Yves Gandon
Der letzte Weisse
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Yves Gandon
Der letzte Weisse
scanned by c0y0te
Nach dem vierten Weltkrieg, in dem sich die letzten Angehörigen der weißen Rasse gegenseitig zerfleischen, blieb schließlich nu noch einer von ihnen übrig. Er wird von den Schwarzen und Gelben in New York - das nun Colour city heißt - in ein Museum gesteckt, wo er gegen Eintrittsgeld besichtigt werden kann. Es gelingt ihm, mit einer schwarzen Journalistin zu entfliehen und nach Europa zu kommen, das durch den Krieg völlig verödet ist, Ihr erzählt er sein Leben, berichtet von den Impressionen seiner Jugend, dem friedlichen und idyllischen Dasein vor dem Krieg und den Schreckensvision der Katastrophe, in der sich die weiße Rasse auslöschte. ISBN: 345307209X Original: le dernier blanc Übertragen von Robert Brandt Heyne Erscheinungsdatum: Mai 1995
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DEM ANDENKEN an meinen Bruder Luden Gandon vom 167. R..I.. gefallen im Walde von VillenCotterets am 1. Juni 1918, und an meinen Schwager Maurice Grymonprez vom 245.R. A. L, gefallen in Coussegrey am 15. Juni 1940
OH! MAN WIRD ERINNERN! Villiers de l'Isle-Adam
SICH
DIESES
PLANETEN
Prolog April 1941. Die Dämmerung senkte sich über die Straßen von Paris und hüllte sie allmählich in die von der deutschen Besatzung vorgeschriebene Dunkelheit. Ich sprach mit einem Freund über die Ereignisse, die unser unglückliches Land zu Boden geworfen hatten. Frankreich erlebte neben der Schande einer fremden Besatzung die Schrecken der Bombardements und die verheerenden Folgen der Teuerung. Entwaffnet, ohnmächtig, geknechtet durch den Feind und seine bezahlten Helfershelfer, mußten wir mit gebundenen Händen, Wut im Herzen, der Fortsetzung dieses erbarmungslosen Krieges zusehen, bei dem selbst im günstigsten Falle für alle beteiligten Völker nur Ruinen und ein furchtbares Chaos übrig bleiben konnten. »Wie kommt es nur«, sagte ich zu meinem Freund, »daß die Menschen noch immer nicht begriffen haben, daß sich der Krieg, um die bereits klassisch gewordene Formulierung anzuwenden, nicht beza hlt macht? Der erste Weltkrieg sollte angeblich der letzte sein, und siehe da, wir erleben einen zweiten noch viel schrecklicheren. Werden die Kriege wirklich erst mit dem Ende der Menschheit auch ihr Ende finden? Inzwischen scheint dieser hier bis zum letzten Europäer, bis zum letzten Weißen durchgekämpft zu werden.« Bis zum letzten Weißen - das Wort ging mir im Kopf herum. Am nächsten Morgen dachte ich an einen Roman, der sich auf diesem gewaltigen Thema aufbauen ließe, und ich begann Notizen aufs Papier zu werfen. Eine Woche später machte ich mich ans Werk. »Der letzte Weiße« stellt also in erster Linie eine Untersuchung der eigenen geistigen Einstellung dem Krieg gegenüber dar, der ja nur als Phänomen eines kollektiven Irreseins betrachtet werden kann. Die Weißen werden nicht von den Schwarzen oder Gelben ausgerottet, sondern durch ihren eigenen Wahnsinn, und man wird in diesem Buch, ohne damit weitergehende Vergleiche ziehen zu wollen, etwas von dem -4-
philosophischen Geist finden, dem Voltaire in seinen unsterblichen Erzählungen Ausdruck verliehen hat. Die durch den Krieg verursachte Folge von Katastrophen wird allerdings zum größten Teil vom letzten Weißen selbst erzählt. Der letzte Weiße ist ein Durchschnittsfranzose, aber ein Franzose von jener guten Art, die man trotz des Tiefstandes der allgemeinen Moral auch heute noch finden kann. Mit der Schilderung seines persönlichen Mißgeschicks malt er gleichzeitig das tragische Bild des Untergangs der ganzen weißen Rasse. So bleibt dieser utopische Roman ein menschlicher Roman, und der Autor hat sich bemüht, ihm vor allem durch die Betonung des Gefühlsmäßigen den größtmöglichen Eindruck der Wahrheit oder doch mindestens der Wahrscheinlichkeit zu verleihen. Aber selbst wenn man dieses Buch als reine Utopie betrachtet, so handelt es sich im vorliegenden Fall nicht um eine phantastische Träumerei etwa nach Art der Erzählungen von H. G. Wells. Das Außergewöhnliche ist hier nicht der Feind des Möglichen. Die »weiße Pest«, welche die Nachkommen Sems und Japhets dahinrafft, ist auf eine staatlich angeordnete Impfung ohne genügende Vorsichtsmaßnahmen zurückzuführen, die eine verheerende Epidemie verursacht. In seinem auf die Anregung mehrerer hervorragender Spezialisten entstandenen Werk »Die französischen Vorkämpfer auf dem Gebiet der infektiösen Pathologie« schreibt Georges Duhamel in bezug auf den großen Charles Nicolle: »Die Pockenimpfung kann eines Tages zu einer schweren Krankheit führen.« Allerdings fügt er gleichzeitig hinzu: »Doch die Welt braucht sich nicht; zu beunruhigen, man wird etwas anderes finden, um die Impfung zu ersetzen.« Ärztlicher Optimismus. Aber wenn dieses »Andere« nicht gefunden wird oder zu spät kommt? Hier liegt der Ausgangspunkt, von dem aus ich die letzten Konsequenzen entwickle. Und nun möge der »letzte Weiße« seinen Weg unter die Menschen nehmen, vorausgesetzt, daß sie noch Augen -5-
haben, zu sehen, und Ohren, zu hören.
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COLOUR CITY Der weiße Mann zog den Tapetenvorhang hoch, der das Zement-Glasfenster verbarg, und drückte auf einen Knopf. Die Fensterflügel glitten in ihre Schlitze. Der Lautsprecher der elektrischen Uhr hatte soeben mit seiner blechernen Stimme, die dem Bewohner dieses Raumes an den Nerven riß und an die er sich nie gewöhnen würde, verkündet: »Acht Uhr! Es ist genau acht Uhr!« Er beugte sich hinaus und sah auf die Straße hinunter. Atsuo und Choy, die kleinen Japse, marschierten wie die Ameisen mit ihren kurzen, schnellen Schritten heran. Als sie vor dem Tor angekommen waren, blieben sie wie erstarrt stehen und grüßten, die Strahlenpistolen gen Himmel gerichtet, ihre beiden Kameraden, die sie ablösten. Der weiße Mann seufzte. Die breite Straße belebte sich. Wagen, die alle die Form von Zigarren mit ihren zugespitzten Enden hatten, glitten fast geräuschlos vorüber und ließen von Zeit zu Zeit ein Signal, ein schrilles Läuten ertönen. Die Luft erzitterte von dem Gebrumm der Flugzeuge, die wie Farbflecke im klaren Äther schwebten. Es war schon sehr warm, und der wolkenlose Himmel versprach einen brennend heißen Tag. Der weiße Mann lehnte am Fenster und ließ seinen Blick über die trostlose Perspektive der schnurgeraden Avenue schweifen, auf deren beiden Seiten sich die Häuserblocks mit dreißig oder vierzig Stockwerken reckten. Der Anblick dieser wimmelnden Bienenkörbe in ihrer gräßlichen. Monotonie verursachte ihm ein unbeschreibliches Heimweh. Er brauchte nur eine Sekunde die Augen zu schließen, um die kleinen Häuser von Avallon, seiner Geburtsstadt, vor sich zu sehen mit ihren Schindel- und Ziegeldächern, die selbst in der Gluthitze des Hochsommers einen angenehmen, kühlen Schutz boten. Sein Schritt würde nie mehr über das Pflaster des friedlichen Vauban-Platzes hallen, er würde niemals wieder in der Dämmerung auf einer Bank der -7-
Wallpromenade sitzen, von der aus man in der Ferne die Hügel des Morvan mit ihren dichten Wäldern am Horizont verschwimmen sieht. Die Sankt Lazarus-Kirche, den Beurdelaine-Turm, die Martins-Kirche, den Turm von Escharguet - er brauchte nur halblaut ihre Namen vor sich hinzumurmeln, die dem Knaben William Durand so ve rtraut waren, und er konnte sich nicht von dem Gedanken befreien, daß sie früher einmal zu einem Kapitel der Menschheitsgeschichte gehörten, das nun unter dem Staub der Jahrhunderte begraben lag. Und doch trennten nur zehn Jahre das Heute von seiner letzten Reise nach Avallon. Seine letzte Reise drei selige Tage eines wundervollen, goldenen Herbstes. Er liebte diese blonde Manette mit ihren Veilchenaugen und ihrem zarten, weißen Körper bis zum Wahnsinn. Sie hatte in die Hände geklatscht, als er ihr vorschlug, drei Tage auszureißen. Das geschah der Firma Marcel und Maurice (Modehaus ersten Ranges) ganz recht, bei der ihre schlanke Linie die mittelst der Schönheits-Chirurgie und der finnischen Massage mühsam entfettete Kundschaft zur Verzweiflung brachte, wenn sie als Mannequin die neuesten Modelle vorführte. Ach, diese Tage im Tal des Cousin, in dem die Forellen wie silberblaue Blitze schnellten, mit seinen kleinen Pfaden am rauschenden Bach, auf denen die herbstlichen Blätter welkten, den rostbraunen Wäldern, durch die ein goldener Sonnenstrahl zitterte, bis man schließlich die wilden Felsen des Crot de la Foudre erreichte. Unvergeßliche Manette, mit deinem Lächeln und deinen Küssen im Boot mit dem flachen Boden auf dem See von Moulin Cadoux! Die Ruder klatschten in musikalischem Rhythmus ins schwere Wasser, ein safrangelbes Blatt wirbelte über unseren Köpfen, fiel auf deinen Schoß, und du erklärtest, daß dieses vom Himmel gefallene Gold Glück bedeute. Und wenige Tage später - Zehn Jahre waren seither vergangen, zehn Jahre, die für diese weiße Rasse, die so eitel auf ihre Große war, mehr als zwanzig Jahrhunderte bedeuteten, zehn -8-
Jahre, die das alte Europa zu einem leeren Begriff gemacht hatten, wie Ninive oder Memphis. Nun sprießte Unkraut zwischen den Fliesen von Notre Dame und der WestminsterAbtei. Die Wiener Hofburg, der Kreml der Zaren, das Schloß Sanssouci und die römischen Paläste waren nur noch der Unterschlupf für Scharen von Krähen und Geiern. In New York, das jetzt Colour City hieß, bewohnte William Durand, der letzte noch lebende Sproß aus dem Geschlecht Japhets, den bescheidenen Teil eines Hauses, das zwischen zwei riesenhaften Gebäuden der Fünften Avenue eingeklemmt war und dessen Fassade einen griechischen Tempel vorzutäuschen versuchte. Auf dem Giebel dieses lächerlichen Tempels glänzte in Buchstaben aus Platin die Inschrift: Museum des weißen Menschen. William Durand seufzte noch einmal, dann schob er eine Tablette Peyotl-Kaugummi zwischen die Zähne. Dieses im Geschmack reichlich fade Zuckerwerk verschaffte ihm eine Reihe farbiger Halluzinationen, die zwar seine Ansichten über die Welt verbesserten, aber doch nicht ausreichten, um in seinen Augen die unheilbar gelbe oder schwarze Haut der neuen Herren des Planeten zu bleichen. »Acht Uhr fünfzehn Minuten! Es ist genau acht Uhr fünfzehn Minuten«, schnarrte hinter ihm die sprechende Uhr. Er ballte vor Wut die Faust. Er war überzeugt, daß er eines Tages dieses lästige Instrument zerschlagen würde. Aufgeschreckt aus seinem enttäuschenden Traum wollte er eben das Fenster verlassen, als er auf der Straße die Neger Jonathan und Gordon bemerkte. Sie hatten sich um eine Viertelstunde bei der Ablösung verspätet, was aber die beiden Bambulas keineswegs zu beunruhigen schien. Sie schlenderten langsam daher, und zweifellos erzählte Gordon seinem Begleiter eine lustige Geschichte; denn Jonathan blieb plötzlich stehen, schlug dem Sprecher auf die Schulter, und seine weißen Zähne funkelten aus seinem pechschwarzen Gesicht, während er herzhaft lachte. Da habe ich ja meine Leibwache, fuhr William -9-
Durand in seinen Gedanken fort, zwei Gelbe, zwei Schwarze, ich, der bescheidene Fotograf vom Boulevard de Batignolles, der schlichte Erfinder des »natürlichen Porträts« und durch einen glücklichen Zufall, bei dem mein persönliche s Verdienst nicht die geringste Rolle spielt, der keineswegs geniale Präparator des Professors Balanche, des berühmten Mikrobiologen. Der Professor Balanche war, darüber besteht gar kein Zweifel, eine Leuchte der Wissenschaft, während ich ein Nichts war. Und trotzdem bin ich heute berühmter als er. Sollte ich wirklich der Letzte der Degenerierten sein (meine Loyalität nötigt mich zu dieser Richtigstellung), so wird die Neugierde der ganzen Welt an meine Person gekettet bleiben. Es ist nicht das Individuum William Durand, das die Menge interessiert, vielmehr das, was die primitiven Indianer als »Bleichgesicht« bezeichneten. Ich bin der letzte Weiße, der, wie man gerne zugeben wird, ebenso wertvoll ist wie das letzte Iguanodon oder der letzte Pithecanthropus. Man überwacht mich mit einer Sorgfalt, die mir früher die Haare hätte zu Berge stehen lassen, die ich aber heute, Gott sei's geklagt, schweigend über mich ergehen lassen muß. Wenn ich mein Gefängnis verlassen will, dieses Museum, dessen einziges und unersetzliches Ausstellungsstück ich bin, umgeben mich meine vier Argusse wie einen Verbrecher, halten mit mir Schritt und weichen mir nicht von den Fersen. Dieser üble Scherz dauert nun schon länger als neun Jahre, und es ist vorauszusehen, daß er bis zu meinem Ende dauern wird. »Oh, Sie werden ein schönes Begräbnis haben, Herr Durand!« versicherte mir neulich mit einem Grinsen der kleine Choy. »Ich habe aus sicherer Quelle erfahren, daß sich der Gelbschwarze Großrat bereits mit der Angelegenheit befaßt hat. Man wird Reden an Ihrem Grabe halten, und feierliche Zeremonien sind vorgesehen. Denken Sie doch! Das Begräbnis des letzten Weißen! Man hat davon gesprochen, Sie einzubalsamieren und in einem -10-
Mausoleum in einem Kristallsarg zur Schau zu stellen wie einst den Russen Lenin in Moskau.« Diese gelbe Meerkatze ist sonst etwas zartfühlender. Sie schien überrascht zu sein, daß ich ihre Auslassungen übel aufnahm wie etwas, das dem guten Geschmack zuwiderläuft. Ein schallendes Gelächter ertönte aus dem Parterre herauf. »Die sind vergnügt«, sagte sich William Durand. »Es ist wahr, diese coloured men haben keinen vernünftigen Grund, wie ich Trübsal zu blasen. Ihre Rasse gedeiht und läuft nicht Gefahr auszusterben.« Er zog eine weiße Flanelljacke an. Das Peyotl begann zu wirken. Der Sonnenstrahl, der schräg in den Raum fiel, verwandelte sich in einen Strom von Gold, durch den sich blaue, grüne und zartlila Fäden zogen. Die verhaßte Uhr aus verchromtem Metall wurde zu einem graziösen Vogel, dessen diamantene Federkrone funkelte, und als er seine Hand betrachtete, die er nach einer Bürste ausgestreckt hatte, schienen seine Finger eine lustige Metamorphose durchzumachen. Er zog sie vorsichtig zurück und entdeckte an ihrer Stelle fünf ganz gleiche Männchen, die bizarre rosa Seidenhütchen aufhatten. Das erste lüftete höflich seine Kopfbedeckung, und die ändern folgten seinem Beispiel. Es war ein unbeschreiblich komischer Anblick. Schade, daß die Ration an Peyotl-Kaugummi nur eine einzige Tablette pro Woche betrug, die so schwach dosiert war, daß ihre Wirkung schnell wieder verflog. Schon begann die bezaubernde Trunkenheit nachzulassen. Das letzte Männchen setzte sein rosa Hütchen auf, das sogleich das Aussehen eines gepflegten Fingernagels annahm. Die Uhr wurde wieder zu dem, was sie war, zu einem unerträglichen mechanischen Gebilde, aus dem in wenigen Sekunden von seinem Registrierstreifen die vorgesehene Meldung ertönen würde: »Acht Uhr dreißig Minuten! Es ist genau acht Uhr dreißig Minuten!« Für William Durand blieb bis zum Abend nichts zurück als eine übersteigerte Empfindlichkeit des Auges, die ihm das Spiel -11-
von Licht und Schatten noch greller erscheinen ließ. »Wenn die kleine Hannah nur früher kommen möchte«, dachte er, »ich wäre im Stande, sie für die Königin von Saba zu halten.« Hannah Pierce war trotz ihrer zweiundzwanzig Jahre (seit ihrer kühnen Reportage über die Ruinen von London) die umworbenste Mitarbeiterin der «Colour City Times«. Welch ergreifendes Bild der Apokalypse hatte sie von der riesigen toten Stadt mit ihren tausenden zusammengestürzten Häusern, den verstreuten menschlichen Gebeinen, dem Anblick der Skeletthaufen, die auf den versumpften Straßen moderten, gezeichnet! Wie hatte sie es verstanden, erschütternde Einzelheiten hervorzuheben, den Kastanienbaum, der seine Wurzeln unter der zerborstenen Decke der Halle geschlagen hatte, die einstmals der Lesesaal des Britischen Museums war, die Schar verwilderter Hunde, die mit blutunterlaufenen Augen und schäumender Schnauze aus einem klaffenden Riß des ehemaligen Saint James-Palastes herausgestürzt war! (Hätte die kühne Hannah nicht ihre Strahlenpistole zur Hand gehabt, wäre sie unweigerlich zerrissen worden.) Eine der packendsten Schilderungen für William Durand war die des Hyde-Parks, der nur noch eine undurchdringliche Grassteppe bildete, auf der die Reporterin den einzigartigen Kampf eines Tigers und einer Pythonschlange beobachtet hatte. (Ohne Zweifel stammten die Tiere aus dem früheren Zoo.) Durch ihren Erfolg ermutigt, hatte sich Hannah Pierce in den Kopf gesetzt, eine andere Expedition zu den Ruinen von Paris zu unternehmen. Und da man beim Journalismus immer eine Steigerung bringen muß, wenn man seinen Ruhm bewahren will, hatte sie vor, sich bei dieser Reise vom besten Führer der Welt, jedenfalls dem originellsten, begleiten zu lassen, von William Durand selbst, dem letzten Weißen, der bekanntlich vor vielen Jahren in der Hauptstadt dieses Landes, das einst Frankreich hieß, gelebt hatte. Um die Sache durchzusetzen, mußte man sehr geschickt zu Werke gehen, vor allem den -12-
Gelbschwarzen Großrat ins Spiel einbeziehen; eine schwierige Angelegenheit, aber Hannah liebte Schwierigkeiten. Man mußte zunächst einmal Stimmung für das Unternehmen machen, und so kam es, daß William Durand eines Tages den Besuch der jungen Dame erhielt. Grundsätzlich bezeugte er wenig Gefallen an der schwarzen Venus, der er, da ja nichts Besseres zu haben war, eine zierliche gelbe vorgezogen hätte. Aber Hannah Pierce erregte bei ihrem ersten Erscheinen sein Wohlgefallen. Man konnte sich schlechterdings keine hübschere Negerin denken. Ihre Haut war nicht rabenschwarz, sondern aschfarbig und glatt wie Bronze. Ein leichtes, helles Kleid brachte ihre schlanke Taille, die langen, wohlgeformten Beine, die volle, straffe Brust trefflich zur Geltung. Ihr offenes Gesicht ließ auf eine lebhafte, freimütige Natur schließen. Eine hohe, gewölbte Stirn, ihre keineswegs breite, gradlinige Nase mit zitternden Flügeln, ihre großen, glänzenden Augen waren sehr anziehend. Die hellen, schön geschwungenen Lippen straften das Gerede von den wulstigen Lippen der afrikanischen Negerinnen Lügen. »Herr Durand«, begann Hannah, während der weiße Mann einen mit Kautschuk überzogenen Duraluminium-Sessel herbeiholte, »wissen Sie, daß wir sozusagen Landsleute sind?« Er vermochte schwer ein Lächeln zu unterdrücken, aber sie erklärte ihm, daß sie aus Neu-Timbuktu stamme, das vor der großen Pest in Europa Neu-Orleans hieß. »Wurde Neu-Orleans nicht von den Franzosen begründet? Und Timbuktu, nicht wahr, bildete doch einen Teil von dem, was Ihr Eure Kolonien nanntet?« Die Einleitung war nicht übel. Sie fuhr fort: »Würden Sie nicht glücklich sein, Ihr Land wiederzusehen?« Der Weiße fuhr zusammen, was Hannah keineswegs überraschte. Sie begann sofort, ihm ihre Idee zu entwickeln, das Projekt einer Reportage über die Ruinen von Paris, die sie ohne ihn nicht durchführen wollte. Aber er verzog nur skeptisch den Mund. »Sie träumen, Miß Pierce. Die Bonzen im Großrat werden mich niemals freigeben. Denken Sie nur, wenn ich nach -13-
Frankreich zurückkäme und dort bliebe! Was gäbe das für ein Geschrei in der F.U.A. (Federation Unicolour of Africa) und in der U.Y.P. (Union of Yellow Peoples).« »Aber Mister Durand, Sie wissen sehr gut, daß die alte Welt eine unbewohnbare Wüste geworden ist. Sie können in Frankreich ebensowenig leben wie in irgend einer anderen Gegend Europas.« »Zumindest könnte ich dort sterben.« Hannah Pierce nahm von diesem Einwurf keine Notiz. Mit zweiundzwanzig Jahren betrachtet man den Tod nicht als ernste Angelegenheit, und sie hielt sich noch lange nicht für geschlagen. »Sie werden mir auf alle Fälle erlauben«, fuhr sie fort, »einige Auskünfte von Ihnen zu erbitten-« Sie steuerte sehr geschickt auf ihr Ziel los und ließ ihre Augen mit vollendeter Kunst spielen, so daß William zwar nicht ihre Hautfarbe übersah, aber gleichzeitig feststellte, daß sie, auch wenn sie weiß gewesen wäre, nicht anziehender hätte sein können. Der schönen Hannah war es auf diese Weise gelungen, zahlreiche Eroberungen zu machen, und als die Neger Jonathan und Gordon sich respektvoll zurückzogen, um sie vorüber zu lassen, blieb ihnen der Atem weg, und die Augen quollen ihnen fast aus dem Kopf. Worüber sprach William Durand mit Hannah Pierce? Er legte sich darüber keine Rechenschaft ab und äußerte sich sehr rückhaltlos. Seine Besucherin erschien ihm so verständnisvoll! Sie hörte ihm mit geradezu schmeichelhafter Aufmerksamkeit zu. Er erinnerte sich der glücklichen Tage, von denen ihm manche, als er sie erlebte, farblos erschienen sein mochten, weil der Mensch selten sein Glück zu erkennen vermag. Hannah lächelte so bezaubernd, und er ließ sich von ihrer Liebenswürdigkeit bestricken. Daß sie ihren ganzen Charme entwickelte, bedeutete augenscheinlich keineswegs, daß sie irgend eine Neigung für ihn empfand. Nur die Neugierde leitete sie, und auch er bemühte sich, nicht zu vergessen, daß er eine Journalistin vor sich hatte. Aber es war so angenehm, sich in die -14-
früheren Zeiten zu versetzen! Selbst die trüben Tage weckten seine Sehnsucht nach dem Vergangenen, und das hübsche Mädchen hatte es so gut verstanden, ihm durch die Schilderung ihrer eigenen Jugend Vertrauen einzuflößen. Hannahs Vater, Samuel Pierce, leitete eine wandernde Schauspielertruppe, in der ihre Mutter der Star war. In Begleitung der Eltern hatte sie in frühester Kindheit ganz Amerika bereist. Auf dieses Nomadenleben führte sie die Sehnsucht nach immer neuen Horizonten und ihre Berufung als Journalistin zurück. Sie wurde gerade zwölf Jahre alt, als die aus Europa eingeschleppte weiße Pest ausbrach. Damals kamen auf einen Schwarzen zehn Weiße. Nach einigen Monaten hatte sich das Verhältnis ins Gegenteil verwandelt, und schließlich waren die Weißen völlig verschwunden. Die Entvölkerung des Planeten von denen, die ihn unzählige Jahrhunderte hindurch beherrscht hatten, war in dem Augenblick vollendet, in dem Hannah in die höhere Schule eintrat. Sie erinnerte sich noch genau der feierlichen Ansprache, die die Direktorin, eine riesige Matrone von kaffeebrauner Farbe, bei diesem Anlaß hielt: »Meine Kinder, wir erleben den glorreichen Anfang eines neuen Kapitels der Menschheitsgeschichte. Die weiße Rasse ist von der Erdoberfläche verschwunden, die christliche Ära ist abgeschlossen. Dieses Jahr wird offiziell als erstes des Zeitalters der Befreiung bezeichnet werden. Vergeßt niemals, daß die Weißen als Opfer ihres teuflischen Hochmuts zu Grunde gegangen sind, der die Habgier und die Tollheit hervorrief, die ihnen im Blute lag. Ihr schreckliches Ende mag uns eine Lehre sein. Die Welt gehört von nun ab den farbigen Rassen; sie werden mit Klugheit für die harmonische Entwicklung einer neuen Zivilisation zu leben wissen.« Im Besitz zahlreicher Diplome verließ Hannah mit zwanzig Jahren die Universität und verdiente sich ihre Sporen als Journalistin. Monatelang beachtete niemand ihre Artikel, bis sie durch die Reportage über London mit einem Schlag berühmt -15-
wurde. William Durand war verblüfft von der Gradlinigkeit dieser Geschichte. »Sonst gab es nichts in Ihrem Leben?« fragte er mit leisem Lächeln. »Was soll es denn noch gegeben haben?« erwiderte sie mit unschuldigem Augenaufschlag. »Aber jetzt sind Sie an der Reihe.« Der weiße Mann ließ sich nicht lange bitten. In seinem Munde bekam eine versunkene Welt Leben und Farbe, eine seltsame Welt, absurd und beneidenswert zugleich, in der man eine kleine Reise einfach zum Vergnügen machen konnte, ohne darüber einen Schreibmaschinen-Bericht mit drei Durchschlägen machen zu müssen, der dem Chefinspektor der ersten Untergruppe der Tagespresse, der Leiterin des Überwachungsausschusses über die moralische Haltung der intellektuellen weiblichen Jugend und der Frau Sekretärin des Wohnblocks 42 lediger Journalistinnen zur Begutachtung vorgelegt werden mußte. Hannah hörte ihm begierig zu und protestierte liebenswürdig, als er sich plötzlich entschuldigte, weil er vom Thema abgeschweift war. Das Reglement des Museums schrieb vor, daß ohne Spezialgenehmigung keine Unterhaltung mit dem weißen Mann länger als eine Viertelstunde dauern dürfe. Aber Hannah Pierce erfreute sich einer Ausnahmestellung. Ihre Unterhaltungen dauerten bisweilen länger als zwei Stunden, ohne daß die Wächter Einspruch zu erheben wagten. Hatte sie genug von dem weißen Mann, oder nahm sie an, daß bei ihm nichts mehr zu holen sei? Seit zwei Wochen hatte sie sich nicht mehr blicken lassen, und William Durand hatte den Mut, sich einzugestehen, daß er ihr Fernbleiben bedauerte. »Acht Uhr dreißig Minuten. Es ist genau acht Uhr dreißig Minuten!« buchstabierte die unerbittliche Uhr. Im gleichen -16-
Augenblick erhob sich ein neues Gelächter, diesmal ganz in der Nähe. Man konnte deutlich das laute Gewieher des schwarzen Riesen Jonathan von dem krampfartigen Glucksen des kleinen Japaners Atsuo unterscheiden. Eine Glocke ertönte. William Durand drückte auf einen Knopf, und die zwei Flügel der Tür öffneten sich. Er hatte sich nicht getäuscht. Jonathan und Atsuo traten ein. Jeder hatte zum Gruß die rechte Hand aufs Herz gelegt; der Weiße erwiderte diese Höflichkeit und fügte ein kurzes Neigen des Kopfes hinzu. Jonathan war ein prachtvoller brutaler Kerl, groß wie ein Turm, mit dem funkelnden Gebiß eines Kannibalen und den Händen eines Mörders. Atsuo, ganz sein Gegenteil, verblüffte durch die Kleinheit seiner Gestalt, die selbst für einen Japaner auffallend war. Er hatte ein Gesicht wie ein Wiesel, und seine Augen bildeten nur einen schwarzen Strich, glänzend und kalt wie Quecksilber zwischen den engstehenden Lidern. Einen Morgen wie den ändern, zur gleichen Stunde, erschienen zwei Wärter, ein gelber und ein schwarzer, um festzustellen, ob der weiße Mann die Nacht gut verbracht hatte, und um sich nach seinen Plänen für den Tag zu erkundigen. Diese waren übrigens einem genauen Reglement unterworfen. Zwei Stunden blieben den Besuchen vorbehalten, denen sich der Insasse des Museums so wenig entziehen könnte wie die Bestie im Käfig eines Zoo. Strengstes Verbot, die Mahlzeiten außerhalb des Hauses einzunehmen. Es stand ihm indessen frei, am Nachmittag in der vorgeschriebenen Begleitung seiner Leibwächter einen Spaziergang von höchstens drei Stunden zu unternehmen. Gleich bei ihrem Eintritt bemerkte an diesem Morgen William Durand, dem das Peyotl den Blick schärfte, daß der kleine Atsuo ihn mit besonderen Augen ansah. Ein verschmitztes Lächeln glänzte auf dem sonst so unveränderlichen Gesicht, in den -17-
pechschwarzen Pupillen, während Jonathan mit seinen großen runden Augen, die Achatkugeln glichen, durch das Grinsen, das auf seinen wulstigen Lippen lag, noch die geräuschvolle Freude verriet, der er soeben recht laut und deutlich Ausdruck gegeben hatte. Ein Magazin mit kna llbuntem Umschlag blickte aus seiner Tasche hervor. »Befindet sich der weiße Mann in guter Verfassung? Hat er angenehm geträumt?« fragte Atsuo. Jonathan lachte hierauf schallend wie ein richtiger gutmütiger Wilder. »Der weiße Mann«, sagte er seinerseits, »hat vielleicht von der Pest geträumt, als noch die bleichen Gesichter auf den Straßen ebenso zahlreich waren wie die Reiskörner in einem Sack.« Er rieb sich vergnügt die Hände und schien von seinem Vergleich außerordentlich befriedigt zu sein. William Durand zuckte die Achseln. Was war denn bloß heute morgen mit seinen Wächtern los? Was mochte hinter dieser an Frechheit grenzenden Ironie stecken? »Jonathan, mein Freund«, sagte er kühl, »Sie scheinen heute besonders geistreich zu sein. Erlauben Sie mir, Sie bei dieser Gelegenheit darauf aufmerksam zu machen, daß Sie auf Ihrer Schulter einen Fettfleck haben.« Der Neger wurde verlegen, verrenkte seinen Hals, um den Fleck zu entdecken, und sein Gelächter erstarb in einem mechanischen Kichern. Atsuo, der sich wie immer beherrschte, kam ihm zu Hilfe. »Sie dürfen Jonathan das nicht übel nehmen«, sagte er, »die Geschichte Ihres Lebens hat ihm so viel Spaß gemacht.« »Wie bitte?« Jonathan faßte sich, holte das Magazin aus seiner Tasche und hielt es Durand hin. »Ja«, sagte er, und seine Augen drehten sich lebhaft in ihren Höhlen, »wissen Sie nicht?« -18-
William öffnete das Magazin und las auf der ersten Seite: »Das Leben und die Liebschaften des letzten Weißen. Originalberichte, zusammengestellt von Hannah Pierce.« Ein brennender Zorn stieg in ihm hoch. Er hatte sich also von der kleinen Negerin an der Nase herumführen lassen. Unter dem Vorwand einer herzlichen Anteilnahme hatte sie ihm vertrauliche Bekenntnisse entlockt, um aus ihnen einen Brei nach ihrem Geschmack in der blöden Zeitschrift zu kochen. Er biß die Zähne zusammen, um den Farbigen nicht seine Wut zu zeigen, die vor Vergnügen in die Luft gesprungen wären und die Sache in ihrem täglichen Bericht vermerkt hätten. Er bemühte sich also, einen möglichst gleichgültigen Ton anzunehmen, und antwortete: »Natürlich weiß ich das. Hannah Pierce hat ja mein Leben nicht erfunden. Übrigens ein reizendes Mädel, was, Jonathan?« Der Schwarze trat von einem Fuß auf den ändern und stotterte eine konfuse Zustimmung. Dann zog Atsuo ein Notizbuch aus der Tasche und sagte mit seiner trockenen Stimme: »Der weiße Mann wird heute zwei wichtige Besuche empfangen: Herrn Hakashu Yosano, den berühmten Präsidenten des Institutes für vergleichende Anthropologie in Tokio, und den ehrenwerten Herrn Samory, Staatsrat der F.U.A.« »Sehr gut«, sagte William Durand. »Und Sie fragen mich gar nicht, ob ich nicht auszugehen beabsichtige, wie es mir nach Artikel 21 des Reglements zusteht?« »Ich wollte Ihnen eben die Frage stellen«, erwiderte Atsuo plötzlich sehr förmlich. »Nun, ich gedenke zu Haus zu bleiben«, sagte der Weiße, »und wenn mir der gute Jonathan sein Magazin leihen würde, damit ich mir die Langeweile vertreiben kann, so wäre das der Gipfel der Liebenswürdigkeit.« Der Neger grinste zustimmend und überreichte ihm das Heft. -19-
»Und jetzt, meine Herren, will ich Sie nicht länger aufhalten«, sagte William Durand mit eisiger Miene. Die beiden Wächter zogen sich zurück, nicht ohne vorher schweigend die rechte Hand zum Herzen geführt zu haben. Nachdem er die Tür versperrt hatte, warf sich William seufzend aufs Bett und schloß die Augen. Rote und grüne Spiralen bildeten sich unter seinen Lidern, bewegten sich immer schneller im Kreise und formten sich schließlich zu einem vergnügten Neger, aus dessen Mund, Nase und Augen Flammen zuckten, als ob sich in seinem krausen Schädel ein brennender Holzstoß befände. Er gab sich dieser Phantasmagorie einige Minuten lang hin, da schellte es, und eine Stimme, die er als die Atsuos erkannte, drang in den Raum. Er richtete sic h auf seinem Lager auf und bemerkte im Rahmen, der auf der Wand vor ihm hing, den kleinen Japs. »Miß Hannah Pierce«, sagte er, »gibt sich die Ehre, den weißen Mann davon zu verständigen, daß sie ihm heute nachmittag einen Besuch abstatten wird, wenn er die Freundlichkeit hat, sie zu empfangen.« William Durand drehte den Schlüssel des teleoptischen Apparates und antwortete: »Die Ehre ist ganz auf meiner Seite,« Dann unterbrach er die Verbindung. »Sie will mir ihr Meisterwerk bringen«, dachte er, »aber sehen wir gleich mal nach, ob die hübsche Schwarzbraune mein Vertrauen nicht mißbraucht hat.« »Neun Uhr! Es ist genau neun Uhr!« tönte es vom Kamin her. Wütend nahm er einen Würfel aus rotem Quarz, der ihm als Briefbeschwerer diente, und warf ihn quer durch das Zimmer. Das Glas, das das Zifferblatt schützte, splitterte ohne zu brechen, aber dieser Gewaltakt beruhigte seine Nerven. Er öffnete das Magazin und fand gleich auf der ersten Seite eine Reihe von Fotografien, die ihn in verschiedenen Lebensaltern darstellten, von vorn, von der Seite, dreiviertel Profil, in verschiedenen Anzügen, sogar völlig nackt, was er umso geschmackloser empfand, als es sich um eine Trickaufnahme -20-
handelte. Er schüttelte den Kopf und machte sich an die Lektüre.
