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1. Die Küste dieses unbekannten Landes war wie eine grüne Wand, ebenmäßig, flach und dicht - undurchdringlich, wie es schien. Nirgendwo eine Erhöhung, ein Berg oder nur ein Hügel. Und über allem die gleißende Sonne, die offenbar
den letzten Dunst aus diesem Land herauskochen wollte. Der mäßige Nordwest erwies sich als brauchbar für den Kurs der „Isabella VIII.". Doch Abkühlung brachte er den Männern an Bord seit den frühen Morgenstunden nicht mehr. „Platt wie ein Brett", bemerkte Edwin Carberry grollend. „Platt wie ein
4 gottverdammtes wurmstichiges Brett!" Der Klang seiner Reibeisenstimme verklarte auch dem letzten der Crew, daß diese Küste wahrhaftig nichts Aufregendes barg. Und wenn der Profos eine solche Feststellung traf, dann konnten sich die anderen getrost darauf verlassen und sich die Mühe schenken, auch nur den Kopf zu heben. Das bißchen, was sie noch auf dem Leib trugen, klebte an ihrer Haut, und jeder Quadratinch des harten Holzes, aus dem die schlanke Galeone gebaut war, fühlte sich glitschig an, wie mit einem feuchten Belag überzogen. Philip Hasard Killigrew lächelte. Von seinem gewohnten Platz an der Schmuckbalustrade des Quarterdecks überblickte er das gesamte Schiff und alles, was sich an Deck abspielte. Letzteres war derzeit praktisch nichts. Verständlich, denn das feuchtwarme Klima in diesen Breiten glich für Europäer einem Hammerschlag. Zwar hatten die Männer schon das Ungewöhnlichste überstanden, was es überhaupt geben konnte - vom klirrenden Frost der Nordlande bis zur Gluthitze der Südseeinseln. Aber dennoch gewannen sie hier eine neue Erfahrung. Die Intensität der Sonne und die Luftfeuchtigkeit steigerten sich vor dieser fremden Küste in einem solchen Maße, daß auch der widerstandsfähigste Mann unweigerlich ermattete. Die „Isabella" rauschte unter Vollzeug über Backbordbug auf Südkurs. Die Kraft des Nordwestwindes reichte aus, das Tuch prall stehen zu lassen. Der leise Singsang der heißen Luft in Wanten und Pardunen wurde begleitet vom fast rhythmischen Knarren des laufenden und stehenden Gutes. Ein gleichfalls zuverlässiger Begleiter war die Küstenlinie, deren Verlauf sich seit Stunden in monotoner Parallelität dem Kurs der Galeone anpaßte.
Edwin Carberry, der sich soeben zum Gebrauch seiner Stimme hatte aufraffen können, hockte auf einer Taurolle, mit dem Rücken an den Fuß des Großmastes gelehnt. Er brauchte sich nicht aufzurichten, um über das Steuerbordschanzkleid zu spähen. Die anderen Männer lagen lang ausgestreckt auf den Decksplanken. Ausnahmslos trugen sie nur noch ihre derben Seemannshosen. Es gab nichts zu tun, der Nordwest ermöglichte es ihnen mit seiner Stetigkeit. Nur wenige der Crew hielten sich unter Deck auf, in der vagen Hoffnung, dort Schutz vor der unbarmherzigen Sonne zu finden. Aber die unteren Decksräume hatten sich längst in einen Brutkasten verwandelt. Hasards Söhne, die Zwillinge, saßen bei den Männern auf dem Vorkastell. Zwischen den beiden Jungen kauerte Arwenack, der Schimpanse, und knabberte gelangweilt an einer Brotfrucht. Der Ara-Papagei Sir John hielt sich indessen auf Distanz. Hoch oben auf dem Fockmars ließ er sich den Wind durch das aufgeplusterte Gefieder wehen. Der Seewolf wandte sich zu seinem ersten Offizier um. Ben Brighton ließ das Spektiv sinken, mit dem er immer wieder die Küste beobachtete. „Tropischer Regenwald, Sir. Wenn wir da an Land gehen, brauchen wir eine Stunde, um eine Meile zurückzulegen." „Ich weiß." Hasard nickte. „Es wäre sinnlose Zeit- und Kraftverschwendung." „Ich denke, es gibt vorläufig keinen Grund zur Eile. Unser Trinkwasser reicht noch für drei oder vier Tage und sogar länger, wenn wir rationieren." „Solange werden wir nicht suchen müssen. Der Dschungel kann nicht endlos sein. Im übrigen denke ich
5 auch an unsere Proviantvorräte. Ein wenig Frischfleisch täte uns allen gut. Wenn mich nicht alles täuscht, wächst die Brotfrucht den Männern langsam zum Hals heraus." Ben Brighton grinste. Er deutete mit einer knappen Handbewegung zur Küste. „Zumindest daran werden wir keinen Mangel haben. Wie ich gesehen habe, gibt es auch hier jede Menge Brotfruchtbäume." Der Seewolf mußte ebenfalls lächeln. „Wenn irgend möglich, behalten wir das Zeug als eiserne Reserve. Dieses Land scheint größer zu sein als alle Südseeinseln, die hinter uns liegen. Also können wir hoffen, daß es hier eine reichhaltigere Tierwelt gibt." „Ein paar gebratene Tauben wären schon ein Hochgenuß", entgegnete Ben mit einem leisen Seufzer. In der Tat hatten sie sich in den letzten Wochen mehr und mehr zu Vegetariern entwickelt. Appetitliche jagdbare Landtiere hatten sie auf den Südseeinseln praktisch überhaupt nicht entdeckt, und selbst frischer Fisch war nichts für jeden Tag. Blieb nur noch das Pökelfleisch, und das war den Männern seit jeher ein Greuel. „Diese Küste gibt mir Rätsel auf", sagte Hasard nachdenklich. „Zwölf Tage ist es jetzt her, daß wir das große Riff hinter uns gelassen haben. Seit genau elf Tagen haben wir Land in Sicht, immer in Nord-Süd-Richtung. Wenn es eine Insel ist, dann muß sie mächtig groß und langgestreckt sein." Ben Brighton zuckte mit den Schultern. „Ein Teil von Südostasien kann es jedenfalls nicht sein. Dann würden sämtliche Seekarten, die die Flotte der königlichen Lissy verwendet, nicht stimmen."
„Das ist kein guter Grundsatz, Ben." Hasard schüttelte den Kopf. „Wie oft haben wir schon festgestellt, daß das kartographische Material mehr der Phantasie der Zeichner als der Wirklichkeit entspringt!" „Ja, das mag daran liegen, daß wir uns häufiger in unbekannte Breiten vorgewagt haben als die meisten anderen Gentlemen." „Eben drum. Deswegen können wir nicht mit Sicherheit behaupten, dies sei auf keinen Fall ein Teil von Südostasien. Natürlich sind alle anderen Mutmaßungen genauso gerechtfertigt." Ben Brighton nickte, und mit einer bezeichnenden Kopfbewegung deutete er zum Poopdeck hinauf, wo Old Donegal Daniel O'Flynn am Backbordschanzkleid saß und mit geschlossenen Augen döste. Den Halbschatten, den er dort anfangs noch gefunden hatte, gab es nicht mehr, denn mittlerweile stand die Sonne senkrecht über ihnen am Himmel. „Wenigstens gibt es einen an Bord, der haargenau Bescheid weiß", sagte Ben und grinste. Hasard wiegte den Kopf auf den Schultern. „Ich will auch das nicht vom Tisch fegen, was Old O'Flynn sagt. Natürlich kennen wir alle seine Spukgeschichten, und jeder macht sich darüber lustig. Aber die Geschichten über ,Terra Australis' hat er nicht selbst erfunden. Die haben schon andere lange vor ihm erzählt." „Ich weiß, ich weiß", sagte Ben und nickte. „Willst du etwa allen Ernstes annehmen, wir hätten wirklich dieses sagenumwobene südliche Land entdeckt?" „Unmöglich ist nichts. Erinnere dich nur an die Nordwest-Passage." „Aber da hatten wir doch genauere Anhaltspunkte. Über ,Terra Australis' wissen wir nichts, buchstäblich nichts. Außer, daß es ein paar Zeich-
6 ner gegeben hat, die auf die südliche Hälfte der Welt einen Klecks gemalt haben, weil es ihnen dort zu leer erschien. Sonst wäre noch zu sagen, daß wir uns nach wie vor nördlich vom Äquator befinden." Hasard zog die Augenbrauen hoch. „Das muß nichts heißen. Was, wenn ,Terra Australis' ein ganzer Kontinent ist, der oberhalb des Äquators beginnt und weit unterhalb endet?" „Na, na!" ereiferte sich Ben Brighton, der sonst stets die Ruhe in Person war. „Das scheint mir denn doch ein bißchen weit hergeholt. Ich gebe zu, daß wir schon einiges von der Welt gesehen haben, was kein anderer vor uns sah. Aber das muß ja nicht immer so bleiben." Der Seewolf wurde einer Antwort enthoben. Eine krächzende Stimme vom Poopdeck fuhr den beiden Männern dazwischen. „Was, zum Teufel, redet ihr da! Könnt ihr es denn noch immer nicht glauben, was ein weitgereister alter Mann euch sagt?" Der Seewolf und sein erster Offizier drehten sich langsam um. „Himmel!" sagte Ben Brighton und verdrehte die Augen. „Er war doch wacher, als wir glaubten. Jetzt haben wir den Salat." Hasard grinste nur. Der alte O'Flynn rappelte sich mühsam auf und brauchte eine Weile, bis er seine Krücken aufgeklaubt hatte. Trotz seines Holzbeins war er ein unverwüstlicher Haudegen, der selbst in den wildesten Seegefechten noch immer seinen Mann gestanden hatte. Daß er jetzt die Mühe auf sich nahm, seinen Platz auf dem Poopdeck zu verlassen und sich den Niedergang zum Quarterdeck hinunterzuquälen, lag einzig und allein an dem Stichwort „Terra Australis". Es mußte ihm wie Sirenenklang ins Ohr gestochen haben.
Auf die Krücken gestützt, baute er sich vor den beiden breitschultrigen Männern auf, deren Oberkörper von der südlichen Sonne nahezu bronzefarben gebräunt waren. Während Ben Brightons Statur eher als untersetzt zu bezeichnen war, bestach Philip Hasard Killigrew durch mehr als sechs Fuß Größe und schwarzes Haar, zu dem seine klaren blauen Augen einen ungewöhnlichen Kontrast bildeten. „Natürlich sind wir ahnungslose Engel", sagte der Seewolf mit todernster Miene.. „Das wollen wir gern zugeben, Old Donegal." Der alte O'Flynn überhörte die Anspielung. Er nickte zustimmend und stieß ein Brummen aus, das zufrieden klang. „Im großen und ganzen seid ihr prächtige Burschen. Deshalb gehe ich auch mit euch mitten durch die Hölle, wenn es sein muß. Aber die richtige Erfahrung kriegt man erst in meinem Alter. Das werdet ihr später selbst erkennen, ihr könnt es mir glauben." „In Ordnung", sagte Ben Brighton. „Das kaufen wir dir ab. Aber was ist Erfahrung gegen eine verläßliche Seekarte?" Old O'Flynn stieß die rechte Krükke auf die Planken. „Daß du es immer noch nicht begriffen hast! Man kann nicht nur an das glauben, was man schwarz auf weiß sieht. Es gibt verdammt viele Dinge auf dieser Welt, von denen ein armseliges Menschenhirn nicht die geringste Ahnung hat. Ich sage euch, dieses Land", er streckte den rechten Arm zur Küste hin, wobei er die Krücke mit hochhob, „ist kein anderes als ,Terra Australis'." „Hattest du schon wieder ein Gespräch mit dem Wassermann?" erkundigte sich Hasard lächelnd. „Du brauchst mich nicht zu verspotten, Mister Killigrew, Sir. Ich ha-
7 be schon viele angesehene Männer von ,Terra Australis' reden hören, als du noch in die Windeln ge ..." „Mit so einer Ausdrucksweise?" fiel ihm Ben Brighton ins Wort. „Das müssen Burschen gewesen sein, die ihr größtes Ansehen bei den Spelunkenwirten in der Karibik genossen." „Manchmal glaube ich, ihr habt zu wenig Phantasie für die Wunder der Welt", sagte Old O'Flynn kopfschüttelnd. „Warum, zum Teufel, könnt ihr euch nicht vorstellen, daß wir schon seit Tagen den australischen Kontinent im Visier haben?" „Jetzt ist es schon ein Kontinent", seufzte Ben Brighton, verschränkte die Arme vor dem breiten Brustkasten und stieß die Atemluft hörbar aus. „In ein paar Wochen oder Monaten werden wir Gewißheit haben", sagte Hasard. „Schließlich können wir dann unsere Aufzeichnungen über den Küstenverlauf zusammenfassen. Und das ist mehr wert als die Geschichten angesehener Männer." „Ihr werdet euch noch wundern", knurrte der alte O'Flynn beleidigt. „Wartet erst mal ab, bis wir an Land sind. Da werden euch die Augen übergehen." „Ganz bestimmt!" rief Ben Brighton lachend. „Ich wette, die Menschen tragen ihren Kopf nicht auf dem Hals, sondern unter dem rechten Arm." Hasard mußte sich abwenden, um ernst zu bleiben. Old O'Flynn wollte zu einer zornigen Gegenrede ansetzen. Doch diesmal war er es, der unterbrochen wurde. „Deck!" ertönte eine helle Stimme aus dem Großmars. „Steuerbord voraus - eine Bucht!" Mit dieser Meldung riß Bill, der Ausguck, die Männer aus ihrer Lethargie. Es wurde lebendig an Deck. Endlich gab es die Abwechslung, auf
die sie so verdammt lange gewartet hatten. Hasard nahm den eigenen Kieker, trat ans Steuerbordschanzkleid und suchte den Küstenstreifen ab. Ben Brighton tat es ihm nach. Die ausgedehnte Bucht, die der Moses von seinem luftigen Platz im Ausguck entdeckt hatte, war etwa eineinhalb Seemeilen entfernt. Am südlichen Ende der Bucht schob sich eine Landzunge weit ins Meer. 2. Das Wasser war glasklar und ruhig. Geradezu sanft leckte der schwache Wellengang auf gelbweißen Strand, der wie mit einem riesigen Hobel geglättet zu sein schien. Es gab ein vernehmliches Knirschen und dann einen Ruck, als der Kiel des Beibootes vom Sand gehemmt wurde. Ferris Tucker und Smoky zogen die Riemen ein. Hasard folgte ihnen mit einem federnden Satz ins knöchelhohe Uferwasser. Gemeinsam zogen sie das Boot höher an Land, wo sie für einen Atemzug verharrten. Der Dschungel war so lebendig wie überall in den tropischen Breiten der Welt. Schrille Stimmen drangen aus der unergründlichen grünen Tiefe. Keckernde Laute ähnlich denen, die der Schimpanse Arwenack ausstieß, gellende Schreie und keifendes Gelächter, das an menschliche Stimmorgane erinnerte. Als die drei Männer weiter den schmalen Streifen Sandstrand hinaufgingen, stob ein Schwarm buntgefiedeter Vögel aus den Baumkronen auf. Während sie mit wirbelndem Flügelschlag landeinwärts flohen, stießen sie ein ohrenbetäubendes protestierendes Gezeter aus. Ferris Tucker, der riesenhafte rothaarige Schiffszimmermann, blieb
8 stehen und stemmte die Fäuste in die Hüften. „Habt ihr das gesehen?" rief er verwundert. „Diese Viecher sehen alle aus wie Sir John im Kleinformat." „Vielleicht wachsen sie noch!" Smoky, der bullige Decksälteste, grinste unbeeindruckt. Hasard runzelte die Stirn. Auch er hatte diese papageienähnlichen Kleinvögel noch nirgendwo auf der Welt beobachtet. Aber vielleicht wäre es für Naturforscher oder Wissenschaftler nichts Neues gewesen. Daß sie eben einen Schwarm von Sittichen aufgescheucht hatten, konnte keiner der drei Männer wissen. Bei näherem Hinsehen bemerkte Hasard, daß dieser Regenwald offenbar doch seine Besonderheiten hatte. Da gab es riesige Baumfarne, wie er sie in den tropischen Breiten der Neuen Welt noch nirgendwo gesehen hatte. Aber auch Vertrautes war vorhanden - Kokospalmen, Brotfruchtbäume und Mangroven mit ihren Stelzwurzeln. Auf der Landzunge herrschte dagegen eine gemäßigte Vegetation vor, überwiegend Kasuarinen von niedrigem Wuchs. Feuchte, stickige Luft schlug den Männern aus dem Dschungel entgegen. Dorthin vorzudringen, hatte keinen Sinn. Hasard deutete zum Südende der Bucht. „Sehen wir uns da drüben um." Ferris Tucker und Smoky folgten dem Seewolf, der mit weit ausgreifenden Schritten voranging. Radschloßdrehling und Entermesser waren die einzigen Waffen, die Hasard bei sich trug. Ferris und Smoky waren mit einschüssigen Pistolen und Entermessern ausgerüstet. Aus den Augenwinkeln heraus sahen sie die „Isabella", die zwei Kabellängen vom Ende der Landzunge
entfernt vor Anker lag. Mit aufgegeiten Segeln lag die schlanke Galeone ruhig wie ein Klotz im schwachen Wellengang. Wie eine Pier, von einer Laune der Natur angelegt, ragte die Landzunge mehr als hundert Yards weit schnurgerade in das kristallklare Wasser hinaus. Der Boden der kleinen Halbinsel war nur leicht gewölbt und mit knapp hüfthohen Kasuarinen überwuchert. Begleitet von der lärmenden Geräuschkulisse des Regenwaldes, drang Hasard als erster in das dichte Gestrüpp vor. Dann, als er den höchsten Punkt der Landzunge erreichte, prallte er unwillkürlich zurück. Ferris Tucker und Smoky, die sich hinter ihm raschelnd ihren Weg bahnten, verharrten gleichfalls. „Das ist doch nicht zu ..." stieß der Schiffszimmermann hervor und unterbrach sich vor Überraschung selbst. Eine Flußmündung teilte den Regenwald auf der nördlichen Seite der Landzunge. Aber das allein wäre noch kein Grund zur Verblüffung gewesen. Nahe dem jenseitigen Ufer der Mündung, etwa eineinhalb Kabellängen entfernt, lag ein zweimastiges Schiff vor Anker. Es war kleiner als die „Isabella" und von gedrungener Bauweise. Hasard schätzte es auf etwa einhundert Tonnen. Der Konstruktion nach handelte es sich um eine jener Karacken, wie sie im Mittelmeerraum üblich waren. Sanft dümpelte der Zweimaster im Brackwasser. Der Namenszug am Bug war verwittert und auf die Entfernung nicht zu entziffern. Keine Menschenseele rührte sich an Deck. „Scheint so, als ob wir nicht die ersten Europäer im unbekannten gelobten Land sind", murmelte Smoky. Hasard wandte sich halb um.
9 „Das wird sich noch herausstellen. Ihr beide nehmt das Beiboot und pullt zurück zur ,Isabella'. Ben soll zwölf Mann einteilen und mit der großen Jolle in die Flußmündung schicken. Ich werde mich ein wenig umsehen und erwarte euch da drüben am Ufer." „Allein?" fragte Ferris Tucker stirnrunzelnd. Der Seewolf nickte. „Von den Menschenfressern habe ich noch keine Spur entdeckt. Beeilt euch. Ich will wissen, was es mit diesem Zweimaster auf sich hat." „Waffen?" erkundigte sich Smoky knapp. „Musketen und Pistolen", entschied Hasard. „Und genügend Pulver und Blei." „Aye, aye, Sir." Die beiden Männer wandten sich ab und liefen im Trab zurück zum Beiboot. Hasard setzte seinen Weg durch das hüfthohe Gestrüpp fort. Die Landzunge war schmal und maß kaum mehr als zwanzig Yards. An der Flußmündung gab es keinen weißen Strand wie in der Bucht. Hier war der Uferstreifen, der das grüne Dickicht vom Wasser trennte, grau und morastig. Rinnsale durchzogen den Boden wie dunkle Adern. Vorsichtig setzte Hasard einen Fuß vor den anderen. Bei jedem Schritt sank er mit den Stulpenstiefeln bis zu den Knöcheln ein. Unablässig spähte er zu der Karakke hinüber. Der Name des Schiffes begann mit einem „S", soviel konnte er jetzt schon feststellen. Aber noch immer bewegte sich an Bord nichts. Kein menschlicher Laut war zu hören, der sich vom Lärm des Dschungels abgehoben hätte. Eine plötzliche Bewegung entstand vor Hasards Füßen. Der Seewolf stoppte seine Schritte und blickte in eins dieser fußbreiten Rinnsale, in dem etwas lebendig ge-
worden war. Im nächsten Moment hatte er das Gefühl, seinen Augen nicht trauen zu können. Das Tier, das er da offenbar aus seiner Ruhe aufgescheucht hatte, war eigentlich ein Witz. Er blinzelte verblüfft und wollte sich bücken, um zuzupacken. Aber es bewegte sich viel zu rasch, halb watschelnd, halb schwimmend. Der Körper des Tieres, etwa zwanzig Zoll lang, war dicklich und fast plump, das Fell ähnelte dem eines Seehundes. Das Erstaunliche war aber, daß dieses Tier den Schnabel und auch die Schwimmfüße einer Ente hatte - vier Entenfüße und einen Entenschnabel. Hasard schüttelte ungläubig den Kopf. Er hatte nicht schnell genug reagiert, um das komische Etwas zu fangen. Jetzt verschwand es mit eiligen Watschelbewegungen im Dikkicht. Ungewollt mußte der Seewolf an die Worte des alten O'Flynn denken. Die Welt war voller Wunder, und immer wieder gab es Entdeckungen, die alte Schulweisheiten einfach auf den Kopf stellten. Hasards Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, als unvermittelt Riemenschläge zu hören waren. Er blickte zum Ende der Landzunge und erkannte die Jolle der „Isabella". Die Männer pullten mit kraftvollen Schlägen, und das Boot lief zügige Fahrt. Über dem Buschbewuchs der Landzunge waren weiter entfernt die Masten der Galeone zu erkennen. Die Jolle nahte rasch heran. Schon von weitem sah Hasard, welche Männer aus der Crew Ben Brighton ausgewählt hatte. Auf der Achterducht saß Edwin Carberry und hielt die Ruderpinne. Der Profos reckte sein mächtiges Rammkinn vor und spähte abwechselnd zu dem am Ufer wartenden Seewolf und zu dem fremden Zweimaster.
