Thomas Kastura
Der rote Punkt
Der Bildreporter Viktor hat Erholung bitter nötig: Seine Tochter Phil hatte in Notwehr e...
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Thomas Kastura
Der rote Punkt
Der Bildreporter Viktor hat Erholung bitter nötig: Seine Tochter Phil hatte in Notwehr einen Menschen getötet – was für Vater und Tochter beinahe tödliche Konsequenzen gehabt hätte. Viktor zieht sich in ein italienisches Luxushotel zurück, durch eine SMS an einen abgelegenen Ort gerufen. Viktor weiß nicht, ob dort seine Tochter auf ihn wartet, oder ob der Hilferuf in Wahrheit eine Falle ist … ISBN: 3-442-45481-6 Verlag: Goldmann Erscheinungsjahr: 1. Auflage Juli 2004 Umschlaggestaltung: Design Team München
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Viktor, sechsunddreißig. Bildreporter und Vater der siebzehnjährigen Phil, versucht sich im Wellnesshotel Delle Alpi am Comer See von den Ereignissen der letzten Monate zu erholen: Seine Tochter hatte den türkischen Drogendealer Musti in Notwehr erstochen, und die Beseitigung der Leiche sowie der Versuch, Mustis Ware zu verkaufen, hätten für Viktor und Phil beinahe tödliche Folgen gehabt. Um seinen Aufenthalt in der Luxusherberge zu finanzieren, macht Viktor sich die Errungenschaften des Internets zunutze. Er fotografiert die Antiquitäten des Delle Alpi und bietet die Objekte in einem Internetauktionshaus an. Nach Erhalt des Geldes für die exquisiten Stücke, die natürlich nie geliefert werden, will er sich schleunigst aus dem Staub machen. Doch bevor die erste Zahlung eingeht, fliegt sein Schwindel auf: Der Zielfahnder Nondas Savvidis kommt Viktor auf die Schliche und drängt ihn zur Zusammenarbeit, Nondas ist hinter Mustis Bruder Erdem her, der Viktor und Phil vor ein paar Monaten beinahe getötet hätte und immer noch auf Rache sinnt. Wenn Viktor Nondas dabei hilft, Erdem zu fassen, ist Nondas bereit, diskret über den Internetbetrug hinwegzugehen. Viktor geht auf den Kuhhandel ein; zuerst möchte er allerdings Phil informieren, die zurzeit einen Sommerkurs an einer kanadischen Akademie besucht. Als Viktor in Kanada anruft, erfährt er, dass Phil das Land vor drei Tagen verlassen hat; seitdem fehlt jede Spur von ihr. In Viktor wächst die Angst, Erdem habe seine Tochter gekidnappt. Dann erhält er eine SMS von Phils Handy: Phil möchte sich mit ihrem Vater an einem Ort in den Bergen hoch über Como treffen, einem Ort, der so abgelegen ist, dass er Phil Schutz bieten – aber genauso als perfekte Falle dienen könnte …
Autor Thomas Kastura, geboren 1966, studierte Germanistik und Geschichte. Er lebt in Bamberg und arbeitet als freier Autor für Rundfunk und Presse. Sein erster Roman, »Die letzte Lüge«, wurde von der Kritik hymnisch gefeiert.
Für Conny
Never let me down again Depeche Mode
Prolog
D
as Ziehen in seinem Bauch ist fast verschwunden. Wenn er mit der Faust dagegenschlägt, spürt er noch ein leichtes Kribbeln. Als kröche ein Käfer in seinem Innern umher. Als seien nicht alle Holzsplitter entfernt worden, die in der Wunde zurückgeblieben waren. Als steckten sie noch tief in ihm drin. Der Käfer entfernt sie, speichelt sie ein, rollt sie zu Kugeln. So stellt er sich das vor. Der Käfer ist nützlich. Trotzdem wird er ihn entfernen müssen. Vielleicht wird er ihn aufspießen, die inneren Organe entfernen und hinter Glas ausstellen wie ein naturkundliches Exponat. Damit er ihn immer erinnert an das, was gewesen ist. Er hat eine Serie von Operationen hinter sich, lebensrettende und lebensgefährliche. Auf jeden Fall lebensverändernde. Als ihn seine Männer – die wenigen, die ihm verblieben waren – aus dem Krankentrakt befreit hatten, musste er sich weiteren Eingriffen unterziehen, um nicht erkannt zu werden, zumindest nicht nach dem äußeren Schein. Er verlor buchstäblich sein Gesicht. Eine Demütigung, die weitaus schlimmer wiegt als die Verletzungen, die ihm vor kurzem zugefügt wurden. Und er ist ganz und gar nicht zufrieden mit dem Ergebnis. Er fühlt sich betrogen um seine wahre Gestalt. Es kommt ihm vor, als starrten die Menschen einen Entwurf an, wenn er an ihnen vorübergeht. Nicht, dass er viel darauf gäbe. Es liegt ihm fern, dieser Art Spiegel eine Bedeutung beizumessen. Dennoch hat ihn die Sache um ein Vergnügen gebracht: sich in Schönheit zu zeigen, bevor die Menschen an ihm verzweifeln. Während sein Körper heilte, nahm sein neuer Auftraggeber mit ihm Kontakt auf. Der Mann fühlte sich bedroht, jemand hatte versucht, ihn umzubringen. Die Aktion misslang, sie war schlecht vorbereitet, ungeschickt ausgeführt, von Anfang an 6
zum Scheitern verurteilt. Daraufhin hörte sich sein Auftraggeber um, wer mit Anschlägen auf lebende Objekte Erfahrung besaß. Er erfuhr von den Vorkommnissen in Livorno, von Schüssen und Handgranaten, von einer ganzen Reihe Toter. Daraufhin ließ er seine Verbindungen spielen, arrangierte ein Treffen, machte ein Angebot. Er gelangte zu dem Schluss, etwas Neues zu beginnen und die alten Unternehmungen eine Weile ruhen zu lassen. Als er sich erholt hatte, kam er mit seinem Auftraggeber ins Geschäft. Ein Geschäft, das all seine Kräfte und Fähigkeiten erfordert. Bei dem er größere Umsicht und Verschwiegenheit walten lassen muss als früher. Das ihn seine gewachsene Macht spüren lässt. Während er seinen neuen Aufgaben nachgeht, verfolgt er zugleich die Spuren derer, die ihn selber dem Tode nahe gebracht haben. Sie laufen auseinander, in drei unterschiedliche Richtungen, haben sich in Europa und Amerika verloren. Er zweifelt nicht daran, seine Feinde in absehbarer Zeit zu finden. Wenn sie sich absichtlich verstecken würden, hätte er sie längst aufgespürt – er kennt die Verstecke der Menschen. Aber sie sind ahnungslos, haben die Gefahr vergessen. Sie wissen nicht, wer seine Gedanken zu ihnen hinabschickt, bei Tag und in der Nacht, mit jedem Atemzug. So wie jetzt, da er darauf wartet, dass einer, zu dem ihn sein Auftraggeber geschickt hat, aufwacht und feststellt, wie gering seine Aussichten sind, jemals wieder so etwas wie ein normales Leben zu führen. Was so viel heißt wie: Entscheidungen treffen, Absichten verfolgen, nach irgendetwas streben, und sei es nach Glück. Er wird ihm Ersatz verschaffen. Davon hat er eine Menge anzubieten, mehr denn je. Zumindest wird er ihn vor die Wahl stellen, eine Gunst, auf die seine persönlichen Feinde nicht hoffen dürfen. Es sind drei. Von zweien weiß er den Namen. Sie sind so gut wie tot, Vater und Tochter, eine kleine Familie, wenn man so will. Er wird sie auslöschen, hätte es schon tun müssen, als er 7
zuletzt Gelegenheit dazu hatte. Er versäumte es, weil er einer unerklärlichen Gefühlsregung nachgegeben hatte. Dafür hat er bezahlt. Es wird ihm nicht wieder passieren. Von der Dritten kennt er nur das Gesicht. Sie wird es nicht mehr lange besitzen. Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, wird sie ihn um ein neues anflehen. Oder um etwas anderes. Er ist schon gespannt darauf, welchen Wunsch ihr der Schmerz eingeben wird. Seine Gedanken tauchen hinab.
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ERSTER TEIL
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1
P
iekst ja gar nicht. Ich stecke die Nadel in meine Bauchdecke. Ja, genau, in die Bauchdecke und nicht in die Armbeuge oder den Oberschenkel wie früher. Die Spritze ist gegen Thrombose. Damit sich kein Blutpfropf in den Adern bildet und Lungenembolie oder irgendetwas anderes Tödliches auslöst. Schlecht, wenn etwas verpfropft. Also haue ich mir einen Schuss nach dem anderen rein, jeden Morgen kurz nach dem Aufstehen. Nicht gerade angenehm, aber was soll ich machen? Bin ja schon froh, dass ich wieder laufen kann. Vor einer Woche haben sie mich aus der Klinik entlassen. Den Wellness-Bereich könne ich weiter nutzen, hieß es, auf eigene Kosten, versteht sich. Eines ist sicher am Comer See: Geschenkt kriegst du hier nichts. Will ich auch gar nicht. Wenn schon Wellness, dann auch richtig, dachte ich mir, nicht in Gesellschaft der Dreivierteltoten, die in der Klinik zu Dutzenden herumtaperten. Diese Leute waren nichts für mich. Quatschten einem die Ohren voll mit ihren Fast-Geschichten: Fast wäre der Tumor zu groß geworden, um noch operabel zu sein. Fast hätte der Arzt den handtellergroßen Fleck auf der Lunge übersehen. Fast hätten ihre hinfälligen, im biologischen Off dahindümpelnden Körper die wichtigsten Funktionen eingestellt. Aber dann kam ihnen ein Bypass, eine Spenderniere oder eine künstliche Herzklappe dazwischen. Abgesehen davon, dass mich diese Frankenstein-Storys deprimierten, konnte ich mit meinem lumpigen Beinbruch sowieso nicht dagegen anstinken. Da ging ich lieber ins Delle Alpi, um mich im schönsten Hotel Italiens von vorne bis hinten verwöhnen zu lassen.
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Das nötige Kleingeld dazu schwamm im Hafenbecken von Livorno herum. In einem Bodybag. Na ja, nicht direkt Geld, sondern Shit, den man erst zu Geld machen musste. Nachdem ich mich nach Turin abgesetzt hatte, war es überhaupt kein Problem, das Zeug zu verticken. Die Gören an der PoPromenade rissen es mir regelrecht aus den Händen. Wahrscheinlich wussten sie gar nicht, dass sie da unversehens an Spitzenstoff geraten waren. Golden Pollum, so was haben die sich bestimmt noch nie reingezogen, nicht in dieser Qualität. Barmherzige Seele, die ich nun mal bin, verstehe ich das Ganze als meinen Beitrag zum Weltfrieden. Die Joints, die derzeit in Turin kursieren, sind wie Kerzen, die man in einer Kirche aufsteckt zum Gedenken an einen lieben Verwandten. Am PoUfer brennt eine Lichterkette nur für mich. Ich schmeiße die Spritze, den Alkoholtupfer und die Verpackung in einen fernsehturmgroßen Aschenbecher. Dann drücke ich auf den Metallstift und lausche dem Klappern im Inneren des Hohlkörpers, während der Müll verschwindet. Reines vermischt sich mit Reinem, Asche mit dem Injektionsbesteck – es stinkt entsetzlich. Zeit für meine Anwendungen. Ich hole die CD aus dem Laptop. Zur Begleitung meiner morgendlichen Schüsse lasse ich Tosca laufen, nicht die Oper, sondern das Solo-Projekt von Richard Dorfmeister, das ich mir aus dem Netz gezogen habe. Mit Honey gleite ich in den Tag wie einer dieser überbezahlten Verkaufsagenten, die schon unter der Dusche ganz heiß darauf sind, irgendeinen Netzwerkdeal über neue Computer, Betriebssysteme und weiß der Teufel welche supereffizienten, mckinseygeprüften Projekte abzuschließen, um dabei eine fette Provision nach der anderen einzustreichen. I want my honey, I want my honey. Genau. Musik hat immer einen Sinn. Hin und wieder sollte man ein paar Worte darüber verlieren und nicht so tun, als habe sie keinen Einfluss auf uns. Es rächt sich, solchen Dingen keine 11
Beachtung zu schenken. Musik pflanzt mir Dinge in den Kopf, die an einem anderen Ort verkümmern würden. Ich schalte das Gerät aus und lasse es zusammen mit dem Übertragungskabel in einer Schublade des Barock-Sekretärs verschwinden. Als ich aufstehe, versuche ich das linke Bein nicht zu stark zu belasten. Fünfzehn Kilo, sagte der Doktor, als hätte ich eine Waage eingebaut, die mich permanent auf dem Laufenden hält über die Gewichtsverteilung, mit der ich durchs Leben hinke. Ärzte haben gut reden. Sie geben ihre Anweisungen und lassen einen damit allein. Wenn sie von mir verlangten, auf einem Bein um den See zu hüpfen, würde ich es sofort machen, in der Hoffnung, dass es hilft. Ärzte haben Macht, vor allem an Kurorten. Da stehen sie ganz oben in der Rangordnung. Danach kommen Restaurantchefs, gefolgt von sexuellen Dienstleistern: Escort-Service, Eintänzer, Pflegepersonal. Wenn man die Medizin-Essen-Sex-Reihenfolge umdrehte, befände man sich in einem Rotlichtviertel von Bangkok. Auch eine Art Kurort, für meinen Geschmack aber zu laut und viel zu weit weg. Das Gute liegt meistens ganz nah. Auf dem Weg zum Hotellift bleibe ich vor einem EmpireSpiegel stehen. Ich überprüfe den Sitz meines Anzugs. Den Designer verrate ich jetzt nicht, ich sage nur: zeitloser Chic. Einreiher mit zwei Knöpfen, geringfügig verbreiterten Schultern, schmalem Revers, in einem zarten Dünen-Ton irgendwo zwischen Weiß und Ocker. Darunter ein umbrafarbenes Seidenhemd und – nicht lachen! – eine helle Krawatte mit dünnen Querstreifen. Viktor und Krawatte? Geht das zusammen? Dafür gibt es eine natürliche Erklärung. Einerseits laufe ich so herum, um seriös zu wirken – also das genaue Gegenteil von dem, was ich bin. Andererseits wegen des guten Rundum-Gefühls. In so einem Anzug kommt man sich gleich wie ein besserer Mensch vor. Nicht im moralischen Sinne, den lassen wir mal beiseite. Eher 12
kognitiv. Ich weiß, das klingt furchtbar, aber anders lässt es sich nicht ausdrücken, wenn man den Grad der Überlegenheit meint, mit der man durch den Tag spaziert. Zu einer guten Körperhaltung können verschiedene Faktoren beitragen: Macht, Geld, Einfluss, von mir aus sogar ein gewisses Maß an Wahrhaftigkeit – wenn man über den Rest nicht verfügt. Oder das unerschütterliche Bewusstsein, eine ganze Reihe von Leuten gerade nach Strich und Faden zu bescheißen. Während ich die mit Blattgold überzogenen Ornamente des Spiegelrahmens betrachte, lege ich den Kopf schief und muss lächeln. Dieses geschmacklose, aber überaus kostbare Stück hat mir den rechten Weg gewiesen. Es war wie die Erleuchtung des Simeon, als er im jungen Jesus den Erlöser erkannte. Mich muss man sich als Simeon vorstellen, den Laptop, den ich unter dem Arm trug, als Jesus, und eines der bekanntesten InternetAuktionshäuser als Erlösung. Es war ein ganz spezieller Augenblick. Um ehrlich zu sein, ist das Geld in letzter Zeit etwas knapp geworden. Nach meinem Klinikaufenthalt, den ersten Wochen im Delle Alpi und dem Erwerb einiger Annehmlichkeiten (eine davon steht voll getankt in der Tiefgarage), war ich gezwungen, mir etwas einfallen zu lassen, zumal ich auch noch für den Unterhalt meiner Tochter aufkommen muss. Phil besucht seit kurzem eine Privatschule in Kanada. Sie ist ziemlich helle, ihr IQ liegt jenseits von gut und böse, und bei ihren Zeugnissen geht mir jedes Mal einer ab. Aufgrund eines Einstufungstests hat sie ein Stipendium in Übersee gekriegt. Das spart uns schon mal das Schulgeld. Trotzdem kostet sie mich eine Stange Geld, und das muss irgendwoher kommen, wenn ich meinen Lebensstandard noch eine Weile halten will. Man gewöhnt sich so schnell daran, in einem Nobelschuppen wie dem Delle Alpi den Arsch hinterhergetragen zu bekommen, dass man es bald nicht mehr missen will.
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Der erste Gedanke, der mir kam, hatte mit meinem alten Beruf als Bildjournalist in Frankfurt zu tun. Dazu muss man wissen, dass am Comer See eine Klientel Urlaub macht, deren Großkotzigkeit nur noch von ihrer Eitelkeit übertroffen wird. Man glaubt es kaum, aber da hängen jetzt die Leute rum, die man vor dreißig Jahren mitsamt ihren versifften Schlafsäcken von der Seepromenade gekratzt hat. Jetzt machen sie sich in genau den Hotels breit, in deren Parkanlagen sie früher einen Haufen setzten, um dem Establishment einen Denkzettel zu verpassen. Die Gärtner müssen sie gehasst haben wie die Pest, noch mehr als die Hunde. Inzwischen sind sie vom Golfspielen etwas dünner geworden, haben ihre Verdauung unter Kontrolle (was sich in absehbarer Zeit wieder ändern wird) und schauen langsam nach jener Vorstellung aus, die sie gerne von sich in Umlauf bringen möchten – von der sie aber nicht ganz sicher sind, ob sie ihr schon entsprechen. An diesem Punkt kam ich ins Spiel. Wer’s geschafft hat, möchte es nicht nur zeigen, er will es auch sehen. Am besten im Bild, und damit meine ich nicht dilettantische Schnappschüsse, sondern Aufnahmen in Studioqualität. Gut ausgeleuchtet, gestochen scharf, in einem schicken Ambiente – stylish eben, Porträts, wie Goya sie gemalt hätte, wenn er so ein Opportunist wie ich gewesen wäre. Eine Kamera aufzutreiben, die nach Fotokünstler aussieht, war kein Problem. Also bot ich den Ex-Schlafsäcken an, sie professionell abzulichten, wie Filmstars, die eine Fotostrecke für die »Vogue« machen lassen, um ihr Image aufzupolieren und den Produzenten dieser Welt zu signalisieren: Kommt mal wieder mit einem Angebot rüber! Im Urlaub sitzen die Scheine locker, die Leute sind glaubhafter gebräunt als zu Hause, sie fühlen sich bedeutsamer – über Kunden konnte ich mich also nicht beklagen. Die eigentliche Arbeit war aber nicht das Fotografieren, sondern die Nachbearbeitung am Computer. Das gehörte zu 14
jedem Auftrag dazu. Stillschweigend machte ich Tränensäcke und Krähenfüße weg. Ich entfernte Leberflecken, Stirnrunzeln, zusammengewachsene Augenbrauen, schiefe Nasenscheidewände. Ich beseitigte Herpesbläschen, Mitesser, Aknenarben, Nasenbehaarung, Doppelkinne, Ringe am Hals. Ich korrigierte den Haaransatz, die Position der Ohren, Fettpölsterchen unter den Augen, aufgeworfene oder verhärmte Lippen, eingefallene oder aufgedunsene Wangen. Vor allem löschte ich Spuren schlechter kosmetischer Operationen aus: aufgespritzte Lippen, die an den Rändern ausfransten, Liftings, so straff wie Frischhaltefolie, Nasenkorrekturen, die offenbar nach den Richtlinien der Aktion Ahnenerbe vorgenommen wurden. Ich war der beste Schönheitschirurg, den sich diese Leute wünschen konnten. Natürlich habe ich ihnen nicht das Geringste von meinen kleinen, insgesamt aber recht umfangreichen Eingriffen erzählt. Und da sie auf meinen Bilddateien endlich so aussahen, wie sie aussehen wollten, schrieben sie es meinen fotografischen Fähigkeiten zu, sie richtig ins Bild zu setzen. Der Fotografie haftet nach wie vor etwas Magisches an. Wenn man jemandem das eigene Abbild zeigt, ist das ein Akt der Enthüllung, wie Kartenlegen oder Ausder-Hand-Lesen. Mit ein wenig Übung kennt man die verborgenen Wünsche der Menschen. Erfüllt man sie, glauben sie einem alles. So ging das ein paar Wochen. Ich mailte die Bilddateien an ein Studio in Mailand. Am nächsten Tag waren die Abzüge da, und ich kassierte ab. Es war gutes, leicht verdientes Geld. Aber richtig reich wird man damit nicht. Irgendwann will ich damit anfangen, für ein Häuschen zu sparen, in dem ich gemeinsam mit Phil leben kann. Häuschen, ganz richtig. Nicht in Frankfurt, ich bin ja nicht verrückt, sondern außerhalb, vielleicht im Taunus oder im Rheingau, vielleicht auch gar nicht in Deutschland, sondern irgendwo im Süden, an der Amalfiküste oder in der Provence, meine Bedürfnisse sind da ziemlich 15
konventionell. Jedenfalls an einem Ort, wo wir uns möglichst wenig Sorgen zu machen brauchen, wo wir in Ruhe herausfinden können, was wir einander bedeuten, wo Phil in den Semesterferien vorbeischauen kann, wenn sie mal studiert oder wenn sie Sehnsucht nach ihrem treulosen, ohne viel Würde gealterten Papa hat. Ein Ort, wo unser bisheriges Leben nur das Rauschen von Platanenblättern im Wind ist. So stelle ich mir das vor, Glück ist so was wie Wind. Und eine genaue Vorstellung davon ist allemal besser als das, was man gemeinhin für Realität hält. Wenn Phil den Kopf zu mir dreht, will ich, dass sie schon vorher weiß, dass ich da sitze und sie seit einer Ewigkeit betrachte. Ich will, dass sie die Laken wiedererkennt, mit der ich ihr Gästebett beziehe. Ich will sehen, wie sie ihren Rucksack in die Ecke schmeißt und kommentarlos auf ihr Zimmer geht, als würden wir jeden verdammten Tag miteinander teilen. Meine Fotografie, denke ich, bringt mich da nicht so schnell hin. Und Drogen in großem Stil verkaufen ist auch nichts für mich. Da kenne ich mich nicht gut genug aus. Ich war schon kurz davor, mich mit den Anfordernissen des gehobenen Autoklaus vertraut zu machen – am Comer See fahren jede Menge einladender Karren herum –, als ich eine dieser Indiohaut-Schnepfen vor dem besagten Empire-Spiegel fotografierte. Das war dann mein Simeon-Erlebnis. Spaßeshalber schnitt ich am Computer mal den ganzen Kopf aus, symbolische Enthauptung, um meinen unterschwelligen Aggressionen Raum zu geben. Zurück blieb der Spiegel, ein wenig von der Seite aufgenommen, damit ich nicht selber mit der Kamera zu sehen war. Kurz davor hatte ich im Internet auf ein Stativ geboten, weil mein altes wie ein Ostblock-Relikt wirkte. Ich klickte »Antiquitäten« an und wäre fast vom Stuhl gefallen, als ich die Preise sah. Und jetzt versteigere ich das ganze Hotel. Seine Einrichtung, um genau zu sein. 16
Probeweise erwarb ich bei einem Händler in Bellagio ein Biedermeier-Beistelltischchen und vertickte es ganz legal im Netz. Das lief wie geschmiert. Als der Scheck da war, hab ich das Ding komplett mit Gutachten, das schon dabei war, ordentlich eingepackt und von UPS abholen lassen. Der Mann, der das Tischchen ersteigert hat, schrieb eine anerkennende Mail über die glatte Abwicklung und den guten Zustand der Ware. Wir hatten beide, was wir wollten. Internet macht in Windeseile glücklich. Dann fing ich an, mir ein virtuelles Lager anzulegen. Ich fotografierte alles, was sich ohne große Umstände zu Geld machen lässt: Kommoden, Anrichten, Truhen, Buffets, Schränke, Sekretäre, Sessel, Sofas, Polsterbänke, Spieltische, Teetische, Nachttische, sogar den Klavierhocker aus der PianoBar. Ich spezialisierte mich auf Mobiliar. Das wirkt ehrlicher und solider als Kleinkram wie Uhren oder Kerzenständer. Außerdem war daran einfach ranzukommen. Die Gänge und Lobbys des Delle Alpi sind mit dem Zeug voll gestellt. Vor einer knappen Woche habe ich den Krempel in einem Internet-Auktionshaus zum Verkauf angeboten, zu lachhaften Mindestgeboten, das zieht die Bieter an wie ein Stück Fliegenpapier. Damit die Sache solide wirkt, habe ich mein Verkäuferprofil mit einem simplen Hackertrick gefälscht, der in einer Computerzeitschrift abgedruckt war. Jetzt erscheint neben meinem Aliasnamen eine Bewertung über 1780 einwandfrei abgelaufene Transaktionen. Morgen laufen die Versteigerungen aus. Dann dauert es noch ein paar Tage, bis ich die Schecks zugeschickt bekomme, adressiert an ein Postfach in Como. Ich werde sie in verschiedenen Banken einlösen, von denen es rund um den See Dutzende gibt. Dann steige ich in meinen Jag, winke zum Abschied und bin eins-zwei-drei weg. Ein guter Plan. Bin richtig stolz drauf. Und da so etwas allein nicht den geringsten Spaß macht und ich meinem toten Freund Gwizdek noch etwas schuldig bin, 17
ziehe ich dieses Ding mit einer Partnerin durch: Gwizdeks Tochter. Ihr Name ist Zyna, mit weichem sch, von Grazyna. Die Italiener sagen einfach Gina zu ihr. Sie ist nicht gerade pflegeleicht, aber nützlicher, als ich anfangs dachte. Unter anderem hatte sie den Einfall, ein Zimmer in Chiasso anzumieten für den Fall, dass einer der Käufer unsere Adresse und Telefonnummer wissen will, bevor er seinen Scheck auf die Reise schickt. Chiasso ist ein Städtchen im Tessin – die Schweizer Grenze verläuft in Spuckweite des Delle Alpi. In dem Zimmer steht nur ein Anrufbeantworter. Er leitet alle eingehenden Telefonate auf mein Handy um, das ich unter falschem Namen gekauft habe und nach Gebrauch entsorgen werde. Wenn wir die Schecks erst einmal haben, wird die Polizei in Chiasso nicht mehr das Geringste finden, was auf Zyna oder mich hindeutet. Es hört sich reibungslos an, und das ist es auch. Als ich an einer Biedermeier-Vitrine vorbeikomme, für die das aktuelle Gebot gerade bei 2080 Euro steht, bleibe ich wie angewurzelt stehen. »Sie interessieren sich für Antiquitäten?«, fragt eine Stimme auf Deutsch. Mit hessischem Akzent. Es gab eine Zeit, als ich das amüsant fand. Ich drehe mich um. Kurzes schwarzes Haar, südländischer Teint, verbindliches Lächeln. Unwillkürlich zuckt meine Hand nach hinten. Dort steckte vor ein paar Wochen noch die Beretta, bevor ich die Waffe in dem Schließfach eines Turiner Bankhauses verschwinden ließ. Sagte ich schon, dass meine Gewaltbereitschaft in den letzten Monaten zugenommen hat? Muss an den Verletzungen liegen, die ich nach und nach erlitten habe. Da fallen die Hemmungen ab wie abgeheilter Schorf, der aufgehört hat zu jucken. Eine unverfängliche, kleine Gaunerei ist da eher ein Rückschritt. »Ein wunderbares Stück, finden Sie nicht?« 18
Der Mann tritt neben die Vitrine wie ein Verkäufer, der seine Ware anpreist. Er ist um die dreißig, sieht sehr gepflegt aus, als hätte er jede seiner Bartstoppeln einzeln abrasiert und würde seine Haut pfundweise mit revitalisierender Creme behandeln. Ein Gesicht wie ein High-End-Scan: hohe Auflösung, harmonisch aufeinander abgestimmte Tonwerte, sparsame Kontraste. Die Augen wirken so, als seien sie es gewohnt, zweimal hinzuschauen, um nichts zu übersehen. Jetzt blicken sie mich erwartungsvoll an. Sie suchen nach einer Reaktion. Außer uns beiden befindet sich niemand in der Nähe. Man macht einen schweren Fehler, wenn man denkt, man könne mit der Vergangenheit abschließen. Irgendwann steht sie auf dem Gang eines Hotels vor einem und fängt ein Gespräch an. »Frühes Biedermeier«, sage ich, um nicht unfreundlich zu wirken. Warum sollte es einer von Erdems Leuten sein? Erdem ist tot. Zumindest war er das fast, als ich ihn zum letzten Mal gesehen habe. Mit einem Holzsplitter im Bauch, der Professor Van Helsing alle Ehre gemacht hätte, lebt es sich nicht mehr lange. »Mögen Sie alte Gegenstände?«, frage ich. »Kommt auf das Ambiente an. Hier passen sie hin.« Oder gehört er zu Ferro? Aber wie hätte der mich aufspüren können? Der falsche Reisepass, den mir Lidia über Attac besorgt hat, ist noch besser als mein eigener. Gab nicht die geringsten Probleme an der Rezeption – was im Delle Alpi ohnehin unwahrscheinlich ist. Da gibt es überhaupt keine Probleme. Irgendwann haben sie dieses unangenehme Wort einfach aus ihrem Vokabular gestrichen, hauseigene Sprachregelung, so ähnlich wie im Pentagon, da denkt man auch nicht negativ. Also komm wieder runter, Viktor! Claudio Ferro hätte viel mehr Anlass, eine nette kleine Paranoia zu entwickeln, als ich. »Biedermeier«, wiederholt er und betrachtet die Vitrine. 19
»Sie kennen sich aus, wie?« »Ein bisschen.« Na ja, ich habe für die Auktionen ein wenig Kunstgeschichte gepaukt. Nichts überzeugt die Leute mehr als Fachvokabular. Wenn man ihnen dann noch als Dreingabe eine Geschichte vorsetzt, etwa, dass diese Vitrine früher im Besitz von Caruso oder irgendeinem anderen Vintage-Prominenten war, der sich nicht mehr wehren kann, können sie ihren Dinner-Gästen etwas Interessantes erzählen. Wenn ich nicht aufpasse, wird aus mir noch ein Verkäufer. »Auf wie viel schätzen Sie die Vitrine?« Ich wäge kurz ab. »Mehr als tausend Euro würde ich dafür nicht hinlegen.« Tausend Euro. Den Scherz kann ich mir nicht verkneifen. Überrascht zieht er die Augenbrauen hoch. »Wirklich? Ich hätte sie höher angesetzt. Aber bei Antiquitäten ist das so schwer zu sagen.« Er macht eine Pause und streicht über sein Olivenholzkinn. »Wissen Sie, ich frage nicht ohne Grund. Ich bin gerade dabei, ein ähnliches Stück zu erwerben. Kein Biedermeier, etwas opulenter.« »Was Sie nicht sagen.« »Es ist ein interessantes Angebot. Leider habe ich in dieser Beziehung nicht die geringste Erfahrung. Ich brauche den Rat eines Experten. Ob Sie mir beim Frühstück wohl Gesellschaft leisten würden? Dann lege ich Ihnen die Angelegenheit genauer dar.« Sorgfältige Wortwahl, vernünftige Sätze. So wirkt man glaubwürdig. »Ich denke kaum, dass ich Ihnen behilflich sein kann«, antworte ich. »Als Experten würde ich mich nicht gerade bezeichnen.«
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»Ich wäre schon für eine zweite Meinung dankbar«, beharrt er. »Sonst weiß man gar nicht, wo man steht. Entschuldigen Sie, ich habe mich nicht vorgestellt. Mein Name ist Savvidis.« Ich nenne meinen neuen Namen und ergreife automatisch die Hand, die er mir hinstreckt. Ein höflicher Mann, das muss man sagen. »Woher wussten Sie, dass ich Deutscher bin?«, frage ich. »Dafür habe ich einen Blick«, sagt er mit einem wissenden Lächeln. Was soll denn das heißen? Da bemüht man sich um ein internationales Money-can-buy-anything-Auftreten, und dann so was. Andererseits halten sich momentan überraschend viele Deutsche im Delle Alpi auf. Die oberitalienischen Seen stehen derzeit wieder hoch im Kurs, europäische Luxustradition, in ein paar Stunden ist man da, Berge und Wasser, das bedeutet schon seit der Steinzeit Schutz und Ressourcen. In einem dieser feudalen Kästen irgendwo in Hinterasien muss ein Delle AlpiGast inzwischen ja Angst haben, dass ein aufgebrachter Mob daherkommt und ihm die Bude über dem Kopf anzündet. »Tut mir Leid«, sage ich. »Aber ich bin gerade auf dem Weg ins Health-Center.« Savvidis runzelt die Stirn. »Massage«, setze ich hinzu. »Kann ich übrigens sehr empfehlen. Die Damen sind hervorragend geschult.« »Vielleicht sehen wir uns trotzdem noch«, sagt er langsam und lässt seinen Blick den Gang entlang wandern. »Ich lasse mir immer viel Zeit. Bei allem, was ich tue.« Für einen Moment scheint er woanders zu sein. Er spielt irgendein fernes Ereignis in Gedanken durch, wobei sich sein Unterkiefer vorschiebt und ihm etwas Strenges, über die Maßen Kontrolliertes verleiht. Dann schaut er mir wieder in die Augen.
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»Falls Sie nach Ihrer Massage Lust auf eine kleine Unterhaltung haben – Sie finden mich auf der Veranda.« »Mal sehen«, erwidere ich und setze mich in Bewegung. Er geht neben mir her. Natürlich hat er den gleichen Weg wie ich. Wenn man Hotelbekanntschaften schließt, fühlt man sich wie unter Flugzeugpassagieren: Man ist eine Zeit lang ziemlich dicht beisammen, atmet dieselbe Luft, isst dieselben Speisen, schikaniert dasselbe Personal und teilt bei jeder Turbulenz ähnliche Hoffnungen und Ängste – und sowie man das Flugzeug mit einem erleichterten »Bye« verlässt, ist die alte Anonymität wiederhergestellt. »Haben Sie sich verletzt?«, fragt er und deutet auf mein Bein. Wir sind am Lift angelangt. Er drückt einen Messingknopf, der die profane Technik kaschieren soll. Diskrete Aufzuggeräusche. Kein Rumpeln oder Ächzen oder so etwas, nichts, was auf das wahre Alter des Gebäudes schließen ließe. Eines dieser unsichtbaren Dinge, die den Laden hier richtig teuer machen. »Nicht der Rede wert.« Ich strecke mein Bein aus, demonstriere seine fast wieder vollständige Funktionsfähigkeit. »Verkehrsunfall. Ein Missgeschick.« Das Reißen im Lenkrad, als einer der Leibwächter den Vorderreifen trifft. Ich lasse die Beretta fallen, benötige beide Hände, um den Wagen auf der Straße zu halten. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass Ferro von den Körpern seiner Bodyguards abgeschirmt wird. Glassplitter regnen auf mein Gesicht. Ich habe ihn verfehlt. »Selbst verschuldet?«, fragt Savvidis. Wir betreten den Lift. Die Tür schließt sich. »Wie man’s nimmt.« Ich betrachte die Maserung der Holzpaneele. Gezackte Linien, wie Ausschläge auf einem Seismographen. Der Aufzug fährt los. Das Gefühl, in Morast zu treten. 22
Der Hinterreifen verabschiedet sich. Ich drücke das Gaspedal voll durch, entferne mich von dem Knäuel aus Anzügen, Pistolen und Sonnenbrillen. Tunk-tunk-tunk trommeln die zerfetzten Reifen gegen die Radkästen. Das Geräusch wird nur noch von dem irren Gebell von Ferros Schäferhund übertönt. In der nächsten Kurve bricht der Wagen aus und prallt gegen einen Müllcontainer. Mein Körper macht sich selbstständig, wird herumgeschleudert wie ein nasser Lappen. Nach einer Weile kommt er zur Ruhe. Ich richte mich auf setze den Wagen zurück. Beim Kuppeln bemerke ich den Schmerz. Jemand treibt lange Nägel in mein Schienbein. Savvidis sagt etwas. Ich kann es nicht verstehen, es dringt nur gedämpft an mein Ohr. Dann verlässt er die Kabine. Ein Schritt, zwei Schritte. Verlangsamt dreht er sich um. Sein Blick fällt an mir herab. Er formt Worte. »Geben Sie auf sich Acht.« Die Tür gleitet wieder an ihren Platz. Ich kippe nach vorn, stütze mich ab. Mit gesenktem Kopf lehne ich an dem polierten Holz. Der Rückspiegel zeigt einen der schwarz gekleideten Leibwächter. Er kommt mit erhobener Waffe näher. Der Fuß an meinem kaputten Bein rutscht vom Pedal. Ich zerre es weg, kuppele mit dem anderen Bein, lege den ersten Gang ein, hieve das kaputte Bein wieder in Position, beiße ins Lenkrad, versuche das Bein ausgestreckt zu halten, obwohl mir dabei schwarz vor Augen wird. Dann gehe ich wieder aufs Gas. Der Wagen macht einen Ruck, als müsse er ein tonnenschweres Gewicht vom Fleck bewegen. Die Reifen beginnen sich zu drehen. Eine Rotation, dann noch eine. Langsam gewinnt der Wagen an Fahrt. Das kaputte Bein fällt nutzlos zur Seite.
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2
M
ein Kinn ruht in einer dafür vorgesehenen Kuhle. Ich strecke meinen Körper aus, schließe die Augen. Warte, bis vertraute Hände meinen Rücken berühren. Phil fehlt mir. Sie ist der einzige Mensch, zu dem ich so etwas wie eine Beziehung habe. Alle anderen zählen nicht, flüchtige Bekanntschaften, die ich nach ein paar Wochen, vielleicht auch nach ein paar Jahren aus den Augen verliere. Leute sind wie Kleidungsstücke: Wenn mir überhaupt mal eines passt, hält es ein, zwei Saisons. Dann gebe ich es in die Altkleidersammlung, weil ich es einfach nicht mehr sehen kann. Oder weil es eingelaufen oder eine Naht aufgegangen ist. Oder weil mir neue Sachen besser gefallen. Mit den wenigen Klamotten, die ich über einen längeren Zeitraum behalte, einer bequemen Lederjacke zum Beispiel oder einem flauschigen Schal, traue ich mich irgendwann nicht mehr rumzulaufen. Ich lasse sie im Schrank hängen und vergesse sie, schaue sie nie wieder an. Nicht einmal, wenn wieder mal eine Retro-Welle ins Land geht. Auf den ersten Blick mag der Retro-Look zwar so aussehen wie die alten Teile. Aber entscheidende Details weichen voneinander ab: Der Schnitt ist ein wenig enger oder weiter, kürzer oder länger, die Farben sind blasser oder kräftiger. So ganz haut das nie hin. Deshalb lasse ich’s lieber bleiben und kaufe mir was Neues. Etwas, das noch keinen Geruch angenommen hat oder durchgescheuerte Stellen aufweist. In dem keine Werbekugelschreiber oder Streichholzbriefchen stecken. Das mir nicht zur Gewohnheit geworden ist und sich so anfühlt, als sei ich irgendwann mal reingewachsen. Das mir gleich wie angegossen passt. Phil ist kein Kleidungsstück. Sie ist die Haut, durch die ich atme. Auch, wenn sie weit weg ist. 24
Die Tür des Behandlungszimmers öffnet sich. Ich behalte den Kopf unten, höre jemanden an die Pritsche treten. Ein paar Tropfen Öl auf meiner Haut. Fingerspitzen, die das Öl gleichmäßig verteilen. Der Geruch von Orangen. Synthetische Aromastoffe, frischer und nicht so süßlich wie echte Orangen. Ein Feuerzeug wird entzündet. Das hohle Ploppen einer Flamme, wie bei einem Gasherd. Es riecht nach Brennspiritus. Zyna setzt den Schröpfkopf auf. Ich spüre, wie sich ein kreisrundes Stück Haut an meinem Rücken nach außen wölbt. »Okay so?«, fragt sie. »Nicht zu fest?« »Genau richtig.« In Wahrheit sitzt der Schröpfkopf eine Idee zu stramm. Aber ich mag das so. Sie beginnt, den Glaskolben hin und her zu bewegen. Seine wulstigen Ränder hubbeln über meine Schultern, arbeiten sich durch das Gewebe, aktivieren die Tiefenmuskulatur. Bei einer Schröpfmassage geht das gezielter als mit bloßen Händen. Außerdem erzeugt das Vakuum in dem Glaskolben einen Zug – im Gegensatz zu dem Druck, den Finger ausüben. Zyna führt den Schröpfkopf an meiner Wirbelsäule entlang. Falls es da Verspannungen gibt, poppen sie gerade auf wie die gotischen Pfeileraufsätze auf dem Mailänder Dom – und ich nehme an, dass mein Rücken nur noch aus Verspannungen besteht. Die Arbeit am Laptop hat ihm wahrscheinlich den Rest gegeben. Zu einer guten Körperhaltung gehört eben auch eine vernünftige Massage. Der Schröpfkopf gibt ein ordinäres Geräusch von sich, als Zyna ihn entfernt. Sie hantiert mit Feuerzeug und Spiritus und setzt ihn wieder auf, direkt über meinem Steißbein, wo er an irgendwelchen Meridianen nuckelt. Wenn Zyna mir das Rückenmark betäuben und es dann mit einem Strohhalm aussaugen würde, fühlte es sich vermutlich ähnlich an. Und ich hätte nicht mal was dagegen. Bestimmt würde sie behutsam vorgehen. 25
»Bei wie viel sind wir jetzt?« Sie lässt den Schröpfkopf los. Das Ding bleibt ein Stück über meinem Hintern stehen und knabbert an den Härchen, die dort zu meinem Leidwesen wachsen. Zyna legt eine Handfläche auf meine Wirbelsäule. Sie sucht einen bestimmten Punkt. »Über zweihunderttausend«, antworte ich. »Aber das ist erst …« Ein Knacken wie im Regenwald. Da, wo diese Baumriesen herumstehen und hin und wieder ein Ast vom Gewicht eines Kleinwagens abbricht. Ich will meinen Satz beenden, aber dafür brauchte ich ein paar Kubikzentimeter Luft in meinen Lungen. Sie sind so leer, als hätte jemand einen Bulldozer darauf abgestellt. Zyna verändert ihre Stellung und stemmt sich erneut mit ihrem ganzen Gewicht auf das, was bis vor kurzem noch mein Rücken gewesen ist. Dabei macht sie mit der Handfläche eine Schraubbewegung, als wolle sie etwas durch meine Wirbelsäule hindurch in den Boden treiben. Es fühlt sich mörderisch an, dabei ist sie ganz leicht. Ich glaube nicht, dass sie mehr als fünfzig Kilo auf die Waage bringt, eine Miniaturperson, wenn man es aus der Sicht ihres Vaters Gwizdek betrachtet. Zusammen wögen wir wahrscheinlich genau so viel wie er. Eines der Dinge, die wir nicht überprüfen können, da er in Livorno erschossen wurde. »Klingt nicht schlecht«, sagt sie und wuchtet einen weiteren Wirbel an seinen Platz. Ich gebe ein heiseres Krächzen von mir, zu schwach, um so etwas Abwegiges wie Protest zu äußern. Völlig zermatscht erwarte ich den Killergriff. Aber Zyna ist fertig mit dem harten Teil der Nummer. Sie macht mit dem Schröpfkopf weiter, der sich wie ein Wackel-Elvis festgesaugt hat, so gut gefällt es ihm an der dreieckigen Stelle, wo die Pofalte beginnt. An guten Tagen lasse ich mich davon erregen. 26
Nach einer Weile benutzt Zyna die Hände und knetet meine Schultern und Oberarme durch. Bei dem derzeitigen WellnessBoom sind gut ausgebildete Fachkräfte rar. Das Delle Alpi nahm sie mit Kusshand, als sie sich vor ein paar Wochen vorgestellt hat. Für unser Geschäft ist das überaus nützlich. Zyna kommt an einige Schlüssel ran, verschafft uns Zugang zu Bereichen des Hotels, in die ich als Gast nicht gelange. Dadurch konnten wir unser virtuelles Lager erheblich erweitern. Auf ihre Anweisung hin drehe ich mich um und lege mich auf den Rücken. Zyna schiebt eine gepolsterte Rolle unter meine Kniekehlen. Sie setzt die Behandlung mit krankengymnastischen Übungen fort, biegt an meinen Beinen herum, als seien sie aus Knetmasse. Ihre Ausbildung hat sie in Deutschland gemacht, bevor sie sich an der Universität in Warschau für irgendeinen Medienstudiengang einschrieb. Sie hat all das, wovon ich in ihrem Alter geträumt habe: Entschlusskraft, Kompromisslosigkeit und eine Kälte, die auf mich menschlicher wirkt als dieses eintätowierte Körperlächeln, das ich überall sehe. Die Gewissheit, dass sie immer einen Schritt weiter gehen würde, als ich es wage. Immer, wenn sie mich zu sehr an meine Tochter erinnert, kneife ich ihr in den Po. »Morgen also«, sage ich. Sie klemmt eine blonde Strähne hinter ihr Ohr. »Ich kann’s kaum erwarten. Die Leute behandeln mich hier wie den letzten Dreck. Lange mach ich das nicht mehr mit.« »Verlier jetzt nicht die Nerven«, beruhige ich sie. »Dafür bin normalerweise ich zuständig.« »Anspannen!«, kommandiert sie. Ich stemme meinen linken Fuß gegen ihre Bauchdecke. Der Oberschenkelmuskel zieht sich zusammen. Sie hält dagegen. Es kommt mir vor, als träte ich gegen einen Stahlträger. »Und aus!« Ich lasse das Bein wieder auf die Polsterrolle sinken. 27
»Dem Nächsten, der so tut, als wäre ich Luft, brech ich einen Arm. Mindestens.« »Sachte, Zyna. Stell dir einfach vor, dass deine Patienten zu unseren Bietern gehören. Die kriegen schon, was sie verdienen.« Ich versuche ein aufmunterndes Lächeln. »Nämlich: niente.« »Was juckt die das schon, ob sie ein paar tausend Euro weniger auf dem Konto haben?« »Darum geht’s nicht. Es ist die Erniedrigung, betrogen zu werden. Das bohrt sich denen ins Fleisch. Es setzt sich richtig tief rein, ganz egal, wie viel Geld sie haben. Deswegen sind sie ja reich: weil sie sich nicht betrügen lassen. Wenn man sie dann trotzdem über den Tisch zieht, verstößt das gegen ihr Lebensprinzip. Das ist wie eine persönliche Beleidigung, ein Schlag ins Gesicht.« Wir wiederholen die Übung. Bei diesem Beuge- und StreckPillepalle kommen mir schon Zweifel, ob es was bringt. Ist das ihr Ernst? Aber Zyna ist hier unten der Chef, daran will ich nicht rütteln. »Weißt du, in Japan massieren sie Kühe mit Bier, damit das Fleisch schön zart bleibt. Geschlachtet werden sie trotzdem.« »Diese Körper«, fährt sie fort, ohne auf meine Bemerkung einzugehen, »je perfekter sie sind, desto mehr kotzt es mich an, sie zu behandeln. Die brauchen alle jemanden, vor dem sie sich in Pose werfen können. Einen, der ihnen dann den Arsch streichelt und am besten noch die Eier krault und ihnen sagt, was für einen phantastischen Body sie haben. Und wenn sie einen Teil davon kriegen, denn ein bisschen Mitleid hab ich ja schon mit diesen Gestalten – meinst du, einer von denen würde sich anständig bedanken? Von wegen! Trinkgeld und Ende. Ich hab’s satt!« »Wo liegt dein Problem?«, frage ich. »Ich finde, das gehört zu deinem Job. So lange du denen keinen runterholen musst.«
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»Hast du eine Vorstellung davon, was ich hier für Angebote kriege?« Ich ziehe mein Bein zurück, bevor sie es mir aus Versehen abreißt. »Zeigt das nicht, dass du gute Arbeit leistest?« »Frauen sind am schlimmsten«, sagt sie und holt ein Handtuch aus einem Regal. »Warum?«, wundere ich mich, während sie meinen Rücken frottiert, als wolle sie keinen Fetzen Haut dranlassen. »Ich meine, du siehst nicht gerade aus wie die Inkarnation einer Lesbenphantasie«, füge ich hinzu. Na ja, es hängt wohl davon ab, von welcher Perspektive man es betrachtet. Ich dachte immer, dass zierliche kleine Polinnen mit einer GwynethPaltrow-Frisur eher Windsurfer mit Holzperlenketten und Glücksarmbändern anziehen. »Was weißt du schon!« »Okay, du hast Recht. Also warum Frauen?« »Die lassen nicht locker. Wenn du einem von diesen Mackern, die ganz besoffen von ihren Bauchmuskeln sind, wenn du denen sagst: ›Kein Interesse‹, dann war’s das. Sie haken es ab und lassen dich in Ruhe. Aber diese stinkreichen Tussis bringt so eine Massage richtig auf Touren. Vor allem, wenn ich mit Ayurveda arbeite, die sanfte Nummer, du verstehst? Dann merke ich sofort, ob’s denen kommt. Und es kommt ihnen, darauf kannst du dich verlassen.« »Warum erzählst du mir das?«, frage ich. »Weil mir sonst keiner zuhört.« »Du übertreibst.« Ich beginne mich anzuziehen. Aus Höflichkeit drehe ich mich halb von ihr weg, obwohl ich meinen Slip anbehalten habe und diesmal keine Erektion verbergen muss – im Gegensatz zu unserer ersten Massage, als sie nach einem erfahrenen Blick sagte: »Tut das eigentlich weh?« Seither muss ich sie bremsen, 29
wenn ihre Finger auf Wanderschaft gehen. Unser Verhältnis ist etwas komplex. »Und sie wollen mehr«, fährt Zyna fort. »Erst machen sie mir Komplimente. Dass ich wundervolle Hände hätte. Dass sie noch nie auf diese Weise angefasst worden seien. Wo ich das gelernt hätte und so. Dann beginnen sie, mir Anweisungen zu geben, meine Finger zu dirigieren. Wenn du dich weigerst, legen sie es als Verklemmtheit aus. Die denken, dass sie sich im Urlaub alles erlauben können.« »Neigst du nicht etwas zur Verallgemeinerung?«, wende ich ein. »Ich meine, du wirst doch sicher nicht dauernd angemacht. Die Leute hier wirken nicht gerade so, als triefe ihnen die Sexsucht aus allen Poren.« »Hast du eine Ahnung davon, was mir die Zimmermädchen erzählen? Wie viele Typen nur darauf warten, auf ihrem Bett zufällig beim Wichsen erwischt zu werden? Manchmal verstecken sie sich im Badezimmer und kommen mit einer Latte raus, während die Mädchen gerade die Laken wechseln. Oder sie bleiben in der Wanne liegen, lassen ihr rotes Ding aus dem Wasser schauen und grinsen dämlich, wenn jemand reinkommt, um den Boden zu schrubben. Von den unappetitlichen Sachen mal abgesehen.« Sie hält sich symbolisch den Finger in den Mund. »Dann schmeiß doch den Job! Unser Internet-Angebot steht. Wir haben schon eine hübsche Sammlung beieinander. Und bald ist Zahltag. Miete dich in irgendeiner kleinen Pension ein, mach dir ein paar schöne Tage am See. Wenn es in ein paar Tagen so weit ist, hole ich dich ab.« Sie ersetzt das Handtuch, auf dem ich gelegen habe, durch ein frisches, stellt Flaschen und Flakons an ihren Platz. Dann säubert sie ihre Hände. Methodisch bereitet sie alles für die nächste Behandlung vor. Ich merke, wie es in ihr arbeitet. Nach einer Weile schaut sie mich von der Seite an. 30
»Bist du sicher? Dass du mich abholen wirst, meine ich.« Sie besprüht die Kuhle, auf der ich mein Kinn aufgestützt habe, mit Reinigungsmittel und wischt sie ab. Ein scharfer Geruch verbreitet sich in dem Raum, der im Stil einer römischen Kaisertherme gestaltet ist: Fresken, wohin man schaut, und so viel Bronzebeschläge, dass das Material für die Medaillen einer ganzen Olympiade reichen würde. »Oder wirst du mich einfach vergessen« – ein nachsichtiges Lächeln, als hätte sie schon seit längerem damit gerechnet –, »wenn du die Schecks abgeholt hast?« »Bist du verrückt? Wofür hältst du mich?« Ich schlüpfe in mein Jackett. Jetzt ist es also raus. Hab das schon kommen sehen. Zyna war von Anfang an misstrauisch. Zuerst wollte sie nicht glauben, dass die Masche mit den OnlineVersteigerungen funktioniert. Und dann hat sie mir bei allem auf die Finger geschaut. Würde mich nicht wundern, wenn sie sich jedes einzelne Möbelstück notiert hat und hin und wieder selber ins Netz geht, um die Gebote zu kontrollieren. »Du bist ein Betrüger«, sagt sie. »Langsam! Ich habe …« »Das meine ich gar nicht abwertend. Dafür, dass es dein erstes derartiges Geschäft ist, stellst du dich ganz vernünftig an.« »Nett von dir.« »Und genau deshalb trau ich dir nicht über den Weg.« Sie hebt die Hand, als ich etwas erwidern will. »Ganz egal, wie dick du mit meinem Vater gewesen bist. Bei mir zieht das nicht.« Allmählich wird mir das zu viel. »Ich glaube, du flippst hier unten langsam aus. Wenn ich das richtig sehe, habe ich dich ins Boot geholt. Hättest ja in Polen bleiben können, dann würde ich das jetzt alleine deichseln.« »Du hast mich um meine Hilfe gebeten.«
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»Als wir uns in Frankfurt getroffen haben, hast du gesagt, du brauchst Ablenkung, einen Tapetenwechsel. Und Geld.« »Braucht das nicht jeder?« Ich drehe die Augen zur Decke. »Was kann ich denn tun, damit du mir vertraust?« »Nichts. Deswegen bleibe ich besser, wo ich bin. Vielleicht lasse ich mir’s von einem der alten Säcke machen. Die sind sicher ganz glücklich, wenn ich ihre schlaffen Schwänze mal ein bisschen kräftiger anpacke.« »Okay«, gebe ich auf. »Hat keinen Zweck, mit dir zu reden, wenn du so drauf bist.« »Mein Vater hat dir vertraut. Und jetzt ist er tot.« »Dein Vater«, fange ich an und bin kurz davor, richtig laut zu werden. Mit etwas Überwindung schlucke ich meinen Frust runter. »Dein Vater«, fahre ich etwas ruhiger fort, »hat uns freiwillig geholfen. Das haben wir schon hundertmal durchdiskutiert, aber anscheinend geht das nicht in deinen verdammten Schädel.« »Du kannst eine Menge behaupten. Mein Vater hätte sich niemals in unnötige Gefahr begeben.« »Außerdem drehst du immer alles ins Gegenteil. Ich habe Gwizdek vertraut, wir alle haben ihm vertraut, nicht umgekehrt. Wenn er sich uns nicht angeschlossen hätte, stände ich jetzt nicht vor dir. Wahrscheinlich wären wir alle draufgegangen.« »Deine Tochter hat euch doch erst in die Scheiße reingeritten.« Sie dreht sich weg und tritt gegen eine Bauernkommode, toskanischer Landhausstil. Gefällt mir auch nicht besonders, steht aber derzeit bei fünfhundert Euro. »Warum war sie nur so bescheuert, zu diesem …, wie hieß er noch gleich, zu diesem Türkendealer ins Hotel zu gehen!« »Erdem«, ergänze ich bitter. Ich weiß, was jetzt kommt. Hab’s mir schon oft genug anhören müssen. 32
»Warum hat sie sich überhaupt mit dem eingelassen? Warum hat sie stattdessen nicht ihren Itaker-Freund in den Wind geschossen? Der muss ja noch dämlicher als sie gewesen sein. Killt Erdems Bruder. Was für ein Schwachkopf! So einer hat’s nicht besser verdient.« Ich habe ihr verschwiegen, dass Musti nicht von Tony, sondern von meiner Tochter umgebracht wurde. Zyna muss ja nicht alles wissen. Und Tony ist sowieso tot. Den juckt’s nicht mehr, ob man ihm einen Mord anhängt. »Keine Ahnung, was mein Vater an deiner kleinen Schnalle gefunden hat. Von so was lässt man doch die Finger, wenn man nicht …« »Das reicht«, unterbreche ich sie. »Ich hab noch gar nicht angefangen.« »Wir sehen uns morgen um zwölf auf meinem Zimmer. Wenn du denkst, dass ich über Nacht verschwinde, kannst du ja vor meiner Tür schlafen.« »Ha-ha. Falls du abhaust, bin ich die Erste, die eine Mail an dieses Auktionshaus schickt. Und an die Bullen gleich mit, darauf kannst du dich verlassen.« Ich zucke mit den Schultern und öffne die Tür. »Was soll mit so einer Partnerin noch schief gehen?« »Noch eine blöde Bemerkung, und ich schlafe bei dir. Dann kriegst du eine Massage, die du so schnell nicht vergisst.« Ich weiß, dass sie das ernst meint. Aber ich hab noch meine sieben Zwetschgen beisammen. Außerdem ist sie gerade mal zwanzig, drei Jahre älter als Phil. »Wem willst du damit drohen? Mir oder dem Geist von Erdem? Der kommt nämlich jede Nacht und besorgt’s mir mit ’nem Holzpflock.« Ich mache ein Buuh-Geräusch wie in einem alten Gruselfilm.
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Sie kichert und stößt mich spielerisch weg. Ich drehe mich von ihr weg und verlasse den Massageraum. »Wenn man mit dir keine Witze reißen könnte, wär’s nur halb so schön«, sagt sie zu meinem Rücken. Ich drehe mich wieder zu ihr um. »Ich mache keine Witze. Der Geist von Erdem hat wundervolle Hände. Auf diese Weise hat mich noch niemand angefasst.« »Ty chuju!« Sie knallt die Tür hinter mir zu.
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icht auszudenken, wenn ich ihr von meiner Begegnung auf dem Flur erzählt hätte. Zyna wäre imstande, uns in letzter Sekunde auffliegen zu lassen. Wenn sich Phil auch in diese Richtung entwickelt, gebe ich meine Vaterrolle meistbietend ab. Wie kommt sie nur auf den Gedanken, die Einzige zu sein, die nervös ist? Also: Was soll ich mit diesem Savvidis anfangen? Im Prinzip könnte er mir gestohlen bleiben. Andererseits schadet es nicht, sich mit einem potenziellen Kunden zu unterhalten. Vielleicht lassen sich die Texte, mit denen ich die einzelnen Möbelstücke anpreise, noch etwas aufpolieren. Es gibt immer etwas, das sich besser machen lässt. Ist nur eine Frage der Disziplin und des eigenen Anspruchs. Wenn ich jemanden schon bescheiße, denke ich mir, dann korrekt. Man darf an sich selbst nur die höchsten Ansprüche stellen. Ich möchte mir nicht nachsagen lassen, dass ich schlampig arbeiten würde. Ein wenig Respekt muss das Ganze den Leuten schon abnötigen, wenn’s unter »Vermischtes« in der Zeitung steht. Sonst fange ich aus lauter Verzweiflung wieder ernsthaft zu arbeiten an. Ich fahre mit dem Aufzug ins Erdgeschoss hoch und begebe mich auf Teppichen, die so dick sind wie das Matratzenlager der Prinzessin auf der Erbse, zur Veranda. Am Abend herrscht hier Anzug- und Krawattenzwang. Eine etwas verzweifelte Vorschrift, stilbeflissen, aber nicht besonders effektiv, falls ihr Zweck darin besteht, Typen wie mich von diesem exklusiven und überaus lukrativen Ort fern zu halten. Aber Effektivität ist ja eher eine Idee, der man nördlich der Alpen anhängt. Auf die Dauer wird man darüber melancholisch. In Italien geht es dagegen mehr um den Anschein von Effektivität. Deswegen steht hier auch die Mode so hoch im Kurs. 35
Normalerweise sitze ich direkt an der Fensterfront. Da es in Strömen regnet, sind die versenkbaren Scheiben jedoch geschlossen. Es ist, als hätte jemand eine schmutzige Bauplane über den See gebreitet. Als ich am Frühstücksbuffet vorbeigehe, angele ich mir von einer der Platten ein hart gekochtes Kibitzei. Darauf sind sie hier mächtig stolz, und mit dem Naturschutz nehmen sie’s nicht so genau. Ich werfe das Ei in hohem Bogen in die Luft und fange es mit dem Mund auf. Es klappt. Nicht zum ersten Mal, wenn ich das hinzufügen darf. Einer der Kellner begrüßt mich, während die anderen missbilligend wegschauen. Er heißt Gilberto. Alle Namen des hiesigen Personals fangen mit G an. Muss zur Corporate Identity des Delle Alpi gehören. Manchmal glaube ich, dass unter diesen Mauern der geheime Plan des Universums verborgen liegt. Meine Augen suchen Savvidis. Nach einer Weile entdecke ich ihn. Er sitzt ziemlich abseits mitten in der Botanik, Frischluftfanatiker oder einfach nur eigenbrötlerisch. Während ich mich in Bewegung setze, erkennt er mich und hebt kurz die Hand. Gilberto hat verstanden und schwebt mir mit einem Tablett hinterher. Als ich Platz nehme, stellt er ein zweites Gedeck auf den Tisch. Ich nicke ihm zu. Er verschwindet und verschmilzt dabei mit dem Hintergrund. Ein junger Kerl mit alter Schule. »Wie war Ihre Massage?« Savvidis tippt etwas in ein Handheld und klappt das Etui zu. Er scheint fest davon überzeugt gewesen zu sein, dass ich komme. »Belebend«, antworte ich. »Genau das Richtige, um in den Tag zu starten.« »Sind Sie zur Erholung hier?« »Sieht man das nicht?«, wundere ich mich. »Die Leute fahren aus den unterschiedlichsten Gründen hierher.« Er nimmt einen Schluck von seinem … Grüntee, wenn 36
ich das richtig sehe. »Es könnte ja sein, dass Sie geschäftlich unterwegs sind.« Er schaut mich forschend an, wartet ab. Ich habe das Gefühl, dass er seine Fragen mit einer gewissen Routine stellt. Na ja, denke ich, schließlich möchte er einen Rat von mir. Ich beschließe, darauf einzugehen. »Für welche Antiquität interessieren Sie sich denn?« Er lächelt, weist auf eine Anrichte mit Vitrinenaufsatz, die vor einem Bogenpfeiler steht. Ich habe sie als Chippendale eingestuft. Es ist ein etwas ungewöhnliches Stück. Das Glas hat einen Dekorschliff. Ein Sinnspruch rankt sich um ein bekränztes Dichterhaupt: »Vita vigilia est« – das Leben ist … keine Ahnung. Latein gehört nicht unbedingt zu meinen Kernkompetenzen. Das derzeitige Gebot für die Anrichte steht ungefähr bei zweitausend Euro. Aber da mehrere Bieter eingestiegen sind, wird sich der Preis sicher noch hochschaukeln. Das Befriedigende an Internet-Auktionen sind die Augenblicke, wenn man merkt, dass gleich mehrere Typen angebissen haben. Man kann dabei zusehen, wie sie zu zocken beginnen, um sich gegenseitig auszustechen. Manche machen es auf die spießige Tour, erhöhen immer nur um fünf oder zehn Euro. Die Berufsmäßigen legen dagegen gleich einen ordentlichen Batzen drauf, das schreckt die Anfänger ab. In den Stoßzeiten geht das im Minutentakt. Ich könnte stundenlang verfolgen, wie die sich gegenseitig das Geld aus der Tasche ziehen. Denn im Grunde bin es ja nicht ich, der sie übers Ohr haut. Die machen das ganz von allein. »Chippendale, oder nicht?«, schlage ich vor. »Zumindest vom Stil her.« »Das würde ich auch sagen«, erwidert er. »Dieser Sinnspruch …« Ich deute auf den Vitrinenaufsatz. »Das sieht man nicht alle Tage.«
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»Der eingeschliffene Schriftzug könnte nachträglich angebracht worden sein, wahrscheinlich im 19. Jahrhundert. Ein Zitat von Plinius dem Älteren. Wussten Sie, dass Plinius in Como geboren wurde?« Nein, Mister Hochkultur. Aber ich werde es sofort in die entsprechende Produktbeschreibung einfügen, wenn ich wieder auf meinem Zimmer bin. Das sind so Geschichten, von denen ich sprach. Bringt ein paar hundert Euro, wenn nicht mehr. »Und Sie wollen eine ähnliche Anrichte kaufen?«, frage ich. »Aufgrund des Schriftzuges gehe ich davon aus, dass es ein Einzelstück ist.« Er macht eine Pause, nimmt sich sein Handheld wieder vor und klickt mit einem Plastikgriffel darauf herum. »Ich möchte genau dieses Stück erwerben«, sagt er ohne aufzusehen. »Wie es da steht.« »Meinen Sie, es ist zu verkaufen? Das hat das Hotel doch nicht nötig.« »Hab’s im Internet entdeckt.« »Wirklich?«, frage ich ungläubig. »Mit einem überraschend guten Bild. Darauf kann man sogar den Schriftzug erkennen. Kein Zweifel: Diese Anrichte steht gerade zur Auktion. Es gibt sogar schon einige Gebote.« Zwei Klicks auf dem Handheld. Der Kerl macht mich damit noch wahnsinnig. »Derzeit steht sie bei 2280 Euro. Morgen erhält der Meistbietende den Zuschlag.« Moment mal, das geht mir alles ein bisschen zu schnell. Savvidis war auf einer meiner Auktionsseiten? Ich versuche, überrascht zu klingen, obwohl mir das ganz und gar nicht gefällt. »Merkwürdig. Ich wusste gar nicht, dass man im Internet Antiquitäten ersteigern kann.« Sein Mundwinkel zuckt. »Ich habe mich sofort beim Hotelmanagement erkundigt. Diskret, versteht sich.« 38
»Und was haben Ihre … Recherchen ergeben?« »Der Geschäftsführer beteuert, dass alle Einrichtungsgegenstände unverkäuflich seien.« »Vielleicht gibt es noch ein ähnliches Exemplar?«, versuche ich es und spüre, wie mir das Blut aus dem Gehirn weicht. Es scheint irgendwohin abzufließen, wo es weniger dringend gebraucht wird. »Ausgeschlossen. Diese Anrichte gehörte zum Besitz der Prinzessin Karoline von Braunschweig. Wie Sie vielleicht wissen, war das die später in Ungnade gefallene Gemahlin von George dem Vierten. Sie hat die Villa delle Alpi von einem italienischen Baron gekauft und das Möbel beim Einzug mitgebracht. Wahrscheinlich hat es ein Glasschleifer aus dem Ort umgearbeitet. Ein ähnliches Stück existiert nicht.« »Und was heißt das?«, frage ich. »Dass es die Internet-Anrichte nicht gibt.« »Warum wird sie dann …« »Oder dass sie demjenigen, der sie zum Verkauf anbietet, nicht gehört.« Ich schlucke meine Frage hinunter. Schöne Bescherung. Anscheinend hat sich da jemand ganz schlau gemacht. »Was werden Sie jetzt tun?« »Ich könnte den Sicherheitsdienst des Auktionshauses verständigen. Die würden die Versteigerung sofort stoppen. Und nicht nur diese Versteigerung. Der Verkäufer hat noch mehr laufen, wie ich in Erfahrung gebracht habe.« »Ein Betrüger?« »Würde mich nicht wundern, wenn die anderen Auktionen auch getürkt sind.« Erst mal dumm stellen, das ist immer gut. »Kann man den Verkäufer denn zurückverfolgen?« »Er tritt natürlich nur unter einem Internet-Alias auf.« 39
»Das heißt, es könnte jeder sein.« »Das Auktionshaus darf seinen Namen und die Adresse aufgrund des Datenschutzes nicht weitergeben, nicht einmal an die Polizei oder die Staatsanwaltschaft. Aber bei einem begründeten Verdacht gibt es Mittel und Wege, es dennoch herauszufinden.« So schnell brechen Träume zusammen. Vor diesem Frühstücksplausch habe ich noch zwei bis drei sorgenfreie Jahre vor mir gesehen, wie das Buffet, das sie weiter vorne aufgebaut haben mit so vielen voll beladenen Schüsseln, Platten und Etageren, dass ein Zwergstaat davon satt würde. Und jetzt kann ich mir nicht mal mehr ein Panino leisten. »Dann werden Sie den Betrug also aufdecken?«, frage ich lahm. »Die Frage ist, was Sie tun.« Er bietet mir eine Zigarette an. Hervorragender Augenblick, wieder mit dem Rauchen anzufangen. Ich nehme mir eine. Sorgfältig zündet er sie an, hält das Feuerzeug einen Tick zu lange an die Spitze, so dass eine kleine Flamme hochschlägt. Ich puste sie aus und nehme einen tiefen Zug. Jetzt weiß ich wieder, was mir in den letzten Wochen gefehlt hat. Als sich Gilberto heranschleicht und mir meinen Kaffee und ein Omelett hinstellen will, bitte ich ihn um einen Grappa. Er nimmt die Bestellung ohne mit der Wimper zu zucken entgegen. Die Gäste im Delle Alpi haben in der Mehrheit azyklische Trinkgewohnheiten. Bringt das viele Geld und die Langeweile mit sich, vielleicht auch der eine oder andere Börsencrash. Savvidis weiß Bescheid, das ist schon mal klar. Aber aus irgendeinem Grund lässt er mich zappeln. Ich versuche, in seinem Gesicht so etwas wie Schadenfreude zu erkennen. Aber er zeigt keine Reaktion, fixiert einen Punkt über meiner Schulter, als unterhielten wir uns über das miese Wetter. Was will er? Einen Anteil? 40
»Um ehrlich zu sein: Die Sache ist gut eingefädelt«, fährt er fort. »Der Verkäufer bietet seine Ware auf dem deutschen Markt an. Dort ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass jemand die genaue Herkunft der Möbel kennt. Außerdem sind die Stücke zu unspektakulär, als dass sich jemand die Mühe machen würde, eingehender nachzuforschen. Ins Delle Alpi haben nur Hotelgäste Zutritt, einen offiziellen Katalog der Einrichtungsgegenstände gibt es nicht. Kaum vorstellbar, dass ihm jemand in der Kürze der Zeit auf die Schliche kommt.« Jetzt zündet er sich selber eine Zigarette an. Im Gegensatz zu dem Grüntee, der wohl nur der Gewissensberuhigung dient, nicht gerade gesund. Der Kellner stellt ein Glas Grappa vor mir ab. Savvidis bestellt auch einen. »Es sei denn, er steht bereits unter Beobachtung«, setzt er hinzu. »Wegen einer anderen Sache.« Ich kippe den Schnaps runter. Auf nüchternen Magen bin ich das Zeug nicht mehr gewohnt. Ich muss husten, ziehe schnell an der Kippe, damit sich’s wenigstens lohnt, stoße den Rauch aus wie ein lästiges Gift. »Sie meinen, dieser … Verkäufer wird wegen anderer Vergehen gesucht?« »Davon bin ich überzeugt.« Stille. Was soll ich jetzt sagen? Ich sehe dem Regen zu, wie er die Sicht verwischt und jeden Blick auslöscht, der ihn zu durchdringen versucht. Manchmal kommt’s mich etwas lyrisch an, da kann ich nichts machen. Muss daran liegen, dass mir gerade zum Heulen zumute ist. »Ich hätte nicht gedacht, dass es Ihnen gelingt, Samir zu erschießen«, fährt er fort, betont jedes Wort. »Schließlich haben Sie keine Erfahrung darin, Menschen umzubringen. Oder?« Er hat sich mir nicht direkt zugewandt. Das braucht er auch nicht. Anscheinend hat er sich schon seit längerem auf dieses Spielchen vorbereitet, um es Schritt für Schritt durchzuziehen, mich allmählich einzukreisen, bis er mich in einer Ecke stehen 41
hat, wo mir keine Zugmöglichkeit mehr bleibt. Ich sehe mich um, suche nach Uniformierten, die mich auf einen Wink von Savvidis abführen. Aber ich kann nirgendwo einen entdecken. Die Bootshalle in Livorno. Samir war einer von Erdems Leuten. Einer von seinen Besten, wenn ihn Gwizdek nicht am Arm verletzt hätte. Das hat mir einen zeitlichen Vorsprung verschafft, genug, um ihm die erste Kugel zu verpassen. Es hat ihn etwas gebremst, bevor ich ihn richtig getroffen habe, mitten ins Herz, damit er Phil und mir keine Schwierigkeiten mehr macht, damit uns überhaupt niemand mehr Schwierigkeiten macht. Samir war der erste Mensch, den ich getötet habe. Und der einzige. Manchmal sehe ich ihn immer noch auf mich zulaufen. »Das war Notwehr«, entgegne ich reflexartig. »Natürlich war es das.« Savvidis bleibt ganz sachlich. »Trotzdem ist es ein Tötungsdelikt. Meinen Sie, dass man es Ihnen vor Gericht hoch anrechnen wird, wenn ihr Fall zur Verhandlung kommt? Ihre Fälle, um genau zu sein.« Er zieht wieder sein verfluchtes Handheld zu Rate. Ich weiß schon, warum ich diese Dinger hasse, komm ja nicht mal mit einem Terminkalender klar. »Da hat sich ja einiges angesammelt«, fährt er fort. »Drogenhandel, illegaler Waffenbesitz, Beseitigung von Beweismaterial. Und das ist wahrscheinlich noch lange nicht alles.« Bullensprache. Hätte ich mir denken können. Wenn ich ein wenig fixer im Kopf wäre, hätte ich Zyna in meinen Jag gepackt und auf der Stelle die Biege gemacht. Diese Fragen, die mir Savvidis oben auf dem Gang gestellt hat. Warum bin ich nicht meinen Instinkten gefolgt? Die haben mehr Menschenkenntnis als der kleine Betrüger im Designer-Anzug, der sich geschmeichelt fühlt, wenn ihm jemand einigermaßen freundlich kommt. 42
Gilberto bringt den zweiten Grappa. Er stellt das Glas vor Savvidis ab. »Aber das ist momentan alles zweitrangig«, sagt er, wartet, bis der Kellner wieder verschwunden ist, und holt Luft. »Erdem. Hat. Überlebt.« Er lässt die Worte fallen wie schwere klobige Gegenstände, Rohrzange, Vorschlaghammer, Amboss. Dann schiebt er mir das Grappaglas hin. »Bedienen Sie sich.« Überlebt? Mit so was spaßt man nicht. Mein Kreislauf macht mir zu schaffen. Langsam frage ich mich, ob da noch Boden unter meinen Füßen ist. Savvidis zieht ihn mir Stück für Stück weg. Und drunter kann ich nichts erkennen außer einer zähflüssigen Schwärze, deren Anblick mich schwindlig macht und die mich glauben lässt, dass hier gleich alles zusammenbricht und durch einen riesigen Ausguss weggurgelt. Ich haue mir den Schnaps rein, halte mich dabei an der Tischkante fest. Savvidis kann mir viel erzählen. Gehört vielleicht zu einer Art Einschüchterungsstrategie, mit der er mich drankriegen will. Warum quatscht er so viel und legt mir nicht gleich Handschellen an? Braucht er ein Geständnis von mir, weil ihm die Beweise fehlen? »Was reden Sie da?«, frage ich. »Woher wollen Sie das überhaupt alles wissen?« »Ich nehme an, dass er sich an Ihnen rächen will. An Ihnen und den beiden Frauen. Und er hat sich mit Ferro zusammengetan. Kurz nach ihrem … Missgeschick, wie Sie sich ausdrückten. Das macht ihn noch gefährlicher.« Phil. Lidia. Die beiden würden natürlich ganz oben auf Erdems schwarzer Liste stehen. Aber warum sollten Erdem und Ferro gemeinsame Sache machen? Das klingt ziemlich aus der Luft gegriffen. Wie soll das denn zustande gekommen sein, ein Drogendealer und ein Industrieller? Andererseits hat bisher alles gestimmt, was Savvidis gesagt hat. Er scheint bis ins Kleinste 43
informiert zu sein. Und wenn er richtig liegt, muss ich Phil und Lidia sofort benachrichtigen. Erdem könnte sich schon auf ihre Spur gesetzt haben. Mühsam versuche ich, mich zu beherrschen. »Wer sind Sie?« Er lehnt sich zurück. »Ich bin derjenige, der Erdem vor Gericht stellen wird. Mit Ihrer Hilfe.«
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as hat sie getan?« Ich fasse den Telefonhörer fester, weil ich nicht glauben kann, was die Leiterin der Academie Sainte Claire mir gerade schonend beizubringen versucht. »Dazu hätte sie meine Einwilligung gebraucht!« »Wir konnten Sie nirgends erreichen«, wehrt sich die Frau. Sie klingt verunsichert. »Philomena sagte mir, dass es sich um einen familiären Notfall handelt. Ich hatte keinen Grund, daran zu zweifeln. Ihre Tochter hat den Kurs bislang mit Bravour durchlaufen. Sie ist eine selbstständige junge Frau. Im Vergleich zu ihren Mitschülerinnen wirkt sie viel erwachsener. Ich dachte, alles hätte seine Ordnung.« »Aber Sie konnten sie doch nicht einfach so gehen lassen. Das ist …«, ich suche nach den passenden englischen Ausdrücken, »Vernachlässigung der Aufsichtspflicht, oder wie das bei Ihnen heißt.« »Das Sainte Claire ist keine Strafanstalt für Schwererziehbare«, erwidert sie eisig. »Unsere Schüler handeln in Eigenverantwortung. Das steht übrigens auch in dem Vertrag, den Sie uns unterschrieben zugeschickt haben. Etwas ungewöhnlich, wenn ich das anmerken darf. Normalerweise kenne ich die Eltern aller Schüler persönlich, weil sie sich bei der Immatrikulation ihrer Kinder vorstellen. Bei Philomena habe ich eine Ausnahme gemacht.« Ich übergehe diese Spitze, mit der sie nicht mal Unrecht hat. Als Phil den Sommerkurs antrat, musste ich mir Gedanken darüber machen, wie ich Ferro am saubersten um die Ecke bringe. Ich meine, was sollte schon schief gehen bei einer Einschulung – im Gegensatz zur Anmeldung, die mich den letzten Nerv gekostet hat, weil es endlos lange dauerte, bis Phil 45
und ich die Formulare ausgefüllt und alle Papiere beieinander hatten. »Und sie sagte, dass sie nach Frankfurt fliegen würde?«, versuche ich es weiter. »Zu Ihnen, ja. Zu der Adresse, die Sie angegeben haben. Aus Ihrem Verhalten schließe ich, dass sie nicht dort angekommen ist.« »Ich halte mich gerade in Italien auf. Geschäftlich.« Ich räuspere mich. »Aber Phil hat die Nummer des Hotels, von dem aus ich gerade mit Ihnen spreche. Außerdem hat sie meine Mobilnummer. Wenn sie in Europa angekommen ist, müsste sie mich eigentlich problemlos erreichen.« Am anderen Ende der Leitung ist es für ein paar Sekunden still. Dann: »Ich verstehe, dass Sie sich Sorgen machen. Das tue ich auch, da können Sie sicher sein. Aber ich kann Ihnen nichts anderes sagen, als dass Philomena die Akademie vor drei Tagen verlassen hat. Einer unserer Fahrer hat sie zum Flughafen in Detroit gebracht. Wahrscheinlich sitzt sie zu Hause und wartet auf Sie. Haben Sie daran schon einmal gedacht?« Die Vorwürfe, die in ihrer Stimme mitschwingen, sind so deutlich zu hören wie mein beschleunigter Herzschlag. Allmählich verwandelt sich die Fassungslosigkeit, in die mich das Gespräch mit Savvidis gestürzt hat, in blanke Angst. Phil hat den Sommerkurs abgebrochen, der auf das Schuljahr in Sainte Claire vorbereiten soll. Das ist eine internationale Privatschule in Kanada, direkt an der Grenze zu den USA. Weit genug weg, möchte man meinen, aber nur solange sie nicht auf den Gedanken kommt, hier aufzukreuzen. Denn Erdem ist am Leben. Seine Leute haben ihn aus dem Polizeikrankenhaus von Pisa befreit, nachdem die Ärzte ihn dort zusammengeflickt hatten und er aus dem Gröbsten raus war. Inzwischen dürfte er wieder im Vollbesitz seiner Kräfte sein. Savvidis hat vor ein paar Tagen erfahren, dass er sich in Italien aufhält. Zumindest 46
hat er mir das erzählt. »Sind Sie noch dran?«, fragt die Schulleiterin. »Ja, natürlich.« Ich kriege einen Hustenanfall. Die Zigaretten, die mir Savvidis spendiert hat. »Probieren Sie es weiterhin auf ihrem Mobiltelefon«, fährt sie fort. »Vielleicht ist alles bloß ein Missverständnis. Mehr kann ich im Moment nicht für Sie tun.« Ich bedanke mich und lege auf. Stumm sitze ich in meinem Zimmer. Auf dem Couchtisch eine Kanne Kaffee, mein Laptop und eine aufgeschlagene Zeitung. Savvidis hat sie mir mitgegeben, als er alles losgeworden war, was er mir verklickern wollte. In der aktuellen »Provincia« -Ausgabe wird für heute Nachmittag eine Kundgebung in Como angekündigt. Claudio Ferro wird dort eine Rede halten. Das ist der letzte Hammer, den ich von Savvidis, Zielfahnder des Landeskriminalamtes Hessen, Abteilung Drogen, erfahren habe. Ferro, von dem ich bisher nur wusste, dass er ein einflussreicher, vermögender Unternehmer ist, steht im Verdacht, einer der Drahtzieher der seit kurzem verbotenen Fronte Nazionale zu sein. Das ist eine Gruppe rechtsradikaler Terroristen, die seit den achtziger Jahren eine Serie blutiger Anschläge begangen haben. Natürlich kann man Ferro nichts nachweisen, weil er sich aus den richtig üblen Geschichten immer fein rausgehalten hat. Aber seit die politische Rechte in Italien wieder Oberwasser hat, tritt er regelmäßig in der Öffentlichkeit auf, um Stimmung für seinen neuen Verein zu machen. Der unterscheidet sich zwar kaum von dem alten, ist aber legal. Wenn eine dieser Ultra-Gruppierungen verboten wird, gründen Leute wie Ferro kurzerhand eine neue, das ist eine Art Naturgesetz. Allerdings frage ich mich, was er damit bezweckt. Inzwischen ist die ganze italienische Regierung ja ziemlich rechts, Forza Italia, Alleanza Nazionale, Lega Nord. Gibt es da überhaupt 47
noch Bedarf für eine rechte Protestbewegung? Savvidis erklärt es sich so, dass Ferro bei dem Poker um die Macht den Kürzeren gezogen hat. Sonst wäre einer wie er längst Minister oder zumindest Staatssekretär. Anscheinend wurde er wegen seiner terroristischen Vergangenheit ausgebootet. Deshalb kocht er jetzt sein eigenes Süppchen und macht allen, die gegen ihn sind, das Leben schwer, um irgendwann doch an die Fleischtöpfe zu kommen. Aber Savvidis hat mit Politik eigentlich gar nichts am Hut. Er ist an Erdem interessiert, observiert ihn bereits seit einer halben Ewigkeit, wie lange genau, hat er mir nicht gesagt. Als Phil und ich mit Erdem aneinander geraten sind, ist Savvidis ihm nach Italien gefolgt. Er hat alles beobachtet, von der ersten Schießerei auf dem Friedhof bei Pisa bis zu dem Blutbad im Hafen von Livorno. Wie er das angestellt hat, ist mir ein Rätsel. Angeblich hielt er sich im Hintergrund, weil er ganz allein war und die italienischen Behörden nicht ins Vertrauen ziehen wollte. Als er sich doch dazu durchrang, flogen mir in der Bootshalle schon die Holzsplitter um die Ohren. Er konnte nicht mehr rechtzeitig eingreifen, und dann trafen auch schon die Carabinieri ein, während Phil, Lidia und ich uns durchs Hafenbecken davonmachten. Daraufhin nahm er Kontakt zu den örtlichen Behörden auf. Die Italiener ließen ihn aber nur kalt abtropfen. Von wegen internationale Zusammenarbeit – von Savvidis ließen die sich gar nichts sagen. Deshalb konnte er auch nicht verhindern, dass Erdem aus dem Krankentrakt des Gefängnisses befreit wurde, trotz seiner wiederholten Warnungen. Nach dem Ausbruch verlor sich Erdems Spur. Savvidis kehrte nach Deutschland zurück und widmete sich einem anderen Fall. Über zu wenig Arbeit kann er sich in seinem Gewerbe wohl kaum beklagen. Vor ein paar Wochen bekam er dann von einem V-Mann des Verfassungsschutzes einen Tipp. Der Anschlag, den Erdem und seine Männer auf das No-Global-Büro in 48
Livorno verübten und dessen unfreiwilliger Zeuge ich wurde, war für Ferro eine Art Bewerbungsschreiben. Er streckte seine Fühler aus und machte Erdem ein Angebot, für ihn zu arbeiten. Was Erdem genau für Ferro macht, weiß Savvidis noch nicht. Jedenfalls flog er wieder nach Italien, klemmte sich hinter Ferro und kam gerade rechtzeitig, um mitanzusehen, wie ich mein Attentat in den Sand gesetzt habe. Diesmal wurde ihm ein Partner zugeteilt, ein Drogenbulle, der eine Zeit lang undercover ermittelt hat. Die beiden trennten sich. Savvidis folgte mir an den Comer See, während sein Kumpel Baturay an Ferro dranblieb. Bislang ohne Erfolg. Erdem zeigt sich nicht, hält den Kopf aus der Schusslinie. Niemand weiß, wo er ist. Außer Ferro, wie Savvidis annimmt. Von der italienischen Polizei ist keine Hilfe zu erwarten. Zum einen, weil die sich nicht an Ferro rantrauen, zum anderen, weil ihnen Erdem piepegal ist. Deshalb operieren Savvidis und Baturay auf eigene Rechnung. Und weil sie keinen Schritt weiterkamen, hatte Savvidis den Einfall, mich ein wenig unter Druck zu setzen. Zu erpressen, denn was anderes ist es ja nicht. Der Deal lautet wie folgt: Wenn ich ihm helfe, Erdem zu schnappen, lässt er alles fallen, was er gegen mich in der Hand hat. Das kann zwar nicht viel sein, denke ich mir, aber allein die Geschichte mit dem Shit könnte mir ein paar Jahre einbringen. Alles vorausgesetzt, dass ich die Schecks, die demnächst in meinem Postfach eintrudeln, nicht einlösen werde. Dann gibt es keine Geschädigten, und der Betrug hat quasi nicht stattgefunden. Das Vertrackte an der Sache ist, dass ich nicht weiß, wie viel Savvidis weiß. Wie tief er mich reinreiten kann. Ob ich ihm trauen kann. Ich hab ja nicht mal eine Ahnung, wie er auf meinen InternetSchwindel gekommen ist. Na ja, wenn er mich beobachtet hat, hat er sicher auch mitbekommen, wie ich herumgelaufen bin und das halbe Hotel fotografiert habe. Einem einigermaßen 49
guten Bullen sollte das zu denken geben. Ich ziehe mein Jackett aus, weil es mir zu warm wird, und versuche es zum zigsten Mal auf Phils Handy. Wieder geht nur die Mailbox ran, auf der ich schon mehrere Nachrichten hinterlassen habe. Was hat sie vor? Warum meldet sie sich nicht? Sie weiß doch, wo ich mich aufhalte. Wenn sie mich unter meiner neuen Handynummer nicht erreicht, könnte sie ja im Hotel anrufen. Als ich mich im Delle Alpi eingemietet habe, führten wir ein längeres Telefongespräch. Sie machte einen gefestigten Eindruck. Der Ortswechsel schien ihr gut zu tun. Nach allem, was passiert ist, war ich froh, dass sie wieder ein Ziel vor Augen hatte. Anfangs, direkt nach dem Tod ihres Freundes Tony in Livorno, wollte sie alles hinschmeißen. Von mir wollte sie nichts mehr wissen, weil ich mir den Bodybag mit dem Shit doch noch unter den Nagel gerissen hatte. Die Schule konnte ihr gestohlen bleiben, nachdem sie jede Menge Mord und Totschlag und einen Selbstmordversuch hinter sich hatte. Und von Tonys Sippe, die so etwas wie eine Ersatzfamilie für sie geworden war, kamen nur Vorwürfe und Beleidigungen. Trotzdem gelang es ihr, sich da irgendwie herauszuziehen, ihr Leben neu vor sich aufzuschlagen wie einen angefangenen Skizzenblock und zu überlegen, wo die nächste Linie anzusetzen sei. Ich glaube, wenn sie Erdem in der Bootshalle nicht aus eigenem Antrieb verschont hätte, wäre sie dazu nicht in der Lage gewesen. Sie hätte ihn umgebracht und so weitergemacht, auf die eine oder andere Weise. Menschen lassen sich auf viele Arten beseitigen. Man muss ihnen nicht immer mitten ins Gesicht schießen. Vielleicht hat ihr auch Lidia dabei geholfen, den Blick nach vorne zu richten, dorthin, wo die Möglichkeiten liegen und sich jede Bestimmtheit verflüchtigt. Lidia, die Event-Managerin für Modenschauen gewesen war und jetzt Protestaktionen von Attac organisiert. Sie hat sich für ein paar Monate um Phil gekümmert, sie teilhaben lassen an ihrem eigenen Relaunch. 50
Phil und ich verdanken ihr unser Leben. Sie hat Erdem aufgehalten, seinem Rachefeldzug ein Ende bereitet. Zumindest habe ich das bis vor kurzem angenommen. Von Lidia habe ich nur die Nummer der deutschen AttacZentrale. Der Mitarbeiter, der sich bereits nach dem ersten Freizeichen meldet, ist nicht unfreundlich, aber kurz angebunden. Ich erfahre von ihm, dass Lidia gerade an einem Anti-Globo-Kongress in Mailand teilnimmt. Ihre Mobilnummer dürfe er nicht herausgeben. Ich versuche, ihn umzustimmen, spreche von einem Trauerfall, doch er bleibt hart. Wahrscheinlich hat Attac in dieser Beziehung feste Regeln. Ich beschließe, es gegen Abend noch einmal zu probieren und mir eine Geschichte auszudenken. Zu diesem Zweck schaue ich mir die Website von Attac an und schlage die nächsten Veranstaltungen nach. In ein paar Wochen steigt ein Aktionstag in Köln. Ich studiere das Programm, klicke die Rubrik »Rahmenveranstaltungen« an und werde fündig. Bei meinem nächsten Anruf werde ich mich als Agent einer Band ausgeben, der noch Rückfragen wegen des geplanten Auftritts an der Deutzer Werft hat. Dann müssen sie die Nummer rausrücken. Verdammt, auch Lidia hätte sich bei mir melden können. Was soll das? Ich hasse es, wenn sich die Leute taub stellen und so tun, als seien sie unerreichbar. Dann fühle ich mich ausgeschlossen. Was vermutlich Sinn der Sache ist. Ich überlege kurz, ob ich nach Mailand fahren soll. Wenn Erdem weiß, wo Lidia sich aufhält – und das hätte er auf die gleiche Weise erfahren können wie ich –, kommt es auf jeden Tag an. Andererseits ist er vielleicht so mit seinem Job für Ferro beschäftigt, dass für seine Privatangelegenheiten keine Zeit bleibt. Es sei denn, Privates und Job überschneiden sich. Ich beschließe, es in ein paar Stunden noch einmal bei Attac zu probieren. Wenn ich Lidia nicht erreiche, versuche ich, sie in Mailand ausfindig zu machen. Wird ja nicht so schwer sein. 51
Als es an der Tür klopft, zucke ich zusammen. Kaum weiß ich, dass Erdem wieder unter den Lebenden weilt, werde ich schreckhaft. Wenn die Angst neben einem steht, fällt die Coolness ab wie ein verschwitzter Bademantel. Ich spüre seinen Schatten auf mich fallen. Das klingt jetzt ein wenig übertrieben, aber in dieser Beziehung habe ich einfach zu viel einstecken müssen. Sag mir, ob ich dich töten muss. So was vergisst man nicht. Das war, als Erdem mich verhört hat, um Mustis Mörder zu finden, zusammen mit Samir. Ich kann’s immer noch nicht fassen, dass ich Samir mit der Beretta erwischt habe. Vielleicht war er Erdems Cousin oder sein bester Freund. So oder so, mit mir hat Erdem auch noch eine Rechnung offen. Auch wenn ich auf seiner Liquidierungs-Top-Ten nicht ganz so weit oben stehe wie Lidia und Phil. An der Stelle, wo Ferros Stirn war, klafft ein kantiges Loch. Die Leibwächter schieben sich vor ihn, zielen gleichzeitig auf den Wagen. Ein Hagel aus Glassplittern, Plastikteilen, Stofffetzen und Schaumstoffflocken. Damit habe ich gerechnet. Ich mache mich klein, warte auf den entscheidenden Augenblick. Gleiche Höhe. Sie zielen ungenau, haben sich nicht richtig postiert. Ferros Kamelhaarmantel zwischen schwarzen Hemden und schwarzen Lederjacketts. Ich jage raus, was das Magazin hergibt, dann gebe ich Vollgas. Im Rückspiegel ein weißer Graupelschauer. Die Heckscheibe fällt wie ein Schleier. Klare Sicht auf Körper, die sich über den Asphalt schleppen. Ferros Schäferhund ist außer Rand und Band. Etwas sinkt zu Boden, bleibt liegen. Ich schaue nach vorne. Der Wagen legt sich in die Kurve, bricht hinten aus. Ich lenke gegen, schramme an einem Müllcontainer entlang, richte das Steuer mit einem Schlenker neu aus. Vor mir eine gerade Strecke. Ich setze meine Gucci wieder auf, lehne mich im Sitz zurück. Na bitte. So hätte es doch auch laufen können, oder? Es ist Zyna. Sie geht zielstrebig zur Minibar, die in einem chinesischen Intarsienschränkchen untergebracht ist, und nimmt 52
sich ein Fläschchen Absolut. Dann setzt sie sich in einen Sessel, legt den Kopf in den Nacken und lässt das Zeug reinlaufen. Für eine Weile starrt sie in die Luft. Sie murmelt etwas auf Polnisch. Klingt wie Scheiße, Scheiße, Scheiße, nur derber. Ich habe sie bei einer Massage unterbrochen und ihr die Begegnung mit Savvidis erzählt. Zuerst wollte sie es nicht glauben, dachte, ich würde noch auf den letzten Drücker anfangen herumzuspinnen. Als ich mit den Einzelheiten rüberkam, schwanden ihre Zweifel. So viel Fantasie traut sie nicht einmal mir zu. Wir sitzen da wie eine Trauergemeinde kurz vor dem Gang zum Grab. Mir brummt der Schädel von dem ganzen Mist, den ich in meinem Kopf herumwälze. Warum kommt das Unglück immer doppelt und dreifach? Als ob ich sonst nicht kapieren würde, dass es mit mir den Bach runtergeht. Schließlich richtet sich Zyna auf, mit einem neuen Gedanken in ihren hellblauen Augen. »Weiß er, dass wir gemeinsame Sache machen?« »Keine Ahnung. Er hat dich nicht erwähnt. War er mal bei dir zur Behandlung?« »Nicht, dass ich wüsste. Bevor ich zu dir hochfuhr, hab ich ihn mir genau angeschaut. Er sitzt noch auf der Veranda.« Sie schüttelt den Kopf. »Nie gesehen.« »Wir haben uns nie zusammen gezeigt«, gebe ich zu bedenken. »Unwahrscheinlich, dass er dich überhaupt kennt.« »Das verschafft uns einen Vorteil.« »Was für einen Vorteil? Die Schecks sind an mich adressiert, laufen auf meinen Namen. Du kannst das ohne mich nicht durchziehen.« »Mit einer Vollmacht könnte ich die Schecks abholen.« Sie macht ein unbeteiligtes Gesicht und beginnt, an den rosa Nelken herumzuzupfen, die in einer Vase auf dem Tisch stehen. Fürs 53
Delle Alpi sehen sie ziemlich ausgefranst aus. Wahrscheinlich eine sauteure Züchtung, die Understatement signalisieren soll. »Und weiter? Wenn die Bieter nichts kriegen für ihr Geld, kommt die Sache trotzdem raus. So etwas macht ganz schnell die Runde. Vielleicht bietet Savvidis sogar selbst mit. Dann erfährt er’s in jedem Fall. Und dann habe ich nicht nur einen Drogendealer am Hals, sondern auch einen richtigen Bullen, einen von der hartnäckigen Sorte, der mich mit ziemlicher Sicherheit als Trostpreis einkassiert, wenn er Erdem nicht kriegt. Dadurch hätte er wenigstens was vorzuweisen, verstehst du?« Sie will etwas erwidern, schluckt die Bemerkung aber runter, als sie Erdems Namen hört. Langsam fährt sie sich mit beiden Händen durchs Haar, ordnet die Strähnen mit den Fingern. »Und er ist wirklich noch am Leben? Kann dieser Savvidis das nicht erfunden haben, um dich mürbe zu machen?« »Dann würde das alles doch keinen Sinn ergeben. Er will, dass ich ihm dabei helfe, Erdem zu schnappen. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, wozu ich dabei gut bin.« »Wenn es stimmt, was er dir erzählt hat, sind die nur zu zweit. Das heißt, sie können Verbündete gebrauchen.« Ich denke, dass es nicht gerade für die deutsche Polizei spricht, ein Zweier-Team auf jemanden wie Erdem anzusetzen. Aber das kann viele Gründe haben. Am naheliegendsten erscheinen mir irgendwelche Sparzwänge. Ich meine, die können wohl kaum jedem einheimischen Verbrecher eine Sonderkommission durch ganz Europa hinterherschicken, wenn die Staatskasse auf dem letzten Loch pfeift. Zumindest braucht es dafür einen begründeten Verdacht, ein großes Ding, das gerade in der Luft liegt. Und mit der Zusammenarbeit zwischen den EU-Staaten ist es allem Anschein nach auch nicht weit her. Die Italiener haben mit ihren eigenen Kriminellen schon genug zu tun, wie Savvidis selber gesagt hat. So lange Erdem hier nur irgendwelche Querulanten wie die No-Global-Leute zusammenballert, 54
interessiert das die Carabinieri nicht die Bohne. Im Gegenteil, nach dem, was in Genua an Ausschreitungen passiert ist, liegt das wahrscheinlich voll auf ihrer Linie. »So wie es aussieht, habe ich kaum eine andere Wahl. Ich werde auf sein Angebot eingehen, schon allein, um sicherzustellen, dass Phil nicht in Gefahr gerät.« »Warum machst du dir so viele Gedanken um deine Tochter? Kommt die nicht alleine klar?« »Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, dass Erdem irgendwo da draußen sitzt und sich überlegt, wie er am besten an Phil rankommt. Abgesehen davon weiß ich gar nicht, wo sie gerade ist.« Ich kläre Zyna mit ein paar Worten über die Lage auf, sage ihr auch, dass Lidia gerade in Mailand sei und dass ich sie und Phil unbedingt erreichen muss, um die beiden zu warnen. »Wie auch immer«, fahre ich fort, »du hast mit Erdem nichts zu tun. Selbst wenn Savvidis wüsste, dass wir die Auktionen gemeinsam geplant haben, kann er dir nichts anhaben. Das heißt natürlich nur, wenn wir die Sache vergessen.« »Du meinst, wir sollen zweihunderttausend Euro einfach abschreiben?« »Das Ding ist in dem Moment gestorben, als Savvidis dahinter kam. Wir sind raus.« Sie betrachtet die Vase mit den Nelken, zögert kurz und schleudert sie mit einer schnellen Bewegung aus dem Handgelenk gegen die Wand – an eine Stelle, wo keine Drucke aus einem Jahrhundert hängen, das Delle-Alpi-würdig ist. Die Vase aus Muranoglas fällt mit einem dumpfen Geräusch zu Boden. Zyna geht zur Minibar und nimmt sich ein weiteres Fläschchen heraus. Ich sehe dem Blumenwasser dabei zu, wie es in den Teppich sickert, und bin froh, dass in meinem Zimmer keine größeren 55
Gegenstände als Vasen herumstehen. Dann wende ich mich der Zeitung zu und brüte über dem Einspalter, in dem Ferros Auftritt angekündigt wird. Unter dem Text ist ein Bild von ihm abgedruckt. Da ich ihn bei meiner Schießbudenaktion nicht richtig erkennen konnte, ist meine Erinnerung an sein Gesicht schon zehn Jahre alt. Er sieht fitter aus als früher, nicht mehr so bullig-brutal, sondern mehr wie der nette Onkel, der jeden Monat mit einer neuen Barbie-Puppe und ein paar guten Ratschlägen vorbeikommt. Hat es anscheinend nicht mehr nötig, den kleinen Duce raushängen zu lassen. Ist auch nicht so medienwirksam. »Was wäre denn«, bohrt Zyna weiter, »wenn du die Schecks trotzdem abholst und erst mal aufhebst? Dann warten wir ab, was passiert. Wenn Savvidis Erdem festnehmen oder überführen will, kann sich doch alles Mögliche ergeben.« »Meinst du, er lässt mich dann aus purer Dankbarkeit mit der Kohle abziehen? Dass er schnell mal ein Auge zudrückt, weil er so glücklich darüber ist, Erdem endlich zu haben?« »Vielleicht stößt ihm dabei etwas zu. Nicht, dass ich’s drauf anlegen würde, aber unverwundbar ist der nicht.« Scheint so, als steckte Zyna voller krimineller Energien. Mir wird das ein wenig unheimlich. Als es noch ein harmloser Internet-Betrug war, hat sich’s entschieden besser angehört. »Ich mein ja bloß«, sagt sie, als sie die Bestürzung in meinem Gesicht sieht. »Für den Fall der Fälle. Dann würden wir uns doch in den Arsch beißen, wenn wir die Schecks nicht abgeholt hätten.« »Erdem zu schnappen dauert sicher eine Weile. Falls das überhaupt klappt, was ich stark bezweifle. Und dann sind die Schecks sicher schon gesperrt oder nicht mehr einlösbar oder so etwas.« Auf Savvidis’ Tod zu spekulieren, kommt mir obszön vor. Ein Tanz auf der Klinge. Bei so etwas muss man aufpassen, dass man nicht selber unter die Räder gerät. Ich bin da leicht 56
abergläubisch. »Vielleicht geht es auch ganz schnell«, gibt sie zurück. »So wie ich das verstanden habe, ist Erdem fällig, sobald Savvidis ihn aufspürt. Und egal, wie das ausgeht – du bist dann aus dem Schneider.« »Und wie ich das verstehe, möchtest du bei dieser Sache selber mitmischen.« »Na und?« »Hast du eine Ahnung, worauf du dich da einlässt? Erdem ist sicher nicht allein. Das kann übel ausgehen. Warum hältst du dich da nicht raus?« »Für meinen Papa ist es schon übel ausgegangen.« Sie richtet den Blick zu Boden. Da ist etwas in ihr, was sie sonst unterdrückt. Etwas Sanftes, Biegsames. Trauer? Dann reißt sie den Kopf hoch: »Ich werd einen Teufel tun und mich da raushalten. Im Gegenteil: Ich werd alles dafür tun, dass Erdem kriegt, was er verdient.« Noch so ein Racheding. Als ob es davon nicht schon genug gäbe. »Und wie stellst du dir das vor? Willst du zu Savvidis gehen und bei ihm anheuern? Meinst du, er sagt dann: Hallo, willkommen im Club der Feinde Erdems? Wir freuen uns über jeden neuen Mitarbeiter?« »Und was ist mit Ferro?«, blafft sie. »Das ist doch der eigentliche Grund, warum du mitmachst. Sonst hättest du dich doch schon längst verpisst!« Das stimmt nur zum Teil, aber ich bin nicht in der Stimmung, mich mit Zyna zu streiten. »Mach doch, was du willst. Ich kann dich ja sowieso nicht davon abhalten.« »Das würde ich dir auch nicht raten.« Ich stehe auf und gehe ins Bad, um mir eine Hand voll Wasser ins Gesicht zu werfen. Die Krönung auf diesem riesigen Haufen 57
Scheiße ist, dass am Monatsende die Hotelrechnung fällig wird, mindestens zehntausend Euro, und dann bin ich richtig in den Miesen. Obwohl ich die Rechnung auch prellen könnte, überlege ich mir. Schließlich bin ich ja unter falschem Namen abgestiegen. Verdammt, wenigstens ein Ding könnte klappen. Das ist doch nicht zu viel verlangt, oder? Als ich zurückkomme, steht Zyna bereits in der Tür. »Ab jetzt hast du mir nichts mehr zu sagen. Ist das klar?« Sie wirft mir die Worte hin wie einen prallen Müllsack, der gleich aufplatzen wird. Bevor ich etwas erwidern kann, knallt sie die Tür zu. Auf dem Tisch bleiben zwei leere Miniflaschen Wodka zurück. Ein paar Kondenswassertropfen schimmern auf dem Glas. Bestimmt hinterlassen die Flaschen Ringe auf dem Tisch. Ich wähle Phils Nummer. Wieder nichts.
