Atlan ‐ Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 709 Das neue Konzil
Der Modulmann von H. G. Ewers
Sie folgt der Spur ...
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Atlan ‐ Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 709 Das neue Konzil
Der Modulmann von H. G. Ewers
Sie folgt der Spur durch Zeit und Raum
Auf Terra schreibt man die Jahreswende 3818/19, als der Arkonide sich nach einer plötzlichen Ortsversetzung in einer unbekannten Umgebung wiederfindet, wo unseren Helden alsbald ebenso gefährliche Abenteuer erwarten wie etwa in der Galaxis Alkordoom, der bisherigen Stätte seines Wirkens. Atlans neue Umgebung, das ist die Galaxis Manam‐Turu. Und das Fahrzeug, das dem Arkoniden die Möglichkeit bietet, die fremde Sterneninsel zu bereisen, um die Spur des Erleuchteten, seines alten Gegners, wieder aufzunehmen, ist ein hochwertiges Raumschiff, das Atlan auf den Namen STERNSCHNUPPE tauft. Das Schiff sorgt für manche Überraschung – ebenso wie Chipol, der junge Daila, der zum treuen Gefährten des Arkoniden wird. Inzwischen sind rund drei Monate verstrichen, und der Arkonide und der Daila haben schon so manches Abenteuer zwischen den Sternen und auf fremden Welten bestanden – immer auf der Suche nach der Gefahr, die bereits weite Teile von Manam‐Turu zu bedrohen scheint. Aber während unsere beiden Helden, wieder einmal in Gefangenschaft geraten, zu einem Flug ins Ungewisse starten, betreten zwei weitere Wesenheiten, die mit Atlan eng verbunden sind, die kosmische Bühne von Manam‐Turu. Da ist Colemayn, der Sternentramp, zugange, und da wird Anima involviert. Ihr begegnet DER MODULMANN …
Die Hauptpersonen des Romans: Anima ‐ Atlans »Orbiterin« auf einem Flug ins Unbekannte. Neithadl‐Off ‐ Eine angebliche Parazeit‐Historikerin. Nafrein‐Nakruf ‐ Ein kosmischer Prospektor. Grumble‐Oomoch und Hokill‐Hommuf ‐ Assistenten des Prospektors. Goman‐Largo ‐ Gefangener der Zeitgruft von Xissas.
1. Der Schmerz umnebelte ihren Verstand. Es war kein physischer Schmerz, sondern der psychische Schmerz über den Verlust jenes Lebewesens, das ihr am meisten bedeutet hatte, seit es für sie ihr zweiter Ritter der Tiefe geworden war. Atlan! Es war ein Schock für sie gewesen, als sie nach dem Zusammenprall mit dem Auge des Erleuchteten und ihrer unfreiwilligen Rückverwandlung mitangesehen hatte, wie Atlan verschwunden war. Im Unterschied zu anderen Zeugen dieses Vorfalls hatte sie gewußt, daß ihr Ritter nicht umgekommen war. Es gab gar keinen Zweifel für sie daran, daß die Kosmokraten ihn abberufen hatten und daß er dorthin versetzt worden war, wohin der Erleuchtete geflohen war. Sie rechnete ganz selbstverständlich damit, daß auch sie von dem Sog ergriffen würde, der Atlan durch Raum und Zeit zu einem unbekannten Ziel schleuderte. Schließlich war sie seine Orbiterin. Ihre Hoffnung hatte sich als trügerisch erwiesen. Die Kosmokraten kümmerten sich überhaupt nicht um ihr Schicksal. Vielleicht lag es daran, daß sie sie überhaupt nicht orteten – oder wie immer sie es nannten, wenn sie Beauftragte oder andere Personen an der »langen Leine laufen« ließen. Es war vorstellbar, daß die Veränderung, die mit ihr vorgegangen war, das bewirkte.
Denn sie war nicht mehr die ANIMA, die die Kosmokraten in die Galaxis Alkordoom geschickt hatten. Ihre Verzweiflung war so groß wie ihre Verlassenheit. Nur vorübergehend war sie aus dem Schockzustand erwacht, in den sie durch die Trennung von ihrem Ritter gestürzt worden war. Die Zeit hatte gerade dazu gereicht, die Gestalt einer jungen Celesterin anzunehmen, so daß sie von einem Beiboot der VIRGINIA geborgen wurde. Sie hätte bei den Celestern unter Arien Richardson bleiben können, aber sie wußte, daß das auf die Dauer nicht gutgegangen wäre. Sie gehörte zu ihrem Ritter. Deshalb hätte sie nirgendwo Ruhe gefunden. Bis sie wieder mit ihm zusammen war, würde es ihre Lebensaufgabe sein, ihn zu suchen. Dazu war sie fest entschlossen. Allerdings war es für sie nicht so leicht wie früher, räumliche Entfernungen zu überbrücken. In ihrer neuen Daseinsform würde sie nie wieder ein lebendes Raumschiff sein können. Das war ihr endgültig verwehrt. Folglich tat sie das einzig Logische, was sie unter diesen Umständen tun konnte. Sie wartete, bis die Beiboote an Bord der VIRGINIA verlassen waren, dann schlich sie in eines zurück, machte sich mit den Kontrollen vertraut und setzte sich mit einem Blitzstart aus der VIRGINIA ab. Ziellos kreuzte sie mit hektischem Eifer durch die Galaxis Alkordoom beziehungsweise durch ein paar Raumsektoren dieser Sterneninsel, die viel zu groß und unübersichtlich war, als daß ein einzelnes Raumschiff jemals die geringste Chance gehabt hätte, ohne Anhaltspunkte ein anderes Raumschiff darin aufzuspüren – geschweige denn eine einzelne Person. Anima brauchte einige Zeit, bis diese Erkenntnis in ihren Verstand sickerte. Während dieser Zeit machte sie verschiedene Stufen psychischer Überlastungsfolgen durch, die sich unterschiedlich auf sie auswirkten. Eine Auswirkung dieser Zustände war die Namensgebung für das diskusförmige Beiboot der VIRGINIA. Sie nannte es IGEL, weil sie aus den vielen bruchstückhaften Berichten Atlans über einen Planeten namens Erde eine Erinnerung an die
Schilderung eines kleinen Tieres besaß, das sich mit Hilfe von Stacheln gegen die Umwelt isolierte – und weil sie so frustriert war, daß sie sich am liebsten ebenfalls gegen ihre Umwelt isoliert hätte. Das ging aber nicht, denn sie mußte Atlan finden. Also tat sie es wenigstens symbolisch. Aber es war nicht normal, was sie tat. Ohne daß es ihr bewußt gewesen wäre, hatte sich der alte Schockzustand wiedereingestellt, der sie kurz nach dem Verschwinden ihres Ritters befallen hatte. Als Folge davon wurden die Flugmanöver, die sie mit der IGEL vollführte, immer wirrer und zielloser. Es waren die Aktivitäten einer Geisteskranken. Von da an regierte der Zufall ihr weiteres Schicksal, denn jede Systematik war aus ihrem Leben verbannt. Es war rein zufällig, daß sie die IGEL mit mehreren Linearmanövern in die obere Hemisphäre Alkordooms steuerte. Es war ebenso zufällig, daß sie sich dort nicht in eine der vielen Richtungen begab, die in die Galaxis zurück‐ beziehungsweise aus ihr hinausführten, sondern ausgerechnet in die, die sie zum »oberen« Pol der Galaxis bringen würde. Und zum Austrittsort des ungeheuerlichen Jets, eines Materiestrahls, der aber neben staub‐ und gasförmiger Materie auch Materie in Form von Strahlung im sub‐, normal und hochenergetischen Bereich mitführte (ähnlich wie der Jet der Galaxis M 87 im Virgohaufen – von dem Anima aber nichts wußte –, aber viel stärker). Einmal dort, war es kein Zufall mehr, daß die IGEL in den energetischen Sog dieses Jets hineingeriet, sondern die Folge naturgesetzlicher Kausalitäten. Dennoch war nichts vorprogrammiert, denn Anima hatte sich rein willkürlich diesen Kausalfolgen überantwortet. Einmal in den Sog hineingeraten, hätte sie natürlich berechnen können, wie und wohin es sie verschlagen würde. Doch dazu fehlten ihr nicht nur die erforderlichen Daten, sondern es fehlte ihr
auch die Willenskraft, denn sie hielt sich für verloren und glaubte, für immer so weit verschlagen zu werden, daß es aussichtslos geworden war, ihren Ritter jemals wiederzufinden. Ihr Beiboot verschwand unter dem Einfluß dimensional übergeordneter Energien aus dem normalen Raum‐Zeit‐Kontinuum und wurde mit vielfacher Überlichtgeschwindigkeit durch Raum und Zeit katapultiert. Vielleicht würde es dort wieder in den Normalraum hineinstürzen und wieder ein »körperlicher« Bestandteil des »normalen« Kontinuums werden, wo sich der Materiestrahl im Leerraum verlor, vielleicht aber würden die Stürme und Strömungen von Raum und Zeit sie auch an ein noch unbekanntes Ufer verschlagen. So, wie es vor ihr schon ungezählte Raumschiffe und denkende Wesen an ungezählte Strände des unendlichen Ozeans von Raum und Zeit verschlagen hatte … 2. Die Parazeit‐Historikerin schluchzte herzerweichend. Alles hatte sich gegen sie verschworen: die Gerechten und die Ungerechten, die Naturgesetze, der Zufall und das Schicksal. Es war kalt. Draußen war es dunkel. Nur wenige Sterne stanzten helle Punkte in die schwarzsamtene Finsternis des Alls. Sie fühlte sich einsam. Das Schiff vibrierte und stöhnte in allen Fugen und Verbindungen. Wenn es den hochtrabenden Namen ›Schiff‹ überhaupt noch verdiente. Denn es war an mehreren Stellen von Kampfstrahlen aufgeschlitzt, geschwärzt, zerschmettert, verunstaltet. Eigentlich war es kein Raumschiff mehr, sondern ein Wrack.
Dabei hatte die Wissenschaftlerin nichts weiter gewollt, als ihre Suche fortzusetzen, nachdem sie sich davon überzeugt hatte, daß sie auf dem Planeten Ummach nicht das finden würde, hinter dem sie her war. Ja, sie würde dort nicht einmal herausfinden, hinter was sie überhaupt her war. Aber die Maschmoschs, wie sie alle intelligenten Lebewesen zu nennen pflegte, wenn sie sich nicht durch etwas Überragendes aus der Masse heraushoben, waren Banausen. Sie hatten kein Verständnis dafür aufgebracht, daß eine Parazeit‐Historikerin nicht wer weiß wie lange auf ein‐ und demselben Planeten bleiben durfte. Viele hatten ihren Beruf nicht einmal ernst genommen – oder sie hatten ihn zu ernst genommen und sich vor ihr gefürchtet. Es waren eben zu viele Angehörige zu vieler verschiedener intelligenter Völker auf Ummach gewesen – zu viele Maschmoschs. Immer, wenn sie eine Gruppe mit einer Geschichte überzeugt hatte, war eine andere Gruppe gekommen, die alles unter einem anderen Blickwinkel sah und sie der Lüge bezichtigte. Dabei log sie niemals. Außer, wenn sie die Unwahrheit sagte. Aber alles war in sich logisch aufgebaut, so daß es durchaus die Wahrheit sein konnte – jedesmal. Nein, nein! Sie log nicht. Ihre Geschichten stimmten immer. Es war nur die sogenannte Realität, die oftmals nicht mit ihren wahren Geschichten übereinstimmte. Und die Maschmoschs waren oft zu borniert, um die Schönheit einer Geschichte zu erkennen, auch wenn die Realität sich nicht exakt danach korrigieren ließ. Dabei machte es doch gerade dann Spaß, eine Geschichte zu erzählen, wenn sie in der Realität noch nicht stattgefunden hatte. Einfach nur nachzuplappern, was in der Realität geschah, das war schließlich keine Kunst. Dazu benötigte man keine große Intelligenz. Aber die Maschmoschs hatten keine Phantasie. Das war es. Die Wissenschaftlerin sah gar nicht ein, daß sie deswegen auf dem
Planeten Ummach hätte bleiben sollen. Nachdem alle ihre beredten Versuche, von einem Raumschiff als Anhalterin mitgenommen zu werden – wofür sie als Gegenleistung mit ihrer Anwesenheit und ein paar phantasievollen Geschichten geglänzt hätte –, fehlgeschlagen waren und ihr teilweise sogar schnöden Spott eingebracht hatten, war sie auf einen Ausweg verfallen. Auf einem der kleineren Raumhäfen von Ummach hatte seit vielen Umläufen ein kleines Schiff gestanden, die ZIRKOZUM. Doch obwohl es technisch in Ordnung war, denn es war mit dem Siegel der Raumkontrollprüfbehörde versehen, wurde es nicht benutzt. Das alles hatte die Parazeit‐Historikerin in zahlreichen Gesprächen mit Maschmoschs herausgefunden, und in ihr war der Entschluß gereift, das Schicksal der ZIRKOZUM ein wenig zu beleben. Sie hatte einen sogenannten Prupossk geschrieben, eine Art Urkunde, mit der sie das Fremdeigentum der ZIRKOZUM anerkannte und sich in den Stand der zeitlich befristeten Inbesitznahme versetzte. Diese Urkunde hatte sie, mit einem Stein beschwert, am Standplatz des Schiffes hinterlegt. Danach war sie gestartet. Mit den Kontrollen hatte sie sich selbstverständlich lange vorher schon vertraut gemacht gehabt, denn sie war eine verantwortungsvolle Besitzerin. Damit hätte alles in bester Ordnung sein können. Aber die Behörden von Ummach hatten in beispielloser Sturheit ihren Prupossk nicht nur nicht anerkannt, sondern zudem noch ihre Besitzergreifung als ungesetzlich bezeichnet. Wo doch alle Gesetze raumfahrttreibender Zivilisationen zwischen Eigentümern und Besitzern unterschieden und nirgendwo darauf bestanden, daß sie immer und überall und unter allen Umständen identisch zu sein hätten. Auch das wäre noch erträglich gewesen, wenn sie es bei einer entsprechenden Benachrichtigung belassen hätten. Doch sie waren soweit gegangen, daß sie nicht einmal die Kosten scheuten, ein anderes Raumschiff zu betanken, zu bemannen und der
ZIRKOZUM nachzuschicken – eine Verschwendung von Steuermitteln, die die Wissenschaftlerin für undenkbar gehalten hatte. Aber nicht einmal damit war das Faß voll gewesen. Nein, sie hatten die ZIRKOZUM nicht nur verfolgt, um sie zu stellen, wenn sie irgendwo landete. Sie hatten einfach das Feuer eröffnet, als sie sie im freien Raum eingeholt hatten. Und das Ungeheuerlichste war, sie hatten die ZIRKOZUM nicht versucht zu bergen, nachdem sie sie zum Wrack geschossen hatten. Nein, sie waren einfach wieder abgeflogen. Es war einfach absurd. Und es war schade, denn vor nichts fürchteten sich Intelligenzen vom Planeten Vigpander mehr, als einsam zu sterben – und Neithadl‐Off machte da keine Ausnahme, denn sie war eine Vigpanderin … * Die Weltraumkälte schlug ihre imaginären Zähne in die lädierten Außensektionen der ZIRKOZUM, daß das Knirschen und Knacken innerhalb der Steuerzentrale zu hören war. Neithadl‐Off lauschte dem Liebeswerben des Todes. Die roten Sensorstäbchen, die sie an der vorderen Schmalseite ihres Körpers ausgefahren hatte, glänzten wie Lack – ein Zeichen hochgradiger Erregung. Auf der breiten Konsole des Hauptcomputers der ZIRKOZUM tanzten rote, blaue und gelbe Kontrollichter den Totentanz des Schiffes. Neithadl‐Off hielt die Zeit für gekommen. Sie beorderte das Aufzeichnungsgerät aus dem Futteral und zwischen ihre schmalgliedrigen, mehrfach geknickten Vordergliedmaßen, hielt es mit den Aufnahmezellen vor ihre
schmale Mundleiste und bewegte es hin und her, während sie mit ihrer hohen, pfeifenden Stimme ihre letzten Worte sprach. Sie unterbrach sich, als sie ein mehrmaliges Husten hörte. In ihrem Innern stritten sich Wißbegier mit Standhaftigkeit. Einerseits hätte sie nur zu gern erfahren, wer oder was diese Geräusche verursachte; andererseits wußte sie, daß sie ihre letzten Worte nicht für lange Zeit unterbrechen durfte, wenn sie nicht den Zusammenhang verlieren wollte. Schließlich siegte ihre Gewissenhaftigkeit. Sie ließ das Aufzeichnungsgerät wieder in seinem Futteral verschwinden und stakte auf ihren dünnen Gliedmaßen langsam durch die Steuerzentrale. Ihre Sensorstäbchen waren auf maximale Erregung getrimmt und nahmen praktisch alles wahr, was sich innerhalb eines variablen Radius abspielte, angefangen vom Knacken abkühlenden Metallplastiks bis hin zum Wispern fließender Elektronen. Als das Husten abermals ertönte, vermochte die Parazeit‐ Historikerin es deshalb sofort als das durch einen Defekt entstellte Ansprechen des Hyperfunk‐Empfängers zu identifizieren. Jemand will mich sprechen! Dieser Gedanke elektrisierte Neithadl‐Off. Sie sprang mit allen Gliedmaßen zugleich in die Luft, daß ihr feuchter, lederhautartiger, graugrüner Leib nur so federte, dann sauste sie zum Hyperfunk‐ Empfanger und ließ die versteiften Tastfäden ihrer Vordergliedmaßen über die Sensorpunkte seiner Schaltkonsole wandern. Das Hustengeräusch wurde dumpfer und lauter, dann schien es sich zu einer Art Quaken zu dehnen. Neithadl‐Off ließ in ihren Bemühungen nicht nach und erreichte es schließlich, daß die aus dem Funkgerät kommenden Geräusche entfernt an eine artikulierte Sprache erinnerten. Eine ganze Weile konzentrierte sich die Wissenschaftlerin auf diese Sprache. Sie war schon soviel herumgekommen, daß sie
praktisch keine semantischen Probleme kannte und immer sehr schnell mit einer fremden Sprache zurechtkam. Doch diesmal fiel es ihr ungewöhnlich schwer. Neithadl‐Off nahm deshalb ihr Aufzeichnungsgerät zu Hilfe, das sie als Universal‐Translator gebrauchen konnte, wenn sie es so umdrehte, daß die Aufnahmezellen von ihrer Mundleiste wegwiesen, anstatt zu ihr hin. Aber diesmal versagte auch das. Es war Neithadl‐Off einfach nicht möglich, die fremdartigen Laute zu verstehen. Dennoch resignierte sie nicht, denn ihre Neugier war einmal geweckt und wurde auch dadurch nicht gedämpft, daß das Schiff nicht aufgehört hatte, seine Todesgesänge zu singen. Die Parazeit‐Historikerin kehrte an die Konsole des Hauptcomputers zurück und schaltete die Ortungssysteme ein, soweit sie noch vorhanden waren. Geduldig arbeitete sie daran, Fehlfunktionen zu beheben und Störungsquellen zu eliminieren. Sie vergaß dabei völlig, daß sie sich in einen Raumschiffswrack befand, das nur noch für einen sehr begrenzten Zeitraum Leben erhalten konnte. Es gab Wichtigeres für sie. Etwas rief‐ und die Botschaft durfte nicht ungehört verhallen. Eine halbe Ewigkeit verging innerhalb weniger Minuten, dann wußte Neithadl‐Off, was es mit der unverständlichen Botschaft auf sich hatte. Sie wurde verstümmelt, denn sie hatte einen phantastischen Weg hinter sich gebracht, bevor sie vom Hyperfunk‐Empfänger der ZIRKOZUM eingefangen worden war. Irgendwo in der Nähe mußte es eine Strukturlücke im vierdimensionalen Raum‐Zeit‐Kontinuum geben, so etwas wie ein Weißes Loch – und durch diese Lücke schoß mit mehrfacher Lichtgeschwindigkeit ein dimensional übergeordneter Energiestrahl, der irgendwo jenseits der Strukturlücke seinen Ursprung hatte und dort auch durch starke Magnetfelder auf seine
phantastische Geschwindigkeit beschleunigt worden sein mußte. Aber der Energiestrahl war offenkundig nicht alles, was durch den Transittunnel beziehungsweise die Strukturlücke befördert worden war. Es waren auch Botschaften mitgerissen worden. Informationen aller Art hatten sich an den kosmischen Jet geheftet und wurden von einer Unendlichkeit in eine andere Unendlichkeit geschleudert. Das war jedenfalls das, was die Parazeit‐Historikerin darüber dachte. Im nächsten Moment dachte sie nichts mehr darüber, denn da war ihr armseliges Raumschiffswrack in den Sog des überlichtschnellen Energiestrahls geraten und hatte sich in dimensional übergeordnete energetische Strukturen aufgelöst … 3. Ein Flüstern weckte sie aus ihrer Lethargie. »Halte dich fern, denn einmal hier, findest du nie wieder hinaus«, übersetzte das Aufzeichnungsgerät. Neithadl‐Off versuchte, ihren Geist aus dem zähflüssigen Schleim der Lethargie zu befreien. Es fiel ihr unendlich schwer, denn die Lethargie war süß. Jemand (oder etwas?) kicherte. Das regte die Parazeit‐Historikerin auf, denn sie fand ihre Lage alles andere als lächerlich. »Du kannst hier alles erfahren, was jemals Sterbliche interessierte«, kehrte die Flüsterstimme zurück. »Aber wenn du es erfahren hast, wird es dich nicht mehr interessieren.« »Wer redet da?« pfiff Neithadl‐Off. Wieder kicherte jemand (oder etwas). »Manche lernen es nie«, flüsterte es. »Sie betreten den Kreis und gehen auf ihm geradeaus.« »Aber das ist doch Unsinn«, erregte sich die Wissenschaftlerin. »Wer vermag denn auf einem Kreis geradeaus zu gehen?«
Sie vergaß ihre entsprechenden Grübeleien, als ein Dreitonklang ertönte und die Stimme des Hauptcomputers der ZIRKOZUM sagte: »Achtung, Kontakt! Ortungskontakt mit einer planetenartigen Masse!« Es folgten mehrere Zahlenreihen, aus denen die Wissenschaftlerin entnehmen konnte, daß die Ortung des Schiffswracks seit kurzer Zeit abrupt die Masse eines planetarischen Körpers, der genau auf der Kurslinie lag sowie undeutlicher anderer Massen und in relativer Nähe die konstante Strahlung eines Sterns aufgefaßt hatte. Neithadl‐Off zitterte am ganzen Körper, während sie allmählich wieder zu sich kam. Dieser Zustand erschreckte sie nicht, denn er war ihr wohlvertraut. Jedesmal, wenn sie aus tiefem Schlaf oder einer Ohnmacht erwachte, kam sie nur schubweise wieder zu sich – und erst ganz zum Schluß wußte sie dann genau, was mit ihr los war und wo sie sich befand. Sie zitterte nur deshalb, weil das zur Aufheizung ihrer physischen Funktionen notwendig war. Nur eines hätte sie gern gewußt: Ob das Flüstern, das sie in der ersten Phase ihres Erwachens gehört zu haben glaubte, real gewesen war oder ob sie es sich nur eingebildet hatte. Plötzlich krachte es in den Lautsprechern der Funkanlage, dann sagte eine laute Stimme: »– nichts als ein Wrack. Kümmert euch nicht darum. Es wird Kaldoch nicht treffen, sondern an ihm vorbeifliegen.« Neithadl‐Off schrie vor Verzweiflung, weil sie noch nicht wieder handlungsfähig war und weil die Tatsache, daß sie jedes Wort aus den Lautsprechern verstanden hatte, ihr verriet, daß sich Angehörige einer ihr bekannten Zivilisation in der Nähe befanden, so unwahrscheinlich das angesichts der letzten Ereignisse auch erschien. Und mit einemmal zitterte sie nicht mehr. Die letzte Phase des Erwachens war abgeschlossen. Neithadl‐Off konnte ihren Körper wieder voll beherrschen. Eine Weile zappelte sie sinnlos herum, bis ihr klar wurde, daß sie
nicht erst zum Hauptsteuerpult hinstürzen mußte, weil sie sich bereits dort befand. Ihre Sensorstäbchen glänzten vor Erregung so stark, daß es aussah, als leuchteten sie von ihnen heraus. Die Parazeit‐Historikerin bearbeitete die Sensorpunkte der Hauptsteuerkonsole mit den versteiften Tastfäden ihrer Vordergliedmaßen, bis die Datenschirme und Ortungsbilddarsteller ihr ein plastisches Abbild der planetarischen Masse zeigten, die auf dem Kurs ihres Schiffswracks lag. Es war eine luftlose und fast lichtlose Eiswelt, für bloße Augen wahrscheinlich unsichtbar, außer man benutzte Restlichtverstärker. Zweifellos handelte es sich um einen der äußeren Planeten eines unbekannten Sonnensystems. Falls es auf seiner Oberfläche jemals Wasser und darüber eine Atmosphäre gegeben haben sollte, so war das alles längst erstarrt, abgeregnet und zu einer ebenen Kugeloberfläche verdichtet. Kaldoch! So hatte die Stimme des Unbekannten den Eisplaneten genannt. Die Wissenschaftlerin verinnerlichte, was sie gehört hatte, und erkannte, daß sie in der ersten Aufregung einem Trugschluß erlegen war. Sie hatte die aufgefangenen Worte nicht deshalb sinngemäß verstanden, weil sie von einem Angehörigen einer ihr bekannten Zivilisation gesprochen worden waren, sondern weil ihr Aufzeichnungsgerät in seiner Funktion als Universal‐Translator noch immer in seiner Einschub‐Öffnung der Funkanlage steckte und deshalb alles übersetzte, was von dem Gerät aufgefangen wurde. In Wirklichkeit mußte ein völlig fremdartiges Wesen zu anderen Wesen seiner Art gesprochen haben – und ein völlig gefühlloses Wesen, denn wie sonst hätte es seinen Partnern raten können, sich nicht um das Wrack zu kümmern, weil es den Planeten Kaldoch nicht treffen, sondern an ihm vorbeifliegen würde. Zumindest hätte der Fremde einen Funkstrahl auf das Wrack richten und anfragen müssen, ob es dort noch Überlebende gab und ob sie Hilfe brauchten.
