Ursula Meier-Nobs
Der Sakralfleck
Roman • Zytglogge
Alle Rechte vorbehalten Copyright by Zytglogge Verlag Oberhofen, 2007 Lektorat • Brigitte Feuz Vorsatzbild aus ‹Kühles Grasland Mongolei› von Walter Bosshard. Büchergilde Gutenberg Zürich 1950 Nachsatzbild Grundriss der Stadt Luzern 1801. Luzern, bei Xav. Meyer, graviert bei J. J. Scheurmann Gestaltung/Satz Roland E. Maire, Zytglogge Verla Druck • Ebner & Spiegel, Ulm ISBN • 978-3-7296-0744-6 Zytglogge Verlag • Schoren 7 • CH-3653 Oberhofen am Thunersee
[email protected] • www.zytglogge.ch
Der dunkle Fleck über dem Kreuzbein unserer beiden Kinder und unseres Enkels, Sakralfleck genannt, hat den Grundstein zu meinem dritten Roman gelegt. Ich begann nachzuforschen und entdeckte dabei das Erbe der Völker Dschingis Khans. In den Familien, deren Säuglinge dieses Mal aufweisen, fliesst Mongolenblut. Die Geschichte handelt vom Leben zweier Menschen, Julia und Bator, deren Schicksalsfäden sich kurz verknüpfen und dann in entgegengesetzten Richtungen weiterfliessen. Sie beginnt in der Mongolei im Jahre 1769 und endet Anfang des letzten Jahrhunderts. Wie immer lasse ich meine Personen aus ihrer Sicht sprechen. Bators Bericht, angefangen bei seiner Geburt, zeigt sein Leben im Grasland der Mongolei. Bator erzählt von seiner Liebe zu Telema, seinem Rivalen Dscherlik, seiner Verbannung in ein buddhistisches Kloster, von Telemas Schläue, seiner Heirat mit der Auserwählten und dem grossen, vernichtenden Schneefall. Die Leser/Innen begleiten ihn weiter auf dem Feldzug unter Suworow nach Mailand und über die Alpen in die Schweiz und kehren mit ihm zurück in die Mongolei. Julia, unerwünscht geboren, wird als Säugling über den Gotthard nach Mailand abgeschoben und wächst zuerst bei einer Pflegefamilie, dann im dortigen Findelhaus auf. Als junges Mädchen begegnet sie Bator. Julia erzählt von der Ausgrenzung, die ihre Schwangerschaft nach sich zieht, bis der Onkel aus der Schweiz erscheint, um sie – eines Erbes wegen – heimzuholen. Sie schildert, wie sie sich durchsetzt und ihrem Sohn und sich den Stand verschafft, der ihnen zusteht. Authentisch sind die Erinnerungen der Mutter Oberin Walburga Mohr aus dem Kloster St. Josef in Muotathal
an General Suworow. Berührend ebenso die Aussage der elfjährigen Cousine Anna, die ihre Eindrücke vom Eindringen des ‹Hurenkindes› in ihre Kreise schildert. Ausser Mutter Walburga, Suworow und seinen Generälen sind alle Figuren erfunden. Ursula Meier-Nobs
Mein herzlichster Dank geht an den Ehrwürdigen Gonsar Tulku Rinpoche für das ausführliche Gespräch über den Buddhismus und die Tempelstadt Urga Gähler Walter für die vielen interessanten Unterlagen zu Suworow und seiner Zeit Galimberti Paolo für die Möglichkeit zum Kopieren alter Dokumente Locatelli Nicola für die Vermittlung der Adressen und Kontakte in Mailand Looser Gaudenz, dessen Buch ‹Suworows Weg durch die Schweiz› mir eine grosse Hilfe war Lüthi Barbara und Münch Christian für die aus dem Russischen übersetzten Seiten aus dem Tagebuch des Jewgeni Fuks Mutter Oberin Monika Gwerder für das wertvolle Gespräch über Suworow im Kloster St. Josef in Muotathal Roesch Margrita für ihre Hilfe zur Aussprache mongolischer Wörter Tartari Claudio für das informative, persönliche Gespräch und die geduldig beantworteten, unzähligen E-Mails zu Fragen der Pia Casa Tolfo Maria Grazia Adressenvermittlung
für
Informationen
und
Ebenfalls danken möchte ich meiner Lektorin Brigitte Feuz für die gute Zusammenarbeit meiner Tochter Jacqueline fürs Erstlesen und die aufbauende Kritik und meinem Mann Dieter für die Organisation meiner Reisen und seine nie erlahmende Hilfe am Computer
Bator
Mongolei 1840 Jetzt, wo sich meine Tage dem Ende zuneigen, wo ich alt bin und gebrechlich, wo ich zu nichts mehr nütze bin, als vor meiner Jurte in der Sonne zu sitzen oder meine steifen Knochen am Feuer zu erwärmen, wo meine einzige Freude darin besteht, Airag zu schlürfen und Tabak zu schnupfen, jetzt ist die Zeit gekommen, um mich der Bilder meines Lebens zu erinnern, sie aufzuschreiben und festzuhalten. Ich tue dies nicht, um mich meiner Taten zu rühmen, denn vieles, was ich getan habe, ist sich dessen nicht wert und ich tue es auch nicht, um die Geister milde zu stimmen, denn deren bin ich mir nicht mehr sicher. Zu viel habe ich verloren und zu viel gelitten, um je wieder ihrer Hilfe zu vertrauen. Nein, ich tue dies alleine um meiner und meines Seelenfriedens willen und jetzt, da ich bald ins Salz gehen werde, scheint es mir gegeben, dieserart Rechenschaft über mein Dasein abzulegen.
Es war im Jahre 1773, da wurde ich, Bator, geboren, in einer Landschaft ohne Anfang und ohne Ende, wo Himmel und Erde sich berühren in unermesslicher Weite. Und es war der erste Tag des Naadamfestes. Noch am Vormittag hatte Mutter die Ziege ausgenommen, so kunstvoll, wie es nötig war, um sie mit erhitzten Steinen im eigenen Fell garen zu können. Dann hatten plötzlich und vor der berechneten Zeit die Wehen eingesetzt und sie fürchtete sich sehr, denn sie war ganz allein. Alle, auch die Verwandten,
waren auf dem Festplatz, um dem Zweikampf meines Vaters Arasch, der ein berühmter Ringer war, beizuwohnen, und so vernahm niemand ihr Stöhnen. Doch da wollte es das Geschick, dass ein Dsairang, der von weither kam, unsere Jurte auf seiner Trommel überflog, ein grosser Böö, der alle dreizehn Weihen erhalten hatte, und als er die Frau in ihren Kindsnöten hörte, liess er sich hernieder, stieg ab, trat bei uns ein und sagte zu ihr: «Fürchte dich nicht, du wirst einen schönen Sohn gebären, er wird gross und stark werden und dir viel Freude bereiten.» Dann stand er ihr bei, und als es so weit war, trennte er mich mit einem Schnitt von ihr, nahm mich in die Arme und trat vor die Jurte, hob mich hoch, noch blutbeschmiert, zeigte mich in allen vier Himmelsrichtungen den Jösöntschin und den Lus, dem Sawdag und dem Süld und empfahl mich ihnen. Und bevor er mich meiner Mutter wieder in die Arme legte, drehte er mich auf den Bauch, betrachtete meinen Rücken, fuhr mit dem Finger dem Umriss des halbrunden, zart blauschwarz gefärbten Zeichens über meinem Kreuzbein nach und lächelte. «Es ist gut, Frau, er hat den Fleck, was nicht selbstverständlich ist bei deinem Aussehen und deiner Herkunft, denn du bist ganz offensichtlich keine Mongolin.» Damit verliess er unsere Jurte, schwang sichauf seine Trommel und flog davon.
So hatte es mir meine Mutter Ssam erzählt, als ich grösser war und genug Verstand besass, um das Glück zu ermessen, von einem Dsairang in dieser Welt in Empfang genommen worden zu sein, und meine Grossmutter unterliess nie beizufügen, dass sie bei ihrer Heimkehr über dem Dachreifen unseres Gers ein weisses Licht gesehen habe.
Ich war der Nächstgeborene von Zwillingssöhnen, die meine Mutter ein Jahr zuvor ebenfalls zu früh zur Welt gebracht hatte und die sich zum Kummer meiner Eltern gleich wieder zurück ins Schattenreich begaben, woher sie gekommen waren. Anfangs fürchteten sie auch um mein Leben, obschon sie genau wussten, dass sich die Seelen verstorbener Zwillinge im Nächstgeborenen vereinten. Deshalb waren ihre Sorgen unbegründet, denn zweifach besass ich die Kraft meiner Brüder und gedieh prächtig. Ich war ein ungebärdiges Kind, dachte mir immer neue, aufregende Dinge aus, und deswegen bezweifelte ich die Aussage des grossen Mannes, dass ich meiner Mutter viel Freude bereiten würde. Den Umständen meiner Geburt wohl hatte ich es zu verdanken, dass meine Erziehung weniger streng gehandhabt wurde und man mir mehr nachsah als anderen Jungen meines Alters. Dankbar war ich dafür nicht besonders, nutzte ich doch die so gewonnene Freiheit schamlos aus, um allezeit Dummheiten auszuhecken. Ich schmückte die Hörner der Yaks mit ausgebleichten Menschenschädeln, die ich beim Herumstreifen fand, spuckte, wenn die Frauen beim Melken eine Pause machten, heimlich in die frische Milch und verursachte, als ich Owoo-Weihe spielte, einen Steppenbrand. Einmal legte ich hinterlistig Brennnesseln vor die Schwellen der Nachbarjurten und freute mich über das Geschrei meiner Vettern, die ahnungslos nackten Fusses hineintraten. Dies und noch manch anderes verzieh man mir, kopfschüttelnd und seufzend zwar, denn jedermann wusste, dass ich nicht anders konnte, da ich die Fehler und Tugenden zweier Wesen in mir trug.
Mit drei Jahren hatte mich mein Vater in den Sattel gesetzt, mit fünf Jahren auf mein erstes eigenes Pferd und brachte mir nach und nach bei, was ich darüber wissen musste. Ich liebte es, über das Grasland zu reiten, den Wind im Gesicht, trieb mein Reittier an bis zum Äussersten, brachte es einmal gar an den Rand der Erschöpfung. Doch als ich bei solchem Tun ertappt wurde, zog ich den Unwillen meiner Familie auf mich. Es war eines der wenigen Male, da mein Vater streng und mit Nachdruck mit mir sprach und meine Mutter und die Grosseltern mich drei Tage lang mit Verachtung straften; denn ein Mongole behandelt seine ihm anvertrauten Tiere niemals anders als mit Liebe und Zuneigung und achtet auf ihr Wohlbefinden. Am Ende dieser drei Tage nahm mich mein Vater mit in die Steppe, um den Ahnen Stutenmilch und Hammelfleisch zu opfern, meine Sünde zu sühnen und Vergebung für mich zu erflehen. Dieses Ritual machte mir grossen Eindruck; ich fühlte meine Vorfahren im Knistern des Feuers, im Rauschen der Lüfte, im Rascheln des Steppengrases und war erfüllt von einer Scheu, die keine Ähnlichkeit hatte mit der Angst vor der Finsternis oder dem Heulen der Wölfe in der Nacht, einer achtungsvollen Scheu vor etwas Grossem und Erhabenem, die bis in den innersten Kern meines Kinderherzens drang. Bei unserer Rückkehr empfing mich Mutter mit einem Lächeln, meine Grosseltern nickten mir freundlich zu, im Topf über dem Feuer garte der Rest des Hammels, und ich fühlte, dass mir vergeben worden war. In der Nacht schmiegte ich mich an meine Mutter und griff nach ihren Brüsten, und obwohl sie keine Milch mehr hatte, liess sie mich gewähren, barg mich in ihren Armen und wiegte mich liebevoll wie als Säugling in den Schlaf.
Mutter war keine Mongolin. Als Einzige der mir bekannten Frauen trug sie ein Amulett aus goldfarbenem Bernstein. Sie stammte aus der Gegend des Baikalsees, hatte runde Augen und eine helle Haut; ihre Muttersprache war Russisch, und deshalb klangen ihre Worte anders als die meines Vaters und der Menschen um mich herum. Sie verlor nie die Ausdrucksweise ihrer Herkunft, vielleicht deshalb, weil sie erst im späteren Kindesalter von einer mongolischen Familie adoptiert worden war. Seit jeher hatte sie mir Lieder aus ihrer Heimat vorgesungen, sprach mit mir in ihrer Sprache, wenn wir alleine waren, und ich nahm die Worte auf und behielt sie sorgfältig im Gedächtnis.
Zu unserem Familienverband gehörten noch drei weitere Gers, diejenigen der Brüder meines Vaters und ihren Angehörigen. Ich hatte also drei Onkel und Tanten, fünf Vettern, von denen zwei schon fast erwachsen waren, und drei Basen. Meine Grosseltern lebten bei uns, denn da ich das einzige Kind war, hatten wir am meisten Platz in der Jurte. Ein vierter Onkel lebte im tageweit entfernten Kloster Urga oberhalb der Hauptstadt Ich Churee Chot. Von diesem Mann, der schon als Kind nichts anderes gewollt hatte, als Mönch zu werden, wurde stets mit grosser Ehrfurcht gesprochen. Für uns Kinder nahm der unbekannte Verwandte dadurch die Gestalt eines beinahe heiligen Menschen an, dem nachzueifern uns nach begangenen Dummheiten oft nahegelegt wurde.
Und da war noch Telema! Telema mit den schönen Augen und dem sanften Blick einer Kamelstute. Seit jeher fühlte ich mich zu diesem scheuen Mädchen hingezogen, das nur wenig jünger war als ich und mit seinem honigfarbenen Haar so anders war
als wir alle. Ihre Eltern waren an einem heimtückischen Fieber gestorben und mein Onkel Marin nahm die Kleine bei sich auf. So war es Sitte bei uns Mongolen, denn was wäre sonst aus so einem armen Wurm geworden? Wir hatten viele Ziegen, Schafe, Pferde, Yaks und sechs Zugochsen, besassen also einige hundert Bodos, galten als wohlhabend, und da mein Vater ein berühmter Ringkämpfer war, lag über unserer Sippe der Glanz der Ehre.
An Arbeit fehlte es uns nicht. Die Pflege und Hut der Tiere war Männersache, und das führte uns oft weit hinaus in die Steppe. So sassen wir viele Male tagelang im Sattel, bei Sonnenschein, Wind und Unwetter, und das machte uns nichts aus, ja, wir assen und schliefen sogar auf dem Rücken unseres Pferdes, denn wir waren verbunden mit ihm, waren eine Einheit, ein Ganzes. Wie ich dieses Leben liebte! Die kraftvollen Bewegungen meines Braunen unter mir, der Wind in meinem Gesicht, der Geruch der Erde, durchmischt mit dem Dunst der Tiere, mal frühlingsduftend, mal sonnenwarm, mal regennass – das war Freiheit! Eine Freiheit, die das Herz kräftig schlagen liess, das Blut warm durch die Adern jagte, mich durchdrang mit einem Glücksgefühl, das mich laut schreien liess. Und wenn im Sommer alles übersät war mit blauem Iris, so weit das Auge reichte, die Sonne gleissend sich erhob aus dem Grasland oder blutrot darin versank und vom Nachthimmel der Mond sein fahles Licht vergoss, dann war ich erfüllt von einer tiefen Freude und Dankbarkeit, ein Sohn dieses wundervollen Landes, ein Sohn der Steppe zu sein. War das Wetter schlecht, jagten die Wolken wie wild gewordene Himmelsherden über uns hinweg, peitschte der Regen und pfiff der Wind in den ausgebleichten Schädeln
verendeter Tiere sein gespenstisches Lied, dann scharten wir uns zusammen, erzählten uns Geschichten und Legenden, und bald hörten wir die Tritte unserer Schutzbefohlenen, die sich fürchteten in einer solchen Nacht und unsere Nähe suchten. Am nächsten Tag mussten wir uns dann um die Wasserlöcher kümmern, denn das Unwetter beschädigte oft die Steinwälle, die wir um die Öffnung gebaut hatten. Als ein Geschenk der Ahnen reichten solche Löcher tief in die Erde hinab, schenkten klares Wasser zum Trinken für Mensch und Tier. Sie sicherten das Überleben, denn ohne ihr Vorhandensein hätte es weder Herden noch Reichtum noch uns gegeben.
Manchmal befanden wir uns aber in Gebieten, die durchzogen waren von Bächen, die sich in vielen Windungen durch das Grasland schlängelten und da und dort spiegelglatte Tümpel und Seelein bildeten. Dann schlugen wir unser Lager in ihrer Nähe auf, so, dass sie bequem zu erreichen waren und doch weit genug entfernt, um nicht zu sehr unter den Mücken zu leiden. Wir schöpften daraus das Wasser zu unserer Erfrischung und wir Kinder tränkten die uns anvertrauten Schafe, die nicht mit der grossen Herde auf die weiter entfernten Weiden ziehen konnten. Das waren meist kranke oder schwache Jungtiere oder Muttertiere kurz vor dem Werfen. Diese hielt man mit Vorteil im Auge; es kam immer wieder vor, dass ein frisch geworfenes Lamm die Beute eines Raubtieres wurde. An einem solchen Tümpel war es, als Telema und ich das weisse Murmeltier sahen. Den ganzen Tag schon hatten wir unsere Schafe gehütet, denn in der Nacht zuvor hatte mein Onkel Wölfe gesichtet.
«Sie haben Junge und sind auf Nahrungssuche, da verlieren sie die Scheu vor uns Menschen. Haltet also die Augen offen», sagte er und deutete auf meine Peitsche. «Brenn ihm eins über den Pelz, wenn einer zu nahe herankommt – und schreit, so laut ihr könnt. Vetter Pantje ist in eurer Nähe, er wird euch hören.» Es war noch nicht lange her, dass ich die Kunst des Knallens beherrschte, und ich war mächtig stolz auf meinen Auftrag. Wichtigtuerisch stellte ich mich vor Telema auf, liess die Gerte sausen, freute mich an dem scharfen Geräusch, das ich zustande brachte, und bemerkte mit Genugtuung, dass sie genauso beeindruckt war, wie ich es erhofft hatte. «Lässt du mich auch mal?» Ich schüttelte den Kopf. «Mädchen können das nicht!» «Mädchen können das wohl.» «Das ist Männersache.» «Du bist kein Mann!» «Aber ich werde einer sein.» «Das dauert noch lange, du bist erst acht.» «Und du erst sieben!» «Ich will es trotzdem versuchen, gib sie mir!» «Nein!» Da griff sie mich an, flink wie ein kleines Wiesel, versuchte, mir die Peitsche zu entwenden, hängte sich mit ihrem ganzen Gewicht an mich, riss mich nieder und zusammen kugelten wir durch das Gras und über den lehmigen Boden zum Rand des Tümpels. Erst als die Feuchtigkeit unsere Kleider durchdrang, hörten wir damit auf. Die Peitsche lag irgendwo und war auf einmal nicht mehr wichtig, wir sahen uns an und sie kicherte. «Dein Gesicht ist ganz schmutzig.» «Deines auch!»
Fast gleichzeitig beugten wir uns über das Wasser, in dem sich weisse Wolkenbällchen spiegelten, erblickten darin uns selbst, und Telema hielt erschrocken die Hand vor die Augen. «Es bringt Unglück, sich anzusehen. Tante Düüdej hat gesagt, dass die Seele verloren geht, wenn man sich selbst betrachtet.» «Nur, wenn du es in einem Spiegel tust; das hier ist kein Spiegel!» «Aber das Spiegelbild ist ein Abbild des Seelenschattens und der nutzt sich ab, jedes Mal ein wenig mehr, bis nichts mehr davon übrig bleibt – und zuletzt verschwindet der ganze Mensch.» «So sagt man; aber Tante Düüdej sieht oft in ihren Spiegel und sie ist noch ganz.» «Du bist wirklich ein Hündchen. Tante Düüdej ist Schamanin, ihr tut das nichts.» «Ich habe mich viele Male im Wasser angesehen – bin ich deshalb dünner geworden, oder blasser, oder bin ich vielleicht gar nicht mehr da?» Sie lachte und stiess mich in die Seite, aber in ihren Augen las ich Unsicherheit. «Trotzdem – in einen Spiegel würde ich nie schauen!» «Das brauchst du ja nicht. Hier geht es ebenso gut. Sieh!» Wieder beugten wir uns über den Rand des Tümpels, Kopf an Kopf, und diesmal verdeckte Telema ihre Augen nicht. Lang ausgestreckt lagen wir auf der feuchten Erde, ich hatte den Arm um sie gelegt, gleichsam wie um sie davor zu bewahren, hinuntergezogen zu werden zu diesen Gesichtern, die uns entgegensahen aus der Tiefe des grünlichen Wassers, uns anschauten mit einer Eindringlichkeit, die uns unbeweglich machte und uns festhielt, eine lange Zeit. Wir versanken in ihnen, in uns selbst, die Züge des Mädchens neben mir waren schön, ihr Mund und ihre Nase klein und rund, ihre Augen
sanft, ihr helles Haar glänzend wie Mutters Bernstein, die Brauen zart geschwungen – sie lächelte und ihre Zähne schimmerten wie weisse Kiesel. «Du hast abstehende Ohren.» Der Bann war gebrochen! Mit einem Schlag meiner flachen Hand zerstörte ich die Bilder, und sie lösten sich auf in viele tanzende Stücke. «Vielleicht ist es doch nicht so gut, sich anzuschauen», lenkte ich ab, denn sie hatte meine empfindliche Stelle getroffen. Ich wusste, dass ich abstehende Ohren hatte, dass meine Nase schmal war, und meine Augen machten mir Angst, denn sie waren runder als die der andern und blickten – nein, nicht böse, aber irgendwie zornig und wild. Sie gefielen mir nicht, mein ganzes Gesicht gefiel mir nicht, es passte irgendwie nicht zu dem, was ich in meiner Seele fühlte. Mürrisch erhob ich mich, wischte die Erdkrümel von meinem weinroten Deel, suchte die Peitsche und knallte einige Male kräftig in die Luft. Dies stellte die Ordnung meiner Welt wieder her. Ich fühlte mich gleich besser, tat aber noch eine Weile beleidigt, das war ich meiner Selbstachtung schuldig. Telema kam mir nach. «Ich mag dich trotzdem», sagte sie und lächelte. Das war Balsam auf meine wunde Seele. «Ist das wahr?» «Ja, am meisten von allen.» «Ich mag dich auch.» «Mehr als deine Peitsche?» Ich zögerte kurz. «Ja, mehr als meine Peitsche.» «Dann gib sie mir und lass es mich versuchen!» Sie hatte mich überlistet, ich gab mich also – der Not gehorchend – grosszügig, zeigte ihr, worauf sie achten musste, und freute mich, dass sie sich recht ungeschickt anstellte und keinen Erfolg hatte.
Da begannen unsere Tiere auf einmal zu blöken, sprangen hoch, wichen zurück und verhielten sich, wie Schafe es tun, wenn die Gleichmässigkeit ihres Tages durch irgendetwas Ungewohntes gestört wird. Die beiden Hunde standen starr, die Ohren gespitzt und blickten wachsam ans untere Ende des Wassers. «Wölfe!», rief Telema und begann zu schreien, ich schwang die Peitsche, rief die Hunde, versuchte, die Herde zusammenzutreiben, fand aber den Grund ihrer Unruhe nicht, bemerkte keine bedrohende Bewegung in der Umgebung, sah nirgends auch nur die Schwanzspitze eines Wolfes. Das war unheimlich, umso mehr, als plötzlich eine Windböe heranfegte, die die Gräser niederdrückte und das Wasser im See, das vorhin so still dagelegen hatte, aufspritzen liess. Ich dachte an Geister, die uns foppen wollten, begann auch zu schreien, denn die Schafe benahmen sich weiterhin seltsam und die Ungewissheit ängstigte mich. Da sprengte auch schon Vetter Pantje auf seinem Grauen heran, schrie ebenfalls aus Leibeskräften und schwang über seinem Kopf die Peitsche, bereit, die uns anvertrauten Tiere gegen alles Böse zu verteidigen. Dann zügelte er das Pferd und sah sich suchend um. «Wo ist er?» «Ich weiss nicht, ich hab nichts gesehen!» «Weshalb macht ihr dann einen solchen Lärm?» «Sieh dir doch die Schafe an; da stimmt etwas nicht!» Diese standen nun in einem engen Knäuel beisammen, stiessen sich und blökten, und wir versuchten noch immer, den Grund des Aufruhrs zu erkennen. «Da, seht doch! Was ist das?» Telema zeigte auf ein grauweisses Etwas, das sich – völlig unbeeindruckt vom Getümmel ringsherum – gemächlich und irgendwie hopsend vom Rand des Wassers wegbewegte, so, als trüge es eine schwere Last.
«Ooch», machte mein Vetter, «ein weisses Murmeltier hat die Herde aufgescheucht!» Das seltsame Knäuel auf vier Beinchen sah nicht aus wie die Murmeltiere, die wir jagten, wenn wir nahe der Berge waren. Nichts sah man vom dunklen, weichen Fell, kaum die Augen konnte man erspähen, es war über und über von einer weisslich-grauen Schicht umgeben, wie wir Kinder es noch nie gesehen hatten. «Hier in der Ebene gibt es keine Murmeltiere», sagte ich und Pantje nickte. «Es kommt von dort drüben, wo die Berge sind, es holt Erdsalz für seine Sippe.» «Erdsalz?» «Kennt ihr die Geschichte nicht, die man sich über die Entstehung der Murmeltiere berichtet?» «Erzählst du sie uns?» «Nun ja, da jetzt kein Wolf in Sicht ist, haben wir Zeit. Setzt euch hier ins trockene Gras!»
Vetter Pantje konnte wundervoll erzählen; er wusste eine Vielzahl von Geschichten über unser Volk und gab sie auch gerne zum Besten, behielt alles, was er hörte, im Gedächtnis, und obschon er erst vierzehn war, hörten ihm in der Winterzeit am Feuer auch die Älteren gerne zu. Er fesselte seinem Pferd die Beine, damit es nicht zu weit weglaufen konnte, und setzte sich zu uns. «Also. Das Murmeltier war einst, vor langer Zeit, ein Mensch. Dieser war ein ausgezeichneter Schütze, der sich rühmen konnte, nie sein Ziel zu verfehlen. Damals – es ist, wie gesagt, schon sehr lange her – gab es am Himmel sieben Sonnen und diese drohten nun, die Erde auszutrocknen und zu verbrennen. Man beschloss, die Sonnen abzuschiessen, und
beauftragte dazu den Schützen. Dieser fühlte sich sehr geehrt und schoss mit Leichtigkeit die ersten sechs ab. Doch bei der siebten Sonne flog ihm der Milan dazwischen, und darum verfehlte er sie zu seiner grossen Schande. Aus Ärger darüber biss er sich die Daumen ab und schwor, dass er nie wieder Wasser trinken und trockenes Gras essen würde und dass er fortan in einem Loch in der Erde leben wolle. Da wurde er zum Murmeltier, grub sich ein Loch und war weg. Seither hält es Winterschlaf, wenn das Gras anfängt zu trocknen, meidet fliessende wie stehende Gewässer und begnügt sich mit dem kühlen Tau, der am Morgen auf den Gräsern liegt. Nur seltsame, braune Drüsen, die man in der Achselhöhle des erlegten Tieres findet, erinnern an seine frühere Existenz. Man sagt, das seien die Reste von Menschenfleisch, und man schneidet sie heraus, denn man darf sie nicht essen.» «Und der Milan, ist der gestorben?» «Nein, der Pfeil hat ihn nur am Schwanz gestreift; seither ist dieser gegabelt, das könnt ihr jeden Tag sehen, wenn er am Himmel kreist.» «Und das Salz, weshalb brauchen das die Murmeltiere?» «Jedes Lebewesen braucht Salz. In den Bergen gibt es keines. Deshalb wird von Zeit zu Zeit ein Tier losgeschickt, um welches zu holen. Das kommt dann hinunter ins Grasland, sucht sich einen Tümpel, macht sich nass – ausnahmsweise, denn das tun sie sonst ja nicht – und wälzt sich auf der feuchten Erde. Diese ist salzhaltig, das könnt ihr selbst ausprobieren, wenn ihr ein wenig davon auf die Zunge nehmt. Wenn sein Pelz trocken ist, wiederholt es sein Tun, und es macht dies noch einige Male, bis es ganz von einer Kruste umgeben ist und weisslich aussieht. Dann begibt es sich auf den Heimweg. Nun kann es aber nicht mehr so schnell laufen, die Salzschicht ist schwer und hinderlich, und das wissen auch
die Wölfe. Sie lauern ihm auf; die Aussicht, dass es heil zurückfindet, ist deshalb unsicher. Gelingt es ihm aber, kommt die ganze Sippe und leckt ihm das Salz aus dem Fell, und das ist für sie wie ein Festessen.» «Und wenn es gefressen wird, was ist dann?» «Dann schicken sie ein neues Tier los, und wieder eins und wieder eins. Von da kommt es, dass wir, wenn wir vom Tod sprechen, sagen, wir gehen ins Salz.» Wir schwiegen eine Weile und sahen dem hopsenden Knäuel nach, das zielsicher seinen Weg in Richtung des Bergzuges verfolgte, bis es sich als Pünktchen in der Graslandschaft verlor. Wir wünschten, dass ihm nichts geschehen möge. «Es ist mutig», sagte Telema bewundernd. «Und klug», fügte ich bei und Pantje nickte. «Kein Jäger würde je ein weisses Murmeltier erlegen. Aber man erzählt sich noch etwas anderes von ihnen und es ist ebenso erstaunlich.» «Erzähle!» Pantje stand auf, sah nach den Schafen, die sich wieder beruhigt hatten, musterte die Umgebung und setzte sich wieder. «Ihr wisst ja selbst, wie kalt wir es im Winter haben. Noch kälter ist es in den Bergen, und damit die Murmeltiere in ihren Bauten nicht erfrieren, bleibt immer eines draussen, meistens ein krankes oder altes Tier, das so oder so nicht überleben würde. Wenn nun die andern ihre Gänge mit Heu, Erde und Steinen von innen abgedichtet haben, tut das übrig gebliebene dasselbe von aussen, so, dass weder Schnee noch Eis noch Sturmwinde ihnen mehr etwas anhaben können. Während sie geborgen dem neuen Frühling entgegenschlafen, erfriert das zurückgebliebene, oder es wird aufgefressen. So ist das bei ihnen, eines opfert sich für die andern.»
«Dann sollten wir sie vielleicht nicht jagen», sagte ich und Pantje lachte. «Soviel ich weiss, isst du sie sehr gerne. Zudem schiessen wir nur das, was wir zum Leben brauchen, und – bitten wir nicht vorher den Geist eines jeden Tieres um Verzeihung?» Damit hatte er meine Gewissensbisse aufgelöst. Ich nickte beruhigt, griff wieder zur Peitsche und knallte in die Luft, froh, auch künftig auf dieses Fleisch, das besonders wohlschmeckend war, wenn es im eigenen Balg des Tieres zubereitet wurde, nicht verzichten zu müssen.