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lingt griechisch.« »Ist es auch.« Er parkt seinen alten VW-Campingbus, für den der Begriff Multivan mit Sicherheit nicht erfunden wurde, an der Seepromenade. Wir machen uns auf den Weg zur Piazza Alessandro Volta. Warum fahren Bullen mit solchen Karren herum? Soll das ihr Selbstwertgefühl heben? Wie ist er damit ins Delle Alpi gekommen? »Jetzt, wo wir zusammenarbeiten, kannst du mich Nondas nennen.« »Ist das dein Vorname?« »Ich heiße Epaminondas. Nach dem thebanischen Feldherrn. Da bietet sich eine Abkürzung an.« So weit ist es also gekommen. Ich bin mit einem Bullen per du. Einem Bullen, dessen Name einem erst mal erklärt werden muss. Es regnet immer noch langsam und stetig. Der Comer See, das habe ich immer gewusst, ist eine eingebildete Pfütze. Die Italiener jazzen das Ding zu einer mondänen Mini-Riviera hoch, aber es ist ein phlegmatisches, feuchtes Loch. Mir kann doch keiner erzählen, dass hier die Fußballstars von Inter oder Milan ihre Villen hätten, das ist doch nur Publicity. Nondas hat einen Klappregenschirm – ich nicht. Wenn er mir damit etwas suggerieren will, ist es ihm gelungen. Ich bin der Mann ohne Klappschirm. Und ich habe keinen Plan B, wozu auch? Die Auktionen sind ja schon Plan B, die Alternative zu der Porträtfotografie. Einen Plan C habe ich erst recht nicht, nie gehabt. Mein Plan B ähnelt zu sehr Plan A, nur dass er radikaler ist. Das geht mir immer so. Anscheinend bin ich der EntwederOder-Typ. Wenn etwas nicht klappt, wie ich es mir vorstelle, bin 59
ich immer gleich richtig im Arsch, nicht nur ein bisschen. Als Erstes wenden sich die Mädels von mir ab. Bei denen funktionieren die Instinkte noch. In einem Souvenirladen kaufe ich einen Regenschirm. Das Ding ist gar nicht mal teuer. Wahrscheinlich löst er sich schon beim ersten Windstoß in seine Bestandteile auf. Nach ein paar Flüchen gelingt es mir, den Schirm aufzuspannen. Hey, das muss mein Glückstag sein! Auf Nondas’ Rat nehme ich noch eine Baseballmütze mit einem »Como«-Aufdruck. Zusammen mit der Gucci-Sonnenbrille, die ich trage, müsste das als Vermummung reichen. Schließlich möchte ich von Ferros Leibwächtern nicht erkannt werden, und von Erdem, falls er dabei sein sollte, erst recht nicht. So dicht, dass sie uns erkennen könnten, wollen wir zwar nicht rangehen, aber man weiß ja nie. Wir kommen an einer Bushaltestelle vorbei. Ein Typ liegt auf dem Boden, wälzt sich vor einer Nike-Reklame ekstatisch hin und her. Er stinkt nach mehreren Jahren systematischer Vergiftung. Soll ich hingehen und ihn fragen, ob er okay ist? Und ihn dadurch von seinem High runterholen? Gehört das zu meinem Verantwortungsbereich? Wir lassen ihn liegen. Stattdessen könnte ich ihn in den Arm nehmen, über den Zebrastreifen schleppen und auf eine Parkbank legen. Dann hätte er’s bequemer und könnte uns – falls er wider Erwarten kurz vorm Abkratzen ist – ein kleines Zeichen geben. »Ich lebe«, so was in der Art, falls das kein Widerspruch ist, denn leben kann man das nicht gerade nennen, was er da auf dem Asphalt veranstaltet. Eher zwischen Leben und Tod herumstolpern. Möglich, dass ich jetzt ein bisschen moralisch werde. Aber ich kann nichts dafür, das kommt ganz von allein. Je mehr ich den gesetzlichen Rahmen unserer wundervollen Gesellschaft verlasse, desto mehr Sympathien empfinde ich für ihren zugedröhnten Bodensatz. Plötzlich denke ich, dass ich für diese verwichsten Junkies zuständig sei. Andererseits weiß ich, dass 60
einem in derartigen Zuständen ein simples »Alles okay, Kumpel?« schon mal weiterhilft. Vor allem, wenn man niemanden mehr hat, der’s einem sagt. Ich schweige und gehe weiter. Der Drogentod muss warten, schließlich bin ich wegen was anderem hier. Im Gehen betrachte ich Nondas. Unter seinem beigen Trenchcoat trägt er tatsächlich das gleiche Anzugmodell wie ich! Wer ahmt hier wen nach? Und vor allem: Wo hat er das Geld her? Langsam komme ich ins Grübeln. Warum wohnt jemand wie Nondas eigentlich im Delle Alpi? Ist er scharf darauf, zu den besseren Kreisen zu gehören? Hat er seine Polizeikontakte spielen lassen? Das würde aber sein Inkognito auffliegen lassen. Oder hat er sich mit einem Trick Einlass verschafft? Ist ja nicht so, dass alle Bullen bescheuert sind. Ein paar von denen haben ganz schön was auf dem Kasten. Wenn Zyna und ich jetzt noch zusammenarbeiten würden, könnte sie für mich im Hotel ein paar dezente Nachforschungen anstellen. Das Personal weiß in der Regel mehr über einen als man selbst, vor allem die unteren Chargen. Die hängen es nicht an die große Glocke, aber sie kriegen ’ne Menge mit. Und bestimmt haben sie ein untrügliches Gespür dafür, ob jemand nur so tut oder ob er wirklich zum Inner Circle dieses 1aPlaneten gehört. Was die Zimmermädchen und die Kellner über mich denken, hat mir Zyna schon gesteckt: Der ist hier, um die Bonzen auszunehmen, heißt es. Wie oder warum, wissen sie nicht, das interessiert sie auch gar nicht. Es reicht ihnen schon, dass sie mehr wissen als die Rezeptionisten, die sich ihrerseits für die großen Menschenkenner halten. Die durchleuchten dich regelrecht, können dir auf einen Blick sagen, was du auf dem Konto hast, mit wem du üblicherweise ins Bett gehst und warum du Slipper statt Schnürschuhe trägst. Denen kannst du nur 61
vormachen, dass dir ihre Meinung egal ist – aber sie glauben es dir nicht. Was mich wieder zu der Erkenntnis führt, dass ich keine Ahnung von dieser Welt habe. Nichts, was ich gelernt habe, nützt mir etwas in Situationen, in denen es wirklich drauf ankommt. Ich musste ja sogar das Schießen üben, bevor ich Samir erledigt habe. Ein Schusswaffentraining ist eine gute Vorbereitung für die Wechselfälle des Lebens. Wer weiß, wann man die nächste Neurose kriegt? Obwohl: Wenn ich es nicht fertig gebracht hätte, Samir zu erschießen, hätte ich auch nicht weitergemacht mit dem Anschlag auf Ferro. Das Leben ist ein Kaskadeneffekt. Fortbildung beschleunigt ihn nur. Auf den Straßen sind nur ein paar Touristen in Regenkleidung zu sehen. Sie ziehen ihr Como-Programm eisern durch. Diese für alle Eventualitäten gerüsteten Goretex-Sturmtruppen sind für eine zünftige Invasion sicher nicht mehr so leicht zu haben wie die Mephisto-Träger, die im Heeresabschnitt Süd mit einem Liedchen auf den Lippen den Dnjepr überschritten. Wenn die damals Mephistos gehabt hätten statt ihrer Knobelbecher, mit einem zum Trocknen herausnehmbaren Innenschuh aus Schurwolle und einer wasserdichten, an den unteren Schaftbereich geschweißten Profillaufsohle, dann wären sie, dìo non voglia, bis zum Amur durchmarschiert. Solche Guided Tours würden die Goretex-Leute nicht mehr mitmachen. Für die Erlebnispädagogen des Dritten Reichs wäre eine individualtouristisch geprägte Nation eine harte Nuss gewesen. Da hätten sie sich schon was einfallen lassen müssen, Incentives zum Beispiel, Adventure Learning, irgendwas Gruppendynamisches, das hätte gepasst. Ihre Ideologie hätten sich die Nazis im Grunde schenken können, die war nur vorgeschoben für all jene, die erst eine Portion Hass brauchten, damit sie ihren Arsch hochkriegten. Keine Ahnung, was ich damals gemacht hätte. Das Delle Alpi gab’s zu der Zeit schon, die Fotografie auch, nur das Internet noch nicht. Ich nehme an, 62
dass mir schon irgendein brauchbarer Schwindel eingefallen wäre, möglichst weit weg vom Dnjepr. Nondas greift in sein Jackett und holt sein Handy heraus. Er dreht sich weg und geht ein paar Schritte, während er spricht. Dabei fummelt er an seinem Ohr herum. Dann beendet er das Gespräch, und wir setzen unseren Weg fort. In der Nähe der Piazza, auf der die Kundgebung stattfinden soll, treffen wir mehr Leute. Mit meiner Annahme, dass nur Skins und alte Säcke Ferro reden hören wollen, liege ich falsch. Wir begegnen sämtlichen Altersstufen, sozialen Schichten, Geschlechtern. Sie schauen wegen des Regens zwar etwas bedröppelt drein, aber da ist etwas, was sie mit kurzen, hastigen Schritten zu der Bühne streben lässt, die in der Mitte der Piazza errichtet worden ist. Sie machen den Eindruck von Menschen, die nicht genau wissen, wohin sie gehen. Jeder bewegt sich auf ein Ziel zu, von dem er meint, dass es alle anderen auch haben. Sie möchten bestätigt kriegen, dass die Dinge so liegen, wie sie sich’s zurechtbuchstabiert haben. Und sie wollen spüren, dass sie nicht allein sind, sondern in Gesellschaft, nicht in der besten, wie sich einige denken mögen, aber immerhin unter halbwegs Gleichgesinnten. »Vor gar nicht allzu langer Zeit sind die noch für die Lega Nord auf die Straße gegangen«, erklärt Nondas. »Oder für die Postfaschisten. Jetzt sind sie unzufrieden, weil die Mitte-RechtsKoalition nichts von ihren Wahlversprechen eingelöst hat.« Wir versuchen, uns am Rand der Menge zu halten, und stellen uns vor das heruntergelassene Rollgitter eines Schuhgeschäfts. Bald sind wir von Leuten umgeben, die genauso wie wir lieber weiter hinten stehen. Ich fühle mich gar nicht gut in diesem Pulk, wo man die Pickel auf dem ausrasierten Nacken seines Vordermanns zählen kann. Die Gerüche anderer Menschen, verstärkt durch die Feuchtigkeit, kriechen meine Nase hoch: Verbitterung, mühsam unterdrückt, mischt sich mit Existenzängsten, die noch kein wirklich bedrohliches Maß 63
erreicht haben, sondern mehr darum kreisen, ob man sich einen neuen DVD-Player leisten kann oder nicht. Das war auch der Grund, warum ich mit der Pressefotografie anfing. Bei dem Job ist man mittendrin, aber auch wieder nicht. Man hält die Motive immer auf einer Distanz von mindestens einem Meter, sonst kriegt man ja nichts aufs Bild. Auf Armlänge, könnte man sagen. Und wenn’s unangenehm wird, geht man einfach einen Schritt zur Seite und bringt die Kamera erneut in Anschlag. Ich nehme meine Sonnenbrille ab und ziehe den Schirm meiner Mütze tiefer in die Stirn. Dann mache ich einen Schritt in den Ladeneingang hinein. Die Rollgitter sind nur vor den beiden Schaufenstern des Schuhgeschäfts heruntergezogen. Dazwischen befindet sich ein Gang mit einer Klingelleiste an der Wand. Er endet an einem weiteren Rollgitter. Um besser sehen zu können, stelle ich mich auf eine Stufe. Vorne am Rednerpult checkt ein Reichsparteitagsknecht das Mikrofon. Er trägt einen anthrazitfarbenen, leicht glänzenden Anzug, edler als die Konfektionsware der Security-Leute, von denen einige am Rand der überdachten Bühne stehen. Ihre Kollegen haben es schlechter getroffen. Da sie sich in einem Halbkreis vor der Bühne aufgebaut haben, kriegen sie den Regen voll ab. Sie tragen dunkelblaue Field-Jacken über dem Anzug und schauen so hart in die Welt, dass sie einem fast ein wenig Leid tun. Das Ganze spielt sich vor einem Bühnenhintergrund ab, bei dessen Anblick ich sofort kotzen könnte. Da steht kein Parteiname oder Slogan oder so etwas, sondern schlicht und einfach FERRO, in dynamisch nach rechts geneigten Lettern, das F und das E in Grün, das erste R in Weiß, das zweite R und das O in Rot, sonst nichts. Er scheint sehr von sich überzeugt zu sein. Und er will nicht irgendeiner politischen Gruppierung oder Partei zugeordnet werden, das ist offensichtlich. 64
Viele Leute haben jetzt Regenschirme aufgespannt. Einen Augenblick lang wirken sie auf mich wie Wogenkämme eines schwarzen Ozeans, nur dass sie nicht auf mich zurollen, sondern von mir weglaufen, um sich an der Bühne zu brechen. Weiter vorne schwenkt eine Gruppe junger Demonstranten verschiedene Fahnen. Ich kann die italienische Fahne erkennen, außerdem eine Art Keltenkreuz, das mehr wie ein Fadenkreuz aussieht, weiß auf schwarzem Grund, oder in einer anderen Variante schwarz auf einem weißen Kreis mit Rot außenrum – wie die Naziflagge, was ja wohl Absicht ist. Ein paar Transparente haben sie auch aufgespannt und halten sie für die Fotografen hoch, die ich aufgrund der gelegentlich aufleuchtenden Blitzlichter in der Nähe der Bühne vermute. Einige Meter neben uns ragt ein Sperrholzschild aus der Menge. »Forza Nuova« steht darauf neben einem Logo mit den Buchstaben »fn«. Das gleiche Logo ist auf Aufkleber gedruckt, mit denen ein Junge, der direkt vor uns steht, den Rücken seiner ärmellosen Daunenjacke bepflastert hat. Auf einem anderen Schild lese ich »Contro la globalizzazione« und frage mich, ob die hier im falschen Film sind. Aber der Typ, der das Schild an einer Stange hochhält, sieht aus wie die anderen, Straßenklamotten, Strickmütze, ein umgeschnallter Daypack. Er wird auch von niemandem schräg angeguckt, nicht einmal von den Glatzen, die seltsamerweise in der Minderheit sind. Nur hier und da sehe ich einen rasierten Schädel zwischen den Regenschirmen. Insgesamt führen vier Straßen auf die Piazza. In der Straße, durch die wir hergekommen sind, entsteht Bewegung. Die Leute treten zurück, johlen und klatschen. Sie machen den Weg frei für zwei Limousinen. Ihre Scheiben sind abgedunkelt, zwei Staatskarossen, die den Salut des Volkes abnehmen. Vorsichtig zerteilen sie die Menge, tasten sich zur Bühne vor. Polizisten mit blauen Helmen folgen den schweren Wagen, bleiben stehen
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und bilden eine Kette, um diesen Zugang der Piazza abzuriegeln. Neben mir höre ich Nondas leise reden. Er spricht in ein kleines Mikro, das anscheinend mit seinem Handy verbunden ist. Jetzt sehe ich auch einen Minikopfhörer in seinem Ohr stecken. Ich tippe ihm auf die Schulter, worauf er sich mir halb zuwendet und mit dem Zeigefinger stumm nach oben deutet. Blöderweise schaue ich hoch, sehe aber nur die Deckenplatten des Ladeneingangs. »Der zweite Wagen, Batu«, spricht Nondas in das Mikro und reckt den Kopf. »Behalt ihn im Auge.« Da er ziemlich groß ist, kann er die Menge ganz gut überblicken. Doch was weiter vorne passiert, ist vermutlich auch für ihn nicht zu erkennen. Aber dafür hat er ja seinen Partner. Scheint so, als hätte Baturay in einem der oberen Geschosse des Schuhgeschäfts Stellung bezogen. Gar nicht dumm, denke ich und überlege, wer die Kundgebung wohl sonst noch aus sicherer Distanz beobachtet. Gibt es in Italien so etwas wie einen Verfassungsschutz? Oder wurde der inzwischen aufgelöst? Bestimmt nicht, denke ich, für solche Institutionen findet sich immer eine Verwendung, ganz egal, wer gerade an der Macht ist. Inzwischen sind die Limousinen neben der Bühne angelangt, verdeckt von der inzwischen ziemlich lebhaften Menge. Plötzlich ist auf der Piazza der Teufel los. Die Fahnenschwenker flippen aus und wedeln ihre Leibstandarten im Akkord. Ein Sprechchor erschallt. »Sia-mo pron-ti«, rufen die Leute, »sia-mo pron-ti«. Dann, wie bei einem schnellen Filmschnitt, taucht Claudio Ferro auf der Bühne auf. Er macht ein paar federnde Schritte in Richtung Rednerpult, stellt sich davor und reißt die Arme hoch, Mittel- und Zeigefinger beider Hände zu einem doppelten Siegeszeichen ausgestreckt.
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»Sono uno di voi«, fängt er an, »Ich bin einer von euch« – seit den letzten Monaten verstehe ich ganz gut Italienisch. Die synchronisierten Hollywood-Spielfilme, die ich mir in meinem Hotelzimmer reinziehe, sind dabei eine große Hilfe. Wenn’s nicht zu schnell geht, komme ich ganz gut mit, so wie jetzt, denn Ferro spricht schön langsam, damit auch jeder kapiert, was ihm auf der Seele brennt. »Ich bin ein Geschäftsmann, wie jeder von euch weiß. Ich investiere in dieses Land und mache dabei einen anständigen Gewinn.« Er hebt die Hände, als müsse er sich dafür entschuldigen. »Aber ich bin auch ein Bürger wie ihr, einer, dem die Politik bis hier steht.« Er macht eine entsprechende Geste, holt Atem, kostet den Beifall aus, bevor er wieder loslegt: »Und ganz bestimmt bin ich keiner von denen da unten in Rom! Ich – bin – Claudio Ferro.« Die Leute rufen wie verrückt »Bravo!«, als hätte er ihnen bereits den nächsten WM-Sieg versprochen. Doch während sie anfangen, seinen Namen zu skandieren, bricht ein Inferno los. Von der Anti-Globo-Demo in Pisa bin ich ja schon einiges gewohnt, und das waren sicher zehnmal so viel Leute wie die paar Rechtsextremisten hier. Damals hatten Attac, das Movimento »No Global« oder irgendeine andere Gruppierung ihre eigene Musik mitgebracht, mit der sie den Platz beschallten. Jetzt haben sie Trillerpfeifen dabei. Zumindest nehme ich an, dass das ohrenbetäubende Schrillen, das von der gegenüberliegenden Seite des Platzes herüberdringt, von Trillerpfeifen stammt. Hätte nicht gedacht, dass man mit diesen Dingern so einen Lärm veranstalten kann. Anscheinend hat sich in der Straße, die rechts neben der Bühne von der Piazza wegführt, eine Gegendemo formiert. Sofort sind vier schwarz gekleidete Bodyguards auf der Bühne. Zwei bleiben bei Ferro, die anderen stürmen weiter in Richtung Unruheherd. Soweit ich erkennen kann, ist Erdem nicht dabei – die ganze Zeit über mache ich mich schon darauf 67
gefasst, dass er irgendwann auftaucht, ein prognostiziertes Ereignis, das unweigerlich eintreten wird, wie das Erscheinen eines Kometen, oder, um Erdem besser gerecht zu werden, einer Sonnenfinsternis. Einige der Forza-Nuova-Anhänger schieben sich durch die Menge. Sie sind auf eine Keilerei aus, haben wahrscheinlich nur darauf gewartet, dass es endlich losgeht. Den Ketten und Schlagstöcken nach zu urteilen, die sie aus ihren Jacken hervorholen, sind sie gut vorbereitet. Ich nehme an, das gehört bei so einer Kundgebung dazu, ein Ritual, das immer aufs Neue durchgespielt wird, seit es Demos gibt, Aggressionsabbau, Revierkämpfe, so etwas. Nondas spricht wieder in sein Mikro. Schließlich dreht er sich zu mir um. »Das muss ich mir aus der Nähe anschauen«, sagt er, reißt einen der Aufkleber von der Daunenjacke des Jungen vor uns und heftet ihn sich an die Brust. »Bleib hier. Rühr dich nicht vom Fleck. Mein Partner holt dich gleich ab.« Er drückt mir seinen Regenschirm in die Hand. Dann taucht er in die Menge ein und arbeitet sich mit rudernden Bewegungen nach vorne. Die Leute mustern ihn verärgert. Nach kurzem Zögern lassen sie ihn durch. Auf der Bühne hat sich Ferro inzwischen in Pose geworfen. Er wirft einen besorgten Blick in die Richtung der Gegendemonstranten, von denen noch nichts zu sehen ist. Aber sie müssen dicht herangekommen sein. Der Trillerpfeifenterror dauert unvermindert an. Hin und wieder taucht ein azurblauer Polizeihelm zwischen den schwarzen Regenschirmen auf. Ferro beginnt, gegen den Lärm anzureden. Er macht eine gute Figur in seinem teuren Anzug, zu dem er keine Krawatte trägt – ein Boss, der ein inoffizielles Meeting mit dem Aufsichtsrat mal kurz verlassen hat, um den Kleinaktionären Mut zuzusprechen. Seine Bewegungen sind gemessen, als wolle er hektische Gesten vermeiden, staatsmännisch fast. Sill hat solche Typen eigentlich 68
nie leiden können, diese Mischung aus Autorität und gespielter Gelassenheit. Ich frage mich, wie meine Exfrau damals vor zehn Jahren an einen wie ihn geraten ist. War es der Wunsch nach Sicherheit, die Aussicht auf Wohlstand? Oder ist Ferro, wenn er nicht gerade auf einer Bühne vor ein paar hundert Anhängern steht oder dem Exmann seiner Geliebten in seiner Villa eine Abreibung verpasst, so eine Art Kumpel, dem man alles erzählen kann, was eine allein erziehende Frau so bedrückt? Vielleicht vögelt er auch nur gut. Hab’s nie herausgefunden. Von dem, was er sagt, kann ich wegen des Lärms kaum etwas verstehen. Ich höre einzelne Wörter und Satzfetzen heraus, »agitatori«, »violenza«. Eine Drehung zu den Gegendemonstranten. »Una deformazione di democrazia«, »morbosa«, »sono illiberali ed antidemocratici«. Dann, schon ein wenig erregter: »siamo l’unica opposizione«, und – wieder in Richtung der Gegendemo – »siamo pronti«, worauf seine Anhänger erneut ihren Sprechchor anstimmen. Offenbar stellt Ferro seine Kritik an der Regierung zurück, um den Unmut der Menschen gegen jene zu richten, die gerade greifbar sind. Ein Pragmatiker. Ein Geräusch hinter mir lässt mich herumfahren. Das Rollgitter geht hoch. Zuerst ist nur ein Paar schwarzer Schuhe zu sehen. Sie laufen spitz zu, glänzen wie Dolche.
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ie Aufnahme ist grobkörnig, aber man kann Erdem einigermaßen erkennen. Der Abzug klemmt in dem Rahmen des Fensters, durch das Baturay die Piazza observiert. Nondas muss das Bild gemacht haben, als er Erdem nach Italien gefolgt ist und ihn beschattet hat. Mit einem Tele kann er schon mal nicht umgehen. Batu, wie er sich mir vorgestellt hat, ist Türke. Wenn er sich unten auf der Piazza zeigen würde, fiele er auf den ersten Blick nicht sonderlich auf. Aber ich bin mir sicher, dass italienische Rechtsextremisten erwünschte und unerwünschte Physiognomien ganz genau auseinander halten können – allein schon wegen der vielen Albaner, die sie ja irgendwie von ihren eigenen Leuten unterscheiden müssen. Und Batu sieht so türkisch aus wie nur was: runde Augen, hohe Stirn, Tropfennase. Man möchte meinen, dass sich solche Äußerlichkeiten in Europa immer mehr verwischen. Tun sie auch manchmal. Bei Batu nicht. Ein kahler Büroraum. Über-Eck-Schreibtisch, hellgrauer Computer. An die Wand ist ein riesiger Kalender gepinnt, ohne Bilder, aber mit jeder Menge Platz für Termineinträge. Das Zimmer gehört einem Versicherungsagenten. Batu hat es fürs Wochenende angemietet, wie er mir sagte, als wir die Treppe in den dritten Stock hochgegangen sind. Auf dem Schreibtisch stehen ein Take-away-Karton mit chinesischen Schriftzeichen und dem Aufdruck »Pechino«, eine 1,5-Liter-Flasche Cola sowie ein überquellender Glasaschenbecher. Die Luft ist völlig verqualmt. Was ich da rieche, kommt mir bekannt vor. Scheint so, als zöge sich Batu einen Joint nach dem anderen rein. Auf meinen fragenden Blick sagt er, ich solle ihm nicht blöd kommen und die Klappe halten. Dann tritt er seitlich an das 70
Fenster, vermutlich, um von draußen nicht gesehen zu werden. Durch ein Minifernrohr schaut er nach unten auf die Piazza. Dabei murmelt er etwas in das Mikro seines Headsets. Neben ihm steht ein Stativ, auf das ein Camcorder geschraubt ist. Besonders professionell wirkt diese Ausrüstung nicht gerade. Wenn Nondas mir gesagt hätte, was die beiden genau vorhaben, hätte ich meine eigenen Sachen mitgebracht. Ich stelle mich an das andere Fenster. Der Standort ist gut gewählt. Von hier aus kann man den ganzen Platz einsehen wie ein Affengehege im Zoo. Die Polizei hat die meisten Gegendemonstranten inzwischen ein Stück weit abgedrängt. Nur eine kleine Gruppe hält sich immer noch in der Nähe der Bühne auf, wo Ferro weiter seine Volksreden schwingt. Komischerweise sehe ich dort keinen einzigen blauen Helm. Dafür entdecke ich Nondas’ beigen Trenchcoat in dem Gedränge. Er diskutiert mit einem Glatzenträger und deutet auf einen der Bodyguards, der gerade auf eine geduckte Gestalt in einer Kapuzenjacke eindrischt. Die Ausschreitungen, wie es wahrscheinlich später in den Nachrichten heißen wird, sind in vollem Gange. Etwa fünfzig Gegendemonstranten kloppen sich mit den Security-Leuten, Ferros Bodyguards und ein paar Dutzend rechten Schlägern. Es sieht nicht gut für die Trillerpfeifen aus. Ich schnappe mir das Stativ und schraube den Camcorder ab. Ein berufsmäßiger Reflex. Diese Aufnahmen können bei einem Fernsehsender unter Umständen richtig Geld einbringen, je nachdem, wie brutal es da unten zur Sache geht. Nachdem ich die Tasten auf dem Gerät gecheckt habe, schalte ich es ein und richte das Objektiv aus. Durch die Fensterscheiben zu filmen, ist kein Problem – anscheinend werden sie regelmäßig geputzt. Als Erstes bekomme ich den kantigen Schädel des Bodyguards ins Bild. Ein Dreadlock-Hüne mit einer Plastikmaske, wie man sie beim Tiefschneefahren trägt, versetzt ihm gerade einen Kopfstoß, worauf dem Bodyguard eine Blutfontäne aus der Nase 71
schießt. Er taumelt zurück und reißt seinem Gegner dabei einen Satz Ohrringe aus. Nach einem weiteren Kopfstoß ist seine Nase nur noch Matsch. Er geht zu Boden. Ein Stück weiter umklammern sich zwei Gestalten in einer Art Ringkampf. Der eine trägt einen roten Motorradhelm, der vorne offen ist und kein Visier besitzt, also eher einen Motorrollerhelm. Der andere hat eine weiße Baseballkappe umgekehrt aufgesetzt, mit dem Schirm nach hinten. Ihre Körper haben sich verkeilt, sie zerren aneinander, die Arme verschränkt wie zwei Judokämpfer. Ich stelle das Objektiv schärfer. Die beiden pressen die Lippen verbissen aufeinander. Sie sind zwischen den übrigen Körpern eingequetscht, können sich kaum bewegen und ihren Gegner gerade so auf Distanz halten. Wenn sich ihre Muskelspannung von einem Augenblick auf den anderen lösen würde, fielen sie sich gegenseitig in die Arme oder knallten mit den Köpfen gegeneinander, so genau lässt sich das nicht sagen. Da unten wirken zu viele Kräfte, in unterschiedliche Richtungen. Das Bild ist preisverdächtig. Jetzt könnte ich meine Spiegelreflex gebrauchen. Und sehe ich da nicht ein Hakenkreuz-Tattoo auf einem Handrücken? Wird ja immer besser. Zur Not könnte man das im Nachhinein reinmontieren, aber wenn’s echt ist, macht es weniger Arbeit. Ein zweiter Typ mit Schutzhelm kommt hinzu und zieht dem Kappenträger einen Backstein über den Schädel. So ein Ding reißt einem unter Umständen die ganze Kopfhaut weg, damit ist nicht zu spaßen. Von den Bereitschaftsbullen ist immer noch nichts zu sehen. Wahrscheinlich halten sie sich absichtlich raus, lassen die da unten sich austoben, bevor sie sich die Übriggebliebenen vorknöpfen, um angestaute Energien rauszulassen. Danach kratzen sie die Schwerverletzten zusammen und lösen die ganze Veranstaltung auf, wie sie das nennen. 72
Schließlich erkenne ich sie. Kurz bevor sich eine behandschuhte Hand auf ihren Mund legt und sie wegzerrt. Lidia versucht, um sich zu schlagen, aber der Mann hinter ihr drückt ihr einen Arm auf den Rücken. Für einen Moment gerät sie aus meinem Blickfeld. Ich packe den Camcorder fester, zoome durch Arme, Beine, Köpfe. Dann habe ich sie wieder, etwas abseits von den anderen Demonstranten. Ihre Augen weiten sich, vielleicht vor Überraschung oder vor Schmerz. Sie suchen nach etwas, woran sie sich halten können, einen Freund, ein bekanntes Gesicht, flehen um Hilfe. Aber dafür geht alles viel zu schnell. Sie wird aus der Menge entfernt wie eine Schachtel Kippen, die man im Vorübergehen an der Supermarktkasse mitgehen lässt. Einen Zugriff stellt man sich so vor, sauber und entschlossen, so reibungslos, dass ihn niemand zu bemerken scheint. Das Letzte, was ich von ihr sehe, ist ein Blick, in dem Hilflosigkeit und Panik stehen. Er bricht, ihre Augen treiben ab. Der Bodyguard schleift sie mit einem Rettungsgriff davon, raus aus dem Gedränge, und verschwindet hinter der Bühne. »Hast du das gesehen?« Ich setze den Camcorder ab und starre weiter auf den Punkt, wo Lidia gerade noch gewesen ist. »Melde dich, verdammt noch mal!«, schreit Batu in sein Mikro. »Bist du okay?« Ich versuche Nondas auszumachen. Zuletzt ist er keine fünf Meter von der Stelle entfernt gewesen, an der ich Lidia gesehen habe. Der Trenchcoat ist verschwunden. Dafür bildet sich in der prügelnden Menge ein Riss. »Warum muss er sich immer mitten rein hauen?«, stößt Batu hervor. »Was hat er da verloren?«
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Langsam entsteht auf der Piazza ein freier Raum. Die Demonstranten lassen voneinander ab. Zögernd weichen die beiden Parteien zurück, einige gestikulieren, rufen etwas. Schließlich kann ich einen Körper auf dem Pflaster erkennen. Beiger Stoff, ein »fn«-Aufkleber. Als ich mich Batu zuwenden will, bemerke ich, dass er verschwunden ist. Ich schaue wieder nach unten. Von der gegenüberliegenden Seite nähern sich Polizisten in Schutzkleidung. Sie haben keine Mühe durchzukommen, die Menge flutet regelrecht davon. Jetzt sehe ich auch Batu. Er teilt Ellenbogenhiebe aus, kämpft sich zu Nondas durch. Ich stecke den Camcorder in die Innentasche meines Jacketts und folge ihm, so schnell ich kann. Als ich das Gebäude verlasse, sehe ich mich erneut um. Ferro ist inzwischen von der Bühne verschwunden. Nach einer Weile entdecke ich ihn in einem Pulk aus Security-Leuten. Er gibt bereits ein Interview, irgendein Journalist steht neben ihm und hält ihm ein Diktiergerät unter die Nase. Er lächelt. Die Trillerpfeifen sind verstummt. Von den Gegendemonstranten ist nichts mehr zu sehen. Die Piazza leert sich zügig, alle haben es eilig zu verschwinden. Der Regen hat nachgelassen. Ich überquere den Platz, bemerke aus den Augenwinkeln, wie Batu auf einen Polizisten einredet. Er will zu Nondas durch, über dessen Körper sich gerade ein anderer Polizist ohne Helm beugt und nach dem Puls tastet. Vorsichtig spähe ich hinter die Bühne. Ein Metallgestänge stützt den Bühnenhintergrund ab, überspannt von einer Zeltkonstruktion. Auf dem Boden liegen ein paar leere Kunststoffflaschen. Hier ist niemand. Aber hier war jemand. Langsam gehe ich weiter. Was hat der Bodyguard mit Lidia gemacht? Ich versuche, mich an das zu erinnern, was ich von ihm gesehen habe. Er war ziemlich groß, das unterscheidet ihn schon mal von Erdem, genauso wie das 74
dunkelbraune Haar und der mitteleuropäische Türsteher-Typus. Außerdem hatte er viel gröbere Gesichtszüge, eine Allerweltsfresse, nichts, was sich in der Kürze der Zeit tiefer einprägt. Ein Knacken unter meiner Schuhsohle lässt mich zusammenzucken. Ich trete zurück. In einer Rille zwischen den Pflastersteinen liegt eine leere Einwegspritze. Als ich mich bücke, sehe ich, dass die Nadel abgebrochen ist. Da ich nichts anderes zur Hand habe, benutze ich meine Krawatte, um die Spritze aufzuheben. Ein paar Tropfen einer bräunlichen Flüssigkeit sind darin zurückgeblieben. Die Spritze ist nicht groß genug für einen ordentlichen Schuss. Sie sieht aus wie eines der kleinen Thrombose-Dinger, die ich mir jeden Morgen setze. Aber für eine knappe Stunde Lebendigbegrabenseins müsste es reichen. Ich frage mich, wie Lidias Körper darauf reagiert haben mag. Sicher kennt er das Gefühl noch, diesen samtenen Willensentzug und die beängstigende Gliederstarre, schließlich haben wir lange genug mit dem Zeug rumgemacht. Nach so vielen Jahren muss das wie ein Wiedersehen mit dem besten Freund sein. Einem Freund, der einen am Ende beschissen hat, in einer Felsspalte unter dem Gipfel liegen ließ und mit all den guten, lebensnotwendigen Gefühlen abgehauen ist. Ich lasse die Spritze in die Außentasche meines Jacketts gleiten und suche den Boden wieder ab. Vielleicht finde ich eine weitere Spur. Aber da ist nichts. Schließlich gelange ich ans Ende des Bühnenhintergrunds. Als ich über eine Verstrebung steige, sehe ich Ferros Rücken, vielleicht zwanzig Meter entfernt. Er unterhält sich immer noch mit den Journalisten. Erst jetzt fällt mir auf, dass eine der beiden Limousinen, die neben der Bühne gestanden sind, weggefahren ist.
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Der Klingelton in meinem Jackett kommt mir vor wie der Warnton einer Alarmanlage. Ist schon eine Weile her, seit ich mit dem Handy ein Gespräch entgegengenommen habe. Wenn man die Lautstärke voll aufdreht, meint man, öfter angerufen zu werden. Kaum zu glauben, zu welchem Schwachsinn einen die Technik anstiftet. Das Display zeigt den Eingang einer SMS an. Während ich den Klingelton abstelle und die Nachricht abzurufen versuche, schiele ich über den Rand meiner Gucci – und bemerke, dass ich das Scheißding gar nicht mehr auf habe. Gleichzeitig fühle ich, wie sich der Blick eines Bodyguards auf mich richtet. Wachsam. Trainiert, auf so etwas zu achten. Keine Ahnung, ob es einer der Kerle ist, die mich vor Ferros Villa gesehen haben. Spielt auch keine Rolle. Ich wende mich ab, trete zurück in den Bühnenhintergrund. Mit zwei Schritten bin ich außer Sichtweite, reiße mir die Mütze vom Kopf. Auf die kommt es jetzt nicht mehr an. Ist nur ein Wiedererkennungsfaktor. Auf der anderen Seite der Bühne eine Traube aus Polizisten. Ich verlangsame meinen Schritt, gehe zügig an ihnen vorbei. Zwischen ihnen ist die Jacke eines Sanitäters zu erkennen, auf dem Boden steht eine Trage. Nondas scheint wieder zu sich zu kommen. Er hebt einen Arm, setzt sich auf. Batu wird von zwei Bullen festgehalten. Es gelingt mir, die Piazza in der Richtung zu verlassen, in der die Gegendemonstranten abgedrängt worden sind. Als ich in die nächste Gasse einbiege, werfe ich einen Blick über die Schulter. Ein Fehler. Jetzt weiß der Bodyguard, der gerade die Polizisten passiert, dass ich vor ihm fliehe. Er fängt zu rennen an. Ich auch. Die Chelsea-Boots, die ich trage, haben eine Kunststoffapplikation in den Sohlen, ein Modegag ohne funktionalen Wert. Ich halte kurz an, um diese Stricher-Stiefel 76
loszuwerden, und laufe barfuss weiter. Warum trägt man nie das richtige Schuhwerk für so eine Situation? Mephistos wären jetzt nicht schlecht. In diesem Schuhladen an der Piazza haben sie sicher welche. Wenn ich vor meinem Beinbruch nicht regelmäßig gejoggt wäre und wenn Zynas Behandlungen mich nicht einigermaßen fit gehalten hätten, wäre ich schon an der ersten Kreuzung am Ende. Jetzt zahlt sich der Reha-Quatsch aus. Ich versuche, mich nicht auszupowern, stelle mich auf eine längere Strecke ein. Mein linkes Bein schmerzt, aber es hält. Das mit den fünfzehn Kilo Belastung kann ich mir jetzt wohl schenken. Meine Beine gehören wieder mir. Sie tragen mich, wohin ich sie lenke. Der Bodyguard ist schätzungsweise hundert Meter hinter mir. Er kommt näher, mit jeder Seitenstraße, die ich nehme, um ihn abzuschütteln. Wieder auf Touren zu kommen, bringt mich fast um. Alles in mir drin fühlt sich rostig und spröde an, kein Tropfen Öl im Gehapparat. Es ist der Verschleiß, der Abrieb von Jahrzehnten. Aber das Gefühl legt sich, ich kenne das. Den Arsch hochzukriegen, ist nie besonders angenehm. Aber wenn dir jemand in selbigen tritt, hilft das ungemein. Ich erhöhe das Tempo. Der Bruch scheint ausgeheilt zu sein. Ist gar nicht so schlecht, barfuss zu laufen. Unter meinen Fußsohlen spüre ich die Körnung des Straßenbelags. Ohne Dämpfungssystem frisst er sich ins Fleisch, pflanzt sich über die Gelenke fort in einen Gehirnbereich, der dir sagt: Laufe! Lebe! Das hört sich an wie ein Werbespruch. In den Kurven bin ich schneller als mein Verfolger, habe mehr Grip. Dafür holt er auf den Geraden auf. Das Handy halte ich in der Hand wie einen Staffelstab. Eine Hauptstraße. In Como kann man sich ganz gut orientieren. Das Straßennetz ist auf den See ausgerichtet, meistens kann man den Turm des Doms sehen. Langsam müsste 77
ich mir überlegen, wohin ich eigentlich laufe. Instinktiv habe ich die Richtung zurück zu Nondas’ Campingbus eingeschlagen. Das bringt allerdings nicht das Geringste. Ich halte an, trete auf der Stelle, wische mir den Schweiß von der Stirn. Jemand schlägt mir auf die Schulter. Als ich herumfahre, ist da niemand. Dann sehe ich den Zylinder eines Schalldämpfers vor dem Bodyguard-Gesicht. Er hat aufgeholt. Ich lasse mich zu Boden fallen, kullere hinter einen Müllcontainer. Eine Frau, die gerade ihre Wohnung verlassen will, schaut mich entsetzt an. Sie presst ihre Handtasche an sich und schließt die Tür. Verständlich. Ich würde mich auch nicht reinlassen. Der Stoff meines Jacketts ist zerfetzt. Shoulder-Pads flocken heraus, als ich nach meiner Schulter taste. Glück gehabt. Der Müllcontainer wiegt eine Tonne. Ich stemme mich dagegen, schiebe ihn auf den Gehsteig. Kugeln ploppen ins Plastik. Ich rappele mich hoch und renne weiter. Neben meinem Kopf zerplatzt ein Stück Fassade. Steinsplitter bleiben in meinen Haaren hängen, bohren sich in meine Wange. Tut weh wie eine saftige Ohrfeige. Ich warte darauf, dass mein Rücken explodiert. Aber bis zur nächsten Stichstraße tut sich nichts. Ein Rucken meines Kopfes, während ich um die Ecke biege. Der Bodyguard ist noch dran, umkurvt den Müllcontainer. Er hat seine Waffe weggesteckt. Eine Allee. Die Bushaltestelle, die ich schon kenne. Leider ohne Bus. Nur der Junkie liegt immer noch da. Inzwischen hat er das Herumwälzen eingestellt. Fällt ihm wahrscheinlich schwer mit eingetretenem Schädel. Meine nackten Füße titschen durch eine Blutlache. Die Typen mit dem Fadenkreuz scheinen hier Dampf abgelassen zu haben. Auf der Backe, die vom Gesicht des Junkies übrig geblieben ist, erkenne ich den Abdruck einer Profilsohle. Zusammengestiefelt nennt man das wohl. 78
Ein Brennen im Hals. Ich spüre, wie mir das Frühstück hochkommt, spucke aus und renne mit unverminderter Geschwindigkeit weiter. Das Plexiglas der Nike-Reklame zersplittert hinter mir mit einem hässlichen Laut. Weiter vorn sehe ich die Seepromenade. Leute. Ich spurte durch die Allee, wechsle auf die Straße, wieder zurück auf den Gehsteig, achte nicht mehr auf Deckung. Ein Auto bremst scharf ab, als ich die Uferstraße überquere. Die Reifen blockieren auf dem nassen Asphalt. Ein scharfer Schmerz, als die Stoßstange gegen mein Bein prallt – glücklicherweise gegen das gesunde, praktisch, wenn man eines in Reserve hat. Vorsichtig strecke ich das Bein. Scheint nichts kaputtgegangen zu sein, tut aber verteufelt weh. Der Fahrer gestikuliert hinter der Scheibe, wohl vor Schreck oder um mir die Pest an den Hals zu wünschen. Keine Zeit für einen Blick zurück. Ich humpele zu den Bootsanlegern, drängele mich durch eine protestierende Reisegruppe, die vor einem der großen Pötte gerade für eine Rundfahrt ansteht. Ich haste weiter. Hinter mir höre ich Geschrei. »Asshole!« – »Fuck off!« – »Over my dead body!« Der Bodyguard scheint in Schwierigkeiten zu stecken. Am nächsten Anleger machen sie gerade die Halteleinen von einem kleineren Boot los. Einer der Halbgötter in Dunkelblau macht eine abwehrende Handbewegung, als ich näher komme. Ich springe auf den Gitterrost der Gangway, bevor sie ihn einziehen können, lande auf den Bootsplanken, halte mich an der Reling fest. Mit einem Scheppern wird die Gangway eingefahren. Der Bootsführer gibt Gas. Das Heck entfernt sich vom Ufer – sie lieben es, mit Karacho aus dem Hafen rauszubrettern. Von der Gardinenpredigt, die mir ein Strizzi mit einer weißen Angebermütze und Schwiegersohnuniform hält, kriege ich 79
nichts mit. Ich brabbele etwas in einer Phantasiesprache, die mir gerade in den Sinn kommt, und lasse mich auf einen der hinteren Sitze fallen. Als er meine bloßen Füße sieht, schüttelt er den Kopf. Ich drücke ihm einen Geldschein in die Hand. Widerstrebend gibt er mir ein Ticket, droht noch ein wenig mit dem Zeigefinger und verschwindet endlich. Am Bootsanleger sehe ich die Gestalt des Bodyguards aufragen. Sie wird kleiner, ist aber lange zu erkennen. Ich checke meine Beine, biege und strecke sie. Es kommt mir vor, als seien sie voll funktionsfähig. Beinahe breche ich in Lachen darüber aus. Dann fällt mir Lidia ein. Kaum anzunehmen, dass sie ihre Beine momentan gebrauchen kann. Nach einer Weile drehe ich mich um und schaue nach vorne in Fahrtrichtung. Die große Mittelkuppel des Delle Alpi steigt wie eine Erscheinung aus den dunstigen Fluten. Auf dem Seeweg anzukommen ist entschieden poetischer als die schweren Stahltore und das Sicherheitspersonal zu passieren, die an den Zugängen zu dem weitläufigen Anwesen unerwünschte Besucher fern halten. Ein Venedig-Gefühl, wenn man alles andere ausblendet. Ein Stück weiter befindet sich der Anleger von Cernobbio – einer Ortschaft, die irgendwann um die Villa herumgebaut wurde, damit sich auch die Bediensteten ein wenig vergnügen können und dabei unter sich bleiben. Ich merke, dass ich das Handy immer noch in der Hand halte. Es sieht aus wie ein silbernes Artefakt, das Indiana Jones gerade ausgebuddelt und mit dem Ärmel blank poliert hat, um es hoch über seinen Kopf in die untergehende Sonne zu halten. Nachdem ich es eine Weile betrachtet habe, rufe ich die SMS ab. Dabei halte ich das Display schief, damit ich etwas erkennen kann. Ich lese: »Muss dich unbedingt sehen. In der Kapelle auf dem Monte Bisbino. Phil.«
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ie haben Lidia entführt. Erdem. Er steckt dahinter, anders kann ich es mir nicht erklären. Wahrscheinlich saß er in der zweiten Limousine und hat den Einsatz seiner Leute koordiniert. Ob er wusste, dass sie an der Gegendemonstration teilnahm? Garantiert. Ist ja keine Kunst, eine Attac-Aktivistin aufzuspüren und in Erfahrung zu bringen, was sie gerade treibt. Stellt sich ja nicht jeder so dumm an wie ich. Es muss für ihn eine einmalige Gelegenheit gewesen sein. Das Beutetier verirrt sich nichts ahnend in das Revier des Jägers. Da konnte er ohne großen Aufwand berufliche Verpflichtungen mit seiner ganz persönlichen Vergeltung verbinden. Seine Untergebenen entsprechend zu instruieren war wohl nur Routine. Die greifen sich jeden, für den sie eine genaue Personenbeschreibung haben. Menschen zu finden, ist eine der einträglichsten Beschäftigungen, die man sich vorstellen kann. Ein Verhör wird es diesmal kaum geben wie damals im Palazzo degli Orsi, als Erdem von mir erfahren wollte, wer seinen Bruder umgebracht hat. Damals nahm ich Tony in Schutz, obwohl er es gar nicht gewesen war, sondern meine Tochter – was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste. Aber das ist vorbei. Das Einzige, was Lidia ihm Wissenswertes mitteilen könnte, ist Phils und mein Aufenthaltsort. Aber wie sieht es mit dieser Kapelle auf dem Monte Bisbino aus? Die Straße ist fast wieder trocken. Ich drücke richtig drauf, rühre in der Gangschaltung, als müsste ich mit dem stummeligen Knüppel jemanden erschlagen. Der Jag ist für die Serpentinen, die sich die Berghänge um den Comer See hinaufschlängeln, wie gemacht. Ein bisschen zu lang in den Kurven, aber das gleicht seine Straßenlage locker aus. Und der 81
satte Sound gibt mir ein wenig Selbstsicherheit zurück. Ist ja nicht so, dass ich davon im Übermaß hätte nach allem, was in den letzten Stunden passiert ist. Ich habe Vapor Trail won Vegas eingelegt. Ist schon ein bisschen älter, aus besseren, unbekümmerten Tagen, flößt mir aber den Mut und die Rücksichtslosigkeit ein, die ich jetzt brauche. Was wird er mit Lidia machen? Ich versuche, nicht daran zu denken. Was machen Leute wie Erdem mit jemandem, der ihnen einen meterlangen Holzsplitter von hinten durch die Brust gerammt und sie von einem Augenblick auf den anderen um ihre Rache gebracht hat? Sich mal nett vorstellen? Hallo, weißt du noch? Ich bin der, dem du die Lunge perforiert hast? Und keine Möglichkeit, an sie ranzukommen. Batu kann ich momentan vergessen, Nondas erst recht, was mich alles andere als in Sicherheit wiegt. Ich überhole einen Fiat Panda ohne darauf zu achten, ob mir ein Auto entgegenkommt. Sollen doch die anderen bremsen. Die Straße ist ohnehin frei. So frei wie Lidia und ich, als wir in Pisa zum letzten Mal zusammen waren. Zumindest aus ihrer Sicht, denn ich hatte keine Ahnung, mit wem ich es da getrieben habe. War ja schon zehn Jahre her, und sie hatte sich seither ziemlich verändert. Ein Zufall, wie er nie mehr wiederkehrt. So was passiert manchmal. Und wenn man dann nicht jedes Zeichen zu lesen imstande ist, einen Körper nicht erkennt, den Atem, die Berührungen und das Schweigen, dann macht sich der Zufall leise davon. Lidia hätte mich von alledem fortgebracht, noch bevor es richtig anfing, bevor Tony und Erdem ins Spiel kamen. Sie hätte mir geholfen, einen Schlussstrich zu ziehen, wie sie es schon einmal getan hat. Vielleicht hätte sie auch eine Lösung für Phil gewusst. Aber ich lag nur bewegungslos auf dem Bett, die Gedanken bei dem Shit und anderen belanglosen Dingen.
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Ich hab sie weggehen lassen. Sie hätte mich wieder rausgetragen aus dem Nebel, das weiß ich genau. Wenn ich nur ein Wort gesagt hätte, als sie mir die Kehle zugedrückt hat. Da hätte mir dämmern müssen, wer sie ist. Aber wenn es mir klar geworden wäre, fragt es sich, ob ich mich von dem gleichen Menschen ein zweites Mal hätte retten lassen. Ich bremse zu spät, aber der Jag reagiert sofort. Die Fliehkraft presst mich seitlich in den Sitz. Ich bleibe auf dem Gas, denke gar nicht daran zu kuppeln. Als ich den Scheitelpunkt der Kurve hinter mir habe, macht der Wagen einen Satz. Bei der Markenbezeichnung haben die sich wirklich was gedacht, das ist nicht nur so ein MarketingGag. Die Natur nachbauen – ohne diesen Gedanken gäb’s keine Maschinen, das steht doch am Anfang jeden Fortschritts. Muss jetzt an mein Mädchen denken. Nützt ihr ja nichts, wenn ich hier auf der Straße aus Unachtsamkeit zermatscht werde. Was hat diese SMS zu bedeuten? Erst meldet sie sich ewig nicht, und dann ist es plötzlich superdringend. Na ja, wahrscheinlich hat sie gute Gründe. Hat sie immer gehabt. Nur, dass sie mir ihre Gründe immer verschwiegen hat. In Livorno hätte ich sie dafür fast im Stich gelassen. Dann, als meine Wut über ihre Lügen abgeklungen war, habe ich mir geschworen, dass ich zu ihr halte, komme, was wolle. Allerdings habe auch ich meine Gründe, warum ich den Blödsinn anstelle, den ich so anstelle. Sie sind mit Phils Gründen unvereinbar, wie es scheint. Deswegen war es auch am besten, sie nach Kanada gehen zu lassen. Mit einem Ozean zwischen uns konnten wir wieder unsere eigenen Ziele verfolgen, ohne uns gegenseitig etwas vorzumachen – oder die Wahrheit sagen zu müssen. Die Serpentinen nehmen kein Ende. Ich fahre durch ein lang gezogenes Bergdorf. Es ist mehr eine Art Wochenendsiedlung, schmucke Ferienhäuser in leuchtenden Farben, Hausnummern 83
aus Keramik, Türklopfer in Form von Tierköpfen, ummauerte Gärten. Hin und wieder blitzt ein Rasenstück oder ein Swimmingpool hervor. Oder eine Dampfsäule lässt darauf schließen, dass jemand seine Sauna angeschmissen hat. Es reizt mich richtig, diesen Frieden zu stören. Aber dafür bin ich nicht hier. Der Monte Bisbino wäre kein italienischer Berg, wenn man nicht bis kurz unter den Gipfel hochfahren könnte. Was macht Phil da oben? Ich denke, sie ist aus ihrer Schule abgehauen. Nicht direkt abgehauen, weil das Schuljahr erst in, na ja, irgendwann demnächst beginnt. Sie will in meiner Nähe sein. Und irgendwie doch nicht. Sie hat gewusst, dass ich im Delle Alpi wohne. Wahrscheinlich ist sie in Mailand gelandet und mit dem Zug nach Como gefahren. Und dann ist sie eiskalt am Delle Alpi vorbeimarschiert, um diesen idiotischen Berg zu besteigen. Das sieht ihr ähnlich. Zu Fuß da hochtrampeln, um sich ihre Unabhängigkeit zu beweisen. Aber was hat sie davon abgehalten, mich zumindest zu benachrichtigen? Der Jag packt die nächste Kurve nicht. Viel kann ich nicht dagegen tun. Er bricht mit dem Heck aus, schlittert von der Fahrbahn und prallt gegen eine Hausecke. Ich werde ein bisschen durchgerüttelt, denke daran, dass ich zu stark gegengelenkt habe und besser die Handbremse gezogen hätte. Zugleich fallen mir noch eine ganze Menge anderer Dinge ein, die ich gern anders gemacht hätte. Dafür ist es jetzt zu spät. Als ich den Knick im Dach sehe, spüre ich körperlichen Schmerz. Den Jag hätte ich wenigstens noch zu Geld machen können. Jetzt klebt er an der Hauswand einer lombardischen Scheune. Warum weiß ich nie, wann ich vom Gas gehen muss? Ich löse den Sicherheitsgurt und pflücke meine Gucci von der Bodenmatte. Die Tür klemmt. Ich stemme mich dagegen. Sie
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fällt krachend auf die Straße. Etwas hüftlahm hieve ich mich aus dem Wagen und schaue mir die Bescherung an. Der Jag sieht fürchterlich aus. Unwahrscheinlich, dass da noch etwas zu retten ist. Ein Sportwagen mit Totalschaden ist ein Anblick, bei dem einem alles vergeht. Eine einzige Depression. Unter dem Autowrack fließt Benzin hervor. Es sammelt sich zu einem Bächlein und plätschert über den Asphalt talwärts, anscheinend hat’s den Tank erwischt. Zeit, sich eine Kippe anzustecken. Ich hole die Packung aus der schwarzen Lederjacke, die ich mir in der Hotelboutique auf Karte gekauft habe, wische ein paar Glassplitter von meiner Schulter und zünde mir eine an. Warum habe ich den Jag nicht gemietet? Warum musste ich das verdammte Ding kaufen? Ohne eine nennenswerte Versicherung, versteht sich, das war noch nie meine Art, Geschäfte abzuschließen, mit Netz und doppeltem Boden. Bisher haben die Sachen, die ich mir zulegte, immer mir gehört, bis sie auseinander fielen. Ich mache ungern etwas kaputt, wofür ich bezahlt habe. Andererseits weiß ich langsam, wann etwas seinen Zweck nicht mehr erfüllt. Wann etwas ausgedient und endgültig seinen Geist aufgegeben hat. Nach ein paar Schritten und ein paar Zügen werfe ich die Kippe über meine Schulter. In meinen neuen AntikstyleSneakers jogge ich bis zur nächsten Kurve. Hab mich etwas bergfest gemacht mit diesem Freizeit-Look. Dann geht der Tank in die Luft. Ich spüre es an meiner Wange, eine warme Brise. Könnte vom Meer stammen, wenn ich nicht wüsste, dass es weit weg ist, mit jeder Menge Berge dazwischen. Manchmal trennt man sich wie von selbst von lieb gewonnenen Dingen. Sie legen es regelrecht darauf an. Zum Gipfel ist es noch ein gutes Stück.
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ZWEITER TEIL
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ie einfach es war, eine von ihnen aus ihrer Mitte zu lösen. Je stärker ihre Gewissheit, auf der richtigen Seite zu stehen, desto mehr nimmt ihre Ahnungslosigkeit zu. Sie wähnen sich unverwundbar wie Kinder. Das Gefühl, gewappnet zu sein gegen Gefahren, die sie als überschaubar erachten. Sie erwarten Hiebe, Schläge, Geschosse: so etwas wie ein barbarisches Schauspiel, eine Vorstellung in einem antiken Zirkus. Dagegen wirkt die List und alles andere, was ihre festen Erwartungen unterläuft, wie eine außergewöhnliche Kulturleistung. Sie meinen, die verschwiegenen Zusammenhänge zu kennen. Das Wesen von Politik und Weltwirtschaft. Sie machen sich ein Bild von dem, was sie Globalisierung nennen. Sie organisieren ihren Protest, machen sich auf Polizeimaßnahmen gefasst. Aber auf einen gezielten Angriff gegen einen Einzelnen sind sie nicht vorbereitet. Sie denken als Gruppe, als Bewegung, genauso wie die Anhänger Ferros, sogar wie Ferro selbst, dem es gar nicht so sehr auf sein eigenes Wohl ankommt, wie seine Kritiker vermuten. Bereicherung ist immer nur ein Nebeneffekt. Er lässt sich leicht verschleiern. Aber er kommt immer nach den gleichen Regeln zustande. Sie alle glauben an Gemeinschaft. Das ist ihr Fehler. Es ist ihre große Blöße. Und es ist Ferros Zukunft. Dies hat er erkannt. Die Psychologie der Beeinflussung ist sein Handwerk. Er betrachtet die schlafende Frau. Sie liegt ihm gegenüber auf behaglichen Ledersitzen, die Beine geschlossen zu einem Zwillingslauf. So hat er es angeordnet. Sie soll ihre Würde behalten, er wird sie ihr nicht nehmen. In Würde zu sterben ist schmerzlicher als erniedrigt über den Boden zu kriechen. Es macht einem deutlich, was man verliert. 87
Wo ist ihre Gemeinschaft jetzt? Stiehlt sie sich durch ihre Träume? Weiß sie, wie allein sie ist? Noch lässt er sie in diesem Unwissen. Schlafwandler soll man nicht wecken. Sie schrecken auf und wissen nicht mehr, wo sie sind. Manchmal verlieren sie darüber den Verstand. Das wäre schade.
