Christian Tielmann
Der Rächer von Athen Die Zeitenläufer #04
s&c 10/2008
Die Zeitenläufer Henrik, Lenz, Fenne, Silves...
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Christian Tielmann
Der Rächer von Athen Die Zeitenläufer #04
s&c 10/2008
Die Zeitenläufer Henrik, Lenz, Fenne, Silvester und Cornelia greifen ein! Im geheimen Auftrag ihrer Lehrmeisterin reisen sie durch die Jahrhunderte und verändern den Lauf der Weltgeschichte. Als sie ein Hilferuf des Orakels von Delphi erreicht, steht für sie außer Frage, dass sie ins antike Griechenland reisen. Denn dort steht die aufkeimende Demokra tie vor dem Aus, weil gegen ihren Verfechter Perik les ein Mordkomplott geschmiedet wird. ISBN: 978-3-570-13384-2
Verlag: cbj
Erscheinungsjahr: 2008
Umschlaggestaltung: Michael Bayer
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Christian Tielmann
Der Rächer von Athen
Mit Illustrationen von
Michael Bayer
Autor
Christian Tielmann wurde 1971 in Wuppertal gebo ren. Er studierte Germanistik und Philosophie in Freiburg und Hamburg. Heute lebt er in Köln. Seit 1999 schreibt er für verschiedene Verlage Kinderund Jugendbücher.
cbj ist der Kinder- und Jugendbuchverlag in der Verlagsgruppe Random House
Mix Produktgruppe aus vorbildlich
bewirtschafteten Wäldern und
anderen kontrollierten Herkünften
Zert.-Nr.SGS-COC-1940
www.fsc.org
© 1996 Forest Stewardship Council
Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100
Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier
Munken Premium liefert Arctic Paper Munkedals AB, Schweden
Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform 1. Auflage 2008
© 2008 cbj, München
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagbild und Innenillustrationen: Michael Bayer
Lektorat: Martina Patzer
Umschlagkonzeption: schwecke.mueller Werbeagentur GmbH,
München
MP • Herstellung: WM
Satz und Reproduktion: Uhl + Massopust, Aalen
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-570-13384-2
Printed in Germany
www.cbj-verlag.de
Die Zeitenläufer
1. Kapitel
N
iemand konnte ihr ansehen, von wann sie kam. »Hallo, Fenne!« Lenz saß auf der Holzbank am Tisch im Garten. Die Hausaufgaben waren erle digt, seine Eltern hatten das Haus gerade verlassen, um zu einer Theaterprobe zu rennen – der ganze schöne freie Nachmittag lag vor ihm, die Sonne schien, und jetzt kam auch noch seine Freundin aus dem Mittelalter zu Besuch. Dieser Dienstagnachmit tag war perfekt. »Was auch immer du tust – mach eine Pause!« Das rothaarige Mädchen trat an den Tisch. Es konnte ihr wirklich niemand ansehen, dass sie gerade aus dem Mittelalter durch ein Zeitloch zu Lenz ins einundzwanzigste Jahrhundert gereist war: Fenne hatte die alten Turnschuhe von Lenz an den Füßen, ihre Beine steckten in einer Jeans und darü ber trug sie ein T-Shirt. Sie sah einfach aus wie ein ganz normales, ziemlich hübsches Mädchen aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert, das mitten in Köln einen Klassenkameraden besuchte. Aber das war nicht der Fall. 6
Das schmale, niedrige, uralte Fachwerkhaus in der Kettengasse, in dem Lenz mit seinen Eltern lebte, hatte nämlich ein Geheimnis: In seinem Keller befand sich ein Zeitloch! Lenz und sein Freund Henrik hat ten es irgendwann zufällig entdeckt. Durch dieses Loch war es ihnen möglich, in die Vergangenheit zu Fenne zu reisen – und es war Fenne möglich, zu Lenz in die Zukunft zu kommen. »Willst du wieder Eis essen gehen?«, fragte Lenz. Alle mögen Eis. Aber Fenne aus dem Mittelalter war fast in Ohnmacht gefallen, als Lenz ihr das erste Mal in ihrem Leben eine Kugel gekauft hatte. Fennes blaue Augen leuchteten und schienen: »Ja! Unbedingt! Komme, was da wolle!« zu sagen, aber Fen nes Mund sagte: »Geht nicht. Wir haben keine Zeit.« Sie reichte Lenz einen Brief. Seine Hände began nen zu zittern. Der Brief war versiegelt. Und dieses Siegel kannte Lenz: Es war ein großes W – das Zei chen der Alten Wöhr. »Ich hoffe, du weißt die Antwort auf ihre Frage.« Fennes Miene verfinsterte sich, als sie auf den Brief sah. »Sonst haben wir nämlich echt ein Problem.« Lenz brach das Siegel auf, faltete das Papier ausei nander und las die knappen Zeilen. Er las sie wieder und wieder. Und er traute seinen Augen kaum. Denn das, was er da las, war nicht nur eine Nummer größer als alles, was sie bisher erlebt hatten. Es war minde stens zwei Nummern zu groß. Hier ging es um … Lenz schluckte. Wie in einem rasanten Film sausten vor seinem in neren Auge die Abenteuer vorbei, die er mit Fenne, Henrik, Silvester und Cornelia erlebt hatte. Sie waren 7
Zeitenläufer, Kinder, die so klein, leicht und jung waren, dass sie durch Zeitlöcher in verschiedene Zeiten der Weltgeschichte reisen konnten. Im Auftrag der Alten Wöhr hatten sie schon mehr als eine Zeit reise unternommen. Ungefährlich war es eigentlich nie gewesen, aber hier und jetzt ging es um … »Mord!«, hörte Lenz sich selbst sagen. Er rieb sich die Augen. Aber es blieb dabei – die Alte Wöhr suchte einen Mörder: Lieber Lenz! Ich benötige eure Hilfe in einem nicht ganz ungefähr lichen Fall. Im Jahre 461 v. Chr. wurde in Athen ein griechischer Staatsmann namens Ephialtes ermordet. Es ist von größter Wichtigkeit, dass wir schnell erfah ren, wer der Mörder war. Sammle alles, was Du über diesen Mord in Erfahrung bringen kannst, und bring es mir. Fenne und Henrik werden Dir helfen. Bis gleich! Wöhr Lenz sah Fenne an. »Ich habe diesen Namen ›Ephial tes‹ noch nie gehört.« Er lief durch den Garten auf das Haus zu. »Aber wir können ja mal im Lexikon nachschlagen.« Sie gingen durch den schmalen Flur, stiegen die Treppe hinauf ins erste Stockwerk des Hauses und betraten das kleine Studierzimmer von Lenz’ Eltern. Lenz zog direkt das knallrote Lexikon heraus, in dem alles über die alten Griechen stehen sollte. Er fand tatsächlich einen Eintrag. 8
»Hast du den Mörder?«, fragte Fenne. »Nicht direkt.« Lenz setzte sich und legte das dicke Buch vor sich auf den kleinen Tisch. »Ephialtes«, las er vor. »Griechischer Staatsmann, radikaler Demo krat. Gegner von Kimon. 461 ermordet.« Fenne schüttelte den Kopf. »Tolles Buch! Das ist alles nichts Neues für uns! – Selbst von diesem Kimon hat die Alte Wöhr schon gehört.« Lenz seufzte und klappte das Buch zu. »Wenn es noch jemanden gibt, der mehr weiß, dann ist es …« Er sah hinüber zu Fenne, die mit dem Rücken zum Fenster stand. Und dann sagten sie beide gleichzeitig den Spitznamen von Lenz’ Onkel: »Doktor Mo.« Lenz seufzte. »Aber der wird eine Gegenleistung erwarten.« Fennes Augen begannen zu leuchten, als würde sie sich auf mindestens drei Kugeln Erdbeereis freuen. Sie strich sich eine ihrer roten Haarsträhnen hinters Ohr und lächelte. »Da mach dir mal keine Sorgen. Für den Fall habe ich vorgesorgt.« Doktor Mo war definitiv ein ziemlich verrückter Kauz. Er hatte fast nie Geld, und wenn doch, steckte er es sofort in eine abenteuerliche Forschungsreise. Denn nichts interessierte Doktor Mo so sehr wie die Ge schichte der Menschheit. Je älter, desto besser. In Ägypten hatte er die halbe Wüste umgegraben, aber außer ein paar alten Sandalen so gut wie nichts gefun den. Er wohnte nicht weit von der Kettengasse, blieb aber am liebsten für sich. Wenn Lenz allerdings mit Fenne und Henrik auftauchte, dann ließ Doktor Mo 9
alles stehen und liegen. Denn dass die drei Kinder Zeitenläufer waren, hatten sie ihm vor einiger Zeit anvertraut. Und bei Doktor Mo war dieses Geheimnis sicher aufgehoben. Denn selbst wenn er es herumer zählt hätte: Lenz’ Onkel hatte schon so viele verrückte Theorien aufgestellt, dass ihm sowieso kein Mensch mehr glaubte. Auf dem Weg zu Doktor Mo machten Lenz und Fenne noch einen Umweg, um Henrik zu Hause aufzugabeln. Der Junge mit dem strahlendsten Lä cheln in der Geschichte der Menschheit überschütte te sie mit Fragen: »Wie lautet unser Auftrag? Wo sollen wir hin? Welche Zeit? Welcher Ort? Fliegen wir wieder mit Lenz’ verrücktem Onkel irgendwohin? Sind Cornelia und Silvester auch dabei?« Henrik tat immer so, als wären sie regelrechte Ge heimagenten. Und normalerweise war Henrik auch keines ihrer Abenteuer abenteuerlich genug. Als Lenz ihm allerdings sagte: »Wir suchen einen Mörder«, da wurde selbst Henrik schweigsam. Kurz darauf stiefelten die drei die ausgetretenen Stufen hinauf in den fünften Stock und traten durch die stets unverschlossene Tür in Dr. Mos Wohnung. Lenz’ Onkel saß an einem seiner drei Schreibtische, hatte den Kopf zwischen Bergen von Büchern vergraben und sah kaum auf, als Lenz und seine Freunde hereinkamen. Aber es war genauso, wie Lenz gedacht hatte. Als Fen ne leise »Hallo!« sagte, interessierte sich Doktor Mo plötzlich nicht mehr für seine Bücher. Stattdessen begann er sofort, das Mädchen aus dem Mittelalter mit Fragen zu löchern: »Hast du eigentlich in deiner Zeit mal einen Wikinger in Köln gesehen?«, fragte er. »Ich 10
meine, einen echten? Habt ihr Überfälle erlebt? Könn te es sein, dass in einem alten Seitenarm vom Rhein ein Wikingerboot liegt? Ich überlege gerade, ob ich da eine Ausgrabung organisieren soll. Es ist sehr interessant, wenn man sich nämlich mal den Verlauf des Rheins genauer ansieht, dann fällt auf, dass …« »Wir brauchen deine Hilfe«, unterbrach Lenz sei nen Onkel. Denn wenn Doktor Mo einmal ins Reden kam, war er so schnell nicht mehr zu stoppen. »Weißt du, wer Ephialtes ermordet hat?« »Ephialtes, den Griechen?« Doktor Mo verzog das Gesicht. »Was hat der mit den Wikingern zu tun?« »Nichts«, sagte Fenne knapp. »Aber wir reden auch gar nicht von Wikingern.« »Nein?« »Nein. Sie reden von Wikingern. Wir reden von Griechen.« Fenne sah sich mit einer Mischung aus Interesse und Ekel in Doktor Mos Arbeits-Wohn und-Lebezimmer um. Lenz konnte es ihr an der Nasenspitze ansehen: Fenne war einiges gewöhnt, aber so eine Unordnung hatte sie noch nie gesehen. Doktor Mos Wohnung war eigentlich nicht klein. Sie hatte zwei großzügige Zimmer und eine Wohnküche – eigentlich. Aber uneigentlich hatte Doktor Mo die blöde Angewohnheit, ein Buch, das er nicht mehr weiterlesen wollte, dort liegen zu lassen, wo er es gerade gelesen hatte. Und er las einfach überall: In der Küche, im Bad, im Schlafzimmer und im Arbeits Wohn-und-Lebezimmer türmten sich die Bände. Dazwischen vergammelten allerlei Pizzakartons, leere Wasserflaschen und hin und wieder Geschirr – es war ein einziger Schweinestall. 11
»Sie müssen mal aufräumen!«, sagte auch Henrik. Doktor Mo lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl weit zurück und grinste. »Irrtum! Hier ist alles am Platz, mein lieber Schlaumeier-Henrik. Aber nur kluge Köpfe finden sich in dieser Ordnung zurecht!« Lenz nahm sich fest vor, sich diese Ausrede zu merken – falls seine Mutter mal wieder meinte, dass er sein Zimmer unterm Dach aufräumen sollte. »Wir müssen wissen, wer Ephialtes umgebracht hat. Und zwar schnell!« Fenne ließ nicht locker. »Du meinst Ephialtes, den Freund des Perikles und Feind des Kimon?«, fragte Lenz’ Onkel. Fenne nickte. Doktor Mo drehte sich in seinem Schreibtischstuhl zu dem Computer, der hinter ihm auf dem zweiten Schreibtisch stand, um. »Das haben wir gleich.« Er lächelte. »Aber wenn ich euch diesen Gefallen tue, dann könnt ihr doch sicherlich auch etwas für mich tun, oder?« Lenz verdrehte die Augen. So war er. Genau so war sein Onkel. Eigentlich nett, aber wenn er ir gendwo ein gutes Geschäft witterte, konnte Doktor Mo sich das auf keinen Fall durch die Lappen gehen lassen. Aber Fenne hatte an alles gedacht. »Wie wäre es, wenn wir Ihnen einen Original-Bundschuh aus dem Mittelalter besorgen? Garantiert 800 Jahre alt. Sie müssen ihn nur noch ausgraben.« Doktor Mo drehte sich um, grinste, zeigte auf Fenne und sagte zu Lenz: »Sie hat’s raus! Sie hat’s absolut raus, wie man mit einem Mo ins Geschäft kommt. Abgemacht! Wo ist der Schuh?« 12
Aber Fenne schüttelte den Kopf. »Erst den Mör der!« Doktor Mo lachte. »Erst die Ware, dann die Bezah lung, wie?« Er wandte sich wieder dem Computer zu. »Dann wollen wir mal sehen.« Er durchsuchte ein paar Spezialdatenbanken und fand innerhalb kürze ster Zeit etwas heraus. »Wir wissen fast nichts über den Mörder. Aber wir haben seinen Namen.« Er nahm seine runde Brille ab, putzte sie am Hemdzipfel und setzte sie wieder auf die Nase. »Es gibt eine Stelle in einem Buch von Aristoteles, da wird der Name des Mörders genannt.« Doktor Mo stand auf und lief mit hängendem Kopf durch das Zimmer. »Hatte ich neulich noch in der Hand«, murmelte er, während er die Bücher auf dem Fußboden durch suchte. »Hier!« Er zog ein kleines Büchlein hervor und schlug nach. »Der Mörder des Ephialtes war: Aristodikos aus Tanagra.« Er las noch weiter, zuckte dann aber mit den Schultern. »Mehr steht hier wirk lich nicht zu diesem Mord. Wenn ihr mich fragt, steckte eher dieser Kimon dahinter. Denn Ephialtes hatte ihn ja entmachtet und dafür gesorgt, dass er verbannt wurde, wenn ich mich nicht irre.« Lenz ließ sich die Stelle von seinem Onkel zeigen und schrieb den Namen ab. »Dürfen wir uns das Buch ausleihen und es der Al ten Wöhr zeigen?«, fragte Lenz. Doktor Mo nickte. Er bückte sich noch einmal und reichte Lenz auch ein Griechisch-DeutschWörterbuch. »Falls die Alte Spaß an der griechischen Schrift bekommt: Hier steht so ziemlich alles drin, was sie wissen muss, um Aristoteles im Original zu 13
lesen. In ihrer Zeit gab es ja kaum Leute in Köln, die Griechisch lesen konnten.« Lenz steckte beide Bücher in seinen Rucksack. »Und jetzt raus mit der Sprache: Wo ist der Bund schuh?« Doktor Mo rieb sich die Hände. »In einem gut verschlossenen Tonkrug unter der Petersilie«, antwortete Fenne. »In Lenz’ Garten.« Doktor Mo schmunzelte. »Danke, Fenne.« Die drei Kinder waren schon fast aus der Tür, als Lenz’ Onkel noch rief: »Ach, Fenne, wenn du das nächste Mal im Mittelalter bist: Könntest du mir wieder etwas vergraben?« »Natürlich, Doktor Mo, natürlich.«
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Aus den geheimen Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil I Fenne, Lenz und Henrik waren zusammen mit Cornelia und Silve ster auf dem besten Weg, die tüchtigsten Zeitenläufer zu werden, die ich jemals durch die Weltgeschichte geschickt hatte. Die fünf Freun de aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert, aus meiner Zeit und aus dem antiken Rom ergänzten sich auf ganz vorzügliche Weise. Sie hatten ihr außergewöhnliches Können schon auf mehr als einer Zeitreise unter Beweis gestellt. Sonst hätte ich es niemals gewagt, sie in dieser Sache einzusetzen. Ich selbst war in meiner Kindheit als Zeitenläuferin kreuz und quer durch die Weltgeschichte gereist – im Auftrag meines Lehrers Gran wolf. Auf diesen Reisen habe ich gelernt, dass es oftmals kleine Korrekturen der Geschichte sind, egal ob gezielt unternommene oder zufällige, die großes Unheil verhindern können. Und es braute sich ganz gewaltiges Unheil zusammen im alten Athen.
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2. Kapitel
N
un mach schon, Lenz! Die Alte Wöhr wartet!« Henrik tigerte in Lenz’ Zimmer auf und ab. »Was willst du denn noch alles mitnehmen? Wir ge hen doch nur zur Wöhr!« Aber Lenz schüttelte den Kopf. »Ich habe es mir geschworen: keine Zeitreise mehr ohne Taschenlam pe, Taschenmesser und Kompass. – Egal wie kurz oder lang die Reise dauern soll.« »Du musst aufpassen, dass du nicht zu schwer wirst, Lenz«, mahnte Fenne. »Sonst bleibst du im Zeitloch hängen und das ist sicher nicht gerade ange nehm.« Lenz machte eine wegwerfende Handbewegung und fand endlich die Minitaschenlampe, die er auch noch in die flache Gürteltasche, die er sich gekauft 16
hatte, steckte. »Ich wiege doch fünf Kilo weniger als Henrik – solange er noch durchs Zeitloch passt, kann ich ein paar Kilo Gepäck mitnehmen.« Er verstaute die Gürteltasche unter seinem T-Shirt, schnappte sich die beiden Bücher, die er von Doktor Mo ausgeliehen hatte, und marschierte vor Henrik und Fenne aus seinem Dachzimmer hinunter in den Keller des Hau ses. Das Zeitloch schwebte wie immer vor dem alten Kleiderschrank und über ein paar Pappkartons, die schon seit dem Umzug im Keller standen. Man hätte es für einen Schatten halten können. Aber das Zeit loch war kein Schatten. Denn es gab zwischen der nackten Glühbirne, die den Keller erhellte, und dem Loch keinen Gegenstand, dessen Schatten das Loch hätte sein können. Fenne machte den Anfang. Sie kletterte über die Kisten rauf zum Loch, hielt sich am Rand fest und stieg mit den Beinen zuerst hinein. Lenz hatte sich mittlerweile an diesen Anblick gewöhnt: Während Fenne immer tiefer in das Zeitloch glitt, verschwand ihr Körper einfach. Zum Schluss hielt sie sich im Zeitloch an einem Griff aus Marmor, dem Zeitanker, fest. Von außen war nur noch ihr Kopf zu sehen, der ohne Körper vor dem alten Kleiderschrank im Keller zu schweben schien. »Bis gleich!«, sagte Fenne. Dann ließ sie den Zeit anker los und auch ihr Kopf tauchte ab ins Loch. Auf dieselbe Weise verschwand auch Henrik. Dann war Lenz an der Reihe. Er hielt mit der einen Hand die beiden Bücher umklammert, kletterte über die Kisten hinauf und fragte sich, wie man wohl jemals 17
aus einem Zeitloch wieder herauskäme, wenn man eben doch zu schwer geworden war. »Zur Not lass ich das dicke Wörterbuch los«, murmelte Lenz. Er setzte sich auf den Rand des Lochs und ließ die Beine hineingleiten. Dann hielt er sich mit der linken Hand am Zeitanker fest, wäh rend er mit der rechten die beiden Bücher umklam merte. Der Zeitanker sah aus wie eine zu groß gera tene Häkelnadel. Er war aus einem Stück Marmor geschlagen. Das obere, zu einem Haken geformte Ende hing am Rand des Lochs. Das untere Ende war eine Art Griff, der eigens für Kinderhände geschaf fen war. Lenz ließ sich ganz ins Loch gleiten. Dann ließ er den Zeitanker los. Es war pechschwarze Nacht im Loch, und wie immer hatte Lenz das Gefühl, er wür de fallen, ohne sagen zu können, ob er gerade abwärts oder aufwärts fiel. Normalerweise ruderte Lenz im Zeitloch sofort wie wild mit den Armen, um den zweiten Zeitanker nur ja nicht zu verpassen. Aber diesmal hatte er etwas anderes im Sinn. Er zog die kleine Taschenlampe aus der Gürteltasche und blät terte in aller Eile die Seite im Grammatikteil des griechischen Wörterbuchs auf, auf der das griechische Alphabet erklärt wurde. Erst als Lenz diese Seite überflogen hatte, begann er, nach dem zweiten Zeit anker zu rudern. Er spürte schon bald den kalten Marmor in seiner Hand. Dann zog er sich aus dem Loch. »Was war los?«, fragte Henrik, als Lenz seinen Kopf aus dem Zeitloch steckte. »Hast du unterwegs noch Pipi gemacht?« 18
Fenne kicherte. »Nein, ich musste nur noch kurz die griechische Schrift lernen.« Lenz schwang ein Bein über den Rand des Lochs. Es war seine Entdeckung gewesen: Im Zeitloch hatte er eine Art fotografisches Gedäch tnis. Selbst wenn er die Seiten eines Buches nur durchblätterte und gar nicht richtig las – wusste er, wenn er wieder aus dem Zeitloch stieg, alles, was in dem Buch stand. Auf diese Weise hatte er schon früher die ägyptische Hieroglyphenschrift innerhalb von ein paar Minuten gelernt. Leider funktionierte dieser Trick nur im Zeitloch, sonst wäre Lenz in der Schule garantiert besser gewesen. Vor ihm lag genau derselbe Raum, den er gerade im einundzwanzigsten Jahrhundert durch das Zeitloch verlassen hatte – aber in einer anderen Zeit. Und das konnte man dem Keller deutlich ansehen: Der Klei derschrank war ebenso verschwunden wie die Papp kartons. Auf einem Baumstumpf-Hocker saß eine alte Frau, die mit ihren schlohweißen Haaren, dem Buk kel und ihrem Richtung Nase gebogenen Kinn aussah wie eine Hexe. Sie schlürfte einen Tee, den Lenz kannte und fürchtete wie fast nichts anderes im Mit telalter. Dieses Gesöff braute die Alte Wöhr, denn so hieß die alte Frau, aus Brennnesseln, Nacktschnek ken, zerhackten Kellerasseln und gebratenen Regen würmern. Jedenfalls schmeckte es so. »Lenz, komm zu uns, nimm dir einen Tee.« Die Al te Wöhr nickte ihm freundlich zu. Fenne saß schon auf ihrem Lieblingsplatz auf einer der beiden Steinbänke, die in der Wand verankert waren. Sie schlürfte tatsächlich den Ekel-Tee der 19
Alten Wöhr, während diese einen Kelch auf den Tisch stellte, der Lenz ein bisschen an einen Pokal erinner te. »Habt ihr was für mich?«, fragte die Alte Wöhr. Lenz sprang hinunter in den Keller während Hen rik berichtete: »Nur einen Namen. ›Aristoteles aus Niagara‹ oder so ähnlich hieß der Mörder.« »Aristodikos aus Tanagra«, verbesserte Lenz. Er setzte sich auf den zweiten Baumstumpf-Hocker an den Tisch und bedankte sich mit einem Lächeln, von dem er hoffte, dass es nicht allzu gequält aussah, für den Becher mit Ekel-Tee, den die Alte Wöhr ihm in die Hand drückte. »Mein Onkel hat nachgeschlagen. In unserer Zeit weiß man nur den Namen des Mör ders. Sonst nichts.« Er reichte der Alten Wöhr das Buch von Aristoteles, das Doktor Mo ihm mitgegeben hatte, und das Griechisch-Deutsch-Wörterbuch. Die Alte nahm die beiden Bücher, dankte Lenz und legte die Bände quer über ihre Oberschenkel. »Der Name wird hoffentlich schon reichen!« »Für wen oder was?«, fragte Henrik. Die Alte Wöhr lächelte. »Ich wusste, dass ihr das fragen würdet.« Sie deutete auf den Kelch, der in der Mitte des Tisches stand. »Wisst ihr, was das ist?« Lenz und Henrik zuckten mit den Schultern. »Ein Becher?«, fragte Lenz. »Oder ein Fußballpokal?« Henrik grinste. »Viel leicht auch der Pokal für den besten Zeitenläufer? Oder nein, ich weiß!« In seinen braunen Augen blitzte der Größenwahn auf. »Es ist der Gral!« Die Alte Wöhr lachte. »Was weißt du schon vom Gral, Henrik! Nein, das hier ist ein sehr nützliches 20
Gerät, das mein Lehrer Granwolf ersonnen hat. Es ist ein Nachrichten-Empfänger.« »Ein Radio?«, fragte Lenz. Der Kelch sah eigent lich aus wie ein ganz normales Gefäß, aus dem man trinken konnte. Die Alte Wöhr nahm einen Krug Wasser vom Boden. »Seht es euch selbst an.« Sie goss etwas Wasser ein und schwenkte den Kelch dann so herum, dass das Wasser die Innenseiten benetzte. Erst passierte gar nichts. Aber dann sah Lenz eine grünliche Schrift aufscheinen. »Hilf Athen, Wöhr! Handle schnell! Schick Zeiten läufer!« Kaum war das Wasser abgeperlt, verschwand auch die Schrift wieder. Die Alte Wöhr schwenkte den Kelch noch einmal. Und schon erschien die grünliche Schrift wieder. »Worauf wartest du?« Und dann wiederholte sich nur noch: »Hilf uns! Hilf uns! Hilf uns!« Henrik und Lenz sahen sich an. »Ist das so eine Art Wahrsage-Kelch?« Die Alte Wöhr schüttelte den Kopf. »Ich sage doch, es ist ein Empfänger. Ein Empfänger für trans temporäre Nachrichten.« »Trans-was?«, fragte Henrik. »Transtemporäre Nachrichten sind Nachrichten, die aus allen möglichen Zeiten gesendet und mit diesem Kelch empfangen werden können.« Die Alte Wöhr stellte den Becher zurück auf den Tisch. »Als Granwolf noch lebte, hat er jedem Zeitenläufer einen Sender-Becher mitgegeben. So konnten wir ihm Nachrichten schicken, wenn wir in einer anderen Zeit 21