Mittlerweile hatte sich seine Herde mit der unseren vermischt. Die Sonne stand schon tief am Horizont; wir brachen auf und trieben die Schafe in ihre Hürden. Aus den runden Öffnungen der Jurtendächer stieg feiner Rauch, der Duft nach Ziegenfleisch liess uns das Wasser im Mund zusammenlaufen. Die Männer, welche in der Nähe arbeiteten, ritten einer nach dem andern herbei, zurück von ihrer Arbeit zur wohlverdienten Mahlzeit. Auch Telema und ich waren hungrig. Einzeln verschwanden wir in unseren Jurten, darauf achtend, die Schwelle nicht mit dem Fuss zu berühren, denn dies galt als schlechtes Omen. Telema würde sich im Osten, gleich neben dem Eingang zur Rechten, hinsetzen, das war die Seite der Frauen. Ich hingegen hielt mich westlich, zur Linken. Dies war die Männerseite, die auch für Gäste reserviert war. Gegenüber der Türe im Norden war der Platz des Familienoberhauptes, des ältesten männlichen Mitglieds der Sippe. In unserem Falle fiel diese Ehre meinem Vater zu, da Grossvater schon etwas wirr im Kopfe war. Unhöflich wäre es gewesen, hätte ich meine Peitsche mit hineingenommen; es hätte mir mit Sicherheit einen Verweis
meiner Mutter eingetragen. Da ich mich aber nur ungern von ihr trennte, lehnte ich sie an die Aussenwand, wo ich sie von meinem Platz aus im Auge behalten konnte. Meine Grosseltern waren schon da; meine Mutter schöpfte Sutezay, den gesalzenen Milchtee, auf dem heute ein kleines Stück Butter schwamm, verspritzte einige Tropfen vor der Jurte als Opfer für die Geister und reichte die erste Schale meinem Vater, die zweite meinem Grossvater und die dritte mir. Unterdessen hatte sich Grossmutter an den gekochten Innereien der Ziege zu schaffen gemacht, hatte das Herz von der Lunge getrennt, darin zwei tiefe Längsschnitte gemacht, hatte vom dünnen Fettansatz des Magens eine Scheibe abgeschnitten, sie ins aufgebrochene Herz geschoben und auf die Truhe gelegt, die vom Herd aus gesehen am nördlichsten stand. Das war das Opfer für den Jurtengeist. Auch der Geist des Feuers erhielt seine Gabe, und als so den Hausgeistern die Ehre erwiesen worden war, durfte mein Vater als Erster von seinem Anteil essen. Er zog sein Messer, das er im Gürtel hängen hatte, aus der Scheide, nahm sich ein grosses, saftiges Stück, biss hinein und schnitt es vor dem Munde ab. So tat auch mein Grossvater, und ich hätte es gerne ebenso getan, doch Mutter erlaubte dies noch nicht und schob mir mundgerechte Bissen zu. Wir schmatzten und schlürften laut zu ihren Ehren, denn das Mahl war vorzüglich. Mutter freute sich und legte uns immer wieder nach, bis wir nichts mehr hinunterbringen konnten. Erst als Vater sein Messer wieder einsteckte und sich zurücklehnte, begannen auch die Frauen zu essen. Unsere Jurte war mit Filz ausgelegt, der, wenn er neu war, weisslich schimmerte. Allerdings änderte sich diese Farbe mit der Zeit, wurde grau und dann dunkel vom jahrelangen Gebrauch. Meine Grosseltern sassen auf Tierfellen, damit sie es schön weich und bequem hatten. Unter der Öffnung im
Dach stand der vierfüssige Herd. So konnte der Rauch gut abziehen und behinderte uns nicht. In der warmen Jahreszeit kochte Mutter meistens draussen, im Winter aber scharte sich die ganze Familie um die Wärme spendende Mitte. An den Wänden hingen bunte Tücher, die Farbe in den Raum brachten und die aus biegsamem Holz gefertigten Scherengitter verdeckten. Jetzt, im Sommer, waren diese mit nur einer Lage Filz belegt und die unteren Ränder hochgeschlagen, so dass der Wind hindurchstreifen konnte. Auch der dicke Filz der Eingangstüre war weggeschoben. Durch diese und die Rauchöffnung, welche bei Nacht oder bei Regen mit einem darübergezogenen Filzstück geschlossen wurde, drang Helligkeit und wies uns die Stunde. Wir wussten genau, um welche Tageszeit ein Sonnenstrahl auf eine bestimmte Stelle fiel, und richteten uns danach. Die hintere freie Fläche zur Mitte war für den Alltag bestimmt. Da sass die Familie nach getanem Tagewerk friedlich beisammen, schlürfte Tee und vergorene Stutenmilch, den Airag, spielte mit den kleinen Kindern oder erzählte Geschichten. Die vordere Seite, gleich nach dem Eingang, der nach Süden ausgerichtet war, benutzten die Frauen für die täglichen Arbeiten; hier bereiteten sie die Speisen, flickten und nähten, flochten aus Tierhaar Seile und taten, was eben in einem Haushalt getan werden musste. Sie waren die Herrscherinnen der Gers, konnten schalten und walten, wie sie es für gut befanden, und keinem der Männer wäre es je eingefallen, sich in ihre Arbeit einzumischen. Die Männer waren für das Wohl und den Schutz der Herden zuständig, sie versorgten die Familien mit frischem Fleisch aus der Jagd, erstellten die Hürden und kümmerten sich um alle schweren, handwerklichen Dinge. Keine Frau hätte sich je erlaubt, darüber ihr Urteil abzugeben.
Auch wir Kinder hatten unsere Aufgaben. Wir hüteten die Lämmer, holten Wasser, sammelten Dung, den wir getrocknet als Brennmaterial verwendeten, und suchten Beeren, Kräuter, Reisig und Wurzelwerk. Selbst die ganz Kleinen wurden, sobald sie gehen und sprechen konnten, zu Botendiensten angehalten. Sie brachten die Anordnungen ihrer Mütter von einer Jurte zur andern oder zu uns auf die Weide, meldeten, was sie unterwegs gesehen hatten, und das gab ihnen das Gefühl, wichtig zu sein, und stärkte ihr Selbstvertrauen. So war unser Alltag geregelt. Der Sommer machte unsere Tiere fett, unsere Gesichter frisch und rotbackig. Wenn die Kraniche ihre pfeilförmige Spur am Himmel zogen, die Hopfkuckucke sich heimlich nachts davonmachten in wärmere Gegenden, die Ziesel und Kaninchen sich in ihren Bau verkrochen, die wenigen Birken wie gelbe Flammen lohten, dann wussten wir, dass es Zeit war, unsere Jurten abzubrechen und ins Winterlager zu übersiedeln. Dann fingen die Männer frühmorgens die Packpferde mit der Urga ein, brachten sie heran und trieben sie in die steinerne Einfriedung. Unterdessen begannen die Frauen damit, die Jurten abzubauen. Bald lagen die Haushaltgegenstände, die aus Yak- und Pferdehaar gefertigten Seile, die Filzmatten, Teppiche, Tücher und Schlafdecken nebeneinander im Gras; die Scherengitter wurden von den Lederriemen befreit und zusammengeschoben, die Dachstangen ordentlich abgelegt. Jedermann wusste, was zu tun war; alles geschah ruhig und schnell. Beim Beladen der Tiere halfen auch die Männer, und die Sonne stand noch nicht hoch am Himmel, als der Zug sich in Bewegung setzte. Grossmutter als die Älteste führte den Zug an, ihre Schwiegertöchter mit den Kindern schlossen sich an und die Männer ritten davon, um die Herden zu suchen und sie zu den neuen, noch frischen Weiden zu treiben, die, der zu erwartenden Winde wegen, im Schutz des Hügellandes lagen.
Wir erreichten unseren Winterplatz erst gegen Abend. Die Männer waren schon da. Friedlich grasten die Herden, über einem Feuer hing der Topf mit heissem Milchtee, in den wir den steinharten Käse tunkten, damit wir uns nicht die Zähne ausbrachen. Dann prüften die Frauen das Gelände, bestimmten eine Stelle nahe des Brunnens, wo die Jurten neu aufgebaut werden sollten, und die Männer entluden die Packpferde. Der Platz wurde von Steinen und Mist gesäubert, alle halfen einander, aber es wurde dunkel, bis wir uns zur Ruhe legen konnten. Noch war es nicht richtig kalt. Trotzdem hatten die Frauen die Jurten mit vier Filzlagen bespannt. Am nächsten Tag schickte man uns zum Steinesuchen, um damit einen fusshohen Wall um die Jurte zu legen, so dass die zu erwartenden eisigen Winde nicht durch die Ritze zwischen den Filzbahnen und dem Erdboden dringen konnten. Bei dieser Arbeit dachte ich an die Murmeltiere, die Ähnliches taten, und war froh, ein Mensch zu sein. Niemand von uns würde sich opfern müssen, alle würden wir geschützt und warm den Winter überstehen. Beim Hüten trugen wir unsere dicken Deels, die wattierten Hosen, die mit Filz gefütterten Pelzstiefel und Kappen. Handschuhe brauchten wir nicht, die Ärmel unserer Deels fielen bis über die Fingerspitzen. Froren wir trotzdem, steckten wir die Hände in unseren Brustlatz und umschlossen den Glühstein, den uns die Mütter jeden Morgen am Herd wärmten und uns vorsorglich zusteckten. Das Gras und die Kräuter wurden gelb und trocken und die Tiere weideten sie ab mit einem knuspernden Geräusch. Eines Nachts weckte uns der Nordwind, der an unserem Dachreif rüttelte, heulte und stöhnte wie die wild gewordenen Geister der Lüfte, so dass wir näher zusammenrückten und wussten: Der Winter hatte begonnen.
Wenn am Morgen, noch in der Dunkelheit, die Frauen die dafür bestimmten Yaks molken, konnte es geschehen, dass die Milch im Ledereimer gefror, so kalt wurde es. Der Herd wurde zum Mittelpunkt unseres Lebens, aber zum müssigen Sitzen war da kein Platz. Ein jedes hatte seine Aufgabe: Die Männer arbeiteten an den Häuten und Fellen, die Frauen nähten und flickten, die Alten spannen und die Kinder gingen ihnen zur Hand, wo immer es nötig war.
In dieser Zeit gebar Tante Urtanasyn meinem Onkel Möngü ein neues Kind, ein Mädchen, und Pantje, mein ältester Vetter, durfte auf Geheiss Tante Düüdejs die Nabelschnur mit einem Messer durchschneiden. An dessen Griff war ein Streifen weissen Tuches angebunden, um in einem bildhaften Zeichen die Gefährlichkeit der Waffe zu mindern. Damit blieb er ein Leben lang des Neugeborenen Nabelmutter und teilte die Verantwortung für sein Gedeihen fortan mit den Eltern. Ein Hammel wurde geschlachtet, ein altes Tier, damit sich durch das Kauen des zähen Fleisches die durch die Geburtsschmerzen locker gewordenen Zähne der Tante wieder festigten. Hammelfleisch und Brühe waren gut für eine stillende Mutter; sie würde ihr Kind lange nähren können. Von diesem Hammel wurde der Knöchel des linken Hinterbeins – des weiblichen – besonders sorgfältig abgeschabt und dann neben den beiden männlichen Knöcheln am straff gezogenen Zügel aus Yakleder befestigt, der vom Bogen der Holzwiege bis zu deren Fussende reichte. So konnte jedermann auf einen Blick erkennen, wie viele Kinder ein Ehepaar besass und welchen Geschlechts sie waren. Ich dachte dabei an unsere Wiege, an der nur ein männliches Knöchelchen hing, dafür aber noch zwei Knoten für meine
toten Brüder. Die Augen meiner Mutter waren halb geschlossen bei dieser Zeremonie und ich flüsterte: «Bist du traurig, dass wir nur ein Knöchelchen an unserem Zügel haben – und kein weibliches?» Sie lachte leise. «Nein, mein Sohn, ich habe ja dich. Zudem – ich denke, du wirst mir zu gegebener Zeit wohl eine Tochter in die Jurte bringen, oder etwa nicht?» Meine Augen suchten Telema. Ich wusste schon lange, wen ich heimholen wollte.
Die Feierlichkeiten für das Neugeborene, die unsere Schamanentante Düüdej leitete, fanden am dritten Tag ihren Höhepunkt. Mutter und Kind wurden gewaschen und erhielten neue Kleider. Dann wurde der zartgraue Fleck über dem Kreuzbein bewundert, der die Form einer kleinen Sommerwolke hatte, und das Kind in die Wiege gelegt. Es hatte noch keinen Namen, wir sprachen von ihm als dem Hundejüngelchen und täuschten so die Geister, die vergebens nach ihm suchen würden, um es zurückzuholen in ihr Reich. Es gab ein Festessen; alle Haushalte steuerten etwas bei. Mutter hatte einen Hammel im eigenen Fell gegart – sie war berühmt für dessen Zubereitung. Tante Düüdej brachte eine Nudelsuppe mit viel Fleisch, und Tante Jendschema hatte Buuz gemacht, Hackfleischbällchen in Teigtaschen, die ich ganz besonders liebte. Teigspeisen gab es nur selten; wir mussten das Mehl, das dazu nötig war, im Handel erstehen. Das geschah nur einmal im Jahr, wenn sich unsere Männer einer Salzkarawane anschlossen, um in der entfernten Stadt Ich Churee Chot Felle gegen Salz und Mehl einzutauschen. Dann kamen die Besucher von der anderen Seite des Hügels und vom Ufer des Sees, betraten die Jurte und fragten: Wie ist
die Beute?, meinten damit das Geschlecht des Kindes, und Möngü antwortete: «Öschgü saar», eine, die Ziegen melkt. Wäre es ein Junge gewesen, hätte er gesagt: «Örge dusaktaar», einer, der Zieselmäuse mit der Schlinge fängt. Sie brachten die Geschenke für das Kind dar, brachten Krallen vom Wolf oder Bär, Reisszähne vom Wildschwein, Federn vom Adler, hefteten ihre Gaben feierlich an die Wiege und murmelten Segenssprüche. Die Älteste aus der Sippe derer vom See wurde gebeten, dem Hundejüngelchen einen Namen zu geben, und sie nannte es Aldyngys, goldenes Mädchen. Und nun wurde gegessen und getrunken, geschlürft und geschmatzt, der Airag floss reichlich, man war guter Dinge bis weit in die Nacht. Erst am nächsten Morgen verabschiedeten sich unsere Freunde und Tante Urtanasyn freute sich sehr über die Ehre, die ihr und ihrer kleinen Tochter zuteil geworden war. Ich aber hatte mich geärgert, und daran war Dscherlik, der Junge derer vom See, schuld. Seit dem Beginn des Essens hatte er Telema angestarrt, mit seinen kleinen, widerlichen Augen, seine widerlichen Haare standen wie Stoppeln um seinen widerlichen Kopf, und wenn er die Buuz ass, troff ihm der Saft über sein widerliches Kinn und über die widerlichen Finger in die Ärmel seines widerlichen Deels. Ja, ich fand ihn abstossend und begriff nicht, weshalb ihm Telema hin und wieder zulächelte und sich freundlich mit ihm unterhielt. Wusste sie denn nicht, dass ich, nur ich sie liebte? Meine Galle war bitter und meine Leber hart. In meinem Herzen tobten feurige Stürme und bissen und stachen, ganz besonders deshalb, weil Dscherliks Deel aus Seide war und seine Haare geschnitten. Obwohl in seinem Alter, hatte mein Kopf noch nie ein Schermesser gefühlt. Die Zeit meines ersten Haarschnittes, der normalerweise mit drei Jahren erfolgte, war immer wieder hinausgeschoben worden, ich wusste nicht,
warum. Nun waren meine Haare gebunden wie die Telemas, und wenn ich sie löste, fielen sie mir in dichten Strähnen bis auf die Schultern. Wahrlich, ich sah mit meinen acht Jahren nicht aus wie ein Junge. Uneingeweihte hätten in mir ein Mädchen vermutet. Diese Erkenntnis traf mich plötzlich, ich sah mich auf einmal mit den Augen dieses Dscherlik, mein Gesicht begann zu brennen und meine Seele wand sich vor Scham. Mit heimlicher Genugtuung sah ich am nächsten Tag die Gäste abziehen. Mein Groll aber hatte sich noch nicht gelegt; zudem brannte mein Gesicht noch immer und fühlte sich geschwollen an, denn im Dunkel der Nacht hatte mich mein Unglück dermassen überwältigt, dass meine Augen überliefen. Mutter hatte mir eine Schale mit warmem Wasser hingestellt und sagte: «Der Rauch des Herdfeuers hat deine Augen gerötet, wasch sie aus.» Niemand erwähnte meine Tränen, so verlor ich auch nicht das Gesicht, und das war gut.
An diesem Tag arbeitete ich mit Vater an der Hürde, warf Erde auf zum Ausbessern der Wälle und half ihm bei der Hufpflege der Schafe. Zur Mittagszeit unterbrachen wir unser Tun, setzten uns auf die Mauer und assen Käse und Quark. Noch immer brannte mein Kummer in mir, und so fragte ich: «Vater, weshalb schneidet man einigen Jungen ihre Haare schon früh und anderen überhaupt nicht, auch wenn sie schon eine Peitsche haben?» Er schwieg lange, ich glaubte, überhaupt keine Antwort zu erhalten, und dann fühlte ich seine Hand auf meiner Schulter. «Es gibt Familien», sagte er, «die sind mit Kindern gesegnet; sie gedeihen und werden gross und stark. Und es gibt andere,
deren Kinder sterben, noch während sie an der Mutterbrust saugen. Denen sind die bösen Geister neidisch aus irgendeinem Grund, den nur sie wissen. Um das Kind zu schützen, nennt man es – auch wenn es am dritten Tag einen Namen bekommt – ein Jahr lang nur Hundejüngelchen. So wissen die Geister nicht, wer gemeint ist, denn Hundejunge gibt es viele. So kann das Kind erstarken, und sie finden es nicht, um ihm Böses zu tun.» «Das weiss ich, Vater, so wie bei Tante Urtanasyns Kind. Aber die Haare?» «Damit ist es dasselbe. Wenn in der Familie die kleinen Söhne gestorben sind, schneidet man dem Nächstgeborenen die Haare nicht. So glauben die Geister, er sei ein Mädchen, und lassen ihn in Frieden. Aber ich denke», und nun lächelte er, «sobald er alt genug ist, um eine Peitsche zu besitzen, ist er auch stark genug, um den Geistern zu trotzen. Wir werden sehen, was zu tun ist.» Vaters Worte erfüllten mich mit Dankbarkeit und Zuversicht, doch Mutter fürchtete noch immer um mein Leben, und so wurde das Fest meines ersten Haarschnittes zu meinem Kummer einmal mehr hinausgeschoben.
Die Seen und Tümpel waren mit einer dicken Eisschicht zugedeckt. Wir hieben sie in Stücke, brachten sie ins Lager und schmolzen sie in einem Kessel über dem Feuer. Das Fleisch geschlachteten Viehs gefror unter den Händen; wir konnten uns einen Vorrat davon anlegen, denn die Kälte bewahrte es vor dem Verderben. Wenn die Frauen in der Frühe die Tiere melken gingen, hüllten sie sich in alles, was sie an Kleidern besassen, denn der Nordwind fegte eisig über das Grasland und liess erstarren, was sich ihm in den Weg stellte.
Es war an einem solchen Morgen, ich hatte Mutter hinausgehen sehen und dämmerte noch wohlig vor mich hin, als Schreie und Stimmengewirr mich vollends weckten. Vater war aufgeschossen und griff nach seinem Messer, da stürzte Mutter ausser sich in die Jurte und schrie: «Wölfe, da waren Wölfe, sie haben Schafe gerissen!» Das ganze Lager geriet in Aufruhr. Alle stürzten hinaus, bekleidet mit dem, was sie in der Eile erwischt hatten, und dann sahen wir es: Fünf Lämmer und drei Schafe aus unserer Herde waren den Raubtieren zum Opfer gefallen, lagen arg zerbissen in ihrem Blut. Schweigend umstanden wir die Kadaver, ungläubig, dass wir nichts gehört haben sollten, denn die Hürde war nicht weit entfernt. Wedelnd sprangen die Hunde herbei, angelockt vom Geruch des toten Fleisches. Da griff Mutter wütend nach den erstbesten Steinen, bewarf damit die überraschten Hüter, die ihrer Pflicht nicht nachgekommen waren, und jagte sie mit Schimpfworten davon. Jaulend und mit eingezogenen Schwänzen versteckten sie sich hinter der Jurte und kamen den ganzen Tag nicht wieder zum Vorschein. Damit war der Bann gebrochen! Eifrig wurde der nächtliche Überfall besprochen. «Hier sind sie durchgeschlüpft», sagte Möngü und griff nach den Haarbüscheln, die zwischen den Steinen und geflochtenen Zweigen hingen. «Das war die Stelle, die wir heute noch verstärken wollten», murmelte Vater und wiegte bedauernd den Kopf. Dann musterte er den Himmel und schnupperte in die Luft. «Der Wind kam von Norden, die Wölfe von Westen; die Hunde konnten sie nicht riechen, sie lagen in der falschen Richtung.» Mutter weinte und schrie: «Ha, der Wind! Wozu haben wir denn diese Satané, vielleicht nur zum Faulenzen und Fressen?» Sie rüttelte an den Schafen, als könnte sie sie damit ins Leben
zurückholen. Noch nie hatte ich sie so ausser sich gesehen, und es machte mir Angst. «Es war nur einer», sagte Kombu, der jüngste Bruder meines Vaters und Tante Jendschemas Mann. Wir glaubten ihm, denn er war ein begnadeter Fährtenleser. «Dann wird er zurückkommen, der böse Geist ist in ihm», murmelte Tante Düüdej. Wir schwiegen, alle wussten, dass ein einzelner Wolf, ein aus dem Rudel Ausgestossener, gefährlicher war als eine ganze Meute.
In dieser Nacht wollten die Männer dem Raubtier auflauern. Die Hunde waren abseits gebracht worden, man brauchte sie nicht. Unruhig drängten sich im Kral die Schafe. Die Frauen erhitzten Glühsteine im Feuer, wickelten sie in Lappen und die Männer steckten sie in ihren Brustlatz als Wärmespender. Sie hatten die Schärfe ihrer Messer geprüft, zu Pfeil und Bogen gegriffen und sich, dick eingemummt, an ihren Stellplätzen niedergekauert. Still wurde es an unserem Lagerplatz, obschon niemand schlief; nur flüsternd verständigten wir uns, denn der Wolf war ein kluges Tier. Er würde sich nicht nähern, wenn er Unheil roch. Die Zeit schlich dahin, ich horchte nach draussen; um nichts in der Welt hätte ich einschlafen wollen. Grossvater schnarchte, pfeifend stiess Grossmutter die Luft aus, Mutter atmete ruhig und lag ganz still. Der Herd strömte wohlige Wärme aus, roter, zuckender Schein gloste durch die Dunkelheit, zeigte mir die vertrauten Gegenstände in seltsam verzerrten Umrissen. Ich hatte mich langsam bis zur Türe gerobbt, meinen Deel schleppte ich vorsichtig hinter mir her. Leise schob ich den Filzbehang vor der Türe zurück, öffnete sie sachte, griff mir meine Fellstiefel und glitt hinaus. Beissend
empfing mich die Kälte. Ich schlüpfte in meine Kleider und robbte zur nächsten Erhebung, von wo ich die Umfriedung sehen konnte. Dort bewegte sich blökend die dunkle Masse der Tierleiber, wogte auf und ab wie ein vom Wind aufgewühltes Wasser. Der Mond hatte sich aus der Dürre des Graslands erhoben, die Jurten warfen dunkle Umrisse, in den kleinen Mulden und hinter den leichten Erhebungen pressten sich die Jäger eng an den eisigen Boden, regungslos und voller Aufmerksamkeit. Sie genossen es; ich hatte das Glitzern in ihren Augen gesehen, die gestrafften Schultern, die entschlossen zusammengepressten Lippen, das wortlose Einverständnis in ihrem Blick; hatte die Vorfreude gefühlt, die ihr Blut schneller durch ihren Körper trieb, die Vorfreude auf den bevorstehenden Kampf mit dem Tschango, dem einsamen Wolf. Sie hatten keine Angst! Der Mond war gewandert, der Stern, der niemals untergeht, stand über mir. Da bewegte sich die Nacht, leise nur, wie ein Flüstern. Die Schafe standen still, ihr Blöken verstummte, das Grasland hielt den Atem an. Aus dem Nichts war er aufgetaucht. Ruhig stand er da, mit der Würde des Königs aller Steppentiere. Im Silberschein des Nachtgestirns verschmolz sein fahlgelbes Fell beinahe mit dem Ockergelb der Gräser. Langsam wandte er seinen Kopf nach allen Seiten, hob seine Schnauze, als wittere er Gefahr, hell blitzten die leuchtenden Punkte seiner Augen, dann setzte er sich in leichten, geschmeidigen Trab und näherte sich der Herde, suchte den bekannten Durchlass, den die Männer noch etwas vergrössert hatten, und blieb noch einmal stehen. Leben kam in die eingeschlossenen Tiere, ihr Blöken war voller Todesangst, der Wolf duckte sich und kroch nun, eng an die Erde gepresst. Mein Herz pochte vor Erregung. Schliefen
die Männer denn? Sahen sie nicht, wie nah er war? Ich hätte aufspringen und schreien mögen, aber das tut ein Jäger nicht; ich wusste, damit hätte ich Schande über mich gebracht. So krampfte ich nur meine Finger um gefrorene Grasbüschel, die knackend in meiner Hand zerkrümelten. Jeder Muskel am Körper des Raubtiers war gespannt, die Schwanzspitze zitterte, er setzte an zum Sprung über die letzte kurze Strecke – da zischte die Luft, aufheulend sprang der Räuber hoch, fletschte die Zähne und brach zusammen. Fünf Pfeile steckten in seinem Leib, jubelnd brachen die Jäger aus ihren Verstecken, lachten und schlugen sich auf die Schultern. In den Jurten wurde es lebendig, die Familien eilten herbei, um die Männer zu beglückwünschen, die Hunde, die jemand freigelassen hatte, bellten, die Schafe blökten, die Freude war gross und der Lärm unbeschreiblich. «Seht her, seht alle her, es war mein Pfeil, der ihn in die Schulter traf», schrie Vetter Pantje, und wir jüngeren Knaben bewunderten ihn. Gerne wäre ich an seiner Stelle gewesen und hätte mich feiern lassen. Auch ich besass Pfeil und Bogen, wie jeder Junge, aber ich musste noch viel lernen, bevor ich an der Jagd teilnehmen durfte. Der Wolf lag da, aus seinem Maul floss Blut, sein blassgelbes Fell war struppig, und dort, wo die Narben von seinen Kämpfen zeugten, dünn und abgeschabt. Seine Augen blickten stumpf ins Leere, alles Leben war aus ihm gewichen, er war nur noch ein alter, toter Tschango, den niemand mehr zu fürchten brauchte. Er tat mir leid. Später, als ich auf meinem Lager in der warmen Jurte lag, meine Mutter mich in den Arm nahm und mir im Dunkeln übers Haar strich, fragte ich leise: «Wird uns sein Geist nicht Böses tun und uns verfolgen?» Ich fühlte ihr Lächeln.
«Auch die Geister wissen, dass diese Raubtiere unsere Herden angreifen. Ein toter Wolf ist besser als viele tote Schafe. Deshalb werden sie ein Einsehen haben. Und du weisst ja, wir bitten immer den Geist jedes Tieres um Vergebung, bevor wir es töten, das besänftigt ihn.» Beruhigt kuschelte ich mich an sie und schlief ein.
Kurz darauf, eines späten Abends, wir schliefen schon alle, weckten uns Pferdegetrappel und eine Männerstimme, die rief: «Hoho, wohnt hier Udgan Düüdej?» «Was willst du von ihr?» «Meine Frau ist besessen, sie ist süchtig nach Fett und so dick, dass sie die Jurte nicht mehr verlassen kann. Sie wird sterben, denn der Weg ihres Atems ist verengt.» Meine Tante war ein Böö, sie hatte bereits die Weihen von zehn Tschanar und verstand es, Kranke zu heilen. So machte sie sich reisefertig, und bevor sie ihr Reittier bestieg, schaute sie sich um im Kreis der versammelten Familien, deutete auf mich und sagte: «Du kommst mit!» Bis jetzt hatte sie immer einen meiner älteren Vettern mitgenommen. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Mutter holte mir einen Wärmestein und Vater führte mein Pferd heran. Wir stiegen auf und ritten los, immer hinter dem Hilfe suchenden Ehemann her, hinaus in die Nacht. Wir ritten lange, die Mähne meines Pferdchens überzog sich mit Reif, der Dampf aus seinen Nüstern und aus unseren Mündern gefror in der eisigen Luft, der Mond versank in der Steppe, der Himmel hatte sich überzogen, es wurde stockfinster; das rot flackernde Fackellicht unseres Vorreiters hüpfte wie ein Irrwisch vor uns her und führte uns weiter, immer weiter.
Endlich ein blasser Schein, die fahlen Umrisse von zwei, drei Jurten, das Gebell von Hunden, Stimmen, Menschen, die uns von den Pferden halfen, sich ehrerbietig grüssend verneigten, und Tante Düüdej, die sich ruhig umsah, ihrer Würde bewusst, sich dann in alle vier Himmelsrichtungen wandte und geräuschvoll die Luft einsog. So erfühlte sie die Ausstrahlung dieses Ortes, die Geister, die ihn umgaben, die Gesinnung seiner Menschen. Es war das erste Mal, dass ich bei der Heilung einer Kranken zugegen war, und ich fühlte mich ungeheuer geehrt, aber auch etwas ängstlich. Die Frau lag still auf dem schwarzen Schaffell, ihre Augen im feisten Gesicht waren geschlossen, sie atmete keuchend und in ihren Mundwinkeln stand weisser Schaum. Noch nie in meinem Leben hatte ich einen so dicken Menschen gesehen, der massig wie ein kleiner Berg und leise stöhnend auf seinem Fell lag. In der Jurte war es dunkel. Nur der Schein des Herdfeuers zuckte über die Gesichter der Angehörigen, die in stiller Ergebenheit abseits sassen und das Tun meiner Tante Düüdej neugierig verfolgten. Rings um die Kranke hatte sie einen Kreis gezogen und ihre zauberkräftigen Dinge, die ich ihr hatte reichen müssen, zuerst angehaucht und dann ausgelegt: das Bündel Bänder, die Maultrommel, den Spiegel aus Edelmetall, den weissen und den schwarzen Stein. Ihr Schamanenbeil steckte im Ofen, die breite Klinge wurde nach und nach rot glühend, sah aus wie flüssiges Feuer. Die Hitze, die davon ausging, war fast unerträglich. Tante Düüdej kniete vor ihrer Trommel, stimmte ihren Schamanengesang an, rief ihren Ongon herbei, bewegte sich vor und zurück. Die siebzehn fünffarbigen Bänder an ihrem Nömrög bewegten sich im Dämmerlicht wie Schlangen, und ich verkroch mich, so gut es ging, in meinen Deel, machte
mich ganz klein und drückte mich an das Scherengitter der Aussenwand. Tante Düüdej schlug nun die Trommel in gleichmässig wiederkehrenden Takten und sang noch immer, die Melodien wurden wilder, die Worte unverständlicher, flatterten dahin wie Winde, sie hatte die andere Welt betreten und war mit ihren Geistern verbunden. Die dicke Frau lag in Trance, starrte mit offenen Augen, atmete kaum. Da warf Tante die Arme in die Höhe, sprang hoch und mit beiden Füssen auf den Leib der Kranken, trat auf ihr herum, knetete sie durch und durch, liess dann von ihr ab, riss das Beil aus dem Feuer, sprang auf die rot glühende Schneide, es roch nach verbranntem Fleisch. Als sie vom Beil abliess, klebten zwei Hautfetzen daran. Dann zog sie aus ihrem Umhang ein aus dünnem Leder gestanztes Männchen, befahl dem Ehemann, sie mit seinem Messer in die Fusssohlen zu schneiden und beschmierte dann das Männchen mit ihrem Blut. Dieses begann zu leben, bewegte Arme und Beine und sie hielt es fest, ergriff den schwarzen Stein, trat aus der Jurte in die Nacht, wandte sich gegen Südwesten, und obschon der Boden hart gefroren war, grub sie ein dreieckiges Loch, legte das Männchen hinein und bedeckte es mit Erde und dem schwarzen Stein. Dann kam sie zurück, hockte sich auf den Boden, verbarg ihren Kopf in ihrem Umhang und schlief auf der Stelle ein.
