KLEINE JUGENDREIHE
Von Alexander I. Kuprin
Der weiße Pudel
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1955
6. Jahrgang, 1...
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KLEINE JUGENDREIHE
Von Alexander I. Kuprin
Der weiße Pudel
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1955
6. Jahrgang, 1, Novemberheft Russischer Originaltitel: Белый пудел
Deutsch von Margarete Spady Die Erzählung erscheint mit freundlicher Genehmigung des Gebr. Knabe Verlages, Weimar
Veröffentlicht 1955 im Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin Printed in Germany – Alle Rechte vorbehalten Lizenz-Nr. 3, 285/87/55 Umschlag K Fischer ■ Illustrationen’ S. Brodski Satz und Druck: (III/9/1) Sächsische Zeitung, Verlag und Druckerei, Dresden N 23, Riesaer Straße 32 7683
Die Südküste der Krim entlang zogen fahrende Leute auf schmalen, bergigen Pfaden von einem Datschenort* zum anderen. Vornweg lief für gewöhnlich der weiße Pudel Arto. Er war geschoren wie ein Löwe und ließ seine rosafarbene Zunge weit heraushängen. Kam eine Wegkreuzung, blieb er jedesmal stehen und schaute schweifwedelnd und fragend zurück. Nach irgendwelchen, nur ihm allein verständlichen Anzeichen erriet er mit unfehlbarer Sicherheit, welcher Weg eingeschlagen werden sollte, und stürmte mit lustig flatternden Ohren wieder voraus. Dem Hund folgte der zwölfjährige Sergej, Unter dem linken Arm trug er einen kleinen zusammengerollten Teppich, auf dem er seine akrobatischen Kunststücke vorführte, und in der rechten Hand hielt er einen engen, schmutzigen Käfig mit einem Stieglitz, der abgerichtet war, kleine bunte Papierröllchen mit allerlei Wahrsage-spüchlein aus einem Kasten herauszuholen. Als letzter endlich schleppte sich, mit einem Leierkasten auf dem krummen Rücken, das älteste Mitglied der Truppe dahin, Großvater Martyn Lodyshkin. Es war ein uralter Leierkasten, den der Mann auf dem Rücken hatte. Er litt an Heiserkeit und Husten und hatte in seinem Leben schon mehr als ein Dutzend Reparaturen durchgemacht. Spielen konnte er zwei Weisen: einen schleppenden deutschen Walzer von Lanner und einen Galopp aus „Die Reise nach China“ – beides Stücke, die vor dreißig oder gar vierzig Jahren modern gewesen und nun schon längst vergessen waren. Außerdem befanden sich in dem Leierkasten noch zwei verräterische Pfeifen. Die eine – von den hohen Tönen – hatte die Stimme verloren; sie gab überhaupt keinen Ton mehr von sich, und
daher begann, wenn die Reihe an sie kam, die Melodie zu hinken und zu stolpern, als hätte sie den Schluckauf. Bei der anderen Pfeife aber – es war eine von den Bässen – funktionierte der Klappenverschluß nicht mehr so recht] hatte sie einmal zu tönen angefangen, so blieb sie bei der einen Baßnote und übertönte und verwirrte alles so lange, bis es ihr plötzlich wieder einfiel, zu verstummen. Der Großvater kannte sehr wohl die Mängel seines Instruments und äußerte manchmal scherzend, wenn auch mit einem leisen Unterton von Trauer: „Da ist nichts zu machen! Ist ‘ne alte Orgel… erkältet sich leicht… Fängt man zu spielen an, beklagen sich die Sommergäste. ,Pfui’, sagen sie, ,wie gräßlich!’ Die Stükke aber waren früher einmal sehr gut und modern, nur haben eben die heutigen Herrschaften für unsere Musik so gar nichts mehr übrig. Jetzt wollen sie die .Geisha’ hören oder ,Unter dem zweiköpfigen Adler’ oder den Walzer aus dem ,Vogel-händler’. Und dann noch die Pfeifen… Hab ihn zum Meister gebracht, den Leierkasten – der nimmt ihn aber nicht an zum Reparieren. Sagt, es müssen neue Pfeifen reinj am besten aber, sagt er, verkauf den Klapperkasten an ein Museum… als ‘ne Art Sehenswürdigkeit… Aber laß gut sein, Sergej, bis heute hat er uns erhalten, und so Gott will, wird er uns auch noch ein Weilchen weiter ernähren.“ Großvater Martyn Lodyshkin liebte seinen Leierkasten, wie man wohl nur ein lebendes, einem nahestehendes, verwandtes Wesen lieben kann. In den langen Jahren seines mühseligen Wanderlebens war ihm der Leierkasten etwas Beseeltes, ein denkendes Wesen geworden. Es kam manchmal vor, daß während der Nacht in irgendeiner schmutzigen Herberge der Leierkasten, der immer neben dem Großvater am Kopfende seines Lagers stand, plötzlich einen schwa-
chen, kaum hörbaren Ton von sich gab, traurig und zittrig wie das Seufzen eines einsamen Greises. Lodyslikin strich dann jedesmal behutsam über die geschnitzte Seite des Kastens und flüsterte zärtlich: „Was fehlt dir, Bruder? Beklagst du dich?… Halte aus…“ Genausoviel Liebe wie dem Leierkasten, vielleicht aber sogar noch etwas mehr, brachte der Alte den beiden jüngeren Gefährten seines rastlosen Urnherstreifens entgegen, dem Pudel Arto und dem kleinen Sergej. Den Knaben hatte er sich vor fünf Jahren von einem Säufer, einem verwitweten Schuster, „ausgeliehen“ und sich verpflichtet, diesem dafür zwei Rubel im Monat zu bezahlen. Der Schuster war aber bald darauf gestorben, und so blieb Sergej für immer beim Großvater. Sie gehörten von nun an zusammen, innerlich ebenso eng verbunden, wie durch ihren Alltag. II Der Fußweg schlängelte sich längs der Küste oben auf dem Steilhang zwischen hundertjährigen Ölbäumen dahin. Das Meer blitzte von Zeit zu Zeit durch die Bäume, und jedesmal schien es, als stiege es, sich in die Ferne dehnend, zugleich auch nach oben, wie eine regungslose, mächtige Mauer, und seine Farbe leuchtete dann noch blauer, noch tiefer durch das silbriggrüne Laub hindurch. Im Gras, im Kornelkirschenund Heckenrosengebüsch, in den Weingärten und auf den Bäumen – überall zirpten Zikaden; die Luft zitterte von diesem klingenden, eintönigen Gezirpe. Es war ein schwüler, windstiller Tag, und die heiße Erde brannte an den Fußsohlen.
Sergej, der wie immer dem Großvater um ein Stück voraus war, blieb stehen und wartete, bis der Alte nachgekommen war. „Was hast du, Serjosha?“ fragte der Orgelspieler. „Heiß ist es, Großvater Lodyshkin… nicht mehr zum Aushalten! Wir müßten mal baden…“ Der Alte rückte mit einer gewohnten Schulterbewegung den Leierkasten auf seinem Rücken zurecht und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß vom Gesicht.
„Schön wär’s!“ seufzte er und schaute begierig auf das kühle Blau des Meeres hinab. „Aber das Baden macht einen ja nur noch mehr kaputt. Mir hat mal ein Heilgehilfe, den ich gekannt habe, erzählt, daß dieses Salz hier auf den Menschen einwirkt… ihn sozusagen schlapp macht… Ist doch auch Meersalz…“ „Vielleicht hat er gelogen?“ sagte Sergej mißtrauisch. „Wie kannst du das sagen!… Wozu sollte er lügen? Er ist doch ein solider Mensch, der niemals trinkt… hat ein Häuschen in Sewastopol…übrigens – wie sollen wir hier hinunterkommen? Warte nur, wir kommen jetzt bald nach Mißchor, dort wollen wir unsere sündigen Leiber baden. Vor dem Mittagessen baden ist recht angenehm… Und hernach, weißt du, ein Schläfchen tun… das ist eine feine Sache…“ Arto, der hinter sich sprechen hörte, machte kehrt und kam zu den beiden gelaufen. Seine blauen, gutmütigen Augen zwinkerten vor Hitze und blickten so recht treuherzig; die lang heraushängende Zunge zuckte von den hastigen Atemzügen. „Nun, Hundchen? Ist dir warm, Bruderherz?“ fragte der Großvater. Der Hund gähnte herzhaft und nachdrücklich, so daß sich die Zunge krümmte, schüttelte sich vom Kopf bis zum Schwanz und fiepte leise. „Tja, da ist halt nichts zu machen, Freundchen… Es heißt ja doch: Im Schweiße deines Angesichts…“, fuhr Lodyshkin unterweisend fort. „Zwar hast du sozusagen kein Angesicht, sondern eine Schnauze, aber immerhin… Na, los, los, lauf schon, mußt einem nicht vor den Füßen herumquirlen!… Aber weißt du, Serjosha, ich für meine Person, ich liebe solche Wärme… Nur die Drehorgel, die ist mir im Wege; wenn die nicht wäre, die Arbeit meine ich, würde ich mich ir-
gendwo im Schatten im Gras ausstrecken und das schöne Wetter so recht genießen… Für die alten Knochen ist das so recht das gegebene.“ Der Fußweg führte abwärts und mündete auf eine breite, steinharte und blendendweiße Straße. Hier begann ein alter gräflicher Park, in dessen dichtem Grün schöne Datschen, Blumenbeete, Treibhäuser und Fontänen verstreut lagen. Der Alte kannte diese Gegend gut. Oft genug war er hier zur Zeit der Traubenreife, wenn die Halbinsel Krim von reichen, schön gekleideten und fröhlichen Sommergästen überfüllt war, und zog von Ort zu Ort und von Haus zu Haus. Die strahlende Pracht der südlichen Natur machte auf den Alten keinen Eindruck mehr, dafür aber war Sergej, der das erstemal hier weilte, um so entzückter von allem, was er zu sehen bekam. Magnolien mit harten, glänzenden Blättern, die aussahen, als wären sie lackiert, und weißen, tellergroßen Blüten; Lauben, an denen sich, sie über und über einspinnend, Weinstöcke mit schwer herabhängenden Trauben emporrankten; riesige mehrere Hundert Jahre alte Platanen mit hellschimmernder Rinde und mächtigen Kronen; Tabakpflanzungen, Bäche und Wasserfälle und überall, wohin man nur schauen wollte – auf Beeten, an Zäunen, an den Wänden der Sommerhäuser –, überall leuchtende, duftende Rosen. Diese ganze lebende, blühende Pracht nahm die kindliche Seele des Knaben immer aufs neue gefangen. Er äußerte laut sein Entzücken und zerrte fortwährend am Ärmel des Alten: „Großvater Lodyshkin, Großvater, schau doch nur, dort in dem Springbrunnen sind goldene Fische!… Bei Gott, sie sind golden, Großvater, und wenn ich auf der Stelle sterben sollte!“ schrie der Junge und preßte sein Gesicht an das Eisengitter, von dem ein Garten mit einem großen Wasser-
becken in der Mitte umgeben war. – „Großvater, dort die Pfirsiche! Sieh doch, wie viele! An einem einzigen Baum!“ „Geh doch, geh, Dummerchen, was sperrst du den Mund auf!“ Der Alte schob ihn weiter. „Warte nur, wenn wir erst in Noworossisk sind und von dort aus wieder nach dem Süden wandern, da kommen Orte, wo es tatsächlich was zum Staunen gibt; zuerst Sotschi, Adler, Tuapse, dann aber, mein Lieber, dann kommt Suchum, Batum… Dort wirst du Mund und Nase aufreißen. Da gibt es zum Beispiel Palmen! Da bist du einfach sprachlos! Ihr Stamm ist zerzaust wie Filz und jedes Blatt so groß, daß wir beide zusammen darunter wie unter einem Schirm Platz haben.“ „Wirklich?“ Sergej staunte froh. „Warte nur, wirst schon selber sehen. Ach, was gibt’s dort nicht alles! Apfelsinen zum Beispiel und auch Zitronen… Hast sie doch schon gesehen in den Verkaufsbuden?“ „Na und?“ „Die wachsen dort einfach so im Freien, direkt am Baum, wie bei uns die Äpfel oder die Birnen… Und auch die Menschen dort, Freundchen, schauen ganz anders aus… Wirst ja selber sehen, wenn wir erst da sind. Nur eins ist schlecht dort: das Fieber. Ringsum ist Sumpf, ist Fäulnis und dazu die Hitze. Den dortigen Menschen macht es nichts aus, den Fremden aber geht es schlecht. Nun aber genug geschwätzt, Sergej, schlüpf mal da durch das Pförtchen. In dieser Datscha wohnen gute Herrschaften… Brauchst mich nur zu fragen: ich weiß in allem Bescheid!“ Doch es sollte ein schlechter Tag für sie werden. An einigen Stellen wurden sie fortgejagt, kaum daß man ihrer ansichtig geworden war, anderswo wiederum winkte man ihnen schon bei den ersten gequetschten, heiseren Tönen der