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ie Sonne verschwindet hinter dem Bergkamm. Ein letzter Wink des Tages. Ich öffne die Tür zur Kapelle. Im Inneren herrscht Dunkelheit. Nur ein paar Kerzen brennen im Altarraum. Der Luftzug, den ich mit mir hereintrage, lässt die Flammen flackern. Ich spüre Reste des Abendlichts, eine warme Bahn, die noch vor Minuten, vielleicht Sekunden im Raum gestanden haben mag. Es ist nur eine Ahnung, ganz schwach im Gegensatz zu der undurchdringlichen Kälte, die mich zu umfangen beginnt, nachdem ich die Pforte hinter mir geschlossen habe. Mich befällt die Gewissheit, dass jeder Moment des Glücks, sei es ein Tag unter entrückten Himmeln, die erste Nacht mit einem geliebten Menschen oder nur ein Atemzug in hohem Gras, unwiederbringlich verloren ist. Weil mein Gedächtnis davon nur einen Abglanz bewahren kann. Weil meine Vorstellungskraft zu schwach ist, die Fülle verbrauchter Empfindungen heraufzubeschwören. Weil die Spur, die davon bleibt, nur ein trügerisches Versprechen auf mehr ist. Wenn ich in einer Kirche bin und dieses seltsame Gemisch aus Wachs und Weihrauch rieche, kommen mir manchmal solche Gedanken. Ich ergehe mich in ihnen, weil sie mich für kurze Zeit zu jemand anderem machen. Dann schätze ich plötzlich meine Wahrnehmungen von mir und der Welt. Sie lindern vieles, dämpfen es ab. Sie sitzt in der vordersten Bankreihe. Ich sehe nur ihren Hinterkopf. Er ist kahl rasiert, schimmert im Dunkeln wie ein friedlich schlafendes Gesicht. Was hat sie mit ihrem schönen Haar gemacht? »Erlebt.« 89
Sie sieht mich nicht an. Ich setze mich in die Bankreihe hinter ihr und lege ihr eine Hand auf die Schulter, nicht zu schwer, damit sie nicht den Eindruck bekommt, ich wolle von ihr Besitz ergreifen. Solche Hemmungen gehen mir dauernd durch den Kopf. Was meine Tochter von mir denkt. Wie ich in ihrer Vorstellung aussehe. Einen Designer-Anzug trage ich da sicher nicht. Sie ergreift meine Hand, streicht über meine Finger, hält sie fest. Ihr Griff tut weh. »Hörst du mich, Viktor?« »Ich weiß«, antworte ich. »Hab’s heute erfahren.« Die Sehnen an ihrem Nacken zucken, aber sie dreht sich nicht um. Ein Tank-Top spannt sich über ihren Rücken. Ihre nackten Schultern sind nicht so knochig, wie ich sie in Erinnerung habe, sondern richtig muskulös. Sie muss trainiert haben, und zwar nicht zu knapp. »Stehen wir jetzt wieder am Anfang?«, fragt sie nach einer Weile. »Warum? Hast du wieder jemanden umgebracht?« Ein Kopfschütteln, resigniert, wie es scheint. »Sarkasmus. Ich wünschte, das könnte uns jetzt weiterhelfen.« Phil dreht sich zu mir um. Augen, so groß wie Autoscheinwerfer, die gerade erloschen sind. Sie nimmt einen Schluck aus der Bierflasche, die sie neben sich auf der Kirchenbank abgestellt hat, und wendet sich wieder ab. »Ich höre ihn noch«, sagt sie. »Jedes Wort. Er hat sehr deutlich gesprochen, damit ich alles verstehe und es mir genau einpräge.« Sie greift in eine Tasche ihrer Hose und holt einen kleinen Gegenstand hervor. Eine Weile wiegt sie ihn in der Hand und schaut ihn versonnen an. Dann schiebt sie ihn auf die 90
Holzfläche, auf der man normalerweise Gebetbücher ablegt oder beim Niederknien die Hände in Andacht verschränkt. Es ist ihr Bauchnabelpiercing. Der Schriftzug TONY in Brillanten. Es glitzert, hat einen Strahl Sonne in sich. »Erdem hat es mir nach Kanada geschickt. In einer Schmuckschachtel.« Sie nimmt das Piercing wieder weg, bevor ich es berühren kann. Mit einer verstohlenen Bewegung lässt sie es in ihrer Hosentasche verschwinden. »Was meinst du, warum er das getan hat?« »Vielleicht …« »Ich habe lange darüber nachgedacht. Während des Fluges, als ich zu dir gefahren bin, um mit dir darüber zu sprechen. Hatte ja keinen Sinn, in Sainte Claire zu bleiben, wenn er wusste, dass ich dort bin.« Einst bedeutete dieses Piercing Macht. Erdem hat es Phil vor ein paar Monaten in einer Frankfurter Disco abgenommen, um es dann ihrem Verlobten Tony zukommen zu lassen. Als Symbol dafür, dass Tony nicht der Einzige in Phils Nähe ist. Er wollte ihn provozieren. Aber bevor es Tony kriegen konnte, hat Phil es sich zurückgeholt. Und es erneut an Erdem verloren im Palazzo degli Orsi, einem schäbigen Hotel in Pisa. Eine Menge Blut ist dort geflossen. Ich habe das Piercing vollkommen vergessen. Jetzt ist es wieder da, unverlierbar, unzerstörbar. »Ich weiß, dass ich Erdem das Leben geschenkt habe«, fährt sie fort. »Und ich weiß, dass ich kurz davor stand, ihn zu töten. Dass ich es getan hätte, wenn ich es wirklich gewollt hätte. Was für ihn wohl schlimmer ist?« »Du stehst auf seiner Liste«, werfe ich ein. »Für beides.« Sie deutet auf das Piercing. »Was, wenn es für Erdem das ist, was es für Tony war? Ein Verlobungsring?« 91
»Was meinst du damit?« Sie steht auf und geht zu dem Altar hinüber. Weiß sie, wieviel Angst ich vor dem habe, was sie jetzt denkt? Weiß ich es? Was ist wohl schlimmer? Von Erdem geliebt oder von ihm gehasst zu werden? Ihre Finger streichen über die Steinplatte des Altars, verharren am Rand. Auf ihrem Tank-Top erkenne ich einen Aufdruck: Che Guevara, mit Blümchen außenrum. Der hat uns noch gefehlt. »Vor einer halben Stunde hat Erdem mich angerufen.« Verblüfft starre ich sie an. Sie macht eine Pause, setzt sich auf die oberste Stufe und trinkt ihr Bier in einem langen Zug aus. »Ich hatte das Handy eine Zeit lang ausgeschaltet. Wollte nicht gestört werden, wie du siehst.« Sie streckt die Hand zur Decke der Kapelle empor und schwenkt sie in einem Bogen durch den dunklen Raum, als wolle sie mir das Gewölbe zeigen. »Ich habe es erst wieder aktiviert, als ich dir die SMS geschickt habe. Kurz darauf klingelte es. Nach der Anzeige zu urteilen, kam der Anruf von Lidia. Gewissermaßen stimmte das auch. Aber Erdem war dran.« Ich nicke. »Lidia war heute Nachmittag auf einer Kundgebung in Como. Einer von Erdems Leuten hat sie geschnappt, ohne dass es jemand bemerkt hat. Sie wurde entführt.« Phil denkt kurz nach. »Dann hat er sich ja nicht viel Zeit gelassen.« »Womit?« Sie atmet schwer aus. Schweigt. »Was hat er mit ihr gemacht?« Ich werde ungeduldig, wehre mich dagegen, das Schlimmste zu befürchten. »Es hat sich so angehört, als sei sie von irgendwas benebelt«, sagt sie mit stockender Stimme. 92
»Hast du mit ihr gesprochen?« »Sie hat … nur unzusammenhängendes Zeugs von sich gegeben. Es war kaum etwas zu verstehen, irgendwelche Verwünschungen. Jedenfalls dauerte es nur kurz, bis sich Erdem wieder gemeldet hat.« Ihr Blick löst sich von mir und bohrt sich in die Dunkelheit. Eine Stille tut sich auf, tief wie eine Schlucht. »Und dann hat sie geschrien. Ohne Unterbrechung.« Die Stille weitet sich. »Er hat sie gefoltert«, stelle ich überflüssigerweise fest. »Ich weiß nicht.« Sie schüttelt nachdenklich den Kopf. »Anfangs dachte ich das auch. Es hat übel geklungen. Zwischen den Schreien hat sie so würgende Geräusche von sich gegeben. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich gegen irgendwen gewehrt hat. Oder gegen irgendwas.« »Was wollte Erdem?« »Nichts. Er hat nur gesagt, dass Lidia bei ihm ist. Und dass ich genau hinhören soll.« »Das war alles? Hat er dir nicht gedroht?« »Nein. Ich nehme an, das hielt er nicht für nötig.« »Hat er Forderungen gestellt? Sollst du irgendwohin kommen, damit er sie freilässt?« Ich stehe auf und gehe zum Altarraum nach vorne. »Ich verstehe das nicht. Was soll das Ganze?« »Er will mir Angst einjagen«, antwortet Phil. Sie sitzt immer noch auf den Stufen, ist ganz ruhig. Sie spricht mehr mit sich selbst als zu mir. »Bestimmt wird er wieder anrufen.« »Weißt du, was ich denke: Erdem ist übergeschnappt. Oder größenwahnsinnig. Er kann doch nicht einfach Leute auf offener Straße kidnappen. Ich meine, Attac stellt sicher Nachforschungen an. Italien ist doch nicht Chile.« »Es ist so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit.« 93
»Wie bitte?« »Lidia hat ihn in Livorno fast umgebracht. Dafür muss sie jetzt büßen. Ist ja ein Wunder, dass er überhaupt noch lebt.« »Lidia hat uns gerettet! Wenn sie nicht mit diesem Holzkeil gekommen wäre, hätte er uns der Reihe nach abgeknallt.« »Das bezweifle ich.« »Hast du sie noch alle?« »Er hat Tony erschossen. Dadurch hat er seine Rache gekriegt. Mehr wollte er nicht. Das habe ich kapiert, als er in der Bootshalle vor mir gekniet ist.« »Und warum hat er uns unter Beschuss genommen, nachdem er Tony erwischt hatte?«, wende ich ein. Langsam zweifle ich an ihrem Verstand. »Und warum hat er Gwizdek getötet, wenn das Konto ausgeglichen war, wie du sagst?« »Kollateralschäden«, gibt sie zurück. »Im Eifer des Gefechts passiert das eben. Der Automatismus der Gewalt. Außerdem hat Gwizdek ein paar seiner Leute getötet, vergiss das nicht.« »Komm mir jetzt nicht mit solchen Phrasen. Du malst dir das im Nachhinein so aus. Du versuchst, dahinter irgendeine Ordnung zu erkennen. Als ob ein Toter den anderen aufwiegen würde.« »Darauf läuft es hinaus.« »Außerdem fiele unter deine so genannten Kollateralschäden auch Lidias Aktion«, füge ich hinzu. »Das stimmt doch hinten und vorne nicht.« »Lidia hatte nichts mit der Sache zu tun. Sie hätte sich raushalten sollen.« »Erdem pfeift auf diese naive Aufrechnerei.« »Das tut er nicht. Ich habe mit ihm darüber gesprochen. Er sieht inzwischen alles sehr nüchtern.« »Was hast du getan?« 94
»Ich habe ihn überredet, Lidia nicht zu töten. Vorhin am Telefon. Mit meiner naiven Aufrechnerei.« Ich brauche eine Weile, um das zu verdauen. Unruhig laufe ich vor dem Altar hin und her. Der Steinboden knirscht unter den Sneakers. »Das ist doch nicht dein Ernst?« »Es geht mir ganz schön an die Nieren, dass er Lidia festhält, das kannst du mir glauben. Aber Erdem und ich – wir haben verhandelt. Ich sagte zu ihm, dass Lidia ihn schließlich nicht getötet hat. Dass sie gar nicht die Absicht hatte und ihn nur außer Gefecht setzen wollte. Dass letztlich nur das zählt, was dabei herausgekommen ist. Und dass er deshalb keinen Grund hat, sie zu töten.« »Denkst du immer noch, du könntest mit ihm ein Geschäft abschließen?« »Ich musste doch irgendwas sagen«, erwidert sie. »Warum nicht das, wovon ich überzeugt bin?« »Ist er darauf eingegangen?« »Er meinte, dass er darüber nachdenken muss. Lidia hat geschrien, bis er das Gespräch abbrach. Das heißt, dass sie zu diesem Zeitpunkt noch am Leben war.« Sie richtet den Blick zu Boden. »Und du glaubst ihm?« »Warum nicht? Er hat mich nie angelogen.« Wahrscheinlich stimmt das sogar. Sie steckt die Bierflasche ein, erhebt sich von den Stufen und geht zu der Madonnenstatue, die neben dem Altar auf einem Holzgestell aufgebaut ist. Selbst im Schein der Kerzen ist zu erkennen, wie kitschig das Ding ist. In Farben bemalt, die an Babykleidung erinnern. Sieht aus wie die Nachahmung einer Nachahmung.
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Davor steht eine Art Metallrahmen, an dem mehrere Reihen eiserner Dorne angebracht sind. Auf einigen stecken brennende Kerzen – Beschäftigungstherapie für die Touristen, die hier heraufkommen. Phil nimmt eine Kerze, zündet sie an einer anderen an und steckt sie sorgfältig auf einen Dorn. Sie faltet die Hände, neigt ihren Kopf. Ich wusste gar nicht, dass sie religiös ist. Vielleicht liegt das an Tonys Einfluss und dem seiner italienischen Familie. Für wen betet sie wohl? »Meinst du, wir sind hier sicher?«, geht es mir plötzlich durch den Kopf. »Kann er dein Handy orten?« Die ganze Misere in Pisa und Livorno entstand nur dadurch, weil sich in Phils Handy eine Wanze befand. Erdem hatte die Geräte unauffällig ausgetauscht, als er Phil das Piercing in Frankfurt abnahm. Er schob ihr ein präpariertes Handy unter und konnte dadurch immer unseren Standort ausfindig machen, wenn sie telefonierte. Unbeirrt beendet sie ihr Gebet und wirft noch einen Blick auf die Madonna, nicht unterwürfig, wie man es bei vielen gläubigen Menschen sieht, sondern mit einem Funkeln in den Augen, als habe sie einen festen Vorsatz gefasst und sage sich ihn noch einmal vor. Dann setzt sie sich in die erste Bankreihe. »Ich hab mir ein anderes besorgt, als er mir das Piercing ins Sainte Claire geschickt hat. Das war mein erster Gedanke.« »Dann kann ich ja lange auf deine Mailbox quatschen. Warum hast du mir nicht gesagt, dass du eine neue Nummer hast? Und überhaupt: Warum erfahre ich nichts von alledem? Das mit dem Piercing muss ich doch wissen!« »Jetzt weißt du’s. Das reicht doch.« »Das tut’s verdammt noch mal nicht! Wir spielen hier nicht Blindekuh oder so was. Lidia hast du offenbar deine neue Nummer mitgeteilt, sonst könnte dich Erdem nicht über ihr Handy erreichen. Und wenn er die Nummer kennt, kann er dein Handy auch anpeilen.« 96
»Niemand kennt meine neue Nummer. Die Anrufe gehen auf meinem alten Handy ein und werden auf das neue umgeleitet.« »Und wo befindet sich das alte?« »In Kanada. Ist ein bisschen teuer, mich anzurufen.« Rufumleitung – anscheinend bin ich nicht der Einzige, der auf diese Idee kommt. Immerhin ist Phil vorsichtig geblieben. Eigentlich habe ich sie noch nie so in sich ruhend gesehen. Meditiert sie oder macht sie irgend so einen heiligmäßigen Konzentrationskram, bei dem man seine innere Mitte findet? Als ob es die gäbe. Die Mitte des ganzen Drecks, aus dem wir zusammengesetzt sind. Ich muss daran denken, dass Erdem nach Phils Logik auch noch eine Rechnung mit mir offen hat. Schließlich habe ich Samir erschossen. Aber das ist momentan nicht das dringlichste unserer Probleme. »Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als auf seinen nächsten Anruf zu warten«, schlage ich vor. »Richtig.« »Vielleicht lässt er Lidia am Leben, um dich zu ihm zu locken.« »Mag sein.« »Versprich mir, dass du es nicht so weit kommen lässt.« »Ich kenne ihn«, gibt sie zurück. Ein Flackern in ihrem Blick, vielleicht von den Kerzen. »Ich weiß, was ich nicht tun darf.« »Es ist nämlich so«, fange ich an. »Ich habe da jemanden getroffen. Heute Morgen …« Ich breche mitten im Satz ab. Ein Quietschen wie das Winseln eines eingesperrten Tieres. Die Pforte öffnet sich. Obwohl sich meine Augen an die spärliche Beleuchtung gewöhnt haben, kann ich nichts erkennen. Jemand kommt herein. Die Schritte verstummen. Phil und ich rühren uns nicht von der Stelle. 97
Die Umrisse einer hoch gewachsenen Gestalt zeichnen sich in dem Türrahmen ab. Sie hat einen langen Gegenstand in der Hand, einen Stab oder eine Stange. Schließlich setzt sie sich in Bewegung. Langsam geht sie zwischen den Bankreihen hindurch. Als sie in den Lichtschein der Opferkerzen tritt, erkenne ich einen jungen Mann. Er trägt ein kariertes Hemd und Kordhosen. Ein Schlüsselbund klimpert in seiner Hand. »Adesso devo chiudere«, ruft er Phil zu. Als er mich sieht, zögert er. Phil stellt mich vor. Er heißt Marco und betreibt das Rasthaus, das direkt an die Kapelle angebaut ist. Nachdem er mich interessiert betrachtet hat, fragt er, ob ich zu Fuß da sei. Auf dem Parkplatz habe er kein Auto gesehen. Die Tagestouristen seien alle schon weg. Ich antworte, dass ich die Strecke vom Comer See hochgewandert sei. Er nickt anerkennend, schaut aber zweifelnd auf meine pastellfarbenen Sneakers. »Seit wann bist du eigentlich hier oben?«, frage ich Phil. »Seit gestern«, antwortet sie. »Am besten, du übernachtest hier. Im Dunkeln ist der Weg schwierig zu finden. Es sei denn, du willst die Straße runterlaufen.« Ich stimme ihr zu und frage Marco, ob er noch ein Zimmer für mich habe. »Kein Problem«, erwidert er in einem schweizerisch gefärbten Deutsch. Die Hauptsaison sei schon vorbei, und bei dem Regen kämen die Leute sowieso nur mit dem Auto zum Gipfel herauf. Sie tränken einen Amaro und fuhren danach wieder weg. Außer Phil würde niemand hier übernachten. Wir könnten auch ein Doppelzimmer haben, fügt er mit einem anzüglichen Blick hinzu. »Sei sordo, Marco? Non dir sciocchezze.« Phil gibt ihm einen Knuff an die Schulter und geht an ihm vorbei. 98
Ich folge ihr. An der Pforte bleiben wir stehen. Marco löscht die Kerzen, eine nach der anderen. Dafür benutzt er die Stange, an deren Ende eine Kappe aus angelaufenem Messing steckt. Seine Bewegungen folgen einem eingeübten Rhythmus. Wahrscheinlich macht er das jeden Abend. Es wirkt sehr behutsam. Man hört kein Zischen oder so etwas. Die Kappe senkt sich auf die Flamme und bringt sie lautlos zum Verlöschen. Nicht ein einziger Docht glimmt nach. Nur die Opferkerzen brennen weiter. Ihr Licht dringt nicht weit. Wir verlassen die Kapelle. Marco stellt die Stange in eine Ecke neben der Pforte und sperrt hinter uns zu. Phil geht vor mir her. Auf ihren Nacken fällt Mondlicht.
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oh-oh-ooh, I’m on fire«. Heather Nova in einer Version, die Bruce Springsteen niemals so hinbekommen hätte. Ich mag Frauenstimmen. Phil hat die CD aus einem Stapel neben der Anlage gefischt und in das Gerät eingelegt, als sei sie hier zu Hause. Sie holt zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank. Wir setzen uns an einen Tisch gleich neben der Bar, während Marco in der Küche verschwindet, um etwas zu essen zu machen. Ich strecke die Beine aus. Meine Füße schmerzen. Als mich der Bodyguard verfolgt hat, ist ein Zehennagel eingerissen. Die Sohlen sahen danach auch nicht gerade frisch pedikürt aus. Das letzte steile Stück zur Kapelle fühlte sich an, als liefe ich auf glühenden Kohlen – nicht wie bei diesem Selbstüberwindungshokuspokus, wo den Leuten weisgemacht wird, sie könnten ihr Leben in den Griff kriegen, wenn sie sich nur ein wenig zusammenrissen und mit feuchten Fußsohlen über ein paar Meter Glut spazierten. Ein paar Meter Glut – dagegen ist unsere derzeitige Situation eine Bahn aus heißer Lava, die noch dazu in Bewegung ist, weil sie sich einen riesigen aufgeplatzten Berg herunterwälzt. Phil setzt die Bierflasche an und nimmt einen Schluck. »Trinkst du das Zeug den ganzen Tag über?«, frage ich in einem Anfall von väterlicher Bevormundung. »Mir geht’s gut«, sagt sie und schlüpft in ihre Jeansjacke, die über der Stuhllehne hängt. »Nett, dass du gefragt hast.« »Tut mir Leid. War nicht so gemeint.« Sie macht gar nicht den Eindruck, als spülte sie ihren Frust seit Neuestem mit Bier runter. Aber so etwas rutscht einem eben so raus, wenn man nur ein paar dürftige Hinweise auf den 100
Lebenswandel seiner einzigen Tochter hat. Da nimmt man jedes kümmerliche Detail ungeheuer wichtig: die Frisur, ein Kleidungsstück, ein Getränk. Und die entscheidenden Vorgänge, die sich unter der Oberfläche abspielen, übersieht man. Oder, was noch schlimmer ist, man missdeutet sie. Ich sehe mich in dem Gastraum um. Glücklicherweise schaut’s hier nicht nach einer alpenländischen Touristenfalle aus, mit glatt geschmirgelten Tischen, schmiedeeisernen Einzäunungen zwischen den Sitzgruppen und jeder Menge bäuerlichem Unrat an der Wand. Es herrscht eher anonyme Derbheit. Ein unförmiger Deckenbalken über unseren Köpfen, durchgelatschtes Parkett zu unseren Füßen und Fenster aus dem Baumarkt, durch die man besser nach draußen sehen könnte, wenn sich Marco mit dem Konzept eines sauberen Lappens anfreunden würde. Mal was anderes als das Delle Alpi. Es gibt sogar einen Kamin, der allem Anschein nach unbenutzt ist, gähnend und schwarz wie das Maul einer Krypta. »Also, wie fühlst du dich?«, probiere ich es noch einmal und nehme mich etwas zusammen. »Besser als ich dachte – nach dem ersten Schock, als Erdem angerufen hat.« Sie sitzt kerzengerade auf ihrem Stuhl, trägt eine helle Trekking-Hose mit aufgenähten Taschen und feste OutdoorSchuhe, keine Ahnung, ob das zu einem bestimmten Look gehört oder ob sie die Sachen trägt, weil sie praktisch sind. Dann räuspert sie sich und schlägt die Beine übereinander. Sie wirkt ruhelos. »Hast du Angst?« Sie schüttelt den Kopf. Mit einem Finger fährt sie die Maserung der Tischplatte nach. Natürlich hat sie Angst. Sie gibt es nur nicht zu. Oder sie will es nicht wahrhaben. »Warum bist du dann hier raufgekommen?«, hake ich nach. »War das so ’ne Art Flucht?« 101
»Ich musste nachdenken. Allein sein.« »Du hättest dich wirklich bei mir melden können.« Ich versuche, keinen Vorwurf durchklingen zu lassen. »Ich hab mir Sorgen gemacht.« »Nachdem er mir das Piercing geschickt hat, blieb mir nichts anderes übrig, als nach Europa zurückzukehren. Ich konnte ja nicht warten, bis Erdem irgendwann in Sainte Claire auftaucht oder jemanden vorbeischickt. Also habe ich die Initiative ergriffen. Das ist besser als darauf zu warten, was er als Nächstes tut.« »Hast du darauf geachtet, ob dir jemand folgt?« »Wenn ich etwas gelernt habe, dann dass ich mir den Rücken freihalte«, antwortet sie unwillig. »Ein Fehler wie damals passiert mir kein zweites Mal. Niemand soll wissen, wo ich bin oder was ich vorhabe.« Sie kramt in ihrer Hose, legt ihr Handy auf den Tisch und prüft mit einem schnellen Blick das Display. »Ich bin nach Paris geflogen und von da aus weiter nach Zürich. Dann habe ich den Zug genommen, bin ein paar Mal umgestiegen. Das letzte Stück nach Como bin ich per Anhalter gefahren. Falls einer von Erdems Leuten an mir dran gewesen ist, habe ich ihn abgeschüttelt, darauf kannst du dich verlassen.« Das ist also Globalisierung: eine Welt, in der wir uns frei bewegen können, wenn uns der Tod auf den Fersen ist – nur dass sich der Tod ebenso frei bewegen kann, wenn er es richtig anstellt. Viel ist dabei nicht gewonnen. Jede Grenze, die fällt, führt nur dazu, dass manche Dinge ein wenig schneller ablaufen als früher. »Wenn ich Erdem umgebracht hätte, sähe alles anders aus, nicht wahr?« Sie schaut mich fragend an. Zum ersten Mal scheint sie eine Antwort zu erwarten. »Und was hättest du danach mit dir angestellt?« Als Phil das letzte Mal versucht hat, einen Fehler wieder gutzumachen, verlor sie sich dabei so sehr, dass sie sich deswegen die 102
Pulsadern geöffnet hat. »Wie wärst du eine zweite Leiche wieder losgeworden?« »Du hast Recht«, gibt sie zurück. »Es hätte alles nur noch mehr aus dem Gleichgewicht gebracht.« »Es gibt kein Gleichgewicht. Was bitte soll denn im Gleichgewicht sein? Tod und Leben?« »Was denn sonst?« Sie schaut mich verwundert an. »Bis zu einem gewissen Grad jedenfalls.« Ausnahmsweise gehe ich auf diesen spirituellen Quatsch ein. »Und was soll das Gleichgewicht wiederherstellen? Was muss Lidia zustoßen, damit Tod und Leben wieder ausgeglichen sind?« »Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich das irgendwie zu Ende bringen muss.« »Du willst es zu Ende bringen?«, frage ich ungläubig. »Erdem hört sich an, was ich ihm zu sagen habe. Er hört mir zu. Das ist doch schon was.« Sie rutscht auf ihrem Stuhl hin und her, überlegt. »Vielleicht begnügt er sich mit weniger als dem Tod. Vielleicht fügt er ihr eine Verletzung zu, wie sie ihm zugefügt wurde. Er könnte ihr den Bauch aufschlitzen.« Ich greife in die Innentasche meiner Lederjacke und taste nach der Plastiktüte. Darin bewahre ich die leere Spritze auf, wegen Fingerabdrücken und so, kann sein, dass uns das noch von Nutzen ist. Da es im Delle Alpi praktisch kein Plastik gibt, musste ich mir an der Rezeption eine Tüte geben lassen. Der Mann am Empfang schaute mich an, als wollte ich darin die Austern vom Frühstücksbuffet nach draußen schmuggeln. Ich lege die durchsichtige Tüte mit der Spritze auf den Tisch. Anscheinend tragen wir beide unsere kleinen Erinnerungsstücke mit uns herum. »Die habe ich an dem Ort gefunden, wo Lidia entführt wurde.«
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Sie ergreift die Tüte mit den Fingerspitzen und hält sie gegen die Lampe an der Decke. »Ist es das, was ich denke?« Ich nicke. Sie weiß von Lidias und meiner gemeinsamen Vergangenheit. Lidia hat Phil in Pisa ihre Version erzählt. Dass ich sie an die Nadel gebracht hätte, als sie im Alter von Phil war, dass ich dabei nur an mich gedacht hätte. Phil sprach mich einmal darauf an. Sie hatte schon vor ein paar Monaten diesen Wiedergutmachungstick, ich solle mit Lidia ins Reine kommen, mich mit ihr versöhnen – keine Ahnung, was sie sich davon versprach. Sie hat mir keine richtigen Vorwürfe gemacht. Ich glaube, es hat sie nur in der Annahme bestätigt, dass ich für ein Zusammenleben mit ihr untauglich bin. »Ich nehme an, sie haben Lidia damit betäubt«, erkläre ich ihr und stecke die Plastiktüte wieder ein. »Vielleicht haben sie noch etwas beigemischt, ein Narkosemittel oder so etwas. Erdem kennt sich mit der Dosierung sicher aus. Jedenfalls hat es gewirkt. Lidia ist sofort weggetreten.« »Wie kannst du das wissen?« »Ich habe sie aus der Entfernung beobachtet. Obwohl ich gar nicht wusste, dass sie an dieser Demo teilnimmt. Sie tauchte ganz plötzlich in der Menge auf. Als ich sie sah, hätte ich den Camcorder fast fallen lassen.« »Welche Demo?«, fragt sie ungehalten. »Wovon sprichst du überhaupt?« Eigentlich hatte ich nicht vor, meine jüngsten … Projekte ihr gegenüber zu erwähnen. Aber das lässt sich jetzt wohl nicht vermeiden. Wahrscheinlich wird es sie in ihrer Einschätzung von mir bestätigen. Es wäre nicht das erste Mal. »Besser, ich fange von vorne an«, erwidere ich und erzähle ihr zunächst die Geschichte mit den Auktionen und mit Nondas. Zyna verschweige ich ohne besonderen Grund, vielleicht, damit Phil nicht auf den Gedanken kommt, ich hätte was mit ihr angefangen. Oder Zyna gegen sie eingetauscht als eine Art 104
Tochterersatz, man weiß ja nie, was in einem Mädchenkopf so vorgeht. Phil nickt hin und wieder, als sei ihr das alles nicht neu. Ist es auch nicht, wenn man die Sache mit dem Shit bedenkt, den ich gegen ihren Willen doch noch verkauft habe. Dann erzähle ich von Ferro und der Kundgebung, von der Rolle, die Erdem bei der ganzen Sache spielt, von Lidia und wie mich der Bodyguard quer durch Como verfolgt hat. Sie hört aufmerksam zu. Ich zeige ihr die Aufnahmen, die ich mit dem Camcorder gemacht habe. Sie spult immer wieder zurück, scheint sich alles genau einzuprägen. Schließlich legt sie das Gerät weg. Es folgt ein langes Schweigen. Sie starrt aus dem Fenster. Der Nachthimmel hebt sich hell von einem Waldstück ab, das bis an den abgeflachten Gipfel des Monte Bisbino heranreicht. Sonst ist nichts zu erkennen. »Was meinst du?«, fragt sie. »Wie hat sie auf das Zeug reagiert?« »Auf das Heroin?« »Ja. Sie muss das Gefühl doch noch kennen.« »Klar kennt sie das«, antworte ich. »Ist zwar ’ne Weile her, seit sie auf den Stoff abgefahren ist, aber das vergisst man nie. Dein Körper vergisst es nie, deine Synapsen. Die wissen sofort, was sie mit deinem Gehirn anstellen müssen. Das ist wie ein Lichtschalter, der seit einer Ewigkeit nicht mehr betätigt wurde. Die Leitungen sind gelegt, Strom ist auch noch drauf. Wenn du den Schalter umlegst, geht die Glühbirne an, fertig. Na ja, keine Glühbirne, eher ein 10000-Watt-Scheinwerfer, der dir die Netzhaut wegschmurgelt.« »Das heißt, sie ist wieder voll drauf.« »Hast du dir die Größe der Spritze angeschaut?« Ich hole die Plastiktüte noch mal hervor und zeige sie ihr. »Ich glaube, sie haben ihr nur eine kleine Dosis verabreicht, genug, damit sie ruhig gestellt ist, ihren Willen verliert, damit sie keine 105
Gegenwehr leistet. Als Erdem dich angerufen hat, ließ die Wirkung vielleicht schon nach.« »Das wäre logisch«, überlegt sie. »Warum sollte er Lidia dauerhaft auf Heroin setzen? Dann kriegt sie ja gar nicht mit, wenn er was anderes mit ihr anstellt, oder?« »Zuerst hat sie sich bestimmt großartig gefühlt. In so einem Moment wird dir klar, was du vermisst hast, all die Jahre der Entbehrung. Ein Teil von dir erinnert sich an den Hunger, den du lange genug mit dir herumgetragen hast wie eine kleine Fleisch fressende Bestie, die an deinen Eingeweiden nagt, den Hunger, den du irgendwann verdrängt hast, den du vor dir versteckt hast. Du fragst dich, wie dein Leben ohne das Zeug funktioniert hat, warum es funktioniert hat. Du bist dir selber ein Rätsel, nur ganz kurz, denn über so etwas Beschissenes wie ein Rätsel brauchst du dir auf Heroin keine Gedanken zu machen. Rätsel, das sind die anderen, alles außerhalb von dir und deinem Körper, und da soll es verdammt noch mal auch bleiben. Aber dann … Das Perverse ist, dass sie sich den Schuss nicht selber gesetzt hat.« »Sie wurde missbraucht«, wirft Phil ein. »Das ist das Gleiche wie eine Vergewaltigung.« »Mag sein. Sicher spielt das auch mit rein.« Obwohl ich bezweifle, dass ein Vergewaltigungsopfer es mittendrin plötzlich gut findet. »Ich glaube eher, es tritt in den Hintergrund. Wenn du wieder runterkommst, setzt der Ekel ein. In diesem Fall ein zweischneidiger Ekel. Einerseits hast du dich fantastisch gefühlt, und ein bisschen spürst du das High noch, es ist noch bei dir, liegt neben dir auf den feuchten Laken. Wenn du den Arm ausstreckst, kannst du es sogar berühren. Andererseits warst du von dem Zeug ja runter. Du wolltest dich gar nicht fantastisch fühlen, zumindest nicht auf diese Weise, nicht unter Zwang.«
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»Bestimmt hasst sie ihn«, sagt Phil zu sich selbst. »Wenn sie könnte, würde sie ihn umbringen.« »Sie hasst Erdem dafür, dass er ihr das angetan hat«, stimme ich ihr zu, »keine Frage. Aber noch mehr hasst sie sich selber dafür, dass sie sofort wieder darauf angesprungen ist. Sie hasst sich mehr als Erdem.« »Aber damals ist sie doch ohne fremde Hilfe clean geworden«, wendet Phil ein. »Sie hat schon vor Jahren damit abgeschlossen.« »Das nützt ihr gar nichts. Jetzt ist sie wieder drauf, unwiderruflich.« »Er hat sie wieder abhängig gemacht?« »Genau. Kann sein, dass er nichts von ihrer Vergangenheit wusste und einfach das erstbeste Betäubungsmittel nahm, das zur Hand war. In seinem Fall war das wohl Heroin, was sollte ein Drogendealer sonst nehmen? Ich denke aber, dass er Nachforschungen angestellt hat. Das ist kein Zufall. Er hat es geplant. Und jetzt kostet er es aus.« »Kommt sie davon wieder weg?«, fragt Phil mit harter Stimme. Sie hat sich immer mehr in sich zurückgezogen, seit wir über Lidia und die Heroinspritze sprechen, ist auf ihrem Stuhl in sich zusammengesunken. Gedankenverloren kaut sie auf ihren Fingernägeln herum. »Ein Schuss ist unter Umständen nicht so wild. Das kriegt man unter Kontrolle. Zur Not macht man eine Entgiftung und hakt es ab. Wenn er ihr mehr spritzt, wird es schwerer.« Wir tauschen Blicke. Was auch immer Erdem mit Lidia vorhat – er wird alles tun, um es ihr schwerer zu machen. »Aber sie hat es schon einmal geschafft«, setze ich hinzu, um Phil zu beruhigen. »Es wird ihr wieder gelingen, davon bin ich überzeugt.«
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Was nicht heißt, dass es ohne die schlimmsten Panikattacken abgehen wird, die man sich vorstellen kann. Lidia hat das schon mal durchgemacht, und sie hat’s einigermaßen unbeschadet überstanden, okay. Aber beim zweiten Mal wird das kein bisschen leichter. Man meint, die Menschen seien in der Lage, aus ihren Erfahrungen zu lernen. Das mag auch so sein. Aber auf Heroin trifft das nicht zu. Da fängt alles immer wieder von neuem an. Mit einem Seufzer setzt Phil sich auf und nimmt einen Schluck von ihrem Bier. »Wo bleibt eigentlich Marco?«, wundert sie sich. Jetzt fällt es mir auch auf. Seit er in der Küche verschwunden ist, hat er sich nicht mehr blicken lassen. Für einen Augenblick lauschen wir stumm. Aus der Küche ist nicht das Geringste zu hören, obwohl die Tür nur angelehnt ist und einen Spalt breit offen steht. Als Phil den Mund öffnet, um ihn zu rufen, lege ich einen Finger auf meine Lippen. Sie erstarrt, versteht. Langsam gleitet sie von ihrem Stuhl. Ich hebe die Hand, bedeute ihr zu warten. »Ich muss mal pinkeln«, sage ich laut. »Bin gleich wieder da.« Mit ein paar Schritten bin ich bei der Tür, die zur Kapelle führt. Der Schlüssel steckt. Ich drehe ihn zweimal herum. Neben der Tür befindet sich eine winzige Toilette. Ich werfe einen Blick hinein, sehe ein Loch im Boden mit zwei Trittflächen daneben, das Pissoir. Dann checke ich das Zimmer hinter der Bar, das durch einen Perlenschnurvorhang von dem Gastraum abgetrennt ist, ein kleines fensterloses Büro. Niemand da. An der Garderobe hängt eine schwere Goretex-Jacke, ein Rucksack, eine Bahn Nylonseil – Bergsteigersachen. Ich krame ein wenig herum, finde einen Pickel, wie man ihn zum Klettern verwendet. Besser als nichts. Ich wiege ihn in der Hand.
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Als ich zurückkomme, nicke ich Phil zu. Den Rücken freihalten. Wie sich die Gewohnheiten ändern, wenn wir eine Bedrohung verspüren. Wir versuchen, kein Geräusch zu machen. Phil bewegt sich ganz geschmeidig, geht dabei leicht in die Knie. Wo hat sie denn das gelernt? Sie greift hinter sich und zieht – ich glaub es nicht – ein Messer. Es kommt mir vor wie ein beschissenes Déjà-vu, wie so ziemlich alles, was seit dem Morgen passiert ist. Die Fabrikhalle. Mustis Körper. Nur dass ich keinen Bolzenschneider, sondern einen dämlichen Pickel in der Hand halte. Als Phil meinen Blick sieht, lächelt sie schwach. Ein halber Mond, an den Rändern gekräuselt. Mit einem Messer fing das Verhängnis an. Nicht mit diesem. Es hat eine breitere Klinge. Und einen Ring anstelle eines Griffs. Phil hat zwei Finger hindurchgesteckt und ihre Hand zur Faust geballt. Sie hält es ganz dicht am Körper und deckt es mit der anderen Hand ab, damit man es nicht sofort sieht. Es sieht aus, als hätte sie das Ganze geübt. Ich ignoriere die Holztreppe, die ins Obergeschoss führt. Wenn jemand da oben ist, haben wir Pech gehabt. Wir nähern uns der Küchentür. Ich schiebe sie mit dem Ellenbogen ein Stück weit auf. Nichts passiert. Der Raum dahinter ist schwach erleuchtet. Über dem Herd hängt eine nackte Glühbirne. Alles ist wie eingenebelt. Dann bemerke ich einen Kochtopf. Auf einer der Platten dampft er vor sich hin und klappert dabei leise. Die Dampfschwaden hängen bereits unter der Decke und breiten sich weiter aus. Ich gehe hinein, bevor Phil sich an mir vorbeiquetschen kann, hebe den Pickel über meinen Kopf. Ein fernes Geräusch. Irgendetwas ist zerplatzt.
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hil hält das Messer an seine Kehle. Marco schreit, als sei sie schon dabei, ihn abzustechen. Die Weinflasche, die er in der Hand gehalten hat, rollt über den Boden, prallt gegen ein Tischbein und bleibt mit einem dumpfen Geräusch liegen. Als hätte sie auf dieses Signal gewartet, nimmt Phil das Messer weg. Sobald sie ihn loslässt, klappt Marco zusammen. Was zum Teufel hatte er im Keller zu suchen? Und warum schlich er sich die Treppe hoch? Er fasst sich an den Hals, nacktes Entsetzen in seinen Augen. Phil steckt schnell ihr Messer weg. Ich lege den Pickel auf einem Sack Kartoffeln ab. »Tut mir Leid, wenn wir dir einen Schreck eingejagt haben«, sage ich lahm. »Bist du in Ordnung?« Phil greift ihm unter die Arme und hilft ihm auf die Beine. Er sträubt sich ein wenig, weicht von ihr zurück. »Che razza di gente siete?«, fragt er mit einem Zittern in der Stimme und fügt auf Deutsch hinzu: »Was wollt ihr von mir?« Phil und ich wechseln Blicke. Ich versuche, ihr zu bedeuten, dass sie irgendwas erfinden soll. Sie überlegt kurz. Dann nickt sie stumm. »Wir wurden verfolgt«, fängt sie an. »Nicht von der Polizei, da kann ich dich beruhigen. Wir dachten, jemand sei hier eingebrochen und hätte dich … verletzt. Wir sind nur vorsichtig.« Klasse, Phil. Erzähl ihm doch gleich die ganze Geschichte, damit er sich gar nicht mehr einkriegt und schreiend davonläuft. Dieser verdammte Ehrlichkeitswahn bringt uns nur in Schwierigkeiten. 110
»Keine Angst«, füge ich beschwichtigend hinzu. »Wir haben etwas überreagiert, dachten, ein Fremder sei in der Küche, nachdem wir keinen Ton mehr von dir gehört haben. Das ist nicht gegen dich gerichtet. Du kannst nichts dafür.« Langsam beruhigt er sich, versucht die Situation zu verarbeiten. Sein Atem geht wieder regelmäßig. Er schaut sich in der Küche um. »Der Risotto!« Mit einem Satz ist er am Herd und zerrt den dampfenden Topf von der Kochstelle. »Der ist jetzt versteinert«, sagt er mit einem Blick in das Innere. »Dann gib Brühe dazu«, schlage ich vor. Er nickt, ohne etwas zu erwidern, öffnet ein Fenster, damit der Dampf abziehen kann, überprüft seine Küche. Alles scheint an seinem Platz zu sein, Töpfe, Pfannen, Kochlöffel, ein monströser Schinken, der von der Decke hängt, ein Kofferradio. Seine vertraute kleine Welt gibt ihm Sicherheit – warum auch nicht? Sein Blick fällt auf den Pickel. Er zuckt zusammen. »Ihr seid in Gefahr? Was habt ihr getan?« »Nichts Schlimmes«, gebe ich zurück. »Jedenfalls nichts Ungesetzliches.« »Und ihr glaubt, ihr werdet verfolgt? Diese Leute, die euch verfolgen …, sind das Verbrecher?« »So was Ähnliches. Reg dich nicht auf. Sie wissen nicht, dass wir hier sind, niemand weiß das. Die haben keinen Schimmer, wo sie uns suchen sollen. Das stimmt doch, Phil, oder?« »Wir sind allein«, pflichtet sie mir bei. »Falscher Alarm.« »Sei unbesorgt. Wir ziehen dich nicht in unsere Angelegenheiten rein. So was würden wir nie machen. Du bist unser Freund.« Ich klopfe ihm auf die Schulter. Er schaut mich zweifelnd an.
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»Ich dachte nur, sicher ist sicher«, fahre ich fort. »Schaun wir lieber mal nach, ob Marco nichts passiert ist. Aber so wie’s aussieht, ist alles im grünen Bereich, nicht wahr?« Er nickt mechanisch, angelt nach einem Soßentöpfchen, um den Risotto loszukochen. Man muss die Menschen nur konsequent zulabern. Das versetzt sie in so einen tranigen Zustand, dass sie erst mal alles schlucken, was man ihnen vorsetzt. Es zischt, als er die Brühe zugießt. Er beginnt wie ein Verrückter zu rühren. Nach und nach hellt sich sein Gesichtsausdruck auf. Mit einer raschen Bewegung zieht er eine Kühlschublade auf und gibt Butterflocken in den Topf, gefolgt von einer Hand voll Parmesan. Nachdem er das Ganze vermischt hat, nimmt er den Topf vom Feuer und wendet sich wieder uns zu. »Gerettet«, sagt er mit einem stolzen Lächeln. Wenn das seine einzige Sorge ist. »Was hattest du eigentlich im Keller verloren?«, frage ich, lege ihm einen Arm auf die Schultern und dirigiere ihn zum Gastraum – nichts wie raus hier. Er bleibt in der Tür stehen, deutet in Richtung Herd. »Ich wollte Wein holen, zum Risotto.« Ein schüchterner Blick zu Phil. »Du magst doch Risotto, oder?« »Nett von dir«, antwortet sie. »Du verwöhnst uns ja richtig.« Sehr gut, Phil, Themenwechsel, bring ihn auf andere Gedanken. »Mir ist eine Flasche runtergefallen«, erklärt er betrübt. »Das hat ’ne Riesensauerei gegeben.« »Sollen wir dir helfen, das wegzumachen?« »Nicht der Rede wert«, wiegelt er ab. »Das Gröbste hab ich schon aufgewischt.«
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Ich bücke mich, hebe die Flasche auf, die er aus dem Keller geholt hat, und drücke sie ihm in die Hand. »Wollen wir’s mal mit der probieren?« »Ja. Klar. Dafür ist sie ja da.« Endlich kommt wieder Leben in den Jungen. Wurde auch Zeit. Ich dachte schon, ich müsste ihm stundenlang die Wange tätscheln und versprechen, dass alles wieder gut wird. Kein Wunder, dass Marco hier oben auf dem Berg lebt. So einer kommt unten am See nicht klar. Er holt einen Korkenzieher aus einer Schublade und öffnet die Flasche. Phil kümmert sich um Teller und Besteck – offenbar kennt sie sich in der Küche aus. »Kannst du den Topf reintragen …, Viktor?«, fragt er mich schüchtern. »Aber sicher, Marco.« Da ist ein Ziehen in meinem Magen, als würde da gleich ein Geschwür aufbrechen, so hungrig hat mich dieser Tag gemacht. Ich schnappe mir das Ding und bringe es an den Tisch, an dem ich mich mit Phil unterhalten habe. Marco organisiert ein paar Gläser von der Bar. Kurz darauf sitzen wir einträchtig zusammen und schaufeln das Essen in uns hinein. Der Risotto besteht mehr aus Steinpilzen als aus Reis – zum Niederknien. Marco steigt in meiner Achtung. Ein guter Risotto ist gar nicht so einfach hinzukriegen. Manchmal wird er zu suppig, manchmal dickt er zu einem klebrigen Pampf ein. Dieser hier ist schön cremig, und die Reiskörner haben genau den richtigen Biss, obwohl sich die Kochzeit etwas verzögert hat. Die Pilze schmecken ganz frisch. Marco erzählt, er habe sie heute Morgen im Wald gesammelt. Es gebe ein paar Stellen, die nur er kenne. Wir stoßen mit dem Rotwein an, der auch nicht von schlechten Eltern ist. Riecht ein bisschen wie in der Kapelle, nach Weihrauch und allen möglichen Gewürzen. Die Flasche ist
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ziemlich alt. Man kann die Jahreszahl auf dem vergilbten Etikett gar nicht mehr erkennen. Ich mache Marco ein Kompliment, da habe er sich ja mächtig ins Zeug gelegt. Er wartet darauf, was Phil zu dem Wein sagt. Sie behält den ersten Schluck eine Weile im Mund, bevor sie ihn runterschluckt. Schließlich nickt sie anerkennend. »Gefällt mir. Wie ein Wintermantel, in den man sich reinkuscheln kann. Der ist älter als ich, oder?« Er grinst verlegen, fährt sich durch seine Naturlocken und redet etwas von einer einheimischen Rebsorte, die sein Onkel Mimmo im Valtellina anbaue. Seinem Onkel gehöre auch das Rasthaus. Marco führe es jetzt schon in der zweiten Nebensaison. Das Gebäude sei ein ehemaliger Militärstützpunkt. Es gefalle ihm hier oben. Die Abgeschiedenheit, der Ausblick. Er könne sich noch nicht entscheiden, was er studieren soll oder ob er überhaupt auf die Uni gehen werde. »Aber ich hab mir fest vorgenommen, im Frühjahr mit irgendwas anzufangen.« Ich habe den Eindruck, dass der Frieden wiederhergestellt ist. Gemeinsam essen, an einem Tisch sitzen, sich über Wein und andere Nichtigkeiten unterhalten – das verbindet. Mit der Zeit wird Marco immer gesprächiger. Er habe beim Kochen Radio gehört, erzählt er. Auf der Straße, die den Berg hochführt, sei es am späten Nachmittag zu einem Unfall gekommen. Irgendein Verrückter habe seinen Wagen gegen eine Scheune gesetzt. Das Auto sei völlig ausgebrannt, ein teurer Schlitten, Ferrari oder Jaguar oder so, er kenne sich in solchen Dingen nicht aus. Er habe sich die Marke nicht gemerkt, es sei ihm egal, für welchen Scheiß die Leute so viel Geld hinblättern. Jedenfalls fehle von dem Fahrer jede Spur. Phil schaut mich an, als hätte ich etwas angestellt, wovon ich weiß, dass sie es nervt, worüber sie aber nicht wirklich böse sein kann – wie man einen Jungen anschaut, der gerade mit Absicht 114
ein hässliches Spielzeug kaputtgemacht hat. Man sollte ihn eigentlich zurechtweisen, weil es falsch ist, Dinge mutwillig zu zerstören. Andererseits ist es um das hässliche Spielzeug – ein Teletubby aus Plüsch oder eine dieser bescheuerten Actionfiguren – nicht gerade schade. »Ich frage mich, ob der Wagen bezahlt war«, sagt sie. »Vielleicht hat sich der Typ aus dem Staub gemacht, weil er ihn geklaut hat.« »Möglich«, erwidere ich und zucke mit den Achseln. »Kann aber auch sein, dass die Karre nach dem Unfall sowieso hinüber war und er nicht wusste, was er mit dem Wrack noch anfangen sollte.« »Dann ärgert er sich jetzt bestimmt grün und blau.« Ohne den Blick von mir zu wenden, stützt sie das Kinn auf die Handfläche. Sie beobachtet mich mit einem hinterhältigen Interesse. »Das kommt darauf an, ob er sehr an der Karre hing«, sage ich. »Wahrscheinlich hat sie ihn eine Menge gekostet«, mutmaßt sie. »Manchmal fällt einem so ein Batzen Geld in den Schoß. Dann ist es nach dem ersten Schreck nicht weiter schlimm, wenn man wieder drauf verzichten muss. Schließlich gibt es Wichtigeres als ein zu Schrott gefahrenes Auto.« »Das reden die Leute nach einem selbst verschuldeten Unfall nur so daher«, gibt sie zurück. »Sie tun so, als mache es ihnen nichts aus. In Wirklichkeit überlegen sie sich, wie sie die Versicherung übers Ohr hauen können, um möglichst schnell wieder an einen neuen Wagen zu kommen.« »Und wenn sie gar nicht versichert sind?«, frage ich.
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»Das ist Pech.« Sie lacht, ziemlich schadenfroh, wenn ich mich nicht täusche. »Dann müssen sie zu Fuß gehen. Oder sie lassen sich per Anhalter mitnehmen.« Marco scheint von dem verborgenen Sinn unserer Unterhaltung nichts mitgekriegt zu haben. »Ich hab einen alten Kombi. Wenn ich nicht hin und wieder nach Cernobbio runterfahren müsste, um ein paar Lebensmittel zu besorgen, brauchte ich gar kein Auto. Ich pfeif auf diese kapitalistische Augenwischerei. Besitz macht nicht glücklich.« Er meint wohl, einen Jag kapitalistisch finden zu müssen, weil er sich keinen leisten kann. Wenn er mal einen gefahren hätte, würde er anders darüber reden. Wir sind fertig mit dem Essen. Phil legt Portishead ein, nicht gerade aktuell, aber das ist bei Portishead ziemlich egal. »I’m so tired of playing«, tönt es aus den Miniboxen. Ich lobe Marcos Kochkünste ein weiteres Mal, worauf er hinter der Bar verschwindet. Er hantiert mit einer Flasche und dem Eiskübel. Dann kommt er mit drei dickwandigen Gläsern zurück. Wir stoßen an und lassen eine süßliche Flüssigkeit durch unsere Kehlen rinnen, als wär’s billiger Wodka. »Hast du mal von Attac gehört?«, fragt Phil und bedeutet Marco, dass er mehr von dem Zeug holen soll. »Nicht dass ich wüsste«, sagt Marco. Er steht auf, beugt sich über den Tresen und stellt eine Flasche mit einem handgeschriebenen Etikett auf den Tisch. Scheint ein pervers guter Vin Santo zu sein. »Die denken so ähnlich wie du, antikapitalistisch«, fährt Phil fort. »Die Wirtschaft muss den Menschen dienen, nicht umgekehrt.« »Sind das Kommunisten?« »Bei Attac machen alle möglichen Leute mit. Sie sind gegen soziale Ungleichheit und die neoliberale Globalisierung. Mit 116
Parteien wollen die nichts zu tun haben. Davon haben sie die Schnauze voll.« Oh nein, jetzt wird’s politisch. Da halte ich mich lieber raus. Wenn mich die Tatsache, dass ich es genieße, mit einem schnellen Wagen durch die Gegend zu brettern, zu einem neoliberalen Arschloch macht, kann mir Attac gestohlen bleiben. Aber ich erspare mir einen Kommentar und höre stattdessen Phil dabei zu, wie sie das volle Programm abspult und Marco davon zu überzeugen versucht, einer lokalen AttacGruppe beizutreten, Mission in der Diaspora. Zur Auflockerung gebe ich eine Runde Kippen aus. Die beiden greifen zu, als ob die Dinger morgen verboten würden. Der Vin Santo geht schnell zur Neige. Phil schenkt sich immer wieder nach. Marco zeigt sich sehr interessiert an Attac, schwer zu sagen ob aus Überzeugung oder um Phil zu gefallen. Dass er sich in sie verknallt hat, ist kaum zu übersehen. Vor ein paar Monaten war sie sich noch nicht sicher, was sie von Attac halten sollte. Es war ihr nicht geheuer, ihre Vorstellung von der Welt mit anderen Menschen zu teilen. Zumindest hörte ich das aus einem Gespräch zwischen Lidia und ihr heraus. Mit Phil habe ich mich nie darüber unterhalten. Es war mir schleierhaft, welche Vorstellung von der Welt sie überhaupt hatte. Als ich mitkriegte, dass sie sich Attac anschloss, dachte ich, es sei gar nicht schlecht, wenn sie sich auf diese Weise ein paar Ideale aneignete. In dieser Richtung habe ich ihr nichts zu bieten. Das wenige, was ich mir im Laufe meines Lebens zusammengeschustert hatte, ging während der Geschehnisse in Pisa und Livorno flöten. Es fiel von mir ab wie ein altes Pflaster, dessen Klebefilm sich mit der Zeit aufgelöst hat. Zu erleben, wie von einem Augenblick auf den anderen schiere Gewalt dein Leben beherrscht und dein Leben auch noch von Gewalt umgeben ist, gegen die du nicht das Geringste machen kannst, die einfach passiert, egal, was du dagegen tust oder was du unterlässt – so etwas halten die besten Ideale nicht aus. »Eine 117
andere Welt ist möglich.« Das ist einer der Wahlsprüche von Attac. Grundsätzlich ist sie das, auch wenn ich nicht daran glaube, dass sich jemals viel ändert. Man kann nur versuchen, das Beste daraus zu machen – ohne Rücksicht auf Verluste, schon gar nicht auf eigene. »Eine andere Welt ist möglich« klingt fast wie »Alles ist möglich«, und das ist ja wohl eher ein schlechter Witz, um die Massen ruhig zu stellen. Wie ein Slogan aus der Werbung. Da kann man nur nicken und weiterzappen. Egal: Wenn diese Ideale dafür gut sind, dass Phil einen Freund wie Marco gewinnt, soll’s mir recht sein. Marco ist zwar ein wenig weltfremd, aber das macht ihn mir sympathisch. Weltfremd bin ich auch. Das muss kein Schaden sein. Und es gibt schlechtere Freunde als Marco, sofern ich ihn richtig einschätze. Ich habe keine Freunde, und Phil, soweit ich weiß, auch nicht. Wir sind allein unterwegs. Gwizdek hätte einer werden können, aber das ist vorbei. Seine Freundschaft zu Phil hat ihn unter die Erde gebracht. Sie unterhalten sich noch eine Weile über das Europäische Sozialforum, das demnächst in Florenz stattfinden soll. Phil scheint nach wie vor bestens über die Aktionen von Attac informiert zu sein. Sie lässt sich per E-Mail einen Newsletter zusenden, der sie in Kanada auf dem Laufenden hält. Sonst würde sie sich abgeschnitten fühlen, sagt sie. In Sainte Claire gebe es zwar Politik-Workshops, aber das sei nicht das Gleiche wie in Europa, wo sie Politik nicht nur in einem Arbeitskreis oder in den Medien, sondern direkt auf der Straße erleben könne. Wer hätte das gedacht: Meine Tochter ist so was wie eine Aktivistin. Wo ist eigentlich ihre Selbstironie geblieben? Marco hat hier oben keinen Internet-Anschluss. Aber er verspricht Phil, sich ein Modem zu besorgen, um mehr über Attac zu erfahren. Auf die Vorfälle in der Küche kommt er nicht mehr zu sprechen. Nur als Phil zu gähnen beginnt und ankündigt, auf ihr Zimmer zu gehen, fragt er, was wir jetzt vorhaben. Wir könnten auf dem Berg bleiben, so lange wir 118
wollten. Falls wirklich niemand wüsste, dass wir hier oben sind, sei das der sicherste Platz auf der Welt. Hast du eine Ahnung, Marco. Es gibt keinen sicheren Platz auf der Welt. Solange Erdem nach uns sucht jedenfalls nicht. Ich denke an meinen Unfall mit dem Jag. Das ist eine Spur, die er verfolgen könnte. Sonst gibt es eigentlich nichts, was uns verrät. Dass er Phils Handy orten kann, glaube ich nicht. Dafür brauchte er mindestens ein Satellitenpeilgerät, wie es meines Wissens nur der CIA oder andere Geheimdienste besitzen – diese Dinger, mit denen sie Terroristen aufspüren. Das Zifferblatt der Uhr über der Bar zeigt kurz nach zehn. Phil sagt, sie sei zu müde, um sich jetzt noch Gedanken über den nächsten Tag zu machen. Etwas schwerfällig steht sie von ihrem Stuhl auf, hebt die Hand zum Abschied und begibt sich ohne ein weiteres Wort zu der Treppe, die neben der Küchentür nach oben führt. »Schlaf gut!«, ruft Marco ihr hinterher. Im gleichen Moment springe ich auf und folge ihr. Auf dem ersten Treppenabsatz hole ich sie ein. Sie bleibt stehen. Müde dreht sie sich zu mir um. »Morgen, Viktor. Lass uns morgen eine Entscheidung treffen.« »Natürlich«, erwidere ich. »Ich wollte nur …« Unbeholfen suche ich nach Worten. Sie sieht mitgenommen aus. Ihre Augen sind gerötet vom Alkohol, ihr Blick flackert. Aufgrund ihres kahlen Schädels und der Tränensäcke unter ihren Augen könnte man sie für eine Krebspatientin halten. Als sie mein Zögern bemerkt, hält sie sich am Geländer fest. »Ja?« »Es ist schön, dich wiederzusehen«, sage ich so aufrichtig, wie ich kann. Sie schaut zu Boden. Ich betrachte ihre von zahllosen dunklen 119
Haarwurzeln bedeckte Kopfhaut. Jeder dieser winzigen Punkte ist ein stummer Vorwurf. Oder ein Entschluss? Langsam neigt sich ihr Kopf. Ihre Schultern rutschen nach vorn. Ich weiß nicht, ob sie es zulässt, wenn ich ihr Kinn mit dem Finger anhebe. Ich möchte wieder in ihre Augen sehen, egal, wie rot und verquollen sie sind. Sie lehnt sich an mich. Ich schließe die Arme um ihren Körper, spüre, wie hart und unnachgiebig ihn das Muskeltraining gemacht hat. Ich presse meine Wange an die Rundung ihres Schädels, halte ihn mit einer Hand fest, berge ihn an der Kuhle zwischen Hals und Schulter. Sie erwidert meine Umarmung ohne aufzublicken. Eine Weile stehen wir so da. Jede Sekunde, die verstreicht, ein bodenloses Glück. Ich streiche ihr über den Rücken, über den Kopf, der sich anfühlt wie vor langer, langer Zeit, als ihr Haar erst zu wachsen begann und die Haut und der Knochen darunter noch weich und nachgiebig waren. Auf ihrem Nacken lasse ich meine Hand liegen. Dort sind die Härchen ganz flaumig. Sie atmet schwer in meine Lederjacke hinein. »Gut, dass du gekommen bist«, stößt sie hervor und schmiegt sich enger an mich. »Du fehlst mir.« Ich mache eine Pause, schöpfe Atem, was mir ausgesprochen schwer fällt. »Du bist immer so weit weg.« Sie hält inne. Mit einem Ruck hebt sie den Kopf. Sie küsst mich auf den Mund, unerwartet heftig. Ihre Lippen – wie komme ich dazu, ihre Lippen mit irgendjemandes Lippen zu vergleichen? An Sills Lippen erinnere ich mich nicht, obwohl ich mir dafür die Kehle durchschneiden könnte, am besten mit Phils Messer, das wäre genau das Richtige dafür. Sie öffnet ihren Mund. Ihre Zunge an meinen Zähnen. Weiß sie, was sie da tut? Ihr Blick macht mich so nackt, wie sie bei ihrer Geburt war, 120
verschrumpelt und aufgeweicht von dem vielen Fruchtwasser. Auf welche Art kann ich sie lieben? Sicher nicht auf diese. Sie spürt mich an ihrem Oberschenkel, presst sich dagegen. Sill hat das gerne gemacht. Ich weiche zurück. Irgendwie schafft sie es trotzdem, sich an mir zu reiben. Portishead. Unsere Zungen berühren sich. Das taten sie noch nie. Ich hatte keine Ahnung, wie sich Phils Zunge anfühlt. Jedenfalls nicht so rau, so drängend. Will sie mich ersticken? Ihre Augen triumphieren für einen Augenblick, driften dann weg in ein Reich, das mir verschlossen ist. Der Schein einer Kerze hinter einem dünnen Vorhang. Gleich setzt die Kerze den Vorhang in Brand. Ich gebe ihr ein wenig von dem Kuss zurück, nur so viel, dass er mir in Erinnerung bleibt. Ein Geschmack, von dem ich nie gedacht hätte, dass ich ihn einmal schmecken würde. Wein und Zigaretten treten in den Hintergrund. Saures vermischt sich mit irgendeiner Südfrucht, Orange vielleicht oder Mandarine. Es erinnert mich an das Wassereis, das sie als kleines Kind so mochte. Sie schleckte immer nur daran, während ich ihr riet, doch mal ein ganzes Stück abzubeißen, bevor das Eis schmolz und sie es auf ihrem T-Shirt verteilte. Mehr werde ich niemals wieder von ihr bekommen. Also mache ich mit, fühle für ein paar Sekunden, wo das Reich beginnt, zu dem ich keinen Zugang habe, wo Phil nicht Phil ist, sondern ein Mädchen, das von den entscheidenden Dingen immer zu wenig gekriegt hat. Das auf die falsche Art liebt, weil es von der richtigen keine Vorstellung hat. Sill steht daneben und streicht uns über die Schultern, als wolle sie einen Anteil. Schließlich löse ich mich von ihr. Sie schaut mich an, als wüsste sie besser als ich, was in mir vorgeht. Behutsam senkt sie ihre Stirn gegen meine. Unsere Schädel berühren sich, der dünne, fettige Film auf der Haut lässt sie aneinander haften. Das ist noch besser als dieser Kuss, den ich bereits verfluche. 121
»Wir sind nicht allein.« Sie fährt mir sanft übers Haar, lächelt geheimnisvoll und wendet sich ab. Ich warte, bis die Spannung zwischen uns etwas abnimmt. »Meinst du«, fange ich schließlich an und habe Bedenken, einen unverzeihlichen Fehler zu begehen, »meinst du, Marco traut sich, zu dir hochzukommen?« Sie schaut mich verständnislos an. »Du hast doch mitgekriegt, dass er auf dich steht. Er ist schüchtern. Wenn ich ihm sage, dass du auf ihn wartest …« »Ich will das nicht«, erwidert sie ruhig. »Nicht jetzt.« »Okay. Ich dachte nur …« »Ist mir schon klar, was du denkst. Ausnahmsweise liegst du gar nicht so falsch.« »Wie gesagt …« »Nicht jetzt«, wiederholt sie leise und legt einen Finger auf meinen Mund. Dann geht sie nach oben.
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ir könnten auf der anderen Seite des Berges wieder runtergehen, überlege ich, während ich Marco beim Abräumen helfe. Das wäre ganz einfach. Zur Schweizer Grenze sind es von hier aus nur ein paar hundert Meter, sie verläuft quer durchs Gebirge. Niemand hätte eine Ahnung, wo wir uns befänden. Phil müsste die Schule wieder mal wechseln, was sie anscheinend gar nicht bedauern würde, und ich müsste mir irgendetwas Neues zum Geldverdienen suchen, was das geringste aller Probleme wäre. Auf der anderen Seite des Monte Bisbino gibt’s keinen Erdem und keinen Ferro. Nondas und Batu haben wahrscheinlich auch kein gesteigertes Interesse daran, Phil und mich irgendwohin zu verfolgen – falls sie überhaupt dazu in der Lage sind. Und Lidia … Nein. Ohne Lidia läge auf der anderen Seite des Berges ein Schmerz, der mich für den Rest meines Lebens aushöhlen würde. Ich kann mir die Albträume schon vorstellen. Sie würden auf die Kurzfilme folgen, die seit einiger Zeit ständig in meinem Kopf ablaufen: die Zerstückelung von Mustis Leiche, Phils Gesicht, als Tony verblutete, Gwizdeks Tod in der Lagerhalle – mein persönliches Scheiße-die-sich-niewieder-gutmachen-lässtProgramm. Wenn es mir richtig mies geht, spielen sie das ohne Unterbrechung in meinem Schädel, wie eine Game-Show, bei der es nie einen Gewinner gibt und die Kandidaten wegen einer Frage, die selbst der nächstbeste Dorftrottel beantworten könnte, vorzeitig ausscheiden. Man hört dann dieses Raunen im Publikum: So blöd kann doch kein Mensch sein, dass der das nicht weiß. Das denke ich mir auch, wenn meine Hände zum tausendsten Mal den Bolzenschneider ansetzen und sich durch 123
Mustis Halswirbel arbeiten. So blöd kann doch kein Mensch sein. Tja, und direkt im Anschluss liefe dann eine Doku über Lidia, die langsam von dem Heroin runterkommt und merkt, was Erdem mit ihr angestellt hat. Vielleicht ist sie darin nackt und Erdems Leute probieren gerade an ihr aus, welche ihrer Körperteile am empfindlichsten auf brennende Zigaretten reagieren. Vielleicht haben sie ihr auch die Augen verbunden und lassen sie im Ungewissen. Wie auch immer: Jetzt ist es an mir, sie aus dem Nebel rauszutragen. Von allein schafft sie das dieses Mal nicht. Außerdem kämen Erdem und Ferro davon. Was Erdem betrifft, würde ich mich am liebsten möglichst fern von ihm halten. Allerdings wird es sich kaum vermeiden lassen, seine Nähe zu suchen – ohne sich mit ihm anzulegen, versteht sich. Warum sollte Phils Rechnung eigentlich nicht aufgehen? Wenn es ihr gelingt, Erdem davon zu überzeugen, dass die Konten ausgeglichen sind, kommt Lidia vielleicht wieder frei, und die Sache ist ein für alle Mal ausgestanden. Und Ferro? Mit ihm ist es genau andersherum. Vielleicht ergibt sich noch einmal die Gelegenheit, ganz dicht an ihn ranzukommen. Nur wir beide, so eine Situation wünsche ich mir. Dann würde ich gerne von ihm erfahren, was Sill an einem Mann wie ihm fand. Und ob er eine Erklärung dafür hat, warum sie verunglückte, als sie ausgerechnet auf dem Weg zu ihm war. Nachdem ich ihn auf der Kundgebung in Como erlebt habe und von seinem politischen Hintergrund weiß, frage ich mich, ob Sill da nicht in etwas hineingeraten war, was sie nicht überblickte – wovon sie vielleicht überhaupt keine Ahnung hatte. Ich frage Marco nach einem Zimmerschlüssel. Er wirkt erleichtert. Offenbar ist ihm die Vorstellung unangenehm, mir ohne Phil Gesellschaft leisten zu müssen. Er öffnet eine Schublade unter dem Bartresen, reicht mir einen Schlüssel mit 124
einem unbeschrifteten Plastikanhänger und begleitet mich zum Fuß der Treppe. »Am Ende des Ganges«, sagt er und deutet zur Erklärung nach oben. »Zimmernummern gibt es hier nicht.« Wir verabschieden uns voneinander. Er geht an der Treppe vorbei und öffnet eine Tür, die ich gar nicht bemerkt habe, als ich mit Phil in die Küche geschlichen bin. »Ich lege mich schlafen. War ein anstrengender Tag«, sagt er mit vorwurfsvoller Miene. Dann schickt er ein Grinsen hinterher. »Aber es hat sich gelohnt.« Er beobachtet mich, bis ich auf der Treppe verschwunden bin. Keine Ahnung, was er von mir hält. Jedenfalls habe ich mir Mühe gegeben, nett zu ihm zu sein. Das Zimmer ist schlicht eingerichtet, so ähnlich wie in einer Jugendherberge. Ein Stockbett aus zusammengeschweißten Stahlrohren, ein Pressspantischchen und ein einsamer Kunststoffstuhl, wie er auf Caféterrassen herumsteht – nicht gerade der Renner im Internet. Ich ziehe meine Jacke aus und hänge sie über die Stuhllehne. Dann zünde ich mir eine Zigarette an und lösche das Licht. Alles wird lautlos, in mir, um mich. Nach einer Weile haben sich meine Augen an das Mondlicht gewöhnt. Der See ist nicht zu erkennen, keine Häuser, keine beleuchteten Straßen, nur die Umrisse von Bergkämmen vor einem unsichtbaren Horizont. Phil hat sich den richtigen Ort ausgesucht, um Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Falls man das Ordnung nennen kann, was vorhin auf der Treppe vor sich ging. Ich schüttele den Kopf, will nichts von irgendwelchen Inzestfantasien wissen. So viel Liebe in sich zu speichern und sie in einem schwachen Moment, der in Wirklichkeit voller Stärke und gegenseitigem Vertrauen war, ein Stück weit rauszulassen – daran kann ich nichts Schlimmes finden. So läuft das bei Phil: ohne viel Worte. Ich finde ohnehin nie die 125
richtigen, wenn es um uns beide geht, um ihre Ängste und meine Spinnereien. Das soll nicht heißen, dass ich bei der nächsten Gelegenheit meine eigene Tochter flachlege, es mit meinen eigenen Genen treibe, sagen wir, um sie davon zu überzeugen, wie sehr ich sie mag. Aber solange ich keinen besseren Weg gefunden habe, mich auszudrücken, muss ich ihr über Berührungen mitteilen, was mich bewegt. Ich finde, das klappt ganz gut. Ihr Geschmack ist noch in meinem Mund. Wenn ich mich konzentriere, schmecke ich die Süße heraus. Ich muss mir wieder so ein Wassereis besorgen. Das Zeug steckt zwar voller Chemie, aber bei Erinnerungen kommt’s darauf nicht an. Sill mochte Orangen auch. Ist sie noch irgendwo dort draußen? Ist sie hier? Komm mit, ich will dich sehn, an meinem letzten Tag, auf Feldern, wo die Schatten stehn, ich will dich spürn auf meiner Haut, unter den Himmeln, wo die Wolken ziehn. Komm mit an den Fluss. Komm mit, und ich lauf dir voran, immer ein Stück, bis ich nicht mehr kann. Komm mit in das Haus. Komm mit hinein, nur einen Schritt. Das sage ich mir manchmal vor, wenn mir nichts anderes einfällt. Es ist der Text eines Liedes, das Sill und ich uns gemeinsam ausgedacht haben, bevor Phil geboren wurde. Irgendwo in Umbrien war das, als noch nicht so viele Touristen hinfuhren. Wir überlegten uns, im Duett aufzutreten und damit eine große Pop-Karriere zu starten. Sill schrieb die Melodie, etwas bluesig, damit auch genug Gefühl rüberkam, und ich reihte die Wörter aneinander. Eine Woche lang sangen wir nur dieses Lied, rauf und runter, während wir kreuz und quer durch Italien fuhren. Sill spielte die Begleitung auf einer Gitarre, die sie noch aus ihrer Jugend besaß. Wir dichteten etwas mehr Text dazu und sahen uns schon als die deutschen Eurythmics. Aber außer diesem Lied fiel uns kein weiteres mehr ein, keine eingängige Tonfolge, kein brauchbarer Text, nichts. Wir kriegten uns richtig in die Haare deswegen. Schließlich fuhren wir nach Deutschland zurück, schweigend, als ob alles gesagt 126
sei. Damit war unsere Pop-Karriere ausgeträumt. Vielleicht war es der Beginn eines Bruchs, an dem auch Phils Geburt nichts mehr ändern konnte. Dennoch geht mir das Lied immer wieder durch den Kopf, in Augenblicken wie diesem zum Beispiel. Komm mit, ich will dich sehn. Sill spielt noch immer die Akkorde. Ich habe viele Fragen an Phil. Zum Beispiel nach der Zeit, als Ferro ihren Ersatzdaddy spielte. Damals war sie sechs Jahre alt, kam gerade in die Schule. Wir haben nie darüber geredet. Ich hatte mich von Sill getrennt, als Phil zu sprechen anfing. Danach ließ ich mich lange nicht blicken. Ich war mit meiner Kamera unterwegs, machte Fotoreportagen über alle möglichen Bürgerkriege, vorzugsweise in Nordirland. Das machte mich richtig an, wie sich Nachbarn, die in derselben Straße wohnten, mit Baseballschlägern die Seele aus dem Leib prügelten. Außer einer Menge Geld, das ich gleich wieder ausgab, hat’s nicht viel gebracht. Sill zog mit unserer Tochter nach Italien. Mit Ferro war sie, soweit ich weiß, ungefähr ein halbes Jahr zusammen. Phil muss damals mitgekriegt haben, was Sill an Ferro band. Wenn ich es von ihr erfahren will, komme ich mit Berührungen und Küssen nicht weiter. Die Stille ist so dick wie der OP-Gips, den sie in den ersten Tagen um mein kaputtes Bein gemacht haben. Ich öffne das Fenster. Absolut nichts ist zu hören von den drei einzigen Menschen im Umkreis. Nur wenn ich an der Zigarette ziehe, gibt es ein Geräusch, als bliese man eine Kerze aus. Ich lasse die Asche auf den Boden fallen, blicke in die Dunkelheit, bis die Schatten vor meinen Augen in Bewegung geraten, Tannenzweige, die sich im Wind biegen. Ein Murmeln. Dabei geht überhaupt kein Wind. Ich lege den Kopf zur Seite. Es ist ein ganz schwaches Geräusch, dem ich im Delle Alpi keine Beachtung schenken würde. Ich versuche zu lokalisieren, aus welcher Richtung es 127
kommt, lehne mich aus dem Fenster. Aber da draußen ist nichts. Ich schließe das Fenster und horche. Die Wand über dem Stockbett. Gibt’s hier irgendwelches Ungeziefer im Putz? Ich presse das Ohr an die Tapete, die sich wie die dünnen, halb durchsichtigen Schutzblätter in einem alten Fotoalbum anfühlt. Dann höre ich es deutlicher. Phils Stimme. Unterdrückt, aber es gibt keinen Zweifel. »Warum nicht?« Pause. »Was willst du damit bezwecken?« Pause. »Meinst du nicht, dass sie genug hat? Du hast erreicht, was du wolltest. Bereitet es dir Vergnügen, sie leiden zu sehen?« Sie telefoniert. Mit Erdem, da bin ich sicher. »Seltsam, wenn einer wie du plötzlich die Wahrheit sagt«, fährt sie fort. Pause. »Du benutzt sie als Köder, stimmt’s? Du willst mich.« Es folgt eine längere Unterbrechung. Ich befürchte, dass mir etwas entgeht, stemme mich fester gegen die Wand. Die Matratze des Stockbetts ist so durchgelegen wie ein altes Ehebett. Ich versuche, möglichst flach zu atmen. »Wenn du ihr das antust, bringe ich dich um.« Pause. »Ich spaße nicht. Diesmal tue ich es.« Pause. »Okay. Wann soll ich dort sein?« … »Das schaffe ich nicht. Sagen wir morgen Abend. Um sechs. Bis dahin lässt du sie in Ruhe.« Pause. »Wenn du möchtest. Nehmen ist nicht Geben.« 128
Pause. »Ich wollte, ich wüsste es.« Pause. »Das erfährst du schon noch. Ich werde kommen.« Eine Weile ist aus dem Nebenraum nichts mehr zu hören. Anscheinend ist das Gespräch beendet. Ich lausche weiter. Eine Minute. Zwei Minuten, wenn mich mein Zeitempfinden nicht trügt. Ich zähle die Sekunden im Geiste mit. In jeder schnürt sich mir die Kehle weiter zu. Sie haben ein Treffen vereinbart. Phil hat gedroht, ihn zu töten. Da drüben rührt sich nicht das Geringste. Sie denkt nach. Wägt sie ihre Strategie ab? Oder ist sie in Gedanken bei Lidia? Erdem scheint zu härteren Mitteln greifen zu wollen. Dann Schritte. Eine Tür. Hat sie vor, mitten in der Nacht auf eigene Faust loszuziehen? Ich muss ihr folgen. So leise wie möglich durchquere ich das Zimmer, drücke die Klinke herunter und blicke durch einen Spalt auf den im Dunkeln liegenden Gang. Sie geht gerade die Treppe hinunter. Ihre Outdoor-Schuhe poltern über die Stufen. Sie gibt sich keine Mühe, die Geräusche zu unterdrücken, obwohl sie das Licht nicht angemacht hat. Als sie im Erdgeschoss angelangt ist, warte ich schon oben am Treppenabsatz. Ich stütze mich mit beiden Armen auf dem Holzgeländer ab, um die Stufen nicht mit vollem Gewicht zu belasten. Während ich mich auf diese Weise nach unten schiebe, gibt die Treppe nur ein schwaches Knarren von sich. Ich sehe gerade noch, wie sie in einem Lichtkeil verschwindet und die Tür hinter sich zuzieht. Marcos Zimmer. Unschlüssig bleibe ich stehen. Ich komme mir vor wie ein Spion, einer dieser Stasi-Schergen, die ihre besten Freunde, manchmal sogar ihre Ehepartner und die gesamte Familie aushorchten. Aber ich habe kein schlechtes Gewissen. Ich fühle 129
mich nur unendlich töricht, ungeschickt und völlig fehl am Platz, so allein in der Dunkelheit. Dann begebe ich mich wieder nach oben, ebenso leise, wie ich Phil gefolgt bin. Jetzt lächle ich in mich hinein. Phil soll sich ruhig nehmen, was sie jetzt braucht. Ein wenig Normalität kann ihrem Leben bestimmt nicht schaden. Als ich auf dem Stockbett liege, geht mir das Telefonat mit Erdem noch eine Weile durch den Kopf, Phils Stimme, die beherrscht klang, am Ende sogar richtig umgänglich. Das erfährst du schon noch. Ich werde kommen. Morgen. Wir werden Marcos Hilfe brauchen. Er muss uns zum See runterbringen. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wenn du möchtest. Was hatte das zu bedeuten? Ich sage mir, dass ich sie liebe, weil ich fest daran glaube. Aber im Grunde ist es vermessen, von sich zu behaupten, einen anderen Menschen zu lieben. Man kann nicht für sich beschließen, jemanden zu lieben, und erwarten, dass es so bleibt. Liebe erfordert viel mehr als einen Entschluss. Dazu braucht es einen Willen und Taten, immerzu. Man muss jeden Tag aufs Neue damit anfangen, erst recht, wenn’s schwer fällt. Als ich wegdämmere, habe ich meine Klamotten noch an. Phils Stimme in meinem Kopf verstummt. Ich sitze wieder in einem Auto. Nicht in dem Jag, sondern in einem gemieteten Lancia mit großen Seitenfenstern. Es ist ein älteres Modell, aber zuverlässig und gut motorisiert. Die Bodyguards ahnen, was vor sich geht. Vielleicht liegt es daran, dass ich so langsam fahre, um einen guten Schuss anzubringen. Vielleicht können sie durch die Windschutzscheibe die Beretta erkennen. Oder sie haben einfach einen Blick dafür. Jedenfalls gehen sie sofort in Position und ziehen ihre Waffen. Ferro wird nach hinten durchgereicht und auf den Boden gepresst. Er protestiert nicht mal, weiß genau, was ihm blüht.
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Selbst sein Hund macht keinen Mucks, scheint auf solche Situationen abgerichtet zu sein. Ich komme nicht ein einziges Mal dazu, den Abzug zu ziehen. Sie können sich ein Lächeln nicht verkneifen, als sie ihre Kugeln rausschicken. Ich gebe ein prima Ziel ab. Komischerweise tut es gar nicht weh, als die ersten Geschosse einschlagen und meinen Körper in den Sitz pressen, als wollten sie ihn auf immer und ewig dort festnageln. Das Lenkrad entgleitet mir. Mein Schädel explodiert, die inneren Organe zerplatzen. Der Wagen fährt weiter. Als die Straße eine Kurve macht, durchbricht er einen weiß gestrichenen Lattenzaun, pflügt über ein leicht abschüssiges Rasenstück und walzt auf einen Liegestuhl zu, in dem sich die zugekokste Tochter eines Mailänder Bankdirektors gerade die Zeit vertreibt. Der marokkanische Gärtner hat seinen Kopf tief zwischen ihren Schenkeln. Sie ist kurz vor dem Höhepunkt, hat die Augen geschlossen. An ihrem großen Zeh baumelt ein Flipflop, den sie in der Erregung vergessen hat abzustreifen. Der Junge versucht noch zur Seite zu springen, gerät aber mit den Beinen unter den rechten Vorderreifen des Lancia und bleibt mit zerquetschten Gliedmaßen liegen. Das Mädchen wird überrollt, während sie ein Auge öffnet, um zu sehen, was zum Teufel denn los sei. Ihr Flipflop segelt durch die geborstene Windschutzscheibe auf den Beifahrersitz. Der Wagen rumpelt über das Hindernis hinweg. Auf der Terrasse kommt er zum Stehen. Seine Schnauze ragt durch die geöffnete Glastür ins Innere der Villa, als suche sie dort nach etwas. Als der Motor abstirbt, bin ich schon eine ganze Weile tot.