waren. Er hatte dreizehn dieser Sender-Kelche. Aber dummerweise sind fast alle gestohlen worden, kaputtoder verloren gegangen. Der einzige transtemporäre Sender-Becher, der noch aktiv ist, ist in Griechen land.« Die Alte Wöhr grinste hinüber zu Fenne. »Die Besitzerin des Bechers sitzt in einer Stadt namens Delphi und sie sendet pausenlos.« Fenne verdrehte die Augen. »Schon dreimal war ich da! Wegen nichts und wieder nichts!« Die Alte Wöhr lächelte müde. »Gundel hat es nicht leicht in Delphi. Sie fühlt sich, glaube ich, manchmal ein bisschen einsam. Und da hat sie sich schon ein paarmal Notfälle ausgedacht, damit sie Besuch aus Köln bekommt.« Die Alte Wöhr deutete auf das Buch von Aristoteles, das Lenz ihr mitgebracht hatte. »Aber diesmal hat sie sich nichts ausgedacht. Diesmal ist es wirklich ein Notfall. Sonst würde ja ein Mann wie Aristoteles nicht davon berichten.« Sie nahm noch einen Schluck Tee. »Ihr habt bestimmt schon mal von einer Stadt namens Athen gehört.« »Na klar, die Hauptstadt von Griechenland«, platz te Henrik heraus. Die Alte Wöhr nickte. »Ja, so nennt man die Stadt in eurer Zeit. In Athen gab es lange vor eurer und vor meiner Zeit eine Herrschaft des Volkes, genannt Demokratie: Es wurde über viele Entscheidungen abgestimmt – so ähnlich, wie das in eurer Zeit ja auch gemacht wird.« Lenz nickte. Das hatten sie schon in der Schule ge lernt. Die Griechen waren die Erfinder der Demokra tie. Wenn er sich recht erinnerte, dann war das Wort »Demokratie« sogar ein griechisches Fremdwort. 22
»Einer der Männer, die die Demokratie vorangeb racht haben, war Ephialtes. Ohne Ephialtes hätte sich vermutlich wieder ein Tyrann an die Spitze der Stadt Athen gesetzt und den Leuten einfach gesagt, was sie zu tun oder zu lassen hätten.« »So wie die Könige und Grafen in deiner Zeit«, sagte Lenz. Die Alte Wöhr legte ihre Stirn in noch viel tiefere Falten, als sie eh schon hatte, und gab mit leiser Stimme zu: »Ja, so in etwa. Eben dieser Ephialtes ist ermordet worden. Sein Nachfolger ist ein gewisser Perikles. Der hat einen Boten nach Delphi geschickt und Gundel fragen lassen, wer Ephialtes ermordet hat. Perikles will und muss erfahren, wer der Mörder war, da er vermutet, dass es einen Verräter unter seinen eigenen Leuten gibt. Und wenn er mit dieser Vermutung recht hat, dann schwebt er möglicherwei se selbst in Lebensgefahr.« Die Alte Wöhr nahm noch einen Schluck aus dem Teebecher. Sie sah Lenz mit ihren warmen, aber steingrauen Augen an. »Perikles will die Demokratie in Athen vollenden. Er und sein Freund Ephialtes haben die bestechlichen Beamten entmachtet. Und sie haben Kimon, einen nach Macht gierenden Politiker, der sich seine Freunde regelrecht gekauft hat, in die Verbannung geschickt. Wenn auch noch Perikles ermordet wird, wird eben dieser Kimon vermutlich als Tyrann Athen regieren. – Und dann könnt ihr die griechische Demokratie fürs Erste ver gessen. Und es scheint mir ungewiss, ob es ohne das griechische Vorbild in eurer Zeit überhaupt eine Demokratie geben könnte!« Lenz schluckte. Das würde ja heißen … 23
»Das heißt, dass ihr eure Zeit vielleicht nicht wie dererkennt, wenn ihr scheitert.« Die Alte Wöhr sprach ganz ruhig den Gedanken aus, den Lenz gera de gehabt hatte. Keine Demokratie in ganz Europa? Keine Wahlen? Lenz versuchte, sich vorzustellen, dass es in Deutsch land einen König oder Tyrannen gab, der das Sagen hatte. Das klappte sogar, aber angenehm war dieser Gedanke nicht gerade. »Und denkt daran: Tyrannen fangen in aller Regel früher oder später einen Krieg an.« »Okay, dann sollten wir was tun«, rief Henrik und fügte dann mit gerunzelter Stirn hinzu: »Was ich aber noch nicht ganz verstehe: Wieso denkt Perikles, dass deine Freundin Gundel rausfinden kann, wer diesen Ephialtes ermordet hat?« Die Alte Wöhr schmunzelte. »Gute Frage, Henrik. Habt ihr schon mal etwas vom Orakel von Delphi gehört?« Lenz nickte zögernd. »War das nicht so eine Art Wahrsagerin im alten Griechenland?« »So in etwa«, antwortete die Alte Wöhr. »Und jetzt verrate ich euch ein Geheimnis: Als das Schicksal seinerzeit meine Freundin auf immer ins alte Grie chenland verschlug, musste sie sich dort alleine durchschlagen. Da Gundel aber ehrlich gesagt nie besonders begabt und auch ziemlich faul war, kam Arbeit für sie nie infrage. Doch Gundel merkte rasch, dass sie ihre Verbindungen zu den anderen Zeitenläu fern nutzen konnte, um Dinge über die Zukunft zu erfahren. Dieses Wissen war sehr gefragt. Denn Aberglaube war im alten Griechenland weitverbreitet. 24
Gundel war im Wahrsagen so gut, dass sie bald als Priesterin nach Delphi berufen wurde. So wurde sie zu dem berühmten Orakel. Normalerweise unterstüt ze ich ihr Treiben nur ungern, aber in diesem Fall scheint unser Eingreifen für die Geschicke der Welt dringend nötig.« Henrik stand auf. »Klar. Natürlich. Was müssen wir tun?« »Bringt dem Orakel von Delphi, der traurigen Gundel, den Namen des Mörders.« Die Alte Wöhr stand auf und trat ans Regal, das die eine Wand des Kellers vollständig bedeckte, und holte zwei Flaschen hervor. »Bringt ihr die besten Grüße von mir und diese beiden Flaschen Bier mit, die werden sie freu en.« »Wie sollen wir reisen?«, fragte Henrik. »Ihr müsst erst nach Rom«, sagte die Alte Wöhr. »Holt dort Silvester und Cornelia ab. Silvester kennt sich im alten Griechenland recht gut aus. Und das Zeitloch in Delphi kennen Fenne und Silvester auch schon.« Lenz kratzte sich hinter dem linken Ohr. »Eins ver stehe ich nicht. Warum müssen wir nach Delphi fahren, wenn du doch diese Kelche hast? Kannst du ihr den Namen nicht einfach als transtemporäre Nachricht schicken?« Die Alte Wöhr nickte anerkennend. »Gute Idee, Lenz. Nur leider hat mein Lehrer Granwolf, als er sehr alt war, nicht mehr so weit gedacht. Er hat nur diesen einen Empfänger gebaut. Das heißt: Selbst wenn ich noch einen Sender-Kelch hätte, könnte Gundel in Delphi nichts empfangen, was ich sende, 25
weil sie nur einen Sender-, aber keinen EmpfängerKelch hat. Aber mir fehlt ohnehin mein SenderKelch, der ist mir schon vor langer Zeit gestohlen worden.« »Komm schon, Lenz, du faule Socke!«, mahnte Henrik. »Zieh deine Klamotten aus!« Er öffnete eine der Truhen, in denen die Alte Wöhr unauffällige mittelalterliche Kleidung für die Zeitenläufer berei thielt, und warf seinem Freund einen braunen Kittel zu. »Wir reisen nach Rom!« Lenz seufzte. Nach Rom zu reisen, war kein Ver gnügen. Zumindest nicht im Mittelalter.
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Aus den geheimen Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil II Reisen bildet, sagt der Volksmund. Und das tut es tatsächlich. Zeitreisen bildet doppelt. Denn wer durch ein Zeitloch reist, versteht und spricht die Sprache der Zielzeit automatisch so flüssig wie ein Muttersprachler. Allerdings schindet das Reisen bisweilen auch. Und das Zeitreisen schindet doppelt. Lenz und Henrik waren ziemlich verwöhnt: In ihrer Zeit waren sie es gewohnt, in Gefährten und Flugmaschinen zu reisen, die sie in atemberaubendem Tempo an jeden Ort der Erde bringen konnten. Auch Fenne war schon einmal mit Lenz’ Onkel zusammen in eine solche Flugmaschine gestiegen, die sie durch die Luft transportiert hatte. Aber in diesem Fall schien es mir einfacher und sicherer, wenn die Kinder in meiner Zeit nach Rom reisten, um Silvester und Cornelia, deren Heimatzeit die Antike war, abzuholen. Denn erstens hatte ich ohnehin gerade einen Freund auf dem Heumarkt in Köln getroffen, der auf dem Weg nach Rom war – und Dietrich war der zuverlässigste Ritter, den ich kannte. Und zweitens traute ich diesen Flugmaschinen, die meine Zeitenläu fer durch die Luft tragen sollten, nicht so recht. So reisten sie also mit Dietrich, den sie alle schon kannten, rhei naufwärts. Sie überquerten die Alpen zu Fuß, was eine Tortur war, über die sich Lenz später bitter bei mir beklagte. Sie benutzten Karren und Pferde und gelangten schließlich nach Rom. Mein Lehrer Granwolf hatte mich in alle Geheimnisse der Zeitreiserei eingeführt, ehe er mich als seine Nachfolgerin bestimmte. Ich kannte
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die Zeitlöcher, die von Köln über Rom bis hin nach Ägypten immer wieder an diversen Orten der Welt existierten, und hatte die meisten von ihnen selbst schon als Kind benutzt. So konnte ich meinen Zeitenläufern immer genau beschreiben, wo sie das jeweilige Zeitloch finden konnten. Im Fall von Rom war eine solche Beschreibung allerdings nicht mehr nötig. Denn Fenne, Lenz und Henrik waren schon einmal in die Katakomben vor den Toren des alten Rom gestiegen, um das Zeitloch zu suchen. Wenn ich Fennes späterem Bericht Glauben schenken darf, und ich habe keinen Grund, an ihm zu zweifeln, dann sind bei Cornelia sogar ein paar Freudentränen geflossen, als sie Henrik endlich wiedersah. Auch ihr großer Bruder Silvester bekam angeblich leuchtend rote Ohren, als die drei Freunde aus dem zwölften und dem einundzwanzigsten Jahrhundert sie abholten. Als allerdings Fenne Silvester sagte, wohin die Reise sie führen sollte, war es bei ihm fürs Erste mit der Begeisterung vorbei.
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3. Kapitel
I
ch hasse diese Gundel!« Silvester kickte einen Stein vom Weg. »Sie ist die größte Nervensäge der Welt geschichte! Sie ist eine Heulsuse, sie will immer, dass man ihr etwas aus der Zukunft mitbringt, und wenn du nicht aufpasst, überschüttet sie dich mit Arbeit!« Lenz fragte sich, ob die Alte Wöhr allmählich al tersschwachsinnig wurde: Sie jagte sie im Mittelalter über die Alpen! In mittelalterlichen Bundschuhen, durch deren Sohlen man jeden Stein spüren konnte! Die waren zudem so rutschig, dass Lenz einmal gefal len war. Verletzt hatte er sich zum Glück nicht, nur die beiden Bierflaschen, die sie Gundel mitbringen sollten, waren leider zu Bruch gegangen. Dann holten sie Silvester und Cornelia in Rom ab und reisten mit ihnen zurück ins Mittelalter. In Fennes Zeit war es für 29
die Zeitenläufer nämlich am einfachsten, unbemerkt nach Delphi zu reisen, wie Lenz schon bald merken sollte. Sie fuhren auf einem Fischerboot von Rom nach Griechenland. Fenne kannte den Fischer schon von einem früheren Abenteuer und hatte Vertrauen zu ihm und seinem Boot. Lenz traute weder dem Fischer noch seinem Boot. Denn dieses Boot schwankte. Es schwankte so sehr, dass Lenz, Cornelia und sogar Henrik grün vor Übelkeit wurden. Aber der Gipfel schien »das Orakel« zu sein – sowohl Fenne als auch Silvester waren nicht gerade gut auf Gundel von Delphi zu sprechen. Und nachdem sie endlich dem schwankenden Böt chen (das Lenz wirklich zum Kotzen fand) entkom men waren, mussten sie nun in brütender Hitze einen steilen Weg hinaufkraxeln. Silvester war entschieden der Meinung, dass der Weg zu seiner Zeit noch besser in Schuss gewesen war. »Fenne, nimm’s mir nicht übel, aber du hast einfach die dämlichste Heimatzeit erwischt, die du erwischen konntest. Ihr habt noch nicht den Luxus und die ganzen Maschinen wie Lenz und Henrik. Und unsere schönen römischen Straßen habt ihr auch zugrunde gerichtet.« Auch Cornelia wunderte sich über den schlechten Zustand des Weges, der von der Küste hinauf in die Berge führte. »Delphi ist doch angeblich der Nabel der Welt. Weiß das denn in dieser Zeit niemand mehr?« Fenne schüttelte den Kopf. »Ich kenne Delphi nur aus den Erzählungen der Alten Wöhr. Von der Stadt existiert im Mittelalter nichts mehr. Das Dorf, das an ihrer Stelle da oben liegt, heißt ›Kastri‹. Und ob ihr’s glaubt oder nicht: Das kennt kein Mensch.« 30
Der Weg schlängelte sich den Hang hinauf. Es war nicht nur heiß, es war auch staubig. Zum Glück hatten sie Fenne dabei. Denn das rothaarige Mädchen kann te die Stelle, an der das Zeitloch versteckt war. Auch Silvester war schon einmal durch das Zeitloch von Delphi gereist. Allerdings in seiner Zeit, der Antike. »Das soll Delphi sein?«, fragte Silvester, als sie sich dem Dorf Kastri näherten. »Wo ist die Stadt? Wo sind die Schatzhäuser, der Tempel und was haben die Leute mit den Straßen und Mauern gemacht?« »Was nicht zerstört ist, wurde von Erdrutschen verschüttet.« Fenne führte sie an den Rand des Dor fes und blieb im Schatten einer der Hütten stehen. Sie flüsterte: »Mittags ist hier fast niemand. Die Leute sind entweder auf den Feldern oder in den Häusern, um sich vor der Sonne zu schützen. Es ist das Beste, wenn uns niemand sieht. Folgt mir!« Sie schlichen sich durch die leeren Straßen. Am oberen Rand des Dorfes stand eine ziemlich verfallene Hütte. Fenne öffnete die Tür, die schief in den Angeln hing. In der Hütte war es nicht kühler als draußen in der Sonne – das kleine Gebäude glich einem Backofen. Fenne ging zielstrebig in die hintere linke Ecke des Raumes, wischte etwas Stroh und Dreck beiseite und öffnete eine Holzklappe, die in den Boden eingebaut war. »Das Zeitloch ist genau unter uns«, erklärte sie und stieg als Erste die morsche Leiter hinunter. »Der Letzte muss die Klappe schließen.« Lenz war heilfroh, dass er auf diese Reise seine Ta schenlampe mitgenommen hatte. Er holte sie aus seiner Gürteltasche und leuchtete auf die Leiter, damit Fenne nicht stolperte. 31
Der Kellerraum unter der Hütte war ziemlich eng, aber sehr tief. Ein Teil der linken Wand war zudem seltsam gewölbt. Als Lenz diese Wand genauer be trachtete, bemerkte er, dass es gar keine Wand aus Lehm war! Es war eine Steinsäule. »Das Loch ist hier!« Fenne trat hinter die Leiter. »Und der Zeitanker ist da drüben in der alten Säule versteckt.« Sie deutete auf die Säule, die Lenz gerade betrachtete. »Unten ist ein Fach.« Lenz leuchtete den Sockel der Säule ab, er ent deckte zwar einen Spalt, aber ein Fach konnte er nicht erkennen. Schließlich kam ihm Henrik zu Hilfe. »Lenz, du Blindfisch!« Henrik bückte sich und griff mit den Fingerspitzen in den Spalt – der gar keiner war! Henrik zog einen Stein aus der Säule. Dahinter war das Fach versteckt, von dem Fenne gesprochen hatte. Henrik holte einen Zeitanker hervor. Er reichte ihn Fenne, die den Haken direkt am Rand des Lochs einhängte. Das Zeitloch hier in Delphi sah etwas anders aus als die Zeitlöcher, die Lenz bisher gesehen hatte. Sowohl in Köln als auch in Rom und auch in Ägypten waren die Löcher mehr oder weniger rund gewesen. Aber das Loch hinter der Leiter sah etwas länglich aus, es erinnerte ein bisschen an eine Felsspalte. Außerdem schwebte es so niedrig über dem Boden, dass sie sich auf die Erde setzen und die Beine locker reinbaumeln lassen konnten. Fenne kletterte als Erste hinein. »Bis gleich – ach, eins noch: Stoßt euch nicht!« Lenz sah, dass Fenne mit ihren blauen Augen Sil vester zuzwinkerte. Er wollte sie noch fragen, wie sie 32
das meinte, aber da war ihr roter Haarschopf schon im Loch verschwunden. Ihr folgten Henrik und Cornelia. »Geh du zuerst«, sagte Silvester. »Was hat Fenne gemeint?«, fragte Lenz seinen Freund. Aber Silvester grinste nur. »Wirst schon sehen!« Mehr war aus dem römischen Jungen nicht heraus zubekommen. Also setzte sich auch Lenz auf den Boden, ließ die Beine ins Loch baumeln, hielt sich am Zeitanker fest und glitt langsam ganz hinein. Er ließ den Zeitanker los, ruderte mit den Armen nach dem zweiten Zeitanker, erwischte ihn mit der rechten Hand und zog sich aus dem Loch. »Autsch!« Lenz hatte sich den Kopf gestoßen. Er sah nach oben. »Wie viele seid ihr denn, bei allen Göttern, Götzen und Heiligen aller Zeiten und Völker?« Lenz rieb sich die Augen. Er kniff sich ins Bein. Aber es blieb dabei: Wo gerade noch ein Kellerloch gewesen war, stand nun eine gewaltige Halle. Die Decke wurde von einigen Säulen und hohen Mauern getragen. Weihrauchschwaden erfüllten den Raum, in dessen Mitte das Zeitloch war. Und genau über dem Zeitloch saß eine uralte weißhaarige Frau, deren Rücken mindestens so krumm war wie der der Alten Wöhr. Allerdings saß sie nicht auf einem Stuhl, son dern auf einem dreibeinigen Gebilde, das Lenz ir gendwie an einen Barhocker erinnerte. An den Quer streben dieses metallenen Barhockers musste sich einfach jeder den Kopf stoßen, der aus dem Zeitloch 33
kam. Auch Cornelia und Henrik hielten sich die Hin terköpfe. Die Alte trug ein weißes Gewand. Über den Kopf hatte sie ein Stück Tuch gezogen, unter dem ihre dünnen grauen Haare hervorschauten. Sie hätte ziemlich würdevoll aussehen können, wenn sie nicht diese Glubschaugen gehabt hätte – mit denen be trachtete sie die Zeitenläufer neugierig. Unter ihr tauchte nun auch noch Silvester aus dem Zeitloch auf. »Na, habt ihr euch den Kopf gestoßen, Leute?«, fragte er grinsend und kletterte vorsichtig heraus. Lenz bemerkte, dass Silvester Griechisch gesprochen hatte – und dass er es verstand. »Was habt ihr mir mitgebracht?«, fragte die Alte. »Einen Namen, genau wie du es wolltest«, sagte Fenne. »Aristodikos aus Tanagra!« »Ach der«, die Alte machte eine wegwerfende Handbewegung. »Der ist mir doch völlig egal, dieser Name! Sollen sie in Athen doch morden, was das Zeug hält! Hier ist Delphi und Delphi ist weit weg von allem.« Lenz traute seinen Ohren kaum. Was war denn mit dieser Alten los? »Was habt ihr mir mitgebracht?« Sie leckte sich die eingefallenen Lippen und ihre Glubschaugen guckten nicht mehr neugierig. Sie guckten gierig. »Schokolade, Cola, Eis, Chips, Popcorn?« Lenz und Henrik sahen sich an und mussten la chen. »Woher kennst du denn dieses ganze Zucker zeug?« Die Alte richtete ihren Blick auf Henrik. »Aha! Erwischt! Du stammst also aus dem einundzwanzig sten Jahrhundert, richtig?« 34
»Falsch«, murmelte Lenz. Die Alte drehte sich blitzschnell zu ihm herum. »Du sprichst nur, wenn du gefragt wirst, Bürschchen!« Lenz sah aus dem Augenwinkel, dass Fenne und Silvester die Augen verdrehten. Aber die Alte wandte sich wieder Henrik zu. »Dann lass mal hören: Aus welchem Jahr stammst du? Und aus welcher Stadt?« »Frühes einundzwanzigstes Jahrhundert, Köln«, sagte Henrik knapp. »Aber ich denke, unsere Mission ist erfüllt: Wir sollten dir den Namen des Mörders des Ephialtes sagen. Es war ein gewisser Aristodikos aus Tanagra. Mehr wissen wir auch nicht. Das war’s. Wir hauen wieder ab.« Henrik wollte schon wieder unter den Barhocker ins Zeitloch kriechen, aber da hatte er seine Rech nung leider ohne die Alte auf dem Stuhl gemacht. »Nicht so schnell, mein Freund!« Sie sah Henrik an. »Ich weiß ja nicht, was die Wöhr über mich er zählt, aber ich bin hier nicht irgendwer!« Mit leiser Stimme fügte sie hinzu: »Ich bin die Pythia, die Prie sterin des Gottes Apoll. Man nennt mich ›das Ora kel‹!« Fenne stöhnte und wollte etwas sagen, aber das Orakel schnitt ihr das Wort ab: »Halt die Klappe, Fenne, und sei froh, dass du nicht mein Schicksal teilst! Ich bin nicht irgendein Orakel, sondern das beste, berühmteste und zuverlässigste Orakel der Alten Welt! Ich bin Delphi, ich bin Gundel von Del phi.« Jetzt konnte Lenz nicht mehr anders. Er musste kichern. Er konnte zwar erst seit fünf Minuten Alt 35
griechisch, aber dass »Gundel« deutsch und nicht griechisch war, das merkte er auch so sofort. »Was gibt’s da zu lachen, Bürschchen?«, herrschte die Alte Lenz an. ›»Gundel‹ klingt nicht besonders griechisch«, sagte Lenz. »Ist es auch nicht, du Schlaumeier! Sie nennen mich hier Iokaste, Phyle oder Irenike. Von mir aus können sie mich auch Gundelippe nennen, ist mir ganz egal.« Sie wandte sich plötzlich Fenne zu. »Wird’s bald? Wo ist mein Bier? Zwei Flaschen schö nes, frisches Bier.« Sie leckte sich die Lippen. »Die hatte ich bei der Wöhr bestellt.« Fenne seufzte. Lenz sah betreten zu Boden. »Tut mir leid«, sagte Fenne. »Die beiden Flaschen sind uns leider in den Alpen zerbrochen.« Die Alte sprang von ihrem Barhocker. »Was? Wie könnt ihr es wagen! Dann marschiert sofort zurück nach Köln und holt mir zwei neue!« Silvester schnaufte durch die Nase. »Quatsch. Wir sind nicht deine Biertransporter! Wir sind Zeitenläu fer.« Die Alte fixierte Silvester mit ihren kalten Augen. Eine Art Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Ihr könnt das Bier ersetzen. Durch Wein, Feigen und Käse. Bringt mir die aus Athen. Sechs Flaschen Wein, aber kein Gesöff! Außerdem von den Feigen. Ich will nur die von Perikles. Das sind die besten in ganz Griechenland!« Silvester verschränkte die Arme vor der Brust. »Wie kommst du auf die Idee, dass wir nach Athen zu Perikles gehen, Gundel?« Er deutete mit dem Kinn 36
auf das Zeitloch. »Wir verschwinden jetzt wieder in unsere Zeiten.« »Wenn du jetzt gehst«, sagte Gundel mit gespielter Ruhe, »wirst du dein Rom nicht wiedererkennen, Silvester.« Silvester blieb stehen. »Denn ohne die Demokratie in Athen hätte es die römische Republik vermutlich nie gegeben. Das heißt, du wirst einen König finden, wo du einen Kon sul erwartest. Und es wird sich einiges geändert ha ben. Wahrscheinlich findest du noch nicht mal das Haus deines Vaters wieder! Denn wenn Perikles ermordet wird – und das wird er garantiert, denn er ist Ephialtes’ Nachfolger –, dann sieht es nicht gut aus für die Demokratie in Athen.« Silvester grummelte: »Was willst du von uns?« »Wein, Käse, Feigen. Ihr werdet nach Athen gehen und Perikles den Namen des Mörders persönlich nennen, denn genau das habe ich, das Orakel, dem Perikles so prophezeit: ›Kinder aus der Zukunft wer den kommen und dir den Namen des Mörders nen nen.‹ Wie hieß der noch? Aristoteles? Ich kann mir diese griechischen Namen einfach nicht merken. Klingt ja einer wie der andere.« Sie setzte sich wieder auf ihren Barhocker. »Ihr werdet diesen kleinen Feig ling hier, der sich nicht traut, in ein Zeitloch zu stei gen …« Sie schnippte mit den Fingern, aber es er schien niemand. Schließlich rief sie: »Sokrates, du Nichtsnutz, komm raus!« Ein kleiner Junge mit einer ziemlichen Knubbelnase trat hinter einem Vorhang hervor. Er trug eine einfache Tunika, ein ärmelloses Hemd, das am Bauch gegürtet war. Lenz kannte 37
dieses Kleidungsstück schon aus dem alten Rom. Die Füße steckten in Sandalen. »Sokrates sollte eigentlich mein Zeitenläufer sein. Aber dieser Feigling traute sich nicht, in das Loch zu steigen.« Sokrates machte den Mund auf, um etwas zu erwi dern, aber Gundel ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Du wirst den Zeitenläufern den Weg nach Athen zeigen. Das kannst du doch, Sokrates, oder?« Der Junge nickte. »Also, schwirrt ab und bringt mir Wein, Feigen und Käse, wenn euch die Zukunft lieb ist!« Gundel wollte sie mit einer Handbewegung aus dem Saal scheuchen. »Schließlich steht das Fest des Dionysos an!« »Gib uns wenigstens griechische Kleider und San dalen, wenn wir schon für dich einkaufen gehen sol len!«, knurrte Fenne. »Ach ja, richtig«, die Alte deutete hinter sich. »Da hinten, am Nebenausgang, findet ihr alles, was ihr braucht. Sokrates, hilf deinen neuen Freunden ein bisschen bei der Auswahl der passenden Klamotten.«
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Aus den geheimen Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil III Ich habe mich selten über eine Verbündete so geärgert wie über Gundel. Je länger sie in Delphi herumhing, desto dreister wurde sie. Sie wollte bestochen werden. Und sie hatte keinerlei Unrechtsbe wusstsein. Im Gegenteil schien Gundel der Meinung zu sein, dass alle Zeitenläufer an allererster Stelle die Aufgabe hätten, ihr das Leben in Delphi so angenehm wie möglich zu machen. Natürlich kann ich Gundels Bitterkeit verstehen. Ihr Schicksal ist grausam. Aber dass sie nicht davor zurückschreckte, meine Zeitenläufer einer solchen Gefahr auszusetzen, sie in die Mördergrube, die Athen zu jener Zeit war, zu schicken, nur um ihr ein paar Flaschen Wein, Käse und die besten Feigen zu bringen, die sie gut und gerne auch anderweitig hätte bekommen können, das hätte ich ihr nicht zuget raut. Der kleine Sokrates hingegen war, nach allem, was mir die Zeiten läufer später erzählten, eine Hilfe – auf seine Art. Was meine Zeitenläufer damals nicht ahnen konnten, war, dass Gundel, kaum dass sie Delphi verlassen hatten, Besuch bekam. Und dass sie sich ausgerechnet von diesem Mann bestechen ließ, werde ich ihr niemals verzeihen.
