Der Planeten-Retter Die Abenteuer des Brion Brand, Spezialist für Katastrophenwelten
Andreas Bodonge
- Planet der Ver...
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Der Planeten-Retter Die Abenteuer des Brion Brand, Spezialist für Katastrophenwelten
Andreas Bodonge
- Planet der Verdammten -
1 Schweißperlen rannen über Brions muskulösen Oberkörper und versickerten in dem knappen Lendenschurz, den er als einziges Kleidungsstück trug. Das leichte Florett in seiner Hand wog bleischwer; jede Bewegung damit schmerzte. Aber diese Dinge spielten keine Rolle. Die blutenden Wunden auf seiner Brust, die vor Ermüdung tränenden Augen und selbst die tobende Menge in der riesigen Arena – das alles war unwichtig. Für ihn gab es nur eines, den federnden Stahl vor seinen Augen, der stets rechtzeitig zur Stelle war, um seine eigene Waffe zur Seite zu schlagen. Eine plötzliche Bewegung. Er reagierte – aber sein Florett traf nur Luft. Einen Augenblick später spürte er einen leichten Stich unterhalb der linken Schulter. „Touché!“ bellte eine Stimme aus vielen Lautsprechern und der Beifall der Zuschauer brach sich an den Rängen. „Eine Minute“, kündigte eine andere Stimme an, bevor der Summer ertönte. Brion hatte seinen Körper sorgfältig auf diese kurzen Unterbrechungen vorbereitet, weil er wusste, wie wichtig es war, sie völlig auszunutzen. Nur Herz und Lungen arbeiteten gleichmäßig weiter. Brion schloss die Augen und nahm kaum wahr, dass seine Helfer ihn auffingen, als er fiel. Während sie ihn massierten und die Wunden versorgten, konzentrierte er sich auf die Aufgabe, die vor ihm lag. Aber trotzdem musste er immer wieder an das seltsame Ereignis der vergangenen Nacht zurückdenken. Alle Teilnehmer an den Spielen brauchten ihre ungestörte Nachtruhe, deshalb herrschte Nachts in den Schlafräumen tiefste Stille. Selbstverständlich wurde diese Bestimmung in den ersten Tagen nicht immer peinlich genau eingehalten, denn die Männer waren zu aufgeregt. Aber sobald die ersten Teilnehmer ausgeschieden waren, herrschte nach Einbruch der Dunkelheit völlige Stille. Ganz besonders aber in der vergangenen Nacht, in der nur noch zwei der winzigen Zellen belegt waren, während Tausende von anderen leer standen. Ein ärgerlicher Wortwechsel hatte Brion aus seinem Schlaf gerissen. Die Worte wurden nur geflüstert, waren aber trotzdem klar zu verstehen, denn die beiden Männer standen unmittelbar vor Brions Tür. Einer von ihnen erwähnte seinen Namen. „... Brion Brand. Nein, das ist völlig ausgeschlossen. Sie können doch nicht einfach ...“ „Benehmen sie sich doch nicht wie ein Idiot!“ Die andere Stimme klang befehlsgewohnt. „Ich bin wegen einer äußerst wichtigen Angelegenheit hier. Ich muss Brand unbedingt sehen! Los, gehen sie aus dem Weg!“ „Die Spiele ...“ „Sind mir völlig gleichgültig! Meine Sache ist wichtiger, sonst wäre ich nämlich nicht hier!“ Der andere schwieg – er war bestimmt einer der zahlreichen Funktionäre - aber Brion spürte deutlich, dass der Mann vor Wut kochte. Er musste seine Pistole gezogen haben, denn der Eindringling wehrte überrascht ab. „Tun sie das Ding weg! Benehmen sie sich nicht wie ein Narr!“ „Hinaus!“ lautete die Antwort. Dann herrschte Stille und Brion schlief sofort wieder ein. „Zehn Sekunden.“ Die Stimme ließ Brion aus seinen Erinnerungen auffahren. Er richtete sich in eine sitzende Stellung auf und stellte dabei fest, dass er im Grunde genommen völlig erschöpft war. Der nun schon vier Wochen anhaltende geistige und körperliche Kampf hatte seinen Tribut gefordert. Wie konnte er noch auf den Sieg hoffen, wenn er sich kaum noch auf den Füßen zu halten vermochte? „Wie stehen wir jetzt?“ erkundigte er sich bei dem Helfer, der seine schmerzenden Beinmuskeln massierte. „Vier zu vier. Du brauchst nur noch einen Punkt zum Sieg!“ „Ja, aber der dort drüben braucht auch nur noch einen“ stellte Brion fest und starrte zu dem Mann am anderen Ende der langen Matte hinüber. Niemand, der das Finale der Spiele erreicht hatte, konnte ein leichter Gegner sein, aber dieser Irolg war wirklich außergewöhnlich gut. Ein rothaariger Riese mit anscheinend unerschöpflichen Kraftreserven. Und das zählte jetzt. In dieser letzten Runde kam es nicht mehr darauf an, wer besser fechten konnte, sondern nur darauf, wer von den Kontrahenten noch die Kraft besaß, den anderen zu überwinden. 2
Brion schloss die Augen wieder, weil er wusste, das der Augenblick gekommen war, vor dem er sich fürchtete, weil er ihn hatte hinauszögern wollen. Jeder Mann, der sich zu den Spielen anmeldete, hatte bestimmte Trainingstricks. Auch Brion verfügte über einige, die sich bisher als äußerst nützlich erwiesen hatten. Er spielte nicht übermäßig gut Schach, aber trotzdem hatte er sämtliche Partien gewonnen, weil er unglaublich viele unorthodoxe Eröffnungen beherrschte. Das war kein Zufall, sondern das Ergebnis langer Arbeit. Er ließ sich ständig alte Schachlehrbücher besorgen und hatte Tausende Partien auswendig gelernt. Das war zulässig. Alles war erlaubt, was sich ohne Benutzung von Drogen und Maschinen durchführen ließ. Auch Selbsthypnose gehörte dazu. Brion hatte länger als zwei Jahre gebraucht, um eine Methode zu finden, mit deren Hilfe er die letzten Reserven seines Körpers nutzbar machen konnte. In den Büchern wurde zwar beschrieben, wie Berserker selbst mit tödlichen Verwundungen weiter kämpften, wie sie aus unzähligen schweren Wunden blutend dennoch ihre Gegner weiter bedrängten – aber in allen diesen Fällen war der Tod unumgänglich. Aber es gab noch eine andere Methode, die sich verhältnismäßig leicht beherrschen ließ – die hypnotische Starre. Brion hatte aus beiden eine Technik entwickelt, mit deren Hilfe er die letzten Kraftreserven seines Körpers mobilisieren konnte, die den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen konnte. Aber dabei begab er sich in Lebensgefahr, denn dieser Vorgang schwächte den Körper unter Umständen so sehr, das an eine Genesung nicht mehr zu denken war. Jetzt spielte dieser Gesichtspunkt allerdings keine Rolle mehr. Vor ihm waren schon andere während der Spiele gestorben – und der Tod in der letzten Runde war in gewisser Beziehung leichter zu ertragen als eine Niederlage. Brion atmete tief ein und konzentrierte sich auf das Kommende. Die unendliche Müdigkeit fiel plötzlich von ihm ab, er spürte weder Hitze noch Schmerz. Als er die Augen wieder öffnete, sah er seinen Gegner klar vor sich. Aber jede einzelne Sekunde, die so verstrich, entzog seinem Körper die Kraft, auf der seine Existenz als lebendes Wesen beruhte. Als der Summer ertönte, riss er seinem Sekundanten das Florett aus der Hand und stürmte vorwärts. Irolg hatte kaum genügend Zeit, nach seiner eigenen Waffe zu greifen und den Angriff abzuwehren. Die Körper der beiden Gegner prallten aufeinander. Irolg schien von der Wucht des Angriffs überrascht zu sein – dann lächelte er. Er hielt ihn für eine letzte Anstrengung, weil er wusste, wie erschöpft sie beide waren. Brion war jetzt bestimmt am Ende seiner Kräfte. Sie trennten sich voneinander und Irolg machte sich zur Verteidigung bereit. Er wollte nicht selbst angreifen sondern abwarten, bis Brion sich völlig verausgabt hatte. Brion bemerkte, dass Irolg ihn beinahe furchtsam anstarrte, als er schließlich seinen Irrtum einsah. Brion war nicht am Ende seiner Kräfte. Nein, er verstärkte seine Angriffe sogar noch und verschärfte das Tempo. Irolg war der Verzweiflung nahe. Brion spürte es deutlich und wusste, dass der fünfte Punkt ihm gehörte. Die Bewegungen des anderen wurden immer langsamer. Dann kam der plötzliche Schwung, mit dem Irolgs Waffe beiseite gedrückt wurde. Vorwärts und unter der Deckung hindurch. Die Spitze des Floretts auf der Brust des anderen, der stählerne Bogen, der über Irolgs Herz endete. Geräusche – Klatschen und Beifallsrufe – drangen an Brions Ohren, aber er nahm sie nur noch undeutlich wahr. Irolg ließ seine Waffe fallen und wollte Brion die Hand schütteln, aber in diesem Augenblick gaben seine Beine nach. Der Riese sackte in sich zusammen. Brion legte ihm den Arm um die Schultern, stützte ihn und hielt ihn aufrecht, während die Helfer von beiden Seiten heran eilten. Dann trugen sie Irolg fort und Brion wehrte seine Männer ab, weil er allein gehen wollte. Aber irgend etwas stimmte nicht mehr. Seine Beine bewegten sich so langsam, als marschiere er durch einen Sumpf. Er sank in die Knie. Nein, er sank nicht – er fiel. Endlich. Er durfte nachgeben und fallen.
3
2 Ihjel gab den Ärzten genau vierundzwanzig Stunden, bevor er das Krankenhaus aufsuchte. Brion war doch nicht gestorben, obwohl er in höchster Lebensgefahr geschwebt hatte, nachdem er eingeliefert worden war. Einen Tag später hatte sich sein Zustand schon wieder erheblich gebessert – und mehr wollte Ihjel gar nicht wissen. Er drängte sich an dem Pflegepersonal vorbei, bis er vor der Tür des Krankenzimmers auf entschlossenen Widerstand stieß. „Ihr Benehmen ist unmöglich, Sieger Ihjel“ sagte der Arzt bestimmt. „Und wenn sie sich weiter so aufführen, obwohl Ihnen bereits ausgerichtet wurde, dass Sieger Brand keinen Besuch empfangen darf, dann muss ich Gewalt anwenden.“ Ihjel schilderte ihm gerade ausführlich, wie gering seine Chancen in diesem Fall seien, als Brion sie beide unterbrach. Er hatte die Stimme des anderen erkannt, nachdem er sie bereits einmal in der Nacht vor der Tür seines Schlafzimmers gehört hatte. Lassen sie ihn ruhig herein, Dr. Chaulry“, sagte er deshalb. „Ich möchte gern den Mann kennenlernen, der glaubt, dass es etwas Wichtigeres als die Spiele geben könne.“ Während der Arzt noch überlegte, drängte Ihjel sich rasch an ihm vorbei und knallte ihm die Tür vor der Nase zu. Er betrachtete den Sieger, der vor ihm im Bett lag. Brion wurde noch intravenös ernährt. Seine blutunterlaufenen Augen lagen tief in den Höhlen. Der stumme Kampf gegen den Tod hatte deutliche Spuren auf seinem Gesicht hinterlassen, dass nur noch aus Knochen und straff gespannter Haut zu bestehen schien. Nur das kurzgeschnittene braune Haar hatte sich nicht verändert. Brion wirkte wie ein Mann, der eben erst eine langwierige Krankheit überwunden hatte. „Du siehst wie der Tod auf Rädern aus“, stellte Ihjel fest. „Aber trotzdem herzlichen Glückwunsch zu Deinem Sieg.“ „Du siehst selbst nicht gerade ausgezeichnet aus – jedenfalls nicht für einen Sieger“, gab Brion wütend zurück. Seine ganze Erschöpfung und der plötzliche Ärger über diesen unverschämten Eindringling lagen in diesen Worten. Ihjel ignorierte sie völlig. Aber trotzdem hatte Brion recht; Sieger Ihjel sah nicht gerade aus wie ein Sieger – er wirkte nicht einmal wie ein Anvharianer. Der Körperbau und die Größe stimmten, aber der Mann erstickte förmlich im Fett, das überall an seinem Körper Wülste bildete. Auf Anvhar gab es keine dicken Männer, deshalb war es eigentlich unvorstellbar, dass dieser Dicke jemals ein Sieger gewesen sein sollte. Falls sich unter der Fettschicht Muskeln verbargen, waren sie jedenfalls jetzt nicht mehr sichtbar. Nur seine Augen ließen noch etwas von der Energie erkennen, mit deren Hilfe er in den jährlich stattfindenden Spielen über die Elite des Planeten gesiegt hatte. Brion wandte sich ab, weil er den prüfenden Blick nicht länger ertragen konnte. Er schämte sich, Ihjel ohne guten Grund beleidigt zu haben. Andererseits fühlte er sich aber noch zu krank, um sich umständlich dafür zu entschuldigen. Ihjel schien jedoch keinen Wert auf eine Entschuldigung zu legen. Brion hatte den Eindruck, als sei dieser Mann mit so wichtigen Problemen beschäftigt, dass er, Brion, seine beleidigenden Bemerkungen und sogar die Spiele Ihjel nichts bedeuteten. Die Tür hinter Ihjel öffnete sich fast geräuschlos und er warf sich so blitzschnell herum, wie sich nur ein durchtrainierter Athlet auf Anvhar bewegen konnte. Dr. Chaulry hatte eben erst einen Fuß über die Schwelle gesetzt. Zwei Männer in Uniform standen hinter ihm. Ihjel warf sich auf sie und drängte sie so ungestüm zurück, dass sie übereinander zu Boden stürzten. Dann warf er die Tür ins Schloss und drehte den Schlüssel herum. „Ich muss mit Dir sprechen“, sagte er zu Brion. „Unter vier Augen und Ohren“, fügte er hinzu, beugte sich nach vorn und riss die Kabel der Haussprechanlage aus der Wand. „Verschwinde!“ forderte Brion ihn auf. „Wenn ich gesund genug wäre...“ „Nun, Du bist es aber nicht, deshalb bleibst Du besser still liegen und hörst mir zu. Ich nehme an, dass ich fünf Minuten Zeit habe, bevor sie die Tür aufbrechen. Willst Du mit mir einen anderen Planeten besuchen? Dort gibt es eine Aufgabe zu lösen; es ist meine Aufgabe, aber ich brauche Hilfe. Du bist der einzige, der mir dabei helfen kann.“ Er machte eine Pause. „So, jetzt kannst Du Dich weigern“, fügte er noch hinzu, als Brion den Mund zu einer Antwort öffnete. „Selbstverständlich weigere ich mich“, erwiderte Brion und ärgerte sich gleichzeitig darüber, dass der andere ihm diese Worte bereits in den Mund gelegt hatte. „Anvhar ist mein Heimatplanet – weshalb sollte ich ihn verlassen? Hier lebe und arbeite ich. Außerdem habe ich gerade die Spiele gewonnen, deshalb bin ich zum Bleiben geradezu verpflichtet.“ „Unsinn. Ich bin ein Sieger – und bin trotzdem fortgegangen. Was Du wirklich sagen wolltest ist, dass Du dich jetzt feiern lassen möchtest, nachdem Du Dich so angestrengt hast. Außerhalb weiß kein Mensch, was ein Sieger ist – und respektiert ihn deshalb auch keineswegs. Dort draußen musst Du dem Universum gegenübertreten und ich verstehe recht gut, dass Du Angst davor hast.“ 4
Irgend jemand klopfte laut gegen die Tür. „Ich bin nicht kräftig genug, um mich aufzuregen“, meinte Brion mit heiserer Stimme. „Aber ich kann mich bestimmt nicht für Deine Ideen begeistern, wenn sie Dir gestatten, dass Du einen Kranken beleidigst, der sich nicht wehren kann.“ „Tut mir leid“, gab Ihjel zurück, ohne dass seine Stimme dabei überzeugend geklungen hätte. „Aber die Probleme, um die es sich hierbei handelt, sind wichtiger als Deine verletzten Gefühle. Wir haben nicht mehr sehr viel Zeit, deshalb möchte ich Dich mit einer Idee vertraut machen.“ „Mit einer Idee, die mich dazu bringt, dass ich Anvhar verlasse? Dann erwartest Du aber verdammt viel!“ „Nein, die Idee allein wird Dich ganz bestimmt nicht überzeugen – aber Du wirst darüber nachdenken, bis Du ebenfalls meiner Meinung bist. Wenn Du Dich wirklich damit befasst, wirst Du feststellen, dass sie einige Deiner Illusionen zerstört. Wie alle anderen Bewohner von Anvhar bist Du ein wissenschaftlicher Humanist, der fest von dem erzieherischen Wert der Spiele überzeugt ist. Ihr alle habt noch nie einen Gedanken an die unzähligen Milliarden verschwendet, die ein miserables Leben führen mussten, damit ihr heute ein so bequemes Leben führen könnt. Hast Du schon jemals an die Menschen gedacht, die elend verkommen mussten, damit unsere Zivilisation wieder eine Stufe weiter rücken konnte?“ „Selbstverständlich gebe ich mich damit nicht ab“, antwortete Brion. „Weshalb auch? Kann ich die Vergangenheit etwa heute noch ändern?“ „Aber Du kannst die Zukunft ändern!“ stellte Ihjel fest. „Du bist es Deinen Vorfahren sogar schuldig, ohne die Du heute noch nicht so weit wärst. Wenn der wissenschaftliche Humanist für Dich mehr als ein bloßes Schlagwort bedeutet, musst Du ein gewisses Verantwortungsbewusstsein besitzen. Möchtest Du nicht einen Teil dieser Schuld zurückzahlen, indem Du anderen hilfst, die heute noch so primitiv sind und unterentwickelt leben, wie Urgroßvater Höhlenmensch gelebt hat?“ Das Klopfen an der Tür wurde lauter. Brion zuckte bei jedem Schlag sichtlich zusammen. „Im Grunde genommen bin ich selbstverständlich deiner Meinung“, stimmte er zögernd zu. „Aber Du weißt, dass eine logische Entscheidung ohne persönlichen Einsatz fast wertlos ist.“ „Dann haben wir den Kern der Sache bereits erreicht“, meinte Ihjel bedächtig. Er stemmte sich mit dem Rücken gegen die Tür, die jetzt von draußen mit einem schweren Gegenstand bearbeitet wurde. „Es scheint ernst zu werden, deshalb muss ich mich beeilen. Ich habe keine Zeit zu langen Erläuterungen, aber ich gebe Dir mein Wort als Sieger, dass Du wirklich entscheidend helfen kannst. Nur Du – kein anderer. Wenn Du mir hilfst, können wir vielleicht sieben Millionen Menschen retten. Das ist eine Tatsache.“ Das Schloss gab nach und die Tür öffnete sich einen Spalt breit. Ihjel drückte sie noch einmal zu. „Hier ist die Idee, über die Du nachdenken sollst. Warum sollten ausgerechnet nur die Menschen auf Anvhar ihre gesamte Existenz mit komplizierten Spielen zu rechtfertigen versuchen, obwohl das Universum voll kriegerischer und unterentwickelter Planeten ist?“
3 Diesmal konnte er die Tür nicht mehr zuhalten. Ihjel versuchte es nicht einmal. Er trat einen Schritt zur Seite und zwei Männer stolperten in den Raum. Dann ging er wortlos hinaus. „Was war hier los? Was hat er getan?“ erkundigte sich der Arzt aufgeregt, als er den Raum betrat. Er warf einen besorgten Blick auf die Messgeräte vor Brions Bett. Atmung, Körpertemperatur, Herztätigkeit, Blutdruck – alles normal. Der Patient starrte zur Decke hinauf und antwortete nicht. Während der nächsten Stunden dachte Brion intensiv nach. Das war nicht leicht, denn er stand unter dem Einfluss zahlreicher Medikamente und Beruhigungsmittel, die seinen Kontakt mit der Wirklichkeit schwächten. Aber trotzdem kam er nicht zur Ruhe. Was hatte Ihjel nur sagen wollen? Was war das für ein Unsinn über Anvhar gewesen? Anvhar war eben so, weil – nun, es war einmal nicht anders. Das Ergebnis einer natürlichen Entwicklung. Oder etwa nicht? Der Planet hatte eine sehr nüchterne Vergangenheit. Von Anfang an hatte es dort nichts gegeben, was das Interesse von Händlern hätte erregen können. Anvhar lag weitab von allen interstellaren Handelsrouten und besaß keine Mineralien, die einen Abbau und den Transport zu anderen Welten gelohnt hätten. Die Pelztierjagd erwies sich zwar als gewinnbringend, wurde aber als Sport betrieben. Deshalb war der Planet nie richtig besiedelt, sondern immer nur von wissenschaftlichen Forschungsgruppen aufgesucht worden, die dort Beobachtungsstationen einrichteten. Im Laufe der Zeit waren aus diesen Stationen kleinere Siedlungen geworden, weil die Wissenschaftler ihre Familien nachkommen ließen. Einige der Pelztierjäger hatten sich in diesen Siedlungen niedergelassen und so die Bevölkerung vermehrt. Das waren die ersten Anfänge gewesen. Aus dieser Zeit existieren keine zuverlässigen Berichte. So dass die ersten sechs Jahrhunderte der Geschichte von Anvhar mehr auf Vermutungen als auf Tatsachen beruhten. Zu dieser Zeit ereignete sich der Zusammenbruch der Weltföderation, die von der Erde aus regiert worden war. Als dies geschah, stellten die Wissenschaftler fest, dass sie Institutionen vertraten, die nicht mehr existieren. Die Jäger konnten ihre Pelze nicht mehr verkaufen, weil Anvhar über keine eigenen Raumschiffe verfügte. Allerdings hatte der Zusammenbruch keine unmittelbaren Auswirkungen auf Anvhar, denn der Planet war schon immer völlig autark gewesen. Als die Bewohner sich erst einmal mit dem Gedanken vertraut gemacht hatten, dass sie jetzt über einen souveränen Planeten herrschen, anstatt nur zu Besuch auf Anvhar zu sein, verlief das Leben wie gewöhnlich weiter. Nicht leicht – auf Anvhar ist das Leben auf keinen Fall leicht – aber immerhin ohne wesentliche Veränderungen an der Oberfläche. 5
Die Vorstellungen und Ideale der Menschen unterlagen jedoch einem gewissen Wandel. Zahlreiche Versuche wurden unternommen, um eine stabile Gesellschaftsordnung zu schaffen. Auch darüber gab es keine zuverlässigen Berichte. Bekannt war nur, dass schließlich die Spiele ins Leben gerufen wurden. Um die Spiele zu verstehen, muss man etwas über die ungewöhnlichen Umlaufbahnen wissen, die Anvhar um seine Sonne – 70 Ophiuchi – beschreibt. Dieses System enthält mehrere Planeten, die alle mehr oder weniger eine ellipsenförmige Bahn einhalten. Anvhar ist offensichtlich eine Ausnahme, wahrscheinlich der eingefangene Planet einer anderen Sonne. Das Jahr auf Anvhar dauert 780 Tage, aber während siebenhundert Tagen ist der Planet weit von seiner Sonne entfernt, dass auf ihm tiefster Winter herrscht. Der kurze Sommer, der nur achtzig Tage dauert, ist dafür ungewöhnlich heiß. Dieser verblüffende Wechsel hat in den hier auftretenden Lebensformen Veränderungen hervorgerufen, mit deren Hilfe sie die Temperaturwechsel überstehen. Fast alle Tiere halten einen Winterschlaf, die Pflanzen überleben als Samen oder Sporen. Einige pflanzenfressende Tiere leben auch im Winter in dem mit Schnee bedeckten tropischen Gürtel und dienen damit den Raubtieren als Nahrung. Aber trotzdem ist der Winter im Vergleich zum Sommer eine überaus friedliche Jahreszeit. Die Menschen gewöhnten sich daran, dass sie während des langen Winters von Säufern und Schlägern umgeben waren und von Mördern terrorisiert wurden. Erst die Spiele setzten dem ein Ende. Als sie Bestandteil des täglichen Lebens wurden, spielte der Sommer nur noch die Rolle einer Zwangspause zwischen den Spielen. Die Spiele waren mehr als nur ein Wettbewerb – sie erfüllten sämtliche körperlichen und geistigen Bedürfnisse der Bewohner dieses ungewöhnlichen Planeten. Sie waren ein Zehnkampf – oder vielmehr ein Zwanzigkampf – in höchster Potenz, in dem Schach und Sonetteschreiben ebenso bewertet wurden wie Skispringen und Bogenschießen. Alljährlich wurden zwei getrennte Wettkämpfe veranstaltet, einer für Männer, der andere für Frauen. Diese Trennung beruhte nicht auf veralteten Vorurteilen, sondern war das logische Ergebnis offenbarer Tatsachen. Angeborene Unterschiede zwischen den Geschlechtern machten einen fairen Wettstreit unmöglich - zum Beispiel hätte eine Frau nie das große Schachturnier gewinnen können. Und dieser Tatsache wurde Rechnung getragen. Jeder Mann und jede Frau konnte sich zu den Spielen anmelden und Jahr für Jahr daran teilnehmen. Wenn der Beste siegte, war er wirklich der beste Wettkämpfer gewesen. Ein kompliziertes System aus Zwischenentscheidungen ließ die Teilnehmer und Kampfrichter den ganzen Winter hindurch kaum zu Atem kommen. Auf diese Vorentscheidungen folgte die letzte Phase der Spiele, die einen ganzen Monat lang dauerte. Dann stand ein einzelner Sieger fest, dem auch der Titel Sieger verliehen wurde. Der Mann - und die Frau - blieb bis zum nächsten Jahr eine Art ungekrönter König. Sieger. Das war ein Titel auf den man mit Recht stolz sein durfte. Brion drehte sich mühsam auf eine Seite, bis er zum Fenster hinaussehen konnte. Sieger von Anvhar. Sein Name würde in den Geschichtsbüchern stehen, denn nun gehörte auch er zu den wenigen Helden, die dieser Planet aufzuweisen hatte. Die Schulkinder würden Einzelheiten seiner Lebensgeschichte lernen, wie sie zuvor die der anderen Sieger gelernt hatten. Sie würden träumerisch an den Tag denken, an dem auch sie vielleicht aus den Spielen als Sieger hervorgehen würden. Ein Sieger zu sein, war die höchste Ehre des Universums. Draußen durchdrang die schwache Nachmittagssonne kaum den leichten Wolkenschleier am Himmel. Die weiten, mit Eis bedeckten Ebenen sogen das Licht auf und reflektierten nur einen Bruchteil davon. Ein einsamer Skiläufer zog dort seine Spur. Alles andere war zu Eis erstarrt. Brion erkannte plötzlich mit erschreckender Klarheit, dass es wirklich nichts bedeutete, ein Sieger zu sein. Als ob man der beste Floh geworden wäre - unter allen anderen Flöhen auf einem einzigen Hund. Was war denn schon Anvhar? Ein eisbedeckter Planet, der von einigen Millionen menschlicher Flöhe bewohnt wurde, um die sich niemand in der gesamten Galaxis kümmerte. Hier gab es nichts, worum es sich zu kämpfen gelohnt hätte; die nach dem Zusammenbruch aufgeflammten Kriege hatten den Planten nicht berührt. Die Anvharianer waren auf diese Tatsache immer stolz gewesen - als könne man stolz darauf sein, dass man selbst so unbedeutend war, dass niemand auch nur den Wunsch verspürte, ihnen einen Besuch abzustatten. Alle anderen von Menschen besiedelten Planeten entwickelten sich, kämpften, gewannen, verloren, veränderten sich. Nur auf Anvhar wiederholte sich das Leben in einem stets gleichbleibenden Rhythmus... Brions Augen waren feucht geworden, er fuhr sich mit der Hand darüber. Tränen! Diese unglaubliche Tatsache ließ ihn das Selbstmitleid vergessen und erfüllte ihn gleichzeitig mit Angst. Hatten die Spiele ihn doch mehr mitgenommen, als er gedacht hätte? Mitleid mit sich selbst hatte ihm bestimmt nicht den Sieg in den Spielen gebracht - weshalb empfand er es dann jetzt? Anvhar war seine Welt - warum sollte er sich nun einbilden, der Planet liege einsam und isoliert am äußersten Rand des Universums? Was war die Ursache für diesen plötzlichen Sinneswandel? Während er über diese Frage nach dachte, fand er bereits die Antwort darauf. Sieger Ihjel. Der Dicke mit den merkwürdigen Ansichten und den bohrenden Fragen. Hatte er Brion verzaubert - wie die Hexe im Märchen? Nein, das war ein lächerlicher Gedanke. Aber er hatte trotzdem etwas getan. Vielleicht nur eine Idee erläutert, während Brions Widerstandskraft geschwächt war. Brion konnte seinen Verdacht nicht begründen, glaubte aber sicher zu wissen, dass Ihjel an seinem Dilemma schuld war. Er stieß einen leisen Pfiff aus und der wieder reparierte Lautsprecher unter dem Fernsehschirm klirrte. Die diensthabende Krankenschwester erschien auf dem Bildschirm. „Schwester, wissen Sie, wo der Mann ist, der heute bei mir war?“ fragte Brion. „Sieger Ihjel. Ich muss mit ihm sprechen.“ Die Schwester schwieg einen Augenblick verwirrt, dann entschuldigte sie sich hastig und schaltete das Gerät aus. Als der Bildschirm wieder aufleuchtete, hatte ein uniformierter Wachposten ihre Stelle eingenommen. „Sie haben sich nach Sieger Ihjel erkundigt“, sagte der Mann. „Er wird hier im Krankenhaus festgehalten, nachdem er gewaltsam bei Ihnen eingedrungen ist.“ 6
„Ich habe ihm nichts vorzuwerfen. Wollen Sie dafür sorgen, dass er mich sofort aufsucht?“ Der Posten beherrschte sich nur mühsam. „Tut mir leid, Sieger - das kann ich unmöglich. Dr. Chaulry hat ausdrücklich befohlen, dass Sie auf keinen Fall...“ „Dr. Chaulry kann mir mein Privatleben nicht vorschreiben“, unterbrach ihn Brion. „Schließlich leide ich nicht an einer ansteckenden Krankheit, sondern bin nur ein bisschen erschöpft. Ich will Ihjel sprechen. Sofort.“ Der Uniformierte holte tief Luft, fand sich aber doch in das Unvermeidliche „Gut, ich werde ihn benachrichtigen.“ „Was hast Du mit mir angestellt?“ fragte Brion, als er mit Ihjel allein war. „Du willst doch nicht etwa bestreiten, dass Du mir diese komischen Gedanken in den Kopf gesetzt hast?“ „Nein, das leugne ich keineswegs ab. Schließlich bin ich einzig und allein hier, um Dir diese >komischen< Gedanken näher zu bringen. „Ich möchte wissen, wie Du das fertiggebracht hast“, drängte Brion. „Ich muss es wissen.“ „Ich werde es Dir erklären - aber Du musst noch ein paar andere Dinge begreifen, bevor Du Dich dafür entscheidest, dass Du Anvhar verlassen willst. Du darfst sie Dir nicht nur anhören, sondern musst auch daran glauben. Zunächst - und das ist der Schlüssel zu allem anderen - brauchst Du Klarheit über das Leben, das wir hier gewöhnt sind. Wie sind Deiner Meinung nach die Spiele entstanden?“ Bevor er antwortete, nahm Brion eine doppelte Dosis des milden Anregungsmittels, das ihm der Arzt verschrieben hatte. „In diesem Punkt habe ich keine Meinung, sondern kann mich auf Tatsachen stützen“, gab er zurück. „Der Beginn lässt sich eindeutig festlegen. Der Gründer der Spiele hieß Giroldi, die ersten Wettkämpfe fanden im Jahre 378 statt. Seitdem wurden die Spiele regelmäßig jedes Jahr veranstaltet. Zu Anfang fanden sich nur wenige Teilnehmer, aber im Laufe der Jahre beteiligten sich immer mehr Männer und Frauen daran.“ „Richtig“, bestätigte Ihjel. „Aber Du hast eben beschrieben, was geschah. Ich habe dich gefragt, wie es zu den Spielen kam. Wie kommt es, dass ein einzelner Mann einen ganzen Planeten, der von halbverrückten Jägern und ständig alkoholisierten Farmern bewohnt wird, in ein Musterbeispiel für eine tadellos funktionierende Gesellschaftsordnung verwandeln kann, die auf den Spielen basiert? Klingt das nicht reichlich unwahrscheinlich?“ „Er hat es aber geschafft!“ widersprach Brion. „Das kannst Du nicht bestreiten. Und die Spiele sind keine Einrichtung, die den Menschen aufgezwungen wurde. Im Gegenteil, auf einem Planeten wie dem unseren sind sie aus logischen Gründen erforderlich.“ Ihjel lachte ironisch. „Sehr logisch“, meinte er, „aber wie oft passiert es Deiner Meinung nach, dass Regierungen oder Gesellschaftsgruppen logische Entscheidungen treffen? Du denkst nicht richtig nach. Versetze Dich doch einmal in Giroldis Lage. Stelle Dir vor, dass Du die Spiele >erfunden< hast. Dann besteht Deine nächste Aufgabe darin, dass Du die anderen von dieser Idee überzeugst. Folglich näherst Du Dich bescheiden dem nächsten verlausten, grobschlächtigen, abergläubischen und trinkfesten Jäger, um ihn zu überzeugen. Du machst ihm klar, dass Dinge wie Sonetteschreiben oder Schach sein Leben interessanter und lebenswerter machen könnten. Du darfst es ruhig versuchen - halte aber die Augen offen und nimm Dich vor seinen Fäusten in acht!“ Selbst Brion musste über diesen absurden Vorschlag lachen. Nein, so konnte es nicht gewesen sein. Aber trotzdem musste es eine einleuchtende Erklärung dafür geben. „Wir könnten uns noch lange darüber unterhalten“, fuhr lhjel fort, „aber Du würdest nie auf die richtige Spur kommen, wenn ich...“ Er brach mitten im Satz ab und starrt zu dem Fernsehschirm hinüber. Eine grüne Lampe leuchtete auf und zeigte an, dass das Gerät sich in Betrieb befand obwohl der Schirm dunkel geblieben war. Ihjel griff nach dem Kabel, das erst vor kurzer Zeit ersetzt worden war und riss es aus der Wand. „Dein Onkel Doktor ist ziemlich neugierig“, stellte er fest. „Die Wahrheit über die Spiele geht ihn nichts an. Wohl aber Dich! Du musst allmählich einsehen, dass Du ein Leben führst, das von Soziologen geplant und durchgesetzt wurde.“ „Unsinn!“ warf Brion ein. „Man kann doch nicht einfach ein Gesellschaftssystem erfinden und es dann den Leuten aufzwingen. Jedenfalls nicht, ohne auf entschiedenen Widerstand zu stoßen und Blutvergießen hervorzurufen.“ „Selbst Unsinn“, erwiderte Ihjel. „In früheren Zeiten mag das so gewesen sein, aber heutzutage ist alles anders Du hast zu viele Geschichtsbücher gelesen, deshalb glaubst Du, wir befänden uns noch immer im finstersten Mittelalter. Weil Faschismus und Kommunismus den Menschen aufgezwungen werden mussten, bist Du davon überzeugt das müsse immer so sein. Du musst Deine Bücher genauer lesen. Dann wirst Du ohne Zweifel feststellen, dass zur selben Zeit auf der Erde in Indien die Demokratie eingeführt wurde, ohne dass es zu größeren Kämpfen gekommen wäre. Die Menschheit lebt von dem ständigen Wechsel, der ihr neue Dinge beschert, die nach einiger Zeit allgemein anerkannt werden. Und eine dieser neuen Erfindungen ist der Versuch, die bestehenden Gesellschaftsordnungen so zu verändern, dass sie den Menschen nützlicher sind.“ „Der Götterkomplex“, stellte Brion fest. „Die Menschen werden in eine Lebensform gezwängt. Ob es ihnen passt oder nicht, interessiert dabei niemanden.“ „Das kann unter Umständen der Fall sein“, stimmte Ihjel zu. „Zu Anfang scheiterten einige Versuche, weil die Menschen sich an eine Ordnung gewöhnen sollten, die nicht für ihre Bedürfnisse und Wünsche geschaffen war. Aber nicht alle Experimente dieser Art schlugen fehl - Anvhar ist das beste Beispiel dafür, wie erfolgreich diese Methode sein kann, wenn sie richtig angewendet wird. Allerdings ist diese Art unterdessen überholt, denn wir haben Mittel und Wege entdeckt, die zu dem gleichen Ziel führen. Wir versuchen fremde Kulturen nicht mehr auf ein bestimmtes Ziel hinzuführen, weil wir nicht immer entscheiden können, welche Ziele sich am Besten eignen. Statt dessen bemühen wir uns, bestehende Entwicklungen gegen äußere Einflüsse abzuschirmen und stagnierenden Kulturen neue Impulse zu geben. Als damals Anvhar an der Reihe war, befand sich die Methode erst im Entwicklungsstadium. Die ziemlich komplizierte Bestimmung der Eigenschaften, nach denen eine Kultur in eine der Klassen zwischen 1 und 5 eingeteilt wird, war damals noch nicht anwendungsreif. Früher entwickelte man einfach eine Gesellschaftsordnung, die höchstwahrscheinlich den Bedürfnissen des jeweiligen Planeten entsprach, und brachte die Menschen dazu, dass sie 7
sich daran hielten.“ Wie lässt sich das durchführen?“ erkundigte sich Brion. „Du machst allmählich Fortschritte - Du fragst schon >wie<. Die hier angewandte Methode erforderte eine große Anzahl von Mitarbeitern und einen beträchtlichen finanziellen Aufwand. Zunächst wurde das Ehrgefühl der Menschen so sehr bestärkt, dass die Duelle zunahmen, wodurch das allgemeine Interesse an jeder Art von Selbstverteidigung stieg. Dann tauchte plötzlich Giroldi auf, der den Menschen zeigte, dass organisierte Wettkämpfe zufälligen Begegnungen vorzuziehen waren. Alle übrigen Disziplinen der Spiele waren nicht so leicht einzuführen, aber auch dieses Hindernis wurde nach einiger Zeit überwunden. Einzelheiten brauchen uns nicht zu interessieren; wir beschäftigen uns nur mit dem Endprodukt. Und das bist Du. Wir brauchen Dich. Sehr sogar.“ „Warum ausgerechnet mich?“ fragte Brion. „Weil ich die Spiele gewonnen habe? Das kann ich nicht glauben. Objektiv gesehen besteht nur ein äußerst geringer Unterschied zwischen mir und den nächsten zehn nach mir. Warum wendet ihr Euch nicht an einen von ihnen? Die anderen wären der Aufgabe ebenso gut gewachsen.“ „Nein, das wären sie nicht. Ich werde Dir später erklären, warum ich nur Dich gebrauchen kann. Aber wir haben nicht mehr sehr viel Zeit, deshalb muss ich Dich so bald wie möglich überzeugen.“ Ihjel warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Nicht mehr ganz drei Stunden. In dieser Zeit muss ich Dir genügend von unserer Arbeit erklärt haben, dass Du in der Lage bist, Dich dafür zu entscheiden ob Du freiwillig für uns tätig sein willst.“ „Ein ehrgeiziges Vorhaben“, meinte Brion. „Du könntest mir vor allem zuerst erklären, wer oder was hinter diesem >wir< steht, das Du ständig benutzt.“ „Die Gesellschaft für kulturelle Beziehungen. Eine private Organisation, die sich das Ziel gesetzt hat, für das Wohl unabhängiger Planeten zu sorgen, damit alle friedlich miteinander leben und Handel treiben können.“ „Klingt wie ein Zitat“, stellte Brion fest. „Kein Mensch kann einen Satz dieser Art ohne längeres Nachdenken von sich geben.“ „Ich habe zitiert - aus der Satzung der Gesellschaft. Das klingt alles ganz schön und gut, aber im Augenblick befassen wir uns mit speziellen Problemen. Mit Dir. Du bist das Erzeugnis einer straff organisierten und sehr fortgeschrittenen Gesellschaft. Deine Erziehung war von Anfang an nicht schlecht, aber dadurch, dass Du an den Spielen teilgenommen hast, ist sie notwendigerweise erstklassig geworden. Du hättest Dein ganzes Leben vergeudet, wenn Du Dich jetzt mit Deinen Kenntnissen auf eine Farm zurückziehen würdest.“ „Halt, nicht so voreilig! Ich wollte . . .“ „Du musst Anvhar einfach vergessen!“ unterbrach ihn Ihjel. „Dieser nette kleine Planet kann recht gut ohne Deine geschätzte Anwesenheit auskommen. Du darfst nicht mehr an Anvhar denken, sondern solltest Dich eher mit den Millionen von Menschen beschäftigen, die elend dahinvegetieren. Du musst Dir Gedanken darüber machen, wie Du ihnen helfen kannst.“ „Aber was kann ich für sie tun - als einzelner Mensch? Die Zeiten sind längst vergangen, in denen ein Mann wie Alexander oder Cäsar allein die Welt verändern konnte.“ „Wahr - und doch nicht wahr“, sagte Ihjel. „Schließlich wird es immer Fälle geben, in denen ein einziger Mensch eine Reaktion auslösen kann - wie ein Katalysator, der einen chemischen Prozess in Gang bringt oder zumindest beschleunigt. Du könntest einer dieser Menschen sein, aber ich will Dir ganz ehrlich sagen, dass ich vorläufig noch nicht beurteilen kann, wie groß Deine Erfolgsaussichten in dieser Richtung sind. Deshalb werde ich mich darauf beschränken, an dein Verantwortungsbewusstsein zu appellieren.“ „Wem gegenüber sollte ich dieses Verantwortungsbewusstsein empfinden?“ „Der Menschheit gegenüber - den Milliarden von Menschen vor Dir, die alles das geschaffen haben, was das Leben Dir heute bietet. Was sie Dir gegeben haben, musst Du an andere weitergeben.“ „Einverstanden. Dein Argument klingt durchaus einleuchtend, aber trotzdem ist es nicht gut genug, um mich innerhalb der nächsten drei Stunden aus dem Bett zu bringen.“ „Gar nicht schlecht“, meinte Ihjel zufrieden. „Du findest meine Auffassung wenigstens nicht völlig unsinnig. Jetzt müssen wir sie nur noch auf Dich anwenden. Ich werde Dir folgende Behauptung zu beweisen versuchen: Es gibt einen Planeten mit einer Bevölkerung von sieben Millionen. Dieser Planet wird in absehbarer Zeit völlig zerstört werden, falls ich es nicht verhindern kann. Das ist meine Aufgabe, deshalb bin ich auf dem Weg dorthin. Ich kann den Auftrag nicht allein durchführen, deshalb bin ich auf Dich angewiesen. Nur auf Dich - nicht auf einen anderen, der Dir ähnlich ist.“ „Du hast nur noch sehr wenig Zeit, um mir alles das zu beweisen“, sagte Brion, „deshalb möchte ich Dir Deine Aufgabe etwas erleichtern. Deine Arbeit, dieser Planet, die Menschen in Gefahr - das alles sind Tatsachen, die Du ohne Zweifel belegen kannst. Ich riskiere einfach, dass Du mir einen Bären aufgebunden hast, und nehme an, dass Du mir alles hättest beweisen können, wenn Du mehr Zeit gehabt hättest. Damit wären wir wieder am Ausgangspunkt angelangt. Wie willst Du mich davon überzeugen, dass ich der einzige Mensch in der gesamten Galaxis bin, der Dir helfen kann?“ „Ich brauche Dich nur auf Deine einzigartige Fähigkeit hinzuweisen, wegen der ich überhaupt hier bin.“ „Fähigkeit? Ich unterscheide mich in keiner Weise von allen anderen Menschen auf Anvhar.“ „Das ist ein Irrtum“, widersprach Ihjel. „Im Gegenteil, Du bist der lebende Beweis für eine fortgeschrittene Evolution. Jede Rasse - die Menschheit eingeschlossen - bringt einzelne Wesen hervor, die auf bestimmten Gebieten außerordentlich begabt sind. Ich habe die Entwicklung in den letzten Jahrzehnten zurückverfolgt, aber Du bist tatsächlich der einzige Empath, der in dieser Zeit geboren wurde.“ „Was ist eigentlich ein Empath - und wie erkennt man einen, wenn man ihn gefunden hat?“ Brion lachte vor sich hin, als habe er einen guten Witz gemacht. „Ich kann einen Empathen erkennen, weil ich selbst einer bin - das ist die einzige Möglichkeit. Ein Beispiel dafür, wie projizierte Empathie funktioniert, hast Du am eigenen Leib verspürt, als Du diese merkwürdigen Gedanken über 8
Anvhar hattest. Es wird lange dauern, bis Du diese Technik ebenfalls beherrschst, aber rezeptive Empathie ist Dir angeboren. Du versetzt Dich damit in die Gedankenwelt eines anderen Menschen. Dieser Vorgang ist allerdings nicht mit Gedankenübertragung zu verwechseln, denn ein Empath spürt die Gefühle und Gemütsbewegungen seines Gegenübers. Einen ausgebildeten Empathen kann man nicht belügen, weil er die wirkliche Haltung spürt, die sich hinter den Worten verbirgt. Selbst Dein vor läufig noch unausgebildetes Talent hat sich in den Spielen als äußerst nützlich erwiesen. Du konntest Deine Gegner besiegen, weil Du jede ihrer Bewegungen bereits im Voraus ahntest. Diese Fähigkeit hast Du als natürlich hingenommen. „Woher weißt Du das?“ fragte Brion überrascht. Ihjel lächelte. „Ich habe es eben erraten. Du wirst Dich daran erinnern, dass ich auch einmal die Spiele gewonnen habe, ohne damals eine Ahnung von Empathie zu haben. Damit wären wir wieder bei dem Beweis angelangt, den ich noch zu führen habe, damit Du endlich überzeugt bist. Ich glaube, dass Du der einzige Mensch bist, der mir helfen kann - und in dieser Beziehung kann ich nicht lügen. Man kann einen Glauben vortäuschen, kann ihn mit falschen Angaben untermauern, oder sogar davon abkommen und einen anderen annehmen. Aber man kann sich nicht selbst anlügen. Und was genauso wichtig ist - man kann einem Empathen gegenüber seine Überzeugung nicht anders darstellen, als sie wirklich ist. Möchtest Du sehen, was ich über das alles denke? >Sehen< ist ein schlechter Ausdruck dafür - aber für dieses Gebiet gibt es noch keinen speziellen Wortschatz. Sagen wir lieber, möchtest Du meine Gefühle teilen? Möchtest Du meine Vorstellungen und Erinnerungen so spüren, wie ich sie spüre?“ Brion wollte protestieren, aber dafür war es bereits zu spät. Er erlag dem Ansturm der Vorstellungen, die über ihn hereinbrachen. „Dis...“ sagte Ihjel laut. „Sieben Millionen Bewohner... Wasserstoffbomben... Brion Brand.“ Das waren nur Schlüsselworte, aber bei jedem Begriff spürte Brion deutlich, welche Vorstellungen Ihjel damit verband. Hier konnte niemand mehr lügen - in diesem Punkt hatte Ihjel recht. Das waren tiefgehende, grundlegende Empfindungen, unverfälschte Reaktionen auf Dinge und Symbole in dem Gedächtnis eines Menschen. DIS... das war ein Wort, das war ein Planet und das Wort dröhnte wie eine Glocke und es klang wie ein gewaltiger Donner und war eine Wüste ein Planet des Todes. Eine Welt, auf der Leben Tod bedeutete und Sterben viel besser war als das Leben. Grausamer, barbarischer, unterentwickelter, elender, unglaublich schmutziger Planet. DIS. Wüste, glühend heißer Sand und Menschen so primitiv, schmutzig, barbarisch, zurückgeblieben. Aber sie alle würden kurze Zeit später tot sein und dann waren sie tot und sieben Millionen verkohlter Leichen würden in allen Träumen erscheinen und sie für immer zur Hölle machen. Denn Wasserstoffbomben lagen bereit um sie alle zu töten falls... falls... falls Du Ihjel nicht rechtzeitig eingreifst. Du kannst es nicht allein schaffen. Du bist auf Unterstützung angewiesen von BRION BRAND. Brion Brand muss Dir helfen. Er ist der einzige Mensch in der gesamten Galaxis der die gestellte unendlich komplizierte Aufgabe fortführen kann... Als der Ansturm von lhjels Vorstellungen nachließ und schließlich völlig aussetzte, lag Brion nach Atem ringend in seine Kissen gelehnt und war von Kopf bis Fuß in Schweiß gebadet; Ihjel saß unbeweglich neben ihm und stützte den Kopf in die Hände. Dann sah er Brion wortlos an, und Brion erkannte in den Augen des anderen einen Schatten der abgrundtiefen Dunkelheit, die er noch vor Sekunden selbst empfunden hatte. „Tod“, sagte Brion unsicher. „Dieses schreckliche Gefühl, dass der Tod unmittelbar bevorsteht. Es handelte sich nicht um den Tod der Menschen von Dis, sondern um eine sehr persönliche Empfindung.“ „Um mich“, antwortete Ihjel, und hinter diesen beiden kurzen Wörtern verbarg sich die Nacht, die jetzt auch Brion zugänglich sein würde. „Um meinen eigenen Tod, der nicht mehr sehr Weit entfernt sein kann. Das ist der schreckliche Preis, den wir für unsere einmalige Begabung zahlen müssen. Angst und Empathie sind untrennbar miteinander verbunden. Der Tod ist so entscheidend und endgültig, dass er die Grenzen von Raum und Zeit durchdringt. Je mehr ich mich diesem Endpunkt nähere, desto deutlicher spüre ich, dass ich ihn bald erreicht haben werde. Allerdings kann ich den Tag nicht genau festlegen, sondern nur ungefähr einen Zeitpunkt vermuten. Das ist das Schreckliche daran. Ich weiß nur, dass ich bald sterben werde, nachdem ich auf Dis angekommen bin - lange bevor ich meine Aufgabe dort gelöst habe. Ich weiß, welche Arbeit dort zu leisten ist, und ich weiß auch, wie viele Männer dabei bereits versagt haben. Außerdem weiß ich, dass Du der einzige Mensch bist, der meine Arbeit fortführen kann, nachdem ich sie begonnen habe. Hast Du das alles verstanden? Willst Du mich begleiten?“ „Ja, selbstverständlich“, gab Brion zurück. „Ich komme mit.“
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„Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, der sich so ärgerte wie dieser Arzt“, stellte Brion lachend fest. „Kein Wunder.“ Ihjel lehnte sich in seinen Sessel zurück, von dem aus er eine verschlüsselte Unterhaltung mit dem Computer des Raumschiffs führte. Er drückte einige Tasten nieder und las die Antwort von einem Bildschirm ab. „Schließlich hast Du ihm um das größte Erlebnis seines Lebens gebracht. Wie oft wird er wohl noch die Chance haben, einen Sieger der Spiele zu kurieren?“ „Nicht sehr oft, schätze ich. Wirklich ein Wunder, dass Du ihn am Ende davon überzeugen konntest, dass Du genauso gut für mich sorgen würdest, wie er es in seinem Krankenhaus getan hätte.“ „Überzeugen hätte er sich nie lassen“, stellte Ihjel fest. „Aber die Gesellschaft für kulturelle Beziehungen verfügt über einigen Einfluss auf Anvhar. Ich muss zugeben, dass ich den guten Mann mehr oder weniger erpresst habe. Wir haben reichlich Zeit, aber ich persönlich möchte lieber in der Nähe des Ziels warten. Am Besten starten wir, nachdem das Stasisfeld den Minimalwert erreicht hat.“ Ein Feld dieser Art ist so undurchdringlich, dass weder Körper noch Geist eines darin befindlichen Menschen für äußere Eindrücke empfänglich sind. Im Innern des Feldes machen sich weder Gewicht, Andruck noch Schmerzen bemerkbar. Falls dieser Zustand nicht sehr lange andauert, wird auch das Zeitgefühl ausgeschaltet. Nach Brions Empfinden drückte Ihjel den Schalter herunter und sofort wieder nach oben in die Ausgangsstellung zurück. Das Raumschiff hatte sich nicht verändert, aber die Dunkelheit vor den Bullaugen war jetzt von roten Streifen durchzogen - ein Zeichen dafür, dass sie sich im Hyperraum befanden. „Wie fühlst Du Dich?“ fragte Ihjel. Das automatisierte Raumschiff hatte sich offensichtlich dieselbe Frage gestellt. Der Tastarm, der außerhalb des um Brion aufgebauten Stasisfeldes geblieben war, senkte sich und berührte sein Handgelenk. Der Arzt auf Anvhar hatte den Computer des Schiffs entsprechend programmiert. Brions Körperfunktionen wurden mit den errechneten Durchschnittswerten verglichen. Anscheinend war alles in bester Ordnung, denn die einzige Reaktion des Geräts bestand in der erwarteten Injektion von Traubenzucker und Vitaminen. „Ich kann nicht behaupten, dass es mir überragend gut geht“, antwortete Brion. „Aber jeden Tag wird es etwas besser - langsam, aber sicher.“ „Hoffentlich, denn wir brauchen etwa zwei Wochen, bis wir Dis erreicht haben. Glaubst Du, dass Du bis dahin wieder in Form bist?“ „Hm, das kann ich nicht versprechen“, meinte Brion und spannte prüfend die Armmuskeln. „Aber ich nehme es ziemlich sicher an. Morgen beginne ich mit leichten Übungen, um wieder in Schwung zu kommen. Schön - jetzt möchte ich, dass Du mir mehr über Dis und die Aufgabe erzählst, die uns dort erwartet.“ „Ich will mir eine Wiederholung sparen, deshalb musst Du Dich noch kurze Zeit gedulden. Wir nähern uns jetzt einem Treffpunkt, an dem wir einen weiteren Mitarbeiter aufnehmen sollen. Unser Team besteht aus drei Leuten - Du, ich und ein Exobiologe. Sobald er an Bord ist, werde ich Euch beide gemeinsam einweisen. Vorläufig kannst Du Dich nur mit der Lernmaschine beschäftigen, damit Du den eigenartigen Dialekt der Bewohner von Dis so schnell wie möglich beherrscht.“ Brion stellte schon nach kurzer Zeit fest, dass Grammatik und Wortschatz dieser Sprache keine großen Schwierigkeiten aufwiesen. Aber die Aussprache war nicht so leicht zu erlernen. Fast alle Endungen wurden verschluckt oder gingen in einer Art Gurgeln unter. Ihjel verließ die Kabine, als Brion seine Aussprache mit Hilfe eines Stimmspiegels zu korrigieren versuchte, und behauptete dabei, dass die schrecklichen Geräusche seiner Verdauung abträglich seien. Ihr Raumschiff raste weiterhin auf dem festgelegten Kurs durch den Hyperraum. Es hielt seine zerbrechliche menschliche Fracht warm, versorgte sie mit Essen und lieferte ihr atembare Luft. Es hatte den Auftrag, Brions Gesundheitszustand regelmäßig zu überprüfen, deshalb kontrollierte es ihn und verglich die Ergebnisse mit den angegebenen Werten. Ein anderer Teil des Computers zählte gleichmäßig eine Mikrosekunde nach der anderen ab und betätigte schließlich ein Relais, als die vorgeschriebene Anzahl verstrichen war. Eine Lampe blinkte auf, dann ertönte ein durchdringender Summer. Ihjel gähnte, legte den Bericht beiseite, mit dem er sich beschäftigt hatte, und ging wieder in die Steuerzentrale zurück. Er fuhr zusammen, als er an der Kabine vorbei kam, in der Brion sich ein Tonband mit dem Ergebnis seiner Bemühungen um richtige Aussprache anhörte. „He, Brion, langsam ist es Zeit, dass Du Deinen röchelnden Brontosaurier abstellst und Dich wieder anschnallst!“ rief er durch die dünne Tür. „Wir treten bald wieder in den Normalraum ein.“ Der menschliche Geist kann über die unendlichen Entfernungen zwischen den Sternen nachgrübeln, aber er wird sie nie richtig begreifen oder erfassen. Auf der Hand eines Mannes markiert, scheinen zehn Zentimeter eine beträchtliche Strecke zu sein. Im interstellaren Raum ist ein Würfel mit hunderttausend Kilometer Seitenlänge eine mikroskopisch kleine Einheit. Das Licht überwindet diese Entfernung in Bruchteilen von Sekunden. Für ein Raumschiff, das sich mit Überlichtgeschwindigkeit bewegt, ist der Würfel wesentlich kleiner. Theoretisch ist es unmöglich, einen bestimmten Raum mit diesen Ausmaßen genau anzusteuern. Technisch gesehen war es ein beliebig oft wiederholbares Wunder, das zu häufig war, um noch Interesse zu erwecken. Brion und Ihjel waren angeschnallt, als der Hyperantrieb plötzlich aussetzte, wodurch sie wieder in das normale Raum-Zeit-Kontinuum eintraten. Die beiden Männer lösten ihre Gurte noch nicht, sondern blieben ruhig sitzen und betrachteten die Sterne vor sich. Sie warteten, bis der Computer genügend Sterne anvisiert hatte, um daraus ihre genau Position im Raum zu errechnen. Ein Warnsignal ertönte, dann schaltete sich der Antrieb nochmals ein und so schnell wieder aus, dass inzwischen nur Hundertstelsekunden vergangen waren. Dies geschah noch zweimal, bis ihre Position so gut wie möglich bestimmt war. Dann leuchtete das Zeichen NAVIGATIONSANTRIEB AUS grün auf. Ihjel schnallte sich los, ging zum Kühlschrank hinüber und kam mit zwei Flaschen Bier zurück. 10
Ihjel hatte die zur Verfügung stehende Zeit sehr genau berechnet. Weniger als zehn Stunden nach ihrer Ankunft drang ein starkes Funksignal aus dem Empfänger. Sie schnallten sich wieder an, als das Zeichen NAVIGATIONSANTRIEB EIN rot aufleuchtete. Ein anderes Raumschiff war in verhältnismäßig geringer Entfernung in den Normalraum eingetreten und war dort nur lange genug geblieben, bis es ein Signal auf einer vereinbarten Frequenz ausgestrahlt hatte. Ihjels Schiff hatte den Empfang bestätigt. Daraufhin hatte das Passagierschiff eine Raumkapsel ausgestoßen und war wieder im Hyperraum verschwunden, um sein entferntes Ziel anzusteuern. Ihjels Schiff folgte dem Signal, das es empfangen hatte. Dieses Signal war auf Tonband aufgenommen und genauestens untersucht worden. Auftreffwinkel, Signalstärke und Polarisationsebene wurden zur Berechnung des Kurses und der Entfernung herangezogen. Wenige Minuten genügten, um das Schiff in die Nähe des schwächeren Senders der abgeworfenen Kapsel zu bringen. Eine Orientierung nach diesem Signal wäre so einfach, dass selbst ein menschlicher Pilot der Aufgabe gewachsen gewesen wäre. Die metallisch glänzende Kugel tauchte auf und verschwand wieder, als das Schiff sich um seine Längsachse drehte, um die Luftschleuse in die richtige Lage zu bringen. Der Verriegelungsmechanismus trat automatisch in Tätigkeit. „Du kannst gleich hinuntergehen und den Käferspezialisten hereinlassen“, sagte Ihjel. „Ich muss hier bleiben und die Instrumente überwachen.“ „Was habe ich dabei zu tun?“ „Zieh Dir einen Raumanzug an und öffne die Luftschleuse. Die Kapsel besteht zum größten Teil aus einer dünnen Metallfolie, deshalb brauchst Du nicht lange nach einem Eingang zu suchen. Du nimmst einfach den Öffner aus der Werkzeugkiste und schneidest damit ein Loch in die Außenwand. Nachdem Dr. Borriß an Bord ist, gibst Du dem Ding einen kräftigen Stoß. Aber vorher musst Du das Funkgerät herausholen, weil es sich wieder verwenden lässt.“ Das Werkzeug sah wie ein riesiger Büchsenöffner aus. Brion tastete die Folie ab, die sich über die Einstiegsluke spannte, um ganz sicherzugehen, dass niemand dahinter stand. Dann bohrte er ein Loch in die dünne Metallschicht und legte die Luke mit kräftigen Schnitten frei. Dr. Borriß zwängte sich rasch hindurch und stieß Brion beiseite. „Was ist denn los?“ fragte Brion. Der Raumanzug des anderen enthielt kein Funkgerät, deshalb konnte er nicht antworten. Aber er schüttelte wütend die Faust. Die Helmfenster waren angelaufen, so dass Brion den Gesichtsausdruck des anderen nicht deutlich erkennen konnte. Er zuckte mit den Schultern, holte das Funkgerät aus der Kapsel, gab ihr einen Stoß und verschloss die Luftschleuse. Als der Innendruck wieder normal war, nahm er seinen Helm ab und bedeutete dem anderen, dass er das gleiche tun dürfe. „Ihr seid alle ganz gemeine Schufte!“ sagte Dr. Borriß, als der Helm endlich ab war. Brion war völlig verblüfft. Dr. Jeannie Borriß hatte lange dunkle Haare, große Augen und einen fein geschwungenen Mund, der jetzt ärgerlich zusammengepresst war. Dr. Borriß war eine Frau. „Sind Sie der Kerl, der für diese Unverschämtheit verantwortlich ist?“ erkundigte Dr. Borriß sich drohend. „In der Steuerzentrale“, antwortete Brion rasch, denn er hatte erkannt, dass in diesem Fall Feigheit überflüssigem Heldenmut vorzuziehen war. „Ein Mann namens Ihjel. Er hat eine ganze Menge verabscheuungswürdiger Eigenschaften, Sie werden Ihren Spaß daran haben. Ich habe erst...“ Er brach mitten im Satz ab, denn sie hatte den Raum bereits verlassen. Brion rannte hinter ihr her, weil er sich ihren Auftritt nicht entgehen lassen wollte. „Entführt! Belogen, angeschwindelt und gegen meinen Willen dazu gezwungen! In der gesamten Galaxis gibt es kein Gericht, das Ihnen dafür nicht die Höchststrafe aufbrummt! Und ich werde danebenstehen und lachen, wenn Sie zu Einzelhaft ...“ „Warum haben sie mir ausgerechnet eine Frau geschickt?“ meinte Ihjel mit einem anklagenden Blick zur Decke. „Ich habe um einen erstklassigen Exobiologen für eine schwierige Aufgabe gebeten. Ein junger Mann, der an Strapazen gewöhnt ist, die unsere Arbeit mit sich bringt. Und was tut unser Anstellungsbüro? Sie schicken mir die kleinste Frau, die sie auftreiben können - ein zerbrechliches Wesen, das sich bereits im ersten Regen auflöst.“ „Nein, das stimmt nicht!“ widersprach Jeannie heftig. „Schließlich ist allgemein bekannt, dass Frauen viel aushalten, und ich bin zäher als alle anderen. Aber das hat nichts mit dem zu tun, was ich Ihnen noch sagen wollte. Ich habe einen Vertrag unterschrieben, in dem von einer Tätigkeit in einer Universität auf Mollers Welt die Rede war. Und dann erzählt mir dieser Trottel von Agent, dass mein Vertrag geändert worden ist - siehe Paragraph 189c oder ähnlichen Unsinn -, was nichts anderes bedeutet, als dass ich nicht das tun soll, wozu ich mich verpflichtet habe. Er stopft mich ohne viel Federlesens in diese komische Kugel und lässt mich darin über Bord werfen. Wenn das nicht ein Verstoß gegen sämtliche...“ „Berechne einen neuen Kurs, Brion“, warf Ihjel ein. „Wir müssen so schnell wie möglich den nächsten bewohnten Planeten erreichen, damit wir diese Dame dort absetzen und einen Mann für unsere Aufgabe finden können. Wir sind zwar auf dem Weg zu dem interessantesten Planeten, den ein Exobiologe sich überhaupt vorstellen kann, aber wir brauchen einen Mann, der Befehle annimmt und nicht gleich ohnmächtig wird, wenn nicht alles nach Wunsch geht.“ Brion wusste nicht, was er antworten sollte. Ihjel hatte bisher den Kurs festgelegt, und Brion hatte keine Ahnung, wie er sich dabei anstellen sollte. „Oh, nein“, sagte Jeannie. „So leicht werden Sie mich nicht los. Ich war die Beste in meinem Semester, und die übrigen 500 Studenten waren ausschließlich Männer. Das Universum wird nur von Männern beherrscht, weil die meisten Frauen nicht aggressiv genug sind, um sich dagegen zur Wehr zu setzen. Wie heißt eigentlich dieser paradiesische Planet, den wir besuchen wollen?“ „Dis. Sobald ich das Schiff auf Kurs gebracht habe, werde ich Euch die näheren Einzelheiten erklären.“ Ihjel wandte sich den Instrumenten zu, und Jeannie ging in die Toilette hinaus, um sich die Haare zu kämmen. Brion machte endlich den Mund zu, nachdem er bemerkt hatte, dass er ihn vor Erstaunen aufgerissen hatte. „Nennt man das angewandte 11
Psychologie?“ erkundigte er sich. „Nicht eigentlich. Sie wäre auf jeden Fall mitgekommen - schließlich hat sie den Vertrag unterschrieben, selbst wenn sie ihn nicht völlig durchgelesen haben sollte - aber bestimmt erst, nachdem sie ihren Gefühlen freien Lauf gelassen hätte. Ich habe diesen Prozess dadurch abgekürzt, dass ich sie an ihre Abneigung gegen jedes männliche Überlegenheitsgefühl erinnert habe. Fast alle Frauen, die auf einem Gebiet erfolgreich sind, das sonst Männern vorbehalten ist, haben diesen Komplex.“ Er gab dem Computer den Kurs ein und wandte sich dann wieder an Brion. „Aber trotzdem habe ich vorher nicht völlig unrecht gehabt. Ich wollte einen jungen, zähen und erstklassig ausgebildeten Biologen. Ich hätte nie vermutet, dass das Anstellungsbüro eine Frau schicken würde - und jetzt können wir sie nicht mehr zurückschicken. Dis ist einfach nicht der richtige Platz für eine Frau.“ „Warum nicht?“ fragte Brion, als Jeannie wieder in dem Durchgang erschien. „Kommt mit, dann werde ich Euch den Grund dafür zeigen“, sagte Ihjel.