Blass wie Milch stieg der Tag herauf und wir rüsteten uns zum Aufbruch. Die dicke Frau schlief noch immer, atmete gleichmässig und ruhig und mir schien, als wäre sie nicht mehr ganz so füllig wie in der Nacht, aber das mochte am Licht liegen. Ich reichte Tante Düüdej die Stiefel.
«Wird es nicht wehtun?», fragte ich schaudernd, denn ich dachte an ihre Wunden; sie schüttelte den Kopf und zeigte mir ihre nackten Fusssohlen, und – ich lüge nicht – da waren keine Brandmale, waren keine Schnitte, die Haut war heil. Das habe ich, Bator, mit meinen eigenen Augen gesehen. Es erfüllte mich mit tiefer Ehrfurcht, es liess mich vor ihr auf die Knie sinken und mich verneigen. Der Ehemann hatte uns mit Wegzehrung versehen und unsere Pferde gerüstet. Er hielt als Geschenk eine Ziege am Strick, aber Tante schüttelte den Kopf. «Deine Frau soll sie mir im Frühjahr bringen.» «Sie kann kein Pferd besteigen.» «Bis dahin wird sie es können. Aber ihr müsst noch heute umziehen, hier könnt ihr nicht mehr bleiben. Wandert gegen Osten und sucht euch einen neuen Platz zum Überwintern. Es ist für euch alle das Beste.» Sie hüllte sich in ihren Mantel, und unsere Tiere trabten los. Wir waren schon eine Weile geritten. Ich überdachte das Erlebte, war voll von Fragen, und als wir gegen Mittag eine kurze Rast machten, den harten Käse, das getrocknete Fleisch kauten, sah sie mich belustigt an und sagte: «Was möchtest du wissen, mein Junge?» «Vieles. Was war mit der Frau?» «Sie war besessen von einem Ad Tschötgör, der sie zwang, ständig Fett zu essen.» «Warum haben dir das Feuer und das Messer nicht geschadet?» «Meine Schutzgeister stehen mir bei.» «Bist du froh darüber, eine Schamanin zu sein?» «Jetzt schon, ich habe meine Berufung angenommen. Aber das war nicht immer so.» Sie schwieg eine ganze Weile und seufzte dann.
«Es ist nicht immer leicht, weisst du. Damals, als ich noch ein Kind war, hatte ich seltsame Gesichter. Einmal sah ich von weither einen Menschen auf unsere Jurte zukommen, und je näher er kam, desto grösser wurde er, so gross, bis sein Kopf weit in den Himmel ragte. Seine Füsse traten über mich hinweg, und da wurde ich krank, ja, beinahe irrsinnig, denn ich wollte immer davonlaufen, hinauf in die Hügel. Man musste mich festbinden und bewachen und trotzdem gelang es mir eines Nachts, zu entwischen und mich dorthin zu begeben. Sie suchten mich zwei Tage lang, bevor sie mich fanden, aber davon wusste ich nichts, an nichts konnte ich mich erinnern. Da holten meine Eltern Rat beim Böö und der sagte, dass ich die Erbkrankheit, die Schamanenkrankheit hätte, von den Geistern erwählt worden sei und mein Schicksal annehmen müsse, wolle ich wieder gesund werden. Aber ich fürchtete mich sehr und wollte nicht, und so blieb ich verwirrt, so lange, bis mein Vater mich selbst zu ihm brachte, damit er mich unterweise. Dieser hatte grosse Mühe mit mir, denn ich sträubte mich dagegen und er musste mich prügeln, bevor ich zum ersten Mal in Trance fiel, um die jenseitige Welt zu betreten. Dort sah ich meinen Schutzgeist, und von da an folgte ich den Weisungen meines Lehrers. Ich wurde gesund und eignete mir sein Wissen an.» «Kannst du auch auf deiner Trommel fliegen, wie der Dsairang, der mich aus Mutter geholt hat?» «Nein, dazu braucht es dreizehn Weihen. Frauen können sich nur zwölf erwerben. Ich habe, wie du weisst, erst zehn.» «Aber – möchtest du gerne fliegen können?» Sie schwieg, packte unsere Sachen zusammen, schwang sich auf ihr Pferd und ritt davon. Ich beeilte mich, gab meinem Braunen die Fersen, denn sie war schon weit voraus, und um nichts in der Welt hätte ich alleine bleiben wollen – ich glaubte das Geraune irgendwelcher Schattenwesen um mich zu hören,
und mir graute. Trotzdem war ich stolz, denn meine Tante war eine schwarze Schamanin, eine, die diese Fähigkeiten von ihren Ahnen ererbt hatte und seit Geburt in sich trug. Auch wenn sie angeheiratet war und nicht aus unserer Sippe stammte, war es eine grosse Ehre für uns, sie bei uns zu haben.
Der Winter verging und man sprach davon, mir eine Braut zu suchen. Es war üblich, seine zukünftige Ehefrau aus einer entfernten Volksgruppe herzuholen, denn so blieben die Nachkommen gesund und stark. Nun hatte Vater auf seinen Reisen die fünfjährige Tochter eines befreundeten Ringkämpfers aus dem Volk der Buryaten gesehen, die ihm passend schien. Die Sache war bereits abgesprochen und meine Einwände, dass ich Telema heiraten wollte, wurden nicht zur Kenntnis genommen. Das machte mir einige Tage lang grossen Kummer, aber dann vergass ich es über allem, was mir das Leben Neues und Aufregendes brachte, denn ich war noch lange kein Mann und die Zeit meiner Eheschliessung weit entfernt. Eines Tages sassen zwei Reiter bei uns ab. Sie führten ein wunderschönes, rotbraunes Fohlen mit sich und riefen laut nach Ugdan Düüdej. Den Mann erkannte ich, es war derjenige, der uns im Winter zu seiner besessenen Frau geführt hatte. Diese jedoch, seine Begleiterin, war kaum wiederzuerkennen, hatte keinerlei Ähnlichkeit mehr mit dem unförmigen Fettkloss von damals. Sie war geheilt, schlank und kräftig. Das habe ich mit meinen eigenen Augen gesehen und kann es jederzeit beschwören, falls das jemand je von mir verlangen würde. Wir freuten uns alle darüber, denn der Ruhm dieser Heilung häufte neuen Glanz auf unsere Familie.
Das Eis auf den Tümpeln brach, die Hügel und Ebenen überzogen sich mit grünem Flaum, die Kraniche kehrten zurück, und an den Birken und Lärchen keimte junges Laub. Da verliessen wir das schützende Tal und stiegen hinab in die Ebene, um unser Sommerlager aufzuschlagen. Und da geschah es, in meinem neunten Lebensjahr und nachdem ich mein erstes Kaninchen erlegt hatte, dass meine Stunde schlug: Mein Haupthaar sollte geschnitten werden. Ich war glücklich und genoss die Aufmerksamkeit, die mir zuteil wurde, denn das erste Haareschneiden ist wohl das grösste Ereignis im Leben eines Knaben. Aufgeregt und meiner Wichtigkeit bewusst, ging ich von Jurte zu Jurte und lud alle zum Fest ein, meine Mutter und die Tanten begannen zu schlachten und zu kochen, und die Männer gingen, um den Verwandten und Bekannten Bescheid zu geben, die verstreut in der Umgebung hausten. Am Morgen des von Tante Düüdej vorbestimmten Tages lagen neben meinem Lager ein neuer Deel aus dunkelroter Seide, eine scharf geschliffene Schere, an der eine weisse Schleife befestigt war zum Zeichen ihrer Ungefährlichkeit, und neue, glänzende Stiefel. So ausgestattet, gewaschen und gekämmt erwartete ich die Eingeladenen. Sie trafen gegen Mittag ein, mit frohen Gesichtern und den Geschenken, die den Grundstock zu meiner künftigen Herde bilden sollten; alles weibliche Jungtiere, Zicklein, Lämmer, Yaks, Fohlen und als ganz grosse Überraschung ein junges Trampeltier. Als ich dann mit der Schere unter meinen Gästen die Runde machte, mir jeder unter Segenswünschen eine meiner langen Strähnen abschnitt, mein Haupt leichter und leichter wurde, wollte mir vor Stolz das Herz aus der Brust springen. Selbst die Anwesenheit Dscherliks störte mich diesmal in keiner Weise, obschon er sich wiederum mehr um Telema kümmerte, als schicklich war, denn ich fühlte mich ihm ebenbürtig.
Mit dieser feierlichen Handlung streifte ich endgültig meine Kinderschuhe ab und zählte fortan zu den Grossen. Das ermutigte mich ungemein und gab mir so viel Selbstvertrauen, dass ich tat, was ich mir schon lange vorgenommen hatte.
Es war einige Tage später, viele der Muttertiere hatten geworfen und die Herde, die wir Kinder zu betreuen hatten, vermehrte sich zusehends. Wir hatten alle Hände voll zu tun, denn einige der Stuten verweigerten ihren Sprösslingen die Milch. Telema und ich kümmerten uns um die Verstossenen, flössten ihnen die Nahrung ein, und sie tat das sehr geschickt und gewann mit freundlichen und zärtlichen Worten ihr Zutrauen, so dass sich auch mein Herz, das ja schon seit jeher für sie schlug, erwärmte. Über den Rücken des Fohlens, das ich für sie festhielt, sah ich sie an und sagte: «Telema, wenn ich gross bin, werde ich dich heiraten.» Sie war keineswegs verlegen, errötete auch nicht, wie ich es erwartet hatte, lachte nur und sagte: «Wenn ich dich will.» Da packte mich heisse Angst. «Magst du mich nicht mehr?» «Mögen tu ich dich schon, aber ob ich mit dir eine Jurte teilen möchte, weiss ich nicht. Zudem bestimmen Onkel Marin und Tante Düüdej, wen ich heirate.» «Ich werde es heute Abend meinem Vater sagen, der kann sie fragen.» «Aber du bist schon verlobt.» «Ja, aber ich kenne meine Braut nicht und will sie auch nicht kennen lernen. Heiraten will ich nur dich.» «Wenn du meinst.» Sie lachte schelmisch und ihre Augen glänzten, und so wusste ich, dass meine Aussichten bei ihr nicht schlecht standen.
Ungeduldig wünschte ich mir den Abend herbei und war so erfüllt von meinem Wunsch, dass ich nichts essen mochte, konnte es kaum erwarten, bis Vater sein Mahl beendet hatte, zum Krug mit dem Airag griff, sich und Grossvater einschenkte und sich dann behaglich auf seinem Sitz zurücklehnte. Ich sah, dass er guter Laune war und kniete mich zu seinen Füssen hin. «Was willst du, mein Sohn?», fragte er freundlich und schlürfte genüsslich die gegorene Stutenmilch, an der dank der neugeborenen Fohlen kein Mangel war. «Vater, ich muss dir was sagen.» «Ich höre.» Eigentlich hatte ich meinen Wunsch in gesetzten Worten vorbringen wollen, hatte mir schöne Sätze zurechtgelegt, aber davon war in meinem Kopf nichts mehr vorhanden und ich sagte ganz einfach: «Ich möchte Telema heiraten.» Mutter warf mir einen schnellen Blick zu und lächelte, Grossmutter tat, als hätte sie nichts gehört, und Grossvater kicherte und rief: «Erst hat man ihm die Haare geschoren und schon denkt er ans Heiraten. Erlege erst mal deinen ersten Wolf.» Aber Vater lachte nicht, blieb ganz ernst und fragte: «Warum?» «Sie ist die Schönste von allen Mädchen, die ich je gesehen habe.» «Schönheit vergeht, mein Sohn.» «Aber sie ist freundlich und lieb, sie füttert die Fohlen und reitet so gut wie ein Junge, sie pflegt die Hufe der Schafe und heilt ihre Wunden, sie – sie kann alles, was man nur will, und ich mag sie.» «Du bist schon verlobt, Sohn, hast du das vergessen? Zudem weisst du ja, dass wir nie in der Verwandtschaft heiraten.»
«Telema ist uns nicht verwandt, Vater. Wir sind aus dem Volk der Khalka, sie aber stammt aus dem der Tuwa.» «Das stimmt, Bator, aber ich fürchte, du kommst zu spät.» «Zu spät – wie meinst du das?» «Soviel ich weiss, ist sie schon versprochen. Es geschah am Fest zu Ehren von Urtanasyns Tochter Aldyngys. Da hat Marin sie in die Sippe derer vom See gegeben.» Der Schreck lähmte mich, der Atem stockte in meiner Brust, die Zeit schien stillzustehen. «Vater, nein, das kann nicht sein.» «Aber so ist es.» «Wer?», fragte ich schwach, aber ich wusste die Antwort und mir wurde schlecht. «Dscherlik. Es tut mir leid, mein Sohn. Aber ich werde mit meinem Bruder sprechen und sehen, was sich machen lässt. Sei also ruhig und warte es ab.» Das allerdings fiel mir schwer, umso mehr, als Telema mich in den folgenden Tagen schüchtern zu meiden begann. Ich hoffte auf Vaters Unterredung mit Onkel Marin, aber das war vergebens. Er kehrte mit der Nachricht aus dessen Ger zurück, dass die Abmachung zwischen ihm und dem Vater derer vom See nicht rückgängig gemacht werden könne. Zudem sei die Feier des schmalen, weissen Streifs bereits auf den nächsten Vollmond vorgesehen, der sich in vierzehn Tagen runden werde. So musste ich meine Hoffnung begraben. Dieses Ereignis wurde im engsten Familienkreis abgehalten, denn es war das erste Versprechen und noch nicht bindend. Deshalb wurden von beiden Sippen nur die nächsten Verwandten geladen. Dscherlik trug ein neues Seidengewand und seine Mutter den Familienschmuck. Die Männer setzten sich nach der Rangordnung auf die guten, ihnen zustehenden Plätze und die Frauen, die nach vielem aufgeregtem Hin und Her endlich zur Ruhe gekommen waren, auf die schlechten,
wie es sich gehörte. Tante Düüdeij führte das kindliche Brautpaar herein und Dscherlik kniete artig vor seiner Zukünftigen nieder, hob den Haddak, den Streifen weisser Seide, auf dem die beiden silbernen Ohrringe lagen, auf seinen ausgebreiteten Handflächen in Augenhöhe und neigte den Kopf. Telema nahm die Ringe und steckte sie, einen nach dem andern, langsam in ihre Ohrläppchen, die vorsorglich schon im Säuglingsalter durchstochen worden waren. Dann erhob sich Dscherlik und stand verlegen da, bis ihn seine Mutter lachend in die Arme nahm. Telemas Augen strahlten, sie freute sich sichtlich, denn die Schmuckstücke waren hübsch und kleideten sie gut. Die Brautväter riefen feierlich «Ochee», was ihre Zufriedenheit ausdrückte, tauschten ihre Schnupftabakdosen aus und das Festessen nahm seinen Anfang.
Mir war übel, aber das kam nicht vom Magen; die Übelkeit sass in meinem Herzen, in meinem Kopf, nagte an meinem Hirn und vergiftete meine Gedanken. Ich verliess die Jurte und ritt auf meinem Braunen davon, unglücklich und zornig. Zornig auf Onkel Marin, auf meinen Vater und vor allem auf Dscherlik, der in hinterhältiger Weise – so empfand ich es – mir meine auserkorene Gefährtin gestohlen hatte. Von Telema fühlte ich mich verraten, und das schmerzte ganz besonders. Hatte sie nicht gesagt, dass sie mich mochte? War sie der hübschen Ohrringe wegen schwach geworden? Oh, ich hätte ihr noch viel schöneren Schmuck geschenkt, wenn sie nur meine Braut geworden wäre. Weshalb hatte sie sich mir zuliebe nicht zur Wehr gesetzt und ihren Pflegeeltern widersprochen? Es nützte nichts; tief in meinem Innern wusste ich, dass meine Überlegungen dumm und sinnlos waren. Kein
anständiges Mädchen würde so was tun, denn damit hätte ihre Familie das Gesicht verloren. So ritt ich dahin in meinem Zorn, feuerte den Braunen an zu immer schnellerem Galopp und der Wind trieb mir Tränen in die Augen. Die Sonne versank hinter dem fernen, blau schimmernden Hügelzug, die Farben erloschen, mein Pferd blieb schweissnass und zitternd stehen, ich sass ab, führte es in den Schutz einer Mulde und rieb es trocken. Den Gedanken zurückzureiten verwarf ich, ich mochte niemanden sehen, wollte allein sein mit meinem Gram, duckte mich zwischen die Halme, verkroch mich in meinen Deel und haderte mit meinem Dasein. Ich fachte kein Feuer an, die Dunkelheit stieg aus der Erde, auf der ich lag, senkte sich herab aus der Weite über mir, verschmolz zur Schwärze der Nacht, mischte sich in die Düsternis meiner Seele und deckte mich zu. Hinter meinen geschlossenen Augenlidern flirrten gelbe Punkte, verdichteten sich zu einem Fleck, der näher kam, grösser wurde, stillstand und den Ort, auf dem ich lag, hell erleuchtete. Ich erkannte die Gestalt eines auf einer Trommel sitzenden, alten Mannes, eines Schamanen der höchsten Weihe. Er trug den Nömrög mit den siebzehn fünffarbigen Bändern, stieg ab, setzte sich zu mir und sagte: «Was tust du hier, weitab von deiner Sippe?» Noch immer rannen mir Tränen über die Wangen und ich sagte: «Ich weine.» «Das sehe ich. Hast du auch einen Grund dazu?» Ich schwieg. «Wenn du keinen Grund hast, sind deine Tränen unnütz. Sie ändern nichts an der Lage, die dich traurig macht. Tu etwas.» «Es ist zu spät, ich kann nichts mehr tun.» «Es ist selten zu spät. Erzähle!»
So berichtete ich dem Mann, den ich nicht kannte, von meinem Kummer um Telema. Er hörte aufmerksam zu, und als ich schwieg, begann er zu lachen, und das verletzte mich tief. «Du lachst über mich?» «Du verdienst es nicht besser. Wenn der Wind nicht weht, bewegen sich die Bäume nicht. Du hast noch gute sechs Jahre Zeit bis zum bindenden Verlöbnis. Nutze sie!» «Wie denn?» «Wer ist in ihrer Nähe, du oder Dscherlik?» «Ich.» «Siehst du! Gewinne sie für dich. Wie, kann ich dir nicht sagen, denn ich kenne sie nicht; du musst es selbst herausfinden.» «Ich fühle mich so hilflos.» «Denk an das Wasser. Es fliesst ununterbochen und kommt immer ans Ziel. Beharrlichkeit bringt Heil, nur durch Fortschreiten erreicht man den rechten Platz.» Dann schwieg er und ich überdachte seine Worte; sie erfüllten mich mit Hoffnung, aber ich wollte es ihm nicht zeigen und sagte: «Noch kann ich keinen Nutzen in deinen Ratschlägen erkennen; aber ich danke dir trotzdem dafür, dass du mir dein Licht in dieser Sache geliehen hast.» Er nickte und erhob sich. «Noch vieles hätte ich dir zu sagen, denn du liegst mir am Herzen. Ich habe dich aus deiner Mutter geholt und dich von ihr getrennt, bin also deine Nabelmutter und deshalb um dein Wohl besorgt. Aber ich muss gehen.» Ich neigte mich vor ihm und sagte höflich: «Wo immer du auch hingehst, dein Weg sei leicht und gut.» Er lächelte. «Ich freue mich, zu sehen, dass du weisst, was sich gehört. Bedenke noch dies: Auf jedes Ende folgt immer wieder ein
Anfang. Ich weiss es, denn ich habe das Unglück der Welt kennen gelernt.» Damit trat er zurück in den Glanz, der ihn aufsog und davontrug auf seiner Trommel. Noch hörte ich, wie er mir zurief: «Achte auf die Reiter der Nacht und wappne dich; sie werden dein Leben verändern!» – dann war nichts mehr um mich als die Finsternis. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als ich erwachte. Mein Kopf war schwer, aber der Kummer war aus meinem Herzen gewichen. Voller Ehrfurcht dachte ich an den Traum mit dem grossen Dsairang, der meine Nabelmutter war, erkannte ihn als eine Offenbarung der ganz besonderen Art, merkte es auch daran, dass ich das Gespräch noch ganz in Erinnerung hatte, was bei Träumen nicht selbstverständlich ist, wiederholte mir in Gedanken seine Ratschläge immer und immer wieder, machte sie zu meinem Eigentum und mein Selbstvertrauen wuchs und erfüllte mich mit Zuversicht. Es war mir ganz unbegreiflich, wie mutlos ich hatte sein können, denn es war so, wie er gesagt hatte: Die zweite, bindende Verlobung fand erst in einigen Jahren statt. Und hatte er nicht gesagt: Beharrlichkeit bringt Heil, durch Fortschreiten erreicht man den rechten Platz? Ja, ich wollte in Zukunft beharrlich sein. Dass sich mir aber dieses «Fortschreiten» in ganz anderer Weise offenbaren sollte, als ich es mir vorstellte, ahnte ich noch nicht.
In der folgenden Zeit gab ich mir grosse Mühe, Telema gefällig zu sein, half ihr beim Holz- und Dungsammeln, steckte ihr Leckerbissen zu, verteidigte sie gegen die Aufsässigkeiten der jüngeren Kinder – kurz, gab mich als ihren Beschützer. Das schien ihr zu gefallen, sie suchte wieder öfter meine Nähe, und ich genoss ihr Vertrauen, zeigte dies doch,
dass sie mir zugetan war. Nur Dscherliks Ohrringe, die sie täglich trug, störten mich. Sie erinnerten mich an meinen verhassten Nebenbuhler, und der Wunsch, ihn auszustechen, wurde immer grösser. Eifrig übte ich mich im Bogenschiessen, suchte mir immer entferntere Ziele, stellte mir im Geiste Dscherlik als unsichtbaren Gegner zur Seite, dessen Pfeile natürlich nie so sicher trafen wie die Meinen, schloss Wetten mit ihm ab und liess ihn nie gewinnen. Das stärkte mein Selbstvertrauen auf eine Weise, die zwar trügerisch war, mir aber das Gefühl von Überlegenheit gab, die mich meine Eifersucht besser ertragen liess. Denn eifersüchtig war ich, obschon ich das damals nicht erkannte, nur fühlte, dass er mich überrundet hatte, mir zuvorgekommen und ganz einfach mein Feind war. Die Angst, Telema nicht für mich gewinnen zu können, trieb mich an, und in dieser Besessenheit, ihm überlegen sein zu wollen, machte ich wirklich grosse Fortschritte, brachte Beute mit nach Hause und freute mich über das Lob meiner Familie. Die anerkennenden Blicke Telemas waren Balsam auf meine Wunden. Gerne hätte ich ihr die erlegten Tiere allesamt zum Geschenk gemacht, um ihr zu beweisen, sie sehr wohl ernähren zu können; doch das ging nicht an, es wäre ungehörig gewesen, da sie ja einem anderen versprochen war.
So ging die Zeit dahin, und zu meinem Schrecken wurde meine erste Verlobung mit dem Buryatenmädchen in die Wege geleitet. Doch kurz vor dem festgelegten Zeitpunkt ereilte uns die Nachricht, dass meine kleine Braut an einem Fieber gestorben sei. Ich dachte an die Worte des alten Dsairangs aus meinem Traum, wusste, dass sie von Anfang an nicht für mich bestimmt gewesen war, trauerte nur die schickliche Zeit um sie und vergass sie dann.
Sommerlager folgte auf Winterlager, unsere Herden gediehen; auch ich nannte bereits einen ansehnlichen Viehbestand mein Eigen, beherrschte alle erforderlichen Arbeiten und gehörte mit meinen nun vierzehn Jahren zum Kreis der Männer. Noch immer war Bogenschiessen meine Leidenschaft. Ich genoss es, den Pfeil, nachdem er ganz leicht auf meinem Handrücken mit der Bewegung des Pferdes vorund zurückgeschwungen hatte, in vollem Galopp von der Sehne schnellen zu lassen, genoss es, den richtigen Zeitpunkt des Lösens erfühlt zu haben, den winzig kurzen Augenblick der Ruhe, während dem sich das Tier mit allen vier Beinen im Zustand des Schwebens befand. Ich hatte darin grosse Fertigkeit erlangt, und deshalb meldete mich mein Vater an der Teilnahme zum Bogenschiessen beim nächsten Naadamfest an. Natürlich war dies nicht mein erstes Naadamfest, auch nicht das erste Mal, an dem ich mich mit Gleichaltrigen mass, doch waren das immer Pferderennen gewesen und für mich nicht zu vergleichen mit der Ehre, in den Kreis der Bogenschützen aufgenommen zu werden. Voller Stolz und mit grossem Eifer warf ich mich in die Vorbereitungen. Ein Freund meines Grossvaters, selbst ein ehemaliger erfolgreicher Bogenschütze, hatte sich bereit erklärt, mich auf den Wettkampf vorzubereiten. Ich kannte den Mann nicht, hatte ihn noch nie gesehen, fühlte mich aber sehr geschmeichelt, da es von ihm hiess, er könne es heute noch mit den Besten seines Sports aufnehmen. Er hinkte stark. Eine Wunde an seinem Oberschenkel, die sich nicht schliessen wollte, machte ihm seit langer Zeit zu schaffen, und manchmal wartete ich vergebens auf sein Erscheinen. Waren seine Schmerzen aber erträglich, trafen wir uns an einem bestimmten Platz im Grasland und der Greis lieh mir sein Wissen und seine Erfahrung.
Es galt, aus verschiedenen Entfernungen und aus dem Stand ein am Boden stehendes Ziel aus Leder, nicht grösser als eine Hand, zu treffen. Dazu wurden Bogen aus Holz, Sehnen und Birkenrinde verwendet und Holzpfeile mit abgerundeten Spitzen. Die Arbeit war hart, ich musste lernen, alles in meinem Blickfeld auszulöschen, die Ohren jedem Geräusch zu verschliessen, mich nur auf das Ziel zu konzentrieren. Für meine eher ungeduldige Natur war das nicht leicht, aber mein Lehrmeister war streng und liess keine Schlampereien zu. Ich verehrte ihn sehr.
Der Frühling ging in den Sommer über und der Tag des Naadamfestes rückte heran. Wir waren in Aufbruchstimmung, denn diesmal würden wir uns in die entfernte Hauptstadt Ich Churee Chot begeben. Nur unsere Grosseltern, Onkel Kombu und Tante Jendschema, die vor der Niederkunft stand, würden zurückbleiben; Kombu und Grossvater, um die Herden zu hüten, und Grossmutter, um Jendschema bei der bevorstehenden Geburt zu helfen und den Haushalt zu besorgen. Diese Feierlichkeiten, die wir bis jetzt stets in unserer Nähe besucht hatten, würden uns gute drei Wochen von unserem Lager fernhalten. Niemand von uns, ausser Vater, der ja ein berühmter Ringer war, hatte je die Hauptstadt besucht, weder zu Naadam noch sonst, es war bisher kein Anlass dazu vorhanden gewesen. So kannten wir sie nur aus seinen Beschreibungen, die er am Feuer zum Besten gab, nachdem er, mit Auszeichnungen und Geschenken beladen, von dort zurückgekommen war. Kein Wunder also, dass wir Jungen kaum mehr zu halten waren. Die Erwachsenen nahmen es ruhiger, aber auch sie freuten sich über die Abwechslung. Wir würden ungefähr eine Woche unterwegs sein bis dorthin, da
wir auch einige Schafe und Yaks zur Selbstversorgung mitführten – Tee ohne Yakmilch war wie ein Reiter ohne Pferd –, und das würde uns an einem schnellen Vorwärtskommen hindern. Am frühen Morgen des festgelegten Tages bauten die Frauen die Jurten ab, die Männer brachten die Packpferde und halfen beim Aufladen, und noch bevor die Sonne über das Grasland schaute, waren wir reisefertig. Die Zurückbleibenden winkten uns nach und Kombu ritt noch eine Weile neben uns her, bevor er, versehen mit vielen guten Wünschen für sein neues Kind und Jendschema, von uns Abschied nahm. Ich war in Hochstimmung. Der Ritt durch das sattgrüne, golden schimmernde Grasland, dessen erdschwerer, von den Hufen unserer Tiere aufgerührter Dunst sich mit dem sonnengetränkten, sanften Wind mischte, die freudige Erwartung auf das Kommende und die Nähe zu Telema liessen meine Seele jubeln. Sooft es ging, lenkte ich meinen Braunen an ihre Seite, und ihr Blick und ihr Lächeln hiessen mich willkommen. Was uns verband, benötigte keine Worte. Noch fühlte ich ihre Wange an der meinen, fühlte wieder die Seligkeit, die mich überflutet hatte, als sie ihre Arme um meinen Nacken schlang, damals, Anfang des Frühlings, zwischen dürren Gräsern und jungem Grün, wo wir uns ein Versprechen gaben, jenseits jeder Vernunft, aber durchdrungen von einer tiefen Zuneigung. Wir liebten uns.