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LIEBLICHES AVALLON Dem eigentlichen Bericht ging folgendes mit den Initialen H. P. gezeichnete Vorwort voraus: »Kein Bürger unserer ruhmreichen gelbschwarzen Föderation, der nicht wenigstens dem Namen nach das Museum des weißen Mannes kennt. Dieses Museum, um das uns die F.U.A. und die U.F.Y.P. beneiden, beherbergt den letzten bekannten Vertreter einer Rasse, die einstmals groß war und die das Schicksal zum Untergang verdammte. Unser weißer Mann ist l Meter 72 groß, gut gebaut, breitschultrig, und schlank in den Hüften. Er ist 45 Jahre alt, macht aber allgemein den Eindruck, zehn Jahre jünger zu sein und hat noch einen dichten Haarwuchs von der Farbe des reifen Getreides, die in der historischen Epoche bei den Weißen der nördlichen Länder sehr verbreitet war. Er besitzt enzianblaue Augen, einen kleinen Mund, wohlgeformte, an gewisse Seemuscheln erinnernde Ohren. Unsere Ethnologen sehen in ihm bei Berücksichtigung der Rassenmerkmale einen Typ, der dem Durchschnittsweißen aus der Zeit der großen Pest fühlbar überlegen ist. Der berühmte Dr. Thorp vom interföderalen Rassenforschungsinstitut erklärte mir auf mein Befragen mit jenem Lächeln, dessen zuweilen auch das ernste Gesicht der Wissenschaft fähig ist: ,Der Zufall hat hier seine Sache gut gemacht. Selbst wenn wir in der Lage gewesen wären, uns ein Exemplar auszusuchen, wir hätten kein besseres finden können/ Diese für unseren weißen Mann so schmeichelhafte Meinung hat mich in meinem Plan bestärkt, einen wahrheitsgetreuen Bericht über sein Leben zu schreiben. Ich habe ihn also wiederho lt aufgesucht und ihm einzelne Fragen vorgelegt, dann habe ich ihn sprechen lassen. Mit größtem Entgegenkommen erzählte er mir seine Vergangenheit, in die er sich mit einer gewissen Bitterkeit versenkte, die aber trotzdem für ihn etwas Rührendes, Schönes gehabt haben muß. So schmeichle ich mir, der Öffentlichkeit heute die -22-
Schilderung eines für uns ganz ungewöhnlichen Lebens über-' geben zu können. Ich versichere, nichts Eigenes hinzugefügt zu haben, wie ich mich denn auch jeglichen Kommentars enthalte. Ich unterbreite dem Leser ein Dokument. Am Rande einer ungeheuren Katastrophe erscheint das Leben dieses letzten Weißen wie eine verkorkte Flasche, die man während eines rasenden Zyklons ins Meer geschleudert hat. Das Schiff ist in die Tiefe gesunken, aus der es kein Wiederkommen gibt; sie allein ist erhalten geblieben, bis sie die Welle des Zufalls an den Strand einer friedlichen Küste gespült hat. Man braucht die Flasche nur zu öffnen, um die Geschichte des Schiffbruches lesen zu können. Ich beanspruche kein weiteres Verdienst und überlasse das Wort dem Helden dieser Geschichte.« William Durand unterdrückte ein fast boshaftes Lächeln, Im ganzen genommen schilderte ihn die liebenswürdige Hannah sehr günstig, und wenn er sich nicht gewissermaßen verpflichtet gefühlt hätte, über diese Art von Sensationsmache, die ihn überall verfolgte, in Wut zu geraten, so hätte er das Abenteuer sicher pikant gefunden. Er machte es sich bequem,, legte sich auf dem elektropneumatischen Diwan auf den Bauch, stützte seinen Kopf in die Hände und begann zu lesen: Wenn ich Ihnen erzähle, daß ich in Frankreich, in einer kleinen Kreisstadt des Departements Yonne namens Aval-Ion geboren bin, fürchte ich, Ihnen nur eine sehr vage Vorstellung zu geben. Es war die Zeit zwischen dem dritten und vierten Weltkrieg, kurz nach jener Epoche, die in meinem Vaterland das »Zweite 89« genannt wurde. Die Franzosen der Restauration beklagten ihre jungen Zeitgenossen, weil diese nicht die »guten, alten Zeiten« erlebt hatten, worunter sie die letzten Jahre der absoluten Monarchie verstanden. Die Bürger von 1925 behaupteten, die gute, alte Zeit sei am 2. August 1914 zum Teufel gegangen, und so erfindet jede Generation eine friedliche, idyllische Oase, die sie berechtigt, über eine -23-
erbärmliche Gegenwart zu schimpfen. Aber merkwürdigerweise erkennen die Menschen, welche zu Zeiten einer Oase leben, diese gar nicht als solche. Ich erblickte also das Licht der Welt in einem derartigen, günstigen Zeitpunkt. Frankreich hatte eben eine seiner dunkelsten Perioden hinter sich. Ein Regime brutalster Unterdrückung hatte ein Jahrzehnt lang geherrscht. Das Denunziantentum wurde durch eine Armee von Polizisten und wahren Heuschreckenschwärmen von Beamten begünstigt. Europa glich einem riesigen Gefängnis, in dem jeder Staat, jede Provinz, jede Stadt, jedes kleine Dörfchen eifrigst bestrebt war, besondere Kerker zu bauen. Man nannte diese Welt der Zuchthäuser und Verordnungen stark, männlich und, nach einem Schlagwort der damaligen Zeit, »realistisch«. Der »Realismus« bedeutete für die armen Europäer die blinde Unterwerfung unter einen Plan, der das Individuum erfaßte, einreihte und es ein für allemal, für Gegenwart und Zukunft nach seiner sozialen Fähigkeit in ein Räderwerk einspannte, aus dem es kein Entrinnen gab. Frankreich war das letzte Land, das sich diesem finsteren System anschloß, gegen das seine Söhne, geborene Aufrührer, sich sofort erhoben. Ein Volk, das erst einmal in seiner Geschichte die Vernunft zur Göttin erhoben hat, glaubt an keinen Gottesstaat mehr. Jede politische Organisation wird sich nur so lange halten können, wie sie imstande ist, der menschlichen Herde, für die sie sorgen muß, erträgliche Lebensbedingungen zu bieten. Die Franzosen waren mit ihrem Schicksal unzufrieden. Sie erinnerten sich wehmütig der drei Worte, die seit langem von allen öffentlichen Gebäuden entfernt worden waren: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Man hatte diesen Worten vorgeworfen, daß hinter ihnen nur unbestimmte Begriffe stünden. »Unbestimmte vielleicht«, sagten sie sich, »aber nur, weil sie eben sehr vieles bedeuten können«, und sie bewahrten sie im -24-
Herzen. Freiheit - die der Gedanken in erster Linie, das Grundrecht (man sollte damals nicht mit seinem, eigenen Verstande, sondern nach den Vorschriften des Staates denken). Gleichheit - jawohl, alle gleich, wenn schon nicht nach Geburt und Vermögen, aber wenigstens vor Recht und Gesetz. Brüderlichkeit - das edelste der Symbole. Man hatte in vergangenen Zeiten diese drei Worte reichlich mißbraucht. Der Kapitalismus, ein schamhaftes Synonym für die Herzlosigkeit, blutete wie eine offene Wunde im Körper der Nationen. Es war nötig, seinen Exzessen zuvorzukommen, ohne das freie Spiel der Kräfte zu behindern. Das Leben lehrt die Menschen, daß es keine allgemeingültige Wahrheit gibt, sondern nur individuelle und zeitweilige Wahrheiten. Das war der Grund, warum die Franzosen sich an den Begriff der Freiheit klammerten. In diesem impulsiven Volke sollte jeder das Recht haben, sein Licht leuchten zu lassen. Es blieb also nur zu verhindern, daß die Freiheit in Anarchie ausartete. Wahrhaftig, dieses Frankreich war ein gutes Land trotz der zahlreichen Irrtümer und Schwächen, seine Geschichte eine der erhabensten der Menschheit. Es war ein friedfertiges Land, das nur einen großen Fehler hatte, nämlich den, an das menschliche Glück zu glauben. Ja, es glaubte so fest an diese Chimäre, daß es sich eine Bedrohung gar nicht vorstellen konnte. Infolgedessen wurde es völlig überrascht, als es sich plötzlich vor die Notwendigkeit gestellt sah, seine Ideale zu verteidigen. (Daß dieses Glück von keiner sehr hohen Qualität war, änderte nichts an der Tatsache.) Aber die Franzosen erhoben sich schließlich als einzige in ganz Europa gegen ein Regime, das auf dauernde Unterdrückung begründet war. Das »Zweite 89« hatte ihnen mitten unter den ohnmächtigen Nachbarn die Freiheit des Denkens, die Freiheit der Meinungsäußerung und die Versammlungsfreiheit gebracht. So vergingen zwanzig Jahre jenes ungestörten Glückes, in dem sie das eigentliche Ziel menschlichen Daseins erkannt hatten und das einem gar nicht -25-
bewußt werden darf, wenn es vollkommen sein soll. Ich verbrachte achtzehn Jahre in meiner Vaterstadt und zwei in Paris. Man kann sich nicht vorstellen, was damals das Leben in einer Kleinstadt Frankreichs bedeutete. Meine Mitbürger waren selbstverständlich auch keine Heiligen, aber ihre Fehler, ja selbst ihre Laster hatten immer noch etwas Liebenswürdiges. Die Atmosphäre dieser Stadt war heiter, leicht, erfrischend und stärkend, sie spiegelte sich in den Handlungen und Ansichten der Bewohner wider. Man konnte in Avallon lügen, seine Frau prügeln, die eines anderen begehren, seinen Lastern frönen wie in Kalkutta oder am Ufer des Sambesi. Wenigstens endeten alle diese mit der Moral und der Gesellschaftsordnung schwer zu vereinbarenden Handlungen immer undramatisch. Um sein Leben zu genießen, glaubte ein Avalloneser damals, es nicht allzu ernst nehmen zu müssen. Die Frühlingsabende mit ihrer zarten Dämmerung waren gewiß noch reizvoller, wenn man sich vorstellte, daß man so etwas nur einmal und nie wieder erleben könne. Eine am Rost gebratene Forelle zerging noch schmackhafter im Munde, wenn man daran dachte, daß ihr Fang und die Zubereitung gewissermaßen dem Wohlwollen des Schicksals zu verdanken war. Jeder Augenblick des Daseins ist einmalig, und man sollte sich hüten, ihn zu verdunkeln oder durch trübsinnige Gedanken zu verderben. Das gelang den Avallonesern vortrefflich. Jeder Tag war ein Meisterwerk, dessen Entstehung man nur zu überwachen brauchte. So besaßen die braven Bürger Frankreichs in den vielen kleinen Städten das wahre Rezept des Glücklichseins, in dem Klugheit und Einbildungskraft miteinander verschmolzen. Mein Vater war ein blonder Riese mit dröhnender Stimme, der seine Neigung den Frauen und einer guten Flasche Wein gleichermaßen widmete. Die Frauen beanspruchten anfangs allein sein Interesse. Mit zwanzig Jahren hatten ihn die schönen Augen eines angelsächsischen Kindermädchens veranlaßt, dem Vaterland den Rücken zu kehren und als Chauffeur eines -26-
Baronets sich im mittleren England eine neue Heimat zu suchen. Achtzehn Monate genügten, um ihm die sanften Blicke des Mädchens weniger verführerisch erscheinen und ein Land, in dem die Eingeborenen keine anderen Getränke als labbrigen Tee und dickes Bier kannten, nach seinem eigenen Ausspruch »nicht rauchbar« finden zu lassen. Immerhin verdankte ich den Erinnerungen meines Vaters an England meinen Vornamen, denn sein Herr hieß Sir William. Kaum war er nach Frankreich zurückgekehrt, als der zweite europäische Krieg ausbrach, der dann später die ganze Welt umfaßte. Er kam zur Infanterie. Dieser Krieg war für ihn in der Erinnerung ein ungleicher, zuweilen aufflackernder und wieder erlöschender Kampf inmitten hunderttausender fliehender Zivilisten auf den Landstraßen und eine Reihe von Gewaltmärschen, die ihn innerhalb eines Monats von einem Ende Frankreichs zum anderen geführt hatten. Dann folgte eine lange Hungersnot unter der feindlichen Besatzung, an die er noch viel lebhafter erinnert wurde: er verlor damals ein Viertel seines Gewichts. Nach dem Kriege hatte ihn sein Beruf als Chauffeur im Dienste fragwürdiger Herren, die früher oder später hinter Schloß und Riegel kamen, fünfzehn Jahre lang kreuz und quer durch Europa geführt. Angewidert von dieser Tätigkeit - nicht einmal die Stubenmädchen vermochten ihn mehr durch ihre Reize zu fesseln - beschloß er, diesen Beruf aufzugeben, als der dritte Weltkrieg ausbrach und ihn zwang, wieder die Uniform anzuziehen. Die Kriege folgten einander, aber sie glichen sich nicht. Der letzte begann wie ein Krieg im Mittelalter. Die Städte wurden durch Eisenbetonmauern und unterirdische Befestigungsanlagen geschützt, denen die Panzer nichts anhaben konnten. Die Landheere erschöpften sich in unzähligen Belagerungen, während sich die Luftwaffen blutige, aber wirkungslose Kämpfe lieferten. Im Verlauf des dritten Jahres kam man auf den Gaskrieg zurück. In sechs Monaten verlor Europa die Hälfte seiner Bewohner. Eine gesunde Reaktion -27-
jagte alle Regierungen der beteiligten Länder zum Teufel, und der Friede war da ohne Vertrag. Die Völker weigerten sich einfach, weiter zu kämpfen. Jeder ging nach Hause, ohne sich um seinen Nachbarn zu kümmern. Zwei Jahre später proklamierte Frankreich die Fünfte Republik. Es begann die Zeit jenes »Zweiten 89«, das die Welt in Erstaunen versetzte, die Zeit der Freiheit, wiedererobert durch die vernünftige Herrschaft des »moralischen Kapitalismus«. Man hatte zwar das Recht, reich zu sein, aber man konnte es nicht, ohne im Geruch der Unsauberkeit zu stehen. Wo begann diese und wo hörte sie auf? Das Genie des Gesetzgebers hatte das unzweideutig festgelegt. Eine gerechte Kontrolle über alle Vermögen, die eine bestimmte Summe überschritten, wurde durchgeführt. Es handelte sich hauptsächlich darum, zu verhindern, daß das Geld den einzelnen in die Möglichkeit versetzte, sich auf Kosten der Allgemeinheit Vorteile und eine soziale Stellung zu verschaffen, die in keinem Verhältnis zu seinen Leistungen standen. Das Einkommen Raymond Durands, meines Vaters, hielt sich in bescheidenen Grenzen. Das Chauffieren erforderte keine besonderen Fähigkeiten. Er vereinigte sie mit einem gewissen Geschick als Mechaniker. Warum beschloß er, das Lenkrad und den Schraubenschlüssel aufzugeben und von nun an hinter dem Schanktisch einer Wirtschaft zu thronen? Erstens, weil er, wie er öfters wiederholte, nicht mehr der »Trottel von ändern« sein wolle, außerdem, weil ihm meine Mutter, Francoise Lehugeur, die Tochter eines Weinbauern aus Chablis, eine Mitgift ins Haus brachte, die einem begabten Menschen die Möglichkeit gab, sich unabhängig zu machen, und schließlich, weil er selbst gerne einen hinter die Binde goß und in seinen Augen ein Kaffeehausbesitzer eine Persönlichkeit war. Mein Vater war wirklich sehr tüchtig, und er bewies es sofort in seiner neuen Tätigkeit. Er trank mit seinen Gästen, wußte immer einen guten Witz, spielte gerne Karten und machte zum Vergnügen der Anwesenden von seinen Kräften Gebrauch, indem er die -28-
Betrunkenen, die zu laut wurden, eigenhändig vor die Tür setzte. Das Geschäft, das er für einen Pappenstiel gekauft hatte, blühte derart, daß er es nach einem Jahr für den doppelten Preis verkaufen konnte. Er hatte seinen Beruf entdeckt. Die Spezialität seines ganzen Lebens mit Ausnahme der allerletzten Jahre war, zugrunde gegangene Geschäfte seiner Kunden aufzukaufen. Nach ein paar Monaten hatte er sie wieder auf die Höhe gebracht und veräußerte sie weiter. Bei diesem Unternehmen unterstützte ihn meine Mutter, eine fleißige, schweigsame Arbeitsbiene von schwächlichem Aussehen, aber verläßlich wie ein Felsen, mit einem Eifer, der als Belohnung nur ein flüchtiges Lächeln ihres Herrn erwartete. Dieses Lächeln wurde ihr abends gewährt, wenn sie die Kasse ablieferte. Meine Jugend verlief also im Schatten der Aperitif-Flaschen mehrerer kleiner Provinz-Cafes. Obwohl mir meine Mutter ein für allemal verboten hatte, mich im Gästeraum aufzuhalten, mußte ich ihn doch zuweilen durchqueren. Wenn ich aus der Schule kam, rief mich mein Vater manchmal zu Hilfe, wenn allzu viele Gäste anwesend waren. Meine Tätigkeit beschränkte sich übrigens darauf, die Flaschen im Keller zu füllen und wieder herauf zu bringen, denn es paßte sich nicht für einen Knaben, der auf dem Gymnasium Latein lernte, Gläser zu spülen oder die Pferdehändler zu bedienen. So ein Kaffeeha us ist ein guter Beobachtungsposten, um die Menschen kennen zu lernen. Zeigen sie sich dort nicht, wie sie sind, und gleichzeitig, wie sie sein möchten?. Sie kommen dorthin, um ihre Sorgen und ihren häuslichen Ärger loszuwerden, und geben sich dem typisch französischen Vergnügen hin, hemmungslos über alles zu sprechen, was ihnen durch den Kopf geht. Sie sind nacheinander, manchmal sogar gleichzeitig, Sektierer, freisinnig, geldgierig, verschwenderisch, langmütig, reizbar, Revolutionäre und Prinzipienreiter, aber selten zurückhaltend. Zwei Freunde, die sich an einem -29-
Kaffeehaustisch gegenüber sitzen, glauben sich in eine andere Welt versetzt, in der es keinen Zwang gibt, und das Vergnügen, beisammen zu sein und sich eine beliebige Quantität mehr oder minder starken Alkohols einverleiben zu können, gibt ihnen vorübergehend die Illusion, Herren ihres Schicksals zu sein. Das waren etwa die Eindrücke, die ich damals im väterlichen Kaffeehaus sammelte. O schöne Zeit, die jedem Franzosen die Möglichkeit bot, glücklich zu sein. Mit achtzehn Jahren war ich Abiturient. Ich genoß im Gymnasium den Ruf eines durchschnittlichen Schülers und gehörte zur anonymen Masse derer, die nie ein Meisterwerk schreiben oder eine epochale, das menschliche Leben umwälzende Erfindung mache n würden. Nichts ließ darauf schließen, daß ich jemals ein Führer der Menschheit, ein Großindustrieller oder ein genialer Künstler würde. Ich liebte die Schriftstellern, aber eben wie ein Dilettant, ich aquarellierte ganz hübsch, und diese Geschicklichkeit hätte mich zu Illusionen verführen können (was später wirklich eintraf), aber ein guter Beurteiler wäre nicht getäuscht worden. Um die Wahrheit zu gestehen, die Mittelmäßigkeit meiner Begabung war kein Hindernis für meinen brennenden Ehrgeiz, der eine weitverbreitete Eigenschaft unter meinen Landsleuten ist. Man möge mich entschuldigen, wenn ich mich wiederhole, kurz gesagt, ich sehnte mich nach dem Glück, ich wollte glücklich werden, wie es mein Vater, meine Mutter und all die friedlichen Bürger von Avallon waren, die ich Jahre lang mit kennerischem Genießen die spritzigen, blumigen Weine der Yonne schlürfen sah. Und doch war mir klar, daß mein Leben nicht im gleichen Rhythmus wie das ihre verlaufen würde. Mein Vater war viel gereist und kannte nun kein größeres Vergnügen, als zu Haus zu bleiben. Die einzigen Abenteuer, zu denen er sich noch verführen ließ, waren die Forellenfischerei und die Rebhuhnjagd. So kam es, daß ich während meiner Studienzeit nicht ein einziges Mal über die Grenzen unseres Departeme nts hinausgekommen bin. Oh, ich weiß, daß so ein kleines -30-
Heimatland, inmitten des Vaterlandes das Herz eines Kindes mit Entzücken zu erfüllen vermag. Das alte Gemäuer der Schutzwälle erzählte mir Geschichten von Heldentaten, Schlachten, dem Lärm der Donnerbüchsen und Feldschlangen; ich dachte an die Eimer mit kochendem öl und geschmolzenem Blei, die man aus den Schießscharten auf den Feind schüttete, an das Schwirren der mit der Armbrust abgeschossenen Pfeile oder das Pfeifen der Musketenkugeln. Karl VII. war in seinen Schnabelschuhen und seinem blauen, mit goldenen Lilien bestickten Samtmantel über das Pflaster der Stadt gewandert, Ludwig XII. hatte sich nach seiner eigenen Schilderung nirgend anderwärts an so guten knusprigen Oblaten ergötzt wie an denen, so ihm seine allzeit getreuen und geliebten Untertanen zu Avallon darboten, worauf er ihnen alsogleich das Bürgerrecht zugestand. Eine andere schöne Geschichte war die vom protestantischen Prinzen Wolfgang, der, da er die Stadt im Sturm nicht nehmen konnte, die Vororte anzündete, nachdem er auf Karren alle Weinfässer des Landes fortgeschafft hatte. Von diesem gestohlenen Wein trank der Prinz so viel, daß er daran starb. Ein wackerer, tapferer Krieger, dieser Wein! Außerhalb der alten Mauern dehnten sich vor den Toren der Stadt die Täler mit ihren murmelnden Bächen, die grünen und gelben Wälder, kühler als die Kirchen, mit ihren alten Bäumen, in denen man herumkletterte und die Eichhörnchen mit dem Netz fing wie die Schmetterlinge. In der Stadt selbst gab es die Volksfeste mit Zirkus und Buden, in denen man Apfelzucker, Lebkuchen und Nugat verkaufte oder mit uralten Gewehren nach dem Ei schoß, das auf dem Strahl eines kleinen Springbrunnens tanzte, oder die Wurfbuden, in denen man mit großen Stoffbällen alles kurz und klein werfen konnte. Schließlich endete das Fest spät in der Nacht mit einem Tanz bei Lampionbeleuchtung. Im Sommer fanden sonntagabends Konzerte im Stadtpark statt. Der Kapellmeister wartete mit erhobenem Taktstock auf das helle Summen am Himmel, das pünktlich um 20 Uhr 30 das -31-
Stratosphärenflugzeug New York-Konstantinopel anzeigte. Es war ein merkwürdiger, echt französischer Akkord, dieses Geräusch des Meteors, der da oben durch die Kumuluswolken sauste, und die Klänge, die dieser schwunglose Taktschläger seinem Orchester entlockte. Er war im bürgerlichen Leben Registraturbeamter und ein richtiger Stubenhocker. Während das städtische Orchester von Avallon mit der Ouvertüre zu »Dichter und Bauer« oder »Lakme« loslegte, beklagte sich mein Klassenkame rad Antoine Hurion, der Sohn eines Uhrmachers auf der Hauptstraße, über das grausame Schicksal, das ihm dieses rückständige Avallon, das noch nicht einmal einen Flugplatz besaß, als Geburtsort zugewiesen hatte, denn Antoine Hurion fühlte schon in frühester Jugend eine unwiderstehliche Berufung zur Fliegerei. Sein Vater war auf diesem Ohr taub. Wozu hatte er seinen einzigen Sohn, wenn er nicht das väterliche Geschäft übernehmen sollte? Antoine ließ ihn reden und war fest entschlossen, wenn der Zeitpunkt gekommen sei, seinen Kopf durchzusetzen. Ich sehe ihn immer noch vor mir, mit seinem schwarzen Lüsterkittel, seinen roten Haaren, seinen Sommersprossen, den lebhaften Lakritzenaugen, wie er mit seinem Taschenmesser unter der Schulbank an einem Flugzeugmodell herumschnitzte, das selbstverständlich das schnellste der Welt werden würde. Wenn das Stratosphärenflugzeug verschwunden war, so konnten die Musiker im Kiosk noch so verzweifelt in ihre Blechinstrumente blasen, sie verloren in den Augen Antoines jedes Interesse. Mein Kamerad steckte seinen Zeitmesser in die Tasche und seufzte: »Tolle Maschinen, Willi! Nie mehr als höchstens 20 Sekunden Verspätung!« Es war tatsächlich nur ein einziges Mal vorgekommen, daß das »New YorkKonstantinopel« auf dem Rückflug über unserer Stadt fünf Minuten Verspätung hatte. Aber der Rundfunk gab am gleichen Abend bekannt, daß in der Türkei eine Revolution ausgebrochen sei. -32-
Und Antoine fuhr fort: »Das Stratosphärenflugzeug ist schon eine Sache. Aber erst das interastrale Flugzeug! Sag mal, glaubst du, daß ich der erste Mensch sein werde, der auf dem Planeten Mars landen wird?« Ich erwiderte lachend: »Verständige mich rechtzeitig, damit ich mitfliegen kann.« Dann überließ ich ihn seinen Träumen und schlängelte mich durch die eisernen Parkstühle und die Gruppen der glücklichen Bürger von Avallon, die da ein bißchen steif, mit vorgeschobenem Bauch, die Hände auf dem Rücken, herumstanden, bis ich die kleine Marie-Jeanne Deniau, die Tochter Pepin Deniaus, des Eigentümers des Hotels zur Post, gefunden hatte. Pepin Deniau, ein guter Freund meines Vaters, war von kleiner Gestalt, daher sein Spitzname Pipin der Kurze. Er hatte die rote Gesichtsfarbe, die ein zu hoher Blutdruck verleiht, eine große Nase und ein gewaltiges dreifaches Kinn, seine kleinen, lebhaften Augen ähnelten Schuhknöpfen und verschwanden fast in den Fettwülsten des Gesichts. Seine Tochter Marie-Jeanne, vier Jahre jünger als ich, hatte ihre Mutter bei der Geburt verloren und war graziös und zart, sie besaß große schwarze Augen und lange Wimpern, die den Blick beschatteten, eine offene Stirn, milchweiße Haut, und zu all dem ein engelgleiches Lächeln. Wenn Pepin Deniau meinen Vater auf die Jagd mitschleppte er war der einzige, der das fertig brachte -, wurde Marie-Jeanne meiner Mutter anvertraut. Wir verstanden uns ausgezeichnet, und ich betrachtete sie ein wenig wie meine Schwester. Wenn ich mich mit Antoine Hurion in den Wäldern herumgetrieben hatte, freute ich mich, sie bei uns zu Hause anzutreffen. Ich erzählte ihr unsere Streiche, und sie hörte mir mit liebenswürdigem Erstaunen zu, das nicht frei von Furcht war. Die brutalen Spiele der Knaben erschreckten sie stets. Sie hatte eine angenehme Stimme, und in ihren Augen blitzte zuweilen eine Schelmerei auf, die mich verwirrte. -33-
Zu den Musikabenden im Stadtpark brachte sie ihr Vater, der förderndes Mitglied des Avalloner Stadtorchesters war, immer mit. Sie lernte Klavierspielen und spielte schon ganz nett, aber der Donner der Blechinstrumente irritierte sie. Mein Erscheinen begrüßte sie freudig, wir flüsterten uns vertrauliche Bemerkungen zu, und schließlich bewegte Marie-Jeanne ihren Vater, den Stadtpark zu verlassen. Wir wanderten zu dritt durch die stillen Gassen, die nach Kamillen- und Burgundertrester dufteten. Vor den Türen schöpften die braven Bewohner Luft, und die Kinder hüpften auf einem Bein auf dem Trottoir herum. Die Schwalben zwitscherten, und der Himmel färbte sich zart violett. Ich hielt Marie-Jeanne bei der Hand oder schlang meinen Arm um ihre Schultern. Hinter uns schritt, seine Zigarre im Mund, würdevoll, soweit es sein Körperumfang gestattete, Pipin der Kurze. Der Spaziergang führte am Cafe Durand vorbei, und mein Vater brachte sofort etwas zur Erfrischung. Zuweilen setzte er auch einen runden Strohhut auf und schloß sich uns zu einem Abendbummel durch die Stadt an. Ich erinnere mich lebhaft dieser Dämmerstunden im Sommer, das Leben war so einfach und angenehm, mit einem freundlichen Wort grüßte man im Vorübergehen seine Freunde und Bekannten, ich höre noch das laute kräftige Lachen meines Vaters und das dünne, meckernde Pipins des Kurzen, ich spüre noch die kleinen Schritte Marie-Jeannes an meiner Seite, und über uns schwebten die langgestreckten rosa und violetten Abendwolken, bis langsam und würdevoll der Mond aufging. Die beiden Väter verband eine ehrliche, aufrichtige Freundschaft, die in der Verschiedenheit ihrer Charaktere begründet lag. Raymond Durand war ebenso impulsiv und hitzig, wie Pepin Deniau systematisch und vernünftig. Wenn sie schließlich immer einer Meinung waren, so kamen sie auf recht verschiedenen Wegen zu diesem Resultat. Unter ihren vielen Debatten ist mir eine, zweifellos, weil sie meistens in denselben Redewendungen geführt wurde, in Erinnerung geblieben. Es -34-
muß sich um das Budget der nationalen Verteidigung gehandelt haben, das für meinen Vater das rote Tuch war. »Ich habe sechs Jahre lang Uniform getragen«, sagte er, »zwei Jahre normale Dienstzeit, ein Jahr im ersten, drei im zweiten Weltkrieg. Der dritte hat glücklicherweise die Menschen, zur Vernunft gebracht. Der dritte große Krieg im 20. Jahrhundert war bestimmt der letzte überhaupt. Also wozu noch Maschinen fabrizieren, um sich gegenseitig umzubringen?« Pipin der Kurze zuckte friedfertig die Achseln. »Weil die Menschen noch immer Viecher sind«, erklärte er. »Weil sie immer irgend einen blödsinnigen Grund finden werden, um sich zu schlagen, und weil der Krieg für sie eine ebenso natürliche und unvermeidliche Sache ist, wie Regen und Sonnenschein oder Leben und Tod. Wenn man vermeiden will, daß einen der Blitz trifft, baut man vor allem einen Blitzableiter. Wenn man die Schäden eines unvermeidlichen Krieges einschränken will, dann zerbricht man sich den Kopf darüber, wie man ihm vorbeugen kann. Aber warum findet man sich damit ab, daß der Krieg unvermeidlich sei? Weil man zugeben muß, daß die Torheit eben verbreiteter ist als die Vernunft.« »Herrgottsdonnerwetter«, schrie mein Vater, »wenn noch mal ein Krieg ausbricht - (er ballte seine großen Fäuste), dann doch lieber gleich krepieren!« »Das wäre nur eine ganz individuelle Lösung«, sagte Pepin. Während dieser Unterhaltung flüsterte mir Marie-Jeanne leise zu: »Was möchtest du später einmal machen, Willy?« Ich wußte im Augenblick nicht recht, was ich antworten sollte. Ich zögerte ein bißchen, und dann erklärte ich etwas unwillig, damit sie über den Ernst meiner Absichten nicht im Zweifel sei: »Auf alle Fälle werde ich das tun, was mir Spaß macht.« Marie-Jeanne betrachtete mich halb bewundernd, halb ungläubig. -35-
»Also mein Junge«, sagte mein Vater seinerseits, als ich mein Abiturientenexamen bestanden hatte, »was hast du für Pläne für die Zukunft?« Ich hatte in all den Jahren Muße genug gehabt, darüber nachzudenken, aber meine völlige Unentschlossenheit war geblieben. Welchen Platz sollte ich in der me nschlichen Gesellschaft einnehmen? Um die Wahrheit zu gestehen, ich wußte genau, was ich nicht wollte, zum Beispiel hatte ich um keinen Preis die Absicht, Aperitif in einem Cafe auszuschenken. Bisher war ich in einer Kleinstadt eingesperrt gewesen, nun wollte ich die Welt kennen lernen, und die Welt sollte mir die Frage beantworten, was sie von diesem Kandidaten ihrer Gunst erwartete. Wie könnte man aber einem Vater wie dem meinen ein so sonderbares Glaubensbekenntnis ablegen? Er erwartete von mir einen vernünftigen Entschluß. Wenn ich ihm erklärt hätte, ich möchte Rechtsanwalt oder Arzt oder Notar oder Professor werden, so hätte ihm das zweifellos geschmeichelt, und er hätte mit Vergnügen die nötigen Opfer gebracht. Aber ich wollte nur frei sein, nach meiner Vorstellung leben, und ich mochte nicht lügen. »Na«, sagte er, »du antwortest mir nicht? Willst du vielleicht von deinen Renten leben?« Er begann spöttisch zu lächeln, schlug mir auf die Schulter und goß mir ein Glas Kognak ein. »Stärk dich, mein Junge!« Ich goß das Glas in einem Zug hinunter und sagte zuversichtlich: »Also, ich möchte Geschäfte machen, lernen, wie man sich selbst weiter helfen kann, wie du's auch gemacht hast in meinem Alter. Ich bitte dich nur um eine Empfehlung an einen deiner Lieferanten in Paris.« »Und noch ein paar Banknoten in die Brieftasche obendrein«, rief mein Vater aus, »und: es lebe das Leben!« Er war nicht enttäuscht, wie ich fürchtete, und machte mir keine Schwierigkeiten. Die Szene hatte eines Abends in unserem Speisezimmer Henry II. nach Schluß des Cafes stattgefunden. Er -36-
rief meine Mutter, die gerade Geschirr in der Küche abwusch. »Weißt du schon, meine Liebe«, sagte er zu ihr, »daß dein Söhnchen nach Paris will, um Kommis zu werden?« Meine Mutter trocknete sich die Hände an der Schürze, riß die Augen auf und ersuchte um eine Erklärung. Als sie ihr mein Vater gegeben hatte, blickte sie mich konsterniert an und sagte: »Du willst uns also verlassen, Willy?« Ihre Hände hingen schlaff über ihre blaue Schürze, wie die Marionetten nach Schluß der Vorstellung über den Rahmen des Kasperletheaters. »Na, Mutter«, sagte mein Vater, »nun mach mal nicht so ein Gesicht wie bei einer Beerdigung. Jugend muß sich umtun. Wie wär's, wenn wir jetzt mal eine gute Flasche Wein aufmachten?« Und mit einem gutmütigen Lachen stieg er in den Keller.