Oh, ja! dachte Neithadl‐Off ergrimmt. Es gibt noch Überlebende, nämlich mich selbst und meine Seele! Aber Hilfe brauchen wir nicht. Wir besitzen immer noch genügend Können und Erfahrung, um den Kurs eines Raumschiffswracks so zu ändern, daß es von einem Planeten eingefangen wird! Sie machte sich sogleich ans Werk. Es dauerte unter den gegebenen Umständen nicht lange, bis sie wußte, daß sich der größte Teil ihrer Hoffnungen erfüllen würde. Sie würde die ZIRKOZUM abbremsen können, daß sie von der Schwerkraft Kaldochs nicht um dessen Taille geschleudert und mit erhöhter Geschwindigkeit in die Tiefe des interstellaren Raumes katapultiert wurde. Sie würde allerdings nicht stark genug abbremsen können, um das Wrack in einem Stück auf die Oberfläche der Eiswelt zu bringen. Wahrscheinlich würde der Aufprall so stark sein, daß die Trümmer des Wracks sich über eine sehr weite Fläche verstreuten. Aber wenn es ihr gelang, vorher auszusteigen, würde sie mit ihrem Gravojet‐Aggregat sanft dort landen können, wo kein Trümmerstück der ZIRKOZUM hinfiel. Die Fremden auf Kaldoch waren zweifelsfrei gefühllose, kaltherzige und habgierige Wesen. Sie hätten sich niemals um ein Wrack gekümmert, das ihnen nicht zu schaden vermochte und dessen Bergung sie teurer zu stehen kommen konnte als der Gewinn aus seiner Ausschlachtung. Aber sie würden sich um jemanden kümmern, der so spektakulär Neithadl‐Off auf Kaldoch »landete« – zwar nicht, um ihr zu helfen, aber darum, weil die Unkosten gering sein würden, so daß sie sich selbst dann noch rentierten, wenn der Gewinn eher bescheiden blieb. Neithadl‐Off freute sich schon auf die Begegnung. Es würde schön sein zu beobachten, wie den herzlosen, habgierigen Schurken Hören und Sehen verging.
* Die ZIRKOZUM schüttelte sich so heftig, daß die meisten Nieten aus ihren Löchern sprangen und zahlreiche Glassitscheiben zerplatzten. Neithadl‐Offs Sensorstäbchen waren zur Hälfte eingezogen. Die Vorder‐ und Hintergliedmaßen hatten sich eng um die Seitenlehnen und die Rückenlehne eines Kontursessels geschlungen, der nicht zur Aufnahme von Vigpander‐Wesen konstruiert worden war. Die graugrüne Haut, die sich straff über ihrem Körperrahmen spannte, vibrierte in kurzen Intervallen und erzeugte durch das Anschlagen an das darunter aufgehängte Gravojet‐Aggregat ein surrendes Geräusch. Alles in allem war es eine grausame Belastungsprobe für die Parazeit‐Historikerin. Doch sie wußte, daß sie sie bestehen würde. Mit aller Kraft umklammerte sie den Kontursessel, während ihre Vordergliedmaßen über der Konsole des Steuerpults lagen und die versteiften Tastfäden sich heftig auf die beiden Sensorpunkte preßten, mit deren Hilfe sie die beiden letzten noch funktionsfähigen Triebwerke immer wieder zum »Leben« erweckte, wenn sie ins Stottern gerieten oder gar aussetzten. Auf dem mittleren Bildschirm schwoll das Abbild einer weißschimmernden Planetenoberfläche mit grünlichem Einschlag an. Die kleinen Datensichtschirme seitlich davon zeigten die rapide abnehmende Entfernung sowie den fortschreitenden Selbstauflösungsprozeß der ZIRKOZUM an, die den furchtbaren Belastungen der Gewaltverzögerung infolge ihrer schweren Schäden nicht mehr gewachsen war. Neithadl‐Off war froh darüber, daß Kaldoch nicht die Spur einer Gashülle besaß, denn sonst hätte sich ihr Wrack noch schneller zerlegt. Andererseits hätte sie in dem Fall nicht so stark abbremsen müssen, da eine Atmosphäre ihr die größte Arbeit abgenommen hätte – vorausgesetzt, ihr Schiff wäre im richtigen Winkel
eingetaucht. Wieder einmal fiel ein Triebwerk aus. Diesmal war es das Backbord‐Aggregat. Sofort legte sich die ZIRKOZUM auf die Seite. Neithadl‐Off hämmerte mit den versteiften Tastfäden des linken Vordergliedes wie wahnsinnig auf dem für das Backbord‐Aggregat verantwortlichen Sensorpunkt herum – und sie pfiff erleichtert, als das Triebwerk endlich wieder ansprang. Die automatische Trimmung funktionierte noch und stellte die Optimallage des Schiffswracks wieder her. Die Parazeit‐Historikerin hing eine Weile schlaff über Sessel und Pult, dann straffte sich ihre Körperbespannung abrupt, denn in den Lautsprechern der Funkanlage krachte es wieder. Nach einer Serie von Störgeräuschen sagte eine Stimme laut und deutlich: »Seht euch vor! Das Wrack ist aus seinem Kurs ausgebrochen und wird doch mit Kaldoch kollidieren. Ich halte es unter Beobachtung. Vielleicht bleibt etwas von ihm übrig, dann sehen wir später nach, ob wir etwas davon gebrauchen können.« Neithadl‐Off wartete darauf, daß ein Partner des Sprechers darauf antwortete, doch wie bei der ersten Durchsage blieb auch diesmal eine Erwiderung aus. Sie hatte allerdings nicht mehr viel Zeit, um weitere Durchsagen abzuwarten. Die eisüberzogene Planetenoberfläche füllte den mittleren Bildschirm inzwischen total aus und schien sich in eine gigantische Schüssel zu verwandeln, deren Ränder immer höher wurde. Das war zwar eine optische Täuschung, aber für die erfahrene Sternfahrerin auch das untrügliche Anzeichen dafür, daß die Landung unmittelbar bevorstand. Eine zu harte Landung, denn die beiden Triebwerke hatten das Wrack längst nicht genug abbremsen können, um eine weiche Landung zu ermöglichen. Doch Neithadl‐Off hatte es nicht anders erwartet. Sie wartete nur ab, bis das eben einsetzende Schütteln sich wieder
zu einem mittelstarken Beben gemildert hatte, dann sprang sie auf den Boden und lief behende zum Notausgang der Steuerzentrale. Das kreisrunde Schott öffnete sich anstandslos vor ihr. Sie mußte sich ein wenig zusammenfalten, um durch die Öffnung zu kommen; danach brauchte sie nur abzuwarten, ob die Rettungsautomatik noch funktionierte. Die Kontrollen hatten in dieser Hinsicht jedenfalls versagt. Theoretisch waren die Chancen für ein Überleben also nicht größer als die für einen schnellen Tod. Als das Schott sich hinter ihr wieder schloß, pumpte Neithadl‐Off die Überlebensfolie auf, die bisher, weil völlig transparent, unsichtbar an ihrem Körper angelegen hatte. Die Aggregate dafür befanden sich in dem relativ flachen und formschönen Tornister unter ihrer Körperhaut, in der auch das Gravojet‐Aggregat untergebracht war. Ganz aufgepumpt, umhüllte die Überlebensfolie die Vigpanderin prall gespannt in geringem Abstand und verlieh ihr einen silbrigen Schimmer, als wäre sie frisch lackiert und poliert. Sie war schon daraufgefaßt, daß die Rettungsröhre sich mit Luft füllte und genügend Druck aufgebaut wurde, um sie weit genug weg zu katapultieren, als ihr einfiel, daß ihr Aufzeichnungsgerät noch immer in der Einschub‐Öffnung des Hyperfunk‐Empfängers steckte. Sie geriet darüber beinahe in Panik, denn das Aufzeichnungsgerät war eines ihrer wertvollsten Ausrüstungsgegenstände. Verzweifelt warf sie sich herum und streckte die roten Sensorstäbchen ganz aus. Sie pfiff erleichtert, als sie neben dem Schott die blauleuchtende Schaltplatte entdeckte, die eigentlich nur zur Unterbrechung der Notausschleusung dienen konnte. Mit einem der Vordergliedmaßen stieß sie danach – und traf. Es knackte, dann wechselte die Färbung der Schaltplatte von Blau nach Gelb. Das Schott öffnete sich. Neithadl‐Off stürzte in die Steuerkanzel zurück. Sie sah an den Datenanzeigen und den Bildschirmen, daß das Wrack jeden Moment aufschlagen mußte, denn es befand sich scheinbar schon
ganz tief in der vermeintlichen Schüssel. Außerdem pfiffen, summten und leuchteten Warnanlagen, was auch nicht gerade beruhigend wirkte. Mit einem Griff brachte die Wissenschaftlerin das Aufzeichnungsgerät an sich, dann hastete sie zum Notausgang zurück. Das Schott hatte sich natürlich wieder geschlossen, aber es würde sich sofort öffnen. Das nahm Neithadl‐Off jedenfalls an, doch es scherte sich nicht darum und rührte sich einfach nicht. Neithadl‐Off sprang dreimal dagegen und prallte dreimal erfolglos ab, bis sie den Grund für die »Verschlossenheit« des Schottes erkannte. Das Wrack hatte sich – wahrscheinlich wegen des Aussetzers eines Triebwerks oder wegen mehrerer Aussetzer – so gedreht, daß die äußere Öffnung der Rettungsröhre zur Planetenoberfläche zeigte. Eine Rettung war unter diesen Umständen nur mit tödlichem Ausgang möglich, weshalb sich die Sicherheitsautomatik gegen ein Öffnen des Schottes sperrte. Die Parazeit‐Historikerin wuchs über sich hinaus. Anstatt die Nerven zu verlieren, kehrte sie um, warf sich über das Hauptsteuerpult, stellte fest, daß das Steuerbord‐Aggregat nicht arbeitete und hämmerte wie wild auf dem dafür verantwortlichen Sensorpunkt herum, bis die Kontrollen zeigten, daß es wieder angesprungen war. Da befand sich das Wrack aber schon so dicht über der Planetenoberfläche, daß die Vigpanderin sich nicht mehr darum kümmern konnte, ob es sich noch einmal in die richtige Lage drehte. Sie stürzte zum Schott zurück – und diesmal öffnete es sich. Eine halbe Minute später öffnete sich das äußere Schott der Rettungsröhre – und beinahe im gleichen Augenblick schoß Neithadl‐Off mit der Mündungsgeschwindigkeit einer Gewehrkugel hinaus in die tintige Schwärze, die unmittelbar an der Oberfläche Kaldochs begann. Schräg vor und unter ihr barst das Wrack beim Aufprall in viele tausend Stücke, die sich mit Eistrümmern vermischten und gleich
einer doppelt schallschnellen Lawine noch viele Kilometer über die Oberfläche des Planeten rasten, bis ihre Geschwindigkeit sich durch Schwerkraft und Bodenreibung aufgezehrt hatte. Neithadl‐Off aber steuerte ihr Gravojet‐Aggregat nach rechts zu einem aus dem Eis ragenden schwarzen Felsbuckel, landete auf ihm und wartete auf die Reaktionen der Fremden. 4. Sie waren einfach da, als wären sie teleportiert: drei große, hominide, schwarze Gestalten, die die Vigpanderin um mindestens zwei Meter überragten. Neithadl‐Off sah die Mündungen dreier schwerer Strahlwaffen auf sich gerichtet. Das beeindruckte sie jedoch nicht. Im Gegenteil, sie hatte bisher die Erfahrung gemacht, daß nur unsichere und ängstliche Intelligenzen mit schußbereiten Waffen zur Begegnung mit anderen Intelligenzen gingen. »Ich grüße euch!« pfiff sie liebenswürdig. Sie wußte, die Fremden würden sie verstehen, denn ihr Folienfunk sendete erstens auf der noch im Wrack ermittelten Frequenz der Fremden – und ihr Aufzeichnungsgerät war noch immer als Translator geschaltet. »Wer bist du?« fragte einer der Fremden, ohne daß sie hätte erkennen können, wer. »Bist du männlich, weiblich – oder was?« fragte die Wissenschaftlerin zurück, wohlwissend, daß es viele Spielarten der Geschlechter im Kosmos gab. »Wir sind männlich«, antwortete einer der fremden Raumfahrer – und diesmal machte er eine unterstreichende Handbewegung (diese Leute besaßen tatsächlich noch richtige fleischige Hände!). »Bist du etwa weiblich?« »Sieht man mir das nicht an?« fragte Neithadl‐Off und drehte sich
kokett (was nicht ihrer Natur entsprach, sondern eine anderswo abgeguckte Sitte war, die sich schon oft bewährt hatte). »Euch sieht man jedenfalls an, daß ihr nur männlich sein könnt.« »Wenn sie es uns ansieht, warum hat sie denn danach gefragt?« erkundigte sich einer der anderen beiden Fremden. Die Vigpanderin ging nicht darauf ein, denn die Frage war ganz offenkundig nicht an sie gerichtet gewesen. »Schluß mit dem Geplänkel!« sagte der Fremde, der zuerst gesprochen hatte und wahrscheinlich in der Rangordnung an erster Stelle stand. »Im Universum ist die Sitte weitverbreitet, daß weibliche Intelligenzen von männlichen Intelligenzen mit einem gewissen Respekt behandelt werden und ihren Namen erst dann nennen, wenn ihre männlichen Kontaktpersonen ihre Namen schon genannt haben.« Er schlug sich mit einer zur Faust geballten Hand an seine breite Brust. »Ich heiße Nafrein‐Nakruf.« Er deutete nacheinander auf seine Begleiter und nannte ihre Namen: »Grumble‐Oomoch, Hokill‐ Hommuf.« »Neithadl‐Off«, sagte die Wissenschaftlerin. »Was sucht ihr auf dieser Eiswelt, Nafrein‐Nakruf? Und warum denkt ihr, ich könnte euch gefährlich werden?« »Uns gefährlich?« echote Nafrein‐Nakruf, erst dann schien er zu begreifen, worauf Neithadl‐Off abzielte, denn er senkte den Lauf seiner Waffe und schob sie dann schnell in ein plumpes Gürtelhalfter. »Die Waffen weg!« raunzte er anschließend seine Begleiter an. Danach wandte er sich wieder der Wissenschaftlerin zu. »Ich bin ein Kosmischer Prospektor«, erklärte er. »Grumble‐ Oomoch und Hokill‐Hommuf sind meine Assistenten. Wir suchen nach Bodenschätzen aller Art. Und was hat dich nach Kaldoch geführt, Neithadl‐Off?« Die Wissenschaftlerin konnte nicht sofort antworten, denn sie
mußte zuerst einmal vor Empörung nach Luft schnappen, weil die beiden Assistenten des Prospektors respektlose Laute von sich gegeben hatten, die die erfahrene Raumfahrerin als höhnisch‐ hämisches Gelächter (und zwar über sie und ihr Mißgeschick) einstufte. Als ihre organischen Stimmventile wieder »klar« waren, erklärte sie: »Ich bin Parazeit‐Historikerin und hatte auf dem Planeten Tiffortu Forschungen betrieben, um etwas über angebliche Besuche von Abenteurern aus Parallelzeitebenen herauszufinden. Tatsächlich war ich auch einem tollen Ding auf die Spur gekommen. Aber jemandem schien das nicht zu passen. Ich wurde von Unbekannten überfallen und entführt. Allerdings konnte ich mich befreien und mit einem Schiff entkommen. Während eines Orientierungsaustritts wurde ich dann von zwei anderen Schiffen angegriffen, wobei mein Schiff so schwere Treffer erhielt, daß ich mich nach einem Ort für eine Notlandung umsehen mußte.« Gespannt beobachtete sie das Gesicht Nafrein‐Nakrufs. Sie mußte wissen, ob er ihr die Geschichte abnahm, die sie soeben frei ausfabuliert hatte und die sie für logisch fundierter als die sogenannte Wahrheit hielt, die sogar ihr selber im Nachhinein als ziemlich unglaubwürdig erschien. Natürlich konnte sie an den fremdartigen Gesichtszügen nicht auf Anhieb erkennen, ob ihre Erwartung aufgegangen war. Überhaupt kamen ihr die drei Wesen um so fremdartiger vor, je länger sie sie intensiv betrachtete. Im ersten Moment der Begegnung war der Vigpanderin hauptsächlich das hominide Element der Körperform aufgefallen. Inzwischen hatte sie mehr gesehen und stufte das Hominide als irreführende Äußerlichkeit ein. Die Fremden hatten zwar eine für Hominide typische Gliederung in einen Rumpf, zwei Beine, zwei Arme und zwei Köpfe, aber was sie von ihrer Körperoberfiäche sah, erinnerte eher an Flexos. Fleisch
und Haut schienen sich aus vielen dünnen, schlangenleibförmigen Segmenten zusammenzusetzen, die dunkelrot und von wenigen schwarzen Borsten bewachsen waren. Ohrmuscheln gab es offenbar nicht, und die Augen sahen aus, als bestünden sie aus gebrochenem Glassit oder trüb weißen Kristallen. Die schweren Raumanzüge, die sie trugen, waren von schwarzer Färbung und ungewöhnlich plump. Das galt auch für die großen Aggregat‐Tornister, in deren Volumen der Bauchtornister Neithadl‐ Offs fünfmal Platz gefunden hätte. Dazu waren an den Gürteln, an Schultergurten und mehreren derben Haken allerlei Hämmer, Brecheisen, Meißel und anderes Gerät aufgehängt. Nur die kristallklar schimmernden Doppelkugelhelme wurden Neithadl‐ Offs ästhetischen Ansprüchen gerecht. Nafrein‐Nakrufs zwei Augen (natürlich zwei, denn er hatte ja zwei Köpfe) schimmerten unverändert und zeigten nicht das geringste Glitzern oder Funkeln, das tiefschürfende Gedankengänge oder Emotionen verraten hätte. Er nimmt es für bare Münze! dachte Neithadl‐Off. »Du meinst damit, daß du das Opfer von Gewaltanwendung wurdest?« vergewisserte sich der Prospektor. Erst dann schien er ein Stück hinter den tieferen Sinn ihrer Aussage zu kommen, denn plötzlich huschte ein fahler Lichtschein aus seinen Augen über seine Gesichter. »Und die Täter waren Zeitpiraten oder so etwas?« ergänzte er mit hektischem Luftholen. Grumble‐Oomoch und Hokill‐Hommuf redeten plötzlich wild durcheinander, verstummten aber sofort, als Nafrein‐Nakruf ihnen mit einem Zuruf in die Parade fuhr. Neithadl‐Off durchschaute die Situation mühelos. Der Prospektor und seine Assistenten mußten schon einmal mit Intelligenten aus Parallelzeitebenen zu tun gehabt haben – oder zumindest hatten sie es sich eingebildet, denn Neithadl‐Off hatte ja auch nicht voiv. einer Wahren Begebenheit berichtet, sondern von einer logisch fundierten.
