sagte auf Englisch. »Ich weiß, Sie haben eine Pistole. Können Sie sie mir borgen?« »Sicher, sicher – aber ich kann doch auf Sie warten, wenn –« Peter sah verwirrt aus; er drückte auf den Knopf am Handschuhkasten und nahm eine schwarze Pistole heraus, die dort unter einem Tuch lag. »Hier – sie ist ge laden. Sechs Schuß. Hier ist die Sicherung.« Tom nahm die Pistole. Sie war klein und wog nicht viel, aber tödlich genug sah sie aus. »Danke schön.« Er steckte sie in die rechte Jackentasche und blickte dann auf seine Uhr. Drei Uhr dreiundvierzig. Er sah, wie Peter unruhig einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett warf, die eine Minute vorging. »Tom, schauen Sie mal – sehen Sie die kleine Erhö hung da drüben?« Peter zeigte nach hinten, rechts, in Richtung des Dorfplatzes. »Da – wo die Kirche ist. Da werde ich auf Sie warten. Ohne Licht.« Peter sprach im Befehlston, als sei er Tom weit genug entgegengekom men, als er ihm seine Pistole gab. »Nein, warten Sie nicht. Da fährt ja auch noch ein Nachtbus auf diesem Krüger-Damm, wie Sie mir sagten.« Tom öffnete die Tür und nahm den Koffer mit. »Den Bus hab ich doch nur erwähnt, ich wollte doch nicht, daß Sie ihn nehmen!« flüsterte Peter. »Schießen Sie bloß nicht – die schießen glatt zurück und bringen Sie um.« Tom schloß die Wagentür so leise er konnte und machte sich auf den Weg zum Schuppen. »Hier!« flüsterte Peter durchs Fenster und reichte Tom die kleine Taschenlampe.
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»Danke, mein Freund!« Die Taschenlampe war tat sächlich sehr nützlich, denn der Boden war uneben. Tom hatte ein Gefühl, als habe er Peter beraubt – seiner Pistole und Taschenlampe beraubt. Er klickte die Taschenlampe aus, als er an der hinteren Ecke des Schuppens stand, und grüßte Peter mit erhobenem Arm zum Abschied, ob er es sehen konnte oder nicht. Langsam und gerade setzte Peter jetzt auf dem Feldweg zurück, den er mit seinem Parklicht sicher nicht deutlich – wenn überhaupt – erkennen konnte. Tom sah, wie Peter Alt-Lübars erreichte, dann bog er langsam um, nach links von Tom aus gesehen, und fuhr auf den Dorfplatz zu. Peter wollte also doch warten. Jetzt kam ein schwacher, sehr schwacher Schein der Morgendämmerung auf; die paar Straßenlaternen in Lü bars brannten aber weiter. Peters Wagen war nicht zu sehen. Tom hörte in der Ferne Hunde bellen und erkann te mit leichtem Frösteln, daß es die scharfen ostdeut schen Hunde jenseits der Mauer waren. Sie hörten sich nicht erregt an. Eine Brise wehte aus der Richtung der Mauer; vielleicht hatten sich die Hunde bloß ein bißchen unterhalten bei ihrem Umlauf dem Leitdraht entlang. Tom wandte die Augen ab von dem geisterhaften Glanz der Scheinwerfer auf der Mauer, er konzentrierte sich darauf zu lauschen. Er lauschte auf das Geräusch eines Wa genmotors. Der Geldabholer würde doch nicht etwa von hinten über das Feld kommen? Tom hatte den Koffer gegen die hölzerne Rückwand des Schuppens gestellt, er schob ihn mit dem Fuß noch näher heran. Tom nahm Peters Pistole aus der Jacken tasche, löste die Sicherung und schob die Waffe in die Tasche zurück. Stille. Es war so still, daß Tom einen Menschen hätte atmen hören, wenn einer hinter der Bret terwand im Innern des Schuppens gestanden hätte. Er 249
tastete mit den Fingerspitzen über die Holzbretter. In dem rauhen Holz waren ein paar Ritzen. Er mußte pinkeln, und dabei fiel ihm Frank ein, im Grunewald, aber er pinkelte doch, solange es noch ging. Was wollte er eigentlich hier? Warum war er hiergeblie ben: um sich die Kidnapper noch einmal anzusehen? In dieser Dunkelheit? Um sie wegzuscheuchen und das Geld zu retten? Ganz gewiß nicht. Um Frank zu retten? Dafür war sein Dableiben vielleicht gar nicht gut, mögli cherweise eher das Gegenteil. Tom merkte, daß er die Kidnapper haßte und daß er sich freuen würde, wenn er ihnen eins auswischen könnte. Er war sich auch klar, daß das unlogisch war, denn sie waren sicher in der Mehr heit. Trotzdem, er war hier, verletzbar, ein leichtes Ziel für eine Kugel, und für die Kidnapper würde es vermutlich leicht sein, sich aus dem Staube zu machen. Tom straffte sich, als er jetzt von Alt-Lübars her Moto rengeräusch hörte. Oder ob es Peter war, der jetzt ab fuhr? Aber der Wagen schnurrte vorwärts, Tom sah das schwache Standlicht. Ganz langsam bog der Wagen in den Feldweg ein, an dem der Schuppen stand, und hol perte weiter, schwankend, ob der Unebenheit des Bo dens. Er hielt etwa zehn Meter rechts von Tom an. Ein dunkelroter Wagen, aber ganz sicher war Tom nicht. Tom drückte sich an die Rückwand des Schuppens und späh te um die hintere Ecke, denn die Wagenbeleuchtung reichte nicht bis zum Schuppen. Die linke Hintertür des Wagens öffnete sich, eine Ges talt stieg aus. Die Wagenlampen gingen aus, und der Mann, der ausgestiegen war, schaltete eine Taschen lampe an. Er sah untersetzt aus, nicht sehr groß, und ging mit festen Schritten, die aber langsamer wurden, als er den Weg verließ und ins Feld trat. Hier blieb er stehen
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und winkte seinen Kumpanen im Wagen zu, als wollte er sagen, soweit scheine alles in Ordnung. Wieviele saßen da wohl im Wagen, überlegte Tom. Einer? Zwei? Vielleicht waren zwei andere da, denn der Mann war hinten ausgestiegen. Langsam kam der Mann auf den Schuppen zu; in der linken Hand hielt er die Taschenlampe, die rechte schob sich in die Hosentasche und zog etwas heraus, das eine Pistole sein konnte. Er kam rechts von Tom heran, auf die Rückwand des Schuppens zu. Tom nahm den Koffer und packte ihn fest am Griff, und als der Mann um die Ecke bog, schwang er ihn hoch und traf den Mann damit links am Kopf. Der Aufprall gab kein lautes, aber ein massives Geräusch, und als der Mann mit dem Kopf gegen die Schuppenwand schlug, gab es einen zweiten Bums. Noch einmal schlug Tom mit dem Koffer zu, er zielte dabei auf die linke Kopfseite, als der Mann umsackte. Die Weiße des Hemdkragens über etwas Schwarzem – vielleicht einem Pullover – lenkte Tom, als er mit dem Griff von Peters Pistole auf die linke Schläfe des Mannes einschlug. Der Mann bewegte sich nicht mehr und hatte auch nicht aufgeschrien. Die Ta schenlampe leuchtete links von Tom auf den Erdboden. Tom hielt die Pistole schußbereit und richtete sie nach oben. »Hab das Schwein!« schrie Tom hysterisch und feuer te gleichzeitig zwei Schüsse in die Luft. Wieder schrie Tom, er rief irgendetwas Unsinniges, vielleicht einen Fluch, und versetzte der Schuppenrück wand einen Tritt. Er merkte, daß seine Stimme schrill geworden war, daß er auf gar nichts einschrie. Jenseits der Mauer kläfften die Hunde, erregt von den Schüssen.
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Das Klacken einer Wagentür ließ Tom zusammenfah ren, als sei er selbst erschossen worden. Er blickte um die Schuppenecke und sah gerade noch, wie ein Mann auf dem Fahrersitz das Bein in den Wagen zog. Das In nenlicht war einen Augenblick eingeschaltet gewesen. Dann schloß sich die Tür, ohne Standlichter setzte der Wagen rechts von Tom zurück, und die Standlichter gin gen an. In Alt-Lübars setzte der Wagen nach links zu rück, dann fuhr er mit erhöhtem Tempo los, auf die grö ßere Straße zu. Die Kidnapper ließen ihren Gefährten im Stich. Sie konnten es sich natürlich noch leisten, ihn und sogar das Geld im Stich zu lassen, denn sie hatten ja immer noch Frank Pierson. Sie hatten vermutlich das Ganze für eine Polizeifalle gehalten und angenommen, daß gar kein Geld da sei. Tom atmete durch den Mund, als habe er einen Kampf hinter sich. Er sicherte Peters Pistole, schob die Waffe in die rechte Hosentasche, hob die herunterge fallene Taschenlampe auf und beleuchtete einige Sekun den lang den Mann auf dem Erdoben. Die linke Schläfe war voller Blut, vielleicht war sie eingeschlagen; der Mann sah tatsächlich aus wie der italienische Typ aus dem Grunewald, obgleich er keinen Schnurrbart mehr trug. Die Taschen durchsuchen? Im Schein der Taschen lampe fuhr Tom eilig mit der Hand in die eine hintere Ta sche der schwarzen Hose, fand nichts, langte dann et was mühsam in die linke vordere Tasche und entnahm ihr eine Schachtel Streichhölzer, einige Münzen und ei nen Schlüssel, der wie ein Hausschlüssel aussah. Den Schlüssel steckte er schnell und fast abwesend ein und vermied es dabei, die rote weiche Masse an Stirn und Gesicht des Mannes anzusehen, weil ihm dabei schlecht geworden wäre, jedenfalls meinte er das. Die rechte Vor dertasche fühlte sich flach und leer an. Tom nahm die 252
Pistole des Mannes, die nahe bei seiner Hand lag, vom Boden auf, steckte sie in eine Ecke des Koffers und zog den Reißverschluß wieder zu. Er rieb die Taschenlampe an seiner Hose ab, schaltete sie aus und ließ sie auf die Erde fallen. Dann machte sich Tom auf den Weg zur Landstraße, ohne Peters kleine Taschenlampe anzuschalten; einmal stolperte er und wäre fast gefallen. Er ging auf Alt-Lübars zu, begleitet vom Gebell der scharfen Hunde. Noch sah Tom keinen Menschen aus dem Hause kommen, um zu sehen, was die Schüsse zu bedeuten hatten; deshalb riskierte er es, ab und zu die Taschenlampe eine oder zwei Sekunden lang einzuschalten, damit er den Weg erkennen konnte. Als er in Alt-Lübars angekommen war, brauchte er sie nicht mehr, hier war die Straße glatter. Tom blickte nicht nach links, wo vielleicht Peter noch war tete, weil er keine Lust hatte, einem Dorfbewohner zu begegnen, der vielleicht gerade aus seiner Tür trat. Jetzt ging hinter ihm ein Fenster auf, und eine Stimme rief etwas. Tom blickte sich nicht um. Was hatte die Stimme gerufen? »Wer ist da?« oder »Wer ist das?« Das Gebell der Hunde war verhallt, und Tom fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, als er rechts um die Ecke in den Zabel-Krüger-Damm einbog. Der Koffer schien plötzlich kein Gewicht mehr zu haben. Hier waren Wagen geparkt, einige Wagen surrten sogar vorbei. Jetzt wurde es wirklich Morgen, und wie zur Bestätigung ging die Hälfte der Straßenlaternen aus. In einiger Entfernung, nicht mehr als hundert Meter weit, sah Tom etwas, das er für ein Haltesignal für Autobusse hielt. Peter hatte von einem Bus Nummer 20 gesprochen, der nach Tegel fuhr. Das war das Gebiet am Flughafen, jedenfalls war es die Richtung nach Berlin. Tom wagte es nicht, den Koffer 253
hochzuheben und an den Ecken nach roten oder rosa Blutflecken zu suchen. Er konnte in dem trüben Licht nichts Genaues sehen, Erde oder Schlamm konnten e benso aussehen wie Blut, aber etwas Beunruhigendes sah er nicht. Er zwang sich, mäßig schnell zu gehen, als ob er ein Ziel habe, aber keine Eile. Außer ihm waren jetzt nur zwei Leute auf dem Bürgersteig, beides Männer, einer war schon älter und ging etwas gebückt. Sie schie nen gar nicht auf ihn zu achten. Wie oft mochten die Busse fahren? Tom blieb an der Haltestelle stehen und blickte zurück. Ein Wagen er schien, hell erleuchtet, und fuhr vorbei. »Äpfel! Äpfel!« Der Ruf kam von einem kleinen Jun gen, der herbeigelaufen kam und gegen den älteren Mann stieß, der ihn beinahe umarmte. Tom schaute zu. Wo war der kleine Junge hergekom men? Warum rief er »Äpfel!«, wenn er gar keine in der Hand hatte? Der ältere Mann nahm den Jungen bei der Hand und sie gingen zusammen weiter, fort von Berlin. Jetzt erschienen gelbe Lichter: offenbar der Bus. Vorn auf dem erleuchteten Schild las Tom 20 – TEGEL. Als Tom seine Fahrkarte bezahlte, sah er, daß zwei Knöchel seiner linken Hand dunkelrot waren von Blut. Wie war das passiert? Tom nahm Platz in dem fast leeren Bus, den Koffer zwischen den Füßen, steckte die linke Hand in die Jackentasche und vermied es, die anderen Fahr gäste anzusehen. Er blickte links aus dem Fenster, hin unter auf die erfreulich wachsende Anzahl Häuser, Wa gen, Menschen. Es war jetzt so hell, daß man die Farben der Wagen erkennen konnte. Was mochte mit Peter ge schehen sein? Hoffentlich war er geflüchtet, als er die Schüsse hörte. Wie bald mochte die Leiche gefunden werden? In ei ner Stunde etwa, von irgendeinem neugierigen Hund, der 254
vielleicht einen Bauern begleitete. Von der Straße aus konnte man die Leiche nicht sehen. Tom war einigerma ßen sicher, daß es eine Leiche und nicht ein bewußtloser Mann war. Tom seufzte, er keuchte fast, schüttelte den Kopf und starrte auf den braunen schweinsledernen Kof fer, der zwischen seinen Knien stand und zwei Millionen Dollar in Papiergeld enthielt. Er lehnte sich zurück und entspannte sich. Tegel war sicher die Endstation, dachte er, er konnte es fast riskieren einzuschlafen. Aber er schlief nicht, er lehnte nur den Kopf an die Fensterschei be. Der Bus kam in Tegel an; es sah eher nach der UBahn-Station als nach dem Flughafen aus. Tom wollte ein Taxi und fand nach einigen Sekunden auch den Ta xenstand. Er fragte einen Fahrer, ob er ihn zur Niebuhr straße fahren könne. Die Nummer gab er nicht an, er sagte dem Fahrer, er werde das Haus erkennen, wenn sie in der Straße waren. Tom lehnte sich zurück und zündete sich eine Zigarette an. Seine Knöchel waren zerkratzt, das war nicht weiter schlimm, und jedenfalls war es sein eigenes Blut. Würden die Kidnapper es nicht nochmal versuchen – in Paris anrufen und ein neues Treffen vereinbaren? Oder ob sie jetzt so erschreckt und verängstigt waren, daß sie Frank freiließen? Die letzte Idee kam Tom amateurhaft vor, aber wie routiniert waren diese Kidnapper? Irgendwie kam Tom in der Niebuhrstraße an; er be zahlte den Fahrer, gab ihm ein Trinkgeld und ging los in die Richtung von Erics Wohnung. Die beiden Schlüssel, die Eric ihm gegeben hatte, trug er an einem Ring bei sich, mit dem einen öffnete er die Haustür und nahm den Lift. An Erics Wohnungstür klopfte er und drückte einmal kurz auf die Klingel. Es war jetzt fast halb sieben. Tom hörte Schritte, dann fragte Erics Stimme auf Deutsch: 255
»Wer ist da?« »Tom.« »A-ah!« Eine Kette rasselte, zwei Riegel wurden zu rückgeschoben. »Da bin ich wieder!« flüsterte Tom fröhlich und stellte den Koffer in die Diele, dort wo sie in den Wohnraum ü berging. »Tom, warum haben Sie Peter wegfahren lassen? Er macht sich große Sorgen, er hat schon zweimal angeru fen! Und den Koffer haben Sie wieder mitgebracht!« Eric lächelte und schüttelte den Kopf, als sei das eine unsin nige Sparmaßnahme. Tom zog sein Jackett aus. Die Augustsonne schien schon sommerlich heiß, draußen vor Erics Fenster. »Zwei Schüsse, hat Peter gesagt. Was war denn bloß los? Setzen Sie sich doch, Tom. Möchten Sie Kaffee? Oder einen Drink?« »Erstmal einen Drink, glaube ich. Einen Gin und Tonic, geht das wohl?« Ja, das ging, und während Eric den Drink zurecht machte, ging Tom ins Badezimmer und wusch sich die Hände mit Seife und warmem Wasser. »Wie sind Sie zurückgekommen? Sie haben Peters Pistole mitgenommen, sagt er.« »Die Pistole hab ich noch.« Tom stand im Zimmer, ei ne Gauloise in der einen Hand, seinen Drink in der ande ren. »Ich bin per Bus und Taxi gekommen. Das Geld ist noch da.« Tom nickte zu dem Koffer hinüber. »Deshalb habe ich Ihren Koffer wieder mitgebracht.« »Noch da –?« Erics rötliche Lippen öffneten sich. »Wer hat denn geschossen?« »Ich. Aber bloß in die Luft.« Toms Stimme war heiser geworden. Er setzte sich. »Ich hab dem einen Kerl einen
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Schlag versetzt, mit Ihrem Koffer. Ich glaub, es war der, der so italienisch aussieht. Er ist tot, nehme ich an.« Eric nickte. »Ja, Peter hat ihn gesehen.« »Wirklich?« »Ja. Ich muß mir was überziehen, Tom, ich komme mir dämlich vor.« Im Pyjama lief Eric in sein Schlafzim mer und kam in einem schwarzseidenen Hausmantel zurück. Er band den Gürtel zu und sagte: »Peter sagt, er hat noch gewartet, vielleicht zehn Minuten, dann ist er zurückgegangen, um nachzusehen, was los war; er dachte, Sie wären vielleicht tot oder verwundet. Da hat er einen Mann hinter dem Schuppen liegen sehen.« »Stimmt«, sagte Tom. »Sie sind also einfach – warum sind Sie nicht zu Peter zurückgegangen, er hat doch an der Kirche gewartet?« An der Kirche gewartet! Tom lachte und streckte die Beine von sich. »Ich weiß nicht. Vielleicht hatte ich Angst. Ich habe gar nicht nachgedacht. Ich hab überhaupt nicht zur Kirche hinüber geschaut.« Tom nahm noch einen Schluck und sagte: »Ja, Eric, Kaffee sehr gerne, bitte. Und dann ein bißchen schlafen.« Bei den letzten Worten klingelte das Telefon. »Das ist bestimmt wieder Peter.« Eric trat an den Ap parat. »Gerade gekommen!« sagte er. »Nein, er ist ganz in Ordnung, nicht verletzt. Er ist mit Bus und Taxi ge kommen.« Dann lachte Eric über etwas, das Peter sagte. »Ja, werd ich ihm sagen. Sehr komisch. Ja, wenigstens sind wir alle in Sicherheit. – Es ist hier! Unglaublich, was?« Eric hielt den Hörer an die Brust, das breite Lä cheln stand noch auf seinem Gesicht. »Peter kann nicht glauben, daß das Geld wieder hier ist! Er möchte mit Ih nen sprechen.« Tom erhob sich. »Hallo, Peter . . . Ja, ich bin ganz o kay. Ich bin Ihnen unendlich dankbar, Peter, Sie haben 257
sich gut gehalten.« Das sagte Tom auf Deutsch. »Nein, ich hab den Mann nicht erschossen.« »Ich konnte nicht viel sehen im Dunkeln, ohne Licht«, sagte Peter. »Ich habe nur gesehen, daß Sie es nicht waren; da bin ich gleich wieder gegangen.« Er hatte wirklich Mut bewiesen, als er da nochmal hin ging, dachte Tom. »Ihre Pistole hab ich noch, und auch Ihre Taschenlampe.« Peter lachte. »Dann wollen wir erst mal beide ein biß chen schlafen.« Eric machte jetzt Kaffee für Tom – Tom wußte, am Schlafen würde ihn das bestimmt nicht hindern – und dann klappten sie gemeinsam das Roßhaarsofa auf und legten Laken und Decke darauf. Tom holte den braunen Koffer ans Fenster und unter suchte ihn auf Blutspuren. Er fand keine, aber er nahm, mit Erics Erlaubnis, ein Scheuertuch aus der Küche, machte es am Ausguß naß und fuhr damit über die Ober fläche des Koffers. Dann spülte er das Tuch aus und hängte es zum Trocknen über eine Stange. »Wissen Sie was«, sagte Eric zu Tom, »als Peter aus dem kleinen Feldweg kam, da kam ein Mann auf ihn zu und sagte: ›Haben Sie die Schüsse gehört?‹, und Peter sagte ja, deshalb sei er da langgegangen. Dann fragte der Mann, was Peter da eigentlich machte, er sei doch ein Fremder, und Peter sagte: ›Ach, ich bin bloß mit mei ner Freundin bei der Kirche oben!‹« Tom war nicht in der Stimmung zu lachen. Er wusch sich oberflächlich im Badezimmer und zog seinen Pyja ma an. Er überlegte, daß die Kidnapper, wenn sie Frank freiließen, nicht unbedingt Thurlow informierten. Vielleicht – nein, wahrscheinlich wußte Frank, daß sein Bruder und Thurlow im Hotel Lutetia in Paris waren; und wenn er frei war, machte sich Frank vielleicht selber auf den Weg 258
dorthin. Oder – die Kidnapper brachten den Jungen ein fach um, mit einer Überdosis Schlafmitteln, und ließen ihn irgendwo in einer Berliner Wohnung liegen, die sie dann aufgaben. »Woran denken Sie, Tom? Kommen Sie, wir gehen beide noch ein Weilchen ins Bett. Ein langes Weilchen. Schlafen Sie, so lange Sie mögen. Meine Haushälterin kommt morgen nicht. Und die Tür hab ich abgeschlossen und verriegelt.« »Ich denke daran, daß ich Thurlow in Paris anrufen muß, weil ich´s versprochen habe.« Eric nickte. »Ja – wie soll das nun weitergehen? Rufen Sie ihn an, Tom.« Tom ging in Pyjama und Mokassins ans Telefon und wählte. »Wieviele waren da?« fragte Eric. »Konnten Sie das sehen?« »Nicht sehr gut. Im Wagen? Drei vielleicht.« Jetzt noch zwei, dachte Tom. Er löschte die Lampe neben Erics Te lefon, das Licht vom Fenster war hell genug. »Hallo!« sagte Thurlow. »Was ist passiert?« Thurlow hatte von ihnen gehört, das merkte Tom. »Kann ich am Telefon nicht sagen. Wollen die einen neuen Treffpunkt vereinbaren?« »Ja-a, das glaube ich sicher, aber sie hörten sich – er schreckt an, ich meine nervös, als ob sie drohen wollten – sie sagten, wenn die Polizei ins Spiel –« »Keine Polizei. Von Polizei ist keine Rede. Sagen Sie ihnen, wir sind bereit zu einer neuen Vereinbarung, ja?« Tom hatte plötzlich eine Idee, wo man sich treffen konn te. »Ich nehme an, das Geld wollen sie immer noch ha ben. Sie sollen Ihnen beweisen, daß der Junge am Le ben ist. Ich rufe Sie dann später nochmal an, heute, wenn ich etwas geschlafen habe.« 259
»Und wo ist das Geld jetzt?« »Das ist hier bei mir in Sicherheit.« Tom legte den Hö rer auf. Eric stand da, Toms leere Kaffeetasse in der Hand, und hörte zu. Tom zündete sich eine letzte Zigarette an. »Er fragt nach dem Geld«, sagte er zu Eric und lächelte. »Und ich wette, die sind immer noch scharf auf das Geld. Ist ja auch viel schöner, als den Jungen umzubringen und dann nicht zu wissen, wohin mit der Leiche.« »Ja, das ist klar. – Ich habe den Koffer wieder in mein Schlafzimmer genommen. Haben Sie´s gesehen?« Nein, Tom hatte es nicht gesehen. »Gute Nacht, Tom. Schlafen Sie recht lange!« Tom warf einen Blick auf die Sicherheitskette an der Tür, dann sagte er: »Gute Nacht, Eric.«
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»Eric, ich möchte mir gern irgendwo Frauenkleidung ausborgen. Für heute abend, wahrscheinlich. Glauben Sie, Ihr Freund Max würde mir den Gefallen tun, mir ei nen Fummel zu leihen?« »Fummel?« Erics Lächeln war verständnislos. »Wo zu? Eine Party?« Jetzt lachte Tom. Sie waren beim Frühstück – zumin dest Tom war dabei – um viertel nach ein Uhr mittags. Tom saß im Pyjama und Hausmantel auf Erics kleinerem Sofa. »Nein, keine Party, ich habe bloß eine Idee. Viel leicht klappt es, und jedenfalls wär´s ganz lustig. Ich ver abrede mich für heute abend mit den Kidnappern im Hump. Vielleicht kann Max sogar mitkommen.« Der Hump: das war der Name der Schwulen-Bar mit der ein geglasten Treppe. »Sie wollen sich verkleiden und das Geld im Hump übergeben?« »Nein, nein, kein Geld. Nur verkleiden. Könnten Sie Max jetzt erreichen?« Eric erhob sich. »Max wird wohl arbeiten. Eher Rollo, der schläft meist bis mittags. Sie wohnen zusammen. Ja, ich werd´s versuchen.« Eric wählte eine Nummer, die er nicht hatte nachzusehen brauchen. Sekunden später sagte er: »Hallo, Rollo! Wie geht´s? Ist Max da? . . . Aha. Hör mal zu«, fuhr er auf Deutsch fort, »mein Freund Tom hier – ja, aber Max kennt ihn. Er wohnt grade bei mir. Tom hätte gern einen Fummel für heute abend . . . Ja! Langes Kleid –« Eric blickte zu Tom hinüber und nickte. »Ja, Perücke bestimmt auch . . . Make-up . . . Schuhe.« Eric musterte Toms Mokassins und sagte: »Nein, viel leicht welche von Max, deine sind zu groß, ha-ha! Ja, 261
vielleicht im Hump. Ha-ha! Na klar, bestimmt kannst du mit, wenn du Lust hast.« »Handtasche«, flüsterte Tom. »Ach ja, eine Handtasche auch noch«, sagte Eric. »Weiß ich nicht. Zum Spaß, nehm ich an.« Eric lachte. »Glaubst du? Na schön, ich sag´s Tom. Tschüß, Rollo.« Eric legte auf und sagte: »Rollo glaubt, Max könnte so um zehn heute abend kommen – hierher, meine ich. Max arbeitet bis neun in einem Schönheitssalon, und Rollo geht um sechs weg, er muß irgendwo ein Schaufenster dekorieren, bis zehn, aber er sagt, er wird Max einen Zet tel hinterlassen.« »Vielen Dank, Eric.« Toms Stimmung stieg, obgleich noch nichts vereinbart war. »Ich hab um drei nochmal eine Verabredung«, sagte Eric. »Aber nicht in Kreuzberg. Kommen Sie mit?« Diesmal wollte Tom lieber nicht. »Nein, Eric, danke schön. Ich denke, ich werde einen Spaziergang machen – vielleicht ein Geschenk für Heloise kaufen. Ich muß auch Paris nochmal anrufen. Ich schulde Ihnen glatt tau send Dollar für Telefongespräche.« »Ha-ha! Geld für Telefongespräche – nein. Wir sind al le Freunde, Tom.« Eric verschwand in seinem Schlaf zimmer. Die Worte klangen nach in Toms Ohren, als er sich ei ne Roth-Händle anzündete. Sie waren Freunde. Auch Reeves gehörte zu ihren Freunden. Sie benutzten das Telefon, die Wohnung, zuweilen auch das Leben der an deren mit, und irgendwie glich sich alles wieder aus. Aber Tom konnte Eric wenigstens ein amerikanisches SlangWörterbuch schicken. Wieder wählte Tom die Nummer des Lutetia. »Hallo – bin froh, daß Sie da sind«, sagte Thurlow. Es hörte sich an, als kaute er auf etwas herum. »Ja«, sagte 262
er auf Toms Frage, »sie haben heute mittag angerufen, diesmal klang es, als ob Feuerwehrsirenen im Hinter grund wären. Jedenfalls wünschen sie einen bestimmten Ort und Zeit, und sie haben auch alles angegeben. Es ist ein Restaurant – ich gebe Ihnen gleich die Adresse – und da sollen Sie einfach ein Paket hinterlassen und –« »Ich schlage einen Ort vor«, unterbrach ihn Tom. »Es ist eine Bar, der Hump, ich buchstabiere: H-u-m-p, genau wie man´s spricht. Moment mal.« Tom legte die Hand über den Hörer und rief: »Eric! Entschuldigen Sie, wie heißt die Straße, wo der Hump ist?« »Winterfeldtstraße«, sagte Eric sofort. »Winterfeldtstraße«, sagte Tom zu Thurlow. »Ach, die Nummer ist egal, die finden das schon . . . Ja, eine ge wöhnliche Bar, aber ziemlich groß. Die Taxifahrer kennen sie bestimmt . . . Um Mitternacht ungefähr. Sagen wir zwischen elf und zwölf. Sie sollen nach Joey fragen. Joey hat das, was sie haben wollen.« »Das sind dann Sie?« fragte Thurlow interessiert. »Na ja – das weiß ich noch nicht. Aber Joey ist jeden falls da. Sie wissen doch wohl, daß der Junge heil und gesund ist?« »Wir haben nur ihr Wort, gesprochen haben wir nicht mit ihm. Aus den Feuerwehrsirenen ist wohl zu schlie ßen, daß sie irgendwo auf der Straße anriefen.« »Danke schön, Mr. Thurlow. Heute abend sollte es zum Klappen kommen, meine ich.« Tom sprach über zeugt, überzeugter, als er sich fühlte, und fuhr schnell fort: »Wenn sie das Geld erst haben, werden sie es ja wohl bestätigen und Ihnen dann sagen, wo der Junge freigelassen wird. Können Sie ihnen sagen, daß sie das so machen sollen? Ich nehme an, sie werden Sie vor heute abend nochmal anrufen, um den Treffpunkt fest zumachen?« 263
»Ja, das hoffe ich. Sie haben mich beauftragt, es Ih nen zu sagen. Das mit dem Restaurant, meine ich. Sie rufen mich also wann nochmal an, Mr. Ripley?« »Das kann ich noch nicht genau sagen. Aber anrufen werde ich Sie, ja.« Tom legte auf. Er war nicht zufrieden; er wünschte, er könnte ganz sicher sein, daß die Leute, die Frank in ihrer Gewalt hatten, Thurlow heute nochmal anriefen. Eric kam von der Diele herein, er sah zielstrebig aus und hielt einen Briefumschlag in der Hand, den er ableck te. »Erfolg? Was gibt´s Neues dort?« Erics Gelassenheit gab Tom ein wenig Lockerheit zu rück. Schließlich wollten sie beide in wenigen Minuten die Wohnung verlassen und zwei Millionen Dollar darin zu rücklassen, unbewacht. »Ich hab´s also abgemacht, heu te abend zwischen elf und zwölf, im Hump. Die Kidnap per sollen nach Joey fragen.« »Und das Geld nehmen Sie nicht mit?« »Nein.« »Und dann, was weiter?« »Das plane ich dann, je nachdem was sich ergibt. Hat Max einen Wagen?« »Nein – haben sie nicht.« Eric schob sich das dunkel blaue Jackett auf den Schultern zurecht und blickte Tom lächelnd an. »Heute abend bring ich Sie in Ihrem Fum mel zum Taxi.« »Wollen Sie nicht mitkommen?« »Weiß noch nicht.« Eric wackelte mit dem Kopf. »Tom, bitte fühlen Sie sich ganz wie zu Hause hier. Aber wenn Sie ausgehen, schließen Sie zweimal ab – bitte.« »Ganz bestimmt, das tu ich.« »Wollen Sie sehen, wo ich den Koffer hingestellt hab – in meinem Kleiderschrank?« Tom lächelte. »Nein.« 264
»Also dann – bye-bye, lieber Tom. Ich bin wohl so um sechs zurück.« Ein paar Minuten später verließ auch Tom die Woh nung und drehte, wie Eric gebeten hatte, den Schlüssel zweimal um. Die Niebuhrstraße erschien Tom ganz normal und friedlich; nirgends schien jemand herumzulungern oder ihm besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Tom bog nach links in die Leibnizstraße und dann noch einmal nach links, als er den Kurfürstendamm erreichte. Hier waren die Läden, die Buch- und Schallplattengeschäfte, die vierrädrigen Imbisswagen auf dem Bürgersteig, Le ben, Menschen – ein kleiner Junge rannte mit einem großen Pappkarton die Straße entlang, ein Mädchen ver suchte, einen Kaugummi von ihrem Stiefelabsatz abzu kratzen, ohne ihn anzufassen. Tom lächelte. Er kaufte eine »Morgenpost« und warf einen Blick hinein. Er rech nete nicht damit, irgendwas über ein Kidnapping zu fin den, und fand auch nichts. Vor einem Schaufenster mit guten ledernen Aktenkof fern, Handtaschen und Brieftaschen blieb er stehen; dann ging er hinein und kaufte eine dunkelblaue wildle derne Schultertasche. Die würde Heloise gefallen, dachte er. Zweihundertfünfunddreißig Mark. Vielleicht war der Kauf eine Garantie dafür, daß er sicher nach Hause kam und sie ihr schenken konnte. Aber das war etwas unlo gisch. Er kaufte zwei Päckchen Roth-Händle an einem Schnellimbisswagen. Praktisch, daß sie neben Speisen und Bier auch Zigaretten und Streichhölzer verkauften. Wollte er ein Bier? Nein. Er schlenderte zurück in Erics Wohnung. Tom hielt einer Frau die Haustür offen, die mit einem leeren Einkaufswagen herauskam. Sie dankte, sah ihn aber kaum an. 265
Er trat ungern in Erics stille Wohnung, einen Augen blick lang fragte er sich, ob jemand sich in Erics Schlaf zimmer verborgen halte. Unsinn. Er ging dann ins Schlafzimmer – es war sauber und ruhig und das Bett war gemacht – und blickte in den Kleiderschrank. Der braune Koffer stand an der Rückwand, hinter einem grö ßeren Koffer, und vor dem größeren stand eine Reihe Schuhe. Tom hob den braunen Koffer auf und fühlte das vertraute Gewicht. Im Wohnzimmer blieb Tom stehen und starrte auf eine von Erics Waldlandschaften – ein Bild, das er haßte –: ein Hirsch mit großem Geweih und erschreckten blutun terlaufenen Augen unter dunkelblauen Gewitterwolken. Ob der Hirsch von Hunden gejagt wurde? Wenn ja, so sah Tom keine. Er suchte vergeblich, ob irgendwo ein Gewehrlauf herausschaute. Vielleicht hatte der Hirsch den Maler gehaßt. Das Telefon klingelte. Tom tat fast einen Sprung – es hatte sich so ungewöhnlich laut angehört. Konnten die Kidnapper sich Erics Nummer verschafft haben? Nein, natürlich nicht. Sollte er sich melden? Mit verstellter Stimme sprechen? Tom nahm den Hörer und sprach mit normaler Stimme. »Hallo?« »Hallo, Tom. Hier ist Peter«, sagte Peter ruhig. Tom lächelte. »Tag, Peter. Eric ist nicht hier, er wollte so um sechs zurück sein, hat er gesagt.« »Unwichtig. Geht´s Ihnen gut? Haben Sie geschla fen?« »Ja, danke. Sind Sie heute abend frei, Peter? Sagen wir von halb elf oder elf an, für eine kleine Weile?« »Ja-a. Ich bin nur zum Essen mit einem Vetter verab redet. Was gibt´s denn heute abend?«
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»Ich will in den Hump gehen, vielleicht mit Max. Und ich möchte Sie gern nochmal um Ihren Taxi-Service bit ten. Heute abend wird´s aber ungefährlicher sein. Jeden falls«, fügte er hastig hinzu, »hoffe ich, daß es ungefähr lich ist, aber das wäre dann meine Sache, nicht Ihre.« Peter sagte, er könne zwischen halb elf und elf bei E ric sein. Max führte seinen Fummel in Erics Wohnzimmer vor: er glich einem Handelsreisenden, der etwas vorlegte, das den Kunden vermutlich interessieren würde, aber mehr als dieses eine Kostüm hatte er nicht mitgebracht. »Dies ist mein bestes Stück«, sagte Max auf Deutsch, während er in Stiefeln und schwarzer Lederkleidung durchs Wohnzimmer stampfte und das lange Gewand gegen seinen Körper hielt, um es so gut wie möglich zur Gel tung zu bringen. Tom war erleichtert, als er sah, daß es lange Ärmel hatte. Das Kleid war rosa-weiß und durchsichtig, am Saum hatte es drei Reihen Rüschen. »Fabelhaft«, sagte Tom. »Sehr hübsch«, fügte er hinzu. »Und dann noch dies hier, natürlich.« Aus seiner rot leinenen Reisetasche zog Max ein weißes Unterkleid, das ebenso lang aussah wie das Kleid. »Zieh mal das Kleid an, dann fällt mir was ein fürs Make-up«, sagte Max lächelnd. Tom verlor keine Zeit: er zog seinen Hausmantel aus, unter dem er Unterhosen anhatte, streifte das Unterkleid über und dann das Kleid. Das gab Schwierigkeiten mit der Strumpfhose, die aussah wie ein gespenstischer bei ger Hauch und von der Max sagte, die könne Tom nur im Sitzen richtig anziehen, aber schließlich sagte Max: »Ach, was soll´s«; wenn es mit den Schuhen auch ohne Strumpfhose ging, okay, das Kleid war ja beinahe boden 267
lang. Max war so groß wie Tom. Das Kleid hatte keinen Gürtel, es fiel in losen Falten. Jetzt setzte sich Tom vor einen rechteckigen Spiegel, den Eric aus dem Schlafzimmer geholt hatte. Max hatte seine Gerätschaften auf der Anrichte ausgebreitet und machte sich an die Arbeit mit Toms Gesicht. Eric schaute still amüsiert und mit verschränkten Armen zu. Max klatschte eine dicke weiße Creme auf Toms Augenbrau en und verteilte sie, wobei er vor sich hin summte. »Laß man«, sagte Max. »Die Augenbrauen krieg ich schon wieder hin. Genau was du brauchst.« »Musik!« sagte Eric. »›Carmen‹ brauchen wir!« »Nein, ›Carmen‹ brauchen wir nicht!« sagte Tom, dem der Gedanke an ›Carmen‹ verhaßt war, vor allem weil es nicht lustig genug war. Oder er war nicht in der Stimmung für Bizet. Die Verwandlung seiner Lippen konsternierte ihn. Die Oberlippe war dünner, die Unterlippe voller ge worden. Er hätte sich selber kaum erkannt. »So – jetzt die Perücke«, murmelte Max auf Deutsch. Er nahm das kastanienrote, ziemlich schreckliche Ding, das auf der Ecke von Erics Anrichte lag, und schüttelte es aus. Es hatte Schlangenlocken, die Max jetzt vorsich tig auskämmte. »Singen Sie doch was«, sagte Tom. »Kennen Sie das Lied von dem ›slick little girl‹?« »Ach! ›All the things that you do to your face – Make up!‹« Max begann zu singen, eine gekonnte Imitation von Lou Reed. »›Rouge and coloring, incense and ice . . .‹« Max wiegte sich hin und her, während er weiterarbeitete. Tom mußte an Frank denken, an Heloise, an Belle Ombre. »Augen auf!« sang Max, der sich jetzt auf Toms Au gen konzentrierte. Er machte eine Pause, um Tom zu betrachten und dann in den Spiegel zu sehen. 268
»Sind Sie heute abend frei, Max?« fragte Tom auf Deutsch. Max lachte, rückte die Perücke zurecht und besah sich sein Werk. »Meinen Sie das im Ernst?« Sein Mund war breit und großzügig und jetzt zu einem Lächeln verzogen. Max war rot geworden, dachte Tom. »Ich lasse mein Haar sehr kurz schneiden, dann passen die Perücken besser, aber im Grunde ist es dumm, so pingelig zu sein. Ich finde, dies sieht hübsch aus.« »Ja.« Tom blickte in den Spiegel, als besehe er einen anderen Menschen, aber im Augenblick interessierte es ihn nicht. »Im Ernst, Max. Haben Sie eine Stunde Zeit für mich, an der Bar? Im Hump, heute abend? So um Mitter nacht, oder auch früher? Bringen Sie Rollo mit – Sie sind beide meine Gäste. Nur auf eine Stunde oder so. Ja –?« »Und ich darf nicht mit?« fragte Eric auf Deutsch. »Oh, wie Sie wollen, Eric.« Max half jetzt Tom in die hochhackigen Lackpumps, die voller Risse und Sprünge waren. »Aus´m Altkleiderladen in Kreuzberg«, sagte Max, »a ber sie sind nicht so fürchterlich eng wie viele hochhacki ge. Na siehste – sie passen!« Tom nahm wieder vor dem Spiegel Platz. Er kam sich vor wie in einer Phantasiewelt, als Max ihm jetzt mit ei nem meisterlich hingesetzten schwarzen Punkt einen Schönheitsfleck auf die linke Wange tupfte. Es klingelte an der Wohnungstür, und Eric ging in die Küche. »Wollen Sie wirklich, daß Rollo und ich heute abend mitkommen, in den Hump?« fragte Max. »Sie werden doch nicht erwarten, daß ich die ganze Zeit da rumsitze oder – stehe wie ein Mauerblümchen, Max? Ich brauche Sie beide, wirklich. Eric ist nicht der
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richtige Typ.« Tom war dabei, eine hellere Stimme aus zuprobieren. »Und das alles bloß aus Spaß?« fragte Max und be rührte Toms rote Locken noch einmal. »Bloß aus Spaß, ja. Ich tu so, als würde ich jemand versetzen. Er würde mich auch sowieso nicht erkennen, wenn er reinkäme.« Max lachte. »Tom!« sagte Eric, als er wieder ins Zimmer kam. Sag nicht Tom zu mir, hätte Tom gern gesagt. Eric war einen Augenblick sprachlos, als er in den Spiegel starrte, der Toms verwandeltes Gesicht wieder gab. »Pe-Peter ist unten, er hat keinen Parkplatz, ob Sie runterkommen können?« »Aber ja«, sagte Tom. Gelassen nahm er seine Hand tasche, ein großes Ding aus ineinander geflochtenem rotem Leder und schwarzem Lack. Ebenso kühl griff er in die Tasche seines Jacketts, das in Erics Schrank vorn in der Diele hing, entnahm ihr den Schlüssel, den er bei dem italienischen Typen gefunden hatte, und holte aus der rechten hinteren Ecke des Schrankbodens Peters Pistole. Eric und Max unterhielten sich und betrachteten Toms Aufmachung; keiner sah, daß er die Pistole in die Handtasche steckte. Tom hatte ihnen den Rücken zuge kehrt. »Fertig, Max? Wer begleitet mich nach unten?« Das tat Max. Max war etwas spät bei Eric angekom men, er sagte, Rollo sei vielleicht schon im Hump, aber Max wollte schnell nochmal nach Hause und sich »teil weise« umziehen, denn das Hemd, das er trug, hatte er den ganzen Tag bei der Arbeit angehabt. Peter fiel fast die Zigarette aus dem Mund. Er saß in seinem Wagen. »Tom«, sagte Tom. »´n Abend, Peter.«
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Peter und Max kannten sich offenbar. Max sagte zu Tom, er wohne ganz in der Nähe und werde schnell zu Fuß nach Hause gehen, denn der Hump lag in der ande ren Richtung; er werde Tom in ein paar Minuten don tref fen. Peter und Tom fuhren ab in Richtung Winter feldtstraße. »Was soll das alles? Nur zum Spaß?« fragte Peter, leicht gereizt. Spürte Tom da etwas wie Kühle in Peter? »Nein, nicht nur.« Tom fiel ein, daß er Thurlow noch einmal hätte an rufen können – und es nicht getan hatte –, um festzustel len, ob die Kidnapper die Verabredung heute abend ein halten wollten. »Da wir noch einen Augenblick Zeit ha ben: Sie sind nochmal zu dem Schuppen zurückgegan gen, Peter.« Peter hob die Schultern, oder wand sich. »Ja, ich bin zu Fuß hingegangen, weil ich kein Geräusch machen wollte mit dem Motor. War sehr dunkel ohne Lampe.« »Ja, das glaube ich.« »Ich dachte, Sie lägen da vielleicht tot – oder verwun det, das wäre noch schlimmer gewesen. Dann hab ich den Mann da liegen sehen – nicht Sie. Da bin ich weg gegangen. Sie haben ihn nicht erschossen?« »Ich hab ihm einen Schlag versetzt, mit dem Koffer.« Tom schluckte. Er wollte nicht sagen, daß er ihm außer dem mit dem Griff von Peters Pistole die Schläfe einge schlagen hatte. »Ich glaube, die Kidnapper dachten, ich hätte noch jemand bei mir. Ich habe zweimal in die Luft geschossen und laut geschrien. Aber ich glaube, der Kerl dort am Boden war tot.« Peter lachte ein wenig, vielleicht aus Nervosität, aber es erleichterte Tom. »Das hab ich nicht festgestellt – so lange bin ich nicht geblieben. Die Zeitungen heute abend
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hab ich nicht gesehen, auch nicht die Nachrichten im Fernsehen heute abend.« Tom sagte nichts. Im Augenblick, dachte er, war er aus dem Schneider, und er mußte an die Gegenwart denken. Sollte er es wagen, Peter zu bitten, noch einmal zu warten, draußen vor dem Hump? Peter könnte sich heute abend als außerordentlich nützlich erweisen. »Die sind dann weggefahren«, sagte Peter. »Ich sah ihren Wagen abfahren, und dann habe ich auf Sie gewar tet – mehr als fünf Minuten, glaube ich.« »Da war ich auf dem Rückweg zu der großen Straße – Krüger-Damm, da habe ich den Bus genommen. Ich ha be gar nicht zu der Kirche hinüber gesehen. Meine Schuld, Peter.« Peter bog um eine Ecke. »Das ganze Geld liegt nun in Erics Wohnung. Wenn die es nicht kriegen – was werden sie mit dem Jungen machen?« »Oh, ich glaube, denen liegt mehr an dem Geld als an dem Jungen.« Sie waren nun in der Straße, wo sich die Bar befand; Tom hielt Ausschau nach der rosa NeonLeuchtschrift Der Hump, waagrecht unterstrichen, an der Seitenwand eines Hauses, aber noch sah er sie nicht. Tom mußte Peter noch über die möglichen Ereignisse von heute abend aufklären. Etwas mühsam suchte er nach einem Anfang. Er kam sich in diesem Augenblick in seiner Verkleidung dumm und verletzlich vor. Nervös hob er die schwarz-rote Handtasche im Schoß hoch: Peters Pistole machte sie schwer. »Ich hab Ihre Pistole bei mir. Vier Kugeln sind noch drin.« »Jetzt? Sie haben die Pistole bei sich?« fragte Peter auf Deutsch und blickte auf die Handtasche. »Ja. Ich bin mit den Kidnappern verabredet, für heute abend – vielleicht kommt auch nur einer, das weiß ich nicht – im Hump, zwischen elf und zwölf. Wenn Sie also 272
auf mich warten wollen, Peter – es ist jetzt etwas nach elf. Ich werde sie drinnen im Lokal ignorieren, und dann kann ich ihnen hoffentlich folgen. Ich nehme an, sie kommen in einem Wagen, aber sicher bin ich da nicht. Wenn sie keinen Wagen haben, werd ich ihnen zu Fuß nachgehen, so weit ich kann.« »Na-aa«, sagte Peter zweifelnd. Ob er an die hochhackigen Schuhe dachte? fragte sich Tom. »Und wenn sie überhaupt nicht aufkreuzen, dann wird´s jedenfalls ein lustiger Abend, und nieman dem geschieht etwas.« Tom hatte gerade das rosa Leuchtschild Der Hump entdeckt, es war viel kleiner, als er es in der Erinnerung hatte. Jetzt suchte Peter nach einem Parkplatz. »Da ist Platz!« sagte Tom, als er eine Lücke in der Wagenreihe entdeckte, die auf der rechten Straßenseite stand. Peter fuhr darauf zu. »Würde es Ihnen was ausmachen zu warten, vielleicht eine Stunde, oder auch länger?« »Nein, gar nicht«, sagte Peter und hielt an. Tom erklärte es ihm: wenn die Kidnapper die Verein barung einhielten, würden sie nach »Joey« fragen, beim Barmixer oder bei einem Kellner; wenn Joey nach einer Weile nicht erschienen war, würden sie fortgehen, und dann wollte Tom ihnen folgen. »Ich glaube nicht, daß sie bis Lokalschluß morgen früh warten. Um zwölf oder kurz nach zwölf werden sie wissen, daß es ein Trick war. Aber wenn Sie mal pinkeln müssen, gehen Sie lieber jetzt ir gendwohin.« Peters langer Unterkiefer senkte sich ein wenig, und er lachte. »Nein, nein, ich bin okay. Gehen Sie allein rein? Niemand bei Ihnen?« »Sehe ich so zerbrechlich aus? Max kommt mit, wahr scheinlich auch noch Rollo. Wiedersehen, Peter. Wir se 273
hen uns später hier. Wenn sich bis viertel nach zwölf nichts tut, komme ich raus und sag Ihnen Bescheid.« Tom blickte zu der Tür des Lokals hinüber. Eine männ liche Gestalt kam heraus, zwei andere schlüpften hinein. Der Rhythmus der Discomusik drang lauter durch die geöffnete Tür. BUUMPA . . . BUUMPA . . . BUUMPA . . . wie ein Herzschlag, nicht schnell und auch nicht zu lang sam, aber kraftvoll. Und auch ein bißchen unecht, dachte Tom, künstlich, elektronisch, nicht richtig menschlich. Tom wußte, woran Peter dachte. »Meinen Sie, daß das schlau ist, was Sie vorhaben?« fragte Peter auf Deutsch. »Ich will rauskriegen, wo der Junge ist.« Tom nahm seine Handtasche. »Aber ich nehm´s Ihnen nicht übel, wenn Sie nicht warten wollen, Peter. Ich kann versuchen, ein Taxi zu schnappen und ihnen zu folgen.« »Ich warte«, sagte Peter knapp. »Und wenn Sie Schwierigkeiten haben – ich bin hier.« Tom stieg aus und ging über die Straße. In der abend lichen Brise kam er sich nackt vor, und er blickte an sich herunter, um zu sehen, daß er nicht nackt war und daß sein Kleid nicht hochgeweht war. Als er auf den Bord stein trat, knickte er mit dem Fuß um und warnte sich, vorsichtig zu sein. Nervös faßte er an die Perücke, dann zog er mit leicht geöffneten Lippen die Tür auf. Die pul sierende Discomusik schlug über ihm zusammen und ließ seine Trommelfelle vibrieren. Unter den Blicken von mindestens zehn Gästen, von denen ihm viele zulächel ten, ging Tom auf die Bar zu. Die Luft roch nach Pot. Wieder war kein Platz an der Bar, doch es war er staunlich, wie vier oder fünf Männer beiseite traten, so daß Tom schließlich den runden schimmernden Chrom rand der Bartheke berühren konnte.