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4. Kapitel
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er nervt!« »Nein, der redet nur ein bisschen mehr als andere.« »Aber genau das nervt!« »Wenigstens glauben ihm die Leute.« »Achtung, er kommt!« Sokrates kam zu den Zeitenläufern. »Hab ich was verpasst?« »Nein, nein, wir stehen nur hier rum und gucken«, sagte Fenne. Die sechs Kinder standen an Deck des Schiffs und sahen zu, wie der Kapitän das Kunststück fertigbrach te, das Schiff um eine Landzunge herum in einen der drei Häfen von Piräus zu manövrieren. Ohne Motor, nur mit dem Wind und den Ruderern. Und der kleine Sokrates hatte das Kunststück fertiggebracht, ihnen eine Freifahrt auf diesem Schiff zu organisieren. Er war zwar gerade erst acht Jahre alt, aber mit seinen Knopfaugen und der Knubbelnase hatte er irgendwie 40
etwas Niedliches. Die größte Stärke des kleinen Jun gen aber war sein Mundwerk: Das war unaufhörlich in Aktion, was Henrik nervte und Lenz faszinierte. Wenn der kleine Sokrates nicht gewesen wäre, hätten sie den Weg nach Athen nicht mit dem Schiff, son dern zu Fuß zurücklegen müssen! Der kleine Kerl war wirklich geschickt vorgegan gen: Er hatte blitzschnell herausgefunden, auf wel chem Handelsschiff sie mit nach Athen fahren könn ten. Das war kein großes Kunststück gewesen, denn Delphi war voller Menschen, die auf dem Weg nach Athen waren, wo das große Fest zu Ehren des Gottes Dionysos bevorstand. Dann hatte Sokrates in Erfah rung gebracht, dass der Kapitän des Schiffes, das er sich ausgesucht hatte, Pausinas hieß, dass das Schiff Papyrus aus Ägypten, Elfenbein und Gewürze gela den hatte und dass sie in Delphi einen Zwischenstopp gemacht hatten, weil der Kapitän abergläubisch war und vom Orakel wissen wollte, ob er heil in Piräus ankommen würde. Als der kleine Sokrates dies alles wusste, war die Rückfahrt so gut wie geritzt. Der Junge fand Kapitän Pausinas und redete auf ihn ein. Er log das Blaue vom Himmel herunter, er behaupte te, dass sie die sechs Kinder einer Seherin und des Gottes Poseidon seien. Er wies ausdrücklich auf Fen nes rote Haare hin, die es nur bei Kindern des Mee resgottes gäbe. Er sagte, dass sie dringend nach Piräus müssten und dass ihre Mutter ihnen prophezeit hatte, dass ein Schiff aus Ägypten kommen würde, das sie mitnehmen werde. Sokrates behauptete, dass ihr Vater Poseidon dem Schiff, das sie mitnehmen würde, Rückenwind und sichere Fahrt versprochen hätte. 41
Denjenigen aber, der sie abweisen würde, hätte er angeblich dem Untergang im schweren Sturm ge weiht. Die Augen des Kapitäns waren immer größer geworden, aber ein leichter Zweifel schien immer noch an ihm zu nagen. Den aber konnte der kleine Sokrates vertreiben, als er sagte: »Aber es gibt eine Bedingung! Meine Mutter hat uns aufgetragen, nur mit einem Schiff zu fahren, das Papyrus an Bord hat.« Sokrates blinzelte mit seinen Knopfaugen und sagte: »Ich weiß auch nicht, warum.« Da war der abergläubische Kapitän überzeugt, es wäre ein Wink des Schicksals, dass er in Delphi halt gemacht hatte, und er versprach den Kindern eine ruhige und sichere Fahrt auf seinem Schiff. Kaum waren sie an Bord, hatte der kleine Sokrates Lenz zugezwinkert und geflüstert: »Fast alle Griechen sind abergläubisch!« Lenz hatte ihm anerkennend zugenickt. In dem Kleinen steckte ein Großer. Am frühen Abend erreichten sie den beeindruk kenden Hafen von Piräus. Hunderte Schiffe lagen hier dicht an dicht, sodass der Kapitän seine liebe Not hatte, ein freies Plätzchen zu finden, an dem sie anle gen konnten. Kaum waren sie an Land, begann Sokrates schon wieder zu plappern: »Ich weiß ja nicht, ob ihr das wisst: Die Straßen und Wege in Piräus sind rechtwink lig angelegt. So wie im weltberühmten Milet.« »Und im noch viel berühmteren Manhattan«, knurrte Henrik, als sie durch die Gassen der Hafen stadt Richtung Athen eilten. »Män-was?«, fragte Sokrates. 42
Lenz verdrehte die Augen. Manchmal konnte Henrik echt blöd sein. Wie sollten sie Sokrates erklä ren, wo Manhattan war? Er würde sie vermutlich schon für verrückt erklären, wenn sie von Amerika oder von den Weltumrundungen der Entdecker spre chen würden. Schließlich hielten die Griechen die Erde noch für eine Scheibe. »Hör nicht auf ihn«, sagte Lenz. »Henrik ist nur ungeduldig. Wo wohnt denn nun Perikles?« Sokrates schnaufte. »Oben in Athen. Aber können wir nicht warten, bis ein Esel vorbeikommt, der uns mitnehmen kann?« Cornelia lachte. »Jetzt sind wir schon von Delphi bis hierher keinen Schritt gelaufen, das Stückchen bis Athen wirst du doch wohl schaffen, oder?« Sokrates verzog zwar das Gesicht, aber er zeigte ihnen brav den Weg. Und das war auch gut so, denn aus Piräus mit seinen gleichförmigen Straßen hätte Lenz so schnell nicht herausgefunden. Aber schon bald ließen sie die Hafenstadt hinter sich und gelang ten auf eine Ebene. Links und rechts erhoben sich Hügelketten und vor ihnen … »Wahnsinn!« Selbst der ungeduldige Henrik blieb stehen. »Hast du zufällig auch einen Fotoapparat dabei, Lenz?« »Das ist fast so hübsch wie euer Dom, oder?« Cor nelia zwinkerte Henrik zu. Der wurde mal wieder knallrot, als er dem römi schen Mädchen antwortete: »Das ist fast so hübsch wie euer Rom!« Vor ihnen erstreckte sich das antike Athen. Eine Mauer umgab die Stadt. Zwei Hügel im Innern der 43
Stadt konnte Lenz erkennen. Der rechte, kleinere war nur mit einer Art Tempel bebaut. Der Hammer aber war der linke Hügel. Auf dem standen große Säulen hallen, die in der Sonne weiß strahlten. »Die Akropolis ist die Schutzburg und das heilige Zentrum der Stadt«, erklärte der kleine Sokrates, obwohl ihn niemand danach gefragt hatte. »Wir fallen auf, Leute!«, mahnte Fenne. Tatsäch lich drehten sich einige Männer nach den sechs Kin dern um, die mitten auf der Straße stehen geblieben waren und die Akropolis betrachteten. »Los, auf zu Perikles!« Sie zog das Tuch, das ihre roten Haare bedeckte, etwas tiefer ins Gesicht und eilte vorwärts. »Sokrates, nimm endlich die Beine in die Hand!« »Wenn man schneller geht, kommt man nicht un bedingt schneller an«, behauptete Sokrates, während er hinter Fenne herhechelte. »Es kann ja sein, dass man stolpert. Und man stolpert sicherlich leichter, wenn man so hastig geht wie ihr!« »Halt den Rand und lauf!«, war die knappe Ant wort, die Henrik für solche Überlegungen übrig hatte. So unglaublich die Akropolis auch war: Kaum hatten die Zeitenläufer Athen betreten, sah es doch wieder wie eine ganz normale Stadt aus. Die Wege waren staubig, es stank nach Abfall, Schweinestall und Abwäs sern. Die meisten Häuser waren auch keine Prachtbau ten, sondern ziemlich heruntergekommene Gebäude. Deren Fenster lagen so hoch, dass man nicht hineinse hen konnte. Und so schön rechtwinklig wie in Piräus verliefen die Straßen auch nicht: Es war ein Gewirr aus schmalen und schmalsten Gässchen, durch das Sokra 44
tes die fünf Zeitenläufer führte. Wenigstens waren so viele Leute, Händler, Handwerker, Sklavinnen und Sklaven und fremde Gäste aus aller Welt in den Stra ßen unterwegs, dass die sechs Kinder niemandem auffielen. Und das beruhigte Lenz kolossal. Vor einem ziemlich unscheinbaren, bräunlichgrau en Haus blieb Sokrates plötzlich stehen und klopfte an die hölzerne Tür. »Wir sind da.« Glaub ich nicht, dachte Lenz. Hier sollte Perikles, der berühmte Perikles, wohnen? »Er hat übrigens einen ziemlich gefährlichen …«, begann Sokrates. Aber er konnte seinen Satz nicht vollenden, denn hinter der Tür begann ein Hund, fürchterlich zu bellen. »Salamis! Still!«, hörten sie einen Mann rufen. Der Hund verstummte, die Tür wurde geöffnet. »Wir möchten zu Perikles«, sagte Sokrates, als sie eintraten. »Melde uns bitte deinem Herrn.« Der Mann, offenbar ein Haussklave, guckte etwas verdutzt aus der Wäsche, als die sechs Kinder in den Hof des Hauses traten. Er sperrte den Hund namens Salamis in einen Nebenraum, in dem Lenz sogar ein echtes Schwein zu sehen meinte, und gehorchte dem kleinen Sokrates. »Ich hasse die Sklaverei!«, raunte Fenne Lenz zu, während sie sich im Hof umsahen. Auch Lenz ging es gewaltig gegen den Strich, wenn sie in eine Zeit reisten, in der es Sklavinnen und Skla ven gab. Dass ein Mensch einem anderen gehören konnte, wie seine Taschenlampe und der Kompass Lenz gehörten, fand er immer noch völlig verquer. 45
Dass Haus des Perikles schien wirklich kein Palast zu sein: Es zog sich in Hufeisenform um den kleinen Innenhof. Die vierte Seite des Hofes wurde durch eine Mauer von der Straße abgetrennt. In dieser Mauer war die Tür, durch die sie eingetreten waren. Das Haus hatte ein Obergeschoss, zu dem eine stei nerne Treppe hinaufführte. Auf dem Hof stand ein Altar aus Stein und einen kleinen Brunnen hatte der Hausherr auch bauen lassen. Der Sklave verschwand hinter einer der Türen, die direkt vom Hof im Erdgeschoss abgingen. Wenig später kam er zurück und führte die Kinder in ein Zimmer, das im linken Teil des Hauses lag. »Der Herr wird euch gleich empfangen«, sagte der Sklave und verließ den Raum wieder. »Dies ist ein Speise- und Gästezimmer«, erklärte Sokrates. »Wir essen gewöhnlich im Esszimmer. Das Essen wird in einem Raum gekocht, den wir Küche nennen.« »Ach wirklich?«, fragte Henrik schnippisch. »Das ist ja hochinteressant – in der Küche wird gekocht! Wahnsinn!« »Er will uns nur helfen!«, verteidigte Lenz den kleinen Sokrates. Woher sollte der unerfahrene Knirps wissen, was für sie selbstverständlich war und was neu? Ein Speisezimmer wie das des Perikles kannte Lenz schon aus Rom: Liegen waren hier aufgestellt, auf denen Gäste sich zum Essen lagern konnten. Vor jeder stand ein kleiner Tisch. »Sieht aus wie bei euren Eltern«, sagte Henrik auch prompt zu Cornelia und Silvester. Er grinste. 46
»Nur nicht ganz so luxuriös.« Er legte sich auf eine Liege. »Eure Matratzen sind besser. Na ja, irgend was muss die Zukunft ja auch bringen: Und das sage ich euch! Kommt mal ins einundzwanzigste Jahr hundert! Wir haben Matratzen, davon könnt ihr nur träumen!« Sokrates machte große Augen und wollte etwas sa gen, aber Silvester meinte lächelnd: »Wissen wir doch, Henrik. Es sind so Matratzen, auf die legt man sich, und dann fliegen sie einen durch die Luft und brin gen einen vom Kölner Dom sofort zum Circus Maxi mus von Rom, oder wie?« Lenz entging nicht, dass der kleine Sokrates ge nauestens zuhörte – er schien regelrechte Segelohren zu bekommen, so interessant fand er das, was die Jungen aus der Zukunft da erzählten. »Glaub kein Wort – das ist alles Quatsch!«, raunte Lenz dem Jungen zu. »Was ist Quatsch?«, hörte Lenz eine Männerstim me hinter sich fragen. Er drehte sich um. Hinter ihm stand ein Mann in den besten Jahren. Er hatte einen ziemlich großen, etwas eiförmigen Kopf und trug einen gepflegten Vollbart. Als Lenz in seine klaren, kalten Augen sah, wusste er schlagartig: Dieser Mann hat in seinem Leben noch nie einen Witz gerissen. Es war ganz und gar unmöglich, ihm von fliegenden Matratzen, die es in der Zukunft angeblich gäbe, in Wahrheit aber nicht, zu erzählen. »Nichts Wichtiges, nur das Geschwätz von ein paar Jungen«, murmelte Lenz entschuldigend. Und er war heilfroh, dass Fenne vortrat. »Delphi schickt uns. Du selbst hast das Orakel ge 47
fragt, wer Ephialtes ermordet hat. Wir bringen dir nun die Antwort.« Perikles sah Fenne erwartungsvoll an und verzog keine Miene. »Es war Aristodikos aus Tanagra.« Als er diesen Namen hörte, sackte der Mann, der sich so aufrecht hielt, doch für einen Moment in sich zusammen. Er hatte sich aber, allem Anschein nach, sofort wieder unter Kontrolle. Er setzte sich auf eine der Liegen und gab auch den Kindern zu verstehen, dass sie sich setzen oder legen könnten. »Dieses Ora kel ist sein Geld nicht wert!«, knurrte Perikles. »Es tut mir leid, dass ihr den weiten Weg für nichts und wie der nichts auf euch nehmen musstet.« Er rief einen Sklaven, der ihnen Wasser bringen sollte. Henrik räusperte sich. »Wie meinst du das? – Un ser Auftrag lautete, dir den Namen des Mörders zu bringen. Und es schien ziemlich dringend zu sein.« Perikles musterte Henrik, während der Sklave ein fache Tonbecher verteilte und aus einem Krug Wasser eingoss. »Stimmt genau, Junge. Das Orakel hat mir auch gesagt, dass ein paar Kinder kommen würden, die in die Zukunft gucken können, um mir den Na men des Mörders zu nennen. Richtig ist, dass sie Kinder geschickt hat: Ihr seid ja da. Das Problem ist nur, ich wollte den wahren Namen des Mörders mei nes Freundes Ephialtes wissen.« Er schüttelte den Kopf. »Und dafür schickt sie euch extra von Delphi nach Athen!« Lenz wollte gerade einwerfen, dass sie nicht nur von Delphi, sondern von einem sehr viel weiter ent fernten Ort angereist waren, als Fenne fragte: 48
»Woher willst du wissen, dass Aristodikos nicht der richtige Name ist?«, fragte Fenne. Perikles sah nicht auf, als er sagte: »Ganz einfach: Diesen Namen habe ich mir ausgedacht.« Lenz verschluckte sich fast an seinem Wasser. Das konnte doch nicht wahr sein! Da machten sie sich auf den Weg von Köln durch das Mittelalter via Rom bis ins antike Delphi und von dort weiter nach Athen – und das völlig umsonst? »Warum?«, hörte Lenz sich selbst sagen. Mehr konnte er so schnell nicht herausbringen, denn es waren alles in allem sechs höchst schwierige Warum-Fragen, die ihm gleichzeitig durch den Kopf schossen: 1. Warum hat uns die Wöhr auf diese Reise geschickt? 2. Warum bin ich mitgereist? 3. Warum hat uns keiner gesagt, dass Aristodikos der falsche Name ist? 4. Warum gibt Perikles dem Mörder überhaupt einen falschen Namen? 5. Warum weiß Gundel aus Delphi nicht die Wahr heit, wenn sie doch das Orakel ist? 6. Warum sind wir nicht in Köln und essen Eis? Perikles war kein Dummkopf. Er konnte zwar garan tiert nicht alle Warum-Fragen, die Lenz durch den Kopf schossen, erraten, aber eine beantwortete er sofort: »Warum ich dem Mörder einen Namen gegeben habe?« Er sah in die Runde und grinste verschmitzt. »Moment mal! Das müsstet ihr doch eigentlich selbst wissen, wenn ihr in die Zukunft blicken könnt!« 49
Fenne sah Perikles ernst an. »Wir wissen nicht al les! Du weißt ja auch nicht alles, was in deiner Zeit passiert. Wir kennen nur einen Teil der Zukunft. Und wenn du bis zu deinem Tode niemandem verrätst, warum du dem Mörder einen Namen gegeben hast – wie sollten wir es dann wissen?« Perikles nickte Fenne anerkennend zu. »Gute Antwort. Ich weiß nicht, ob ihr gehört habt, in welch schwieriger Lage wir sind: Kimon ist zwar verbannt, und der Areopag ist entmachtet, aber …« »Was ist ein Areopag? So was wie ein Sarkophag?«, unterbrach Henrik. Perikles musterte Henrik. »Ihr wisst wirklich nicht, was der Areopag ist? Noch nie davon gehört?« »Doch, doch«, warf Cornelia ein. »Der Areopag ist ein Gericht.« Perikles wiegte den Kopf hin und her. »Ja, so könn te man sagen. Durch dieses Gericht hatten die Adli gen eine Menge Einfluss auf die Politik von Athen, bis mein Freund Ephialtes sie entmachtet und den Areo pag wieder zu einem ordentlichen Gericht gemacht hat. Aber kaum hat er das geschafft, ist Ephialtes, der Führer der Demokraten, ermordet worden! Ich bin von meinen Freunden zum Nachfolger des Ephialtes gewählt worden. Das Volk war unruhig. Bei uns wird nicht alle Tage ein politischer Gegner ermordet. Ich musste handeln, beweisen, dass ich die Situation unter Kontrolle habe. Aber ich weiß nicht, wer Ephialtes erschlagen hat. Deshalb habe ich mir diesen Namen ausgedacht. Dadurch erschien der Mörder nicht mehr ganz so beängstigend wie ein namenloses Gespenst, das durch die Straßen Athens zieht.« 50
»Aber die Leute müssen doch irgendwann gemerkt haben, dass du den Täter nicht erwischt hast!«, warf Silvester ein. Perikles nickte. »Angeblich ist er zu unseren Fein den, den Persern, geflohen.« »Und das haben die dir geglaubt?« Henrik runzelte die Stirn. Auch Lenz war sich ziemlich sicher, dass so ein Trick im einundzwanzigsten Jahrhundert nicht funk tioniert hätte: Schließlich gab es Fotos, Ausweise, Adressen – da konnte jeder Polizist nachprüfen, ob es in Tanagra einen Aristodikos tatsächlich gab. Aber zu Perikles’ Zeit gab es noch keine Fotos – natürlich nicht. Perikles nickte und sagte: »Damit ist das Problem allerdings nicht gelöst, denn erst wenn ich den Na men des Mörders kenne, kann ich mein eigenes Le ben schützen.« »Aber warum sollte der Mörder deines Freundes gerade dich im Visier haben?«, fragte Fenne. »Aus demselben Grund, aus dem er Ephialtes nach dem Leben trachtete.« Perikles stand auf und begann, im Raum auf und ab zu marschieren. »Ephialtes war der gerechteste und beste Mensch, den ihr euch vorstellen könnt.« Er blieb plötzlich stehen. »Wird sein Name in der Zukunft noch bekannt sein?« »Ephialtes? Na klar, den kennt in der Zukunft je der! Schließlich hat er die Demokratie in Athen gegen Kimon durchgesetzt. Das werden Kinder in der Zu kunft in der Schule lernen«, sagte Silvester. Auch Cornelia nickte. Lenz und Henrik hingegen sahen sich an und hielten lieber ihre Klappe. Denn sie 51
hatten in der Schule zwar mal den Namen von Perik les aufgeschnappt, aber von Ephialtes war nie die Rede gewesen. Perikles lächelte zufrieden und fuhr fort: »Er hat die Sache der Demokratie wirklich weitergebracht. Das aber hat den Gegnern der Demokratie, allen voran tatsächlich Kimon, nicht gefallen. Wenn nun auch ich einem Mordanschlag zum Opfer fallen würde, gäbe es unter meinen Freunden wohl kaum noch einen, der sich Kimon erfolgreich in den Weg stellen könnte. Meine Freunde Glaukon und Ion und mein kleiner Bruder Leokrates sind gute Män ner. Aber sie können das Volk nicht überzeugen. Ich weiß, dass es für euch vielleicht überheblich klingt, aber es ist so: Ich bin der beste Redner, den wir Demokraten haben.« Perikles blieb plötzlich stehen und ballte die Fäuste. »Ich weiß, dass Kimon und seine Freunde dahinterstecken. Aber ich weiß nicht, wen sie für diese niederträchtige Tat gekauft ha ben!« »Ich fürchte, wir können dir nicht helfen.« Silvester zuckte mit den Schultern. »Wir wissen über den Mör der nicht mehr, als wir gesagt haben. Und uns bleibt wohl nichts anderes übrig, als dir alles Gute und wahnsinnig viel Glück zu wünschen. Morgen früh wandern wir zurück nach Delphi. – Wir brauchen von dir nur noch Wein, Käse und Feigen für das Orakel. Ach, und wo wir gerade dabei sind: Hast du zufällig noch eine Unterkunft für uns? Und vielleicht auch was zu essen?« Lenz war nicht nach lachen zumute, aber der treu herzige Blick, mit dem der ewig hungrige Silvester 52
Perikles ein Abendbrot aus dem Kreuz leiern wollte, war zum Schmunzeln. Aber der berühmte Grieche musste passen: »Ich kann euch nicht hier im Haus bewirten und über Nacht beherbergen«, sagte Perikles. »Ich würde euch nur in Gefahr bringen – und so viele neue Kinder in meinem Haus auf einen Schlag sind auffällig.« Er dachte nach. »Es könnte schwierig werden, für euch ein Quartier zu finden. Wie ihr wisst, steht das große Fest des Dionysos an. Die Stadt ist so voll wie selten.« »Kein Problem.« Fenne sah hinüber zu Sokrates. »Können wir bei dir übernachten?« Der Junge strahlte. »Ja, klar.« Dann aber fügte er hinzu: »Wenn meine Eltern einverstanden sind.«
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Aus den geheimen Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil IV Gundel hat sich sicherlich ins Fäustchen gelacht. Jedenfalls hätte sie allen Grund dazu gehabt: Es war ihr mit einer Nachricht an mich gelungen, ihre Lage entschieden zu verbessern. Und das, ohne ihren faulen Hintern auch nur einen Zentimeter vom Dreibein wegzubewe gen. Sie ließ sich von den Zeitenläufern mit Leckereien versorgen, baute darauf, dass ich es irgendwie schaffen würde, den wahren Mörder des Ephialtes ausfindig zu machen, und hoffte, auf diese Art und Weise auch noch ihren Ruf als Orakel entscheidend zu verbes sern. Denn ein Mann wie Perikles zweifelte naturgemäß ziemlich unverhohlen an der Glaubwürdigkeit und dem Nutzen des Ora kels. Er hatte sich offenbar aus purer Verzweiflung an sie ge wandt. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich persönlich nach Delphi gegan gen, um Gundel die Leviten zu lesen. Einziger Lichtblick für meine Zeitenläufer war Sokrates’ Familie. Denn dessen Eltern waren so gastfreundlich, dass sie sich sofort dazu bereit erklärten, die fünf Kinder aus Delphi aufzunehmen. Sokrates behauptete einfach, sie seien Verwandte des Perikles, die zum anstehenden Fest nach Athen gekommen waren und bei ihm nicht mehr untergekommen seien. Das genügte seiner freundlichen (und leichtgläubigen) Mutter als Erklärung. Fenne fand das Quartier vorzüglich: Das Haus stand im Hand
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werkerbezirk, weit weg von dem Viertel, in dem vornehme Leute wie
Perikles oder Ephialtes wohnten.