Auf jeden Fall verbanden sich die Erinnerungen der drei Wesen an die bewußte Begegnung mit unangenehmen Gefühlen. Wahrscheinlich hatten sie den kürzeren gezogen und fürchteten sich vor einer zweiten Begegnung dieser Art – und natürlich wollte Nafrein‐Nakruf sie, Neithadl‐Off, aushorchen, ohne selbst etwas zu verraten. »So war es«, antwortete sie. »Sie wollten mich beseitigen, weil sie fürchteten, ich könnte ihre Machenschaften aufdecken. Daß ich dabei nach Kaldoch geriet, war reiner Zufall.« »Nicht unbedingt, wenn man bedenkt, daß hier die Zeitgruft verborgen sein soll«, warf Hokill‐Hommuf übereifrig ein. »Schadstoff‐Emittierer!« beschimpfte der Prospektor ihn zornig. »Du redest über etwas, von dem du keine Ahnung hast!« Er wandte sich wieder der Vigpanderin zu. »Natürlich ist das Gerede über eine Zeitgruft blanker Unsinn. Vergiß es!« Das aber war eine Aufforderung, die Neithadl‐Off überhörte. Sie konnte nicht anders, als geistig in Flammen aufzugehen, als sie den Begriff »Zeitgruft« hörte. Zwar wußte sie längst nicht mehr, ob sie ihren Beruf einer Parazeit‐Historikerin irgendwann einmal frei erfunden hatte wie so viele andere »Fakten« aus ihrem Leben. Aber alles, was auch nur im entferntesten mit dem Phänomen Zeit im allgemeinen und den damit verbundenen Tatsachen und eingebildeten Möglichkeiten zu tun hatte, faszinierte sie so sehr, daß in ihr jedesmal ein Such‐ und Jagdinstinkt geweckt wurde, wenn sie irgendwelche Informationen über beliebige Subphänomene der Zeit aufschnappte. Dieser Instinkt pflegte dann nicht eher wieder abzuklingen, bis sie die Sache zu ihrer Zufriedenheit aufgeklärt hatte. »Wenn du meinst …«, gab sie deshalb scheinbar nach. »Ja, natürlich, warum sollte ich über solchen Unsinn wie eine Zeitgruft oder etwas Ähnliches nachdenken! Dabei handelt es sich zweifellos nur um Produkte einer überhitzten Phantasie.« »Ganz recht«, bestätigte Nafrein‐Nakruf. »Es gibt Dinge, die gibt
es – und es gibt Dinge, die gibt es nicht, wie beispielsweise diese ominöse Zeitgruft.« »Natürlich gibt es die nicht«, pfiff Neithadl‐Off eifrig, »obwohl die Sache mit den verschwundenen Königen der alten Welten in eine solche Richtung zu zeigen schien. Aber das beruhte selbstverständlich auf einer Fehlinterpretation.« »Natürlich«, bestätigte Nafrein‐Nakruf, dann stutzte er. »Was hatte es denn mit den verschwundenen Königen der alten Welten auf sich, Neithadl‐Off?« Die Wissenschaftlerin frohlockte, denn sie wußte, daß der Prospektor fest an ihrer Angel hing – und im Hintergrund ihres Bewußtseins nahm ein Plan Gestalt an, mit dem sie alles gewinnen konnte. Sie mußte nur ihre Karten richtig ausspielen. »Das ist eine lange Geschichte«, begann sie mit ihrer Standard‐ Einleitung. »Ich würde sie dir gern erzählen, aber nicht hier draußen unter den kalten Sternen und auf dem kalten Eis. Habt ihr nicht wenigstens eine bescheidene geheizte Unterkunft?« »Eine bescheidene Unterkunft!« wiederholte Nafrein‐Nakruf großspurig. »Hoho! Wir haben etwas viel Besseres, nämlich mein Raumschiff. Ich lade dich ein, mein Gast an Bord der DSCHWINGG zu sein, Neithadl‐Off!« »Ich nehme dankend an«, erklärte die Vigpanderin. * Sie waren dreieinhalb Stunden über grünlich angehauchtes weißes Eis geflogen, über sich einen tiefschwarzen Samtvorhang mit vielen punktförmigen Löchern, durch die das Licht des wahren Universums stach. Das Bild änderte sich, als nach diesen dreieinhalb Stunden die Sonne aufging, die den Eisplaneten sowie seine Schwestern und Brüder geboren hatte. Sie war so weit entfernt, daß sie eigentlich
auch nur als punktförmige Lichtquelle erschien, wie die Schwestern und Brüder Kaldochs und die fernen und fernsten Fixsterne, dennoch erkannten die Wahrnehmungsorgane erfahrener Raumschiffer sofort, daß es sich um das Zentralgestirn handelte, um das Kaldoch kreiste. Doch das war nicht alles, was die Prospektoren und die Parazeit‐ Historikerin sahen. Links vom Aufgangsort des Sonnensterns hob sich eine schwarze Konstruktion gegen den hellen Hintergrund und das widerleuchtende Eis ab: ein rund 160 Meter hohes, plump wirkendes Raumschiff von eiförmiger Grundkonstruktion, das auf sechs mächtigen Heckflossen stand und hinter der Bugnase zwei Stabilisierungsflossen trug. »Die DSCHWINGG«, sagte Nafrein‐Nakruf stolz. »Ein außergewöhnlich kraftvoll wirkendes Schiff«, lobte Neithadl‐ Off, obwohl ihre Erfahrungen ihr sagten, daß die DSCHWINGG kein High‐Tech‐Erzeugnis war, sondern das Produkt einer unterentwickelten Technologie. Weder Nafrein‐Nakruf noch seine beiden Assistenten gingen auf ihr Lob ein, was Neithadl‐Offs Meinung nur erhärtete, aber an ihrem Plan nichts zu ändern vermochte. Aus der Nähe sah die Parazeit‐Historikerin zufrieden die auf Hochglanz polierte Außenhülle der DSCHWINGG, die sauberen Schweißkanten und die vollzähligen Nietköpfe. Wenn das Schiff innen ebenso gepflegt worden war wie von außen, dann mußte es sich in gutem Zustand befinden. Die Prospektoren und Neithadl‐Off brauchten nicht vor dem Schiff zu landen. Nafrein‐Nakruf öffnete die Personenschleuse schon aus der Entfernung über Funkimpulskode. »Die Servotechnik scheint hervorragend zu sein«, fuhr Neithadl‐ Off mit ihrer Lobhudelei fort. »Wo kommt ihr eigentlich her?« »Wir sind Snakulder«, antwortete Nafrein‐Nakruf. »Aber die DSCHWINGG wurde nicht auf Snakuld gebaut, sondern auf
Girofan.« »Auf Girofan!« rief Neithadl‐Off entzückt, während sie sich in die Kettenformation einreihte, die von den Prospektoren gebildet worden war, um nacheinander in die relativ schmale Schleuse einzufliegen. »Von diesem Planeten habe ich schon wahre Wunderdinge gehört!« »Es ist kein Planet, sondern ein Asteroid«, korrigierte Nafrein‐ Nakruf sie. »Das weiß ich«, erklärte die Vigpanderin und nahm sich vor, ein wenig behutsamer über Dinge zu reden, von denen sie keine Ahnung hatte. »Es ist nur eine alte Angewohnheit von mir, alle Himmelskörper als Planeten anzusprechen.« Nafrein‐Nakruf brummelte etwas Unverständliches. Wahrscheinlich machte er seinem Ärger darüber Luft, daß das Außenschott der Personenschleuse sich wieder schloß, bevor der Einflug stattgefunden hatte. Hokill‐Hommuf bezahlte diese Panne mit einem schmerzhaften Aufprall und flog schräg nach oben davon. Auf einen Befehl Nafrein‐Nakrufs folgte ihm Grumble‐ Oomoch und fing ihn ein. Das Schott öffnete sich kurz darauf abermals, nachdem Nafrein‐ Nakruf seinen Kodeimpulsgeber mit der Faust bearbeitet hatte. Neithadl‐Off steuerte hastig hindurch, denn sie hatte ein ungutes Gefühl bei der Vorstellung, die Schotthälften könnten sich schließen, während sie sich zwischen ihnen befand. Nafrein‐Nakruf folgte ihr und landete wie sie auf dem Boden der Schleusenkammer. Wenig später tauchte auch Grumble‐Oomoch auf. Er schleppte den anscheinend bewußtlosen Hokill‐Hommuf an einer kurzen Leine hinter sich her. Während Nafrein‐Nakruf und Grumble‐Oomoch sich um ihren Kollegen kümmerten und das Außenschott sich schloß, sah die Parazeit‐Historikerin sich in der Schleusenkammer um. Sie stellte zufrieden fest, daß auch hier alles gepflegt aussah. Die Panne mit dem Schleusenschott nahm sie nicht weiter tragisch. Dafür schien
nur eine Fehlfunktion des Kodeimpulsgebers verantwortlich zu sein. Hokill‐Hommuf erholte sich rasch, nachdem seine Kollegen seinen Doppelkugelhelm geöffnet hatten und er ein paar Züge von der eiskalten Luft genommen hatte, die in die Schleusenkammer geströmt war. Die Snakulder setzten daraufhin ihren Weg fort. Neithadl‐Off folgte ihnen durch einen Korridor und einen Antigravschacht und landete wie sie in der Steuerzentrale des Schiffes. Ein schneller Rundblick informierte sie darüber, daß auch hier keine High‐Tech‐ Erzeugnisse installiert waren, wohl aber solide Gebrauchstechnologie. Die Schaltkonsolen und Bildschirmbatterien sahen vertrauenerweckend aus. Die drei Snakulder hatten inzwischen alle ihre Druckhelme zurückgeklappt und starrten Neithadl‐Off an – auffordernd, wie es ihr schien. Sie wartete aber noch, bis der Computer ihres Aggregattornisters die Analysierung der Bordatmosphäre abgeschlossen hatte. Sie unterschied sich glücklicherweise nur unwesentlich von dem Luftgemisch, das sie gewohnt war. Lediglich der Druck war eine Kleinigkeit niedriger, und die Luft war ziemlich kalt, aber noch erträglich. Neithadl‐Off öffnete ihre Überlebensfolie, die sich eng an ihren Körper schmiegte, nachdem der Überdruck entwichen war. »Sehr schön habt ihr es hier«, pfiff sie – vorerst noch über den Translator, da die bisherige Kommunikation noch nicht ausreichend für das Erlernen der snakuldischen Sprache gewesen war. »Darf ich dir einen Irpon anbieten?« fragte Nafrein‐Nakruf und fügte hinzu: »Das ist ein alkoholhaltiges Erfrischungsgetränk.« »Ich nehme es gern an«, antwortete Neithadl‐Off, obwohl sie bei sich dachte, wie irreführend es war, ein Getränk, das ein so gefährliches Nervengift wie Alkohol enthielt, als Erfrischungsgetränk zu bezeichnen. Der Prospektor öffnete einen Wandschrank und entnahm ihm eine
Flasche aus dunklem Glas. Während er grünes Eis in vier Gläser fallen ließ und aus der Flasche eine gelbe Flüssigkeit daraufgoß, amüsierten sich seine Assistenten und gaben entsprechende Laute von sich. Neithadl‐Off verzichtete darauf, ihnen ihre Meinung zu sagen, obwohl sie sich aus Erfahrung denken konnte, worüber die beiden Assistenten sich amüsierten. Sie schlossen anscheinend aus ihrem grazilen Körperbau darauf, daß sie Alkohol nur schlecht vertrug und ihnen schon bald das Bild eines betrunkenen Gestells bieten würde. Woher hätten sie auch wissen sollen, daß ihr Metabolismus im Gegensatz zu dem der meisten anderen Intelligenzen ohne die ausreichende Zufuhr von Alkohol nur ungenügend funktionierte und daß ihr Nervensystem davon überhaupt nicht angegriffen wurde. »Viel Helligkeit bei Nacht!« wünschte Nafrein‐Nakruf, als er ihr ein gefülltes Glas reichte. »Am Tage brauche ich kein Licht«, erwiderte die Vigpanderin darauf vieldeutig. Sie fuhr zwei Saugröhrchen aus und saugte damit das gekühlte Getränk in sich hinein. Es handelte sich um ein hochprozentiges Alkohol‐Wasser‐Essenz‐Gemisch, wie sie feststellte. Ihrem Metabolismus bekam es hervorragend. Im Nu hatte sie ihr Glas geleert und hielt es dem Prospektor hin, der es umgehend wieder füllte, begleitet von einem weiteren Heiterkeitsausbruch seiner Assistenten. Auch Nafrein‐Nakruf nahm eine neue Füllung des Getränks. Mit dem Glas in der Hand setzte er sich in einen der großen Kontursessel und folgte damit dem Beispiel seiner Assistenten. »Woher stammst du eigentlich?« wandte er sich danach an die Wissenschaftlerin. »Von Gurmughu«, sagte Neithadl‐Off. »Das ist eine der alten Welten, die früher angeblich von Invasoren aus einer Parallelzeitebene besiedelt worden sein sollen.«
»Ah!« rief Nafrein‐Nakruf – und auch seine Assistenten schienen von der Aussage förmlich elektrisiert worden zu sein. »Und was ist aus den Invasoren geworden? Stammt dein Volk von ihnen ab?« »Nein«, erwiderte die Vigpanderin. »Die Invasoren sollen bis auf ihre letzten sieben Könige ausgestorben sein, bevor wir Eingeborenen unsere eigene Zivilisation entwickelten. Diese sieben Könige verschwanden dann eines Tages plötzlich und spurlos. Lange Zeit wurde behauptet, sie wären auf die Parazeitebene zurückgekehrt, aus der ihre Vorfahren kamen. Seit vielen Umläufen aber sind die Historiker der Auffassung, daß die Könige ermordet und beseitigt wurden.« Sie hielt dem Prospektor das zum zweitenmal geleerte Glas hin und bekam es anstandslos wieder gefüllt. Das angenehme Gefühl einer gewissen Sättigung breitete sich in ihr aus. Auch Nafrein‐Nakruf, Grumble‐Omoch und Hokill‐Hommuf genossen die dritte Füllung. Im Unterschied zu Neithadl‐Off leerten sie ihre Gläser diesmal jedoch sofort, was der Wissenschaftlerin bewies, daß Alkohol bei ihnen, wie bei den meisten Intelligenzen, als Nervengift wirkte und sie ihrer Schutzhemmungen beraubte. »Aber für eine Ermordung der Könige gibt es keine Beweise, oder?« erkundigte sich Nafrein‐Nakruf mit leicht entgleister Stimme und ungenügend kontrollierten Handbewegungen. »Nein«, antwortete Neithadl‐Off nach kurzem Überlegen. »Dann wäre es also doch möglich, daß sie auf die Zeitebene zurückkehrten, von der ihre Vorfahren fuhren, ahem, kamen«, stellte der Prospektor fest. »Es heißt nicht Zeitebene, sondern Parallelzeitebene«, korrigierte ihn die Vigpanderin. »Oder kurz Parazeitebene. Der Name bezeichnet nämlich die Zeitebene einer Parallelwelt.« »Das gibt es wirklich?« staunte Grumble‐Oomoch und schüttete die vierte Füllung in sich hinein. »Selbstverständlich«, behauptete Neithadl‐Off. »Schließlich bin ich Parazeit‐Historikerin und muß also Bescheid wissen.« Insgeheim
fragte sie sich, ob sie sich nicht irrte, wenn sie dachte, sie sei überhaupt keine Parazeit‐Historikerin. Das war durchaus möglich, da sie schon so viele Versionen über ihren Beruf, ihre Abstammung und ihren Lebenslauf erzählt hatte, daß sie nur noch mühsam zwischen Wahrheit und Dichtung unterscheiden konnte. Wieder brummelte Nafrein‐Nakruf etwas vor sich hin, dann meinte er: »Wenn es so ist, gibt es vielleicht die Zeitgruft doch.« »Hier – auf Kaldoch?« fragte Neithadl‐Off gespannt. Der Prospektor sagte etwas, was in dem Gepolter unterging, mit dem Grumble‐Oomoch nach der fünften Glasfüllung zu Boden glitt, dichtauf gefolgt von Hokill‐Hommuf. »Was hattest du gesagt?« erkundigte sich Neithadl‐Off. »Nicht auf Kaldoch«, wiederholte Nafrein‐Nakruf etwas mühsam. »Der Planet heißt Xissas und soll der dritte Nutaks sein, wie das Zentralgestirn dieses Sonnensystems heißt.« »Er soll der dritte Planet sein?« wiederholte Neithadl‐Off betont. »Was seid ihr nur für Prospektoren, wenn ihr das nicht wißt!« Sie hielt Nafrein‐Nakruf ihr leeres Glas hin, und er füllte es und setzte danach die Flasche an seinen Mund, um den kärglichen Rest zu trinken. »Das ist komplizierter, als du es dir vorstellen kannst«, sagte er danach und ließ die leere Flasche einfach fallen. »Wir haben das alles auf einem Planeten namens Erema von einem Weltraumscout erfahren. Er warnte uns eindringlich davor, Xissas anzufliegen – und wir haben uns danach gerichtet, denn schließlich wollen wir Bodenschätze finden und nicht in die Fallen der Wesen geraten, die die Zeitgruft bewachen sollen.« »Falls diese ominöse Zeitgruft überhaupt existiert?« spottete die Vigpanderin. Nafrein‐Nakruf rutschte im Zeitlupentempo von seinem Kontursessel. »Sie existiert natürlich nicht«, lallte er dabei. »Sonst hätte ich als Prospektor nicht gezögert, sie anzufliegen, dort zu landen und ihre
Geheimnisse zu ent … ent …« »… zu entdecken«, ergänzte Neithadl‐Off. »… zu entschleiern«, verbesserte der Prospektor sie, dann bekam seine Sitzfläche Bodenkontakt, er kippte nach rechts, streckte sich aus und schlief geräuschvoll ein. »Xissas!« sagte Neithadl‐Off genüßlich. »Wesen, die die Zeitgruft bewachen! Nicht schlecht, falls es organische Lebewesen sind, denn dann werden sie mir zuhören, wenn ich Steinchen für Steinchen eine Geschichte aufbaue, die in sich so logisch ist, wie wahre Geschichten es selten sind.« Nafrein‐Nakruf bewegte sich im Schlaf und lallte: »Gefahr!« »Keine Sorge!« pfiff die Parazeit‐Historikerin tröstend. »Du brauchst dich keiner Gefahr auszusetzen. Es reicht völlig, wenn ich allein nach Xissas fliege.« Nachdenklich musterte sie die Kontrollen des Schiffes. »Kein Problem für Neithadl‐Off, dieses Schlachtschiff zu steuern«, sagte sie im Selbstgespräch. »Aber natürlich muß ich Nafrein‐ Nakruf erst dazu bringen, daß er mir seine DSCHWINGG leihweise überläßt. Ich werde sie nicht stehlen, obwohl die Snakulder in ihrem derzeitigen Zustand nichts dagegen tun könnten. Ich bin nämlich eine ehrliche Haut.« 5. »Xissas wäre nicht der erste Zeitgruft‐Planet, auf dem ich lande«, erzählte Neithadl‐Off den drei Snakuldern, nachdem sie ihren Rausch ausgeschlafen hatten. »Ich erinnere mich noch sehr gut an Lavellynn, die Welt unter den Wolken. Dort hatten die letzten Überlebenden einer ausgestorbenen Zivilisation ihre wertvollsten wissenschaftlichen Erkenntnisse sowie Modelle technischer Hochleistungserzeugnisse in einer Zeitgruft verborgen. Aber
natürlich wurde das alles sehr wirksam bewacht. Nur ahnte ich davon nichts, als ich mich auf die Suche machte.« »Du warst doch aber wenigstens vorsichtig, oder?« erkundigte sich Nafrein‐Nakruf. Die Vigpanderin blickte den Prospektor mit den entsprechenden Sensorstäbchen prüfend an, denn die Frage hatte besorgt geklungen, obwohl es eigentlich absurd war, daß er sich um sie sorgte, da dieses Abenteuer doch längst überstanden war. Ganz davon abgesehen, daß Neithadl‐Off es eben erst erfand, was Nafrein‐Nakruf allerdings nicht wissen konnte. »Selbstverständlich habe ich mich vorgesehen«, versicherte sie. »Aber es war ganz unvermeidlich, daß ich in Gefahr geriet, denn auf der Welt unter den Wolken lauern überall Gefahren. Schon die Wolken sind gefährlich, denn sie bestehen dort nicht aus Wasserdampf, sondern aus organischen Molekülen, die eine instinktgeleitete Lebensform bilden. Doch das wußte ich damals noch nicht.« Nafrein‐Nakruf begann zu zittern. Die schwarzen Borsten auf seiner dunkelroten »Schlangenhaut« zuckten. Neithadl‐Off kam zu dem Schluß, daß der Prospektor tatsächlich Angst um sie hatte. Sie fand das erstaunlich, denn wenn das stimmte, dann mußte er sie mögen, und das war noch erstaunlicher. Grumble‐Oomoch und Hokill‐Hommuf schienen diese Gefühle allerdings nicht zu teilen. Das mochte aber daran liegen, daß sie stärker als Nafrein‐Nakruf unter den Nachwirkungen des Rausches litten. Zumindest hatten sie starke Kopfschmerzen, denn sie stöhnten immer wieder und hielten sich dabei die Köpfe. »Ich landete mit meinem Raumschiff auf einer von schwarzen Kristallen übersäten Ebene, aus der ein blutgrüner Monolith ragte«, fuhr die Parazeit‐Historikerin fort. »Unter diesem Monolithen sollte die Zeitgruft verborgen sein.« »Wieso sagst du blutgrün?« fragte Hokill‐Hommuf. »Weil sie sicher grünes Blut hat, du Dummkopf!« fuhr Nafrein‐
Nakruf ihn an. »Unterbrich sie nicht noch einmal!« »Mein Blut ist tatsächlich grün«, bestätigte Neithadl‐Off. »Also, ich landete auf dieser Ebene. Danach blieb ich noch eine Weile in meinem Schiff und stellte Messungen und Beobachtungen an. Ich fand jedoch nichts Verdächtiges. Deshalb verließ ich schließlich das Schiff und flog zu dem Monolithen.« Nafrein‐Nakruf zitterte heftiger und schlang die Arme um seinen Oberkörper. »Der Monolith sah ganz harmlos aus«, erklärte die Vigpanderin. »Ich landete bei ihm und ging dreimal um ihn herum, ohne feinen Zugang zu finden. Aber als ich ihn zum vierten Mal umrundete, klaffte plötzlich eine rechteckige Öffnung in seiner Wandung. Natürlich kam mir das nicht ganz geheuer vor, aber was blieb mir schon anderes übrig, als diese Öffnung letzten Endes doch zu benutzen.« »Konntest du nicht einfach wieder abfliegen?« wandte Nafrein‐ Nakruf bebend ein. »Ich bin Parazeit‐Historikerin«, entgegnete Neithadl‐Off verweisend und war sich plötzlich sicher, daß sie das tatsächlich war und es sich nicht nur einbildete. »Also, ich ging durch diese Öffnung – und befand mich unverhofft in einer Art Arena.« Nafrein‐Nakruf holte geräuschvoll Luft. »Auf den Rängen ringsum saßen die Zuschauer, seltsame bucklige Wesen mit nur je einem Kopf, die mit schwarzen Umhängen bekleidet waren«, erzählte Neithadl‐Off weiter. »Sie erhoben sich, als sie mich sahen und gaben raschelnde Geräusche von sich, bei denen es mir abwechselnd heiß und kalt über die Haut lief. Das Schrecklichste aber war das Wesen, das mir in der Arena gegenüberstand: ein Hominide, so breit wie hoch, mit fast weißer Haut und unheimlich starken Muskelpaketen unter dem kurzen schwarzen Hemd, das er als einziges Kleidungsstück trug.« Nafrein‐Nakruf stöhnte laut, und diesmal zeigten seine Assistenten erste Anzeichen von Furcht.