Ich Churee Chot liegt am Fluss Tuul, nördlich des Bogd-UulGebirges in einer weiten Senke, windgeschützt umgeben von hohen, wasserreichen Bergen, die der Bevölkerung Leben und ihrem Vieh Gedeihen bescheren. Etwas erhöht wacht Urga
über die Siedlung, die Tempelstadt mit ihren unzähligen Jurten und vereinzelten Steinbauten, wo Pilger sich drängen und safrangelb gekleidete Priester das Muschelhorn blasen. Je näher wir der Stadt kamen, desto mehr Menschen begegneten uns. Aus allen Himmelsrichtungen strömten sie zusammen, ganze Familienverbände mit Sack und Pack, und das Grunzen der Yaks, das Schreien der Trampeltiere und Blöken der Schafe übertönte oft die gerufenen Anweisungen der Männer. Am Rande Ich Churee Chots, auf dem dafür abgesteckten Feld, suchten wir uns zwischen anderen einen Platz, und noch bevor die Sonne unterging, waren unsere Gers wohnlich eingerichtet. Während die Frauen sich um das Essen kümmerten, gingen die Männer auf der Suche nach bekannten Gesichtern umher; es begann ein Kommen und Gehen von Verwandten und Bekannten, der Arrak floss, die Festlichkeit steigerte sich und zog sich bis weit in die Nacht hinein. Die kleinen Kinder schliefen schon lange zwischen den Füssen der Erwachsenen, die Tiere hatten sich zur Ruhe niedergelegt, die Frauen wurden still und manch einer der Männer fand seine Jurte nicht wieder. Am nächsten Tag trafen weitere Familien ein, der Platz füllte sich, die Abstände von Jurte zu Jurte verringerten sich, eine kleine Stadt ausserhalb der Grossen war entstanden. Ich durchstreifte mit meinen Vettern und Basen das Gelände, und wir begutachteten die von Händlern angebotenen Waren wie Sattelzeug, Peitschen, Stiefel, seidene Deels, bunte Teppiche, kunstvoll gehämmerten Zierat, schielten begehrlich nach den vielfarbigen Süssigkeiten und Zuckerstücken, lauschten andächtig den Musikanten und den Sängerinnen, die, je nach Herkunft und Art, ihre Lieder zum Besten gaben. Ab und zu schielte ich nach Telema, unsere Blicke trafen sich, und wie selbstverständlich fanden wir uns abseits der andern im Schutze einer Bretterwand, die uns vor neugierigen Augen
verbarg. Es blieb uns nur eine kurze Weile, nur einige köstliche Spannen Zeit inmitten des lauten Menschengewühls. Ich hielt sie fest, sie schmiegte sich an mich wie ein junges Zicklein, die Welt um uns versank in einem Gefühl der Wärme und Glückseligkeit. «Glaubst du, er ist auch hier?», fragte sie leise, und ich wusste, wen sie meinte. «Wäre wohl möglich.» «Was tun wir dann?» «Ich weiss es nicht.» «Liebst du mich, Bator?» «Ja.» «Mehr als deine Peitschen?» Sie lächelte schelmisch, und ich gedachte der Begebenheit am See vor einigen Jahren und lächelte auch. «Mehr als alle meine Peitschen, die ich jemals hatte und noch haben werde.» «Ich würde so gerne mit dir eine Jurte teilen, Bator.» Ich erinnerte mich auf einmal der Ratschläge des grossen Dsairangs, der meine Nabelmutter war, fühlte in meiner Seele eine starke Sicherheit, die Gewissheit, dass sich alles zum Guten wenden würde, und sagte: «Das will ich auch, Telema – und das werden wir auch. Wenn wir nur nie aufhören, uns zu lieben.» «Du wirst immer in meinem Herzen sein, Bator.» Noch einmal umarmten wir uns, ich strich mit meinen Lippen über ihre Augen, über ihr kunstvoll aufgestecktes, nach Sommerwind und Herdfeuer duftendes Haar – ein Geruch, der für mich Geborgenheit und Heimat bedeutete. Ein Poltern und Kratzen an der Bretterwand schreckte uns auf, schnelle Schritte, die sich entfernten, sich in Luft aufgelöst hatten, niemandem zu gehören schienen. Getrennt mischten
wir uns wieder unter die Menge, schlossen uns unserer Verwandtschaft an. Keiner schien etwas bemerkt zu haben. An diesem Abend beteiligte sich Vater nicht an den Festlichkeiten, denn am nächsten Tag, dem ersten des Naadamfestes, begannen die zweitägigen Ringkämpfe. Dabei wollte er einen klaren Kopf haben. Wiederum waren schöne Preise für den Sieger ausgesetzt worden, und er gedachte, diese Ehre, wie schon so oft, zu erringen. Der Morgen stieg klar und golden über den Bergspitzen empor. Schon früh summte das Lager vor Geschäftigkeit und die Menschen begaben sich in ihren schönsten Festgewändern zum Ort des Kampfes, um sich einen guten Platz zu ergattern. Die farbenfrohe Menge, das silberblitzende Geschmeide der Frauen, das Blöken der Schafe, das aufgeregte Bellen der Hunde gaben dem Anlass den Glanz, der ihm gebührte. Auch unsere Frauen hatten sich geschmückt, sie brauchten einen Vergleich nicht zu scheuen. Ihre Deels waren aus bestickter Seide, ihre Stiefel aus feinstem Leder, ihr Kopf und Brustschmuck dicht behangen mit silbernen Ketten. Ihr Ohrgehänge fiel bis auf die Schultern, und an den Handgelenken der Verheirateten klirrten leise die Armbänder. Kaum konnte ich die Augen von meiner Liebsten abwenden. Sie erschien mir schön wie das Morgenrot, und erst als Mutter mich mit einem warnenden Blick bedachte, kehrte ich zurück in die Gegenwart und erkannte mein ungehöriges Benehmen. Ich hatte auf einmal keine Lust mehr, dem Ringkampf beizuwohnen, das würde ich morgen nachholen können. So nahm ich Pfeil und Bogen und ritt hinaus in die Ebene, weg vom Getümmel, wollte meine Ruhe haben, um mich meinerseits vorzubereiten auf das am dritten Tag bevorstehende Schiessen. In der flachen Senke erblickte ich zwei Männer, einer davon ebenfalls mit Pfeil und Bogen, der offensichtlich vom anderen
angeleitet wurde. In diesem älteren Mann, der beim Gehen stark hinkte, erkannte ich beim Näherkommen meinen Lehrer. Erstaunt, dass ich nicht sein einziger Schüler gewesen sein sollte, ritt ich heran und zügelte mein Pferd kurz vor ihnen. Der Schütze wandte sich um – und er war es, Dscherlik, mein Gegner. Seit der Verlobungsfeier vor einigen Jahren hatte ich ihn nicht wiedergesehen. Er war etwas kleiner als ich, recht stämmig, und sein rundes Gesicht strahlte vergnügt aus irgendeinem Grunde, den ich nicht erkennen konnte. Er liess seine Waffe fallen, griff meinem Braunen in die Mähne und hielt ihn fest, während ich absass. Das machte mich wütend, denn ich brauchte niemanden, der mir dabei half, am allerwenigsten ihn. Er lachte und seine Zähne waren weiss und glänzend, unwillkürlich fuhr ich mit der Zunge über die Meinen, fühlte, dass ich vergessen hatte, sie mit dem Knochenstäbchen zu reinigen, und das gab mir ein seltsames Gefühl der Unterlegenheit. Am liebsten hätte ich mich davongemacht, doch dazu war es zu spät. Stattdessen begrüsste ich ehrerbietig die beiden, die meinen Gruss erwiderten, denn so gehörte es sich. «Du musst Bator sein», sagte der, den ich heimlich meinen Feind nannte. «Ich freue mich, dich wiederzusehen. Mein Grossvater hat mir viel Gutes von dir erzählt.» «Das ist dein Grossvater?» Ich konnte mein Erstaunen nicht verbergen. «Hast du das nicht gewusst?» Nein, das hatte ich nicht, nie hatte ich ihn gesehen bei unseren Familienfeiern. Ausgerechnet sein Grossvater! Ich schaute meinen Lehrer an, den ich so verehrt hatte, fühlte mich auf einmal unbehaglich, irgendwie verraten, der Atem wurde mir eng und Hitze stieg mir ins Gesicht. Das machte die Sache nicht besser, denn nun war es offensichtlich, dass ich die Lage, in die ich geraten war, nicht beherrschte. Der alte Mann
musterte mich aufmerksam, aber Dscherlik schien nichts zu bemerken, nahm Pfeil und Bogen wieder auf und sagte: «Komm, wir wollen uns messen, das ist eine gute Gelegenheit.» Da hob der Alte die Hand und schüttelte den Kopf. «Kein Schütze breitet vor einem Mitstreiter seine Fähigkeiten vor dem Wettkampf aus, mein Sohn, das erzeugt nur Unsicherheit. Ihr seid beide gut, jeder von euch wird gewinnen und mir Ehre machen, da bin ich mir gewiss. Bator, wir sehen uns auf dem Kampfplatz.» Damit war ich entlassen. Ich preschte davon, als wären alle bösen Geister der Steppe hinter mir her, empfand das, was soeben geschehen war, als persönliche Niederlage und war wütend, wütend auf meinen Grossvater, der mich Ahnungslosen dem Oberhaupt derer vom See überlassen hatte, wütend auf meine Eltern, auf Marin, auf meine ganze Sippe. Und dann dieser widerliche Dscherlik mit seinem runden Kopf und den lächerlich weissen Zähnen, der geglaubt hatte, mir mein Pferd halten zu müssen. Auf ihn war ich ganz besonders wütend, vor allem deshalb, weil ich ihn trotz allem nicht hassen konnte, denn er war mir freundlich und arglos entgegengekommen, seine Augen hatten gestrahlt vor Freude über was auch immer. Ich fühlte, dass mich sein Wesen unter andern Umständen angenehm berührt hätte. Das war das Schlimmste!
Am Abend des zweiten Tages verliess Vater den Kampfplatz wiederum als Sieger. Dementsprechend feuchtfröhlich verlief die Nacht, Gratulanten gingen ein und aus, und ich fand die Ruhe, die ich dringend für den bevorstehenden Wettkampf benötigt hätte, in unserer Jurte nicht. Deshalb ritt ich hinaus in die Steppe und hüllte mich in meinen Deel. Die Nacht war
warm und duftete nach Blüten, die Sterne blinkten vom samtblauen Firmament und später stieg der Mond hinter den Hügeln auf und liess das Grasland silbergrün erglänzen. Das gedämpfte Geräusch von Hufen drang durch die Stille. Ich ahnte Telema, bevor ich sie erkannte, sie glitt vom Pferd und ich fing sie in meinen Armen auf. «Ich habe dich wegreiten sehen», sagte sie einfach und dann sprachen wir nicht mehr, vergassen die Zeit und alles um uns herum, gaben uns unserer Liebe hin, die verboten, aber süsser war als alles, was ich je erlebt hatte. Wir waren beisammen und ich hielt sie umschlungen, ihr Kopf lag an meiner Schulter, ihr Atem strich sanft über mein Gesicht, ihr aufgelöstes Haar fiel golden über ihre nackten Brüste, ich vergrub mein Gesicht darin und küsste die zarten Knospen, die sich mir bereitwillig darboten. Dann schliefen wir ein. Erst die Kühle des Morgens weckte uns, der Tau auf den Gräsern funkelte in der aufgehenden Sonne, der neue Tag brach an. Da ritten wir zurück, befürchteten, dass unsere Abwesenheit bemerkt worden war, gaben uns Mühe, dies zu vertuschen, zweifelten aber in unserer Glückseligkeit keinen Augenblick daran, dass sich nun alles zum Guten wenden würde. Deshalb traf mich die gedrückte Stimmung meiner Familie unvorbereitet. Die erschrockenen Augen meiner Mutter, die finstere Miene meines Vaters und die stille Missbilligung der Grosseltern gaben mir ein unbehagliches Gefühl. Ich überspielte es mit vorgetäuschter Fröhlichkeit, ass das Mahl, das Mutter für mich vorbereitet hatte, zog meine neuen Kleider an, die mich als Schützen auswiesen, das Barett, den Schutz um Brust und Zeigefinger, die Jacke mit dem weich gepolsterten linken Ärmel, nahm Pfeil und Bogen und begab mich zum Kampfplatz. Niemand hatte mit mir gesprochen, niemand mir Glück gewünscht, keiner schien mich begleiten
zu wollen. In der Jurte Telemas hatte sich nichts geregt, die Türe war verschlossen. Selbst meine Vettern und Basen waren schweigend herumgestanden und hatten mich furchtsam angestarrt. Das verunsicherte mich zutiefst, mein schlechtes Gewissen regte sich, aber auch Trotz und Wut. Was war denn so schlimm daran, dass wir uns liebten? Dafür konnten wir beide nichts, unsere Gefühle füreinander bestanden schon lange Zeit, waren schon immer dagewesen. Nicht wir handelten schlecht, sondern Marin, der seine Pflegetochter Dscherlik versprochen hatte, ohne mich nur zu fragen. Es war nicht unsere Schuld. So dachte ich. Gebeutelt von einem Gefühl aus Unbehagen, Trauer und Wut erreichte ich den Kampfplatz, sah, dass Dscherlik schon da war, wünschte, ihm nie begegnet zu sein und musste der Versuchung widerstehen, einfach alles hinter mir zu lassen, Telema zu holen und davonzureiten. Stattdessen begrüsste ich ihn der Ordnung gemäss und zusammen schlossen wir uns den andern achtzehn Mitkämpfern an.
Wiederum war der Himmel voller Sterne, aber für mich war die Nacht stockfinster. Am selben Ort, an dem ich vor einigen Stunden mit Telema so glücklich gewesen war, versank ich in schiere Verzweiflung. Es war vorbei, ich hatte verloren! Nein, nicht den Kampf, da war ich zusammen mit Dscherlik und vierzehn anderen siegreich gewesen. Ich gehörte nicht zu den vier, die die geforderten Ziele nicht getroffen hatten. Und trotzdem – mein Leben war zu Ende! Kein Pferdegetrampel, das mir das Nahen meiner Liebsten kündete, kein Licht erhellte die Schwärze meiner Sinne, meine
Seele hatte sich im wirren Gestrüpp meiner Gefühle verfangen, wusste nicht ein noch aus. Mein Vater hatte mir gleich nach dem Wettstreit mitgeteilt, dass ich nicht mit der Familie zurückkehren würde, dass er beschlossen habe, mich hier in die Obhut der Klosterschule und somit meines Onkels, des Lamas, zu geben, wo ich in Schrift, Wort und Zahlen unterwiesen werden sollte. «Willst du mich bestrafen, nur weil ich Telema liebe?», fragte ich aufgebracht. «Du hast dich ungehörig benommen, deshalb kannst du nicht mehr in ihrer Nähe sein. Das schmerzt auch mich und deine Mutter, aber es muss sein.» «Warum weisst du davon, es hat uns niemand gesehen.» «Doch, man hat euch gesehen, und zwar bei der Umarmung hinter dieser Bretterwand.» «Und wer?» «Das sage ich dir nicht, es ist auch nicht wichtig. Ihr wart in der Nacht zusammen?» «Wir lieben uns, Vater, wir haben uns immer geliebt, das habe ich oft schon gesagt, es kann keine Überraschung sein für euch.» Er nickte. «Dann stimmt es also! Das war nicht richtig, Sohn, du hast gewusst, dass sie versprochen ist. Sie trägt Dscherliks Ohrringe und bald auch seine Armbänder. Auch sie hat sich vergessen. Marin ist sehr böse und hat beschlossen, seinen zukünftigen Schwiegersohn bis zur Hochzeit in seiner Familie aufzunehmen. So werden sich die beiden näher kennen und lieben lernen.» Das war, als hätte mir jemand das Herz aus dem Leib gerissen. Mir wurde schlecht. «Das kann Onkel nicht tun, Vater, Telema mag ihren Bräutigam nicht.» «Genau deshalb, sie wird es lernen.»
«Warum hat Marin uns nicht gefragt? Ich wäre ihm ein guter Schwiegersohn gewesen.» «Du vergisst, dass du die Seelen deiner Brüder in dir trägst. Marin befürchtet dadurch für seine Familie Unheil. Deshalb.» Es traf mich wie ein Peitschenhieb. «Glaubst du das auch?», fragte ich kleinlaut. Er schüttelte den Kopf. «Nein, weder Mutter noch ich haben jemals so gedacht. Nirgends steht so etwas geschrieben, aber Marin glaubt es.» Dagegen war nicht anzukommen; ich fühlte, dass ich verloren hatte. Vater legte mir die Hand auf die Schulter. «Lass den Kopf nicht hängen, Bator. Es gibt noch viele schöne Mädchen auf der Welt. Eines davon wird dich lieben und du sie auch. Zudem ist Telema nicht der einzige Grund, weshalb du zu den Mönchen gehst. Wie du weisst, ist unser Reichtum stetig gewachsen, wir besitzen einige hundert Bodos mehr als vor zwei Jahren. Die Familie braucht jemanden, der den Überblick hat und sich in Geschäften des Handels und des Tausches in Wort und Schrift auskennt. Das sollst du sein, denn du hast einen hellen Kopf und begreifst schnell, vielleicht genau deshalb, weil du die Fähigkeiten deiner Brüder besitzest. Das ist ein Vorteil, den die wenigsten haben. Es wäre reine Verschwendung, dies nicht zu nutzen. Gräme dich also nicht und lerne, denn Wissen ist das Kostbarste, das es gibt auf der Welt.» So war meine Lage, und ich fragte mich, ob mich der Dsairang, der meine Nabelmutter war, verhöhnt hatte. Seine Ratschläge hatte ich befolgt, alles war auf bestem Wege gewesen – und nun das.
Am nächsten Tag, noch bevor die Pferderennen begannen, musste ich mich von meiner Familie verabschieden. Mutter
weinte, Marin sprach kein Wort, aber Tante Düüdej flüsterte mir zu: «Ich habe die Geister befragt, sie sind dir gut gesonnen, fürchte dich nicht.» Die andern standen bedrückt herum, sagten, «wo immer du auch hingehst, dein Weg sei leicht und gut», und wünschten mir damit Glück. Pant je brachte unsere Pferde, meine Vettern führten die Tiere heran, die mein Vater, der mich begleitete, dem Abt für meine Ausbildung überlassen wollte und die sie später hinauf zum Kloster treiben würden, dann sassen wir auf und ritten davon. Telema hatte sich nicht blicken lassen. Das betrübte mich zutiefst. Viele Menschen waren unterwegs zum Klosterberg; Pilger, Gläubige, Arme und Reiche. Einige der Pilger warfen sich der Länge nach zu Boden, zogen mit den Fingerspitzen einen Strich in den Staub, erhoben sich, legten ihre Füsse an diese Markierung, warfen sich wieder nieder und so weiter. Auf diese Art bewegten sie sich vorwärts, ihrem Gott zu Ehren und zur Sühnung ihrer Sünden. Das erschreckte mich sehr, kannte ich doch in meinem bisherigen Glauben keine solche Busse und der Gott, den sie Buddha nannten, erschien mir grausam und fürchterlich. Vor dem Tor, einem frei stehenden, einfachen Rundbogen mit farbig glitzerndem Ziegeldach, sassen viele Bettler mit ihren Schalen. Sie schienen sich nicht zu ängstigen über die vier grimmig blickenden, tönernen Löwen, die den Eingang bewachten, drehten ihre Gebetsmühlen und warteten auf Almosen, welche die Eintretenden freigebig verteilten. Aus diesem Haufen erhob sich, als wir uns näherten, eine Gestalt, schlank und aufrecht, trat heran und griff meinem Braunen in das Halfter. Telema! Schnell blickte ich zu Vater, doch er sah zur Seite, tat, als wüsste er von nichts.
Da glitt ich vom Pferd, wir standen eng beieinander, berührten uns aber nicht, denn vor aller Augen wäre das ungehörig gewesen. Ihre Augen waren gerötet und das schmerzte und freute mich zugleich, zeigte es mir doch ihre Liebe. Wir sahen uns an, als hätten wir uns noch nie gesehen. Wir wussten, dass es das letzte Mal für lange Zeit sein würde. Vieles wollte ich ihr sagen, aber ich fand die Worte nicht, drückte ihr nur die Zügel meines Braunen in die Hand und sagte: «Hüte ihn für mich, bis ich zurückkomme.» Sie neigte den Kopf und flüsterte: «Ich werde ihn hüten, bis du zurückkommst.» Dann löste sie das Amulett, das ihr Tante Düüdej geschenkt hatte, von ihrem Hals und gab es mir. «Nimm es und bring es mir wieder.» Dann ging sie, führte das Pferd, das sich fragend nach mir umblickte, am Zügel vorsichtig durch die Menge und verschwand aus meinen Augen. Sie hatte sich nicht umgewandt. Ich wusste, dass sie weinte. Mit der nächsten Welle der Gläubigen wurden Vater und ich durch das Tor gespült, hinein in die Klosterstadt Urga und damit für mich in eine neue Welt.
Um die ganze, weitläufige Klostersiedlung herum zieht sich anstelle einer Mauer ein Rundpfad, der begangen werden kann und zur Meditation dient. Frei ist von da die Sicht ins Tal und auf die Gläubigen, die in dichten Reihen die Wege erklimmen, wie Ameisen, beharrlich und emsig, beseelt vom Gedanken, ihren Göttern zu huldigen, Gnade zu erbitten und um Erhörung zu flehen. Innerhalb dieses Rundpfades drängt sich auf Klostergebiet Heiligtum an Heiligtum, Stupas und prächtige Tempel folgen
eng aufeinander, viele bewacht von erschrecklich aussehenden Dämonen, deren Anblick mich ängstigte, mir beinahe das Blut in den Adern gefrieren liess. Für diese Gebäude wurden Holz und Steine von weither herangebracht, denn im Grasland fand man solches nirgends. Da gibt es den Golddach-Tempel, den Blumen-Tempel und den Tempel der heiligen Schriften, der medizinischen Schriften, der tausend Buddhas, der Mystik und noch viele andere, jedem Gott den Seinen. Das Küchenhaus mit dem anschliessenden riesigen Essraum, der Dukhang, in dem auch die Klosterschule untergebracht war, und die überdachte Halle der Gebetsmühlen waren ebenfalls fest gebaut, aus fremdartigem Holz. Ringsum schlossen sich die Jurten der Mönche an, so weit das Auge reichte, und alles wurde überragt vom einzigen Wohnhaus aus Stein, dem roten Palast des Wundur Gegen, der alljährlich einige Wochen hier verbrachte. An Bambusstäben flatterten seidene Gebetsfahnen, einige neu, andere vom Wind zerfetzt. Die Luft war erfüllt vom Murmeln der Betenden, einer bunten Vielfalt an Männern, Frauen und Kindern, die ihre Opfergaben ehrfürchtig darbrachten, dem feinen Klingen der unzähligen, an den Tempeldächern befestigten, im Winde schwebenden Glöckchen, dem Knarren der Gebetsmühlen, dem dumpfen Ton des Gongs und dem Schwatzen und Lachen der Tempeldiener, die in Gruppen zwischen den Besuchern einhergingen und sich zu meinem Erstaunen wenig andachtsvoll verhielten. Mein Vater hatte mich in den Golddach-Tempel geführt und mich dort meinem Onkel, seinem Bruder, übergeben, der fortan mein Erzieher und Lehrer sein würde. Dann umarmte er mich und seine Stimme war rau, als er sagte: «Lerne, mein Sohn, zu unserer Ehre.» Dann verliess er mich.
Ich hatte Mühe, mich einzuleben. Es war weder der strengen Zucht, der wir Novizen unterstanden, noch des vorgegebenen Tagesablaufes wegen. Daran konnte ich mich gewöhnen. Mein Onkel, der Kombu sehr ähnlich sah, war freundlich und geduldig. Ich schlief mit sechs anderen Schülern, die nun meine Kameraden waren, in seiner Jurte. Ein junger Mönch wurde mir zugeteilt, der mir beistand und mich behutsam in die Regeln des Klosters einführte. Aber schmerzlich fehlte mir Telemas Nähe, das Wiehern meines Braunen, die wilde Freiheit meines bisherigen Lebens. Nur schwer kam ich mit dem täglichen Stillsitzen, dem für mich mühsamen Lernen der Schriftzeichen, der Zahlen zurecht. Das eintönige Hersagen der heiligen Verse, die wir auswendig lernen mussten, schläferte mich ein, und ich sah keinen Nutzen darin. Ich war nun, wie alle andern, in das safrangelbe Gewand eines Bettelmönchs gekleidet. Unsere Haare waren abgeschoren und unsere Füsse staken in Sandalen. Beim Lernen umsummten unsere Stimmen wie ein Bienenschwarm die im Schein der Butterlampen glänzenden, nackten Kugeln unserer Häupter, und der Duft der Räucherkerzen benebelte unsere Sinne. Dreimal am Tag fanden wir uns an den langen Tischen im Küchenhaus ein. Bei jeder Mahlzeit wurden unsere Essschalen reichlich bis obenhin mit Reis und Gemüse gefüllt, ergänzt mit einem gut gewürzten, nahrhaften Linsenbrei. Manchmal gab es frisches Obst dazu. Zu hungern brauchten wir nicht, obschon ich anfangs das Fleisch vermisste, das, wie ich erfahren sollte, nur ganz selten und auch nur in der kalten Jahreszeit gereicht wurde. Sommers wie winters ertönte in der sechsten Morgenstunde vom Turm des Hofeinganges zur Klosterschule der Weckruf des Muschelhorns. Dieses Gebäude war Versammlungsort und Sitz der Studien aller Richtungen. Kaum war der Ton verhallt,
flammten die ersten Lichter in den Jurten der Mönche auf. Die Rufe des Gebkös, des obersten Polizeilamas, trieben uns zur Eile. Ein kurzes Morgenessen, das Muschelhorn ertönte noch einmal, Paukenschläge und Trommelwirbel mischten sich in den Klang, auf den Pfaden wurde es lebendig. Erst waren es einzelne Mönche, die fröstelnd und mit vor dem Mund dampfendem Atem einherschritten, dann kamen sie in Gruppen, eilten aus allen Ecken der Klosterstadt zum Tshogtschen Dukhang. Sie zogen ihre Stiefel aus, legten den gelben Hut auf die linke Schulter und verschwanden barhäuptig und barfüssig in der Halle. Wir Novizen hatten uns unter der Aufsicht des Gebkö im Vorhof in Doppelreihe aufzustellen, das Gesicht dem Tempel zugewandt. Noch immer drängten in dicken Trauben die Mönche durch das Mitteltor. Dann ebbte der Strom ab, nur einige Nachzügler eilten im Laufschritt mit fliegenden Gewändern heran. Die Türschliesser mit ihren breiten Ringen an den Oberarmen schlugen die Flügel des Tores krachend zu. Alsbald gab uns der Aufseher ein Zeichen. In wilder Hast entledigten wir uns der Schuhe, stürmten brüllend auf das Tor zu, stiessen, pressten, schrien, bis sich endlich die Pforte wiederum öffnete. Erst jetzt durften wir eintreten, hatten schnell und ohne Lärm unsere Plätze einzunehmen, uns in Gebetsstellung niederzulassen. Dann wurde es still, wir warteten auf den Khanpo, den Abt. Der Vorbeter und der Leiter des Götterdienstes wie die übrigen Würdenträger hatten ihre erhöhten Plätze eingenommen, der Gebkö und seine Helfer die Ihrigen links und rechts des Haupttores. Die Musikkapelle war in Grüppchen über den ganzen Saal verteilt; da die Flötenspieler, dort die Posaunenbläser und woanders die Klarinettisten und Tamburinschläger. Der Abt erschien, bestieg seinen Thron und liess sich in die gelben Kissen fallen. Mit tiefster Stimme begann nun der
Vorbeter den heiligen Text vorzusingen, die Töne eines Silberglöckchens begleiteten ihn, die Mönche fielen ein und sprachen mit. Paukenschläge ertönten, die Posaunen schmetterten, die Klarinetten quietschten, die Tambourine pochten, der Abt schwang das klingende Kultglöckchen und der Chor der Mönche schwoll an, getragen vom feierlichen, immer wiederkehrenden «om mani padme hum». Wenn dann die Luft von den unzähligen Butterlämpchen warm und stickig roch, uns der Schweiss über das Gesicht troff, der Hals trocken und die Stimmen rau wurden, meine Beine sich vom ungewohnt langen Sitzen kribbelig anfühlten, dann endlich befahl der Abt eine Pause. Schnell bestimmte der Aufseher aus uns Neulingen die dreissig Jüngsten, zu denen auch ich gehörte; seine Helfer schwangen die Knüppel und stiessen die Tempeltore auf; wir rannten zur Küche, in der mittlerweile der Tee in den riesigen Kesseln wallte und der Küchenlama mit Stock und Donnerstimme regierte. Wir langten uns behände aus den Wandgestellen einen Holzeimer, traten an den nächststehenden Kessel, wo uns die Küchenhelfer mit grossen Schöpfern das kochende Getränk in unsere Eimer füllten. Im Eilschritt ging es zurück zum Tempel, wo andere Novizen an den Seiten der Pforten Tischplatten auf Holzböcken aufgestellt hatten. Auf diese Platten wurden fingerdicke, handtellergrosse Butterscheiben gelegt, eine Schnitte über die andere, und alles musste in Windeseile geschehen, sonst machten uns der Gebkö und seine Geïk mit ihren Peitschen Beine. Auf einen Wink des Ordner-Lamas begannen wir, den Sitzreihen entlangzulaufen und den dampfenden Tee zu schöpfen, die Butterträger folgten und verteilten je zwei Schnitten unter den Mönchen, die nun davon in das heisse Getränk gaben, einige Klümpchen wieder herausfischten und sich damit Gesicht, Kopf und Hände beschmierten. Erst dann tranken sie, die Butter sorgfältig
zurückblasend, andächtig und mit grossem Genuss. Die zurückgeblasene Butter verblieb im Napf und gab beim Nachfüllen, das drei- bis viermal geschah, einen verdünnten Aufguss. Eben noch war der Saal durchdrungen gewesen von Gebeten und Musik, jetzt war nur noch ein Schlürfen und Schmatzen, ein Pusten und Schlucken zu vernehmen. Und dann, als der Tee zur Neige ging, war nichts mehr als die Stille der Erholung, der Dankbarkeit. Nur der schwere Stock des Gebkö stiess dumpf auf dem Boden auf: dum-dum, dum-dum, dum-dum. Dann trockneten die Mönche ihre Schalen mit dem Ellenbogen oder einem Zipfel ihres Gewandes und steckten sie wieder ein. Wir aber trugen die Bottiche zurück in die Küche, wo die Küchenhelfer mit ihren schweren, an Lederriemen auf dem Rücken getragenen Holzkübeln schon unterwegs zur Zisterne waren, um an den langen Stangen das kalte Wasser zur neuen Teezubereitung hochzuschöpfen. Die Pause war zu Ende, der Götterdienst wurde fortgesetzt, und zwar so lange, bis der Sand im Stundenglas dreimal durchgeronnen war. Das wiederholte sich alle Tage und war eine harte Prüfung, denn wir durften erst anschliessend unseren Durst löschen, und ich habe Schüler gesehen, die Butterschnitten in ihrem Gewand verborgen hielten und sie später heimlich zum heissen Tee genossen. Dann begann der Unterricht. Sutras wurden uns vorgetragen. Wir mussten lernen, sie im Gedächtnis zu behalten, und das war schwierig, beinhalteten sie doch Worte, die ich nicht kannte, noch nie gehört hatte. An meinem Beschützer lag es später, mir alles, was ich nicht begriffen hatte, zu erklären und mir die heiligen Verse zu wiederholen, bis ich sie in meinem armen Kopf festhalten konnte. In der Tagesmitte durften wir uns an den langen Tischen des Küchenhauses versammeln; das Essen wurde verteilt, dasselbe
Gericht wie morgens und abends. Hungrig, wie wir waren, schmeckte das Gebotene himmlisch, und wir konnten uns satt essen. Es gab davon reichlich. Die tägliche Abhörung des Gelernten brachte Abwechslung und Bewegung in den Tagesablauf, obschon es mir am Anfang gar nicht zusagte, mich meiner Unwissenheit wegen kaum daran beteiligen zu können. Zu dieser Abhörung begaben wir uns ins Freie, suchten zwischen den Heiligtümern einen ruhigen Platz, und während ich mich mit der einen Hälfte meiner Kameraden auf den Boden setzte, bauten sich die anderen vor uns auf. Sie schrien uns ihre Fragen zu, ballten dabei die Faust und sprangen mit wirbelnden Beinen in die Luft. An uns war es, diese zu beantworten, was wir ebenfalls mit Springen und Stampfen und zusätzlichem Händeklatschen taten; dann wurde gewechselt. Das Ganze war überaus lustig anzusehen, mehr wie ein Spiel als wie ernsthafte Arbeit, erfüllte aber durchaus seinen Zweck, denn so erhielten wir die nötige Bewegung und überprüften unser Gelerntes. Nach und nach wusste auch ich etwas beizufügen und es begann mir zu gefallen. Es war ein Kräftemessen geistiger Art. Auch den Übungen des Ballspiels konnte ich Freude abgewinnen, sie stachelten meinen Ehrgeiz an und bildeten den Ausgleich zur Kopfarbeit. Mit meinen Kameraden verstand ich mich recht gut, besonders mit einem Burjatenjungen, der am selben Tag wie ich hergekommen war und ebenfalls nur eine befristete Zeit hier sein würde. Mit ihm freundete ich mich an; wir waren fast immer zusammen. Aber in meiner Seele brannte die erlittene Niederlage weiter und der Gedanke daran, dass Dscherlik dasselbe mit Telema tun könnte, was ich mit ihr getan hatte, machte mich zornig und unwillig.