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m nächsten Morgen ist Schluss mit Diskretion. »Aufstehen!« Mit der Faust hämmere ich gegen Marcos Tür. »Raus aus den Federn, wir haben einiges vor!« Ich gebe ihnen eine Minute. Das sollte reichen, um sich aus den Decken zu schälen und sich einigermaßen präsentabel zu machen. Nach den Träumen dieser Nacht habe ich richtig Lust auf ein bisschen Weck-Terror. Als ich erneut anklopfen will, öffnet sich die Tür. Marco glotzt mich schlaftrunken an. Die Boxershorts, die ihm um die Lenden schlabbern, haben dringend eine Wäsche nötig. Seine Arme ragen aus dem nackten Oberkörper wie die Stecken einer bulimischen Vogelscheuche. »Hast du noch so ein Ding für mich übrig?« Ich deute auf die Shorts. Er reagiert nicht, reibt sich die Augen. »Kannst du mir eine Hose zum Joggen leihen?«, wiederhole ich lauter. »Kriegst sie auch garantiert wieder.« »Ja«, entgegnet er verdutzt. Unwillkürlich zieht er seinen Lockenkopf ein. »Natürlich.« Er dreht sich um und schlurft davon. »Und ein T-Shirt«, rufe ich ihm nach, während ich ins Zimmer spähe. Ich sehe das Fußende eines Bettes, daneben ein Bücherregal. Dummerweise macht der Raum einen Knick. Eine Decke wird zurückgeschlagen. Gedämpfte Stimmen. Kichern. Was gibt’s da zu kichern? Dann erscheint Phil und drückt mir ein Kleiderknäuel in die Hand. Bis auf einen schwarzen Tanga ist sie splitternackt. »Mamma santa!«, hätte Tony jetzt gesagt. Ich halte mich am Türrahmen fest. »Wenn du mir Zeit zum Anziehen lässt, komme ich mit.« Ein Lächeln, als sei ich der verdammte Postbote. Ihre 132
Klamotten hängen ihr über die Schulter, die Outdoor-Schuhe hält sie in der Hand. Jetzt fällt mir auch das Piercing in ihrem Bauchnabel auf. Aus irgendeinem Grund trägt sie es wieder. »Von mir aus«, bringe ich heiser hervor. »Bin gleich wieder da.« Sie schiebt sich an mir vorbei und läuft die Treppe hoch. Ich versuche, nicht hinzuschauen, aber mein Mädchen hat Brüste, bei denen einem die Tränen kommen – von dem Rest ganz zu schweigen. Die Muskeln an ihrem Po straffen sich bei jedem Schritt. Sie sind so fest, wie ich das mit meinen lächerlichen Fitnessübungen nie hinkriegen werde. Ich gehe ebenfalls auf mein Zimmer und schlüpfe in Marcos Sachen. Das ist ein Tick von Phil: sich hin und wieder nackt zu zeigen, als wär’s das Normalste von der Welt. Ist es ja auch, aber da ich die Entwicklungsstufen vor dem derzeitigen Stadium mitgekriegt habe, bin ich immer leicht geschockt, wenn ich sehe, was inzwischen alles an ihr dran ist. Mein Mädchen hat geile Titten. So einen Satz muss man erst mal verkraften. Als ich wieder nach unten komme, wartet Phil schon auf mich, diesmal in einem T-Shirt mit der Aufschrift Academie Sainte Claire und hautengen Capri-Tights. Aus dem Raum neben Marcos Zimmer dringen Duschgeräusche und eine Stimme, die sich für Robbie Williams hält. Hört sich an wie eine gnadenlos verhunzte Version von Supreme. Marco gelingt es, immer einen Ton daneben zu singen. Den Text kriegt er auch nicht richtig hin. Camma-livi-lav saprim, donaget-ju daun, evibodi-hmhm lov. Versteht kein Mensch, aber wenigstens liegt Begeisterung drin. »Das war ja äußerst taktvoll von dir.« »Habe ich euch gestört?«, frage ich. »Ging so«, gibt Phil grinsend zurück und wendet sich zum Gehen.
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Wir nehmen einen Waldweg, der in weitem Bogen um den Monte Bisbino herumführt. Wie sich herausstellt, ist Phil hier schon gestern joggen gewesen. Sie mache das jetzt jeden Tag, sagt sie und legt ein ordentliches Tempo vor. In Sainte Claire werde viel Wert auf Fitness gelegt. Seit dem 11. September, glaube sie, trieben die Menschen auf eine andere Weise Sport. Viele von ihnen hätten das Gefühl, ihre Körper für mehr als ihre eigenen Zwecke in Schuss halten zu müssen. Um auf alles gefasst zu sein, was da noch kommen mag. Ich versuche, mit ihr Schritt zu halten. Es gelingt mir sogar einigermaßen, obwohl mir das Herumgerenne in Como noch in den Knochen steckt. Auf den 11. September kann ich jetzt nicht näher eingehen, sonst bleibt mir die Luft weg. Sie macht etwas langsamer, gleicht ihre Schrittfrequenz an meine an. Nach ein paar Minuten finden wir einen gemeinsamen Rhythmus. Schweigend laufen wir durch den Hochwald. Er besteht vorwiegend aus weit auseinander stehenden Tannen und Fichten. Die herabhängenden Äste lassen die Bäume wie gebeugte Greise aussehen, die sich zum Schutz vor dem nahenden Winter in dicke Decken gehüllt haben. Frühnebel hängt zwischen den Stämmen. Die Schwaden reichen bis zu den Baumkronen. Es ist ziemlich frisch. An den schmaleren Stellen des Waldweges läuft Phil voraus. Manchmal rutscht ihr T-Shirt ein Stück hoch, worauf ein Nylongurt sichtbar wird, den sie sich um die Taille geschnallt hat. Ich bemerke zwei kleine Ausbuchtungen, eine an ihrer linken Seite – ihr Handy, wie ich vermute – und eine rechts. Als sie über eine Luftwurzel stolpert und einen Ausfallschritt macht, um die Balance zu halten, fällt mein Blick auf das Messer. Es steckt in einer Plastikscheide. Anscheinend hat sie es immer dabei. Ich weiß nicht, ob ich diese Vorsichtsmaßnahme gutheißen soll, aber ich kann Phil verstehen. Das Gefühl, völlig schutzlos zu sein. Wenn man es einmal in jeder Faser des 134
Körpers gespürt hat, tut man alles, damit es sich nicht wiederholt. Als wir ein langes, flacheres Stück vor uns haben, auf dem wir nebeneinanderher laufen können, frage ich sie nach dem Gespräch mit Erdem. Zuerst tut sie so, als habe sie mich nicht verstanden. Ich sage ihr, dass ich einen Teil von ihrem Telefonat mitgekriegt habe. Warum sie es vor mir verheimliche. Ob sie plane, Erdem allein zu treffen, wie sie es schon einmal getan hat im Palazzo degli Orsi. An einer Gabelung bleiben wir stehen. Widerstrebend rückt sie mit der Wahrheit heraus. Sie wollte erst mal eine Nacht darüber schlafen, wusste noch nicht, was genau zu tun sei. Aber irgendwie müsse es ja weitergehen, und zwar möglichst schnell, sonst würde sich Lidias Lage nur verschlimmern. »Wo willst du ihn treffen?«, frage ich sie. »Im Hauptbahnhof von Mailand. Bei den Fahrkartenautomaten.« »Und was soll das bringen? Außer, dass es mit ziemlicher Sicherheit eine Falle ist.« »Wir müssen mit ihm verhandeln, Viktor. Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht.« »Vielleicht knallt er dich einfach ab.« »Nicht im Bahnhof. Da sind massenhaft Carabinieri. Das wäre viel zu riskant, das ist nicht seine Art.« »Ich weiß nicht«, wende ich ein. Glaubt sie allen Ernstes, Erdem habe so etwas wie eine Verbrecherehre? »Außerdem habe ich noch Gwizdeks Kevlarweste. Die beschützt mich.« Ihre Stimme wird weich. »Nicht gegen Kopftreffer.« »Das verstehst du nicht.« Sie wendet sich ab, legt eine Hand auf ihre Brust. Mit Gwizdek verband sie etwas Besonderes. Er hat sie zurückgeholt, 135
als das Leben fast aus ihr herausgeflossen war. Er war da, als ich woanders war. Missbilligend schüttle ich den Kopf. »Okay, gehen wir mal davon aus, dass es kein Hinterhalt ist. Erdem wartet doch nur auf so eine Gelegenheit. Dann hat er dich, wo er dich haben will. Er wird dich verfolgen – uns. Das ist der Sinn der Sache.« »Genau das müssen wir vermeiden«, gibt sie zurück. »Wir werden ihn verfolgen. Er wird uns zu Lidia führen.« »Das stellst du dir so einfach vor.« »Wir haben ein Druckmittel. Die Aufnahme, die du von Lidias Entführung gemacht hast. Wahrscheinlich kann die Polizei den Bodyguard, der Lidia aus dem Verkehr gezogen hat, mit Ferro in Verbindung bringen. Solche Typen sind bestimmt aktenkundig.« »Und?« »Es wird Erdem nervös machen. Er kann Lidia nicht ewig festhalten.« »Erdem macht nichts so leicht nervös.« »Wenn er für Ferro arbeitet, kann er es sich nicht leisten, dass die Polizei im Umkreis seines Chefs Nachforschungen anstellt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Ferro überhaupt nichts von dieser Aktion weiß. Das ist Erdems persönliches Ding.« Ich denke nach. »Das heißt, er lässt Lidia frei – was extrem unwahrscheinlich ist. Oder er inszeniert ihren Tod. Nichts einfacher als das: Er spritzt ihr eine Überdosis und lädt sie in irgendeinem Kneipenklo ab, dann sieht es aus wie ein Goldener Schuss.« »Darauf läuft es hinaus. Wenn ich ihn nicht davon überzeugen kann, Lidia laufen zu lassen.« »Was Erdem auch vorhat – es wäre nicht schlecht, wenn wir uns mit Nondas zusammentäten«, schlage ich vor. »Er und sein Partner Batu sind Experten im Observieren. Mit ihrer Hilfe 136
ständen die Chancen für deinen Plan am Bahnhof gar nicht so schlecht.« »Darüber habe ich schon nachgedacht, als du mir von den beiden erzählt hast. Sie kommen uns ganz gelegen. Wir brauchen jetzt viele Augen.« »Falls Nondas überhaupt einsatzfähig ist«, gebe ich zu bedenken. »Als ich ihn zuletzt auf Ferros Kundgebung sah, lag er verletzt am Boden. Einen gesunden Eindruck machte er nicht gerade.« »Dann findest du es am besten heraus«, fordert sie mich auf, holt ihr Handy hervor und drückt es mir in die Hand. »Hast du nicht gesagt, er wohnt in deinem Hotel?« Zögernd betrachte ich die Tastatur. Es war zwar mein Vorschlag, aber mir kommen Zweifel. »Bist du dir sicher? Das bedeutet, dass wir mit den Bullen gemeinsame Sache machen.« »So, wie du es geschildert hast, bleibt dir sowieso keine andere Wahl.« Sie legt den Kopf nach hinten und stößt die Luft aus. »Auf was für Sachen du kommst, nur um kein normales Leben führen zu müssen. Trickbetrug im Internet. Bei dir ist doch ’ne Schraube locker.« »Und was ist mit dir?«, entgegne ich. »Meinst du, die Sache mit Musti ist schon verjährt?« Sie schweigt. »Nicht, dass Nondas dir etwas nachweisen könnte. Ich glaube, er hat keine Ahnung, dass du es gewesen bist. Wahrscheinlich geht er davon aus, dass es Tony war, genauso wie Erdem, bevor du dich vor ihm in der Bootshalle damit gebrüstet hast.« »Dann brauche ich mir ja keine Sorgen zu machen«, erwidert sie kühl. »Abgesehen davon waren die Auktionen eine brillante Idee. Ich konnte ja nicht ahnen …« »Jetzt ruf ihn schon an!« 137
»Na ja«, druckse ich herum, »wenn ich die Nummer des Delle Alpi wüsste, wäre das eine große Hilfe.« »Sie ist im Speicher.« Sie nimmt mir das Handy ab, drückt ein paar Tasten und gibt es mir dann zurück. Das heißt, sie hätte mich im Hotel jederzeit erreichen können – wenn sie gewollt hätte. »Damit wird es offiziell«, sage ich zu Phil. »Wir vertrauen uns den Bullen an. Wohl ist mir dabei nicht. Bisher sind wir ganz gut ohne sie ausgekommen.« »Falls es überhaupt Bullen sind«, wirft sie ein – und bringt mich damit etwas durcheinander. Ich meine, ich habe mir von Nondas keinen Ausweis oder so etwas zeigen lassen. Der Empfangschef meldet sich. Ich nenne meinen Namen unter dem Hinweis, Hotelgast zu sein, wünsche, mit Savvidis verbunden zu werden. Er lässt mich einen Augenblick warten. Als er sich wieder meldet, fragt er mich in einer Mischung aus Unterwürfigkeit und Bestimmtheit, die er sich wahrscheinlich auf zahlreichen Mitarbeiterschulungen angeeignet hat, ob es mir demnächst passen würde, die Rechnung für diesen Monat gegenzuzeichnen. »Natürlich nur, wenn es Ihnen keine Umstände macht«, setzt er hinzu. Ein Nadelstich, auf den ich nichts erwidere. Dann stellt er mich durch. »Ja«, meldet sich Batu. »Hier Viktor. Wie geht’s Nondas?« Eine längere Pause. »Nondas ist in Ordnung. Was willst du?« Ich erkläre ihm, dass ich mich mit ihm treffen möchte. Es gebe eine Menge zu besprechen. Er stimmt mir zu. Ich solle meinen Arsch schleunigst ins Delle Alpi schaffen. Warum ich verschwunden sei, als es ernst wurde. Wo ich mich gerade aufhalte.
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»Langsam, Batu. Du hast Glück, dass ich überhaupt mit dir spreche.« »Meinst du? Wenn Nondas nicht wäre, hätte ich dir schon längst deine arrogante Visage eingeschlagen.« »Wirklich? Seit wann sind Kiffer so aggressiv?« Es folgt eine Reihe von Verwünschungen. Ich halte das Handy von meinem Ohr weg. Als er sich wieder abgeregt hat, gebe ich ihm durch, dass ich eine Menge wichtiger Informationen hätte, nicht für ihn, sondern für seinen Vorgesetzten, falls der schon wieder aufnahmefähig sei. »Wovon sprichst du?« »Ich rede nur mit Nondas«, beharre ich. Er stößt einen Fluch aus, auf Türkisch, wie ich annehme. Nach einer längeren Unterbrechung meldet sich endlich Nondas. Ich will von ihm wissen, was ihm auf der Piazza zugestoßen sei. Er sagt, das könne er mir gleich ausführlich erklären. Ich solle unverzüglich auf sein Zimmer im Delle Alpi kommen. Wo ich mich eigentlich versteckt halte. Batu hätte mich überall gesucht. Mein Wagen stehe nicht mehr in der Tiefgarage. Was mit unserer Vereinbarung sei. »Ich bin an einem sicheren Ort«, antworte ich. »Die Auktionen sind heute Morgen abgelaufen«, sagt er mit einem drohenden Unterton. Seine Stimme wird etwas leiser, setzt kurz aus, ein Knacken in der Leitung. Dann steht die Verbindung wieder. »Wenn du versuchst, mich abzulinken …« »Ich brauche ein paar Stunden, bis ich im Hotel sein kann«, falle ich ihm ins Wort. »Aber ich habe unsere Abmachung nicht vergessen, also beruhig dich wieder.« Dann lege ich auf. Phil schaut mich fragend an. Als ich ihr erzählen will, worüber ich mit Nondas gesprochen habe, nehme ich einen seltsamen Geruch wahr. Sie hebt den Kopf, bemerkt es auch. Es riecht verbrannt. 139
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ine Rauchsäule, eine qualmende Ruine und eine verkohlte Leiche, die von dem letzten übrig gebliebenen Deckenbalken herunterbaumelt. Während wir zu dem Rasthaus zurückjoggten – Phil rannte voraus und war schon eine ganze Ecke vor mir da –, machte ich mich auf etwas in dieser Art gefasst. Aber dann stellte sich heraus, dass Marco nur ein Kaminfeuer entfacht hatte. Das erste Mal in diesem Herbst. Dabei gehe immer eine Menge Unrat in Flammen auf, trockene Zweige, verlassene Vogelnester, was sich im Laufe des Jahres in dem Abzugsschacht eben so ansammelt. Was wir denn gedacht hätten? Nachdem Phil geduscht hat, ist das heiße Wasser aus dem Boiler aufgebraucht. Bravo, Marco! Wahrscheinlich hat er Robbies ganzes Album durchgesungen und sich gefühlt wie in der Royal Albert Hall. Ich mache mich mit ein paar Wasserspritzern frisch, die direkt von einem Gletscher stammen könnten. Dann nehmen wir ein schnelles Frühstück zu uns, Kaffee und ein paar Croissants. Die Dinger fühlen sich an wie eine vergammelte Schaumstofffüllung und schmecken auch so. Gemeinsam starren wir ein wenig ins Leere – diese Morgenblicke, bei denen man tunlichst darauf bedacht ist, das Territorium des anderen nicht zu verletzen. Schließlich erklärt Phil, dass wir uns auf den Weg machen müssten. Sie würde gern hier bleiben, aber momentan sei das einfach nicht drin. Vielleicht komme sie Marco bald einmal besuchen. Sie kenne diese einsamen Winter, in denen man aus der Haut fahren könnte, weil die Stille immer unerträglicher wird. In dem Internat, in dem sie den letzten Jahreswechsel verbracht habe – ein Seitenblick zu mir – sei es besonders entsetzlich gewesen. 140
Er habe schon vermutet, dass wir jetzt aufbrechen würden, entgegnet Marco und betrachtet sie eine Weile über den Tisch hinweg. Sie sitzen sich gegenüber, warten auf eine Reaktion des anderen. Meine Anwesenheit ist ihm sichtlich unangenehm. Ich möchte wissen, wie weit er geht. Schließlich streckt er seinen Arm aus. »Fa’ attenzione a quello che fai.« Er berührt ihre Wange. Phil dreht ihren Kopf etwas zur Seite und schließt die Augen. Dann küsst sie Marcos Hand. »Ci proverò.« Dieser Abschied geht mir ziemlich nahe. Das sieht nicht aus wie eine flüchtige Zärtlichkeit nach einem One-Night-Stand. Phil hat sich verliebt – in einen Jungen, auf den ich beim besten Willen nicht eifersüchtig sein kann. Sie wirkt verletzlich, hat ihre Härte für einen Augenblick abgelegt. Und er benimmt sich ein wenig sicherer als gestern, bei weitem nicht so eingeschüchtert, wie er es nach Phils Messernummer war. Ich muss an einen anderen Jungen in seinem Alter denken: Pino. Der hat uns auch geholfen, ohne zu wissen, worauf er sich dabei einließ. Er kam bei dem Anschlag auf das No-GlobalBüro in Livorno ums Leben. Das Perfide daran war, dass er gar nicht wegen seiner politischen Überzeugungen dran glauben musste, obwohl man in der Öffentlichkeit derartige Hintergründe vermutete. In Wahrheit war es ein kalter Racheakt. Erdem ließ das No-Global-Büro in Schutt und Asche legen, weil Pino ihm dazwischenfunkte, weil er seinen Feinden Unterschlupf gewährte, aus keinem anderen Grund. Mich würde mal interessieren, wie viel von der Gewalt, die uns umgibt, solch simplen Mustern folgt. Wir denken, Gewalt habe vielschichtige Ursachen: Verschwörungen, Konkurrenzkämpfe, dunkle Geschäfte. Dabei müssen das gar nicht die Ursachen sein. Es sind die Früchte, die aus einem Akt der Gewalt erwachsen. Der erste Stein wird immer aus den niedrigsten Gründen geworfen.
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Er werde jedenfalls hier auf dem Berg bleiben, fährt Marco auf Deutsch fort und zieht seine Hand wieder zurück. Sie wisse ja, wo sie ihn finde. Er gehe nicht weg. Phil nickt. Sie lässt seine Worte eine Weile im Raum stehen, als wolle sie ihnen noch mehr Gewicht verleihen und keine Silbe davon vergessen. Dann steht sie auf und hängt sich ihren kleinen Trekking-Rucksack über die Schulter. »Wir müssen jetzt los.« »Ich fahre euch zum Lario runter«, sagt Marco. »Falls ihr keine anderen Pläne habt.« »Bestens«, gebe ich zurück. »Das kommt uns sehr gelegen.« Lario ist die italienische Bezeichnung für den Comer See. »Ich bringe euch auch woandershin. Vielleicht in die Schweiz, wenn es euch etwas nützt. In Lugano kenne ich ein paar Leute.« »Der Lario ist schon okay«, sagt Phil, bevor ich etwas erwidern kann. »Wie du meinst«, antwortet er, erhebt sich und stellt die leeren Kaffeetassen auf den Bartresen. »Ich dachte ja nur.« Richtig gedacht, Marco, aber die Schweiz steht nicht mehr zur Diskussion. Dieser Weg ist für uns versperrt, solange es noch Hoffnung für Lidia gibt. Ich halte den Mund und folge den beiden nach draußen. Marco bringt an der Auffahrt zum Parkplatz und an einem Wegweiser weiter unten ein »Chiuso«-Schild an. Während der Fahrt reden wir nicht viel. Keine Ahnung, ob Phil mit Marco in der Nacht über Erdems Anruf gesprochen hat, wahrscheinlich nicht, damit er sich nicht allzu viele Sorgen macht. Sie trägt eine dunkelblaue Strickmütze, die sie von ihm geschenkt bekommen hat, und brütet vor sich hin. Mit der Mütze sieht sie niedergedrückt aus, aber etwas gesellschaftsfähiger fürs Delle Alpi, falls mir solche Äußerlichkeiten momentan wichtig wären. Meine Erscheinung 142
ist nicht gerade gepflegt. Wenn ich etwas nicht leiden kann, dann Körpergeruch. Als wir an der Stelle vorbeikommen, an der mein Jag das Zeitliche gesegnet hat, deutet nur noch ein großer Rußfleck an der Scheunenwand auf den Unfall hin. Erstaunlich, wie schnell hier ausgebrannte Träume beseitigt werden. Wenigstens reißt es Phil für ein paar Augenblicke aus ihrer düsteren Stimmung. Sie wirft mir einen schadenfrohen Blick zu, der sich kurz darauf wieder verdunkelt. Vielleicht ahnt sie, dass ich den Jag durch den Verkauf des Shits finanziert habe. Dass Süchtige den Wagen bezahlt haben. Das stimmt, ist nun mal nicht zu leugnen. Deswegen mache ich mir über diesen Verlust auch nicht allzu viele Gedanken. Aber so wie ich das sehe, habe ich die Schuld, die mir aus dem Dealen erwächst, schon im Voraus abgegolten. In Pisa, als mir Erdem die Fresse poliert hat. Oder vor Ferros Villa, als mein Bein zu Bruch ging. Da ist im Nachhinein einiges zusammengekommen. Scheiße rollt nach unten, Viktors Naturgesetz. Irgendwann kriege ich wieder so eine Karre, das wäre doch gelacht. Nach den letzten Serpentinen gelangen wir nach Cernobbio. Wir passieren eine ungewöhnlich lange Baustelle. Schon beim Rauffahren habe ich mich gefragt, ob die hier einen Tunnel graben. Das wäre ja nichts Neues, die ganzen Alpen sind durchlöchert wie ein alter Steinbruch, der zur Sprengung vorbereitet wird. Aber es ist nur ein Gebirgsbach, den meterdicke Betonverschalungen in sein Bett zwingen sollen. Es sieht aus, als führe eine Trasse direkt in den Monte Bisbino hinein. Schließlich erreichen wir eine Kreuzung in der Ortsmitte. Ich bitte Marco, uns vor einem der Stahltore abzusetzen, die das Delle Alpi vom Rest der Welt abschotten. »Was habt ihr denn da verloren?«, wundert er sich und setzt einen Blinker. 143
»Nichts«, antwortet Phil. »Wir hoffen, jemanden zu finden.« Er stellt ihr noch weitere Fragen, aber sie gibt ihm keine Antwort, worauf er ebenfalls schweigt. Als wir das äußere Tor des Delle Alpi erreichen und uns von Marco trennen, hebt sie nur abwesend die Hand zum Gruß. Ich mache eine entschuldigende Bemerkung und gehe ein paar Schritte, damit die beiden ungestört sind. Marco versucht es noch einmal, aber Phil schüttelt nur mit einer hilflosen Geste den Kopf. Möchte sie ihm nichts anvertrauen, was er gegen seinen Willen verraten könnte? Oder bereut sie schon wieder die Nähe, die zwischen ihnen entstanden ist? Wen will sie schützen, ihn oder sich selbst? Gekränkt wendet sich Marco ab und steigt in den schmutzigweißen Kombi. Die Reifen quietschen, als er davonfährt.
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DRITTER TEIL
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o befindet sie sich jetzt? Was denkt sie über ihn? Wird sie allein kommen? Ein zorniger Engel, der noch nicht begriffen hat, mit wem er spielt. Er hat ihre Versuche, ihn milde zu stimmen, angehört. Es hat ihn nachdenklich gemacht. Gerechtigkeit ist ein Luxus, den er sich manchmal leistet, ein Privileg, das ihm über die Jahre zugewachsen ist – und das er vermisst, seit er für Ferro arbeitet. Er übt Gerechtigkeit, aber er darf keine gewähren, weder in seinem eigenen noch in fremdem Namen. Seine Macht ist größer geworden, das ja, aber sie reicht nur so weit, wie die seines Auftraggebers. Dessen Feinde er zum Schweigen bringt und dessen Freunde er belohnt. Nicht mehr und nicht weniger. Doch manchmal ist es nötig, diesen Kreis zu durchbrechen. Etwa, um eigene Unternehmungen voranzutreiben und der Vergangenheit zu gedenken. Davon weiß Ferro nichts. Die Angelegenheiten des Dieners gehen den Herrn nichts an – abgesehen davon, würde dieser sie auch nicht verstehen oder ihre Bedeutung ermessen. Ferro denkt nur an den Aufstieg, der ihm bisher versagt blieb. Er wurde übergangen, als seine früheren Verbündeten die Macht unter sich aufteilten. Er vermutet, dass sie hinter dem misslungenen Anschlag auf ihn stecken, eine Annahme, die sein Diener nicht entkräftet, weil er weiß, wie stark die Bande der Ungewissheit sind. Noch ist es ihm ein Rätsel, aus welchem Grund Viktor Ferro umbringen wollte. Es hat ihn überrascht, dass zwischen Ferros Feinden und seinen eigenen ein Zusammenhang besteht. Er behält diesen Zusammenhang für sich, da er die einzelnen Verästelungen noch nicht genau kennt. War Viktor auf der Kundgebung, um Ferro zu beobachten? Oder wollte er sich nur
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mit Lidia treffen? Agiert er auf eigene Rechnung oder hat er einen Auftrag? Was auch immer Viktors Gründe sind – er wird sie in Erfahrung bringen. Einer seiner Leute arbeitet bereits daran. Für einen hoch gestellten Diener ist es immer nützlich, eigene Informationen zu besitzen und nicht auf seinen Herrn angewiesen zu sein. Viktor wird er mit Hilfe von Phil finden. So ist es immer, die Menschen sind leicht zu täuschen. Offenen Auges kommen sie zu ihm und breiten ihre Geheimnisse aus. Er hat sich schon oft gefragt, was ihn so anziehend dafür macht. Vielleicht ist es seine Fähigkeit, warten zu können. Er macht einen Zug und wartet in der Stille. Alles andere ergibt sich von selbst. Die Menschen drängen ihm regelrecht auf, was er mit ihnen anstellen, wie er mit ihnen verfahren soll. Sie verlangen nach Weisung, aus Angst vor dem wüsten Nichts. Als Phil in Pisa zu ihm kam, war ihm nicht sofort klar, welche Absichten sie verfolgte. Er hatte einen Verdacht, doch so, wie sie sich ihm darbot, auf Knien, mit abgewandtem Gesicht und tastenden Fingern an ihrem Geschlecht, nahm er, was von ihrer Jugend übrig war. Es war nicht viel, aber es verschaffte ihm eine Befriedigung, die er zuvor nicht gekannt hatte. Er spürte die Spannung in ihrem Körper, ihren Wunsch nach Sühne, was seine Lust nur noch steigerte. Sie stieß seltsam kindliche Laute aus, als er in sie eindrang, ein unbeholfener Triumph, wie er dachte. Eine Art gesungener Beifall, der ihm ein Gefühl gab, als löse sich ihre Unschuld von ihrem schneeweißen Körper und ließe sich direkt vor ihm nieder, damit er sie noch einmal berühren konnte, bevor sie für immer entschwand. Er nahm dieses Geschenk an. Ergriff es mit fester Hand unter der Gefahr, es zu zerbrechen. Bis er erkannte, dass es in Wahrheit ein Tausch war. Die Herrschaft über ihren Körper für den Mord an seinem Bruder, so hatte sie es sich vorgestellt. Er zollt ihr Respekt dafür. Sie ist kein Mensch, der sich gerne beherrschen lässt. Davon gibt es mehr als genug. Aber der Preis, den sie ihm 147
anbot, war zu niedrig. Außerdem wurde er nicht von ihm, sondern von ihr festgesetzt, ohne sein Wissen, eine Eigenmächtigkeit, die er nicht dulden kann. Welchen Tausch strebt sie jetzt an? Er ist neugierig: Welches Lied wird der Engel singen, bevor er ihn tötet? Die Frau auf dem Himmelbett bewegt sich wieder. Er ließ es ihr so behaglich wie möglich machen, Schmutz und Düsternis sind ihm verhasst. Seine Leute haben alles wunschgemäß hergerichtet. In dem vollautomatischen Bett fieberte zuletzt ein reicher alter Mann seinem Tod entgegen. Als die Wohnung zum Verkauf stand, übernahm er sie komplett mit der gesamten Einrichtung. Er brauchte einen Ort für sich und seine Gedanken, für seine Gefangenen und ihre Geheimnisse. Überall hat er hier seine Augen. Sie ruhen auf allem, worüber er gebietet – und was ihm etwas bedeutet, jenseits seiner zahlreichen Pflichten. Die Laken sind gesäubert, die Kissen werden regelmäßig aufgeschüttelt. Lidias Körper ist mit gepolsterten Gurten fixiert. Ihr linker Arm ruht auf einer Schiene. Eine Kanüle steckt in der Vene auf ihrem Handrücken. Die erforderlichen Instrumente liegen bereit. Alle Gaben, die er ihr verabreicht, sind genau bemessen. Er schenkt ihr abwechselnd Glück und Schlaf. Auf jede Spanne Glück, in der sie den Schmerz vergisst, folgt eine Spanne Schlaf, in der sich der Schmerz wieder regt. Was wird sie spüren, wenn sie erwacht? Wird es die Abwesenheit des Glücks sein oder der Schmerz, den er in ihren Bauch gepflanzt hat? Er gab ihr Schmerz, als er sicher war, dass sich ihre Gefühle wieder ganz mit ihrem Körper vereint hatten. Der Knebel in ihrem Mund machte ihre Schreie unhörbar. Sie wehrte sich mit den Augen. Er beobachtete sie, bemaß den Schmerz und begutachtete ihren Hass. Es sind Gefühle, die ihm vertraut sind, die er genau kennt.
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Nach einer gebührenden Zeitspanne zog er die Klinge heraus, worauf sich der Schmerz, wie er wusste, vergrößerte. Der Tod trat langsam näher, sie hörte bestimmt schon seine Schritte, so wie er sie einst gehört hatte. Dann erst ließ er den Arzt die Wunde behandeln. Und gewährte ihr erneut Schlaf. Jetzt besitzt sie eine Ahnung davon, wie sich das anfühlt, was sie ihm zugefügt hat. Ihr Körper nahm dabei keinen größeren Schaden. Er wusste, wo er die Klinge ansetzen musste, um ihre inneren Organe nicht ernsthaft zu verletzen. Sie litt, aber sie lebte weiter. Ein Verband um ihren Bauch, Kompressen, Klammern, die Nähte, er kennt das. Ihr Nabel wird ein zerklüfteter Krater bleiben. Es ist unübersehbar nicht die erste Narbe, die sie trägt. Als er ihren Körper untersuchte, hat ihn das überrascht. Sie scheint mit Verletzungen zu leben – einer bestimmten Art von Verletzung, die er schon oft gesehen hat, alte Einstiche an den Unterarmen, an den Beinen, auf den Fußrücken, so alt, dass sie mit bloßem Auge kaum mehr zu erkennen sind und sich nur noch als weißliche Flecken von der Haut abheben. Sie scheint die Droge zu kennen, zumindest ihr Körper wird sich an sie erinnern. Er geht davon aus, dass es keine angenehmen Erinnerungen sind. Ein Zucken in ihrem Gesicht. Sein Blick fällt auf die Instrumente. Jetzt ist er sich nicht mehr sicher, ob er sie benutzen soll. Es gäbe noch einiges, was zu tun wäre, das schon. Aber die Tatsache, dass er eine Wunde in ihr aufgerissen hat, die aller Wahrscheinlichkeit nach längst verheilt war, bereitet ihm mehr Genugtuung als Zeuge eines vergleichsweise vordergründigen Schmerzes zu sein. Nein, der Schmerz, der sich auf ihrem Gesicht abzeichnet, besteht aus einer ganzen Reihe von Schichten. Schwäche, Versagen, falsche Hoffnungen, Enttäuschungen, all dies ist in diesem tieferen Schmerz enthalten. Er hat ihn geweckt, und das ist mehr, als er beabsichtigt hatte. Es ist ein Schmerz, der sich seiner Kontrolle entzieht. 149
Er greift nach einem Skalpell, betrachtet die leicht gebogene Schneide. Sein rechtes Auge spiegelt sich in der Klinge. Sie kann nicht überleben und darf nicht sterben, bis er das Lied des Engels gehört hat. Das ist ihre Frist. Er legt das Skalpell zurück. Er hat jetzt keine ruhige Hand. Der Käfer in seinem Inneren hat sich wieder geregt. Es ist kein störendes Gefühl. Ein merkwürdiges Prickeln durchläuft seinen Körper wie ein belebender Schauer. Dann ist es wieder weg. Die Finger ihrer Hand ballen sich zur Faust. Und strecken sich. Ob sie wieder bei Bewusstsein ist? Ihre Lider sind geschlossen. Er bereitet eine neue Injektion vor.
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ie Tür am Ende des Ganges öffnet sich. Batu hält inne, als er Phil neben mir sieht. »Was will das Mädchen hier?« »Frag deinen Chef«, gebe ich zurück. Wir schieben uns an Batu vorbei. Er rümpft die Nase, als er meinen Körpergeruch wahrnimmt. Ich erspare mir eine Erklärung. Das Zimmer sieht aus wie ein Sitzungsraum des britischen Geheimdienstes in einem Agententhriller der sechziger Jahre. Der einzige Anachronismus sind die Laptops. Ansonsten ist alles stilrein Albert R. Broccoli: staatstragende Atmosphäre vor einer Edelantiquitätenkulisse, die sich auch in Whitehall oder einem x-beliebigen schottischen Castle befinden könnte. Fehlt nur noch eine ausfahrbare Weltkarte an der Wand mit blinkenden Lichtern an den Stellen, wo größenwahnsinnige Erzkriminelle gerade ihr Unwesen treiben. Die zugezogenen Vorhänge tauchen den Raum in ein grünliches Zwielicht, obwohl erst später Vormittag ist. Wir nehmen an einer Art Konferenztisch aus der Gründerzeit Platz. Jede Menge Zeitungen, Pläne und Landkarten sind hier ausgebreitet. Nondas sitzt uns gegenüber. Er trägt einen Verband um den Kopf, begrüßt uns mit einem Nicken. Batu tritt neben ihn und flüstert ihm etwas ins Ohr. Phil nimmt ihre Strickmütze ab. Nondas mustert sie überrascht. Dann wendet er sich Batu zu. »Das ist Phil«, sagt er. »Sie hat sich etwas verändert, seit ich sie zuletzt gesehen habe.« Er schlägt eine Mappe auf und reicht sie Batu, der sich wortlos neben ihn auf einen Stuhl setzt, die Füße hochlegt und einen
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Blick in die Unterlagen wirft. An den Ledersohlen seiner spitz zulaufenden Schuhe klebt ein Kaugummi. »Du hast nicht im Hotel übernachtet«, sagt Nondas in meine Richtung. »Wo seid ihr gewesen?« »Bei einem Freund«, gibt Phil ziemlich barsch zurück. »Bei jemandem, der nichts von alledem hier …«, ich mache eine Geste in den Raum, »oder von Erdem weiß. Wir mussten uns mal in Ruhe unterhalten.« Nondas betrachtet uns eine Weile. Sein Blick springt zwischen Phil und mir hin und her. Er versucht die neue Situation abzuschätzen. Schließlich scheint er meine Antwort zu schlucken. »Jedenfalls gut, dass du hier bist«, fährt er zu Phil gewandt fort. »Ich hatte schon befürchtet, Erdem hätte dich auch geschnappt.« Mit finsterem Gesicht schiebt er ein Stück Papier über den Tisch. Es ist ein fotokopierter Handzettel, der ein Bild von Lidia zeigt. VERMISST steht darunter in mehreren Sprachen, außerdem ihr Name, eine Telefonnummer, unter der Hinweise auf ihr Verschwinden erbeten sind, sowie das Logo von Attac. Es besteht aus einem Prozentzeichen mit zwei Erdbällen anstelle der Nullen über und unter dem Schrägstrich. »Ich konnte es nicht verhindern.« Nondas tippt an seinen Verband. »Ferros Leute haben mich kalt gestellt. Mit einem Elektroschocker. Es hat eine Zeit gedauert, bis ich wieder bei Bewusstsein war.« Er schürzt die Lippen und schüttelt nachdenklich den Kopf. »Du warst bereits weg, Viktor. Aber ich nehme an, du hast mitgekriegt, was mit dieser … Lidia passiert ist?« Ich sage nichts, lasse ihn erst mal reden. Momentan sieht es so aus, als wolle er etwas von mir. Anscheinend hat er Lidia in der Menge erkannt und wollte ihr helfen. Hat er gewusst, dass sie 152
bei der Gegendemo dabei war? Ein Zufall kann das ja wohl kaum gewesen sein. »Du hast den Camcorder mitgehen lassen«, wirft Batu ein. »Willst du den auch im Netz verticken?« Ich überlege, was ich den beiden sagen darf. Die Aufnahme von Lidias Entführung ist Gold wert, für die Polizei, für die Presse, als Druckmittel gegen Erdem. Ich bin mir nicht sicher, ob ich damit ohne weiteres herausrücken soll. »Leider haben wir keine Ahnung, wo sie sein könnte.« Mit einer Handbewegung versucht Nondas, Batu zu beschwichtigen. »Ehrlich gesagt, haben wir damit gerechnet, dass er so etwas versucht. Aber wir dachten nicht, dass es so schnell über die Bühne geht, mitten auf der Piazza.« »Das hab ich dir doch gleich gesagt«, kommt es von Batu. »Die fackeln nicht lange.« Offenbar gehört er zu den Leuten, die immer alles im Voraus wissen. Nondas hebt die Hände und lehnt sich zurück. »Und Erdem hat sich wieder nicht blicken lassen, keine Spur von ihm, nichts. Aus unserer Sicht war es also ein Fehlschlag auf der ganzen Linie.« »Hört mal«, schaltet sich Phil ein. »Wir haben hier nicht endlos Zeit. Wie wär’s, wenn wir uns gegenseitig auf den neuesten Stand der Dinge bringen und dann weitersehen?« »Na dann fang mal an«, entgegnet Batu. »Wie kommst du zum Beispiel hierher? Warum bist du nicht in …«, er blättert in der Mappe, »in dieser … Nobelpenne in Kanada?« »Hältst du mich für bescheuert? Da sitze ich doch auf dem Präsentierteller.« »Kannst du mir mal verraten –« »Erdem weiß, dass ich in Sainte Claire zur Schule gehe. Er hat mir mein Piercing geschickt. Das Erste, was ich getan habe, war, von dort zu verschwinden.« 153
Batu schaut verunsichert zu Nondas, der sich eine Notiz auf seinem Laptop macht und ihn nicht weiter beachtet. »Jedenfalls hast du uns hier gerade noch gefehlt«, fügt er lahm hinzu. »Hab ich das?« Phil durchbohrt ihn mit Blicken. Sie gibt sich wenig Mühe, ihre Geringschätzung zu verbergen. Nach der abfälligen Begrüßung ist sie nicht gut auf Batu zu sprechen. »Eigentlich müsstet ihr froh darüber sein, dass ich hier bin. Jetzt habt ihr wieder jemanden, den ihr als Köder benutzen könnt.« »Moment mal«, wehrt Nondas ab. »Wir haben Lidia nur beobachtet. Als klar war, dass sie an der Gegendemo teilnehmen wird, dachten wir, dass sich dabei vielleicht eine Gelegenheit ergeben könnte …« »Euch interessiert doch einen Dreck, was mit Lidia los ist.« Phil wird langsam wütend, und ich kann es ihr beileibe nicht verdenken. »Ihr denkt nur daran, wie ihr am besten an Erdem rankommt.« Nondas räuspert sich. »Erinnere dich daran, was in Livorno passiert ist. Lidia hat ihn regelrecht aufgespießt. Ich fürchte, dass sie …« »Woher willst du das überhaupt wissen? Du warst nicht dabei!« »Ich war vielleicht nicht in der Bootshalle. Aber ich habe euch beobachtet.« »Ach ja?« »Durch ein Zielfernrohr.« Phil stutzt. »Heißt das, du hattest Erdem im Visier?« »Nachdem Erdems Leute die Fensterscheiben zerschossen hatten, war das Blickfeld ganz gut. Ich brauchte nicht näher ranzugehen.« »Hattest wohl Schiss.« »Mir blieb wenig Zeit. Ich befand mich auf der anderen Seite des Hafenbeckens.« 154
»Du meinst, du hast dich hübsch rausgehalten.« »Ich hatte den Finger am Abzug. Lidia müsste die Zielmarkierung gesehen haben. Einen roten Punkt.« Sie mustert ihn kühl. »Warum hast du dann nicht verhindert, dass er Gwizdek umbringt?« »Gwizdek, wie du ihn nennst, war ein Auftragskiller«, erwidert Nondas. Er hält inne. »Ich bin kein Killer.« »Und wenn Lidia uns nicht geholfen hätte? Hättest du dann durch dein beschissenes Zielfernrohr zugesehen, wie er mich tötet?« »Nein.« Nondas macht eine Pause. »Ich hätte es verhindert.« »Warum?« »Du bist auch kein Killer.« Sie zögert. »Weißt du das genau?« »Ich habe Augen im Kopf. Du bist in etwas hineingeraten, das ein paar Nummern zu groß für dich ist.« »Ihr seid die beschissensten Bullen, die mir je über den Weg gelaufen sind!«, bricht es aus ihr hervor. »Was fällt dir ein!« Batu fährt hoch. »Rotzgöre!« Phil stößt sich vom Tisch ab und verschränkt die Arme vor der Brust. Sie versucht sich zu beherrschen. »Gibt es überhaupt irgendwas, was ihr über ihn herausgefunden habt? Abgesehen davon, was mir mein Vater schon erzählt hat, meine ich. Dass er für Ferro arbeitet und so weiter. Habt ihr wenigstens eine vage Vermutung, wo er sein könnte?« Mir scheint, dass sie es mit den Vorwürfen und Beschimpfungen etwas übertreibt, aber auf ihre Fragen folgt betretenes Schweigen. Obwohl ich ihr das auf keinen Fall sagen würde, erinnert sie mich gerade sehr an ihre Mutter: dieses unbedingte Beharren in einer Situation, in der es darauf 155
ankommt, seinen Standpunkt zu wahren, ganz egal, wen sie dabei gegen sich einnimmt. Sill brachte mich damit oft zur Verzweiflung. Meistens stellte sich heraus, dass sie im Recht war. Batu setzt sich wieder. Nondas kratzt sich am Kinn. »Wir beschatten Ferro schon ziemlich lange …«, fängt er schließlich an und klappt seinen Laptop zu, während Batu die Augen zur Decke schlägt und sich in seinem Stuhl zurücklehnt, »ohne Erfolg. Erdem ist wie vom Erdboden verschwunden. Wir haben gehofft, von Viktor einen Anhaltspunkt zu bekommen.« »Gehofft.« Phil lässt die Luft durch die Zähne entweichen. »Wenn ihr meint, dass es euch weiterbringt, könnt Ihr ja versuchen, mit Erdem zu sprechen.« Sie knallt ihr Handy auf den Tisch. »Ihr braucht nur Lidias Nummer zu wählen.« Entgeistert starren die beiden auf das Handy. »Er hat mich angerufen. Zeig ihnen die Spritze, Viktor.« Eins muss man Phil lassen: Sie hat ein exzellentes Gespür fürs Timing. Ich hole die durchsichtige Plastiktüte mit der Spritze aus meiner Jackentasche und lege sie neben das Handy. Das Tröpfchen bräunlicher Flüssigkeit ist noch gut zu erkennen. »Damit hat einer der Bodyguards Lidia betäubt«, sage ich zur Erklärung. »Lag hinter der Bühne, auf der Ferro seine Rede geschwungen hat.« »Wir glauben, dass sie Heroin benutzt haben«, fügt Phil hinzu. »Das würde zu Erdem passen.« Nondas nimmt die Spritze näher in Augenschein und reicht die Plastiktüte an Batu weiter. »Bist du sicher?« »Vielleicht hat sie auch irgendein Junkie dort liegen lassen, der sich das Gelaber von Ferro nicht länger anhören konnte«, gebe ich zurück. »Das halte ich aber für unwahrscheinlich. Wenn wir Glück haben, sind noch Fingerabdrücke drauf. Jetzt
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könnt ihr zur Abwechslung mal zeigen, ob ihr richtige Bullen seid.« Nondas nickt Batu zu, der mich anschaut, als würde er mir außerordentlich gern zeigen, dass er ein richtiger Bulle ist. Doch dann macht er sich an die Arbeit. Er holt einen Alukoffer und entnimmt ihm eine Reihe von Gegenständen. Nachdem er sich Silikonhandschuhe übergestreift und die Spritze auf eine Art Metalltablett gelegt hat, beginnt er, mit einem Pinsel herumzuhantieren. »Was hat Erdem am Telefon gesagt?«, fragt Nondas unterdessen. Phil erzählt von drei Gesprächen, die sie mit Erdem geführt hat, von ihren Überredungsversuchen und dem vereinbarten Treffpunkt heute Abend um achtzehn Uhr. Die Stimmung wird wieder sachlich. Nondas protestiert nur schwach gegen Phils eigenmächtiges Handeln. Er greift nach ihrem Handy. »Wenn er ihr Handy benutzt, haben wir ihn. Was hat sie für eine Nummer?« »So läuft das nicht. Erdem ruft immer nur mich an, nicht umgekehrt.« »Aber vorhin hast du gesagt …« »Das war ein Witz. Du kannst die Nummer gerne probieren. Lidias Handy ist nicht eingeschaltet.« »Er hat es nur benutzt, um Phils Nummer herauszufinden«, wirft Batu ein. »Du glaubst doch nicht, dass er das Ding noch einmal anrührt? Der ruft von einem anderen Handy an und wechselt täglich das Gerät und die Netzkarte. Wir sprechen von Erdem und nicht von einem Kleinganoven wie dem da.« Er nickt in meine Richtung und wendet sich wieder seiner Spurensicherung zu. Schließlich gibt Nondas zu, dass uns unter diesen Umständen kaum etwas anderes übrig bleibt, als Erdem hinzuhalten und auf seine Forderungen einzugehen. Außerdem hätten wir den 157
Vorteil, dass Erdem nicht weiß, mit wem er es außer Phil zu tun hat. Wir könnten ihn zwar kaum überraschen, da er sicher mit allem rechnet und entsprechende Vorkehrungen getroffen hat. Wenn wir es geschickt anstellten, bestehe jedoch die Möglichkeit, uns auf seine Spur zu setzen. »Mag sein, dass er langsam unvorsichtig wird, nachdem er sich so lange nicht gezeigt hat. Er fühlt sich unangreifbar. Diese Chance müssen wir nutzen.« »Und wie stellst du dir das vor?«, frage ich. »Du willst ja wohl kaum die italienische Polizei einschalten.« Batu schaut kurz hoch. Nach einem Blick zu Nondas zieht er geräuschvoll den Schleim in seiner Nase hoch und schüttelt resigniert den Kopf. Dann steht er auf, holt einen tragbaren Scanner und schließt ihn an einem der Laptops an. Er legt ein Stück Papier darauf, das er behandelt wie ein rohes Ei, und startet den Scan. »Einer der Abdrücke könnte ganz brauchbar sein«, sagt er. »Wollen mal sehen.« Während das Gerät geschäftig surrt und ein weißlicher Lichtschein unter der Abdeckklappe hervordringt, schafft er einen weiteren Alukoffer herbei und stellt ihn vor sich auf den Tisch. Er nimmt die Spritze, zieht den Kolben behutsam ab und befördert die Reste des Inhalts mit einer Pipette in ein kleines Reagenzglas. Dann macht er sich hinter dem aufgeklappten Kofferdeckel zu schaffen und schaltet irgendeine Apparatur ein, die einen lang gezogenen Brummton von sich gibt – der Chemiekasten für den kleinen Drogenfahnder? Sieht jedenfalls wie seriöse Ermittlungsarbeit aus. »Was wollt ihr eigentlich machen?«, fahre ich fort. »Wollt ihr ihn verhaften, wenn er am Bahnhof auftaucht? Geht das einfach so, obwohl ihr deutsche Bullen seid? Haben die Carabinieri da nicht was dagegen?«
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Nondas lächelt gequält. »Damit hast du die Lage ziemlich genau erfasst. Die Carabinieri lassen sich ungern ins Handwerk pfuschen, und von Typen wie uns schon gar nicht.« »Was sie dir bereits mehr als deutlich gesagt haben«, sagt Batu. Nondas wirft seinem Partner einen strafenden Blick zu, der ihn nicht die Spur einschüchtert. »Meiner Ansicht nach haben wir zwei Möglichkeiten: Entweder wir weihen die italienischen Behörden ein, was vermutlich bedeuten würde, dass Batu und ich die längste Zeit an Erdem dran waren. Man würde uns für unsere Ermittlungen auf die Schulter klopfen und uns freundlich, aber bestimmt nach Deutschland zurückkomplimentieren.« »Kommt nicht in Frage«, sage ich. »Denen ist Erdem schon einmal entwischt. Wenn herauskommt, dass er für Ferro arbeitet, könnte sich das ganz leicht wiederholen. Wahrscheinlich erfährt die Öffentlichkeit dann gar nicht, dass er wieder aufgetaucht ist. Sie lassen ihn stillschweigend laufen.« »Ich glaube zwar kaum, dass Ferros Einfluss so groß ist. Und dass die gesamte italienische Polizei korrupt ist, halte ich auch für reichlich übertrieben. Aber die Gefahr, dass er schnell wieder auf freien Fuß kommt, besteht auf jeden Fall.« »Abgesehen davon wäre es Lidias Todesurteil.« Nondas nickt. »Also bleibt uns nur die zweite Möglichkeit. Es muss uns gelingen, Erdem allein zu schnappen. Ohne dass die Carabinieri oder die Polizei davon Wind bekommen.« »Worin wir uns alle einig sind«, setze ich hinzu. »Ich will ihn in Deutschland vor Gericht stellen«, erklärt er. »Dafür müssen wir ihn über die Grenze schaffen. Das könnte etwas schwierig werden, aber –« »Langsam«, wendet Phil ein. »Erst mal müssen wir ihn haben. Das könnte auch etwas schwierig werden.« 159
»Schon klar.« Nondas klappt seinen Laptop wieder auf, tippt darauf herum und nimmt eine Maus zu Hilfe. Er starrt eine Weile auf die Anzeige. Dann wendet er sich wieder uns zu. »Ich habe mir Folgendes überlegt: Wenn Batu mit seinen Analysen fertig ist, fährt er sofort nach Mailand und sondiert das Terrain. Bis wir Genaueres über die Örtlichkeiten wissen, benutzen wir diesen Plan aus dem Internet.« Er deutet auf den Bildschirm und bedeutet uns, um den Tisch herumzukommen. Phil und ich tun wie geheißen und nehmen links und rechts von ihm Aufstellung. Nondas zeigt uns die Website der Stazione Centrale von Mailand. Er hat einen Orientierungsplan des Bahnhofs aufgerufen. »Moment noch«, sagt Batu, »der Scan ist fertig. Ich lasse den Fingerabdruck jetzt durch die internationale Datenbank laufen.« Er drückt ein paar Tasten auf seinem Laptop. »Das dauert eine Weile. Wie lautet die Webadresse des Bahnhofs?« Nondas diktiert sie ihm. Dann fährt er fort. »Die Fahrkartenautomaten sind hier und hier.« Mit dem Mauszeiger weist er auf zwei Räume links und rechts von der Eingangshalle. »Welcher von beiden ist es, Phil?« »Biglietteria Est.« Sie deutet auf ein graues Quadrat mit einer entsprechenden Beschriftung. »Gut. Wahrscheinlich ist es dort etwas ruhiger als in der Eingangshalle, aber nicht so sehr, dass Erdems Leute dort mit Phil machen können, was sie wollen. Außerdem dürfte am Abend einiges los sein.« »Das heißt wohl, ich spiele den Lockvogel«, wirft Phil ein. »Es war dein Vorschlag. Wenn du nicht …« »Schon gut. Hätte ja sein können, dass euch mal was anderes einfällt.« Batu grinst, sagt aber nichts. »Keine Angst, ich werde immer in deiner Nähe sein.« 160
Nondas bewegt den Mauszeiger. »Ungefähr hier.« Er deutet auf ein Telefon-Symbol. »Ich verkleide mich als Tourist. So kriege ich alles mit. Wenn Erdem oder seine Leute irgendwas versuchen, schlage ich Alarm in der Halle.« »Was glaubst du, werden sie versuchen?«, frage ich, während ich ihm über die Schulter sehe. »Ich weiß es nicht. So wie ich Erdem und die ganze Situation einschätze, will er Phil in seine Gewalt bringen, genauso wie Lidia. Aber dafür ist der Mailänder Hauptbahnhof denkbar ungeeignet.« »Was denkst du darüber?« Ich wende mich Phil zu. Sie zieht eine Schulter hoch. »Du meintest doch, dass er eine Gelegenheit abwartet, um mich zu verfolgen. Das halte ich für am wahrscheinlichsten.« »Und falls doch nicht?«, entgegne ich. »Batu wird uns verdrahten«, sagt Nondas. »Wenn sie trotz allem versuchen, Phil zu entführen, schreiten wir ein. Batu und du, ihr wartet in unserem Bus am nächstgelegenen Ausgang. Wir stehen dauernd in Kontakt. Sobald einer von uns etwas Verdächtiges bemerkt, verständigt er die anderen.« »Rechnet Erdem nicht damit, dass Phil die Polizei einschaltet?«, fragt Batu. »Nein.« Phils Stimme duldet keinen Widerspruch. »Unter normalen Umständen nicht. Die Polizei hat zwischen Erdem und mir noch nie eine Rolle gespielt.« »Und was ist mit uns?«, feixt Batu. »Ihr seid die Ausnahme.« Eisiger könnte ihre Abfuhr nicht sein. Vermutlich hat sie Erdem am Telefon versprochen, die Bullen nicht zu verständigen, und jetzt meldet sich ihr Gewissen. Batu zieht die Augenbrauen hoch, während sein Partner ihn erneut mit Blicken beschwichtigt. Nondas will sich Phils 161
Kooperationsbereitschaft nicht verscherzen. Sie ist so etwas wie eine neue, überaus wertvolle Figur in seinem Spiel. »Und du glaubst, deine … Tarnung reicht aus?«, frage ich Nondas. »Die Tarnung soll nur von Batu und dir ablenken. Ihr werdet die eigentlichen Beschatter sein. Wenn sich einer von Erdems Leuten zeigt, tretet ihr auf den Plan. Ihr hängt euch an ihn dran, und ich bleibe weiter auf Sendung. Wer weiß: Vielleicht taucht Erdem ja sogar höchstpersönlich auf. Vorausgesetzt, er denkt, die Luft sei rein.« »Diese Gleichung enthält viele Unbekannte«, wende ich ein. »Auf mich wirkt die ganze Aktion improvisiert. Wir sind zu wenig Leute. Wir wissen zu wenig über die Gegenseite. Alles, was wir planen, beruht auf Spekulation. Wenn ihr mich fragt, kann das gar nicht gut gehen.« »Da muss ich ausnahmsweise zustimmen«, sagt Batu. »Uns bleibt aber kaum etwas anderes übrig.« Nondas hebt beschwörend die Hände. »Seht es mal so: Improvisation kann auch von Vorteil sein. Dadurch entsteht der Eindruck, dass Phil auf eigene Faust handelt und nicht zur Polizei gerannt ist. Bevor Erdems Leute irgendetwas unternehmen, werden sie die Bahnhofshalle auf verdeckte Ermittler überprüfen. Außer mir wird da aber keiner sein. Und sie werden mich nicht erkennen, ich bin ziemlich gut im Verkleiden. Eine größere Polizeiaktion würde Erdem auf Anhieb wittern. Was meinst du, warum wir ihn in Frankfurt nie erwischt haben?« »Nehmen wir mal an, das funktioniert alles. Was tun wir, nachdem es zum Kontakt, oder wie ihr das nennt, gekommen ist?« »Dann drehen wir den Spieß um«, antwortet Phil. »Wenn sie mir folgen, folgt ihr ihnen.« »Genau so habe ich mir die Sache vorgestellt«, sagt Nondas erstaunt und lächelt ihr zu. »Wenn sie sich an Phil dranhängen, 162
klemmen wir uns hinter sie, ich zu Fuß und ihr beide mit unserem Bus. Phil muss so tun, als rechne sie nicht damit, dass ihr jemand auf den Fersen ist. Sie darf sich auf keinen Fall umdrehen oder so etwas.« »Sobald ich mir den Bahnhof von innen angesehen habe, arbeite ich mit euch eine Route aus«, schlägt Batu vor. »Wir werden ihnen immer einen Schritt voraus sein.« Nondas schließt das Fenster mit dem Grundriss des Bahnhofs und klickt im Hauptmenü der Stazione Centrale eine Umgebungskarte an. »Und an einem bestimmten Punkt dieser Route wird Phil von einem Augenblick auf den anderen verschwinden. Es muss wie ein Zufall aussehen. Die müssen denken, sie verloren zu haben.« »Und dann sind wir an ihnen dran«, ergänzt Batu. »Kein besonders raffinierter Trick, aber wenn Phils Verschwinden glaubhaft wirkt, könnte es klappen.« »Bleibt nur noch das winzige Detail, dass ich mich nicht wegbeamen kann.« Phil ist skeptisch, genau wie ich und Batu. Was Nondas uns da aufgetischt hat, enthält noch mehr unbekannte Faktoren, als wir ohnehin schon in unsere Milchmädchenrechnung reingebastelt haben. »Abgesehen davon kenne ich mich gar nicht in Mailand aus«, fügt sie hinzu. »Das ist nicht so wichtig. Entscheidend ist, dass sie dich verlieren, ohne Verdacht zu schöpfen.« »Was soll ich tun? Mich in Luft auflösen?« Nondas vertieft sich in die Umgebungskarte auf dem Bildschirm. »Da sind jede Menge Hotels, Restaurants, ein öffentlicher Park. Die U-Bahn kannst du nicht nehmen, das ist zu unsicher. Da wärst du auf dich gestellt, und Batu und Viktor könnten nicht ohne Unterbrechung an dir dranbleiben. Vielleicht lassen wir auch Viktor auftauchen – aus der Sicht von Erdem wäre es logisch, dass er dir hilft. Egal, irgendwas wird sich schon finden. Batu späht zuerst den Bahnhof aus, während wir 163
drei uns um eine geeignete Fluchtmöglichkeit kümmern. Wenn Batu fertig ist, treffen wir uns wieder. Wir haben noch ein paar Stunden Zeit.« Ein schwaches »Pling« ertönt von Batus Laptop. Er schaut auf den Bildschirm. »Fehlanzeige«, sagt er. »Der Fingerabdruck von der Spritze ist nicht in der Verbrecherkartei. Gerade kam das Ergebnis rein.« »Hab ich mir fast gedacht.« Nondas klingt verbittert. »Erdem umgibt sich nicht mit Anfängern. Das wäre auch zu einfach gewesen.« Mit der Camcorderaufnahme wäre es einfach, den Bodyguard zu identifizieren, geht es mir durch den Kopf. Die italienischen Bullen könnten eine Fahndung ausrufen, oder Batu könnte eine Fotodatenbank anzapfen. Aber was nützt uns das im Moment? »Dafür war die Chromatographie erfolgreich.« Batu beugt sich über seinen Chemiekasten und reißt einen kleinen Zettel ab. »Die Spritze enthielt Ketaminhydrochlorid. Das ist ein gängiges Betäubungsmittel in der Tiermedizin. Vor ein paar Jahren hat es die Szene als neue Partydroge entdeckt. Gilt als flüssiges Ecstasy, kein Problem für Erdem, da ranzukommen. In ausreichender Dosierung knockt es dich sofort aus.« Er macht eine Pause. »Tja, und mit dem Diacethylmorphin liegt ihr leider richtig. Daher kommt auch die bräunliche Färbung.« »Heroin«, ergänze ich. »Ket und Heroin ergeben zusammen eine ziemlich fiese Mischung«, fährt Batu fort. »Wenn man Pech hat, bleibt einem vor lauter Krämpfen die Luft weg und man macht ruckzuck ’nen Abgang. Ziemlich merkwürdig, das Zeug zu kombinieren. Wenn sie sichergehen wollten, dass bei Lidia die Lichter ausgehen, hätte Ketamin locker gereicht. Warum haben sie auch noch Heroin reingetan?«
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»Weil sie früher mal davon abhängig war«, sagt Phil ungerührt. »Ich nehme an, Erdem will ihr das in Erinnerung rufen.« Wortlos schaut Batu von dem Ausdruck, den er in der Hand hält, zu Phil und wieder auf den Ausdruck. Nach einiger Zeit scheint er zu kapieren, was sie meint. »Hast du sonst noch was?«, fragt Nondas. Batu fasst sich wieder. »Aber sicher.« Er legt den Ausdruck weg. »Wenn dieser Cocktail Lidia mit dieser Spritze verabreicht wurde, dann müssten noch Spuren ihrer DNS an der Nadel sein. Für eine Gen-Analyse haben wir hier aber nicht die Möglichkeiten. Unser tragbarer Chromatograph hier ist schon das höchste der Gefühle.« »Das brächte uns sowieso nicht weiter«, sage ich. »Keiner von uns denkt daran, die hiesigen Bullen einzuschalten. Also können wir diese ganzen Analysen genauso gut in die Tonne treten.« »Das nicht gerade«, sagt Nondas. »Aber das alles sind Indizien und keine richtigen Beweise. Theoretisch könnten sie alles Mögliche bedeuten. Vor Gericht hat das nur Gewicht, wenn wir mehr in der Hand haben.« Langsam bin ich nicht mehr davon überzeugt, ob es eine gute Idee ist, die Camcorderaufnahme zurückzuhalten. Wenn bei dieser Aktion am Bahnhof nichts herauskommt, steht es schlecht um Lidia. Dann kommen wir nicht darum herum, die Carabinieri zu verständigen und ihnen das Video auszuhändigen. Als ob Nondas meine Gedanken gelesen hätte, will er ausgerechnet jetzt wissen, was ich mit dem Camcorder gemacht habe. Ich erzähle, dass mich einer von Ferros Bodyguards erkannt und quer durch Como verfolgt hat, dass ich das Gerät wohl dabei verloren hätte. Ich erwähne jedes Detail, damit er nicht denkt, ich würde etwas erfinden, zum Beispiel den Müllcontainer, hinter dem ich Schutz gesucht habe. Ich weiß nicht, ob ich in der Achtung der beiden steige, weil der 165
Bodyguard auf mich geschossen hat. Sie lassen sich jedenfalls nichts anmerken. »Und was hast du aufgenommen?«, fragt Nondas schließlich. »Die Kundgebung und die Gegendemo. Ferros Bodyguards. Und natürlich Ferro. Was mir eben wichtig erschien.« »Hab ich das richtig verstanden?«, wirft Batu ein. »Der Bodyguard hat dich erkannt?« »Schätze schon.« Er greift sich an die Stirn. »Warum sagst du das erst jetzt? Das heißt, Erdem weiß, dass du in der Nähe bist.« »Na und?« »Er ist vorgewarnt. Er wird nach dir Ausschau halten.« »Das würde er sowieso«, sagt Nondas gelassen. »Wo Phil ist, vermutet er sicher auch Viktor. Da er sie beide sucht, kommt ihm das sogar ganz gelegen. Und es kommt uns gelegen, weil seine Aufmerksamkeit abgelenkt ist.« Sieht so aus, als wollte er sich nicht von seinem Plan abbringen lassen. »Vielleicht denken wir uns für dich auch eine Verkleidung aus«, sagt er zu mir. Ich pflichte ihm bei. Selbst wenn ich in dem Campingbus sitzen bleibe, kann es nicht schaden, mich zu tarnen. »Wisst ihr eigentlich, was genau Erdem für Ferro macht?«, fragt Phil. »Ich meine, verschiebt er Drogen für ihn? Oder befehligt er seine Bodyguards?« »Der V-Mann, von dem wir den Tipp haben, erzählte etwas von Personenschutz«, antwortet Batu. »Dass Erdem für Ferro mit Drogen handelt, kann ich mir kaum vorstellen. Für einen ehrgeizigen Politiker ist das viel zu riskant. Er hat sicher andere Einnahmequellen, nicht unbedingt gesetzliche, aber …« »Was auch immer Erdem für ihn macht – jetzt befindet sich Lidia in seiner Gewalt. Das gibt ihm das Gefühl, die Kontrolle zu haben.« 166
Nondas steht auf und geht langsam um den Tisch herum. Er zündet sich eine Zigarette an. Na endlich! Ich dachte schon, in diesem Bullenkabinett herrsche Rauchverbot wegen der empfindlichen technischen Geräte oder so einem Scheiß. Ich stecke mir auch eine an. Phil scheint die Packung, die ich ihr hinhalte, nicht zu bemerken. Nondas nimmt seinen Faden wieder auf. »Aber es schränkt Erdem auch ein. Ferro würde Lidias Entführung wohl kaum decken. Was soll er davon haben, wenn sein Sicherheitschef eine Attac-Frau kidnappt?« »Kann es sein, dass Ferro etwas von Lidia befürchtet? Dass er etwas von Attac befürchtet?«, fragt Phil. »Immerhin stören sie seine Kundgebungen.« Batu stellt mir demonstrativ einen Aschenbecher hin. »Sie machen bei jeder Gelegenheit Front gegen ihn. Auf die Dauer ist das ziemlich lästig.« Nondas schüttelt den Kopf. »Aber dann wäre es wohl das Dümmste, offen gegen Lidia vorzugehen. Nein, Ferro bekämpft seine politischen Gegner nicht auf dieser Ebene, nicht mit solch plumpen Methoden. Er wird tunlichst die Finger von Lidia lassen. Was soll er mit einem Entführungsopfer? Und die negative Publicity kann er erst recht nicht gebrauchen. Wenn bekannt würde, dass im Auftrag von Ferro Gegendemonstranten verschleppt würden, könnte er seine Karriere endgültig vergessen.« Nondas geht zu Batu und lässt sich den Ausdruck der Drogenanalyse geben. Batu schiebt ihm den Laptop hin, mit dessen Hilfe er den Fingerabdruck überprüft hat, und erklärt etwas auf dem Bildschirm. Ich schaue zu Phil. Ihr Blick fällt auf meine Lederjacke. In deren Innentasche steckt der Camcorder. Sie formt stumme Worte. Ich nicke mit den Augen.