10 Die Riemen bedienten neben Ferris Tucker und Smoky, der junge O'Flynn, Blacky, Gary Andrews, Matt Davies, Jeff Bowie, Sam Roskill, Bob Grey, Luke Morgan und Stenmark. Hasard watete ins seichte Uferwasser und schwang sich an Bord, noch bevor der Kiel des Bootes Grundberührung hatte. Geschickt manövrierten die Männer die Jolle sofort wieder in Richtung Flußmitte. Hasard blieb aufrecht im Bugraum stehen, während sie auf die Karacke zuglitten. „Komische Sache, was, wie?" rief Ed Carberry von der Achterducht her. „Scheint so, als ob es da nicht eine einzige lausige Kakerlake an Bord gibt!" Seine Reibeisenstimme dröhnte laut über die ruhige Wasserfläche und übertönte sogar den Lärm aus dem Regenwald. „Weck die Kakerlaken mit deinem Gebrüll nicht auf", empfahl Ferris Tucker grinsend. „Unnötigen Ärger brauchen wir wirklich nicht." „Wer hat denn hier gebrüllt, du Holzwurm?" schnaubte Carberry. „Wenn ich mal 'ne sachte Bemerkung von mir gebe, ist das noch lange kein Grund, sich gleich in die Hosen zu machen. So was ist mir noch nicht passiert, daß ein erwachsener Mann das Flattern kriegt, wenn er nur einen verrotteten wurmstichigen Kahn sieht." Ferris Tucker wollte aufbrausen. „Ruhe!" mahnte Hasard. „Heb dir deine Kommentare für später auf, Mister Carberry." Der Profos schluckte, und Ferris Tucker quittierte es mit einem grimmigen Nicken. Hasard konnte mittlerweile den Namenszug am Bug des Zweimasters entziffern. „Speranza", „Hoffnung", stand dort in hölzernen Lettern, die von Wind und Seewasser sichtlich angegriffen
waren. Dem Namen nach mochte es sich um ein italienisches Schiff handeln, doch es gab kein Nationalitätszeichen, das diese Vermutung untermauerte. Im übrigen war noch immer kein Lebenszeichen zu erkennen. Wenn sich wirklich eine Menschenseele an Bord aufhielt, dann konnte das Herannahen der Jolle mittlerweile nicht mehr unbemerkt geblieben sein. Auf ein Kommando des Seewolfs holten die Männer die Riemen ein. Langsam glitt das große Beiboot der „Isabella" auf die Steuerbordseite der Karacke zu. Eine wenig vertrauenerweckende Jakobsleiter hing von der offenen Pforte im Schanzkleid nach unten. Hasard prüfte die Festigkeit der Hanfwindungen, ehe er aufzuentern begann. In Höhe des Schanzkleides gab er den Männern einen Wink. Nacheinander folgten sie ihm, wobei jeweils nur einer die Jakobsleiter benutzte. Edwin Carberry vertäute die Jolle. Die Decksplanken waren glitschig, von einem dünnen moosähnlichen Belag überzogen. Es war anzunehmen, daß das Schiff bereits seit Wochen hier vor Anker lag. Der Seewolf und seine Männer sahen sich um. Zeichen eines Kampfes gab es nicht, keinerlei Spuren einer Auseinandersetzung. Oder doch? Hasards Blick fiel auf das offene Kombüsenschott, das halb aus seiner Verankerung gerissen war. „Ferris, Smoky!" sagte er und ging voraus. Die beiden Männer folgten ihm. Hasard stieg als erster in das Halbdunkel der Kombüse. Fauliger Geruch schlug ihnen entgegen. Der Brechreiz, der augenblicklich in ihnen aufstieg, konnte nicht nur von verdorbenen Lebensmitteln herrühren. Hasard tastete sich nach rechts-
11 voran, an irgendwelchen Schapps entlang, deren Holz sich fettig-glitschig anfühlte. Unvermittelt stieß er mit der rechten Fußspitze gegen etwas Weiches. Er verharrte und blickte zu Boden. Nur quälend langsam gewöhnten sich seine Augen an das Halbdunkel, das dort unten noch intensiver war. Im nächsten Augenblick verstärkte sich der Brechreiz bis zur Unerträglichkeit. Doch gleichzeitig drückte ihm eine unsichtbare Faust die Kehle zu. Es war ein menschlicher Körper, der dort am Boden lag, bestialisch zugerichtet. Ferris Tuckers Stimme meldete sich in jähem Entsetzen aus der anderen Ecke der Kombüse. „Um Himmels willen!" Die Worte des hünenhaften Schiffszimmermanns gingen in einen gurgelnden Laut über. Hasard drehte sich um und erfaßte jetzt die düstere Szenerie in ihrer ganzen grausigen Deutlichkeit. Smoky stand im Licht, das durch das offene Schott hereinflutete, würgte und hielt sich die Hand vor den Mund. Vier Menschen waren in diesem engen Raum auf furchtbare Weise gestorben. Ihr Tod war entwürdigend gewesen, ihre Mörder so unvorstellbar bestialisch, daß es selbst den Seewolf an den Rand der Fassungslosigkeit brachte. „Denkt, was ihr wollt", sagte Smoky mit erstickter Stimme, „ich muß hier raus. Nichts wie raus!" Ferris Tucker und Hasard folgten dem Decksältesten. Ihnen ging es nicht viel besser als Smoky. Das freie Atmen an Deck tat ihnen wohl, auch wenn die Luft tropisch feucht und stickig war. „Hol's der Teufel!" polterte Edwin Carberry. „Ich fresse meine eigenen Schuhe, wenn ihr nicht alle drei re-
gelrecht grün im Gesicht seid." „Kein Wunder", sagte Smoky und hielt sich den Magen. „Geht" mal selbst da rein." Er deutete mit dem Daumen über die Schulter. Hasard winkte ab. Er schilderte den Männern, was sie in der Kombüse entdeckt hatten. Mit geweiteten Augen starrten sie ihn an. „Wie es aussieht, handelt es sich um den Koch, den Schiffsjungen und zwei weitere Männer", erklärte Hasard. „Sie müssen überrascht worden sein, deshalb konnten sie wahrscheinlich keine Gegenwehr mehr leisten. Die Mörder waren Kannibalen. Menschenfresser." „Menschenfresser?" entgegnete Gary Andrews verblüfft. „Wieso konntet ihr dann noch vier Tote finden? Menschenfresser würden doch nichts übriglassen, oder?" „Mann, o Mann!" brüllte Smoky in einem jähen Wutausbruch, mit dem er seinem Entsetzen Luft machte. „Vielleicht hast du schon mal von diesen Asiaten gehört, die nur die Innereien, von ihren Hunden fressen. So! Und wenn du das Ganze auf die freundlichen Kannibalen in diesem freundlichen Land überträgst, dann weißt du, was sich da drinnen abgespielt hat!" Smoky atmete schwer. Betretenes Schweigen breitete sich aus. Gary Andrews senkte verlegen den Kopf. „Wir müssen diesen armen Kerlen zur letzten Ruhe verhelfen", sagte Hasard nach einer Weile. „Wer übernimmt das freiwillig?" Edwin Carberry meldete sich zu Wort. „Jeder von uns packt mit an. Das ist unsere Pflicht. Oder ist jemand anderer Meinung?" Niemand widersprach. „Also gut", entschied der Profos. „Wir bringen die armen Teufel an Land und begraben sie dort. Ein Seemannsgrab können wir ihnen nicht
12 bieten. Dazu sind die Küstengewässer zu flach." Der Seewolf packte mit an, als sie die furchtbar zugerichteten Leichen aus der Kombüse holten. Dann, während seine Männer die Toten in Segeltuch rollten und in die Jolle abfierten, untersuchte er die Achterdecksräume. Seine Vermutung, daß sich außer den vier Männern in der Kombüse niemand an Bord aufgehalten hatte, bestätigte sich. Den Aufschluß, den er erhofft hatte, fand er in der Kapitänskammer. So wertvoll das in Schweinsleder gebundene Logbuch war, so flüchtig und unvollständig waren die Eintragungen. Der Kapitän der „Speranza" schien kein besonderes Interesse an Genauigkeit zu haben. Eine Entdekkernatur war er ganz gewiß nicht, denn es fand sich keinerlei Beschreibung von den Küsten dieses unbekannten Landes. Doch in sorgfältiger Handschrift war immerhin vermerkt, daß die Karacke vor nunmehr dreizehn Monaten ihren Heimathafen Genua verlassen hatte. Angaben über Kurs und Bestimmungshafen waren bei Reisebeginn nicht eingetragen worden. Kapitän und Eigner der „Speranza" war ein Genueser namens Nando Marchi, von dem auch die Eintragungen im Logbuch stammten. Zwanzig Mann hatten zu Beginn der Reise unter seinem Kommando gestanden. Zwei Monate später, bei der Umsegelung des afrikanischen Kontinents, war einer der Mittschiffsleute an einer verschleppten fieberhaften Krankheit gestorben. Der Tote war der See übergeben worden, und Kapitän Marchi hatte die entsprechende Notiz im Logbuch mit der Befürchtung abgeschlossen, daß an Bord eine Seuche ausbrechen könne. Nichts dergleichen war aber offen-
bar geschehen. Während die „Speranza" den Gewässern des Indischen Ozeans entgegengesegelt war, hatte Marchi bei seinen Logbuch-Eintragungen immer mehr Sorglosigkeit walten lassen. Die Angaben über den jeweiligen Kurs waren lückenhaft. Die Namen der Häfen, die die Karakke in Afrika und auf dem indischen Subkontinent angelaufen hatten, waren dem Seewolf völlig unbekannt. Hatte Kapitän Marchi mit Absicht die größeren Hafenstädte gemieden? Es sah fast so aus. Denn eins fehlte im Logbuch völlig: jedwede Angaben über die Ladung. Ein Kauffahrer war diese „Speranza" also gewiß nicht, weil Handelsleute und die von ihnen beauftragten Kapitäne stets äußerste Genauigkeit an den Tag legten. Ein Pirat also? Auch diese Möglichkeit schied aus, denn mit ihren insgesamt acht Culverinen an Backbord und Steuerbord war die „Speranza" lächerlich schwach armiert - verglichen mit den meist hervorragend ausgerüsteten Hasardeuren der See. Zu welchem genauen Zeitpunkt der Zweimaster das unbekannte Land erreicht hatte, ließ sich ebenfalls nicht feststellen. Nur soviel: Kapitän Nando Marchi hatte vor zweieinhalb Wochen in dieser Flußmündung ankern lassen, ein Beiboot ausgesetzt und war mit fünfzehn Mann aus seiner Crew flußaufwärts vorgedrungen. Insofern stimmte es also, daß sich außer den vier Männern in der Kombüse keine weiteren an Bord aufgehalten hatten. Hasard schlug das Logbuch zu und legte es zurück auf das Pult. Die Luft in der engen Kapitänskammer war zum Schneiden dick. Auf dem Tisch standen eine leere Flasche und zwei Weingläser, die mit einer Staubschicht überzogen waren. Im Schapp neben dem Pult fand der Seewolf einen ganzen Vorrat an Rotwein. Hat-
13 te Marchi häufiger zu diesem Vorrat gegriffen als zu Federkiel und Tintenfaß? Hasard verließ die Kapitänskammer. Seine Männer hatten am diesseitigen Ufer eine kleine Waldlichtung gefunden, wo sie die Toten begruben. Warum war der Genueser mit dem größten Teil seiner Mannschaft ins Landesinnere aufgebrochen? Welches Reiseziel, welche Aufgabe hatte er überhaupt gehabt, als er Europa verlassen hatte? Fragen, die sich nicht beantworten ließen, vorerst nicht; vielleicht überhaupt nicht. Denn nach dem grausigen Anblick in der Kombüse erschien dem Seewolf das Schicksal der Genueser mehr als ungewiß. Er stieg unter Deck. Die „Speranza" hatte nur einen einzigen Laderaum, und der war nicht einmal halb gefüllt. Im Halbdunkel konnte Hasard die Umrisse von Kisten, Fässern und Säcken erkennen. Er fand ein herumliegendes Brecheisen, hebelte einen der länglichen Kistendeckel auf und stieß einen leisen Pfiff aus. Der Inhalt der Kiste schimmerte hell, elfenbeinfarben. Stoßzähne von Elefanten. Sie konnten aus Afrika stammen, möglicherweise aber auch aus Indien. Hasard wußte, daß dieses Elfenbein für Schmuckstücke und andere kunstvolle Gegenstände verwendet wurde. In einem der Säcke, den er öffnete, fand er Felle, die sich weich und flauschig anfühlten. Felle von undefinierbaren kleinen Tieren. Hasard brach seine Untersuchung ab und stieg zurück auf die Kuhl. Stirnrunzelnd blickte er zum Ufer hinüber, wo seine Männer die vier Gräber zuschaufelten. Wer war dieser Marchi? Ein Händler? Wenn ja, worin bestand dann der Gegenwert, für den er die Waren eingetauscht hatte? Hasard drängte die Fragen beiseite.
Im Vordergrund stand jetzt etwas anderes. Es war seine Pflicht als Christ und zivilisierter Europäer, der Schiffsbesatzung zu helfen. Denn daß sie in Bedrängnis geraten waren, erschien mehr als wahrscheinlich. Über Beweggründe und Ursachen konnte man später befinden. Hasard traf seine Entscheidung ohne langes gedankliches Hin und Her. Er wartete die Rückkehr der Jolle ab und schickte seine Männer zur „Isabella", damit sie einen ausreichenden Vorrat an Proviant und Trinkwasser sowie weitere Ausrüstung an Bord mannten. 3. Nach dem Stand der Sonne zu urteilen, war es früher Nachmittag. Der Wind wehte jetzt aus mehr nördlicher Richtung. Hasard hatte den Mast der Jolle setzen und auftakeln lassen. Die Männer brauchten sich nicht beim Pullen zu verausgaben. Mit dem Lateinersegel kreuzten sie in langen Schlägen ohne sonderliche Mühe flußaufwärts. Noch immer begleitete sie der tropische Regenwald als stetige Kulisse, ragte beiderseits des Flusses als grüne Wand auf und produzierte seinen ständigen Lärm aus unzähligen Tierstimmen. Gewissermaßen noch in letzter Minute hatte der Seewolf angeordnet, daß Luke Morgan und Stenmark an Bord der Galeone blieben. Der Anblick der vier Toten in der Kombüse der „Speranza" steckte ihm noch in den Knochen. Außerdem lehrte es die Erfahrung, daß es nie gut war, eine zahlenmäßig kleine Wache auf der „Isabella" zurückzulassen. So waren es unter dem Kommando von Ben Brighton außer Luke und Stenmark noch Batuti, der Gambia-Ne-
14 ger, der Kutscher, Al Conroy, Old O'Flynn, Will Thorne, Big Old Shane und Moses Bill, die die Galeone zu bewachen hatten. Und natürlich die Zwillinge, die aber strikte Order hatten, bei Gefahr im Verzug schleunigst unter Deck zu verschwinden. Daß die Gefahr auf völlig andere Weise als erwartet drohen sollte, konnten weder Hasard noch seine Männer zu diesem Zeitpunkt ahnen. Der Seewolf hatte beschlossen, die Suche nach der Besatzung der „Speranza" mit dem Aufbessern der Proviant- und Trinkwasservorräte zu verbinden. Vier leere Fässer, ein Stapel Leinensäcke sowie Waffen und Munition nahmen beträchtlichen Platz in der Jolle ein. Für die Männer war es eng geworden. Als sie etwa fünf Meilen zurückgelegt hatten, endete der Dschungel abrupt. Eine endlos scheinende Savannenlandschaft bildete den Anschluß. Eine graugrüne Mischung aus Gräsern und Sträuchern bedeckte den Boden. Eukalyptusbäume standen als weitverstreute dunkelgrüne Farbtupfer in der Monotonie. So weit das Auge nach Westen reichte, war die Landschaft eben. Nirgendwo schien es eine natürliche Bodenerhebung zu geben. „Wie ich gesagt habe", stellte Edwin Carberry fest. „Platt wie ein Brett! Diese Affenärsche von Menschenfressern können sich bei Regen nicht mal unterstellen. Es sei denn, sie sind Zwerge, daß sie unter diesen komischen Bäumen Platz finden." „Wenn sie Zwerge sind", sagte Dan O'Flynn, „dann haben sie auf dem Zweimaster ganz schöne Kräfte entwickelt, um vier ausgewachsene Männer zu bezwingen." „Hör auf damit", knurrte Ferris Tucker. „Wir wollen dieses Thema nicht dauernd wieder aufwärmen. Der Anblick war schlimm genug." „Ich will euch sagen, wie es die Ein-
geborenen machen!" rief Sam Roskill mit einem plötzlichen Leuchten im Gesicht. „Old O'Flynn hat recht. Sie tragen ihren Kopf unter dem rechten Arm, und bei Regen setzen sie sich drauf, damit ihr wichtigster Körperteil immer schön warm und trocken bleibt." Sam blickte erwartungsvoll in die Runde, doch keiner konnte über seinen Witz so recht in Gelächter ausbrechen. Der Flußlauf wurde zusehends schmaler und maß jetzt nur noch vierzig Yards in der Breite. Die sandigen Ufer waren flach, eine Böschung gab es praktisch nicht. Hasard hoffte darauf, einen Seitenarm zu finden, bis zu dessen Quelle sie vordringen konnten. Dann hatten sie die beste Gewähr, einwandfreies Wasser in die Fässer zu füllen, das lange haltbar war. Er beobachtete den Flußlauf und das angrenzende Land vom Bugraum der Jolle aus. Unvermittelt entdeckte er eine Bewegung in der endlosen Savanne zur Rechten, undeutlich und noch weit entfernt. Hasard nahm das Spektiv zu Hilfe. Zwischen den Eukalyptusbäumen, die durch die Optik dichtgedrängt zusammenzustehen schienen, stieg eine schwache Staubwolke auf. Umrisse waren nur undeutlich zu erkennen. Ein kleiner Pulk von fliehenden Tieren, wie es schien. Um was für Tiere es sich handelte, ließ sich beim besten Willen noch nicht feststellen. Die Distanz mochte eineinhalb Meilen betragen. Hasard gab den Männern einen Wink. Worte waren nicht zu wechseln. In den Jahren ihrer gemeinsamen Abenteuer waren sie aufeinander eingespielt wie keine andere Mannschaft. Edwin Carberry schwenkte die Ruderpinne herum. Während Gary Andrews und Sam Roskill das Lateinersegel bargen,
15 glitt die Jolle mit auslaufender Fahrt auf das Ufer zu. Hasard sprang als erster an Land. Die anderen folgten ihm und zogen das Boot nur ein Stück auf den sandigen Uferstreifen, damit es nicht abtreiben konnte. Die Staubwolke war größer geworden. Offensichtlich bewegte sie sich im Zickzack und in Kreisen, näherte sich aber letzten Endes dem Fluß. Hasard streckte den rechten Arm aus und stieß die flache Hand dem Erdboden entgegen. Sofort duckten sich die Männer hinter die Grasbüschel, die den Uferstreifen landeinwärts abgrenzten. Ed Carberry reichte dem Seewolf eine der beiden Musketen, die er aus der Jolle mitgebracht hatte. „Hoffentlich sind es eßbare Viecher", flüsterte der Profos, „und keine zähen alten Wölfe oder so was." Sekunden später klappte ihm vor Verblüffung der Unterkiefer auf den breiten Brustkasten. Hasard und den übrigen Männern erging es kaum anders. Was sich da aus der Staubwolke herausschälte, war höchst sonderbar. Ein Stubenhocker aus Old England hätte bei diesem Anblick glatt meinen können, er befände sich in einer anderen Welt. Denn auf dieser Welt - oder dem, was von ihr bekannt war - konnte es solche seltsamen Tiere eigentlich gar nicht geben. Jetzt flohen sie parallel zum Flußlauf. Aber es war deutlich, daß sie nur Haken schlugen, um ihre Verfolger abzuschütteln. Die Tiere waren so groß wie Menschen, hatten mächtige Hinterbeine und vergleichsweise winzige Vorderläufe. Ihr Fell war grau, und die Kopfform erinnerte entfernt an europäische Hasen, die auch das Hakenschlagen kannten. Mit ihren muskulösen Hinterbeinen vollführten diese mannsgroßen Tiere Rie-
sensprünge. „Seht euch das an!" schrie Sam Roskill, und die anderen erkannten im selben Moment, warum er beim besten Willen nicht mehr den Mund halten konnte. „Da! Da! Das muß ein Muttertier sein! Die trägt ihr Kleines in einem Beutel vor dem Bauch!" Selbst Hasard blinzelte ungläubig. Aber es stimmte, was Sam Roskill beobachtet hatte. „Die Viecher können doch nicht nähen!" knurrte Ed Carberry. „Wie können sie da Beutel haben?" Dieser höchst interessanten Frage nachzugehen, blieb keine Zeit. Denn andere Gestalten tauchten jetzt in Sichtweite auf. Die Verfolger dieser Tiere mit eingebautem Beutel zum Transport von Jungtieren. Dunkelhäutige Gestalten, menschliche Gestalten, aber so wild und fremdartig, daß die Seewölfe unwillkürlich an die grausige Szenerie in der Kombüse des genuesischen Zweimasters denken mußten. Drei Jäger waren es, die die fliehenden Tiere mit knapp hundert Yards Abstand hetzte. Die Männer waren hochgewachsen, schlank, breitschultrig und muskulös. Sie trugen buchstäblich nichts auf dem Leib, außer einer weißen Bemalung auf der Brust und weißen Streifen auf den Oberarmen. Durch das Spektiv betrachtete Hasard einen dieser Eingeborenen genauer. Der Mann hatte dichtes, buschiges Kopfhaar von blauschwarzer Farbe und dazu einen Vollbart, der das breite Gesicht mit der großen Plattnase umrahmte. Wie zum Schutz gegen die Sonne, lagen die Augen tief unter buschigen Brauen. Der starke Unterkiefer war weit vorgeschoben. Diese Eingeborenen hatten keine Ähnlichkeit mit den schwarzhäutigen Menschen, die auf dem afrikanischen Kontinent lebten und von
16 Sklaven Jägern bedroht wurden, die sie in die Neue Welt zu verschleppen trachteten. Nein, diese Wilden hatten äußerlich nichts gemein mit irgendwelchen anderen Menschen, die Hasard und seine Crew selbst in den entferntesten Teilen der Welt angetroffen hatten. Doch mit den Überraschungen war es noch nicht vorbei. Hasard ließ das Spektiv sinken, um einen besseren Überblick zu gewinnen. Die Tiere schlugen erneut einen Haken und flohen jetzt mit ihren sondernbaren Riesensprüngen auf den Fluß zu. „Jetzt seht euch das an!" rief Smoky entgeistert. „Womit jagen denn die?" Die Männer rissen die Augen weit auf. In der Tat wurde ihnen erst jetzt richtig klar, daß die drei eingeborenen Jäger weder Pfeil und Bogen noch Speere oder sonstige bekannte Waffen bei sich trugen. Statt dessen hatte jeder von ihnen nur einen einzigen seltsamen Gegenstand, der aus winkelförmig geschwungenem flachem Holz bestand und etwa die Größe eines Männerarmes hatte. Unvermittelt schleuderte einer der Eingeborenen dieses Holzstück. Das Ding schwirrte in hohem Bogen durch die Luft, verfehlte aber das Tier, auf das es gezielt war, und dann... Die Männer der „Isabella" glaubten, ihren Augen nicht zu trauen. Das Holzstück beschrieb eine Wende in der Luft, knapp über dem Kopf des fliehenden Tieres, und kehrte mit dem gleichen Schwung zu dem Mann zurück, der es geschleudert hatte. Mit spielerisch scheinender Leichtigkeit fing der Eingeborene sein seltsames Wurfgeschoß wieder auf. Den Seewölfen verschlug es die Sprache. So wurde ihnen erst Sekunden später klar, daß die fremdartigen
Tiere jetzt geradewegs in ihre Richtung flohen. Hasard besann sich als erster. Ihm blieb keine andere Wahl, als einzugreifen, wenn es keinen unliebsamen Zwischenfall geben sollte. Er wußte nicht, wie sich die Eingeborenen verhalten würden, wenn sie plötzlich die weißen Männer erblickten. Zwar waren die Jäger zahlenmäßig unterlegen. Aber eine Konfrontation konnte dennoch unvorhersehbare Folgen haben. Denn mit Sicherheit lebte in der Nähe ein ganzer Stamm dieser dunkelhäutigen Menschen. Der Seewolf hob die Muskete und feuerte. Peitschend zerriß der Schuß die Stille über der weiten Landschaft. Eine Wolke von Pulverrauch stieg empor. Die grauen Tiere stoben erschrokken nach beiden Seiten auseinander. Die drei Eingeborenen, nur noch einen Steinwurf weit vom Flußufer entfernt, schienen gegen eine unsichtbare Wand zu prallen. Deutlich war das jähe Entsetzen in ihren bärtigen Gesichtern zu erkennen. Nur einen Atemzug lang verharrten sie. Dann warfen sie sich herum und flohen landeinwärts. Sekunden später waren sie wie vom Erdboden verschluckt. Auch die großen Tiere waren mittlerweile von der Bildfläche verschwunden - so, als hätte es diese ganz seltsame Erscheinung nie gegeben. Langsam richteten sich Philip Hasard Killigrew und seine Männer auf und wechselten stumme Blicke. Der Profos fand seine Worte als erster wieder. „Merkwürdig", murmelte er, und dabei war seine Stimme ungewohnt leise, „alle Viecher, die uns hier über den Weg gelaufen sind, waren irgendwie unnormal. Wie kommt es, daß ausgerechnet die Menschen wie Menschen aussehen? Warum haben
17 die keinen Beutel vor dem Bauch? Oder einen Entenschnabel im Gesicht?" „Stimmt", pflichtete ihm Ferris Tucker bei, „nach allem, was wir gesehen haben, wäre es nur logisch, wenn der alte O'Flynn mit seinen Geschichten recht hätte. Ehrlich gesagt, mich hätte es nicht mehr gewundert, wenn die Kerle tatsächlich ihren Kopf unter dem Arm getragen hätten." Hasard blickte lächelnd in die Runde. „So", sagte er, „nun kehrt langsam auf die Erde zurück, Gentlemen. Ihr seid doch ziemlich leichtgläubig, wie mir scheint. Normalerweise verspottet ihr den alten O'Flynn. Aber sobald ihr etwas Seltsames erlebt, merkt man, daß euch seine Geschichten mächtig in den Knochen stecken." Die Männer stimmten energisches Protestgemurmel an. Hasard winkte lachend ab. „Wenden wir uns den wesentlichen Dingen zu! Die Tiere, die wir eben beobachtet haben, sind anscheinend genießbar. Sonst hätten die Eingeborenen sie nicht gejagt. Auf der Rückkehr werden wir versuchen, ein paar von den Tieren zu schießen. Jetzt wollen wir sehen, daß wir den Genueser und seine Mannschaft aufspüren." 4. Schon nach wenigen Stunden hing ihnen die Zunge wie ein ausgedörrter Schwamm zum Hals heraus. Je weiter sie landeinwärts vordrangen, desto trockener und unerträglicher wurde die Gluthitze. Auch der Wind hatte nachgelassen, und sie mußten die Riemen zu Hilfe nehmen. Glücklicherweise war die Strömung des Flusses mäßig. Aber noch immer
hatten sie keinen Seitenarm entdeckt. Wie es aussah, würden sie mit dem Wasser vorlieb nehmen müssen, das der Fluß in seinem Bett führte. Zunehmend enger wurden jetzt die Biegungen, die der Flußlauf beschrieb. Auch war seit einiger Zeit festzustellen, daß das Gelände seine flache Eintönigkeit verlor. Bodenwellen lockerten die Savanne auf. Von Hügeln konnte allerdings noch immer nicht die Rede sein. Abermals verlief der Fluß in einer scharfen Biegung nach Südwesten, so daß die Männer in der Jolle den schwachen Wind voll ausnutzen konnten. Eine kleine Verschnaufpause war ihnen gegönnt, und aufatmend hoben sie die Riemen aus dem Wasser. Urplötzlich richtete sich Hasard auf. Seine Sinne waren von einem Atemzug zum anderen hellwach. Etwas, das am jenseitigen Ufer lag, schob sich mit jäher Deutlichkeit in sein Blickfeld. Ein Beiboot, etwa von der gleichen Größe wie die Jolle der Seewölfe. Es lag mit Krängung nach Steuerbord auf dem flachen Ufer, das Segel hing in Fetzen vom Mast. Die Männer hatten es gleichfalls bemerkt. Hasard brauchte nur noch ein knappes Handzeichen zu geben, und sie pullten mit kraftvollen Schlägen auf das südwestliche Ufer hinter der Flußbiegung zu. Unmittelbar neben dem verwaisten Beiboot gingen sie an Land. Der Schriftzug am Spiegel, des Bootes ließ sich mühelos entziffern: „Speranza, Genova". Es bestand also kein Zweifel mehr, daß sie sich auf der richtigen Spur befanden. Bei dem Gedanken an einen längeren Fußmarsch spiegelte sich keine Freude in den Gesichtern der Männer. Aber sie kannten ihre menschliche Pflicht gegenüber jener Crew aus Genua, und daran gab es nichts
18 zu rütteln. Im übrigen hatten sie keinen Mangel an Wasser, solange sie den Fluß in der Nähe wußten. Sie beluden sich mit Waffen und Munition. Jeder nahm zusätzlich zu seiner Pistole und dem Entermesser eine Muskete, Pulverflasche und Kugelbeutel. Insgesamt sechs hölzerne Wasserflaschen waren vorhanden, die sie füllten, bevor sie aufbrachen. Lediglich die leeren Fässer und die Säcke blieben in der Jolle zurück. Die Spuren, die die Männer von der „Speranza" hinterlassen hatten, waren immer noch zu erkennen. Es hatte kein kräftiger Wind geweht, der die Fußabdrücke mit frischem Sand zugedeckt hätte. Schon bald stellte sich heraus, daß die Genueser ebenfalls den Gedanken an ihre Trinkwasservorräte nicht vergessen hatten. Auf ihrem Weg ins Landesinnere hatten sie sich vom Flußlauf selten mehr als eine Meile entfernt. Hasard marschierte an der Spitze seiner Männer und hörte sie hinter sich fluchen. Die Hitze hatte nicht nachgelassen, obwohl sich die Sonne bereits auf dem absteigenden Weg befand. Indessen waren die Männer aber besonnen genug, das Trinkwasser nicht fortwährend gierig in sich hineinzuschütten. Sie wußten, daß sie sich dadurch nur noch mehr verausgabt hätten. Nur während der kurzen Pausen, die sie einlegten, gönnten sie sich einen kleinen Schluck. „Himmel und Hölle", stöhnte Matt Davies, als sie nach etwa zwei Stunden wiederum rasteten. „Man kommt sich vor wie bei den Landsoldaten der königlichen Lissy. Muß das erfrischend sein, in irgendeiner öden Wüstenei Dienst zu schieben!" Mit der Linken wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Dort, wo sich früher seine rechte Hand befunden hatte, trug er eine spitzgeschliffene Hakenprothese mit einer Lederman-
schette - eine Spezialanfertigung, die von Ferris Tucker stammte. Matt war kräftig gebaut und hatte braune Augen. Sein ehemals dunkelblondes Haar war frühzeitig ergraut - seit jener Nacht, die er unter Haien in der Karibik verbracht hatte, einsam auf einer Gräting, bis seine Gefährten ihn zu retten vermochten. Auch Jeff Bowie, ein stämmiger Mann, der aus Liverpool stammte, trug eine solche Hakenprothese, am linken Arm allerdings. Mörderische Piranhas hatten ihm diese Hand zerfleischt, und sie hatte amputiert werden müssen. Sie rasteten unter einer Gruppe von Eukalyptusbäumen. Der Schatten, den die dunkelgrünen Baumkronen spendeten, war nur mäßig. Abkühlung brachte er schon gar nicht. Ein Schwarm buntgefiederter kleiner Vögel rauschte heran und ließ sich schnatternd in den Baumkronen nieder - ohne jede Scheu. Mit seitwärts geneigten Köpfen äugten sie auf die Männer hinunter. „Lauter kleine Sir Johns", stellte Ferris Tucker fest. „Scheint so, als ob es die hier wie Sand am Meer gibt." „Du solltest einen fangen", sagte Bob Grey, der drahtige blonde Engländer, der als Messerwerfer höllisch geschickt war. „Der gute alte Sir John würde sich mächtig freuen, weil er nämlich bestimmt denkt, er hätte Nachwuchs gekriegt." Die Männer brachen in Gelächter aus. „Weiter", entschied Hasard, „ich will, daß wir vor Sonnenuntergang wissen, woran wir sind." Ohne Murren rappelten sich die Männer von der „Isabella" auf und setzten ihren beschwerlichen Weg fort. Alle waren sie froh, daß diese Art der Fortbewegung kein Dauerzustand für sie sein mußte. Die vertrauten Schiffsplanken unter den Füßen zu spüren, war doch wesent-
19 lich angenehmer. Sie marschierten mit der gleichen Ausdauer und Willenskraft, die sie stets dann an den Tag legten, wenn sie mitten in die Hölle segelten, um den Teufel kräftig am Schwanz zu ziehen. Von arktischer Kälte bis zu tropischer Hitze hatten sie alles erlebt, was die Erde zu bieten vermochte. Doch gerade diese Erfahrung war es, die jeden einzelnen von ihnen gelehrt hatte, daß ein Mann niemals behaupten sollte, es gebe nichts, was er nicht schon wisse oder nicht schon kenne. Das Leben barg immer wieder neue Ungewißheiten und Überraschungen. Davon hatten sie in diesem fremden Land, das vielleicht sogar ein Kontinent war, in der kurzen Zeit ihres Aufenthalts schon genug erlebt. Die Zeit schien nur quälend langsam zu verrinnen. Die Szenerie blieb ewig gleich. Sengende Sonne, schwache Bodenwellen, dann wieder Ebene. Und immer nur die Eukalyptusbäume und das dürre Gras, dessen Halme wie hartes Reisig um die Stulpenstiefel und Hosenbeine der Männer raschelten. Schwärme der kleinen buntgefiederten Vögel begleiteten sie. Häufig konnten sie in einiger Entfernung Rudel jener seltsamen Tiere beobachten, die einen Beutel vor dem Bauch trugen, in dem sie ihren Nachwuchs durch die Gegend schleppten. Irgendwann, nach Stunden, wartete das fremde Land abermals mit einer Überraschung auf. Sie hatten eine dieser flachen Bodensenken durchquert. Aus der Ebene vor ihnen ragte etwas auf, das wie ein riesiger dunkler Klotz aussah. Hasard und seine Männer verharrten. Der Seewolf hob sein Spektiv ans Auge. „Ein Felsenhügel", stellte er fest, ohne den Kieker abzusetzen. „Eine sonderbare Laune der Natur."