Sie fühlte sich sicher in der kleinen Kammer, die sie mit ihren Freun den teilte.
Aber diese Sicherheit war trügerisch.
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5. Kapitel
E
s raschelte. Irgendetwas raschelte ständig. Lenz wusste, dass er kein Auge zutun würde – egal wie müde er war. Die kühle Nachtluft zog durch das glaslose Fenster in die Kammer, die Sokrates’ Mutter für die fünf Zeitenläufer mit einfachen Matten ausgelegt hatte. Eigentlich hatte sie die beiden Mädchen nicht mit den Jungs in einem Zimmer unterbringen wollen, aber Silvester hatte es mit seinen dunklen Augen geschafft, sie davon zu überzeugen, dass es das Beste wäre, wenn er seine Schwester und Fenne in der Nacht trösten könnte, falls sie Angst oder Heimweh bekämen. Lenz wusste nicht genau, wie Silvester das immer machte, aber er hatte es mal wieder geschafft, alle Bedenken von Sokrates’ Mutter zu zerstreuen. So lag Lenz nun zwischen Fenne und Henrik, die beide zu schlafen schienen. Er hörte das Rascheln, hörte Fennes gleichmäßigen Atem und er war wach. 56
Erst wusste er nicht genau, was die ganze Zeit in seinem Hinterkopf herumspukte, aber dann fiel es ihm endlich ein: Es war Gundel. Gundel schien Köln genauestens zu kennen. Außerdem wollte sie deutsches Bier trinken und hatte einen deutschen Namen. Und laut der Alten Wöhr war Gundel früher auch eine Zeitenläuferin gewesen. Was aber hatte Gundel damit gemeint, dass sie ein schweres Schick sal zu ertragen habe? Lenz drehte sich auf der Matte um. Henrik hatte recht. Die Matratzen waren vielleicht das Beste, was das einundzwanzigste Jahrhundert zu bieten hatte. Er nahm sich vor, dass er Fenne nach Gundel fragen würde. Gleich am nächsten Morgen mit dem ersten Hahnenschrei wollte er sie fragen. Lenz schloss die Augen. Aber die Augen sprangen wieder auf. Da raschelte doch schon wieder etwas! Wahrscheinlich nur eine Maus oder Ratte, versuch te Lenz, sich zu beruhigen. Aber dann stellte er sich eine Ratte vor, die in einer Zimmerecke säße und nur darauf wartete, an Lenz’ Füßen zu knabbern. Ein Schauder durchzuckte ihn. Er tastete nach seiner Gürteltasche, die er neben der Matte abgelegt hatte, holte die Minitaschenlampe heraus, traute sich dann aber doch nicht, sie einzuschalten. Er wollte die ande ren nicht wecken. Er drehte sich wieder um. Da war noch etwas in seinem Kopf, was ihm keine Ruhe ließ: Gundel hatte Silvester gedroht, dass er seine Zeit nicht wiedererkennen würde, wenn sie Perikles nicht den Namen des Mörders nennen würden. Was, 57
wenn sie recht hatte? Was, wenn die römische Repub lik wirklich nicht gewesen wäre, wenn es die griechi sche Demokratie unter Perikles nicht geben würde? Die Römer hatten nicht ganz die Vorstellungen von Demokratie, die Lenz aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert kannte (vor allem durften die Frauen weder wählen noch gewählt werden), aber möglicher weise wäre es ja in ganz Europa nie zu Demokratien gekommen, wenn es die Griechen nicht in der Antike in Athen vorgemacht hätten. Das aber würde bedeu ten, dass auch Lenz und Henrik sich wundern würden, wenn sie wieder in Köln aus dem Loch stiegen … Aber nein, es war viel Zeit, mehr als zweitausend Jahre, die zwischen Perikles und ihm lagen. »Was ist?«, flüsterte Fenne neben ihm. »Ich kann nicht schlafen«, flüsterte Lenz zurück. »Sie geht mir nicht aus dem Kopf.« »Gundel?«, fragte Fenne. »Ja«, flüsterte Lenz. »Komm, wir gehen raus. Ich erzähle dir ihre Ge schichte, aber wir lassen die anderen schlafen«, flü sterte Fenne. Sie standen auf und traten aus der Kammer direkt auf den Innenhof. Es war eine sternklare Nacht, und als Lenz die Milchstraße sah, fiel ihm mal wieder auf, was er schon auf vielen Zeitreisen bemerkt hat te: In jedem Zeitalter, das er bisher besucht hatte, waren die Luft klarer und der Sternenhimmel schö ner als im einundzwanzigsten Jahrhundert. Gute Matratzen, kaputte Umwelt, so sah die Zeit aus, aus der er kam. »Gundel ist die traurigste Gestalt, die ich kenne.« 58
Fenne lehnte sich mit dem Rücken an die Mauer, die den Hof von der Straße abschirmte, und sog die Nachtluft tief ein. »Sie stammt eigentlich aus meiner Zeit, ist aber hier hängen geblieben. Und wenn ich die Alte Wöhr richtig verstanden habe, dann hat ihr Lehrer Granwolf es glatt drauf ankommen lassen, als er sie damals als Zeitenläuferin nach Griechenland geschickt hat.« »Sie ist also tatsächlich keine Griechin?«, fragte Lenz. Fenne schüttelte den Kopf. »Gundel kommt aus Köln wie du und ich. Ihre Eltern hatten ein Haus am Heumarkt. Sie ist etwas jünger als die Alte Wöhr. Und Gundel hat genervt. Sie hat schon als Kind genervt. Granwolf hat sie kurz vor ihrem dreizehnten Geburts tag noch einmal in irgendeiner Angelegenheit nach Athen geschickt. Tja, und Gundel war schon immer etwas langsamer als andere. Sie hat in Athen herum getrödelt: Statt schnell zurück zum Zeitloch zu kom men, hat sie mit ein paar Griechen ihren dreizehnten Geburtstag gefeiert. Dann endlich ist sie zurück nach Delphi gegangen und da ist es passiert: Sie ist stecken geblieben.« »Im Zeitloch?«, fragte Lenz. »Ja. Mit einem gewaltigen Klimmzug, von dem sie angeblich heute noch Muskelkater hat, schaffte sie es wieder aus dem Loch und sitzt seitdem als Orakel in Delphi und jammert allen Zeitenläufern, die vorbei kommen, die Ohren voll, weil sie …« Fenne ver stummte plötzlich. »Was ist?«, fragte Lenz. »Psssst«, machte Fenne. 59
Lenz’ Herz begann zu rasen. Jetzt hörte er es auch. Es war zwar nur leise, aber eindeutig ein Klopfen! Jemand klopfte an die schwere hölzerne Haustür. Wer zum Kuckuck wollte mitten in der Nacht zu Sokrates’ Eltern? Fenne und Lenz rührten sich nicht. Dann hörte Lenz wieder etwas rascheln. Er sah vor seinem inneren Auge schon eine gewaltige Ratte, die erst anklopfte und dann doch unter der Tür durch kroch, um nach Futter zu suchen. Sein Herzschlag war bestimmt bis hinter die Mauer zu hören. Er hielt den Atem an, bis er fast platzte – da endlich erklangen Schritte – die sich von der Tür entfernten. Fenne bückte sich und flüsterte: »Hast du deine Taschenlampe dabei, Lenz?« »Na klar!« Lenz schaltete die Lampe ein. Ohne die ging er nirgends mehr hin. Zumindest nicht in dieser stockfinsteren Antike. Fenne fischte einen Brief vom Boden, den jemand unter der Tür durchgeschoben hatte. »Keine Ratte!« Lenz atmete auf und sein Puls nä herte sich auch wieder dem normalen Tempo. »Was?« »Das Rascheln. Es war keine Ratte.« Fenne reichte Lenz den Brief. »Kannst du die Schrift lesen?« Lenz betrachtete die Schriftzeichen. Es waren griechische Buchstaben. Jetzt zahlte sich aus, dass Lenz im Zeitloch das griechische Alphabet gelernt hatte. Er konnte die Schrift ebenso flüssig entziffern wie das gewohnte lateinische Alphabet. Was er aber 60
las, ließ sein Herz gleich wieder schneller schlagen. »An die Kinder aus Delphi«, las er Fenne vor. Er faltete das Blatt Papyrus auseinander. Seine Knie wurden weich. »Was steht da?«, fragte Fenne. »Nichts weiter«, sagte Lenz leise und zögernd. »Nur dass wir in Lebensgefahr schweben.« »Was?« Endlich atmete Lenz einmal tief durch und las die knappen Zeilen vor: »Geht nicht zurück nach Delphi! Aristodikos sucht fünf Kinder! Philos.« »Aber Aristodikos gibt es doch gar nicht«, flüsterte Fenne. Lenz ließ den Brief sinken. »Aristodikos ist der Name, den Perikles dem Mörder gegeben hat. Und dieser Name ist ja allgemein bekannt. Wer auch im mer dieser Philos ist, er will uns davor warnen, dass der Mörder des Ephialtes nach uns sucht.« Lenz hörte wieder ein Geräusch. Es war ein Rum peln und kam aus der Kammer, in der die anderen schliefen. Auch Fenne hatte es gehört. Sie schlichen sich zur Tür. Aber noch ehe sie diese aufstoßen konn ten, hörten sie von innen den Ruf: »Hab ich dich endlich erwischt!« Lenz sah ängstlich zu Fenne. Aber Fenne nickte ihm entschlossen zu. Sie stieß die Tür auf, Lenz leuchtete in die Kammer. Fenne stürmte hinein. Sie war anscheinend wild entschlossen, sich mit aller Kraft auf den Eindringling zu stürzen, der ihre Freunde meucheln wollte. Aber da war kein Ein dringling. Im Licht der Taschenlampe stand nur Silve ster – und hielt eine fiepende Maus am Schwanz fest. 61
»Jetzt ist endlich Ruhe!«, sagte der Junge und grin ste. Aber dann sah er die besorgten Gesichter seiner beiden Freunde und fragte: »Oder geht es jetzt etwa erst richtig rund?«
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Aus den geheimen Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil V Gundel orakelte viel, wenn der Tag lang war. Und sie schickte mir fast täglich transtemporäre Nachrichten, weil sie sich einsam fühlte. Das kann ich ihr nicht übel nehmen, schließlich war sie in einer schrecklichen Lage: Auf ewig aus der Heimatzeit verbannt, saß sie genau über dem Zeitloch, durch das sie selbst nicht mehr passte, und wurde von aller Welt zur Zukunft befragt. In den ersten Jahren hatte sie versucht, eigene Zeitenläufer anzuheuern, aber die griechi schen Kinder waren entweder zu feige oder zu klug, um in das Loch zu steigen. Vermutlich befürchteten sie, dass sie die griechische Unterwelt auf der anderen Seite des Lochs erwartete. Alles in allem habe ich mich stets bemüht, geduldig mit Gundel zu sein und ihr möglichst Geschenke aus ihrer Heimatzeit zu schicken, wenn Zeiten läufer unterwegs nach Delphi waren. Als ich allerdings später erfuhr, dass sie in ihrer Geschwätzigkeit dem listigen Kimon verra ten hatte, dass fünf Kinder in Begleitung des kleinen Sokrates unterwegs nach Athen waren, da platzte mir der Kragen. Denn durch dieses unbedachte Geplapper hatte sie meine Zeitenläufer in Lebensgefahr gebracht.
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6. Kapitel
D
er Bote war von mir, die Nachricht aber nicht.« Perikles saß im Hof seines Hauses auf einem Mauervorsprung und legte die Stirn in Sorgenfalten. Die fünf Zeitenläufer waren im Morgengrauen zum Haus des Demokraten gelaufen, um sich mit ihm zu beraten. Den kleinen Sokrates hatten sie schlafen lassen – schließlich war er weder ein schneller Läufer noch besonders mutig. Und Mut schienen sie nun wirklich zu brauchen. »Die Nachricht hat ein Sklave unter meiner Hau stür gefunden. Ich dachte, es könnte wichtig für euch sein, deshalb habe ich noch gestern Nacht einen Boten zu euch geschickt.« »Jetzt sitzen wir in der Falle«, sagte Henrik. »Wenn wir zurück nach Delphi gehen, lauert uns der Mörder auf.« »Aber warum?«, fragte Cornelia. 64
Und diese Frage stellte sich Lenz auch, seit er die Nachricht gelesen hatte. Warum lauerte der Mörder des Ephialtes fünf Kindern auf? »Menschen werden normalerweise nur dann er wischt, wenn sie irgendeinem kaltblütigen Fiesling im Weg sind«, überlegte Silvester und setzte sich neben Perikles auf den Mauervorsprung. »Das heißt, wir sind dem Mörder des Ephialtes im Weg.« Fenne kratzte sich am Hinterkopf. »Aber wobei und wodurch?« So standen und hockten sie im Hof von Perikles’ Haus und überlegten im Morgenrot, bis ihre Köpfe qualmten. »Es ist doch so«, sagte Henrik schließlich. »Wir sind ganz normale Kinder. Einziger Unterschied ist, dass wir ein bisschen mehr wissen als andere.« Eigentlich wissen wir nicht mehr, sondern anderes als die Kinder aus dem alten Athen, dachte Lenz. Aber diese Spitzfindigkeit verkniff er sich dann doch lieber, schließlich kannte Lenz seinen Freund Henrik mittlerweile gut genug, um ganz genau zu wissen, wie allergisch dieser auf solche Bemerkungen von Lenz reagierte. »Und das kann doch nur eins bedeuten.« Henrik sah in die Runde. »Er hat Angst, dass wir ihn entdek ken könnten.« Perikles nickte. »Das klingt logisch.« »Und das heißt, dass wir vielleicht herausfinden können, wer Aristodikos aus Tanagra wirklich ist.« Henriks braune Augen funkelten abenteuerlustig. »Also los: Finden wir es heraus! Wo sollen wir anfan gen?« 65
»Wie wär’s erst mal mit Frühstück?«, fragte Silve ster. »Dann kann ich besser nachdenken.« Perikles lachte. »Du gefällst mir, Silvester!« Er rief einen Sklaven herbei und ließ im Gästezimmer die Tische decken. Während des Frühstücks befragte Henrik Perikles noch einmal ganz genau. »Wir müssen beim Tather gang beginnen.« Lenz verdrehte die Augen. Henrik guckte einfach zu viel Fernsehen. Das hier war kein Krimi, sondern das echte Leben. Und vor allem waren sie keine Kri minalkommissare, sondern Kinder. Aber Henrik ließ sich nicht beirren. Er fragte Pe rikles nach jedem Detail und dieser gab ihnen bereit willig Auskunft. Vier Gäste hatte Ephialtes laut Perikles in der Mordnacht empfangen: ihn selbst und seinen jüngeren Bruder Leokrates. Ferner ihre Freunde Ion und Glaukon. Ephialtes hatte mit seinen Freunden geges sen und getrunken und den Sieg über Kimon gefeiert. Die Haustür und alle Fenster waren verrammelt und zusätzlich bewacht gewesen. Da sie alle ein bisschen zu viel getrunken hatten, war Perikles irgendwann eingeschlafen. Er war vom Geschrei der Frau des Ephialtes wieder aufgewacht. Ephialtes lag erschlagen vor ihm. Leokrates wachte auch gerade erst auf. Wo Glaukon und Ion zu diesem Zeitpunkt gewesen waren, konnte Perikles nicht mehr sagen. Aber auf jeden Fall auch noch im Haus, denn sie standen plötzlich neben der Tür. Perikles und Glaukon befragten die Wachen noch in der Nacht und kontrollierten alle Türen und Fenster: Es war niemand in das Haus eingebrochen. 66
»Also muss es jemand von den Anwesenden gewe sen sein«, kombinierte Henrik. Perikles nickte ernst. »Der Mörder muss aus unse ren Reihen stammen.« »Kann nicht einfach irgendwer über die Mauer ge klettert sein?«, fragte Fenne. Perikles schüttelte den Kopf. »Fünf Männer haben die Mauern bewacht und der Hof war erhellt. Und alle Wachen waren so aufgestellt, dass sie sich gegen seitig kontrollieren konnten – keiner von ihnen hat geschlafen. Nein, über die Mauer ist niemand ge kommen.« »Kommt vielleicht eine der Wachen selbst infra ge?«, fragte Silvester. »Könnte es sein, dass Kimon einen oder mehrere von denen bestochen hat?« Perikles schüttelte wieder den Kopf. »Das hatte ich auch vermutet. Ist aber nicht der Fall. Die Wachen waren allesamt Ephialtes’ Sklaven. Niemand von ihnen wurde nach dem Mord freigekauft. Besitz haben sie auch keinen, nicht mal außerhalb der Stadt. Das habe ich längst überprüft.« »Dann bleiben also nur …« Lenz stockte. Dieser Gedanke war einfach abscheulich, aber es änderte ja doch nichts. »… deine Freunde.« Perikles sah Lenz in die Augen. »Du sagst es.« »Okay, fassen wir zusammen.« Henrik lehnte sich auf der Liege zurück. »Da du selbst Ephialtes nicht ermordet hast, bleiben als Tatverdächtige dein kleiner Bruder Leokrates sowie die Freunde Ion und Glau kon. – Hast du irgendeine Vermutung, wer von ihnen es gewesen sein könnte?« Perikles warf Henrik einen ziemlich entrüsteten 67
Blick zu. »Es sind meine und Ephialtes’ Freunde, Henrik! Keinen von ihnen will ich verdächtigen. Meinem Bruder Leokrates traue ich so eine Tat nicht zu. Ihn kenne ich ja von klein auf. Glaukon würde so was auch nicht tun. Er und Ephialtes waren schon so lange Freunde!« »Bleibt Ion«, hakte Henrik nach. Perikles schwieg. Aller Augen richteten sich auf den Demokraten. »Bedeutet dieses Schweigen, dass du Ion verdäch tigst?«, fragte Fenne. Perikles rang die Hände. »Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Ich weiß nicht, wem ich noch trauen kann. Irgendeiner der drei muss es ja gewesen sein!« Mehr war aus Perikles nicht herauszukriegen. Aber Lenz konnte ihm an der Nasenspitze ansehen, dass er Ion für den Täter hielt. Vielleicht traute er sich nur nicht, das auszusprechen. Schließlich war diese An schuldigung ja auch keine Kleinigkeit. Für Henrik war die Lage jetzt ausreichend klar. »Also gut.« Er nahm sich noch eine Traube. »Es sieht so aus: Wir haben drei Tatverdächtige und einen Tatort. Und der Täter selbst ist uns auf den Fersen. Das heißt …« »Wir müssen uns mal wieder ziemlich gut verstek ken«, vollendete Cornelia Henriks Satz. Henrik schenkte der Römerin sein strahlendes Lächeln. »Du sagst es.« Cornelia wurde knallrot, als Henrik sie so ansah. Lenz traute seinen Augen kaum! Sie mussten einen Mord aufklären und was taten Henrik und Cornelia? 68
Sie himmelten sich gegenseitig an, statt das weitere Vorgehen zu planen! Es war mal wieder Fenne, die sie zur Vernunft rief: »Dieser unbekannte Warner namens Philos könnte uns weiterhelfen. Er scheint ja zu wissen, wer der Täter ist. Aber solange wir Philos nicht haben, müssen wir selbst nach Spuren suchen. Philos hat geschrie ben, dass der Täter nach fünf Kindern sucht.« Sie zuckte mit den Schultern und grinste in die Runde. »Also werden wir nun getrennt durch Athen gehen, dann fallen wir nicht auf.« Perikles schmunzelte. »Allmählich beginne ich zu verstehen, warum das Orakel meinte, ihr seid besser als jeder andere in der Lage, mir die Lösung zu brin gen. Braucht ihr noch etwas von mir?« »Ja!«, sagte Henrik. »Wir müssen wissen, wo Leo krates, Ion und Glaukon wohnen. Wir werden sie beschatten.« Perikles nickte und sagte ihnen, wo sie die Häuser seines Bruders und seiner Freunde finden konnten. »Außerdem müssen wir zum Haus von Ephialtes«, sagte Silvester. »Vielleicht finden wir ja doch Spuren eines Einbruchs oder sonst etwas, was den Täter verrät.« »Meinst du die Tatwaffe?«, fragte Lenz. »Die Tatwaffe, eine Sandale, was weiß ich.« Silve ster nahm sich noch eine Feige. »Das Orakel spricht übrigens die Wahrheit.« Perikles warf Silvester einen zweifelnden Blick zu. »Ach ja?« Silvester biss herzhaft in die Feige und sagte: »Ja. Die Feigen bei dir sind echt klasse!« 69
Aus den geheimen Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil VI Natürlich machte ich nicht nur Gundel, sondern auch mir selbst Vorwürfe, als ich später von der ausweglosen Situation, in die meine Zeitenläufer geraten waren, erfuhr. Denn was anfangs nach einem relativ einfachen, wenn auch nicht völlig ungefährlichen Botengang ausgesehen hatte, entwickelte sich langsam, aber sicher zu einem mörderischen Abenteuer. Aber statt sich von der Bedrohung durch den Mörder, der auf ihrer Spur war, abschrecken zu lassen, hefteten sich meine Zeitenläufer selbst auf die Spur desselben. Es war Henrik gewesen, der sie zu diesem Schritt ermutigt hatte. Henriks Mut, den er in Athen an den Tag legte, hätten wohl nur wenige Menschen in dieser Situation aufgebracht. Doch Mut wird schnell zu Übermut, wenn man sich dem Ziel allzu nahe glaubt.