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»Wer bist du denn?« fragte ein junger Mann in so ab getragenen Jeans, daß man sah, er hatte darunter nichts an. »Mabel«, sagte Tom und flatterte mit den Augenwim pern. Kühl öffnete er die Handtasche, um für einen Drink das lose Kleingeld herauszunehmen, und plötzlich fiel ihm ein, daß er überhaupt nicht an Nagellack gedacht hatte, und Max auch nicht. Verdammt. Die in England übliche Geste, das Kleingeld einfach auf die Theke zu schmeißen, kam ihm typisch männlich vor, also ließ er es. Männer und Jungen sprangen und wanden sich auf der Tanzfläche zum Lärm der hämmernden Rockmusik; der Boden unter ihnen schien zu wogen, zu explodieren. Die verglaste Treppe hinauf, die nach oben zu den Toilet ten führte, schwebten Gestalten, verharrten in Betrach tungen versunken, ließen sich treiben; während Tom hin überblickte, fiel eine Gestalt die Stufen herunter, wurde von zwei anderen Männern aufgerichtet und ging offen bar unverletzt weiter. Außer ihm waren noch mindestens zehn andere mit bodenlangen Gewändern da, bemerkte Tom, aber jetzt blickte er sich suchend nach Max um. Unendlich langsam zog er eine Zigarette aus seiner Handtasche und zündete sie an, er hatte es diesmal nicht eilig, den Blick des Barmanns einzufangen und etwas zu bestellen. Es war jetzt viertel nach elf; Tom sah sich um, vor allem an der Bar, wo wohl am ehesten jemand einen der Barmänner nach Joey fragen würde, aber bisher sah er niemand, den man mit noch so viel Phantasie für ei nen sauberen Durchschnittsbürger, einen Normalen hal ten konnte, und die Kidnapper waren vermutlich welche. Und jetzt erschien Max in weißem Western-Hemd mit Perl-Knöpfen und immer noch in schwarzen Lederhosen und Stiefeln; er kam aus dem hinteren Teil des Lokals, 275
wo überwiegend getanzt wurde. Ihm folgte eine große Gestalt in langem Kleid, das aussah wie aus beigem Sei denpapier gemacht, und mit einer Bürstenfrisur, in der schmale gelbe Schleifchen irgendwie oberhalb der Ohren festgebunden waren. »Guten Abend«, sagte Max und lächelte. »Rollo.« Er wies auf die Seidenpapiergestalt. »Mabel«, sagte Tom mit heiterem Lächeln. Rollos schmale rote Lippen waren an den Mundwin keln hochgezogen. Im übrigen war sein Gesicht kalk weiß; die blaugrauen Augen glitzerten wie geschnittene Diamanten. »Du wartest auf´n Freund?« fragte Rollo. Er hatte eine lange schwarze Zigarettenspitze in der Hand, aber keine Zigarette. Sollte das ein Scherz sein? »Ja-a«, sagte Tom und ließ den Blick noch einmal schweifen über die Männer, die er drüben, wo die Tische waren, an die Wände ge lehnt stehen sah. Er konnte sich schwer vorstellen, daß einer oder sogar zwei der Kidnapper hier tanzen würden, aber möglich war vielleicht alles. »Was zu trinken?« sagte Rollo zu Tom. »Das mach ich. Bier, Tom?« fragte Max. Bier schien wenig damenhaft, obgleich Tom das sofort für absurd hielt und gerade Ja sagen wollte, als er hinter der Bar eine Espressomaschine erblickte. »Kaffee, bitte.« Tom holte ein paar Münzen unten aus seiner Handtasche heraus und legte sie auf die Theke. Seine Brieftasche hatte er nicht mitgenommen. Max und Rollo wollten Dornkaats. Tom rückte sich so zurecht, daß er die Tür im Auge behalten, sich an die Bartheke lehnen und mit Max und Rollo reden konnte, die ihm jetzt gegenüberstanden. Re den war nicht ganz leicht in dem Lärm. Alle paar Sekun
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den trat eine männliche Gestalt in die Tür, manchmal auch zwei. Hinaus gingen nicht ganz so viele. »Wen willst du denn versetzen?« schrie Max Tom ins Ohr. »Siehst du ihn?« »Nein, noch nicht.« In diesem Augenblick sah Tom ei nen jungen dunkelhaarigen Mann in der äußersten Ecke, am Ende der Bartheke, die rechts von Tom einen Bogen machte und bis zur Wand ging. Ja, der da konnte ein Normaler sein. Er sah aus wie Ende zwanzig, trug eine hellbraune leinenartige Jacke und hielt eine Zigarette in der linken Hand, die auf der Bartheke ruhte. Er hatte ein Bier vor sich und blickte ruhig und aufmerksam um sich, auch die Tür streifte sein Blick. Aber viele andere hatten ebenfalls die Tür im Auge; Tom wußte nicht recht, was er annehmen sollte. Über kurz oder lang mußte der Mann, den Tom suchte, den Barmixer fragen – vielleicht schon zum zweitenmal, wenn er schon einmal gefragt hatte –, ob er einen Mann namens Joey kannte oder gesehen hatte oder ob eine Nachricht von ihm vorlag. »Tanzen?« fragte Rollo und beugte sich höflich zu Tom, da Rollo noch etwas größer war. »Warum nicht?« Tom und Rollo drängten sich durch bis zur Tanzfläche. Schon nach wenigen Sekunden mußte Tom seine hochhackigen Schuhe ablegen. Galant nahm Rollo sie ihm ab und schlug sie wie Kastagnetten über dem Kopf zusammen. Wirbelnde Röcke, Lachen überall, aber nie mand lachte über sie beide, überhaupt achtete kein Mensch auf ihn und Rollo. DEW-IT . . . DEW-IT . . . DEW IT . . . Das hieß wahrscheinlich ›Mach es‹, aber vielleicht auch ›Friß es . . . Piss es . . . Blas es . . .‹, das war völlig egal. Der Fußboden fühlte sich gut an unter Toms nack ten Füßen. Ab und zu legte er die Hand oben auf den Kopf, um die Perücke zurecht zu rücken, und einmal tat 277
es Rollo für ihn. Rollo war so vernünftig gewesen, flache Sandalen anzuziehen, sah Tom. Tom fühlte sich be schwingt und gestärkt, so als sei er dabei, seine Muskeln beim Turnen zu trainieren. Kein Wunder, daß die Berliner Verkleidungen liebten! Man konnte sich frei darin fühlen, man konnte in einer Verkleidung gewissermaßen man selber sein. »Wollen wir zurück an die Bar?« Tom wußte, es war mindestens zwanzig vor zwölf, und er wollte sich noch einmal umsehen. Tom zog seine Schuhe erst an, als er wieder an der Bar war, wo noch seine Tasse Kaffee stand, unausge trunken. Seine Handtasche hatte Max bewacht. Tom nahm den Platz wieder ein, von dem aus er die Tür im Auge behalten konnte. Der Mann, den er vorher gesehen hatte, stand nicht mehr am Ende der Bar. Tom blickte sich um, er suchte nach einem hellbraunen Jackett unter den Männern, die sich um die Tische drängten, oder die herumstanden und auf die Tanzfläche oder die Treppe schauten. Dann sah ihn Tom ein paar Meter hinter sich an der Bar, fast verdeckt von den Gästen, die dazwi schenstanden; er versuchte, den Blick des Barmixers auf sich zu ziehen. Max machte Anstalten, Tom etwas zuzu schreien, doch mit einer Handbewegung brachte ihn Tom zum Schweigen und beobachtete den Mann unter seinen falschen Wimpern hervor. Der Barmixer beugte sich vor – er trug eine blonde Lo ckenperücke – und schüttelte den Kopf. Der Mann in der braunen Jacke sprach immer noch. Tom stellte sich auf die Zehenspitzen, um seine Lippen zu sehen. Sagte er »Joey«? Es sah so aus. Jetzt nickte der Barmann; das konnte heißen: »Ich sag dir Bescheid, wenn er kommt.« Der Mann in der hellbraunen Jacke schob sich langsam durch die stehenden Gruppen und 278
Einzelgestalten bis zur Wand gegenüber der Bar. Hier sprach er mit einem blonden Mann in einem hellblauen offenen Hemd, der an der Wand lehnte. Der Blaue gab keine Antwort auf das, was der andere zu ihm gesagt hatte. »Was hast du gesagt?« fragte Tom, zu Max gewandt. »Ist es der da?« fragte Max grinsend, mit einer Kopf bewegung zu dem Mann in der hellbraunen Jacke. Tom zuckte die Achseln. Er schob seinen rosa Rü schenärmel zurück und sah, daß es elf Minuten vor Mit ternacht war. Er trank seinen Kaffee aus, lehnte sich zu Max hinüber und sagte: »Kann sein, daß ich gleich weg muß. Nicht sicher. Deshalb sag ich lieber jetzt schon Gu te Nacht und vielen Dank, Max, falls ich weglaufen muß – wie Aschenputtel!« »Willst du ´n Taxi?« fragte Max verwundert, höflich. Tom schüttelte den Kopf. »Noch einen Dornkaat?« Tom bestellte noch zwei, indem er auf das Glas von Max zeigte und zwei Finger in die Höhe hob, dann legte er zwei Zehnmarkscheine hin, obschon Max protestierte. Gleichzeitig beobachtete Tom den Mann in der braunen Jacke, der jetzt an die Bar zurückkam und auf seinen alten Platz an der Wand zuging; jetzt standen dort ein Mann und ein Junge, ganz vertieft in ein Gespräch. Der Braune schien sein Bar-Vorhaben aufzugeben und schob sich näher auf die Tür zu. Tom sah, wie er einen Arm hob, um den Barmixer auf sich aufmerksam zu machen, der zufällig gerade am Ende der Bar stand. Der Barmixer schüttelte sofort den Kopf, und da wußte Tom, daß der Braune der Mann war, der nach Joey Ausschau hielt. Jedenfalls war Tom so gut wie sicher. Der Mann blickte auf seine Uhr und dann zur Tür hinüber. Drei Jungen, Teenager, kamen herein, in Jeans, mit großen Augen und leer schwingenden Händen, alle drei. Der Mann in 279
der braunen Jacke blickte hinüber zu dem Mann im blau en Hemd und machte eine Kopfbewegung zur Tür hin. Dann ging der Braune hinaus. »Gute Nacht, Max«, sagte Tom und ergriff seine Handtasche. »Schön, dich kennenzulernen, Rollo!« Rollo verneigte sich. Tom sah, wie der Blaue auf die Tür zuging, und ließ ihn zuerst hinausgehen. Dann ging Tom ohne Eile zur Tür und nach draußen. Er sah beide Männer rechts auf dem Bürgersteig, der Braune wartete, der Blaue ging auf ihn zu. Tom ging nach links, wo Peters Wagen stand – in der falschen Fahrtrichtung, wie Tom jetzt sah. Vor dem Hump standen noch mehr Männer, die hinein wollten; einer pfiff, als er Tom sah, und die anderen lachten. Peter hatte den Kopf zurückgelegt, war aber sofort hellwach, als Tom an das halbgeschlossene Fenster klopfte. »Ich bin´s!« sagte Tom. Er ging um den Wagen herum und stieg ein. »Sie müssen wenden. Ich habe sie grade gesehen, hier in der Straße. Zwei Männer.« Peter war schon dabei zu wenden. Die Straße war fast dunkel, vollgestellt mit parkenden Wagen, aber jetzt ohne Verkehr. »Langsam – die sind zu Fuß«, sagte Tom. »Tun Sie so, als suchten Sie nach einem Parkplatz.« Tom sah sie gehen. Sie blickten sich nicht um, offen bar unterhielten sie sich. Dann hielten sie an einem ge parkten Wagen an, und auf einen Wink von Tom fuhr Pe ter noch langsamer. Hinter Peter kam ein Wagen heran, aber er hatte genug Platz zum Überholen und tat das auch. »Ich möchte ihnen gern folgen, ohne daß sie es merken«, sagte Tom. »Versuchen Sie´s mal, Peter. Wenn sie riechen, daß wir ihnen folgen, machen die ir gend einen Dreh oder zischen einfach ab – eins oder das 280
andere.« Tom versuchte, »einen Dreh machen« zu erklä ren, aber Peter verstand ihn offenbar ganz gut. Etwa fünfzehn Meter weiter vorn fuhr der Wagen jetzt an und bog gleich darauf nach links in die nächste Ne benstraße. Peter folgte, und sie sahen, wie der Wagen nach rechts einbog, in eine lebhaftere Straße. Dann wa ren zwei andere Wagen zwischen ihnen, aber Tom be hielt den Wagen im Auge, und bei der nächsten Links kurve sah er im Scheinwerferlicht eines anderen Autos die Farbe: der Wagen war rotbraun. »Der Wagen ist dunkelrot. Das ist er!« »Sie kennen ihn?« »Ja – das ist der Wagen, der in Lübars war.« Sie folgten – Tom kam es wie fünf Minuten vor, aber es war vielleicht nur halb soviel. Noch zweimal bogen sie ab, immer gab Tom den Weg an, bis er sah, wie der Wa gen an einem Parkplatz an der linken Straßenseite die Fahrt verlangsamte. Es war eine Straße mit vier- oder sechsstöckigen Etagenhäusern. Die meisten Fenster wa ren jetzt nicht erleuchtet. »Können Sie hier anhalten und etwas zurücksetzen«, sagte Tom schnell. Er wollte versuchen festzustellen, in welches Haus sie hineingingen. Und, wenn möglich, se hen, ob in irgendeinem Stockwerk Licht anging. Es waren wieder die trübseligen Häuser des Mittelstands oder un teren Mittelstands, die von den Bomben des zweiten Weltkriegs verschont geblieben waren. Dank der hell braunen Jacke war Tom imstande, einen undeutlichen Schatten zu erkennen, etwas heller als der Hintergrund, der an einer der Haustüren ein paar Stufen hinaufstieg. Er sah, wie die helle Jacke im Hause verschwand. »Noch ungefähr drei Meter weiter – bitte, Peter.« Peters Wagen schob sich langsam vorwärts, und Tom sah im dritten Stock ein Licht angehen und im zweiten 281
Stock ein Licht erlöschen. Minutenschalter? Flurbeleuch tung? Jetzt wurde links im dritten Stock ein Licht heller. Ein Licht im zweiten Stock rechts blieb unverändert hell. Tom wühlte am Boden seiner Handtasche, wo Münzen und Papiergeld durcheinander lagen, und fand den Schlüssel, den er aus der Tasche des Italieners genom men hatte. »Gut, Peter, Sie können mich hier absetzen«, sagte Tom. »Soll ich warten?« flüsterte Peter. »Was haben Sie vor?« »Weiß ich noch nicht.« Peters Wagen stand auf der rechten Straßenseite, nahe bei einer Reihe geparkter Wagen; er störte niemanden, Peter hätte hier fünfzehn Minuten warten können, aber Tom wußte nicht, wie lange er bleiben würde, und er wollte Peters Leben nicht in Ge fahr bringen, falls ein paar von denen aus dem Hause stürmen und auf ihn schießen sollten und Peter dann versuchte, ihn in den Wagen zu ziehen. Tom wußte, er stellte sich manchmal das Schlimmste vor, das Absur deste. Der Schlüssel, den er hatte, war der für die Haus tür, die Wohnungstür oder keins von beiden? Er sah sich im Geiste unten ein halbes Dutzend Klingelknöpfe drü cken, bis ihn irgendeine harmlose Seele – nicht die Kid napper – ins Haus einließ. »Ich werd einfach versuchen, ihnen einen Schreck einzujagen«, sagte Tom und klopfte mit den Fingerspitzen auf den Türgriff. »Sie wollen nicht, daß ich die Polizei anrufe? Jetzt, oder in fünf Minuten?« »Nein.« Ob Tom jetzt den Jungen fand oder nicht, ob er etwas zustandebrachte oder nicht, es mußte gesche hen, bevor die Polizei hier auftauchen konnte; wenn die Polizei rechtzeitig oder zu spät erschien, würde sie Toms Namen mit hineinziehen, und das wollte er nicht. »Die 282
Polizei hat keine Ahnung von der Sache, und genau das will ich auch.« Er öffnete die Wagentür. »Warten Sie nicht, und schlagen Sie die Tür erst zu, wenn Sie etwas weiter weg sind.« Er schloß die Tür halb hinter sich, da mit es nur einen leisen Klick gab. Eine Frau in einem bunten leichten Kleid begegnete Tom auf dem Bürgersteig, sah ihn recht verblüfft an und ging weiter. Peters Wagen glitt vorwärts in die Dunkelheit, in die Sicherheit, und Tom hörte die Tür zuschlagen. Er kon zentrierte sich jetzt darauf, in den hochhackigen Schuhen die paar Stufen zum Haus hinaufzusteigen. Den langen Rock hielt er, um nicht zu stolpern, ein paar Zentimeter über Schritthöhe hoch. Hinter der ersten Haustür war da eine Tafel mit min destens zehn Knöpfen, die meisten hatten undeutliche Namen, und nicht auf allen war die Nummer der Woh nung angegeben. Ein Jammer, dachte Tom; vielleicht hätte er, wenn die Nummer erkennbar gewesen wäre, den Mut gehabt, bei 2A oder 2B zu klingeln. Das Licht war – nach europäischer Zählweise – im zweiten Stock angegangen, im dritten nach amerikanischer. Tom pro bierte den Yale-artigen Schlüssel, den er in der Hand hatte. Er paßte. Ein Schock der Überraschung durchfuhr Tom: vielleicht hatte jeder aus der Bande so einen Haus türschlüssel, und in der Wohnung war immer jemand, der die Wohnungstür öffnete? Nur – welche Wohnung? Tom drückte auf den Minutenlichtschalter und sah eine wenig einladende braune Treppe aus ungebohnertem Holz und zwei geschlossene Türen, je eine links und rechts von da aus, wo er stand. Er ließ den Schlüssel in die Handtasche fallen und tas tete nach der Pistole. Er löste die Sicherung, ließ die Waffe in der Handtasche und begann, die Treppe hinauf 283
zusteigen, wobei er wieder den Rock vorne hochhielt. Als er in den ersten Stock kam, ging eine Tür zu, ein Mann erschien im Flur, und wieder ging ein Minutenlicht an, als der Mann auf einen Knopf an der Wand drückte. Vor Tom stand ein dicker Mann mittleren Alters in Hosen und Sporthemd, der die Treppe hinuntergehen wollte und der jetzt beiseitetrat, weniger aus Höflichkeit als aus Bestür zung über Toms Aussehen. Tom nahm an, daß der Mann ihn wohl für eine Prosti tuierte hielt, die hier einen Freier besuchte oder sowas, nicht jedoch für einen verkleideten Mann. Er stieg weiter und wollte zum nächsten Stockwerk hochsteigen. »Wohnen Sie hier?« fragte der Mann auf Deutsch. »Jawohl«, erwiderte Tom leise, aber mit Überzeugung. »Zustände sind das in diesem Haus«, murmelte der Mann zu sich selber und ging nach unten. Tom stieg einen Stock höher. Die Treppe knarrte ein wenig. Unter zwei Türen, rechts und links, sah er Licht. Weiter hinten waren anscheinend noch zwei Wohnun gen, jedenfalls Türen. Die Wohnung, die Tom interessier te, mußte links liegen, aber er lauschte kurz an der rech ten Tür, hörte eine Stimme – offenbar Fernsehen – und ging hinüber zur linken Tür. Hier hörte er ganz leise Stimmen – mindestens zwei. Tom zog Peters Pistole aus der Tasche. Er hatte vorher auf diesem Treppenabsatz auf den Minutenlichtknopf gedrückt, etwa dreißig Sekun den Licht mußte er noch haben. Die Tür schien nur ein Schloß zu haben, aber es sah recht solide aus. Was zum Satan sollte er als nächstes tun? Tom war nicht sicher, aber er wußte, das beste war, wenn er sie überraschte, sie aus dem Konzept brachte. Tom richtete die Pistole auf das Türschloß, und im gleichen Augenblick ging das Minutenlicht aus. Mit den Knöcheln der linken Hand klopfte er laut an die Tür, wo 284
durch die Handtasche bis zum linken Ellbogen herunter rutschte. Hinter der Tür war plötzlich alles still. Nach ein paar Sekunden fragte eine Männerstimme auf Deutsch: »Wer ist da?« »Polizei!« schrie Tom auf Deutsch mit fester, zu allem entschlossener Stimme. »Aufmachen!« fügte er hinzu und drückte wieder auf den Lichtschalter. Tom hörte eilige Schritte, Stuhlbeine scharrten, aber es klang noch nicht nach Panik. Wieder waren leise Stimmen zu hören. »Polizei – aufmachen!« sagte er noch einmal und schlug seitlich mit der Faust an die Tür. »Ihr seid umstellt!« Ob sie jetzt durch ein Fenster flüchteten? Tom hielt es für besser, nach rechts zu treten, falls sie durch die Tür schossen, doch die linke Hand blieb auf dem Türschloß, direkt unter dem Türgriff, damit er wußte, wo das Schloß war. Das Minutenlicht ging wieder aus. Jetzt trat Tom gerade vor die Tür, setzte den Lauf der Pistole auf den Spalt zwischen Holz und Metall und feu erte. Die Pistole stieß zurück in seine Hand, doch er hielt sie fest und versetzte gleichzeitig der Tür einen Stoß mit der Schulter. Die Tür ging nicht ganz auf; vielleicht war eine Kette vorgelegt, Tom war nicht sicher. Noch einmal schrie er: »Aufmachen!« mit einer Stimme, die vielleicht auch den Leuten auf dem gleichen Stock hinter ihren ge schlossenen Türen einen Schrecken einjagte, hoffentlich blieben sie da, aber als er einen Blick über die Schulter warf, sah er, daß sich eine Tür ein wenig öffnete. Er kümmerte sich nicht weiter um die Tür im Rücken, denn jetzt hörte er, wie jemand die Tür vor ihm öffnete. Viel leicht wollten sie aufgeben, dachte Tom.
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Der junge blonde Mann im blauen Hemd hatte die Tür aufgemacht; das Licht hinter ihm fiel auf Tom. Der Mann fuhr überrascht zusammen und langte in die hintere Ho sentasche. Tom hielt die Pistole vorn auf das blaue Hemd gerichtet und tat einen Schritt in den Raum. »Umstellt!« wiederholte Tom auf Deutsch. »Los – raus übers Dach! Unten kommt ihr nicht mehr raus! Wo ist der Junge? Ist er hier?« Der Mann in der braunen Jacke – er stand mit offenem Mund mitten im Raum – machte eine ungeduldige Bewe gung und sagte etwas zu einem dritten Mann, einem un tersetzten Typ mit braunem Haar und aufgerollten Hemdsärmeln. Der mit dem blauen Hemd hatte die ein geschlagene Tür zugetreten – sie ließ sich nicht schlie ßen und hing halb offen – und war dann in einen Raum links von Tom gelaufen, wo vermutlich das Fenster zur Straße war. Ein großer ovaler Tisch war in dem Zimmer, wo Tom stand. Das Deckenlicht hatte jemand ausge schaltet, jetzt brannte nur noch eine Stehlampe. Sekundenlang herrschte Verwirrung, und Tom dachte sogar daran zu flüchten, solange er konnte. Die würden vielleicht flüchten und ihn unterwegs noch abknallen. War es falsch gewesen, daß er Peter nicht die Polizei hatte holen lassen, mit Sirenen und allem Drum und Dran? Tom schrie plötzlich auf Englisch: »Los – raus mit euch, solang ihr könnt!« Der mit dem blauen Hemd wechselte ein paar eilige Worte mit dem Mann in Hemdsärmeln und gab dem in der braunen Jacke seine Pistole, dann ging er in ein Zimmer rechts von Tom. Gleich darauf hörte Tom einen dumpfen Laut, als sei ein Koffer heruntergefallen. Tom wagte nicht, nach dem Jungen zu suchen, solan ge er seine Pistole auf den Mann in der braunen Jacke gerichtet hielt – wenn auch ihr Nutzen fraglich war, da 286
der Mann in der braunen Jacke ebenfalls eine Pistole in der Hand hatte. Hinter sich hörte Tom eine Stimme auf Deutsch fragen: »Was ist denn hier los?« Tom warf einen Blick hinter sich. Das kam – wie es schien – von einem neugierigen Nachbarn im Flur, einem Mann in Hausschuhen, die Augen vor Angst weit aufge rissen, war er auf dem Sprung, in seine Wohnung zu rückzuschlüpfen. »Weg da!« schrie der Mann in der braunen Jacke. Der Mann in Hemdsärmeln, der im vorderen Raum gewesen war, hastete in das Zimmer, wo Tom stand, und Tom merkte, daß der Nachbar hinter ihm verschwand. »Okay, schnell!« sagte der Mann in Hemdsärmeln und ergriff ein Jackett, das neben dem ovalen Tisch über ei nem Stuhl hing. Er zog das Jackett an, und einen Au genblick zeigte seine freie Hand nach oben. Er lief durchs Zimmer auf die Tür rechts von Tom zu und stieß mit dem Blauhemdmann zusammen, der mit einem Kof fer durch die Tür kam. Hatten sie tatsächlich was auf der Straße gesehen – schon Polizei, weil er geschossen hatte? Nicht sehr wahrscheinlich. An Tom vorbei lief der Blauhemdmann mit dem Koffer und dann der Mann in der braunen Jacke; sie liefen die Treppe hinauf zum Dach, sah Tom; die Tür zum Dach war also offen, weil sie vorher dafür gesorgt hatten, oder sie hatten einen Schlüssel. Tom wußte, in solchen Häusern gab es keine Feuerleitern, nur Innenhö fe für die Feuerwehr und Notausgänge an den Dächern. Jetzt stürzte der letzte Mann in seiner Jacke an Tom vor bei, er trug etwas, das aussah wie eine braune Aktenta sche. Er lief die Treppe hinauf, rutschte aus, kam wieder hoch. Er war in der Hast mit Tom zusammengestoßen und hatte ihn fast umgeworfen. Tom schloß jetzt die 287
Wohnungstür, so gut es ging. Ein großes Stück altes Holz war abgesplittert, so daß sie sich nicht ganz schlie ßen ließ. Tom ging in den Raum rechts. Noch immer hielt er Pe ters Pistole nach vorn gerichtet, wie auf einen Feind. Der Raum war eine Küche. Auf dem Boden lag Frank auf einer Decke, ein Handtuch über den Mund gebunden, die Hände auf dem Rücken gefesselt, die Füße zusam mengebunden. Doch der Junge bewegte sich, er rieb das Gesicht gegen die Decke, als versuche er, das Handtuch loszuwerden. »He-ee, Frank!« Tom kniete sich neben den Jungen und schob das verknotete Handtuch über Franks Kinn hinunter zum Hals. Ein Speichelfaden lief ihm aus dem Mund, der Junge war benebelt, von Drogen oder Schlaf mitteln, vermutete Tom, der Blick vermochte nichts zu halten und verschwamm. »Um Gottes willen!« murmelte Tom und sah sich nach einem Messer um. Er fand eins in der KüchentischSchublade, das sich jedoch am Daumen so stumpf an fühlte, daß er stattdessen ein Brotmesser vom Ablauf brett nahm. Ein paar leere Cola-Dosen standen auf dem Ablaufbrett. »Gleich haben wir´s geschafft, Frank«, sagte Tom und begann an dem Strick um Franks Handgelenke zu sägen. Der Strick war stark, anderthalb Zentimeter im Durchmesser, aber zum Aufmachen sah der Knoten viel zu fest aus. Beim Sägen lauschte Tom, ob noch jemand durch die Wohnungstür kam. Der Junge spuckte, oder versuchte es, auf die Decke. Nervös gab ihm Tom einen Klaps auf die Wange. »Wach auf! Ich bin´s, Tom! Wir gehen hier gleich weg!« Gern hätte Tom etwas Nescafe gemacht, selbst mit kaltem Leitungswasser, aber er wagte nicht, sich Zeit zu nehmen für die Suche nach dem Kaffee. Er machte 288
sich jetzt an die Fußfessel, sägte zuerst die falsche Schlinge halb durch und fluchte. Endlich war der Strick ab, und Tom richtete den Jungen auf. »Kannst du gehen, Frank?« Den einen hochhackigen Schuh hatte Tom ver loren, jetzt schleuderte er auch den zweiten ab. Wie die Dinge lagen, war es besser, barfuß zu laufen. »To-o-mm?« sagte der Junge. Er sah hundertprozen tig betrunken aus. »So, mein Junge, und nun los!« Franks einen Arm leg te sich Tom um den Hals, dann machten sie sich auf den Weg zur Wohnungstür, wobei Tom hoffte, daß etwas Bewegung den Jungen aufwecken werde. Auf dem Weg zur Tür sah sich Tom in dem teppichlosen Wohnraum um, ob die Männer irgend etwas zurückgelassen hatten, ein Notizbuch, einen Zettel, aber er sah nichts derglei chen. Sie waren offenbar methodisch sauber vorgegan gen, die ganze Ausrüstung hatten sie an einem Platz verstaut gehabt. Nur in einer Ecke lag etwas, das wie ein schmutziges Hemd aussah. Tom sah, daß er immer noch die Handtasche am linken Arm hängen hatte; er entsann sich, daß er die Pistole wieder hineingesteckt und sich die Handtasche über den Arm geschoben hatte, bevor er Frank aufhalf. Im Treppenhaus sah er sich drei Nachbarn gegenüber, zwei Männern und einer Frau, sie waren konsterniert und erschreckt. »Alles in Ordnung!« sagte Tom. Er wußte, es klang schrill und verrückt. Die drei wichen etwas zurück, als Tom auf die Treppe zuging. »Ist das ´ne Frau?« fragte einer der Männer. »Wir haben die Polizei angerufen!« sagte die Frau drohend. »Alles in Ordnung!« gab Tom zurück. Auf Deutsch hör te sich das so gut an. 289
»Voller Drogen ist der Junge!« sagte der eine Mann. »Wer sind denn diese Tiere?« Aber Tom und Frank setzten ihren Weg nach unten fort, wobei Tom fast das ganze Gewicht des Jungen auf sich nahm, und plötzlich waren sie draußen vor der Haustür, und nur aus zwei leichtgeöffneten Wohnungstü ren hatten neugierige Augen herausgespäht. Tom fiel beinahe die steinernen Eingangsstufen hinunter, weil da keine Wand zum Anlehnen war. »Ach ihr heiligen Geister!« Das kam von zwei jungen Männern auf dem Gehweg, die jetzt laut lachten. »Dürfen wir Ihnen helfen, gnädige Frau?« fragten sie übertrieben höflich. »Danke, ja, wir hätten gern ein Taxi«, erwiderte Tom auf Deutsch. »Oha, ja, das sieht man! Ein Taxi, meine Dame, so fort!« »So nötig hat noch nie eine Dame ein Taxi ge braucht!« fiel der andere ein. Unterstützt von diesen beiden Helfern kamen Tom und Frank ohne große Schwierigkeiten bis zur nächsten Stra ßenecke. Die beiden jungen Leute kicherten über Toms nackte Füße und stellten Fragen wie: »Was habt ihr bloß gemacht, ihr zwei?« Aber sie halfen; einer ging auf die Fahrbahn und versuchte energisch, ein Taxi herbeizu winken. Tom blickte auf das Straßenschild und sah, daß die Straße, durch die sie gekommen waren und in der die Wohnung der Kidnapper lag, Binger Straße hieß. Jetzt hörte er die Polizeisirene. Aber ein Taxi war nun gefun den; es fuhr an den Bordstein, Tom stieg ein und zog den Jungen hinter sich her, wobei die vergnügten jungen Leu te ihm beistanden. »Schöne Reise!« rief der eine und schloß die Tür.