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Wahrscheinlich denkt sie das Gleiche wie ich. Bisher gingen wir davon aus, dass die Aufnahme Erdem unter Druck setzen könnte. Das stimmt auch, aber auf ganz andere Art, als wir bisher angenommen hatten. In erster Linie ist die Aufnahme für Ferro kompromittierend. Im Geiste rolle ich die Sache neu auf. Der Bodyguard gehört zu Ferros Männern, nach außen hin agiert er in seinem Auftrag. Davon gibt es bestimmt jede Menge Bildbelege, vermutlich auch von anderen Kundgebungen. Wenn wir das Band beziehungsweise die Datei der Presse zuspielen würden, wäre für Ferro das Aus. Die Entführung würde ihm zugeschrieben werden, was das Ende einer ohnehin ziemlich zweifelhaften Laufbahn bedeutete. Die einzige Möglichkeit, um da wieder rauszukommen, bestände für Ferro darin, Erdem fallen zu lassen. Sein Sicherheitschef sei über die Stränge geschlagen, er wusste nicht, auf wen er sich da eingelassen habe, etwas in der Art. Ziemlich unglaubwürdig – aber äußerst unangenehm für Erdem. Wenn’s hart auf hart kommt, würde Ferro Erdems Inkognito auffliegen lassen und ihn kalt lächelnd an die Polizei ausliefern. »Wir können also davon ausgehen, dass Erdem ohne die Zustimmung Ferros operiert«, fährt Nondas laut fort. »Was nicht ausschließt, dass er Ferros Männer für seine eigenen Zwecke benutzt. Davon abgesehen wird er auch Leute seines Vertrauens beschäftigen, damit er nicht vollständig von Ferro abhängig ist. Was auch immer uns auf dem Bahnhof erwartet – die anderen müssen das Gefühl bekommen, Herr der Situation zu sein. Dann machen sie Fehler.« »So weit alles klar«, erwidere ich. Nachdem mir die Bedeutung der Camcorderaufnahme klar geworden ist, werde ich einen Teufel tun und Nondas davon erzählen. Dafür verfolgen wir zu unterschiedliche Interessen. Es folgt kurzes Schweigen. 168
»Wenn es dann keine weiteren Fragen gibt, schlage ich vor, dass wir uns möglichst schnell auf den Weg machen.« Nondas klingt zuversichtlich. »Falls etwas nicht so läuft wie geplant, können wir jederzeit aus der Sache raus.« »Wir müssen’s eben drauf ankommen lassen«, sagt Phil und begibt sich zur Tür. »Noch etwas.« Nondas beugt sich über den Tisch, nimmt den Handzettel mit dem Bild von Lidia und hält ihn hoch. »Es tut mir ehrlich Leid, was mit ihr passiert ist. Ich hätte nie für möglich gehalten, dass Erdem so etwas wagt. Und dass er damit durchkommt, wie es scheint.« Mit strenger Miene wendet er sich Phil zu. »Ich verstehe deine Besorgnis. Aber wir sind nicht die gefühllosen Bullen, für die du uns hältst. Ganz und gar nicht.« Sein Blick geht für einen Moment ins Leere. Dann fixiert er wieder Phil. Sie hört ihm aufmerksam zu, ohne etwas zu erwidern. »Wenn es uns gelingt, Erdem aufzuspüren …«, er macht eine Pause, »und wenn sie dann noch lebt, dann hat ihre Sicherheit für uns oberste Priorität. Ich möchte, dass du das weißt.« »Okay«, sagt sie gedehnt. Er nickt, verharrt kurz und dreht sich dann weg. »Ich treffe mit Batu noch einige Vorbereitungen. In einer halben Stunde sehen wir uns im Foyer.« Phil und ich stehen auf und wenden uns zum Gehen. Batu hält uns die Tür auf. »Und wasch dich mal wieder«, sagt er zu mir. »Sonst erkennen dich Erdems Leute am Geruch.«
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hil zieht das Messer so schnell, dass ich es mit bloßem Auge kaum wahrnehmen kann. Sie verbirgt die Klinge in ihrer Handfläche und verschränkt die Arme vor ihrer Hüfte. Eine Weile steht sie so da, bewegungslos, als warte sie auf den Aufzug, mit dem wir auf meine Etage gefahren sind. Plötzlich schießen ihre Arme nach vorn. Mit links wehrt sie einen imaginären Gegner ab, während ihr rechter Arm einen Bogen beschreibt. Das Messer schneidet waagerecht durch die Luft, etwa auf Höhe ihrer Kehle. Mit einem Ausfallschritt sticht sie zu. Dann schnellt ihr Körper wieder zurück. Es sind fließende Bewegungen, eine Art Tanz, wie ihn Eingeborene aufführen, wenn sie sicher sind, dass ihnen nach einem langen Animationstag keine Touristen mehr zuschauen. Aber es ist nur ein kurzer Tanz, eher eine Schrittfolge. Vor, Sidestep, zurück. Vor, zurück. »Zurzeit bist du ziemlich leicht erregbar«, sage ich, während mein Computer hochfährt. Ich sitze an dem Barock-Sekretär in meinem Hotelzimmer und schaue Phil bei ihrem Training zu. Es sieht beeindruckend aus, was sie da anstellt. Wohl ist mir dabei nicht. »Ach komm schon, Viktor. Bei diesen beiden Wichtigmännern kriegt doch jeder normale Mensch das Kotzen. Was bilden die sich eigentlich ein? Glauben die im Ernst, sie schnappen Erdem, wenn sie auf ihren Laptops herumklimpern? Dass ich nicht lache.« »Du scheinst nicht viel von ihnen zu halten.«
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»Weißt du, wie Tony solche Typen genannt hat? Flatscreenbullen. Die kleben an ihren Bildschirmen und haben keine Ahnung, wann es richtig zur Sache geht.« »Nondas scheint mir ganz vernünftig zu sein«, wende ich ein. »Davon abgesehen hat er sich bei der Kundgebung ganz schön ins Zeug gelegt. Der ist kein Schreibtischhengst.« »Der mit dem Zielfernrohr? Wenn er den Mumm gehabt hätte, in Livorno abzudrücken, brauchten wir uns jetzt keine Sorgen mehr zu machen.« Ich räuspere mich hörbar. »Den Mumm hattest du auch nicht – und warst ganz froh darüber.« Sie steckt das Messer in die Scheide. Wenn ich nicht genau hingesehen hätte, könnte sie auch beiläufig mit dem Arm geschlenkert haben, wie es junge Frauen manchmal tun, aus Bewegungsdrang, Verlegenheit oder einfach nur so. »Den Mumm schon. Aber nicht die Motivation. Na ja, hat keinen Sinn sich aufzuregen. Blockiert nur den Verstand.« »Was hast du mit dem Messer vor? Du willst es doch nicht etwa benutzen?« »Ich muss auf alles vorbereitet sein.« Sie probt den Bewegungsablauf ein weiteres Mal. Diesmal kommt sie mir noch einen Tick schneller vor. Ich frage mich, ob ein Gegner aus Fleisch und Blut einem solchen Angriff ernsthaften Widerstand entgegensetzen könnte. Ob er es überhaupt spüren würde, wenn seine Hauptschlagader an der Kehle so sauber durchtrennt wird wie eine Wäscheleine. »Außerdem kann ich mich nur auf mich selbst verlassen«, ergänzt sie. »Daran hat sich nichts geändert.« »Wo hast du das Messer überhaupt her?« Mit seiner schwarzen mattierten Klinge sieht es aus wie der Splitter eines Meteoriten. Es ist verdammt lang. Sie bückt sich und kramt in ihrem Trekking-Rucksack. 171
»In der Schweiz kriegst du nicht nur Taschenmesser. Die haben alles, was du dir nur vorstellen kannst.« »Und warum bist du so fix mit dem Ding?« »Self-defense in any occasion. Seit Nine-Eleven bieten sie im Sainte Claire auch Kurse mit scharfen Gegenständen an. Man lernt sich gegen alles Mögliche zu verteidigen. Teppichschneider, Plastikmesser, Schraubenzieher, angeschärfte Eiskratzer, Stechahlen, Macheten. Um ein Gefühl dafür zu kriegen, schlüpft man auch mal in die Rolle des Angreifers.« Sie holt ein steifes Kleidungsstück aus ihrem Rucksack und richtet sich wieder auf. Mit prüfenden Blicken hält sie es hoch. Gwizdeks Kevlarweste. Sie öffnet die Klettverschlüsse und schlüpft hinein. Beim Anlegen der Weste, die ihr Tank-Top mit dem blumenumkränzten Che-Guevara-Aufdruck nach und nach vollständig bedeckt, geht sie sehr sorgfältig vor. Immer wieder überprüft sie den Sitz und die Bewegungsfreiheit. Ab und zu streicht sie liebevoll über das raue Material. Dann zieht sie einen dünnen Rollkragenpulli darüber und betrachtet sich im Spiegel. »Ich hab sie ein wenig geändert. Hat ’ne Menge Arbeit gemacht, mit Spezialwerkzeug und so.« Sie dreht sich einmal um die eigene Achse. »Jetzt passt sie wie angegossen.« »Das sieht man«, erwidere ich und weiß nicht, ob ich die Entschlossenheit, die sie da an den Tag legt, bewundern soll. Andererseits bietet ihr die Kevlarweste einen gewissen Schutz, und das ist in Anbetracht dessen, was wir in Mailand vorhaben, sicher nicht verkehrt. »Hast du eigentlich noch Tonys Beretta?«, fragt sie unvermittelt. »Die liegt in einem Schließfach in Turin.« »Da nützt sie uns nicht viel.« Sie schüttelt tadelnd den Kopf. »Aber was soll’s. Dann kannst du wenigstens keine Dummheiten machen.« 172
»Weißt du, dass du mir eine Heidenangst einjagst?« »Ich dachte, du legst Wert darauf, dass sich dein Mädchen verteidigen kann.« Sie zwinkert mir zu. »Ich mach alles, was du willst. Brauchst es nur zu sagen.« Sie schlüpft in ihre Jeansjacke, nimmt wieder die Ausgangsposition ein und setzt ihre Übungen fort. Klar möchte man, dass sich die einzige Tochter zur Wehr setzen kann, wenn sie in der U-Bahn von irgendwelchen Idioten dumm angemacht wird. Aber deshalb braucht sie sich ja nicht gleich in Lara Croft zu verwandeln. Der Computer ist inzwischen betriebsbereit. Ich werfe einen Blick auf die Auktionsseite, obwohl ich das eigentlich vermeiden wollte, um mir größere Seelenqualen zu ersparen. Alle Auktionen sind abgelaufen. Die Gesamtsumme beträgt etwas mehr als zweihundertfünfzigtausend Euro – anscheinend haben einige Bieter noch kräftig was draufgelegt. Jetzt müsste ich nur noch die Rechnungsmails verschicken, die Anrufe der Käufer beantworten, die auf mein Handy umgeleitet werden, und ihnen die Deckadresse in Chiasso angeben, damit die Bieter keinen Verdacht schöpfen. Dann würden sich die Schecks einer nach dem anderen auf die Reise begeben und irgendwann – ring-ring – in dem Fach der Hauptpost von Como landen, das ich vor ein paar Wochen mit meinem gefälschten Ausweis eröffnet habe. Kurz betrachte ich den Zettel, auf dem ich die Anschrift in Chiasso notiert habe. 27, Via dei Carbonari. Ich bring’s nicht fertig, ihn zu zerknüllen, und lege ihn zurück zu den Wohnungsschlüsseln in den Sekretär. Zweihundertfünfzigtausend. Ich kann’s nicht länger mit ansehen. Mit einem Seufzer des Bedauerns schließe ich das Browser-Fenster und starre auf das Hintergrundbild: ein Weizenfeld, das in der Mitte von einem flammend roten Weg durchschnitten wird. Es stammt aus dem Film Träume von 173
Akira Kurosawa, diesem japanischen Regisseur, der auch Die sieben Samurai gedreht hat. Kurosawa dachte dabei an Van Gogh. Ich auch, als ich mir das Bild aus dem Internet heruntergeladen habe. Erst vor kurzem fiel mir auf, dass es gar kein Gemälde von Van Gogh ist, sondern eine Van-GoghFantasie von Kurosawa, farbenfroher und noch ein wenig abgedrehter als Van Goghs Bilder, mit einem helleren, weniger deprimierenden Himmel über der inszenierten Landschaft. Was Zyna jetzt wohl macht? Sie weiß genauso wie ich, dass die Auktionen beendet sind. Vielleicht sollte ich sie anrufen und mich erkundigen, was sie jetzt vorhat. Den Job im Health-Center hat sie sicher gekündigt. Was soll sie noch hier, es sei denn, sie möchte noch etwas Geld verdienen, ehe sie nach Polen zurückkehrt? Da wollte sie zumindest hin, um mit ihrem Anteil irgendwas Neues anzufangen. Wie auch immer – ich denke, zuerst müssen wir das Ding heute Abend erledigen. Dann kann ich mir immer noch Gedanken um Zyna machen. Ich rufe den Media Player auf und schaue mir noch einmal die Aufnahme von Lidias Entführung an. Ich habe sie auf die Festplatte überspielt, bevor wir zu Nondas und Batu gegangen sind. Der Bodyguard und Lidia sind gut darauf zu erkennen. Aus der gesamten Sequenz geht deutlich hervor, dass der Bodyguard zu Ferros Leuten gehört und dass sich das Ganze auf einer seiner Kundgebungen abspielt. Man sieht jedoch nichts von der Spritze, nur Lidias hilflosen Gesichtsausdruck, als der Mann sie festhält und fortzerrt. Mir wird wieder klar, mit wem wir es hier zu tun haben. Bei all dem Gequatsche von Nondas und Batu hätte ich fast vergessen, wozu diese Typen fähig sind. Was sie zu riskieren bereit sind und mit welcher Brutalität sie es durchziehen. Dass dies alles mitten in Europa passiert, kann ich immer noch nicht fassen. Es ist, als würden Phil und ich von einer Insel der Gewalt zur anderen geschwemmt, Inseln, von deren Existenz wir nicht das Geringste wissen, bevor sie unvermittelt vor uns 174
auftauchen und binnen kurzem den gesamten Gesichtskreis einnehmen. Wo sind wir? Woran können wir uns halten? Und vor allem: Was sollen wir tun? Grundsätzlich, meine ich. Wir können uns wehren, natürlich, aber das reicht nicht aus, es würde nichts an Lidias Situation ändern. Wir können Erdem angreifen, aber wir wissen nicht, wie, und falls doch, hätten wir nur geringe Aussichten auf Erfolg. Wir können ihn bedrohen, aber dazu braucht es immer den anderen, der auf die Forderungen eingeht, den anderen, der sicher nicht untätig ist und seine eigenen Pläne geschmiedet hat. Im Grunde bleibt uns nichts anderes übrig, als in die Falle zu gehen. Denn das ist es, was uns mit Sicherheit in Mailand erwartet: eine Falle, die wir versuchen ins Gegenteil zu wenden. Phil hat ihr Training beendet und stellt sich neben mich. Sie blickt auf den Bildschirm. Er zeigt ein Standbild von Lidia im Griff des Bodyguards. »Hast du gut gemacht, Viktor.« Warum nennt sie mich eigentlich ›Viktor‹ und nicht ›Paps‹? Das geht mir auf die Nerven. Ich bin doch kein Fremder für sie. Sie legt mir einen Arm um die Schulter und setzt sich auf meinen Schoß. »Manchmal kannst du richtig nützlich sein.« »Schön, dass du das sagst. Ich dachte immer, dass ich zu nichts zu gebrauchen bin.« »Wenn du dich anstrengst, schaffst du es hin und wieder, mich zu verblüffen.« »Wirklich? Seit wann schmeichelst du mir?« »Vorhin zum Beispiel, als dir vor den beiden Bullen die gleichen Gedanken kamen wie mir. Über die Bedeutung der Aufnahme, wie bedrohlich sie für Ferro ist. Es gab eine Zeit, da hättest du einfach drauflosgeplappert und alles verraten.« »Affektkontrolle«, entgegne ich. »Allerdings muss ich mich dazu zwingen.«
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Ich schiebe sie von meinem Schoß, weil mir ihre Nähe langsam etwas mulmig wird. Sie tut so, als spränge sie aus einer Laune herunter. »Gib mir den Camcorder.« Ich reiche ihr das Gerät. Sie spult zu der Entführungsszene, nimmt einen der Delle Alpi-Stifte, die auf dem Sekretär liegen, und notiert die Zeitangabe auf ihrem Handgelenk. Dann steckt sie den Camcorder in ihren Rucksack. »Was hast du vor?«, frage ich. »Falls meine Überredungskünste auf Erdem keine Wirkung haben, ist diese Aufnahme das beste Argument, Lidia freizulassen. Ohne sie hätte ich nichts in der Hand. Ich wäre verletzbar. Das hat er schon einmal ausgenutzt.« Sie blickt zu Boden, geht in die Hocke und betrachtet den teuren Seidenteppich, als ob sie darauf ein verborgenes Muster erkennen könne. Die Wolkendecke über dem See ist aufgerissen. Durch die Balkontür des Hotelzimmers fällt die Mittagssonne herein. Phils Silhouette hebt sich deutlich ab, ein einsamer Gedanke vor dem helllichten Tag. »Dieses Band ändert eine Menge«, sagt sie versonnen. »Erdem ist nicht mehr in der Position, alles nach seinem Gutdünken bestimmen zu können. Er kann die Folgen seiner Handlungen nicht mehr ignorieren.« Sie fasst sich an den Bauch. »Er muss sich an das erinnern, was gewesen ist, bevor er Musti gegen Tony ausgespielt hat.« »Was meinst du damit?« Sie beugt sich zu dem Couchtisch und fingert nach meinen Zigaretten. Dann überlegt sie es sich anders und legt die Packung wieder zurück. »Es war Mustis erster Deal. Und es war Tonys erster Deal. Was konnte dabei schon herauskommen, außer dass einer von beiden ausflippt? Wahrscheinlich war das so ’ne Art 176
Machtdemonstration. Erdem hat das alles inszeniert. Wegen meines Piercings, das er Tony in dem Shit zukommen ließ. Er wollte ihm klar machen, dass er ihm in allem einen Schritt voraus war. Gleichzeitig schob er Musti vor, um es wie einen unbedeutenden Drogendeal aussehen zu lassen. Tony sollte erst später, wenn er den Shit zerkleinerte, begreifen, dass ihm Erdem in jeder Hinsicht überlegen war.« »Die Bombe sollte erst mit Verzögerung hochgehen«, ergänze ich, »um den Effekt zu steigern. Ich nehme an, das ist Erdems Sinn für Dramaturgie.« »Doch dann verlor sein kleiner Bruder die Nerven und ging bei der Übergabe drauf.« »Schließlich hat er zuerst seine Waffe gezogen. Das stimmt doch, oder?« Phil ließ mich eine Zeit lang in dem Glauben, Tony hätte Musti getötet. Sie sagte immer, es sei Notwehr gewesen. Als ich erfuhr, dass Phil in Wahrheit Musti auf dem Gewissen hatte, ging ich automatisch von dem gleichen Tathergang aus. Es gab auch keinen Grund, etwas anderes anzunehmen. »Ja. Deshalb hab ich ihn umgebracht.« Der gleiche, ungerührte Tonfall. »Weil er Tony und mich bedroht hat.« Plötzlich schlägt sie eine Hand vor den Mund und sinkt auf die Knie. Ich lasse mich neben ihr nieder und schließe die Arme um sie. Sie klammert sich an mich, presst ihr Gesicht gegen meines. Ihre Tränen laufen an meinen Wangen herab. »Ich wollte Tony vor Musti schützen«, bringt sie stockend hervor. »Das hätte Erdem doch ahnen müssen. Stattdessen hat er uns in diese schreckliche Situation gebracht und einfach gewartet, was dabei herauskommt.« Ich streiche ihr über den Rücken. »Erdem ist es nicht wert, dass du weiter über ihn nachdenkst.«
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Sie hebt den Kopf. »Aber es hätte auch anders ausgehen können. Erdem ist nicht so schlecht, wie du denkst.« »Das glaubst du ja wohl selber nicht.« »Vielleicht wollte er nur testen, wie sich Tony und Musti anstellen. Vielleicht wollte er nur eine Situation erzeugen, in der sich beide um den Shit streiten. Er wusste, dass ich gegen diesen Drogendeal war. Vielleicht wollte er nur mich.« Ich beherrsche mich mühsam. »Und was hatte er für Chancen?« »Damals, vor dem Deal in der Fabrikhalle? Bevor er mir Tonys Verlobungspiercing abgenommen hat?« »Zum Beispiel.« Sie überlegt kurz. Dann dreht sie sich weg. »Was erwartest du von mir, Viktor? Dass ich alle Menschen auf Anhieb richtig einschätze? Musti war ein netter Kerl. Ich weiß, das klingt seltsam, er war ein Großmaul, ein Sprücheklopfer. Aber im Grunde war er gar nicht so übel. Und Tony war ganz ähnlich drauf, aber nur, wenn man ihn reizte. Deshalb hätte man die beiden auch voneinander fern halten müssen. Sie zusammenzubringen konnte ja nur schief gehen!« Wütend schlägt sie mit der Faust auf den Boden. Der Teppich schluckt das Geräusch. Sie richtet sich auf und geht zur Balkontür. Ich habe sie nur ein einziges Mal geöffnet, um mich bei meiner Ankunft von dem einmaligen Ausblick zu überzeugen. Man steigt nicht im Delle Alpi ab, um auf dem Balkon zu frühstücken oder sich aus irgendeinem anderen Grund dort länger aufzuhalten. Wer seinen Balkon tatsächlich nutzen möchte, sollte lieber ein Appartement in einer Ferienanlage mieten. Phil schützt ihre Augen vor der Sonne und schaut eine Weile auf den See hinaus. Dann: »Erdem dagegen …, na ja, er hat
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keine Sprüche nötig. Er ist jemand, der weiß, was er will. Das ist mehr, als man von den meisten Leuten behaupten kann.« Ich stehe auf. »Er ist kriminell, Phil, mehr als das, er ist ein Terrorist, wenn du mal kurz an die toten No-Global-Leute in Livorno denkst. Er handelt mit Drogen. Er hat Lidia entführt und ihr Heroin gespritzt. Er arbeitet für einen Rechtsradikalen, den wir komischerweise auch noch beide kennen. Er ist unser Feind.« »Das Böse. Der große Versucher, sag’s doch gleich.« Sie wendet sich mir wieder zu. »Weil er Türke ist?« »Du weißt, dass das nichts damit zu tun hat.« »Was auch immer heute Abend passieren wird«, fängt Phil an und hält inne, um sich doch noch eine Zigarette anzuzünden. »Ich werde Erdem nicht an diese Bullen ausliefern.« Sie stößt den Rauch aus, als müsse sie ihre Absicht bekräftigen. »Das ist eine Sache zwischen ihm und mir.« Langsam weiß ich nicht mehr, was ich auf diesen Unsinn erwidern soll. Es hat sowieso keinen Zweck, sich über ungelegte Eier den Kopf zu zerbrechen. Erdem ausliefern. Da haben andere als Phil ein Wort mitzureden. »Und was ist mit Ferro?«, frage ich schließlich, um das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. Es hat mich seit gestern Abend beschäftigt. Ich mache eine Pause, beschließe, es direkt anzugehen. »Welche Erinnerungen hast du an Ferro? Ich meine, du warst damals fünf oder sechs Jahre alt. Er war ein paar Monate mit Sill zusammen. Was weißt du aus dieser Zeit?« Ferro und ich waren damals nicht das, was man Konkurrenten nennt. Ich war schon seit einigen Jahren von Sill getrennt, und sie ging ihre eigenen Wege – bis zu ihrem Unfall. Ich habe Phil noch nie nach Ferro gefragt. Es ergab sich einfach keine Gelegenheit, wie immer, wenn es etwas zwischen uns zu klären oder auch nur zu besprechen gibt. 179
»Warum unterhalten wir uns über solche Dinge eigentlich immer nur in Hotelzimmern?«, fährt sich mich an. »Du könntest wieder bei mir einziehen. Ich hab’s dir doch schon angeboten. Wenn die Internet-Auktionen nicht geplatzt wären, hätten wir sogar genügend Startkapital für ein Häuschen im Süden.« »Meinst du, das mit uns hängt vom Geld ab oder irgendeinem Zufall? Irgendwann schnippt die Lottofee mit dem Finger, und wir kommen auf Dauer miteinander aus?« »Wir könnten endlich …« »Nur du und ich, jeden Tag, vielleicht sogar ein paar Wochen am Stück? Sei mir nicht böse, aber das wäre mir ein bisschen zu einseitig. Probieren wir’s mal ’ne Nummer kleiner.« Da hat sie wohl Recht. Der Weg nach Süden ist weiter, als man das mit der Landkarte vor Augen annimmt. Ich ignoriere ihre Abfuhr und knüpfe an meine eigentliche Frage an. »Was weißt du von Ferro? Irgendetwas muss doch bei dir hängen geblieben sein.« Sie zögert, als müsse sie ihre letzten Worte noch überdenken. »Schließlich hat er sich für ein paar Monate als dein Ersatzdaddy aufgespielt«, füge ich hinzu. »Was meinst du, wie oft ich darüber nachgedacht habe, seit sein Name gestern ins Spiel kam? Ich weiß noch genau, wie Mutter ins Auto stieg. Sie sagte, dass sie nicht lange fortbleiben würde. Sie wollte nicht mal bei ihm übernachten, nur mit ihm reden und dann wieder zurückfahren. Es ging um mich, auf welche Schule sie mich schicken sollten. Sie waren unterschiedlicher Meinung.« »Das kann man wohl sagen«, rutscht es mir heraus. Damals war ich mit Sill übereingekommen, dass Phil eine staatliche Schule in Pisa besuchen sollte. Ferro war anderer Ansicht. Deshalb ist Sill auch mitten in der Nacht zu ihm nach La Spezia 180
gefahren, wo er sich zu dieser Zeit aufhielt. Sie starb auf dieser Fahrt, prallte mit dem Wagen gegen einen Baum. Das machte alles, was sich vielleicht noch hätte einrenken lassen, mit einem Schlag zunichte. Ich weigerte mich, an einen Unfall zu glauben, hatte so ein Gefühl, dass irgendwas faul war. Ich machte Ferro für ihren Tod verantwortlich – und mache es noch. Deswegen habe ich versucht, mit ihm zu reden – was mit einer Waffe in der Hand nicht so ablief, wie ich es mir wünschte. Daraufhin, nach einem Abstand von zehn Jahren, versuchte ich ihn umzubringen – mit dem gleichen Ergebnis. Es brachte mir ein gebrochenes Bein ein und eine weitere Demütigung. Was gäbe ich darum, diesen Dreckskerl tot zu sehen. Und das sage ich nicht einfach so dahin. Es ist nicht nett, jemanden zu töten. Es ist sogar ein ziemlich schweres Verbrechen, keine Frage, und eine Sünde obendrein. Man macht sich schuldig für den Rest seines Lebens und wahrscheinlich noch darüber hinaus. In diesem speziellen Fall hätte ich damit aber nicht die geringsten Probleme. Es ist anders als bei Erdem. Bei Ferro würde ich alles in Kauf nehmen. Ich glaube kaum, dass mich das unglücklich machen würde. Es wäre eher so etwas wie eine Befreiung – auch wenn das Verfahren nicht gerade dem entspricht, was mir der Psychotherapeut meines Vertrauens empfehlen würde. »Er bestand darauf, dass sie zu ihm kommt«, fährt Phil fort. »Dabei wäre es für ihn viel einfacher gewesen, sich nach Pisa chauffieren zu lassen. Ich weiß noch, wie Sill geflucht hat, dass sie sich noch in der Nacht auf den Weg machen musste. Dass ich allein zu Hause blieb, was ich ohnehin gewohnt war. Dabei war er einen Tag zuvor noch bei uns und musste überraschend weg. Er hat sich nicht gerade oft blicken lassen.« »Erinnerst du dich, warum er sie zu sich kommen ließ und nicht zu euch fuhr? Warum stieg sie in den Peugeot?« Alte Fragen, die ich so oft in meinem Kopf hin und her gewendet habe, bis ich den Sinn der Worte vergaß. 181
»Er hat sie darum gebeten. Sie tat alles, was er von ihr verlangte.« »Aber warum kam sie von der Straße ab? Sie hatte doch nichts getrunken oder irgendwas genommen?« In dem Polizeibericht stand zumindest nichts von Alkoholeinfluss. Phil massiert ihre Schläfen, konzentriert sich. »Nein, sie hat sich sogar einen Kaffee gemacht, um wach zu bleiben. Am nächsten Tag stand die halb leere Kanne noch auf dem Herd.« Sie beißt sich auf die Lippen. »Und ihre Tasse. Eine von denen, die sie in den Cafés haben, außen braun und innen weiß.« »Was war mit dem Peugeot?« Ich hatte Sill den Wagen in Deutschland besorgt, als Ausgleich für Unterhaltszahlungen, mit denen ich wie immer im Rückstand war. Dass sie damit in ihren Tod fuhr, empfand ich als besonders grausam. »War mit dem Auto alles in Ordnung?« »Woher soll ich das wissen? Ich war doch ein Kind. Ich könnte nicht mal heute sagen, ob …« Sie bricht den Satz ab und zieht an ihrer Zigarette, beobachtet anschließend, wie die Asche auf den Teppich fällt. Sie kneift die Augen zusammen, als versuche sie, die Glut mit ihrem Blick zum Verlöschen zu bringen. Schließlich schnippt sie die Asche mit dem Finger weg. »Er wurde kurz vorher generalüberholt.« Langsames Nicken. »Das fiel mir auf, weil er innen so sauber war, wie neu. Mutter hatte nie Lust, das Auto aufzuräumen. Sie fand es spießig.« »Warum sagst du mir das erst jetzt?«, frage ich. »Weil’s mir erst jetzt eingefallen ist. Hat es eine Bedeutung?« »Mag sein.« »Mutter ist tot. Daran lässt sich nichts ändern.« »Für mich ist das noch lange nicht abgeschlossen.«
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»An dem Auto kann’s jedenfalls nicht gelegen haben«, sagt sie. »Es war Nacht, es hat geregnet. Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen.« Ich senke den Kopf und behalte meine Vorwürfe für mich. Phil hat Recht. Es bringt Sill nicht zurück. Der Unfall wäre vermutlich auch mit jedem anderen Wagen passiert. Wenn man mit hundertzwanzig frontal gegen einen Baum prallt, gibt es nicht viel, was den Tod verhindern kann. Die Uhr am Laptop zeigt an, dass uns noch zehn Minuten bleiben. »Tut mir Leid, aber wir müssen unsere Unterhaltung abbrechen.« Sie schaut auf ihre Armbanduhr, ein buntes Kunststoffding, das sie sich anscheinend in Kanada zugelegt hat. »Ich springe noch schnell unter die Dusche«, füge ich hinzu. »Wenn man eine Weile mit diesen Bullen zusammen ist, fühlt man sich so schmutzig wie frisch von der Müllhalde.« »Tu, was du nicht lassen kannst«, sagt sie beleidigt. »Ach komm schon.« Im Gehen ziehe ich meine Sneakers aus. »Ich kann mich schon selbst nicht mehr riechen.« »Ist ja gut.« Sie winkt ab, setzt sich an den Laptop und sieht die CDs durch, die neben ein paar Rohlingen in einem säuberlichen Stapel auf dem Sekretär liegen. »Was hörst du denn so?« »Bedien dich«, fordere ich sie auf. »In der Schublade sind noch mehr.« Ich streife die Lederjacke ab. Kaum getragen, stecken schon wieder so viel Zweifel und Unsicherheit darin, dass es für eine komplette Pubertät reichen würde. Aus einem Barock-Schrank, der zum Sekretär passt und für den täglichen Gebrauch fachmännisch restauriert wurde, hole ich mir neue Sachen und gehe ins Bad.
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Ich drehe den Hahn auf. Er sieht nicht nach Messing, sondern nach purem Gold aus. Jetzt weiß ich wieder, warum ich im Delle Alpi wohne. Denen geht das heiße Wasser nie aus. Erleichtert stelle ich mich unter den Wasserstrahl und schließe die Augen.
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ch beschleunige auf eine Geschwindigkeit, wie sie in einem noblen Wohnviertel üblich ist. Bloß kein Schritttempo, bloß nicht zu schnell, beides wäre verdächtig. Die Übersetzung des Lancias ist für jemanden, der in der rechten Hand eine geladene und entsicherte Pistole hält, genau richtig: Im zweiten Gang kann man mühelos fünfzig fahren, ohne dass der Motor zu hoch dreht. Und wenn man mehr Gas gibt, tritt man nicht in feuchtes Brot, sondern hat immer noch einen ordentlichen Abzug. Vielleicht wäre ein Wagen mit Automatikgetriebe praktischer. Aber schließlich bin ich nicht in Amerika. Umringt von seinen Leibwächtern betritt Ferro den Bürgersteig. Sein Schäferhund schnüffelt am Rinnstein, zerrt an der Leine. Es sind noch knapp hundert Meter. Durch das heruntergelassene Seitenfenster dringt Sommerluft herein, der harzige Duft von Zypressen und anderen Nadelbäumen, mit denen die Villengrundstücke hier voll gestopft sind. Meine Hand mit der Beretta ruht auf dem Beifahrersitz. Ich brauche die Waffe nur noch im richtigen Moment zu heben und abzudrücken. So habe Ich das zigmal geübt in den Reisfeldern der Lomellina, wo am frühen Morgen jeder Schuss vom Nebel verschluckt wird. Die Bauern werden sich in der Erntezeit wundern, dass viele Alleebäume, die sie einst als Windschutz für ihre Felder gepflanzt haben, Einschüsse in Augenhöhe aufweisen. In einigen Stämmen stecken noch Reißzwecken mit einem Fetzen Papier. Es sind Reste der Fotokopien, die ich von einem Porträt Ferros gemacht habe, keine Aufnahme in Studioqualität, auch nicht gestochen scharf, aber völlig ausreichend für meine Zwecke. Ein Wagen kommt mir entgegen, einer von diesen geländegängigen Schickimickipanzern. Das ist gut, dadurch fällt 185
der Lancia nicht zu sehr auf. Kurz bevor er an mir vorüberfährt, bemerke ich eine Frau hinter dem Steuer. Sie dreht sich nach hinten, gestikuliert. Anscheinend redet sie mit dem kleinen Mädchen, das in einem Kindersitz auf der Rückbank festgeschnallt ist. Es hat einen Zopf, verzieht die Lippen zu einem Schmollmund. Dann sind die beiden Autos auf gleicher Höhe. Für einen Augenblick schaut das Mädchen zu mir herab – der andere Wagen liegt erheblich höher auf der Straße. Von diesem Blickwinkel könnte es die Pistole ohne weiteres erkennen, sie liegt ganz offen da. In dem Gesicht regt sich nichts. Es starrt mich ausdruckslos an, ein wenig trotzig. Weiß es, was ich vorhabe? Erahnen Kinder, mehr noch als erwachsene Menschen, was uns verbrennt und zersetzt, was uns antreibt und bewegt? Als der Wagen den Lancia passiert hat und ich wieder nach vorne sehe, dämmert es mir. Diese hellen Augen, die für einen Sekundenbruchteil an mir vorüberzogen … Sie waren seltsam milchig, als würde sich ihr Blick nicht auf etwas Bestimmtes richten, sondern über alles hinweggleiten, ohne ein Zeichen des Erkennens oder Verstehens. Das Mädchen konnte mich gar nicht sehen. Es ist blind. Ferro kommt näher. Die Leibwächter taxieren den Lancia, greifen routinemäßig in ihre Jacketts. Der Hund beginnt zu bellen, Ferro weist ihn zurecht. Ich schiebe den Sicherungshebel der Beretta nach unten. Der rote Punkt verschwindet. Auf Knopfdruck gleitet die Scheibe des Seitenfensters hoch. Ich lasse die Pistole auf die Fußmatte fallen und lege den dritten Gang ein. Während ich an Ferro vorbeifahre, nicht zu langsam, nicht zu schnell, beide Hände am Lenkrad, die Augen geradeaus, 186
entspannen sich die Bodyguards wieder. Der Hund fletscht die Zähne. Mein Blick ist stumpf.
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urz nach eins. Die Schranke hebt sich. Batu reicht Nondas das Gebührenticket der Mautstation und fährt bei Como Sud auf die Autobahn. Phil ist wieder in ein düsteres Schweigen verfallen. Wir sitzen auf zwei Hockern, die im Bodenblech des umgebauten Campingbusses verschraubt sind. An den Wänden des Laderaums sind Halterungen mit jeder Menge elektronischer Geräte angebracht. Alle sind abgeschaltet, die Bildschirme schwarz, die Anzeigen stumm, die Leuchtdioden tot, ein Hightech-Friedhof. Nichts lässt auf die Herkunft der Apparaturen schließen. Es gibt keine Aufkleber, auf denen »LKA Hessen« oder irgendein dämlicher Werbespruch der Polizei gegen Drogen steht. Die Marken der Kopfhörer, der Empfangs- und Aufzeichnungsgeräte stammen aus aller Herren Länder. Auf ihren Besitzer deutet nichts hin. Dieser Bus könnte genauso gut der Hamas oder irgendeinem Voyeur gehören, der einen genaueren Blick auf den Schamhaaransatz seiner Nachbarin werfen will. Von innen macht das keinen Unterschied, und von außen erst recht nicht – die Fensterscheiben sind so stark getönt, dass sie jeden Blick ins Innere verschlucken. Trotz dieser Ausrüstung haben Nondas und Batu so gut wie nichts über Erdem herausgefunden. Das ist nicht gerade ermutigend. Andererseits beruhigt es mich, all diese Technik um mich zu wissen. Sie gibt einem das Gefühl, dass man am längeren Hebel sitzt. Dass man zu den Guten gehört und das Richtige tut. Ein schmaler Durchgang führt nach vorne in die Fahrerkabine. Als ich mit Nondas zu der Kundgebung in Como gefahren bin, war die Schiebetür geschlossen. Wahrscheinlich wollte er sich 188
nicht in die Karten schauen lassen, bevor er mit Sicherheit wusste, dass ich bei ihm mitmache. Die beiden unterhalten sich über Phils Fluchtweg. Batu schlägt ein Kino vor, in dem sie wie zufällig von der Bildfläche verschwinden könnte, eines mit möglichst vielen Ausgängen, am besten noch mit einer Tiefgarage. Nondas trägt keinen Kopfverband mehr und blättert in einer Zeitung. Er favorisiert einen riesigen Tanzschuppen, in dem am frühen Abend ein Live-Konzert stattfinden soll. Da gebe es noch mehr Möglichkeiten zu verschwinden. Er ist kaum wiederzuerkennen. Ich meine, er ist nicht demonstrativ wie ein Tourist gekleidet, mit einem kitschigen Hemd und Trekking-Sandalen beispielsweise. Dann könnte er ja gleich ein Tattoo auf der Stirn tragen: Achtung, Bulle! Nein, er hat ganz normale Sachen an, T-Shirt, Chinos, Nikes. Dazu trägt er eine Schildmütze, auf die das Brüsseler Atomium aufgenäht ist – vielleicht ein wenig übertrieben, denn meines Wissens liegt das Atomium schon längst nicht mehr auf der Europe-In-SevenDays-Route. Als Requisiten benutzt er einen Hartschalenkoffer voller Beulen und eine Umhängetasche mit dem Aufdruck »Delta Airlines«. Zusammen mit einer getönten Hornbrille müsste das reichen. Wie gesagt, ich habe ihn selber nicht wiedererkannt. Jetzt ist es an der Zeit, dass ich mir ein paar Gedanken darüber mache, was ich bei dieser ganzen Aktion eigentlich soll. IchBotschaften hätte es Sill genannt. Schicke mir Ich-Botschaften, du redest zu wenig über deine Wünsche und Bedürfnisse! Sprich mit mir! Okay, ich versuche das mal, obwohl ich der Ansicht bin, dass ich schon genug monologisiere. Ich spreche oft von mir selbst, aber über wen soll ich mir sonst Gedanken machen? Über Phil? Tue ich andauernd, zählt also nicht. Über Lidia? Das ertrage ich nur ab und zu. Über den Rest der Leute, von denen ich umgeben 189
bin? Mit denen komme ich schon klar, das sind nur irgendwelche Menschen, die gerade meinen Weg kreuzen, Umstände, die ich berücksichtigen muss. Wenn’s ernst wird, ist das Leben ein Monolog. Natürlich könnte ich darüber nachdenken, warum Nondas so hartnäckig Erdem verfolgt. Das wundert mich etwas. Ich wette, dass da mehr dahinter steckt als Pflichtbewusstsein oder so etwas. Kein deutscher Drogenbulle bleibt freiwillig an einem Verdächtigen dran, der inzwischen fest in Italien operiert. Was soll das? »Warum verfolgt ihr Erdem eigentlich immer noch?«, frage ich, nur so ins Blaue hinein. »Ich meine, ist das nicht längst Sache der Italiener, Korruption hin oder her?« Nondas redet etwas von europäischem Drogenmarkt, einem internationalen Haftbefehl, der in Italien aber für bestimmte Delikte nicht gelte. Batu hält sich am Lenkrad fest und stiert auf die Straße. »Gibt’s dafür keinen tieferen Grund? Fühlt ihr euch in der Berufsehre gekränkt, weil ihr ihn noch nicht erwischt habt oder so?« Batu rührt in der Gangschaltung und setzt zu einem Überholmanöver an. »Wir bringen diesen Job zu Ende.« Nondas beobachtet einen Tanklaster, den wir zügig passieren. Latte steht darauf, ohne Markenbezeichnung. So viel Milch können die gar nicht melken, wie da tagtäglich durch Italien kutschiert wird. »Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.« Ich setze mich wieder auf meinen Hocker. Dann eben nicht, war ja nur ein Versuch. Also wieder Ich-Botschaften, wenn ich schon keine plausiblen Antworten kriege. Ich habe beschlossen, mich auf Nondas’ Deal einzulassen – nicht, dass es da viel zu beschließen gäbe, aber ich 190
muss mich jetzt einstimmen auf die Dinge, die da kommen. Mal sehen: Ich werde gleich eine lächerliche Verkleidung anlegen, die ich bei Bedarf relativ einfach ablegen kann. Ich werde Lidia befreien, ohne dass sie dabei mehr Verletzungen erleidet, als sie bereits davongetragen hat. Ich werde meine Tochter gegen alles und jeden beschützen, der ihr zu nahe kommt, vor allem gegen Erdem. Ich werde Ferro töten, irgendwann, irgendwo, und zuvor am besten noch in Erfahrung bringen, warum Sill in Wirklichkeit sterben musste. Ich werde mir zwischendurch ausmalen, was in der Vergangenheit alles hätte sein können. Und dann werde ich an meine Zukunft denken, ha-ha. Zusammengenommen ist das ein bisschen viel, aber Abstriche lassen sich immer noch machen. Ich stupse Phil an. Sie schreckt auf, als hätte sie jemand angeschrien. Nach einem halbherzigen Lächeln legt sie ihren Kopf an meine Schulter. Ich verharre eine Weile, berühre sie an unverfänglichen Stellen, wo ich Gwizdeks Kevlarweste unter ihrem Pulli spüre. Wir rutschen von den Hockern auf den gerippten Boden des Busses. Jede Bodenwelle hebt unsere Körper an, rüttelt uns durch. »Hast du Angst?«, fragt sie schließlich. »Du fragst mich, ob ich Angst habe?« Ich hole tief Luft. »Hab ich mir abgewöhnt.« Sie presst ihren Hinterkopf an meinen Bauch. »Lidia hat sicher Angst.« »Hast du das am Telefon mitbekommen?« »Nein. Aber Erdem hat noch irgendetwas mit ihr vor. Das macht mir Angst.« Ich möchte sie in meinen Armen vergraben. Aber ich kann gerade mal ihren Hals und ihren Mund bedecken. Stumm malen wir uns die Abscheulichkeiten aus, die wir Erdem zutrauen, ein Horror-Clip aus aufgerissenen Augen, 191
Mündern, Schenkeln, wie diese Kurzfilme, die man inzwischen mit jedem besseren Handy aufnehmen kann. Ich muss an die Zeit in Berlin Anfang der neunziger Jahre denken, als ich mit Lidia oft so dalag, den gelockerten Gummiriemen noch um den Oberarm, eine Hand auf einem ihrer hervorstehenden Beckenknochen, während wir uns bereits im freien Fall zum Planet des Vergessens befanden. Um uns herum sah es damals aus, als erwachte die Stadt zu neuem Leben. Die Leute taten so, als würde nach der Wiedervereinigung alles anders, vor allem: besser werden. Für uns war diese übergeschnappte Aufbruchstimmung Grund für ein Kontrastprogramm. Nur nicht mit dem Strom schwimmen. Wir mussten uns erst mal um uns selbst kümmern, sehen, was in unseren Körpern vor sich ging, bevor wir mit ihnen in die Welt hinaustraten und etwas unternahmen, was uns später vielleicht Leid tun würde. Man hat keine Ahnung von den eigenen Kräften, wenn man sie nicht erforscht. Was es an Grenzen gab, haben wir damals mit Siebenmeilenstiefeln überschritten. Berlin, das sich für den Mittelpunkt der Welt hielt, war für uns so weit entfernt wie das Innere der Erde. Bis Lidia beschloss, dass sie genug von sich und ihren Grenzen gesehen hatte. Und von mir. »Erdem wird abwarten, was heute Abend passiert«, sage ich. »Davor wird er ihr nichts tun.« Ich schlage vor, an die Arbeit zu gehen, um die Gedanken an Lidia zu verdrängen. Phil stimmt mir zu und öffnet einen Alukoffer. Dann versucht sie mich zu jemandem zu machen, der ich nicht bin. Wegen der Erschütterungen ist das etwas schwierig. Als Nondas bemerkt, dass sie mit dem Schminken beginnt, kommt er nach hinten und hilft ihr. Es gefällt mir nicht, was sie da tun, aber die Idee ist gar nicht so dumm. Sie machen mich alt. Ich bekomme Falten an Stellen, die eigentlich noch halbwegs straff aussehen. Mein Teint wird so bräunlich-grau wie die Seiten in einem ausgefledderten Taschenbuch, über dessen Cover jemand 192
noch zusätzlich eine Tasse Kaffee gekippt hat. Altersflecken, geplatzte Aderchen, ein wächserner Glanz auf den Wangen. Phil wuschelt das Gel aus meinem Haar, kämmt es nach hinten und behandelt es mit einem Haarspray, das hellen Puder enthält. Ich ziehe Flanellhosen und eine Windjacke in Braun- und Grautönen an, der typische Alte-Leute-Look. Mit diesen Klamotten bewege ich mich gleich ein wenig eckiger, arthritisch fast. Wegen der schrecklichen Farben, die streng genommen ja gar keine Farben sind, habe ich das Gefühl, mit dem Hintergrund zu verschmelzen. Die Greise in Deutschland – ganz im Gegensatz zu ihren amerikanischen, in schrillen Golffarben gekleideten Altersgenossen – schätzen die Unauffälligkeit. Als ob es ihnen peinlich wäre, dass sie immer noch am Leben sind. Zu guter Letzt setzt mir Nondas eine karierte Schiebermütze auf. Das wird ja ein richtiger Kappenabend, denke ich, da hätten wir uns die grauen Haare schenken können. Na ja, wenigstens sieht man sie an den Seiten hervorspitzen. Das sind so die Kleinigkeiten, auf die es ankommt, Glaubwürdigkeitsdetails. Leider passt meine Gucci nicht zur Verkleidung – abgesehen davon wirken Sonnenbrillen am Abend eher verräterisch. Als die beiden fertig sind, packe ich die Brille zusammen mit meinen Klamotten in den Bodybag, den ich aus dem Delle Alpi mitgenommen habe. Dann betrachte ich das Ergebnis ihrer Bemühungen in einem Handspiegel. Ich erschrecke. Wenn es das ist, was mich in ein oder zwei Jahrzehnten erwartet, liefere ich mich Erdem lieber gleich aus. Vielleicht kann er das Ganze etwas abkürzen.
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atu steigt in einer Seitenstraße in der Nähe des Bahnhofs aus. Nondas rutscht auf den Fahrersitz und übernimmt das Steuer. Wir kommen am Pirelli-Hochhaus vorbei. Nach dem Anschlag eines Geistesgestörten, der mit einem Sportflugzeug da reingekracht ist, sieht es noch ziemlich lädiert aus. Warum reparieren sie das nicht? Oder muss das so bleiben, bis sich die Versicherungen geeinigt haben? Dann ständen in Europa bald nur noch Trümmer herum. Vielleicht will sich Mailand aber auch nur einen Touch von New York geben. Seht her: Uns hat’s auch erwischt. Keine Ahnung, was in den Gehirnen von Regierenden vor sich geht. Wahrscheinlich ist da drin auch nur eine Trümmerlandschaft, qualmende Ruinen, wo vormals ein vernünftiger Geist gewaltet hat. Nondas will sich zuerst die Disco ansehen. Wir fahren auf eine Ausfallstraße Richtung Monza – dafür müsste Phil später schon mal den Bus nehmen oder irgendein anderes öffentliches Verkehrsmittel. Nach einer Weile biegen wir rechts ab und gelangen in ein ausrangiertes Industrieviertel. Als wir an einem verfallenen Lagerhaus ein Banner mit der Aufschrift »magazzini di transito« sehen, kommen bei mir ungute Erinnerungen hoch. Alte Fabrikhallen und Lagerhäuser – wenn Phil und ich an solchen Orten auftauchen, gibt es Tote. Ein Seitenblick zu meiner Tochter verrät mir, dass sie dasselbe denkt. Der Haupteingang der Disco ist zu dieser Stunde noch geschlossen. Wir gehen um das Gebäude herum und betreten die Magazzini durch ein Tor, vor dem bereits ein Langstreckenraketen-großer Tourlaster steht. Eine Zeit lang beachtet uns niemand. Ein paar Techniker sind mit Soundchecks beschäftigt, Roadies schütten Bier in sich hinein und bereiten die Bühnenshow vor. Ich weiß nicht, für 194
wen sie uns halten, aber da wir nicht wie Fans aussehen, spricht uns niemand an. Nach den Plakaten zu urteilen tritt hier heute Abend Ligabue auf, ein zotteliger Balladenrocker, der anscheinend Zucchero kopieren möchte. Die Location sieht aus, als sei sie früher independent gewesen, bis sie nach einer Umbesetzung des Managements in den Genuss staatlicher Kulturförderung kam. Das heißt, alles ist ziemlich marod, aber nicht so sehr, dass ernsthaft Einsturzgefahr bestände. Es sieht nur ein wenig nach Abbruch und Katastrophe aus, street-credibility eben. Die Tanzflächen und Bars erstrecken sich über zwei Stockwerke. Der Vorteil: Es gibt jede Menge Ausgänge. Wenn hier erst mal der Bär tanzt, könnte Phil sich unauffällig verdrücken. Allerdings sind die Zufahrtswege leicht zu kontrollieren. Die Magazzini befinden sich in einer gut einsehbaren Straße, und der Hinterhof, früher wohl die Verladezone, wird von einem rostigen Zaun mit Stacheldrahtkrone begrenzt. Das angrenzende Gelände macht einen verlassenen Eindruck. Bei Dunkelheit ist es wie geschaffen für alle Arten von Gewalt. Schließlich wird doch noch jemand auf uns aufmerksam. Ein Typ mit Spitzbart und einem tellerförmigen Ethno-Käppi kommt auf uns zu. Er trägt einen Karton, in dem leere Flaschen gegeneinander klimpern. Mit einem abschätzigen Blick mustert er Nondas. »Was wollt ihr?« Er wirkt genervt, scheint sich aber zu ein wenig Respekt zu zwingen. »Wir sehen uns nur ein bisschen um«, erwidert Nondas. »Natürlich nur, wenn du nichts dagegen hast.« Der Mann stellt den Karton ab und vergräbt die Hände in die Taschen. Er rührt sich nicht von der Stelle. »Heute Abend ist hier bestimmt einiges geboten. Volles Haus, oder?« 195
Nondas stülpt die Unterlippe hoch und versucht ein Nicken, wie man es bei Leuten sieht, die über Breitreifensätze und leistungsstärkere Einbaumotoren reden. Die Augenbrauen des Mannes ziehen sich zusammen. »Ab wann geht’s denn richtig los?«, fährt Nondas fort. »Wir möchten nichts verpassen, weißt du.« Keine Antwort. Der Spitzbart zeigt jetzt in meine Richtung, pendelt dann weiter zu Phil, bei deren Anblick er kurz verharrt. Die Andeutung eines Lächelns, leicht resigniert. Schließlich: »Deine Kollegen waren erst gestern da.« Ein rascher Blick zur Seite, um sich zu vergewissern, dass keiner der Roadies in Hörweite ist. »Aber vielleicht wusstest du das nicht.« »Was sollte ich wissen?« Nondas tritt von einem Bein aufs andere. »Wollt ihr vielleicht doppelt abkassieren? Du bist doch ein Bulle, oder?«
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m Multisala Milano probieren wir’s auf andere Art: Nondas tritt wieder als er selber auf. Er sagte eine Zeit lang gar nichts, bis er den Bus am Straßenrand anhielt, seine Atomium-Mütze vom Kopf riss und auf den Beifahrersitz schmiss. Die Hornbrille legte er etwas behutsamer weg. Dann kam er zu Phil und mir nach hinten. Ob man ihm den Polizisten wirklich so ansähe? Er hätte das niemals für möglich gehalten. Bestimmt sei nur die verdammte Mütze daran schuld. Phil riet ihm, sich eine andere Verkleidung zuzulegen, worauf er etwas Unverständliches vor sich hin murmelte und verbissen schwieg. Die Intuition des Spitzbarts hat mich überrascht. Als ich Nondas zum ersten Mal traf, hatte ich zwar auch einen leisen Verdacht, aber dann ließ ich mich von seinem guten Aussehen und dem Designer-Outfit blenden. Allerdings nehme ich an, dass italienische Bullen durch die Bank einen passableren Eindruck machen als deutsche. Der Spitzbart hat bessere Erfahrungswerte als ich. Schließlich holte Nondas sein Handy hervor und telefonierte mit Batu. Während des Gesprächs verließ er den Bus, vielleicht weil es ihm vor Phil und mir peinlich war, den Reinfall in den Magazzini einzugestehen. Als er sich wieder hinter das Steuer klemmte, war seine Laune immer noch mies. Wortlos fuhren wir zu dem Kino, das Batu als Fluchtweg vorgeschlagen hatte. Ich frage mich, warum wir das nicht gleich gemacht haben. Das Multisala Milano liegt viel näher am Bahnhof, man kann es durch ein paar belebte Häuserzeilen zu Fuß erreichen. Aber das ist erst der Anfang. Das Gebäude, in dem es untergebracht ist, erstreckt sich über einen ganzen Wohnblock. Das Kino besitzt zwei ebenerdige Ausgänge, außerdem gibt es eine Tiefgarage, 197
von der man nicht nur direkt ins Kino, sondern durch separate Treppenschächte auch auf die beiden Zufahrtsstraßen gelangt. Darüber hinaus grenzt das Multisala an eine kleine ShoppingMall. Über eine Coffeelounge, die im ersten Stock eine Art Übergangsbereich bildet, kann man sowohl das Kino als auch die Einkaufspassage erreichen. »Multisala« ist eigentlich übertrieben, denn das Kino besteht nur aus drei Vorführräumen. Aber für unsere Zwecke ist es ideal. Batu hat seine Hausaufgaben gemacht. Nondas gibt ihm das Ergebnis unserer Nachforschungen durch, während wir uns in dem Café Sandwiches und einen Cappuccino genehmigen. Er schaut schon bedeutend zufriedener drein, steckt sich sogar eine Zigarette an. Als er das Gespräch beendet und sein Handy auf den Lageplan legt, den er in der vergangenen Stunde gezeichnet hat, fängt er an zu erklären. Phil müsse versuchen, in eine der Abendvorstellungen zu kommen, am besten in Minority Report, das laufe im ersten Saal, dem größten der drei. Er selber werde ihr bis zum Kino zu Fuß folgen, Batu und ich nähmen den Campingbus. »Okay«, entgegnet sie. »Ich schaue mir also den Film an. In der Zwischenzeit könnt ihr euch in Ruhe postieren und die Ausgänge kontrollieren. Dann gebt ihr mir durch, welcher Fluchtweg am günstigsten ist. Wenn der Abspann beginnt, gehe ich raus und tauche in der Menge unter.« Nondas schüttelt wissend den Kopf. Er hält seine brennende Kippe hoch. »Habt ihr die Rauchmelder gesehen? Wir warten gar nicht erst ab, bis sie die Ausgänge besetzt haben, das würde ihnen nur eine Verschnaufpause verschaffen. Sobald der Film läuft, oder besser noch, sobald sie mit der Werbung anfangen, löse ich den Feueralarm aus. Phil verlässt das Kino über den Notausgang und nimmt den Weg über die Tiefgarage. Sie springt in den Camper, in dem Viktor wartet, und das war’s.«
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Das mit dem Notausgang ist clever. Phil könnte dadurch einen entscheidenden Vorsprung bekommen. »Aber wie kriegen wir Erdem?« »Einer von uns wird ihn markieren.« Er holt einen kleinen, runden Gegenstand aus der Tasche. »Oder seinen Unterhändler. Wer auch immer am Bahnhof aufkreuzen und Phil verfolgen wird. Batu oder ich werden ihm im Gedränge diesen Peilsender verpassen. Damit schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe. Phil bringt sich in Sicherheit, und wir sind an Erdem dran.« Ich schaue mir den Peilsender genauer an. Er ist federleicht, sieht aus wie ein Stück schwarzer Stoff. »Könntest du das nicht auch im Bahnhof machen?«, wende ich ein. »Zu riskant«, antwortet Nondas. »Im Kino geht das besser. Deswegen machen wir ja einen zweiten Schauplatz auf. Wir locken Erdem auf ein Terrain, das er nicht kennt. Und von dem er nicht weiß, dass wir es kennen. Er wird mit einer Reihe von Hindernissen konfrontiert, die er nicht einkalkuliert hat. Am Bahnhof können wir nur reagieren. Aber hier sind wir am Zug.« Wir diskutieren noch eine Weile, ob wir uns wirklich auf diese Strategie festlegen wollen. Ob Erdem es für glaubwürdig halten wird, dass Phil nach dem Treffen am Bahnhof ins Kino geht und sich einen Film anschaut. Alles natürlich nur unter der Bedingung, dass er sie verfolgt. Schließlich beendet Phil die Unterhaltung. »Mehr können wir nicht tun. Falls es nicht klappt, müssen wir eben eine bessere Gelegenheit abwarten. Der Fluchtweg ist okay.« Nondas drückt die Zigarette aus und lehnt sich zurück. »Wie du schon sagst: Mehr können wir nicht tun.« Na ja, ein bisschen ist noch zu tun, bevor es losgeht. In der guten Stunde, die uns verbleibt, holen wir Batu vom Bahnhof ab. Fr hat eine detaillierte Skizze der Örtlichkeiten rund um die Fahrkartenautomaten angefertigt und will sich noch etwas in dem Kino umsehen. Nondas’ Plan und das Ablenkungsmanöver 199
mit dem Feueralarm findet er anfangs zu umständlich, freundet sich aber damit an, als er die Multisala selber in Augenschein nimmt. Schließlich steigen wir alle in den Bus. Nondas hat ihn in der Tiefgarage geparkt, an einer Stelle, wo Batu ihn später ungefähr abstellen soll. In der Ablage neben dem Autoradio liegt ein Parkticket. Nondas hat es bereits für den ganzen Tag gelöst, damit wir uns nicht mehr an einem Kassenautomaten aufhalten müssen, wenn jede Sekunde zählt. An so etwas denkt nur er. Außerdem stellt sich heraus, wozu die riesige Umhängetasche gut ist, die Batu bei sich trug, als wir ihn an einer der Bushaltestellen neben dem Bahnhofsgebäude auflasen. Die Tasche sieht eher aus wie ein Kleidersack von der Armee. Und sie enthält die Lösung für Nondas’ Probleme: eine Soldatenuniform. Batu hat den Kleidersack auf einem Bahnsteig geklaut. Dort sei eine Gruppe Soldaten in Tarnanzügen herumgestanden. Offenbar befanden sie sich auf dem Weg zu ihrer Einheit, vielleicht zu einem Manöver, weil sie in voller Kampfmontur waren. Auf ihre Kleidersäcke, die in einem ungeordneten Haufen lagen, achtete niemand. Jetzt wird sich einer von ihnen Gedanken darüber machen, wie er der Materialstelle den Verlust seiner Dienstuniform erklären soll. Das hört sich ziemlich dreist an, aber Batu scheint in diesem Gespann der Mann der Tat zu sein. Er muss sich von Nondas ein paar Vorwürfe anhören, winkt schulterzuckend ab. Dann entfaltet er ein grünbraunes Jackett und hält es an seinem Partner hoch, um die Größe abzuschätzen. »Ein bisschen knapp, aber es könnte passen.« Als Nondas das Jackett anprobiert, ändert er nach und nach seine Meinung. »Du weißt, dass ich gegen solche Methoden bin.« Batu nickt. 200
»Wenn sie dich erwischt hätten, müssten wir die ganze Aktion abblasen.« Ein Grinsen umspielt Batus Mundwinkel. Scheint so, als hätte er etwas in der Art schon öfter gehört. »Dir ist doch klar, was auf dem Spiel steht.« Batus Grinsen erstirbt. »Wenn wir keine Unterstützung von denen kriegen, müssen wir uns eben damit behelfen, was gerade zur Hand ist.« »So kann man es auch sehen. Wenn ich bedenke, wie sie uns abblitzen ließen.« »Guter Bulle?« Nondas schaut ihn zweifelnd an. »Ja, guter Bulle«, bestätigt er schließlich. Er dreht den Kopf und deutet auf die beiden Sterne auf einem Schulterstück. »Müsste ein Leutnant sein.« »Tenente«, ergänzt Batu. »Ist mir schon klar, wie das auf Italienisch heißt.« Er zieht das Jackett wieder aus, kramt in dem Kleidersack und schlüpft in Hemd und Hose. Sogar die schwarzen, auf Hochglanz polierten Schuhe passen ihm einigermaßen, obwohl er sich darüber beklagt, dass sie drücken. Batu reicht ihm die dunkle Krawatte, die er währenddessen gebunden hat. Nachdem Nondas das Jackett zugeknöpft und sich die Schirmmütze aufgesetzt hat, mustert er sich in dem Handspiegel, den wir zum Schminken benutzt haben. »Ich nehme alles zurück, Batu. Das ist einfach genial. Eine Uniform lenkt von ihrem Träger ab.« »Liegt in der Natur der Sache.« »Ziemlich auffällig«, wende ich ein. »Eben!« Nondas zupft an dem Krawattenknoten herum. »So auffällig, dass man unwillkürlich hinschaut. Aber nur einmal. Soldaten sind Soldaten, fertig. Auf einem Bahnhof laufen sie einem andauernd über den Weg. Die leben in ihrer Welt und tun einem nichts.« 201
»Im Gegensatz zu Polizisten.« Nondas übergeht meine Bemerkung. »Wenn sie nicht im Einsatz sind, haben Soldaten nicht einmal ihre Waffen dabei. Völlig harmlos.« Batu stopft Nondas’ Touristenklamotten in den Kleidersack und stellt ihn in den Fußraum des Beifahrerbereichs. Obenauf legt er eine Sportzeitschrift. Er klatscht in die Hände. »Das wär’s. Jetzt kommt der technische Teil.« Er beginnt mit dem Verkabeln. Nacheinander werden wir komplett mit verstecktem Mikro, Minisender und einem winzigen Audioempfangsteil fürs Ohr ausgestattet. Verkabeln ist der falsche Ausdruck, weil die Dinger drahtlos funktionieren. Phil kommt als Letzte an die Reihe. Mit einer Pinzette setzt ihr Batu den Empfänger in die Ohrmuschel. Dann befestigt er das Mikro unter ihrem Rollkragen und steckt den Sender, der das Signal gleichzeitig verstärken soll, in eine Brusttasche ihrer Jeansjacke. Wir machen einen Test. Jeder von uns sagt »eins, zwei, drei«, als sei dieser Blödsinn angeboren. Die Verständigung ist gut, das Aufnahmegerät im Laderaum des Busses zeichnet alles auf. Nur Phils Stimme ist etwas undeutlich zu hören. Batu fummelt wieder an ihrem Rollkragen herum. Er nimmt ein kleines Klappmesser zu Hilfe, mit dem er die Fasern des Pullis vorsichtig abschabt und den Stoff etwas dünner macht. Sie spricht erneut ins Mikro. Jetzt ist der Empfang klarer. Als Batu ihr zum Abschluss einen Klaps auf die Schulter gibt, hält er verdutzt inne. Tastend fährt er über ihr Schlüsselbein. »Was hast du da drunter?« Phil schlägt den Saum ihres Pullis hoch. Die Kevlarweste wird sichtbar. »Ein Erbstück. Für alle Fälle.«
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VIERTER TEIL
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r beobachtet. Alle Menschen. Sie kommen und gehen. Die meisten von ihnen bewegen sich mit entschlossenen Schritten. Sie streben den Ausgängen zu oder nehmen die Treppen hinauf zu den Bahnsteigen. Sie haben es eilig, folgen dem Zeitplan, dem sie sich unterworfen haben, um möglichst schnell einen Punkt zu erreichen, von dem sie glauben, er liege auf der Bahn ihres Fortschreitens in der Welt. Sie nehmen ihre Umgebung nur als Schatten wahr, durchqueren das Gebäude ohne einen Blick für den hohen leeren Raum über ihren Köpfen. Diese Halle aus Licht. Es dringt durch die farbigen Glasscheiben in der Decke, bildet einen Übergang zwischen dem Himmel draußen und der künstlichen Dämmerung im Innenraum. Viele Wünsche sind in diesem Gewölbe enthalten. Das Gemäuer an den Seiten verleiht diesen Wünschen Resonanz. Manche Menschen verharren eine Weile, als wollten sie diesen Ort noch nicht verlassen. Sie bleiben am Fuß einer Rolltreppe stehen, unschlüssig, in welche Richtung sie sich wenden sollen. Sie starren minutenlang auf die Anzeigetafeln, lesen die Zugnummern und Städtenamen, versuchen zu ergründen, wohin sie gelangten, wenn sie ein anderes Ziel wählten. Ihre Lippen bewegen sich, als sagten sie sich vor, welche Abschweifungen ihr Wille für sie bereithält. Gelegentlich irrt ihr Blick zur gewölbten Decke, wandert immer weiter hinauf. Sie sehen den Raum des Möglichen – oder seinen Widerschein. Sie sind sich nicht sicher, was das Unsichtbare zu bedeuten hat, schlagen die Augen wieder zu Boden. Manche schütteln den Kopf, während sie weitergehen. Er weiß, dass sie Wort halten wird. Die Frau auf dem Himmelbett, Lidia, zerstört, aber wach, zurück in … einer Art Leben. Menschen sind Phil teuer. Sie ist noch so jung. Er 204
belächelt sie nicht. Oh nein. Das würde er sich nie erlauben, nicht nach dem, was aus ihr hervorbrach, als er in ihr gewesen war. Umarme mich. In einer fremden Sprache. Sie konnte es nicht in ihrer eigenen sagen. Sie hat noch keine Sprache. Sie ist noch so jung. Der Verursacher. Er setzt die Dinge in Gang. Und setzt sie aus, ganz nach Belieben. Manchmal empfindet er das als Bürde. Die er gerne trägt. Sie macht ihn leben. Ihr Vater wird in der Nähe sein. Er spürt es. Inzwischen kennt er den Grund für Viktors Versuch, Ferro ein Leid anzutun. Feigheit, Rücksichtslosigkeit, Ehrgeiz – all diese Eigenschaften seines Auftraggebers machen Diener wie ihn, Erdem, notwendig. Sie bedingen geradezu eine Gefolgschaft, wie er sie Ferro leistet. Trotzdem haben ihn Viktors Motive etwas überrascht. Familie. Eine Ehefrau. Er wendet die Worte in Gedanken, während er die Ritzen zwischen den Bodenplatten begutachtet und an einer Verkrustung kratzt. Wie viel Unheil wurde im Namen der Familie verübt? Wurde das jemals verzeichnet? Wie viele Lügen, wie viel Gewalt? Mehr, als für ein Verbrechen nötig ist, das ist sicher. SIE tritt durch das große Portal. Er weiß es, ohne hinzusehen. Der Rhythmus ihres Ganges, wenn sie erregt ist. Wäre er hörbar, stellte es keine Herausforderung dar, ihn zu erfühlen. Er blickt noch immer zu Boden, entfernt die Verkrustung. Registriert die Stimmen seiner Macht, die aufgeregt zu ihm dringen und seine Wahrnehmung bestätigen. Er verkneift sich ein Nicken, genießt es, wenn sich seine Voraussagen bewahrheiten. Er fragt sich, warum dieser glatte, von vielen Generationen blank polierte Boden immer wieder neuen Schmutz aufnehmen muss. Als habe sein Alter ihn nicht versiegelt.
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rdem ist kein Türke. Er ist Armenier.« »Was macht das für einen Unterschied?«, gebe ich zurück. »Türken und Armenier sind seit Urzeiten verfeindet. Das sind zwei völlig verschiedene Volksgruppen, mit einer ziemlich üblen …« »Mir ist es egal, ob Erdem Türke, Armenier, Grieche oder Deutscher ist. Von mir aus ist er ein Scheißitaliener. Nationalitäten sind so ziemlich das Letzte, worüber ich mir jetzt Gedanken mache.« »Solltest du aber. Es hilft, jemanden wie Erdem zu verstehen.« »Meinst du? Das, was ich von ihm weiß, reicht mir völlig aus.« »Viel scheint das ja nicht zu sein.« Batu wirft den Rest seines Joints aus dem Fenster. Kiffer sagen zu diesem gekrümmten Stummel »Roach«, aber das gehört nicht mehr zu meinem aktiven Wortschatz. »Hab keinen Bedarf, mehr über ihn zu erfahren.« Ich rutsche zum x-ten Mal auf dem Beifahrersitz hin und her. Unter der vielen Schminke juckt die Haut. Ich überlege, ob ich die Schiebermütze abnehmen soll. »Kanntest du seinen Bruder?« Die Frage kommt unerwartet. Ich sage vorerst nichts. Kennt man jemanden, dessen Leiche man in Einzelteile zerlegt hat? Wir haben den Camper in dem Straßenstück direkt unter dem überdachten Vorhof des Bahnhofsgebäudes abgestellt. In der Reihe der Kleinbusse und Limousinen, die auf ankommende Reisende warten und sie zu ihren Hotels bringen, fällt er nicht 206
weiter auf. Parallel dazu verläuft die Taxispur, Fahrgäste werden abgesetzt und eingeladen. Weiter vorn befinden sich Treppen, die zur U-Bahn hinunterführen. Es ist einiges los. Vielleicht findet in Mailand gerade ein Kongress statt. Oder mehrere. Ein nicht abreißender Menschenstrom verlässt die Bahnhofshalle. Die meisten zerren Gepäckstücke auf Rollen hinter sich her. Sie schauen sich suchend um, sprechen in ihre Handys. Einige werden sofort abgeholt oder besteigen ein Taxi. Andere warten eine Weile, bis schließlich doch noch irgendein Wagen auftaucht, der sie mitnimmt. An den Eingängen zur Bahnhofshalle drücken sich dubiose Gestalten herum, Schlepper, Taschendiebe und Dealer. Die übliche Zusammenstellung an einem Ort wie diesem. Carabinieri gehen pärchenweise Streife, ihre Blicke sind streng. Hin und wieder kontrollieren sie die Personalien eines Penners, den sie je nach dessen Zustand verscheuchen oder auch nicht. Phil und Nondas sind jetzt seit einer halben Stunde da drin. Ich habe die Skizze der Biglietteria Est vor mir auf dem Schoß. Batu hat alles genau eingezeichnet: Fahrkartenautomaten, Telefonsäulen, verwaiste Schalter, an denen die Leute früher ihre Karten gelöst haben, sowie mehrere doppelte Sitzreihen. Er meinte, die Beleuchtung sei ziemlich schummrig, irgendwie deprimierend. Der Raum diene als eine Art Wartehalle für Leute, die noch nicht über die Rolltreppen zu den Bahnsteigen und den vorgelagerten Imbissbuden, Restaurants und Geschäften hochgehen wollen. Kaum jemand würde sich dort aufhalten. Ein Ort, an dem man nur warten und sonst so gut wie nichts tun kann. Er grenzt an die große Eingangshalle, in der sich ein paar Kioske, große Anzeigetafeln, weitere Fahrkartenautomaten und moderne, voll technisierte Schalter befinden. Die alte Biglietteria wird nicht mehr gebraucht. »Musti war der Bessere von beiden«, fährt Batu fort, während ich mich in die Skizze vertiefe. »Erdem hat ihn in seine Geschäfte reingezogen.« 207
»Erdem zieht jeden in seine Geschäfte rein«, erwidere ich gedankenverloren. »Erzähl was Neues.« »Ich frage mich, was in aller Welt dich so überheblich macht. Du hast doch keine Ahnung, was wirklich vor sich geht.« Ich hebe den Kopf. Das Bahnhofsgebäude ist ein sarkophagartiges Ungetüm. Der Architekt konnte sich nicht zwischen Neoklassizismus, Jugendstil und Faschismus entscheiden. Hinter seinen schmutziggrauen, mit allerlei Simsen, Vorsprüngen und Reliefen verzierten Mauern wartet Phil auf Erdem. Ich kann meine Tochter auf einem dieser Sitze sehen, ihren Rucksack neben sich. Ich sehe, wie sie die Beine übereinander schlägt und eine trotzige Haltung einnimmt, um sich kurz danach aufzusetzen, weil sie nichts mit ihren Gliedmaßen anzufangen weiß. Sie vermeidet es, zu Nondas zu blicken, der am anderen Ende der ehemaligen Biglietteria sitzt und in einer Zeitschrift blättert. Sie berührt die Kevlarweste unter ihrem Rolli, obwohl sie diese Geste eigentlich unterdrücken will. Sie spürt das Messer an ihrem Rücken, das Batu beim Verkabeln nicht bemerkt hat. Um sich abzulenken, denkt sie vielleicht an das, was bei Marco passiert ist. Als sie ihn mit ihrem Messer bedroht hat. »Was sollen diese Andeutungen?«, frage ich. »Musti ist tot. Der kann uns nicht mehr gefährlich werden.« »Das bezweifelt ja niemand. Obwohl seine Leiche immer noch nicht gefunden wurde.« »Ich glaube kaum, dass er wie Erdem von den Toten aufersteht.« Ausnahmsweise glaube ich es nicht nur, sondern bin felsenfest davon überzeugt. Der Autobahnrastplatz. Das Verbuddeln der abgefackelten Leichenteile. Den Geruch habe ich an jeder Tankstelle wieder in der Nase. Batu und Nondas scheinen keine Ahnung zu haben, wer Musti beseitigt hat. Wie es beabsichtigt
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war. In ein paar Jahren wird auch die letzte DNS-Kette, die auf ihn hindeuten könnte, verfault und verfallen sein. Batu nimmt einen Schluck aus der Coladose, die er sich an einem der Kioske besorgt hat. »Sein Schatten ist länger, als du denkst.« »Wie meinst du das?« »Erdems Familie stammt aus Thessaloniki. Du weißt, wo das liegt?« »Wahrscheinlich gleich neben Athens, Georgia. Komm schon, verarsch mich nicht.« »Nach Saloniki sind nach dem Ersten Weltkrieg viele Armenier geflohen. Erdems Vater wurde dort geboren.« »Schön für ihn«, entgegne ich. »Und schön für dich, so gut informiert zu sein. Das hilft uns sicher weiter.« »In den sechziger Jahren wanderte die Familie nach Deutschland aus, kurz nachdem Erdem auf die Welt kam.« »Und als Gastarbeiterkind hatte er eine unglückliche Kindheit. Er wurde depressiv und fing an, mit Drogen zu dealen. Kriegen Bullen den Soziologischen, wenn sie undercover unterwegs sind?« Batu nervt mich schon eine ganze Weile mit seinen Versuchen, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Seit dem Kino ist er wie ausgewechselt, richtiggehend freundlich. Offenbar hat er mich inzwischen als freien Mitarbeiter akzeptiert. Nachdem wir unsere Position vor dem Bahnhof eingenommen hatten, fragte er mich als Erstes über den Anschlag auf Ferro aus. Ich habe ihn mit einer Kurzfassung abgespeist, die mir gerade einfiel. »Musti war ein Nachzügler«, fährt er unbeirrt fort. »Er stammt von der zweiten Frau seines Vaters, einer Türkin aus Frankfurt. Das war gar nicht so selbstverständlich, wie es sich anhört. Ein Armenier griechischer Herkunft heiratet eine Türkin. In der 209
Emigration sind die Vorurteile stärker als in der Heimat. Erdems Söhne mussten sich einiges gefallen lassen.« »Haben wir die Ahnentafel jetzt beisammen?« »Erdem schlug sich auf die Seite der zahlenmäßig größten Ausländergemeinde. Das waren in Frankfurt damals schon die Türken.« Ein Knacken in meinem Ohr. Nondas hat sich geräuspert oder so etwas. Ich warte auf eine Mitteilung, irgendein Zeichen, dass es endlich losgeht, aber es kommt nichts. Vor zehn Minuten wurde er von Carabinieri angesprochen, die ihm rieten, er solle auf seinen Kleidersack Acht geben. Erst heute sei so einer oben auf den Bahnsteigen gestohlen worden. Nondas bedankte sich einsilbig und gab kurz darauf durch, alles sei in bester Ordnung. Meine Nervosität nimmt zu, je mehr das Tageslicht in dem Säulenvorhof abnimmt und je schwerer es mir fällt, die vorübereilenden Menschen zu erkennen. Batus Ausführungen sind momentan denkbar fehl am Platz. Was soll all dieses Gerede? Erdem und Musti waren Halbbrüder, na und? Dass sie ein etwas gespaltenes Verhältnis hatten, war mir schon vorher klar. Langsam keimt in mir ein Verdacht. »Woher stammt Nondas? Sag jetzt nicht …« »Ein bisschen Shit macht wach im Kopf, wie ein starker Espresso. Du hättest vorhin mal ziehen sollen, dann wärst du nicht so schwer von Begriff.« »Bleib mir vom Leib mit diesem Bullenstoff. Den hast du bestimmt von einem Dealer abgezweigt, den ihr hochgenommen habt.« Er schüttelt nachsichtig den Kopf. »Du hast Vorstellungen.« Ich trommele mit den Fingern aufs Armaturenbrett, will mir jetzt keine Kippe anzünden. »Was soll die Pointe dieser Geschichte sein? Ist Nondas etwa Erdems Bruder?« 210
»Das wäre ziemlich billig, oder nicht?« Er lehnt sich zurück, genießt mein plötzlich erwachtes Interesse. »Es ist so ähnlich. Erdem und Nondas wuchsen zusammen auf. Eine Stadt wie Frankfurt ist kleiner als man denkt. Die Menschen bleiben unter ihresgleichen, oder was sie dafür halten. Die Griechen aus Saloniki zum Beispiel …« »Mach es kurz!« Ohne das Eingangsportal aus den Augen zu lassen, auf das unsere Blicke schon die ganze Zeit über gerichtet sind, erzählt er weiter. »In ihrer Kindheit waren die beiden so etwas wie Sandkastenfreunde. Sie wohnten im gleichen Mietshaus, da ist es nicht weiter verwunderlich, dass sie eine Weile zusammenhingen. Auf der Schule verloren sie sich dann allmählich aus den Augen. Sie kamen in unterschiedliche Klassen, Nondas’ Eltern zogen in eine andere Straße, wie das eben so ist. Als sie allmählich erwachsen wurden, trennten sich ihre Wege, in mehrfacher Hinsicht. Nondas ging zur Polizei, und Erdem, na ja, du weißt ja, welche Richtung er eingeschlagen hat. Er landete ziemlich früh im Jugendknast. Als er wieder rauskam, war es mit ihrer Freundschaft endgültig vorbei.« Das kommt mir alles immer archaischer vor. Familie, Freundschaft, und jetzt auch noch Kindheit. Als ständen sämtliche Menschen um mich herum auf verschwiegene Weise miteinander in Verbindung. Als gäbe es eine geheime Gesetzmäßigkeit, die ihr Handeln bestimmt und von der ich nicht die geringste Ahnung habe. Man fängt im Ausland etwas Neues an, und die Anonymität, die man daran so schätzt, verflüchtigt sich auf Schritt und Tritt. »Und welche Rolle spielt Musti dabei?«, frage ich schließlich. »Außer dass Erdem ihn für seine Zwecke eingespannt hat und auf Tony losließ?« »Nondas war dabei, Musti umzudrehen«, antwortet Batu knapp. Er lässt die Worte wirken. 211
Ich wende ihm langsam das Gesicht zu. Das erklärt einiges. Nondas’ Hartnäckigkeit. Seinen Übereifer. »Er wollte nicht, dass Musti so wird wie Erdem. Musti bewunderte seinen großen Bruder, der immerhin fünfzehn Jahre älter war. Aber er hatte auch Angst vor ihm. Er sah, was mit Leuten passierte, die bei ihm in Ungnade gefallen waren. Außerdem hatte er andere Pläne, als für Erdem den Kurier zu spielen. Er war ziemlich eigensinnig, schwer zu sagen, ob er wirklich aussteigen oder sich nur von Erdems Einfluss befreien wollte. Jedenfalls hatte Nondas vor, ihm einen Deal vorzuschlagen. Genau wie dir.« Mit dem Unterschied, dass Musti ein Messer dazwischenkam. Der Minikopfhörer knistert. »Langsam kommt Bewegung in die Sache.« Nondas klingt wie ein kleiner Junge, der einen Chinakracher in der Hand hält und der Zündschnur beim Abbrennen zusieht. In letzter Sekunde wird er den Kracher wegwerfen, damit er in der Luft explodiert. Das sieht dann so aus, wie sich kleine Jungs eine Granatenexplosion vorstellen. »Einer von Ferros Bodyguards«, flüstert er. Phil gibt einen Huster von sich, Teil des primitiven Codes, den wir in der Kürze der Zeit vereinbart haben. Eine Person. Der Kontakt. »Ist sonst noch jemand in dem Raum?« Da Nondas nicht dauernd vor sich hin reden darf, hat Batu ihm ein kleines Gerät mit einem Druckknopf gegeben, das er in der Handfläche versteckt hält. Ein Klick bedeutet »Ja«, zwei Klicks »Nein«. Damit wir ungefähr darüber im Bilde sind, was in der Biglietteria passiert, müssen wir ihm also andauernd Ja/NeinFragen stellen. Phil darf sich nur über Geräusche verständigen, und auch das nur sehr begrenzt, alles andere wäre zu auffällig.
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Klick-Klick. Außer dem Bodyguard scheint niemand in Sicht zu sein. »Setzt er sich neben sie?« Klick. In der Leitung wird es still. Keiner spricht ein Wort. Ich stecke mir ein Ohropax ins andere Ohr, um störende Geräusche aus der Umgebung zu dämpfen. »Dreh die Lautstärke auf«, sage ich zu Batu. Phils Atem. In kurzen Abständen, begleitet von einem unmerklichen Flattern. Der Bodyguard schweigt. Wartet er auf jemanden? Warum sagt er nichts? Ich versuche, mir auszumalen, wie sie sich fühlt, Schulter an Schulter mit der Gefahr. Es gelingt mir nicht. Meine eigene Angst hat mich voll im Griff. Ich halte mich an dem Türbügel fest, um das Zittern abzustellen. Der Schweiß an meinen Handflächen. Wir können nichts tun als horchen.
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ie geht es Lidia?« »Sie lebt.« Die beiden Stimmen knallen mit voller Lautstärke in meinen Kopf. Batu dreht hastig an den Reglern des Receivers. »Wo ist Erdem?« »Erdem wird nicht kommen. Rede mit mir.« »Was will er?« »Dich.« Pause. In meinem Ohr ein beständiges Pfeifen, das den Dialog zwischen Phil und dem Bodyguard überlagert. Ich entferne das Ohropax. »Das waren drei Fragen. Mehr hast du nicht.« Er klingt völlig teilnahmslos. Jedes Wort ein Gesetz. »Du im Austausch für Lidia. So lautet das Angebot. Keine Erklärungen. Wenn du darauf eingehst, bringe ich dich an einen Ort, wo man dich später abholen wird. Du kannst Lidia kurz sehen. Dann kommt sie frei.« Beide schweigen eine Weile. Ich habe das Gefühl, dass sich der Kopfhörer durch meinen Gehörgang direkt in mein Hirn bohrt. »Gibt es einen Beweis dafür, dass sie am Leben ist?«, fragt Phil. »Keine weiteren Fragen.« »Aber …« »Sie lebt. Das genügt.« »Das glaube ich nicht«, erwidert Phil. »Glaub, was du willst.« 214
»Er lügt. Du lügst.« »Ich bin nicht hier, um mit dir zu diskutieren.« Batu schaltet sich ein. »Sag, dass du nicht darauf eingehst. Du willst Erdem persönlich sprechen.« »Ich erwarte eine Antwort«, fährt der Bodyguard fort. »Jetzt.« Phil zögert. Ihr Atem geht etwas ruhiger. »Ich hab dich noch nie gesehen«, sagt sie schließlich. »Wen interessiert das?« »Ich traue dir nicht. Ich möchte mit Erdem reden.« Batu nickt heftig. Die Sekunden verstreichen. Dann: »Das ist nicht möglich. Entweder du gehst auf das Angebot ein, oder …« Er spricht die Drohung nicht offen aus. »Sag nein!«, weist Batu Phil an. »Der Handel ist geplatzt.« Wenn es nach Nondas’ Plan liefe, müsste Phil das Gespräch jetzt abbrechen, aufstehen und sich auf den Weg zu den Multisala Milano machen. Verfolgt von – wer weiß von wem. Der Bodyguard ist bestimmt nicht allein. Wo hat Nondas nur seine Augen? In der Leitung ist es wieder still. Das Rascheln von Kunststoff- Phils Rucksack? Drei Klicks, kurz hintereinander. »Was bedeutet das, Nondas? Drei Personen?« Klick. »Gefährlich?« Kurze Pause. Klick. »Sieh dir das an«, sagt Phil. »Du bist gut darauf zu erkennen.« Der Camcorder. Sie zeigt ihm die Aufnahme.