Drehorgel ärgerlich und ungeduldig vom Balkon herunter ab, oder die Dienerschaft gab Bescheid, daß „die Herrschaften noch nicht angekommen seien“. In zwei Datschen erhielten sie zwar für ihre Vorstellung etwas Geld, aber sehr wenig. Der Großvater jedoch mißachtete keine noch so geringe Gabe. Trat er aus dem Grundstück wieder auf die Straße, klimperte er zufrieden mit den Kupfermünzen in seiner Tasche und sprach gutmütig: „Zwei und fünf macht sieben Kopeken… Laß gut sein, Bruderherz Serjoshenka, ist ja auch Geld. Siebenmal sieben, und schon ist ein Fünfziger da, das heißt, daß wir alle drei satt sein und ein Nachtlager haben werden und daß der alte Lodyshkin ein Gläschen kippen kann wegen seiner Schwachheit und der vielen Gebrechen, die er hat… Ach, daß doch die Herrschaften das nicht verstehen können! Ein Zwanziger zu geben dünkt ihnen zuviel, und ein Fünfkopekenstück – da schämen sie sich wiederum… na, und da sagen sie halt, man soll weitergehen. Ist aber doch besser, man gibt unsereinem ein geringes, und wenn’s auch nur ein Dreier ist… Das kränkt mich nicht, durchaus nicht… Warum sollte es mich auch kränken?“ Lodyshkin hatte wirklich ein äußerst bescheidenes Gemüt, nicht einmal, wenn man ihn fortjagte, murrte er. Heute aber hatte ihn eine schöne, rundliche, dem Aussehen nach sehr gütige Dame, die Besitzerin einer prächtigen, von einem Blumengarten umgebenen Datscha aus der gewohnten Seelenruhe gebracht. Sie hatte sich aufmerksam die Musik angehört, sich noch aufmerksamer die akrobatischen Übungen Sergejs und die Kunststückchen Artos angeschaut und dann lange und ausführlich den Jungen ausgefragt: wie alt er wäre, wie er hieße und wo er die Akrobatik gelernt hätte, ob er mit dem Alten verwandt sei, was seine Eltern gewesen wä-
ren und noch vieles mehr; schließlich hatte sie gesagt, sie sollten doch einen Augenblick warten, und war in den Zimmern verschwunden. Es vergingen zehn Minuten, vielleicht war es auch eine Viertelstunde, und noch immer ließ sie sich nicht blicken, und je.länger die beiden warten mußten, desto üppiger wucherten bei ihnen zwar unbestimmte, aber doch verlockende Hoffnungen. Der Großvater legte vorsichtshalber die Hand wie einen kleinen Schild über den Mund, als er dem Jungen zuflüsterte: „Paß auf, Sergej, diesmal haben wir Glück, du mußt nur auf mich hören: ich weiß alles! Vielleicht gibt sie uns etwas Kleidung oder Schuhzeug. Ja, sicherlich!“ Endlich erschien die Frau wieder auf dem Balkon, warf von oben eine weiße Münze in die vorgehaltene Mütze und verschwand gleich wieder. Die Münze erwies sich als ein altes, auf beiden Seiten abgegriffenes und noch dazu durchlöchertes Zehnkopekenstück. Der Großvater betrachtete es lange und fassungslos. Als sie schon wieder ein ganzes Stück von der Datscha fort waren, hatte er immer noch das Zehnkopekenstück auf seiner Hand liegen, als wollte er es abwiegen. „Das ist doch allerhand!“ stieß er schließlich hervor und blieb mit einem Ruck stehen. „Ich muß schon sagen… Und wir drei Dummköpfe haben uns für so was angestrengt. Es wäre gescheiter gewesen, sie hätte uns einen Knopf gegeben. Den hätte man doch wenigstens irgendwo annähen können. Was aber soll ich mit diesem Dreck tun? Die Frau, die glaubt wahrscheinlich, der Alte wird das Ding nachts schon irgendwem andrehen können – heimlich also, im Dunkeln. Nein, meine Gnädigste, da irren Sie sich aber gewaltig! Der alte Lodyshkin gibt sich für solch eine Gemeinheit nicht her. Nein! Hier haben Sie Ihr kostbares Zehnkopekenstück!
Hier!“ Und voll stolzer Empörung schleuderte er die Münze von sich. Sie klirrte ganz schwach und verschwand im weißen Straßenstaub. Mittlerweile war der Alte mit dem Knaben und dem Hund am Ende des Datschenortes angekommen, und sie schickten sich an, zum Meer hinunterzugehen. Zur Linken lag nur noch eine einzige Datscha, Sie war kaum zu sehen hinter der hohen weißen Mauer, über die innen wie schwarzgraue lange Spindeln eine dichte Reihe schlanker, verstaubter Zypressen ragte. Nur durch das breite schmiedeeiserne Tor, dessen zierliches Eisenwerk wie Spitze wirkte, konnte man eine Ecke frischen, wie grellgrüne Seide leuchtenden Rasen und einige runde Blumenbeete sehen; weiter im Hintergrund zog sich ein dicht mit Wein umrankter Laubengang hin. Auf dem Rasen stand ein Gärtner, der eben mit einem langen Schlauch Rosen sprengte. Er drückte seinen Finger fest an die Rohrmündung, so daß sich in dem Wasserstrahl das Sonnenlicht in allen Regenbogenfarben brach. Der Großvater wollte schon weitergehen; als er aber einen Blick durch das Tor geworfen hatte, blieb er verwundert stehen. „Wart mal, Sergej!“ rief er dem Jungen nach. „Da scheinen doch Menschen drin zu sein? Das ist aber eine Überraschung! Wieviel Jahre schon bin ich hier vorbeigegangen, und nie war auch nur eine Menschenseele da drinnen zu sehen. Los, spazier hinein, Bruder Sergej!“ „Villa ,Freundschaft’. Unbefugten ist der Zutritt streng verboten!“ entzifferte Sergej eine kunstvolle, auf einem der Steinpfeiler des Tores eingehauene Inschrift. „Freundschaft?“ wiederholte der Großvater, der nicht lesen konnte. „Das ist gerade das Richtige! Das ist das beste Wort: Freundschaft! Der ganze Tag heute ist verfahren, hier aber
werden wir unseren Teil bekommen. Das spüre ich mit meiner Nase wie ein Jagdhund. Arto, ach, du Hundesohn! Schieb dreist hinein, Serjosha! Mußt mich nur fragen: ich weiß alles!“ III Die Gartenwege waren mit grobem, unter den Füßen knirschendem Kies bestreut und mit großen rosa Muscheln eingefaßt. Auf den wie bunte Teppiche leuchtenden Beeten standen wundersame Blumen, die die Luft mit Wohlgeruch erfüllten. In den Springbrunnen murmelte und plätscherte klares Wasser; aus schönen Vasen, die zwischen den Bäumen aufgehängt waren, hingen Girlanden rankender Pflanzen herab, während vor dem Hause auf Marmorsäulen zwei glänzende Glaskugeln standen, in denen sieb, die drei komisch verzerrt, langgezogen und mit dem Kopf nach unten spiegelten. Vor der Terrasse befand sich ein glattgewalzter Vorplatz. Sergej breitete darauf seinen kleinen Teppich aus, der Großvater hatte schon seinen Leierkasten auf den Stock gestellt und wollte gerade die Kurbel in Bewegung setzen, als plötzlich ein unerwartetes und sonderbares Schauspiel ihre Aufmerksamkeit fesselte. Aus den inneren Räumen des Hauses kam, durchdringende Schreie ausstoßend, ein etwa acht bis zehn Jahre alter Junge herausgeschossen. Er trug einen leichten Matrosenanzug, der Arme und Beine frei ließ. Sein blondes Haar hing in großen Locken unordentlich über die Schultern. Dem Jungen auf dem Fuß folgten noch sechs Personen: zwei Frauen mit Schürzen, ein dicker, befrackter Kammerdiener mit langem weißem Backenbart, eine hagere rothaarige Jungfer mit roter Nase, eine junge, leidend aussehende sehr schöne Dame in
einem hellblauen Spitzenmorgenrock und schließlich ein dicker, glatzköpfiger Herr in einem Anzug aus Schantungseide und mit einer goldenen Brille. Alle waren sie aufgeregt, fuchtelten mit den Händen und sprachen laut durcheinander, ja, sie stießen sich sogar. Augenscheinlich war der Junge im Matrosenanzug, der so plötzlich auf die Terrasse herausgestürzt war, der Grund ihrer Aufregung. Mittlerweile hatte der Urheber des Tumults, ohne auch nur für eine Sekunde sein Kreischen zu unterbrechen, sich bäuchlings auf die Steinfliesen geworfen, blitzschnell auf den Rücken herumgewälzt und strampelte nun wütend mit Armen und Beinen nach allen Seiten. Die Erwachsenen mühten sich verzweifelt um den Knaben. Der alte Kammerdiener im Frack preßte beschwörend beide Hände an die gestärkte Hemdbrust, schüttelte den langen Backenbart und sprach mit weinerlicher Stimme: „ Väterchen I Herr!… Nikolai Apollonowitsch!… Geruhen Sie doch nicht, Ihr Mamachen zu kränken – erheben Sie sich… Seien Sie doch so gut vind nehmen Sie es ein. Die Mixtur ist ganz süß, der reine Sirup. Geruhen Sie doch, sich zu erheben…“ Die Frauen mit den Schürzen schlugen einmal ums andere die Hände über dem Kopf zusammen und zwitscherten ganz, ganz schnell mit unterwürfigen, erschrockenen Stimmen. Die rotnasige Jungfer begleitete mit tragischen Gesten irgendwelche äußerst rührenden, aber völlig unverständlichen Ausrufe; offensichtlich sprach sie eine fremde Sprache. Mit überlegener Baßstimme redete der Herr mit der goldenen Brille auf den Knaben ein; dabei neigte er den Kopf bald auf die eine, bald auf die andere Seite und breitete höchst gesetzt die Arme aus, während die schöne leidende Dame ein feines Spitzentüchlein an die Augen drückte und schmachtend
stöhnte: „Ach, Trilli, ach mein Gott!… Ich flehe dich an, mein Engel! Hörst du nicht – deine Mama fleht dich an. Nimm die Medizin, so nimm sie doch! Wirst sehen, dir wird gleich besser: das Bäuchlein tut nicht mehr weh und auch das Köpfchen nicht. Komm, tu es für mich, mein Glück! Hör doch, Trilli, möchtest du, daß Mama vor dir hinkniet? Komm, sieh, ich liege vor dir auf den Knien. Soll ich dir ein Goldstück schenken? Zwei Goldstücke? Fünf Goldstücke, Trilli? Möchtest du ein lebendes Eselchen haben? Oder möchtest du ein lebendes Pferdchen?… Doktor, sagen Sie ihm doch was!“ „Hören Sie, Trilli, seien Sie doch ein Mann!“ dröhnte es aus dem dicken Herrn mit der Brille. „Au- – au – au – au – a – a – -a!“ heulte der Junge, rollte, sich windend, auf der Terrasse umher und strampelte wütend mit den Beinen. So wild er sich auch gebärdete, hinderte es ihn nicht, ganz bewußt mit seinem Absatz nach den Bäuchen oder den Beinen der sich um ihn mühenden Leute zu zielen, die ihrerseits recht geschickt den Fußtritten auswichen. Sergej, der schon eine ganze Weile voller Neugierde und Verwunderung diese Szene beobachtet hatte, stieß den Alten sachte an. „Großvater Lodyshkin, was ist denn mit ihm?“ fragte er flüsternd. „Er soll wohl Hiebe kriegen?“ „Wo denkst du hin… Hiebe!… So einer verhaut selber jeden beliebigen. Ist ein störrischer Bengel – weiter nichts. Wahrscheinlich krank.“ „Er ist wohl verrückt?“ Sergej glaubte begriffen zu haben.