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»Niebuhrstraße, bitte«, sagte Tom zu dem Fahrer, der ihn etwas länger musterte als notwendig war, dann stellte er die Tarifuhr ein und fuhr ab. Tom öffnete ein Fenster. »Tief atmen«, sagte er zu Frank und drückte ihm fest die Hand, um ihn wacher zu machen. Was der Fahrer dachte, kümmerte ihn nicht. Tom riß sich die Perücke ab. »Nette Party?« fragte der Fahrer. Er blickte stur gera deaus. »Oo-oh, ja-a!« stöhnte Tom, als sei es eine umwer fende Party gewesen. Niebuhrstraße, Gott sei Dank. Tom begann nach Geld zu wühlen. Ein Zehnmarkschein kam gleich heraus, reichlich, denn die Fahrt kostete nur sieben. Der Fahrer wollte ihm das Wechselgeld zurückgeben, doch Tom sagte, er solle es behalten. Frank schien jetzt etwas wa cher geworden, wenn auch noch immer weich in den Knien. Tom hielt ihn fest am Arm und drückte auf Erics Klingel. Diesmal hatte er Erics Schlüssel nicht mit, aber Eric war sicher zu Hause, weil das Geld in der Wohnung lag. Dann – zum Glück – ertönte der Summer, und Tom drückte die Tür auf. Peter, schmal und wendig, kam die Treppe herunter. »Tom!« flüsterte er, und dann: »Oh – oh – oh!«, als er den Jungen sah. Frank versuchte jetzt, den Kopf hoch zu halten; er schwankte, als sei das Genick gebrochen. Tom hätte fast gelacht – aus Nervosität und Hysterie – und biß sich auf die Unterlippe, als er, zusammen mit Peter, den Jungen in den Fahrstuhl brachte. Eric hatte seine Tür etwas geöffnet und machte sie weiter auf, als er sie kommen sah. »Mein Gott!« sagte er. Tom hielt noch die Perücke in der Hand, er ließ sie und die Handtasche in Erics Wohnung auf den Boden 291
fallen, und er und Peter setzten Frank auf das Roßhaar sofa. Peter ging hinaus, um ein nasses Handtuch zu ho len, und Eric wollte eine Tasse Kaffee machen. »Ich weiß nicht, was sie ihm gegeben haben«, sagte Tom. »Und ich habe Maxens Schuhe verloren –« Peter lächelte unsicher und starrte den Jungen an, als Tom ihm das Gesicht abwusch. Eric hatte den Kaffee bereit. »Kühl, aber gut für dich – Kaffee«, sagte Eric mit sanf ter Stimme zu Frank. »Ich bin Eric. Freund von Tom. Du mußt keine Angst haben.« Über die Schulter sagte Eric zu Peter: »Mein Gott, ist der weg!« Tom sah, daß der Junge schon besser aussah, er trank auch etwas von dem Kaffee, war aber noch nicht imstande, die Tasse selber zu halten. »Hunger?« fragte Peter den Jungen. »Nein, nein, dann erstickt er womöglich«, sagte Eric. »Da ist Zucker im Kaffee, das ist gut für ihn.« Frank lächelte sie alle an, wie ein betrunkenes Kind, und vor allem lächelte er Tom an. Toms Mund war tro cken, darum hatte er sich ein kaltes Pilsener Urquell aus dem Kühlschrank geholt. »Was ist denn passiert?« fragte Eric. »Du bist in das Haus rein, Tom? Das sagte Peter.« »Ich habe das Türschloß aufgeschossen. Verletzt wurde keiner. Sie schreckten – sie kriegten einen Schreck.« Tom war plötzlich erschöpft. »Ich muß mich erst mal waschen«, murmelte er und verschwand im Ba dezimmer, wo er sich erst heiß und dann kalt abduschte. Zum Glück hing sein Morgenmantel innen an der Bade zimmertür. Tom faltete sein Gewand und das Unterkleid sauber zusammen, die mußte Max zurückhaben. Als Tom wieder ins Wohnzimmer kam, war Frank da bei, etwas zu essen, das Peter ihm hinhielt: Butterbrot. 292
»Ulrich – der eine«, sagte Frank. »Und Bobo . . .« Was er noch sagte, war unverständlich. »Ich hab ihn nach den Namen gefragt«, sagte Peter zu Tom. »Morgen!« sagte Eric. »Morgen wird er sich erinnern.« Tom ging hinaus, um sich zu vergewissern, daß die Kette an Erics Wohnungstür vorgelegt war. Ja, das war sie. Peter sah glücklich aus, er lächelte Tom an. »Es ist unglaublich. Wo sind die hingelaufen? Einfach raus?« »Ich glaube, sie sind ab über die Dächer«, sagte Tom. »Drei waren es«, sagte Peter fast ehrfürchtig. »Viel leicht hat dein Fummel ihnen Angst gemacht.« Tom lächelte, er war zu müde zum Reden. Er hätte vielleicht über irgendwas anderes reden können, nur nicht über das soeben Erlebte. Auf einmal lachte er auf. »Du hättest heute abend im Hump dabeisein müssen, Eric!« »Ich muß gehen«, sagte Peter zögernd. Er wäre gern noch geblieben. »Oh, deine Pistole, Peter – daß ich´s nicht vergesse. Und die Taschenlampe.« Tom nahm die Pistole aus der Handtasche und die Taschenlampe aus dem Schrank. »Und noch vielen, vielen Dank! Drei Schuß sind abge feuert, drei sind noch drin.« Lächelnd steckte Peter die Pistole ein. »Gute Nacht und schlaft gut«, sagte er mit leiser Stimme und ging hin aus. Eric sagte ihm Gute Nacht und legte die Kette an der Tür wieder vor. »So, und nun wollen wir mal sein Bett machen, meinst du nicht, Tom?« »Ja. Komm, mein Junge.« Tom lächelte, als er Frank dasitzen sah, den Ellbogen auf der Sofalehne, mit dümm lichem Lächeln und halbgeschlossenen Augen zu ihnen 293
herüberblickend, wie ein schläfriger Zuschauer im Thea ter. Tom half ihm auf und setzte ihn in einen Sessel. Dann zogen er und Eric das Sofa aus und legten die La ken auf. »Frank kann hier mit mir schlafen«, sagte Tom. »Wir werden beide nicht wissen, wo wir sind.« Tom fing an, den Jungen auszuziehen, der ihm dabei etwas half, aber nicht viel. Dann holte Tom ein großes Glas Wasser. Er wollte Frank zureden, so viel wie irgend möglich zu trin ken. »Tom, müßtest du nicht Paris anrufen?« fragte Eric. »Und sagen, daß der Junge wohlauf ist? Falls die Bande versucht, nochmal was mit Paris anzustellen!« Eric hatte recht; Tom hatte nur gar keine Lust, jetzt Pa ris anzurufen. »Ja, ich mach´s schon.« Er legte Frank auf den Rücken ins Bett, zog ihm das Laken bis zum Hals hoch und legte eine leichte Decke über ihn. Dann wählte er die Nummer des Hotels Lutetia, auf die er sich nur mühsam besinnen konnte, aber er kriegte sie richtig hin. Eric machte sich im Zimmer zu schaffen. Jetzt meldete sich Thurlow, er klang schläfrig. »Hallo, hier ist Tom. Hier ist jetzt alles in Ordnung . . . Ja, das meine ich . . . Ja, ganz in Ordnung, nur sehr mü de. Beruhigungsmittel . . . Ich möchte heute abend nicht weiter darauf eingehen . . . Nein, das werd ich später al les erklären. Das ist ganz unberührt . . . Ja . . . Ja. Aber nicht vor Mittag, Mr. Thurlow, wir sind hier sehr müde.« Als Thurlow noch etwas sagen wollte, legte Tom auf. »Er fragt auch nach dem Geld«, sagte er zu Eric und lachte. Auch Eric lachte. »Der Koffer ist bei mir im Schlafzim merschrank – Gute Nacht, Tom.«
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Zum zweitenmal erwachte Tom in Erics Wohnung vom behaglichen Surren der Kaffeemühle. Heute morgen war er glücklicher. Frank lag mit dem Gesicht nach unten da, schlafend und atmend. Tom hatte impulsiv den Wunsch verspürt, zu kontrollieren, ob der Junge atmete, ob seine Rippen sich bewegten. Tom zog seinen Morgenmantel an und ging in die Küche zu Eric. »So – nun erzähl mir mal noch mehr von gestern a bend«, sagte Eric. »Ein Schuß –« »Ja, Eric, nur einer. Auf das Türschloß.« Eric war dabei, verschiedene Sorten Brot, Brötchen, Marmelade auf ein Tablett zu stellen – ein bißchen fest lich zu Ehren von Frank, vielleicht. »Den Jungen lassen wir natürlich schlafen. Was für ein reizender Junge!« Tom lächelte. »Findest du? Ja. Er ist hübsch und weiß es nicht, das ist immer sehr anziehend.« Sie saßen im Wohnzimmer auf Erics kleinerem Sofa, vor dem ein niedriges Tischchen stand. Tom berichtete von den Ereignissen des Abends, auch wie Max und Rol lo ihm im Hump beigestanden hatten, und daß die zwei, die nach Joey Ausschau hielten, schließlich enttäuscht fortgegangen seien. »Klingt nach Amateuren. Auch noch zuzulassen, daß du ihnen folgen konntest«, sagte Eric. »Ja, sicher. Sie sahen auch noch jung aus, Mitte zwanzig vielleicht.« »Und die Nachbarn in dem Haus in der Binger Straße? Meinst du, die haben den Jungen erkannt?« »Glaub ich nicht.« Er und Eric hielten die Stimmen ge dämpft, obgleich Frank nicht aussah, als werde er bald erwachen. »Was können die Nachbarn jetzt tun? Die 295
müssen doch die Kidnapper besser kennen, sie gingen immerhin in dem Hause aus und ein. Die eine sagte, sie hätte die Polizei angerufen. Wird sie wohl auch getan haben, denke ich. Jedenfalls wird sich die Polizei die Wohnung ansehen und einen Haufen Fingerabdrücke finden, wenn sie sich die Mühe machen. Aber wissen die Nachbarn überhaupt, was da vor sich ging? – Die Polizei wird Maxens Pumps da finden, das wird sie erstmal ab lenken!« Nach Erics starkem Kaffee waren Toms Le bensgeister deutlich gestiegen. »Ich möchte den Jungen so schnell wie möglich aus Berlin rausbringen – und mich selber auch. Am liebsten würde ich heute nachmittag nach Paris zurückfliegen, aber ich glaube, das ist noch zu viel für den Jungen.« Eric blickte zum Bett hinüber und dann wieder zu Tom. »Du wirst mir fehlen«, sagte er mit einem Seufzer. »Ber lin kann sehr langweilig sein. Das kannst du dir vielleicht nicht vorstellen.« »Wirklich? – Eins müssen wir heute noch erledigen, Eric: den Banken hier das Geld zurückzugeben. Können wir dafür nicht Boten auftreiben? Vielleicht kann ein Bote das alles erledigen? Ich möchte es jedenfalls nicht tun.« »Ja, bestimmt. Wir telefonieren.« Eric gluckste plötz lich vor Lachen und sah in seinem glänzendschwarzen Morgenmantel auf einmal fast wie ein Chinese aus. »Ich denke grad an all das Geld hier – und in Paris sitzt dieser boob und tut überhaupt nichts!« »Doch, er streicht sein Geld ein«, sagte Tom. »Stell dir bloß mal vor – der boob im Fummel! Nie hät te er das geschafft! Ich wollte, ich wäre gestern abend mitgewesen im Hump. Ich hätte Polaroids gemacht von dir mit Max und Rollo!« »Bitte gib Max den Fummel zurück – ich lasse ihm noch vielmals danken. Oh – und ich muß noch die Pistole 296
von dem Italiener aus dem Koffer rausnehmen. Die braucht der Bankbote nicht zu sehen. Darf ich?« Tom machte eine Handbewegung in Richtung auf Erics Schlafzimmer. »Natürlich! Hinten in meinem Schrank, du wirst ihn schon finden.« Tom holte den Koffer aus der Tiefe des Kleider schranks, trug ihn ins Wohnzimmer und zog den Reiß verschluß auf. Der längliche Lauf der Pistole war direkt auf ihn gerichtet, denn der Griff war zwischen einen der braunen Umschläge und die Seitenwand des Koffers ge rutscht. »Fehlt was?« fragte Eric. »Nein, nein.« Vorsichtig nahm Tom die Pistole heraus und überzeugte sich, daß sie gesichert war. »Die werd ich jemandem schenken – ich glaube nicht, daß sie mich damit rausfliegen lassen aus Berlin. Möchtest du sie ha ben, Eric?« »Ah – die Pistole von gestern! Furchtbar gern, Tom. Die sind hier nicht leicht zu kriegen, Pistolen – nicht mal Schnappmesser über einer bestimmten Länge. Die Vor schriften sind hier sehr streng.« »Gastgeschenk«, sagte Tom und reichte Eric die Pis tole. »Ich danke dir, Tom.« Eric verschwand damit im Schlafzimmer. Jetzt bewegte sich Frank und legte sich auf den Rü cken. »Ich – nnn – nein.« Die Stimme klang, als versuch te er, jemand zu überzeugen. Tom sah, wie sich die Stirn des Jungen krauste. »Aufsteh – sagten sie – weiß nicht. Nein – nicht!« Der Junge krümmte den Rücken. Tom rüttelte ihn an der Schulter. »Du, Frank – hallo, ich bin´s, Tom. Alles klar, Frank.« 297
Frank öffnete die Augen, runzelte wieder die Stirn und richtete sich auf, bis er fast saß. »Ooh.« Er schüttelte den Kopf, verschwommen lächelnd. »Tom.« »Komm – Kaffee.« Tom füllte ihm eine Tasse. Frank blickte sich im ganzen Zimmer um, musterte Wände und Decke. »Ich – wie sind wir hierher gekom men?« Tom sagte nichts darauf. Er brachte ihm den Kaffee und hielt die Tasse fest, während der Junge einen Schluck trank. »Ist das ein Hotelzimmer?« »Nein, das ist die Wohnung von Eric Lanz. Weißt du noch den Mann bei mir zu Hause, vor dem du dich ver stecken mußtest? Vor acht Tagen oder so?« »Ja. Ja, natürlich.« »Seine Wohnung ist das. Komm, trink noch mehr Kaf fee. Hast du Kopfschmerzen?« »Nein. Ist das Berlin, hier?« »Ja. Etagenhaus. Dritter Stock. Ich meine, wir sollten hier heute abreisen, wenn du es schaffst. Heute nachmit tag vielleicht. Zurück nach Paris.« Tom brachte einen Teller mit Brot, Butter und Marmelade. »Was haben sie dir gegeben? Schlaftabletten? Spritzen?« »Pillen. In Cola haben sie sie getan, die mußte ich dann trinken. Im Auto haben sie mir eine Spritze gege ben – in den Oberschenkel.« Frank sprach langsam. Im Grunewald also. Das hörte sich schon etwas pro fessioneller an. Tom war froh, als er sah, daß der Junge imstande war, von dem Toast abzubeißen und zu kauen. »Haben sie dir was zu essen gegeben?« Frank versuchte, die Achseln zu zucken. »Paarmal hab ich speien müssen. Und sie – sie ließen mich nicht oft genug aufs Klo gehen. Ich glaub, ich habe die Hosen naßgemacht – gräßlich! Meine Sachen –« Der Junge sah 298
sich um, stirnrunzelnd, als ob die unaussprechlichen Sa chen irgendwo sichtbar herumlägen. »Das weiß –« »Ganz unwichtig, Frank, wirklich.« Eric trat wieder ins Zimmer, und Tom sagte: »Eric, das ist Frank. Er ist ein bißchen aufgewacht.« Frank war bis zur Taille zugedeckt, aber er zog das Laken noch höher. Die Augenlider waren noch halb ge schlossen. »Guten Morgen, Sir.« »Freut mich sehr, dich kennenzulernen«, sagte Eric. »Geht´s dir jetzt besser?« »Ja, danke schön.« Frank blickte sichtlich erstaunt auf die Roßhaarkante seines Bettes, die nicht vom Laken bedeckt war. »Ihr Haus – Tom hat es mir gesagt. Vielen Dank.« Tom ging in Erics Schlafzimmer, wo Franks brauner Koffer stand, und nahm Franks Pyjama heraus. Er brach te ihn ins Wohnzimmer und warf ihn auf Franks Bett. »Damit du rumgehen kannst«, sagte er. »Dein Koffer ist hier – es ist also nichts verloren.« Und zu Eric gewandt sagte er: »Ich würde gern mal mit ihm rausgehen, an die frische Luft, aber das ist wohl nicht sehr ratsam. Als nächstes müssen wir jetzt eine der Banken anrufen we gen des Geldes, die ADCA-Bank oder die DiscontoBank. Die Disconto hört sich größer an, nicht?« »Banken?« fragte Frank, der sich unter dem Laken seine Pyjamahose anzog. »Geld – Lösegeld?« Die Stimme klang immer noch schläfrig, und er schien nicht weiter betroffen. »Dein Geld«, sagte Tom. »Was meinst du, wieviel du wert bist, Frank? Rate mal.« Tom versuchte, den Jungen dadurch wach zu kriegen, daß er zu ihm redete. Er such te jetzt in seiner Brieftasche nach den drei Empfangsbe scheinigungen, auf denen sicher auch die Telefonnum mern der Banken angegeben waren. 299
»Lösegeld – wer hat es?« fragte Frank. »Ich hab es. Es geht zurück an deine Familie. Ich erzähl´s dir alles später, nicht jetzt.« »Ich weiß, da war eine Verabredung«, sagte Frank und zog seine Pyjamajacke an. »Der eine sprach Eng lisch am Telefon. Und dann gingen sie alle weg – einmal. Alle bis auf einen.« Die Worte kamen noch langsam, a ber er schien seiner Sache sicher zu sein. Eric langte nach einer schwarzen Zigarette, die in ei nem silbernen Schälchen auf dem kleinen Tisch standen. »Weißt du –« Franks Augen begannen wieder zu ver schwimmen. »Ich war da immer nur in der Küche – aber ich glaube, das stimmt.« Tom schenkte Frank noch einmal Kaffee ein. »Komm – trink das.« Eric war jetzt am Telefon, er bat, mit dem Herrn Direk tor verbunden zu werden. Tom hörte, daß er seine eige ne Adresse angab wegen des Geldes, das gestern von Thomas Ripley abgeholt worden war. Eric erwähnte auch die beiden anderen Banken. Tom war erleichten, Eric machte seine Sache gut. »Ein Bote kommt noch vor zwölf«, sagte Eric zu Tom. »Sie haben die Schweizer Kontonummer und können es per Telex zurückschicken.« »Ausgezeichnet. Ich danke dir, Eric.« Tom sah Frank zu, der jetzt aus dem Bett kroch. Frank besah sich den Koffer, der geöffnet auf dem Boden stand, mit den dicken Umschlägen darin. »Ist es das?« »Ja.« Tom nahm seine Sachen und ging ins Bade zimmer, um sich anzuziehen. Als er einen Blick zurück warf, sah er, wie Frank sich um den Koffer herumschob, als sei er eine giftige Schlange. Unter der Dusche fiel Tom ein, daß er Thurlow versprochen hatte, ihn um Mit 300
tag anzurufen. Vielleicht wollte Frank auch gern mit sei nem Bruder sprechen. Als Tom wieder im Wohnzimmer war, sagte er Frank, daß er Paris anrufen müsse und daß er auch gestern abend angerufen habe und daß Detektiv Thurlow wisse, daß Frank in Sicherheit sei. Frank schien nicht sehr inte ressiert an Paris. »Möchtest du nicht mit Johnny sprechen?« »Achso, Johnny – doch.« Frank war immer noch bar fuß und ging im Zimmer auf und ab, was sicher gut für ihn war, dachte Tom. Tom wählte die Telefonnummer des Lutetia, wurde mit Thurlow verbunden und sagte: »Ja, der Junge ist hier. Wollen Sie ihn sprechen?« Frank runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, aber Tom drückte ihm den Hörer in die Hand. »Damit er einen Beweis hat«, sagte Tom lächelnd. Er flüsterte: »Nicht Erics Namen erwähnen!« »Hallo? . . . Ja, es geht mir gut . . . Ja ja, Berlin . . . Tom«, sagte Frank. »Tom hat mich rausgeholt, gestern abend . . . Das weiß ich nicht, eigentlich . . . Ja, das ist hier.« Eric deutete auf den kleinen Zusatzhörer, den Tom nehmen sollte, aber Tom wollte nicht mithören. »Nein, bestimmt nicht«, sagte Frank. »Warum sollte Tom davon was haben wollen, es geht doch –« Jetzt hör te er lange zu. »Meinen Sie, ich kann über sowas am Telefon sprechen?« sagte er leicht gereizt. »Ich weiß es nicht, ich weiß es einfach nicht . . . Okay, einverstan den.« Dann wurde der Ausdruck weicher, und er sagte: »Hallo, Johnny . . . Ja, bestimmt, mir geht´s gut, hab ich eben schon gesagt . . . Oh, das weiß ich nicht, ich bin einfach aufgewacht. Nun hör mal auf, dir Sorgen zu ma chen. Ich hab mir nicht mal irgendwas gebrochen!« Lan 301
ge Rede von Johnny, und Frank wand sich. »Ja, okay, meinetwegen, aber – was meinst du?« Der Junge runzel te die Stirn. »Es eilt ihr nicht!« sagte er spöttisch. »Das soll doch wohl – das soll doch wohl heißen, sie kommt gar nicht. Es ist ihr nicht wichtig.« Tom konnte hören, wie Johnny in Paris leise lachte. »Na, sie hat also wenigstens angerufen.« Frank war blasser geworden. »Schon gut, schon gut, ich weiß es ja«, sagte er ungeduldig. Tom konnte hören, daß jetzt Thurlow wieder an den Apparat kam. Tom nahm den kleinen Zusatzhörer. ». . . wann du hierher kommst. Hält dich dort irgend was fest? – Bist du noch da, Frank?« »Wozu soll ich nach Paris kommen?« fragte Frank. »Weil deine Mutter möchte, daß du nach Hause kommst. Wir wollen dich – in Sicherheit wissen.« »Ich bin in Sicherheit.« »Hat – versucht Tom Ripley, dich dort zum Bleiben zu überreden?« »Kein Mensch versucht mich zu überreden.« Frank betonte jedes Wort. »Ich möchte Mr. Ripley nochmal sprechen, wenn er noch da ist, Frank.« Mit grimmiger Miene gab Frank den Hörer an Tom weiter. »Dieser Sch–« Er sprach das zweite Wort nicht aus. Auf einmal war Frank ein ganz gewöhnlicher ameri kanischer Junge, voller Wut. »Tom Ripley«, sagte Tom. Er sah, wie Frank in die Diele ging, vielleicht wollte er ins Badezimmer, das er weiter rechts fand. »Mr. Ripley, Sie werden sicher verstehen, daß uns daran liegt, den Jungen in Sicherheit und zurück in Ame rika zu wissen, deshalb bin ich ja hier. Können Sie uns wohl sagen – ich bin Ihnen sehr dankbar für alles, was 302
Sie getan haben, aber ich muß seiner Mutter ein paar Tatsachen mitteilen, nämlich wann der Junge nach Hau se kommt. Oder soll ich nach Berlin kommen und ihn ab holen?« »Nnn-nein, ich werde das mit Frank besprechen. Wis sen Sie, die haben ihn die letzten Tage unter sehr häßli chen Umständen festgehalten. Er hat allerhand Beruhi gungsmittel schlucken müssen.« »Aber er hört sich eigentlich ganz normal an.« »Verletzt ist er nicht.« »Und was das deutsche Geld angeht, da sagte Frank –« »Das geht alles heute an die Bank oder die Banken zurück, Mr. Thurlow.« Tom lachte kurz auf. »Schönes Thema, falls Ihr Telefon dort angezapft ist.« »Wieso sollte es angezapft sein?« »Na ja, bei Ihrem Beruf«, sagte Tom. Es klang, als ob Thurlows Beruf etwas Anrüchiges wäre, wie der eines Callgirls oder so. »Mrs. Pierson war froh, daß das Geld sichergestellt ist. Aber ich kann nicht einfach hier in Paris sitzen und war ten, bis Sie oder Frank oder sie beide sich irgendwann entschließen, daß Frank nach Hause kommt. Das wer den Sie sicher verstehen, Mr. Ripley.« »Nun – es gibt schlimmere Städte als Paris«, sagte Tom freundlich. »Kann ich wohl mal mit Johnny spre chen?« »Ja. – Johnny?« Johnny kam an den Apparat. »Wir sind so froh wegen Frank – ich kann´s gar nicht sagen!« Johnnys Stimme klang offen und herzlich, sie war tiefer als Franks, aber der Akzent war ähnlich. »Hat die Polizei die Bande oder was es war geschnappt?«
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»Nein, nein, die Polizei hat damit nichts zu tun.« Tom hörte, wie Thurlow versuchte, Johnny beim Thema Poli zei zum Schweigen zu bringen; so kam es ihm jedenfalls vor. »Soll das heißen, daß Sie Frank ganz allein heraus geholt haben?« »Nein – meine Freunde haben mir geholfen.« »Meine Mutter ist so glücklich! Sie war – sie hatte –« Zweifel, was ihn betraf, das wußte Tom. »Johnny, Sie sagten etwas zu Frank, daß jemand telefoniert habe. Aus Amerika?« »Ja, Teresa. Sie wollte erst rüberkommen, aber nun kommt sie doch nicht. Jetzt kommt sie bestimmt nicht, wo Frank okay ist, aber – ich weiß, sie hat da jemand an ders, deshalb kommt sie nicht, das weiß ich. Sie hat´s nicht zu mir gesagt, aber zufällig kenne ich den Jungen, ich habe die beiden miteinander bekannt gemacht, und da – er hat´s mir gesagt, bevor ich abflog von Amerika.« Jetzt verstand Tom. »Haben Sie es Frank gesagt?« »Ja, ich dachte, je schneller er´s erfährt, umso besser. Ich weiß, er nimmt es reichlich schwer. Ich hab ihm nicht gesagt, wer der Junge ist, ich habe bloß gesagt, Teresa interessiert sich für einen anderen.« Darin sah Tom, waren Johnny und Frank völlig ver schieden. Wie gewonnen, so zerronnen, das war offen bar Johnnys Motto. »Ich verstehe.« Er mochte jetzt nicht mehr sagen: Schade, daß Sie es ihm ausgerechnet jetzt gesagt haben. »Also gut, Johnny, ich leg jetzt auf.« Un deutlich hörte Tom – oder meinte es zu hören –, wie Thurlow wieder um den Hörer bat. »Bye-bye«, sagte Tom und legte auf. »Idioten – alle beide!« rief Tom. Doch keiner hörte ihn. Frank lag wieder lang ausge streckt auf dem Bett und schlief, und Eric war irgendwo
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sonst in der Wohnung. Der Bankbote konnte jetzt jeden Augenblick kommen. Als Eric wieder ins Wohnzimmer trat, fragte Tom: »Was meinst du zu einem Mittagessen bei Kempinski, Eric? Bist du frei?« Tom wollte gern Frank ein Steak es sen sehen, oder eine große Portion Wiener Schnitzel, damit er wieder etwas Farbe bekam. »Ja, ich bin frei.« Eric war jetzt angezogen. Es klingelte. Der Bankbote. Eric drückte in der Küche auf den Türöffner. Tom schüttelte Frank an der Schulter. »Aufstehen, Junge! Frank! Hier, nimm meinen Hausmantel.« Tom griff ihn sich aus seinem Koffer. »Komm – geh in Erics Schlafzimmer, wir müssen hier ein paar Minuten mit je mand sprechen.« Frank folgte den Anweisungen. Tom legte die Decke über die Laken, damit das Bett etwas ordentlicher aus sah. Der Bankbote, ein kleiner, untersetzter Mann in dunk lem Anzug, erschien zusammen mit einem größeren Mann, einer Art Wächter in Uniform. Der Bote zeigte sei nen Ausweis vor und sagte, unten warte ein Wagen mit Fahrer, er sei aber nicht in Eile. Zwei große Aktentaschen hatte er bei sich. Tom mochte sich den Ausweis nicht ansehen, das überließ er Eric. Aber bei den ersten paar Sekunden des Geldzählens sah er zu. Ein Umschlag war versiegelt gewesen und war es noch. Die DM-Bündel mit den Papierbanderolen in den anderen Umschlägen wa ren unberührt, aber man hätte aus einem oder mehreren der Bündel ohne weiteres einen Tausendmarkschein he rausziehen können. Eric sah zu. »Kann ich das dir überlassen, Eric?« fragte Tom. »Aber sicher, Tom. Du mußt aber noch unterschrei ben, weißt du?« Eric und der Bote standen bei der An 305
richte, die Umschläge waren getrennt, und die Geldstapel lagen getrennt. »Ich komm gleich wieder.« Tom ging hinaus, um mit Frank zu sprechen. Frank war in Erics Schlafzimmer, barfuß, und hielt sich ein nasses Handtuch gegen die Stirn. »Mir wurde eben einen Augenblick schwach. Komisch –« »Wir gehen bald aus zum Essen – ein gutes Essen, das hebt die Lebensgeister. Alles klar, Frank? Willst du eine kühle Dusche nehmen?« »Ja, gern.« Tom ging ins Badezimmer und stellte die Dusche für ihn ein. »Nicht ausrutschen«, sagte er. »Was machen die da drinnen?« »Geld zählen. Ich bring dir was zum Anziehen.« Tom ging zurück ins Wohnzimmer, fand in Franks Koffer eine blaue Baumwollhose und einen Rollkragenpullover und nahm ein Paar seiner eigenen Unterhosen mit, weil er bei Frank keine fand. Tom klopfte an die Badezimmertür, die nicht ganz geschlossen war. Der Junge war dabei, sich abzutrocknen. »Was meinst du zu Paris? Willst du heute zurück – heute abend vielleicht?« »Nein.« Tom sah Tränen in den Augen des Jungen schim mern, doch die Stirn war gerunzelt und er wirkte sehr entschlossen und erwachsen. »Ich weiß, was Johnny dir sagte, wegen Teresa.« »Na schön, das ist ja nicht die Welt«, sagte Frank und warf das Badetuch neben die Wanne, hob es jedoch so fort wieder auf und hängte es ordentlich über den Halter. Er nahm die Unterhose, die Tom ihm hinhielt, drehte ihm den Rücken zu und zog sie an. »Ich will noch nicht zu
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rück. Ich will einfach nicht!« Die Augen brannten vor Zorn, als er Tom anblickte. Tom wußte: für Frank wären das zwei Niederlagen, der Verlust Teresas und die Tatsache, daß man ihn wie der eingefangen hatte. Vielleicht beruhigte er sich nach dem Essen und sah die Dinge dann etwas anders. Aber Tom wußte, Teresa war die Welt. »Tom!« rief Eric. Tom mußte unterschreiben. Er sah sich die Quittung an, auf der alle drei Banken angeführt waren, mit dem Betrag, den jede zu bekommen hatte. Der Bote war jetzt am Telefon, und Tom hörte ihn ein paarmal sagen, daß alles in Ordnung sei. Tom unterschrieb. Auch hier war der Name Pierson nicht genannt, nur die Kontonummer des Schweizerischen Bankvereins. Abschied mit viel Händeschütteln. Eric brachte die beiden Männer an den Fahrstuhl. Frank erschien im Wohnzimmer, angezogen bis auf die Schuhe, und Eric kam zurück. Er strahlte vor Erleich terung und fuhr sich mit einem Taschentuch über die Stirn. »Meine Wohnung hat eine – eine Gedenktafel ver dient! Wie heißt das bei euch?« »Plaque«, sagte Tom. »Und jetzt, wie gesagt, Lunch bei Kempinski. Müssen wir einen Tisch bestellen?« »Wäre wohl besser. Ich mach das schon. Für drei.« Eric trat ans Telefon. »Ja – oder ob wir Max und Rollo erreichen können? Ich würde sie gern einladen. Wie ist das – müssen sie arbeiten?« »Ohh!« Eric lachte. »Rollo wird kaum wach sein jetzt. Er bleibt immer gern lange auf, bis sieben oder acht Uhr morgens. Max arbeitet freiberuflich, als Friseur, wenn er
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gerade gebraucht wird. Ich kann sie immer nur so gegen sechs Uhr abends erreichen.« Ein Paket aus Frankreich würde er ihnen schicken dachte Tom. Vielleicht ein paar aparte Perücken. Er muß te sich von Eric ihre Adresse geben lassen. Eric war jetzt dabei, für 12.45 Uhr einen Tisch zu bestellen. Sie fuhren in Erics Wagen. Tom hatte eine fleischfar bene Salbe – anzuwenden bei Schnitten und Schürfun gen, stand auf der Tube – aus Erics Medizinschränkchen genommen und Franks berühmten Leberfleck auf der Wange damit eingerieben. Heloises Schminke hatte Frank irgendwo aus der Hosentasche verloren, was Tom nicht weiter wunderte. »Ich möchte gern, daß du richtig ißt, mein Freund«, sagte Tom bei Tisch zu Frank, als er begann, ihm das lange Menu à la carte vorzulesen. »Ich weiß, du ißt gern Räucherlachs.« »Oh, und ich nehme mein Lieblingsgericht!« sagte E ric. »Eine Leber haben die hier, Tom – nicht von dieser Welt!« Das Restaurant hatte hohe Decken, grün-goldene Schmuckranken an den weißen Wänden, elegante Tischdecken und livrierte Kellner, die sich sehr großartig gaben. Der Grillraum – ein anderer Teil des Lokals – war für Gäste vorgesehen, die nicht ganz angemessen ge kleidet waren; das hatte Tom bemerkt, als sie darauf war teten, an ihren Tisch geführt zu werden. Es betraf ein paar junge Leute in Blue jeans, wenngleich mit adretten Pullovern und Jacketts, denen man höflich auf Deutsch mitgeteilt hatte, zum Grillraum gehe es da lang. Frank aß tatsächlich, unterstützt von Tom mit ein paar mühsam ausgegrabenen Witzen, denn ihm war nicht nach Witzen zumute. Er wußte, daß die Geschichte mit Teresa wie eine schwarze Wolke alles für Frank verdüs 308
terte; ob er wohl wußte oder ahnte, wer Teresas neuer Freund war? Tom konnte ihn unmöglich danach fragen. Er wußte nur, daß für Frank der schmerzhafte Prozeß eingesetzt hatte, den man Ablösung nennt – emotionale Ablösung von einer moralischen Stütze, von einem ver rückten Ideal, von etwas, das für ihn in dem einzigen Mädchen auf der Welt verkörpert gewesen und nach wie vor verkörpert war. »Schokoladekuchen, Frank?« schlug Tom vor und füll te Franks Glas mit Weißwein. Sie waren bei der zweiten Flasche. »Der ist gut hier, und auch der Strudel!« sagte Eric. »Tom, an dieses Essen werde ich mich lange erinnern!« Eric säuberte sich sorgfältig die Lippen. »Und auch an den Morgen, was? Ha-ha!« Sie saßen in einem der kleinen Alkoven an der Wand des Restaurants, weniger primitiv als eine abgeteilte Ni sche, eher wie eine romantische Ausbuchtung, wo sie halb für sich waren, aber von den anderen Gästen soviel sehen konnten, wie sie zu sehen wünschten. Tom hatte nicht bemerkt, daß ihnen irgend jemand besondere Auf merksamkeit zugewandt hätte. Und mit Freude wurde ihm plötzlich klar, daß Frank Berlin ja mit seinem falschen Paß als Benjamin Andrews verlassen würde. Der Paß steckte in Franks Koffer in Erics Wohnung. »Wann sehe ich dich wieder, Tom?« fragte Eric. Tom zündete sich eine Roth-Händle an. »Vielleicht wenn du wieder mal was für Belle Ombre hast? Ich mei ne aber nicht ein Geschenk.« Eric lachte; Essen und Wein hatten ihm die Wangen gerötet. »Dabei fällt mir ein, ich habe um drei eine Verab redung. Bitte entschuldige die Unhöflichkeit.« Er blickte auf seine Armbanduhr. »Erst viertel nach zwei. Reichlich Zeit.« 309
»Wir können doch ein Taxi nehmen. Dann bist du un gebunden.« »Nein, nein, sie, meine Wohnung, liegt am Weg. Ganz einfach.« Er bohrte mit der Zunge in einem Zahn herum und blickte nachdenklich zu Frank hinüber. Frank hatte seinen Schokoladekuchen fast aufgeges sen. Gedankenverloren drehte er den Stiel seines Wein glases zwischen den Fingern. Eric hob die Augenbrauen und sah Tom an. Tom sag te nichts; er ließ sich die Rechnung geben und bezahlte. In hellem Sonnenschein gingen sie die eine Straße bis zu Erics Wagen. Tom lächelte und klopfte Frank spontan auf den Rücken. Was konnte er schon sagen? Er hätte gern gesagt: »Nicht wahr, das ist doch besser als ein Küchen fußboden?«, aber er brachte es nicht heraus. Eric war der Typ, der so etwas gesagt hätte, aber Eric sagte es nicht. Tom hätte gern einen längeren Spaziergang ge macht, nur fühlte er sich nicht hundertprozentig sicher oder unbeachtet, wenn er mit Frank Pierson durch die Straßen ging, deshalb stiegen sie beide in Erics Wagen. Tom hatte Erics Hausschlüssel, und Eric setzte sie an einer Ecke ab. Auf dem Weg zu Erics Haus blickte sich Tom auf merksam um, ob irgend jemand in der Nähe herumlun gerte, aber er sah niemand. Das Treppenhaus unten war leer. Der Junge sagte nichts. In der Wohnung nahm Tom sein Jackett ab und öffne te das Fenster, um frische Luft hereinzulassen. »Also wegen Paris«, begann er. Plötzlich schlug sich Frank die Hände vor das Gesicht. Er saß auf dem kleinen Sofa vor dem Couchtischchen, die Ellbogen auf den Knien.
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»Ist schon gut«, sagte Tom, verlegen dem Jungen ge genüber. »Laß es nur raus.« Er wußte, es würde nicht lange dauern. Nach wenigen Sekunden nahm der Junge die Hände herunter, stand auf und sagte: »Sorry.« Er stopfte die Hände in die Taschen. Tom schlenderte ins Badezimmer und bürstete sich gut zwei Minuten lang die Zähne. Dann ging er mit ruhi ger Miene zurück ins Wohnzimmer. »Ich weiß, du willst nicht nach Paris. Wie wär´s mit Hamburg?« »Irgendwohin!« In Franks Augen stand die Intensität von Wahnsinn oder Hysterie. Tom blickte auf den Fußboden und blinzelte. »Du kannst nicht einfach ›irgendwohin‹ sagen wie ein Ver rückter, Frank. Ich weiß ja – ich verstehe das mit Teresa. Es ist –« was war das richtige Wort?« – eine schlimme Enttäuschung.« Frank stand da, starr wie eine Statue, als fordere er Tom trotzig auf, noch mehr zu sagen. Tom wollte ihm sagen: Irgendwann mußt du ja doch deiner Familie ge genübertreten. Aber das wäre wohl nicht sehr einfühlsam gewesen, gerade jetzt. Vielleicht war es keine schlechte Idee, Reeves zu besuchen, Tapetenwechsel vorzuneh men? Tom jedenfalls brauchte das. »Du, ich kriege Platzangst hier in Berlin. Ich würde gern Reeves in Ham burg besuchen. Hab ich ihn nicht schon in Frankreich erwähnt, Reeves? Freund von mir.« Tom gab sich Mühe, heiter zu wirken. Der Junge war aufmerksam und auch wieder höflich geworden. »Ja, ich glaube schon. Ein Freund von Eric, sagten Sie.« »Stimmt. Ich bin –« Tom zögerte und sah den Jungen an, der – die Hände noch in den Taschen – ihn ebenfalls anstarrte. Es wäre nicht schwer, dachte Tom, auf dem 311
Rückflug nach Paris zu bestehen, er konnte den Jungen in eine Pariser Maschine setzen und sich verabschieden. Aber er hatte das Gefühl, der Junge werde sich, sobald er in Paris das Flugzeug verließ, von neuem verlieren; ins Hotel Lutetia würde er nicht gehen. »Ich versuch´s mal bei Reeves«, sagte Tom und ging auf das Telefon zu, das im gleichen Moment klingelte. Tom beschloß, den Hörer abzunehmen. »Hallo, Tom. Hier ist Max.« »Max! Wo bist du? Ich habe noch deinen Fummel und die Perücke hier – in Sicherheit.« »Ich wollte dich heute morgen anrufen, aber ich war – es ging nicht, weißt du. Ich war nicht zu Hause. Und bei Eric hat sich vor einer Stunde keiner gemeldet. Was war nun gestern abend? Der Junge?« »Der ist hier. Ganz in Ordnung.« »Du hast ihn? Du bist nicht verletzt – keiner verletzt?« »Nein, keiner.« Tom blinzelte die plötzliche Vision des Italieners weg, der mit eingeschlagenem Kopf in Lübars auf dem Boden lag. »Also Rollo fand, du hättest großartig ausgesehen, gestern abend. Ich war beinahe eifersüchtig. Ha! Ist Eric da? Ich soll ihm was ausrichten.« »Nein, er ist nicht da, er hatte eine Verabredung um drei. Kann ich ihm was bestellen?« Nein, sagte Max, er werde später nochmal anrufen. Dann suchte Tom im Telefonbuch die Vorwahl für Hamburg heraus und wählte Reeves´ Nummer. »Hallo?« kam eine weibliche Stimme. Das war sicher Reeves´ Putzfrau und Teilzeit-Haushälterin: behäbiger als Madame Annette, aber ebenso beflissen. »Hallo – Gaby?« »Ja-a?«
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»Hier ist Tom Ripley. Wie geht es Ihnen, Gaby? Ist Herr Minot da?« »Nein, aber er – eben höre ich was«, fuhr sie fort. »Moment mal.« Pause, dann war sie wieder da und sag te: »Er kommt gerade rein.« »Hallo, Tom!« sagte Reeves außer Atem. »Ich bin in Berlin.« »In Berlin! Kannst du nicht herkommen? Was machst du in Berlin?« Reeves´ Stimme klang kiesig-rauh und naiv, wie immer. »Kann ich jetzt nicht sagen, aber ich dachte daran, dich zu besuchen – sogar schon heute abend, wenn´s dir recht ist.« »Na klar, Tom. Bei mir hast du immer Vorrang, und heute abend habe ich sowieso nichts vor.« »Ich habe einen Freund bei mir, einen Amerikaner. Kannst du uns vielleicht für eine Nacht unterbringen?« Tom wußte, Reeves hatte ein Gastzimmer. »Auch für zwei Nächte. Wann kommst du an? Hast du die Flugtickets schon?« »Nein, aber ich versuche es für heute abend. Sieben, acht oder neun Uhr. Wenn du zu Hause bist, rufe ich nicht nochmal an, dann komm ich einfach hin. Wenn´s bei mir nicht geht, rufe ich an. Okay?« »Okay, und ich freue mich riesig!« Lächelnd wandte sich Tom an Frank. »Das wäre erle digt. Reeves freut sich, wenn wir kommen.« Frank saß auf dem kleineren Sofa und rauchte eine Zigarette, was bei ihm ungewöhnlich war. Als er sich jetzt erhob, erschien er plötzlich ebenso groß wie Tom. War er in den letzten Tagen gewachsen? Möglich war es. »Tut mir leid, daß ich so am Boden war. Ich reiß mich her aus.«
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»Na klar reißt du dich raus.« Der Junge bemühte sich, höflich zu sein. Vielleicht ließ ihn das größer erscheinen. »Ich freu mich über Hamburg. Ich will diesen Detektiv in Paris nicht sehen. Herrgott nochmal!« Das letzte flüs terte Frank, doch es klang giftig. »Warum fahren die bei den nicht einfach nach Hause?« »Weil sie ganz sichergehen wollen, daß du auch nach Hause kommst«, sagte Tom geduldig. Dann rief Tom die Pan Am an und buchte zwei Plätze in der Maschine, die um 19.20 Uhr nach Hamburg starte te. Die Namen gab Tom mit Ripley und Andrews an. Eric erschien, während Tom noch telefonierte, und Tom berichtete von ihren Plänen. »Ah, Reeves! Nette Idee, das!« Eric warf einen Blick auf Frank, der etwas zusammenfaltete und in seinen Koffer steckte, und be deutete Tom mit einer Kopfbewegung, mit ihm ins Schlafzimmer zu kommen. »Max hat angerufen«, sagte Tom, als er Eric folgte. »Er will später nochmal anrufen.« »Danke schön, Tom. Jetzt zu dem hier.« Eric schloß die Schlafzimmertür, zog eine Zeitung unter dem Arm hervor und zeigte Tom die Titelseite. »Ich dachte, du soll test das sehen«, sagte er mit seinem zuckenden Lä cheln, das eher Nervosität als Belustigung andeutete. »Offenbar keine Spuren – bis jetzt.« Der Abend brachte auf der Titelseite ein zweispaltiges Foto des Schuppens in Lübars mit dem italienischen Ty pen, wie Tom ihn zuletzt gesehen hatte, steif, den Kopf leicht nach links gewandt, die linke Schläfe eine dunkle blutige Masse; etwas Blut war am Gesicht heruntergelau fen. Eilig las Tom die fünfzeilige Unterschrift. Einen noch nicht identifizierten Mann, dessen Schläfe mit einem stumpfen Instrument eingeschlagen worden war, hatte man am Mittwoch früh in Lübars gefunden; die Kleidung 314
war italienisches Fabrikat, die Unterwäsche stammte aus Deutschland. Die Polizei war bemüht, die Personalien des Toten festzustellen, und erkundigte sich bei den An wohnern der Nachbarschaft, ob jemand etwas Verdächti ges gehört habe. »Verstehst du alles?« fragte Eric. »Ja.« Tom hatte zwei Schüsse in die Luft gefeuert. Ganz sicher würde ein Anwohner melden, er habe zwei Schüsse gehört, selbst wenn der Mann gar nicht durch eine Kugel umgekommen war. Irgendjemand würde viel leicht auch von einem Fremden mit einem Koffer berich ten. »Ich mag das nicht ansehen.« Tom faltete die Zei tung zusammen und legte sie auf den Schreibtisch. Dann sah er auf seine Uhr. »Ich kann euch nach Tegel fahren. Reichlich Zeit«, sagte Eric. »Der Junge hat wohl keine Lust, nach Haus zu fahren, was?« »Nein, und er hat heute auch noch eine schlechte Nachricht bekommen, wegen eines Mädchens in Ameri ka, das er gern hat. Der Bruder erzählte ihm, sie hätte einen neuen Freund. So ist das. Wenn er zwanzig wäre, wär´s vielleicht leichter für ihn.« Aber stimmte das? Da war ja auch noch der Mord an seinem Vater, der ihn von zu Hause fernhielt.