„Langsam gewöhnt man sich in dieser irren Gegend an alles", brummte Ed Carberry und wischte sich den Schweiß von der Stirn. In der Tat sah dieser Felskoloß in der Weite der Savanne völlig deplaziert aus. Gerade so, als ob ein Gigant in Urzeiten Steinewerfen gespielt und zufällig eins seiner Wurfgeschosse in diese Einöde geschleudert hätte. Der Hügel bestand aus nichts als nacktem dunklem Fels und war völlig vegetationslos. Kaum mehr als hundert Fuß hoch ragte das steinerne Gebilde aus der Ebene auf, dehnte sich auf vielleicht zweihundert Yards Weite aus und hatte fast senkrecht abfallende Wände. Urplötzlich wurde Hasard hellwach, als er die Savanne unmittelbar vor dem Felsenhügel mit dem Spektiv absuchte. Menschliche Gestalten hockten zwischen dem dürren Steppengras. Regungslos. Größtenteils hatten sie sich den spärlichen Schatten der Eukalyptusbäume ausgesucht. Ein Zufall? Wenn man bedachte, daß die Fußspuren der Speranza-Crew geradewegs auf diesen Felsenhügel zuführten, dann konnte man an einen Zufall nicht recht glauben. Hasard schätzte die Entfernung auf eine knappe halbe Meile. Die Gestalten waren dunkelhäutig und unbekleidet - zweifellos gehörten sie zu jenem Volk von Eingeborenen, die mit ihren zurückkehrenden Wurfgeschossen Jagd auf die Beuteltiere machten. Bislang hatten sie die Seewölfe offenbar noch nicht bemerkt. Aber warum hockten sie so unbeweglich dort in der Savanne? Hasard reichte das Spektiv weiter und bedeutete den Männern, sich auf den Boden niederzulassen, damit sie nicht vorzeitig entdeckt wurden. „Sieht nicht gut aus", meinte Ferris
20 Tucker, „ohne Grund lungern diese nackten Stinte bestimmt nicht so herum." „He!" rief Sam Roskill, der dunkelhaarige ehemalige Karibik-Pirat, der gerade mit dem Spektiv an der Reihe war. „Da tut sich was!" Hasard nahm den Kieker zurück und beobachtete wieder selbst. In der Tat. Eine kleine Gruppe der weißbemalten Eingeborenen tauchte wild gestikulierend und offenbar schreiend vor der dunklen Felswand auf und rannte zu den anderen zurück, die jetzt aufsprangen. Hasard sah, daß sie nicht nur diese gekrümmten hölzernen Wurfgeschosse hatten, sondern auch lange Speere. Ein wirres Durcheinander setzte ein. Die Dunkelhäutigen schienen unschlüssig, wie sie sich verhalten sollten. Anscheinend war die kleine Gruppe von dem Felsenhügel zurückgekehrt. Erfolglos, entmutigt? Wenn es so war -warum? „Wir gehen der Sache auf den Grund", entschied Hasard. „Vorwärts!" Während sie sich wieder in Bewegung setzten, schwärmten sie aus. In breiter Front näherten sie sich dem dunklen Felsklotz, und schon bald konnten sie mit bloßem Auge erkennen, was sich dort vorn abspielte. Nach einem kurzen Palaver und scheinbar totalem Durcheinander hatten sich die Eingeborenen zu einem Entschluß durchgerungen. In halbwegs geordneter Formation liefen sie jetzt alle gegen den Felsen an. Die Speere hielten sie dabei hoch empor. Auch waren jetzt einige zu sehen, die diese seltsamen gekrümmten Wurfgeschosse trugen. Hasard und seine Männer beschleunigten ihre Schritte. Kurz vor dem Felsen begannen die Eingeborenen, markerschütterndes Geschrei auszustoßen. Vermutlich
sollte es die Gegner, von denen noch nichts zu sehen war, einschüchtern. Die dunkelhäutigen Männer drangen auf einen Felsspalt vor, der erst jetzt, aus geringerer Entfernung, zu erkennen war. Zweifellos bot dieser Einschnitt in der senkrecht aufragenden Wand hervorragende Verteidigungsmöglichkeiten. Denn die Eingeborenen, die sich in wildem Ansturm drängten, gerieten erneut in totale Verwirrung. Jene, die den Angriff geleitet hatten, wichen zu-. rück. Die anderen, die nachsetzten, wollten aber offenbar noch nicht aufgeben. Plötzlich wendete sich das Blatt. Heiseres Gebrüll wurde laut. Vier oder fünf Männer waren es, die einen Ausfall wagten. Mit blitzenden Klingen drangen sie auf die Eingeborenen ein. Trotz des Kampf getümmels zeichneten sie sich deutlich von den dunkelhäutigen Menschen ab - mit europäischer Kleidung, wie sie bei den Seefahrern üblich war. Die Eingeborenen wichen zurück, formierten sich neu und versuchten einen Gegenangriff. Nur noch dreihundert Yards waren die Seewölfe vom Schauplatz des Geschehens entfernt. Noch schien der Kampf unentschieden, und nach wenigen Sekunden sah es aus, als würden die Europäer abermals in Bedrängnis geraten. Hasard begann zu laufen und zog die Muskete von der Schulter. Die Männer taten es ihm nach. Erschrockene Schreie erklangen, als die Eingeborenen sie erblickten. Die Meute der Dunkelhäutigen teilte sich. Mehr als dreißig oder vierzig waren es, die sich herumwarfen und speerschwingend auf die Neuankömmlinge losstürmten. Die Distanz war auf zweihundert Yards zusammengeschmolzen. „Stop!" befahl Hasard. „Fertigma-
21 chen zum Feuern! Aber keine gezielten Schüsse!" Die Männer verharrten, legten die Musketen in die Armbeuge, öffneten die Pulverpfannen und streuten Zündkraut hinein. Eine Serie metallischen Kückens erklang beim Schließen der Pfannen und Spannen der Hähne. Dank vielfach geübter Handgriffe hatten die Seewölfe nicht mehr als zwanzig Sekunden g e - , braucht, bis die schweren Langwaffen schußbereit waren. Mit Geheul stürmten die Eingeborenen heran, ihre Front war weit auseinandergezogen. Mit ihrer weißen Körperbemalung und ihren von schwarzer Bartpracht umrahmten Gesichtern sahen sie furchterregend aus, obwohl ihre Bewaffnung geradezu lächerlich war. „Erste Gruppe - legt an!" rief Hasard energisch. Die Männer verständigten sich mit knappen Handzeichen, wer zuerst feuern würde. Wegen der langen Ladezeit einer Muskete brauchten sie eine zweite Gruppe, die dann noch feuerbereit war, wenn die ersten Schüsse kein Ergebnis gezeigt hatten. Die Entfernung betrug nur noch hundert Yards und verringerte sich jetzt rasend schnell. „Feuer!" Die Stimme des Seewolfs hallte weit über die Savanne und übertönte selbst das Geschrei der Eingeborenen. Drüben, beim Felsenhügel, wurden die in die Enge getriebenen Europäer aufmerksam und stimmten zuversichtliches Freudengebrüll an. Die Feuersteine der Musketenhähne schlugen auf die Speziallegierung des Reibstahls, sprühten Funken und ließen das Zündkraut zu kleinen weißen Wolken puffen. Erst einen Atemzug später zündete die Ladung der schweren Waffen. Donnernd hallten die Schüsse, und
als grellrote Blitze stachen sechs Mündungsfeuer aus den langen Läufen. Pulverrauch stieg in dichten Schwaden empor, die sich rasch verflüchtigten. Das Ergebnis war frappierend. Mit gellenden Angstschreien stoben die Eingeborenen auseinander. Beim Krachen der Schüsse hatten sie schlagartig alle Angriffslust vergessen. Auch vor dem Felsenhügel klärte sich die Situation auf. Im Handumdrehen standen die Verteidiger allein auf weiter Flur. Die Eingeborenen verschwanden und waren in Minutenschnelle wie vom Erdboden verschluckt. Während Hasard und seine Männer auf den Felsklotz zugingen, zweifelten sie nicht daran, daß die Dunkelhäutigen ganz in der Nähe in schützenden Bodensenken hockten und das weitere Geschehen beobachteten. 5. Strahlende Gesichter empfingen die Seewölfe in der Öffnung der Felsspalte. Bärtige Gesichter, von Strapazen und Entbehrung gezeichnet. Verwegene Gesichter. Auch eine Spur von Verschlagenheit war hier und da zu erkennen. Einer der Männer trat vor, ging mit ausgebreiteten Armen auf Philip Hasard Killigrew zu, der seine Crew anführte. Aus dem hinteren, dunklen Teil der Felsspalte waren weitere Männer aufgetaucht. Hasard zählte insgesamt dreizehn, außer dem, der sich ihm mit Breitem, befreitem Lachen näherte. „Dem Himmel sei Dank! Das war Rettung in letzter Minute. Der Himmel muß Sie geschickt haben, Signori." Er sprach Italienisch, was Hasard jedoch mühelos verstand, da er es einmal - noch unter Kapitän Drake -
22 hatte lernen müssen. Er antwortete aber in seiner Muttersprache. „Wir sind nicht zufällig hier, Mister. Sind Sie der Kapitän des Zweimasters ,Speranza'?" Die Miene des anderen erhellte sich. Er war klein, drahtig, schwarzhaarig und trug über Stulpenstiefeln und Pluderhosen ein kostbares Wams aus hochwertigem hellbraunem Leder. Ein schwerer goldener Ring am Mittelfinger seiner linken Hand funkelte im Sonnenlicht. In seinem Gurt steckte eine Radschloßpistole, deren Griffstück Ziselierungen in feinstem Silber aufwies - eine Arbeit, wie sie in Europa meist nur von Fürstenhäusern erworben werden konnte. „Oh, Sie haben mein Schiff gefunden?" antwortete er in rollendem, aber sonst einwandfreiem Englisch. „Ja, Sie haben recht, Sir. Mein Name ist Nando Marchi. Ich stamme aus Genua, wie die meisten meiner Leute." Er beschrieb eine ausladende Bewegung mit der Rechten. „Philip Hasard Killigrew", stellte sich der Seewolf vor. „Unser Schiff ist die ,Isabella VIII.'. Wir befanden uns auf Südkurs und liefen diese Küste an, weil wir unsere Proviant- und Trinkwasservorräte aufbessern wollen." „Stimmt nicht ganz", meldete sich Ed Carberry mit dröhnender Stimme zu Wort. Respektvolle Blicke der Genueser wanderten von Hasard weg zu der beeindruckenden Statur des Profos'. „Unser Kapitän heißt Sir Philip Hasard Killigrew. Königin Elizabeth die Erste hat ihn zum Ritter geschlagen, bevor wir zu dieser gottverdammten Reise aufbrachen." Marchi zog die Augenbrauen hoch. Dann lächelte er schief. „Meine Ehrerbietung, Sir Hasard. Darf ich annehmen, daß Sie Ihre Verdienste im königlich britischen
Einsatz gegen die Spanier erworben haben?" „Sie dürfen", sagte Hasard. „Recht so, recht so", bekräftigte Marchi wie jemand, der alle Ansprüche hatte, sich ein Urteil erlauben zu können. „Die Spanier reißen sich ohnehin zuviel unter den Nagel, was ihnen nicht zusteht. Bedenken Sie nur, daß Columbus ein Genueser war. »Und was tun die Spanier? Den Ruhm für die Entdeckung der Neuen Welt schreiben sie sich allein zu." „Ein Problem, das uns nicht betrifft", sagte Hasard. Er räusperte sich. „Wir haben leider keine guten Nachrichten für Sie, Mister Marchi. Wir haben uns erlaubt, Ihr Schiff zu inspizieren." Marchis Miene verdüsterte sich. „Ich weiß", murmelte er betreten. „Wir haben bereits davon erfahren. Vier meiner Männer rmußten auf grausame Weise ihr Leben lassen. Ich hatte sie als Wache zurückgelassen." „Ich verstehe nicht", entgegnete Hasard. „Wie konnten Sie davon erfahren?" „Das ist eine lange Geschichte, Sir Hasard. Wollen wir uns nicht lieber in den sicheren Felsspalt zurückziehen? Wissen Sie, der Belagerungszustand könnte sehr schnell wieder aufleben." „Eben deshalb bleiben wir besser hier draußen, wo wir alles überblikken können." „Wie Sie wünschen", stimmte Marchi sofort zu. „Gottlob verfügen Sie ja noch über Pulver und Blei, das uns schon lange ausgegangen ist. Sonst hätten wir hier bestimmt nicht festgesessen." Die Männer der „Speranza", überwiegend drahtige Kerle wie Marchi selbst, zogen es dennoch vor, sich wenigstens in den Eingang des Felsspalts zu begeben. Von dort aus verfolgten sie das Gespräch mit wachen
23 Augen und Ohren. Gleichzeitig beobachteten sie immer wieder die Umgebung, als rechneten sie jeden Moment mit einem neuen Angriff der Eingeborenen. „Berichten Sie", forderte Hasard den Genueser auf. Seine Männer nutzten die Zeit, einen Schluck aus den Wasserflaschen zu nehmen. Die, die ihre Musketen abgefeuert hatten, reinigten den Lauf und luden nach. Nando Marchi atmete tief ein und gab sich einen Ruck. „Es war so, Sir Hasard: Ich muß vorausschicken, daß wir diesen Kontinent schon seit etlichen Wochen umsegeln und auch an verschiedenen Küstenteilen Kontakte mit den Eingeborenen hatten. Wir konnten aus diesen Kontakten gewisse Erkenntnisse gewinnen." „Ein Kontinent?" warf Hasard ein. „Woher haben Sie die Gewißheit? Ich konnte nichts davon in Ihrem Logbuch finden." „Mir blieb noch keine Zeit für entsprechende Eintragungen", erwiderte Marchi ausweichend. „Ich werde das selbstverständlich nachholen. Aus meinen Berechnungen und vor allem aus Gesprächen mit den Eingeborenen an der Nordküste dieses Landes weiß ich, daß es sich um einen Kontinent handelt. Um keinen anderen als das legendäre ,Terra Australis', das man der Einfachheit halber ,Australien' nennen sollte. Natürlich haben wir uns mit den Eingeborenen nur in der Zeichensprache verständigt. Aber wenn man ein bißchen Übung darin hat, funktioniert es ganz gut." „Weiter", drängte Hasard. Sein Interesse war hellwach. Die Entdekkung dieses unbekannten Kontinents kam einer Sensation gleich. Andererseits wurde ihm überdeutlich bewußt, daß dieser Nando Marchi alles andere als eine Entdeckernatur war. „Wir haben einige Merk-
würdigkeiten beobachtet. Aber darüber sprechen wir später. Ich möchte zunächst hören, wie Sie mit den Eingeborenen aneinandergerieten." Marchi nickte eifrig. „Vorweg ist zu sagen, daß dieses Land offenbar über keine außergewöhnlichen Reichtümer verfügt. Das bißchen, was es an Schätzen geben soll, konzentriert sich anscheinend auf einige wenige Punkte. Wie überall auf der Welt haben die primitiven Wilden natürlich keine Vorstellung von dem Wert ihrer Edelmetalle und Edelsteine." Hasard fing an, zu begreifen. „Und genau darauf haben Sie es abgesehen?"
Marchi grinste. „Um was dreht sich denn Ihr Sinnen und Trachten, wenn Sie spanische Galeonen kapern, Sir Hasard?" „Zumindest nicht um persönliche Interessen", entgegnete der Seewolf scharf. „Ich nehme an, ich kann es mir schenken, Ihnen den Sinn eines königlichen Kaperbriefes zu erklären. Bitte fahren Sie in Ihrem Bericht fort." Es widerstrebte Marchi offenkundig, jetzt noch weiterzureden. Aber in der Stimme des hochgewachsenen. Engländers und in seinem scharfgeschnittenen Gesicht lag ein so unmißverständlicher Zwang, daß der Genueser es vorzog, klein beizuge-
24 ben. Überdies sah die Crew dieses englischen Schiffes ganz danach aus, daß sie es verstand, den Wünschen ihres Kapitäns Nachdruck zu verleihen. „Also gut", sagte der Kapitän der „Speranza" zögernd. „Weiter im Norden haben wir erfahren, daß es in diesem Gebiet, das sie die Sonnenküste nennen, einen heiligen Berg geben soll, der zum Gebiet des Stammes der Arunda gehört. Nun, Sir Hasard, wir stehen vor genau diesem heiligen Berg. Die Arunda sind im Grunde ein friedliebender Stamm. Sie verehren diesen lächerlichen Felsklotz als zentrales Gebilde irgend eines Götterkultes. Und sie sollen alle ihre Schätze auf diesem Berg oder in einer seiner Höhlen verborgen haben." „So ist das also", sagte Hasard und nickte. „Sie waren auf diese Schätze aus, und die Eingeborenen denken nicht im Traum daran, es sich gefallen zu lassen." „O nein, nein!" wehrte Marchi mit ausgestreckten Armen ab. „Es ist anders als Sie denken, Sir Hasard. Die Arunda sind allein deshalb wütend auf uns, weil sie auf Regen warten. Es ist die Zeit, in der Regen fallen müßte, denken sie. Und nur weil wir ihren lächerlichen Berg betreten haben, glauben sie, daß immer noch Trockenheit herrscht." Hasard dachte sich seinen Teil über diese Erklärung. Aber er ging nicht näher darauf ein. „Die Eingeborenen sind also in ihrer Wut so weit gegangen, die vier Männer auf Ihrem Schiff zu töten?" „Nein, auch das ist ein Irrtum, Sir Hasard. Diese Tat geht auf das Konto der Kalkadoonen. Das sind räuberische Kannibalen, wissen Sie. Ein Stamm, der weiter südlich von hier an der Küste lebt und mit den Arunda verfeindet ist. Die Kalkadoonen sind blutrünstige Menschenfresser. Die Arunda dagegen nicht."