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7. Kapitel
L
enz taten die Füße weh. Er und Fenne waren zu Glaukons Haus gelaufen. Sie hatten Glück: Der Herr des Hauses, ein bärtiger, kleiner und etwas kugeliger Mann, war schon, kurz nachdem sie ihre Stellung bezogen hatten, in Begleitung von zwei Sklaven, die beide einen guten Kopf größer waren als ihr Herr, aus dem Tor getreten. Dann aber ging es los mit dem langen Marsch des Vormittags, den alle griechischen Männer abzuhalten schienen: Glaukon und die beiden Sklaven liefen auf den großen Markt platz. Lenz und Fenne folgten ihm unauffällig mit einigem Abstand auf den Platz. Platanen wuchsen hier und spendeten Schatten. Der ganze Platz war voll mit Menschen, Händlern, Sklaven, Besuchern und Athe nern, die sich für die anstehenden Feiertage zu Ehren des Dionysos mit Lebensmitteln, neuen Töpferwaren und Wein versorgten. Die Frauen standen etwas abseits am Brunnenhaus und holten Wasser. Der kugelige Glaukon kaufte Obst, Gemüse und Wein und schickte seine Sklaven, die an den Einkäufen schwer 71
zu schleppen hatten, zurück nach Hause. Und was tat er? – Blieb auf dem Marktplatz und quatschte mit anderen Männern! Die Athener waren die offensich tlich größten Tratschtanten der Weltgeschichte! Es war viel los auf dem Marktplatz. So viel, dass Lenz versehentlich einen Jungen anrempelte. »Kannst du nicht aufpassen?«, motzte der Junge ihn an – und zwar auf Deutsch! Lenz drehte sich um. Es war Henrik. Sein Freund zwinkerte ihm zu und deutete mit dem Kinn nach halblinks, wo ein Mann mit einer langen Nase gerade auf den kleinen Glaukon traf. »Darf ich vorstellen, das ist Ion! Der Mann mit der langen Nase und dem finsteren Blick. – Was machen die alle hier?« »Quatschen«, antwortete Lenz. Aber dann trennten sich die Freunde schnell wieder, damit sie nicht als Kindergruppe auffielen. Denn auch Cornelia erschien nun auf dem Marktplatz. Sie folgte heimlich dem hübschen und edel gekleideten Leokrates, dessen dunkelblonde Locken lässig auf seine Schultern fielen. »Aufgepasst, er haut ab!«, raunte Fenne Lenz plötzlich zu. Tatsächlich verdrückte sich Glaukon vom Markt platz. Er lief Richtung Akropolis. Aber als der große Burgberg, der mitten in der Stadt stand, vor ihnen auftauchte, bog Glaukon plötzlich nach rechts ins enge Gassengewirr ab. Er beschleunigte plötzlich seinen Schritt, wechselte die Straßenseite und lief durch verschiedene Gässchen, sodass Lenz und Fen ne Mühe hatten hinterherzukommen. So ein Tempo hätte Lenz dem kugeligen Mann gar nicht zugetraut. Glaukon lief immer weiter in das Viertel hinein, in 72
dem auch Perikles wohnte, blieb plötzlich stehen und klopfte an eine Tür. Ein Sklave ließ ihn eintreten. Lenz und Fenne blieben an der Straßenecke zu rück. »Wem gehört dieses Haus?«, fragte Lenz. Wenn ihn seine Orientierung nicht völlig trog, dann musste ganz in der Nähe nicht nur Perikles’, sondern auch Glaukons eigenes Haus stehen. »Keine Ahnung, aber wir werden es herausfinden.« Fenne ließ ihren Blick die Straße hinuntergleiten. Zwei Männer sahen zu ihnen herüber, gingen dann aber weiter. Ein Sklave lief an ihnen vorüber. Lenz bemerkte die Angst, die Fenne ins Gesicht geschrieben stand. Und wenn die mutige Fenne Angst bekam, dann wurden Lenz’ Knie regelmäßig weich wie Wackelpudding. »Werden wir verfolgt?« Fenne ließ die Straße nicht aus den Augen. »Ich weiß nicht«, murmelte sie. »Ist nur so ein ungutes Gefühl, irgendwas stimmt hier nicht. Jedenfalls sind wir hier nicht sicher.« »Oh nein, das seid ihr nicht!«, sagte da plötzlich ei ne Stimme hinter ihnen. Lenz und Fenne fuhren erschrocken herum. Und atmeten auf. Es war nur Silvester, der hinter ihnen stand und grinste. »Warum so schreckhaft?«, fragte der römische Junge. »Ich wollte euch gar nicht erschlagen.« »Was machst du hier? Ich dachte, du wärst mit ei ner Empfehlung von Perikles bei Ephialtes’ Witwe, um sie zu befragen.« Fenne sah Silvester streng an. »War ich auch, bis euer Schützling Glaukon ge kommen ist. Da bin ich zum Fenster rausgeklettert, damit er keinen Verdacht schöpft. Aber Vorsicht, der 73
kommt jeden Augenblick wieder raus!« Silvester deute te auf die Tür, hinter der Glaukon verschwunden war. »Das Haus gehört Ephialtes?«, fragte Lenz. »Gehörte. Jetzt gehört es seiner Frau Eirene und den Kindern.« »Und? Hast du die Tatwaffe gefunden?«, fragte Lenz. »Fehlanzeige. Die Tatwaffe ist weg und Eirene hat den Tatort, das Speisezimmer, zumauern lassen. Die sen Raum soll nie wieder jemand betreten.« Silvester ließ die Haustür nicht aus den Augen, als er hinzufüg te: »Wenn ihr mich fragt, ist der dicke Glaukon nicht ganz sauber. Ich habe einen von Eirenes Sklaven gerade noch gefragt: Der kommt jeden Tag, um nach der Witwe und den Kindern zu sehen.« »Das ist doch sehr nett«, sagte Fenne. »Schließlich ist Ephialtes sein Freund gewesen. Ist doch kein Wunder, wenn er sich um die Frau kümmert.« Silvesters Blick verfinsterte sich. »Dieser Glaukon hat gerade auf die Witwe eingeredet, dass sie in sein Haus ziehen soll. Versteht ihr? Der will die doch garantiert heiraten!« Lenz und Fenne sahen sich an. »Du meinst, der Mord war vielleicht gar nicht von diesem Kimon und seinen Freunden angezettelt?« Silvester zuckte mit den Schultern und wollte noch etwas sagen, aber da öffnete sich die Tür, und Glau kon verließ das Haus wieder. Silvester, Fenne und Lenz zogen ihre Köpfe schnell hinter die Ecke zurück und ließen den kleinen Mann an sich vorübergehen. »Wir treffen uns nachher bei Sokrates«, flüsterte 74
Silvester. »Ich gehe noch einmal rein. Eirene mag mich, glaube ich.« Der römische Junge huschte zur Rückseite des Hauses, wo er aus dem Fenster geklet tert war, während Fenne und Lenz sich beeilten, hinter Glaukon herzulaufen. Aber die Verfolgung war schon bald zu Ende. – Lenz hatte sich nicht ge täuscht. Der korpulente kleine Mann ging zu seinem eigenen Haus und das lag nur drei Straßen weiter. »Endstation.« Fenne kickte einen Stein vom Weg, als sie an der verschlossenen Tür von Glaukons Haus vorbeischlenderten. »Meinst du, Silvester hat recht?« Lenz überlegte. Das, was Silvester vermutet hatte, klang zwar sehr grausam, aber durchaus plausibel: Glaukon könnte in aller Seelenruhe gewartet haben, bis Perikles, Ion, Leokrates und auch Ephialtes vom vielen Wein eingeschlafen waren. Dann hätte er Ephialtes erschlagen können – möglicherweise sogar mithilfe der Witwe Eirene! Ein eiskalter Schauer lief Lenz über den Rücken, als er sich vorstellte, wie der kleine, kugelige, aber quirlige Mann mit seinem Schwert ausholte und … Aber so etwas kam vor, das wusste Lenz. So etwas passierte im einundzwanzig sten Jahrhundert genauso, wie es bei den Ägyptern, Römern oder Griechen passiert war. »Es wäre jeden falls nicht das erste Mal, dass ein Mann seinen Freund umbringt, weil er sich in dessen Frau verliebt hat. Oder?« Sie bogen in das Viertel ein, in dem Sokrates wohn te. »Das würde bedeuten, dass wir den Täter schon haben.« Fenne klopfte bei Sokrates an die Tür. Henrik öffnete ihnen. »Ach ja? Ihr auch?« 75
Aus den geheimen Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil VII Immer wieder und immer öfter frage ich mich, was Zeit eigentlich ist. Ist Zeit nur der Schatten, den das Werden und Vergehen der Dinge, Pflanzen, Tiere und Menschen in die Geschichte wirft? Kann man sich vorstellen, dass es Zeit gäbe, wenn es nichts gäbe, was wird und wieder vergeht? Oder ist umgekehrt die Zeit die Voraussetzung dafür, dass es Werden und Vergehen geben kann? Irgendwie scheint es drei Abschnitte in der Zeit zu geben: die Ver gangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Und normalerweise halten wir diese drei Arten von Zeit für sehr unterschiedlich: Die Vergangenheit gilt für die meisten Menschen als starr gegeben und unveränderlich. Die Gegenwart gilt den meisten als eine schwer zu durchschauende Folge von Augenblicken. Und über die Zukunft gehen die Meinungen ganz und gar ausei nander: Die einen glauben, dass die gesamte Zukunft bereits von vorn herein festgelegt ist, andere meinen, dass wir Menschen die Zukunft selbst bestimmen, und wieder andere behaupten, dass es die Zukunft gar nicht gibt, weil sie noch nicht existierende Gegenwart sei. Doch im Grunde sind all diese Vorstellungen von Zeitabschnitten ganz falsch. Denn die Vergangenheit kann man ebenso verändern wie die Gegenwart und die Zukunft. Das bewiesen meine Zeitenläu
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fer in Athen einmal mehr. Was sich aber genau ändert, wenn man versucht, in den Lauf der Dinge einzugreifen, das weiß man leider immer erst, wenn es zu spät ist.
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8. Kapitel
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acht euch nützlich!« Sokrates’ Mutter, die den außergewöhnlich hübschen Namen Phainarete trug, war eine außergewöhnlich resolute Frau. Sie drückte dem etwas verdutzten Henrik einen Besen in die Hand. »Ihr Jungs könnt schon mal den Hof fegen. Die Mädchen können mir in der Küche helfen.« »Aber …« Henrik fasste den Besen mit spitzen Fingern an. In den Augen des verwöhnten Jungen war das die Arbeit von Hausangestellten. »Sag bloß, du weißt nicht, was ein Besen ist und wie er funktioniert?« Phainarete verzichtete auf eine Antwort und schwirrte mit Fenne und Cornelia ab in Richtung Küche. »Und wenn ihr mit dem Kehren fertig seid, könnt ihr die Tische decken. Falls ihr Sokrates seht, schickt ihn sofort zu mir! Der versucht, sich nur wieder vor der Arbeit zu drücken.« Henrik und Lenz standen sprachlos auf dem Hof, während Sokrates’ Mutter in der Küche Fenne und Cornelia ihre Kommandos erteilte. 78
»Meint sie im Ernst, dass ich …« »Tus einfach«, sagte Lenz. »Schließlich zahlen wir keine Miete für die Unterkunft, da können wir ruhig ein bisschen fegen.« Henrik reichte Lenz den Besen. »Hast recht!« Henrik dachte gar nicht daran, auch nur eine halbe Steinplatte zu kehren. Er lehnte sich an eine Mauer und sah Lenz beim Fegen zu. »Ich bin mir sicher, dass etwas mit Ion nicht stimmt«, sagte er. »Habt ihr schon rausgekriegt, was der Areopag eigentlich ist?« Lenz kratzte sich hinter dem linken Ohr. »Klar, das hat Perikles doch gesagt: Der Areopag ist das Gericht, das auf dem Areshügel tagt. Warum?« »Es ist mehr als das – das heißt: Der Areopag war mehr, viel mehr als nur ein Gericht!« Henrik ver schränkte die Arme vor der Brust. »Wenn ich es recht verstanden habe, dann gibt es einen Rat der Areopagi ten. Das sind lauter alte Männer, die früher mal hohe Ämter hatten. Wer einmal Areopagit geworden ist, der bleibt es sein Leben lang. Und das heißt: Sie sind lauter alte Politiker, die ihren Einfluss noch haben und nun in diesem Rat sitzen. Die meisten von ihnen sind adlige Männer und nicht gerade Freunde der Demokratie. Sie waren bestechlich, parteiisch und mächtig und Kimon hatte in diesem Rat viele Freun de.« Henrik hob einen Zeigefinger. »So war es. Bis Ephialtes und Perikles diesen Rat entmachtet haben!« Lenz hörte auf zu fegen. »Und was haben wir da mit zu tun?« Henrik zog die Augenbrauen hoch. »Eine ganze Menge! Rate mal, wer heute Morgen nach einer kurzen Visite auf dem Markt schnurstracks zum Areo 79
pag marschiert ist, um mit den stadtbekannten Areo pagiten und Freunden Kimons zu plaudern!« Das war nun wirklich nicht besonders schwer zu ra ten. »Ion Langnase?«, fragte Lenz und kehrte weiter. »Volltreffer!« Henrik grinste. »Ist das nicht merk würdig?« »Das ist nicht halb so merkwürdig, wie du meinst«, schaltete sich da plötzlich der kleine Sokrates ein. Der Junge hatte die ganze Zeit im Speisezimmer gehockt und kam nun zu ihnen in den Hof. »Ion war ja selbst einer der Areopagiten. Aber er hat die Seiten gewech selt und ist Demokrat geworden.« Henrik starrte den kleinen Jungen an. »Bist du si cher, dass du da nicht irgendetwas verwechselst? Ion soll zu Ephialtes übergelaufen sein? Aber dann hätte er ja dabei geholfen, sich selbst zu entmachten!« Henrik überlegte noch einen Augenblick. Aber dann schüttelte er den Kopf. »Ausgeschlossen! Ion hat zwar eine lange Nase und einen finsteren Blick, aber kein vertrocknetes Gehirn! Nein, nein, so blöd kann ja keiner sein.« Sokrates zuckte mit den Schultern. »Glaubt es oder nicht. Ion gehörte früher selbst dem Rat der Areopa giten an.« Lenz fand das nicht ganz so abwegig wie Henrik. »Warum denn nicht. Kann doch sein, dass Ion erkannt hat, dass die Demokratie die gerechtere Staatsform ist. Warum soll er dann nicht die Entmachtung des Rates mitbetrieben haben?« Aber das überzeugte Henrik ganz und gar nicht. »Quatsch! Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. – Ions Ausstieg aus dem Areopag war garantiert 80
von langer Hand vorbereitet! Der war Kimons Joker. Der ist doch nur Demokrat geworden, um sich das Vertrauen von Ephialtes und dessen Freunden zu erschleichen. Und jetzt haben sie zugeschlagen. Wür de mich nicht wundern, wenn er heute Morgen mit seinen alten Freunden besprochen hat, wann sie zum Umsturz blasen und Kimon als Tyrannen einsetzen.« Das war zu viel für Lenz. »Bring mir einen Beweis für diese Theorie, Henrik.« Er öffnete die Haustür und kehrte den Dreck vom Hof auf die Straße. »Das sind doch alles nur wilde Spekulationen von dir!« Henrik schloss die Haustür wieder. »Ich habe noch keine Beweise, Lenz. Aber ich habe einen guten Riecher! Das hat sogar die Alte Wöhr gesagt, vergiss das nicht!« Lenz stellte den Besen an der Wand ab. Die Alte Wöhr hätte Henrik niemals loben dürfen. Lenz moch te Henrik wirklich gern, aber manchmal war er ein fach ein fürchterlicher Angeber. »Hört auf zu streiten«, sagte Cornelia. Das Mäd chen trug eine Schale mit Früchten über den Hof Richtung Speisezimmer. »Ich kann euch zwar auch nicht sagen, wer es war, aber ziemlich sicher ist der schöne Leokrates unschuldig. Der hing nämlich nach einem kurzen Besuch auf dem Marktplatz den Rest des Vormittags in einem Garten herum und hat sich mit einer Frau getroffen. Der scheint schwer verliebt zu sein. Die beiden haben sogar Briefe ausgetauscht.« »Das spricht doch gegen Ion«, sagte Henrik. »Leo krates ist unschuldig und Glaukon ist eh zu klein und kugelig, um jemanden zu erschlagen. Außerdem hat er kein Motiv.« 81
»Seit wann ist Liebe kein Mordmotiv mehr?«, frag te Fenne, die in diesem Augenblick einen Stapel Tonschalen über den Hof trug. »Liebe und Mord, du meine Zeit!« Sokrates’ Mut ter Phainarete trug das Essen ins Speisezimmer. Es gab Brei. Schon wieder. Sie nahmen auf den Liegen im Speisezimmer Platz, und Lenz wusste nicht, wie er das überleben sollte. Dieser Brei schmeckte einfach grauenhaft und er war zäh. »Erzählt meinem Sohn keine Schauerge schichten! Und wo bleibt eigentlich euer Freund Silvester?« »Ich bin hier!« Silvester kam auf den Hof gestürzt; er hatte die Hände hinter seinem Rücken verschränkt und schien da irgendetwas zu verstecken. »Vergesst das Mittagessen! Wir müssen sofort zu Perikles. Ich hab ihn!«
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Aus den geheimen Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil VIII Silvester war, neben Fenne, derjenige Zeitenläufer, der am meisten Erfahrung hatte. Vor allem bei den Griechen, aber auch bei den Persern und im gesamten Mittelmeerraum hatte ich ihn oft eingesetzt. Seine Kraft, Ausdauer, Klugheit und nicht zuletzt sein Humor hatten ihm schon mehr als einmal aus der Patsche geholfen. Und auch in diesem Fall war es Silvester gewesen, der die Zeitenläu fer einen entscheidenden Schritt weiterbrachte. In seiner bezaubern den Art hatte der Junge aus dem alten Rom es geschafft, das Ver trauen der Witwe Eirene zu gewinnen. Und als er das einmal hatte, gab die Witwe des Ephialtes zu, dass sie selbst das Schwert, mit dem ihr Mann erschlagen worden war, gefunden hatte. Wer auch immer der Mörder war: Er hatte die Tatwaffe am Tatort liegen lassen. Eirene hat das Schwert neben ihrem toten Mann gefunden, es an sich genommen und versteckt. Warum sie das tat und warum sie es später ausgerechnet Silvester aushändigte, wird wohl für immer Eirenes Geheimnis bleiben.
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9. Kapitel
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arum bist du so sicher, dass das Schwert dem dicken Glaukon gehört?« »Weil’s draufsteht.« »Zeig her!« »Später.« Fenne, Lenz und Silvester rannten durch das enge Gewirr der Gässchen und Gassen. Silvester trug das Schwert, das er notdürftig in eine Decke gewickelt hatte. Damit sie zu fünft nicht auffielen, nahmen Cor nelia und Henrik den Umweg über den Marktplatz. Sokrates war zu Hause geblieben. Er hätte niemals ein Mittagessen gegen einen Dauerlauf eingetauscht. Sie waren schon fast bei Perikles’ Haus angekom men, als Fenne die Jungs plötzlich an den Schultern packte und in eine Seitenstraße zog. 84
»Was ist?«, fragte Silvester. Fenne lugte um die Ecke. »Da ist er wieder!« »Wer?« »Der Mann da drüben. Der mit den schwarzen Augenbrauen.« Lenz und Silvester entdeckten den Mann sofort. Er war groß gewachsen, hatte breite Schultern wie ein Sportler und seine schwarzen Augenbrauen waren über der Nase zusammengewachsen. Sein Kinn war glatt rasiert. Er hatte nur einen braunen Lenden schurz und Sandalen an und war vermutlich ein Haus sklave. »Der verfolgt uns«, flüsterte Fenne. »Ich habe ihn gestern schon auf dem Marktplatz gesehen. Dann ist er später vor dem Haus von Ephialtes aufgetaucht und jetzt kreuzt er hier unseren Weg! Das kann doch kein Zufall sein!« Aber in diesem Augenblick ertönte aus dem Fen ster, unter dem der Mann stand, der Ruf: »Platz da!« Und schneller, als der sportliche Mann verschwinden konnte, hatte schon jemand einen Kübel voll Müll aus dem Fenster gekippt – genau auf die schönen schwar zen Haare des Unbekannten. »Den sind wir fürs Erste los«, freute sich Silvester. Der Mann wischte sich den Dreck notdürftig vom Kopf und sah zu, dass er von der Straße wegkam – eine Handvoll Jungs, die gerade aus der Schule nach Hause liefen, machten sich schon über ihn lustig. Kaum war er hinter der nächsten Straßenecke ver schwunden, rannten die drei Zeitenläufer weiter zum Haus des Perikles. Ein Sklave öffnete ihnen die Tür und führte sie ohne große Umstände direkt ins Spei 85
sezimmer, wo Perikles mit seiner ziemlich jungen Frau zu Tisch lag. »Ich komme«, sagte er knapp. »Muss das sein?«, keifte seine Frau los. »Gerade fangen wir an zu essen und schon werden wir wieder gestört! Sag den drei Rotznasen, dass sie später wie derkommen sollen.« »Diese Rotznasen sind wichtiger als ein Mittages sen«, antwortete Perikles knapp und ließ seine ze ternde Frau im Speisezimmer zurück. »Kommt mit!« Der Staatsmann lief über den Hof, stieg eine Trep pe hinauf und führte sie in ein kleines Zimmer, in dem ein Schreibtisch und ein Regal mit einigen Schriftrollen standen. »In mein Arbeitszimmer lasse ich sonst niemanden. Ihr könnt euch also geehrt fühlen.« Perikles sah Lenz in die Augen und fragte: »Was habt ihr für mich?« »Den Täter«, platzte Silvester heraus. Perikles zog die Augenbrauen hoch. Er hielt den Atem an. Dann fragte er mit leiser Stimme: »Wer ist es?« »Glaukon!« Silvester legte das eingewickelte Schwert auf den Schreibtisch. »Ausgeschlossen«, sagte Perikles. »Das ergibt kei nen Sinn!« »Oh doch! Glaukon ist scharf auf Eirene. Er ist je den Tag bei ihr und will, dass sie zu ihm ins Haus zieht. Der ganze Mord war gar nicht politisch. Es ging nur um Liebe und Eifersucht.« Perikles schüttelte den Kopf und murmelte: »Un sinn.« »Was heißt da Unsinn?« Silvester schlug die Decke 86
zurück. »Das ist die Tatwaffe! Die hat Eirene mir gegeben.« Perikles betrachtete das Schwert und bemerkte so fort den griechischen Buchstaben Gamma im Hand knauf. »Es ist das Schwert Glaukons«, bestätigte er. »Aber das heißt ja noch lange nicht, dass er es auch benutzt haben muss, um seinen Freund und Schwa ger Ephialtes zu erschlagen!« In Perikles’ Augen funkelte es wütend. »Schwager?«, fragte Fenne. »Soll das heißen, dass Eirene die Schwester von …« »Eirene ist Glaukons Schwester.« Perikles stand von seinem Stuhl auf. »Und sie war glücklich mit Ephialtes verheiratet – viel glücklicher als manche Ehefrau in Athen! Glaukon selbst hat die Ehe seiner Schwester mit seinem Freund arrangiert! Dass er sie nun in seinem Haus aufnehmen will, ist ja nur ver ständlich! Denn er weiß nicht, ob der Mörder es auch noch auf seine Neffen und Nichten abgesehen hat. Immerhin hat Ephialtes zwei Söhne und eine Toch ter!« Er sah kopfschüttelnd zu Silvester. »Ich hätte euch mehr zugetraut!« Silvester stand da wie ein begossener Pudel. Sie hatten den Täter nicht. Sie hatten nur die Tatwaffe. »Dass Eirene das Schwert ihres Bruders versteckt hat, leuchtet mir jetzt ein. Aber warum hat Glaukon das Schwert überhaupt mitgenommen, als er in der Mordnacht zu Ephialtes ging?«, fragte Lenz. »Er wollte doch nur feiern?« Perikles seufzte. »Ich dachte, ihr wisst mehr als ande re Kinder. Dabei wisst ihr weniger!« Er setzte sich wie der hin und betrachtete das Schwert, mit dem sein 87
Freund erschlagen worden war. »Wir waren alle bewaff net. Wer zu später Stunde durch die Straßen Athens geht, muss sich vor Überfällen in Acht nehmen. Nach unserem Sieg über Kimon wurde ohnehin gemunkelt, dass es einen Mord geben könnte. Daher waren wir nicht nur wachsam, sondern auch bewaffnet.« »Warum hast du uns das nicht gleich gesagt?«, frag te Fenne. Perikles zuckte mit den Schultern. »Ihr habt mich nicht danach gefragt. Ich dachte natürlich, ihr wüsstet Bescheid.« In diesem Augenblick stürmten Henrik und Cornelia in das Arbeitszimmer. »Habt ihr es auch schon gehört?« Der Haussklave hechtete hinter den beiden her. »Entschuldigt, Herr! Diese Kinder sind mir auf dem Hof entwischt. Sie haben wohl Eure Stimme gehört!« »Ist schon in Ordnung!« Perikles schickte den Skla ven mit einer wegwerfenden Handbewegung aus dem Zimmer. »Die beiden kommen wie gerufen.« Henrik und Cornelia war etwas passiert. Das konn te man ihnen an den blassen Nasenspitzen ansehen. Dass Cornelia etwas ängstlich guckte, kam öfter vor – aber nun guckte auch der sonst so mutige und lässige Henrik blass aus der griechischen Tunika. »Was ist los?«, fragte Fenne. »Auf dem Marktplatz wird herumerzählt, dass ein paar Hirten, die ihre Herden vor den Toren der Stadt hüten, fünf Kinder gefunden haben. In einer Höhle!« Henrik schluckte. »Die fünf waren an den Felsen gekettet! Wenn die Hirten nicht zufällig ein verlore nes Lamm gesucht hätten, wären die Kinder nie gefunden worden! Die Höhle liegt weit ab vom Weg.« 88
Lenz’ Knie wurden weich. Fünf Kinder irgendwo in einer Höhle, an die Felswand gekettet – diese fünf hätten sie selbst sein können. »Versteht ihr? Wer auch immer der Täter ist – er ist nicht nur einfach hinter uns her! Er ist auch völlig skrupellos!« »Woher willst du wissen, dass dieser Anschlag ei gentlich uns galt?«, fragte Silvester. Henrik verdrehte die Augen. »Die fünf sind über eine Straße spaziert, als sie von ein paar Männern geschnappt wurden. Und rate mal, wo diese Straße hinführt!« Henrik wartete Silvesters Antwort gar nicht ab und fügte hinzu: »Nach Delphi. Genau! Es waren fünf Kinder, die zufällig auf der Straße liefen, die von Athen nach Delphi führt.« Er sah Silvester in die Augen. »Und jetzt erzähl du mir noch mal, dass dieser Anschlag nicht uns galt!« Cornelia fügte mit leiser Stimme hinzu: »Wenn wir nach Delphi gegangen wären, würden wir jetzt vielleicht in einer Höhle angekettet sitzen und verhungern!« »Seid ihr aber nicht.« Perikles stand auf. »Das Glück ist auf unserer Seite, denn offensichtlich weiß der Täter noch nicht, wie ihr ausseht. Das ist doch eine gute Nachricht.« Er lächelte aufmunternd in die Runde. Aber so richtig beruhigend fand diese Er kenntnis keiner der Zeitenläufer. »Und damit ihr nun nicht doch noch verhungert, seid ihr meine Gäste. Oder habt ihr schon zu Mittag gegessen?« »Was gibt’s denn?«, fragte Silvester. Das ist mir ganz egal, dachte Lenz. Hauptsache, hier wird besser gekocht als bei Sokrates zu Hause.