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Als die Maschine zur Landung in Hamburg herunterging, erwachte Frank aus einem leichten Schlaf und hielt mit den Knien eine Zeitung fest, die fast zu Boden gefallen wäre. Frank blickte auf seiner Seite aus dem Fenster, aber sie waren noch so hoch, daß man nichts als Wolken sah. Tom rauchte unauffällig eine Zigarette zu Ende. Die Stewardessen gingen den Mittelgang auf und ab und sammelten die letzten Gläser und Tabletts ein. Tom sah, wie Frank die deutsche Zeitung vom Schoß aufnahm und sich das Bild des toten Manns in Lübars ansah. Für Frank war es nur irgendein Zeitungsfoto. Tom hatte ihm nicht erzählt, daß er mit den Kidnappern in Lübars verab redet gewesen war; er hatte nur gesagt, er habe sie ge täuscht. »Und darauf sind Sie ihnen gefolgt?« hatte Frank gefragt. Nein, hatte Tom gesagt, aber er sei auf ihre Spur gekommen, und zwar über die Schwulen-Bar und die von Thurlow an die Kidnapper weitergegebene Nachricht, daß sie dort nach Joey fragen sollten. Das hatte Frank amüsiert. Er war voller Bewunderung für Toms Kühnheit – vielleicht auch für seinen Mut, dachte Tom gern – ganz allein bei den Kidnappern aufzukreu zen. Tom hatte in dieser Zeitung nichts darüber gefun den, daß einer der drei Kidnapper in der Nähe der Binger Straße oder sonstwo gefaßt worden wäre. Natürlich kannte sie außer Tom kein Mensch als Kidnapper. Viel leicht wurden sie bei der Polizei geführt und hatten keine festen Adressen, aber das war auch alles. Ihre Pässe wurden kurz angesehen und schnell zu rückgegeben, dann holten sie ihr Gepäck und nahmen ein Taxi. 316
Tom wies Frank auf einige Wahrzeichen der Stadt hin, soweit er sie in der zunehmenden Dunkelheit sehen konnte: einen Kirchturm, an den er sich erinnerte, den ersten der vielen Kanäle oder Fleete mit den kleinen Brü cken, und dann die Alster. In der leicht ansteigenden Ein fahrt von Reeves´ weißem Haus stiegen sie aus; es war ein großes Haus, früher eine Privatvilla, die jetzt in meh rere Wohnungen aufgeteilt war. Dies war Toms zweiter oder dritter Besuch bei Reeves. Tom drückte unten auf einen Knopf, und gleich darauf ließ Reeves sie ein, nachdem Tom seinen Namen in die Sprechanlage ge sagt hatte. Tom und Frank fuhren im Fahrstuhl nach o ben, wo Reeves vor seiner Wohnungstür wartete. »Tom!« Reeves sprach mit halblauter Stimme, denn auf dem gleichen Flur lag noch mindestens eine andere Wohnung. »Kommt herein, alle beide!« »Dies ist – Ben«, sagte Tom, als er Frank vorstellte. »Reeves Minot.« Reeves sagte »Guten Abend« zu Frank und schloß die Tür. Jedesmal fiel es Tom auf, wie geräumig und ta dellos sauber Reeves´ Wohnung war. An den weißen Wänden hingen Impressionisten und Bilder jüngeren Da tums, fast alle gerahmt. Niedrige Bücherregale, die hauptsächlich Kunstbände enthielten, standen an den Wänden. Es gab auch ein paar hohe Gummipflanzen und Philodendren. Die gelben Vorhänge an den beiden gro ßen Fenstern zur Außenalster waren jetzt zugezogen. Ein Tisch war für drei gedeckt. Tom sah, daß der rötliche Derwatt (ein echter), eine anscheinend sterbende Frau im Bett, immer noch über dem Kamin hing. »Da hast du aber den Rahmen gewechselt, nicht wahr?« fragte Tom. Reeves lachte. »Guter Beobachter, Tom! Der Rahmen ist mal kaputtgegangen – bei der Bomberei damals ist er 317
wohl runtergefallen und gebrochen. Mir ist dieser beige Rahmen lieber – der andere war zu weiß. Also dann – stellt eure Koffer mal hier rein«, sagte Reeves und führte Tom in das Gastzimmer. »Hoffentlich haben sie euch auf dem Flug nichts zu essen gegeben, ich habe nämlich was fertig für uns. Aber jetzt müssen wir erst einmal ein kaltes Glas Wein oder sowas trinken und erzählen.« Tom und Frank stellten ihre Koffer im Gastzimmer ab, wo an der vorderen Wand ein französisches Bett stand. Tom fiel ein, daß Jonathan Trevanny einmal hier ge schlafen hatte. »Was sagtest du, wie dein Freund heißt?« fragte Ree ves halblaut, aber er gab sich nicht die Mühe, außer Hörweite des Jungen zu fragen, als er mit Tom ins Wohnzimmer zurückging. An Reeves´ Lächeln sah Tom, daß Reeves wußte, wer der Junge war. Tom nickte. »Ich sag´s dir später. Es war nicht –« Tom war verlegen, aber warum sollte er vor Reeves etwas verheimlichen? Frank stand hinten in einer Ecke des Wohnzimmers und besah sich ein Gemälde. »Es war nicht in der Zeitung, aber der Junge ist entführt worden – in Berlin.« »Tatsächlich?« Reeves hielt inne, den Korkenzieher in der einen Hand, eine Weinflasche in der anderen. Er hat te eine häßliche hellrote Narbe über der rechten Wange, fast bis zum Mundwinkel, die jetzt noch länger aussah, weil der Mund vor Erstaunen offenstand. »Letzten Sonntag abend«, sagte Tom. »Im Grune wald. Du weißt doch, das große Waldgelände.« »Ja, kenne ich. Entführt – wie?« »Ich war mit ihm zusammen, aber für ein paar Minuten waren wir getrennt, und da – komm, setz dich, Frank. Du bist unter Freunden.«
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»Ja, setz dich«, sagte Reeves mit seiner heiser klin genden Stimme und zog den Korken aus der Flasche. Frank fing Toms Blick auf, und der Junge nickte ihm zu, wie um anzudeuten, daß Tom die Wahrheit sagen dürfe, wenn er wolle. »Sie haben Frank erst gestern a bend losgelassen. Die Männer, die ihn festhielten, haben ihm Betäubungsmittel gegeben, und ich glaube, er ist immer noch ein bißchen beduselt«, sagte Tom. »Nein, jetzt merke ich kaum noch was«, sagte Frank höflich und fest. Er erhob sich von dem Sofa, auf dem er gerade Platz genommen hatte, und trat etwas näher an den Derwatt über dem Kamin. Er schob die Hände in die Taschen und blickte mit kurzem Lächeln zu Tom hinüber. »Gut, was, Tom?« »Ja, nicht wahr?« sagte Tom mit Befriedigung. Er lieb te das aschige Rosa des Bildes, das die Bettdecke einer alten Frau, vielleicht auch ihr Nachthemd, anzudeuten schien. Der Hintergrund war trüb-braun und dunkelgrau. Lag sie im Sterben, oder war sie einfach müde und le bensüberdrüssig? Aber das Bild hieß »Sterbende Frau«. »Ist das eine Frau oder ein Mann?« fragte Frank. Tom hatte gerade daran gedacht, daß wahrscheinlich Edmund Banbury oder Jeff Constant von der Galerie Buckmaster dem Bild seinen Namen gegeben hatte – Derwatt hatte sich oft um Titel gar nicht gekümmert – und so wußte man eigentlich gar nicht, ob es sich bei der Gestalt um einen Mann oder eine Frau handelte. »Es heißt ›Sterbende Frau‹«, sagte Reeves zu Frank. »Hast du Derwatt gern?« fragte er überrascht und er freut. »Frank sagt, sein Vater hat einen zu Hause – in Ame rika. Einen oder zwei, Frank?« fragte Tom. »Einen. Den ›Regenbogen‹.« »Ah-hah«, sagte Reeves, als sähe er das Bild vor sich. 319
Frank schlenderte zu einem David Hockney. »Hast du Lösegeld bezahlt?« wandte sich Reeves an Tom. Tom schüttelte den Kopf. »Nein. Ich hatte es, aber ich hab´s nicht abgeliefert.« »Wieviel?« Reeves lächelte, als er den Wein ein schenkte. »Zwei Millionen Amerikaner.« »Sieh mal an – Und was jetzt?« Reeves machte eine Kopfbewegung zu dem Jungen hin, der ihnen den Rü cken zuwandte. »Oh, er geht nach Hause zurück. Reeves, ich hatte gedacht, wenn es geht, daß wir auch noch morgen nacht bei dir bleiben und dann Freitag nach Paris fahren. Ich möchte nicht, daß der Junge in einem Hotel erkannt wird, und noch ein Ruhetag würde ihm gut tun.« »Aber gewiß, Tom. Kein Problem.« Reeves runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht ganz – sucht denn die Poli zei noch nach ihm?« Tom zog nervös die Schultern hoch. »Vor dem Kid napping haben sie nach ihm gesucht, und ich nehme an, der Detektiv in Paris hat zumindest die französische Poli zei informiert, daß der Junge gefunden worden ist.« Tom erklärte, daß nirgends Polizei über die Entführung unter richtet worden war. »Und du sollst ihn wohin bringen?« »Zu dem Detektiv in Paris. Den hat die Familie ange heuert. Franks Bruder Johnny ist auch da, mit dem De tektiv. – Danke schön, Reeves.« Tom nahm sein Glas. Reeves brachte auch Frank ein Glas; dann ging er in die Küche, und Tom folgte ihm. Aus dem Kühlschrank nahm Reeves eine Platte mit Schinken in Scheiben, Kohlsalat und verschiedenen aufgeschnittenen Würsten und Pickles. Das hatte Gaby vorbereitet, sagte Reeves. 320
Gaby wohnte im gleichen Haus bei anderen Leuten, dort war sie angestellt; sie hatte darauf bestanden, heute a bend um sieben nach ihren Späteinkäufen noch herein zukommen und alles »fertigzumachen«, was sie für Ree ves´ Gäste besorgt hatte. »Sie mag mich, da habe ich Glück«, sagte Reeves. »Sie findet es hier interessanter als da drüben, wo sie schläft – trotz der verdammten Bombe damals. Na ja, sie war ja auch nicht in der Woh nung, als es passierte.« Die drei setzten sich zu Tisch und sprachen von ande ren Dingen als Frank, aber immer noch von Berlin. Wie ging es Eric Lanz? Wer waren seine Freunde? Hatte er eine Freundin? Reeves lachte, als er das fragte. Ob Reeves wohl eine Freundin hatte, dachte Tom. Oder wa ren Reeves und Eric beide so lauwarm, daß Mädchen und Frauen keine Rolle spielten? Es war doch schön, verheiratet zu sein, eine Frau zu haben, dachte Tom, als der Wein ihn zu wärmen begann. Heloise hatte mal zu ihm gesagt, daß sie ihn gern hatte – oder hatte sie ge sagt: ihn liebte –, weil er ihr erlaubte, sie selbst zu sein und ihr Raum zum Atmen gab. Die Bemerkung hatte Tom gefreut, obgleich er sich nie darüber Gedanken gemacht hatte, Heloise ›Lebensraum‹ zu lassen. Reeves beobachtete Frank. Und Frank sah sehr schläfrig aus. Kurz nach elf hatten sie Frank zu Bett gebracht. Frank schlief im Gästezimmer. Mit einer weiteren Flasche Piesporter Goldtröpfchen machten es sich Reeves und Tom dann auf dem Sofa im Wohnzimmer bequem, und Tom berichtete von den Er eignissen der letzten Tage und auch der ersten Tage, als Frank Pierson als Teilzeit-Gärtner gearbeitet und ihn in Villeperce aufgesucht hatte. Reeves gefiel besonders die Verkleidungsepisode in Berlin, da wollte er alle Einzelhei 321
ten wissen. Dann fiel Reeves plötzlich etwas ein, er sag te: »Hör mal – das Bild aus Berlin, heute in der Zeitung. Da stand Lübars, das weiß ich.« Reeves sprang auf und sah sich nach der Zeitung um; er fand sie auf einem Bü cherbord. »Ja, das ist es«, sagte Tom. »Ich hab´s schon in Berlin gesehen.« Tom wurde einen Augenblick übel, er stellte sein Weinglas hin. »Der Italienertyp, von dem ich sprach.« Tom hatte Reeves erzählt, er habe den Mann nur niedergeschlagen. »Und keiner hat dich gesehen? Bist du ganz sicher? Als du da weggingst?« »Nein. Wollen wir auf die Nachrichten morgen war ten?« »Weiß es der Junge?« »Ich hab´s ihm nicht gesagt. Aber sag ihm nichts von Lübars. Reeves, alter Kumpel, könnte ich wohl eine Tas se Kaffee haben?« Tom ging mit Reeves in die Küche; er mochte nicht al lein im Zimmer sitzen. Es war kein angenehmes Gefühl, das Bewußtsein, daß er einen Mann umgebracht hatte, auch wenn der Italienertyp nicht der erste war. Er sah, daß Reeves zu ihm herüberblickte. Eins gab es, das er Reeves nicht erzählt hatte und auch nicht erzählen wür de: daß Frank seinen Vater getötet hatte. Tom ließ sich ein wenig von der Tatsache trösten, daß Reeves zwar vom Tode des alten Pierson gelesen hatte, und auch von der noch ungeklärten Frage, ob Selbstmord oder Unfall, daß er aber nicht auf die Idee gekommen war, Tom zu fragen, ob jemand Pierson sen. umgebracht haben konn te, indem er ihn über die Klippe stieß. »Was war denn der Grund, warum der Junge weg lief?« fragte Reeves. »Durcheinander wegen dem Tod 322
seines Vaters? Oder das Mädchen vielleicht? Teresa heißt sie, nicht wahr?« »Nein – ich glaube, die Sache mit Teresa war ganz in Ordnung, als er fortging. Er hat noch an sie geschrieben, als er bei mir war. Er hat erst gestern erfahren, daß sie einen neuen Freund hat.« Reeves´ Lachen hatte etwas Onkelhaftes. »Mädchen gibt es haufenweise, auch hübsche Mädchen. Hamburg ist voll davon! Wollen wir versuchen, ihn ein bißchen ab zulenken – einen Klub mit ihm besuchen? Du weißt schon?« Tom sagte so leichthin wie möglich: »Er ist erst sech zehn. Es hat ihn ziemlich hart getroffen. Der Bruder ist etwas dickfellig, sonst wäre er nicht so damit herausge platzt, gerade jetzt.« »Du erwartest, den Bruder zu sehen? Und auch den Detektiv?« Bei dem Wort Detektiv lachte Reeves; vermut lich kam ihm jeder lächerlich vor, der seine Aufgabe darin sah, dem Verbrechen in der Welt auf die Spur zu kom men. »Ich hoffe nicht«, sagte Tom, »aber es kann sein, daß ich ihnen den Jungen selber übergeben muß, weil er so wenig Lust hat, nach Hause zu gehen.« Tom stand mit seinem Kaffee in der Küche. »Ich bin allmählich müde, obgleich dein Kaffee wunderbar schmeckt. Ich hätte gern noch eine Tasse.« »Stört dich das nicht beim Einschlafen?« fragte Ree ves heiser, aber besorgt wie eine Mutter oder eine Kin derfrau. »Nein, in meinem Zustand nicht. Morgen werde ich Frank Hamburg zeigen. Mit dem Dampfer rund um die Alster, weißt du? Ich will versuchen, ihn ein bißchen auf zuheitern. Kannst du mit uns zu Mittag essen, Reeves?«
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»Vielen Dank, Tom, aber ich bin morgen verabredet. Ich kann dir einen Schlüssel mitgeben, am besten mach ich das jetzt gleich.« Tom ging mit seiner Kaffeetasse aus der Küche. »Wie geht denn das Geschäft so?« Tom meinte das Hehlerge schäft, dann ein bißchen legale Talentsuche bei deut schen Malern und ebenso ein bißchen Kunsthandel. Mit den beiden letzten Tätigkeiten hielt Reeves jedenfalls seine Fassade aufrecht. »Achch –« Reeves gab Tom ein Schlüsselbund in die Hand und ließ dann seinen Blick über die Wohnzimmer wände wandern. »Der Hockney da – eine Leihgabe, so zusagen. Tatsächlich ist er gestohlen. Kommt aus Mün chen. Ich habe ihn hier aufgehängt, weil ich ihn gern ha be. Ich sehe mir schließlich die Leute sehr genau an, die ich hier reinlasse. Der Hockney wird bald abgeholt.« Tom lächelte. Reeves führte doch eigentlich ein herrli ches Leben in einer überaus angenehmen Stadt, dachte er. Immer war irgendwas los. Nie machte Reeves sich Sorgen, immer wurstelte er sich irgendwie durch, auch in sehr üblen Momenten wie zum Beispiel damals, als er zusammengeschlagen und bewußtlos aus einem fahren den Auto geworfen wurde. Nicht mal das Nasenbein hat te er sich dabei gebrochen. In Frankreich war das gewe sen, das wußte Tom noch. Frank rührte sich nicht, als Tom in der Nacht ins Bett kroch. Der Junge lag mit dem Gesicht nach unten und hatte die Arme um das Kopfkissen geschlungen. Tom fühlte sich sicher – sicherer als in Berlin. In Reeves´ Wohnung war mal eine Bombe gelegt worden, vielleicht hatte man sie auch mal aufgebrochen, und doch fühlte man sich geborgen wie in einem kleinen Schloß. Er woll te Reeves mal fragen, welche Art Schutz er eigentlich hatte, außer vielleicht einem Alarmsystem. Mußte er an 324
jemand Schutzgebühr bezahlen? Ob Reeves jemals die Polizei um Sonderschutz gebeten hatte, wegen der wert vollen Bilder, mit denen er zuweilen handelte? Nicht sehr wahrscheinlich, dachte Tom. Aber vielleicht wäre es un höflich, sich nach Reeves´ Sicherheitsmaßnahmen zu erkundigen. Ein leises Klopfen weckte Tom; er öffnete die Augen und erkannte, wo er war. »Herein?« Gaby trat ein, schwerfällig und schüchtern; sie trug ein Tablett mit Kaffee und Brötchen. »Herr Tom – wir freuen uns so, Sie wiederzusehen, nach so langer Zeit! Wie lan ge ist es her?« Sie sprach deutsch, aber leise, denn Frank schlief noch. Gaby war über fünfzig, das glatte schwarze Haar war in einem Nackenknoten aufgesteckt. Die Wangen waren von fleckigem Rot. »Ich bin auch froh, hier zu sein, Gaby. Und wie ist es Ihnen ergangen? Stellen Sie´s nur hierher, das geht bes tens.« Auf seinen Schoß, meinte Tom. Das Tablett hatte Beine. »Herr Reeves ist ausgegangen, aber er sagt, Sie hät ten die Schlüssel.« Mit einem Lächeln blickte sie auf den schlafenden Jungen. »In der Küche ist noch mehr Kaf fee.« Gaby sprach unbeholfen, sagte nur das Nötigste; aber in den dunklen Augen standen Vitalität und kindliche Neugier. »Eine Stunde bin ich noch hier – vielleicht nicht ganz – falls Sie etwas brauchen.« »Danke schön, Gaby.« Tom weckte seine Lebensgeis ter mit Kaffee und einer Zigarette, dann ging er ins Bade zimmer, um zu duschen und sich zu rasieren. Als er ins Gastzimmer zurückkam, sah er Frank am of fenen Fenster stehen, den einen nackten Fuß hatte er auf das Fenstersims gestellt. Tom hatte das Gefühl, daß der Junge im Begriff war hinauszuspringen. »Frank –?« Der Junge hatte ihn nicht hereinkommen hören. 325
»Fabelhafte Aussicht, was?« sagte Frank, jetzt mit beiden Füßen auf dem Boden. War der Junge zusammengezuckt, oder bildete sich Tom das nur ein? Tom trat ans Fenster und blickte hinun ter auf die Ausflugsdampfer, die nach links durch das blaue Wasser der Alster pflügten, auf ein halbes Dutzend flinke kleine Segelboote, auf die Menschen, die über den Uferweg spazierten. Überall wehten bunte Wimpel, und die Sonne schien. Wie ein Dufy, nur eben deutsch, dach te Tom. »Du hast doch nicht etwa runterspringen wollen eben?« Tom tat, als scherze er. »Bei den paar Stockwer ken bringt das nicht viel.« »Springen?« Frank schüttelte schnell den Kopf und trat einen Schritt zurück, als sei es ihm peinlich, so dicht neben Tom zu stehen. »Überhaupt nicht. Kann ich mich jetzt waschen gehen?« »Nur zu. Reeves ist ausgegangen, aber Gaby ist hier, die Haushilfe. Sag ihr nur Guten Morgen, sie ist sehr nett.« Tom sah dem Jungen nach, wie er seine Hose nahm und über die Diele ging. Seine Befürchtung war wohl doch unbegründet gewesen, dachte er. Frank sah heute morgen ganz zielbewußt aus, so als sei die Wir kung der Pillen erloschen. Vormittags waren sie dann in St. Pauli. Auf der Reep erbahn hatten sie sich die Schaufenster der Sexläden angesehen, die knalligen Fassaden der blauen NonstopKinos, die Auslagen mit der Reizwäsche für alle Ge schlechter. Irgendwoher kam Rockmusik, und selbst um diese Zeit gab es Kunden, die herumschlenderten und kauften. Ein paarmal blinzelte Tom, vielleicht vor Erstau nen, vielleicht wegen der grellen Farben, die so zirkusar tig wirkten im hellen Sonnenlicht. Tom mußte feststellen, daß er einen Hang zur Prüderie hatte, vielleicht wegen seiner Kindheit in Boston, Massachusetts. Frank sah kühl 326
aus, aber angesichts der künstlichen Penisse und Mas sagestäbe mit Preisschildern gab er sich natürlich be wußt kühl. »Hier muß nachts allerhand los sein«, bemerkte Frank. »Auch jetzt ist es nicht ohne«, sagte Tom, der zwei Mädchen zielbewußt auf sie zukommen sah. »Komm, nehmen wir einen Bus oder ein Taxi. Gehen wir in den Zoo, das macht immer Spaß.« Frank lachte. »Wieder in den Zoo!« »Na ja, ich mag eben Zoos. Wart´s nur ab, bis du die sen siehst.« Tom sah ein Taxi. Die beiden Mädchen – eine war unter zwanzig und recht attraktiv ohne Make-up – nahmen anscheinend an, das Taxi sei wohl für alle vier, aber Tom schüttelte den Kopf und winkte mit höflichem Lächeln ab. Am Kiosk vor dem Eingang zum Tierpark kaufte Tom eine Zeitung und nahm sich eine Minute Zeit zum Durch sehen. Beim zweiten Durchblättern suchte er nach einer kleinen Meldung über die Kidnapper in Berlin oder über Frank Pierson. Die zweite Durchsicht war nicht sehr gründlich, aber er fand nichts. Die Zeitung war »Die Welt«. »Keine Nachricht, gute Nachricht«, sagte Tom zu Frank. »Also, gehen wir.« Tom kaufte die Eintrittskarten; das waren orangefar bene perforierte Streifen, mit denen sie auch auf der Spieleisenbahn fahren konnten, die über das ganze Ge lände des Tierparks Hagenbeck zog. Frank sah begeis tert aus, und Tom freute sich. Die kleine Bahn hatte etwa fünfzehn Wagen, beim Einsteigen brauchte man keine Tür zu öffnen, und ein Dach gab es auch nicht. Sie rollten fast geräuschlos dahin, vorbei an Robinson-Spielplätzen, wo Kinder sich am Rundlauf an Gummireifen hängten 327
oder herumkrochen in zweistöckigen Plastikgebäuden mit Löchern, Tunnels und Rutschbahnen. Sie fuhren vor bei an Löwen und Elefanten, die anscheinend nicht durch Gitter von der Gattung Mensch getrennt waren. Bei den Vögeln stiegen sie aus, kauften an einem Stand Bier und Erdnüsse und stiegen dann wieder in die nächste kleine Bahn. Dann brachte ein Taxi sie zu einem großen Restaurant im Hafen, das Tom von einem früheren Besuch her kann te. Die Wände waren aus Glas, man konnte hinunterse hen auf den Hafen, wo Tanker, Kreuzfahrer und Schuten verankert lagen und gelöscht und beladen wurden, wäh rend das Wasser aus den automatischen Pumpen ström te. Möwen schossen hin und her und tauchten im Sturz flug. »Morgen geht´s nach Paris«, sagte Tom, als sie mit dem Essen angefangen hatten. »Was meinst du?« Frank war sofort auf der Hut, aber Tom sah, daß er sich zusammennahm. Entweder fuhren sie morgen nach Paris, dachte Tom, oder der Junge schnappte in ein, zwei Tagen über und bestand darauf, von Hamburg aus allein etwas zu unternehmen. »Ich sag nicht gern ande ren Leuten, was sie tun sollen. Aber irgendwann, mußt du deiner Familie gegenübertreten, nicht wahr?« Tom blickte nach rechts und links, aber er sprach leise, die Glaswand war direkt links neben ihm, und der nächste Tisch hinter Frank war mehr als einen Meter weit weg. »Du kannst nicht monatelang ein Flugzeug nach dem andern nehmen, oder? Nun iß dein Bauernfrühstück.« Der Junge wandte sich wieder seinem Gericht zu, et was langsamer. Das »Bauernfrühstück« auf der Speise karte hatte ihn amüsiert, deshalb hatte er es bestellt: Bratkartoffeln, Schinken, Zwiebeln, Eier, alles auf riesen
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großem Teller. »Sie kommen morgen auch mit nach Pa ris?« »Na sicher, ich will ja nach Hause.« Nach dem Essen wanderten sie herum und kamen über eine Bucht, die an Venedig erinnerte und von schö nen alten spitzgiebligen Häusern umstanden war. Als sie wieder auf eine Geschäftsstraße zurückkamen, sagte Frank: »Ich möchte etwas Geld wechseln. Kann ich hier mal reingehen?« Er meinte eine Bank. »Okay.« Tom ging mit ihm in die Bank und wartete, während der Junge sich an die kurze Reihe der Wartenden vor dem Schalter »Foreign Ex change« anschloß. Soviel Tom wußte, hatte Frank sei nen Benjamin Andrews-Paß nicht bei sich, aber er würde ihn auch nicht brauchen, da er französische Francs in Mark umwechselte. Tom versuchte gar nicht hinzusehen. Heute morgen hatte er eine andere Creme auf Franks Leberfleck geschmiert. Warum mußte er dauernd an den blöden Leberfleck denken? Was machte es schon, wenn jetzt jemand tatsächlich Frank erkannte? Frank kam lä chelnd zurück und schob die Markscheine in seine Brief tasche. Sie gingen weiter ins Museum für Völkerkunde und Vorgeschichte, wo Tom schon einmal gewesen war. Hier sah man auf Tischen Darstellungen der Brandbomben einschläge, die im Zweiten Weltkrieg einen großen Teil des Hamburger Hafens dem Erdboden gleichgemacht hatten: brennende Lagerhäuser, zwanzig Zentimeter hoch, mit plastischen gelben und blauen Flammen. Frank vertiefte sich in das Modell der Bergung eines Schiffs, das kleine Schiff war acht Zentimeter lang, es lag auf Sand und anscheinend mehrere Meter tief im Seewas ser. Als sie sich hier eine Stunde lang aufgehalten und auch noch Ölgemälde von Hamburger Bürgermeistern 329
betrachtet hatten, die einen Gedenktag feierten oder ir gendwas unterschrieben – alle in Kleidern aus der Zeit Benjamin Franklins –, mußte sich Tom wie üblich die Au gen reiben. Er sehnte sich nach einer Zigarette. Ein paar Minuten später, als sie in einer breiten Straße mit Läden und Obst- und Blumenkarren waren, sagte Frank: »Würden Sie hier mal auf mich warten? Fünf Mi nuten?« »Wo willst du hin?« »Ich komme gleich wieder. Hier, zu diesem Baum.« Frank wies auf eine Platane, die nahe am Bordstein ne ben ihnen stand. »Ich möchte aber wissen, wohin du gehst«, sagte Tom. »Sie können mir vertrauen.« »Na schön.« Tom wandte sich ab und ging ein paar Schritte weiter, voller Zweifel, aber gleichzeitig sagte er sich, daß er nicht für immer Frank Piersons Kinderfrau spielen könne. Ja – und wenn der Junge verschwand – wieviel Geld hatte er in der Bank eingewechselt, wieviel hatte er in französischer oder amerikanischer Währung noch bei sich? –, dann würde Tom Franks Koffer nach Paris bringen und im Lutetia abgeben. Ob Frank womög lich doch heute morgen seinen Paß mitgenommen hatte? Tom drehte sich um und ging wieder auf die Platane zu, die er nur deshalb von den anderen unterscheiden konn te, weil ein älterer Herr darunter auf einem Stuhl saß und eine Zeitung las. Der Junge war nicht da, und es waren mehr als fünf Minuten vergangen. Dann kam Frank zwischen ein paar Fußgängern in Sicht; er lächelte und trug eine große rotweiße Plastiktü te. »Danke«, sagte er. Tom war erleichtert. »Hast du was gekauft?« »Ja. Ich zeig´s Ihnen später.« 330
Dann war der Jungfernstieg dran. Tom erinnerte sich an den Namen der Straße oder Promenade, weil ihm Reeves einmal gesagt hatte, hier seien in alten Zeiten die hübschen Hamburger Jungfern vorüberflaniert. Die Aus flugsdampfer für die Alsterrundfahrt fuhren von einem Anlegesteg ab, der im rechten Winkel zum Jungfernstieg lag. Tom und Frank bestiegen einen der Dampfer. »Mein letzter Tag der Freiheit!« sagte Frank auf dem Schiff. Der Wind blies ihm das braune Haar zurück und schlug die Hosen gegen die Beine. Sitzen wollten sie beide nicht, aber sie waren auch niemandem im Weg, sie blieben einfach in einer Ecke des Oberdecks stehen. Ein lustiger Mann mit einer wei ßen Mütze sprach durch ein Megaphon und erklärte die Sehenswürdigkeiten, an denen sie vorüberfuhren, die großen Hotels auf zum Wasser hin abfallenden grünen Rasenflächen, wo, wie er jedem versicherte, die Grund stückpreise »zu den höchsten in der Welt« gehörten. Das amüsierte Tom. Der Blick des Jungen ging irgendwo in die Ferne, vielleicht zu einer der Möwen, vielleicht zu Te resa. Tom wußte es nicht. Als sie kurz nach sechs wieder zu Reeves zurückka men, war Reeves nicht zu Hause, aber er hatte mitten auf dem sauber gemachten Bett im Gastzimmer einen Zettel hinterlassen: »Bin um sieben oder früher zurück. R.« Tom war froh, daß Reeves noch weg war, denn er wollte mit Frank allein sprechen. »Du erinnerst dich doch, was ich dir in Belle Ombre sagte – wegen deines Vaters«, sagte Tom. Frank sah einen Augenblick verwirrt aus, dann sagte er: »Ich glaube, ich erinnere mich an alles, was Sie mir jemals gesagt haben.« Sie waren im Wohnzimmer. Tom stand nahe am Fens ter, der Junge saß auf dem Sofa. 331
»Ich sagte: erzähle nie irgend jemandem, was du ge tan hast. Schieb jeden Gedanken an ein Geständnis ganz weit von dir.« Frank blickte von Tom auf den Fußboden. »Also – hast du vor, es jemandem zu sagen? Deinem Bruder vielleicht?« ließ Tom fallen, in der Hoffnung, et was aus dem Jungen herauszukriegen. »Nein. Nein.« Die Stimme war fest und tief genug, a ber Tom war nicht sicher, ob er ihm glauben konnte. Wenn er doch den Jungen bei den Schultern packen und ein bißchen Vernunft in ihn schütteln könnte! Sollte er es versuchen? Nein. Aber was hatte er denn zu fürchten, dachte Tom: daß es ihm eben nicht gelang, Vernunft in ihn zu schütteln? »Hier, das solltest du wissen. Wo ist es denn?« Tom trat an den kleinen Haufen Zeitungen an einem Ende des Sofas, fand die gestrige Zeitung und entfaltete sie. Auf der Titelseite war das Bild des Toten in Lübars. »Ich habe gesehen, wie du dir gestern im Flug zeug dieses Bild angesehen hast. Dies – diesen Mann habe ich umgebracht, in Lübars, im Norden von Berlin.« »Sie –?« Franks Stimme stieg vor Staunen eine Okta ve höher. »Du hast mich nie gefragt, wo der Treffpunkt für das Lösegeld war. Macht nichts. Ich hab ihm eins über den Kopf geschlagen, wie du hier siehst.« Frank blinzelte und sah Tom an. »Warum haben Sie mir das nicht eher gesagt? Klar – jetzt erkenne ich den Mann. Das war der Italiener, in der Wohnung da!« Tom zündete sich eine Zigarette an. »Ich hab´s dir jetzt eben gesagt, weil –« Weil was? Warum? Tom muß te innehalten, um zu überlegen, was er sagen wollte. Es gab im Grunde keinen Vergleich zwischen einem Men schen, der seinen Vater über eine Felskante stürzte, und einem andern, der einem Kidnapper, der mit geladener 332
Pistole auf ihn zukam, den Schädel einschlug. Nur daß durch beide ein Leben ausgelöscht worden war. »Die Tatsache, daß ich diesen Mann umgebracht habe – also die wird mein Leben nicht verändern. Zugegeben, er war vermutlich selber ein Verbrecher. Und zugegeben, er war nicht der erste Mann, den ich getötet habe. Ich glaube, das brauche ich dir nicht zu sagen.« Frank sah ihn mit großen Augen an. »Haben Sie schon mal eine Frau umgebracht?« Tom lachte. Das war genau, was er nötig gehabt hatte: Lachen. Aber er merkte, daß er auch erleichtert war, weil Frank ihn nicht nach Dickie Greenleaf gefragt hatte, dem einen Mord, der ihm manchmal Gewissensbisse machte. »Eine Frau – nie. War auch niemals nötig«, fügte er hin zu, und dabei fiel ihm der Witz von dem Engländer ein, der einem Freund erzählte, er habe seine Frau beerdigen müssen, einfach weil sie tot war. »Hat sich nie ergeben. Eine Frau. Hast du doch nicht im Ernst gedacht, Frank. Wen denn?« Nun lächelte Frank. »Ach nein, keine. Um Himmelswil len.« »Gut. Der einzige Grund, warum ich davon rede –« Wieder wußte er nicht, was er sagen wollte, und redete einfach weiter. »Das – ich meine die –« er wies mit der Hand auf die Zeitung. »Die Tat soll nicht – soll sich nicht zerstörerisch auf den Rest deines Lebens auswirken. Kein Grund zum Zusammenbrechen.« Ob der Junge in seinem Alter überhaupt wußte – wissen konnte –, was ein Zusammenbruch bedeutete? Daß man zusammen brechen konnte aus einem Gefühl völligen Versagens? Aber viele Jugendliche brachen tatsächlich zusammen, nahmen sich sogar das Leben, weil sie vor einem Prob lem standen, mit dem sie nicht fertig wurden – manchmal nur ein Schulproblem. 333
Frank rieb die Knöchel der rechten Faust an der schar fen Ecke des kleinen Couchtisches. War die Platte aus Glas? Sie war schwarz-weiß, aber nicht aus Marmor. Franks Geste machte Tom nervös. »Verstehst du, was ich meine? Entweder du läßt es zu, daß ein Ereignis dein Leben ruiniert, oder du läßt es nicht zu. Das entscheidest du selber. Und du hast Glück, Frank, denn in deinem Fall entscheidest du wirklich sel ber. Kein Mensch klagt dich an.« »Ich weiß.« Tom wußte, daß ein Teil der Gedanken des Jungen – ein wie großer Teil? – der anscheinend verlorenen Liebe, Teresa, nachhing. Es war ein Leiden, das Tom sich au ßerstande fühlte zu behandeln – etwas ganz anderes als Mord. Nervös sagte Tom: »Bitte schlag doch nicht immer mit den Knöcheln gegen den Tisch, das bringt dich auch nicht weiter. Du kommst höchstens mit blutenden Knö cheln nach Paris. Mach keinen Blödsinn!« Der Junge hatte eine Bewegung gemacht, als wolle er auf den Tisch schlagen, hatte ihn aber nicht ganz getrof fen. Tom versuchte sich zu entspannen und blickte weg. »So blöd bin ich schon nicht, lassen Sie nur, lassen Sie nur.« Frank erhob sich und schob die Hände in die Taschen, ging ans Fenster und wandte sich dann Tom zu. »Die Flugtickets für morgen. Soll ich das besorgen? Ich kann doch die Buchung auf Englisch vornehmen, nicht wahr?« »Sicher, ja. Mach´s nur.« »Lufthansa«, sagte Frank und nahm das Telefonbuch auf. »Um welche Zeit denn, so um zehn Uhr morgens?« »Auch schon früher.« Tom war sehr erleichtert. Frank schien endlich wieder fest auf den Füßen zu stehen, oder wenn nicht ganz, so versuchte er es doch.
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Reeves kam herein, als Frank gerade die Zeit für mor gen abmachte. Abflug neun Uhr fünfzehn. Frank nannte die Namen Ripley und Andrews. »Habt ihr es schön gehabt heute?« fragte Reeves. »Sehr schön, danke«, sagte Tom. »Tag, Frank. Ich muß mir erst mal die Hände wa schen«, sagte Reeves mit seiner krächzenden Stimme und hielt ihnen die Handflächen entgegen, die deutlich grau waren. »Hab heute Bilder rumgeschoben. Nicht schmutzige –« »Richtige Tagesarbeit, was, Reeves?« fragte Tom. »Ich bewundere deine Hände!« Reeves räusperte sich vergeblich, um die Heiserkeit loszuwerden, und begann noch einmal. »Ich wollte sa gen, nicht schmutzige Tagesarbeit, aber tägliche Schmutzarbeit. Hast du dir einen Drink zurechtgemacht, Tom?« Reeves ging hinüber ins Badezimmer. »Hast du nicht Lust, Reeves, zum Essen auszuge hen?« fragte Tom und folgte ihm. »Heute ist unser letzter Abend.« »Nein, lieber nicht, wenn´s dir nichts ausmacht. Es ist immer etwas hier, weißt du, dafür sorgt Gaby. Ich glaube, sie hat einen Braten gemacht oder sowas.« Reeves hatte Restaurants nicht gern, das fiel Tom jetzt ein. Wahrscheinlich ließ er sich überhaupt nicht viel sehen in Hamburg. »Tom.« Frank winkte Tom ins Gastzimmer und zog ei ne Schachtel aus der rotweißen Plastiktüte. »Für Sie.« »Für mich? – Danke schön, Frank.« »Sie haben es ja noch nicht aufgemacht.« Tom löste das blau-rote Band und öffnete den weißen Karton, der eine Menge weißes Seidenpapier enthielt. Er fand etwas Rötliches, Schimmerndes, Goldenes, zog es heraus und hielt einen Hausmantel in der Hand, der Gür 335
tel war aus der gleichen dunkelroten Seide und hatte schwarze Troddeln. Der rote Stoff war gesprenkelt mit Gold in Form von Pfeilspitzen. »Wirklich hübsch«, sagte Tom. »Sehr elegant.« Tom zog sein Jackett aus. »Soll ich ihn mal anziehen?« fragte er und zog den Mantel an. Er paßte tadellos, jedenfalls würde er tadellos passen, wenn Tom ein Pyjama trug, statt Hose und Pullover. Tom besah sich die Ärmellänge und sagte: »Genau richtig.« Frank senkte den Kopf und wandte sich rasch ab. Vorsichtig zog Tom den Hausmantel aus und legte ihn über das Bett; er knisterte sanft und eindrucksvoll. Die Farbe war rötlichbraun, wie der Wagen der Kidnapper in Berlin; eine Farbe, die Tom deshalb nicht mochte, aber wenn er sich zwang, sie bei sich als Dubonnet zu be zeichnen, dann gelang es ihm vielleicht, den Wagen zu vergessen.
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Auf dem Flug nach Paris fiel Tom auf, wie lang Franks Haar jetzt war; es hing zum Teil über die Wange mit dem Leberfleck. Seit Mitte August hatte Frank sein Haar nicht schneiden lassen, damals hatte ihm Tom geraten, es wachsen zu lassen. Zwischen zwölf und ein Uhr heute mittag würde er Frank im Lutetia bei Thurlow und Johnny Pierson abliefern. Gestern abend bei Reeves hatte Tom Frank noch daran erinnert, daß er sich um einen legalen Paß kümmern müsse, falls Thurlow nicht so schlau ge wesen war, seinen Paß mitzubringen oder seine Mutter zu bitten, ihn aus Maine zu schicken. »Sehen Sie mal«, sagte Frank und wies auf eine Seite in einer kleinen Glanzpapierbroschüre, die von der Luft fahrtlinie herausgegeben wurde. »Das da – da sind wir gewesen.« Tom las einen kurzen Artikel über Romy Haag und die Transvestiten-Show. »Na, der Hump ist da sicher nicht drin! Die Zeitschrift ist für Touristen.« Tom lachte und streckte die Beine so weit aus, wie es der Vordersitz zu ließ. Flugreisen wurden immer unbequemer. Er könnte erster Klasse reisen, wenn auch vermutlich mit schlech tem Gewissen wegen des hohen Zuschlags, wo die in nereuropäischen Preise ohnehin schon sehr hoch waren, aber irgendwie wäre es ihm peinlich gewesen, wenn ihn jemand in der ersten Klasse gesehen hätte. Warum? Immer hatte er Lust, den Passagieren in der geräumigen ersten Klasse auf die Zehen zu treten, wenn er ein Flug zeug bestieg und durch ihre eleganteren Räume gehen mußte, wo die Champagner-Korken schon vor dem Ab flug zu knallen begannen.
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Da er sich auf die Begegnung im Lutetia nicht gerade freute, schlug Tom vor, am Flughafen die Metro bis Gare du Nord zu nehmen, und von dort dann ein Taxi. Am Ga re du Nord standen sie Schlange nach einem Taxi; nicht weniger als drei Polizisten mit weißen Gamaschen und Pistolentaschen hielten die Schlange in Ordnung. Dann fuhren sie ins Hotel Lutetia. Frank, angespannt und schweigend, starrte aus dem Fenster. Ob er sich überleg te, was für eine Haltung er einnehmen sollte, dachte Tom, wie würde sie aussehen? Eine Kommen-Sie-mirnicht-zu-nahe-Einstellung gegenüber Thurlow? Eine lin kische Erklärung für Bruder Johnny? Oder vielleicht so gar Trotz? Würde er darauf bestehen, in Europa zu blei ben? »Meinen Bruder werden Sie mögen, glaube ich«, sag te Frank unruhig. Tom nickte. Ihm lag daran, daß Frank sicher nach Hause kam, sein Leben wieder aufnahm – also zweifellos auch die Schule –, sich stellte, wo es sein mußte, und lernte, damit fertig zu werden. Ein sechzehnjähriger Jun ge, zumindest ein Junge aus Franks Milieu, konnte nicht einfach weglaufen und damit rechnen, allein fertig zu werden, wie es ein Junge aus den Slums vielleicht fer tigbrachte, oder ein Junge aus einem so üblen Zuhause, daß die Straße immer noch besser war. Der Wagen glitt vor den Eingang des Hotels Lutetia. »Ich habe Francs«, sagte Frank. Tom ließ ihn bezahlen. Ein Portier trug ihre beiden Koffer hinein, aber als sie in der reichlich pompösen Hal le standen, sagte Tom zum Portier: »Ich wohne nicht hier im Hotel – könnten Sie meinen bitte für eine halbe Stun de oder so aufbewahren?« Frank wollte seinen Koffer ebenfalls in die Aufbewah rung geben; ein Page kam und gab ihnen zwei Tickets, 338
die Tom einsteckte. Frank kam vom Empfang zurück und berichtete, daß Thurlow und sein Bruder aus waren, aber in weniger als einer Stunde zurück sein wollten. Erstaunlich, daß sie aus waren, dachte Tom und warf einen Blick auf seine Uhr. Zwölf Uhr sieben. »Vielleicht sind sie essen gegangen? Ich gehe jetzt ins nächste Ca fé und rufe zu Hause an. Willst du mit?« »Klar!« sagte Frank und ging voran zur Tür. Draußen auf dem Bürgersteig ließ er beim Gehen den Kopf hän gen. »Kopf hoch«, sagte Tom. Frank gehorchte sofort. »Bestellst du mir bitte einen Kaffee, Frank?« sagte Tom, als sie eine Bar-Tabac betraten. Tom ging eine Wendeltreppe hinunter zu den Toilettes– Téléphones. Er steckte gleich zwei Francs in den Automaten, weil er nicht unterbrochen werden wollte, wenn er ein paar Se kunden zu spät die nächste Münze nachschob. Er wählte Belle Ombre, und Madame Annette meldete sich. »Aah-h!« Es hörte sich an, als sei sie beim Klang sei ner Stimme einer Ohnmacht nahe. »Ich bin in Paris. Alles in Ordnung?« »Ah, oui! Aber Madame ist im Augenblick nicht hier. Sie hatte eine Verabredung zum Lunch, mit einer Freun din.« »Sagen Sie ihr, ich komme heute nachmittag nach Hause, vielleicht so um – na, bis vier Uhr, hoffe ich. Aber jedenfalls bis halb sieben«, fügte er hinzu, als ihm einfiel, daß zwischen kurz nach zwei und etwas nach fünf vom Gare de Lyon keine Züge in seiner Richtung fuhren. »Sie möchten nicht, daß Madame Sie in Paris ab holt?« Nein, das wollte Tom nicht. Er kehrte zurück zu Frank und zu seinem Kaffee. 339
Frank hatte seine Coca-Cola, die vor ihm stand, kaum angerührt. Er spuckte seinen Kaugummi in ein leeres zusammengeknülltes Zigarettenpäckchen, das er aus einem Aschbecher nahm. »Sorry – ich hasse Kaugummi. Weiß gar nicht, warum ich den gekauft hab. Und das da auch nicht.« Er schob die Coca-Cola-Flasche von sich. Tom sah dem Jungen nach, der jetzt zur Musikbox an der Tür hinüberschlenderte. Die Box spielte etwas, ein französisch gesungenes amerikanisches Lied. Frank kam an den Tisch zurück. »Ist zu Hause alles in Ordnung?« »Ja, ich denke schon, danke.« Tom zog etwas Klein geld aus der Tasche. »Das ist schon bezahlt.« Sie gingen hinaus. Wieder ließ der Junge den Kopf hängen, und Tom sagte nichts. Ralph Thurlow zumindest war jetzt im Hotel. Tom hatte Frank an der Rezeption nachfragen lassen. Sie fuhren nach oben in einem verzierten Lift, bei dem Tom an eine schlechte Wagneraufführung denken mußte. Ob Thurlow wohl kühl sein würde, überzeugt von seiner Wichtigkeit? Das wäre dann wenigstens amüsant. Frank klopfte an die Tür von Nr. 620, und die Tür öff nete sich sofort. Begeistert und ohne ein Wort winkte Thurlow den Jungen herein. Dann sah er Tom; sein Lä cheln behielt er bei. Mit einer höflichen Geste führte Frank jetzt Tom ins Zimmer. Keiner sprach ein Wort, bis die Tür ins Schloß fiel. Thurlow trug ein Hemd mit aufge rollten Ärmeln, ohne Schlips. Er war ein stämmiger Mann, vielleicht Ende Dreißig, mit kurzgeschnittenem rötlich welligem Haar und recht harten Gesichtszügen. »Mein Freund Tom Ripley«, sagte Frank. »Guten Tag, Mr. Ripley. Bitte nehmen Sie Platz«, sag te Thurlow. 340
Platz war reichlich vorhanden, auch Sessel und Sofas, aber Tom setzte sich nicht sofort. Eine Tür rechts war geschlossen, eine Tür links, beim Fenster, war offen, und Thurlow ging hinüber und rief Johnny; zu Frank und Tom sagte er, er glaube, daß Johnny gerade unter der Dusche stünde. Zeitungen und eine Aktenmappe lagen auf dem Tisch, weitere Zeitungen auf dem Boden, auch ein Tran sistor und ein Tonbandgerät. Das hier war wohl kein Schlafzimmer, sondern ein Wohnraum zwischen zwei Schlafzimmern, dachte Tom. Jetzt kam Johnny herein, hochgewachsen, lächelnd, in einem frischen rosa Hemd, das er noch nicht in die Hose gestopft hatte. Das glattbraune Haar war heller als Franks, und das Gesicht war schmaler als Franks. »Franky!« Er schüttelte die rechte Hand seines Bruders und fiel ihm fast um den Hals. »How are yuh?« So hörte es sich für Tom an. How are yuh. Tom kam es vor, als sei er nach Amerika gekommen, einfach durch das Eintreten in Zimmer Nr. 620. Tom wurde mit Johnny bekanntgemacht, und sie schüttelten sich die Hände. Johnny machte den Eindruck eines offenen, fröhlichen und unbeschwerten Jungen; er sah noch jünger aus als neunzehn, was er war, wie Tom wußte. Dann kamen sie zur Sache. Tom überließ Thurlow den etwas stockenden Anfang. Thurlow versicherte Tom zu nächst, mit Dank von Mrs. Pierson, daß der Empfang des Geldes von der Züricher Bank bestätigt worden war. »Al les bis auf die letzte Mark, ausgenommen die Bankspe sen«, sagte Thurlow. »Mr. Ripley, wir kennen die Einzel heiten nicht, aber wir . . .« Die werdet ihr auch nie kennen, dachte Tom. Er hörte kaum auf das, was Thurlow noch sagte. Etwas zögernd setzte sich Tom auf ein beige gepolstertes Sofa und zün dete sich eine Gauloise an. Johnny und Frank standen 341
am Fenster und sprachen schnell und leise miteinander. Frank sah zornig und gespannt aus. Hatte Johnny Tere sa erwähnt? Tom glaubte es. Er sah, daß Johnny mit den Schultern zuckte. »Es war keine Polizei da, haben Sie gesagt«, sagte Thurlow. »Sie sind da in die Wohnung gegangen – aber wie haben Sie das gemacht?« Jetzt lachte Thurlow etwas – er nahm wohl an, daß harte Männer unter sich so la chen. »Wirklich fabelhaft!« Tom fand Thurlow von oben bis unten abstoßend. »Berufsgeheimnis«, sagte Tom. Wie lange konnte er das aushalten? Tom erhob sich. »Ich muß weiter, Mr. Thur low.« »Weiter?« Thurlow hatte sich noch nicht hingesetzt. »Mr. Ripley – außer daß wir Sie kennengelernt haben – und Ihnen danken konnten – aber wir wissen noch nicht mal Ihre genaue Adresse!« Wollte er ihm etwa ein Honorar schicken? dachte Tom. »Ich stehe im Telefonbuch. Villeperce, siebenundsiebzig, Seine-et-Marne. – Frank –?« »Ja, Sir?« Die Unruhe in den Augen des Jungen glich plötzlich dem Ausdruck, an den sich Tom von Mitte August her in Belle Ombre erinnerte. »Dürfen wir einen Augenblick hier reingehen?« fragte Tom und wies auf den Raum, der wohl Johnnys Zimmer war und dessen Tür noch offen stand. Das dürften sie gern, sagte Johnny, und Tom und Frank gingen hinein. Tom schloß die Tür. »Erzähl ihnen ja nicht alle Einzelheiten von der Nacht in Berlin«, sagte Tom. »Vor allem sag nichts von dem Toten, hörst du?« Tom blickte sich im Zimmer um, sah aber kein Tonbandgerät. Ein Playboy lag neben dem Bett
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auf dem Boden, und auf einem Tablett standen mehrere große Flaschen Orangenbrause. »Nein, natürlich sag ich nichts«, sagte Frank. Die Augen des Jungen schienen Tom älter als die des Bruders. »Du kannst sagen – ja, das geht: daß ich die Vereinbarung mit dem Geld nicht eingehalten habe. So kam es, daß ich das Geld noch hatte. Verstanden?« »Verstanden.« »Und daß ich einem der Kidnapper dann gefolgt bin, nachdem wir ein zweites Treffen vereinbart hatten, und daher wußte, wo sie dich festhielten. – Aber sag ja nichts von dem irren Hump!« Jetzt bog sich Tom vor Lachen. Beide lachten; ihre Heiterkeit hatte etwas fast Hysteri sches. »Weiß Bescheid«, flüsterte Frank. Tom packte den Jungen plötzlich vorn an der Jacke, dann ließ er ihn halb verlegen wieder los. »Niemals ein Wort über den toten Mann! Versprichst du das?« Frank nickte. »Ich weiß. Ich weiß schon, was Sie mei nen.« Tom machte einen Schritt zurück gegen das andere Zimmer und wandte sich dann um. »Was ich meine«, flüsterte er, »bis hierher und nicht weiter – mit allem. Wenn du Hamburg erwähnst, gib Reeves´ Namen nicht an. Sag, du hast ihn vergessen.« Der Junge schwieg, aber er blickte Tom gerade an und nickte. Sie gingen nach nebenan. Thurlow saß jetzt auf einem beigen Sessel. »Bitte, Mr. Ripley, nehmen Sie doch wieder Platz, wenn Sie noch ein paar Minuten Zeit haben.« Tom nahm aus Höflichkeit nochmals Platz, und Frank setzte sich sofort zu ihm auf das beige Sofa. Johnny stand immer noch am Fenster.