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Batu starrt verständnislos auf den Receiver, mit dem er den Empfang regelt. »Was machst du da?«, fragt er Phil. »Was soll er sich ansehen?« »Ein Mann im Anzug. Am Eingang«, flüstert Nondas. Hoffentlich verdeckt er seinen Mund mit der Zeitschrift. »Ein Müllmann mit einer Karre. Bei den Telefonen. Eine junge Frau. Sie setzt sich.« Sicher hat er den Camcorder auch bemerkt. Zum Glück beschränkt er sich auf das Wesentliche. Ich vergleiche die Angaben mit der Skizze. Der Mann im Anzug könnte als Sicherung dienen. Der Müllmann – schwer zu beurteilen, eventuell harmlos, aber was hat er in seiner Karre? Die Frau … »Wo sitzt die Frau, Nondas?« Ich versuche, die aufsteigende Panik zu unterdrücken. »Nahe bei Phil?« Klick. »Wie nahe? Zwei Meter?« Klick-klick. »Drei?« Klick. Diese Machtlosigkeit. Ich halte das nicht mehr lange aus. »Wer hat das aufgenommen?« Zorn. Erregung. Die Stimme des Bodyguards ist dunkler geworden und drückt die Bereitschaft aus zu töten. »Unwichtig«, antwortet Phil. »Die Bilder zeigen Lidias Entführung. Das ist schlecht für dich. Es ist schlecht für Erdem. Und für Ferro bedeutet es das Ende.« Batus Kopf fährt zu mir herum. Er hat begriffen, was vor sich geht. »Was hast du damit vor?«, fragt der Bodyguard. Leise, abwartend. 216
»Erdem soll Lidia an einen Ort bringen, den ich bestimme. Allein.« »Aus!«, zischt Nondas. »Wir brechen die Aktion ab!« Das hohle Stampfen eines Absatzes auf dem Boden. Mehrmals hintereinander. Plastik auf Stein. Etwas zersplittert. Klingt wie eine Diskette, wahrscheinlich die Speicherkarte des Camcorders. Dann ein paar elektronische Pieptöne. Wenn er konsequent ist, löscht er gerade den Arbeitsspeicher. Nicht gerade clever. Er muss doch damit rechnen, dass es eine Kopie gibt. »Hast du das gesehen?«, sagt er. »So gehen wir mit allem um, was uns in die Quere kommt. Lidia wird sterben, wenn du nicht tust, was von dir verlangt wird.« Das soll Phil einschüchtern. Die Aufnahme zu vernichten ist ein symbolischer Akt. »Sie wäre nicht die Erste«, fügt er hinzu. »Das weißt du.« Das war’s. Ich stoße die Tür auf, raus aus dem Wagen. Batu ruft etwas, aber ich renne schon über die Straße. »Was willst du damit erreichen?«, fragt sie. »Fühlst du dich dadurch stark?« »Abbruch!«, wiederholt Nondas. »Verschwinde, Phil!« Vorbei an den Taxis. Das große Portal. »Was würde Erdem dazu sagen?«, fragt sie spöttisch. »Sollte sein Laufbursche nicht auf neue Befehle warten?« »Reiz ihn nicht!«, flüstere ich in mein Mikro. Die Bahnhofshalle. Nach rechts. Der Schriftzug Biglietteria Est über den geöffneten Türflügeln, eingemeißelt für die Ewigkeit. »Hörst du, was ich sage?« Phil klingt erstaunt. »Warum antwortest du nicht?« Ein Carabiniere neben dem Eingang. Der Sicherungsriemen an seinem Pistolenhalfter ist aufgeschnallt. Er hebt die Hände, will mich aufhalten. Ich ramme ihm meinen Ellenbogen mit voller Wucht ins Gesicht und gehe mit schnellen Schritten weiter. In 217
meinen Augenwinkeln Batu. Knacken und Keuchen in meinem Ohr. Ich pule den Minikopfhörer heraus und stecke ihn ein. Jetzt sehe ich Phil. Sie ist aufgestanden, neben ihr der Bodyguard. Er ist auf dem Sitz in sich zusammengesunken. Sie starrt ihn entsetzt an. Ein Mann im Anzug durchquert den Raum, bewegt sich direkt auf Phil zu. Nondas ist schon bei ihm. Er zieht eine Pistole und schlägt den Kerl kommentarlos nieder. Ich drehe mich um. Batu ist an dem Carabiniere dran und beginnt, ihn mit Leberhaken zu bearbeiten. Als ich mich Phil weiter nähern will, bemerke ich die Frau, von der Nondas gesprochen hat. Sie steht hinter dem Bodyguard. Phil beobachtet sie, ohne sich von der Stelle zu rühren. Es ist Zyna. Aus ihrem Blick spricht blanke Verachtung. Verachtung und eine Spur Befriedigung. Der Müllmann lässt seine Karre stehen und greift Nondas an, mit einem langen Stock, an dessen Ende ein Piekser zum Aufsammeln von Abfall angebracht ist. Er schlägt ihm die Pistole aus der Hand. Nondas duckt sich, wehrt den Piekser ab und stürzt sich auf ihn. Die beiden landen auf dem Boden. »Was zum Teufel machst du hier?«, frage ich Zyna. Dann sehe ich das Messer. Der Griff ragt aus dem Nacken des Bodyguards wie eine Markierung. »Sie hat ihn umgebracht.« Phils Stimme ist dünn und knittrig. »Mit meinem Messer.« »Das war erst der Anfang.« Zyna zieht das Messer aus der Wunde. Ein Blutschwall ergießt sich über ihre Hand. Sie wischt die Hand und die Klinge des Messers an ihrer schwarzen Jeans ab, begutachtet das Ergebnis. »Und ich bin noch lange nicht fertig.« 218
»Wer bist du?«, fragt Phil. »Gwizdek war mein Vater.« Der Augenblick dehnt sich. Phil scheint den Zusammenhang zu begreifen. Es ist, als überkomme sie ein über die Maßen realistischer Traum, als würde sie in einen Zustand zwanghafter Erinnerung gebannt. Sie starrt Zyna an, ihre Lippen formen stumme Laute. Dabei bewegt sie den Kopf ein wenig wie jemand, der versucht, sich die Melodie eines Liedes ins Gedächtnis zu rufen. »Raus hier! Wir hauen ab!« Ich nehme Phil bei der Hand. Abwesend lässt sie es geschehen. »Komm mit!«, raune ich Zyna zu, packe Phils Rucksack und hänge ihn mir um. »Oder willst du darauf warten, dass sie dich schnappen?« »Danke.« Zyna fasst das Messer an der Klinge und hält es Phil hin. »Ging rein wie Butter.« Phil schüttelt angewidert den Kopf und wendet sich ab. »Steck das Ding weg!« Zyna lässt das Messer in ihrer Daunenjacke verschwinden. Endlich setzt sie sich in Bewegung. Als ich mich dem Ausgang zuwende, sehe ich, wie sich der Müllmann erhebt. Nondas bleibt mit dem Gesicht auf den Steinplatten liegen. »Ihr werdet nicht weit kommen«, sagt er im Gesprächston. Er ist wie ein städtischer Bediensteter gekleidet. Er steht ganz entspannt da, versucht uns nicht zu behindern. Ich kenne diese Stimme. Sag mir, ob ich dich töten muss. Erdem hat sich völlig verändert. Seine Haare fallen ihm in die Stirn im Gegensatz zu der Glatze, die er zuvor hatte – vielleicht trägt er eine Perücke. Er lässt sich einen kurzen, gepflegten 219
Vollbart stehen, sein Teint wirkt heller. Auch der Schwung seiner Augenbrauen ist anders. Außerdem hat er stark abgenommen, sieht richtig ausgemergelt aus. Seine gesamte Schädelform kommt mir an den Schläfen und den Backenknochen schmaler vor. Ohne den Bart sähen wir uns sogar ein wenig ähnlich. Die Augenfarbe kann ich auf die Entfernung nicht erkennen. Wie hat er das nur hingekriegt? Ist ja nicht so, als hätte ich mit den Merkmalen kosmetischer Gesichtsveränderungen keine Erfahrung – ihre Resultate kenne ich zur Genüge. Scheint so, als hätte eine Knochenfeile hier ganze Arbeit geleistet. Die meisten Leute lassen ihrem Gesicht etwas hinzufügen, Silikoneinspritzungen, Botox, Implantate. Erdem entschied sich für Reduktion. Nur seine Stimme und der Tonfall sind gleich geblieben. Ich lege Phil einen Arm um die Schultern und gehe weiter. Zyna dreht sich zu Erdem um, will etwas erwidern. »Lass ihn, Zyna!« Ich zerre sie weg, versuche, nicht daran zu denken, was mit Nondas passiert ist. »War er das?«, fragt sie. »Nein!«, lüge ich. »Bleib neben mir. Hak dich bei mir ein.« Sie gehorcht. Wir erreichen die Eingangshalle. »Geht langsam. Tut so, als sei ich euer Scheißopa.« Batu, umringt von mehreren Carabinieri. Einer hat ihm den Arm auf den Rücken gedreht und drückt ihn zu Boden. Er befiehlt ihm, die Klappe zu halten. Große Aufregung, wildes Gestikulieren, energische Stimmen. Dem Carabiniere, der mich aufhalten wollte, ergeht es nicht besser als Batu. Er kniet auf den Steinplatten und blutet aus der Nase, während ihm unter etlichen Fußtritten Handschellen angelegt werden. Die Pistole haben sie ihm schon abgenommen. Einer der Bullen prüft gerade die Seriennummer. Wenn es etwas gibt, das sie noch weniger leiden 220
können als echte Verbrecher, dann sind es falsche Bullen. Ein Carabiniere wirft uns einen argwöhnischen Blick zu. Ich schaue nicht weg, das könnte Verdacht erregen bei dem Polizeiaufgebot, das da gerade zugange ist. Also gebe ich den tatterigen Alten, den seine Enkelinnen stützen müssen, damit er nicht umkippt. Debil lächle ich vor mich hin. Die paar Schritte zum Eingangsportal kommen mir vor wie ein Gewaltmarsch. Bodenplatte für Bodenplatte schlurfe ich voran. Die Schmerzen in meinem linken Bein kehren zurück. Ich kann die Bruchstelle spüren. Als täte sich der Riss in dem Knochen von neuem auf. Phil neben mir scheint noch unter Schock zu stehen. Sie bewegt sich mechanisch fort, schaut krampfhaft zu Boden. Gut, dass sie von Zyna und mir verdeckt wird. Dann sind wir draußen. Ich weiß, dass es unüberlegt ist, aber ich kann nicht anders. Ich drehe mich um. Erdem hat die Biglietteria Est ebenfalls verlassen. Er schiebt seine Müllkarre, die eher wie ein Servicewägelchen der Deutschen Bahn aussieht, vor sich her und spricht mit sich selbst. Oder mit einem seiner Männer, denke ich, wahrscheinlich verfügt er über ähnliche Geräte wie Nondas und Batu. Sie waren überall, haben mit allem gerechnet – nur nicht mit Zyna. Schließlich verschwindet er aus meinem Blickfeld. Auf der anderen Seite der Halle liegt die Biglietteria Ovest. Dort befinden sich die Gepäckschließfächer. Und es gibt einen Seitenausgang. »Nondas?«, flüstert Phil in ihr Mikro. »Bist du das?«
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ir fahren Schrittgeschwindigkeit. Es ist dunkel geworden und merklich kühler. Der Herbst lässt sich auch in Mailand nicht mehr ignorieren. Betriebsamkeit hat die Stadt am Abend erfasst. Die Menschen gehen raus, wie sie es den ganzen Sommer über getan haben. Sie schlendern die Boulevards entlang, schauen sich die Auslagen an, nehmen einen Amaro im Stehen an einer Bar, bleiben in kleinen Grüppchen stehen und plaudern, als müssten sie sich vergewissern, dass sie ihre beengten Stadtwohnungen jederzeit verlassen könnten, wenn ihnen der Sinn danach steht. Und das können sie ja auch, sie haben es sich zur Gewohnheit gemacht. Besser, sie wissen nicht, wer ihnen dabei Gesellschaft leistet. Wer da zielstrebig an ihnen vorbeigeht, gekleidet wie ein Müllmann, der noch dringend etwas zu erledigen hat, bevor die Nacht hereinbricht. Auf der Straße, in der wir uns gerade befinden, stockt der Verkehr. Stop and go. Keine Ahnung, warum es um diese Zeit nicht zügiger vorangeht. Aber das macht nichts. Im Gegenteil, besser könnte es für uns gar nicht laufen. Er geht etwa dreißig Meter vor uns. Manchmal verringert sich der Abstand. Ich achte darauf, wenigstens drei Autolängen zwischen ihm und dem Bus zu lassen, wechsle hin und wieder die Spur, trete auf die Bremse, wenn sich hinter uns eine größere Lücke auftut. Erdems Ziel kann nicht allzu weit entfernt sein. Wir sind bereit, jederzeit auszusteigen und ihm zu folgen. Es ist ein Geduldsspiel. Die Diskussionen, die Batu gerade mit den Carabinieri führt, zerren an unseren Nerven. Anscheinend hat er ihnen seinen Bullenausweis gezeigt, aber da sie inzwischen die Leiche des Bodyguards entdeckt haben, wollen sie ihn so schnell nicht wieder laufen lassen. Zyna dreht die Lautstärke herunter und 222
stellt den Receiver auf der Ladefläche ab. Sie spielt mit dem Gedanken, den Bus zu verlassen und Erdem zu Fuß zu verfolgen. Ich sage ihr zum wiederholten Mal, sie solle verdammt noch mal bleiben, wo sie ist. Nondas hat sich nicht wieder gemeldet. Er war gerade noch in der Lage durchzugeben, dass er Erdem in dem Handgemenge den Peilsender untergeschoben hat. Das war ziemlich geistesgegenwärtig. Er hat kühlen Kopf bewahrt in einer Situation, als alles aus den Fugen geriet. Dann brach der Kontakt ab. Der Peilsender könnte uns bei Erdems Verfolgung nützlich sein. Leider weiß niemand von uns, wie man das Empfangsgerät bedient. Und um es herauszufinden, fehlt uns die Zeit. Nondas’ Falle ist wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen. Aber ein paar Karten stehen noch. Phil hat sich etwas gefangen, nachdem sie erfuhr, dass Zyna Gwizdeks Tochter ist. Noch vor ein paar Stunden war sie zu allem bereit, so wie sie im Hotelzimmer mit ihrem Messer herumgemacht hat. Offen gestanden habe ich befürchtet, dass sie es bei der erstbesten Gelegenheit benutzt. Aber Zyna kam ihr zuvor, Zyna, die irgendwie mitgekriegt haben muss, was wir mit Nondas und Batu besprochen haben und uns mit dem Wagen eines ihrer Kollegen nach Mailand gefolgt ist. Phil hat den Ausbruch ihrer Rache unmittelbar miterlebt. Ihre Heftigkeit und Unkontrollierbarkeit. Die vernichtende, unumstößliche Macht von Gewalt. Als Erstes fragte ich sie, warum sie es getan hat. Der Bodyguard sei schließlich einer von Erdems Männern, gab sie zurück. Das hätte ihr im Prinzip schon gereicht. Bei irgendwem müsse sie ja anfangen, das sei sie Gwizdek schuldig. Als der Bodyguard eine Bemerkung darüber machte, wie Erdem mit jemandem umgeht, der ihm in die Quere kommt, rastete sie endgültig aus. Ihr Blick fiel auf Phils Messer. Der Griff schaute unter ihrer Jeansjacke hervor. Es sei wie ein Wink des Schicksals gewesen, eine Mahnung, was zu tun sei. Und eine 223
Versuchung, der sie nicht widerstehen konnte. Wenn sie gewusst hätte, dass der Müllmann Erdem war, hätte sie an Ort und Stelle weitergemacht. Das war der Punkt, an dem Phil hinten im Bus wieder zum Leben erwachte. Wir hatten den Bahnhof gerade umrundet und Sichtkontakt zu Erdem hergestellt: Er ging an dem PirelliHochhaus vorbei und bog in eine Seitenstraße ein. Phil setzte sich auf. Es gehe hier nicht um Zynas persönliche Vernichtungstour, sondern um das Überleben von Lidia. Ab jetzt dürfe sie keinen Finger mehr ohne unsere Einwilligung rühren. Wenn das nicht hundertprozentig klar sei, könne sie gleich wieder verschwinden, und zwar ohne uns in die Quere zu kommen. Ob sie überhaupt wisse, was es mit Lidias Entführung auf sich habe. Worum es hier gehe. »Im Delle Alpi gibt es viele Möglichkeiten, an Informationen zu kommen«, antwortet Zyna. »Oder hast du gedacht, dass ich deinen Vater länger als nötig aus den Augen lasse? Mir war nicht klar, was er vorhat.« »Hast du immer noch nicht geschluckt, dass euer Deal gestorben ist?« Phil schiebt ihren Kopf zwischen die beiden Sitzlehnen. »Ist es wirklich vorbei?« Sie schaut mich so durchdringend an, als müsse sie meinen Gedanken Beine machen. »Nehmen wir mal an, Nondas ist tot. Dann weiß nur noch sein Partner von den Internet-Auktionen.« »Hör auf damit. Wir haben momentan andere Sorgen.« »Im Gegensatz zu dir lasse ich mir zweihunderttausend Euro nicht beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten durch die Lappen gehen. Gibst du immer so schnell auf?« »Warum hast du mir nichts von ihr erzählt?«, fragt Phil. »Ihr scheint euch ziemlich gut zu kennen. Ist sie dein Ersatz für Lidia?« 224
»Spinnst du jetzt rum?«, frage ich. »Besonders helle scheint sie ja nicht zu sein.« »Halt besser den Rand«, entgegnet Zyna mit einem ganzen Arsenal von Drohungen in ihrer Stimme. »Mit meinem Messer glaubst du wohl, dir alles erlauben zu können?« »Du hast mit dem Typen nur geredet. Meinst du, das hat ihn beeindruckt?« »Ich war auf dem richtigen Weg. Wenn man etwas von den Leuten will, darf man sie nicht umbringen. In bestimmten Kreisen kommt das gar nicht gut an.« »Stimmt, hab glatt vergessen, dass du dich in diesen Kreisen bestens auskennst. Deswegen hast du Erdem ja auch auf den ersten Blick erkannt.« »Er hat sich verändert. Sein Gesicht ist …« Phil sucht nach Worten. »Aber in Livorno, als mein Vater dran glauben musste, da war er doch noch der Alte? Warst du da auch auf dem richtigen Weg?« »Was hast du dir da angelacht, Viktor? Benutzt sie ab und zu mal ihren Verstand, oder baut sie ohne Unterbrechung Scheiße?« »Dreht jetzt nicht durch! Er ist stehen geblieben.« Ich fahre rechts ran. Ein Kleinlaster gibt uns Deckung. »Ein Hochhaus«, sage ich und beuge mich vor, um es besser erkennen zu können. Der Winkel ist zu spitz. Ich sehe nur, dass ein Teil des Hauses nach etwa sieben Stockwerken in einer Art Dachterrasse endet. »Sieht aus wie ein Bürogebäude.« »Bisschen runtergekommen«, meint Zyna. »Du hast bessere Sicht. Was macht er?« Sie lehnt sich etwas zur Seite. »Er sperrt die Tür auf.« 225
»Das heißt, jetzt sind wir an der Reihe.« Wir verlassen den Bus durch die Ladeklappe am Heck. Phil und ich schicken uns an voranzugehen. Zyna hat ihre Daunenjacke ausgezogen. Darunter trägt sie ein schwarzes TShirt, an den Füßen Springerstiefel. Sie drängt sich zwischen uns durch, das gezückte Messer in der Hand. Phil hält sie an der Schulter fest. Noch befinden wir uns im Schutz des Busses. Sie zeigt Zyna, wie man die Klinge mit dem Unterarm abdeckt. Für einen Moment ist Zyna verblüfft. Dann tippt sie Phil anerkennend auf die Schulter. Als ich um die Ecke spähe, steht Erdem in der Tür und unterhält sich mit jemandem im Inneren des Gebäudes. Er schaut sich um, überprüft, ob ihm jemand gefolgt ist. Ich drehe mich weg und warte ein, zwei Sekunden. Dann schiebe ich mich wieder an die Kante des Campers vor. Er betritt das Gebäude. Wir rennen los.
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ch erwische die Tür gerade noch, bevor sie ins Schloss fällt. Der Mann, der zur Bewachung des Eingangs abgestellt ist, liegt hinter der Schwelle und hält sich den Unterleib. Er wimmert qualvoll. Blut wird gleich zwischen seinen Fingern hervorquellen, das geht ganz schnell, da unten gibt’s mehr als genug davon. Zyna packt ihn mit einer Art Rettungsgriff und zerrt ihn weiter nach drinnen. Wir verfrachten ihn hinter den Empfangsschalter. Ich passe auf, dass ich meinen Seniorenaufzug nicht mit dem Blut vollsaue. Als wir ihn loslassen, stöhnt er laut auf. Bevor ich etwas dagegen unternehmen kann, stößt Zyna ihm das Messer in die Kehle. Zweimal. Dreimal. Sie ist klein, hat aber richtig Kraft in den Armen, das kenne ich von ihren Behandlungen. Der Mann gibt keinen weiteren Laut von sich. Auf seinem hellblauen Anzughemd sammeln sich dunkle Klümpchen. Sie sehen aus wie gehackte Leber. Durch die getönten Scheiben kann ich erkennen, dass niemand von uns Notiz genommen hat – außer einem älteren Jungen. Er formt die Hände zu einem Gucktrichter und presst seinen Kopf gegen die Fensterscheibe. Phil geht nach draußen und redet mit ihm. Sie bietet ihre Überredungskünste auf, beugt sich zu ihm vor, legt ihm eine Hand auf den Arm. Wenn sie will, ist sie sehr gut darin, jemanden mit einer aus der Luft gegriffenen Geschichte zu beruhigen, wir alle wollen so etwas hören, wenn wir gerade gesehen haben, wie jemand auf offener Straße niedergestochen und von ein paar seltsamen Gestalten weggeschleift wurde, wir hungern nach einer 227
einigermaßen passablen Begründung, damit wir in der Lage sind, unseren Weg fortzusetzen, ohne pausenlos mit der Angst zu leben, es könne uns an der nächsten Straßenecke genauso gehen. Vielleicht ist dem Mann einfach nur schlecht geworden, vielleicht ist er betrunken, vielleicht hat ihm die Frau, die gar kein Messer in der Hand hatte, sondern einen zusammenklappbaren Regenschirm, ein zweideutiges Angebot gemacht – oder er ihr. Vielleicht ist er gar nicht tot und schläft nur. So viele Möglichkeiten. Was Phil dem Jungen auch erzählt – er scheint es ihr abzunehmen. Schließlich grinst er verlegen und geht weiter. Ich öffne die Eingangstür, lasse Phil herein und schließe sie wieder. Ein Mann in dunkelblauer Livree. Er kommt aus einem Nebenraum, bringt Kaffeegeruch mit. In seiner Hand eine dampfende lasse. Sein Blick erfasst Zyna. Bevor die Tasse zu Boden fällt, berührt die Spitze des Messers seine Kehle. »Der Mann, der gerade hereinkam. Wo ist er hin?« Es dauert nicht lange, bis wir herausfinden, dass Erdem im zehnten Stock ein Appartement bewohnt. Er scheint den Aufzug genommen zu haben, der sich gleich neben dem Empfangsschalter befindet. Mehr kann der Mann nicht mehr sagen. Zyna reinigt das Messer an seiner Uniform. Diese Geste widert mich an. Viel Sinn macht sie ohnehin nicht, denn ihre schwarzen Klamotten sehen inzwischen so verdreckt aus, als sei sie durch einen Sumpf gewatet. »Wäre das nicht deine Aufgabe gewesen?«, sagt sie zu Phil und geht zu dem Aufzug. Die beleuchteten Ziffern über der Tür stehen auf 10. Phil starrt stumm auf die Leichen. Sie schließt die Augen. Einen Moment lang scheint es. als kippe sie nach hinten. Dann tritt sie vor Zyna. »Schluss damit.« 228
»Es fühlt sich gut an«, erwidert Zyna. »Dein Messer ist scharf.« »Gib es mir.« Phil umfasst die Klinge mit der bloßen Hand. »Möchtest du es selber tun?«, sagt Zyna. »Es ist leichter, als ich dachte.« Sie macht keine Anstalten, das Messer loszulassen. »Es gehört mir«, beharrt Phil. »Ich will es wiederhaben.« »Bist du sicher? Du benutzt es ja nicht. Das ist der Unterschied zwischen uns beiden. Du besitzt das Messer, aus welchen Gründen auch immer. Und ich töte damit.« Sie stehen sich schweigend gegenüber. Keine von beiden bewegt sich. Phil ist einen Kopf größer als Zyna. Mit ihrer Strickmütze könnte man sie auf den ersten Blick für einen Jungen halten. Zynas Haarsträhnen kleben an ihren Schläfen. »Du verletzt dich, wenn du es festhältst«, sagt sie. »Außerdem ist das jetzt ein Tatwerkzeug.« Phils Blick wandert zu mir. Ich bin gerade dabei, dem toten Wachmann von der Eingangstür seine Pistole abzunehmen. Er hatte nicht mal Zeit, sie unter seiner Achsel hervorzuholen. »Was tust du da?«, fährt sie mich an, ohne ihre Hand zurückzuziehen. »Denkst du, ich gehe da ohne eine Waffe hoch?« »Lass das Ding liegen!« »Vergiss es, Phil. Das wird nicht einfach da oben.« Sicherheitshalber untersuche ich auch noch den uniformierten Pförtner. Er ist unbewaffnet. Verdammt! Zyna muss mit diesem Gemetzel aufhören. Schon drei Tote mit dem Bodyguard im Bahnhof. Nichts davon geht als Notwehr durch. Ihr Vater Gwizdek setzte Leute, die ihm nichts getan hatten, nur außer
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Gefecht. Er brachte sie nicht einfach um. Und er war ein richtiger Killer. Ich komme hinter dem Empfangsschalter hervor. »Wenn wir jetzt nichts unternehmen, stößt er Lidia vielleicht von dem Hochhaus runter. Er spritzt ihr noch eine Dosis und lässt sie dann den beschissensten Junkie-Tod sterben, den man sich vorstellen kann.« Das geht mir schon die ganze Zeit durch den Kopf. Da Erdem von der Camcorder-Aufnahme erfahren hat, muss er Lidia möglichst schnell loswerden. Die Tatsache, dass der Bodyguard vom Bahnhof tot ist, kommt ihm sogar gelegen. Erdem könnte ihm Lidias Tod in die Schuhe schieben. »Sein Appartement liegt nur ein paar Stockwerke höher als die Dachterrasse«, dränge ich. »Wir müssen uns beeilen.« »Warum wisst ihr so genau, was zu tun ist?« Phil kämpft mit den Tränen. Endlich lässt sie die Klinge los. »Das bringt alles aus dem Gleichgewicht.« Sie deutet in die Richtung der beiden Leichen. »Die sind unschuldig. Sie haben absolut nichts mit uns zu tun.« »Wir finden Lidia und holen sie da raus.« Ich entsichere die Waffe. Tony hat mir das gezeigt. Wenn dieser Möchtegern-Mafioso nicht gewesen wäre, könnte ich mich nicht mal zur Wehr setzen. »Wie viele Menschen willst du noch umbringen?«, fragt Phil Zyna. »So viele wie nötig.« »Wenn du dich nur sehen könntest! Du bist im Blutrausch.« »Innendrin bist du auch so.« Zyna verzieht keine Miene. »Du hast nicht die geringste Ahnung, was …« Phil fährt herum. Erst denke ich, dass sie von irgendeinem Geräusch aufgeschreckt wurde. Aber sie greift hinter ihren 230
Rücken und holt ihr Handy hervor. Überrascht schaut sie auf das Display. Dann nimmt sie das Gespräch an. Ich werfe ihr einen fragenden Blick zu. Sie nickt. Erdem. Weiß er, was hier unten vorgefallen ist? Fieberhaft überlege ich, wie wir am besten an ihn rankommen. Wir finden Lidia und holen sie da raus. Das sagt sich so einfach. Ein neuer Plan wäre jetzt nicht schlecht. Phil hört eine Zeit lang zu, während Zyna und ich untätig herumstehen und abwechselnd den Aufzug, die Tür zum Treppenhaus und den Eingang im Auge behalten. Lange können wir hier nicht mehr bleiben. »Natürlich gibt es eine Kopie der Aufnahme«, sagt Phil schließlich. »Du kriegst sie, wenn du nach Como kommst.« Sie will ihn aus der Reserve locken. Er soll einen Schritt machen, den er nicht kontrollieren kann. »Möglichst schnell«, fährt sie fort. »In zwei Stunden. Am Eingang der Villa delle Alpi. Sonst kannst du dir das Video in den Morgennachrichten ansehen.« Vor dem Delle Alpi? Hat sie den Verstand verloren? Zyna fasst den Griffring des Messers fester. Ihre Augen weisen an die Decke. Ich folge ihnen. Ein Kabel über dem Verputz. Seine Farbe hebt sich ein wenig ab, grau statt beige. Dann bemerke ich die Überwachungskamera. Ich lasse meinen Blick darüber hinweggleiten. Ist schwierig, so zu tun, als habe man etwas Lebenswichtiges nicht gesehen. Sich blind stellen. »Du willst ihn sprechen?«, fragt Phil. »Warum?« Sie stutzt, schaut mich ungläubig an. Ich strecke ihr meine Hand entgegen. Nach einem Moment der Unentschlossenheit gibt sie mir das Handy. Es passt ihr nicht, das ist offensichtlich. »Viktor?« 231
Seine Stimme. Wie eine Hand aus einem Grab. Den ganzen Tag über habe ich sie nach mir greifen sehen. »Du hast die Aufnahme gemacht, nicht wahr?« Ich nicke nur, bis mir dämmert, dass er das gar nicht hören kann. Dafür kann er es sehen. »Zufall«, antworte ich. »Dein Fehler.« »Mein Fehler?« »Die Piazza war gut einsehbar. Das hätte jeder mitkriegen können.« »Es gibt keinen Zufall.« Ich spüre einen Luftzug, obwohl das gar nicht sein kann, alle Türen sind geschlossen. Als ich mich unauffällig umsehe, entdecke ich eine zweite Kamera an der Decke. Sofort schaue ich weg. »Weder jetzt noch vor zehn Jahren«, fährt er fort. Ich presse das Handy an mein Ohr, als könnte ich dadurch besser verstehen, was er sagt. Zehn Jahre. Die magische Frist. Mein neues, altes Leben. »Du hast geglaubt, dass deine Frau bei einem Unfall gestorben ist?« Er klingt ehrlich verwundert. »Unfall, Zufall, das liegt ganz dicht beieinander.« »Was weißt du darüber?« Alles erwacht. Sill irgendwann am Abend. Es ist schon dunkel. Regen setzt ein. Sie steigt in den Peugeot, dreht den Zündschlüssel. Phil steht in der Haustür und winkt. Bis morgen, ruft sie. Sill befiehlt ihr, sich schlafen zu legen und nicht auf sie zu warten. Der Wagen holpert über einen Schotterweg auf die Straße. »Später. Zuerst die Aufnahme.« Er legt auf. Instinktiv will ich in eine der Kameras blicken, schlage aber gerade noch die Augen zu Boden. 232
»Was hat er gesagt?«, will Phil wissen. »Er weiß etwas über deine Mutter«, gebe ich zurück. »Aber …« »Schluss damit!« Zyna nimmt mir das Handy ab, bevor ich etwas dagegen tun kann, und schaltet es aus. Als Phil die Hand danach ausstreckt, steckt Zyna es ein. »Das glaubst du ja wohl selbst nicht, dass Erdem auf dein Gequengel eingeht.« »Halt dich da raus!«, fährt Phil sie an. »Wir gehen jetzt da hoch. Wenn’s dir nicht passt, kannst du dich in die Ecke stellen und darauf warten, dass Erdem dich abholt. Scheinst ja ziemlich dicke mit ihm zu sein.« »Sieh zu, dass du von hier verschwindest. Du bringst Lidia in Gefahr.« »Was willst du dagegen tun?« »Ich scheiß auf dich! Kein Wunder, dass Gwizdek …« Eine Faust trifft sie an der Schulter. Phil taumelt zurück. Zyna schickt einen Fußtritt hinterher, direkt in die Rippen. Schützt die Kevlarweste auch vor Knochenbrüchen? Phil geht zu Boden, ist aber sofort wieder auf den Beinen. Entgeistert starre ich die beiden an. Zyna wirft mir einen raschen Blick zu, das Messer in der linken Hand. Zwei Blicke an die Decke. Die Überwachungskameras. Erdem sieht, wie Phil mit der Frau kämpft, die den Bodyguard und zwei seiner Männer erledigt hat. »Hört auf damit!«, rufe ich wie ein Volltrottel, der sich vor Schreck nicht rühren kann. Phil versetzt ihr eine Serie von Schlägen und Sidekicks. Zyna wehrt sich kaum, steckt die Schläge weg, als wären sie nichts. Sie kontert mit dem Messer. Ein Schnitt erscheint auf Phils Oberschenkel. Der Stoff ihrer Trekking-Hose klafft auseinander.
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Ich versuche einzugreifen. Zyna holt mich mit einem Tritt von den Beinen. Als ich auf den Boden klatsche, sehe ich, dass die Anzeige über dem Aufzug auf die Ziffer 9 springt. Es funktioniert. Phil stößt Zyna die Handfläche ins Gesicht. Zynas Kopf klappt nach hinten, sie macht ein paar Ausweichschritte, greift sich ins Gesicht. Ihre Oberlippe ist aufgeplatzt. Ziffer 7. »Okay, du kleine Schlampe.« Zyna beugt sich nach vorn. Ihre Knöchel werden weiß, wo sie den Griffring des Messers umfasst. Die Klinge des Messers zeigt auf Phils Körper. »Mal sehen, wie viel du einstecken kannst.« Phil ist biegsam, versucht, die Schläge und Stiche abzuwehren. Ein zweiter Schnitt auf ihrer Hose. Der erste blutet bereits. Wenn ich’s nicht besser wüsste, würde ich das für einen Scheißmodegag halten. Zyna geht voll in ihrer Rolle auf. Ich muss den Drang unterdrücken, Phil zu Hilfe zu kommen, tue so, als hätte ich eine Beinverletzung und könne mich nicht bewegen. Ziffer 3. Die beiden atmen schwer, lassen kurz voneinander ab. Ich muss jetzt eine Entscheidung treffen. Der Bluff – wenn es denn ein Bluff sein sollte – ist ja ein guter Gedanke. Aber wer steckt in dem verfluchten Aufzug? Phil greift wieder an. Ihre Schläge zielen auf Zynas Messerhand. Diesmal weicht Zyna aus und erwischt Phil am Körper. Das Messer dringt durch den Stoff ihres dünnen Pullis, etwas unterhalb ihrer Schulter. Da liegt das Herz. Als ob es nicht genug wäre, versetzt ihr Zyna noch einen Kick gegen die Schläfe.
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Ich entsichere die Pistole, halte mich nicht damit auf, den Hahn zu spannen. Dann ziehe ich den Abzug voll durch. Double-Action. Die Anzeige bleibt bei Ziffer 1 stehen. Die Druckknopfleiste ist hinüber, Funken sprühen heraus, das Pfeifen des Querschlägers hallt durch den Raum. Wenn der Aufzug einen Notstop hat, bleibt er jetzt stecken. Der Kurzschluss hält ihn auf. Er muss stecken bleiben, selbst wenn er genau auf der ersten Etage angekommen ist. Die Türen blockieren, niemand kommt heraus. Zumindest nicht so schnell. Ich begebe mich zum Empfangsschalter, steige über den toten Wachmann und den Pförtner und suche nach dem Sicherungskasten. Als ich ihn gefunden habe, lege ich einen Kippschalter nach dem anderen um, drehe den Saft ab, um ganz sicher zu gehen. Allerdings habe ich keine Ahnung, ob der Aufzug nicht an einem separaten Stromnetz hängt. Die Eingangshalle wird dunkel. Neben dem Sicherungskasten steht eine Stabtaschenlampe. Ich nehme sie mit. Zyna hat Phil inzwischen in den kleinen Nebenraum geschleift, in dem sich der Pförtner einen Kaffee gemacht hat. Keine Kameras hier. Ich setze ihr den Lauf der Pistole aufs Auge. Sie lächelt, was wegen der gespaltenen Oberlippe ziemlich gruselig aussieht. Dann wedelt sie mit der Handfläche vor ihrer Stirn herum. »Bewusstlos«, flüstert sie. Ich untersuche Phil, ertaste den Puls. Das Kevlar hat den Stich abgehalten. Mein Mädchen ist am Leben. Ich würde Zyna jetzt ganz gerne die Pistole ins Gesicht rammen. Aber das hat Zeit. Wir legen Phil auf eine Couch. Ich drehe ihren Körper mit dem Rücken zur Lehne. Mehr kann ich nicht tun. Die Treppe. Egal, was uns da erwartet. 235
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ls wir auf der Höhe des ersten Stocks angelangt sind, werfen wir durch die Glastür des Treppenhauses einen Blick in Richtung Fahrstuhl. Erleichtert stellen wir fest, dass die Schiebetür geschlossen ist. Ich öffne die Glastür und gehe näher ran. Dumpfe Geräusche dringen aus dem Schacht ein Stück weit über der Tür. Offenbar ist der Aufzug zwischen den Etagen stecken geblieben. »Warum hast du ihr wehgetan?«, frage ich Zyna, während wir die Treppe weiter hochlaufen. Ich halte die Pistole in der einen Hand, die Taschenlampe in der anderen. Hoffentlich hat der einzelne Schuss, den ich unten abgegeben habe, auf der Straße keinen Verdacht erregt. Aber das tun einzelne Schüsse selten. »Es musste echt aussehen.« »Aber es war doch nicht nötig, sie …« »Du hast jedenfalls kapiert, was lief. Aus uns beiden wird doch noch ein Team.« »Das Kevlar …« »Hältst du mich für blöd?« Sie wischt sich etwas Blut aus dem Mundwinkel. »Das wusste ich längst. Hast du gedacht, ich bringe sie um?« »Du hast sie verletzt.« »Die paar Kratzer auf den Beinen wird sie schon vertragen. Sie sind nicht tief. Außerdem macht das ein Mädchen interessant.« Narben machen immer nur Männer interessant, bei Frauen wirken sie entstellend. Die Stufen nehmen kein Ende. Zehn Stockwerke. In dieser Zeit kann ziemlich viel passieren. »Womit rechnest du da oben?«, frage ich. 236
»Wir müssen erst mal reinkommen.« Sie deutet auf meine Pistole. »Hätte gar nicht gedacht, dass du damit umgehen kannst.« »Du weißt ’ne ganze Menge nicht.« Ich habe ihr nie etwas von meinem misslungenen Anschlag auf Ferro erzählt. Zyna kennt mich nur als gewaltfreien Internet-Betrüger. »An deiner Stelle würde ich mich etwas zurückhalten.« »Dann würden uns jetzt diese beiden Bullen vorschreiben, was wir zu tun und lassen hätten.« »Das wäre vielleicht gar nicht so schlecht.« »Träum weiter.« Wir kämpfen uns die letzten beiden Treppen hoch. Endlich erreichen wir das zehnte Stockwerk. »Und was jetzt?«, frage ich. »Du hättest den Pförtner nicht töten sollen. Welche Tür sollen wir nehmen?« Viele stehen nicht zur Auswahl. Wir gehen einen langen Gang hinunter. Hier gibt es keine Türnummern wie in einem Hotel. Zyna versucht sich zu orientieren. Ich mache mir im Geiste ein Bild des Grundrisses. Erdem verfügt sicher über großzügige Räumlichkeiten. Das heißt … Zyna nimmt Anlauf und springt mit den Füßen voran gegen eine Tür. Sie fliegt aus den Angeln. Ich reiße die Pistole hoch. Nichts passiert. Mein Blick fällt auf einen verwaisten Sekretärinnenplatz. Dahinter ein Großraumbüro. Keine Ahnung, was die hier treiben. Jedenfalls haben sie es nicht nötig, außen ein Schild anzubringen. »Dann die andere Seite.« Zyna dreht sich um und nimmt die gegenüberliegende Tür ins Visier. »Willst du die Pistole?« »Nein danke. Ich bleibe bei dem hier.« Sie zückt das Messer, wiegt es kurz in der Hand. 237
»Woher …« »Mein Vater. Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, vor etwa einem Jahr. Wir haben uns heimlich in Warschau getroffen. Er hat mir einiges beigebracht.« Offenbar setzen die Frauen in meiner Umgebung alles daran, sich in jeder Situation behaupten zu können, mit Händen, Füßen und Messern. Sie probiert es auf die gleiche Weise wie zuvor, prallt zurück. Die Tür gibt nicht nach. Eine Reihe von Schüssen ist nötig, um das Schloss aufzusprengen. Zur Schalldämpfung wickele ich meine Windjacke um die Waffe. Zyna wirft sich gegen die Tür. Wir sind drin. Ein Appartement. Nachdem wir einige Augenblicke gewartet haben und sich nichts geregt hat, lasse ich den Strahl der Taschenlampe herumgeistern. Viel Hartholz am Boden, an den Wänden. Etwas altmodisch, denke ich. Lautlos bewegen wir uns durch den Vorraum, der durch Rauchglasscheiben vom Wohnbereich abgetrennt ist. Ich gehe über ein Zebrafell. Als Nächstes fällt mein Blick auf einen Leoparden. Er steht ausgestopft vor einer Fensterfront. Durch die Scheiben fällt ein fahler Lichtschein herein. Ich erwarte jetzt nur noch einen Elefantenfuß, der hier als Papierkorb nützliche Dienste tut. Tatsächlich stolpere ich im Halbdunkel über so ein Teil. Es ist ein Hocker oder eine Trommel, so genau lässt sich das nicht sagen. Ich will dieses Großwildjägergehege schon wieder verlassen, als ich eine Ansammlung von Flaschen auf einem Couchtisch erkenne. Daneben liegt eine lederne Sporttasche. Ein Sturmgewehr ragt daraus hervor, mit gebogenem Magazin. So eine Waffe können die im Aufzug nicht gebrauchen. Rasch probieren wir ein paar Türen aus. Ein Tagungsraum. Ein geräumiges Badezimmer. Wir treffen niemanden, alles ist dunkel und still. 238
Schließlich gelangen wir in einen Raum mit einem monströsen Himmelbett. Ich will weitergehen, aber Zyna hält mich zurück. Sie deutet auf eine Gestalt, die mit dem Rücken zu uns auf einem flauschigen Teppich sitzt. Ich erstarre. Eine Frau, nackt, soweit ich das aus ihrer Silhouette schließen kann. Ich lege die Taschenlampe auf den Boden und nähere mich, beide Hände fest um den Griff der Waffe geschlossen. Ich beschreibe einen Bogen, um genügend Abstand zu halten. Das Bett ist mit allerlei Apparaturen ausgestattet, Kabel, Schläuche, Gestänge, wie in einem Krankenhaus. An der Wand daneben befindet sich eine Computer-Workstation. Darüber ist eine Reihe Bildschirme angebracht. Die Geräte sind tot. Dann erst bemerke ich eine weitere Person. Mit einer Weste in leuchtendem Orange und silbernen Reflektorstreifen. Erdem. Er lehnt mit dem Rücken an einem der Bettpfosten. Eine Spritze steckt in seinem Oberarm. Seine geschlossenen Lider flattern wie die Walzen eines Glücksspielautomaten, die Finger greifen in die Luft, seine Beine zucken unkontrolliert. Neben ihm liegt eine kleine Pistole. Ich kicke sie weg. »Endlich kommst du.« Lidias Stimme. Ich drehe mich zu ihr um. Sie ist es. Neben ihr liegt eine Art Kittel auf dem Flokati. Sie scheint ihn sich mit einer großen Kraftanstrengung vom Leib gerissen zu haben, die Bändel sind gerissen. Langsam gehe ich dichter ran. Ihre Augen sind weit geöffnet. Sie stehen in Flammen. Das Licht entströmt ihnen wie einst, als sie so alt wie meine Tochter war. Ich kann dabei zusehen, wie sie ihre verbliebenen Kräfte sammelt. »Ich habe lange gewartet.« Lidias Brüste sind so rund und makellos, wie ich sie in Erinnerung habe. Das einzig Narbenlose an ihrem Körper, darauf hat sie immer geachtet. Ihre dunkelbraunen, vom 239
Schweiß verklebten Haare fallen auf ihre Schultern. Um den Bauch trägt sie einen Verband. Er hebt sich von ihrer Haut ab wie ein Fleck im Fell eines Tieres. Ihr Gesicht wirkt gealtert. »Der Weg war schwer. Ich bin gekommen, sobald ich konnte.« Ich nehme sie in den Arm, überrascht, dass sie bei Bewusstsein ist. Mit einem Seufzer, als wiche der letzte Rest Leben aus ihr, steht sie auf. »Kannst du gehen?« Sie nickt. Ich hülle sie in den Flokati. »Warst du das?« Ich deute auf Erdem. »Raus hier«, sagt sie mit heiserer Stimme. Ich zögere, beginne sie abzutasten. »Bring. Mich. Weg.« Sie braucht etwas zum Anziehen. In einem Stahlschränkchen auf Rollen finde ich ein paar von ihren Kleidungsstücken. Mit Zynas Hilfe streife ich ihr ein T-Shirt über und stecke sie in eine Jeans, den oberen Knopf lasse ich offen. Lidia lächelt, als ob sie sagen wollte: Das hast du ja noch nie mit mir gemacht. »Was ist mit ihm?«, frage ich und deute auf Erdem. Ich halte ihr die Pistole hin. »Er würde es nicht mal spüren.« »Wir nehmen ihn mit.« Zyna, die bis jetzt schweigend daneben gestanden ist, greift unter Erdems Achseln und lädt ihn sich auf die Schultern. »Der wird uns noch ’ne Menge Freude bereiten.« Erdems Gewicht lässt Zyna einknicken. Mit einen Ächzen richtet sie sich wieder auf. »Jetzt müssen wir nur noch das Band der Überwachungskamera finden.«
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Ich gehe zu den Bildschirmen. Es sind drei. Unter jedem befindet sich eine Aufhängung mit einem Videorecorder. Auf den Dingern ist kein Strom. Zyna lässt Erdem zu Boden fallen und hebelt die Kassetten mit dem Messer aus den Geräten. Sie rupft die Bänder heraus, achtet darauf, dass sie die bespielten Abschnitte erwischt, und ordnet sie zu einem Haufen. Ich hole eine Flasche Whisky aus dem Wohnraum und gieße sie darüber. Mit einem Feuerzeug zündet Zyna die Bänder an. Als wir das Wohnzimmer durchqueren, nimmt sie im Vorbeigehen das Sturmgewehr aus der Sporttasche und hängt es sich um den Hals. Ich lasse die Taschenlampe zurück, stecke die Pistole in meinen Hosenbund. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, verlassen wir das Appartement. Ich stütze Lidia. Sie ist ziemlich wackelig auf den Beinen, bleibt immer wieder stehen. Unfassbar, dass sie in diesem Zustand Erdem überwältigt hat. »Der Kerl ist schwerer, als ich dachte«, keucht Zyna. »Jede Menge Muskeln. Wir sollten ihn doch erschießen.« »Schaffst du’s?«, frage ich. »Wenn du auf den Weg achtest. Ich bin beschäftigt.« Die Treppen sind für Erdem nicht gerade angenehm. Zyna zerrt ihn an den Füßen hinter sich her, sein Kopf holpert über die Stufen. Lidia beißt die Zähne zusammen und schafft es weitgehend ohne meine Hilfe. Wir machen hin und wieder eine Pause. Nach einer Weile sind wir im ersten Stock angelangt. Die Aufzugstür steht offen. »Bleib hier sitzen«, sage ich zu Lidia und deute auf eine Treppenstufe. Sie lässt sich wortlos nieder und hält sich am Geländer fest. Zyna legt Erdem ab und richtet ihn auf. Er murmelt unverständliches Zeug. 241
Als sich Zynas Hände um das Sturmgewehr schließen, zuckt sie zusammen und kippt zur Seite. Derjenige, der Zyna eine Kugel verpasst hat, versucht noch einen weiteren Schuss anzubringen. Ich lasse mich fallen. Für einen Moment sehe ich die Fotokopien von Ferro vor mir, mit denen ich in der Lomellina geübt habe. Dann bleibt ein Teil seines Schädels am Treppengeländer kleben. Das waren jetzt sechs Kugeln. Wie viele sind noch in dem Magazin? Ein Entschluss. Ich gehe Stufe für Stufe hinunter. »Ferma!«, befiehlt eine Stimme. Ich bleibe stehen. »La ragazza. She will die!« Eine weitere Stufe, hinab in den Abgrund, ein Arm im Leben, der andere im Nichts. Jetzt sehe ich den zweiten Mann. Er hält seine Pistole an Phils Kopf. Sie würde sterben, ohne es zu wissen. Das Letzte, was sie erlebt hat, würde Zynas Bluff sein. Er sieht mich, spannt den Hahn. Ein junger, ängstlicher Typ. Seine Augen sind weit geöffnet, Zielscheiben. »Dammi la pistola!«, schreit er. »Dammi!« »Leave her!« »Dammi la pistola!« Ich lasse die Waffe fallen, gehe zugleich eine weitere Stufe nach unten. Zwei Meter trennen uns noch. Er nimmt die Pistole von Phils Kopf und visiert mich an. »Lass meine Tochter los«, sage ich ganz ruhig. Wieder eine Stufe. »Erdem è morto. È finito.« Er wird noch nervöser. »Non lo credo. Sai un bugiardo!« Ich bleibe stehen. »Sai solo.« Solange ich rede, schießt er nicht. Denke ich mir. 242
»Wer von uns beiden ist in der besseren Position? Ein Lügner? Oder einer, der ganz allein ist?« Das Messer bleibt in seiner Kehle stecken. Er schaut mich zweifelnd an, Phils Kopf in seiner Armbeuge. Langsam richtet er die Waffe wieder auf Phil. Seine Augen treten noch weiter hervor, fixieren mich. Zyna hebt meine Pistole auf. Der Mann gibt ein gurgelndes Geräusch von sich. Sie schleppt sich vornübergebeugt die Treppe hinunter, eine Hand an die Seite gepresst. Wenn ich mich jetzt bewege, drückt er ab. Wenn ich nur einen Finger rühre, ist es aus. Kein Rauschen von Platanenblättern im Wind. Zyna bleibt am Fuß der Treppe stehen. Sie taumelt wie eine alte Frau, die sich zu viel zugemutet hat. Schwer sinkt sie auf die Knie, ringt um Atem. Der Mann beobachtet sie. Die Ader an seiner Schläfe pulsiert. Ich kann seinen Finger am Abzug sehen. Das vordere Glied. Es zittert. Dann erschießt sie ihn.
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n der ersten Ampel werde ich die verdammten Klamotten los. Ich sitze mit bloßem Oberkörper hinter dem Steuer, greife nach hinten in den Bodybag mit meinen Sachen und ziehe mir ein T-Shirt über den Kopf. Zyna sitzt zusammengekrümmt auf dem Beifahrersitz. Polizeiautos mit Blaulichtern und Sirenen kommen uns entgegen. Es klingt wie die entfesselten Höllenscharen. Sie heulen vorbei. Als die Ampel auf Grün springt, fahre ich weiter. Ich hatte den Bus in eine Gasse gefahren, die das Hochhaus von dem Nachbargebäude trennt. Durch einen Seiteneingang lud ich so schnell wie möglich alle ein. Phil, Lidia, Erdem, dem ich noch einen Schlag mit dem Pistolengriff verpasst hatte, damit er auch sicher Ruhe gibt. Die drei liegen besinnungslos auf der Ladefläche, aufgereiht wie die Heringe. Zyna schaffte es allein, aber so, wie sie blutet, wird sie nicht mehr lange durchhalten. »Lief doch ziemlich glatt«, sagt sie und spuckt auf die Bodenmatte. »Das haben wir gut hingekriegt.« Wir befinden uns auf einer Ausfallstraße Richtung Autobahnring. Ich fahre so schnell, wie es der Verkehr zulässt, komme mir vor wie am Steuer eines Leichenwagens, dem bald das Benzin ausgeht. Obwohl die Tanknadel auf Dreiviertel steht. »Willst du sterben?«, frage ich. »Nicht, bevor ich mir Erdem vorgeknöpft habe.« »Dann halt die Klappe!« Kurz vor der Mautstation halte ich auf dem Seitenstreifen und suche nach dem Verbandskasten. Er ist unter dem Beifahrersitz. Im Schein der Innenbeleuchtung des Busses lege ich Zyna eine 244
Art Druckverband an, keine Ahnung, ob das etwas nützt. Zumindest stillt es die Blutung ein wenig. Ich kann nicht feststellen, wie schwer es sie erwischt hat. Die Kugel ist irgendwo an ihrem Rippenansatz eingedrungen, an einer Stelle, an der ich keine größeren Organe vermute. Aber das hat nichts zu sagen. Ich fessele Erdem mit Klebeband, das man zum Tapen benutzt. Die Spritze in seinem Oberarm ist irgendwo verloren gegangen. Ich wünsche ihm möglichst scheußliche Träume. Mir fällt ein, dass er im Bahnhof immer vor sich hin geredet hat. Im Kragen seiner Weste entdecke ich ein Mikro. Ich nehme die Pistole, mit der ich eben einen von Erdems Männern getötet habe, und hämmere mit dem Griff auf dem Mikro herum – Sender, Empfänger, das kann man alles orten. Genauso verfahre ich mit dem Kopfhörer, nachdem ich ihn aus seinem Ohr gepult habe. Ich schalte auch sämtliche Geräte aus, die sich in dem Camper befinden. Keine verdammten Signale, die man abhören oder zurückverfolgen könnte. Phil ist noch besinnungslos. Ihr Puls ist so deutlich zu spüren wie das Pochen im Schädel, wenn ich zu viel getrunken habe. Ein erlösender Schmerz, der mir signalisiert: Es ist noch nicht zu Ende, es geht weiter, irgendwie. Ich lege sie etwas bequemer hin, damit ihr der Rücken nicht wehtut, wenn sie aufwacht. Als sie noch in ihrem Kinderbett lag, war das erheblich einfacher. Ich brauchte nur ihren Po ein wenig anzuheben. Er war leichter als eine Pistole, der ganze Körper war leichter. Diese verflixten Waffen sind so schwer, als müssten sie dafür sorgen, dass man alle Schuld der Welt auf sich nimmt. Als ich alle halbwegs versorgt habe, setze ich die Fahrt fort. Wir kommen an einem Anhalter vorbei. Auf seinem Schild steht Svizzera. An der Mautstation ziehe ich ein Ticket. Zyna verliert das Bewusstsein. Das Kontrollhäuschen ist leer. Während der Fahrt gelingt es mir, an nichts zu denken. Ich 245
beobachte den Kilometerzähler, verfolge stumm die Bewegung der Walzen. Im Gegensatz zu einer Digitalanzeige suggerieren sie einem noch so etwas wie Fortkommen. Diese elektronischen Displays in Grün, Blau und Rot könnten theoretisch alles messen: Gewicht, Blutdruck, die Zeit. Ein paar stinknormale Zeiger sind da schon ehrlicher. Nach einer Weile schaue ich nur noch in die Nacht. Ich meide die Lichter der entgegenkommenden Autos. Sie blenden mich. Ist das erlaubt, dass die so hell sind? Als Phil wieder zu sich kommt, schalte ich die Innenbeleuchtung kurz ein, damit sie sich orientieren kann. Beim Anblick von Erdem kriegt sie einen Riesenschreck. Ich erkläre ihr, was passiert ist, kann aber nicht sehen, wie sie es aufnimmt. Sie hat sich aufgesetzt, betrachtet die beiden reglosen Körper neben sich. Schließlich tastet sie ihren eigenen Körper ab. Sie kann nicht glauben, das Zyna nur geblufft hat, untersucht die Schnitte an ihren Beinen. »Das hat ihr Spaß gemacht, mir’s mal richtig zu zeigen.« »Es hat seinen Zweck erfüllt«, gebe ich zurück und schalte die Beleuchtung wieder aus. »Und deswegen hast du nichts getan, um mich zu verteidigen. Weil es seinen Zweck erfüllt hat?« »Ich wusste nicht, was …« »Du stehst auf sie, stimmt’s? Du fährst auf diese Brutalo-Tour ab. Du hast es dir in ihrer Rache bequem gemacht.« »Wenn Gwizdek nicht gewesen wäre …« »Gwizdek hat damit doch gar nichts zu tun. Gibt es irgendetwas, was sie will außer Zerstörung? Sie stürzt uns alle ins Unglück.« »Sie hat uns geholfen. So wie man einem Blinden hilft.« »Ach ja?«
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Sie geht nach vorn, untersucht Zyna. Als sie das Messer findet, nimmt sie es an sich. Mit einer energischen Bewegung steckt sie es in die Scheide. »Jetzt kann sie uns nicht mehr helfen.« »Du tust ihr Unrecht. Sie hat dir das Leben gerettet.« »Muss ich ihr dafür dankbar sein?« »Genau. Wenn sie den Kerl nicht erschossen hätte, wärst du jetzt tot.« »Sie mischt sich in Dinge ein, von denen sie keine Ahnung hat. Sie stört.« Phil hat ihr Handy in einer von Zynas Taschen gefunden. Sie nimmt es an sich. »Nicht mehr als du«, sage ich. »Schau dir doch nur mal an, was sie angerichtet hat!« Sie deutet auf Lidia und Erdem. »Wo führt das hin?« »Knallst du jetzt total durch? Komm mal von deinem hysterischen Anfall runter! Soll ich Zyna etwa rausschmeißen, damit es dir besser geht?« Sie sagt eine Weile lang nichts. Dann: »Sie braucht einen Arzt. Sonst krepiert sie uns hier.« »Das entscheiden wir, wenn wir bei Marco sind. Vielleicht kann er uns helfen.« »Du willst zu Marco?« »Wohin sonst? Im Delle Alpi wird Batu vielleicht wieder auftauchen. Außerdem ist es zu öffentlich. Auf dem Monte Bisbino vermutet uns niemand. Vielleicht kennt Marco einen Arzt, der nicht allzu viele Fragen stellt.« Wir diskutieren noch eine Weile, bis sie schließlich einwilligt. Als wir unser vorläufiges Ziel geklärt haben, wendet sie sich Lidia zu.
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Phil rüttelt sie wach, redet auf sie ein. Lidia dämmert immer wieder weg. Gelegentlich gibt sie ein Stöhnen von sich. Was Erdem ihr auch immer gegeben hat, ein Teil davon arbeitet sich noch durch ihren Körper. Die Entführung ist inzwischen mehr als einen Tag her. Wahrscheinlich hat er ihr noch mehr Drogen gespritzt, wie Phil und ich vermutet hatten. Ich richte den Blick wieder auf die Straße und hefte mich an die Rücklichter eines langsam fahrenden PKW's. Das hilft mir, durch die Nacht zu navigieren. Meine Konzentration lässt nach den Geschehnissen der letzten Stunden allmählich nach. Also folge ich dem PKW in gleich bleibendem Abstand. Solange er in dieselbe Richtung fährt wie wir, kann nichts passieren, denke ich. Es beruhigt ungemein, nicht vorausfahren zu müssen. Ich fühle mich, als säße ich im Nebenraum eines großen belebten Saales. Hinter der Tür tobt die Party, während ich auf dem Boden liege und darauf warte, dass mein Körper zur Ruhe kommt. Tony sitzt am Steuer, Gwizdek auf dem Beifahrersitz, Sill auf der Rückbank. Sie bluten alle. Tony aus dem Bauch, Gwizdek am ganzen Körper und Sill aus einer hässlichen Kopfwunde, die sie sich bei dem Unfall zugezogen haben muss. Würde mich nicht wundern, wenn Musti im Kofferraum mit von der Partie wäre. Sie tragen alle Waffen. Tony und Gwizdek sind sich über die Vorgehensweise nicht einig. Tony will Ferro im Vorbeifahren erschießen, Gwizdek plädiert dafür anzuhalten und ihn näher kommen zu lassen. Sill befiehlt ihnen, sich ein andermal zu streiten und einfach draufzuhalten, schließlich hätten sie nichts zu verlieren. Als sie Ferro erreichen, wird ihr Wagen völlig durchsiebt, eine Bonnie-and-Clyde-Zeitlupe. Aber das macht ihnen nichts aus – sie sind ja schon tot. Geduldig warten sie den Kugelhagel ab. Dann, als die Bodyguards an ihren leer geschossenen Maschinenpistolen herumfummeln, nehmen sie einen nach dem 248
anderen aufs Korn. Es ist wie bei einem Videospiel mit mehreren Teilnehmern. Jeder kommt zum Zug. Sie tun es für mich. Am Ende ist Ferro an der Reihe. Sill steigt zu diesem Zweck extra aus. Der Schäferhund begrüßt sie. Sie tätschelt seinen Kopf. Ferro kniet vor ihr. Sein Gesicht ist nicht zu erkennen.
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ir treffen gegen elf bei Marco ein. Er freut sich tatsächlich, uns so schnell wiederzusehen. Ich nehme ihn beiseite und erkläre ihm das Wichtigste. Keine Storys diesmal, keine Beschönigungen. Wenn er uns nicht bei sich haben will, soll er es lieber gleich sagen. Es könnte ihn in große Gefahr bringen. Er wirft einen Blick auf Phil und ihre zerfetzte Hose und bittet uns herein. Ein »Chiuso«-Schild ist um diese Zeit nicht mehr nötig. Dennoch bringt Marco draußen am Parkplatz eines an. Wir legen Zyna in eines der oberen Zimmer. Marco ruft sofort einen Mann namens Botta an, einen pensionierten Arzt aus Moltrasio, der bei ihm ab und zu einen Hasenpfeffer isst und der Madonna einen Besuch abstattet. Der alte Zausel sieht aus wie eine knittrige, völlig dehydrierte Version von Giorgio Armani, nur ohne Lifting. Einer von diesen Spilleritalienern, die zweihundert Jahre alt werden und ohne Punkt und Komma quatschen. Als er Zynas Verletzung sieht, faselt er gleich was vom Krieg. Damals sei er leider noch zu jung gewesen. Wofür wollen wir lieber nicht wissen, am wenigsten Zyna, die von einer Pulle Grappa und dem Blutverlust schon völlig weggetreten ist. Aber Botta kennt sich mit Schusswunden aus. Vielleicht ist er vor sechzig Jahren nicht alt genug gewesen, um sie anderen zuzufügen, doch von ihrer Behandlung scheint er einiges zu verstehen. Er holt die Kugel ohne größere Probleme heraus und verpasst Zyna einen dicken Verband. Es sei nur eine Fleischwunde, sie habe Glück gehabt, dass ihre Nieren nichts abgekriegt haben. Dann näht er mit ein paar Stichen ihre Oberlippe. Die Blutergüsse an ihrem Körper, die von Phils Schlägen herrühren, 250
behandelt er mit einer Salbe. Er arbeitet schnell und konzentriert, lässt sich durch nichts ablenken. Seit er mit Zynas Behandlung begonnen hat, ist er schweigsam geworden und spricht nur so viel wie unbedingt nötig. Als er mit Zyna fertig ist, kümmert er sich um Phils Schnittwunden. Ein paar Klammerpflaster reichen dafür aus. Die Schnitte seien nur oberflächlich, versichert er, sie würden bestimmt gut verheilen. Mit einem Stirnrunzeln registriert er den Che-Guevara-Aufdruck auf ihrem Tank-Top. Sie bedankt sich bei ihm, schlüpft in eine von Marcos CargoPants und zieht ihren Rolli wieder über, der an der Brust einen Riss aufweist. Das Messer, die Scheide und die Kevlarweste hat sie schon verschwinden lassen, während sich Botta um Zyna gekümmert hat. Ich stopfe ihre Trekking-Hose in einen Müllsack zu den anderen blutgetränkten Kleidungsstücken. Ich werde sie im Kamin abfackeln. Das bringt zwar nicht viel, weil Phil, Zyna und ich in dem Bürohaus jede Menge DNS hinterlassen haben. Aber da ich momentan nichts anderes zu tun habe, beseitige ich eben Spuren. Eine Ersatzhandlung ist immer noch besser, als dumm daneben zu stehen, wenn jemandem dabei geholfen wird weiterzuleben. Schließlich lassen wir Botta die schlafende Lidia untersuchen. Wir haben sie in einem anderen Zimmer als Zyna untergebracht – Erdem liegt noch draußen in dem Campingbus. Botta wundert sich über den Bauchverband. Er nimmt ihn behutsam ab und betrachtet eine frische Naht an ihrem Nabel. Erdem scheint noch mehr mit ihr angestellt zu haben, als ihr Heroin und Ketamin zu spritzen. Auge um Auge. Die grausamste Logik von allen. Botta schaut in unsere fassungslosen Gesichter. Ich sage, dass sie auf Drogen gesetzt worden sei. Nicht von uns, sondern von dem, der ihr diese Wunde beigebracht habe. Dass wir sie befreit hätten und fliehen mussten. Dabei sei es zu einem Kampf und einem Schusswechsel gekommen. 251
Mit besorgter Miene wendet er sich wieder Lidia zu. Er fühlt ihren Puls, misst Temperatur und Blutdruck, horcht sie mit einem Stethoskop ab. Er wolle die Naht nicht öffnen, sagt er schließlich, aber das sehe fachmännisch aus, professionell geradezu. Das habe kein einfacher Landarzt gemacht. Soweit er das feststellen könne, sei ihr Zustand stabil. Dann weckt er sie, um einen Pupillentest zu machen und ihre Reaktionen zu überprüfen. Benommen lässt sie alles mit sich geschehen, versteht nicht, was er von ihr will. Vor ein paar Stunden sei sie noch relativ klar gewesen, erkläre ich, allerdings nur für kurze Zeit. Sie habe sich sehr anstrengen müssen. Dann habe sie die Erschöpfung übermannt. Er erwidert, es sei am besten, wenn wir sie schlafen ließen. Sie sei jung und kräftig. Mit der Zeit werde sie sich schon wieder erholen. Wir sollen sie beobachten und auch Zynas Wunde im Auge behalten, mehr könne er jetzt nicht tun. Er gibt Marco, der ihm die ganze Zeit über assistiert hat, noch einige Packungen Schmerzmittel und einen Haufen Verbandszeug. Schließlich klappt er seine unförmige Koffertasche zu. Lidia ist schon wieder eingeschlafen. Draußen wird es bereits hell. Wir gehen in den Gastraum hinunter. Botta will den Grappa probieren, den wir Zyna zur Betäubung gegeben haben. Marco holt eine weitere Flasche, stellt sie ihm übertrieben servil hin und wirft die Kaffeemaschine an. Botta schenkt sich ein großes Glas ein und kippt es in einem Zug runter. Er mustert uns der Reihe nach, schüttelt nachdenklich den Kopf und bedeutet Marco nachzufüllen. Er wolle ja nicht neugierig sein, fängt er an und senkt seinen verbeulten, von Leberflecken übersäten Schädel, als spräche er mit sich selbst. Außerdem habe er Marco versprochen, keine Fragen zu stellen. Im Grunde wolle er am liebsten gar nichts wissen. Er schaut wieder hoch und heftet seinen Blick auf mich. Aber jetzt würde 252
ihn doch interessieren, wer die Mädchen so zugerichtet habe. Keiner von uns sagt etwas. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil Botta so viel für uns getan hat. Ich frage ihn, ob es auch unter seine ärztliche Schweigepflicht falle, wenn er, na ja, etwas über die näheren Umstände all dieser Verletzungen erfahre. Ich solle ihm bloß nicht mit Pflicht kommen, entgegnet er beleidigt. Er müsse sich vergewissern, ob seinen Patientinnen weitere Gefahr drohe. Schließlich sei er kein Quacksalber, der mal kurz ein Pflaster aufklebt und die Menschen dann ihrem Schicksal überlässt. Vielleicht werde er heute etwas in der Zeitung lesen, was ihn stutzig macht, lenke ich ein. Über eine Schießerei in Mailand mit ein paar Toten. Ich könne ihm nur sagen, dass die richtigen Leute bekommen hätten, was sie verdienten. Zumindest die meisten. Woher ich das so genau wisse, wer das Leben und wer den Tod verdiene. Warum ich mir da so sicher sei. Ich denke, dass es keinen großen Unterschied macht, wenn er’s gleich erfährt. Dann können wir wenigstens seine Reaktion überprüfen. Also bitte ich Marco, das Kofferradio aus der Küche zu holen. Er stellt einen Nachrichtensender ein. Während wir wortlos und völlig erschlagen dem Werbungsgedudel zuhören, Kaffee schlürfen und auf die volle Stunde warten, schläft Phil am Tisch ein. Ich bringe sie mit Marcos Hilfe in sein Zimmer. Er versichert mir erneut, dass Botta absolut vertrauenswürdig sei. Ich frage ihn, wie der Alte denn politisch drauf sei. Marco hat keinen Schimmer. Er habe sich bis vor kurzem – ein Blick auf Phil – kaum Gedanken über solche Dinge gemacht. Während ich Phil zudecke, schließt sie die Arme um meinen Hals, ohne die Augen zu öffnen. Ich versuche, mich aus ihrer Umarmung zu befreien, aber das ist schwieriger, als ich dachte. Ich will sie nicht aufwecken. »Komm«, murmelt sie. »Mach’s mir noch mal.« 253
Ich halte inne. Was war denn das? Hält sie mich für Marco? Oder ist das so ein Reflex nach überstandener Gefahr? Ich habe mal gelesen, dass die Leute nach einem Unfall ganz heiß auf Sex sind. Die Instinkte brechen durch, sie wollen spüren, dass sie noch am Leben sind. Marco steht hinter mir. Umständlich drehe ich den Kopf. »Hilf mir«, flüstere ich in gebückter Haltung und füge hinzu: »Sie weiß nicht, was sie sagt.« Phil räkelt sich unter der Decke. Sie spreizt die Beine, das ist ganz deutlich zu sehen. Ihre Finger graben sich in meinen Nacken. Es treibt mir den Schweiß auf die Stirn. Ich höre, wie sich Marco leise entfernt. »Was ist?«, zische ich ihm zu. »Nimm ihren Arm weg! Tu endlich etwas!« Unschlüssig steht er da und versucht, uns nicht direkt anzuschauen. Weiß dieser Blödmann eigentlich, dass ich Phils Vater bin? Oh nein, so gekränkt, wie er aus der Wäsche schaut, weiß er es vermutlich nicht. Sie hat es ihm verschwiegen. »Lass los!«, sage ich laut. Sie schlägt um sich und wälzt sich ruckartig zur Seite. Dann kommt sie zur Ruhe und bleibt liegen, die Augen immer noch geschlossen. »Leg dir bloß keine Kinder zu«, sage ich und schiebe mich an ihm vorbei. »Sonst weißt du gar nicht mehr, wo dir der Kopf steht.« Er guckt belämmert. Ich zerre ihn am Ärmel mit und schubse ihn aus dem Zimmer. »Hast du noch nie gesehen, wie ein Vater seine Tochter ins Bett bringt? Bei uns läuft das immer so.« Langsam scheint er zu kapieren. Er lächelt unsicher, will etwas erwidern. Ich winke ab. »Behalt’s für dich.« 254
Als wir zurückkommen, ertönt gerade ein Jingle, der die Sechs-Uhr-Nachrichten einleitet. Dann geht’s auch schon los. Massacro in einem Bürohaus in der Via Rosselli. Vier Todesopfer, darunter ein Pförtner namens Carlo Venturini, der eine Frau und drei Kinder hinterlasse, sowie ein Wachmann aus Slowenien. Bei den anderen beiden Männern müsse die Identität erst noch festgestellt werden. Offenbar handele es sich um Besucher einer im Haus ansässigen Firma, die das Gebäude in den Abendstunden gerade verlassen wollten. Von den Urhebern des feigen Anschlags fehle jede Spur. Da in dem Hochhaus mehrere angesehene Mailänder Unternehmen ihre Räumlichkeiten hätten, seien politische Motive nicht auszuschließen. Es folgt ein kurzer Kommentar über die Gefahr einer neuen Form des politischen Attentats. Da an die Spitzen von Industrie und Wirtschaft nicht so einfach heranzukommen sei, träfe es jetzt den kleinen Angestellten. Eine neue Generation des kommunistischen Widerstands sei herangewachsen. Ihr Ziel sei es, die Freiheit und Unabhängigkeit der gesamten Gesellschaft zu bedrohen. »Kompletter Schwachsinn!« Ungläubig starre ich auf das Gerät. Als Nächstes kommen Börsennachrichten, der Sport und das Wetter. Kein Wort über den toten Bodyguard in der Biglietteria Est, überhaupt nichts über die Geschehnisse am Bahnhof. Und erst recht nichts über Lidia. »Was ist das für ein Sender?«, frage ich. »Ich weiß nicht«, sagt Marco. »Lokalradio, glaube ich« »Das stimmt hinten und vorne nicht«, erkläre ich Botta und haue auf irgendwelche Tasten, um das Radio zum Schweigen zu bringen. »Die haben das meiste weggelassen und den Rest verfälscht. Angesehene Mailänder Unternehmen – ich glaub das einfach nicht! Die haben Lidia da oben festgehalten. Die Typen 255
waren bis an die Zähne bewaffnet. Und jetzt wird alles vertuscht.« Botta betrachtet mich eine Weile. Mir fällt ein, dass ich immer noch auf alt geschminkt bin, aber das ist jetzt nicht zu ändern. Schließlich winkt er ab. »Wenn ihr die neuen brigate rosse seid«, er lacht laut auf, »dann lauft ihr wohl kaum mit Che Guevara auf der Brust herum. Das wäre ziemlich dumm von – Ihrer Tochter, oder?« Er öffnet seine Koffertasche und beginnt, darin herumzukramen. Ferro muss seinen Einfluss geltend gemacht haben, denke ich. Der falsche Carabiniere am Bahnhof. Und der Mann im Anzug, den Nondas in der Biglietteria unschädlich gemacht hat. Die waren verkabelt, genau wie wir, also müssten sie alles mitgekriegt haben, was Phil zu dem Bodyguard gesagt hat. Sie sprach ausdrücklich von Lidias Entführung. Dass es schlecht für Erdem sei. Und dass es für Ferro das Ende bedeuten würde. Eins muss man dem Dreckskerl lassen: Er hat schnell reagiert. Vielleicht gehört ihm sogar der verdammte Sender und sie spielen gerade einen Spot, in dem er seinen »Unica Opposizione«-Slogan absondert. »Die junge Frau mit der Bauchwunde.« Botta entfaltet ein Stück Papier und legt es auf den Tisch. Es ist der Handzettel mit der Vermisstenanzeige, den Attac überall verteilt hat. Er deutet auf Lidias Bild. »Das ist sie, oder?« Marco beugt sich nach vorne und schaut sich den Zettel genauer an. »Porca miseria«, sagt er leise. »Sie haben Recht«, gebe ich zu. »Wenn wir sie gestern nicht gefunden und befreit hätten, wäre sie immer noch … vermisst. Vielleicht wäre sie gar nicht mehr am Leben. Wir sind keine Kriminellen.«
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Er steckt den Zettel wieder ein. »Ich glaube Ihnen, obwohl ich nicht genau weiß, was ich von dieser Geschichte halten soll. Was die da im Radio gesagt haben – ich kann zwischen den Zeilen lesen, ich bin ja nicht senil. Es wäre nicht das erste Mal, dass man der Wahrheit ein bisschen auf die Sprünge hilft. Pressefreiheit ist relativ. Das hängt auch von den Carabinieri ab, oder vom Innenministerium. Möglich, dass jemand gedeckt werden soll, dessen Namen man aus dieser Art von Schlagzeilen heraushalten will. Von denen gibt es ja inzwischen immer mehr.« »Sie kommen der Sache schon ziemlich nahe«, stimme ich ihm zu. Botta hebt die Hände. »Hören Sie auf. Ich habe versucht, mich nützlich zu machen. Dabei wollen wir es bewenden lassen. An Verschwörungstheorien habe ich keinen Bedarf.« Er leert sein Grappaglas, atmet tief durch und erhebt sich. »Dein Onkel Mimmo ist ein Meister«, sagt er zu Marco. »Bestell ihm einen schönen Gruß von mir.« Er wirft ihm einen langen Blick zu. »Und gib auf dich Acht. Deine Freunde sind dazu offenbar nicht in der Lage.« »Vielen Dank für alles.« Ich strecke ihm die Hand hin. Er überlegt einen Augenblick, dann ergreift er sie. »Rufen Sie mich, wenn Komplikationen auftreten. Bei Schusswunden weiß man nie. Und mit Drogen habe ich keine Erfahrung. Da kennen Sie sich bestimmt besser aus.« »Was man so aufschnappt.« »Und denken Sie an den Schock. Manchmal ist eine Verletzung gar nicht so schlimm. Aber was da oben zu Bruch geht«, er tippt sich an den Kopf, »steht auf einem anderen Blatt. Davon wissen wir so gut wie nichts.« »In Ordnung. Wenn wir den Eindruck haben, dass etwas nicht stimmt, lassen wir sofort von uns hören.« 257
Er nickt. »Wenn sie sich schonen, müssten die beiden bald wieder auf den Beinen sein.« Wieder ein Blick zu Marco. Seine Gesichtszüge werden starr. Er dreht sich wieder zu mir. »In diesem Fall rate ich Ihnen, möglichst schnell von hier zu verschwinden.« »Verstanden«, erwidere ich knapp. Er geht zum Fenster und schaut hinaus, als wolle er die Umgebung sondieren. Bestimmt war er mal beim Militär, seine befehlsgewohnte Stimme, der entschiedene Gang, so was steckt einem bis ans Lebensende in den Gliedern. Dann begibt er sich zur Tür. »Verstehen Sie mich nicht falsch«, sagt er. »Ich bin kein Sexist oder so etwas. Aber bei uns mussten damals nicht die Frauen den Kopf hinhalten. Wir ließen sie bei den Verwundeten, wenn’s zur Sache ging. Das passte ihnen natürlich nicht. Sie wollten beim Töten dabei sein. Wir haben es einfach ignoriert.« Der kleine Mann streckt seinen Rücken. Er schlenkert seine Koffertasche, als stünde ein neuer Krieg bevor. Ich halte ihm die Tür auf. »Mussolini haben wir trotzdem geschnappt. Er war auf der Flucht, gar nicht weit von hier, ein Stück den See hinauf.« Er betrachtet mich von oben bis unten. »Schauen Sie sich mal an. Sie haben nicht einen Kratzer abbekommen.«
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M
ach die Augen auf. Ich weiß, dass du wach bist.« Ich trete ihm in die Rippen. Er gibt keinen Ton von sich. An seinem gepressten Atem erkenne ich, dass er bei Bewusstsein ist und mich versteht. Er beschließt zu schweigen. Als wir ihn in den Weinkeller schleiften, wehrte er sich ein bisschen. Anscheinend ließ die Dosis, die ihm Lidia verpasst hatte, schon wieder nach. Ich nahm seinen Kopf und knallte ihn gegen die steinernen Treppenstufen. Daraufhin stellte sein Körper jeden Widerstand ein. Danach pulte ich die Splitter eines abgebrochenen Zahns aus seinem Mund, damit er sich nicht daran verschluckt. Zusammen mit Marco entfernte ich das Klebeband. Ich nahm sein Handy an mich und durchsuchte ihn nach Waffen, fand aber nichts. Marco entwickelte einen richtigen Ehrgeiz, ihn mit einem Bergsteigerseil fachgerecht zu verschnüren. Ich überlegte mir kurz, ihm mit einem Vorschlaghammer die Beine zu brechen und ihn in eine Holzkiste zu legen, auf dass er dort verrotte. Phil war dagegen. Sie hat ein weiches Herz. Und ich bin auch nicht gerade ein Unmensch. Als die Rollen anders verteilt waren, das heißt, als Erdem mich im Palazzo degli Orsi ein bisschen bearbeitete, verzichtete er ja auch auf die hundsgemeinen Sachen. Das rechne ich ihm hoch an. Das ist der Grund, warum ich nicht auf ihn draufpisse. Nachdem wir uns überzeugt hatten, dass er in Marcos Weinkeller sicher verwahrt war, ließen wir ihn für den Rest der Nacht allein. Vielleicht nutzte er die Zeit, um in sich zu gehen. Und jetzt, am nächsten Morgen, statte ich ihm wieder einen Besuch ab, ganz früh, während die anderen schlafen. Ich 259
beobachte diesen Kerl, der mir und den meinen nichts als Tod und Verderben gebracht hat. Ich habe immer noch Angst vor ihm. Ich glaube, dass er das sogar spürt. In unserer Beziehung wird er immer der Bär sein und ich der dämliche Koyote, der um das Große Raubtier herumstreicht, da kann ich ihm so viele Zähne einschlagen, wie ich will. Allerdings sind es nur Jacketkronen, wie ich festgestellt habe. Ist also nur halb so schlimm, davon kann er sich jederzeit neue machen lassen. Er hält immer noch die Augen geschlossen, weiß, dass es keinen Zweck hat zu schreien. Ich zerre seinen Oberkörper hoch und lehne ihn gegen ein Weinregal. Dann entsichere ich die Pistole und halte sie ihm an die Schläfe. »Da ist noch ne Kugel drin«, sage ich. »Drück ab.« Das mach ich auch. Klick. »Du verstehst doch Spaß, oder?« Mit mir hat er so was Ähnliches gemacht. Das Magazin vorher rausgenommen und mir dann die Pistole gegeben, um zu sehen, ob ich abdrücke. Damals hab ich’s nicht getan. »Trink erst mal was«, sage ich und reiche ihm eine Flasche Mineralwasser. Er nimmt einen vorsichtigen Schluck, spült den Mund durch und spuckt aus. Dann lässt er die halbe Flasche reinlaufen. Ich nehme sie ihm weg. »Was hast du mit Lidia gemacht?«, frage ich. »Hast du sie nicht gesehen? Ich dachte, so ein Anblick ist dir vertraut.« Mit einem Seufzer hole ich das leere Magazin aus der Pistole und schiebe die beiden Patronen rein, die ich in der Hosentasche aufbewahrt habe. Ich schiebe den Sicherungshebel nach oben und betrachte den roten Punkt. Dann ziele ich zwischen seine Beine. 260
»Noch so ein Spruch, und du kannst dich von deinen Eiern verabschieden. War eine schöne Zeit, Freunde, aber ab jetzt müssen wir getrennte Wege gehen. Willst du das?« »Dann verblute ich. Willst du das?« Ich denke an Sill und senke die Waffe. »Ich glaube nicht, dass du deine Lage richtig einschätzt. Ich kenne jemanden, der hier demnächst reinmarschieren wird und gar nicht gut drauf ist. Sie wird mit einem Körperteil anfangen, wo’s verdammt wehtut, nur damit du ein Gefühl dafür kriegst, dass sie’s ernst meint. Und dann wird sie da weitermachen, wo besonders viele Nervenenden sitzen. Bei deiner Zunge oder in der Ohrmuschel, etwas in der Richtung. Nicht, um irgendeine Information aus dir rauszuholen, sondern nur weil sie sauer ist, dass du ihren Vater umgelegt hast.« Er schaut verständnislos. »Gwizdek. Die Bootshalle in Livorno.« »Der Pole?« »Genau der. Seine Tochter hing an ihrem Vater, obwohl sie ihn selten gesehen hat. Blut ist dicker als Wasser. Deshalb hat sie gestern auch – Moment, ich rechne kurz nach – vier von deinen Leuten ins Jenseits befördert.« Ich halte ihm vier Finger vors Gesicht. »Und von denen war keiner gefesselt.« »Dann hol sie her. Das könnte eine interessante Unterhaltung werden.« Ich mache ihm klar, dass ich so etwas wie eine außergerichtliche Vereinbarung bin. Dass ich – und das kann ich mir einfach nicht verkneifen – ein gutes Wort für ihn einlegen würde. Dass ich seine einzige Chance bin. Schließlich ändert er seine Taktik. Er erzählt, dass er Lidia Heroin gespritzt hat. Ach wirklich, entgegne ich, wie viel es denn gewesen sei.
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»Ungefähr deine Tagesdosis vor zehn Jahren. Insgesamt, auf mehrere Schüsse verteilt.« Ich habe mir schon gedacht, dass er gut informiert ist. Aber wenn einem die Leute auf den Kopf zu sagen, dass man mal ein bemitleidenswerter Junkie war, macht’s doch einen Unterschied. Dann rückt er mit ihrer Bauchverletzung heraus. Er drückt es etwas gewunden aus. Anscheinend hat er Lidias Nabel mit einer Klinge durchbohrt. Obwohl ich das schon geahnt habe, sichere ich die Waffe und ramme ihm den Pistolengriff ins Gesicht. Er leckt über seine Lippe, die jetzt ein wenig eingerissen ist. Vergeltung sei etwas Unabwendbares, sagt er undeutlich. Sie bestimme sein Leben, seit er denken könne. Im Grunde hätte er Lidia umbringen müssen. Jeder, den er kenne, habe das von ihm erwartet. »Und? Warum hast du’s nicht getan?« Es gebe Dinge, die nicht in seiner Macht ständen, auch wenn es einen anderen Anschein habe. Er habe sie niemals töten wollen. Darauf lege er Wert. Ihre Schuld sei abgegolten. Sie sei jetzt frei. Seine Leute habe er nur mit dem Aufzug runtergeschickt, um Gwizdeks Tochter auszuschalten. Dann wollte er uns Lidia übergeben. »Ich hab keine Ahnung, auf welchem beschissenen Trip du bist, Erdem, aber deine Auffassung von Schuld und deine Ausflüchte kannst du für dich behalten.« »Und das sagst du mir, Viktor? Wer von uns beiden ist in der besseren Position? Ein Verbrecher? Oder ein bekehrter Moralist?« Ich nehme einen Schluck von dem lauwarmen Kaffee, den ich aus der Küche mitgenommen habe. Erdem kennt sogar meine wunden Punkte. Themawechsel. »Erzähl mir, was du über Sill weißt.«
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»Dann könnte der Moralist in Versuchung kommen, seine Moral zu vergessen. Dann würde er kriegen, was er will, und käme auf den Gedanken, den Verbrecher vielleicht doch zu beseitigen.« »Dir ist schon klar, dass ich nicht eher hier rausgehe, bis ich weiß, was du über meine Frau in Erfahrung gebracht hast.« »Du wirst die Lust verlieren. Ich gebe kein gutes Folteropfer ab.« »Ach ja?« »Ich schreie nicht. Es wird dich nicht befriedigen.« »Darum geht’s mir auch gar nicht.« »Der Schmerz löst meine Zunge bestimmt nicht.« »Bist du dir sicher?« Ich nehme eine leere Weinflasche aus einer Holzkiste und halte sie ihm vor die Nase. Dann breche ich den Hals an der Kante der Kiste ab. »Zerstöre mein Gesicht. Ich bekomme ein neues.« Er lächelt nicht mal. An dem ist wohl alles ersetzbar. Ich wiege den abgebrochenen Flaschenhals in der Hand. »Wie geht es Phil?«, fragt er. »Ist sie verletzt?« »Sorgst du dich um sie?«, antworte ich überrascht. »Ja.« Dieses Ja bringt mich völlig durcheinander. Erdem schaut mich an, als erwarte er tatsächlich eine Antwort. Ich lege den Flaschenhals weg. »Du erwartest doch keine Gnade?« »Von dir?«, gibt er zurück. »Siehst du hier sonst noch jemanden?« »Ich möchte mit Phil sprechen.« »Meinst du allen Ernstes, sie hat Verständnis dafür, was du Lidia angetan hast? Willst du ihr auch mit Vergeltung und Schicksal kommen?« 263
»Sie denkt anders als du.« »Das bezweifle ich.« »Du kennst deine eigene Tochter nicht.« Das muss er mir gerade sagen. »Wir sehen uns bald wieder«, sage ich und gehe die Kellertreppe hoch. »Dann bringe ich ein paar alte Bekannte mit.« »Ich freue mich darauf, Viktor.«
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ch schließe die Tür zum Keller ab und suche mir ein freies Zimmer. Nachdem ich die Pistole in den Bodybag gesteckt habe, hänge ich ihn über eine Stuhllehne und lasse mich aufs Bett fallen. Die Morgensonne wirft große, ovale Flecken auf das ausgeblichene Tapetenmuster. Sie scheint beinahe bis zum Deckenbalken, ein bisschen von seiner wurmstichigen Oberfläche ist schon zu erkennen. Um jetzt ein Auge zuzukriegen, wäre es vermutlich besser, die Vorhänge zu schließen. Aber das Weichzeichnerlicht, das dabei entsteht, diesen Tümpel aus Staub und abgestandenen Sonnenstrahlen, kann ich jetzt nicht ertragen. Zwei Probleme. Ich muss Erdem zum Reden bringen, damit ich die Wahrheit über Sills Tod erfahre. Und ich muss sicher sein, dass er mir keine erfundene Geschichte auftischt. Aber was dann? Was sollen wir mit ihm anstellen? Und wie halte ich ihn uns ein für alle Mal vom Leib? Übermüdet wie ich bin, taumeln meine Gedanken mal in diese und mal in jene Richtung. Ich habe Erdem absichtlich nichts von der Vertuschungsaktion im Radio erzählt. Was hält eigentlich Ferro von der Sache? Inzwischen bin ich mir ziemlich sicher, dass er von Lidias Entführung und der Camcorder-Aufnahme weiß. Erdems Leute – diejenigen, die noch am Leben sind – müssen es ihm gesteckt haben. Aus seiner Sicht ist Erdem einfach verschwunden. Das dürfte ihn etwas nervös machen. Außerdem ist da noch die Camcorder-Aufnahme auf meinem Laptop im Delle Alpi. Die sollte ich mir möglichst schnell holen. Sie ist der einzige Beweis dafür, dass Ferro mit Lidias Entführung in Verbindung steht. Wenn er wüsste, wo wir sind … Hoffentlich hält Botta dicht.