»In der rechten Hand hielt mein Gegner ein Schwert mit breiter, scharfgeschliffener Klinge und tiefer Blutrinne«, schilderte Neithadl‐ Off genüßlich die Szene, die sie sich gerade ausdachte. »Und in der linken Hand hielt er einen Rundschild aus molekularverdichtetem Metallplastik. Er starrte mich aus hellblauen, rotunterlaufenen Augen an. Da wußte ich, daß ich gegen ihn kämpfen sollte.« Zufrieden musterte sie ihre drei Zuhörer. Sie war sicher, daß sie mit ihrer Geschichte schon jetzt die gewünschte Wirkung erzielt hatte, aber erstens wollte sie diese Wirkung noch vertiefen, und zweitens pflegte sie niemals eine Geschichte ohne abgerundeten Schluß zu erzählen. Das war sie ihrem Ruf schuldig. »Hattest du keine Strahlwaffe bei dir?« platzte Nafrein‐Nakruf heraus. »Ich habe nie eine Strahlwaffe bei mir«, entgegnete die Wissenschaftlerin. »Aber es hätte mir sicher auch nichts genützt, wenn ich eine besessen hätte, denn ich war in eine genau ausgeklügelte Falle geraten. Allerdings hatten die Wächter der Zeitgruft nicht vor, mich einfach abschlachten zu lassen. Einer von ihnen überreichte mir einen Dreizack mit langem Stiel.« »Wie sah er aus?« fragte Nafrein‐Nakruf atemlos. »Der Dreizack?« stellte Neithadl‐Off sich dumm. »Nein, der Wächter natürlich«, antwortete der Prospektor. »Ach, so!« sagte Neithadl‐Off. »Das weiß ich nicht. Er war nämlich unsichtbar.« »Grmpf!« machte Hokill‐Hommuf enttäuscht. »Mein Gegner stürzte sich sofort auf mich, nachdem ich den Dreizack erhalten hatte«, fuhr die Vigpanderin fort. »Er wollte mich anscheinend mit seinem Schwert in Stücke hauen.« »Und?« rief Nafrein‐Nakruf. »Fast wäre es ihm gelungen«, erklärte Neithadl‐Off. »Aber jedesmal, wenn er ausholte, stolperte er über meinen Dreizack. Das frustrierte ihn so, daß er in Raserei geriet und ein Blutbad unter den Zuschauern anrichtete. Das war natürlich nicht im Sinn der
Wächter. Deshalb ließen sie ihn verschwinden.« Nafrein‐Nakruf atmete so tief auf, daß er anschließend beinahe nicht mehr ausatmen konnte. Seine Assistenten schlugen mit Fäusten gegen seine Brust und seinen Rücken, bis die Atemstockung behoben war. »Das war noch die harmloseste Prüfung, der mich die Wächter der Zeitgruft von Lavellynn unterzogen«, sagte Neithadl‐Off anschließend. »Wenn ich nur daran denke, was ich auf den fünf Stufen zur Gruft durchlitten habe, gerinnt mir fast die Lymphe. Aber ich werde euch diese Geschichte nicht vorenthalten.« »Nein, nein!« rief Nafrein‐Nakruf. »Du darfst dich nicht unnötig in Gefahr begeben. Sage uns nur, ob du in die Zeitgruft hineingekommen bist!« »Aber natürlich!« erwiderte Neithadl‐Off entrüstet. »Schließlich bin ich Parazeit‐Historikerin und habe reichhaltige Erfahrungen mit Zeitgrüften und ihren Wächtern.« »Und die Schätze aus der Zeitgruft?« drängte Grumble‐Oomoch mit unüberhörbarer Gier. »Hast du sie geborgen? Und was hast du mit ihnen angefangen?« »Ich sagte doch schon, daß ich in die Zeitgruft hineingekommen bin«, erklärte Neithadl‐Off. »Da war es doch wohl selbstverständlich, daß ich die darin enthaltenen Schätze geborgen habe.« »Aber was hast du mit ihnen angefangen?« drängte Hokill‐ Hommuf. »Ich habe sie für eine wissenschaftliche Abhandlung ausgewertet«, antwortete die Vigpanderin. »Die praktische Verwertung habe ich natürlich den Leuten überlassen, die mir das Schiff für den Flug nach Lavellynn geliehen hatten. Sie sind mir heute noch dankbar dafür, denn seitdem brauchen sie keinen Finger mehr zu rühren und sind vollauf damit beschäftigt, die Zinseszinsen ihrer Gewinne auszugeben.« »Die Zinseszinsen?« fragte Nafrein‐Nakruf. »Dann muß die
Verwertung ja ein Vermögen eingebracht haben.« »Das ist die Untertreibung des Jahrtausends«, stellte Neithadl‐Off fest. »Die Leute sind praktisch zu Halbgöttern geworden – und das, ohne sich in Gefahr zu begeben.« »Du mußt wirklich gut sein«, meinte Nafrein‐Nakruf. »Wenn ich nicht Angst um dich hätte, ich würde in Versuchung kommen, dich zu fragen, ob du nicht nach Xissas fliegen und dich um die dortige Zeitgruft kümmern möchtest.« »Ach, um mich braucht niemand Angst zu haben«, erwiderte Neithadl‐Off wegwerfend. »Wie ich schon sagte, habe ich als Parazeit‐Historikerin reichhaltige Erfahrungen mit Zeitgrüften und ihren Wächtern. Wenn ich ein Schiff hätte, ich würde noch heute nach Xissas aufbrechen.« »Du hast ein Schiff«, behauptete Nafrein‐Nakruf. »Ich habe ein Schiff?« fragte die Vigpanderin verwundert. »Wo?« »Die DSCHWINGG«, antwortete der Prospektor. »Du kannst sie nehmen.« »Es macht dir sicher nichts aus, uns dafür die Schätze der Zeitgruft zur Verwertung zu überlassen«, warf Grumble‐Oomoch ein. »Die DSCHWINGG ist mein Raumschiff!« erklärte Nafrein‐Nakruf energisch. »Aber ich beteilige euch natürlich am Gewinn, wenn er groß genug ist.« »Ich bin nur als Wissenschaftlerin an den Schätzen der Zeitgruft interessiert«, sagte Neithadl‐Off. »Ansonsten kannst du frei darüber verfügen, Nafrein‐Nakruf. Können wir heute noch starten?« »Wir?« entfuhr es dem Prospektor – und die schwarzen Borsten auf seiner Haut zitterten heftig. »Aber wir haben noch auf Kaldoch zu tun, Neithadl‐Off. Du müßtest schon allein nach Xissas fliegen. Das heißt, wenn du mit den Kontrollen zurechtkommst.« »Das ist kein Problem«, erklärte die Vigpanderin. »Ich habe schon alle Schiffstypen geflogen. Sobald ihr euch im Freien eingerichtet habt, werde ich starten. Wollt ihr nicht doch mitkommen? So eine Zeitgruft ist immer hochinteressant, und die Gefahren durch die
Wächter und ihre Fallen geben der Sache die richtige Würze.« »Nein«, entschied Nafrein‐Nakruf. »Ich würde dich gern begleiten und meine Assistenten sicher auch, aber wir müssen hier noch eine Untersuchung abschließen. Wahrscheinlich werden wir gerade fertig sein, wenn du zurückkehrst. Du wirst ja keine halbe Ewigkeit fortbleiben, nicht wahr?« »Nicht, wenn ich es vermeiden kann«, gab Neithadl‐Off zurück, während sie sich allmählich darüber klar wurde, daß sie sich auf eine Sache eingelassen hatte, die möglicherweise zu groß für sie war. Denn sie hatte bisher noch nie eine Zeitgruft zu sehen bekommen. 6. Gleich nach dem Start von Kaldoch versagten die Triebwerke der DSCHWINGG, und das Schiff stürzte zurück, nachdem es eine Parabel beschrieben hatte. Neithadl‐Off schaltete hektisch an den Kontrollen herum und spielte mit dem Gedanken, sich mit Hilfe ihres Gravojet‐Aggregats zu retten, falls die Triebwerke nicht bald wieder ansprangen. Sie wunderte sich nicht mehr darüber, wie bereitwillig Nafrein‐Nakruf ihr sein Schiff angeboten hatte. Die DSCHWINGG war ein uralter Schrottkahn. Sie hätte gleich darauf kommen sollen, als sie sie zum erstenmal sah, denn sie wußte schließlich aus leidvoller Erfahrung, daß die Eigner beziehungsweise Piloten von schrottreifen Raumschiffen fast immer übersteigerten Wert auf äußeren Glanz legten. Als der Melder des Funkgeräts klapperte, fuhr die Vigpanderin erschrocken herum. An diese Möglichkeit hatte sie in der Aufregung gar nicht gedacht. Der Schreck verwandelte sich jedoch schnell in kochenden Zorn, und sie trippelte zu dem Gerät hin und schaltete es ein.
»Ich werde jetzt aus dieser Rostbüchse aussteigen und aus sicherer Entfernung beobachten, wie sie auf Kaldoch zerschellt!« kreischte sie, noch bevor sich das Abbild Nafrein‐Nakrufs richtig auf dem Bildschirm stabilisiert hatte. »Das habe ich befürchtet«, erwiderte der Prospektor. »Deshalb rufe ich dich an. Wir können die DSCHWINGG nämlich sehen. Sie fällt mit stehenden Triebwerken zurück und wird als Wrack enden, wenn du nicht endlich die Handpumpe bedienst und die Fusionskammer damit füllst. Das hat bisher immer geholfen. Der Handpumpengriff ist rechts neben dem Beschleunigungshebel.« »Oh, das ist er!« entfuhr es Neithadl‐Off. »Und ich dachte, damit würde Abfall aus dem Schiff gepumpt.« Sie eilte zu dem schwengelartigen Griff neben dem Beschleunigungshebel, stellte ihre vier Vordergliedmaßen darauf und hob und senkte den mattenartigen Körper. »Es geht immer schwerer«, klagte sie nach einer Weile. »Das ist, weil du den richtigen Druck aufbauen mußt«, erklärte Nafrein‐Nakruf. »Sonst kann die Fusion nicht zünden. Sie hat bestimmt aufgehört, als der Druck nachließ – und das geschieht immer, wenn zu schnell beschleunigt wird.« »Das hättest du mir auch früher sagen können«, meinte Neithadl‐ Off ächzend. »Du hast behauptet, es wäre kein Problem für dich, mit den Kontrollen zurechtzukommen«, entgegnete Nafrein‐Nakruf. »Es tut mir leid, wenn ich das falsch verstanden habe. Hoffentlich springen die Triebwerke bald an, damit du nicht erst landen mußt.« »Es würde eine ziemlich harte Landung werden«, bemerkte die Vigpanderin sarkastisch. »Wahrscheinlich«, bestätigte der Prospektor. »Aber vieles, was dabei zu Bruch ginge, könnten wir ersetzen. Auf Kaldoch liegt ein teilweise abgewracktes Schiff vom gleichen Typ wie die DSCHWINGG. Da lassen sich noch eine Menge Teile herausholen.« Neithadl‐Off wollte etwas darauf erwidern, kam aber nicht dazu,
denn nachdem sie den Handpumpengriff ein weiteres Mal herabgedrückt hatte, zündete das Plasma in der Fusionskammer, die Triebwerke sprangen an und der Griff schnellte so abrupt empor, daß die Parazeit‐Historikerin bis an die Decke der Steuerzentrale geschleudert wurde. Als sie sich von dem Schreck erholt hatte, fand sie sich am Boden wieder. Sie stakste eilig auf das Kontrollpult zu, las die Geschwindigkeits‐ und Kurswerte von den Datensichtschirmen und erhöhte danach behutsam die Beschleunigung. Sie erinnerte sich erst wieder an Nafrein‐Nakruf, als sie den Prospektor rufen hörte. Dabei merkte sie auch, daß ihr das auf Übersetzen geschaltete Aufzeichnungsgerät abhanden gekommen war. Es mußte irgendwo in der Zentrale liegen. Sie verstand Nafrein‐Nakruf dennoch, denn sie hatte vorher Zeit genug gehabt, sich mit seiner Sprache vertraut zu machen. Das war bei ihr ein eher unbewußt ablaufender Lernprozeß. »Bei mir ist alles in Ordnung«, antwortete sie auf seine Frage. »Ich nehme jetzt Kurs auf Xissas.« »Da bin ich aber froh!« erklärte Nafrein‐Nakruf erleichtert. »Viel Glück und große Reichtümer in der Zeitgruft, Neithadl‐Off! Vergiß uns nicht!« »Wie könnte ich!« rief die Vigpanderin und korrigierte den Kurs, weil die DSCHWINGG aus unerfindlichen Gründen nach Backbord ausgebrochen war. »Selbst wenn ich ein Schurke wäre, der euch am liebsten euch selbst überlassen würde, könnte ich es nicht tun, denn es sollte mich sehr wundern, wenn ich nach meiner Mission auf Xissas nicht den größten Teil der bei euch lagernden Ersatzteile brauchte. Wir werden uns also bald wiedersehen, falls ich es überlebe und auch nicht auf eine andere Zeitebene verbannt werde.« Was Nafrein‐Nakruf darauf entgegnete, klang ängstlich, war aber nicht zu verstehen, weil eine Störung im Funkgerät lärmte. Neithadl‐Off kümmerte es nicht. Sie konzentrierte sich voll darauf,
einen Hypertasterreflex vom dritten Planeten Nutaks hereinzubekommen und mit seiner Hilfe Richtung, Entfernung und Geschwindigkeit von Xissas zu bestimmen. Anschließend programmierte sie den Autopiloten auf eine kurze Überlichtetappe und schaltete das Programm auf Durchlauf. Die DSCHWINGG beschleunigte konstant rund sieben Stunden lang, bis sie die für den Kontinuumswechsel notwendige Mindestgeschwindigkeit erreicht hatte, dann schien sie zu explodieren. Dieses Gefühl hatte Neithadl‐Off jedenfalls. Sie merkte erst ein paar Minuten später, daß es getrogen hatte, denn da kam sie wieder zu sich und sah auf den Bildschirmen eine Art pseudoplasmatisches, kalkwasserbleiches Medium, durch das die DSCHWINGG sich bewegte. Beruhigt kletterte sie mit steifen Bewegungen von dem Kontursessel, auf dem sie es notgedrungen ausgehalten hatte, weil von da aus die wichtigsten Schaltungen am ehesten zu erreichen waren. Sie suchte und fand ihr Aufzeichnungsgerät und begab sich damit in einen leeren Nebenraum, eine Art Abstellkammer. Dort nahm sie das Gerät zwischen ihre Vordergliedmaßen, bewegte es vor ihrer schmalen Mundleiste hin und her und sprach pfeifend hinein – in ein Gerät, das so mancher Terraner mit einer Mundharmonika verwechselt hätte, genauso, wie er Neithadl‐Off im ersten Moment wahrscheinlich für ein Trampolin gehalten hätte. Aber nur im ersten Moment, denn im zweiten hätte ihn Neithadl‐ Offs »Beredsamkeit« schon eines Besseren belehrt … * Die Parazeit‐Historikerin unterbrach ihre Tätigkeit, als sie ein lautes Signal aus der Steuerzentrale hörte. Sie verstaute das
Aufzeichnungsgerät in seinem Futteral und kehrte in die Zentrale zurück. Auf den ersten Blick war zu sehen, daß die DSCHWINGG die Überlichtetappe beendet hatte und ins normale Raum‐Zeit‐ Kontinuum zurückgefallen war. Der Weltraum war wieder schwarz – bis auf die Sichel eines Planeten an Steuerbord und auf eine kleine rote Sonne, die sich schräg vor dem sternenbesteckten Hintergrund des Alls abhob. Wenn nicht alles trog, dann mußte das die Sonne Nutak sein – und ihr dritter Planet namens Xissas. Neithadl‐Off war aufgeregt wie selten in ihrem Leben. Zum erstenmal würde sie wirklich mit einer Zeitgruft konfrontiert werden – und noch dazu mit einer echten, vor deren Wächtern die drei Snakulder gewarnt worden waren. Sie konnte es kaum erwarten. Gleichzeitig aber hatte sie solche Angst, daß ihr graugrüner, lederhautförmiger ›Rumpf‹ nicht nur feucht, sondern tropfnaß war. Dennoch nahm sie die zur Vorbereitung der Landung erforderlichen Schaltungen ruhig und gefaßt vor, denn größer als ihre Angst war ihre Neugier. Sie war seit einer kleinen Ewigkeit ruhelos auf der Suche nach etwas gewesen, das sie nicht zu benennen vermochte. Möglicherweise war es bei den Dingen, die durch ihr Unterbewußtsein spukten und manchmal an die Oberfläche kamen. Sicher konnte sie nicht sein, da sie längst vergessen hatte, was davon Erinnerungen an wahre Begebenheiten und was eigene Erfindungen waren. Sie wußte nur, daß sie das Objekt ihrer Suche erkennen würde, sobald sie es sah. Zumindest war sie sich dessen ziemlich sicher. Nach und nach sammelten sich auch die Ortungsdaten über den Planeten an und wurden vom Computer ausgewertet beziehungsweise in für organische Intelligenzen leicht begreifbaren Text umgewandelt. Neithadl‐Off wunderte sich und begann daran zu zweifeln, daß
der an Steuerbord scheinbar zum Greifen nahe Planet wirklich Xissas war, denn die Auswertung bezeichnete ihn als mittelgroßen, zu einem Schlackenhaufen ausgeglühten Planeten, dessen Oberfläche eine einzige Strahlenhölle war. Es war eigentlich unvorstellbar, daß dort eine Zeitgruft existierte und bewacht wurde, und wenn es keine Zeitgruft gab, war der Planet uninteressant für sie. Sie überlegte, ob sie wieder abdrehen sollte. Doch sie hatte gerade erst eine halbe Umkreisung geschafft und noch längst nicht die gesamte Oberfläche gesehen. Vielleicht lag das, was sie suchte, weit hinter dem sichtbaren Horizont, vielleicht auch ganz links oder ganz rechts. Die Vigpanderin tippte mit den versteiften Tastfäden ihrer Vordergliedmaßen verschiedene Sensorpunkte an, als sie bemerkte, daß das Schiff vom Kurs abgekommen war und nach Steuerbord abtrieb. Zufrieden stellte sie fest, daß die Korrekturdüsen reagierten. Doch nur wenig später verflog ihre Zufriedenheit, denn die DSCHWINGG trieb diesmal nach Backbord ab. Neithadl‐Off versuchte, das Schiff allein mit den Korrekturdüsen auf den richtigen Kurs zurückzubringen. Als das erfolglos blieb, setzte sie die Haupttriebwerke ein. Sie konnte einwandfrei mit den entsprechenden Schaltungen umgehen, deshalb war sie erbost darüber, daß das Schiff ihr nicht gehorchte. Es war wie verhext. Wenn sie eine Abweichung von drei Grad Backbord korrigierte, kam zum Schluß eine Abweichung von drei Grad nach Steuerbord heraus. Das gleiche geschah, wenn sie das Schiff nach oben ziehen oder nach unten drücken wollte – und das Endresultat aller ihrer Bemühungen war, daß die DSCHWINGG den Orbit um den Planeten völlig verließ und sich von ihm entfernte. Die Parazeit‐Historikerin glaubte nicht an Schaltreaktionsfehler oder an ein Versagen der Triebwerksjustierungen, obwohl sie keine gute Meinung von der DSCHWINGG hatte. Sie war davon überzeugt, daß jemand, der mit Hyperfeldern arbeitete, für die
Verzögerungen der Triebwerksreaktionen verantwortlich war. Jemand wollte nicht, daß sie Xissas genau erkundete. Der oder die Wächter der Zeitgruft! Neithadl‐Off verlor die Nerven. Ihr war nicht bewußt gewesen, wie stark ihr Verlangen war, eine Zeitgruft zu finden und zu untersuchen. Aber jetzt brach dieses Verlangen durch. Sie setzte alles auf eine Karte und zwang das Schiff auf einen Kurs, der zu einer frontalen Kollision mit Xissas führen mußte – und sie beschleunigte so stark, daß eine plötzliche Kursänderung so gut wie unmöglich wurde. Der Planet sprang förmlich in den Frontschirm hinein, schwoll an, füllte den Bildschirm aus und schien sich in eine Schüssel zu verwandeln, deren Ränder rasch in die Höhe wuchsen. Erschrocken schaltete Neithadl‐Off die Hecktriebwerke ab und die Bremstriebwerke am Bug ein. Das heißt, sie führte die entsprechenden Schaltungen aus, aber die Triebwerke reagierten nicht darauf. Die Hecktriebwerke standen still, und die Bugtriebwerke sprangen nicht an. Immer näher kam die Oberfläche des Planeten. Neithadl‐Off schloß mit ihrem Leben ab und zog ihre Sensorstäbchen ein, um nicht länger mit ansehen zu müssen, wie die DSCHWINGG der Katastrophe entgegenstürzte. Noch ein Sensorstäbchen ragte aus ihrer vorderen Schmalseite, als sich die Oberfläche des Planeten schlagartig zu verwandeln schien. Was eben noch wie ausgeglühte Schlacke ausgesehen hatte, war zur leicht gewellten Oberfläche eines Ozeans geworden, der anscheinend den ganzen Planeten umspannte. Unwillkürlich streckte Neithadl‐Off alle Sensorstäbchen wieder aus, um das Bild in sich aufzunehmen, das ihr als ein Wunder erschien. Dabei erlebte sie das nächste Wunder. Denn die DSCHWINGG stürzte nicht länger auf den Planeten zu, sondern verharrte anscheinend übergangslos dicht über dem Meer, dann sank sie langsam ganz hinab, tauchte mit den Heckflossen ins
Wasser und berührte mit ihnen den Grund. Danach stand sie still, zu vier Fünfteln aus dem Ozean ragend, dessen sanfte Dünung blauen Himmel und weiße Wolkentupfer widerspiegelte … * Die Parazeit‐Historikerin stand lange Zeit ebenso reglos wie das Schiff. Zuerst hatte sie geglaubt, sie wäre bei der Kollision des Schiffes mit dem Planeten schnell und schmerzlos gestorben und ihr körperloses Bewußtsein gaukelte ihr im Traum die Erfüllung ihrer zu Lebzeiten geborenen Wünsche vor. Doch dann war die stählerne Insel aus der Tiefe des Meeres und der Planetenkruste darunter aufgetaucht, und diese ungeheure Herausforderung hatte Neithadl‐Offs Verstand geklärt. Alle Einbildungen waren verblaßt. Sie wußte, daß sie in und mit einer Realität lebte, gegen die sie entweder bestand oder von der sie in den Wahnsinn getrieben würde. Dennoch verharrte sie reglos vor den Kontrollen, gleichsam unter einem Bann stehend, alle Sinne fixiert auf die stählerne Insel. Sie hatte die Form einer Scheibe, war über dem Wasserspiegel zirka dreißig Meter hoch beziehungsweise dick und mochte zweihundert Meter durchmessen: eine Insel aus silberweißem Metall, ohne die geringsten Spuren von Korrosion. Als wäre für sie seit ihrem Bestehen keine Zeit vergangen! Dieser Gedanke riß Neithadl‐Off aus dem tranceartigen Bann, denn er führte sie zwingend zur Assoziation mit der Zeitgruft, nach der sie suchte. Nach der ich gesucht habe! durchfuhr es sie gleich einem Stromstoß. Denn dort ist sie! In einer Panikreaktion stürzte sich Neithadl‐Off auf die Kontrollen und versuchte, die Triebwerke einzuschalten und einen Notstart
durchzuführen. Doch nichts rührte sich, so heftig sie auch auf die Schalter und Sensorpunkte einschlug. Das ernüchterte die Vigpanderin. Sie sah ein, daß sie sich der Konfrontation nicht mehr entziehen konnte. Sie mußte handeln, wie ihr Verstand es ihr bereits gesagt hatte: Bestehen oder Untergehen. Doch noch war die Furcht zu stark. Deshalb zögerte Neithadl‐Off das Unumgängliche so lange wie möglich hinaus. Sie bemühte zuerst ihr Aufzeichnungsgerät, da sie sich sagte, daß sie als Wissenschaftlerin verpflichtet sei, einen detaillierten Bericht über ihre Suche nach der Zeitgruft und ihrer Entdeckung anzufertigen. Danach maß sie mit wissenschaftlicher Akribie die Schwerkraft, die Zusammensetzung der Atmosphäre, den Luftdruck, die Temperatur der Luft und des Wassers, die radioaktive Strahlung (die verblüffend gering war), untersuchte mehrere Stichproben von Luft und Wasser und fertigte auch darüber einen Bericht an. Als sie beim besten Willen nichts mehr fand, das sie innerhalb des Schiffes tun konnte, öffnete sie die Personenschleuse und ging zum Antigravschacht. Ganz in Gedanken sprang sie hinein – und merkte erst danach, daß die Antigravprojektoren ausgefallen waren. Da sie ihren Aggregattornister unter dem Leib trug, war das nicht weiter tragisch. Sie schaltete das Flugaggregat ein und bremste damit ihren Fall ab. Wenig später raste sie aus der Schleusenkammer – eingedenk der Fehlfunktion, die sie mit dem Außenschott auf Kaldoch erlebt hatte. Als wollte es sie ärgern, öffnete und schloß es sich diesmal jedoch im korrekten Arbeitstakt. Neithadl‐Off steuerte über die stählerne Insel, dann bremste sie ab und kreiste langsam über der Oberfläche. Sie traute dem Frieden nicht, weil sie sich einfach nicht vorstellen konnte, daß die Zeitgruft ohne jede Sicherung vor ungebetenen Besuchern sein sollte. Als sich im genauen Mittelpunkt der Oberfläche ein Lamellenschott öffnete, wurde es ihr noch mulmiger. Doch sie besiegte ihre Furcht und drosselte die Leistung ihres Flugaggregats. Langsam und zielsicher sank sie auf die Öffnung zu – und in sie
hinein. Sie landete auf dem Boden eines saalgroßen Raumes mit kreisrundem Grundriß. Es war mäßig hell, eine gelbliche Helligkeit, die nicht aus einer räumlich begrenzten Lichtquelle kam, sondern gleichmäßig von allen Seiten. »Suchst du den Modulmann?« Neithadl‐Off wirbelte herum und nahm die optische Wahrnehmung des Wesens in sich auf, das ihr gegenüber auf einem thronartigen Sessel saß. Der erste Eindruck war, daß es steinalt sein mußte. Eine dunkelbraune Kutte mit Kapuze bedeckte den größten Teil des Körpers, der annähernd hominid geformt war. Nur das Gesicht lag frei: eine staubgraue »Landschaft« aus versteinerten Formen mit einem von rissigen Falten umrahmten Mund, einer weit vorspringenden Nase und zwei Augenhöhlen, in denen Ballungen weißlichen Gespinstes schimmerten. »Suchst du den Modulmann?« wiederholte das Wesen, und die gleich geschliffenem Granit glitzernden Lippen bewegten sich schubladenhaft. Die Parazeit‐Historikerin hatte um ihre Selbstbeherrschung gekämpft und sich wieder einigermaßen gefaßt. »Woher kennst du meine Sprache?« erkundigte sie sich. »Ich kenne deine Sprache nicht, aber alle Besucher verstehen mich«, erklärte das Wesen. »Beantworte meine Frage!« Neithadl‐Off wußte nicht, was sie antworten sollte. Sie kannte keinen Modulmann und war schon gar nicht nach Xissas gekommen, um ihn zu suchen. Aber wenn sie die Frage verneinte, wie würde das Wesen dann darauf reagieren? Sie wußte es nicht, genausowenig wie sie wußte, wie die Reaktion bei einer Bejahung ausfallen würde. Das Wesen war sicherlich einer der Wächter der Zeitgruft, und wahrscheinlich verfügte es über Mittel, mit jedem Besucher willkürlich nach Lust und Laune umzuspringen. »Antworte mir!« verlangte das Wesen.