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»Ich möchte mich dafür entschuldigen, daß ich ein paarmal so kurz angebunden war am Telefon«, sagte Thurlow. »Sehen Sie, ich konnte ja nicht wissen –« Thur low hielt inne. »Ich wüßte von Ihnen gern«, sagte Tom, »wie die Sachlage hinsichtlich Franks jetzt ist – ob er noch als vermißt gilt und gesucht wird. Was haben Sie der Polizei hier gesagt?« »Ich – zuerst habe ich Mrs. Pierson mitgeteilt, der Junge sei in Sicherheit in Berlin – bei Ihnen. Dann habe ich mit ihrem Einverständnis hier die Polizei benachrich tigt. Natürlich hätte ich das auch ohne ihr Einverständnis tun können.« Tom biß sich auf die Unterlippe. »Hoffentlich haben Sie und Mrs. Pierson nirgends der Polizei meinen Namen genannt. Das wäre höchst überflüssig gewesen.« »Hier nicht, das weiß ich«, versicherte ihm Thurlow. »Mrs. Pierson – ich – ja, ihr gegenüber habe ich Ihren Namen genannt, aber ich habe sie natürlich auch gebe ten, Ihren Namen gegenüber der Polizei in Amerika nicht zu nennen. Die Polizei wurde in Amerika gar nicht zuge zogen – nur eine private Detektei. Den Journalisten – die sie übrigens nicht ausstehen kann – sollte sie sagen, man habe den Jungen in Deutschland gefunden, wo er Ferien machte. Auch nicht wo in Deutschland, sonst kä me es womöglich nochmal zu einem Kidnapping!« Ralph Thurlow lachte, er lehnte sich im Sessel zurück und schob mit dem Daumen den Gürtel mit der Messing schnalle zurecht. Der grinste, als ob ein weiteres Kidnapping ihn viel leicht an einen neuen hübschen Ort – etwa Palma de Mallorca – gebracht hätte, dachte Tom.
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»Ich möchte gern von Ihnen hören, was eigentlich passiert ist in Berlin«, sagte Thurlow. »Wenigstens eine Beschreibung der Kidnapper. Das könnte –« »Sie wollen doch wohl nicht nach ihnen suchen«, sag te Tom in erstauntem Ton und lächelte. »Hoffnungslos.« Tom stand auf. Auch Thurlow erhob sich; er sah unzufrieden aus. »Meine Telefongespräche mit ihnen hab ich auf Band aufgenommen. Na, vielleicht kann mir Frank etwas mehr erzählen. Warum sind Sie eigentlich nach Berlin gefah ren, Mr. Ripley?« »Ach, Frank und ich wollten mal was anderes sehen als Villeperce.« Tom kam sich vor wie ein Reiseprospekt. »Und ich dachte, Berlin ist nicht so überlaufen von Tou risten. Frank wollte eine Weile inkognito sein. – Haben Sie übrigens Franks Paß hier?« Tom stellte die Frage, bevor Thurlow sich erkundigen konnte, warum er den Jungen bei sich aufgenommen hatte. »Ja, hat meine Mutter rübergeschickt, eingeschrie ben«, sagte Johnny. Tom sagte zu Frank: »Dann sieh mal zu, daß du den Andrews-Paß los wirst. Ich kann ihn mitnehmen, wenn du mit runterkommst.« Man könnte ihn nach Hamburg zu rückschicken, dachte Tom, dort konnte man ihn sicher nochmal brauchen. »Was für ein Paß?« fragte Thurlow. Tom wich gegen die Tür hin aus. Thurlow schien die Paß-Sache aufzugeben und ging auf Tom zu. »Ich bin vielleicht kein typischer Detektiv – vielleicht gibt´s solche Tiere gar nicht. Wir sind eben alle verschieden, nicht jeder ist gewappnet für körperliche Auseinandersetzungen, wenn es dazu kommt.« Aber war nicht er der übliche, dachte Tom und blickte auf Thurlows wohlgenährte Gestalt, auf die schweren 345
Hände mit dem Ring seiner Schule am kleinen Finger. Tom wollte ihn fragen, ob er je bei der Polizei gewesen sei. Aber im Grunde war es Tom egal. »Sie haben schon Erfahrung gehabt mit der Unterwelt, nicht wahr, Mr. Ripley?« Thurlows Frage klang geradezu leutselig. »Das haben wir doch alle«, sagte Tom. »Jeder, der mal einen Orientteppich gekauft hat. – Also, Frank, du hast nun deinen Paß, dann hast du wohl alles, was du brauchst.« »Ich bleibe heute nacht nicht hier«, sagte Frank und stand auf. Thurlow blickte den Jungen an. »Was soll das heißen, Frank? Wo, ist dein Koffer? Hast du keinen Koffer?« »Unten, mit Toms«, antwortete Frank. »Ich will jetzt mit Tom nach Hause. Und heute abend dort bleiben. Wir fliegen ja nicht heute zurück nach Amerika, oder? Ich jedenfalls nicht.« Er sah entschlossen aus. Tom lächelte kaum sichtbar und wartete. So etwas hatte er erwartet. »Ich dachte, wir fahren morgen.« Ebenso entschlos sen, doch leicht verwirrt verschränkte Thurlow die Arme. »Willst du jetzt mal deine Mutter anrufen, Frank? Sie war tet auf einen Anruf von dir.« Frank schüttelte schnell den Kopf. »Sagen Sie ihr nur, mir geht´s gut, wenn sie anruft.« Thurlow sagte: »Nun bleib doch hier, Frank. Es ist doch bloß noch eine Nacht hier, und ich möchte dich in Sicht haben.« »Los, Franky«, sagte Johnny. »Bleib bei uns! Klar!« Frank warf seinem Bruder einen Blick zu, als wünschte er nicht Franky genannt zu werden; der rechte Fuß trat nach etwas, obgleich dort nichts zu treten war. Frank kam näher zu Tom heran und sagte: »Ich will jetzt weg.« 346
»Nun hör mal«, sagte Thurlow. »Die eine Nacht –« »Kann ich mit Ihnen nach Belle Ombre?« fragte Frank Tom. »Ich kann doch mit, nicht wahr?« In den nächsten Sekunden redeten – bis auf Tom – al le gleichzeitig. Tom schrieb seine Telefonnummer auf einen Block, der neben dem Telefon lag, und setzte sei nen Namen darunter. »Wir brauchen es meiner Mutter bloß zu sagen, dann ist das schon in Ordnung«, sagte Johnny zu Thurlow. »Ich kenne Frank.« Kannte er ihn wirklich? dachte Tom. Normalerweise hatte Johnny offenbar Vertrauen zu seinem Bruder. »– – verzögern«, sagte Thurlow gereizt. »Machen Sie doch Ihren Einfluß geltend, Johnny.« »Ich habe keinen!« sagte Johnny. »Ich gehe jetzt.« Frank hatte sich so hoch aufgereckt, wie es Tom oder sonstwer hätte wünschen können. »Tom hat seine Telefonnummer aufgeschrieben, ich hab´s eben gesehen. Wiedersehen, Mr. Thurlow. Auf bald, Johnny.« »Morgen früh, ja?« fragte Johnny, als er Tom und Frank aus dem Zimmer folgte. »Mr. Ripley –« »Du kannst mich Tom nennen.« Sie waren jetzt auf dem Treppenflur und gingen auf die Fahrstühle zu. »Kein besonders glückliches Gespräch«, sagte John ny mit ernster Miene zu Tom. »Eine irre Sache, das Gan ze. Ich weiß, Sie haben sich um meinen Bruder geküm mert – ihm eigentlich das Leben gerettet.« »Na ja –« Tom sah die Sommersprossen auf Johnnys Nase, Augen, die wie Franks geformt waren und doch so viel glücklicher aussahen. »Ralph ist etwas abrupt – in der Art, wie er redet –«
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Jetzt trat Thurlow zu ihnen. »Wir wollen morgen abrei sen, Mr. Ripley. Kann ich Sie morgen früh anrufen, so um neun? Bis dahin hab ich die Plätze gebucht.« Tom nickte ruhig. Frank hatte auf den Fahrstuhlknopf gedrückt. »Ja, Mr. Thurlow.« Johnny streckte die Hand aus. »Ich danke Ihnen, Mr. R– Tom. Meine Mutter dachte immer –« Thurlow machte eine Handbewegung, um anzudeuten, daß Johnny lieber schweigen solle. »Sie wußte nicht, was sie von Ihnen halten sollte, das weiß ich«, fuhr Johnny fort. »Oh, Schnauze!« sagte Frank, der sich wand vor Ver legenheit. Die Fahrstuhltüren öffneten sich wie zwei Arme, die »Willkommen!« sagten. Froh und erleichtert stieg Tom ein. Frank folgte sofort, Tom drückte auf den Knopf, und es ging nach unten. »Huh!« sagte Frank und schlug sich mit dem Handbal len an die Stirn. Tom lachte und lehnte sich an das Wagner´sche Inte rieur. Nach zwei Stockwerken stiegen ein Mann und eine Frau ein, die Frau mit einer Parfumwolke, daß Tom sich abwandte, obgleich es vielleicht ein teures Parfüm war. Ihr blau-gelb gestreiftes Kleid sah jedenfalls teuer aus, und die schwarzen Lackpumps erinnerten Tom an den Schuh – vielleicht auch an die beiden Schuhe, die er in der Wohnung der Kidnapper in Berlin zurückgelassen hatte. Sicher ein überraschender Fund für die Nachbarn oder die Polizei, dachte er. In der Hotelhalle ließ sich Tom ihre beiden Koffer geben, aber das Gefühl, frei zu atmen, hatte er erst, als sie draußen auf dem Bürgersteig standen und warteten, daß der Portier ihnen ein Taxi hol te. Fast sofort kam eins, zwei Frauen stiegen aus, Tom und Frank nahmen es und fuhren zum Gare de Lyon. Sie 348
hatten nur noch ein paar Minuten bis zur Abfahrt des Zu ges um 14.18 Uhr, was sehr angenehm war, denn nun brauchten sie nicht so gräßlich lange zu warten, bis etwa um fünf, wenn der nächste Zug fuhr. Frank blickte aus dem Fenster, die Augen gleichzeitig konzentriert und träumerisch, die Haltung steif wie eine Statue. Tom dach te sogar an die Statue eines Engels, eine der ausdrucks losen, aber stützenden Engelsgestalten seitlich von Kir chentüren. Am Bahnhof kaufte Tom Fahrkarten erster Klasse und eine Ausgabe von Le Monde am Kiosk auf dem Bahnsteig. Als der Zug sich in Bewegung setzte, zog Frank ein Paperback aus der Tasche, das er, wie Tom wußte, in einer Hamburger Buchhandlung gekauft hatte. »The Country Diary of an Edwardian Lady« – ausgerechnet. Tom besah sich Le Monde, las eine Spalte über gau chistes, die offenbar nichts Neues brachte, legte Le Monde auf den Sitz neben Frank und legte seine Füße darauf. Frank blickte nicht auf. Tat er nur so, als sei er vertieft? »Gibt es eigentlich einen Grund, warum . . .« sagte Frank. Tom beugte sich vor, weil er über dem Rattern des Zuges den Rest nicht gehört hatte. »Warum was?« Frank fragte ernst: »Gibt es einen einfachen Grund, warum es mit dem Kommunismus nicht funktioniert?« Tom nahm an, der Zug sei gerade dabei, auf die nächste Haltestelle zuzudonnern und habe die Bremsen noch nicht angezogen, was dann noch lauter werden würde. Auf der anderen Gangseite hatte ein kleiner Jun ge angefangen zu weinen, und sein Vater gab ihm einen leichten Klaps. »Wie kommst du darauf? Das Buch da?« »Nein, nein. Berlin«, sagte Frank stirnrunzelnd.
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Tom holte tief Luft; er haßte es, über den Lärm des Zuges hinweg zu sprechen. »Es funktioniert ja. Der Sozi alismus funktioniert. Es fehlt nur an individueller Initiative, so heißt es immer. Die russische Version läßt einfach nicht genügend Initiative zu, und das entmutigt alle.« Tom blickte sich um und war froh, daß niemand seiner Stegreifrede zuhörte. »Es ist ein Unterschied – –« »Vor einem Jahr dachte ich, ich wäre Kommunist. So gar Moskau. Kommt drauf an, was man liest. Wenn man das Richtige liest . . .« Was meinte denn Frank mit dem Richtigen? »Wenn man – –« »Wozu brauchen die Russen die Mauer?« fragte Frank mit gerunzelter Stirn. »Ja, da siehst du es. Wenn es um die Freiheit der Wahl geht – Selbst jetzt kann man sich in kommunisti schen Ländern um die Staatsbürgerschaft bewerben und wird sie wahrscheinlich auch kriegen. Aber versuch mal, aus einem kommunistischen Land rauszukommen!« »Das ist ja gerade die – die Ungerechtigkeit!« Tom schüttelte den Kopf. Der Zug ratterte weiter – wa ren sie denn schon an Melun vorbei? Nein, ausgeschlos sen. Tom war froh, daß der Junge so naive Fragen stell te. Wie sonst sollte ein Junge irgendetwas lernen? Wie der beugte Tom sich vor. »Du hast doch die Mauer ge sehen. Die Verhaue sind auf ihrer Seite, aber sie be haupten, die Mauer sei gebaut worden, um Kapitalisten draußen zu halten. – Es hätte phantastisch sein können, ganz sicher. Rußland ist nur mehr und mehr zu einem Polizeistaat geworden. Sie scheinen all die Kontrollen über die Menschen für notwendig zu halten.« Was sollte er noch sagen, dachte Tom. Jesus war einer der ersten Kommunisten. »Aber die Idee ist natürlich großartig!«
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schrie Tom. War dies die Art, die Jugend zu belehren – indem man brüllend Platitüden von sich gab? Melun. Der Junge kehrte zu seinem Buch zurück, und ein paar Minuten später zeigte er Tom einen Satz. »Die haben wir in unserem Garten in Maine. Mein Vater hat sie aus England kommen lassen.« Tom las einen Satz über eine in England wildwach sende Blume, von der er nie gehört hatte: gelb, manch mal purpurfarben, blüht im frühen Frühling. Tom nickte. Er war beunruhigt, er dachte an vieles und deshalb an gar nichts, wie er bemerkte, jedenfalls an nichts Nützli ches oder Schlüssiges. In Moret stiegen sie aus, und Tom nahm eins der bei den wartenden Taxis. Er begann sich jetzt besser zu füh len. Dies war Zuhause, vertraute Häuser, sogar vertraute Bäume, die Turmbrücke über die Loing. Er dachte an das erste Mal, als er den Jungen hierher zurückgebracht hat te, zu Madame Boutin, an seine Skepsis hinsichtlich der Geschichte des Jungen und wie er überlegt hatte, warum ihn der Junge überhaupt aufgesucht hatte. Das Taxi rollte durch das offene Tor von Belle Ombre auf den Kies und hielt nahe der Eingangstreppe an. Tom lächelte, als er den roten Mercedes in der Garage stehen sah, und da die Tür der anderen Garage geschlossen war, nahm er an, daß auch der Renault da stand und daß Heloise zu Hause war. Tom bezahlte den Fahrer. »Bonjour, Monsieur Tome!« rief Madame Annette von den Eingangsstufen. »Und Monsieur Billy – willkommen!« Sie schien nicht sehr überrascht bei Billys Anblick, sah Tom. »Und wie geht´s hier?« Er gab Madame Annette einen schnellen Kuß auf die Wange. »Alles sehr gut, nur war Madame Heloise so in Sorge, einen Tag oder so. Kommen Sie herein.«
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Im Wohnzimmer kam Heloise auf ihn zu, und dann war sie in seinen Armen. »Endlich, Tome!« »War ich so lange fort? Billy ist auch hier.« »Guten Tag, Heloise. Ich falle Ihnen schon wieder zur Last«, sagte der Junge auf Französisch. »Aber nur für eine Nacht – wenn ich darf.« »Sie fallen nicht zur Last. Guten Tag.« Sie blinzelte und streckte ihm die Hand entgegen. Das Blinzeln verriet Tom, daß sie wußte, wer der Jun ge war. »Menge zu bereden«, sagte Tom fröhlich, »aber erst will ich mal unsere Koffer nach oben bringen. Ss-so –« Er machte eine Handbewegung zu Frank hin; im Au genblick wußte er nicht, wie er ihn nennen sollte. Dann gingen beide mit dem Gepäck nach oben. Madame Annette war dabei, etwas zu backen, nach dem Duft von Orange und Vanille zu urteilen; sonst hätte sie die Koffer ergriffen und Tom hätte sie ihr wieder ab genommen, denn er sah es immer noch ungern, daß Frauen Männerkoffer schleppten. »Herrgott – ist das gut, wieder zu Hause zu sein!« sagte Tom oben auf dem Treppenflur. »Hier, Frank – nimm das Gästezimmer, außer wenn –« ein schneller Blick überzeugte Tom, daß im Augenblick niemand sonst das Gästezimmer benutzte. »Aber nimm meine Toilette. Ich möchte gern mit dir reden – komm doch gleich mal rein zu mir.« Tom ging in sein Zimmer und nahm ein paar Sachen aus seinem Koffer, die aufgehängt oder gewa schen werden sollten. Der Junge trat ein, mit besorgtem Gesicht, und Tom wußte, er hatte Heloises Verhalten bemerkt. »Na schön, Heloise weiß es«, sagte Tom, »aber wieso ist das ein Grund zur Sorge?« »Wenn sie mich nur nicht für einen hundertprozentigen Schwindler hält.« 352
»Darum würde ich mir jetzt auch keine Gedanken ma chen. – Was da so wunderbar duftet – ob das zum Tee oder zum Dinner ist?« »Und wie ist es mit Madame Annette?« fragte Frank. Tom lachte. »Sie will dich offenbar weiterhin Billy nen nen. Aber sie wußte vermutlich schon vor Heloise, wer du bist. Madame Annette liest die Klatschblätter. Und mor gen kommt ja sowieso alles raus, wenn du deinen Paß vorzeigst. – Was ist denn los? Schämst du dich, du selbst zu sein? – Komm, wir gehen runter. Wenn du was zu wa schen hast, leg es hier auf den Fußboden. Ich sag Ma dame Annette Bescheid, dann ist morgen früh alles fer tig.« Frank ging in sein Zimmer zurück, und Tom ging nach unten ins Wohnzimmer. Es war ein schöner Tag, und die Glastür zum Garten stand offen. »Nach den Fotos wußte ich´s natürlich. Zwei hab ich gesehen«, sagte Heloise. »Das erste hat mir Madame Annette gezeigt. Warum ist er weggelaufen?« Gerade kam Madame Annette mit einem Tablett her ein, auf dem die Teesachen standen. »Er wollte eine Weile von zu Hause weg. Er hat den Paß seines älteren Bruders mitgenommen, als er Ameri ka verließ. Aber er fliegt morgen zurück, zurück nach Amerika.« »Ach –?« sagte Heloise erstaunt. »Tatsächlich?« »Ich habe gerade seinen Bruder Johnny kennenge lernt, und den Detektiv, den die Familie angeheuert hat. Sie sind in Paris, im Hotel Lutetia. Ich habe von Berlin aus mit Ihnen Kontakt aufgenommen.« »Berlin? Ich dachte, du warst in Hamburg – haupt sächlich.« Der Junge kam die Treppe herunter.
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Heloise schenkte Tee ein. Madame Annette war in die Küche zurückgekehrt. »Ach weißt du, Eric wohnt ja in Berlin«, fuhr Tom fort. »Eric Lanz, der letzte Woche hier bei uns war. Setz dich doch, Frank.« »Was hast du denn in Berlin gemacht?« fragte Heloi se. Es klang, als sei Berlin ein militärischer Außenposten oder ein Ort, den Urlauber nicht im Traum aufsuchen würden. »Ach – ich habe mich ein bißchen umgesehen.« »Sie freuen sich gewiß auf Zuhause, nicht wahr, Frank?« fragte Heloise, als sie ihm Orangenschnitten anbot. Das war ein böser Moment für den Jungen; Tom tat, als merke er nichts, und stand vom Sofa auf, um einen Blick auf die Briefe zu werfen, die neben dem Telefon aufgestapelt waren, wo Madame Annette sie oft hinlegte. Es waren nur sechs oder acht, und einige sahen nach Rechnungen aus. Einer war von Jeff Constant, auf den war Tom neugierig, aber er machte ihn nicht auf. »Haben Sie mit Ihrer Mutter gesprochen, als Sie in Berlin waren?« erkundigte sich Heloise bei Frank. »Nein«, sagte Frank. Er würgte an seinem Kuchen, als sei er staubtrocken. »Wie war es in Berlin?« Heloise blickte jetzt Tom an. »So eine Stadt gibt´s nicht nochmal auf der Welt. Wie es immer von Venedig gesagt wird«, sagte Tom. »Jeder kann machen, was er will. Nicht wahr, Frank?« Frank rieb sich mit dem Knöchel das linke Auge und wand sich. Tom gab es auf. »He, Frank – geh rauf und leg dich hin. Ich bestehe darauf.« Zu Heloise sagte er: »Gestern abend bei Reeves in Hamburg mußten wir lange aufblei ben. – Ich wecke dich zum Dinner, Frank.« 354
Frank erhob sich und machte vor Heloise eine leichte Verbeugung. Offenbar saß ihm etwas in der Kehle, und er konnte kein Wort herausbringen. »Ist was?« flüsterte Heloise. »Gestern abend – in Hamburg?« Der Junge war jetzt nach oben gegangen. »Ach – nein, nichts mit Hamburg. Der Junge ist letzten Sonntag in Berlin gekidnappt worden. Ich konnte ihn erst Dienstag früh wieder finden. Sie haben ihm –« »Gekidnappt –?« »Ja, ich weiß, in der Zeitung hat nichts gestanden. Die Kidnapper haben ihm allerhand Beruhigungsmittel gege ben, und die Wirkung merkt er immer noch.« Heloise saß mit weit geöffneten Augen da. Sie blinzel te wieder, aber anders diesmal; die Augen waren so groß, daß Tom die kleinen dunkelblauen Striche sah, die von der Pupille ausstrahlten und über die blaue Regen bogenhaut liefen. »Nein, von Kidnapping habe ich kein Wort gehört. Und seine Familie hat ein Lösegeld be zahlt?« »Nein. Das heißt ja, aber es ist nicht gezahlt worden. Ich erzähle dir alles, wenn wir mal allein sind. Du – wenn ich dich ansehe, fällt mir auf einmal der Drückerfisch im Berliner Aquarium ein. Ein phantastischer kleiner Fisch. Ich habe Postkarten mitgebracht, ich zeig ihn dir! Au genwimpern – als ob einer sie gezeichnet hätte, rund um die Augen. Ganz lang und schwarz!« »Ich hab aber keine langen schwarzen Wimpern! Also Tom, dieses Kidnapping. Du sagst, du hättest ihn zuerst nicht wiedergefunden, was meinst du damit?« »Ein andermal, die Einzelheiten. Wir sind unverletzt, das siehst du.« »Und seine Mutter, weiß sie das?«
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»Das mußte sie wohl, das Geld mußte ja bereitgestellt werden. Ich habe dir bloß – ich wollte dir nur erklären, warum der Junge heute abend ein bißchen seltsam er scheint. Er –« »Sehr seltsam, ja. Warum mußte er denn überhaupt von zu Hause weglaufen, weißt du das?« »Nein, nicht genau.« Tom wußte, er würde Heloise niemals erzählen, was der Junge ihm berichtet hatte. Was Heloise erfahren durfte, hatte seine Grenzen, das wußte Tom so gewiß, als wäre es auf einer Skala einge zeichnet.
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Tom las Jeff Constants Brief und war beruhigt, denn Jeff versprach ihm fest, dafür zu sorgen, daß die halbfertigen oder ganz mißlungenen Skizzen – Derwatt-Kopien, her gestellt von Bernard Tufts´ Nachfolger – »zerrissen« wurden. Diese Arbeiten irgendeines Nichtskönners schienen unerschöpflich. Tom hatte sein Treibhaus inspi ziert, eine reife Tomate gepflückt, die offenbar Madame Annettes Aufmerksamkeit entgangen war, hatte geduscht und saubere Blue jeans angezogen. Er hatte auch Heloi se beim Polieren eines Garderobenständers geholfen, den sie gerade irgendwo erstanden hatte. Oben hatte der Ständer gebogene hölzerne Haken mit Messingspitzen; sie erinnerten Tom an Kuhhörner aus dem Westen Ame rikas. Zu Toms Erstaunen kam das Ding tatsächlich aus Amerika, wie ihm Heloise erzählte, und das hatte zweifel los den Preis, nach dem Tom nicht fragte, noch in die Höhe getrieben. Heloise gefiel es, denn in ihrem Hause war er komisch, dieser style rustique à la Amerika. Gegen acht rief Tom Frank zum Dinner herunter und öffnete zwei Flaschen Bier für sie beide. Frank hatte nicht geschlafen, aber Tom hoffte, daß er sich doch etwas ausgeruht hatte. Tom holte bei Heloise alles Neue über die Familie nach. Ihrer Mutter ging es wieder gut, keine Operation notwendig, aber der Arzt hatte sie auf eine salz- und fettlose Diät gesetzt – das altbewährte franzö sische Rezept, dachte Tom, wenn ein Arzt nicht wußte, was er sonst sagen oder tun sollte. Heloise sagte, sie habe ihre Familie nachmittags angerufen und mitgeteilt, sie werde heute abend nicht wie üblich zu ihnen kom men, weil Tom gerade zurückgekehrt sei. Ihren Kaffee tranken sie im Wohnzimmer. 357
»Ich spiele Ihnen die Platte, die Sie gernhaben«, sagte Heloise zu Frank und legte die Lou Reed-Platte »Trans former« auf. »Make-up« war das erste Lied auf der zwei ten Seite. Your face when sleeping is sublime,
And then you open up your eyes . . .
Then comes pancake Factor Number One,
Eyeliner, rose lips, oh it´s such fun!
You´re a slick little girl . . .
Frank senkte den Kopf über seiner Kaffeetasse. Tom
suchte auf dem Telefontischchen nach einer Zigarrenkis
te. Sie war nicht da. Vielleicht war die Kiste aufgebraucht.
Und die neuen, die er gekauft hatte, waren oben in sei
nem Zimmer. Zum Raufgehen hatte er keine Lust – so
viel lag ihm nicht daran. Es tat ihm leid, daß Heloise die
Platte aufgelegt hatte, denn er wußte, sie erinnerte den
Jungen an Teresa. Frank litt offenbar innerlich, und Tom
fragte sich, ob es ihm lieber war, »entschuldigt« zu wer
den, oder ob er ihre Gesellschaft trotz der Musik vorzog.
Vielleicht war das zweite Lied weniger schmerzlich.
Sa – – tel – – lite ´s gone
Way up to Mars . . .
I´ve been told that you´ve been bold
With Harry, Mark and John . . .
Things like that drive me out of my mind . . .
I watched it for a little while –,
I love to watch things on TV . . .
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Die unbeschwerte amerikanische Stimme sang weiter; die Worte waren leicht und einfach, und doch konnten sie – wenn man sie so verstehen wollte – sich auf eine Krise im Leben eines Menschen beziehen. Tom machte Heloi se ein Zeichen, das bedeuten sollte: »Bitte stell das ab«, und erhob sich aus seinem Sessel. »Ganz nett – aber wollen wir jetzt mal was Klassisches nehmen? Vielleicht Albéniz? Würd ich gern hören.« Sie hatten eine neue Aufnahme der Iberia mit dem Pianisten Michel Block, dessen Spiel bei diesem Werk, nach An sicht namhaftester Kritiker, alle zeitgenössischen Künst ler übertraf. Heloise legte die Platte auf. Ja, das war bes ser! Das war musikalische Poesie, frei von menschlichen Worten mit irgendeiner Botschaft. Franks Blick traf einen Augenblick mit Toms Blick zusammen, und Tom erkannte ein Aufflackern von Dankbarkeit darin. »Ich geh jetzt nach oben«, sagte Heloise. »Gute Nacht, Frank. Ich sehe Sie hoffentlich noch morgen früh.« Frank stand auf. »Ja. Gute Nacht, Heloise.« Sie ging die Treppe hinauf. Frank spürte, Heloises früher Aufbruch sollte ein Wink für ihn sein, ebenfalls bald nach oben zu kommen. Sie wollte ihn natürlich noch einiges fragen. Das Telefon klingelte, und Tom stellte die Musik leiser und meldete sich. Es war Ralph Thurlow in Paris; er woll te wissen, ob Tom und der Junge bei Tom zu Hause an gekommen waren, und Tom versicherte ihm, sie seien beide gut angekommen. »Ich habe für morgen Plätze gebucht in der Maschine, die um zwölf Uhr fünfundvierzig in Roissy abfliegt«, sagte Thurlow. »Könnten Sie wohl zusehen, daß Frank recht zeitig kommt? Ist er da? Ich würde ihn gern mal spre chen.« 359
Tom blickte zu Frank hinüber, der eine eindeutig nega tive Geste machte. »Er ist oben, ich glaube, er ist schon zu Bett gegangen, aber ich kann dafür sorgen, daß er nach Paris kommt, ganz sicher. Welche Fluglinie?« »TWA, Flugnummer fünf-sechs-zwei. Ich denke, das einfachste wäre, wenn Frank morgen früh zwischen zehn und halb elf ins Lutetia käme; dann können wir von hier ein Taxi nehmen.« »Okay, ja, das geht.« »Mr. Ripley, ich habe es heute nachmittag nicht er wähnt, aber Sie haben bestimmt Auslagen gehabt. Bitte geben Sie mir an, was, ich sorge dafür, daß die Sache erledigt wird. Schreiben Sie mir an die Adresse von Mrs. Pierson – Frank kann sie Ihnen geben.« »Danke schön.« »Sehe ich Sie auch noch morgen früh? Es wäre mir lieb, wenn Sie – wenn Sie Frank herbringen könnten«, sagte Thurlow. »All right, Mr. Thurlow.« Tom lächelte, als er den Hörer auflegte. Zu Frank sagte er: »Thurlow hat Flugtickets für morgen mittag. Du sollst um zehn herum in ihrem Hotel sein. Das ist einfach – morgens fahren viele Züge. Oder ich kann dich im Wagen hinbringen.« »O nein«, sagte Frank höflich. »Aber du wirst doch da sein?« »Ja. ich werde da sein.« Tom versuchte, seine Erleichterung zu verbergen. »Ich dachte, ich wollte Sie bitten, mit mir zu kommen – aber das wäre wohl zu viel verlangt.« Frank hatte die Hände in den Hosentaschen zu Fäusten geballt, und das Kinn schien zu zittern. Mit ihm kommen – wohin? dachte Tom. »Setz dich, Frank.«
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Der Junge mochte nicht sitzen. »Ich muß mich jetzt al lem stellen, das weiß ich.« »Was meinst du mit allem?« »Ich muß ihnen sagen, was ich getan habe – das mit meinem Vater«, antwortete Frank, als sei das sein To desurteil. »Ich habe dir doch gesagt, das sollst du nicht«, sagte Tom leise, obwohl er wußte, daß Heloise oben in ihrem Zimmer oder in ihrem Badezimmer hinten im Hause war. »Es zwingt dich niemand, und das weißt du auch, warum fängst du jetzt wieder damit an?« »Wenn ich Teresa hätte, dann täte ich´s auch nicht, das schwöre ich. Aber ich habe nicht einmal sie.« Das war der Haken bei der Sache, dachte Tom. Tere sa. »Vielleicht bringe ich mich um. Was sonst? Ich sage Ihnen das nicht als Drohung, als irgendeine leere Dro hung.« Frank blickte Tom in die Augen. »Ich bin einfach vernünftig. Heute nachmittag habe ich oben mein Leben überdacht.« Mit sechzehn. Tom nickte und sagte dann, was er sel ber nicht glaubte: »Vielleicht hast du Teresa gar nicht verloren. Ein paar Wochen lang interessiert sie sich viel leicht für einen andern, oder glaubt es. Mädchen spielen gern herum, das weißt du. Aber sie weiß gewiß, wie ernst es dir ist.« Frank lächelte leicht. »Und was nützt mir das? Der an dere Junge ist älter als ich.« »Frank, nun hör mal zu –« Würde es etwas nützen, den Jungen noch einen Tag länger in Belle Ombre zu behalten und zu versuchen, ihm vernünftig zuzureden? Tom zweifelte sofort am Erfolg. »Das eine Einzige, was du nicht tun mußt, ist, jemandem alles zu sagen.«
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»Ich glaube, das muß ich selber entscheiden«, sagte Frank überraschend kühl. Sollte er mit Frank nach Amerika fahren, dachte Tom. Ihm über den ersten Tag mit der Mutter weghelfen, sich vergewissern, daß der Junge nicht mit irgendetwas her ausbrach? »Wenn ich nun morgen mit dir käme?« »Nach Paris?« »Nach Amerika, dachte ich.« Tom hatte erwartet, daß sich die Spannung des Jungen lösen, eine sichtbare Er leichterung zu spüren sein werde, aber Frank zuckte nur die Achseln. »Ja, aber was würde es schließlich –« »Hör zu, Frank: du fällst nicht um. Hast du denn etwas dagegen, daß ich mit dir komme?« »Nein. Sie sind wirklich der einzige Freund, den ich habe.« Tom schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht dein einziger Freund, ich bin nur der einzige Mensch, mit dem du ge sprochen hast. Na schön, ich komme mit, und das,möchte ich Heloise jetzt sagen. Komm mit rauf und sieh zu, daß du schläfst, ja?« Der Junge ging mit Tom nach oben, und Tom sagte: »Gute Nacht, dann also bis morgen.« Dann ging er bis zu Heloises Tür und klopfte an. Sie war im Bett, saß in die Kissen gelehnt, gestützt auf einen Ellbogen, und las ein Taschenbuch; es war ihre abgegriffene Ausgabe der Se lected Poems von Auden. Sie hatte Audens Gedichte gern, weil sie so »klar« waren, wie sie sagte. Merkwürdi ge Zeit, um Gedichte zu lesen, dachte Tom, aber viel leicht war es gar nicht so merkwürdig. Er beobachtete, wie ihre Augen in die Gegenwart zurückschwammen, zu ihm und zu Frank. »Ich fahre morgen mit Frank nach Amerika«, sagte Tom. »Möglicherweise nur für zwei, drei Tage.« 362
»Warum? – Tom, du hast mir noch kaum etwas ge sagt. Beinahe gar nichts.« Sie warf das Buch zur Seite, aber nicht im Zorn. Tom fiel auf einmal ein, daß es etwas gab, das er He loise erzählen konnte. »Er liebt ein Mädchen in Amerika, und das Mädchen hat jetzt einen anderen gefunden, und deshalb ist der Junge so deprimiert.« »Und das ist der Grund, warum du mit ihm nach Ame rika fährst? Was ist denn nun eigentlich in Berlin gesche hen? Beschützt du ihn immer noch – vor einer Bande?« »Nein. In Berlin kam es zum Kidnapping, als Frank und ich da in den Wäldern spazieren gingen. Wir waren nur eine oder zwei Minuten getrennt, da haben sie ihn geschnappt. Ich habe dann mit den Kidnappern ein Tref fen vereinbart –« Tom machte eine Pause. »Jedenfalls gelang es mir dann, ihn aus ihrer Wohnung herauszuho len. Er war sehr schläfrig von den Sedativa – etwas mü de ist er immer noch.« Heloise sah ungläubig aus. »Und das alles in Berlin – in der Stadt?« »Ja, in West-Berlin. Die Stadt ist größer, als du viel leicht annimmst.« Tom hatte sich ans Fußende von He loises Bett gesetzt und stand jetzt auf. »Und wegen mor gen mußt du dir bitte keine Sorgen machen, ich bin sehr bald zurück und – wann genau gehst du eigentlich auf diese Abenteuer-Kreuzfahrt? Erst Ende September, nicht?« Heute war der erste September. »Am achtundzwanzigsten. Tom, sag mir, was liegt dir eigentlich auf der Seele? Glaubst du, die werden noch mal versuchen, den Jungen zu kriegen? Dieselben Leu te?« Tom lachte. »Nein, bestimmt nicht. Das waren ein paar Halbstarke in Berlin. Vier waren es. Und jetzt haben
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sie bestimmt erst mal Angst und lassen sich nicht bli cken.« »Du sagst mir immer noch nicht alles.« Weder Groll noch Tadel klang aus ihrer Stimme, sondern etwas da zwischen. »Mag sein, aber ich sag´s dir später.« »Das hast du damals auch gesagt, als –« Heloise hielt inne und besah sich ihre Hände. Murchison? Sein bis heute nicht erklärtes Verschwin den? Der Amerikaner, den Tom unten im Keller von Belle Ombre getötet hatte – mit einer Weinflasche erschlagen. Ein guter Margaux war es gewesen, das wußte er noch. Nein, er hatte Heloise niemals etwas davon erzählt, wie er Murchisons Leiche nach draußen geschleppt hatte, und hatte ihr auch nicht die Wahrheit gesagt wegen des großen dunkelroten Flecks, der sich bis heute aus dem Zementkellerboden nicht hatte entfernen lassen und der nicht nur vom Wein stammte. Tom hatte den Fleck mit der Bürste gescheuert. »Na jedenfalls –« Tom bewegte sich langsam auf die Tür zu. Heloise blickte zu ihm auf. Tom kniete neben dem Bett nieder, legte die Arme ganz eng um sie und drückte sein Gesicht gegen das Laken, mit dem sie zugedeckt war. Sie strich mit den Fingern über sein Haar. »Was ist es diesmal für eine Gefahr? Kannst du mir das nicht sa gen?« Es wurde Tom klar, daß er das nicht wußte. »Gar kei ne Gefahr.« Er erhob sich. »Gute Nacht, Darling.« Tom kam in den Treppenflur und sah, daß im Zimmer des Jungen noch Licht brannte. Er ging daran vorbei, als die Tür des Gastzimmers leicht geöffnet wurde und Frank ihn mit einer Handbewegung hereinbat. Tom trat ein, und
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der Junge machte die Tür zu. Frank war im Pyjama, das Bett war aufgeschlagen, aber er hatte nicht dringelegen. »Ich glaube, ich war ein Feigling, unten«, sagte Frank. »Ich glaube, es war die Art, wie ich sprach. Die falschen Worte sagte. Und beinahe geheult hätte, liebe Zeit!« »Na und? Was macht das schon.« Der Junge schritt über den Teppich und blickte auf seine nackten Füße herab. »Ich möchte mich gern – ver lieren. Ich meine nicht umbringen, ich meine verlieren. Wegen Teresa, glaube ich. Wenn ich mich doch einfach in Dampf auflösen könnte –« »Deine Identität verlieren, meinst du? Oder was sonst?« »Alles. Einmal mit Teresa dachte ich, ich hätte meine Brieftasche verloren.« Frank lächelte plötzlich. »Wir wa ren zum Lunch in einem Restaurant in New York, und ich wollte die Rechnung bezahlen und konnte meine Briefta sche nicht finden. Ich meinte, ich hätte sie ein paar Minu ten zu früh herausgenommen, und da war sie vielleicht auf den Boden gefallen. Ich hab unterm Tisch nachgese hen – wir saßen da auf einer Art Bank –, aber ich konnte sie nicht finden, und dann dachte ich, ich hätte sie zu Hause vergessen! Ich glaube, ich bin immer ganz wirr im Kopf, wenn ich mit Teresa zusammen bin. Als ob – als ob ich ohnmächtig würde. Wenn ich sie sehe, jedesmal, dann kann ich meist kaum atmen.« Mitfühlend schloß Tom eine Sekunde die Augen. »Vor einem Mädchen darfst du nie nervös erscheinen, Frank, auch wenn du noch so nervös bist.« »Ja, Sir. Also an dem Tag damals, da sagte Teresa: ›Du hast sie bestimmt nicht verloren, schau nochmal nach.‹ Der Kellner war auch schon gekommen und half mir, und Teresa sagte, sie könne die Rechnung bezah len, und als sie das tun wollte, sah sie, daß ich meine 365
Brieftasche in ihre Handtasche gesteckt hatte, weil ich sie zu früh rausgenommen hatte und so nervös war. So ging es mir immer mit Teresa. Erst denke ich immer, wie schrecklich, und dann: was habe ich für Glück gehabt.« Tom verstand. Auch Freud hätte verstanden. Ob dieses Mädchen wirklich ein Glück für Frank war? Das bezwei felte Tom. »Ich könnte Ihnen noch so eine Geschichte erzählen, aber ich möchte Sie nicht langweilen.« Worauf wollte Frank hinaus? Oder wollte er einfach über Teresa reden? »Ich möchte wirklich alles verlieren, Tom. Ja, selbst mein Leben. Es fällt mir schwer, es in Worten auszudrü cken. Vielleicht könnte ich es Teresa erklären oder we nigstens irgendwas sagen, aber sie macht sich nichts mehr aus mir. Ich langweile sie jetzt.« Tom zog seine Zigaretten hervor und zündete eine an. Der Junge war in einer Traumwelt, er brauchte einen An stoß aus der Realität. »Mir fällt grade was ein, Frank: dein Andrews-Paß. Darf ich?« Tom wies mit der Hand auf einen Stuhl, über den Frank seine Jacke gehängt hat te. »Nehmen Sie ihn nur, er ist da drin«, sagte Frank. Tom nahm ihn aus der Innentasche. »Der geht zurück an Reeves.« Tom räusperte sich und fuhr fort: »Soll ich dir mal sagen, daß ich einmal einen Mann ermordet habe, in diesem Haus? Furchtbar, nicht wahr? Unter diesem Dach. Ich kann dir auch den Grund sagen: das Bild un ten, über dem Kamin, ›Mann im Sessel‹ –« Plötzlich wur de es Tom klar: er konnte Frank nicht sagen, daß das Bild eine Fälschung war und daß eine ganze Anzahl Derwatts gefälscht waren. Wer weiß, wenn Frank es ir gend jemandem erzählte, vielleicht noch nach Monaten oder Jahren? 366
»Ja, das mag ich gern«, sagte Frank. »Wollte der Mann es stehlen?« »Nein!« Lachend legte Tom den Kopf zurück. »Ich möchte nicht mehr darüber sagen. Aber wir sind uns doch ähnlich, findest du nicht, Frank?« War da auch nur die geringste Erleichterung in den Augen des Jungen zu sehen? »Gute Nacht, Frank. Ich wecke dich gegen acht.« In seinem Zimmer stellte Tom fest, daß Madame An nette seinen Koffer ausgepackt hatte, er mußte also wie der von vorn anfangen mit Rasierzeug undsoweiter. Das Geschenk für Heloise, die blaue Handtasche, lag – noch im weißen Plastikbeutel – jetzt auf seinem Schreibtisch. Sie war in einem Karton verpackt, und Tom beschloß, den Karton morgen früh heimlich in ihr Zimmer zu legen, so daß sie ihn fand, wenn er schon fort war. Fünf nach elf jetzt. Tom ging nach unten, um Thurlow anzurufen, ob gleich ein Telefon in seinem Zimmer stand. Johnny meldete sich und sagte, Thurlow stehe gerade unter der Dusche. »Ihr Bruder möchte, daß ich morgen mit ihm komme; das werde ich deshalb auch tun«, sagte Tom. »Nach Amerika, meine ich.« »Ach – wirklich? Prima!« Johnny schien erfreut. »Hier ist Ralph. Das ist Tom Ripley«, sagte Johnny und gab den Hörer an Thurlow weiter. Tom erklärte die Lage noch einmal. »Glauben Sie, Sie können für mich einen Platz in derselben Maschine bu chen, oder soll ich es heute abend noch versuchen?« »Nein, das mach ich schon. Das geht sicher in Ord nung«, sagte Thurlow. »Stammt die Idee von Frank?« »Ja, es ist sein Wunsch.« »Okay, Tom. Ich sehe Sie dann also morgen gegen zehn.«
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Tom stellte sich noch einmal unter die warme Dusche. Er freute sich aufs Schlafen. Heute morgen noch war er in Hamburg gewesen. Was wohl der gute Reeves jetzt eben machte? Ein neues Geschäft mit jemandem, bei kühlem Weißwein in seiner Wohnung? Tom beschloß, die Packerei bis zum anderen Morgen zu lassen. Dann lag er im Bett, das Licht war gelöscht, und er dachte – oder versuchte es – an den Generationenkon flikt. Trat er nicht in jeder Generation von neuem auf? Und die Generationen überschnitten sich; eine definitive Zeitspanne von fünfundzwanzig Jahren des Umbruchs konnte man eigentlich nie feststellen. Tom versuchte sich auszumalen, wie das Leben für Frank sein mußte, der auf die Welt gekommen war, als die Beatles sich (nach der Zeit in Hamburg) zuerst in London durchsetzten, dann ihre Tournee durch Amerika machten und das Ge sicht der Popmusik veränderten; der etwa sieben gewe sen war, als ein Mann auf dem Mond landete, als die Vereinigten Staaten in ihrer Eigenschaft als Weltpolizei langsam ausgelacht und ausgenutzt wurden. Und davor: hatte es da nicht den Völkerbund gegeben? Überholte Geschichte, der Völkerbund, der weder Franco noch Hit ler hatte verhindern können. Offenbar mußte jede Gene ration sich von irgendetwas lösen und dann verzweifelt versuchen, etwas Neues zu finden, an das sie sich klammern konnte. Für die Jugend von heute war es manchmal ein Guru, oder Hare Krishna, oder der Moonies-Kult, und immer wieder die Popmusik – sozialkriti schen Protestsängern gelang es, ihre Herzen zu rühren. Sich zu verlieben galt hingegen als altmodisch, das hatte Tom irgendwo gehört oder gelesen, allerdings nicht von Frank. Frank war da wohl eine Ausnahme, er gab ja so gar zu, daß er verliebt war. »Immer cool bleiben, bloß nicht emotionell werden«, das war die Devise. Viele jun 368
ge Leute hielten auch nichts von der Ehe; sie lebten ein fach zusammen und hatten manchmal auch Kinder. Woran dachte er jetzt? Frank hatte gesagt, er wolle sich verlieren. Ob er meinte, er wolle die Verantwortlich keiten der Familie Pierson nicht länger tragen? Oder meinte er Selbstmord? Wollte er seinen Namen ändern? Woran wollte er festhalten? Toms Müdigkeit setzte sei nem Nachdenken ein Ende. Draußen vor dem Fenster rief eine Eule »Chou-ette! Chou-ette!« Im frühen Sep tember glitt Belle Ombre langsam hinüber in den Herbst und Winter.