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Als mich der Klingelton meines Handys aus dem Schlaf reißt, sind gerade mal drei Stunden vergangen. Die Müdigkeit steckt wie Blei in meinen Gliedern. Ich bewege mich wie ein Greis, taste nach dem vibrierenden Telefon in meiner Hosentasche. »Wo. Seid. Ihr.« Es ist Nondas. Mit einer Stimme, die mich ans Bettgestell nagelt. Das kann doch gar nicht sein, überlege ich. Haben die Bullen irgendein geheimes Abkommen mit der Telekom, gibt’s da ein neues Gesetz oder was? Ich hab das Handy doch nicht unbeaufsichtigt herumliegen lassen, und beim Gespräch ist »inkognito« eingestellt, ich bin ja nicht blöd. »Woher hast du meine Nummer?« »Steht im Telefonbuch«, gibt er zurück und fügt hinzu: »Unter deinem neuen Namen. Was glaubst du, mit wem du es zu tun hast? Hältst du uns für Anfänger?« »Nein, natürlich …« »Ihr habt euch abgesetzt, oder? Das am Bahnhof war eine abgekartete Sache. Ihr wolltet euer eigenes Ding durchziehen, zusammen mit dieser … Killerin, dieser Verrückten mit dem Messer. Aber eins kann ich dir flüstern: Jetzt bist du fällig. Ich lass dich hochgehen, dich und deine Tochter, internationaler Haftbefehl, das volle Programm. Wir fangen mit den Drogengeschichten an, damit der Richter in Stimmung kommt. Dann geht’s weiter, ich seh den Staatsanwalt schon vor mir, wie er die Liste runterbetet. Unterschlagung von Beweismaterial, Behinderung der polizeilichen Ermittlungen, Autodiebstahl. Und diesen Mord in der Biglietteria gibt’s als Zugabe obendrauf. Phil und dich kriege ich wegen Beihilfe dran. Sie werden euch überall suchen. Ihr seid geliefert.«
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»Beruhig dich wieder«, werfe ich ein. »Wir haben alles unter Kontrolle.« Wenigstens scheint er noch nichts von dem massacro in der Via Rosselli zu wissen. »Ich soll mich beruhigen? Unser Plan hat sich in Luft aufgelöst, ihr habt euch einfach davongemacht, mein Schädel fühlt sich an wie ein zermatschter Kürbis, und ich soll mich beruhigen?« »Wir befinden uns ganz in der Nähe. Ich wollte dich schon verständigen, wusste aber nicht wie. Im Delle Alpi hatten sie keine Ahnung, wo ihr seid.« Kleine Lüge, um ihn milde zu stimmen. »Wir sind im Delle Alpi. Hier ist kein einziger Anruf eingegangen.« »Wie seid ihr …« »Die Carabinieri haben uns hergebracht. Die haben uns verhört, als ob wir Kriminelle wären. Weißt du, was ich mir von denen anhören musste? Abgesehen davon, dass sie sich hinter unserem Rücken schiefgelacht haben.« »Langsam, Nondas, reg dich nicht auf. Das bringt nicht das Geringste, so kenne ich dich gar nicht.« »Schon mal was von zwischenstaatlichen Verwicklungen gehört? Und Batus Schnapsidee mit der geklauten Uniform macht’s auch nicht gerade leichter. Wenn die in Deutschland genug Druck machen, werden wir von dem Fall abgezogen und irgendein Superbulle vom BKA pfuscht darin herum. Ich könnte ihnen deshalb nicht mal einen Vorwurf machen. Was Erdem betrifft, haben wir rein gar nichts vorzuweisen. Wegen euch ist er uns ja wieder entwischt – nachdem er sich endlich aus seinem Loch hervorgewagt hatte.« »Wir haben eine Kopie der Camcorder-Aufnahme.« Kein Gedanke daran, ihm zu sagen, dass sie sich im Delle Alpi befindet. »Sie zeigt, wie Ferros Bodyguard Lidia entführt. Das bringt Ferro in Schwierigkeiten.« 267
»Scheiß auf Ferro. An den kommen wir nicht ran.« »Willst du dir nicht anhören, was bei uns los ist?« Gedämpfte Geräusche. Wahrscheinlich beratschlagt er sich mit Batu. Mit dem zu sprechen, stelle ich mir jetzt noch anstrengender vor. »Also gut«, meldet er sich wieder. »Aber lass diesmal die Lügen weg.« »Sprechen wir auf einer abhörsicheren Leitung?« »Ich habe hier ein Krypto-Handy. Das ist Spitzentechnologie, von so einem Ding kannst du nur träumen. Natürlich ist die Leitung abhörsicher! Wenn du unseren Bus mit dem Peilgerät nicht geklaut hättest, würden wir dir schon längst auf den Füßen stehen, und du könntest nicht so alberne Fragen stellen. Also was ist bei euch los?« »Wir haben Lidia.« Pause. »Und wir haben deinen alten Kumpel Erdem.« Ich warte einen Augenblick, koste ihn aus. »Tut mir Leid, dass wir uns den Bus ausgeliehen haben, aber wir brauchten ihn einfach dringender als ihr. – Hat’s dir die Sprache verschlagen?«, frage ich nach einer Weile. »Hör mal zu«, meldet sich Batu. »Wenn das wieder so ein Bluff ist, eine von deinen Hochstapeleien …« »Wenn ihr mir nicht glaubt, lege ich halt wieder auf.« »Nein! Wo seid ihr?« Das wäre die beste Möglichkeit, Erdem loszuwerden. Ihn Nondas und Batu zu übergeben – mit der Auflage, dass sie ihn mitnehmen und uns dann in Frieden lassen, Phil, mich und Zyna. »Was habt ihr mit ihm vor?«, frage ich. »Das geht dich nichts an.« Erneut Geräusche aus dem Hintergrund, Nondas’ aufgebrachte Stimme. Er scheint Batu zurechtzuweisen. 268
»Leg nicht auf, Viktor. Wir bringen ihn nach Deutschland.« Nondas ist wieder dran. »Notfalls schmuggeln wir ihn über die Grenze. Bevor die Carabinieri oder jemand anders ihn sich unter den Nagel reißt, trage ich ihn auf meinen Schultern durch die Schweiz.« »Ich muss das erst mit den anderen besprechen«, antworte ich. »Ich kann das nicht allein entscheiden.« »Welchen anderen? Heißt das, diese Killerin ist bei euch?« Vor allem muss ich mich noch mit Erdem über Sill unterhalten. Wenn ihn Nondas und Batu unter ihre Fittiche genommen haben, kann ich das vergessen. »Gib mir deine Nummer. Ich rufe dich zurück, wenn wir so weit sind.« »Wer ist diese Frau? Für wen arbeitet sie?« »Falls du’s noch nicht gemerkt hast: Das ist hier keine Zeugenbefragung. Du musst dich gedulden, auch wenn’s schwer fällt.« »Macht bloß keinen Scheiß. Ich will keine Leiche nach Frankfurt kutschieren.« »Erdem geht es gut – den Umständen entsprechend.« »Ist er verletzt?« »Nicht besonders.« »Bist du sicher, dass er sich nicht befreien kann? Ich hoffe, ihr habt ihn gefesselt oder so etwas.« »Worauf du dich verlassen kannst.« »Haltet euch von ihm fern. Er ist gefährlich.« »Danke für den Hinweis.« »Habt ihr ihn auf Waffen untersucht? Ihr habt keine Vorstellung davon, wozu er fähig ist. Er braucht nur eine winzige …« »Die Nummer, Nondas.« 269
Widerstrebend sagt er sie mir. Ich ritze sie mit dem Fingernagel in die Tapete und beende das Gespräch. Dann gebe ich die Nummer in den Speicher meines Handys ein und schalte es aus. Ich bleibe eine Weile auf der Bettkante sitzen. Heute kommt noch ein gutes Stück Arbeit auf mich zu. Da will jeder Schritt durchdacht sein. Sonst bleibt man irgendwo hängen, und es haut einen im Handumdrehen auf die Schnauze. Aber bevor ich etwas unternehme und in diesen Tag starte, muss ich mein natürliches Alter wiederherstellen. Ich trippele zu der Etagendusche, die gleich neben meinem Zimmer liegt, und schnappe mir ein Stück Seife. Die rissige graue Kugel sieht aus wie der Hirntumor, den ich seit einiger Zeit über meinem linken Ohr vermute. Ich wollte längst mal eine Tomographie machen lassen, aber man kommt ja zu nichts. Nachdem ich die Schminke von meinem Gesicht abgewaschen und meinen Körper wieder halbwegs instand gesetzt habe, schlüpfe ich in frische Sachen aus meinem Bodybag. In der Wäscherei des Delle Alpi haben sie das Hemd mit einem Duftstoff versehen, kein Weichspülergeruch, sondern ein dezentes Herrenparfum. Auf diesen Service werde ich in Zukunft wohl verzichten müssen. Von unten höre ich die Stimmen von Marco und Phil. In Lidias Zimmer ist niemand, also sehe ich als Erstes nach Zyna. Ich weiß nicht, ob ich ihr böse sein soll wegen der vielen Menschen, die sie getötet hat. Schließlich habe ich auch einen von diesen Kerlen umgelegt, wenn auch in Notwehr. Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Aber Zyna hätte zumindest den Pförtner verschonen können. Ihn umbringen, nachdem er uns gesagt hatte, was wir wissen wollten, als er sich nicht zur Wehr setzen konnte, eine Waffe hatte er ja sowieso nicht – das hätte sie nicht machen sollen, das war nicht fair. Über die anderen Toten zerbreche ich mir nicht den Kopf, bei denen gehört das zum Berufsrisiko, da regt sich bei mir gar nichts. Ist das gefühllos? Vielleicht, aber Gefühle lassen sich 270
nicht mit Gewalt herbeidenken. Was ist schon der Tod? Schließlich hätte es auch Phil oder mich erwischen können. Unter dem Strich haben wir mit Zynas Hilfe jedenfalls mehr erreicht, als wir zu erhoffen wagten. Das ist ein starkes Argument – mit dem ich meine Schuldgefühle etwas beruhige. Außerdem glaube ich nicht, dass es einen anderen Weg gegeben hätte. Manchmal gibt es nur einen Weg, um zu einem bestimmten Ziel zu gelangen. Einen schmalen, schweren. Im Rückblick kommt er einem vielleicht einfacher vor, als er in Wirklichkeit war. Dann fallen einem Alternativen ein, weniger überhastete Handlungsabläufe, durchdachter, geplanter, verantwortungsvoller, und man zieht den schweren Weg in Zweifel. Aber es kann auch sein, dass einem der schwere Weg später noch schwerer vorkommt. An diesem Punkt bin ich gerade. So einen Weg will ich nicht noch einmal gehen. Zyna scheint sich schon ganz gut erholt zu haben. Sie hat sich im Bett aufgesetzt und blättert in einer Illustrierten. Marco muss sie ihr gebracht haben. Dass Phil sich um Zyna kümmert, halte ich eher für unwahrscheinlich. »Schön, dass du dich auch mal zeigst«, sagt sie munter und legt die Zeitschrift weg. Ich lächle zurück und berühre zur Begrüßung den Verband, der unter ihrem T-Shirt hervorschaut. Sie verzieht das Gesicht und reißt ihre Faust nach oben. Ich kann gerade noch ausweichen. »Keine abrupten Bewegungen, hat der Doktor gesagt. Du bleibst liegen und rührst dich nicht.« »Wo ist Erdem?« »Mit Erdem kommen wir schon klar, der läuft dir nicht davon.«
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»Das will ich auch hoffen«, sagt sie, sinkt auf ihr Kissen zurück und atmet vorsichtig aus. Sie scheint die Schmerzen zu unterdrücken. »Wir haben ihn gut verschnürt. Kein Grund zur Sorge.« »Wenn ihr mit ihm fertig seid, bin ich dran. Lasst mir noch was übrig.« »Für dich nur die guten Teile«, gehe ich auf sie ein. »Was willst du mit ihm machen?« »Darüber denke ich schon die ganze Zeit nach. Mir fällt nichts ein, was … angemessen wäre. Jede Menge Folterscheiß, aber das bringt’s irgendwie nicht.« »Na ja, dagegen wäre grundsätzlich nichts einzuwenden – wenn’s dir danach besser geht und es bei ihm keine bleibenden Schäden hinterlässt.« »Komisch. Jetzt, wo wir ihn haben, ist der ganze Reiz verflogen. Vielleicht jage ich ihm einfach eine Kugel durch den Kopf und Ende.« »Du hast drei seiner Leute getötet. Und den Pförtner, der wahrscheinlich gar nicht zu Erdem gehörte.« »Er war im Weg. Das reicht.« »Meinst du nicht, dass dein Durst nach Rache jetzt gestillt ist?« »Das kommt schon alles wieder, wenn ich vor ihm stehe. Dann rufe ich mir alles in Erinnerung, was geschehen ist. Und was hätte sein können. Wo hast du die Pistole?« »In den See geschmissen«, lüge ich. »Tatwaffe beseitigen.« »Schade. Ein Kopfschuss wäre passend gewesen. So ist mein Papa gestorben.« »Erdem hat Gwizdek in die Brust geschossen. Wenn du auf dem gleichen Vergeltungstrip bist wie er, musst du schon konsequent sein.« 272
»So genau nehm ich’s nun auch wieder nicht.« Sie winkt ab wie jemand, der die Rechnung aufgehen lässt. Stimmt so, der Rest ist für Sie. Aber an dieser Psychose oder was auch immer sich da in sie hineingefressen hat, stimmt überhaupt nichts. Sie macht Erdem für die verlorene Zeit verantwortlich, für das verpasste Leben, das sie mit ihrem Vater hätte haben können, wenn er kein Profikiller gewesen wäre. »Hauptsache, er bezahlt dafür, dass mein Papa und ich uns nie mehr in die Arme nehmen können«, fügt sie hinzu. »Bist du sicher, dass Erdem daran schuld ist?« »Er hat ihn getötet!«, erwidert sie aufgebracht. »Wenn dich die Leiche stört – keine Angst, die bring ich auch eigenhändig unter die Erde. Wird mir ein Vergnügen sein, das Schwein zu verbuddeln.« »Damit du Gwizdeks Fehler zusammen mit Erdem begraben kannst.« »Bist du ein Scheißtherapeut oder was? Das Gelaber kannst du dir sparen, das zieht bei mir nicht.« Sie setzt sich auf. »Du willst mich doch nicht davon abhalten?«, fragt sie misstrauisch. »Warum hast du mir nicht gesagt, was du vorhast? Dann hätten wir uns mal darüber unterhalten können.« Langsam kann ich mir selber nicht mehr zuhören. Aber dieser Psychotalk blubbert einfach so aus mir heraus. Seit wir Lidia wiederhaben, überlege ich, wie wir alle wieder einigermaßen normal werden können. »Unterhalten? Wir haben’s nicht mal miteinander getrieben. Was sollen wir uns da groß unterhalten?« Sie schlägt die Bettdecke zur Seite. »Aber vielleicht passt’s dir ja jetzt. Ich kann mich leider nicht so gut bewegen, sonst bricht die Wunde wieder auf.« Hektisch zerrt sie an ihrem Slip. »Möchtest du mich ans Bett fesseln? Ich hab nichts dagegen. Mach, dass ich mich gar nicht 273
mehr rühren kann. Wenn du mich so haben willst, kein Problem. Ich halte sogar die Klappe.« »Was soll das werden?« Das Gummiriemchen am Bund leistet Widerstand. »Das ist keine Ironie, ich mein’s ernst!« »Hör auf!« Ich drehe mich weg. Im selben Augenblick wird mir klar, wie verletzend das für sie sein muss. Sind denn jetzt alle durchgeknallt? Ist das Angesicht des Todes eine Peep-Show von Blinden für Blinde, Anfassen erlaubt? Entnervt gibt sie es auf. Sie lässt den Slip los und schaut weg. Mit dem Ellenbogen wischt sie sich die Tränen ab. »Mir ist schon klar, warum zwischen uns nichts lief«, würgt sie gehässig hervor. »Hast auf dein Töchterchen gewartet, stimmt’s? Die steht auf dich, so was hab ich mir gleich gedacht.« Das hat gesessen. Auge um Auge. »Oder ist es dieses Drogenwrack?« Ihre Stimme überschlägt sich. »Mit der hattest du doch mal was. Besorg’s ihr mal richtig, dann wird sie schon wieder.« Ihr T-Shirt ist ein Stück hochgerutscht. Auf dem Verband erscheint ein kleiner roter Fleck. »Was soll ich denn noch sagen, damit du endlich mit einer Reaktion rüberkommst?« Ich setze mich auf die Bettkante. Behutsam lege ich meine Hand auf ihren Oberschenkel. »Rühr mich nicht an!« Unbeholfen reißt sie das Laken an sich und zerrt es über ihren Körper. »Verschwinde! Was willst du überhaupt hier?«
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Ihr Kopf kippt nach hinten. Sie schließt die Augen, kaut auf ihren Lippen. Eine Zeit lang ringt sie um Atem. Dann strampelt sie das Laken weg. »Lass es mich … zu Ende bringen. Mehr verlange ich nicht.« Kraft, die ihrem Körper entweicht. Ich kriege ihre Hand zu fassen. Sie ist unerwartet heiß. Ihre Finger schließen sich um meine. Ich halte sie fest. Jetzt weint sie innerlich. Der Fleck auf ihrem Verband ist größer geworden.
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otta. Ich schalte mein Handy wieder ein, während ich die Treppe hinuntergehe. Zyna braucht eigentlich mehr als einen Feld-, Wald- und Wiesendoktor, egal, ob er Mussolini den Garaus gemacht hat oder nicht. Ich habe keine Ahnung, was ich mit ihr anfangen soll. Von Erdem fern halten, mehr fällt mir nicht ein. Vor dem Kamin steht ein Liegestuhl. Lidia schläft, ein friedliches Lächeln auf dem Gesicht. Sie trägt ein weites Sweatshirt von Marco. Über ihre Beine ist eine Wolldecke gebreitet. Sie ist weit weg. Vor ein paar Monaten hatten wir unsere letzte nächtliche Begegnung, und dabei wird’s wohl bleiben. Es war eine Art One-Night-Revival, irgendwo zwischen Nostalgie und Neugier. Sie gab sich nicht zu erkennen, wollte sehen, ob ich mich trotz der Veränderungen ihres Aussehens und ihrer Stimme an sie erinnerte. Damals in Berlin war sie gerade mal vierzehn gewesen. Zehn Jahre später deutete so gut wie nichts an ihrem Äußeren auf das Mädchen hin, das mir im Austausch für die Illusion von Freiheit alles von sich gegeben hatte. Wenn ich genau hingesehen, gehört, gefühlt hätte, wäre mir vielleicht etwas aufgefallen. Aber ich sah nicht genau hin, hab’s vermasselt. Einer der Wege, die ich mir selbst verbaut habe. Und den ich auch nicht noch einmal gehen will. Lidia ist meine Vergangenheit, Zyna die Gegenwart und Phil die Zukunft – eine Unterteilung, die sich zwangsläufig, wie auf den ersten Blick ergibt, von der ich aber nicht weiß, ob sie so stimmt. Zyna war bis vor kurzem auch eine Art Zukunft – und fast schon wieder Vergangenheit. Lidia hat bis vor kurzem meine Gegenwart bestimmt und wirkt, ohne es zu wissen, in meine Zukunft hinein. Das wird sie immer tun. Und Phil ist alles 276
in einem, stets aufs Neue. Sie verkörpert ein Nebeneinander von Zeiten – die ich allerdings hin und wieder durcheinander bringe. Eine andere Welt ist möglich. Vielleicht, aber gänzlich abtrennen lässt sich die mögliche Welt von denen, die sonst noch existieren, nicht. Marco stellt gerade eine Thermoskanne auf einen Teewagen, gibt ordentlich Zucker und Zitrone in die Kanne und schiebt das klapprige Wägelchen zu Lidia hin. Er hat Feuer im Kamin gemacht. Das Knistern des Holzes ist das einzige Geräusch, das den Gastraum erfüllt. Ich bemerke den Müllsack mit den blutigen Klamotten. Das wollte ich ja auch noch erledigen. »Sie hat lange geschlafen«, sagt Marco. »Vor einer Stunde ist sie aufgewacht.« »Und? Irgendeine Reaktion?« »Als sie Phil erkannte, hat sie sich gefreut wie ein Kind. Aber ihre Erinnerung ist noch lückenhaft.« Ein Blick, als hätte ich ihr Heroin gespritzt und nicht Erdem. »Was ist mit der Wunde?« »Alles in Ordnung. Sie hat keine Schmerzen.« Er deutet auf eine Tablettenpackung neben der Thermoskanne. »Das Zeug ist ziemlich stark. Phil meinte, Schmerzmittel sind ein bisschen wie sanfter Entzug. Gott sei Dank haben wir genug davon.« Ich beuge mich über sie. »Geh da weg!« Verblüfft halte ich inne. »Lass sie einfach in Ruhe. Ich sag’s nicht noch mal.« »Schon gut.« Bei Marco scheint der Beschützerinstinkt ausgebrochen zu sein. Vielleicht ist es auch seine Art von Stressbewältigung. Ich lasse mir von ihm Bottas Nummer geben und schildere dem Alten, wie es um Zyna steht.
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Er klingt verschlafen, rät mir, den Verband zu erneuern. Wir sollten uns über ein bisschen Blut keine Gedanken machen, das trete schon mal aus, schließlich konnte er keine Drainagen legen, um Blut und Wundsekret abzuleiten. Solange die Naht noch gut aussehe, bewege sich alles im Rahmen. Zusammen mit Marco gehe ich zu Zyna hoch. Wir ziehen ihr das T-Shirt aus und nehmen den Verband ab. Sie lässt alles klaglos mit sich geschehen. Marco lässt sich von ihren nackten Brüsten nicht beeindrucken. Er tupft die Wunde ab, sprüht dieses rote Zeug darauf, das ihm Botta zum Desinfizieren dagelassen hat, und legt ihr einen neuen Verband an. Zyna fragt ihn, wo er das gelernt habe. Ob sie ihn auf Dauer anheuern könne. Er macht ihr ein Kompliment, wie tapfer sie sich halte. Warum fallen mir nie solche Floskeln ein? Ich streiche ihr die verschwitzten Haarsträhnen aus dem Gesicht und taste nach ihrer Hand. Sie nimmt sie weg. Dabei schaut sie mich an wie im Sommer, als wir uns zum ersten Mal getroffen haben. Diese Gewissheit, als blicke sie mir direkt ins Herz hinein, das ging mir schon damals durch und durch. Diesmal gelingt es ihr nur kurz. Ihre Augen werden matt, schauen ins Leere. Sie fängt an, seltsame Geräusche von sich zu geben. Anscheinend summt sie ein Lied. Bei aller Verrücktheit hat sie viel von ihrem Vater in sich. Wir beschließen, sie mit nach unten zu nehmen. Marco holt ein Klappbett und stellt es in dem Gastraum auf, möglichst weit von Lidia entfernt. Gemeinsam bugsieren wir Zyna ins Erdgeschoss und machen es ihr so bequem wie möglich. Nachdem sie sich kurz umgesehen hat, schläft sie ein. Langsam sieht’s hier aus wie in einem Lazarett. Ein Lazarett mit Perspektive, denke ich. Die Dinge stehen eigentlich gar nicht so schlecht. Wir haben alle überlebt, das ist schon mal das Wichtigste. Verständlich, dass einige von uns 278
überreagieren, etwas anderes war nicht zu erwarten. Wenn wir uns jetzt noch mit Nondas und Batu einigen und uns Erdem vom Hals schaffen, könnten wir sogar ganz gut dabei wegkommen. Ich muss mich mit Phil unterhalten. Vielleicht hat sie eine Idee, wie wir aus Erdem etwas über Sill rauskriegen. »Wo ist eigentlich Phil? Schläft sie noch?«, frage ich. Wir hören Nachrichten im Radio. Inzwischen ist nicht mehr von einem Attentat die Rede, sondern von einer gezielten Vergeltungsaktion. Es wird aber nach wie vor ein politischer Hintergrund vermutet. Vielleicht hat die ursprüngliche Meldung zu viel Aufmerksamkeit erregt. Deshalb haben sie das Ganze etwas abgemildert. Ich bin mir nicht sicher, ob das ein gutes Zeichen ist. Je geringer das öffentliche Interesse, desto ungestörter lassen sich Ermittlungen einleiten. Wahrscheinlich laufen sie schon auf vollen Touren. Fragt sich nur, wer bei dieser Sache vertuscht und wer ermittelt. Phil sei in die Kapelle gegangen, sagt Marco, als die Verkehrsdurchsagen kommen. Er schaltet das Radio wieder aus. »Wie? Und da ist sie schon die ganze Zeit über?« »Seit … einer Stunde«, erwidert er. »Warum? Hat sie irgendwas gesagt?« Er setzt sich auf einen Stuhl und nimmt ein Buch in die Hand, als würde er hier jetzt Posten beziehen. »Ich hab dich was gefragt.« Er schlägt das Buch auf und tut so, als vertiefe er sich darin. Ich unterdrücke den Reflex, ihm das Ding wegzunehmen und in den Kamin zu werfen. Was glaubt er darin zu finden? Eine Gebrauchsanweisung fürs Leben? Schließlich hebt er den Kopf. »Mach das mit ihr aus. Sie ist deine Tochter.«
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Phils Klammergriff scheint ihn aus dem Gleichgewicht gebracht zu haben. »Was soll ich mit ihr ausmachen, Marco?« Er schweigt. Mein Blick fällt auf die Tür zur Küche. Der Weg in den Keller. »Hast du nach Erdem gesehen?«, frage ich. »Vielleicht sollten wir ihm was zu essen bringen.« Ein wissendes Lächeln. Mir kommt ein schrecklicher Verdacht. Ich durchquere den Gastraum, stolpere beinahe über Zynas verdammtes Klappbett. »Gib dir keine Mühe. Er ist weg.« Abrupt bleibe ich stehen. »Weg?« Ich bin mit zwei Schritten bei ihm und packe ihn an seinem karierten Hemdkragen. »Mach endlich das Maul auf! Was ist passiert?« »Willst du mir auch die Zähne einschlagen? Hast ihn ja ganz schön zugerichtet.« »Das geht dich einen Dreck an!« Ich trete seinen Stuhl weg und schleife ihn zum Kamin. »Raus damit! Bist du jetzt ein Friedensapostel oder was? Hast du ihn laufen lassen, weil du ein Herz für die Unterdrückten hast? Seit wann …« »Seit einer Stunde. Er hat meinen Kombi.« Ich erschrecke über die Angst in seinen Augen, lasse ihn los, als hätte ich mir die Finger verbrannt. Er rappelt sich hoch. »Sie hat sich zu ihm runtergeschlichen«, stammelt er. »Hab’s erst gemerkt, als sie mit ihm raufkam. Ich wollte es ihr ausreden, aber sie hat genauso reagiert wie du.« Er schlägt die Augen zu Boden und bleibt mit hängenden Schultern stehen. Wahrscheinlich versteht er inzwischen gar nichts mehr. Das kann ich ihm nicht verdenken. 280
Zyna gibt ein dumpfes Stöhnen von sich. Sie wälzt sich auf dem wackeligen Bett hin und her. Er eilt zu ihr.
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eine Morgensonne hier. Das Gebäude schließt so dicht an das Rasthaus an, dass es nur eine Reihe schmaler Fenster nach Westen besitzt. Dennoch ist es in der Kapelle einigermaßen hell. Die Leere treibt mir eine Klinge durch den Schädel. Eine Kerze vor der Madonna. Neben der vordersten Bank liegt ein Zettel. Er muss heruntergefallen sein. Ihre leicht nach links geneigte, bogenförmige Schrift. Ich habe versucht, dir alles zu erklären. Ich habe vieles versucht. Wenn du es nicht verstehst, kann ich dir nicht helfen. Hier endet alles. Erdem hat -eine durchgestrichene, unkenntlich gemachte Zeile. Wir haben Frieden geschlossen. Lidia hat ihm vergeben, du kannst sie fragen. Das hättest du nicht gedacht, oder? Absatz. Ich brauche dich nicht, Viktor. Ich entscheide selbst. Denk nicht mehr an mich. Denk an niemand. Die Stille.
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FÜNFTER TEIL
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r lässt das Auto in einem unbelebt wirkenden Wohngebiet stehen und geht sicheren Schrittes in den Ort hinein. Die Kreditkarte in der Sohle seines rechten Schuhs. Er beschafft sich Geld von einem geheimen Konto, führt eine Reihe kurzer Telefonate, stellt die richtigen Fragen. Interpretiert die Antworten. Er weiß jetzt, wer ihn sucht. Und wer ihn sonst noch verfolgt. Dann nimmt er eine der kleineren Fähren quer über den See. Sein Rückzug verläuft geordnet. Er hat sich oft darauf vorbereitet, passt sein Verhalten einem von vielen, häufig durchgespielten Szenarien an. Ein Chalet am Stadtrand, von dem nicht einmal seine engsten Vertrauten etwas wissen. Der Schlüssel, vergraben unter der großen Platane neben dem Eingang. Alles befindet sich an seinem Platz. Hier kann er neue Kräfte schöpfen, Informationen sammeln und seine nächsten Schritte planen. Aber seine Gedanken sind noch zu sehr in Bewegung, als dass er sich sofort an die Recherchen über die Vorfälle in Mailand machen könnte. Er zwingt sich, in ruhigeren Bahnen zu denken, mäßigt die Hast. Vor dem Badezimmerspiegel begutachtet er seine eingerissene Lippe und desinfiziert sie sorgfältig. Unwillkürlich befühlt er seinen abgebrochenen Zahn, schätzt den Schaden ab. Angesichts der überstandenen Gefahr erscheint er ihm äußerst gering. Wenn er Phil nicht überzeugt hätte, wenn er ihr nicht gegeben hätte, wonach sie verlangte, wäre es ihm übel ergangen. Das Lied eines Engels. Als hätte er geahnt, was einmal von Bedeutung werden würde. In der Küche schenkt er sich ein Glas Mineralwasser ein und stellt sich damit an das Panoramafenster im Wohnraum des Chalets. Er lächelt über die Rührung, die er spürt. Diese 284
Dankbarkeit. Der Käfer in seinem Inneren bewegt sich. Er lässt ihn gewähren, blickt dabei über eine Baumgruppe hinweg auf den See hinaus. An den Hängen ist der Herbst bereits weit fortgeschritten. Es kommt selten vor, dass er sich Gedanken über eine Jahreszeit macht. Klar zeichnet sich das gegenüberliegende Ufer ab. Der ferne Weg, den er hinabfuhr. Der Berg, auf dem er die Nacht verbrachte, zum zweiten Mal in seinem Leben in Gefangenschaft. Das erste Mal ist lange her. Er war erst auf dem Weg zu dem zu werden, der er ist, dort hinter Stäben, Tag um Tag, Stunde um Stunde. Wie Sand ließ er durch seine Finger rinnen, was Böses über ihn gesprochen wurde. Er streifte ab, radierte aus. Ein Prozess der Befestigung, Eindämmung, Urbarmachung. Kein Jahr zu früh, lange bevor er dem Alter nach als erwachsen galt. Manchmal lässt er diese Erinnerungen näher treten. Zu wissen, was ihm jene Form verliehen hat. Seine Lider erstarren. Zwischen den Stämmen eine Bewegung. Er rührt sich nicht von der Stelle. Denkt an das Waffenversteck unter den Dielenbrettern. Sein Instinkt warnt ihn nicht, wiegt ihn in Sicherheit. Es wird ein Heben und Senken der Zweige sein. Das stellt der Wind mit ihnen an. Das ist Natur. Kein Geräusch. Der Käfer hält inne. Allmählich, mit jeder Regung der Pupillen, scheint es ihm, als lösten sich aus dem Schatten der Bäume Gestalten. Sie haben es nicht eilig, gehen gemessenen Schrittes. Er will zurückweichen, aber etwas hält ihn fest. Sein Blick fällt auf die Stellen an seinen Handgelenken, an denen das Klebeband gewesen war. Es ist längst weg. Sie kommen hervor. Nacheinander.
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Der Erste berührt die Scheibe – und greift hindurch. Seine Finger scheinen das Glas einfach zu durchdringen. Erdem erkennt ihn. Träum von deinem Bruder. Du hast die Gefahr gekannt. Meinen sicheren Tod. Träum davon, wie du mich aufgezogen hast. Was du mich gelehrt hast. Ich werde der Stahl sein, der dich verdirbt. Erdem taumelt, tastet nach einem Halt. Mustis Finger weichen zurück. Er verschwindet. Ein groß gewachsener Mann tritt an seine Stelle. Erdem erkennt ihn. Denk daran, wie mich deine Kugeln in der Bootshalle durchbohrt haben. All die Schiffe, die niemals auslaufen werden. Lass mich das Blei in deiner Brust sein. Gwizdek streckt die Hand nach ihm aus. Und zieht sie weg, als er das Entsetzen in den Augen seines Mörders sieht. Dann summt er eine Melodie. Und verblasst. Eine Frau mit dem Gesicht einer Schlafenden. Ihre Augen sind geschlossen. Erdem erkennt sie. Du hast meinen Körper voller Löcher gestochen. Denk an den Schmerz. Er pocht an die Tür meines Herzens. Du hast ihn geweckt, damit er mich nie mehr verlässt. Ich bin das Gift in deinen Adern. Lidia haucht ihn an. Er schlägt die Hände vor den Mund. Sie wendet sich ab. Ein junger Mann baut sich vor ihm auf. Erdem erkennt ihn. Denk an den Schuss in das fahrende Taxi. Denk an meine Jugend. Träum weiter von blutigen Tagen. Ich werde mich durch deine Eingeweide fressen, genau in dem Moment, in dem du Hoffnung schöpfst.
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Tony fixiert Erdems Bauch, als wolle er sich eine bestimmte Stelle merken. Erdem tastet danach, macht sich gefasst auf den Schmerz. Dann tritt Tony beiseite. Wieder ein junger Mann. Erdem erkennt ihn, nach kurzem Überlegen. Weißt du, wer in deinem Auftrag sterben musste, nur weil wir deinen Feinden halfen? Weißt du, wer niemals die Hand gegen dich erhoben hat? Erwache in Schuld. Pino löst sich auf. Erdem möchte zu Boden sinken. Aber die Arme einer letzten Gestalt halten ihn fest. Die Frau kommt ihm bekannt vor. Aber er weiß nicht, wer sie ist. Träume nicht von meiner Tochter. Denk nicht an ihren Mut und ihre Verzweiflung. Denk nicht an ihren Körper. Lass deine Gedanken von ihr fahren. Löse den Pakt. Morgen auf der Brücke wirst du deine Tage beenden. Sie geht davon, spricht dabei unhörbare Worte, verschwindet. Dann ist nur noch die Baumgruppe zu sehen. Das Wasser steht in einer Pfütze auf dem Boden, vermischt sich mit dem Schweiß seiner Angst und sickert nach und nach in die Ritzen des Parketts. Es ist nicht ausreichend versiegelt. Erdem kriecht über den Boden, weg von den Erscheinungen. Er fragt: Wer ist da? Er bekommt keine Antwort. Er fragt: Soll er sich vor sich selber fürchten? Er spürt: Sonst ist keiner mehr hier. Er fragt: Soll er dann vor sich selber fliehen? Er denkt: Damit er sich nicht an sich selber rächt? Wäre das überhaupt möglich? Er weiß: Er hat viele Stimmen. Jede bringt eine andere Geschichte hervor. Alle sind wahr.
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Jetzt fangen sie an, sich Gehör zu verschaffen. Sie knüpfen an die Sätze der Erscheinungen an, vervielfältigen sich, drohen seinen Kopf zu zersprengen. Ihm bleibt nichts anderes übrig als zu warten, bis die Stimmen eine nach der anderen verstummen. Es dauert lange. Sie lassen nichts aus, dehnen die Zeit, erzählen von dem, was war und was ist und was niemals sein wird. Der Käfer hat ihn verlassen. Schließlich kann er sich wieder rühren. Seine Gesichtszüge scheinen die alten, plastisch veränderten zu sein, soweit er das in dem spiegelnden Fensterglas erkennen kann. Er setzt sich auf und beobachtet das Heben und Senken der Zweige. Die kahlen Stämme. Als er das erste Geräusch von draußen hört, den Schrei eines großen Vogels aus den Wipfeln, holt er das Telefon. Er legt sich Papier und einen Stift zurecht. Dann wählt er eine Nummer. Es ist eine sichere Leitung.
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arco sitzt neben Zyna und tupft ihr mit einem feuchten Tuch die Stirn. Als ich an das Klappbett trete, betrachtet sie mich mit aufgerissenen Augen. Ihr Atem geht schnell und stoßweise. Sie bringt kein Wort hervor, auf ihren Wangen zeichnen sich rote, glänzende Flecken ab. Die Luft ist stickig geworden. »Ich konnte sie nicht aufhalten«, sagt Marco. »Sie ist gegangen, nachdem Erdem verschwand.« »Hat sie den Camper genommen?«, will ich wissen. »Sie ist zu Fuß losgezogen.« »Wohin?« »In die entgegengesetzte Richtung, zur Grenze. Sie hat gefragt, ob sie auf diesem Weg nach Chiasso kommt.« Der Zettel in meinem Schreibtisch. Die Schlüssel. »Wie lange braucht man von hier nach Chiasso?« »Kommt drauf an. Wenn sie den Fußweg nach Bruzella nimmt, kann sie von dort aus durchs Muggiotal mit dem Postauto weiterfahren. Dann ist sie in zwei Stunden dort.« »Postauto?« »Das ist der Überlandbus.« Bei ihrem Tempo ist sie wahrscheinlich viel schneller da. »Was hat sie vor?« Wahrscheinlich weiß sie das selber nicht. »Sie sagte, dass es etwas mit dir zu tun hätte. Mit dir und Zyna. Um ehrlich zu sein – es ist mir egal.« Er wendet sich wieder Zyna zu. Ich spiele die Möglichkeiten durch. Eigentlich gibt es nur eins: mit dem Camper nach Chiasso. Das dauert zwar eine Weile, 289
weil ich erst die Serpentinen zum Comer See runterfahren und dann um den ganzen Berg herumkurven muss, noch dazu mit dieser Klapperkiste. Trotzdem könnte ich es rechtzeitig schaffen. Erdem zu verfolgen, hat keinen Sinn. Der ist bestimmt auf und davon, den kann ich abschreiben. »Was ist mit ihr?«, frage ich schließlich und ziehe mir einen Stuhl heran. »Sie hat hohes Fieber. Ich habe Botta verständigt. Er kommt, so schnell er kann.« »Die Wunde?« »Sieht normal aus. Aber Botta meinte, dass der Schusskanal verunreinigt sein könnte.« »Blutvergiftung.« Er nickt und redet beruhigend auf Zyna ein. Sie bekommt einen Schüttelkrampf. Zuckende Gliedmaßen, als wolle das Leben mit aller Gewalt aus ihr heraus. Ich taste nach ihrem Puls, bin aber nicht imstande, ihn zu lokalisieren. Schließlich probiere ich es an ihrem Hals. Ihr Puls geht so schnell, dass sich die einzelnen Schläge kaum voneinander unterscheiden lassen. »Was kann man dagegen tun?« »Antibiotika«, entgegnet Marco. »Leider hab ich nicht die richtigen da. Wir müssen auf Botta warten. Er will ihr eine Infusion legen.« Sein Blick löst sich von mir, heftet sich auf eine Stelle neben meinem Kopf. Ein Geräusch hinter meinem Rücken. Metall senkt sich auf meinen Nacken. Die Mündung einer Pistole. »Eine Bewegung und ihr seid tot.« Ich bewege mich nicht. Aus dem Augenwinkel sehe ich Nondas auftauchen. Er hat ebenfalls eine Waffe im Anschlag, nähert sich Zyna. Batu tastet mich mit einer Hand ab. 290
»Das ist sie, Batu. Pass auf!« »Zyna ist schwer krank«, sage ich, ohne mich zu rühren. »Sie kann euch nicht gefährlich werden.« »Schnauze!« Ein Schlag mit der Pistole, direkt hinter mein linkes Ohr. »Wo ist Erdem?« Schweigen. Ungeachtet der Schmerzen muss ich lachen. Diesmal rammt er sein Knie in meinen Rücken. Lache nie, wenn dir einer wie Batu eine ernst gemeinte Frage stellt. Zeit, zu Boden zu gehen. »Ihr habt ihn gar nicht.« Batu ist außer sich, fuchtelt mit seiner Pistole in Richtung Nondas. »Warum glaubst du diesem Scheißkerl? Wenn der den Mund aufmacht, kommt ’ne Lüge raus. Einmal Betrüger, immer Betrüger.« »Im Keller liegt noch seine orange Weste«, sagt Marco. »Ihr könnt nachsehen. Erdem war hier.« »Wen haben wir denn da?« Batu hat ein neues Opfer gefunden. Er pflanzt Marco den Lauf seiner Waffe zwischen die Augen. »Sieht nach einem ziemlich jämmerlichen Komplizen aus. Glückwunsch, mein Junge! Hast dich ja hervorragend in die Scheiße geritten.« Marco fixiert den Abzug. Er sitzt, Batu steht. »Hör auf damit!« Nondas checkt die Türen, wirft einen Blick auf die schlafende Lidia. Dann schaut er in unsere Gesichter. Er lässt die Pistole sinken. »Das vermisste Mädchen.« Er deutet mit dem Kopf auf Lidia. »Viktor hat die Wahrheit gesagt.« Drei Schüsse, schnell hintereinander. Batu hat in den Kamin gefeuert. Glühende Holzstücke fliegen durch die Luft, Ascheflocken, Steinsplitter. Will er, dass die Bude in Flammen aufgeht? Ich schütze den Kopf mit Armen und Händen, spüre den ganzen Schmodder auf mich herabregnen. 291
Nach den Schüssen senkt sich Stille über den Raum. Als sei das Haus aus der Welt entfernt worden. »Wo ist Erdem?«, schreit Batu. Keine Antwort. Schwelende Klümpchen neben meinem Kopf. Niemand rührt sich. Dann, ganz leise: »Sie hat ihn laufen lassen.« Zyna. Der Schweiß läuft ihr in Bächen herunter. Sie richtet sich langsam auf, stützt sich mit den Ellenbogen ab. Ein Blick aus Eis, als sie mich auf dem Boden entdeckt. Sie schiebt ihr Kinn vor. »Chiasso.« Sie macht eine Pause. Schöpft Atem. Nimmt Anlauf. »Das kleine Luder ist nach Chiasso abgehauen.« Batus Arme schwenken herum. Er nimmt sie ins Visier. Sie beachtet ihn nicht. Nondas steht tatenlos daneben. »Allein?«, fragt er schließlich. »Ja, verdammt!«, antwortet Marco. »Erdem hat meinen Wagen genommen. Er hat ihn … geklaut.« Eine schwache Lüge. Aber besser als Verrat. »Wo ist er hin?« Batu hält die Waffe weiter auf Zyna gerichtet. Die Genugtuung in ihren Augen, als sie meine Fassungslosigkeit sieht. Dann lässt sie sich auf ihr Kissen sinken und starrt ins Leere. »Die Straße führt nur zum Lario runter«, wirft Marco ein. »Ihr müsstet ihm eigentlich begegnet sein.« Er beginnt, Ascheteile von Zynas Beinen zu entfernen. Ich stehe auf und trete qualmende Holzkohlebrocken aus. Lidia hat das meiste abgekriegt, weil sie dem Kamin am nächsten ist. Fluchend schüttelt Nondas ihre Wolldecke aus. Ich schubse 292
Batu beiseite. Er betrachtet unschlüssig seine Waffe und protestiert nicht mal. Hastig ersticke ich kleine Brandherde auf der Polsterung des Liegestuhls. Als wir fertig sind, bemerke ich, dass Lidia wach ist. Nondas will sie wieder zudecken. Er hält inne. Sie schaut sich um. Schüttelt missbilligend den Kopf. Dann hebt sie eine Hand und umfasst Nondas’ Kiefer. Sie betrachtet ihn kurz, eine flüchtige Prüfung. »Bullen. Hab ich mir gleich gedacht.«
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latscreenbullen. Die beiden haben uns über mein eingeschaltetes Handy aufgespürt. Sie wollen mir nicht verraten, wie es ihnen genau gelungen ist. Aber ich hörte, wie sie sich leise über irgendeinen »Catcher« unterhielten. Ich nehme an, damit ist ein Ortungsgerät gemeint. Da sie über ein Krypto-Handy verfügen, haben sie sicher auch noch andere Gimmicks in dieser James-Bond-Weltbeherrschungszentrale im Delle Alpi. Ich frage mich, warum das nicht schon gestern geklappt hat, als ich sie über Phils Handy beim Joggen angerufen habe. Jetzt erinnere ich mich auch an das Knacken in der Leitung – das lässt sich trotz neuester Technik wohl nie vermeiden. Vermutlich war das Gespräch zu kurz, um es zurückzuverfolgen. Gut, dass auch Flatscreenbullen noch ein paar verräterische Hinweise hinterlassen. Sonst würden sie sich für unfehlbar halten. Was Nondas und Batu hoffentlich nicht tun. Marcos Vermutung war richtig. Erdem kam ihnen tatsächlich in dem weißen Kombi entgegen, und sie haben’s nicht gemerkt. Genauer: Sie haben einen weißen Kombi gesehen – so viele Autos befahren diese Straße ja nicht, aber sie haben Erdem hinter der verschmierten Windschutzscheibe nicht erkannt. Jetzt tun sie aus Trotz genau das, was alle geleimten Bullen tun: Sie verfolgen die einzige Spur, die sie haben. Dank Zyna. Sie wollen Phil wegen Fluchthilfe drankriegen. Außerdem hoffen sie, dass sie etwas über den Verbleib von Erdem weiß. Aus Zyna haben sie sogar noch unsere Deckadresse in Chiasso rausgequetscht, 27, Via dei Carbonari. Mein Handy haben sie mir abgenommen. Als Erstes stürzten sie allerdings in den Campingbus und kontrollierten, ob der Peilsender funktioniert, den Nondas 294
Erdem in der Biglietteria verpasst hat. Er funktioniert. Und befindet sich an der orangen Weste, die Erdem zurückgelassen hat. Ich sitze im Laderaum, Batu steuert den Campingbus durch die nördlichen Vororte von Como. Nondas fährt mit einem Leihwagen des Delle Alpi, einem silbernen BMW, voraus. Wir hatten nicht viel Zeit, die Ereignisse zu rekonstruieren. Da ich keinen Grund besaß, ihnen etwas zu verschweigen, erzählte ich ihnen alles, was passiert ist. Ich gab ihnen sogar den Zettel, den Phil geschrieben hat, vielleicht entlastet das meine Tochter. Aber im Grunde ist ja eh alles egal. Ich pfeif drauf. Jeder trifft momentan seine eigenen Entscheidungen – ich nicht. Endlich bin ich in der Gleichgültigkeit angekommen, die mir alle vorhalten. Sie fühlt sich beschissen an. Ich lasse die terrassierten Hänge an mir vorbeiziehen. Die Spielzeuglandschaft eines größenwahnsinnigen Königs. Wenn Lidia wieder auf dem Damm ist, würde ich mich gerne mit ihr unterhalten. Aber viel gibt’s da nicht mehr zu sagen. Versiegte Brunnen. Die gibt’s auch als Modell. Als Kind habe ich immer einen Fingerhut voll Wasser reingetröpfelt, damit sie wenigstens den Anschein von Echtheit erwecken. Das Leben: seit Anbeginn ein Witz aus bemaltem Kunststoff. Steht bei Toys ›r‹ us dutzendweise im Regal. Was Nondas und Batu noch nicht wussten: dass Zyna Gwizdeks Tochter ist. Das war für sie eine richtige Neuigkeit – und hat ihre Bullenlogik aufs Schönste bestätigt. Der Rest, na ja, auch Nondas und Batu haben bei der Fahrt auf den Monte Bisbino Radio gehört. Bei der Erwähnung des massacro in der Via Rosselli zogen sie die richtigen Schlüsse: Vertuschung. Von den Toten wussten sie schon vorher. Einen Zusammenhang zwischen Zynas Auftritt in der Biglietteria und den Messerleichen in dem Bürohaus herzustellen, hat selbst Batu nicht überfordert. 295
Als die Carabinieri ihn auf der Wache verhörten, kam es immer wieder zu Unterbrechungen. Viele Tote: viel Geschrei. Das ist selbst in Mailand so. Batu kriegte den Polizeifunk mit. Obwohl er nur die Hälfte verstand, blieben die entscheidenden Dinge hängen. Aufschlussreicher waren die Reaktionen der Carabinieri. Zuerst wurde dem zuständigen Kommissar der Fall entzogen. Batu hatte es plötzlich mit einem Hardliner zu tun, der ihn schon wegen seines türkischen Äußeren schief anschaute. Und da Batu zwar ein Choleriker, aber kein Einfaltspinsel ist, entging ihm auch nicht, wie der neue Kommissar sich in sein Büro verzog, um der Presse ein paar Tipps zu geben – transparente Glaswände sind nicht immer im Sinne des Erfinders. So wie es auf Batu wirkte, diktierte der Commissario den Medien die Meldung regelrecht in die Feder, und das zu einem Zeitpunkt, als er noch gar nicht wissen konnte, was sich in der Via Rosselli genau abgespielt hatte. Mir ist klar, wer da die Hände im Spiel hat. Das Einzige, was mich wach hält: mein Laptop im Delle Alpi. In meinem Kopf läuft die Aufnahme immer wieder ab: Ferro lässt seinen populistischen Pesthauch ab, dann ein ungeschnittener Schwenk über die prügelnde Menge, dann Lidia und der Typ, an dessen großem Zeh jetzt mit Sicherheit ein Zettel baumelt. Auch das dank Zyna. Sie hat ihren – radikalen – Teil beigetragen. Vor Gericht reicht es zwar nicht, dass Lidias Entführer einer von Ferros Bodyguards war, aber für die Medien allemal. Falls es noch ein paar unabhängige in Italien gibt. »Interessiert euch denn gar nicht, was Ferro hier inszeniert?«, frage ich Batu. »Ihr seid doch Bullen. Wo ist euer Sinn für Gerechtigkeit?« Er zögert, will anscheinend nicht darüber reden. Dann: »Nondas ist wegen Erdem hier. Wir machen hier Polizeiarbeit. Das verstehst du nicht.« 296
»Warum lasst ihr den Kerl nicht hochgehen?« »Das ist nicht so einfach, wie du es dir vorstellst. Wir haben keine Beweise gegen Ferro. Deine Tochter hat sich den Camcorder abnehmen lassen. Der Rest sind Vermutungen. Das prallt an diesen korrupten Bullen ab wie Popcorn.« »Und wenn es eine Kopie gäbe?« Er dreht sich zu mir um. »Was sagst du da?« »Damit könntet ihr zu einem unabhängigen Richter gehen. Oder zu einem aufrechten Polizisten. Von denen muss es hier ja auch noch ein paar geben.« »Und was würde das ändern?« Er winkt ab. »Erdem weiß von der Aufnahme. Wenn ich er wäre, würde ich mich absetzen.« »Dann lasst Erdem eben eine Zeit lang Erdem sein und kümmert euch um Ferro.« »Nicht, solange Erdems Spur noch warm ist.« »Nondas ist so heiß auf ihn. Irgendwann werdet ihr ihn schon kriegen«, sage ich halbherzig. »Irgendwann, genau.« Er wendet sich wieder ab. »Und in der Zwischenzeit schnappen wir uns deine Tochter.« Der Grenzübergang liegt mitten im Ort. Nondas ist bereits ein Stück vorausgefahren. Die grau gekleideten italienischen Zöllner dirigieren uns in eine Parkbucht, telefonieren eine Weile. Dann beginnen die Kontrollen. Sie sind unerwartet gründlich. Ein paar Carabinieri kommen hinzu. Batu zeigt seinen deutschen Bullenausweis vor. Endlich bekomme ich den mal zu Gesicht. Sieht überraschend echt aus. Trotzdem inspizieren sie das Innere des Campers. Mein falscher Reisepass leistet gute Dienste, sie beachten mich nicht weiter. Dafür laufen sie mit einem Bild von Wagen zu Wagen, ein großformatiger Schwarzweiß-Abzug, soweit ich das feststellen kann. Er zeigt Phil. Es ist nur ein Phantombild, aber sie ist gut darauf zu erkennen. Viel zu gut. Ich denke an diesen 297
Jungen, der in der Via Rosselli durch die Scheibe gestarrt hat. Bei dieser alles andere als perfekten Befreiungsaktion lief eine ganze Menge aus dem Ruder. Ich frage mich, warum Erdem von der Fahndung anscheinend völlig ausgenommen ist. Das hat auch Batu erzählt. Bei den Polizeifunkdurchsagen wurde er mit keiner Silbe erwähnt. Als existiere er überhaupt nicht. Es war nicht mal anonym von einem ›Geschäftsmann‹ oder ›Büroleiter‹ die Rede. Nichts. Ferro scheint ihn zu decken. Sie lassen Batu alle Geräte einschalten. Das ist jetzt nur noch Schikane. Die Carabinieri wissen, wer er ist, wollen ihm einfach Schwierigkeiten machen. Ihre spöttischen Bemerkungen über den heruntergekommenen Zustand des Campingbusses zeigen, dass dieses kleine Ritual nichts anderes bedeutet als: »Verschwinde, Batu, du hast hier nichts zu suchen. Arrivederci.« Ich bleibe in dem Bus sitzen. Batu steht mit geballten Fäusten daneben und würde am liebsten irgendetwas eintreten. Schließlich werfen sie die Hecktüren mit übertriebenem Schwung ins Schloss. Sofort schnappe ich mir den Kopfhörer. Als Batu den Receiver eingeschaltet hat, ist ihnen eine Kleinigkeit entgangen. Die Anzeige schlug aus. Ein erkennbarer Pegel. Nur machte sich keiner die Mühe, den Kopfhörer aufzusetzen. Phil. Sie hat die ganze Zeit über den Rolli getragen, den sie schon im Bahnhof anhatte. Den mit dem Riss in der Brust von Zynas Messerstich. Und mit dem Mikro im Kragen. »Hau ab!« Sie ist klar zu empfangen. Der Kanal ist noch eingestellt. Sie spricht mit Nondas.
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»Was heißt das auf diesem Zettel hier? Wir haben Frieden geschlossen?« »Lass mich los, verdammt!« Ein Klicken. Rasten so Handschellen ein? »Also noch mal: Was hast du mit Erdem gemacht?« »Was schon? Ich hab ihn gehen lassen.« Sie klingt gereizt. »Das hattest du von Anfang an vor, nicht wahr?« »Na und? Er befand sich nicht in polizeilichem Gewahrsam. So heißt das doch, oder?« Stimmt, denke ich, von dieser Seite habe ich es noch gar nicht betrachtet. ›Fluchthilfe‹ kann Nondas also schon mal von seiner Anklageliste streichen. Aber da gibt es noch eine ganze Latte an Delikten, wegen derer er sie festnehmen kann. Jetzt, wo Erdem entkommen ist, will er nicht mit leeren Händen dastehen. Batu steigt wieder ein, meine Aufmerksamkeit ist abgelenkt. Die Carabinieri winken uns weiter, plötzlich kann es ihnen nicht schnell genug gehen. Wir passieren die Schweizer Zöllner, winken mit unseren Ausweisen. Sie würdigen uns keines Blickes. Die Via dei Carbonari ist eine der ersten Querstraßen hinter der Grenze. Ich sage Batu, wohin er fahren soll. Er hat nicht mitgekriegt, dass ich den Receiver benutze, umfährt die Absperrungen einer Baustelle. Die haben hier das ganze Kaff aufgerissen. »Hat sie dieses Messer benutzt?«, höre ich. »Ja.« »Es gehört dir. Lüg mich nicht an, ich habe gesehen, wie sie es dir abgenommen hat.« »Ja, es ist meins. Aber sie hat damit getötet.«
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»Wollen wir hoffen, dass noch ein paar Fingerabdrücke von ihr drauf sind. Sonst kommst du nicht auf Bewährung davon, egal, was ich für eine Aussage mache.« Ich höre Reifenquietschen, Türenschlagen, Schreie. Lärm, der auf eine Ansammlung von vielen Menschen schließen lässt. Wir biegen um die Ecke. Batu steigt in die Eisen. Ich pralle gegen die Trennwand der Fahrerkabine, verliere dabei den Kopfhörer. Als ich mich wieder hochrappele, sehe ich Blaulichter und jede Menge Carabinieri. Überall stehen ihre Bullenwagen herum und blockieren die Straße. Ein Auto der Schweizer Polizei ist auch dabei. Sie bilden einen Trichter vor dem dreistöckigen Mietshaus, in dem Zyna und ich eine kleine Wohnung für unsere Internet-Geschäfte angemietet haben. Mitten in dem Tumult hält Nondas Phil am Arm fest. Ihre Hände sind hinter ihrem Rücken verschränkt. Zwei Carabinieri schreien Nondas an, zerren an Phil. Einer der beiden, ein Großer, Schmaler, kommt mir vom Bahnhof bekannt vor. Es werden immer mehr. Batu ist ausgestiegen. Er will Nondas zu Hilfe kommen. Sofort wird er von mehreren Waffen bedroht. Einer der Bullen tritt ihm ein Bein weg und knallt ihn auf eine Kühlerhaube. Das ist gar nicht so einfach. Batu hat so viele Muskeln, dass es für diesen aufgeregten Hühnerhaufen doppelt und dreifach reichen würde. Er wehrt sich, fährt die Fäuste aus. Das sollte er nicht tun. Jetzt machen sie ihn fertig, von hinten. Offenbar haben sie ihre »Unica Opposizione«-Brigade hergeschickt. Batu knickt ein. Ich rupfe alle Kabel aus dem Receiver und klemme ihn mir unter die Achsel. Jetzt oder nie. Das Ding ist scheißschwer. Ich klammere mich daran wie an einen Herzschrittmacher. Mit einem Satz verlasse ich diesen Bus, der uns nichts als Unglück gebracht hat, und renne los. 300
Nach den ersten Metern ducke ich mich hinter ein parkendes Auto. Niemand scheint mich oder die offen stehenden Hecktüren des Campers zu bemerken. Die Bullen sind voll und ganz mit Nondas und Phil beschäftigt. Sie haben sogar einen Fotografen dabei. Ich nehme an, er wird alles andere aufnehmen als Batus Sonderbehandlung. Weiter. Ich befinde mich in einem Geschäftsviertel. Chiasso ist so hässlich wie die meisten Grenzstädte. Banken, Versicherungsbüros, irgendwelche dubiosen Behörden. Die Hälfte aller Fenster ist vergittert. Hier hat wahrscheinlich jeder Zweite Dreck am Stecken. Außer einem Bauarbeiter, den ich beim Bauen eines Joints störe, ist niemand auf der Straße. Willkommen in der Schweiz. Ich drehe mich nicht mehr um.
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er Mittagshimmel ist ein Hohn. Nach dem trüben Morgen zeigt er sich von seiner besten Seite. Tut richtig weh, ihn so strahlen zu sehen. Ich mache mir Gedanken über Phil. Zu meiner Enttäuschung gesellt sich Unverständnis. Als ich sie zwischen den blauen und grauen Uniformen gesehen habe, mit diesem arroganten Blick, als sei sie bei einem Schülerstreich ihres Hochbegabtenvereins erwischt worden, hätte ich ihr mit Wonne den Hintern versohlt. Was für eine idiotische Aktion, in Chiasso aufzutauchen! Von den Toten abgesehen ist doch alles einigermaßen glatt gelaufen. Gut, Nondas und Batu haben uns aufgespürt. Aber mit Erdem als Pfand hätten die alles geschluckt. Sie hätten ihn mitgenommen und aus, Ende. Jetzt haben sie Phil. Nach den vielen Carabinieri zu urteilen, die an der Festnahme beteiligt waren, haben sie meine Tochter zurück nach Italien gebracht. Ich kann nicht das Geringste dagegen tun. Ich kann nur mithören, falls sie ihr den Rolli nicht abnehmen oder das Mikro entdecken. Das kann ich aber erst, wenn es mir gelingt, dieses Monstrum von Receiver irgendwo anzuschließen. Irgendwie muss ich zurück zum Monte Bisbino. Ich fahre mit dem Bus, den sie hier Postauto nennen, nach Bruzella. Keine Grenzkontrollen mehr. Nicht mit diesem Gerät unter dem Arm. Durchs Muggiotal ist es ein endloses Gekurve. Zuvor musste ich ein paar Euro gegen Franken eintauschen, so genau nehmen sie’s hier. Ich setzte mich in die hinterste Reihe. Die Leute, denen ich begegne, starren mich entgeistert an. Das ist kein Problem. Das Problem ist der Berg.
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Ich steige in Bruzella aus und schlage die Richtung ein, in der ich den Monte Bisbino vermute. Nach hundert Metern kommt sogar ein blank polierter gelber Wegweiser. Der Weg ist so steil, dass ich schon nach den ersten zehn Minuten völlig außer Atem bin. Natürlich kannst du selbst entscheiden, Phil. Ich denke auch garantiert nicht an dich, versprochen. Zumindest wenn ich besinnungslos bin und keine Kontrolle darüber habe. Viel fehlt momentan nicht dazu. Ich jogge dieses Miststück von Berg hoch. Ein gutes Gefühl, wenn der Schmerz in den Schenkeln alles andere überlagert und du nicht weißt, ob dein Bein hält. Die Luft in den Lungen wird immer weniger. Na bestens. An den meisten Stellen gleicht der Weg eher einem ausgetrockneten Bachbett. Ich rutsche immer wieder weg. Meine Antikstyle-Sneakers sind für dieses Geröll nicht gemacht. Die Kanten des Receivers schneiden mir in die Finger. Von mir aus können sie abfaulen. Dann schleppe ich das Ding halt zwischen den Zähnen hoch. Auf den weniger steilen Abschnitten des Wegs kommt Sauerstoff in meinem Gehirn an: Da läuft etwas schief. Diese Zärtlichkeiten mit Phil. Was richten die bei ihr an? Ich meine, wir haben uns in ihrer Kindheit kaum gesehen. Wir lebten gerade mal zwei Jahre zusammen. Da war sie so zehn Jahre alt. Wer bin ich denn für sie? Ich war dauernd mit dem Fotoapparat unterwegs, meinte Bilder von wichtigeren Dingen machen zu müssen. Dann kam sie ins Internat. Internet. Klingt nach billigem Wortspiel, aber es liegt so nah beieinander, wie die Buchstaben. Alles liegt nah beieinander. Vor allem unsere Verluste. Den anderen besitzen und verlieren. Ich habe nie eine eindeutige Grenze gezogen. Diese Umklammerung, als ich sie ins Bett bringen wollte. Sie weiß nicht, wie sie ausdrücken soll, was zwischen uns ist. Da wären wir ja schon mal zu zweit. 303
Und immer wieder Erdem. Will sie mich provozieren? Oder ist er die Kette, die uns bindet? Wir haben Frieden geschlossen. Ich dachte, der Frieden hätte sich schon längst zum Sterben hingelegt. Was sucht er noch hier, der vertrottelte alte Knacker? Er wird nicht gebraucht. Jetzt ist Krieg. Das ist es, was uns unterscheidet, da kommen wir nie im Leben zusammen. Aber seit wann sind Krieg und Frieden ein unüberbrückbarer Gegensatz? Das eine gibt es nicht ohne das andere. Immerzu.
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yna ist tot. Sie starb vor einer halben Stunde. Botta kam zu spät. Mir fehlt die Kraft, ihn zu beschimpfen. Ich lasse mich auf den Boden vor dem Kamin nieder und starre auf die erloschenen Holzscheite. Marco steht unter Schock. Botta redet mit ihm. Ich kriege nur am Rande mit, was er ihm erzählt. Es hört sich nach romantisierendem Quatsch an. Zyna und Botta, da liegen Generationen dazwischen, die nichts anderes auf die Reihe gekriegt haben, als an ihrem Selbstbild herumzumodellieren. Die Verachtung dafür verbindet Großeltern und Enkel. Ich denke, Botta hat gespürt, wie es in Zyna aussah, mehr als ich. »Sie fühlten sich ihr nahe«, fange ich an. »Sich ganz reinhauen, gegen jeden Verstand, aber mit einem klaren Ziel – das kam Ihnen sicher bekannt vor.« »Das ist Ihnen aufgefallen?« »Sie wandten sich gegen einen Einzelnen, genau wie sie. Bei Zyna war’s der Mörder ihres Vaters, bei Ihnen war’s Mussolini.« »Das schließt sich nicht aus«, entgegnet Botta. Er hängt wieder an der Schnapsflasche. »Was denn, ein politischer und zugleich ein persönlicher Feind? Das gibt’s aber selten.« »Das denken Sie. Jemand wie Mussolini wird sehr schnell zu einem persönlichen Feind.« Ich schließe den Receiver an die Stereoanlage im Gastraum an und horche. Alles, was Phil sagt oder mitkriegt, wird jetzt über die Boxen übertragen. 305
Aber da ist nichts zu hören. Ab und zu ein Geräusch mit einem seltsamen Nachhall, wie ferne Gesprächsfetzen. Dann ein heftigeres Ein- oder Ausatmen. Das Gerät ist intakt. Leider hat Marco kein Tape-Deck, mit dem wir alles aufnehmen könnten. Der Fluch des CD-Spielers. Vielleicht liegt Phil in einer Gefängniszelle und schläft. Oder wacht. Wenigstens lassen die Bullen sie in Ruhe. Ich leiste Botta bei seinem Grappa Gesellschaft. Lidia ist gerade unter der Dusche. Es geht ihr wieder besser. Als ich zur Tür hereinkam, drehte sie die Augen zur Decke und verschwand ohne einen Ton. »Der Faschismus hatte sich doch schon verabschiedet«, fahre ich fort. »Damals, als Sie den Duce mit dem Kopf nach unten aufgehängt haben. An einer Tankstelle in Mailand, nicht wahr? Waren Sie da eigentlich dabei?« »Kommt es darauf an?«, gibt Botta zurück. »Ich frage nur aus Voyeurismus. Das muss doch eine unheimliche Genugtuung gewesen sein.« »Das war es. Ist nicht zu leugnen.« »Aber der Faschismus war bereits tot.« »Nur dem Anschein nach«, sagt er. »Und zurück blieb der Kerl, der den ganzen Mist erst lostrat. Nicht, dass es ihm viel Mühe bereitet hätte. In Deutschland lag der Kehricht ja schon auf der Straße. Die Nazis haben ihn nur zusammengekehrt und sich an die Spitze gesetzt. Daraus wurden dann Politiker.« »Und weiter?« »Genügend Leute haben diese Politiker machen lassen.« »Woher nehmen Sie Ihre Gewissheit?« »Es ist der Glaube ans Politische. Wir sitzen immer wieder neuen Strippenziehern auf. Das funktioniert auch ohne Ideologie, es ist ein selbst erhaltendes System. Demokratie 306
beruhte schon immer auf Marketing, genau wie eine Diktatur.« »Und was wollen Sie mir damit sagen?« »Dass es keinen großen Unterschied macht, ob man Typen wie Mussolini umbringt, wenn sie keine Macht mehr haben, oder sie am Leben lässt.« »Stimmt.« Er schenkt zwei Gläser Grappa ein. »Das hat auch niemand behauptet.« »Dann könnte man sie auch Selbstmord begehen lassen. Hitler hat sich umgebracht.« »Oder man nimmt sie fest und stellt sie vor Gericht«, ergänzt Botta. »Das wäre human.« »Für wen?« »Für das Volk, das einem Diktator gefolgt ist. Damit es sich besser fühlt und mit reinem Gewissen neu anfangen kann.« »Sie sind ja noch zynischer als ich.« »Ich bin Arzt. Das ist mein Beruf.« Wir stoßen an, trinken. »Also was jetzt?«, frage ich und stelle das Glas ab. »Aburteilen, gegebenenfalls mit Todesstrafe? Darauf warten, dass der Kerl Gift nimmt? Oder doch besser umbringen?« »Umbringen oder leben lassen, dazwischen gibt’s nichts.« »Und wer bringt ihn um?« »Derjenige, der später damit leben muss.« »Da findet sich immer einer. Aber ob er auch damit leben kann, das ist die Frage.« »Haben Sie schon jemanden umgebracht?«, fragt er. »Zwei Männer«, antworte ich prompt. »In Notwehr.« »Notwehr, ach ja.« Er macht eine Pause, schüttelt den Kopf. Dann schenkt er sich Grappa nach. »Bereuen Sie es?« »Ich bin mir nicht sicher. Es ist … passiert.« 307
»Leiden Sie darunter?« »Ich glaube schon.« »Sie denken wohl nicht oft über sich selbst nach?« »Kommt darauf an.« »Dann schlage ich vor, dass Sie dabei etwas zielgerichteter vorgehen.« Das sagt sich so einfach. Als ob die beiden Toten meine einzige Sorge wären. Die Schwere eines Vergehens sagt noch nichts über seinen Stellenwert auf der persönlichen Sühneskala aus. »Wie steht’s mit Ihnen?«, fahre ich fort. »Wen haben Sie auf dem Kerbholz?« »Denken Sie, hier laufen massenhaft Totschläger und Mörder herum?« »Das ist gar nicht mal so abwegig. Vorhin haben Sie gesagt …« »Was?« »Dass Sie dabei waren, als Mussolini …« »Ich habe ihn abgeschnitten.« Er wird ungehalten. »Reicht das?« Ich bin überrascht, lasse aber nicht locker. »Wie war es? Gibt es da etwas zu bereuen?« »Was meinen Sie, warum ich trinke?« Das habe ich schon vermutet. »Und was ist mit ihr?« Ich deute auf Zyna. Wir haben uns die ganze Zeit in der Anwesenheit ihrer Leiche unterhalten. Über ihr Gesicht ist eine Decke gebreitet. »In welche Kategorie fällt sie? Wissen Sie, was sie getan hat?« Er zögert. »Ihr war nicht zu helfen. Egal, was sie getan oder unterlassen hat.« 308
»Was heißt das? Haben Sie sie auch … abgeschnitten?« »Sie vermischen da etwas.« »Wirklich?«
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oll ich jetzt bei Attac eintreten? Wenn ich meinen Frust ausgekotzt habe, reicht’s mir wieder mit dem Politisieren. Na ja, Phil zuliebe könnte ich ja so tun. Aber sie würde meine wahren Beweggründe durchschauen. Zyna wäre bestimmt alles egal, worüber ich mich mit Botta unterhalten habe. Es gibt keine Tradition, schon gar keine, die Generationen verbindet. Es gibt auch keine Generationen, das ist nur eine Erfindung. Es gibt nur Menschen und Situationen, immer wieder neue. Und es gibt Zynas Leiche. Ihre kalten Finger, die an den Gelenken bereits hart werden. Botta schlägt vor, einen Totenschein auszustellen und sie abholen zu lassen. Ich bin dagegen und wecke Marco auf. Ich möchte sie begraben. Er schreckt hoch. Überraschend schnell erklärt er sich dazu bereit, mir zu helfen. Botta will nichts damit zu tun haben und steigt in seinen alten Fiat Uno. Ich versichere ihm, dass Marco sich nichts hat zuschulden kommen lassen. Im Zweifelsfall würde ich aussagen, dass ich ihn mit vorgehaltener Waffe zu allem gezwungen hätte. »Sie machen sich Ihre eigene Moral. Damit kommen Sie nicht durch.« »Bisher hat’s einigermaßen geklappt«, gebe ich zurück und klopfe auf das Dach des Fiats. »Umbringen, abschneiden, beerdigen. Wenn’s sein muss, kriege ich das in Mehrfachbesetzung hin.« Er gibt Gas. Kann sein, dass ich langsam ausraste und mich endgültig von aller Vernunft verabschiede. Ich meine, Grundsatzdiskussionen, was soll denn das? Das ist so, als holte man ein Paar 310
ausgelatschter Schuhe hervor und täte so, als könne man damit noch einen Berg hochmarschieren. Prinzipien sind wichtig, damit nicht alles auseinander fällt. Damit gewisse Dinge gewahrt bleiben. Damit man überhaupt erst sagen kann: »Also gut, ich bin wieder dran. Jetzt spiele ich!« Aber um grenzenlos zu lieben – oder zu hassen –, muss man seine Prinzipien ignorieren. Darf keine Bedingungen stellen. Keine Gefangenen machen. Mit Spitzhacke und Schaufel heben wir eine Grube im Wald aus. Marco hat mir einen Kopfhörer gegeben, der über ein Funksignal mit der Stereoanlage verbunden ist. Er benutzt ihn normalerweise beim Holzhacken. Phils Mikro überträgt immer noch nichts Brauchbares. Man möchte meinen, ein Grab zu schaufeln deprimiert. In Wahrheit ist es eine erfüllende Tätigkeit. Ich fühle mich nützlich. Zugleich nehme ich von Zyna Abschied. Ich bin nicht froh, dass wir sie unter die Erde bringen, das ist es nicht. Marco und ich heulen um die Wette, er aus Ergriffenheit, ich aus, ich weiß nicht, Schuldgefühlen. Zyna und ich haben uns nicht besonders gut verstanden, aber ich habe sie mehr gemocht, als ich einzugestehen bereit war. Vielleicht wollte ich noch warten, bis sie älter geworden wäre. Wenigstens, bis wir die Auktionen durchgezogen hätten. Das hat sie als Zurückweisung, vielleicht auch als Schwäche aufgefasst. Verdammter Sex, immer steht er im Weg. Wo er doch so einfach sein könnte: Mit Zyna schlafen und Phil lieben. Das wäre doch eine glatte Sache gewesen. Aber hätte dann jede gekriegt, was sie wollte? Ich erzähle Marco einen Teil von dem, was mir durch den Kopf geht. Man kann immer nur Teile preisgeben, niemals das ganze Bild. Inzwischen schaut er mich mit anderen Augen an als am Vormittag. Es sind nicht mehr seine Jungenaugen, die haben eine Trübung bekommen. Er ist mir auch nicht freundlicher 311
gesonnen. Im Gegenteil, er scheint mich für alles verantwortlich zu machen. Er würde mir wohl gerne mit der Schaufel eins überziehen. Aber er verurteilt mich nicht. Er weiß, dass Phil für ihn unerreichbar ist. Dennoch gibt er nicht auf. Das spüre ich mit jedem Stück Erde, das er aus dem Boden sticht. »Es ist tief genug«, sage ich schließlich und werfe die Spitzhacke beiseite. »Ist es nicht.« Er schaufelt weiter. »Für mein Gefühl hat es die richtige Tiefe. Wir brauchen nicht mehr weiterzugraben.« »Mach es richtig, Viktor. Keine Halbheiten.« »Nein. Es ist tief genug.« Ich stelle mich hinein. Die Grube reicht mir bis an die Brust. »Schau nur, wie tief es ist.« »Wir müssen noch tiefer gehen«, sagt er. »Blödsinn, das reicht. Willst du hier eine Mine anlegen?« Er lässt sich nicht beirren. »Wir haben gerade erst die Oberfläche angekratzt. Es ist nicht tief genug.« »Sei nicht so spitzfindig. Da drin hätten auch drei Leute Platz.« »Niemals.« Zur Probe lege ich mich hinein. Ich habe keine Ahnung, warum er auf diesem absurden Quatsch besteht, aber nach der ganzen Heulerei muntert es mich wieder auf. »Siehst du. Wenn wir die Erde wieder drauftun, ist das mehr als genug. Das sind mindestens …« »Zwei Meter. Wir brauchen zwei Meter.« »Zwei Meter sind zu viel. Wem soll das nützen?« Feuchte Erde landet auf meinem Gesicht. Ich spucke das Zeug aus. 312
»Bleib ruhig da drin liegen, mach’s dir bequem. Das ist der richtige Ort für dich.« Lidias Stimme. Ich klettere aus der Grube. »Bist du wieder klar im Kopf?« Wahrscheinlich weiß sie nicht, was wir hier veranstalten. In ihrem Zustand hält sie unsere Schaufelei vielleicht für den Teil eines Selbstüberwindungstrainings. Das könnte ihr noch aus ihrer Zeit als Event-Managerin in Erinnerung sein. Da hat sie für die Sechzehn-Stunden-am-Tag-Zombies der New Economy den Affen gemacht. »Meinst du, das bisschen Heroin wirft mich aus der Bahn? Da müssen schon andere kommen.« »Erkennst du uns?« »Wenn ich mir Mühe gebe.« »Aber die Spritzen«, wundere ich mich. »Erdem hat dich wieder abhängig gemacht.« Für mich wäre das ein Grund, zwei Jahre in der Versenkung zu verschwinden, um mich auf Kosten von Attac zu erholen und eine Entgiftung nach der anderen zu machen. »So was passiert eben mal. Es war guter Stoff. Ich hab’s im Griff.« »Bist du wieder nüchtern?«, frage ich und rappele mich hoch. »Von wegen.« Ihr Blick irrt zu den Bäumen, rutscht in den Himmel, kehrt wieder zurück. »Ich bin voll drauf. Und diese Ladung Erde eben«, sie betrachtet eingehend die Schaufel in ihrer Hand und schmeißt sie mit einer lässigen Bewegung weg, »das war die absolute Krönung. Schön, dass ich das noch erleben durfte.« Sie scheint wieder die Alte zu sein. »Ich will dir ja nicht in dein High reinquatschen, aber du störst uns bei ernsten Dingen. Wie wär’s, wenn du wieder reingehst und deinen Zitronentee schlürfst?« 313
»Ich hab mich immer gefragt, wie du eigentlich von der Nadel gekommen bist«, gibt sie zurück. »Gab’s damals Methadon auf Rabatt?«
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idia hört nicht auf, uns zu nerven, bis wir Zynas Leichnam in eine Plane eingeschlagen und mit Erde bedeckt haben. Wir stampfen das Grab fest und verteilen die übrig gebliebene Erde in dem angrenzenden Wald. Erst als wir Haltung annehmen und Marco so etwas wie ein Gebet murmelt, hält sie endlich die Klappe. Ich drohe ihr an, eine zweite Grube auszuheben, wenn sie uns nicht in Ruhe lässt. Angesichts der vielen kahlen Stellen auf dem Rasen könnten hier jede Menge Leichen vergraben sein. Dann versuche ich, mir Zynas Gesicht vor Augen zu rufen. Ich will sie nicht vergessen. »Hab dich nicht so.« Lidia zeigt auf ihren Bauchverband. »I’m back. Und ich spüre nichts!« »Zyna auch nicht.« Ich gehe in die Hocke, rupfe ein paar Büschel Gras aus und streue die Halme auf das frische Grab. Nicht zur Tarnung, sondern aus dem Bedürfnis, den dunklen Fleck mit irgendetwas zu bedecken, einem Muster, einer Verzierung. Es sieht aus wie die Schraffur einer Federzeichnung. Ich betrachte die Erde in den Linien meiner Handflächen, auf den Ballen, unter den Fingernägeln. Sie wird sich leicht abwaschen lassen, solange sie nicht eingetrocknet ist. Schließlich gehen wir zu dem Rasthaus zurück. Ich kann ja verstehen, dass Lidia sich freut. Als ich ihr erkläre, wie ihre Befreiung abgelaufen ist, als ich von Zyna erzähle und wie sie Lidia rausgehauen hat, verstummt sie. Sie setzt sich vor den Kamin. Marco hat ein neues Feuer entfacht. Er legt ein Stück Holz nach. Ganz nah hält sie ihr
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Gesicht an die Flammen, dreht ihren Kopf, als wolle sie, dass sich die Wärme gleichmäßig auf ihre Haut legt. Plötzlich rauft sie sich die Haare, wirft sich auf den Boden. Sie kreischt etwas von Löchern, ihrem Herz, einem Gift. Ich weiß nicht genau, ob es am Heroin oder an ihr selbst liegt. Das lässt sich ja kaum voneinander trennen. Marco und ich hocken uns neben sie. Er reicht ihr eine Schmerztablette. Sie schluckt sie hastig, stürzt ein Glas Wasser hinunter, von dem das meiste danebengeht. Dann ist der Anfall vorbei. Als sei die Wirkung der Präparate sofort eingetreten, Placeboeffekt, was weiß ich. »Es geht schon wieder.« Sie lässt sich von Marco einen Haargummi geben und bindet ihre verfilzten Strähnen im Nacken zusammen. So blass, wie sie aussieht, leistet sie Zyna bald Gesellschaft. Ich setze mich mit dem Kopfhörer neben die Stereoanlage. Inzwischen hat sich etwas getan. Phil wurde aus ihrer Zelle geholt, ein Verhör ist im Gange. Wegen dieses verdammten Begräbnisses habe ich den Anfang verpasst. »Und dann, sagen Sie, hat diese Zyna den Pförtner kaltblütig umgebracht.« »Sie hat ihn exekutiert«, antwortet Phil. Marco schaltet auf Lautsprecher um und schickt sich an, Kaffee zu machen. Wir setzen uns an einen der Tische. »Mit einem Messer.« »Ein Kampfmesser. Sie kann gut damit umgehen.« »Was ist das? Was hören wir da?«, fragt Lidia. Ich erkläre ihr die Sache mit dem Mikro. Marco flüstert ihr den Rest der Geschichte ins Ohr. »Es kam zu einer Auseinandersetzung zwischen uns«, sagt Phil. »Ich habe versucht, sie aufzuhalten.« 316
Geräusche im Hintergrund. »Dafür gibt es keinen Beweis. Die Bänder der Überwachungskamera wurden zerstört.« Ich kann zwei fremde Stimmen unterscheiden. Seltsamerweise sprechen sie Englisch. Dabei kann Phil perfekt Italienisch seit der Zeit, als sie mit Sill in Pisa gelebt hat. Als ich mich laut darüber wundere, vermutet Lidia, dass es Absicht ist. Vielleicht möchte Phil, dass wir sie auch ganz sicher verstehen. Die Bullen – ich nehme an, dass es welche sind – gehen mit Phil immer wieder die Vorfälle in der Via Rosselli durch. Sie schlagen einen protokollarischen, geradezu höflichen Tonfall an. Sie erzählt ihnen, was sie mitgekriegt hat, bis sie von Zyna einen Tritt gegen die Schläfe erhielt und bewusstlos wurde. Sie löchern sie eine Weile. Ob noch eine dritte Person außer Zyna dabei war. Phil erwähnt mich mit keinem Wort. Dann fährt sie mit der Fahrt zum Monte Bisbino fort – ohne den Berg namentlich zu erwähnen. Sie spricht von einem Versteck, flicht ein, dass sie mit Zyna hier an Como vorbeigefahren sei, direkt an der Wache der Carabinieri. Im weiteren Verlauf des Verhörs sagt sie das noch öfter. Damit ist klar, wo sie sich befindet. Sie setzen sie ein wenig unter Druck, um Zynas Aufenthaltsort zu erfahren – aber nur kurz, es scheint ihnen nicht besonders wichtig zu sein. Vielleicht ändern sie ihre Taktik. Oder sie wissen von Nondas und Batu, dass Erdem geflohen und ohnehin nicht mehr in dem »Versteck« anzutreffen ist. Ihre nächsten Fragen gelten Erdem und der Camcorder-Aufnahme. Das ändert einiges. Erdem tauchte in den Radiomeldungen nicht auf. Möglich, dass diese Information aus Ermittlungsgründen zurückgehalten wurde. Aber wozu? Das ist keine normale Ermittlung. 317
Phil scheint bereits begriffen zu haben, worum es hier eigentlich geht: um alles, was Ferro belasten könnte. Über Erdem kann sie den Bullen nicht viel erzählen. Sie merken, dass Phil die Wahrheit sagt und keine Ahnung hat, wohin er sich abgesetzt haben könnte. Dafür kommen sie auf das Versteck zurück. Sie lassen Phil von vorne anfangen, kauen alles noch mal durch. Ihre Freundlichkeit lässt merklich nach. Dann unterbrechen sie das Verhör. Jemand verlässt für ein paar Minuten den Raum. Als er zurückkommt, weht ein anderer Wind. Die Stimmen werden leiser, bedrohlicher. Phil beteuert, dass sie prinzipiell bereit sei zu kooperieren. Aber jetzt wolle sie mit einem Anwalt sprechen, sonst sage sie kein einziges Wort mehr. Dazu habe sie noch früh genug Gelegenheit. Sie solle vernünftig sein. Sie fragt, ob es einen Haftbefehl gegen sie gebe. Wer der zuständige Staatsanwalt sei. Ein hämisches Lachen. Irgendwelche Rechtsverdreher könnten ihr jetzt nicht helfen. Gegen sie bestehe dringender Mordverdacht. »Auf Grundlage welcher Beweise?« »Du bist am Tatort identifiziert worden. Das reicht für Untersuchungshaft. Für wen hältst du dich? Als Ausländerin hast du hier keinerlei Rechte.« »Und ob ich die habe.« »Außerdem kommt erschwerend hinzu, dass du einer regierungsfeindlichen Organisation angehörst. Und du stehst in Kontakt zu einer Terroristin, dieser Zyna. Solchen Leuten wird kurzer Prozess gemacht. Du kennst wohl nicht die Gesetze in Italien?« »Ich kenne das europäische Strafrecht und die entsprechenden Abkommen zwischen den EU-Staaten. Werden die Gesetze in Italien anders angewendet?« 318
»Du darfst nur reden, wenn du gefragt wirst.« »Ich lasse mich nicht einschüchtern.« »Wer, zum Teufel, weiß denn überhaupt, wo du bist? Wer kann dich jetzt hören?« »Niemand. Aber das spielt keine Rolle.« »Du siehst nach einem guten Fick aus.«
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an hält vieles für unmöglich. Dennoch passiert es. Jeden Tag. Soviel ich mitkriege, sind es nur Worte. Sonst würden sie es gleich tun. Phil schweigt eine Zeit lang beharrlich. Die mit unterschiedlicher Härte hervorgestoßenen Drohungen machen sie stumm. Dann erwähnt sie den Monte Bisbino. Mehrmals und so laut, dass die Stereoanlage ein Feedback-Pfeifen von sich gibt. Wir schauen uns wortlos an. Ich mache mich sofort daran, den Receiver abzubauen. Marco packt ein paar Sachen in einen Rucksack. Ich hole meinen Bodybag von oben. Auf die Schnelle informiert Lidia Attac. Das wird nicht viel bringen, wenn die korrupten Bullen einfach abstreiten, dass sie Phil in ihrer Gewalt haben. Aber die Mitteilung, dass Lidia lebt, könnte sie verunsichern. Wie auch immer: Ohne die Camcorder-Aufnahme sind wir machtlos. Und binnen kurzem wird es hier vor Bullen nur so wimmeln. Draußen trennen wir uns. Marco gibt mir sein Mountainbike. Er will mit Lidia einen Pfad Richtung Norden nehmen, an den Hängen des Bisbino entlang. Der Weg nach Bruzella sei nicht sicher, das wäre vorhersehbar. In den Bergdörfern kenne er jede Menge Leute. Dort könnten sie einstweilen unterschlüpfen. Ich befestige den Receiver mit einer Gummispinne an dem Geländefahrrad. Es schaut etwas ramponiert aus, ist aber voll funktionstüchtig. Phil bekam eine Vergewaltigung … angedroht, nur angedroht, wie ich mir immerzu einrede. Sie hat ihnen einen wichtigen Hinweis gegeben. Das müsste sie doch zufriedenstellen.