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ZEHN MINUTEN VERSPÄTUNG Jahrhundertelang war Paris die magische Stadt, das Ziel der Sehnsucht aller Völker. Für den englischen Lord oder den indischen Prinzen, für den baltischen Baron, den rumänischen Grafen, für den argentinischen Farmer, den Bergwerksbesitzer aus Alaska, für den abessinischen Fürsten und den Businessman vom Broadway gab es kein anderes Vergnügen als Paris. Seinen Lebensunterhalt verdiente man anderwärts, aber sein Leben genießen - oder was man so unter genießen verstand -, das konnte man nur auf dem geheiligten Pflaster der großen Boulevards, des Montmartre, des Montparnasse und des EtolleViertels. Worauf beruhte eigentlich diese Vorliebe, diese allgemeine Einstellung Paris gegenüber, die erst mit dem Untergang der Stadt ihr Ende finden sollte? Gelehrte Spezialisten mit Brillen, Diagrammen und jener umfangreichen, komplizierten Apparatur für die mathematische Analyse bewaffnet, schrieben diese Tatsache den atmosphärischen Verhältnissen im Seinebogen zu, dem Ozongehalt der Luft, der Eigenschaft des Lichtes, der idealen Verteilung der Bauten, der Bäume und des Wassers. Die Zeiten änderten zwar immer wieder das Bild, ohne jedoch seine ursprüngliche Harmonie zu zerstören. Mir scheint aber, daß ihre glanzvollen Erkenntnisse eines der fundamentalsten Elemente übersahen, nämlich den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte war Paris mehr als einmal vom Feinde besetzt worden. Doch während der ganzen Besatzungszeit konnte der enttäuschte Sieger die Stadt seiner Träume nicht erkennen. Der lebendige Charme, die einzigartige Atmosphäre waren verschwunden; denn Paris ist, oder, wie man nun leider sagen muß, war nur durch die Liebenswürdigkeit seiner Bewohner Paris, und wie man sich nur für willkommene Gäste in Unkosten stürzt, so offenbarte sich Paris auch nur denen, die es liebte. Alle diese Überlegungen existierten für mich nicht, als ich im Vollbewußtsein meiner achtzehn Jahre -38-
zum ersten Male in der Hauptstadt landete, mit offenen Augen und offenem Herzen für alles Abenteuerliche. Ich muß ehrlich zugeben, daß ich in dieser Stadt, die für das Glück der Menschen geschaffen schien, in keiner Weise vom Schicksal besonders begünstigt wurde. Aber damals konnte man in Paris unter den bescheidensten Bedingungen, selbst unter den anspruchslosesten Verhältnissen glücklich sein, und in diesem Zustand lebte ich dort viele Jahre hindurch. Wie ich schon einmal sagte, verfügte ich tatsächlich über keinerlei besondere Begabung, und es ist wohl hinlänglich bekannt, daß ein Abiturientenzeugnis noch nie viel genützt hat. Andererseits war mir der Gedanke unerträglich, jenem Grossisten in Bercy, dem Freund und Lieferanten meines Vaters, das Empfehlungsschreiben zu überreichen, das mir den Zugang zur glanzvollen Karriere eines Buchhaltungsgehilfen erleichtert hätte. Auch gab mir der Zehrpfennig, den man mir bei meiner Abreise aus Avalion gegeben hatte, die Möglichkeit, mehrere Monate zuzuwarten. Das tat ich denn auch, ohne mich weiter über die Zukunft zu beunruhigen: einige Monate erscheinen einem im Alter von zwanzig Jahren - und mit achtzehn erst recht - wie eine Ewigkeit. Ich hatte mich in einer Mansarde des etwas verfallenen Montparnasse-Viertels eingerichtet, das seit dem Auszug der Maler und Bildhauer, oder wie sie es in ihrer Sprache nannten, seit ihrer »Landflucht« nach Montrouge und Arcueil-Cachan heruntergekommen war. Meine Kenntnisse als Provinzler hinkten dabei wie üblich um ein gutes Vierteljahrhundert hinten nach. Mit mehr oder weniger Eifer besuchte ich die Kunstschulen in der Rue de la Grande-Chaumiere und fachsimpelte angesichts zahlreicher Bierschoppen tagelang und heftig über die verschiedensten Dinge, über Farbwerte, Mosaikbilder der Maler des Quattrocento, über die Nachteile, Zinkweiß mit Preußischblau auf der rohe n Leinwand zu mischen, über die Brüste der Venus von Milo und andere ebenso -39-
schwerwiegende Themen. Ich besaß eine verstellbare Staffelei, meine Pinsel standen in einem Fettopf, ich war Eigentümer von Palettemessern, eines Zeichenblocks und eines Pfeifenständers; ich sprach mit viel Sachkenntnis über Materie, Volumen, den Goldenen Schnitt und Komposition. Ein kleines Modell mit nachgezogenen Augenbrauen und hochgestellten Brüsten war gelegentlich bereit, mir eine Nacht lang in meiner Dachkammer Gesellschaft zu leisten. Das genügte mir, mich als Künstler zu bezeichnen. Auf den Terrassen der Kaffeehäuser wurde um mich herum in allen Sprachen dieses Planeten gesprochen. Ich brauchte nur die Augen zu schließen, um mich mit etwas Einbildungskraft in Wien, in Vancouver, in Buenos Aires oder in Nagasaki zu wähnen. Mit wenig Mitteln war mein Wandertrieb befriedigt, und dieses Leben erschien mir als das schönste auf der Welt. Der Tag kam jedoch, an dem ich gezwungen war, auf das Künstlerleben zu verzichten. Den väterlichen Zehrpfennig hatte ich verbraucht, und ehe ich mich auf die Malerei selbst stürzte, bevor ich mich mit scheinheiligem Interesse an den plastischen Formen eines hübschen Modells begeisterte, bevor ich also wirklich zu malen anfing, mußte ich vor allem erst einmal leben, und leben heißt Geld verdienen. Darauf war ich ziemlich schlecht vorbereitet, aber ich hatte meinen gesunden Menschenverstand nicht ganz verloren. Meine Malversuche hatten noch nie die Begeisterung der Massen oder der seltenen Kunstliebhaber erweckt und würden sie auch nie erwecken. Wenn mir die Laien das zusprachen, was man unter einem flotten zeichnerischen Strich versteht, so war doch in meinen Versuchen keine Spur von Genie, nicht einmal der Schatten eines Talentes zu finden. Ein angenehmes Künstlerleben zu führen bedeutet noch lange nicht, daß einem der göttliche Funke in die Wiege gelegt wurde. Ich war klug genug, das bei Zeiten zu erkennen, und machte mich auf die Suche nach einer Beschäftigung. -40-
Einen Beruf hatte ich nicht erlernt. Innerhalb von zwei Jahren übte ich wohl ein halbes Dutzend der verschiedensten Tätigkeiten aus, ich war Schreiber in einer Lebensversicherungsgesellschaft, Stallbursche in MaisonsLaffitte, Empfangsgehilfe in einem großen Hotel, Reiseführer eines Touristenbüros, Öl- und Seifenvertreter. Meine kenntnishungrige Jugend liebte die Abwechslung, aber meine fünf ersten Stellungen haben trotz ihrer reizvollen Vielseitigkeit nur sehr verworrene Bilder in meiner Erinnerung zurückgelassen, die eigentlich kaum erwähnens wert sind. Auf Grund einer Zeitungsannonce trat ich schließlich als Gehilfe bei einem Fotografen ein. Mein Arbeitgeber hieß Anatole Pinche und war ein Mann in den Fünfzigern. Sein kahler, glänzender Schädel war von einer graumelierten Haarkrone umgeben, die aussah, als wäre sie mit der Brennschere behandelt worden. Er war fett, feierlich und kurzatmig. Als ich mich ihm vorstellte, begann er um mich herumzulaufen und stützte dabei sein Kinn in die Hand. Plötzlich blieb er stehen und sah mich ziemlich aufgeregt an. »Sind Sie Künstler?« fragte er mich mit tiefer Stimme. »Jawohl, das bin ich«, antwortete ich ohne Verlegenheit. »Das wollen wir einmal sehen«, sagte er mit zusammengezogenen Augenbrauen. »Jeder Anfänger kann den Auslöser eines Fotoapparates bedienen, aber im Fluge den wahren Ausdruck eines Angesichts zu erhaschen oder, besser noch, den Ausdruck eines Antlitzes hervorzurufen, in dem ein menschliches Wesen sich in all seinen Eigenschaften, seinen Fehlern, Leidenschaften und Lastern spiegelt, das erfordert ganz besonderes Talent; dazu ist Intelligenz notwendig, mein Herr, Inspiration, mein Herr; ja, ich wage sogar zu sagen, daß ein Körnchen Genie dabei nicht schaden kann.« Er sprach mit einer derartigen Begeisterung, daß er in seinem Schwung fast violett geworden war. »Ganz einverstanden, Herr Pinche«, entgegnete ich -41-
friedfertig. Hatte er vielleicht daran gedacht, mich zu entmutigen? Meine Zustimmung schien ihn zu überraschen. In kurzen Abständen schlug er sich an die Brust, als wollte er wieder zu Atem kommen; denn sein Fett hinderte ihn beim Luftholen. Dann fuhr er fort: »Vor Ihnen hatte ich verschiedene Gehilfen, mein Herr, absolut qualifizierte Fachleute, Virtuosen der Dunkelkammer, die sich brüsteten, ein Porträt aufnehmen zu können. Zweifellos genügte ihre unpersönliche Gewandtheit zur Anfertigung eines Ausweisbildes, ja sogar jener Bildnisse neu vermählter Paare, bei denen jeder Kunde sich von vorn herein damit abfindet, sein Leben lang den Kopf eines Zuchthäuslers oder Geistesgestörten zur Schau zu tragen. Aber alle diese Leute waren unfähig, aus dem Angesicht eines Menschen dessen Schicksal bildlich zu gestalten. Ich sage Ihnen lieber gleich, daß ich ein unfehlbares Mittel hatte, sie zu beurteilen: ich verlangte von ihnen ein Porträt von Frau Pinche. Nun, keiner von ihnen hat es je vermocht, diese so offensichtlich einfache Aufgabe zu lösen, nämlich das Bild einer schönen Frau aufzunehmen.« Er durchschritt das Atelier, öffnete eine Tür und rief: »Sidonie!« Sidonie Pinche war eine gut aussehende Person von fünfunddreißig Jahren. Ihre kleine Gestalt machte ihr viel Kummer, sie gab sich große Mühe, diesen Nachteil durch übertrieben hohe Absätze auszugleichen. Aber die graziösen Rundungen, die sie andererseits zeigte, waren keine künstlichen. Sie hatte einen frischen Teint, sinnliche Lippen, reiches Haar, das in seiner dunklen Farbe an Füllfederhaltertinte erinnerte, und schwarze, blitzende Augen. Mit wiegenden Hüften trat sie in das Atelier, und ich hatte sogleich das Gefühl, ihr nicht zu mißfallen, denn -42-
sie lächelte mir schelmisch zu. »Das ist Herr Durand, mein neuer Gehilfe«, sagte Anatole Pinche. »Er ist Künstler und behauptet, daß ihm dein Porträt gelingen werde.« »Wirklich?« entgegnete sie mit gurrender Stimme. »Warum auch nicht?« fuhr der Fotograf fort. »Im übrigen, ich lasse euch allein. Herr Durand, Sie können sofort mit den Vorstudien für das Porträt meiner Frau beginnen. Ich nehme wohl zu Recht an, daß ein Künstler wie Sie sich nicht auf das Modell stürzt wie ein Hund auf einen Knochen.« (Er grinste dabei recht eigenartig.) »Es ist nicht sehr eilig, vergessen Sie das nicht, Sie können sich Zeit lassen. Verschwenden Sie nicht zu viel Platten, aber verbrauchen Sie, was notwendig ist. Glauben Sie ja nicht, verpflichtet zu sein, mir das Ergebnis Ihrer Bemühungen zu zeigen, ehe Ihnen nicht ein Abzug gelungen ist, der Sie wirklich befriedigt. Was die laufende Arbeit anbelangt, so beginnt sie morgens um 9 Uhr.« Er kratzte sich noch immer am Kinn und verließ ächzend und grinsend das Atelier, während sich ein immer breiter werdender rötlicher Fleck mitten auf seiner Stirn zeigte wie die Spuren eines Faustschlages. So begann meine Tätigkeit in der fotografischen Kunst, in der ich mir später einen gewissen Namen machen sollte. Wenn ich diese Episode etwas ausführlich erzähle, so geschieht es nicht allein deshalb, weil sie auf mein Berufsleben einen entscheidenden Einfluß hatte, sondern auch, weil diese Komödie bald durch ein Drama abgelöst wurde. Die Menschheit stand damals schon am Rande des Abgrundes und vergeudete ihre letzte Chance eines glücklichen, zufriedenen Daseins. Als ich mich auf Wunsch ihres Gemahls mit Sidonie Pinche allein befand, zog sie ein Schmollmäulchen, näherte sich mir, blickte mir tief in die Augen, reckte einen Arm nach vorn, den anderen nach hinten, senkte den Kopf mit einem verzweifelten Ausdruck auf die Schulter und behauptete, eine Odaliske -43-
darzustellen, die das Wohlgefallen ihres Herrn und Gebieters zu erregen wünscht. Ihre wohlgeformten Brüste zitterten, und mit gespitztem Mund flüsterte sie mir ins Ohr: »Nun, Herr Durand, was würden Sie zu dieser Pose sagen?« Ich muß es mir wirklich als Verdienst anrechnen, daß ich in diesem Augenblick nicht laut herausplatzte. Ich erklärte ihr sogar kaltblütig, ich würde es für den Anfang vorziehen, sie in einer weniger gezwungenen Stellung aufzunehmen. »Wie Sie wünschen«, erklärte sie mir in gereiztem Ton. Ich machte an diesem Tag drei oder vier Aufnahmen, die sie, genau der Wirklichkeit entsprechend, als schnippisches Frauenzimmer zeigten. Ich hütete mich natürlich, ihr oder ihrem Gatten die Abzüge vorzulegen. Diese tägliche Fronarbeit war unvermeidlich, wenn ich meine Stellung behalten wollte. Daher mußte ich an allen folgenden Tagen dasselbe Theater über mich ergehen lassen. Unter dem Vorwand, mich auf das rein fachliche Gebiet zu beschränken, erklärte ich der Ehefrau Pinche allen Ernstes, bei einem guten Porträt komme es vor allem darauf an, daß der Fotograf einen günstigen Moment erwische. Man müsse dabei berücksichtigen, daß die Kunst, diesen Augenblick herbeizuführen, der Qualität des Aufzunehmenden entspräche. Nun, was die Qualität anbelangt, so verstand es sich von selbst, daß Sidonie Pinche keine Konkurrenz zu fürchten brauchte. Diese kleine, vollschlanke Person war von Natur ziemlich mißtrauisch. Aber bei ihr übertraf die Eitelkeit ihre Vorsicht, so daß sie meine Redensarten für bare Münze nahm. Täglich änderte sie mindestens einen Teil ihrer Kleidung, obwohl ich ihr mehrfach erklärt hatte, daß meine Studien sich allein auf ihr Gesicht bezögen. »Aber gehen Sie!« sagte sie mir in zweideutigem Tone, »ihr Männer wäret schön hereingefallen, wenn die Frauen nur aus einem Kopf bestünden.« Manchmal trat während einer Sitzung der Chef in das Atelier und rieb sich die Hände. »Na, macht das Porträt Fortschritte? Bitte glauben Sie ja -44-
nicht, daß ich Ihnen die Pistole vor die Brust halte. Wenn nur meine Frau zufrieden ist, dann bin ich es selbstverständlich auch.« Eines schönen Tages erschien Sidonie Pinche in einem weite^ Morgenrock aus karmesinfarbigem, großblumigem Satin. Ich forderte sie auf, eine ihr genehme Stellung einzunehmen, und sie streckte sich lässig auf einem alten Ripssofa aus. Ich hatte meinen Kopf unter das schwarze Tuch gesteckt, um die richtige Einstellung zu finden, und wollte gerade den Apparat mittels der Rollfüße vorschieben, als ich auf der Mattscheibe, die das Bild der Schönen umgekehrt wiedergab, sehen mußte, wie sie sich ihrer Hüllen entledigte und mit selbstverständlicher Schamlosigkeit in vollkommen entschleiertem Zustande darbot. Die Situation war sehr heikel. Anatole Pinche konnte jeden Augenblick erscheinen - wie würde sich dieser eigenartige Ehemann wohl verhalten? Offensichtlich tat er alles, um mich in die Arme seiner Frau zu treiben, aber die Reaktionen eines Hahnrei sind nie vorauszusehen. Andererseits war Sidonie Pinche, wie ich schon einmal bemerkt habe, äußerst anziehend, umsomehr jetzt, wo ich auf der Mattscheibe ganz nach Herzenslust all ihre Reize einzeln genießen konnte. Ihr unberechenbarer Charakter aber genügte, mich vor einer Handlung zu bewahren, die möglicherweise mehr Enttäuschungen als Vorteile nach sich gezogen hätte. Ich tauchte also aus meinem dunklen Versteck auf und sagte, ohne ein Zeichen der Verwirrung oder der Verlegenheit zu verraten, in möglichst natürlichem Ton: »Madame, Sie hatten mir nicht gesagt, daß es sich um ein Aktfoto handeln sollte.« Sie schien ebenfalls nicht verlegen, lächelte gezwungen und gab mir ein Zeichen näherzutreten. »Kommen Sie doch näher, Sie großer Dummkopf!« Ich näherte mich ihr, sie griff nach meiner Hand und drückte -45-
sie auf ihre feste, wohlgeformte Brust. »Fühlen Sie, William, spüren Sie, wie mein Herz schlägt?« Zum ersten Mal nannte sie mich beim Vornamen. Ich versuchte, mich freizumachen, aber sie drückte meine Hand noch fester. »Sie wollen mir doch nicht weismachen, daß Sie ihrer kleinen Freundin Treue geschworen haben?« Ihre Augen brannten wie Feuer, ihre Lippen öffneten sich, die matte Haut atmete den Duft der Brünetten aus. Meine Kehle wurde seltsam trocken, fast erlag ich der Versuchung, als ein Geräusch von der Türe her mich zusammenfahren ließ. Ich riß mich los. »Wenn Sie einverstanden sind, Madame, werden wir zuerst die Einstellung vollenden.« »Einfaltspinsel!« rief sie aus. Ihr Gesicht war vor Zorn ganz entstellt. Mit einem Satz sprang sie auf, und ich fragte mich tatsächlich im Augenblick, ob mir die Potiphar nicht mit gezückten Nägeln ins Gesicht springen wollte. Vielleicht hätte sie es auch getan, wenn nicht plötzlich die Türe aufgegangen und Herr Pinche eingetreten wäre, der mit hochgezogenen Augenbrauen, aber ohne andere Zeichen der Empörung mit gütiger, fast jovialer Stimme sagte: »Ach, diese Künstler! Sie bevorzugen immer das Nackte, sie sind wirklich unverbesserlich.« Und zu seiner Frau gewandt: »Nun? Bist du wenigstens zufrieden, mein Täubchen?« »Weder mit dir noch mit deinem keuschen Joseph!« entgegnete die zornerfüllte Sidonie und zog sich den Morgenrock über. Sie ging hinaus, die Tür schlug laut hinter ihr zu. Anatole Pinche senkte den Kopf und wandte sich mit verzweifelter Miene nach mir um. »Sie sehen, auch Ihnen ist das Kunststück nicht gelungen, und gerade in Sie setzte ich einige Hoffnung. Ich gestehe, daß Sie mir sogar Vertrauen einflößten. Die Frauen sind aber Wesen, die einem Enttäuschungen bereiten, und Sie selbst werden verstehen, daß ich auf Ihre -46-
Mitarbeit verzichten muß.« Welch zweideutige Rolle mochte dieser närrische Kauz wohl spielen? Für mich stand fest, daß er an der Ateliertüre gelauscht hatte, um im gewünschten Augenblick eintreten zu können. Traurig kehrte ich in meine Mansarde zurück. Es war an einem der goldenen Tage Mitte September, mit denen der Pariser Sommer zu Ende geht und, wie um seinen Abschied schmerzlicher zu gestalten, noch einmal seine Gaben verschwenderisch zur Schau stellt. In den Augen aller Frauen leuchtet das Versprechen des Vergnügens oder des Glücks. Nein, es erscheint unmöglich, daß die schönen Tage enden könnten. Es liegt so viel Beschwingtes in diesem tanzenden Licht, das liebevoll Gestalt und Antlitz plastischer erscheinen läßt. So viel Leichtigkeit liegt in der durchsichtigen Luft, in. der die zarten Seidenwolken schweben, und es wird so recht augenscheinlich, daß der Mensch dazu geschaffen ist, in Frieden die süßen Früchte dieser Erde unter der strahlenden Sonne zu genießen. Dabei vergißt man, daß das Leben zwar schön, aber vergänglich ist, daß der Duft der Blumen nur einen Atemzug währt, daß jener Baum, der sich sanft gegen das Blau des Himmels abhebt, daß der in der Mittagshöhe schwebende Vogel, diese Frau mit veilchenb lauen Augen und verheißendem Munde nur eine Handvoll Staubes im Winde sind. Ich spreche von den Sommern in Paris, als ob mein unbeständiges, armseliges Menschenherz leugnen möchte, daß sie niemals wiederkehren. Aber ihr Verschwinden besteht für mich nicht, da ich sie ganz nach Belieben in meiner Erinnerung wieder aufleben lassen kann. Ein Telegramm erwartete mich zu Hause: »Mutter schwer erkrankt. Anwesenheit sofort erforderlich. - Durand.« Noch am gleichen Abend traf ich in Avalion ein, aber meine Mutter war schon am frühen Morgen plötzlich gestorben. Meinen Vater fand ich am Totenbett seiner treuen Gattin, der unersetzlichen Lebensgefährtin; der große -47-
starke Mann war völlig zusammengebrochen. Tränenerfüllt standen wir uns gegenüber, und ich wunderte mich, daß er weinen konnte. Pipin der Kurze war beim Verlassen des Friedhofs von einer Blässe, die bei diesem starken Sanguiniker erstaunlich erschien. Er klopfte meinem Vater tröstend auf die Schulter und wollte uns mit aller Gewalt in das Hotel zur Post zum Mittagessen mitnehmen. Marie-Jeanne ging an meiner Seite. Anfangs glaubte ich, sie nicht mehr zu erkennen. Ein Kind hatte ich verlassen, eine Frau fand ich wieder. Aber ihre großen, schwarzen Augen waren die gleichen geblieben, ebenso ihre verstohlenen Blicke, die nun von plötzlichem Erröten begleitet waren. Bei Tisch suchte sie mich wie einen Bruder zu trösten, während mein Vater schmerzgebeugt vor seinem Teller saß. Einige Tage später sollte mir dieses brüderliche Verhältnis, das die vergangenen Jahre überdauert hatte, noch stärker zum Bewußtsein kommen. Da ich meine Stellung bei Meister Pinche verloren hatte, trieb mich nichts zur Rückkehr nach Paris. Mein Vater litt unter dem Verlust meiner Mutter über alles Erwarten, er entdeckte nachträglich die Tugenden seiner verstorbenen Frau. Warum hatte er sie zu ihren Lebzeiten nur ausgenützt, statt ihren wahren Wert zu erkennen! Meine Anwesenheit war ihm in seinem Kummer ein Trost. Nach vierzehn Tagen schien er sich wieder so weit um seine Geschäfte zu kümmern, daß ich ihm ohne weiteres meine baldige Abreise anzeigen konnte. Als ich mit ihm darüber sprechen wollte, unterbrach er mich nach den ersten Sätzen. »Höre gut zu, William: der Tod deiner Mutter hat mich alt gemacht; ich fühle wohl, daß ich nicht mehr der gleiche bin. Es kann nicht mehr die Rede davon sein, das Kaffeehaus weiterzuführen. Ich möchte es verkaufen und mich von den Geschäften zurückziehen. Das Allein-- sein könnte ich allerdings nicht ertragen. Wie wäre es, wenn wir zusammen blieben?« -48-
»Darüber wäre ich sehr glücklich«, antwortete ich ihm, »und ich möchte dir einen Vorschlag machen: ich nehme dich nach Paris mit. Mit deiner Hilfe werde ich mir ein Foto-Atelier einrichten; ich glaube, auf diesem Gebiet neuartige Ideen zu haben, und bin meines Erfolges fast sicher.« Er zuckte die Achseln mit einer Ungeduld, die mich an den keinen Widerspruch duldenden Riesen meiner Jugendjahre erinnerte. Doch er fing sich sofort wieder. »Wie lieb von dir, mein Junge! Aber ich habe etwas Besseres für dich im Sinn. Ich habe spät geheiratet, und das war wohl ein Fehler. Lerne aus meiner Erfahrung und nimm dir an mir kein Vorbild. Was würdest du zu Marie-Jeanne sagen?« Ich war so wenig auf diesen Vorschlag gefaßt, und der Name, der mir da mit so betonter Liebenswürdigkeit ge nannt wurde, versetzte mich in eine derartige Bestürzung, daß ich im Augenblick nichts zu erwidern wußte. Mein Stillschweigen ermunterte meinen Vater fortzufahren: »Pipin denkt wie ich, er würde gern dabei behilflich sein, und ich habe guten Grund zu der Annahme, daß er in dir einen idealen Schwiegersohn sieht. Das Hotel zur Post ist, wie du wohl weißt, das beste unserer Stadt. Überdies hat es eine geschichtliche Vergangenheit, da Napoleon dort eine Nacht geschlafen hat. Marie-Jeanne wird das Hotel als Mitgift erhalten. Für dich wäre das eine gesicherte Zukunft, und du hättest gleichzeitig eine in jeder Beziehung vollkommene kleine Frau. Sie erinnert mich lebhaft an deine verstorbene Mutter. Ihr kennt euch seit frühester Jugend, also habt ihr keine Überraschungen zu befürchten.« Ich hätte meinem Vater antworten können, daß gerade dieses gegenseitige Sichkennen ein wesentliches Hindernis für die von ihm beabsichtigte Vereinigung bedeutete. Meine Freundschaft zu Marie-Jeanne schloß Liebe aus. Dieses Wesen, in dem ich trotz der Veränderung immer noch das kleine Mädchen meiner Kindheit erblickte, würde in mir nie irgendein Verlangen -49-
erwecken. Darüber hinaus bedeutete die Heirat mit MarieJeanne ein endgültiges Verschwinden in der Versenkung. MarieJeanne war eine richtige Provinzlerin, und das war in meinen Augen ein nicht wiedergutzumachender Fehler. Trotz meiner prekären Situation hatte ich von Paris noch keineswegs genug. Ich bildete mir ein, nirgendwo anders leben zu können, und es kam mir gar nicht zum Bewußtsein, daß mich gerade diese Naivität als Provinzler kennzeichnete. Und schließlich spürte ich in mir keinerlei Berufung zum Hotelier. »Nun«, sagte mein Vater, »warum antwortest du mir nicht?« Ich hielt es für diplomatischer, ihn nicht durch eine glatte Absage zu verstimmen, daher beschränkte ich mich darauf zu bemerken, daß ich mich noch zu jung fühle, um ein eigenes Heim zu gründen, daß mich sein Vorschlag überrasche und ich darüber nachdenken müsse. »Nun gut«, antwortete er, »aber überlege nicht zu lange, Marie-Jeanne ist anziehend genug, um schnell einen Freier zu finden.« Ich blieb also eine weitere Woche bei ihm, sah Marie-Jeanne wieder und fand meine Meinung bestätigt. Dieses liebenswürdige und gesunde Mädchen ließ mich kalt wie Marmor. Mein Gott, was war da zu machen? Auch meinen Kameraden Antoine Hurion traf ich wieder, der in seinem väterlichen Laden, eine Uhrmacherlupe ins Auge geklemmt, vor lauter Langeweile vertrocknete. Er hatte die Sonntage und Ferien dazu benützt, in Auxerre sein Piloten-Examen zu machen, und wollte nach seiner Volljährigkeit seine Karriere in der Handelsluftfahrt beginnen. »In sechs Monaten werde ich 21 Jahre alt«, sagte er. »Weißt du, wovon ich träume? Eines Tages das Flugzeug New-York Konstantinopel zu fliegen.« Das Stratosphärenflugzeug, das ihm, als er noch ein mittelmäßiger Schüler der sechsten Klasse des Gymnasiums in Avalion war, so viel Seufzer entlockt hatte, überflog noch -50-
immer jeden Abend zur selben Stunde die Stadt. Der Dirigent des städtischen Orchesters wartete nach wie vor das gewohnte Brummen ab, ehe er seine Musiker entfesselte. Um den Musikpavillon herum standen noch immer die Bürger von Avallon mit ihren vom heimischen Wein geröteten Gesichtern, den gleichen runden Strohhüten und den gleichen Uhrketten auf ihren dicken Bäuchen. Inmitten dieser Menschen sollte ich leben? Dann doch tausendmal lieber meine Mansarde auf dem Montparnasse! Dort nahm ich also meine alten Gewohnheiten mit umso größerer Genugtuung wieder auf, als mein Vater, ohne mir meine Zurückhaltung Marie-Jeanne gegenüber nachzutragen im Stillen hoffte er wohl, mich doch noch zu seinen Absichten zu bekehren -, sich keineswegs knauserig gezeigt und meine Finanzen wieder in Ordnung gebracht hatte. Mit dem kleinen Bündel Geldscheine, das ich jetzt besaß, hätte ich ganz nach Belieben mehrere Monate ein sorgenfreies Leben führen können. Aber ich zog es vor, ein geschäftliches Wagnis zu unternehmen, dessen Erfolg mir die Unabhängigkeit versprach. Ich hatte nicht nur so leichthin, oder um mich interessant zu machen, mit meinem Vater über neue Wege auf dem Gebiet der fotografischen Kunst gesprochen. Meine erste Unterhaltung mit Anatole Pinche hatte mir den Gedanken des »natür-1ichen Porträts« eingegeben, der sich nun bewähren sollte. Ich möchte nicht behaupten, daß es eine geniale Idee war, aber wenigstens war sie vom geschäftlichen Standpunkt aus lebensfähig, und gleichzeitig büßte die Kunst dabei nichts ein, im Gegenteil. Zum Start erschien mir eine wohlüberlegte Werbung unentbehrlich, aber dazu wären mehr Geldmittel nötig gewesen, als ich besaß. Die väterliche Großzügigkeit gestattete mir indessen, ein repräsentatives Atelier auf dem Boulevard Batignolles zu mieten und gleichzeitig die Einrichtungskosten zu tragen. Nach einem Monat war es so weit. Ich wollte in Aktion treten und mein Glück versuchen - aber die Götter hatten -51-
es anders bestimmt. Nach einem wundervollen Sommer voll zitternder Lichter spannte ein üppiger Herbst gleich jenen Frauen, deren Schönheit vor ihrem Absterben einen noch süßeren Glanz ausstrahlt, über Paris einen klaren und warmen Himmel aus. Unterdessen schwebte über Europa, das durch die schlimmsten Erfahrungen nicht zur Vernunft gekommen war, ein neues schweres Unheil. Wieder einmal sprach man vom Krieg, wieder einmal glaubten die leichtsinnigen, in der Mehrzahl allzu leichtsinnigen Franzosen nicht an ihn. Heute, nachdem das weiße Übel - das soll wahrhaftig kein ironisches Scherzwort sein, dazu hätte ich nicht das Herz verschwunden ist, hat sich die Welt in drei weitverzweigten Staatenbünden organisiert, die ihrerseits einem obersten Rat zur Schlichtung ihrer gegenseitigen Streitfälle unterstellt sind, und man kann sich schwerlich die unvernünftige Aufteilung in feindlich eingestellte Nationen vorstellen, in der sich Europa während der ganzen Dauer seiner glanzvollen Geschichte befand und die schließlich seinen Untergang vollenden sollte. Jedesmal, wenn diese Krankheit ausbrach, erklärten die beiden Parteien, der Krieg sei unvermeidlich; die Regierungshäupter schworen, alles getan zu haben, um ihn zu bannen; die Hammelherden der Völker ließen sich in der Überzeugung ihrer gerechten Sache willenlos zur Schlachtbank führen. Die bemitleidenswerten Europäer verloren zweifelhafter Vorteile wegen, in deren Genuß jedenfalls Millionen unter ihnen nie kommen sollten, da sie ja ihr Leben lassen mußten, fröhlichen Herzens ihr Hab und Gut, obwohl sie keineswegs sicher waren, es je ersetzen zu können. Dieser Wahnsinn wird verständlich, wenn man bedenkt, daß diejenigen, die über den Krieg entscheiden, und diejenigen, die kämpfen müssen, nie dieselben sind. Unter den Drahtziehern hatten einige vielleicht an einem früheren Kriege teilgenommen, aber ihre nutzlosen Leiden vergessen. Vielleicht empfanden sie eine geheime und uneingestandene -52-
Befriedigung in dem Glauben, der Krieg sei ein chronisches Leiden, und sie könnten, da sie selbst nicht mehr unmittelbar betroffen wurden, ohne Skrupel und Reue ihre jüngeren Jahrgänge in den Abgrund stürzen, vor dem sie bewahrt geblieben waren. Als Durchschnittsfranzose verschloß ich in größter Dummheit Augen und Ohren vor den Anzeichen der kommenden Katastrophe. Wenn einmal ein vernünftiger kritischer Freund mich aufzuklären versuchte, zuckte ich mit überlegenem Lächeln die Achseln. Mein Vater hatte mir doch schon vor langer Zeit erklärt, der dritte große Krieg des 20. Jahrhunderts sei wirklich der letzte aller Kriege gewesen. Ein Mensch, der innerhalb eines Vierteljahrhunderts zweimal gekämpft hatte, mußte doch wohl genau wissen, was er sagte. Es kam mir dabei nicht in den Sinn, seine Ansicht könne weniger auf seinem Verstand als auf seinen Wünschen beruhen. Also, mein Atelier war eingerichtet, eine schöne schwarze Marmorplatte kündete am Eingang in goldenen Buchstaben an: »Das natürliche Porträt. Kunstatelier«, und ich redigierte einen Werbeprospekt, der den Bewohnern der zwanzig Pariser Arrondissements bekanntgeben sollte, William Durand sei einer der seltenen Fotografen auf der Welt, der im Namen der Kunst die Technik keineswegs vernachlässige. Da erhielt ich einen Brief aus Avallon. In herzlichen Worten brachte mein Vater zum Ausdruck, wie sehr ich ihm fehle und daß er mich zu sehen wünsche. Er fügte hinzu, ich möge ihm ruhig schreiben, wenn er mir in irgend einer Weise helfen könne. Dazu sei er da. Der Ton dieses Briefes rührte mich, ich reiste am nächsten Morgen ab. Bei meiner Ankunft bezeugte mein Vater große Freude, aber ich war noch keine vierundzwanzig Stunden da, sprach er wieder von Marie-Jeanne. Ich verbarg so gut wie möglich den Ärger, den er durch seine Beharrlichkeit in mir hervorrief, und sprach mit Antoine Hurion über das, was ich als »Heiratsverfolgung« bezeichnete. Die Reaktion meines -53-
Kameraden überraschte mich. »Dein Vater hat recht«, sagte er, »Marie-Jeanne ist das reizendste Mädchen, das ich kenne, und du spielst allzu sehr den Kostverächter.« »Ja, warum heiratest du sie denn nicht selbst?« erwiderte ich lebhaft, Er sah mich mit einem sonderbaren Ausdruck an. »Weil sie dich liebt, mein Freund.« Ich zog vor, die Unterhaltung zu wechseln. Gewiß war Marie-Jeanne reizend, aber man tat alles, um sie mir unerträglich zu machen. Bei jeder Mahlzeit fand mein Vater diese oder jene Gelegenheit, mit feuchtem Blick (an dem die nach wie vor beliebte Weinflasche nicht ganz unschuldig war) die Vorzüge seiner Kandidatin herauszustreichen. Nach vierzehn Tagen hatte ich genug und erfand eine Ausrede für meine beschleunigte Abreise nach Paris. »Und Marie-Jeanne?« sagte mein Vater. »Hast du nun endlich eine Entscheidung getroffen?« »Noch nicht«, antwortete ich und zwang mich zur Ruhe. Er schüttelte bedauernd sein Haupt, wiederholte aber seine Lobrede nicht. Trotz der vorgeschrittenen Jahreszeit gab der Musikverein von Avallon in Anbetracht des ausnahmsweise milden Wetters an jenem Abend ein Konzert im Pavillon. Ich ging mit Antoine Hurion und meinem Vater, der Kopfschmerzen hatte und sich von einem kleinen Spaziergang Erleichterung versprach, in den Stadtpark. Auf der hell erleuchteten Place Vauban trafen wir Pipin den Kurzen und seine Tochter. Marie-Jeanne lächelte mir zu, und da ich am nächsten Morgen abreisen wollte, fiel es mir nicht schwer, mich ihr gegenüber etwas aufmerksamer als üblich zu zeigen. Entschlossen, unter allen Umständen auf sie zu verzichten, stellte ich mir doch vor, wie sich mein Leben an der Seite dieses schönen Mädchens gestalten würde, von dem Antoine behauptete, daß sie mich liebe, und eine Art Heimweh ergriff mein Herz. Meine Aufmerksamkeiten machten MarieJeanne sichtbar glücklich. Ihre Augen glänzten vor Freude, und als ich absichtlich meinen Blick auf ihr ruhen ließ, zeigte sie -54-
wieder jene rasche Bewegung der Augenlider, die mir aus ihrer Kinderzeit in Erinnerung geblieben war. Warum verbarg sich mir hinter diesem schüchternen Mädchen die erblühte und begehrenswerte Jungfrau? So war es tatsächlich, und ich konnte es nicht ändern. Seit einigen Minuten schlenderten wir auf dem Platz herum, und ich entsinne mich noch, daß mein Vater mit Pipin über seine »verflixte« Migräne sprach, die er nicht mehr los werde, als ich sah, wie Antoine aus seiner Westentasche eine flache Uhr hervorzog, die er erstaunt betrachtete, ehe er sie ans Ohr hielt. « »20 Uhr 35«, sagte er in eigentümlichem Ton. Wie ich beobachten konnte, schienen im Pavillon die Musiker nicht bei" der Sache zu sein. Mehrmals schon hatte der Dirigent, um sie vorzubereiten, mit dem Taktstock auf* das vor ihm stehende Pult geklopft, ihn aber unbegreiflicherweise immer wieder sinken lassen. Auch er sah auf die Uhr, lüftete seine mit Goldborten geschmückte Mütze und kratzte sich am Hinterkopf. »20 Uhr 40«, sagte Antoine. »Es ist unglaublich.« Das Stratosphärenflugzeug hatte schon zehn Minuten Verspätung. »Ich weiß mir keine andere Erklärung als ein Unglück«, fuhr mein Kamerad fort. Kaum hatte er das gesagt, als ein Gebrumm wie von einem Bienenschwarm am Himmel anschwoll und das Flugzeug New York - Konstantinopel über unseren Häuptern geräuschvoll dahinflog und wieder verschwand. Erschreckt blickte ich Antoine an, als habe sich ein außergewöhnliches Ereignis abgespielt. Welches Ereignis? Es bestand in der einfachen Tatsache, daß das Orchester in mysteriösem Schweigen verharrte. Eine merkwürdige Bewegung entstand im Pavillon, der Dirigent hatte sein Pult verlassen, um mit einem kleinen, dicken, atemlosen Mann zu sprechen, in dem jedermann Herrn Mollard, den Gemeindesekretär, erkannte. Der Kapellmeister -55-
legte seinen Taktstock nieder und näherte sich dem Lautsprecher, der hinter ihm stand. Es genügt, Menschen in ihren täglichen Gewohnheiten zu stören, um in ihnen das Gefühl eines kommenden Unheils zu erwecken, und man darf nicht vergessen, daß seit fünfzehn Jahren die ersten Takte des Standkonzertes immer mit dem Vorbeiflug des Stratosphärenflugzeuges zusammenfielen. Die Katastrophe war offensichtlich nur zu nahe. »Meine Damen und Herrn!« sagte der Dirigent in unsicherem Tone, »unser Land ist soeben das Opfer eines verabscheuungswürdigen Angriffes geworden. Etwa zehn französische Städte werden seit einer Stunde schwer bombardiert. Der Krieg ist ausgebrochen, und wir bitten um Entschuldigung, wenn das vorgesehene Konze rt heute abend nicht stattfindet.« Eine noch größere Stille als vor dieser Rede trat ein und ließ die Bewohner von Avallon in ihrer Bestürzung verharren. Und mitten in dieser Stille, während die Rücken sich beugten und unter dem harten Licht der Bogenlampen die Sorgenfalten auf den Stirnen erschienen, hörte ich neben mir ein dumpfes Stöhnen und das Geräusch eines Sturzes. Mein Vater hatte soeben einen Schlaganfall erlitten. Zu dem allgemeinen Drama kam für mich ein weiteres, persönliches. Ich erinnere mich nicht mehr genau, wie ich diesen schweren, wie vom Blitz getroffenen Körper mit Hilfe des bestürzten Pepin Deniau zur benachbarten Apotheke schaffte. Aber ich rieche noch den Äther und höre noch die hinter den altmodischen grünen und roten Kugeln der Schaufenster von dem Todgeweihten mit übermenschlicher Anstrengung gestammelten Worte: »Du - - -Marie-Jeanne«, während er mich mit brechendem Auge anblickte. Noch im Todeskampf sorgte sich dieser zu Lebzeiten verkannte Vater um meine Zukunft, um mein Glück. Die allgemeine Lage ließ mir kaum Zeit und Muße, ihn zu betrauern. Ein Krieg löscht wahllos und schnell im Buch der Zeit das Gute wie das Schlechte aus, das vor ihm Geltung hatte. -56-
Ich war gerade einundzwanzig Jahre alt geworden, und der Militärdienst rief mich. Über mein Schicksal machte ich mir keine Illusionen. Der dritte große Krieg des 20. Jahrhunderts war so mörderisch gewesen, daß ein junger Mann meines Alters logischerweise damit rechnen mußte, unter den Opfern dieses neuen Blutbades zu sein. Das Durche inander, das, wie schon so oft, bei der Organisation der Landesverteidigung in meiner Heimat herrschte, schenkte mir einen Aufschub von vierzehn Tagen, bevor ich nach Auxerre zu meinem Mobilisationsdepot fuhr. (Antoine rückte, obwohl wir gleichaltrig waren, »sofort und ohne Verzug« ein, um in der üblichen Militärdienstsprache zu reden.) Nachdem ich den Sarg meines Vaters mit Weihrauch besprengt hatte, überfiel mich eine tiefe Niedergeschlagenheit. Meine Eltern waren tot, nichts band mich mehr an Avalion, mit ihnen hatte sich mein ganzes früheres Leben in nichts aufgelöst. Wie lange aber würden mich die Wechselfälle des Krieges noch verschonen? Und hatte das Leben in der kommenden furchtbaren Zeit überhaupt noch einen Sinn? Könnte einen der Abschied von der einem blutigen Wahnsinn geweihten Welt noch reuen? In dieser grauenvollen Stimmung erinnerte ich mich der letzten Worte meines Vaters. Sein Wunsch, mich mit MarieJeanne verehelicht zu sehen, war in ihnen erneut und besonders stark zum Ausdruck gebracht, sie erschienen mir wie eine Verpflichtung, ja fast wie ein Zwang. Ich sollte ohne große Hoffnung auf Rückkehr Avallon verlassen - warum einem Gequälten im Schattenreich die Ruhe nicht geben, nach der er sich sehnte? Bei den ersten Worten, die ich mit ihm darüber sprach, strahlte Pepin Deniau vor Vergnügen. »Nur deine Heirat mit Marie-Jeanne vermag mich über den Tod deines Vaters einigermaßen zu trösten«, sagte er. »Und der Krieg rechtfertigt sie trotz deiner Trauer.« Seine Augen wurden feucht, sein dreifaches Kinn zitterte. Ich war ein wenig verlegen, denn ich wurde den Gedanken nicht los, daß ich Marie-Jeanne nicht so -57-
liebte, wie er es sich wohl einbildete. Diese Beweise seiner Zuneigung verdiente ich also nicht. Aber würde ich damit nicht zwei Menschen glücklich machen, ganz abgesehen von dem unsichtbaren Zeugen? Der wackere Mann umarmte mich und klopfte mir auf die Schulter. Dann rief er seine Tochter und schob mich zu ihr hin. Marie-Jeanne, eine aufrechte und blasse Minerva mit herabhängenden Armen, seufzte tief, als ich sie an meine Brust zog. Ihr Gesicht war verkrampft, ihre großen schwarzen Augen hatten einen Glanz, der auf nahe Tränen schließen ließ. Als ich ihre Wange mit meinen Lippen berührte, war es, als verginge sie in meinen Armen. Sie gab mir den Kuß mit einer scheuen und linkischen Bewegung zurück. Meine Rührung hatte aber nichts oder fast nichts mit dieser zitternden Jungfrau zu tun, sie bezog sich auf den Toten, der zweimal an einem Kriege teilgenommen hatte, eine Wiederholung dieses Unheils nic ht ertragen konnte und dessen Schatten auf uns ruhte. Unsere Hochzeit wurde ohne Zeremonie am Tag meiner Abreise nach Auxerre gefeiert. Vor den Menschen war Marie-Jeanne jetzt meine Frau. Aber bis zu unserem Abschied auf dem Bahnhof hatte ich es so eingerichtet, daß wir nicht einen Augenblick allein waren. Ich verließ sie unberührt.