Es war nach einigen Wochen, als ich meinem Onkel, der nicht nur über das Wissen der Heilslehre und das der Philosophie verfügte, sondern sich zudem viele Jahre mit dem Studium der Medizin befasst hatte, als Helfer zugeteilt wurde. In der Zeit meines Aufenthaltes in seiner Jurte hatte ich ihn als ruhigen, freundlichen Mann kennen gelernt. Er sprach auch jetzt freundlich zu mir, übergab mir eine Kiste, befahl mir, sie ihm hinterherzutragen, und führte mich in den Teil des Klosters, der für die Kranken bestimmt war. Dort war ich noch nie hingekommen, und ich staunte über die vielen Menschen, die auf dem freien Platz geduldig auf unser Erscheinen warteten, murmelnd ihre Gebetsschnüre befingerten, in ihren Augen den Blick der Hoffnung auf Genesung und Heilung, den ich noch oft sehen sollte. Mein Onkel setzte sich und befahl mir, die Kiste zu öffnen. Sie enthielt eine grosse Anzahl kleiner, rechteckiger Kästchen, die gefüllt waren mit Edelsteinpulver, Wolfszähnen, Stückchen von Affenknochen, getrocknetem Schlangenfleisch, Eulenkot und den verschiedensten Medizinkräutern, zerriebenen, zerstossenen und geschnittenen. Der Duft, der davon ausging, war eine Mischung aus bitter und süss, aus herb und sanft; er legte sich über die Menge und überdeckte die Gerüche nach Schweiss und Siechtum. Ein jeder wurde angehört. Der Meister bildete sich sein Urteil, indem er Fingernägel, Zunge und Augen prüfte, Haare und Haut befühlte. Dann erst mischte er aus der Vielfalt der Kräuter die passende Medizin. Manchmal schlug er aber auch in seinem Kräuterbuch mit den farbenprächtigen Zeichnungen nach, das, wie er mir sagte, zweihundertsiebenundfünfzig Pflanzen beschrieb und Auskunft gab über achtzig tierische und dreizehn mineralische Stoffe. Die Kranken waren denn auch voller Ehrfurcht und verbeugten sich tief vor ihm. An mir
war es, die als Dank dargereichten Gaben in Empfang zu nehmen und in die dafür vorgesehenen Körbe zu legen. Die Sonne stand schon hoch am Himmel und immer noch war der Hof voller Leute; sie schienen nicht weniger zu werden. Die Luft wurde heiss und stickig, der Schweiss rann mir in die Augen, die Zunge klebte mir am Gaumen. Doch der Onkel zeigte keine Müdigkeit, schien weder Hunger noch Durst zu empfinden, tat freundlich und geduldig seine Arbeit. Erst als die Schatten, die die Abendstunden anzeigten, an den Wänden der Jurten emporkrochen, reckte er sich, gab mir mit einem Wink zu verstehen, dass ich die Kiste verschliessen sollte, und gebot den noch Wartenden, nach Hause zu gehen und morgen wieder herzukommen. Dann schritt er durch die ehrfurchtsvoll zurückweichenden Menschen; ich trabte hinterher mit der Kiste, die mir seltsamerweise noch schwerer erschien als am Morgen, und war in meiner Müdigkeit froh, mich nicht auch noch um die Menge der angehäuften Gaben kümmern zu müssen. Dies war die Aufgabe von einigen andern Novizen, die auch den Platz zu kehren und wiederum ordentlich herzurichten hatten. «Ich sehe, du bist müde», sagte er zu mir. «Es war ein harter Tag für dich. Bevor ich dich aber entlasse, merke noch Folgendes: Ein Lamaschüler muss sehen lernen, was gut und was schlecht ist in der Welt. Er muss lernen, den Menschen zu helfen, Mitleid zu empfinden mit jeglicher Kreatur. Er muss bereit sein alles zu geben, auch wenn es ihm zuweilen schwerfällt. Das ist die Lehre, die du aus dem heutigen Tag mitnehmen sollst für deinen weiteren Weg. Denke daran, wenn du in Zukunft Hunger, Durst und Mühsal erduldest. Und nun lauf in die Küche, dort wartet dein Lehrer auf dich, er wird dir geben, was du brauchst.» Das war meine erste Begegnung mit der Gelehrsamkeit meines Onkels, der in seiner Güte und seiner Weisheit der
angestrebten Erleuchtung sehr nahe kam, und ich war stolz darauf, sein Neffe zu sein und zu den Auserwählten zu gehören, die ihm hin und wieder dienen durften.
So verging die Zeit. Eingedenk der letzten Worte meines Vaters gab ich mir Mühe, alles, was von mir verlangt wurde, zu begreifen. Allmählich machte ich Fortschritte mit dem Lernen der Schrift und der Zahlen, langsam begann sich vor mir die Lehre Buddhas zu erschliessen und nahm Besitz von meiner Seele. Nur manchmal, wenn ich vom Klosterberg hinaussah in das Land, ergriff mich eine grosse Sehnsucht nach der Weite des Graslandes, nach dem Wind im Gesicht, nach dem Wiehern meines Braunen, seinen kraftvollen Bewegungen unter mir, und ich wünschte mir Flügel, um von der Höhe des Berges hinauszufliegen, zurück in das Leben, das ich einst geführt und geliebt hatte, zurück zu Telema. Ich konnte sie nicht vergessen, meine Sehnsucht nach ihr war nicht weniger geworden, auch wenn ich ahnte, dass ihr Leben mittlerweile ganz und gar mit dem Dscherliks verbunden war. Der Schmerz, den mir dieser Gedanke zufügte, war schlimmer als die gelegentlichen Züchtigungen durch den Gebkö oder seine Geïks, auch wenn diese nicht zimperlich mit uns umgingen. Aber meine Tage an diesem Ort der Gelehrsamkeit waren noch nicht gezählt; einmal hatte sich das Jahr schon gerundet, zweimal noch musste es geschehen, so war es festgelegt und abgesprochen.
Gleichförmig rauschte der Regen von einem tief verhangenen Himmel, hüpfte in silbernen Spitzchen auf den Steinen des
Hofes, rann in kleinen Bächen aus den grimmigen Mäulern der Dachspeier. Unter dem Vordach des Küchenhauses knieten wir Novizen, waren mit dem Reinigen der Butterlampen beschäftigt, die für das Lichterfest hergerichtet werden mussten. Wir froren. Unsere safrangelben Gewänder waren feucht, unsere Hände kalt und die Finger klamm. Mein Freund, der Burjatenjunge, der neben mir arbeitete, zitterte vor Kälte und weinte leise vor sich hin. Sehnsüchtig blickten wir zu den dampfenden Kesseln auf den riesigen Kochstellen im Innern der Küche. Wir wünschten uns, der Gebkö würde endlich das Zeichen geben, das uns erlauben würde, hineinzugehen und uns an den langen Tischen mit einer Schale Tee zu erlaben. Doch er schien unsere Not nicht zu bemerken, drehte Runde um Runde im Kreis und klopfte dazu mit seinem Stock auf den Boden. Dumdum, dumdum, dumdum. Erst als es zu dunkel war, um noch etwas erkennen zu können, gab er den Befehl. Welche Wohltat, die Hände um die heissen Schalen zu legen, den dampfenden Buttertee zu schlürfen, der warm durch den Körper rann und uns von innen her neues Leben spendete. Das Essen wurde ausgegeben. Wie immer Reis, Gemüse und Linsenbrei, der Duft fachte unseren Hunger an wie der Wind das Feuer. Die Rezitation zum Dank für Speise und Trank fiel etwas hastig aus und dann trat Stille ein, nur das Schmatzen und Schlürfen waren hörbar, alle widmeten sich mit Inbrunst dem Mahle, das heute zu unserer Freude durch getrocknete Aprikosen und Feigen bereichert wurde, eine Anerkennung unserer Arbeit in der Herbstkühle. In den folgenden Tagen hatten wir – nebst unserem Studium – Hunderte der kleinen Lämpchen blank gerieben, neue Butter eingefüllt und die selbst gedrehten Dochte eingesetzt. Obwohl wir Neuen dieses Ereignis noch nicht kannten, ergriff uns die
allgegenwärtige, wachsende Erregung. Als ich meinen Beschützer bat, mir mehr darüber zu erzählen, meinte er: «Ich freue mich, dass du bemüht bist, dein Wissen zu mehren, also höre: Das Lichterfest ist eine Gedenkfeier zu Ehren des verehrten Tsong-kah-pa.» «Wer ist das und was hat er getan, dass er geehrt wird?» «Er war Reformator und Begründer der Gelbmützenbewegung.» «Und weshalb die vielen Butterlampen?» «Als er starb, haben die Menschen seine Himmelfahrt mit Zehntausenden von Lichtern erhellt. So gedenkt man seiner immer wieder.» «Dann lebt er gar nicht mehr?» Er schüttelte den Kopf. «Gedenkfeiern hält man nicht für Menschen, die noch leben!» «Und die vielen Hymnen, die wir lernen müssen?» Er lächelte, denn er wusste, dass mir die schwierigen Worte der Gebete oft Mühe bereiteten. «Auch das geschieht zu seinen Ehren, aber gleichzeitig bitten wir auch darum, dass all die Lichter auch jenen leuchten mögen, die als Hungergeister und Höllenwesen weit ab von jeder Wohltat und Hilfe im trüben Meer der Unterwelt dahintreiben.» Das wiederum war etwas, das ich verstehen konnte, denn auch in unserem angestammten Schamanenglauben gab es umherirrende Geister. Aber wir opferten ihnen aus Angst, um sie zu besänftigen und gnädig zu stimmen, nicht aus Mitleid, um ihnen zu helfen. So kam der Abend des Hauptfeiertags. Fahnen wehten über der Klosterstadt, künstliche Blumen bedeckten den Altar. Pilger waren angereist, auch sie trugen Lampen und Fahnen. Der Tempelbezirk war erfüllt von andachtsvollem Gemurmel. Trotz der vielen Besucher lag eine Friedfertigkeit über allem,
die auch uns Schüler ergriff und uns still und voll Ehrfurcht dem Kommenden entgegensehen liess. Als dann die Nacht hereinbrach, die Lämpchen aufblitzten auf jeder Erhöhung und jedem Tempeldach, um jede Jurte, wo die Mönche, vom flackernden Licht unwirklich beschienen, auf Posaunen bliesen, Opfer und Feuerwerk verbrannten, beteten und ganz Urga in einem Meer von Glanz erstrahlte, erhellte sich auch mein Herz mit einem Schimmer von Zufriedenheit und Glück. Aber nicht nur die Jurten und Stupas funkelten, auch die Innenräume der sonst so dunklen Tempel erstrahlten in hellem Schein, die Hymnen zum Lobe Tsongkha-pas stiegen auf zum Himmel und mischten sich mit dem Dunst der brennenden Butter. Und dann, auf einmal, wie auf geheimen Wink, erloschen die Lichter, der warme Schein verschwand, Finsternis verbarg die Klosterstadt, nur die Sterne am Himmel leuchteten weiter und wir fühlten erst jetzt die bohrende Kälte der Winternacht.
Kaum waren die Spuren des Lichterfestes beseitigt, die Pilger abgezogen, die Lämpchen in ihrem Schrein aufgehoben, die Höfe und Zufahrtswege gereinigt, fingen die Vorbereitungen für das fünfzehntägige Neujahrsfest an, das Opfer der Fünfzehn. Dies wurde nach mongolischer Rechnung im weissen Monat abgehalten, war mit noch mehr Arbeit verbunden als beim Lichterfest, denn die Künstler unter den Mönchen begannen nun, aus Bergen von Butter herrliche Figuren zu formen. Sie arbeiteten an der Winterkälte, mit einem Becken von Eiswasser an ihrer Seite, in das sie ihre Hände tauchten, damit ihnen die zierlichen Gebilde nicht unter den knetenden Fingern wegschmolzen. Da entstanden eine Vielzahl von Drachen und Dämonen mit ihren furchterregenden Fratzen, von Heiligen in allen Grössen,
die aussahen wie in Brokatstoff mit feinster Silberstickerei gekleidet, von allerlei Püppchen, Reitern, Prinzen und Prinzessinnen in Sänften, dann Elefanten, Pferde, Yaks, hübsche Tempelchen mit zierlichen Säulen, um die sich Lotosblumen wanden, so schön, dass man es kaum glauben konnte, dass alles ganz und gar aus farbiger Butter bestand. Viele Nachtstunden opferten die Künstler dieser Arbeit, und immer zehn Schüler waren abwechselnd stundenweise unterwegs von einem zum andern, schleppten zu ihrer Erlabung Kannen voll Buttertee, und während wir uns heimlich nach unserem warmen Lager sehnten, schienen die Mönche keinerlei Mühsal zu empfinden, sie waren froh und guter Dinge. Die Tempel erhielten ihre Festgewänder aus blauem Tuch, die Tore wurden mit breiten, blauen, rot geränderten Streifen eingefasst, die Säulen mit bauschigen Stoffbällchen umhüllt, und hellbraune Teppiche säumten die Front. Die Altarbekleidungen und Sitzkissen wurden gegen Decken und Hüllen ausgetauscht, die farblich ihren Sinn und ihre Symbolkraft ausdrückten: weiss für das Wasser, rot für das Feuer, blau für den Raum, gelb für die Erde und grün für den Äther. Man erkannte die Klosterstadt nicht wieder unter der ganzen bunten, angewandten Pracht. Der Morgen des Neujahrsfests begann eisig kalt, aber voller Sonnenschein, und wir trugen unsere wollenen, gelben Mützen. Von nun an waren die Stunden ausgefüllt mit Opferdiensten und Zeremonien zu Ehren Buddhas. Viele Orchester, auf den ganzen Bezirk verteilt, spielten ihre Musik, Gläubige von nah und fern erklommen den Klosterberg, um an den Zeremonien teilzunehmen, es wimmelte von Menschen. Der fünfzehnte und letzte Tag des Festes, der wichtigste, wurde um die Mittagszeit mit einer feierlichen Prozession eingeleitet. Der Abt zog in prächtigen Gewändern mit seinem
Gefolge zum Dukhang und wohnte dort einem dreistündigen Götterdienst bei. Die fertigen Butteropfer waren erst in den Abendstunden unter die Damast-Baldachine gestellt worden, deren drei Seiten mit kostbaren Teppichen aus Kaschmir verhängt waren. Die Vorderseite blieb offen, denn jedermann sollte die Kunstwerke besichtigen können. In halber Höhe dieser Zelte hingen an waagrechten Stangen Dutzende Laternen in geschnitzten Holzrahmen. Die Teppichwände waren mit Heiligenbildern geschmückt, die guten Götter dargestellt in blauen Kreisen und von einem Strahlenkranz umgeben, die furchtbaren Götter aber in einem Flammenmeer. Erst bei Sonnenuntergang begann die Besichtigung der Buttergebilde. Mönche schlenderten inmitten des Volkes, gingen neben Frauen in Festtagstracht mit hübschem, am Gürtel befestigtem, leise schepperndem Messingschmuck, gingen inmitten von Wanderhirten mit den lustig über allen Köpfen hinausragenden Spitzhüten, neben Menschen mit kurzen Zöpfchen und weiten Pelzmänteln, zogen inmitten von Chinesen, Mongolen, Kalmücken und Burjaten durch den Verehrungspfad von einem Tschödpa zum andern, und alle opferten kleine, silberne Glöckchen oder Tormas aus Mehlteig; niemand gab sich heute zu arm oder zu geizig dazu. Alt und Jung drängte sich vor den Baldachinen, bewunderte die vielfältigen Kunstwerke, ergötzte sich an den mannigfaltigen Figürchen, die zu hübschen Gruppen zusammengestellt, auf Spiralfedern befestigt, sich bei jedem Lufthauch bewegten, als wären sie lebendig. Und wenn dann die Glöcklein bimmelten und von irgendwoher sanfte Musik einsetzte, war das Entzücken und Staunen der Gläubigen vollkommen. Butterlämpchen erhellten wie Glühwürmchen den Weg, pausenloses Murmeln erfüllte die Luft, das Tappen und Schleifen von tausend Stiefeln verwob sich mit der zarten
Musik der Flöten und Zymbeln, dem Brummen der Trompeten und Tuben, und darüber erhob sich die schweigende, samtene, von Sternen erhellte Himmelskuppel. Dies alles bannte und erschütterte mich bis tief in mein Herz hinein. Es ist mir bis auf den heutigen Tag in lebendiger Erinnerung geblieben. Mitternacht war nahe, die Lichter niedergebrannt, die Pilger hatten die Klosterstadt verlassen und sich hinunterbegeben in die Ebene zu ihren Unterkünften. Nun begannen die Aufräumungsarbeiten, bei denen alle mithelfen mussten, Mönche, Novizen und Helfer. Die Baldachine wurden abgebrochen, die Teppiche, Bilder und Laternen an ihren Aufbewahrungsort zurückgebracht, die Stangen, Seile und Bretter in die Schuppen. Die Butterkunstwerke, eben noch bewundert, wurden hinter dem Kloster in die Schlucht geworfen, wo die Hunde über sie herfielen. Nur einige wenige ausserordentlich kunstvolle Gebilde kamen in die kühlen Keller, um sie aufzuheben für das nächste Butterfest. Wir arbeiteten bis tief in den Morgen und erhielten kaum noch Schlaf, die Klosterstadt aber zeigte bei Sonnenaufgang wieder ihr alltägliches Bild.
Meine Ausbildung nahm ihren Fortgang. Die Tage wurden länger, der eisige Wind wich einer lauen Brise, die gelbdürre Weite zu Füssen der Klosterstadt überzog sich mit neuem Grün, unsere gelben Wollmützen verschwanden in den Truhen und würden erst wieder zu Beginn des nächsten Lichterfestes hervorgeholt. Ich las und schrieb nun schon recht gut, verstand es auch, mit Zahlen umzugehen, wusste Bescheid über so mancherlei Dinge; mein Wissen hatte sich zu meinem Nutzen vermehrt. Ich war grösser und kräftiger geworden, meine Muskeln waren
gestählt durch die Körperübungen, aus den Scheinkämpfen mit Gleichaltrigen ging ich oft als Sieger hervor. Hin und wieder übermannte mich das Heimweh, sehnte ich mich nach meinem wilden Leben, aber die Gewissheit, dass nun mehr als die Hälfte meiner Lehrzeit bereits verflossen war, half mir darüber hinweg. So kam das zweite Butterfest, und alles war wie beim ersten Mal. Die Gläubigen kamen zuhauf, ich stand bei einem der Tschödpa und wachte über die Opfergaben, und plötzlich war mir, als sähe ich inmitten der vielen fremden Gesichter eines, das mir bekannt war: meinen Vetter Pantje! Suchend glitten seine Augen in alle Richtungen, verweilten auf jedem gelbgewandeten Menschen, während er vorwärtsgetrieben wurde, eingekeilt zwischen die Leiber der Pilger. Ich erwischte ihn, bevor er in den Golddachtempel geschwemmt wurde, packte ihn von hinten am Ärmel und zog ihn zur Seite in eine Lücke. Wir umarmten uns und da war auf einmal wieder alles gegenwärtig, was ich so lange entbehrt hatte: der Geruch des Feuers, der Pferde, des Windes und des wilden Graslandes. Ich weinte, kam nicht dagegen an, schämte mich zutiefst, sah dann, dass auch Pantje sich über das Gesicht fuhr und schnäuzte, durch die Finger, wie wir es immer getan hatten, und da mussten wir lachen, schlugen einander auf die Schultern, und er meinte: «Gut, dass du mich gefunden hast. Ich suche dich schon eine ganze Weile, aber ihr gleicht euch ja wie ein Dunghaufen dem andern. Ich befürchtete schon, unverrichteter Dinge zurückgehen zu müssen, und da wäre deine Mutter wohl sehr enttäuscht gewesen.» «Meine Mutter!» Warm durchflutete mich die Erinnerung an sie und trieb mir erneut das Wasser in die Augen. «Wie geht es ihr?»
«Gut, auch deinem Vater und den Grosseltern, aber ich bin aus einem ganz besonderen Grund gekommen. Die Familie schickt mich.» «Erzähle – nein, warte, nicht hier!» Ich zog ihn mit mir fort, weg von all dem Trubel, in den Hof der Kranken, wo während des Neujahrsfestes keine Behandlungen stattfanden. Wir setzten uns auf eine sonnenbeschienene Stelle. Pantje sah mich lange an und fragte dann: «Geht es dir gut?» «Ja, mir geht es gut.» «Erkennst du bereits die Zahlen und die Zeichen der Schrift?» «Ich war fleissig, wie Vater es gewünscht hat. Ich erkenne beides. Warum fragst du?» Er blickte zu Boden, schwieg eine ganze Weile und meinte dann: «Marin ist nicht mehr unter uns.» Ich erschrak. «Was ist geschehen?» «Es war Anfang des Winters, kurz bevor wir das Sommerlager abbrachen. Er war alleine draussen auf der Weide, hat dann wohl, so glauben wir, die Fährte eines Wolfes verfolgt und kam nicht mehr zurück. Wir haben ihn zwei Tage später gefunden. Du weisst ja, wie es aussieht, wenn sich wildes Getier über einen toten Leib hermacht.» Ich nickte. «Und die Wölfe?» «Wir haben sie getötet.» Wir schwiegen, hingen unseren Gedanken nach, aber ich merkte, dass er mich beobachtete. Marin hatte den Handel in unserer Familie geleitet. «Und weshalb bist du gekommen?» «Wir brauchen dich. Du sollst seine Geschäfte übernehmen.» «Ich weiss nicht, ob ich schon genug gelernt habe.»
«Lerne noch so lange, bis wir wieder ins Sommerlager wechseln. Dann komm zurück.» «Ich weiss nicht, ob ich hier einfach so weggehen kann, der Abt muss davon unerrichtet werden.» «Dann führe mich zu ihm.» «Während den Feiern ist dies unmöglich, er gibt keine Audienzen.» «Dann warte ich eben.» Ich sah, dass er fest entschlossen war, zu tun, was ihm die Familie aufgetragen hatte, nickte und sagte: «Komm mit zu unserem Onkel, er wird sich um dich kümmern. Wir haben eine Unterkunft für Pilger. Aber zuerst erzähle mir von meinen Eltern und von den andern. Sind sie gesund?» «Ja, es geht ihnen gut. Aber seit du weg bist, ist deine Mutter oft traurig, und deine Grosseltern hoffen, dass sie dich noch einmal sehen können, bevor sie ins Salz gehen.» «Sind sie krank?» «Nein, aber wenn sich alte Leute etwas in den Kopf gesetzt haben… sie wiederholen immer dasselbe.» Ich musste lächeln, wusste ich doch nur zu gut, wie Grossmutter hartnäckig sein konnte. Dann schwiegen wir wieder und die Frage, die mich am meisten beschäftigte, hing über uns wie eine Wolke. Leise fragte ich: «Telema?» Er streifte mich mit einem schnellen Blick. «Sie wird heiraten, noch bevor wir ins Sommerlager wechseln.» «Warum in der kalten Jahreszeit?» «Marin ist tot, da braucht sie einen Ernährer. Deswegen wird die Feier vorangetrieben. Dscherlik hat uns schon vor einiger Zeit verlassen, um die Hochzeit vorzubereiten.» «Dann sehe ich sie nicht mehr, wenn ich zurückkomme.»
«Kaum, aber glaube mir, es ist besser so, für euch beide.» Eine tiefe Traurigkeit überfiel mich, alles erschien mir auf einmal sinnlos und leer. Ich fühlte, wie die alte Eifersucht in mir hochstieg, fühlte Wut und Verzweiflung, wusste doch, dass mir nichts helfen konnte, nicht mein neu erworbenes Wissen, nicht die Götter, selbst der Erhabene nicht, und trotzig sagte ich: «Ich werde nicht zurückkehren!» Er nickte. «Das wäre falsch, aber ich weiss, wie dir zumute ist. Seit die Kraniche weggezogen sind, bin ich verheiratet. Meine Frau ist zwar hässlich, dumm und faul, versteht nichts vom Kochen und ärgert mich tagtäglich, aber trotzdem möchte ich nicht ohne sie sein.» «Es tut mir leid, dass du von den Göttern so geschlagen worden bist», sagte ich und musste trotz allem lächeln, denn ich wusste nun, dass er bis über beide Ohren verliebt, dass seine Frau hübsch und tüchtig war und ihm viel Freude bereitete. Nur die Angst vor den allgegenwärtigen Geistern des Graslandes liess ihn so sprechen, die, aufmerksam geworden auf das Juwel in seiner Jurte, neidisch begonnen hätten, ihr boshaftes Unwesen zu treiben. Eine Weile schwiegen wir und hingen unseren Gedanken nach, er seinen frohen und ich meinen düsteren. Er sagte: «Vielleicht ist noch nicht alles verloren. Sie lässt dich etwas fragen.» «Dann frag!» «Sie wollte wissen, ob du sie noch liebst.» «Ich habe nie etwas anderes getan.» «Dann wollte sie wissen, ob du immer noch eine Jurte mit ihr teilen möchtest.» «Es gibt nichts, was ich lieber tun würde.» «Bist du dir ganz sicher?»
«Solange ich denken kann, habe ich mir dies gewünscht und daran hat sich nichts geändert.» «Sie hat dir ein Amulett gegeben, nicht wahr. Trägst du es noch?» «Ich habe es nie abgelegt.» «Dann behalte es weiterhin.» «Was, wenn ich mit Nein geantwortet hätte?» «Dann hätte ich es ihr zurückbringen müssen. So hat sie mir aufgetragen.» «Aber wozu das alles?» Er schüttelte den Kopf. «Ich weiss es nicht, wer kennt sich denn schon aus in einer Frauenseele!» Er erhob sich, reckte seine Glieder der langsam schwindenden Sonne entgegen, gähnte und meinte: «Habe ich da etwas von einer Unterkunft gehört?» Nachdem ich ihn unserem Onkel vorgestellt hatte, führte ich ihn ins Fremdenquartier, übergab ihn dem zuständigen Lama, der ihm ein Nachtlager zuwies, und verliess ihn.
Am ersten Tag nach den Feiern konnte unser Onkel für Pantje eine Audienz erwirken, nach der mich der Abt zu sich rief. Es war das erste Mal, dass ich seine Jurte betrat, und ich tat es mit Scheu und grosser Ehrfurcht. Der Innenraum war sparsam, aber mit auserlesenen Stücken ausgestattet, ein Baldachin war über seinem Sessel gespannt, er selbst lag in gelben Kissen, seine Gewänder glänzten in meinen Augen wie Gold. Ich faltete meine Hände vor dem Gesicht und verneigte mich. Er musterte mich eine ganze Weile und meinte dann: «Bator, wie lange bist du bei uns?» «Zwei Jahre, ehrwürdiger Abt.» «Und was hast du in dieser Zeit gelernt?» «Ich kenne die Zeichen der Schrift und die der Zahlen.»
«Und hast du auch aus den Lehren Buddhas geschöpft?» «Ich habe alle Sutras gelernt und alle Hymnen, die uns vorgelegt wurden. Ich weiss, was ein Lamaschüler lernen muss.» «Nämlich?» «Zu sehen, was gut und was schlecht ist in der Welt, den Menschen zu helfen und Mitleid zu empfinden mit jeglicher Kreatur.» Er nickte. «Dann weisst du auch, dass du noch ganz am Anfang stehst, dass du noch nicht einmal ein Sandkorn seiner Lehre aufgenommen hast.» «Ja, Ehrwürdiger.» «Nun wirst du uns noch vor der vereinbarten Zeit verlassen. Deine Familie benötigt deine Hilfe. Für die Tage, die dir noch bleiben, werde ich dir einen Lehrer zuteilen, der sich in den Geschäften des Handels auskennt. Nutze die Gelegenheit und lerne, damit du gerüstet bist für deine zukünftige Arbeit.» Er lehnte sich zurück, ich war entlassen, warf mich vor ihm nieder, berührte mit der Stirn den Boden, stand auf, hob die gefalteten Hände vor mein Gesicht und ging, mich rückwärts bewegend, aus dem Raum. Ein eisiger Wind empfing mich und fuhr mir bis in die Knochen, und da bemerkte ich erst, dass ich schweissnass war und meine Knie sich weich wie Wasser anfühlten vor ausgestandener Aufregung. Tief atmend lehnte ich mich an einen Pfosten und sah, dass Pantje auf mich gewartet hatte. Er war schon reisefertig und bereit, sein Pferd aus dem Unterstand zu holen. Ich begleitete ihn, fuhr seinem Braunen über die Nüstern, klopfte ihm den Hals. Wir verabschiedeten uns, er sass auf und sprengte davon, hob aufjauchzend den Arm zum Gruss, und da fühlte ich auf einmal eine unbändige Freude in mir, die Freude darüber, bald wieder auf dem Rücken meines Braunen dahinfliegen zu dürfen, wieder ein Sohn des Graslandes zu sein.