5 „Dis“, begann Ihjel und öffnete einen dicken Ordner voller Berichte, „ist der dritte Planet einer Sonne namens Epsilon Eridani. Der vierte Planet heißt Nyjord - behaltet diesen Namen gut, denn er spielt später noch eine wichtige Rolle. Dis gehört zu den Welten, die man ungern besucht und gern hinter sich zurück lässt. Zu heiß, zu trocken; die Temperaturen in der gemäßigten Zone sinken selten unter vierzig Grad Celsius. Der Planet selbst besteht eigentlich nur aus Felsen und Sand. Fast alle Wasservorräte befinden sich unter der Oberfläche und sind normalerweise nicht oder nur schwer zugänglich. Dann gibt es noch einige Sümpfe, aber ihr Wasser ist so mit Fremdstoffen versetzt, dass es erst durch langwierige Filterprozesse gereinigt werden muss, bevor es für uns trinkbar ist. Alle diese Tatsachen sind in den Unterlagen enthalten, die Ihr später durchlesen könnt. Im Augenblick möchte ich Euch nur mit dem Gedanken vertraut machen, dass dieser Planet so unwirtlich wie überhaupt möglich ist. Seine Bewohner ebenfalls. So sehen sie aus.“ Jeannie stieß einen leisen Schrei aus, als das dreidimensionale Bild auf dem Schirm erschien. Nicht wegen der körperlichen Attribute dieses Mannes; nachdem sie sich ausschließlich mit fremdartigen Lebensformen beschäftigte, war sie seltsamere Anblicke gewöhnt. Es war die ganze Haltung des Mannes, sein Gesichtsausdruck - er schien sprungbereit, die Lippen waren so weit zurückgezogen, dass alle Zähne sichtbar wurden. „Er macht den Eindruck, als wolle er im nächsten Augenblick den Fotografen umbringen“, stellte sie fest. „Das hat er auch versucht - nachdem das Bild aufgenommen worden war. Als typischer Disaner hasst er alle Fremden aus tiefster Seele. Allerdings nicht ohne guten Grund. Sein Planet wurde aus Zufall besiedelt. Die Einzelheiten sind nicht alle bekannt, aber die Ereignisse lassen sich in groben Zügen rekonstruieren. In früheren Zeiten scheint dort der Bergbau eine bedeutende Rolle gespielt zu haben. Dis ist reich an Mineralien aller Art, die leicht abzubauen sind. Aber alles Wasser musste nach einem teuren Verfahren gereinigt werden, und ich nehme an, dass der größte Teil aller Nahrungsmittel von anderen Planeten eingeführt wurde. Diese Methode funktionierte recht gut bis zu dem Tag, an dem Dis und zahlreiche andere Planeten während des Zusammenbruchs in Vergessenheit gerieten. Alle Berichte über diese kleine Welt wurden in den Kämpfen vernichtet, und die Ersatztransporter wurden zu Schlachtkreuzern umgebaut. Dis war auf sich allein gestellt. Was nun geschah, ist ein Beweis für die Wandlungsfähigkeit des Homo sapiens. Viele starben, aber die Rasse selbst überlebte. Sie veränderte sich nicht unwesentlich, blieb aber immer noch menschlich. Als Wasser und Lebensmittel immer knapper wurden und die Reinigungsanlagen versagten, müssen sie alle Anstrengungen auf die Erhaltung ihres Lebens konzentriert haben. Sie hatten nicht die Mittel, um neue Maschinen zu konstruieren, aber als die letzte Anlage dieser Art versagte, hatten sich genügend Menschen auf die veränderten Lebensbedingungen eingestellt, um die Rasse nicht aussterben zu lassen. Ihre Nachkommen leben noch immer dort und haben diese Anpassung weiterentwickelt. Ihre durchschnittliche Körpertemperatur - um ein Beispiel zu nennen - beträgt fast fünfundfünfzig Grad Celsius. Ihr Körper enthält besonders dicke Bindegewebsschichten, in denen Wasser gespeichert wird. Das sind aber nur unbedeutende Veränderungen, wenn man sie mit anderen vergleicht. Ich kann keine Einzelheiten beschreiben, aber in allen Berichten heißt es immer wieder, dass dabei eine Art Symbiose eine entscheidende Rolle spielt. Anscheinend hat der Mensch auf diesem Planeten zum ersten Mal die Rollen vertauscht und tritt nicht mehr als Wirt auf.“ „Wunderbar!“ rief Jeannie aus. „Wirklich?“ Ihjel lächelte ironisch. „Vielleicht vom wissenschaftlichen Standpunkt aus. Wenn Sie Gelegenheit zu einigen Notizen haben, können Sie ja später ein Buch darüber schreiben. Aber mich interessiert das alles überhaupt nicht. Ich glaube bestimmt, dass diese morphologischen Veränderungen Sie sehr beschäftigen werden, Dr. Borriß. Aber während Sie Blutbilder auszählen und Ihre Thermometer bewundern, werden Sie hoffentlich auch ein wenig Zeit erübrigen können, um die Persönlichkeit der Disaner zu untersuchen. Wir müssen nämlich entweder heraus bekommen, wie das Innenleben dieser Menschen funktioniert - oder zusehen, wie sie alle in die Luft gesprengt werden!“ „Was?“ rief Jeannie entsetzt aus. „Sie zerstören? Diese faszinierende Rasse vernichten? Warum denn nur?“ „Weil die Kerle so unglaublich stur und hartnäckig sind!“ erklärte Ihjel ihr. „Die Disaner haben auf unerklärliche Weise einige Kobaltbomben in ihren Besitz gebracht. Jetzt wollen sie die Zünder einschrauben und die Bomben auf Nyjord abwerfen. Nichts kann sie von diesem Plan abbringen - alle Überredungsversuche sind bisher fehlgeschlagen. Sie bestehen auf einer bedingungslosen Kapitulation, sonst schlagen sie los. Das ist aber aus verschiedenen Gründen undurchführbar - denn die Nyjorder wollen vor allem ihren Planeten für sich behalten. Sie haben einige Kompromissvorschläge gemacht, die nicht angenommen wurden, weil die Disaner auf Völkermord aus sind. Im Augenblick befindet sich eine Flotte von Nyjord über Dis und wartet darauf, dass das Ultimatum abläuft, in dem die 12
Auslieferung der Kobaltbomben verlangt wird. Die Schiffe von Nyjord haben genügend Wasserstoffbomben an Bord um den gesamten Planeten in eine radioaktiv verseuchte Kraterlandschaft zu verwandeln. Das müssen wir verhindern.“ Brion starrte das Bild auf dem Schirm an und versuchte den Mann einzuschätzen. Nackte riesige Füße. Die Bekleidung bestand nur aus einem Tuchstreifen, der um die Hüften gewickelt war. Über einer Schulter trug der Disaner eine Art grüne Ranke. An seinem verzierten Gürtel hingen einige seltsam geformte Gegenstände aus Metall, Stein und Leder. Auch ein eigenartig geschwungenes Messer gehörte dazu. Brion konnte sich nicht recht vorstellen, wozu diese bizarre Sammlung von Gegenständen dienen mochte. Aber er stellte mit einem unbehaglichen Gefühl fest, dass sie alle den Eindruck machten, als würden sie häufig benutzt Wenn sie wirklich gebraucht wurden - wozu konnten Sie dienen? „Das klingt alles nicht sehr wahrscheinlich“, meinte er schließlich. „Bis auf diese komischen Sachen, die an seinen Gürtel baumeln, wirkt der ganze Kerl doch wie ein Steinzeitmensch. Ich kann mir nicht vorstellen, wie diese Leute eine ernsthafte Bedrohung für einen anderen Planeten dar stellen sollen.“ „Die Nyjorder glauben es aber, und das genügt mir“, gab Ihjel zurück. „Sie zahlen der Gesellschaft für kulturell Beziehungen eine Menge Geld, damit wir diesen Krieg verhindern. Nachdem sie also unsere Auftraggeber sind, müssen wir uns nach ihren Wünschen richten.“ Brion ging über diese Unwahrheit hinweg, da sie offensichtlich als Erklärung Jeannie gegenüber gedacht war. Aber er nahm sich vor Ihjel später über die wirklichen Verhältnisse auszufragen. „Das hier sind die technischen Berichte“, fuhr Ihjel fort und legte einen zweiten Ordner auf den Tisch. „Dis verfügt über einige veraltete Raumschiffe und die bewussten Kobaltbomben - aber die eigentliche Bedrohung geht nicht nur davon aus. Vor kurzem wurde ein Trampfrachter aufgebracht, als er Dis verließ. Er hatte eine Abschussrampe transportiert, mit deren Hilfe die Bomben von Dis aus auf Nyjord abgeworfen werden können. Die Nyjorder, die sonst friedlich und verträglich sind, waren darüber natürlich ziemlich erbost und verhörten den Kapitän des Frachters, bis sie alle Informationen aus ihm herausgequetscht hatten. Der Ordner enthält einen Bericht darüber. Seitdem wissen wir, wie viel Zeit uns noch zur Verfügung steht bevor die Abschussrampe betriebsbereit gemacht werden kann.“ „Wann?“ erkundigte sich Jeannie. „In zehn Tagen. Wenn die Lage sich bis zu diesem Zeitpunkt nicht entscheidend verändert hat, werden die Nyjorder alles Leben auf Dis vernichten. Ich versichere Euch, dass sie es nicht gern tun. Aber sie werden die Bomben abwerfen, um ihre eigene Existenz zu retten.“ „Was soll ich eigentlich tun?“ fragte Jeannie, während sie den Bericht durchblätterte. „Ich habe nicht die geringste Ahnung von Atomphysik oder Abschussrampen. Ich bin nur Exobiologin und habe Anthropologie als zweites Fachgebiet studiert. Wie soll ich Sie bei Ihrer Arbeit unterstützen?“ Ihjel sah sie nachdenklich an und fuhr sich mit der Hand über das Kinn. „Mein Vertrauen zu unserem Anstellungsbüro ist wieder hergestellt“, sagte er. „Das ist eine seltene Kombination - sogar auf der Erde. Sie sind so dürr wie ein verhungertes Huhn, aber jung genug, um zu überleben, wenn wir beide auf Sie aufpassen.“ Er hob die Hand, als Jeannie ärgerlich widersprechen wollte. „Keine Diskussionen mehr. Dazu ist unsere Zeit zu kostbar. Die Nyjorder haben bisher über dreißig Agenten auf der Suche nach den Bomben verloren. Unsere Gesellschaft hat sechs Männer eingebüßt - unter anderem auch meinen Vorgänger, der den Einsatz leitete. Er war ein guter Mann, aber ich glaube, dass er die Sache falsch angepackt hat. Meiner Meinung nach handelt es sich hier nicht um ein physikalisches Problem, sondern um ein kulturelles.“ „Sagen Sie das noch einmal“, warf Jeannie mit gerunzelter Stirn ein. „Ich bin anscheinend schwer von Begriff.“ „Wir müssen vor allem herausbekommen, weshalb diese Leute unbedingt Selbstmord begehen wollen, denn erst dann können wir sie vielleicht davon überzeugen, dass sie auf dem falschen Weg sind. Das heißt allerdings nicht, dass ich die Suche nach den Kobaltbomben oder der Abschussrampe einstellen werde. Wir müssen sämtliche Möglichkeiten ausnützen, um diese sinnlose Vernichtung menschlichen Lebens zu verhindern.“ „Sie sind viel intelligenter, als Sie aussehen“, meinte Jeannie, während sie aufstand und den Ordner vom Tisch nahm. „Sie können voll und ganz auf mich zählen. Ich werde den Bericht im Bett durchlesen, wenn einer der Herren so freundlich ist, mir eine Kabine zu zeigen, die sich von innen abschließen lässt. Sie brauchen mich nicht zu wecken; ich rufe nach Ihnen, wenn ich frühstücken möchte.“ Brion wusste nicht recht, wieviel davon Ernst und wieviel Ironie gewesen war, deshalb hielt er lieber den Mund. Er zeigte ihr eine leerstehende Kabine und machte sich dann auf die Suche nach Ihjel. Der Sieger hatte sich in die Küche zurückgezogen und verschlang dort eine riesige Portion Pudding. „Ist sie sehr klein für jemanden der von der Erde kommt?“ fragte Brion. „Sie reicht mir nicht einmal bis ans Kinn.“ „Das ist ganz normal. Du darfst nicht vergessen, dass die Erdmenschen alle ziemlich schwächlich sind. Krumme Rücken, Plattfüße und schlechte Augen. Wenn auf der Erde nicht die besten Universitäten wären, bräuchten wir uns gar nicht damit abzugeben.“ „Warum hast Du sie vorhin angeschwindelt, als von der Gesellschaft die Rede war?“ „Weil es ein Geheimnis ist - genügt Dir das nicht?“ lhjel kratzte die Schüssel aus, „Du solltest auch etwas essen, damit Du wieder zu Kräften kommst. Die Gesellschaft muss vom Untergrund aus operieren, wenn sie überhaupt Erfolg haben will. Wenn Dr. Borriß auf die Erde zurückkehrt, ist es besser, wenn sie nie etwas über unsere eigentlichen Ziele erfahren hat. Und wenn sie weiterhin für uns arbeiten will, kann sie immer noch alles erklärt bekommen. Aber ich bezweifle, dass ihr unsere Arbeitsweise zusagen wird. Schon deshalb nicht, weil ich selbst einige Wasserstoffbomben auf Dis abwerfen werde - wenn wir den Krieg nicht verhindern können.“ „Das glaube ich nicht!“ „Doch, Du hast mich ganz richtig verstanden. Du brauchst mich nicht so anzustarren. Wenn kein anderer Ausweg bleibt, werde ich die Bomben selbst abwerfen, bevor die Nyjorder es tun. Das könnte sie retten.“ „Sie retten - aber dann sind sie doch alle tot!“ protestierte Brion ärgerlich. „Ich meine nicht die Disaner. Ich will die Nyjorder retten. Du brauchst nicht die Fäuste zu ballen. Iß lieber etwas von 13
diesem Kuchen. Er ist ausgezeichnet. Nur die Nyjorder zählen hier. Sie besitzen einen Planeten, der vom Zufall begünstigt worden ist. Als Dis von dem Rest des Universums abgeschnitten wurde, degenerierten seine Bewohner zu einer Bande von Mördern. Auf Nyjord trat das genaue Gegenteil ein. Dort kann man überleben, indem man sich einfach eine Frucht von dem nächsten Baum holt. Die Bevölkerung war klein, gebildet und intelligent. Anstatt in eine ewige Siesta zu versinken, entwickelten sie eine neuartige Gesellschaftsform. Allerdings ohne technische Hilfsmittel - sie kannten nicht einmal das Rad, als sie wiederentdeckt wurden. Die Gesellschaft für kulturelle Beziehungen interessierte sich von Anfang an sehr für diese Art des Zusammenlebens und hat es seither gefördert. Vielleicht nicht so sehr gefördert, als vielmehr abgeschirmt. Aber wir haben unser Ziel nur teilweise erreicht. Gewaltlosigkeit gehört zu den Lebensprinzipien dieser Menschen - sie sind vital, ohne dabei zerstörerisch zu sein. Aber wenn sie Dis in die Luft jagen müssen - entgegen ihren geheiligten Prinzipien -, dann wird ihre Lebensphilosophie diesen Schlag nicht überstehen. Physisch werden sie überleben, aber die geistigen Errungenschaften werden zerstört sein.“ „Klingt wie ein Paradies.“ „Kein Grund zur Überheblichkeit. Die Bewohner von Nyjord sind ganz gewöhnliche Menschen mit durchaus menschlichen Eigenschaften. Aber sie haben eine neue Art des Zusammenlebens entwickelt, die eines Tages allen Menschen nützen könnte. Sie sind es wert, dass man sich um sie kümmert. So, jetzt gehst Du am Besten in Deine Kabine und liest die Berichte durch. Du musst sie fast auswendig können, bevor wir landen.“
6 „Ihre Identifikation, bitte.“ Die ruhige Stimme aus den Lautsprechern ließ sich nicht ganz mit dem Bild vereinbaren, das auf dem Schirm erschien. Das Raumschiff, das vor wenigen Minuten in ihre Umlaufbahn über Dis eingeschwenkt war, hatte früher als Frachter Dienst getan. Seine Umrisse waren durch den Einbau eines Drehturms für Primärwaffen verändert worden. Die Mündung einer gigantischen Kanone wies auf das fremde Raumschiff. Ihjel schaltete das Funkgerät ein. „Hier Ihjel. Anflug auf Kursschablone 490-BJ4-67. Das ist auch das Kodezeichen, mit dem ich durch Ihre Blockade kommen soll. Wollen Sie die Schablone überprüfen?“ „Danke, das ist nicht nötig. Schalten Sie bitte Ihr Aufnahmegerät ein, ich habe einen Funkspruch von Primus IV für Sie.“ „Gerät ein. Ende.“ Ihjel wandte sich an Brion. „Verdammt noch mal! Schon wieder Schwierigkeiten! Dabei haben wir nur noch vier Tage Zeit. Primus IV ist unser Hauptquartier auf Dis. Unser Schiff hat zur Tarnung Frachtgut an Bord, damit wir auf dem Raumhafen landen können. Wahrscheinlich ist der Plan geändert worden, und das passt mir gar nicht.“ Brion spürte diesmal ohne bewusste Anstrengung, dass sich hinter Ihjels Worten eine unbestimmbare Angst vor künftigen Ereignissen verbarg. Vor ihnen lag eine schwierige Aufgabe und Ihjel ahnte, dass er deren Ende nicht mehr erleben würde. Als der Decoder die Nachricht schrieb, griff Ihjel nach dem Streifen und las begierig jedes Wort. Dann zuckte er mit den Schultern und verschwand in seiner Kabine. Brion las den Text des Funkspruchs. IHJEL IHJEL IHJEL!!! LANDUNG AUF RAUMHAFEN GEFÄHRLICH!!! NACHTLANDUNG VORZUZIEHEN!!! KOORDINATEN KARTE 461U92MN75!!! SCHIFF IN UMLAUFBAHN ZURÜCK!!! VION ZUR ABHOLUNG BEREIT!!! ENDE ENDE ENDE. Die Landung in der Dunkelheit bereitete keine besonderen Schwierigkeiten. Sie wurde nach Instrumenten durchgeführt, und die Disaner verfügten angeblich über keine Geräte, mit denen sie ein landendes Schiff orten konnten. Der Zeiger des Höhenmessers sank auf Null zurück, und ein weicher Stoß war das einzige Anzeichen dafür, dass sie sicher gelandet waren. Die Kabinenbeleuchtung war ausgeschaltet worden, so dass nur das grüne Schimmern der Instrumente den Raum erhellte. Auf dem Infrarotschirm zeigten sich weiße Punkte - die Wärmeausstrahlung der noch immer heißen Felsen -, aber keine Bewegungen oder die charakteristischen Umrisse eines abgeschirmten Atomreaktors. „Wir sind gelandet“, stellte Ihjel fest. Er verdunkelte die Bullaugen und schaltete die Innenbeleuchtung ein. Sie sahen sich an. „Muss die Kabine wirklich so heiß sein?“ fragte Jeannie und fuhr sich mit einem bereits schweißnassen Taschentuch über die Stirn. Nachdem sie ihren dicken Schutzanzug mit einem leichten Kittel getauscht hatte wirkte sie noch zierlicher auf Brion. Aber der dünne, kurze Kittel - er reichte ihr kaum bis zu den Knien - verbarg nur sehr wenig. Jedenfalls war sie durchaus nicht unweiblich. „Soll ich mich umdrehen, damit Sie zur Abwechslung meinen Rücken anstarren können?“ fragte sie. Aber Brion wusste aus nunmehr fünftägiger Erfahrung, dass man diese Art von Bemerkung am Besten unbeantwortet ließ. „Dis ist noch heißer als unsere Kabine“, sagte er deshalb, um das Thema zu wechseln. „Indem wir die Innentemperatur erhöhen, vermeiden wir einen plötzlichen Schock, wenn wir ...“ „Danke, ich weiß - aber deshalb schwitze ich trotzdem“, antwortete sie kurz. „Sie können gar nichts Besseres tun“, warf Ihjel ein. Er sah in seinen Shorts wie ein Fesselballon aus. „Trinken Sie 14
doch auch einen Schluck Bier“, fügte er hinzu und holte sich selbst eine neue Flasche aus dem Kühlschrank. „Oh, nein, ich möchte nüchtern bleiben. Auf der Erde trinken wir...“ „Brion, Du kannst gleich Dr. Borriß' Gepäck holen“, unterbrach Ihjel sie. „Vion kommt, ich habe sein Signal auf dem Schirm erkannt. Wir müssen das Schiff wieder in die Kreisbahn schicken, bevor die Disaner merken, dass wir hier sind.“ Die heiße Nachtluft wirkte wie ein Keulenschlag. Brion hörte Jeannies leisen Schrei. Er folgte ihr langsam die Rampe hinunter. Durch seine dicken Stiefel hindurch spürte er die Hitze, die der Sand noch immer ausstrahlte. Ihjel trug den Kontrollkasten der Fernsteuerung in der Hand. Als sie zu dritt nebeneinander standen, drückte er auf einen Knopf. Das Raumschiff erhob sich geräuschlos und war Sekunden später verschwunden. Die nun herrschende Stille wurde von dem leisen Summen eines näherkommenden Sandwagens durchbrochen. Der Wagen fuhr heran und hielt. Als die Tür sich öffnete, ging Ihjel darauf zu. In diesem Augenblick schien alles gleichzeitig zu geschehen. Ihjel war plötzlich von bläulichen Flammen umgeben, die seine Haut verbrannten. Er war auf der Stelle tot. Eine zweite Flammensäule stieg neben dem Wagen hoch und erstickte einen Schrei. Brion warf sich blitzschnell zu Boden. Er ließ die Geräte fallen, die er getragen hatte, und stieß Jeannie zur Seite, die ebenfalls hin fiel. Er hoffte, dass sie Verstand genug besaß, um sich nicht von der Stelle zu rühren. Dann rollte er sich so schnell wie möglich von der Stelle fort, wo er gelegen hatte. Sekunden später spielten bläuliche Flammen über die Kisten, die Brion abgeworfen hatte. Nun zog er seine Pistole, die Ihjel ihm vor der Landung in die Hand gedrückt hatte, und zielte in die Richtung, in der er den unbekannten Schützen vermutete. Die Explosivgeschosse zerrissen die Nacht und fanden ihr Ziel. Etwas schlug mit einem erstickten Aufschrei um sich und starb. Es gibt viele unsinnige und gefährliche Dinge, die man tun kann, wie zum Beispiel neben einem offenen Benzinfass rauchen oder die Finger an einen mit Hochspannung geladenen Draht halten. Genau so gefährlich und ebenso tödlich ist ein tätlicher Angriff auf einen Mann, der in den Spielen gesiegt hat. Zwei Männer fielen gemeinsam über Brion her, aber das machte keinen großen Unterschied. Der erste Angreifer starb auf der Stelle, als ein Paar Hände sich wie Stahlklammern um seinen Hals schlossen und ihm das Genick brachen. Der andere hatte noch Zeit für einen kurzen Schrei, bevor auch er das gleiche Schicksal erlitt. Brion suchte die nähere Umgebung mit der Waffe in der Hand ab. Im Augenblick schien keine unmittelbare Gefahr zu drohen. Erst dann kehrte er zu Jeannie zurück, die noch immer bewegungslos im Sand lag. An ihrer Schläfe hatte sich eine große Beule gebildet. Brion hatte ihr durch seinen heftigen Stoß unzweifelhaft das Leben gerettet. Er ließ sich erschöpft neben ihr nieder und bemerkte erst jetzt, dass sein Hals wie Feuer brannte. Er griff danach und stellte fest, dass einer der beiden Angreifer eine dünne, aber sehr feste Schnur darum geschlungen hatte, die an beiden Enden mit Gewichten beschwert war. Die Schnur hatte die Haut durchschnitten und war nur von Brions angespannten Halsmuskeln aufgehalten worden. Er warf sie weit von sich in die Dunkelheit hinein, aus der sie gekommen war. Jeannie schien aus ihrer Ohnmacht zu erwachen. Brion nahm sie in die Arme und trug sie zu dem Sandwagen hinüber, wobei er über die verkohlte Leiche des Fahrers stieg. Er durchsuchte das Wageninnere und fand eine Wasserflasche, die er Jeannie an die Lippen hielt. „Mein Kopf - ich habe mich am Kopf verletzt“, sagte sie wie betäubt. „Nur eine kleine Beule“, beruhigte er sie. „Trinken Sie einen Schluck Wasser, dann fühlen Sie sich wieder besser. Legen Sie sich hin. Im Augenblick besteht keine Gefahr, Sie können sich unbesorgt ausruhen.“ „Ihjel ist tot!“ rief Jeannie plötzlich erschrocken aus. „Sie haben ihn umgebracht! Was ist geschehen?“ Sie versuchte aufzustehen, doch Brion drückte sie leicht zurück. „Ich werde Ihnen alles erzählen. Sie dürfen jetzt noch nicht aufstehen. Wir sind in einen Hinterhalt geraten. Vion und Ihjel sind tot. Drei Männer haben uns überfallen, aber alle drei leben nicht mehr. Ich glaube nicht, dass noch andere daran beteiligt waren, aber wenn sie noch kommen sollten, werde ich sie bestimmt hören. Wir wollen hier noch kurze Zeit warten, bis Sie sich besser fühlen, bevor wir mit dem Wagen verschwinden.“ „Holen Sie das Schiff herunter!“ Ihre Stimme klang hysterisch. „Wir können hier nicht allein bleiben. Wir wissen doch gar nicht, wohin wir sollen, oder was wir zu tun haben. Nachdem Ihjel tot ist, können wir die Arbeit nicht weiterführen. Wir müssen so schnell wie möglich ...“ Brion gab sich große Mühe, ihr die Wahrheit so schonend wie möglich beizubringen. „Tut mir leid, Jeannie, aber ich kann das Schiff nicht herunterholen. Ihjel wurde mit einem Ionengewehr erschossen, wodurch das Gerät für die Fernsteuerung verglühte. Wir müssen den Wagen benutzen, um die Stadt zu erreichen. Am Besten sofort. Kommen Sie, ich helfe Ihnen.“ Er versuchte den Motor anzulassen, aber das vertraute Summen setzte nicht ein. Brion ging um den Wagen herum und öffnete die Haube. Ein Blick genügte, um ihm zu zeigen, dass die Angreifer gründlich und schnell gearbeitet hatten. Überall hingen Drähte herunter, die ohne eingehende Kenntnis des gesamten Mechanismus nicht zu reparieren waren. „Ich glaube, dass wir zu Fuß gehen müssen“, stellte er betroffen fest. „Wir sind jetzt ungefähr einhundertundfünfzig Kilometer von einer Stadt namens Hovedstad entfernt, die ursprünglich unser Ziel war. Wir ...“ „Wir werden elend umkommen. Wir können nicht so weit laufen. Der ganze Planet hier ist nicht für Menschen geschaffen. Wir müssen wieder in das Schiff zurück!“ An ihrer Stimme war deutlich zu erkennen, wie nahe sie einem Nervenzusammenbruch sein musste. Brion erkannte, dass sie eine leichte Gehirnerschütterung erlitten hatte, und gab sich deshalb keine Mühe, sie von seiner Auffassung zu überzeugen oder sie ihr weiter zu erklären. Er befahl ihr, dass sie sich ausruhen solle, während er ihren Marsch so gut wie möglich vorbereitete. Zunächst brauchten sie warme Kleidung. In der Zwischenzeit war die Temperatur bereits merklich gesunken, als die Tageshitze nachließ. Jeannie zitterte vor Kälte, deshalb holte Brion eine Decke aus dem Wagen und breitete sie über 15
ihre Schultern. Sonst fand er wenig, was sich mitzuschleppen lohnte - die Wasserflasche und ein Verbandskasten aus dem Sandwagen. Er fand weder Karten noch ein Funkgerät. In der Wüste richtete man sich anscheinend nur nach dem Kompass. Der Wagen war mit einem elektrischen Kreiselkompass ausgerüstet, mit dem sie jetzt nichts anfangen konnten. Aber Brion stellte mit seiner Hilfe fest, dass die Spuren des Wagens genau in die Richtung wiesen, in der seiner Erinnerung nach Hovedstad liegen musste. Damit hatten sie eine Art Wegweiser. Die Zeit verging rasch. Er hätte gern noch Ihjel und den Fahrer des Wagens begraben, aber die Nachtstunden waren zu kostbar, um auf diese Weise vergeudet zu werden. Deshalb schaffte er die beiden Leichen nur in den Wagen, verschloss die Tür und warf den Schlüssel weit in die Dunkelheit hinein. Jeannie war eingeschlafen und schrak auf, als er ihre Schulter berührte. „Kommen Sie“, sagte Brion, „wir haben einen kleinen Marsch vor uns.“
7 In der kühlen Nachtluft hätten sie auf dem festen Sand rasch vorankommen müssen. Jeannie machte dieses Vorhaben fast zunichte. Der erlittene Schock wirkte so stark in ihr nach, dass sie ihre innersten Befürchtungen vor sich hin murmelte, während sie neben Brion vorwärts stolperte. Sie schien mit sich selbst zu sprechen und erwähnte vieles, was keinerlei Zusammenhang mit ihrer misslichen Lage hatte. Meistens sprach sie davon, dass sie sich verirren und an Hunger, Durst oder Hitze sterben würden. Aber von Zeit zu Zeit erwähnte sie auch andere Dinge, die Brion verstand, obwohl er nicht zuzuhören versuchte. Angst vor einem schlechten Examen, eine alleinstehende Frau in einer von Männern beherrschten Welt, ein namenloses Wesen inmitten der Milliarden von Menschen, von denen die Erde bevölkert war. Brion blieb stehen und nahm sie auf die Arme. Sie lehnte sich an seine breite Brust und schlief sofort ein. Selbst mit diesem zusätzlichen Gewicht kam er jetzt rascher voran, ging so schnell wie möglich, um die kühlen Nachtstunden auszunützen. Dann erreichte er eine mit Steinen übersäte Ebene, in der er die Spur des Sandwagens verlor. Er suchte nicht lange denn er hatte sich bereits vorher versuchsweise nach den Sternen orientiert. Auf Dis gab es keinen Polarstern - aber ein beinahe rechteckiges Sternbild ersetzte ihn. Wenn er diese Konstellation in eine Linie mit seiner Rechten brachte, befand er sich genau auf dem Weg in Richtung Westen. Als seine Arme müde wurden, ließ er Jeannie vorsichtig zu Boden gleiten; sie wachte nicht einmal auf. Nach einer kurzen Pause stellte er aus seiner Jacke eine Art Rucksack her, in dem er sie auf dem Rücken tragen konnte. Nun kam er wieder rascher voran. Vor ihm erstreckten sich jetzt Dünen, die kein Ende zu nehmen schienen. Als im Osten der erste Sonnenstrahl den Himmel färbte, blieb er schwer atmend stehen, um noch einmal den Weg festzulegen, dem sie folgen mussten. Ein Strich im Sand zeigte nach Norden, ein zweiter wies in die Richtung, in der Hovedstad liegen musste. Als die Sterne langsam verblassten, wusch er sich den Mund mit einem Schluck Wasser aus und ließ sich neben Jeannie in den Sand nieder. Der Sonnenaufgang beeindruckte ihn zutiefst. Brion überlegte sich, dass er dieses Erlebnis in irgendeiner Form festhalten müsse. Vielleicht in einem Vierzeiler? Kurz genug, um ihn leicht zu behalten, und doch in seiner gedrängten Aussagekraft wirkungsvoll. In den Spielen hatte er auf diesem Gebiet gut abgeschnitten. Auch diesmal musste er sich Mühe geben, damit er Taind, seinem Poesielehrer, keine Schande machte. „Was murmeln Sie da vor sich hin?“ fragte Jeannie plötzlich und sah zu ihm auf. „Ein Gedicht“, antwortete Brion. „Pst, einen Augenblick.“ Das war zuviel für Jeannie, nachdem sie diese Nacht mit letzter Kraft überstanden hatte. Sie begann zu lachen und lachte noch lauter, als er ihr einen bösen Blick zuwarf. Erst als sie selbst merkte, wie hysterisch dieses Lachen klang, schwieg sie endlich. Die Sonne stieg am Horizont auf und überflutete sie mit Wärme. Jeannie stieß einen Schrei aus. „Sie haben einen Schnitt am Hals! Sie verbluten!“ „Keine Angst“, beruhigte er sie und berührte die Wunde mit den Fingerspitzen. „Nur oberflächlich.“ Er fühlte sich plötzlich deprimiert, als er an den Kampf in der vergangenen Nacht zurückdachte. Jeannie bemerkte nicht, dass sein Gesichtsausdruck sich verändert hatte, denn sie wühlte in ihrer Tasche. Wie schnell und leicht er getötet hatte! Drei Männer. Wie dicht unter der Oberfläche lauerte doch das Tier in jedem Menschen. Als sein Freund ums Leben gekommen war, hatte er sich selbst in einen Mörder verwandelt. Er hatte immer geglaubt, dass ein Menschenleben heilig sei; bis dieser Glaube auf die Probe gestellt wurde. Dann hatte er ohne zu Zögern getötet. Und jetzt fühlte er sich nicht einmal schuldig, sondern empfand nur einen gewissen Schock über diesen plötzlichen Glaubenswandel. Aber nicht mehr. „Heben Sie das Kinn hoch“, sagte Jeannie. Sie hielt den Antiseptikstift in der Hand, den sie in dem Verbandskasten gefunden hatte. Brion hob gehorsam den Kopf und ließ sich das Mittel auf die Wunde streichen. Antibiotikatabletten wären besser gewesen, nachdem die Wunde bereits blutverkrustet war, aber er widersprach trotzdem nicht. Im Augenblick hatte Jeannie ihre eigenen Sorgen vergessen, weil sie sich um ihn kümmern konnte. Er behandelte auch ihre Beule mit dem Stift, und sie stieß einen leisen Schrei aus. Dann schluckten sie beide drei Antibiotikatabletten. „Die Sonne ist schon ziemlich heiß“, stellte Jeannie fest und zog sich den warmen Pullover aus, den Brion ihr nachts übergestreift hatte. „Am Besten suchen wir uns eine kühle Höhle und verschlafen dort den Rest des Tages.“ „In dieser Gegend wird kaum eine zu finden sein. Nur Sand. Wir müssen weitermarschieren.“ „Ich weiß, dass wir marschieren müssen“, unterbrach sie ihn. „Sie brauchen mir keinen Vortrag darüber zu halten. Sie sind ungefähr genau so nüchtern und kalt wie die Zentralbank der Erde. Entspannen Sie sich. Zählen Sie bis zehn und wieder rückwärts.“ 16
„Dazu haben wir leider keine Zeit. Wir müssen weiter.“ Brion erhob sich langsam, nachdem er ihre wenigen Habseligkeiten wieder verpackt hatte. Als er an dem Strich im Sand entlang sah, der ihre Marschrichtung markieren sollte, hatte er ein endloses Meer von Sanddünen vor sich. Er half Jeannie auf die Beine und ging langsam auf die Dünen zu. „He, einen Augenblick“, rief Jeannie hinter ihm her. „Wohin wollen Sie eigentlich?“ „In diese Richtung“, erklärte er ihr und wies nach Westen. „Ich hatte gehofft, dass wir dort eine Art Wegweiser finden würden, aber diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Jetzt müssen wir uns auf meine Fähigkeiten in der Koppelnavigation verlassen. Die Sonne wird uns den richtigen Weg zeigen. Und nachts haben wir wieder die Sterne.“ „Das alles soll ein Mensch auf nüchternen Magen aushalten?“ fragte Jeannie ungläubig. „Ohne Frühstück? Ich habe Hunger - und Durst.“ „Nichts zu essen.“ Brion schüttelte die Wasserflasche, die bereits halb leer gewesen war, als er sie gefunden hatte. „Mit Wasser müssen wir sparsam umgehen, weil wir es später noch nötiger brauchen „Ich brauche es jetzt“, meinte sie kurz. „Mein Mund ist völlig ausgedörrt.“ „Aber nur einen Schluck“, antwortete Brion nach kurzem Zögern. „Mehr haben wir nicht.“ Jeannie schloss die Augen, als sie trank. Brion verschloss die Flasche und steckte sie in die Tasche zurück, ohne selbst getrunken zu haben. Sie waren bereits mit Schweiß bedeckt, bevor sie die erste Düne überwunden hatten. Die Wüste war tot und leer; sie waren die einzigen Lebewesen unter der glühenden Sonne. Als ihre Schatten immer kürzer wurden, nahm die Hitze allmählich zu. Jeannie stützte sich auf Brions Arm. Brion ging gleichmäßig weiter und schien die Hitze nicht zu spüren. „Ob das Zeug essbar ist - oder Wasser enthält?“ Brions Stimme klang vor Anstrengung heiser. Jeannie kniff die Augen zusammen und starrte das kugelförmige Ding vor ihnen an. Ob es Tier oder Pflanze war, ließ sich nicht ohne weiteres feststellen. Brion stieß es vorsichtig mit der Stiefelspitze an. Das Ding zog sich zusammen, als wolle es im Sand verschwinden. Im gleichen Augenblick schnellte eine Art Nadel vor, berührte Brions Stiefel und zog sich wieder zurück. Auf dem harten Plastikmaterial wurde ein Kratzer sichtbar, an dem einige Tropfen einer grünlichen Flüssigkeit hingen. „Wahrscheinlich Gift“, meinte Brion und bohrte seinen Stiefel in den Sand. „Mit dem Zeug ist bestimmt nicht zu spaßen. Marschieren wir lieber weiter.“ Jeannie brach zusammen, bevor die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte. Sie wollte sich weiterschleppen, aber ihr Körper versagte den Dienst. Die dünnen Sohlen ihrer Schuhe boten keinen wirksamen Schutz gegen den glühenden Sand. Die Luft, die sie atmete, schien wie geschmolzenes Metall, das sich in ihre Lungen ergoss. Sie spürte jeden Herzschlag in der Wunde an ihrem Kopf, bis sie glaubte, ihr Schädel müsse jeden Augenblick vor Schmerzen zerspringen. Obwohl sie nur noch den dünnen Kittel trug - Brion hatte nicht verhindern können, dass sie die schützende Bekleidung ablegte - keuchte sie unter der schrecklichen Hitze, die jeden Atemzug zur Qual machte. Der heiße Sand verbrannte ihre Knie und Hände, aber sie konnte nicht mehr aufstehen. Sie musste alle Kraft zusammennehmen, um nicht gänzlich zu Boden zu sinken. Mit geschlossenen Augen schwankte sie hilflos hin und her, als sich alles um sie zu drehen schien. Brion sah zu ihr hinunter. Dann nahm er sie auf und trug sie, wie er es schon in der vergangenen Nacht getan hatte. Sie atmete unregelmäßig. Er wischte sich eine Hand ab und legte sie ihr auf die Stirn. Die Haut war heiß und trocken. Hitzeschock mit den typischen Anzeichen. Trockene Haut, schneller Puls, unregelmäßiger Atem. Ihre Körpertemperatur stieg rasch an, als ihre Widerstandskraft gegen die Hitze erlahmte. Hier konnte er sie nicht vor der brennenden Sonne schützen. Er flößte ihr einen winzigen Schluck Wasser ein, nahm sie wieder auf die Arme und ging weiter. In einiger Entfernung erhob sich ein Felsvorsprung, der einen kleinen Schatten warf. Brion marschierte darauf zu. Im Schatten des Felsens war der Sand fast kühl, weil die Sonne ihn hier nicht erwärmen konnte. Jeannie öffnete die Augen, als er sie vorsichtig zu Boden gleiten ließ, und sah zu ihm auf. Sie wollte sich für ihren Schwächeanfall entschuldigen, brachte aber kein Wort heraus, weil ihre Kehle zu trocken war. Sein Körper über ihr schien in der Sonnenglut hin und her zu schwanken, wie ein Baum, der vom Sturm bewegt wird. Dann riss sie erschrocken die Augen auf, denn Brion schwankte wirklich. In diesem Augenblick wurde ihr plötzlich klar, wie sehr sie auf seine unerschöpflichen Kraftreserven vertraut hatte - und jetzt waren sie erschöpft. Seine Muskeln traten deutlich hervor, als sie seinen Körper aufrecht zu halten versuchten. Er öffnete den Mund und stieß einen lautlosen Schrei aus. Dann schrie sie auf, als er wie ein gefällter Baum niederstürzte und schwer auf den Sandboden schlug. Jeannie konnte nicht feststellen, ob Brion nur bewusstlos oder bereits tot war. Sie zog an seinem Bein, hatte aber nicht mehr die Kraft, ihn in den Schatten zu ziehen. Brion lag auf dem Rücken in der Sonne und schwitzte. Also war er wenigstens noch am Leben. Aber was war mit ihm? Sie versuchte sich an die Dinge zu erinnern, die sie auf der Universität gelernt hatte, fand aber keine Erklärung für dieses Phänomen. Jeder Quadratzentimeter seines Körpers war mit dicken Schweißperlen bedeckt, die aus einer öligen Flüssigkeit bestanden. Seine Brust hob und senkte sich rasch, als er keuchend nach Atem rang. Jeannie beobachtete ihn fassungslos und fragte sich nur, ob sie verrückt werden würde, bevor das Ende kam. Brions Körper wurde von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt. Nun atmete er wieder leichter, obwohl der Schweiß noch immer aus allen Poren trat. Sekunden später bewegte er sich, rollte sich auf die Seite und sah zu Jeannie hinüber. Er lächelte. „Tut mir leid, wenn ich Sie eben erschreckt habe. Ich war selbst völlig überrascht davon, deshalb hat es mir einen solchen Schlag versetzt. Ich werde Ihnen einen Schluck Wasser bringen - wir haben noch etwas übrig.“ „Was war denn mit Ihnen los? Als sie plötzlich umfielen, dachte ich, Sie wären tot.“ „Einen Schluck, aber nicht mehr“, sagte er und hielt ihr die Wasserflasche an den Mund. „Nur die Umstellung auf den Sommer, sonst nichts. Auf Anvhar ist das jedes Jahr so - allerdings nicht so heftig. Im Winter setzen unsere Körper Fett an, um sich vor der Kälte zu schützen. Sobald die heiße Jahreszeit kommt, läuft dieser Prozess in umgekehrter Richtung ab, und das Fett wird einfach ausgeschwitzt. Die hier herrschende Hitze muss diesen Vorgang beschleunigt haben.“ 17
„Sie meinen - sie haben sich also an diesen schrecklichen Planeten angepasst?“ „Beinahe. Allerdings ist mir ein bisschen warm. Ich brauche bald eine Menge Wasser, deshalb können wir nicht hier bleiben. Glauben Sie, dass Sie die Sonne aushalten können, wenn ich Sie trage?“ „Nein, aber hier fühle ich mich auch nicht besser.“ Jeannie zuckte erschöpft mit den Schultern. „Tun Sie, was Sie für richtig halten.“ Brion hob sie auf und setzte seinen Weg fort. Schon nach wenigen Metern in vollen Sonnenlicht wurde Jeannie wieder ohnmächtig. Er stolperte weiter und spürte dabei, dass er bald am Ende seiner Kräfte angelangt sein würde. Er kam immer langsamer voran, denn jetzt erschien ihm eine Düne höher als die andere. Riesige Felsbrocken versperrten ihm den Weg und mussten mühsam umgangen werden. Unterhalb eines dieser Felsen sah Brion einige Pflanzen stehen. Er wollte schon vorbeigehen, blieb aber doch nachdenklich stehen. Was war ihm an den Pflanzen aufgefallen? Sie waren irgendwie anders. Diese Pflanzen hier unterschieden sich von allen anderen, die er im Laufe des Tages gesehen hatte. Er musste sich überwinden, bevor er schließlich doch die wenigen Schritte zurückging. Dann sah er hilflos auf die Pflanzen hinunter. Richtig, sie waren anders - einige von ihnen waren dicht über dem Sand abgeschnitten worden. Nicht auf natürliche Weise abgebrochen, sondern offensichtlich mit einem Messer vom Stiel getrennt. Die Schnittstellen waren längst vertrocknet, aber trotzdem fasste Brion wieder etwas Hoffnung. Dies war das erste Anzeichen dafür, dass auf diesem Planeten wirklich Menschen außerhalb der Städte lebten. Und zu welchem Zweck diese Pflanzen auch abgeschnitten worden waren, sie konnten sich jedenfalls als nützlich erweisen. Essen - vielleicht sogar Trinken. Brions Hände zitterten, als er Jeannie in den Schatten eines Felsens gleiten ließ. Sie bewegte sich nicht. Sein Messer war scharf, aber seine Hände hatten kaum noch Kraft. Er keuchte vor Anstrengung, als er einen Stengel durchtrennte. Von der Schnittstelle tropfte eine weißliche Flüssigkeit zu Boden. Brion hielt seine Hand darunter und wartete, bis sie sich mit dem Pflanzensaft gefüllt hatte. Die Flüssigkeit war nicht so warm, wie er es erwartet hätte. Bestimmt bestand sie zum größten Teil aus Wasser. Aber Brion zögerte trotzdem einen Augenblick, als er die Hand an die Lippen hob und versuchte den Saft zuerst einmal mit der Zungenspitze. Nichts. Aber dann folgte ein stechender Schmerz, der seine Kehle lähmte. Brion sank in die Knie und presste beide Hände gegen den Magen. Er übergab sich und verlor dabei eine beträchtliche Menge lebensnotwendiger Körperflüssigkeit. Die Verzweiflung war schlimmer als die Schmerzen. Der Pflanzensaft musste sich irgendwie verwenden lassen; es musste eine Methode geben, nach der er sich entgiften oder neutralisieren ließ. Aber Brion, der auf diesem Planeten fremd war, würde längst tot sein, bevor er dieses Verfahren entdeckt hatte. Er versuchte nicht daran zu denken, wie nahe ihm dieses Ende bereits bevorstand. Jeannie schien plötzlich doppelt so schwer wie zuvor, und einen Augenblick lang überlegte er, ob er sie nicht zurücklassen solle. Aber in diesem Moment hob er sie auch schon auf und schleppte sich weiter. Langsam näherte er sich dem höchsten Punkt der Düne. Endlich hatte er ihn erreicht und sah den Disaner wenige Schritte von sich entfernt stehen. Sie waren durch dieses plötzliche Zusammentreffen beide zu überrascht, um sofort zu reagieren. Einige Sekunden lang starrten sie sich unbeweglich an. Als sie dann doch reagierten, bewiesen sie beide ihre Angst. Brion ließ Jeannie fallen und riss seine Pistole aus dem Halfter. Der Disaner zog eine kurze Röhre aus dem Gürtel und setzte sie an den Mund. Brion schoss nicht. Sein toter Freund hatte ihn gelehrt, wie er seine außergewöhnliche Begabung anzuwenden hatte. Trotz der Angst, aus der heraus er am liebsten geschossen hätte, registrierte er die Gefühlsregungen des Disaners. Er spürte Angst und Hass. Aber auch ein starkes Bedürfnis, diesmal nicht zum Angriff überzugehen, sondern zu einer Verständigung zu gelangen. Brion erkannte, dass er schnell handeln musste, um eine nachteilige Entwicklung aufzuhalten. Er ließ seine Pistole fallen. Im selben Augenblick bereute er es. Er hatte Jeannies und sein Leben aufs Spiel gesetzt, obwohl er sich seiner Fähigkeit noch nicht völlig sicher war. Der Disaner hielt die Röhre noch immer an den Mund. Dann steckte er sie langsam in den Gürtel zurück. „Hast Du etwas Wasser für uns?“ fragte Brion. „Ich habe Wasser“, antwortete der Mann. Er hatte sich noch immer nicht bewegt. „Wer seid Ihr? Was tut Ihr hier?“ „Wir kommen von einem anderen Planeten. Wir haben ... einen Unfall gehabt. Wir müssen in die Stadt. Das Wasser.“ Der Disaner warf einen Blick auf die bewusstlose Jeannie und fasste einen Entschluss. Über der linken Schulter trug er eine Art grüne Ranke, die Brion von dem Bild her wiedererkannte. Er nahm das Ding herunter - es bewegte sich in seinen Händen. An einem Ende war eine Öffnung zu erkennen, die wie ein Blütenkelch geformt war. Der Disaner hielt sie Brion entgegen. „Hier, daran kannst Du trinken. Du musst sie an den Mund halten“, erklärte er. Jeannie brauchte das Wasser dringender, aber Brion wollte diese lebende Wasserquelle zunächst selbst versuchen. Er hob sie an den Mund und trank. Die Flüssigkeit schmeckte heiß und abgestanden. Brion spürte einen scharfen Schmerz um den Mund herum und riss das Ding von sich fort. Winzige Stacheln standen aus dem Blütenkelch hervor und waren nun von seinem Blut rotgefärbt. Brion wandte sich ärgerlich zu dem Disaner um und schwieg, als er einen Blick auf das Gesicht des Mannes geworfen hatte. Der Mund des anderen war von kleinen weißen Narben umgeben. „Die Vaede gibt ihr Wasser nicht gern her, aber sie tut es trotzdem immer“, sagte der Mann. Brion trank nochmals und hielt die Vaede dann an Jeannies Mund. Ihre Lippen bewegten sich, als sie langsam trank. Als sie genug getrunken hatte, zog Brion vorsichtig die Stacheln heraus und trank selbst noch einmal. Der Disaner hatte sich niedergekauert und beobachtete sie ausdruckslos. Brion gab die Vaede zurück und kauerte sich ebenfalls nieder, um den anderen besser sehen zu können. Der Disaner schien sich in der Sonnenhitze durchaus wohl zu fühlen. Auf seiner dunkelbraunen Haut zeigte sich nicht 18
ein einziger Schweißtropfen. Er hatte lange schwarze Haare und leuchtend blaue Augen, die tief in den Höhlen lagen. Seine Bekleidung bestand nur aus einem Stück Tuch, das er um die Hüften gewickelt trug. An seinem Gürtel baumelten einige der Gegenstände, die Brion schon früher auf dem Bild gesehen hatte. Wenn man annahm, dass sie einen bestimmten Zweck erfüllten - also nicht nur zur Dekoration dienten -, dann musste man ihren Besitzer nicht mehr als Wilden, sondern als halbwegs zivilisiert ansehen. „Ich heiße Brion. Und Du?“ „Du brauchst meinen Namen nicht zu wissen. Warum seid Ihr hier? Um mein Volk zu vernichten?“ Brion verdrängte alle Gedanken an die vergangene Nacht, in der er tatsächlich Disaner getötet hatte. Der andere schien eine unbestimmte Hoffnung zu nähren, die Brion unterstützen musste, indem er offen sprach. „Ich bin hier, um dafür zu sorgen, dass Dein Volk nicht vernichtet wird. Ich will den Krieg verhindern.“ „Kannst Du das beweisen?“ „Jeannie, wenn Du mich in die Stadt zu der Gesellschaft für kulturelle Beziehungen bringst. Hier in der Wüste kann ich nichts tun. Nur sterben.“ Zum ersten Mal veränderte sich der starre Gesichtsausdruck des Disaners. Der Mann murmelte etwas vor sich hin und runzelte dabei die Stirn. Über seinen Augenbrauen erschienen plötzlich Schweißperlen, als er mit sich selbst kämpfte. Dann hatte er seine Entscheidung getroffen und stand auf. Brion erhob sich ebenfalls. „Kommt mit. Ich bringe Euch nach Hovedstad. Aber zuvor möchte ich etwas wissen - kommt Ihr von Nyjord?“ „Nein.“ Der namenlose Disaner nickte zufrieden und drehte sich um. Brion hob die noch immer bewusstlose Jeannie vom Boden auf und folgte ihm. Sie marschierten fast zwei Stunden lang, bevor sie wieder eine Ansammlung von größeren Felsen erreichten. Der Eingeborene zeigte auf einen besonders markanten Felsbrocken. „Wartet hier“, sagte er. „Ich werde jemand schicken.“ Er sah zu, wie Brion Jeannie im Schatten des Felsens ablegte, und gab ihm noch einmal die Vaede. Als er schon gehen wollte, drehte er sich nochmals zögernd um. „Ich heiße Ulv“, sagte er. Dann verschwand er hinter den Felsen. Brion gab sich größte Mühe, um Jeannie so gut wie möglich zu versorgen, aber er konnte nicht viel für sie tun. Wenn sie nicht bald in ärztliche Behandlung kam, würde sie sterben. Wassermangel und der Hitzeschock schwächten ihren angegriffenen Körper zusehends. Kurz vor Sonnenuntergang hörte er das Motorengeräusch eines Sandwagens, der von Westen her näher kam.
8 Das Geräusch wurde mit jeder Sekunde lauter. Die Ketten mahlten quietschend durch den Sand, als der Wagen auf der Suche nach Brion und Jeannie um die Felsen herum kurvte. Ein großer Transporter hielt in einer Staubwolke vor ihnen. Der Fahrer stieß die Tür von innen auf. „Los, steigt ein - aber schnell!“ rief der Mann. „Sonst wird es hier drinnen zu heiß!“ Er ließ ungeduldig den Motor aufjaulen und starrte Brion gereizt an. Brion überhörte die Aufforderung des Fahrers und legte Jeannie zunächst vorsichtig auf den Rücksitz des Wagens, bevor er die Tür schloss. Sofort setzte der Sandwagen sich wieder in Bewegung, während ein Strom kühler Luft aus der Klimaanlage blies. Im Innern des Wagens war es nicht wirklich kalt - aber die hier erzeugte Temperatur lag mindestens zwanzig Grad unter der draußen herrschenden. Brion deckte Jeannie mit allen zur Verfügung stehenden Klei19
dungsstücken zu, um zu verhindern, dass ihr Körper einem weiteren Schock ausgesetzt wurde. Der Fahrer, der über das Steuerrad gebeugt saß und mit halsbrecherischer Geschwindigkeit dahinraste, hatte kein weiteres Wort mit ihnen gewechselt. Brion sah auf, als der andere Mann aus dem Motorraum im hinteren Teil des Wagens kam. Der andere war sehr schlank und machte ein sorgenvolles Gesicht. Und er trug eine Pistole in der Hand. „Wer sind Sie?“ fragte er. Seine Stimme klang kalt und abweisend. Das war ein eigenartiger Empfang, aber Brion kam allmählich zu der Einsicht dass Dis ein eigenartiger Planet war. Der andere kaute aufgeregt auf seiner Unterlippe herum. Brion ließ sich Zeit mit seiner Antwort und sprach sehr langsam, weil er verhindern wollte, dass der Mann in seiner Erregung den Abzug der Pistole betätigte. „Ich heiße Brand. Wir sind vorletzte Nacht in der Wüste gelandet und bis hierher marschiert. Regen Sie sich nicht auf und schießen Sie nicht aus Versehen, wenn ich Ihnen noch etwas erzähle: Vion und Ihjel sind tot.“ Der Mann mit der Pistole riss erschrocken die Augen auf, Der Fahrer warf einen kurzen Blick über die Schulter zurück und konzentrierte sich dann wieder auf den Weg vor sich. Brions Versuch hatte Erfolg gehabt. Selbst wenn diese beiden Männer nicht Angestellte der Gesellschaft für kulturelle Beziehungen waren, wussten sie doch viel darüber. Brion war davon überzeugt, dass er Agenten der G.K.B. vor sich hatte. „Sie wurden erschossen, während wir zwei mit dem Leben davon kamen. Wir waren auf dem Weg in die Stadt, um mit Ihnen in Verbindung zu treten. Sie gehören zu der Gesellschaft, nicht wahr?“ „Ja. Selbstverständlich“, sagte der Mann und senkte die Pistole. Er starrte einen Augenblick lang zu Boden und riss dann seine Waffe wieder hoch, als sei er über seine Unaufmerksamkeit erschrocken. „Wenn Sie wirklich Brand sind, dann möchte ich etwas von Ihnen wissen.“ Er griff mit seiner freien Hand in die Brusttasche und holte einen gelben Spruchvordruck heraus. Seine Lippen bewegten sich, als er den Punkspruch noch einmal durchlas. „Beantworten Sie mir folgende Frage, falls Sie es können.“ Er warf erneut einen Blick auf das Blatt. „In welcher Reihenfolge finden die drei letzten Disziplinen in den Spielen statt?“ „Schach, Tontaubenschießen und Florettfechten. Warum fragen Sie das?“ Der Mann nickte zufrieden mit dem Kopf und schob die Pistole in den Halfter. „Ich heiße Faussel“, erklärte er Brion und schwenkte dabei den gelben Vordruck. „Hier ist Ihjels Testament, das uns von einem der Blockadeschiffe übermittelt wurde. Er ahnte, dass er sterben würde; und hatte recht damit. Ihjel hat Ihnen seine Aufgabe übertragen. Sie müssen hier das Kommando übernehmen. Ich war Mervvs Stellvertreter, bis der arme Kerl vergiftet wurde. Ich sollte für lhjel arbeiten, aber jetzt sind Sie der Chef. Jedenfalls bis morgen, bis wir alles verpackt haben, damit wir von diesem verdammten Planeten wegkommen.“ „Warum haben Sie es denn so fürchterlich eilig?“ erkundigte sich Brion. „Schließlich läuft das Ultimatum erst in drei Tagen ab. Bis dahin lässt sich noch eine Menge Arbeit erledigen!“ Faussel, der sich auf einen der Sitze niedergelassen hatte, sprang wieder auf. Um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, musste er sich mit beiden Händen an der Rückenlehne festhalten. „Drei Tage, drei Wochen, drei Minuten - finden Sie, dass das einen so großen Unterschied macht?“ Seine Stimme klang bei jedem Wort schriller, und er musste sich mühsam beherrschen, bevor er weitersprechen konnte. „Hören Sie. Sie haben keine Ahnung von der ganzen Sache. Sie sind eben erst angekommen, das ist Ihr Pech. Mein Pech ist es, dass ich in dieser Mausefalle bleiben und die dreckigen Eingeborenen beobachten muss. Ich muss ihnen gegenüber höflich bleiben, obwohl sie meine Freunde ermorden, obwohl dort oben die Raumschiffe von Nyjord kreisen. Früher oder später wird einer der Bombenschützen bestimmt nervös, wenn er an die Kobaltbomben denkt, die seine Heimat bedrohen. Und dann kracht es, selbst wenn das Ultimatum noch längst nicht abgelaufen sein sollte.“ „Setzen Sie sich, Faussel. Setzen Sie sich und ruhen Sie sich aus.“ Brions Stimme klang freundlich, aber trotzdem bestimmt. Faussel zögerte einen Augenblick, ließ sich dann aber in den Sitz fallen. Er schloss die Augen und murmelte leise vor sich hin. Offensichtlich hatten seine Nerven unter der langen Anspannung gelitten. Das gesamte G.K.B.Gebäude schien von einer ähnlichen Atmosphäre erfüllt, als sie es endlich erreichten, Verzweiflung und Untergangsstimmung. Nur der Arzt, der Jeannie sofort in die Krankenstation bringen ließ, schien von der allgemeinen Hysterie nicht betroffen zu sein. Er hatte wahrscheinlich genug mit seinen Patienten zu tun, als dass er sich noch um andere Dinge kümmern konnte. Alle anderen schienen zutiefst deprimiert zu sein. Sofort nach dem Essen ging Brion mit Faussel in das Büro, das für Ihjel vorgesehen gewesen war. Auf der anderen Seite der durchsichtigen Trennwand sah er die Angestellten, die Akten in große Transportkisten verpackten. Faussel schien jetzt weniger nervös, nachdem die Verantwortung von seinen Schultern genommen war. Brion nahm sich vor, dem Mann auf keinen Fall zu erzählen, dass dies sein erster Auftrag im Dienst der Gesellschaft war. Er brauchte jedes Quäntchen Autorität, denn die anderen würden sich nicht ohne weiteres mit den Maßnahmen abfinden, die er anordnen wollte. „Faussel, ich möchte Ihnen etwas diktieren, das Sie bitte an alle weiterleiten.“ Das geschriebene Wort machte mehr Eindruck. „Sämtliche Vorbereitungen zum Aufbruch sind sofort einzustellen. Die Akten werden an die alten Plätze zurückgestellt. Wir bleiben hier, bis die Nyjorder uns benachrichtigen. Wenn unsere Bemühungen keinen Erfolg haben, verlassen wir Dis gemeinsam. Dabei wird nur persönliches Gepäck mitgenommen. Alles andere bleibt hier. Sie alle müssen daran denken, dass wir hier sind, um einen Planeten zu retten, nicht aber Aktenschränke voll Papier.“ Aus dem Augenwinkel heraus sah er Faussel vor Ärger rot werden. „Legen Sie es mir zur Unterschrift vor, wenn es abgeschrieben ist. Und bringen Sie mir alle Berichte über den gegenwärtigen Stand unserer Arbeit. Danke, das wäre im Augenblick alles.“ Faussel stapfte hinaus, und eine Minute später sah Brion die wütenden Gesichter der übrigen Angestellten. Er kehrte ihnen den Rücken zu und öffnete eine Schreibtischschublade nach der anderen. In der obersten fand er einen versiegelten Umschlag. Er war an Sieger Ihjel adressiert. 20
Brion betrachtete ihn nachdenklich und riss ihn schließlich auf. Der Brief selbst war mit der Hand geschrieben. Ihjel, ich habe eben die offizielle Bestätigung erhalten, dass Du bereits unterwegs bist, um mich abzulösen. Ich muss sagen, dass ich mich seitdem ausgesprochen erleichtert fühle. Du hast genügend Erfahrung mit dergleichen Aufgaben und kommst vielleicht besser mit diesen Menschen aus. Ich habe mich seit zwanzig Jahren auf Forschungsaufgaben spezialisiert und bin nur deshalb nach Nyjord geschickt worden, weil ich meine Arbeiten dort am besten fortsetzen konnte. Ich fühle mich in einem Laboratorium wohler als in einem Büro; diese Tatsache kann niemand bestreiten. Du wirst mit den Angestellten Schwierigkeiten haben, deshalb ist es besser, wenn Du weißt, dass sie alle zwangsverpflichtet sind. Die eine Hälfte hat schon früher bei mir gearbeitet, die andere besteht aus Leuten, die zufällig erreichbar waren, als dieser Auftrag vorbereitet wurde. Niemand konnte ahnen, wie rasend schnell sich die Dinge entwickeln würden. Ich fürchte allerdings, dass wir nichts oder zu wenig getan haben, um diese Entwicklung aufzuhalten. Wir haben keinerlei Kontakt zu den Eingeborenen aufnehmen können. Es ist geradezu erschreckend! Sie passen in kein Schema. Ich habe es mit den Paisson-Distributionen für mindestens ein Dutzend Faktoren versucht, aber keine zwei stimmen miteinander überein. Auch die Pareto-Extrapolationen lassen sich nicht anwenden. Unsere Leute haben einsehen müssen, dass die Eingeborenen nicht mit sich sprechen lassen - zwei sind bei vergeblichen Versuchen ums Leben gekommen. Die herrschende Oberschicht ist unnahbar, die übrigen halten einfach den Mund und gehen wortlos weiter. Ich will mit LigMagte zu sprechen versuchen, vielleicht kann ich ihn zur Vernunft bringen. Ich bezweifle allerdings, dass dieser Versuch sehr sinnvoll ist. Vielleicht wird Lig-Magte sogar gewalttätig, denn die Angehörigen der Oberklasse neigen sehr dazu. Wenn ich gesund zurück komme, wirst Du diesen Brief nicht zu sehen bekommen. Wenn nicht - auf Wiedersehen, Ihjel. Ich wünsche Dir viel Glück für Deine Arbeit. Hoffentlich hast Du mehr Erfolg als ich. Aston Mervv P.S. Noch eine Warnung wegen der Angestellten. Sie sind eigentlich als Retter hier, hassen die Disaner aber wie die Pest. Ich fürchte, dass ich von diesem Vorurteil ebenfalls nicht frei bin. A. M.
Brion unterstrich die wichtigen Stellen des Briefes. Er musste unter anderem heraus bekommen, was diese ParetoExtrapolationen waren, ohne dabei seine Unkenntnis zu verraten. Die Angestellten würden innerhalb von fünf Minuten das Weite suchen, wenn sie erfuhren, wie wenig Erfahrung Brion hatte. Mit den Poisson-Distributionen war er schon eher vertraut. Allerdings schienen sie hier nicht anwendbar zu sein, denn auf Dis passten keine Regeln. Ihjel hatte diese Tatsache zugegeben, und Mervvs Tod bewies sie endgültig. Brion fragte sich, wer dieser Lig-Magte sein mochte, der anscheinend Mervv umgebracht hatte. Erst als jemand sich verlegen räusperte, bemerkte Brion, dass Faussel schon seit einiger Zeit vor seinem Schreibtisch wartete. Brion sah auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ihre Klimaanlage scheint nicht richtig zu funktionieren“, meinte Faussel. „Soll ich einen Mechaniker schicken, damit er sie überprüft?“ „Nein, das Gerät ist völlig in Ordnung; ich gewöhne mich nur an das Klima hier. Was wollten Sie noch, Faussel?“ Der andere warf ihm einen ungläubigen Blick zu, während er einige dünne Ordner auf Brions Schreibtisch legte. „Das sind die Berichte, in denen alle Einzelheiten enthalten sind, die wir bisher über die Disaner zusammengetragen haben. Es ist nicht sehr viel, aber angesichts der schroffen Zurückweisungen, denen wir auf diesem verdammten Planeten ständig ausgesetzt waren, ist es doch nicht so wenig.“ Er kniff die Augen zusammen und starrte Brion nachdenklich an. „Ich kann es nicht ändern, aber einige der Leute wundern sich wegen des Eingeborenen, der uns benachrichtigte. Wie haben Sie ihn nur dazu gebracht, dass er Ihnen behilflich war? Wir haben nie viel bei diesen Leuten erreicht, aber Sie finden gleich einen, der für Sie arbeitet. Deswegen sprechen die anderen auch darüber. Schließlich ist es auch ein bisschen seltsam, dass Sie so schnell“ Faussel hielt betroffen inne, als Brion ihn wütend ansah. „Ich kann nicht verhindern, dass die anderen sich damit beschäftigen - aber ich werde durchsetzen, dass nicht mehr darüber gesprochen wird. Unsere Aufgabe ist es, mit den Disanern in Verbindung zu treten, um diesen selbstmörderischen Krieg zu verhindern. Ich habe in einem Tag mehr erreicht als ihr alle miteinander in den vielen Wochen, die ihr bereits hier seid. Ich habe es geschafft, weil ich meine Arbeit besser als jeder andere hier verstehe. Das ist alles, was ich zu diesem Thema zu sagen habe. Sie dürfen gehen.“ Faussel war vor Ärger weiß, als er sich umdrehte und das Büro verließ, um den anderen zu berichten, dass der neue Direktor ein erbarmungsloser Sklaventreiber wäre. Sie würden Brion aus tiefster Seele hassen - und er war damit durchaus zufrieden. Er durfte nicht riskieren, dass sie auf den Gedanken kamen, dies könne sein erster Auftrag sein. Und vielleicht spornte dieser Hass sie zu besseren Arbeitsleistungen an. Die Verantwortung, die jetzt auf seinen Schultern lastete, war bestimmt nicht leicht zu tragen. Zum ersten Mal seit er diesen Planeten betreten hatte fand Brion etwas Zeit zum Nachdenken. Er kannte weder diese Welt noch die Parteien, die in diesen Konflikt verwickelt waren. Hier saß er an einem Schreibtisch und leitete die Außenposten einer Organisation, von deren Vorhandensein er erst seit wenigen Wochen wusste. Die Lage schien erschreckend und aussichtslos zugleich. Sollte er nicht lieber aufgeben? Nein. Bevor er nicht jemand gefunden hatte, der mehr von der Sache verstand, war er selbst am besten dafür geeignet. Ihjels Auffassung bestätigte ihn in seiner Meinung. Brion erinnerte sah daran, wie überzeugt sein Freund gewesen war, dass nur er den Auftrag erfolgreich zu Ende führen könne. Als er die Entscheidung getroffen hatte, fühlte Brion sich besser. Er lehnte sich nach vorn und drückte auf den Knopf 21
der Sprechanlage, unter dem FAUSSEL stand. „Ja?“ Selbst durch den Lautsprecher hindurch war nicht zu überhören, welcher Hass aus der Stimme des anderen sprach. „Wer ist Lig-Magte? Und ist der frühere Direktor von seinem Besuch bei ihm zurückgekommen?“ „Magte ist ein Titel, der etwa Edler oder Lord bedeutet. Lig-Magte ist eine Art Anführer. Er hat ein hässliches Kastell am Stadtrand. Anscheinend ist er das Sprachrohr der übrigen Magter, die diesen irrsinnigen Krieg wollen. Die zweite Frage kann ich nicht mit ja oder nein beantworten. Direktor Mervv blieb verschwunden, aber wir fanden seinen verkohlten Schädel am nächsten Morgen vor unserer Tür. Wir wussten, dass es seiner war, weil unser Arzt eine Brücke erkannte, die er erst eine Woche zuvor eingesetzt hatte. Haben Sie das verstanden?“ Faussel stieß die letzten Worte so laut hervor, dass sie Brion in den Ohren gellten. Anscheinend waren alle dem Nervenzusammenbruch nahe, wenn dieser Mann als typisches Beispiel angesehen werden konnte. Brion unterbrach ihn rasch. „Danke, das genügt, Faussel. Bestellen Sie dem Arzt, dass ich ihn so bald wie möglich sprechen möchte.“ Er schaltete das Gerät ab und schlug den ersten Ordner auf. Als der Arzt anrief, hatte er die Berichte oberflächlich durchgelesen und konzentrierte sich bereits auf wichtige Einzelheiten, Er zog sich eine warme Jacke an und durchquerte den weitläufigen Büroraum. Die wenigen Angestellten kehrten ihm demonstrativ den Rücken zu. Dr. Stine war Brion auf den ersten Blick sympathisch, weil er einen dichten Vollbart trug. Ein Mann, der genügend Willensstärke besaß, um sich auch in diesem Klima nicht von seinem Bart zu trennen, war jedenfalls eine willkommene Ausnahme. „Wie geht es der neuen Patientin, Doktor?“ Stine fuhr sich durch den Bart, bevor er antwortete. „Diagnose: Hitzeschock. Prognose: Wiederherstellung ist sicher. Ihr Zustand ist gut, wenn man in Betracht zieht, dass ihr Körper viel Wasser verloren hat. Der Sonnenbrand ist ziemlich schmerzhaft, aber die Behandlung macht gute Fortschritte. Ich habe ihr eine Schlafspritze gegeben.“ „Ich möchte, dass sie möglichst morgen schon wieder auf den Beinen ist, damit sie mir helfen kann. Wäre das möglich - wenn Sie ihr eine Spritze geben?“ "Mann. Natürlich kann ich ihr eine Spritze geben, aber die Idee gefällt mir gar nicht. Unter Umständen zeigen sich dann später unangenehme Nachwirkungen. Mit solchen Sachen ist immer ein gewisses Risiko verbunden.“ „Dieses Risiko müssen wir eben eingehen. In weniger als siebzig Stunden soll dieser Planet zerstört werden. Um diese Tragödie zu verhindern, brauchen wir wahrscheinlich jeden Mann - und jede Frau. Einverstanden?“ Der Doktor warf Brion einen nachdenklichen Blick zu. „Einverstanden!“ sagte er dann nachdrücklich. „Ich empfinde es geradezu als Vergnügen, dass endlich einmal ein Mann auftaucht, der seine Pflicht auch dann noch tun will, wenn es gefährlich werden könnte. Ich bin ganz ihrer Meinung!“ „Ausgezeichnet, dann können Sie mir gleich behilflich sein. Ich habe die Personallisten durchgesehen und festgestellt dass Sie der einzige Wissenschaftler in dem ganzen Haufen sind.“ „Eine ganz armselige Horde von Schreiberlingen und Bürojünglingen!“ stellte Dr. Stine mit Überzeugung in der Stimme fest. „Dann muss ich mich auf Sie verlassen, wenn ich ein paar klare Auskünfte brauche“, fuhr Brion fort. „Die Aufgabe vor uns ist außergewöhnlich, deshalb erfordert sie auch eine außergewöhnliche Lösung. Was bleibt uns schon anderes übrig, wenn weder Poisson-Distributionen noch Pareto-Extrapolationen anwendbar sind?“ Zu Brions Erleichterung nickte Dr. Stine an dieser Stelle zustimmend. Die beiden wissenschaftlichen Fachausdrücke - die einzigen, die Brion beherrschte - hatten also ihren Zweck erfüllt. „Je mehr ich mich mit der Sache beschäftige, desto überzeugter bin ich von der Ansicht, dass wir hier ein physisches Problem vor uns haben. Wäre es Ihrer Meinung nach möglich, dass die Selbstmordgedanken der Disaner eine Folgeerscheinung ihrer Anpassung an diesen Planeten sind?“ „Möglich? Möglich?“ Dr. Stine ging aufgeregt auf und ab. „Sie haben völlig recht, diese Möglichkeit besteht durchaus! Endlich denkt einmal jemand, anstatt nur einer Maschine Zahlen einzugeben und auf das Ergebnis zu warten. Wissen Sie, wie die Disaner leben?“ Brion schüttelte den Kopf. „Die Trottel hier finden ihre Lebensweise abscheulich, aber mich fasziniert sie geradezu. Diese Menschen haben es bis zu einer Symbiose mit anderen Lebensformen auf ihrem Planeten gebracht. In manchen Fällen treten sie sogar als echte Parasiten auf. Sie müssen sich immer vor Augen halten, dass jedes Lebewesen alle nur möglichen Anstrengungen unternehmen wird, um überleben zu können. Dieser Haltung gegenüber Abscheu zu verspüren, ist nur ein Zeichen für die Unreife der Menschen, die nie in ihrem Leben Hunger oder Durst gekannt haben. Die Disaner haben einfach den einzigen Ausweg ergriffen, der sich ihnen bot.“ Stine öffnete den Medikamentenschrank. „Wenn ich das Wort Durst höre, werde ich selbst durstig.“ Er goss etwas Alkohol in zwei Gläser, verdünnte ihn mit Wasser und warf einige Kristalle hinein, die er einer braunen Flasche entnahm. Dann gab er Brion ein Glas. Das Zeug schmeckte gar nicht schlecht. „Was wollten Sie damit sagen, als Sie Parasiten erwähnten, Doktor? Sind wir nicht alle Parasiten der niedrigeren Lebensformen? Wir essen doch Fleisch, Gemüse und ...“ „Nein, nein - Sie haben mich falsch verstanden! Wenn ich Parasit sage, dann meine ich das Wort in seiner engsten Bedeutung. Sie müssen sich darüber im klaren sein, dass ein Biologe eigentlich keinen Unterschied zwischen Parasitentum, Symbiose, Mutualismus, Kommensalismus... „ „Halt, halt!“ unterbrach ihn Brion. „Mit solchen Ausdrücken kann ich nichts anfangen. Wenn die ganze Sache sich nicht in einfacheren Worten erklären lässt, wundere ich mich nicht mehr, dass die übrigen Angestellten sich nicht dafür begeistern können.“ „Doch, sie lässt sich auch einfacher erklären“, beruhigte ihn Dr. Stine. „Alle Fachausdrücke beschreiben im Grunde genommen nur Variationen eines Grundvorgangs - zwei Lebewesen treten in eine enge Verbindung, die entweder nur einem von ihnen oder beiden nützt.“ 22
„Und die Grenzen zwischen verschiedenen Arten dieses Zusammenlebens lassen sich nicht ohne weiteres feststellen?“ warf Brion ein. „Genau. Auf diesem Planeten ist allein das Überleben so schwierig, dass alle miteinander konkurrierenden Lebensformen ausgestorben sind. Die übrigen, die voneinander abhängig sind und miteinander zusammenarbeiten, beherrschen jetzt das Feld allein. Alle Lebewesen - mit Ausnahme der Disaner - sind eigentlich eine Mischung aus Tier und Pflanze, wie die Flechten, die man auf anderen Planeten antrifft. Die Disaner haben ein Tier, das sie Vaede nennen. Es liefert ihnen Wasser, wenn sie in der Wüste unterwegs sind. Dieses Ding bewegt sich wie ein Kriechtier fort, macht aber wie eine Pflanze von der Photosynthese Gebrauch und speichert Wasser. Wenn die Disaner daraus trinken, zapft es ihren Blutstrom an und versorgt sich so mit Nahrungsstoffen. „Ich weiß“, stellte Brion trocken fest. „Wenn Sie genau hinsehen, können Sie die Narben noch erkennen. Ich sehe allmählich ein, wie die Disaner sich an das Leben hier angepasst haben. Glauben Sie, dass diese Veränderungen sich auf die herrschende Gesellschaftsordnung ausgewirkt haben könnten?“ „Ganz bestimmt. Aber wahrscheinlich kann ich meine Behauptungen über diesen Punkt nicht eindeutig beweisen. Ihre Leute müssten Ihnen mehr darüber sagen können, denn schließlich haben sie sich die ganze Zeit über damit beschäftigt.“ Brion hatte die Berichte über dieses Thema durchgelesen, ohne allzu viel davon zu verstehen, da sie zum größten Teil aus ihm unbekannten Abkürzungen und geheimnisvollen Diagrammen bestanden. „Bitte, sprechen Sie weiter, Doktor“, drängte er deshalb. „Mit den Berichten kann ich nichts anfangen, weil sie völlig ungenügend sind. Sie sind bisher der einzige Mann, der mir auf meine Fragen vernünftige Antworten gegeben hat.“ „Schön - aber auf Ihre Verantwortung. So wie ich es sehe, existiert hier gar keine Gesellschaft im herkömmlichen Sinn, sondern nur eine Ansammlung von Einzelwesen. Jeder ist auf sich selbst gestellt. Vielleicht versagen deshalb unsere Untersuchungsmethoden, die für menschliche Gesellschaftsformen gedacht sind. Die Disaner haben eben eine andere Art von Beziehungen untereinander entwickelt.“ „Und wie steht es mit den Magter, die in Kastellen leben und für die ganzen Schwierigkeiten verantwortlich sind?“ „Für diese Leute habe ich keine Erklärung“, gab Dr. Stine offen zu. „Bis auf diesen Punkt klingen meine Theorien durchaus logisch. Aber die Magter bilden eine Ausnahme, die ich mir nicht erklären kann. Sie sind völlig anders als die übrigen Disaner. Streitlustig, blutrünstig, immer auf Eroberungen aus. Dabei sind sie keine eigentlichen Herrscher. Sie haben nur deshalb die Macht in Händen, weil kein anderer sie will. Sie vergeben Bergwerkskonzessionen an Unternehmer von anderen Planeten, weil sie die einzigen Disaner sind, die einen Eigentumsbegriff entwickelt haben. Wenn Sie herausbekommen könnten, warum die Magter so verschieden von den anderen sind, dann wären Sie der Lösung Ihres Problems wahrscheinlich bereits ein gutes Stück näher.“ Zum erstenmal seit seiner Ankunft empfand Brion einen gewissen Enthusiasmus - und das unbestimmte Gefühl, dass dieses Problem sich lösen lassen würde. Er leerte sein Glas mit einem Zug und stand auf. „Ich hoffe, dass Sie Ihre Patientin frühzeitig aufwecken, Doktor. Ein Gespräch mit ihr müsste Sie genau so interessieren wie mich. Falls Ihre Vermutungen zutreffen, kann sie uns nämlich am ehesten eine Antwort geben. Sie ist Professor Jeannie Borriß und kommt geradewegs von der Erde, wo sie Exobiologie und Anthropologie studiert hat.“ „Wunderbar!“ meinte Dr. Stine begeistert. „Dann werde ich mich besonders gut um sie kümmern. Obwohl wir einen Atomkrieg zu erwarten haben, empfinde ich zum ersten Mal einen gewissen Optimismus, seit ich auf diesem Planeten gelandet bin.“
9 Der Posten, der im Innern des G.K.B.Gebäudes am Eingang Wache hielt, zuckte erschreckt zusammen und griff nach seiner Waffe. Dann ließ er langsam die Hand sinken, als ihm dämmerte, dass nur jemand hinter ihm geniest hatte - das allerdings laut und kräftig. Brion kam näher und wickelte sich fester in seine warme Jacke. „Ich gehe ein bisschen spazieren, bevor ich mir eine Lungenentzündung hole“, erklärte er. Der Posten salutierte verblüfft, warf einen Blick auf 23
den Schirm des Infrarotdetektors und öffnete die Tür, nachdem er das Licht ausgeschaltet hatte. Brion schlüpfte hinaus. Hinter ihm fiel das schwere Portal krachend ins Schloss. Er seufzte zufrieden auf, als er die warme Straße betrat, und knöpfte seine Jacke auf. Einerseits wollte er sich tatsächlich etwas umsehen - aber andererseits war dies die einzige Methode, um wieder warm zu werden. Weiter am Schreibtisch zu sitzen, war ziemlich sinnlos; die übrigen Angestellten hatten sich schon längst zurückgezogen. Brion hatte eine halbe Stunde geschlafen und war frisch und munter aufgewacht. Er hatte sämtliche Berichte durchgelesen, bis er sie Wort für Wort auswendig konnte. Jetzt wollte er die Zeit, in der die anderen schliefen, zu einem Erkundungsgang benutzen, um die größte Stadt auf Dis besser kennenzulernen. Als er durch die dunklen Straßen ging, stellte er immer wieder fest, wie sehr sich alles von anderen menschlichen Ansiedlungen unterschied. Der Name dieser Stadt - Hovedstad - bedeutete im Grunde genommen „Hauptort“, wenn man ihn wörtlich übersetzte. Viel mehr als das war sie auch nicht. Nur die Anwesenheit der Menschen von anderen Planeten machte daraus eine Stadt. Fast alle der nun leerstehenden Gebäude trugen Firmenschilder von Bergbaugesellschaften, Handelsniederlassungen und Raumreedereien. In einigen brannte noch immer Licht, das bei Anbruch der Dunkelheit automatisch eingeschaltet wurde. Ab und zu wurde zwischen ihnen ein von Disanern errichtetes Haus sichtbar, das sich von den aus Fertigteilen bestehenden Gebäuden der fremden Gesellschaften eindeutig abhob. Brion untersuchte eines davon, das von dem Leuchtzeichen der Wega-Metalle GmbH schwach erhellt wurde. Es bestand aus einem einzigen großen Raum, dessen Fußboden die festgestampfte Erde bildete. Fenster oder andere Lüftungsöffnungen schienen nicht vorhanden zu sein. Die Wände waren aus einer Art Gewebe konstruiert, das mit steinhartem Lehm beworfen war. Die Tür stand weit offen. Brion überlegte sich schon, den Raum zu betreten, als er merkte, dass ihm jemand folgte. Das leise Geräusch war kaum wahrnehmbar, aber Brion hatte es doch zufällig gehört. In der Dunkelheit hinter ihm hielt sich jemand versteckt. Brion suchte an der Mauer Rückendeckung. Der Unbekannte musste ein Disaner sein. Brion erinnerte sich plötzlich wieder an Mervvs Ermordung. lhjel hatte Brion auf seine Begabung hingewiesen und hatte seine empathischen Fähigkeiten systematisch trainiert. In der Dunkelheit ließen sie sich nur schwer anwenden; er durfte sich nicht völlig darauf verlassen. Spürte er wirklich eine Reaktion - oder empfand er nur den Wunsch danach? Weshalb erschien sie ihm so vertraut? Brion hatte plötzlich eine Idee. „Ulv“, flüsterte er. „Hier ist Brion.“ Er duckte sich und war auf einen Angriff vorbereitet. „Ich weiß“, antwortete eine leise Stimme aus der Dunkelheit. „Sprich nicht weiter. Behalte die eingeschlagene Richtung bei.“ Fragen waren im Augenblick sinnlos, deshalb drehte Brion sich um und ging wortlos weiter. Die Gebäude blieben hinter ihm zurück - er befand sich wieder in der Wüste. Das konnte eine Falle sein - Brion hatte die flüsternde Stimme nicht erkannt -, aber er musste das Risiko eingehen. Ein dunkler Schatten tauchte aus der Nacht auf und eine heiße Hand berührte seinen Arm. „Ich gehe voraus. Bleib dicht hinter mir.“ Diesmal waren die Worte lauter, und Brion erkannte die Stimme. Ulv wartete Brions Antwort nicht ab, sondern ging weiter. Brion blieb ihm auf den Fersen, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Sie hatten einige Dünen zu überwinden, bis sie eine steile Geröllhalde erreichten, die von tiefen Rinnen durchzogen war. Dann kletterten sie eine dieser Rinnen hinab, die sich zu einer Schlucht vertiefte. Als sie eine Biegung hinter sich gebracht hatten, sah Brion einen schwachen Lichtschein, der aus einem Loch in der Lehmwand drang. Ulv ließ sich auf Hände und Knie nieder und verschwand in dem engen Loch. Brion folgte ihm und versuchte, das Unbehagen, das er dabei empfand, nach Möglichkeit zu unterdrücken. In dieser Lage - auf allen vieren und mit dem Kopf voran - war er äußerst verwundbar. Der kurze Gang führte in eine wesentlich größere Höhle. Brion hatte eben erst leise Schritte gehört, als er auch schon eine Welle von Hass und Verachtung spürte, die ihm entgegenschlug. Einen Augenblick später hatte er den engen Gang hinter sich gebracht und richtete sich mit gezogener Waffe auf. Während dieser wenigen Sekunden hätte er sterben sollen. Der Disaner über ihm hatte mit einem Steinbeil zu einem vernichtenden Schlag ausgeholt, der Brion den Schädel zerschmettert hätte. Aber Ulv umklammerte das Handgelenk des anderen und hinderte ihn daran. Keiner der beiden sprach, als sie verbissen miteinander rangen. Brion wich ihnen aus und richtete seine Waffe auf den Unbekannten. Der Disaner starrte ihn wütend an und ließ das Beil fallen, als er erkannte, dass sein Angriff fehlgeschlagen war. „Warum hast Du ihn hergebracht?“ führ er Ulv an. „Du hättest ihn gleich umbringen sollen!“ „Er ist hier, damit wir uns anhören können, was er zu sagen hat, Gebk. Er ist der Mann, den ich in der Wüste gefunden habe.“ „Gut, wir hören uns an, was er zu sagen hat und bringen ihn dann um.“ Gebk stieß diese Worte mit einem erbarmungslosen Lächeln hervor. Sie waren keineswegs humorvoll gemeint, sondern bitter ernst. Brion erkannte jedoch daraus, dass ihm im Augenblick keine Gefahr drohte. Er steckte die Waffe fort und sah sich in der Höhle um. Dabei bemerkte er, dass im Hintergrund eine Frau und ein Kind saßen, die sich mit dem Feuer beschäftigten, von dem die Höhle schwach erleuchtet wurde. Die Frau griff nach einer Kelle und füllte drei Tonschalen aus dem Topf, der über der Glut hing. Das Zeug stank entsetzlich, und Brion hätte sich am liebsten die Nase zugehalten, während er es aß. Er gebrauchte seine Finger dazu, wie er es von den anderen sah und schwieg, während er aß. Er konnte nicht feststellen, ob dieses Schweigen Ritual oder Gewohnheit war. Jedenfalls hatte er auf diese Weise Gelegenheit, sich in aller Ruhe umzusehen. Die Höhle war offensichtlich nicht auf natürliche Art entstanden, denn überall an den Wänden waren Spuren von Werkzeugen zu sehen. Die Decke war von einem Netz aus dünnen Wurzeln überzogen, die in dem harten Lehm ver24
schwanden. An einer Stelle waren sie zu einem armdicken Strang miteinander verflochten, an dem vier Vaedes hingen; auch Ulv hatte seine abgelegt, bevor er sich setzte. Ihre Zähne mussten sofort zugebissen haben, weil sie an dem Flechtwerk hängen geblieben war - ein weiteres Glied in dem Lebenszyklus der Disaner. Dies schien die Wasserquelle der Vaedes zu sein, von denen die Menschen tranken. Brion bemerkte, dass man ihn ansah, und lächelte das kleine Mädchen an. Sie war bestimmt nicht älter als sechs Jahre, aber trotzdem bereits in jeder Beziehung eine echte Disanerin. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, als sie Brion anstarrte, ohne sein Lächeln zu erwidern. Er spürte den Hass, der von ihr ausging. Ulv stellte seine Schale beiseite und rülpste laut. Er wandte sich an Brion. „Ich habe Dich in die Stadt gebracht, wie ich es versprochen hatte. Hast Du dort getan, was Du versprochen hast?“ „Was hat er versprochen?“ fragte Gebk. „Dass er den Krieg verhindern würde? Hast Du ihn verhindert?“ „Ich versuche ihn zu verhindern“, sagte Brion. „Aber das ist nicht so einfach. Ich brauche Hilfe dabei. Euer Leben muss geändert werden - von Grund auf. Wenn Ihr mir helfen würdet, könnte ich...“ „Soll das die Wahrheit sein?“ unterbrach ihn Ulv. „Ich höre immer nur andere Meinungen, aber die Wahrheit bleibt verborgen. Wir haben immer getan, was uns die Magter sagten. Wir bringen ihnen Essen und erhalten dafür Metall und manchmal auch Wasser, wenn wir es brauchen. Wenn wir ihre Befehle ausführen, bringen sie uns nicht um. Vielleicht ist es falsch, dass wir ihnen gehorchen, aber sie geben mir Bronze für meine Werkzeuge. Sie haben uns gesagt, dass sie für uns eine Welt von den Himmelsmenschen erobern wollen und das ist gut.“ „Wir alle wissen, dass die Himmelsmenschen in jeder Beziehung schlecht und verdorben sind“, warf Gebk ein. „Deshalb ist es nur gut, wenn man sie umbringt.“ Brion starrte die beiden Disaner verblüfft und erschrocken an. „Warum hast Du mich dann nicht auch umgebracht, Ulv?“ fragte er langsam. „Damals in der Wüste, oder heute, als Du Gebk davon abgehalten hast?“ „Ich hätte es tun können. Aber ich wollte eine Frage beantwortet haben. Was ist die Wahrheit? Sollen wir das glauben, was wir immer für wahr gehalten haben? Oder sollten wir dem hier Glauben schenken?“ Er warf Brion ein quadratisches Stück Plastikmaterial zu, das nicht größer als seine Handfläche war. Brion hielt es gegen das Licht und erkannte eine simple Darstellung, die eine Bedienungsanleitung darstellte. Wenn man eine bestimmte Stelle zwischen Daumen und Zeigefinger nahm, wurde genügend Strom erzeugt, um die Aufzeichnung hörbar zu machen. Die übrige Fläche diente als Lautsprecher, indem sie vibrierte. Obwohl die Stimme dünn und mechanisch klang, waren die Worte deutlich zu verstehen. Es handelte sich dabei um einen Aufruf an die Disaner, den Magter nicht mehr Gehorsam zu leisten. Dann wurde erklärt, dass die Magter einen Krieg begonnen hatten, der nur ein Ende haben konnte - die Zerstörung von Dis. Nur wenn die Magter ausgeschaltet und ihre Waffen entdeckt wurden, bestand noch eine Hoffnung auf Frieden. „Ist das wahr?“ fragte Ulv. „Ja“, antwortete Brion. „Vielleicht sind diese Worte wahr“, gab Gebk zu, „aber wir können nichts tun. Ich war mit meinem Bruder zusammen, als diese Wortdinger aus dem Himmel fielen, und er hörte sich eines an und ging damit zu den Magter, um sie danach zu fragen. Sie brachten ihn um, wie er es sich hätte denken können. Die Magter töten uns, wenn sie erfahren, dass wir die Worte hören.“ „Und die Worte sagen uns, dass wir sterben müssen, wenn wir auf die Magter hören!“ rief Ulv aus. Auf seinem Gesicht war deutlich die Verwirrung zu erkennen, die er empfand, während er die beiden Gesichtspunkte miteinander in Einklang zu bringen versuchte. Bis vor kurzer Zeit hatte sein Weltbild noch Ähnlichkeit mit einer Schwarzweißzeichnung gehabt, in der es keine Zwischentöne gab. „Es gibt aber einen Weg, wie ihr den Krieg verhindern könnt, ohne Euch selbst oder den Magter zu schaden“, sagte Brion, der die beiden Männer unbedingt für sich gewinnen wollte. „Welchen?“ erkundigte sich Ulv „Es braucht nicht zu einem Krieg zu kommen, wenn jemand die Magter zur Vernunft bringen könnte. Sie stürzen Euch alle ins Unglück. Ihr könntet mir sagen, wie man mit den Magter spricht, wie ich sie verstehen könnte ...“ „Niemand kann mit den Magter sprechen“, unterbrach ihn die Frau, die bisher schweigend zugehört hatte. „Wenn man anderer Meinung als sie ist, bringen sie einen um, wie sie Gebks Bruder getötet haben. Deshalb sind sie leicht zu verstehen. So sind sie eben. Sie verändern sich nie.“ „Mor hat recht“, stimmte Ulv zu. „Mit den Magter kann man nicht sprechen. Gibt es sonst noch eine Möglichkeit?“ Brion sah die beiden Eingeborenen nachdenklich an und veränderte seine Haltung leicht. Dabei näherte sich seine rechte Hand unmerklich dem Griff der Waffe. „Die Magter verfügen über Waffen, mit denen sie Nyjord zerstören wollen - das ist der nächste Planet, ein Stern an eurem Himmel. Wenn ich die Bomben finde, werde ich sie fortschaffen lassen, damit es keinen Krieg gibt.“ „Du willst den Teufeln im Himmel gegen unser eigenes Volk beistehen!“ rief Gebk empört und wollte aufspringen. Ulv zog ihn zu sich herab, aber auch seine Stimme war kalt und unfreundlich geworden. „Du verlangst zuviel. Du musst jetzt gehen.“ „Wollt Ihr mir nicht trotzdem helfen? Wollt ihr nicht auch den Krieg verhindern?“ fragte Brion. Er erkannte, dass er zu weit gegangen war, aber trotzdem wollte er die beiden Männer noch einmal auf den Grund seines Kommens hinweisen. „Du verlangst zuviel“, wiederholte Ulv. „Geh jetzt. Wir werden darüber nachdenken.“ „Werde ich Dich wiedersehen? Wie kann ich mich mit Dir in Verbindung setzen?“ „Wir werden Dich finden, wenn wir mit Dir sprechen wollen“, antwortete Ulv. Wenn sie der Meinung waren, dass er, Brion, gelogen hatte, würde er sie nie wieder zu Gesicht bekommen. Dagegen ließ sich nichts tun. 25
„Ich habe darüber nachgedacht“, sagte Gebk und erhob sich. „Du lügst, denn alle Himmelsmenschen lügen. Wenn ich Dir noch einmal begegne, werde ich Dich umbringen.“ Er bückte sich und verschwand in dem engen Gang. Brion erreichte das G.K.B.Gebäude erst gegen Morgen, der Wachtposten am Tor war inzwischen abgelöst worden. Er öffnete es erst, als Faussel im Schlafanzug herunter gekommen war und Brion identifiziert hatte. Faussel gähnte verschlafen und wollte sich anscheinend beschweren, aber Brion unterbrach ihn und gab ihm den Befehl, so schnell wie möglich vollständig angezogen in seinem Büro zu erscheinen. Die Klimaanlage funktionierte wieder, und Brion fluchte über den Übereifrigen, der sie angestellt hatte. Diesmal drehte er sie nicht nur ab, sondern entfernte auch einige wichtige Teile, ohne die sie nicht arbeitete. Als Faussel hereinkam, gähnte er noch immer - anscheinend war sein Blutzuckerspiegel morgens besonders niedrig. „Bevor Sie auf die Nase fallen, holen Sie sich eine Tasse Kaffee“, sagte Brion. „Oder besser zwei. Ich trinke auch eine.“ „Das ist nicht nötig“, antwortete Faussel steif. „Ich kann in der Kantine anrufen, wenn Sie welchen möchten.“ Brion hatte ganz vergessen, dass die Angestellten nicht gut auf ihn zu sprechen waren. „Schön, wie Sie wollen“, sagte er und verfiel wieder in seine Rolle als Sklaventreiber. „Aber wenn Sie noch einmal gähnen, werde ich einen Verweis in ihre Personalpapiere eintragen. Ist das klar? Ich möchte von Ihnen etwas über unsere Beziehungen zu den Disanern hören. Wie stehen sie zu uns?“ Faussel unterdrückte nur mühsam ein Gähnen. „Ich glaube, dass sie die G.K.B.Leute als Trottel ansehen, Sir. Sie hassen alle Fremden, denn die Erinnerung an die Zeit, als sie von allen verlassen wurden, ist noch immer lebendig. Nach den Grundsätzen ihrer einfachen Logik müssten wir sie ebenfalls hassen oder fortgehen. Wir bleiben aber. Und geben ihnen Essen, Wasser, Medikamente und Werkzeuge. Deshalb finden sie sich mit unserer Gegenwart ab. Wahrscheinlich betrachten sie uns als harmlose Idioten, die bleiben dürfen, solange sie keine Schwierigkeiten machen.“ Er kämpfte gegen ein Gähnen an, deshalb drehte Brion sich um und gab ihm Gelegenheit dazu. „Besteht eine Verbindung mit dem Kommandanten der Blockadeflotte?“ erkundigte Brion sich dann. „Wir haben eine Direktverbindung, die automatisch verschlüsselt wird. Ich werde Sie mit ihm verbinden.“ Faussel wählte eine Nummer. Auf dem Bildschirm erschienen schwarze und weiße Flecken. „Danke, Faussel, ich brauche Sie nicht mehr“, sagte Brion. „Wie heißt übrigens der Kommandant?“ „Professor Krafft - ein Physiker. Da es auf Nyjord keine Militärs gibt, leitete er die Entwicklung der Bomben und Energiewaffen. Jetzt ist er für den Einsatz verantwortlich.“ Faussel gähnte ausgiebig, als er zur Tür ging. Der Professor-Kommandant wirkte mit seinen weißen Haaren und dem faltigen Gesicht sehr alt. Sein Bild auf dem Schirm war zunächst noch etwas undeutlich, wurde aber klarer, als die automatische Verschlüsselung sich selbsttätig abstimmte. „Sie müssen Brion Brand sein“, begann er. „Ich möchte Ihnen vor allem sagen, wie tief mich der Tod Ihres Freundes Ihjel getroffen hat. Ich bin sicher, dass Sie einen guten Freund in ihm verloren haben.“ „Ja ... ja, selbstverständlich“, stotterte Brion, der sich kaum noch an den ersten Zusammenstoß erinnern konnte, weil ihn jetzt das Schicksal eines Planeten beschäftigte. „Sehr freundlich von Ihnen, dass Sie es erwähnen. Aber ich wollte Sie eigentlich um ein paar Auskünfte bitten. „Bitte, jederzeit. Ich stehe zu Ihrer Verfügung.“ Professor Krafft wartete geduldig, bis Brion seine Gedanken wieder gesammelt hatte. „Ich wollte Lig-Magte aufsuchen und halte es für besser, wenn ich einen offiziellen Grund dafür hätte“, sagte Brion schließlich. „Stehen Sie in Verbindung mit ihm?“ Krafft schüttelte den Kopf. „Nein, wir haben keine eigentliche Verbindung zu ihm. Ich habe ihm ein Funkgerät bringen lassen, aber er will nur auf einen Funkspruch antworten, in dem unsere Kapitulation angekündigt wird.“ „Na, da kann er lange warten“, murmelte Brion vor sich hin. „Keineswegs - jedenfalls bestand die Aussicht darauf. Sie sind sich doch darüber im klaren, Brand, dass die Entscheidung über die Anwendung der Bomben nicht einstimmig war. Viele von uns - mich eingeschlossen - stimmten für eine bedingungslose Kapitulation. Wir unterlagen nur knapp.“ Brion zuckte unmerklich mit den Schultern und überging dieses Thema. „Wie viele Ihrer Leute sind noch auf Dis? Oder kann ich mich an Sie um Hilfe wenden? Falls ich die Bomben oder die Abschussrampe finde, möchte ich sie durch einen Überraschungsangriff ausschalten.“ „Unsere Leute haben Hovedstad verlassen. Aber wir halten einige Stoßtrupps bereit, die sofort landen können, wenn es sich als nötig erweist. Die Disaner müssen ihre Waffen gut versteckt halten, weil wir stark genug sind, um erfolgreich anzugreifen.“ Krafft zögerte einen Augenblick. „Dann gibt es noch eine andere Gruppe, von der Sie wissen müssen: Sie brauchen alle Tatsachen. Einige unserer Leute sind in der Wüste außerhalb von Hovedstad. Sie werden nicht offiziell unterstützt. Die Gruppe besteht aus jungen Leuten, die versuchen, die Waffen durch Gewalt ausfindig zu machen.“ Das war bisher die beste Nachricht. Brion beherrschte sich und sprach mit ruhiger Stimme weiter. „Können Sie mir sagen, wie ich mit diesen Leuten in Verbindung treten kann?“ Krafft lächelte leicht. „Ich werde Ihnen die Frequenz geben, auf der Sie sie erreichen können. Sie nennen sich Nyjord Army. Wenn Sie mit ihnen sprechen, können Sie mir einen Gefallen tun. Unsere Techniker haben festgestellt, dass die Abschussrampe früher als erwartet in Betrieb genommen werden kann. Geben Sie also bitte weiter, dass die Entscheidung um einen Tag vorverlegt werden musste. Wir haben nur noch zwei Tage Zeit. Tut mir leid, dass Ihre Arbeit dadurch erschwert wird.“ Brion wagte nicht daran zu denken, was dieser geänderte Termin bedeuten konnte. „Haben Sie die Disaner schon davon in Kenntnis gesetzt?“ „Nein.“ Krafft schüttelte den Kopf. „Die Entscheidung wurde erst vor wenigen Minuten getroffen. Wir werden sie Lig-Magte über Funk mitteilen.“ 26
„Können Sie das noch verhindern, damit ich die Nachricht persönlich überbringen kann?“ „Ja, aber ...“ Krafft dachte nach. „Aber das würde Ihren sicheren Tod bedeuten. Die Magter zögern keine Sekunde, wenn sie einen von uns umbringen wollen. Mir wäre ein Funkspruch lieber.“ „Ist mein Leben nicht meine Sache?“ Zum erstenmal schien Professor Krafft erregt. „Ja, natürlich, Sie können tun, was Sie für richtig halten.“ Er drehte sich um und wandte sich an den im Hintergrund sichtbaren Funker. „Der Spruch geht nicht hinaus.“ Dann sprach er wieder mit Brion. „Jetzt tragen Sie die Verantwortung. Viel Glück und Erfolg. Ende.“ „Ende“, sagte Brion, und der Bildschirm wurde dunkel. „Faussel!“ rief er in die Gegensprechanlage hinein. „Besorgen Sie mir den besten und schnellsten Sandwagen, den wir haben, einen Fahrer, der sich in dieser Gegend auskennt, und zwei Männer, die mit einem Gewehr umgehen können und Befehle ordentlich ausführen. Wir werden endlich einmal etwas unternehmen!“
10 „Reiner Selbstmord“, meinte der größere Posten. „Aber meiner, nicht Ihrer, deshalb brauchen Sie sich nicht den Kopf darüber zerbrechen“, wies Brion ihn zurecht. „Wiederholen Sie Ihren Auftrag!“ Der Wachtposten zuckte mit den Schultern. „Wir bleiben in dem Wagen und lassen den Motor laufen, während Sie in den Steinhaufen dort drüben gehen. Wir lassen niemand in den Wagen oder auch nur in die Nähe, dürfen aber nur im Notfall von der Waffe Gebrauch machen. Wir folgen Ihnen auf keinen Fall, sondern erwarten Sie hier. Nur wenn Sie uns über Funk rufen, dringen wir in das Gebäude ein und machen von der Waffe Gebrauch. Das ist allerdings der letzte Ausweg.“ „Können Sie es nicht so arrangieren, dass nur dieser letzte Ausweg bleibt, Sir?“ schlug der andere Posten vor und klopfte auf den bläulichen Lauf seiner Waffe. „Wenn ich letzten Ausweg sage, dann meine ich es auch“, gab Brion wütend zurück. „Ich möchte keine Schießerei ohne meine ausdrückliche Erlaubnis. Sie bleiben hier, um mir den Rücken zu decken. Haben Sie das verstanden?“ Die drei Männer nickten wortlos. Brion schnallte seine Pistole ab, denn die eine Waffe würde im Ernstfall ohnehin nicht genügen. Das winzige Funkgerät an seinem Kragen sandte ein Signal aus, das stark genug war, um die dicksten Mauern zu durchdringen. Er zog die Jacke aus, öffnete die Wagentür und kletterte in den heißen Sand hinunter. Hundert Meter vor ihm erhob sich das massive, aus schwarzen Felsblöcken erbaute Kastell. Brion bewegte sich darauf zu und hielt gleichzeitig. nach einem Lebenszeichen Ausschau. Nirgends zeigte sich die geringste Bewegung. Der hohe, unregelmäßig geformte Steinklotz schien in unnahbares Schweigen gehüllt. Brion spürte, dass ihm der Schweiß ausbrach. Aber daran war nicht nur die Sonne schuld. Er ging einmal um das Kastell herum und suchte dabei nach einem Eingang. Zu ebener Erde war keiner zu sehen. Eine steil nach oben führende Rampe an der Außenwand war nicht schwer zu erklimmen, aber Brion erschien es unwahrscheinlich, dass dies der einzige Zugang sein sollte. Er legte die Hände an den Mund und rief so laut er konnte. „Ich komme hinauf. Euer Funkgerät arbeitet nicht mehr. Ich bringe die Nachricht von den Nyjordern, auf die ihr 27
wartet.“ Der letzte Satz entsprach nicht ganz der Wahrheit, aber Brion wollte sicher gehen, dass die Magter ihn einlassen würden. Niemand antwortete ihm, deshalb begann er nach oben zu klettern. Wenige Minuten später hatte er den Mauerkranz erreicht, von dem aus mehrere Öffnungen in das Innere des Gebäudes führten. Brion stieg eine Treppe hinunter, die nur schwach beleuchtet war. Nachdem er sich einige Male in Gängen verirrt hatte, die plötzlich vor einer Mauer endeten, sah er endlich einen stärkeren Lichtschein vor sich. Noch dreißig Schritte, dann stand er in der Tür eines riesigen Raums, der sich wie ein dumpfer Kegel allmählich nach oben verjüngte. Durch ein rundes Loch in der Decke war der Himmel sichtbar. Vor Brion stand eine Gruppe von Männern, die ihm entgegensahen. Aus dem Augenwinkel heraus nahm er weitere Einzelheiten der Einrichtung dieses Raums wahr, deren Zweck er nicht sofort erkannte. Er konnte sich nicht allzu lange damit befassen. Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich völlig auf die Männer in den langen Gewändern, die von Kopf bis Fuß verhüllt waren. Er stand dem Feind gegenüber. Was er bisher auf Dis erlebt und durchgemacht hatte, war nur eine Vorbereitung auf diesen Augenblick gewesen. Erst jetzt begann der eigentliche Kampf, obwohl ihm im Augenblick noch keine Gefahr zu drohen schien. Als er über diese Tatsache nachdachte, blieb er verwirrt stehen. Was war hier so eigenartig? Keiner der Männer bewegte sich oder gab ein Geräusch von sich. Woher wusste er überhaupt, dass er Menschen vor sich hatte? Die Männer waren so verhüllt, dass nur ihre Augen sichtbar waren. Brion empfand jedoch keinerlei Zweifel. Er wusste, dass er lebende Menschen vor sich hatte, obwohl sie sich nicht bewegten. Ihre Augen zeigten keinen Ausdruck, sondern nur den leeren Blick eines Raubvogels, der sein Opfer mitleidlos betrachtet. Alles das erkannte Brion, bevor er einen einzigen Schritt getan hatte. Ein Empath konnte sich in dieser Beziehung unmöglich irren. Die Magter schienen fern jeglicher Gefühle zu sein. Brion spürte eine schwache Ausstrahlung - die automatischen Nervenreaktionen, die einen Organismus am Leben erhalten. Aber nicht mehr als das. Er suchte nach anderen Regungen, entdeckte aber keine. Entweder existierten diese Männer ohne Gefühle irgendwelcher Art, oder sie verbargen sie vor ihm; Brion konnte nicht entscheiden, welche Möglichkeit hier zutraf. Die Männer starrten ihn noch immer schweigend und unbeweglich an. Sie erwarteten nichts, aus ihrer Haltung war nicht einmal Interesse zu erkennen. Er war zu ihnen gekommen. Und nun warteten sie darauf, dass er den Grund dafür nennen würde. Fragen oder andere Zeichen von Neugierde waren überflüssig, deshalb schwiegen sie beharrlich. Brion musste den ersten Schritt tun. „Ich bin gekommen, um mit Lig-Magte zu sprechen. Wer von Euch ist es?“ In dem riesigen Raum klang Brions Stimme dünn und leise. Einer der Männer machte eine kurze Bewegung, um Brions Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die übrigen blieben stehen. Sie warteten noch immer. „Ich bringe eine Nachricht für Sie“, begann Brion langsam. Er musste richtig vorgehen. Aber was war hier richtig? „Ich komme von der Gesellschaft für kulturelle Beziehungen in Hovedstad, wie Sie bestimmt wissen. Ich habe mit den Nyjordern gesprochen. Sie lassen Ihnen durch mich eine wichtige Nachricht übermitteln.“ Die Männer schwiegen weiter. Brion schwieg ebenfalls, weil er keinen Monolog halten wollte. Er musste sich eine Meinung bilden können. Das war unmöglich, wenn er nur die schweigsamen Gestalten vor sich anstarrte. Schließlich ergriff Lig-Magte das Wort. „Die Nyjorder wollen kapitulieren.“ In seiner Stimme lag weder Triumph über den Sieg noch Zweifel an der Richtigkeit seiner Feststellung. Diese Männer wollten nur eine Nachricht von den Nyjordern entgegennehmen. Deshalb musste Brion sie überbringen. Falls Brion eine andere Nachricht zu übermitteln hatte, hatten die Männer keinerlei Interesse daran. Das war eine unbestreitbare Tatsache. Wenn sie kein Interesse daran hatten, war Brion von diesem Augenblick an für sie wertlos. Er war ein Feind, weil die Feinde ihn geschickt hatten. Deshalb musste er getötet werden. Brion dachte diesen Gedanken bis zu Ende durch, weil davon sein Leben abhängen konnte. Das war eine logische Möglichkeit - und jetzt konnte er sich nur noch auf die Logik seiner Gedankengänge verlassen. Der Reaktion dieser Männer nach zu urteilen, hätten sie eben so gut Maschinenwesen sein können. „Ihr könnt diesen Krieg unmöglich gewinnen - Ihr beschleunigt damit nur Euer eigenes Ende.“ Brion brachte diesen Satz mit Überzeugung hervor, obwohl er wusste, dass der Versuch fehlschlagen würde. Die Verhüllten schwiegen weiter. „Die Nyjorder wissen, dass Ihr Kobaltbomben und eine Abschussrampe habt. Sie wollen kein Risiko mehr eingehen. Das Ultimatum ist um einen vollen Tag verkürzt worden. Jetzt bleiben nur noch 1½ Tage, bevor die Wasserstoffbomben fallen und alles Leben auf Dis vernichten. Seid Ihr Euch darüber im klaren, was das...“ „Ist das die Nachricht?“ fragte Lig-Magte. „Ja“, antwortete Brion. Brion verdankte sein Leben nur seiner außergewöhnlich schnellen Reaktionsfähigkeit und der Tatsache, dass er den Überraschungsangriff bereits im voraus geahnt hatte. Trotzdem konnte er nicht rasch genug ausweichen, als Lig-Magte mit geschwungenem Messer auf ihn losstürzte, sondern trug eine Schnittwunde am rechten Oberarm davon. Alles andere geschah innerhalb weniger Sekunden. Brion wehrte den zweiten Angreifer ab und umklammerte die Hand des Gegners, bevor der andere erneut ausholen konnte. Wenn keiner der übrigen Vermummten eingriff, musste Brion gewinnen, weil er kräftiger als Lig-Magte war. Der Disaner hatte keine Wahl mehr - er musste das Messer fallen lassen, bevor Brion ihm das Handgelenk brach. Er machte keine Anstalten dazu. Brion ahnte plötzlich, dass Lig-Magte auf keinen Fall nachgeben würde. Die Hand des Disaners hing schlaff herab. Brion ließ los und starrte verwirrt in das unbewegliche Gesicht des anderen, auf dem sich kein Schmerz zeigte. Das Messer fiel zu Boden, wo Brion es mit dem Fuß fort stieß. „Hören Sie auf!“ sagte er laut. „Sie haben keine Chance mehr!“ Er wandte sich an die übrigen Männer, die dem 28
ungleich gewordenen Kampf ungerührt zusahen. Keiner antwortete ihm. Lig-Magte ballte die unverletzte Hand zu einer Faust und griff wieder an. In diesem Augenblick erkannte Brion, dass sein Gegner nicht nachgeben würde, selbst wenn er ihm sämtliche Glieder brach. Dieser Kampf konnte nur auf eine Weise beendet werden. Brion duckte sich, schlug Lig-Magtes Arm in die Höhe und rammte ihm die Fingerspitzen der linken Hand in das Nervenzentrum unterhalb des Brustbeins. Brion hatte eine gute Ausbildung in Karate hinter sich. Der Disaner stolperte noch einige Schritte und brach dann in die Knie. Der Kampf war auf die einzig mögliche Weise entschieden worden. Brion stand über Lig-Magtes Körper und starrte die verhüllten Gestalten an. Sie schwiegen, aber selbst ihre unbewegliche Haltung täuschte ihn nicht über die Lebensgefahr hinweg, in der er sich befand, nachdem er ihren Anführer besiegt hatte. Eine tödliche Drohung erfüllte den Raum.