„Ach, was weiß ich! Aber sei still!“ „Au – au – au – a! Lumpen! Schafsköpfe!“ zeterte der Junge immer lauter und lauter. „Fang an, Sergej! Ich weiß schon!“ befahl da plötzlich Lodyshkin und drehte mit entschlossener Miene die Kurbel am Leierkasten. Im Garten erklangen die gequetschten, heiseren und falschen Töne des altmodischen Galopps. Auf der Terrasse fuhren alle hoch, sogar der Knabe -verstummte für Sekunden. „Ach du lieber Gott, sie werden den armen Trilli noch
mehr verstimmen!“ rief die Dame im hellblauen Morgenrock weinerlich, „Ach, so jagt sie doch fort, jagt sie schnell fortl Und auch noch dieser schmutzige Hund dazu. Hunde haben immer so grauenvolle Krankheiten. Was stehen Sie denn da, Iwan?“ Mit müdem Blick und voller Ekel schwenkte sie ihr Tüchlein gegen die Artisten. Die dürre rotnasige Jungfer machte schreckliche Augen. Irgendeiner ließ ein drohendes Zischen hören. Der Mann im Frack rollte schnell und weich von der Terrasse herunter und lief, die Arme weit auseinanderbiegend, mit einem Ausdruck des Entsetzens auf dem Gesicht auf den Orgelspieler los. „Was ist das für eine Unverschämtheit!“ krächzte er in verhaltenem, erschrockenem und dennoch herrisch bösem Flüsterton. „Wer hat es Ihnen gestattet? Wer hat Sie hereingelassen? Marsch! Raus!“ Die Drehorgel quiekste wehleidig auf und verstummte. „Guter Herr, gestatten Sie, Ihnen zu erklären – “, begann der Alte mit gesuchter Höflichkeit. „Nichts da! Marsch!“ schrie mit einem eigentümlichen Pfeifton in der Stimme der befrackte Mann. Sein dickes Gesicht lief plötzlich dunkelrot an, er riß die Augen unglaublich weit auf, es war, als wollten sie ihm aus dem Kopf springen; dazu ließ ex sie auch noch rollen wie Räder. Das sah so fürchterlich aus, daß der Großvater unwillkürlich zwei Schritte zurückwich. „Pack zusammen, Sergej!“ sagte er und beeilte sich, den Leierkasten auf den Rücken zu bekommen. „Komm!“ Sie waren aber noch keine zehn Schritte gegangen, da schallten bereits neue ohrenbetäubende Schreie von der Terrasse herunter,
„Au – au – au! Will sie ha – aben! A – a – a! Hierher-ru – ufen! Zu mi – ir!“ „Aber Trilli!… Ach du lieber Gott, Trillil Ach, so holt sie doch zurück!“ stöhnte die nervöse Dame. „Pfui, was seid ihr alle blöde!… Iwan, hören Sie nicht, was man Ihnen sagt? Sofort rufen Sie die Bettler zurück!“ „Hört mal! Ihr da! He, wie heißt ihr denn? Leierkastenspieler! Kommt zurück!“ schrien von der Terrasse herunter mehrere Stimmen durcheinander. Der dicke Kammerdiener kam mit auseinanderflatterndem Backenbart und wie ein großer Gummiball hüpfend den sich entfernenden Artisten nachgelaufen, „He! . Musikanten! Hört doch nur, zurück!… Zurück!“ schrie er ganz außer Atem und fuchtelte mit beiden Armen. „Ehrwürdiger Alter“ – er hatte endlich den Großvater am Ärmel erwischt –, „kehr um! Die Herrschaften wünschen Ihre Pantomime zu sehen Aber schnell!“ „Das sind Sachen!“ seufzte kopfschüttelnd der Großvater, doch er kehrte zur Terrasse zurück, stellte den Leierkasten vor sich auf, und der Galopp setzte an derselben Stelle wieder ein, an der er vorhin unterbrochen worden war. Der Tumult auf der Terrasse legte sich. Die schöne Dame, der Knabe und der Herr mit der goldenen Brille traten an das Geländer; die übrigen blieben in gemessener Entfernung im Hintergrund stehen. Im Garten hatte sich ein Gärtner mit einer Schürze eingestellt und blieb nicht weit vom Großvater stehen. Darauf tauchte ganz unvermittelt hinter dem Gärtner der Hausknecht auf. Das war ein riesengroßer, bärtiger Mann mit finsterem, engstirnigem und pockennarbigem Gesicht. Er hatte ein neues, rosafarbenes Hemd mit schräg verlaufenden Reihen erbsengroßer Punkte an.
Begleitet von den heiseren, stotternden Tönen des Galopps, breitete Sergej seinen Teppich auf der Erde aus, streifte schnell die Segeltuchhosen von den Beinen (die Hosen waren aus einem alten Sack genäht worden und hinten auf der breitesten Stelle mit einem viereckigen Fabrikstempel versehen), ebenso die zerrissene Joppe und stand nun da in einem alten Zwirntrikot, das trotz der vielen Flicken seinen schlanken, aber dennoch starken und geschmeidigen Körper gut .zur Geltung brachte. Sergej hatte alten, erfahrenen Akrobaten schon manches abgeguckt. So legte er jetzt die Hände an die Lippen und schwenkte sie dann mit breiter, theatralischer Gebärde nach beiden Seiten in der Weise auseinander, als werfe er dem Publikum Kußhände zu. Mit der einen Hand drehte der Großvater ununterbrochen die Kurbel des Leierkastens und entlockte ihm so die plärrende, hustende Melodie, mit der anderen warf er dem Jungen allerhand Gegenstände zu, welche dieser geschickt auffing. Sergejs Repertoire war nicht groß, aber seine Arbeit war gut – „sauber“, wie die Akrobaten dazu sagen –, und sie wurde mit Lust und Liebe ausgeführt. Er warf eine leere Bierflasche hoch, so daß sie sich in der Luft mehrere Male überschlug, fing sie dann mit dem Flaschenhals auf einem Tellerrand wieder auf und hielt sie einige Sekunden im Gleichgewicht; er jonglierte mit vier kleinen beinernen Kugeln und zwei Kerzen, die er gleichzeitig mit einem Leuchter auffing. Dann spielte er zu gleicher Zeit mit drei verschiedenen Gegenständen: einem Fächer, einer Zigarre aus Holz und einem Regenschirm. Alle Gegenstände wirbelten durch die Luft, ohne ein einziges Mal die Erde zu berühren, und plötzlich – stand der Schirm auf Sergejs Kopf, die Zigarre steckte in seinem Mund und mit dem Fächer fächelte er sich
kokett das Gesicht. Zum Schluß schlug Sergej einige Purzelbäume auf dem Teppich, machte einen „Frosch“, zeigte den „Amerikanischen Knoten“ und spazierte ein Weilchen auf den Händen herum. Nachdem er so seinen Vorrat an Tricks erschöpft hatte, warf er dem Publikum wiederum zwei Kußhände zu und trat schwer atmend zum Großvater, um ihn an der Drehorgel abzulösen. Jetzt war Arto an der Reihe. Der Hund wußte das. Er sprang voller Aufregung mit allen vier Pfoten den Großvater an und bellte dabei, bald laut, bald leise. Wer konnte es wissen, am Ende wollte der kluge Pudel damit sagen, daß es nach seiner Meinung höchst unvernünftig sei, Akrobatenkunststückchen vorzuführen, wenn das Thermometer zweiunddreißig Grad Reaumur im Schatten zeigte? Großvater Lodyshkin jedoch zog mit schlauem Lächeln eine dünne Rute hinter seinem Rücken vor. „Wüßt’ ich’s doch!“ bellte Arto ärgerlich zum letzten Male und erhob sich, ohne den zwinkernden Blick von seinem Herrn zu lassen, träge und widerspenstig auf die Hinterbeine. „Mach schön, Arto! So, so, so…“, sprach der Alte und hielt die Rute über dem Kopf des Pudels. „Dreh dich! So… Dreh dich… Noch einmal, noch einmal… Tanze, Hündchen, tanze!… Setz dich!… Wa – as? Du willst nicht? Setz dich, sag ich dir! Aha… will ich meinen! Paß mir ja auf! Und nun begrüße das ehrenwerte Publikum. Nun! Arto!“ Lodyshkin steigerte drohend die Stimme. „Wau!“ bellte unwillig der Pudel. Dann schaute er, kläglich mit den Augen zwinkernd, seinen Herrn an und fügte noch zweimal hinzu: „Wau, wau!“ „Alles umsonst, mein Alter versteht mich nicht!“ war aus diesem unzufriedenen Bellen herauszuhören. „Siehst du, das
ist was anderes. Höflichkeit geht über alles. So, und nun wollen wir ein bißchen springen“, fuhr der Alte fort und hielt dem Pudel die Rute vor. „Allez! Brauchst gar nicht die Zunge herauszuhängen, mein Bursche! Allez. , Hopp!… So ist’s schön, Und nun noch einmal: Allez… Hopp! Allez… Hopp! Prachtvoll, mein Hündchen! Wenn wir heimkommen, geb ich dir eine Möhre. Ach, du magst keine Möhren? Hab ich doch ganz vergessen. Na, da nimm meinen Zylinder und bitte die Herrschaften: Vielleicht geruhen sie, dir etwas Schmackhaftere? vorzusetzen.“ Der Alte stellte den Hund auf die Hinterbeine und steckte ihm seine abgetragene, speckige Schirmmütze, die er humorvoll „Zylinder“ genannt hatte, zwischen die Zähne. Die Mütze im Maul und zierlich auf den Hinterbeinen trippelnd, näherte sich Arto der Terrasse. Die leidende Dame hatte schon ihre Perlmuttgeldbörse in der Hand. Die Umstehenden lächelten mitfühlend und wohlwollend. „Nun? Hab ich’s dir nicht gesagt?“ flüsterte der Großvater herausfordernd an Sergejs Ohr. „Brauchst mich nur zu fragen: ich weiß alles, mein Freund! Auf keinen Fall weniger als einen Rubel.“ Da erscholl auf der Terrasse ein derart schreckliches schrilles, fast unmenschliches Kreischen, daß der erschrockene Pudel die Mütze fallen ließ und mit einem großen Satz, sich ängstlich umschauend, zu Füßen seines Herrn sprang. „Ich will ihn ha – a – aben!“ heulte mit sich überschlagender Stimme der Knabe mit dem Lockenkopf und stampfte mit den Füßen. „Will ihn ha – aben! Ich will! Den Hund! Trilli will den Hu – und ha – a – aben!“ „Ach du lieber Gott! Ach, Nikolai Apollonowitsch!… Väterchen!… Herr!… Beruhige dich, Trilli, ich flehe dich an!“
drängten sich beschwichtigend die Menschen auf der Terrasse um den Knaben. „Den Hund! Gebt mir den Hund! Ich will! Lumpen, Teufel, Schafsköpfe!“ kreischte ganz außer sich der Knabe. „Aber rege dich doch nicht auf, mein Engel!“ flötete die Dame im hellblauen Morgenrock und neigte sich über das Kind. „Du möchtest wohl das Hündchen streicheln? Aber gewiß doch, gewiß, mein Glück, sofort! Doktor, was meinen Sie, darf Trilli diesen Hund streicheln?“ „Im großen und ganzen würde ich nicht dazu raten“, sagte dieser und zuckte unentschlossen mit den Schultern. „Wenn aber eine zuverlässige Desinfektion, zum Beispiel mit Borsäure oder mit einer schwachen Lösung von Karbolsäure, vorgenommen würde, so – o… überhaupt…“ „Den Hu – u – und!“ „Sofort, mein Schatz, - sofort!… Also, Doktor, wir werden anordnen, daß man ihn mit Borsäure wäscht, und dann… Aber Trilli, reg dich nicht so auf! Alter Mann, bringen Sie doch bitte Ihren Hund hierher. Haben Sie keine Angst, Sie bekommen bezahlt. Aber, sagen Sie mal, ist er auch nicht krank, Ihr Hund? Ich meine: hat er keine Tollwut? Oder vielleicht Bandwürmer?“ „Ich will ihn nicht streicheln, ich will nicht!“ brüllte Trilli, so daß ihm vor Mund und Nase Schaumblasen standen. „Ich will ihn ganz haben! Schafsköpfe, Teufel! Ganz will ich ihnf Ich will selber mit ihm spielen… Immer!“ „Hören Sie, alter Mann, kommen Sie doch näher“, versuchte die Dame den Knaben zu überschreien. „Ach, Trilli, du wirst deine Mama töten mit deinem Geschrei! Warum hat man bloß diese Musikanten hereingelassen! So kommen Sie doch näher, noch näher… noch, so hören Sie doch nur!…