Der Tag, an dem ich das Kloster verlassen sollte, begann klar und sonnig. Meine Kameraden umstanden mich kichernd, scherzten und klatschten in die Hände, nur mein Freund, der Burjatenjunge, blickte niedergeschlagen. Ich versuchte ihn aufzumuntern, aber es schmeichelte mir zu wissen, dass er mich vermissen würde. Von meinem verehrten Onkel, der mir noch viele nützliche Ratschläge mitgab, meinem Betreuer, der mir die ganze Zeit hindurch zur Seite gestanden hatte, und von meinem mir neu zugeteilten Lehrer hatte ich mich schon am Vorabend verabschiedet. Ungeduldig wartete ich auf das Erscheinen meines Vaters, der mir nebst meinem Reittier auch neue Kleider mitbringen sollte, denn die, in denen ich hergekommen war, passten mir nicht mehr. Als er kam, führte er ein Pferd mit sich, das ich nicht kannte, das hell war wie neuer Filz und nur auf der Stirn einen sandfarbenen Stern trug. Es war jung und schön, aber ich war enttäuscht, denn ich hatte meinen Braunen erwartet, wollte es meinen Vater aber nicht merken lassen. Mit Schrecken sah ich die Falten in seinem Gesicht, sah, dass er gealtert war. Als ich ihn umarmte, musste ich mich ein wenig beugen, er legte mir die Hand auf die Schulter und sagte: «Du bist gross geworden, mein Sohn.» Dann überreichte er mir einen Packen. Ich ging, um mich umzuziehen, und freute mich, denn ich sah, dass meine Familie mich froh erwartete: Das Unterzeug war aus gutem Tuch, der dunkelrote Deel aus bestickter Seide, die Stiefel aus starkem Leder. Ich fühlte, nein, ich wusste, dass ich mit den Mönchsgewändern auch meine Kindheit abstreifte, dass ich hinter mir liess, was gewesen war, dass ich in diesem kurzen Augenblick des Kleiderwechsels neu geboren wurde, wiedergeboren als Mann und als Sohn der Steppe. Die falbe Stute ritt sich gut, war schnell, gehorchte meinem kleinsten Schenkeldruck und eine lange Zeit genoss ich einfach
nur das lang vermisste Gefühl der geschmeidigen Bewegung und des Windes in meinem Gesicht. Erst als wir uns eine Rast gönnten, als wir das getrocknete, zu Pulver zermahlene Fleisch mit heissem Wasser übergossen und die wohlschmeckende Brühe in kurzen Schlucken tranken, fragte ich: «Wo ist mein Pferd?» «Es wartet bei deiner Jurte auf dich.» Ich deutete auf den Weissen. «Und wessen Tier ist das?» «Gehört dir und Telema. Es ist die Tochter deines Braunen und ihrer hellen Stute.» Langsam stellte ich meine Schale hin. Ich begriff gar nichts mehr. «Ich denke, Telema ist nicht mehr bei uns.» «Ach, Bator, was soll ein Mann da sagen? Wir rühmen uns gerne unserer Körperstärke, unserer Gewandtheit des Reitens, unseres Geschicks im Umgang mit Pfeil und Bogen, aber das ist nichts gegen Weiberschläue und schon gar nichts gegen die Schläue eines Weibes, das liebt.» «Erzähle, Vater, was ist geschehen?» «Höre Sohn, das war so: Kaum war sie mit deinem Braunen zurück im Lager, hat sie ihn zu ihrer Stute gebunden. Marin wollte das nicht und hat die Tiere getrennt. Das passte aber weder der Stute noch dem Braunen, die Stute frass nicht mehr und der Hengst gebärdete sich so wild, dass ihm ausser Telema niemand nahe kommen konnte. Endlich und auch auf Bitten von Dscherlik liess Marin die verliebten Pferde wieder zusammen, und es ging nicht lange, haben sie sich gepaart. Telema hat dabei zugesehen und geweint und gelacht und wir dachten, sie sei wirr im Kopf geworden.» «Dscherlik hat darum gebeten?» «Ja. Nach der zweiten, bindenden Verlobung, die einige Tage nach deinem Weggang gefeiert worden war, fühlte er sich für
sie verantwortlich. Er ist ein guter Junge, wir mochten ihn alle leiden, aber Telemas Herz vermochte er in der ganzen Zeit, in der er bei uns war, nicht zu erringen. Das machte ihn oft traurig, denn er liebte sie, und als Marin starb, war es für ihn keine Frage, dass er von nun an für sie sorgen und mit ihr eine Jurte teilen würde. Er ging also, um die Hochzeit vorzubereiten. Der Tag wurde festgelegt, die Gäste kamen, sie wurden im Beisein beider Familien getraut, und dann ging sie mit Dscherlik und ihren neuen Verwandten davon. Aber du weisst ja, wie die Regeln sind. Am nächsten Tag ritten Möngü und ich in Vertretung Marins mit der Morgengabe – das waren an die hundert Bodos an Pferden, Schafen und Ziegen – hin zum Winterlager derer vom See. Begleitet wurden wir von Pantje, der noch rechtzeitig zur Hochzeitsfeier aus Urga und von dir heimgekehrt war. Wie es die Sitte erfordert, führte er ausser ihrer weissen Stute auch ein Gericht aus Hammelfleisch mit. Die vom See empfingen uns freudig, nur Telema war still und blickte ohne zu lächeln, und als Pantje ihr das Hammelgericht reichte, geschah das, was – solange ich zurückdenken kann – nicht mehr geschehen ist: Sie nahm davon und ass.» Ich hielt den Atem an, fühlte, wie mein Herz hochsprang und unbändig zu schlagen begann. Von Hoffnung und Zweifel hin und her gerissen, begann ich zu stottern. «Du – du meinst, sie – sie hat wirklich – gegessen?» «Ja, das meine ich, und du weisst, was das bedeutet, oder?» Ich atmete einige Male tief ein und aus, meine Seele beruhigte sich und meine Gedanken flossen wieder frei. Ja, ich kannte diese Regel, wenn auch nur vom Hörensagen: Die Neuvermählte zeigte damit an, dass sie ihren Mann verlassen und wieder nach Hause zurückkehren wollte. Dazu brauchte es Mut, viel Mut, denn damit zog sie den Unwillen aller auf sich. Die Zurückweisung des Bräutigams übertrug sich auf seine
Familie, beide Sippen verloren ihr Gesicht und diejenige der Braut auch die Morgengabe, denn diese musste, als Wiedergutmachung, dem verschmähten Gatten überlassen werden. Es fiel mir schwer, meinen Jubel zu unterdrücken. Meine Telema, mein goldenes Lamm, sie war wieder frei! Ich trieb die falbe Stute an und preschte davon, glaubte, vor Glück zerspringen zu müssen, ich schrie vor Freude, und Tränen rannen über mein Gesicht. Auf einmal verstand ich ihre Fragen, die mir durch Pantje überbracht worden waren: Sie wollte sicher sein, dass ich sie noch liebte! Ich hielt die Stute an und wartete auf Vater, wir ritten weiter, hingen ein jeder seinen Gedanken nach. «Jetzt werde ich sie heiraten», sagte ich, und zu meiner Überraschung klang meine Stimme tief wie die eines Mannes und meine Worte waren sicher und entschlossen. Vater nickte und wir zogen unserem Lager entgegen, wo in einer Jurte das Juwel meines Herzens auf mich wartete, das zu beschreiben ich noch viel abwertendere Worte benutzen würde, als Pantje es von seiner Frau getan hatte.
So hatten die Ratschläge des grossen Dsairang, der meine Nabelmutter war und dem ich mit grosser Dankbarkeit und Ehrfurcht gedachte, Früchte getragen. Stolz steckte ich nach der Vermählungsfeier die Urga aufrecht neben unsere neue Jurte in den Boden, zum Zeichen, dass wir ungestört sein wollten, und beliess sie ganze drei Tage dort. Dann begann der gewohnte Alltag. Unser Leben war erfüllt von Arbeit, Glück und Frohsinn, Telemas Leib begann sich zu runden und zur gegebenen Zeit schenkte sie mir ein Mädchen, dessen Haar ebenso hell war wie das ihre und die Augen rund wie die meinen.
Wir nannten es Sorren-Görrel, denn es wurde beim Aufgang des Mondes geboren. Dieses unser erstes Hundejüngelchen erhielt nach einem weiteren Jahr einen Bruder mit schwarzem Haar und den Augen meines Vaters, dem wir den Namen Maiding gaben. Und im Laufe der Zeit kam noch eine weitere hellhaarige Schwester dazu, die feingliedrige, immer lächelnde Sendema, und wie es sich gehörte, besassen alle unsere Kinder den dunklen Fleck über dem Kreuzbein. So wie meine Familie wuchs, so wuchsen auch unsere Herden; das, was ich gelernt hatte, bewährte sich und unsere Sippe war wohlhabender denn je. Die Grosseltern waren ins Salz gegangen, Vater war nun das anerkannte Oberhaupt der Familie, und unter seiner weisen Führung ging es uns gut. Wir opferten den Geistern, wie es richtig war, vergassen auf unseren Wanderschaften nie, ehrerbietig die Owoos zu umrunden und einen Stein hinzuzufügen, taten so, wie uns unsere Ahnen gelehrt und vor uns getan hatten durch alle Zeiten. Und dann sah ich die Reiter der Nacht!
Es war kurz vor dem Umzug ins Winterlager, vereinzelt zogen schon die Kraniche ihre Spur. Kombu, der Fährtenleser, und ich hatten weit draussen die Schafe gehegt, die Dämmerung fiel langsam nieder, noch glänzte am Horizont ein heller Streifen. Die Farben waren erloschen, die ersten Sterne blinkten, andächtig wie immer schauten wir dem Wechsel der Tageszeiten zu. Und wie wir noch so standen, füllte sich plötzlich der übrig gebliebene, helle Saum am Ende des Himmels mit lichten Schleiern, und diese Schleier begannen sich zu bewegen, wallten auf und nieder, verdichteten sich, nahmen Gestalt an, formten sich zu einer Masse aus Reitern und Pferden, die aus dem Dämmergrau aufstiegen und über die
ganze Breite des Graslandes zogen, so weit das Auge reichte, eine riesige Armee in vollem Kriegsstaat, die lautlos dahinglitt, eintauchte in das Dunkel der beginnenden Nacht – und verschwand. Starr vor Überraschung hatten wir uns nicht bewegt, wussten auch nicht, wie uns geschah, bis Kombu zu Boden sprang, die Hände vor das Gesicht schlug und zu wimmern begann. Ich stieg ebenfalls ab und beugte mich über ihn, der nun im Grase lag und sich wie ein Wurm hin und her krümmte. «Onkel, was ist dir, was war das, so sprich doch!» Er nahm die Hände vom Gesicht und ich sah, dass er heftig weinte. Das erschreckte mich zutiefst, hatte ich doch so etwas an ihm noch nie gesehen. In meiner Angst rüttelte ich ihn und rief: «Sag doch, Onkel, was war das?» Langsam erhob er sich und war auf einmal ganz ruhig, aber seine Augen schienen mich nicht zu sehen, er war wie in einer anderen Welt. «Das waren die Reiter der Nacht», sagte er leise; «sie künden Unheil. Unheil wird kommen über das Grasland und seine Bewohner.» Die Reiter der Nacht! Hatte nicht der Dsairang meines Traumes davon gesprochen? Hatte er nicht gesagt: «Achte auf die Reiter der Nacht, sie werden dein Leben verändern.»? Onkel Kombu war wieder aufgesessen. Er wirkte müde wie ein alter Mann, und dann sagte er: «Was wir gesehen haben, sind die Seelen unserer auf fremden Schlachtfeldern gefallenen Krieger. Immer wenn unserem Land Unheil droht, kehren sie heim, um uns zu warnen. Wir müssen zurück, Bator, wir müssen berichten, was wir erlebt haben. Vielleicht weiss Düüdej mehr.» Mit Hilfe der Hunde sammelten wir die Schafe und trieben sie zum Lager. Wir erreichten es erst gegen Morgen, alles
geriet bei unserer unvorhergesehenen Ankunft in Aufregung. Die Kinder, aus dem Schlaf gerissen, weinten, die Männer hatten zu Pfeil und Bogen gegriffen und die Frauen schauten stumm aus angstvollen Augen. Und dann begann Kombu zu erzählen.
Schon am nächsten Abend befragte Tante Düüdej die Geister, aber sie gaben ihr keine Antwort, sie konnte das Jenseitige Land nicht betreten, ihre Helfer blieben stumm. Bedrückt wechselten wir ins Winterlager. Der Alltag nahm seinen gewohnten Lauf, aber die Gewissheit vom kommenden Unheil stand über uns wie eine dunkle Wolke. Ich hatte Angst, eine geheime Angst, die ich die andern nicht wissen liess. Ich glaubte an die Worte meiner Nabelmutter, denn: Hatte ich nicht Telema zur Frau bekommen, allen Hindernissen zum Trotz? Weshalb also sollte seine Warnung vor den Reitern der Nacht nicht ebenfalls zutreffen? Ich wollte nicht, dass sich mein Leben veränderte, ich war glücklich so, wie es war. Ich war bereit, unter Einsatz meines Lebens dafür zu kämpfen. Aber gegen was, gegen wen? Die über uns schwebende Gefahr zehrte an mir und machte mich reizbar, gegen Telema, gegen die Kinder, gegen alles.
Der Winter begann wie gewohnt mit dem Aufkommen des Nordwindes. Heulend und stöhnend fegte er über das Land, zerrte an den Jurten, durchdrang uns trotz der dicken Deels und der umgehängten Schaffelle bis auf die Knochen und trieb uns vor die Herdfeuer, wo wir des Nachts oft wach lagen und dem Gewimmer der wild gewordenen Luftgeister lauschten. Alles erschien uns dieses Mal anders, verunsichert gaben wir jedem Geschehen eine unheilschwangere Bedeutung, und
Tante Düüdej, sonst unser Hort und unsere Stärke, fiel zusehends zusammen, denn der Kummer über das Schwinden ihrer Gabe, ihrer Kraft, das Jenseits betreten zu können, liess sie vor der Zeit zur Greisin werden. Wie gewohnt begann es leicht zu schneien. Noch fanden die Herden genügend Futter unter der dünnen, weissen Decke, noch war alles gut. Eines Morgens jedoch liessen sich die Türen der Gers nur noch schwer öffnen. Schnee fiel in dichten Flocken vom Himmel und hatte über Nacht die Eingänge versperrt. Die Jurtendächer neigten sich unter der Last und die Frauen fegten sie leer, immer und immer wieder. Die Tiere versanken bis weit über die Knöchel und versuchten verstört, ihr Futter hervorzuscharren. Um zur Hürde zu gelangen, mussten wir uns einen Weg freischaufeln, und dort standen die Schafe ebenso hilflos wie die Pferde und Ziegen und wussten nicht, wie ihnen geschah. Wir begannen, den Schnee abzutragen, einen Weideplatz zu schaffen; alle halfen mit, arbeiteten bis zum Umfallen. Hungrig folgten uns die Tiere und frassen, aber was wir säubern konnten, reichte nicht aus, bei weitem nicht, denn der Schnee fiel unablässig und deckte in kurzer Zeit alles wieder zu. Nun wussten wir, vor welcher Gefahr uns die Seelen der Krieger hatten warnen wollen. Vor dem Schlimmsten, das unserem Volk geschehen konnte: vor dem Schnee, der, wenn er in solchen Mengen fiel, den Untergang, den Tod bedeutete. Noch hatten wir genügend Vorräte, noch besassen wir Dung für das Feuer. Wir hofften auf das Ende der Schneefälle, opferten den Göttern, versuchten, durch Gesänge die Geister zu beruhigen. Aber es nützte alles nichts, unablässig fielen die Flocken, Tag und Nacht, und verwandelten das Grasland in eine kalte Hölle. Wie riesige Mongolenmützen ragten die Jurtendächer aus der weissen Fläche empor, der Schnee lag
hüfthoch ringsum, die Tiere brüllten angstvoll durch das nebelgraue Dämmerlicht und wir sassen untätig in den Gers, kannten den Grund nicht, der den Zorn der Götter auf uns geladen hatte, und es gab nichts, was uns hätte helfen können.
Ich weiss nicht mehr, wie lange der Schnee fiel, weiss nur noch, dass unsere Vorräte zur Neige gingen, nichts mehr da war, um die Herdfeuer zu unterhalten, dass die Kälte uns steif und bewegungslos werden liess, nicht mehr fähig, auch nur einen der verhungerten, hart gefrorenen Tierkadaver heranzuschleppen und zu zerteilen. Wir nagten an rohen Fleischfetzen und kalten Knochen und ergaben uns in unser Schicksal.
Dann brach ein Morgen an, glutrot in der aufgehenden Sonne; sein Schein ergoss sich über das vereiste Grasland, tauchte es in Blut, wandelte sich nach und nach in helles, gleissendes, unbarmherziges Licht. Keine Spur war in dieser glitzernden Fläche auszumachen, die unzähligen, aufgeworfenen Hügel rings um das Lager bezeichneten die Gräber unserer erfrorenen Tiere. Wir waren am Ende! Die Alten und die Kinder begannen zu sterben, Trauer und Wehklagen war in jeder Jurte. Das Leid umgab unsere Seelen, machte sie stumpf und müde. Das Heulen der hungrigen Wölfe, die um das Lager strichen, beachteten wir kaum. Maiding verliess eines Tages still die Jurte, schleppte sich hinaus in den gleissenden Sonnenschein, um nicht wiederzukehren, und willenlos, wie ich war, wehrte ich ihm nicht, nahm Telema in meine Arme und hielt sie fest. Ihre Augen blickten glanzlos und erkannten mich kaum. Sie starb
gegen Abend. Ich legte unsere beiden toten Töchter an ihre Seite und meine Tränen gefroren auf meinen Wangen.
So grausam und unbarmherzig strafen die Götter, wenn sie strafen!
Weshalb ich als Einziger der Sippe übrig blieb, weshalb mich der Tod verschmähte – mich mied aus irgendeinem Grunde, ebenso wie die Wölfe, deren Heulen mich begleitete –, weiss ich bis heute nicht; vielleicht deshalb, weil ich die Kraft meiner Brüder in mir trug oder der Dsairang über mir wachte, vielleicht aber auch, weil das Mass meiner Tage noch nicht voll war. Als ich sah, dass alles Leben in den Jurten erloschen war, nahm ich Pfeil und Bogen, verliess, was mir lieb und teuer gewesen war, und schleppte mich davon, ohne Ziel, hinaus in die weisse Öde. Ich empfand keine Angst mehr, meine Seele war leer, mein Herz verhärtet vor Trauer. Müdigkeit umfing mich wie ein weicher, seidener Deel, ich fühlte weder Hunger noch Kälte, liess mich fallen in diese Hülle, die mich freundlich aufnahm und davontrug. Doch es sollte mir nicht vergönnt sein, das Schattenland zu betreten. Daran hinderte mich der Sturmwind, der die Hülle erfasst hatte und sie rüttelte und schüttelte, bis sie aufplatzte und mich ausspie. Schnell wie ein Wirbelwind flog der Dsairang, der meine Nabelmutter war, an mir vorbei und rief: «Denke daran: Jedes Ende hat einen Anfang», dann fühlte ich die Kälte dieses Sturmwinds, sah schnauzbärtige Gesichter über mir, kriegerische Gestalten in hohen Pelzmützen, hörte Rufe und Laute, die ich erkannte, die mir vertraut waren aus
meiner Kindheit, und erstaunt und fragend murmelte ich: «Mutter?», dann schwanden mir die Sinne.
Die Amme
1783 Das Wiegen der Kutsche hatte sie ermüdet, sie döste, den Kopf in die Wagenecke geschmiegt, der schlafende Säugling hing nur noch lose in ihren Armen. Gleichmässig rauschte der Regen, klopfte mit schnellen Fingern auf das Verdeck, sein feuchter Hauch vermischte sich mit dem Geruch nach Pferd, Leder und miefigen Kissen. Sie erschauerte im Schlaf, der Säugling rutschte tiefer, erwachte und begann zu schreien. Erschrocken fuhr sie auf, rückte das Kind zurecht, streichelte es mit besänftigenden Worten, nestelte am Ausschnitt ihres Kleides, entblösste ihre Brust und gab ihm zu trinken. Schmatzend und mit kräftigen Zügen nahm das kleine Mädchen die ihm gebotene Nahrung an, seine Fäustchen pressten sich in ihr warmes, weiches Fleisch, weckten Zärtlichkeit und Zuneigung. Es hielt seine Augen im Genuss des warmen Trankes fest geschlossen, sein wohlgeformtes Köpfchen war unter einem Häubchen verborgen. Ein hübsches Mädchen! «Armes Wurm», flüsterte sie, schloss ihr Kleid, hob das Kleine leicht über ihre Schulter und tätschelte ihm sanft den Rücken.
Das Kind, kaum vierzehn Tage alt, war nicht in sehr guter Verfassung gewesen, als ihr der Säumer das winzige Bündel zusammen mit vier Silberlira am Treffpunkt ausserhalb Bellinzonas übergeben hatte. Auf dem beschwerlichen Ritt
über die Alpen in seiner Obhut, nur dürftig von Ziegenmilch ernährt, hatte es Durchfall bekommen, seine Tücher waren schmutzig und stanken zum Himmel, das Körperchen war feucht und wund gerieben. Sie hatte sich geweigert, noch am selben Abend weiterzuziehen, obschon ihr Mann, der Kutscher, keine Notwendigkeit für die Verzögerung gesehen hatte. «Es ist der Mühe nicht wert, es stirbt ja doch», hatte er gemeint und verächtlich ausgespuckt. «Kann sein, aber ich muss es tragen und riechen», hatte sie gemeint und sich nicht abhalten lassen, das erbarmungswürdige Geschöpf zu säubern und einzuölen, die verpesteten Tücher zu waschen und am Feuer zu trocknen, Tücher übrigens, die sich als von vornehmer Herkunft, aus Leinen und Wolle, erwiesen. Auch das entzweigebrochene Medaillon, das, an einem Seidenband befestigt, das halbe Bildnis des Christusträgers zeigte, und der beigelegte Brief mit der zarten Handschrift liessen auf eine gute Abstammung schliessen.
Es war nicht das erste Mal, dass sie diese Reise machte; man traute ihr, sie war ebenso verschwiegen wie ihr Mann, mit dem sie fuhr. Beide waren sie ein Gespann des Schicksals, zusammengeschweisst nicht nur in der Ehe, sondern auch im Wissen um dunkle Dinge, um Dinge, die auszuplaudern sie womöglich das Leben gekostet hätte. Sie versuchte, sich das Gesicht der jungen Mutter vorzustellen, als ihr die Hebamme das Neugeborene aus den Armen genommen hatte, ahnte deren Trauer und Tränen. Gewiss hatte sie ihr Kind nicht gerne hergegeben, aber in diesen Kreisen wurde ein Fehltritt nicht verziehen, wurden die
daraus erzeugten Bastarde kaltblütig unter den Tisch gewischt, denn nie und nimmer konnte sein, was nicht sein durfte. Sie machten es sich leicht, die hohen Herrschaften! Was ihnen missfiel, wurde totgeschwiegen, aus der Welt geschafft, mit Geld zugedeckt, denn Geld hatten sie ja genug. Mit Geld ging alles, selbst ein Verbrechen; und war es nicht ein Verbrechen, das eigene Fleisch und Blut zu verstossen? Sie jedenfalls hätte keins ihrer drei Kinder hergegeben. Leid genug, dass ihr das vierte kurz nach der Geburt vor drei Wochen gestorben war. Gottes Wille! Aber sie war noch jung, und bei der Hitze ihres Mannes würden zweifellos noch mehr folgen und zum Unterhalt der Familie beitragen, denn solange ihre Milch floss, solange floss auch der Geldstrom für den Transport unerwünschter Säuglinge aus dem Nachbarland Schweiz nach der grossen Stadt Mailand. Ja, ja, des einen Leid, des andern Freud, so lief das in dieser Welt.
In den fünf Tagen ihrer Weiterreise hatte sich das Kind recht gut erholt; seine Wangen hatten wieder Farbe, der Durchfall war einem normalen Stuhlgang gewichen. Sie war stolz darauf, war es doch ihr Verdienst und den ihrer fetten, gehaltvollen Milch. Ohne Zweifel hatte sie ihren Schützling vor dem Tode bewahrt, und das würde ihr, so hoffte sie doch, einmal im Jenseits angerechnet werden. Noch rechtzeitig vor Torschluss hatten sie heute die Stadt erreicht und auf einem versteckten Abstellplatz gewartet. Nun war es nach Mitternacht, ihr Mann klopfte an das Fenster und riss sie aus ihren Gedanken. Es war das Zeichen, dass er losfahren wollte und sie sich bereitzuhalten hatte. Noch einmal säuberte sie das kleine Mädchen, wickelte es in das feine Linnen und die wollenen Tücher, schob den Brief und das
halbierte Medaillon am seidenen Band dazwischen und wartete. Laut hallte der Hufschlag der Pferde durch die leeren Gassen. Einige Strassen vor dem frommen Haus hielten sie an. Sie stieg aus und ging den Rest zu Fuss. Jeden Lärm vermeidend, erreichte sie die Pia Casa, vergewisserte sich, dass niemand sie beobachtete, legte das Kind vorsichtig in die Lade und drehte sie. Noch hörte sie das Klingeln der Glöcklein, die die möglicherweise schlafende wachhabende Nonne von der Ankunft eines neuen Zöglings unterrichten sollte, dann eilte sie den Weg zurück zur wartenden Kutsche. Ihr Mann trieb die Pferde an und sie liess sich erleichtert in die Polster sinken. Beide hatten sie ihren Auftrag erfüllt.
Julia
1806 Damals, im Jahre 1796, kannte ich meine Herkunft noch nicht. Ich war ein Findelkind der Pia Casa di San Caterina in Mailand. Nach den Aufzeichnungen in den Schriften der Bücher war ich als drei Wochen alter Säugling in den Torno gelegt worden, versehen mit einem Brief, in dem, mit schöner Schrift auf Pergament geschrieben, darum gebeten wurde, mir den Namen Julia-Johanna zu geben und mich gut und liebevoll zu behüten. Beigelegt war die Hälfte eines Medaillons an seidenem Band, den heiligen Christophorus darstellend. Vom Heiligen war nur der Oberkörper und das Christuskind auf seiner Schulter sichtbar, der untere Teil fehlte, war wohl im Besitz meiner Mutter geblieben, diente als Erkennungszeichen, falls es ihr einfallen sollte, mich zurückzuholen. Aber daran glaubte ich nicht mehr, die meisten Kinder wurden in den ersten fünf Jahren ihren Eltern zurückgegeben, und diese Zeitspanne war bei mir längstens überschritten. Niemand hatte je nach mir gefragt, und ich wusste nicht sicher, sollte ich darüber traurig oder glücklich sein, hatte ich doch vernommen, dass viele der Zurückgeholten es in ihrem neuen Heim schlechter hatten als bei ihren Pflegeeltern oder in der Casa. Dem Attest der ärztlichen Untersuchung zufolge musste ich nach meiner Ankunft in der Casa einige Zeit aufgepäppelt werden. Das war zwar nichts Besonderes, kamen doch die meisten Kinder geschwächt in die Obhut des Hauses. Deshalb wurde ich auch schon am nächsten Tag getauft und, nachdem ich mich erholt hatte, einer Amme übergeben, die mich,
versehen mit Windeln, Kleidung, ihrem Ammenlohn von fünf Denari und einem Weggeld von vier Soldi, mit sich in ihr Dorf auf dem Lande nahm, um mich zu nähren und zu pflegen. Von dieser Zeit ist mir nichts im Gedächtnis geblieben, ich war zu klein, als dass sich eine Erinnerung in meinem Kopf hätte festsetzen können.
Nach zwei Jahren, als der Milchfluss meiner Amme versiegt war, kam ich in die Obhut des kinderlosen, älteren Ehepaars Salvi aus der Ortschaft Cisliano. Der Mann übte den Beruf des Schusters aus, die Frau besorgte die zwei Ziegen und ein Stück Land, das aber ausser Steinen und Unkräutern nicht viel hergab. Das Geld, das sie für meinen Unterhalt erhielten, war ihnen willkommen, obschon ich, da mir nichts mangelte, immer glaubte, wir seien reich. Sie nannten mich Giulietta und ich liebte sie sehr, denn für mich waren sie Mammina und Babbo. Zweimal jährlich, immer im Frühling, wenn die Tage länger wurden und unser Magnolienbaum hinter dem Häuschen zu blühen begann, sowie im Herbst, wenn der Mais in den Feldern reif war, holte Mammina ihre Festtagskleider hervor, schüttelte sie aus und hängte sie vor dem Haus in die Sonne. Dann schrubbte sie den Tisch mit Asche, schwenkte ihn sorgfältig ab und trocknete ihn mit einem sauberen Linnen. Danach trat sie zu der schweren, holzgeschnitzten Truhe in der Ecke, auf der immer die Katze sass, zog den Eisenbolzen aus den Ringen und hob den Deckel. Alsobald erfüllte ein seltsamer, nicht unangenehmer Duft den Raum, ein Duft nach getrocknetem Lavendel und etwas, das ich nicht kannte, etwas, das unsere Küche nach Kirche und Kerzen riechen liess. «Schau, Giulietta», sagte sie, «das ist die Schürze meiner Urgrossmutter, sie hat sie selbst gewoben und genäht.»