11 Brion beobachtete die schweigenden Disaner und überlegte angestrengt. Er hatte keinen Zweifel daran, dass die Magter sich an ihm rächen würden, sondern bedauerte nur, dass er seine Pistole nicht mitgebracht hatte. Aber was half ihm dieses Bedauern jetzt? Er musste etwas tun! Als der Angriff nicht sofort erfolgte, wurde es Brion klar, dass die anderen wahrscheinlich noch gar nicht wussten, dass Lig-Magte tot war. Nur Brion selbst kannte die tödliche Wirkung seines Schlages. Diese Tatsache konnte ihm einen kleinen Zeitgewinn verschaffen. „Lig-Magte ist bewusstlos, aber er wird bald wieder zu sich kommen“, sagte Brion und wies auf den am Boden liegenden Körper. Als die Augen der Magter automatisch seinem ausgestreckten Zeigefinger folgten, ging Brion langsam auf den Ausgang zu. Er hatte ihn schon fast erreicht, als die vermummten Gestalten sich zum erstenmal bewegten. Einer der Magter kniete neben Lig-Magte nieder, berührte seinen Körper und rief ein einziges Wort: „Tot!“ Brion hatte die offizielle Ankündigung nicht abgewartet, sondern war bereits durch den Ausgang verschwunden. Hinter ihm prallten winzige Pfeile von der Mauer ab, als die Magter ihre Blasrohre benutzten. Er hastete die Treppe hinauf, ohne den Abstand zwischen sich und seinen Verfolgern vergrößern zu können. Dann tauchte eine Gestalt vor ihm auf. Wenn die Frau einige Sekunden länger gewartet hätte, wäre Brion ihrem erhobenen Messer nicht so leicht entkommen. So wurde sie ihm nicht gefährlich, denn er wich ihr aus, schlüpfte an ihr vorbei und umklammerte sie von hinten. Die Frau schrie gellend, als Brion sie hochhob - der erste menschliche Laut, den er in diesem Gebäude bisher gehört hatte. Als seine Verfolger in diesem Augenblick die Treppe hinaufstürmten, warf er ihnen die Frau entgegen. Dann nutzte er das entstehende Gewirr aus, um die Mauerkrone zu erreichen. Innerhalb des Gebäudes schien es noch eine andere Treppe zu geben, denn einer der Magter stand zwischen Brion und der Rampe, die nach unten führte. Während er auf den Mann zu rannte, schaltete Brion sein Funkgerät ein. „Ich bin hier oben in Schwierigkeiten. Kommen Sie schnellstmöglich ans Ende der Rampe.“ Die Posten in dem wartenden Sandwagen mussten diese Stelle der Mauer bereits im Fadenkreuz ihrer Zielfernrohre gehabt haben. Bevor Brion zu Ende gesprochen hatte, fiel bereits ein Schuss. Der Disaner griff sich an die Schulter und stürzte. Brion sprang über ihn hinweg und erreichte die Rampe. „Ich komme - Feuer einstellen!“ rief er. Als Brion so schnell wie möglich an der Mauer entlang hinunter kletterte, überschütteten die Posten die Oberkante des Gebäudes mit einem wahren Feuerhagel. Der Fahrer des Sandwagens ließ den Motor aufheulen und steuerte auf die 29
Stelle zu, an der Brion herunter kommen musste. Das heftige Gewehrfeuer dauerte unvermindert an. „Feuer einstellen!“ keuchte Brion in sein Funkgerät, während er auf den Wagen zurannte. Der Fahrer hatte den Zeitpunkt genau richtig abgeschätzt, denn der Wagen erreichte gleichzeitig mit Brion das Ende der Rampe. Brion schwang sich durch die geöffnete Tür und ließ sich atemlos in einen Sitz fallen. Er brauchte keinen Befehl mehr zu geben. Der Wagen wirbelte eine Staubwolke auf, als er sich in Richtung auf die Stadt in Bewegung setzte. Einer der Posten griff nach Brions Hemd und zog vorsichtig einen winzigen Holzpfeil heraus, dessen Spitze rötlich gefärbt war. Dann öffnete er die Wagentür und ließ ihn nach draußen fallen. „Das Ding kann Sie nicht verletzt haben! Sonst wären Sie längst tot“, stellte er dabei ungerührt fest. „Die Spitzen dieser komischen kleinen Pfeile sind mit einem Gift bestrichen, das innerhalb von zwölf Sekunden tödlich wirkt. Glück gehabt, Sir!“ Glück gehabt! Brion konnte erst jetzt ermessen, wieviel Glück dazu gehört hatte, aus dieser Falle lebendig zu entkommen. Und dazu noch mit wertvollen Informationen. Nachdem er jetzt mehr über die Magter wusste, war er sich auch darüber im Klaren, wie gefährlich es gewesen war, sich unbewaffnet in ihr Kastell zu wagen. Sicher, er hatte sich den Weg nach draußen freigekämpft - aber ohne eine gehörige Portion Glück säße er jetzt nicht hier. Er war völlig erschöpft und blutete aus der Wunde am Arm. Trotzdem befand er sich in gehobener Stimmung, denn er hatte sich eine Theorie über die Magter zurechtgelegt, die nur noch ausgearbeitet werden musste. Sie wurden nicht verfolgt. Während der Fahrt ließ Brion sich von einem der Posten den Arm verbinden und zog sich wieder seine Jacke an. Dann beschäftigte er sich nochmals mit seiner Theorie. Sie klang unwahrscheinlich und verblüffend - aber trotzdem war sie die einzige, die sich mit den bekannten Tatsachen vereinbaren ließ. Er untersuchte sie von verschiedenen Gesichtspunkten aus, ohne sie widerlegen zu können. Jetzt brauchte er jemanden, der sie unvoreingenommen betrachtete und dann entweder verwarf oder akzeptierte. Auf Dis gab es nur einen Menschen, dem er diese Aufgabe anvertrauen konnte. Jeannie saß im Laboratorium über ein Mikroskop gebeugt. Sie sah auf, als sie seine Schritte hörte, und lächelte ihm entgegen. Auf ihrem Gesicht hatten die Anstrengungen der vergangenen Tage tiefe Spuren hinterlassen. „Wie geht es Ihnen?“ fragte Brion besorgt. Er empfand leichte Gewissensbisse, als er sich daran erinnerte, dass er daran schuld war, dass sie heute schon wieder arbeiten musste. „Eigentlich sollte ich mich scheußlich fühlen“, gab sie mit einer unbekümmerten Handbewegung zurück. „Aber ich habe einen Haufen Tabletten geschluckt, die mir das durchaus nicht unangenehme Gefühl vermitteln, auf einer riesigen Wolke durch die Gegend zu schweben. Danke, dass Sie mich aus der schrecklichen Krankenstation herausgeholt und wieder an die Arbeit gelassen haben.“ Brion tat es plötzlich leid, dass er sie praktisch zur Arbeit gezwungen hatte. „Das braucht Ihnen aber keineswegs leid zu tun!“ sagte Jeannie, die seinen zerknirschten Gesichtsausdruck richtig gedeutet hatte. „Schließlich habe ich keine Schmerzen mehr. Manchmal ist mir ein bisschen schwindelig, aber das vergeht schnell wieder. Außerdem bin ich hier, um zu arbeiten. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie interessant alles ist! Die Anstrengungen haben sich reichlich gelohnt.“ „Ausgezeichnet“, meinte Brion. „Aber ich war heute morgen unterwegs und habe dabei einige Entdeckungen gemacht, die Sie auch interessieren dürften.“ Erst jetzt bemerkte Jeannie, dass er erschöpft und abgekämpft aussah. Die schmerzstillenden Mittel hatten ihre Denkfähigkeit so beeinflusst, dass sie jeweils nur einen Gedanken logisch verfolgen konnte. Deshalb war ihr die Bedeutung der Binde um Brions Oberarm entgangen. „Ich habe einen Besuch gemacht“, erklärte Brion und beantwortete damit ihre unausgesprochene Frage. „Die Magter sind für den augenblicklichen Spannungszustand verantwortlich, deshalb wollte ich mich mit ihnen in Verbindung setzen, bevor ich meine Entscheidung treffe. Der Besuch verlief nicht ganz angenehm, aber ich habe erfahren, was ich wissen wollte. Sie unterscheiden sich in jeder Beziehung von den normalen Disanern. Ich habe sie mit den übrigen verglichen. Ich habe mich mit Ulv unterhalten - das ist der Eingeborene, der uns aus der Wüste rettete -, und ich verstehe ihn. Er gleicht uns nicht völlig - das wäre unter diesen Verhältnissen auch unmöglich -, aber trotzdem ist er unbestreitbar menschlich in seiner ganzen Art. Die Magter, die Angehörigen der herrschenden Klasse auf Dis, sind das genaue Gegenteil. Kaltblütige und brutale Mörder, wie man sie sich nicht schlimmer vorstellen kann. Sie versuchten mich zu töten, ohne dass ich ihnen einen Anlass dazu gegeben hätte. Ihre Gewohnheiten, ihre Kleidung, ihr Benehmen und ihre ganze Lebensweise - das alles unterscheidet sie von den anderen Disanern. Sie empfinden weder Liebe noch Hass noch Zorn noch Angst - überhaupt nichts. Jeder von ihnen gleicht einer Maschine in Menschengestalt, die keine Gefühle kennt.“ „Übertreiben Sie auch bestimmt nicht?“ fragte Jeannie. „Schließlich können Sie das nicht so genau wissen. Vielleicht gehört es zur Erziehung dieser Magter, dass sie ihre Gefühle verbergen. Jeder hat sie - ob es ihm passt oder nicht.“ „Das ist der Punkt, auf den ich hinaus will. Jeder hat sie - nur die Magter nicht. Ich kann Ihnen jetzt keine Einzelheiten erklären, sondern Ihnen nur versichern, dass sie nicht einmal im Angesicht des Todes Angst oder Hass empfinden. Das mag unglaublich klingen, ist aber die reine Wahrheit.“ Jeannie schüttelte verwirrt den Kopf. „Ich bin heute nicht ganz auf der Höhe“, sagte sie. „Sie müssen mich entschuldigen. Wenn diese herrschende Klasse tatsächlich ohne Gefühle auskommt, dann könnte das eine Erklärung für ihre selbstmörderische Haltung sein. Aber diese Erklärung wirft wieder neue Fragen auf. Wie sind die Magter so geworden? Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie ein Mensch ohne Gefühle auskommen kann!“ „Genau das. Ein Mensch kann es nicht. Meiner Auffassung nach sind diese Magter nicht ebenso menschlich wie die übrigen Disaner. Ich glaube, dass sie fremdartige Wesen sind - Roboter oder Androiden -, alles andere, nur keine Menschen. Ich vermute, dass sie sich getarnt haben, um unter Menschen leben zu können.“ Jeannie wollte schon lächeln, tat es aber dann doch nicht, als sie Brions ernsten Gesichtsausdruck wahrnahm. 30
„Meinen Sie das wirklich ernst?“ erkundigte sie sich. „Völlig. Ich bin mir darüber im klaren, dass meine Idee reichlich verrückt klingen muss, aber das ist bisher die einzige Theorie, zu der sämtliche bekannten Tatsachen passen. Der springende Punkt dabei ist die völlige Gleichgültigkeit der Magter dem Tod gegenüber - ihrem eigenen oder einem fremden. Ist das etwa eine normale menschliche Reaktion?“ „Nein - aber ich könnte Ihnen einige mögliche Erklärungen nennen, die nicht gleich Roboter voraussetzen. Es könnte sich um eine Mutation oder ein vererbbares Leiden handeln.“ „Schön, wir brauchen uns nicht über diesen Punkt zu streiten - es gibt genügend andere. Ich finde die Lebensweise und Gewohnheiten dieser ganzen Klasse so beunruhigend. Einzelne Eigenschaften lassen sich vielleicht erklären, aber auch alle zusammen? Wie steht es mit ihrem fehlenden Gefühlsleben? Oder ihrer Bekleidung und sonstigen Geheimnistuerei? Der normale Disaner trägt eine Art Kilt, während die Magter sich von Kopf bis Fuß verhüllen. Sie leben in ihren schwarzen Türmen und erscheinen stets in Gruppen. Stirbt einer von ihnen, dann wird er verbrannt, damit niemand die Leiche untersuchen kann. Sie führen sich wie Angehörige einer fremden Rasse auf - und ich glaube, dass sie genau das sind.“ „Nehmen wir einmal an, dass diese Theorie stimmt“, sagte Jeannie, „dann ergeben sich aber eine Menge Fragen. Wie sind sie hierher gekommen? Warum weiß kein Disaner davon? Warum tarnen sie Sich so umständlich? Was ist aus der Wissenschaft geworden, mit deren Hilfe sie ursprünglich Dis erreichten? Warum haben sie ..“ „Halt, das genügt vorerst“, unterbrach Brion sie. „Ich weiß noch nicht einmal genug, um die Antworten auf Ihre Fragen erraten zu können. Ich versuche eine Theorie zu finden, die sich mit den Tatsachen vereinbaren lässt. Und die Tatsachen stehen fest. Die Magter sind so unmenschlich, dass ich Alpträume davon bekommen könnte - wenn ich Zeit zum Schlafen hätte. Wir brauchen vor allem handfeste Beweise.“ „Dann sehen Sie zu, dass Sie welche heran schaffen“, riet Jeannie ihm. „Geben Sie mir ein Skalpell und einen Ihrer Freunde, der ausgestreckt auf dem Untersuchungstisch liegt, dann werde ich Ihnen sofort sagen, was er ist - oder was er nicht ist“ Sie drehte sich um und beugte sich wieder über das Mikroskop. Dis sollte in sechsunddreißig Stunden völlig vernichtet werden, deshalb durfte der Tod eines einzigen Mannes keine Rolle spielen. Brion musste einen toten Magter finden, oder sich mit Gewalt einen verschaffen. „Sehen Sie zu, dass Sie sich etwas ausruhen können“, sagte er zu Jeannie, bevor er das Laboratorium verließ. „Ich bezweifle, dass das Zeug unter dem Mikroskop uns zu der richtigen Antwort verhilft. Ich werde mich nach einem geeigneten größeren Untersuchungsobjekt für Sie umsehen.“ „Vielleicht bin ich doch auf der richtigen Spur“, erwiderte sie, ohne vom Okular aufzusehen. „Ich suche weiter, bis Sie zurückkommen.“ Brion ging in die Nachrichtenzentrale, die hoch oben unter dem Dach eingerichtet worden war. Der Funker vom Dienst hatte es sich in seinem Stuhl bequem gemacht, während er verschiedene Frequenzen abhörte. Er hatte die Füße auf den Tisch gelegt und kaute an einem dicken Sandwich herum, das er in der linken Hand hielt. Als Brion plötzlich den Raum betrat, sprang der Mann erschrocken auf und angelte nach seinen Schuhen, die er ausgezogen hatte. „Bleiben Sie ruhig sitzen“, sagte Brion lächelnd. „Wenn Sie immer so hastige Bewegungen machen, werden Sie sich eines Tages an irgendeinem Kabel aufhängen oder sogar an ihrem Sandwich ersticken“, grinste er den Funker an. „Ich möchte, dass Sie mir diese Frequenz hier einstellen.“ Brion schrieb einige Zahlen auf einen Block und schob ihn dem Funker zu. Dabei handelte es sich um die Frequenz, auf der die illegalen Terroristen zu erreichen waren - die Nyjord Army. Der Funker reichte Brion einen Handapparat. „Sie können sprechen, Sir“, murmelte er dabei und versuchte gleichzeitig die letzten Reste des Sandwichs hinunterzuschlucken. „Hier spricht Brand, der Direktor der G.K.B. Bitte kommen.“ Er musste diesen Anruf fast zehn Minuten lang wiederholen, bevor er eine Antwort bekam. „Was wollen Sie?“ „Ich habe Ihnen eine wichtige Nachricht zu übermitteln und ich möchte Sie um Ihre Unterstützung bitten. Soll ich ...“ „Nein. Warten Sie dort - wir werden uns nach Anbruch der Dunkelheit mit Ihnen in Verbindung setzen.“ Das Gerät verstummte. Nur noch fünfunddreißig Stunden bis zum Ende eines Planeten - und Brion konnte nichts anderes tun, als geduldig zu warten.
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12 Als Brion in sein Büro zurückkehrte, fand er dort zwei Papierstapel auf seinem Schreibtisch vor. Er setzte sich und griff danach. In diesem Augenblick fiel ihm auf, dass aus der Klimaanlage eiskalte Luft strömte. Irgend jemand hatte das in die Wand eingelassene Gerät mit einem starken Schutzgitter versehen. Brion stand auf, bog die Stäbe mit einem Ruck auseinander und griff nach den Drähten im Inneren des Gehäuses. Er verband einen davon mit einem anderen und sah mit Genugtuung zu, wie der Elektrokompressor rauchend und funkensprühend zum Stillstand kam. Faussel erschien auf der Schwelle und trug einen dritten Stapel Papier unter dem Arm. Sein Gesicht zeigte einen ungläubigen Ausdruck. „Was haben Sie da?“ erkundigte sich Brion. Faussel beherrschte sich augenblicklich und trat an den Schreibtisch heran. Er verteilte das Papier auf die beiden anderen Stapel. „Das sind die Berichte, die Sie sehen wollten, Sir. Einzelheiten auf sämtlichen Gebieten, Schlussfolgerungen daraus, Vorschläge und so weiter.“ „Und der andere Stapel?“ „Korrespondenz, Rechnungen, Requisitionen und Bestandsmeldungen.“ Faussel stieß die Bögen zusammen, während er antwortete. „Tagesberichte, Krankenliste...“ Seine Stimme erstarb, als Brion den gesamten Stapel über den Rand des Schreibtisches in den Papierkorb schob. „Also überflüssiger Papierkram“, stellte Brion gelassen fest. „Schön, das wäre erledigt. Ich brauche Sie nicht mehr, Faussel.“ Ein Bericht nach dem anderen wanderte in den Papierkorb, bis der Schreibtisch wieder frei war. Nichts. Brion war keineswegs enttäuscht, weil er dieses Ergebnis erwartet hatte. Aber immerhin hätte doch einer der Spezialisten auf eine Möglichkeit stoßen können. Keiner hatte einen neuen Weg gefunden; alle bewegten sich auf den gleichen ausgefahrenen Gleisen. Draußen wurde es langsam dunkel. Der Wachtposten am Eingang hatte Anweisung, jeden sofort hereinzuführen, der nach dem Direktor fragte. Brion konnte nur darauf warten, dass sich jemand mit ihm in Verbindung setzte. Das war ein völlig ungewohntes Gefühl. Jeannie arbeitete wenigstens; er konnte sich nach ihren Fortschritten erkundigen. Als er das Laboratorium betrat bekam er einen Schreck, denn ihr Arbeitsplatz war leer. Das Mikroskop stand unter einer Plastikhülle. Sie ist zum Essen gegangen, überlegte er sich, oder sie liegt in der Krankenstation. Brion machte sich auf die Suche. „Selbstverständlich ist sie hier!“ erklärte ihm Dr. Stine. „Wo sollte denn ein Mädchen in Ihrer Verfassung sonst sein? Sie war heute lange genug auf. Morgen ist der letzte Tag, und wenn Sie weiterhin auf Ihre Mitarbeit Wert legen, dann lassen Sie sie heute nacht ungestört schlafen. Gönnen Sie allen ein bisschen Ruhe. Ich habe heute den ganzen Tag nur Beruhigungstabletten ausgeteilt. Das Zeug ging weg wie warme Semmeln. Die Leute sind alle am Boden zerstört.“ „Vielleicht ist es dieser Planet auch bald. Wie geht es Jeannie?“ „Den Umständen nach ausgezeichnet. Überzeugen Sie sich doch selbst davon, wenn Sie es mir nicht glauben. Ich muss mich um die anderen Patienten kümmern.“ „Machen Sie sich solche Sorgen, Doktor?“ „Selbstverständlich! Schließlich bin ich auch nur ein Mensch. Wir sitzen hier auf einer tickenden Zeitbombe, und das gefällt mir nicht. Ich tue meine Pflicht, aber trotzdem bin ich heilfroh, wenn die Schiffe landen, um uns zu evakuieren. Im Augenblick geht es mir eigentlich nur noch um meine eigene Haut. Und wenn Sie ein offenes Geheimnis wissen möchten - die übrigen Angestellten denken nicht anders. Erwarten Sie also nicht zuviel von ihnen.“ „Diesen Fehler habe ich nie gemacht“, gab Brion zurück und verschwand in Jeannies Zimmer. 32
Jeannie schlief, deshalb ließ er sich leise auf einem Stuhl nieder, den er herangezogen hatte. Ihr junges Gesicht wirkte ruhig und friedlich - eine eigenartige Erscheinung in dieser hässlichen und gewalttätigen Welt. Aus einem plötzlichen Impuls heraus griff Brion nach ihrer Hand und hielt sie in der seinen, während er nachdenklich zum Fenster hinausstarrte. Später sah er sie wieder an und bemerkte, dass sie die Augen geöffnet hatte, obwohl sie sich nicht bewegt hatte. Wie lange war sie schon wach? Schuldbewusst ließ er ihre Hand los. „Sieht der Sklaventreiber nach den Sklaven, um zu sehen, ob sie morgen wieder in die Tretmühle geschickt werden können?“ fragte sie. Das war eine Bemerkung von der Art, die sie so oft während ihres gemeinsamen Fluges gemacht hatte. Aber jetzt schien sie es nicht ernst zu meinen, denn sie lächelte. „Wie geht es Ihnen?“ erkundigte er sich und ärgerte sich im gleichen Augenblick darüber, dass ihm nichts anderes eingefallen war. „Schrecklich. Wahrscheinlich bin ich morgen früh tot. Geben Sie mir bitte einen Apfel aus der Schüssel dort drüben? Ich habe einen fürchterlichen Geschmack im Mund, wie eine alte Socke. Ich möchte nur wissen, wie das frische Obst hierher kommt. Vermutlich eine milde Gabe der Planetenzerstörer auf Nyjord.“ Sie nahm den Apfel entgegen, den Brion ihr reichte. „Haben Sie noch nie Lust gehabt, die gute alte Erde zu besuchen?“ Brion war über ihre Frage verblüfft, fing sich aber schnell wieder. „Noch nie“, antwortete er wahrheitsgemäß. „Bis vor wenigen Wochen wollte ich nicht einmal von Anvhar fort. Die Spiele erscheinen einem dort so wichtig, dass man kaum Gedanken für andere Dinge hat, wenn man selbst zu den Teilnehmern gehört.“ „Ersparen Sie mir die Spiele“, bat sie. „Ich habe Ihjel und Ihnen zuhören müssen, als wir auf dem Flug nach Dis waren. Aber wie sieht es auf Anvhar aus? Gibt es dort große Metropolen, wie wir sie auf der Erde haben?“ „Nichts in dieser Art. Anvhar ist äußerst dünn besiedelt. Keine Großstädte. Die Bevölkerung konzentriert sich um Schulen, Universitäten und größere Fabriken.“ „Und wie steht es mit Exobiologen?“ fragte Jeannie. „Wahrscheinlich gibt es in den Universitäten einige, obwohl ich das nicht sicher sagen kann. Sie müssen sich darüber im Klaren sein, dass es bei uns auch keine Kleinstädte gibt. Unser Leben ist anders organisiert, denn die größte Lebenseinheit ist die Familie mit den dazugehörigen Freunden. Freunde sind sehr wichtig, weil die Familien sich sehr rasch auflösen, während die Kinder noch ziemlich jung sind. Wir sind alle lieber allein für uns. Wahrscheinlich hat diese Tatsache früher die ersten Siedler am Leben erhalten.“ „Hm, bis zu einem gewissen Punkt“, warf Jeannie ein und biss in ihren Apfel. „Wenn man in dieser Beziehung übertreibt, hat man am Ende gar keine Bevölkerung mehr. Eine gewisse Annäherung ist einfach unerlässlich.“ „Selbstverständlich. Außerdem gehört dazu auch eine bestimmte Form des Verhältnisses zueinander, sonst herrscht bald eine Anarchie. Auf Anvhar wird die persönliche Verantwortung des einzelnen immer wieder betont und auf diese Weise wird die Frage gelöst. Wenn wir – äh – manchen Dingen gegenüber anders gegenübertreten würden, wäre unsere Lebensweise nicht zu verwirklichen. Die Beziehungen zwischen Erwachsenen beginnen entweder aus Zufall oder aus Absicht, aber immer mit der Gewissheit, dass...“ „Halt, da komme ich nicht mehr mit!“ protestierte Jeannie. „Ich habe den Verdacht, dass Sie etwas vor mir verheimlichen wollen! Seien Sie doch endlich genauer - bringen Sie einfach zwei dieser hypothetischen Menschen zusammen und beschreiben Sie mir, was sich zwischen ihnen abspielt.“ Brion holte tief Luft, bevor er weitersprach. „Gut - nehmen wir also einen Junggesellen wie mich. Da ich gern Wintersport betreibe, wohne ich meistens in dem großen Haus im Gebirge, das unserer Familie gehört. Im Sommer hüte ich unser Vieh, aber wenn der erste Schnee fällt, habe ich wieder viel Zeit für mich allein. Früher war ich viel beim Skilaufen und habe mich auf die Spiele vorbereitet. Manchmal stattete ich auch Freunden einen Besuch ab. Andere besuchten mich, wenn sie zufällig vorbeikamen. Wir haben nicht einmal Schlösser an unseren Haustüren. Gastfreundschaft wird ohne viel zu fragen gewährt. Jeder Besucher ist willkommen - männlich, weiblich, in Gruppen oder allein.“ „Aha, jetzt beginne ich klar zu sehen. Für ein alleinstehendes Mädchen muss das Leben auf Ihrem Eisbergplaneten ziemlich langweilig sein. „ „Aber nur dann, wenn sie es nicht anders will. Sonst kann sie überall hingehen, wo es ihr Spaß macht und wird immer als Einzelmensch respektiert werden. Ich nehme an, dass die Leute auf der Erde darüber lachen würden – aber auf Anvhar gibt es durchaus noch platonische Freundschaften zwischen Männern und Frauen. „Das klingt reichlich eintönig. Wenn die Menschen auf Anvhar alle so kalt und leidenschaftslos sind, woher kommen dann die Kinder?“ Brion spürte, dass er rote Ohren bekam, weil er nicht genau wusste, ob Jeannie sich über ihn lustig machte. „Genau daher, wo sie überall anders herkommen! Aber bei uns ist das eben nicht ein zwangsläufiger Vorgang. Bei uns muss die Frau zu erkennen geben, ob sie an einer Heirat interessiert ist.“ „Ist das alles, wofür sich die Mädchen bei Ihnen interessieren?“ „Heirat oder etwas anderes. Von dieser zweiten Möglichkeit wird oft Gebrauch gemacht, weil sie als einzige die Gewähr bietet, dass das Mädchen einen Mann heiratet, mit dem sie später auch Kinder haben kann.“ Jeannie riss erstaunt die Augen auf. „Wollen Sie damit etwa sagen, dass die Mädchen sich von der Zeugungsfähigkeit des Mannes überzeugen, bevor sie ihn heiraten?“ „Natürlich. Sonst wäre Anvhar wahrscheinlich schon längst ohne Bevölkerung. Deshalb entscheidet die Frau und trifft ihre Wahl. Wenn sie sich für einen Mann interessiert, dann gibt sie es zu erkennen. Wenn sie nichts sagt, würde der Mann nicht im Traum daran denken, seinerseits sein Interesse zu bekunden. So ist es eben auf Anvhar - und wir sind alle mit dieser Regelung zufrieden.“ „Auf der Erde ist es genau umgekehrt“, berichtete Jeannie. „Die Frau hat geduldig zu warten, bis es einem Mann einfällt, sie begehrenswert zu finden. Als Mädchen muss man wirklich auf Draht sein, damit man nicht unversehens 33
hereinfällt.“ „Was muss man sein?“ „Nur ein komischer Ausdruck, Brion. Er bedeutet, dass man sich vorsehen muss, um nicht unter die Räder zu kommen. „Das klingt ziemlich...“ Brion suchte ein anderes Wort, fand aber keines, „abstoßend.“ „Von Ihrem Standpunkt aus kann es so wirken. Wir haben uns schon so daran gewöhnt, dass wir es normal finden. Soziologisch gesehen...“ Jeannie machte eine Pause und starrte Brion an. Ihre Lippen formten ein unausgesprochenes Oh! „Ich möchte nichts sagen - äh - ich wollte nichts sagen, was missverstanden werden...“, stotterte Brion unbeholfen. „Aber ich verstehe doch alles!“ Sie lachte. „Ich dachte die ganze Zeit über, Du seist auch so eine Art Eisberg, während Du in Wirklichkeit ausgesprochen nett warst. Du hast eben das Spiel nach den Regeln gespielt, die auf Anvhar gelten. Ich hätte die Initiative ergreifen müssen. Wahrscheinlich wären wir noch nicht weiter, wenn Du nicht früher als ich eingesehen hättest, dass wir irgendwie nicht von den gleichen Voraussetzungen ausgingen. Und ich dachte, Du seist ein hochmütiger Frauenhasser.“ Jeannie streckte die Hand aus und fuhr Brion damit durch das Haar. „Ich konnte aber nicht anders“, erklärte er ihr. „Mir wäre es einfach unmöglich erschienen, Dir meine Aufmerksamkeiten aufzudrängen. Ich musste mich so geschraubt ausdrücken, weil ich die auf der Erde üblichen Sitten nicht kenne.“ Er lächelte. „Gut, dass Du mich trotzdem verstanden hast.“ „Ja“, antwortete Jeannie. Unterdessen kam Faussel herein gestürmt. Ihr Mann ist da, Sir. Er wollte nicht hereinkommen. Er klopfte nur an das Tor und sagte, ich bin hier, sagen Sie Brand Bescheid.“ „Danke, das genügt“, meinte Brion. Er schob seine Pistole in die Halfter und steckte zwei gefüllte Magazine in die Tasche. „Ich komme wahrscheinlich noch vor Sonnenaufgang zurück. Lassen Sie eine fahrbare Tragbahre aus der Krankenstation an das Tor schaffen. Ich möchte, dass sie dort steht, wenn ich zurückkomme.“ Die Straße draußen war dunkler, als er sie in Erinnerung hatte. Brion erkannte die Umrisse des wartenden Sandwagens nur undeutlich, denn das Sternenlicht reichte um diese Zeit noch nicht aus, um Einzelheiten hervortreten zu lassen. „Brion Brand?“ fragte eine Stimme vom Wagen her. „Steigen Sie ein.“ Brion war kaum eingestiegen, als der Sandwagen sich auch schon in Bewegung setzte. Ohne Lichter durchquerte er die Stadt und fuhr in die Wüste hinaus. Obwohl der Fahrer die Geschwindigkeit erhöhte, verzichtete er auf jegliche Beleuchtung. Als sie ein hochgelegenes Plateau erreicht hatten, stellte der Fahrer den Motor ab. Weder er noch Brion hatten während der Fahrt ein Wort miteinander gewechselt. Ein Schalter klickte, dann glühte die Instrumentenbeleuchtung auf. In dem schwachen Lichtschein stellte Brion zu seiner Überraschung fest, dass der Mann neben ihm an einer Rückgratverkrümmung litt, wegen der er nur nach vorn gebeugt auf seinem Sitz hocken konnte. Solche körperlichen Missbildungen waren selten - Brion hatte noch nie einen Fall dieser Art gesehen. Wahrscheinlich erklärte dieses Leiden die Bitterkeit und den Schmerz, die aus der Stimme des Mannes sprachen. „Haben die Schlauköpfe auf Nyjord Ihnen zufällig mitgeteilt, dass die Frist um einen Tag verkürzt worden ist?“ erkundigte sich der Mann. „Wissen Sie, dass dieser Planet schon bald nicht mehr existieren soll?“ „Ja, ich weiß“, antwortete Brion ruhig. „Das ist auch der Grund, weshalb ich Ihre Gruppe um Unterstützung bitten möchte. Die verbleibende Zeit vergeht zu rasch.“ Der Mann gab keine Antwort; er nickte nur und konzentrierte sich weiter auf den Infrarotschirm, um sicherzugehen, dass sie nicht verfolgt wurden. Dann ließ er den Motor wieder an. „Wohin fahren wir?“ erkundigte sich Brion. „In die Wüste.“ Der Fahrer machte eine vage Handbewegung. „In unser Hauptquartier. Nachdem die ganze Sache ohnehin demnächst in die Luft fliegt, könnte man es auch als unser letztes Lager bezeichnen. Alle Wagen, Männer und Waffen sind dort stationiert. Und Hys. Er führt denn Oberbefehl. Morgen wird nichts mehr davon übrig sein, von diesem verdammten Planeten. Was wollen Sie von uns?“ „Sollte ich das nicht lieber Hys persönlich erzählen?“ „Wie es Ihnen am Besten passt.“ Der Fahrer trat auf das Gaspedal und fuhr weiter.“ „Aber wir haben uns alle freiwillig gemeldet, deshalb haben wir keine Geheimnisse voreinander. Nur vor den Idioten, die diese Welt in die Luft jagen wollen.“ In seiner Stimme schwang deutlich Verachtung mit, die er nicht zu verbergen versuchte. „Sie haben sich so lange gestritten, wie dieses Problem zu lösen sei, dass sie schließlich zu Mördern werden.“ „Soweit ich darüber informiert bin, dachte ich, dass die Dinge etwas anders lägen. Diese Leute bezeichnen Ihre Freunde als Terroristen.“ „Das sind wir auch. Wir sind eine Armee, die einen Krieg führt. Die Idealisten zu Hause haben das erst begriffen, als es bereits zu spät war. Wenn sie uns von Anfang an unterstützt hätten, wären wir in jedes Kastell auf Dis eingedrungen und hätten nicht eher Ruhe gegeben, bis wir die Bomben entdeckt hätten. Aber das hätte mutwillige Zerstörung und den Tod einiger Magter bedeutet deswegen lehnten sie unseren Plan ab. Dafür werden sie jetzt die gesamte Bevölkerung umbringen.“ Brion bemerkte den verzweifelten Gesichtsausdruck dieses Mannes. „Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen“, versuchte er ihn zu beruhigen. „Wir haben noch über einen Tag Zeit, und ich glaube, dass ich eine Möglichkeit zur Verhinderung des Krieges gefunden habe - ohne Bomben.“ „Sie sind doch der Mann, für kostenlose Mahlzeiten und Gratisgetränke verantwortlich ist, nicht wahr? Was sollen Ihre Leute denn ausrichten, wenn die Knallerei losgeht?“ „Nichts. Aber vielleicht können wir verhindern, dass die Bomben überhaupt abgeworfen werden. Falls Sie mich 34
beleidigen wollten - geben Sie sich keine Mühe. Ich habe ein sehr dickes Fell.“ Der Fahrer schwieg einige Minuten, während er sich auf das schwierige Gelände vor ihnen konzentrierte. „Was wollen Sie von uns?“ fragte er dann. „Wir möchten einen Magter genau untersuchen. Tot oder lebendig, der Zustand spielt keine Rolle. Sie haben nicht zufällig einen an der Hand?“ „Nein. Wir haben uns schon oft genug mit ihnen herumgeschlagen, aber immer nur auf ihrem eigenen Gebiet. Sie schaffen ihre Toten fort, und wir haben uns nie darum gekümmert. Was wollen Sie überhaupt mit einer Leiche? Schließlich kann Ihnen ein toter Magter nicht mehr verraten, wo die Bomben oder die Abschussrampe versteckt sind.“ „Ich sehe nicht ein, warum ich Ihnen das erklären sollte - es sei denn, Sie wären der Anführer der Nyjord Army. Sie heißen Hys, nicht wahr?“ Der Fahrer stieß einen ärgerlichen Laut aus. „Wie kommen Sie darauf?“ erkundigte er sich. „Ich habe einfach das Gefühl. Sie benehmen sich nicht wie ein normaler Sandwagenfahrer. Selbstverständlich könnte Ihre Armee aus lauter Generalen bestehen aber das bezweifle ich stark. Außerdem weiß ich, dass uns allen nicht mehr sehr viel Zeit bleibt. Sie würden eine Menge Zeit verschwenden, wenn Sie in Ihrem Lager geblieben wären, um dort auf mich zu warten. Wenn Sie mich selbst abholen, können Sie Ihre Entscheidung treffen, bevor wir angekommen sind. Habe ich recht?“ „Ja - ich bin Hys. Aber Sie haben meine Frage noch immer nicht beantwortet. Wofür brauchen Sie einen Magter?“ „Wir wollen ihn untersuchen, weil ich nicht glaube, dass die Magter richtige Menschen sind. Sie leben unter den Menschen und verkleiden sich als solche - aber trotzdem sind sie keine richtigen Menschen.“ „Keine Menschen?“ In der Stimme des anderen schwangen Überraschung und Abscheu mit. „Vielleicht. Unsere Untersuchung wird uns die nötigen Aufschlüsse geben. „ „Sie sind entweder dumm oder inkompetent“, warf Hys ihm vor. „Ich lehne es ab, mich in irgend einer Form an diesem Vorhaben zu beteiligen.“ „Sie müssen aber!“ Brion war überrascht, wie ruhig seine Stimme klang. Er spürte, dass der andere sich doch für seinen Vorschlag interessierte. „Sie haben keine andere Wahl - wenn Sie diesen Krieg beenden wollen, bevor er begonnen hat. Oder wissen Sie eine andere Möglichkeit?“ „Gut, Sie werden Ihren Magter bekommen“, stimmte Hys zu. „Ich glaube zwar nicht, dass Sie damit etwas erreichen werden - aber ein toter Magter mehr ist kein Nachteil. Unsere Teams führen heute nacht Angriffe gegen die Magter durch. Sie können sich meinem anschließen - die übrigen sind schon unterwegs. Wir wollen einen kleineren Turm überfallen, in dem wir bereits einmal ein Waffenlager entdeckt haben. Die Aussichten, dass wir dort wieder etwas finden, sind nicht schlecht, denn die Magter sind dumm genug, um dort wieder Waffen zu lagern. Manchmal scheinen sie keinerlei Vorstellungsvermögen zu besitzen.“ „Sie haben keine Ahnung, wie recht Sie damit haben“, sagte Brion mit einem leisen lächeln. Einige Minuten später erreichten sie eine Felsschlucht, die nach oben hin enger wurde. Am Eingang stand ein Verzögerungsprojektor, der leise summend sämtliche Lichtstrahlen verschluckte und dadurch einen unsichtbaren schwarzen Vorhang bildete. Dahinter erstreckte sich eine ebene Fläche, auf der drei offene Sandwagen in Bereitschaft standen. Ihre Besatzungen saßen am Boden verstreut, unterhielten sich und überprüften nochmals ihre Waffen. Als Hys und Brion erschienen, herrschte sofort Schweigen. „Aufsitzen!“ befahl Hys. „Wir greifen nach dem bekannten Plan an. Telt soll zu mir kommen.“ Brion bemerkte, dass die Stimme des anderen weicher klang, wenn er mit seinen Männern sprach. Die Soldaten gehorchten augenblicklich offensichtlich sahen sie in Hys einen guten Befehlshaber. Ein dicklicher Mann tauchte vor Hys auf und salutierte lässig. Er war schwer mit elektronischen Geräten beladen, die in Segeltuchtaschen verpackt waren. Sogar die Taschen seiner Uniform steckten voller Ersatzteile und Werkzeuge. „Das hier ist Telt“, sagte Hys zu Brion. „Er wird sich um Sie kümmern. Telt begleitet mich zu unseren Angriffen und stellt dabei seine Messungen in unmittelbarer Nähe der Türme an. Bisher hat er allerdings noch keine Anzeichen für das Vorhandensein der Abschussrampe oder der Bomben festgestellt. Nachdem er überflüssig ist und Sie überflüssig sind, kann einer auf den anderen aufpassen. Sie können den Sandwagen benützen, in dem wir gekommen sind.“ Telt grinste breit. „Warten Sie nur ab! Eines Tages werden die Nadeln ausschlagen - und dann haben wir keine Sorgen mehr. Was soll ich mit dem Fremden tun?“ „Besorgen Sie ihm einen toten Magter“, befahl Hys. „Dann setzen Sie ihn wieder ab und kommen zu uns zurück.“ Hys zuckte mit den Schultern, als er Telt ansah. „Eines Tages werden die Nadeln ausschlagen! Armer Irrer - heute ist der letzte Tag.“ Er drehte sich um und bestieg den ersten Wagen. „Er mag mich“, erklärte Telt zuversichtlich, während er nach einer weiteren Segeltuchtasche griff. „Das ist schon aus den Schimpfworten zu erkennen, die er mir an den Kopf wirft. Ein wirklich großer Mann, dieser Hys, aber leider hat man das erst zu späterkannt.“ Brion folgte dem Techniker zu dem wartenden Wagen und half ihm, seine Ausrüstung zu verstauen. Als die größeren Panzerwagen aus der Dunkelheit auftauchten, schloss Teilt sich ihnen an. Er summte leise vor sich hin, während er fuhr. Dann brach das Summen plötzlich ab, und Teilt sah Brion fragend an. „Wozu brauchen Sie eigentlich einen toten Disaner?“ „Oh, nur eine Theorie“, antwortete Brion mit verschlafener Stimme. Er hatte sich während der Fahrt mit geschlossenen Augen in seinen Sitz zurückgelehnt. „Ich suche noch immer nach einem Ausweg, um die Katastrophe zu verhindern.“ „Sie und Hys haben ziemlich viel Ähnlichkeit miteinander“, stellte Telt fest. „Zwei echte Idealisten. Wollen einen Krieg verhindern, den sie nicht angezettelt haben. Auf Hys haben sie auch nie gehört. Er hat ihnen schon vor Monaten gesagt, wie die Sache sich entwickeln würde, aber die Leute dachten immer, dass seine Ideen genauso krumm wie sein 35
Rücken seien. Hys bildete sich selbst zu einem Experten auf dem Gebiet der Kriegführung aus. Hah! Krieg auf Nyjord das ist das gleiche, als wäre man ein Eiswürfel-Spezialist in der Hölle. Aber er kannte sich aus, obwohl niemand ihm die Chance gab, dieses Wissen praktisch anzuwenden. Statt dessen erhielt Opa Krafft den Oberbefehl.“ „Und was ist mit der Nyjord Army?“ „Alles nur Freiwillige. Außerdem haben wir nicht genügend Geld. Ich sagen Ihnen, wir haben unser Bestes getan, aber selbst das reichte einfach nicht aus. Und jetzt müssen wir uns dafür Mörder nennen lassen. Die Leute zu Hause glauben, dass wir die Magter zum Vergnügen überfallen. Sie denken, dass wir übergeschnappt sein müssen. Sie begreifen nicht, dass wir.“ Telt verstummte mitten im Satz und trat auf die Bremse. Auch die anderen Wagen hatten angehalten und warteten mit abgestellten Motoren auf den Befehl zum Angriff. Über den Dünen vor ihnen war die Spitze eines schwarzen Turms sichtbar. „Von hier ab gehen wir zu Fuß“, sagte Telt. „Wir können uns Zeit lassen, weil die anderen zuerst angreifen, um den Widerstand zu brechen. Dann sehen wir uns in dem Keller um, führen einige Messungen durch und nehmen eine Leiche mit.“ Zunächst konnten sie noch aufrecht gehen, aber dann krochen sie eng an den Boden gepresst weiter. Vor ihnen bewegten sich dunkle Schatten die Außenwände des Turms hinauf, ohne dabei die Rampe zu benützen. „Müssen wir etwa auch dort hinauf?“ erkundigte sich Brion, der an den Abtransport des Magters dachte. „Nein, wir sind vom Klettern befreit, beruhigte ihn Telt. „Ich bin schon einmal hier gewesen, deshalb weiß ich, wie der Turm von innen aussieht.“ Er schritt eine bestimmte Entfernung von einer Ecke des Turms ab. „Hier müsste es sein.“ In diesem Augenblick ratterten die automatischen Waffen der Angreifer los. „Los, wir müssen uns beeilen, solange die Magter dort oben beschäftigt sind!“ rief Telt Brion zu. Er holte eine faustgroße Kugel aus einer der Gerätetaschen und presste sie gegen die Mauer. Sie blieb daran hängen. Telt betätigte einen Schalter an der ihnen zugewandten Seite der Kugel und zog einen Sicherungsstift heraus. Dann warf er sich flach zu Boden. Brion folgte seinem Beispiel. „Eine Hohlhaftladung“, erklärte Telt ihm. „Das Ding müsste die Mauer glatt durchschlagen, aber sicher kann man das nie sagen.“ Der Boden unter ihnen erbebte, als die Sprengladung die Mauer zerschmetterte. Als die Staubwolke sich verzogen hatte, erkannten die beiden Männer ein dunkles Loch in der Außenseite des Turms. Telt leuchtete mit seinem Handscheinwerfer hinein. „Falls sich jemand gegen diese Wand gelehnt haben sollte, brauchen wir uns keine Sorgen mehr um ihn zu machen“, stellte er zufrieden fest. „Wir müssen uns aber trotzdem beeilen! bevor die anderen von oben herunterkommen.“ Sie kletterten über die Felsbrocken hinweg, mit denen der Boden bedeckt war. Telt wies auf eine Rampe, die steil nach unten führte. „Unterirdische Lagerräume. Aus dem Felsen herausgehauen. Dort haben sie immer ihr Zeug gelagert und ...“ Ein schwarzes Etwas kam aus dem Tunnel heraus auf sie zugeflogen und landete vor ihren Füßen. Telt stieß nur einen überraschten Laut aus, aber Brion reagierte blitzschnell. Er versetzte dem Ding einen gewaltigen Fußtritt und beförderte es wieder in den Tunnel zurück. Telt warf sich neben ihm zu Boden, als ein gelber Lichtblitz aufleuchtete. Hinter und über ihnen prallten Splitter von den Wänden und der Decke ab. „Handgranaten!“ keuchte Telt. „Bisher haben die Magter sie nur einmal benützt anscheinend haben sie nicht viele. Ich muss Hys davor warnen.“ Er sprach aufgeregt in sein Kehlkopfmikrophon. Vor ihnen regte sich etwas, und Brion schickte einige kurze Feuerstöße in die Dunkelheit hinab. „Den anderen geht es auch schlecht! Wir müssen uns zurückziehen. Gehen Sie zuerst, ich decke Ihnen den Rücken.“ „Ich bin hier, um einen Disaner mitzunehmen - und ich gehe nicht, bevor ich einen habe!“ „Sie sind verrückt! Hier kommen Sie nicht mehr lebend heraus!“ Telt warf sich herum und hastete auf das Loch zu, durch das sie hereingekommen waren. Brion schoss wieder, denn in diesem Augenblick tauchten die Magter auf. Sie kamen schweigend und lautlos näher, rannten mit ausdruckslosen Gesichtern in die Kugeln und starben. Zwei waren auf der Stelle tot, aber der dritte stolperte weiter, obwohl er schwer verwundet war. Er hob drohend sein Messer, aber Brion zögerte noch. Wie oft musste man einen Menschen umbringen? Oder war das kein Mensch? Er hatte den Finger am Abzug, zögerte aber noch immer. Ein Feuerstoß aus Telts Waffe löste das Problem. Der Magter sank in sich zusammen. „Da haben Sie Ihre Leiche - los, beeilen Sie sich!“ schrie Telt. Sie schleppten den toten Magter durch das Loch ins Freie und erwarteten dabei jede Sekunde einen tödlichen Messerstoß in den Rücken. Aber der Angriff blieb aus. Erst als sie den Turm bereits hinter sich gelassen hatten, explodierte weit hinter ihnen eine Handgranate, die ihnen nicht mehr schaden konnte. Einer der gepanzerten Sandwagen kreiste mit aufgeblendeten Suchscheinwerfern um den Turm, während seine Maschinenwaffen die Magter in Schach hielten. Die abgeschlagenen Angreifer kletterten einer nach dem anderen in den Wagen. Auch Telt und Brion bewegten sich mühsam darauf zu. Sie kamen in dem tiefen Sand nur langsam voran, weil das Gewicht der Leiche sie behinderte. Telt warf einen Blick über seine Schulter und setzte sich in einen leichten Trab. „Sie verfolgen uns!“ keuchte er. „Das ist das erste Mal, dass sie uns nach einem Angriff folgen!“ „Wahrscheinlich wissen sie, dass wir die Leiche haben“, meinte Brion. „Wir müssen sie zurücklassen“ stieß Telt hervor. „Zu schwer ... sie erwischen uns sonst ...“ „Lieber lasse ich Sie zurück!“ gab Brion wütend zur Antwort. „Geben Sie mir den Magter, damit Sie schneller rennen können.“ Er nahm Telt die Leiche ab und hob sie auf seine eigenen Schultern. „Los, geben Sie uns Feuerschutz!“ Telt drehte sich um und schoss auf die dunklen Gestalten, die ihnen folgten. Der Fahrer des Sandwagens musste das Mündungsfeuer gesehen haben, denn er beschrieb eine scharfe Kurve und kam auf die beiden Männer zu. Als der 36
Wagen in einer Staubwolke vor ihnen hielt, schob Brion den toten Magter vor sich her in das Innere, bevor er selbst aufstieg. Das Fahrzeug setzte sich wieder in Bewegung und ließ den schwarzen Turm hinter sich. „Wissen Sie, das war eigentlich mehr als Spaß gemeint, als ich Ihnen vorschlug, wir sollten die Leiche zurück lassen“, erklärte Telt. „Sie haben das doch nicht etwa ernst genommen?“ „Doch“, gab Brion zurück. „Ich dachte, Sie meinten es ernst.“ „Ach was“, protestierte Telt. „Sie sind genauso schlimm wie Hys. Sie nehmen alles gleich zu ernst.“ Nachdem die Männer sich auf die wartenden Sandwagen verteilt hatten, löste die Kolonne sich auf, so dass jedes Fahrzeug eine andere Richtung einschlug. „Wir verteilen uns, damit die Magter nicht wissen, welcher Spur sie folgen sollen“, erklärte Telt. Er klemmte ein Stück Papier neben dem Kompass fest. „Wir beschreiben zunächst ein großes U in der Wüste und kommen in Hovedstad heraus. Ich habe den Kurs hier. Dann setze ich Sie und ihren schweigsamen Freund dort ab und fahre zu meinen Leuten zurück. Sind Sie wegen vorhin immer noch wütend auf mich?“ Brion gab keine Antwort. Er starrte aus dem Seitenfenster hinaus. „Was gibt es denn dort zu sehen?“ erkundigte sich Telt neugierig. „Dort drüben“, antwortete Brion und wies auf den Lichtschimmer am Horizont. „Die Morgenröte“, sagte Telt überrascht. „Auf Ihrem Planeten regnet es wohl oft? Haben Sie noch nie einen Sonnenaufgang gesehen?“ „Nicht am letzten Tag einer Welt. „ „Hören Sie auf damit“, brummte Telt, „sonst bekomme ich noch eine Gänsehaut. Ich weiß, dass die verdammten Bomben fallen werden. Aber ich weiß wenigstens auch, dass ich alles getan habe, um die Katastrophe zu verhindern. Glauben Sie etwa, dass die Menschen bei mir zu Hause - auf Nyjord - sich von morgen an besser fühlen werden?“ „Vielleicht können wir es noch verhindern“, meinte Brion. Telt zuckte verächtlich mit den Schultern. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als sie die letzten Hügel vor den Ausläufern der Stadt überwunden hatten. Als Brion auf Hovedstad hinuntersah, empfand er deutlich eine unerklärliche Angst. Im Herzen der Stadt erhob sich ein schwarzer Rauchpilz. Vielleicht handelte es sich nur um einen Brand in einem der unbewohnten Lagergebäude, aber die Spannung nahm zu, je näher sie dem Brandherd kamen. Brion schwieg verbissen, aber Telt druckte seine innersten Befürchtungen aus. „Scheint ein Feuer zu sein. Offensichtlich ganz in der Nähe des G.K.B.-Gebäudes.“ Auf den Straßen der Stadt sahen sie die ersten Anzeichen der Zerstörung. Kleinere und größere Steinbrocken, die überall herumlagen. Ein stechender Geruch, der in ihre Nasen drang. Menschen, die sich alle in dieselbe Richtung bewegten, die Telt mit seinem Sandwagen einhielt. Die sonst so verlassenen Straßen von Hovedstad wimmelten plötzlich von Menschen. Brion überzeugte sich davon, dass die über den toten Magter gebreitete Plane an allen Seiten dicht abschloss, bevor sie langsam durch die Menge fuhren. „Das gefällt mir gar nicht“, beklagte sich Telt. „Wenn heute nicht der letzte Tag wäre, würde ich glatt umkehren. Diese Leute kennen unsere Wagen; wir haben sie oft genug überfallen.“ Vor ihnen erhob sich ein schwärzlicher Trümmerhaufen. Hellrote Flammenzungen schlugen daraus hervor. Eine Mauer stürzte mit ohrenbetäubendem Lärm in sich zusammen. „Es ist tatsächlich Ihr Gebäude!“ rief Telt. „Sie sind uns zuvorgekommen. Wahrscheinlich haben sie den Angriff über Funk befohlen. Jedenfalls haben sie mit Sprengstoff nicht gespart.“ Alle Hoffnung war tot. Dis war tot. Unter den Trümmern lagen die zerschmetterten Körper der Menschen, die auf ihn vertraut hatten ... hübsche kleine Jeannie. Dr. Stine, seine Patienten. Faussel und alle anderen. Er hatte sie nicht von diesem Planeten fortgelassen, und jetzt waren sie tot. Ohne Ausnahme. Tot. Mörder! Brion war vor Erschütterung über diese Tragödie so gelähmt, dass er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Hätte sein Gehirn seinen Körper vollständig kontrolliert, dann wäre er in diesem Augenblick gestorben, denn er besaß keinen Lebenswillen mehr. Aber sein Herz schlug unbeirrt weiter, seine Lungen sogen die rauchige Luft gleichmäßig ein und gaben sie ebenso gleichmäßig wieder von sich. Sein Körper lebte automatisch weiter. „Was haben Sie jetzt vor?“ erkundigte sich der sonst immer so gut aufgelegte Telt mit bedrückter Stimme. Brion schüttelte nur wortlos den Kopf. Was sollte er denn tun? Was gab es noch zu tun? „Folgt mir“, erklang die gutturale Stimme eines Disaners durch das halboffene Rückfenster des Wagens. Der Sprecher war in der Menge untergetaucht, bevor Brion sich nach ihm umdrehen konnte. Aber dann erkannte er einen Eingeborenen, der langsam in einer Nebenstraße verschwand und sich dabei öfter nach ihnen umsah. Es war Ulv. „Wenden Sie - der Mann dort drüben ist es!“ Brion stieß Telt an und zeigte aufgeregt in die Richtung, in der Ulv gegangen war. „Fahren Sie langsam, damit wir kein unnötiges Aufsehen erregen. „ Einen Augenblick lang empfand Brion eine schwache Hoffnung, die er nicht auszusprechen wagte. Dann verwarf er sie doch wieder - das Gebäude war ein Trümmerhaufen. Die Menschen darin waren tot. Mit dieser Tatsache musste er sich abfinden. „Was ist denn los?“ fragte Telt. „Wer hat da eben am Fenster gesprochen?“ „Ein Disaner - der dort vorn. Er hat mir einmal in der Wüste das Leben gerettet, und ich glaube, dass er auf unserer Seite steht. Obwohl er ein Eingeborener ist, begreift er manches, was die Magter nicht verstehen wollen. Er weiß, was mit Dis geschehen wird.“ Brion plapperte gedankenlos weiter, um zu verhindern, dass er sich wieder mit der vergeblichen Hoffnung beschäftigte. Es gab keine Hoffnung mehr. Ulv ging langsam weiter, ohne sich noch ein einziges Mal nach dem Sandwagen umzusehen. Telt hielt den Abstand so groß wie möglich, obwohl dabei ständig die Gefahr bestand, dass sie den Disaner aus den Augen verloren. Sie erreichten den Teil der Stadt, in dem die Straßen von Lagerhäusern gesäumt waren. Ulv verschwand in einem davon; 37
Leichtmetalle Handelsgesellschaft m.b.H. hieß es auf dem Firmenschild. Telt fuhr langsamer. „Hier können wir nicht stehen bleiben“, sagte Brion. „Fahren Sie weiter bis um die nächste Straßenecke.“ Brion stieg aus dem Wagen und sah sich vorsichtig um. Weder vor ihm noch hinter ihm war ein Mensch auf der staubigen Straße zu sehen. Er ging langsam bis zur Ecke zurück und beobachtete die Straße, auf der sie gekommen waren. Heiß, still und leer. Dann öffnete sich plötzlich lautlos die Einfahrt des Lagerhauses. Brion erkannte eine Hand, die ihn heranwinkte. Er gab Telt ein Zeichen und sprang auf den Sandwagen, der sich bereits in Bewegung gesetzt hatte. „Durch das offene Tor - aber schnell, bevor uns jemand dabei beobachtet!“ Der Wagen rumpelte über eine Rampe in das dunkle Innere des Lagerhauses. Hinter ihnen schloss sich das Tor. „Ulv! Was ist los! Wo bist Du?“ rief Brion und kniff dabei die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Ein Schatten tauchte neben ihm auf. „Ich bin hier.“ „Hast Du ...“ Brion konnte den Satz nicht zu Ende sprechen. „Ich habe von dem Überfall gehört. Die Magter haben alle Männer zusammengerufen, damit sie ihnen den Sprengstoff tragen konnten. Ich bin mitgegangen. Ich konnte nichts dagegen tun, hatte aber auch keine Zeit, die Bewohner des Gebäudes zu warnen.“ „Dann sind sie also alle tot?“ „Ja.“ Ulv nickte. „Bis auf eine. Ich wusste, dass ich vielleicht einem Menschen das Leben retten konnte; aber ich wusste nicht, wen ich in Sicherheit bringen sollte. Deshalb suchte ich nach der Frau, die damals mit Dir in der Wüste war - sie ist hier. Sie ist nur leicht verletzt.“ „Ich möchte sie sehen“, sagte Brion. Er hatte plötzlich Angst, dass Ulv sich geirrt haben könnte. Vielleicht hatte er die falsche Frau gerettet. Aber wenn es doch Jeannie war... Ulv führte sie an der Laderampe vorbei. Brion ging dicht hinter ihm her und wäre am liebsten gerannt. Als er sah, dass Ulv auf die Büros am gegenüberliegenden Ende der großen Halle zuging, konnte er sich nicht länger beherrschen und eilte voraus. Es war wirklich Jeannie. Sie lag bewusstlos auf einer Couch. Auf ihrer Stirn standen große Schweißperlen. Sie bewegte sich unruhig und stöhnte dabei. „Ich habe ihr Sover gegeben und sie dann in ein Tuch eingewickelt, damit niemand merkte, was ich auf dem Rücken trug“, erklärte Ulv. Telt war unterdessen ebenfalls herangekommen und sah durch die Tür. „Sover ist eine Droge, die aus einer Wüstenpflanze gewonnen wird“, sagte er. „Wir haben einige Erfahrungen damit gesammelt. Ein bisschen davon wirft den stärksten Mann um, aber eine größere Dosis ist unweigerlich tödlich. Ich habe ein Gegengift dafür im Wagen; warten Sie hier, dann hole ich es gleich.“ Er ging hinaus. Brion setzte sich neben Jeannie und wischte ihr das Gesicht ab. Die dunklen Schatten unter ihren Augen waren fast schwarz, ihr zartes Gesicht wirkte eingefallen. Aber sie lebte noch - und nur das war im Augenblick wichtig. Brion fühlte sich unendlich erleichtert - und beinahe glücklich, obwohl ihm der Tod der übrigen G.K.B.-Angestellten deutlich genug vor Augen stand. Er konnte wieder klar denken. Die Aufgabe war noch immer ungelöst. Jeannie hätte eigentlich in ein Krankenhausbett gehört, aber das war unmöglich. Er musste sie noch einmal auf die Beine bringen, damit sie für ihn arbeiten konnte. Vielleicht fand sie jetzt die Antwort. Mit jeder Sekunde rückte das Ende dieses Planeten näher. „So, in einer Minute ist die Dame so gut wie neu“, meinte Telt, als er den schweren Erste-Hilfe-Kasten abstellte. Er sah Ulv nach, der den Raum verließ. „Hys würde sich bestimmt für ihn interessieren. Vielleicht ließe er sich als Spion anwerben - aber dazu ist es jetzt bereits zu spät...“ Er sägte eine Ampulle an und zog den Inhalt in eine Spritze auf. „Wenn Sie ihr den Ärmel aufrollen, werde ich sie gleich wieder ins Leben zurückholen“, sagte er dabei zu Brion. Er fuhr mit einem alkoholgetränkten Wattebausch über eine Stelle an Jeannies Unterarm und stach die Nadel hinein. „Wie schnell wirkt das Zeug?“ ,erkundigte Brion sich besorgt. ,“Innerhalb weniger Minuten. Sie wird bald wieder zu sich kommen. „ Ulv stand in der Tür. „Mörder!“ zischte er. Das Blasrohr in seiner Hand war halb an die Lippen gehoben. „Er ist an dem Wagen gewesen - er hat die Leiche gesehen!“ rief Telt und griff nach seiner Pistole. Brion warf sich mit erhobenen Händen zwischen die beiden Männer. „Aufhören! Keinen Mord mehr!“ rief er Ulv zu. Dann drohte er Telt mit der Faust. „Wenn Sie schießen, schlage ich Ihnen den Schädel ein! Ich werde die Sache auch ohne Ihre Hilfe in Ordnung bringen.“ Er drehte sich wieder zu Ulv um, der sein Blasrohr noch immer nicht weiter an den Mund gehoben hatte. Das war ein gutes Zeichen - der Disaner war sich nicht sicher. „Du hast die Leiche in dem Wagen gesehen, Ulv. Du musst aber auch erkannt haben, dass es die Leiche eines Magter ist. Ich habe ihn selbst getötet, weil ich lieber einen, zehn oder sogar hundert Menschen umbringen würde, bevor ich zulasse, dass ein ganzer Planet vernichtet wird. Ich habe ihn in einem ehrlichen Kampf Mann gegen Mann umgebracht, damit ich die Leiche untersuchen kann. Du weißt selbst, dass die Magter äußerst seltsam sind - sie benehmen sich anders als die übrigen Disaner. Wenn ich den Grund dafür herausbekommen kann, finde ich vielleicht einen Weg, um den Krieg zu verhindern.“ Ulv war noch immer zornig, aber er ließ sein Blasrohr sinken. „Ich wünschte, ihr wäret nie gekommen. Früher, als noch keine Fremden nach Dis kamen, war alles in Ordnung. Die Magter herrschten über uns, sie verlangten Gehorsam und brachten alle um, die ihre Befehle nicht befolgten; aber sie halfen uns auch. Jetzt wollen sie einen Krieg mit euren Waffen führen, und ihr wollt dafür meine Welt zerstören. Und ich soll Euch dabei helfen!“ „Nicht uns, nicht mir persönlich, Dir selbst!“ gab Brion müde zurück. „Wir können das alles jetzt nicht mehr ungeschehen machen, Ulv. Vielleicht wäre es für Dis wirklich besser gewesen, wenn die Fremden nie gekommen wären. 38
Vielleicht aber auch nicht. Aber über diesen Funkt brauchen wir uns jetzt keine Sorgen mehr zu machen, denn Dis hat nun einmal Kontakt mit der restlichen Galaxis. Ihr habt ein Problem zu lösen, und ich bin hier, um Euch dabei zu helfen.“ Die Sekunden vergingen unendlich langsam, während Ulv sich mit Fragen beschäftigte, die für ihn völlig neuartig waren. Konnte ein Mord weiteres Blutvergießen vermeiden? Konnte er seinem Volk dadurch heften, dass er die Fremden unterstützte, die seine Leute umbrachten? Seine Welt hatte sich in einer Weise verändert, die er kaum zu begreifen vermochte. Sollte er sich dieser Veränderung anpassen - oder sollte er ihr entgegentreten? Er schob das Blasrohr in seinen Gürtel zurück, drehte sich um und verließ den Raum. „Ein bisschen zu viel für meine Nerven“, meinte Telt. „Sie können sich gar nicht vorstellen, wie froh ich sein werde, wenn die verdammte Sache endlich vorüber ist. Mir ist es jetzt ganz egal, ob der Planet dabei draufgeht. Ich habe alles gründlich satt.“ Er ging zu dem Sandwagen hinaus und beobachtete dabei den Disaner, der vor der Tür an der Wand lehnte. Brion wandte sich wieder Jeannie zu, die mit offenen Augen auf der Couch lag. Er setzte sich neben sie. „Sie rannten“, flüsterte sie mit tonloser Stimme. „Sie rannten an der Tür meines Zimmers vorbei, und ich sah, wie sie Dr. Stine umbrachten. Dann kam einer von ihnen in mein Zimmer... mehr weiß ich nicht, mein Gedächtnis ist von da ab völlig leer.“ Sie wandte langsam den Kopf und sah zu Brion auf. „Was war dann? Warum bin ich hier?“ „Sie sind alle ... tot“, berichtete Brion. „Nach dem Überfall haben die Disaner das Gebäude gesprengt. Du bist die einzige Überlebende. Der Mann, der in Dein Zimmer kam, war Ulv - der Disaner, der uns in der Wüste gerettet hat. Er hat Dich in Sicherheit gebracht und hier versteckt.“ „Wann fliegen wir ab?“ fragte sie in dem gleichen Tonfall wie vorher und drehte das Gesicht zur Wand. „Wann verlassen wir diesen Planeten?“ „Heute ist der letzte Tag. Das Ultimatum läuft um Mitternacht aus. Krafft lässt uns abholen, wenn wir ihm mitteilen, dass wir startbereit sind. Aber unsere Aufgabe ist noch nicht gelöst. Ich habe eine Leiche beschafft. Du musst sie untersuchen. Wir müssen herausbekommen, was die Magter.. .“ „Alles hat keinen Sinn mehr, wir müssen fort von hier.“ Ihre Stimme klang monoton. „Ich habe getan, was ich konnte; jetzt kann ich nicht mehr. Bitte, lass das Schiff kommen, ich möchte Dis verlassen.“ Brion biss sich in hilfloser Verzweiflung auf die Lippen. Nichts schien Jeannie aus ihrer Apathie aufrütteln zu können. Sie hatte in den letzten Tagen mehr durchmachen müssen, als ihr geschwächter Körper ertragen konnte. Er nahm ihr Kinn in seine Hand und drehte ihr Gesicht zu sich. Sie leistete keinen Widerstand, aber in ihren Augen standen Tränen. „Bitte, bring mich nach Hause, Brion. Bitte.“ Er zwang sich zu einem aufmunternden Lächeln. Was konnte er nur tun? Die Zeit verging immer rascher, die Untersuchung musste durchgeführt werden - und doch konnte er Jeannie nicht dazu zwingen. Er sah sich nach dem Erste-Hilfe-Kasten um, aber Telt hatte ihn mit sich in den Wagen genommen. Vielleicht enthielt er ein Beruhigungsmittel, das er Jeannie geben konnte. Telt hatte einige seiner Messinstrumente auf dem Kartentisch geöffnet und betrachtete einen Papierstreifen mit Hilfe einer Lupe, als Brion die Tür aufriss. Er fuhr nervös auf und versteckte den Streifen hinter seinem Rücken. Dann grinste er verlegen, als er Brion erkannte. „Ich dachte, Sie wären der komische Kerl dort draußen, der sich die Sache auch einmal ansehen wollte“, flüsterte er. „Vielleicht können Sie ihm trauen - aber ich kann mir das nicht leisten. Ich darf nicht einmal das Funkgerät benutzen. Ich verschwinde jetzt so schnell wie möglich. Hys muss unbedingt davon erfahren!“ „Was muss er erfahren?“ erkundigte sich Brion. „Was soll die ganze Geheimnistuerei?“ Telt drückte ihm den Papierstreifen und das Vergrößerungsglas in die Hand. „Sehen Sie sich das an - das ist der Streifen aus meinem Geigerzähler. Die roten senkrechten Linien zeigen jeweils einen Zeitabschnitt von fünf Minuten an, die wellige schwarze Linie gibt die Radioaktivität der Umgebung an. Sie sehen, dass sie während der Zeit unserer Fahrt nur geringfügige Änderungen aufweist.“ „Und der steile Anstieg hier in der Mitte?“ „Diese Spitze fällt genau mit unserem Aufenthalt in dem schwarzen Turm zusammen! Als wir durch das Loch in den Keller eindrangen!“ Telts Stimme klang aufgeregt. „Soll das heißen, dass . . .“ „Ich kann es nicht sagen. Ich weiß es noch nicht bestimmt. Ich muss diesen Streifen erst mit den anderen vergleichen, die ich im Lager habe. Vielleicht ist es nur das Gestein des Turms - manche Arten besitzen eine sehr hohe natürliche Radioaktivität. Oder auch nur einige Instrumente mit Leuchtzifferblättern. Möglicherweise handelt es sich auch um eine kleinere taktische Atombombe - wir wissen, dass sie einige haben.“ „Oder die Kobaltbomben?“ „Kann sein“, meinte Telt und verpackte seine Instrumente „Eine schlecht abgeschirmte Bombe oder eine alte, deren Mantel nicht mehr ganz dicht ist, würde eine ähnliche Spur auf dem Streifen hinterlassen. Ein winziger Sprung in der Außenhülle genügt schon.“ „Warum rufen Sie Hys nicht über Funk und benachrichtigen ihn davon?“ „Ich möchte vermeiden, dass Opa Kraffts Abhördienst davon Wind bekommt. Das hier ist unsere Aufgabe - wenn ich recht habe. Und ich muss erst die anderen Streifen überprüfen, bevor ich es sicher sagen kann. Jedenfalls lohnt sich ein Angriff, das spüre ich, in den Knochen. Laden wir lieber gleich Ihre Leiche aus!“ Er half Brion dabei und setzte sich dann hinter das Steuer. „Halt, noch einen Augenblick“, sagte Brion. „Haben Sie zufällig etwas in Ihrem Erste-Hilfe-Kasten, das ich Jeannie geben könnte? Sie scheint einen Nervenzusammenbruch erlitten zu haben. Sie ist weder mit vernünftigen Argumenten 39
zugänglich, noch will sie etwas tun, sie liegt einfach nur da und wartet darauf, dass ich sie abholen, lasse.“ „Das werden wir gleich haben“, meinte Telt und öffnete den Kasten. „Unser Arzt nennt diese Erscheinung Schlächter-Syndrom. Hat eine Menge von unseren Leuten erwischt. Wenn man sein ganzes Leben lang in einer Gesellschaft gelebt hat, die Gewalttätigkeiten jeder Art verabscheut, nimmt es einen schwer mit, wenn man plötzlich andere Menschen umbringen soll. Nachdem es einige schwer erwischt hatte, mixte unser Arzt dieses Zeug zusammen. Ich weiß nicht genau, wie es funktioniert, aber jedenfalls löscht es alle Erinnerungen an die jüngste Vergangenheit aus. Die letzten zehn, zwölf Stunden sind einfach nicht mehr da. Und man kann sich nicht über etwas aufregen, an das man sich gar nicht erinnert.“ Er holte eine versiegelte Packung heraus. „Gebrauchsanweisung auf der Rückseite. Viel Glück.“ „Ihnen auch“, antwortete Brion und schüttelte die schwielige Hand des Technikers. „Geben Sie mir Nachricht, was aus der Sache mit dem Streifen geworden ist.“ Er sah nach draußen, um sich davon zu überzeugen, dass die Straße frei war, dann schob er das Tor beiseite. Der Sandwagen fuhr auf die Straße hinaus und verschwand um die nächste Ecke. Brion schloss das Tor und ging zu Jeannie zurück. UIv lehnte noch immer unbeweglich an der selben Stelle. Die Packung enthielt eine Injektionsspritze aus Plastik. Jeannie protestierte nicht, als Brion ihr die Nadel in den Arm stach. Sie seufzte nur und schloss wieder die Augen. Als er sah, dass sie fest schlief, schleppte er die Plane mit dem toten Magter herein. An einer Seite der Halle erstreckte sich eine lange Werkbank, auf die er die Leiche hob. Dann schlug er die Plane beiseite und schnitt dem Toten die blutgetränkte Kleidung vom Leib. Der Mann unterschied sich in nichts von anderen Menschen. Brions Theorie wurde mit jeder Sekunde unhaltbarer. Wenn die Magter nicht fremdartige Lebewesen waren, wie ließ sich dann ihr völliger Gefühlsmangel erklären? Eine Mutation? Brion hatte bisher keine Anzeichen dafür entdeckt. Aber der Mann vor ihm musste in irgendeiner Beziehung fremdartig sein. Die Zukunft eines ganzen Planeten gründete sich auf diese schwache Hoffnung. Und wenn Telts Vermutungen über die Bomben sich als falsch erwiesen, dann bestand überhaupt keine Hoffnung mehr. Jeannie war noch immer bewusstlos, als er zu ihr zurückkehrte. Brion hatte keine Ahnung, wie lange dieses Koma andauern würde. Wahrscheinlich würde er sie aufwecken müssen, aber auf jeden Fall so spät wie möglich. Er musste seine Ungeduld mühsam beherrschen, obwohl er recht gut, wusste, dass das Mittel eine gewisse Zeit brauchte, bevor es wirkte. Schließlich beschloss er, mindestens eine Stunde zu warten, bevor er sie aufzuwecken versuchte. Das war also Mittag - zwölf Stunden vor dem Ende. Inzwischen konnte er sich wenigstens mit Professor-Kommandant Krafft in Verbindung setzen. Vielleicht sah das wie eine defätistische Handlungsweise aus, aber Brion musste sichergehen, dass sie abgeholt wurden, falls er seinen Auftrag nicht erfüllen konnte. Krafft hatte ein Funkgerät aufbauen lassen, das als Relaisstation zwischen ihm und Brion diente. Wenn dieses Gerät sich in dem G.K.B.-Gebäude befunden hatte, war die Verbindung unterbrochen. Brion musste feststellen, wie es sich damit verhielt, bevor es zu spät dafür war. Er schaltete sein Kleinstfunkgerät ein und sandte einen Ruf aus. Die Antwort kam sofort. „Wer ist am Gerät - jemand von der Gesellschaft?“ Die Stimme des Alten zitterte. „Hier spricht Brand. Ich habe Jeannie Borriß bei mir. Wir sind ...“ „Sonst niemand? Hat wirklich kein anderer den Überfall auf das Gebäude überlebt?“ „Nein, die anderen sind alle tot. Nachdem das Gebäude und die Instrumente zerstört sind, kann ich mich mit Ihrem Schiff nicht mehr in Verbindung setzen. Können Sie veranlassen, dass wir notfalls hier abgeholt werden?“ „Geben Sie mir Ihren genauen Standort an. Ich lasse das Schiff sofort“ „Ich brauche es jetzt noch nicht“, unterbrach ihn Brion. „Schicken Sie es nicht, bevor ich Sie benachrichtige. Wenn die Katastrophe sich noch aufhalten lässt, werde ich eine Möglichkeit dazu finden. Deshalb bleibe ich - bis zur letzten Minute, wenn es nicht anders geht.“ Krafft schien nachzudenken. Aus Brions Funkgerät drang nur das Geräusch schwerer Atemzüge. „Das müssen Sie selbst entscheiden“, meinte er schließlich. „Ich halte das Schiff in Bereitschaft. Aber sollen wir nicht wenigstens Miss Borriß abholen?“ „Nein, ich brauche sie hier. Wir arbeiten noch, wir suchen nach ...“ „Glauben Sie, dass Sie jetzt noch eine Antwort finden?“ Die Stimme des anderen schwankte zwischen Verzweiflung und Hoffnung. Aber Brion konnte ihm nicht helfen. „Wenn ich Erfolg habe, werde ich Sie benachrichtigen. Geht die Sache schief, dann ist ohnehin alles verloren. Ende.“ Brion schaltete das Funkgerät ab. Jeannie schlief noch immer, als er wieder nach ihr sah. Bis Mittag blieb noch über eine halbe Stunde Zeit. Wie konnte er sie am Besten ausnützen? Sie brauchte bestimmt einige Instrumente, wenn sie die Leiche untersuchte, die hier nicht zu finden sein würden. Vielleicht entdeckte er einige in den Trümmern des G.K.B.-Gebäudes? Brion überlegte sich, dass es eigentlich seine Pflicht sei, nach Überlebenden zu suchen, anstatt sich auf die Angaben anderer zu verlassen. Ulv wartete an derselben Stelle wie vorhin. Er sah schweigend auf, als Brion sich ihm näherte. „Willst Du mir noch einmal helfen?“ fragte Brion. „Dann kannst Du hier bleiben und auf das Mädchen aufpassen, während ich fortgehe. Ich bin bald wieder zurück.“ Ulv schwieg hartnäckig. „Ich suche noch immer nach einem Weg, um die Katastrophe zu verhindern“, fügte Brion hinzu. „Geh - ich kümmere mich um das Mädchen!“ gab Ulv verbissen zurück. „Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Vielleicht hast Du recht. Geh! Bei mir ist sie sicher.“ Brion schlüpfte auf die Straße hinaus und rannte durch die Stadt, bis er den Trümmerhaufen erreicht hatte, der einstmals das Gebäude der Gesellschaft für kulturelle Erziehungen gewesen war. Allerdings machte er einige Umwege und näherte sich den Trümmern schließlich von der entgegengesetzten Seite. Als er um eine Ecke bog, sah er vor sich einen Sandwagen stehen. Das Fahrzeug kam ihm irgendwie vertraut vor, obwohl er nicht sicher war, ob es sich dabei tatsächlich um den Wagen handelte, in dem er mit Telt gefahren war. Er 40
sah sich vorsichtig um und stellte fest, dass die Straße menschenleer war. Erst dann schlich er sich näher an den Wagen heran. Als er ihn fast erreicht hatte, erkannte er ihn mit Sicherheit wieder. Aber warum stand er hier? Brion stieg auf die Kette des Fahrzeugs und zog sich am Fensterrand hoch. Das Metall war glühend heiß. Noch ein kurzer Ruck, dann starrte er in Telts Gesicht. Selbst im Tod lächelte der Mann noch. In seinem Hals steckte ein winziger Holzpfeil mit bunten Federn, die sich deutlich von der braunen Haut abhoben.