Ja… so… Ach, nimm es dir doch nicht so zu Herzen, Trilli, Mama tut doch alles, was du willst. Ich beschwöre dich! Miß, beruhigen Sie doch endlich das Kind!… Doktor, ich bitte Sie… Wieviel verlangst du, Alter?“ Der Großvater nahm die Mütze vom Kopf. Sein Gesicht bekam einen ehrfurchtsvoll-kläglichen Ausdruck. „Soviel Ihro Gnaden geben wollen, Euer Hochwohlgeboren… Wir sind geringe Leute, für uns ist jede Gabe – ein Segen… Werden doch auch einen alten Mann nicht kränken wollen…“ „Ach, wie sind Sie doch blöde! Trilli, dir wird dein Hälslein weh tun. So begreifen Sie doch, der Hund gehört doch Ihnen und nicht mir. Wieviel also? Zehn? Fünfzehn? Zwanzig?“ „A – a – a! Ich will ihn haben! Gebt mir den Hund, gebt mir den Hund!“ quiekte der Knabe und stieß den Kammerdiener mit dem Fuß in den runden Bauch. „Das heißt… verzeihen Sie, Durchlaucht“, sprach Lodyshkin betreten. „Ich bin ein dummer, schon alter Mann… kann nicht gleich alles verstehen, dazu auch noch ein klein wenig taub… das heißt also – wie geruhten Sie zu sprechen?… Sie meinen für den Hund?“ „Ach du lieber Gott!… Mir scheint, Sie spielen absichtlich den Idioten!“ brauste die Dame auf. „Njanja, reichen Sie Trilli schnell etwas Wasser… Ich frage Sie doch klar und deutlich: Für wieviel wollen Sie Ihren Hund verkaufen? Verstehen Sie? Ihren Hund, den Hund hier…“ „Den Hund! Den Hund!“ heulte der Knabe noch lauter als zuvor. Lodyshkin stülpte sich gekränkt die Schirmmütze auf den Kopf.
„Ich handle nicht mit Hunden, gnädige Frau“, sprach er kalt und würdevoll. „Dieses Tier aber, meine Gnädige, man kann es ruhig sagen, gibt uns beiden“, er wies mit dem Daumen über seine Schulter weg auf Sergej, „gibt uns beiden Kleidung und ernährt uns. Es geht nicht an, daß wir es einfach verkaufen.“ Trilli schrie unterdessen weiter so schrill wie eine Lokomotivpfeife. Man hatte ihm ein Glas Wasser gebracht, er aber schwappte es wütend der Gouvernante ins Gesicht. „Ja, so hören Sie doch nur her, Sie unvernünftiger Alter!… Es gibt nichts, was unverkäuflich wäre“, drängte die Dame weiter, sich dabei die Handflächen an die Schläfen pressend. „Miß, wischen Sie sich schnell das Gesicht ab und geben Sie mir meinen Migränestift. Vielleicht kostet Ihr Hund hundert Rubel? Oder zweihundert? Dreihundert? Ja, so antworten Sie doch, Sie Götzenbild! Doktor, sagen Sie ihm doch etwas, um Gottes willen!“ „Mach dich fertig, Sergej!“ knurrte Lodyshkin finster. „Götzenbild! … Arto! Hierher!“ „He, wart mal, Teuerster“, sagte in herrischem Baß der dikke Herr mit der goldenen Brille. „Du solltest dich nicht so haben, mein Lieber, das laß dir mal gesagt sein. Für deinen Hund sind zehn Rubel ein schöner Preis, da könnte man ruhig dich selber noch dazugeben… überleg mal, Esel, was dir geboten wird!“ „Untertänigsten Dank, mein Herr, es ist nur…“, Lodyshkin hob sich ächzend den Leierkasten auf die Schulter, „… daß aus der Sache nichts wird, das mit dem Verkauf. Es ist schon besser, Sie suchen sich woanders einen passenden Hund… Wünsche alles Gute… Sergej, geh voraus!“ „Hast du überhaupt einen Paß?“ brüllte auf einmal der Dok-
tor drohend. „Ich kenne euch Kanaillen!“ „Hausknecht! Semjon! Jag sie hinaus!“ schrie mit wutentstelltem Gesicht die Dame. Der finster blickende Hausknecht im rosa Hemd ging mit unheildrohender Miene auf die Artisten los. Auf der Terrasse erhob sich ein unglaubliches Durcheinander von Stimmen. Trilli schrie, als stecke er am Spieß, seine Mutter stöhnte, die Kinderfrau und das Kindermädchen jammerten wie Klageweiber, und in tiefem Baß, wie eine erboste Hummel, summte der Doktor dazwischen. Der Großvater und Sergej aber hatten keine Zeit, das Ende dieser Komödie abzuwarten. Angeführt von dem völlig verängstigten Pudel, strebten sie, gefolgt vom Hausknecht, dem Eingangstor zu. Letzterer stieß dem Alten gegen den Leierkasten und redete mit drohender Stimme auf ihn ein: „Tut nichts als euch rumtreiben, ihr Strolche! Kannst Gott danken, alter Knabe, daß du ohne Nackenschläge davonkommst. Wenn du ein zweites Mal kommst, das laß dir gesagt sein, mach ich nicht viel Federlesens mit dir. Ich pack dich am Genick und schlepp dich gleich zum Herrn Wachtmeister. Tagedieb, du!“ … Lange gingen sie schweigend nebeneinanderher, der Alte und der Junge; plötzlich aber, als hätten sie sich verabredet, schaute einer den anderen an, und sie mußten lachen. Sergej lachte zuerst, bei seinem Anblick aber verzog auch Lodyshkin, wenngleich etwas verlegen, sein Gesicht. „Nun, Großvater Lodyshkm? Du weißt alles, nicht wahr?“ meinte Sergej und lachte verschmitzt. „Ja – a, Bruderherz! Da sind wir ja schön hineingerasselt heute.“ Der alte Orgelspieler wiegte seinen Kopf. „So ein giftiger Bengel… Zum Kuckuck, wie hat man so was nur
großgezogen? Ich bitt dich: fünfundzwanzig Mann tanzen um ihn herum. Her mit dem Hund, sagt er! Auf diese Weise wird er noch den Mond vom Himmel verlangen, und da soll man ihm wohl auch den Mond holen? Komm her, Arto, komm her, mein Hundchen. Ein Tag ist das heute! Nicht zu glauben!“ „Könnte nicht besser sein!“ fuhr Sergej fort, den Alten aufzuziehen. „Eine Dame hat uns Kleider gegeben, die andere einen Rubel. Alles weißt du im voraus, Großvater Lodyshkin.“ „Du Dreikäsehoch sei lieber still!“ gab der Alte gutmütig zurück. „Du bist ganz schön vor dem Hausknecht ausgerissen, das hast du wohl schon vergessen? Ich glaubte schon, ich würde dich gar nicht mehr einholen. Ja, das war ein Kerl!“ Am Parkausgang stiegen die beiden einen steilen, bröckligen Fußsteig zum Meer hinunter. Hier traten die Berge etwas zurück und machten einem schmalen, flachen Küstenstreifen Platz, der ganz mit gleichgroßen, von der Brandung glattgeschliffenen Steinen bedeckt war, die das Meer jetzt mit leisem, zärtlichem Plätschern überspülte. Einige Hundert Meter vom Ufer entfernt spielten Delphine im Wasser und zeigten dabei flink ihre runden, fetten Rücken. Fern am Horizont, dort, wo der lichtblaue Atlas des Meeres von einem dunkelblauen samtenen Band eingefaßt war, standen schlank und reglos die von der Sonne rosiggefärbten Segel der Fischerboote. „Hier wollen wir baden, Großvater Lodyshkin“, sagte Sergej mit Nachdruck. Er hatte schon unterwegs, geschickt von einem Bein auf das andere springend, seine Hosen ausgezogen. „Komm, seh will dir helfen, den Leierkasten abzusetzen.“ Schnell zog er sich aus, klatschte schallend mit den
Handflächen auf seinen nackten, vom Sonnenbrand schokoladenfarbenen Körper und stürzte sich in das hoch, aufspritzende und schäumende Wasser. Der Großvater entkleidete sich ohne Hast. Die Hand über den Augen und in der Sonne zwinkernd, schaute er mit liebevollem Lächeln Sergej nach. „Macht sich gut, das Bürschlein“, sprach er zu sich selber. „Tut nichts, daß er so dürr ist – jede Rippe kann man zählen – , wird ein kräftiger Bursche werden.“ „He, Serjoshka! Schwimm mir nicht so weit hinaus. Die Delphine werden dich holen!“ „Die pack ich am Schwanz!“ schrie Sergej weit draußen. Der Großvater stand lange in der Sonne und betastete seine Achselhöhlen. Vorsichtig ging er ins Wasser und benetzte erst sorgfältig den rotgebrannten kahlen Schädel und die eingefallenen Seiten, bevor er untertauchte. Sein Körper war gelb, schlaff und kraftlos, die Beine merkwürdig dünn und der Rücken mit den hervortretenden Schulterblättern vom langjährigen Leierkastenschleppen krummgebogen. „Großvater Lodyshkin, sieh mal!“ schrie Sergej. Er schlug im Wasser einen Purzelbaum rückwärts. Der Großvater, der schon bis zum Gürtel im Wasser stand und mit wohligem Krächzen ab und zu in die Kniebeuge ging, rief beunruhigt: „Mach keine Dummheiten, Ferkelchen! Paß ja auf! Ich werd dir helfen!“ Arto rannte mit rasendem Gebell am Ufer auf und ab. Ihn beunruhigte es, daß der Junge so weit hinausgeschwommen war. Warum seinen Mut zur Schau tragen? dachte der Pudel aufgeregt. Ist doch feste Erde da – also lauf, auch auf der Erde. Das ist doch bedeutend sicherer. Er war selber schon bis zum Bauch ins Wasser gegangen und hatte zwei-, drei-
mal eine Kostprobe davon mit der Zunge genommen. Doch das Wasser war salzig und gar nicht nach seinem Geschmack, dazu schreckten ihn die auf den Uferkies hinaufrauschenden leichten Wellen. Er sprang wieder ans Ufer und bellte Sergej an. Wozu diese blöden Kunststückchen? Kann er nicht neben dem Alten am Ufer sitzen? Ach, was hat man doch für Unruhe mit diesem Bengel! „He, Serjosha, komm endlich raus, laß gut sein, hast genug jetzt!“ rief der Alte. „Gleich, Großvater Lodyshkin“, rief der Knabe zurück, „sieh doch mal, ich mach ‘n Dampfer. Tu – u – ut!“ Schließlich aber kam er ans Ufer geschwommen. Bevor er sich jedoch anzog, nahm er Arto auf die Arme, lief mit ihm ins Meer zurück und warf ihn weit vom Ufer ins Wasser. Der Hund machte sofort kehrt und schwamm zurück. Einzig seine Schnauze und die an der Oberfläche schwimmenden Ohren waren zu sehen, er prustete laut und gekränkt. Endlich ans Ufer gekommen, sprang er heraus und schüttelte sich, daß die Spritzer Sergej und den Alten nur so überschütteten. „Guck mal, Serjosha, gilt das nicht uns?“ fragte plötzlich Lodyshkin und schaute angestrengt den Berg hinauf. Auf dem Fußweg kam der finster blickende Hausknecht im rosa Hemd angelaufen, der sie noch vor einer Viertelstunde aus dem Garten der Datscha gejagt hatte. Er rief etwas und fuchtelte mit den Armen. „Was will er bloß von uns?“ fragte der Großvater verwundert. IV Der Hausknecht kam in ungeschicktem Trab herzugelaufen, seine Hemdärmel flatterten im Wind, während sich das Rükkenteil wie ein Segel blähte. Unentwegt schrie er im Laufen:
„Hallo, haaalloo!… Wartet, wartet mal, wartet…“ „Ach, daß du doch einregnen und nicht wieder trocken werden möchtest!“ knurrte Lodyshkin böse. „Er kommt doch sicherlich wieder wegen Artoschka.“ „Los, Großvater, wir verprügeln ihn!“ schlug Sergej unternehmungslustig vor. „Ach, laß mich in Frieden!… Was sind das nur für Leute, Gott mög ihnen verzeihen…“ „Hört mal, ihr…“, fing der Hausknecht ganz außer Atem schon von weitem an, „wollt ihr den Hund nicht doch noch verkaufen? Es ist nicht auszuhalten mit dem Jungherrn. Der blökt wie ein Kalb: ,Gebt mir den Hund, ich will den Hund haben…! Die gnädige Frau schickt mich. ,Kauf den Hund’, sagte sie, ,was er auch kosten mag!“ „Das ist recht dumm von deiner gnädigen Frau!“ Lodyshkin, der sich hier auf dem Strand viel sicherer fühlte als in der fremden Datscha, wurde auf einmal ganz ärgerlich. „Außerdem: Wieso ist sie für mich eine gnädige Frau? Für dich, ja, da ist sie die gnädige Frau. Mich aber kümmert’s einen Dreck. Und tu mir den Gefallen… ich bitte dich… geh um Christi willen… und… und laß uns in Frieden.“ Der Hausknecht aber ließ nicht locker. Er setzte sich zu dem Alten auf die Steine und sagte, mit seinen ungefügen Fingern auf ihn deutend: „So versteh doch nur, du närrischer Kerl…“ „Einen Narren höre ich“, erwiderte ruhig der Großvater. „Ach, wart’s doch nur ab… So meine ich es doch gar nicht… Was bist du doch für ein Dummkopf!… überleg doch nur: Was hast du schon von dem Hund? Such dir ein anderes junges Tier, bring ihm das Schönmachen bei, und schon hast du wieder einen Hund. Na? Ist das etwa nicht wahr? He?“ Der Großvater schnallte sich mit äußerster Sorg-
falt den Riemen um die Hosen. Auf die drängenden Fragen des Hausknechts antwortete er mit gemachter Gleichgültigkeit: „Quatsch dich nur aus… Ich werde dir nachher auf alles zugleich antworten.“ „Das ist doch was, Bruder!“ ereiferte sich der Hausknecht. „Zweihundert oder gar dreihundert Rubel auf einen Schlag! Eine Kleinigkeit geht ja ab für mich und meine Mühe… Aber Überschlag es nur mal: drei Hunderter! Da könnte man sich doch gleich ein Geschäft einrichten…“ Während der Hausknecht alles auseinandersetzte, zog er ein Stück Wurst aus der Tasche und warf es dem Pudel hin. Arto fing es im Sprunge, schluckte es im Nu hinunter und wedelte dienstfertig mit dem Schwanz. „Bist du fertig?“ fragte Lodyshkin kurz. „Hier braucht’s nicht viel, um fertig zu sein. Gib den Hund her – und wir sind uns einig?“ „So – so“, meinte der Großvater spöttisch. „Das Hündchen soll ich also verkaufen?“ „Natürlich – verkaufen. Was wollt ihr denn sonst noch? Die Sache ist doch die, daß unser Jungherr ‘nen Vogel hat. Wenn ei was haben will, stellt er das ganze Haus auf den Kopf. Schaff’s ihm zur Stelle, und damit basta. So ist es, wenn der Vater nicht da ist; kommt der aber erst mal nach Hause – alle Heiligen beschützen uns! – , da müssen wir noch mehr tanzen. Unser Herr ist Ingenieur, vielleicht habt ihr schon von ihm gehört, Herr Oboljaninow? Baut in ganz Rußland die Eisenbahnen. Millionär ist er! Und der Junge – ist das einzige Kind. Na, da ist er eben verzogen. Will er ein lebendes Pony haben – da hat er sein Pony. Will er ein Boot haben – hier hat er ein richtiges Boot. Was es auch sei, er kriegt alles.“ „Und den Mond?“
„Ja, wie meinst du denn das?“ „Nun, ich meine den Mond: den hat er wohl noch nie verlangt?“ „Na, das fehlte noch!“ Der Hausknecht war ganz verdutzt. „Da hast du dir aber was Schönes ausgedacht: den Mond! – Also, wie ist es, mein Lieber, sind wir uns einig?“ Der Großvater, der mittlerweile seine braune, an den Nähten schon grün gewordene Jacke übergezogen hatte, richtete sich stolz auf, soweit es sein ewig gebogener Rücken zuließ. „Ich will dir mal was sagen, mein Lieber“, fing er mit einer gewissen Feierlichkeit an, „nimm mal an, du hättest einen Bruder oder, sagen wir mal, einen Freund, der dir von Kind an nahesteht… Aber halt, mein Lieber, verfüttere die Wurst nicht umsonst an den Hund… Iß sie lieber selber auf… Du wirst ihn damit nicht bestechen. Ich frage dich also, wenn du einen Freund, den denkbar treuesten Freund hättest… der von Kind an… Für wieviel würdest du den zum Beispiel verkaufen?“ „Auch ein Vergleich, weißt du…!“ „Allerdings, das ist ein Vergleich. Und so sage es auch deinem Herrn, der die Eisenbahn baut“, sprach der Großvater mit gesteigerter Stimme. „Genauso sage es ihm: Nicht alles ist verkäuflich, was gekauft werden kann. Jawohl! Spar dir die Mühe, den Hund zu streicheln, du kommst damit nicht weiter. Arto, hierher, du Hundesohn, wart, ich will dir…! Sergej, mach dich fertig!“ „Ein Schafskopf bist du, ein alter!“ Dem Hausknecht riß der Geduldsfaden. „Ein Schafskopf, mag sein, aber dann schon seit je. Du aber bist eine Knechtsseele, ein käuflicher Judas!“ machte sich Lodyshkin Luft. „Wenn du zu deiner Generalin kommst,
grüß sie und richte ihr aus, daß wir uns tief und ehrerbietig vor ihr verbeugen. Roll den Teppich zusammen, Sergej! Ach, mein Rücken, mein Rücken! Los! Komm!“ „Nun gut!“ sprach der Hausknecht vielsagend. „Gebt euch damit zufrieden, wie es ist!“ erwiderte herausfordernd der Alte. Die Artisten brachen auf und trotteten bergan, hinauf zu dem alten Weg, der an der Küste entlangführte. Als sich Sergej einmal zufällig umschaute, sah er, daß der Hausknecht sie beobachtete. Er stand finster da und schien etwas zu überlegen. Seine Mütze war ihm tief über die Augen gerutscht, grübelnd kratzte er mit allen fünf Fingern seinen zottigen fuchsroten Hinterkopf. V Großvater Lodyshkin wußte seit langem einen stillen Winkel zwischen Mißchor und Alupka, etwas unterhalb des tiefer gelegenen Weges, wo man ungestört ein Frühstück einnehmen konnte. Dorthin führte er seine Gefährten. Unweit der über einen brausenden, schmutzigen Gebirgsbach führenden Brücke sprudelte im Schatten krummer Eichen und dichtstehender Haselnußbüsche ein kalter Wasserstrahl aus der Erde. Er hatte sich im Boden ein rundes flaches Loch geschaffen, von dem er als dünne Schlange, wie Quecksilber im Grase blitzend, zum Bach hinunterlief. „Schwer ist unsere Sündenlast, die Vorräte aber sind leicht“, seufzte der Großvater und setzte sich in den kühlenden Schatten unter die Haselnußbüsche. „Komm her, Serjosha, Gott segne uns.“ Einem groben Leinensack entnahm er Brot, ein Dutzend roter Tomaten, bessarabischen Käse, „Brynsa“ genannt, und eine Flasche Olivenöl. Das Salz hatte er in ein Läppchen von
zweifelhafter Sauberkeit eingebunden. Bevor er zu essen begann, bekreuzigte sich der Alte lange und inbrünstig, dabei flüsterte er etwas Unverständliches vor sich hin. Dann brach er ein Stück Brot in drei ungleiche Teile. Einen davon, den größten, reichte er Sergej (der Bursche wächst ja doch, muß essen), den anderen, etwas kleineren, bekam der Pudel, und den kleinsten behielt er für sich. „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Aller Augen warten auf dich, o Herr“, flüsterte er, während er emsig die Portionen verteilte und sie mit dem Öl aus der Flasche begoß. „Iß, Serjosha!“ Ohne Hast, langsam und schweigend, wie richtige ermüdete Arbeitsleute essen, machten sich die drei an ihr bescheidenes Mittagsmahl. Nur das Kauen von drei Paar Kiefern war zu hören. Arto fraß seinen Teil etwas abseits; er hatte sich auf den Bauch lang gestreckt und hielt das Brot mit den Pfoten. Der Großvater und Sergej tunkten abwechselnd die reifen Tomaten in das Salz und aßen Käse und Brot dazu. Der Tomatensaft lief ihnen über Lippen und Finger. Als sie gesättigt waren, hielten sie einen blechernen Becher unter die Quelle und tranken. Das Wasser war klar und so kalt, daß der Becher von außen beschlug. Es schmeckte ausgezeichnet. Von der Hitze des Tages und der langen Wanderung waren die Artisten, die schon bei Tagesgrauen aufgebrochen waren, erschöpft. Dem Großvater fielen die Augen zu. Sergej gähnte und rekelte sich. „Wie war’s, Brüderchen, wollen wir uns nicht ein Weilchen schlafen legen?“ fragte der Großvater. „Ich muß nur noch mal von dem Wasser trinken. Ach, tut das wohl!“ ächzte er, den Becher vom Munde nehmend und schwer atmend, während ihm die hellen Wassertropfen von Bart und Schnurrbart
liefen. „Wenn ich Zar wäre, würde ich nur immer dieses Wasser trinken… von früh bis in die Nacht!… Arto, komm hierher! Jaja, Gott hat uns wohlbedacht, hat uns satt gemacht, und niemand hat es uns mißgönnt und uns darob gekränkt. Oje, oje!“ Der Alte und der Knabe legten sich ihre alten Joppen unter die Köpfe und streckten sich nebeneinander ins Gras, über ihnen rauschte das dunkle Laub der knorrigen, weitverzweigten Eichen. Durch das Blätterdach lugte der klare blaue Himmel. Das Bächlein, das von Stein zu Stein sprang, murmelte eintönig und so einschmeichelnd, als wäre es dabei, jemanden mit seinem einschläfernden Murmeln zu verzaubern. Der Großvater drehte und wendete sich noch eine Weile ächzend hin und her und sprach vor sich hin, Sergej aber schien es, als höre er, schläfrig und weich, seine Stimme aus unendlicher Ferne und als wären seine Worte unverständlich und wunderlich wie in einem Märchen. „Vor allem kauf ich dir ein Kostüm: ein rosa Trikot mit Gold… dazu rosa Atlasschuhe… In Kiew oder in Charkow oder, sagen wir, in der Stadt Odessa – da gibt es Zirkusse, mein Lieber… Lampen ohne Zahl, überall brennt elektrisches Licht. Fünftausend Menschen oder auch mehr… was weiß ich! Einen Namen suchen wir für dich aus, einen italienischen. Was ist das schon für ein Name: Jestifejew oder gar Lodyshkin? Ohne Sinn – man kann sich rein gar nichts dabei denken. Wir werden auf die Plakats malen. Antonio – oder Enrico und Alphonso sind zum Beispiel auch nicht übel.“ Weiter hatte der Knabe nichts mehr gehört. Eine zärtliche, lockende Schläfrigkeit hatte von ihm Besitz ergriffen, fesselte seine Glieder und macht© sie kraftlos. Auch der Großvater hatte allmählich, dea Faden seiner liebsten Nachmittags-