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Aus den geheimen Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil IX Wer auch immer es war, der die fünf Kinder an den Felsen gekettet hatte, ihren Tod hätte er offensichtlich in Kauf genommen. So sah es zumindest auf den ersten Blick aus. Vielleicht war dieser Anschlag auf die fünf unbeteiligten griechischen Kinder aber auch nicht ganz so grausam, wie meine Zeitenläufer (und die Hirten, die die Kinder befreit hatten) befürchteten. Möglicherweise wollte der Täter die Kinder, die, nichts Böses ahnend, in diese Sache hineingerutscht waren, ja auch nur gefangen halten, bis alles vorüber war. Viel leicht waren der oder die Täter, während die Hirten die Kinder befreiten, schon auf dem Weg, um Wasser und Brot zu holen. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Die Ungewissheit in dieser Frage quälte meine fünf Zeitenläufer gleichermaßen – auch wenn sie es sich nicht anmerken lassen woll ten.
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10. Kapitel
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enrik, das ist doch Wahnsinn!« »Ist mir egal.« »Ich weiß was!« »Aber das ist zu gefährlich!« »Glaub ich nicht.« »Ich weiß was, was ihr wissen müsst!« »Sokrates, halt einfach mal die Klappe!« Henrik war ungeduldig. Und wenn er ungeduldig war, dann wurde er schnell ungerecht. In diesem Fall war es Lenz aber ganz lieb, dass Henrik mit seiner unwir schen Art den kleinen Sokrates zum Schweigen brach te. Henrik, Lenz, Fenne und Cornelia saßen im Hof von Sokrates’ Haus. Sie hatten Glück gehabt, dass seine Mutter, die von Beruf Hebamme war, zu einer Geburt gerufen worden war. So konnten sie in Ruhe Henriks verwegenen Plan besprechen, während Silve ster schon wieder zu Eirene, der Witwe des Ephialtes, 91
gegangen war, um ihr das Schwert, wie versprochen, zurückzubringen. »Wer auch immer Aristodikos aus Tanagra wirklich ist«, sagte Henrik, ohne die Schmolllippe, die Sokrates zog, zu beachten. »Als er die fünf Kinder in die Höhle sperrte, hat er doch vielleicht Spuren hinterlassen. Wir müssen die Höhle, die Kinder und die Hirten finden. Vielleicht können sie uns ja noch Hinweise auf den Mann oder die Männer geben, von denen die Kinder überfallen worden sind. Und vielleicht finden wir heraus, in wessen Auftrag sie gehandelt haben!« Fenne wiegte den Kopf hin und her. »Es ist eine gute Idee, den Spieß herumzudrehen. Aber meinst du nicht, dass wir uns selbst verraten, wenn plötzlich Kinder auftauchen, die alles über die verschleppten Kinder erfahren wollen?« Henrik ballte die Fäuste. »Erstens rechnet Aristo dikos nicht damit, dass wir so dreist und verwegen sein könnten. Zweitens gehen wir nicht zu fünft, sondern nur zu zweit, und drittens haben wir keine andere heiße Spur.« »Doch, die haben wir«, schaltete sich Sokrates wie der ein. Henrik fuhr herum und schnauzte ihn an: »Warum gehst du nicht endlich spielen? Hast du keine Freun de? Musst du keine Schulaufgaben machen?« Aber Lenz hob beschwichtigend die Hände. »Langsam, langsam, Henrik!« Er wandte sich dem kleinen, ziemlich beleidigt aus der Wäsche guckenden Sokrates zu. »Weißt du etwas Neues?« Sokrates genoss die Aufmerksamkeit, die sich nun plötzlich auf ihn richtete, sichtlich. Erst nach einer 92
langen Pause sagte er: »Könnte doch sein, dass ich den Mann getroffen habe, der euch sucht.« Die vier Zeitenläufer erbleichten. Hoffentlich hatte Sokrates nicht … »Und könnte doch sein, dass er euch etwas sagen will …« Die Augen des Jungen strahlten. Lenz schluckte. Hoffentlich hatte Sokrates nicht verraten, wo … »Und es könnte doch sein, dass er von mir wissen wollte, wo er euch finden kann.« »Du hast ihm doch hoffentlich nicht verraten, wo du wohnst, wie du heißt und wo wir uns versteckt haben, oder?« Fennes Blick schien Sokrates regel recht zu durchbohren. Aber der kleine Schlaumeier grinste verschmitzt. »Ich bin doch nicht blöd! Ich habe natürlich nichts verraten. Aber ihr könnt ihn treffen, wenn …« »Wenn was?« Henrik verdrehte entnervt die Augen. Plötzlich sah Sokrates Henrik siegesgewiss an. »Wenn du dich in aller Form dafür entschuldigst, dass du mich nicht hast reden lassen!« »Kommt nicht infrage!«, knurrte Henrik. Sokrates zuckte mit den Schultern. »Dann sage ich euch auch nicht, wo er euch erwartet und wie ihr ihn erkennen könnt. Ich verrate euch nur so viel: Er steht am Treffpunkt und ihr seid nicht da!« Henrik sprang auf. »Ich würge ihn! Jetzt würge ich ihn!« Fenne trat dazwischen. »Hör auf, Henrik! Sokrates hat ja recht. Er hatte uns etwas zu sagen und du hast ihn einfach nicht zu Wort kommen lassen! Also ent schuldige dich und fertig!« 93
Henrik sah Fenne an. Er sah Sokrates an. Und es war nicht zu übersehen, wie schwer es ihm fiel, den Satz über die Lippen zu bringen: »Es tut mir leid, dass ich dich nicht habe reden lassen, Sokrates. Ich entschuldige mich!« »Ihr müsst euch beeilen. Der Treffpunkt ist das Brunnenhaus.« »Das Brunnenhaus?«, fragte Cornelia ungläubig. »Ein Mann will uns mitten unter all den Frauen auf dem Marktplatz treffen?« Sokrates grinste. »Es gibt in Athen mehr als ein Brunnenhaus.« Henrik warf Sokrates einen mörderischen Blick zu. »Es ist das Brunnenhaus auf der Südseite der Ak ropolis«, sagte Sokrates. »Ich werde mitgehen, damit ihr euch nicht verlauft. Ach ja, und noch eins: Es sollen nur zwei von euch kommen, nicht alle fünf. Fünf Kinder seien zu auffällig, die würde sich Aristo dikos sofort schnappen.« Henrik knurrte: »Ja meint dieser Mann denn im Ernst, dass wir so blöd sind und ihm in die Arme laufen, damit er uns abmurksen kann?« Aber Lenz schüttelte den Kopf. »Ausgeschlossen. Das ist nicht Aristodikos. Das muss dieser Philos sein, der uns gewarnt hat.« Henrik sah Lenz zweifelnd an. »Bist du sicher?« »Hast du nicht zugehört?«, fragte Lenz. »Der Mann wollte, dass wir nicht zu fünft zum Treffpunkt kommen! Wenn er der Mörder wäre, würde er uns alle auf einmal treffen und beseitigen wollen.« Cornelia nickte. »Klingt logisch.« Henrik schnaufte einmal kräftig durch die Nase 94
und sagte: »Also gut. Wenn wir alle hingehen, sind wir ja sowieso zu auffällig. Ich gehe raus vor die Tore der Stadt und versuche, etwas über diese Höhle und die Kinder, die in ihr festgekettet waren, herauszufinden.« »Ich komme mit dir!«, sagte Cornelia sofort. Lenz musste schmunzeln, als er sah, wie rot Henrik wurde. Und als Henrik murmelte: »Das ist gut«, wur de auch Cornelia knallrot im Gesicht. »Seid vorsichtig«, mahnte Fenne. »Wenn ihr vor Sonnenuntergang nicht wieder in der Stadt seid, alarmieren wir Perikles.« Henrik winkte ab. »Ich bin mir sicher, dass dieser Ausflug nicht halb so gefährlich wird wie euer Gang zum Brunnenhaus.« Er sah von Fenne zu Lenz. »Also passt auf euch auf!« Eigentlich hätte sich Lenz auch ohne Sokrates zuget raut, die Akropolis zu finden. Denn der Burghügel war von vielen Stellen aus gut zu sehen. Als sie aber durch die Straßen liefen, war er doch ganz froh, dass der Junge sie führte. Denn so konnten sie den Markt platz weiträumig umgehen und liefen auf einer brei ten Straße am Areshügel, dem Areopag, vorbei auf die Südseite der Akropolis. Als sie die breite Rampe, die hinauf zu den gewaltigen Säulenhallen führte, kreuz ten, blieben Lenz und Fenne stehen. Lenz konnte es Fennes wasserblauen Augen ansehen: Sie juckte es ebenso sehr wie ihn, einfach hinaufzulaufen und sich alles ganz genau anzusehen. Immerhin war das die Akropolis von Athen! Und zwar nicht die Ruinen, die man im einundzwanzigsten Jahrhundert oder im Mittelalter besichtigen konnte! Da oben standen die 95
Tempel und waren noch in Betrieb! Es gab noch echte Priester und bei Festen wurden den Göttern Opfer dargeboten. Und vor allem: Die gewaltigen Gebäude waren noch intakt! Aber Sokrates mahnte: »Besichtigungen können wir auch noch später ma chen!« Und da hatte er einfach recht. Sie liefen auf einem schmaleren Weg weiter um die Akropolis herum. Der Hügel fiel hier schroff zum Boden hin ab. »Da hinten ist das Theater!«, sagte Sokrates. »Mor gen ist es wieder so weit! Dann sitzen wir den ganzen Tag im Theater!« Der Junge rieb sich die Hände. »Gibt es etwas Spannenderes als das Theater?« »Kino«, rutschte es Lenz heraus. Und er hätte sich direkt selbst für diese saublöde Antwort ohrfeigen können. »Was ist das denn?«, fragten Fenne und Sokrates wie aus einem Munde. Lenz überlegte. Wie sollte er Fenne und Sokrates, die noch nicht mal wussten, was ein Foto, geschweige denn, was ein Film war, erklären, was in einem Kino passierte? »Ein Kino ist so ähnlich wie ein Theater. Nur werden keine Stücke mit echten Menschen auf geführt, sondern Bilder von echten Menschen.« Sokrates zog die Stirn kraus. »Und das soll besser sein als das Theater? Was kann ein Bild von einem echten Menschen, was ein Mensch nicht kann?« Lenz seufzte. Das zu erklären, war ihm wirklich zu kompliziert. »Da hast du natürlich auch wieder recht«, lenkte er ein. Und zu Fenne sagte er: »Vielleicht zeig ich es dir mal.« »Ist Kino so gut wie Eis?«, fragte Fenne. 96
Besser, dachte Lenz. Und er stellte sich vor, dass er neben Fenne im Kino säße. Das Licht ginge aus, und er würde sich vielleicht trauen, nach Fennes Hand zu tasten … Aber von diesem Gedanken wurde Lenz so schwindelig, dass er schnell sagte: »Wo ist denn nun das Brunnenhaus?« »Da drüben.« Sokrates deutete auf ein kleines Ge bäude, vor dem sich ein paar Frauen, die vasenförmi ge Gefäße trugen, unterhielten. Sie hatten das Ge bäude fast erreicht, als hinter einer Zypresse ein leises, aber deutliches »Geht weiter!« ertönte. Ein Mann trat hervor. Es war nicht irgendein Mann. Es war der Mann! Es war der Mann, der wie ein Sportler aussah. Der Sklave mit dem glatt rasier ten Kinn und den schwarzen Augenbrauen, die über der Nase zusammengewachsen waren. Vor diesem Mann hatten sie sich noch vor ein paar Stunden ver steckt, weil Fenne das Gefühl hatte, dass er sie ver folgte! Offensichtlich hatte sie mal wieder den richti gen Riecher gehabt, und Sokrates, dieser Volltrottel, hatte sie nun ausgerechnet genau in dessen muskulöse Arme geführt. Als Lenz diese Arme sah, lief ihm ein Schauer über den Rücken – sie hatten eine Menge übler Narben. »Geht weiter am Brunnenhaus vorbei, Richtung Theater«, flüsterte der Mann. »Ich werde hinter euch hergehen und euch verraten, was ich zu sagen habe.« Lenz fühlte sich nicht wohl dabei. Diesem Kerl wollte er lieber nicht den Rücken kehren – womöglich zückte der sofort eine Waffe!? Aber da sie wissen mussten, was ihnen der Narbenmann zu sagen hatte, 97
blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich seinen Spiel regeln zu beugen. »Wie heißt du?« Fenne gehorchte und schlenderte den Weg weiter auf das Brunnenhaus am Fuß der Akropolis zu. »Das tut nichts zur Sache«, murmelte der Mann, der hinter ihnen herlief. »Nennt mich einfach Philos.« »Du bist Philos?«, entfuhr es Fenne. »Nicht so laut!«, mahnte der Mann. »Ihr seid sehr spät dran, ich muss gleich wieder verschwinden.« Sie liefen an den schwatzenden Frauen vorbei, und nie mand schien von den drei Kindern, denen ein Sklave folgte, Notiz zu nehmen. »Warnt Perikles. Er darf morgen nicht ins Theater gehen!« Philos sprach ganz ruhig und leise und mit einer solchen Gelassenheit, als würde er gerade den aktuellen Wetterbericht durchgeben. Lenz traute dem Ganzen nicht. Das konnte eine Falle sein. »Und warum sagst du das Perikles nicht selbst?«, fragte er. »Erstens bin ich nur ein Sklave. Und ich riskiere hier und heute schon genug für Perikles und die Demokratie. Und zweitens …« Er machte eine Pause. Lenz drehte sich um und sah, dass Philos selbst sich gerade ängstlich umblickte. Der Mann hatte keine Waffe in der Hand! Im Gegenteil, er hatte selbst Angst, erwischt zu werden! »Zweitens glaubt ein Athener einem Spartaner nicht.« Er drehte sich wie der um und raunte Lenz zu: »Guck nach vorne und geh weiter!« »Wovor sollen wir Perikles warnen? Warum soll er nicht ins Theater?«, fragte Fenne. 98
Aber sie erhielt keine Antwort mehr. Als Lenz sich erneut zu dem Sklaven umdrehte, war er verschwun den. »Wo steckt er?« Auch Sokrates blieb nun stehen und hielt nach dem Mann Ausschau. Aber selbst der kleine Schlau meier musste zugeben: »Ich habe keine Ahnung!«
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Aus den geheimen Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil X Fenne und Lenz gestanden mir später, dass sie sich fast in die Tuniken gemacht hätten vor Angst, als sie Philos im Rücken hatten. Und das zu Recht. Es war leichtsinnig von ihnen gewesen, sich auf dieses Spiel einzulassen. Wenn jemand etwas zu sagen hat, dann kann er das auch von Angesicht zu Angesicht tun. Noch dazu ist »Philos« griechisch und bedeutet nichts weiter als »Freund«. Aber wer sich selbst als »Freund« bezeichnet, ist es nicht unbedingt. Es war daher ganz richtig, dass Fenne und Lenz der Aussage des Mannes nicht einfach trauen mochten. Und Philos war nicht nur Sklave, er war auch Spartaner. Dass die Städte Sparta und Athen in einem ständigen Wettstreit miteinander standen, wusste ich von meinen eigenen Reisen ins alte Griechenland.
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11. Kapitel
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as hat er gemeint?«, fragte Fenne. »Wieso traut kein Athener einem Sparta ner?«, fragte Lenz. »Lügen die Spartaner? Alle?«, fragte Fenne. »Oder sind sie Betrüger? Aber warum?«, fragte Lenz. Der arme Sokrates kam gar nicht dazu zu antwor ten, so schnell prasselten die Fragen der beiden auf ihn ein. Es war später Nachmittag, und sie hatten die Zeit genutzt, um sich doch noch auf der Akropolis umzusehen – soweit ihnen der Zutritt nicht von ir gendwelchen Wächtern verwehrt wurde. Die Sonne schien und der Ausblick vom Burghügel war einsame Spitze: Sie konnten im Süden Piräus und sogar das Meer sehen! »Ihr wisst, dass Sparta auch eine griechische Stadt ist, oder?« Lenz nickte. Fenne nicht. »Aber Sparta ist das glatte Gegenteil von Athen.« 101
Sokrates begann, auf und ab zu laufen, als wäre er sein eigener Lehrer, und predigte: »Sparta kennt keine Demokratie. In Sparta herrscht ein Tyrann oder König oder so. Die Kinder müssen rohes Fleisch essen. Auch zum Frühstück und sie werden ihren Eltern direkt nach der Geburt weggenommen. Sie schlafen auf heißen Kohlen, damit sie nie wieder frieren. Sie können nicht lesen und schreiben. Die Spartaner lernen in der Schule nur eins: kämpfen, kämpfen und nochmals kämpfen. Und lügen, natür lich.« Fenne legte den Kopf schief. »Und diesen Mist sol len wir dir glauben?« »Fragt Perikles! Fragt meine Mama!«, rief der klei ne Sokrates entrüstet. »Fragt, wen ihr euch zu fragen traut: Alle werden euch sagen: Sparta ist das Gegenteil von Athen. Und man kann Spartanern nicht trauen.« »Aber warum sollte Philos uns dann gewarnt ha ben?«, fragte Lenz. Er wusste nicht, ob sie dem Skla ven trauen konnten. Aber wenn nicht, dann sicherlich nicht einfach nur deshalb, weil er aus dieser oder jener Stadt kam. Wenn Philos sie anlog, dann musste er dafür einen Grund haben. »Die Spartaner kann man nicht verstehen«, sagte Sokrates. »Das ist doch nun wirklich totaler Quatsch!«, ent fuhr es Fenne. »Ich weiß ja nicht, wer dir das einget richtert hat, und es mag ja auch sein, dass die Städte Sparta und Athen sehr verschieden sind. Aber deshalb ist doch noch lange nicht gesagt, dass alle Spartaner lügen wie gedruckt und man keinem von ihnen trauen kann! Vielleicht ist Philos ja eine Ausnahme?« 102
Sokrates machte den Mund auf. Aber er wusste wohl plötzlich nicht mehr, was er sagen wollte. »Außerdem kann man jeden Menschen, der spre chen kann, verstehen«, setzte Fenne hinzu. »Man muss nur genau zuhören und irgendwie rauskriegen, was er sagen will.« Sokrates stand da wie vom Donner gerührt. Sein Mund klappte immer wieder auf. Er wollte offensich tlich etwas entgegnen – aber irgendwie schienen dem Jungen die Argumente ausgegangen zu sein. So schwieg Sokrates und begann, über das nachzugrü beln, was Fenne gesagt hatte. Lenz kratzte sich hinter dem linken Ohr. »Bleibt die Frage: Was will Philos?« Fenne zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich auch nicht. Er hat uns zu wenig gesagt. Wir müssen hoffen, dass er wieder auftaucht und uns noch mehr verraten kann. Vor allem will ich endlich wissen, wer dieser verflixte Aristodikos in Wahrheit ist.« Sie ließ ihren Blick noch einmal über die Stadt und das Meer schweifen. »Köln ist ja ganz nett«, murmelte sie. »Aber das hier, das ist tausendmal schöner, oder?« Lenz nickte. »Genug gefaulenzt!« Fenne drehte sich um und strich eine ihrer roten Haarsträhnen aus der Stirn. »Auf zu Perikles! Schließlich ist es seine Entschei dung, ob er der Geschichte traut oder nicht.« »Perikles geht morgen garantiert trotzdem ins Theater.« Sokrates sprach langsam, so als wäre er mit seinen Gedanken immer noch bei der Frage, ob man Spartaner verstehen konnte oder nicht. »Das Spekta 103
kel wird er sich nicht entgehen lassen. Und die Athe ner erwarten auch von ihm, dass er mit seiner Frau auf einem der guten Plätze sitzt.« »Abwarten«, murmelte Fenne und lief durch die große Säulenhalle, auf die Rampe zu, die hinab in die Stadt führte. Der Spätnachmittag war angenehm mild. Eine leichte Brise blies vom Meer her in die Stadt und Lenz hatte für einen Moment gar keine Angst mehr. Die schien mit der Seeluft weggeflogen zu sein. Aber eben nur einen Moment, dann war die Angst wieder da. Sie liefen durch die Stadt und trafen vor Perikles’ Haus auf Silvester. »Ihr kommt wie gerufen!«, sagte er. »Ich hab die Witwe Eirene endlich so weit! Wir dürfen in das Zimmer, in dem Ephialtes erschlagen wurde. Die Mauern hier sind ziemlich leicht einzuschlagen, aber ich schaff es nicht allein.« Er sah zu Lenz. »Klar, ich komme mit!« Fenne nickte. »Wir treffen uns bei Sokrates zum Abendessen!« Sie und Sokrates klopften bei Perikles an die Tür, während Silvester und Lenz abermals zu Ephialtes’ Haus aufbrachen. »Sind Cornelia und Henrik schon wieder in der Stadt?«, fragte Silvester, als sie in die Straße einbogen, in der der Anführer der Demokraten gelebt hatte. Lenz zuckte mit den Schultern. »Wir haben sie je denfalls nicht getroffen.« Er sah den römischen Jun gen von der Seite an. Auf Silvesters Stirn kräuselten sich die Sorgenfalten. »Warum fragst du? Wir hatten ihnen Zeit bis Sonnenuntergang gegeben.« Silvester nickte. »Ich weiß. Es ist albern. Ich habe 104
irgendwie ein ungutes Gefühl dabei.« Sie erreichten das Haus. Silvester klopfte. »Das ist so eine Krankheit von großen Brüdern: Sie machen sich Sorgen.« »Henrik ist ja dabei«, versuchte Lenz Silvester auf zumuntern. Ein Sklave öffnete ihnen die Tür und ließ sie ein treten. »Ja, eben!«, murmelte Silvester. Mehr sagte er nicht. Aber das musste er auch nicht. Lenz verstand auch so, was Silvester meinte. Niemand konnte sich so unauffällig verhalten wie Cornelia. Sie schaffte es irgendwie immer, sich wie ein Chamäleon an ihre Umgebung anzupassen, sodass die Leute, die an ihr vorübergingen, sie einfach nicht beachteten – so wie man normalerweise eine Straßen laterne nicht beachtet oder das Dach einer Bushalte stelle. Henrik hingegen konnte sich zwar gut anschlei chen, und er war ein hervorragender Beobachter, aber wenn er wütend wurde, konnte er sich oftmals nur sehr schwer bremsen. Und das konnte in der jetzigen Situation gefährlich werden. Eirene kam die Treppe hinunter zu ihnen in den Hof, der schon von Schatten überzogen wurde. Sie war ebenso klein wie ihr Bruder Glaukon, nur längst nicht so korpulent. »Ah, du hast Verstärkung mitgebracht, Silvester.« Die Witwe sah Lenz mit ihren traurigen Augen an. »Ihr dürft die Mauer öffnen, aber bitte macht nur ein kleines Loch. Denn ich will sie wieder verschließen. Wenn ihr den Mörder meines Mannes findet, werde ich euch ewig dankbar sein!« Sie winkte den Haus sklaven zu sich. »Gib ihnen jedes Werkzeug, das sie brauchen!« 105
Der Sklave nickte. »Entschuldigt mich. Ich will nicht zusehen, wie ihr die Mauer öffnet«, sagte Eirene mit bebender Stim me. Dann drehte sie sich plötzlich um, stieg wieder die Treppe hinauf und verschwand im Obergeschoss des Hauses. Der Sklave brachte eine Hacke und eine Schaufel. »Braucht ihr noch mehr?« Silvester nahm die Hacke in die Hand. »Wir pro bieren es erst mal damit.« Die Stelle, an der die Witwe die Tür hatte zu mauern lassen, war deutlich zu sehen: Der Türrah men war mit einfachen Ziegeln gefüllt worden. »Diese Mauern halten nicht viel.« Silvester holte mit der Hacke aus und ließ sie mit aller Kraft gegen die Mauer krachen. Die Mauer hielt diesem Schlag stand. Silvester holte noch einmal aus. »Die meisten Einbrecher brechen nicht durch die Türen ein, son dern durch die Wände.« Die Hacke krachte wieder auf die Mauer und blieb diesmal stecken. »Woher weißt du das denn schon wieder?« Lenz und Silvester zogen gemeinsam am Stiel der Hacke und hebelten so ein paar Brocken aus der Wand. Silvester holte wieder aus. »Hat mir Sokrates er zählt. Ich hatte ihn zwar nicht gefragt, aber der er zählt ja viel, wenn der Tag lang ist.« Die Hacke sauste wieder gegen die Mauer und jetzt spritzten die Ziegel auseinander. »Das ist Lehm.« Silvester sah sich die Brocken an, die sie aus der Mauer schlugen. »Ungeb rannte Lehmziegel.« Er grinste. »Diese Wand werden wir jetzt umpusten!« Er ließ die Hacke wieder und wieder gegen die 106
Mauer sausen, bis Lenz sagte: »Ich glaube, das reicht schon!« Sie kletterten durch das Loch in das ehemalige Speise- und Gästezimmer des Hauses. »Hast du deine Wunderlampe dabei?«, fragte Sil vester. Lenz holte die kleine Lampe aus der Gürteltasche, die er unter seiner Tunika versteckt trug. Er schaltete das Licht an. Der Raum sah auf den ersten Blick aus wie ein ganz normales griechisches Speise- und Gä stezimmer. Vier Liegen waren aufgestellt, davor standen auch noch die kleinen Tische, sogar die Kissen lagen noch herum. Zum Glück hatte Eirene alle Speisen und Getränke wegräumen lassen, sonst hätte es hier noch mehr gestunken. So roch es nur etwas muffig. Auf den zweiten Blick war dieses Spei sezimmer aber nicht normal: Das Fenster war zuge mauert. Ein dunkler Fleck war in den gestampften Lehmboden gesickert. Und die Zimmertür hatten die Männer, die den Raum im Auftrag von Eirene zuge mauert hatten, einfach aus den Angeln gehoben und in die vordere rechte Ecke gestellt. Ein schwacher Lichtschein fiel durch das Loch, das Lenz und Silve ster in die Mauer, die den Zutritt verwehrte, geschla gen hatten. »Wonach suchen wir eigentlich?«, fragte Lenz und leuchtete mit der Taschenlampe auf die Tische. Sie waren sauber abgewischt. »Keine Ahnung«, murmelte Silvester. Er hob die Kissen, die noch auf den Liegen lagen, hoch. »Viel leicht hat der Täter ja irgendwo seinen Namen hinter lassen. Oder sonst eine Spur.« 107
Lenz beleuchtete mit der Taschenlampe die Tür, die da in der Ecke stand, und erschauderte. Der Lichtkegel hatte den Fleck nur kurz gestreift. Aber jetzt leuchtete Lenz darauf und konnte den Blick nicht mehr davon lassen. Es war ein bräunlicher Fleck. Das musste Blut sein! Das Blut von Ephialtes. Der Fleck hatte die Form von vier Fingern! »Ein Fingerabdruck!«, hörte Lenz sich selbst sa gen. Die Abdrücke waren am oberen Rand der Tür. Sie waren zwar verwischt, aber sie stammten eindeutig von einer rechten Hand. »Silvester! Ich hab was!«, keuchte Lenz. Er ver suchte, die andere Seite der Tür zu betrachten, aber sie stand zu nah an der Wand. »Hilf mir mal, wir müssen sie umdrehen!« Silvester fasste mit an. Sie wendeten die Tür. Lenz leuchtete auf den bräunlichen Abdruck und wusste nicht, ob er lachen oder schreien sollte. Es war ir gendwie ekelhaft, einen blutigen Fingerabdruck zu sehen. Aber gleichzeitig freute sich Lenz über diesen Abdruck, der von einem Daumen einer rechten Hand stammen musste. Denn dieser Abdruck war nicht verwischt! »Was ist?«, fragte Silvester, als Lenz nicht aufhörte, den Fleck an der Tür anzustarren. »Das ist ein Fingerabdruck.« »Na und?«, fragte Silvester. »Dieser Abdruck muss vom Täter sein«, sagte Lenz. Silvester nickte achselzuckend. »Das ist klar. Er hat Ephialtes erschlagen, sich dabei mit dessen Blut 108
besudelt und ist dann aus dem Raum gestürmt. Dabei musste er die Tür anfassen.« »Genau!« Lenz konnte es kaum fassen. Der Täter hatte einen lupenreinen, unverwischten Abdruck seines rechten Daumens hinterlassen! Sie mussten nur noch herausfinden, wem dieser Fingerabdruck gehörte! »Wir haben ihn!« Silvester verstand kein Wort. »Woher willst du wis sen, wessen Hand das war?« »Zeig ich dir draußen, in der Sonne!« Lenz schalte te seine Taschenlampe aus. »Wir müssen zu Perikles. Sofort. Und wir brauchen irgendeine Knetmasse.« »Ist das wieder so eine Sache aus eurem Jahrhun dert? So eine Fliegende-Matratzen-Geschichte?« »So ungefähr«, murmelte Lenz und kletterte aus dem Loch, das sie in die Mauer geschlagen hatten.