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Heloise brachte Tom und Frank im Wagen zum Bahnhof nach Moret. Sie hatte sich erboten, sie nach Paris zu bringen; aber da sie heute abend zu ihren Eltern nach Chantilly fahren wollte, hatte Tom sie überredet, nicht auch noch die Extrafahrt nach Paris zu machen. Sie ver abschiedete sich von beiden mit guten Wünschen und – wie Tom sah – einem Extrakuß für Frank. Tom fand am Bahnhof von Moret keine FranceDimanche, das Klatschblatt, aber es war das erste, was er kaufte, als sie in Paris am Gare de Lyon ankamen. Es war erst kurz nach neun Uhr, und Tom blieb im Bahnhof stehen, um einen Blick auf die Zeitung zu werfen. Auf Seite 2 fand er Frank Pierson mit dem altbekannten Paßbild, nicht mehr über zwei oder mehr Spalten ausge breitet, sondern in einem einspaltigen Artikel. VERSCHWUNDENER AMERIKANISCHER ERBE MACHTE URLAUB IN DEUTSCHLAND war die Über schrift. Tom durchflog den Artikel, unruhig, ob er seinen Namen finden würde, aber er war nicht genannt. Hatte Ralph Thurlow doch noch gute Arbeit geleistet? Tom war erleichtert. »Nichts weiter Schlimmes«, sagte Tom zu Frank. »Willst du es sehen?« »Nein, danke.« Frank hob den Kopf; die Bewegung schien ihn Mühe zu kosten. Er war wieder in Kopfhän gerstimmung. Sie stellten sich in die Reihe der Wartenden und fuh ren dann im Taxi zum Hotel Lutetia. Thurlow stand in der Halle an der Rezeption, um seine Rechnung zu bezah len, und schrieb gerade einen Scheck aus.
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»Guten Morgen, Tom. Tag, Frank! Johnny ist noch oben, er schaut, daß das Gepäck runterkommt.« Tom und Frank warteten. Johnny tauchte aus dem Fahrstuhl auf, zwei Airline-Taschen in der Hand. Er lä chelte seinem Bruder zu. »Hast du die Trib schon gese hen heute morgen?« Sie waren zu früh von zu Hause weggefahren, um die Trib noch zu sehen, und Tom hatte nicht daran gedacht, sie zu kaufen. Johnny erzählte seinem Bruder, die Trib habe berichtet, man habe ihn in Deutschland gefunden, wo er Urlaub machte. Und wo war Frank angeblich jetzt, dachte Tom, aber er verzichtete darauf, die Frage zu stel len. Frank sagte: »Ich weiß.« Er sah unbehaglich aus. Sie brauchten zwei Taxis. Frank wollte mit Tom fah ren, aber Tom meinte, er sollte zu seinem Bruder einstei gen. Tom wollte ein paar Minuten mit Ralph Thurlow al lein sein, auch wenn nicht viel dabei herauskam. »Sie kennen die Piersons schon lange?« begann Tom das Gespräch in freundlichem Ton. »Ja. John habe ich sechs oder sieben Jahre gekannt. Ich war Teilhaber von Jack Diamond, Privatdetektiv. Jack ging zurück nach San Francisco, wo ich herkomme, aber ich bin in New York geblieben.« »Bin froh, daß die Zeitungen keine große Sache aus Franks Wiederauftauchen gemacht haben. Ist das Ihnen zu verdanken?« fragte Tom, der gern Thurlow ein Kom pliment machen wollte, wenn es anging. »Ja, ich hoffe doch«, sagte Thurlow, sichtlich befrie digt. »Ich habe getan, was ich konnte, um es runterzu spielen. Hoffentlich sind keine Reporter auf dem Flugha fen. Frank ist das alles verhaßt, das weiß ich.«
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Von Thurlow ging ein vermutlich männlicher Duft aus, und Tom rückte etwas zurück in die Wagenecke. »John Pierson – was war das für ein Mann?« »Ohh –« Thurlow zündete sich eine Zigarette an. »Si cher ein Genie. Aber ich glaube, ich werde nie ganz schlau aus solchen Leuten. Er lebte für seine Arbeit – oder für Geld, das war für ihn wie ein Wertmaßstab. Viel leicht gab es ihm irgendwie emotionale Sicherheit, noch stärker als seine Familie. Aber ganz sicher verstand er sein Geschäft. Selfmademan war er auch, hatte keinen reichen Vater, der ihm Starthilfe gab. John hat angefan gen mit einem Krämerladen in Connecticut, der pleite machte und den er dann kaufte, und von da aus ging es dann weiter, immer in der Lebensmittelbranche.« Auch das war eine Quelle emotionaler Sicherheit, das hatte Tom immer gehört. Lebensmittel. Tom wartete. »Seine erste Ehe – Er heiratete ein wohlhabendes Mädchen aus Connecticut. Sie hat ihn wohl gelangweilt. Zum Glück keine Kinder. Sie lernte dann einen anderen Mann kennen, der vielleicht ein bißchen mehr Zeit für sie aufbrachte. Also ließen sie sich scheiden, ganz unauffäl lig.« Thurlow warf einen Blick auf Tom. »Ich kannte John damals nicht, ich habe das alles nur gehört. John hat immer sehr hart gearbeitet, er wollte immer das Beste für sich und für seine Familie.« Aus Thurlows Stimme war Hochachtung zu hören. »War er ein glücklicher Mensch?« Thurlow blickte aus dem Fenster und wackelte mit dem Kopf. »Wie kann einer glücklich sein, der so viel Geld zu verwalten hat? Das ist wie ein Imperium. – Nette Frau, die Lily, nette Söhne, nette Häuser überall – aber für so einen Mann vielleicht alles ganz nebensächlich. Ich weiß es nicht. Er war jedenfalls sehr viel glücklicher als
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Howard Hughes.« Thurlow lachte. »Der ist ja durchge dreht!« »Warum, glauben Sie, hat John Pierson sich umge bracht?« »Ich bin gar nicht sicher, daß er das getan hat.« Thur low blickte Tom jetzt an. »Was meinen Sie? Hat Frank das gesagt?« Er fragte in leichtem Ton. Wollte ihn Thurlow aushorchen? Oder versuchen, Frank auszuhorchen? Auch Tom wackelte mit dem Kopf, absichtlich langsam, obgleich das Taxi gerade einen wei ten Bogen machte, um einen Lastwagen auf der Périphérique, auf der sie nordwärts fuhren, zu überholen. »Nein, Frank hat nichts gesagt. Bloß das, was in den Zei tungen stand: daß es Unfall oder Selbstmord sein konn te. Was ist denn Ihre Meinung?« Thurlow schien zu überlegen, aber auf den dünnen Lippen stand ein Lächeln, ein sicheres Lächeln, wie Tom mit einem Blick bemerkte. »Ich halte es eher für Selbst mord als für einen Unfall. Aber ich weiß es nicht«, versi cherte Thurlow. »Reines Raten von mir. Er war schon in den Sechzigern. Wie kann ein Mann im Rollstuhl glück lich sein, zehn Jahre lang, halbgelähmt? John hat immer versucht, den Kopf oben zu behalten – aber vielleicht hatte er es satt? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, an dem Felsrand war er schon hunderte Male gewesen. An dem Tag war auch gar kein Wind, der ihn hätte hinunterwehen können.« Tom war froh: Thurlow schien Frank nicht zu verdäch tigen. »Und Lily? Was ist sie für eine Frau?« »Sie ist eine ganz andere Welt. Sie war Schauspiele rin, als John sie kennen lernte. Warum fragen Sie?« »Weil ich vermutlich mit ihr zusammentreffen werde«, sagte Tom lächelnd. »Hat sie einen der Jungen lieber als den anderen?« 373
Thurlow lächelte erleichtert, die Frage war einfach. »Sie glauben wohl, daß ich die Familie gut kenne. Aber so gut nun doch nicht.« Dabei beließ es Tom. Sie hatten die Périphérique an der Porte de la Chapelle verlassen und sich auf die öde 15-km-Strecke begeben, die zu dem Monstrum namens Flughafen Charles de Gaulle führte: in Toms Augen fast so scheußlich wie Beaubourg, aber im Innern von Beau bourg gab es wenigstens Schönes zu betrachten. »Was machen Sie eigentlich, Mr. Ripley?« fragte Thur low. »Jemand hat mir erzählt, eine geregelte Arbeit hät ten Sie nicht – ich meine ein Büro oder so –« Das war für Tom eine leichte Frage, denn er hatte sie viele Male beantwortet. Er arbeite im Garten, er lerne Cembalo spielen, sagte Tom, er lese gern Französisch und Deutsch und sei immer bemüht, seine Kenntnisse in diesen Sprachen noch zu verbessern. Er merkte, daß Thurlow ihn betrachtete, als sei er ein Marsmensch. Viel leicht lag auch Ablehnung in der Betrachtung. Das war Tom völlig egal. Er hatte es schon mit schlimmeren Leu ten als Thurlow zu tun gehabt. Er wußte, Thurlow hielt ihn für einen Gelegenheitsgauner, der das Glück gehabt hatte, eine wohlhabende Französin zu heiraten. Ein Gi golo vielleicht, ein Nassauer, Nichtstuer und Parasit. Tom behielt seine nichtssagende Miene bei: wer weiß, ob er in den nächsten Tagen nicht Thurlows Beistand, vielleicht sogar Thurlows Mithilfe brauchte. Hatte wohl Thurlow jemals so hartnäckig für etwas gekämpft, wie Tom da mals gekämpft hatte, um Derwatts Namen in Schutz zu nehmen – oder vielmehr die Derwatt-Fälschungen, wobei allerdings die erste Hälfte der Bilder keine Fälschungen gewesen waren. Hatte Thurlow einen oder zwei Mafiosi erschlagen – wie Tom? Oder nannte man sie heute kor
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rekterweise »organisierte Verbrecher«, diese sadisti schen Zuhälter und Erpresser? »Und Susie?« begann Tom liebenswürdig von neuem. »Die kennen Sie doch sicher auch?« »Susie? Ach so, die Haushälterin, Susie. Klar. Die ist schon ewig im Haus. Ist auch schon älter, aber sie wollen sie nicht – nicht zur Ruhe setzen.« Am Flughafen konnten sie keinen Gepäckwagen fin den und trugen daher alles selbst zum Schalter der TWA. Auf einmal kauerten zwei oder drei Fotografen mit Kame ras auf beiden Seiten der wartenden Schlange. Tom senkte den Kopf und sah, wie Frank sich ruhig eine Hand vor das Gesicht hielt. Thurlow sah Tom an und schüttelte mitfühlend den Kopf. Einer der Reporter wandte sich auf Englisch mit französischem Akzent an Frank: »Hatten Sie schöne Ferien in Deutschland, Monsieur Pierson? Kön nen Sie etwas über Frankreich sagen? Warum – eh – warum haben Sie versucht, sich zu verbergen?« Seine Kamera hing groß und schwarz am Riemen von seinem Hals herab, und Tom hatte plötzlich große Lust, sie zu packen und über seinem Kopf zu zertrümmern, aber der Mann riß sie hoch und knipste Frank, gerade als dieser ihm den Rücken zukehrte. Nach dem check-in preschte Thurlow vor auf eine Art, die Tom bewunderte: die Presseleute – es waren jetzt vier oder fünf – schob er wie ein amerikanischer FootballSpieler einfach beiseite, während sie über die Rolltreppe,zum Satelliten No. 5 und zur Paßkontrolle gingen, die dann als Barriere wirken würde. »Ich will neben meinem Freund sitzen«, sagte Frank bestimmt zu der Stewardess, als sie alle eingestiegen waren. Frank meinte Tom. Tom überließ es Frank; und da ein Mann bereit war, den Platz zu wechseln, saßen Tom und Frank nebenein 375
ander in einer Reihe mit sechs Plätzen. Tom hatte den Platz am Gang. Es war keine Concorde, und Tom sah den nächsten sieben Stunden mit gemischten Gefühlen entgegen. Merkwürdig, daß Thurlow nicht erster Klasse gebucht hatte, dachte Tom. »Worüber haben Sie sich mit Thurlow unterhalten?« fragte Frank. »Nichts Wichtiges. Er hat mich gefragt, was ich ma che.« Tom lachte. »Und du und Johnny?« »Auch nichts Wichtiges«, gab Frank kurz zurück, aber Tom kannte den Jungen nun und nahm es ihm nicht wei ter übel. Tom hoffte, daß Frank und Johnny sich nicht über Te resa unterhalten hatten, denn Johnny schien für den Be reich ›Verlorene Liebe‹ nicht allzuviel übrig zu haben. Tom hatte sich als Lesestoff drei Bücher mitgenommen, die in einer Reisetasche aus Plaidstoff steckten. Drei kleine Kinder, unvermeidlich und unermüdlich, alle drei Amerikaner, fingen an, den Gang hinauf- und hinunterzu laufen. Tom hatte gehofft, er und Frank würden von ih nen verschont bleiben, denn sie saßen mindestens acht zehn Reihen entfernt von den Sitzen, wo die Kinder ver mutlich ihren Standort hatten. Tom versuchte es mit Le sen, Dösen, Nachdenken – obgleich ein Versuch nach zudenken nicht immer ratsam war. Einfälle, gute oder produktive Ideen tauchten selten auf diese Weise auf. Tom erwachte aus einem Halbschlaf mit dem Ausdruck »bühnenwirksame Chuzpe«, den er deutlich im Geist o der in den Ohren zu hören meinte. Er setzte sich auf und blinzelte auf den Westernfilm in Technicolor, der über die Leinwand in der Mitte des Flugzeugs lief: für ihn stumm, denn er hatte die Kopfhörer nicht angelegt. Wieso denn bühnenwirksame Chuzpe? Was erwartete man denn bei den Piersons von ihm? 376
Tom nahm wieder ein Buch vor. Als eines der ab scheulichen Vierjährigen zum x-tenmal durch den Mittel gang auf ihn zugelaufen kam und Unsinn brabbelte, lehn te sich Tom zurück und hielt einen Fuß leicht in den Gang. Das kleine Monstrum fiel auf den Bauch und gab Sekunden später ein Geheul von sich wie ein geprellter Dämon. Tom tat, als ob er schliefe. Von irgendwoher kam eine gelangweilte Stewardess und setzte das Kind auf. Tom sah ein befriedigtes Grinsen auf dem Gesicht des Mannes, der ihm gegenüber auf der anderen Seite des Mittelganges saß. Tom war also nicht allein. Das Kind wurde wieder an seinen Platz gelotst, von wo es zweifel los bald einen neuen Anlauf nehmen würde – reculer pour mieux sauter, wie es in Frankreich heißt –; in die sem Fall wollte Tom das Vergnügen einem anderen Pas sagier überlassen, es erneut zu Fall zu bringen. Es war früher Nachmittag, als sie nach New York ka men. Tom reckte den Hals, um aus dem Fenster zu se hen, wie immer freudig erregt beim Anblick der Wolken kratzer von Manhattan. Flaumige gelbe und weiße Wol ken ließen sie nebelhaft erscheinen wie ein impressionis tisches Gemälde. Schön und bewundernswert! Nirgends auf der Welt reckten sich auf einer so kleinen Fläche so viele Gebäude so hoch in die Luft. Ein dumpfes Poltern, und sie waren unten, bewegten sich vorwärts wie Räd chen einer Maschinerie, Pässe, Koffer, Leibesvisitation. Und dann stand da der Mann mit den rosigen Wangen, den Frank Tom als Eugene, den Chauffeur, identifizierte. Eugene, klein und mit beginnender Glatze, war sichtlich froh, Frank wiederzusehen. »Frank! Wie geht´s dir?« Eugene war freundlich, aber auch höflich und korrekt. Er sprach mit englischem Ak zent und trug normale Kleidung mit Hemd und Krawatte. »Und Mr. Thurlow. Guten Tag! – Und Johnny!« 377
»Hallo, Eugene«, sagte Thurlow. »Dies ist Tom Rip ley.« Auch Tom und Eugene sagten einander Guten Tag, dann fuhr Eugene fort: »Mrs. Pierson mußte heute früh nach Kennebunkport fahren – Susie war es nicht wohl. Mrs. Pierson läßt Sie bitten, entweder in die Wohnung zu kommen und dort über Nacht zu bleiben, oder wir können vom Heliport aus einen Copter nehmen.« Sie standen alle im hellen Sonnenschein, das Gepäck auf dem Bürgersteig, das Handgepäck noch in der Hand, zumindest Toms. »Wer ist in der Wohnung?« fragte Johnny. »Im Augenblick niemand, Sir. Flora hat Urlaub«, sagte Eugene. »Eigentlich haben wir die Wohnung geschlos sen. Mrs. Pierson sagte, vielleicht käme sie gegen Mitte der Woche, wenn Susie –« »Gehen wir in die Wohnung«, unterbrach ihn Thurlow. »Die liegt auf dem Weg. Okay, Johnny? Ich möchte auch das Büro anrufen. Vielleicht muß ich da heute nochmal vorbeifahren.« »Klar, okay. Ich möchte auch gern meine Post anse hen«, sagte Johnny. »Was ist mit Susie, Eugene?« »Ich weiß nicht genau, Sir. Hörte sich an, als ob sie einen leichten Herzanfall gehabt hätte. Der Arzt war da, das weiß ich. Das war heute mittag, da hat Ihre Mutter angerufen. Ich bin gestern mit ihr runtergefahren, wir ha ben in der Wohnung übernachtet. Sie wollte Sie gern in New York empfangen.« Eugene lächelte. »Ich hole mal eben den Wagen – bin in zwei Minuten wieder da.« Tom fragte sich, ob das Susies erster Herzanfall war. Flora war sicher ein Dienstmädchen. Eugene kam wie der, in einem großen schwarzen Daimler-Benz. Alle stie gen ein; auch für das Gepäck war noch Platz da. Frank setzte sich nach vorn zu Eugene. 378
»Ist alles in Ordnung, Eugene?« fragte Johnny. »Mei ne Mutter?« »Oh ja, Sir, ich denke schon. Sie hat sich – natürlich Sorgen gemacht um Frank.« Eugene saß steif am Steuer und fuhr gewandt, was Tom an eine Rolls-RoyceBroschüre erinnerte, die er mal gelesen hatte und die den Fahrer anwies, nie den Ellbogen auf dem Fenster rahmen ruhen zu lassen, weil das unfein aussehe. Johnny zündete sich eine Zigarette an und drückte auf eine Stelle in dem beigen Lederpolster, worauf ein A schenbecher zum Vorschein kam. Frank saß schweigend da. Jetzt Third Avenue. Lexington. Verglichen mit Paris sah Manhattan aus wie eine Honigwabe, überall kleine, lebhaft summende Zellen, menschliche Insekten krochen ein und aus, trugen Sachen, luden sie auf, gingen herum und kamen einander in die Quere. Vor einem Wohnblock mit einer Markise, die bis zum Bordstein reichte, kam der Wagen zum Stehen. Ein lächelnder Türhüter in grauer Uniform führte die Finger an die Mütze und öffnete die Wagentür. »Guten Tag, Mr. Pierson«, sagte der Türhüter. Johnny begrüßte ihn mit Namen. Glastüren, dann fuh ren sie in einem Aufzug nach oben. Die Koffer fuhren in einem anderen Aufzug. »Hat einer den Schlüssel?« fragte Thurlow. »Ja, ich«, sagte Johnny mit stolzer Miene und zog ei nen Schlüsselring aus der Tasche. Eugene stellte inzwi schen irgendwo den Wagen ab. Das Apartment war mit 12 A bezeichnet. Sie traten in eine geräumige Diele. Mehrere Sessel in dem großen Wohnraum trugen weiße Schutzüberzüge – die Sessel, die den Fenstern am nächsten standen, obgleich die Ja lousien an den Fenstern heruntergelassen waren und 379
man elektrisches Licht brauchte, um richtig zu sehen. Um beides kümmerte sich Johnny; lächelnd, als sei er glück lich, wieder zu Hause zu sein, wenn dies hier sein Zu hause war, zog er an den Schnüren der Jalousie und ließ so mehr Licht herein; dann knipste er eine Stehlampe an. Tom sah, daß Frank in der Diele stehen geblieben war, wo er einen Stapel von mehr als einem Dutzend Briefen durchsah. Das Gesicht blieb gespannt, er zog leicht die Stirn zusammen. Nichts von Teresa dabei, dachte Tom. Der Junge kam dann aber ganz gemächlichen Schrittes in den Wohnraum, blickte Tom an und sagte: »Ja, Tom – das ist es nun also. Unser Zuhause. Oder ein Teil davon.« Tom setzte ein höfliches Lächeln auf, weil Frank das erwartete. Langsam ging Tom auf ein mittelmäßiges Öl bild über dem Kamin zu – ob der Kamin wohl funktionier te? –, das Bild einer Frau, von der Tom annahm, daß sie Franks Mutter war: blond, hübsch, geschminkt, die Hän de nicht im Schoß, sondern die Arme ausgestreckt über die Lehne eines blaßgrünen Sofas. Sie trug ein ärmello ses schwarzes Kleid mit einer orange-roten Blume im Gürtel. Der Mund lächelte sanft, war aber von dem Maler so stark ausgearbeitet worden, daß Tom darin nach Echtheit oder Charakter gar nicht suchte. Was mochte John Pierson für diesen Schund bezahlt haben? In der Diele stand Thurlow am Telefon, vielleicht sprach er mit seinem Büro, aber es war Tom gleichgültig, was er sagte. Jetzt sah Tom auch Johnny in der Diele die Briefe durch sehen; zwei steckte er ein, einen dritten machte er auf. Johnny sah ganz fröhlich aus. Zwei große braune Ledersofas im Wohnzimmer – von dem einen konnte Tom nur eben den unteren seitlichen Teil unter dem weißen Überzug sehen – standen im rechten Winkel zueinander, und auf einem Flügel war ein 380
Notenheft aufgestellt. Tom trat näher, um zu sehen, wel che Noten es waren, aber er wurde von zwei Fotos auf dem Flügel abgelenkt. Das eine war ein dunkelhaariger Mann mit einem vielleicht zweijährigen Baby, das Baby war blond und lachte: Johnny, nahm Tom an, und der Mann war John Pierson, der kaum wie vierzig aussah; er lächelte, und in den freundlichen dunklen Augen meinte Tom eine Ähnlichkeit mit Franks Augen zu erkennen. Das zweite Bild von John war ebenso attraktiv: John in wei ßem Hemd, ohne Schlips und ohne Brille, war im Begriff, eine Pfeife aus dem lächelnden Mund zu nehmen, von der ein Rauchwölkchen in die Höhe stieg. Nach diesen Bildern konnte man sich John den Älteren nur schwer als Tyrannen oder auch nur als zähen Geschäftsmann vor stellen. Auf dem Umschlag des Notenheftes auf dem Flügel stand Sweet Lorraine in verschnörkelten Buchsta ben. Ob Lily Klavier spielte? Tom hatte Sweet Lorraine immer gern gehabt. Eugene erschien, und gerade kam auch Thurlow aus einem anderen Zimmer herein, er trug einen Drink, der wie Scotch mit Soda aussah. Sofort erkundigte sich Eu gene bei Tom, ob er gern eine Erfrischung hätte, Tee oder einen Drink, und Tom lehnte ab. Dann überlegten Thurlow und Eugene, was jetzt geschehen sollte. Thur low war dafür, den nächsten Helicopter zu nehmen, und Eugene sagte, das lasse sich natürlich machen, und ob sie alle mitkämen? Tom blickte Frank an; er hätte sich nicht gewundert, wenn Frank gesagt hätte, er wolle lieber in New York und mit Tom zusammenbleiben, aber Frank sagte: »Gut, ja. Dann kommen wir alle mit.« Darauf führte Eugene ein Telefongespräch. Frank bat Tom mit einer Handbewegung in die Diele. »Möchten Sie mein Zimmer sehen?« Der Junge öffnete 381
die zweite Tür rechts in der Diele. Auch hier waren die Jalousien herabgelassen, aber Frank zog an einer Schnur, so daß sie Licht einließen. Tom sah einen langen Tisch auf Böcken, darauf Bü cher, der Wand entlang in einer ordentlichen Reihe, Sta pel von Schulheften mit Spiraleinband, und zwei Bilder des Mädchens, das er als Teresa erkannte. Auf dem ei nen Bild war sie allein, einen Blumenkranz im Haar, mit weißem Kleid und strahlenden Augen, auf den roten Lip pen ein schelmisches Lächeln. An dem Abend sicher die Ballkönigin, dachte Tom. Das zweite Bild – ebenfalls far big – war kleiner: Frank und Teresa auf einem Platz, der wie Washington Square aussah, Frank hielt ihre Hand, Teresa in beigen Bellbottom-Jeans und blauem DenimHemd, in der einen Hand ein Säckchen – vielleicht Erd nüsse. Frank sah sehr hübsch und glücklich aus, wie ein Junge, der seiner Freundin sicher war. »Mein Lieblingsbild«, sagte Frank. »Ich seh darauf äl ter aus. Das war gerade – vielleicht zwei Wochen vor meinem Flug nach Europa.« Also etwa eine Woche, bevor er seinen Vater um brachte. Wieder überkam Tom der beunruhigende und sehr seltsame Zweifel: hatte Frank seinen Vater umge bracht? Oder war es nur Phantasie? Junge Leute hatten manchmal solche Phantasien und klammerten sich an sie. Auch Frank? Frank hatte eine Intensität, von der man bei Johnny nichts sah. Frank würde zum Beispiel eine Ewigkeit brauchen, um die Sache mit Teresa zu über winden: und mit einer Ewigkeit meinte Tom etwa zwei Jahre. Andererseits: sich einzubilden, daß er seinen Va ter umgebracht hatte, und Tom davon zu erzählen: das hätte nach Geltungsdrang ausgesehen, und Frank war nicht der Typ dafür. »Woran denken Sie?« fragte Frank. »An Teresa?« 382
»Hast du mir die Wahrheit gesagt über deinen Vater?« fragte Tom leise. Franks Mund nahm plötzlich eine Festigkeit an, die Tom gut kannte. »Warum sollte ich Ihnen jemals etwas vorlügen?« Dann zuckte er die Achseln, als sei es ihm peinlich, so ernst zu sein. »Gehen wir hinaus.« Es war immerhin möglich, daß er log, dachte Tom, denn er hielt viel mehr von der Phantasie als von der Wirklichkeit. »Dein Bruder hat keinerlei Verdacht?« »Mein Bruder – er hat mich gefragt, und ich habe ge sagt, ich hätte den Stuhl nicht – gestoßen –« Frank brach ab. »Johnny hat mir geglaubt. Ich glaube auch, wenn ich ihm die Wahrheit sagte – das würde er gar nicht wissen wollen.« Tom nickte, und er nickte auch hinüber zu der Tür des Zimmers. Bevor er hinausging, warf er einen Blick auf die Hi-Fi-Anlage und den hübschen Plattenständer mit den drei Fächern, der nahe der Tür stand. Dann ging Tom zurück und stellte die Jalousie wieder so, wie sie vorher gewesen war. Der Teppich war dunkel violett, wie die Bettdecke. Tom fand die Farbe angenehm. Sie gingen alle nach unten, bestiegen zwei Taxis und fuhren zum Midtown Heliport, West Thirtieth Street. Tom hatte von dem Heliport gehört, war aber noch nie da ge wesen. Die Piersons hatten einen eigenen Helicopter, der anscheinend Platz für ein Dutzend Leute hatte, aber Tom zählte die Sitze nicht. Die Beine hatten genügend Platz; es gab eine Bar und eine Elektroküche. »Ich kenne die Leute nicht«, sagte Frank zu Tom; er meinte den Piloten und den Steward, der Bestellungen für Drinks und Essen entgegennahm. »Es sind Angestell te vom Heliport.« Tom bestellte ein Bier und ein Käsesandwich mit Rog genbrot. Es war jetzt kurz nach fünf, und der Flug würde 383
etwa drei Stunden dauern, hatte jemand gesagt. Thurlow saß neben Eugene in der Nähe des Piloten. Tom blickte aus seinem Fenster und sah zu, wie New York unter ih nen versank. Chop-chop-chop, wie es bei den Comics hieß. Berge von Häusern sanken herab, als würden sie hinunterge saugt. Tom mußte an einen rückwärts laufenden Film denken. Frank saß ihm gegenüber, auf der anderen Seite des Mittelganges. Hinter ihnen war niemand. Der Ste ward und der Pilot erzählten sich jetzt vorne Witze, so hörte es sich jedenfalls nach ihrem Gelächter an. Links hing eine orangefarbene Sonne über dem Horizont. Frank vertiefte sich wieder in ein Buch, es war eins, das er aus seinem Zimmer mitgenommen hatte. Tom versuchte etwas zu schlafen; es schien ihm das beste, denn heute abend würde es wohl für alle spät werden. Für Tom, Frank und Thurlow und auch für Johnny war es jetzt etwa zwei Uhr morgens. Tom sah, daß Thurlow schon eingeschlafen war. Das Surren des Motors hatte eine andere Tönung an genommen, davon erwachte Tom. Die Maschine ging herunter. »Wir landen auf dem hinteren Rasen«, sagte Frank zu Tom. Es war fast dunkel. Tom sah ein großes weißes Haus, imposant und doch freundlich mit den gelblichen Lich tern, die auf zwei Veranden auf zwei Seiten des Hauses schimmerten. Und vielleicht stand Mutter auf der einen Veranda, dachte Tom, als wolle sie einen Sohn begrü ßen, der heimkehrte nach der Wanderschaft, einen Stock über der Schulter, an dem ein Tuch mit seiner Habe hing. Tom merkte, er war gespannt auf den Besitz der Pier sons hier; es war natürlich nicht ihr einziges Haus, aber immerhin ein wichtiges. Rechts lag das Meer, und Tom 384
sah ein paar Lichter weiter draußen, von Bojen oder klei nen Schiffen. Und plötzlich stand Lily Pierson – Mama – da auf der Veranda und winkte. Sie trug anscheinend schwarze Slacks und eine schwarze Bluse, genau konnte Tom es in dem Halbdunkel nicht sehen, aber man sah das helle Haar im Licht der Veranda. Neben ihr stand eine untersetzte Gestalt, eine Frau, die fast ganz in Weiß gekleidet war. Der Helicopter setzte auf. Sie stiegen über die ausge fahrene Treppe hinaus nach draußen. »Franky! Willkommen daheim!« rief seine Mutter. Die Frau neben ihr war eine Schwarze. Sie lächelte ebenfalls und kam näher, um mit dem Gepäck zu helfen, das Eugene und der Steward aus einer seitlichen Luke holten. »Tag, Mom«, sagte Frank. Nervös oder leicht ver krampft legte er ihr einen Arm um die Schulter, küßte sie aber kaum. Tom, der noch auf dem Rasen stand, sah aus der Ferne zu. Der Junge war scheu, aber es war nicht so, daß er seine Mutter nicht gemocht hätte, glaubte Tom. »Dies ist Evangelina«, sagte Lily Pierson zu Frank und wies auf die schwarze Frau, die jetzt mit irgend jemandes Koffer auf sie zukam. »Mein Sohn Frank – und Johnny«, sagte sie zu Evangelina. »Und wie geht´s Ihnen, Ralph?« »Ausgezeichnet, vielen Dank. Dies ist –« Frank unterbrach ihn. »Mom, dies ist Tom Ripley.« »Ich bin so froh, Sie kennenzulernen, Mr. Ripley!« Li lys geschminkte Augen erfaßten Tom mit prüfendem Blick, doch ihr Lächeln war recht freundlich. Sie wurden ins Haus geführt, wo ihnen Lily versicher te, sie könnten ihre Jacken und Regenmäntel in der Halle oder irgendwo sonst ablegen. Und dann: hatten sie et was gegessen, oder waren sie völlig erschöpft? Evange 385
lina hatte ein kaltes Abendessen zurechtgemacht, falls jemand Appetit hatte. Lilys Stimme klang nicht nervös, nur gastfreundlich. Ihr Akzent, dachte Tom, verband New York mit Kalifornien. Alle nahmen dann in dem großen Wohnraum Platz. Eugene verschwand in der gleichen Richtung wie Evan gelina, vermutlich in die Küche, wo sich wohl auch die Helicopter-Crew befand. Und hier nun hing das Gemälde, der Derwatt, den Frank bei seinem zweiten Besuch in Belle Ombre erwähnt hatte. Das hier war »Der Regenbo gen«, eine Fälschung von Bernard Tufts. Tom hatte das Bild nie gesehen, er entsann sich nur des Titels aus ei nem Bericht, in dem ihn die Galerie Buckmaster vor viel leicht vier Jahren über Verkäufe orientiert hatte. Auch an Franks Beschreibung erinnerte sich Tom: unten beige, das waren die oberen Stockwerke der Häuser einer Stadt, und darüber ein Regenbogen, hauptsächlich in Dunkelrot und ganz wenig Blaßgrün. »Alles zerfasert und gezackt«, hatte Frank gesagt. »Man weiß nicht, welche Stadt es ist, Mexiko oder New York.« Und so war es auch, Bernard hatte das gut hingekriegt, der Regenbo gen hatte Schwung und Sicherheit, und Tom wandte die Augen nur zögernd ab; er hatte keine Lust, von Mrs. Pierson gefragt zu werden, ob er Derwatt besonders gern habe. Lily Pierson unterhielt sich jetzt mit Thurlow; er er zählte ihr, was sich in Paris ereignet hatte (Telefonge spräche) und daß Frank und Mr. Ripley nach Berlin ein paar Tage in Hamburg gewesen waren, was Lily Pierson natürlich schon gewußt haben mußte. Es war ein seltsa mes Gefühl, dachte Tom, hier auf einem Sofa zu sitzen, das viel größer war als sein eigenes, vor einem Kamin, der auch größer war als seiner und über dem ein ge fälschter Derwatt hing – genau wie der »Mann im Ses sel« in seinem Haus, der auch gefälscht war. 386
»Mr. Ripley, ich habe von Ralph gehört, daß Sie uns phantastisch geholfen haben«, sagte Lily und blinkte mit den Augenlidern. Sie saß auf einem übergroßen grünen Hocker zwischen Tom und dem Kamin. »Phantastisch« war für Tom ein Wort aus dem Voka bular von Jugendlichen. Er wußte, er benutzte das Wort in Gedanken, aber nicht beim Sprechen. »Ach – vielleicht ein bißchen realistisch geholfen«, sagte Tom beschei den. Frank hatte den Wohnraum verlassen, und Johnny ebenso. »Ich möchte Ihnen so gern danken. Ich kann es nicht in Worten ausdrücken, weil – vor allem, weil ich weiß, daß Sie Ihr Leben riskiert haben. Das hat Ralph mir ge sagt.« Sie sprach mit der klaren Diktion einer Schauspie lerin. War Ralph Thurlow so freundlich gewesen? »Ralph sagt, Sie haben nicht einmal die Polizei zuge zogen in Berlin.« »Ja – ich hielt es für das beste, ohne die Polizei aus zukommen, wenn es ging«, sagte Tom. »Kidnapper gera ten sonst manchmal in Panik. Ich habe schon zu Thurlow gesagt, meiner Ansicht nach waren die Kidnapper in Ber lin Amateure. Recht jung und nicht gut organisiert.« Lily Pierson beobachtete ihn aufmerksam. Sie sah aus wie kaum vierzig, war aber wahrscheinlich etwas älter, schlank und fit und mit den blauen Augen, die Tom auf dem Ölbild in New York gesehen hatte und die darauf hindeuteten, daß das blonde Haar ungefärbt war. »Und Frank war überhaupt nicht verletzt«, sagte sie, als ob sie sich immer noch darüber wunderte. »Nein«, sagte Tom. Lily seufzte, blickte zu Ralph Thurlow hinüber und dann zurück zu Tom. »Wie haben Sie und Frank sich kennengelernt?« 387
Gerade kam Frank wieder ins Wohnzimmer. Die Mundwinkel sahen angespannt aus; er hatte sich wohl auch hier nach einem Brief oder einer Nachricht von Te resa umgesehen und wieder nichts gefunden, dachte Tom. Der Junge hatte sich umgezogen, er trug jetzt Blue jeans, Stoffschuhe und ein gelbliches Nylonhemd. Er hat te die letzte Frage gehört und sagte zu seiner Mutter: »Ich habe Tom aufgesucht in der Stadt, wo er wohnt. Ich hatte einen Teilzeit-Job in einer Stadt in der Nähe – als Gärtner.« »Tatsächlich? Nun – das hast du ja immer – gewollt.« Die Mutter sah leicht konsterniert aus und blinkte wieder mit den Augen. »Und was sind das für Städte?« »Moret«, sagte Frank. »Da hab ich gearbeitet. Tom wohnt ungefähr fünf Meilen entfernt. Seine Stadt heißt Villeperce.« »Villeperce«, wiederholte seine Mutter. Bei ihrem Akzent mußte Tom lächeln, und er starrte den »Regenbogen« an. Er liebte das Bild. »Nicht sehr weit südlich von Paris«, sagte Frank. Er stand aufrecht und sprach, wie Tom fand, mit ungewöhn licher Genauigkeit. »Ich kannte Toms Namen – Dad hatte Tom Ripley ein paarmal erwähnt, in Verbindung mit unse rem Derwatt-Gemälde. Du erinnerst dich doch, Mom?« »Offen gesagt, nein«, sagte Lily. »Tom kennt die Leute von der Galerie in London. Das stimmt doch, nicht wahr, Tom?« »Ja, die kenne ich«, sagte Tom ruhig. Frank wollte sich offenbar mit ihm als einem wichtigen Freund brüs ten; vielleicht wollte er auch, dachte Tom, das Gespräch absichtlich so lenken, daß entweder seine Mutter oder Thurlow die Sache mit der Authentizität einiger mit ›Der watt‹ signierter Bilder anschneiden konnten. Ob Frank vorhatte, Derwatt und sämtliche Derwatts zu verteidigen, 388
auch die vielleicht gefälschten? Aber so weit kam es jetzt nicht. Langsam und sicher begann Evangelina, in einem Raum hinter Tom Schüsseln und Wein auf einen langen Tisch zu stellen, wobei Eugene ihr zur Hand ging. Wäh rend sie noch dabei waren, schlug Lily vor, Tom sein Zimmer zu zeigen. »Ich bin so froh, daß Sie wenigstens eine Nacht bei uns bleiben können«, sagte Lily, als sie mit Tom nach oben ging. Tom wurde in einen großen quadratischen Raum mit zwei Fenstern geführt; die Fenster, sagte Lily, gingen aufs Meer hinaus, nur sah man jetzt nichts vom Meer, man sah nur schwarze Dunkelheit. Die Möbel waren weiß und gold, das Bad daneben war weiß und gold, sogar die Handtücher waren gelb; einige Stücke im Bad, darunter eine kleine Kommode, waren mit goldenen Schnörkeln verziert, in Anlehnung an die Möbel im Zimmer, die Louis Quinze véritable waren. »Wie geht es Frank denn wirklich?« fragte Lily stirn runzelnd, wodurch drei sorgenvolle Falten quer über der Stirn erschienen. Tom ließ sich Zeit. »Ich glaube, er liebt ein Mädchen – sie heißt Teresa. Wissen Sie etwas von Teresa?« »Oh – Teresa –« Die Zimmertür war angelehnt, und Li ly warf einen Blick darauf. »Nun – sie ist die dritte oder vierte, von der ich gehört hab. Nicht daß Frank je mit mir über seine Freundinnen – oder überhaupt etwas – spre chen würde, aber Johnny findet das irgendwie raus. Was meinen Sie wegen Teresa? Hat Frank viel über sie ge sprochen?« »Nein, viel nicht. Aber er ist offenbar in sie verliebt. Sie ist doch schon hier im Hause gewesen, nicht wahr? Sie kennen sie?« 389
»Ja, sicher. Sehr nettes Mädchen. Aber sie ist erst sechzehn, und Frank auch.« Lily Pierson blickte Tom an, als wollte sie sagen: was kann das schon bedeuten? »Johnny hat mir in Paris erzählt, daß Teresa sich für jemand anderen interessiert. Einen Älteren, nehme ich an. Ich glaube, das hat Frank sehr getroffen.« »Ja, wahrscheinlich. Teresa sieht reizend aus und ist enorm beliebt. Mit sechzehn – da wird ihr einer von zwanzig oder noch älter lieber sein.« Lily lächelte, als sei das Thema damit abgetan. Tom hatte gehofft, von Lily einen Hinweis auf Franks Charakter zu erhalten. »Frank wird Teresa schon überwinden«, fügte Lily fröhlich hinzu, aber mit leiser Stimme, als stände Frank auf dem Flur draußen und könnte zuhören. »Noch eine Frage, Mrs. Pierson, solange ich die Mög lichkeit habe. Ich glaube, Frank ist von zu Hause wegge laufen, weil ihn der Tod seines Vaters sehr mitgenom men hat. War das nicht der Hauptgrund? Mehr als das mit Teresa, meine ich, denn nach dem, was mir Johnny erzählte, hatte sich Teresa da noch nicht abgewandt. Lily schien zu überlegen, bevor sie antwortete. »Frank war sehr mitgenommen von Johns Tod – mehr als John ny, das weiß ich. Johnny lebt manchmal in den Wolken mit seiner Fotografie und mit seinen Mädchen.« Tom blickte in Lilys verzerrtes Gesicht. Sollte er es wagen, sie zu fragen, ob sie glaubte, ihr Mann habe Selbstmord begangen? »Der Tod war ein Unfall, so hieß es. Ich habe es in der Zeitung gelesen. Sein Rollstuhl stürzte über die Felskante.« Lily hob die Schultern, es war wie ein Zucken. »Ich weiß es wirklich nicht.« Die Tür war immer noch angelehnt; Tom wollte sie. schließen, wollte Lily bitten, sich hinzusetzen, aber würde 390
er damit den Fluß der Wahrheit unterbrechen, wenn sie die Wahrheit kannte? »Aber Sie glauben eher an einen Unfall als an einen Selbstmord?« »Ich weiß es nicht. Der Boden steigt da etwas an, und John hat sich nie ganz an den Rand gesetzt. Das wäre auch dumm gewesen. Und der Stuhl hatte natürlich eine Handbremse. Frank sagte, er sei plötzlich einfach losge rast – und warum sollte er den Motor angelassen haben, wenn er gar nicht wollte?« Wieder das angespannte Stirnrunzeln, und sie blickte Tom an. »Frank kam dann ins Haus gelaufen –« Sie sprach nicht weiter. »Frank hat mir erzählt, Ihr Mann sei enttäuscht gewe sen, weil keiner der Jungen – sie haben sich nicht sehr für seine Arbeit interessiert. Die Firma Pierson, meine ich.« »Ach, das – ja, das stimmt. Ich glaube, die Jungens haben geradezu Angst vor dem Geschäft. Es ist ihnen zu kompliziert, oder sie mögen es einfach nicht.« Lily blickte zum Fenster hinüber, als stehe das Geschäft wie ein schweres heraufziehendes Gewitter draußen. »Ja, für John war das ganz sicher eine Enttäuschung. Sie wissen doch, ein Vater möchte immer, daß wenigstens ein Sohn mal alles übernimmt. Aber in Johns Familie gibt es noch andere Leute, die es übernehmen könnten, – die Ange stellten im Geschäft hat er auch immer als seine Familie bezeichnet. Nicholas Burgess zum Beispiel, seine rechte Hand, der ist erst vierzig. Es fällt mir schwer zu glauben, daß John aus Enttäuschung über die Jungens sich viel leicht das Leben nehmen wollte, aber möglich ist es, glaube ich, weil er im Grunde – er hat sich geschämt, an den Stuhl gebunden zu sein. Er hatte es auch satt, daß weiß ich. Und dann bei Sonnenuntergang – er wurde immer gefühlvoll bei Sonnenuntergängen. Nein, nicht gefühlvoll – bewegt. Glücklich und traurig, wie am Ende 391
von irgendwas. Es war nicht mal die Sonne da draußen, sondern die Dämmerung, die sich vor ihm über das Was ser legte.« Frank kam damals also ins Haus gelaufen. Lily hatte das gesagt, als ob sie ihn gesehen hätte. »Und Frank ging häufig mit seinem Vater hinaus – zu der Felskan te?« »Nein.« Lily lächelte. »Das fand er langweilig. Er sag te, John wollte, daß er an dem Nachmittag mit ihm ging. John hat Frank oft gebeten – er hat immer eher mit Frank gerechnet als mit Johnny – unter uns gesagt.« Sie lachte leicht, verschmitzt. »John sagte immer: ›In Frank steckt etwas Solideres, wenn ich´s nur herausbringen kann. Man sieht´s an seinem Gesicht.‹ Er meinte, im Vergleich mit Johnny, der ist eher – ich weiß nicht – ein verträumter Typ.« »Ich mußte an den Fall George Wallace denken, als ich das von Ihrem Mann las. Vielleicht hatte er zeitweilig Depressionen.« »Ach-ch – eigentlich nicht.« Lily lächelte jetzt. »Er konnte manchmal ernst und grimmig sein, was seine Ar beit anging, oder ein langes Gesicht ziehen, wenn ir gendwas schief ging, aber das ist nicht dasselbe wie De pressionen. Pierson Incorporated, das Geschäft, egal wie er es nannte, das war für John wie ein großes Schach spiel. Viele Leute sagten das. An einem Tag gewinnt man etwas, am nächsten Tag verliert man etwas: zu En de ist das Spiel nie – nicht mal jetzt, wo John nicht mehr da ist. Nein, ich glaube, John war von Natur aus ein Op timist. Er konnte immer lächeln – fast immer. Selbst in den Jahren, als er im Stuhl saß. Wir haben immer Stuhl gesagt, nicht Rollstuhl. Aber für die Jungens war es trau rig, wo es darum ging, einen Vater zu haben, denn einen großen Teil ihres Lebens haben sie ihn nur so gekannt – 392
als Geschäftsmann in einem Stuhl, der von Märkten und Geld und Leuten redete – alles, irgendwie unsichtbar. Nie konnte er mit ihnen ausgehen oder ihnen Judo beibrin gen oder was Väter sonst so tun.« Tom lächelte. »Judo?« »John hat hier in diesem Zimmer Judo geübt! Es war nicht immer ein Gastzimmer, dieser Raum hier.« Sie gingen auf die Tür zu. Tom betrachtete die hohe Zimmerdecke, den weiten Fußboden, der genügend Platz für Matten und Luftsprünge geboten hätte. Unten waren die anderen im Wohnraum und gaben einander Püffe: das Wort kam Tom jedesmal in den Sinn, wenn ihm irgendwo das Wort ›Buffett‹ begegnete, doch in die sem Fall war reichlich Platz da und keine drängende Menschenmenge. Frank trank ein Coca Cola aus der Flasche. Thurlow stand mit Johnny am Tisch, er hielt ei nen Scotch Highball und einen Teller mit Essen in der Hand. »Komm, gehen wir raus«, sagte Tom zu Frank. Frank setzte sofort die Flasche ab. »Raus wohin?« »Nach draußen auf den Rasen.« Tom sah, daß Lily zu Thurlow und Johnny getreten war. »Hast du nach Susie gefragt? Wie geht es ihr?« »Oh, die schläft fest«, sagte Frank. »Ich hab Evangeli na gefragt. Was für ein Name! Sie gehört zu irgend so einer spinnigen Seelengruppe. Ist erst eine Woche hier, sagt sie.« »Und Susie ist hier?« »Ja, sie hat ein Zimmer oben im hinteren Flügel. Wir können hier rausgehen.« Frank öffnete eine hohe Fenstertür in dem Raum, der wohl das Hauptspeisezimmer war, dachte Tom. Ein lan ger Tisch stand darin, mit Stühlen rund herum, und an den Wänden kleinere Tische mit Stühlen, ferner Anrich 393
ten und auch ein paar Bücherregale. Auf dem Tisch standen jetzt Schüsseln und ein Kuchen. Frank hatte ein Außenlicht angemacht, man sah über eine Terrasse und vier oder fünf Stufen, die zum Rasen hinunterführten. Links von den Stufen war die Rampe, von der ihm Frank erzählt hatte. Dahinter war es dunkel, aber Frank sagte, er kenne den Weg. Gerade noch sichtbar war ein Stein plattenpfad, der quer über den Rasen ging und dann nach rechts abbog. Als sich Toms Augen an die Dunkel heit gewöhnt hatten, konnte er weiter vorn hohe Bäume erkennen, Fichten oder Pappeln. »Hier ist dein Vater jeweils spazierengegangen?« frag te Tom. »Ja. Na ja, spazieren gegangen nicht. Er hatte seinen Stuhl.« Frank verlangsamte seinen Schritt und steckte die Hände in die Taschen. »Kein Mond heute abend.« Der Junge war stehengeblieben, bereit, zum Haus zu rückzugehen, wie Tom sah. Tom holte ein paarmal tief Luft und blickte zurück auf das zweistöckige weiße Haus mit den gelblichen Lichtern. Das Haus hatte ein Spitz dach, die Verandadächer standen rechts und links vor. Tom mochte das Haus nicht. Es sah ziemlich neu aus und hatte keinen erkennbaren Stil. Es war nicht wie ein Haus des amerikanischen Südens oder wie ein Kolonial haus aus den Neu-England-Staaten. John Pierson hatte es wahrscheinlich nach eigenen Plänen bauen lassen; jedenfalls hielt Tom nicht viel von dem Architekten. »Ich wollte die Felskante gern mal sehen«, sagte Tom. Hatte sich Frank das nicht denken können? »Gut – das geht da lang«, sagte Frank, und sie gingen auf dem Plattenweg tiefer in die Dunkelheit. Die Platten waren noch zu sehen, und Frank ging, als kenne er jeden Zollbreit des Wegs. Die Pappeln rückten zusammen, dann gingen sie auseinander, und jetzt wa 394
ren sie an der Felskante, und Tom konnte den Rand se hen, der von hellen Steinen oder Kieseln markiert war. »Das Meter ist da draußen«, sagte Frank mit einer Handbewegung. Er blieb vom Felsrand zurück. »Das habe ich mir vorgestellt.« Tom konnte die Wellen unten hören, sanft, nicht stark und nicht rhythmisch, eher weich fallend. Und weit draußen im Dunkel sah Tom das weiße Buglicht eines Bootes und meinte auch das rötli che Hecklicht zu sehen. Etwas Fledermausartiges schoß vorbei über ihre Köpfe; Frank schien es nicht bemerkt zu haben. Hier ist es also geschehen, dachte Tom, dann sah er, wie Frank an ihm vorüberschritt, Hände in den Hosentaschen seiner Jeans, bis zum Rand der Felskan te, und sah auch, wie der Junge hinunterblickte. Einen Augenblick wurde Tom von Angst um Frank gepackt, weil es so dunkel war und der Junge anscheinend so nahe am Rand stand, wenn auch der Rand ein wenig anstieg, wie Tom jetzt sah. Frank wandte sich plötzlich um und sagte: »Sie haben vorhin mit meiner Mutter gesprochen?« »Ach ja, ein bißchen. Ich habe sie nach Teresa ge fragt. Ich weiß ja, daß Teresa hier war. Sie hat dir wohl nicht geschrieben?« Tom hielt es für besser, ihn direkt zu fragen, statt gar nichts von einem Brief zu sagen. »Nein«, sagte Frank. Tom trat näher zu ihm heran, bis sie nur noch vier o der fünf Fuß auseinander waren. Der Junge stand auf recht da. »Es tut mir leid«, sagte Tom. Er dachte daran, daß das Mädchen sich immerhin die Mühe gemacht hat te, Thurlow in Paris anzurufen, einmal, vor Tagen, und nun, da Frank gefunden und in Sicherheit war, ver schwand sie einfach von der Bildfläche, ohne eine Erklä rung.