gedanken, die sich mit Sergejs glänzender Zukunft befaßten, verloren und war eingeschlafen. Einmal war es ihm gewesen, als knurrte Arto jemanden an. Für einen Moment tauchte in seinem schlafumnebelten Hirn die Erinnerung an den Hausknecht im rosa Hemd auf, doch von Hitze, Müdigkeit und Schlaf überwältigt, vermochte er sich nicht zu erheben, und so rief er nur träge, mit geschlossenen Augen den Hund an: „Wohin, Arto? Wart, ich werd dir gleich helfen, du Ausreißer!“ Und schon verwirrten sich seine Gedanken wieder und verschmolzen mit schweren, formlosen Träumen… Aufgeweckt wurde der Alte schließlich von Sergejs Stimme. Der Junge lief jenseits des Bächleins auf und nieder, pfiff durchdringend und schrie laut mit Unruhe und Schrecken in der Stimme: „Arto! Zurück! Arto, zurück!“ „Was brüllst du da, Sergej?“ fragte Lodyshkin unzufrieden und mühte sich, seinen abgestorbenen Arm geradezubiegen. „Wir haben unseren Hund verschlafen!“ gab der Junge gereizt und grob zurück. „Der Hund ist fort!“ Er ließ wieder einen schrillen Pfiff ertönen und schrie noch einmal: „Arto – o – o!“ „Red keinen Unsinn!… Er wird schon wiederkommen“, sagte der Großvater, sprang aber schnell auf die Beine und rief seinerseits mit ärgerlicher, vom Schlaf noch heiserer Greisenstimme nach dem Hund: „Arto, hierher, du Hundesohn!“ Hastig, mit kleinen stolpernden Schritten lief er über die Brücke und ein Stück die Chaussee entlang; dabei hörte er nicht auf, nach dem Hund zu rufen. Vor ihm lag die eine halbe Werst weit gut zu übersehende blendendweiße glatte Straße, es war aber weder eine Gestalt noch irgendein Schatten darauf zu entdecken.
„Arto! Ar – to – schen – ka!“ heulte nun auch der Alte kläglich los. Auf einmal aber blieb er stehen, bückte sich tief zur Straße hinunter und hockte sich schließlich hin. „Aha! So steht es also“, murmelte er mit erloschener Stimme. „Sergej! Serjosha, komm mal hierher!“ „Was hast du denn wieder?“ gab der Junge grob zurück und kam auf Lodyshkin zu. „Hast wohl den gestrigen Tag gefunden?“
„Serjosha… was ist das? Hier, das hier, was ist das« Begreifst du das?“ fragte kaum hörbar der Alte. Mit traurigem,
verstörtem Blick sah er den Knaben an, seine auf den Boden zeigende Hand zitterte. In dem weißen Straßenstaub lag ein ziemlich großes, nicht zu Ende gefressenes Stück Wurst, und rundherum sah man nach allen Richtungen Hundespuren laufen. „Dieser Schuft hat doch den Hund weggelockt!“ flüsterte der Großvater voller Schrecken, immer noch in hockender Stellung. „Kein anderer als er, das ist klar… Weißt du noch, vorhin, am Meer, da hat er ihn doch immerzu mit Wurst gefüttert.“ „Ja, das ist klar“, wiederholte Sergej finster, voller Wut. Die weit aufgerissenen Augen des Großvaters füllten sich plötzlich mit großen Tränen, die Lider flatterten. Er deckte seine Hände darüber. „Was sollen wir nun tun, Serjoshenka? Wie? Was sollen wir tun?“ fragte der alte Mann hilflos schluchzend und wankend. „Was tun, was tun!“ äffte Sergej böse nach. „Steh auf, Großvater Lodyshkin, und komm!“ „Komm“, wiederholte mit müder Ergebenheit der Alte und erhob sich vom Boden. „Tja, gehen wir, Serjoshenka!“ Sergej verlor endgültig die Geduld und schrie den Alten an, als wäre er ein kleines Kind; „Was stellst du dich so dumm an! Wo ist denn das erlaubt, fremde Hunde wegzulocken? Klappere nicht so mit den Augen! Ist das nicht wahr, was ich sage? Wir gehen einfach hm und sagen: ,Gib den Hund zurück!’ Und tut er es nicht – gleich hin zum Friedensrichter, und damit basta.“ „Zum Friedensrichter… ja… gewiß doch… das ist richtig, das mit dem Friedensrichter“, wiederholte Lodyshkin mit sinnlosem, bitterem Lächeln, während seine Augen verlegen und unstet umherliefen. „Zum Friedensrichter… ja… Die
Sache ist nur die, Serjoshenka… es geht nicht,,, das mit dem Friedensrichter.“ „Wieso geht das nicht? Das Gesetz gilt doch für alle. Was willst du dir denn alles von ihnen gefallen lassen?“ unterbrach der Junge ungeduldig den Alten. „Serjosha, du mußt mir nicht… mußt mir nicht böse sein. Den Hund können wir uns nicht wiederholen.“ Der Großvater dämpfte geheimnisvoll die Stimme. „Der Paß macht mir Sorgen. Hast du gehört, wie der Herr gefragt hat? Er hat gefragt: ,Hast du überhaupt einen Paß?’ Das ist es ja. Ich habe nämlich“, der Großvater machte ein ängstliches Gesicht und flüsterte kaum hörbar, „ich habe nämlich einen fremden Paß, Serjosha!“ „Wieso einen fremden?“ „Ja – einen fremden. Den meinen habe ich in Taganrog verloren, es kann auch sein, daß er mir gestohlen wurde. Zwei Jahre lang habe ich mich danach ohne Paß herumgedrückt, habe mich versteckt, habe Schmiergelder gezahlt, Gesuche geschrieben. Schließlich aber habe ich eingesehen – so geht’s nicht weiter. Ich lebte wie ein Hase, vor allen und jedem mußte ich mich verstecken. Ich hatte gar keine Ruhe mehr. Da lernte ich in einer Herberge in Odessa einen Griechen kennen. Eine Kleinigkeit, so sagte er. Leg fünfundzwanzig Rubel auf den Tisch, Alter, und ich werde dir für alle Ewigkeit einen Paß besorgen. Ich habe es mir hin und her überlegt. Ach, ist doch alles egal, dachte ich. Gib her, habe ich schließlich gesagt. Na, und von da an, mein Lieber, lebe ich eben mit einem fremden Paß.“ „Ach, Großvater, Großvater!“ seufzte Sergej tief auf mit Tränen in der Brust. „Mir tut es so leid um den Hund. Er war so ein prachtvoller Hund…!“ „Serjoshenka, mein Lieber du!“ Der Alte streckte ihm die
zitternden Hände entgegen. „Hätte ich nur einen richtigen Paß, glaubst du, ich würde mich daran kehren, daß sie Generale sind? An die Gurgel würde ich ihnen springen! .Gestatten Sie mal! Wie denken Sie sich das? Was haben Sie für ein Recht, fremde Hunde zu stehlen? Wo gibt es für so etwas ein Gesetz?’ Jetzt aber ist es aus mit uns, Serjosha Komme ich zur Polizei – ist das erste: ,Zeig den Paß her! Bist du der Kleinbürger Martyn Lodyshkin aus Samara? – ,Ich bin es, Euer Hochwohlgeboren. Ich bin aber gar nicht Lodyshkin, mein Lieber, und auch gar nicht Kleinbürger, sondern der Bauer Iwan Dudkin. Wer aber dieser Lodyshkin ist – weiß Gott allein. Was weiß ich, vielleicht ist er irgendein Dieb oder ein entlaufener Zwangsarbeiter? Oder vielleicht sogar ein Mörder? Nein, Serjosha, nichts werden wir ausrichten können. Gar nichts, Serjosha!“ Die Stimme des Großvaters versagte, als hätte er sich verschluckt. Wieder liefen ihm die Tränen über die tiefen, von der Sonne gebräunten Runzeln. Sergej, der dem völlig gebrochenen Greis schweigend, mit vor Erregung blassem Gesicht und mit zusammengezogenen Augenbrauen zugehört hatte, faßte ihn nun plötzlich unter die Arme und versuchte ihn aufzurichten. „Komm, Großvater“, sagte er bestimmt und doch zärtlich zugleich. „Der Teufel soll den Paß holen, komm! Wir können ja hier auf der Chaussee nicht übernachten.“ „Du mein Lieber, mein Guter!“ brabbelte, am ganzen Körper zitternd, der Alte. „Das Hündchen war gar zu possierlich… unser Artoschenka… So einen werden wir nicht mehr finden…“ „Schon gut, schon gut. Steh auf!“ drängte Sergej. „Komm, ich will dir erst einmal den Staub abklopfen. Du bist ja ganz aus der Fassung geraten, Großvater.“
An diesem Tage arbeiteten die beiden Artisten nicht mehr. Ungeachtet seiner Jugend begriff Sergej recht gut die verhängnisvolle Bedeutung des Wortes „Paß“. Deshalb bestand er nicht auf einem weiteren Suchen nach Arto, auf dem Friedensrichter oder sonstigen Maßnahmen. Wählend er aber neben dem Großvater einer Herberge für die Nacht entgegenschritt, zeigte sein Gesicht einen neuen, eigensinnigen und gleichzeitig gesammelten Ausdruck, als hatte er etwas überaus Wichtiges und Großes vor. Ohne Verabredung, doch offensichtlich aus dem gleichen geheimen Antrieb heraus, schlugen sie einen Bogen, um noch einmal an der Datsche „Freundschaft“ vorbeizukommen, und verhielten vor dem Tor ein Weilchen den Schritt, wohl in der schwachen Hoffnung, Arto zu sehen oder wenigstens sein Bellen zu hören. Doch das kunstvoll geschmiedete Tor der prächtigen Datscha war fest verschlossen, und in dem schattigen Garten, unter den schlanken, trauernden Zypressen herrschte eine strenge, durch nichts erschütterte, feierliche Stille. „Herr – schaf – ten!“ sprach mit zischender Stimme der Alte und legte in dieses Wort die ganze beißende Bitternis, die sein Herz erfüllte. „Laß gut sein, komm!“ befahl der Knabe rauh und zog seinen Begleiter am Ärmel. „Serjoshenka, vielleicht entkommt ihnen Artoschka doch noch?“ schluchzte der Alte aufs neue. „Meinst du nicht? Wie denkst du darüber, mein Lieber?“ Doch der Knabe gab dem Alten keine Antwort. Er ging mit großen, festen Schritten voraus. Seine Augen blickten unentwegt auf die Straße unter seinen Füßen, und die feinen Brauen waren über der Nasenwurzel zornig zusammengezo-