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DIE ZEIT MARIE-JEANNES Liebe, Arbeit, Heirat, Freundschaft, Tod - das sind die einfachen Worte, die das ganze Schicksal des gewöhnlichen Sterblichen umreißen. Einer von ihnen war ich. Ich war einer jener Franzosen, die es immer' gab, solange Frankreich existierte, die in einem geordneten Leben ein Kunstwerk erblickten, das einen vernünftigen Menschen befriedigen konnte. Dieses Kunstwerk schloß keineswegs hervorragende Leistungen, sei es auf dem Gebiet des Handwerks oder der geistigen Tätigkeit, aus. Sie mochten im Hinblick auf die Gesamthaltung des Jahrhunderts wertvoller erscheinen, aber im Grunde genommen waren sie für den Verlauf eines etwa sechzigjährigen Lebens, das sich vor allem im glücklichen Gleichgewicht des Herzens und des Verstandes abspielen sollte, von geringer Bedeutung. Vernünftige Menschen haben leider in den Zeiten der geschichtlichen Katastrophen wenig zu sagen. Die Entscheidung liegt bei den Erleuchteten, bei den Besessenen, die die Fäden der hohen Politik ziehen und sich, ohne mit der Wimper zu zucken, als Quartiermacher des Unheils bewähren. Ich wüßte wirklich nicht mit Gewißheit zu sagen, warum dieser Krieg, der Europa aufs neue zerfetzen sollte, eigentlich ausbrach. Man weiß nie recht, warum Kriege ausbrechen. Jeder der Beteiligten hat darüber seine eigene Meinung, die er für die richtige hält, und glaubt, es sei notwendig, sich für sie umbringen zu lassen. Der Staat verfügte immer über die nötigen Gewaltmittel, die Zögernden, die Haarspalter und ewigen Opponenten zum Mitmachen zu zwingen. Zu allen Zeiten fand man für den Krieg Ursachen und Vorwände. Die Ursachen bezogen sich ohne Ausnahme auf das Gesetz des Urwaldes, das in unmittelbarem Zusammenhang mit den sogenannten »wirtschaftlichen Verhältnissen« stand. Ist -59-
mein Nachbar fett, so beleidigt er damit meine Magerkeit; also verspeisen wir ihn einfach. Da existiert ein reiches Land, während das meine arm ist. Warum sollte man es nicht mit Gewalt annektieren, da es das Verbrechen begeht, glücklich zu sein? Diese brutale Gier hat man natürlich nicht immer offen zugegeben. Man mußte den Schein wahren, indem man vom Recht sprach. Erhob man nicht Anspruch auf hohe Zivilisation? Es machte auch keine Schwierigkeiten, durch einen x-beliebigen Vorwand die Überlegenheit der eigenen Rasse nachzuweisen. Die angegebenen Vorwände bezogen sich meist auf die Ehre der Nation. Wo begann und wo endete die Verletzung dieser Ehre? Das war eine reine Frage der Empfindlichkeit der Haut, und eine sogenannte höhere Rasse war natürlich viel empfindlicher und glaubte, eine um so größere Rücksichtnahme erwarten zu dürfen, je vollendeter ihre militärischen Vorbereitungen waren. Der Vorwand zum vierten großen Krieg war meiner Erinnerung nach einer der fadenscheinigsten. Zwei Angehörige des Angreiferstaates waren in einem obskuren Lokal mit zwei Franzosen in Streit geraten. Diese vier Männer landeten nach einem regelrechten Boxkampf auf einem Polizeikommissariat. Einer der Fremden war allerdings Diplomat. Gleich nach seiner Entlassung erklärte er, daß sich die beiden Franzosen in beleidigender Weise über seine Regierung geäußert und die Polizeibeamten mitgemacht hätten. Es war anzunehmen, die unmittelbar ausgesprochene offizielle Entschuldigung würde den Konfliktstoff im Keime ersticken. Wie sollte man erwarten, daß sich zwei große Nationen wegen einer Schlägerei unter Betrunkenen kaltblütig vernichten würden? Aber eine Pressekampagne hatte Wochen hindurch die Atmosphäre vergiftet, und der Feind im Osten ließ durch die Stimme seines Diktators im Rundfunk erklären, ein Volk von hoher geschichtlicher Tradition könne die ihm zugefügte Beleidigung nicht straflos hinnehmen und müsse aus Gründen der Ehre zu den Waffen greifen. Gleichzeitig erschienen die ersten Wellen -60-
seiner Kampfflugzeuge über Frankreich. Als ich zu meinem Depot nach Auxerre einrückte, hatte der Krieg vierzehn Tage nach seinem Ausbruch bereits eine unglückliche Wendung für uns Franzosen genommen. Unter den Luftbombardements hatten Paris, Lyon, Lilie, Nancy, Rouen, Le Havre, Calais, Reims und mehrere andere, weniger wichtige Städte unvorstellbare Schäden erlitten. Unsere Industrieproduktion war schwer gefährdet. Die vordersten Panzereinheiten der feindlichen Armee waren bis ChâteauThierry vorgestoßen. Drei Tage mußte ich im Depot warten, bis ich meine Uniform bekam, und dann paßten die einzelnen Teile noch nicht einmal zusammen. Es fehlte an allem, an Waffen wie an Hemden und Schnürstiefeln. Eine schamlose Drückebergerei herrschte, jeder dachte nur daran, um eine unangenehme Diensteinteilung herumzukommen; von Pflichtbewußtsein war überhaupt nicht die Rede. Wenn das an der Front auch so aussah, dann konnte die Niederlage wie im Jahre 1940 nicht mehr fern sein. Kein Krieg im 20. Jahrhundert verlief ähnlich wie sein Vorgänger. Nach dem Stellungskrieg folgte der Bewegungskrieg, der dritte hatte sich in einen Belagerungskrieg wie im Mittelalter verwandelt. Dieser hier begann , mit einem Blitzschlag, und das nach zwanzigjährigem Wohlleben verweichlichte Frankreich schien unfähig, sich zu einer erfolgreichen Reaktion aufraffen zu können. Ein unvorhergesehenes Ereignis, das Wunder, auf das meine Landsleute nur allzugern wie auf einen natürlichen Bundesgenossen rechneten, führte auch diesmal zu eine m völligen Umschwung; und dieses Wunder war das Werk eines genialen Franzosen. Eines Morgens - die Hauptstadt war so bedroht, daß man das Schlimmste, befürchten mußte -, brachte der Rundfunk eine verblüffende Nachricht. Mehr als tausend feindliche Maschinen, die am Vorabend in geschlossener Formation Paris angegriffen hatten, wurden fast -61-
gleichzeitig im Raum von Meaux vernichtet, zwischen Trilport und Islesles-Meldeuses war die ganze Gegend mit Resten verbrannter Flugzeuge übersät. Aber die Katastrophe für den Feind war noch viel größer. Alle Panzer, die zu Hunderten für einen Durchbruch auf den Seinebogen angesetzt worden waren, blieben plötzlich bewegungslos liegen und fingen Feuer. Die Besatzungen, die sich ausnahmsweise aus ihren Türmen hatten retten können, gerieten sofort ins Kreuzfeuer unserer Infanterie. Kurz, Frankreich hatte einen unbestrittenen, vollen Sieg errungen, der ebenso glänzend und folgenreich war, wie der von Austerlitz oder Verdun, und der Rundfunksprecher konnte mit stolzer Erregung erklären, daß Frankreich von nun ab weder Flugzeuge noch Panzer zu fürchten habe und daß der Feind seiner Bestrafung entgegen gehe. Eine ungewöhnliche Begeisterung erfaßte das ganze Land. Selbst die Kameraden, die ich bei meiner Ankunft im Depot apathisch, angeekelt und von vornherein von einer Niederlage Frankreichs überzeugt angetroffen hatte, schienen den kriegerischen Elan ihrer Rasse wieder gefunden zu haben und verlangten, an die Front geschickt zu werden. Am Abend bildete sich spontan ein Fackelzug in den Straßen von Auxerre, wie er früher Brauch war. Die Frauen umarmten die Soldaten, die Marseillaise, die Carmagnole, der Chant du Depart wurden an allen Straßenecken angestimmt; man glaubte, der Gegner sei bereits zermalmt und der Krieg beendet. Der Krieg war nicht beendet. Aber am nächsten Morgen kam die Nachricht von einer neuen schweren Vernichtung feindlicher Flugzeuge und Panzer, und gleichzeitig wurde dem Lande der Name seines Retters bekannt gegeben, es war Etienne Corre, Professor an der Pariser Universität. Meine sehr schwachen wissenschaftlichen Kenntnisse erlauben mir nicht, mit der notwendigen Präzision die Einzelheiten der von Professor Corre erfundenen Vorrichtung zu beschreiben. Ich weiß nur, daß sie auf dem Prinzip der Atomzertrümmerung und -Umwandlung beruhte. Der Gelehrte war in seiner Jugend ein -62-
Schüler des englischen Physikers Cockcroft gewesen, dessen Versuche über die Zertrümmerung der Atomkerne durch Bestrahlung mit Alpha-Teilchen er jahrelang verfolgt hatte. Das Problem bestand darin, Ausstrahlungen von solcher Stärke zu erzeugen, daß die Atomtrümmer auf andere Atomkerne trafen, die nun ihrerseits zertrümmert wurden. Es war logisch vorauszusehen, daß diese Kette von Zertrümmerungen schließlich eine ungeheure Energie frei machen würde. Die Lösung des Problems war wenige Wochen vor dem Krieg durch die Entdeckung der Digamma-Strahlen gefunden worden. Das Ereignis hatte in einem kleinen Landhaus bei Trilport stattgefunden, in dem der Gelehrte sein Privatlaboratorium eingerichtet hatte. Eine Legende oder eigentlich eine Geschichte für einen der Bilderbogen, wie sie früher in billigem Farbdruck von herumziehenden Händlern verkauft wurden, sollte sich im Laufe der Zeit um das kleine Haus und die Umstände bilden, unter denen über Etienne Corre, einen ebenso leidenschaftlichen Angler wie großen Physiker, die göttliche Erleuchtung gekommen war. Er fischte von seinem bescheidenen Motorboot aus mit der Schleppangel und zog in gleichen Abständen langsam an der Bambusrute, an der eine solide Schnur etwa fünfzig Meter lang hinter ihm im Wasser trieb, als ihm der geniale Einfall kam. Im selben Augenblick schnappte ein großer Hecht nach dem künstlichen Fisch, der am Ende der Schnur über dem Angelhaken zappelte und glänzte. Etienne Corre, ganz in Verzückung über seine wissenschaftlichen, Gedankengänge versunken, hatte nicht achtgegeben. Ein heftiger Ruck brachte ihn fast aus dem Gleichgewicht und hätte ihn um ein Haar über Bord geworfen, während der Angelstock seinen Händen entglitt. Die Geschichte fügt hinzu, der Gelehrte habe noch einen Augenblick zwischen der Freude über seine Entdeckung und dem Ärger über den schlauen Hecht geschwankt, bevor die Wissenschaft den Sieg davontrug. -63-
Soweit die Legende. Gleich am ersten Kriegstag hatte Professor Corre seine Entdeckung der französischen Regierung unterbreitet. Die Sache mußte noch vervollkommnet werden, und die ersten entscheidenden Versuche sollten beginnen, da zwang die Schnelligkeit des feindlichen Vormarsches den Erfinder, unverzüglich zu handeln. Was weiter geschah, habe ich bereits erzählt. Aber der Krieg war noch immer nicht beendet, und wenn der Feind nicht drei Wochen lang blödsinnigerweise darauf bestanden hätte, die Barriere der Digamma-Strahlen bei Meaux zu durchbrechen, hätte das Waffenglück sich wenden können. Tatsächlich reichte der Schutzgürtel Professor Corres nicht über hundert Kilometer. Andere Sektoren mußten in aller Eile ausgerüstet werden, und man arbeitete Tag und Nacht. In weniger als einem Monat war alles fertig. Von Dünkirchen bis Mentone standen sogenannte Digamma-Kasematten bereit, dieselbe Aufgabe zu erfüllen, wie das kleine Laboratorium in Trilport. Als ein neuer, großangelegter Panzerangriff in der Gegend von Lilie erfolgte, erreichten die Verluste des Feindes an Flugzeugen und Tanks, ohne den geringsten Erfolg seinerseits, einen solchen Umfang, daß vom dritten Tag ab auf der gesamten Kampffront völlige Ruhe eintrat. Warum endeten die Feindseligkeiten unter diesen Umständen nicht? Weil die Franzosen einen entschlossenen Gegner vor sich hatten, der sich erst ergeben wollte, wenn er mit beiden Schultern am Boden lag. Und wenn Frankreich auch dank der Erfindung Professor Corres eine allen Anforderungen gewachsene Verteidigungswaffe besaß, so war das in bezug auf eine Angriffswaffe durchaus nicht der Fall, und sie allein führt zum Siege. Es handelte sich also darum, Flugzeuge und Panzer in großer Serie herzustellen und einstweilen einen Stellungskrieg zu führen. Ich persönlich war in diesen langweiligen, mörderischen Krieg seit dem dritten Monat nach seinem Ausbruch verwickelt und eingespannt. Man war auf die Strategie von 1915-16 -64-
zurückgekommen: Handstreiche, lokale Angriffe nach heftiger Artillerievorbereitung. Zu Ende des ersten Jahres kam es» sogar auf einer Frontbreite von 150 km zu eine m richtigen Durchbruchsversuch, aber der Feind, der ihn unternommen hatte, gelangte nicht über unsere zweite Linie hinaus. Vierzehn Tage später wurde das verlorene Gelände durch einen heftigen Gegenangriff zurückerobert. Und sollte ich tausend Jahre alt werden, so würde ich die Erinnerungen an diese entsetzlichen Zeiten, die sich tief in meine erniedrigte menschliche Persönlichkeit eingegraben haben, bis zum letzten Tage nicht vergessen. Schon die Soldaten des ersten Weltkrieges hatten die Herabwürdigung des Menschen zum primitiven Tier kennen gelernt. Als Wohnraum diente eine von Ratten und Ungeziefer bevölkerte Höhle, als Straßen ein Netz verschlammter Gräben, die tägliche Aufgabe bestand im Töten; als ständiger Gedanke, den man wie eine Sumpfmücke versche ucht, die aber immer wieder kommt, beherrschte einen die Angst, selbst getötet zu werden. Der Anblick des Himmels war von einem doppelten Wall aus Lehm oder Kreide begrenzt. Zwischen dem weißen Rauch der Geschoßeinschläge sahen wir neidvoll die freien Vöge l auf und nieder fliegen. An meiner Seite wurde einem braven Bauern aus der Ardeche der Schädel weggerissen, als er mir eben Wein einschenken wollte. Sein Blut, das aus der gräßlichen Wunde hervorschoß, füllte stattdessen meinen Becher. Ein andermal wurde ich von einem großkalibrigen Geschoß mit drei Kameraden verschüttet und als einzig Überlebender ausgegraben. Ich hatte eine grauenvolle Stunde verlebt, während der ich zwischen zwei Balken unseres eingestürzten Unterstandes eingeklemmt war. Von diesem Tage an nannten mich meine Unglücksgefährten nur noch La zarus. Der erste Winter war von ungewöhnlicher Strenge. Wer vermag wohl zu erklären, warum die Kriegswinter immer die strengsten sind? Ich hatte noch nie so viel Schnee gesehen, und meine von -65-
Frostbeulen zerfressenen Füße waren nur noch eine einzige Wunde. Na, wennschon! Auf beiden Seiten der Front wurden in diesem Jahr unzähligen Männern die Beine amputiert. Ich mußte mich trotz allem noch zu den Günstlingen des Schicksals zählen. Nach achtzehn Monaten glaubte das französische Oberkommando, über das nötige Material zu verfügen, um eine Entscheidung herbeiführen zu können. Eines Morgens bei Sonnenaufgang begann der Angriff der Flugzeuge und Panzer. Der Mißerfolg war unmittelbar und so umfangreich wie der des Gegners zu Beginn des Krieges. Sein Spionagedienst hatte gut gearbeitet, das Geheimnis der Digamma-Strahlen war dem Feind in die Hände gefallen, dessen Niederlage sie herbeiführen sollten. Der verzweifelte Professor Corre beging Selbstmord. Der Ausgang des Krieges war damit wieder in Frage gestellt, und niemand auf beiden Seiten zweifelte daran, daß nur eine neue Waffe die Entscheidung herbeiführen könne. Der Stellungskrieg verfiel wieder seinem tödlichen Rhythmus. Alle Kriege erscheinen denen, die unter ihnen leiden, endlos, aber bei dem gegenwärtigen war es schlechterdings unmöglich vorauszusehen, wie und wann er enden sollte, falls nicht eine allgemeine Kampfmüdigkeit eintreten würde. Tatsächlich dauerte er vier Jahre. Welches auch die wirklichen oder vermeintlichen Ursachen der Kriege sind, und so berechtigt sie zu Beginn erscheinen mögen, immer kommt der Augenblick, in dem die beteiligten Armeen nicht mehr verstehen, warum sie eigentlich kämpfen. Die guten oder schlechten Gründe sind verschwunden, und es bleibt nur noch die Verzweiflung darüber, unter Qualen und ständiger Todesdrohung leben zu müssen. Nach zwei Jahren ergebnisloser Kämpfe denken alle so. Aber während das Tier instinktiv vor dem Schmerz flieht, ertragen wir angeblich vernünftigen Mensche n alle Prüfungen, als ob das eine ganz natürliche Angelegenheit wäre. »Nichts macht uns so groß wie ein großer Schmerz«, blökt in diesen jämmerlichen Zeiten der romantische -66-
Dichter. Dumm und lächerlich! Es ist nicht zu leugnen, und wir machten täglich die Erfahrung, daß Leiden erniedrigt und abstumpft, es sei denn, daß man es als Opfer für seinen Gott betrachtet und auf eine Belohnung im Jenseits rechnet (aber wie viele unter uns hatten ihren Glauben bewahrt?). Heute kann ich sagen, daß ich es nur meiner Frau verdanke, wenn ich die Zeit der Apokalypse ohne geistigen und moralischen Schaden überstanden habe, also Marie-Jeanne, die ich aus Pflichtgefühl geheiratet und doch nicht zu meiner Frau gemacht hatte. Mit Recht hätte sie mir meine verletzende Kälte nachtragen können. Ich ließ mehr als einen Monat vergehen, ohne ihr irgendeine Nachricht zukommen zu lassen. Als ich mich endlich entschloß, ihr zu schreiben, teilte ich ihr mit ein paar trockenen, nichtssagenden Zeilen meine Versetzung an die Front mit. Sie nahm mir nicht nur meine Haltung keineswegs übel, sie antwortete mir sanft und zärtlich und gleichzeitig so zurückhaltend, daß ich mich schämte. Ich sandte ihr einen längeren, in herzlichem Ton gehaltenen Brief, und so entwickelte sich zwischen uns ein Schriftwechsel, in dessen Verlauf ich eine Frau mit Geist und Gemüt entdeckte, und diese Frau war meine eigene. Ich muß gestehen, ich kannte MarieJeanne gar nicht. In meiner Erinnerung lebte sie nur als Kind. Mit dem jungen Mädchen hatte ich vor unserer Hochzeit bloß ganz belanglose Gespräche geführt. Und nun enthüllten mir ihre Briefe eine lebhafte Phantasie, eine Zartheit des Gefühls und eine so tiefe und starke Neigung, daß ich mir klar darüber wurde, das alles gar nicht verdient zu haben. In meiner wenig erfreulichen Situation gab mir diese uneigennützige Liebe nicht nur einen Rückhalt, sie gab meinem Leben erst einen Inhalt. Durch einen unvorhergesehenen Zufall sollte ich ihr bald Gleiches mit Gleichem vergelten. Ihrem zweiten Brief hatte Marie-Jeanne ihre Fotografie beigelegt. Mit einer Anmut des Ausdrucks, die ich nie vergessen habe, setzte sie mir auseinander, daß dieses Porträt nur für mich -67-
allein gemacht worden sei. Während sie in das Objektiv sah, habe sie an mich gedacht und sich gewünscht, das übersandte Bild möge das zum Ausdruck bringen. Brief und Bild erreichten mich an einem Tage, an dem der bleierne Himmel schwer über dem Graben hing, in dem ich im gelben Schlamm lag. Alle dreißig Sekunden heulte ein Geschoß heran und riß die Erde auf, die zerbröckelt wieder herunterregnete. Einmal lag der Schuß zu kurz, einmal zu weit. Hätte er unseren verdammten Graben getroffen, dann gute Nacht, Kameraden! Zum Glück hatten die Artilleristen drüben keinen guten Tag. Schließlich trat eine Pause von einigen Minuten in der Beschießung ein, und während dieses Schweigens fiel plötzlich mitten unter uns wie ein Meteorstein ein von oben bis unten mit einer Schmutzkruste überzogenes Wesen mit vergnügtem, aber völlig dreckverspritztem Gesicht in den Graben. Es war der Wagenmeister vom Gefechtstrain. Er hieß Mousseaux, und man konnte in der ganzen Kompagnie keinen besseren Kerl finden. Ich sehe noch sein gelocktes Haar, seine runden roten Backen, seinen Tintenstift hinter dem Ohr und die Art, wie er sich die Hände rieb, um mit seinem herzlichen Lachen, das alle Zähne zeigte, irgendeine gute Nachricht anzukündigen. Mousseaux hatte grade die Riemen seines mit Briefen vollgestopften Sacks aufgeschnallt und rief mir scherzend zu: »Für dich, Durand, ist ein Liebesbrief dabei!« als ein neues Geschoß durch die Luft heulte. Mit dem Spaßen war es aus. Das hübsche Geschenk, das wir da bekamen, verursachte ein Geräusch wie die Dampfpfeife einer Lokomotive. Schon lag der Wagenmeister platt auf der Erde, und ich folgte seinem Beispiel, wobei ich über ihn stolperte und mit dem ganzen Körper in den Dreck flog. Das Geschoß krepierte auf einer aus Sandsäcken gebildeten Schießscharte, und die Stahlsplitter rasierten den ganzen Graben in halber Höhe ab. »Verfluchte Scheiße!« murmelte Mousseaux und erhob sich. -68-
Ich richtete mich ebenfalls auf. Sechs Mann lagen, wie vom Blitz getroffen, auf der Grabensohle. Eine anderer lehnte, weiß wie ein Leintuch, stöhnend an der Brustwehr und hielt wie eine Puppe mit der rechten Hand seinen zerschmetterten, blutigen linken Arm. »Da, deinen Brief«, sagte Mousseaux und hielt mir ein schmutzbespritztes Kuvert hin. Ich las den Brief, betrachtete die Fotografie, und eine Welle von Rührung und Reue überschwemmte mich. Wie konnte ich nur so blind gewesen sein? Auf dem Bild lächelte mich MarieJeanne voll sorgender Liebe an. Ich betrachtete diesen lebendigen Mund, das fragende Auge; ich erinnerte mich bei dem Anblick ihres wohlgeformten Halsansatzes, an die Zartheit ihrer Haut, die für ein brünettes Mädchen geradezu erstaunlich war, an die schlanke Linie ihres jungfräulichen Körpers. Wie hatte ich nur ein so vollendetes, reizvolles Wesen vernachlässigen, ja sogar verschmähen können? Mußte mir das Schicksal erst damit drohen, sie nie wiedersehen zu dürfen, um ihren wahren Wert zu erkennen? Je mehr Zeit verstrich, um so zärtlicher und leidenschaftlicher wurden meine Briefe an MarieJeanne. Sie fühlte sehr gut diese Wandlung meiner Gefühle, aber sie ließ niemals durchblicken, daß sie zuerst Grund zur Klage über mein Verhalten gehabt hätte, und diese Würde machte sie mir noch teurer. Ich zählte ungeduldig die Tage, trotzdem fand ich mich mit meiner Lage als Soldat an der Front immer besser ab; denn ich wußte, daß mich am Ende aller Prüfungen ein großes Glück erwartete. Nach acht Monaten erhielt ich endlich einen zehntägigen Urlaub. Ganz unerwartet kam ich eines Abends an. Marie-Jeanne öffnete ihre großen Augen und zitterte am ganzen Körper. Tränen rannen ihr über die Wangen, und als ich sie an mich zog, verlor sie in meinen Armen _ das Bewußtsein. Ich hätte nun eigentlich von diesem ersten Urlaub, an den ich die lebhafteste Erinnerung bewahrt habe, denn er lehrte mich die wahre Liebe kennen, genug gesagt, wenn ich erkläre, daß er mir -69-
nur vierundzwanzig Stunden zu dauern schien. Aber was für Stunden! Und wie soll ich ihren Glanz, ihren Duft beschreiben? Diese zehn so schnell verrauschten Tage lagen im Sommer, einem Sommer, wie dem, der dem Kriegsausbruch vorangegangen war, voll zitternden Lichtes, berauschender Blumen und Vogelgezw itscher, voller Sonne und Süße, dessen Pracht den Wahnsinn der Menschen nur umso verwerflicher erscheinen ließ. Ich genoß die Tage bis zur Raserei und doch bei vollem Bewußtsein, und vor allem nicht bis zur Übersättigung. In einer einzigen Frau waren mir alle Wunder, alle Versprechen der Welt verkörpert. Die Begierde berauschte sich an der Gewißheit des Besitzes, und dieser erweckte aufs neue die Begierde. Kein Schatten schwebte über meinem Glück, keine Gewissensbisse vermochten es zu schmälern. Daß ich sie so lange hinausgeschoben hatte, erhöhte noch meine Freuden. MarieJeanne war meine Frau, und rings um uns zollten die Natur, die Gesellschaft, ja sogar die Grundsätze des Lebens selbst unserer legitimen Wollust Beifall. Zehn Tage voller Glück, zehn Tage völligen Vergessens von allem, was nicht sie und ich war. Das Schicksal liebt diese Oasen der Wonne nicht, und eines Morgens riß mich der Kalender aus allen Himmeln. Die zehn Urlaubstage waren verrauscht, der Krieg wütete noch immer, ich mußte abreisen. Gewaltsam riß ich mich los. Ich sehe noch immer MarieJeanne vor dem Bahnhof mit tränenüberströmtem Gesicht mich leidenschaftlich umarmen, dann wie eine Wahnsinnige davonstürzen, ohne sich umzuwenden. Als ich wieder beim Regiment war, befand ich mich in den ersten acht Tagen in einem Zustand, der mich für alles, was um mich herum geschah, völlig unempfindlich machte. Meine Gedanken weilten bei Marie-Jeanne, ich dachte an keine Gefahr mehr, und es bedurfte des Todes eines Kameraden, der unmittelbar neben mir getroffen wurde, um mir das Bewußtsein der Wirklichkeit -70-
wiederzugeben. Mein Leben hatte von nun an einen Sinn, eine Daseinsberechtigung, es gehörte Marie-Jeanne, und es war Wahnsinn, sich so der Gefahr auszusetzen. Unser Briefwechsel wurde noch leidenschaftlicher als vor dem Urlaub. Über den Krieg gab es nichts zu berichten, als daß der Tod der tägliche Sieger war. Zwei Monate nach meiner Rückkehr zur Front teilte mir Marie-Jeanne mit, daß eine ärztliche Konsultation die letzten Zweifel beseitigt habe: sie erwarte ein Kind. Diese Nachricht machte mich überglücklich. Die Monate flössen dahin, mein kleiner Francois kam zur Welt (er hatte die perlmutterartige Haut und die schwarzen Augen seiner Mutter), weitere Urlaube führten mich nach Avallon, und die Menschen fuhren fort, sich gegenseitig umzubringen. Zu Beginn des vierten Kriegsjahres schenkte mir Marie-Jeanne einen zweiten Sohn, Robert - mein Ebenbild mit seinen keltischblauen Augen und seinen flachsblonden Haaren. Ich war gerade seit zwei Tagen auf Urlaub, und der Großvater - Pipin der Kurze, der mit zunehmendem Alter immer mehr zusammenschrumpfte, aber noch immer wacker trank - hatte mich zu einem der Zeit entsprechenden üppigen Frühstück eingeladen. Er war damit einverstanden, daß ich meinen Freund Antoine Hurion, der sich ebenfalls auf Urlaub befand, einlud. Antoine war drei Jahre im Feld gewesen und voller Erinnerungen und Pläne. Er erzählte mir seine Erlebnisse, die sich von den meinen sehr unterschieden. In seiner Eigenschaft als Pilot war er zur Luftwaffe eingerückt, aber der Mangel an Flugzeugen hatte ihn erst anläßlich der steckengebliebenen Offensive zum Einsatz kommen lassen. Er würde niemals verstehen, wieso er überhaupt mit dem Leben davongekommen sei. Fünfzig Flugzeuge, darunter das seine, flogen auf gleicher Höhe. Im selben Augenblick, als sie über die feindlichen Stellungen kamen, hatten die Digamma-Strahlen alle Motoren zur Explosion gebracht, und er wurde völlig von Flammen eingehüllt. Er erinnerte sich nicht mehr, wie es ihm gelang, aus dem Flugzeug -71-
auszusteigen, aber er spürte noch immer den Schlag in die Magengrube, der durch die Öffnung des Fallschirms hervorgerufen wurde, während er sich schon für tot hielt. Rings um ihn her regnete es riesige Fackeln - die Flugzeuge seiner Kameraden. Um ein Haar wäre er beim Landen, in die Schnüre seines Schirmes verwickelt, in einem Teich ertrunken. Kein sehr glücklicher Anfang, der ihn aber keineswegs entmutigte. Dieser große, rothaarige Kerl mit seinen knappen Bewegungen war heute noch so von der Fliegerei begeistert wie damals, als er, noch ein kleiner Schuljunge, über das Stratosphärenflugzeug in Ekstase geriet. Es war ihm klar geworden, der Luftraum mußte aufs neue erobert werden. Der Explosionsmotor hatte seine Zeit hinter sich, es galt also, eine andere Form zu finden, und daran studierte er seit Monaten. Bei diesem Punkt seiner Eröffnungen angelangt und auch ein bißchen erhitzt durch den von unserem Pipin dem Kurzen reichlich eingeschenkten Richebourg, ermahnte mich Antoine, absolutes Schweigen über das zu bewahren, was er mir nun mitteilen werde. Ich schwor ihm das feierlich zu. »Also, paß auf! « sagte er. »Da der Motor nicht mehr in Frage kommt, muß man das Problem an der Wurzel packen. Was oder wen finden wir als Ausgangspunkt des menschlichen Fluges? Ikarus! Ikarus: das bedeutet das Flugzeug mit beweglichen Flügeln. Seit Besnier de Sable und seiner Flugmaschine im 17. Jahrhundert ist in dieser Richtung nichts Ernsthaftes mehr unternommen worden. Der Segelflug dagegen hat uns seit Lilienthal eine Menge Dinge gelehrt. Aber die Bequemlichkeiten, die der Motor bietet, hatten die Forscher von dem eigentlichen Problem abgelenkt, nämlich vom Vogelflug. Darauf habe ich mich geworfen. Ich hatte einige Einfalle, die ich einem Kameraden, einem Flugingenieur, mitteilte. Flugversuche zeigten uns, daß unser Alerion fertig war. Bis auf weiteres benützten wir ein Katapult zum Abflug. Aber eine andere, von der Wärmeenergie unabhängige Konstruktion ist in der -72-
Entwicklung, und der Alerion ,Antoine' (ich wollte ihm nur meinen Vornamen geben) wird von jetzt ab in großer Serie hergestellt.« Ich bewunderte Antoine, der sich so ernsthaft mit dem alten Ikarustraum beschäftigte, und Pipin der Kurze bekam einen ganz roten Kopf vor Freude und ließ eine seiner ehrwürdigsten Flaschen holen, um auf den Sieg Frankreichs zu trinken. Er wollte sogar, daß der eine Woche alte kleine Robert mitfeiern und ein paar Tropfen des goldenen Weines schlucken solle. Ich rückte voll Vertrauen und Hoffnung wieder ein. Antoine hatte mir neuen Mut gemacht, und ich zweifelte nicht, daß der Krieg bald zu Ende gehen würde. Marie-Jeanne stand am Tag meiner Abreise zum ersten Mal auf. Sie zeigte noch die leidenden Züge der Wöchnerin, aber ich fand sie schöner denn je in ihren langsamen mütterlichen Bewegungen, mit ihrem zärtlichen, sanften Blick und dem schwachen Lächeln unter Tränen. »Wir sind nicht mehr lange getrennt«, sagte sie zu mir, »sei tapfer, Liebster!« Dann brach sie in Schluchzen aus. Pipin der Kurze wollte mich an Stelle Marie-Jeannes, die noch nicht ausgehen konnte, zum Zuge bringen. Der wackere Mann schien mir gerührter, als man es von einem Schwiegervater erwartet. Als sich der Zug in Bewegung setzte, zog mir eine schmerzliche Ahnung das Herz zusammen, während seine kurze, runde Gestalt, ein Taschentuch zum Abschied schwenkend, auf dem Bahnsteig immer kleiner wurde. Die Alerions »Antoine« wurden erst sechs Monate später eingesetzt. Mein Kamerad hatte richtig vorausgesagt. Die Digamma-Strahlen vermochten ihnen nichts anzuhaben. Eines Morgens in der Dämmerung überflogen sie unsere gesamte Front; den Anblick werde ich nie vergessen. Zu ihrem Bau war kein Metall verwandt worden; an seiner Stelle war zum ersten Male Glaszement in Anwendung gekommen, ein Stoff, der zugleich leichter und widerstandsfähiger als Duraluminium war. -73-
Ihre Flügel bewegten sich ohne Hast, und sie glichen riesigen Kranichen, die in der Morgenröte unter den Strahlen der aufgehenden Sonne majestätisch dahinzogen. Ein allgemeines Geschrei erhob sich in den französischen Gräben, als die Alerions ihre Bomben mit flüssiger Luft über den feindlichen Stellungen abluden. Diesmal war das Geheimnis nicht verraten worden, und die Überraschung des Gegners gelang vollkommen. Das Vertrauen, das man auf beiden Seiten in die Wirksamkeit der Digamma-Strahlen gesetzt hatte, war so groß gewesen, daß die Flakartillerie eingeschmolzen worden war. So beherrschte der Alerion ohne ernstlichen Widerstand den Himmel. Nach einem vierundzwanzigstündigen Luftbombardement stieß unsere Infanterie vor und besetzte fast kampflos alle Stützpunkte, vor denen sie länger als dreiundeinhalb Jahre im Schlamm gelegen war. Ich erinnere mich noch lebhaft an die Freude unseres guten Mousseaux, seines Zeichens Bienenzüchter in normalen Zeiten, als wir nacheinem Vorstoß von zwanzig Kilometern auf dem eroberten Gelände kampierten. Die Alerions setzten ihr Zerstörungswerk vor unseren Linien fort und erleichterten so das Vorrücken am nächsten Morgen. Mousseaux schüttelte seine Feldflasche, um deren Inhalt festzustellen, dann forderte er mich gutgelaunt auf, meinen Becher herzuhalten, füllte ihn bis zum Rande und goß den eigenen voll. Das Blech klirrte, als wir anstießen, und dann gössen wir uns, ohne mit der Wimper zu zucken, die Essigsäure der Intendanz hinter die Binde. »Und jetzt«, sagte Mousseaux, »verspreche ich dir, daß ich dir in drei Monaten, wenn ich wieder Zivilist bin, gratis einen großen Eimer wunderbaren Honig schicke.« Die Ereignisse gingen nicht so schnell, wie er geglaubt hatte. Der Endsieg schien uns zwar sicher, aber das zu Tode getroffene Tier schlug noch heftig um sich. Acht Tage nach dem ersten Schreck schoß eine improvisierte Abwehr mehrere niedrig fliegende Alerions ab. Man wird verstehen, daß der geschlagene Feind ungeduldig darauf -74-
brannte, das Instrument seiner Niederlage kennenzulernen. Er studierte es so genau, daß er drei Monate später selbst nach dem Typ »Antoine« gebaute Alerions in die Schlacht werfen konnte. Allerdings war es zu spät, um eine Änderung der Gesamtlage herbeizuführen. Schon war das ganze Land vom Angreifer befreit worden, der nun auf eigenem Gebiet die Schrecken des Krieges kennen lernte. Aber dieses Volk, das aus geborenen Soldaten bestand und von seinen Herrschern dazu erlogen worden war, blutige Auseinandersetzungen als etwas Wünschenswertes zu betrachten, wollte sich im voraus für ein Unheil rächen, das es abzuwehren nicht mehr imstande war/ Die Wut über die bevorstehende Niederlage verführte es zu höchst verwerflichen Handlungen. Seine an Zahl unterlegenen Alerions wichen einem Kampf mit den unsern aus, sie beschränkten sich darauf, bei Nacht wahllos offene Städte zu bombardieren. Jeden Morgen gab der Rundfunk Tausende von Opfern in Paris, Dijon, Rouen, Blois, in Bourgen-Bresse und Gott weiß wo noch bekannt. Immerhin mehrten sich täglich die Anzeichen für die Beendigung des Dramas. Wieviel Tote würde wohl der vierte große Krieg in diesem Jahrhundert der Massenschlächtereien kosten? Niemand wagte, daran zu denken, ich am allerwenigsten. Die großen Katastrophen zwingen die Menschen durch den Umfang des Leidens, das sie verursachen, sich in ihrem aus der Angst geborenen Egoismus auf das einzige Gebiet zurückzuziehen, das sie für sicher halten, auf die kleine Insel ihres persönlichen Glücks. Täglich wanderten meine Gedanken zu Marie-Jeanne, zu den Freuden, die ich ihr verdankte, die mir umso wertvoller erschienen, je sparsamer sie mir zuteil geworden waren. Ihre leidenschaftlichen, zärtlichen Briefe erschütterten mich immer aufs neue. Der kleine Francois war ein nettes Kerlchen von fast drei Jahren, sein Bruder Robert mußte bald gehen können. Endlich sollte ich das Leben eines Familienvaters führen. Eines Morgens -75-
verkündete der Rundfunk in der Stadt, die wir am Vorabend besetzt hatten, daß im Verlauf der letzten Nacht etwa zehn französische Städte von einzelfliegenden Alerions bombardiert worden seien. »Man beklagt nur eine geringe Anzahl Opfer«, fügte die Stimme im Lautsprecher hinzu. Aber unter den zwischen Troyes und Auxerre angeführten Städten hatte ich Avallon gehört, und plötzlich packte mich ein namenloser Schrecken. In Todesangst wartete ich auf einen beruhigenden Brief. Vierzehn Tage vergingen, dann gab der Feind die Partie verloren. Der Angsttraum war vorbei. Jeder war glücklich, ein Freudentaumel ergriff die ganze Armee. Warum konnte ich mich an dem allgemeinen Jubel nicht beteiligen? Ich war ohne Nachrichten von Marie-Jeanne, und jedesmal, wenn ich den Wagenmeister mit seinem Postsack sah, stürzte ich ihm mit pochenden Schläfen und fiebernden Händen entgegen. Am Tag des Waffenstillstandes ließ Mousseaux länger als sonst auf sich warten. Er war auf den verschiedenen KompanieGeschäftszimmern, auf denen er unterwegs die Post abgab, aufgehalten worden. Er konnte sich nicht gut ausschließen, wenn es galt, das glorreiche Ereignis, das uns für vier leidvolle Jahre entschädigte, gebührend zu feiern. In vergnügtester Stimmung, mit weinseligen Augen, schrie er mir, mit dem Arm winkend, entgegen: »Ein Brief für dich, Durand!« Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, die Freude schoß mir ins Blut wie ein allzu starker Wein. Wie schön war dieser Herbstmorgen! Mit meinen Blicken liebkoste ich die in Nebel gebettete Landschaft. Silberne Pappeln zitterten längs der Straßen, die mich an die Straßen meiner Heimat erinnerten. Weißer Rauch stieg hie und da vom Dach der Gehöfte auf, und der gesunde Geruch der Holzfeuer schwebte über der Erde. Ich sog begierig die Luft in großen Zügen ein. Der Winter stand -76-
vor der Tür, aber die fetten Furchen, die sich in der Ferne verloren, trugen in ihrem Schoß die Ho ffnung auf den kommenden Frühling, den heiligen Keim der ewigen Erneuerung. Und wie die Natur sollte auch das menschliche Herz, das vier Jahre in einem dunklen Kerker geschmachtet hatte, zu neuem Leben erwachen und die Früchte seiner Liebe tragen. »Da, was für dich«, sagte Mousseaux und hielt mir ein Kuvert hin. Ich warf einen Blick auf die Adresse, und meine Freude erlosch. Der Brief war nicht von Marie-Jeanne. Auf der Rückseite des Umschlags las ich: Abs. Antoine Hurion, mit der militärischen Anschrift des Fliegers. Ich fröstelte. Mein Unglück übertraf noch meine Befürchtungen. Antoine, durch seine Erfindung eine wichtige Persönlichkeit geworden, hatte schon am Tage nach dem Bombardement nach Avallon fahren können. Wie der Rundfunk bekannt gegeben hätte - die Zahl der Opfer war nicht groß: sechs Tote und vier Verwundete. Aber unter den Verwundeten befand sich der Vater Antoines, dem man sofort den rechten Arm abnehmen mußte (mit der Uhrmacherei war's also vorbei!) und unter den Toten? - Antoine war zartfühlend und der Brief ein wahres Musterbeispiel seiner Art. Er konnte ja nicht wissen, ob man mich schon benachrichtigt hatte, und seine Zeilen waren sehr taktvoll. Welch unglücklicher Zufall, daß unter den vier von Bomben getroffenen Häusern die am stärksten beschädigten die Uhrmacherwerkstatt Hurion und - das Hotel zur Post waren. Sein väterliches Haus war wie ein anatomisches Präparat in zwei Teile zerschnitten worden, und die eine Hälfte stand noch. Der halbe Laden, die halbe Wohnung und der halbe Speicher, die andere Hälfte war nur noch ein Trümmerhaufen. Das Hotel war wie durch einen ungeheuren Schlaghammer dem Erdboden gleich gemacht worden, es war so gut wie nichts übrig -77-
geblieben. Aus den Trümmern hatte man zwei Reisende, Pepin Deniau, Marie-Jeanne und meine beiden Kleinen, meine lieben Kleinen, als Tote hervorgezogen. Wirklich, der Brief Antoines war vollendet. Ich las ihn noch einmal, als hätte ich ihn falsch verstanden, als hätte sich ein Alptraum zwischen ihn und meine verwirrten Augen geschoben. Aber nein, auf dem Papier, das ich zwischen meinen zitternden Händen zerknitterte, standen klar und deutlich die Namen Pepin Deniaus, Marie-Jeannes und der beiden Kinder, die Fleisch von meinem Fleisch waren und die ich kaum erst gekannt hatte. Mein Leben war nur noch ein Friedhof voller Kreuze.