„Noch ein Wort zu Ihrer Auseinandersetzung mit den Eingeborenen", forderte Hasard. Er wollte den Genueser ausquetschen, soweit es ging. Was dann geschehen sollte, würde diesem geschniegelten Schlitzohr von einem italienischen Kapitän allerdings sehr wenig gefallen. „Wie kam es zu dem Blutbad an Bord Ihres Schiffes? Haben Sie und Ihre Männer das Verhängnis nicht selbst herausgefordert?" Marchi schüttelte heftig den Kopf. Er fühlte sich immer mehr in die Defensive gedrängt und rechtfertigte sich nun, indem er seine Worte erregt gestikulierend untermalte. „Es war so, Sir Hasard: Wir hatten zuerst ein sehr gutes, freundschaftliches Verhältnis zu den Arunda. Wir haben ihr Land mit Respekt betreten und ihnen Geschenke mitgebracht. Dann haben wir uns mehrere Tage lang als Gäste in ihrem Dorf aufgehalten." Er deutete nach Norden, woallerdings nichts als Savanne zu sehen war. „In diesen Tagen geschah es, daß die ständig umherstreifenden Jäger der Arunda von einer Auseinandersetzung mit einer Gruppe Kalkadoonen berichteten. Sie konnten die Kannibalen zwar in die Flucht schlagen, mußten dann aber beobachten, wie eine größere Meute von Kalkadoonen zum Liegeplatz meines Schiffes vordrang. Was sich dort schließlich abgespielt hat, wissen Sie. Die Arunda-Jäger waren zu wenige, um es zu verhindern. Ich vermute folgendes: Die Kalkadoonen sind Todfeinde der Arunda. Weil wir aber bei den letzteren freundschaftlich aufgenommen wurden, was die Kannibalen sicherlich beobachtet haben, wischten sie ihren Feinden eins aus, indem sie die kleine Schar meiner Männer auf der ,Speranza' überfielen. Das ist die ganze Geschichte. Später habe ich zwei weitere Männer im Kampf gegen die Arunda verlo-
25 ren. Das war hier bei der Belagerung, als uns Pulver und Kugeln ausgegangen waren." Hasard nickte. Er hatte begriffen. Jetzt konnte er sich sehr gut vorstellen, wie wütend die gutgläubigen Eingeborenen geworden waren, als sie merkten, daß sie von dem schlitzohrigen Genueser übervorteilt werden sollten. „Mister Marchi", sagte der Seewolf kalt, „wie wäre es, wenn Sie über das Niederträchtige Ihres Treibens nachdenken? Müssen Sie nicht zugeben, daß die Arunda im Recht sind? Sie wollten diese simplen Menschen schlicht und einfach bestehlen." Hasard hatte längst erkannt, daß er hier dem Falschen geholfen hatte. Der Genueser hatte es im Grunde nicht verdient, aus der Belagerung befreit zu werden. Nando Marchi erbleichte. Spätestens jetzt wurde ihm klar, daß er von seinen Rettern keine Sympathien mehr zu erwarten hatte. Denn auch in den Gesichtern der Crew des Engländers konnte er nichts als Abneigung lesen. „Sie sehen das falsch", begehrte er auf. „Diese Wilden haben doch überhaupt keinen Wertbegriff für das, was sie besitzen. Deshalb tut es ihnen doch nicht weh, wenn man es ihnen wegnimmt." „Mit dem gleichen Argument rechtfertigen die Spanier Mord und Plünderung in der Neuen Welt", entgegnete Hasard. „Sie begehen einen hundsgemeinen Denkfehler, Mister Marchi. Sie betrachten diese sogenannten Wilden nicht als Menschen, die ihre eigenen Gefühle und ihre eigene Art von Wertbegriffen haben." Der Genueser verlor die Fassung. „Vielleicht gibt es ja gar keinen Schatz!" schrie er. Seine Männer in der Felsspalte nahmen eine drohende Haltung ein. „Bislang haben wir nämlich noch nichts gefunden!"
„Das ändert nichts", entgegnete der Seewolf energisch. „Für die Arunda liegt der besondere Wert allein schon in diesem Felsenhügel. Was Sie getan haben, Mister Marchi, ist das Gleiche, als ob Sie eine Kirche in Ihrer Heimat besetzt hätten." „Was nehmen Sie sich heraus!" fauchte der Genueser, und dabei wippte er auf den Fußspitzen. „Das ist Gotteslästerung! Wie können Sie ein Gotteshaus mit einer heidnischen Kultstätte vergleichen!" „Sie werden es nie verstehen", sagte Hasard kopfschüttelnd. „Es geht um die Wertschätzung, die die Menschen hier wie dort für eine Sache geprägt haben. Sie sind in Ihrer Selbstherrlichkeit nicht weniger anmaßend als die spanischen Eroberer in Amerika. Mit dem einzigen Unterschied, daß bei Ihnen noch eine verbrecherische Absicht besteht." Der Genueser wurde noch einen Grad bleicher. Auf seiner Nasenspitze entstand ein roter Punkt. „Dafür verlange ich Genugtuung!" keifte er mit sich überschlagender Stimme. „Für diese unglaubliche Beleidigung werden Sie sich ..." Er verstummte. Scheinbar unbeabsichtigt hantierten die Männer von der „Isabella" an ihren Musketen, und wie zufällig richteten sich dabei die Laufmündungen der schweren Waffen auf den Genueser und seine Mannschaft. Hasard lächelte kalt. Er trat einen Schritt auf ihn zu, packte ihn mit der freien Hand am Kragen und zog ihn blitzschnell zu sich heran. Marchi zitterte. Schweißperlen traten auf seine Stirn. Er spürte die ungeheure Muskelkraft, über die dieser hochgewachsene Engländer verfügte. Und im selben Moment wurde Marchi klar, daß sein Verlangen nach Genugtuung einem Selbstmord gleichkam. „Ich werde Ihnen sagen, was jetzt
26 passiert, Mister Marchi", erklärte der Seewolf eisig. „Und hören Sie gut zu, damit Sie es nicht vergessen: Sie werden Ihre dreizehn Männer nehmen und auf direktem Weg zum Fluß zurückkehren. Dort steigen Sie in Ihr Beiboot und sehen zu, daß Sie so schnell wie möglich die ,Speranza' erreichen. Das Schiff ist noch seetüchtig, und Sie werden keine Mühe haben, diesen Kontinent auf Nimmerwiedersehen zu verlassen." Marchi rang nach Atem. Er begriff, daß er der Anordnung dieses unnachgiebigen Mannes nichts entgegenzusetzen hatte, buchstäblich nichts. Und das Gesicht des Genuesers verfärbte sich dank dieser niederschmetternden Erkenntnis von kreidebleich zu einem leuchtenden Purpurrot. „Irgendwann", keuchte er, „irgendwann werden Sie das noch bereuen!" Hasard stieß ihn von sich. Marchi ruderte mit den Armen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er fing sich und stand einen Moment schwankend da. „Verschwinden Sie!" befahl der Seewolf mit metallisch klingender Stimme. „Verschwinden Sie, bevor ich es mir anders überlege." Nando Marchi zog den Kopf unwillkürlich tiefer zwischen die Schultern. Er war versucht, giftige Widerworte auszuspucken. Doch er schluckte sie hinunter! Der Zeitpunkt war noch nicht da, es diesem verdammten britischen Bastard heimzuzahlen. Noch nicht! Zähneknirschend gab der Genueser seinen Männern einen Wink. Sie schlichen davon wie geprügelte Hunde und wagten nicht einmal mehr einen drohenden Blick. Denn die Musketen und die ganze äußere Erscheinung dieser verwegen und rauh aussehenden Burschen sprachen eine allzu deutliche Sprache.
6. Noch lange blickten sie der genuesischen Schiffsbesatzung nach, die auf geradlinigem Kurs ostwärts durch die Savanne marschierte. Zweifellos hatten sie die Stelle, an der ihr Beiboot zurückgeblieben war, gut in Erinnerung. Kein einziges Mal blickten sich Marchi und seine Gefährten um. „Die haben die Hosen gestrichen voll", sagte Dan O'Flynn und grinste. „Mistige Schweinehunde", knurrte Smoky, „die hätten noch ein paar gepflegte Tritte in den Hintern verdient." „Unmöglich, das zu schaffen!" rief Ferris Tucker und lachte dröhnend. „Die wären so schnell gerannt, daß wir ihren Allerwertesten nie im Leben erreicht hätten!" Die Männer, die sich im Halbkreis um den Seewolf gruppiert hatten, stimmten in das Lachen des Schiffszimmermanns ein. Sie stützten sich auf ihre Musketen und blickten den Genuesern nach, bis diese am Horizont verschwunden waren. „Viel schlauer sind wir jetzt auch nicht, was, wie?" konstatierte Ed Carberry nach einer Weile. „Wir haben ein paar gelbgestreiften hinterlistigen Bilgenratten aus der Patsche geholfen. Das ist auch alles." „Nicht ganz", widersprach Jeff Bowie, „wir wissen jetzt, wo wir uns befinden. In Australien." „Na und?" knurrte Matt Davies. „Das hätten wir auch ohne diesen Knilch aus Genua herausgefunden. Was bleibt, ist, daß wir an Proviant und Trinkwasser noch immer keinen Gedanken verschwendet haben." Der Seewolf mischte sich in die Debatte seiner Männer. „Vorerst müssen wir an etwas anderes denken." Er deutete nach Norden. „Wir sind diesen Leuten einiges
27 schuldig. Wenigstens so viel, daß wir die Dinge ins rechte Licht rücken." Die Männer blickten in die angegebene Richtung. Wieder standen sie regungslos da, diese braunhäutigen Gestalten mit ihrer weißen Bemalung. An die hundert Männer mochten es jetzt sein, kaum eine Meile entfernt. Stumm beobachteten sie die Fremden, die in ihren Augen nichts anderes als unerwünschte Eindringlinge sein mußten. „Ich weiß nicht recht", sagte Ed Carberry und kratzte sich am Hinterkopf. „Wir haben zwar unsere Waffen. Aber ob wir dieser Meute auf die Dauer gewachsen sind? Die können uns glatt aushungern, wenn sie wollen." „Darauf werden wir nicht warten", entschied Hasard. „Ich gehe zu ihnen." Die Männer starrten ihn an, als hätte er den Verstand verloren. „Bist du verrückt?" entfuhr es Ferris Tucker. „Das kommt überhaupt nicht in Frage. Wenn, dann gehen wir alle." „Genau", pflichtete ihm Ed Carberry bei. „Ich hab verdammt keine Lust, unseren Kapitän fertig gegart aus dem Kochtopf zu fischen." Die anderen stimmten einen aufgeregten Wortwechsel an, und keinem von ihnen wollte es passen, daß Hasard sich zu einem so wahnwitzigen Alleingang entschlossen hatte. Er sorgte mit einer energischen Handbewegung für Ruhe. „Erstens", erklärte er, „sind das keine Menschenfresser. Soviel können wir Marchi abkaufen. Zweitens würde es bedrohlich aussehen, wenn wir allesamt auf die Eingeborenen losspazieren. Die einzige Möglichkeit, die wir haben, ist, daß ich allein und waffenlos zu ihnen gehe." „Hm", meinte der Profos und legte sein Narbengesicht in tiefe Falten.
„Das mit der Bedrohung will ich wohl kapieren. Aber das andere verdammt, das kann ich überhaupt nicht einsehen." Die anderen waren nachdenklich geworden. „Es muß sein", bekräftigte Hasard. „Und es gibt noch ein paar weitere Argumente, die für uns sprechen: Zuerst einmal haben diese Australier mit eigenen Augen gesehen, wie wir die Genueser von ihrem heiligen Berg verscheucht haben. Richtig?" Die Männer konnten nicht widersprechen. „Außerdem", fuhr Hasard fort, „haben wir selbst diesen heiligen Berg überhaupt nicht betreten. Und letzten Endes haben wir keinen von ihnen verletzt, sondern nur Warnschüsse abgefeuert. Alles zusammen muß sie friedlich stimmen." Eine Weile blieb es still. „Vielleicht hast du recht", sagte Ferris Tucker schließlich. „Immerhin sind wir ja auch noch da und könnten dir mit den Musketen Feuerschutz geben, wenn es sein muß. Trotzdem - richtig wohl ist mir bei der Sache immer noch nicht." „Das mit dem Feuerschutz ist ein guter Gedanke", sagte Hasard und nickte. „Es bleibt dabei. Verlieren wir keine Zeit mehr. Wir haben höchstens noch zwei Stunden bis zum Einbruch der Dunkelheit." Die Männer schwiegen. Sie wußten, daß sie den Seewolf von seinem Vorhaben nicht abbringen konnten. Wenn er von einer Sache überzeugt war, dann führte er sie auch durch. Mit gemischten Gefühlen sahen sie zu, wie er seine Muskete zurückließ und sich betont langsam in Bewegung setzte. Hasard fühlte sich selbst mulmig, während er mit demonstrativ bedächtigen Schritten den reglosen Gestalten der Eingeborenen entgegenging. Keinen Atemzug lang ließ
28 er sie aus den Augen. Jede unverhoffte Bewegung wäre ihm sofort aufgefallen. Aber sie rührten sich nicht und waren wie zu Statuen erstarrt. Nach dreihundert Yards hatte sich an dieser Situation noch immer nichts geändert. Hasard legte weitere hundert Yards zurück und blieb dann stehen. Die weit auseinandergezogene Linie der Australier war nichts als eine Front von unbewegten, ausdruckslosen Gesichtern. Er wußte, daß er ihnen ein Zeichen setzen mußte, um seine Absichten zu veranschaulichen. Mit übertrieben deutlichen Bewegungen zog er den Radschloßdrehling aus seinem Gurt und legte die Waffe ins Gras. Dann ging er zehn, zwanzig Schritte weiter und blieb abermals stehen. Jetzt öffnete er die Gurtschnalle und ließ den Gurt mitsamt Entermesser zwischen die harten Grasbüschel sinken. Wieder ging er weiter und legte eine größere Entfernung zurück, bis er sich den Eingeborenen auf etwa fünfhundert Yards genähert hatte. Hochaufgerichtet verharrte er und wartete. Überdeutlich konnte er sie jetzt erkennen. Alle hatten sie dieses buschige schwarze Kopfhaar, das in den nicht minder buschigen Vollbart überging. Bei keinem von ihnen konnte Hasard jenes Kraushaar entdecken, wie es für die Bewohner des afrikanischen Kontinents typisch war. Nein, typisch war für diese Menschen eher das breite Gesicht, die buschigen Augenbrauen und der große, vorgereckte Unterkiefer. Hasard gelangte zu der Überzeugung, daß er sich mit den Australiern wenigstens äußerlich auf eine gemeinsame Stufe stellen mußte, wenn er sie endgültig von seinen friedlichen Absichten überzeugen wollte.
Nur so, und nicht anders, konnte er glaubhaft wirken. Bedächtig streifte er sein ledernes Wams ab, hielt es einen Moment lang mit spitzen Fingern am ausgestreckten Arm und ließ es dann fallen. Langsam ging er einige Schritte weiter und blieb dann von neuem stehen. Diesmal zog er sich das Hemd über den Kopf und ließ es gleichfalls zu Boden gleiten. Wieder setzte er seinen Weg fort. Noch immer rührten sich die Eingeborenen nicht. Hasard verharrte abermals und zog sich die Stiefel aus. Mittlerweile hatte er sich den dunkelhäutigen Männern auf etwa vierhundert Yards genähert. Noch ein letztes Mal blieb er schließlich stehen und streifte seine Hosen ab. Wie Gott ihn geschaffen hatte, stand er eine Weile ebenso regungslos dort wie die Australier. Täuschte er sich, oder bemerkte er in ihren finster aussehenden Gesichtern einen Ausdruck des Erstaunens? Er wollte weitergehen, verzichtete jedoch im selben Moment darauf. Aus der Menge der Eingeborenen löste sich eine Gestalt. Hasard spürte, wie sich seine Nerven zum Zerreißen anspannten. Längst waren seine Männer zu weit entfernt für einen gezielten Schuß. Wenn es darauf ankam, konnten sie wiederum nur Warnschüsse abgeben. Aber würde das auch diesmal ausreichen? Der Seewolf fühlte sich halbwegs wohler, als er feststellte, daß die übrigen Eingeborenen ebenso bewegungslos verharrten wie zuvor. Jener, der ihm würdevoll entgegenschritt, hatte silbergraues Kopfund Barthaar, sein breites Gesicht zeigte deutliche Falten. Hasard setzte seinen Weg wiederum fort, und er war sicher, daß der
29 alte Mann die gleiche innere Anspannung empfand wie er selbst. Zehn Schritte voneinander entfernt blieben sie stehen. Hasard hob die rechte Hand als ein Zeichen des Grußes, wie er überall auf der Welt verstanden wurde. Dazu lächelte er freundlich und nickte. Der Alte sah mißtrauisch und verkniffen aus. Doch das mochte an der besonderen Art seiner Physiognomie liegen. Von seinen Augen war unter den dichten Brauen nicht mehr als ein schwaches Blitzen zu erkennen. Doch unvermittelt lächelte auch er, und zwischen seinen bartumrahmten Lippen entblößte sich eine Reihe perlweißer und makelloser Zähne, um die ihn jeder Europäer seines Alters beneidet hätte. Er hob seinerseits die Rechte und sagte etwas in gutturaler, abgehackt klingender Sprache. Seine Stimme war tief, fast dröhnend. Dem Klang nach urteilte Hasard, daß es sich um Begrüßungsworte, zumindest aber um freundliche Worte handelte. Er selbst sagte: „Ich begrüße Sie als Freund!" Dann setzte er sich als erster in Bewegung. Überraschend bereitwillig folgte der alte Mann seinem Beispiel. Dann standen sie sich auf einen Yard Entfernung gegenüber. Der Australier musterte den Seewolf von Kopf bis Fuß, und das Erstaunen in seinen tiefliegenden dunklen Augen war unübersehbar. Immerhin stand er vermutlich zum ersten Mal einem Weißen gegenüber, der sich ihm ohne jegliche Kleidung zeigte. Zumindest war dies ein Zeichen des Entgegenkommens, das Nando Marchi und seine genuesische Crew mit Sicherheit nicht an den Tag gelegt hatten. Der alte Mann hatte offenbar seine
Betrachtung beendet, denn er ließ sich langsam nieder und nahm jene Sitzposition ein, die in Europa als Schneidersitz bezeichnet wurde. Hasard tat es ihm nach. Der Australier blickte ihn erwartungsvoll an, rührte sich aber nicht. Hasard begriff, daß er das Gespräch eröffnen mußte. Falls man es überhaupt als ein Gespräch bezeichnen konnte. Er hob die rechte Hand, streckte den Zeigefinger aus und tippte sich damit auf die eigene Brust. „Ich - Philip Hasard Killigrew", sagte er langsam und deutlich. „Hasard!" Der Alte lächelte wieder. „Ha - sard", wiederholte er mühsam. „Ha - sard." Der Seewolf nickte und setzte eine Miene übergroßer Zufriedenheit auf. Ergebnis war, daß der Australier über die ganze Breite seines Gesichts strahlte. Dann deutete er auf sich selbst. „Moologu. Moologu!" Mit einigen zusätzlichen Handzeichen verdeutlichte er, daß er der Häuptling des Stammes der Arunda war. „Moologu", wiederholte Hasard, und der Alte strahlte noch breiter. Dann fuhr Hasard in der Zeichensprache fort und erklärte, daß er selbst Häuptling eines großen Schiffes sei, das aus einem weit entfernten fremden Land komme. Moologu nickte verstehend. Im nächsten Moment schwand sein Lächeln. Er deutete mit einer zornigen Geste in die Richtung, in die die Genueser verschwunden waren. Gleich darauf zeigte er zu dem Felsenhügel, von dem Hasard bereits wußte, daß es der heilige Berg des Stammes der Arunda war. Hasard verstand nicht jedes Zeichen, das Moologu mit geschickten Händen und schlangengleich beweglichen Fingern gab. Aber er begriff
30 soviel: Marchi und seine Crew hatten die Arunda hereingelegt, übers Ohr gehauen. Und die Genueser hatten vier Australier getötet, selbst aber zwei Mann verloren. Danach fand Moologu zu seinem Lächeln zurück. Und die Zeichen, die er nun gab, veranlaßten Hasard, sich endgültig zu entspannen. Der alte Mann erklärte mit raschen Handund Fingerbewegungen, wie glücklich sein Volk darüber sei, daß es keine Fremdlinge mehr auf dem heiligen Berg gebe. Das anfängliche Mißtrauen, so bedeutete Moologu dem Seewolf, sollten er und seine Männer den Arunda nicht übelnehmen. Immerhin habe man mit den bösen weißen Menschen keine guten Erfahrungen gemacht. Hasard reichte dem Häuptling die Hand. Moologu zögerte einen Moment, bis er einschlug und begriffen hatte, daß dies für den weißen Mann ein Ausdruck der Freundschaft war. Mit wenigen Handzeichen fragte der Seewolf nach den Geschehnissen auf dem Schiff besagter böser weißer Menschen. Moologu antwortete ohne Stocken, schilderte mit Händen und Fingern einen fremden, feindlichen Stamm von Australiern, die überdies Menschenfresser seien. Eine verabscheuungswürdige Eigenschaft, wie Moologus vor Ekel verzogenes Gesicht zeigte. Hasard sah kein Anzeichen dafür, daß der Häuptling an ein Ende des Palavers dachte. Und als Gast hatte er vermutlich nicht das Recht, dieses Gespräch abzubrechen. Unter Umständen konnte es noch Stunden dauern. So bemühte er sich, unverändertes Interesse zu zeigen und fragte mit drei, vier Zeichen nach dem Wurfgeschoß, das sich in der Luft drehte und zurückkehrte. Moologu warf sich stolz in die
Brust, beschrieb mit beiden Händen die Krümmung des Wurfgeschosses und sagte dazu: „Bu - me - rang." „Bumerang?" wiederholte Hasard. Moologu nickte eifrig. „Bu - me - rang." Und er tat, als schleuderte er so ein Ding, spähte forschend in die Luft und fing es dann scheinbar wieder auf. Hasard stellte seine nächste Frage und beschrieb die mannsgroßen Tiere mit dem Beutel, die von den Jägern der Arunda verfolgt worden waren. Abermals wiederholte Moologu die Beschreibung des Tiers und sagte dazu das Wort in seiner Sprache. „Kän - gu - ruh. Känguruh." „Känguruh", wiederholte Hasard wie ein lernbegieriger Schüler und gab einige zusätzliche Zeichen, die bedeuten sollten, ob man dieses Känguruh essen könne. Wieder nickte Moologu heftig, schmatzte mit den Lippen, rollte mit den Augen und rieb sich mit der rechten Hand den Bauch. Das war zweifelsfrei zu verstehen. Känguruhfleisch schien für die Arunda fast eine Art Delikatesse zu sein - gemessen an der Überschwenglichkeit, mit der Moologu den Wohlgeschmack der Tiere beschrieb. Das Palaver dauerte in der Tat noch lange. Hasard mußte ausführlich beschreiben, wie sein Schiftaussah und aus welchem Land er stammte. Moologu antwortete mit Beschreibungen seiner eigenen Heimat und ergötzte sich daran, Tiere zu schildern, von denen Hasard noch nie in seinem Leben gehört hatte. Endlich, nach einer kleinen Ewigkeit, erhob sich der Häuptling - zum Zeichen, daß das Palaver beendet sei. Mit wenigen raschen Gesten fügte er hinzu, daß Hasard und seine Männer gerngesehene Gäste der Arunda seien.
31 Im Westen schwebte die Sonne bereits feurig rot über dem Horizont und verhalf den Kronen und Stämmen der Eukalyptusbäume zu scharfgestochenen Umrissen. 7. Philip Hasard Killigrew beging nicht den Fehler, die Einladung des Häuptlings abzulehnen. Moologu begleitete ihn zu seinen verstreut zwischen dem Savannengras liegenden Kleidungsstücken und Waffen und fand besonderes Interesse an dem Entermesser, dessen Klinge er immer wieder begeistert mit der Daumenkuppe prüfte. Nicht minder interessiert beobachtete der Häuptling der Arunda, wie sich der große weiße Mann wieder anzog. Mit dem Radschloßdrehling konnte Moologu nichts anfangen. Hasard nahm sich für später vor, ihm die Funktion der Waffe zu erklären. Er schenkte dem Häuptling das Entermesser, und der alte Mann geriet fast außer sich vor Freude. Stolz trug Moologu die schwere Waffe auf beiden Händen, während Hasard seine Männer heranwinkte und sie ihm einzeln vorstellte. Deutliche Anzeichen der Verwirrung entstanden in dem breiten Gesicht Moologus. Obwohl sie alle langsam sprachen, war der Klang der Namen für ihn nur schwerverständlich. Geradezu fassungslos betrachtete er aber die Hakenprothesen, die Matt Davies und Jeff Bowie trugen. Hasard erklärte ihm mit Handzeichen, welchen Sinn diese Ledermanschetten mit den spitzgeschliffenen Stahlhaken hatten. In Moologus Miene las er, daß der alte Mann den Gedankensprung nicht nachvollziehen konnte, wie sich eine gesunde Hand durch solch einen Haken ersetzen ließ.