15 Brion ließ sich fallen, knallte auf die Straße und blieb unbeweglich im Staub liegen. Aber kein weiterer Giftpfeil zischte durch die Luft; überall herrschte tiefes Schweigen. Telts Mörder waren ebenso lautlos verschwunden, wie sie gekommen sein mussten. Brion bewegte sich rasch, benutzte den Wagen als Deckung und kletterte hinein. Die Gegner hatten ganze Arbeit geleistet. Sämtliche Kontrollinstrumente waren zerstört, auf dem Boden lagen zertrümmerte Instrumente zwischen langen Papierstreifen aus den Messgeräten. Das Fahrzeug war unbrauchbar gemacht worden. Die vorhergegangenen Ereignisse waren leicht genug zu rekonstruieren. Der Wagen war beobachtet worden, als er in die Stadt einfuhr - vermutlich von einigen der Magter, die das G.K.B.-Gebäude gesprengt hatten. Sie hatten nicht gesehen, wohin das Fahrzeug in der Zwischenzeit gefahren war, denn sonst wäre Brion jetzt bereits ein toter Mann gewesen. Aber sie mussten es noch einmal entdeckt haben, als Telt die Stadt zu verlassen versuchte. Dann hatten sie den Fahrer außer Gefecht gesetzt und den Wagen zerstört. Telt war tot! Brion musste sich dazu zwingen, über die Konsequenzen dieser Tatsache nachzudenken. Erst allmählich wurde ihm alles klar. Telt hatte niemand von seiner Entdeckung der radioaktiven Spuren benachrichtigt. Er hatte das Funkgerät nicht benutzen wollen sondern hatte die Absicht gehabt, Hys persönlich zu unterrichten und ihm den Streifen zu zeigen. Aber jetzt war der Streifen wahrscheinlich zerrissen und zwischen die anderen gemischt, und das Gehirn, das ihn hätte analysieren können, arbeitete nicht mehr. Brion warf einen Blick auf das zerstörte Funkgerät und riss die Wagentür auf. Er sprang mit einem Satz auf die Straße und floh so schnell ihn seine Füße tragen wollten. Sein eigenes Leben und das Überleben der Bevölkerung eines ganzen Planeten hingen nun davon ab, dass er nicht in der Nähe des Sandwagens gesehen wurde. Er musste sich mit Hys in Verbindung setzen und die Informationen weitergeben. Bis er das getan hatte, war er der einzige Fremde auf Dis, der wusste, welcher der Magtertürme unter Umständen die Kobaltbomben enthielt. Als er den Sandwagen etwas weiter hinter sich gelassen hatte, ging Brion langsamer und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er war nicht beobachtet worden, als er das Fahrzeug verließ, und wurde auch jetzt nicht verfolgt. Die Straße, in der er sich befand, hatte er zwar noch nie gesehen, aber er orientierte sich nach der Sonne und ging weiter auf das zerstörte Gebäude zu. Jetzt tauchten immer mehr Disaner auf, die bei seinem Anblick stehen blieben und ihm feindselige Blicke zuwarfen. Brion fühlte ihren Hass und ihren Zorn. Einmal griff er sogar nach seiner Pistole, als er sah, dass zwei Männer ihre Blasrohre bereit hielten. Trotzdem kam er ungehindert an ihnen vorbei. Noch eine Straßenecke, dann hatte er das ehemalige G.K.B.-Gebäude vor sich. Einige Meter davon entfernt stand ein stumpfer Metallkegel die Pinasse eines Raumschiffs. Zwei Männer stiegen aus der geöffneten Luke und gingen auf den Trümmerhaufen zu. Brions Stiefel zermalmten die zertrümmerten Fensterscheiben, als er näher kam. Die Männer warfen sich herum und hoben ihre Waffen. Beide trugen Ionengewehre. Sie grinsten erleichtert, als sie erkannten, dass Brion kein Disaner war. „Verdammte Wilde!“ knurrte der eine, dessen Mütze ein Symbol trug, das ihn als Computer-Spezialisten auswies. „Eigentlich kann man ihnen keinen Vorwurf machen“, meinte der andere. Seinem Abzeichen nach musste er der Zahlmeister eines Raumschiffs sein. „Um Mitternacht fliegt ihr ganzer Planet in die Luft. Sieht so aus, als ob die Kerle endlich begriffen hätten, was ihnen bevorsteht. Hoffentlich sind wir bis dahin bereits im Hyperraum. Ich habe miterlebt, wie Estradas Welt unterging - das reicht mir für das ganze Leben!“ Der Raumfahrer, der zuerst gesprochen hatte, wandte sich an Brion. „Wollen Sie mitfliegen?“ erkundigte er sich. „Unser Schiff ist das letzte auf dem gesamten Raumhafen, und wir dampfen ab, sowie wir unsere Ladung an Bord haben. Wenn Sie mitkommen wollen, nehmen wir Sie gern mit.“ Brion beherrschte sich mühsam, um sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn der Anblick des zertrümmerten Gebäudes beeindruckte und bedrückte. „Nein“, antwortete er. „Sehr freundlich von Ihnen, aber das ist nicht nötig. Ich habe Verbindung mit der Blockadeflotte und werde um Mitternacht abgeholt.“ 41
„Stammen Sie von Nyjord?“ erkundigte sich der Zahlmeister. „Nein.“ Brion schüttelte den Kopf und versuchte die Augen von den Trümmern zu wenden. „Aber ich habe Schwierigkeiten mit meinem eigenen Schiff gehabt.“ Er bemerkte, dass die beiden Männer ihn neugierig anstarrten, als ob sie auf eine Erklärung von ihm warteten. „ich dachte, dass ich einen Weg finden könnte, um den Krieg zu verhindern. Aber jetzt bin ich nicht mehr so sicher.“ Er hatte Fremden gegenüber nicht so offenherzig sein wollen, aber die Worte waren ihm wie von allein herausgeschlüpft. Der Computerspezialist wollte etwas sagen, aber der andere Raumfahrer stieß ihm den Ellbogen in die Rippen. „Wir starten bald - und mir passt es nicht, wie die Disaner uns anstarren. Der Captain hat nur gesagt, wir sollten herausbekommen, was hinter dem Brand steckt, und dann so schnell wie möglich zurückkommen. Los, hauen wir ab!“ „Verpassen Sie Ihr Schiff nicht“, sagte der andere und wollte auf die Pinasse zugehen. Dann blieb er noch einmal stehen. „Können wir Ihnen nicht irgendwie behilflich sein?“ fragte er. Brion überlegte. „Doch, das können Sie“, meinte er dann. „Ich brauche dringend ein Skalpell und andere chirurgische Instrumente. „ Jeannie war darauf angewiesen. Dann erinnerte er sich an Telts nicht überlieferte Nachricht. „Haben Sie ein tragbares Funkgerät an Bord? Ich will es nicht umsonst ich kann dafür bezahlen.“ Der Mann verschwand im Innern der Rakete und tauchte eine Minute später mit einem Päckchen in der Hand wieder auf. „Hier, das ist alles, was ich finden konnte ein Skalpell und eine Pinzette. Hoffentlich genügt es.“ Er griff hinter sich und holte ein mit Batterien betriebenes Funkgerät hervor. „Nehmen Sie das, es hat eine ziemlich große Reichweite, selbst in den höheren Frequenzen.“ Der Raumfahrer hob abwehrend die Hand, als Brion ihm Geld anbot. „Wenn Sie diesen Planeten tatsächlich retten, schenke ich Ihnen auch noch die Pinasse. Wir werden dem Captain berichten, dass wir das Funkgerät bei einem Zusammenstoß mit den Eingeborenen eingebüßt haben. Einverstanden, Du alter Geldzähler?“ Er gab dem Zahlmeister einen aufmunternden Stoß. „Haargenau“, antwortete der Angesprochene. „Ich schreibe einfach eine Verlustmeldung aus. Der Alte wird froh sein, wenn er wenigstens uns wieder heil zurückbekommt.“ Sie winkten Brion noch einmal zu, dann schloss sich das Luk hinter ihnen, und er musste sich rasch vor den Abgasen des Raketenantriebwerks in Sicherheit bringen. Die spontane Hilfsbereitschaft der fremden Raumfahrer richtete Brion wieder etwas auf, während er die Trümmer durchsuchte. Ein Teil der Außenwand des Laboratoriums stand noch und er grub einige zerstörte Instrumente aus. Der wichtigste Fund war jedoch der Kasten, in dem das Mikroskop aufbewahrt wurde. Brion öffnete ihn und stellte fest, dass das rechte Okular verbogen war. Aber das linke schien noch zu funktionieren. Er stellte das Mikroskop vorsichtig wieder in den Behälter zurück. Brion sah auf seine Uhr. Die Zeit war rascher vergangen, als er gedacht hatte, denn Mittag war bereits zehn Minuten vorbei. Die wenigen Instrumente mussten also für die Autopsie genügen. Die Disaner starrten ihn misstrauisch nach, als er von dem Trümmerhaufen herunterkletterte und in einer Nebenstraße verschwand. Er machte wieder einen weiten Umweg und betrat das Lagerhaus erst dann, als er überzeugt war, dass ihm niemand gefolgt war. Jeannie sah erschrocken zu ihm auf, als er das Büro betrat. „Endlich ein freundliches Lächeln unter den Kannibalen“, rief sie ihm entgegen, aber ihr Gesichtsausdruck zeigte, dass ihr keineswegs so fröhlich zumute war, wie ihre Worte vermuten ließen. „Was ist eigentlich mit mir los?“ Sie wies mit dem Daumen auf Ulv. „Seit ich aufgewacht bin, hat dieser schweigsame Herr dort drüben noch kein Wort mit mir gewechselt.“ „Was waren die letzten Ereignisse, an die Du Dich noch erinnerst?“ fragte Brion vorsichtig. Er wollte ihr nicht mehr erzählen, als unbedingt notwendig war, damit sie nicht wieder in den vorherigen Zustand verfiel. Ulv hatte große Geistesgegenwart bewiesen, als er nicht mit ihr gesprochen hatte. „Wenn Du es unbedingt wissen willst“, meinte Jeannie, „ich erinnere mich an einiges, Brion Brand. Also - ich kann mich daran erinnern, dass ich eingeschlafen bin, nachdem Du fortgegangen warst. Dann ist alles leer. Eigentlich merkwürdig. Ich bin in einem unbequemen Krankenhausbett eingeschlafen und wache auf einer Couch in diesem Raum auf. Außerdem fühle ich mich einfach schrecklich. Und er sitzt an der Tür und starrt mich böse an. Willst Du mir nicht bitte erklären, wie das alles zusammenhängt?“ Am Besten erzählte er ihr nur einen Teil der Wahrheit den Rest konnte sie später erfahren. „Die Magter haben das G.K.B.-Gebäude überfallen“, erklärte er ihr. „Sie verfolgen jetzt alle Fremden mit ihrem Hass. Du schliefst noch, deshalb brachte UIv Dich hierher. Jetzt ist es Nachmittag, und wir...“ „Ist heute nicht der letzte Tag?“ fragte Jeannie entsetzt. „Während ich hier Dornröschen spiele, geht draußen eine Welt ihrem Ende entgegen! Hat es bei dem Überfall Verletzte gegeben? Oder gar Tote?“ „Wir hatten einige Verluste - und größte Schwierigkeiten“, gab Brion zurück. Er musste das Gespräch auf ein anderes Thema bringen, deshalb ging er zu der Leiche hinüber und deckte sie auf. „Aber das hier ist im Augenblick viel wichtiger - es ist die Leiche eines Magter. Ich habe ein Skalpell und einige andere Instrumente hier - kannst Du eine Autopsie durchführen?“ Jeannie kauerte sich zusammen und schlang die Arme um ihre Knie. Sie schien trotz der auch in diesem Raum herrschenden Hitze zu frieren. „Was ist den anderen in dem Gebäude zugestoßen?“ fragte sie leise. Die Spritze hatte ihre Erinnerungen an den Überfall ausgelöscht, aber die Nachwirkungen des Schocks machten sich immer noch bemerkbar. „Ich fühle mich so ... erschöpft. Bitte, ich möchte wissen, was geschehen ist. Ich spüre, dass Du etwas vor mir verbirgst.“ Brion setzte sich neben sie und nahm ihre Hände. Er war nicht überrascht dass sie eiskalt waren. „Es war alles nicht sehr schön“, begann er langsam. „Die Sache hat Dich ziemlich mitgenommen, deshalb bist Du jetzt in so schlechter Verfassung. Aber - Jeannie, Du musst mir einfach vertrauen, wenn ich Dich bitte, keine weiteren Fragen zu stellen. Wir können nichts mehr ändern. Aber wir können vielleicht das Geheimnis der Magter lösen. Wirst Du die Leiche untersuchen?“ 42
Jeannie wollte etwas sagen, schwieg dann aber doch. Brion fühlte, dass ein leichtes Zittern ihren Körper durchlief. „Irgend etwas ist nicht in Ordnung“, sagte sie unsicher. „Ich spüre es ganz deutlich. Aber ich verlasse mich auf Dein Wort, dass es besser ist, wenn ich keine Fragen mehr stelle. Hilfst Du mir bitte aufstehen, Liebling? Meine Knie sind ganz weich.“ Brion stützte sie und führte sie zu der Werkbank hinüber. Jeannie schloss einen Augenblick die Augen, als sie vor der Leiche stand. „Nicht gerade das, was man in Fachkreisen einen natürlichen Tod nennen würde“, stellte sie fest. Ulv beobachtete sie scharf, als sie das Skalpell aus dem Etui nahm. „Du brauchst nicht zuzusehen“, sagte Jeannie. „Willst Du inzwischen in das Büro gehen?“ „Ich will aber“, antwortete er und ließ die Augen nicht von dem toten Magter. „Ich habe noch nie zuvor einen dieser Menschen als Leiche gesehen - er sieht wie jeder andere Disaner aus.“ Er starrte weiter auf die Werkbank. „Kannst Du mir einen Schluck Wasser besorgen, Brion?“ fragte Jeannie. „Und dann breitest Du vielleicht lieber die Plane unter der Leiche aus, damit es keine Flecken gibt. Nachdem sie etwas Wasser getrunken hatte, schien Jeannie wieder kräftiger und konnte sich auf den Beinen halten, ohne mit beiden Händen den Rand der Werkbank umklammern zu müssen. Sie griff nach dem Skalpell und öffnete die Bauchdecke mit einem langen Schnitt. Ulv stieß einen leisen Laut aus, wandte die Augen aber nicht ab. Nacheinander löste sie die inneren Organe aus dem Körper. Einmal sah sie kurz zu Brion auf, arbeitete dann aber rasch weiter. Beide schwiegen, bis Brion schließlich eine Frage stellte. „Hast Du schon etwas gefunden?“ Dieser eine Satz genügte, um Jeannies mühsam bewahrte Fassung zu zerstören. Sie stolperte zu der Couch zurück und sank darauf nieder. Ihre blutbefleckten Hände bildeten einen merkwürdigen Gegensatz zu der weißen Haut ihrer Arme. „Es tut mir leid, Brion“, sagte sie, „aber ich habe nichts gefunden. Einige kleine Veränderungen, wie ich sie noch nie zuvor gesehen habe - zum Beispiel ist die Leber stark vergrößert. Aber alle diese Veränderungen ergeben sich aus der Anpassung an die unterschiedlichen Lebensverhältnisse auf diesem Planeten. Wir haben einen Menschen vor uns. Verändert, angepasst, modifiziert - aber immer noch ein Mensch wie Du und ich.“ „Wie kannst Du das sicher wissen?“ unterbrach Brion sie. „Du hast ihn doch noch nicht vollständig untersucht, oder?“ Sie schüttelte müde den Kopf. „Dann musst Du weitermachen. Die übrigen Organe. Sein Gehirn. Eine mikroskopische Untersuchung. Hier!“ sagte er und schob ihr den Behälter mit dem Mikroskop zu. Jeannie senkte den Kopf auf die Arme und schluchzte. „Warum lässt Du mich nicht endlich in Ruhe? Ich habe diesen schrecklichen Planeten satt! Lass sie doch alle sterben! Mir ist das völlig egal. Deine Theorie ist unsinnig. Warum gibst Du das nicht endlich zu? Ich will mir den Schmutz von den Händen waschen, damit ich nicht mehr ...“ Der Rest des Satzes ging in einem haltlosen Weinen unter. Brion stand über ihr und atmete schwer. Hatte er wirklich unrecht? Er wagte nicht daran zu denken. Er musste den eingeschlagenen Weg weitergehen. Als er auf Jeannies schmalen Rücken hinuntersah, empfand er ein Mitleid, dem er nicht nachgeben durfte. Diese kleine, erschreckte und hilflose Frau war seine einzige Stütze. Sie musste weiterarbeiten. Auf jeden Fall, selbst wenn er sie dazu zwingen musste. Ihjel hatte dieses Kunststück einmal fertiggebracht, als er seine empathischen Fähigkeiten ausnutzte, um Brion zu überzeugen. Jetzt musste Brion diesen Vorgang mit Jeannie als Versuchsobjekt wiederholen, obwohl er die dafür notwendige Technik erst ungenügend beherrschte. Trotzdem durfte er nichts unversucht lassen. Jeannie brauchte seine Unterstützung. „Du kannst arbeiten. Du hast den Willen und die Kraft dazu“, sagte er deshalb laut. Gleichzeitig übermittelte er ihrem Unterbewusstsein den Befehl, sich seiner Kraft und Stärke zu bedienen, nachdem ihre erschöpft waren. Erst als Jeannie das Gesicht hob, auf dem die Tränen noch immer sichtbar waren, wusste Brion, dass er Erfolg gehabt hatte. „Kannst Du weiterarbeiten?“ fragte er ruhig. Jeannie nickte stumm und erhob sich. Sie ging wie ein Schlafwandler. Ihre Kraft war nicht ihre eigene, und Brion erinnerte sich mit Unbehagen an den letzten Wettkampf der Spiele, als er sich in einer ähnlichen Lage befunden hatte. Sie wischte sich die Hände an der Plane ab und öffnete den Kasten, in dem das Mikroskop stand. „Die Objektträger sind alle zerbrochen“, sagte sie. „Das genügt auch“, erklärte Brion ihr und trat eine Fensterscheibe ein. Er nahm einige der größeren Splitter auf und brach Ecken ab, so dass viereckige Stücke entstanden, die unter dem Mikroskop Platz hatten. Jeannie nahm sie wortlos entgegen. Sie ließ einen Tropfen Blut auf das Glas fallen und beugte sich über das Okular. Ihre Hände zitterten, als sie die Scharfeinstellung betätigte. Sie betrachtete das Blut mit der kleinsten Vergrößerung und kniff dabei angestrengt die Augen zusammen. Einmal verstellte sie den Sammelspiegel, um mehr Licht zu haben. Brion stand dicht hinter ihr, ballte die Fäuste und versuchte sich zu beherrschen. „Siehst Du etwas?“ platzte er schließlich heraus. „Phagozyten, Leukozyten ... alles scheint ganz normal zu sein.“ Jeannies Stimme klang erschöpft, ihre Augen tränten vor Ermüdung, während sie sich mit dem Mikroskop beschäftigte. Brion runzelte ärgerlich die Stirn. Er wollte nicht glauben, dass er unrecht gehabt hatte, deshalb griff er über ihre Schulter hinweg nach dem Objektivrevolver und stellte die höchste Vergrößerung ein. „Du kannst ja gar nichts erkennen - jetzt muss es gehen! Es ist dort - ich weiß, dass es dort ist! Ich werde Dir ein Stück Gewebe holen.“ Er wandte sich ab und ging zu der Leiche zurück. Er kehrte ihr den Rücken, deshalb sah er nicht mehr, dass Jeannie sich plötzlich aufgeregt über das Okular beugte, während ihre Finger die Brennweite regulierten. Aber er fühlte ihre Erregung, weil sie seinen empathischen Sinn ansprach. „Was hast Du gefunden?“ rief er ihr zu, als habe sie etwas gesagt. „Etwas ... etwas in dieser Leukozyte“, antwortete sie. „Es ist etwas außergewöhnlich, aber trotzdem kommt es mir bekannt vor. Ich habe es schon einmal gesehen, kann mich aber nicht mehr daran erinnern.“ Sie hob den Kopf und 43
presste die Faust gegen die Stirn. „Ich weiß bestimmt, dass ich es schon einmal gesehen habe.“ Brion warf einen Blick durch das Mikroskop und erkannte den weißen, polypenähnlichen Umriss einer einzelligen Leukozyte. Für ihn enthielt sie nichts Außergewöhnliches. Allerdings konnte er nicht wissen, was daran anders sein sollte, wenn er keine Ahnung hatte, was normal war. „Erkennst Du die runden grünen Körperchen, die eng beieinander liegen?“ frage Jeannie. Bevor Brion antworten konnte, griff sie aufgeregt nach seinem Arm. „Ich habe es!“ Ihre Müdigkeit war plötzlich verflogen. „Icerya purchasi heißen diese winzigen Dinger. Bei manchen Insekten kommt es vor, dass das grüne Zeug in den Körperzellen wuchert. Nicht als Parasit, sondern als Partner einer regelrechten Symbiose ...“ Jeannies Augen öffneten sich weit, als ihr klar wurde, was sie eben gesagt hatte. Eine Symbiose - und Dis war ein Planet, auf dem Symbiosen und Parasitentum Bestandteile des täglichen Lebens waren. Jeannie überlegte krampfhaft und versuchte eine logische Schlussfolgerung daraus zu ziehen. Sie ballte die Hände zu Fäusten und starrte auf die gegenüberliegende Wand, während ihre Gedanken um diesen Punkt kreisten. Brion und Ulv beobachteten sie schweigend und warteten auf eine Erklärung. Endlich schienen sich die Bruchstücke zu einem Ganzen zusammenzufügen. Jeannie öffnete die Fäuste und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Dann drehte sie sich um und sah Brion fragend an. „Hast Du hier irgendwo einen Werkzeugkasten gesehen?“ fragte sie. Brion war so überrascht, dass er nicht gleich antworten konnte. Bevor er sich zu einer Gegenfrage aufgerafft hatte, sprach Jeannie weiter. „Keine einfachen Werkzeuge; damit würde es zu lange dauern. Glaubst Du, dass Du irgendwo eine Motorsäge auftreiben kannst? Das wäre ideal.“ Sie wandte sich wieder zu dem Mikroskop zurück, deshalb stellte Brion keine weiteren Fragen. Ulv starrte noch immer den toten Magter an und hatte kein Wort von dem verstanden, was Jeannie gesagt hatte. Brion ging in das Treppenhaus und stieg in das erste Stockwerk hinauf, weil er wusste, dass unten in dem Lagerraum keine Werkzeuge lagen. Er ging an einigen Räumen vorbei, die alle abgeschlossen waren, und erreichte schließlich einen, dessen Tür die hoffnungsvolle Aufschrift WERKZEUGRAUM trug. Brion warf sich mit aller Gewalt gegen die schwere Eisentür, ohne sie dadurch öffnen zu können. Nach mehreren vergeblichen Versuchen gab er auf und überlegte sich einen anderen Weg. Dabei sah er zufällig auf seine Armbanduhr. Nur noch zehn Stunden, bis die Bomben fielen! Jetzt musste er schnell und trotzdem leise handeln, weil immer die Gefahr bestand, dass ein zufällig vorbei kommender Disaner hörte, wie er die Tür aufbrach. Er riss sich das Hemd vom Leib und wickelte es als Schalldämpfer um den Lauf der Pistole. Dann presste er die Mündung der Waffe gegen das Schloss und betätigte den Abzug. Der Knall des Schusses war kaum zu hören - jedenfalls bestimmt nicht außerhalb des Gebäudes. Brion warf sich noch einmal gegen die Tür und drückte sie auf. Als er zurückkam, stand Jeannie wieder neben der Leiche. Brion hielt eine kleine Kreissäge hoch, die er entdeckt hatte. „Genügt das?“ fragte er. „Die Säge wird von einer Batterie angetrieben. „Ausgezeichnet“, antwortete sie. „Aber Ihr müsst mir beide helfen.“ Sie wandte sich an UIv. „Kannst Du Dir einen Platz aussuchen, von dem aus Du die Straße beobachten kannst, ohne selbst gesehen zu werden? Gib mir ein Zeichen, wenn die Luft rein ist. Ich fürchte, dass die Säge ziemlich viel Krach machen wird.“ Ulv nickte und ging an die Straßenfront der Halle hinüber. Dort suchte er sich einige leere Kisten zusammen und türmte sie übereinander auf, bis er durch eines der Fenster an der Decke sehen konnte. Er sah nach beiden Richtungen die Straße entlang, bevor er Jeannie ein Zeichen gab, dass sie anfangen könne. „Du musst den Schädel festhalten, Brion“, fuhr Jeannie fort. „Wahrscheinlich wird es kein sehr schöner Anblick sein, aber jedenfalls ist das der schnellste Weg.“ Die Säge fraß sich in den Knochen hinein. Einmal stieß Ulv einen leisen Warnruf aus und zog selbst den Kopf ein. Sie warteten ungeduldig, bis er sich davon überzeugt hatte, dass keine Gefahr mehr bestand. Brion hielt den Kopf des toten Magter fest, bis die Säge einen ganzen Kreis beschrieben hatte. „Fertig“, kündigte Jeannie an und ließ die Säge einfach zu Boden fallen. Sie massierte sich die schmerzenden Finger der rechten Hand, bevor sie die unterbrochene Arbeit beendete. Langsam und vorsichtig klappte sie die Schädeldecke zurück und legte das Gehirn frei. „Du hast die ganze Zeit über recht gehabt, Brion“, stellte sie dann fest. „Da hast Du Deinen Fremden.“
16 Ulv stieg von seinem Beobachtungsposten herunter und starrte ebenfalls das Gehirn des Magter an. Die Tatsachen waren so offensichtlich, dass selbst Ulv sie erkannte. „Ich habe schon tote Tiere und auch meine Leute mit offenen Schädeln gesehen“, meinte er nachdenklich. „Aber das hier kenne ich nicht.“ „Was ist das eigentlich?“ fragte Brion. „Der Eindringling. Der Fremde, nach dem Du gesucht hast“, erklärte Jeannie ihm. Das Gehirn des Magter war um ein Drittel kleiner als das eines normalen Menschen. Der dadurch entstandene Hohlraum innerhalb des Schädels wurde von einer grünlichen Masse ausgefüllt. Sie war ähnlich wie das Gehirn geformt, wies aber einige lange Ausläufer und Fortsätze auf. Jeannie nahm das Skalpell und stocherte damit in der feuchten Masse herum. 44
„Es erinnert mich sehr stark an ein anderes Phänomen, das ich auf der Erde gesehen habe“, sagte sie. „Eine Fliegenart - Drepanosiphun platanoides - besitzt ein seltsames Organ, das Pseudova heißt. Nachdem ich diese Wucherung in dem Schädel des Magter gesehen habe, kann ich gewisse Parallelen ziehen. Diese Fliegen werden von ähnlichen grünen Wucherungen befallen, die allerdings nicht den Kopf, sondern den halben Körper ausfüllen. Die Biologen haben sich lange darüber gewundert und komplizierte Theorien aufgestellt, bis es schließlich einem gelang, das grüne Zeug zu sezieren. Dabei stellte sich heraus, dass es sich um eine lebende Pflanze handelt, die für die Verdauung der Fliege unentbehrlich ist. Sie produziert nämlich die Enzyme, mit deren Hilfe das Insekt die Pflanzensäfte verdaut, von denen es sich ernährt.“ „Das ist doch nicht außergewöhnlich“, warf Brion enttäuscht ein. „Schließlich ist das bei den Menschen nicht sehr viel anders. Was ist der Unterschied zwischen dieser grünen Fliege und einem Menschen?“ „Der Unterschied liegt in der Tatsache begründet, dass die Fliege und ihre Flora in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis leben, das für beide lebenswichtig ist. Die Pflanzensporen tauchen an verschiedenen Stellen im Körper des Insekts auf - aber immer in den Keimzellen. In jeder Eizelle sind einige zu finden, so dass jedes Ei, aus dem später eine Fliege ausschlüpft, bereits damit infiziert ist. Auf diese Art und Weise wird sichergestellt, dass die Symbiose ununterbrochen fortdauert.“ „Glaubst Du, dass die grünen Körperchen im Blut der Magter den gleichen Zweck erfüllen?“ fragte Brion. „Ganz bestimmt“, versicherte Jeannie ihm. „Es muss sich um denselben Vorgang handeln. Auf diese Weise besteht die Möglichkeit, dass sie in die Samenzellen der Magter geraten, so dass jedes Kind bereits vor der Geburt davon befallen wird. Während das Kind wächst, breitet sich das grüne Zeug ebenfalls aus. Wahrscheinlich sogar sehr viel schnel1er, denn es scheint ein umkomplizierter Organismus zu sein. Ich nehme an, dass jedes Kind im Alter von sechs Monaten bereits stark damit infiziert ist.“ „Aber warum?“ wollte Brion wissen. „Wie wirkt sich das aus?“ „Ich kann es noch nicht sicher sagen, aber die Tatsachen lassen nur einen Schluss zu. Ich möchte wetten, dass der Symbiont ein Zwischending zwischen Tier und Pflanze ist – wie die meisten Lebewesen auf Dis. Er ist einfach zu kompliziert, um sich in der kurzen Zeit entwickelt zu haben, in der es schon Menschen auf diesem Planeten gibt. Die Magter müssen sich damit infiziert haben, als sie Fleisch aßen, in dem sich Sporen dieser Art befanden. Der Symbiont entwickelte sich in seiner neuen Umgebung ausgezeichnet, denn der Schädel seines verhältnismäßig langlebigen Wirts bot ihm einen ausgezeichneten Schutz. Als Gegenleistung für Nahrung und Sauerstoff produziert er vermutlich Hormone und Enzyme, mit deren Hilfe die Magter überleben. Dazu könnten zum Beispiel einige gehören, die sich für die Verdauung als nützlich erweisen, so dass die Magter sämtliche hier vorkommenden Tierarten essen können. Vielleicht erzeugt der Symbiont auch Zucker, reinigt das Blut von Giftstoffen - es gibt noch viele andere Dinge, die er tun könnte. Offenbar hat er sie auch getan, denn sonst wären die Magter nicht zu der beherrschenden Lebensform auf diesem Planeten geworden. Sie haben einen hohen Preis dafür bezahlt, aber bisher spielte das keine Rolle. Ist Dir aufgefallen, dass das Gehirn des Magter nicht kleiner als bei einem normalen Menschen ausgebildet ist?“ „Es muss aber kleiner sein - wie könnte der Gehirn-Symbiont sonst mit ihm zusammen in dem Schädel Platz haben?“ sagte Brion. „Wenn das Gehirn der Magter kleiner wäre, dann hätte der Symbiont den Rest des Schädelhohlraums für sich. Aber das Gehirn hat die normale Größe allerdings fehlt ein Teil, den der Symbiont absorbiert hat.“ „Die Stirnlappen!“ rief Brion überrascht aus. „Das Ganze hat den Effekt einer Lobotomie.“ „Sogar noch mehr“, erklärte Jeannie ihm und schob mit dem Skalpell die grüne Masse beiseite. „Diese Fortsätze dringen tiefer in das restliche Gehirn ein und beeinflussen damit einige andere Funktionen. Durch die Zerstörung der Stirnlappen sind die Magter zu Menschen ohne Gefühlsempfindungen und ohne jegliche Fähigkeit zu abstraktem Denken geworden. Anscheinend waren sie so dem Leben besser gewachsen. Es muss einige schreckliche Versager gegeben haben, bevor diese Symbiose zu einem Erfolg für beide Teile wurde. Das Endergebnis ist ein Lebewesen, das für das Leben auf diesem Planeten hervorragend geeignet ist. Es besitzt keine Gefühle oder Wünsche, die es am Überleben hindern könnten. Völlig rücksichtslos - aber die Menschen sind in dieser Beziehung schon immer sehr weit entwickelt gewesen, so dass dies keine große Veränderung bedeutete.“ „Die anderen Disaner - wie zum Beispiel Ulv hier - haben überlebt, ohne sich so zu verändern. Warum mussten die Magter es dann tun?“ „Du weißt doch, dass eine Evolution nicht immer durch Zwang hervorgerufen wird“, sagte Jeannie. „Es gibt immer einige Varianten, und alle Besseren überleben. Man könnte sagen, dass die normalen Disaner überlebten, aber die Magter überlebten besser. Ich nehme an, dass sie allmählich die beherrschende Rasse geworden wären, wenn Dis nicht wiederentdeckt worden wäre. Jetzt wird ihnen das nicht mehr gelingen, nachdem sie es soweit gebracht haben, dass der gesamte Planet zerstört wird.“ „Das begreife ich immer noch nicht“, warf Brion ein. „Die Magter haben überlebt und ihre beherrschende Stellung gesichert. Und trotzdem sind sie selbstmörderisch veranlagt. Wie kommt es dann, dass sie nicht schon längst ausgerottet worden sind?“ „Als Einzelwesen waren sie so aggressiv, dass sie manchmal praktisch Selbstmord begingen, weil sie alles mit dem gleichen Mangel an Urteilsfähigkeit angriffen. Zu ihrem Glück gibt es hier keine größeren Tiere. Wenn also ab und zu einer von ihnen starb, so überlebten sie doch als Rasse - dank ihrer unmenschlichen Rücksichtslosigkeit. Aber jetzt stehen sie vor einem Problem, das ihre halbzerstörten Gehirne nicht mehr bewältigen können. Sie befinden sich in der gleichen Lage wie mit Messern bewaffnete Wilde, die alle anderen Wilden umgebracht haben, die nur Steine als Waffen hatten. Dann tauchten plötzlich neue Gegner auf, die Gewehre besitzen und die Magter greifen weiter an, bis sie 45
alle den Tod gefunden haben. Das ist wieder einmal ein Beweis dafür, wie unparteiisch die Evolution vorgeht. Die Menschen, die von dieser Wucherung befallen waren, wurden die beherrschende Rasse auf diesem Planeten. Das grüne Zeug war ein echter Symbiont, der dazu beitrug, dass die Verbindung aus Mensch und Pflanze stärker als alle anderen Lebewesen wurde. Aber jetzt hat die Lage sich grundlegend geändert. Die Magter erkennen nicht mehr, was sie mit ihrer einseitigen Denkweise anrichten, obwohl von dieser Erkenntnis die Existenz eines ganzen Planeten abhängt. Deshalb ist diese grüne Masse kein Symbiont mehr, sondern ein echter Parasit geworden.“ „Und deshalb muss er vernichtete werden!“ warf Brion ein. „Endlich müssen wir nicht mehr gegen Schatten ankämpfen“, freute er sich. „Wir haben den Gegner gefunden - und die Magter haben eigentlich gar nichts damit zu tun. Es ist nur eine Art besserer Holzwurm, der zu dumm ist, um zu erkennen; dass er sich selbst schadet. Hat er ein Gehirn kann er denken?“ „Das bezweifle ich“, meinte Jeannie nachdenklich. „Ein Gehirn ist eigentlich überflüssig. Selbst wenn er ursprünglich eines besessen hätte, wäre es inzwischen bestimmt verkümmert. Symbionten und Parasiten die in einer Gemeinschaft dieser Art leben, degenerieren im Lauf der Zeit, bis nur noch die notwendigen Körperfunktionen erhalten bleiben.“ „Was ist das? Ich möchte es auch wissen“, unterbrach Ulv sie, während er die grüne Masse betrachtete. Er hatte kein Wort von der aufgeregten Diskussion zwischen Brion und Jeannie verstanden. „Willst Du es ihm bitte erklären, Jeannie?“ bat Brion. Er sah sie an und stellte fest dass sie übermüdet aussah. „Am Besten setzt Du Dich ein bisschen auf die Couch; Du hast eine Pause verdient.. Ich werde...“ Er sprach nicht weiter, nachdem er einen Blick auf seine Uhr geworfen hatte. Vier Uhr nachmittags - acht Stunden blieben ihm noch. Was sollte er tun? Seine Begeisterung verflog plötzlich, als ihm klar wurde, dass das Problem erst zur Hälfte gelöst war. Die Bomben würden planmäßig abgeworfen werden, falls die Nyjorder die Tragweite seiner Entdeckung nicht erkannten oder nicht einsehen wollten. Würden sie sich davon beeinflussen lassen? Die Kobaltbomben wurden dadurch nicht weniger gefährlich. Dann fiel ihm auch ein, dass er nicht mehr an Telts Tod gedacht hatte. Noch bevor er sich mit den Nyjordern in Verbindung setzte, musste er Hys davon unterrichten, was aus Telt und dem Sandwagen geworden war. Dabei konnte er gleichzeitig auf die starke Radioaktivität hinweisen. Zwar konnten die Streifen jetzt nicht mehr miteinander verglichen werden, aber vielleicht entschloss Hys sich doch auf Verdacht hin zu einem weiteren Angriff auf den schwarzen Turm. Brion stellte den Sender auf die Frequenz ein, die er von Professor Krafft genannt bekommen hatte, und schickte einen Anruf aus. Er bekam keine Antwort. Als er auf Empfang schaltete, hörte er nur atmosphärische Störungen. Allerdings bestand die Möglichkeit dass das Gerät nicht funktionierte. Er stellte die Empfangsfrequenz seines kleinen Funkgerätes ein und pfiff in das Mikrophon. Das Signal kam so laut an, dass ihm die Ohren wehtaten. Er wiederholte den ersten Anruf. Diesmal bekam er sofort eine Antwort. „Hier ist Brion Brand. Wie hören Sie mich? Ich muss mit Hys sprechen.“ Brion bekam einen gelinden Schock, als Professor-Kommandant Krafft antwortete. „Tut mir leid, Brion, aber Sie können nicht mehr mit Hys sprechen. Wir hören diese Frequenz ab, deshalb wurde der Anruf an mich weitergeleitet. Hys und seine Leute haben Dis vor einer halben Stunde verlassen und befinden sich bereits auf dem Flug zurück nach Nyjord. Wollen Sie jetzt nicht auch abgeholt werden? Bald wird eine Landung sehr riskant sein. Ich muss mich jetzt schon auf Freiwillige verlassen, wenn ich Ihnen ein Schiff schicken will.“ Hys und seine Leute verschwunden! Brion machte sich nur langsam mit diesem Gedanken vertraut. Er war etwas aus dem Gleichgewicht geraten, als ihm bewusst wurde, dass er mit Krafft sprach. „Wenn sie wirklich fort sind...“, begann er. Dann zuckte er mit den Schultern. „Schade, das lässt sich nun nicht mehr ändern. Hören Sie, ich wollte mich ohnehin mit Ihnen in Verbindung setzen, deshalb können Sie mir gleich zuhören. Sie müssen den Abwurf der Bomben verschieben. Ich habe den Grund dafür entdeckt, weshalb die Magter so selbstmörderisch veranlagt sind. Wenn wir diese krankhafte Erscheinung heilen können, werden sie Nyjord nicht angreifen und ...“ „Können sie bis Mitternacht geheilt werden?“ unterbrach ihn Krafft. Seine Stimme klang ärgerlich. „Nein, selbstverständlich nicht.“ Brion runzelte die Stirn, weil er einsah, dass das Gespräch eine unglückliche Wendung zu nehmen drohte. Trotzdem fiel ihm kein Argument ein, das dem entgegengewirkt hätte. „Aber allzu viel Zeit ist dafür bestimmt nicht erforderlich. Ich kann jederzeit beweisen, dass ich die Wahrheit sage.“ „Ich glaube Ihnen, ohne dass Sie mir Beweise bringen, Brion.“ Der Ärger in Kraffts Stimme war verschwunden und hatte einer Resignation Platz gemacht. „Ich gebe zu, dass Sie wahrscheinlich recht haben. Vorhin habe ich Hys gegenüber zugegeben, dass seine Methode vielleicht besser gewesen wäre. Wir haben viele Fehler gemacht - deshalb bleibt uns jetzt sehr wenig Zeit. Ich fürchte, dass im Augenblick nur noch dieser Tatsache entscheidende Bedeutung zukommt. Die Bomben fallen um Mitternacht, obwohl es dann vielleicht schon zu spät ist. Mein Nachfolger ist bereits nach hier unterwegs. Ich werde abgelöst, weil ich aus eigenem Antrieb das Ultimatum nur um einen Tag verkürzt habe, anstatt auf unsere Techniker zu hören, die zwei Tage befürworteten. Ich weiß jetzt dass ich meinen Planeten aufs Spiel gesetzt habe, weil ich Dis zu retten hoffte. Aber Dis ist nicht zu retten, der Planet wird auf jeden Fall zerstört. Ich will und kann nicht mehr darüber diskutieren.“ „Aber Sie müssen mir zuhören ...“ „Ich muss den Planeten unter mir zerstören. Das ist mein Auftrag. Sie können mich auf keinen Fall davon abbringen. Alle anderen Fremden - außer Ihnen und Miss Borriß - haben Dis verlassen. Ich schicke jetzt ein Schiff los, das Sie abholen wird. Sowie das Schiff von Dis startet, werde ich die ersten Bomben werfen lassen. Sagen Sie mir, wo Sie sich befinden, damit ich Sie abholen lassen kann.“ „Ich lasse mich von Ihnen nicht einschüchtern, Krafft!“ Brion drohte seinem unsichtbaren Gesprächspartner in ohnmächtiger Wut mit der geballten Faust. „Sie sind ein Mörder. Sie begehen einen Völkermord. Ich könnte Ihnen 46
beweisen, dass dieser Mord überflüssig ist, aber Sie hören mir einfach nicht zu! Und ich weiß auch, wo die Kobaltbomben gelagert werden - in dem Magterturm, den Hys letzte Nacht überfallen hat. Stellen Sie diese Bomben sicher dann brauchen Sie Ihre eigenen nicht abzuwerfen!“ „Tut mir leid, Brion. Ich erkenne Ihre Bemühungen an, muss Ihnen aber sagen, dass sie vergeblich sind. Ich will nicht behaupten, dass Sie eben gelogen haben, aber Sie können sich doch vorstellen, wie unglaubhaft Ihre Beweise für einen Mann in meiner Lage klingen müssen? Zuerst erzählen Sie mir, dass Sie entdeckt haben, weshalb die Magter unbedingt diesen Krieg wollen. Und als das keinen Erfolg hat, fällt Ihnen plötzlich ein, dass Sie wissen, wo die Bomben versteckt sind. Wollen Sie wirklich behaupten, dass Sie das bestgehütete Geheimnis der Magter kennen?“ „Ich weiß es nicht sicher, aber ich glaube, dass ich vielleicht doch recht habe“, antwortete Brion. „Telt hat dort einige Messungen vorgenommen, die beweisen, dass die Radioaktivität an dieser Stelle außergewöhnlich hoch ist. Aber Telt ist jetzt tot, die Beweise sind vernichtet. Sehen Sie denn nicht ein,...“ Er schwieg, weil er einsah, dass er den anderen so nicht überzeugen konnte. Er hatte verloren. Krafft wartete schweigend darauf, dass Brion weitersprach. Als Brion wieder das Wort ergriff, war alle Hoffnung aus seiner Stimme geschwunden. „Schicken Sie Ihr Schiff los“, sagte er müde. „Wir befinden uns in einem großen Lagerhaus, das der Firma Leichtmetalle Handelsgesellschaft gehört hat. Ich kann Ihnen die genaue Adresse nicht angeben, aber vielleicht ist unter Ihren Leuten einer, der sich daran erinnert. Wir warten hier; bis das Schiff kommt. Sie haben doch gewonnen, Krafft.“ Brion schaltete das Funkgerät ab und fuhr sich erschöpft mit der Hand über die Stirn.
17 „Hast Du das wirklich ernst gemeint, als Du davon sprachst, dass Du aufgeben willst?“ fragte Jeannie. Brion bemerkte erst jetzt, dass sie sich schon seit einiger Zeit nicht mehr mit Ulv unterhielt, sondern sein Gespräch mit Krafft verfolgt hatte. Er zuckte mit den Schultern und suchte nach Worten, mit denen er die Gefühle ausdrücken konnte, die ihn in diesem Augenblick bewegten. „Wir haben alles versucht - und fast gesiegt. Aber was sollen wir tun, wenn die anderen nicht auf uns hören wollen? Was kann ein Mann gegen eine ganze Flotte ausrichten, die Wasserstoffbomben an Bord hat?“ Wie als Antwort auf seine in hoffnungslosem Ton gestellte Frage ertönte jetzt Ulvs laute Stimme. „Du bist unser Feind, ich töte dich!“ rief er. „Ich töte dich, Umedvirk!“ Gleichzeitig griff er nach seinem Blasrohr setzte es an den Mund und sandte einen Pfeil zu dem toten Magter hinüber. Das winzige Geschoss blieb in der grünen Masse stecken. Der Vorgang wirkte wie eine offene Kriegserklärung, wie ein hingeworfener Fehdehandschuh. „Ulv versteht das alles viel besser, als Du wahrscheinlich glaubst“, erklärte Jeannie Brion. „Er weiß genügend über Symbiosen und ähnliche Formen des Zusammenlebens, um jederzeit an einer Universität auf der Erde zu lehren. Er hat sofort begriffen, was dieser Gehirn-Symbiont für die Magter bedeutet. Die Disaner haben sogar ein Wort dafür, das ich noch nie gehört habe. Eine Lebensform, mit der man leben oder zusammenarbeiten kann, heißt Medvirk. Das Gegenstück dazu wird Umedvirk genannt. Ulv weiß, dass Lebensformen sich ändern können, dass sie abwechselnd Medvirk oder Umedvirk sein können. Er hat eben festgestellt, dass der Gehirn-Symbiont ein Umedvirk ist, deshalb will er ihn umbringen. Alle anderen Disaner werden ebenso reagieren, wenn er ihnen den Beweis zeigt und einige Erklärungen dazu abgibt.“ „Weißt Du das sicher?“ erkundigte sich Brion, „Ganz sicher. Die Disaner leben nach dem Prinzip, dass Schädlinge jeder Art ausgerottet werden müssen, weil sie die Erhaltung der Rasse gefährden. Deshalb werden sie die Gehirn-Symbionten vernichten, wo sie welche finden - und wenn sie jeden Magter umbringen müssen, dessen Schädel einen enthält.“ „Wenn das stimmt, dann dürfen wir noch nicht aufgeben“, meinte Brion, In diesem Augenblick fiel ihm plötzlich ein, was jetzt zu tun war. „Das Schiff muss bald kommen. Du fliegst zurück und nimmst den toten Magter mit. Ich bleibe 47
vorläufig hier.“ „Wo willst Du hin?“ fragte Jeannie erschrocken. „Ich bleibe hier, weil Krafft es dann nicht wagen wird, die Bomben vor Mitternacht abzuwerfen. In diesem Fall würde er mich nämlich mit voller Überlegung ermorden. Ich bezweifle, dass meine Gegenwart ihn davon abhalten wird, die Bomben nach Mitternacht nicht zu werfen, aber bis dahin ist Dis vor ihnen sicher.“ „Willst Du wirklich freiwillig Selbstmord begehen?“ wollte Jeannie wissen. „Du hast doch eben selbst gesagt, dass ein einzelner Mann nichts gegen die Bomben ausrichten kann. Was wird aus Dir um Mitternacht?“ „Ich kann jetzt nicht einfach davonlaufen. Ich muss bis zur letzten Sekunde bleiben. Ulv und ich werden zu dem Magterturm fahren, um nachzusehen, ob die Bomben dort gelagert werden. Er steht jetzt auf unserer Seite. Vielleicht weiß er sogar etwas von den Bomben, obwohl er vorher nie darüber gesprochen hat. Seine Leute werden uns unterstützen, wenn wir Hilfe brauchen.“ Jeannie wollte etwas einwenden, aber Brion sprach rasch weiter. „Du hast auch eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Du musst Krafft die Leiche zeigen und ihm erklären, wie wichtig die Entdeckung des Symbionten ist. Vielleicht kannst Du ihn dazu bringen, dass er mit Hys über dessen letzten Angriff spricht. Tue Dein Bestes, damit er den Abwurf der Bomben verschiebt. Ich nehme das Funkgerät mit, damit ich ihn sofort benachrichtigen kann, wenn ich etwas entdeckt habe. Wir befinden uns in einer ziemlich verzweifelten Lage, aber wenn wir die Hände in den Schoß legen und untätig zusehen, ist Dis verloren.“ Jeannie versuchte ihn umzustimmen, aber Brion hörte nicht auf sie. Er versicherte ihr nur tröstend, dass alles nicht so schwierig sei, wie sie es sich vorstelle. Sie wussten beide, dass er nicht recht hatte, sprachen aber nicht mehr darüber, um sich gegenseitig keinen Kummer zu machen. Das Gebäude erzitterte und vor den Fenstern wirbelte dichter Staub auf, als das Raumschiff landete. Die Besatzung stürmte mit gezogenen Pistolen herein die Männer waren auf alles vorbereitet. Brion musste den Captain erst dazu überreden, dass er nicht nur Jeannie, sondern auch den toten Magter mitnahm, als das Schiff wieder startete. Brion starrte ihm nach, bis es im Himmel verschwunden war. „Komm, verschwinden wir lieber, bevor jemand nachsieht, warum hier ein Raumschiff gelandet ist“, sagte er zu Ulv und nahm gleichzeitig das Funkgerät auf. „Was hast Du vor?“ erkundigte sich Ulv, als sie durch die Straßen auf die Wüste zugingen. „Was können wir in den wenigen Stunden, die uns noch bleiben, gegen unsere Feinde ausrichten?“ Er wies auf die Sonne, die sich bereits dem Horizont näherte. „Am Besten suchen wir zuerst den Magterturm auf, den wir vergangene Nacht überfallen haben. Vielleicht sind die Bomben dort... Oder weißt Du, wo sie gelagert werden?“ Ulv schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht, aber andere wissen es unter Umständen. Wir müssen einen Magter erwischen und ihn umbringen, damit alle den Umedvirk sehen können. Dann werden sie uns alles sagen was sie wissen.“ „Gut, dann machen wir uns gleich auf den Weg zu dem Turm. Dort finden wir entweder die Bomben oder besorgen einen toten Magter.“ Brion sah Ulv fragend an. „Wie kommen wir am schnellsten dorthin?“ Ulv runzelte nachdenklich die Stirn. „Weißt Du, wie die Wagen bedient werden, mit denen die Fremden herumgefahren sind? Ich habe einige an verschiedenen Stellen der Stadt in Lagerhäusern stehen sehen. Meine Leute wissen nicht, wie man sie in Bewegung setzt.“ „Aber ich weiß es. Los, gehen wir!“ Diesmal hatten sie ausgesprochenes Glück. In dem ersten Sandwagen, den sie fanden, steckte der Zündschlüssel noch im Schloss. Auch die Akkumulatoren waren noch voll aufgeladen. Der Wagen lief wesentlich leiser als die sonst üblichen, was ein weiterer sehr großer Vorteil war, da sie nicht so schnell von irgend jemandem gehört werden konnten. Sie durchquerten die Stadt und fuhren in die Wüste hinaus. Vor ihnen ging die Sonne blutrot unter. Brions Uhr zeigte sechs. Eine weitere Stunde verstrich, bevor sie den Turm erreicht hatten. Der Angriff war ein selbstmörderisches Unternehmen, aber Brion fühlte sich trotzdem erleichtert, weil er auf diese Weise für kurze Zeit die drohenden Bomben vergessen konnte. Sie drangen durch den Haupteingang ein, ohne auf Widerstand zu stoßen. Erst als sie bis zu den unterirdischen Lagerräumen vorgedrungen waren, wurde ihnen klar, dass der Turm leer und verlassen war. „Alle sind fort“, stellte Ulv fest und sog die Luft in jedem Raum ein, den sie betraten. „Hier müssen viele Magter gewesen sein, aber jetzt sind sie verschwunden.“ „Geben sie oft ihre Türme auf?“ fragte Brion. „Nie. Ich glaube nicht, dass sie das schon einmal getan haben, denn ich habe noch nie davon gehört. Ich kann mir nicht vorstellen, warum sie so plötzlich geflohen sind.“ „Ich weiß einen Grund dafür“, sagte Brion. „Vielleicht haben sie ihren Turm verlassen, um etwas anderes in Sicherheit zu bringen, das für sie sehr großen Wert besitzt. Die Bomben. Wenn die Bomben wirklich hier versteckt waren, haben die Magter sie wahrscheinlich nach dem Angriff verlagert.“ Er empfand plötzlich Angst. „Oder sie haben sie abtransportiert, um sie zu der Abschussrampe zu schaffen! Wir müssen so schnell wie möglich wieder hinaus.“ „Ich rieche frische Luft, die nur von draußen kommen kann“, stellte Ulv fest. „Das kann aber nicht sein, denn die Magter bauen keine Eingänge zu ebener Erde in ihren Türmen. „Wir haben ein Loch in die Außenwand gesprengt - vielleicht ist es das. Kannst Du uns hinführen?“ Sie tasteten durch einige dunkle Räume und einen gewundenen Gang vorwärts, bis sie das helle Mondlicht sahen, das durch ein Loch in der Mauer fiel. „Es sieht größer aus, als ich es in Erinnerung hatte“, meinte Brion nachdenklich. „Vielleicht haben die Magter es erweitert.“ Er sah hindurch und bemerkte die Wagenspuren. „Anscheinend haben sie etwas Sperriges herausgeholt und es auf einem Wagen fortgeschafft!“ 48
Sie rannten zu dem Sandwagen zurück. Brion wendete und beleuchtete die Spuren mit den Scheinwerfern. Anscheinend war hier ein Sandwagen gefahren, der einen Anhänger gezogen hatte. Er schaltete die Scheinwerfer aus und folgte den Spuren, die im Mondschein deutlich zu erkennen waren. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass sie noch vier Stunden Zeit hatten. Brion steuerte mit einer Hand und schaltete mit der anderen das Funkgerät ein, um sich mit Krafft in Verbindung zu setzen. Als die Gegenstelle sich meldete, berichtete Brion von seiner Entdeckung und den Schlussfolgerungen, die er daraus gezogen hatte. „Unterrichten Sie Kommandant Krafft davon“, schloss er. „Ich habe jetzt keine Zeit, um persönlich mit ihm zu sprechen - ich folge den Spuren. Ende.“ Er schaltete das Gerät ab und trat das Gaspedal des Wagens durch. „Sie führen in die Berge“, sagte Ulv einige Zeit später, als die Spuren weiter geradeaus führten. „Dort gibt es viele Höhlen, in denen sich die Magter von Zeit zu Zeit aufhalten sollen. Das habe ich jedenfalls gehört.“ Seine Vermutung erwies sich als richtig. Etwa um neun Uhr erreichten sie die ersten Ausläufer der dunklen Gebirgsmassen, die den Horizont begrenzten und die Sterne verdeckten. „Wir müssen hier anhalten“, warnte Ulv. „Die ersten Höhlen befinden sich nicht sehr weit von hier. Die Magter haben wahrscheinlich Posten aufgestellt, deshalb müssen wir leise und vorsichtig weitergehen.“ Brion folgte den tiefen Wagenspuren und schleppte dabei das Funkgerät mit. Ulv schlich voraus und hielt nach Wachtposten Ausschau. Er entdeckte keinen. Um neun Uhr dreißig wurde Brion klar, dass sie den Sandwagen zu früh verlassen hatten. Die Spuren schienen kein Ende zu haben. Die Zeit verging rasch, aber Brion stolperte noch immer durch die Dunkelheit. „Leise, dort vorne sind wieder Höhlen“, flüsterte Ulv. Sie erreichten den höchsten Punkt eines Hügels, wie sie es in dieser Nacht schon oft getan hatten, und sahen auf der anderen Seite in eine flache Senke hinunter. Aber diesmal bot sich ihnen ein anderes Bild. Die Wagenspuren, die in dem schräg einfallenden Mondlicht deutlich als Schatten hervortraten, führten geradewegs durch den Sand auf einen dunklen Höhleneingang zu und verschwanden dort. Brion warf sich zu Boden, bedeckte die Skalenbeleuchtung mit einer Hand und schaltete das Funkgerät ein. Ulv lag neben ihm und starrte in die Senke hinunter. „Ich habe einen wichtigen Spruch für sie“, flüsterte Brion in das Mikrophon. „Bitte, auf Band aufnehmen.“ Er wiederholte diesen Anruf dreißig Sekunden lang und sah dabei auf die Uhr, weil ihm in der Aufregung jede Sekunde endlos lang erschien. Dann sprach er so deutlich wie möglich, ohne dabei seine Stimme zu erheben, und berichtete von der Entdeckung der Höhle. „ ... und die Bomben sind vielleicht doch nicht hier, aber wir werden in die Höhle eindringen, um uns Klarheit zu verschaffen. Ich lasse mein kleines Funkgerät hier und schalte es ein, damit es als Funkfeuer dient, wenn Sie die Höhle suchen. Das andere Gerät nehme ich mit, weil es eine höhere Sendeleistung besitzt. Wenn wir nicht mehr zum Eingang der Höhle zurückkommen, werde ich von drinnen aus mit Ihnen Verbindung aufzunehmen versuchen. Ich bezweifle, dass Sie mich von dort aus aufnehmen können, aber ich werde es trotzdem versuchen. Ende der Sendung. Antworten Sie nicht, ich habe den Empfänger nicht eingeschaltet. Das Gerät hat keinen Anschluss für Kopfhörer - und der Lautsprecher könnte gehört werden. Ende.“ Sie krochen vorsichtig im Schatten der überhängenden Felsen weiter auf das dunkle Loch zu. Nirgends war eine Bewegung sichtbar, der Eingang lag still und verlassen da. Brion warf einen Blick auf seine Armbanduhr und erschrak. Zehn Uhr dreißig. Die letzte Deckung war etwa fünf Meter vom Eingang der Höhle entfernt. Sie bereiteten sich darauf vor, diese letzten Meter so schnell wie möglich zurückzulegen, als Ulv Brion plötzlich ein warnendes Zeichen gab. Er wies auf seine Nase und deutete dann auf die Höhle. Anscheinend hatte er dort Magter gerochen. Eine dunkle Gestalt tauchte in dem noch dunkleren Loch auf. Ulv reagierte blitzschnell. Er stand geräuschlos auf, hob sein Blasrohr an den Mund und zielte sorgfältig. Der Magter brach in die Knie und fiel zu Boden. Noch bevor er dort aufprallte, schnellte Ulv nach vorn und verschwand in der Höhle. Dort schien sich ein kurzer Kampf abzuspielen, dann herrschte wieder vollkommene Stille. Brion näherte sich vorsichtig dem Eingang und hielt dabei die Pistole in der Hand, weil er nicht wusste, was ihn dort erwartete. Er stolperte über einen leblosen Körper. „Es waren nur zwei“, flüsterte Ulv aus der Dunkelheit. „Jetzt können wir weiter.“ Das Innere der Höhle glich einem weitverzweigten Irrgarten, in dem sie nur langsam vorankamen. Sie hatten keine Lampe mitgenommen und hätten sie auch gar nicht gewagt zu benutzen. Auf dem felsigen Untergrund waren die Wagenspuren nicht mehr sichtbar. Ohne Ulvs empfindliche Nase hätten sie sich bereits nach kürzester Zeit verlaufen. Sie stolperten blind vorwärts und tasteten sich an der Wänden der Höhle entlang. Ihre Hände begannen zu schmerzen, weil sie immer wieder gegen scharfe Kanten stießen. Ulv folgte dem schwachen Geruch, der überall dort in der Luft hing, wo die beiden Magter gegangen waren. Wenn dieser Geruch sich verlor, wusste er, dass sie sich in einer weniger begangenen Nebenhöhle befanden. Dann mussten sie ein Stück zurückgehen und an einer anderer Stelle weitersuchen. Noch schlimmer war die Tatsache, dass die Zeit, die ihnen zur Verfügung stand, immer rascher zu vergehen schien. Die Zeiger auf Brions Uhr bewegten sich unaufhaltsam, bis sie auf fünfzehn Minuten vor zwölf wiesen. „Dort vorn ist ein Licht“, flüsterte Ulv und Brion atmete erleichtert auf. Sie schlichen weiter, bis sie eine gute Deckung hinter einem Felsvorsprung gefunden hatten, von wo aus sie eine geräumige Felskammer übersehen konnten, die strahlendhell beleuchtet war. „Was ist das?“ fragte Ulv und kniff die Augen zusammen, um sie vor der unerwarteten Lichtflut zu schützen. Brion musste sich mühsam beherrschen, um nicht vor Aufregung laut zu schreien. „Der Metallkäfig dort drüben ist ein Hyperraum-Generator. Die kegelförmig zugespitzten Metallzylinder daneben 49
sind Bomben, vielleicht sogar die Kobaltbomben. Wir haben sie entdeckt!“ Fast hätte Brion seinem ersten Impuls nachgegeben und Krafft benachrichtigt, damit die Wasserstoffbomben nicht abgeworfen wurden. Aber dann überlegte er sich, dass er unwiderlegbare Beweise anführen musste, wenn er dieses Ziel erreichen wollte. Er musste jedes Detail genau beschreiben, damit die Nyjorder wussten, dass er nicht log. Was er ihnen berichtete, musste mit den Informationen über die Bomben und die Abschussrampe übereinstimmen, die sie bereits besaßen. Die Abschussrampe war aus dem Hyperraum-Generator eines Raumschiffs konstruiert worden; das war ganz offensichtlich. Der Generator und die dazugehörigen Kontrollinstrumente standen auf einer erhöhten Plattform. Von dort aus führte ein dickes Bleimantelkabel zu einem Metallkäfig, der mit primitiven Mitteln in Handarbeit hergestellt worden war. Drei Techniker waren mit der Überprüfung der Geräte beschäftigt. Brion überlegte sich gerade, wie die Magter sie für diese Arbeit angeworben haben konnten, als er die schweren Ketten an ihren Füßen und ihre blutenden Rücken sah. Trotzdem empfand er kein Mitleid mit diesen Männern. Ursprünglich mussten sie bereit gewesen sein, an der Zerstörung eines anderen Planeten gegen entsprechende Entlohnung mitzuwirken - sonst wären sie jetzt nicht hier. Wahrscheinlich hatten sie erst rebelliert, als sie erkannten, dass sie dadurch ihr eigenes Ende herbeiführten. Dreizehn Minuten bis Mitternacht. Brion stellte das Funkgerät ab und richtete sich vorsichtig auf. Jetzt erkannte er die Bomben deutlicher. Ein ganzes Dutzend lag säuberlich ausgerichtet vor dem Metallkäfig. An ihrer Form war zu sehen, dass sie ursprünglich nicht als Bomben, sondern als Sprengköpfe für Raketen gedacht gewesen waren. Brion stellte fest, dass jede von ihnen an der Bodenfläche sechs Stifte besaß, mit denen sie an einer Rakete befestigt werden konnte. An der Unterseite war auch die Mappe zu erkennen, durch die hindurch der Zünder zugänglich war. Das genügte. Wenn er alle diese Einzelheiten beschreiben konnte, dann mussten die Nyjorder einsehen, dass er sie nicht zu belügen versuchte. Sowie er sie davon unterrichtet hatte, konnten sie Dis nicht mehr zerstören, ohne zuvor nach den Bomben zu suchen. Brion bewegte sich leise rückwärts und zählte dabei fünfzig Schritte ab. Jetzt befand er sich außerhalb des Lichtkegels, der aus der Felskammer drang, und bestimmt außerhalb der Hörweite. Er ging langsam und methodisch vor, als er das Funkgerät überprüfte. Alles in bester Ordnung. Dann beschrieb er genau, was er in der Höhle hinter sich gesehen hatte. Er versuchte so leidenschaftslos wie möglich zu sprechen. Sechs Minuten vor Mitternacht beendete er seine Beschreibung. Er schaltete auf Empfang und wartete. Schweigen. Nur allmählich wurde ihm klar, was dieses Schweigen bedeutete. Selbst als er den Empfänger auf größte Lautstärke stellte, hörte er nichts, nicht einmal die üblichen atmosphärischen Störungen. Die ungeheuren Felsmassen über ihm verschluckten die Sendeenergie völlig, obwohl er mit höchster Leistung gearbeitet hatte. Sie hatten ihn nicht gehört. Die Nyjorder wussten nicht, dass er die Kobaltbomben entdeckt hatte, bevor sie eingesetzt werden konnten. Der Angriff würde planmäßig erfolgen. In diesem Augenblick öffneten sich wahrscheinlich bereits die Bombenschächte; scharfe Wasserstoffbomben hingen in den Greifern. In wenigen Minuten musste der Befehl kommen; dann öffneten sich die Greifer, und die Bomben fielen ... „Mörder!“ rief Brion in sein Mikrophon. „Ihr habt weder auf mich noch auf Hys gehört, als wir Euch mit Vernunftgründen überzeugen wollten. Ihr wollt Dis vernichten, obwohl das nicht nötig ist! Es hätte viele Wege gegeben, um das zu verhindern - aber jetzt ist es zu spät. Ihr werdet Dis zerstören, aber damit ist auch Nyjord erledigt. Ihjel hatte recht, ich glaube es jetzt auch. Nyjord ist ein Versager in einem Universum voller Versager!“ Er hob das Funkgerät hoch über den Kopf und warf es mit aller Kraft gegen die Felswand, wo es zerschellte. Dann rannte er zu Ulv zurück, als könne er damit vor der Erkenntnis davonlaufen, dass auch er versagt hatte. Die Menschen auf der Oberfläche von Dis hatten nur noch weniger als zwei Minuten zu leben. „Ich habe keine Verbindung bekommen“, sagte Brion niedergeschlagen zu ihm. „Der Sender war einfach nicht stark genug.“ „Dann werden also die Bomben fallen?“ fragte Ulv und sah Brion in die Augen. „Ja, wenn nicht noch etwas anderes geschieht, von dem wir nichts wissen, fallen die Bomben.“ Beide schwiegen - und warteten. Auch die drei Techniker in der Höhle vor ihnen hatten unterdessen festgestellt, wie spät es bereits war. Sie sprachen miteinander und versuchten mit den Magter zu reden. Zunächst hatten sie keinen Erfolg damit, denn diese gefühllosen Lebewesen sahen nicht ein, weshalb die begonnene Arbeit nicht fortgesetzt werden sollte. Die Magter machten Anstalten, ihre Gefangenen mit Gewalt zur Arbeit zu zwingen. Aber die Techniker rührten sich trotzdem nicht von der Stelle; sie starrten nur entsetzt auf ihre Uhren, auf denen sich die Zeiger erbarmungslos auf Mitternacht zu bewegten. Endlich schienen auch die Magter die Bedeutung dieses Augenblicks begriffen zu haben, denn sie blieben unbeweglich stehen und warteten ebenfalls. Zuerst stand der Stundenzeiger an Brions Uhr auf zwölf, dann folgte der Minutenzeiger. Der Sekundenzeiger vereinte sich mit ihnen und eine Sekunde lang standen die schwarzen Zeiger übereinander. Dann tickte der Sekundenzeiger weiter. Brion wollte schon erleichtert aufseufzen, als ihm plötzlich einfiel, wie tief er sich unter der Erdoberfläche befand Schallwellen pflanzten sich in Felsen nur langsam fort, die Druckwelle würde sich hier unten kaum bemerkbar machen, und der Explosionsblitz war bestimmt nicht zu sehen. Ein dumpfes Grollen erschütterte die Luft. Einen Augenblick später schwankte der Boden unter ihren Füßen. Von der Decke rieselte feiner Staub herunter. Brion wandte sich ab, weil er den anklagenden Blick in Ulvs Augen nicht ertragen konnte. Dann erschütterte eine weitere Explosion die Höhle. Brion schlug sich die Hände vor die Augen und wartete auf das unausbleibliche Ende. Als einige Sekunden verstrichen waren, ohne dass die Höhle einstürzte und sie alle unter sich begrub, sah er wieder auf. 50
18 Einer der drei Techniker rannte laut schreiend davon. Ein Magter fiel über ihn her und schlug ihn brutal nieder. Daraufhin kehrten die beiden anderen mit zitternden Händen an ihre Arbeit zurück. Die Magter ließen sich von ihrem Vorhaben nicht abbringen, selbst wenn oben der ganze Planet in Trümmern lag. Sie verfolgten ihren Plan weiter, weil sie weder Gefühl noch genügend Einbildungskraft besaßen, um sich von den Ereignissen beeinflussen zu lassen. Während die Techniker arbeiteten, veränderte sich ihre Einstellung entscheidend. Wo sie vorher nur Verwirrung und Schock empfunden hatten, spürten sie jetzt einer wütenden Zorn in sich. Recht und Unrecht waren vergessen. Sie hatten den sicheren Tod vor Augen - die unsichtbaren Strahlen drangen wahrscheinlich bereits in diesen Augenblick in die Höhle ein -, aber sie konnten sich noch rächen, bevor es zu spät war. Deshalb arbeiteten sie mit überraschender Schnelligkeit und Präzision weiter, wie sie es zuvor nicht getan hatten. „Was tun die Fremden dort?“ fragte Ulv. Brion richtete sich müde auf. Die Männer hoben eben einen Atomsprengkopf auf einen Handkarren und führen ihn zu dem Metallkäfig hinüber. „Sie werden Nyjord bombardieren, wie Nyjord Dis bombardiert hat. Die Maschine dort drüben befördert die Bomben auf spezielle Weise durch den Raum bis zu einem anderen Planeten.“ „Wirst Du sie daran hindern?“ wollte Ulv wissen. Er hatte sein Blasrohr in der Hand. Sein Gesicht glich einer ausdruckslosen Maske. Brion hätte fast gelacht, so eigenartig erschien ihm seine Lage. Trotz aller seiner Bemühungen hatten die Nyjorder die Wasserstoffbomben auf Dis abgeworfen. Wenn er wollte, konnte er verhindern, dass die Kobaltbomben Nyjord erreichten. Sollte er es tun? Sollte er das Leben seiner Mörder retten? Oder war es nur Gefühlsduselei, wenn er jetzt nicht nach dem alten Grundsatz Auge um Auge, Zahn um Zahn handelte? Das war bestimmt der bequemste Ausweg. Er brauchte nur schweigend zuzusehen, wie die Rechnung beglichen wurde, wie der Mord an den Disanern und sein eigener Tod gerächt wurden. Hielt Ulv sein Blasrohr bereit, um Brion zu töten, falls er einzuschreiten versuchte? Oder konnte es sein, dass Brion den Disaner völlig missverstanden hatte? „Willst Du sie daran hindern, Ulv?“ fragte er. Empfand dieser primitive Eingeborene tatsächlich eine Verpflichtung der Menschheit gegenüber, die er über sein eigenes Leben zu stellen bereit war? Die Steinzeitmenschen hatten sich nur für ihre Familie verantwortlich gefühlt. Später kämpften und starben die Menschen für Städte, Länder und schließlich sogar für ganze Planeten. Wann würde endlich der Zeitpunkt kommen, an dem die Menschen einsahen, dass sie einer größeren Einheit verpflichtet waren - der Menschheit? Und später vielleicht allem Leben. Brion stellte sich selbst diese Frage und fasste seinen Entschluss. Dann zog er die Pistole und beobachtete dabei Ulv um zu sehen, wie der Disaner darauf reagieren würde. „Nyjord ist Medvirk“, sagte Ulv, hob sein Blasrohr und sandte einen tödlichen Pfeil in die Höhle. Er traf einen de Techniker. Der Mann schrie leise auf und fiel in sich zusammen. Brions Schüsse krachten in den Generator und die Kontrollinstrumente. Bläuliche Funken sprühten, als ein Kurzschluss die Geräte außer Betrieb setzte. Die Gefahr für Nyjord war endgültig beseitigt. Medvirk, hatte Ulv gesagt. Eine Lebensform, die mit anderen Lebensformen zusammenarbeitete, so dass beide aus diesem Verhältnis gewisse Vorteile ziehen. Sie tötet vielleicht aus Notwehr, war aber im Prinzip kein Mörder. Ulv war von dieser Tatsache überzeugt, wobei ihm seine lange Erfahrung mit allen Arten des Zusammenlebens zur Hilfe kam. Deshalb ließ er sich nicht von den vorhergegangenen Ereignissen beeinflussen, sondern blieb seiner Überzeugung treu. Er hatte Magter getötet, obwohl sie Disaner waren, weil sie Umedvirk waren - lebensfeindlich. Und er hatte seine Feinde gerettet, weil sie Medvirk waren. Gleichzeitig mit dieser Überlegung kam es Brion zu Bewusstsein, dass der Planet und die Menschen, die zu dieser Erkenntnis fähig waren, mit einem Schlag vernichtet worden waren. Die Magter sahen, dass ihre Pläne durchkreuzt worden waren und stürzten in die Richtung, aus der die Schüsse gekommen waren. Brion und Ulv wehrten sich. Brion wusste zwar, dass er auf jeden Fall sterben musste, wollte sich aber nicht von den Magter abschlachten lassen. Für Ulv war die Entscheidung leichter. Er tötete einfach Umedvirk. Da er an das Leben glaubte, vernichtete er alle Wesen, die lebensfeindlich eingestellt waren. Sie zogen sich langsam in die Dunkelheit zurück. Die mit Ionengewehren bewaffneten Magter trugen starke Handscheinwerfer, die ihnen die Suche erleichterten. Da sie die Höhlen zudem besser als die beiden Flüchtlinge kannten hatten sie die beiden Männer bald eingekreist. Brion sah die Lichter vor ihnen aufblitzen und hielt Ulv am Arm fest. 51
„Die Magter kennen hier jeden Quadratmeter, während wir keine Ahnung haben“, stellte er nüchtern fest. „Wenn wir weiterlaufen, haben wir keine Chance. Wir müssen eine Stelle finden, wo wir uns nach allen Seiten verteidigen können.“ „Dort drüben...“ Ulv zog Brion in die angedeutete Richtung. „Dort drüben ist eine Höhle, die nur einen sehr engen Eingang hat.“ „Los, mehr brauchen wir nicht!“ Sie zogen sich geräuschlos in die Höhle zurück und erreichten sie unbeobachtet. Ihre eigenen Schritte gingen in dem Geräusch unter, das durch zahlreiche andere Füße verursacht wurde, während die Magter nach den Geflohenen suchten. Im Innern der Höhle fanden sie hinter einem Felsvorsprung Deckung und warteten dort. Das Ende war vorherzusehen. Der Magter stürzte in die Höhle hinein und leuchtete mit seinem Handscheinwerfer darin umher. Der Lichtstrahl huschte über die beiden Männer hinweg, und Brion schoss im gleichen Augenblick. Der Magter sank in sich zusammen, aber der Schuss hallte laut von den Wänden wider - die übrigen Verfolger mussten ihn gehört haben. Bevor der nächste Magter auftauchte, rannte Brion zu dem Toten hinüber und hob die starke Lampe auf. Er stellte sie so auf einen Felsbrocken, dass der Eingang beleuchtet wurde. Dann ging er wieder neben Ulv in Deckung. Sie warteten auf den Angriff. Sie brauchten nicht lange zu warten. Zwei Magter drangen in die Höhle ein und starben. Brion wusste, dass draußen noch mehrere lauerten, und fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis sie sich an die Handgranaten erinnerten und eine in die Höhle warfen. Dann erklangen einige dumpfe Detonationen. Brion und Ulv duckten sich hinter den Felsvorsprung und überlegten, warum der Angriff nicht kam. Sekunden später tauchte ein weiterer Magter auf, aber Brion zögerte und schoss vor Überraschung nicht. Der Mann war rückwärts hereingekommen und hatte nach draußen geschossen. Ulv empfand keine Gewissensbisse, aber seine Pfeile waren zu leicht, um die dicke Bekleidung des Magters zu durchdringen. Als der andere sich umdrehte, traf ihn der zweite Pfeil am Handrücken. Der Magter brach zusammen. „Nicht schießen!“ rief eine Stimme von draußen. Dann tauchte ein Mann in dem Lichtkegel des Scheinwerfers auf und sah sich blinzelnd um. Brion umklammerte Ulvs Arm, um zu verhindern, dass der Disaner das Blasrohr erneut an den Mund hob. Der Mann am Höhleneingang trug einen leichten Helm, hohe Schaftstiefel und eine dunkelblaue Uniform. Er war ein Nyjorder. Diese Tatsache war kaum zu fassen. Brion hatte gehört, wie die Bomben gefallen waren. Und trotzdem stand jetzt ein Soldat von Nyjord vor ihm. Beides war unmöglich miteinander vereinbar. „Würden Sie so freundlich sein, den Arm Ihres Begleiters nicht loszulassen, Sir?“ bat der Soldat und sah auf Ulvs Blasrohr. „Sicher ist sicher - ich weiß, wie die kleinen Pfeile wirken.“ Er zog ein Mikrophon aus der Brusttasche seiner Uniform und sprach einige Worte hinein. Andere Soldaten kamen in die Höhle, und Professor-Kommandant Krafft folgte ihnen. Der staubbedeckte Kampfanzug passte nicht zu seinem Aussehen, und die Pistole in seiner blaugeäderten Hand wirkte geradezu lächerlich. Nachdem er sie mit einem erleichterten Seufzer dem nächsten Soldaten in die Hand gedrückt hatte, ging er rasch auf Brion zu und schüttelte ihm herzlich die Hand. „Ich freue mich aufrichtig, dass ich sie endlich persönlich kennenlernen“, sagte er dazu „Und Ihren Freund Ulv ebenfalls.“ „Würden Sie mir freundlicherweise erklären, was hier eigentlich vor sich geht?“ stieß Brion mit heiserer Stimme hervor. Er hatte seine Überraschung noch nicht völlig überwunden und konnte sich nicht vorstellen, was draußen geschehen war. „Wir werden Ihnen nie vergessen, dass Sie uns vor uns selbst gerettet haben“, begann Krafft. In diesem Augenblick kam bei ihm wieder der Professor zum Vorschein. „Brion möchte Tatsachen hören - nicht schöne Reden“, unterbrach ihn Hys. Er drängte sich an den Soldaten vorbei, bis er neben Krafft stand. „Einfach ausgedrückt, Brion, hat Ihr Plan Erfolg gehabt. Krafft hat Ihren letzten Funkspruch an mich weitergeleitet, und ich bin sofort umgekehrt, um mit ihm auf seinem Schiff zusammenzutreffen. Es tut mir leid, dass Telt umkommen musste - aber er hat das gefunden, wonach wir die ganze Zeit gesucht haben. Kein vernünftiger Mensch konnte darüber hinweggehen, dass er eine übermäßige Radioaktivität in dem Magterturm festgestellt hatte. Ihre Freundin erreichte Kraffts Schiff gleichzeitig mit mir und brachte die zerstückelte Leiche mit. Wir sahen uns also das grüne Zeug in dem Schädel an und ließen uns von ihr einige Erklärungen geben, die sehr einleuchtend klangen. Als wir Ihren Funkspruch erhielten, in dem Sie von Ihrem Besuch in dem Turm berichteten, waren unsere Stoßtrupps bereits unterwegs. Von dann ab folgten wir einfach den Spuren - und dem Signal des Funkgeräts, das Sie aufgestellt hatten.“ „Aber die gewaltigen Explosionen um Mitternacht?“ unterbrach Brion ihn. „Ich habe sie doch deutlich gehört!“ „Das sollten sie auch“, lachte Hys. „Nicht nur sie, sondern auch alle Magter in dieser Höhle. Wir vermuteten, dass sie gut bewaffnet sein würden, um die Höhle notfalls verteidigen zu können. Deshalb warfen wir um Mitternacht einige große konventionelle Bomben vor dem Eingang ab. Gerade genug, um die Wachtposten auszuschalten, ohne das Dach einstürzen zu lassen. Außerdem hofften wir damit zu erreichen, dass die Magter sich aus Angst vor der radioaktiven Strahlung zurückzogen. Und das haben sie auch getan. Wir kamen leise herein und überraschten sie. Die Magter sind entweder tot oder unsere Gefangenen.“ „Einer der Techniker ist am Leben geblieben“, warf Krafft ein. „Er hat uns berichtet, dass sie und der Disaner verhindert haben, das die Bomben eingesetzt werden konnten.“ Keiner der Nyjorder - nicht einmal der zynisch veranlagte Hys - hatte dem noch etwas hinzuzufügen. Aber Brion fühlte ihre Erleichterung und Freude über seine glückliche Rettung. Dieses Gefühl würde er nie vergessen. „Der Krieg findet nicht statt“, übersetzte er für Ulv, der die Erklärungen der Nyjorder nicht verstanden hatte. Aber als 52
er diesen einen Satz sagte, fiel ihm auf, dass der Bericht in einem Punkt keinesfalls zutreffen konnte. „Das kann nicht stimmen“, wandte er ein. „Sie sind auf Dis gelandet, bevor sie den Funkspruch empfangen hatten, in dem ich von dem Turm berichtet habe. Das heißt also, dass sie erwarteten, dass die Magter Nyjord bombardieren würden - und dass sie trotzdem gelandet sind.“ „Selbstverständlich“, antwortete Professor Krafft. Der Alte zeigte deutlich, wie überrascht er über Brions Unverständnis war. „Was blieb uns anderes übrig? Die Magter sind doch krank!“ Hys lachte laut über Brions verständnislosen Gesichtsausdruck. „Sie müssen noch viel über die Lebensphilosophie der Nyjorder lernen“, meinte er. „Solange es sich um Krieg und ähnliche Dinge handelte, konnten meine Leute sich nicht auf ein einheitliches Vorgehen einigen. Kriegerische Auseinandersetzungen sind mit Ihrem Wesen so wenig vereinbar, dass sie nicht einmal vernünftig darüber nachdenken können. Das ist eben eine unüberwindliche Schwierigkeit für einen Pflanzenfresser, der in einem Universum der Fleischfresser leben muss. Man wird irgendwann die leichte Beute eines anderen, der ein Opfer sucht. Jeder andere Planet hätte sich nichts von den Magter gefallen lassen, sondern sie am Kragen genommen und geschüttelt, bis die Bomben zum Vorschein gekommen wären. Aber wir haben gezögert, weil wir vor jeder Gewaltanwendung zurückschrecken - selbst wenn dadurch zwei Planeten in Gefahr kommen. Ihr Gehirn-Parasit hat uns rechtzeitig den Stoß gegeben, den wir brauchten.“ „Das verstehe ich nicht“, sagte Brion. „Alles hängt von der richtigen Definition ab. Bevor Sie nach Dis kamen, kannten wir uns mit den Magter nicht aus. Sie waren uns immer fremd geblieben. Was sie auch taten oder ließen - wir wurden nicht schlau daraus. Und sie kümmerten sich nicht darum, was wir unsererseits taten. Aber Sie entdeckten, dass diese Leute krank sind. Und darauf verstehen wir uns ausgezeichnet. Wir waren uns wieder einig; meine Leute wurden in Gnaden aufgenommen, anstatt wie zuvor als berufsmäßige Mörder angesehen zu werden. Ärzte und Krankenpflegepersonal sind bereits in Marsch gesetzt worden und müssen bald eintreffen. Wir haben alle Vorkehrungen getroffen, um Teile unserer Bevölkerung zu evakuieren, bis die Bomben gefunden waren. Nyjord ist wieder vereint, um die vor uns liegenden Aufgaben tatkräftig in Angriff zu nehmen.“ „Weil die Magter krank sind? Weil sie mit einem lebensfeindlichen Parasiten infiziert sind?“ fragte Brion. „Richtig“, bestätigte Professor Krafft. „Schließlich sind wir zivilisiert, nicht wahr? Niemand kann von uns erwarten, dass wir einen Krieg führen - aber sollen wir es ignorieren, wenn unsere Nachbarn schwer krank sind?“ „Nein ... nein, ganz bestimmt nicht“, stimmte Brion zu und ließ sich auf einen Felsbrocken nieder. Er sah zu Ulv hinüber, der kein Wort von dem Gesagten verstanden hatte. Hinter ihm stand Hys und grinste so zynisch wie früher. „Hys“, bat Brion, „tun sie mir einen Gefallen und übersetzen sie Ulv das alles. Ich traue es mir einfach nicht zu.“
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19 Dis glich einer goldenen Kugel, die im All schwebte. Keine Wolken verdeckten seine Oberfläche, und aus dieser Entfernung erschien der Planet im Gegensatz zu der eisigen Kälte des Weltraums warm und einladend. Brion wünschte sich fast wieder dorthin zurück, während er sich fröstelnd in seine wärmste Jacke hüllte. Er fragte sich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis sein Körper sich wieder auf kältere Außentemperaturen umstellte. Hoffentlich verlief dieser Vorgang weniger heftig als beim letzten Mal. Jeannies schlanke Gestalt spiegelte sich in der Glasscheibe vor ihm. Sie war so leise herangekommen, dass er erst durch Ihr Spiegelbild auf Ihre Anwesenheit aufmerksam gemacht wurde. Er wandte sich zu ihr um und nahm ihre Hände in die seinen. „Du siehst schon viel besser aus“, stellte Brion lächelnd fest. „Kein Wunder“, antwortete sie und strich sich die Haare aus der Stirn. „Schließlich habe ich die ganze Zeit im Bett gelegen, während Du Dich letzte Woche auf Dis amüsiert hast. Habt Ihr wirklich Jagd auf die Magter gemacht?“ „Nein, wir haben sie nur mit Gas betäubt“, beruhigte er sie. „Die Nyjorder wollen keinen mehr umbringen, obwohl sie auf diese Weise selbst Verluste erleiden. Andererseits müssen sie die Disaner mühsam zurückhalten, die unter Ulvs Führung jeden Magter umbringen, den sie erwischen können. Für diese Leute sind die Magter eben noch immer Umedvirk.“ „Und was wollen sie mit den gefangenen Magter anfangen?“ „Das wissen sie selbst noch nicht recht“, erklärte Brion. „Sie wollen sich erst entscheiden, wenn sie sehen, wie sich ein Magter benimmt, dessen Gehirn-Parasit operativ entfernt worden ist. Mit den Kindern haben sie mehr Glück. Wenn sie rechtzeitig behandelt werden, lässt der Parasit sich abtöten, bevor er all zuviel Schaden angerichtet hat.“ Jeannie schloss einen Augenblick lang die Augen und lehnte sich gegen ihn. „Ich habe mich noch nicht ganz erholt; setzen wir uns doch lieber, während wir miteinander sprechen.“ Brion führte sie zu einer Couch hinüber, von der aus sie Dis weiterhin beobachten konnten. „Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie ein Magter aussieht, der seinen Symbionten verloren hat“, sagte Jeannie. „Wenn sein Körper den Schock überhaupt erträgt, wird wahrscheinlich nur eine leere Hülle zurückbleiben. Jedenfalls möchte ich dieses Experiment nicht verfolgen. Andererseits steht für mich fest, dass die Nyjorder eine menschliche Lösung für dieses Problem finden werden.“ „Das glaube ich auch“, stimmte Brion zu. „Und was wird aus uns?“ fragte Jeannie übergangslos und lehnte sich in seine Arme zurück. „Ich muss Dir sagen, dass Du die höchste Körpertemperatur hast, die ich je erlebt habe. Ausgesprochen aufregend.“ Jetzt war Brion noch mehr verblüfft. Er hatte noch nie begriffen, wie Jeannie es fertig brachte, so schnell von einem unangenehmen Thema auf ein erfreulicheres überzugehen. „Richtig, was wird aus uns?“ wiederholte er unsicher. Sie lächelte ihn an. „Damals in dem Krankenzimmer auf Dis hast Du Dich etwas deutlicher ausgedrückt. Ich kann mich dunkel an einige Dinge erinnern, die Du gesagt und getan hast. Du kannst nicht mehr behaupten, dass ich Dir gleichgültig bin, Brion Brand. Deshalb frage ich Dich in der gleichen Art, wie es jedes freimütige Mädchen auf Anvhar tun würde. Was wird aus uns? Heiraten wir?“ Brion runzelte nachdenklich die Stirn, während er nach einer passenden Antwort suchte. „Jeannie, mein Liebling ... Du weißt, wieviel Du mir bedeutest - aber Dir ist doch auch klar, dass wir nie heiraten können?“ Sie richtete sich plötzlich auf. „Was soll das heißen, Du komischer Kerl? Was willst Du damit sagen? Etwa: Ich mag Dich gern, Jeannie, wir können uns herrlich miteinander amüsieren, aber Dir ist doch hoffentlich klar, dass Du nicht zu der Sorte Mädchen gehörst, die man seiner Mutter als zukünftige Frau vorstellt!“ „Hör auf damit, Jeannie“, sagte Brion leise. „Du weißt genau, dass das nicht meine Auffassung ist. Was ich eben gesagt habe, hat überhaupt nichts mit meinen Gefühlen Dir gegenüber zu tun. Aber eine Heirat bedeutet auch Kinder, und Du bist Biologin genug, um zu wissen, dass die Gene auf der Erde...“ „Intoleranter Bauernlümmel!“ rief Jeannie wütend und gab ihm eine Ohrfeige. Brion zuckte nicht einmal mit der Wimper, schloss lediglich die Augen und machte einen bedrückten Gesichtsausdruck. „Von Dir hätte ich wirklich mehr erwartet, nachdem Du mir immer den Verständnisvollen vorgespielt hast. Aber Du musst natürlich auch auf die Schauermärchen hereinfallen, die über die schlechten Erbanlagen der Terraner verbreitet werden. In dieser Beziehung unterscheidest Du Dich überhaupt nicht von den Bewohnern der anderen Planeten, die lange von der Erde abgeschnitten waren. Ich weiß, wie diese Leute sich über uns lustig machen, weil wir kleiner sind, wie sie mitleidig über unsere Krankheiten lächeln, die wir von unseren Vorfahren geerbt haben. Ihr alle hasst...“ „Aber das wollte ich gar nicht damit sagen“, warf Brion ein. Er warf ihr einen entsetzten Blick zu. „Du hast die besseren Erbanlagen - meine sind nicht gut genug! Ein Kind von mir würde wahrscheinlich kurz nach der Geburt sterben, wenn es nicht schon tot auf die Welt käme. Du vergisst, dass die Terraner die Nachkommen des ursprünglichen Homo sapiens sind. Ich bin nur eine spätere Mutation.“ Jeannie saß wie erstarrt da. Das war also die Wahrheit, die sie geahnt hatte, ohne darüber nachdenken zu wollen. „Die Erde ist der Planet, auf dem die Menschheit sich entwickelt hat“, fuhr Brion fort. „Vielleicht haben sich die Erbanlagen in den letzten Jahrtausenden tatsächlich verschlechtert, aber das ist völlig unbedeutend, wenn man diese verhältnismäßig kurze Zeitspanne mit den Jahrmillionen vergleicht, die der Mensch benötigte, um zu dem zu werden, was er jetzt darstellt. Wie viele Säuglinge erreichen das erste Lebensjahr auf der Erde?“ „Warum? Fast alle. Die Sterblichkeitsziffer ist sehr niedrig - ich kann mich allerdings nicht an genaue Angaben 54
erinnern.“ „Die Erde ist die Heimat der Menschheit“, sagte Brion. „Wenn die Menschen diese Heimat verlassen, können sie sich zwar an die Lebensbedingungen auf anderen Planeten anpassen, müssen aber einen Preis dafür zahlen. Dieser schreckliche Preis besteht aus toten Kindern. Die erfolgreichen Mutationen leben weiter, aber die Misserfolge sterben. Die natürliche Auslese ist brutal einfach. Wenn Du mich ansiehst, hast Du einen Erfolg vor Dir. Ich habe eine Schwester - ebenfalls ein Erfolg. Aber meine Mutter hatte noch sechs weitere Kinder, die alle im Säuglingsalter starben. Und andere, die tot geboren wurden. Du kennst diese Tatsachen doch auch, nicht wahr, Jeannie?“ „Ich weiß, ich weiß...“, schluchzte sie. „Ich weiß es, weil ich Biologie studiert habe - aber ich will keine Biologin mehr sein, ich habe den ewigen Wettkampf auf beruflichem Gebiet satt, ich mag nicht immer wieder beweisen müssen, dass ich genügend weiß, um es mit jedem Mann aufnehmen zu können. Wenn ich an Dich denke, tue ich es als Frau und dann kümmere ich mich nicht mehr um wissenschaftlich begründete Beweise. Ich brauche jemand, Brion, und ich brauche Dich, weil ich Dich liebe.“ Jeannie machte eine Pause und führ sich über die Augen. „Du willst wieder nach Hause, nicht wahr? Zurück nach Anvhar. Wann?“ „Ich kann nicht mehr allzu lange bleiben“, antwortete Brion langsam. „Allmählich wird mir wieder klar, dass ich nach Anvhar gehöre. Wenn man an die Legionen von Menschen denkt, die gelitten haben und gestorben sind - oder sich angepasst haben, damit wir hier sitzen können ... nun, der Gedanke daran erschreckt mich fast. Wahrscheinlich ist es nicht ganz logisch, dass ich mich ihnen verpflichtet fühle. Aber daran ist nichts zu ändern. Ich muss nach Anvhar zurück.“ „Und ich kann Dich nicht begleiten.“ Jeannie stellte keine Frage, sondern erwähnte nur eine Tatsache. „Nein, das kannst Du nicht“, bestätigte er. „Du gehörst nicht nach Anvhar. Jeannie sah ihm offen in die Augen. „Ich habe unbewusst geahnt, dass es eines Tages so kommen würde“, sagte sie. „Falls Du annehmen solltest, dass Dein kleiner Vortrag über die Entwicklungsgeschichte der Menschheit für mich etwas Neues bedeutete, dann hast Du Dich geirrt. Er hat mich nur an einige Dinge erinnert, die ich lieber vergessen hätte. In gewisser Beziehung beneide ich Dich um Deine zukünftige Frau und die prächtigen Kinder, die ihr in die Welt setzen werdet. Aber nicht sehr. Ich habe mich sehr früh mit der Tatsache abgefunden, dass ich auf der Erde keinen Mann finden würde, den ich heiraten möchte. Statt dessen träumte ich manchmal von dem Helden aus dem All, der mich eines Tages mit in seine Heimat nehmen würde - diese Wunschvorstellung muss ich unwillkürlich auf Dich übertragen haben. Aber jetzt bin ich alt genug, um einzusehen, dass meine Arbeit mir mehr bedeutet als eine banale Ehe. Wahrscheinlich werde ich als eine tugendhafte alte Jungfer enden, die mehr Titel und Diplome hat als Du Kugelstoßrekorde.“ Während sie durch das Bullauge nach draußen sahen, wurde Dis langsam kleiner. Das Raumschiff steigerte seine Geschwindigkeit und steuerte Nyjord an. Brion und Jeannie saßen unbeweglich nebeneinander. Mit Dis blieb ein gemeinsames Erlebnis zurück. Dort unten waren sie beide Fremde auf einer fremden Welt gewesen. Ihr Schicksal hatte sie ein kurzes Stück ihres Lebensweges gemeinsam zurücklegen lassen. Jetzt war die Zeit abgelaufen; ihre Wege trennten sich wieder. „Na, ihr Turteltäubchen!“ rief Hys, als er die Kabine betrat. „Ihr seht aber nicht gerade fröhlich aus“, stellte er dann fest. „Wenn Sie mich glücklich machen wollen, brauchen Sie nur tot umzufallen“, fauchte Jeannie wütend. Hys ignorierte sie völlig und ließ sich ebenfalls auf die Couch nieder. Seitdem er das Kommando über seine Leute abgegeben hatte, schien er wesentlich umgänglicher geworden zu sein. „Werden Sie weiterhin für die Gesellschaft für kulturelle Beziehungen arbeiten, Brion?“ erkundigte er sich. „Männer wie Sie können wir immer gebrauchen. Brion sah ihn erstaunt an, als ihm die Bedeutung dieser Frage aufging. „Sind Sie auch für die G.K.B. tätig?“ „Bevollmächtigter für Nyjord“, antwortete Hys. „Ich hoffe doch sehr, dass Sie nicht geglaubt haben, die G.K.B. sei hier nur durch so hilflose Paragraphenreiter wie Faussel oder Mervv vertreten? Leute dieser Art werden immer nur als Strohmänner vorgeschoben. Nyjord ist ein schöner Planet, aber die Menschen dort brauchen eine feste Hand, die sie unmerklich führt, damit sie ihren Platz in der Galaxis behaupten können, ohne sofort unter die Räder zu kommen. „Was steckt eigentlich hinter der ganzen Sache, Hys?“ erkundigte sich Jeannie. „Ich habe schon die ganze Zeit über vermutet, dass die G.K.B. durchaus nicht so idealistische Ziele verfolgt, wie man mir immer weisgemacht hat. Ist das eine Bande von machtgierigen Egoisten - oder was?“ „Das ist der erste Vorwurf, der gegen uns erhoben würde, wenn unsere Tätigkeit öffentlich bekannt werden würde“, gab Hys freimütig zu. „Deshalb haben wir uns auf Untergrundtätigkeit spezialisiert. Der beste Gegenbeweis, den ich Ihnen geben kann, ist die Frage der nötigen Mittel. Woher bekommen wir Ihrer Meinung nach das Geld für eine Tätigkeit von so großem Ausmaß wie auf Dis?“ Er lächelte, als sie ihn verständnislos ansah. „Falls Sie später noch Zweifel haben, mache ich Ihnen gern unsere Bücher zugänglich. Die Wahrheit ist ganz einfach - unsere Tätigkeit wird von den Planeten finanziert, denen wir geholfen haben. Selbst ein Bruchteil eines Prozents der zur Verfügung stehenden Gesamtmittel eines Planeten ist schon sehr viel Geld. Wenn man über mehrere solche Quellen verfügt, hat man am Schluss genug, um anderen Planeten zu helfen. Und freiwillige Zuwendungen sind der beste Beweis, wenn man es sich recht überlegt. Man kann den Menschen nicht einreden, dass sie mit dem zufrieden sein müssen, was man für sie getan hat. Sie müssen selbst davon überzeugt sein. Auf jedem Planeten, der mit der G.K.B. zu tun hatte, gibt es einige Männer in hohen Stellungen, die unsere Arbeitsweise kennen, mit ihr einverstanden sind und folglich auch dafür sorgen, dass wir genügend Geld zur Verfügung haben.“ „Warum erzählen sie mir das alles?“ wollte Jeannie wissen. „Das ist doch bestimmt streng geheim?“ „Muss ich Ihnen das wirklich noch erklären?“ fragte Hys zurück. „Wir möchten, dass sie weiterhin für uns arbeiten. Sie dürfen Ihr Gehalt selbst festsetzen - wie gesagt, wir haben immer genügend Geld.“ Hys sah von einem zum anderen und brachte sein überzeugendstes Argument vor. „Ich hoffe, dass auch Brion bei uns 55
bleibt. Er gehört zu der seltenen Sorte von Männern, die sich für unsere Arbeit hervorragend eignen.“ „Sie brauchen mir nur noch zu zeigen, wo ich unterschreiben soll“, meinte Jeannie lächelnd. Ihre Stimme klang wieder so fröhlich und unbeschwert wie zuvor. „Man kann Ihr Vorgehen nicht gerade als Erpressung bezeichnen“, sagte Brion zu Hys, „aber ich nehme an, da sie wissen, wie man nach Wunsch mit Menschen umspringt, wenn sie sogar mit ganzen Planeten fertig werden. Allerdings muss ich Ihnen sagen, dass ich diesmal keinen Anstoß brauche.“ „Unterschreiben sie auch?“ fragte Hys. „Ich muss nach Anvhar zurück“, sagte Brion, „aber das ist nicht so dringend.“ „Die Erde ist ohnehin schon übervölkert genug“, stellte Jeannie fest.