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INTERMEZZO Als ich mich nach vierjähriger Abwesenheit wieder in meinem Atelier auf dem Boulevard Batignolles befand, hatte ich das Gefühl eines Menschen, der nach langer Krankheit seine ersten Gehversuche macht. War dieser Krieg nicht eine Krankheit, die Europa und all die armen, an sein Schicksal geketteten Menschen durchgemacht hatten? Millionen unter ihnen waren ihm zum Opfer gefallen und wurden nun im Gedächtnis der Überlebenden zum zweiten Mal begraben. Man wollte von dem erbärmlichen Krieg nichts mehr hören, daher mußte man den Gedanken an seine Opfer zurückweisen. Leben heißt vergessen. Ich konnte Marie-Jeanne nicht so schnell aus meinem Herzen verbannen, das ganz ihrem Kult geweiht war. Die glücklichen Stunden, die sie mir geschenkt hatte, ließen mich noch seligere in der Zukunft erwarten. Das war nun alles vorbei, und ich vermochte mich nicht zu trösten. Gleich nach meiner Entlassung aus dem Militärdienst hatte ich eine Wallfahrt nach Avallon unternommen. Schon waren die Trümmer des Bombardements weggeräumt worden. Vom Hotel zur Post, dessen Platz wie ein Kiefer anmutete, aus dem man einen Zahn herausgerissen hat, war nicht ein Stein auf dem anderen geblieben. Ich hielt eine kurze Andacht über den Gräbern, die alles umschlossen, was mir auf der Welt lieb und teuer war, aber ich war nicht imstande, länger in dieser Stadt zu bleiben, die mir nichts mehr zu bieten hatte. Die Vertretung meiner Interessen vertraute ich dem Notar des verstorbenen Pepin Deniau an und verließ wie ein Körper ohne Seele Avallon. In Paris, das ich seit Kriegsausbruch nicht mehr gesehen hatte, kam ich sehr bald auf andere Gedanken. Das erste, worauf mein Blick fiel, als ich mein Atelier betrat, war der Entwurf des Werbeprospektes, den ich vor vier Jahren zur Verbreitung in -79-
ganz Paris drucken lassen wollte. Damals erschien mir der bloße Gedanke an eine Heirat mit Marie-Jeanne, von der mein Vater nicht abgehen wollte, mehr als unangenehm, ja geradezu absurd. Waren der Krieg, meine Liebe, meine beiden kaum gekannten Söhne, die physischen und moralischen Leiden, die ich schweigend hatte ertragen müssen, der unglückselige Brief Antoine Hurions nicht nur ein böser Traum, jetzt, wo dieser Fetzen Papier mit seinen verblichenen Schriftzügen vor meinen Augen lag? Marie-Jeannes Bild war mit keiner meiner Pariser Erinnerungen verknüpft. Sie hatte mich nie in das Atelier noch auf den Straßen begleitet, auf denen sich heute eine Jugend an dem Gedanken berauschte, so viele Tote überlebt zu haben. Nein, der Schatten der Geliebten hatte mit einem Paris nichts zu tun, das sie nicht einmal gekannt, in dem ich nie von ihr geträumt hatte. Und mein Schmerz, so tief er war, ebbte langsam in einer Umgebung ab, in der nichts zu seiner Erhaltung beitrug. Ich bemühte mich nicht zu vergessen, doch das Leben verlangte seine Rechte. Ich wehrte mich gegen die Vorstellung, daß Marie-Jeanne in meinem Herzen ersetzt werden könnte, aber ich brauchte eine Aufgabe, die mich an dieses Leben fesselte, das noch Ansprüche an mich stellte, und so stürzte ich mich in die Arbeit. Die Arbeit war für mich wie für alle vom Schicksal Enterbten zwar nicht die sicherste, aber die einzige Zuflucht. Das sollte ich bald bestätigt finden. Ich machte mich also an den weiteren Ausbau meines Ateliers nach den Ideen, die mich bewegten und mir neu erschienen. Die Bezeichnung »Natürliches Porträt« war nicht nur ein Aushängeschild, um die Leute anzulocken, sie umriß genau das, was ich mir vorgenommen hatte. Ich ging von dem Grundsatz aus, daß man ein gutes Porträt nicht durch eine klassische Pose erreichen könne. Der Charakter zeigt sich nicht im Zustand der Ruhe, die das Vorbild des Todes ist, sondern in der Handlung, in der lebendigen Bewegung. Mußte man das bestellte Lächeln, das der Fotograf nach Art -80-
eines Zeremonienmeisters forderte, nicht als Unsinn bezeichnen? Mein Atelier glich daher auch nicht im mindesten den Fotografen-Ateliers, wie sie bisher üblich waren. Man fand bei mir nicht den unförmigen Apparat auf einem Dreifuß, der einem vorsintflutlichen Ungeheuer mit einem Rüssel und einem großen kupfernen Auge glich, ich gab dem Raum das Aussehen eines Schiffssalons. Zwischen den weißlackierten Wänden, die von sechs Bullaugen unterbrochen wurden, standen große schweinslederne Klubsessel, ein langer, niedriger Tisch aus glänzendem Spiegelglas und eine Bar mit hohen, verchromten Hockern. Ein wohlwollender Journalist erklärte eines Tages, daß mein »Natürliches Porträt« in Wirklichkeit ein »KonversationsPorträt« sei. Er hatte nicht so ganz unrecht; denn ich verlor meine Zeit nicht mit theatralischen Posen, noch animierte ich meine Kunden mit einem »Bitte, recht freundlich« und drückte auch nicht feierlich auf einen Gummiball. Meine ganze Arbeit als Porträtist - ich glaube, mir diesen Titel, der vor mir den Malern vorbehalten war, verdient zu haben - bestand einerseits darin, den Aufzunehmenden unbemerkt dorthin zu dirigieren, wo sich die günstigste Gelegenheit zur Aufnahme ergab, andererseits im Verlauf einer Unterhaltung den für ihn besonders charakteristischen Ausdruck herauszufinden. Hinter den sechs Bullaugen befand sich je ein Objektiv, das sofort aufnahmebereit war, wenn der Besucher an die richtige Stelle kam. Im übrigen bezweckte die ungezwungene Unterhaltung, die verschiedensten Ausdrücke auf seinem Gesicht hervorzurufen: überschäumende oder diskrete Freude, Lachen oder Lächeln, Melancholie, ernste Überlegung, Verbitterung oder Verzweiflung; und alle diese Spiegelungen des Gemütszustandes wurden fortlaufend von meinen sechs Apparaten aufgenommen, die mit Hilfe leicht erreichbarer Knöpfe zu bedienen waren. Ich nahm also ein eingehendes Charakterstudium vor, das oft Schwierigkeiten -81-
machte, da sich manche Patienten der Untersuchung widersetzten. Die auf diese Weise gewonnenen Aufnahmen ergaben eine Reihe von erstaunlichen »Tests«, aus denen ich dann nur noch das wirkliche Gesicht meines Kunden auszusuchen hatte. Mit einiger Anmaßung hätte ich meine »natürlichen Porträts« der Wahrheit entsprechend auch »psychologische Porträts« nennen können, was mir sicher die größte Hochachtung der Laien eingetragen hätte. »Wenn man alle Eigenschaften berücksichtigt, die Herr Durand von einem Fotografen verlangt«, schrieb der schon erwähnte Journalist, »wie viele berufsmäßige Psychologen wären dann wohl berechtigt, das Bildnis ihrer Zeitgenossen auf der Platte festzuhalten?« Diesen Zeitungsschmierer konnte ich leider nicht ernst nehmen, da ich annehmen mußte, daß sein Lob ironisch' gemeint war. Jedenfalls begann ich, mich nach und nach leidenschaftlich für meinen Beruf zu interessieren, und ich wünschte mir gar nichts Besseres. Meine Kundschaft wuchs ziemlich schnell, und ich genoß längere Zeit einen Ruf, aus dem ein gewiegterer Kaufmann als ich größere Vorteile gezogen hätte. Aber warum und für wen hätte ich dem Geld nachjagen sollen? Die Arbeit war für mich nur eine Ablenkung, ein Betäubungsmittel, nicht ein Mittel zum Erfolg. Ich beschäftigte zwei männliche Angestellte. Eigentlich hätte ich noch zwei weitere gebraucht und außerdem für den Warteraum, der übrigens etwas zu klein war, ein paar hübsche Mädchen mit himmelblau gefärbten Wimpern und Nägeln, wie es damals Mode war. Ich kümmerte mich nicht darum und vermied systematisch den Umgang mit Frauen. Wichtig war mir nur, meine Gedanken abzulenken. Am Abend kehrte ich nach einem kurzen Aufenthalt im Restaurant zerschlagen, mit brennendem Schädel heim. In meinem Zimmer hing eine Vergrößerung der Fotografie an der Wand, die mir Marie-Jeanne im ersten Kriegsmonat geschickt hatte und durch -82-
die mir damals ihre Schönheit zum Bewußtsein kam. Andere Aufnahmen zeigten sie mit meinen verstorbenen Kindern. Ich versank in eine tiefe, lähmende Träumerei vor diesen Bildern meines verlorenen Glücks. Dieses Glück hatte nur einige Wochen gedauert, die von langen Trennungen unterbrochen waren. Es war in einer Zeit des Wahnsinns entstanden und durch die Größe der Katastrophe, deres sein Dasein verdankte, mir besonders teuer. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie sich mein Leben mit Marie-Jeanne in friedlichen Zeiten gestaltet hätte. Aber wie sehr ich mich auch bemühte, wenigstens in der Phantasie ein solches Leben zu führen, die Vergangenheit bot mir keine Erinnerung an einen friedlichen Abend unter der Lampe, an dem die einzige, die schönste Sorge die ist, Frau und Kinder zu schützen und mit besonderer Liebe zu umgeben. Vergebens suchte ich nach einem Tag fröhlichen, unbeschwerten Lachens im hellen Sonnenschein. Mein flüchtiges Glück blieb ewig an das Drama gebunden, das mir die Seligkeit zuerst gewährt und dann auf immer zerstört hatte. Diese fruchtlose Träumerei wurde zur fixen Idee, die mich bis in den Schlaf verfolgte. Ich erwachte schwer atmend, mit feuchten Schläfen und tränennassen Augen. Man lebt nicht ungestraft in einer fortwährenden geistigen Spannung, die allem feindlich ist, was nicht dem eigenen Schmerz schmeichelt. Durch starke Selbstbeherrschung gelang es mir, meine Kundschaft nichts von meiner inneren Zerrissenheit merken zu lassen. Im übrigen beanspruchte das schon früher erwähnte Studium für jedes einzelne Porträt so stark meine Aufmerksamkeit, daß ich vorübergehend alles andere vergaß. Sowie ich aber das Atelier oder die Dunkelkammer verließ und wieder meiner Einsamkeit überlassen war, kam ich mir wie ein Wahnsinniger im Delirium vor. Den Menschen gegenüber erschien ich mir wie ein Störenfried und Grimassenschneider. Stier blickte ich vor mich hin und verzog bitter den Mund; es passierte mir, daß ich mitten -83-
auf der Straße laut dachte. Für lange Zeit verlor ich den Appetit, die Kleider schlotterten mir um den Leib, dann plötzlich überfie l mich ein wahnsinniger Heißhunger, und ich aß nicht mehr, ich fraß ungeheure Mengen; das Tier in mir wollte leben und verlangte sein Recht. Die Welt ging indessen weiter, und die Menschen übersahen gleichgültig mein gequältes Dasein. Was für eine Rolle spielt schon in einem Ameisenhaufen eine einzelne unglückliche Ameise? Diese Jahre glichen all den Jahren in einem siegreichen Lande nach dem Krieg. Gierig griff man nach dem wiedergewonnenen Leben wie ein Kind, das seinen Kuchen auf einmal verschlingen möchte. Die Nerven der Menschen, die vier Jahre lang durch die ewige Gefahr zerrüttet waren, verlangten nun nach Sensationen des Genusses, die jenen der soeben durchgestandenen Todesangst an Stärke nichts nachgaben. Um männlich zu erscheinen, genügte es, brutal zu sein. Man bevorzugte stark gewürzte Speisen, scharfen Essig, paprizierte Schnäpse. Man spottete über eine Liebe, die über das rein Physische hinaus ging. Man berauschte sich an allen möglichen Giften, und damals begann man in den Apotheken öffentlich PeyotlDragees als Mittel gegen den traumlosen Schlaf zu verkaufen. Klubs wurden unter dem Deckmantel von »Studien zur Verbesserung der menschlichen Rasse« gegründet, die nur obszönen Zwecken dienten. Man redete viel von neuen Religionen, die sich aber alle durch eine naive Zuflucht zur schwarzen Magie glichen. So bestätigte sich die geschichtliche Regel, nach der alle siegreichen Völker, von einem allzu teuer bezahlten Triumph berauscht, sich selbst zu Grunde richten, um noch tiefer zu sinken als der Besiegte, der ihnen, durch den bitteren Trank der Niederlage gestärkt, schließlich den Gnadenstoß versetzt. Diese Zeit des Wahnsinns fand ihren Niederschlag selbstverständlich auch in der Mode. Ich will durchaus nicht die Mode an sich lästern, der ich glückliche Zeiten verdanken sollte, -84-
an die ich mich noch heute mit Sehnsucht erinnere. Aber ich denke an die himmelblau gefärbten Nägel und Wimpern der eleganten Frauen von damals, an ihre mit dem Pinsel vergoldeten Lippen, an ihre mit einer durchsichtigen Masse überzogenen Zähne, die so funkelten, als ob die Damen wie die Drachen in der Fabel Feuer spien, ich denke ferner an den barocken Einfall, das Gesicht der Kleidung anzupassen. Die Schminke, die Haarfarbe, selbst die Farbe der Augen wurden durch spezielle Mittel auf das neue Kleid abgestimmt. Mit einem Wort, die technische Zivilisation hatte dieses Land bis ins Mark hinein verdorben, das einst führend im Geschmack war und dessen Niedergang im Buch des Schicksals vorgezeichnet stand. Inmitten dieses Wahnsinns arbeitete sich mein Jugendfreund Antoine Hurion wie der Teufel in der Flasche ab. Als Generaldirektor der Alerion-Antoine-Gesellschaft war er durch den im Kriege erlangten Ruhm eine gewichtige Persönlichkeit geworden. Er hatte an Umfang und Sicherheit zugeno mmen, seine Schultern und sein Oberkörper waren breiter geworden, die Haare und Augenbrauen hatte er geschickt kastanienbraun gefärbt, kurzum, niemand hätte in ihm den bescheidenen Uhrmacherlehrling, der sich einst mit der Lupe im Auge in einer dunklen Bude abquälte, wiedererkannt. Er war der Ansicht, daß die Kriege lang seien und die Jugend kurz, deshalb hielt er es für klug, die seltenen Augenblicke des Friedens auszunützen, die den Menschen beschieden waren, bevor ihr Haar grau wurde. Das war jedenfalls sein Wahlspruch, als er einige Jahre nach dem Krieg - ich war während der ganzen Zeit ohne Nachricht von ihm geblieben - plötzlich eines Morgens unangemeldet in meinem Atelier auftauchte. Er sprach sehr ausgiebig wie ein Mann, der gewohnt ist, daß man ihm zuhört. Zuerst erklärte er mir, daß er gerade aus den Vereinigten Staaten zurückgekehrt sei, wo er über eine Lizenzerteilung verhandeln mußte. Im Stratosphärenflugzeug habe er dann den Artikel gelesen, der -85-
sich mit meiner bescheidenen Person befaßte. Seitdem habe er nicht geruht, bis er mich wiedergefunden hatte. Warum ich zum Teufel nicht in Kontakt mit ihm geblieben sei? Ich gab ihm die Frage zurück, und er lachte herzlich. Ob seine Geschäfte gut gingen? Zu gut. Er wußte gar nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. Ob er verheiratet sei? Er hatte nur eine einzige Frau in seinem Leben geliebt, er, der mit beiden Beinen im Leben stand, der Tatenmensch, der alles vom realen Gesichtspunkt aus betrachtete, und diese Frau war verheiratet! Was blieb ihm anderes übrig, als sich zu betäuben? Dieser Aufgabe hatte er sich ebenso methodisch gewidmet wie allen übrigen Dingen; das Leben ist nur für Neurastheniker ein Drama. Hier trat eine Pause in unserer Unterhaltung ein. Ich hob den Kopf, und er legte mir seine Hand auf die Schulter. »Na, alter Freund Willy, bist du nicht ein bißchen neurasthenisch? Was für ein sauertöpfisches Gesicht! Ich muß deine Angelegenheiten mal in die Hand nehmen!« Er bat mich, sein Porträt anzufertigen, und war über das Bild verblüfft, das ich ihm überreichte. In meiner Vorstellung war er der jugendliche Enthusiast von Avallon geblieben; unter der Fassade des gemachten Mannes sah ich noch immer das Wesen des frühreifen Jungen; in dem lebhaften, scharfen Blick des Industriekapitäns hatte die Erinnerung an die gemeinsam verlebte Jugend die Begeisterungsfähigkeit des Schulkameraden wiedererweckt. Er gab zu, daß ihn mein »natürliches Porträt« neben der absoluten Ähnlichkeit, die schließlich jeder einigermaßen fähige Fotograf zu erreichen vermag, um fünfzehn Jahre verjüngte. Sein langes Stillschweigen hätte in mir Zweifel an einer so plötzlich wiederauflebenden Freundschaft erwecken können. Aber trotz meiner Menschenfeindlichkeit - oder gerade, weil er mich von ihr zu heilen beabsichtigte, wie er mir zu verstehen gab -, wollte er mich nicht mehr meinem Schicksal überlassen. -86-
Er schickte mir Kunden zu, rief mich jeden Tag an, lud mich mehrmals wöchentlich zum Essen ein. Zuweilen sagte ich ab, entschuldigte mich in letzter Minute, kurz, ich tat alles, um seinen Eifer abzukühlen. Es nützte nichts! Am nächsten Tag stand er lächelnd wieder vor mir, eigensinnig in seinem Wohlwollen und entschlossen, die »Lockerung meiner Moral«, wie er es nannte, bis zum guten Ende durchzuführen. Eines Abends hatte ich wieder eine am vorhergehenden Tage angenommene Einladung grade in dem Augenblick abgesagt, in dem ich hingehen wollte. Ich lag ausgestreckt auf dem Diwan, das Bild Marie-Jeannes blickte von der Wand zu mir herüber, und wieder packte mich die Erbitterung, gegen die es kein Heilmittel gab und die mich stets aufs neue an meinen einsamen Abenden überfiel. Da läutete die Glocke. Ich öffnete - es war Antoine. »Entschuldige bitte«, sagte er. »Ich wollte nach dir sehen, weil ich fürchtete, du seist krank.« »Ich bin es.« »Sicher«, erwiderte er. »Hier sitzt das Übel (er tippte mit dem Finger an seine Stirn). Hoffentlich störe ich nicht?« Ich hob die Schultern. »Du kannst bleiben, wenn dir die Gesellschaft eines Verrückten nicht unheimlich ist.« Er folgte mir ins Zimmer, das er zum ersten Mal betrat, Ich setzte mich auf den Rand des Diwans, und er wollte ebenfalls Platz nehmen, als ich ihn erbleichen sah. Sein Blick blieb auf dem großen Bilde Marie-Jeannes haften. Obgleich er die Zähne zusammenbiß und sich bemühte, ein gleichgültiges Gesicht zu machen, spiegelten seine Züge eine tiefe innere Erregung wider. Sein Mund verzog sich, und seine Lider zitterten, dann wandte er sich mir zu. -87-
»Also, wo fehlt es denn?« fuhr er mit veränderter Stimme fort. Er hatte die Frage ganz mechanisch gestellt. Seine Gedanken waren augenscheinlich irgendwo anders, und ich wollte darüber Gewißheit haben. »Hier an der Wand siehst du einige Bilder«, sagte ich leise, »die dir alles erklären.« Meine Berechnung erwies sich als richtig. Auf meine Aufforderung hin betrachtete Antoine lange, eines nach dem anderen, die Bilder, auf denen die Anmut der Toten, teils allein, teils mit den Kindern, festgehalten war. Ich beobachtete ihn, während seine Blicke über die Fotografien wanderten. Antoine hatte eine robuste Natur, trotzdem konnte einem scharfen Beobachter die Verzerrung seines Gesichtes nicht entgehen. Einige Sekunden lang zuckte es zwischen seinem Kinn und seiner Unterlippe. Nun war mir alles klar. Die einzige Frau, die er geliebt und die, wie er erzählte, einen anderen geheiratet hatte, war meine Frau. Plötzlich erinnerte ich mich unserer Unterhaltung vor Kriegsausbruch. Er wunderte sich über meine Kälte Marie-Jeanne gegenüber, die sich mein Vater als Schwiegertochter wünschte. Erregt hatte ich ihm damals ins Gesicht geschrien: »Warum heiratest du sie denn nicht?« Ich höre noch seine Antwort, deren ernster bedeutungsvoller Ton mir im Augenblick gar nicht auffiel: »Weil sie dich liebt!« Armer Antoine! Eine neue, warme Sympathie faßte mich für diesen ehrlichen Freund. Lange vor mir hatte er die Vorzüge und den seltenen Charme MarieJeannes erkannt. Aber sie liebte mich, und er hatte die Gewissenhaftigkeit und das Zartgefühl so weit getrieben, mich über ihre Liebe zu mir aufzuklären; er hatte freiwillig darauf verzichtet, mit mir in Wettbewerb zu treten. Und noch gestern zweifelte ich an seiner Freundschaft! Er unterbrach die Besichtigung meines intimen Museums, -88-
setzte sich mir gegenüber in einen Sessel und sagte einfach: »Ja, Willy. Aber man lebt nicht in der Vergangenheit!« Jetzt war ich eher geneigt, ihm nachzugeben. War ich nicht noch immer besser dran als er? Hatte er nicht ebensoviel, vielleicht noch mehr gelitten als ich? Mein Glück würde plötzlich durch den Tod zerstört, aber das Leben hatte mir dieses Glück, wenn es auch nur von kurzer Dauer war, doch nicht ganz versagt, während ihm durch mein Dazwischentreten nicht einmal die Hoffnung auf Erfüllung gewährt worden war. »Also reiß dich zusammen, Willy«, fuhr er fort. Er hatte seine Fassung wiedererlangt, aber ich merkte, daß er absichtlich den Fotografien den Rücken kehrte, die eine alte Wunde in ihm aufgerissen hatten. Ich glaubte auch eine gewisse Forciertheit in der Stimmung zu entdecken, in der er zu mir sagte: »Ich möchte bloß wissen, warum du nicht zum Essen mitkommen willst, altes Huhn.« Das neue, freundschaftliche Gefühl, das ich für ihn hegte, ließ mich nicht länger auf meinem Standpunkt beharren. "Waren wir nicht beide bedauernswerte Menschen, Opfer des gleichen grausamen Schicksals? Der gute Antoine tat mir leid, Ruhm und Vermögen hatten ihm wohl eine glänzende Stellung nach außen hin verschafft, aber das wahre Glück, das nur durch die Liebe zu finden ist, war ihm versagt geblieben. Wir stürzten uns also an jenem Abend in das Pariser Nachtleben, dessen Geheimnisse er alle kannte. Eine rauschende, brausende, linde Nacht. Das grelle Licht, das die Straßen durchflutete, schien die Pforte des Mysteriums zu durchleuchten. Es kroch über den glatten, glänzenden Fahrdamm, über die Bäume am Rand der Trottoirs, die wie artige Kinder rechts und links aufgepflanzt waren, es kletterte an den Häusern hoch, deckte die kleinsten Risse, den winzigsten Spalt im Beton der Mauern auf, schlich wie eine Schlange an den bürgerlichängstlich geschlossenen Fensterläden entlang, gelangte schließlich zum Dachrand und gefiel sich dort in -89-
farbigen Arabesken, als ob es die strahlenden Sterne in Erstaunen versetzen wolle. Alle zehn Meter hing eine weiße Sonne über unseren Köpfen und spendete ihren Glanz. Die Mängel der Gesichter schmolzen in der milchigen Helle. Ich dachte an die Hölle, die Paris im Kriege war, und ein heftiger Zorn auf die Überspanntheit der Menschen packte mich. Antoine führte mich zum Abendessen in ein exotisches Restaurant, das mir besonders in Erinnerung geblieben ist. Pygmäen mit mißgestalteten Schädeln und birnenförmigen Leibern servierten in gelben Kalebassen schwarze Frösche, weiße Larven, Schnecken, Raupen, Elefantenrüssel, Affenbürzel und vor allem fetttriefende geröstete Termiten, die allwöchentlich per Flugzeug aus den Wäldern von Ituri herbeigeschafft wurden. Nach diesem mit Palmenwein begossenen Festmahl gingen wir, da mir die Raupen und Larven im Magen lagen, in ein Cabaret, das sich »Astronaut« nannte. Das Lokal wurde von einem ehemaligen Flieger, der sich im vierten großen Krieg ausgezeichnet hatte, geführt. Bei einem mißglückten Versuch, die Verbindung zwischen Erde und Venus herzustellen, war er wie durch ein Wunder dem Tode entronnen. Bei ihm trank und aß man und tauschte die letzten astronautischen Nachric hten aus. Die damalige Attraktion war eine Revue mit dem Titel: »So siehst du aus!« Sie brachte eine Rückschau auf die weibliche Kleidung seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Unter anderen eleganten Dingen sah man die Riesenhüte und geschlitzten Kleider von 1912, die kniefreien Röckchen und Glocken von 1925, winzige Hütchen und angemalte Beine (wegen des Strumpfmangels) aus der Zeit der Not, eine Art von Negerschürzen und Abendpareos aus der Zeit vor dem dritten Weltkrieg, dann die Mode der nackten Brüste unter durchsichtigen Büstenhaltern, die in der Zeit des »Zweiten 89« blühte, ebenso den Sansculottismus, der zur gleichen Zeit den Frauen gestattete, auch den unter dem Gürtel liegenden Teil -90-
ihres Körpers nur mit einem dünnen, exotischen Trikot bekleidet zur Schau zu tragen. Ich hatte etliche Gläser eines herben Champagners getrunken, um die ekelhafte Erinnerung an die Larven zu vergessen, die beim Essen unter der Gabel platzten, und warf gerade den graziösen Statistinnen der Revue einen freundlichen Blick zu, als mein Kamerad mich fragte: »Bist du eigentlich schon mit deinen Fotos bei der Modewelt eingeführt?« Nein, ich war es nicht, und Antoine schlug mir vor, mich auf diesem Gebiet zu lancieren; denn er hatte dort sehr gute Verbindungen. »Ganz abgesehen von den kleinen Mannequins! Hm, hm«, fuhr er augenzwinkernd fort. Das leichte Lächeln der beginnenden Trunkenheit, das die Menschen zu Kompromissen geneigt macht, huschte über mein Gesicht, als ein großer, starker Bursche an unseren Tisch trat. Es war Gustave Bolide, der Inhaber des »Astronaut«. Die große xförmige Narbe auf seiner rechten Wange und die künstliche linke Hand im schwarzen Handschuh erinnerten an sein »VenusUnglück«, wie er es zu nennen liebte. Er schüttelte Antoine die Hand, setzte sich an unseren Tisch und sprach vom »Astrion«, an dem noch immer der begabteste Schüler des verstorbenen Professors Corre, der Ingenieur Drelin, arbeitete. Der Flug zur Venus war sine die verschoben worden. Nun sollte der Mars den ersten Besuch der interplanetaren Flieger erhalten. Die größere Entfernung würde die Dauer des Fluges zweifellos nahezu verdoppeln. An Stelle von 48 Tagen mußte man mit guten drei Monaten rechnen, um die geheimnisvollen Kanäle des Mars zu erreichen. »Aber im Grunde genommen reizt mich der Mars viel mehr«, erklärte Bolide. »Mit ihrer Kohlensäurehülle liegt mir trotz der Filtermaske die Venus viel weniger. Für den Mars genügt ein Sauerstoffapparat, das ist keine große Angelegenheit. Außer Champignons scheint es da oben massenhaft Frösche zu geben. Es leben die Froschschenkel!« -91-
Er vertraute uns ferner an, daß sein Freund Drelin an der Fertigstellung des Raketen-Antriebsapparates arbeite. Seine Atomzertrümmerungs-Anlage bedürfe nur noch geringer Abänderungen. Aber der gewissenhafte Konstrukteur wolle nichts dem Zufall überlassen. »Na, und wenn wir noch einen Klappsitz für dich übrig hätten, würdest du dann mitfliegen?« fragte Bolide Antoine. Mein Freund zuckte die Achseln, aber in seinem Blick flammte es auf. »Leider hat der ,Astrion' nur vier Plätze«, fuhr der Inhaber des ,Astronaut' fort. »Drelin und ich für die Navigation, ein Physiker und ein Arzt für die wissenschaftlichen Beobachtungen. Nach unserer Rückkehr soll dann ein regelmäßiger Dienst eingerichtet werden.« Er zweifelte nicht am Gelingen. Händereibend entfernte er sich. Der Saal war für mich nur noch leuchtende Bewegung, ein Durcheinander von weißen Schultern, rauschenden Kleidern, glücklichen Gesichtern und schwarzen Fräcken. Antoine bestellte eine neue Flasche Champagner und sagte: »Da, sieh mal - so was fehlt dir!« Er erhob sich, betrat die überfüllte Tanzfläche und kam mit zwei sehr hübschen, nach der neuesten Mode hergerichteten Mädchen zurück. Für jemanden, der an dieser Art von Aufmachung Gefallen findet, waren sie mit ihren dem Kleide angepaßten Gesichtern geradezu ein Musterbeispiel. Beide trugen weite griechische Gewänder mit vielen Falten, die an den Schultern mit Brillant-Spangen festgehalten wurden, eines perlengrau, das andere maisgelb. Sie bildeten einen eigenartigen Kontrast, die rechte goldüberstrahlt, leuchtend wie ein Götterbild: Haare, Augen, Wangen, Lippen, Finger und Fußnägel (sie trug Sandalen, die am Knöchel mit goldenen Riemen befestigt waren), alles funkelte; die linke diskret pastellfarben wie die Morgenröte oder eine regenschwangere Wolke. Ich erhob mich lässig, um sie zu begrüßen, während mich Antoine vorstellte. Die beiden Frauen nannten mir ihre fremdartigen Namen. »Man -92-
nennt mich Sahar«, sagte die Wolkenfarbige. »Und mich BoueKou«, fügte die Maisfarbige hinzu. Da ich infolge meines Zustandes ob dieser exotischen Bezeichnungen einen etwas blöden Eindruck machte, ließ sich die erste in ihrer verträumten, abwesenden Art, die ohne Zweifel auf ihr Kostüm abgestimmt war, herbei, mich aufzuklären. »Sahar bedeutet ,Rauc h' im Uolof- Dialekt.« Grade wollte ich ihr aus purer Höflichkeit mein Entzücken ausdrücken, als Antoine dazwischen fuhr. »Ihr wirklicher Name ist Ginette«, sagte er lächelnd. Sahar-Ginette blickte wie eine unverstandene Frau verzweifelt zur Decke. Ihre Augen waren groß und mandelförmig, und man konnte nicht feststellen, ob die hübsche malvengraue Farbe auf chemischem Wege erzeugt oder echt war. Die strahlende Boue-Kou wollte natürlich nicht zurückstehen, und so vertraute sie mir an, ihr Name bedeute bei den Guayaki-Indianern, »die, welche verwundet«. Das waren so Einfalle in jener glücklichen Zeit. »Von mir aus kannst du sie Suzy nennen«, sagte Antoine ungeniert. Boue-Kou-Suzy warf ihm einen unfreundlichen Goldblick zu - »Willst du mit mir tanzen?« fragte sie plötzlich. Er nahm an, und beide mischten sich unter die drei Dutzend Paare, die sich bemühten, den Oa-Oa zu tanzen. Es war ein Tanz von Zauberern aus dem Kongo, der ursprünglich zweifellos der Beschwörung unheilbringender Geister gedient hatte. Die Tänzer im »Astronaut« aber suchten dabei lediglich ihre Langeweile zu beschwören. Ich erinnere mich, daß sie sich, einer hinter dem ändern, an den Schultern faßten und in zwei Kreise teilten. Der eine stellte sich außen am Rande der Tanzfläche, der andere innen auf; der erste bestand nur aus Männern, der zweite nur aus Frauen. Zum Klang eines rauhen Tam- Tams bewegten sie sich hüpfend vorwärts, die Männer in entgegengesetzter Richtung zu den Frauen. In einem bestimmten Augenblick kehrten sich alle auf ihren Absätzen um. Die Männer standen nun den Frauen -93-
gegenüber, beugten sich nach vorne und legten mit gespreizten Beinen die Hände auf die Knie, die sie schnell öffneten und schlössen, während sie mit voller Stimme »Oa-Oa« riefen. Gleichzeitig machten die Frauen in ähnlicher Stellung, die Hände auf den Knien, mit dem Unterkörper heftig rotierende Bewegungen. Dann folgte eine Art Kampf mit flachen Händen, an dessen Ende die Frauen um Gnade baten. »Und Sie«, murmelte mir eine müde Stimme ins Ohr, »tanzen Sie den Oa-Oa nicht?« »Ich bedaure, ich tanze niemals«, sagte ich so liebenswürdig wie möglich. »Bedauern Sie es nicht«, fuhr Ginette seufzend fort, »warum soll man sich denn so abplagen?« Sie nahm ihre Rolle wirklich ernst, und selbst ihr Seelenzustand paßte sich ihrem Kleide an. Aber einige Gläser Champagner ließen sie zu sich selbst kommen. In ihren nebelhaften Augen erschien ein fröhliches Leuchten. Sie begann mit kleinen Neckereien, die ich widerspruchslos hinnahm. Ihr plätscherndes Lachen zeigte zwischen silbergrauen Lippen ein mandelweißes fehlerloses Gebiß, zwischen dem sich verstohlen eine schalkhafte und verschleckte Zunge wie eine Erdbeere zeigte. Als Antoine und Boue-Kou-Suzy den Tanz beendet hatten, war Sahar ganz zur Ginette geworden. Sie hatte ihre Maske fallen lassen und rief dem Paar in spöttischem Ton zu: »Nun, habt ihr euch geschlagen?« Und sie begann mir zu erklären, daß Suzy trotz ihrer prinzeßhaften Allüren ein perverses Mädchen und sehr für Schläge empfänglich sei. Da Antoine seinerseits eine lockere Hand habe, sei innerhalb dieser Junggesellen-Ehe alles in bester Ordnung. Verzweifelt erhob sich die andere und zog Antoine mit sich, der mir im Weggehen noch zuflüsterte: »Na los, Kleiner!« -94-
»Glückliche Reise!« rief Ginette. Sie trank weiter und nötigte mich, mit ihr zu trinken. Ihr papageienhaftes Geschwätz verwirrte mich. Das Tam-Tam begann wieder, und an alles weitere bis zum nächsten Morgen konnte ich mich nicht mehr erinnern, als ich in einem winzigen, mit rosafarbenen Wänden und Puppenmöbeln ausgestatteten Zimmer erwachte. Ich hatte einen schweren Kopf und schmerzende Gelenke. In einem benachbarten Raum lief Wasser, aus dem der säuerliche Duft von Badesalz in das Geräusch eines sich unter der Dusche spülenden Körpers kam. Ich richtete mich auf und ve
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für solche Notizen in der Mauer angebracht war. Ach ja, richtig! Herr Hakashu Yosano, Präsident des Institutes für vergleichende Anthropologie in Tokio. Wieder einer dieser gelben Gelehrten, die so außerordentlich höflich, aber von einer kalten Raffiniertheit waren, die an Beleidigung grenzte. Was für ein Mensch mochte wohl dieser Herr Samory, Staatsrat der F.U.A., sein, dessen Besuch dem des Herrn Hakashu folgen sollte? Riesig und fettstrotzend wie so viele der schwarzen höheren Beamten oder mager und beweglich wie ein Tam- Tam-Schläger, der mit albernem Lachen unzählige Fragen stellt? Ach was! Er zuckte die Achseln. «Der Präsident kann heraufkommen.» Herr Hakashu Yosano war ein kleiner Japaner, dessen weißes Haar auf ein Alter schließen ließ, das durch die wachsgelbe, faltenlose Haut eines Säuglings Lügen gestraft wurde. Hinter einer dicken Elfenbeinbrille glänzte aus dem schmalen Spalt der Augenlider ein schwarzer Onyxstreifen. Entgegen der Sitte, die sich seit der weißen Pest eingebürgert und zur Abschaffung des shakehands geführt hatte, streckte er William Durand seine harte, trockene, aber gepflegte Hand entgegen. Er begann sofort in einem fließenden Französisch, eine Aufmerksamkeit, die ihren Eindruck auf den Angeredeten nicht verfehlen konnte. Der Präsident hatte drei Jahre in Paris gelebt, etwa vor dreißig Jahren, als junger Student der Sorbonne, und sprach von seinen Erinnerungen an den Boulevard Saint-Michel und wie glücklich er sei, endlich mit einem Pariser über Paris reden zu können. Seine Liebenswürdigkeit versetzte den Erfinder des »natürlichen Porträts« in tiefe Erschütterung. Wahrhaftig, dieser vornehme Mann hätte nicht anders sprechen können, wenn Paris noch die blühende Hauptstadt eines reichen, glücklichen Landes gewesen wäre, das man von Colour City aus in ein paar Flugstunden erreicht. Es schien gar keinen Eindruck auf ihn zu machen, daß sein »Pariser« (wie liebenswürdig klang dieses Wort in seinem Munde!) der letzte Vertreter seiner Rasse war. Paris war für ihn seine Jugend, und das Verschwinden dieser Stadt unter den -210-
Städten als endgültige Tatsache anzusehen, hieße die schönsten Jahre seines Lebens mit in den Abgrund werfen. Er hatte sich noch nicht damit abgefunden, umso weniger, als er ein Anhänger der reinen Lehre des Yamato Damashi und überzeugt von der Mission der kaiserlichen Familie war, die von der Sonnengöttin Amaterasu abstammte. »Wie schade«, meinte er, »daß sich Europa, und besonders Ihr schönes Land Frankreich, nicht unter den Schutz unseres Kaisers gestellt hat! Denken Sie daran, mit welcher unvergleichlichen Weisheit er die Union der vereinigten gelben Nationen leitet. Aber noch ist vielleicht nicht alles verloren. Warum soll Paris nicht zu neuem Leben erwachen? Ich verstehe sehr gut, daß Paris ohne die Franzosen eben nicht Paris sein würde. Ich habe lange über das Problem nachgedacht, und ich glaube, nun eine Lösung gefunden zu haben. Alles hängt von Ihnen ab.« William Durand hob verblüfft die Augenbrauen. Dieser Herr Hakashu Yosano mochte vielleicht ein harmloser Irrer sein. Aber er sah jedenfalls sehr seriös aus - welcher Weiße hat wohl jemals einen Japaner begriffen? »Ich bin äußerst gespannt«, sagte William Durand sehr höflich. »Also hören Sie«, erwiderte der andere. »In meiner Eigenschaft als Anthropologe habe ich mich sehr eingehend mit dem Problem der Rassenmischung befaßt. Sie wissen vielleicht, was man in der Anthropobiologie als ,Züchtungsergebnis' bezeichnet. Es handelt sich da um eine bestimmte Art von Individuen, die sich im Laufe der Zeit nicht nur physisch, sondern auch moralisch neu entwickelt hat, also eine Gruppe von Menschen, welche die Züge verschiedener Rassen in sich vereinigt. Sie wissen vielleicht auch, daß die Rasse in erster Linie von der Blutzusammensetzung abhängig ist. Es gibt vier Arten von Blut, A, B, AB und 0, und man hat festgestellt, daß die A-Form hauptsächlich bei den Völkern des Westens vorkommt, während B den orientalischen Völkern eigen ist. Nun, Sie sind auf den -211-
ersten Blick der vollendete Typ des Westlers, ja mehr noch, des Franzosen. Hätten Sie nicht Lust, der Stammvater eines neuen-Geschlechtes au werden? Wenden Sie bitte nicht ein, daß dazu immer zwei gehören. Wenn es auf unserer Erde keine weiße Frau mehr gibt, was ich aufrichtig bedaure, so findet man doch Frauen einer ähnlichen Rasse, deren Blutformel zu der der Kategorie A paßt. Ich habe zwei solche in der fast ausgestorbenen Rasse der Ainos entdeckt, von dene n noch einige Exemplare auf den Inseln Hokkaido und Sachalin leben. Wenn ihre Behaarung stärker als die der Europäerinnen entwickelt ist und ihre äußere Erscheinung auch sehr wenig den westlichen Schönheitsbegriffen entspricht, so zweifle ich trotzdem nicht daran, daß das höhere wissenschaftliche Interesse Sie über diese Belanglosigkeiten hinwegsehen läßt. Es handelt sich ja nicht darum, eine persönliche Neigung oder den niedrigen Geschlechtstrieb zu befriedigen, sondern um die Schaffung einer neuen Rasse, und hierbei müßten Sie die Rolle eines modernen Adam übernehmen. Liegt in dieser Perspektive nicht ein wertvoller Gedanke? Im übrigen können Sie sich anderweitig entschädigen. Die Ainos sind mongolischen Ursprungs, aber eine andere Rasse, die aus Afrika stammt, die Peuhls, haben sehr schöne Weiber. Ihre Hautfarbe ist, wenn sie nicht Nachkommen von Mischlingen sind oder aus Mischehen stammen, nicht schwarz, sondern hell kupferfarbig. Ihr wohlgeformter Mund ist durchaus nicht negroid, die Nase gerade, ihr Gesicht weist kaum Merkmale von Prognathie auf. Kurz, wenn wir dann Ihre Produkte mit den Aino-Frauen und den Peuhl-Frauen kreuzen, so haben wir alle Aussichten, durch eine strenge Zuchtwahl eine annähernd weiße Rasse entstehen zu sehen, die sich zu Ihrer Rasse verhalten würde, wie ein Sudanese zu einem ,newnegro', und in drei oder vier Generationen hätten wir ein Züchtungsergebnis, das außerordentlich Widerstands- und fortpflanzungsfähig wäre. Die Akklimatisierung in Frankreich und nach und nach in den -212-
anderen Ländern Europas ist dann nur noch eine Frage der Zeit.« Herr Hakashu Yosano war kein Wahnsinniger, seine Überzeugung stand außer jedem Zweifel. Die Anthropobiologie war seine ausschließliche, verzehrende Leidenschaft, wie es für andere der Wein, die Dichtkunst oder die Liebe zu Gott ist. William Durand begriff sehr wohl, daß er für diesen fanatischen Gelehrten ein einmaliger Glücksfall war, der seine Theorie über die Rasse in anima vili verwirklichen konnte. Aber der Gedanke an eine Zukunft, die systematisch zu Paarungen mit AinoWeibern, die behaart wie die Bären waren und nach Ziegenbock stanken, oder mit Peuhl-Weibern, die vielleicht von klassischem Wuchs waren, aber deren Hautfarbe an kupferne Kochgeschirre erinnerte, erregte keineswegs die Begeisterung des weißen Mannes. Doch warum sollte er den wackeren Herrn Yosano vor den Kopf stoßen? Wie alle Menschen, die von einer fixen Idee besessen sind, konnte sich sein Besucher überhaupt nicht vorstellen, daß der Franzose ihm eine Absage geben würde. Daß das Museum des weißen Mannes eine Art Gestüt werden sollte, in dem der genannte William Durand der einzige Zuchthengst sein würde, erschien ihm ebenso wichtig wie gerechtfertigt warum sich nicht den Anschein größten Interesses geben? Der ehrenwerte Gelehrte ahnte ja doch nicht, daß sich hinter diesem Interesse das unheimliche Gelüst verbarg, laut aufzulachen, und ein geradezu pathologisches Verlangen, dem Besucher auf den Bauch zu klopfen, ihn in die Nase zu zwicken oder am Bart zu zupfen. (Übrigens ein rein theoretischer Einfall, denn Herr Hakashu Yosano hatte ein Kinn so glatt wie ein Hühnerei.) William Durand sah sich bereits in zwei oder drei Jahrhunderten auf den Stichen in den Almanachen, die früher die herumziehenden Händler verkauften, am Fuße eines Stammbaumes stehen, den man den Stamm Durand nennen würde, in Nachahmung des Stammes Jesse. Ermutigt durch die Zeichen der Zustimmung seitens seines Zuhörers, setzte der -213-
Präsident des Institutes für vergleichende Anthropologie in Tokio seinen Monolog fort. Wenn es sein Wunsch war, Europa wieder zu bevölkern, so war, im Vertrauen gesagt, das höhere Interesse der Wissenschaft nicht der alleinige Grund seiner Bemühungen. Auch rein persönliche Empfindungen spielten dabei eine Rolle. Er hielt es vor allem für wünschenswert, daß die zukünftigen coloured men, und unter ihnen in erster Linie seine Urenkel und Neffen, in dem wiedererstandenen Paris dieselben schönen Zeiten erleben sollten wie er selbst, er hielt Paris für unersetzlich. Paris bedeutete Vergnügen, Anmut, Herzenswärme, funkelnden Geist, Freuden ohne Gewissensbisse, Leichtsinn ohne dramatische Folgen, Lachen und Lächeln, Zauber der Überraschung, der sich in jeder Minute erneuert. Im gleichen Maße, in dem Herr Hakashu Yosano diese wohlbekannte Atmosphäre banalisierte, verlor William Durand seine gute Laune. Sein Ausdruck verfinsterte sich zusehends. Dieser Dummkopf mochte wohl in Erinnerung an ein in allen Lichtern strahlendes Paris, das auf dem Gipfel der Zivilisation angelangt war und vor seinem Untergang noch einmal alle seine Reize spielen ließ, die Augen verdrehen. Er selbst sah nur noch das Paris vor sich, in dem er so viel gelitten hatte. Das Paris nach dem vierten Kriege, als er sich in Verzweiflung über den Tod seiner Frau von aller Welt zurückzog, und dann das Paris der Pestzeit, die Menge vor dem Laboratorium Balanches, die Leichname auf den Straßen, den als Weib verkleideten Irren aus der Rue Royale, die Lastwagen mit den Kadavern der Pestkranken, den geliebten Körper Manettes, den man mitten unter die anderen ekel- und schreckenerregenden Toten geworfen hatte. Paris war tot, und ein neues Paris würde nicht aus den Lenden des letzten Weißen geboren werden, der mit seinen fünfundvierzig Jahren müder und gebrochener war denn der Patriarch Boas, als er sich Ruth näherte. Er bemerkte, daß er, von seinen trüben Vorstellungen -214-