Geduldig warteten Hasard und seine Männer, bis Moologu alles gründlich betrachtet hatte - Waffen, Kleidung, Wasserflaschen, Kugelbeutel, Pulverhörner. Hasard gab die notwendigen Erklärungen in der Zeichensprache, und beim Betasten der Musketen zog der alte Mann den Kopf zwischen die Schultern und sah den Seewolf mit einem respektvollen, aber nicht mehr ängstlichen Blick an. Schließlich beendete Moologu seine Musterungsrunde und gab mit einem würdevollen Kopfnicken zu verstehen, daß man nun zu seinen Stammesangehörigen aufbrechen könne. Moologu und Hasard führten die kleine Marschgruppe an. Als sie die große Schar der Eingeborenen erreichten, wichen diese auseinander und schlossen sich den Seewölfen schweigend an. Die Männer von der „Isabella" wechselten Blicke, zogen es aber vor, das gleiche Schweigen zu wahren wie ihre Gastgeber. Sie hatten hinreichende Erfahrung mit Eingeborenen in allen Teilen der Welt, und bevor man die Sitten und Gebräuche eines Volkes nicht kannte, hielt man sich besser zurück. Denn Mißverständnisse, auch das lehrte die Erfahrung, hatten manchmal böse Folgen. Der Feuerball der Sonne war bereits zur Hälfte hinter dem Horizont versunken, als sie das Dorf der Arunda erreichten. Es lag etwa zwei Meilen von dem als heilig verehrten Felsenhügel entfernt. Auf den ersten Blick wurde klar, daß die Arunda Nomaden waren. Sie besaßen nur das Notwendigste, und die Unterkünfte, in denen sie hausten, waren einfache Schutzdächer aus Ästen, Zweigen und Blattwerk. In den Bodensenken hatten sie diese Schutzdächer so geschickt gebaut, daß sie nahezu übergangslos mit der
32 Savanne verschmolzen. Dichtgedrängt und in respektvoller Entfernung verharrten Frauen und Kinder am nördlichen Ende des Dorfes. Sie näherten sich auch dann nicht, als Moologu die Gäste in die Mitte des Dorfes führte, wo ein Feuer aus verdorrten Baumresten loderte. Zweifellos handelte es sich bei den Arunda um eine ausgeprägte Männergesellschaft, in deren Alltagsleben die Frauen nur bestimmte, wenige Funktionen hatten. Am Feuer hockten etwa zwanzig alte Männer, die alle wie Zwillingsbrüder Moologus aussahen. Eine Art Ältestenrat, wie es schien. Während die jüngeren Männer und die Seewölfe einen Halbkreis am Rand des Feuerplatzes bildeten, ging Moologu gemeinsam mit Hasard auf die alten Männer zu, die mit ausdruckslosen Mienen zu ihnen hochblickten. In seiner gutturalen und abgehackten Sprache redete der Häuptling auf die Alten ein. Äußerlich hob sich nur einer von den letzteren ab. Seine Körperbemalung war reichhaltiger und kunstvoller, und neben der weißen Farbe hatte er als einziger mehrere gelbe Streifen auf der Brust und auf den Oberarmen. Moologu beendete seine Ansprache. Der weiß-gelb Gezeichnete erhob sich und begrüßte den Seewolf, indem er die Unterarme vor der Brust kreuzte und den Oberkörper mehrmals vorbeugte. Hasard erwiderte den Gruß in der gleichen Weise. Moologu tippte an seine Schulter und gab ihm mit einigen seiner unvergleichlich flinken Zeichen zu verstehen, daß diese würdevolle Alte der Medizinmann des Stammes sei. „Mo - ura", fügte der Häuptling hinzu, „Moura." Der Medizinmann nickte und lächelte.
„Moura", wiederholte Hasard und verneigte sich. Dann sprach er seinen eigenen Namen gedehnt und langsam aus. „Ha - sarrrd", sagte der Medizinmann. Das ,R' rollte wie ein hölzernes Wagenrad auf altenglischem Steinpflaster. Mit einer Geste des Häuptlings wurde Hasard auch den übrigen Dorfältesten vorgestellt, die sich jedoch nicht erhoben und deren Namen unbenannt blieben, was vermuten ließ, daß die beiden wirklich wichtigen Männer bei den Arunda Moologu und Moura waren. Auf eine ausladende Handbewegung des Häuptlings ließen sie sich nun alle am Feuer nieder. Die Bewirtung der Gäste begann, während das Zwielicht der kurzen Abenddämmerung einsetzte. Zum ersten Mal sahen Hasard und seine Männer jetzt die Frauen des Stammes aus unmittelbarer Nähe. Die Kinder hielten sich indessen nach wie vor in respektvoller Entfernung. Die Frauen waren klein und kräftig gebaut, einige von ihnen fast knochig. Ihre Gesichter waren breit und flach wie die ihrer Männer. In nichts konnte man diese weiblichen Wesen mit der Grazie und der Anmut jener Frauen vergleichen, die die Seewölfe auf den Südseeinseln angetroffen hatten. Dieser Menschenschlag hier schien in Jahrtausenden von der Unwirtlichkeit des Landes geprägt worden zu sein. Sie servierten Früchte und gesottenes Fleisch auf Flechtwerk aus dünnen Zweigen. Die Früchte waren süß und äußerst wasserhaltig, möglicherweise stammten sie aus dem nahen Regenwald an der Küste. Als Hasard und seine Männer die ersten Bissen von dem Fleisch probierten und demonstrativ anerkennendes Gemurmel anstimmten, strahlte unverkennbare Freude in den Gesich-
Haben Sie schon einen Lieblingsautoren in der SEEWÖLFE-Serie? Wir fragen nicht von ungefähr, weil einzelne Leser bereits auf dieses Thema eingingen und Näheres über den einen oder anderen der SEEWÖLFE-Autoren wissen wollten. Nun, die einen bevorzugen diesen, die anderen jenen Autor, was sehr unterschiedlich ist. An der Serie schreiben 5- 6 Stammautoren mit, von Ausnahmen abgesehen. Vielleicht schreibt der eine Autor häufiger als der andere, was manchmal auch mit unseren sehr knappen Terminen zusammenhängt - wobei eben der eine Autor fleißiger und pünktlicher als der andere ist. Oder vielleicht dieser „andere" gerade eine andere Terminarbeit erledigen muß. Insofern muß die Redaktion manchmal jonglieren, vor allem, wenn ein Autor eventuell wegen Krankheit ausfällt oder aus anderen wichtigen - für ihn wichtigen - Gründen die Flagge streichen muß. Es war für die Redaktion nicht leicht, Autoren für eine Seeabenteuer-Serie zu finden, denn sie sollten spannend schreiben können - und sie sollten etwas von der Materie verstehen, von der Materie der Seefahrt und der seemännischen Praxis, von der Geschichte der damaligen Zeit, von fernen Ländern und ihren Bewohnern. Das verlangt Autoren, die sich auch fachlich orientieren müssen. Da meldete sich zum Beispiel einmal ein Autor, der an der Serie mitschreiben wollte. Er gab uns ein Probekapitel. Gleich auf der ersten Manuskriptseite saß Dan O'Flynn im „Mastkorb" und
spuckte einen Priem aus. Wir fragten den Autor, ob er genau wisse, wie es damals mit dem „Priemen" gewesen sei. Gab's den Kautabak schon, oder gab es ihn nicht? Er meinte, das sei doch egal. Wir meinten, das sei nicht egal - und wir verzichteten auf seine Mitarbeit. Tatsächlich hat es zur Zeit Elisabeth der Ersten noch keinen Kautabak gegeben. Nun sind wir nicht allwissend - die Redaktion nicht, und die Autoren nicht. Aber wir bemühen uns, Schnitzer zu vermeiden. Wir müssen immer wieder fragen, wie ist es damals im 16. Jahrhundert gewesen? Wie waren die Leute gekleidet? Was haben sie gegessen? Wie war die Verpflegung an Bord? Was herrschten für Sitten? Gab es schon verbindliche Segelanweisungen? Und so weiter und so fort. Das verlangt viel von unseren Autoren, die - das sei hier gesagt - Zeit zum Schreiben verlieren, wenn sie in Archiven und Bibliotheken herumstöbern müssen, um sich genaues Grundlagenmaterial für den einen oder anderen Roman zusammenzusuchen. Darum: Kreuzigt sie nicht, die Autoren! Sie geben ihr Bestes, einer wie der andere, denn sie haben Spaß an der Sache, was heißen soll, daß sie ihre Manuskripte nicht herunterschludern und den Ehrgeiz haben, ihren Lesern mehr als „nur" einen Heftroman zu bieten. In diesem Sinne grüßen heute zuerst die SEEWÖLFE-Autoren und hintenan die SEEWÖLFERedaktion.
36 tern Moologus und der Dorfältesten. Die Frauen hatten sich mittlerweile zurückgezogen und das Feld den Männern überlassen, wie sie es gewohnt waren. „Davon sollte sich manche hochnäsige junge Lady in England eine Scheibe abschneiden", meinte Dan O'Flynn zwischen zwei Bissen und grinste. „Hier herrscht wenigstens noch die rechte Lebensart." „Du meinst, weil die Männer das Sagen haben?" fragte Sam Roskill und grinste ebenfalls. „Du hast es erfaßt", erwiderte Dan. „Dann bleib doch hier", empfahl Bob Grey, „gründe eine Familie mit einem dieser netten Täubchen und werde ein Pascha bis ans Ende deiner Tage." Dan O'Flynn verzog das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Die Männer zwangen sich, nicht in Gelächter auszubrechen, denn sicherlich wäre es von den Eingeborenen falsch verstanden worden. Moologu tippte Hasard an, der neben ihm saß, und deutete auf den Fleischbrocken in seiner Hand. „Kän - gu - ruh!" Der Häuptling blickte den Seewolf erwartungsvoll an. Hasard zog überrascht die Augenbrauen hoch. Dann hob er die linke Hand, bildete einen Kreis mit Daumen und Zeigefinger und nickte mehrmals anerkennend. In der Tat war das Fleisch zart, saftig und wohlschmeckend. Moologu, der seine Mahlzeit beendet hatte, faltete stolz und zufrieden die Hände über dem Bauch. Bereits während des Essens war die Dunkelheit hereingebrochen. Einige der jungen Männer hatten trokkene Äste und Baumstümpfe herbeigeschleppt und das Feuer geschürt. Hoch loderten jetzt die Flammen und warfen züngelnden Lichtschein auf die bärtigen Gesichter und die be-
malten Körper. Ein Palaver in gedämpfte Tonfall begann. Moologu vertiefte sich in ein Gespräch mit Moura und den übrigen Dorfältesten, wobei er den Seewolf und seine Männer eine Weile sich selbst überließ. Dann, nachdem die Dorfältesten zu einem Entschluß gelangt zu sein schienen, wandte sich Moologu wieder seinen Gästen zu. Diesmal waren seine geschickten Handzeichen umfangreich und lang anhaltend. Hasard mußte mehrmals unterbrechen und mit Zeichen seinerseits zwischenfragen. Er brauchte geraume Zeit, bis er verstanden hatte, um was es ging. *
„Folgendes soll passieren", wandte sich Hasard an seine Männer, „die Australier wollen jetzt mit Macht ihr größtes Problem lösen. Sie warten auf Regen. Unser Freund Marchi hat ja bereits darüber berichtet." „Verstehe ich nicht", entgegnete Ed Carberry unverhohlen. „Wozu brauchen die Stinte Regen? Hier wächst doch sowieso nichts, in dieser Steppe." Hasard schüttelte den Kopf. „Ich glaube, die Arunda sind nicht ausschließlich Nomaden und Jäger. Wahrscheinlich ist dies die Jahreszeit, in der sie sich für eine Weile niederlassen und eine primitive Art von Ackerbau betreiben. Vielleicht suchen sie sich dazu sogar regelmäßig die Nähe ihres heiligen Berges aus." Ferris Tucker wischte energisch mit der flachen Hand durch die Luft. „Das kann uns ja wohl letzten Endes egal sein, weshalb sie auf Regen warten. Tatsache scheint ja zu sein, daß sie es tun. Ich frage mich nur, ob das Ganze für uns wichtig ist." „Ich frage mich ganz was anderes", sagte Dan O'Flynn.! „Hasard sagte,
37 die Leute wollen ihr Regen-Problem lösen. Das ist ja wohl schlecht möglich. Oder werden wir hier außer Beuteltieren und anderen Absonderlichkeiten auch noch Regenmachern begegnen?" Der Seewolf lächelte und nickte. „Dan hat den springenden Punkt erfaßt. Ich nehme aber an, die Arunda sind nicht das einzige Naturvolk auf der Welt, das daran glaubt, man könnte Regen durch einen Zauber oder ein Opfer herbeirufen." „Aha", brummte Gary Andrews, „dann werden sie uns also gleich so eine verrückte Hüpferei vorführen." „Irrtum", widersprach Hasard, „Moologu hat es mir anders erklärt. Sie wollen einen Kult veranstalten, bei dem ein Knochen eine besondere Rolle spielt. Genau kann ich es mir noch nicht vorstellen. Das Wesentliche ist aber, daß ein junger Mann aus dem Stamm gewissermaßen halb gezwungen und halb freiwillig auf den heiligen Berg gehen wird, um dort zu sterben. Wer das sein wird, steht noch nicht fest. Die Auswahl wird durch den Kult getroffen. Als Ergebnis dieses Menschenopfers, so glauben sie, wird es dann bald regnen. Ich meine, wir müßten etwas tun, um das zu verhindern." Das Unfaßbare dessen, was die Arunda vorhatten, verschlug den Männern von der „Isabella" im ersten Moment die Sprache. „Ich weiß nicht, ob es sinnvoll wäre, etwas zu unternehmen", meinte Dan O'Flynn nach einer Weile. „Schließlich werden sie diese Art von Kult immer wieder veranstalten. Wie könnten wir sie jemals davon abbringen? Selbst wenn es uns diesmal gelingt, wäre das nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Schließlich bleiben Wir ja nicht für alle Zeiten in Australien." „Im Grund gebe ich dir recht, Dan", sagte Hasard .,Mir schwebt aber eine
ganz bestimmte Sache vor. Jeder von euch weiß, daß wir einen Spezialisten für alle Art von Zauberei und übersinnlichen Dingen an Bord haben." Dan O'Flynn blies die Luft durch die Lippen. „Und keiner nimmt meinen Vater ernst. Ich auch nicht." „Darum geht es nicht", erwiderte der Seewolf. „Ich will damit sagen, daß Old Donegal mühelos in der Lage wäre, einen Kult vorzuführen, wie ihn die Arunda hoch nie gesehen haben." „Und zu was soll das gut sein?" Dan O'Flynn betrachtete sich jetzt als einzig kompetenter Gesprächspartner, weil es um seinen Vater ging. „Ganz einfach", antwortete Hasard, „ich möchte, daß dein Dad die Australier so sehr beeindruckt, daß sie von ihrem Menschenopfer ablassen. Ich werde Moologu und Moura erklären, daß wir selbst einen großen Zauberer an Bord haben, der auf seine Weise Regen erzeugen kann. Aber bei ihm geht es eben ohne ein Menschenopfer. Und wenn das gelingt, werden sie vielleicht Old Donegals Zauberei übernehmen und in Zukunft auf ihr Menschenopfer verzichten." „Du bist ein Optimist, Sir Hasard", entgegnete der junge O'Flynn spöttisch. „Das Ganze hängt letzten Endes davon ab, ob es anschließend regnet oder nicht." „Mit ein bißchen Glück passiert auch das, Dan. Wenn dies die Jahreszeit ist, in der es normalerweise Regen gibt, ist es sogar wahrscheinlich. Bei dem großen Zauberer kann es eben wochenlang dauern, bis es regnet. Oder es dauert nur eine Stunde. Ich werde Moologu das verklaren." „Old O'Flynn, der große Zauberer", sagte Matt Davies mit einem Glucksen. „Der Alte dreht glatt über! Für den Rest seines Lebens gerät er total
38 in Verzückung." Selbst Dan O'Flynn mußte grinsen. „Ich will zumindest diesen Versuch riskieren", entschied Hasard, „für ein Menschenleben kann man das immerhin tun. Denn mit Waffengewalt oder anderen Drohungen können wir die Eingeborenen auf keinen Fall von ihrem Vorhaben abbringen. Falls ich Moologu und Moura überzeugen kann - wer meldet sich freiwillig, um Old Donegal sofort herzuholen?" Dan O'Flynn hob spontan die Hand, dann Matt Davies, Jeff Bowie und Sam Roskill. „In Ordnung. Vier Mann genügen", sagte Hasard. „Dann will ich mal versuchen, meine Finger wie Engelszungen zu bewegen." Er ging zu Moologu, Moura und den Dorfältesten hinüber, die in erhabener Haltung am Feuer saßen und anhaltend palaverten. Als der Seewolf sich ihnen näherte, brachen sie ihren Wortwechsel ab. Hasard ließ sich vor ihnen nieder, kreuzte die Beine und blickte für einen Moment in die Runde. Die jüngeren Männer des Stammes verfolgten das Geschehen mit sichtlicher Anspannung. Sie alle wußten anscheinend, daß es einen von ihnen treffen würde. Hasard hob die Hände, sah die alten Männer bedeutungsvoll an und begann mit seinen Zeichen. Sicher war schon jetzt, daß es eine der schwierigsten Ansprachen sein würde, die er jemals gehalten hatte. Er begann damit, daß sie auf ihrem Schiff einen großen Zauberer aus dem fernen Land hätten, einen weisen alten Medizinmann. Mit seinen Männern habe er beratschlagt, und sie seien zu dem Ergebnis gelangt, daß sie den großen alten Zauberer bitten wollten, den Arunda einen Gefallen zu tun. Hasard bemerkte unverkennbares
Staunen in den Gesichtern der alten Männer. Zweifellos war ihre Neugier geweckt. Die Waffen und sonstigen Dinge, die die weißen Männer besaßen, waren übermächtig in ihrer Wirkung. Wie gewaltig mußten da erst die Kräfte ihres Zauberers sein! Hasard fuhr fort, ihnen zu erklären, daß seine Männer und er bereit seien, den weisen alten Medizinmann vom Schiff zu holen, damit er Regen mache. Einzige Bedingung sei aber, daß die Arunda auf ihren eigenen Regenkult verzichten sollten. Er sah, wie sich in den Mienen einiger Dorfältester Überraschung abzeichnete. Sie wechselten Blicke und tuschelten miteinander. Hasard bekräftigte noch einmal die Dienstbereitschaft seines eigenen Zauberers und fügte hinzu, daß die Arunda schließlich immer noch selbst um Regen bitten könnten, falls es mit dem weißen Medizinmann nicht klappen solle. Moologu antwortete mit flinken Zeichen, daß er verstanden hätte. Ein neues Palaver begann. Hasards Geduld wurde auf eine lange Probe gestellt. Endlich, als das Feuer schon fast niedergebrannt war, hatten sie sich zu einem Entschluß durchgerungen. Moologu gab lächelnd zu verstehen, daß er die Dorfältesten und auch den Medizinmann Moura überzeugt hätte. Der große alte Zauberer vom Schiff werde willkommen sein. Hasard nickte, erhob sich und verbarg sein Aufatmen. Wenige Minuten später brachen Dan O'Flynn, Matt Davies, Jeff Bowie und Sam Roskill auf. 8. Die Augen Old O'Flynns leuchteten, als er bei Sonnenaufgang das Dorf der Arunda erreichte. Der
39 Marsch durch die Savanne war für ihn beschwerlich gewesen, doch nichts davon ließ er sich anmerken. Vielmehr sprühte er geradezu vor Eifer und Tatendrang. Die Australier hatten sich bereits um die erkaltete Feuerstelle versammelt, hockten stumm auf dem Boden und warteten geduldig, ohne erkennbare Anzeichen von Spannung. Lediglich die Dorfältesten tuschelten angeregt, während Moologu und Moura den vermeintlichen Zauberer mit dem merkwürdig steifen Bein begrüßten. Eine Weile verbrachten sie damit, sein Holzbein zu betasten und zu bestaunen. Dann, schließlich, gab Moologu mit einem knappen Zeichen zu verstehen, daß die Prozedur beginnen könne. Gemeinsam mit Moura zog er sich zu den Dorfältesten zurück. Auch diesmal waren Frauen und Kinder vom Schauplatz des Geschehens verbannt worden. Da sie nirgendwo zu sehen waren, vermutete Hasard, daß sie sich unter die Schutzdächer in den Bodensenken verkrochen hatten. Der Seewolf und seine Männer hatten die Nacht in einer dieser notdürftigen Behausungen verbracht. Nach dem Erwachen hatten ihnen die Frauen eine kräftige Mahlzeit aus gesottenem Fleisch und Früchten gebracht. Viel Abwechslung schien der Küchenzettel der Australier nicht zu bieten. Mit gravitätischer Haltung, von Hasard und den anderen begleitet, begab sich Old Donegal Daniel O'Flynn in die Mitte des Feuerplatzes. Dort blieb er stehen, verschränkte die Arme über der Brust und sah sich prüfend um. Mit gebieterisch ausgestrecktem rechtem Arm deutete er dann auf seinen Sohn und Sam Roskill. „Ihr beide räumt das verkohlte Holz weg. Ich muß hier völlig freie Bahn haben."
Dan und Sam wechselten einen empörten Blick. „Zum Teufel, wir sind doch nicht deine Diener, Old Donegal!" stieß Sam Roskill hervor. Old O'Flynn verzog das Gesicht, mißbilligend und herablassend zugleich. „Bin ich der große Medizinmann oder nicht? Wollen wir den Eingeborenen eine Schau bieten oder nicht? Wenn das der Fall ist, Gentlemen, dann tut gefälligst, was ich euch sage. Kein Medizinmann ist glaubwürdig, wenn ihm nicht alle anderen gehorchen. Neben Hasard als Häuptling bin ich nun mal der Ranghöchste in unserem - mhm - Stamm." Die Männer glucksten gepreßt und mußten sich mit Gewalt zwingen, nicht in Gelächter auszubrechen. „Ihr werdet seine Anordnungen ausführen", sagte Hasard lächelnd. „Ihr werdet es verkraften. Es ist ja nur vorübergehend, daß ihr euch zu Medizinmann-Handlangern herablassen müßt." Dan O'Flynn und Sam Roskill brummten mißmutig, aber sie gaben klein bei. Unwillig betrachteten sie ihre schwarzen Hände beim Wegräumen der Holzreste. Nachdem der Boden der Feuerstelle gereinigt war, winkte Old O'Flynn seine beiden Helfer wieder heran. Den Seewolf und die übrigen Männer scheuchte er beiseite und gewährte ihnen mit einer herablassenden Geste, daß sie sich am Rande des Platzes, in der Nähe der Dorfältesten, niederlassen durften. Mit gewichtiger Miene ließ Old O'Flynn den Segeltuchbeutel zu Boden sinken, den er auf der Schulter mitgeschleppt hatte. „Ich habe hier ein paar Utensilien", erklärte er leise. „Behandelt das Zeug so, als wären es geweihte Sachen, oder jedenfalls so was Ähnliches. Begriffen?"
40 Dan und Sam nickten zustimmend, aber in ihren Gesichtern war zu lesen, daß sie sich mit ihrer Rolle noch immer nicht ganz abgefunden hatten. Der alte O'Flynn öffnete den Beutel und förderte seine Utensilien zutage. Seine beiden Helfer mußten an sich halten, um nicht zu grinsen. Was der „große Medizinmann" mitgebracht hatte, war höchst Gewöhnliches: ein Belegnagel, ein großes Stück Trockenfleisch, ein Faß Tinte, eine Lunte von etwa drei Fuß Länge, ein Pulverhorn und zwei große Feuersteine. Diese gesamte Zauberausrüstung ordnete er fein säuberlich auf dem Erdboden, richtete sich auf, reichte seinem Sohn den leeren Beutel und bedeutete ihm mit einer herrischen Handbewegung, den Beutel an den Rand des Platzes zu bringen. Dan gehorchte mit einem leisen Seufzer, fügte sich aber in das Spiel und kehrte eilends zurück. Old O'Flynn hob das Stück Trokkenf leisch auf und gab es seinen Helfern. „Stellt euch gegenüber", sagte er halblaut, „und haltet es mit beiden Händen fest. Ich muß in die Mitte ein Loch bohren." „Warum das, in aller Welt?" sagte Sam Roskill mit einem ächzenden Laut. „Weil es zur Zeremonie gehört, du Stint", fauchte der alte Seebär. Dann würdigte er seinen Handlanger keines Blickes mehr. Er verschränkte die Arme vor der Brust und wandte sich den Zuschauern zu. Etwa einhundertfünfzig Australier mochten es sein, und Hasard mit den Männern von der „Isabella". Old O'Flynn warf den Kopf in den Nacken, reckte das Kinn vor und stolzierte in dieser Positur einmal um seine Helfer herum. Schließlich blieb er vor den beiden stehen und zog sein Messer aus der Gurtscheide.