- Planet ohne Wiederkehr -
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Als das kleine Raumfahrzeug in die ersten, dünnen Ausläufer der Atmosphäre des Planeten eintauchte, begann es zu glühen und zu flammen wie ein fallender Meteor. Binnen Sekunden breitete das Glühen sich aus und ging mit der zunehmenden Reibungshitze rasch von Rot in Weiß über. Obwohl die Legierung der metallenen Hülle unglaublich widerstandsfähig war, war sie doch nie dazu bestimmt gewesen, derart hohen Temperaturen zu widerstehen. Flammenzungen breiteten sich von der Bugnase aus, als das Metall fortgerissen wurde und verbrannte. Dann, gerade als es aussah, als werde das ganze Schiff vom Feuer verschlungen und zerstört, schnitten die noch heller strahlenden Flammen von Bremsdüsen durch das brennende Gas. Wäre das Schiff ohne Steuerung gefallen, dann wäre es mit Sicherheit zerstört worden. Doch der Pilot verstand sein Handwerk, hatte bis zum letztmöglichen Augenblick vor der Zerstörung gewartet, ehe er den Antrieb zündete. Und den Fall des Schiffs gerade so weit verlangsamt, dass die Temperatur sich nicht noch mehr erhöhte. Hinab durch die dichte Wolkendecke sank es, hinab zu der grasbedeckten Ebene, die mit beunruhigender Geschwindigkeit immer näher heranraste. Als es schien, als sei eine verhängnisvolle Bruchlandung unvermeidlich, zündeten wieder die Raketen und rüttelten das Schiff mit einer Bremswirkung von vielen G durch. Trotz der dröhnenden Düsen immer noch schnell fallend, hämmerte das Schiff mit einem widerhallenden Krachen auf den Boden und belastete die Lande-Stoßdämpfer bis zum Äußersten. Als die Wolken aus Dampf und Staub weggeweht waren, öffnete sich knirschend eine kleine Metallklappe an der Bugspitze, und langsam schob sich ein optischer Kopf heraus. Er begann sich gemächlich im Kreis zu drehen und dabei das unermessliche Meer des Grases, die fernen Bäume, die scheinbar leere Landschaft abzusuchen. Eine Tierherde bewegte sich in der Ferne, stob in panischem Schrecken davon und verschwand außer Sichtweite. Der optische Kopf drehte sich weiter und kam schließlich, auf die nahegelegenen Ruinen der zertrümmerten Kriegsmaschinen gerichtet, zum Stillstand, eine riesige Zone der Zerstörung auf der kraterübersäten Ebene. Es war eine Szene des Unheils. Hunderte, vielleicht Tausende der zerbrochenen und gigantischen Kriegsgeräte lagen über das Schlachtfeld zerstreut. Alle durchlöchert, verbogen, zerfetzt von ungeheuren Kräften. Es war ein Friedhof der Zerstörung, der sich fast bis an den Horizont erstreckte. Der optische Kopf schwenkte über die verrosteten Hüllen, hielt an, zog sich dann wieder ins Schiff zurück, und seine Deckplatte klappte zu. Lange Minuten verstrichen, bevor die Stille durch das Kreischen von Metall auf Metall gebrochen wurde, als sich die Luftschleuse mühsam und langsam öffnete. Weitere Zeit verging, bevor der Mann langsam aus der Öffnung hervorkam. Seine Bewegungen waren vorsichtig, der Lauf des Ionengewehrs, das er trug, ging ihm suchend voraus wie ein hungriges Tier. Er trug schwere Raumausrüstung mit einem luftdichten Helm, der eine TV-Einheit als Sichtgerät benutzte. Bedächtig und ohne die Aufmerksamkeit von der Landschaft abzuwenden oder den Finger vom Abzug zu nehmen, senkte der Mann die freie Hand und berührte den Senderknopf an seinem Handgelenk. „Ich setze meinen Bericht jetzt von außerhalb des Schiffs fort. Ich gehe langsam, bis ich wieder bei Atem bin. Meine Knochen schmerzen. Ich habe die Landung im freien Fall ausgeführt und so lange durchgehalten, wie ich konnte. Es war eine schnelle Landung, aber ich habe beim Aufprall mindestens 15 G abgekriegt. Falls ich beim Runterkommen entdeckt worden bin, gibt es dafür bisher keinerlei Hinweise. Ich werde im Gehen weitersprechen. Diese Übertragung wird in meinem Tiefraumer aufgezeichnet, der sich über mir in planetarer Umlaufbahn befindet. Also wird, egal was mir passiert, eine Aufzeichnung erhalten bleiben. Ich habe nicht vor, so inkompetent vorzugehen wie Marcill.“ Es tat ihm nicht leid, das zu sagen, seine Ansichten über den Verstorbenen in den Bericht aufzunehmen., Hätte Marcill irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen getroffen, wäre er vielleicht noch am Leben. Aber Vorsichtsmaßnahmen hin oder her, der Narr hätte einen Weg finden müssen, eine Nachricht zu hinterlassen. Doch es gab nichts, absolut gar nichts, das darauf hindeutete, was geschehen war, kein einziges Wort, das ihm jetzt vielleicht geholfen hätte. Hartig schnaubte bei dem Gedanken durch die Nase. Auf einem neuen Planeten zu landen, war jedes Mal gefährlich, egal wie friedvoll er aussah. Und dieser hier, Selm-II, war mit Sicherheit nicht anders. Weit davon entfernt, friedvoll auszusehen. Es war Marcills erster Auftrag gewesen. Und sein letzter. Der Mann hatte sich aus der Umlaufbahn um den Planeten gemeldet und seine vorgesehene Landeposition auf der Oberfläche festgehalten. Und danach nichts mehr. Ein Narr. Man hatte nie wieder etwas von ihm gehört. Damals war die Entscheidung gefallen, einen Spezialisten hinzuzuziehen. Dies war Hartigs siebzehnter Planetenkontakt. Er hatte die Absicht, all seine Erfahrung einzusetzen, um dafür zu sorgen, dass es nicht auch sein Letzter werden würde. „Ich kann verstehen, warum Marcill diese Stelle ausgesucht hat. Es gibt nichts als Gras, leere Ebene, die sich in alle Richtungen erstreckt. Aber hier, neben diesem Landeplatz, hat eine Schlacht stattgefunden - und zwar vor gar nicht so langer Zeit. Die Überreste des Kampfs befinden sich direkt vor mir. Es scheint sich dabei um Kriegsmaschinen unterschiedlichen Typs zu handeln, ziemlich eindrucksvolle Dinger ursprünglich, jetzt aber auseinandergesprengt und rostend. Ich werde sie mir genauer ansehen. Hartig verriegelte die Schleuse, machte sich vorsichtig auf den Weg hin zu dem trümmerbedeckten Schlachtfeld und berichtete im Gehen weiter. „Diese Maschinen sind groß. Die, die mir am nächsten ist, muss mindestens fünfzig Meter lang sein. Sie hat Laufketten und trägt einen einzelnen Gefechtsturm mit einer großen Kanone. Der ist zerstört. Keine Kennzeichnung zu sehen aus dieser Entfernung. Ich werde mir das näher ansehen. Aber ich kann Euch ganz offen sagen, dass mir das nicht gefällt. Vom Weltraum aus sind keine Städte zu sehen, keine Sendungen oder Übertragungen auf einem der Kommunikationskanäle. Und doch ist hier dieses Schlachtfeld, und diese Wracks. Und das sind keine Spielzeuge. Diese Dinger sind das Produkt einer sehr weit fortgeschrittenen Technologie. Sie sind auch keine Illusion. Dieses Ding ist aus solidem Metall - und es ist von etwas noch Soliderem aufgesprengt worden. Immer noch keine Aufschrift oder Kennzeichnung darauf, die ich erkennen kann. Ich werde einen Blick ins Innere werfen. Es sind von da, wo ich stehe, keine Luken zu sehen, aber in die Seite ist ein Loch gesprengt, das groß genug ist, um mit einem 57
Lastwagen durchzufahren. Ich gehe jetzt da hinein. Es könnten Dokumente drinnen sein, mit Sicherheit sind irgendwelche Schilder an den Bedienungsinstrumenten...“ Hartig blieb wie erstarrt stehen, den gezackten Metall-Rand der Öffnung mit einer behandschuhten Hand gepackt. Hatte er etwas gehört? Vorsichtig erhöhte er die Verstärkung seines Außenmikrophons. Doch alles, was er jetzt hören konnte, war der Wind, der durch die metallenen Skelette pfiff. Sonst nichts. Er horchte eine Weile, zuckte dann die Achseln und wandte sich ab, um durch die klaffende Wunde in die Maschine zu klettern. Mit erschreckender Plötzlichkeit hallte ein entferntes, mechanisches Klirren von den metallenen Kadavern des Schlachtfelds wider. Hartig wirbelte herum und ließ sich mit angelegtem, schussbereitem Gewehr fallen. „Dort draußen ist etwas, das sich bewegt. Kann es noch nicht sehen - aber ich kann es um so deutlicher hören. Ich habe das Außenmikro mit auf diesen Kreis geschaltet, sodass das Geräusch mit aufgezeichnet wird. Es wird lauter, Räder, vielleicht Ketten, die quietschen und klirren. Eine Maschine ... da!“ Mit dem Krachen von Metall auf Metall tauchte das Ding zwischen den zerstörten Maschinen auf. Es war kleiner als die meisten anderen, nicht länger als fünf Meter, und raste mit furchterregender Geschwindigkeit dahin. Tiefschwarz und unheimlich. Hartig hob das Gewehr, nahm dann den Finger vom Abzug, als er sah, dass sich das Ding von ihm abwandte; sich hin und her drehend und gleichzeitig beschleunigend. „Es steuert auf mein Landeschiff zu! Es könnte es entdeckt haben, als ich aufgesetzt habe, es durch Anstrahlung, Radar oder so gefunden haben. Ich setze meine Fernsteuerung ein, um alle Verteidigungseinrichtungen an Bord in Gang zu setzen. Sobald das Ding in Reichweite gerät wird es gesprengt... da!“ Eine Explosion folgte der nächsten, als die Schnellfeuerkanonen an Bord des Rettungsschiffs ihr tödliches Feuer ausspien. Der Boden erzitterte, und Gesteinstrümmer und Staub wurden in die Luft gewirbelt. Die Kanonen schwiegen und nahmen im nächsten Augenblick das Feuer wieder auf, als die Maschine aus dem Staub auftauchte. Offenbar unversehrt. „Dieses Ding ist flink und widerstandsfähig, aber die Primärsysteme werden damit fertig werden...“ Eine noch heftigere Explosion ließ den Boden erzittern, hallte von den Metallwänden um ihn herum wider; eine Wolke aus rotem Staub senkte sich herab. Hartig spähte regungslos nach draußen, dann begann er wieder mit dumpfer Stimme zu sprechen. „Das war mein Schiff, das in die Luft gegangen ist. Es war nur ein einziger Schuss von dem verdammten Ding nötig. Unsere Kanonen haben ihm nichts anhaben können. Jetzt wendet es sich in diese Richtung. Es muss wohl meinem Radiosignal folgen, Hitzestrahlung, etwas in der Art. Hat keinen Sinn, jetzt den Sender abzuschalten. Es kommt hierher - direkt auf mich zu. Ich schieße inzwischen, aber das scheint ihm nichts anhaben zu können. Ich kann keine Luken oder Fenster erkennen, die in meine Richtung weisen. Die Besatzung orientiert sich wohl über TV-Relais. Ich versuche gerade, ein paar Vorsprünge an der Vorderseite von diesem Ding wegzuschießen. Das könnten Abtaster sein. Irgendwelche Messgeräte. Scheint, dass es dadurch nicht langsamer wird...“ Das Geräusch der Explosion verstummte abrupt, als die Funkübertragung endete. Hoch droben in der Umlaufbahn begann das Kontrollzentrum im Innern des Weltraumers, automatisch nach dem Radiosignal zu suchen, doch ohne Erfolg. Dann suchte es sämtliche anderen Funkkanäle ab. Dort war gar nichts. Mit mechanischer Hartnäckigkeit fing es noch einmal von vorn an und suchte mit maximaler Verstärkung, entdeckte aber nichts als atmosphärische Störungen. Nach einer Stunde wiederholte es den Suchlauf, und das jede weitere Stunde während der nächsten vierundzwanzig. Als dieser Teil des Programms beendet war, schaltete es den Überlicht-Sender ein, wie man ihm befohlen hatte, und strahlte die Übertragung aus, die es von dem Mann auf der Oberfläche empfangen hatte. Wenn das erledigt war, würde es die Energiezufuhr in all seinen Stromkreisen auf Minimalerhaltung senken und dann mit unendlicher Geduld auf den nächsten Befehl warten.
2 „Was ist? Was ist denn los?“ fragte Jeannie. Mit der Schulter, die ihn berührte, hatte sie die plötzliche Anspannung von Brions Körper gespürt. Sie lagen völlig entspannt auf der weichen Liege und blickten aus der Sichtluke auf die sternenvolle Dunkelheit des interstellaren Raums. Sein mächtiger Arm war um ihren schmächtigen Körper geschlungen, und sie war sich seiner plötzlichen Erstarrung sehr bewusst. „Nichts ist los, gar nichts. Sieh Dir nur diese Farben an ...“ „Hör mal, geliebtes Muskelpaket, Du magst ja der beste Gewichtheber der Galaxis sein - aber Du bist außerdem der schlechteste Lügner. Es ist was passiert. Etwas, von dem ich nichts weiß.“ Brion zögerte einen Moment, dann nickte er. „Es ist jemand in der Nähe, jemand, der vorher noch nicht da war. Jemand, der Unannehmlichkeiten bringt.“ „Ich glaube an Deine empathischen Fähigkeiten. Ich habe gesehen, wie sie funktionieren. Daher weiß ich, dass Du die Gefühle anderer Leute spüren kannst. Aber wir sind mitten im Weltraum und bewegen und zwischen zwei Sonnen, die Lichtjahre von einander entfernt sind - wie sollte da jemand Neues an Bord dieses Schiffs sein...“ Sie hörte auf zu sprechen und sah plötzlich hinaus auf die Sterne. „Eine Abwurfkugel, natürlich. Hier geht's wohl um ein Rendezvous, nicht um ganz normale Ortung. Ist da draußen noch ein Überlicht-Schiff? Mit jemandem an Bord, der dabei ist, in einer Abwurfkugel hierher umzusteigen?“ „Nicht nur dabei - ist schon angekommen. Er ist bereits an Bord. Und er kommt hierher, auf uns zu. Mir gefällt die ganze Sache gar nicht. Mir gefällt der Mann nicht - auch die Botschaft nicht, die er mitbringt.“
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Mit einer einzigen, fließenden Bewegung sprang Brion auf, die Fäuste geballt. Obwohl er über Einsachtzig groß war und beinahe hundertfünfunddreißig Kilo wog, bewegte er sich wie eine Katze. Jeannie blickte zu seinem massigen Körper hoch, der über ihr aufragte, und konnte die Anspannung beinahe selber fühlen. „Du kannst es nicht mit Bestimmtheit sagen“, sagte sie ruhig. „Zweifellos hast Du damit recht, dass jemand an Bord gekommen ist. Aber das heißt nicht unbedingt, dass es irgendwas mit uns zu tun hat...“ „Ein Mann tot, vielleicht zwei Männer. Und der, der gerade kommt, riecht selber nach Tod. Da ist er.“ Jeannie keuchte, als sie hörte, wie hinter ihr die Tür des Aufenthaltsraums aufglitt. Sie sah furchtsam über die Schulter, blickte starr auf die Öffnung und wusste nicht, was sie zu erwarten hatte. Das Scharren eines leichten Schrittes war zu hören, dann ein dumpfes Geräusch. Scharren, dumpfes Geräusch. Näher und lauter. Dann erschien ein Mann in der offenen Tür, zögerte dort, während er sich blinzelnd umguckte, als habe er Schwierigkeiten mit dem Sehen. Es kostete Jeannie entschiedene Mühe, ihre augenblicklich einsetzende Abscheu zu verbergen; sie musste sich zwingen, nicht wegzusehen. Das einzige Auge des Mannes musterte sie langsam von oben bis unten, um sich auf Brion zu richten. Dann begann er wieder zu gehen, zog dabei den verkrüppelten Fuß nach und stieß bei jedem Schritt heftig mit der Krücke auf. Welche Kraft auch immer seine Beine verletzt hatte, sie musste außerdem die rechte Hälfte seines Gesichts weggerissen haben. Es war leuchtend rosa, wo neue Haut nachgewachsen war; eine Klappe bedeckte die leere Augenhöhle. Sein rechter Arm fehlte ebenfalls, aber in sein Schlüsselbein war eine Armknospe eingepflanzt, und in einem Jahr würde er einen vollständigen, neuen Arm haben. Doch im Augenblick war er nur teilweise nachgewachsen, ein nur etwa dreißig Zentimeter langer Säuglingsarm, der hilflos an seiner Schulter baumelte. Er humpelte näher, gebrechlich und entstellt, und blieb vor Brions klotziger Gestalt stehen. „Ich bin Carver“, sagte er. „Ich bin Deinetwegen hier, Brand.“ „Ich weiß.“ Die Anspannung wich so plötzlich, wie sie gekommen war, aus Brions Körper. „Setz Dich und ruh Dich aus.“ Jeannie rückte unwillkürlich weg, als Carver sich seufzend neben ihr auf die Liege fallen ließ. Sie konnte seinen schweren Atem hören, konnte den Schweiß auf seiner Haut sehen, während er eine Kapsel aus seiner Tasche kramte und in den Mund steckte. Er warf ihr einen Seitenblick zu und nickte. „Doktor Jeannie Borriß“, sagte er. „Sie werden auch gebraucht.“ „Die G.K.B.?“ fragte Brion. Carver nickte. „Die Gesellschaft für Kulturelle Beziehungen. Wie ich höre, habt ihr schon einmal bei uns gearbeitet?“ „Haben wir. Da lag ein Notfall vor ...“ „Es liegt immer ein Notfall vor. Etwas sehr Wichtiges hat sich ergeben. Ich bin losgeschickt worden, um Euch aufzusuchen.“ „Warum uns? Wir kommen gerade aus einem Höllenloch von einem Planeten namens Dis. Jeannie ist krank gewesen. Man hat uns ein bisschen mehr Zeit versprochen, bevor man wieder mit uns Kontakt aufnimmt. Wir waren einverstanden, noch mal für Deine Leute zu arbeiten, aber nicht im Augenblick. „Ich sagte es schon - es liegt immer ein Notfall vor.“ Carvers Stimme war heiser, und er klemmte seine heile Hand zwischen die Knie, damit sie aufhörte zu zittern. Es waren die Schmerzen oder die Erschöpfung - oder beides - und er hatte nicht vor, schlapp zu machen. „Ich komme grade von einem dieser Notfälle, wie ihr seht, sonst würde ich mich selber drum kümmern. Und falls es Euch die Sache erleichtert: da ich wusste, was ihr beide auf Dis durchgemacht habt, habe ich angeboten, mich selbst um die Sache zu kümmern - die haben mich ausgelacht. Das finde ich nicht besonders witzig. Seid ihr jetzt beide soweit?“ Mit den letzten Worten wandte er sich Brion zu. „Ihr könnt Jeannie nicht zwingen, mitzukommen, jetzt nicht. Ich werde mich selber darum kümmern.“ Carver schüttelte den Kopf. „Ihr sollt als Team gehen, in dieser Beziehung waren die Anweisungen eindeutig. Gemeinsame Fähigkeiten, eine synergistische Verbindung ...“ „Ich begleite Brion“, erklärte Jeannie. „Mir geht es schon viel besser. Bis wir dort ankommen, wo wir hinsollen, bin ich wieder völlig gesund.“ „Das freut mich zu hören. Wie ihr wisst, sind wir eine Organisation auf freiwilliger Basis.“ Er ignorierte Brions verächtliches Schnauben und zerrte mühsam eine flache Kunststoffschachtel aus der Tasche seiner Uniformjacke. „Wie Euch sicher bekannt ist, haben fast alle unsere Aufträge mit Kulturen zu tun, die Schwierigkeiten haben, Gemeinschaften auf Planeten, die Tausende von Jahren vom Hauptstrom des menschlichen Kontakts abgeschnitten waren. Wir halten uns fern von gerade wiederentdeckten Planeten - das ist Angelegenheit der Planetarischen Vermessung. Die befassen sich zuerst damit, dann überlassen sie uns ihre Aufzeichnungen. Die sind ein rauher Haufen; ich habe vier Jahre bei der P.V. mitgemacht, bevor ich zur G.K.B. übergewechselt bin.“ Er lächelte grimmig. „Ich hatte gedacht, die neue Arbeit sei leichter. Die Planetarische Vermessung hat da ein Problem, und sie haben uns um Hilfe gebeten. In Fällen wie diesem sagen wir immer ja. Seid ihr jetzt soweit, Euch diese Aufzeichnungen anzusehen?“ „Ich hole einen Sichter aus unserer Kabine“, sagte Brion. Carver nickte erschöpft, zu müde zum Sprechen. „Möchtest Du, dass ich Dir etwas bestelle?“ fragte Jeannie, als Brion den Aufenthaltsraum verließ. „Ja, danke, irgendwas zu Trinken. Ich werde eine Tablette damit runterspülen - in ein paar Minuten geht's mir dann besser. Aber keinen Alkohol, den kann ich noch nicht wieder vertragen.“ Sie spürte, dass sein Blick auf ihr ruhte, während sie die Passagierkontrolle anrief und dem Computer ihre Bestellung aufgab. Als sie den Anruf erledigt hatte, legte sie auf und drehte sich plötzlich zu ihm um. „Na gefällt Dir, was Du siehst?“ „Tut mir leid. Ich wollte Dich nicht anstarren. Aber ich habe Deinen Lebenslauf in den Akten gelesen. Ich habe noch nie jemanden von der Erde kennengelernt.“ 59
„Was hattest Du erwartet - zwei Köpfe?“ „Ich sagte doch, es tut mir leid. Bevor ich meinen Heimatplaneten verlassen habe und in den Weltraum gegangen bin, dachte ich wirklich, dass die Geschichte von der Erde nichts weiter ist als ein religiöser Mythos.“ „Na ja, jetzt kannst Du Dich selbst davon überzeugen, dass wir aus echtem, wenn auch unterernährtem Fleisch und Blut sind. Die unterernährten Bewohner eines überfüllten und ausgelaugten Planeten. Wahrscheinlich genau das, was wir verdient haben, würdest Du wohl sagen.“ „Nein. Früher hätte ich das vielleicht gesagt. Nicht mehr. Ich bin sicher, das Erdimperium hat sich einer ganzen Reihe von Exzessen schuldig gemacht, ganz wie wir es in unseren Schulbüchern lesen. Das bezweifelt keiner. Aber das alles ist jetzt Geschichte, uralte Geschichte, Tausende von Jahren Vergangenheit. Was für mich weit größere Bedeutung hat, ist das Schicksal all der Planeten, die nach dem Zusammenbruch abgeschnitten wurden. Erst als ich mit eigenen Augen gesehen habe, was mit ein paar von denen passiert war, wusste ich, wie hart und grausam dieses Universum sein kann. Im Grunde gehört die Menschheit nur auf die Erde. Möglich, dass Du Dir minderwertig vorkommst, weil die Überfüllung und die begrenzten Mittel insgesamt eine Reduzierung eurer Körpergröße verursacht haben. Aber ihr gehört auf die Erde - und seid ein Produkt der Erde. Einige von uns sehen vielleicht größer und stärker aus als ihr - doch das liegt daran, dass wir gezwungen waren, uns an einige unbarmherzige und brutale Welten anzupassen. Ich habe mich daran gewöhnt - ich akzeptiere es sogar als die Norm. Erst als ich Dich gesehen habe, habe ich erkannt, dass die Heimat der Menschen immer noch Realität ist.“ Er lächelte schief. „Halt mich bitte nicht für blöd, weil ich das sage“, sagte er, „aber ich habe sowohl Freude - als auch Erleichterung empfunden, als ich Dich traf. Wie ein Kind, das seine lang verloren geglaubten Eltern entdeckt. Ich fürchte, ich drücke mich nicht besonders gut aus. Es ist wie die Heimkehr nach einer langen Reise. Ich habe gesehen, wie sich die Menschheit an eine ganze Reihe von Planeten angepasst hat. Dich zu treffen, bedeutet komischerweise ein tröstliches Stückchen Erfahrung. Unsere Heimat existiert immer noch. Ich bin sehr froh, Dich kennenzulernen.“ „Ich glaube Dir, Carver. „ Sie lächelte. „Und ich muss zugeben, dass ich beginne, Dich zu mögen. Auch wenn ich zugeben muss, dass Du momentan nicht unbedingt ein Augenschmaus bist.“ Er lachte, lehnte sich zurück und nippte an dem kalten Getränk, das automatisch neben ihn auf den Tisch befördert worden war. „Lass mir ein Jahr Zeit, und Du erkennst mich nicht wieder.“ „Ich bin sicher, dass es so sein wird. Ich bin Biologin, Exobiologin, daher ist mir in der Theorie bekannt, was mit Wiederherstellungswachstum erreicht werden kann, und ich bin sicher, dass Du nach einiger Zeit so gut wie neu sein wirst. Aber das ist nur Theorie - in der Praxis habe ich es noch nie gesehen. Wir sind nicht reich auf der Erde, also können sich nur wenige von uns Wiederherstellung in dem Umfang leisten wie bei Dir.“ „Das ist einer der wenigen Vorteile, wenn man bei G.K.B. arbeitet. Die setzen einen wieder zusammen, egal wie schlimm man zugerichtet wird. In ein paar Monaten werde ich hinter dieser Klappe ein neues Auge haben.“ „Wie schön. Aber ich persönlich würde lieber auf die Vorteile dieser Art Rekonstruktion verzichten, wenn es Dir nichts ausmacht.“ „Viel Glück dabei. Ich kann's Dir nicht verdenken.“ Sie blickten hoch, als Brion mit dem Sichtgerät wieder kam. Er nahm Carver die Kassette ab und steckte sie in den Apparat. Er und Jeannie beugten sich vor, als sich der Schirm erhellte. Carver legte sich hin und hörte sich den Bericht an, während er an seinem Glas nippte. Er hatte ihn schon oft gehört und döste ein wenig, solange das ältere Informationsmaterial ablief, wurde aber sofort wieder hellwach, als es sich dem Ende näherte. Hartigs aufgenommene Stimme fuhr fort zu sprechen und klang dabei ruhig und präzise, obwohl er dem sicheren Tod ins Auge sah, hatte er bis zuletzt versucht, eine brauchbare Aufzeichnung für die zu hinterlassen, die ihm folgen würden. Jeannie war entsetzt, als der Bericht beendet war und der Schirm sich leerte; Brions unbewegtes Gesicht zeigte keine Regung, als er sich Carver zuwandte. „Und die G.K.B. will, dass wir uns auf diesen Planeten begeben, auf Selm-II?“ fragte er. Carver nickte. „Warum? Das sieht eher nach einer Aufgabe fürs Militär aus. Sollten die nicht was Großes und gut Gepanzertes hinschicken, das auf sich selbst aufpassen kann?“ „Nein. Genau das wollen wir nicht. Die Erfahrung hat gezeigt, dass bewaffnetes Eindringen in keinem Fall die Lösung ist. Krieg funktioniert nicht. Krieg kostet Leben. Was wir brauchen, ist Wissen, Information. Wir müssen wissen, was auf diesem Planeten vorgeht. Wir brauchen fähige Leute wie Euch. Vermutlich war Dis Euer erster Auftrag. Eine Sache, in die ihr gegen Eure Absicht reingezogen wurdet. Aber ihr wart außerordentlich erfolgreich und habt etwas erreicht, was selbst die Spezialisten für undurchführbar hielten. Wir möchten, dass Ihr diese Fähigkeiten hier einsetzt. Ich will gar nicht leugnen, dass das furchtbar gefährlich sein könnte. Aber es muss getan werden.“ „Ich hatte nicht vor, ewig zu leben“, sagte Jeannie, dann beugte sie sich hinüber, um einige harte Getränke zu bestellen. Ihre Keckheit konnte Brion nicht täuschen. „Ich gehe allein“, sagte er. „Ich kann das besser individuell erledigen.“ „Oh, nein, kannst Du nicht, Du hirnloses Riesenmuskelpaket. Du bist nicht schlau genug, um allein rausgelassen zu werden. Entweder gehe ich mit Dir, oder Du gehst gar nicht. Versuch' nur, allein loszugehen, und ich erschieße Dich auf der Stelle, um die Kosten Deines Transports dahin zu sparen, wo Du doch nur umgeblasen wirst.“ Brion musste darüber lachen. „Deine Zuneigung und Dein Verständnis sind zu rührend. Ich bin einverstanden. Deine logischen Argumente haben mich überzeugt, dass es am besten ist, wenn wir zusammen gehen.“ „Gut.“ Sie griff nach dem Glas, sobald es aus dem Ausschank kam und nahm einen kräftigen Schluck. „Wie sieht der nächste Schritt aus, Carver?“ „Der ist schwierig. Wir müssen den Kapitän dieses Schiffs überreden, den Kurs zu ändern und einen Umweg nach Selm-II zu machen. Inzwischen wird ein einsatzbereites Schiff in der Umlaufbahn um den Planeten sein und dort auf uns warten.“ 60
„Was ist daran schwierig?“ fragte Brion. „Ich stelle fest, dass ihr noch nie den Kapitän eines Weltraumers kennengelernt habt. Die sind alle außerordentlich starrsinnig. Und haben während des Fluges uneingeschränkt das Kommando. Wir können ihn nicht zwingen, den Kurs zu ändern. Wir können ihn nur überreden.“ „Ich werde ihn schon überreden“, sagte Brion. Er war aufgestanden und überragte die beiden bei weitem. „Wir haben diesen Auftrag übernommen, und kein mickriger Raumschiff-Kutscher wird uns dabei im Wege sein.“
3 Kapitän M'Luta könnte man auf verschiedene Weise beschreiben. Keinesfalls jedoch konnte man ihn, auch bei noch so weitreichender Vorstellungskraft, einen „mickrigen Raumschiff-Kutscher“ nennen. Er und Brion Brand standen sich Nasenspitze an Nasenspitze gegenüber und starrten sich an. Sie waren beide sehr groß, beide kräftig und hochgewachsen - der Kapitän womöglich noch ein wenig größer. Er war genauso muskulös wie Brion - und ebenso streitsüchtig. Sie glichen sich in fast jeder Hinsicht, mit dem feinen Unterschied, dass Brions Haut einen sonnengebräunten Bronzeton hatte, während die des Kapitäns tiefschwarz war. „Die Antwort lautet Nein“, sagte Kapitän M'Luta und die Kälte seines Tonfalls verbarg seinen wachsenden Unmut unzureichend. „Sie dürfen jetzt meine Brücke verlassen.“ „Ich glaube, Sie haben mich nicht richtig verstanden, Kapitän. Ich habe eine einfache und formlose Bitte geäußert ...“ „Gut. Die formlose Bitte wird hiermit abgeschlagen.“ „Ich habe Ihnen noch gar nicht die Gründe für diese Bitte genannt ...“ „Das werden Sie auch nie tun, wenn es nach mir geht. Und es geht nach mir. Ich bin der Kapitän dieses Schiffs. Ich habe eine Mannschaft, Passagiere und Fracht, um die ich mich kümmern muss. Außerdem um meinen Fahrplan. Diese Dinge sind mir am Wichtigsten. Zu jeder Zeit. All das ist bereits durch Ihre Leute durcheinandergebracht worden, wegen des Kopplungsmanövers, um eine Abwurfkugel aufnehmen zu können. Ich habe das veranlasst, weil man mir sagte, dass es sich um einen Notfall handelt. Der Notfall ist jetzt vorüber. Werden Sie nun gehen, oder muss ich Sie rauswerfen lassen?“ „Warum versuchen Sie es nicht.“ Brions Stimme war leise, fast ein Flüstern. Aber seine Fäuste waren geballt, seine Muskeln angespannt, während er den Kapitän finster anstarrte. Und der starrte ihn ebenso an. Carver humpelte heran und drängte sich mit einiger Mühe zwischen sie. „Das reicht“, sagte er. „Ich muss jetzt eingreifen, bevor die Situation außer Kontrolle gerät. Brand, geh bitte zu Dr. Borriß. Sofort.“ Brion holte tief Luft und zwang seine Muskeln, sich zu entspannen. Carver hatte recht - aber es ärgerte ihn trotzdem, dass der Kapitän nicht ein bisschen Streit angefangen hatte, den er hätte beenden können. Er wirbelte herum und ging hinüber zu Jeannie, die auf einer Bank an der Schiffswand saß. Sobald er die zwei Männer getrennt hatte, kramte Carver 61
mit der heil gebliebenen Hand in seiner Seitentasche und holte eine Blaupause heraus, warf einen kurzen Blick darauf und steckte sie wieder weg. „Wir hatten auf Ihre freiwillige Zusammenarbeit mit uns gehofft, Kapitän M'Luta. Aber freiwillig oder nicht, helfen werden Sie uns ...“ „Offizier der Wache“, sprach der Kapitän in das Mikrophon an seinem Kragen. „Sofort zur Brücke mit drei unteren Dienstgraden. Bewaffnet.“ „Widerrufen Sie sofort diesen Befehl“, sagte Carver, nun ebenfalls verärgert. „Hängen Sie sich an den Überlichtkommunikator und rufen Sie Ihre Basis. Fragen Sie nach Code Dp-L.“ Der Kapitän drehte sich abrupt um und beugte sich drohend über die magere Gestalt des verwundeten Mannes. „Wo haben Sie diesen Code her?“ stieß er befehlend hervor. „Wer sind Sie?“ „Bitte keine weiteren Fragen. Erledigen Sie diesen Anruf und sagen Sie denen, dass ich Carver heiße. Sagen Sie ihnen, dass ich gerade bei Ihnen bin.“ Der Kapitän gab keine Antwort, aber sie hörten, wie er die soeben gestellte Forderung nach bewaffneter Unterstützung widerrief, während er quer über die Brücke in die Kommunikationskabine stampfte. „Was ist das für ein Zauber?“ fragte Brion, als Carver sich erschöpft neben ihm auf die Bank fallen ließ. „Das ist Einfluss, und nicht Zauber. Der Heimatplanet des Kapitäns, Rodeport, ist einer von denen, die der Stiftung für kulturelle Beziehungen sehr viel verdanken. Die Leute auf dem Planeten wissen das vielleicht gar nicht, wohl aber die Regierung. Sie zahlt jedes Jahr einen sehr hohen und vollkommen freiwilligen Beitrag an uns.“ Brion nickte. „Das bedeutet, dass Rodeport eine der Welten ist, die G.K.B. in der Vergangenheit unterstützt hat. Haben wir ihnen geholfen, aus Schwierigkeiten rauszukommen? „Ganz recht. Wir können sie um Hilfe bitten, in jedem Umfang. Jederzeit. Aber es ist die Art Verpflichtung, von der wir nur im Notfall Gebrauch machen. Die Direktorin dieser Raumagentur wurde von meiner Anwesenheit hier unterrichtet und man hat sie informiert, dass sie möglicherweise eine Nachricht über mich erhalten werde. Die Direktorin ist sehr beschäftigt. Und ich nehme nicht an, dass es ihr gefallen wird, in dieser Form gestört zu werden. Ob er mag oder nicht, der Kapitän wird mit uns zusammenarbeiten.“ Sie mussten nicht sehr lange warten. Der Kapitän stampfte finster wie ein Gewittersturm wieder auf die Brücke und blieb vor Carver stehen, welcher sich an seiner bedrohlichen Gegenwart gar nicht zu stören schien. „Wer sind Sie, Carver? Was macht es Ihnen möglich, solche Anweisungen zu geben?“ „Da Sie Ihre Anweisungen erhalten haben - reicht dieses Wissen nicht aus?“ „Nein. Es ist Weltraumgesetz, dass ich der Einzige bin, der auf diesem Schiff Anweisungen geben darf. Dieses Gesetz ist nun gebrochen worden. Meine Autorität ist untergraben. Wie, wenn ich es vorziehen würde, diesen neuen Vorschriften nicht zu gehorchen?“ „Das könnten Sie tun. Aber wenn Sie in den Heimathafen zurückkommen, könnte es sein, dass Sie mit ein paar Problemen konfrontiert werden.“ „Probleme?“ Der Kapitän lächelte grimmig. „Gestrandet werde ich sein. Am Ende.“ „Dann setzen Sie einen hohen Preis auf Ihre Neugier. Ich habe nicht den Wunsch, Ihnen zu schaden, Kapitän, bitte glauben Sie mir. Aber es ist ungeheuer wichtig, dass wir diesen Umweg machen. Ich werde Ihnen so viel sagen, wie ich kann. Dies ist ein Einsatz der G.K.B. Wenn Sie wieder zu Hause sind, können Sie Ihre Vorgesetzten, die Leute, die Ihnen Ihre Befehle erteilt haben, fragen, was der Name bedeutet. Sie sind es, die darüber entscheiden, wieviel Sie wissen dürfen. Ich kann nur hinzufügen, dass dieser Umweg kein sinnloser ist. Es sind bereits Menschenleben verloren worden. Und ohne Zweifel werden in der Zukunft noch weitere aufs Spiel gesetzt werden. Befriedigt das Ihre Neugier?“ Der Kapitän schlug mit einem heftigen Knall mit der Faust in die offene Handfläche. „Nein“, sagte er, „gar nicht. Aber es wird zunächst reichen müssen. Wir werden den Zwischenstopp machen. Aber ich will keinen von Euch an Bord meines Schiffs sehen. Nie wieder. Ich lasse mir das nicht ein zweites Mal gefallen.“ „Wir werden diesen Wunsch respektieren, Kapitän. Tut mir leid, dass diesmal so verfahren werden musste.“ „Machen Sie, dass Sie hier rauskommen. Man wird Sie über den Zeitpunkt des Transfers unterrichten.“ „Du hast Dir den da drinnen nicht gerade zum Freund gemacht“, sagte Jeannie, nachdem die Tür fest hinter ihnen zugeknallt worden war. Carver zuckte die Achseln, zu erschöpft, um zu sprechen oder sich gar Sorgen zu machen. „Ich gehe in meine Kabine“, sagte er. „Ich komme wieder zu Euch, wenn wir umsteigen.“ Jeannie und Brion hatten alle Freude an der Reise verloren. Sie nahmen sich noch einmal den Bericht vor und hörten wieder und wieder Hartigs Stimme zu, so oft, dass sie die Worte auswendig kannten. Brion trainierte im Fitnessraum des Schiffs, ohne auf die Tatsache zu achten, dass seine Ausdauer und die Art, wie er Gewichte hob, dem Trainer das sichere Gefühl vermittelte, minderwertig zu sein. Jeannie versuchte, sich auszuruhen und ihre Kräfte zu schonen. Sie wusste nicht, was ihnen auf Selm-II bevorstand, aber die Aufzeichnungen hatten erwiesen, dass es unglaublich gefährlich werden würde. Die Wartezeit wurde unerträglich, und es war beinahe eine Erleichterung, die Aufforderung zum Ausstieg zu erhalten. Der Kapitän war nicht in Sicht, als sie in das Kommandoschiff der G.K.B. umstiegen. „Was passiert als nächstes?“ fragte Brion, als die drei im Innern der höhlenartigen Luftschleuse des Schiffs aus der Abwurfkugel stiegen. „Das bleibt ganz Euch überlassen“, sagte Carver. „Es ist eure Aufgabe. Ihr habt jetzt das Kommando.“ „Wo sind wir?“ „In der Umlaufbahn um SeIm-Il. „Ich will ihn mir ansehen.“ „Im unteren Aufenthaltsraum ist eine Beobachtungsluke. Hier entlang. Ich werde veranlassen, dass der Projektkommandant dort zu uns stößt.“ Es war ein großes Schiff und eins, in dem viel Betrieb war. Sie kamen an Werkstätten und Vorratskammern vorbei, 62
mussten warten, während von Robotern gesteuerte Schwebetransporter mit sperrigen Lasten vorbeiglitten. Es war niemand im Beobachtungsraum, als sie dort eintrafen. Sie standen auf dem durchsichtigen Fußboden und blickten hinab in den Weltraum. Die blaue kugelförmige Gestalt des Planeten lag unter ihnen, halb im Schatten, erleuchtet von der grellen Glut des Sterns Seim, der Sonne dieser einsamen Welt. Brion starrte in verbissener Konzentration darauf. „Von hier aus sieht er wie jeder andere Planet aus. Was hat gerade jetzt soviel Interesse an ihm geweckt?“ „Es hat alles mit einer Routineuntersuchung angefangen - und das war es zu Anfang wirklich. Ein ganz normaler Computer-Suchlauf durch ein paar Protokolle aus der Zeit vor dem Zusammenbruch hatte eine Liste von Lieferungen an verschiedene Planeten des alten Erdimperiums ergeben. Die meisten dieser Welten waren bekannt, aber natürlich gab es auch ein paar, die uns neu waren. Ihre Koordinaten wurden zur Kontaktaufnahme und Identifizierung an die P.V. weitergegeben. Da die Beobachtungen aus dem Weltraum keine Städte oder sichtbaren Siedlungen offenbart hatten, wurde dieser Planet als letzter vermessen. Darüber hinaus gab es keinerlei Funkaktivität. Auf keinem der Kommunikationskanäle. „Demnach sind hier keine menschlichen Wesen oder Anzeichen einer Zivilisation - bis auf ein paar verlassene Schlachtfelder?“ „Ja - und das ist es, was uns so neugierig gemacht hat. Dieser militärische Schrottplatz, in dessen Nähe Marcill und Hartig gelandet sind, war der größte, den man entdeckt hat. Aber es gibt noch zahlreiche andere.“ „Krieg - aber keine Krieger. Wo sind all die Leute? Unter der Oberfläche?“ „Vielleicht. Das ist es, was ihr herausfinden müsst, nach dem ihr sicher gelandet seid. Der Planet sieht von außen betrachtet ziemlich anziehend aus. Diese weißen Polkappen, die ihr da seht, bestehen aus Eis und Schnee. Und es gibt offenbar eine Menge Ozean. Es gibt Inseln und Inselketten, außerdem einen einzigen, großen Kontinent gleich da drüben. Hat gerade zur Hälfte Nacht und zur Hälfte Tag. Er ist annähernd wie eine Schüssel geformt und ringsum von Gebirgszügen umgeben. Im Innern gibt es Grasebenen und Wälder auf den Berghängen. Zahlreiche Seen, einschließlich des großen dort fast in der Mitte, auf dem ihr den Sonnenaufgang glitzern sehen könnt, eigentlich ein Inlandmeer. Ihr werdet all das noch mal schriftlich bekommen. „Wie ist das Klima?“ „Perfekt. Jedenfalls auf den Ebenen um den großen See herum. In den Bergen wird es etwas kühler, aber in den tieferen Lagen ist es warm und angenehm.“ „Gut. Das Erste, was wir brauchen werden, ist ein Beförderungsmittel. Was ist denn zu haben?“ „Der Projektkommandant wird sich für Euch darum kümmern. Ich schlage vor, ihr nehmt eins der Rettungsboote. Das sind kompakte Landefahrzeuge mit reichlich zusätzlicher Antriebskraft, und trotzdem groß genug, um alles an Ausrüstung aufzunehmen, was ihr brauchen könntet. Außerdem sind sie wohlbewaffnet. Die Techs werden dafür sorgen, dass sie die allerneuesten Waffen und Verteidigungseinrichtungen einbauen.“ Brion hob hierauf die Augenbrauen. „Die Kanonen haben Hartig anscheinend nicht viel geholfen.“ „Dann können wir aus seiner Erfahrung Nutzen ziehen.“ „Geh mit dem Wir nicht so freizügig um“, sagte Jeannie. „Es sei denn, Du hast vor, mit uns mitzukommen.“ „Tut mir leid. Ihr könnt alles haben, was ihr an Waffen brauchen könnt. Sowohl zum Mitnehmen, als auch zum Einbau in das Rettungsschiff. Ihr habt die freie Wahl der Ausrüstung.“ „Verschaff mir eine Liste von dem, was zu haben ist“, sagte Brion. „Ich kümmere mich darum“, sagte eine Stimme. Sie drehten sich um und sahen den dünnen, grauhaarigen Mann an, der leise hereingekommen war, während sie sich unterhielten. Er tippte einen Befehl in den Kommunikator an seinem Gürtel ein. „Ich bin Klart, Euer Projektkommandant. Ich bin dafür verantwortlich, Euch nicht nur zu beraten, sondern auch zu veranlassen, dass ihr genau das bekommt, was ihr haben wollt - und was ihr braucht. Wenn ihr Euch den Schirm am Kommunikator dort drüben anschaut, werdet ihr ein Verzeichnis der Dinge sehen, die wir auf Lager haben.“ Die Aufstellungen der verfügbaren Gegenstände waren lang und präzise. Brion ließ sie auf dem Kommunikator nacheinander ablaufen, während Jeannie neben ihm saß und den Schirm über den Kategorien berührte, an denen sie interessiert waren. In dem Auswurfschacht neben ihnen begannen sich die Ausdrucke zu häufen. Brion wog sie prüfend mit den Händen, als sie fertig waren, dann warf er einen Blick auf den Planeten unter ihnen. „Ich habe eine Entscheidung getroffen“, sagte er. „Und ich hoffe, Jeannie wird einverstanden sein. Das Rettungsboot wird mit den gefährlichsten Waffen ausgerüstet und verteidigt, die zur Verfügung stehen. Wir werden außerdem alle möglichen Maschinen und Geräte mitnehmen, die uns auf dem Planeten von Nutzen sein könnten. Dann, wenn wir vollständig ausgerüstet sind, gehe ich allein runter, ohne eine einzige Maschine oder irgendwelche Gerätschaften aus Metall. Mit bloßen Händen, wenn's sein muss. Jeannie, findest Du nicht auch, dass das unter den gegebenen Umständen die ratsamste Vorgehensweise ist?“ Ihr sprachloser, entsetzter Blick war die einzige Antwort.
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4 „Ich stelle gleich eine Liste von Empfehlungen auf“, sagte Klart und gab eine Reihe Kommandos in sein persönliches Terminal ein. Seine ruhige Art deutete darauf hin, dass nichts, was ein Einsatzagent unternahm oder sagte, ihn noch überraschen konnte. Jeannie teilte seine Einstellung ganz und gar nicht. „Brion Brand - wer so was sagt, muss wahnsinnig sein. Carver, sorge dafür, dass er sofort eingesperrt wird.“ Carver nickte. „Jeannie hat recht. Du kannst in so einer Situation nicht einfach unbewaffnet rumlaufen, auf einem lebensgefährlichen Planeten wie dem hier. Das wäre Selbstmord.“ „Ach ja? Haben denn alle Maschinen und Waffen den zwei Männern irgendwie geholfen, die vor mir dort waren? Marcill ist einfach verschwunden - aber wir haben inzwischen eine recht genaue Vorstellung davon, was ihm passiert ist. Und wir wissen haargenau, was diese Tötungsmaschine mit Hartig angestellt hat. Wenn es Euch nichts ausmacht, dann möchte ich wirklich nicht so hingehen, wie sie hingegangen sind. Ich denke an mein persönliches Überleben, nicht an Selbstmord. Bevor ihr eine Entscheidung trefft, möchte ich, dass ihr Euch zwei simple Tatsachen vor Augen führt. Erinnert ihr Euch, wie Hartig gestorben ist? Die Kriegsmaschine ist direkt auf ihn zugekommen, hat sich über seinen Sender oder seine Waffen auf ihn eingepeilt. Sie hat ihn entdeckt und ihn vernichtet. Habe ich recht?“ „Soweit ja“, sagte Jeannie. „Ist das Tatsache Nummer Eins?“ „So ist es. Hartig ist entdeckt und vernichtet worden. Tatsache Zwei sind die Tiere. Ihr werdet Euch erinnern, dass Hartig sie beschrieben hat, gleich nachdem er gelandet war. In der Ferne, gerade im Begriff, davon zu hüpfen. „Und die Bedeutung dieser beiden Informationsbruchstücke?“ fragte Carver. „Das ist doch offensichtlich“, teilte Jeannie ihm mit. „Die Tiere waren am Leben und unbelästigt von den Kriegsmaschinen. Während Hartig von ihnen umgebracht worden ist. Also wird unser Naturbursche hier zum Tier werden und zu Fuß herumstreunen, um die Lage auszukundschaften.“ „Das ist Wahnsinn“, sagte Carver. „Ich kann das nicht zulassen.“ „Du kannst es nicht verhindern. Deine Verantwortung war beendet, als Du uns hierher gebracht hattest. Jetzt habe ich das Kommando über die Operation. Jeannie bleibt mit dem Rettungsschiff in der Umlaufbahn. Ich lande allein.“ „Ich nehme zurück, was ich gesagt habe“, verkündete Jeannie an die anderen gewandt. „Es ist ein vernünftiger Plan. Jedenfalls für einen Sieger der Spiele von Anvhar. „ Sie sah Carvers verständnislosen Blick und lachte. „Man hat Dich nicht besonders gut unterrichtet, Carver, wenn Du nicht weißt, dass Brion der Held einer ganzen Welt ist. Sein Heimatplanet - der einer der ungemütlichsten in der gesamten Galaxis ist - hat einen jährlichen Wettbewerb, der nicht nur körperliche, sondern auch geistige Leistungsfähigkeit verlangt. Zwanzig verschiedene Einzelwettbewerbe - alles vom Fechten bis zum Gedichte Schreiben, von Gewichtheben bis Schach. Es handelt sich wohl um den anstrengendsten Wettbewerb, den es je gegeben hat, eine erschöpfende Demonstration sowohl körperlicher, als auch intellektueller Fähigkeiten. Du kannst Brion nach den Einzelheiten fragen, aber das Ergebnis ist ein unglaubliches sportliches Ereignis, das am Ende des Jahreswettbewerbs nur einen einzigen Sieger hat. Kannst Du Dir einen ein Jahr dauernden athletisch-geistigen Wettbewerb vorstellen, an dem jedermann auf einem Planeten teilnimmt? Wenn Du in der Lage bist, das zu verdauen - dann überleg Dir mal, wie der einzige Sieger dieses Wettbewerbs beschaffen sein muss. Falls das Deine Vorstellungskraft übersteigt nun, dann sieh Dir einfach Brion hier an. Er ist einer dieser Sieger. Was auch die 64
Ursache für die Probleme auf Selm-II sein mag - die Chancen stehen recht gut, dass er es damit aufnehmen und auch damit fertig werden kann.“ Carver humpelte hinüber und ließ sich in einen tiefen Sessel sinken, wobei die Krücke neben ihm zu Boden fiel. „Ich glaub es Dir“, sagte er. „Nicht, dass es darauf ankäme. Wie Du schon sagtest, seid ihr dafür verantwortlich, was von nun an passiert. Du hast recht, ich bin aus der Sache raus. Jetzt kann ich Euch nur noch viel Glück wünschen. Klart wird dafür sorgen, dass ihr alles habt, was ihr benötigen könntet.“ „Hier ist eine Liste von Empfehlungen“, sagte Klart, riss einen Bogen Papier aus dem Drucker und reichte ihn weiter. Jeannie nahm ihn, bevor Brion es tun konnte. „Ich werde auf dem Rettungsboot rumtrödeln, während Du auf der Planetenoberfläche bist, also werde ich mich verantwortlich um die Ausstattung kümmern. Geh Du nur ein paar Liegestütze machen oder ein paar Anabolika schlucken oder was Du sonst vor einem Kampf unternimmst, und ich gehe das hier durch.“ „Was ich sonst unternehme ist, mich zu entspannen“, sagte Brion. „Mich innerlich darauf vorzubereiten, was auf mich zukommt.“ „Nun, dann geh doch und tu das. Ich lege Dir die endgültige Liste zur Genehmigung vor, bevor ich die Ausrüstung bestelle.“ „Nein, das musst Du nicht. Ich überlasse das Dir und den Experten. Sieh nur zu, dass die Ausstattung so vollständig wie möglich ist. Ich werde einiges an Spezialausrüstung brauchen, aber dafür sorge ich selber. Im Augenblick will ich lediglich einen detaillierten Ausdruck des planetarischen Prüfberichts. Und einen stillen Ort, um ihn mir anzusehen.“ „Ihr habt ein Privatquartier“, teilte Klart ihm mit. „Da findest Du alle Informationen, die Du haben willst, auf dem Terminal vor.“ „Gut. Wie bald kann die Ausrüstung, die wir brauchen, bereitgestellt werden?“ „In zwei, drei Stunden höchstens.“ „Wir werden zehn brauchen. Ich möchte erst noch schlafen.“ Er sah sich noch einmal den fernen Planeten an. „Sobald wir uns ausgeruht haben und fertig ausgerüstet sind, möchte ich an Bord unseres Rettungsbootes gehen und es in eine niedrige Umlaufbahn bringen, dann werde ich mir die Planetenoberfläche genauer ansehen. Es interessiert mich sehr, was das für eine Art Tiere war, die Hartig gesehen hat.“ Brion hatte tief geschlafen, als Jeannie die Tür öffnete, aber er wachte sofort auf. Sie zögerte und sah blinzelnd in die Dunkelheit, und er rief nach ihr. „Komm rein. Ich werde Licht machen.“ „Schläfst Du immer völlig angezogen?“ fragte sie. „Und noch dazu in den Stiefeln?“ „Man nennt das ein Körpergefühl herstellen.“ Er zapfte ein großes Glas Wasser aus dem Ausschank und nippte daran. „Ich werde ein paar Tage in diesen Kleidern leben, also müssen sie als Teil meines Körpers akzeptiert werden. Mein Körper und meine Reflexe sind meine Hauptverteidigung, meine wichtigste Waffe. Ich werde außerdem noch ein Messer mitnehmen. Ich habe es mir gut überlegt, und ich glaube, dass der Schutz, den es mir bieten wird, das Risiko lohnen wird, es mitzunehmen.“ „Was für ein Messer - und was für ein Risiko? Ich verstehe das nicht.“ „Das Messer wird mineralischen Ursprungs sein müssen. Es wird die einzige Ausnahme darstellen, das einzige Objekt, das nicht völlig natürlicher Herkunft ist. Diese Kleidung ist aus Pflanzenfasern, die Knöpfe aus Knochen geschnitzt. Meine Stiefel sind aus Leder, das aus Tierhäuten gewonnen wurde, zusammengenäht und geklebt. Ich habe kein Metall an mir und trage nichts, das aus künstlichen Fasern gemacht ist.“ „Nicht mal die Füllungen in deinen Zähnen?“ fragte sie lächelnd. „Nein, nicht mal die.“ Brion lächelte keineswegs und war todernst. „Sämtliche Metallfüllungen sind entfernt und durch Keramikplomben ersetzt worden. Je mehr ich irgendeinem anderen Lebewesen in der natürlichen Umwelt ähnlich bin, desto sicherer werde ich sein. Deshalb ist das Messer auch ein kalkuliertes Risiko.“ Er drehte sich um, so dass sie die lederne Scheide an seiner Hüfte sehen konnte. Er zog die lange, durchsichtige Waffe daraus hervor und hielt sie ihr zur Begutachtung hin. „Sieht aus wie Glas. Ist es das auch?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, Plastahl. Eine Siliziumart, die in mancherlei Hinsicht Glas ähnelt, aber hundert Mal stärker ist, weil die Moleküle neu angeordnet sind, so dass sich ein einziger, riesiger Kristall bildet. Es ist praktisch unzerbrechlich und besitzt eine Schneide, die niemals stumpf wird. Da es aus Silizium besteht, genau wie Sand, müsste es eigentlich für jedes Ortungsgerät wie Sand aussehen. Deshalb gehe ich auch das Risiko ein, es bei mir zu haben.“ Jeannie sah schweigend zu, während Brion behutsam die Waffe wegsteckte, die Finger spreizte, sich dann wie eine große Katze streckte. Sie konnte die Bewegung seiner Muskeln unter dem Stoff seiner Kleidung sehen, empfand seine Stärke, die mehr war als nur Körperkraft. „Ich habe das Gefühl, Du kannst es schaffen“, sagte sie. „Ich habe so meine Zweifel, ob irgendein anderer es könnte, niemand sonst in der gesamten Galaxis. Natürlich finde ich die ganze Sache nach wie vor ziemlich wahnsinnig - obwohl ich auch glaube, dass es vermutlich die beste Chance ist, die wir haben, um rauszufinden, was dort drunten vor sich geht.“ Seine Reaktionen waren blitzschnell. Das war etwas, an das sie sich nie gewöhnt hatte. Er hatte die Arme um sie geschlungen, bevor sie wahrnahm, dass er sich bewegt hatte. Die Kraft in seinen Händen war wie in Fleisch eingebetteter Stahl. Er küsste sie flüchtig, dann trat er einen Schritt zurück. „Danke. Durch Dein Verständnis und Deinen Glauben an mich bin ich jetzt besser gerüstet, zu tun, was getan werden muss. Lass uns zum Schiff gehen.“ Ihr Abflug ging ohne Zeremonie vonstatten. Während Jeannie die Ladelisten überprüfte, sprach Brion mit dem Chefnavigator, der darauf hin eine Reihe von Umlaufbahnen für sie in den Computer des Rettungsbootes eingab und registrieren ließ. Als die Vorbereitungen beendet und alle Checklisten vervollständigt waren, verriegelten sie die Ein65
stiegsluke. Sobald das Signal einlief, dass sie soweit waren, startete der Computer das Programm, das sie vom Mutterschiff löste. Gasdüsen flammten auf, um das Rettungsschiff abschwenken zu lassen, dann feuerten die Haupttriebwerke, um sie in die vorgesehene Umlaufbahn zu bringen. SeIm-Il wurde vor ihnen auf dem Schirm größer und größer. „Du fürchtest Dich“, sagte Brion und bedeckte ihre kalte Hand mit seiner Pranke. „Man muss kein Empath sein, um das zu merken“, sagte sie zitternd und schmiegte sich an ihn. „Diese Operation hat vielleicht auf dem Papier gut ausgesehen - aber je näher wir dem Planeten ohne Wiederkehr dort unten kommen, desto mehr Sorgen mache ich mir. Zwei gute Männer, beides Kontaktexperten, sind dort drunten umgekommen. Das gleiche wird mit ziemlicher Sicherheit uns passieren.“ „Das glaube ich nicht. Wir sind weitaus besser vorbereitet, als sie es waren. Und es ist ihr, Opfer, das uns die Information geliefert hat, die wir zum Überleben brauchen. Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste. Du musst Dich zwingen, Dich zu entspannen, Deine Energie und Deine Kraftreserven für den Moment aufzuheben, in dem sie gebraucht werden. Was wir jetzt tun müssen, ist, eine niedrige Umlaufbahn einzurichten und uns eine vollständige Übersicht zu verschaffen, bevor wir uns nach einem Landeplatz umsehen. Bis dahin besteht keine Gefahr...“ Der Computer unterbrach ihn. „Ich habe einen Atmosphärenflugkörper unter Beobachtung. Beim gegenwärtigen Kurs wird er unterhalb des unsrigen vorbeikommen. Soll ich ihn abbilden?“ „Ja.“ Ein winziger Punkt tauchte auf dem Schirm auf und bewegte sich langsam von links nach rechts. „Vergrößere das Bild.“ Der bewegliche Fleck schwoll an und wurde zu einem dünnen, metallischen Pfeil mit zurückgebogenen Tragflächen. „Wie hoch ist seine Geschwindigkeit?“ fragte Brion, und eine Anzeige erschien auf dem Schirm. „Mach 2,6. Fortgeschrittene Überschall-Bauweise, Produkt einer hochentwickelten technischen Kultur. Bei der Geschwindigkeit wird es begrenzte Treibstoffvorräte haben. Wenn wir es schaffen, es in Sichtweite zu behalten, könnten wir vielleicht sehen, wo es landet...“ Jeannie beendete den Satz an seiner Stelle. „Und wir hätten außerdem recht gute Chancen, rauszufinden, was auf diesem Planeten eigentlich vorgeht.“ „Genau ...“ Die Abbildung des Luftfahrzeugs auf dem Schirm stellte sich schräg auf eine Tragfläche und tauchte senkrecht ab; gleichzeitig meldete sich der Computer zu Wort. „Eine digitale Funkmeldung wird aus dem abgebildeten Flugzeug gesendet. Ich zeichne auf.“ Das Bild auf dem Schirm verschwand in einer plötzlichen Stichflamme. „Was hat die Explosion verursacht?“ sagte Brion. „Eine Luftabwehrrakete. Ich habe seinen Kurs unmittelbar vor der Explosion geortet.“ Brion nickte grimmig. „Dieser Flugkörper muss ihn ebenfalls geortet haben, deshalb hat er dieses plötzliche Ausweichmanöver unternommen.“ „Und diese Funkmeldung - ist es möglich, dass die Besatzung des Flugzeugs sie abgegeben hat?“ „Ja, natürlich! Wenn das ein Aufklärer war, dann war er aus einem bestimmten Grund gerade in der Gegend. Als auf ihn geschossen wurde, haben sie ein Ausweichmanöver gestartet und gleichzeitig eine Meldung zurück an ihre Basis abgegeben. Und es sei denn, ich irre mich - hier kommt jetzt die Antwort.“ Brion zeigte auf die Leuchtspur, die sich plötzlich auf dem Schirm zeigte. „Ein ballistisches Geschoss, vermutlich auf die Abschussrampe der Bodenabwehr da unten gerichtet. Der Krieg ist noch im Gange. Also kennen wir zwei weitere Stellen, wo wir nicht hinwollen. „Die Abschussrampe da unten - wo gerade etwas mit einer sehenswerten Explosion hochgegangen ist -, und außerdem die Stelle, von der aus das Geschoss abgefeuert worden ist, das den ganzen Schaden angerichtet hat.“ „Genau. Bis wir wissen, was auf diesem Planeten los ist, wollen wir uns so weit wie möglich von allen Kriegsgebieten fernhalten. Nun lass mal sehen, ob wir ein paar von den Tieren finden können, die Hartig entdeckt hat. Wir können einigermaßen sicher sein, dass sie sich von allen Schlachten und sich bewegender Maschinerie weit entfernt halten werden. Sie sind losgelaufen, als Hartigs Schiff gelandet ist, und ich stelle mir vor, dass sie sich so weit wie möglich von allem Mechanischen fernhalten. Sie fanden die Stelle, nach der sie suchten, am Ostufer? des gigantischen Binnenmeers, das sie Zentralsee genannt hatten. Über die Grasebene, die sich vom Vorgebirge bis ans Seeufer erstreckte, waren sich bewegende Punkte verstreut. Unter stärkster Auflösung durch das elektronische Teleskop war zu erkennen, dass es sich um irgendwelche grasenden Tiere handelte. Der Standort der Herde, ebenso wie der anderer Herden entlang des Ufers, wurde aufgezeichnet. Es schien darüber hinaus auch Raubtiere zu geben; sie sahen, wie eine Tiergruppe panisch vor etwas flüchtete, bei dem es sich um größere und schnellere Verfolger zu handeln schien. Doch im Verlauf ihrer gesamten Suchaktion fanden sie absolut keinen Hinweis auf irgendeine Art Zivilisation. „Das ist die Gegend, in der ich abspringen möchte“, sagte Brion. „Auf der Ebene, wo all die Herden sind.“ „Was meinst Du damit, wenn Du >abspringen< sagst? Landen wir nicht mit dem Rettungsboot?“ „Nein. Das ist das letzte, was wir wollen. Du hast gesehen, was diesem Flugzeug passiert ist. Wir wollen nicht in den Radarbereich kommen und ihre Geschosse in Alarmbereitschaft versetzen. Deshalb werde ich eine ballistische Umlaufbahn eingeben, die mich an der richtigen Stelle in die Atmosphäre eindringen lässt.“ „Wird es nicht ein wenig wehtun, wenn Du in Flammen aufgehst, nachdem Du auf die Luft aufgeschlagen bist, die da unten auf Dich wartet?“ Brion lächelte. „Ich freue mich über Deine Anteilnahme. Ich werde einen Schwerkraftfallschirm tragen, der meinen Sturz verlangsamt. Ich habe außerdem sämtliche 66
unnötigen Metallteile vom Druckanzug entfernt, habe sogar einen Sauerstofftank aus Kunststoff gegen den alten ausgewechselt. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich vom Bodenradar entdeckt werden könnte ist sehr gering - vor allem, weil das Gebiet, das wir ausgesucht haben, frei von irgendwelchen Bauten zu sein scheint. Sobald ich unten angekommen bin, werde ich mir den Graufallschirm zusammen mit dem restlichen Raumzeug vom Halse schaffen.“ „Aber dann bist Du doch gestrandet!“ „Bestimmt nicht. Ich bleibe in Verbindung mit Dir.“ „Tatsächlich?“ Dann hast Du wohl einen völlig metallfreien Sender erfunden?“ Ihr Versuch, witzig zu sein, scheiterte kläglich - in ihrer Stimme lag jetzt nur noch Besorgnis. „Ich gedenke, die hier zu benutzen“, sagte Brion und zog bunte Gewebestreifen aus dem Bündel neben sich. „Ich habe mir einen einfachen Code ausgedacht. Wenn ich diese Tücher auf dem Boden ausbreite, wirst Du sie vom Weltraum aus deutlich sehen können. Sobald ich drunten bin und es Tag ist, werde ich eine Nachricht für Dich auslegen. Während ich umherziehe, werde ich Dir regelmäßig Botschaften zukommen lassen, damit Du alles, was passiert, mitbekommst. „Es ist gefährlich .“ „Alles an dieser Operation ist gefährlich. Aber es gibt keinen anderen Weg, sie zu bewältigen.“ Er wandte sich wieder dem Schirm zu, untersuchte das Bild sorgfältig und tippte schließlich mit dem Finger darauf. „Dorthin will ich. In die Nähe der Stelle, wo die Ebenen ins Hügelland übergehen. Es werden Waldgebiete dicht dabei sein, die Schutz bieten. Wenn wir es richtig einteilen, kann ich während der Nacht abspringen und im Morgengrauen den Boden erreichen. Ich werde so bald wie möglich Schutz suchen, und dann meine Beobachtungen machen. Sollten diese Tiere das sein, was sie zu sein scheinen, nämlich wilde, dort heimische Lebensformen, dann kann ich zum nächsten Schritt der Beobachtung übergehen.“ „Und das wird was sein?“ „Eine Annährung an eins der Schlachtfelder zu Fuß ...“ „Das kannst Du nicht!“ „Es tut mir leid - aber ich muss. Es ist nicht viel, was wir von einer Herde wilder Tiere über technische Kriegführung lernen können. Die nächsten Wracks sind nur etwa hundertsechzig Kilometer von meinem Absprunggebiet entfernt. Ein bequemer Spaziergang von zwei bis drei Tagen. Ich werde, während ich vordringe, jeden Tag Bericht erstatten, und alle Botschaften mit einem >X< beginnen. Diese gleichmäßige Figur kommt in der Natur nicht vor, daher wird ein Computersuchlauf es für dich auffinden und sich darauf einpegeln. Ich werde jetzt ein wenig schlafen. Bitte weck mich eine Stunde vor meinem Absprung.“ Die Oberfläche von Selm-II war unter ihnen in Finsternis gehüllt, als Brion sich in die Luftschleuse gleiten ließ. Alles, was er nach seiner Landung brauchen würde, war inzwischen in eine dicke Kunststoffröhre eingeschweißt, die er sich an den Rücken geschnallt hatte. Die Masse des Schwerkraftfallschirms ruhte leicht auf seinen massiven Schultern, sicher festgezurrt. Jeannie betrachtete ihn, während er ein letztes Mal den Verschluss seines Druckanzugs überprüfte; sie presste die Hände so fest zusammen, dass ihre Knöchel weiß wurden. Er blickte auf und winkte, aber als er sich zum Gehen wandte, beugte sie sich vor und klopfte an die Vorderseite seines Helms. Brion entriegelte die Frontplatte und öffnete sie. Sein Gesichtsausdruck war ebenso ruhig, wie der ihre besorgt war. „Ja?“ sagte er. Einen Moment lang war sie still, das einzige Geräusch das Zischen des Sauerstoffs aus dem Einführstutzen des Helms. Dann beugte sie sich auf den Zehenspitzen stehend vor und küsste ihn fest auf den Mund. „Ich wollte Dir nur viel Glück wünschen. Wir sehen uns bald wieder?“ „Natürlich.“ Er lächelte, während er die Frontplatte wieder zumachte. Dann schob er sich nach vorn in die Luftschleuse und schloss die innere Luke hinter sich; der Indikator daneben leuchtete einen Moment später rot auf, als sich die äußere Luke öffnete. Dann wartete Brion lange Minuten und starrte hinaus ins Vakuum des Weltraums, bis der Computer das Signal gab, dass der richtige Moment gekommen war. In dem Augenblick, als das grüne Licht auf der Kontroll-Leiste aufflackerte, warf er sich nach vorn und aus dem Schiff hinaus. Jeannie saß am Sichtschirm und beobachtete seinen fallenden Körper, den sie am Leuchten der Bremsraketen genau erkennen konnte, bis er hinter dem Schiff zurückfiel und aus dem Blickfeld verschwand.
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5 Brion fiel hinab in das schwarze Loch der Nacht. Es gab keine Empfindung von Bewegung in seinem freien Fall, obwohl er von der Logik her wusste, dass sich sein Tempo mit jedem verstreichenden Moment erhöhte. Dennoch erschien er regungslos, allein im Weltraum, umgeben von Sternen, die dunkle Scheibe des nächtlich verhüllten Planeten unter sich. Der Planet selbst war von einer leuchtenden Korona umgeben, wo das aufgefangene Sonnenlicht zurückgeworfen wurde. Sie war an der Ostseite, wo der Sonnenaufgang bevorstand, heller. Trotz seiner augenscheinlichen Reglosigkeit wusste Brion, dass er dabei war, in einem sorgsam berechneten Bogen zu einem bestimmten Punkt an der Oberfläche hinab zu stürzen, dass er dem Sonnenaufgang entgegenfiel. Der Mikrocomputer im Schwerkraftfallschirm auf seinem Rücken zählte die Sekunden, die zu jenem Moment der Ankunft hinführten. Von Zeit zu Zeit spürte er einen leichten Ruck an seinen Haltegurten, wenn sein Fall in präzise bemessenem Umfang verlangsamt wurde, um ihn dem Programm anzupassen. Es war einzig seinem jahrelangen Training zu verdanken, dass es ihm gelang, seine Gedanken ruhig zu halten, die zwanghafte Furcht zu zügeln, die seinen Körper zur Reaktion veranlassen und - das Adrenalin sinnlos durch seine Adern zirkulieren lassen würde. Die Zeit des Handelns würde nach der Landung kommen; jetzt war die Zeit der Besinnung. Er sank ruhig in einen entspannten Halbschlaf, ließ seinen Körper in den scheinbar endlosen Sturz hineinfallen, ignorierte das wiederholte leichte Rucken an seinen Haltegurten, das sich bald zu einem anhaltenden Ziehen verstärkte. Die ersten Spuren der dichter werdenden Atmosphäre strichen an seinem Anzug vorbei. Der Sturz setzte sich fort. Plötzliches Licht drang ihm in die Augen, als die Sonne über den Horizont stieg. Er bewegte sich und spannte die Muskeln; bald würde es Zeit sein. Obwohl auf seiner Höhe die Sonne aufging, lag das Land unter ihm immer noch in der Nacht. Ein alles durchdringendes Grau ersetzte plötzlich das Licht, als er durch einen dicken Wolkengürtel stürzte dann wieder heraus, um der schwach erleuchteten Landschaft unter ihm entgegen zu fallen. Bisher ungefährdet. Es tauchten keine Geschosse auf. Ebenso wenig Flugzeuge. Doch er war sich des leicht zu ortenden Metalls in seiner Ausrüstung wohl bewusst. Er konnte in eben diesem Moment ein Signal auf den Radarschirmen sein, Raketen konnten gerade in seine Richtung aufsteigen. Er sehnte sich danach, den Boden zu erreichen und sich von dem verräterischen Metall zu befreien. Indem er sich in den Gurten hin und her wand, blickte Brion zwischen seinen Füßen hinab auf die grasbewachsene Ebene, die auf ihn zu schoss. Er wusste, dass er zu schnell fiel - aber Geschwindigkeit war sein einziger Schutz. Falls es dort draußen Radar-Detektoren gab, musste er die kürzestmögliche Zeit auf ihren Schirmen zu sehen sein. Und das hieß, er musste so lange und so schnell er konnte fallen und bis zum letztmöglichen Augenblick damit warten, seinen Sturz abzubremsen. Dieser Augenblick näherte sich rasch. Der Boden war nähergekommen, fast bei ihm - jetzt! Eine Drehung des Kontrollschalters ließ die Energiezufuhr im Schwerkraftfallschirm aufbranden, und die Haltegurte schnitten tief in seine Schenkel. Er fiel immer noch zu schnell - er musste mehr Energie einspeisen. Die Gurte knarrten unter der Belastung. Nachlassen. Jetzt - volle Kraft! Seine Füße trafen hart auf den Boden, so dass er fallen und ein ums andere Mal im hohen Gras ausrollen musste. Dann konnte er lange Sekunden nur ganz still und außer Atem daliegen. Er befahl seinen Gliedern, sich zu bewegen, doch zunächst erfolgte keine Reaktion. Es kostete ihn große Mühe, sich auf die Knie zu erheben, sich dann geschwächt hochzuziehen, endlich aufzustehen. Danach all die anderen Dinge zu tun, die nicht verschoben werden durften, die sofort getan werden mussten. Nachdem die Energie abgeschaltet und die Gurte gelöst waren, fiel der Schwerkraftschirm mit einem Krachen zu Boden. Brion riss den Druckanzug auf, streifte ihn ab und vergewisserte sich gleichzeitig, dass der Helm immer noch daran befestigt war, genau wie die Sauerstofflasche. Gut, alles in Ordnung. Nun - schnell, aber nicht zu schnell. Es war gerade genug Licht im Grau der Morgendämmerung, um zu sehen, was er machte. Die Tragröhre aufreißen und das Messer und die Tasche herausschütteln, die er mitnehmen würde. Die Tasche steckte fest, sie losreißen, gut, beides war jetzt draußen. Alles übrige loswerden. Die Gurte des Fallschirms um die Ausrüstung wickeln, die er abstoßen würde. Noch mal nachsehen, um sich zu vergewissern, dass alles gesichert war. Gut. Hatte er irgend etwas vergessen? Nein, alles war an seinem Platz. Brion drehte die Energiezufuhr des Schwerkraftschirms voll auf, so dass ihm das Bündel aus den Händen gerissen wurde und ihn beiseite stieß, als es zum Himmel empor sauste. Es begann zu schrumpfen, während es aufstieg, bis es beinahe völlig aus seinem Blickfeld verschwunden war. Ein Lichtblitz zeigte sich an der Gesichtsplatte des Helms, als sie hoch droben die aufgehende Sonne einfing. Dann war auch der verschwunden. Brion atmete in einem unbewussten Seufzen der Erleichterung aus. Er war unten, und er lebte noch. Der Sturz zur Oberfläche des Planeten war erfolgreich abgeschlossen, also konnte er alle Gedanken an den Absprung hinter sich lassen. Nun war die Zeit gekommen, mit der wirklichen Arbeit zu beginnen. 68
Während er sich bückte, um sein Messer aufzuheben, drehte Brion sich langsam im Kreis. Er befestigte tastend die Scheide an seinem Gürtel, ungeschickt, da nun all seine Aufmerksamkeit auf die heller werdende Landschaft gerichtet war. Er war auf allen Seiten von Gras umgeben. Hohes Gras, das in der mit dem Morgengrauen aufkommenden Brise zu flüstern und zu nicken begann, das in Wellen von ihm weg wogte. Ganz in der Nähe war ein felsiger Hügel, dann ein Wäldchen am westlichen Horizont, und jenseits des Wäldchens war das steile Vorgebirge, das zu den dahinter liegenden, bewaldeten Bergen führte. Ihre Gipfel waren durch die aufsteigende Sonne bereits in Feuer getaucht. Eine plötzliche Bewegung fesselte seine Aufmerksamkeit. Dort, in Richtung See. Brion kauerte sich langsam hin, bis nur noch seine Augen oberhalb des Grases waren. Er konnte sehen, dass eine Herde Tiere sich in seine Richtung bewegte und im Herankommen graste. Er verharrte reglos wie ein Stein, nur seine Hände bewegten sich, glitten langsam hinab, als er seine Packtasche aufhob und sie sich am Gurt um die Schulter schlang. Gellende Schreie ertönten plötzlich in der Luft über ihm. Brions Augen ruckten hoch, um die Schar Vögel dicht über ihm kreisen, dann landen zu sehen. Nein, das waren gar keine Vögel, sondern eine Art Reptilien. An Stelle von Federn hatten sie ledrige Membranen, die sich zwischen den dünnen Knochen ihrer ausgebreiteten Flügel spannten. Ihre Haut glänzte im Sonnenlicht, rot und orange; die Köpfe der Tiere wurden von klaffenden Kiefern gespalten, die mit nadelspitzen Zähnen gefüllt zu sein schienen. Immer noch gehende Schreie ausstoßend, fielen sie tiefer herab, bis sie außer Sicht in das Meer aus Gras hinab sanken. Die grasenden Lebewesen waren nähergekommen, und Brion konnte sie jetzt deutlich sehen. Sie waren ebenfalls echsenähnlich. Ihre haarlose Haut war graubraun - perfekte Schutzfärbung im trockenen Gras. Sie bewegten sich vorsichtig auf ihren langen Laufbeinen, hoben oft die Köpfe und öffneten ihre Nüsternklappen, um die Luft zu schnuppern. Es mussten wohl Raubtiere in der Nähe sein. Und Brion hatte das Gefühl, dass das auch Reptilien sein würden. Die Herde hatte jetzt etwas bemerkt. Die Tiere hatten aufgehört zu grasen und standen mit weit geöffneten Nüstern wie erstarrt da. Vermutlich näherte sich ihnen ein weiteres Tier. Obwohl sie seinen Geruch aufgefangen hatten, war es im tiefen Gras immer noch vor ihren Blicken verborgen. Ein Drama von Leben und Tod sollte ganz in seiner Nähe stattfinden. Brion erkannte in plötzlicher Erschütterung, dass er wohl mehr war als ein einfacher Zuschauer, als er bemerkte, dass offenbar alle Lebewesen in seine Richtung starrten. Hatten sie ihn gesehen? Er ließ sich noch tiefer sinken, um ihrem Blick auszuweichen, und spürte mittels Empathie die schwache Strömung ihrer Gefühle. Furcht. Furcht, die alle anderen Empfindungen ersetzte. Sein empathischer Sinn war normalerweise nur in Bezug auf menschliche Wesen empfindsam, doch starke Gefühle anderer Tiere sickerten gelegentlich durch. Er war sich der Furcht jener Lebewesen nun wohl bewusst - und eines anderen, stärkeren Gefühls... Brion sprang auf, riss das Messer aus der Scheide und wirbelte gerade rechtzeitig herum, um die dunkle Gestalt auf sich zusausen zu sehen. Ein hohes Kreischen peinigte seine Ohren. Etwas Hartes schlug gegen seine Schulter, als er sich zur Seite warf, wirbelte ihn herum und machte seinen Arm gefühllos, so dass er beinahe das Messer fallen ließ. Er nahm es ungeschickt in die linke Hand und sah das Lebewesen mit weit geöffneten Kiefern und glitzernden Zahnreihen wieder über sich aufragen. Es ließ sich mit seinem ganzen Gewicht auf ihn fallen, als er das Messer in seinen Hals stieß. Mit einem erstickten Schrei brach es zusammen und drückte ihn zu Boden. Das Tier erzitterte noch einmal krampfhaft, dann war es still. Eine warme Flüssigkeit ergoss sich über Brions Arm, das Blut des Tiers oder sein eigenes, er wusste es nicht. Indem er die Füße gegen den Körper des Lebewesens stemmte, stieß er sich von ihm los und blickte sich gleichzeitig verzweifelt um, um zu sehen, ob noch mehr von den Dingern in der Nähe waren. Es war nur das eine gewesen. Er stand da, keuchend vor Anstrengung; die einzige sichtbare Bewegung war nun die Pflanzenfresserherde, die eilig davon hüpfte. Als er den Blick senkte, sah Brion, dass seine Arme von grünem Blut überströmt waren - das war sicherlich nicht sein eigenes! Neben ihm auf dem Boden lag bewegungslos ausgestreckt das Untier, reglos und tot. Seine meterlangen Kiefer voller Zahnreihen standen offen, seine Augen starrten ihn blicklos an. Das tote Raubtier hatte kurze klauenbewehrte Vorderbeine, während die Hinterbeine riesengroß waren, um ihm für den Angriff Schnelligkeit zu geben. Die runzlige Haut des Wesens war von einem fleckigen und hässlichen Braun mit einer lila Tönung. Die Farbe der Schatten, stellte Brion fest. Eine Tötungsmaschine. Es war kein Wunder, dass die anderen Tiere so vorsichtig gewesen waren. Brion war plötzlich sehr müde. Er ließ sich schwerfällig auf die Flanke des Untiers fallen, rieb dann das geronnene Blut von den Fingern auf dessen Haut. Er nahm einen tiefen Zug aus seiner Wasserflasche aus Pressholz, konnte dann nur dasitzen und heftig atmen, während er darauf wartete, dass er wieder zu Kräften kam. Kein sehr günstiger Beginn seiner Untersuchung; er war beinahe vom ersten Lebewesen, auf das er gestoßen war, getötet worden. Beinahe - aber nicht ganz. Das Messer war scharf und lag gut in der Hand, seine Reflexe so flink wie eh und je. Er würde sich nicht mehr so einfach überraschen lassen. Aber zumindest war er drunten auf dem Planeten und im Moment relativ ungefährdet. Es war Zeit für seinen nächsten Schritt. Bisher hatte er sich nur ums Überleben Sorgen gemacht. Zuerst hatte die Notwendigkeit bestanden, den Raketen in der Luft und den Kriegsmaschinen am Boden auszuweichen. Nun, das hatte er getan. Und hatte außerdem den Angriff des Raubtiers überlebt. Der erste Teil seiner Mission war erfüllt. Als nächstes musste er seine gelungene Ankunft melden, bevor er sich auf den Weg machte. Diese Stelle der Ebene war so gut wie jede andere; weit weg von den Bäumen, und vom Raum aus deutlich sichtbar. Das Gras war von den Tieren niedergetrampelt, aber es gab immer noch kein genügend großes, flaches Gebiet, um die Nachricht auszulegen. Es gab jedoch den felsigen Hügel in der Nähe, und der war nicht vom hohen Gras bedeckt. Er kletterte dort hinauf, öffnete seine Tasche und zog das Bündel farbiger Tuchstreifen hervor. Obwohl er wusste, dass es für ihn nichts zu sehen gab, konnte er sich nicht davon abhalten, in den leeren, blauen Himmel aufzublicken. Das 69
Rettungsschiff war dort in der Umlaufbahn, für ihn unsichtbar, obwohl er wusste, dass Jeannie ihn unter elektronischer Vergrößerung deutlich würde sehen können. Er musste über sich lachen, als er heftig mit den Armen ruderte; es war eine Siegesgeste, und es ging ihm noch besser, weil er sie gemacht hatte. Dann machte er sich an die Aufgabe, die Tuchstreifen anzuordnen, damit sie das erste Signal bildeten. Zunächst das „X“, um die Aufmerksamkeit des Computers auf sich zu ziehen, für den Fall, dass er nicht unter Beobachtung stand. Dann die übrige Botschaft. Es war ein einfacher Code, den er sich ausgedacht und auswendig gelernt hatte. Ein „1“, um anzuzeigen, dass er sicher gelandet war - falls sie die Begegnung mit dem angreifenden Reptil beobachtet hatte, hegte sie bestimmt einige Zweifel an dieser Tatsache. Er trat kurze Zeit zur Seite, damit das Signal aufgenommen werden konnte, fügte dann einen Streifen hinzu, um das „I“ in ein „T“ zu verwandeln, womit er zu erkennen gab, dass er wie geplant mit der Unternehmung weitermachen und so bald wie möglich wieder ein Signal aussenden würde. Er musste die Tücher mit Steinen beschweren, da die morgendliche Brise stärker wurde, als die Sonne höher stieg und den Boden erwärmte. Von der Hügelkuppe aus war das umgebende Land deutlich zu sehen. Die grasfressenden Saurier hatten ihre Panik im Laufen überwunden und grasten nun am Ufer des Sees. Der Weg, den er zum nächstgelegenen Schlachtfeld einzuschlagen hatte, war ein einfacher, er musste nur am Seeufer entlang nach Westen vordringen, bis er die Stelle erreichte. Ein simpler Spaziergang, der ihm Gelegenheit geben würde, im Gehen die Landschaft und die Tiere zu erforschen. Es war Zeit, zu gehen. Er faltete die Tuchstreifen wieder zusammen und packte sie ein. Dann wandte er sich, die Sonne wärmend im Rücken, nach Westen. Mittags machte er halt, um sich auszuruhen und zu essen. Die gefriergetrockneten Rationen würden einige Tage lang alle Energie liefern, die er brauchte - waren jedoch so ohne jeden Geschmack wie getrockneter Karton. Er spülte sie mit Wasser hinunter, schüttelte dann die Flasche, um festzustellen, wieviel noch da war. Genug für den Rest des Tages, aber bevor die Nacht hereinbrach, musste sie wieder aufgefüllt werden. Er konnte sich später darum kümmern, lange bevor es dunkel wurde. Danach konnte er das Seeufer verlassen und die Nacht über zwischen den Felsen oder den Bäumen Schutz suchen. Das eine Raubtier, das ihm begegnet war, hatte ihm heilsamen Respekt für das Tierleben dieses Planeten eingeflößt. Er steckte die Lebensmittelverpackungen und die Wasserflasche wieder in die Tasche und erhob sich, wobei er sich reckte. Zunächst war das Geräusch so leise und weit entfernt, dass er es für das Surren eines Insekts hielt - aber es wuchs rasch an, wurde immer lauter. Er hechtete seitwärts in den Schutz des tiefen Grases, als er es erkannte. Ein Düsentriebwerk. Es setzte aus, sprang dann wieder an, als ob es nicht richtig funktionierte. Es kam aus der Sonne, ein weißer Kondensstreifen mit dem schwarzen Punkt eines Flugzeugs davor. Es wand sich und drehte sich, als wolle der Pilot vor etwas ausweichen. Wieder änderte sich sein Kurs, neigte sich in seine Richtung, verlief beinahe direkt über ihn hinweg und ließ das Flugzeug mit einem Dröhnen davon sausen. Dann verschwand es in einem plötzlichen Auflodern von Flammen, die sich im nächsten Augenblick zu einer weißen Wolke ausdehnten. Etwas Schwarzes flog in hohem Bogen hinaus und hinab, dem Boden entgegen, und stürzte nicht weiter als anderthalb Kilometer von ihm entfernt ab. Es schlug auf und ließ eine Staubwolke aufwirbeln, gerade als das Donnern der Explosion in der Luft seine Ohren erreichte. Brion stand langsam auf und sah hinüber auf den sich allmählich legenden Staub. Das war bei weitem zu nahe gewesen. Handelte es sich um einen Unfall - oder hatte das Auftauchen des Flugzeugs etwas mit ihm zu tun? Unmöglich, er litt unter Verfolgungswahn, es war ein rein zufälliges Zusammentreffen, dass sich der Vorfall so dicht bei ihm abgespielt hatte. Aber wenn es nur ein Zufall war, warum empfand er dann die kalte Berührung der Angst beim Gedanken daran, sich dem Wrack zu nähern? Sein Überlebenswille verlangte von ihm, sich davon fernzuhalten. Aber um seiner Mission willen musste er den Schauplatz des Geschehens untersuchen. Die Leiche des Piloten mochte sich dort befinden, oder irgendein anderer Hinweis. Er hatte wirklich keine andere Wahl. Die Staubwolke hatte sich inzwischen gelegt, und die Ebene war wieder ruhig. Aber er hatte sich die Richtung gemerkt. Ohne einen weiteren Gedanken machte er sich auf den Weg dorthin. Der Krater war ein dunkler Fleck im Meer aus Gras. Brion näherte sich ihm vorsichtig und kroch die letzten paar Meter auf dem Bauch. Als er langsam über den Rand spähte, konnte er verbogene Metallteile am Boden des tiefen Kraters sehen. Es war eine der Tragflächen des Flugzeugs. Er konnte keine Kennzeichen darauf entdecken, selbst dann nicht, - als er sich neben ihr herabließ. Die Oberfläche des Wracks war noch warm, und er ging behutsam darum herum. Metallene Trümmer waren beim Aufprall weggerissen worden, und er drehte sie eins nach dem anderen mit seinem Messer um. Seine Sorgfalt wurde schließlich belohnt, als er eine verzogene Kennplakette fand. Und die Schrift war sogar noch sichtbar! Eine Sache daran stimmte allerdings nicht. Obwohl die Buchstaben deutlich zu sehen waren, stammten die wenigen Worte zwischen den Zahlen aus einer Sprache, die er noch nie gesehen hatte. Das war ein Hinweis, den er im Moment nicht entschlüsseln konnte - dennoch durfte er nicht übersehen werden. Er überlegte, ob er die Plakette ablösen sollte, erkannte aber dann, dass es töricht gewesen wäre, irgendwelches Metall mit sich herumzutragen, egal wie klein das Bruchstück war. Schließlich benutzte er die Spitze seines Messers, um eine Kopie davon auf seine Wasserflasche zu ritzen. So hatte er zumindest eine Aufzeichnung davon. Die Untersuchung hatte ihn vom See weggeführt, daher machte er, als er wieder zu gehen begann, einen Bogen zurück zu seinen Ufern. Er konnte mindestens drei Tierherden nahe beim Wasser grasen sehen, und er bewegte sich langsam auf sie zu. Sein Wasservorrat war jetzt zu Ende, und es wurde spät; er würde ihn dort wieder auffüllen, wo die Tiere zur Tränke gegangen waren. Vor ihm schob sich ein Teil des spärlichen Waldgebiets in die Ebene hinaus. Es musste als Deckung für Raubtiere gedient haben, denn die grasende Herde, der er folgte, wurde von plötzlicher Panik übermannt. Einige Tiere rasten sogar in seine Richtung, und er blieb stehen, während sie vorbei stürmten. Ihre langen Beine ermöglichten ihnen ein 70
recht hohes Tempo, und im nächsten Augenblick waren sie vorbei, dicht gefolgt von den jüngeren und langsameren Mitgliedern der Herde. Eins der letzten Tiere war ein gewichtiges Männchen mit einer Spanne Gehörn voller Widerhaken. Die schüttelte es drohend in Brions Richtung, dann trottete es weiter, als dieser nicht reagierte. Als alle vorbei waren, folgte Brion ihrer Spur zurück über die Pfade, die sie ins Gras getrampelt hatten, und umging dabei die Ströme übelriechenden Dungs. Er bewegte sich sehr vorsichtig, das Messer in der Hand, sah in alle Richtungen und horchte gleichzeitig angestrengt. Und blieb sofort stehen, als er vor sich auf dem Boden einen dunklen Umriss sah, der halb im hohen Gras verborgen war. Es war ein toter Pflanzenfresser, dessen Kopf ihm zugewandt war, dessen Maul noch in Todesangst offen stand. Sein Mörder war nirgends zu sehen. Vorsichtig, Schritt für Schritt glitt Brion vorwärts, bis er erkennen konnte, dass sich im Gras in der Nähe des Tiers nichts verbarg. Das Lebewesen, das es getötet hatte, musste längst fort sein. Brion hielt nach wie vor das Messer gezückt, als er den Kadaver umrundete. Die Kehle des Tiers war aufgerissen worden, und das sehr sauber; mit seinem eigenen Messer hätte er es nicht besser machen können. Er blieb wie angewurzelt stehen. Die Wunde war allzu sauber. Ebenso die größere Wunde an der Flanke des Tiers. Eigentlich gar keine Wunde, sondern ein herausgeschnittenes Stück. Eins der Hinterbeine fehlte. Sauber am Gelenk abgeschnitten. Kein Tier hätte das mit Zähnen oder Klauen fertiggebracht. Das konnte nur die Sorte Tier fertig bringen, die ein sehr scharfes Messer bei sich trug. Brion blickte von der Jagdbeute auf zur alles verbergenden Dunkelheit der nahegelegenen Baumgruppe. Beobachteten ihn Augen dort aus der Deckung heraus? Gab es eine intelligente Lebensform auf diesem Planeten? Oder konnten das menschliche Augen sein?