Neithadl‐Off entschied, daß es ratsam war, diesmal nicht nur mit frei erfundenen, wenn auch logisch verketteten, Fakten zu jonglieren, sondern eine Mischung aus Wahrheit und Lüge zu weben. »Ich bin Parazeit‐Historikerin und suche alles, was sich finden läßt«, erklärte sie. »Nicht nur in der ersten Realgegenwart, sondern überall.« Das Wesen schien sie lange anzuschauen, dann fragte es: »Weißt du denn überhaupt, wo du dich befindest, Parazeit‐ Historikerin?« »In der Zeitgruft von Xissas, denke ich«, antwortete Neithadl‐Off. »Das denkst du«, erwiderte das Wesen. »Aber du irrst dich. Als du unserem sanften Drängen, dich von Xissas fernzuhalten, nicht nachgabst, beschlossen wir, dich zu landen und auf den fünf Ebenen zu prüfen. Bestehst du alle Prüfungen, hast du einen Wunsch frei, bestehst du sie nicht, bekommst du die Programmierung eines Zeitvagabunden eingespeist.« Neithadl‐Off erschrak. Sie wußte nicht, was ein Zeitvagabund war, aber die Vorstellung, künstlich zu einem solchen Wesen gemacht zu werden, jagte ihr Angst ein. »Ich habe nie darum gebeten, auf den fünf Ebenen geprüft zu werden«, protestierte sie mit dem Mut der Verzweiflung. »Mein Ziel ist einzig und allein die Zeitgruft. Ich verlange, auf dem schnellsten Weg dorthin gebracht zu werden.« »Mit welchem Recht?« fragte das Wesen. »Mit dem Recht des Zeitkuriers von König Parthas«, behauptete Neithadl‐Off und zog ihr Aufzeichnungsgerät aus seinem Futteral. »Hier ist meine Legitimation.« Sie streckte es zwischen ihren Vordergliedmaßen dem Wesen entgegen und ließ die letzten Aufzeichnungen mit zehnfacher Geschwindigkeit abspielen. »Ich habe nichts verstanden«, sagte der Steinalte, als die Aufzeichnungen abgelaufen waren.
»Das liegt nicht an mir, sondern an dir«, erklärte Neithadl‐Off.
»Anscheinend hockst du schon eine halbe Ewigkeit hier, und dein Gehirn arbeitet längst nur noch sporadisch. Du bist nicht mehr fähig, eigene Entscheidungen zu treffen, also überlaß das mir.« Das Wesen wackelte mit dem Kopf, dann seufzte es tief und sagte: »Vielleicht stimmt es, daß ich nicht mehr fähig bin, eigene Entscheidungen zu treffen. Ich werde mich also vorsichtshalber eigener Entscheidungen enthalten. Aber ich darf dennoch keine Anweisungen von Fremden befolgen:« »Aber ich handle im Auftrag von König Parthas!« trumpfte Neithadl‐Off auf. »Hast du denn vergessen, daß er der Schirmherr der Zeit ist?« »Ich weiß nichts davon«, erwiderte das Wesen. »Das ist schlimm«, behauptete Neithadl‐Off. »Du wirst dich desaktivieren müssen, um nicht sehr große Schuld auf dich zu laden. Es sei denn, du findest einen Ausweg aus deinem Dilemma, der es dir ermöglicht, mich in die Zeitgruft und zu dem Modulmann zu bringen.« »Einen Ausweg?« wiederholte das Wesen grübelnd. »Wenn ich nur einen finden würde! Ich bin tatsächlich uralt. Meine Erinnerungen sind getrübt, und das Denken fällt mir schwer. Vielleicht ist die Zeitgruft längst verfallen und ich bin als einziger Wächter übrig. Andererseits ist mir, als hätte ich vor gar nicht allzu langer Zeit mit anderen Wächtern kommuniziert, weil sich ein fremdes Raumschiff hartnäckig dieser Welt näherte.« »Aber das ist schon mehr als tausend Jahre her«, versuchte die Parazeit‐Historikerin die offensichtliche geistige Verwirrung des Wesens zu einem Bluff auszunutzen. »Inzwischen hat König Parthas durch das Edikt von äh … Snakuld die Nakruf‐Doktrin für ungültig erklärt und seine Zeitkuriere mit überragenden Vollmachten ausgestattet. Darüber müßtest du aber eigentlich durch den Zeitfunk informiert sein, wenn du wirklich ein Zeitgruft‐Wächter bist.« Das Wesen gab ein paar Laute von sich, die an verzweifeltes
Heulen erinnerten, dann flüsterte es: »Ich bin ein Zeitgruft‐Wächter, aber ich weiß nichts von einem Zeitfunk und von den übrigen Dingen, die du erwähnt hast, Zeitkurier.« »Das ist traurig«, meinte Neithadl‐Off. »Wirklich traurig. Denn wenn du nicht einmal weißt, daß es einen Zeitfunk gibt, dann kann das nur bedeuten, daß König Parthas deinen Status als Zeitgruft‐ Wächter vor tausend Jahren nicht erneuert hat, so daß du seitdem kein Zeitgruft‐Wächter mehr bist.« »Ich werde mich desaktivieren«, sagte das Wesen mühsam. »Das geht schnell, wenn ich meinen Stuhl mit Hochenergie überlade.« Die ineinander gesteckten Ärmel der Kutte trennten sich, eine wachsbleiche Hand aus Haut und Knochen kam zum Vorschein und näherte sich zitternd einer Schaltleiste auf der rechten Armlehne des Sessels. »Warte noch!« rief Neithadl‐Off, weil sie fürchtete, das Wesen wollte sich töten, anstatt das zu tun, was die Parazeit‐Historikerin unter »desaktivieren« verstand, nämlich seine Wächterfunktion aufzugeben. »Nicht so hastig! Du darfst dich nicht einfach deiner Pflicht entziehen, auf die du früher eingeschworen wurdest!« »Aber mein Status als Zeitgruft‐Wächter ist erloschen«, argumentierte das Wesen. »Folglich darf ich nicht mehr als solcher handeln.« »Das brauchst du auch nicht«, erklärte Neithadl‐Off. »Du mußt nicht mehr als Zeitgruft‐Wächter fungieren. Dennoch kannst du nicht der Pflicht ausweichen, der du damals als einfache Person die Erfüllung jederzeit und überall geschworen hast, nämlich das Geheimnis des Ordens zu bewahren und die Zeitkuriere so zu unterstützen, daß sie ihre Aufgaben wahrnehmen können.« »Letzteres weiß ich nicht«, sagte das Wesen. »Aber ich weiß jetzt, daß du wirklich ein Zeitkurier bist und ich dich bis zur Zeitgruft führen muß, denn niemand außer den Eingeweihten weiß etwas vom Orden der Zeitchirurgen, dessen Existenz wahrhaftig das
größte Geheimnis des Universums ist.« »Es ist gut, daß du wenigstens das noch weißt«, erwiderte Neithadl‐Off, während sie fieberhaft darüber nachdachte, wie der Wächter darauf gekommen war, daß sie in das Geheimnis vom Orden der Zeitchirurgen eingeweiht wäre. Plötzlich ging ihr ein Licht auf. Sie hatte in ihrem verzweifelten Bemühen, irgend etwas zu sagen, was den Wächter ihr gegenüber positiv stimmen sollte, ziemlich wahllos Fakten erfunden und Phrasen gedroschen und dabei rein zufällig etwas von einem Geheimnis des Ordens gesagt, ohne daß sie dem besondere Bedeutung beigemessen hätte. Der Wächter aber hatte, verwirrt und frustriert durch ihren Redefluß, etwas von einem Orden gehört und vermutet, daß er nicht richtig hingehört hatte und deshalb nicht den ganzen Namen mitbekam. Orden der Zeitchirurgen! Neithadl‐Off hatte nicht die geringste Ahnung, was sich dahinter verbarg, aber ihre Haut bedeckte sich vor Erregung mit einem Sekretfilm, denn sie wußte, daß sie durch die Unbeholfenheit des Wächters hinter das größte Geheimnis des Universums kommen würde. Und das war alle Anstrengungen und Todesängste wert, die sie in ihrem bisherigen Leben bewältigt und ausgestanden hatte. »Führe mich zur Zeitgruft!« befahl sie. 7. Der Wächter hatte sich nicht von der Stelle gerührt, dennoch erkannte Neithadl‐Off, daß sie von ihm zur Zeitgruft geführt wurde. Jedenfalls nahm sie es als ziemlich sicher an, denn die Umgebung veränderte sich. Zuerst wurden die Wände, der Boden und die Decke milchig trüb, dann füllte sich der Saal mit einer Art Nebel,
der jedoch nicht undurchsichtig war, sondern die Luft nur diesig machte. Diese Veränderungen hielten aber nicht lange an. Nach wenigen Minuten sah alles wieder aus wie zuvor. Nein, nicht alles! Außer dem einen Wächter befand sich plötzlich ein zweiter in dem Raum, ohne daß die Parazeit‐Historikerin bemerkt hätte, wie er hereingekommen war. Er sah fast genauso aus wie der erste Wächter. Nur seine Kutte war von einem etwas helleren Braun. Neithadl‐Off hatte den Eindruck, daß der zweite Wächter etwas fragte, aber seine Worte wurden zu langgezogenen dumpfen Lauten entstellt. Gleichzeitig setzten abermals Veränderungen ein. Die optischen Effekte waren die gleichen wie die beim erstenmal. Dennoch war etwas anders. Es ließ sich jedoch nicht sehen oder hören, sondern nur fühlen. Doch bevor sich Neithadl‐Off darüber klar werden konnte, was das eigenartige Gefühl bedeutete, waren die Veränderungen schon wieder ausgelöscht – und neben dem ersten Wächter befand sich ein dritter im Saal. Wie der zweite Wächter sahʹ auch er fast genauso aus wie der erste, und die Vigpanderin hätte ihn für den zweiten Wächter gehalten, wäre seine Kutte nicht von einem noch helleren Braun gewesen als die des zweiten. Der dritte Wächter fragte ebenfalls etwas, aber wie beim zweiten blieben auch seine Worte unverständlich. Neithadl‐Off vermutete, daß das mit den Veränderungen zu tun hatte, die auch diesmal einsetzten, kaum daß der dritte Wächter aufgetaucht war. Diese seltsamen Vorgänge wiederholten sich noch zweimal, dann verwandelten sich zwar Wände, Boden und Decke abermals in milchig trübe Flächen und die Luft wurde diesig, doch danach kehrten nicht die alten Zustände zurück, und es tauchte auch kein neuer Wächter auf. Statt dessen wurde die Luft so klar, wie Neithadl‐Off es noch nie erlebt hatte – und die Wände bestanden aus einem Material, durch
das man mit stufenweise nachlassender Deutlichkeit immer neue, ringförmig angeordnete Sektoren sehen konnte, in denen jeweils ein Objekt zu sehen war. Nach zirka dreißig solcher Sektoren wurde alles so undeutlich, daß sich praktisch nichts mehr erkennen ließ, auch nicht mit Neithadl‐Offs empfindlichen Sensorstäbchen. »Ist das die Zeitgruft?« wandte sich die Wissenschaftlerin an den ersten Wächter, der reglos auf seinem thronartigen Stuhl saß. Doch das Wesen antwortete nicht, und als Neithadl‐Off genauer hinsah, erschauderte sie, denn der Wächter wirkte halbtransparent, so, als sei er nur noch halbstofflich. Plötzlich befand sich Neithadl‐Off wieder in den imaginären Klauen der Furcht. Es dauerte eine Zeitlang, bis sie ihre Panik niedergerungen hatte. Dir Körper schwamm danach förmlich in flüssigem Sekret, so daß sie ihre Schutzfolie aufpumpte, damit die Klimaanlage arbeiten und die Nässe beseitigen konnte. Anschließend musterte sie die Objekte in den Ringsektoren genauer. Sie ließen sich nicht alle eindeutig bestimmen. Überwiegend aber schienen es tote Gegenstände wie kultische Säulen, Schrifttafeln aus den verschiedensten Materialien und riesige Drusen voller kostbarer Kristalle zu sein. Einige wenige Objekte hielt Neithadl‐Off für Pflanzen, allerdings ihr völlig unbekannte und offenbar zudem versteinerte. Das alles ließ sie jedoch relativ kalt, denn sie hätte nichts mit den Objekten anzufangen gewußt, ganz abgesehen davon, daß sie anscheinend unerreichbar waren, denn obwohl die Wände des Saales völlig transparent waren, setzten sie der Parazeit‐Historikerin ebensoviel Widerstand wie bester Stahl entgegen. Doch dann drehte sie sich langsam, um auch die Objekte mustern zu können, die sie bisher noch nicht gesehen hatte – und schlagartig war alles ganz anders. Denn da entdeckte sie im dritten Ringsektor das hominide Wesen mit dem ausdrucksvollen schmalen Gesicht, dessen wasserhelle Augen sie auffordernd anzusehen schienen.
Das Universum stand eine halbe Ewigkeit lang still, und Neithadl‐ Off fror in Raum und Zeit ein, bis sie in sich einen Akkord aus allen Tönen aufbrausen hörte, der sie und das Universum wiedererweckte und sie zum Gipfel höchster Seligkeit trieb. Jedenfalls für einige Zeit. Als ihre Sinne auf den Boden der Realitäten zurückkehrten und ihr Verstand zaghaft wieder zu arbeiten begann, wurde ihr bewußt, daß das hominide Wesen sie nicht wirklich auffordernd ansah. Wahrscheinlich sah es sie überhaupt nicht, denn seine Augen waren so starr, daß sie fast schon leblos wirkten. »Wer bist du?« flüsterte Neithadl‐Off. »Der Modulmann?« Sie betrachtete das hominide Wesen genauer. Es war schätzungsweise doppelt so groß wie sie selbst hoch war, hatte für einen Hominiden dieser Größe eine mittlere Schulterbreite, schien aber ungewöhnlich hager zu sein und fast nur aus Knochen, Muskeln und Sehnen zu bestehen. Das war relativ gut zu erkennen, da die einteilige, rötlichgelbbraune Kombination, die er trug, sehr eng anlag. Sie hob sich überhaupt kaum von ihm selbst ab, denn seine Haut war rötlich‐gelb. Am auffälligsten aber war das schmale, beinahe asketisch wirkende Gesicht mit den wasserhellen Augen und der ebenfalls schmalen, gleich dem Schnabel eines Raubvogels gebogenen Nase. Rotbraunes Haar ballte sich in eng anliegenden Locken um den Schädel und schlängelte sich bis zu den Schultern. Neithadl‐Offs Blick wanderte tiefer und blieb an dem Brustteil der Kombination haften. Dort prangte in einem kreisrunden, farblosen Feld von der Größe eines Handtellers des Wesens ein purpurfarbenes, auf der Spitze stehendes gleichseitiges Dreieck. Es schien ein Erkennungssymbol zu sein. Für Neithadl‐Off barg es ein großes Geheimnis. Sie setzte ihre Musterung fort und war ein wenig enttäuscht, als sie außer einem roten Gliedergürtel und roten Halbstiefeln nichts Besonderes bei dem Wesen entdeckte: keinerlei
Ausrüstungsgegenstände und keine einzige Waffe. Aber das war im Grunde genommen unwesentlich. Wichtig war einzig und allein, daß Neithadl‐Off sich in dem Augenblick, als sie den Hominiden sah, unsterblich in ihn verliebt hatte. Und daß sie wußte, sie würde ihn aus seinem rätselhaften Zustand absoluter Erstarrung befreien und mit ihm aus der Zeitgruft fliehen … Ein Vorsatz ist schnell gefaßt, aber meist weniger schnell zu verwirklichen. Neithadl‐Off erinnerte sich dieser uralten Weisheit, während sie sich die Synapsen darüber zermarterte, wie sie den Hominiden aus seiner Lage befreien konnte. Es schien keine Möglichkeit dazu zu geben. Die transparente Wand, hinter der die Ringsektoren lagen, war absolut lückenlos, wie eine gründliche Inspektion ergeben hatte. Natürlich war auch diese Wand nicht unüberwindlich. Mit den entsprechenden Mitteln würde sie sich aufbrechen lassen. Aber Neithadl‐Off war lediglich mit einem kleinen Betäubungsnadler bewaffnet, da sie wegen ihrer Mittellosigkeit fast ausschließlich als kosmische Anhalterin reiste und sie wahrscheinlich niemand mitgenommen hätte, wenn sie ein ganzes Arsenal von Waffen mit sich führte. Sieʹ sprach erneut den ersten Wächter an. Doch es war sinnlos. Dieses Wesen befand sich in einem Zustand, in dem es weder agieren noch reagieren konnte. Während die Parazeit‐Historikerin noch verzweifelt nachdachte, wurde es plötzlich dunkel. Seltsame, undefinierbare Geräusche ertönten, dann wurde es wieder hell. Neithadl‐Off war erleichtert, als sie die Ringsektoren und den Hominiden wiedersah. Alles sah aus wie zuvor, dennoch war es nicht so, denn außer dem ersten Wächter befanden sich noch vier andere in dem Raum. Sie trugen alle braune Kutten – von
dunkelbraun bis hellbraun. »Was wollt ihr von mir?« pfiff Neithadl‐Off wütend und ängstlich zugleich. »Wer bist du?« fragte jemand mit Grabesstimme. Die Vigpanderin sah, daß es der Wächter mit der hellsten Kutte war, der gesprochen hatte. Gleichzeitig bemerkte sie, daß die übrigen Wächter unter dem gleichen Handikap litten wie der erste. Sie waren alle nicht voll stofflich. Aber das galt in Abstufungen. Je heller die Kutte, desto stofflicher wirkte der betreffende Wächter. »Ich bin Neithadl‐Off«, antwortete sie wahrheitsgemäß, denn ihren Namen verleugnete sie nie. »Ein Zeitkurier von König Parthas.« »Mit welchem Auftrag?« fragte der fünfte Wächter weiter. »Ich weiß nicht, ob du berechtigt bist, die Antwort zu hören«, erwiderte die Parazeit‐Historikerin. »Das darf nur jemand, der in das größte Geheimnis des Universums eingeweiht ist.« »Das bin ich«, erklärte der Wächter. »Aber woher soll ich wissen, ob ich in deiner Gegenwart darüber reden darf. Nur Eingeweihte untereinander dürfen das Geheimnis beim Namen nennen.« »Der Orden der Zeitchirurgen«, sagte Neithadl‐Off. »Du hast es gewagt, obwohl du nicht wußtest, daß ich ein Eingeweihter bin!« rief der Wächter erstaunt. »Einer von uns mußte den Bann brechen«, erwiderte Neithadl‐Off. »Ich entschloß mich, dir zu vertrauen, da du ein Wächter der Zeitgruft von Xissas bist und als solcher zu den Eingeweihten gehören mußt. Aber ich habe schon zuviel Zeit verloren. König Parthas erwartet von mir, daß ich die Zeitgruft inspiziere und ihm darüber berichte. Vor allem interessiert ihn der Zustand des Modulmanns.« »Goman‐Largo!« entfuhr es dem Wächter. »Der Spezialist der Zeit! Ja, er ist schon eine echte Rarität in unserer Zeitgruft, denn es gibt hier kein anderes hominides Artefakt.« »Ein Artefakt?« entrüstete sich Neithadl‐Off. »Aber er ist ein
echtes Lebewesen, kein Gegenstand!« Goman‐Largo! dachte sie gleichzeitig immer wieder triumphierend. Goman‐Largo! Er könnte sein, wonach ich bisher immer vergeblich gesucht habe! »Im Zustand der totalen Stasis sind auch Lebewesen quasi nur Artefakte«, erläuterte der Wächter. »Wie du siehst, ist der Modulmann in makellosem Zustand, Neithadl‐Off. König Parthas wird zufrieden sein.« Er stutzte und blickte sie zum erstenmal voll an. »Aber wer ist eigentlich König Parthas? Ich habe den Namen von dir zum erstenmal gehört.« »Tatsächlich?« spielte Neithadl‐Off die Erstaunte. »Und ich hatte angenommen, nur der erste Wächter hätte seinen Status verloren und wäre deshalb nicht über die Entwicklungen der letzten tausend Jahre informiert. Weißt du etwa auch nichts über den Zeitfunk?« »Nein«, antwortete der Wächter verdattert. »Das ist schlimm«, stellte die Wissenschaftlerin fest. »Das ist sehr schlimm. Es kommt fast einer Katastrophe gleich. Womöglich wurde bei allen Wächtern dieser Zeitgruft der Status nicht erneuert, so daß ihr im Grunde genommen gar nicht mehr befugt seid, die Zeitgruft zu bewachen.« »Wenn das wahr wäre, müßten wir uns alle desaktivieren«, erklärte der Wächter. »Aber woher soll ich wissen, ob das wahr ist oder nicht?« »Willst du damit andeuten, ich könnte dich angelogen haben?« rief Neithadl‐Off entsetzt. »Ich bin der Zeitkurier Neithadl‐Off – und Zeitkuriere lügen niemals.« Vielleicht bin ich sogar wirklich ein Zeitkurier! überlegte sie. Es könnte ja sein, daß ich diese Tatsache nur vergessen hatte und daß sie mir wieder einfiel, als ich auf die Zeitgruft stieß und meine wahre Bestimmung erkannte. »Ich will dich keinesfalls einer Lüge bezichtigen, Zeitkurier«, versicherte der, Wächter. »Aber es gibt Fakten, die irrtümlich für
wahr gehalten werden. Bevor ich eine so schwerwiegende Entscheidung wie die über unsere Existenz treffe, muß ich ganz sicher sein. Nur, woher könnte ich eine solche Sicherheit nehmen?« »Das ist doch ganz einfach«, antwortete Neithadl‐Off, denn eben war ihr eingefallen, wie sie die Wahrheitssuche des Wächters für ihre Absichten benutzen konnte. »Du brauchst nur die Informationen des Zeitfunks abzuhören.« »Ja, natürlich!« rief der Wächter erfreut, dann sackte er in sich zusammen, als er aus den ihm bekannten Fakten schloß, daß ihm diese Möglichkeit verwehrt war. »Leider geht es nicht, denn es gibt in der Zeitgruft auf Xissas und auf den fünf Ebenen darüber keine Möglichkeit, den Zeitfunk zu empfangen.« »Noch nicht«, korrigierte ihn Neithadl‐Off. »Du hast den Spezialisten der Zeit vergessen. Für ihn dürfte es leicht sein, eine Zeitfunkanlage zu bauen und zu installieren.« »Das weiß ich nicht«, erwiderte der Wächter. »Aber es ist ohnehin nicht durchführbar, da sich Goman‐Largo in totaler Stasis befindet.« »Was?« rief Neithadl‐Off mitleidig. »Ihr seid nicht in der Lage, das Stasisfeld abzuschalten?« »Doch, das könnten wir schon«, widersprach der Wächter. »Aber dazu brauchten wir eine Weisung des Ordens der Zeitchirurgen, denn in seinem Auftrag wurde Goman‐Largo gefangengenommen und hierher gebracht und in Stasis versetzt.« »Das weiß ich doch längst«, erklärte Neithadl‐Off. »Woher hätte ich wohl gewußt, daß Goman‐Largo der Modulmann ist, wenn ich nicht eigens hierher geschickt wurde, um König Parthas über seinen Zustand berichten zu können.« »Dann weißt du auch, in welcher Zwangslage wir uns befinden«, meinte der Wächter. »In einer grausamen Zwangslage«, sagte die Parazeit‐Historikerin. »Ich nehme nämlich an, daß euer Status vor tausend Jahren nur deshalb nicht erneuert wurde, weil Feinde von König Parthas und dem Orden der Zeitchirurgen die große Datenbank sabotierten, so
daß alle Daten über den Zeitgruft‐Planeten Xissas gelöscht wurden.« »Aber dann wären wir eigentlich noch legitimierte Wächter«, erwiderte das uralte Wesen. »Nein, das seid ihr nicht«, beschied ihm Neithadl‐Off. »Ihr habt keinen Wächterstatus mehr. Aber ich bin sicher, daß er rückwirkend erneuert wird, vorausgesetzt, ihr könnt euch von Xissas über Zeitfunk melden und ich bestätige eure Aussage.« »Dann wären wir gerettet?« frohlockte der Wächter. »Vor allem wäre die Zeitgruft von Xissas gerettet und brauchte nicht geschlossen zu werden«, erklärte Neithadl‐Off mit mildem Tadel. »Denke niemals nur an dich! Was wirklich zählt, ist die Zeitgruft mit ihren unermeßlichen Schätzen. Um das zu erhalten, ist es nicht nur legal, sondern sogar zwingend geboten, die alte Weisung des Ordens für kurze Zeit auszusetzen und Goman‐Largo aus der Stasis zu holen. Sobald er den Zeitfunk installiert hat, können wir über ihn nachträglich die Genehmigung dafür einholen.« »Das erscheint mir logisch«, gab der Wächter zu. »Alles, was ich sage, ist logisch fundiert«, stellte Neithadl‐Off fest. Manchmal frage ich mich, ob ich eine Lügenakademie besucht habe. Aber vielleicht würde ich mich selbst belügen, wenn ich daran glaubte. Es ist schwierig, Wahrheit und Lüge auseinanderzuhalten, wenn man wie gedruckt lügt. »Ich werde mit den anderen Wächtern beraten und für deinen Plan stimmen«, erklärte das uralte Wesen. »Dazu aber müssen wir auf die oberste Ebene zurückkehren, denn in der Zeitgruft selbst kann nur der Wächter der fünften Ebene so weit materialisieren, daß er handlungsfähig ist. Auch vermögen wir das Stasisfeld Goman‐ Largos nur von der obersten Ebene auszuschalten. Nur haben wir dann für eine Zeitlang keine Kontrolle über ihn, und er könnte dir gefährlich werden.« »Leider nicht«, erwiderte Neithadl‐Off und bedeckte sich mit einer Schicht flüssigen Sekrets, als sie ihres Schnitzers gewahr wurde.