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»Kann sein, dass das keinen Unterschied macht«, sagt Marco düster. »Hör auf, so zu reden«, schaltet sich Lidia ein. »Sie werden nicht wagen, ihr etwas anzutun.« Sie hat sich ziemlich gewandelt in den letzten zwei Stunden, begreift, was alles auf dem Spiel steht, dass ihr Galgenhumor fehl am Platz ist. In der Raststätte hat sie mir ein paar Telefonnummern aufgeschrieben, an die ich mich wenden soll, wenn ich wieder im Delle Alpi bin: ein Anwaltsbüro, das auf Fälle wie Phils Gefangennahme spezialisiert sei, sowie die Attac-Pressestelle, der ich die Camcorder-Aufnahme von ihrer Entführung übermitteln könne. »Sehen wir uns wieder?« »Werd gesund«, antworte ich. »Es ist noch viel von Erdem in dir.« »Das krieg ich aus mir raus, verlass dich darauf.« »Etwas wird bleiben. Behalte es im Auge.« »Tut mir Leid, dass ich heute Mittag so eklig war.« Sie blickt zu Boden. »Ich werde nicht vergessen, was du für mich getan hast.« »Du hattest noch was bei mir gut.« Sie hebt den Kopf und betrachtet mich zweifelnd. Dann begreift sie, was ich meine. »Hab ich meinen Bonus jetzt aufgebraucht?«, fragt sie. »Der gilt auf Lebenszeit.« Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. »Danke, Viktor«, sagt sie laut und deutlich. Die beiden Worte geben mir etwas zurück. Das Gefühl von Verbundenheit. »Bedank dich bei ihm.« Ich schaue zu Marco. Er wartet ungeduldig neben uns. »Und bring ihm ein bisschen was über eure Selbsthilfegruppe bei.« 321
Bis zur Dämmerung dauert es noch ein bisschen. Ich setze meine Gucci gegen den Fahrtwind auf, nicke den beiden zu und fahre los. »Mach das Schwein fertig!«, ruft mir Lidia hinterher. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Ich komme gut in Fahrt. Nach einer tückischen Kurve wird die Straße besser und es geht steil bergab. Ich schalte in den höchsten Gang, brauche mit den Pedalen kaum nachzuhelfen. Wenn ich jetzt mit einem Auto unterwegs wäre, könnte ich für nichts garantieren. Ich würde alles plattwalzen, was mir in die Quere kommt. In gewissem Sinne ist das Mountainbike sogar bedrohlicher. Die wenigen Fußgänger, an denen ich in der ersten Ortschaft vorbeirausche, merken erst in letzter Sekunde, dass sich da etwas in ihrem Rücken nähert. Aus der Nähe hören sich die Profilreifen allerdings wie ein Schwertransport an. Eigentlich habe ich mich für diese Strampelei nie begeistern können. Man fühlt sich wie einer dieser Industrieknechte, die im Akkord am Band standen, damals, als am Band stehen noch mit Schweiß und Abgasen und einem krummen Rücken verbunden war. Heute tritt man in die Pedale einer Hightech-Maschine aus Kohlefaser. Je mehr Gänge das Ding hat, desto mehr muss man treten. Und einen Berg hinunterzurollen ist dann der Lohn. Falls man keinen Platten kriegt. Na ja, wenigstens geht’s schnell, mehr verlange ich nicht. In den engen Kurven muss ich aufpassen, dass ich kein Schlagloch erwische. Sonst klebe ich im Handumdrehen an einer dieser Villenumzäunungen, die dem Todesstreifen alle Ehre gemacht hätten. Starkes Reifenquietschen. Ich habe schon zweimal eine Vollbremsung hingelegt und mich in eines der Gässchen verkrümelt. Inzwischen klappt das wie am Schnürchen. Ich ducke mich beim Bremsen, um nicht über den Lenker zu fallen, 322
und fahre in den Hof einer – »Trattoria«, wie ich über der Toreinfahrt gerade noch lesen kann. Eine Gruppe von Bocciaspielern schaut mich an, als würde der heilige Jakobus mit dem Wanderstab auf einen Aperitivo Halt machen. Dann kommen sie. Eine Limousine und ein großer Van. Schemenhaft kann ich die Kerle hinter den Scheiben erkennen, wie sie ihre Knarren festhalten und schon ganz heiß auf das nächste massacro sind. Nichts an den Autos deutet darauf hin, dass sie zur Polizia oder zu den Carabinieri gehören. Sie benutzen weder Blaulicht noch Sirene. Nach ein paar Sekunden sind sie vorbei. Die Bocciaspieler haben sich nicht von der Stelle gerührt. Ich rufe ihnen einen Gruß zu und fahre weiter. Jetzt dauert es nicht mehr lange. Ich gelange nach Cernobbio, halte an der Kreuzung in der Ortsmitte an, um einen Milchtransport durchzulassen. Vor einem der Stahltore des Delle Alpi rolle ich aus. An der Backe erwischt mich ein Tropfen. Es beginnt zu regnen. Der Wachmann ist ein riesiger Inder. Er kennt mich. Trotzdem prüft er über sein Walkie-Talkie nach, ob ich rein darf. Hinter diesem Tor beginnt Restricted Area. Außer Hotelgästen hat hier niemand Zutritt, nicht mal Bullen, es sei denn, es handelt sich um eine Staatsaffäre, zum Beispiel ein Attentat auf den ehrenwerten Regierungschef. Der Hoteldirektor des Delle Alpi ist fast so etwas wie der Gouverneur eines befreundeten Landes – eigentlich noch mehr als das. Diskretion hat in diesem Haus eine Bedeutung, die für Normalsterbliche ohne Geld und Einfluss nicht zu ermessen ist. Dieser aufgeblasene Kasten ist für mich jetzt die Rettung. Von dem Tor aus kann ich das Delle Alpi gerade mal in der Ferne sehen, durch die Zweige von Kiefern hindurch. Ihre Form ist perfekt. Die Neigung der Stämme hat bestimmt ein Gartenarchitekt ausgetüftelt, ebenso die Sichtlücken zwischen den Ästen. Ich fahre die Auffahrt hoch, die unmerklich ansteigt, auch das sicher Absicht, um den Annäherungswinkel 323
entsprechend eindrucksvoll zu gestalten. Neben der Straße verläuft ein Fußweg. Blendend weiße Kieselsteine bedecken ihn. Sie haben eine einheitliche Größe. Mit den Augen suche ich nach den Fenstern meines Zimmers. Das ist eine Angewohnheit, die ich mir in Ermangelung eines richtigen Zuhauses zugelegt habe. Aus meiner Wohnung in Frankfurt bin ich ja längst ausgezogen. Ah, da oben sind sie. Zwei Gucklöcher in ein Leben, das sich nur als kleiner oder großer Betrüger aufrechterhalten lässt. Zum großen fehlt mir das Format. Jemand hat mir ein Licht ins Fenster gestellt. Damit ich im Regen heimfinde.
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ie wissen nichts, sage ich mir. Sie wissen nicht, dass ich am Bahnhof dabei war. Sie wissen nichts über meine Beteiligung an den Vorfällen in der Via Rosselli. Und von den Internet-Auktionen wissen sie schon gleich gar nichts. Wer sind sie überhaupt? Von Ferro geschmierte Bullen, nehme ich an, wie der Trupp, der zum Gipfel des Bisbino unterwegs ist. Phil hat anscheinend noch mehr ausgeplaudert. Oder Nondas und Batu haben mich verpfiffen, aber das halte ich für unwahrscheinlich. Eher würde Batu mit dem Kiffen aufhören, als den Carabinieri einen Tipp zu geben. Sofern er momentan dazu überhaupt in der Lage ist. Wieder mal viele Unbekannte in dieser – Ungleichung. Ich riskiere es trotzdem. Wir brauchen die Camcorder-Aufnahme. Wenn ich immer mit Verrat rechnen würde, dürfte ich keinen Schritt mehr vor die Tür machen. Nachdem ich das Mountainbike einem Bediensteten überlassen habe, nähere ich mich meinem speziellen Freund an der Rezeption, demjenigen, der mich gestern an meine offene Rechnung erinnert hat. Er spielt hier die dritte Geige hinter dem Hotelchef und seinem Stellvertreter. Der Rest des Personals scheint sich verflüchtigt zu haben. Jedenfalls befindet sich außer uns beiden niemand im Empfangsbereich. Er hängt mir ein Gespräch über das Wetter auf, versucht, mich hinzuhalten. Als ich ihm das Wort abschneide, weigert er sich, mir meinen Schlüssel auszuhändigen. Man habe heute nicht mehr mit mir gerechnet. Das Reinigungspersonal sei deshalb ausnahmsweise … »Wie ist Ihr Vorname?«, frage ich und stelle den Receiver zu meinen Füßen ab. Meine Laune ist gar nicht gut. 325
»Giorgio«, antwortet er verdutzt. »Was ist da oben in meinem Zimmer los, Giorgio?« »Nichts. Wie ich schon sagte, unser Zeitplan ist ein wenig durcheinander geraten.« »Durcheinander, so, so.« Er schüttelt den Kopf. »Natürlich bieten wir Ihnen eine Entschädigung an, wenn Ihnen dadurch Unannehmlichkeiten entstehen, eine kleine Aufmerksamkeit …« »Schüttle nicht den Kopf, schüttle bitte nicht den Kopf. Sieh mich an.« Ich schiebe meine Gucci hoch und klemme sie in die Haare. Dann lege ich den Bodybag auf den Tresen, greife hinein und lasse den Lauf der Pistole ein wenig hervorschauen. »Siehst du diese Unannehmlichkeiten? Spürst du, wie sie auf dein kleines Herz zukriechen?« »Wovon reden Sie?« »Ich sag dir, wovon ich rede. Ich rede von Privatsphäre. Ich rede von ein paar Typen, die dich bestochen haben, damit du sie in mein Zimmer lässt.« »Das muss ein Missverständnis sein, Signore.« »Ach so! Wenn ich dich jetzt umlege«, ich spanne den Hahn, »buchen wir das auch unter Missverständnis ab. Vielleicht klärt sich’s ja später auf.« »Aber, aber … ich hatte keine andere Möglichkeit.« »Hör zu. Soll ich noch ›Attenzione‹ sagen, bevor ich dir eine Kugel in den Schädel jage?« Giorgio langt unter den Tresen, starrt dabei auf die Mündung der Waffe. »In diesem Fall kann ich Ihnen einen Ersatz …« Ich packe ihn an den Haaren und presse sein Gesicht auf den Tresen. »Mach jetzt keinen Fehler.« »Der Schlüssel«, quetscht er hervor und legt ihn langsam auf eine lederne Unterlage. 326
Ich lasse Giorgio los und schnappe mir den Schlüssel. Er rückt seine Krawatte zurecht und blättert rasch in irgendwelchen Unterlagen, immer darauf bedacht, genügend Abstand zu mir zu wahren. »Wir sehen uns noch, Giorgio.« Ich deute mit dem Lauf der Waffe auf einen Telefonapparat in seiner Reichweite. »Lass die Finger davon. Ich kenne deinen Namen.« Ohne die Pistole loszulassen, hänge ich mir den Bodybag vor die Brust. Ich gehe zum Aufzug, werfe Giorgio noch einen ›Denk nicht mal dran!‹-Blick zu und drücke die Holtaste. Es dauert einige Zeit, bis das Ding nach unten kommt. Während ich darauf warte, dass sich die Türen öffnen, fährt die Kiste einfach weiter in die Kellergeschosse. Zur Tiefgarage. Sie hauen ab. Das ist keine normale Ermittlung. Der andere Lift ist noch oben. Ich nehme die Treppe, laufe ins zweite Stockwerk hoch. Halb erwarte ich, dass ein Uniformierter vor meiner Zimmertür Wache schiebt oder dass zumindest Absperrbänder gespannt sind. Aber nichts dergleichen. Ich stelle den Receiver auf den Boden und entriegele das Schloss so vorsichtig, als müsste ich einen Sprengmechanismus entschärfen. Ich warte einen Augenblick. Dann stoße ich die Tür auf und springe zur Seite. In der Pistole sind zwei Kugeln. Mehr habe ich nicht. Das letzte Aufgebot. Im Halbdunkel wirkt das Zimmer aufgeräumt, keine durchwühlten Schubladen oder aufgerissene Kissen, niemand hält mir eine Waffe an die Schläfe. Ich schalte das Licht ein und eile zu dem Barock-Sekretär, auf dem ich den Laptop zurückgelassen habe. Mir fällt ein, dass Phil zuletzt darauf herumgetippt und Musik gehört hat, während ich – gestern? – unter der Dusche war.
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Alles wirkt unverändert. Nur der Laptop ist verschwunden. Mein einziger Trumpf. Ich breche zusammen.
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abe ich schon gesagt, dass ich in manchen Situationen zu irrationalen Handlungen neige? Wenn mich Ohnmacht und Schwäche wie ein Erdrutsch überkommen, wenn mir vor Schlafmangel diese Welt vor den Augen verschwimmt, wenn ich nicht mehr weiter weiß und deshalb fast verrückt werde, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ich Mist baue. Dann lasse ich mich gehen. Der willenlose Mensch, zu dem wir werden, wenn sich unsere Pläne und Hoffnungen zerschlagen. Die Minibar ist in einem meterlangen Sideboard untergebracht. Das Design wurde behutsam an die barocken Einrichtungsgegenstände angepasst. ›Mini‹ ist leicht untertrieben. Ich habe bisher kaum etwas entnommen, weil die Hotelbar auf der Veranda und die Clubs im Untergeschoss durchgehend geöffnet sind. Als Letztes hat sich Zyna daraus einen Wodka genehmigt. Jetzt muss das Delle Alpi mal zeigen, was in ihm steckt. Das Ding quillt vor Flaschen nur so über, hübsch unterteilt nach Kühltemperatur und Sorten. Einen guten Teil dieses Gesöffs kenne ich nicht mal, Etiketten in allen möglichen Sprachen und Schriften, sogar auf Chinesisch, Thailändisch, Arabisch. Aber bevor ich mich ins unbekannte Land vorwage, widme ich mich den Whiskys und Cognacs. Bei dem Zeug befällt mich immer ein unbestimmter Brechreiz. Deswegen schlucke ich es als Erstes weg. Danach kann’s nur noch besser werden. Da ich seit längerem nichts gegessen habe, muss ich mich übergeben. Aber das habe ich schon kommen sehen. Ich erleichtere mich auf dem Balkon mit einem schönen Gruß an die Zimmer unter mir. Inzwischen regnet es in Strömen, es ist saukalt. Ich werde nass, während ich über dem Geländer hänge 329
und mich stumm entleere. Im Zustand beginnender Trunkenheit neigt man dazu, die Außentemperatur zu ignorieren. Man nimmt die Kälte einfach nicht ernst. Ich fühle mich ausgehöhlt. Kein Grund, jetzt plötzlich eines der Canapés zu essen, die wie die anderen verderblichen Snacks in einem gesonderten Fach liegen und jeden Tag ersetzt werden. Das andere Zeug, kleine Döschen mit verschiedenen Kaviarsorten, eine Auswahl an Antipasti, Meeresfrüchten und frischem Obst, sieht auch nicht verlockender aus. Ich spüle den Magensäuregeschmack mit den Gin-Beständen runter, kippe zur Sicherheit ein Bier hinterher und schließe den Receiver an. Ein bisschen Unterhaltung kann jetzt nicht schaden. Das Phil-Programm hat zurzeit Pause. Ich behalte den Kopfhörer auf und bleibe auf dem Sender, stay tuned, sonst könnte mir ja entgehen, wie sie zum Krüppel geschlagen wird. Oder sie machen die Vergewaltigung doch noch wahr. Falls sie’s nicht schon getan haben, während ich zum Delle Alpi hinuntergefahren bin. Ich werfe eine leere Miniflasche an die Wand. Attac wird nichts ausrichten. Die haben hier nichts zu melden. Niemand kann da etwas ausrichten. Die würden’s nur schlimmer machen, den Bullen einen Grund liefern, Phil ein für alle Mal verschwinden zu lassen. Das hätte ich Lidia noch sagen sollen. Auf Bullen Druck auszuüben, und sei’s auf eine Sonderabteilung korrupter Bullen, bewirkt eher das Gegenteil. Wenn ich nach Como fahren und bei den Carabinieri Krach schlagen würde, hätte das denselben Effekt. Außerdem gibt es ja allen Grund, Phil zu verhören. Das mit dem Mordverdacht ist nicht aus der Luft gegriffen. Und wie sie mit Gefangenen umspringen – Phil wäre nicht die Erste, der man Gewalt androht. Jedenfalls kann ich es ihnen nicht nachweisen. Es hat alles nicht den geringsten Sinn. Aussichtslos. Alles ist nichtig geworden. Mir bleibt nichts mehr zu tun. 330
Ich suche nach Kippen. Dabei kommen mir meine ThromboseSpritzen unter. Jetzt ein vernünftiger Schuss, das wär’s. Das hat man davon, clean zu sein. Am Scheitelpunkt des Lebens geht einem der Stoff aus. Ich leere den Wodka im Gedenken an Zyna und rufe bei der Rezeption an. Einer vom Nachtpersonal meldet sich, Giorgio scheint schon die Biege gemacht zu haben. Der Mann ist mit den Segnungen der westlichen Welt und Wünschen wie meinem vertraut – hey, wir sind im Delle Alpi! Ich entscheide mich für Koks, um wach zu bleiben und zugleich nicht völlig auszurasten. Schließlich will ich ja noch die Minibar niederkämpfen. Mir kommt in den Sinn, dass mir dabei jemand helfen könnte. Allein trinken macht stumpfsinnig und verbittert. Ich möchte nicht, dass mir mein Talent, positiv zu denken, abhanden kommt. Also bestelle ich noch eine Nutte dazu, eine, die mitsäuft. So jemand ist gar nicht so einfach zu kriegen. Bin schon gespannt, was da antanzen wird. Es dauert fünf Minuten. Der Kellner macht sogar die Straße klar und reicht mir ein Platin-Röhrchen, bevor er sich formvollendet verabschiedet. Seine Begleiterin schaut zu. Wie haben sie es nur geschafft, in dieser kurzen Zeit jemanden anzuheuern? Gibt’s da einen hoteleigenen Bereitschaftsdienst, der nur darauf wartet, die Wünsche der Gäste zu erfüllen? Als sie sich vorstellen will, sage ich ihr, dass sie mir einen glaubhaften Namen nennen soll. Diese amerikanischen Kunstnamen, »Dream« oder so etwas, zögen bei mir nicht, das fände ich geschmacklos. Schließlich habe ich hier eine systematische Selbsterniedrigung vor, da müsse sie sich schon etwas Besonderes einfallen lassen. Sie schlägt »Greta« vor und meint, schon mal ihr giftgrünes Röckchen lüften zu können. Ich erkläre ihr, dass sie nicht zu einem vertrottelten Alki bestellt worden sei, der sich endlich mal 331
ein Herz gefasst habe. Es gehe hier ums Trinken. Der Rest könne sich ergeben, wenn sie unbedingt darauf bestehe. Sie solle doch bitte die Champagnerflasche wegstellen, das bereite ihr nur Schluckauf und bringe uns keinen Schritt weiter. »Bozena?« Nein, nichts Polnisches. »Zoe?« »Du kommst aus der Schweiz, oder?« Ich habe einen Kopfhörer direkt hinters Ohr geklemmt. Der Knochen überträgt die Geräusche, das ist fast so wie durch die Ohrmuschel hören. In Phils Zelle geschieht nichts. »Na ja …« »Lass mal die schönen Namen weg.« »Okay, ich überlege mir was anderes.« »Und setz dich endlich hin.« Sie nimmt in einem Sessel neben dem Sofa Platz, bewegt sich etwas steif, weiß noch nicht, was sie hier erwartet. Vielleicht, denke ich mir, taut sie ja bei Absinth auf. Ich verzichte auf das Pseudojunkie-Getue mit Löffel und Zucker. Wir ziehen uns dabei den Koks rein. Sie schnüffelt ihn weg wie die Blaue Elise, die dem Rosaroten Panther immer das Leben schwer macht. Jetzt scheint es ihr besser zu gehen. Nachts schlagen Linderungen aller Art am besten an. Wie sieht sie eigentlich aus? Inzwischen mache ich mir nicht mehr viel aus den Gesichtern der Menschen, dafür habe ich zu viele manipulierte gesehen. Ob sie einen sinnlichen oder verkniffenen Mund haben, hohe Wangenknochen oder Pausbacken, wie die Farbe ihrer Augen oder die Form ihrer Nase ist, welche Ausdrücke sich darauf abzeichnen. Das alles ist so austauschbar, dass es keinen Unterschied mehr macht. Es ist nicht relevant. In Taiwan gibt es Gesichtsleser. Sie schwatzen einem auf, dass man mit langen Augenbrauen ein gutes 332
Händchen an der Börse hat. Oder Glück in der Liebe. Was würden diese Leute eigentlich Cher erzählen? Das Mädchen schaut ganz gut aus. Ihr Alter ist schwer zu schätzen. Ich halte sie für alt genug. Wir nehmen uns eine Flasche Pimm’s vor und geben einen Spritzer Ginger Ale in die Gläser, damit sie nicht den Eindruck bekommt, es mit einem Proleten zu tun zu haben. Sie komme langsam in Stimmung. Ich solle nicht immer so misstrauisch schauen, ob sie auch wirklich tränke und schlucke, das mache sie ganz nervös. Wie mir denn Fabienne gefiele? »Ja, das ist schön bescheuert. Wie bist du denn darauf gekommen?« »Das ist mein richtiger Name«, erwidert sie. »Wie du meinst. Und was möchte Fabienne gerne trinken?« »Was du willst.« »Da hast du dir ja eine Menge vorgenommen. Bist du sicher, dass du das nicht nur aus Gefälligkeit tust?« »Ach was, das ist mal was anderes als stundenlang auf Viagra rangenommen zu werden.« Sie streift ihre Riemchenschuhe ab und streckt sich auf der Couch aus. Nein, ihre Haare seien nicht gefärbt, sagt sie. Das könne man sehen. Und fühlen. »Hier.« Sie hält mir eine schwarze Strähne hin. Ich lasse sie durch die Finger gleiten, weiß nicht, was es da zu fühlen gibt. »Stimmt«, lüge ich und lege die Strähne zurück auf einen ihrer Oberarme. Sie sind enorm lang und an jeder Stelle von exakt dem gleichen Umfang, als hätte man ihr eine Röhre auf die Schultern gesteckt, wie bei einer Gliederpuppe, probeweise, um zu sehen, wie es sich macht im Vergleich zum restlichen Körper. 333
»Meine Füße werden kalt.« »Verzeihung.« Ich beginne, ihre Sohlen zu massieren. Die Haut ist eisig, aber ganz weich, keine Spur Hornhaut, sauber manikürte Zehen, die noch nicht zu Klauen gebogen sind, wie man es oft an Füßen sieht, die zu lange in hochhackige Schuhe gestemmt wurden. Der zweite Zeh ist etwas nach außen gebogen, so was würde man in Kalifornien sicher korrigieren lassen. Ihre Nägel sind unlackiert. »Mehr reiben«, verlangt sie. Ich höre mit dem Kneten auf, nehme ihren rechten Fuß zwischen beide Handflächen und bewege sie schnell hin und her. Hohles Rascheln, ihre Haut wird wärmer. »Wohin das wohl führt?«, fragt sie. »Wenn wir’s richtig anstellen, ins Delirium.« »Was soll denn das sein?«, fragt sie ungläubig. »Das ist der Zustand kurz vorm Totsaufen.« »Na dann probieren wir’s mal. Wer’s als Erster schafft, hat gewonnen.« Sie macht zwei Fläschchen Jamaica-Rum auf. »Den können wir mixen«, sage ich. »Würdest du so freundlich sein?« »Mit Vergnügen.« Sie setzt sich auf. »Was soll ich nehmen?« »Such dir was aus. Wir haben die Wahl. Das ist eine unserer Freiheiten.« Sie schüttet irgendetwas zusammen. »Mit Cocktails kenne ich mich nicht aus«, sagt sie entschuldigend. »Auf den Geschmack kommt es nicht so sehr an.« »Warum hast du einen Kopfhörer auf? Hörst du Musik?« »So was Ähnliches.« Wir trinken. Es schmeckt nach Vitaminbonbons. 334
Wahrscheinlich hat sie Orangensaft und Grenadine reingetan. Aber was soll’s. Das mildert den Kater im Leben nach dem Tod. Macht sicher einen annehmbaren Eindruck, wenn man bei Petrus an der Pforte nicht mit verquollenen Augen ankommt. »Fühlst du dich gut?«, fragt Fabienne und setzt die GucciBrille auf, die zwischen den Flaschen auf dem Couchtisch liegt. »Du machst gern Witze, wie? Das gefällt mir.«
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ie rütteln Phil wieder wach. Was soll das? Hat sie ihnen nicht alles erzählt? Anscheinend nicht alles, was sie hören wollen. Seit Stunden geht das so. Sie gönnen ihr kurze Ruhepausen, gerade so lange, dass sie wegdämmert – ich höre das an ihrer verlangsamten Atmung. Dann wecken sie sie wieder auf, vielleicht, weil man in diesen Momenten besonders verletzlich ist und nicht genau weiß, was man sagt. Inzwischen müssten sie die CamcorderAufnahme doch haben. Wozu Phil dann noch quälen? Es geht um Erdem. Immer wieder. Sie wirkt unendlich müde. Sie streitet ab, widerspricht, stellt richtig, legt falsche Spuren. Sie redet pausenlos. Das ist gut, Reden ist besser als Schweigen, das beschäftigt ihre Peiniger, hält sie auf Trab. Eine Zeit lang mache ich mir vor, dass es wenigstens ein Vorteil sei, das Verhör mitzukriegen. Ich kann es zwar nicht mitschneiden, aber immerhin bin ich Zeuge. Doch das interessiert niemanden. Und selbst wenn ich es aufnehmen könnte – so etwas lässt sich problemlos inszenieren, das hat keine Aussagekraft. In den Unterbrechungen saufe ich mit Fabienne weiter. Sie hält sich gut, schlägt vor, mir einen zu blasen. Ihren Optimismus möchte ich haben. Ich überrede sie, etwas von dem Edelfood zu essen. Sie tut es unter der Bedingung, dass ich auch etwas zu mir nehme. Als wir gemeinsam kotzen, halte ich sie fest, damit sie nicht runterfällt. Sie kriegt es hin, mit vollem Mund zu kichern. Das Zeug kommt nahezu unverdaut wieder hoch und bleibt wie ein Ausschlag an ihren aufgesprungenen Lippen kleben. Die sentimentalsten Augenblicke erlebt man an Balkongeländern. 336
Irgendwann lässt die Wirkung des Kokains nach und ich nicke sturzbetrunken ein. Mir tut alles weh, der Alk hat mich schmählich im Stich gelassen. Der Regen fällt direkt durch mein Herz. Die Lichter verlöschen. Aber was macht das schon? Da sind nicht mal Träume. Dunkelheit, mit Flecken an den Rändern. Wie es weitergeht? Was soll schon weitergehen? Die Flecken sind nicht hübsch anzuschauen, gräulicher Niederschlag, wie angelaufenes Silber. Sie werden größer, weiten sich zu einer Fläche. Die Fläche gerät in Bewegung. Ein Ozean mit einem Ölfilm darauf. Alles löst - sich auf. Eine Stimme, ganz leise. »Hört mich jemand?« Meine Lippen bewegen sich. »Nondas! Batu! Viktor!« Ich mache die Augen auf. »Kann mich einer von euch empfangen?« Es gibt kein Mikro, mit dem ich ihr antworten könnte. Ich schaue mich um. Fabienne ist verschwunden. Als hätte Ferro sie geschickt, kommt es mir in den Sinn. Um mir zu verdeutlichen, wozu ich – nicht – in der Lage bin. Wie gering meine Möglichkeiten sind. Was meine Entschlüsse taugen. Die Garnierung auf einem Haufen Scheiße. Zertretene Scheiße. So weit bin ich gekommen: Dass ich mich um keinen Deut besser fühle, als Ferro sich fühlen müsste.
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»Ich verstehe dich, Phil. Ich bin hier!«, krächze ich heiser und kriege einen Hustenanfall. Scheiße, die in den Sohlen hängen bleibt, ergänze ich in Gedanken. »Ich weiß nicht, wie das hier endet«, fährt sie flüsternd fort. »Ich glaube, ich habe nicht mehr viel Zeit.« Sie macht eine Pause, als wolle sie sichergehen, ungestört zu sein. »Aber bevor die mich hier abkratzen lassen, muss ich was loswerden. Diese Botschaft ist für meinen Vater bestimmt.« Ich presse den Kopfhörer an meine Ohren. »Sill ist nicht bei einem Unfall gestorben. Ich wiederhole: Es war kein Unfall.« Sie holt Atem, ihre Stimme ist immer noch gesenkt. »Es war ein Attentat. Ferro war das Ziel. Das habe ich von Erdem erfahren. Es war der Preis, damit ich ihn laufen ließ.« Die Uhr zeigt halb fünf. Zehn Jahre nach Sills Tod. Geräusche. Schritte. Ein Schlüssel in einem Schloss. Jemand fragt sie, ob sie noch etwas zu sagen habe. Ungerührt, geschäftsmäßig. »Soll ich wieder von vorn anfangen?« Das sei nicht nötig. Sie bekäme jetzt gleich ihre Sachen zurück. Man bedanke sich für die Zusammenarbeit. »Ach ja?« Sie brauche nicht zu denken, dass man sie aus den Augen lasse. Oder dass ihr irgendjemand Glauben schenke über den Verlauf dieser Befragung. Sie habe Glück gehabt, da sie unter einem besonderen Schutz stünde. Den solle sie sich nicht verscherzen. Sie dürfe das Land nicht verlassen, müsse sich jederzeit zur Verfügung halten. Ob sie alles verstanden habe. »Ja.« Man werde ihr jetzt ihre Aussage vorlesen. Sie müsse sie nur noch unterschreiben. Dann könne sie gehen. 338
»Um diese Zeit?« Besser jetzt als nie.
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ie Strecke ist in einer halben Stunde zu bewältigen. Ich bin sie ein paar Mal gelaufen. Als Zynas Reha-Gymnastik mein Bein wieder einigermaßen hergestellt hatte, sagte sie, ich solle es nicht übertreiben. Für den Anfang reiche diese Distanz. Mit Körpern kannte sie sich aus. Jede Funktion war ihr vertraut. Ich schaffe es in zwanzig Minuten. Dabei muss ich mich noch zweimal übergeben. Es kommt nur Flüssigkeit, das macht es erträglich. Ein Taxi oder den Fahrdienst des Delle Alpi zu nehmen, wäre praktischer, aber ich verlasse mich lieber auf meine Beine. Immer wieder schaue ich mich um, ob mir jemand folgt. Den Bodybag trage ich auf dem Rücken. Es nieselt noch ein bisschen. Der Nachthimmel weicht einem tiefdunklen Blau. Wolken ziehn. Sie sind gut zu erkennen, besser als bei Tage. Bei Dunkelheit hält man angestrengter nach ihnen Ausschau. Diffuse Lichtverhältnisse schärfen den Blick. Das Morgengrauen wartet noch hinter den Bergen. Als das Gebäude der Carabinieri auftaucht, ein hässlicher Kasten an der Hauptstraße kurz hinter dem Ortsschild, sehe ich den Campingbus etwa fünfzig Meter weiter entfernt stehen. Ich quetsche mich in einen Hauseingang. Die Straßenlaternen stehen weit auseinander. Vielleicht haben sie mich nicht gesehen. Wie habe ich mir das vorgestellt? Einfach Phil abholen, als sei ihr Schultag zu Ende? Vor dem Campingbus erkenne ich den BMW des Delle Alpi, den Nondas gestern gefahren ist. Ein alter Benz fährt vor den Hauseingang und parkt direkt vor mir ein. Die Tür öffnet sich. Keine Innenbeleuchtung. Ich blicke in einen Schalldämpfer. »Einsteigen!« 340
Es ist Erdem. »Soll ich dich abknallen?« Ich setze mich auf den Beifahrersitz, nehme den Bodybag von der Schulter. Er schleudert ihn nach hinten und schlägt mir mit der Rückhand ins Gesicht. »Nur, damit wir uns richtig verstehen«, sagt er zur Erklärung. »Tür zu!« Ich schließe sie, hebe meinen Arm zum Schutz. »Was machst du hier?« »Das gleiche wie du. Und Nondas.« Sein Kinn zuckt nach vorne. »Ich warte auf Phil.« Er mustert mich abschätzig. »Was sollte das werden, ein Morgenspaziergang?« »Woher weißt du …« »Das geht dich nichts an. Die Frage lautet: Wie kommst du hierher?« Ja, verdammt, was mache ich in Erdems Wagen? Hier sitze ich fest. »Hörst du schlecht?« Ein Faustschlag gegen meinen Kopf, zu schnell, um ihn abzuwehren. Mir dreht sich alles. »Kotz mir nicht den Wagen voll!« »Keine Angst«, würge ich hervor. »Also noch mal: Was machst du hier?« Ich presse die Finger gegen die Schläfen, versuche, geradeaus zu schauen. »Phil ist immer noch verkabelt«, sage ich schließlich. »Ich konnte alles mithören.« »Du stinkst wie ein Pennerasyl«, bemerkt er angewidert. »Wenn du wüsstest, was sie mit ihr vorhatten …« Er überlegt einen Augenblick, behält das Carabinieri-Gebäude im Blick. »Du hast sie aufgegeben, stimmt’s? Und dann hast du erbärmliches Arschloch dir einen angetrunken.« 341
Ich widerspreche ihm nicht. »Wo ist die Aufnahme?« »Ferros Leute haben meinen Laptop geklaut. Da war alles drauf.« »Ich sollte dich abknallen.« Er bohrt mir den Schalldämpfer in die Backe. »Wozu bist du nütze?« »Sie lassen Phil frei«, sage ich in der Hoffnung, ihm etwas Neues mitzuteilen. »Jetzt, in den nächsten … Minuten. Das konnte ich noch mitkriegen. Dann habe ich mich auf den Weg gemacht.« »Ach wirklich?« »Wie lange wartest du schon?« Er senkt seine Waffe. »Hör zu. Bau keinen Scheiß. Du bleibst hier im Wagen, ist das klar? Renn bloß nicht auf die Straße, sonst bist du schneller tot, als du einen kippen kannst.« »Verstanden. Ich bleibe hier.« Ich nicke bekräftigend. »Wir warten zusammen auf Phil.« Er schaut mich an, als wolle er gleich die Waffe weglegen, um mir mit bloßen Händen den Hals umzudrehen. »Sie kommt«, sage ich und deute nach vorn. Phil tritt aus dem Gebäude. Die Tür schließt sich hinter ihr. Sie schaut sich um. Wohin? Nach rechts oder links? Ich nehme an, sie hat nicht die geringste Ahnung. Überall sieht es gleich hoffnungslos aus. Hier sind wir, Phil! Geh in unsere Richtung! Sie wendet sich ab. »Lass den Motor an!«, sage ich zu Erdem. Sie geht weiter, mit zügigen Schritten. Der BMW setzt sich auf der regennassen Fahrbahn in Bewegung. »Na los!«, sage ich. »Worauf wartest du?« »Halt die Klappe!« 342
Der BMW kommt vor ihr zum Stehen. Nondas springt heraus. Er packt Phil an der Schulter, dreht ihr die Arme auf den Rücken und legt ihr Handschellen an. Er drückt ihren Kopf nach unten. Mit der freien Hand öffnet er die Tür auf der Beifahrerseite und befördert sie in den Wagen. Dann steigt er ein und fährt los. Der Campingbus folgt ihm. Sie kommen schnell näher. Passieren uns. Phil schaut weg, Nondas redet auf sie ein. Was hat Erdem vor, verdammt? Warum fährt er ihnen nicht hinterher? Er hebt die Hand. »Schschsch.« Die Sekunden verstreichen. Dann der Lichtkegel von Scheinwerfern. Zwei Autos verlassen das Carabinieri-Gelände, ein großer Alfa und ein Van. Es sind dieselben Fahrzeuge, die mir am Monte Bisbino entgegengekommen sind. Sie folgen Nondas. Erdem gibt ihnen einen kleinen Vorsprung, bevor er wendet und ihnen hinterherfährt. Er schaltet das Licht nicht ein. »Woher hast du das gewusst?«, frage ich. Er schweigt. »Aber was haben sie vor? Was soll das alles? Erst vernehmen sie Phil, dann setzen sie sie wieder auf freien Fuß.« »Sie können sie nicht vor Gericht stellen. Das hatten sie nie vor, bei einem Prozess käme alles heraus. Außerdem hat Ferro Nondas am Hals. So lange Nondas weiß, dass Phil einkassiert wurde, darf sie nicht verschwinden.« »Aber ich weiß auch, was passiert ist. Und Lidia.« Er lacht kurz auf. »Das fällt nicht ins Gewicht. Euch glaubt niemand, genauso wenig wie mir.« »Warum sollte mir niemand glauben?«, entgegne ich aufgebracht und bemerke, wie die Rücklichter des Vans hinter einer Kurve verschwinden. »Denk nach.« 343
Er beschleunigt, um nicht den Anschluss zu verlieren. »Diese ganze Geschichte. Wenn du versuchst, das einem Bullen plausibel zu machen, oder wenn Lidia es versuchen würde, mit Drogen im Blut …« Er stößt die Luft aus. In der oberen Zahnreihe bemerke ich die Lücke von der fehlenden Jacketkrone. Seine Aussprache scheint darunter nicht zu leiden. Er wirkt so … entschlossen. Ist es das, was auf Phil Eindruck macht? »Wo ist das Motiv?«, fährt er fort. »Die Motive? Es ging ja nicht mal um Geld. Und wer ist dabei zu Schaden gekommen?« »Aber … deine Leute am Bahnhof, in der Via Rosselli? Die Leichen?« »Vergiss, was sie in den Nachrichten bringen. Für die Bullen sieht das nach einem Bandenkrieg aus, die lassen von solchen Sachen die Finger.« Die Rücklichter tauchen wieder auf. »Und der Pförtner?« »Weißt du, wie hoch die Todesrate bei privaten Wachdiensten ist?« »Es hieß doch, dass es ein politisches Attentat war«, beharre ich. »Das ist von öffentlichem Interesse, dem wird doch nachgegangen.« »Wenn die Opfer prominent sind. Wenn es Bekennerbriefe und so etwas gibt.« Er zögert kurz. »Was meinst du, wie lange Ferros Pressekontakte dieses Märchen aufrechterhalten können? Das war ein Ablenkungsmanöver, nichts weiter. Ein Trick, um die unbequemen Hintergründe zu verschleiern. Wie eine Bombe, die man hochgehen lässt, um die Aufmerksamkeit zu verlagern, bis sich der Rauch wieder verzogen hat. Ein paar Tage später fragt keiner mehr nach. Bei Ferro hat das Methode. Das ist sein Erfolgsrezept.« »Wovon sollte es ablenken?« 344
»Von mir. Oder Leuten wie mir, die die Drecksarbeit für ihn machen. Es hat ja auch hervorragend geklappt. Wenn es nicht diese Aufnahme von Lidia gäbe, wäre alles in bester Ordnung. Dadurch bin ich für Ferro zu einem Risiko geworden.« Warum erzählt er mir das alles? Warum erschießt er mich nicht einfach? »Du fragst dich wahrscheinlich, warum du noch lebst?« Er hält die Pistole in der linken Hand, lenkt damit, wenn es erforderlich ist. »Sagen wir, dein Tod hätte keine Bedeutung. Jetzt nicht mehr.« Wir nähern uns einem Kreisverkehr. Der Van hat ihn bereits Richtung Chiasso verlassen. Weiter vorne glaube ich den Alfa zu erkennen. »Sie fahren zur Grenze!« Erdem nimmt die Straße nach Cernobbio, die am Seeufer entlangführt. Er gibt Gas. »Stopp! Du bist falsch abgebogen!« Er ignoriert mich, steuert den Wagen mit hoher Geschwindigkeit durch eine scharfe Kurve. Er muss nicht mal seine Pistolenhand zu Hilfe nehmen. »Hektik«, auf der folgenden Geraden schaltet er einen Gang höher, »können wir jetzt gar nicht gebrauchen.« In der Ferne tauchen Rücklichter auf. Zwei Autos, in größerem Abstand. Er legt seine Pistole auf dem Armaturenbrett ab, greift neben sich und holt ein kleines Fernglas hervor. Die Fahrzeuge sind mindestens hundert Meter vor uns. Ich sehe den Widerschein eines roten Kontrolllämpchens auf seiner Wange. »Sie haben sich getrennt. Nondas’ Partner und der Van sind abgebogen.« Er legt das Fernglas weg und fasst das Lenkrad fester. »Was tun wir jetzt?« 345
»Wir folgen Phil.« »Was haben sie vor?« Ich überlege, was mir bei dem ganzen Alkohol, den ich intus habe, nicht leicht fällt. »Will er zum Monte Bisbino?« »Zu umständlich. Außerdem ist das eine Sackgasse.« »Aber wohin will er dann?« »Gute Frage.« »Du kennst ihn doch«, wende ich ein. »Nondas war dein Freund.« »Und jetzt will er mich gefangen nehmen. Das ändert einiges.« »Dich gefangen nehmen? Ich denke, vorerst reicht es ihm, dass er Phil hat. Wie soll er jetzt an dich rankommen?« Erdem senkt den Kopf und brütet vor sich hin. Er konzentriert sich aufs Fahren.
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ch lasse die Scheibe herunter. Nachtluft dringt ein. Die beiden Autos fahren mit normaler Geschwindigkeit. Der Alfa fällt leicht zurück. Weiß Nondas, dass ihm jemand folgt? »Du hast Phil von Sills Tod erzählt«, fange ich an. »Dass es kein Unfall war. Ist das wahr?« »Warum sollte ich lügen?« Er macht eine Pause, überholt einen Lieferwagen, der kurz die Sicht blockiert. »Es ist immer gut, die Vergangenheit zu kennen. Sie bringt uns denen näher, die für uns von Bedeutung sind. Menschen, die uns brauchen, und Menschen, die uns schaden können. Das liegt oft dicht beieinander.« »Meinst du Phil?« Er lacht leise. »Wirst du wieder nüchtern? Dann können wir das Fenster ja wieder schließen, ich versteh sonst kein Wort.« Mit einem Knopfdruck lässt er die Scheibe wieder nach oben. »Außerdem wollte ich erfahren, warum du Ferro umbringen wolltest. Das gehörte zu meinem Aufgabenbereich. Die Motive eines Attentäters entschlüsseln. Erniedrigung, Vergeltung für erlittenes Unrecht, irgendjemanden verantwortlich machen für die eigenen Unzulänglichkeiten. Oder in einem höheren Auftrag handeln, aber das trifft bei dir wohl nicht zu.« Ich übergehe diese Bemerkung. »Was ist damals passiert?« »Es gibt immer einen Punkt im Leben, an dem man die Chance hat, einen großen Schritt nach vorn zu tun. Man steht davor, seinen Handlungen eine neue Dimension zu verleihen. Dafür muss man die alten Bande hinter sich lassen, lästige
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Verpflichtungen, alte Gefolgschaften. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.« Er wirft einen Blick durch das Fernglas, setzt es wieder ab. »Ferro hat diesen Punkt vor zehn Jahren erreicht. Er weitete seinen Wirkungskreis aus, begann, im Big Business mitzumischen. Baugeschäfte, Regierungsaufträge, Aktiendeals, Medienbeteiligungen. Dafür musste er seine alten Weggefährten verleugnen und den einen oder anderen ans Messer liefern. Das passte denen natürlich nicht. Sie fühlten sich verraten. Aber sie kamen nicht so einfach an seinen Fuhrpark heran. Also manipulierten sie den Wagen seiner Freundin.« »Sill.« »Er hielt diese Beziehung geheim. Einen Tag vor ihrem Tod war er noch bei ihr. Sie wollten zusammen zu der Schule fahren, auf die Phil gehen sollte. Das wussten seine Feinde. Sie wussten auch, dass sich Sill ungern von Ferro chauffieren ließ. Es war eine einmalige Gelegenheit.« »Aber soviel ich weiß, musste er überraschend weg. Hat er einen Wink erhalten? Warum hat er sie in den Tod gehen lassen, ohne sie zu warnen?« »Er hat die Probe aufs Exempel gemacht. Das lieferte ihm den Beweis, den er brauchte. Danach machte er unter seinen Parteigängern reinen Tisch.« Ich kann nichts erwidern. Die Wahrheit, nach so langer Zeit. Bitterer, als ich sie mir je vorgestellt hatte. Sill war nur … ein Bauernopfer. Wie abgeschmackt das klingt! Wie eine rasch formulierte Zeitungsmeldung. »Es hat mich einiges gekostet, an diese Informationen ranzukommen. Ferros Säuberungen waren äußerst gründlich. Du wusstest das nicht, oder?« »Ich …, ich hatte immer nur so ein Gefühl.« »Und wenn dich dein Gefühl betrogen hätte? Aus einem 348
Gefühl heraus bringt man niemanden um.« »Ich hab’s schon einmal probiert, kurz nach dem Unfall damals. Das wusstest du nicht, oder?« »Tatsächlich?« Er dreht den Kopf in meine Richtung. »Mein Gefühl hat sich bestätigt«, sage ich. »Aber ich hab’s in mir vergraben, wollte es nicht wahrhaben. Zehn Jahre lang. Als du …, als du mich mit dem Tod bedroht hast, im Palazzo degli Orsi, da kam es wieder hoch.« »Dann weißt du es jetzt mit Sicherheit. Ferro hat in Kauf genommen, dass Sill getötet wird. Und er wird noch mehr in Kauf nehmen. Mit Phil verbindet ihn nichts.« Er bremst scharf ab, schlägt gleichzeitig das Lenkrad ein. Wir drehen uns um die eigene Achse, bleiben in Gegenrichtung stehen. Erdem beschleunigt wieder. Er schaltet das Licht ein. »Was …« »Sie sind in Argegno abgebogen. Das kann nur eines bedeuten. Nondas fährt nach Erbonne.« »Wir müssen ihnen folgen! Wir müssen bei Phil bleiben!« »In Erbonne gibt es einen alten Schmugglerpfad in die Schweiz, ein kurzer Fußweg ohne bewachten Grenzübergang. Ich bin mir sicher, dass sie den nehmen werden. Nondas’ Partner wird sie auf der anderen Seite erwarten. Das ist ihr Plan. Jetzt sehe ich ihn vor mir.« »Wie kannst du das wissen?« »Vertrau mir. Ich habe mit Drogen gehandelt. Da bringt man aus Gewohnheit in Erfahrung, wo die geheimen Wege verlaufen. Meinst du, ich war untätig, habe mir keine Optionen offen gehalten? Man muss Rücklagen bilden. Typen wie du halten wohl nichts von Vorsorge. Du lebst zu sehr in der Gegenwart.« »Die kriegt man wenigstens zu fassen.« 349
»Nondas braucht nach Erbonne etwa eine Stunde«, erwidert er. »Das schaffen wir. Wir werden vor ihm da sein.« »Mit Batu und den Typen aus dem Van zwischen uns.« »Genau.« »Und was ist mit denen, die Phil und Nondas verfolgen?« »Die müssen wir in Kauf nehmen.«
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is zur Grenze dauert es etwa zwanzig Minuten. Wir liegen gut in der Zeit. Die Zöllner leuchten ins Wageninnere, lassen Erdem den Kofferraum öffnen. Seine Waffe liegt unter der Bodenmatte, meinen Bodybag habe ich unter den Sitz gestopft. Als sie meine Alkoholfahne riechen, machen sie einen dummen Witz und winken uns weiter. Aus Italien auszureisen ist kein Problem. Die Einreise ist manchmal etwas kompliziert. Im Muggiotal holt Erdem alles aus dem Benz heraus. Wir kommen zweimal von der Straße ab. Zuerst geht nur ein Scheinwerfer zu Bruch. Dann reißt ein Betonpfeiler den Wagen an der Fahrerseite auf. Wir verlieren die Tür und etwas Blech, fahren ohne große Verzögerung weiter. Scudellate befindet sich am Ende des Tales, Erbonne genau gegenüber, wie mir Erdem erklärt. Die Grenze verläuft irgendwo zwischen den beiden Dörfern. Sie liegen nur ein paar Kilometer voneinander entfernt, getrennt durch die Breggia, einen Gebirgsfluss, der im Sommer kaum Wasser führt. Sein Lauf hat sich tief in die Berglandschaft eingegraben. Wir fahren eine schmale Straße hoch und durchqueren die Ortschaft. Eine alte Frau mit einem Wanderstab weicht uns aus. Sie drückt sich gegen eine Hauswand. Wir passieren einen Kleinlaster, auf dessen Ladefläche Paletten mit Lebensmitteln stehen. Offenbar wird er gerade entladen, obwohl niemand zu sehen ist. Der Campingbus und der Van stehen am Rand einer Wendeplatte. Wir fahren ganz nah an ihnen vorbei. Alles ist ruhig, die Fahrzeuge wirken verlassen. Wir steigen aus dem Wagen. Erdem rupft die Bodenmatte heraus und stopft sich jede Menge Magazine in die Taschen. Sie 351
passen nicht in meine Pistole, außerdem haben die Patronen ein anderes Kaliber. Er rät mir, die Waffe zurückzulassen, wenn ich mir nicht sicher sei, ob ich sie benutzen wolle. Ich sage, ich sei sicher. Erdem checkt den verlassenen Van. Dann laufen wir durch eine Gasse und erreichen einen Wanderweg mit blau-weißer Markierung. Noch ein paar Gehöfte, dann befinden wir uns auf dem ausgeschilderten Schmugglerpfad. Inzwischen ist es schon relativ hell, Bodennebel steigt von den Hängen auf. Die Sonne ist noch nicht über den Kamm gestiegen. Der Taleinschnitt vor uns liegt im Dunkeln. Wir betreten den Bergwald. Erdem geht voran. Ich soll mich ein paar Meter hinter ihm halten. Der Schalldämpfer auf seiner Waffe zeigt wie ein dünner, stählerner Finger nach vorne, pendelt hin und her. Die erste Leiche liegt direkt neben dem Weg, kopfüber in einem Bett aus Laub, als ob sie seit einer Ewigkeit schliefe. Der Mann trägt eine Sicherheitsweste, sein Kopf ist vermummt. Der Pfad steigt an. Steinplatten ragen in groben Schichtungen aus dem Hang hervor, die Bäume stehen mit jedem Meter dichter. Ich stolpere hin und wieder, achte auf die blau-weiße Markierung, von der nur noch das Weiße zu sehen ist. Wenn Ferros Leute ungestört zugreifen wollen, dann hier. Schüsse würde man vermutlich Jägern zuschreiben, von denen es zumindest im nahen Italien massenhaft gibt, am frühen Morgen ist das nichts Ungewöhnliches. Aber wir haben noch keinen Laut gehört. Wieder ein Toter, diesmal ein Stück rechts des Weges. Er hängt verdreht zwischen den Ästen. Ein Warnzeichen: Bis hierher und nicht weiter. Mit seiner schwarzen Strickmaske sieht er aus wie ein Taucher. Wir umrunden einen riesigen Felsblock, gelangen zu einer Art Aussichtsplattform. In einiger Entfernung kann ich eine 352
unregelmäßige Lichterkette erkennen. Die Straße von Erbonne, nehme ich an, etwa auf gleicher Höhe wie wir. Der Weg führt jetzt bergab. Wir schlittern mehr oder weniger nach unten, Geröll löst sich und kullert an uns vorüber. Dann wird es wieder flacher. Weicher Waldboden löst den steinigen Untergrund ab. Vor uns liegt ein langes gerades Stück, überwölbt von einem Dach aus Zweigen und Ästen. Der schmale Weg fällt zur rechten Seite steil ab. Es riecht modrig. In der Tiefe zeichnen sich weißliche Felsbrocken ab, das Flussbett. Auf der anderen Seite ist ein Abhang zu erahnen. Das müsste schon die italienische Seite sein. Wir kauern uns hin. Im Schutz eines Baumstamms holt Erdem sein Fernglas hervor und hält Ausschau. »Es ist nur einer«, raunt er mir zu. »Er ist allein.« Er schiebt sich um den Baumstamm herum. Das Plop-Plop des Schalldämpfers. Dann springt er zurück auf den Weg und rennt los. Ich folge ihm geduckt, so schnell ich kann. Da er in gerader Linie vor mir läuft, gibt er mir Deckung. Vorbeihuschende Stämme. Erdem schießt erneut, mehrmals hintereinander. Sein Feuer wird nicht erwidert. Nur das Knacken und Rascheln unserer Schritte ist zu hören. An einem Baumstamm lehnt ein Mann ohne Gesicht. Vielleicht war er verletzt und blieb zurück. Jedenfalls hatte er keine Gelegenheit zur Gegenwehr. Seine Schutzweste ist völlig zerfetzt. Erdem liegt am Rand einer Böschung. Er schaut nach unten. Als ich mich neben ihn schiebe, bedeutet er mir zu schweigen. Ich spähe über die Kante. Weiter unten überspannt eine kleine Brücke das Flussbett. Es ist eher ein Steg mit einem rostigen Eisengeländer. Der Wald lichtet sich an dieser Stelle, lässt ein wenig Morgendämmerung 353
hindurch. Mehrere Gestalten stehen auf der Brücke, ich kann sie mit bloßem Auge erkennen. Wütende Stimmen dringen herauf. Ein Schuss ertönt, tief, wie von einem Gewehr. Eine der Gestalten sackt zu Boden. Die anderen treten zurück. Einer kniet sich hin, untersucht den Körper, erhebt sich wieder, gibt einen Befehl. Zwei Männer schleifen die Leiche von der Brücke und lassen sie neben dem Weg liegen. Erdem reicht mir wortlos das Fernglas. Ich richte es auf den leblosen Körper. Es ist Batu. Guter Bulle. Sie bleiben auf der Brücke stehen. Derjenige, der Batu aus nächster Nähe erschossen hat, spricht in ein Funkgerät auf seiner Schulter. Dann positioniert er seine Leute. Inzwischen hat die Helligkeit weiter zugenommen. Der Pfad führt von der Brücke durch ein kleines Waldstück und mündet auf eine Wiese. Sie steigt bis zu der Ortschaft Erbonne an. Auf halbem Wege, in der Mitte des Hanges, steht ein verfallener Bauernhof, Rustico, wie sie hier sagen. Die Straße ist aufgrund meines Blickwinkels nicht zu sehen. Ferros Leute verteilen sich in dem Wäldchen, zwei beziehen auf der Brücke Stellung. Nondas müsste lebensmüde sein, wenn er mit Phil da runterginge. Batu hat ihm sicher noch durchgeben können, was ihn hier erwartet. Dann sehe ich sie kommen. Sie gehen langsam, ohne Eile. Nondas und Phil, gefolgt von zwei Männern mit den Waffen im Anschlag. Nondas zieht das Bein nach. Sie müssen ihn in der Ortschaft überwältigt haben. Oder sie haben ihm noch auf der Straße den Rückweg abgeschnitten. Phil trägt Handschellen. Sie rutscht auf der abschüssigen Wiese aus. Einer ihrer Bewacher zerrt sie auf die Beine und schubst sie weiter. Sie befinden sich etwas oberhalb des 354
Bauernhofs. Mit jedem Schritt kommen sie näher. Ich schaue zu Erdem. Er liegt neben mir, den Blick starr auf die andere Seite gerichtet. Ich stupse ihn an. Er reagiert nicht. Ich zerre an seinem dicken Rollkragenpullover. Endlich wendet er sich mir zu. »Es ist so weit«, sagt er und schraubt den Schalldämpfer ab. Das Funkeln in seinen Augen. Im Auto glich es noch dem Glanz von poliertem Metall, gespannt, immer in Bewegung. Jetzt ist es einem stumpfen Schimmer gewichen. Er ergreift meine Hand, legt einen Gegenstand hinein. Es ist ein Schlüsselbund, an dem eine kleine Ledertasche hängt. »Sag Phil, dass es mir Leid tut.« »Was?« Langsam richtet er sich auf. »Ich sehe sie vor mir. Ihre ausgebreiteten Arme.« Er zeigt auf die andere Seite. »Als ob sie alles von mir wüsste.« Sekundenlang verharrt er so. Dann springt er über den Rand der Böschung hinab. Seine ersten Schüsse wirken ungezielt. Sie treffen dennoch.
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ch rutsche den Abhang hinunter, mache dabei jede Menge Lärm. Kugeln hacken Splitter aus den Baumstämmen, zerschnetzeln das Unterholz, pfeifen und schwirren mir um die Ohren. Ich überschlage mich, pralle gegen einen Felsen. Panisch taste ich nach meiner Waffe, finde sie im feuchten, schmierigen Laub am Grund des Tals. Erdem ist auf der Brücke. Er springt über eine Gestalt auf dem Boden, wirft sich hin und entleert sein Magazin in den vor ihm liegenden Wald. Er zieht ihre Aufmerksamkeit auf sich. Ich durchquere das Flussbett. Das Wasser reicht mir nur bis an die Knöchel. Es ist eiskalt. Ferros Leute erwidern das Feuer. Die Kugeln prallen am Brückengeländer ab und schlagen Funken. Erdem ist nicht mehr zu sehen. Ich arbeite mich den Abhang hinauf und winde mich zwischen den dürren Stämmen hindurch. Dann schlage ich einen Bogen, versuche, das Wäldchen zu umgehen und dabei so leise wie möglich zu sein. Wieder Schüsse. An dem Mündungsfeuer sehe ich, wo Ferros Leute ungefähr stehen. Sie bilden eine lockere Reihe. Ich kann drei verschiedene Schützen unterscheiden. Derjenige, der mir am nächsten ist, schießt pausenlos in Richtung Brücke. Ich steige über einen quer liegenden Baumstamm. Jetzt befinde ich mich hinter ihm. Er wechselt das Magazin. Als er es in den Griff geschoben hat, setze ich ihm die Pistole aufs Genick. Er erstarrt. Wäre es Notwehr, wenn ich jetzt abdrücken würde?
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Ich hole aus und ziehe ihm meine Waffe über den Schädel. Als er zu Boden geht, schlage ich noch einmal zu. In Augenblicken wie diesem passt nicht viel zwischen Leben und Tod. Nur ein welkes Blatt. Seine Pistole kommt mir bekannt vor. Eine Beretta. Ich stecke sie in meinen Hosenbund und schleiche weiter. Am Rand des Waldes presse ich mich flach auf den Boden. Ein Dunstschleier vom Tau und dem Regenwasser der Nacht liegt über der Wiese. Die Grashalme sind so kurz wie bei einem Golfrasen. Von Phil und Nondas fehlt jede Spur. Als ich mich wieder umdrehe, sehe ich, wie Erdem ihre Linien entlangstürmt. Er hat eine Pumpgun erbeutet, produziert damit jede Menge Kleinholz und erstickte Schreie. Das Tal ist erfüllt vom Widerhall der Schüsse. Dazwischen das Prasseln und Reißen des Schrots. Eine Erntemaschine. Er schmeißt das Gewehr weg und feuert mit der Pistole weiter. Dann bricht er aus dem Gehölz hervor. »Hier!«, rufe ich. Er wirft sich neben mir ins Gras, holt Atem. »Wo sind sie?« »Wahrscheinlich in dem Bauernhof.« Sein Gesicht ist mit Schrammen übersät, sein Ohr eine blutige Masse. Er dreht den Kopf, um mich besser zu verstehen. »Da oben meinst du, in der Ruine?« »Ja.« »Wir müssen vorsichtig sein. Traust du dir zu, von vorn zu kommen?« »Ich versuch’s.« »Rufe ihnen irgendwas zu, lenke sie ab.« »Gut.« »Dann los.« 357
Er entfernt sich in weitem Bogen, macht sich dabei so flach wie möglich. Von dem höher gelegenen Bauernhof ist er vermutlich schlecht zu sehen – der einzige Vorteil, den das Terrain bietet. Eine aufrecht gehende Person könnten sie ohne Probleme abknallen. Ich nehme beide Pistolen in die Hand und robbe den Abhang hoch. Währenddessen lege ich mir Sätze auf Italienisch zurecht, flüstere sie vor mich hin. Ich muss sie ohne zu stocken hervorbringen, Autorität in meine Stimme legen. »Lasciate liberi gli ostaggi!«, rufe ich. »Venite fuori!« Stille. Geiseln, hostages, ostaggi – das müsste nach Polizei klingen. Ist mir gerade noch eingefallen. Ich krieche weiter. Es sind noch knapp zwanzig Meter. Erdem hat ungefähr die Höhe des Bauernhofs erreicht. Er verschwindet hinter einem der großen Bäume, die den Rustico umstehen. »Ripeto, lasciate liberi gli ostaggi!« Kugeln pfeifen über meinen Kopf hinweg, eine bohrt sich mit einem schmatzenden Geräusch vor mir ins Gras und spritzt mir eine Hand voll Dreck ins Gesicht. Ich wische das torfige Zeug mit dem Handrücken ab. »Fuori dalla casa! Consegnate le armi! I vostri compiici sono morti«, fahre ich fort. Verdammt, was heißt ›aufgeben‹ noch mal? »Surrender!«, probiere ich es, vielleicht verwirrt sie das, schließlich ist das kein Sprachkurs. »Release the hostages immediately!« Ich höre Schüsse aus dem Gebäude. In dem Gebäude. Ich springe auf und hetze den Hang hoch. Die Tür ist aus den Angeln gerissen. Der Rücken eines Mannes taucht im Türrahmen auf. Er weicht zurück, feuert. Bevor ich ihn richtig anvisieren kann, stolpert er über die 358
Holztrümmer, die auf der Schwelle liegen, und schlägt rücklings hin. Eine Person stürzt sich auf ihn und rammt ihm ein Messer in den Körper. Nondas. Der Arm des Mannes hebt sich. »Pass auf!«, rufe ich. Nondas packt den Arm, hält ihn von sich weg und sticht mehrmals zu. Als er sich sicher ist, dass keine Gefahr mehr droht, entwindet er dem Toten die Waffe. Ich kann nicht erkennen, was im dunklen Inneren des Gebäudes vor sich geht, sehe nur den Schemen einer umherhuschenden Gestalt. Nondas macht sich von der Leiche los. Als er sich umdrehen will, taucht neben seiner Schläfe der Lauf einer Pistole auf.
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hil und ich schließen uns in die Arme. Abgesehen von ein paar Kratzern ist sie unverletzt. Als der Schusswechsel begann, hat sie sich sofort auf den Boden geschmissen. Wir spüren die Nähe des anderen. Sie scheint das jetzt zu brauchen. Nicht reden, sage ich mir. Nur da sein. Die beiden Pistolen habe ich in eine Ecke geworfen. Nach einer Weile löst sie sich von mir und lehnt sich an eine Wand. Sie reibt sich die Handgelenke. Erdem hat den zweiten Mann durch eines der Fenster erschossen. Dann ist er durch das Fenster in den Bauernhof geklettert. Er kniet nun neben Nondas und legt ihm dessen eigene Handschellen an. Dann kettet er ihn an ein frei liegendes Wasserrohr. »Ich kriege dich, egal, wo du hingehst«, stößt Nondas hervor. Erdem tritt zurück. »Davon lässt du dich nicht abbringen, was?« »Zu viel ist passiert. Du hast zu viel Böses getan.« Er neigt seinen Kopf. »Mag sein.« »Es gibt nichts, womit du es wieder gutmachen könntest«, erwidert Nondas. »Ich will keine Gerechtigkeit.« »Was willst du dann?« Erdem dreht sich weg, richtet seinen Blick auf die Türöffnung, durch die ein Lichtstrahl hereinfällt. »Frieden. Glaube ich.« »Den kann ich dir nicht geben.« Erdem nickt. Er geht einen Schritt auf die Tür zu. Auf der Schwelle liegt immer noch die Leiche. Er hält inne. Es scheint, als halte ihn etwas davon ab, nach draußen zu gehen. 360
»Batu ist tot«, sage ich. »Ferros Leute haben euch unten am Flussbett aufgelauert. Erdem hat sie ausgeschaltet.« Nondas sagt eine Weile nichts. Dann: »Das ändert nichts an den Tatsachen. Du musst für deine Taten büßen, Erdem, so ist das. Auch wenn du all deine früheren Komplizen umbringst. Das macht es nicht besser.« »Ich verstehe. Aber wer ist es, der da spricht? Nondas, der Bulle? Nondas, der Richter? Oder Nondas, der nicht zugeben will, dass er einmal mein Freund war?« »Ich bin nur einer, Erdem, ich war es immer im Gegensatz zu dir. Öffne deine Augen.« »Sie sind so offen wie nie. Sie sehen dich am Boden. Du bist gescheitert.« »Ich bin gefesselt. Das ist alles.« »Er versteht es nicht.« Phil löst sich von der Wand und dreht sich weg. »Komm, wir gehen.« Sie berührt Erdem an der Schulter. Er fährt herum. Ein seltsames Lächeln umspielt seinen Mund, erleichtert und ein wenig stolz, wenn ich es richtig deute. Er drückt sie an sich. Ich bin mir nicht sicher, was ich dabei empfinden soll. Die Spannung fällt von mir ab, mehr regt sich nicht. Dann setzen sie sich in Bewegung. Sie steigen über die Leiche und gehen hinaus. Ihre Silhouetten passen gut zueinander, das muss ich zugeben. Sein Arm um ihre Schulter. »Was ist, Viktor?« Es ist Erdem, der mich das fragt. Ich werfe Nondas einen letzten Blick zu. »Batu war tapfer. Er hat ein paar erwischt. Aber es waren zu viele. Zu viele Böse.« Er schweigt. Ich habe ihm nichts mehr zu sagen und verlasse das verfallene Gebäude. 361
Sie haben auf mich gewartet. Wir gehen den Trampelpfad zu dem Wäldchen hinunter. »Warum hast du deine Waffen weggeworfen?«, fragt Erdem. Phil geht neben ihm, ich ein Stück dahinter. Er hat seine Pistole noch in der Hand. »Ich konnte die Dinger noch nie leiden.« »Kein Grund, sich von ihnen zu trennen.« »Meiner Erfahrung nach ziehen sie den Tod an.« Er bleibt stehen. Das Wäldchen liegt direkt vor uns. »Und sie wehren ihn ab. Merk dir das. Wir sind nicht allein. Viele von uns brauchen Schutz.« Phil ist noch ein paar Schritte weitergegangen. Sie dreht sich um. »Wo bleibt ihr?« Erdems Schulter wird herumgerissen. Dann höre ich den Schuss. Er taumelt, hält sich aber auf den Beinen. Dann schlägt eine zweite Kugel in seinen Körper ein. Blut spritzt auf meine Wange. Erdem durchläuft ein Zucken. Seine Anstrengung, nicht zu Boden zu gehen. Ich spüre sie in der Luft. Der Mann am Waldrand. Der, den ich niedergeschlagen und dem ich die Beretta abgenommen habe. Die Schüsse kommen aus seiner Richtung. Er muss noch eine zweite Waffe bei sich gehabt haben. Erdem beginnt zu feuern. Er bewegt sich direkt auf den Schützen zu, knickt ein, setzt seinen Weg wieder fort. Ein weiterer Schuss vom Waldrand. Erdems Oberarm platzt auf. Er geht weiter. Ich renne zu Phil. Sie ist wie angewurzelt stehen geblieben. Ihr Gesicht ist leer, eine ausdruckslose Fläche. Ich reiße sie zu Boden. »Bleib liegen!« 362
Wir lassen uns zu dem Wäldchen hinunterrollen. Ich stehe auf, biege die Äste zur Seite, schlage mich durch Dornengestrüpp. Meine Wangen werden zerkratzt, ich kriege einen Stein zu fassen, gehe gebückt weiter. Endlich stehe ich neben ihm. Erdem jagt ihm sein ganzes Magazin in den Schädel. Ich werfe den Stein weg. Meine Stimme versagt. »Ich dachte, ich hätte ihn erwischt«, sage ich heiser. Er betrachtet mich, als sähe er mich zum ersten Mal. »Hilf mir.« Ich fange ihn auf. Phil ist schon neben uns und packt. Sie wirkt verbissen. Ihre Augen sind glasig. »Zurück zum Wagen«, würgt er hervor. »Bringt mich zurück!« Wir schleppen ihn auf den Weg, dann durch das Wäldchen hindurch. Er blutet aus mehreren Wunden. Seine Kleidung ist völlig durchnässt. Als wir die Brücke erreichen, erschlafft sein Körper. Er rutscht mir aus den Armen. Phil versucht, ihn wieder hochzuziehen. Seine Arme tasten nach dem Geländer. Sie zerrt weiter an ihm. »Gib nicht auf! Komm weiter!« Er sinkt zu Boden. Sie lässt ihn los. Er schaut sich um. »Hier.« Er betrachtet seine Hand. Sie ist vom Rost braun geworden. »Hier ist es.« Ein Blutschwall ergießt sich aus seinem Mund. Er verzerrt das Gesicht, hebt die Waffe, die er immer noch umklammert hält. »Was wollt ihr noch?«, schreit er. Niemand antwortet. Seine Rufe verhallen. Phil schaut mich ratlos an. Er lässt die Waffe fallen. Sein Kopf kippt zur Seite. Was immer er sich einbildet – es wird ihn nicht retten. 363
Da ist noch etwas. Eine abgehackte Melodie, auf- und absteigend. Wie ein Kinderlied. Phil presst ihr Ohr an seine Lippen, als lausche sie einem Geheimnis. Dann weicht das Leben aus ihm. Ein Murmeln. Es gehört schon nicht mehr zu ihm. Als ich den Kopf hebe, sehe ich ein Schild auf der Schweizer Seite. Die Aufschrift lautet: »Passaggio autorizzato soltanto con validi documenti di legittimazione senza merci«. ›Merce‹ bedeutet ›Ware‹. ›Mercé‹ heißt Gnade. Das Wort wird auf der zweiten Silbe betont.
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ir reden über alles. Sie sagt mir, auf welche Weise sie ihn geliebt hat, in dieser kurzen Zeit. Und auf welche Weise sie mich liebt. Welche Bedeutung es hat. Was dazwischen liegt. Dass sie zu unterscheiden gelernt hat. Es ist schwer, das wiederzugeben. Die Worte zwischen unseren Schritten haben einen gemeinsamen Ton. Die Farbe an unseren Fingern, die wir an einer Bergquelle abwaschen. All das Blut ist das gleiche. Wir erkennen die Form unserer Körper an ihren Schatten. Sie ähneln sich auf verblüffende Weise. Wir sprechen über Sill, als redeten wir über einen Menschen, der stets in der Mitte unseres Lebens gewesen ist. Der uns mit der gleichen Unendlichkeit fehlt. Falls jemand aus Scudellate oder Erbonne die Polizei alarmiert hat, wird es mindestens noch eine halbe Stunde dauern, bis sie am Ort des Geschehens eintreffen. Wenn wir eines der Autos genommen und zurückgefahren wären, egal ob auf der schweizerischen oder der italienischen Seite, wären sie uns entgegengekommen. Also sind wir weiter ins Gebirge hineingegangen, Richtung Monte Generoso. Von dort aus gelangen wir zum Luganer See, oder wir biegen im nächsten Gebirgstal nach Italien ab und machen uns auf den Weg zurück zum Lario. Zwei Seen in den Alpen – zwei Wege. Ich sage ihr, dass ich mich damit abgefunden hätte, wenn sie mit Erdem gegangen wäre. Dass ich auf sie verzichtet hätte, schweren Herzens, aber ich hätte es getan. Sie treffe die richtigen Entscheidungen, davon sei ich überzeugt. Sie brauche mich nicht. Hand in Hand laufen wir den Berg hoch. Wir wissen beide, dass diese Wanderung bald zu einem Ende gelangt. Phil wird in die Schweiz gehen, und ich werde in Italien bleiben. Wir werden 365
uns wieder trennen. Es gibt keine Fragen, Bitten, Beschwörungen, nur die Gewissheit. Sie treibt uns an, lässt uns ausruhen, wenn es nötig ist, hilft uns wieder auf die Beine, obwohl wir vor Erschöpfung kaum stehen können. Phil sagt, dass sie mich vermissen wird. Wie sehr ich ihr durch meine Abwesenheit helfen werde, so zu werden, wie sie es sich wünscht. Auf welche Weise sie sich nach mir sehnen wird. Ich weiß nicht mehr, wie oft wir uns küssen. Keiner von uns zählt mit. Phil ist voller Trauer für einen Menschen, den ich nicht böse nennen kann. Erdem stand zu dem, was er tat. Er hat eine Wandlung vollzogen. Das kommt selten vor. Ob er am Ende herausfand, wem er in Wahrheit diente? Phil hat seine letzten Worte gehört. Sie behält sie für sich. Wir gehen nicht zum Gipfel hoch. Stattdessen bewegen wir uns an seinen Flanken und Abhängen entlang. Die Aussicht lässt uns immer wieder innehalten. Kaum zu glauben, wie einen Berge, Bäume und Himmel ergreifen können. Aber so ist das mit einem geliebten Menschen an der Seite. Ein Wegweiser. Wir glauben zu wissen, wer wir sind. Aber wo wir sind, was uns umgibt, davon haben wir keinen blassen Schimmer. Eine Richtungsangabe. Was ist das schon wert, an der nächsten Gabelung?
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Epilog
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hil befindet sich an einem Ort, den niemand kennt. Eine Schule, weit entfernt von der Alten und der Neuen Welt. Sie lernt eine andere Sprache, das fällt ihr nicht schwer. Sie wird eine gewisse Zeit brauchen, um sich einzugewöhnen. Vielleicht wird sie eine CD mit Fotos von sich anfertigen und mir zuschicken, möglichst unverfängliche Aufnahmen, nichts, woran ihr Aufenthaltsort zu ermitteln wäre. Mit dem Brennen von CDs kennt sie sich aus. Der Rohling mit der Camcorder-Aufnahme klemmte hinter dem Spiegel im Gang des Delle Alpi. Sie muss ihn gebrannt und versteckt haben, als ich unter der Dusche war. Sie denkt immer an das Wesentliche. Mit meinem neuen Laptop habe ich noch eine Reihe von Vervielfältigungen gemacht. Zusammen mit einem erklärenden Schreiben befinden sie sich jetzt in mehreren TV-Redaktionen, bei Zeitungen, Rundfunksendern, was mir alles so einfiel, italienische, deutsche, englische Medien. An die Bullen gingen auch ein paar Exemplare, Polizia, Carabinieri, BKA, LKA, nur, damit sie Bescheid wissen. Sogar Ferro erhielt eine CD. Ohne Kommentar. Ich habe meine Versteigerungsdaten wiederhergestellt. Das war ziemlich umständlich, aber im Netz geht so schnell nichts verloren. Nachdem ich die ersten Käufer der Delle Alpi-Möbel kontaktiert hatte, musste ich feststellen, dass ein Teil von ihnen seine Schecks schon längst abgeschickt hatte. Versuchsweise rief ich den Anrufbeantworter in der Wohnung in Chiasso an. Alle Anrufe wurden nicht auf mein, sondern auf Zynas Handy umgeleitet. Sie hatte die Sache an sich gerissen, vermutlich, bevor sie uns nach Mailand gefolgt war. Dann hätte sie mir nur noch meinen Ausweis klauen und damit zum Postamt in Como
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gehen müssen, um die Schecks abzuholen. Es war ein guter Plan. Dagegen hätte nicht mal Nondas viel machen können. Ich habe eine kleine Notiz über ihn in der Zeitung gelesen, »Deutscher Polizist gerät außer Kontrolle« stand da. Es war von einer verdeckten Ermittlung die Rede, die er auf eigene Faust fortgeführt habe, ohne die italienischen Behörden zu verständigen. Er sei ausgewiesen und nach Deutschland zurückgeschickt worden. Kein Wort darüber, gegen wen oder was seine Ermittlungen gerichtet waren. Ein Teil der Vertuschung funktioniert nach wie vor. Im Delle Alpi wohne ich nicht mehr. Seit ich mir Phils CD geholt habe, warten sie dort vergeblich auf mich. Sie wissen nicht, dass ich mich ganz in der Nähe aufhalte. Das Hotelmanagement denkt in größeren Maßstäben, meine Rechnung fällt da nicht ins Gewicht. Zyna wurde exhumiert. Das interessiert auch keinen. In der Ledertasche, die an Erdems Schlüsselbund hing, befand sich eine Adresse. Sein Chalet gefällt mir. Solange ich mich nicht in Como blicken lasse und mich eher nach Norden orientiere, ist es ideal. Die Baumgruppe vor dem Panoramafenster kommt mir zwar nicht ganz geheuer vor, aber das ist nur so ein Gefühl. Davon darf man sich nicht leiten lassen. Dennoch werde ich Ferros Niedergang besser außer Landes verfolgen. Es ist nicht nur die Camcorder-Aufnahme. Erdem hat ein komplettes Geständnis an die Medien geschickt, mit jeder Menge belastendem Material, das seinem alten Auftraggeber im Handumdrehen das Genick bricht. Er muss es getan haben, nachdem ihn Phil auf dem Monte Bisbino laufen ließ. Zusammen mit der Aussage von Lidia, die mit Hilfe von Attac einigen Wirbel veranstaltet, kommt da einiges zusammen. Wenn Ferro klug ist, geht er ins Exil. Dafür muss er nicht nach 368
Brasilien oder ans Ende der Welt fliehen. London würde schon reichen. Ich blicke durch die Scheibe nach draußen. Erdems Sinneswandel ist mir immer noch nicht begreiflich. Was hat ihn dazu bewogen? Dass Phil ihn freigelassen hat? Das glaube ich nicht, bei allem Respekt für die verborgenen Fähigkeiten meiner Tochter, die keine Ahnung hat, wie ihre Wirkung auf die Menschen ist und was sie mit ihnen anstellen kann. Erdem muss einen Fingerzeig erhalten haben, aber von wem? Von sich selbst? Das kommt vor. Kaum zu glauben, was bisweilen die Stimme in uns erhebt. Vielleicht war er dafür empfänglich. Nur von Marco habe ich nichts gehört. Ich kann den Monte Bisbino auf der anderen Seite des Seeufers von weitem erkennen. Dabei belasse ich es. Der Junge soll dort oben bleiben, wenn sie ihn lassen. Er wird nichts Besseres finden. Die Zweige der Bäume sind kahl, das Laub ist gefallen. Ich versuche, darin so etwas wie einen Plan zu erkennen, einen Weg, den ich beschreiten könnte, falls Ferro wider alle Erwartung davonkommen sollte. Aber die Zweige geben keine Lücke frei, schließen sich zu einer undurchdringlichen Wand. Ich habe keine Visionen mehr. Sie haben sich verflüchtigt. Es lebt sich besser ohne sie. Stattdessen stelle ich mir Fragen. Wer hat den Keim dieser Bäume gesetzt? Wer verstreut sie mit loser Hand, damit die Berge zu glühen beginnen, wenn die Blätter sich röten? Und wischt sie wieder weg nach Belieben. Ich wiege Phils Piercing in der Hand. Ihr Abschiedsgeschenk, als wir uns am Monte Generoso trennten. Soll ich mit TONY im Bauchnabel herumlaufen? Mit offen stehendem Hemd, damit es auch jeder sieht? Warum eigentlich nicht? 369