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»Ist das alles, worüber Sie sich unterhalten haben? Über Teresa?« Frank fragte es in leichtem Ton, aus dem man hätte entnehmen können, das sei ja nicht gerade bedeutungsvoll. »Nein, ich habe sie gefragt, ob sie deines Vaters Tod für Selbstmord oder Unfall hielt.« »Und was hat sie gesagt?« »Daß sie es nicht wisse. Hör zu, Frank –« Tom sprach jetzt leise. »Sie verdächtigt dich überhaupt nicht. Am bes ten läßt du diese Sache jetzt einfach vorüberziehen. Wei ter nichts. Vielleicht ist sie schon vorüber. Weg, vorbei. Deine Mutter sagte: ›Selbstmord oder Unfall, es ist nun vorbei.‹ Oder so ähnlich. Du mußt dich jetzt zusammen nehmen, Frank, und das – stell dich doch bitte nicht so nahe an den Rand.« Der Junge war dem Meer zuge wandt, er hob und senkte sich auf den Zehen, ob ag gressiv oder geistesabwesend, wußte Tom nicht. Dann drehte Frank sich um, ging auf Tom zu und ging links an Tom vorüber. Wieder drehte der Junge sich um und sagte: »Aber Sie wissen, daß ich den Stuhl hinunter gestoßen habe. Ich weiß, Sie haben sich mit meiner Mut ter darüber unterhalten, was sie glaubt oder annimmt, aber Ihnen habe ich es gesagt. Ich meine, ich habe zu meiner Mutter gesagt, daß mein Vater es selber getan hat, und sie hat mir auch geglaubt. Aber das ist nicht wahr.« »Schon gut, schon gut«, sagte Tom sanft. »Als ich den Stuhl meines Vaters runterstieß, da dach te ich sogar noch, daß ich mit Teresa zusammen wäre – ich meine, daß sie – – daß sie mich gernhätte.« »Ja, ich verstehe«, sagte Tom. »Ich dachte, ich schaffe jetzt meinen Vater raus aus meinem Leben, aus unser aller Leben, für mich und Te resa. Ich hatte das Gefühl, mein Vater verderbe – das 396
Leben. Komisch, daß mir Teresa da noch Mut machte. Und nun ist sie fort. Jetzt ist nichts mehr da als Schwei gen – gar nichts.« Die Stimme brach. Merkwürdig, dachte Tom, daß manche Mädchen Trauer und Tod bedeuteten. Manche Mädchen sahen aus wie Sonnenlicht, Kreativität, Freude, doch in Wirk lichkeit bedeuteten sie Tod, und das nicht mal, weil die Mädchen ihre Opfer betörten – man konnte im Grunde den Jungen die Schuld geben, weil sie sich täuschen lie ßen von – von gar nichts, von der bloßen Einbildung. Tom mußte. plötzlich lachen. »Frank, du mußt dir klarmachen, daß es noch andere Mädchen gibt auf der Welt! Du mußt jetzt einsehen, daß Teresa – – Sie hat sich von dir gelöst. Also mußt du dich auch von ihr lö sen.« »Das hab ich ja. Schon in Berlin, glaube ich. Das war die Krise, als ich hörte, was Johnny sagte.« Frank zog die Schultern hoch, aber er blickte Tom nicht an. »Klar hab ich noch nach einem Brief von ihr gesucht, das geb ich zu.« »Dann mach du jetzt so weiter. Im Augenblick sieht al les noch gräßlich aus, aber du hast so viele Wochen und Jahre vor dir. Komm!« Tom gab dem Jungen einen Klaps auf die Schulter. »Wir gehen gleich zurück ins Haus. Moment.« Tom wollte die Felskante sehen und ging weiter, auf die helleren Steine zu. Unter den Schuhen fühlte er Kie sel und etwas Gras. Er fühlte auch den leeren Raum un ten, der jetzt schwarz war, aber etwas von sich gab wie einen Ton aus hohlem Raum. Und dort – jetzt nicht sicht bar – waren die gezackten Felsen, auf die Franks Vater gefallen war. Tom hörte die Schritte des Jungen näher kommen und trat sofort zurück von dem Rand. Tom hatte auf einmal das Gefühl, der Junge könnte auf ihn zustür 397
zen und ihn hinunterstoßen. War das ein völlig wahnsin niger Gedanke? dachte Tom. Der Junge liebte ihn doch, das wußte Tom. Aber auch Liebe ging seltsame Wege. »Gehen wir zurück?« fragte Frank. »Klar, ja.« Tom fühlte kühlen Schweiß auf der Stirn. Er wußte, er war müder als er meinte, und nach der Flugrei se war ihm auch das Zeitgefühl abhanden gekommen.
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Tom war schon beinahe eingeschlafen, bevor er noch im Bett lag. Einige Zeit später erwachte er durch ein heftiges Zucken am ganzen Körper. Ein böser Traum? Wenn auch, erinnern konnte er sich an keinen Traum. Wie lan ge hatte er geschlafen – eine Stunde? »Nein!« Ein Flüstern oder eine leise Stimme war das, draußen auf dem Flur vor seinem Zimmer. Tom stand auf. Die Stimmen draußen sprachen weiter, eine gurrende taubenartige weibliche Stimme, und die von Frank. Tom wußte, Franks Zimmer lag rechts neben seinem. Zu verstehen waren nur ein paar Worte, die die Frau sagte: ». . . so ungeduldig . . . ich – weiß es doch . . . und was willst du tun . . . macht mir doch nichts aus!« Das mußte Susie sein, und sie hörte sich böse an. Tom hörte den deutschen Akzent heraus. Er hätte das Ohr an die Tür legen und noch mehr hören können, aber Tom lauschte nicht gern. Er wandte sich ab von der Tür, tastete sich vorwärts zum Bett und fand den Nachttisch, auf dem Zigaretten und Streichhölzer lagen. Tom strich ein Streichholz an, schaltete die Leselampe ein, zündete sich eine Zigarette an und setzte sich auf das Bett. Das war besser. Ob Susie bei Frank angeklopft hatte? Das war wahr scheinlicher, als daß Frank bei ihr geklopft hatte. Tom lachte und legte sich zurück auf sein Bett. Er hörte, wie in der Nähe eine Tür leise geschlossen wurde. Sicher Franks Tür. Tom erhob sich, drückte seine Zigarette aus und schlüpfte in die Mokassins, die er, wie in Berlin, auch hier wieder als Hausschuhe benutzte. Er trat auf den Flur
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und sah Licht unter Franks geschlossener Tür. Mit den Fingerspitzen klopfte Tom an. »Tom«, sagte er, als er leise, schnelle Schritte auf die Tür zukommen hörte. Frank öffnete, hohläugig vor Ermüdung, aber er lächel te. »Kommen Sie rein!« flüsterte er. Tom trat ins Zimmer. »War das Susie?« Frank nickte. »Haben Sie eine Zigarette für mich? Meine sind unten.« Tom hatte seine in der Tasche des Pyjamas. »Was will sie denn?« Er zündete Franks Zigarette an. Frank sagte: »Huu-p!« und blies eine Rauchwolke aus, wobei er beinahe lachte. »Sie behauptet immer noch, sie hätte mich oben an der Felskante gesehen.« Tom schüttelte den Kopf. »Die kriegt glatt noch einen Herzanfall. Soll ich morgen mal mit ihr reden? Ich würde sie gern kennenlernen.« Er warf einen Blick hinter sich auf die geschlossene Tür, weil Frank hingesehen hatte. »Wandert sie nachts herum? Ich denke, sie ist krank.« »Kräfte wie ein Ochse, glaub ich.« Frank schwankte vor Müdigkeit und fiel auf sein Bett zurück, die nackten Füße einen Augenblick lang in der Luft. Tom warf einen Blick ins Zimmer; er sah einen antiken braunen Tisch, auf dem ein Radio stand, eine Schreib maschine, Bücher, ein Schreibblock. Auf dem Fußboden nahe der halbgeöffneten Schranktür sah er Skischuhe und ein Paar Reitstiefel. Posters von Popsängern waren über dem braunen Tisch an eine große grüne Pinnwand geheftet, die Ramones lümmelten sich in Blue jeans, und darunter waren Karikaturen, ein paar Fotos – vielleicht von Teresa, aber da Tom das Thema nicht aufbringen wollte, blickte er nicht näher hin. »Scheißkuh«, sagte Tom, womit er Susie meinte, »sie hat dich nicht gesehen.
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Du rechnest doch heute nacht nicht mit noch einem Be such von ihr, oder?« »Alte Hexe«, sagte Frank mit halbgeschlossenen Au gen. Tom winkte ihm zu und ging zurück in sein Zimmer. Er sah, daß innen an seiner Zimmertür ein Schlüssel steck te. Tom schloß nicht ab. Nach dem Frühstücksritual am nächsten Morgen bat Tom Mrs. Pierson um die Erlaubnis, im Garten ein paar Blumen schneiden zu dürfen, die er Susie bringen wollte. Aber gern, sagte Lily Pierson. Wie Tom angenommen hatte, verstand Frank mehr vom Garten als seine Mutter, und er versicherte Tom, seiner Mutter sei es ganz egal, was sie abschnitten. Sie stellten einen Strauß weißer Ro sen zusammen. Tom wäre lieber unangemeldet bei Su sie erschienen, aber er bat Evangelina – was für ein pas sender Name! – ihn anzukündigen. Das tat das schwarze Mädchen, dann kam sie zurück und bat ihn, er möchte bitte zwei Minuten auf dem Flur warten. »Susie möchte sich die Haare machen«, sagte Evan gelina mit heiterem Lächeln. Nach wenigen Minuten hörte Tom ein gutturales oder schläfriges »Herein«. Er klopfte und trat dann ein. Susie saß in die Kissen gelehnt in einem weißen Zim mer, das durch das Sonnenlicht noch weißer wirkte. Su sies Haare sahen gelblich und gräulich aus, das Gesicht rund mit feinen Fältchen, die Augen müde und weise. Sie erinnerte Tom an deutsche Briefmarken mit den Bildern berühmter Frauen, von denen Tom gewöhnlich nie etwas gehört hatte. Der linke Arm in einem langen weißen Nachthemdärmel lag über der Decke. »Guten Morgen. Tom Ripley«, sagte Tom. Ein Freund von Frank, wollte er hinzufügen, unterließ es aber. Viel
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leicht hatte sie schon über Lily von ihm gehört. »Wie geht´s Ihnen heute morgen?« »Ganz gut, danke schön.« Gegenüber dem Bett stand ein Fernsehapparat, bei dem Tom an Krankenhauszimmer denken mußte, die er besucht hatte; doch der Rest des Zimmers war durchaus persönlich: alte Familienbilder, gehäkelte Deckchen, ein Regal voller Krimskrams, Andenken, sogar eine alte kos tümierte Minstrel-Puppe mit Zylinder, die vielleicht aus Johnnys Kindheit stammte. »Das freut mich. Mrs. Pierson sagte mir, Sie hätten einen Herzanfall gehabt. Das ist gewiß ein böser Schreck.« »Ja, beim erstenmal schon«, erwiderte sie mit grollen der Stimme. Der Blick aus den blaßblauen Augen ließ Tom nicht los. »Ich wollte gern – Frank war ein paar Tage mit mir zu sammen, in Europa. Vielleicht hat Mrs. Pierson es Ihnen erzählt.« Tom erhielt keine Antwort; er sah sich nach ei ner Vase für die Blumen um und sah keine. »Die hab ich Ihnen mitgebracht – eine kleine Verschönerung für Ihr Zimmer.« Lächelnd trat Tom mit den Blumen einen Schritt näher. »Oh – vielen Dank«, sagte Susie. Sie nahm den Strauß – Frank hatte eine Serviette darum herum gewi ckelt – mit der einen Hand und drückte mit der anderen auf eine Klingel am Bett. Gleich darauf klopfte es, und Evangelina trat ein. Susie reichte ihr die Blumen und bat sie, eine Vase zu holen. Tom war nicht zum Sitzen aufgefordert worden, aber er nahm sich trotzdem einen Stuhl. »Sie wissen sicher –« Tom wünschte, er hätte sich Susies Nachnamen sagen lassen, »daß der Tod seines Vaters Frank sehr betroffen hat. Frank hat mich in Frankreich aufgesucht; da wohne ich. So habe ich ihn kennengelernt.« 402
Sie sah ihn immer noch scharf an und sagte: »Frank ist kein guter Junge.« Tom unterdrückte einen Seufzer und versuchte, freundlich und höflich auszusehen. »Mir kam er durchaus wie ein netter Junge vor. Er hat ein paar Tage bei mir gewohnt, in meinem Haus.« »Und warum ist er weggelaufen?« »Ich glaube, er war sehr durcheinander. Schließlich ist er ja nur –« Ob Susie wußte, daß Frank den Paß seines Bruders mitgenommen hatte? »Es kommt doch häufig vor, daß junge Leute weglaufen. Und dann wiederkom men.« »Ich glaube, daß Frank seinen Vater umgebracht hat«, sagte Susie mit zittriger Stimme und wackelte mit dem Zeigefinger der Hand, die auf der Bettdecke lag. »Und das ist etwas Schreckliches.« Tom atmete langsam ein. »Wieso glauben Sie das?« »Überrascht Sie das gar nicht? Hat er es Ihnen ge standen?« »Ganz und gar nicht. Nein. Ich frage Sie, warum Sie meinen, er habe es getan.« Tom runzelte ernst die Stirn und gab sich auch etwas überrascht. »Weil ich ihn gesehen habe – beinahe jedenfalls.« Tom wartete. »Sie meinen drüben an der Klippe.« »Ja.« »Da haben Sie ihn gesehen – waren Sie draußen auf dem Rasen?« »Nein, ich war oben. Aber ich habe gesehen, wie Frank mit seinem Vater hinausging. Nie ist er mit seinem Vater hinausgegangen. Sie hatten gerade eine Partie Krocket gespielt. Mrs. Pierson –« »Mr. Pierson hat Krocket gespielt?« »Ja, sicher. Er konnte ja seinen Stuhl so bewegen, wie er wollte. Mrs. Pierson wollte immer, daß er irgendwas 403
spielte – um ihn abzulenken. Sie wissen, geschäftliche Sorgen.« »Und Frank hat an dem Tag auch gespielt?« »Ja, und Johnny auch. Ich weiß noch, Johnny war verabredet und ist dann gegangen. Aber gespielt haben sie alle.« Tom schlug die Beine übereinander; er hätte gern eine Zigarette angezündet, dachte aber, es sei besser, nicht zu rauchen. »Sie haben Mrs. Pierson gesagt«, begann er mit ernstem Stirnrunzeln, »daß Sie glauben, Frank habe seinen Vater hinuntergestoßen?« »Ja«, sagte Susie fest. »Mrs. Pierson scheint nicht Ihrer Meinung zu sein.« »Haben Sie sie gefragt?« »Ja«, sagte Tom ebenso fest. »Sie glaubt, es war entweder ein Unfall oder Selbstmord.« Susie schniefte und blickte zu ihrem Fernsehapparat, als wünschte sie, er wäre eingeschaltet. »Haben Sie das auch der Polizei gesagt – das mit Frank?« »Ja.« »Und was haben die gesagt?« »Ach, die sagten, ich hätte es gar nicht sehen können, weil ich oben war. Aber es gibt Dinge, die ein Mensch weiß. Wissen Sie, Mr. –« »Ripley. Tom. Ich weiß leider Ihren Nachnamen nicht.« »Schuhmacher«, erwiderte sie, gerade als Evangelina mit den Rosen in einer rötlichen Vase hereinkam. »Dan ke schön, Evangelina.« Evangelina stellte die Vase auf den Nachttisch, zwi schen Tom und Susie, und verließ das Zimmer. »Wenn Sie nicht wirklich gesehen haben, daß Frank es tat – was offenbar unmöglich ist, wenn die Polizei das 404
sagt –, dann sollten Sie so etwas nicht sagen. Es hat Frank sehr aufgewühlt.« »Frank war bei seinem Vater.« Wieder hob sich die rundliche, etwas faltige Hand und fiel zurück auf die Bett decke. »Wenn es ein Unfall – sogar wenn es Selbstmord war, dann hätte Frank ihn doch zurückhalten können, oder nicht?« Tom kam zunächst der Gedanke, daß Susie wohl recht hatte, doch dann dachte er, daß der Stuhl sicher einen starken Motor gehabt hatte. Aber er wollte sich nicht darüber auslassen mit Susie. »Kann Mr. Pierson den Stuhl nicht über den Rand gestürzt haben, bevor Frank begriff, was da vor sich ging? So hatte ich es mir vorgestellt.« Sie schüttelte den Kopf. »Frank kam zurückgerannt, haben sie gesagt. Ich habe ihn erst gesehen, als ich run terkam. Da redeten schon alle durcheinander. Ich weiß, Frank sagte, sein Vater hätte den Stuhl hinunterge stürzt.« Die blaß-blauen Augen waren fest auf Tom ge richtet. »Das ist, was Frank auch mir gesagt hat.« Der Augen blick der Lüge mußte Frank wie ein zweites Verbrechen vorgekommen sein. Wenn der Junge bloß ruhig zurück gekommen wäre, wenn er eine halbe Stunde hätte ver streichen lassen, als hätte er seinen Vater am Felsrand zurückgelassen! Das war es, dachte Tom, was er selber getan hätte; auch wenn er nervös gewesen wäre, er wäre doch ein wenig planvoller vorgegangen. »Was Sie an nehmen oder glauben – bewiesen werden kann es nie«, sagte Tom. »Frank leugnet es, ich weiß.« »Wollen, Sie denn, daß der Junge zusammenbricht, wegen Ihrer – Anschuldigung?« Susie blieb einen Au genblick stumm, und Tom nutzte seinen Vorteil, wenn es 405
einer war, und im Moment wollte er das annehmen. »Wenn es keine Zeugen gibt und keine wirklichen Be weise, dann kann so eine Tat, wie Sie sie beschreiben, nie bewiesen werden – und in diesem Fall kann man es auch nicht glauben.« Und wann würde die Alte sterben, dachte Tom, und Frank aus ihren Fängen lassen? Susie Schuhmacher sah aus, als könne sie durchaus noch ein paar Jahre leben, und Frank konnte ihr auch kaum aus dem Weg gehen, denn sie gehörte, zum Inventar des Hauses in Kennebunkport, wo die Familie oft lange wohnte, und vermutlich kam sie auch mit in die New Yor ker Wohnung, wenn die Familie dort war. »Warum sollte es mir was ausmachen, was Frank aus seinem Leben macht? Er –« »Sie mögen Frank nicht?« fragte Tom, als erstaune ihn das. »Er ist – nicht freundlich. Er ist rebellisch – unglück lich. Nie weiß man, was er denkt. Er kriegt so Ideen und läßt sie nicht los. Seine ganze Einstellung.« Tom zog die Stirn in Falten. »Würden Sie ihn denn unehrlich nennen?« »Nein«, gab Susie zurück. »Er ist zu höflich. Was ich meine, ist mehr als Unehrlichkeit. Sogar mehr als –« Sie war anscheinend müde geworden. »Aber warum soll es mir was ausmachen, was er mit seinem Leben anstellt? Er hat alles. Er weiß nicht zu schätzen, was er hat – hat es nie geschätzt. Seiner Mutter hat er Sorgen gemacht, als er so einfach weglief. Nicht mal das macht ihm was aus. Er ist kein guter Junge.« Dies war nicht der Augenblick, dachte Tom, um auf Franks Ängste oder seine Aversion gegen des Vaters Firmenimperium einzugehen oder Susie zu fragen, was sie von Teresas Einfluß hielt. Irgendwo in der Ferne hörte
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Tom ein Telefon klingeln. »Aber Mr. Pierson hat doch Frank sehr gern gehabt, glaube ich.« »Ja, vielleicht zu gern. Hat der Junge das verdient?« Tom hatte die Beine übereinandergeschlagen, jetzt stellte er die Füße wieder nebeneinander, er wand sich. »Ich glaube, ich habe Ihre Zeit jetzt lange genug in An spruch genommen, Mrs. Schuhmacher –« »Schon gut.« »Ich reise morgen ab, vielleicht auch schon heute nachmittag, deshalb möchte ich mich jetzt verabschieden und Ihnen für Ihre Gesundheit alles Gute wünschen. Ich finde übrigens, Sie sehen sehr gesund aus«, fügte er hinzu. Er meinte es ehrlich. Er hatte sich erhoben. »Sie wohnen in Frankreich –« »Ja.« »Ich meine mich zu erinnern, daß Mr. Pierson mal Ih ren Namen erwähnte. Sie kennen doch die Kunstleute in London.« »Ja, das tue ich«, erwiderte Tom. Wieder hob sie die linke Hand, ließ sie fallen und blick te zum Fenster hinüber. »Auf Wiedersehen, Susie.« Tom verbeugte sich, aber Susie sah es nicht. Tom verließ das Zimmer. Auf dem Flur traf Tom auf Johnny, hoch aufgeschos sen, lächelnd. »Gerade wollte ich kommen und Sie retten! Möchten Sie mal meine Dunkelkammer sehen?« »Gern«, sagte Tom. Johnny drehte sich um und führte Tom in einen Raum, der auf der linken Flurseite lag. Johnny knipste das Rot licht an, dadurch wirkte der Raum wie eine schwarze Höhle mit roter Luft, etwas wie eine Bühnendekoration. Die Wände sahen schwarz aus, auch das unförmige So fa, und in einer entfernten Ecke konnte Tom undeutlich 407
etwas Blasses ausmachen, anscheinend ein langer Spülstein. Johnny drehte das Rotlicht ab und machte normales Licht an. Einige Kameras standen auf Stativen. Die schwarzen Flächen sahen jetzt ganz klein aus. Es war kein großer Raum. Tom verstand nicht viel von Ka meras, und er wußte nicht, was er sagen sollte, als Johnny auf eine Kamera zeigte, die er gerade erstanden hatte. Ihm fiel nichts ein als: »Sehr eindrucksvoll.« »Ich könnte Ihnen ein paar von meinen Arbeiten zei gen. Sie sind fast alle hier in Mappen, nur eine ist unten im Eßzimmer, die habe ich ›Weißer Sonntag‹ genannt, es ist aber kein Schnee. Aber – ich glaube, Mom würde jetzt gern mit Ihnen sprechen.« »Ja –? Jetzt?« »Ja, weil Ralph gerade abfährt, und Mom sagte, sie wollte Sie gern sprechen, wenn er fort ist. – Wie war´s bei Susie?« Das Lächeln des Jungen war belustigt, oder er wartungsvoll. »Sehr nett. Ich fand, sie sah recht gut aus. Ich weiß natürlich nicht, wie sie normalerweise aussieht.« »Sie spinnt ´n bißchen. Nehmen Sie nicht alles ernst, was sie sagt.« Johnny stand aufrecht da, er lächelte noch, aber seine Worte klangen wie eine Warnung. Johnny – hatte Tom das Gefühl – wollte seinen Bruder schützen. Johnny wußte, was Susie behauptete, und Frank hatte Tom gesagt, daß Johnny es nicht glaubte. Tom ging mit Johnny nach unten und fand Mrs. Pierson und Ralph Thurlow, der seinen Regenmantel über dem Arm trug. Thurlow mußte lange geschlafen haben, denn Tom hatte ihn heute noch nicht gesehen. »Tom –« Ralph Thurlow streckte die Hand aus. »Wenn Sie jemals einen Job brauchen – etwas in dersel ben Richtung –« Er suchte in seiner Brieftasche und zog
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eine Karte heraus. »Rufen Sie mein Büro an, ja? Meine Privatadresse steht auch drauf.« Tom lächelte. »Ich werd´s mir merken.« »Nein, wirklich – wir könnten uns doch mal abends in New York treffen. Ich fahre jetzt nach New York. Wieder sehen, Tom.« »Bon voyage«, sagte Tom. Tom hatte angenommen, Thurlow werde den schwar zen Wagen nehmen, der auf der Einfahrt stand, aber Mrs. Pierson und Thurlow gingen über die Veranda hin aus und bogen nach links ab. Tom sah, daß ein Helicop ter gelandet oder auf den runden Betonplatz auf dem hin teren Rasen hinausgerollt worden war. Das Grundstück war so enorm groß, vielleicht hatten die Piersons einen eigenen Hangar, irgendwo am Ende der Betonpiste, die zwischen Bäumen verschwand. Dieser Helicopter sah kleiner aus als der, mit dem sie aus New York gekommen waren, aber vielleicht lag es einfach daran, daß Tom sich an die Pierson´sche Größenordnung gewöhnte. Er be trachtete den schwarzen Daimler Benz; aus dem Auspuff kamen kaum sichtbare Abgaswölkchen. Auf dem Fahrer sitz saß Frank, er war allein. Der Wagen rollte ein paar Meter vorwärts und setzte dann weich zurück. »Was machst du denn da?« fragte Tom. Frank lächelte. Er war in Hemdsärmeln – dasselbe gelbe Nylonhemd – und saß steif und aufrecht als sei er ein livrierter Chauffeur. »Nichts.« »Hast du ´n Führerschein?« »Nein, noch nicht, aber ich kann fahren. Mögen Sie den Wagen? Ich mag ihn. Konservativ.« Er war ähnlich wie der Wagen, den Eugene in New York gefahren hatte, nur war dieses Lederpolster braun statt beige.
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»Fahr ja nicht irgendwohin ohne Führerschein«, sagte Tom. Der Junge sah aus, als sei ihm danach zumute, abzufahren, obgleich er langsam und vorsichtig schalte te. »Auf später. Ich soll jetzt mit deiner Mutter reden.« »Ach –?« Frank drehte die Zündung ab und blickte Tom durch das offene Fenster an. »Und wie fanden Sie Susie?« »Sie war – wohl so wie immer, nehm ich an.« Damit meinte er, daß Susie bei ihrer alten Geschichte geblieben sei. Frank wirkte amüsiert und auch nachdenklich – in diesem Moment sah er sehr anziehend aus, vielleicht ein paar Jahre älter, als er war. Einen Augenblick überlegte sich Tom, daß Frank vielleicht heute morgen einen Anruf von Teresa gehabt hatte, aber fragen mochte er nicht. Tom ging ins Haus zurück. Lily Pierson, heute in blaßblauen Slacks, gab gerade Evangelina Anweisungen zum Lunch. Toms Gedanken waren zum Teil bei seiner eigenen Abreise. Sollte er ver suchen, heute abend nach New York zu kommen? Über Nacht in New York bleiben? Er mußte heute Heloise an rufen. Lächelnd wandte sich Lily ihm zu. »Nehmen Sie Platz, Tom. Ach nein, gehen wir doch hier rein – fröhlicher hier.« Sie führte ihn in einen sonnigen Raum, der vom Wohnzimmer abging. Es war eine Bibliothek, voll von Ökonomie-Büchern in bunten neuen Schutzumschlägen, wie Tom mit einem raschen Blick sah, und mit einem großen quadratischen Schreibtisch, auf dem ein Pfeifenhalter mit fünf oder sechs Pfeifen stand. Der Drehstuhl aus dunkelgrünem Leder hinter dem Schreibtisch sah zugleich alt und unbe nutzt aus, und Tom kam der Gedanke, daß John Pierson es vielleicht nicht der Mühe wert gefunden hatte, sich von
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seinem Rollstuhl in den Ledersessel zu setzen, wenn er hier im Zimmer war. »Und was meinen Sie zu Susie?« fragte Lily in dem selben Ton wie ihre Söhne, lächelnd, die Lippen zusam mengepreßt und ihre Hände auch. Sie schien darauf zu warten, daß man sie amüsierte. Tom nickte mit nachdenklicher Miene. »Ja – genau wie Frank es mir gesagt hatte. Vielleicht ein bißchen – eigensinnig.« »Und sie glaubt immer noch, daß Frank seinen Vater von der Klippe gestürzt hat?« fragte Lily in einem Ton, der die Idee als absurd abtat. »Ja, das glaubt sie«, sagte Tom. »Niemand glaubt ihr. Es gibt ja auch nichts zu glau ben. Gesehen hat sie überhaupt nichts. Ich kann mir nun nicht immer weiter Sorgen machen wegen Susie. Sie bringt es fertig, einen ebenso überspannt zu machen, wie sie selber ist. – Tom, ich wollte Ihnen gern sagen, ich weiß, daß Sie mit Frank eine Menge Auslagen gehabt haben. Lassen Sie uns nicht viel darüber reden – ich bitte Sie, diesen Scheck von mir anzunehmen. Von der Fami lie.« Sie hatte einen zusammengefalteten Scheck aus der Tasche ihrer Bluse gezogen. Tom besah sich den Scheck. Zwanzigtausend Dollar. »Meine Auslagen waren nicht annähernd so hoch. Au ßerdem hat es mich gefreut, Ihren Sohn kennen zu ler nen.« Tom lachte. »Sie würden mir eine Freude machen.« »Meine Auslagen waren nicht halb so hoch.« Doch in dem Augenblick – an der Art, wie sie unnötigerweise das Haar aus der Stirn zurückschob, erkannte Tom, daß es sie freuen würde, wenn er den Scheck annahm. »Also dann – gut.« Er steckte den Scheck in die Hosentasche
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und behielt die Hand darin. »Und ich danke Ihnen eben falls.« »Ralph hat mir von Berlin erzählt. Sie haben Ihr Leben auf Spiel gesetzt.« Das interessierte Tom jetzt nicht. »Wissen Sie, ob Frank vielleicht heute morgen einen Anruf von Teresa erhalten hat?« »Ich glaube nicht. Warum?« »Ich fand, er sah fröhlicher aus, jetzt eben. Aber ich weiß es nicht.« Tom wußte es wirklich nicht. Er wußte nur, Frank war in einer anderen Stimmung – einer Stim mung, die Tom bisher nicht erlebt hatte. »Bei Frank weiß man nie«, sagte Lily. »Ich meine, von seinem Benehmen . . .« Meinte sie, daß das, was Frank tat, das Gegenteil sein konnte von dem, was er fühlte? Lily war so erleichtert, ihn wieder zu Hause zu haben, daß Faktoren wie Teresa für sie wohl kaum ins Gewicht fielen, dachte Tom. »Mein Freund Tal Stevens kommt heute nachmittag – ich würde mich freuen, wenn Sie ihn kennenlernten«, sagte Lily, als sie die Bibliothek verließen. »Einer von Johns besten Anwälten, obgleich er nie bei der Firma angestellt war, er war immer nur freier Berater.« Das war – nach Franks Bericht – der Freund, den Lily mochte. Lily erzählte, Tal habe nachmittags noch zu tun und könne wahrscheinlich nicht vor sechs Uhr kommen. »Und ich muß mich um meine Abreise kümmern«, sagte Tom. »Ich dachte daran, einen oder zwei Tage in New York zu bleiben.« »Aber Sie müssen doch hoffentlich nicht heute abrei sen. Rufen Sie doch Ihre Frau in Frankreich an und sa gen Sie ihr Bescheid. Das können Sie doch, nicht wahr. Frank sagt, Sie hätten ein so hübsches Haus dort. Er hat mir von Ihrem Treibhaus erzählt, und – und von den bei 412
den Derwatts, die Sie in Ihrem Wohnzimmer haben, und auch von dem Cembalo.« »Ja –?« Das Cembalo von ihm und Heloise mitten un ter Helicoptern, Hummern aus Maine und einer schwar zen Amerikanerin namens Evangelina! Es kam Tom ge radezu surrealistisch vor. »Ja«, sagte er, »mit Ihrer Er laubnis möchte ich gern ein, zwei Telefongespräche füh ren.« »Bitte fühlen Sie sich ganz wie zu Hause, Tom!« Von seinem Zimmer aus rief Tom das Chelsea Hotel in Manhattan an und fragte, ob sie für heute nacht noch ein Einzelzimmer frei hätten. Eine freundliche Stimme sagte, mit etwas Glück werde sich das wahrscheinlich machen lassen. Das reichte. Tom überlegte, daß er sich vielleicht nach dem Lunch verabschieden sollte. Um vier wollten Nachbarn – Hunter hießen sie – kommen, hatte Lily ge sagt, weil sie Frank gern hatten und ihn sehen wollten. Das Haus Pierson konnte ihm sicher irgendein Fahrzeug besorgen, das ihn nach Bangor brachte, dachte Tom; von dort aus konnte er dann ein Flugzeug nach New Y ork nehmen. Zum Lunch gab es tatsächlich Hummer aus Maine – als ob Tom eine Vorahnung gehabt hätte. Vor dem Lunch waren er und Frank in die Stadt Kennebunkport gefahren – mit Eugene am Steuer des Kombiwagens –, um die bestellten Hummer zu holen. In der Stadt hatte ihn eine Woge von Heimweh erfaßt, die ihm fast Tränen in die Augen trieb: weiße Häuser- und Ladenfassaden, die Fri sche der Seeluft, Sonnenlicht und amerikanische Sper linge in Bäumen, noch schwer vom Sommerlaub: nach all dem war ihm der Gedanke gekommen, es sei falsch ge wesen, Amerika zu verlassen. Aber er hatte ihn sofort beiseite geschoben, weil es ein verwirrendes und depri mierendes Gefühl war, und hatte sich gesagt, er werde ja 413
mit Heloise nach Amerika kommen, Ende Oktober oder wann sonst sie von ihrer Abenteuer-Kreuzfahrt zurück war und sich etwas ausgeruht hatte. Die Fahrt, das wuß te er noch, sollte in die Antarktis gehen. Frank sah zwar etwas erstaunt und enttäuscht aus, als Tom sagte, er werde nachmittags abreisen, aber beim Lunch war der Junge ganz munter. Oder ob er nur so tat, dachte Tom. Frank hatte eine hübsche hellblaue Leinen jacke angezogen, trug dazu aber nach wie vor seine Blue jeans. »Derselbe Wein, den wir bei Tom getrunken ha ben«, sagte er zu seiner Mutter und hob sein Stielglas mit einem Schwung in die Höhe. »Sancerre. Ich hab Eu gene gebeten, ihn herauszusuchen. Oder vielmehr bin ich mit ihm in den Keller gegangen und habe ihn geholt.« »Ganz köstlich«, sagte Lily und lächelte Tom zu, als sei es sein Wein und nicht der ihre. »Heloise ist sehr hübsch, Mom«, sagte Frank und stippte eine Gabel voll Hummer in seine geschmolzene Butter. »Findest du? Das werde ich ihr sagen«, sagte Tom. Frank legte eine Hand auf den Magen und tat, als rülpse er – eine lautlose Darbietung und gleichzeitig eine halbe Verbeugung, für Tom bestimmt. Johnny widmete sich dem Essen; nur zu seiner Mutter sagte er etwas von einem Mädchen Christine, die viel leicht um sieben Uhr kommen werde, und er wisse nicht, ob sie zum Essen ausgehen oder hierbleiben wollten. »Mädchen, Mädchen, Mädchen«, sagte Frank verächt lich. »Halt doch die Klappe, grüner Junge«, murmelte Johnny. »Eifersüchtig, was?« »So, nun ist Schluß, ihr beiden«, sagte Lily. Eine normale Familienmahlzeit: so hörte es sich an.
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Um drei hatte Tom alles organisiert, einen Platz in der Frühabendmaschine von Bangor nach New York ge bucht. Eugene sollte ihn nach Bangor bringen. Tom packte seinen Koffer, machte ihn aber noch nicht zu. Er ging auf den Flur und klopfte an Franks Zimmertür, die etwas offenstand. Niemand antwortete. Tom schob die Tür weiter auf und ging hinein. Das Zimmer war leer und ordentlich, das Bett hatte vermutlich Evangelina ge macht. Auf Franks Schreibtisch saß der Berliner Bär, et wa zwanzig Zentimeter hoch, die braunen Knopfaugen gelb umrandet, der Mund fröhlich, aber geschlossen. Tom fiel ein, wie sich Frank amüsiert hatte über das handgeschriebene Schild: 3 WÜRFE 1 MARK. Frank hat te gemeint, Würfe hörte sich komisch an, wie irgendwas zu essen, oder wie Hundebellen. Wie hatte der kleine Bär das alles überlebt: eine Entführung, einen Mord, mehrere Flugreisen – und dabei sah er so plustrig und fröhlich aus wie immer. Tom hatte Frank bitten wollen, noch einmal mit ihm hinunter zur Felskante zu gehen. Tom hatte das Gefühl, daß, wenn er erreichte, daß der Junge sich an den Felsrand gewöhnte (obgleich ›gewöhnte‹ nicht ganz das richtige Wort war), Franks Schuldgefühle vielleicht abnehmen würden. »Ich glaube, Frank ist mit Johnny losgegangen, um seine Fahrradreifen aufpumpen zu lassen«, sagte Lily unten zu Tom. »Ich dachte, er käme vielleicht noch mit auf einen klei nen Spaziergang – ich habe noch ungefähr eine Stun de«, sagte Tom. »Sie müssen jeden Augenblick zurück sein, und Frank würde bestimmt gern mitkommen. Er denkt, Sie haben den Mond am Himmel aufgehängt, Tom.« Diesen schmeichelhaften Ausdruck hatte Tom seit seinen Teenager-Tagen in Boston nicht mehr gehört. Er 415
ging hinaus auf den Rasen und dann auf den Plattenweg. Er wollte die Klippe bei Tageslicht sehen. Der Weg kam ihm irgendwie länger vor. Dann hatte er auf einmal die Bäume hinter sich und den herrlichen Blick auf das blaue Wasser vor sich, vielleicht nicht ganz so blau wie der Pa zifische Ozean, aber jetzt doch tiefblau und sauber. Seemöwen ließen sich vom Winde tragen, und drei, vier kleine Boote, darunter ein Segelboot, glitten langsam ü ber die weite Wasserfläche. Und jetzt die Felskante – für Tom auf einmal etwas Häßliches. Er ging näher an den Rand und blickte hinunter auf das Gras, das überging in Steine und dann in Felsblöcke. Etwa einen Viertelmeter vom Rand entfernt blieb er schließlich stehen. Unten la gen – wie er sich vorgestellt hatte – beige und weiße Felsbrocken durcheinander, als habe ein Landrutsch o der Steinrutsch in nicht allzu ferner Vergangenheit sie dorthin geschleudert. Unten, wo das Wasser anfing, sah er kleine weiße Wellen gegen die kleineren Felsen schlagen. Gedankenlos sah er sich um nach irgendeinem Anzeichen von der Pierson-Katastrophe, etwa einem Stück verchromten Metalls von dem Stuhl. Er sah nichts von Menschenhand Gemachtes da unten. Wenn John Pierson nur schon bei geringem Tempo mit seinem Stuhl da hinuntergekippt war, hatte er zehn Meter tiefer auf zackige Felsbrocken aufschlagen müssen und war wahr scheinlich noch ein paar Meter weiter hinuntergerutscht. Auch keine Spur von Blut mehr an den Steinen sah Tom und schauderte. Er trat von der Kante zurück und wandte sich um. Er blickte zum Haus hinüber, das man durch die Bäu me kaum sehen konnte, nur der dunkelgraue Dachfirst war sichtbar. Jetzt sah er, wie Frank ihm auf dem Plat tenweg entgegenkam, immer noch in der blauen Jacke. Suchte der Junge ihn? Ohne nachzudenken trat Tom 416
nach rechts in eine Baumgruppe und hinter ein Gebüsch. Würde der Junge sich umsehen? Ihn beim Namen rufen, wenn er dachte, Tom sei hier in der Nähe? Tom merkte, daß er neugierig war – vielleicht wollte er auch nur den Gesichtsausdruck des Jungen sehen, wenn er auf die Felskante zukam. Jetzt war Frank so nahe, daß Tom se hen konnte, wie das glatte braune Haar sich im Rhyth mus der Schritte leicht hob und senkte. Franks Augen blickten nach links und rechts, aber Tom war gut verbor gen. Außerdem, überlegte Tom, hatte seine Mutter Frank wahrscheinlich nicht gesagt, daß er zur Felskante ge gangen war, denn davon hatte er nichts erwähnt. Frank rief jedenfalls nicht nach Tom und sah sich auch nicht noch einmal um. Er hatte die Daumen in die vorderen Taschen seiner Jeans gehakt und schlenderte langsam, ein wenig arrogant und die Füße schlenkernd, auf die Felskante zu. Die ganze Gestalt des Jungen hob sich jetzt vom herrlich blauen Himmel ab, vielleicht sechs Me ter von Tom entfernt. Er blickte nach unten; aber haupt sächlich blickte er aufs Meer, und Tom schien es, als at me er tief ein und entspanne sich. Dann trat er zurück, wie es Tom getan hatte, und blickte hinunter auf seine Füße, die in Turnschuhen steckten. Er schlug mit dem rechten Fuß nach hinten aus, und ein paar Kiesel flogen weg, dann nahm er die Daumen aus den Taschen. Er beugte sich vor und rannte plötzlich los. »Heeh!« schrie Tom und schoß ebenfalls vorwärts. Er stolperte, vielleicht hatte er sich auch nur waagerecht abgestoßen, aber er hatte die Hände ausgestreckt und packte Frank am Fußgelenk. Frank lag flach auf dem Boden, keuchend, sein rechter Arm hing über die Felskante.