Rasch fügte sie hinzu, »wird er sich sagen müssen, wenn er versuchen sollte, mich anzugreifen. Keine Sorge. Als Zeitkurier habe ich so meine Mittel, die mich vor den meisten Eventualitäten schützen.« »Das beruhigt mich«, sagte der Wächter. Im nächsten Augenblick wurde es wieder schlagartig dunkel, und abermals hörte die Vigpanderin seltsame, undefinierbare Geräusche – und als es wieder hell wurde, waren alle fünf Wächter verschwunden. 8. Sie spürte ihren Herzschlag in jeder Faser ihres Körpers und hatte das Gefühl, als wäre er so laut, daß es in der Zeitgruft dröhnte, denn zum erstenmal war sie mit »ihm« allein. Nur war das eine ziemlich einseitige Angelegenheit, denn noch rührte sich Goman‐Largo nicht – und auch sonst tat sich nichts in der Zeitgruft, was Neithadl‐Off darauf hätte schließen lassen, daß die Wächter die Stasis des Modulmanns aufhoben. Womöglich wurde der fünfte Wächter niedergestimmt, weil die anderen Wächter fürchteten, sich den Zorn der Zeitchirurgen zuzuziehen. Der Parazeit‐Historikerin wurde abwechselnd heiß und kalt, und hätte sie Möglichkeiten gehabt, die Zeitgruft zu demolieren, sie hätte es wahrscheinlich getan. Voller Nervosität trippelte sie auf der Stelle und nestelte an dem Futteral, in dem sich das Aufzeichnungsgerät befand. Als es herausfiel, hob sie es auf und hielt es vor ihre Mundleiste, ohne daß es ihr recht bewußt wurde. Als das Licht hektisch flackerte, hielt Neithadl‐Off unwillkürlich den Atem an. Im nächsten Moment hatte sie das Gefühl, ein Abgrund hätte sich unter ihren Füßen aufgetan und sie stürzte
hinein. Sie wollte schreien, aber kein Laut kam aus ihrer Mundleiste. Allerdings stürzte sie auch nicht wirklich in einen Abgrund. Als sie das merkte, ahnte sie, was diese Effekte zu bedeuten hatten. Sie konzentrierte ihre Aufmerksamkeit wieder ganz auf den Modulmann. Goman‐Largo schien noch in der gleichen Haltung zu verharren, wie sie es in Erinnerung hatte. Doch wegen des schnellen Wechsels von Hell zu Dunkel und umgekehrt ließ sich nicht erkennen, ob sich in seinem Gesicht etwas regte. Neithadl‐Off starrte so angestrengt zu ihm, daß ihr die Sensorstäbchen fast aus der vorderen Schmalseite fielen. Das Flackern blieb und erschwerte die optischen Wahrnehmungen. Aber nach einiger Zeit war es der Parazeit‐ Historikerin, als kehrte das Leben in Goman‐Largos Augen zurück. Ihre Ausdruckskraft erschien ihr plötzlich so ungeheuer stark, daß sie in Hypnose zu verfallen und zu schweben glaubte. »Ultramonotisch!« Neithadl‐Off zuckte zusammen. Sie hatte das Wort aus ihrem Aufzeichnungsgerät gehört, das sie versehentlich verkehrt herum vor ihre Mundleiste hielt, so daß es als Translator arbeitete. Dennoch blieb es ihr unverständlich. Aber es elektrisierte sie förmlich, denn das ursprüngliche Wort, das vom Translator übersetzt worden war, konnte nur von Goman‐Largo gesprochen worden sein. Ein heißes Glücksgefühl überfloß ihren Körper und vernebelte ihre Synapsen. Zugleich aber wurde sie sich der fundamentalen Unterschiede zwischen dem Modulmann und ihr selbst bewußt – und sie nahm sich in diesem Augenblick vor, ihm ihre Liebe niemals zu verraten, sondern als ihr größtes und heiligstes Geheimnis zu bewahren. Doch wenigstens wollte sie ihm mit dem Aufzeichnungsgerät zuwinken, damit er erkannte, daß sie ein intelligentes Lebewesen war. Gerade hominide Intelligenzen hatten sie schon oft als Pflanze oder Tier oder gar als simplen Gebrauchsgegenstand eingestuft.
Außerdem wollte sie Goman‐Largo zeigen, daß sie seine Verbündete war. Doch sie konnte sich mit einemmal nicht mehr bewegen. Es war, als wäre sie schlagartig von einer Lähmung befallen worden. Vergeblich kämpfte sie dagegen an, und sie verlor fast den Verstand, als sie sah, daß der Modulmann sich bewegte und dabei war, seinen Ringsektor zu verlassen. Die Wächter hatten also tatsächlich das Stasisfeld abgeschaltet. Aber Goman‐Largo ahnte nicht, daß sie das nur vorübergehend getan hatten und daß er sich beeilen mußte, um aus der Zeitgruft zu entkommen – und sie, Neithadl‐Off war plötzlich zu Bewegungslosigkeit und Stummheit verurteilt. Goman‐Largo bewegte sich bedächtig und sah sich ständig aufmerksam um. Erst jetzt fiel es Neithadl‐Off auf, wie schmal, ja grazil, seine Hände und Füße waren. Und noch etwas fiel ihr auf. Das auf dem Brustteil von Goman‐Largos Kombination in einem farblosen Feld auf der Spitze stehende gleichseitige Dreieck war nicht mehr purpurfarben, sondern pulsierte pausenlos im Wechsel in den Farben des Regenbogens. Zur Verwunderung der Parazeit‐Historikerin untersuchte der Modulmann seine Umgebung nur oberflächlich und kam dann geradewegs auf sie zu. Ihre Haut wurde ganz heiß und trocken, als er näher kam, und sie verwünschte das unselige Geschick, das ihr nicht einmal gestattete, mit ihm zu reden. Vor ihr angekommen, bückte er sich und berührte die Oberfläche ihrer Schutzfolie vorsichtig mit den Fingerspitzen. »Was haben wir denn da?« übersetzte der Translator seine Worte. »Eine äußerst seltene Blüte der Evolution, aber zweifellos intelligent, sonst würde sie wohl kaum einen Raumanzug und einen Aggregattornister tragen. Komisch, dort, wo eine Art Mundleiste zu sein scheint, ist der Raumanzug geöffnet. Außerdem hat das Wesen keinen Schutzschirm um sich aufgebaut. Eigentlich ziemlich
leichtsinnig für einen Zeitgruft‐Wächter, noch dazu, wenn das Stasisfeld eines als sehr gefährlich eingestuften Gefangenen abgeschaltet ist.« Neithadl‐Offs Verzweiflung wuchs, als sie erkennen mußte, daß Goman‐Largo sie als Zeitgruft‐Wächter und damit als seinen Feind eingestuft hatte. Von dieser Erkenntnis war es nicht weit bis zu der Vermutung, daß er auch etwas mit ihrer plötzlichen Lähmung zu tun hatte, obwohl an ihm keine Waffe zu erkennen war. »Eigentlich machst du einen hypertemporalen Eindruck auf mich«, erklärte der Modulmann und verzog das Gesicht zu einem Lächeln. Er ging in die Hocke und musterte neugierig das Aufzeichnungsgerät. »Es sieht aus, als könnte man es nicht nur als Translator benutzen«, stellte er fest. »Aber vorläufig wollen wir uns auf diese Funktion beschränken. Ich denke, daß du mir nicht gefährlich werden kannst, wenn ich dir die Möglichkeit gebe, meine Fragen zu beantworten.« Damit hatte Neithadl‐Off die Gewißheit, daß sie einer noch unbekannten Waffe des Modulmanns zum Opfer gefallen war. Sie schämte sich, weil sie diese Möglichkeit nicht einkalkuliert und dafür gesorgt hatte, daß Goman‐Largo ihre freundlichen Absichten erkannte, bevor er aktiv wurde. Als sie etwas spürte, das in ihr vorging, erinnerte sie sich daran, daß sie es vor kurzem schon einmal gespürt hatte. Genauer gesagt, sie hatte es unmittelbar vor dem Moment gespürt, in dem sie bemerkte, daß sie gelähmt war. Da hatte sie allerdings geglaubt, es wäre eine Vernebelung ihrer Synapsen, ausgelöst von dem Glücksgefühl, das sie überkommen hatte, als sie erkannte, daß er aus der Stasis erwacht war. »Du kannst wieder sprechen, Wächter«, sagte der Modulmann. »Nur deine Bewegungsfähigkeit ist noch ein wenig eingeschränkt. Aber dafür wirst du Verständnis haben müssen. Wie ich schon
sagte, bist du mir eigentlich sympathisch, aber ich darf nie vergessen, daß du auch ein Wächter dieser verwünschten Zeitgruft bist.« »Du hast einen anderen Begriff verwendet«, entfuhr es Neithadl‐ Off. »Nicht ›sympathisch‹, sondern ›hypertemporal‹.« Goman‐Largos Lächeln vertiefte sich. »Das hat in etwa die gleiche Bedeutung. Der Begriff ›hypertemporal‹ ist nur ein spezieller Ausdruck von mir, den ich mir an der Zeitschule von Rhuf angeeignet habe. Bei den verbotenen Ebenen! Ich rede, dabei will ich dich ausfragen. Wie heißt du?« »Ich heiße Neithadl‐Off und bin Parazeit‐Historikerin«, pfiff die Vigpanderin in höchster Erregung. »Du mußt schnell und zielstrebig handeln, wenn du aus der Zeitgruft entkommen willst, Goman‐ Largo. Es war ein Fehler von dir, mich als Feind und Zeitgruft‐ Wächter einzustufen. Ich habe die Wächter überlistet und dazu gebracht, die Zeitgruft zu verlassen und von der obersten Ebene aus dein Stasisfeld abzuschalten. Sobald sie die Sache durchschauen, werden sie uns den Ausgang versperren und alles tun, um uns aufzuhalten.« Der Modulmann pfiff etwas, das der Translator nicht übersetzte, dann erwiderte er: »Nun mal schön der Reihe nach, Neithadl‐Off! Du bist also kein Wächter, sondern ein Freund?« »Eine Freundin«, erklärte Neithadl‐Off verschämt. »Eine Freundin?« echote Gorman‐Largo – und seine Augen funkelten plötzlich, als würden sie von innen angestrahlt. »Du bist also ein weibliches Exemplar deiner Gattung – und noch dazu eine Parazeit‐Historikerin. Das ist ja interessant.« »Es ist völlig unwichtig!« kreischte die Vigpanderin. »Jedenfalls in unserer Situation. Wir müssen fliehen. Aber wenn du mir nicht glaubst, daß ich deine Verbündete bin, dann bringe wenigstens dich selbst in Sicherheit! Es muß grauenvoll sein, äonenlang in einem Stasisfeld gefangen zu sein.«
Goman‐Largos Augen verdunkelten sich. »Nicht während der Stasis, denn da empfindet man nichts«, sagte er tonlos. »Aber vorher, wenn man weiß, wozu man verurteilt ist – und hinterher, wenn man ahnt, daß man Tausende von Jahren oder vielleicht sogar Hunderttausende übersprungen hat und nichts mehr von dem existiert, das man vor der Stasis kannte.« Er seufzte. »Das Universum existiert noch immer – und fast unverändert«, versuchte Neithadl‐Off, ihn zu trösten. Er lachte kurz und rauh, dann wurde er wieder ernst. »Ich will dir vertrauen, Neithadl‐Off«, erklärte er. »Du kannst kein Wächter sein, denn ein Wächter hätte nie versucht, meinen Schmerz zu lindern.« Er richtete sich auf, und die Vigpanderin fühlte, wie die Kontrolle über ihren Körper zurückkehrte. Sie bewegte vorsichtig die Gliedmaßen. »Gut«, stellte Goman‐Largo fest. »Kennst du einen Weg nach draußen?« »Nach draußen?« echote Neithadl‐Off. »Nicht nach oben?« »Nein«, antwortete der Modulmann. »Die Zeitgruft befindet sich nicht auf einer Ebene der ersten Realvergangenheit, sondern auf einer Ebene, die zeitlich parallel von der ersten Realgegenwart liegt. Wir müssen uns sozusagen seitwärts in der Zeit bewegen, wenn wir in unsere erste Realgegenwart zurückkehren wollen.« »Aber der Wächter sprach von einer obersten Ebene«, wandte Neithadl‐Off ein. »Das ist eine weitverbreitete Form von Nachlässigkeit«, erklärte Goman‐Largo. »Die exakte Ausdrucksweise erfordert nämlich erheblich mehr Denkarbeit als die lässige. Aber du hast meine Frage nicht beantwortet.« »Ich kenne keinen Weg nach draußen«, holte Neithadl‐Off ihr Versäumnis nach. »Es tut mir leid.« »Mir auch«, erwiderte Goman‐Largo. »Aber damit werden wir uns nicht lange aufhalten. Wir müssen uns eben einen Weg nach
draußen suchen. Vor allem müssen wir schnellstens aus dem Zentrum der Zeitgruft verschwinden, denn hier sind wir am leichtesten angreifbar.« Als hätte er damit ein Stichwort gegeben, hörte das Flackern des Lichtes auf. Es wurde für einen Moment sehr hell und dann schlagartig dunkel. »Sie haben etwas gemerkt und kommen zurück?« flüsterte Goman‐Largo und griff zu, als Neithadl‐Off ihm eines ihrer beiden Vorderglieder entgegenstreckte. »Schnell weg von hier!« Eine Welle von Zuneigung und Vertrauen überflutete Neithadl‐ Off. Sie ließ sich willig von dem Modulmann mitziehen. * Es blieb dunkel, und die Luft war erfüllt von den unheimlichen, undefinierbaren Geräuschen, die die Parazeit‐Historikerin schon kannte. Sie und Goman‐Largo hatten das Zentrum der Zeitgruft noch vor der Rückkehr der Wächter verlassen können und – waren bis zum neunten Ringsektor gekommen, bevor sich hinter und vor ihnen unsichtbare Wände aufbauten. »Es ist Formenergie«, flüsterte der Modulmann. »Ich kann sie expandieren oder implodieren lassen, wenn es hart auf hart kommt. Bis dahin werden wir uns aber so schnell wie möglich in diesem Ringsektor fortbewegen. Vielleicht verlieren die Wächter dann unsere Spur. Sie haben sich die Ortung selbst verbaut, indem sie die Wände projizierten.« »Mein Gravojet‐Aggregat!« pfiff Neithadl‐Off. »Es müßte uns beide tragen können. Wenn du dich vorsichtig auf mich legst und dich am Knochenrahmen festhältst, sollte es gehen.« »Einverstanden«, gab der Modulmann zurück und schritt sofort zur Tat.
Er war sehr behutsam und berührte die Vigpanderin nicht direkt, da sie den Folienanzug trug, dennoch bebte sie bei der Berührung. Goman‐Largo legte das völlig anders aus. »Du zitterst ja, Mädchen!« sagte er, was ihr Beben natürlich noch verstärkte. »Keine Angst! Ich beschütze dich. Und jetzt flieg und versuche, den Formenergiewänden nicht zu nahe zu kommen!« Neithadl‐Off riß sich zusammen. Es gelang ihr tatsächlich, zu starten und trotz des zusätzlichen Gewichts zügig und ohne durchzusacken voranzukommen. Für eine Weile konnte sie sich der Illusion hingeben, sie wären den Zeitgruft‐ Wächtern bereits entkommen. Doch die Ernüchterung ließ nicht lange auf sich warten. Ein greller Blitz zuckte auf und tauchte alles in blendende Helligkeit. Seine Hitze schien so ungeheuerlich zu sein, daß sich die Formenergiewände entzündeten und schlagartig aufloderten, bevor sie unverhofft verschwanden. »Lande bitte!« sagte Goman‐Largo. »Die Wächter schicken uns einen ferngesteuerten Usyll. Wenn ich mit ihm kämpfe und ihn besiege, bekommen wir eine Chance, den Weg nach draußen zu finden. Anscheinend ist seit meiner Gefangennahme soviel Zeit verstrichen, daß die Wächter materiell instabil geworden sind, sonst würden sie persönlich hereinkommen und nicht einen Usyll schicken.« Neithadl‐Off war gelandet, noch während der Modulmann gesprochen hatte. Es war weder richtig hell noch richtig dunkel. Statt dessen herrschte ein düsteres Zwielicht, hervorgerufen von glimmenden Linien am Boden, wo die Formenergiewände gewesen waren, und von einem bleifarbenen Pulsieren in ungewisser Höhe. Und von dort oben kam wenig später der Usyll. Neithadl‐Off hatte noch nie davon gehört und hatte deshalb überhaupt keine Vorstellung von ihm. Deshalb empfand sie keine Furcht, als sie den Kegel aus weißem Licht sah, der sich an einem dünnen Faden aus rotem Licht abseilte.
»Er kann tödlich sein!« fuhr Goman‐Largo sie an, als sie sich an ihm vorbeidrängte. »Bleib hinter mir!« Eingeschüchtert gehorchte sie, doch dann lehnte sie sich innerlich gegen die Bevormundung auf und wollte gerade zu einer Schimpfkanonade ansetzen, als der rote Lichtfaden ihr und dem Modulmann entgegenschwang und sich als dickes Lichtseil entpuppte, das die Luft zum Kochen brachte. Der Usyll hing in zirka zehn Metern Höhe an dem Seil und gab keckernde Geräusche von sich. Goman‐Largos Haltung versteifte sich. Das untere Ende des Lichtseils wurde erst dunkelrot, dann schwarz – und dann fuhr die Schwärze blitzartig am Seil empor. Der Usyll blähte sich auf und schickte eine Salve aus grellen Laserblitzen nach unten, die auf das Seil unter ihm gezielt waren. Einige trafen aber auch den Boden und brannten tiefe Löcher hinein. Die Blitze, die mit der am Seil hinaufrasenden Schwärze zusammentrafen, entluden sich in einem ohrenbetäubenden Energiegewitter. Doch als sie erloschen, stieg die Schwärze noch immer empor und hatte den Usyll schon fast erreicht, bevor er sich eines anderen besann und flüchtete. »Schnell!« rief Goman‐Largo der Parazeit‐Historikerin zu. »Hinterher!« Diesmal legte er sich nicht behutsam hin, sondern warf sich auf sie, aber Neithadl‐Off murrte nicht, weil sie einsah, daß sie sich beeilen mußten. Sie schaltete einen Notstart und frohlockte, als das Flugaggregat sie und den Modulmann förmlich nach oben katapultierte und die Distanz zum flüchtenden Usyll sich verringerte. Aber nur wenig später verpuffte dieses Hochgefühl, denn da verschwand plötzlich alles um sie herum, als wäre es bisher nur projiziert und dann abgeschaltet gewesen. Es gab keinen Usyll mehr, keinen bleigrau pulsierenden Himmel und keinen Modulmann.
Nur Neithadl‐Off selbst war noch da – und zwar körperlich, wie sie dachte. Als sie gewahr wurde, daß sie auf ihr bloßes Bewußtsein reduziert war, fiel sie der Furcht zum Opfer. Sie wurde hysterisch. * Als sie wieder zu sich kam, spannte sich über ihr ein blauer, von weißen Wölkchen betupfter Himmel, aus dem das Gesicht von Goman‐Largo auf sie herabschaute. »Nimm dich zusammen, Neithadl‐Off!« mahnte der Modulmann. Die Perspektive normalisierte sich wieder. Sie bemerkte, daß Goman‐Largo neben ihr kauerte und nicht irgendwo am Himmel schwebte. Danach stellte sie fest, daß sie auf der Oberseite der stählernen Insel lag, in der sie den Wächtern begegnet war. Abermals griff die Furcht nach ihr. Sie begann unkontrolliert zu zittern. »Wir sind sicher«, erklärte Goman‐Largo – und seine Stimme übte eine faszinierende und beruhigende Wirkung auf die Vigpanderin aus. »Jedenfalls für eine Zeit, die ausreichen sollte, in dein Schiff zu steigen und Xissas zu verlassen.« »Was ist aus dem Usyll geworden?« fragte Neithadl‐Off. »Er hat sich selbst zerstört, weil er zu schnell durch die Übergänge setzte«, antwortete der Modulmann. »Zu unserem Glück beendete er seine Existenz endgültig erst am äußersten Übergang, so daß ich seine Restspur mit Hilfe einiger Module verfolgen konnte, ohne daß wir uns zu sehr beeilen mußten.« »Ich fürchte, ich bin hysterisch geworden«, pfiff Neithadl‐Off geknickt. »War es sehr schlimm?« »Sprechen wir nicht darüber!« erwiderte Goman‐Largo. »Wichtig ist jetzt nur, daß wir so schnell wie möglich von Xissas wegkommen.« »Ja«, sagte Neithadl‐Off.