Seine nächsten Worte sang er wie einen Sermon, die Augen zum Himmel gerichtet. „Haltet gut fest jetzt, o ihr nichtsnutzigen Heringe!" Wieder mußten die Seewölfe an sich halten, um nicht in dröhnendes Gelächter auszubrechen. Aber eins war sicher: Bis jetzt machte Old O'Flynn seine Sache hervorragend. Schließlich war nur der Klang seiner Worte wichtig, denn verstehen konnten ihn die Australier ja nicht. Old O'Flynn senkte den Kopf und fixierte das Dörrfleisch. Mit einem Ruck stieß er das Messer hinein und drehte es mehrmals, bis ein Loch vom Durchmesser des Belegnagels entstanden war. Das Stück Fleisch, das er herausgeschnitten hatte, warf er achtlos beiseite. Er schob das Messer zurück in die Scheide. „Weiter festhalten", knurrte er, bückte sich und hob das Tintenfaß auf. Mit den Fingernägeln brach er die Versiegelung auf und zog den Korken heraus. Das offene Tintenfaß stellte er wieder zu Boden und nahm den Belegnagel. Er hielt ihn auf flachen Händen etwa so, wie die Diener im königlichen Palast in London die Kronjuwelen trugen. Mit einer theatralischen Gebärde reckte er die Arme dem Himmel entgegen, nickte, als hätte er ein geheimes Zeichen erhalten, und ließ den Belegnagel wieder sinken. Mit einem Ruck stieß er ihn durch das Loch im Dörrfleisch. Ein kurzer Blick in die Runde zeigte Old O'Flynn, daß die Australier den Atem anhielten. Er bückte sich und nahm das Tintenfaß in die spitzen Finger der rechten Hand. Bedächtig und behutsam goß er den blau-schwarzen Inhalt über den Kopf des Belegnagels. Die Tinte lief an dem Holz hinunter und sickerte durch das Loch im Dörrfleisch.
41 Das leere Faß ließ er kurzerhand fallen und warf sich lang auf den Boden. Voller Spannung beobachtete er, wie die Tinte, die nun das untere Ende des Belegnagels erreichte, auf den Erdboden tropfte. Dabei widmete er seine besondere Aufmerksamkeit dem Fleckenmuster, das die Tintentropfen auf der hellen Erde hervorriefen. Nach endlosen Minuten hörte das Tropfen auf. Old O'Flynn rappelte sich wieder auf, nickte zufrieden und befahl seinen Handlangern mit einer herrischen Geste, an den Rand des Platzes zu verschwinden. „Ich brauche euch jetzt nicht mehr", fügte er murmelnd hinzu. Mit einer Kopfbewegung deutete er auf das Fleisch und den Belegnagel. „Das Zeug könnt ihr hierlassen. Aber behandelt es mit Respekt." Dan O'Flynn und Sam Roskill gehorchten zähneknirschend. Wie ein rohes Ei plazierten sie den „kultischen Gegenstand" bei den anderen Utensilien und zogen sich zu ihren Gefährten zurück. Abermals vollzog Old O'Flynn unterdessen die Prozedur des würdevollen Im-Kreis-Schreitens. Dann nahm er das Pulverhorn, öffnete es und schüttete mit großer Sorgfalt ein faustgroßes Häufchen Schwarzpulver auf die Tintenflecken im Sand. Er verschloß das Pulverhorn wieder, richtete sich auf und brummte Unverständliches, wobei er die halb geschlossenen Augen wieder zum Himmel richtete. Ein unauffälliger Blick aus den Augenwinkeln heraus zeigte ihm, daß die Australier sein Treiben mit offenen Mündern verfolgten. Zufrieden registrierte er, daß ihm uneingeschränkte Aufmerksamkeit gewiß war. Dies genoß er um so mehr, als die Männer an Bord der „Isabella" seine besonderen Kenntnisse nie-
mals richtig ernst genommen hatten. Jetzt, verdammt noch mal, waren sie geradezu froh darüber, daß er auf diesem Gebiet Bescheid wußte. Zwar entsprang die gesamte Zeremonie seiner eigenen Phantasie. Aber besonders dank seiner Beobachtungen bei den Naturvölkern in der Karibik wußte er, wie man so etwas anstellte. Er ging in die Hocke, setzte sich auf den Boden, klemmte die Lunte zwischen sein Holzbein und das gesunde Bein und schlug die beiden Flinte gegeneinander. Laute des Erschreckens waren von den Eingeborenen zu hören, als die Funken flogen und das obere Ende der Lunte zu sprühen begann. Old O'Flynn warf die Feuersteine beiseite, nahm die Lunte behutsam, streckte sie und legte das andere Ende in das Schwarzpulverhäufchen. Dann rappelte er sich auf und entfernte sich auf zwei, drei Schritte Abstand. Wieder verschränkte er die Arme und brummelte beschwörend vor sich hin, während sich die Glut durch die Lunte fraß. Dann, nach Sekunden atemloser Spannung bei den Australiern, geschah es. Eine grellrote Stichflamme schoß fast mannshoch empor, begleitet von einem mächtigen Zischen. Ein vielstimmiger Schrei des Entsetzens erklang aus der Menge der Eingeborenen. Aber sie wagten nicht, ihre Plätze zu verlassen, denn sie wußten, daß sie sich dem Zauber des Medizinmanns nicht entziehen durften. So schnell er konnte, sprang Old O'Flynn in die aufsteigende grauweiße Wolke von Pulverrauch, warf die Arme hoch und brüllte mit gewichtiger Donnerstimme: „Hölle und Teufel, wenn es jetzt nicht regnet, will ich mein eigenes Holzbein fressen! Wenn das hier nicht funktioniert hat, will ich nie wieder so einen Zauber veranstalten!"
42 Er ließ die Arme sinken und wandte sich ab, scheinbar grenzenlos ermattet. Die Pulverwolke, verflüchtigte sich, und der beißende Gestank wehte über die Eingeborenen. Atemlose Stille kehrte ein. Hasard stand auf und ging auf seinen „Medizinmann" zu. „Das war hervorragend, Donegal. Nur eine Kleinigkeit hast du nicht bedacht. Wie sollen die Arunda diese Zeremonie jemals nachvollziehen, da sie doch kein Schießpulver besitzen!" Old O'Flynn runzelte die Stirn. Dann winkte er unwillig ab. „Verdammt noch mal, wie kannst du jetzt bloß an solche Einzelheiten denken, Sir! Die Sache ist gut gelaufen, und sie staunen Bauklötze. Zur Not können wir ihnen ja einen Beutel schwarzgefärbtes Sägemehl hierlassen." Hasard mußte lächeln. So schlecht war der Gedanke nun auch wieder nicht. Mit einer ausladenden Handbewegung gab Old Donegal Daniel O'Flynn den Australiern zu verstehen, daß sie sich wieder frei bewegen könnten, da die Prozedur beendet sei. Sofort begann ein aufgeregtes Palaver. Mit leisem Unbehagen blickten Hasard und seine Männer zum Himmel, der strahlend blau und wolkenlos war. Auch die Arunda spähten immer wieder angestrengt in die Richtung, aus der sie jetzt den großen Guß erwarteten. 9. Unter Vollzeug segelte die „Speranza" auf Südostkurs. Erst seit etwa einer halben Stunde war die australische Küste außer Sichtweite. Dieser Umstand erfüllte Kapitän Nando Marchi indessen keineswegs
mit Freude. Jede Seemeile, die der Zweimaster zurücklegte, ließ seinen Grimm anwachsen. Das Gefühl, etwas unerledigt gelassen zu haben, reduzierte alle positiven Tatsachen zur Bedeutungslosigkeit. Vom Achterkastell aus starrte Marchi nach Steuerbord auf die ruhige See hinaus - dorthin, wo er diese gottverdammte Savanne wußte, von der er sich soviel versprochen hatte. Anfangs hatte er noch frohlockt, daß die Kannibalen weder die Segel noch sonst etwas auf dem Schiff zerstört hatten. Es lag an ihrer Unwissenheit. Sie hatten keine Ahnung, wozu so ein Segel gut war, und ebensowenig kannten sie die verschiedenen Gerätschaften und Bedienungseinrichtungen eines europäischen Seglers. Einzig aufs Menschenfressen verstanden sie sich. Marchi stieß einen grimmigen Knurrlaut aus. An die vier Männer, die er verloren hatte, verschwendete er schon längst keinen Gedanken mehr. Es hatte ihn wenig berührt, die sorgfältig angelegten Gräber an der Flußmündung zu betrachten. Der Mannschaft bediente man sich. So wie man es mit einem gut funktionierenden Mechanismus tat. Und wenn Teile davon ausfielen, dann mußten sie eben durch neue ersetzt werden. Das galt auch für die beiden Männer, die am heiligen Berg ihr Leben gelassen hatten. Sobald sie einen dieser stinkigen kleinen asiatischen Häfen anliefen, würden die Lücken aufgefüllt werden. Dort kam man schneller mit einer Pressgang ins Gespräch als in Europa, und es trieb sich genügend lichtscheues Gesindel in den Spelunken herum, das man an Bord knechten und für die schmutzigste Arbeit verwenden konnte. Bis dahin mußte man sich eben behelfen. Jeder hatte für zwei zu arbei-
43 ten, und wenn ihm dabei das Blut in den Adern kochte! Ausgenommen davon waren natürlich der Kapitän und die übrigen Offiziere. Blieben neun Decksleute, denen während der nächsten Tage und Wochen ständig in den Hintern getreten werden mußte. Marchi warf einen kurzen Blick zur Kuhl hinunter. Dort trieb der erste Offizier die Mannschaft mit pausenlosem Gebrüll zur Eile an. Es gab eine Menge aufzuklaren nach diesem nutzlosen Aufenthalt in der australischen Savanne. Allein der Gedanke an dieses Land brachte Marchis Gemüt erneut zum Siedepunkt. Die Tatsache, daß ihm der Hurensohn von einem Engländer das Leben gerettet hatte, war längst vergessen. Marchi hatte diesen Umstand völlig aus seinem Bewußtsein verdrängt. Vergessen waren auch die Todesängste, die er und seine Männer während der tagelangen Belagerung ausgestanden hatten, nachdem ihnen das Schießpulver ausgegangen war. Was blieb, war nur unbändige Wut darüber, daß der Engländer ihn, Nando Marchi, daran gehindert hatte, auf dem heiligen Berg weiter nach dem erhofften Schatz zu suchen - ob es diesen Schatz nun gab oder nicht. Ausschlaggebend war einzig und allein, daß dieser elende Killigrew ihn zutiefst in seiner Ehre getroffen hatte. Und das auch noch vor den Augen von heidnischen Wilden! Je mehr der Genueser sich gedanklich in diesen Punkt verbiß, desto mehr kochte seine Wut. Sein Verlangen nach Rache trieb einem Punkt entgegen, der jede Selbstkontrolle auszuschalten drohte. Marchi gab sich einen Ruck und stolzierte mit kurzen, schnellen Schritten auf die vordere Schmuckbalustrade des Achterkastells zu. „Signor Bruni!"
Der erste Offizier unterbrach sein Gebrüll, warf den Kopf in den Nakken und blickte zum Achterkastell hoch. „Capitano?" „Ich erwarte Sie zu einem Gespräch. Sofort!" „Si, Capitano." Bruni trieb die Männer noch einmal an, hastete dann zum Niedergang, der zur Offiziersmesse führte, und mobilisierte den zweiten Offizier, der vorübergehend seinen Platz einzunehmen hatte. Kurz darauf erschien Bruni auf dem Achterkastell. Er war nicht größer als der Kapitän, dunkelhaarig und von ebenso drahtiger Statur. „Was gibt es, Nando?" Da sie unter sich waren und kein Decksmann mithören konnte, schlug Bruni diesen vertraulichen Ton an. Er sah den Zorn in Marchis Augen funkeln, sah die zusammengepreßten Lippen, und er ahnte, was jetzt bevorstand. „Ich will es dir sagen, Guilielmo." Marchi spie die Worte hinaus. „Wir werden diesem englischen Bastard und seinen verlausten Deckswanzen einen Denkzettel verpassen, von dem sie sich nie wieder erholen. Diese Schweinehunde sollen zu spüren kriegen, was es bedeutet, einen genuesischen Kapitän zu demütigen." Guilielmo Bruni atmete tief ein und blies die Luft durch die Nase. Er kannte Marchi und wußte, daß er besonnen bleiben mußte, um dessen Wut nicht noch mehr anzustacheln. Wenn er in einer Stimmung war wie jetzt, konnte man bestenfalls mit Sanftmut etwas erreichen. Meistens aber überhaupt nichts. „Wir werden diese Mistkerle nie wiedersehen", sagte Bruni ruhig. „Diese Gewißheit ist doch eigentlich zufriedenstellend, nicht wahr?" „Was?" fauchte Marchi, wobei er auf den Zehenspitzen wippte. „Bist du nicht bei Verstand? Wie kannst
44 du als genuesischer Ehrenmann so eine Schande auf sich beruhen lassen wollen?" „Weil man - ich meine, es wäre vielleicht besser, vernünftig zu sein." „Ein Dreck ist besser!" schrie Marchi derart geifernd, daß für einen Moment sogar die Decksleute aufmerksam wurden. Aber Brunis Stellvertreter blies ihnen auf der Stelle so gehörig den Marsch, daß sie an alles andere dachten, nur nicht daran, ein vertrauliches Gespräch ihres Kapitäns zu belauschen. Guilielmo Bruni war es gewohnt, eine Menge herunterzuschlucken. Nicht zuletzt deshalb auch, weil er unlauteren Geschäftsmethoden durchaus nicht abgeneigt war. In diesen Dingen war er mit Nando Marchi stets einer Meinung. Dabei spielte letztlich verlockender Profit eine besonders große Rolle. Aber an einem bestimmten Punkt war auch Brunis Geduld am Ende. Dann nämlich, wenn Marchi ihn wie einen dummen Jungen behandelte. „Was willst du?" sagte er deshalb. „Wenn du nur Befehle erteilen willst, brauchst du mich nicht zu einem Gespräch zu rufen." Er tat, als wollte er sich abwenden. Marchi blinzelte und schraubte seine Stimmlage um zwei Stufen niedriger. „Verdammt, stell dich nicht an wie eine Mimose! Mir läuft die Galle über. Kannst du das nicht begreifen?" „Ich kann mich beherrschen", entgegnete Bruni. „Das ist alles." Marchi schüttelte energisch den Kopf. „So einfach geht das nicht, Guilielmo. Was der Engländer sich erlaubt hat, kann ich mir nicht bieten lassen. Nie und nimmer!" „Also gut", seufzte der erste Offi-
zier der „Speranza". „Was willst du denn tun, bitte sehr?" „Was ich tun will?" fragte Marchi. „Seinen verdammten Kahn zu Klump schießen, solange er noch an Land ist." Bruni hatte es befürchtet. Er zwang sich, ruhig zu bleiben. „Sei vernünftig, Nando", sagte er vorsichtig, „wir haben zwar nur die Mastspitzen dieser Galeone gesehen, aber sie ist mit Sicherheit besser bestückt als unser Schiff. Du weißt, welchen hohen Standard die englische Flotte hat. Wir haben keine Chance..." Marchi unterbrach ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung. „Ja, ja, das weiß ich alles. Aber ich bin auch nicht von gestern, mein Lieber. Es gibt verschiedene Umstände, die sich zu unseren Gunsten auswirken. Erstens: Wir kennen die australische Küste besser als die Engländer. Folglich können wir sie überraschend packen. Zweitens: Dieser Killigrew und zehn Mann befinden sich noch an Land. Wenn wir davon ausgehen, daß das der größere Teil seiner Mannschaft ist, sind wir rein zahlenmäßig mindestens ebenbürtig, wenn nicht überlegen. Wichtig ist nur, daß wir wie der Blitz aus heiterem Himmel über den Kahn herfallen, solange er vor Anker liegt. Die Kerle dürfen gar nicht erst zur Besinnung kommen." „Theoretisch klingt das zwar ganz gut", sagte Bruni, „aber in der Praxis ..." „Auch in der Praxis!" ereiferte sich Marchi. „Wir segeln zurück zur Küste und kreuzen dicht unter Land nordwärts, so daß wir bei Dunkelheit die Nähe der Flußmündung erreichen. Dort warten wir ungesehen bis kurz vor Sonnenaufgang. Noch im Morgengrauen stoßen wir hinter der Landzunge hervor und verpassen ihnen eine Breitseite nach der anderen,
45 ehe sie überhaupt nur gefechtsklar sind. Begriffen?" Guilielmo Bruni wiegte den Kopf auf den Schultern. Er fand kein rechtes Gegenargument mehr. So wütend und unbeherrscht Marchi war, so überlegt war doch sein Plan. Sicher, das war eine gute Möglichkeit für einen Überraschungsangriff auf die englische Galeone. Wenn es gelang, winkte dabei bestimmt noch fette Beute. Denn die britischen Schiffe, die als Kaperer im Auftrag der Königin segelten, hatten meistens wertvolle Ladung in ihren dikken Bäuchen. Nando Marchi las in der Miene seines Ersten und begann zu grinsen. Er hatte gewonnen. Zwar hätte er kurzerhand einen Befehl erteilen können. Aber bei allen schwierigen Entscheidungen vergewisserte er sich gern der moralischen Unterstützung durch Bruni. Denn dieser hatte den direkten Kontakt zur Mannschaft, und an ihm lag es, die Leute für einen Kampf hinreichend zu motivieren. „Kurswechsel", ordnete Marchi an, „scheuch die Hunde an die Brassen, Guilielmo!" * Stunden waren verstrichen, quälend langsam. Mit zunehmender Hitze stieg auch die unruhige Stimmung unter den Eingeborenen. Der Himmel leuchtete azurblau, und die sengende Sonne schien jeden Hauch von Leben zu unterdrücken. Hasard und seine Männer hatten sich abseits von den Arunda in eine Bodensenke zurückgezogen. Dort gab es unter einem der Schutzdächer aus Laub und Zweigen immerhin etwas Schatten. Vom Feuerplatz des Dorfes war das aufgeregte Gemurmel der Männer zu hören. Die Unruhe breitete sich wie eine
körperlich spürbare Bedrohung aus. „Na, wo bleibt dein feiner Regen, Donegal?" grollte Ed Carberry, der am vorderen Rand des Schutzdaches hockte, weil er darunter zu sehr den Kopf einziehen mußte. „Laß ihn in Ruhe, Ed", mahnte Hasard. „Er hat getan, was er konnte. Keiner von uns hat ja wohl ernsthaft geglaubt, daß es nach diesem Zirkus wirklich regnen würde. Wenn, dann wäre es ein Zufall gewesen. In erster Linie ging es darum, die Arunda von ihren mörderischen Absichten abzulenken." Dan O'Flynn nickte bekräftigend. Bis eben war er in Gedanken versunken gewesen. „Sicherlich hat es die Leute mächtig beeindruckt, was mein Dad ihnen vorgeführt hat. Erstens war es geschickt gespielt, und zweitens waren es eben Sachen, deren Wirkung sie noch nie vorher gesehen haben. Aber etwas anderes scheint mir ausschlaggebend zu sein: Ich glaube, daß ihr eigener Kult so tief in ihnen steckt, daß sie ihn nicht abschütteln können - selbst wenn sie es wollten. Wahrscheinlich haben sich doch diese Rituale von einer Generation auf die andere vererbt. Nein, sie können sich nicht davon befreien." Old O'Flynn lächelte geschmeichelt. Jetzt konnte er stolz sein auf seinen Sohn. Denn der dachte wenigstens über die tieferen Zusammenhänge nach. Die anderen, ausgenommen Hasard, taten es meist mit albernen Sprüchen ab. „Wahrscheinlich hast du recht, Dan", sagte der Seewolf. „Ich muß zugeben, daß meine Rechnung nicht aufgegangen ist. Aber wir hatten wenigstens die Hoffnung. Und es war besser, als gar nichts zu tun." Edwin Carberry stieß ein unwilliges Brummen aus. „Gauklerfirlefanz hat noch nie was Gutes gebracht. Für mich haben
46 Kerle wie diese Australier alle einen Riß im Hirn." „Jetzt reicht es aber, Profos!" ereiferte sich Old O'Flynn. „Was ich den Eingeborenen vorgeführt habe, war nur eine nachgemachte Sache. Hasard hat schon gewußt, wozu es gut sein sollte. Mit Gauklerfirlefanz, wie du das nennst, hatte das überhaupt nichts zu tun. Es war nur eine Schau, weil die armen Teufel hier überhaupt nicht wissen können, ob etwas dahintersteckt oder nicht." „Und was ändert das?" konterte Carberry unwillig. „Endergebnis ist jedenfalls, daß wir immer noch hier herumhängen. Wenn diese Knilche sich unbedingt gegenseitig umbringen müssen, nur wegen des Regens, dann tun die das auch in hundert Jahren noch. Wir ändern nichts daran. Darauf könnt ihr Gift nehmen." „Ich bin anderer Meinung, Ed", sagte der Seewolf ruhig. „Auch diese Australier sind normale Menschen, denen man eines Tages gewisse Zusammenhänge erklären wird. Wir und alle anderen zivilisierten Leute müssen das als unsere Aufgabe betrachten." Der Profos verzog das Gesicht. „Tut mir leid, Sir, aber ich sehe das nicht ganz ein. Wenn alle Leute so wären wie du, in Ordnung. Aber allein so ein Schlitzohr wie dieser Marchi kann alles zerstören. Was sollen die nackten Wilden denn von den Weißen halten, wenn die nur aufkreuzen, um ihnen was zu klauen? Ich denke da vor allem an unsere lieben Freunde, die Spanier. Das Gemetzel, das sie bei den Inkas und anderen veranstaltet haben, hat das vielleicht was mit Zivilisation zu tun?" „Natürlich nicht." Hasard schüttelte den Kopf. „Überall gibt es schwarze Schafe, auch bei uns in England. Aber wenn man alle Grundwerte dadurch in Frage stellt, daß man sagt,
es gäbe ja doch wieder jemanden, der sie über den Haufen wirft, dann braucht man solche Grundwerte gar nicht erst zu schaffen. Wie lange wird den Menschen schon gepredigt, daß sie nicht töten sollen! Ob und wann sie das jemals beherzigen werden, erleben wir mit Sicherheit nicht mehr." Edwin Carberry antwortete nicht. Er kratzte sich nur am Hinterkopf. Ein Zeichen dafür, daß er nachdenklich geworden war. „Den schwarzen Peter lasse ich mir jedenfalls nicht zuschieben", maulte Old O'Flynn. „Kein Mensch tut das, Donegal", sagte Hasard besänftigend. „So? Was war denn das, was dein Profos eben an Gift gespuckt hat?" „Ach, laß mich doch in Ruhe!" knurrte Ed Carberry mit einer ärgerlichen Handbewegung. Die Männer grinsten verstohlen. Der Profos hatte sich mal wieder selbst ins Gedränge geredet. Wenn er sie an Bord herumscheuchte und dabei die Klappe weit aufriß, tat das keinem besonders weh. Aber in anderen Situationen, das sahen sie jetzt, waren die Töne, die er spuckte, manchmal ein bißchen zuviel des Guten. „Hören wir auf, uns gegenseitig madig zu machen", sagte Hasard energisch. „Ich werde sehen, ob uns Moologu aus seiner Gastfreundschaft entläßt. Es wird natürlich schwierig sein, jetzt den Rückzug anzutreten. Die Arunda werden um so mehr glauben, daß unser sogenannter Zauber nichts getaugt hat." Old O'Flynn meldete sich abermals erregt zu Wort. Es würde noch lange dauern, bis er dieses Geschehen auf sich beruhen lassen konnte. „Natürlich hätte ich ihnen auch was Echtes vorführen können! Ich kenne genügend Einzelheiten, beispielsweise aus den Voodoo-Kulten.