überwältigt, dem Präsidenten Hakashu Yosano gar nicht mehr zuhörte. Dieser beendete eben seinen Vortrag. »Ich hoffe«, sagte er, »daß der schwarzgelbe Große Rat im Hinblick auf das wissenschaftliche Interesse und die allgemein menschliche Bedeutung des Falles keine Schwierigkeiten machen wird. Ich habe mich der Unterstützung des Professors Thorp vom interföderalen Institut für Rassenforschung versichert und freue mich über das große Verständnis, das Sie dem Problem entgegenbringen.« Er lachte in sich hinein, und William Durand hätte diesen grinsenden Knirps mit Wonne verprügelt. Herr Hakashu Yosano nahm nun, äußerst befriedigt von seinem Besuch, unter tausend Höflichkeitsbezeugungen Abschied. Der Weiße warf sich, endlich allein, auf seinen Diwan. Verbittert grübelte er über das eben Erlebte nach, als neuerdings die Glocke des teleoptischen Apparates ertönte und Jonathan mit seiner gutturalen Stimme fragte: »Ist der weiße Mann bereit, den Herrn Rat Samory zu empfangen?« Der Herr Rat Samory warum sollte man nicht den Herrn Rat Samory empfangen? Nach dem Schimpansen den Gorilla. Das alles ging in Ordnung und hatte nicht einmal mehr den Reiz der Neuheit. Dient ein Museum nicht zum Empfang von Besuchern? Ob es sich um einen Staatsrat oder den Boy eines Nachtklubs handelte, einem Neger würde es auf alle Fälle Spaß machen, einen Weißen genau so zu betrachten wie das sorgfältig präparierte Skelett eines Brontosauriers oder eine Koleoptere der Gattung Titanus giganteus mit emailleblauen Flügeln. Wodurch unterschied sich William Durand, ein Abkömmling der französischen Rasse, ein geborener Avallonaiser und Wahl-Pariser heute noch von einem Titanus giganteus? Nur dadurch, daß er nicht in einem Glaskasten war, in sonst nichts. Fliehen! Fliehen! Heraus aus dem Gefängnis! Die Signalanlage läutete stärker. Das nervöse Gesicht Jonathans erschien auf der Fläche des teleoptischen Apparates und wiederholte die Frage von vorhin mit einem Ton, der nicht -215-
mehr so gleichgültig war: »Ist der weiße Mann bereit, den Herrn Staatsrat Samory zu empfangen?« »Warum nicht?« antwortete William Durand, der noch immer bäuchlings auf dem Diwan lag und den Kopf in die Hände stützte. Zum ersten Mal vielleicht ließ er die gewohnte Höflichkeit außer acht, aber der Becher schäumte über. »Mein Herr --« Er rührte sich nicht. Seine Nase sog den faden, kalten Geruch des Kautschuks ein, denn er lag noch immer mit dem Gesicht nach unten. »Mein Herr -?« Die Stimme des Besuchers verriet neben der Geduld eines Steines eine leicht ironische Sympathie. »Den Kerl werde ich hinausekeln«, sagte sich der Weiße. Er wandte sich um und sah einen schwarzen Koloß vor sich, der leicht mit den Beinen schlenkerte wie ein Baum, der sich auf seinen kräftigen Wurzeln hin und her bewegt. Seine Hautfarbe war matt und von tiefem Schwarz, einige parallele Einschnitte durchfurchten seine Wangen. Die mächtigen Schultern ließen seinen völlig kahlen, eiförmigen Schädel noch spitzer erscheinen, aber aus den kugelrunden Augen sprühten Intelligenz und Verschlagenheit. »Herr Rat Samory?« Der Schwarze grinste und zeigte zwei Reihen blendend weißer Zähne. »Ich hatte schon lange den Wunsch, Sie aufzusuchen, Herr Durand, aber ich reise selten und mußte auf die Gelegenheit warten. Sagen Sie mir bitte zunächst, ob ich irgend etwas für Sie tun kann?« Der Weiße zuckte die Achseln und antwortete verbittert: »Was soll man für mich tun können? Ich gehöre einer versunkenen Welt an. Mein Dasein beruht auf einem Irrtum, meine Existenz ist lächerlich. Ich ertrage die Gegenwart nur aus Neugier oder, wenn ich ganz ehrlich sein will, aus Feigheit. Aber vielleicht sind Sie auch ein Anthropologe und wollen mir -216-
wie der ehrenwerte Herr Yosano vorschlagen, die Rolle eines neuen Adams zu spielen?« Der Rat Samory schüttelte den Kopf. »Regen Sie sich nicht auf«, sagte er freundlich. »Der Zorn ist eines vernünftigen Menschen unwürdig. Nein, ich bin kein Anthropologe, und vor meinem Eintritt in den Rat der F. U. A. genügte die Philosophie, um mich glücklich zu machen. Die Philosophie, wie ich sie verstehe, würde auch für Sie eine große Hilfe sein.« »Die Philosophie!« erwiderte William Durand bitter. »Welche Hilfe könnte die kalte Vernunft wohl einem gebrochenen Herzen bringen?« »Ta, ta, ta!« fuhr der Schwarze fort. »Glauben Sie mir, Ihre Melancholie wird hauptsächlich durch Raum und Zeit verursacht, durch die Zeit, weil Sie überzeugt sind, daß Ihre Welt zugrunde gegangen ist, durch den Raum, weil in Ihren Augen die Distanz, die Sie von Ihrem Geburtsland trennt, unüberbrückbar ist. Aber verliert nicht die Melancholie ihre Berechtigung, wenn ich Ihnen sage, daß es weder einen absoluten Raum noch eine absolute Zeit gibt? Ein europäischer Gelehrter, dessen Name Ihnen sicher zu Ohren gekommen ist er hieß Einstein - hat das als erster mit seiner Relativitätstheorie festgestellt. Aber er war nur Physiker und kümmerte sich wenig um die Philosophie. Wenn ich ein System aufstellen sollte, würde ich noch viel weiter als Ihr Einstein gehen, ich ginge von dem Prinzip aus, daß die Zeit nicht existiert. Die Zukunft ist für mich nur ein absurder Begriff. Ich bin der Ansicht, daß es nur eine Gegenwart und eine Vergangenheit gibt, oder vielmehr entweder die Gegenwart oder die Vergangenheit, das ist nur eine Frage des Wortes. Napoleon und Cäsar sind ebenso meine Zeitgenossen wie der verstorbene Präsident John W. Johnson und der König Salomon. Damit eine Sache gewesen ist, muß sie doch erst einmal dasein. Und wenn sie da ist, ist sie auch schon gewesen. Gegenwart und Vergangenhe it sind also ein und dasselbe, und die Erinnerung ist ebenso Wirklichkeit wie das -217-
unmittelbare Erleben. Was sage ich? Das Erleben, wenn es Ihnen ins Bewußtsein dringt, ist bereits Erinnerung, der bescheidenste philosophisch Gebildete weiß das. Begreifen Sie die psychologische und moralische Bedeutung einer solchen Auffassung? Warum der Vergangenheit nachweinen, wenn alles gegenwärtig bleibt? Warum sich über die Gegenwart beunruhigen, wenn sie bereits zu existieren aufgehört hat? Um nun auf Ihren Fall zurückzukommen, wenn Sie mir sagen, daß alles, was Ihnen das Leben lebenswert gemacht hat, verschwunden ist, entgegne ich Ihnen, daß das, was gewesen ist, bleibt und daß infolgedessen Ihr Kummer gegenstandslos ist.« William Durand hatte das Empfinden, daß sich der schwarze Herr Samory über ihn lustig mache, und wollte ihm nichts schuldig bleiben. »Wenn ich Sie recht verstanden habe«, sagte er, »gäbe es Ihrer Ansicht nach keine anderen Lebenden als die Toten.« Der Rat der F. U. A. schnalzte mißbilligend mit der Zunge. »Ach«, sagte er, »ich sehe, daß Sie nicht ernsthaft debattieren wollen. Scherz bei Seite, ich bemerke keinen grundlegenden Unterschied zwischen dem, was man Tod und Leben nennt. Das ist auch der Grund, warum die Geschichte für mich die Wissenschaft schlechthin ist, und auch der Grund für mein Interesse an Ihnen; denn ich sehe durch Sie Millionen und Milliarden weißer Menschen, die für den Durchschnittsmenschen nur Schatten sind, die aber meinem Empfinden nach ebenso lebendig sind wie ich, der ich mit Ihnen spreche, wenn nicht sogar noch lebendiger.« »Und sie verursachen Ihnen keine Furcht?« »Die Ideen sind furchterregender als die Menschen«, entgegnete der Schwarze, und ein breites Lächeln verzerrte aufs neue seine wulstigen Lippen. »Ich hoffe«, fuhr er fort, »daß Ihnen mein Besuch wohlgetan hat. Denken Sie über alles nach, -218-
was ich Ihnen gesagt habe, Sie werden dadurch eine fühlbare Erleichterung Ihrer wirklichen oder eingebildeten Leiden erreichen. Wie schade, daß Sie nicht der Gast der F. U. A. sind! Bei uns würden Sie sich einer völligen Freiheit erfreuen, denn unter den drei Föderationen, die die Erde unter sich teilen, ist die unsrige die toleranteste. Unsere Juristen sägen: Erinnerung an die französische Demokratie, deren Erklärung der Menschenund Bürgerrechte unsere Bibel geblieben ist. Vergessen Sie das nicht, wenn Sie der Zufall aus diesem Museum herausführen sollte, dessen Idee ein Philosoph verurteilen muß. In Timbuktu, Konakry, in Kairo oder am Kap würden Sie ein Mensch wie jeder andere sein.« Ich dankte ihm gebührend und gab ihm die Versicherung, daß seine Ratschläge Früchte tragen würden; daraufhin zog sich der Rat Samory befriedigt zurück. »Ein merkwürdiger Tag!« dachte William Durand. »Erst das Magazin, das mir mein ganzes Leben zurückrief, dann der Gelbe, der in mir einen Zuchthengst sah, und schließlich der Neger, der sich für einen Zeitgenossen Julius Cäsars hält und mich für die F. U. A. begeistern möchte!« Er begann an allem und an sich selbst zu zweifeln. Konnte ein Alptraum zehn Jahre dauern und würde er nicht im Atelier des «natürlichen Porträts» auf dem Boulevard des Batignolles aufwachen und seinen Zeigefinger einem liebenswürdigen Mannequin hinhalten, der sehr um seine Nägel bemüht ist? - Er kniff sich heftig in den Oberarm. O weh! Der Schmerz war nicht wegzuleugnen, und eine einzige Hoffnung blieb: Hannah Pierce. Wie sie auf sich warten ließ! Und wenn sie nun ihre Pläne geändert hätte? Einen Augenblick dachte er daran, Jonathan zu beauftragen, das junge Mädchen sofort heraufzuführen, wenn es käme. Dann überlegte er sich, daß diese Hast Verdacht erregen könnte. Hannah Pierce gegenüber würde er vorsichtig sein, sich nicht allzu begeistert zeigen und sich ein bißchen bitten lassen, vorausgesetzt, daß sie beim Großen Rat überhaupt etwas erreicht hatte. -219-
Die Glocke ertönte wieder - endlich! »Ist der weiße Mann bereit, Miß Hannah Pierce zu empfangen?« fragte Jonathans Stimme. Hannah trat ein. Um die Wahrheit zu sagen, sie war mehr als hübsch und hatte die Gestalt einer antiken Statue, aber ohne deren Kälte, im Gegenteil, sie war lebhaft und warm. Ihm fiel plötzlich auf, daß sie der ägyptischen Königin Nofretete, der Gemahlin des Pharao Amenophis IV., glich, deren Büste ihn so beeindruckt hatte, als er sie das erste Mal in einer Kunstzeitschrift abgebildet sah. Sie hatte dasselbe liebliche, fast gradlinige Profil, die gleichen königlichen Lider, die das Auge halb verdeckten, denselben gebieterischen und doch anziehenden Mund, das stolze Kinn und den langen, schlanken Hals einer Blume. War die Königin Nofretete von weißer Hautfarbe? Er sah sie mehr ambrafarbig, von einem matten, nach der Bronze hinneigenden Ton, wie ihn Hannah Pierce hatte. Und was diese liebenswerte Schwarze für einen ausgezeichneten Stil schrieb! Das Lächeln, das zuerst die Züge der Besucherin erhellte, wich plötzlich einer großen Befangenheit. Sie bemerkte die Colour City Times und wandte den Blick ab wie eine Schülerin, die man bei einer Dummheit ertappt hat. William Durand konnte dem nicht widerstehen, er lächelte und streckte ihr die Hand hin, die sie, noch etwas verwirrt, ergriff. »Sie sind mir also nicht allzu böse?« murmelte sie. »Warum sollte ich?« Sie wies auf das Magazin. »Ich muß Sie vielmehr beglückwünschen«,, sagte er. Sie schien beruhigt und setzte sich lässig und graziös. Er bemerkte, daß ihre Beine nicht mager waren, wie man das so häufig bei den Frauen der schwarzen Rasse sieht, sondern wohlgeformt; sie hatte die Beine der Königin Nofretete. »Wenn Sie mir gezürnt hätten«, begann sie wieder, »würden Sie mir übrigens schnell verziehen haben. Dieser Bericht über Ihr Leben war notwendig, um für das große Unternehmen, von dem ich Ihnen schon gesprochen habe, die Wege zu ebnen. Und nun halten Sie sich -220-
fest: in seiner gestrigen Sitzung hat sich der Große Rat mit meinem Plan für eine Reportage in Paris einverstanden erklärt!« Er hörte mit aufrichtigem Vergnügen diese manchmal dunkle, dann wieder helle Stimme, die bald wie eine Fanfare, bald wie eine Oboe klang, und vergaß dabei völlig, auf den Sinn der Worte zu achten, die da in sein Ohr drangen. »Das ist noch nicht alles", fuhr Hannah Pierce fort, «und ich hoffe, daß Sie die Neuigkeit, die Sie unmittelbar betrifft, mit Vergnügen hören werden. Der Große Rat hat mir die Genehmigung erteilt, Sie als Führer mitzunehmen. In acht Tagen werden wir in Paris sein.« So zerstreut William Durand auch war, jetzt sprang er auf. »In acht Tagen werden wir in Paris sein.« Dieser Satz, an dessen Ende das Wort Paris wie ein Diamant glänzte, traf ihn mitten ins Herz. Wie auch der Anblick der so schwer getroffenen Stadt sein mochte, würde er sie nicht mit den Augen des Überlebenden in ihrem alten Glanz sehen? Und bei diesem Wiedersehen wußte er, daß es sich diesmal nicht um einen schönen Traum handelte, der mit dem Schleier der Nacht im fröstelnden Morgen davonfliegt. Aber nein, wozu sich trügerischen Hoffnungen hingeben? Hannah-Nofretete machte sich augenscheinlich lustig über ihn. Für ihn hörte die Ähnlichkeit mit der Pharaonengattin hier auf. wenn sie ihn nicht einmal vor dem Komplott warnte, das von irgendeiner böswilligen Macht gegen ihn angezettelt worden war, um ihn zu quälen. Aber Hannah sprang mit einer bezaubernden Impulsivität auf und rief mit glänzenden Augen: »Wieso soll das nicht möglich sein? Die Sache ist in Ordnung, verstehen Sie, völlig in Ordnung! Die Genehmigung ist datiert, gesiegelt und unterzeichnet vom Präsidenten der schwarzgelben Föderation und in der Staatskanzlei registriert worden. Als einzige Bedingung für Ihre Abreise wurde verlangt, daß sie absolut geheimgehalten wird. Nicht einmal Ihre Wächter dürfen etwas erfahren. Ein Ambulanzwagen wird Sie eine Stunde vor dem -221-
Abflug abholen. Offiziell sind Sie an einem nervösen Leiden erkrankt, das eine völlige Isolierung auf dem Lande für unbestimmte Zeit nötig macht. Die Wahrhe it soll erst nach unserer Rückkehr bekanntgegeben werden. Andererseits verlangt der Große Rat die ehrenwörtlich« Erklärung von Ihnen, daß Sie diese Reise nicht dazu benützen, um in das Territorium einer anderen Föderation zu gelangen.« »Es ist also wirklich wahr?« »Warum denn nicht?« erwiderte Hannah lebhaft. »Ich bin überzeugt, daß ich mit Ihnen eine ganz außergewöhnliche Reportage machen werde.« »Und ich werde, falls mein Atelier nicht zu stark beschädigt ist, ein Bild von Ihnen aufnehmen, daß alle die jämmerlichen Fotografen der drei Föderationen vor Neid in die Erde sinken.« »Bravo! Wir starten per Flugzeug in genau acht Tagen. Pilot ist Frankie Thompson. Ich habe das durchgesetzt, weil ich mir dachte, daß es Ihnen lieber ist, mit einem Bekannten zu fliegen, ganz abgesehen davon, daß seine Eindrücke nach zehn Jahren sicher sehr amüsant und aufzeichnenswert sein dürften. Schließlich nehme ich an, daß wir drei uns gut vertragen werden.« Sie lachte vergnügt und fügte hinzu: »Ich hoffe außerdem, daß Sie mir den Gefallen tun und die Aufnahmen für meine Reportage selbst machen. Erstens ist das Ihr Beruf, und Sie können das viel besser als ich, und dann denken Sie an die Ankündigung: Fotos, aufgenommen vom letzten Weißen.« William Durand versprach ihr seine Mitwirkung. Sein Gehirn war völlig leer. Als sie sich erregt und wie elektrisiert von ihren Projekten verabschiedete, küßte er ihr sehr galant die Hand, und sie stieß einen kleinen, kindlichen Schrei aus. Als er wieder allein war, dachte der Weiße an diese Hand und diesen Schrei. -222-
Eine zarte, dunkle, feste Hand. Bronze und Seide - mit langen, schlanken Fingern, die Hand einer Prinzessin, die Hand Nofretetes. Aber der Schrei, eine Art Girren, war der Schrei einer jungen Wilden, die vom Weißen in den großen Wäldern zu Zeiten der Kolonisation überrascht worden war. Er hatte in jener Nacht einen seltsamen Traum. Ein schwarzer Zauberer, mit Kaolin beschmiert und in grellbuntem Federschmuck, die Brust mit Palmblättern bedeckt, erklärte ihm, daß die Zeit nicht existiere und er am Spieß gebraten würde, wenn er sich nicht verpflichte, ohne eine Sekunde Zeit zu verlieren, eine astronomische Zahl von »Moutchatchous« zu zeugen. »Ich großer Zauberer, ich können Weiße machen zu Schwarze. Wenn du weigern, du werden gebratenes Schwein an lange Spieß.« Dann ertönte dröhnend ein Tam- Tam, und eine wunderbare Gestalt erschien, einen königlichen Schmuck auf dem Haupte, in enganliegendem, mit Hieroglyphen geschmücktem Kleid, das von einem reichgestickten Gürtel mit goldenem Skarabäus gehalten wurde - die Königin Nofretete. Sie stieß ein fürchterliches Gelächter aus und hielt dem auf der Erde liegenden William Durand einen Papyrus hin, auf dem er las: Buch der Toten. Er fuhr in die Höhe und erwachte schweißgebadet, DAS DINER IN BATIGNOLLES William Durand rekelte sich in seinem Lederklubsessel und ließ das einförmige Bild des Ozeans an sich vorüberziehen. Zwölftausend Meter unter dem Flugzeug dehnte sich die ungeheure Meeresfläche, anscheinend unbeweglich und flach wie ein riesiger Teich. Die Farbe wechselte vom Chrysolithgrün bis ins Türkisblaue. Keine Wolke am Himmel. Die dünne, schimmernde Luft schien aus Milliarden goldener Sonnenstäubchen zu bestehen. Der Weiße unterbrach seine Träumereien und warf einen Blick auf die breiten Schultern Frankie Thompsons, der vor ihm auf dem Führersitz die Instrumente überwachte. Flog er nach Europa zurück, oder hatte er es eben verlassen? Saß nicht Professor Balanche neben ihm? -223-
Diese Vorstellung war so stark, daß er eine Sekunde lang die Augen schloß. Man spürte die Geschwindigkeit des Flugzeugs in der wasserdichten, »asonoren«, mit Kork und Ebenholz getäfelten Kabine nur durch die Vibration, an die er sich nach zehn Jahren noch lebhaft erinnerte. Er warf einen schnellen Blick nach rechts, Hannah Pierce le hnte sich graziös in ihren »Club« und tippte bereits die ersten Reiseberichte auf einer winzigen Reiseschreibmaschine. Er beugte sich zu Frankie Thompson vor: »Wie lange brauchen wir noch bis Paris?« Der Pilot beförderte seinen Kaugummi in die Spuckschale, die in Reichweite mitten auf dem Instrumentenbrett angebracht war, und antwortete: »Ich denke, alles in allem etwa fünf Stunden.« William Durand dachte daran, daß sein erster Flug Frankreich - Amerika ebenso lange gedauert hatte, und plötzlich durchzuckten die Worte Gaston Balanches wie ein Blitz seine Erinnerung: »Das Schrecklichste, lieber Freund, ist, daß den farbigen Rassen vollständig das ursprünglich Schöpferische fehlt. Sie können wohl bereits Gegebenes ein bißchen vervollkommnen, aber nichts Neues hervorbringen.« Die Luftfahrt stagnierte jedenfalls seit zehn Jahren, und man hatte nicht den geringsten Eindruck, daß die Menschheit etwa auf anderen Gebieten bereichert worden wäre. Während seiner langen Abgeschlossenheit als Museumsstück hatte er sich um die Institutionen der F.S.N. wenig gekümmert. So weit er darüber urteilen konnte, basierten sie auf der kommunistischen Lehre mehr noch von Fournier als von Marx, die das Individuum in seinem Privatleben wie im Sozialen, in seinen Vergnügungen wie in seiner Arbeit wesentlich beschränkt. Sein eigenes Beispiel bewies, daß die Ungerechtigkeit dabei keineswegs vermieden wurde. Die statistische Maschinerie arbeitete auf Hochtouren, jeder einzelne wurde erfaßt und mußte sich ihr unterwerfen. Die neuen Herren der Welt sprachen trotzdem mit großer Herablassung von diesen Weißen, denen sie -224-
alles zu verdanken hatten. Er erinnerte sich der Formalitäten und Schikanen, die seiner Abreise vorangegangen waren. Das Identitätsamt der Justizbehörde von Colour City hatte seine Fingerabdrücke und Maße genommen, als ob es sich um einen Verbrecher handelte. Ja, schlimmer noch, man hatte einen Gipsabguß von ihm gemacht, eine höchst unangenehme Operation. Noch tagelang nach dem Gipsbad quälte ihn ein Juckreiz am ganzen Körper, wie wenn er von einem Mückenschwarm zerstochen worden wäre. Ferner mußte er sich von allen Seiten und in allen möglichen Stellungen fotografieren lassen (die Herrschaften brauchten zukünftig nicht mehr zu Tricks Zuflucht zu nehmen, wenn sie ihn im Adamskostüm abbilden wollten); mehrere Schallaufnahmen seiner Stimme waren gemacht worden, bei denen er Auszüge aus seiner von Hannah Pierce redigierten Autobiographie vorlesen mußte. Allen diesen Anforderungen war er widerspruchslos nachgekommen, als Preis winkte ihm ja die Freiheit. »Und nun«, hatte ihm nach all den Quälereien der Sonderdelegierte des Großen Rates, wahrscheinlich in der Absicht, ihm etwas Angenehmes zu sagen, erklärt, »nun, Herr Durand, können Sie ruhig verschwinden. Nehmen wir einmal an, Sie fallen während der Reise einem Unfall zum Opfer, dann wird Ihr nach der Natur geformtes Standbild das Museum des weißen Mannes zieren, und die Besucher können an Hand der Fotos, die man je nach Bedarf vergrößert, noch die geringsten Einzelheiten Ihres Körpers studieren. Sie werden sogar den Vorzug haben, Ihre Stimme zu hören. Auch ohne Sie wird das Museum weiterexistieren.« Seine letzten Eindrücke von der F.S.N.: auf dem Flugplatz zwei Fotografen von der Colour City Times mit einem Spezialausweis, um die Reportage von Hannah Pierce zu illustrieren (er mußte auf Wunsch lächeln, während ihm der Delegierte des Großen Rates, ein langer, melancholischer Neger mit der Miene eines Pfarrers, würdevoll ins Ohr flüsterte: »Gute Reise und gute Heimkehr! -225-
Vergessen Sie nicht, Herr Durand, daß Sie einer der Unsrigen sind«). Das Geheimnis der Abreise war vollkommen gewahrt worden: außer dem Delegierten, den beiden Fotografen und den Mechanikern, welche die letzten Vorbereitungen zum Start durchführten, war niemand auf dem Flugplatz oder in der Nähe gewesen. Und jetzt hatte das Flugzeug Amerika weit hinter sich gelassen und zog mit seinen mächtigen Propellern siegreich nach Europa. Jede Umdrehung entfernte Durand eine Kleinigkeit von den zehn Jahren seiner unmenschlichen Gefangenschaft. Am Ziel dieses Fluges in die Freiheit durch den blauen, golddurchwirkten Äther würde er endlich wieder die Heimaterde berühren. Ihm fiel neuerdings eine Unterhaltung mit Gaston Balanche ein, der ihm in den ersten Tagen ihres Exils erklärt hatte: »Wie tief im Herzen des Menschen ist doch das seltsame Wort Vaterland verwurzelt! Fatherland sagt der Engländer und Amerikaner, Heimat der Deutsche, Rodina der Russe, Patria der Italiener und Spanier, aber in allen Sprachen ist das Empfinden gleich stark. In der Fremde trauert der Eskimo um sein Iglu im Eis des Nordens, der Mongole um seine Filzjurte auf der kahlen Ebene, der Höhlenmensch um seine Felsenhöhle, der Pygmäe um seine Schilfhütte im feuchten Dunkel des Urwaldes. Das schönste Land ist immer das, in dem das Kind zum ersten Mal die Augen aufschlägt. Es ist, wie wenn ein neues Wesen die Welt entdeckt, der Zauber des Wortes Vaterland bedeutet nichts anderes, und man trennt sich nicht von ihm wie von einer ungetreuen Frau. Man liebt das blühende und mächtige Vaterland, und selbst wenn man es verleugnet, liebt man es nicht weniger. Aber vielleicht am stärksten ist unsere Liebe, wenn es unglücklich ist und am Boden liegt.« Und William Durand dachte daran, daß sein Vaterland nicht nur am Boden lag, sondern, daß es aufgehört hatte, eine lebendige Wirklichkeit auf der Erdoberfläche zu sein. Es bildete nur noch ein Stück Erinnerung -226-
mit einem berühmten Namen, wie das Reich der Inkas oder das der ersten ägyptischen Dynastie zu Memphis, dieses Frankreich, das in seinem Herzen und Geist so hell, so lieblich und frisch weiterlebte mit seinen Flüssen, seinen Wäldern, Wiesen und Feldern, seinen Weinbergen und seinen Frauen, dieses ewig uneinige und doch einzige Frankreich, leichtlebig und stark, frivol und ernsthaft, unbekümmert und träumerisch, dieses Frankreich, das man nicht verstand, weil es die allgemein verbreitete Schwerfälligkeit beleidigte, dieses Frankreich, dessen große Söhne der Menschheit so viele Entdeckungen und Erfindungen geschenkt hatten, ohne daraus Nutzen zu ziehen, weil ihr Ziel das Forschen und Erfinden, aber nicht das Geld war. O du Frankreich der Maler und Poeten, der klaren Köpfe, der närrischen Käuze, der lieblichen Gesichter, der Arbeit und des angenehmen Lebens, der Denker, des Vergnügens und der Liebe, Frankreich, in dem Marie-Jeanne und Manette geboren waren! Das Flugzeug, das den letzten Weißen und sein Geschick trug, bildete nur einen winzigen, verlorenen Punkt zwischen Himmel und Erde. Frankie Thompson, vierschrötig, seiner Kraft bewußt, kaute an einem neuen Stück Gummi. Hannah Pierce hatte ihre Maschinenschreiberei aufgesteckt und polierte sich die Nägel. Vor Reisefieber hatte William Durand die letzten beiden Nächte kein Auge geschlossen. Er schlummerte ein. Ein Schlag auf die Schulter weckte ihn auf. »Na also«, sagte Hannah Pierce, »da ist ja Ihre alte Welt!« Er zitterte und riß die Augen auf. Eine Küste zeichnete sich ab mit Buchten und Landzungen. In der Dämmerung erschien dort, wo Erde und Wasser zusammenstießen, ein dunkler pflaumenblaue r Streifen. Die Bretagne! Er fühlte sein Herz heftig schlagen. Das Flugzeug näherte sich dem Boden, und seine Geschwindigkeit verminderte sich. Der letzte Weiße starrte noch immer beklommenen Herzens und begierig hinaus und mußte sich zuweilen zurücklehnen, um -227-
Atem zu schöpfen. Hinter dem Flugzeug versank rasch das Meer. Was einmal Frankreich gewesen war, entrollte sich vor seinen Blicken wie ein großer grüner Teppich, auf dem sich hie und da wie ein glänzender Metalldraht ein Fluß schlängelte. Obgleich Erntezeit war, bemerkte man keines jener wogenden Ährenfelder, die aus dieser geheiligten Erde ein so fruchtbares, wohlhabendes Land gemacht hatten. Die noch vor zehn Jahren mit soviel Liebe und Sorgfalt bebauten Äcker lagen wieder brach. Das helle Band der Straßen war noch sichtbar und wurde nur zuweilen von dunklen Flecken unterbrochen, die den Sieg der Vegetation über das Werk des Menschen verkündeten. Eine Stadt zeigte noch das Gewirr ihrer Straßen am Zusammenfluß zweier Wasserläufe: William Durand erkannte Renes. Aber kein Rauch stieg aus den Schornsteinen der Fabriken, keine Spur menschlichen Lebens machte sich auf diesem Boden bemerkbar, der einst von einer lebhaften und fleißigen Bevölkerung bewohnt war. Ein panischer Schrecken fuhr in die Seele des Weißen. Er war der Sklaverei entflohen, aber war sie nicht immer noch besser als das Zurücksinken in eine Vergangenheit, die ihn durch ihre trostlose Leere zum Wahnsinn treiben könnte? »Halloh, Master Durand«, ertönte eine fröhliche Stimme an seiner Seite, »Sie scheinen nicht sehr glücklich zu sein, Ihr schönes Land wiederzusehen.« Hannah blickte ihn lächelnd an. Es gelang ihm, sich ebenfalls zu einem müden Lächeln aufzuschwingen. »Ja«, sagte er, »das war ein schönes Land.« »Seien Sie tapfer«, erwiderte das junge Mädchen. Er empfand, daß sie so mit ihm sprach, wie man einen Leidtragenden nach einem Begräbnis zu trösten versucht. Aber übertraf nicht seine Trauer, die Trauer um ein ganzes Volk, alle Leidensmöglichkeit? Wie sollte man da tapfer sein? »Seit zehn Jahren«, sagte er und zuckte die Achseln, »habe ich Zeit gehabt, mich an gewisse Gedanken zu gewöhnen«. -228-
Der Abend senkte sich sanft über die Erde. Das Flugzeug schien wie ein seidener Schleier durch die dünne Luft zu gleiten. Plötzlich schauerte der Weiße zusammen. Er bemerkte den dreifachen unverkennbaren Bogen eines Flusses: das war die Seine, da unten in dem rötlichen Abendnebel mußte Paris liegen. Er beugte sich zu Frankie Thompson vor und packte ihn heftig am Arm. »Wir sind da«, rief er mit rauher Stimme. Und während der Pilot den Motor drosselte, starrte William Durand auf die Stadt in ihrer tragischen Öde hinunter, die Stadt, die Jahrhunderte hindurch Hirn und Herz dieses nun erstorbenen Erdteils war. Das Flugzeug schwebte jetzt in etwa sechstausend Meter Höhe. Häuser, Paläste, Brücken, Kirchen, Türme, Kuppeln, alles schien beim ersten Anblick intakt zu sein, aber als die Nadel des Höhenmessers um die Ziffer tausend zitterte, entdeckte der Weiße ein Detail, das ihn erschütterte. Was war mit dem Eiffeltur m geschehen? Man hatte in den letzten Jahren vor der Katastrophe so oft davon gesprochen, ihn abzutragen, aber er gehörte nun mal zum Stadtbild von Paris, und so fand er immer wieder Gnade. Seine höchste Plattform existierte jetzt nicht mehr. Um etwa dreißig Meter verkürzt, endete der Turm in einem seltsamen Strauß von Eisenschienen, Bändern und Drähten. Hatte ihn der Blitz getroffen, oder hatte die Unterbrechung der Instandsetzungsarbeiten genügt, ihn zu köpfen wie ein riesiges Spielzeug, das zu lange in Benützung war? Frankie Thompson nahm das Gas weg, um zu landen. Nachdem er mehrere Spiralen beschrieben hatte wie eine Fliege, die sich auf ein Stück Zucker setzen will, berührte die Maschine den Boden, auf derselben Place de la Concorde, auf der vor etwas mehr als zehn Jahren ein ähnliches Flugzeug vor den Augen Willam Durands vom Himmel gestürzt war. Er stieg als erster aus dem Rumpf und blickte verloren um sich. Nicht, daß er seine Umgebung nicht erkannt hätte, der -229-
Obelisk bohrte noch immer seine Nadel aus Granit in den zartblauen Himmel, an dem der erste Stern glitzerte, die Pferde Marlys bäumten sich wie früher am Rand der Champs Elysees, die Statuen Marseilles, Straßburgs und anderer großer Städte thronten noch immer, unberührt vom Geschehen, auf ihren Sockeln, die Säulenreihen des Hotel Crillon und des Marineministeriums rahmten wie einst die edle Perspektive der Rue Royale ein, und da drüben rechts unterschied man wie in den längst versunkenen Tagen die Bogengänge der Rue de Rivoli. Aber zwischen den Zeit und Stürmen trotzenden Werken aus Stein, inmitten der von genialen Städtebauern geformten Flucht der Straßen hatte die hemmungslose, Natur sich ihr Recht erkämpft. Der ganze weite Platz war mit einem grünen Teppich überzogen, Teiche, in denen Frösche hüpften, spiegelten den matten Schein des Abends wider, Stechpalmen und Buchs sprengten das Gefüge der Pflastersteine. Ein wilder Johannisbeerstrauch winkte mit seinen dreilappigen Blättern am Fuße der Statue von Nantes, und ein blühender Rosenbusch kletterte über das Gitter des Obelisken. Das Kinn der Stadt Brest trug einen grauen Bart aus Moos, und in den weiten Falten der majestätischen Gestalt, die berufen war, die Hauptstadt der Gironde zu symbolisieren, zog eine Karawane von Pilzen empor, sogenannte Judasohren. »Na, finden Sie sich noch zurecht?« rief eine vertraute Stimme im Rücken William Durands. Es war Hannah Pierce. Die Worte verwehten im großen Schweigen der toten Stadt. »Ich kenne den Platz sehr gut wieder«, sagte Frankie Thompson friedlich und schob seinen Kaugummi auf die andere Seite. Ein leichter Flügelschlag ertönte. Zwei blaue Tauben, ähnlich denen, welche die Pariser Kinder jahrhundertelang mit den Krumen ihrer kleinen Milchbrote in den öffentlichen Anlagen gefüttert hatten, ließen sich auf die Einfassung einer der beiden großen Wasserbecken nieder. Sie löschten dort ihren Durst, -230-
tauchten ihren Schnabel zwischen die grünen Wasserpflanzen, und William Durand beobachtete gerührt, wie sie in der wachsenden Dämmerung die kleinen, zitternden, glänzenden Hälschen erst vorstießen und dann zurückbeugten. Es gab also noch lebendige Wesen in diesem der Menschheit verschlossenen toten Paris, mochten es auch nur ein paar armselige Tauben sein. Er war noch in seine Betrachtungen versunken, als plötzlich ein großes, dunkles Etwas vom Himmel stürzte. Federn stäubten, die beiden harmlosen Holztauben verschwanden zwischen breiten Flügelschlägen, der Raubvogel trug sie in seinen Fängen in majestätischem Flug von dannen. Ein paar dünne Blutspuren auf dem steinernen Rand des Bassins blieben als einzige Zeugen des Dramas zurück. »Ein Adler«, bemerkte Frankie Thompson mit unerschütterlichem Phlegma. »Ein farbiger Auftakt«, meinte Hannah Pierce. »Aber in zehn Minuten ist es Nacht, schlafen wir im Flugzeug, oder suche n wir uns eine Bleibe?« William Durand überwand die Bestürzung, in die ihn die blutige Szene versetzt hatte, und unterdrückte das peinliche Gefühl, das ihm die Gleichgültigkeit seiner Gefährten verursachte. Er antwortete beinahe mechanisch: »Warten Sie! Wenn mein Haus noch steht, werden Sie mir gütigst erlauben, Ihnen meine Gastfreundschaft anzubieten.« Hannah klatschte in die Hände. »Bravo! Verehrter Gastgeber, wir folgen Ihnen durch dick und dünn.« Sie wanderten durch die Rue Royale, und da es immer dunkler wurde, zündeten sie ihre elektrischen Stablampen an. Man mußte sich vorsichtig weiterbewegen, denn die Straße war teilweise zerstört. An der Ecke des Faubourg St. Honore hatte ein abgestürztes Dachsims das Trottoir aufgerissen, und Frankie Thompson, der nicht achtgegeben hatte, war fluchend der Länge -231-
nach hingeflogen. Die Madeleine-Kirche bildete in der Dunkelheit einen hohen grauen Block. Hannah wäre gern eingetreten, aber William Durand warnte sie, in dieser pechschwarzen Nacht wäre das ein gefährliches Unterfangen. Die Vorsicht gebot, die Erforschung der Stadt auf morgen zu verschieben. Hannah beugte sich der Vernunft. »Also folgen wir unserem Führer«, sagte sie lebhaft. Der Erfinder des »natürlichen Porträts« sog die Luft der Stadt ein, während er durch die Rue Tronchet wanderte. Aber er fand, daß sie nichts mehr mit der seiner Erinnerung gemein hatte. An Stelle dieser Atmosphäre von Teer, Benzol, Brennholz und Staub, der aus tausend undefinierbaren Ingredienzien zusammengesetzt war und bei Tage über dem Häusermeer schwebte, um nachts wie ein unfühlbares Bettuch herabzusinken und das Hasten der Menschen einzuhüllen, an Stelle dieses Gemischs, das namentlich für den Pariser Sommer so charakteristisch war, atmete er nun den Geruch faulender Rinde, modernden Holzes, feuchter Steine und welkender Blätter ein, den man sonst nur auf verlassenen Friedhöfen antrifft. An der Ecke der Rue de Rome und des Boulevard Haussmann drang noch ein anderer Geruch in seine Nase und kratzte ihn im Hals, der Geruch eines eben gelöschten Feuers, von verbrannten Stoffen, verkohltem Gummi und feuchter Asche. Er richtete den Strahl seiner elektrischen Lampe auf die rechte Seite des Boulevards und bemerkte nur noch geschwärzte Mauerreste, Schutthaufen und ein Trümmerfeld, in dem sic h der Lichtkegel verlor. Er konnte sich nicht erinnern, daß dieses Stadtviertel unter den Bombardements des letzten Krieges gelitten hätte. Das Feuer war augenscheinlich in Folge eines Sturmes in irgend einem Häuserkomplex ausgebrochen, ohne daß jemand da gewesen wäre, den Brand einzudämmen. Er malte sich den großartigschrecklichen Anblick dieses riesigen Scheiterhaufens aus, die gewaltigen Flammen, die gierig die Zerstörung der -232-
ihrem Schicksal überlassenen entvölkerten Stadt zu vollenden suchten. Obwohl die Nacht milde war, fröstelte ihn bei dieser Vorstellung, und er beschleunigte den Schritt. Der Weg zum Boulevard Batignolles verlief ohne weitere Zwischenfälle, wenn man davon absah, daß an der Ecke der Rue de Constantinople eine aus einem zerbrochenen Fenster herausflatternde Fledermaus in den Lichtkegel von Hannah Pierces elektrischem Stabe geriet. Aber sie war kein Feigling und stieß einen vergnügten Pfiff aus. Endlich kam die kleine Gesellschaft vor dem Atelier des »natürlichen Porträts« an. Die schwarze Marmortafel mit den fast noch sichtbaren goldenen Buchstaben hing noch immer festgeschraubt an der Hauswand. William Durand wühlte mit zitternder Hand in seiner rechten Hosentasche, in der er seit der Abreise aus Europa ängstlich seinen Schlüsselbund bewahrt hatte. Das Schloß war verrostet und leistete zunächst Widerstand, aber auf einen energischen Druck hin sprang der Riegel auf, und die Tür öffnete sich kreischend. Ein Kellergeruch schlug den Ankömmlingen entgegen. Nach zehnjähriger Abwesenheit suchte die Hand des letzten Weißen beim Eintritt in den Aufnahmeraum instinktiv nach dem elektrischem Schalter rechts neben der Tür, und er war einen Augenblick völlig überrascht, daß das Licht nicht funktionierte. Er hatte seine gewohnten Griffe während all der Jahre nicht vergessen. Mit der gleichen instinktiven Sicherheit ging er zu einem Gestell, auf dem noch unbenutzte Kerzen lagen. Er zündete ein paar an und fand, daß sich in dem Raum seit seiner Abreise nach Amerika nichts geändert hatte. Nur eine dichte graue Staubschicht bedeckte die Bar, den Spiegeltisch und die Sessel. Die sechs Bullaugen mit dem sechsfachen Objektiv erwarteten noch immer die Kunden, die nie mehr erscheinen würden. Er ging in seinen Arbeitsraum hinüber, wo inmitten von -233-
Fotogeräten, wie Entwicklerflaschen, Porzellanschalen, Plattenschachteln, Tropfgläsern, Stativen und Vergrößerungsapparaten, die Käfige für die Ratte L und das Kaninchen P, die gläsernen Täfelchen für die Präparate und der thermostatische Ofen die Erinnerung an den Aufentha lt Professor Balanches in diesen Räumen wachriefen. Der scharfe Geruch verbrauchter Luft in dem so lange verschlossenen und unbewohnten Haus würgte die Kehle, und Hannah Pierce, die dem Weißen wie ein Schatten folgte, begann zu husten. Er kam zur Tür seines Zimmers, wandte sich um und bat sie mit trockener Stimme, im Aufnahmeraum auf ihn zu warten. Ein bißchen schmollend gehorchte sie. Er trat ein und leuchtete mit seiner Stablampe rings herum. Auf den Mauern sah man noch die rechteckigen dunkleren Flecke auf der hellen Tapete, wo Jahre hindurch die Fotografien Marie-Jeannes hingen und seinen Schmerz um sie nicht zur Ruhe kommen ließen. Er hatte die Bilder entfernt, als während der ersten Bombardements des letzten Krieges sein Junggesellenheim auf dem Montparnasse zerstört worden war und er sich entschloß, Manette in seinem Zimmer in Batignolles zu empfangen. Sie lagen noch immer in der Schublade, in der er sie damals versteckt hatte. Er strich sich mit der Hand über die Stirn, sie war feucht. In diesem Zimmer, auf diesem Diwan hatte er Manette besessen. In ihren Armen hatte er die letzten Freuden genossen, die ihm die Welt noch bieten konnte. Sein Schmerz, der so viele Jahre hindurch geschlummert hatte, brach heftig wie am ersten Tage hervor. Er kam ins Atelier zurück. Frankie Thompson, in Hemdsärmeln, hatte das Schiebefenster des Glasdaches geöffnet und Durchzug gemacht. Hannah Pierce hatte die Bar von den grauen Staubflocken befreit, einen kleinen Spirituskodier aus ihrem Reisesack hervorgeholt, ihn angezündet und bemühte sich um ein Abendbrot, das nach Dörrfleisch mit Curry roch. Aus der -234-
Dampfwolke, die dem Topf auf dem Kocher entstieg, lächelte sie ihm freundlich entgegen. »In fünf Minuten, Herr Weißer, wird serviert«, sagte sie mit einer leichten Verbeugung. So erschüttert er war, ihre Liebenswürdigkeit berührte ihn doch, und er antwortete mit einem schüchternen Lächeln. Hannah verteilte nun konzentriertes Brot, Fleischklöße, gekochte Maiskolben und drei Pampelmusen. »Und glauben Sie mir, mein Herr«, fuhr sie fort und schnitt dabei ein drolliges Gesicht, »unser Diner in Batignolles ist gar nicht so verächtlich, wie Eure mißtrauische, feinschmeckerische Hoheit es befürchtet haben. Es ist natürlich so etwas wie ein Essen für Forschungsreisende, aber wir sind ja auch keine gewöhnlichen Touristen. Morgen werden wir versuchen, mit den vorhandenen natürlichen Hilfsquellen unsere Mahlzeiten zu verbessern.« William Durand bemühte sich noch immer zu lächeln. Forschungsreisender in Paris, auf dem Boulevard Batignolles! Er erinnerte sich der Abbildungen in der Erdkunde, die er als Kind besessen hatte - bärtige Männer mit Tropenhelm im Busch, das Gewehr auf die Eingeborenen anlegend, die ihre Wurfspieße schwangen, oder Kapitän Peary mit seiner Pelzmütze und vereisten Auge nbrauen und Barthaaren, wie er die Fahne der USA. auf dem vermutlichen Pol hißte. Nun erforschte man Paris, das in so wenigen Jahren den Charakter der Steppen und Eiswüsten angenommen hatte. Frankie Thompson weckte ihn aus seiner Träumerei mit einem Aufschrei. Der Flieger, der neben Hannah stand, hatte unter dem Bartisch zwei Flaschen Portwein entdeckt, die er wie Trophäen durch die Luft schwenkte. Er entkorkte die eine und stellte Gläser auf. William Durand erblaßte. Er erinnerte sich, diese Flaschen, die ein amerikanischer Neger ganz selbstverständlich als willkommene Beute betrachtete, bei Beginn des letzten Krieges für Manette gekauft zu haben. Sie liebte es, die Barmaid zu spielen, und er versetzte sie in Gedanken an Hannahs Stelle, Manette mit ihren schelmischen -235-
Augen, dem verheißungsvollen Mund und den langen, zarten Fingern. Er wandte sich ab, um das Aufsteigen der Tränen zu unterdrücken. »Wonderful! Splendid!« schrie Hannah Pierce. Sie trank auf das Wohl des Gastgebers, strahlte vor animalischer Schö nheit, charmanter Lebhaftigkeit und gesunder Kraft. Sie glaubte zweifellos, einen guten Anfang für ihre Reportage gefunden zu haben, und dieser Gedanke stimmte sie fröhlich. Der Weiße begriff, daß er mitspielen müsse. Seine Zähne knirschten, aber es gelang ihm, sich ein Grinsen abzunötigen, das man mit einigem guten Willen für ein Lächeln halten konnte.