6 Jetzt galt es, zu denken, statt zu handeln. Sobald Brion das sauber zerschnittene Fleisch sah, wusste er das. Mit bedächtigen Bewegungen schob er sein Messer zurück in die Scheide an seiner Hüfte, kauerte sich dann ebenso langsam in eine sitzende Position auf dem Boden. Wenn er so zum See hinschaute, war es nicht zu offensichtlich, dass er die Baumgruppe beobachtete - aber er konnte sie aus den Augenwinkeln deutlich erkennen. Die einzige Bewegung war das Nicken des Grases vor dem Wind, dem gleichen Wind, der die Wasseroberfläche kräuselte. Intelligente Wesen hatten das Tier an seiner Seite getötet. Menschen oder Fremdwesen mit Messern, die dann mit dem Heisch geflohen waren. Wer sie auch waren, sie mussten ihn kommen gesehen haben und in den Schutz der Bäume geeilt sein. Sie waren vermutlich jetzt noch dort und beobachteten ihn. Er entspannte seine Muskulatur und versuchte, hinauszutasten und Kontakt mit ihnen aufzunehmen, doch sein empathischer Sinn war auf jegliche Entfernung ein grobes Werkzeug; er nahm die Gefühle von Leuten wahr, wenn sie 71
sich in der Nähe aufhielten, aber diese Empfindungsfähigkeit schwand rasch dahin, sobald sie sich entfernten. Er konzentrierte sich jetzt, tastete sich vor. Etwas, ein lebendes Wesen. Das war alles, was er darüber zu sagen wusste. Die Empfindung war so schwach, dass es sich praktisch um alles handeln konnte, ein menschliches - oder vielleicht ein fremdes Wesen, oder gar der schlichte Geist eines Tieres wie das, das tot vor ihm lag. Es war in jedem Fall eine ruhige Empfindung; vielleicht würde sie einfacher zu verstehen sein, wenn man sie deutlicher und stärker machte. Ohne Vorwarnung sprang Brion plötzlich hoch in die Luft und stieß im Sprung wilde Schreie aus. Nachdem er wieder auf dem Boden gelandet war, begann er, um den Körper des Tiers herumzutanzen und dabei laut zu schreien. Er schlug einen vollständigen Kreis, ließ sich dann wieder in eine sitzende Position auf dem Boden nieder und grinste fröhlich vor sich hin. Oh, ja, dort draußen war tatsächlich etwas. Und nicht etwa eine fremde Lebensform oder eins der einheimischen Reptilien. Die Reaktion war die eines Menschen gewesen - eines Menschen, der außerordentlich überrascht war, als Brion plötzlich in die Höhe gesprungen war und laut geschrien hatte. Das war ein einzelnes Wesen, ein Mann, der ihn ungesehen hinter dem schützenden Laub der Bäume beobachtete. Besessen von Angst. Das war das Gefühl, das er beim plötzlichen Auftreten des Geräuschs ausgesandt hatte. Er hatte Angst vor Brion. Trotz dessen übergroßer Angst musste er mit dem Mann Kontakt aufnehmen. Aber wie war das zu bewerkstelligen? Brions Augen waren auf den Kadaver neben ihm gerichtet. Der bot vielleicht eine Möglichkeit. So unappetitlich das Fleisch dieses Tiers mit seinem dicken, grünen Blut auch wirkte, es musste für menschliche Wesen essbar sein. Weil der Mann, der sich dort versteckte, ein Mensch war, war diese Tatsache so unbestreitbar wie seine menschlichen Gefühle. Er hatte das Tier geschlachtet, um etwas zu essen zu haben, war aber mit einem einzelnen Bein geflohen, als Brion erschien. Irgendeine Art freundlicher Geste war angebracht. Brion durchschnitt das Hüftgelenk des verbliebenen Hinterbeins und trennte es sauber vom Körper. Er hob es auf und trug es mit ausgestreckten Armen vor sich her, so dass es deutlich zu sehen war, dann ging er langsam auf die Bäume zu. Und war sorgsam darauf bedacht, sich nicht direkt auf den verborgenen Beobachter zuzubewegen. Als er den ersten Baum erreichte, trennte ein einzelner Hieb einen dicken Zweig ab, worauf er, nachdem er einen Einschnitt hinter der Beinsehne gemacht hatte, die Keule auf die Zweigspitze aufspießte. Erster Schritt. Falls der Beobachter das Fleisch nehmen würde, bedeutete das, dass sie eine Art Kommunikation eröffnet hatten. Dies würde ein geeigneter Moment sein, seine Wasserflasche aufzufüllen. Die Tiere hatten Pfade zum Seeufer getrampelt, und er folgte ihnen zum Strand und drängte sich durch das Schilf, bis ihm das Wasser bis zur Taille reichte. Es war hier klar und frei von Schlamm, und nachdem er es probiert hatte, füllte er die Flasche. Die Sonne näherte sich dem Horizont, als er zurückkam. Ein Schwarm aasfressender Flugechsen hatte sich auf dem Kadaver niedergelassen und zerrten mit ihren nadelspitz bezahnten Kiefern am Fleisch. Schrill kreischend flatterten sie widerwillig davon, als er näher kam. Die Sonne stand tief am Horizont, und er musste seine Augen mit der Hand schützen, als er hineinsah. Das Fleischstück war verschwunden - aber der verborgene Beobachter war immer noch da. Nun konnte Brion nichts anderes tun als warten. Aber nicht in der Nähe des toten Tiers. Das wäre nicht allzu klug. Die Aasfresser kreisten immer noch beständig kreischend über ihm und würden mit Sicherheit andere und größere Aasfresser auf die Beute aufmerksam machen. Die Bäume mochten ihm einiges an Schutz bieten. Er ging langsam auf das Ende des Gestrüpps zu, das am weitesten von dem Mann entfernt war, der ihn beobachtete, und seine Bewegungen waren im schwächer werdenden Licht deutlich zu erkennen. Als die Nacht hereinbrach, spürte Brion, dass der Mann zwischen den Bäumen noch weiter wegrückte, bis die Empfindung seiner Gegenwart nur noch eine leichte Berührung am äußersten Rand seiner empathischen Sinne wäre. Offenbar wollte er während der Nacht nicht überrascht werden. Brion auch nicht. Er ordnete das gefallene Laub neben dem Stamm des größten Baums, dann schlief er, das Messer fest umklammernd, ein. Es war ein leichter Schlaf, währenddessen er sich ständig seiner Umgebung bewusst war. Einmal wachte er auf und spähte in die Dunkelheit, während irgendein Nachttier vorbeikroch. Es spürte seine Anwesenheit und machte einen großen Bogen um ihn. Nichts anderes störte ihn während der Nacht, und er erwachte ausgeruht im ersten Licht der Morgendämmerung. Der Jäger war immer noch da - und beobachtete ihn immer noch. Brion konnte den Strom der Gefühle des Mannes spüren, als Brion von den Bäumen weg hinaus auf die Ebene abzog. Es war immer noch Angst darunter - aber außerdem auch Neugier. Brion wusste, er würde seine Ungeduld im Zaum halten müssen. Der nächste Schritt war Sache des versteckten Beobachters. Das Warten war nicht einfach. Gegen Mittag wurde es Brion langweilig, einfach nur stillzusitzen und zu hoffen, dass etwas passieren würde. Herden der grasfressenden Tiere zogen in der Ferne vorbei, die Sonne stieg höher in den wolkenlosen Himmel - und nichts änderte sich. Zu Mittag aß er etwas von seinem Proviant und spülte es mit Seewasser hinunter. Um seine Ungeduld zu zügeln, versuchte er, ein Gedicht über die Landschaft zu verfassen, fand das jedoch noch langweiliger als das Warten. Dann spielte er im Kopf Schach gegen sich selbst, verlor aber beim zwanzigsten Zug von Schwarz den Anschluss und gab auch diese Bemühungen auf. Gegen Nachmittag reichte es ihm. Der andere Mann war offenbar damit zufrieden, einfach auf der Lauer zu liegen und ihn zu beobachten. Das würde sich ändern. Brion stand auf und reckte sich, dann drehte er sich um und begann, langsam auf den anderen zuzugehen. Es entstand ein so heftiges und deutliches Angstgefühl, dass Brion das Versteck des Mannes genau ausmachen konnte, hinter dem Stamm eines großen, gefallenen Baums. Er blieb sofort stehen und hob die leeren Hände über seinen Kopf. Die Empfindung wilder Panik wich, aber die Angst blieb und löschte völlig die Neugier aus, die den Mann veranlasst hatte, sich zu verstecken und ihn den ganzen Tag zu beobachten. Es gab jetzt gemischte Gefühle, denn hinter der Angst war außerdem noch Gier. Brion trat einen Schritt näher, und als er das tat, überwältigte die Angst die Gier vollständig - der Mann floh. Als Brion zu seinem Versteck hinüberging, begriff er, was die widerstreitenden Gefühle bedeutet hatten. Die beiden Fleischstücke waren zurückgelassen worden. Zu schwer zum Tragen, in panischer Angst weggeworfen. Brion bückte sich und hob sie auf, mit jeder Hand eines und trug sie mit Leichtigkeit auf seinen breiten 72
Schultern, während er sich aufmachte, die Spur des Mannes zu verfolgen. Es wurde bald offenbar, dass der Mann auf den dichteren Wald und die Hügel dahinter zulief. Als Brion sicher war, welche Richtung er nahm, begab er sich hinaus auf die Ebene, wo er schneller vorankommen konnte, und rannte neben den Bäumen dahin, um den anderen Mann zu überholen. Das Vorankommen war auf diese Weise leichter, und obwohl er mit dem Fleisch beladen war, war er dem anderen Mann mühelos überlegen. Schlug sich dann wieder durch den Baumbestand, dem anderen voraus. Es gab da einen Wildpfad durch den sich verdichtenden Wald, und der andere bewegte sich - vielleicht auf dem Pfad - immer noch in die gleiche Richtung. Es war eine gute Stelle zum Warten. Brion setzte seine Last ab, wobei er kaum heftiger atmete, und wartete, das Gesicht den Pfad hinabgewandt. Sich der Annäherung des anderen ebenso bewusst wie dessen Angst und wachsender Erschöpfung. Sie sahen einander im gleichen Augenblick, und das heftige Aufwallen des Entsetzens ließ den Arm des Jägers reflexartig vorschnellen. Brion konnte nur einen kurzen Blick auf den Speer werfen, der auf ihn zukam, während er sich zur Seite warf. Die Spitze bohrte sich in den Baumstamm neben ihm. Der Jäger duckte sich und zog sein Messer, als Brion sich langsam aufrichtete. Ohne den Blick von dem anderen abzuwenden, packte Brion zu, zog den Speer heraus und ließ ihn zu Boden fallen. Dann holte er ganz langsam sein eigenes Messer hervor und warf es neben den Speer. Wellen der Furcht gingen immer noch von dem anderen Mann aus. Brion wartete schweigend, bis sich der rasche Strom der Angst gelegt hatte, bevor er mit, wie er hoffte, beruhigender Stimme sprach. „Ich will Dir nichts Böses. Hier ist mein Messer - und hier ist das Fleisch. Lass uns Freunde sein.“ Der andere konnte ihn nicht verstehen, aber der ruhige Tonfall von Brions Stimme schien einige Wirkung zu zeigen. Brion zeigte auf das Fleisch und die Waffen, sprach dabei immer noch beruhigende Worte, wich dann zur Seite vom Pfad herunter, vergewisserte sich aber immer noch, dass der Mann ihn sehen konnte. Als er gute zehn Meter weit weg war, blieb er stehen, setzte sich mit dem Rücken an einem Baum und wartete darauf, dass der andere sich bewegte. Nahm die ausgestrahlten Gefühle auf, während die Panik langsam verebbte und teilweise durch Neugier ersetzt wurde. Der Mann tat einen vorsichtigen Schritt vorwärts, dann einen weiteren, und kam dabei heraus ins Sonnenlicht. Sie sahen einander neugierig an. Der Jäger war einigermaßen menschlich, aber struppig und kleinwüchsig und reichte Brion kaum bis zur Schulter. Sein langes Haar war verfilzt, fettige Strähnen hingen ihm glatt ins Gesicht. Er war in Echsenhäute gekleidet, und hatte sich weitere Häute ungeschickt um die Füße gebunden. Während er näher kam, betrachtete er Brions Kleidung und Stiefel voller Ehrfurcht, mit weit aufgerissenen Augen und hängendem Unterkiefer. Brion lächelte und gab ermutigende Laute von sich, als sich der andere über die Waffen beugte. Er versuchte, nicht seine Gefühle zu offenbaren, als er sein Messer in der Hand des Mannes sah. Der drehte es hin und her, bestaunte es, reagierte mit einem Aufwallen von Angst, als ihn die Waffe mit der scharfen Schneide in den Daumen schnitt. Er nahm sie in den Mund und saugte daran, eine seltsam kindliche Geste. Erst als der Schmerz und der Angstausbruch nachgelassen hatten, bückte er sich und benutzte das Messer, um ein großes Stück Fleisch aus einer der Keulen zu schneiden. In Brion wallte das Glücksgefühl des Erfolges auf, als der Jäger ihm langsam den rohen Fleischklumpen entgegen streckte. Er nickte und lächelte antwortend und begann sich langsam mit ausgestreckter Hand vorwärts zubewegen. Als er nahe herankam, schoss wieder die Angst hoch, und der Mann ließ das Fleisch fallen und zog sich ein paar Schritte zurück. Brion blieb sofort stehen und wartete geduldig, bis der andere sich beruhigt hatte. Erst dann rückte er vorsichtig, Schritt für Schritt vor, um sich zu bücken und das Fleisch aufzuheben. Er kaute an einem Stück - es war ekelerregend aber er lächelte, rieb sich den Bauch und gab beglückte Laute von sich. Die meiste Angst war jetzt verschwunden, und der Jäger lächelte ebenfalls, zunächst vorsichtig, dann breit, rieb sich, genau wie Brion es getan hatte, den Bauch, und imitierte gleichzeitig die Laute, die dieser von sich gegeben hatte. Der Kontakt war endlich hergestellt.
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Nun, da friedfertiger Kontakt hergestellt war, schien es, als sei der Jäger all seiner Ängste beraubt. Brion nahm das auf empathischem Wege wahr, auch wenn er es zunächst nur schwer glaublich fand. Dies war ein erwachsener Mann dennoch wirkten seine Reaktionen seltsam kindlich. Seine ursprüngliche Angst beim Anblick eines Fremden war von seiner später aufgetretenen Neugier im Zaum gehalten worden. Dann war er, anstatt sein Heil in der Flucht zu suchen, dageblieben, um Brions Ankunft zu beobachten, war sogar die Nacht über dageblieben. Zunächst Gier, dann wieder Angst - als könne er nicht mehr als ein starkes Gefühl auf einmal empfinden. Kindlich. Nun schwatzte er fröhlich vor sich hin, während er Brions Kleidung und Stiefel untersuchte, trank geräuschvoll Wasser aus der Flasche, kaute an den getrockneten Nahrungsrationen herum - spuckte sie dann angewidert aus. Tat all dies mit einer bedingungslosen und kindlichen Hinnahme der neuartigen Situation. Es hatte nicht einmal die Spur von Besorgnis gegeben, als Brion, während er dem Mann den Inhalt der Tasche zeigte, unauffällig sein Messer aufgehoben und wieder in die Scheide gesteckt hatte. Der Jäger hatte die Aktion gar nicht zur Kenntnis genommen. Er war zu fasziniert von allem, was Brion besaß, um auch nur minimale Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Brion brauchte nicht lange, um zu erkennen, dass die Kulturstufe dieses Mannes wohl ebenso primitiv war wie seine schlichte und bedingungslose Hinnahme der gerade begonnenen Beziehung zwischen ihnen. Seine Gerätschaft war steinzeitlich plump. Die Speerspitze war ein scharfkantiger Splitter glasigen Vulkangesteins, der unbeholfen ans Ende des Schafts gebunden war. Das Messer des Jägers war ebenfalls aus Stein gehauen. Die Echsenhäute, die seine Kleidung bildeten, waren völlig ungegerbt - das war an ihrem Geruch deutlich festzustellen -, und das einzige Schmuckstuck oder Nicht-Werkzeug, das er besaß, war der Saurierschädel. Dieses widerwärtige Objekt, an dem immer noch die verwesende Haut hing, diente als Helm. Als die drängendste Neugier des Mannes befriedigt war, unternahm Brion einen Versuch, mit ihm zu kommunizieren. Der Versuch verlief beinahe vollkommen erfolglos. Nachdem er unzählige Male auf sich selbst gezeigt und seinen Namen gesagt hatte, dann auf den Jäger gezeigt und fragende Laute ausgestoßen hatte, erfuhr Brion schließlich, dass der Mann Vjer genannt wurde. Oder vielmehr Vjr, ein einzelner explosiver Laut, dem es völlig an Vokalen fehlte. Er dagegen sprach Brion eher wie „Bran“ oder „Brrn“ aus, wiederum ohne Vokallaute. Und hier lag die Grenze ihrer Verständigung. Vjer verlor bald das Interesse an Wörtern und weigerte sich, weitere von Brion zu lernen oder von seinen eigenen welche zu sagen, damit Brion sie lernen konnte. Seine Aufmerksamkeitsspanne war sehr begrenzt. Er bekam Durst und leerte die Wasserflasche, und verschüttete dabei mehr als er trank. Später, als er hungrig wurde, hackte er etwas von dem grünen Echsenfleisch ab, ignorierte die Tatsache, dass es bereits von Schmeißfliegen heimgesucht war, und kaute und verschluckte es mit lautstarker Genugtuung. Brion fand alles an dem Mann nur schwer verständlich. Vjer war ein Primitiver, sonst nichts. Mit seinem empathischen Sinn konnte Brion feststellen, dass er das nicht nur vorgab. Er war genau das, was er zu sein schien: Ein phantasieloser und simpler Steinzeitprimitiver. Und doch wurde dieser Planet von zwei kriegführenden Mächten beherrscht, die augenscheinlich ununterbrochen in Kämpfe verwickelt waren und dazu die raffiniertesten Waffensysteme einsetzten. Wie passte Vjer in diese Situation? War er eine Art Ausgestoßener? Ein Flüchtling vor dem Krieg? Es gab keine Möglichkeit, das herauszufinden, ohne dass sich irgendeine Verständigungsmöglichkeit eröffnete. War er allein oder war er Teil einer Gruppe? Wie musste der nächste Schritt aussehen? Es war Vjer, der hierüber entschied. Er war ruhig eingedöst, nachdem er den blutigen Fleischbrocken verschlungen haue. Auf die Fersen gekauert schlief er sofort fest ein, und sein Verhalten glich darin eher dem eines Tiers als dem eines menschlichen Wesens. Ebenso plötzlich wachte er wieder auf, sah blinzelnd zum Himmel auf und murmelte etwas Unverständliches. Er musste wohl eine Entscheidung getroffen haben, denn er benutzte sein stumpfes Messer, um ein Stück zähes Rankenwerk von einem der Bäume abzuhacken. Damit band er die beiden Keulen zusammen, dann grunzte er, als er sie sich auf die Schultern wuchtete. Mit dem Messer in einer Hand und dem Speer in der anderen machte er sich den Pfad entlang auf den Weg - dann blieb er stehen, als sei ihm etwas eingefallen. „Brrn“, sagte er und kicherte vor sich hin. „Brrn, Brrn!“ Dann wandte er sich ab und setzte seinen Weg fort. „Warte“, rief Brion. „Ich will mit Dir kommen.“ Er begann dem Mann zu folgen - und blieb stehen, als eine plötzliche Welle von Furcht ihn überflutete. Vjer erschauerte, der Speer zitterte in seiner Hand, so groß war seine Panik. Er wich langsam zurück, blieb dann wieder stehen, als Brion Anstalten machte, ihm zu folgen, strahlte Traurigkeit aus, und große Tränen bildeten sich in seinen Augen. „Nun, ich vermute, Du willst nicht, dass ich mit Dir komme“, sagte Brion, wie er hoffte in beruhigendem Tonfall. „Aber wir treffen uns wieder. Du wirst dich irgendwo droben in diesen Hügeln aufhalten und bestimmt nicht schwer zu finden sein.“ Vjers Panik verflog, als Brion keine Anstalten machte, ihm ein zweites Mal zu folgen. Er zog sich rückwärts zwischen die Bäume zurück, dann drehte er sich um und eilte, so schnell er unter der Last der Fleischstücke konnte, davon. Als er vollständig außer Sicht war, drehte Brion sich um und marschierte in die entgegengesetzte Richtung, zurück zur 74
Ebene. Er machte einen kurzen Umweg, um die Wasserflasche aufzufüllen, dann begann er, den gleichen Pfad zurückzuverfolgen, den er am vergangenen Tag benutzt hatte. Er hatte jetzt ein festes Ziel vor Augen. Der Besuch des Schlachtfeldes konnte warten - je länger er den persönlichen Kontakt mit dem tödlichen Feind hinauszögern konnte, desto besser. Dazu würde noch genügend Zeit sein, wenn er es geschafft hatte, sich mit Vjer zu verständigen. Es bestand immerhin die Möglichkeit, auch wenn es sich bestimmt um ein schwieriges Unterfangen handelte, dass Vjer ihm soviel über den Krieg mitteilen konnte, dass er die gefährliche Reise gar nicht erst antreten musste. Der Krater war aus der offenen Ebene deutlich zu sehen, und er schlug sich dorthin durch und hielt in etwa hundert Metern Entfernung an. Dann stampfte er im Kreis herum, um das Gras flachzulegen, damit seine Signaltücher gesehen werden konnten. Es dauerte nur ein paar Minuten, bis die Stelle flach genug war, dass er die dünnen Stoffstücke ausbreiten konnte. Er benutzte Erdbrocken, die aus dem Krater herausgeschleudert worden waren, um sie an Ort und Stelle zu halten. Nachdem er das „X“ ausgelegt hatte, ließ er eine Pause eintreten und zählte langsam bis hundert. Dies sollte dem Computer des Rettungsschiffs hoch droben in der Umlaufbahn genügend Zeit geben, sein Signal zu identifizieren und sich darauf auszurichten. Als er sicher war, dass er wahrgenommen wurde, schrieb Brion ein „V“ und noch ein „X“, gefolgt von zwei „I“. Dann setzte er sich bequem hin, nippte an seiner Wasserflasche und wartete. Das Signal war eindeutig. Lande. An dieser Stelle. Schnellstens. Im Moment berechnete das Rettungsschiff wahrscheinlich seine Umlaufbahn. Zog man seine gegenwärtige Höhe in Betracht, dann dürfte das Schiff eigentlich in einer, höchsten zwei Stunden unten sein. Brion wartete einige Minuten, dann sammelte er alle Signaltücher bis auf das „X“ ein und verstaute sie. Als diese Aufgabe erledigt war, ging er etwa fünfhundert Meter weit weg und setzte sich, um zu warten. Computer nahmen alles sehr wörtlich, und das Schiff würde genau da landen, wo man es ihm befohlen hatte. Er hatte nicht vor, sich an dieser Stelle aufzuhalten. Aber je länger er dort saß und über die Lage nachdachte, desto besorgter wurde er. Diese Mission wurde plötzlich wieder sehr gefährlich. Das Rettungsschiff würde einige Zeit unten bleiben müssen, es gab keine Möglichkeit, das zu vermeiden. Und diese Stelle war so ungefähr die sicherste, die zu finden war, die am weitesten von allen Schlachtfeldern entfernte. Doppelt sicher, weil Metalldetektoren, falls sie in Betrieb waren, möglicherweise durch die Tragfläche des zerstörten Flugzeugs irregeführt werden würden. Falls die Computer solche Dinge verfolgten, würden sie diese Stelle als harmlos registriert haben. Aber all das war nur Spekulation. Ein wenig würden sie sich auch auf ihr Glück verlassen müssen. Er brauchte nur einen einzigen Ausrüstungsgegenstand. Wenn er schnell arbeitete, konnte er innerhalb von zwei Minuten an Bord gehen, finden, was er brauchte, dann wieder aussteigen und Jeannie und das Schiff auf den Weg in den Weltraum schicken. Er hoffte, dass diese Zeit ausreichen würde. Sobald das Rettungsschiff in sicherer Entfernung war, würde er die Ausrüstungsgegenstände unter der geborstenen Metalltragfläche zurücklassen und selber rasch den Rückzug antreten. Sollte die Ausstattung gegen Morgen immer noch unangetastet sein, würde er sie sich holen und sich dann auf die Suche nach Vjer machen. Als er zum ersten Mal das ferne Rumpeln von Düsen über sich hörte, war die Sonne in die Nähe des Horizonts gesunken, wo sie rötlich durch eine dünne Wolkenbank glühte. Er blickte auf und sah einen winzigen Lichtpunkt herablodern. Er war wesentlich heller als die untergehende Sonne und wuchs rasch zu einem Feuerturm, der das Rettungsschiff sicher zu Boden brachte. Es landete direkt auf dem „X“ und verbrannte es dabei völlig, und er rannte bereits darauf zu, als die Maschinen noch dabei waren auszugehen. Die Luftschleuse öffnete sich knirschend und eine biegsame Leiter rasselte herunter, gerade als er neben ihr ankam. Brion griff nach den Sprossen und begann sich rasch hoch zu hangeln, wobei er keine Zeit beim Versuch verlor, die Stiefel auf die baumelnde Leiter zu setzen. Seine Arme arbeiteten so wirkungsvoll wie Kolben, um ihn an der Außenseite des Schiffs hoch und in die Luftschleuse hinein zu ziehen. Jeannie wandte sich gerade von den Instrumenten ab, als er hinter ihr auftauchte, sie fest umarmte und sie herzhaft küsste, bevor er sie wieder losließ. „Es ist wunderbar, Dich zu sehen“, sagte er, drehte sich um und hechtete auf die Vorratsregale zu. „Es war interessant, aber einsam, ich brauche den HSP - da ist er! Wiedersehen. Bring dieses Schiff wieder in die Umlaufbahn, sobald ich weit genug weg bin.“ Er kam rutschend zum Stillstand, denn sie stand vor der Schleuse und versperrte ihm den Ausgang. Und glühte vor Zorn. „Das reicht, mein blitzartiger Geliebter. Es ist an der Zeit, dass wir ein Schwätzchen halten ...“ „Dazu ist keine Zeit. Du musst aus dem Weg, musst zurück in die Umlaufbahn, wir könnten jeden Moment angegriffen werden ...“ „Halt den Mund. Geh eine Fernbedienung holen. Ich warte unten auf dem Boden auf Dich.“ Jeannie hatte bereits eine schwere Tasche aufgehoben, sich umgedreht und angefangen, die Leiter hinunterzusteigen, während er immer noch versuchte, sich eine Antwort einfallen zu lassen. Sollte er sie zurückpfeifen, sie zum Einsteigen zwingen, falls sie sich weigerte, versuchen mit ihr zu diskutieren, sie überzeugen, dass es gefährlich war, was sie da tat? All diese Gedanken wirbelten ihm durch den Kopf, nur um der Erkenntnis Platz zu machen, dass keiner von ihnen etwas nützen würde. Auf der Erde züchteten sie wohl Eigensinn heraus, denn sobald sie einmal entschieden hatte, was zu tun war, konnte der Verlauf der Ereignisse nicht mehr verändert werden. Er beugte sich dem Unvermeidlichen, gab sogar insgeheim zu, dass es unendlich viel besser war, sie dabeizuhaben als allein zu sein ... Das dauerte zu lange! Er machte einen Satz zum Kontrollpult und riss die Fernbedienung aus ihrer Halterung; das Licht, mit dem sie Bedienungsbereitschaft anzeigte, schaltete sich automatisch ein. Er befestigte sie neben dem HLP an seinem Gürtel während er gleichzeitig in die Luftschleuse hechtete, sich kopfüber die Leiter hinabfallen ließ und die letzten paar Meter zu Boden sprang. Und schlug auf die Knöpfe am Bedienungsgerät. Er konnte die innere Luke der Schleuse zuschlagen 75
hören, während die Leiter zurück ins Schiff klapperte. Er rannte los. Jeannie hatte nicht auf ihn gewartet, da sie sein überlegenes Laufvermögen kannte. Obwohl sie rannte, so schnell sie konnte, überholte er sie rasch und legte für jeden Meter, den sie hinter sich brachte, zwei zurück. Er nahm sie im Vorbeilaufen hoch und rannte weiter, ohne auch nur im Geringsten langsamer zu werden. Als er die Düsen zünden hörte, ließ er sich zu Boden fallen, den Körper zwischen ihr und dem Feuerstoß. Legte den Arm um sie, als der Boden dröhnte und erzitterte und eine erhitzte Staubwolke sie einhüllte. Jeannie setzte sich auf, hustete und rieb sich die Augen. „Du blöder, muskelbepackter Höhlenmensch - ist Dir klar, dass Du uns mit diesem Blitzstart beinahe abgekocht hättest?“ „Eigentlich nicht“, sagte er, rollte sich grinsend auf den Rücken, legte den Kopf in die Arme und blickte auf zu der sich entfernenden Flamme des Rettungsbootes. Sie waren in Sicherheit, zumindest für den Augenblick. „Ich wusste, dass ich mit einem Spielraum von wenigstens drei Sekunden weit genug weg von der Explosion kommen konnte. Berücksichtigt man sieben Sekunden für den Schleusenmechanismus ... das habe ich gespürt!“ „Wie großartig!“ sagte Jeannie und trat ihm wieder so fest sie konnte in die Seite. Die Spitze ihres Stiefels prallte nur von seinen steinharten Muskeln ab, aber der Moment des Protests vermittelte ihr ungeheure Befriedigung. Brion grunzte überrascht, rollte sich dann auf den Bauch und sprang auf die Füße. Jeannie lächelte liebenswürdig zu ihm auf. „Also, hier sind wir, endlich allein auf diesem fremden Planeten. Was machen wir als nächstes?“ Brion fing an, zu protestieren - dann lachte er laut. Sie würde nie aufhören, ihn in Erstaunen zu versetzen. Er löste die beiden Instrumente von seinem Gürtel. „Hast Du irgendwas Metallisches an - oder ist irgendein Metall in diesem Bündel da?“ „Beides negativ. Ich habe diesen kleinen Ausflug sorgfältig vorbereitet.“ „Sehr gut. Es gibt eine Stelle, wo das Gras dicht wächst und einen Graben verbirgt, gleich dort drüben. Geh dorthin, und ich treffe mich dort mit Dir, sobald ich das hier losgeworden bin.“ Er lief mit großen Sprüngen zurück zum Krater und hüpfte hinein, worauf er die beiden Ausrüstungsgegenstände sorgsam unter das verbogene Metall der Tragfläche legte und dabei fröhlich durch die Zähne pfiff. Beinahe geschafft. Es sah so aus, als würden sie damit durchkommen. Jeannie befand sich bereits in Deckung, als er sich neben ihr in das Versteck fallen ließ. „Wäre es nicht an der Zeit, dass Du mir sagst, was eigentlich vor sich geht?“ sagte sie. „Du hättest das nicht tun sollen. Du hättest in Sicherheit auf dem Boot bleiben sollen.“ „Warum? Das Ding kann allein fliegen; wie Du gerade bewiesen hast. Und zwei Köpfe werden besser sein als einer, nun, da Du ein paar von den Eingeborenen gefunden hast. Es gibt keinen anderen Grund, warum man in aller Eile einen Heuristischen Sprach-Prozessor haben wollen sollte, oder? Jedenfalls ist die Tat nun einmal getan. Ich bin hier, unser Transportmittel befindet sich wieder in der Umlaufbahn - was tun wir also als nächstes?“ Sie hatte recht. Was geschehen war, war geschehen; Brion hatte sich dazu erzogen, immer die Realität einer Situation zu akzeptieren, die nicht zu ändern war. Er zeigte auf die baumbedeckten Hügel, die die Ebene begrenzten. „Wir bleiben hier in Deckung, bis wir sicher sind, dass wir kein militärisches Interesse erweckt haben. Dann gehen wir rauf in diese Hügel und suchen nach einem einfältigen und dreckigen Primitiven, den ich kennengelernt habe. Wenn wir Glück haben, können wir vielleicht auch noch ein paar seiner Freunde finden. Sobald er sie aufgespürt hat, sprechen wir mit Hilfe des HSP mit ihnen, um festzustellen, ob wir nicht ein paar Antworten auf all die Fragen kriegen können, die wir über diesen Planeten haben.“
8 Die Stille des Abends wurde nur vom Summen der Insekten unterbrochen, von gelegentlichen, weit entfernten Schreien der fliegenden Reptilien. Brion fühlte, wie sich der Knoten der Anspannung lockerte und dann verschwand, als er erkannte, dass sie nicht beobachtet worden waren, dass es keine Vergeltungsmaßnahmen wegen der Landung geben würde. Aber während er sich entspannte, wurde das Gefühl der Anspannung sogleich durch ein Hungergefühl ersetzt; es war zwischen den Mahlzeiten eine lange Zeit vergangen. Er grub einen der dehydrierten Verpflegungsriegel aus seiner Tasche und schälte mit einem wachsenden Gefühl des Widerwillens die Verpackung ab. „Nicht gerade eine Steak-Mahlzeit, wie?“ sagte Jeannie, als sie seinen Gesichtsausdruck sah. „Man kann von diesen Dingern ewig leben, auch wenn es kaum ein richtiges Leben ist. Und bitte, lass mich an Steaks gar nicht erst denken.“ Jeannie schwang ihr Bündel herum und öffnete die obere Lasche. 76
„Ich hab es nur erwähnt, weil ich Dir eins mitgebracht habe.“ Sie lächelte unschuldig über seinen verblüfften Gesichtsausdruck. „Das ist ein Rezept, das ich einmal in einem historischen Kochbuch gelesen habe. Es wurde zum Besuch der Rennen im Winter empfohlen, was immer das auch bedeutet haben mag.“ Sie begann Plastikhüllen von einem großen Paket abzustreifen. „Ganz einfach zu machen, übrigens. Man schneidet einen ganzen Laib Brot der Länge nach auf und legt ein dickes heißes, auf dem Rost gebratenes Steak hinein und gießt den ganzen Fleischsaft darüber bevor man es zumacht. Danach drückt man es sozusagen, damit das Brot den Saft aufnimmt und ...“ Sie hielt den abgeflachten Brotlaib hoch und Brion knurrte kehlig, als er danach griff. Er biss eine Ecke ab und kaute mit einem glückseligen Gesichtsausdruck langsam daran herum. „Jeannie, Du bist ein Wunder“, sagte er undeutlich mit vollem Mund. „Das weiß ich - und ich freue mich, dass Du es auch gemerkt hast. Nun erzähl mir von Deinem übelriechenden Eingeborenen.“ Brion sprach erst wieder, nachdem ein gutes Drittel des riesigen Sandwichs verspeist war. Als die dringlichsten Hungergefühle schwächer wurden, aß er den Rest langsamer und mit mehr Wertschätzung auf, während er erzählte. „Er ist so einfältig wie ein Kind - aber er ist kein Kind. Sein Name ist Vjer, oder jedenfalls klingt es so ähnlich. Als ich ihm zum ersten Mal begegnet bin, ist er entsetzlich erschrocken, aber sobald er mich akzeptiert hatte, ist die Angst vollständig verschwunden. Es war beinahe unglaublich, wie das vor sich ging. Als ob man einen Schalter umlegt. Aber später, als ich ihm zu folgen begann, verlor er derart die Fassung, dass er richtiggehend weinte. Ich habe ihn daraufhin allein weitergehen lassen, weil ich sicher bin, dass ich keine Probleme haben werde, ihn wiederzufinden.“ „Ist er irgendwie geistig minderbemittelt - vielleicht ein Ausgestoßener?“ „Die Möglichkeit besteht, aber ich glaube es nicht. Wenn Du ihn Dir in seiner natürlichen Umgebung ansiehst, musst Du zugeben, dass er grundsätzlich so angepasst ist, dass er überleben kann. Er hat mit Erfolg einen der Pflanzenfresser aufgespürt und getötet, und schien ganz damit zufrieden, ihn roh zu essen. Als er fortging, hat er das Fleisch mit zurück zu dem Lager oder der Siedlung genommen, wo er lebt. Aber es hat wirklich keinen Sinn, zum gegenwärtigen Zeitpunkt Theorien aufzustellen. Wir besitzen nicht genug Fakten, um eine auch nur einigermaßen brauchbare Einschätzung abzugeben. Wir werden ihn finden und seine Sprache lernen müssen, und ihn dann unsere Fragen selber beantworten lassen.“ Brion warf einen Blick auf die Sonne, die gerade hinter dem Horizont verschwand. „Diese Stelle ist so gut wie jede andere, um die Nacht zu verbringen. Wir lassen die Ausrüstung über Nacht im Krater, machen uns dann bei Morgengrauen auf den Weg.“ „Ist mir recht. Soweit es mich betrifft, hat es für einen Tag mehr als genug Aufregung gegeben.“ Sie holte einen isolierten Schlafsack aus ihrem Bündel und breitete ihn auf dem Boden aus. Für dich mag es angemessen sein, ohne Komfort zu reisen, vielleicht bist Du daran gewöhnt. Ich dagegen weiß einige der anspruchsvolleren Annehmlichkeiten schätzen - wie zum Beispiel ein warmes Bett. Ich habe außerdem ein paar Sandwiches für mein eigenes Abendessen mitgebracht. Und etwas Wein in einem biozersetzbaren Behälter. Du kannst von dem Wein etwas abhaben, wenn Du das nicht für zu dekadent hältst. „Ich nehme dankend an. Ich fange wirklich an zu glauben, dass die Menschheit tatsächlich von deinem Planeten Erde stammt.“ Sie schliefen beide gut - bis Brion plötzlich während der Nacht aufwachte. Etwas hatte ihn gestört, aber er erinnerte sich nicht, was es gewesen war. Er lag still da und sah hinauf zu den Sternen. Er hatte in der vergangenen Nacht die größeren Sternbilder registriert, daher konnte er jetzt aus ihrer Bewegung die Zeit errechnen. Es war weit nach Mitternacht, nur ein paar Stunden vor Morgengrauen. Es gab keinen Mond, Selm-Il hatte keinen, aber der Boden war ins sanfte Licht der Sterne getaucht. Dieses Sonnensystem befand sich irgendwo in der Nähe des Zentrums der Galaxis, so dass Milliarden von Sternen aus dem breiten Gürtel herableuchteten, der droben den Himmel umspannte. Was hatte ihn gestört? Die Nacht war still, so still, dass er Jeannies leisen, gleichmäßigen Atem hören konnte. Hatte er also Gefühle gespürt? Er tastete und konnte gerade noch etwas entdecken. Ganz am Rande seiner Wahrnehmung. Es war ein Mensch. Und er war von einem einzigen Gefühl beherrscht. Hass. Blinder Hass, und Wut, und die Sehnsucht nach dem Tod. Es war auch nicht eine einzelne Person, sondern es entstammte mehr als einer Quelle. War auf ihn gerichtet. Brion rollte sich langsam herum und rüttelte Jeannie wach und sein Finger legte sich sanft über ihre Lippen, als er sie blinzeln und die Augen öffnen sah. Er legte die Lippen gegen ihr Ohr und flüsterte leise. „Wir werden bald Gesellschaft haben. Pack lieber Deine Sachen zusammen und mach Dich zum Abmarsch bereit.“ Er bemerkte die plötzliche Anspannung und die Angst in ihrem Körper, als sie sich auf die Ellenbogen stützte. „Was ist los?“ „Ich bin mir noch nicht sicher. Aber ich kann sie spüren, Leute dort draußen in der Dunkelheit. Sie kommen hierher. Ich kann noch nicht sagen, wieviele es sind. Aber eins weiß ich, ich bin es, hinter dem sie her sind - und es ist sehr wenig Liebe in ihren Herzen. Warte ...“ Er konzentrierte sich auf ein einzelnes Gefühlsmuster, versuchte, diese Einzelperson unter all den anderen auszumachen. Und setzte alles Können ein, das er seit dem Tag vervollkommnet hatte, an dem er entdeckt hatte, dass er ein Empath war. Er versetzte sich willentlich in die Haut des anderen. Ja, die Identität war gewiss. Brion nickte in die Dunkelheit hinein. „Ein Rätsel gelöst. Vjer ist bei ihnen. Wenigstens wissen wir jetzt, dass er nicht allein dort draußen in den Hügeln lebt. Es muss daheim eine recht zahlreiche Bevölkerung geben, denn er bringt eine ganze Anzahl von ihnen mit, um nach mir zu suchen.“ „Ich dachte, Du hättest gesagt, er ist Dein Freund“, flüsterte Jeannie. „Das dachte ich auch. Aber das scheint sich alles geändert zu haben. Ich wüsste gerne, warum - und ich habe das Gefühl, dass wir es bald genug herausfinden werden.“ Er stand leise auf und lockerte das große Messer in der Scheide. 77
„Bleib Du nur hier außer Sichtweite, während ich sie mir vornehme.“ „Nein!“ Ihre Finger krallten sich in seinen Arm. „Du kannst nicht allein da rausgehen, in der Dunkelheit...“ „Selbstverständlich kann ich das. Bitte glaub mir, wenn ich sage, dass ich weiß, was ich tue.“ Er nahm sanft ihre Hand von seinem Arm. „Ich brauche reichlich Platz um mich herum, wenn ich auf sie treffe. Und ich will mir nicht gleichzeitig um Dich Sorgen machen müssen. Es wird alles gut.“ Dann schlüpfte er davon in die schwach erleuchtete Finsternis. Hielt sich flach am Boden und bewegte sich lautlos auf die nächtlichen Jäger zu. Kam erst zum Stehen, als er weit genug von Jeannies Versteck entfernt war. Die Gefühle, die er die ganze Zeit gespürt hatte, waren jetzt stärker. Da draußen waren mindestens ein Dutzend Einzelwesen. Vielleicht noch mehr. Er wartete, bis er ihre dunklen Gestalten sehen konnte - es schienen ungefähr Zwanzig zu sein -, bevor er auf die Füße sprang und schrie. „Vjer! Ich bin hier. Was willst Du?“ Er konnte spüren, wie ihre Bestürzung alle anderen Gefühle überschwemmte, wie bei seinem plötzlichen Erscheinen Furcht dem Hass Platz machte. Sie blieben stehen - alle, bis auf einen -, der den Angstausbruch ignorierte, ihn von dem Hass davon schwemmen ließ, der alle anderen Empfindungen verschluckt hatte. Dieser Mann drang immer noch weiter vor, unternahm etwas. Ein Speer tauchte aus der Nacht heraus auf und vergrub sich einen Meter von Brions Füßen entfernt im Boden. Die Lage wurde gefährlich. Er konnte spüren, dass die anderen gerade den ersten Schock überwanden, wieder den gleichen Hass aufwallen fühlten. Sie rückten, einer nach dem anderen, wieder vor. Brion wich ihrer stetigen Annäherung aus, zog sich zum See hin zurück, weg von der Stelle, wo Jeannie versteckt war. Sie würde in Sicherheit sein. Er machte sich keine Sorgen um seine eigene Sicherheit, da er davon überzeugt war, für sich selbst sorgen zu können, falls die Männer ihn angriffen. Besonders dann, wenn sie alle wie Vjer waren. Er konnte sie im Laufen übertreffen, falls er sie nicht im Kampf übertreffen konnte. Aber warum machten sie das alles? Er rief wieder, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. In diesem Augenblick schrie Jeannie - und im gleichen Moment spürte er, wie explosionsartig ihre Panik ausbrach. Brion warf sich in ihre Richtung. Da war ein Mann, zwei Männer, die sich vor ihm erhoben - aber er prallte mit Höchstgeschwindigkeit auf sie, wischte sie beiseite wie Insekten, wurde dabei nicht einmal langsamer. Jeannie schrie wieder, und er konnte die Leute sehen, die sie festhielten, die erhobenen Speere. Er dachte gar nicht an sein Messer, als er mit ihnen zusammenstieß. Seine Fäuste waren Waffe genug. Es entstand ein wütendes Handgemenge in der sternenerleuchteten Finsternis. Sie waren so nahe, dass Waffen nutzlos waren, ja sogar eine Gefahr für jene, die sie führten. Heisere Schmerzensschreie ertönten, als Brion einen der Männer hochhob und ihn mitten in die größte Gruppe von Angreifern hineinwarf. Und seine Fäuste warfen die drei zu Boden, die Jeannie gepackt hatten. Er zerrte sie hinter sich, um sie zu schützen, fing die wilden Schläge der Speerschäfte mit erhobenen Armen auf. Und schlug mit Fäusten zurück, die gefährlicher waren als Keulen. Die Angreifer zogen sich vor ihm zurück - und der erste Stein traf ihn seitlich am Kopf. Brion brüllte vor Schmerzen, als ihn weitere Steine trafen, bemerkte zum ersten Mal die Frauen, die den speerbewaffneten Angreifern gefolgt waren. Ihre Waffen waren abgerundete Steine, und sie warfen sie mit tödlicher Treffsicherheit. Brion hob einen der Speermänner auf, um seinen Körper als Schild zu benutzen - aber zu spät. Heftige Einschläge trafen seinen Hals und seinen Schädel, Stöße, die er nicht mehr wahrnahm, da er ohne Bewusstsein schwankte und wie ein gefällter Baum zu Boden stürzte. Das letzte, woran er sich erinnerte, waren Jeannies entsetzte Schreie und seine Unfähigkeit, durch die alles verschlingende Schwärze zu ihr durchzudringen. Danach. Verwirrung. Unterschiedliche Bewusstseinszustände. Finsternis, rotgeädert von Schmerzen. Hinundherschwingen, Schmerzen in seinen Handgelenken, seiner Hand, seinem Kopf. Bewegung. Wieder Finsternis. Einmal waren die Sterne zu sehen, schwankten unstet vor seinen Augen. Er rief heiser nach Jeannie. Antwortete sie? Er konnte sich nicht erinnern. Schmerz und Vergessen waren seine einzige Belohnung. Die Dunkelheit war aus dem Himmel gewichen und es war die Zeit grauer Dämmerung, bevor ein gewisses Maß an wachem Bewusstsein zurückkehrte. Er stellte fest, dass Jeannies Stimme nach ihm rief, während er darum kämpfte, seine verklebten Augen zu öffnen. Seine Arme und Beine waren irgendwie bewegungsunfähig gemacht; er blinzelte, bis die Schlieren sich auflösten. Seine Knöchel und Handgelenke waren mit ledernen Schnüren an einem langen Pfahl befestigt. Seine rechte Hand war blutüberströmt und pochte vor Schmerz. Er streckte sie aus, so dass er sie betrachten konnte, und grunzte verärgert. Jeannies geflüsterte Worte waren heiser vor Sorge. „Lebst Du? Kannst Du mich hören? Brion, bitte, kannst Du mich hören? Kannst Du Dich bewegen?“ Vor Schmerzen entwich seinen Lippen ein unfreiwilliges Keuchen, als er sich darum bemühte, den Kopf zu bewegen. Sein Schädel war von Schlagwunden übersät, und ein Auge ließ sich nicht vollständig öffnen. Das heile Auge klärte sich gerade soweit, dass er Jeannie ausmachen konnte, die ein paar Meter von ihm entfernt dalag, ebenso fest wie er selbst an einen zweiten Pfahl gebunden. Zunächst konnte er nur husten, als er zu sprechen versuchte, aber er schaffte es, die Worte herauszupressen. „Mir geht's ... gut... prima.“ „Prima!“ Es waren Tränen in ihrer Stimme, hinter der Aufgebrachtheit. „Du siehst absolut entsetzlich aus, als hätte man auf Dir rumgetrampelt, und blutig. Wenn dein Kopf nicht aus soliden Knochen bestünde, wärst Du inzwischen tot ... oh, Brion. Es war furchtbar. Sie haben uns wie Kadaver an Pfählen befestigt! Haben uns die ganze Nacht über getragen. Ich war sicher, sie hätten dich umgebracht.“ Er versuchte zu lächeln, konnte aber nur eine Grimasse ziehen. „Die Berichte über meinen Tod sind stark übertrieben.“ Er bewegte seine Arme und Beine, so gut er das gegen die Fesseln tun konnte. „Ich habe das Gefühl, als hätte ich mir blaue Flecke geholt - aber ich glaube nicht, dass was gebrochen ist. Wie steht's mit Dir?“ „Nichts Wichtiges, ein paar Kratzer. Du warst derjenige, auf den sie eingeschlagen haben. Es war bösartig, grau78
sam...“ „Denk jetzt nicht daran. Wir leben, und das ist wirklich das Einzige, was im Augenblick zählt. Nun erzähl mir alles, was Du auf dem Weg hierher gesehen hast.“ „Nicht besonders viel. Wir sind irgendwo in den Hügeln. Auf einer Lichtung vor einer Art natürlicher Höhle in einer steilen Bergwand. Rings um die Lichtung sind hohe Bäume. Die Frauen sind in die Höhle gegangen, als wir ankamen, sie sind immer noch dort. Aber die Männer schlafen überall um uns herum.“ „Wieviele? Welche davon wach oder auf Posten?“ „Ich kann achtzehn zählen ... nein, neunzehn... zwanzig Mann. Ich glaube, mehr sind es nicht. Falls es einen Wachtposten gibt, kann ich ihn nicht sehen. Hin und wieder wacht einer von ihnen auf und geht in den Wald, ihre Version sanitärer Einrichtungen, nehme ich an.“ „Klingt gut. Genauso undiszipliniert, wie ich es mir vorgestellt hatte. Jetzt sofort ist die beste Möglichkeit zur Flucht, während sie schlafen, bevor sie uns noch Schlimmeres antun.“ „Fliehen!“ Sie schüttelte ihre fest gebundenen Handgelenke in seine Richtung. „Du bist einmal zu oft auf den Kopf gehauen worden. Sie haben Dein großes Messer an sich genommen, wir können diese Schnüre nicht mit den Zähnen erreichen. Wie fangen wir es also an?“ „Nur einen Moment, dann bin ich soweit“, sagte er ruhig. Er schloss die Augen und begann, tief und regelmäßig zu atmen. Es war von großer Bedeutung, seine Gedanken zu ordnen, seine gesamte Aufmerksamkeit und all seine Energien zu konzentrieren. Er hatte die gleichen Atemübungen beim Gewichtheben angewandt; die jetzige Anstrengung würde etwa genauso groß sein. Sein Körper entspannte sich, und die unzähligen Schnitte und Quetschungen wurden ihm bewusst. Sie waren nicht weiter wichtig; als er seine Konzentration verstärkte, verschwanden sie, so dass er sie nicht mehr spürte. Gut. Nun konnte er spüren, wie seine Kraft sich auf einen Punkt richtete, kanalisiert wurde. Seine Augen öffneten sich langsam und er blickte hinunter auf die dicken, rohledernen Fesseln um seine Handgelenke. Die Muskeln in seinen Armen und Schultern entspannten sich. Jeannies Augen weiteten sich vor Staunen. Sie sah, wie er sich entspannte, wobei seine Muskulatur so sehr unter seinem Kommando stand, dass sogar das Fleisch auf seinem Gesicht schlaff wurde. Als sich seine Augen öffneten, hatten sie einen abwesenden Blick, starrten beinahe blicklos auf seine Handgelenke. Eine Welle der Bewegung durchlief seinen Oberkörper, und sie konnte seine Bizeps schwellen sehen, als sie sich anspannten, gegen seine zerfetzten Ärmel drückten und die Löcher vergrößerten, so dass der strapazierte Stoff riss und sich spaltete. Die rohledernen Schnüre widerstanden der Belastung und knarrten, als sie sich immer weiter dehnten. Der Anblick war beinahe unmenschlich. Sein Gesicht blieb ruhig, während sich seine Arme mit langsamer, maschinenhafter Präzision auseinanderbewegten. Es entstand ein leises, schnappendes Geräusch, als eine der Fesseln zerriss, dann eine zweite. Seine Hände waren frei. Erst als Brion das bemerkte und sich entspannte, durchlief der Schauder der Erschöpfung seinen Körper. Er ließ sich zurück auf den Boden fallen, mit geschlossenen Augen und pfeifendem Atem, und rieb mit den Fingern über die tiefen Striemen an seinen Handgelenken; er machte sich die Hände an den Stellen blutig, wo das Fleisch vom Leder bis auf den Knochen aufgeschnitten war. Dies alles dauerte nur einen Moment, während er sich bemühte, die Selbstkontrolle wiederzuerlangen. Dann hob er langsam den Kopf und sah sich um. „Sehr gut“, sagte er gelassen. „Wie Du schon sagtest, sie schlafen alle.“ Mit schlangengleichen Bewegungen glitt er über den festgestampften Boden an ihre Seite, wobei er den Pfahl hinter sich her zerrte, der immer noch an seinen Knöcheln befestigt war. Er untersuchte Jeannies Fesseln. „Wenn Du versuchst, die hier abzureißen, wirst Du meine Handgelenke gleich mit abreißen“, sagte sie und versuchte, nicht auf das langsam herablaufende Blut an seinen Handgelenken zu sehen. „Mach Dir keine Sorgen, Deine werden wesentlich leichter abgehen als meine.“ Er beugte sich vor und schloss die Zähne um die Schnüre aus Echsenhaut. Biss zu und kaute kraftvoll. Sie lösten sich in weniger als einer Minute. „Schmeckt grauenhaft“, sagte er, und spuckte einige Fasern aus. „Du musst einen guten Zahnarzt gehabt haben.“ Hinter der erzwungenen Sorglosigkeit ihrer Worte verbarg sich ein Zittern. Er streckte die Hand hinauf und strich ihr eine wirre Haarsträhne aus den Augen. „Wir werden schon bald hier raus sein, verlass Dich auf mich. Lieg nur noch einen Moment lang ruhig.“ Er war nicht so gelassen, wie er vorgab. Es herrschte jetzt volles Tageslicht und ihre Bewegungen konnten von jedem deutlich gesehen werden, der gerade wach wurde. Die nächsten paar Minuten waren entscheidend. Wenn sie die Bäume erreichten, bevor Alarm gegeben wurde, wusste er, dass sie davonkommen würden. Blau geschlagen oder nicht, er würde rennen - und man würde sie kein zweites Mal einfangen. Er trennte die Lederstreifen voneinander, die seine Knöchel umschlangen, steckte dann den Zeigefinger seiner linken Hand unter den dünnsten von ihnen. Er zerriss ohne Schwierigkeiten. Er sprengte den Rest, jeweils einen Strang auf einmal, streifte dann die Teilstücke ab und setzte sich langsam auf. Seine Jäger schliefen alle immer noch. Er befreite Jeannies Knöchel auf die gleiche Weise. „Los geht's“, flüsterte er, hob sie auf in seine Arme, stand auf und ging vorsichtig zwischen den stillen Körpern hindurch. Schnell und leise lief er, wartete darauf, dass der Alarm ausgelöst würde, hörte aber immer noch nichts. Sechs, sieben - acht Schritte, dann waren sie zwischen den Bäumen und drängten sich durchs Unterholz. „Ich bin gleich wieder da“, sagte er und setzte sie sanft ab. Sein Finger auf ihren Lippen ließ ihre entsetzte Antwort Verstummen. Dann war er fort, war wieder zurück auf die Lichtung verschwunden, und sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Es war ein Lachen. Sie konnte ihre halb hysterische Heiterkeit kaum beherrschen, als er mit einem ihrer Jäger in den Armen wieder auftauchte. Einfach nur zu fliehen genügte ihm nicht - oh, nein. Er musste auch noch einen Gefangenen erobern! Der Mann kämpfte und zappelte schwach, jedoch ohne viel Erfolg. Brion hatte ihn in aller Stille gefangen 79
genommen, indem er einfach den Mund des Mannes mit seiner riesigen Hand verschloss und ihn gleichzeitig mühelos vom Boden aufhob. Der Mann war inzwischen halb erstickt und seine Augen quollen ihm aus dem geröteten Gesicht. Als Brion seinen Griff lockerte, sog der Gefangene mit einem einzigen, zitternden Keuchen Luft in seine Lungen. Bevor er ausatmen und schreien konnte, traf ihn eine harte Faust unter dem Ohr, und er sank bewusstlos zu Boden. Brion ignorierte ihn, als er umfiel, wandte sich statt dessen Jeannie zu und half ihr auf die Beine. „Kannst Du schon wieder laufen?“ fragte er. „Torkeln wäre der richtigere Ausdruck.“ „Tu Dein Bestes. Ich helfe Dir, wenn Du es nötig hast.“ Er schwang sich in einer mühelosen Bewegung den Gefangenen über die Schulter, dann nahm er Jeannie beim Arm und führte sie zwischen den Bäumen hindurch und den Hügel hinab. Und entfernte sich mit jedem verstreichenden Augenblick immer weiter von der Siedlung. Es gab keinen Alarm. Zumindest für den Moment waren sie frei.