Sie stemmte sich hoch, und der Modulmann half ihr dabei. Als er zur Seite ging, sah sie die DSCHWINGG. Es war ein beruhigendes Gefühl, das Schiff ganz in der Nähe zu wissen. »Wir müssen fliegen«, sagte sie. Goman‐Largo legte sich wieder auf ihre Oberseite und hielt sich an den röhrenförmigen Knochen ihres Rahmenskeletts fest. Neithadl‐Off aktivierte das Flugaggregat und startete. Aus einigen Metern Höhe sah sie die Öffnung in der Mitte der Insel. Das Lamellenschott war nicht geschlossen, und der Rand der Öffnung hatte sich verformt und sah aus, als wäre er ausgeglüht. Die Parazeit‐Historikerin fragte sich, mit welchen Mitteln Goman‐ Largo solche Wirkungen erzielte, da er doch offenkundig unbewaffnet war. »Ich bin nicht psionisch begabt«, erklärte der Modulmann, als hätte sie die Frage ausgesprochen. »Aber meinem Körper sind Module aufgepfropft worden, winzige Funktionseinheiten, denen spezielle Fähigkeiten genotronisch aufgeprägt wurden. Nein, ich bin weder ein Roboter noch ein Androide, sondern ein echtes biologisches Lebewesen – und auch meine Module sind biologisch gewachsen.« »Deshalb heißt du Modulmann«, stellte Neithadl‐Off beeindruckt fest. Sie betätigte das winzige Fernsteuergerät, das sie von der DSCHWINGG mitgenommen hatte, und das Außenschott der Personenschleuse öffnete sich. Unwillkürlich beschleunigte sie stärker, als sie durch die Öffnung flog. Sie hoffte, daß das Schott normal funktionierte, und ihre Hoffnung erfüllte sich. Allerdings merkte sie bald, daß sie Goman‐Largo nichts vormachen konnte. Er sah sich sofort nach dem Einschleusen sehr aufmerksam um, und ihm schien nicht die geringste Kleinigkeit zu entgehen. Anscheinend hatte er sich schon sein Urteil über das Schiff gebildet, bevor sie mit Hilfe des Flugaggregats im Antigravschacht emporstiegen.
In der Steuerzentrale angekommen, stieg Goman‐Largo ab und kümmerte sich sofort um die Kontrollen. »Wo hast du das Schiff her?« erkundigte er sich nach einer ersten Inspektion. »Von einem Prospektor geliehen«, antwortete Neithadl‐Off ausnahmsweise wahrheitsgemäß. »Er wartet auf dem äußersten Planeten des Systems.« »Bis dorthin könnten wir es schaffen«, meinte Goman‐Largo. »Aber das genügt nicht. Wir müssen aus dem System verschwinden, sonst bekommen uns die Wächter doch noch zu fassen.« »Auf Kaldoch gibt es ein reichhaltiges Ersatzteillager«, erklärte die Parazeit‐Historikerin. »Wir können also alle defekten Teile und Aggregate austauschen.« »Gegen neue oder neuwertige Teile und Aggregate?« fragte der Modulmann so ironisch, als wüßte er die Antwort bereits. »So ungefähr«, log Neithadl‐Off. »Jedenfalls steht dort ein fast noch neues Schiffvom gleichen Typ wie die DSCHWINGG. Wahrscheinlich wird es besser sein, wenn wir einfach umsteigen.« »Wahrscheinlich«, bestätigte Goman‐Largo. »Warum hast du es nicht gleich genommen?« »Weil ich dachte, die kurze Strecke bis nach Xissas schaffte es die DSCHWINGG noch. Und sie hat es ja auch geschafft.« »Das ist nicht zu übersehen«, erwiderte Goman‐Largo und drückte die Starttaste nieder. Als sich daraufhin nichts rührte, stürzte sich Neithadl‐Off auf den Handpumpengriff und bewegte ihn auf und nieder. Der Modulmann enthielt sich eines Kommentars dazu, zog aber vielsagend die Brauen hoch. Als das Plasma in der Fusionskammer zündete, vollführte die Vigpanderin zum zweitenmal einen Hochsprung mit Salto. Goman‐ Largo fing sie auf und stellte sie behutsam ab, dann kehrte er an die Kontrollen zurück und ließ das Schiff abheben. Er beschleunigte behutsam und gefühlvoll, so daß die Triebwerke nicht wieder
aussetzten wie nach Neithadl‐Offs Start von Kaldoch. Dennoch war nicht zu überhören, daß sie unregelmäßig arbeiteten. »Auf dem Herflug haben sie noch regelmäßig gearbeitet«, sagte Neithadl‐Off kleinlaut. »Das ist beinahe ein Wunder«, meinte der Modulmann. »Die Synchronschaltung ist total ausgebrannt.« Er berührte mehrere Sensorpunkte und las Daten von einem Sichtschirm ab. »Aha!« machte er danach. »Es gibt eine nachträglich installierte programmierte Taktsteuerung, die die Funktionen der Synchronschaltung teilweise ersetzt, aber die arbeitet auch nicht einwandfrei. Wir könnten Ärger bekommen, wenn wir auf die für den Kontinuumswechsel erforderliche Mindestgeschwindigkeit beschleunigen.« »Was für Ärger?« erkundigte sich die Wissenschaftlerin. »Vibrationen«, antwortete Goman‐Largo. »Unter Umständen werden sie so stark, daß sie das Schiff zerreißen.« »Und wenn wir auf Unterlichtgeschwindigkeit bleiben?« fragte Neithadl‐Off. »Dann bekommen die Wächter uns bald zu fassen«, erklärte Goman‐Largo. »Die Waffen in der Station außerhalb der Zeitgruft sind nur für eine gewisse Zeitspanne lahmgelegt. Ich wollte sie nicht zerstören, denn das hätte die Vernichtung der Zeitgruft bedeutet – und das wiederum hätte zu einer unendlichen Kette von Zeitparadoxen geführt, im schlimmsten Fall sogar zu einer Lawine von Zeitparadoxen. Als Parazeit‐Historikerin wirst du wissen, welche Folgen das haben würde.« »Ja, natürlich«, log Neithadl‐Off. »Ganz entsetzliche Folgen.« Ihr wurde heiß und kalt, als der Modulmann sie von der Seite ansah, aber da er nichts sagte, beruhigte sie sich bald wieder. Sie dachte lediglich darüber nach, warum sie nichts über die Folgen einer Lawine von Zeitparadoxen wußte. War sie doch keine Parazeit‐Historikerin? Oder hatte sie die betreffenden Fakten vergessen, wie so vieles aus ihrer Vergangenheit?
»Vielleicht bekommen wir es doch hin«, bemerkte Goman‐Largo eine Weile später. »Ich habe die Taktsteuerung stabilisieren können und werde ganz vorsichtig beschleunigen. Wenn die Einengungsfelder der Triebwerke nicht zusammenbrechen, müßten wir ohne stärkere Vibrationen auf Überlichtgeschwindigkeit kommen. Übrigens, hast du dem Prospektor etwas dafür gezahlt, daß er dir sein Schiff geliehen hat?« »Nein«, antwortete Neithadl‐Off. »Er wollte nichts dafür haben. Ihn interessierten nur die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die ich in der Zeitgruft zu sammeln gedachte. Dafür zahlt er mir sogar noch etwas.« Goman‐Largo brummte vor sich hin und sah sie merkwürdig an, doch dann konzentrierte er sich erneut auf die Kontrollen. Neithadl‐Off aber wurde plötzlich nachdenklich, denn ihr war wieder eingefallen, daß Nafrein‐Nakruf erwartete, daß sie ihm als Leihgebühr für die DSCHWINGG wertvolle Schätze und technologisches Wissen aus der Zeitgruft mitbrachte, das ihm ein Vermögen bescherte. Was würde er sagen, wenn sie mit leeren Händen zurückkehrte? Sie würde sich etwas logisch Fundiertes ausdenken müssen … 9. Die DSCHWINGG hatte sich nach einer Beschleunigungsphase von rund neun Stunden in den Überraum gequält, aber der Modulmann schien nicht ganz zufrieden zu sein. Er musterte das pseudoplasmatische, kalkwasserbleiche Medium, das auf den Bildschirmen zu sehen war, dann seufzte er. »Das Schiff balanciert auf einer Grenzschicht des Hyperraums, anstatt durch den Hyperraum zu fliegen«, erklärte er. »Anscheinend bringen die Energieaufschalter der Überlichtaggregate nur noch einen Bruchteil ihrer Nennleistung.«
»Aber die Bildschirme zeigen das gleiche wie beim Flug nach Xissas«, wandte Neithadl‐Off ein. »Und da ist ja auch alles gut gegangen.« »Was?« entfuhr es Goman‐Largo. »Schon beim Flug nach Xissas hat das Schiff diesen Balanceakt vollführt? Dann kommen wir nie nach Kaldoch, denn dann können die Überlichtaggregate jeden Augenblick – kollabieren.« »Und wir stürzen in den Normalraum zurück?« fragte Neithadl‐ Off. »Wenn wir Glück haben«, antwortete Goman‐Largo. »Wenn wir Pech haben, verwandeln wir uns mitsamt dem Schiff in einen fünfdimensionalen Impuls und gehen für alle Zeiten im Hyperraum auf.« »Oh!« machte Neithadl‐Off. Danach herrschte Schweigen. Es wurde zirka eine halbe Stunde später durch ein metallisches Dröhnen gebrochen. Gleichzeitig setzte die künstliche Schwerkraft im Schiff aus. Eine unbedachte Bewegung ließ Neithadl‐Off schräg nach oben entschweben. Der Modulmann kümmerte sich nicht darum. Er stieß sich leicht vom Boden ab, klemmte die Füße unter die Seitenlehnen seines Kontursessels und bearbeitete konzentriert die Schaltungen auf dem Pult vor sich. Neithadl‐Off wagte nicht, ihn zu stören. Sie fing den Aufprall gegen die Decke mit ausgestreckten Vordergliedmaßen ab und segelte anschließend sanft nach unten. Dort hielt sie sich an der Rückenlehne eines Kontursessels fest und verfolgte Goman‐Largos Aktivitäten. Wenn er sich fürchtete, so ließ er sich nichts davon anmerken. Er arbeitete keineswegs hektisch, sondern erweckte den Eindruck, daß er sich jeden Tastendruck und jede Sensorberührung vorher genau überlegt hatte. Ein wenig von seiner Ruhe ging auf die Vigpanderin über. Am meisten aber tröstete sie die Gewißheit, daß ihr Schicksal
unlöslich mit seinem verbunden war, wie immer es auch aussehen mochte. Dennoch schrie sie erschrocken auf, als die Bildschirme nach einiger Zeit plötzlich dunkel wurden und sie das Gefühl hatte, in einer Magnetgondel eine spiralförmige Schiene hinabzurasen. Das Gefühl endete so abrupt, wie es begonnen hatte. Aber Neithadl‐Offs Gleichgewichtssinn war so gestört, daß sie unsicher umhertorkelte. »Falls dir übel ist, dann sei froh darüber«, vernahm sie Goman‐ Largos Stimme wie aus weiter Ferne. »Einem fünfdimensionalen Impuls kann es nicht übel werden.« »Also bin ich keiner«, stellte sie in einem Anflug von schwarzem Humor fest. »Aber wenigstens funktioniert die Bordschwer kraft wieder.« Sie klammerte sich an die Seitenlehne eines Kontursessels und versuchte, auf den Bildschirmen der Außenbeobachtung etwas zu erkennen. Erleichtert sah sie die Lichtpunkte von Sternen vor dem schwarzen Hintergrund des Alls. Die DSCHWINGG war also wieder in den Normalraum zurückgefallen. Ein leuchtender Himmelskörper wanderte in einen der Backbordschirme. Es war ein Planet im Widerschein des Sonnenlichts. Um ihn herum schwebten mehrere Lichtpunkte, und über seine beleuchtete Oberfläche bewegten sich drei Schatten. »Es ist der vierte Planet«, sagte Goman‐Largo, der bei den Ortungskontrollen stand. »Er wird von siebzehn kleinen Monden umkreist.« »Wie hübsch!« scherzte Neithadl‐Off. Der Modulmann lächelte. »Eher praktisch, würde ich sagen. Wir müssen irgendwo landen, damit ich die Überlichtaggregate reparieren kann. Dazu eignet sich ein Planet denkbar schlecht, denn seine große Masse ließe jeden Probelauf zu einem Risiko werden. Ein kleiner Mond mit geringer Masse aber ist ideal dafür.«
Er konzentrierte sich wieder auf die Ortung. Es dauerte nicht lange, bis er einen geeigneten Mond gefunden hatte. Da die Unterlichttriebwerke der DSCHWINGG arbeiteten, hatte Goman‐ Largo keine Probleme, das Schiff auf dem kleinen Gesteinsbrocken zu landen. Er durchmaß nicht einmal tausend Meter, war unregelmäßig geformt und wahrscheinlich irgendwann in grauer Vorzeit vom vierten Planeten eingefangen worden, als er durch das System der Sonne Nutak trieb. Das Schiff setzte sanft auf seiner porösen Oberfläche auf. Goman‐Largo machte sich ohne Zögern an die Arbeit. Er berührte eine rote Linie auf dem runden Kragen seiner Kombination, und ein Folienhelm glitt heraus, und entfaltete sich zu einem kugelförmigen Druckhelm. Aus flachen Taschen an den Innenseiten seiner Ärmel zog der Modulmann raumfeste Handschuhe mit Senso‐Rezeptoren, und seine Hosenbeine dichteten sich hermetisch mit den Stiefeln ab, als er sie darüberzog. Neithadl‐Off wußte, warum er sich dermaßen schützte. Die Überlichtaggregate waren nur von außen zugänglich, und auf dem Mond gab es keine Atmosphäre. »Ich werde so schnell arbeiten, wie es nur möglich ist«, erklärte Goman‐Largo. »Aber ich weiß nicht, ob ich fertig werde, bevor sich die Wächter der Zeitgruft wieder rühren. Die Ortung ist so eingestellt, daß Alarm gegeben wird, wenn ein hyperdimensionaler Suchstrahl die DSCHWINGG trifft. Du mußt mir dann sofort Bescheid geben, Neithadl‐Off. Wir werden unsere Funkfrequenzen nachher aufeinander abstimmen. Aber du mußt noch etwas anderes wissen. Komm!« Er führte sie zu einem etwas abseits stehenden Schaltpult und deutete auf die Bedienungskonsole. »Die DSCHWINGG hat keine echte Bewaffnung«, sagte er. »Nur einen Breitstrahl‐Laser am Bug zur Meteoritenabwehr. Damit läßt sich normalerweise gegen ein anderes Schiff nicht viel ausrichten.
Ich habe das Gerät jedoch modifiziert und an eine stärkere Energiequelle angeschlossen.« »Dann ist es jetzt ein Geschütz?« fragte Neithadl‐Off aufgeregt. »So ungefähr«, antwortete Goman‐Largo. »Die von ihm lichtschnell abgestrahlte Energie perforiert im Ziel die Krümmung des vierdimensionalen Raum‐Zeit‐Kontinuums. Jedes im Wirkungsbereich befindliche Objekt wird dadurch aus dem Normalraum geschleudert.« »Wohin?« wollte Neithadl‐Off wissen. »Das weiß ich nicht«, erwiderte Goman‐Largo. »Meine Möglichkeiten reichten nicht aus, um die Wirkung derartig zu spezifizieren. Wir müssen uns damit zufriedengeben, daß getroffene Objekte aus dem Normalraum verschwinden und damit ungefährlich für uns werden.« »Das würdest du anderen Intelligenzen antun?« erkundigte sich die Parazeit‐Historikerin erschaudernd. »Nicht anderen Intelligenzen. Ein Schiff von Xissas wird stets ein Roboter sein, niemals ein organisches Lebewesen, denn die Wächter dürfen den Planeten nicht verlassen. Du brauchst also keine Skrupel zu haben, es verschwinden zu lassen.« »Ich?« kreischte Neithadl‐Off entsetzt. »Du«, bestätigte der Modulmann gelassen. »Ich werde zwar versuchen, so schnell wie möglich wieder in der Zentrale zu sein, nachdem du mich über den Alarm informiert hast, aber wahrscheinlich schaffe ich es nicht, bevor das Schiff auftaucht. Dann mußt du für mich handeln, denn der Feind wartet nicht ab. Wie ich schon sagte, wird es ein Roboter sein. Da er vorprogrammiert ist, betätigt er den Auslöser, sobald er direkten Ortungskontakt mit der DSCHWINGG bekommen hat.« »Den Auslöser?« fragte Neithadl‐Off beklommen. »Für was?« »Das läßt sich nicht vorhersagen, denn ich kenne die Wirkung der Waffen nicht, die in der Station auf Xissas sind. Aber wenn die alten Grundsätze des Ordens der Zeitchirurgen heute noch gelten, dann
werden die Wächter jeden entflohenen Gefangenen, dessen sie nicht mehr habhaft werden können, zu vernichten suchen.« »Wie böse!« entrüstete sich Neithadl‐Off. »Nur konsequent«, korrigierte Goman‐Largo. »Bitte, paß jetzt genau auf! Ich will dir erklären, wie du die Waffe bedienen mußt.« * Nachdem Goman‐Largo die Steuerzentrale verlassen hatte, trippelte Neithadl‐Off eine Weile nervös hin und her, dann kletterte sie auf den Kontursessel hinter den Ortungskontrollen. Sie hütete sich jedoch davor, die Aktiv‐Ortung einzuschalten, denn davor hatte der Modulmann sie eindringlich gewarnt. Ein Tasterimpuls in die falsche Richtung würde genügen, um den Wächtern der Zeitgruft nach ihrer Reaktivierung die Position der DSCHWINGG zu verraten. Die Parazeit‐Historikerin beobachtete die Anzeigen der Passiv‐ Ortung. Sie fragte sich, was sie Nafrein‐Nak‐ruf erzählen sollte, wenn sie dorthin zurückgekehrt war. Es mußte eine gute Geschichte sein, denn sie war auf den Prospektor angewiesen, da ihm die DSCHWINGG gehörte und es demnach allein von seinem guten Willen abhing, ob er zwei Personen ohne Entgelt mitnahm. Andererseits konnte er froh sein, mit Goman‐Largo einen Passagier zu bekommen, der fast jeden Defekt am Schiff beheben konnte – und die Panne mit den Überlichtaggregaten würde nicht die letzte Panne gewesen sein. Neithadl‐Off zuckte heftig zusammen, als das Alarmhorn in der Zentrale ohrenbetäubend tutete und ein kleiner Bildschirm der Ortung rotleuchtend zu pulsieren anfing. Die DSCHWINGG war von einem hyperdimensionalen Suchstrahl getroffen worden! Die Parazeit‐Historikerin schaltete ihre Funkanlage ein und rief
nach dem Modulmann. »Alarm!« kreischte sie, als er sich meldete. »Hyperdimensionale Suchstrahlen treffen uns von allen Seiten! Eine feindliche Raumflotte im Anflug! Wir müssen fliehen!« »Immer mit der Ruhe!« ermahnte Goman‐Largo sie. »Du übertreibst. Ich komme sofort. Schade, denn ich bin fast fertig. Geh an die Feuerschaltungen und tue genau das, was ich dir erklärt habe, denn kommen wir vielleicht noch einmal davon! Beeile dich!« »Ja, ja!« kreischte Neithadl‐Off. Sie hüpfte von dem Sessel vor den Ortungskontrollen und trippelte zum Feuerschaltpult. »Zielaufnahme, Zielerfassung, Zielfixierung!« pfiff sie in höchster Erregung, während sie die entsprechenden Schaltungen vornahm. Ein Bildschirm über der Schaltkonsole leuchtete auf und zeigte ihr mitten im Raum zwischen den äußeren Monden des vierten Planeten einen diffusen schwarzen Fleck. Es hätte ein Schatten sein können, aber es war keiner. Goman‐Largo hatte ihr erklärt, was ein solcher Fleck im All bedeutete. Es handelte sich um den optischen Nebeneffekt einer punktuellen Raum‐Zeit‐Verwerfung, einem künstlichen Phänomen, mit dessen Hilfe die Wächter der Zeitgruft ihr Schiff in kürzester Zeit von Xissas aus ins Zielgebiet beförderten. »Gleich wird es kommen!« pfiff Neithadl‐Off. »Wo bist du, Goman‐Largo?« »Ich bin unterwegs«, antwortete die Stimme des Modulmanns aus der Funkanlage. »Vergiß nicht, sofort auf den Auslöser zu drücken, sobald das Ziel fixiert ist!« »Ich vergesse es nicht«, versicherte Neithadl‐Off. Sie drückte mit den versteiften Tastfäden ihres linken Vordergliedes auf den Auslöser, als ein kugelförmiges Objekt aus der Raum‐Zeit‐Verwerfung brach. Die DSCHWINGG erbebte. Rings um das Objekt tauchten plötzlich zahllose silbrig schimmernde Punkte auf – und als sie wieder erloschen, war auch das Objekt
verschwunden. »Erledigt!« pfiff Neithadl‐Off atemlos. »Ich habe das Schiff erledigt, Goman‐Largo!« »Gut gemacht!« lobte der Modulmann. »Obwohl, so schnell hatte ich es eigentlich nicht erwartet. Ich bin gleich bei dir.« »Wozu?« fragte die Parazeit‐Historikerin verwundert. »Ich habe die Schlacht gewonnen, ich ganz allein. Du kannst umkehren und wieder an deine Arbeit gehen. He, was ist das?« Sie beobachtete einen großen eiförmigen Körper, der unvermittelt vor der Raum‐Zeit‐Verwerfung aufgetaucht war und auf den oberen Rand des Bildschirms zuraste. Über seine knallrote Oberfläche tobten goldfarbene Gewitter. »Was ist das?« fragte der Modulmann. »Ein rotes Ding, das offenbar von goldfarbenen Energien umspielt wird«, teilte Neithadl‐Off ihm mit. »Es sieht richtig lustig aus.« »Das ist das Schiff!« schrie Goman‐Largo unbeherrscht. »Zerstöre es, bevor es zu spät dazu ist!« »Ja, ja!« pfiff Neithadl‐Off, als sie begriff, daß sie vorher etwas anderes bekämpft hatte und nicht den wirklichen Feind. Doch sie war bei Goman‐Largos ungewohntem Schreien vor Schreck ein paar Meter weit gesprungen und hatte die Orientierung verloren. Es dauerte eine Weile, bis sie das Feuerschaltpult wieder entdeckte. Gleich einem katapultierten Wurfgeschoß raste sie darauf zu – und kam in dem Moment davor an, als auch Goman‐Largo sich darauf stürzte. Der Kollision folgte ein heftiges Durcheinander von Gliedmaßen, dann hatte sich der Modulmann irgendwie befreit und warf sich über das Feuerschaltpult. Im selben Augenblick wurde die Steuerzentrale der DSCHWINGG in gleißende Helligkeit getaucht, dann war es, als schlüge ein planetengroßer Riese mit einem entsprechend großen Vorschlaghammer auf die Bugsektion des Schiffes. Die Erschütterung war zuviel für Neithadl‐Off. Bei ihr gingen
blitzartig alle Lichter aus. * Als sie erwachte, war sie allein. Jedenfalls dachte sie das, bis sie sich aufrichtete und den Modulmann lang auf dem Boden der Steuerzentrale liegen sah, alle vier Gliedmaßen von sich gestreckt. Von irgendwoher kamen mahlende Geräusche, in längeren Intervallen von metallischem Poltern begleitet. Sämtliche Bildschirme zeigten ein diffuses, wogendes Grau ohne feste Konturen. Auf den Schaltkonsolen leuchteten zahllose Warnlämpchen. »Bei der Königin von Semetyr!« pfiff Neithadl‐Off entsetzt. »Der Roboter von Xissas hat uns ins Nichts geschleudert – und ich bin schuld daran, weil ich zu früh geschossen habe!« Als der Modulmann in keiner Weise darauf reagierte, geriet sie an den Rand der Hysterie, denn sie fürchtete, daß er umgekommen sei. Rasch trippelte sie zu ihm hin und öffnete mit den beweglichen Tastfäden ihrer Vordergliedmaßen seinen Druckhelm. Ihre Sensorstäbchen waren ganz ausgestreckt und glänzten wie blutroter Lack. Mit den Tastfäden strich sie behutsam über sein Gesicht. Plötzlich nieste Goman‐Largo explosiv. Neithadl‐Off sprang mit allen sechs Gliedmaßen gleichzeitig in die Luft. Aber ihr Schreck wich schnell der Erleichterung über das Lebenszeichen. Goman‐Largo öffnete die Augen, blinzelte verwirrt und richtete sich dann langsam auf. Er legte den Kopf schräg und lauschte auf die unheimlichen Geräusche. Gleichzeitig musterte er die Warnlämpchen und die Bildschirme. »Verzeih mir bitte!« pfiff Neithadl‐Off. »Sie haben ein Dimensionskatapult eingesetzt«, sagte der
Modulmann tonlos. »Ist das etwas Schlimmes?« fragte die Parazeit‐Historikerin. Er wandte den Kopf und blickte sie ernst an. »Es gibt kaum etwas Schlimmeres«, erklärte er. »Es scheint aber nur auf minimale Intensität eingestellt gewesen zu sein, sonst hätten wir uns aufgelöst.« »Du hattest dich im letzten Moment über das Feuerschaltpult geworfen«, erinnerte sich Neithadl‐Off. »Vielleicht hast du dabei noch etwas auslösen können.« »Ich weiß es nicht«, erwiderte Goman‐Largo. Er stand auf und ging zum Feuerschaltpult. »Kannst du mir verzeihen?« pfiff Neithadl‐Off niedergeschlagen. »Ich habe alles falsch gemacht, was jemand nur falsch machen konnte. Aber nachdem ich die feindliche Flotte vernichtet hatte, rechnete ich nicht mehr damit, daß noch ein Flottenverband auftauchen würde.« »Was redest du da?« fragte der Modulmann, während er Schaltungen vornahm und von einem Sichtschirm ablas, was der positronische Datenaufzeichner des Feuerschaltpults gespeichert hatte. »Was ich da rede!« entrüstete sich die Parazeit‐Historikerin. »Ich berichte dir nur, was geschehen ist.« »Das sehe ich besser hier«, entgegnete Goman‐Largo und nickte in Richtung des Datensichtschirms. »Es hat weder eine Flotte noch einen Flottenverband gegeben, Schwester. Rein zufällig hatte sich nur einer der siebzehn Monde des vierten Planeten zwischen die DSCHWINGG und die punktuelle Raum‐Zeit‐Verwerfung geschoben – und du hieltest ihn für das Schiff von Xissas und hast ihn aus dem Normalraum gepustet.« »Du mußt dich irren«, widersprach Neithadl‐Off. »Es war eine ganze Flotte. Du wirst es einsehen, wenn du die aufgefaßte Masse abrufst.« »Das habe ich getan«, erwiderte Goman‐Largo sachlich.