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IN DEN STEPPEN DER STADT Um sechs Uhr morgens, schlug William Durand die Augen auf. Da die Fensterläden nicht geschlossen waren, flutete das Licht ins Zimmer, ein junges, frisches, klares Licht, glänzend wie Tau auf der Wiese. Hinter den gebleichten Vorhängen dehnte sich der milchigblaugrüne Himmel, der sich im Sommer langsam mit fortschreitendem Morgen tiefer verfärbt, bis er in den Mittagsstunden jenes strahlende Blau erreicht, das die Unendlichkeit des Äthers so sinnfällig macht. Er öffnete das Fenster. Der jungfräuliche Morgen in seiner Unberührtheit überschwemmte seine Seele mit einem unbeschreiblichen Gefühl. In vollen Zügen atmete er die leichte von einer kaum merklichen Brise bewegte Luft ein, in der kein Stäubchen schwebte. Der Wohlgeruch wildsprießender Blumen wehte ins Zimmer. Die aufgehende Sonne trank die Feuchtigkeit der Nacht und verwandelte den Modergeruch dieser toten Stadt in den Duft ihrer Gärten. Auf den Anlagen mitten in der Straße, wo einst ein Gitter den gepflegten Rasen schützte, sproßten Quecke und Distel mit rosa Blüten. Auf dem Fahrdamm streckte das Unkraut seine grüne Zunge zwischen den Pflastersteinen heraus. Die Häuser gegenüber schienen wie die zur Rechten und zur Linken nicht gelitten zu haben. In den Bäumen, auf den Rändern der Dächer zwitscherte kein Vogel, keine Taube gurrte, der Luftzug war zu schwach, um auch nur das Rascheln eines welken Blattes dem menschlichen Ohre vernehmbar zu machen. Und doch bedrückte dieses unirdische Schweigen das Herz des Weißen durchaus nicht, denn ihm schien, als müsse der riesige Körper der Stadt, der noch im Morgenschlummer lag, plötzlich erwachen und den Himmel mit seinem vielfältigen Leben erfüllen. Er verließ das Fenster, ging ins Badezimmer und wunderte sich nicht einmal, daß das Wasser aus dem Hahn der Wanne lief, -237-
obwohl der Warmwässerspender den Dienst versagte. Er hatte nur noch den einen Wunsch, allein mit seinen Erinnerungen durch die Stadt zu wandern, ungestört von der Gleichgültigkeit Frankie Thompsons oder, was noch schlimmer war, von der Neugier Hannah Pierces. Das junge Mädchen schlief in der steifen Haltung einer Grabfigur eines Sarkophags auf dem Diwan im Atelier, während der Flieger sich wie ein Igel auf dem Sofa im Wartezimmer zusammengerollt hatte. Er schien in völlige Lethargie gefallen zu sein, aus der ihn nicht einmal die Posaune des Jüngsten Gerichts erweckt hätte. William Durand schlich auf Zehenspitzen durch das Zimmer und ge langte so unbemerkt ins Freie. Paris gehörte ihm, ihm ganz allein, dem letzten Pariser, dem letzten Weißen, Paris, das eine Fata Morgana am Zauberhimmel zu sein schien. In völliger Geistesabwesenheit, die soweit ging, daß sie ihm ein physisches Unbehagen verursachte, wanderte er über das grasbewachsene Pflaster. Die überstürzten Ereignisse, die Aufregungen der Reise, die Ankunft bei eintretender Dunkelheit, die Überraschungen des ersten Eindrucks, hielten ihn wie in einem Alptraum befangen. Gegenwart und Vergangenheit waren für ihn noch nicht logisch verbunden. Aber jetzt war der Tag da, der alles in sein klares Licht tauchte, und er bemerkte mit Bestürzung, daß die Dinge, auf denen einst sein Blick ganz gewohnheitsmäßig geruht hatte und die ohne ihn weiter existierten, ihn nun zurückstießen wie einen Eindringling, der ihre Grabesruhe stören will. Er ging die Rue de Rome hinab, eine sanftabfallende Prärie, auf der hie und da zwischen den geilwuchernden Kräutern Hafer und Mohn sich im Winde wiegten. Auf den Tü ren der Häuser befand sich noch überall das drohende schwarze Kreuz und erinnerte an das grauenhafte Schicksal, das aus dieser Riesenstadt eine Pampa gemacht hatte. Als er gerade die Rue de Vienne erreichte, jagte ihn der Lärm einer wilden Galoppade in -238-
eine Hausnische. Er hatte sich noch nicht von seinem Schrecken erholt, als eine Herde von etwa zwölf Pferden an ihm vorüberraste und gegen den Bahnhof Saint-Lazare zu verschwand. An der Spitze galoppierte ein prächtiger Hengst mit schlankem Hals und langem, weißem Schweif, dessen Mähne stolz im Winde wehte, ihm zur Seite zwei schwere fuchsrote Flamen, denen gescheckte Percherons und Rotschimmel mit flachsfarbigen Mähnen folgten. Ein riesiger weißer Normanne bildete die Queue. Er verharrte noch einen Augenblick in seiner Türnische versteckt, um die Flucht der wilden Pferde zu beobachten. Als das Klappern der Hufe in der Ferne verklungen war, wandte er sich mechanisch und geistesabwesend der Place de l'Europe zu. Diese Plattform über dem Tunnel mit ihren sternförmig auseinanderlaufenden Straßen, dem Ausblick nach rechts auf das trübe Glasdach des Bahnhofs, nach links auf die Schienenschlucht, in der einst beinahe ohne Unterbrechung die Züge donnerten, hatten ihn schon in den Tagen, da Paris noch eine blühende Stadt war, mit tiefer Melancholie erfüllt. Abseits vom Wagenverkehr bildete die Place de l'Europe mitten im Lärm der Großstadt eine Art Drehscheibe, auf der gewöhnlich Stille und Einsamkeit herrschte. Die elektrischen Züge rollten unter den Schritten der wenigen Fußgänger in die Vororte, an die Küste, zu Wiesen und Wäldern. Der etwa zweihundert Meter weiter unten liegende Bahnhof war von betäubendem Lärm erfüllt. Die Place de l'Europe, unbeweglich, isoliert, den Winden offen, die aus ihren sechs Straßen über sie wegfegten, erschien ihm wie ein Leuchtturm im Sturm, ein Denkmal der Gleichgültigkeit gegen die vergebliche Hast der Menschen, undurchdringlich und schweigsam. Die Einzigartigkeit des Platzes - die Verlassenheit inmitten des Ameisenhaufens, war heute dahin. Trotzdem empfand William Durand eine seltsame Erschütterung, als er ihn wiedersah. Da unten rechts war eines der Glasdächer des -239-
Bahnhofs eingestürzt. Der Efeu rankte sich an den schief über die Geleise hängenden Gittern empor. Durand näherte sich dem linken Geländer und warf einen Blick in den Schacht. Ein Zug, der niemals mehr ausfahren würde, lag auf den Schienen, die, wie ihn, der Rost zerfraß. Das Grün verschlang das ganze Netz mit Blockzeichen und Signalmasten. Der lebendurchflutete Bahnhof Saint-Lazare rangierte nun hinter der kleinsten, abgelegensten Station eines Nebenbähnchens irgendwo auf dem Lande, an der ein Zug in längst versunkenen Tagen einmal im Monat anhielt. Der letzte Weiße biß die Zähne zusammen und floh durch die Rue de Lourdes bis zum Trinite-Platz. Unterwegs betrachtete er die Auslagen der Geschäfte, in denen hinter den verstaubten Scheiben noch die lächerlichen Abzahlungsartikel eines verschwundenen Luxus lagen. Der Anblick war überall der gleiche, die Stadt hatte im großen und ganzen ihr Aussehen bewahrt. Außer dem durch das Feuer zerstörten Viertel von Saint-Lazare erinnerten nur ein paar zusammengestürzte Häuser an die Bombardements des letzten Krieges. Der Krieg! Er war die eigentliche Ursache dieses ganzen Elends, dieser Vernichtung der Menschheit, an der sich nun die unbesiegbare Natur rächte. Er gelangte auf die großen Boulevards. Die ungestutzten Bäume wuchsen frei in einer vom Gift der Industrie nicht mehr verunreinigten Luft und schlugen nach allen Richtungen aus. Die großen Zweige lagen im Kampf mit den Häuserfronten, und überall, wo sie auf ein Fenster stießen, waren die Scheiben zertrümmert, so daß in den Geschäften, Büros, Zimmern und Lagerräumen die Zweige wie im Walde sproßten. Er betrat ein großes Cafe, dessen Drehtüre beim Öffnen quietschte. In den letzten Tagen von Paris wurden alle öffentlichen Lokale aus Furcht vor Ansteckung nicht mehr besucht. Dieses hier befand sich also im gleichen Zustand wie zu der Zeit, da die weiße Rasse noch nicht in steter Angst um ihr Weiterbestehen und -240-
ihren Genius lebte. Das Stanniol der Spiegel war zwar erblindet und an den Ecken von der Feuchtigkeit angefressen, auf dem Leder der Sofas hoben sich grüne Flecken ab, und die Decke bröckelte herunter. Aber über der Bar standen die Flasche n in einer Reihe wie Soldaten beim Exerzieren, gegen das Podium des Orchesters lehnte eine Baßgeige in ihrem Kasten, und der Saal machte den Eindruck, als ob er während der großen Ferien geschlossen worden sei und nur einer gründlichen Reinigung bedürfe, um wieder eröffnet zu werden. Er entkorkte an der Bar eine Flasche Aperitif, nahm ein Glas von der Theke, füllte es und trug es dann zu einem Tisch. Als er sich auf das Sofa setzte, seufzten die verrosteten Sprungfedern. Er trank. Der Aperitif war noch nicht verraucht, im Gegenteil, das Alter hatte sein Aroma erhöht und ihn süffiger gemacht. Der einsame Zecher schnalzte mit der Zunge, und es schien ihm, als ob er in den zehn Jahren seines Exils nichts so Angenehmes und Wohlschmeckendes getrunken habe. (Diese Farbigen hatten nicht einmal einen Gaumen!) Er setzte das Glas wieder auf den Tisch. Ein Sonnenstrahl fiel durch die verstaubten Scheiben und brachte den farbigen Saft der ausgepreßten Maulbeeren zum Leuchten. Plötzlich durchzuckte ihn eine Erinnerung wie die federnde Klinge eines Floretts. In dieses Cafe war er zu Anfang des letzten Krieges mit Manette und Antoine in der Ruhepause vor Beginn der Mikrobenoffensive gekommen. Er sah Manette vor sich, wie sie einen kleinen Löffel mit grüner und brauner Eiscreme zum Munde führte, Pistazien und Schokolade; Antoine war wie gewöhnlich paradox, nach seiner Meinung würde der Krieg zehn Jahre dauern. Manette ließ langsam das Eis im Munde zergehen, sie senkte die Lider, als ob sie sich ganz auf den Genuß konzentrieren wollte, ein kleines Lächeln bildete ein Grübchen auf ihrer linken Wange, und ihre Unterlippe bewegte sich leicht, i Der letzte Weiße schüttelte den Kopf und erhob sich, am ganzen Körper zitternd. Das Bild, das er vor sich sah, war so deutlich wie eine Halluzination. Antoine hob seine -241-
breiten Schultern und rief laut lachend wie ein vorzeitlicher Riese, bevor er sein Glas mit einem Zuge leerte: »Das Leben ist eine blöde Posse, aber ihr müßt zugeben, daß sie nette Zwischenakte hat. Wie denkt unsere Manette darüber?« Manette zuckte die Achseln und lächelte unbestimmt. Durand strich mit der Hand über seine fiebrige Stirn. Er hatte an demselben Tisch Platz genommen, an dem Manette und Antoine an jenem längst versunkenen Tag mit ihm zusammen saßen, auf demselben Sofa, nicht etwa auf einem anderen, grade als ob ihn eine dunkle Erinnerung geleitet hätte. Und nun ruhte Manette in ihrem Bett aus Kalk und war nur noch Staub unter anderem Staub, und Antoine führte bestenfalls in einer Entfernung von etwa sechsundfünfzig Millionen Kilometern inmitten der gefrorenen Sümpfe des roten Planeten ein unvorstellbares Leben. Er floh wie ein Besessener, ein Würgen in der Kehle und einen wahnsinnigen Schmerz in den Schläfen. Als er sich durch die Drehtüre zwängte, die sich hinter ihm mit melancholischem Kreischen weiter drehte, lief ihm eine riesige Ratte über die Füße. Er eilte die Boulevards entlang in der Richtung der Place de la Republique. Er wußte nicht recht, wo er hinging, aber was sollte ihn das auch kümmern? Niemand erwartete ihn in einem der leeren Häuser, die in ihrer Masse einst diese einzigartige Stadt gebildet hatten, über der heute eine Grabesstille schwebte. Er betrachtete irren Auges den unerbittlichen Triumph der Vegetation über die weiten Räume, die der Mensch ihr im Laufe von zwanzig Jahrhunderten mühsam abgerungen hatte und die nun ihre ursprüngliche Gestalt wieder annahmen. Unwetter und Orkane würden über sie hinwegbrausen, der Wind, und das Wasser das Werk des Menschen am Fundament wie am Giebel zu zerstören suchen. In hundert oder zweihundert Jahren mußte Paris einen Urwald bilden wie den von Angkor-Tom, einen Haufen grauer Steine, in denen der erstaunte Blick inmitten der -242-
Schlingpflanzen und Schilfrohre eine großartige Ruine erkennen würde. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, ein leichter Wind ließ die langen Gräser auf der Straße schwanken. Die Häuser standen einförmig leer und verlassen zu beiden Seiten des Fahrdammes. Am Rand der Giebel, an den Dachrinnen reckte sich neugierig und unerwartet irgendeine Blüte, Kapuzinerkresse oder Feuerbohnen, hervor und bildete einen kleinen, lebhaften, farbigen Klecks auf dem leuchtenden Blau des Himmels. An der Kreuzung der Boulevards Sewastopol und Saint-Denis jagte ein halbes Dutzend Hunde hinter einer läufigen Hündin her. In ihrer gierigen Hast rasten sie so dicht an William Durand vorbei, daß sie ihn streiften, aber sie nahmen nicht die geringste Notiz von ihm. Ein paar Schritte weiter funkelten aus dem Schlund der Untergrundbahn die phosphoreszierenden Augen einer schwarzen Katze, die bei seinem Näherkommen^ unter der Erde verschwand. Der Morgen zitterte in der Wärme, die gläserne Luft war von diamantenen Fäden durchwebt. Der weiße Mann ging schnell wie ein Automat seines Weges. Vor der Porte Saint-Martin blieb er stehen und trocknete sich den Schweiß von der Stirn. Mechanisch schweiften seine Blicke über die Reliefs des alten Triumphbogens. Der Sonnenkönig wird vom geflügelten Ruhm gekrönt, während er die Huldigung einer schönen Frauengestalt gnädigst entgegennimmt und über ihm eine Trompete seine glorreichen Taten der Welt verkündet. Dann wanderten seine Augen zur zerfressenen Fassade des Renaissance-Theaters hinüber mit ihren korinthischen Säulen und den Katyatiden mit den nackten, üppigen Brüsten. Millionen Menschen hatten sich hier von einem Jahrhundert zum ändern gedrängt, um ihrem Traum von Glück oder ihrem Hang zum Vergnügen Genüge zu tun. Von allem Begehren und Hasten war nur noch die unnütze Gegenwart der stummen Steine geblieben. Durand senkte den Kopf, um seinen feuchten Hals zu trocknen, da entdeckte er zu seinen Füßen einen sauberen und -243-
wie ein Kieselstein polierten Totenschädel, der ihn mit seinen leeren Augenhöhlen zu betrachten schien. In einiger Entfernung bleichten, im hohen Gras verstreut, ein paar Knochen, ein Schenkelbein, eine Hand, der zwei Finger fehlten, ein halber Brustkorb, die namenlosen Reste eines jener Unglücklichen, die in den letzten Tagen von Paris vom Coccus albus 2 auf offener Straße überfallen worden waren. Er stieß einen Seufzer aus und setzte mechanisch seinen Weg fort. Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen, als ob eine höhere Macht seine Bewegungen unterbrochen hätte. Er befand sich vor einem Kino, an dessen Eingang Plakate und verblaßte Fotografien einen großen superodorisierten Film »Die fünf Sinne« ankündigten. Er erinnerte sich, diesen Film mit Manette zusammen gesehen zu haben. Es war das letzte Mal, daß er in ihrer Gesellschaft einen ganzen Abend verbrachte, die letzte Vorstellung, die sie zusammen besucht hatten. Er trat näher und las auf einem der Plakate den Text, den sein Autor damals sicher als den Gipfel einer genialen Reklame empfand: »Was man noch nie gesehen, nie gehört, nie berührt, nie genossen, nie gerochen hat, der Triumph des total wahrnehmbaren Films.« Es handelte sich um die Darstellung der ewigen Wiederkehr eines einzelnen Menschen in allen Zeitaltern. Derselbe Mensch wurde nacheinander als genialer Maler, Dichter, Musiker, Bildhauer gezeigt, der sogar die Funktionen des Geschmacks und des Geruchs, die durch Schwelgerei und Sinnlichkeit charakterisiert wurden, zum Erhabenen veredelte: Apollo, Virgil, Michelangelo und Mozart traten ebenso in Erscheinung wie Trimalchion und Casanova. Eine kostspielige, prächtige Ausstattung und die angekündigte »Superodorisation« hatten den Erfolg des Filmes verbürgt, um dessen historische Wahrscheinlichkeit es übel bestellt war. William Durand sah sich wieder in der Loge sitzen, eine bezaubernde anette an sich ziehend, die sich mit einem gurrenden Lachen über sein stürmisches Verhalten liebenswürdig lustig machte und ihn in die Handgelenke kniff. -244-
Die »Superodorisation« des Films vermochte trotz ihres Raffinements nicht den zarten Duft der Tabakblüte zu unterdrücken, der das Lieblingsparfüm Manettes war und so wunderbar zum natürlichen Geruch ihrer blonden Haare paßte. Er trat in den dunklen Saal, richtete seine elektrische Lampe auf die Leinwand, der Lichtstrahl ließ eine völlig intakte, wie eine Eisbahn glatte, weiße Fläche erkennen. Spinnweben hingen von der Decke, aber die Stuhlreihen standen ausgerichtet wie immer, und man hatte den Eindruck, als ob die Vorstellung nach einem unvorhergesehenen und über die beabsichtigte Zeit verlängerten Zwischenakt ihren Fortgang nehmen könne. Nur der Geruch des Raumes erinnerte an einen alten Koffer, den man nach Jahren auf dem Dachboden geöffnet hat und dem das Aroma seiner verborgenen Schätze entströmt, eine Erinnerung an die Odorisation von damals. Er stützte sich auf die Lehne eines Klappsitzes, denn es wurde ihm schwindelig. Als er den Anfall überwunden hatte, eilte er ins Freie und beschleunigte seinen Schritt, als ob Gespenster, vor denen er fliehen wollte, nicht in ihm selbst, sondern hinter ihm her wären. Gleichgültig ließ er die Bilder an sich vorüberziehen, die sich seinem Auge boten, die ehemalige Place de la Republique, die jetzt mit ihrem zartgrünen Rasenteppich den Eindruck einer Rennbahn machte, die Ruinen des Boulevard du Temple, auch er zum größten Teil durch die Bombardements zerstört. Am Anfang des Boulevards Beaumarchais schlugen Türen und Fenster seit zehn Jahren im Winde, einige lagen zerbrochen auf der Straße. Unwillkürlich kam William Durand ein Satz ins Gedächtnis, den ihm seine Mutter so oft ins Ohr gerufen hatte: »Willy, man macht die Tür hinter sich zu!« Aber wo waren die Menschen, die nun die Türen des Boulevards Beaumarchais hätten schließen können? In diesem Augenblick empfand er schaudernd die Angst vor der völligen Verlassenheit und Öde, die ihn umgab. Der gräßliche Gedanke, daß kein menschliches Wesen jemals mehr aus den stummen, leeren Häusern hervortreten würde, ließ ihn -245-
nicht mehr los. Und doch, wenn ein Einziger die Katastrophe überlebt hätte? Warum hätte sich in den zehn Jahren nicht eine Familie zusammenfinden können in der Steinwüste von Paris? Warum sollte nicht noch vor der Mittagsstunde ein Paar erscheinen, das ihm zwar nicht das Glück, das er an der Seite Manettes empfunden, wieder zum Leben erwecken, ihn aber wenigstens von diesen gräßlichen Gedanken befreien würde. Als er an die Ecke der Rue du Pasdela-Mule gekommen war, richtete er mechanisch seinen Blick auf die Place des Vosges. Sein Herz begann heftig zu schlagen, er geriet in höchste Erregung - eine dunkle Gestalt tauchte unter den Arkaden der ehemaligen Place Royale auf, die einst unter Cardinal Richelieu das elegante Zentrum von Paris war, eine schwere, massige Gestalt, die mit höchst sonderbaren Bewegungen dahintrottete, aber doch immerhin eine menschliche Erscheinung, die ja nur ein Weißer sein konnte. Sein Verlangen nach einem verwandten Wesen in dieser Einöde war also nicht enttäuscht worden! Er war nicht mehr allein! Mit vor Angst trockener Kehle und fiebrigen Händen stürzte er in die Rue du Pasdela-Mule, um mit dem Landsmann zusammenzutreffen, den ihm die Vorsehung geschickt hatte. Dieser hatte ihn anscheinend nicht bemerkt, oder der Anblick eines anderen Menschen flößte ihm Furcht ein, jedenfalls verschwand er im Dunkel des Bogenganges. William Durand, beunruhigt durch sein Verschwinden, begann zu laufen. Er war kaum fünfzig Meter vom Platz entfernt, als der gewaltige Umriß des vermutlichen Weißen mitten in der Sonne auf dem grauen Pflaster wieder auftauchte. Durand blieb wie angewurzelt stehen, riß entsetzt die Augen auf und wagte nicht mehr zu atmen. Der ersehnte Mensch war ein Bär, ein brauner Bär der gewöhnlichsten Art, der friedlich auf seinen Hinterpfoten dahertrottete und die Vorderpfoten an seinem mächtigen Körper herunterbaumeln ließ. Der letzte Weiße fuhr zusammen. Das Tier hatte ihn anscheinend bemerkt, denn es -246-
reckte ihm das dreieckige Maul entgegen und bewegte den Schädel von unten nach oben, es war sichtlich überrascht. Die Bitterkeit der Enttäuschung des Menschen war noch größer als seine Furcht. Der Bär schien übrigens nicht sehr kampflustig zu sein. Er blieb ebenfalls stehen, brummte unentschlossen, kehrte um und verschwand wieder. Durand nahm dieselbe Richtung, aus der er gekommen war. Der Hoffnung, die ihn ergriffen hatte, folgte eine tiefe Niedergeschlagenheit. Langsamen Schrittes, mit starrem Blick, wanderte er zur Place de la Bastille. Es kam ihm gar nicht zum Bewußtsein, daß er hierher gegangen war, bis das grelle Licht auf dem weiten leeren Platz ihn aus seiner Apathie riß. Er zwinkerte mit den Augen und blickte wie ein Irrer um sich. Hier sproß ein Haferfeld, weiter weg gab es Klee, Buchweizen und ein paar Getreidehalme. Inmitten dieses ländlichen Bildes, das durch Kornblumen und Gänseblümchen belebt wurde, reckte die Julisäule ihren bronzenen Schaft gen Himmel. Er wanderte um das Denkmal herum und bemerkte am Ende einer grünen Matte den Lyoner Bahnhof. Ein konvulsivisches Zucken durchlief ihn. An diesen Bahnhof knüpften sich seine letzten glücklichen Erinnerungen. Von hier aus war er mit Manette nach Avallon gefahren. Er wollte sie dort bitten, seine Frau zu werden, und das Glück lachte ihn damals mit beiden Augen an. Überwältigt von seinen Erinnerungen, blieb er am Beginn der Rue de Lyon stehen. Das Bild Manettes erschien ihm noch deutlicher als vorhin im Cafe auf dem Boulevard und im Kino der »Fünf Sinne«. Seine Geliebte lächelte und sagte: »Du willst mich heiraten? Wie nett von dir!« So jagte ihn die Erinnerung an seine verlorene Liebe von einem Stadtviertel ins andere. Überall sah er Manette mit ihren hellen Augen, dem schmiegsamen Körper einer Schwertlilie, ihren Lippen, die sich ihm darboten. Wie vermochte er sich von dieser Vergangenheit zu befreien, die ihm im Herzen brannte? Würde ihm ein Dasein -247-
in dieser Stadt der Gespenster möglich sein? Er dachte plötzlich in einem Anflug von Sympathie an den wackeren Frankie Thompson, den er tief schlafend auf dem Sofa des Wartezimmers zurückgelassen hatte, an die liebenswürdige Hannah auf dem Diwan des Ateliers, die ihn so stark an die Königin Nofretete erinnerte. Dieser Mann und diese Frau waren lebendig wie er, aus Fleisch und Blut; kam es da noch auf ihre Hautfarbe an? Konnte er nicht dem schwarzen Flieger die Hand schütteln und ihre Wärme fühlen? Konnte er nicht ebenso, vorausgesetzt, daß er den ernsten Willen dazu hatte, den vollendeten Körper Hannahs an sich ziehen, diesen glatten, festen, wilden, wohlriechenden jungen Körper? Würde sie nicht in seinen Armen zittern und jauchzen vor Freude, wie eben auf der ganzen Welt nur die Lebenden zittern und jauchzen können? Die Bahnhofsuhr in Vincennes zeigte fünf Uhr, die brennende Sonne verkündete von ihrem höchsten Punkt zwölf Uhr mittags. Er eilte wie ein Narr mit langen Sätzen nach dem fernen Batignolles.