9 Brion gelangte zum Waldrand und blieb unter dem größten Baum dort stehen. Er blickte den grasbewachsenen Hang hinab auf die leere Ebene dahinter, und darüber hinweg auf die riesigen, blauen Wasser des Zentralsees, der sich bis zum Horizont erstreckte. Der Tag war jetzt warm, und die Sonne stand hoch am Himmel. Hinter sich konnte er hören, wie Jeannie durchs Unterholz stolperte, beinahe hinfiel, einen unterdrückten Fluch ausstieß. Er richtete seine Sinne nach hinten bis an die Grenzen seiner Fähigkeit, konnte aber immer noch keine Spur einer Verfolgung feststellen. „Gibt es irgendeinen Grund, ....... wir uns hier ....... eine Weile ausruhen können“, keuchte sie und lehnte sich neben ihn an den Baum. „Natürlich nicht. Dies ist eine gute Stelle zum Anhalten.“ Sie sank zu Boden, noch während er sprach. „Soweit ich erkennen kann, ist noch niemand hinter uns her, also sind wir hier im Moment in Sicherheit. Sobald wir dagegen draußen auf der Ebene sind, werden wir leicht zu sehen sein. Wir müssen jetzt entscheiden, was wir als nächstes tun wollen.“ „Warum setzt Du nicht erst mal Graubart ab“, sagte Jeannie und deutete auf den schlaffen Körper über Brions Schulter. „Oder hast Du vergessen, dass Du ihn getragen hast.“ Brion ließ seine Last hinab auf das Laubpolster gleiten. „Er ist nicht schwer. Sehr mager und alt, wie man sehen kann.“ „Ist das etwa der Beste, den Du finden konntest?“ „Ja. Es könnte sein, dass er eine Art Autorität darstellt, schließlich ist er, wie ich festgestellt habe, der einzige, der irgendeine Art nichtfunktionelles Schmuckstück trug.“ Brion strich das verfilzte, graue Barthaar des Mannes beiseite, um die Kette aus gebleichten Knochen zu enthüllen, die er um den Hals trug. „Möglicherweise hat er Antworten auf Fragen, die die anderen nicht kennen.“ „Willst Du damit sagen, dass Du Dir tatsächlich Zeit gelassen hast, Dich umzusehen und eine Auswahl zu treffen, als Du zurückgegangen bist, um Dir einen Gefangenen zu greifen?“ „Na klar. Es war eine einmalige Gelegenheit.“ „Eines Tages werde ich Dich verstehen - aber jetzt nicht. Ich bin durstig und hungrig und erschöpft und fühle mich, als sei jemand mit Nagelschuhen überall auf mir rumgetrampelt. Hast Du Dir eigentlich irgendeinen Gedanken um unsere Zukunft gemacht?“ „Eine ganze Menge. Es bestand sowohl die Zeit, als auch die Gelegenheit dazu, während wir unterwegs waren. Als Erstes müssen wir uns einigen sehr unangenehmen Tatsachen stellen. Es fehlt die gesamte Ausrüstung, die wir dabeihatten, außerdem unser Essen und unser Wasser, mein Messer ...“ „Und wenn dieses Funkgerät nicht nach wie vor in dem Krater versteckt ist, wo Du es hingelegt hast, können wir genauso gut gleich ein gegenseitiges Selbstmordabkommen unterzeichnen. Ich freue mich ganz und gar nicht darauf, dass diese Typen ein zweites Mal Hand an mich legen könnten ...“ Sie beugte sich vor um ihren Gefangenen aus der Nähe zu betrachten; dann rümpfte sie angewidert die Nase. „Wie furchtbar. Da wir gerade von Händen sprechen - sind das nicht menschliche Fingerknochen, die da auf Schmutzfinks Kette aufgezogen sind?“ Brion nickte. „Ich fand diese Tatsache äußerst interessant. Deshalb habe ich ihn auch mitgebracht. Obendrein habe ich großes persönliches Interesse an dieser Halskette.“ 80
Es lag ein verärgerter Tonfall in seiner Stimme, der vorher nicht da gewesen war und sie dazu veranlasste, sich die Kette noch einmal anzusehen. Gebleichte Fingerknochen, einer davon dunkler als die übrigen. Nein, nicht dunkler, anders. Sie nahm ihn genauer in Augenschein und sah, dass es sich um einen frisch abgetrennten Finger handelte, an dem noch dunkel geronnen das Blut klebte. In plötzlichem Verstehen starrte sie Brion entsetzt an. Er nickte grimmig. Und hob die rechte Hand, so dass alle vier verbliebenen Finger deutlich zu sehen waren. Jeannie keuchte. „Sie haben Dir das angetan - diese Dreckskerle! Du hast mir nichts davon gesagt ...“ „Kein Sinn, das zu tun, denn im Moment kann keiner von uns etwas daran ändern. Es ist nicht allzu schlimm, sie haben einen Riemen um den Stumpf gebunden, um die Blutung aufzuhalten. Aber ich bin ausgesprochen neugierig auf die Bedeutung dieser Handlung. Dieser Mann wird sie uns mitteilen können.“ Er erklärte mit einem Winken seiner verstümmelten Hand die Angelegenheit für erledigt. „Aber das alles liegt in der Zukunft. Bevor wir irgend etwas anderes tun, müssen wir das Rettungsschiff runterrufen. Und ich hoffe, dass Du in Bezug auf unser Funkgerät recht hast, dass es unangetastet bleibt. Bis wir dorthin kommen, haben wir keine Möglichkeit, es zu erfahren. Als Nächstes müssen wir so schnell wie möglich den Krater erreichen und das Rettungsschiff zum Landen veranlassen. Du wirst an Bord gehen und sofort abfliegen...“ „Ohne dich? Gefällt es Dir wirklich so gut an diesem widerlichen Ort?“ „Eigentlich nicht. Aber die Arbeit, die wir zu tun haben, muss hier erledigt werden. Und ich will diesen Mann nicht im Schiff haben.“ „Warum? Hast Du Angst, er könnte die Kontrolle übernehmen?“ „Ganz im Gegenteil. Ich habe den begründeten Verdacht, unterstützt durch die Gefühle, die ich bei Vjer gespürt habe, dass es eine Katastrophe wäre, einen von diesen Leuten aus seiner natürlichen Umgebung zu reißen. Ich werde mit Sicherheit nicht in Gefahr sein, bis Du wiederkommst. Während das Rettungsboot eine einzelne Umlaufbahn vollendet, wirst Du genügend Zeit haben, die Gegenstände auf einer Liste zusammenzutragen, die wir jetzt aufstellen. Im Anschluss an diese Umkreisung kannst Du mit dem wieder landen, was wir brauchen.“ „Sollte ich nicht eine Aufzeichnung von dem machen, was wir bisher entdeckt haben?“ „Das ist Punkt Eins auf unserer Liste. Nachdem Du das getan hast, musst Du die Ausrüstung zusammenstellen, die wir noch brauchen werden. Es ist leider unvermeidlich, dass einige der Gegenstände einen hohen Metallgehalt besitzen. Ich halte es nach wie vor für sehr wichtig, dass wir kein Metall am Leibe haben, wenn wir unterwegs sind. Sollte ich aber feststellen, dass die zertrümmerte Tragfläche immer noch unangetastet ist, werden wir die Gewissheit haben, dass wir ein Versteck besitzen, wo wir diese metallenen Gegenstände zurücklassen können, bis wir sie brauchen. „Gegenstände wie zum Beispiel eine Anzahl Betäubungsgranaten, ein Gewehr oder zwei?“ „Genau das, was ich im Sinn hatte. Ich habe keinerlei Verlangen, die gestrige Vorstellung noch mal zu wiederholen.“ „Meine tiefempfundene Zustimmung zu diesem Antrag.“ Sie stand mühsam auf. „Ich bin zum Abmarsch bereit, sobald Du soweit bist. Ich kriege ein ausgesprochen kitzliges Gefühl dabei, hier zu sitzen und diesen Wäldern den Rücken zuzukehren. „Du musst Dich mal testen lassen, um festzustellen, ob Du empathische Fähigkeiten hast“, sagte Brion und hievte sich den immer noch bewusstlosen Mann auf die Schulter. „Sie sind inzwischen dort hinten auf der Suche nach uns, das merke ich seit ein paar Minuten. Aber ich spüre nur Sorge und Verwirrung, also glaube ich nicht, dass sie unsere Spur gefunden haben.“ „Das sagst Du mir jetzt! Lass uns gehen.“ Sie richtete sich auf und machte sich den Hügel hinab auf den Weg. Brion verfiel in einen gemächlichen Trott, so dass er sie innerhalb weniger Schritte eingeholt und passiert hatte. „Ich gehe voraus“, teilte er ihr mit. „Sie werden uns vermutlich sehen können, sobald wir draußen auf der Ebene sind, also will ich so bald als möglich das Rettungsboot herbeirufen. „Steh hier nicht rum und rede - beweg Dich! Ich bin unmittelbar hinter Dir.“ Sie rannte, so schnell sie konnte, schaffte es aber dennoch nicht, es mit seinem Tempo aufzunehmen. Brion eilte mit raumgreifenden Sätzen voraus, und seine Laufrichtung führte ihn direkt auf den Krater zu. Jeannie blickte immer wieder über die Schulter zurück, während sie rannte, dann musste sie eine Weile langsam gehen, um zu Atem zu kommen, bevor sie wieder rennen konnte. Sie kämpfte sich eine kleine Anhöhe hinauf und als sie den höchsten Punkt erreichte, sah sie Brion weit voraus aus dem Krater klettern und er schwenkte etwas, das in der Sonne glitzerte. Die Fernbedienung war noch da! „Das Rettungsboot ist auf dem Weg runter“, sagte er, als sie auf ihn zu taumelte. „Und bis jetzt ist von irgendwelchen Verfolgern nichts zu sehen.“ „Ich war ... in meinem ganzen ... Leben ... noch nicht ... so ... müde.“ Sie stieß die Worte keuchend hervor, während sie sich zu Boden fallen ließ. Brion legte die Fernkontrolle neben sie und machte sich wieder auf den Weg zurück zum Krater. „Ruf nach mir, sobald er anfängt, sich zu rühren“, sagte er. „Ich will noch mal eine Kopie der Kennzeichnungsplakette anfertigen, die ich auf der geborstenen Tragfläche gefunden habe. Die Erste ist weg, ich hatte sie auf meine Wasserflasche eingraviert. Wenn Du im Schiff bist, dann setz das Modem ein, um diese Kopie in den Bericht aufzunehmen.“ Er ließ sich über den Kraterrand gleiten. Jeannie betrachtete die Kette um den Hals des schnarchenden Mannes und erschauerte. Was für Tiere diese Leute doch waren. Schnitten einem Mann einfach den Finger ab. Aus welchem Grund? Für sie musste es ein wichtiger Grund gewesen sein, mit ritueller Bedeutung oder so. Und Brions Hand, wie weh sie getan haben musste, aber er hatte es nicht einmal erwähnt. Er war in jeder Hinsicht ein unglaublicher Mann. Aber der Stumpf musste sofort versorgt werden, um einer Infektion vorzubeugen; ein Medizinkasten musste weit oben auf der Liste der von ihnen benötigten Gegenstände stehen. Letztendlich würde man einen neuen Finger nachwachsen lassen - aber das würde an den Schmerzen und 81
Beschwerden, die er jetzt hatte, nichts ändern. „Ich habe die Symbole so gut ich konnte auf dieses Stück Rinde kopiert“, sagte Brion, als er wieder aus dem Krater kletterte. „Kannst Du irgendwas damit anfangen?“ Sie drehte die Rinde mehrmals um, schüttelte dann verneinend den Kopf. „Das ist keine Sprache, die mir bekannt ist. Obwohl die Buchstaben irgendwie vertraut aussehen. Die Gedächtnisspeicher werden vielleicht Licht in die Sache bringen ...“ Ihr grauhaariger Gefangener schlug die Augen auf und begann zu zittern und heiser zu kreischen und versuchte gleichzeitig, ihnen davon zukrabbeln. Brion streckte den Arm aus und packte ihn, presste dann den Daumen seitlich unterhalb des Ohrs fest gegen den Hals des Mannes. Der Gefangene bäumte sich zweimal auf und war still. „Hast Du das gesehen?“ fragte Brion. „Die Art, wie Du ihn bewusstlos gequetscht hast? Allerdings. Du wirst mir diesen Trick beibringen müssen .“ „Nein, nicht das. Wo er hingesehen hat, als er zu heulen anfing. Auf die Fernbedienung.“ „Könnte es sein, dass er wusste, worum es sich handelt?“ „Das bezweifle ich stark. Aber sie hat wohl irgendeine schreckliche Bedeutung für ihn, die wir noch rausfinden müssen.“ Brion wandte den Kopf zur Seite und horchte. „Das Schiff ist auf dem Weg nach unten. Du musst jetzt die Liste der Dinge auswendig lernen, die wir brauchen werden.“ Das Rettungsboot befand sich weniger als zwei Minuten am Boden. Brion machte sich während jeder einzelnen Sekunde Sorgen. Sogar als das Schiff mit Jeannie an Bord wieder abgehoben hatte, dauerte die nagende Besorgnis an. Es war schon zweimal ungefährdet gelandet - was darauf hinwies, dass diese Stelle möglicherweise nicht dauernd unter Beobachtung stand. Doch jedes Mal, wenn es landete, wurde die Gefahr möglicher Entdeckung größer. Dennoch mussten sie in dieser Gegend bleiben, denn die Jäger waren der einzige Schlüssel zu dem tödlichen Problem dieses Planeten, den sie besaßen. Da es keine andere Wahl gab, zwang er sich, die Gefahr aus seinen Gedanken zu verbannen und sich auf den Zusammenbau des HSP zu konzentrieren. Der kleine Metallbehälter des heuristischen Sprachprozessors enthielt eine Fülle komplizierter Schaltkreise und Anordnungen. Er arbeitete mit Hilfe eines holographischen Projektors, der ein dreidimensionales Bild schuf ein Bild, das dem Augenschein nach über ihm in der Luft schwebte. Das erste Bild, das erschien, war eine schräggestellte weiße Fläche, die mit Bedienungsanweisungen bedruckt war. Brion las sie durch und tippte die Codes, die er brauchte, in die Tastatur. Die Anweisungen verschwanden und an ihrer Stelle erschien das Lehrer-Bild. Das war ein älterer, in schlichtes Grau gekleideter Mann, der mit untergeschlagenen Beinen da saß, eine Schachtel ohne Deckel vor sich auf dem Boden. Brion bediente die Tastatur, bis er den Anzug des Mannes durch eine Art Lendenschurz ersetzt und es geschafft hatte, zusätzlich die Haare des Abbilds zu verlängern. Obwohl der Gefangene viel dreckiger war, glichen Lehrer und Schüler einander sehr. Brion betrachtete das erstarrte dreidimensionale Bild und nickte. Es war gut genug. Die Berührung einer letzten Taste veranlasste das Bild, ein Stück zurückzuweichen, so dass es den Projektionsmechanismus verdeckte. Als dies geschah, sah es aus, als sei Brions Hand tief in den nackten Schenkel des Mannes getaucht. Er zog zufrieden die Hand zurück. Sobald die Aufgabe erledigt war, kam die Besorgnis zurück. Und sie würde sich nicht legen, bis das Rettungsboot gelandet und mit Jeannie an Bord sicher wieder gestartet war. Alles, worum er sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt Sorgen machen musste, waren die übrigen Angehörigen des Stamms. Es war noch nichts von ihnen zu sehen, noch konnte er ihre Anwesenheit irgendwo in der Nähe spüren. Die Sekunden rannen langsam dahin. Nichts hatte sich verändert, als das Schiff zurückkam und gelandet war. Er stand auf und winkte. „Wirf mir einfach die Ausrüstung herunter, jeweils einen Gegenstand“, rief er Jeannie zu, als sich die Luftschleuse geöffnet hatte. „Dann komm selber runter, so schnell Du kannst.“ Es war gefährlich - aber es war die schnellste Möglichkeit die Ausrüstung zu entladen. Er fing die schweren Behälter einen nach dem anderen auf, stellte sie neben sich ab, und schleppte sie dann eilig in den Krater, während Jeannie herunterkletterte, um sich zu ihm zu gesellen. Sobald sie außer Reichweite des Triebwerks waren, gab er die Kommandos ein, die es zurück in die Umlaufbahn schickten. Erst nachdem es fort war und keine Vergeltungsmaßnahmen aus dem Himmel herab erfolgt waren, konnten sie sich entspannen. Jeannie drohte den fernen Hügeln mit der Faust. „Also gut, ihr da draußen, jetzt könnt ihr wiederkommen. Kommt hier runter und versucht, uns noch mal Schwierigkeiten zu machen. Eine hübsche Überraschung werdet ihr diesmal erleben! Es wird mir ein Vergnügen sein. Keine von Euch übelriechenden Kreaturen ist einen Finger von Brions Hand wert!“ „Ich weiß die Gesinnung zu schätzen“, sagte er, während er einen Verband über den antiseptischen Schaum legte, der auf dem Stumpf des fehlenden Fingers verteilt worden war. Er sah zu Boden. „Unser Gast scheint sich wieder zu rühren.“ „Ich gehe und hole uns etwas zu essen, während Du die Maschine in Gang setzt. Du kannst ja mal feststellen, ob es möglich ist, eine Unterhaltung mit ihm anzufangen.“ Die Lehrtechnik des HSP war peinigend langsam und peinlich genau. Es war absolut erforderlich, dass die Versuchsperson ununterbrochen zur Zusammenarbeit bereit war. Dies erwies sich als schwierig, weil zunächst keine aktive Zusammenarbeit auf Seiten des Gefangenen erfolgte. Etwas, das notwendig war, damit diese Technik funktionierte. Es lag nicht daran, dass der Mann feindselig war - nur daran, dass er vor lauter Schrecken nicht klar bei Verstand war. Brion hatte gewusst, dass der Mann kurz davor stand, aufzuwachen, als er spürte, wie sich die unbewussten Gehirnströme zu verändern begannen. Als erstes kamen Besorgnis und Empfindungen von Schmerz, und sonst gar nichts, bis er die Augen aufmachte. Dann wurden sie durch schlichte und unumschränkte Angst ersetzt, die gleiche Angst, die Vjer ergriffen hatte, als er Brion zum ersten Mal sah. Aber die hier war schlimmer, weil sie endlos und ausdauernd war. Als 82
der Gefangene die Augen auf Brion richtete, versuchte er, wimmernd vor Entsetzen fortzukriechen. Brion packte ihn am Knöchel, um seine Flucht zu verhindern, aber als er das tat, wurde die Empfindung von Angst noch stärker. Der Mann stöhnte verzweifelt und entleerte unkontrolliert seine Eingeweide. Seine Augäpfel rollten nach oben, so dass nur noch das Weiße zu sehen war, als er in Ohnmacht fiel. Brion ging den Medizinkasten holen. „Willst Du was zu essen?“ fragte Jeannie, als er im Schutz des Kraters zu ihr stieß. „Jetzt noch nicht. Er verhält sich sehr unkooperativ, also werde ich ihm den Schuss Skopolamin verabreichen, den die Vorschriften für Fälle wie diesen empfehlen.“ Das leichte Stechen des subkutanen Drucksprays aus der Kapsel brachten den Mann zu Bewusstsein. Brion ließ das Gerät in seine Tasche gleiten, bevor es gesehen werden konnte. Dieses Mal breitete sich Betäubung über die Furcht des Gefangenen. Der Mann regte sich unbehaglich, wischte sich über das Gesicht, und beäugte Brion voll ängstlichem Misstrauen. Brion machte gar nichts, setzte sich nur auf den Boden und wartete. Er konnte sehen, wie der Mann das projizierte Abbild betrachtete, und spürte gleichzeitig die ersten Anzeichen der Neugier hinter der verebbenden Furcht. In den Augen des Gefangenen war das Abbild das eines Mannes in seinem eigenen Alter. Ein Mann, der über eine erstaunliche Körperbeherrschung zu verfügen schien, denn er saß da, ohne seinen Körper im mindesten zu bewegen, und atmete lediglich sehr leicht. Ohne die Computersimulation von Leben, wäre das Abbild eine Statue gewesen. Als die Neugier stärker wurde, sprach Brion leise das Stichwort. „Fang an.“ Der Gefangene sah mit einem plötzlichen Aufflackern von Furcht auf Brion - dann zurück zu dem Bild, das sich zum ersten Mal bewegt hatte. Das Abbild nickte und lächelte, dann griff es in die offene Schachtel, die vor ihm auf dem Boden stand. Er zog die Hand hervor und hielt darin etwas, das wie ein gewöhnlicher Stein aussah. „Stein“, sagte das Abbild deutlich. „Stein .. Stein.“ Jedes Mal, wenn es das Wort aussprach, nickte es und lächelte. Dann hielt es den Stein hoch und gab einen fragenden Laut von sich. Der alte Mann starrte nur hin, und sein Gehirn war voller Verwirrung. Mit unendlicher Maschinengeduld wiederholte das Abbild die Demonstration und die Frage. Es erfolgte keine positive Reaktion. Bei der dritten Wiederholung lächelte das Abbild nicht mehr. Als der alte Mann auf seine Frage nicht antwortete, wurde das Gesicht hässlich, die Lippen fletschten sich, es runzelte die Stirn und drückte damit jedes äußere Anzeichen von Aggression und Ärger aus, das die Anthropologen bisher in allen Kulturen entdeckt hatten. Der Gefangene wich zitternd und stöhnend vor Angst zurück. Bei der nächsten Wiederholung, als ihm der Stein entgegengestreckt wurde, stammelte er Prtr. Das Abbild lächelte und nickte und machte alle möglichen ermutigenden und freundschaftlichen Gesten. Der Lernprozess hatte begonnen. Brion war aus dem Sichtbereich des alten Mannes zurückgewichen, damit seine Gegenwart die Unterrichtsstunde nicht störte. Er sah zu, als das Abbild wieder und wieder Wasser von einem Behälter in einen anderen goss und dabei niemals einen Tropfen verschüttete. „Klappt das denn tatsächlich?“ fragte Jeannie. „Jedes Mal. Das Computerprogramm überprüft sich selbst. Sobald einige Wörter gespeichert sind, spielt es sie der Testperson noch einmal zur Gegenkontrolle vor. Sobald sein Vokabular wächst, verläuft der Prozess schneller. Innerhalb einer kurzen Zeitspanne wird es in der Lage sein, Fragen zu stellen, zunächst einfache, dann immer abstraktere. Wenn der alte Mann müde wird, gibt ihm die Maschine Zeit, sich auszuruhen. Dann kann sie uns alles beibringen, was sie gelernt hat.“ „Und uns drillen und unseren Akzent korrigieren, unsere Grammatik und den ganzen Rest, nehme ich an?“ „Genau das. Also, wo ist das Essen, von dem Du gesprochen hast? Ich muss ja dem Mann nicht gerade zusehen, um ihn im Auge zu behalten. Seine Gefühlsmuster werden es mich wissen lassen, wenn er irgendwas anstellt.“ Es wurde später Nachmittag, bis der Gefangene vor Erschöpfung zu schwanken begann. Brion brachte ihm etwas Wasser in einer Holzschüssel, und er schlürfte geräuschvoll daraus. „Wie heißt er?“ fragte Brion den HSP. „Die Testperson heißt Ravn. Ravn. Ravn. Ich wiederhole,.......“ „Das genügt.“ Er wandte sich ab und grinste breit. „Ravn. Willkommen bei der menschlichen Rasse.“
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10 „Die Wunde heilt ganz gut“, sagte Jeannie, die Brions Hand hielt und sie hin und her drehte, während sie den Stumpf des verloren gegangenen Fingers begutachtete. Sie verteilte antiseptische Salbe auf der Wunde, während er zusah. „Arb't klrm“, sagte er. „Falls Du >Das hat wehgetan< zu sagen versuchst, musst Du lernen, die Endlaute noch viel mehr zu verschlucken, sonst werden die grässlichen Eingeborenen dich nie verstehen.“ „Es ist eine ziemlich widerwärtige Sprache.“ „Das ist nur Dein linguistischer Isolationismus, der da aus Dir spricht, Brion. An sich kann eine Sprache gar nicht widerwärtig sein.“ Brion unterbrach sie mit erhobenem Zeigefinger, dann sagte er leise: „Sieh jetzt nicht hin, aber Ravn versucht gerade, auszureißen. Darauf habe ich gewartet. Ich werde ihm ein bisschen Vorsprung geben, bevor ich ihn mir greife. Ich möchte, dass er losrennt und das Gefühl hat, er ist uns endlich entwischt. Wenn ich ihn dann wieder einfange, dürfte er ziemlich verzweifelt sein. Vielleicht kann ich dann zu ihm durchdringen, wenn seine Gegenwehr gebrochen ist, ihn dazu überreden, dass er mit mir redet. Ich wollte es bis jetzt nicht erzwingen. Aber wenn er soviel Energie hat, glaube ich, er kann es vertragen, tüchtig durchgeschüttelt zu werden.“ „Schüttel ihn in meinem Namen noch mal extra durch. Jedes Mal, wenn er mich ansieht, kriegt er den gleichen angeekelten Gesichtsausdruck wie damals, als Du ihm das gekochte Fleisch zu essen gegeben hast.“ „Er lebt in einer stark hierarchischen Gesellschaft, das hast Du selbst gesehen.“ „Ja. Und die Frauen sind irgendwo unterhalb der untersten Schicht. Ah, da geht er hin. Er steht jetzt auf, schaut in diese Richtung.“ „Wende dich ab, als hättest Du ihn nicht gesehen. Ich möchte, dass er ein wenig Hoffnung hat, zu entkommen, bevor ich sie ihm nehme. Das dürfte eine traumatische Situation sein, die ihn mit ziemlicher Sicherheit überraschen wird.“ Ravn wusste, dass der Sprechende Alte ihn nicht verfolgen würde. Der saß immer am gleichen Platz. Und natürlich war Sie auch nicht von Bedeutung. Er fürchtete einzig und allein den großen Jäger, denn seine Körperkraft war die von zwei Männern. Dennoch musste jetzt die Gelegenheit genutzt werden, da der Jäger gerade nicht hersah. Ravn hatte gegessen und sich ausgeruht. Er war Ravn und immer noch gut auf den Beinen, da er viele Jahre lang Fleischwesen verfolgt und erlegt hatte. Er war schneller als sie gelaufen - und nun würde er schneller als der Jäger laufen. Der Jäger war dumm, schaute gar nicht herüber. Der Alte war ebenfalls dumm, denn er saß nur da und schlug nicht Alarm. Zuerst kroch er, dort ging es hin, langsam durch das Gras davon - jetzt sprang er auf, rasch! Wie der Wind, wie die Fleischwesen - jetzt würde man ihn nicht mehr fangen. Jeannie sah zu, wie der alte Mann flink über die Ebene rannte, weiter und weiter weg. „Gehst Du nicht ein Risiko ein?“ fragte sie. „Der alte Bastard hat ein ziemliches Tempo drauf. Es wäre ein Jammer, ihn jetzt zu verlieren. Es könnte zu Schwierigkeiten kommen, möglicherweise müsstest Du mit seinen Freunden kämpfen. Es könnte sein, dass sie da draußen auf ihn warten.“ „Bitte mach Dir keine Sorgen. Dort wartet niemand, dessen bin ich mir sicher.“ Brion sah dem fliehenden Mann nach, stand dann auf und reckte sich. „Sprinten ist eine gute Übung. Ich kriege nicht genug davon.“ Während sie ihn beobachtete, wusste Jeannie, dass es dumm von ihr gewesen war, sich Sorgen zu machen. Als Brion zu rennen begann, stellte sie fest, dass sie ihn noch nie mit Höchstgeschwindigkeit hatte rennen sehen. Sie hatte vergessen, dass er ein Weltmeister war, Sieger in zwanzig Sportarten - und dies musste eine davon gewesen sein. Für Ravn war es ein Schock. Vor einem Moment war er noch soweit gewesen, einen Siegesgesang anzustimmen, da er so weit und so schnell gerannt war, dass er wusste, er würde nicht mehr zu fangen sein. Als er sich umblickte und den Jäger die Verfolgung aufnehmen sah, lachte er und lief ebenfalls schneller, um den Abstand noch zu vergrößern. Aber als er wieder hinsah, hatte der Jäger den Abstand halbiert - und holte weiterhin auf. Ravn heulte verzweifelt auf und rannte los, aber er konnte nicht entkommen. Schwere Schritte dröhnten dicht hinter ihm, während die Bäume immer noch zu weit weg waren. Seine Lungen schmerzten, sein Herz drohte zu zerspringen - eine schwere Hand schlug ihm auf die Schulter, und er kreischte und fiel hin. Brion spürte kein Mitleid, als er auf den alten Mann hinab sah, der sich im Gras wälzte und jammerte. Er fühlte sein Herz nach dem Lauf kräftig schlagen. Und bei jedem Pulsschlag pochte der Stumpf seines amputierten Fingers vor Schmerzen. Eine unangenehme Erinnerung daran, dass es eben diese kriechende Kreatur gewesen war, die ihn amputiert hatte. Verärgerung durchbrach Brions Schmerzen, als er diesen Finger am Hals der dreckigen Kreatur sah, als er den Mann die Halskette aus Knochen mit Händen festhalten sah, während er vor Selbstmitleid kreischend da lag. Wie er sich daran festhielt, als würde sie ihm Kraft geben. Als er das beobachtete, wusste Brion, was er zu tun hatte. Er erinnerte sich, dass die zerlumpte Kleidung aus Echsenhaut und die groben Steinwaffen die einzigen Artefakte waren, die diese Leute zu haben schienen. Außer dieser Halskette. Sie musste von hohem Wert sein, oder aber es war eine Art Ehre, sie tragen zu dürfen. Gut! In dem Fall war 84
er es, der sie besitzen würde. Ravn jammerte noch lauter, als Brion versuchte, ihm die Halskette abzunehmen, und klammerte sich verzweifelt mit beiden Händen daran. Aber Brions Kraft konnte man nicht widerstehen. Er packte Ravns Handgelenke mit seinen riesigen Händen und drückte zu, ließ sie dadurch sofort gefühllos werden, so dass die Finger ihre Kraft verloren und sich von allein öffneten. Brion streifte Ravn die Halskette über den Kopf, legte sie sich dann gemächlich selber an. Das Gejammer des alten Mannes machte lautem Flehen Platz. „Mir! Gib mir! Ich bin Ravn, mir zum Tragen, .....“ Er bediente sich seiner eigenen Sprache, und Brion stellte fest, dass er sie ganz leicht verstehen konnte. Der heuristische Sprachprozessor hatte ganze Arbeit geleistet. Brion trat einen Schritt zurück, legte die Hand auf die Halskette und sagte in der gleichen Sprache: „Sie gehört jetzt mir. Ich bin Brion. Während ich sie trage, bin ich Ravn.“ Sollte Ravn sowohl ein Titel, als auch ein Name sein, musste das für den Mann verständlich sein. Und das war es auch. Das Geschrei verstummte, und Ravns Augen verengten sich vor Wut. „Nur ein Ravn bei dem Volk. Ich. Mir.“ Er streckte mit einer gebieterischen Geste die Hand aus. Brion nahm die Halskette wieder ab, ließ sie aber nicht los. „Ist das Deine?“ fragte er. „Mir. Gib mir. Gehört dem Ravn.“ „Was ist ein Ravn?“ „Ich bin. Ich sage Dir, gib. Du bist verwestes Fleisch, Du bist Kot, Du bist Frau...“ Brion packte ungerührt den Hals des alten Mannes mit einer Hand, verengte seinen Griff und zog gleichzeitig den Mann zu sich hoch, bis sich ihre Gesichter beinahe berührten. Er knurrte, als er zu sprechen anhob. „Du verfluchst mich. Du verfluchst Brion nicht. Der Dich im Bruchteil einer Sekunde töten könnte, indem er die Finger fester zusammendrückt - etwa so.“ Ravns Körper zappelte verzweifelt hin und her. Er konnte weder atmen, noch sprechen, und der Tod war ihm sehr nahe. Brion schüttelte ihn wie einen Lumpen, wedelte dann mit der Halskette aus Knochen vor seinem Gesicht herum. „Du wirst mir sagen, was ich wissen will. Dann wirst Du dies hier wiederkriegen. Hast Du mich verstanden? Sag ja. Sag ja!“ „Ja . . .“, keuchte Ravn. „Ja.“ Brion ließ nicht zu, dass das Gefühl des Sieges auf seinem Gesicht zu sehen war. Es lag immer noch Verärgerung in seiner Stimme, als er Ravn zu Boden fallen ließ und sich neben ihn setzte. Seine Fragen waren gebieterisch und verlangten nach einer Antwort. Ravn beantwortete sie so gut er konnte, ohne etwas zu verbergen. Als eine Menge Zeit vergangen war, wurde seine Stimme heiser und seine Worte verwirrten sich. Es war für den Anfang mehr als genug, dachte Brion. Er wollte schon die Kette zurückgeben, da bemerkte er seinen eigenen, amputierten Finger, der mitten zwischen den Knochen dort aufgezogen war. Er war ein Teil seiner selbst - und es musste diesen Leuten viel bedeutet haben, sonst hätten sie ihn nicht auf diese Weise genommen. Nun, sie würden ihn nicht wiederbekommen. Brion packte das vertrocknete Fleisch des Dings und riss es von der Halskette. „Der gehört für immer mir. Den Rest darfst Du fürs Erste haben.“ Brion schleuderte die Kette zu Boden. „Wir werden jetzt zurück zu meinem Lager gehen. Du wirst mit mir sprechen, wann immer ich es wünsche.“ Ravn streifte sich die Halskette mit zitternden Händen über den Kopf, dann stand er mühsam auf. Jegliche Auflehnung war verschwunden. Brion wusste, dass der alte Mann von nun an alles tun würde, was man ihm befahl. Sobald ihm der andere den Rücken kehrte, ließ Brion den abgetrennten Finger fallen, froh, das Ding loszuwerden. Es hatte seinen Zweck erfüllt. „Frau, wir werden essen!“ rief Brion in der Eingeborenensprache, während er seinen erschöpften Gefangenen zurück ins Lager führte. Jeannie schnaubte entrüstet über seine Worte und seinen Tonfall. „Bedeutet die Tatsache, dass Du die Chauvi-Sau raushängen lässt, etwa, dass wir mit dem alten Schmutzfink hier endlich weiterkommen?“ „Ja, meine Teure.“ Er zwinkerte, während er diese Worte brüllte. „Bitte füttere ihn ab, dann kann ich ihn ins Bett bringen, woraufhin ich Dir einige der interessanten Dinge erzählen werde, die ich erfahren habe.“ „Wenn es Dir nichts ausmacht, werden wir getrennt essen. Ich habe mich nie an seine Ernährungsweise mit verwestem, rohem Fleisch gewöhnen können.“ „Auch darüber habe ich was in Erfahrung gebracht. Lass uns ihm zu essen geben und ihn dann fesseln. Ich glaube nicht, dass er uns noch weiter Schwierigkeiten machen wird.“ Ravns lautes Schnarchen ertönte aus dem hohen Gras, in das man ihn für die Nacht gebettet hatte - mit einem geflochtenen Stück Rohleder, das seinen Fuß an einen Pfahl fesselte, der tief in den Boden getrieben war. Er würde da sein, wenn sie ihn brauchten. „Sie sind Primitive“, sagte Brion und kaute herzhaft auf der Trockennahrung herum. „Unglaublich primitiv in jeder Hinsicht, und all ihre Aktivitäten werden von strikten Tabus bestimmt. Die Männer sind Jäger und entscheiden über alle Aktivitäten.“ „Nicht zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit.“ „Zugegeben. Aber dies ist eine Gesellschaft des Alles oder Nichts, ausschließlich Schwarzweiß, ohne irgendwelche Grauschattierungen, soweit ich bis jetzt feststellen konnte. Die Männer gehen auf die Jagd, und alle essen, was sie mit zurückbringen. Roh, wie wir wissen. Irgend etwas anderes zu essen ist tabu. Gekochte Nahrung zu essen ist tabu. Den Wald zu verlassen und die Ebene zu betreten ist tabu - es sei denn zu kurzen Streifzügen, um zu jagen. Männer dürfen Waffen herstellen und sie benutzen, aber für alle anderen...“ 85
„Ich weiß. Es ist tabu. Hast Du rausgekriegt, warum sie diesen nächtlichen Überfall inszeniert haben, als sie uns gefangen haben?“ „Wieder die Sache mit dem Tabu. Sie haben uns in der Nähe des Rettungsboots gesehen - und Maschinen scheinen das größte Tabu von allen zu sein.“ „Das könnte etwas mit den Kriegsmaschinen zu tun haben.“ „Das hat es bestimmt, aber mehr konnte ich zu dem Zeitpunkt nicht aus ihm rausholen.“ „Hast Du wenigstens entdeckt, was an der Knochenkette so wichtig war?“ „Ich glaube schon. Es ist kompliziert und ich habe ein paar von den Wörtern nicht verstanden, aber es scheint folgendermaßen zu funktionieren: Jeder Mann hat eine Seele, eine Art essentielles Wesen. Frauen und Kinder nicht, wie Du sicher erraten hast. Sie sterben einfach und werden wie Tiere vergessen. Wenn aber ein Stück von einem Mann von dem Ravn behalten wird, nimmt man an, er sei immer noch am Leben und Teil des Stamms und nach wie vor der Herrschaft des Ravn unterworfen. Sie hatten vor, uns auf in ritueller Hinsicht vergnügliche Art und Weise zu töten, da wir tabu sind. Aber er hat meinen Finger behalten, weil ich so immer unter seiner Kontrolle bleiben würde.“ „Reizend. Heißt das etwa, dass sie irgendwo die Fingerknochen ihrer sämtlichen Vorfahren gelagert haben?“ „Vermutlich. Aber im Grunde unterscheidet sich diese Art Logik nicht wesentlich von der aller anderen Kulturen, die ihre Toten bestatten. In Wirklichkeit ist es sogar praktischer. Es ist erheblich einfacher, statt eines ganzen Skeletts nur einen Fingerknochen aufzubewahren. Jeannie blickte zum sternenerfüllten Himmel auf und schauderte. „Und diese Leute sind die Nachkommen kultivierter und intelligenter menschlicher Wesen. Wie konnte das nur geschehen? „Ich habe keine Ahnung. Bis jetzt.“ „Welche Verbindung besteht zwischen diesen Primitiven und der modernen Kriegführung, die wir hier zu sehen bekommen haben?“ „Auch darauf weiß ich noch keine Antwort. Aber ich habe vor, das rauszufinden. Falls Ravn es nicht weiß, oder so tut, als wüsste er es nicht, dann werden ein paar von den anderen es mir sagen. Und es könnte sein, dass sie Artefakte haben, die uns einen Anhaltspunkt geben. Also läuft alles auf die unentrinnbare Tatsache hinaus, dass wir hinauf in die Hügel gehen müssen und sie besuchen. Es selber herausfinden. Sie befinden sich seit Tausenden von Jahren auf diesem Planeten, vermutlich seit vor dem Zusammenbruch. Sie müssen in der Lage sein, uns etwas mitzuteilen.“ „Du sagst immer uns. Versuchst Du mir damit zu sagen, dass Du vorhast, noch einmal unsere Hälse drüben in ihrem Lager zu riskieren?“ „Das Risiko wird dieses Mal minimal sein.“ Er zeigte auf den Behälter mit den Waffen. „Wir gehen bewaffnet hin, und wir gehen aus freien Stücken.“
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11 Gemächlich und im Gänsemarsch durchwanderten sie die Ebene auf die bewaldeten Hügel dahinter zu. Ravn ging voraus und Brion folgte dicht hinter ihm. Jeannie taumelte weit zurück dahin, schwer bepackt mit dem in Häute eingeschlagenen Bündel auf ihrem Rücken. Sie wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß aus dem Gesicht und rief: „Bleibt doch mal stehen! Es ist längst an der Zeit, eine Pause einzulegen.“ Sie warf das Bündel auf den Boden, als sie Brion eingeholt hatte, dann sank sie mit einem dankbaren Seufzen oben drauf. „Trink etwas Wasser“, sagte Brion. „Ruh dich aus.“ „Wie nett von Dir, mir das anzubieten!“ Sie fauchte die Worte. „Außerdem großzügig, mich etwas von dem Wasser trinken zu lassen, das ich den ganzen Tag auf dem Rücken getragen habe.“ „Aber wir haben doch keine andere Wahl, oder?“ sagte er und schlug den Tonfall süßer Logik an. Sie nahm es ihm nicht ab. „Was hat dieses Wir zu bedeuten - wenn ich es bin, die das Tragen übernimmt. Ich weiß, das Argument ist narrensicher, dass Frauen in dieser verrotteten Gesellschaft sämtliche schweren Arbeiten verrichten, wie Lasttiere, dass Du Dein gesamtes Prestige opfern würdest, wenn Du irgendwas tragen würdest. Währenddessen opfere ich meine Wirbelsäule und werde ohne jeden Zweifel einen Leistenbruch mit tödlichem Ausgang erleiden - grinse gefälligst nicht so herablassend über mich, Du dreckiges Scheusal!“ „Tut mir leid. Ich wünschte, ich könnte Dir helfen. Aber wir dürften bald da sein.“ „Nicht bald genug.“ Sie entfernte die stinkende Hülle aus Echsenhaut - das Tier war gegen seinen Willen vor gerade zwei Tagen zum Abendessen für Ravn geworden - und kramte herum, bis sie die Wasserflasche fand. Sie trank ausgiebig, dann gab sie sie weiter an Brion. Er benutzte sie nur, um sich die Lippen zu benetzen. Da sie davon getrunken hatte, war das Wasser tabu für einen Jäger; sie unternahmen keinen Versuch, es Ravn auch nur anzubieten. „Wenn Du das Wasser wieder verpackst, reich mir den Behälter mit den Zündgranaten“, sagte Brion allzu beiläufig. Sie blickte verblüfft auf. „Kommen denn Probleme auf uns zu?“ fragte sie. Er nickte bedächtig. „Sie sind wohl im Wald in Deckung. Ich kann ihren Hass spüren, genau wie das letzte Mal.“ „Aber nicht ganz wie das letzte Mal!“ Sie überreichte ihm die flache Schachtel und nickte ermutigend, als er eine Handvoll von den Metallkugeln in seine Tasche gleiten ließ. „Du weißt ja nicht, wie sehr ich mich hierauf freue.“ „Wir wollen keinen von ihnen verletzen. Aber es wird höchst wirkungsvoll sein, ihnen einen großen Schrecken einzujagen. Wenn es uns gelingt, uns an der Spitze der sozialen Struktur zu etablieren, müssten sie eigentlich alle Fragen beantworten, die wir stellen könnten. Wir werden uns jetzt in Bewegung setzen, bleib aber dicht bei mir, weil sie uns mit Sicherheit von hinten auf den Leib rücken werden. Sie sind fähige Jäger, und sie sind bewaffnet, daher wollen wir kein Risiko eingehen.“ Falls Ravn den vorbereiteten Hinterhalt bemerkt hatte, zeigte er es jedenfalls nicht, trottete nur weiter im gleichen, gemächlichen Tempo vor ihnen her. Sie arbeiteten sich durch das Gebüsch, gelangten dann zwischen die höheren Bäume. Eine große Lichtung tat sich vor ihnen auf. Ihr Weg lag auf der anderen Seite. „Halte hier an“, rief Brion in der Eingeborenensprache, als sie sie zur Hälfte überquert hatten. „Gib mir Wasser zu trinken“, befahl er Jeannie. Dann fügte er leiser hinzu: „Sie sind jetzt überall um uns herum, und sie sind sehr angespannt. Ich bin sicher, sie werden jetzt jeden Moment angreifen. Lass die Hand im Bündel und in der Nähe der Gewehre, nur für den Fall ...“ Die Stille des Waldes wurde von einem gellenden, trillernden Schrei gebrochen, der über die Lichtung hallte. Gleich darauf schloss sich ihm das vielstimmige Kriegsgeschrei der Jäger an, als sie von allen Seiten hervorbrachen. Ravn rannte los, um sich ihnen zuzugesellen - aber Brion hatte ihn im nächsten Augenblick eingeholt; ein einzelner Schlag seiner Faust gegen die Schulter des Mannes ließ ihn zu Boden stürzen. Brion setzte einen Fuß auf seinen Rücken, um ihn dort festzuhalten, dann begann er die Granaten eine nach der anderen in Richtung der umgebenden Bäume zu werfen. Flammen und Krachen barsten ringsum hervor. Jeannie hatte gewusst, was kommen würde, und sich die Ohren zugehalten; dennoch fiel sie auf die Knie und schwankte unter dem Aufprall des ohrenbetäubenden Krachs. Die Schlachtenrufe verwandelten sich in Schmerzensschreie, während die Männer sich zurückzogen oder zusammenbrachen. In der darauf folgenden Stille dröhnte zornig. Brions Stimme und verfluchte sie in ihrer eigenen Sprache. „Ihr seid Dreck. Ihr seid Frauen. Ihr seid Kot! Ihr erhebt einen Speer gegen mich und ich töte Euch. Ihr seid totes Fleisch unter meinem Fuß - wie dieser Ravn, der totes Fleisch ist.“ Er verlagerte einen Teil seines beträchtlichen Gewichts auf den Mann, während er sprach und der Ravn jammerte beeindruckend. Brion hatte die Oberhand. Und er hatte die Absicht, sie zu behalten. Er spürte nichts als unmäßige Angst auf Seiten sämtlicher Jäger. Eins der Gefühlsmuster war ihm vertrauter als die anderen. „Vjer - komm hierher“, befahl er. Der Jäger erhob sich zögernd und stolperte heran. Blut rann ihm aus der Nase und er war durch die Explosionen betäubt und benebelt. Brion taxierte ihn mit strengem Blick. 87
„Wer bin ich?“ rief er. „Du bist Brrn ...“ „Lauter, ich kann dich nicht hören.“ „BRRN.“ „Was ist das für ein Stück Dreck, auf dem ich stehe?“ „Das ist der Ravn.“ „Wer bin ich dann jetzt?“ „Du musst wohl der ... Ravn über dem Ravn sein!“ Seine Augen waren weit aufgerissen, während er sprach und Brion konnte seine Ehrfurcht spüren, den beinahe anbetenden Charakter seiner Gefühle. Brion zeigte auf das Plastahlmesser, das Vjer in der Hand hatte. „Was ist das dort in Deiner Hand?“ Vjer sah das Messer an und begann zu zittern. Er ließ sich vor lauter Angst auf die Knie fallen und kroch herbei, um es Brion vor die Füße zu legen. Brion hob es auf und steckte es wieder in seine leere Scheide. „Wir werden jetzt weiterziehen“, sagte er und nahm seinen Fuß vom Rücken des Ravn. Der Titel, der ihm verliehen worden war, war von größter Bedeutung; er konnte das den Reaktionen der Männer um ihn herum entnehmen. Die Angriffslust und die Furcht wurden schwächer, während man ihn in seiner neuen Rolle akzeptierte. „Sie haben nach wie vor ihre Waffen“, sagte Jeannie und beäugte die Jäger voller Misstrauen. „Es besteht keine Notwendigkeit, sie zu entwaffnen, da ich in dieser neuen Rolle nun ein Teil ihrer Kultur bin.“ „Und was ist mit mir? Ich weiß, ich bin eine Frau, weniger als nichts. Trag Dein Bündel und halte die Klappe. Aber warte nur, bis ich Dich erst aus diesem Paradies des Mackertums raushabe, Brion Brand! Oh, wie Du mir dafür zahlen wirst ...“ Während sie zwischen den Bäumen hindurch den Hang erklommen, hielt Brion seine Sinne auf die Männer um ihn herum gerichtet. Solange sie ihn akzeptierten, war er außer Gefahr. Aber dies konnte sich von einem Augenblick zum anderen ändern, aus Gründen, die er möglicherweise nicht einmal erkannte. Falls aber sein neu erworbener Status weiterhin funktionierte, würde das der schnellste und erfolgversprechendste Weg sein, in diese Kultur einzudringen und mit den Leuten zu sprechen. Es war gefährlich. Aber jetzt war es zu spät zur Umkehr. Sobald die Aggression und der Hass ausgeräumt waren und kein Grund vorhanden war, zusammen zu bleiben, begannen sich die Jäger einer nach dem anderen zu zerstreuen. Nur eine Handvoll blieb den ganzen Weg bis zur Siedlung bei ihnen. Sie arbeiteten sich einen steilen Hügel hinauf, bis vor ihnen ein felsiger Abhang durch die Bäume zu sehen war. Er verlief schräg nach hinten und bildete eine Reihe natürlicher Höhlen. Eine kleine Gruppe Frauen arbeitete dort, kratzte mit scharfkantigen Gesteinsbrocken das Fleisch von Echsenhäuten. Sie zogen sich zurück, als sie die Fremden sahen, und wurden dabei von einer grauhaarigen Frau mit Fußtritten und Schlägen zur Eile angehalten. „Muss sich um eine weibliche Version des Ravn handein“, sagte Jeannie und sah interessiert zu. „Da Du Dich selbst als Obermacker bei den Jägern etabliert hast, werde ich das gleiche bei den Damen machen.“ Sie ließ das Bündel fallen, folgte den Frauen in Richtung Höhle und rief ihnen zu, sie sollten stehen bleiben. Sie rannten nur um so schneller, alle, bis auf die grauhaarige Frau. Sie wirbelte herum und stürzte sich auf Jeannie. „Ich töte! Du Dreck“, kreischte sie. Jeannie verlagerte das Gewicht gleichmäßig auf beide Beine und holte mit kleiner, harter Faust aus. Als ihre Gegnerin heranraste, landete sie mit aller Kraft einen Schwinger mitten in die Magengrube der Frau. Die klappte zufriedenstellend zusammen, heulte vor Schmerzen und presste die Arme auf ihr Zwerchfell. Jeannie packte sie bei den Haaren und zerrte ihr Gesicht herum. „Halt den Mund und sag mir Deinen Namen oder ich schlage Dich noch einmal.“ „Ich bin ... Oberste Frau.“ „Nicht mehr. Ich bin Oberste Frau. Du bist jetzt Alte Frau!“ Die frisch getaufte Alte Frau heulte wieder protestierend auf und versuchte gleichzeitig, Jeannies Finger gewaltsam aus ihrem Haar zu reißen. Das Geheul wurde zu einem Schmerzensschrei, als Ravn vorüberging und sie beiläufig in die Seite trat. „Du bist jetzt Alte Frau“, sagte er. Froh, jemand anderen so erniedrigt zu sehen wie sich selbst. Er ging weiter, um sich gegen die Felswand gelehnt in die Sonne zu setzen, dann brüllte er nach etwas zu essen. „Reizende Leute“, sagte Jeannie. „Produkte ihrer Kultur“, antwortete Brion und schlug ein Stück Echsenhaut um den Sender, bevor er ihn aus dem Bündel holte. „Und das System ist offenbar fürs Überleben auf diesem Planeten geeignet - sonst wären diese Leute nicht hier. Ich werde den Computer des Rettungsbootes veranlassen, einen Bericht über das, was heute passiert ist, in seinen Speicher aufzunehmen. Wir wollen lieber die Aufzeichnungen komplett und auf dem laufenden halten, nur für den Fall, dass uns etwas zustößt...“ „Mach mich bitte nicht noch niedergeschlagener, wenn's recht ist. Ich glaube daran, dass wir diesen Auftrag zu Ende bringen werden - lebend. Behalte diesen Gedanken fest in deinem Schädel. Während Du das tust, werde ich mich mit den Frauen unterhalten. Erfahren, wie diese abscheuliche Welt aus ihrer Sicht aussieht.“ „Gut. Wir brauchen zwar Informationen, aber wir wollen nicht länger hier bleiben, als wir müssen. Die meisten von ihnen haben Flöhe, hast Du das bemerkt?“ „Kaum zu übersehen. Es juckt mich schon, wenn ich sie nur ansehe. Geh nicht zu weit weg.“ „Ich bleibe hier an dieser Stelle. Ich will selber ein paar Nachforschungen anstellen. Ich werde mich mit Vjer unterhalten, weil ich zu ihm bereits eine Beziehung hergestellt habe. Viel Glück.“ Es war schon beinahe dunkel, als Jeannie aus der Höhle hervorkam und sich dabei verbissen unter dem Arm kratzte. Brion sprach gerade mit zwei Jägern, aber er schickte sie fort, als er ihren Gesichtsausdruck sah. Er hielt einen Plastikbehälter in die Höhe. „Ich habe etwas antiseptisches Spray im Medizinkasten gefunden, das sich gut als Insektenvertilgungsmittel eignet.“ 88
„Wende es bitte an! Diese Höhle ist buchstäblich ein Pestloch.“ Sie streifte rasch ihre Kleidung ab und sprühte sich den Körper ein, der mit geröteten Stichen bedeckt war. Dann wandte Brion das Spray bei ihrer Kleidung an, während sie Heilsalbe in ihre Haut massierte. Sie rief nach ihm, als sie sich wieder anzog. „Sei ein Engel und schenk mir einen großen doppelten Wodka ein. Die Flasche ist ganz unten im Bündel.“ „Ich werde Dir Gesellschaft leisten. Es war ein langer Tag für uns beide. Wie ist Deine Fragestunde verlaufen?“ „Zufriedenstellend, wenn man die Insektenstiche außer acht lässt. Voll bis zum Rand, so ist es gut, danke. Meine Güte, ist das ein wunderbares Gefühl, wenn es so runterrinnt. Die Frauen haben eine eigene Subkultur, strikt dem Rang nach geordnet. Und obendrein einen wahren Schatz an Geschichten. Es scheint zu allem, was einem einfallen könnte, einen Mythos oder einen Gedächtnisgesang zu geben. Es ist eine vollständige Geschichte in mündlicher Überlieferung. Ich werde nächstes Mal einen Recorder mitnehmen. Das wird unschätzbar wertvolles Material für die Anthropologen. Nun erzähl mir, was Du rausgefunden hast.“ „Sehr wenig. Die Jäger haben sich ohne weiteres mit mir unterhalten, aber nur darüber, wie man dieses oder jenes Tier erlegt, oder über ihre eigene große Tapferkeit bei der Jagd. Du kannst Dir das sicher gut vorstellen. Zu anderen Themen als diesen haben sie keine persönliche Meinung. Sie sind einfach wandelnde Anhäufungen von Tabus. Mies, was sie tun oder denken, wird von diesem System beherrscht.“ „Das gleiche gilt für die Frauen, wenigstens in Bezug auf ihr Alltagsieben. Aber sie neigen dazu, sich in die Welt der Mythen zu flüchten, und diese Beschäftigung scheint total außerhalb der Tabugebiete zu liegen. Obwohl ich so eine Ahnung habe, dass die Geschichten vielleicht für Männer tabu sind. Hast Du irgendwas über den Schöpfungsmythos gehört?“ Brion schüttelte den Kopf. „Nein, nichts dergleichen.“ „Er ist deshalb interessant, weil er mit einiger Wahrscheinlichkeit eine vereinfachte Version wahrer Geschichte sein könnte, etwas, an das man sich immer noch erinnert, aber nur in Form eines Mythos. Die Geschichte besagt, dass das Volk dereinst wie die Götter gelebt hat, dass sie sich über den Erdboden bewegt haben, ohne ihre Füße zu benutzen, und sogar durch die Lüfte geflogen sind, ohne Schwingen wie die Flugechsen zu besitzen. Zu jener Zeit tat das Volk unrecht, weil sie viele Dinge schätzten, die aus ckl't hergestellt waren - ist Dir dieses Wort schon mal begegnet?“ „Ja, und ich weiß, was es ist. Metall. Aus der Art, wie das Wort gebraucht wurde, habe ich seine Bedeutung erraten, aber ich musste erst einen meiner Untertanen verlieren, um festzustellen, dass meine Theorie stimmte. Ich habe ihm den Sendeempfänger gezeigt. Und der bloße Anblick hat ihn zu einem Bündel sinnloser Angst werden lassen. Er ist doch tatsächlich mit dem Kopf gegen einen Baum gerannt, als er versuchte, vor dem Ding wegzulaufen.“ „Das wird ja immer besser. Der historische Mythos lautet folgendermaßen: Das Volk der damaligen Zeit, das Metall hortete, hielt sich für Götter, daher haben die wahren Götter sie und ihr Metall zerstört, ebenso die Metallbehausungen, in denen sie lebten. Dann zwangen die Götter sie, fortzugehen und wie Tiere zu leben, bis sie reingewaschen seien. Wenn das Volk also weiterhin auf diese Art lebt, werden sie wieder rein und erhalten Zutritt zu einem chl't. Ich habe dieses Wort mit Paradies übersetzt, was vermutlich zutrifft. In der Zwischenzeit muss das Volk auf dieser Welt darben und dabei alle Tabus befolgen, die es dazu befähigen, auf geziemende Weise zu leben, damit sie eines Tages das Paradies betreten können.“ „Das ist ja kolossal!“ sagte Brion, sprang auf und ging auf und ab, vor lauter Aufregung nicht in der Lage, stillzusitzen. „Du bist erstaunlich, Du hast hervorragende Arbeit geleistet. Jede Einzelheit dessen, was Du sagst, passt - falls diese Leute genau das sind, was sie zu sein scheinen. Flüchtlinge vor einem weltweiten Zerstörungsfeldzug. Sie sind überfallen oder im Krieg besiegt worden und mussten aus ihren Städten fliehen. Sie haben zusehen müssen, wie ihre Armeen und Kriegsmaschinen zerstört wurden. Also machen sie jetzt die Götter für ihre Vernichtung verantwortlich. Das ist wesentlich einfacher, als eine Niederlage einzugestehen.“ „Eine schöne Theorie, Professor“, sagte Jeannie, leerte ihr Glas und leckte sich die Lippen. Sie goss sich noch einen ein. „Es ist nur eine Kleinigkeit nicht in Ordnung damit, soweit ich es sehe. Wo sind die siegreichen und unüberwindlichen Heere jetzt? Sämtliche Beweise, die wir besitzen, deuten darauf hin, dass dieser Krieg noch in vollem Gang ist.“ „Ja“, sagte Brion und setzte sich verdrießlich. „Daran hatte ich nicht gedacht. Demnach wissen wir jetzt nur wenig mehr als zu dem Zeitpunkt, als wir angefangen haben.“ „Verzweifle nicht. Wir wissen eine ganze Menge. Zum einen habe ich unsere Theorie von den unterirdischen Städten nachgeprüft, und alles, worauf ich gestoßen bin, Waren verständnislose Blicke. Sollte sich die Zivilisation dieser Welt unter der Erde aufhalten, dann wissen diese Leute zumindest nichts darüber.“ „Was offenbar etwa genauso viel ist, wie wir darüber wissen. Ich fange an zu glauben, dass wir in eine Sackgasse geraten sind.“ „Du vielleicht, Ravn über dem Ravn, mit deinen Jägern und Kriegern und diesem ganzen aufgeblasenen Machokram.“ Sie stieß in aller Liebenswürdigkeit auf und hielt sich lächelnd den Handrücken vor den Mund. „Wir Mädels hatten ein sinnvolleres Gespräch, wie es sich für das attraktivere und intelligentere Geschlecht gehört. Wie ich Dir sicher bereits gesagt habe, ist alles Metall tabu, und aus Metall gefertigte Maschinen sind das allergrößte Tabu - wie wir auf schmerzhafte Weise herausgefunden haben, als sie uns in der Nähe eines fliegenden Schiffs aus Metall entdeckt hatten. Versteht es sich also nicht von selber, dass der Ort des allerschlimmsten Tabus der ist, wo die Maschinen herkommen. Kannst Du mir insoweit folgen?“ „Ja, natürlich. Brauchst Du wirklich noch ein Glas Wodka?“ „Halt den Mund. Nun, wäre es nicht sehr nett, wenn wir wüssten, woher die Maschinen kommen?“ „Natürlich, aber ...“ „Komm mir nicht mit Wenn und Aber. Ich weiß es nämlich. Sie haben mir gesagt, wie ich diesen Ort finden kann. 89
Also müssen wir jetzt nichts weiter tun, als dort hin zu gehen und das Rätsel wird gelöst sein.“ Sie bewunderte seinen Gesichtsausdruck, der nur aus hängendem Unterkiefer und starr blickenden Augen bestand. Dann schloss sie ihre eigenen Augen und schlief ruhig ein.
12 Brion hatte das nahezu unwiderstehliche Verlangen, Jeannie wachzurütteln, sie zu zwingen, einige Erklärungen zu dem abzugeben, worüber sie gesprochen hatte. Er widerstand ihm. Es war ein langer und anstrengender Tag für sie gewesen; sie musste sich allein mit ihrem Durchhaltevermögen in Bewegung gehalten haben. Als er losging, um die Wodkaflasche wieder einzupacken, sah er, dass sie nur eine geringe Menge getrunken hatte. Es war die Erschöpfung, nicht der Alkohol, der sie auf der Stelle umgehauen hatte. Obwohl die Nacht wie immer warm war, breitete er den Schlafsack über sie, um jegliche Kälte abzuhalten. Was konnte sie nur gemeint haben - der Ort, wo die Maschinen herkommen? Sie musste von den Kriegsmaschinen gesprochen haben; ganz gewiss hatten sie keine friedfertige Maschinerie zu sehen bekommen, seit sie auf diesem Planeten angekommen waren. Aber wie konnte es sein, dass es einen einzigen Ort gab, aus dem alles Kriegsgerät hervorging? Doch nicht ein Ursprungsort für beide Seiten. Nein, der Gedanke war unmöglich. Wenn es wirklich einen Ort gab, von dem die Maschinen stammten, dann musste er zur einen oder zur anderen Seite gehören. Und selbst das hörte sich verrückt an. Konnten sämtliche Kriegsmaschinen der einen oder der anderen Seite tatsächlich von einem einzelnen Standort herrühren? Das konnte möglich sein, wenn sie aus unterirdischen Fabriken kamen. Das verlieh natürlich wieder der Theorie einer unterirdischen Zivilisation Glaubwürdigkeit. Möglicherweise gab es nicht nur eine, sondern zwei bewaffnete Gruppen, die beide - geschützt unter dem Erdboden blieben. Während sie ihre Armeen aussandten, um an der Oberfläche Schlachten auszutragen. Aber was für eine plausible Erklärung gab es für ein solches Vorgehen? Er schüttelte den Kopf. Er war müde, und im Moment fielen ihm zu all dem keine Lösungen ein. Dennoch musste es eine Antwort geben, die Maschinen und der Krieg waren mit Sicherheit völlig real. Brion stand da und blickte auf die primitive Siedlung um ihn herum. Sämtliche Aktivitäten hatten bei Sonnenuntergang aufgehört. Die Frauen waren in der Höhle, und die Jäger ließen sich nieder, um an ihren gewohnten Plätzen vor dem Höhleneingang zu schlafen. Er hielt Ausschau nach Ravn und entdeckte ihn, wie er abseits von den anderen dasaß und die Halskette aus Fingerknochen in den Händen hin und her drehte. Dies mochte der geeignete Zeitpunkt sein, ihn zu befragen. Gleichzeitig konnte er Jeannie im Auge behalten, um sicherzugehen, dass sie nicht gestört wurde. Ravn würde bestimmt etwas über diesen mysteriösen Ort der Maschinen wissen. Ein Gefühl der Zufriedenheit und des Schlafs breitete sich wellenförmig über die Siedlung aus; jemand, der Jeannie bedrohte, würde Angst ausstrahlen, Hass und er würde sofort entdeckt werden. Brion sah noch einmal nach ihr, sie schlief immer noch fest, dann bahnte er sich seinen Weg durch die umherliegenden Gestalten zu Ravn. „Wir werden miteinander sprechen“, sagte er. Ravn sah verblüfft hoch und presste die Halskette an sich. Das rasche Aufbranden der Überraschung wurde sogleich durch kalten Hass ersetzt. Den hier würde man im Auge behalten müssen. Immer.“ „Es ist spät. Der Ravn ist müde. Am Morgen.“ „Jetzt.“ Es lag keinerlei Wärme in Brions Stimme; er streckte die Hand aus und hielt einen Moment lang die Halskette fest, spürte im gleichen Augenblick den Angstausbruch des Mannes. „Du wirst tun, was ich verlange. Man hat mir jederzeit zu gehorchen.“ Er ließ die Halskette los und setzte sich. Ravn streifte sie sich sofort mit zitternden Händen über den Kopf. „Wer bin ich?“ sagte Brion. Ravn wandte sich ab, sah sich nach hinten um, nach allen Seiten, überall hin, nur nicht auf Brion. „Sieh mich an, Du Stück Dreck. Wer bin ich? Nenne mich beim Namen.“ Die Worte kamen mit äußerstem Widerstreben hervor, triefend vor Gehässigkeit. „Du bist... Ravn über dem Ravn.“ „Das ist wahr. Nun wirst Du auf die gleiche, wahrheitsgetreue Weise meine Fragen beantworten. Du hast schon mal Maschinen gesehen?“ Ein zögerndes Kopfnicken. „Gut. Was für Maschinen hast Du gesehen?“ „Es ist verboten, von Maschinen zu sprechen.“ 90
„Es ist nicht verboten, mit dem Ravn über dem Ravn darüber zu sprechen. Hast Du Maschinen gesehen, die durch die Luft geflogen sind? Gut, hast Du. Was haben diese Maschinen gemacht?“ „Was Maschinen immer tun. Mit lauten Geräuschen haben sie andere Maschinen getötet, dann sind sie selber getötet worden. Es ist immer so. Das ist es, was sie tun.“ „Hast Du jemals eine Maschine gesehen, die nicht andere Maschinen tötet?“ „Maschinen töten Maschinen, das ist es, was sie tun.“ Die Frage war unmöglich zu beantworten. Aus seinem Gesichtsausdruck war deutlich zu ersehen, dass er Brion für einen Dummkopf hielt, weil er sie überhaupt stellte. „Alle Maschinen töten Maschinen.“ Brion wiederholte die Worte des anderen. Dann fuhr er mit der gleichen, ruhigen Stimme fort: „Jetzt wirst Du mir sagen - wo kommen die Maschinen her?“ Das Gesagte hatte eine augenblickliche und dramatische Wirkung auf Ravn. Er zitterte am ganzen Leib, und Angst ersetzte im selben Moment all seine anderen Gefühle. „Du wirst es mir mitteilen“, sagte Brion, beugte sich vor und schlug seine beiden riesigen Fäuste zusammen; sie trafen mit einem festen Schlag aufeinander. „Sage es mir jetzt!“ Es gab kein Entkommen. In diesem Augenblick fürchtete sich Ravn mehr vor diesen Fäusten als vor dem Tabu, darüber zu sprechen. Er deutete über seine Schulter, aber das stellte Brion nicht zufrieden. Schließlich musste Ravn sprechen, und er stammelte die Worte mit einem heiseren Flüstern hervor. „Er liegt in diese Richtung. Viele Tagesmärsche. Dort ist er. Der Ort ohne Namen.“ „Du bist dort gewesen?“ „Nur ein Ravn darf diesen Ort aufsuchen. Der Alte Ravn hat ihn mir gezeigt, als ich jung war.“ „Dann wirst Du ihn mir zeigen, denn ich bin Ravn über dem Ravn. Wir werden losgehen, wenn die Sonne aufgeht.“ „Es ist verboten...“ „Es ist verboten, mir irgendwas zu verweigern.“ Er griff nach dem sich windenden Mann und schloss seine Hände um dessen knochigen Hals. „Willst Du jetzt sterben?“ Brion zwang sich, Hass in seine Stimme zu legen. Die Drohung musste echt sein: Nur durch Todesangst konnte er den Ravn unter Kontrolle halten. Als keine Antwort kam, begann er, seine Finger mit stetig wachsendem Druck zu schließen. Ravn keuchte die widerstrebenden Worte hervor. „Wir gehen los... wenn die Sonne aufgeht.“ Das war genug. Brion ließ ihn los und kehrte ohne ein weiteres Wort an Jeannies Seite zurück. Sie schlief immer noch tief und fest, schnarchte dabei leise, und er versuchte, ihrem Beispiel zu folgen. Aber der Fluss der Gefühle der Menschen um ihn herum war ihm zu deutlich bewusst, ihre heftigen Gefühlsausbrüche, während sie träumten. Und die Angst und der Hass, die zu allen Zeiten direkt unter der Oberfläche lauerten. Schließlich sah er ein, dass Schlaf unmöglich sein würde. Er legte sich hin, blickte hinauf zu den Sternen und ließ seine Wachsamkeit nach allen Seiten ausströmen. Jeannie erwachte kurz nach Morgengrauen. Er gab ihr etwas Wasser, dann erzählte er ihr, was er entdeckt hatte. Sie nickte zustimmend. „Es muss etwas dran sein. So, wie die Frauen davon gesprochen haben, schien dieser Ort sehr real für sie zu sein, nicht nur ein weiterer historischer Mythos.“ „Wir werden einfach selber hingehen müssen und uns selbst davon überzeugen. Es muss dort draußen etwas geben. Ravn hat es jedenfalls sehr widerstrebt, mich dorthin führen zu müssen. Er hat mich eine Menge Überredungskunst gekostet. Er hatte ebenso viel Angst vor, diesem Ort der Maschinen wie vor mir.“ „Glaubst Du, dass er ängstlich genug war, um wegzulaufen? Ich sehe ihn hier nirgends.“ Jeannie hatte recht. Ravn war während der Nacht verschwunden. Als Brion die Jäger weckte, waren sie über sein Verschwinden so verwirrt wie er selber. Sie machten sich beunruhigt auf die Suche und einige von ihnen erkundeten sogar die Pfade, die von der Siedlung wegführten. Aber am Ende kehrten sie alle mit negativen Ergebnissen zurück. Ravn war verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen. „Verdammt!“ sagte Brion. „Ohne ihn werden wir diesen Ort nie und nimmer finden. Ich hätte ihn fesseln sollen. Er kann inzwischen meilenweit weg sein.“ „Das glaube ich nicht“, sagte Jeannie. „Eigentlich habe ich eher das starke Gefühl, dass er viel näher ist, als Du Dir vorstellst.“ Sie schaute ausgesprochen selbstgefällig drein, während sie den Koffeinextrakt in ihre Tasse mit Wasser einrührte, dann nippte sie daran, als die Mischung zu dampfen begann. „Wärst Du wohl so freundlich, mir zu sagen, wovon Du, verdammt noch mal, sprichst!“ „Gemach, gemach. So rumzuschreien wird nur Deinen Blutdruck steigern und Dir nichts einbringen.“ Sie schlürfte geziert, während er vor Ungeduld schäumte. „Ja, so ist es besser. Während ihr Männer überall rumgestampft seid, habe ich die Frauen beobachtet. Sie fürchten sich sehr vor irgendwas - und sie bleiben alle in der Höhle, jede einzelne von ihnen.“ „Könnte er sich dort drinnen versteckt halten? Ist es denn nicht tabu für Männer, zu den Frauen hineinzugehen?“ „Für Männer ja. Für den Ravn nicht. Er hat sogar ein geheimes Lager im hinteren Teil. Soll ich mal nachsehen?“ „Nein, das ist zu gefährlich. Mein neuer Titel sollte mir eigentlich auch Zutritt verschaffen.“ Die Jäger sahen mit mäßigem Interesse zu, als er auf den Höhleneingang zumarschierte - aber die Frauen zogen sich in panischer Eile zurück. „Ich bin Ravn über dem Ravn!“ rief er, als er den Kopf einzog, um unter den überhängenden Felsvorsprung zu gelangen. Brion blinzelte drinnen im Halbdunkel, und wartete, bis seine Augen sich langsam daran gewöhnt hatten. Die Höhle war in Wirklichkeit nichts anderes als ein etwa zwanzig Meter tiefer Einschnitt im Gestein. Es ertönten Angstschreie und Schluchzen der Frauen, die sich jetzt gemeinsam mit den Kindern im Hintergrund der Höhle zusammendrängten. Sie jammerten und wichen zur Seite, als er sich ihnen näherte. Ausnahmslos zogen sich alle nach der linken Seite zurück. Interessant. Brion wandte sich nach rechts, auf einen stinkenden Haufen ungegerbter Echsenhäute zu, der in 91
einer Nische hoch aufgestapelt war. Häute, sonst nichts. Oder hatte er da eine leichte Bewegung in der Finsternis gesehen. Er kniete sich hin und tastete in der stinkenden Masse herum - dann brüllte er freudig auf. Ravn wimmerte und sabberte, als er am Knöchel heraus gezerrt, von den Häuten weggeschleppt und auf dem Boden herumgerollt wurde. Brion blickte auf ihn herab und empfand schwaches Mitleid mit dem herumkriechenden Mann. Aber nur für einen Augenblick, bis er auf das schmerzliche Pochen in seiner Hand aufmerksam wurde, wo er sich den gerade verheilenden Stumpf seines Zeigefingers am steinigen Höhlenboden aufgeschlagen hatte. Jede Spur von Sympathie verschwand daraufhin, und er versetzte Ravn einen leichten Stoß mit der Fußspitze. „Steh auf, feiges Stück Dreck. Wir gehen heute auf die große Wanderung.“ Der größte Teil des Morgens war vorbei, bevor Ravn sich zum Abmarsch bereit erklärte. Rituale mussten abgehalten, ein Armband aus Knochen aus seinem Versteck in der Höhle geholt und Nahrung gesammelt werden. Von Brion angetrieben gingen ihm schließlich die Vorwände aus, und er machte sich zögernd den Pfad hinab auf den Weg nur um plötzlich stehen zu bleiben, als er sah, dass Jeannie ihnen folgte. Er fuchtelte erregt mit den Armen. „Keine Frauen! Frauen sind nicht zugelassen. Nur Ravn kann hingehen. Keine Jäger, keine Schmutzfrauen!“ „Diese Frau kommt nur ein Stück Wegs mit uns, um unser Essen für uns zu tragen. Sie wird nicht zu dem Ort ohne Namen gehen. Sie wird lange davor zurückgeschickt. Also, zeig uns den Weg.“ Schlurfend und sich mit allergrößtem Widerstreben vorwärts bewegend, machte Ravn sich wieder den Hügel hinab auf den Weg. Brion und Jeannie folgten ihm auf dem Pfad zwischen den Bäumen, bis sie weit genug außer Sichtweite des Lagers waren. Dann hielt Brion an, nahm Jeannie das schwere Bündel ab und schnallte es sich selbst auf den Rücken. Sie rieb sich ihre schmerzenden Muskeln. „Nur Schmutzfrau tragen Bündel. Wie kommt's, dass großer Jäger großes Bündel tragen? Das sehr schlimm für Tabu.“ „Willst Du es wiederhaben?“ „Niemals! Aber wird der dreckige alte Ravn denn nicht protestieren und uns Schwierigkeiten machen?“ „Er kann mich gar nicht mehr hassen, als er es jetzt schon tut. Und ich kann es mit allen Schwierigkeiten aufnehmen, die er sich ausdenken könnte. Jedes mal, wenn er mir leid tut, zwickt mich mein Fingerstumpf, und mir vergeht plötzlich jedes Mitgefühl. Sag mir Bescheid, wenn Du müde wirst, und wir legen eine Pause ein.“ „Ich kann den ganzen Tag marschieren - solange jemand anderes das Gepäck trägt.“ Ihr Kurs führte sie zunächst gen Westen, am Rand der Ebene entlang. Gegen Nachmittag begannen die Vorhügel am Ufer des Zentralsees entlang einen Bogen Richtung Norden zu machen, und sie folgten dieser natürlichen Richtungsänderung der Landschaft. Brion gab vor Einbruch der Dunkelheit den Befehl zum Anhalten, ermüdet von der ganztägigen Wanderung im Anschluss an eine schlaflose Nacht. Wie er es schon einmal getan hatte, fesselte er Ravn an einen Pfahl, damit er sich nicht etwa auf und davon machte, wenn sie gerade nicht hinsahen. Nachdem der Feind gut festgebunden war, genoss Brion einen tiefen und traumlosen Schlaf und erwachte am Morgen gut erholt für die Wanderung. So drangen sie drei Tage lang immer weiter vor, indem sie durch den dünnen Bewuchs des Vorhügellandes marschierten, den Wald ganz in der Nähe. Sie wagten sich nur nach Einbruch der Dämmerung hinaus, um ihre Wasserflaschen aufzufüllen, wenn sie im Verlauf des Tages keine Bäche überquert hatten. Ravn ergriff nur einmal das Wort, brüllte eine Warnung, als er in der Ferne das Geräusch von Maschinen hörte. Sie lagen im Dickicht verborgen und beobachteten die Kondensstreifen unsichtbarer Flugzeuge über sich. Die Flieger zogen von Norden kommend weiße Linien quer über den Horizont. Falls das ein Hinweis war, dann führte ihr Marsch sie jedenfalls in die richtige Richtung. Ravn hatte schreckliche Angst vor den Flugzeugen und lag zitternd am Boden. „Wir sind dicht daran, viel zu dicht“, betonte er. „Wir müssen umkehren.“ Nur mit Mühe zwang Brion ihn zum Weitergehen. Und er ging auch nicht viel weiter. Weniger als eine Stunde später hielt er an und setzte sich unter einen Baum. „Was ist denn jetzt los?“ fragte Brion. „Wir müssen bis zur Dunkelheit warten und dann zum See hinuntergehen, um diesen Ort zu umgehen.“ Er deutete auf die Anhöhe vor ihnen. „Wir gehen sofort weiter“, befahl Brion. „Wir haben noch reichlich Tageslicht übrig.“ „Wir können nicht. Vor uns befindet sich ein Heiliger Ort. Wir können nicht dorthin gehen. Wir müssen ihn umgehen. Nur in der Nacht ist es ungefährlich, am See entlang zu gehen.“ „Ein heiliger Ort? Das hört sich gut an. Wir werden ihn uns ansehen...“ „Nein! Es ist verboten! Du kannst nicht!“ Brion spürte den Ausfluss der Gefühle, die Ravn überkamen, Angst, die größer war als alles, was ihm bisher untergekommen war sogar größer als seine Angst vor Brion. Er kreischte, als er mit erhobenem Messer angriff. Brion kam dem ausholenden Arm entgegen, blockierte mit dem Arm den herabzischenden Stoß und fing Ravns Handgelenk ab. Er packte seinen Hals mit der anderen Hand und drückte fest zu, bis der zappelnde Körper erschlaffte. „Er wird lange Zeit bewusstlos sein - aber ich will ihn lieber festbinden, für den Fall, dass wir aufgehalten werden.“ „Du meinst, während wir uns den Heiligen Ort ansehen?“ „Nein - während ich ihn mir ansehe. Du bleibst bei ihm. Seine Furcht war echt. Was immer auch dort droben sein mag, es ist gefährlich.“ Jeannie schnaubte entrüstet. „Was ist eigentlich nicht gefährlich auf diesem Planeten? Wir gehen zusammen hin. Richtig?“ Brion machte den Mund auf, um zu widersprechen - dann schloss er ihn wieder und nickte zögernd. Dies war eine Auseinandersetzung, von der er wusste, dass er sie verloren hatte, noch bevor sie begann. „Bleib dicht bei mir. Wir haben keine Ahnung, was hinter dieser Anhöhe sein könnte.“ 92
Sie gingen langsam zwischen den Bäumen hindurch nach oben, dann blieben sie am Fuß eines grasbewachsenen Hangs stehen. Er reichte bis zum höchsten Punkt des Hügelkamms in wenigen Metern Entfernung. Brion beugte sich zu ihr und flüsterte: „Bitte bleib hier, bis ich nachgesehen habe, was uns erwartet. Ich verspreche Dir, dass Du mir nachkommen kannst, sobald es sich als ungefährlich erweist. In Ordnung?“ Sie nickte zustimmend und ließ sich im Schutz eines großen Baumes niedersinken. Brion legte die letzten Meter kriechend zurück - Zentimeter um Zentimeter. Am höchsten Punkt hielt er inne, dann hob er den Kopf mit unendlicher Vorsicht. Sah sich um, hob dann den Kopf noch höher und sah auf der anderen Seite hinunter. Dann stand er auf, winkte und rief Jeannie zu: „Komm hier herauf - es ist alles in Ordnung. Komm nur und sieh Dir an, was wir entdeckt haben.“
13 Jeannie kletterte voller Neugier den Abhang hinauf. Was mochte es nur sein? Ravn hatte eine Todesangst vor irgend etwas dort oben gehabt - dagegen stand Brion oben auf dem Hügel, rief nach ihr und winkte. Er bückte sich, reichte ihr die Hand und half ihr die letzten paar Zentimeter hinauf. „Sieh nur“, sagte er und deutete mit dem Finger. Ruinen, die uralten Überbleibsel irgendwelcher Gebäude. Jeannie schüttelte den Kopf. „Ist das etwa der Heilige Ort? Bloß ein paar zerfallende Ruinen. Daran ist mit Sicherheit nichts Furchterregendes.“ „In unseren Augen. Für die Einheimischen stellt dies hier sicher etwas sehr Wichtiges dar. Sie mögen zwar inzwischen zerstört sein, aber dies sind die ersten festen Gebäude irgendwelcher Art, die wir bisher auf diesem Planeten gesehen haben. Ich denke, man kann sie sich getrost einmal aus der Nähe ansehen.“ Es gab bestimmt nichts zwischen den zusammengestürzten Mauern, was eine Bedrohung irgendwelcher Art darstellen konnte, die zerfallenen Gebäude mussten Jahrhunderte alt sein. Einige der Bauten waren aus Stahl gewesen, aber der war seit langem weggerostet und hatte nur rötliche Spuren im Boden hinterlassen. Die größeren Gebäude jedoch, riesige, quadratische Gebilde, waren aus gepresstem Lehm errichtet und mit Keramik verkleidet gewesen. Dort, wo die Kacheln zerbrochen waren, war der Lehmstaub fortgewaschen, doch es war genug davon intakt geblieben, so dass an vielen Stellen noch festes Mauerwerk stand. Brion kletterte hinauf, um sich eine der verbliebenen Mauern aus der Nähe anzusehen und nach irgendwelchen Hinweisen auf den ursprünglichen Zweck dieser Gebäude zu suchen, soweit noch welche übrig waren. Er versetzte dem bröckelnden Staub einen Fußtritt und zeigte auf eine Reihe von Löchern in der Außenwand. „Würdest Du es für weit hergeholt halten, anzunehmen, dass diese Häuser eines schönen Tages durch. Explosionen zerstört worden sind? Dies hier könnten die Überreste von Einschlagstellen sein und diese Pockennarben in den Kacheln könnten durch Splitter entstanden sein.“ Jeannie nickte zustimmend. „Mehr als wahrscheinlich, wenn Du Dir die Mühe machst, daran zu denken, was nach wie vor auf diesem Planeten vorgeht. Aber was könnte das hier ursprünglich gewesen sein? Dieser Ort ist zu klein, um eine Stadt gewesen sein zu können, andererseits sind diese Gebäude so groß.“ „Die Maschinen sind schon lange verschwunden - aber ich vermute doch stark, dass das eine Art Bergwerk gewesen sein könnte. Diese Hügel da drüben sind zu regelmäßig, um etwas anderes als Abraumhalden aus einer Art Grube zu sein. Dies könnten die Nebengebäude und Büros des Bergwerks gewesen sein, wobei die größeren Bauten zu Lagerzwecken benutzt wurden. Alles durch Bomben zerstört. Außerdem alle Leute umgekommen...“ „Nein! Nicht alle. Ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass es sich bei unseren Eingeborenen um die Nachkommen dieser Leute handelt? Der wenigen Überlebenden? Warum sonst sollten sie eine zerstörte Grube einen Heiligen Ort nennen?“ „Das wäre eine Möglichkeit, aber wir sind nicht in der Lage, das eine oder das andere einwandfrei festzustellen. Es 93
könnte ebenso sein, dass sie diese Ruinen nur gefunden haben, ohne irgend etwas darüber zu wissen, und sie sie wegen ihrer Größe zum Heiligtum gemacht haben. Vielleicht kann Ravn es uns sagen.“ „Ich bezweifle es. Und findest Du nicht, dass es an der Zeit ist, zurückzugehen und nachzusehen, ob er schon wieder zu sich gekommen ist?“ „Ja, wir haben hier alles Notwendige gesehen. Falls er immer noch weggetreten ist, besteht keine Veranlassung, ihn wissen zu lassen, dass wir hier gewesen sind. Wir brauchen immer noch seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit.“ Ravn war wach und glotzte vor sich hin - und weigerte sich, weiterzugehen, bis es dunkel wurde. Er wusste, wo sie gewesen waren, die düstere Flut seines Hasses machte das deutlich, aber er war machtlos, etwas dagegen zu unternehmen. Er saß bis in die Dämmerung hinein regungslos da, dann stand er ohne ein Wort auf und machte sich den Hügel hinab auf den Weg zur Ebene. Sie konnten ihm nur folgen. Die halbe Nacht war vergangen, ehe sie ihren großen Umweg um den Heiligen Ort herum vollendet hatten und sich wieder in den Vorhügeln befanden. Sie schliefen die verbleibenden Stunden bis zum Morgengrauen, dann eilten sie weiter. Es war früh am Morgen des vierten Tages, als sie gerade an einem Bach anhielten, der zum See hinunterführte, um ihre Wasserflaschen wieder aufzufüllen. Brion blieb plötzlich stehen und blickte auf, die Flasche erst zur Hälfte gefüllt. Jeannie bemerkte den Vorgang und wollte gerade etwas sagen - aber er hob die Hand und brachte sie mit einem Winken zum Schweigen. „Einen Augenblick. Sieh Dich nicht um oder mach sonstwie auf Dich aufmerksam. Wir sind nicht mehr allein. Vor uns sind irgendwelche Leute, sie müssen sich zwischen den Bäumen dort aufhalten, direkt oberhalb des grasbewachsenen Hangs. „Sind sie friedlich?“ „Auf diesem Planeten? Im Gegenteil. Ich kann mir nur einen einzigen Grund denken, warum sie sich so neben unserem Pfad verstecken sollten. Sie liegen auf der Lauer und warten auf uns.“ „Was machen wir?“ „Nichts, außer darauf zu warten, dass sie sich zeigen und uns ihre Absichten kundtun. Sollte es zu Schwierigkeiten kommen, können wir uns wesentlich besser verteidigen, wenn wir uns ihnen hier im offenen Gelände stellen ...“ Er stieß sie plötzlich zur Seite, als etwas Dunkles in hohem Bogen aus den Bäumen geflogen kam. Es war ein langer Speer, der vor ihnen auf den Boden prallte, beinahe direkt zu Ravns Füßen. Er quietschte vor Angst. „Nun, ich denke, das erledigt die Frage nach ihren Absichten.“ Jeannie deutete auf die Gestalten, die soeben aus dem Schutz der Bäume herausglitten. „Sie sehen genau wie Ravns Leute aus. Und wir wissen inzwischen, wie die sind. Ich weiß, ich sollte Dir keine Ratschläge erteilen, aber wie wär's, wenn Du was Gewalttätiges unternehmen würdest, bevor sie noch näher rankommen? Sie versuchte, ihre Worte beiläufig klingen zu lassen, konnte das Zittern aus ihrer Stimme aber nicht verbannen. Der Anblick des langsamen Vordringens der mit Speeren bewaffneten Männer machte ihr Angst. Die Gewalttätigkeiten hatten nicht aufgehört, seit sie auf diesem Planeten gelandet waren. „Bleib hinter diesem Baum, wo sie dich nicht erreichen können“, rief Brion ihr zu, während er sich bückte, um die Schachtel mit den Zündgranaten auszupacken. Die Angreifer waren nähergekommen, befanden sich jetzt am oberen Rand der Anhöhe, und sie schwenkten ihre Speere und riefen Verwünschungen. Brion machte eine der Granaten scharf und wartete darauf, dass sie noch näher kommen würden. Für den Augenblick stand es unentschieden - und genau da begann Ravn zu brüllen. „Ich bin der Ravn! Ich komme, um Euch zu helfen!“ Er sprang immer noch rufend nach vorn in den flachen Wasserlauf hinein und planschte hindurch. Brion schickte sich an, loszulaufen - dann zog er sich zurück. Es war zu spät, ihn jetzt noch aufzuhalten. Ravn war bereits auf dem Hang, wedelte mit den Armen und brüllte. „Sie sind zu zweit, hinter mir, und verstecken sich, tötet sie, ich werde helfen. Sie haben Metall berührt, sie haben Maschinen! Ich habe sie gesehen. Sie müssen vernichtet werden!“ Seine Worte brachten die Speermänner in Bewegung, und ihre Stimmen wurden so laut wie die seine. Sie konnten seine Halskette sehen und das Armband, sie wussten, dass er ein Ravn war, sie würden gehorchen... Flammen und Rauch quollen plötzlich aus dem Abhang hervor, und es hagelte Metallsplitter durch das Geäst und in die Bäume. Ravn verlor das Gleichgewicht, wurde zerfetzt, zur Seite geschleudert. Das Geräusch der Explosion brach krachend über sie herein, und in der Stille, die darauf folgte, erklang gellend das Wehgeschrei der fliehenden Jäger. Gerade als Brion sich zu Boden fallen ließ und dabei Jeannie mit herabzog, riss eine zweite Explosion zerbrochene Zweige und Stücke von Baumstämmen oben aus dem Wald. Diesmal bemerkte Brion den Widerhall einer Explosion von der Ebene hinter ihnen her, drehte sich um und sah, dass neben dem Wasserlauf ein Panzer aufgefahren war. Sein langes, auf sie gerichtetes Geschützrohr verschwand plötzlich hinter einer Wolke aus flammendurchsetztem Rauch. Die dritte Granate schlug noch weiter oben zwischen den Bäumen ein, wo die Männer verschwunden waren. So plötzlich, wie es eingesetzt hatte, wurde das Feuer wieder eingestellt. Der aufgerissene Hang war leer bis auf den zusammengesackten Leichnam. Die Jäger waren fort. Ohne ein sichtbares Ziel vor dem Visier ließ der Schütze das Rohr hin und her schwenken - dann wälzte sich der Panzer mit drehendem Geschützturm davon. Staub wirbelte vom Laufwerk auf, als der Panzer Fahrt aufnahm. „Beweg Dich nicht, ehe er außer Sicht ist“, sagte Brion. „Wir wissen nicht, was er für Detektoren an Bord hat. Ich habe keine Ahnung, wer dieses Ding bemannt, aber jedenfalls scheinen sie eindeutig nichts für die Eingeborenen übrig zu haben.“ „Ob das die gleichen Leute sein könnten, ihre Nachkommen, meine ich, die das von uns entdeckte Bergwerk zerstört haben?“ „Möglich ist es ... warte, sieh nur!“ Hoch droben glitzerte die Sonne auf silbrigen Tragflächen, die im Sturzflug herunterkamen. Im einen Moment 94
waren die zwei Flugzeuge winzige Punkte, im nächsten wuchsen sie zu pfeilartigen Formen heran, die schneller als der Schall herabstießen. Sie kamen hintereinander herab und steuerten den einzelnen Panzer an. Der Panzerschütze musste sie wohl ebenfalls entdeckt haben, denn der Tank wirbelte auf dem Laufwerk herum, doch es war zu spät. Dunkle Punkte lösten sich von den Flugzeugen, während sie selbst sich in steilen Kurven wieder emporschwangen. Explosionen nahmen Brion und Jeannie die Sicht auf den Panzer, während das Kreischen der Düsen ihre Ohren peinigte. Stille entstand, während Rauch und Staub langsam forttrieben und die geborstenen, qualmenden Trümmer des Panzers zum Vorschein kommen ließen. Brion legten den Arm um Jeannie, half ihr auf die Beine und spürte dabei das Zittern ihres Körpers. „Es ist alles gut, jetzt ist es vorbei. Wir sind unversehrt.“ „Es ist unmöglich. Ich halte es hier nicht mehr aus. Nichts als Gewalt und Tod und Zerstörung...“ Ihre Stimme brach; er hielt den Arm um sie geschlungen. „Wir wussten das, bevor wir hergekommen sind. Wir hatten die Wahl. Wir können jetzt nichts weiter tun, als unsere Arbeit zu erledigen. Zu tun, was getan werden muss ...“ Sie schob seinen Arm weg. „Du bist ein scheinheiliges Miststück. Gefühllos und lieblos - mit soviel menschlichen Regungen wie ein Stück Holz. Fass mich nicht an.“ Er folgte ihrem Wunsch im Bewusstsein, dass dies alles war, was er im Moment tun konnte. Er war auf Stress trainiert, sein Planet war rauh und unwirtlich, während Jeannie aus einer überfüllten und überzivilisierten Welt kam. Sie war gezwungen gewesen, sich allzu rasch allzu weit vorzuwagen. Jetzt brauchte sie Zeit sich zu erholen. „Unter den Bäumen waren sie außer Gefahr, daher war das Beste, was sie im Moment tun konnten, im Verborgenen zu bleiben, bis sie absolut sicher waren, dass der plötzlich ausgebrochene und tödliche Konflikt endgültig vorbei war. Er öffnete die Packtasche und suchte den Wodka hervor. Er goss eine Tasse voll ein und brachte sie zu ihr hinüber. Sie nahm sie wortlos mit angestrengtem, blassem Gesicht entgegen und nippte daran. Brion ging an ihr vorbei und sah hinaus auf die Ebene. Sie lag leer und still da, bis auf die rauchenden Trümmer des Panzers. „Was unternehmen wir als Nächstes?“ fragte sie und gesellte sich zu ihm. „Das Schiff kommen lassen. Dich in Sicherheit bringen.“ „Ist es denn klug, das Schiff hier landen zu lassen?“ „Nein. Aber wir haben keine andere Wahl. Ich kann Dich nicht länger diesen Bedingungen aussetzen.“ Jeannie kramte einen kleinen Plastikkamm aus ihrer Tasche und zerrte damit an den schlimm verfilzten Strähnen ihres Haars. „Es ist ein bisschen spät, den Rückweg anzutreten. Es gefällt mir zwar nicht - aber ich erinnere mich wohl, dass ich mich freiwillig gemeldet habe. Trotz deiner Proteste. Ich habe mir dieses Bett selbst bereitet, also täte ich gut daran, zu lernen, wie man drin liegt.“ „Du musst nicht.“ „Doch. Ich muss. Ich habe das falsche Geschlecht für diesen ganzen Macho- und Großer-Starker-Mann-Kram, aber ich habe immer noch meinen Stolz. Wenn Du Dir die Mühe machst, einmal darüber nachzudenken, dann ist nach diesem letzten Planeten, auf dem wir gewesen sind, der hier der reinste Picknickplatz. Ist es nicht Zeit, weiterzugehen?“ Brion merkte, dass es nichts gab, was er hätte sagen können. Schweigen war jetzt im Grunde die einzig mögliche Antwort. Sie wusste, was sie tat, wusste, wie sie sich fühlte und welches Risiko sie einging. Es mochte angehen, dass er die ganzen Muskeln besaß - aber er erkannte plötzlich, dass ihre Entschlossenheit so groß war wie die seine. Oder noch größer. Sie würde dafür sorgen, dass die Arbeit erledigt wurde. „Ich möchte mir den Panzer genauer ansehen“, sagte er später, nachdem die Flammen erloschen waren und der Staub sich längst gelegt hatte. Sie nickte. „Natürlich. Dort wird es Aufzeichnungen geben, Fetzen von Kleidung, Kennzeichen, irgendwas. Es wird langsam Zeit, dass wir was anderes tun, als uns nur unter die Eingeborenen zu mischen. Wann sollen wir hingehen?“ Er schüttelte den Kopf. „Diesmal gibt es kein >Wir<. Einer von uns wird dort hinausgehen, der andere wird mit dem Sender hier bleiben müssen, um einen Bericht abzugeben. Ich halte es für das Beste, wenn Du beim Sender bleibst. Ich nehme die Holokamera mit und beeile mich, nur rein und gleich wieder heraus. Ich stelle sie auf Automatik, und sie wird in weniger als fünfzehn Sekunden eine Spule mit hundert Aufnahmen verschießen.“ „Ich denke, ich werde mich nicht mit Dir streiten. Ich weiß, dass Du die Erkundung schneller und besser durchführen kannst, als ich es je könnte. Wäre es angebracht, noch zu warten - oder gehst Du jetzt gleich?“ Brion blickte zum Himmel auf und nickte. „Jetzt, denke ich. Der hier ansässige Stamm ist fürs erste verscheucht, also werden sie uns keine Schwierigkeiten machen. Und ich brauche Licht, also kann ich nicht warten, bis es dunkel ist. Es sind keine anderen Panzer in Sicht - und die Flugzeuge sind ein unbekannter Faktor. Ich möchte so schnell ich kann dort raus und wieder zurück kommen. Es dürfte eigentlich nicht lange dauern.“ Im gleichen Augenblick war er schon fort, rannte in vollem Tempo, steuerte direkt auf das Wrack zu. Es war an der Zeit, einen einleitenden Bericht abzugeben. Jeannie holte den Sender hervor und schilderte die Ereignisse des Tages so verständlich, wie sie konnte, dann schaltete sie ab. Sie sah, dass Brion sich neben dem Panzer flach auf den Boden geworfen hatte und reglos dalag. Dann bewegte er sich und verschwand hinter der Maschine aus dem Blickfeld. Es war nicht leicht, abzuwarten. Auch wenn sie wusste, dass der hier ansässige Stamm längst fort war, horchte sie doch auf jedes Rascheln und Knacken hinter sich im Wald und wartete auf Schritte. Der Himmel und die Ebene blieben leer. Langsam krochen die Sekunden dahin. Und da war er schon - kam zurückgerannt! In ihrem ganzen Leben hatte sie keinen schöneren Anblick zu Gesicht bekommen als diese große, dahineilende Gestalt. Die durch das dichte Gras stampfte und weiter in den Schutz der Bäume, und zwischen ihnen hindurch wieder an ihre Seite trat. Er atmete schwer, und von seiner Haut tropfte der Schweiß. 95
„Das hatte ich nicht vermutet...“, sagte er und lehnte sich neben ihr gegen den Baum. „Was vermutet? Wer hat denn den Panzer gesteuert?“ „Niemand. Das ist ja das Unangenehme daran. Er ist unbesetzt ... zumindest nicht besetzt mit menschlichen Wesen. Der Panzer war vollständig robotgesteuert. Überwacht von Robotern, die darauf trainiert sind, Menschen aufzuspüren und zu töten. Sie sind es, die diesen Krieg führen, zumindest die, die auf der einen Seite kämpfen. Eine mechanische Armee aus Mörderrobotern.“
14 Ein kleines rotes Licht, das an der Rückseite der Holokamera geblinkt hatte, wechselte auf Grün und zeigte an, dass der Zyklus der Filmentwicklung abgeschlossen war. Brion nahm die Filmspule heraus und schob sie in den Halter des Projektors. Als er ihn einschaltete, erschien augenblicklich eine gezackte Metallwand im Zwischenraum zwischen den Bäumen. Sie schwebte wider alle Vernunft dort, eine holgraphische Projektion, die von der Wirklichkeit nicht zu unterscheiden war. „Das ist ein Schnappschuss vom Äußeren des Panzers“, sagte Brion und drückte auf den Betätigungsknopf. „Und hier ist, was ich gesehen habe, als ich zum ersten Mal rein-geschaut habe.“ Das projizierte Bild verschwand und ein anderes nahm seinen Platz ein; das Innere des zerstörten Panzers. Umherfliegende Schrapnelle hatten die Apparaturen zerlegt, doch die Geräte waren noch zu erkennen. Brion deutete auf das Gewirr aus Kabeln und Schaltkästen. „Dies ist der Blick in den vorderen Teil. Du wirst feststellen, dass es keine Sitze oder Kontrollinstrumente für menschliche Fahrer gibt. Nur diese Eingabespeicher und Mikroprozessoren. Das gesamte Innere ist so überfüllt, dass es ausschließlich zur Bedienung durch Roboter gedacht gewesen sein muss. Siehst Du diese Metallröhre? Das ist die Munitionsbeschickung für die rückstoßfreie Kanone. Sie verläuft mitten durch den Innenraum, direkt durch die Stelle, an der ein menschlicher Schütze oder Panzerfahrer sitzen wurde. Aber es ist noch mehr als genug Platz, um die Bedienungseinheiten für den Roboterbetrieb anzubringen.“ „Ich verstehe nicht. Wie kann das nur möglich sein?“ sagte Jeannie. „Ich dachte, Roboter wären unfähig, Leute zu verletzen? Es gibt schließlich die Robotergesetze...“ „Vielleicht auf der Erde, aber draußen an den Grenzen des alten Erdimperiums sind sie nie angewandt worden. Du vergisst, dass Roboter Maschinen sind, sonst nichts. Sie sind nicht menschlich, also sollten wir nicht anthropomorph an sie herangehen. Sie tun alles, wozu sie programmiert sind - und sie tun es ohne irgendwelche gefühlsmäßigen Reaktionen. Sie sind zum Kampf eingesetzt worden, seit die technologische Kriegführung begonnen hat. Um Bombenziele anzuvisieren, vor näher kommenden Flugzeugen zu warnen, Geschosse zu lenken, Kanonen abzufeuern, für hundert verschiedene Aufgaben. Und was sie machen, machen sie schneller und besser als ein menschliches Wesen. Nimm noch die Tatsache hinzu, dass sie in jeder Beziehung wesentlich widerstandsfähiger sind, und Du wirst verstehen, warum die Militärs sie mögen. Du wirst feststellen, dass die Geschichte der Kriege während des Zusammenbruchs voller Hinweise auf Schlachten ist, die nahezu vollautomatisiert abgelaufen sind. Sie waren eine riesige Materialverschwendung - aber wenigstens waren sie für die Menschen nicht tödlich. Nur wenn eine Seite besiegt wurde oder ihr das Material ausging, hatte die menschliche Bevölkerung zu leiden. Aber sobald die mechanischen Verteidigungseinrichtungen einmal überwunden waren, hat sich die besiegte Seite normalerweise ziemlich rasch ergeben.“ „Dann hat es den Kriegsrobotern nichts ausgemacht, Leute umzubringen...“ „Es konnte ihnen nichts ausmachen, weil sie nicht zu Gefühlen fähig sind. Sie befolgen nur Anweisungen. Dieser Robotpanzer war darauf programmiert, nach Menschen zu suchen - und sie dann zu vernichten. Wir haben gesehen, wie gut er seine Aufgabe erfüllt hat.“ „Aber Menschen müssen ihn programmiert haben. Also sind sie moralisch verantwortlich für die Morde, oder etwa nicht?“ „Absolut. Sie sind die wirklichen Verbrecher, die man ihrer gerechten Strafe zuführen müsste.“ Jeannie sah mit wachsendem Widerwillen zu, während die Bilder der gesprengten Kriegsmaschine aufflackerten und sich änderten. „Wenigstens dieser Mörder-Roboter ist zerstört worden. Vielleicht ist es das, was dort draußen vor sich geht, worum der ganze Krieg sich dreht. Die Piloten dieser Flugzeuge haben versucht, diese Roboter aufzuhalten.“ „Das haben sie - aber woher weißt Du, dass Piloten in den Jets waren? Das könnten doch auch Roboter gewesen sein.“ „Das ist verrückt. Ein Krieg, bei dem auf einem praktisch unbewohnten Planeten Roboter Roboter bekämpfen und ganz nebenbei gleichzeitig die überlebenden Menschen niederknallen. Das ergibt keinen Sinn.“ „Es mag vielleicht keinen Sinn ergeben aber es geschieht dort draußen, das kannst Du nicht leugnen. Diese Kriegsmaschinen müssen von irgendwo her auf diesem Planeten kommen.“ „Unterirdische Fabriken?“ „Vielleicht. Das haben wir schon mal durchgekaut. Wir werden einfach weiterhin nach dem Ort ohne Namen suchen müssen.“ „Ich werde nicht lügen und sagen, dass ich ihn vermisse, aber wird das nicht schwer sein, nachdem Ravn tot ist?“ „Schwer, aber nicht unmöglich. Wir dringen einfach weiter nach Norden vor und bleiben, so oft wir können, im 96
Wald in Deckung. Wir haben gerade den Beweis dafür erhalten, was uns passieren könnte, falls wir gesehen werden.“ „Wäre es nicht besser, bei Nacht zu reisen?“ „Nein. Bei Tageslicht sind wir weniger gefährdet. Was für Spürgeräte die Maschinen auch benutzen, Funkpeilung, Infrarot, Hitzedetektoren, was weiß ich, diese Instrumente werden ebenso gut im Dunkeln funktionieren. Während wir uns allein auf unseren Gesichtssinn verlassen müssen. Mein empathischer Sinn wird es uns ermöglichen, den Stammesmenschen auszuweichen, aber er ist nutzlos, wenn es gilt, die Maschinen zu entdecken. Also werden wir bei Tag marschieren, damit wir die Augen nach den Kriegsmaschinen offen halten können, um sie zu sehen, bevor sie uns aufspüren.“ Auch wenn die Anspannung und die Gefahr immer noch vorhanden waren, war das Vorwärtskommen ohne die tückische Gegenwart Ravns leichter. Er war gestorben, während er versucht hatte, sie zu verraten; man würde ihn nicht vermissen. Ihr Weg führte nun fast direkt gen Norden, wobei sich das große Binnenmeer die ganze Zeit über rechts von ihnen erstreckte. Während die Tage vergingen, sahen sie immer weniger Tiere dort grasen, vermutlich deshalb, weil die militärische Präsenz jetzt erheblich stärker war. Flugzeuge flogen mindestens einmal pro Tag über sie hinweg, drehten weite Kreise, als suchten sie nach etwas. Eines Nachts kam es zu einer Art Schlacht jenseits des Horizonts; ferne Explosionen erschütterten den Erdboden, und sie konnten das Aufflackern von Sprengladungen vor dem Hintergrund der Wolken sehen. Am darauffolgenden Tag zog die Kampfkolonne vorbei. Sie sahen die Staubwolken, die sich deutlich sichtbar im Norden bildeten und rasch noch höher empor wogten. Zunächst hatten sie Ähnlichkeit mit einem Sandsturm -aber hier handelte es sich um grasbewachsene Ebene, nicht um Wüste, und es war nichts Natürliches an diesem gleichmäßigen Vordringen. „Nach oben zwischen die Bäume, rasch“, sagte Brion und eilte mit raumgreifenden Schritten voraus. „Dort oben ist eine Kammlinie. Wir wollen hinter ihr sein - mit solidem Fels zwischen uns und ihren Peilgeräten, falls es sich um das handelt, was ich glaube.“ Er warf das Bündel hinab zwischen die Felsbrocken, dann half er Jeannie den Rest des Weges den Hügel hinauf. Hier gab es große, wahllos umherliegende Felsblöcke, und sie krochen in einen Zwischenraum unter einen der größten und verbargen sich vollständig. Brion schob das Bündel mit den metallenen Geräten noch tiefer hinein, um es so unauffindbar wie möglich zu machen. Dann schichtete er die flacheren Steine zu einer unregelmäßigen Schutzmauer auf, in der er schmale Öffnungen ließ, durch die sie nach draußen spähen konnten. „Ich kann sie jetzt hören“, sagte Jeannie. „Dieses ganze Gerumpel und Geklapper. Da kommen sie!“ Dunkle Gebilde waren nun auszumachen, die vor den Staubwolken herfuhren und immer größer wurden, während sie herankamen. Massive Gehäuse, schwer gepanzertes und bewaffnetes Kriegsgerät. Kleinere und beweglichere Maschinen wurden kurze Zeit später sichtbar, rasten hin und her und gaben ihnen nach allen Seiten Flankenschutz. Diese Deckungstrupps waren überall, verteilten sich und erkundeten das Gelände am Seeufer entlang, ja sogar bis hinauf zu den Hügeln. Jeannie duckte sich in ihrem Versteck, als ein Verband Jets dicht über ihren Köpfen vorüberbrauste; der Nachhall ihres Überschallknalls brach über ihren steinernen Schutzraum herein. Als die Armada näher kam, wurde die Ebene schwarz vor lauter Kampfapparaten. Soweit ihr Blick reichte, war sie mit Kriegsmaschinen übersät. Ihre Ohren schmerzten bei dem metallischen Dröhnen. Es war später Nachmittag, bevor die Großen der gepanzerten Kolonne an ihnen vorbei war, doch Schwärme der kleineren, schnelleren Panzer streiften in ihrem Rücken nach wie vor umher. „Das war ja ein Schauspiel“, sagte Jeannie. „Ein unmenschliches. Dort draußen waren nichts als Maschinen. Programmierte Maschinen. Wenn es menschliche Fahrer gegeben hätte, die diese Dinger lenken, hätte ich selbst auf diese Entfernung ihre massierten Gefühle gespürt. Aber da war absolut gar nichts.“ „Könnten nicht einige wenige Leute dort gewesen sein, irgendwo zwischen den Maschinen? Die die Aufsicht hatten?“ „Gut möglich. Ich hätte jedenfalls ihre Anwesenheit nicht entdeckt. Aber selbst wenn es eine Handvoll menschlicher Wesen gäbe, die diese Kolonne führen, würde ich doch sagen, dass fünfundneunzig, achtundneunzig Prozent der Maschinen robotgesteuert gewesen sein müssen.“ „Es ist furchterregend ...“ „Alles an diesem Auftrag ist furchterregend. Und lebensgefährlich. Wir bleiben bis zum Morgen hier. Ich möchte, dass die Maschinen so weit wie möglich von uns wegkommen, bevor wir weitergehen. Ein Gutes hat die Sache ja: Wenigstens wissen wir jetzt, in welche Richtung wir uns wenden müssen.“ „Was meinst Du damit?“ Brion deutete auf die gewaltigen Spuren, die der Vorbeimarsch des mechanisierten Heeres in die Ebene gefurcht hatte. „Sie haben eine Fährte hinterlassen, der wir mit verbundenen Augen folgen können. Wir werden sie zurück verfolgen - rausfinden, wo sie hergekommen sind.“ „Das können wir nicht! Es wäre möglich, dass noch andere aus der gleichen Richtung kommen.“ „Wir werden ihnen gründlich aus dem Weg gehen. Diese Spur kann man meilenweit sehen, also werden wir uns nicht allzu nahe bei ihnen aufhalten müssen. Wir werden vorsichtig vorgehen, wie wir es die ganze Zeit getan haben. Aber wir werden ihren Spuren so lange folgen, wie wir müssen. Wir werden nicht aufhören, bis wir festgestellt haben, wo diese Maschinen herkommen.“ Während der ersten paar Tage gab es keine Probleme. Doch danach wurde es immer schwieriger, auf der Fährte zu bleiben. Sobald der Zentralsee hinter ihnen aus dem Blickfeld verschwunden war, begann sich der Charakter der Landschaft allmählich zu verändern. Die kontinuierliche Abfolge von Bergen, bewaldetem Hügelland und grasbewachsener Ebene hatte aufgehört. Das Terrain wurde unwegsamer und. gebirgiger, während die Hügel von Tälern 97
und Schluchten durchzogen wurden. Brion blieb am steilen Abhang stehen und sah hinaus auf die tief in die Ebene eingegrabenen Spuren. Sie waren auf dem Gelände unter ihnen nach wie vor deutlich zu sehen, verloren sich aber dort, wo sie im Eingang einer steilwandigen Schlucht verschwanden. „Was machen wir nun?“ sagte Jeannie. „Etwas essen, während wir mal ernsthaft nachdenken. Ich nehme an, es müsste möglich sein, in den Hügeln Zuflucht zu suchen und die Spur von oben weiter zu verfolgen.“ Sie sah zu der aufragenden Felswand empor und zog die Nase hoch. „Wesentlich leichter gesagt als getan.“ Sie riss ein Verpflegungspaket auf, hielt dann den beinahe leeren Behälter hoch. „Und, wenn Du bereit wärst, Notiz davon zu nehmen - zusätzlich geht uns soeben das Essen aus. Was auch passiert, wir werden recht bald umkehren oder das Rettungsboot kommen lassen müssen, damit wir die Vorräte ergänzen können.“ „Mir gefallen beide Alternativen nicht. Wir sind so weit gekommen, und wir sind ihnen immer noch auf der Spur. Wir müssen weiter. Wir können unsere Vorräte nicht ergänzen, weil wir es nicht wagen können, das Risiko einzugehen, das Schiff in einem Gebiet mit so vielen Kampfmaschinen zum Landen zu veranlassen. Und das lässt nur eine Möglichkeit offen ...“ „Sag's nicht. Mach den Mund nur auf, um Essen reinzuschieben. Und dann werden wir meinem Plan folgen. Wir werden zurück zur Ebene gehen, das Boot runterholen und zurück in die Umlaufbahn gehen, wo wir wissen, dass wir in Sicherheit sind. Wir haben eine Menge zu berichten. Danach verhalten wir uns still und warten darauf, dass sie die Truppen herschicken... Brion schüttelte bestimmt verneinend den Kopf. „Wir sind schon die Truppen. Und wir können nicht weg, bis wir rausfinden, was hier vor sich geht. Also lässt uns das nur eine einzige, letzte Möglichkeit offen. In die Schlucht“ „Du bist ja nicht bei Trost. Das ist sicherer Selbstmord.“ „Das glaube ich nicht. Ich sehe es eher so, dass die Chancen Fünfzig zu Fünfzig stehen. Ein rasches Vordringen, rein und wieder heraus, bevor weitere Maschinen hier vorbeikommen. „Und ich sehe deutlich, was als nächstes kommt. Das soll ein Ein-Mann-Himmelfahrtskommando werden, nicht wahr? Mit Dir zu Fuß, wobei Du deine Laufschuhe anhast und deinen großen, transparenten Dolch schwingst. Während ich hier draußen mit den gesamten Metallgeräten rumhocke und geduldig auf deine Rückkehr warte.“ „Das ist genau die Art Drehbuch, wie ich sie im Sinn hatte. Kannst Du irgendwas daran finden, das nicht in Ordnung ist?“ „Nur eines. Wäre es nicht wesentlich einfacher, Dir selber das Gehirn auszupusten und Dir so all die Mühe zu ersparen?“ Er nahm ihre kleine Hand in seine große und spürte deutlich die Sorge und die Angst hinter ihren rauhen Worten. „Ich weiß, was Du denkst und fühlst, und ich kann es Dir nicht übel nehmen. Aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt haben wir eigentlich keine andere Wahl. Es heißt, entweder umzukehren und die ganze Arbeit von vorn anzufangen. Oder sie jetzt zu erledigen. Ich denke, wir sind zu weit vorgedrungen, waren in zu viel Gewalt und Blutvergießen verwickelt, als dass wir jetzt alles fallen lassen könnten. Ich kann gut auf mich selbst aufpassen. Und ich muss diese Angelegenheit zu Ende bringen.“ Es hatte wenig Sinn, sich zu streiten. Jeannie sah es ein und wurde von einem Gefühl finsterer Resignation ergriffen. Sie packten schweigend die Tasche und stießen tiefer in das Hügelland vor, weg von der Schlucht, bis sie einen geeigneten Lagerplatz fanden. Er hatte einen schützenden Überhang aus Felsen und lag direkt oberhalb eines reißenden Gebirgsbachs. „Hier wirst Du in Sicherheit sein“, sagte Brion und reichte ihr die Schnellfeuerpistole. „Behalte sie ständig bei Dir. Falls Du irgendwas siehst, musst Du zuerst schießen und danach die Fragen stellen. Es gibt hier draußen nichts Friedfertiges, Tiere, Maschinen oder Menschen. Ich werde mich ausgiebig bemerkbar machen, wenn ich zurückkomme, also mach Dir keine Sorgen, Du könntest mich erschießen.“ „Hier in den Hügeln war die Nacht zum ersten Mal kühl. Sie teilten sich den Schlafsack, um sich warm zuhalten. Brion schlief augenblicklich ein, jahrelanges Training hatte ihn gelehrt, das zu tun, doch bei ihr wollte sich der Schlaf nicht so leicht einstellen. Sie lag bis weit in die Nacht hinein wach und starrte durch den Baldachin der Bäume hinauf zum fremden, sternerfüllten Firmament, das so anders war als der Himmel der Erde. Sie war so weit weg von zu Hause. Jeannie erwachte von einer Berührung an ihrer Schulter, um festzustellen, dass es hell war. Brion stand über ihr und steckte gerade sein Messer ein. „Im letzten Bericht, da bin ich sicher, haben wir alles Wichtige aufgezeichnet, was wir bisher erfahren haben, also wirst Du Funkstille einhalten können. Und Du musst ständig in Deckung bleiben. Heute ist Tag Eins - und ich werde spätestens am Tag Vier gegen Abend zurück sein. Ich verspreche, dass ich wiederkomme, ganz egal, was ich dort drinnen vorfinde. Falls ich zum verabredeten Zeitpunkt nicht wieder da bin, darfst Du nicht auf mich warten. Und ich bin sicher, Du siehst ein, wie töricht es wäre, mir zu folgen. Ob ich da bin oder nicht, Du musst am Tag Fünf den Rückweg antreten. Hol das Rettungsboot herunter, sobald Du die Ebene erreichst - dann hau ab von diesem Planeten. Schnellstens. Es gibt andere Agenten, die diese Nuss knacken können, falls wir versagen. Aber belaste dich nicht mit diesen vorbeugenden Plänen. Wir sehen uns hier in vier Tagen.“ Er machte auf dem Absatz kehrt und war fort. Rasch, bevor sie etwas sagen konnte. Es war offensichtlich, dass es ihm so lieber war. Sie sah zu, wie seine riesige Gestalt mühelos mit großen Sprüngen am Ufer des Bachs entlang hinabeilte und dabei kleiner und kleiner wurde, bis er über einen Hügelkamm hinunter stieg und aus ihrem Blickfeld verschwunden war.