gen. VI Schweigend erreichten sie Alupka. Der Großvater hatte den ganzen Weg über geächzt und geseufzt. Sergejs Gesicht hatte den zornigen, entschlossenen Ausdruck beibehalten. In einem schmutzigen türkischen Kaffeehaus, welches den glänzenden Namen „Yldyz“, was soviel wie „Stern“ heißt, führte, nahmen sie Obdach für die Nacht. Sie teilten das Quartier mit griechischen Steinmetzen, türkischen Erdarbeitern, einigen russischen Arbeitern, die ihr Dasein als Tagelöhner fristeten, und noch verschiedenen verdächtigen Vagabunden, von denen es damals so viele im Süden Rußlands gab. Nachdem das Kaffeehaus zu einer bestimmten Stunde geschlossen wurde, verteilten sich alle auf die sich an den Wänden hinziehenden Bänke oder direkt auf dem bloßen Fußboden. Diejenigen, die schon erfahrener waren, legten sich aus durchaus angebrachter Vorsorge alles, was sie an mehr oder minder Wertvollem besaßen, unter den Kopf. Es war schon weit über Mitternacht, als sich Sergej, der neben dem Großvater auf dem Fußboden lag, vorsichtig aufrichtete und geräuschlos anzuziehen begann. Durch ein breites Fenster strömte blasses Mondlicht in den Raum, breitete sich als zitternde Decke schräg über den Fußboden und ließ die Gesichter der wahllos hingestreckten schlafenden Menschen leidend, ja tot erscheinen. „Wo willst du mitten in der Nacht hin, Junge?“ rief der junge Türke Ibrahim, der Besitzer des Kaffeehauses, mit verschlafener Stimme Sergej in der Tür an. „Laß mich durch, ich muß raus!“ antwortete Sergej rauh und sachlich. Ibrahim kratzte sich und gähnte, schnalzte vorwurfsvoll mit
der Zunge und schloß die Tür auf. Die schmalen Straßen des Tatarenmarktes lagen in tiefem dunkelblauem Schatten, der mit seinem gezackten Muster das ganze Pflaster bedeckte und bis an den Fuß der Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite reichte, wo niedrige Wände grellweiß im Mondlicht leuchteten. In der weiteren Umgebung der Ortschaft bellten Hunde. Von der oberen Chaussee her schallten klingend die Hufschläge eines Pferdes, das im Paßgang trabte. Nachdem der Knabe eine weiße, von einer Gruppe schweigsamer Zypressen umgebene Moschee mit einer zwiebelförmigen grünen Kuppel passiert hatte, gelangte er in eine enge, krumme Gasse, die zur Hauptstraße führte. Um leichter laufen zu können, hatte Sergej nur sein Trikot angezogen, kein Obergewand. Der Mond stand ihm im Rücken, und so lief sein Schatten als lustig verkürzte Silhouette vor ihm her. Zu beiden Seiten der Chaussee duckte sich dunkles, krauses Gebüsch. Darin rief eintönig in gleichmäßigen Abständen ein Vögelchen mit feiner, zarter Stimme „Splju’… Splju…“, und Sergej schien es, als müßte das Vögelchen im Dunkel der Nacht ein trauriges Geheimnis hüten, als kämpfe es erschöpft gegen Schlaf und Müdigkeit an und klage nun still und ergeben, in vollkommener Hoffnungslosigkeit, über dem dunklen Gebüsch aber und den blau schimmernden Kuppen ferner Wälder erhob sich, seine beiden Zacken in den Himmel stemmend, der Aj-Petri – so leicht, so scharf umrissen und luftig, daß man glauben konnte, er wäre aus einer riesigen silberfarbenen Pappe geschnitten. Sergej war es inmitten dieses hoheitsvollen Schweigens, das von seinen Schritten so hart und frech unterbrochen wurde, etwas beklommen zumute. Gleichzeitig aber wurde sein Herz von einer eigentümlich prickelnden, zu Kopf stei-
genden Verwegenheit erfüllt. Hinter einer Biegung lag plötzlich das Meer vor ihm. Riesengroß und voller Ruhe kräuselte es sich leicht und feierlich. Vom Horizont zur Küste lief ein schmaler silbrig schimmernder Weg. In der Mitte des Meeres verschwand er, nur hier und da glänzte er wieder auf. Dicht am Land aber floß er breit auseinander wie lebendes Metall. Lautlos schlüpfte Sergej durch ein hölzernes Pförtchen in den Park. Unter dem dichten Laubdach der Bäume war es ganz finster. Sergej hörte das Rauschen eines nimmermüden Baches und spürte auch seinen feuchten, kalten Atem. Hart hämmerten seine Fußtritte auf den hölzernen Bohlen einer Brücke. Das Wasser darunter sah schwarz und unheimlich aus. Da, endlich, stand Sergej vor dem zierlich geschmiedeten, von Glyzinien umrankten hohen Eisengitter des Tores. Durch die Lücken im Laubwerk huschte Mondlicht und glitt in schwach leuchtenden Flecken über das Torgitter. Jenseits herrschte Finsternis und hellhörig lauernde Stille. Einige Augenblicke lang spürte Sergej etwas wie Kleinmut, beinahe wie Angst, doch bald überwand er dieses lähmende Gefühl und flüsterte trotzig: „Ich klettere doch hinüber! Ganz gleich!“ Das Hinaufklettern fiel ihm nicht schwer. Die zierlichen eisernen Schnörkel im Torgitter dienten als Stützen für seine sicher greifenden Hände und die kleinen festen Füße. Oben über dem Tor schwang sich von einem Steinpfeiler zum anderen ein breiter, ebenfalls steinerner Bogen. Sergej zog sich, mit den Händen tastend, hinauf, legte sich auf den Bauch und ließ auf der anderen Seite seine Beine über das Tor hinunterhängen. Langsam schob er seinen Körper nach, wobei er mit den Füßen nach einem Stützpunkt angelte. Auf diese Weise hing er schließlich, sich nur noch mit den Fin-
gern am Steinbogen festklammernd, mit gestreckten Armen herab, ohne daß seine Füße eine Stütze gefunden hatten. Bei seinem ersten Besuch im Garten war es ihm nicht aufgefallen, daß der Steinbogen über dem Gartentor innen viel weiter überstand als außen, und je mehr seine Hände erstarrten, je schwerer der hängende Körper wurde, desto größer wurde das Entsetzen, das sich seiner bemächtigte. Schließlich war seine Kraft zu Ende. Die eine scharfe Kante umklammernden Finger ließen los, und er flog nach unten. Sergej hörte, wie der grobe Kies unter ihm knirschte, und spürte einen stechenden Schmerz in den Knien. Einige Sekunden lag er, betäubt vom Fall, auf allen vieren. Er glaubte nicht anders, als daß gleich alle Bewohner der Datscha aufwachen, der finstere Hausknecht in dem rosa Hemd angerannt kommen und Geschrei und Tumult sich erheben würden. Doch ringsum herrschte nach wie vor feierliche Stille. Nur ein eigentümlicher, tiefer, eintönig summender Ton schwang durch den Garten: „Summ… Summ… Summ…“ Ach, das rauscht ja nur in meinen Ohren, begriff auf einmal Sergej. Er sprang auf die Füße. Im Garten war es so schrecklich, geheimnisvoll und märchenhaft schön zugleich, als wäre’ er angefüllt von herrlichen Träumen. Auf den Beeten schaukelten leise die im Dunkel kaum sichtbaren Blumen. Es schien, als neigten sie sich in banger Unruhe einander zu und flüsterten miteinander. Die schlanken dunklen, duftenden Zypressen nickten ruhig, versonnen und vorwurfsvoll mit ihren spitzen Wipfeln, über dem Bach, drüben im dichten Gebüsch, aber wehrte sich noch immer ein kleines, müdes Vögelchen gegen den Schlaf und wiederholte klagend sein „Splju… Splju… Splju…“ Jetzt, in der Nacht, inmitten der verschlungenen Schatten,
fand sich Sergej nicht gleich im Garten zurecht. Lange irrte er auf den knirschenden Kieswegen umher, ehe er zum Haus fand. Noch nie im Leben hatte der Junge ein so quälendes Gefühl vollkommener Hilflosigkeit, Verlassenheit und Einsamkeit empfunden wie jetzt. Das riesige Haus erschien ihm angefüllt von erbarmungslosen, lauernden Feinden, welche heimlich, mit bösem Lächeln von den dunklen Fenstern aus jede seiner Bewegungen genau verfolgten. Schweigend und ungeduldig warteten die Feinde auf ein Signal, auf einen drohenden, vernichtenden Befehl. „Nein, nicht im Haus… im Haus kann er nicht sein“, flüsterte der Knabe wie im Traum. „Im Haus würde er stören, er könnte ja heulen…“ Er ging um das Haus herum. Auf dem weiten Hof dahinter standen einige unansehnliche Gebäude, die offensichtlich für das Dienstpersonal bestimmt waren. Genauso wie im großen Haus war auch hier in keinem einzigen Fenster mehr ein Licht zu sehen; nur der Mond spiegelte sich mit mattem Glanz in den dunklen Scheiben. Hier werde ich nie wieder herauskommen, nie wieder, sagte sich Sergej mit beklommenem Herzen. Für einen Augenblick erinnerte er sich an den Großvater, an den alten Leierkasten, die Nachtlager in Kaffeehäusern und die Mahlzeiten an kühlen Quellen. „Nichts, nichts von alledem werde ich je wiedersehen“, sprach er traurig vor sich hin. Je hoffnungsloser aber seine Gedanken wurden, desto mehr wich das Angstgefühl in seiner Seele einer stumpfen, verzweiflungsvollen Wut. Ein feines Fiepen streifte plötzlich wie ein fernes Seufzen sein Ohr. Regungslos, ohne zu atmen, verharrte der Junge mit angespannten Muskeln hochgereckt auf den Zehenspitzen. Der Ton wiederholte sich. Es schien, als käme er aus
dem Keller, neben dem Sergej stand und zu dem die Außenluft durch eine Reihe kleiner viereckiger, unverglaster Öffnungen Zutritt hatte, über eine blumenbeetähnliche Böschung näherte sich der Knabe der Mauer, legte sein Gesicht an eines der Luftlöcher und stieß einen Pfiff aus. Ein leises, durchdringendes Geräusch wurde von unten hörbar, legte sich aber sofort wieder. „Arto! Artoschka!“ rief Sergej mit bebender Stimme. Auf einmal erfüllte ein wildes, abgerissenes Gebell den Garten und hallte aus den entferntesten Winkeln wider. In dieses Gebell mischten sich zugleich mit einem frohlockenden Willkommen Töne der Klage, der Wut und des körperlichen Schmerzes. Es war zu hören, daß der Hund in dem dunklen Keller aus Leibeskräften an etwas zerrte, bestrebt, sich zu befreien. „Arto! Mein Hundchen!… Artoschenka!…“, wiederholte der Knabe mit weinerlicher Stimme. „Kusch, verdammter Hund!“ erscholl plötzlich unten das viehische Gebrüll einer tiefen Baßstimme. Ein Schlag hallte aus dem Keller. Der Hund brach in langgezogenes, sich überschlagendes Heulen aus. „Du darfst ihn nicht schlagen! Du darfst den Hund nicht schlagen, Verfluchter!“ schrie Sergej ganz außer sich und kratzte mit den Nägeln an der Mauer. An alles, was nun folgte, konnte sich Sergej später nur noch dunkel erinnern, als wäre es in schrecklichen Fieberträumen geschehen. Die Tür des Kellers flog auf, schlug krachend zurück, und der Hausknecht stürzte heraus. Das helle Mondlicht schien ihm direkt in das bleiche Gesicht. Nur in Unterhose, barfuß und bärtig, erschien er Sergej wie ein Riese, wie ein wutschnaubendes Märchenungetüm.