47 Aber so was darf man nicht ungestraft nachahmen. Es stecken übersinnliche Kräfte dahinter, vor denen man nicht mehr sicher wäre. Ihr nehmt das alles viel zu leicht, Leute. Ich sage euch, es gibt Dinge ..." Er wurde unterbrochen, als die Männer schon flehentliche Blicke zum Himmel schickten. Der Alte war auf dem besten Weg, in seine üblichen Gruselgeschichten zu verfallen. Moologu tauchte in dem Moment auf, als Hasard sich anschickte, zum Dorfplatz der Arunda hinüberzugehen. Der alte Mann erklärte dem Seewolf mit hastigen Gesten, daß er ihn zu einem dringenden Palaver bitten müsse. So ließen sie sich unweit des Schutzdaches zu der hierzulande üblichen hockenden Sitzposition nieder. Was Moologu in seiner geschickten Zeichensprache mitzuteilen hatte, klang nicht einmal bedauernd. Hasard erfuhr sehr schnell, weshalb. Die Dorfältesten hatten sich gründlich mit der Frage beschäftigt, ob der Zauber des weißen Medizinmannes nun wirklich etwas getaugt habe oder nicht. Endergebnis war letzten Endes gewesen, daß es nun einmal keinen Regen gegeben habe. Und das, so erklärte Moologu gestenreich, sei schließlich das Entscheidende. Deshalb habe der Ältestenrat beschlossen, den eigenen Medizinmann mit der gewohnten Prozedur des Regenmachens zu beauftragen. Moura war bereits dabei, seine Vorbereitungen zu treffen, und er sollte in Kürze beweisen, daß sein Zauber besser war als der des weißen Medizinmannes. Die Gäste aus dem fernen Land, so Detonte Moologu abschließend, sollten der Zeremonie beiwohnen und mit eigenen Augen sehen, daß sich die Arunda viel besser aufs Regenmachen verstünden als der weiße
Medizinmann. Das war es also. Sie hatten eine seltsame Art von Konkurrenzdenken daraus entwickelt - für den Seewolf eine niederschmetternde Erkenntnis. Doch er unterdrückte aufkeimende Selbstvorwürfe. Es ließ sich nicht leugnen, daß er mit einer unvorhersehbaren Reaktion der Eingeborenen hätte rechnen müssen. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie mußten das grausame Treiben mit ansehen und auch noch so tun, als seien sie beeindruckt. Hasard gab dem Häuptling zu verstehen, daß seine Männer und er selbstverständlich der Einladung folgen würden. Moologu strahlte über die ganze Breite seines Gesichts und zog los. Hasard erklärte seinen Männern, was bevorstand. „Wir können es nicht mehr ändern", fügte er resignierend hinzu. „Also zeigen wir gute Miene zum bösen Spiel. Wir werden interessierte Zuschauer sein und den Medizinmann nach Kräften loben, wenn er seine Schau beendet hat. Das ist alles, was wir jetzt noch tun können." Achselzuckend begaben sich die Männer von der „Isabella" zum Dorf platz. Die jungen Männer des Stammes hatten sich dort bereits in einem dichtgedrängten Halbrund versammelt. Auf dem Boden hockend, wechselten sie nur gedämpfte Worte. Eine bedrückte Stimmung war ihnen anzumerken. Die Dorfältesten saßen auf der anderen Seite des Platzes, und wieder waren die Frauen und Kinder von der Bildfläche verschwunden. Moologu erhob sich freudig, empfing die Seewölfe und wies ihnen einen Ehrenplatz an der Seite des Ältestenrates zu. Kurze Zeit später begann die Zeremonie damit, daß Moura in Erscheinung trat - im wahrsten Sinne des
48 Wortes. Am nördlichen Ende des Dorfes tauchte er plötzlich aus einer Bodensenke auf. Er schien wie aus dem Nichts emporzuwachsen. Äußerlich hatte er sich nicht verändert, es gab keine furchterregende Maskierung, wie bei anderen Naturvölkern üblich. Das einzige, was er bei sich trug, war ein blanker Knochen, der die Länge eines menschlichen Oberschenkels hatte. Bei Mouras Erscheinen herrschte schlagartig Totenstille. Mit gemessenen Schritten näherte er sich dem Feuerplatz. Den Knochen hielt er auf beiden Händen, ähnlich so, wie Old O'Flynn zuvor den Belegnagel herumgetragen hatte. Doch dies hier hatte beileibe nichts Amüsantes. Auch die Seewölfe hielten den Atem an. War es ein Menschenknochen? Waren die Arunda etwa doch Kannibalen, und hatten sie ihnen ein übertrieben rühmliches Bild von sich selbst gezeichnet? Möglich aber auch, daß es sich um einen Knochen von diesen Känguruhs handelte, diesen sonderbaren Beuteltieren, die immerhin auch so groß wie Menschen wurden. Moura lenkte alle Aufmerksamkeit auf sich, als er jenen Punkt erreichte, wo sich sonst das Feuer befand. Auch Hasard und seine Männer konnten sich dem Bann nicht entziehen, den Moura allein durch sein Erscheinen ausstrahlte. Selbst Ed Carberry starrte mit gefurchter Stirn auf den hoch aufgerichtet dastehenden Medizinmann. Hatten sie sich anfangs noch vorgekommen, ein wenig interessiert zu tun und sich sonst über das Ganze erhaben zu fühlen, so war ihnen jetzt klar, daß sie es zu sehr auf die leichte Schulter genommen hatten.
Moura nahm den Knochen in die Rechte, hielt ihn am unteren Ende und ließ ihn langsam sinken. Erst jetzt sahen die Seewölfe, daß das andere Ende des Knochens mit Blut beschmiert war. Ein Büschel dunkler Haare klebte an diesem Blut. Moura murmelte etwas in seiner gutturalen Sprache. Dabei drehte er sich im Kreis und ließ den Knochen, der schräg nach unten auf den Boden deutete, kreisen. Plötzlich schien es, als zöge ihn der Knochen, als gebe es einen unsichtbare Kraft, die den Knochen am blutigen Ende packte und den Medizinmann mit sich zog. Die atemlose Spannung legte sich jetzt geradezu körperlich spürbar über die Versammlung der Menschen. Die langsamen, seltsam zögernd scheinenden Bewegungen und Gesten Mouras hatten etwas unausweichlich Bedrohliches, das indessen nicht von ihm selbst auszugehen schien. Es war wie naturgegeben und unvermeidbar. Hasard spürte es deutlich: Keiner der Australier brachte das, was jetzt geschehen würde, mit der Person des Medizinmanns in Verbindung. Was hier ablief, war für diese einfachen Menschen so selbstverständlich, wie Leben und Sterben natürlich waren. Wie unschlüssig ging Moura vor der Menge der jungen Männer hin und her. Immer noch war es so, als würde er von jener unsichtbaren Kraft gezogen, die den Knochen gepackt hielt. Die dunkelhäutigen Männer starrten ihn wie gebannt an. Regungslos. Niemand wagte, sich auch nur zu rühren. Plötzlich ging ein Ruck durch den Knochen. Mouras Hand schien hochgerissen zu werden, als der Knochen emporflog, die Waagerechte erreichte und nach rechts schwenkte.
49 Dann stieß das blutige Ende des Knochens geradewegs auf einen der jungen Männer zu. Er saß in der zweiten Reihe, und der Schreck ließ ihn zusammenzukken. Deutlich war zu sehen, wie sich sein Gesicht aschgrau färbte. Das blutige Haarbüschel, das am vorderen Ende des Knochens befestigt war, schwebte nahe vor seinem Gesicht. Moura stieß einen Schwall von gutturalen Worten aus. Dann wandte er sich abrupt ab, warf den Knochen achtlos fort und ging zum Rand des Platzes, wo er sich erschöpft zu Boden sinken ließ. Der Medizinmann atmete schwer, wie nach einer ungeheuren körperlichen Anstrengung. Immer noch lastete Stille über dem Dorfplatz. Alle Augen richteten sich jetzt auf den jungen Mann, den die mysteriöse Wahl getroffen hatte. Er beruhigte sich. Sein Gesicht gewann die natürliche Farbe zurück. Unvermittelt stand er mit einem Ruck auf. Er war hochgewachsen, breitschultrig und schmal in den Hüften. Älter als zwanzig Jahre war er mit Sicherheit nicht, vielleicht erst siebzehn oder achtzehn. Er trat aus dem Kreis der Hockenden heraus, ging mit zielsicheren Schritten in die Mitte des Feuerplatzes und drehte sich noch einmal nach allen Seiten um. Dabei bewegten sich seine Lippen, doch was er flüsterte, war nicht zu hören. Niemand sprach. Niemand zeigte einen Ausdruck des Bedauerns, obwohl es doch sicherlich Blutsverwandte des jungen Mannes in den Reihen der Arunda gab. Dann wandte er seinen Blick in jene Richtung, in der der heilige Berg der Eingeborenen düster aus der Savanne ragte. Langsam setzte der junge Arunda einen Fuß vor den anderen. Seine
Augen blieben unverwandt auf das Ziel gerichtet. Hasard hielt es nicht mehr aus. Er sprang auf und wollte sich dem Arunda in den Weg stellen. Dieser blieb stehen, und als er den Seewolf ansah, lag ein seltsames Lächeln in seinen Zügen. Langsam, kaum merklich, schüttelte er den Kopf und schloß dabei die Augen für einen Moment. Als er sie wieder öffnete, blickte er von neuem zu dem Felsenhügel und setzte seinen Weg fort. Der Seewolf atmete tief durch. Er zwang sich, den Mann nicht zu pakken und zu Boden zu schlagen. Denn letzten Endes: was konnte geschehen? Würde sich dieser junge Bursche wirklich selbst töten? Vielleicht verschwand er nur in der Endlosigkeit der Savanne. Auf einmal sah Hasard den Häuptling neben sich. Moologu lächelte und schüttelte gleichfalls den Kopf. Einige flinke Handzeichen folgten, und Hasard verstand sie auf Anhieb. Keine Macht der Welt, so ähnlich wollte Moologu es wohl ausdrücken, konnte den jungen Arunda von seinem Weg zurückhalten. 10. Auf dem schmalen Strandstreifen, der den Regenwald vom Meer trennte, prallten die beiden Jungen plötzlich wie gegen eine unsichtbare Wand, rissen Mund und Augen weit auf und stießen im nächsten Moment Schreie des Entzückens aus. „Himmel, sieht der lustig aus!" „Nein, so etwas, den möchte man am liebsten sofort in die Arme nehmen!" „Richtig niedlich! Und so traurig schaut er drein!" „Vielleicht läßt er sich wirklich in den Arm nehmen!"
50 So ging das noch eine Weile, und Big Old Shane, der bärtige Schmied von Arwenack, war zunächst perplex. Diese beiden kleinen Strolche raubten ihm und allen anderen noch den Verstand, davon war er überzeugt. Erst beknieten sie ihn händeringend, daß er mit ihnen in aller Herrgottsfrühe einen Landgang unternahm, weil es dann noch so schön kühl war und man die Fische springen sehen könne. Dann hatte er zähneknirschend zugestimmt, weil es eine strikte Order des Seewolfes gab, daß seine Söhne unbeaufsichtigte Ausflüge an Land nicht mehr unternehmen durften. Die beiden Lausebengels hätten es glatt fertiggebracht, über das Schanzkleid zu klettern und schwimmend die Landzunge zu erreichen. Die bunten Tiere, die sie bei Tage mit dem Kieker entdeckt hatten, hatten ihr Interesse geradezu übermächtig geweckt. Und in einer solchen überschwenglichen Stimmung waren die Zwillinge unberechenbar. Das hatte die Crew der „Isabella" mehr als einmal erlebt. Wenn sie an die Gefahren zurückdachten, aus denen sie die Söhne des Seewolfs schon herausgepaukt hatten, dann sträubten sich ihnen noch nachträglich die Haare. Jetzt schienen die beiden kleinen Kerle schier den Verstand verloren zu haben, so sehr gerieten sie aus dem Häuschen! Big Old Shane zwang sich, ihren ausgestreckten Armen mit seinem Blick zu folgen. Dann entdeckte er das Objekt ihres Interesses. „Mhm", äußerte er sich brummend, womit er zugab, daß es in der Tat ein sehr drolliges Wesen war, das selbst das Gemüt eines so harten Mannes, wie Big Old Shane einer war, an der weichsten Stelle treffen konnte. Das Tier war hellbraun und hing wie ein Klammeraffe dicht unter der
Krone eines Eukalyptusbaumes. Es rührte sich nicht, blickte nur aus schwarzen Knopfaugen herüber und musterte die Fremdlinge genau so neugierig, wie diese es ihrerseits taten. Zweifellos handelte es sich um einen kleinen Bären. Aber einen von dieser Art hatte Big Old Shane noch nie gesehen. Der kleine Kerl war nicht mehr als zwei Fuß groß, hatte ein wuscheliges hellbraunes Fell, und die Nase war ein dicker schwarzer Punkt in der Mitte seines kugelrunden Gesichts, das von kleinen halbkreisförmigen Ohren gekrönt wurde. „Ob man ihn fangen kann?" fragte Philip junior. „Wenn wir an den Baum heranpirschen, ohne daß er abhaut, bestimmt", versicherte Hasard junior überzeugt. „Dann kann er schließlich nicht runter," „Moment mal", sagte Big Old Shane energisch. Er spürte, daß es Zeit war, einzugreifen. „Kommt nicht in Frage, Jungs. Das Vieh hüpft zum nächsten Baum, und ich sehe euch schon, wie ihr hinter ihm herhetzt und im Dschungel verschwindet. Und dann? Dann können wir wieder mal Himmel und Hölle in Bewegung setzen - nur euretwegen!" Die Jungen wandten sich zu ihm um und schickten flehende Blicke zu ihm hoch. Die beiden Söhne des Seewolfs ähnelten sich äußerlich wie ein Ei dem anderen. Beide waren schlank und schwarzhaarig, hatten scharfgeschnittene Gesichter wie ihr Vater. In ihren Bewegungen waren sie geschmeidig wie Katzen. Mit ihren acht Lebensjahren waren sie prachtvolle Burschen geworden. „Bitte, Shane, sei doch kein Spielverderber!" bettelte Hasard junior. „Wir laufen auch bestimmt nicht weg", fügte Philip junior mit butter-
52 weicher Stimme hinzu. „Hier werden keine Tiere gefangen", sagte der Schmied von Arwenack grimmig, „kommt nicht in Frage!" „Shane, bitte!" flehte Hasard junior. „Wir wollen es doch nur versuchen!" „Und wir machen keine Dummheiten, überhaupt nicht!" versicherte Philip junior. Oben im Baum legte der kleine Knopfaugen-Bär seinen Kopf schief und verfolgte das Geschehen mit wacherem Interesse. „Himmel!" stöhnte Big Old Shane. „Ich sage nein und nochmals nein. Dabei bleibt es, verstanden? Wir haben einen Affen an Bord und einen Papagei. Eine schwimmende Menagerie aufzubauen, hat euer Vater ganz gewiß nicht im Sinn." „Aber wir wollen den Kleinen doch nicht behalten!" rief Hasard junior und deutete zu dem Eukalyptusbaum. „Nur mal anfassen!" erklärte sein Bruder mit zunehmendem Hoffnungsklang in der Stimme. „Nein, verdammt noch mal!" knurrte Big Old Shane, und er spürte beginnende Verzweiflung. Er mußte sich umdrehen, um seine Unsicherheit nicht zu zeigen. Es war immer dasselbe mit diesen kleinen Halunken. Sie redeten so lange, bis einem die Argumente ausblieben. Wenn er jetzt die Autoritätsperson spielte und kurzerhand anordnete, daß sie an Bord zurückkehrten, ja, dann hatten sie indirekt auch gewonnen, weil er nicht mehr weiterwußte. Sein Blick fiel auf das kleine Beiboot, das am Strand lag. Im Grunde war es natürlich das beste, die beiden Strolche hineinzupacken und zurück an Bord zu bringen. Dann konnten sie keinen Schaden mehr anrichten. Drüben, auf der „Isabella", waren sie noch mit dem Frühstück beschäftigt.
Nur die herkulische Gestalt Batutis war zu sehen, der zur Wache an Deck eingeteilt war. Verdammt, und ich kann mich hier mit den kleinen Plagegeistern abgeben, dachte Big Old Shane. Seine Augen wurden starr, just in dem Moment, als er sich schon wieder den Zwillingen zuwenden wollte. Mastspitzen! „Shane, bitte!" flehte Hasard junior abermals. „Ruhe!" herrschte ihn der Schmied von Arwenack ungewollt grob an. Die Mastspitzen tauchten hinter der Landzunge auf. Sie verschmolzen noch fast mit dem trüben Grau des beginnenden Morgens. Big Old Shane stand wie vom Donner gerührt. Auch die Zwillinge wurden still, denn in ihrer Zeit auf der Galeone des Vaters hatten sie gelernt, unliebsame Zusammenhänge schnell zu begreifen. Jetzt wurde der Rumpf des Zweimasters sichtbar. Über Backbordbug segelnd, schob er sich von Osten heran, auf die „Isabella" zu. Nur noch Minuten, bis er beidrehen und ihr die Breitseite zeigen würde. Die Zeit reichte für den Schmied von Arwenack nicht, mit den Söhnen Hasards im Beiboot zurückzupullen. So blieb Big Old Shane nur eins: Er legte die Hände als Trichter vor den Mund und brüllte aus Leibeskräften. „Waaar - schau! Waaar - schau!" Seine Stimme hallte wie rollender Donner über die ruhige Wasserfläche. Im nächsten Moment atmete er auf. An Deck war Batutis Silhouette in Bewegung geraten. Auch der Gambianeger hatte bemerkt, welche Gefahr dort auf die „Isabella" zurauschte. Vielleicht hatte er es schon vor Shanes Warngebrüll gesehen. Es spielte keine Rolle. Der Schmied von Arwenack und die beiden Jungen hielten den Atem
53 an. Der Zweimaster glitt auf die Galeone zu, wie von einem unsichtbaren Tampen gezogen. Big Old Shane wußte nur, daß es sich um die genuesische Karacke handelte, die tags zuvor die Flußmündung verlassen hatte und auf Südkurs gegangen war. Es stand mittlerweile fest, daß Hasards Suche nach der genuesischen Crew erfolgreich gewesen war. Warum der Kapitän des Zweimasters so sang- und klanglos davongesegelt war, hatten die Männer auf der „Isabella" bisher nicht ergründen können. Jetzt aber, in diesem Moment, wurde klar, daß es landeinwärts zwischen Hasard und dem Genueser Unstimmigkeiten gegeben haben mußte. Denn die Karacke lag eindeutig auf Angriffskurs, und noch dazu fiel sie aus dem Hinterhalt über die Galeone des Seewolfs her. An Bord der „Isabella" wurde es lebendig. Befehlsstimmen tönten, und deutlich waren Al Conroys knappe Anweisungen herauszuhören. Big Old Shane lächelte grimmig. Selbst wenn die Zeit knapp war, selbst wenn die „Isabella" nicht ungeschoren davonkam - Al Conroy und die anderen würden den hinterhältigen genuesischen Halunken zeigen, was eine Harke ist. Und es geschah schneller, als erwartet. Die Karacke drehte bei, das Tuch flatterte erschlaffend, und mehr konnten Big Old Shane und die beiden Jungen nicht erkennen, denn die „Isabella" versperrte ihnen die Sicht. Aber es war kaum anzunehmen, daß der Zweimaster stärker armiert war als mit Neun- oder Zwölfpfündern. Geradezu lächerlich, verglichen mit den Siebzehn-Pfündern der Galeone und ihren überlangen Rohren. Negativ wirkte sich wegen des hinterlistigen Überfalls allerdings die kurze
Zeitspanne aus, die den Männern an Bord der „Isabella" blieb, um gefechtsklar zu machen. Aber Al Conroy würde das schon schaukeln, so gut es ging. Und Ben Brighton war der Mann, der ruhig und beherrscht den Überblick behielt, auch in einer Notlage wie dieser. Plötzlich krachte die erste Breitseite der Karacke. Das Orgeln der Kugeln war zu hören. Big Old Shane und die Zwillinge wagten nicht zu atmen. Dann ein vernehmliches Klatschen. Wasserfontänen spritzten bis über die Schanzkleider der „Isabella". Der Schmied von Arwenack und die Jungen brachen in Jubelgeschrei aus. Der Genueser hatte zu früh gefeuert! Und jetzt brauchte er die Zeit zum Nachladen. Batuti hatte sich bereits mit seinem fast mannsgroßen Bogen auf dem Vordeck aufgebaut. Al Conroy hantierte achtern an den Drehbassen, gemeinsam mit Ben Brighton. Sie arbeiteten schnell und geschickt, und wenn Al die erste Drehbasse abgefeuert hatte, konnte Ben schon mit dem Nachladen beginnen. Die anderen Männer, das wußte Big Old Shane, waren bereits am Werk und klarierten wenigstens eine oder zwei der Culverinen. Batuti schickte seine ersten Brandpfeile hinüber. Er feuerte ruhig und regelmäßig, in rascher Folge. An Bord der Karacke bellten Musketenschüsse, aber der Gambianeger ließ sich nicht beirren. Dumpfere Detonationen folgten. Big Old Shane grinste. Sein Patent! Batuti setzte es zum richtigen Zeitpunkt ein. Die Schäfte der Brandpfeile waren hohl und mit Pulverladungen gefüllt. Durch die brennenden Pfeilspitzen wurde das Pulver
54 meist kurz nach dem Einschlag gezündet. Achtern brüllte die erste Drehbasse. Gehacktes Blei rauschte durch die graue Morgenluft, prasselte irgendwo in den Rumpf der Karacke und zwang die Kerle dort drüben vorübergehend in Deckung. Zumindest verstummten ihre Musketenschüsse. Wieder detonierte einer der Brandpfeile. Flammen züngelten hoch, für Big Old Shane jetzt deutlich sichtbar. Al Conroy feuerte die zweite Drehbasse ab. Eine Wolke von Pulverrauch stieg auf. Als Stückmeister der „Isabella" war Al ein Meister seines Fachs, wie man keinen zweiten finden konnte. Ebenso außergewöhnlich waren seine Fähigkeiten im Umgang mit den Waffen, für die er verantwortlich war. Obwohl Big Old Shane es nicht sehen konnte, war er doch sicher, daß Al Conroy auf die Stückpforten der angreifenden Karacke feuerte. Dank Ben Brightons Unterstützung im Nachladen war Al mittlerweile so weit, daß er von einer der beiden Drehbassen zur anderen spazieren konnte und nur noch zu zielen und zu feuern brauchte. Und garantiert flog den Burschen im Geschützdeck der Karacke das gehackte Blei um die Ohren, das ihnen Al durch die Stückpforten pustete. Die Tatsache, daß die zweite Breitseite des Genueser noch immer nicht zu hören war, ließ darauf schließen. Auch Batuti hielt mit seinen explodierenden Brandpfeilen wahrscheinlich auf die Stückpforten. Selbst wenn die Pfeile nur in der Außenbordwand stecken blieben und detonierten, so zwangen sie die Kerle drinnen doch in Deckung. Und das bedeutete wertvollen Zeitgewinn für die Männer, die auf
der „Isabella" an den Culverinen arbeiteten. Während Al Conroys Drehbassen und Batutis Explosionspfeile den Genuesern weiter einheizten, war es plötzlich soweit, noch bevor sie an Bord der Karacke ihre zweite Breitseite abfeuern konnten. Zwei Culverinen der „Isabella" übertönten mit urgewaltigem Donnern den übrigen Gefechtslärm. Daß es zwei Geschütze waren, erkannte Big Old Shane an den Wolken von Pulverrauch, die hinter dem seewärts gerichteten Steuerbordschanzkleid der Galeone aufstiegen. Dann, im Nachhall der Schüsse, war es deutlich zu hören. Bersten und Splittern von Holz. Beide Kugeln mußten getroffen haben. Big Old Shane konnte nicht anders, er sperrte in atemloser Spannung den Mund auf. Wo die Treffer lagen, konnte er allerdings nicht sehen. Zumindest hatte es keinen der beiden Masten der Karacke erwischt. Unablässig brüllten die Drehbassen weiter, und Batuti trug seinen Teil mit den gefährlichen Brandpfeilen dazu bei. Wieder züngelten irgendwo bei dem Genueser Flammen auf. Die Knilche hatten alle Hände voll zu tun, um die entstehenden Brandherde zu löschen. Nur noch vereinzelt bellten bei ihnen Musketenschüsse, die jedoch kaum Schaden anrichten konnten, denn die Entfernung war viel zu groß. Auf der „Isabella" zeigten die Männer an den Culverinen jetzt, wie verteufelt gut sie ihr Handwerk verstanden. Abermals donnerten zwei der Kanonen, und wieder waren die berstenden Einschläge der Kugeln deutlich zu vernehmen. „Die kriegen kein Bein mehr an die Erde mit ihren Kanönchen!" rief Big Old Shane, drehte sich um und hieb Philip vor lauter Begeisterung auf
55 die Schulter, daß der Junge in Knie ging. Hasard junior spähte unterdessen schon wieder zu einem ganz bestimmten Eukalyptusbaum. Wehmut malte sich in sein Gesicht. Der Gefechtslärm hatte den wuscheligen kleinen Bären verscheucht. 11. Schwerbeladen rauschte die Jolle flußabwärt». Die Strömung half, und da der Flußlauf meist günstig verlief, waren nur Wenige Kreuzschläge erforderlich. Hasard und seine Männer hatten den Rest des vergangenen Tages genutzt, die Wässerfässer zu füllen und Känguruhs zu schießen. Vier der menschengroßen Tiere lagen jetzt im Boot und würden an Bord der „Isabella" ausgeweidet werden. Noch in der Nacht waren die Seewölfe aufgebrochen, und so hatten sie schon vor Morgengrauen die Jolle am Flußufer erreicht. Glücklicherweise hatte Marchis Zorn offenbar noch nicht übermäßig geschwelt, als er mit seiner Crew den Fluß erreicht hatte. Denn an dem Beiboot der Galeone waren keine Schäden festzustellen gewesen. Auf welche Weise der Genueser indessen seine Wut auszulassen gedachte, wurde Hasard und den anderen klar, als sie die ersten Schüsse hörten. Deutlich identifizierten sie den Klang der Drehbassen, und dann ging der Feuerzauber richtig los. Es versetzte sie in Alarmstimmung. Der Seewolf gab Order, die Riemen zur Unterstützung zu benutzen, denn noch war die Flußmündung nicht in Sicht. Hasard schätzte, daß sie vielleicht noch eine Meile zurückzulegen hatten. Genau ließ sich das aber nicht sagen. Denn der Regenwald, den sie mittlerweile erreicht hatten,
sah überall gleich aus und bot keine markanten Geländepunkte, die die Orientierung erleichtert hätten. In rasantem Rhythmus peitschten die Riemen das Wasser, und die Jolle lief zunehmend schnellere Fahrt. Die Männer brauchten keine Mahnung zur Eile, denn jedem von ihnen saß das höllisch bedrückende Gefühl im Nacken, womöglich zu spät an Ort und Stelle zu sein. Immer mehr schwoll jetzt der Gefechtslärm an. Ein Zeichen dafür, daß sie der Mündung nahe waren. Ed Carberry konnte nicht länger still bleiben. „Pullt, ihr Kakerlaken!" brüllte er. „Pullt was ihr könnt, oder ich ziehe euch die Haut in Streifen von euren Affenärschen!" Die Männer taten ohnehin ihr bestes, grinsten nur ein wenig und hörten kaum hin. Denn dies war die gewohnte Begleitmusik in ihren Ohren, und sie fühlten sich fast wohl dabei. Carberrys gebrüllte Standardsprüche waren letzten Endes so etwas wie eine anheimelnde Atmosphäre für die Männer aus der Crew der „Isabella". Eine weite Rechtsbiegung des Flusses dehnte sich, endete schließlich, und das Flußbett öffnete sich zum Meer hin. Die Männer stimmten Freudengebrüll an, ohne jedoch beim Pullen innezuhalten. Und dann vereinten sich ihre Stimmen zu jenem donnernden Schlachtruf, der schon den Teufel mitten in der Hölle hatte erzittern lassen. „Ar - we - nack! Ar - we - nack!" Der alte Kampfruf derer von der Feste Arwenack in Cornwall hallte weit über das Meer hinaus, und sicherlich übertönte er den Gefechtslärm und gab den Männern auf der „Isabella" neue Zuversicht - sofern sie in Bedrängnis waren.