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Aus den geheimen Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil XI Als ich Lenz seinerzeit kennenlernte und er noch wenig Erfahrung hatte, behauptete er einmal, dass sich das Wissen der Menschheit im Laufe der Geschichte nur mehren könne. Aber die Erfahrung lehrt uns, dass die Menschen, die in meiner Gegenwart leben, nicht unbedingt mehr wissen als die, die in meiner Vergangenheit lebten. Jedes Zeitalter hat seine Menschen, mit ihrem Wissen. Ein Teil dieses Wissens wird von Generation zu Generation immer weitergetragen, ein Teil wird von Generation zu Generation immer gründlicher vergessen, ein Teil kommt hinzu und so manches stellt sich als Scheinwissen heraus: Was haben wir Menschen nicht schon alles für wahr gehalten, was doch grundfalsch war! Wem es möglich ist, mit dem Wissen des einundzwanzigsten Jahrhunderts ins antike Athen zu reisen, der hat manchen Nachteil, weil er vieles eben nicht weiß. Aber er kann auch einen entscheidenden Vorteil haben, wenn er, wie Lenz, die Gelegenheit bekommt, das Wissen seiner Heimatzeit in der Zeit, in die er gereist ist, anzuwenden. Dass die Linien auf den Händen und Fingern nicht dazu taugen, in die Zukunft eines Menschen zu sehen, ist meine feste Überzeugung – auch wenn dies zur Zeit der Griechen ebenso versucht wurde wie zu meiner Zeit. Selbst im einundzwanzigsten Jahrhundert scheint es Menschen zu geben, die auf Scharlatane, die aus Handlinien lesen, hereinfallen. Ich hielt die Fingerlinien daher immer für mehr oder weniger überflüssig und habe mich nie besonders für sie interessiert.
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Seit Lenz mich aber darauf aufmerksam gemacht hat, dass diese Linien bei jedem Menschen anders verlaufen, ertappe ich mich immer wieder dabei, dass ich meine Fingerlinien betrachte. Auf die Idee, diese Linien zu benutzen, um den Mörder des Ephialtes ausfindig zu machen, wäre ich im Leben nicht gekommen. In Lenz’ Heimatzeit aber schien dies ein gängiges Mittel zu sein, um Verbrecher zu überführen.
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12. Kapitel
D
ie Sonne neigte sich, aber von Henrik und Cor nelia fehlte jede Spur. Fenne lief noch einmal zu Perikles, der fünf Sklaven losschickte, um nach den beiden zu suchen. Der Staatsmann hatte die War nung, die ihm Fenne und Sokrates von Philos über mittelten, glatt in den Wind geschlagen. Natürlich würde Perikles bei dem großen Spektakel dabei sein. Den ganzen Tag sollte Theater gespielt werden und Perikles wollte keines der Stücke verpassen. Alles, wozu er sich bereit erklärte, war, dass er nicht allein zum Theater gehen würde, sondern sich von einem Vertrauten, seinem hübschen Bruder Leokrates, begleiten lassen wollte. Als er nun aber erfuhr, dass Henrik und Cornelia von ihrem Ausflug nicht zurück gekommen waren, schien auch Perikles unsicher zu werden. Fenne, Lenz und Silvester lagen mit Sokrates und seinen Eltern im Speisezimmer zum Abendessen. Es gab Gemüse und wie immer – Brei. Der Vater von 112
Sokrates, Sophroniskos, war ziemlich schweigsam und kaute auf dem Matschzeugs herum. Wahrscheinlich schmeckte ihm das, was seine Frau Phainarete kochte, ebenso wenig wie Lenz. Dabei lag das nicht am Brei als solchem: Das Mittagessen bei Perikles war gar nicht schlecht gewesen und da hatte etwas Ähnliches auf den Tischen gestanden. Aber dieser Brei hier, der erinnerte eher an einen Teig, der nicht gebacken war. Wahrscheinlich benutzte Phainarete Mehl statt Gries. Jedenfalls war das Zeug ungenießbar, fest und zäh. Zäh wie ein Kaugummi. »Wo bleiben denn Henrikles und Cornelia?«, fragte Phainarete. »Die sind noch bei einem Onkel, der heute aus Delos zu Perikles gekommen ist. Die kommen heute etwas später!«, sagte Fenne. Lenz konnte Fennes Stimme genau anhören, dass sie selbst nicht so recht von dieser Notlüge überzeugt war. Aber Phainarete war von ihrem Arbeitstag müde genug, um nicht so genau hinzuhören. Lenz wusste nicht, ob es das Essen war, das sich in seinem Hals zu einem Kloß formte, oder ob er vor Angst um Henrik und Cornelia das Gefühl hatte, gleich heulen zu müs sen. Jedenfalls bekam er keinen Bissen herunter. Lenz konnte einfach nicht aufhören, sich auszuma len, was wohl passiert wäre. Henrik und Cornelia hatten sicherlich die Höhle gefunden, vielleicht sogar einen der Hirten. Aber irgendjemand hatte sie be stimmt beobachtet und verraten. Und jetzt saßen die beiden irgendwo da draußen. Gefangen, gefesselt und sie würden garantiert gequält, damit sie auch preisga ben, wo Fenne, Lenz und Silvester waren. 113
»Soll ich dir den Teller mit dem Essen noch dalas sen, Lenz?« Lenz hatte gar nicht bemerkt, dass das Abendessen zu Ende gegangen war. Fenne und Silvester standen schon an der Tür, Phainarete räumte die Teller zu sammen. Als sie Lenz den Kaugummibrei-Teller unter die Nase hielt, durchzuckte ihn plötzlich eine Idee! Dieses Zeug konnte möglicherweise genau das Richtige sein! Genau das Richtige, um Henrik und Cornelia doch noch zu retten! »Ja, den brauche ich noch«, sagte Lenz. Phainarete strich ihm über den Kopf. »Bist ein gu ter Junge, Lenz. Ich weiß, dass ich schlecht koche. Du musst das nicht essen!« »Nein, nein, wirklich!« Lenz hielt den Teller fest. Er brauchte den Brei. Er wollte ihn um nichts in der Welt essen – er brauchte ihn als Knetmasse! Während Sokrates’ Mutter das Geschirr hinüber in die Küche trug, kratzte Lenz schnell den Teig-BreiKlumpen von seinem Teller. Er formte ihn in einer Hand zu einer Kugel, was erstaunlich gut ging, und versteckte diese hinter seinem Rücken. Das Gemüse aß er so schnell auf, dass Phainarete etwas überrascht war, als sie wieder ins Speisezimmer kam, um die restlichen Schüsseln zu holen. »Hungerattacke«, versuchte Lenz mit ziemlich vollem Mund zu sagen. Er schluckte. »Das hab ich manchmal.« Er stand von der Liege auf, hielt den Brei-Ball in seiner Hand und trat hinaus auf den Hof. Die untergehende Sonne tauchte den Himmel in ein kräftiges Rot. 114
»Jetzt schließen sie die Tore der Stadt«, flüsterte Silvester. Fenne schnaufte schwer. »Irgendetwas ist passiert.« Plötzlich ballte sie die Fäuste. »Ich hab doch gleich gesagt, dass es zu gefährlich ist!« Sie schlug sich selbst mit der Faust vor die Stirn. »Warum habe ich Henrik nicht aufgehalten? Warum?« »Dich trifft keine Schuld, Fenne. Morgen früh wis sen wir mehr«, sagte Silvester. »Perikles muss uns beim Suchen helfen. Vielleicht übernachten sie ein fach auf einem der Landgüter vor den Toren der Stadt, weil sie es nicht mehr rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit geschafft haben.« Cornelias Bruder sah von Lenz zu Fenne. »Wir müssen jetzt schlafen. Wir können heute Nacht ja doch nichts tun. Ich wek ke euch im Morgengrauen.« An Schlaf war nicht zu denken. Das Lager von Corne lia war leer. Das Lager von Henrik war leer. Lenz hörte, wie sich Fenne hin und her wälzte. Er selbst tat kein Auge zu. Er sah das Bild immer wieder vor sich: Henrik und Cornelia, angekettet an einer Felswand in einer Höhle. Das war es, wovor sie alle Angst hatten. Irgendwann schien der Mond zum Fenster herein, und Lenz sah, dass Silvester mit offenen Augen auf seiner Matte lag und an die Decke starrte. Lenz setzte sich aufrecht hin. »Wenn wir wüssten, wer der Täter ist, könnten wir Cornelia und Henrik befreien, richtig?« »Richtig«, sagten Fenne und Silvester wie aus ei nem müden, aber schlaflosen Mund. »Und einer der drei Männer muss es gewesen sein: 115
der kleine, dicke Glaukon, der schöne Leokrates oder der grimmige Ion.« »Oder Perikles«, sagte Fenne matt. »Wieso?« »Weil er einfach auch da war und ich niemandem mehr traue in diesem verflixten Athen!«, fauchte Fenne. »Ich weiß, wie wir es herausfinden können.« Lenz schaltete seine kleine Taschenlampe ein. »Hiermit.« »Was ist das?«, fragte Silvester matt. »Brei. Eine Kugel aus Phainaretes Ekelbrei. Guckt, hier.« Lenz brach ein Stück vom Brei ab, knetete es zu einer daumenbreiten Platte, die er mit dem Handbal len platt drückte. Dann drückte er seinen Daumen in diese Platte. »Kommt her!« Fenne und Silvester kamen von ihren Lagern ge krochen. Lenz leuchtete mit der Taschenlampe auf die Breiplatte. »Seht ihr diese feinen Linien im Brei?« »Ja und?«, fragte Fenne. »Das ist ein Fingerabdruck«, sagte Lenz. »Geht das wieder los!« Silvester legte sich zurück auf sein Lager. »Davon hat er heute auch bei Ephial tes …« Aber plötzlich schien Silvester zu verstehen, was Lenz vorhatte. »Du meinst …« Lenz nickte. »Wir brauchen den Abdruck des rech ten Daumens der drei oder von mir aus auch vier Tatverdächtigen. Wenn wir die in den Breiplatten haben, laufen wir damit zu Ephialtes’ Haus und ver gleichen sie mit dem blutigen Daumenabdruck, den der Täter auf der Tür hinterlassen hat. Und schon wissen wir, wer’s war.« Fenne starrte Lenz an. »Aus diesen Fingerlinien 116
kannst du lesen, wer von den drei oder vier Männern Ephialtes erschlagen hat?« »Ja!«, murmelte Lenz. Es blieb nur eine Frage. Und die Antwort auf diese Frage fand er einfach nicht. Wie sollten sie es anstellen, die vier Daumen abdrücke zu bekommen? Lenz dachte so angestrengt über diese Frage nach, dass sich in seinem Gehirn ein regelrechter Knoten bildete. Wie von Ferne hörte er Fenne fragen: »Und du bist ganz sicher, dass das funktioniert und kein blöder Aberglaube ist?« »Ja«, sagte Lenz mechanisch. »Mir hat er es so erklärt«, schaltete sich Silvester ein. »Angeblich sind diese Fingerlinien ein eindeuti ges Unterscheidungsmerkmal. Die sind bei jedem Menschen anders. – Ich weiß nicht, ob das stimmt. Aber einen Versuch ist es wert, oder?« »Na schön, na schön.« Fenne strich sich eine Haar strähne aus der Stirn. »Nehmen wir mal an, dass dein Fingerlinien-Test wirklich funktioniert, Lenz. Dann bleibt ein Problem: Diese Männer sind angesehene Politiker. Was sollen wir denen denn erzählen? Sollen wir etwa bei Glaukon klopfen und sagen: Guten Abend, werter Herr, könnten Sie bitte mal Ihren Daumen hier in den total ekelhaften Brei von Phaina rete drücken? Ja? Das ist aber reizend von Ihnen!« Fenne schüttelte den Kopf. »Die werden uns was husten! Da machen die nie im Leben mit!« »Wir müssen sie irgendwie überlisten.« Lenz kratz te sich hinter dem linken Ohr. »Wir bräuchten einen guten Grund, warum sie den Daumen in den Brei drücken sollen. Einen Grund, an dem sie nicht zwei feln werden.« 117
»Ein Orakel«, sagte Silvester. »Das Einzige, woran diese Griechen nicht zweifeln, sind Orakel, Seher und der ganze Aberglaube. Das hat Sokrates uns doch vorgemacht.« »Aber wo sollen wir jetzt einen Seher auftreiben?«, fragte Fenne. »Gundel sitzt in Delphi auf ihrem Dreibein. Bis wir die hierhaben, sind Henrik und Cornelia längst …« Sie wagte nicht, es auszusprechen. »Das ist es!« Lenz saß plötzlich kerzengerade auf seinem Lager. Als Fenne Gundel erwähnt hatte, war der Knoten in seinem Gehirn endlich geplatzt! Natür lich! »Wir nehmen die Seherin! Das ist die Lösung! Eine Seherin kommt zum Haus des Perikles. Er lädt seine Freunde ein, weil sie alle so wahnsinnig nervös sind, und lässt aus den Handlinien oder Fingerlinien herauslesen, ob sie mit ihren politischen Zielen durchkommen werden oder lieber die Flucht ergrei fen sollten. Die Seherin drückt die Daumen der rech ten Hand in die Teigplatten. Und noch während die Täter bei Perikles sitzen und von der Seherin einge lullt werden mit irgendwelchen Sprüchen, die wir uns ausdenken, laufe ich mit den Daumenabdrücken zu Ephialtes’ Haus und vergleiche die Fingerabdrücke.« Fenne schüttelte den Kopf. »Lenz, Lenz! Komm zu dir! Du bist übermüdet!« »Wieso? Das klappt bestimmt!« Lenz war sich sei ner Sache auf einmal ziemlich sicher. Aber Fenne sah ihn mitleidig an. »Der Plan hat leider einen Haken, Lenz. Und zwar einen dicken!« »Welchen?«, fragte Lenz. »Wir haben keine Seherin«, antwortete Fenne. »Doch«, sagte Lenz. »Dich!« 118
Aus den geheimen Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil XII Ich weiß, dass meine Zeit bald zu Ende geht, und mir fehlt noch immer ein würdiger Nachfolger oder eine würdige Nachfolgerin. Könnte ich Lenz’ Einfallsreichtum mit Fennes Mut und Tatkraft kombinieren, wäre ich einen Schritt weiter. Die Idee, sich einen Brauch der Zeit zunutze zu machen, war genial – genial und gefährlich. Denn Fenne war keine Seherin. Sie war ein Kind. Und vor allem kannte sie das alte Griechenland zwar schon von früheren Reisen und hatte schon so manche langweilige Stunde bei Gundel verbracht, aber die griechischen Bräuche waren ihr nicht in Fleisch und Blut übergegangen. Und die Gefahr, die mit Lenz’ verwegenem Plan verbunden war, hatten Lenz, Fenne und Silvester in ihrer Angst um Henrik und Cornelia völlig übersehen: Was sollte Fenne tun, wenn die Männer ihr nicht glaubten und den ganzen Schwindel durchschauten?