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15 Es gab keinen logischen Grund, am Eingang der Schlucht zu zögern - aber Logik hatte auch nichts damit zu tun. Brion sprang die letzten Meter des flachen Hangs nach unten, - dann verhielt er Regungslos. Horchte auf die Stille. Zu beiden Seiten von ihm erhoben sich die hohen Felswände, um einen natürlichen Durchgang zu bilden, der sich tief in den Abhang schnitt. Er konnte etwa vierhundert Meter weit hineinsehen, bevor eine Biegung der Schlucht das übrige vor seinen Blicken verbarg. Der Boden vor ihm war einst mit Gras und Büschen bedeckt gewesen, doch die waren längst pulverisiert und am gefurchten Boden zermalmt worden. Nur wenige Fleckchen Grün waren dicht bei den Felswänden erhalten geblieben. Der Rest war unter den Laufwerken des vorrückenden Heeres entwurzelt und zerstört worden. Maschine um Maschine hatte sich in den felsigen Boden gefressen, bis er zu einem wogenden Meer einander überlappender Fahrspuren geworden war. Als Brion zu Boden blickte, sah er, dass er in einer der tieferen Furchen stand, einem Einschnitt von über einem Meter Grundfläche. Und dies war nur ein Teil der Spur einer gigantischen Maschine - die selber nur eine aus einer Legion war. Ein Heer von Maschinen war hier vorbeigekommen, und seines Wissens konnten noch mehr von ihnen in eben diesem Moment auf ihn zukommen. Und er hatte vor, es mit diesem Maschinenheer aufzunehmen - auf eigene Faust?“ „Ja!“ rief er laut und setzte ein schiefes Grinsen auf. Die Chancen standen nicht allzu gut - aber es waren die einzigen Chancen, die er bekommen würde. Und mit jedem Augenblick, den er dort stehen blieb, wurden sie ungünstiger, denn die Möglichkeit, dass er dem Feind in der engen Schlucht begegnen würde, wurde immer wahrscheinlicher. Er verfiel in einen rascheren, raumgreifenden Trott. Die felsigen Wände des Flusstals glitten stetig vorbei; der aufgewühlte Boden war zerfurcht und uneben unter den Füßen. Nach fast einer Stunde Dauerlauf stellte er fest, dass er heftig zu atmen begann, also drosselte er das Tempo zu einem raschen Gehen. Er behielt es bei, bis er wieder zu Atem gekommen war, dann steigerte er seine Gangart von neuem. Er legte einen Kilometer nach dem anderen zurück, die Schlucht war monoton und gleichförmig. Es war schon mitten am Nachmittag, als die Felswände zurückwichen und er in ein felsiges Gebirgstal hinaustrat. Dies war eine gute Gelegenheit, eine Pause einzulegen. Zum ersten Mal verließ er die gut markierte Fährte und kletterte die grasbewachsenen Stellen zwischen den wahllos herumliegenden Gesteinsblöcken hinauf. Von hier aus war die aufgewühlte Heerstraße deutlich zu sehen, wie sie das Tal durchquerte und auf der anderen Seite in einer weiteren Einmündung verschwand. Nachdem er einige Schlucke Wasser getrunken hatte, lehnte er sich zurück und schloss die Augen. Eine Stunde Schlaf, dann würde er weitergehen. Es wurde in dieser Höhe immer kühler, daher war es vielleicht angenehmer, während des Tages zu schlafen, um dann während der Nacht weiterzuziehen. Er wusste, dass sich sein 99
Metabolismus leicht darauf einstellen konnte. Zu Hause auf Havrk musste die Nahrung während des kurzen Sommers gesammelt werden, um sich auf den sehr langen Winter vorzubereiten. Er war vier und sogar fünf Tage ohne Schlaf ausgekommen und wusste, dass er das jederzeit wieder konnte. Das Gras war weich, während die Nische zwischen den, Felsen vor dem Wind geschützt und von der Sonne erwärmt war. Er legte sich zurecht und war innerhalb weniger Augenblicke eingeschlafen. Zum vorgesehenen Zeitpunkt öffneten sich seine Augen, und er sah zum wolkenlosen Himmel auf. Die Sonne war hinter den Hügeln untergegangen, und im Schatten wurde es kühl. Die Spur unter ihm war immer noch leer. Er steckte sein Messer bequem an seine Hüfte, nahm einen winzigen Schluck Wasser zu sich - und machte sich wieder auf den Weg. Das Flusstal war jetzt breiter, doch die Biegungen waren enger und hinderten ihn daran, allzu weit nach vorn zu sehen. Er wurde an jeder Ecke langsamer und umrundete sie vorsichtig - bis er einsah, dass er dadurch zuviel Zeit verlor. Was passieren würde, würde passieren, er konnte es gar nicht vermeiden. Er musste weiter, und er musste die Zukunft fatalistischer hinnehmen. Der Boden des Tals hatte sich in harten Fels verwandelt, zerkratzt und ausgehöhlt von den stählernen Laufwerken, doch immer noch weitaus glatter als die aufgewühlte Erde in den tieferen Lagen. Als er sich an den Rhythmus der ständigen Bewegung gewöhnt hatte, stellte sich heraus, dass sein Vorwärtskommen stetig war, sein Atem kräftig und regelmäßig. Beinahe entspannt. Er trabte gemächlich um eine enge Biegung und sah das gepanzerte Fahrzeug nur wenige Meter vor sich. Es hatte die Reflexe einer Maschine. Der Geschützturm mit den vier Kanonenrohren war gen Himmel gerichtet gewesen. Nun drehte er mit fürchterregender Geschwindigkeit und zeigte direkt auf ihn. Als er zurück in den Schutz des Felsens hechtete, sah er noch, wie diese vier finsteren Löcher hinter ihm gähnten. Die Granaten würden ihn im Rücken treffen, sie konnten ihn nicht verfehlen ...“ Er landete und rollte aus und presste sich gegen den harten Fels, überrascht, dass er immer noch am Leben war. Nichts war geschehen. Die Kanonen hatten nicht geschossen. Brion lag mit heftig pfeifendem Atem da und wartete auf das Gerassel von Laufwerken, wenn die Maschine losfuhr. Er wusste, dass er ihr nicht davonlaufen konnte. Konnte er aus dieser Falle herausklettern? Nein, die Talwände waren glatt und steil. Es gab kein Entrinnen. Das Geräusch des Motors war laut und gellend. Metall kreischte und hallte wider, und der Motor heulte stotternd auf. Dann erstarb das Geräusch und hinterließ eine schmerzliche Stille. Das Ding kam nicht hinter ihm her - aber es versperrte ihm immer noch den Weg. Warum hatte es angehalten? Brion nahm einen tiefen, schaudernden Atemzug, dann richtete er sich langsam auf. Man hatte ihn verschont -aber für wie lange. Was sollte er tun? Es würde bald dunkel werden. Vielleicht konnte er in der Dunkelheit an dem Panzer vorbeikommen. Nein, die Dunkelheit würde der Maschine nichts ausmachen; ihre Wahrnehmung würde dann noch genauso scharf sein. Umkehren? Das konnte er - doch es würde das Ende bedeuten. Die Kapitulation. Er war schon zu weit gekommen, um das noch zu tun. Und warum hatte das Ding nicht auf ihn geschossen? Die Neugier gewann die Oberhand über die Vorsicht. Ganz langsam, jedes mal nur den Bruchteil eines Zentimeters, kroch er über die Steine vorwärts. Hob den Kopf über sie hinweg. Und ließ sich zurückfallen, als er feststellte, dass er direkt in die Läufe der Geschützrohre hineinsah. Aber sie hatten immer noch nicht geschossen. Das Ding wusste, dass er da war - warum zögerte es also? Eine Art Katz-und-Maus-Spiel? Nein, es würde auf nichts anderes programmiert sein als auf Zerstörung. Was sollte er jetzt nur tun? Er hob einen ziemlich großen Stein auf, holte weit damit aus - dann schleuderte er ihn mit einem geradarmigen Granatenwurf in hohem Bogen hinaus. Er schlug mit einem lauten Krachen auf dem Boden auf, und Brion hob gleichzeitig von neuem den Kopf. Getriebe knirschten, als der Gefechtsturm sich auf den Stein richtete, dann heulten sie wieder auf, als er zurückschwenkte, um erneut in seine Richtung zu zielen. Diesmal rührte er sich nicht. Die Maschine hatte schon zweimal die Gelegenheit gehabt, ihn zu töten - und nichts war passiert. Dies war die dritte. Falls sie jetzt schoss, würde er es wenigstens nicht mehr erfahren. Eine Sekunde verging, zwei, dann drei. Die Kanonen schwiegen immer noch. Kühn geworden trat er aus der Deckung heraus und begann darauf zuzugehen. Die Rohre drehten sich langsam, blieben ständig auf ihn gerichtet, während er näher kam. Brion blieb stehen, als der Motor aufbrummte und der Panzer erzitterte, ein paar Zentimeter vorwärts fuhr, dann anhielt. Erst da bemerkte er zum ersten Mal, dass er eine seiner Raupenketten verloren hatte und sich nicht rühren konnte. Falls er es schaffte, an dem Ding vorbeizukommen, würde es ihm nicht folgen können! Er rannte auf direktem Weg das Tal hinauf und war sich die ganze Zeit darüber im klaren, dass die Kanonen ihn jeden Zentimeter seines Weges dabei verfolgten. Erst als er auf gleicher Höhe mit der Maschine war, an ihr vorbeilief, hörten die Rohre plötzlich auf, sich zu bewegen. Dann drehte sich der Gefechtsturm langsam knirschend herum, und die Geschützrohre glitten wieder in die Vertikale. Brion hielt ebenfalls an und betrachtete das Ding. Es ignorierte ihn jetzt. Er musste außer Reichweite der nach vorn gerichteten Sensoren geraten sein, und seine Anwesenheit war aus den Gedächtnisspeichern gelöscht worden. Sollte er sich die Zeit nehmen, näher ranzugehen, es zu untersuchen? Es gab keine Möglichkeit, dieses Verhalten zu rechtfertigen, es sei denn mit Neugier. Das Nachlassen der Anspan100
nung und der Angst vor dem sicheren Tod, die ihn erst kurz zuvor gepackt hatten, hatten ihn zum gegenwärtigen Zeitpunkt beinahe leichtsinnig und furchtlos gemacht. Er musste näher an das Ding heran, um es sich anzusehen. Vielleicht würde es etwas offenbaren, oder auch nichts, darauf kam es eigentlich nicht an. Er näherte sich ihm vorsichtig Schritt für Schritt, aber die Maschine schenkte ihm keine Beachtung. Er war jetzt nahe genug, um die Schweißnähte auf seiner metallenen Hülle zu sehen und um einen Fuß auf das schimmernde Metall eines Kettenlaufrades zu stellen und seitlich hinaufzuklettern. Oben drauf direkt hinter dem Gefechtsturm war eine Klappe mit einem einzelnen Verschlusshebel. Er zögerte eine Sekunde lang, dann streckte er die Hand aus und zog ihn kräftig nach unten. Geräuschlos und ohne jede Mühe schwang die Klappe auf. Sonst passierte gar nichts. Brion hörte sein Herz laut schlagen, als er sich vorbeugte und hineinsah. Der Panzer war leer. Instrumente glühten im Halbdunkel; irgendwo brummte ein Servomotor und dann schwieg er. Die Munition stapelte sich neben ihm bis hinauf zu den Kanonenrohren. Sie waren geladen und schussbereit. Warum hatten sie dann nicht auf ihn geschossen? Genug! Er ärgerte sich plötzlich über seine eigene Dummheit. Was machte er eigentlich hier - riskierte sein Leben ohne besonderen Grund? Er war ungefährdet an der Maschine vorbeigekommen. Er hätte nichts anderes zu tun gehabt, als seinen Weg fortzusetzen, um das Ding so weit wie möglich hinter sich zu lassen. Er versetzte voller Widerwillen über sich selbst der stählernen Hülle einen Tritt, sprang dann hinunter und rannte stetig das Tal hinauf, ohne sich noch einmal umzusehen. Das war ein neues Rätsel, das zu den übrigen Rätseln dazukam, aus denen diese gefährliche Welt zu bestehen schien. Und keins dieser Rätsel würde gelöst werden, wenn er nicht den Ursprung jener Armee entdeckte, die an ihnen vorbeigezogen war. Er rannte weiter. Er war immer noch unterwegs, als es dunkel wurde, aber er rannte unentwegt weiter, da das Gelände im Sternenlicht deutlich zu erkennen war. Es war selbst für ihn eine unbarmherzige Schinderei, und lange, bevor die Nacht vorbei war, hielt er an, um sich auszuruhen. Dann noch einmal. Erschöpfung verlangsamte seinen Lauf, als er ein enges Seitental erreichte. Er ließ sich auf die Knie nieder, um sorgfältig den Boden zu untersuchen, doch es gab keine Fahrspuren, die dorthin abzweigten. Die Schlucht würde ihm einen sicheren Ort zum Ausruhen bieten. Er ging hinein, bis er vom darunter liegenden Tal aus nicht mehr zu sehen war, suchte dann Schutz zwischen zwei großen Felsblöcken und schlief augenblicklich ein. Einige Zeit später riss ihn eine Störung aus dem Tiefschlaf. Über ihm glänzten hell die Sterne und erstreckten sich von Horizont zu Horizont. Vom Tal her konnte er nichts hören - aber weiter entfernt war das Geräusch von Raketentriebwerken deutlich vernehmbar, und erstarb langsam. Das hatte nichts mit ihm zu tun. Er schloss die Augen, und als er sie wieder aufmachte, war der Himmel in der Morgendämmerung grau. Er war müde und unterkühlt, seine Muskeln schmerzten. Das Wasser in seinem Mund war eiskalt, und er widerstand dem Bedürfnis, mehr als nur ein paar sorgfältig eingeteilte Schlucke zu sich zu nehmen. Und er hatte Hunger. Er hatte diese Reaktionen erwartet, daher zwang er sich mit Entschiedenheit, seine Aufmerksamkeit von diesen Schwächen abzuwenden. Die Arbeit musste nach wie vor getan werden. Sobald er unterwegs war, würde ihm wärmer werden; mit Durst und Hunger konnte man leben. Er musste weiter. Als sich das Tal zu verbreitern begann, blieb er in der Nähe der Ostwand und bewegte sich im Schatten. Dies bot ihm möglicherweise einigen Schutz, sollte er weiteren Maschinen begegnen. Das Tal begann ebener zu werden, verbreiterte sich zugleich, und seine Oberfläche wurde immer härter, je weiter er vordrang. Veränderte sich von zusammengepresster Erde zu etwas Härterem und Glatterem. Er bückte sich, um es zu untersuchen. Es war erstarrter, geschmolzener Fels. Nicht rundgewaschen und uneben, wie es der Fall gewesen wäre, wenn er durch natürliche Vulkantätigkeit entstanden wäre, sondern glatt und eben. Er war mit Hilfe von Fusionskanonen geschmolzen, dann eingeebnet worden. Die Oberfläche des Tals war künstlich. Die Sonne stand jetzt höher am Himmel und hatte sich von dem schattenspendenden Bergkamm gelöst. Sie erhellte den gesamten Talboden und enthüllte seine künstlich glatte und eingeebnete Oberfläche. Brion ging vorsichtig darüber und untersuchte gleichzeitig die Felswände zu beiden Seiten. Sie waren ebenmäßig, glatt und fest, ohne irgendwelche Öffnungen, selbst am anderen Ende des Tals. Nichts. Die steinernen Wände waren uralt, natürlichen Ursprungs. Dies war eine Sackgasse. Ein Talkessel, der hier seinen Anfang nahm und sich bis hinunter auf die Ebene erstreckte. Ein von Felswänden umgebener Einschnitt im Gebirge mit nur einem Ausgang. Dennoch wusste er, dass sich ein mächtiges mechanisches Heer aus diesem Tal ergossen hatte. Er hatte es selbst gesehen und bis hierher zurückverfolgt. Wie konnte es sein, dass es hier nichts gab? Es war unmöglich. Er ging langsam hinüber zu der Felswand, hob die Hand und berührte sie, dann schlug er mit dem Heft seines Messers rasend vor Enttäuschung dagegen. Sie war solide. Das konnte einfach nicht sein. Und doch war es so. Als er sich umdrehte, um das Tal hinab zu blicken, sah er zum ersten Mal die schwarze Säule. Sie war knapp einen Meter hoch und stand etwa zehn Meter von der hinteren Wand entfernt da. Er ging langsam auf sie zu, um sie herum dann streckte er die Hand aus und berührte sie. Sie war aus Metall, aus irgendeiner Legierung, im Lauf der Zeit ein wenig beschädigt mit etwas fleckiger Oberfläche. Sie besaß keinerlei Markierungen, konnte keine Funktion haben, derer er sich bewusst war. Er konnte sie mit der Spitze seines Messers einritzen; sie hinterließ eine glänzende Linie, als er sie quer über den gerundeten Säulenkopf zog. Als er das Messer sorgfältig wieder in die Scheide steckte, fühlte er, wie Arger und Enttäuschung in ihm hochstiegen. „Was soll das?“ brüllte er aus voller Kehle. „Was soll das alles bedeuten?“ Seine Worte hallten von den Felswänden wider und erstarben bis das Tal wieder still war. 101
16 In einem Anfall ohnmächtiger Wut versetzte Brion der dunklen Säule einen Fußtritt. Das erzeugte nichts als einen dumpfen Schlag und einen heftigen Schmerz in seinem Fuß. „Sehr beeindruckend, Brion“, sagte er laut. „Die wohlüberlegten Reaktionen eines intelligenten Mannes. Geht's Dir jetzt besser? Nun, da Du deine Laurien abreagiert hast. Und dass Du nun einen schmerzenden Fuß hast, um es zu beweisen. Ist es da nicht an der Zeit, ein paar Gedanken an dieses Problem zu verschwenden? Ist es. Also, was weißt Du? Zunächst Punkt Eins“, er hob einen Finger, „das mechanische Heer ist aus diesem Tal gekommen. Das ist nicht zu bezweifeln. Die Spuren, denen ich gefolgt bin, haben alle zu dieser Stelle geführt. Es hat keine Abzweigungen oder Alternativstrecken gegeben. Was zu Schlussfolgerung Nummer Zwei führt - die Maschinen müssen von hier gekommen sein, von diesem Ende des Tals, von der Stelle, an der ich gerade stehe. Die Felswände und der Boden machen den Eindruck, als wären sie hart, aber vielleicht sind sie es nicht. Muss untersucht werden. Aber wie steht es erst mal mit einem gründlicheren Blick auf die Säule? Sie ist künstlich hergestellt, aus Metall - und es steht Hundert zu Eins, dass sie etwas mit diesem Problem zu tun hat. Also, Nummer Drei, die Untersuchung der Säule steht ganz oben auf der Liste.“ Etwas versuchte, in sein Bewusstsein vorzudringen. Was war es? Als er nach der Säule getreten hatte, da war doch, außer dass er sich den Fuß wehgetan hatte, noch etwas anderes gewesen? Aber was? Ja, natürlich, es hatte sich so angehört, als ob sie hohl gewesen sein könnte, als habe sie eher einen widerhallenden als einen dumpfen Ton von sich gegeben, als sein Stiefel sie traf. Brion holte sein Messer heraus und drehte es um. Indem er es an der Klinge festhielt, klopfte er mit dem Knauf auf den Säulenkopf, dort wo er das Metall zerkratzt hatte. Das erzeugte einen dumpfen Laut. Aber als er weiter unten klopfte, hallte es vernehmlich. Sie war tatsächlich hohl! Was sofort eine zweite Frage aufwarf: Handelte es sich um eine Hülse mit etwas drin? Gut möglich. Er musste nach einem Weg suchen, sie zu öffnen, reinzukommen. Brion ließ seine Finger langsam an der Seite der Säule nach unten gleiten; sie war glatt und nicht gezeichnet. Er ließ sich auf die Knie nieder, um die untere Hälfte zu untersuchen, dann legte er sich flach auf den Boden, um sich den Sockel anzusehen. War das ein hauchdünner Riss um ihren Fuß herum? Er stieß mit der Spitze seiner Klinge kräftig zu und sie verschwand im Metall! Der Riss war da, verlief einmal rund um den Sockel. Obwohl die Säule dem Augenschein nach in den harten Fels versenkt war, schien sie in Wirklichkeit eine Verkleidung zu besitzen, die auf dem Boden aufsaß. Als er sich aufrichtete, fiel sein Blick auf etwas, ein silbriges Glitzern etwa dreißig Zentimeter über dem Boden. Es war ein Kratzer im Metall. Die nähere Untersuchung ergab die Tatsache, dass der Kratzer durch etwas verursacht worden war, das in einen etwa zwei Zentimeter langen Spalt eingepasst war - einem Spalt mit einem eingeritzten Kreis darum herum. „Ein Schraubenkopf! Es sieht genau wie ein großer Schraubenkopf aus. Und Schrauben sind zum Drehen da.“ Das einzige Werkzeug, das er dabei hatte, war das Messer: Es würde genügen müssen. Er presste die scharfe Spitze in den Schlitz, dann drückte er den Griff nach unten. Nichts passierte. Fester. Er konnte spüren, wie seine Muskeln sich vor Anstrengung zusammenzogen, konnte sehen, wie sich die Messerklinge verbog. Vielleicht würde sie abbrechen. Das machte nichts. Noch fester. Mit einem metallischen Knirschen drehte sich das runde Metallstück um den Bruchteil eines Zentimeters. Als er mit dem Finger über die Oberfläche fuhr, konnte er fühlen, dass es leicht vorstand; eine Metallschraube, nicht mehr 102
planeben mit der Oberfläche. Nun, da sie losgemacht war, ließ sie sich leichter drehen. Um und um, bis der Kopf frei lag und er die schimmernden Gewindebahnen darunter sehen konnte. Immer weiter - jetzt so weit gelockert, dass er sie mit den Fingern drehen konnte. Er schraubte sie heraus und ließ sie auf den Boden fallen, beugte sich dann vor und spähte in die Öffnung. Finsternis, nichts zu sehen. Aber die Schraube musste eine Funktion gehabt haben. Hielt sie etwas fest? Was? Er hob das Messer, um die Öffnung mit seiner Spitze auszuloten, dann besann er sich eines Besseren. Es war wesentlich klüger, seinen Verstand zu gebrauchen, als wahllos rumzustochern. Welche Funktion hatte die Schraube erfüllt? War sie gedacht gewesen, eine Öffnung zu verschließen, mit einer Art Kontrollinstrument dahinter? Möglich, aber höchst unwahrscheinlich. Vielleicht hielt sie die äußere Röhre der Säule an Ort und Stelle? Das schien eine sinnvollere Möglichkeit zu sein. Er bückte sich und schlug die Messerklinge gegen den Fuß der Metallröhre, und es gelang ihm, sie ein Stück weit hineinzuzwängen, dann zog er nach oben. Sie bewegte sich! Indem er sie hin und her bewegte, schaffte Brion es, die Messerklinge so weit hineinzustoßen, wie es eben ging, etwa einen Zentimeter weit. Die Röhre musste nun soweit gelockert sein, dass sie sich auf und ab bewegen ließ. Er ließ das Messer an Ort und Stelle und beugte sich vor, um die dreißig Zentimeter dicke Röhre zu umfassen, ging dabei in die Knie und schlang seine Arme um sie. Presste sie, so fest er konnte, an sich und streckte langsam die Beine. Etwas geriet in Bewegung. Die Metallröhre hatte sich ein Stück vom Boden gehoben. Er blickte nach unten und sah, dass sie sich jetzt einen guten Zentimeter über der steinernen Fläche befand, nach wie vor durch etwas im Innern gestützt. Mit präzisen und vorsichtigen Bewegungen, damit das Ding nicht wieder hinunterfiel, verlagerte er seinen Griff tiefer und zog wieder daran. Sie hob sich langsam, Zentimeter um Zentimeter, bis er sie gute dreißig Zentimeter vom Boden weg gezogen hatte. Er konnte ein wenig von der schimmernden Metallfläche im Innern sehen. Stück um Stück hob er sie höher, bis er die Fingerspitzen unter die Unterkante legen konnte. Sobald er sie sicher im Griff hatte, ging er in die Hocke, bis seine Schenkel auf den Fersen ruhten, atmete tief ein, hob an und richtete sich dabei auf. Die Metallröhre schob sich immer höher - dann neigte sie sich plötzlich zur Seite, als sie sich löste. Brion sprang zurück, als sie klirrend auf die Steinfläche fiel. Und atmete heftig, während er sich ansah, was darunter zum Vorschein gekommen war. In ein schimmerndes Metallgerüst war eine Art kompakter elektronischer Apparat montiert. Es gab da vertraut aussehende Schalttafeln mit Speichermodulen, Verstärkern und Transformern. Und all das war mit einem Netz von Drähten untereinander verbunden. Ein dickes Kabel kam aus einem Verteilerkasten, und er folgte ihm mit den Augen bis hinab bis zu einer klobigen Atombatterie, die am unteren Ende befestigt war. Es war eine Hochleistungsbatterie, und das hieß, dass dieser Apparat, wenn die Beanspruchung nicht zu groß war, jahrelang ohne Wartung funktionieren konnte. Aber was war denn nun seine Funktion? Beinahe sämtliche Bestandteile waren ihm vertraut, sahen anderen, mit denen er gearbeitet hatte, sehr ähnlich. Während er das Gerät betrachtete, bemerkte Brion ein leises Summen, das von ihm ausging. War es in Betrieb? Er ging darum herum, und, ja, auf der Rückseite gab es LED-Anzeiger mit flackernden, raschen Zahlenfolgen. Also war er in Betrieb, prima. Aber worum handelte es sich - und welche mögliche Verbindung bestand zwischen ihm und den Kriegsmaschinen? Brion bückte sich und hob sein Messer auf, dann trat er einen Schritt zurück, um sich das Ding noch einmal anzusehen. Es war ein absolutes Rätsel. Er hob die Klinge und zielte, erfüllt von dem plötzlichen Impuls, es tief in die Vorrichtung hineinzustoßen. Er widerstand dem Impuls. Das würde zu nichts führen, außer vielleicht zu seinem Tod durch einen Stromstoß. Konnte es sein, dass es irgendwelche Firmen- oder sonstigen Kennzeichen an dem Ding gab? Während er sich bückte, um genauer hinzusehen, erklangen dicht hinter ihm laute Explosionen. Seine Reflexe veranlassten ihn, sich zur Seite zu werfen, noch im Fallen herumzurollen, sich umzuwenden und das Messer hochzuheben. Drei Männer standen da, wandten ihm das Gesicht zu, Männer, die einen Augenblick zuvor noch nicht da gewesen sein konnten. Drei völlig schwarz gekleidete Männer mit schweren Stiefeln und dicken Druckanzügen. Ihre Gesichtszüge waren durch Helme mit reflektierenden Gesichtsplatten verborgen. Jeder von ihnen trug einen Metallbehälter bei sich, und sie schienen nicht bewaffnet zu sein. Sie waren wohl genauso überrascht wie er, denn sie wichen vor der Drohung seines Messers zurück. Brion richtete sich langsam auf und ließ das Messer zurück in seine Scheide gleiten und ging einen Schritt auf den Mann zu, der ihm am nächsten stand. Der Mann trat einen Schritt zurück und drückte auf einen Schalter an seiner Taille. Es entstand ein scharfer Knall - und er verschwand so plötzlich, wie er erschienen war. „Was geht hier vor? Wer seid ihr?“ rief Brion und ging auf sie zu. Die beiden verbliebenen Männer wichen vor ihm zurück, während gleichzeitig zum dritten Mal Explosionen erschallten. Sie krachten in rascher Folge eine nach der anderen hervor, und mindestens ein Dutzend weitere Männer in der gleichen Aufmachung tauchten auf. Aber diese Männer waren bewaffnet. Ihre schweren Gewehre waren erhoben und wiesen in seine Richtung. Brion stand still, machte keine Bewegung, die sie hätte beunruhigen können. Der Mann an der Spitze, mit irgendwelchen Rangstreifen am Arm, senkte seine Waffe und berührte seinen Helm. Seine Gesichtsplatte öffnete sich. „Wer bist Du?“ fragte er. „Was machst Du hier?“
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17 Die übrigen bewaffneten Männer öffneten jetzt ihre Gesichtsplatten. „Versteht er Sie, Feldwebel?“ rief einer von ihnen. „Das ist ein böse aussehendes Messer, das er da bei sich hat.“ „Sagen Sie ihm doch, er soll es fallen lassen.“ Brion verstand sehr gut; sie sprachen Universal-Esperanto, die interstellare Sprache, die jedermann zusätzlich zu seiner heimatlichen Mundart benutzte. Er hob langsam die Hand und legte sie vorsichtig auf sein Messer. „Ich werde das hier auf den Boden legen. Haltet ihr nur eure Finger von den Abzügen fern.“ Der Feldwebel sah mit angelegtem Gewehr gespannt zu, während Brion das Messer fallen ließ. Als es am Boden lag, ließ er sein Gewehr sinken und kam näher. Er war ein grimmig dreinblickender Mann mit schrägstehenden Augen und blasser Haut über dem schwarzen Schimmer seines unrasierten Kinns. „Sie sind kein Gyongyos-Techniker“, sagte der Sergeant. „Nicht in dieser Aufmachung. Was machen Sie hier?“ „Ich wollte Ihnen gerade die gleiche Frage stellen, Feldwebel“, sagte Brion. „Erklären Sie sich. Ich habe mehr Fragen als Sie ...“ „Nicht an mich, oh, nein. Mir gefällt das alles nicht. Er rief über seine Schulter nach hinten: „Korporal. Springen Sie zurück und holen Sie einen Druckanzug, einen großen. Sagen Sie dem Hauptmann, was wir gefunden haben, sagen Sie ihm, er soll sofort das Kriegsministerium benachrichtigen.“ Wieder gab es eine krachende Explosion. Brion erkannte, dass das etwas mit ihrem Erscheinen und Verschwinden zu tun hatte, als würden sie sich so schnell bewegen, dass sie die Luft verdrängten oder wie ein Blitz ein Vakuum hinterließen. Soldaten, die dem Kriegsministerium Bericht erstatteten - es musste auf jeden Fall eine Verbindung zwischen ihnen und dem mechanischen Heer geben, das von hier gekommen war. Vielleicht hatten sich die Maschinen ebenso materialisiert wie sie! „Sie sind für die Panzerfahrzeuge und all die anderen Kriegsmaschinen verantwortlich, nicht wahr?“ Der Feldwebel hob sein Gewehr. „Ich bin für gar nichts verantwortlich - außer dafür, Befehle zu befolgen. Halten Sie jetzt den Mund, bis ich Sie los bin. Wenn Sie reden wollen, dann reden Sie mit dem Geheimdienst. Das müsste eigentlich alle zufrieden stellen.“ Trotz der Bedrohung, die von den Gewehren ausging, war Brion von einem Gefühl des Sieges überwältigt. Es musste eine Beziehung zwischen diesen Leuten und diesem umkämpften Planeten geben. Die Lösung stand kurz bevor; er musste seine Ungeduld zügeln. Er sah gespannt zu, während die Techniker, die erste Gruppe, die erschienen war, sich an den Instrumenten zu schaffen machten, die im Herzen der metallenen Säule verborgen gewesen waren. Sie schlossen Kabel und Messgeräte daran an und schienen diverse Stromkreise und Funktionen zu überprüfen. Sie mussten wohl einwandfrei gearbeitet haben, denn sie lösten rasch wieder die Verbindung mit ihren Geräten, hoben dann die metallene Hülle wieder an ihren Platz. Als sie fest aufsaß, richteten sie die Öffnung aus und ersetzten die Verschlussschraube, die er entfernt hatte. Brion juckte es, sie zu befragen, aber er zwang sich, zu schweigen. Die Gelegenheit würde sich bald genug ergeben. Er drehte sich um, als der vertraute knisternde Knall ertönte. Der Korporal war mit einem gefalteten Anzug unter dem Arm zurückgekommen. „Der Leutnant sagt reinbringen. Er hat ein Empfangskomitee, das auf ihn wartet. Hier ist der Anzug.“ Das angekündigte Empfangskomitee hörte sich bedrohlich an, aber Brion hatte vor den Läufen der auf ihn gerichteten Gewehre kaum eine andere Wahl. Er legte wie befohlen den Anzug an und schloss ihn. Der Feldwebel schlug die Gesichtsplatte zu und streckte die Hand nach einem der Kontrollschalter an Brions Taille aus. Er hatte ein Gefühl von Verzerrung, unmöglich zu beschreiben, und alles veränderte sich innerhalb eines Augenblicks. Das Tal und die Soldaten waren verschwunden - und er stand auf einer Plattform aus Metall. Helle Lampen strahlten von oben herab und uniformierte Soldaten rannten auf ihn zu. Sie öffneten seinen Anzug und streiften ihn unter der Aufsicht eines jungen Offiziers von ihm ab. „Kommen Sie mit“, befahl er Brion. Es hatte keinen Sinn, zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu protestieren; er ging schweigend mit. Er erhaschte einen kurzen Blick auf riesige Maschinen mit schweren Kabeln, die sich aus Isolatoren vom Umfang seines eigenen Körpers herauswanden, bevor er durch eine Metalltür in den dahinterliegenden Korridor gedrängt wurde. Er war in einem neutralen Grau gestrichen, mit einer Reihe von Türen an seiner Längsseite. Sie blieben 104
vor einer stehen, die die Aufschrift Korps 3 trug, öffneten sie und winkten Brion hinein. Er ging durch sie hindurch und hörte, wie sie sich hinter ihm schloss. „Setzen Sie sich in den Stuhl dort, wenn's recht ist“, sagte ein Mann mit ruhiger Stimme. Er saß selber auf einem Stuhl, nicht mehr als zwei Meter von Brion entfernt. Ein magerer Mann mit bleicher, straff gespannter Haut und deutlich vortretenden Wangenknochen unterhalb seiner tiefliegenden Augen, gekleidet in neutrales Grau. Er lächelte Brion zu, aber das war lediglich eine Geste, eine Gesichtsveränderung ohne Wärme oder Aufrichtigkeit dahinter. Brion konnte ihn deutlich hören, obwohl sie durch eine durchsichtige Wand getrennt waren, die den kleinen Raum in zwei Hälften teilte. Brion ließ sich auf den Stuhl sinken, den einzigen Gegenstand auf seiner Seite der Barriere. „Ich habe einige Fragen an Sie“, sagte Brion. „Ich bin sicher, dass Sie die haben. Und ich habe einige an Sie. Wollen wir uns nicht bemühen, einander zufrieden zustellen? Ich bin Oberst Hegedus, opolische Volksarmee. Und Sie?“ „Ich heiße Brion Brand. Habe ich also recht verstanden, dass Korps 3 der militärische Geheimdienst ist?“ „Richtig. Wie scharfsinnig von Ihnen. Wir haben nicht vor, Ihnen irgendwelchen Schaden zuzufügen, Brion. Wir sind nur sehr interessiert daran, was Sie mit dem Delta Signalturm vorhatten, den Sie zerlegt haben.“ „So wird er also genannt? Ich habe ihn mir angesehen, weil ich dachte, er könnte etwas mit dem Krieg auf Selm-II zu tun haben.“ „Wollen Sie damit sagen, dass Sie eine Art Spion sind?“ „Wollen Sie damit sagen, dass es auf diesem Planeten etwas gibt, das ich ausspionieren könnte?“ „Bitte, Brion, lassen Sie uns doch keine Spielchen treiben. Die Gegend, in der Sie aufgefunden wurden, ist von großer strategischer Bedeutung, wie Sie sehr wohl wissen. Falls Sie beim Gyongyos-Geheimdienst sind, dann sagen Sie es mir besser - Sie wissen ja, wie leicht wir die Wahrheit aus Ihnen herausbekommen können.“ „Ich fürchte, ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon Sie sprechen. Die Wahrheit ist, dass ich völlig verblüfft über das bin; was vorgefallen ist. Ich bin mitten in einem verheerenden Krieg auf diesem Planeten eingetroffen.“ „Entschuldigen Sie, aber es gibt auf diesem Planeten keinen Krieg, das wissen Sie doch ...“ Zum ersten Mal zeigten sich echte Gefühle auf Hegedus' Gesicht, ein plötzlicher Schock. „Nein, Sie wissen es nicht, wie? Sie glauben immer noch, Sie seien auf Selm-II. Sie sind nicht aus Gyongyos...“ Er kam plötzlich zu einer Entscheidung und beugte sich vor, um auf einen Knopf am Instrumentenpult in der Nähe seines Stuhls zu drücken. Brion spürte einen plötzlichen, stechenden Schmerz in seinem Unterarm und riss ihn hoch. Zu spät. Die schimmernde Nadel versank wieder in die Armlehne, nachdem sie ihre Arbeit getan hatte. Er versuchte aufzustehen, sah dann ein, dass er es nicht konnte. Er konnte auch nicht die Augen offen halten. Er tauchte in Schwärze ein ... Am ersten Tag hatte es Jeannie noch nichts ausgemacht, allein im Wald zu warten. Es war ein Vergnügen, sich nach der endlosen Wanderung auszuruhen, eine tiefe Freude, einfach am Ufer des Wasserlaufs zu sitzen und sich im fließenden Wasser die Füße zu kühlen. Durch die hohen Bäume konnte sie die treibenden weißen Wolken sehen, und gelegentlich eine Schar fliegender Echsen, die im Vorüberziehen Schreie ausstießen. Die Verpflegungsrationen waren so fade wie immer, aber sie füllten und nahmen den Appetit. Als die Sonne unterging, kühlte sich die Luft ab, also schüttelte sie ihren Schlafsack aus und schlüpfte hinein. Und legte die Pistole neben ihren Kopf, wie Brion es ihr gesagt hatte. Sie machte sich Sorgen um ihn, aber sie versuchte nicht daran zu denken. Die Bäume bildeten dunkle Flecken vor dem sternenhellen Himmel über ihr. Ihre Augen fielen zu, und sie schlief nach und nach ein. Irgendwann während der Nacht schrie ein Tier heiser im Wald und sie schreckte hoch und griff nach der Pistole. Sie hatte eben diese Schreie nach Einbrechen der Dunkelheit schon oft gehört, aber sie hatte sich nicht an ihnen gestört. Weil Brion da gewesen war. Sein stiller Körper hatte ihr die Sicherheit gegeben, wieder einschlafen zu können, weil sie wusste, dass sie sich jederzeit auf seinen Schutz verlassen konnte. Nur, er war nicht mehr bei ihr. Sie hatte Probleme, hiernach wieder einzuschlafen - und wachte mehrfach auf, um auf die fremdartigen Laute in der Dunkelheit zu hören. Von da an war es eine unruhige Nacht, und sie fiel erst nach Morgengrauen in entspannten Schlaf. Jeannie verschaffte sich den größten Teil des darauf folgenden Tages dadurch eine Beschäftigung, dass sie sich die Aufzeichnungen ansah und sie korrigierte. Der Computer im Schiff spielte sie ihr zu, und sie fügte Ergänzungen hinzu und veränderte sie, brachte sie auf den neuesten Stand. Und versuchte, nicht an Brion zu denken, wie er allein diese enge Schlucht hinauf gegangen war. Zwang sich, nicht daran zu denken, was passieren würde, wenn er irgendwelchen Panzern begegnete. Die zweite Nacht verging so unruhig wie die erste, und bei Morgengrauen war sie vor Erschöpfung ganz benommen. Sie wusch sich in dem kalten Gebirgsbach, benutzte dann den Kamm, um an ihrem Haar das wenige auszurichten, was möglich war. Die getrocknete Verpflegung schmeckte so schlecht wie immer, und sie war gerade dabei, sie mit etwas Wasser herunterzuspülen, als sie eine flatternde Bewegung zwischen den Bäumen sah. Da war etwas! Sie hatte Brion versprochen, dass sie seine Anweisungen befolgen wurde, und sie tat es augenblicklich. Griff nach der Pistole und schickte einen Hagel von Explosivgeschossen in den Wald hinein. Als sie zu schießen aufhörte, rief eine Stimme in Esperanto nach ihr. „Wir sind Freunde ...“ Weitere Geschosse folgten den ersten. Sie hatte hier keine Freunde! Sie ließ sich hinter die steinerne Barriere fallen und hielt Ausschau nach Bewegungen zwischen den Bäumen. Etwas hustete tief im Wald mechanisch auf und hinter ihr gab es plötzlich eine Explosion - dann noch eine. Wolken von übelriechendem Rauch quollen hoch und trieben über sie hinweg. Sie hielt den Atem an, doch dann musste sie atmen. Hustete, setzte sich hustend hin, legte sich, immer noch hustend, mit geschlossenen Augen auf die Seite. Sie war still und reglos, als die maskierten Männer nacheinander aus dem Wald kamen, um dazustehen und auf ihren Körper herabzublicken. 105
18 Brion öffnete blinzelnd die Augen und starrte nach oben auf die Zimmerdecke, die er nicht kannte. Seine Gedanken waren umnebelt und er brauchte einige Zeit, um sich zu erinnern, was vorgefallen war. Das Tal ... nein ... er hatte das Ende des Tals erreicht ... die schwarze Metallsäule. Dann die Soldaten, seine Gefangennahme, ein Gespräch mit einem Mann namens Hegedus. Etwas war geschehen ... er erinnerte sich jetzt, die Injektion, eine Droge, und danach ... nichts mehr. Bis auf das Gefühl, dass einige Zeit vergangen war. Er blickte nach unten und sah, dass er auf einer Art Couch lag, die an einer Wand eines großen, fensterlosen Raumes stand. Der Raum war mit einem Tisch und einigen schmucklosen Metallmöbeln ausgestattet, Stühlen, die mit dem gleichen Stoff überzogen waren wie die Couch. Den Kopf zu drehen hatte ihn benommen gemacht, und als er sich auf setzte, musste er feststellen, dass ihn das noch schwindeliger machte, und sich an der Couch festhalten, bis das Gefühl vergangen war. Jäher Zorn ersetzte das Gefühl von Übelkeit. Es gefiel ihm gar nicht, so behandelt zu werden. Und das Geheimnis von Selm-II war noch ebenso tief, wie es immer gewesen war. Er stand auf, ignorierte diesmal das Schwindelgefühl, ging zur Tür hinüber und drückte auf die Klinke. Verschlossen. Er war gerade dabei, sich abzuwenden, als er das Summen eines Mechanismus im Inneren der Tür hörte. Die Klinke bewegte sich, und die Tür öffnete sich langsam. Brion trat einen Schritt zur Seite und hob seine riesige Faust. Sie hatten ihn einmal gefangengenommen, ihn dann betäubt. Sie würden feststellen, dass dies nicht so einfach ein zweites Mal zu bewerkstelligen war. Er war ihnen etwas schuldig und wusste genau, was das war. Er spannte seine Muskulatur, als die Tür weit aufging. Achtung! Es war Jeannie, die da hereinkam. Sein Arm sank langsam herab, als sie sich ihm zuwandte. „Geht es Dir gut?“ fragte sie. „Man wollte es mir nicht sagen.“ „Wie bist Du hierher gekommen? Bist Du mir gefolgt?“ „Nein, ich bin beim Lagerplatz geblieben. Aber Soldaten nahmen mich gefangen, zwei Tage, nachdem Du fortgegangen warst. Sie haben sich leise rangeschlichen und mich gerufen. Ich erinnerte mich daran, was Du gesagt hattest, also habe ich auf sie geschossen, auch wenn ich sie nicht sehen konnte. Es gab Explosionen um mich herum, irgendwelche Granaten, nehme ich an, und Wolken von Rauch. Ich habe versucht, zu fliehen, aber es muss irgendein Gas in dem Rauch gewesen sein. Ich erinnere mich, dass ich gefallen bin, und das ist alles, bis ich vor einer Weile hier aufgewacht bin. Eine Frau kam rein, sie hat nichts gesagt, mich nur hierher geführt. Außer, dass ich keine Ahnung habe, wo dieses Hier ist oder was eigentlich vorgeht.“ Es war jetzt ein Anflug von Hysterie in ihrer Stimme, und er konnte sehen, dass sie die Hände fest ineinander verschlungen hatte. Er trat vor und nahm sie in seine Arme. „Jetzt ist alles gut. Ich weiß ein wenig mehr als Du, aber nicht viel. Ich bin dem Tal gefolgt, bis es in einem Talkessel aufhörte, einer Sackgasse. Dann sind Männer und Soldaten aufgetaucht, haben mich genau wie dich überwältigt, und ich bin in diesem Zimmer aufgewacht. Ich glaube nicht, dass sie uns was zuleide tun wollen, dazu hätten sie reichlich Zeit gehabt. Aber wer sind sie - und wie haben sie Dich gefunden? Wir brauchen ein paar Antworten...“ „Und Sie sollen sie haben“, sagte Hegedus, der gerade durch die geöffnete Tür trat. „Dr. Borriß, wollen Sie sich bitte setzen. Sie auch, .......“ „Woher kennen Sie meinen Namen?“ fragte Jeannie. „Ihr Kollege hier hat ihn uns genannt. Wir verfügen über sehr fortgeschrittene Techniken, Drogen und Maschinen, die das Gedächtnis einer Person ausloten können. Der Vorgang ist harmlos und es gibt keine Nachwirkungen. Wir haben durch Brion von Ihrem Auftrag erfahren, und wo Sie auf ihn gewartet haben, also sind wir Sie holen gegangen, bevor Sie auf dieser fürchterlichem Welt noch weitere Unannehmlichkeiten durchzustehen hatten. Das mit dem Gas tut mir leid, aber wir wussten, dass Sie bewaffnet und auf der Hut waren. Und außerdem wissen wir alles über die gute Arbeit, die Sie im Auftrag der Stiftung für kulturelle Beziehungen leisten. Wir bedauern zutiefst, dass Sie solche Schwierigkeiten hatten, und unser einziger Wunsch ist es, den Schaden wieder gut zu machen.“ „Sie können gleich damit anfangen, indem Sie uns sagen, was auf Selm-II vorgeht“, sagte Brion. „Es wird mir ein außerordentliches Vergnügen sein. Deshalb bin ich jetzt hier bei Ihnen. Setzen Sie sich bitte. Gibt es etwas, das Sie vielleicht gern hätten? Etwas zu essen oder zu trinken...“ „Nichts. Abgesehen von Ihrer Erklärung.“ Brions Geduld war erschöpft, und er stieß die Worte aufgebracht hervor. Jeannie nickte zustimmend. Hegedus setzte sich ihnen gegenüber hin und stützte seine Finger auf die übereinander geschlagenen Knie. „Um genau zu erklären, was passiert ist, muss ich, fürchte ich, einen kurzen Abriss der Geschichte dieser Welt, des Planeten Arao, abgeben ...“ „Dann - sind wir gar nicht mehr auf Selm-II?“ fragte Jeannie leicht verwirrt. Hegedus schüttelte den Kopf. „Sie sind Tausende von Lichtjahren davon entfernt, auf einem Planeten, der eine völlig andere Sonne umkreist. Arao. Unsere Geschichtsforschung hat aufgedeckt, dass dieser Planet einer der allerletzten war, die vor dem Zusammenbruch des Erdimperiums besiedelt wurden. Tatsächlich wurde er von Flüchtlingen besiedelt, die den Kriegen zu entkommen versuchten, die quer durch die bekannte Galaxis aufzuflackern begannen. Meine Vorfahren wollten in Frieden leben, und die einzige Möglichkeit, die sie sahen, dies zu verwirklichen, bestand in heroischem Kampf, Geheimhaltung, harter Arbeit und ungeheuren Opfern. „Würde es Ihnen etwas ausmachen, mit der Geschichte etwas näher an den heutigen Tag ranzukommen“, unterbrach ihn Jeannie. „Wir alle haben einiges an Kämpfen und Opfern hinter uns.“ „Natürlich! Es tut mir leid. Aber die Hintergrundinformation ist notwendig. Bitte haben Sie noch einen Moment Geduld mit mir. Wie ich schon sagte, man verschaffte sich zwei interstellare Raumer, die Überlebenden gingen an Bord, und die Schiffe flogen auf einem Kurs, der nur einigen wenigen bekannt war, in den Weltraum. Ein Planet war 106
entdeckt worden, fruchtbar und unbewohnt - weit außerhalb der Ausläufer der kolonisierten Galaxis. 50 gelangten sie nach Arao, und jedes Jahr ehren wir von Opole den Tag der Besiedlung mit einer Zeremonie ...“ Er bemerkte Jeannies finsteren Blick und fuhr eilig fort: „Doch weniger als ein Jahrhundert, nachdem wir uns hier auf dem fruchtbareren der zwei großen Kontinente niedergelassen hauen, mit denen dieser Planet gesegnet ist, brach das Unglück plötzlich über uns herein. Ein Geschwader riesiger Kriegsschiffe fiel über uns her, Überreste einer Raumflotte, die im Kampf zerrieben worden war. Sie taten das Gleiche wie wir, flohen vor dem Zusammenbruch. Zunächst kam es zu Konflikten und Todesfällen, viele starben und die Zerstörung war entsetzlich. Obwohl sie die stärkeren Waffen haften, so besaßen wir doch die größere Zahl. Am Ende siegte die Vernunft, und es wurde endlich Frieden geschlossen, bevor die gegenseitige Zerstörung jeden von uns traf. Die Invasoren erklärten sich bereit, sich auf Gyongyos niederzulassen, dem anderen Kontinent, eine halbe Welt von uns entfernt. Sie taten es und sind seither dort geblieben. Wir nähern uns nun der Gegenwart. Trotz der Tatsache, dass wir diese Welt gemeinsam bewohnten und in relativem Frieden lebten, war die Spannung allgegenwärtig. Wir als die ursprünglichen Siedler hatten das Gefühl, dass man in unsere Welt eingedrungen war und sie geschändet hatte, und dass die Gyongyonen uns eines Tages wieder überfallen und endgültig vernichten würden. Ich stelle fest, dass ich keine Sympathien für gyongyonische Politik habe, aber man kann verstehen, dass es ihnen irgendwie sinnvoll schien, weiterhin gegen uns aufzurüsten. Schließlich waren sie weniger zahlreich und mussten ein gewisses Schuldgefühl darüber empfunden haben, was sie getan hatten. Jedenfalls ist das alles längst Geschichte, und wir kommen jetzt zur Gegenwart“ „Wird aber auch Zeit“, knurrte Brion. „Geduld, bitte. Sie sehen um sich herum den freundlichen Planeten Arao, fruchtbar und mild. Im warmen Meer liegen zwei große Kontinente, bewohnt von den glücklichen Nachkommen jener beiden Siedlergruppen. Das alles wäre in der Tat das Paradies, wenn die geschichtlichen Ereignisse nicht wären, die ich Ihnen soeben kurz geschildert habe. Ihretwegen sind die Militärhaushalte der beiden Nationen wahrhaft ungeheuerlich, die Rüstung unsere führende Industrie, das Militär unsere größte gesellschaftliche Gruppierung. Der Krieg und die Kriegsdrohung sind in unseren Gedanken immer allgegenwärtig gewesen. Und es hätte geschehen können, dass wir in den Krieg gezogen wären, dieses Paradies zerstört hätten, wenn es nicht die Erfindung des Delta-Massentransporters gegeben hätte. Es waren natürlich unsere opolischen Wissenschaftler, die ihn entwickelt haben, aber gyongyonische Spione haben ihn schon bald auch ihnen zugänglich gemacht. Der DM1 war unsere Rettung, denn er hat die fürchterliche Bedrohung des Krieges und der planetenweiten Zerstörung von unserem Volk genommen.“ „Indem ihr sie zu anderen Völkern exportiert habt!“ sagte Brion. „Ich beginne zu verstehen, wo das alles hinführt.“ „Wie außerordentlich intelligent von Ihnen - obwohl es wirklich langsam offensichtlich wird. Der DM1 ist eine Abart des Überlicht-Antriebs, mit dem alle interstellaren Raumschiffe betrieben werden. Die Sternenschiffe machen ihre langen Sprünge durch den Hyperraum. Wir tun das gleiche mittels DM1“ „Aber Sie brauchen keinen Raumer, um das zu tun - nur einen Empfänger, einen Signalturm, um ihn darauf einzustellen!“ Brion schlug sich mit der Faust in die offene Handfläche. „Dieser metallene Stab - das ist ein DeltaSignalturm. Dort von Ihren Leuten eingepflanzt. Sobald ein Schiff zu einem fernen Planeten geflogen ist und eins von diesen Dingern zurückgelassen hat, können Sie auf Raumschiffe ganz verzichten.“ „Exakt. Der Plan war hervorragend. Suchschiffe flogen los, um einen geeigneten Planeten aufzutreiben, flogen immer weiter, bis sie Selm-II fanden, den idealen Kriegsschauplatz. Riesige, grasbewachsene Steppe für den Einsatz von Panzern. Die einzigen ansässigen Lebensformen einfache Saurier, die zu verschonen unsere Kampfcomputer programmiert sind. Nicht von Menschen bewohnt.“ „Ihre Leute hatten unrecht“, sagte Jeannie. „Es gibt Menschen auf dem Planeten!“ Hegedus zuckte die Achseln. „Ein kleiner Irrtum ...“ „Für Sie vielleicht. Nicht für die armen Schweine, die mitten in ihrem sinnlosen Krieg hingeschmachtet werden.“ Brion wandte sich in plötzlicher Erkenntnis Jeannie zu. „Das zerstörte Bergwerk, das wir gefunden haben, das die Eingeborenen für so heilig gehalten haben. Jetzt ergibt es einen Sinn. Als diese militärischen Schwachköpfe ihre Kriegsmaschinen vom Stapel gelassen haben, muss es dort eine Bergwerkssiedlung gegeben haben. In ihrer Eile, sich gegenseitig in die Luft zu jagen, haben diese Leute das Bergwerk überhaupt nicht bemerkt. Also kamen ihre Bomber herüber und haben es zerstört. Die Überlebenden mussten mit diesem importierten Krieg leben lernen - und genau das taten sie. Überleben. Sie haben eine Sackgassen-, eine Konzentrationslagerkultur, aber sie funktioniert. Kein Feuer, weil das die Aufmerksamkeit der Roboter auf sich ziehen würde. Kein Metall, weil es sonst entdeckt würde. Keine dauerhaften Siedlungen, die gesehen und angegriffen werden könnten. Alles ergibt auf entsetzliche Weise einen Sinn - nun, da wir wissen, was wirklich dort vorgefallen ist.“ Er wandte sich Hegedus zu. „Ihr habt Euch für einiges zu verantworten.“ Hegedus nickte. „Wir sehen es ein. Nachdem wir Ihr Gedächtnis erforscht hatten, haben wir die wahre Situation auf Selm-II erkannt. Es tut uns natürlich leid, was wir den Einheimischen angetan haben. Wir können die Uhr nicht zurückdrehen; was geschehen ist, ist geschehen. Allerdings können wir ihnen eine friedliche Zukunft bieten. Der Befehl zur Deaktivierung ist bereits ergangen. Der Krieg ist vorbei. Die Flugzeuge sind gelandet und haben ihre Triebwerke abgeschaltet. Nichts wird sich je wieder rühren, keine Bomben werden abgeworfen, keine Kanonen werden abgefeuert werden ...“ „Sehr schön für Sie“, sagte Jeannie. „Aber was ist mit den verzweifelten Überlebenden auf dem Planeten? Wollen Sie die etwa in dieser widerlichen Sackgassen-Kultur zurücklassen, die Sie ihnen aufgezwungen haben?“ „Natürlich. Wir hätten Schritte unternehmen können, ihnen zu helfen~ wenn es Ihre Gesellschaft für Kulturelle Beziehungen nicht gäbe. Ihre Organisation ist ungeheuer reich und speziell für diese Art Operation gedacht. Ich bin sicher, die Eingeborenen werden ungeheuer von Ihrer Anwesenheit profitieren.“ „Haben Sie auch davon profitiert?“ fragte Brion. „Sehen Sie jetzt ein, was für eine Verschwendung und ein wirt107
schaftlicher Wahnsinn dieser endlose Krieg für Ihre Welt gewesen ist?“ „Überlegen Sie sich gefälligst Ihre Wortwahl!“ sagte Hegedus ärgerlich und verlor zum ersten Mal die Fassung. „Sie hören sich auf gefährliche Weise wie ein Mitglied der Weltpartei an. Produktion für den täglichen Bedarf, nicht für den Krieg, mehr Konsumgüter, legale Gewerkschaften ... wir haben das alles schon mal gehört. Perverser Unsinn. Jeder, der von so etwas redet, ist ein Feind der Gesellschaft und muss ausgemerzt werden. Die Weltpartei ist illegal, ihre Mitglieder in Konzentrationslagern eingesperrt. Heere bedeuten Freiheit, militärische Schwäche ein Verbrechen ...“ Er schwieg heftig atmend, mit feinen Schweißperlen auf der Stirn. „Junge, Junge“, sagte Jeannie und lächelte süß. „Da haben wir, wie es scheint, einen wunden Punkt bei Ihnen berührt. Nach zig Hunderten von Jahren hat es den Anschein, als würden die Leute anfangen, die militärische Blödheit satt zu kriegen...“ „Seien Sie gefälligst still!“ befahl Hegedus und sprang auf. „Sie unterliegen im Moment der militärischen Gerichtsbarkeit. Sie mögen Aussenweltler sein - aber Hochverrat ist nach wie vor ein strafbares Verbrechen. Was Sie bisher gesagt haben, wird nicht beachtet. Aber jetzt sind Sie gewarnt. Weitere Bemerkungen werden bestraft. Verstehen Sie?“ „Wir verstehen“, sagte Brion gelassen. „In Zukunft werden wir unsere Zungen in Zaum halten. Bitte nehmen Sie unsere Entschuldigung an. Es war Unwissenheit, nicht böser Wille, das versichere ich Ihnen.“ Jeannie schickte sich an, zu protestieren - dann erkannte sie, was Brion da tat, und verhielt sich still. Worte würden diese kriegslüsternen Verrückten nicht aufhalten. Sie lebten praktisch mit einer militärischen und chauvinistischen Vorstellung vom Himmel. Schwenkt die Flagge, dem Vaterland dienen, recht oder unrecht, die Rüstungsindustrie aufbauen, alle Bürgerrechte abschaffen - und für immer in den Krieg ziehen! Die Generäle regierten, und sie würden niemals freiwillig den Thron der Macht räumen. Mit dieser Erkenntnis kam zugleich die Einsicht, dass sie beide hier gefangen waren. Die, die sie gefangen genommen hatten, gegen sich aufzubringen, wäre gleichbedeutend mit Selbstmord. Brions Worte entsprachen ganz ihren Überlegungen. „Da Sie dabei sind, den Krieg auf Selm-II zu beenden, müssen Sie Pläne haben, den Konflikt woanders weiter auszutragen. Hegedus nickte, holte ein Taschentuch aus seiner Seitentasche und betupfte sich damit den Kopf. „Ein anderer Planet ist aus den Aufzeichnungen der ursprünglichen Suchtrupps ausgewählt worden. Soeben finden in beiden Ländern auf höchster Ebene Konferenzen statt, und es werden Vorbereitungen getroffen, die Operation dorthin zu verlegen.“ „Dann werden wir hier nicht länger gebraucht“, sagte Brion und stand auf. „Ich nehme an, wir können jetzt nach Selm-II zurückkehren.“ Hegedus sah ihn unfreundlich an, dann schüttelte er den Kopf. „Sie werden bleiben, wo Sie sind. Ihr Fall wird soeben durch die Militärbehörde erwogen.“
19 „Welche Jurisdiktion haben Ihre Militärbehörden über uns?“ sagte Brion. Hegedus hatte sein seelisches Gleichgewicht wiedergefunden. „Kommen Sie, Brion, ich habe das erst vor wenigen Minuten ausführlich erklärt. Dieses Land befindet sich im Krieg. Es herrscht Kriegsrecht. Sie wurden in einem Kriegsgebiet aufgefunden, wie Sie an einem lebenswichtigen militärischen Ausrüstungsteil herumgepfuscht haben. Seien Sie froh, dass wir ein zivilisiertes Volk sind und Sie nicht auf der Stelle haben erschießen lassen.“ „Und aus welchem Grund halten Sie mich fest?“ fragte Jeannie. „Ihre Rabauken haben Granaten auf mich geworfen, mich daraufhin entführt. Ist es das, was ein >zivilisiertes Volk< tut?“ „Ja. Wenn Sie sich auf Spionagemission in einem Kriegsgebiet aufhalten. Aber bitte lassen Sie uns nicht streiten. Betrachten Sie sich inzwischen als unsere Gäste. Als privilegierte Gäste, denn Sie sind die ersten Aussenweltler, die je unseren Planeten betreten haben. Auch wenn wir unsere politischen Differenzen haben, sind sich Gyongyos und Opole doch über eins völlig einig. Es gibt ein striktes Verbot außenweltlicher Kontakte. Wir haben beide hier vor den Kriegen des Zusammenbruchs Schutz gesucht. Der Rest der Galaxis hat uns nichts zu bieten.“ „Die Kriege sind seit Jahrtausenden vorbei“, sagte Brion. „Sind Sie nicht ein bisschen paranoid?“ „Nicht im mindesten. Wir sind hier vollständig autark. Wir brauchen nichts von draußen. Dagegen könnten 108
Einflüsse von außen Zwänge mit sich bringen, heimtückische politische Bewegungen, die unsere glückliche Lebensart zerstören könnten. Es ist ein Glücksspiel, das wir nur verlieren können. Daher verfolgen wir eine strikte Politik der Isolation. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen. Feldwebel. Die Tür ging im gleichen Moment auf, als er die Worte gesagt hatte, und der Feldwebel kam herein und stampfte mit seinen schweren Stiefeln auf, als er strammstand. Brion erkannte dieses strenge Kommissgesicht wieder. Es war derselbe Mann, der den Trupp angeführt hatte, der ihn gefangengenommen hatte. Hegedus ging zur Tür. „Der Feldwebel wird bei Ihnen bleiben, bis ich wieder komme. Bitten Sie ihn um alles, was Sie vielleicht brauchen. Sie dürften inzwischen Hunger haben.“ „Brion merkte kaum, dass Hegedus gegangen war, denn die Erwähnung des Hungers hatte ihn plötzlich erkennen lassen, dass er völlig ausgezehrt war. Es kam ihm vor, als sei es Wochen her, seit er das letzte Mal gegessen hatte. Der Hunger war in Vergessenheit geraten, als die Ereignisse sich überstürzten - doch jetzt sprang er ihn an wie ein gefräßiges Tier: Sein Magen knurrte laut. „Feldwebel - können Sie uns was zu essen besorgen?“ „Jawohl. Was hätten Sie denn gerne?“ „Haben Sie Steaks auf diesem Planeten?“ „Wir sind nicht unzivilisiert - natürlich haben wir welche. Und außerdem Bier ...“ „Für zwei, wenn es Ihnen nichts ausmacht“, sagte Jeannie. „Kurz gebraten. Ich möchte getrocknete Proteinrationen vollständig vergessen, so lange ich kann.“ Der Feldwebel nickte und sprach einen kurzen Befehl in sein Helm-Mikrophon. Brion fühlte, wie seine Verdauungssäfte gegen seine Magenwand schwappten. Die wenigen Minuten, die vergingen, bis das Essen eintraf, erschienen ihm wie Stunden. Ein Soldat kam mit einem großen Tablett herein, stellte es auf den Tisch und ging wieder. Sie machten sich über das Essen her. „Bestes Steak, das ich je hatte“, murmelte Brion mit einem riesigen Bissen im Mund. „Ganz zu schweigen vom besten Bier“, erklärte Jeannie seufzend, als sie das beschlagene Glas absetzte. „Ihr solltet Ausflüge von den Vegetarierplaneten hierher organisieren. Ihnen zeigen, wie gutes Essen aussieht.“ „Jawohl, gnädige Frau“, erwiderte der Feldwebel, die Augen entschlossen nach vorn gerichtet, das Kinn steif und unerbittlich. „Warum trinken Sie nicht ein Bier mit uns?“ fragte Brion. „Nicht im Dienst.“ Stimme tonlos, Augen fest auf die Wand gerichtet. „Was haben Sie gemacht, bevor Sie in die Armee eingetreten sind, Feldwebel?“ fragte Jeannie, die wählerisch an ihrem Essen nagte, nun da der erste Anfall von Hunger gestillt war. Brion sah sie aus den Augenwinkeln an und nickte leicht. „Immer in der Armee gewesen.“ „Und der Rest Ihrer Familie? Auch in der Armee - oder vielleicht sind sie in Fabriken tätig...“ Die Frage wirkte ganz harmlos; doch der Feldwebel wusste es besser. Er bewegte die Augen gerade weit genug, um finster auf Jeannie herabstarren zu können, dann sah er wieder zur Wand. „Keine Diskussionen, während ich im Dienst bin.“ Ende des Gesprächs. Aber Jeannie ließ sich nicht abwimmeln. „Na gut, keine Diskussionen. Aber könnten Sie uns über den Krieg erzählen? Überwachen oder beobachten Sie ihn, oder so was?“ „Militärisches Geheimnis, darf nicht darüber gesprochen werden. Aber jeder auf Arao beobachtet den Krieg. Im Fernsehen, jeden Tag, den ganzen Tag über, sehr beliebt. Die Leute wetten auf verschiedene Ergebnisse. Sehr aufregend für jedermann.“ „Ich bin sicher, dass es das ist“, sagte Brion. Was war es noch, das er einmal in einem Geschichtsbuch über Brot und Spiele gelesen hatte? „Ich will ja nicht neugierig sein, und natürlich werden Sie nicht antworten, falls es sich um ein militärisches Geheimnis handelt. Aber benutzen eigentlich beide Länder die gleiche DMT-Einrichtung, um Selm-II zu erreichen? Die, bei der Sie mich aufgelesen haben?“ Der Feldwebel warf ihm einen kalten, durchbohrenden Blick zu, während er seine Entscheidung ab wägte. „Kein militärisches Geheimnis. Gleiche Einrichtung von beiden benutzt. Dadurch genaue Kontrolle, um dafür zu sorgen, dass die Abrüstung zu allen Zeiten equilateral vonstatten geht.“ „Was hält dann eigentlich die eine Seite - den Feind natürlich - davon ab, draußen auf der Lauer zu liegen, um eure Truppen aus dem Hinterhalt zu überfallen, sobald sie rauskommen?“ „Milneutzone. Jedem bekannt, der fern sieht. Verschlüsselte Funksendungen verhindern, dass im Umkreis von etwa fünfzig Kilometern um den Delta-Signalturm irgendwelche Kriegswaffen eingesetzt werden. Eine militärisch neutralisierte Zone.“ „Das erklärt alles“, sagte Brion. „Als ich in Richtung Signalturm das Tal heraufgekommen bin, traf ich auf einen Panzer mit defektem Laufwerk. Sonst war er voll einsatzfähig. Er hat mit seinen Kanonen auf mich gezielt - aber nie geschossen. Ist das Ihre Milneutzone?“ „Vermutlich. Kanonen im Umkreis von fünfzig Kilometern schießen nicht.“ „Haben Sie jemals gewünscht, der Krieg wäre vorbei, damit Sie „Keine weiteren Fragen!“ Der Feldwebel bellte diese Worte laut und barsch hervor. Das Gespräch war offenbar an einem Ende angelangt. Sie beendeten schweigend ihre Mahlzeit. Hatten gerade aufgegessen, als Hegedus wieder kam. Der Feldwebel stand stramm, drehte sich um und ging. „Ich hoffe aufrichtig, dass Sie Ihr Essen genossen haben ...“ „Das reicht!“ Brions Stimme war ebenso rauh wie die des Feldwebels. „Keine Höflichkeiten. Sagen Sie uns nur, was passiert ist.“ Hegedus dehnte diesen kurzen Moment der Qual aus, indem er den Raum durchquerte und sich setzte, bevor er das 109
Wort ergriff. Nachdem er zunächst die Beine übereinander geschlagen und ein Fältchen an seiner Hose glattgestrichen hatte. „Ich bin der Überbringer sehr guter Nachrichten. Auch wenn Sie ungeheure Mengen Probleme und Aufregungen verursacht haben: Wir sind kein ungerechtes Volk. Wir hatten nichts davon, den Boten zu töten, der schlechte Nachrichten bringt. Man hat beschlossen, Sie auf der Stelle nach Selm-II zurückzuschaffen. Ihre gesamte Ausrüstung wird Ihnen bei Ihrer Ankunft zurückerstattet, und ein Personalfahrzeug wird Sie auf die Ebene zurückbringen, wo Sie Ihr Schiff kommen lassen können. Dies wird unsere einzige in Betrieb befindliche Maschine sein, also brauchen Sie keine Angst zu haben. Sobald Sie aussteigen, wird auch sie bewegungsunfähig. Außerdem wird der Delta-Signalturm zerstört, nachdem Sie ihn passiert haben. Jeder Kontakt mit Selm-II wird aufhören. Für immer. „Sie lassen uns gehen - einfach so?“ Jeannie wirkte schockiert, das war das Letzte, was sie erwartet hatte. „Warum nicht? Ich sagte doch, wir sind human. Sie haben nur Ihre Pflicht erfüllt, wie Sie sie gesehen haben - und wir die unsere. Sie hatten nicht die Absicht, uns zu schaden, und Sie werden auch in der Zukunft nicht in der Lage sein, uns zu schaden.“ „Was ist, wenn wir es doch tun? Was ist, wenn wir in der Galaxis über Euch erzählen, damit die Leute herkommen können ... Hegedus lächelte kalt, während Brion ernst verneinend den Kopf schüttelte. „Das wird nicht so leicht sein vielleicht sogar unmöglich. Es gibt Millionen, wenn nicht Milliarden von Sternen in der Linse dieser Galaxis. Wie sollen wir dieses Sonnensystem je finden? Wir besitzen keinerlei Hinweise - wir haben die Sonne nicht einmal gesehen, also haben wir keine Vorstellung davon, um welchen Typ es sich handelt. Oder in welcher Richtung sie liegt. Wir haben Pech. Wenn der Delta-Signalturm weg ist, ist auch jeglicher Kontakt mit Arao beendet. Für immer. Es sei denn, Sie wollen Kontakt mit uns aufnehmen.“ „Nicht die geringste Chance, dass das passiert“, sagte Hegedus. „Und was Sie sagen, stimmt genau. Wir wollen Ihre Einmischung nicht, noch werden wir sie uns je bieten lassen. Offiziell habe ich Ihre subversiven Parteisprüche vergessen - doch persönlich weiß ich, was Sie empfinden. Ihre quasi-wohltätige Gesellschaft für Kulturelle Beziehungen wird sich hier nicht einschleichen und unsere glückliche Art zu leben verändern. Die Arbeiter aufstacheln und Zwietracht stiften. Wir mögen uns so, wie wir sind. Sie werden gar nichts verändern. Wir werden jetzt gehen. Je weniger Sie über uns wissen, desto glücklicher werden wir sein. Feldwebel!“ „Jawohl!“ sagte der Feldwebel und riss im gleichen Augenblick, in dem der Befehl kam, die Tür auf. „Veranlassen Sie Ihren Trupp, dass diese zwei sofort in die Transmissionszone gebracht werden. Sie haben unterwegs mit niemandem zu sprechen.“ „Wie Sie befehlen!“ Der Trupp bestand aus acht Männern, schwerbewaffnet und vollausgerüstet. Sie betraten unter reichlich Stampfen und Gerätegeklapper den Raum. Mit schussbereiten Gewehren nahmen sie, den gebrüllten Befehlen des Feldwebels Folge leistend, Aufstellung. Jeannie hatte sich bisher beherrscht, doch dieses ganze Gestampfe und Gebrüll und der militärische Unsinn waren zu viel für sie. „Mörderischer Wahnsinn! Ihr Kerle seid die blödesten ...“ „Ruhe!“ bellte der Feldwebel und schob sie zur Tür. Und zielte auf Brions instinktive Bewegung in seine Richtung hin mit der gezogenen Pistole auf ihn. „Befolgen Sie die Befehle, und es wird Ihnen nichts geschehen. Vorwärts Marsch.“ „Es gab absolut nichts, was sie hätten tun können. Brion hielt Jeannies Arm fest, spürte, wie er zitterte, und wusste, dass es sich dabei nicht um Angst, sondern um Wut handelte. Ihm ging es genauso. Es war enttäuscht. Er war bereit, alles zu versuchen - aber nichts, was er tun konnte, würde etwas am Ergebnis ändern. Sie waren auf dem Weg zurück nach Selm-II. Tot oder lebendig. Und der Irrsinn und die Verschwendung dieses Krieges würden sich fortsetzen, solange dieser Planet noch Ressourcen besaß, die man ausbeuten konnte. Sie marschierten den langen, metallenen Korridor entlang, ihre Schritte dröhnten im Gleichtritt. Vier Soldaten vor ihnen, vier hintendrein. Und der Feldwebel, ein bedrohlicher Bewacher, ging nur einen Schrift hinter ihnen. „Wenn es nur etwas gäbe, was wir tun könnten“, sagte Jeannie. „Es gibt nichts. Du darfst Dir darüber nicht den Kopf zerbrechen. Wir haben unser Bestes getan. Auf Selm-II ist der Krieg vorbei, den Menschen dort wird man helfen.“ „Aber was ist mit den Menschen auf diesem Planeten? Soll ihr Leben durch diesen sinnlosen Krieg eingeengt und beschnitten werden ... „Keine Gespräche“, brüllte der Feldwebel so dicht hinter ihnen, dass seine Stimme in ihren Ohren schmerzte. „Ich übernehme hier das Reden. Augen geradeaus. Weitergehen.“ Und dann sprach er noch einmal, in einem so leisen Flüsterton, dass sie ihn über dem Geräusch der marschierenden Stiefel gerade noch verstehen konnten. „Wissen Sie, wir sind nicht alle wie Hegedus. Er ist General. Das hat er Ihnen nicht erzählt. Wir haben über sechstausend Generäle in der Armee. Die verdienen mehr Geld als ein Feldwebel, das kann ich Ihnen sagen. Drehen Sie sich nicht um, sonst sind wir geliefert! Das Zimmer war voller Wanzen. Ich habe alles gehört, was gesprochen wurde. Keine Wanzen in diesem Korridor. Uns bleiben nur ein paar Augenblicke. Für Leute wie mich gibt's nur die Armee oder die Fabriken. In den Fabriken wird neun Tage in der Woche gearbeitet. Kein Fleisch, niemals. Das war ein Generalssteak, das Sie da gegessen haben. Das muss aufhören. Vielleicht könnt Ihr uns helfen. Erzählt allen von uns. Erzählt ihnen, dass wir Hilfe brauchen. Dringend.“ Am Ende des Korridors gab es eine große Tür, die von zwei Soldaten bewacht wurde. Die Tür öffnete sich, als sie näher kamen. „Es ist soweit“, sagte die flüsternde Stimme. „Du, Brion Brand, dreh dich um und sag etwas, bevor wir die Tür erreichen. Ich werde dich stoßen. Halte die Hand an die Brust ... jetzt!“ 110
Brion tat einen Schritt, dann noch einen. Meinte der Mann es ernst? Oder war dies eine sadistische Falle, die Hegedus ihnen stellte? Sie hatten die Tür fast erreicht. Es könnte sich einfach nur um einen Plan handeln, sie beide zu töten. „Tu's!“ zischte Jeannie. „Sonst tu ich's, verdammt!“ „Ihr könnt uns nicht so zum Gehen zwingen“, brüllte Brion und drehte sich auf dem Absatz um. „Halt Du nur die Klappe!“ brüllte der Feldwebel wütend und stieß mit der Hand so fest gegen Brions Brust, dass der zurückgedrängt wurde und hinfiel. „Hebt ihn auf! Schleppt ihn hinein! Die Frau auch!“ Sie wurden beide von rauhen Händen ergriffen, durch die Tür in den dahinterliegenden großen Raum gezerrt. Auf den zerkratzten Metallboden geschleudert. Die Soldaten wichen zurück, richteten die Gewehre auf sie, während sie sich entfernten. „Zieht das an“, befahl ihnen der Feldwebel, als Techniker mit zwei dicken, schwarzen Anzügen vortraten. Sie wurden wortlos angekleidet, die Anzüge wurden geschlossen, die Visiere heruntergeklappt. Dann waren sie in der Mitte des metallverkleideten Bereichs allein. Brion hob die Hand zu einem Abschiedsgruß, als sie von der Kraft erfasst wurden ... Sie standen auf hartem Fels, von einer warmen Sonne beschienen. Beim Geräusch einer plötzlichen Explosion wirbelte Brion herum; der Delta-Signalturm war nur noch ein Haufen rauchender Trümmer. Er streifte seinen Anzug ab, dann half er Jeannie mit ihrem. „Was ist passiert?“ fragte sie im gleichen Augenblick, als ihr Kopf von dem Helm befreit wurde. „Er hat mir dies gegeben“, sagte Brion und öffnete langsam seine Faust. Ein gefalteter Zettel lag auf seiner Handfläche. Er entfaltete ihn langsam und lächelte angesichts der Zahlenreihe, die hastig darauf gekritzelt war. „Ist es das, was ich glaube?“ fragte Jeannie. „Das ist es. Galaktische Koordinaten Eine Sternenposition in Bezug auf den Navigationsmittelpunkt. Ein Stern, eine Sonne ...“ „Mit einem Planeten namens Arao! Die Leute bei der G.K.B. werden sicher ihren Spaß daran haben, eine Sozialstruktur zu entwerfen, die sich den Menschen gegenüber etwas verantwortlicher verhält, als die bisherige. „Alles wäre eine Verbesserung. Ich möchte mich für diese Aufgabe freiwillig melden. Das wird eine, die mir Spaß machen wird.“ „Sag lieber uns. Es kann Jahre dauern, bis sie erledigt ist. Aber ich verspreche, geduldig zu sein. Weil ich nämlich nach all dem Warten dann Hegedus' Gesichtsausdruck sehen darf, wenn wir das Zimmer betreten.“ Die Sonne hing über dem Tal und reflektierte hell schimmerndes Licht von dem kleinen Kettenfahrzeug, das dort stand. Als sie zu ihm hinübergingen, wurde der Motor angelassen und das Fahrzeug vibrierte sanft, während es darauf wartete, dass sie einstiegen. „Die letzte Maschine“, sagte Brion, als sie die Tür schlossen und das Fahrzeug sich in Bewegung setzte. Auf dem Sitz stand eine Kiste, in der sich ihre gesamte Ausrüstung unversehrt wiederfand. Jeannie nahm den Sender heraus und reichte ihn Brion. „Ruf bitte das Rettungsschiff. Gib ihm dringliche Anweisungen, damit es auf uns wartet, wenn wir hier herauskommen. Ich habe genug von diesem Planeten - genau wie vom letzten.“ Dort, wo das Flusstal in die grasbewachsene Ebene überging, stand die silberne Nadel des Raumschiffes vor ihnen. Das Robotfahrzeug hielt an - und es wurde still, als der Motor erstarb. Nach all den Jahrhunderten der Zerstörung war der Krieg endlich zu Ende.
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