Sorgfältig hob sie das der Länge nach gefaltete Kleidungsstück hoch, legte es auf den Tisch und breitete es auseinander, so dass die schönen Farben und feinen Muster sichtbar wurden. Das Besondere daran waren aber nicht Farben und Muster, es war die scharfe Längsfalte, die wie eingestanzt mitten durch den steifen Stoff lief und von der hochwertigen Arbeit der Ahnin zeugte. Noch nie, so sagte mir Mammina, hätte die Falte neu gekniffen werden müssen, es genüge, die Schürze immer wieder in die richtige Bahn zu legen und trocken aufzubewahren. Zusammen betrachteten wir das Erbstück, welches nun schon vier Generationen von Frauen zum Stolz gereicht hatte, und scheu fuhr ich mit dem Zeigefinger darüber hin. Wie gerne hätte auch ich eine solche Falte in meiner Schürze gehabt, aber soviel ich auch kniff und presste, mir wollte es nicht gelingen. Das waren auch die Tage, an dem der grosse Holzzuber in die Küche geholt wurde, den Babbo mit Wasser aus dem Brunnen halb füllte. Mammina goss kochendes Wasser dazu, hob mich hinein und schrubbte mich gnadenlos ab. Sass ich dann eingepackt in ein warmes Tuch nahe am Herd, ringelten sich meine hellen Haare bis über die Schultern und leuchteten im Schein des Feuers fast wie das kleine Amulett, das Mammina bei seltenen Gelegenheiten trug. «Wie Honig», sagte dann Babbo und wickelte sich ein Strähne um den Finger, was ich gar nicht mochte, denn sie verfing sich in seiner von der Arbeit rauen Hand und schmerzte mich. Dass meine Haare nicht schwarz waren wie die ihren, hatte mir einige Zeit Kummer bereitet, denn ich wollte sein wie sie, wollte sein wie die Kinder, mit denen ich spielte. Aber dann nahm mich Mammina in die Arme, wiegte mich und sang mir
ein kleines Lied, dessen Melodie ich nie vergessen habe und das immer mit den Worten endete: «Ti amo, ti amo.» So geputzt und hergerichtet machten wir uns am nächsten Morgen auf den Weg in die grosse Stadt Mailand zum halbjährlichen Besuch in der Pia Casa. Mammina trug ihre Festtagskleider und die Schürze ihrer Ahnin, die vorn mit der starren Falte spitz von ihr abstand. Sie sah schön aus und beinahe schämte ich mich meiner, denn sie hatte mich in meine schon längst abgelegten, zu engen und zu kurzen Röcke gesteckt. Warum ich nicht auch meine hübschen, von ihr geschneiderten Sachen anziehen durfte, verstand ich nicht. Nur die Stiefel, die Babbo mir gemacht hatte, waren neu. Sie passten wie angegossen und ich war sehr stolz darauf. Diesem Ereignisse sah ich mit gemischten Gefühlen entgegen. Einerseits freute ich mich darauf, anderseits scheute ich mich vor der anstehenden Examinierung, bei der ich vor den frommen Schwestern und dem Diakon Rede und Antwort stehen musste. Auch mochte ich den aus vielerlei Dünsten zusammengesetzten Geruch der Stadt nicht: Sie stank! Bis ich sieben Jahre alt war, hatte ich mich nie über diese Reise gewundert, dachte immer, das müsse so sein, das gehöre einfach zum Leben. In diesem Frühjahr aber geschah etwas, das meine kleine Welt durcheinander brachte. Es war noch nicht Mittagszeit, als wir von der Strada al Foppone in die Via Francesco Sforza einbogen, an der die Pia Casa degli Esposti e degli Partorienti des Klosters San Caterina alla ruota lag. Ihm gegenüber, getrennt von einem faulig riechenden Naviglio, lag der mächtige quadratische Bau des Ospedale Maggiore, den Mammina «Ca’ Grande» nannte. Wir waren nicht die Einzigen, die durch das Tor des frommen Hauses in den Innenhof traten. Mit uns warteten schon viele Mütter und Väter mit ihren Kindern. Mammina schob mich
durch die Menge bis zur Mauer, wo wir uns hinsetzen und etwas ausruhen konnten. Aus ihrem Bündel reichte sie mir eine Maisschnitte und Käse, befahl mir, hier auf sie zu warten, und verschwand im Gewühl. Da ich hungrig war, schmeckte mir mein Essen vorzüglich. Etwas störend empfand ich allerdings den Jungen, der sich vor mich hingesetzt hatte und mir zusah. Er mochte etwas älter sein als ich, seine mageren Arme hatte er um die Knie geschlungen, er steckte in ebenso abgetragenen Kleidern wie ich, nur waren die seinen schmutzig und teilweise zerschlissen. Aufmerksam verfolgte er jeden Bissen, den ich zum Munde führte, schluckte jedes Mal, wenn ich schluckte, und wiegte sich dazu leise vor und zurück. Über seinen Handrücken lief eine dicke, kaum verheilte Narbe. «Was schaust du so?», fragte ich endlich. Er überhörte die Frage, deutete auf den Mais, den ich in meinen Schoss gelegt hatte, und meinte: «Isst du das alles ganz alleine?» «Das ist mein Mittagessen, Mammina hat es mir gegeben.» «Ach, dann hast du es wohl gut bei deiner Ziehmutter.» Ich kannte das Wort nicht und sagte: «Sie ist nicht meine Ziehmutter, sie ist meine Mammina.» Er lachte. «Wenn sie nicht deine Ziehmutter wäre, würdest du heute nicht hier sitzen. Heute ist doch Halbjahrestag, da holen sie sich ihr Geld.» «Geld?» «Für unseren Unterhalt, damit sie uns nähren und kleiden. Hast du das nicht gewusst?» Irgendetwas Kaltes stieg in mir hoch, etwas Unbekanntes, Unheimliches. «Meine Mammina nicht, Babbo hat genügend Geld», sagte ich trotzig und sah ihn böse an. Er lachte wieder.
«Niemand hier hat genügend Geld. Und ich sage dir, auch wenn du schöne Schuhe trägst, du hast keine richtigen Eltern und bist genauso ein Findelkind wie ich.» Dieses Wort kannte ich ebenfalls nicht, es musste irgendein Schimpfwort sein, das ich mir auf keinen Fall gefallen lassen konnte. «Ich bin kein Findelkind, ich bin Giulietta Salvi aus Cisliano», rief ich, den Tränen nahe, und einige Umstehende blickten mich an und lachten. «Beruhige dich», sagte der Junge, griff nach meiner Schnitte und biss hinein. Ich wehrte ihm nicht, hatte keinen Hunger mehr, fühlte vielmehr einen Druck in meinem Magen, als hätte ich Steine verschluckt. «Du bist ja nicht alleine», sagte er, als er sich auch meinen Käse nahm, «sieh dich um, wir sind alle Findelkinder.» «Ich nicht!» «Wenn du meinst!» Er erhob sich, stopfte sich den Rest meines Imbisses in den Mund und wischte sich über die Lippen. «Danke für das Essen, und wegen dem andern – frag doch deine Mammina!» Damit drehte er sich um und verschwand spurlos in den Wartenden. Ich blieb sitzen, gleichermassen verunsichert wie wütend, wusste nicht, was ich von dem Gehörten halten sollte, ahnte jedoch auf einmal, dass wir vielleicht nicht nur zum Vergnügen nach Mailand zu den frommen Frauen pilgerten, dass da etwas dahintersteckte, das mir von meinen Eltern bis jetzt vorenthalten worden war. Später, als ich mit Mammina vor den Nonnen und dem Dekan stand und zeigen sollte, was ich im letzten Jahr bei unserem alten Schullehrer gelernt hatte, welche Worte ich schon zu schreiben, welche Psalmen ich auswendig herzusagen
wusste, drehte sich noch immer alles in meinem Kopf. Keine einzige Strophe fiel mir ein, gerade meinen Namen auf die Tafel schreiben konnte ich noch, dann aber stand ich nur da, fühlte die Leere in meinem Hirn und fing an zu weinen. «Das Kind ist völlig verwirrt», hörte ich den Dekan sagen, «bringt es zum Arzt, er soll es untersuchen.» Dieser Medikus, der eine Art blauen Turban auf dem Kopf trug, schaute mir in den Mund, klopfte an meinem Rücken herum, stocherte mit einem Hölzchen in meine Ohren und erklärte endlich, dass ich wohlgenährt und bei bester Gesundheit sei. Dies wurde von einer Nonne in ein grosses Buch eingeschrieben. Wir durften weitergehen, kamen in einen Raum, wo in wilder Unordnung Kinderkleider herumlagen. Novizinnen waren damit beschäftigt, diese nach Grösse und Geschlecht zu sortieren. Mammina schob mich zu einem der Tische, reichte der Klosterfrau ein Papier, das diese durchlas und mich dann musterte. «Du bist also Giulia-Gianna Colombo», meinte sie und lächelte mich an. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass mein Nachname nicht derselbe war wie der meiner Eltern, und das ängstigte mich noch mehr. «Wie du gewachsen bist», fuhr sie freundlich fort, «deine Kleider sind dir recht eng geworden.» «Ja, sie braucht etwas Neues, ich kann die Nähte nicht weiter auslassen», meinte Mammina und drückte im Geheimen fest meine Hand. Ich wusste, was das bedeutete, nämlich, dass ich meinen Mund zu halten hatte, nichts Unpassendes ausplappern sollte. Also schwieg ich, erzählte nichts von den neuen Sachen, die ich nicht hatte anziehen dürfen, und blickte verlegen zu Boden. «Dann wollen wir mal sehen, was wir für dich haben.» Sie wühlte in dem Kleiderhaufen, zog ein Hemd, ein Mieder und einen Rock daraus hervor und reichte es Mammina.
«Ich denke, es ist gross genug, dass sie es eine Zeit lang tragen kann», sagte sie, bevor sie sich dem nächsten Kind zuwandte, und Mammina führte mich durch die kühlen Gänge hinaus ins blendende Sonnenlicht. «Das hätten wir wieder bis im Herbst», lachte sie und küsste mich schnell auf die Wange, ging dann rüstig voran, und ich bemühte mich, Schritt zu halten. Erst als wir schon ausserhalb der Mauern waren, fiel ihr endlich meine Schweigsamkeit auf. «Was machst du denn für ein Gesicht, Kind? Nun lach doch mal, es ist ja alles gut gegangen. Oder grämst du dich wegen deiner Tränen vor dem Dekan?» Ich schüttelte den Kopf und schwieg weiter. «Die Kleider werde ich nach deiner Grösse zuschneiden, du wirst fein darin aussehen. Freust du dich?» Ich nickte, aber die Tränen schossen mir in die Augen, kullerten mir über die Wangen und Mammina nahm mich in die Arme. «Um Gottes willen, Kind, was ist denn, hat dir jemand was getan?» «Warum sagte die Nonne Giulia Colombo zu mir und nicht Salvi?» «Ach, sie hat sich nur versprochen, mach dir keine Gedanken.» «Aber der Junge hat gesagt, ich sei ein Findelkind und du und Babbo seien nicht meine richtigen Eltern. Was ist ein Findelkind, Mammina?» Einige Augenblicke stand sie ganz still, dann setzte sie sich an den Wegrand ins Gras und zog mich mit sich. «Ich habe nicht gedacht, dass die Zeit schon gekommen ist, um mit dir darüber zu sprechen, aber da du mich fragst, sollst du auch eine Antwort erhalten, also höre: Dein Babbo und ich lebten als Frischverheiratete in Turbigo, wo wir ein gutes Auskommen hatten und zusammen glücklich
waren. Wir wünschten uns Kinder, aber die Jahre vergingen und unser Wunsch erfüllte sich nicht. Das machte uns oft recht traurig, und deshalb entschlossen wir uns, ein Kind in Pflege zu nehmen, ein Mädchen sollte es sein, und so sprachen wir bei der Pia Casa vor. In die Pia Casa, musst du wissen, werden die Kinder gebracht, deren Eltern zu arm sind, um sie selbst ernähren und grossziehen zu können, oder Kinder, die, von ihrer Mutter verlassen, den frommen Frauen übergeben werden. Es gibt deren viele, die das tun, denn die Armut ist gross in den Städten. Ich verstehe noch heute nicht, weshalb unser Herrgott die einen mit Kindersegen überschwemmt und die andern leer ausgehen lässt. Wir sahen dich zum ersten Mal, als du inmitten vieler Gleichaltriger im Hof herumkrabbeltest. Du stachst mit deinem hellen Haar aus allen hervor und lachtest uns so drollig an, dass wir dich gleich ins Herz schlossen und ohne uns lange abzusprechen wussten, dass du das Kind für uns warst, das wir uns immer gewünscht hatten und das wir in Pflege nehmen wollten. Wir erzählten unseren Nachbarn, du seiest die Tochter meiner verstorbenen Schwester, und als wir dann später nach Cisliano zogen, gaben wir dich als unsere eigene aus. Ausser Don Ambrosio, unserem Pfarrer, weiss also niemand, dass das nicht stimmt. Ich hoffe, das wird auch so bleiben, denn du hast uns immer viel Freude gemacht und wir lieben dich sehr. Es ist unwichtig, ob dein Babbo dich gezeugt und ob ich dich geboren habe; es sind alleine die Liebe, die Zuneigung und die Fürsorge, die zählen und die Menschen zu Eltern machen. Und deshalb, Giulietta, bist du kein Findelkind, du bist unser Kind und wirst es immer bleiben.» Ich hatte meinen Kopf in ihren Schoss gelegt, ihre Hand fuhr sanft durch mein Haar, die steife Schürze kratzte an meiner
Wange, aber um nichts in der Welt hätte ich meine Stellung verändern wollen, genoss die Geborgenheit des Augenblicks. Die Steine in meinem Magen hatten sich aufgelöst, Angst und Traurigkeit waren verschwunden und die Worte des Jungen unwichtig geworden. Meine Welt war wieder in Ordnung, eine Ordnung allerdings, die sich drei Jahre später in Nichts auflösen sollte.
Der Traum war wieder da, wiederum stand ich vor dem geöffneten Grab, in dem die beiden Särge lagen, wiederum schauten mich die schwarz gewandeten Menschen mit starren Gesichtern an und flüsterten: «Ein Findelkind, sie ist ein Findelkind», lachten, zeigten mit dem Finger auf mich, umdrängten mich, kreisten mich ein, stiessen mich, immer unbarmherziger, und ich fiel hinein in die Grube, deren Wände wuchsen, immer höher und höher, bis die Gestalten an ihrem Rand, die zu mir hinuntersahen, klein wie Ameisen waren – dann weckte mich das Poltern der Erdschollen auf den Särgen, ich fuhr auf und wusste, dass nichts mehr war wie einst. Ich empfand den Wechsel aus der Geborgenheit meiner geliebten Pflegeeltern – so nenne ich sie nun – in die Welt des Findelkindhauses als ungemein schmerzlich. Zwar war ich nicht die Einzige, die zurückkehrte in die Obhut des frommen Hauses, denn die Seuche hatte viele Menschen getötet, viele Kinder hatten ihre Zieheltern verloren, und die Casa barst beinahe aus allen Nähten. Wir Grösseren wurden denn auch gleich zur Mithilfe eingespannt, hatten die Kleinen zu beaufsichtigen und ihnen bei den täglichen Verrichtungen zu helfen, mussten auch sonst überall Hand anlegen und Zeit zum Trauern blieb nur in der Dunkelheit der Nacht. Da nahm ich dann manchmal das Stücklein Leder unter dem Strohsack
hervor, roch mit geschlossenen Augen daran, rief mir so die Erinnerung an die verlorenen Tage zurück und haderte mit Gott, der dieses Fieber über uns geschickt hatte, dem auch ich beinahe erlegen wäre. «Sie ist dem Tod vom Karren gesprungen», hatte ich die Nachbarin zum Medikus sagen hören, der erfolgreich versucht hatte, mich ihm zu entreissen, und ich wusste nicht, ob ich dafür dankbar sein sollte oder nicht. Diese Nachbarin war es auch, die mir beigestanden, mich zum Begräbnis begleitet und mir später beim Packen geholfen hatte. «Gibt es etwas, das du als Andenken mitnehmen möchtest, Giulia?», hatte sie gefragt. Ich zeigte auf den braungoldenen, durchsichtigen Schmuckstein, den ich an Mammina so oft bewundert hatte, ging dann zur Truhe, hob die Schürze der Ahnin heraus und beim vertrauten Duft nach Lavendel und Weihrauch übermannte mich das Leid von Neuem. Später hatte mich Don Ambrosius abgeholt, noch ein letztes Mal war ich durch das kleine Haus gegangen, hatte mit der Hand Abschied nehmend über vertraute Dinge gestrichen, hatte, einer Regung folgend, ein Stücklein Leder aus der Werkstatt meines Babbo in mein Bündel gesteckt, um dann, blind vor Tränen, mit dem Pfarrer den Ort meiner Kindheit zu verlassen.
Dieser beklemmende Traum hatte mich am Anfang fast jede Nacht heimgesucht und ich fürchtete mich davor. Auch diesmal waren meine Wangen nass, ich musste laut geschluchzt haben, denn meine Freundin Agata hatte sich halb aufgerichtet und flüsterte: «Hast du wieder geträumt?» Ich nickte und wischte mir das Gesicht an der Felldecke trocken, fühlte das Weh in meinem Herzen, das nur langsam
nachliess, hörte, wie Schwester Annunziata mit einem lauten «Buon giorno ragazze» die Türe zu unserem Schlafsaal öffnete, die Kerzen beidseits des Eingangs entzündete und sich wieder entfernte. Es war zehn und eine halbe Stunde nach Tramonto, noch war es dunkel, die beiden Lichter erhellten nur spärlich den grossen Raum, gerade genug, um sich zurechtfinden zu können. Schlaftrunken erhoben wir uns, standen vor den am Vorabend gefüllten Waschbecken an, spritzten uns das kalte Wasser ins Gesicht, wuschen die Hände und trockneten sie am rauen Tuch, das aber, je später man dazu kam, so nass war, dass es seinen Zweck kaum mehr erfüllte.
Der Saal war schmal und hoch und im Winter kalt und ungemütlich. Von den Längswänden, einander gegenüber, ragten unsere Betten in den Raum, je sechs Maisstrohsäcke auf Holzpritschen. Wir schlugen die aus Katzen- und Hasenfell zusammengestückelten Decken und die selbst gewobenen Baumwolltücher zum Auslüften zurück, schlüpften in unsere abgetragenen Kleider, holten dann unsere Urinbecken unter dem Bett hervor und griffen zum Läusekamm, den ein jedes besass, besitzen musste. Sorgfältig fuhren wir damit mehrmals durch unser Haar, wischten die Läuse, die sich in den eng stehenden Zinken verfangen hatten, in den Urin und sahen zu, wie sie darin verendeten. Dann flochten wir unser Haar zu einem festen Knoten, stellten uns am Fusse der Pritschen auf und warteten. Noch wurde kein Wort gesprochen, alles ging in tiefstem Schweigen vor sich. Schwester Annunziata kehrte zurück, schlug das Kreuzzeichen und stimmte den Morgengesang an. Wir taten ihr gleich, fielen ein in Melodie und Worte, die uns so vertraut waren, dass wir sie schlafend hätten vortragen können. Meine
Blase quälte mich, ich hatte zu tief geschlafen und es verpasst, kurz vor dem Wecken noch einmal Wasser zu lassen. Ungeduldig erwartete ich das Ende der Andacht, sah aus den Augenwinkeln, wie auch Agata und einige andere ihre Schenkel zusammenkniffen und das Gesicht verzogen. Kaum hatte die Nonne nach dem letzten Kreuzzeichen den Saal verlassen, ergriffen wir unsere Urinbecken, und sorgfältig, um nichts zu verschütten, begaben wir uns zu der Mädchenlatrine in der Ecke des Ganges, die glücklicherweise für vier Personen ausgerüstet war. Der Reihe nach erleichterten wir uns, leerten den nächtlichen Urin ebenfalls ins dunkle, übel riechende Loch, brachten die Becken in den Hof, spülten sie am Ablauf des Brunnens aus und wuschen uns im kalten, sauberen Strahl aus der Röhre gründlich die Hände; dann begann unser Tagewerk.
In dieser Woche hatten Agata und ich Küchendienst. Es war schön, sie meine Freundin nennen zu dürfen. Dieses Mädchen, das an einem Geburtsgebrechen litt und sein Bein nachzog, war mir vom ersten Tag an freundlich entgegengekommen. Ihr schleppender Gang störte mich schon lange nicht mehr, ich liebte sie wie eine Schwester. Wir gingen vorbei an der Säuglingsstube, wo die Balie im Kreise sassen und die ihnen anvertrauten Kinder nährten, eilten durch den Kreuzgang des ehemaligen Klosters der heiligen Katharina zur grossen Küche, in der es bereits behaglich warm war, griffen zu Besen und Scheuertuch, wischten im angrenzenden Esssaal die Krümel vom Vortag weg, fegten die langen Tische blank, holten die hölzernen Schalen von den Simsen und verteilten sie auf dem noch feuchten Holz. Nur die Schwestern assen aus weiss glänzenden Tellern, mit denen man ganz besonders vorsichtig umgehen musste, denn sie
waren zerbrechlich. Aus dem Backofen strömte der Duft von frischem Brot. Die Hilfsnonnen, die Converse, zogen die knusprigen Laibe mit langen Schüsseln aus der Glut, legten sie in Körbe und trugen sie in die Vorratskammer, wo sie auf Gestellen auskühlen und drei Tage lang lagern mussten, bevor sie zum Verzehr gelangten. Gierig schnupperten wir den herrlichen Duft, wussten wir doch, dass wir davon nichts erhalten würden. Brot stand nur Mutter Oberin und den Schwestern zu. Mit meinen dreizehn Jahren gehörte ich nun endgültig zu den Grossen, hatte nebst dem spärlichen Schulunterricht überall mit Hand anzulegen, mich der Anstaltsordnung zu fügen. Die Pflichten waren vorgeschrieben. Im Turnus arbeiteten wir in allen Bereichen des Hauses, von der Säuglingswartung über die Küche, die Wäscherei, Weberei und Schneiderei. Zudem war jede von uns zuständig für zwei der kleinen Mädchen, die in der Casa wohnten. Bis sie an Zieheltern vermittelt werden konnten, hatten wir sie zu lehren in allen Belangen der täglichen Verrichtungen und waren für ihr Wohl verantwortlich. Wir waren ihre grossen Schwestern und nicht wenig stolz darauf, zeigte dies doch das Vertrauen in unsere erworbenen Fähigkeiten, das uns die Nonnen entgegenbrachten. Die mir seit einem halben Jahr zugeteilten Mädchen waren beide vier Jahre alt, hiessen Maria-Caterina und AntoniaCaterina und führten, wie ich und alle andern, den Nachnamen Colombo. So wurden wir genannt nach der in Stein gehauenen Taube über dem Tor, dem Wahrzeichen der Pia Casa. Zudem erhielten alle Mädchen, wenn von ihren sie aussetzenden Eltern nicht anders schriftlich vermerkt, den Erst- oder Zweitnamen Caterina. Da die meisten von ihnen verdingt wurden, verkam der Name der Heiligen im Laufe der Jahre zum Inbegriff der Dienenden, der Magd, und wenn es auch
hässlichere Namen gab, so kennzeichneten uns diese beiden doch für unser ganzes Leben, prägten uns für alle sichtbar als Findelkinder und Verlassene. Die Turmglocke ertönte, es war die erste Morgenstunde, wir wischten unsere Hände sauber, entledigten uns der Schürzen, prüften gegenseitig den Sitz unserer Haube über dem straff gekämmten Haarknoten und begaben uns zur Kapelle. Die Knaben mit ihren Betreuern, die im Nebentrakt untergebracht waren, standen schon brav in Reih und Glied auf der Männerseite, wir schoben uns zwischen die grossen Mädchen zur Linken, falteten die Hände und warteten. Heute hielt Pater Bonaventura aus dem angrenzenden Kloster San Antonino den Frühgottesdienst, und das war jeweils lustig anzusehen, hüpfte der kleine, dicke Mann doch immer im Eifer seiner frommen Worte hin und her, stellte sich auf die Zehenspitzen, hob und senkte seine Stimme und rollte die Augen. Ein ergötzliches Schauspiel, das die Eintönigkeit der Zeremonie in erfreulicher Weise auflockerte. Wir liebten ihn alle. Nach dem letzten Amen durften wir Älteren die Kapelle als Erste verlassen, um nach unseren kleinen Schützlingen zu sehen, die ihres zarten Alters wegen dem Frühgottesdienst nicht beiwohnen mussten. Die zweite Morgenstunde war noch nicht voll, einige waren schon wach, das Geläut der Turmglocke durchdrang auch die dicksten Mauern. Maria und Antonia streckten mir ihre Ärmchen entgegen und ich hob sie hoch, drückte sie an mich und küsste sie. Schnell setzte ich sie auf das Töpfchen, wusch ihnen Gesicht und Hände, fuhr mit dem Kamm durch ihre krausen Haare, warf die Läuse in den Urin und kleidete die Mädchen an. Das ging meist ohne grosses Getue, wussten doch schon die Kleinsten, dass ein Zuspät-Kommen den Verlust des Morgenessens nach sich zog. «Mein Gott, Elisabetta hat schon wieder alles nass gemacht», hörte ich Agata stöhnen, und während sie versuchte, die
Flecken mit dem Restwasser im Becken auszuwaschen, half ich ihr, kleidete an ihrer Stelle die kleine Sünderin an, guckte auch nach Rosanna, die sich aber mit ihren fünf Jahren schon gut selbst zu helfen wusste. So waren wir beim ersten Glockenschlag bereit, eilten inmitten der anderen durch die Gänge, betraten zusammen mit den Knaben den Esssaal und stellten uns ordentlich hinter unseren Plätzen auf, die Jungen mit Pater Bonaventura am Tisch zur Rechten, wir Mädchen und die Novizinnen an dem zur Linken; es war viereinhalb Stunden vor Mittag. Die Oberin betrat mit ihren Frauen den Raum. Eine der Novizinnen sprach das Tischgebet, eine andere las eine erbauliche Stelle aus der Bibel, dann durften wir uns setzen. Agata und ich holten in der Küche den stark verwässerten Wein, der unser alltägliches Getränk war. Bedienungsnonnen, die Converse, brachten die Schüsseln mit der Morgensuppe, in der Bohnen und die Gemüsereste vom Vortag zu einem dicken Mus verkocht waren. Dazu gab es je ein Stück Gorgonzola. Alles war ruhig und ohne zu sprechen vor sich gegangen, auch während des Essens wurde nicht gesprochen, und wenn sich eines der Jüngsten vergass und zu plappern begann, gewärtigte dessen ‹Schwester› einen Verweis. Zum Glück verhielten sich meine beiden brav. Einmal mehr dachte ich an die Mahlzeiten zu Hause bei Mammina und Babbo. Wie viel anders war es da doch gewesen, wie unbeschwert hatten wir zusammen geplaudert und nie hatte ich Schelte gekriegt wegen eines umgestossenen Bechers oder eines Kleckses auf dem Kleid. Nun, dort war nicht hier und hier war nicht dort, Sinnieren brachte nichts, so viel hatte ich begriffen. Immerhin hatte ich zu essen und ein Dach über dem Kopf; das besassen nicht alle Menschen in dieser Stadt. Anpassung war alles, was ich zum Überleben brauchte, und mich anzupassen hatte ich in den letzten drei Jahren gelernt.
Mutter Oberin hatte ihren Teller zurückgeschoben. Schnell stopfte ich den Rest meines Käses in den Mund und wischte die Gemüsespuren von den Lippen der Kinder, dann standen wir auf und sprachen mit gesenktem Kopf das Dankgebet; das Morgenessen war beendet. Doch niemand verliess den Saal. Wir warteten auf das täglich wiederkehrende Geschehen, wobei die Converse den Tischreihen entlanggingen und jedem ein Stück Zwiebel und eine Zehe Knoblauch reichten, die wir vor den prüfenden Augen der Nonnen kauen und schlucken mussten. Das, so sagten sie, sei unserer Gesundheit zuträglich, es vernichte die Würmer und bösen Säfte in uns und erhalte uns gesund. Deshalb lag über allem, was unter dem Dach der Casa sich befand, der Duft nach Knoblauch, lag auch über ihren Bewohnern. Wir strömten ihn aus, aber wir nahmen ihn nicht mehr wahr, er gehörte zu uns. Anschliessend brachten wir die Kleinen in die Kinderstube, wo einige Novizinnen sich ihrer annahmen. Nun war es Zeit für den Unterricht und wir eilten ins Klassenzimmer, wo unsere drei Kameradinnen schon warteten. Nur wir fünf Mädchen kamen in den Genuss einer Lehrstunde und wir genossen diese Bevorzugung. Weshalb man sich aber die Mühe machte, uns etwas Lesen und Schreiben beizubringen, wussten wir nicht, wir nahmen es hin, wie so vieles andere auch. Für mich bedeutete es eine willkommene Abwechslung zur Hausarbeit, denn ich lernte leicht und es machte mir Freude. Manchmal schlich ich mich in die Klosterbibliothek, vorgebend, dort Staub zu wischen, und betrachtete die unzählig vielen in Leder gebundenen Bücher. Einmal gelang es mir, in einen verlassen auf dem Pult liegenden Folianten hineinzuschauen, zitternd vor Aufregung und Angst, dabei erwischt zu werden, entdeckte, dass ich die Buchstaben erkannte, sie aneinanderreihen konnte, und wenn ich auch
nicht viel verstand von dem, was ich in lateinischer Sprache las, so machte es mich doch froh und irgendwie stolz. Viel zu schnell verflog jeweils die Schulstunde, wir zogen unsere Schürzen wieder an und begaben uns zurück in die Küche. Dort war mittlerweile emsig gearbeitet worden, über dem Feuer blubberte im grossen Kessel der Maisbrei fürs Abendessen, Berge von Rüben, Lauch, Zwiebeln und Kohl warteten aufs Rüsten, die Köchin zerhackte die Hälfte eines Schweines in Stücke und hing sie in den Rauchfang. Mit etwas Glück würden wir den einen oder anderen Bissen beim nächsten Kirchenfest in der Mittagssuppe wiederfinden. «Beeilt euch, Mädchen, das Gemüse muss zerkleinert werden», rief sie uns zu und wir setzten uns auf die Bank neben die schwachsinnige Carmela, die uns mit kleinen, spitzen Lauten und heftigem Kopfnicken begrüsste. Meistens tat uns das arme Geschöpf leid, ihr Körper war verbogen, ihre rechte Gesichtshälfte war ein einziges, feuerrotes Mal. Sie lebte schon so lange in der Casa, dass ihr dünnes Haar weiss und ihr Gebiss mangelhaft geworden war, und obwohl sie wenig Verstand besass, tat sie doch, was man ihr auftrug und was in ihren geringen Kräften stand. Am Anfang hatte mir vor ihren dünnen Fingern und dem stets offenen Mund, aus dem sich ab und zu ein Speichelfaden zog, gegraut. Aber nun war ich ihren Anblick gewohnt und störte mich nicht mehr daran. Manchmal aber hatte sie ihren schlechten Tag. Dann war ihr Blick voller Entsetzen, sie schlug sich die Stirne am Tischrand wund und warf mit dem Gemüse um sich, so dass man sie festhalten musste, wozu drei bis vier Personen nötig waren. Wir fürchteten diese Anfälle, denn der Anblick war schrecklich. Ein Teil der Medizin, die die herbeigerufene Schwester Beatrice ihr einzuflössen versuchte, rann ihr aus dem Mund, troff ihr über das Kinn, und doch schluckte sie jeweils genügend davon, um ruhig zu werden und in den sie
umschlingenden Armen schlapp wie ein nasser Sack zusammenzuklappen. Danach bekam man sie drei Tage nicht mehr zu Gesicht, bis sie am vierten, wie immer und als wäre nichts gewesen, auf ihrem Platz sass und Gemüse putzte.