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13. Kapitel
F
enne war eine geborene Schauspielerin. Lenz hätte glucksen können vor Freude. Sie sah ein fach klasse aus in ihrem selbst gebastelten, wallenden weißen Priesterkostüm. Sie war dermaßen ver schleiert, dass selbst die Alte Wöhr sie nicht erkannt hätte. Zudem hatten die beiden Jungs ihr ein Kissen als Buckel unter das Gewand gesteckt, damit sie älter wirkte, und Fenne sprach mit krächzender Stimme. »Wie machst du das?«, fragte Lenz. »Wie mache ich was?«, krächzte Fenne. »Die Stimme.« »Ach die«, krächzte Fenne weiter. »Ich stelle mir einfach vor, ich wär die Alte Wöhr!« »Vorsicht, sie kommen!« Silvester trat zu ihnen in das Nebenzimmer von Perikles’ Haus. Sie hatten Perikles schon im Morgengrauen mit Lenz’ genialem Plan überrascht. Lenz’ Herz begann zu rasen. Er nahm Fenne in den Arm, spuckte ihr dreimal über die linke Schulter 120
und flüsterte: »Toi, toi, toi!« Das machten seine El tern, die ja von Beruf Schauspieler waren, auch im mer vor einer Aufführung. Fenne stand neben der Tür und wartete auf ihren Auftritt. Lenz und Silvester beobachteten durch zwei Astlöcher, was in Perikles’ Hof vorging. Die aufgehende Sonne tauchte ganz Athen und auch den kleinen Innenhof von Perikles in ein rötli ches Licht. Den Altar in der Mitte des Hofs hatte ein Sklave nach Fennes Anweisungen mit einer Menge Kräuter und Weihrauch gereinigt. Fenne öffnete die Tür einen Spalt und wartete noch auf Perikles’ Zeichen. Der Hausherr sah zu ihnen herüber, und Lenz glaubte, ein Augenzwinkern gesehen zu haben. Aber dann öffnete Perikles, der schon sein Festtagsgewand für das Theater angezo gen hatte, die Haustür und ließ seine Freunde eintre ten. »Bester Perikles!« Der kugelige Glaukon trat gut gelaunt auf den Hof. Er legte Perikles eine Hand auf die Schulter. »Was bringt dich dazu, eine Seherin zu beauftragen?« »Wenn Glück und Zufall dir einen Seher in schwie rigen Zeiten schicken, solltest du die Tür nicht schlie ßen, Glaukon!« Perikles lächelte. »Ich wusste gar nicht, dass du religiös bist!« Der schöne Leokrates, dessen dunkelblonde Locken auf einen purpurnen Umhang fielen, betrat den Hof seines großen Bruders. »Wir brauchen zurzeit jede Hilfe, die wir bekom men können«, antwortete Perikles. Plötzlich bellte der Hund Salamis hinter einer Tür 121
wie wild. Dann betrat Ion den Hof. Der Mann mit dem dichten Vollbart, der langen Nase und dem finsteren Blick war von den Freunden des Perikles der kräftigste, größte und grimmigste. Auch er hatte sich für das anstehende Fest des Dionysos einen Mantel übergeworfen. Er nickte Perikles und seinen Freunden nur kurz zu und knurrte: »Na, dann zeig uns mal dein Wunder!« Perikles hob die Hände. »Ihr wisst, dass ich norma lerweise nicht viel von unseren Sehern halte. Aber in dieser gefährlichen Zeit halte ich jede Hilfe für an gebracht. Diese Seherin hat mir das Orakel von Del phi empfohlen. Sie war lange in Ägypten und hat viele wahre Vorhersagen getroffen.« Perikles öffnete die Tür, hinter der Fenne stand. Lenz drückte die Daumen. Fenne musste die Männer davon überzeugen, dass sie wirklich eine Seherin war. Sonst würden sie wohl niemals heraus finden, wer Ephialtes ermordet und Henrik und Cornelia geschnappt hatte. Fenne schritt langsam, den Blick auf den Boden gerichtet, zum Altar und hielt ihr Gesicht ganz in den Weihrauchnebel, den der Sklave entfacht hatte. Dann trat sie hinter dem Altar hervor, zog den TeigbreiKlumpen aus ihrem Gewand und legte ihn feierlich auf ein Tablett. Ion runzelte die Stirn. Der Mann mit der langen Nase und dem finsteren Blick musterte Fenne. Aber Fenne war ganz und gar mit der Arbeit beschäftigt. Sie zerteilte den Brei von Sokrates’ Mutter mit ei nem Messer in vier Teile. Sie knetete die Teile, bis sie geschmeidig waren, drückte sie mit der flachen 122
Seite des Messers platt. Dann murmelte sie plötzlich auf Deutsch: »Lenz, drück uns die Daumen! Lenz, drück uns die Daumen! Lenz, drück uns die Dau men!« Sie hielt das Tablett noch einmal in den Weih rauch. »Sie wird aus unseren Fingerlinien lesen«, raunte Perikles seinen Freunden zu. »Wir müssen den rech ten Daumen in die Platte drücken, die sie uns gleich reicht.« Fenne ging auf die Männer zu. Perikles sollte den Anfang machen. Sie nahm den Daumen seiner rech ten Hand und drückte ihn in die Teigplatte, genau so, wie Lenz es ihr gezeigt hatte. Lenz hätte sich fast in die Tunika gemacht vor Aufregung. Nach Perikles’ Daumenabdruck nahm Fenne auch die der anderen Männer. Sie ritzte auf die Rückseiten jeweils ein Zeichen, wie sie es vereinbart hatten. Dann zog sie sich hinter den Altar zurück, trank einen Schluck Wasser aus einer großen Schale und betrach tete die Fingerabdrücke. Schließlich nickte sie Perikles zu und krächzte auf Griechisch: »Große Männer wollt ihr sein. Große Männer sollt ihr sein. Große Männer werdet ihr sein.« Dann sah sie Ion an und krächzte dem misstrauischen Mann ins Gesicht: »Hüte dich vor Hunden! Denn sie sind falsche Freunde!« Ion klappte den Mund auf und starrte Fenne an. Lenz presste die Lippen fest aufeinander, damit er nicht losprustete. Fenne hatte den Mann mit der großen Nase überzeugt! Der grimmig dreinschauende Grieche wagte es nicht, ihr die Meinung zu sagen – und das, obwohl er mit dem Orakelspruch von Fenne 123
offensichtlich überhaupt nichts anfangen konnte. Wie auch. Der war ja ziemlich schwachsinnig. Nachdem Fenne auch Leokrates und Glaukon mit ähnlichem Blabla beglückt hatte, zog sie sich Weih rauch schwenkend mitsamt dem Tablett ins Neben zimmer zurück. Die Freunde des Perikles standen noch etwas unschlüssig auf dem Hof herum, bis der Hausherr sagte: »Wir treffen uns im Theater, Freun de! Leokrates und ich müssen noch etwas besprechen. Wir kommen dann nach.« Er brachte Ion und Glaukon zur Tür und zog sich mit seinem Bruder ins Speisezimmer zurück. Kaum waren die Männer vom Hof verschwunden, schlichen Lenz, Silvester und Fenne, die sich inzwi schen wieder umgezogen hatte, aus dem Nebenzim mer über den Hof, hinaus auf die Straße. »Hast du die Platten?«, fragte Lenz. Fenne nickte. »Los!«, sagte Silvester. Sie rannten durch die Straßen. Die Morgenluft war noch frisch, aber es waren schon einige Menschen unterwegs, die sich die guten Plätze im Theater si chern oder vor die Tore der Stadt zur Prozession gehen wollten. Bei Ephialtes’ Haus angekommen, trommelte Sil vester an die Tür. Eirene persönlich öffnete und ließ sie eintreten. »Gleich werden wir wissen, wer der Mörder deines Mannes ist!«, sagte Silvester. Die drei Zeitenläufer rannten hinüber zu dem Loch, das Silvester und Lenz in die Mauer geschlagen hatten. Sie kletterten in das ehemalige Gästezimmer. 124
Lenz schaltete die Taschenlampe ein. Die Tür stand noch immer an die Wand gelehnt, genau wie Silvester und Lenz sie hatten stehen lassen. Der Daumenab druck war gut zu sehen. »Dann zeig mal her!« Lenz ließ sich von Fenne die Breiplatten mit den Daumenabdrücken der vier Männer geben. »Das hier war der Daumen von Perikles«, sagte Fenne. Lenz hielt den Abdruck neben die Tür und sah auf einen Blick: »Perikles war es schon mal nicht.« »Woran hast du das so schnell erkannt?«, fragte Sil vester. »Beim Täter verlaufen die Fingerlinien in der Mit te in eine Spirale.« Lenz deutete auf den Abdruck an der Tür. »Bei Perikles ist es eher ein Hügel.« Fenne reichte Lenz die anderen Platten. Auch Glaukon war, wie nicht anders zu erwarten, unschul dig. »Es war Ion, oder?«, fragte Silvester, als Lenz die dritte Platte neben die Tür hielt. »Ion oder Leokrates!« Lenz betrachtete die bei den Platten. Die Daumenlinien beider Männer bildeten in der Mitte eine Spirale. Aber einer der beiden hatte eine ziemliche Delle im oberen Drit tel der Spirale. Die hatte der Täter nicht. Lenz verglich noch einmal und sagte schließlich: »Der hier war’s!« Fenne starrte ihn an. »Bist du sicher?« Lenz verglich die Fingerabdrücke noch einmal und blieb dabei: »Guckt es euch selbst an: Hier ist die Spirale. Hier ist so eine kleine Insel, die von zwei 125
Linien umgeben ist. Genau so sieht auch der Abdruck auf der Teigplatte aus. Kein Zweifel, es ist …« »Leokrates!« Fenne wurde bleich. »Perikles’ Bru der? Der, der ihn beschützen soll? Aber warum?« »Das können wir später herausfinden!«, rief Silve ster. »Wir müssen Perikles warnen und Henrik und Cornelia befreien! Schnell!«
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Aus den geheimen Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil XIII Ich habe später lange und ausführlich auf Henrik eingeschimpft. Das Risiko war einfach zu groß gewesen. Henrik hatte einen guten Riecher. Aber er überschätzte sich leicht. Und Leichtsinn kann in jeder Zeit der Weltgeschichte tödlich sein. Lenz hingegen hätte ich gerne noch eine Lektion in Sachen Wettren nen erteilt. Denn dieser Junge, so pfiffig er war, wurde den anderen so manches Mal zu einem regelrechten Klotz am Bein, wenn es drauf ankam, schnell zu laufen.
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14. Kapitel
S
ie kamen zu spät. Perikles hatte das Haus bereits verlassen. Mit samt seiner schimpfenden Frau und in der lebensge fährlichen Begleitung seines Bruders Leokrates war er bereits auf den Weg zum Theater. Und nicht nur er: Kaum war die Sonne richtig auf gegangen, strömten die Athenerinnen und Athener aus ihren Häusern. Einige liefen vor die Tore der Stadt, um das Bildnis des Gottes Dionysos in einer großen Prozession zum Theater zu bringen. Anderen waren ihre Plätze im Theater wichtiger als der Trans port des Götterbildes: Sie rannten zum Fuß der Akro polis und stritten sich mit ihren Nachbarn um die Plätze. Silvester und Fenne rannten durch die Menge. Lenz hechelte hinterher. Aber sie kamen nicht weit. 128
Denn kurz vor dem Marktplatz rief eine helle Mäd chenstimme, die sie alle kannten: »Da ist Silvester!« Lenz drehte sich um. Das war Cornelias Stimme gewesen! Irgendwo in der Menge musste das römi sche Mädchen sein! Er suchte und suchte, und es schien eine Ewigkeit zu dauern, aber schließlich tauchten Henrik und Cornelia vor ihnen auf. »Seid ihr gesund?« Silvester nahm seine Schwester und Henrik in die Arme. »Was ist passiert?« Henrik winkte ab. »Nichts weiter. Wir mussten draußen in einem Landhaus übernachten, ich hatte mich ein bisschen mit der Entfernung zur Stadt ver schätzt.« Sein Blick war finster. »Wo ist Perikles?« »Auf dem Weg ins Theater.« »Wer ist bei ihm?« Henrik wich einem Mann aus, der auf ihn zustürmte, dann aber an ihm vorbei Rich tung Theater eilte. »Leokrates!«, sagte Silvester. »Verflixt! Wir müssen ihn warnen! Leokrates hat Ephialtes erschlagen!« »Das wissen wir auch«, sagte Lenz. »Aber wie habt ihr das herausgefunden?« Henrik lief voran. »Wir haben die Höhle gefunden. Da war niemand mehr. Aber die Höhle steht auf einem Privatgrundstück und das gehört …« »Leokrates?«, fragte Lenz. Henrik nickte. »Aber noch nicht lange. Er hat das Grundstück mitsamt Haus und Hof erst vor einer Woche geschenkt bekommen.« »Ratet mal, von wem!«, sagte Cornelia. »Kimon«, sagte Fenne, die sich gerade zwischen zwei Frauen hindurchquetschte. 129
Cornelia und Henrik nickten. »Diese Frau, die Cornelia mit dem schönen Leokrates gesehen hat, war gar nicht seine Geliebte. Das war Kimons Frau! Und dieser Garten, in dem sie sich getroffen hatten, der gehört auch Kimon.« »Aber warum?«, fragte Lenz. »Warum macht Leo krates bei einer Verschwörung gegen seinen Bruder und dessen Freunde mit?« Diese Frage konnten ihm auch Henrik und Corne lia nicht beantworten. Silvester kletterte auf einen Mauervorsprung und hielt Ausschau. »Da vorne sind sie!« Die Zeitenläufer rannten los. Sie drückten sich an den schimpfenden Männern, Frauen und Kindern vorbei. Aber als sie zu der Ecke kamen, an der Silve ster Perikles mit seinem Bruder gesehen hatte, waren die beiden Männer verschwunden. »Da drüben!« Fenne knuffte Lenz in die Seite und deutete mit dem Kinn auf eine kleine Gasse. Lenz verstand erst nicht, wen oder was Fenne meinte. Aber dann sah auch er den purpurnen Um hang. Es war der Mantel, den Leokrates getragen hatte. Jetzt aber hing dieser Mantel über einer halb hohen Mauer! »Schnell da rein!«, rief Fenne. Sie rannten aus dem Gewimmel der Menschen, die zum Theater strömten, in diese Seitengasse. »Dieser eitle Kerl will sich den schönen Mantel nicht schmutzig machen!«, fauchte Fenne. Aber dann blieben sie alle stehen. Denn hin ter der nächsten Ecke standen sie: Perikles und sein Bruder. »Was soll diese übertriebene Vorsicht, Leokrates?«, 130
fragte Perikles gerade. »Kein Mensch hat uns aufge lauert! Wir müssen uns im Theater zeigen!« »Irrtum!« Leokrates langte auf die Mauer, über der sein Mantel hing, und zog sein Schwert unter dem Mantel hervor. »Was soll das bedeuten?«, fragte Perikles. »Es bedeutet, er ist es!«, rief da Fenne Perikles zu. »Leokrates ist Aristodikos!« Leokrates fuhr zornig herum. Er sah Fenne, holte mit dem Schwert aus, aber noch ehe er zuschlagen konnte, schrie er auf vor Schmerz. Denn Silvester hing ihm wie ein Hund an der Wade und biss hinein. Als er nach dem Jungen an seinem Bein schlagen wollte, hielt ein kräftiger Mann, der hinter Lenz in die Gasse gesprungen war, seinen Arm fest. Der Mann verdrehte Leokrates’ Arm, sodass dieser das Schwert fallen ließ. Erst dann sahen sie alle diesen Mann an. »Batrachos!«, schrie Leokrates entsetzt. »Was fällt dir ein, deinem Herrn in den Rücken zu fallen?« Lenz kannte diesen Mann. Allerdings nicht unter dem Namen »Batrachos«. Er kannte den sportlichen Mann mit dem glatt rasierten Kinn, den Narben auf den Armen und den Augenbrauen, die über der Nase zusammengewachsen waren, unter dem Namen, den er sich selbst gegeben hatte: Philos. »Du?« Perikles starrte seinen Bruder entsetzt an. Und er hatte nur die eine Frage. Die Frage, die sie alle hatten: »Warum?« Leokrates schwieg. An seiner Stelle sagte Henrik: »Er steht auf Ki mons Gehaltsliste! Schon seit einem halben Jahr. Er hat ein Grundstück von ihm geschenkt bekommen.« 131
»Außerdem trifft er sich regelmäßig mit Kimons Frau, die ja nicht verbannt ist und noch in der Stadt wohnt«, fügte Cornelia hinzu. »Ich habe gesehen, wie sie Nachrichten ausgetauscht haben.« »Und wir haben einen blutigen Fingerabdruck, der eindeutig von Leokrates stammt, am Tatort gefun den«, sagte Lenz, aber das schien keinen so richtig zu interessieren. Perikles stellte sich breitbeinig vor seinen Bruder. »Nenn mir einen, nur einen einzigen Grund, Leokrates!« Perikles’ jüngerer Bruder sah zu Boden und schwieg. »Habgier, Selbstsucht und der stets unterdrückte Neid, nicht in deiner Position sein zu können«, sagte Philos, der noch immer den Arm seines Herrn fest im Griff hatte. »Schweig, Sklave!«, fuhr Leokrates ihn an. Da platzte Fenne der Kragen. »Ihr immer mit eu rer blöden Sklaverei! Dieser Mann hier …«, sie zeigte auf Philos, »… hat uns geholfen. Und er hat etwas zu sagen! Warum macht ihr immer diesen verflixt großen Unterschied zwischen Sklaven und Herren? Warum lasst ihr nicht einfach jeden etwas sagen, der etwas zu sagen hat?« Perikles und Leokrates guckten ziemlich verdutzt aus der Wäsche. So hatte noch nie ein Kind mit ihnen gesprochen. – Und erst recht kein Mädchen! »Philos hat doch schon viel zu lange geschwiegen«, fügte Fenne an. »Das stimmt«, sagte Philos. »Wenn ich früher ge redet hätte, wäre Ephialtes vielleicht noch am Leben und Athen sicherer.« 132
Leokrates wand sich aus dem Griff und wollte sei nem Sklaven eine schallende Ohrfeige verpassen, aber nun schnappte Perikles sich seinen Bruder und hielt ihn fest. »Ist das dein Sklave?« Leokrates nickte. »Und sagt er die Wahrheit?« »Natürlich nicht!«, rief Leokrates. »Der Mann ist Spartaner! Wie sollte er die Wahrheit sagen!« Aber Perikles wusste inzwischen, wem er glauben konnte. Er fesselte seinem Bruder mit dem edlen Mantel, den ihm Silvester reichte, die Hände auf den Rücken. »Ich werde dich vor dem Gericht anklagen, Leokrates.« Perikles’ Augen funkelten vor Zorn. »Und ich werde dich aus allen Schriftstücken, von allen Skulpturen und aus der Erinnerung der Familie und der Stadt löschen! Niemals wird es einen jüngeren Bruder des Perikles gegeben haben! Niemand wird von einem Leokrates wissen, der Sohn unseres Vaters Xanthippos war!« Plötzlich brach er ab, sah zu Philos hinüber und fragte: »Warum hast du mir geholfen? Du bist Spartaner! Nützt es Sparta, wenn die Demo kratie in Athen siegt?« Philos zuckte mit den Schulten. »Was kümmert mich Sparta? Ephialtes hat eure Stadt vorangebracht. Das Leben hier hat mich gelehrt, dass euer System das gerechtere ist. Darauf kommt es an, oder?« Perikles nickte anerkennend. »Wie nennst du dich? Philos? So sollst du auch weiterhin heißen! Und frei wirst du sein.« Perikles ballte die Fäuste. »Denn wenn die Richter meinen Bruder nicht schuldig sprechen, dann werde ich persönlich dafür sorgen, dass er ver bannt wird. Dich aber, Philos, werde ich sofort frei 133
kaufen.« Er holte ein paar Münzen hervor und drück te sie voller Abscheu seinem Bruder in die gefesselten Hände. »Du willst Reichtum? Da hast du Geld! Geld! Und nochmals Geld! Philos ist frei!« »Also ich weiß ja nicht, warum ihr hier alle rumsteht«, sagte da ein kleiner Junge, den sie alle gut kannten. »Aber das Theater ist da vorne und die guten Plätze sind bestimmt schon weg.« Henrik verdrehte die Augen. »Sokrates! Hast du eigentlich auch mal was anderes im Kopf als den schönsten und besten Sitzplatz?« Der Junge zog ein beleidigtes Gesicht. »Ich wollte euch nur helfen!« »Danke!«, sagte Perikles. »Danke, euch allen!«
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Aus den geheimen Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil XIV Reichtum halten viele Menschen für erstrebenswert – und das zu allen Zeiten. Dass es Perikles gelungen war, seinen Bruder so gründlich aus dem Gedächtnis der Athener zu tilgen, dass man in meiner und sogar bis in Henriks und Lenz’ Zeit nichts von seiner Existenz weiß, bezeugt, wie mächtig der große Staatsmann später geworden ist. Aber Reichtum war nicht nur für Leokrates ein erstrebenswertes Ziel. Auch Lenz und Fenne wollten ihre Fähigkeiten einsetzen, um Reich tum anzuhäufen – zumindest machten sie auf Gundel diesen Ein druck …
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15. Kapitel
D
er Abschied von Athen fiel den Zeitenläufern schwer. Denn gerade in dem Augenblick, als ihr Auftrag erledigt war, begann das große Spektakel im Theater: Drei Tage lang wurde von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang Theater gespielt. Das hätten sie alle gerne gesehen. Aber sie hatten noch einen weiten Heimweg vor sich. Sokrates mochte sie nicht noch einmal begleiten und so schifften sich die Zeitenläu fer, ausgerüstet mit einem Empfehlungsschreiben des Perikles, selbst in Piräus nach Delphi ein. Dabei war es gar nicht leicht, ein Schiff zu finden, das Athen zur Zeit des Dionysos-Festes verlassen wollte. In Delphi angekommen, schleppten sie eine Kiste mit Geschenken für Gundel den Berg hinauf. Sie liefen an den Priestern vorbei ins Allerheiligste. Gun del saß auf ihrem dreibeinigen Barhocker und machte 136
große, gierige Augen, als Silvester und Henrik die Kiste abstellten. Fenne öffnete den Deckel. »Feigen von Perikles, Wein, Oliven, dazu Käse und sogar Fleisch!« Henrik grinste. »Was sagst du dazu?« Gundel nickte zufrieden. »Nicht schlecht, nicht schlecht. Habt ihr auch an frischen Fisch gedacht?« Das war zu viel. Fenne platzte der Kragen. »Ei gentlich sollten wir dir nichts mitbringen, sondern dir den Kopf abreißen, Gundel! Kann es zufällig sein, dass ein gewisser Kimon inzwischen hier war?« Die alte Frau sah an die Decke und schien zu überlegen. »Ja, das könnte sein.« »Und kann es sein, dass du ihm verraten hast, dass fünf Kinder auf dem Weg zu Perikles waren?« Gundel schüttelte den Kopf. »Nein, nein, das hat er nicht von mir! Das habe ich nie gesagt!« Sie zöger te. »Na ja, jedenfalls wollte ich es nicht sagen.« Schließlich rief sie: »Aber es ist mir nur so rausge rutscht! Außerdem hat Kimon unglaublich gute Fei gen!« Fenne schlug den Deckel der Kiste wieder zu. »Das reicht! Wir versenken die Kiste im Zeitloch! Kannst ja hinterherspringen, wenn du die Sachen haben willst!« Gundel zog die Augen zu Schlitzen zusammen. »Das, was du da sagst, ist eine Unverschämtheit, Fenne!« »Und dein Geplapper hätte uns das Leben kosten können!«, fauchte Fenne. »Schmeißt die Kiste ins Loch, Jungs!« 137
Henrik und Silvester hoben die Kiste an und mach ten einen Schritt auf das Zeitloch zu. »Moment!«, sagte da Lenz. Sie hatten sich genau abgesprochen. »Vielleicht kann uns Gundel die Kiste ja noch abkaufen!« »Abkaufen?«, fragte Gundel. »Braucht ihr Geld? Aber unser griechisches Geld ist in eurer Zeit doch nicht mehr gültig!« Lenz schüttelte den Kopf. »Wir wollen dein Geld nicht. Wir wollen …« Er machte ein kleine Pause und sagte dann: »Deinen Stuhl!« »Wie bitte?« »Du hast schon richtig gehört«, sagte Fenne. »Wir wollen deinen Stuhl.« »Den dreibeinigen Barhocker aus Bronze. Du musst ihn für uns vergraben«, sagte Lenz. »Und zwar genau …« Er trat an die Säule, die den Riss für den Zeitanker hatte, maß von ihr einen Schritt nach Süden ab und sagte: »Hier.« »Hier?« Gundel traute ihren Ohren kaum. »Unter den schweren Steinplatten?« Lenz und Fenne nickten. »Was soll das?«, flüsterte Henrik. Lenz murmelte: »Lass uns nur machen!« »Also gut«, lenkte Gundel ein. »Ich werde mein Dreibein an dieser Stelle vergraben lassen. Aber zuerst krieg ich die Kiste!« Fenne nickte. »Wir verlassen uns auf dich, Gundel. Aber wenn wir in unserer Zeit ankommen und der Stuhl nicht in der Erde ist, dann werde ich der Alten Wöhr sagen, dass sie den Empfänger-Kelch der trans temporären Nachrichten wegschmeißen soll! Dann 138
kannst du hier rumjammern, so viel du willst, und niemand in deiner Heimatzeit wird dich jemals wie der hören!« Gundel wurde bleich im grauen Gesicht. »Nein! Tu das nicht!« Aber Fenne sagte lächelnd: »Dann halte dein Ver sprechen!« Und noch ehe Gundel etwas dagegen sagen konn te, stiegen die fünf Zeitenläufer in das Zeitloch unter Gundels metallisch glänzendem Stuhl. »Was sollte das?«, fragte Henrik, als sie im Mittelal ter aus dem Zeitloch von Delphi stiegen. Sie waren wieder in dem schmalen Keller in der griechischen Hütte, in dem sie ihre Reise begonnen hatten. Auch Cornelia und Silvester verstanden nicht, war um Fenne und Lenz wollten, dass Gundel das Drei bein verbuddelte. »Das wird ein kleines Geschenk«, sagte Fenne. »Ein Geschenk für Lenz’ Onkel.« »Doktor Mo?«, fragte Cornelia. Lenz nickte. »Wenn mein Onkel den Bronzestuhl des Orakels in unserer Zeit ausgräbt, dann hat er endlich mal einen richtig großen Fund gemacht. Und das heißt: Er wird reich und berühmt. Und das wird höchste Zeit.« »Apropos Zeit!« Silvester deutete mit dem Daumen auf die Leiter, die hinter ihm stand. »Wir sollten machen, dass wir hier wegkommen, solange die Dorf bewohner von Kastri noch ihre Mittagspause genie ßen.« Fenne nickte und stieg als Erste auf die Leiter. Aber auf halbem Weg blieb sie plötzlich stehen. Sie 139
drehte sich noch einmal um und sagte zu ihren Freunden, die am Fuß der Leiter standen: »Ich weiß, dass man sich eigentlich nicht selbst loben soll. Aber man muss ja auch die Wahrheit sagen. Und die Wahr heit ist: Wir waren echt gut, Leute. Wisst ihr das?« Silvester grinste herüber zu Lenz. Lenz gab dieses Grinsen weiter an Henrik. Henrik zwinkerte Cornelia zu. Cornelia wurde knallrot und sah zu Boden. Dann aber guckte sie plötzlich hoch zu Fenne und sagte: »Ja. Das wissen wir.«
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… wurde im Jahr 461 v. Chr. ein Mord begangen. Opfer dieses Anschlags war der radikale Demokrat Ephialtes. Ephialtes hatte den Stadtstaat Athen ein großes Stück demokratischer gemacht: Er hatte den Areopag entmachtet. Der Areopag war eine Instanz des Adels, die ursprünglich als Gericht gedacht war, inzwischen aber weite Teile des Stadtstaates kontrollierte. Ephial tes übertrug die Kontrollfunktion des Aeropags der Volksversammlung und den Volksgerichten. Diese Reform wollte sein Gegenspieler Kimon rückgängig machen. Das aber ließen sich die Bürger von Athen nicht gefallen: Sie verbannten Kimon aus der Stadt. (Über solche Verbannungen wurde von der Volksver sammlung abgestimmt.) Kurz nachdem Kimon in die Verbannung gegangen war, wurde Ephialtes ermordet. Wir wissen heute über den Mörder fast nichts. Wir kennen nur den Namen des Mörders, den uns Aristoteles überliefert hat: Aristodikos aus Tanagra soll es gewesen sein. Aber wir wissen nicht, wer dieser Aristodikos aus Tanagra war, und Aristoteles selbst ist erst im Jahre 384 (also 77 Jahre nach dem Mord) geboren worden. Ein Augenzeuge war er nicht, und er wird auch keine Augenzeugen mehr gehört haben, als er seine Schrift über den Staat der Athener, in der er den Namen nennt, verfasste. 142
Ziemlich genau wissen wir hingegen, wer ein Interesse an diesem Mord gehabt haben könnte: die konservativen Vertreter des Adels, die von Ephialtes entmachtet worden waren. Unter diesen Adligen gab es Leute, die nichts von der Demokratie, also der Herrschaft des Volkes, hielten und lieber einen Al leinherrscher an der Macht gesehen hätten. Aber die Freunde der Demokratie hatten Glück im Unglück: Der noch recht junge Perikles übernahm die Füh rungsrolle der Demokraten. Perikles ist später als einer der bedeutendsten Staatsmänner Griechenlands in die Geschichte eingegangen. Wenn aber auch er im Jahre 461 v. Chr. ermordet worden wäre, hätte die Demokratie in Athen vermutlich keine Chance mehr gehabt. Denn Perikles war das, was jeder, der im demokratischen Athen regieren wollte, sein musste: der überzeugendste Redner, den die Freunde der Demokratie hatten. Wäre Perikles nicht am Leben geblieben, hätte Kimon wahrscheinlich eine Allein herrschaft angestrebt und erreicht.
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