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»Gottes willen!« sagte Tom und riß Franks Fußgelenk nervös zu sich heran. Er stand auf und zog Frank mit ei nem Arm hoch. Der Junge konnte kaum atmen, die Augen waren starr und blicklos. »Was zum Teufel hast du gemacht?« Tom merkte, daß seine Stimme auf einmal heiser geworden war. »Wach auf!« Er stützte Frank, war aber selber noch unter der Einwirkung des Schocks, und zog den Jungen am Arm zum Wald, zum Weg hin. Jetzt rief ein Vogel, es klang seltsam quiekend, als sei auch der Vogel erschro cken. Tom straffte sich und sagte: »Also gut, Frank. Du hast es beinahe geschafft. Ist doch so gut wie geschafft, oder? – War´s der Reflex, als du meine Stimme hörtest? Du hast dich hingeschmissen wie ein Football-Spieler!« Stimmte das? Oder hatte Tom ihn gerade noch zurück gehalten, als er ihn am Fuß packte? Nervös klapste er den Jungen auf den Rücken. »Einmal hast du´s nun ge tan, okay. Alles klar?« »Ja«, sagte Frank. »Das gilt jetzt«, sagte Tom zu Frank, als frage er ihn. »Sag nicht bloß ›Ja‹ zu mir. Du hast jetzt bewiesen, was du beweisen wolltest. Okay?« »Ja, Sir.« Sie gingen zum Haus zurück. Langsam wich das wacklige Gefühl in Toms Beinen, und er atmete bewußt tief ein und aus. »Ich werde nichts davon sagen. Laß uns zu niemand was davon sagen, ja, Frank?« Er sah den Jungen an, der auf einmal so groß wie er selber schien. Frank blickte starr geradeaus, nicht auf das Haus, sondern darüber hinaus. »Gut, Tom. Klar.«
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Als Tom und Frank ins Haus zurückkamen, waren die Hunters schon eingetroffen. Tom hätte das nicht be merkt, wenn ihn Frank nicht auf einen grünen Wagen in der Einfahrt aufmerksam gemacht hätte. Tom hätte ihn für einen der Pierson´schen Wagen gehalten. »Sie sind bestimmt oben im Meeresblickzimmer«, sag te Frank, und es hörte sich an, als setze er Meeresblick in Anführungsstriche. »Da oben serviert Mom immer den Tee.« Er blickte auf Toms Koffer, den jemand herunter gebracht und bei der Haustür hingestellt hatte. »Laß uns was trinken. Das brauche ich jetzt«, sagte Tom und trat zu der Anrichte, oder dem Bartisch, der fast drei Meter lang war. »Ob´s hier wohl Drambuie gibt?« »Drambuie? Sicher ist welcher da.« Tom sah zu, wie Frank sich über die Doppelreihe der Flaschen beugte, den Zeigefinger erst nach links, dann nach rechts ausstreckte, dann die Flasche fand und sie lächelnd hochhielt. »Ich weiß noch, das haben wir auch bei Ihnen getrun ken.« Frank schenkte etwas in zwei Kognakgläser ein. Franks Hand war ruhig, sah Tom, doch das Gesicht war immer noch blaß, als er jetzt das Glas hob. Auch Tom hob sein Glas und stieß mit dem Jungen an. »Das wird dir gut tun.« Sie tranken. Tom sah, daß der unterste Knopf seiner Jacke nur noch an wenigen Fäden hing; er riß ihn ab, steckte ihn ein und wischte etwas Staub ab. Die Jacke des Jungen wies an der rechten Brustseite einen drei Zentimeter langen Riß auf.
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Frank wiegte sich auf einem Absatz seines Turn schuhs, drehte sich einmal ganz herum und fragte: »Um welche Zeit müssen Sie fort?« »Um fünf herum.« Auf seiner Armbanduhr sah Tom, daß es viertel nach vier war. »Ich habe keine Lust, mich von Susie zu verabschieden«, sagte Tom. »Ach, das lassen Sie nur.« »Aber deine Mutter –« Sie gingen nach oben. Frank hatte wieder etwas Farbe in den Wangen, und er ging mit federnden Schritten. Frank klopfte an eine weiße, halb offenstehende Tür und ging mit Tom hinein. Der Raum war groß, mit Spanntep pich und drei breiten Fenstern, die die ganze gegenüber liegende Wand einnahmen und aufs Meer hinaus gingen. Lily Pierson saß an einem niedrigen runden Tisch, und ein Paar mittleren Alters – sicher die Hunters, dachte Tom – saßen in Sesseln. Johnny stand da und hielt eine Handvoll Fotos. »Wo bist du denn gewesen?« fragte Lily. »Kommt mal beide herein. Betsy, dies ist Tom Ripley, von dem ich so viel erzählt habe. Wally – endlich ist Frank wieder da.« »Frank!« sagten die Hunters fast gleichzeitig, als der Junge näherkam, sich leicht verneigte und Wallys Hand schüttelte. »Langweilst du die Leute schon wieder mit deinem Kram?« fragte Frank seinen Bruder. »Endlich lerne ich Sie kennen!« sagte Wally Hunter und schüttelte Tom die Hand, wobei er ihm in die Augen blickte, als sei Tom ein Wundertäter oder einer, den es vielleicht gar nicht gegeben hatte; aber Toms Hand schmerzte. Die Hunters – er in hellbraunem Baumwollanzug, sie in mauvefarbenem Sommerkleid – sahen aus wie das Bild sommerlichen Maine-Schicks. 420
»Tee, Frank?« fragte seine Mutter. »Ja bitte.« Frank hatte sich noch nicht gesetzt. Tom lehnte den Tee ab. »Ich muß gehen, Lily.« Sie hatte ihn gebeten, sie Lily zu nennen. »Eugene hat ge sagt, er könne mich nach Bangor bringen.« Johnny und seine Mutter sprachen jetzt gleichzeitig. Natürlich konnte ihn Eugene nach Bangor bringen. »Oder ich«, sagte Johnny. Sie informierten Tom, daß er noch mindestens zehn Minuten habe, bevor es Zeit sei zum Gehen. Tom wollte über die Ereignisse in Europa nicht reden, und es gelang Lily, Wally Hunter vom Thema ab zubringen; sie versprach, ihm ein andermal von Frank reich und Berlin zu berichten. Betsy Hunter hielt die recht kühlen grauen Augen auf Tom gerichtet, aber Tom war es gleichgültig, was sie von ihm dachte. Es war ihm auch gleichgültig, als Talmadge Stevens – früher als erwartet – hinzukam. Die Hunters schienen ihn zu kennen und – aus der Begrüßung zu schließen – auch zu mögen. Lily machte ihn mit Tom bekannt. Er war etwas größer als Tom, sah aus wie etwa Mitte Vierzig, ein Freilufttyp, vielleicht ein Jogger. Tom spürte sofort, daß Lily und Tal ein Verhältnis hatten. Na wenn schon. Wo war Frank? Er war aus dem Zimmer geschlüpft. Tom schlüpfte ebenfalls hinaus. Er meinte, eben noch Musik gehört zu haben, vielleicht eine von Franks Schallplatten. Franks Zimmer lag auf der anderen Flurseite, weiter hinten im Haus. Seine Tür war geschlossen. Tom klopfte und erhielt keine Antwort. Er öffnete die Tür ein wenig. »Frank –?« Frank war nicht im Zimmer. Der Plattenspieler stand offen, eine Platte lag darauf, aber sie drehte sich nicht. Tom sah, es war Lou Reeds Transformer –, die zweite Seite, die Heloise zu Hause aufgelegt hatte. Tom warf einen Blick auf seine Uhr: es war fast fünf, und um fünf 421
sollten er und Eugene abfahren. Eugene war vermutlich unten im hinteren Teil des Hauses, wo sich wohl die Dienstbotenräume befanden. Tom ging hinunter in das leere Wohnzimmer. Von o ben hörte er Gelächter im Meeresblickzimmer. Tom ging weiter durch einen anderen, im Zentrum gelegenen Wohnraum mit Fenstern zum Garten, fand die Diele wie der und ging in den hinteren Hausteil, wo er die Küche vermutete. Die Küchentüren standen offen, die Wände schimmerten vor Kupferpfannen und Kasserollen. Mit rosigen Wangen stand Eugene dort und trank etwas aus einer Tasse, er unterhielt sich mit Evangelina und sprang auf, als er Tom erblickte. Tom hatte erwartet, Frank hier zu finden. »Entschuldigen Sie«, sagte Tom. »Haben Sie –« »Ich passe auf die Zeit auf, Sir. Fünf Uhr – ich habe jetzt sieben Minuten vor. Darf ich Ihnen mit dem Gepäck helfen?« Eugene hatte seine Tasse mit der Untertasse abgestellt. »Nein, danke, das ist schon unten. Wo ist Frank, wis sen Sie das?« »Ich denke, er ist oben, beim Tee«, sagte Eugene. Nein, da ist er nicht, wollte Tom sagen, aber er sagte es nicht. Er hatte plötzlich Angst. »Danke«, sagte er zu Eugene und eilte durch das Haus zum nächstgelegenen Ausgang, seiner Meinung nach die Eingangstür, dann hinaus auf eine Veranda und rechts herum zum Rasen. Vielleicht war Frank schon wieder oben, in dem Zimmer, wo sie alle Tee tranken, aber erst wollte Tom zur Klippe gehen. Er sah im Geist den Jungen dort wieder am Fels rand stehen und überlegen – was überlegte er? Tom rannte den ganzen Weg. Frank war nicht dort. Tom ver langsamte seinen Schritt, er keuchte – nicht weil er atem
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los, sondern weil er erleichtert war. Er kam näher an den Rand, und wieder packte ihn Angst. Er ging weiter. Da unten war die blaue Jacke, das dunklere Blau der Jeans, der dunkle Haarschopf mit einem roten Umriß – blumenhaft, unwirklich, und doch wirklich gegen die fast weißen Felssteine. Tom öffnete den Mund wie zu einem Schrei, aber er schrie nicht. Sekundenlang hielt er sogar den Atem an, bis er merkte, daß er am ganzen Körper zitterte und in Gefahr war, selbst hinunterzufallen. Der Junge war tot. Man konnte nichts mehr tun, nichts mehr versuchen, um ihn zu retten. Die Mutter benachrichtigen, dachte Tom, als er sich zum Haus zurückwandte. Herrgott, und all die Leute da oben! Als Tom ins Haus kam, traf er Eugene, rosig und ab fahrbereit. »Ist etwas vorgefallen, Sir? Es ist jetzt zwei vor fünf, wir sollten wohl –« »Ich glaube, wir müssen die Polizei rufen – eine Am bulanz oder so etwas.« Eugene musterte Tom, als suche er nach Verletzun gen. »Es ist Frank! Er ist da auf den Felsen draußen«, sag te Tom. Plötzlich verstand Eugene. »Ist er runtergefallen?« Er wollte loslaufen. »Er ist bestimmt tot. Können Sie das Krankenhaus an rufen oder was sonst nötig ist? Ich werd´s Mrs. Pierson sagen. – Erst das Krankenhaus!« sagte Tom, als Eugene aus der Glastür nach draußen stürzen wollte. Tom wappnete sich für das Gespräch oben und stieg hinauf. Er klopfte an die Tür der Teegesellschaft und trat ein. Alle schienen sich jetzt behaglich zu fühlen; Tal lehn te sich nahe bei Lily an die Sofalehne, Johnny stand im
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mer noch und sprach mit Mrs. Hunter. »Kann ich Sie ei nen Augenblick sprechen?« sagte Tom zu Lily. Sie erhob sich. »Ist was passiert, Tom?« fragte sie, als nähme sie an, er habe vielleicht seine Reisepläne geän dert, was gewiß niemanden gestört hätte. Tom sprach in der Diele mit ihr, nachdem er die Tür geschlossen hatte. »Frank ist eben von der Klippe ge sprungen.« »Wa – as? Oh, nein, nein!« »Ich bin hingegangen, ich wollte ihn suchen. Und ich habe ihn unten gesehen. Eugene ruft das Krankenhaus an – aber, ich glaube, er ist tot.« Tal öffnete plötzlich die Tür. Sein Gesicht nahm sofort einen anderen Ausdruck an. »Was ist los?« Lily Pierson konnte nicht sprechen, deshalb sagte Tom: »Frank ist eben von der Klippe gesprungen.« »Von der Klippe?« Tal wollte die Diele hinunterlaufen, aber Tom machte eine Bewegung, als wolle er sagen: Es ist zu spät. »Was gibt´s denn hier?« Johnny trat in die Tür, und hinter ihm die beiden Hunters. Tom hörte, wie Eugene die Treppe herauflief, und ging über die Diele zu ihm. »Ambulanz und Polizei werden in ein paar Minuten hier sein, Sir«, sagte Eugene schnell und ging an ihm vorüber. Tom blickte den Flur entlang und sah eine weiße Ges talt – nein, sie war blaßblau, blasser als Franks Jacke. Susie. Eugene war an den anderen vorbeigegangen und sagte ein Wort zu Susie. Sie nickte, und Tom meinte ein schwaches Lächeln auf ihrem Gesicht zu sehen. Jetzt lief Johnny an Tom vorüber zur Treppe. Zwei Krankenwagen kamen, der eine hatte Wiederbe lebungsgeräte, soweit Tom sehen konnte, als zwei weiß 424
gekleidete Männer, von Eugene geführt, über den Rasen eilten. Dann kam eine Klappleiter. Ob Eugene das ange geben hatte, oder kannten sie die Klippe von John Pier sons Unfall her? Tom blieb zurück, nahe beim Haus. Auf keinen Fall wollte er das zerschmetterte Gesicht des Jungen sehen; überhaupt wollte er sofort das Haus ver lassen, aber das war jetzt nicht möglich. Er mußte war ten, bis man den Jungen zum Rasen hinaufgebracht hat te, bis er, Tom, noch ein paar Worte zu Lily gesagt hatte. Tom ging ins Haus zurück, warf einen Blick auf seinen Koffer, der noch an der Haustür stand, und stieg die Treppe hinauf. Er spürte plötzlich den Wunsch, noch einmal in Franks Zimmer zu gehen – zum letztenmal. In der oberen Diele sah er Susie Schuhmacher am Ende des Flurs stehen, die Hände hinter sich ausge streckt gegen die Wand gepreßt. Sie sah ihn an und nick te, jedenfalls kam es Tom so vor. Er ging weiter bis zu Franks Zimmertür und noch etwas weiter. Susie nickte. Was wollte sie denn? Tom blickte sie an wie erstarrt, a ber mit gerunzelter Stirn. »Sehen Sie?« fragte Susie. »Nein«, sagte Tom fest. Wollte sie etwa versuchen, ihn einzuschüchtern, ihn zu überzeugen? Tom fühlte, wie animalische Feindseligkeit ihr gegenüber, ein Drang nach Selbsterhaltung in ihm aufstieg: das würde ihm über den Berg helfen. Er ging weiter auf sie zu. Knapp drei Meter vor ihr blieb er stehen. »Was reden Sie da?« »Von Frank, natürlich. Er war ein schlechter Junge, aber wenigstens wußte er es.« Jetzt bewegte sie sich, etwas schwach, auf Tom zu und nach rechts, um wieder in ihr Zimmer zu gehen. »Und Sie sind vielleicht auch so einer«, fügte sie hinzu. Tom trat einen Schritt zurück, vor allem um sie sich vom Leibe zu halten. Er wandte sich um, ging zurück zu 425
Franks Tür, trat ins Zimmer und schloß die Tür. Er war zornig, doch der Zorn ließ etwas nach. Das schrecklich ordentliche Bett! Nie wieder würde Frank darin schlafen. Und der Berliner Bär. Langsam ging Tom darauf zu. Er wollte ihn haben. Wer würde es schon erfahren oder sich was draus machen, wenn er ihn mitnahm? Behutsam hob Tom den pelzigen Körper auf. Dabei bemerkte er ein quadratisches Stück Papier auf dem Tisch, links von der Stelle, wo der Bär gesessen hatte. »Teresa, ich liebe dich auf ewig«, hatte Frank geschrieben. Tom ließ den angehaltenen Atem ausströmen. Absurd! Aber es stimm te natürlich, denn Frank war in der letzten halben Stunde gestorben. Tom rührte den Zettel nicht an; es kam ihm kurz in den Sinn, ihn mitzunehmen und zu vernichten, so wie man einem toten Freund einen letzten Dienst erweist. Aber Tom nahm nur den Bären mit, er ging hinaus und schloß die Tür. Unten stopfte er den Bären in eine Ecke seines Kof fers und drehte die Nase nach innen, so daß sie nicht zerdrückt wurde. Das Wohnzimmer war leer; Tom sah, daß alle draußen auf dem Rasen standen. Einer der Krankenwagen fuhr gerade ab. Tom wollte nicht noch einmal auf den Rasen hinaus blicken. Er ging im Wohn zimmer auf und ab und zündete sich eine Zigarette an. Eugene erschien und meldete, er habe den Flughafen in Bangor angerufen. Tom konnte, wenn er wollte, noch eine spätere Maschine erreichen; dann müßten sie in fünfzehn Minuten abfahren. Eugene war wieder ganz der Diener, nur war er jetzt sehr viel blasser. »Sehr gut«, sagte Tom. »Vielen Dank, daß Sie sich darum gekümmert haben.« Tom ging nach draußen auf den Rasen, um mit Franks Mutter zu sprechen. Eben wurde eine weißverdeckte Bahre hinten in den zweiten Krankenwagen geschoben. 426
Lily barg das Gesicht an Toms Schulter. Jeder sprach, sagte etwas, aber Lilys fester Griff an Toms Schulter sag te mehr. Und dann saß Tom auf dem Rücksitz eines der großen Wagen, und Eugene fuhr ihn nach Bangor. Um Mitternacht war er im Chelsea Hotel. Leute san gen in der Eingangshalle mit dem quadratischen Kamin und den schwarzweißen Plastiksofas, die wegen der Diebstahlsgefahr am Boden festgekettet waren. Der Text des Liedes war ein Limerick, wie Tom erkannte, und un ter viel Gelächter versuchten die Jungen in Levis und die paar Mädchen, die Worte der Gitarrenmusik anzupassen. Ja, ein Zimmer für Mr. Ripley sei reserviert, sagte der Mann in Tweed an der Rezeption. Tom blickte auf die Ölgemälde an den Wänden; er wußte, einige waren von Gästen, die ihre Rechnung nicht bezahlen konnten. Er hatte einen allgemeinen Eindruck von Tomatenrot. Dann fuhr er mit dem altmodischen Aufzug nach oben. Tom duschte, zog seine wenigst gute Hose an, streck te sich ein paar Minuten auf dem Bett aus und versuchte, sich zu entspannen. Es war hoffnungslos. Am besten aß er jetzt etwas, obwohl er nicht hungrig war, machte einen kurzen Spaziergang und versuchte dann zu schlafen. Im Kennedy Airport hatte er für morgen abend einen Flug nach Paris gebucht. Tom ging also aus und die Seventh Avenue hinauf, vorbei an geschlossenen und noch geöffneten Delikates senläden und Snack Shops. Weggeworfene Bierdosen ringe glänzten stumpf auf dem Bürgersteig. Taxis schwankten trunken in Schlaglöcher und wieder heraus und rumpelten weiter, sie erinnerten Tom irgendwie an die Citroëns in Frankreich, groß, schwerfällig und ag gressiv. Vor ihm und zu beiden Seiten der Straße erho ben sich hohe dunkle Gebäude, manchmal Büros, manchmal Wohnblocks, wie feste Brocken Land im Him 427
mel oben. Viele Fenster waren erleuchtet. New York schlief nie. Zu Lily hatte Tom gesagt: »Ich habe nun keinen Grund mehr zum Bleiben.« Er hatte gemeint, zur Bestattung zu bleiben, aber er hatte auch gemeint, er könne nun nichts mehr tun für Frank. Tom hatte ihr nichts gesagt von dem ersten Selbstmordversuch des Jungen kaum eine Stunde vorher. Lily hätte dann vielleicht gefragt: »Warum haben Sie ihn dann nicht im Auge behalten?« Ja, Tom hatte eben – irrtümlich – angenommen, Franks Krise sei vor über. Er trat in einen Snackshop an der Ecke, wo Hocker am Tresen standen, und bestellte einen Hamburger und ei nen Kaffee. Sitzen wollte er nicht, und Stehenbleiben durfte man auf jeden Fall. Zwei schwarze Gäste stritten sich wegen einer Wette, die sie abgeschlossen hatten; es ging um die möglicherweise krummen Touren des Buch machers, zu dem sie beide gegangen waren. Die Sache hörte sich unendlich kompliziert an, und Tom hörte nicht länger zu. Morgen könnte er ein paar Freunde in New York anrufen, dachte er, nur um mal Guten Tag zu sa gen. Doch der Gedanke reizte ihn nicht. Er fühlte sich verloren und ziellos, scheußlich. Er aß einen halben Hamburger und trank die Hälfte des schwachen Kaffees, dann zahlte er, verließ das Lokal und ging weiter zur For tysecond Street. Es war jetzt fast zwei Uhr morgens. Hier war es lustiger, eher wie ein toller Zirkus oder ein Bühnenbild, durch das er gehen durfte. Kräftige Cops in blauen kurzärmeligen Hemden schwangen ihre Holz knüppel und alberten mit den Prostituierten, die sie, wie Tom kürzlich gelesen hatte, festnehmen sollten. Vielleicht hatten sie die gleichen Mädchen schon so oft festge nommen, daß ihnen die Lust verging? Oder waren sie gerade dabei, diese hier festzunehmen? Halbwüchsige 428
Jungens mit Make-up und erfahrenen Augen musterten die älteren Männer, die bereit waren, sie zu kaufen; eini ge hatten schon Geld in der Hand. »Nein«, sagte Tom leise und senkte den Kopf, als eine Blondine auf ihn zukam, deren Schenkel unter glänzend schwarzem Plastik quollen. Mit Erstaunen las er die plumpen banalen Filmtitel auf den Filmplakaten. Wie ver schwindend wenig Talent gab es im Pornogeschäft! Aber die Kundschaft hier wollte auch keine Feinheiten oder Witz. Diese Riesenfarbfotos von Männern und Frauen, Männern und Männern, Frauen und Frauen, nackt und vermutlich dabei, es zu machen, und Frank hatte es nicht geschafft, bei dem einzigen Versuch, es mit Teresa zu machen. Tom lachte leicht auf, seltsam belustigt. Er hatte plötzlich genug; vorbei an den entlangschlurfenden Ne gern, den teiggesichtigen Weißen trottete er auf den dunklen Block der Public Library an der Fifth Avenue zu. Er ging nicht bis zur Fifth, sondern wandte sich nach Sü den zur Sixth Avenue. Ein Matrose torkelte rechts von Tom aus einer Bar und stieß mit Tom zusammen. Der Matrose fiel hin; Tom half ihm auf, stützte ihn mit einer Hand und langte nach der weißen Mütze, die heruntergefallen war. Der Junge sah aus wie ein Teenager und schwankte wie ein Mast im Sturm. »Wo sind deine Kameraden?« fragte Tom. »Sind kei ne Kameraden von dir da drinnen?« »Ich will´n Taxi und ´n Mädchen«, sagte der Junge grinsend. Er sah gesund aus; wahrscheinlich hatten ihn ein paar Whiskies und sechs Bier in diesen Zustand versetzt. »Komm mit.« Tom nahm ihn am Arm und schob die Tür der Bar auf. Drinnen sah er sich nach anderen Matro
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senuniformen um. Zwei sah er an der Bar, aber ein Bar mann kam auf Tom zu und sagte: »Den wollen wir hier nicht, und der kriegt auch nichts mehr!« »Sind das nicht seine Freunde da?« fragte Tom und zeigte auf die anderen beiden Matrosen. »Wir wollen ihn nicht!« sagte einer der beiden Matro sen, der ebenfalls ziemlich betrunken war. »Der soll sich verpissen!« Toms Schützling lehnte am Türrahmen und wehrte sich gegen die Versuche des Barmanns, ihn hinauszu drängen. Tom ging hinüber zu den beiden an der Bar; es küm merte ihn einen Dreck, ob er sich einen Faustschlag ein handelte. Mit möglichst penetrantem New Yorker Akzent sagte er: »Kümmert euch mal um euren Kameraden! Ei ne Sauerei ist das, ´nen Kumpel in derselben Uniform so zu behandeln!« Tom blickte den zweiten Matrosen an, der nicht ganz so benebelt war, und sah, daß der ihn verstanden hatte, denn er schob sich weg von der Bar theke. Tom ging auf die Tür zu und blickte zurück. Der weniger angeheiterte Matrose trat etwas widerwil lig auf seinen betrunkenen Kameraden zu. Na also, das war wenigstens etwas, dachte Tom im Hinausgehen, wenn auch nicht viel. Er ging zurück zum Chelsea Hotel. Die Gäste in der Lounge waren leicht an gesäuselt oder beduselt oder angestochen, aber im Ver gleich zum Times Square war die Stimmung gesittet. Das Chelsea war berühmt wegen seiner exzentrischen Gäste, aber sie hielten sich gewöhnlich in Grenzen. Tom kam der Gedanke, Heloise anzurufen, denn zu Hause war es jetzt etwa neun Uhr früh, aber er tat es nicht. Er merkte, daß er zerschlagen war. Zerschlagen. Und wieso war er vor einem Faustschlag der Matrosen in 430
der Bar bewahrt geblieben? Tom wußte, er hatte wieder mal Glück gehabt. Er fiel ins Bett, es war ihm egal, wann er aufwachen würde. Sollte er Lily morgen anrufen? Oder würde sie das e her stören oder durcheinanderbringen? Ob sie sich um Dinge kümmerte wie die Frage, welche Art Sarg ange bracht war? Ob Johnny plötzlich erwachsen wurde und alles übernahm? Oder ob Tal es übernahm? Würden sie es Teresa sagen, und würde sie zur Be stattung kommen, zur Einäscherung oder was immer es war? Mußte er wirklich heute nacht daran denken, fragte sich Tom, als er sich im Bett hin- und herwarf. Erst gegen neun Uhr am nächsten Abend hatte Tom eine Art Gelassenheit zurückgewonnen, ein Gefühl der Rückkehr zu sich selber. Die Flugzeugtriebwerke waren angelaufen, und Tom kam es vor, als wache er plötzlich auf, als sei er schon zu Hause. Er war glücklich, oder doch glücklicher; er war dabei zu entkommen – wem o der was? Er hatte noch einen Koffer gekauft, diesmal bei Mark Cross, Gucci war heute so super-snobistisch, daß Tom ihn lieber boykottierte. Der neue Koffer war angefüllt mit Einkäufen: ein Pullover für Heloise, ein Kunstbuch von Doubleday, eine blau-weiß gestreifte Schürze für Madame Annette, mit einer roten Tasche und der Auf schrift OUT TO LUNCH, und dann eine kleine goldene Nadel, auch für Madame Annette, weil sie bald Ge burtstag hatte, die Nadel hatte die Form einer fliegenden Gans mit kleinen spitzen Goldhalmen darunter, ferner eine gediegene Paßhülle für Eric Lanz. Tom hatte auch Peter in Berlin nicht vergessen, für ihn wollte er in Paris etwas Besonderes aussuchen. Tom sah zu, wie Manhat tans Lichtermärchenland mit den Bewegungen der Ma schine sanft auf- und niederschwebte. Er dachte an Frank, der nun bald in diesem Stück Land begraben sein 431
würde. Als die Küste Amerikas aus der Sicht ver schwand, schloß Tom die Augen und versuchte zu schla fen; doch immer wieder dachte er an Frank. Es war so schwer zu glauben, daß der Junge tot war. Es war eine Tatsache, aber diese Tatsache war etwas, das Tom noch nicht zur Wirklichkeit machen konnte. Er hatte gedacht, Schlaf werde ihm helfen, aber heute morgen war er mit dem gleichen Gefühl der Unwirklichkeit von Franks Tod erwacht – als ob er jetzt über den Mittelgang im Flugzeug hinüberblicken und Frank dort sitzen sehen könnte, wie er ihm zulächelte, ihn damit überraschte. Tom mußte sich das weiße Laken über der Bahre ins Gedächtnis zurück rufen. Kein Arzt zog jemandem das Laken ganz über den Kopf, wenn der Mensch darunter nicht tot war. Er würde an Lily Pierson schreiben müssen, einen richtigen handschriftlichen Brief, und er wußte auch, daß er das konnte, höflich und warm und alles. Aber was würde Lily jemals wissen von dem kleinen Gartenhaus in Moret, wo Frank geschlafen hatte, oder von Berlin, ja selbst von Teresas Macht über ihren Sohn? Was mochte Franks letzter Gedanke gewesen sein, als er herabfiel auf die Felsen? Teresa? Eine Erinnerung an seinen Va ter, der auf die gleichen Steine herabgestürzt war? Hatte der Junge vielleicht an ihn gedacht? Tom bewegte sich auf seinem Sitz und öffnete die Augen. Die Stewardes sen hatten mit dem Rundgang begonnen. Tom seufzte. Es war ihm gleich, was er bestellte, Bier, Whisky, etwas zu essen oder gar nichts. Wie sinnlos, wie nutzlos waren nun die wohlüberlegten Vorträge, die er Frank zum Thema »Geld« oder »Geld und Macht« gehalten hatte! Brauch es ein bißchen, hatte Tom gesagt; freu dich auch ein bißchen daran, und hör auf mit dem schlechten Gewissen. Gib etwas aus für wohltätige Zwecke, für Kunstprojekte, für was immer du 432
Lust hast und für die, die es brauchen. Ja, und er hatte, ebenso wie Lily, gesagt, es gäbe noch andere, die die Verwaltung der Pierson-Firmen übernehmen konnten, zumindest bis Frank die Schule beendet hatte und viel leicht auch noch danach. Aber ein wenig müsse Frank doch seine Nase ins Geschäft stecken, müsse seinen Namen (vielleicht zusammen mit dem seines Bruders) oben auf die Liste der Direktoren setzen lassen. Und nicht mal das hatte Frank gewollt. Irgendwann, Meilen hoch und in einem schwarzen Himmel, schlief Tom ein, unter einer Decke, die eine rot haarige Stewardess gebracht hatte. Als er erwachte, stieg blendend hell die Sonne auf – sie schien ebenso wenig im Schritt zu sein mit der Zeit wie alles andere. Das Flugzeug war jetzt, nach der Ankündigung, die Tom geweckt hatte, über Frankreich. Dann wieder Roissy, mit den Satelliten und den schimmernden Rolltreppen. Auf einer fuhr Tom mit dem Handgepäck nach unten. Es hätte Schwierigkeiten geben können wegen des neuen Koffers mit seinem Inhalt, aber Tom setzte eine unbewegte Miene auf und nahm die Sperre mit der Aufschrift »Nichts zu verzollen«. Er prüfte den Fahrplan, den er in der Brieftasche hatte, nahm sich einen Zug vor und rief an in Belle Ombre. »Tome!« sagte Heloise. »Du bist wo?« Sie konnte nicht glauben, daß er im Flughafen war, und er konnte nicht glauben, daß sie ihm so nahe war. »Ich kann um zwölf Uhr dreißig in Moret sein, problemlos. Ich hab´s gerade nachgesehen.« Tom lächelte plötzlich. »Alles in Ordnung?« Ja, alles war in Ordnung, nur Madame Annette hatte sich das Knie verstaucht, als sie auf der Treppe hinfiel oder ausrutschte. Doch selbst das hörte sich nicht allzu ernsthaft an, denn sie ging herum wie gewöhnlich, sagte 433
Heloise. »Warum hast du denn nicht geschrieben, oder angerufen?« »Ich war nur so kurz da!« erwiderte Tom. »Zwei Tage bloß. Ich erzähle dir alles, wenn wir uns sehen. Zwölf Uhr einunddreißig.« »A bientôt, chéri!« Sie wollte ihn abholen. Tom nahm sein Gepäck – das auch so kein Überge wicht gehabt hatte – und fuhr per Taxi zum Gare de Ly on, wo er mit Le Monde und Le Figaro den Zug nach Mo ret bestieg. Er hatte die Zeitungen fast durchgeblättert, als ihm klar wurde, daß er gar nicht nach irgendetwas über Frank gesucht hatte, und ihm auch klar wurde, daß wohl kaum genug Zeit verstrichen war für einen Bericht über seinen Tod in diesen Zeitungen. Ob es wieder als möglicher »Unfall« hingestellt werden würde? Was hatte seine Mutter vor zu sagen? Er nahm an, Lily werde sa gen, ihr Sohn habe Selbstmord begangen. Geschichte oder Klatsch mochten dann aus den beiden Todesfällen innerhalb eines Sommers machen, was sie wollten. Heloise erwartete ihn neben dem roten Mercedes. Der Wind ließ ihr Haar flattern. Sie sah ihn und winkte, aber er konnte nicht zurückwinken mit zwei Koffern und einer Plastiktüte mit holländischen Zigarren, Paperbacks und Zeitungen. Er küßte Heloise auf beide Wangen und auf den Hals. »Wie geht´s dir?« fragte Heloise. »Aah-h«, sagte Tom, der eben seine Koffer in den Kof ferraum hob. »Ich dachte, du kämst vielleicht mit Frank zurück«, sagte Heloise und lächelte. Tom fand es erstaunlich, wie glücklich sie aussah. Wann, dachte er, als sie vom Bahnhof abfuhren, sollte er ihr von Frank erzählen? Heloise – sie hatte gesagt, sie wolle gern fahren – hatte jetzt Straßenverkehr und Am 434
peln hinter sich und war auf dem Weg nach Villeperce. »Ich will´s dir lieber gleich sagen – Frank ist vorgestern gestorben.« Tom blickte auf das Lenkrad, während er sprach, aber Heloises Hände hatten es nur eine Sekunde lang fester gepackt. »Gestorben – wie meinst du das?« fragte sie auf Französisch. »Er ist von der Klippe gesprungen – dieselbe Stelle, an der sein Vater starb. Ich will´s dir zu Hause erklären. Ich mochte es vor Madame Annette nicht sagen, nicht einmal auf Englisch.« »Was für eine Klippe meinst du?« fragte Heloise, im mer noch auf Französisch. »Eine Klippe auf ihrem Grundstück, in Maine. Man sieht da aufs Meer hinaus.« »Ach ja, das!« Plötzlich erinnerte sich Heloise, viel leicht aus den Zeitungsnachrichten. »Und da bist du ge wesen? Du hast ihn gesehen?« »Ich war dort im Haus. Ich habe nicht gesehen, wie er es tat – die Klippe liegt etwas weiter weg. Ich werde –« Es fiel Tom schwer weiterzusprechen. »Es gibt im Grun de nicht viel mehr zu sagen. Ich habe eine Nacht dort geschlafen. Ich wollte am nächsten Tag abreisen – und habe das auch getan. Seine Mutter und ein paar Freunde waren da, beim Tee. Ich ging hinaus, ich wollte den Jun gen suchen.« »Und da hast du gesehen, daß er hinuntergesprungen war?« fragte Heloise jetzt auf Englisch. »Ja.« »Wie schrecklich, Tome! Deshalb siehst du auch so – abwesend aus.« »Ja? Abwesend?« Sie hatten jetzt fast Villeperce er reicht; Tom sah ein Haus, das er kannte und gern hatte, dann kam die Post und dann die Bäckerei, bevor Heloise 435
sich nach links wandte. Sie hatte die Straße durch den Ort genommen, vielleicht zufällig, vielleicht weil sie ner vös war und langsamer fahren wollte. Tom sprach weiter. »Ich fand ihn, etwa zehn Minuten nachdem er hinunter gesprungen war. Ich weiß es nicht genau. Ich mußte zu rück und es der Familie sagen. Es ist eine ziemlich steile Klippe – unten sind große Felsen. Ich erzähle dir viel leicht später mehr, Darling.« Aber was gab es noch wei ter zu erzählen? Tom sah Heloise an, die eben durch das Tor von Belle Ombre fuhr. »Ja, du mußt mir noch erzählen«, sagte sie, als sie aus dem Wagen stieg. Tom sah, das war eine Geschich te, die sie in allen Einzelheiten zu hören erwartete, denn Tom hatte nichts Unrechtes getan und würde nichts vor ihr verbergen. »Ich mochte Frank gern, weißt du«, sagte Heloise zu Tom, und die lavendelblauen Augen trafen sich eine Se kunde lang mit seinen Augen. »Am Schluß, meine ich. Zuerst mochte ich ihn nicht.« Das wußte Tom. »Das ist ja ein neuer Koffer –?« Tom lächelte. »Es sind auch ein paar Sachen drin.« »Ohh! – Dank dir auch für die deutsche Handtasche, Tome!« »Bonjour, Monsieur Tome!« Madame Annette stand auf der sonnigen Türschwelle. Tom sah unterhalb ihres Rocksaums, unter dem beigen Strumpf oder der Strumpfhose, den Rand einer hellen elastischen Binde, die um das Knie gebunden war. »Wie geht es Ihnen, liebe Madame Annette?« sagte Tom und legte den Arm halb um sie, und sie erwiderte, es gehe ihr sehr gut. Sie gab ihm einen angedeuteten Kuß, hielt aber kaum an, sondern kam sofort über den Kiesweg und nahm Heloise den Koffer ab. Sie bestand 436
auch darauf, beide Koffer nach oben zu tragen, trotz des verstauchten Knies, einen Koffer nach dem andern, und Tom ließ sie gewähren, weil es ihr Freude machte. »Es ist so gut, zu Hause zu sein!« sagte Tom und sah sich im Wohnzimmer um, sah den zum Lunch gedeckten Tisch, das Cembalo, den falschen Derwatt über dem Kamin. »Weißt du, daß die Piersons den ›Regenbogen‹ haben? Habe ich das schon erwähnt? Du weißt doch, einen der – einen sehr guten Derwatt.« »Tat-sächlich –?« sagte Heloise mit leichtem Spott, als habe sie von diesem besonderen Derwatt schon mal ge hört oder auch nicht gehört, oder als argwöhne sie, er sei eine Fälschung. Tom wußte es nicht, aber er lachte er leichtert und glücklich. Madame Annette kam die Treppe hinunter, sie ging vorsichtig und hielt sich mit einer Hand am Geländer fest. Gut, daß er sie schon vor Jahren da von abgebracht hatte, die Treppenstufen zu bohnern. »Wie kannst du so fröhlich aussehen, wenn der Junge tot ist?« Heloise hatte Englisch gesprochen, und Mada me Annette nahm jetzt den zweiten Koffer und achtete nicht auf sie. Heloise hatte recht. Tom wußte nicht, warum er sich so fröhlich fühlte. »Vielleicht ist es mir noch nicht ganz reingegangen. Es was so plötzlich – ein Schock für alle im Haus. Franks älterer Bruder, Johnny, war auch da. Frank war sehr unglücklich wegen eines Mädchens, das hatte ich dir gesagt. Teresa. Und dann der Tod seines Vaters –« Weiter wollte Tom nicht gehen. Der Tod des alten Pierson würde immer ein Selbstmord oder ein Un fall bleiben, wenn er mit Heloise darüber sprach. »Aber das ist doch furchtbar – sich mit sechzehn um zubringen! Immer mehr junge Leute bringen sich um, weißt du das? Ich lese das immer in den Zeitungen. – Möchtest du? Oder sonst was?« Heloise hielt ihm das 437
Weinglas mit Perrier entgegen, das sie – wie Tom wußte – gerade für sich selbst eingeschenkt hatte. Tom schüttelte den Kopf. »Ich möchte mich erstmal waschen.« Er ging auf die untere Toilette zu, die ein Waschbecken hatte, und warf dabei einen Blick auf das kleine Häufchen von vier Briefen auf dem Telefontisch, die Post von gestern und heute. Das hatte alles Zeit. Beim Lunch erzählte er Heloise von dem Pierson´schen Haus in Kennebunkport, von der komischen alten Wirtschafterin Susie Schuhmacher, die Haushälte rin und zum Teil vor Jahren auch Erzieherin der Jungen gewesen war und die jetzt mit einem Herzanfall zu Bett lag. Es gelang ihm, das Haus als eine Mischung aus Lu xus und seltsamer Düsterkeit darzustellen, was es in Wahrheit auch war, dachte Tom, oder jedenfalls hatte er es so empfunden. An Heloises leicht gerunzelter Stirn erkannte Tom, daß sie wußte, daß er nicht die ganze Wahrheit erzählte. »Und am selben Abend bist du abgereist – gleich nachdem der Junge gestorben war?« fragte sie. »Ja. Ich sah nicht, was ich noch hätte tun können, wenn ich länger geblieben wäre. Die Bestattung – das hätte vielleicht noch zwei Tage gedauert.« Vielleicht war sie heute, Dienstag, gewesen, dachte Tom. »Ich glaube, die Bestattung – das hättest du nicht ausgehalten«, sagte Heloise. »Du hast den Jungen sehr gern gehabt, nicht wahr? Das weiß ich.« »Ja«, sagte Tom. Er konnte Heloise jetzt gerade an sehen. Seltsam, dieser Versuch, ein junges Leben so zu steuern, wie er es getan hatte – und dann zu versagen. Vielleicht kam einmal ein Tag, da er es Heloise gestehen konnte. Aber wiederum konnte er das nicht, denn er wür de ihr niemals sagen, daß der Junge seinen Vater über die Felskante gestoßen hatte, und eben das war die gan 438
ze Erklärung für den Selbstmord des Jungen, oder jeden falls war es wichtiger als Teresa, hatte Tom das Gefühl. »Hast du Teresa kennen gelernt?« fragte Heloise. Sie hatte bereits eine eingehende Beschreibung von Lily Pierson erbeten, die früher Schauspielerein gewesen war und so reich geheiratet hatte. Tom hatte getan, was er konnte, einschließlich einer Schilderung des liebenswür digen Tal Stevens, den sie, wie Tom meinte, wohl heira ten werde. »Nein, nein, Teresa habe ich nicht gesehen. Ich glau be, sie war in New York.« Tom bezweifelte sogar, daß sie zu Franks Bestattung kommen würde. War denn das ü berhaupt wichtig? Teresa war für Frank ein Gedanke ge wesen, fast unberührbar, und das würde sie auch blei ben, »auf ewig«, wie Frank geschrieben hatte. Nach dem Lunch ging Tom nach oben, um sich seine Post anzusehen und auszupacken. Noch ein Brief von Jeff Constant von der Galerie Buckmaster in London war dabei, und Tom sah gleich, daß alles in Ordnung war. Im Brief stand, im Management der Accademia Derwatt in Perugia sei ein Wechsel eingetreten, zwei künstlerisch begabte junge Leute aus London (Jeff nannte auch die Namen) hätten die Leitung übernommen und trügen sich mit dem Gedanken, einen nahen Palazzo zu überneh men, den man in ein Hotel für Kunststudenten umwan deln könnte. Was meinte Tom dazu? Kannte er vielleicht den Palazzo südwestlich der Kunstschule? Die beiden Londoner wollten mit der nächsten Post ein Foto schi cken. Jeff schrieb: »Das bedeutet Expansion, was sich wohl gut anhört, meinst du nicht, Tom? Außer wenn du vielleicht vertrauli che Informationen über interne Umstände in Italien hast, die zur Zeit gegen einen Kauf sprechen.« 439
Tom hatte keine vertraulichen Informationen. Ob Jeff ihn für ein Genie hielt? Ja. Tom wußte, er würde der Kauf idee zustimmen. Expansion: in Hotels, ja. Das meiste Geld aus der Kunstschule floß aus dem Hotelteil des Un ternehmens. Der echte Derwatt würde sich im Grabe umdrehen. Er zog den Pullover aus, schlenderte hinüber in sein blauweißes Badezimmer und warf den Pullover hinter sich auf einen Stuhl. Er meinte zu hören, wie die Holz ameisen bei seinen Schritten aussetzten, oder hatte er die Ameisen überhaupt gehört? Er legte das Ohr an die Seite des Holzregals. Doch – er hörte sie, und sie hatten überhaupt nicht ausgesetzt. Ein ganz schwaches Sirren war zu hören, das noch zunahm, während er lauschte. Immer noch an der Arbeit, die kleinen Zeloten! Auf einem zusammengefalteten Pyjama in einem Regal sah Tom eine Miniaturpyramide aus feinem rotbraunem Staub, der aus den Bohrlöchern im oberen Regal gefallen war. Was bauten sie da eigentlich? Betten für sich selber, Eiabla gen? Vielleicht hatten die kleinen Baumeister sich alles genau überlegt und da drinnen einen winzigen Bücher schrank aus Speichel und Sägespänen konstruiert, ein kleines Denkmal für ihr Know-how, ihren Lebenswillen? Tom mußte laut lachen. Verlor er jetzt selber den Verstand? Aus der Ecke seines Koffers nahm Tom den Berliner Bären heraus. Behutsam plusterte er das Fell ein wenig auf und setzte ihn hinten auf seinen Schreibtisch vor zwei Wörterbücher. Der kleine Bär war zum Sitzen gemacht, die Beine ließen sich nicht zum Stehen biegen. Die hel len Augen blickten Tom mit derselben unschuldigen Fröhlichkeit an wie in Berlin, und Tom lächelte zurück und dachte an die »Drei Würfe eine Mark«, die ihn ge 440
wonnen hatten. »Du sollst für den Rest deines Lebens ein gutes Zuhause haben«, sagte Tom zu ihm. Er wollte jetzt duschen, sich dann aufs Bett legen und die übrigen Briefe ansehen, dachte er. Versuchen, wie der normal zu werden, rechtzeitig, zwanzig vor drei jetzt, französische Zeit. Frank würde heute in ein Grab gelegt werden, Tom war sicher, aber er mochte nicht ausrech nen, wann das sein würde, denn für Frank war Zeit be deutungslos geworden.
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