56 Die Jolle rauschte an der Stelle vorbei, an der die vier Toten von der „Speranza" begraben lagen. Doch jetzt hatten die Seewölfe keinen Blick dafür. Alles in ihnen fieberte darauf, den in Bedrängnis geratenen Gefährten zu Hilfe zu eilen. Wenn es noch nicht zu spät war. Die Landzunge schien endlos lang. Dann, als sie das Ende des buschbewachsenen Streifens erreicht hatten, den Kurs änderten und das kleine Lateinersegel bargen, fiel die Anspannung von ihnen ab wie ein reifer Apfel vom Baum. Die Lage war so eindeutig klar, daß jegliche Eile von einem Atemzug zum anderen zur Sinnlosigkeit geriet. Die „Speranza" erinnerte buchstäblich an einen geprügelten Hund, der mit eingekniffenem Schwanz davonschlich. Das Krachen der Geschütze verstummte endgültig. Die Männer in der Jolle hoben minutenlang die Riemen aus dem Wasser und ließen das Boot treiben, um dem Genueser nachzublicken. Die Karacke, die mit müder Fahrt seewärts das Weite suchte, bot ein Bild des Jammers. Focksegel und Großmarssegel hingen in verkohlten Fetzen von den Rahen. Das verbliebene Tuch reichte eben aus, um auf Distanz von jenen Männern zu gehen, die Nando Marchi und seiner Crew so höllisch eingeheizt hatten. Überdies krängte der Zweimaster leicht nach Backbord. Ein Zeichen dafür, daß er mindestens einen Treffer unter der Wasserlinie erwischt hatte. Welchen Schaden Ben Brighton, Al Conroy und die anderen sonst noch angerichtet hatten, war nicht festzustellen, weil der Genueser den Seewölfen die Steuerbordseite zeigte. Auf jeden Fall hatten Marchi und seine Leute alle Hände voll zu tun, wenn sie ihren Kahn mit Bordmittel
wieder einigermaßen hinkriegen wollten. Eines war indessen mit Sicherheit erreicht: Bei dem jetzigen Zustand der Karacke konnte Marchi es kein zweites Mal wagen, sich für den vereitelten Beutezug im Land der Arunda rächen zu wollen. Wenn er heil und unbeschadet seine norditalienische Heimat wieder erreichen wollte, mußte er alle Aufmerksamkeit seiner eigenen Misere widmen. Von Bord der „Isabella" ertönte der Schlachtruf als Triumphgebrüll. „Ar - we - nack! Ar - we - nack!" Freudestrahlend stimmten die Männer in der Jolle mit ein, und dann pullten sie mit kraftvollen Schlägen auf die Galeone zu. Als sie auf das Heck zuhielten, sahen sie eins der Beiboote, das vom Strand her der „Isabella" entgegenstrebte. Unübersehbar war die mächtige Statur Big Old Shanes. Die Zwillinge hockten auf der Achterducht, und sie sahen nicht besonders glücklich aus. Hasard atmete auf. Wenigstens hatte es mit seinen beiden Söhnen keine Schwierigkeiten gegeben. Auch das war nicht von der Hand zu weisen gewesen. Denn in ihrem Entdeckungseifer und ihrem Tatendrang waren die beiden Jungen manchmal nicht mehr zu bremsen. Manches Mal hatte auch die gesamte.„Isabella"-Crew nicht ausgereicht, um sie von dem abzuhalten, was sie sich einmal in ihre kleinen Dickschädel gesetzt hatten. Während sie auf die Galeone zuglitten, hob Ed Carberry die Nase und schnupperte in den Wind. „Merkwürdig", brummte er, „kein Pulvergestank mehr. Dabei ist die Luft noch immer so grau." Hasard und die anderen sahen ihn überrascht an. Sie begriffen nicht sofort, was der Profos meinte. Doch dann, als sie sich umsahen, wurde es auch ihnen klar.
57 Ein seltsam trübes Licht lag über dem Küstenstreifen. Seltsam grau und undurchdringlich. Die Zeit des Sonnenaufgangs war längst vorbei. Nur weil sie all ihre Aufmerksamkeit dem Kampfeslärm gewidmet hatten, war ihnen dieser Umstand nicht bewußt geworden. Hasard legte den Kopf in den Nakken und blickte zum Himmel. Grau in Grau. Auch der Wind hatte jetzt nachgelassen. Beklemmende Stille war eingekehrt. Die Riemenblätter tauchten in eine nahezu glatte Wasseroberfläche. „Hol's der Teufel", murmelte Ed Carberry leiser als normal, „da wird doch gleich der Hund in der Pfanne verrückt!" Er konnte sein Unbehagen nicht verbergen, und darin erging es ihm nicht anders als seinen Gefährten. Lediglich Old O'Flynn hatte plötzlich einen wissenden Gesichtsausdruck. Doch er schwieg und wartete innerlich fiebernd auf das Unerklärliche, das in der Luft hing. Als sie an der Steuerbordseite längsseits gingen und über die Jakobsleiter aufenterten, klatschten die ersten großen Tropfen auf die Decksplanken. Den Männern, die aus dem Landesinnern zurückgekehrt waren, lief ein eiskalter Schauer über den Rükken. Ihre Gedanken waren weit von dem Gefecht entfernt, das die kleine Schar der Zurückgebliebenen auf der Galeone meisterhaft bestanden hatte. Bis auf einige Musketenkugeln hatte die „Isabella" keinen Kratzer erhalten. „He, ihr trüben Tassen!" rief Al Conroy, der wie Ben Brighton, Batuti und die anderen noch immer vor Freude strahlte. „Welche Laus ist euch über die Leber gekrochen? Hättet ihr es lieber gesehen, wenn die
lausigen Ratten unser schönes Schiff zu Klump geschossen hätten?"' Die Regentropfen klatschten jetzt in rascherer Folge nieder. Fassungslosigkeit stand in den Mienen von Hasards Männern. „Das verstehst du nicht, Al", wandte sich Old O'Flynn an den Stückmeister. „Die Kerls zweifeln jetzt nämlich alle an ihrem Verstand." Und geradezu genüßlich begann der Alte zu schildern, was sie an Land erlebt hatten. Big Old Shane und die Zwillinge hörten den größten Teil seiner gruseligen Geschichte noch mit, denn sie waren jetzt ebenfalls an Bord geentert. Dann, nachdem sie es gerade noch geschafft hatten, die Beiboote, an Bord zu hieven, zogen sie sich eilends unter Deck zurück. Der Himmel öffnete seine Schleusen zu einem Wolkenbruch von solcher Gewalt, daß es glatt ausgereicht hätte, die Männer über Bord zu spülen. * Hasard war zu seiner Crew ins Mannschaftslogis hinuntergestiegen. Es goß noch immer wie aus Kübeln, und das Prasseln der Regentropfen schien wie ein steter Trommelwirbel durch das ganze Schiff zu dröhnen. Das Gefecht mit dem genuesischen Zweimaster war fast schon in Vergessenheit geraten. Zu stark lastete das unerklärliche Geschehen im Vordergrund aller Gedanken. Auch Ben Brighton und jene, die an Bord zurückgeblieben waren, hatten sich von dem Unbehagen gefangennehmen lassen, das die anderen befallen hatte. Es gab zu viele ungeklärte Fragen. Hasard wußte es, und deshalb wollte er die Männer mit ihren tief-
58 gründigen Überlegungen nicht allein lassen. Für Old Donegal Daniel O'Flynn war es dagegen so etwas wie die Stunde der Wahrheit. Er hockte auf dem Rand seiner Koje, wie die meisten anderen, und eine frivole Art von Triumph erfüllte ihn. Die Zwillinge hatten sich in eine Ecke verdrückt und verfolgten das Gespräch in ergriffenem Schweigen. „Alles Sinnieren hilft nichts", sagte der Seewolf. „Bei dem, was wir im Augenblick wissen, finden wir einfach keine Erklärung." „Was willst du damit sagen?" meldete sich Ferris Tucker. „Gibt es denn eine Möglichkeit, diesen Spuk überhaupt zu erklären?" Old O'Flynn mischte sich zum wiederholten Male ein. „Was Hasard sagen will, sollte man euch endlich in eure begriffsstutzigen Schädel hämmern! Das Wissen der gesamten Menschheit reicht nicht aus, um bestimmte Geschehnisse zu erklären. Es gibt nun mal Dinge .." „... von denen wir uns alle nichts träumen lassen!" fiel die gesamte Crew in seufzendem Chorgesang ein. „Laß dir endlich mal was anderes einfallen, du faltiger Herings-Opa!" brüllte Ed Carberry. Old O'Flynn erbleichte. Zornbebend sprang er auf. „Was war das?" flüsterte er mit zitternder Stimme. „Habe ich eben richtig gehört, du Witzfigur von einem Profos? Was für eine lausige Kakerlake bist du doch, daß du einem alten ehrlichen Mann solchen Dreck an den Kopf wirfst! Dafür wirst du ..." Es sah aus, als würde er jeden Moment das Holzbein abschnallen und damit auf Carberry losgehen, der nichts anderes getan hatte, als seinem Unmut Luft zu verschaffen, und sich dabei wieder einmal im Ton vergriffen hatte.
Aber das konnte der Profos der „Isabella" beim besten Willen nicht einsehen. Er stand von seiner Koje auf und reckte sich in seiner imposanten Größe. „Trau dir nicht zuviel zu, Old Donegal", warnte er grinsend, „sonst könntest du auf deine alten Tage noch die schlimmste Tracht Prügel deines Lebens beziehen." „Jetzt reicht es, Männer!" Hasard ging dazwischen und schob die beiden mit sanfter Gewalt zurück auf ihre Plätze. „Der lausige Kerl hat doch von Tuten und Blasen keine Ahnung!" schnaubte Old O'Flynn beleidigt. „Paß auf, daß ich dir nicht gleich deinen Giftzahn ziehe!" rief Ed Carberry an Hasard vorbei. Der Seewolf sorgte mit einer energischen Handbewegung für endgültige Ruhe. „Alles, was wir erlebt haben", erklärte er, „kann eine Serie von Zufällen sein." „Nie und nimmer!" fuhr Old O'Flynn dazwischen. Hasard bedachte ihn mit einem warnenden Seitenblick, und Old Donegal zog unwillkürlich den Kopf zwischen die Schultern. „Ich habe es mir überlegt", fuhr Hasard fort. „Es ist das Beste, wir verschaffen uns Gewißheit. Die Möglichkeit dazu haben wir. Der Häuptling der Arunda hat mir ein Versprechen gegeben, das ich einlösen werde." Die Männer blickten ihn gespannt an. „Wenn es sich nicht um Zufälle handeln sollte", spann der Seewolf seinen Faden weiter, „dann dreht sich alles um diesen heiligen Berg der Eingeborenen. Moologu hat mir erlaubt, den Berg zu betreten und mich an Ort und Stelle davon zu überzeugen, was geschehen ist. Genau das werde ich tun, und ich brau-
60 che einige Begleiter, die später als Zeugen glaubwürdig sind. Wer vor allem dabei sein muß, ist der Kutscher." . Der Kutscher, der seinen wahren Namen nie genannt hatte, hob überrascht den Kopf. „Weshalb ich?" „Das werde ich dir erklären, wenn es soweit ist. Ich will nicht, daß du auf irgendeine Weise voreingenommen bist. Weiter jetzt: Ben, dich brauche ich dabei. Außerdem Batuti . . ." Ben Brighton nickte nur. Der Gambianeger rollte stolz mit den Augen. „... und Ferris, Al, Dan O'Flynn, Sam, Stenmark, Jeff und Pete." Hasard hatte die Männer bewußt so ausgewählt. Die Hälfte von ihnen war beim ersten Landgang nicht dabeigewesen. Old Donegal Daniel O'Flynn schraubte sich mit gefurchter Stirn von seiner Koje hoch. „He!" Er blinzelte verwirrt. „Und was ist mit mir? Ihr wollt doch nicht etwa ohne mich..." Hasard trat auf ihn zu, lächelte und nickte. „Genau das, Donegal. Du bist nämlich am meisten voreingenommen von uns allen. Deshalb wärst du keinerlei Hilfe für uns. Aber wir werden dir hinterher alles bis ins Kleinste berichten." „Das ist doch! Das ist doch..." Old O'Flynn schnappte nach Luft und fand keine Worte. Sprachlos war er noch, als Hasard und die Männer eine halbe Stunde später die Jolle klarierten und noch einmal ins Landesinnere aufbrachen. * Nebelschwaden lagen in dem Felsspalt, in den sich Nando Marchi und
seine Crew während des Belagerungszustands zurückgezogen hatten. Es hatte noch immer nicht aufgehört zu regnen, und die Oberfläche des Felsenhügels dampfte wie ein heißer Backstein, der mit Wasser besprengt wurde. Hasard und seine Begleiter waren durchnäßt bis auf die Haut. Doch es kümmerte sie nicht. Sie hofften, der Erklärung nahe zu sein, auch wenn es nur ein Teil davon war. Die Eingeborenen hatten ihnen kaum Beachtung geschenkt. Die Arunda gaben sich voll und ganz dem Freudentanz hin, der noch den Rest des Tages andauern sollte. Lediglich Moologu hatte Zeit gefunden, die Männer aus dem fernen England zu begrüßen und auf Hasards Frage noch einmal zu bestätigen, daß sie die Erlaubnis hatten, den heiligen Berg zu betreten. Der Seewolf hatte die Führung übernommen. Die Männer folgten ihm einzeln nacheinander. Der Felsspalt verengte sich immer mehr, und der Boden, der ohne jegliches Geröll war, stieg steil an. Was vor ihnen lag, konnten die Männer nicht erkennen, denn der warme Nebel, der ihre Atemwege belastete, versperrte ihnen die Sicht. Unvermittelt weitete sich der Felsspalt wieder. Immer noch mußten die Männer beträchtliche Steigungen überwinden. Kurze Zeit später standen sie auf einem Plateau von kaum mehr als fünfzig Yards im Quadrat. Die Felsenfläche war von senkrechten Wänden umgeben wie ein Kamin. In etwa zehn Fuß Höhe war der Himmel als geringfügig helleres Rund zu erkennen. Vorsichtig setzte Hasard einen Fuß vor den anderen. Obwohl er zwei, drei Yards weit sehen konnte, wollte er doch nicht einen sich plötzlich
61 auftuenden Abgrund hinunterstürzen. Es gab keinen Abgrund. Statt dessen prallten die Männer erschrocken zurück, als sie jäh die am Boden liegende Gestalt sahen. Es war der junge Arunda, den Moura, der Medizinmann, auserwählt hatte. Der junge Mann lag reglos auf dem Rücken. Hasard beugte sich über ihn. Blicklose Augen starrten zum Himmel empor. Das breite Gesicht des Eingeborenen spiegelte Furcht, noch im Tod. „Kutscher", sagte der Seewolf leise, „komm her." „Aye, aye, Sir." „Ich möchte, daß du ihn untersuchst. Finde heraus, was mit ihm passiert ist. Deshalb bist du hier." „Aber ich bin kein Arzt." „Du verstehst genug davon. Einen besseren Fachmann als dich haben wir nicht." Der Kutscher nickte nur und beugte sich weit über den Toten. In der Tat hatte er während seiner Zeit bei Sir Anthony Freemont, dem Arzt in Plymouth, der ein Freund des Seewolfs war, beträchtliche medizinische Kenntnisse erworben. Deshalb fungierte der Kutscher neben seiner Arbeit in der Kombüse auch als Feldscher auf der „Isabella". Seine Untersuchung dauerte lange. Hasard und die anderen traten zurück, um ihm Ruhe zu gewähren. Schließlich, eine halbe Stunde mochte verstrichen sein, richtete sich der Kutscher auf. Seine Bewegungen wirkten müde, als er sich umdrehte. „Es gibt keine Erklärung", sagte er müde. „Jedenfalls keine, die auf unsere sogenannte Vernunft gegründet wäre. Soweit meine Urteilskraft ausreicht, hat dieser Mann keinerlei Verletzungen erlitten. Mit Sicherheit hat er sich nicht selbst umgebracht.
Er ist einfach gestorben, ohne daß ich einen Grund dafür nennen könnte. Auch eine innere Krankheit ist unwahrscheinlich, denn ich konnte keine Symptome dafür erkennen." Die Männer wechselten schweigende Blicke. Was hier geschehen war, war so rätselhaft wie dieser ganze fremde Kontinent. „Eine Frage, Kutscher", sagte Hasard schließlich. „Hältst du es für möglich, daß dieser junge Mann so sehr unter dem Einfluß der Willenskraft des Medizinmanns gestanden hat, daß er gewissermaßen aus Angst davor gestorben ist?" Der Kutscher zog die Schultern hoch. „Man kann es nicht ausschließen", erwiderte er. „Auf jeden Fall ist es die einzig mögliche Erklärung. Ich werde unsere Beobachtung präzise aufschreiben und in England an Sir Anthony weitergeben. Er kennt Spezialisten seines Berufs, die sich damit auseinandersetzen werden." Philip Hasard Killigrew gab das Kommando zum Rückmarsch. Es war sinnlos geworden, nach Rückschlüssen zu forschen. Was sie in diesem Land erlebt hatten, verdrängten sie besser aus ihren Gedanken. Die Männer von der „Isabella" konnten nicht im entferntesten ah-
62 nen, daß jene vielfältigen mystischen Erscheinungen bei den Naturvölkern Australiens auch in späteren Jahrhunderten ohne Erklärung blei-
ben würden - auch in Zeiten, in denen sich die Menschheit und ihre Wissenschaft über alles, aber auch alles aufgeklärt glaubte ...
Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 209
Im Land der Geysire von Roy Palmer Niemals hätten die Maoris, die ein ausgesprochen kriegerisches Volk waren, den „weißen Teufeln" so viel Mut zugetraut. Sie waren erstaunt und entsetzt darüber, mit welcher Tapferkeit die Handvoll Männer sich gegen sie zur Wehr setzte. Sie wußten nicht, daß sie sich mit den Seewölfen angelegt hatten - die eigentlich gar nicht die Absicht hatten, gegen die tätowierten Gegner zu kämpfen. Und doch wurden sie dazu gezwungen, wenn sie nicht massakriert werden wollten. Aber sie benutzten nicht ihre überlegenen „Feuerrohre", sondern gingen mit ihren Fäusten, mit Belegnägeln und Spaken auf den Gegner los . . .
Die seemännische Sprache von A-Z Seekiste
Seekrankheit
Seekreuzer
zur Zeit der alten Segelschiffe ein truhenähnlicher Behälter, der das persönliche Eigentum des Seemanns enthielt und in der Regel früher auch dann als Sitzmöbel diente. Wie auch die alten Truhen war die Seekiste an den beiden Schmalseiten mit Handgriffen aus Schmiedeeisen oder festem Takelwerk - teilweise künstlerisch gestaltet - versehen, sie war natürlich abschließbar, enthielt kastenähnliche Seitenfächer mit Deckel und wies häufig auf der Innenseite des Oberdeckels den Namen des Seemanns, ein Schiffsporträt oder Seefahrermotive auf. Die Seekiste wurde später vom Seesack (siehe dem) abgelöst. infolge der Schiffsbewegungen auftretende Störungen der Gleichgewichtsorgane des Menschen, die Übelkeit, Schwindelgefühle, Brechreiz, Schweißausbrüche, Erbrechen und bei längerer. Dauer auch Apathie hervorrufen. Einige Menschen sind davon völlig frei, andere werden bereits beim Anblick bewegten Wassers oder den ersten Schaukelbewegungen davon betroffen. Schlechte, miefige Luft, Untätigkeit und auch Angst verstärken die Neigung zur Seekrankheit. Der Handel bietet eine Unzahl von Medikamenten gegen die Seekrankheit an, die dem einen helfen, dem anderen aber nicht. Am besten schützt man sich gegen Seekrankheit durch gute Kondition, trockene Kleidung, warme Füße, frische Luft und einen gefüllten Magen, wobei letzteres auch wiederum schiefgehen kann. Beschäftigung ist ein probates Mittel. Auf einem stampfenden und schlingernden Schiff wird man schneller seekrank als auf einem ruhig sich bewegenden Schiff. Werden die Schiffsbewegungen für alle Besatzungsmitglieder zu heftig, dann ist es - sofern möglich - vernünftiger, einen anderen, ruhigeren Kurs zu wählen. Durch Gewöhnung an die Schiffsbewegungen tritt allgemein aber eine Immunität ein. Sammelbegriff für eine seegehende Kreuzeryacht (siehe Kreuzer 1.) in Unterscheidung zum Küstenkreuzer, Jollenkreuzer, Schärenkreuzer usw. Der Seekreuzer muß so gebaut und ausgerüstet sein, daß er uneingeschränkt seetüchtig, das heißt, für das offene Meer geeignet ist.
Seele
Seeleichter Seelenverkäufer
Seelotse
Seemann Seemannsamt
Seemannschaft
früher auch Herz genannt, bei vierschäftigem Tauwerk (aus vier Kardeelen, siehe dem, bestehend) ein in der Mitte befindlicher dünnerer Faserstrang, der durch die ganze Länge des Taus führt und den Leerraum ausfüllt. Beim Drahttauwerk ist die Seele meist aus Hanf und stark gefettet, um den Draht geschmeidig zu halten und ihn außerdem zu konservieren. Unter starker Zugbeanspruchung pressen die Drahtkardeele das Fett aus der Seele, das sich auf diese Weise in den Draht verteilt und ihn konserviert. ein im Gegensatz zum Hafenleichter auf See verwendbarer Leichter. 1. Matrosenmakler, und zwar in diesem Fall ein gewissenloser Heuerbaas (siehe dem), der dem Seemann einen Job auf einem üblen Schiff vermittelt oder dafür sorgt, daß er gepreßt wird. 2. im Englischen „coffin ships" - Schiffssärge oder schwimmende Särge genannte Schiffe, die total verrottet, überladen oder stabilitätsgefährdet waren und im 19. Jahrhundert dennoch ausliefen, um die Versicherungssumme zu kassieren, wenn sie untergingen. Ein solches Schiff nannte der Seemann auch Totenschiff. im Gegensatz zum Fluß-, Kanal- oder Hafenlotsen ein Lotse, der vor einer Küste oder im Seegebiet vor einer Flußmündung Dienst tut. Sammelbezeichnung für jemanden, der beruflich in der Schiffahrt über Deck tätig ist. Behörde der Landesregierungen, die für Musterung, Fürsorge, Versicherungs- und Rentenfragen, Überwachung der Richtlinien für die Schiffsbesetzungsordnung usw. zuständig ist. Im Ausland übernehmen die diplomatischen und konsularischen Vertretungen der Bundesrepublik die Funktion des Seemannsamtes. Sammelbegriff für die praktischen und theoretischen Kenntnisse und Fertigkeiten des Seemanns, die zur Handhabung und Führung eines Schiffes in den verschiedenen Bereichen wie Decksarbeiten, Navigation, Wetterkunde, Schiffstechnik usw. erforderlich und notwendig sind. Gute Seemannschaft ist neben dem Erlernbaren aber auch eine Sache der Erfahrung und des Instinkts.