„Wer treibt sich hier herum? Ich schieß dich tot!“ grollte seine Stimme wie ein Donner durch den Garten. „Diebe! Räuber!“ Aber gleichzeitig schoß aus dem Dunkel der offenen Tür wie ein weißer hüpfender Knäuel, laut bellend, Arto. Am Hals baumelte ihm das abgerissene Ende eines Strickes. Der Junge aber beachtete ihn nicht. Der drohende Anblick des Hausknechts hatte ihn mit maßlosem Entsetzen erfüllt, lähmte ihm die Füße, lähmte seinen ganzen kleinen, schmächtigen Körper. Doch zum Glück dauerte diese Erstarrung nicht lange. Fast unbewußt stieß Sergej einen durchdringenden langen, verzweifelten Schrei aus und stürzte, vor Schreck seiner Sinne nicht mehr mächtig, Hals über Kopf davon. Er stürmte dahin wie ein Vogel. Seine Füße, die plötzlich stark geworden waren wie zwei Stahlfedern, trommelten in schnellem Wirbel hart auf die Erde. Neben ihm her sprang mit jaulendem, fröhlichem Gebell Arto. Hinter ihnen stampfte mit schwerem Schritt und wüstem Geschimpfe der Hausknecht über den Sand. Im vollen Lauf prallte Sergej gegen das Tor. Blitzschnell aber begriff er, nicht mit dem Verstand, sondern wohl eher mit dem Gefühl, daß es hier keinen Ausweg für ihn gab. Zwischen der weißen Mauer und der an ihr entlangführenden Reihe Zypressen zeigte sich ein dunkles, schmales Schlupfloch. Ohne lange zu überlegen, nur der Angst gehorchend, bückte sich Sergej, schlüpfte hinein und rannte längs der Mauer weiter. Die stark, fast beißend nach Harz duftenden spitzen Nadeln der Zypressen peitschten ihm ins Gesicht. Er stolperte über Wurzeln, schlug hin und riß sich die Hände blutig, sprang aber jedesmal wieder auf und rannte weiter, sich krümmend und stöhnend vor Schmerzen. Arto folgte ihm auf den Fersen. So lief er durch den schmalen Korridor,
der auf der einen Seite von der hohen Mauer, auf der anderen von der dichten Reihe Zypressen begrenzt war, lief wie ein kleines, vor Entsetzen scheu gewordenes Tier, das in eine endlose Falle geraten war. Sergejs Mund war wie ausgedörrt, jeder Atemzug stach ihn in der Brust wie tausend Nadeln. Das Stampfen des Hausknechts klang bald von rechts, bald von links, und der Knabe, der endgültig den Kopf verloren hatte, stürzte bald vor, bald zurück, kam einige Male wieder am Tor vorbei und tauchte erneut in dem engen, dunklen Schlupfloch unter. Schließlich war Sergej am Ende seiner Kraft. Statt des wahnsinnigen Entsetzens bemächtigte sich seiner immer mehr und mehr ein kaltes, totes Weh, eine träge Gleichgültigkeit gegenüber jeder Gefahr. Er setzte sich unter einen Baum, preßte seinen vor Müdigkeit kraftlosen Körper an den Stamm und kniff die Augen zu. Immer näher und näher knirschte der Sand unter den schweren Tritten des Feindes. Arto fiepte leise und steckte seine Schnauze zwischen Sergejs Knie. Zwei Schritte von dem Jungen entfernt raschelten Zweige, sie wurden von Händen auseinandergebogen. Sergej blickte gedankenlos nach oben und sprang plötzlich, von einer unbändigen Freude ergriffen, auf die Füße. Erst jetzt bemerkte er, daß die Mauer vor ihm niedrig war, nicht höher als anderthalb Arschin. Ihr oberer Rand war zwar voller Flaschenscherben, die auf den Steinen festgemauert waren, doch darüber machte sich Sergej keine Gedanken.! Blitzschnell faßte er Arto um den Leib und hob ihn mit den Vorderpfoten gegen die Mauer. Der kluge Hund verstand ihn sofort. Im Handumdrehen hatte er die Mauer erklommen, wedelte mit dem Schweif und bellte siegesgewiß. Ihm nach schwang sich auch Sergej hinauf, gerade in dem Augenblick, als sich in den auseinan-
dergebogenen Zypressenzweigen eine große Gestalt zeigte. Zwei geschickte, geschmeidige Körper – der Knabe und der Hund – sprangen behend und weich hinunter auf die Straße. Ihnen nach ergoß sich, wie ein schmutziger Strom, häßliches, wütendes Geschimpfe. War nun der Hausknecht weniger behend als die beiden Freunde, war er müde von dem endlosen Hin und Her im Garten, oder hatte er eingesehen, daß es aussichtslos war, die beiden Flüchtlinge einzuholen, jedenfalls gab er die Verfolgung auf. Trotzdem liefen die beiden noch lange, ohne sich Ruhe zu gönnen, beide stark und behend, wie beflügelt von der Freude über ihre Befreiung. Der Pudel hatte bald seine übliche Munterkeit wiedergewonnen. Während Sergej immer noch ängstlich zurückschaute, sprang Arto schon wieder an ihm hoch, ließ fröhlich seine Ohren und das Strickende flattern und brachte es fertig, seinem Freund das Gesicht zu lecken. Erst an der Quelle, an der Sergej tags zuvor mit dem Großvater gegessen hatte, kam er endlich zu sich. Mensch und Tier beugten sich gemeinsam über das kalte Wasser und schlürften lange und gierig das frische, wohlschmeckende Naß. Sie stießen sich gegenseitig weg oder hoben hin und wieder die Köpfe, um nach Luft zu schnappen. Dabei tropfte ihnen das Wasser von den Lippen, und wieder bückten sie sich mit neuer Gier zum Wasser hinab, nicht imstande, sich davon zu trennen. Als sie dann schließlich von der Quelle abließen und ihren Weg fortsetzten, schwappte und gluckerte das Wasser in ihren überfüllten Bäuchen. Die Gefahr war überstanden, alle Schrecken der Nacht lagen weit hinter ihnen, es lief sich so leicht und froh auf der weißen, vom Mond hellbeleuchteten Straße zwischen dem dunklen Gebüsch, dem bereits die
morgendliche Feuchtigkeit und der süße Duft des erfrischten Laubes entstiegen. – Im- Kaffeehaus „Yldyz“ begrüßte Ibrahim den Knaben mit vorwurfsvollem Flüstern: „Was treibst du dich herum, Junge? Was treibst du dich herum? Ach, ach, ach, das ist nicht gut…“ Sergej wollte den Großvater nicht wecken, doch das besorgte Arto schon für ihn. Im Nu hatte er den Alten aus dem Haufen der am Boden liegenden Leiber herausgefunden und ihm, noch bevor dieser recht zu sich gekommen war, mit freudigem Fiepen Wangen, Augen, Nase und Mund beleckt. Der Großvater erwachte, sah den Strick am Halse des Pudels, sah den neben sich liegenden staubbedeckten Knaben – und hatte sogleich begriffen. Er wollte gern wissen, wie Sergej das geschafft hatte, doch er konnte nichts mehr erfahren. Die Arme ausgebreitet, den Mund weit offen, lag der Knabe bereits in tiefem Schlaf.
Alexander Iwanowitsch Kuprin Dieser beliebte russische Schriftsteller lebt heute nicht mehr Er starb im Jahre 1938 im Alter von 68 Jahren, Als junger Mensch war Kuprin kreuz und quer durch das damalige russische Zarenreich gewandert und hatte oft bittere Erfahrungen gesammelt. Immer wieder mußte er auf seinen Wanderungen erleben, wie ungerecht es im Zarenreich zuging, und immer wieder fragte er sich, ob es denn nicht möglich sei, daß alle Menschen glücklich und zufrieden leben könnten. Als Kuprin dann eines Tages zu schreiben begann, zunächst kleine Artikel und Skizzen, protestierte er aus innerster Überzeugung gegen alle Willkür und Ungerechtig-
keit. Auch die Geschichte vom „Weißen Pudel“ zeigt, daß seine ganze Liebe den rechtlosen, schlichten Menschen gehört, unter deren ärmlicher .Kleidung ein edles, warmes Herz schlägt.