»Natürlich war die Masse beachtlich, denn es handelte sich schließlich um einen Mond, aber ein Mond ist eben keine Raumflotte.« »Was?« pfiff Neithadl‐Off. »Willst du behaupten, ich hätte gelogen?« »Ich behaupte nichts, ich treffe nur Feststellungen«, entgegnete Gomanv Largo. »Aber über deine Frage werden wir später sprechen. Jetzt muß ich erst einmal wissen, was alles geschehen ist. Eines ist mir klar. Dadurch, daß du dachtest, das Schiff von Xissas schon vernichtet zu haben, hast du dem Auftauchen des richtigen Schiffes nicht die notwendige Beachtung geschenkt.« »Des richtigen Schiffes!« echote Neithadl‐Off. »Meinst du etwa das lustige rote Ding mit dem goldenen Strahlenkranz?« »Genau das«, antwortete Goman‐Largo. »Das war das Schiff beziehungsweise der Roboter von Xissas. Ich wußte es sofort, als du es mir geschildert hattest. Es tut mir sehr leid, daß ich dich daraufhin angeschrien habe. Das hätte ich nicht tun sollen, denn du warst dadurch so verstört, daß du nicht rechtzeitig reagieren konntest.« »Ich hatte nicht erwartet, daß du so schreien kannst«, pfiff Neithadl‐Off. »Verzeihst du mir?« »Es gibt nichts, was ich dir verzeihen müßte«, erwiderte der Modulmann verwundert. »Das Unglück war allein meine Schuld. Ich habe dich verschreckt. Unser Zusammenstoß war nur eine Folge davon. Also muß ich dich um Verzeihung bitten.« »Ich verzeihe dir!« pfiff Neithadl‐Off impulsiv. »Aber was wird jetzt aus uns und dem Schiff?« »Das ist ungewiß«, antwortete Goman‐Largo resignierend. »Wir existieren zwar noch, weil ich den Auslöser noch betätigen konnte, wie ich aus den Aufzeichnungen ermittelte. Aber das war ein wenig spät, denn der Roboter hatte das Dimensionskatapult schon vorher ausgelöst. Es konnte nur nicht mehr voll wirksam werden, weil es mitsamt dem Robot aus dem Normalraum gepustet wurde.«
»Dann ist unsere Lage hoffnungslos?« erkundigte sich die Parazeit‐Historikerin. »Ultramonotisch«, sagte Goman‐Largo. »Das hast du schon einmal gesagt«, erklärte Neithadl‐Off. »Was bedeutet ›ultramonotisch‹?« Goman‐Largo lächelte flüchtig. »In diesem Fall eine Steigerung von ›hoffnungslos‹, aber allgemein etwas absolut Negatives. Manchmal benutzte ich es auch als Schimpfwort.« »Oh!« pfiff Neithadl‐Off. »Eine Steigerung von ›hoffnungslos‹! Dann befinden wir uns im Nichts?« »Vielleicht wäre das besser«, erklärte Goman‐Largo. »Soviel ich es beurteilen kann, treiben wir in einem Mahlstrom aus n‐ dimensionalen Energien.« Seine Stimme wurde bitter. »Das Stasisfeld wäre ein besseres Los gewesen. Mein letztes Präkognitiogramm besagte, daß ich in ein Stasisfeld geraten würde und daß es danach nur eine Möglichkeit der Befreiung gäbe: eine Parazeit‐Historikerin, die sich in mich verliebt.« Er lachte – und ahnte nicht, daß er damit ungewollt die Gefühle Neithadl‐Offs so verletzte, daß sie sich endgültig schwor, ihm niemals ihre Liebe zu offenbaren. »Nun, ja!« sagte er, nachdem er den Anfall von Galgenhumor überwunden hatte. »Du bist zwar eine Parazeit‐Historikerin, aber ich bin für dich so fremdartig, daß du dich natürlich nicht in mich verlieben könntest. Folglich gibt es auch keine Befreiung. Wir werden nur darauf hoffen müssen, daß das Ende, wenn es kommt, ohne psychische und physische Qualen sein wird.« »Du denkst, daß wir sterben müssen?« pfiff Neithadl‐Off kläglich. »Das ist doch logisch«, erklärte der Modulmann. »Jedes organische Lebewesen lebt nur eine begrenzte Zeitspanne, also müssen auch wir irgendwann sterben. In unserem speziellen Fall wird das eintreten, wenn unsere Vorräte aufgebraucht sind – es sei denn, das Schiff bricht vorher auseinander.«
Die letzte Bemerkung ließ Neithadl‐Off wieder bewußt den mahlenden Geräuschen und dem metallischen Poltern lauschen. »Es hört sich an, als würde das Schiff schon bald auseinanderbrechen.« »Nein«, widersprach Goman‐Largo. »Diese Geräusche haben ihren Ursprung nicht in physikalischen Ereignissen, sondern entstehen lediglich in unseren Wahrnehmungszentren durch n‐dimensionale Reizüberflutung. Es kann noch Jahre dauern, bis das Ende kommt.« »Aber solange reichen unsere Vorräte auf keinen Fall!« pfiff die Parazeit‐Historikerin. »Ich habe sie flüchtig inspiziert. Sie reichen auf keinen Fall länger als ein paar Wochen. Nafrein‐Nakruf war entweder ein Geizkragen oder knapp bei Kasse. Oh! Er sitzt mit seinen beiden Assistenten auf Kaldoch! Wie kommt er ohne sein Schiff bloß von dort weg?« »Ihn kannst du vergessen«, meinte Goman‐Largo. »Wir können absolut nichts für ihn tun. Selbst wenn wir entgegen aller Wahrscheinlichkeit jetzt gleich aus dem Mahlstrom ausgestoßen würden, fänden wir das Nutak‐System wohl nie wieder. Es ist sogar fraglich, ob wir die Galaxis wiederfinden würden, zu dem das Nutak‐System gehört. Ein n‐dimensionaler Mahlstrom ignoriert alle Begrenzungen von Raum und Zeit.« Er räusperte sich. »Aber wegen den Vorräten brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich baue uns eine Recycling‐Anlage, mit denen wir auch einen kleinen Vorrat über Jahre hinaus immer wieder aufbereiten können. Hauptsache, dein Metabolismus ist nicht gar zu wählerisch.« »Ich esse und trinke alles«, behauptete Neithadl‐Off. Verschämt fügte sie hinzu: »Besonders gern tierische Biomasse.« »Tatsächlich?« entfuhr es dem Modulmann. »Dann muß ich mich vorsehen, daß ich in deiner Gegenwart nicht einschlafe.« »Aber dir würde ich doch nie etwas tun!« pfiff Neithadl‐Off aufgebracht. »So?« erwiderte Goman‐Largo aufhorchend. »Du scheinst es ehrlich zu meinen, Schwester.«
»Ich bin eine ehrliche Haut«, versicherte Neithadl‐Off. »Aber nenne mich nicht Schwester, bitte.« Goman‐Largo schmunzelte flüchtig. »Eine Haut bist du, das ist nicht zu übersehen. Aber inwieweit du ehrlich sein kannst … hm!« »Ich lüge nie!« kreischte die Parazeit‐Historikerin wütend, weil sie sich ertappt fühlte, und sogleich versuchte sie von dem Thema wegzukommen. »Aber ich bin sicher längst nicht so interessant wie du, Modulmann. Würdest du mir etwas über dich und deine Herkunft berichten?« In Goman‐Largos Augen trat ein grüblerischer Ausdruck. »Ich fürchte, daß ich vieles vergessen habe«, sagte er leise und nachdenklich. »Aber ich will versuchen, soviel wie möglich zusammenzubekommen. Setzen wir uns und machen es uns gemütlich, so gut es die Lage erlaubt!« * »Ich bin ein Tigganoi«, begann Goman‐Largo, nachdem er es sich in einem Kontursessel bequem gemacht und Neithadl‐Off sich mit der vorderen Schmalseite an seine Knie gelehnt hatte. »Ein Angehöriger des ehemaligen Volkes der Tigganois.« »Des ehemaligen Volkes?« warf die Wissenschaftlerin ein. »Ich nehme als sicher an, daß es längst nicht mehr existiert, ebensowenig wie die Zeitschule von Rhuf, denn ich war bestimmt viele Jahrtausende in Gefangenschaft, vielleicht sogar Hunderttausende von Jahren. Die Stasis hat mich nicht altern lassen, aber an meinem Volk und den alten Einrichtungen ist sie sicher nicht spurlos vorübergegangen.« Er lehnte sich zurück, stützte die Ellbogen auf die Seitenlehnen und preßte die Fingerspitzen beider Hände gegeneinander. »Ich kenne meinen Auftrag nicht mehr«, fuhr er fort, während
seine Augen sich verdunkelten und in den Abgründen der Zeiten zu suchen schienen. »Er wurde aus meiner Erinnerung gelöscht, bevor ich in Stasis versetzt wurde. Aber ich weiß noch, daß meine ursprünglichen Feinde die Agenten des Ordens der Zeitchirurgen waren. Dieser Orden beschwor ungeheuerliche Gefahren herauf, denn er nahm gezielte korrigierende Eingriffe auf allen Zeitebenen vor. Angeblich wurden von seinen Agenten nur Ansätze gefährlicher Entwicklungen sozusagen aus der Zeit herausoperiert, aber die dadurch herbeigeführten Paradoxe wirkten sich viel schlimmer aus als die ursprünglichen Fehlentwicklungen.« »Wie grauenhaft!« pfiff Neithadl‐Off. »Das Schlimmste ist, daß die Betroffenen sich kaum dagegen wehren können«, erklärte Goman‐Largo. »Für sie ist es ultramonotisch. Aber als Parazeit‐Historikerin kennst du das ja.« »Selbstverständlich!« beteuerte Neithadl‐Off – und fragte sich zum wiederholten Mal, warum sie so wenig davon wußte, wenn sie Parazeit‐Historikerin war. Vage dämmerte ihr, daß es irgend etwas in ihrer Vergangenheit gegeben hatte, was ihr so ähnlich wie dem Modulmann einen Teil ihrer Erinnerungen geraubt hatte. »Die Zeitschule von Rhuf war eine Institution, die sich dem Kampf gegen den Orden der Zeitchirurgen verschrieben hatte«, fuhr Goman‐Largo fort. »Viele Tigganois wurden dort wie ich zu Spezialisten der Zeit ausgebildet und konditioniert. Wir Tigganois eigneten uns ideal dafür, weil nur uns genotronisch geprägte Module aufgepfropft werden konnten. Das war bei keinem anderen Volk möglich.« »Und mit diesen Modulen kannst du wahre Wunderdinge vollbringen!« schwärmte Neithadl‐Off. »Keine Wunderdinge«, widersprach der Modulmann. »Ich kenne die Fähigkeiten der Module außerdem bisher kaum, denn ich hatte vor dem Erlöschen des Stasisfelds noch keine Gelegenheit gehabt, mit ihnen zu arbeiten. Es dauert sicher noch lange, bis ich alle diese Fähigkeiten kenne. Aber ich weiß, daß sie bei Bedarf zur Verfügung
stehen.« »Und sie sind nicht technischer Natur?« fragte Neithadl‐Off. »Nein, sie sind biologisch gewachsen«, bestätigte Goman‐Largo. »Aber sie können technisch angewendet werden. ›Genotronisch‹ ist übrigens die Abkürzung von ›gentechnisch‐positronisch‹.« »Das ist phantastisch!« pfiff die Parazeit‐Historikerin. »Aber was war vorher? Ich meine, wie war dein Leben, bevor du die Zeitschule von Rhuf besuchtest?« »Vorher gab es mich nicht«, erklärte Goman‐Largo. »Nicht so, wie ich jetzt bin, denn das wurde ich erst in der Zeitschule von Rhuf. Vorher muß etwas ziemlich Unvollkommenes existiert haben, das sozusagen mein Vorläufer war.« »Oh!« entfuhr es Neithadl‐Off. Der Modulmann lächelte verstehend. »Ich empfinde das nicht als schlimm«, sagte er. »Im Gegenteil, ich finde es hypertemporal, denn ich habe durch die Konditionierung und Ausbildung einen ganz anderen Blick für den Aufbau und Sinn des Universums, für die in Raum und Zeit wirkenden Kräfte und für vieles andere bekommen und umfangreiche Kenntnisse über hohe Technologien, Zivilisationen und Raumfahrttechniken erworben. Das alles ist sehr nützlich und kann ein großes Maß an Befriedigung verschaffen.« Neithadl‐Off erschauderte. »Es klingt kalt und gefühllos, irgendwie nur zweckbestimmt«, flüsterte sie. »Hat dein Leben denn überhaupt noch ein echtes Ziel?« Goman‐Largo runzelte die Stirn. »Selbstverständlich hat es das«, antwortete er. »Mein augenblickliches Ziel ist es, zu ermitteln, ob der Orden der Zeitchirurgen noch existiert – und wenn, ein Gegengewicht aufzubauen. Nebenbei werde ich natürlich auch festzustellen versuchen, was aus meinem Volk und der Zeitschule geworden ist.« Er lächelte verloren. »Das alles wollte ich tun, aber dazu wird es wohl leider nicht
kommen. Aber was ist mit deiner Herkunft und deiner Ausbildung, Neithadl‐Off?« »Ich stamme vom Planeten Vigpander«, berichtete Neithadl‐Off. »Früher nannte man ihn Gurmughu, weil er eine der alten Welten ist, die früher von Invasoren aus der Parallelzeitebene Gurmugh besiedelt wurden. Später starben die Invasoren aus – bis auf ihre letzten sieben Könige. Aber das ist eine lange Geschichte. Ich werde sie später einmal erzählen. Bleiben wir bei mir! Wie ich schon sagte, bin ich eine Parazeit‐Historikerin. Ich bin schon viel im All herumgezogen. Meine vordringliche Aufgabe ist es, die Quellen aufzuspüren, aus denen parazeithistorische Informationen sprudeln. Aber ich habe auch schon viele Zeitgrüfte erforscht und zahlreiche Kämpfe bestanden. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was es darin oft für Schätze gibt.« »Doch, das glaube ich dir aufs Wort«, erwiderte Goman‐Largo ironisch. »Aber natürlich weißt du mehr über Zeitgrüfte als ich.« »Natürlich!« trumpfte Neithadl‐Off auf und wurde ein Stück kleiner, als sie erkennen mußte, daß der Modulmann sie aufs Glatteis geführt hatte und offenkundig nicht so leicht zu belügen war wie die Intelligenzen, die sie vorher getroffen hatte. »Wie wäre es zur Abwechslung einmal mit der Wahrheit?« erkundigte sich Goman‐Largo. »Was bist du wirklich, woher stammst du und wonach hast du bei deinen rastlosen Fahrten kreuz und quer durchs All gesucht? Willst du mir darauf ausnahmsweise einmal ehrlich antworten?« »Ja«, versprach Neithadl‐Off geknickt – und weil sie sich vorgenommen hatte, sich angesichts des bevorstehenden gemeinsamen Endes mit dem Modulmann zu bessern. Doch sie sollte nicht dazu kommen, ihren guten Vorsatz in die Tat umzusetzen, denn in diesem Augenblick ging ein so heftiger Schlag durch das Schiff, daß der Modulmann und die Parazeit‐Historikerin quer durch die Steuerzentrale flogen, in der plötzlich ein wahres Gewitter von Entladungsblitzen tobte.
Mit einem qualvoll langgezogenen, reißenden Geräusch verdrehte das Innere der DSCHWINGG sich in sich selbst. Wände barsten, Leitungen rissen und Brände brachen aus. Goman‐Largo hatte Glück gehabt, daß er gegen einen wandhohen Stapel leerer Plastiksäcke geschleudert worden war, die von Prospektoren als Behälter für Proben verwendet wurden. Er verlor nur für kurze Zeit das Bewußtsein. Als er wieder zu sich kam, sah er nicht nur die katastrophalen Schäden, sondern auf den Bildschirmen auch, daß die DSCHWINGG sich nicht mehr in dem Mahlstrom n‐dimensionaler Energien befand, sondern in weitgehend sternenloser Finsternis. Und er »sah« mit Hilfe von einigen seiner Module, daß die Katastrophe dadurch zustande gekommen war, daß die DSCHWINGG im Mahlstrom mit einem ähnlichen Objekt kollidiert war. Dadurch mußte es zu einer kurzzeitigen Umpolung der benachbarten Energien gekommen sein – und als Folge davon war die DSCHWINGG vom Mahlstrom ausgestoßen worden. Aber das, was eigentlich die Rettung hätte bedeuten müssen, nämlich der Rücksturz in den Normalraum, würde in diesem Falle das Ende nur beschleunigen. Denn die DSCHWINGG war durch die Kollision zu einem Trümmerhaufen geworden. Außerdem driftete sie unaufhaltsam auf einen Schwarm großer Meteoriten zu, der sich ausgerechnet in dieser verlassenen Gegend des Alls herumtrieb. Es war für den Modulmann kein Trost, daß es dem »Kollisionspartner« kein bißchen besser ging, sondern daß ihm von seinem Raumschiff auch nur ein Trümmerhaufen geblieben war. Doch dann bemerkte er, daß das andere Wrack ein paar Triebwerke zündete und offenbar versuchte, auf einem Brocken des Meteoritenschwarms zu landen. Die Besatzung gedachte anscheinend davonzukommen, während er und Neithadl‐Off ruhig umkommen durften.
Das war nicht nur unverschämt, sondern eine feindselige Handlungsweise. Goman‐Largo faßte einen Entschluß und machte sich daran, ihn mit Hilfe einiger Module, seines Verstandes und seiner Hände in die Tat umzusetzen. Er hatte auch schon einen besonders großen Meteoriten ausgesucht, auf dem er mit der DSCHWINGG notlanden wollte … 10. Anima wurde von einem unvorstellbar brutalen Schlag, der durch die IGEL ging, aus der Trance gerissen, in die sie sich versetzt hatte, weil sie ihre Lage für hoffnungslos hielt. Sie zweifelte keinen Augenblick daran, daß es sich um einen Angriff auf das ehemalige Beiboot der VIRGINIA und sie selbst handelte. Feinde aus Alkordoom mußten ihr gefolgt sein, waren ebenfalls in den Sog des galaktischen Jets geraten oder sogar absichtlich hineingeflogen und versuchten nun, ihr den Rest zu geben. Zorn und Erbitterung breiteten sich in Anima aus. Da hatte sie äonenlang für das Gute gekämpft, hatte ihren ersten Ritter im Kampf verloren und in Atlan ihren zweiten Ritter gefunden – und dann entrissen die Kosmokraten ihr den neuen Ritter und ließen sie hilflos zurück. Und sahen tatenlos zu, wie sie gnadenlos abgeschlachtet wurde. Anima stieß einen Wutschrei aus. Der Schlag, der die IGEL getroffen hatte, war grauenhaft gewesen und hatte das Beiboot in einen Trümmerhaufen verwandelt, aber ihr hatte er nicht viel ausmachen können. Sie war handlungsfähig geblieben, und sie würde es dem Feind heimzahlen, daß er versucht hatte, sie meuchlings zu ermorden. Sie schaltete an den Kontrollen, soweit sie noch funktionsfähig waren, reparierte andere und bekam das Diskusschiff schon bald
wieder halbwegs in ihre Gewalt. Auf einem der beiden noch ganzen Ortungsschirme sah sie, daß die IGEL in weniger als einer Viertelstunde den Weg eines Meteoritenschwarms kreuzen würde, der durch den fast Sternenleeren Sektor des Normalraums trieb, in den das Boot zurückgestürzt war. Sie nahm sich vor, auf einem dieser öden Felsbrocken zu landen und die IGEL instand zu setzen. Sie mußte ihr Schiff schneller einsatzfähig haben als der Feind. Denn sie sah auf dem anderen Ortungsschirm das Wrack eines erheblich größeren Schiffes, das ebenfalls auf den Meteoritenschwarm zutrieb. Es konnte sich nur um den Feind handeln, der ihre Vernichtung geplant hatte. Anscheinend war sein Plan nicht ganz aufgegangen und sein Schiff war unversehens mit ihrem kollidiert – kein Wunder in dem Strom aus dimensional übergeordneten Energien. Aber es war ein Wink des Schicksals. Anima erkannte, daß auch die Besatzung des feindlichen Schiffs abbremste und auf einen Meteoriten zuhielt. Es würde also bald zum Entscheidungskampf kommen. Gut so! Was danach noch von dem anderen Schiff übrig war, konnte sie zur Instandsetzung der IGEL verwenden. Die Innenzelle des Diskusschiffes knirschte, als es mit relativ geringer Geschwindigkeit gegen einen Meteoriten stieß, davon abprallte und kurz danach auf seiner zerklüfteten Oberfläche aufschlug und liegenblieb. Über mehrere andere Meteoriten hinweg sah Anima, wie das feindliche Schiff funkensprühend auf einem Felsbrocken notlandete. »Ziel aufnehmen, erfassen, fixieren und zerstören!« frohlockte sie, während sie die Kontrollen des Feuerleitstands aktivierte. Der Kampf konnte beginnen … ENDE
Drei ungleiche Wesen, erst einander befeindend, finden durch gemeinsame Not zueinander. Weil sie nur gemeinsam ihre Rettung anstreben können, schließen sie sich zwangsläufig zusammen und werden zu Freunden. Mehr über ihre Abenteuer berichtet H. G. Ewers im Atlan‐Band 710. Der Roman erscheint in einer Woche unter dem Titel: DAS REICH DER PHYLOSER