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DER NACHGELASSENE BRIEF Er bemerkte Hannah schon von weitem zwischen den Gräsern wie eine zweifarbige große Blume. Sie trug ein männliches Kostüm, Sweater und weiße Hosen, ohne Kopfbedeckung. Der helle Sonnenschein verdeutlichte den Gegensatz zwischen ihrem dunklen Gesicht und der kreideweißen Kleidung. Sie schützte die Augen mit den Händen und suchte eifrig mit ihren Blicken die Umgebung ab. Plötzlich entdeckte sie ihn, winkte lebhaft mit erhobenen Armen und eilte ihm entgegen. Sie sprang gewandt wie ein Zicklein durch die Büsche. »Wo kommen Sie denn her? Sie haben mir einen schönen Schrecken eingejagt!« rief sie schon von weitem. Sie blieb stehen, das Lächeln verschwand, sie beugte ihren geschmeidigen, jungen Körper nach vorn. Er bewunderte sie im stillen. »Na, Sie sagen ja gar nichts«, begann sie und verzog ihren reizenden Mund, »Sie böser Heimlichtuer. Ich bin um elf Uhr aufgewacht, Frankie schlief noch. Dann habe ich in Ihrer vorsintflutlichen Badewanne ein kaltes Bad genommen und unseren Piloten wachgerüttelt. Wir suchten Sie überall, aber der Vogel war ausgeflogen. Eine schöne Geschichte! Ich fürchtete schon, sie wären uns durchge gangen, und schickte Ihnen die schönsten Flüche nach. Dann überlegte ich mir, was ich Ihnen wohl getan haben könnte, um Ihnen die Berechtigung zu Ihrer Unhöflichkeit zu geben. Ich sagte mir, daß meine Reportage fünfzig Prozent an Interesse verlieren würde - versetzen Sie sich doch in meine Lage! - und dann stellte ich mir vor, daß die düsteren Gedanken Sie wieder gepackt und Sie sich wie eine kranke Katze in irgendeinem Winkel versteckt hätten und mir nicht die geringste Hoffnung bliebe, Sie je wiederzufinden. Ich war ganz niedergeschlagen, Sie können Frankie fragen. Der teilte übrigens meine -249-
Vermutungen nicht; er war ganz ruhig und meinte spöttisch, ich kenne die Männer schlecht, und als ich ihn bat, mir das näher zu erklären, gab er mir einen Nasenstüber-.« Sie fing an zu lachen, zeigte ihre weißen, wohlgeformten Zähne und zwinkerte schelmisch mit den feurigen Augen. »Jedenfalls habe ich darauf verzichtet, aus Frankie einen vernünftigen Satz herauszubringen. Er erklärte mir, das Wichtigste sei jetzt, ein ordentliches Frühstück zu richten, denn der Geruch des Essens würde Sie unweigerlich anziehen wie der Honig die Wespen. Wir durchsuchten also die Häuser in der Nähe. Wissen Sie, was wir Wunderbares gefunden haben? Fisch- und Fleischkonserven, volle Weinflaschen, Spargel in Büchsen, getrocknete Pilze in Zellophanbeuteln, sogar einen Sack Mehl, den die Mäuse noch nicht angeknabbert haben. Aber Frankie war noch immer nicht zufrieden, er wollte frisches Fleisch, also ist er jetzt auf Jagd gegangen.« Kaum war sie mit ihrer Erzählung fertig, ertönte ziemlich nahe ein Schuß. Ihr Gefährte fuhr zusammen. »Womit schießt er denn?« Hannah begann wieder zu lachen. »Richtig! Sie wissen ja, daß wir nur unsere Strahlenpistolen bei uns haben. Unmöglich, mit dieser Munition auf Wild zu schießen, die Beute wäre nur ein Haufen Staub. Frankie machte sich also auf die Suche und hat in einem Haus in der Nähe ein halbverrostetes, doppelläufiges Gewehr entdeckt, ein ,hammerless', wie er mir erklärte, denn er behauptet, sich in antiken Waffen auszukennen. Bei dem Gewehr befand sich eine Schachtel mit Patronen. Ich hab ihm geraten, vorsichtig zu sein, man kann nie wissen, was mit so einem alten Ding los ist. Er wagte einen Versuch, das Pulver war trocken, seine Schrotladung hat genau das Fenster da gegenüber getroffen, alle Scheiben sind geplatzt.« Ein zweiter Schuß kam aus der Richtung der Rue de Ronte. »Es ist vielleicht besser, wir gehen in Deckung«, meinte -250-
Hannah und schützte in lustigem Erschrecken ihr Gesicht mit beiden Händen. Sie hatte sich bei ihrem Rückzug ein wenig von dem Weißen entfernt, der sich zu einem Lächeln verpflichtet fühlte. Die liebenswürdige Schelmerei, die reizende Unbefangenheit des jungen Mädchens hatten ihn nach den Stunden der Angst und Qual eigentümlich berührt. Der Gedanke, sie an sich zu ziehen, verdrehte ihm den Kopf. Aber die Gewehrschüsse, die durch die klare Wüstenluft von Paris hallten, ließen ihn in seine düstere Stimmung zurückfallen. Wie konnte man sich damit abfinden, daß das Batignollesviertel zum Jagdgebiet geworden war? Mit einem vergnügten »hello« erschien Frankie Thompson an der Ecke der Rue de Rome. Er hatte sein Gewehr über die Schulter geworfen und zeigte triumphierend die blutigen Körper eines weißen Kaninchens und zweier Täubchen. Er erklärte im wissenschaftlichen Ton, daß das Kaninchen, das aus einem Stall ausgebrochen sei, zur ganz gewöhnlichen Rasse der Kohlhasen gehöre, und nahm von der Rückkehr William Durands mit keinem Wort Notiz. Er erklärte, er sei hungrig wie ein Schiffbrüchiger, und bat, die kulinarischen Vorbereitungen zu beschleunigen. Etwa zwei Stunden danach behauptete der unerschrockene Jäger gesättigt und schläfrig, daß in einer so heißen Jahreszeit die Mittagsruhe für das Gleichgewicht seiner Nerven eine unumgängliche Notwendigkeit darstelle. Fünf Minuten später schnarchte er schon mit offenem Munde. Der Weiße ging mit Hannah auf die Straße. »Ich hoffe, Sie werden mir jetzt Ihre Stadt zeigen«, sagte sie mit einem unwiderstehlichen Ausdruck. Sie gingen zusammen die Rue de Miromesnil hinunter. William Durand hatte einen Arm auf die Schulter des jungen Mädchens gelegt, die keinen Versuch machte, sich von ihm zu befreien. Sie schien vor Freude oder wenigstens vor Neugier gänzlich außer sich zu sein. Sie wollte sich von dem Schauspiel nichts entgehen lassen, hüpfte wie ein -251-
Vogel herum und trällerte übermütig vor sich hin. An der Ecke der Rue de la Boetie bleichten zwei eng ineinander verschlungene Skelette an der Sonne, wie wenn sie sich im Tode weiter umarmt hätten. Welche Mutter mochte wohl hier ihren Sohn gefunden haben, welche Frau ihren Mann, der, über den geliebten Kopf gebeugt, das Schicksal mit ihr geteilt hatte. Sie waren stehen geblieben, und die Hand des Weißen lag schwer auf Hannahs Schulter. In dieser Straße war kein Gras gewachsen, die Häuser hatten keinen Schaden erlitten, die beiden einsamen Gerippe, deren Liebe den Tod überdauerte, berührten in diesem völlig unversehrten Viertel besonders eigenartig. Die Stimme des jungen Mädchens unterbrach das Schweigen: »In London«, sagte sie, »habe ich auf den Straßen unzählige Tote gesehen, als ob die ganze Bevölkerung im Freien gelebt hätte. Hier sind die Leichen auf der Straße verhältnismäßig selten. Man könnte glauben, die Stadt sei zum größten Teil vor der Katastrophe evakuiert worden.« William Durand schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er, »der Franzose war häuslich, das ist alles. Jeder blieb am liebsten zu Haus.« Sie erreichten die Champs-Elysees, wo die Vegetation, sich selbst überlassen, Pflaster und Grünanlagen überschwemmt und zuweilen ein undurchdringliches Buschwerk gebildet hatte. Sie setzten sich auf eine vom Regen morsch gewordene Bank. Eine einsame Amsel flötete im Kastanienbaum, dessen dichtes Blätterdach einen meergrünen Schatten warf. Der Weiße ergriff die Hand Hannahs und streichelte sie zart. Sie ließ es geschehen, was ihn mit tiefer Befriedigung erfüllte, wie wenn er nach schwerer Krankheit wieder zum Leben erwacht sei und neue Kräfte fühle. Das Schweigen Hannahs versetzte ihn in Erstaunen. Er wandte sich zu ihr hin, sie lächelte. Er legte seinen Kopf auf ihre Schulter, sie wehrte sich nicht. Sie streichelte sogar langsam und zärtlich sein Haar und flüsterte: »Armer Willy! Armer, lieber Willy!« Sie nannte ihn Willy, wie eine Schwester oder eine Geliebte, aber es ge schah aus Mitleid. Wie -252-
kindisch, sich einzubilden, sie könne für ihn etwas anderes empfinden als Mitleid! Er richtete sich auf. Wenigstens ein Mann sein, um keinen Preis der Welt die erbärmliche Träne sehen lassen, die ihm aus den Lidern quoll. Aber Hannah fuhr mit bewegter Stimme fort: »Man kann nicht mit den Toten leben, Willy, besonders wenn es noch Lebende gibt.« Dieser Gedanke erregte ihn stark. War es nicht der gleiche, der ihn am Vormittag auf der Place de la Bastille hochgerissen und ihn veranlaßt hatte, zu Hannah zu eilen, wie zu einer Schutzgöttin? »Sie haben recht«, sagte er und drückte ihre Hand, die in der seinen ruhte. Sie betrachtete ihn mit verständnisvollen Blicken, aus denen ihre Sympathie leuchtete. »Ich weiß wohl«, fuhr sie fort, »Sie können nicht von einer Minute zur ändern gesund werden. Man muß Sie Ihren fixen Ideen entreißen. Paris ist zwar zur Wüste geworden, aber Sie wehren sich noch immer gegen den Gedanken, daß hier das Leben völlig erloschen sei. Ich sehe nur eine Möglichkeit, Sie zu überzeugen -« Er preßte ihre Hand stärker, die sie ihm nicht entzog. Voll ängstlicher Hoffnung forschte er in diesem schönen Gesicht, das ihm so nahe war, in ihren dunklen, flammenden Augen. »Hören Sie«, sagte sie in ernstem Ton und wandte sich leicht zu ihm hin, »um Ihr Biograph sein zu können, müßte ich zuerst Ihr Beichtvater werden. Als solcher stehen mir alle Rechte zu, und wenn ich jetzt die Wunde aufreiße, werden Sie mir das hoffentlich nicht zum Vorwurf machen.« »Gewiß nicht, Hannah!« Mit der Spitze ihres rotgefärbten, ovalen, scharfen Nagels schnellte sie ein schwarzes Insekt fort, das vom Kastanienbaum gefallen war und sich auf ihr Knie gesetzt hatte. -253-
»Willy«, sagte sie bedächtig, »Sie werden eine Pilgerfahrt zu Manettes Haus machen. Ich rate Ihnen sogar, ihr Zimmer aufzusuchen. Dann werden Sie begreifen, daß sie, die Sie so sehr geliebt haben, wirklich tot ist. Sie werden daraus die logische Folge ziehen und von dem Übel befreit sein, das Ihnen das Leben vergällt.« Er hob die Schulter und runzelte die Stirn. »Glauben Sie?« murmelte er seufzend. »Los, auf den Weg!« erwiderte sie. »Ich begleite Sie.« Sie machten sich in der Richtung nach Vaugirard auf den Weg, quer über die Savanne, die einstmals die Avenue Victor Emanuel war. In der Nähe der Invalidenbrücke sprang ein rötliches Tier vor ihnen davon. (War es eine Hirschkuh oder eine gewöhnliche Ziege?) Sie ließen den Eiffelturm mit seiner zerfetzten Spitze rechts liegen und drangen beim Invalidendom, von dessen Kuppel das Gold längst abgeblättert war, mitten ins alte Grenelleviertel ein. Hier mußten sie mehrere Umwege machen, weil sich auf den zerstörten Straßen Sümpfe gebildet hatten, über denen Schwärme von Mücken summten. An der Ecke des Boulevard Pasteur und der Rue de Vaugirard blieb William Durand stehen. Hannah betrachtete die stumme Masse der zerfressenen Häuser rings umher, die Steinblöcke, an denen Moos und Flechten wie Verschworene gemeinsam emporkletterten, und das Doppelgeleise der Untergrundbahn, das hier verrostet wie ein alter Schlüssel schnurgerade zwischen dem Geländer in die Tiefe führte. »Ist es hier?« fragte sie mit halber Stimme und berührte den Arm des Weißen. Er verneinte mit einer Kopfbewegung und schien sich von dem Anblick einer kleinen Bar an der Ecke der Straße, in der es einst auch Tabak zu kaufen gab, nicht trennen zu können. In dieser kleinen Bar, an der so gar nichts Besonderes war, hatte er gewöhnlich auf Manette gewartet, wenn sie zusammen -254-
ausgingen. Er kam immer als erster und erwartete sie mit herzlicher Ungeduld bei einem Glas Bier. Endlich erschien sie lächelnd, parfümiert, leichten Schrittes und gut gelaunt. Er streichelte ihre zärtlichen nach Mandelmilch duftenden Hände. Bei ihrem Begrüßungskuß wurden sie manchmal vom Kellner überrascht, einem dicken, gutmütigen Kerl, der so tat, als ob er sein Gesicht hinter der Serviette verstecke und mit einem Augenzwinkern »Ich habe nichts gesehen!« flüsterte. Manette tauchte ihren Blick in den des Geliebten, und ihre Augen leuchteten leidenschaftlich. Jetzt war alles nur noch Erinnerung für William Durand. In Gedanken versunken stand er am Rand des Trottoirs und zertrat einen Grasbüschel. Hannah legte ihm die Hand auf die Schulter, und sie wanderten weiter. Hier, im Vaugirardviertel, drohten viele der alten fleckigen Häuser einzustürzen, und Brennesseln sproßten aus den zerborstenen Mauern. Endlich blieb der letzte Weiße stehen, und Hannah erriet aus der Art, wie sich sein Gesicht verkrampfte, daß sie am Ziel waren. William Durand bedeckte die Augen, aber dies geschah weniger, um sich vor dem grellen Tageslicht zu schützen, als aus Furcht, den Anblick des Hauses nicht ertragen zu können, in dem ihm die letzte Prüfung bevorstand. Das schwarze Kreuz war noch immer auf der Haustüre sichtbar. Hannah näherte sich der Liste, auf der die Namen der von der Krankheit befallenen Bewohner des Hauses zur Zeit der Pest standen, aber sie konnte keinen einzigen entziffern, Sonne und Regen hatten alle ausgelöscht. Sie berührte sanft den Arm des Wallfahrers. »Mut«, sagte sie, »ich erwarte Sie hier. Nehmen Sie sich fest vor, geheilt zu werden. Ich höre inzwischen, um mir die Zeit nicht zu lang werden zu lassen, ein bißchen den Sender von Colour City ab.«. Sie holte aus der weißen Tasche, die an einem Riemen über ihrer Schulter hing, ein winziges Rundfunkgerät hervor und setzte es aufs Trottoir. William Durand zögerte noch, die Schwelle des Hauses zu -255-
überschreiten, zu dem er Manette so oft bei Nacht begleitet hatte. Wie waren diese Nächte damals berauschend, selbst im strengsten Winter, wenn am unendlichen Himmel die Sterne vor Kälte zu zittern schienen. Er konnte sich nie entschließen, von seiner Freundin Abschied zu nehmen; sie umarmten sich innigst, trennten sich und stürzten sich wieder in die Arme, Aber schließlich mußte man doch nach Hause gehen: er lief buchstäblich davon und nahm den Duft ihrer Kleider, ihrer Haut, ihrer Haare mit sich, diesen starken, charakteristischen Duft der Tabakblüte. Zwanzig Meter vom Haus blieb er stehen, Manette winkte ihm noch einmal aus dem Schatten, das Schloß knackte, und die schwere Tür fiel hinter ihr zu. Leise tönte die Musik aus dem kleinen Apparat von Hannah Pierce. Er stieß das Tor auf und trat in das Haus ein. Es war ein ziemlich altes Gebäude, und er stieg mit wachsendem Herzklopfen die dunkle Treppe hinauf. »Dritter Stock links, Carlier«; er hatte diese furchtbare Inschrift nie vergessen. Auf dem ersten Stock blieb er stehen, das Herz schlug ihm bis zum Hals, und er stützte sich auf das Geländer. Er fürchtete sich, die Wohnung wiederzusehen, in der Manette gelebt hatte, und empfand es wie etwas Verbotenes, wie eine Grabschändung; es schien ihm, als ob ein unsichtbarer Geist ihn an seinem Vorhaben hindern wolle. Dicke Schweißtropfen perlten ihm von den Schläfen. Er trocknete sie und stieg in den zweiten Stock. Dort machte er wieder halt und preßte die Hand gegen die Brust, als ob er das unregelmäßige Pochen seines Herzens aufzuhalten suchte. An einer der Türen verkündete ein emailliertes Schild: »Gedeon. Kunstphotograph.« Er erinnerte sich, daß Manette ihm von diesem bescheidenen Berufsgenossen erzählt hatte, dessen Spezialität farbige Ansichtskarten für Fest- und Geburtstage waren und der seiner hübschen Nachbarin einmal vorgeschlagen hatte, ihm als Modell zu dienen. »Nein, Willy, kannst du dir das vorstellen, ich mit blödem Lächeln in den Armen irgendeines pomadisierten Laffen?« Wie begehrenswert und vergnügt war -256-
Manette an jenem Tage! Aber was mochte aus dem armen Gedeon geworden sein? Und aus dem anderen Fotografen, dem sonderbaren Anatole Pinche, der seine Sidonie-Potiphar so großzügig seinen Angestellten in die Arme warf? Zwanzig Stufen noch, und er hatte den Gang im dritten Stock erreicht. Er stolperte über eine Fußmatte und schlug mit dem Kopf gegen eine Tür, die nachgab. Es war der Eingang links, der Eingang zu Manettes Wohnung. Er blieb einen Augenblick auf der Schwelle stehen, unbeweglich und gelähmt vor innerer Erregung. Die Tür mußte vor zehn Jahren von den letzten Besuchern, den Leichenträgern, schlecht verschlossen worden sein. Er stieß sie hinter sich zu. In der dumpfigen Luft des seither ungelüfteten Raumes suchte er vergeblich jenen unvergeßlichen Duft. Er stand in einem kleinen Vorraum, auf den vier Türen mündeten. Eine von ihnen war offen. Er trat ein und befand sich in Manettes Speisezimmer. Das Büfett, der Tisch, die Rohrstühle, alles ohne Stil. An den Wänden Jagdszenen hinter Glas, ein Diplom der Rettungsmedaille, die Ansicht des Mont Samt-Michel - alle Dinge bezeugten ein Durchschnitts-Dasein, mit dem sich die Bewohner abgefunden hatten. William Durand suchte in dieser unpersönlichen Umgebung nach einem Gegenstand, nach irgend etwas, das ihn an Manette erinnern könnte, er entdeckte nichts. Er trat in den nächsten Raum, der , zweifellos das Zimmer der Frau Carlier, der Ankleiderin in der Oper, gewesen war. Auf dem Kamin zeigte eine Fotografie eine ältere, lächelnde Dame inmitten einer Schar Tänzerinnen im Ballettröckchen. Eine andere Aufnahme stellte ein zwölf Jahre altes blondes, graziöses Kind dar, dessen Lächeln mit halbgeschlossenen Augen und dessen ausgeprägter Mund, der dem Gesicht einen gewissen überlegenen Ausdruck verlieh, unverkennbar auf Manette schließen ließ. Er betrachtete lange und gerührt das verblaßte Bild. Über die Jahre des Werdens und Vergehens hinaus weissagte dieses erstarrte, an einem flüchtigen Tage festgehaltene Lächeln des kleinen -257-
Mädchens noch immer das, was sein würde und nun längst nicht mehr war. In dem Spiegel über dem Kamin erblickte er sein eigenes blasses, verzerrtes Gesicht. Ein Seufzer entrang sich seiner Brust. Plötzlich ließ ihn der Ton einer menschlichen Stimme, einer ziemlich lauten Stimme, hochfahren. Er stürzte ans Fenster, stieß die Läden auf und beugte sich hinaus absurde Hoffnung! Hannah drehte da unten auf dem Trottoir an ihrem Radioapparat. Er kehrte zum Kamin zurück und steckte das Kinderbild Manettes zu sich. Ein Zimmer war noch übrig. Er öffnete zitternd die Tür, die Kehle schnürte sich ihm zu, denn hier war Manette in allem, sogar in der Luft, im ungemachten Bett, dessen Decke zurückgeschlagen war, als ob sie, die jede Nacht hier ruhte, eben erst aufgestanden sei; sie war in dem Sommerkleid aus feuerrotem Crepe de Chine, das er noch so lebhaft in Erinnerung hatte und das nun über dem Stuhl lag; sie war in allem, was auf dem Toilettetisch stand, in den Flakons, den Cremes, den Kämmen, dem Maniküretui, einem Geschenk zum ersten Jahrestag ihrer Liebe, sie war überall, lebhaft, sorglos, so eben, wie er sie geliebt hatte und wie sie auf den zahlreichen Fotos an den vier Wänden zu sehen war, allein oder inmitten ihrer Kolleginnen vom Ballettkorps, deren Namen unter der Widmung standen. Ihm fiel ein, daß er mehrere dieser Aufnahmen selbst gemacht hatte, zum Beispiel die letzte: Manette auf der kleinen verwitterten Steinbrücke im Tal von Cousin während der Re ise nach Avalion. Sie trug damals das hellgraue Kleid, das vorne mit großen Metallknöpfen geschlossen war, die ihren Geliebten in trunkene Ungeduld versetzten. Wie lächelte sie ihn unter ihrer kleinen Kappe bezaubernd an! Sie waren ganz allein unterwegs. Während er sie aufnahm, vereinte sich das Murmeln der Espe über seinem Haupt mit dem Rauschen des Baches zu einem fröhlichen Zwiegesang. Das Bild stand so deutlich vor seinem Geist, die Erinnerung war so stark, daß er sich nicht mehr halten konnte. Er warf sich -258-
auf das Bett und brach in Tränen aus. Welch seltsamer Einfall von Hannah Pierce, an eine Heilung durch das Übel zu glauben, wenn ihn der Schmerz heftiger denn je packte! Er preßte sein Gesicht in die Kissen, die das letzte Lebenszeichen Manettes empfa ngen hatten, und grub seine Zähne wie ein Wahnsinniger in das Linnen. Nachdem er sich minutenlang der völligen Verzweiflung überlassen hatte, raffte er sich auf und machte verstörten Gesichtes ein paar Schritte. Es schien ihm, als ob all die Manettes an den Wanden ihm zulächelten, ihm zuwinkten. Er setzte sich an den Toilettentisch, vor dem so oft Manette gesessen war. Der verstaubte Spiegel zeigte ihm das Bild eines Mannes von fünfundvierzig Jahren mit eingefallenen Augen, dessen Lippen nervös zuckten. Er nahm ein Flakon und öffnete es. Der Inhalt war verraucht, aber ein bräunlicher Satz bedeckte den Boden, dem schwach der köstliche Duft der Tabakblüte entströmte. Er setzte die Flasche nieder, schloß die Augen und vergrub sein Gesicht in den Händen. Der wunderbare Geruch rief ihm die Gegenwart Manettes so lebhaft ins Gedächtnis, daß er ihren warmen Atem und die Zartheit ihrer Haut zu spüren vermeinte. Ein Schauer überlief ihn, und die Vorstellung war so stark, daß er ohnmächtig zu werden glaubte. Da fiel sein Blick auf einen Kamm, in dessen Zähnen noch ein paar blonde Haare hingen. Er seufzte und preßte seine Nägel in die Handballen. Warum mußte er sich so quälen, und was suchte er im Zimmer einer Toten? Als er sich erhob, um zu fliehen, blieb er mit dem Knopfloch seines Anzuges am Schlüssel einer Schublade hängen. Er befreite sich und zog die Lade heraus; zwischen einem Füllhalter und einer Puderschachtel entdeckte er einen Brief mit der Aufschrift: »Herrn William Durand.« Er erkannte Manettes runde, sinnliche Handschrift. Das Herz schlug ihm lebhafter, ja, so heftig, daß er schwindlig wurde und sich setzen mußte. -259-
Er drehte den Brief zwischen seinen Fingern, ohne den Mut zu haben, ihn zu öffnen. Was er auch immer enthalten mochte, würde nicht die Nachricht seinem Schmerz neue Nahrung geben? Der Umschlag war nicht verschlossen, zitternd entfaltete er das Papier und las: »Mein kleiner Willy, vielleicht wirst Du diesen Brief niemals lesen. Wir beide sind morgen womöglich schon tot, und wer weiß, ob das nicht das beste für uns wäre. Aber für den Fall, daß wir doch noch dieser weißen Pest entkommen sollten, schulde ich Dir eine Erklärung. Hier ist sie. Zunächst möchte ich Dir noch sagen, daß im Augenblick, in dem ich Dir schreibe, Mama in den letzten Zügen liegt. Ich höre in meinem Zimmer ihr Röcheln, ihr schmerzhaftes Husten. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß sie die kommende Nacht nicht überleben wird, und ihr Verlust verursacht mir großen Kummer. Und nun, versteh mich recht, sowie sie die Erde verlassen hat, werde ich sie auch verlassen, wenn auch mein Abschied ein anderer sein wird. Willy, ich bitte Dich, nimm die Dinge nicht zu tragisch, versuche ein bißchen vernünftig zu sein. Ich verdanke Dir sehr schöne Stunden, das werde ich nie vergessen. Ich habe Dich geliebt, und Du bleibst mir wert und teuer, aber - warum soll ich es nicht gestehen? - Du hast Deine Chance bei mir verpaßt. Erinnerst Du Dich des Tages, an dem ich Dir erzählte, daß man um meine Hand angehalten habe? Ich versichere Dir, daß der Freier an diesem Tage sehr ungnädig empfangen wurde. Ich liebte Dich, und kein anderer Mann fand vor meinen Augen Gnade. Ich war aufrichtig, als ich Dir das sagte. Aber - aber der Liebhaber erneuerte seinen Antrag, er wies darauf hin, daß ich für Dich nur eine Quelle des Vergnügens, eine bequeme Unterhaltung sei, daß er aber bereit wäre, mir seinen Namen zu geben und mir sein Leben zu weihen. Ich habe lange überlegt es ist nicht gut, Willy, wenn ein Mann eine Frau zwingt, nachzudenken, namentlich, wenn sie das nicht ge wöhnt ist. Dann kam die Reise nach Avallon, und ich habe mich Dir -260-
vielleicht nie so nahe gefühlt wie während dieser drei Tage. Wenn Du mich damals gefragt hättest, ob ich Deine Frau werden wolle, ich hätte mit Begeisterung zugesagt! Aber Du bewahrtest Deine Zurückhaltung. Dann brach der Krieg aus, meine Mutter wurde von Tag zu Tag kränker, ich hatte das Bedürfnis, mich auf jemanden zu stützen, dessen ich sicher sein konnte. Der andere drängte mich immer stärker, er mißfiel mir nicht, und da ich von Dir nichts mehr zu erhoffen hatte - Hättest Du Dich damals entschlossen, Willy, wärest Du zu spät gekommen. Ich hatte mich entschieden, ich hatte mein Wort gegeben und konnte nicht mehr zurück. Ich habe trotzdem gezögert, Dir meinen Entschluß mitzuteilen, denn Dein Antrag, obwohl er viel zu spät kam, berührte mich stark. Außerdem nahm Dich Deine Tätigkeit bei Professor Balanche immer mehr in Anspruch. Ich brauche Dich nicht daran zu erinnern, daß wir uns seit vierzehn Tagen nicht gesehen haben. Ich hoffe, Du wirst mich verstehen, mein armer Freund. Meine Mutter wird morgen nicht mehr sein, und übermorgen, wenn nichts dazwischen kommt, besteht alle Aussicht, daß ich im Sternenflugzeug des Ingenieurs Drelin auf dem Wege zum Planeten Mars bin. Genügt das? Ja, es ist Dein Freund Antoine, der um meine Hand angehalten hat. Er hatte Dich verständigt, bevor er sich mir erklärte; Du hast ihm nicht widersprochen. Er hatte Dich nach Deinen Absichten in bezug auf mich gefragt, und auf Grund Deiner Haltung entschloß er sich, um mich zu werben. Muß ich hinzufügen, daß ich ihn heute nicht mehr abweisen kann? Du hast es nicht verstanden, Willy, mich an Dich zu binden, verlange nicht von mir, ich solle Gewissensbisse haben. Möglich, daß Du mich zu hoch eingeschätzt hast. Ich glaube, dieser Fehler liegt in Deiner Natur. Ich habe Dir nicht verhehlt, daß Du nicht der erste warst. Aber Du wolltest -261-
durchaus eine Lichterscheinung, eine Heilige in mir sehen - eine sinnliche natürlich, das Gegenteil wäre nicht nach Deinem Geschmack gewesen - die Frau. Aber solche Frauen existieren nur in der Einbildung von Männern Deiner Art, Willy. Auf alle Fälle hättest Du mich stärker an Dich fesseln sollen, wenn Du mich so einschätzest, Du hättest mich heiraten müssen. Du hast es nicht getan, also beklage Dich nicht. Vielleicht hast Du übrigens recht gehabt, es nicht zu tun. Ich weiß nicht, ob ich die richtige Frau bin, die man heiratet, wenn man ein ruhiges, bescheidenes Leben führen will. Ich bin nun mal keine Heilige. Ich liebe das Leben und seine Freuden, von wo sie auch kommen. Ich liebe es, die Gelegenheit beim Schopf zu packen, ich schätze Zärtlichkeiten und widerstehe ihnen schwer. Wenn ich in den Augen eines Mannes diesen gewissen Schimmer bemerke und mir der Mann gefällt, kann ich nicht garantieren, daß ich die nötige Kraft besitze, der Versuchung zu widerstehen. Wenn ich auch nicht leichtsinnig bin, so bin ich doch eine schwache Frau... Sei auf Antoine nicht böse; ich bin die Hauptschuldige, wenn man überhaupt von Schuld sprechen kann, ich hätte mich bei seinen ersten Annäherungsversuchen aufs hohe Pferd setzen müssen. Aber das Rad dreht sich immer weiter, und Du brauchst Deinen Freund nicht zu beneiden, der Ingenieur Drelin, ein schöner Mann, fängt an, mich mit verliebten Augen zu betrachten. Also, ohne Bitterkeit? Adieu, Willy. Manette.« Der letzte Weiße ließ das Blatt sinken, das verkehrt unter das verstaubte Bett fiel. Es geht mit den großen seelischen Erschütterungen wie mit einer schweren Verwundung, sie wirken wie ein Schock, aber verursachen im ersten Augenblick keinen Schmerz. Das Bewußtsein ist ausgeschaltet, sozusagen betäubt von der Heftigkeit der Erschütterung, und man vermag nicht zu entscheiden, ob das Schmerzempfinden wirklich ist -262-
oder nur in der Einbildung existiert. So war William Durand durch die Entdeckung der Untreue und Würdelosigkeit Manettes völlig zusammengebrochen und empfand in seinem Inneren eine ungeheure Leere, sein Zeitgefühl war völlig erloschen. Er betrachtete nacheinander die Bilder Manettes an den Wänden, den Kamm mit den blonden Haaren, das rote Kleid, das über dem Stuhl hing, das ungemachte Bett, aber er vermochte diese Dinge und den Brief, der da zu seinen Füßen lag, in keinen Zusammenhang zu bringen. Nach und nach kam er wieder zum Bewußtsein, und die Ereignisse begannen sich in seiner Erinnerung zu ordnen und zu verflechten. Er hörte sich Antoine fragen, wer denn der vierte Passagier des Sternenflugzeuges wäre, und Antoine grunzte unter seinem verchromten Taucheranzug irgendeine unverständliche Antwort. Und wieder war es Antoine, der ihm einige Stunden später, als er den Tod Manettes erfahren hatte, vorschlug, an der interplanetaren Expedition teilzunehmen. Wie abscheulich diese Vorstellung! Durand erinnerte sich auch der fühlbaren Kälte seiner Geliebten in der letzten Zeit: wie klar ihm mit einem Male alles wurde! Zehn Jahre lang hatte er dem Kult einer Frau gelebt, die ihn leichten Herzens betrogen hatte. Er hatte eine Kokette, die nicht imstande war, einem Mann, »der sie mit einem gewissen Schimmer in den Augen ansah«, zu widerstehen, für seine leidenschaftliche Geliebte gehalten. Weil er sie so sehr liebte und in seiner Liebe glücklich war, hatte er geglaubt, daß sie ihm Gleiches mit Gleichem vergelten würde! Nun, Manette beichtete rückhaltlos: sie liebte das Leben und seine Vergnügungen, woher sie auch kamen. William Durand oder ein anderer, das war für sie gleichgültig. Das Rad dreht sich, wie sie in ihrem Zynismus bemerkte. Und Antoine, der einzige Jugendfreund, den er besaß, scheute sich nicht, aus dem allgeme inen Elend Nutzen zu ziehen und ihm sein kostbarstes Gut zu rauben! - Er erhob sich und mußte sich, wie bei seinem Eintritt in dieses Zimmer, in einem Anfall von -263-
Schwäche am Toilettentisch halten, um nicht umzusinken. Mechanisch griff er an seine Brust und zog aus seinem Anzug eine kleine Metallröhre, deren Berührung ihm einen Namen und ein Gesicht ins Bewußtsein rief: diese Röhre, die er zehn Jahre lang ängstlich gehütet hatte, enthielt eine Glasampulle mit Schierlingsgift, das Vermächtnis Gaston Balanches. Glücklicher Professor! Wenn auch die Frau, die er geliebt hatte, gestorben war, bevor sie ihm angehörte, so hatte sie ihn doch wenigstens nicht betrogen. Genevieve Eme riau war eine von den Frauen, die ihr Herz nur einmal vergeben. Das Zimmer Manettes, dieses Zimmer, das William Durand voll schmerzlicher Zärtlichkeit betreten hatte, erschien ihm nun fremder, kälter und feindseliger als sein Zimmer im Museum der fernen Colour City. Er ging schaudernd hinaus, ohne sich umzukehren, stampfte die Treppe hinunter und stand völlig geblendet, mit zugekniffenen Augen wie ein Nachtvogel im hellen Sonnenschein auf der Straße. Am Rand des Trottoirs lauschte Hannah Pierce einer Sendung in englischer Sprache, die aus ihrem kleinen Apparat tönte. Sie schien ganz vertieft zu sein, und als der Weiße. zurückkam, murmelte sie: »Das ist ja entsetzlich, hören Sie nur!« Hannahs Existenz war ihm völlig entfallen. Er wandelte wie in einer Welt von Watte, in der ihn die Auslassungen des gelb schwarzen Rundfunks nicht erreichten. Aber sein Ohr registrierte mechanisch die gutturalen Töne und Satzfetzen, und gegen seinen Willen vernahm er schließlich folgende Erklärung: »Unter diesen Umständen mußte der Große Rat annehmen, daß die F.U.A. ihrerseits absichtlich eine feindselige Einstellung der F.S.N. gegenüber einnähme. Die F.S.N. ist nicht der Meinung, daß der Oberste Rat der Vereinten Föderationen sich mit diesem Fall zu befassen habe. Sie erklärt lediglich, daß sie entschlossen ist, vom heutigen Tage an alle diplomatischen und Handelsbeziehungen, sowie jeden Güteraustausch und sonstigen Verkehr mit der F.U.A, ganz allgemein abzubrechen. Diese -264-
Entscheidung schließt anderweitige, energischere Maßnahmen keineswegs aus, die im Falle einer neuerlichen Verletzung ihrer Rechte, ihrer Unabhängigkeit und Interessensphäre die F.S.N. zu ergreifen willens ist. Ihre offenen und versteckten Feinde mögen dies zur Kenntnis nehmen. Jeder Bürger der F.S.N., welcher Hautfarbe er auch immer sei, ist bereit, sich den Erfordernissen der Stunde zu unterwerfen.« Eine kriegerische Musik mit Trommeln und Trompeten folgte dieser Erklärung. Hannah Pierce stellte den Apparat ab. Unbestimmte Erinnerungen stiegen wie Seifenblasen aus dem erregten Bewußtsein des letzten Weißen. Nicht zum ersten Male hörte er diese Art vo n Phrasen, mit denen die Staatschefs gewöhnlich ihre Völker aufhetzten. Er murmelte wie im Traum: »Was soll das heißen?« Und die klare, aber erregte Stimme des Mädchens antwortete: »Das soll heißen, daß die F.S.N. einen Schiedsspruch ablehnt.« »Das merke ich«, antwortete Durand unbeteiligt. »Alle Torheiten sind möglich«, fuhr Hannah hartnäckig fort, »und was wird dann aus unserer Zivilisation?« »Was ist denn eigentlich geschehen?« fragte der Weiße. Er stand noch immer im Banne eines dunklen Alpdrucks, und selbst die Ankündigung des Weltunterganges wäre ihm nur als eine höchst unwichtige Episode erschienen. Hannah Pierce unterrichtete ihn trotzdem über das, was sie gehört hatte. Im Verlauf eines Empfangs zu Ehren der vom Rat Samory geführten Mission hatte dieser wohl unter dem Einfluß des Alkohols vor mehreren Mitgliedern des Großen Rates die Bemerkung fallen lassen, daß die bastardartige Zusammensetzung der F.S.N. gegen jede Vernunft gehe und daß der Augenblick gekommen sei, diesem Zustand ein Ende zu setzen. Er behauptete, als offizieller Vertreter der F.U.A. zu sprechen, und erklärte» daß die Welt in zwei gleichartige Föderationen aufgeteilt werden müsse, in die der Schwarzen und die der Gelben, und daß jede Föderation nur aus Angehörigen -265-
derselben Farbe bestehen solle. Daher sei dieses künstliche Gebilde aus zwei Rassen, die F.S.N., reif zum Verschwinden. Der Unwille in Colour City erreichte seinen Höhepunkt, als Rat Samory mit zufriedener Miene, die seine Ansicht noch herausfordernder erscheinen ließ, erklärte, daß gewichtige Persönlichkeiten der U.Y.P. seinen Standpunkt teilten. »Die F.S.N. wird jeder Verschwörung zu begegnen wissen«, hatte der Präsident des Großen Rates erklärt. Am selben Tage wurde der Rat Samory ersucht, mit dem gesamten diplomatischen Personal der F.U.A. das Bundesterritorium zu verlassen. Hannah schwieg einen Augenblick und fuhr dann mit zitternder Stimme fort: »Es ist doch unmöglich, daß in einer Zeit wie der unsrigen, zehn Jahre nach dem Untergang der weißen Rasse, vernunftbegabte Wesen kaltlächelnd einen neuen Krieg ins Auge fassen.« Der letzte Weiße zuckte langsam die Achseln. Er schien seine Verzweiflung überwunden zu haben. Sein gesunder Verstand hatte wieder die Oberhand gewonnen, mit eisiger Klarheit beurteilte er die unfruchtbaren Debatten der Menschen. Das Glück war nur ein sinnloses, leeres Wort. Manette hatte es besudelt, und was sollte er von Antoine sagen? Die Wissenschaft, auf die die Weißen so stolz waren, hatte zu ihrem Untergang geführt; die Schwarzen und Gelben machten als gelehrige Schüler den Wahnsinn nach. Geist und Gemüt waren längst verschwundene Begriffe. Die Menschheit, überaltert und erschöpft von ihrem jahrtausendelangen Dasein, ging ihrer völligen Vernichtung entgegen und berauschte sich blind an ihren ersten Anzeichen wie an einem Liebestrank, der erst die höchsten Wonnen gewährt und dann tötet. »Willy«, rief Hannah Pierce und packte ihn nervös am Arm, »glauben Sie wirklich, daß der Krieg unvermeidlich ist?« Er erinnerte sich Pepin Deniaus, wie er auf die gleiche Frage Antwort gab; wie lange war das schon her! Er schüttelte leise -266-
den Kopf. »Wenn die Kriege vermeidbar wären, wie soll man dann verstehen, daß man sie nie vermieden hat?« »Entsetzlich«, sagte sie, »jedenfalls kann Frankie allein zurückfliegen, wenn der Krieg ausbricht. Ich werde nie mehr nach Colour City zurückkehren.« Ein unerklärliches Lächeln huschte über das Gesicht des Weißen. Er betastete die Metallhülse mit der Giftampulle in seiner Tasche und dachte daran, daß er nicht mehr die Entschlußkraft haben würde, zum Grabe Genevieve Emeriaus zu gehen, um dort Trost zu finden. Wozu auch, da dem Ende des letzten Weißen so bald das Ende des letzten Menschen folgen würde? Hannah ergriff seine Hand. »Willy«, sagte sie, »glauben Sie nicht, daß wir hier zusammen leben könnten?« Starren Blicks und völlig ausdruckslos schüttelte er schweigend den Kopf. Hannah war jung und schön. In ihrem Alter glaubt man an die Zukunft, die Liebe, die Aufrichtigkeit des Herzens, an die Brüderlichkeit aller Menschen. Mit zwanzig Jahren auf etwas zu warten, bedeutet kein langsames Absterben, sondern Hoffen. Arme Hannah! Sie war schwarz, aber ihr Geist so frei und offen, ihre Seele weißer als die vieler dieser tierischen Europäer, die er gekannt hatte. Sie glaubte, glücklich sein zu können! Er empfand ein überquellendes Mitleid mit ihr, das Mitleid eines Menschen, der über jedes Maß um ein Wesen gelitten hatte und dem es vorbehalten blieb, den Kelch des Leidens bis zur Neige zu leeren. »Sie sind noch nicht geheilt«, begann sie von ne uem, »aber Sie werden gesund werden. Haben Sie denn gar kein Vertrauen zu mir, Sie schlechter Mensch?« Gott! Um wie viel lieber wäre er einer weniger verführerischen Frau gegenübergestanden! Hannah verdiente besseres als eine brutale Absage. Er dachte an den ehrenwerten Herrn Hakashu Yosano, der ihn mit irgendwelchen hellfarbigen Weibern verkuppeln -267-
wollte, um mit ihm eine neue »annähernd weiße Rasse« zu zeugen. Ein herrlicher Gedanke! Bei Hannah, die rein afrikanischer Abstammung ohne Rassenmischung war, bestand nicht die geringste Hoffnung auf die »annähernd weiße« Nachkommenschaft. Sie sah ihn erwartungsvoll an. »Willy«, sagte sie schmollend, »Ihr Schweigen ist nicht sehr ermutigend.« »Liebe Hannah«, antwortete er und legte ihr die Hand auf die Schulter, »Sie dürfen mir das nicht übelnehmen. Es ist durchaus möglich, daß ein Mensch, der unglücklich ist, durch irgend einen günstigen Zufall eine Frau glücklich macht, aber solch ein Glück entspringt nur einer Laune des Schicksals. Es würde nicht lange dauern. Infolgedessen - vergeben Sie mir.« »Oh, Willy!« sagte sie vorwurfsvoll. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Er wandte sich ab. In diesem Augenblick wäre die schönste Frau der Welt - Phryne, Kleopatra, die trojanische Helena - nicht imstande gewesen, ihn auch nur um Haaresbreite von dem Weg abzubringen, den er sich vorgenommen hatte. Hannah vernahm ein leises, knackendes Geräusch und sah, wie William Durand den Kopf zurückbog. Sie stieß einen Schrei aus. Aus der Hand des letzten Weißen fiel eine Glasampulle, die auf dem Trottoir in tausend Splitter zersprang. Er sah sie mit traurigem Lächeln an. »Ich konnte nicht anders«, sagte er und hob die Augen zu Manettes Fenster empor. »Mein Gott«, murmelte sie, »und ich habe Sie veranlaßt, hierher zu gehen!« »Es ist besser so, Hannah. Sie werden mit Frankie zurückkehren, und ihr werdet versuchen, die Narren zur Vernunft zu bringen, die einen neuen Krieg wollen.« »Es ist nicht wahr, Willy, Sie dürfen nicht sterben!« »Ich fürchte doch, Hannah, ich fühle schon eine Schwere in den Beinen, und wenn Sie gestatten, werde ich midi setzen.« Er ließ sich auf der Stufe von Manettes Hauseingang nieder, und -268-
Hannah konnte sich eines Schauders nicht erwehren, als sie gerade über dem Haupt des letzten Weißen das schwarze Kreuz sah, das zur Zeit der Pest dort aufgemalt worden war. Er litt nicht, er fühlte nur langsam seine Glieder erstarren. Aber er hatte noch Kraft, seine Augen emporzurichten. Der Nachmittag neigte sich dem Abend zu. Der Himmel war von einer durchsichtigen Bläue, einer Zartheit, einer süßen, milden Unendlichkeit, die alle Entfernungen aufhob und die Silhouette der Häuser noch klarer erscheinen ließ. Er dachte an den Abendhimmel über Avalion, wenn die Musik im Pavillon des Stadtparks spielte. Er sah plötzlich die kleine Marie-Jeanne wieder, mit ihrer hellen zarten Haut, den großen dunklen Augen, in denen zuweilen ein lustiges, schelmisches Lächeln blitzte. Er sah seinen Vater wieder vor sich, der sechs Jahre Uniform getragen hatte und glaubte, daß die Menschheit »endlich begriffen« hätte. Er sah den jungen Antoine vor sich, in kurzen Hosen, mit seinen Sommersprossen im Gesicht, den ehrenwerten Pipin den Kurzen, der trotz seines Philisterbauches sich keinen Illusionen hingab, und die unausgeprägten Züge zweier kleiner Kinder, die die seinen gewesen waren. Er sah auch den Schirrmeister Mousseaux, den allzeit fröhlichen Kameraden aus dem vierten Weltkrieg, wieder, wie sie sich beide in den glitschigen Graben warfen und er »Verdammte Scheiße!« schrie. Und dann andere Gesichter, den Professor Balanche, den Neger Jonathan. Sogar Gesichter von Unbekannten, die ihm einmal auf der Straße irgendwo begegnet waren und die er in seinem Unterbewußtsein bewahrt hatte, zogen lächelnd oder ernst im Taumel an ihm vorüber. Das Merkwürdigste war, in diesem Bilderbuch seines Lebens fehlte Manette! Hatte er ihr nicht die Beklemmung zu verdanken, die nun sein Herz ergriff, dieses sonderbare Gefühl, das sich seiner nach und nach bemächtigte, und den dunklen Schatten, der sich lange vor -269-
der Dämmerung langsam über die Helle eines Sommernachmittags breitete? Endlich erschien sie ihm flüchtig, und er fand in ihr die Manette ihres letzten Zusammenseins wieder, jene Manette, die damals meinte, der Professor Balanche müßte wohl schon »über das Alter hinaus sein«, weil er, als die weiße Pest ihren Höhepunkt erreicht hatte, den Männern in ihren Beziehungen zu den Frauen Enthaltsamkeit empfahl. »Wenn das so ist«, sagte sie, »dann werden wir das eben auf dem Mars nachholen.« Sie dachte in der Tat daran, das dort nachzuholen, aber mit Antoine. »Willy«, begann Hannah wieder, »sagen Sie mir, daß Sie mich nur erschrecken wollten, daß Sie das Gift gar nicht genommen haben.« Er wandte ihr den Blick zu und versuchte zu lächeln, doch es gelang ihm nicht. Er wollte den Arm heben, aber die Muskeln versagten den Dienst, er wollte sprechen, doch die Zunge war gelähmt. Aber dann leuchtete ein tiefer seltsamer Friede aus seinen unbeweglichen Augen, seine Lippen verzogen sich zu einem schwachen Lächeln. Und Hannah Pierce wurde von heiliger Scheu erfaßt, sie begriff, daß der letzte Weiße in die ewige Nacht hinübergeschlummert war.
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