Wir begannen mit unserer Arbeit, säuberten, schnitten, hackten, rochen die Würze des Kohls und des Lauchs, vergossen über dem Zwiebelschneiden Tränen und steckten uns ab und zu heimlich einen Bissen Rübe in den Mund. Eigentlich war das verboten, aber die Köchin war eine gutmütige Schwester und rügte uns nicht, gönnte uns und ihren Converse manchmal zwischen der Arbeit eine Pause bei einem Stück älteren und deshalb grünschimmligeren Käse und einem Krug frischen Wassers und setzte sich mit ihrer Leibesfülle auch gerne mal selbst dazu. Kein Wunder, dass der Küchendienst beliebt war bei uns Mädchen. Das Schönste aber stand in der Ecke neben der Türe: ein grosses, mit einem dicken Holzdeckel verschlossenes Fass, in dem die Köstlichkeit aufbewahrt wurde, nach der wir alle lechzten – in Essig eingelegte Gurken und Zwiebeln! Immer am Ende der Woche, nachdem wir mitgeholfen hatten, die Küche zu säubern, die Böden zu fegen, die Pfannen und Töpfe zu schrubben, die messingenen Geräte zu polieren, nachdem die Kessel mit den Abfällen für die Schweinetränke im Schuppen in den Trog geleert und ausgespült worden waren, die schmutzigen Schürzen ausgezogen und die Hände gewaschen – wenn dies alles zur Zufriedenheit der Köchin geschehen war, dann hob sie den Deckel vom Fass und liess uns hineingreifen. Je nachdem, wonach uns der Sinn stand, wählten wir Gurke oder Zwiebel, knicksten, bedankten uns und waren entlassen. Agata und ich verzogen uns stets in den
Trakt, in dem die Neugeborenen lagen, denn dort war die Gefahr am geringsten, von anderen kleinen Schleckmäulern aufgestöbert und angebettelt zu werden. Wir setzten uns im Kreuzgang auf den Mauersims, meist dorthin, wo noch die letzten Sonnenflecken lagen, liessen die Beine baumeln und knabberten, um den Genuss so lange wie möglich hinauszuzögern, kleine Stücke vom sauren Gemüse. Der würzige Essig troff uns über die Finger, wir leckten sie sauber und schnupperten den feinen Duft von Estragon und Dill, der anschliessend noch eine ganze Weile an unseren Händen haften blieb. Wir liebten diese Augenblicke, die nicht nur eine Auszeichnung für gutes Arbeiten waren, sondern auch unserer Seele Wohltaten, auch wenn ich dies damals nicht so genau erkannte. Kein Wunder, dass wir ängstlich darauf bedacht waren, dieses Vorrecht durch nichts zu gefährden. Das konnte nur zu leicht geschehen, die Regeln in der Casa waren streng. Eine verschlampte Arbeit, ein Zu-spät-Kommen wo auch immer, ein lautes Wort am Mittags- oder Abendtisch, wo es uns zwar erlaubt war zu sprechen, aber nur in gedämpftem Tone, unachtsamer Umgang mit den Kleidern oder sonstige Ungehörigkeiten konnten, je nach Strenge der jeweiligen Aufsichtsperson, den Verlust des begehrten Lohnes bedeuten. Selbst die von der Küche mit Holzhacken und Wasserschleppen beauftragten Knaben beachteten sorgsam diese Regeln; auch sie empfanden den Entzug des Essiggemüses als schmerzlich. Unsere Arbeit war beendet, wir legten die Messer weg, wischten die Abfälle zusammen und stopften sie in den dafür vorgesehenen Kessel. Mit einem Kopfnicken entliess uns die Köchin, bis zum Tischdecken hatten wir einige Minuten zur freien Verfügung, und wie immer wandten wir uns dem äusseren Tor zu, wo wir uns auf die Bank im Hof setzten und
durch die Mauerlücken hinausblickten auf die Strasse, auf den Naviglo, auf das gegenüberliegende, riesige Gebäude des Ospedale Maggiore, zu dessen Ärzten die Menschen aus aller Herren Ländern reisten, um sich von ihren Krankheiten heilen zu lassen. Dies war eine Welt, die uns meist verschlossen blieb. Aber Agata blieb stehen, fasste mich am Arm und flüsterte: «Rosanna hat heute Morgen ihre Plakette nicht getragen. Weiss der Himmel, wo sie sie wieder abgelegt hat, ich werde sie suchen müssen.» Unwillkürlich griff ich nach der meinen, die ich an einer Kette um den Hals trug. Diese bronzene Plakette, die ein jedes von uns besass, war wichtig, war der Beweis unseres Daseins. Erst dieses kleine Stück Metall gab uns das Recht auf Leben und formte uns zu Wesen dieser Welt. Darauf waren alle uns betreffenden Daten festgehalten, vom Tag unserer Ankunft in der Pia Casa über Name, Haarfarbe, wirkliches oder geschätztes Alter bis zur Nummer der jeweiligen Akte in der Kartei. Dieser war auch das Erkennungszeichen, so man eines besass, beigefügt. Das Tragen der Plakette war Pflicht, sie gehörte zu uns, ohne sie waren wir wie nackt und nicht vorhanden. Der Nutzen dieser Vorschrift war offensichtlich, denn die Vielzahl der in der Casa aufgenommenen Kinder erforderte eine solche Massnahme. Keine Nacht, in der nicht zwei und mehr Neugeborene in den Torno gelegt wurden, kein Tag, an dem nicht einer oder mehrere Säuglinge starben, denn viele waren krank und schwach, und die Eltern, meist arm wie die Kirchenmäuse, sparten sich so die Kosten der Beerdigung. Der Anblick des Totengräbers war für uns nicht ungewöhnlich, der schwarze, von einem müden Gaul gezogene Karren, auf dem die kleinen Leichen weggeführt wurden, alltäglich, so alltäglich, dass ich mich nie gefragt habe, wohin sie gebracht wurden. Nur die Totgeburten der Wöchnerinnen,
die in der Casa entbanden, wurden auf dem Kirchhof ganz hinten im Garten beerdigt, und diese Kinder erhielten für ihren kurzen Erdenbesuch nicht mehr als ein Glockengebimmel und ein Holzkreuz. «Hast du schon unter ihrem Bett nachgeschaut?» «Nein, ich habe es erst beim Morgenessen bemerkt.» «Ich habe auch nichts bemerkt, sie hat sich heute selbst angezogen. Aber frag sie doch!» «Ach, du kennst sie ja, sie weiss nie, wo sie was hinlegt, sie vergisst so schnell.» «Bis zum Tischdecken haben wir noch etwas Zeit, ich helfe dir suchen.» «Darüber wäre ich froh, vier Augen sehen mehr als zwei.» «Wer hat Kammerdienst?» «Sophia und Anita, soviel ich weiss.» «Anita ist eine Petze, wenn die sie gefunden hat, weiss es bereits Schwester Annunziata.» «Sag so was nicht, da kann ich mir das Nachtessen ja gleich abschreiben.» Wir eilten durch den Kreuzgang zurück, mieden die Haupttreppe, schlichen uns zur Nebentreppe, die einen direkten Zugang zu den Schlafsälen im ersten Stock und der Küche im Untergeschoss hatte, horchten, und als alles still blieb, schlüpften wir hinein in den dunklen Aufgang, betraten den Schlafsaal der Kinder und atmeten auf. Er war leer, die Strohsäcke aufgeschüttelt, die Decken glatt gestrichen, das Schmutzwasser in den Krügen entfernt, nur ein zusammengewischtes Häufchen Kehricht lag neben der Türe. Die beiden diensthabenden Mädchen würden gewiss bald zurückkommen, um ihre Arbeit zu vollenden. Wir nahmen uns Rosannas Lager vor, schüttelten die Tücher aus, kehrten den Strohsack um, prüften den Boden, durchsuchten den schmalen Kleiderkasten, den jedes von uns besass, aber die Medaille
blieb verschwunden. Hilflos sahen wir uns an, Schritte im Aufgang trieben uns zur Eile, kaum vermochten wir, das verwüstete Lager wieder herzurichten, da betrat Anita den Raum.
Anita war schön, trotz der verblichenen Kleider und der strengen Haartracht. Was uns andere, wie mir schien, verunstaltete, gereichte ihr zum Vorteil, betonte ihre tiefblauen Augen, ihre weisse Haut, ihren hübsch geschwungenen Mund. Ihre Zähne strahlten wie Perlen, ihr Haar, wenn sie es am Abend löste, glänzte tiefschwarz und dieser Gegensatz, das Blau der Augen und das Schwarz der Haare, ergab ein Bild vollendeter Übereinstimmung. Aber ich mochte sie nicht und das lag keinesfalls daran, dass ich ihrer Schönheit neidisch war. Das lag vielmehr an ihrer etwas kriecherischen Art, ihrem Blick, der manchmal so heimtückisch war, ihren Worten, die süss klangen, aber in die Seele trafen und Unbehagen verursachten, so, als hätte man sich schuldig gemacht und wüsste nicht, warum. Ihre einzige Freundin war Sophia, die ihr treu ergeben war, sie bewunderte und alles tat, um ihr gefällig zu sein. Deshalb mochte ich auch Sophia nicht, obschon diese einfältig und bestimmt nicht wissentlich bösartig war. Anita aber war es! «Ach, guten Tag, Giulia, guten Tag, Agata. Was tut ihr denn hier, sucht ihr etwas?», sagte sie mit ihrem verschlagenen Blick und ich fühlte das Unbehagen in mir hochsteigen, das mich jedes Mal in ihrer Gegenwart befiel. «Ja, wir suchen etwas», sagte Agata, «Rosanna hat ihre Medaille verlegt, vielleicht habt ihr sie ja beim Bettenmachen gefunden.» «Oh, das ist ungeschickt, das kostet dich ein Abendessen. Leider kann ich dir nicht helfen, wir haben sie nicht gesehen –
nicht wahr, Sophia», wandte sie sich an die neu Hinzugekommene, «du weisst auch nichts von einer nachlässig verlorenen Medaille?» «Ich?» Sophias helle Augen flackerten unsicher und blieben dann an Rosannas Bett haften. «Ich? Nein, beim besten Willen nicht, ich habe nichts bemerkt.» «Da hört ihrs; wäre es nicht so, hätten wir es euch doch gesagt, nicht wahr, Sophia?» «Aber ja, aber sicher, wir hätten es euch gesagt.» Ich wusste, dass sie log, denn sie trat unruhig von einem Bein auf das andere und biss sich auf die Lippen. Anita hatte ihr den Arm um die Schulter gelegt. «Es tut uns leid für dich, Agata, du wirst heute Abend hungern. Aber mach dir nichts daraus, du bist ohnehin zu fett, es wird dir nur gut tun.» Sophia lachte auf und ich trat einen Schritt auf die beiden zu, aber Agata packte mich an der Hand und zog mich aus dem Raum. Ich war wütend. «Diese Schlange, ich bin sicher, sie haben die Plakette soeben zu Schwester Annunziata gebracht – oh, ich könnte sie würgen.» «Das würde alles nur schlimmer machen; dann geh ich eben ohne Essen ins Bett, es wird mich nicht umbringen.» «Ich verstehe nicht, wie du so gelassen bleiben kannst, sie ist so gemein!» «Ja, aber das muss sie mit sich selbst ausmachen. Zudem hat sie es verstanden, sich mit ihrem süssen Gesicht bei den Nonnen lieb Kind zu machen, dagegen anzukommen ist sehr schwer, da muckt man besser nicht auf.» Schweigend deckten wir den Tisch, versammelten uns dann zusammen mit den andern in der Kapelle zum Mittagsgebet,
holten unsere Schützlinge im Kinderzimmer ab und führten sie in den Speisesaal. Die Gemüsesuppe war gut, es gab reichlich. Heimlich schob ich ein Stück Käse unter den Rand meiner Schale, gedachte es hinauszuschmuggeln, um es Agata am Abend zuzustecken, begegnete dem Blick Anitas, sah, dass sie uns lauernd beobachtete, und legte den Käse wieder in den Korb zurück. Gleichzeitig ärgerte ich mich darüber, dass ich mich vor ihr beugte, hasste es zu fühlen, dass sie Macht über mich besass, dass ich sie fürchtete, hasste es, meiner Unterwürfigkeit bewusst zu werden, und hätte am liebsten vor Wut geschrien. Das Mahl war beendet, das Tischgebet gesprochen, wir betteten die Kinder zu ihrem Mittagsschlaf, begaben uns zurück in die Küche, halfen beim Aufräumen, Abwaschen und Putzen, und die ganze Zeit hing der Gedanke an die verlorene Plakette Unheil verheissend über uns. Die Abendandacht war vorüber, die Oberin hatte sich uns zum Schlusswort zugewandt. Sie schlug das Kreuzzeichen, wir taten ihr gleich und warteten. Prüfend glitt ihr strenger Blick über uns hinweg, verweilte hin und wieder kurz auf dem einen oder anderen Gesicht, dessen Besitzer sich alsogleich unbehaglich zu fragen begann, was er möglicherweise im Laufe des Tages Schlimmes getan haben könnte, und hub dann mit ihrer dunklen Stimme zu sprechen an: «Gelobt sei Jesus Christus.» Der Chor unserer Stimmen klang bedrückt. «In Ewigkeit, amen.» «Heute, am vierten Tage des Monats September, sind mir folgende Verfehlungen kundgetan worden: Erstens: PaoloPiero Colombo. Tritt vor!» Den Jungen, der sich nun zögernd und gesenkten Kopfes aus den Reihen seiner Kameraden schob, kannte ich. Er war schon
verschiedentlich mit uns zusammen zum Küchendienst eingeteilt gewesen und ich fragte mich, was er wohl verbrochen haben könnte. «Komm näher, Paolo, und sieh mir in die Augen. Hast du heute verbotenerweise in das Pökelfass gelangt und dir Zwiebeln herausgeholt?» «Ich wollte sie Carlo bringen, er ist doch krank und…» «Hast du oder hast du nicht?» «Ja, ehrwürdige Mutter, aber…» «Drei Tatzen auf deine diebischen Hände und kein Abendessen. Melde dich anschliessend bei Fra Michele, er wird dir geben, was dir zusteht. Zweitens: Aldo-Alberto Colombo, tritt vor!» Aldo war älter als Paolo, trat beherzter auf, schaute Mutter Oberin direkt ins Gesicht und schien sich nicht zu fürchten. «Hast du heute im Zorn die Hacke nach einer Katze geschleudert und sie so zu Tode gebracht?» «Ja, ehrwürdige Mutter, aber ich wollte sie nicht treffen. Ich kann nichts dafür, sie lief mir dazwischen.» «Aber du warst zornig, weshalb?» «Ich sollte die Latrinen reinigen, aber die Reihe war gar nicht an mir.» «Dann hast du dich einem Befehl widersetzt?» «Ja ehrwürdige Mutter, aber es war ungerecht.» «Darüber zu urteilen steht dir nicht zu und Zorn ist eine Sünde. Du wirst zwei Wochen lang die Latrinen reinigen ohne andere Hilfe; das Abendessen ist gestrichen, entferne dich.» Aldo zog sich in den Kreis der Knaben zurück und der Blick der Oberin schwenkte hinüber zu uns Mädchen. Ich hielt den Atem an. «Leider musste ich von einer Verfehlung hören, die mir ganz besonders schwerwiegend erscheint. Agata-Caterina Colombo, tritt vor!»
Weil wir uns an den Händen hielten, fühlte ich, wie sie zu zittern begann. Sie löste sich von mir und bewegte sich ungelenk nach vorn. Die Oberin griff in ihren Ärmel, und als ihre Hand wieder zum Vorschein kam, glänzte darin Rosannas Medaillon, das sie an der Kette vor ihrem Gesicht hin- und herbaumeln liess. «Kennst du das, Agata?» «Ja, ehrwürdige Mutter.» «Weisst du, wie wichtig diese Plaketten sind?» «Ja, ehrwürdige Mutter.» «Dann hast du deine Sorgfaltspflicht auf sträfliche Weise versäumt. Dafür wirst du mit hungrigem Magen in der Kapelle drei Rosenkränze für dein Seelenheil beten, geh.» Auf einmal fühlte ich, wie Mutter Oberin mich musterte. «Als Viertes ist mir folgende Verfehlung gemeldet worden. Giulia-Gianna Colombo, tritt vor!» Erstaunt folgte ich ihrem Befehl, ich fühlte mich unschuldig, wusste nicht, wie mir geschah. «Giulia, hast du heute Mittag ein Stück Käse heimlich entwendet?» Anita, schoss es durch meinen Kopf, ich ballte die Fäuste. «Ehrwürdige Mutter, ich habe ihn wieder hingelegt.» «Du hast versucht, gegen die Vorschrift zu verstossen, oder kennst du die Regel nicht?» «Ich kenne sie, ehrwürdige Mutter.» «Dann lass sie uns hören!» Ich holte tief Atem. «Es ist nicht erlaubt, Esswaren vom Tisch zu entwenden. Es ist nicht erlaubt, ausserhalb des Esssaales solchermassen entwendete Esswaren zu geniessen oder für später aufzubewahren. Es ist nicht erlaubt, zwischen den regulären Mahlzeiten Speisen zu sich zu nehmen, es sei denn als Lohn für gut getane Arbeit.»
«Na also, du kennst die Regel tatsächlich; schade, dass du dich nicht daran gehalten hast. Du weisst, welche Strafe darauf steht, oder?» Mich schauderte. Der Gedanke, eine Nacht lang in der kalten Kapelle knien und alle Heiligen um Vergebung anflehen zu müssen, entsetzte mich. «Ja, ehrwürdige Mutter.» «Da du die Tat nicht ausgeführt hast und es beim Versuch geblieben ist, will ich Gnade vor Recht ergehen lassen. Du sollst dich Agata anschliessen, und damit alles seine Richtigkeit hat, wird Schwester Beatrice euch überwachen. Du kannst gehen.» Benommen vor ausgestandenem Schrecken trat ich zurück, hörte das «Gelobt sei Jesus Christus» und die gemurmelte Antwort wie durch einen Nebel. Agata hatte wieder meine Hand genommen. Wir folgten den andern zum Esssaal, denn zur Strafe gehörte, dass wir mit den beiden Knaben auf der Schandbank beim Abendessen anwesend zu sein hatten. Da sassen wir nun auf der langen Bank an der Wand, aufrecht, die gefalteten Hände im Schoss, sahen zu, wie der dampfende Maisbrei aufgetragen, der Käse herumgereicht wurde, sahen auf dem Tisch der Oberin und der Novizenmeisterinnen die Schüssel mit der herrlich duftenden, in würzigem Sud gekochten Katze und das Wasser lief uns im Mund zusammen. «Sie fressen die Katze, eigentlich sollten sie mir dankbar sein», flüsterte Aldo durch die Zähne, ohne die Lippen zu bewegen, «mögen sie daran ersticken!» Paolo kicherte und ich stiess ihn an, denn auch das war verboten, wenn man auf der Schandbank sass. Zudem schauten Anita und Sophia mit anzüglichen Blicken immer wieder zu uns herüber, führten übertrieben geniesserisch ihren Löffel zum Mund und flüsterten miteinander.
Die andern liessen uns in Ruhe, taten, als achteten sie sich unser nicht, denn es gab kaum jemanden, der die Schandbank nicht schon am eigenen Leib erfahren hatte. Anschliessend knieten wir in der Kapelle vor dem Altar auf dem kalten Boden, drehten murmelnd die Perlen des Rosenkranzes und Schwester Beatrice achtete darauf, dass dies nicht zu schnell geschah. Dann waren wir entlassen, schlüpften zurück in den Schlafsaal, zogen uns im Finstern aus, darauf bedacht, niemanden aufzuwecken. Wir hielten uns noch eine Weile an den Händen, das gab uns Trost und mit diesem Trost und dem Gefühl des Nicht-ganz-verlassen-Seins schliefen wir ein.
So kam der März. Wiederum würde der Magnolienbaum in Mamminas Gärtchen blühen, wiederum hätte sie die Schürze der Urahnin aus der Truhe genommen und den Badezuber zurechtgemacht. Allerdings, gewaschen hätte ich mich, mit meinen dreizehn Jahren, wohl selbst und Babbo hätte sich eine viel dickere Strähne meines hellen Haares, das mir nun bis zu den Hüften reichte, um den Finger wickeln können. Vorbei, das war vorbei, und doch überfiel mich immer wieder Trauer, wenn ich an sie dachte. «Vergiss es», sagte Agata, die mich beobachtet hatte, und ich fühlte ihre Anteilnahme. Es war nicht ungewöhnlich, dass sie aus meinem Gesichtsausdruck wusste, was mich bewegte; wir kannten uns zu gut, waren wie Schwestern, vertrauten einander, errieten oft unsere Gedanken, ohne dass wir darüber hätten sprechen müssen. Im Kinderzimmer waren wir Grossen seit dem Mittagessen damit beschäftigt, die wenigen Habseligkeiten unserer Schützlinge durchzusehen, auf Schadhaftes zu achten und Fleckiges zum Waschen auf ein Häufchen zu legen. In zwei
Tagen war der Besuch der Zieheltern und derer, die es werden wollten. Bis dahin sollten sich die Kinder in möglichst gutem Zustand ihren neuen Vormunden vorstellen können. Wir würden unsere Kleinen vermissen, aber andere würden an ihre Stelle treten und uns weiterhin beschäftigen, so waren die Regeln. Soeben war Schwester Rosalia weggerufen worden, wir waren für einen kostbaren Augenblick ohne Aufsicht und nutzten ihn, um uns etwas zu entspannen. «Ich frage mich, was die zukünftigen Bräute mit Schwester Beatrice zu besprechen haben. Wie ihnen wohl zumute ist?», meinte Agata. Ich bemerkte erst jetzt, dass unsere drei Kameradinnen, die alle in wenigen Wochen fünfzehn Jahre alt wurden, nicht mit uns waren. «Das werden wir in zwei Jahren am eigenen Leibe erfahren», kicherte Estrella, «oder hast du Angst davor?» «Ich weiss nicht, es ist schon ein seltsames Gefühl, daran zu denken. Man weiss ja nie, wem man zugeteilt wird.» «Hoffentlich keinem Dicken», meinte Valeria und schüttelte sich. «Der, den Grazia letztes Jahr bekommen hat, war grässlich.» «Aber man sagt, er sei reich, da wird sie es doch sicher gut haben.» «Ha, die Reichen! Die nehmen uns nur zur Konkubine. Und wenn sie unser überdrüssig sind, verstossen sie uns. Nur die Witwer heiraten uns manchmal, jene, die schon zwei bis drei Frauen zu Tode geschwängert haben.» «Woher weisst du das?» «Ach, ich habe es irgendwo gehört.» «Es stimmt, ich habe es auch vernommen», warf die rothaarige Omelia ein, «es heisst, dass ein durch junges Fleisch vorgewärmtes Bett das Zipperlein aus den Knochen der alten Männer vertreibt.»
«Aber», sagte Cristina scheu und sah mit ihren schielenden Augen bittend in die Runde, «gibt es nicht auch diejenigen, die Gutes tun wollen und für uns eine Aussteuer ausrichten, ohne etwas dafür zu erwarten?» «Um in diese Gunst zu kommen, muss man schön sein, die Hässlichen bleiben zeitlebens Mägde, und schau, Cristina, du brauchst dir bestimmt keine Sorgen zu machen, dich mit deinem queren Blick nimmt ohnehin keiner.» Anita sagte es schnippisch und Sophia nickte pflichtbewusst und kicherte albern. Das bedrückte Schweigen schien ihr zu gefallen, siegessicher schaute sie sich um, streifte mit vielsagendem Blick das verkürzte Bein Agatas, den verkrümmten Rücken Mirettas und wandte sich mir zu. «Du bist auch keine Schönheit, möglicherweise bleibt ihr zeitlebens hier wie die Converse und Carmela.» «Vielleicht wäre das gar nicht das Schlechteste, da weiss man wenigstens, was man hat», sagte ich, und um nichts in der Welt hätte ich sie merken lassen, wie schrecklich mir diese Vorstellung war. Die Aussicht, die ganzen Jahre hier eingesperrt bleiben zu müssen, unter der Fuchtel der Nonnen, war beängstigend. Schon einige Zeit beschäftigte mich der Gedanke an meine Zukunft. Hatte ich überhaupt eine? Was würde mit mir geschehen, wenn ich fünfzehn war und die Casa verlassen musste? Würde ich als Magd bei fremden Leuten dienen oder als Ehefrau eines zufällig für mich ausgewählten Mannes enden? Oder musste ich einem dieser Hochwohlgeborenen, die jeweils an den festgesetzten Tagen zur Besichtigung kamen, zu Willen sein, bis ich verstossen wurde? Schwester Rosalias Schritte auf dem Gang unterbrachen mein Sinnen, ich sah, wie sich Cristina schnell eine Träne von den
Wangen wischte, dann beugten wir uns wieder eifrig über unsere Arbeit. Schwester Rosalia atmete so, als wäre sie schnell gelaufen. Sie klatschte in die Hände, rief: «Alle herhören! Ragazze, morgen haben wir an einer Beerdigung teilzunehmen, die Frau eines hohen Beamten ist verstorben. Die Kleider müssen bis heute Abend in Ordnung gebracht sein, sonst kommen wir in Verzug. Beeilt euch!» Die Hälfte von uns wurde zum Wäschewaschen geschickt, die andern machten sich daran, die schadhaften Stellen auszubessern. Kein lautes Wort wurde mehr gesprochen, und während ich die Nadel durch den rauen Stoff stiess, dachte ich mit einer Art froher Erwartung an den morgigen Tag. Welche Wohltat würde es sein, wieder einmal die einengende Gleichförmigkeit der Casa verlassen zu dürfen, wieder einmal zu schnuppern an der Welt ausserhalb der Mauern. In Gedanken pries ich die Tote, deren Ableben uns diese kleine Spanne Freiheit bescherte, hoffte, es würde ihr gutgeschrieben am Tage des Jüngsten Gerichts. Wie mir erging es auch den andern, fühlbar hing die Vorfreude im Raum, und es störte uns in keiner Weise, dass diese Vorfreude einem traurigen Umstand zuzuschreiben war, denn alles war uns recht, das die Eintönigkeit unseres Daseins unterbrach. Es gab Zeiten, da wurden wir fast jede Woche zu einer Beerdigung gerufen, besonders während des Frühlings- und Herbstfiebers. Meist waren es ältere Menschen, die wir zu Grabe begleiteten, und alle stammten aus gutem Hause, denn die Armen konnten sich unsere Fürbitten, die mehrere Silberliren wert waren, nicht leisten. Es war für die Casa ein einträgliches Geschäft, trug bei zu unserem Unterhalt. Einmal, in der flaueren Jahreszeit, währenddem die Converse versuchten, mit ein paar letzten Zutaten eine Suppe zu kochen,
hörte ich eine von ihnen in der Küche seufzen: «Wenn doch nur endlich wieder jemand stürbe!» Der folgende Tag kam. Gleich nach dem Mittagessen, nachdem wir alle ein Salbeiblatt zum Kauen erhalten hatten, um den Knoblauchdunst zu mildern, versammelten wir uns im Hof, die Rosenkränze um die Finger geschlungen, das Haar mit einem weit herabfallenden Tuch verhüllt – wie die Gottesmutter auf dem Bild in der Kirche, hatte Cristina einmal ehrfürchtig gesagt –, und dann kam Schwester Rosalia. Wir hatten uns in Viererreihe aufzustellen, die Pförtnerin öffnete das Tor, das den Blick auf den lang gezogenen, mächtigen Bau des Ospedale Maggiore, der Casa Grande, freigab. An der Strassenecke warteten bereits die Knaben in ihren weiten Umhängen. Pater Bonaventura, der das hoch erhobene Kruzifix trug, stellte sich an die Spitze des Zuges, wir schlossen uns an und unter den wachsamen Blicken der Schwestern Rosalia und Annunziata, die den Abschluss bildeten, zogen wir durch die Strassen, dem Trauerhaus entgegen. Wir hatten vorschriftsmässig die Köpfe geneigt und die Augen gesenkt, was uns aber nicht daran hinderte, so oft wie möglich zur Seite zu schielen, um möglichst viel vom Leben ausserhalb unserer Mauern zu erhaschen. Besonders beeindruckend war, dass uns die Kutschen mit den stolzen Pferden den Weg freigaben oder gar anhielten, dass die Menschen an den Strassenrand wichen, um uns vorbeiziehen zu lassen, und dass sie alle bei unserem eintönigen Gemurmel das Kreuzzeichen schlugen. Selbst die flanierenden österreichischen Offiziere traten zurück und blickten uns nach, was mich wieder daran erinnerte, dass Mailand nun österreichisch war und unter der Herrschaft Kaiser Leopolds II. stand. Das kümmerte uns aber hinter unseren Mauern nicht besonders, bis jetzt hatten wir darunter nicht zu leiden gehabt.
Die lateinischen Totengebete hatten wir in mühsamen Stunden auswendig gelernt, und wir sagten sie her, ohne gross über deren Sinn nachzudenken. Viel interessanter schien uns die Aussicht, nach dem Begräbnis eine Scheibe Brot und einen Soldo zu erhalten, und wenn uns dieser auch gleich nach unserer Rückkehr abgenommen werden würde, so war es doch ein schönes Gefühl, für kurze Zeit im Besitz eines Geldstücks zu sein. Das Haus, in dem die Tote lag, stand in einer vornehmen, sauberen Gegend. Schwarze Tücher umhüllten die Säulen, verbargen die hohen Fenster, schwarz gekleidete Menschen traten durch das mit Zypressenzweigen geschmückte, weit offen stehende Tor, und das Weinen und Jammern der Klageweiber drang hinaus bis auf die Strasse, jagte uns einen Schauer über den Rücken. Wir stellten uns neben dem Eingang auf, rechts die Knaben, links wir Mädchen, und als Schwester Annunziata das Zeichen gab, stimmte Bruder Bonaventura den Wechselgesang des Kyrie Eleison an, begleitet von den hohen Stimmen der Schwestern, den zögernden der Knaben und unseren hellen, worauf wir stolz waren, denn singen konnten wir mit Sicherheit besser als die Jungen. Die Träger erschienen mit dem prächtigen Sarg, hoben ihn vorsichtig in den mit vier Pferden bespannten Totenwagen, und wir schlossen uns an, rahmten ihn ein, beteten nun das Agnus Dei, immer und immer wieder, bis die Angehörigen und Trauergäste sich formiert hatten und der Zug sich in Bewegung setzte. Für einmal fühlten wir uns wichtig in der allgemeinen Beachtung, die uns zuteil wurde, denn jedermann wusste, wie wertvoll Kindergebete waren, stiegen diese doch ohne Umwege schnurstracks auf in den Himmel an Gottes Ohr und ebneten den Verstorbenen den Eintritt ins Paradies.
Die Pferde mussten vom Kutscher zum langsamen Trott zurückgehalten werden. Sie warfen unruhig den Kopf auf, die uns folgenden schwarz gekleideten Menschen bildeten eine lange Schlange, die Frau hatte ein grosses Geleit. Unter das Gewimmer der Totenglocke mischte sich das Schluchzen der Angehörigen. Die Frauen betupften sich mit schwarzen Spitzentüchlein die Augen, der Witwer und seine Söhne – allesamt rothaarig, eine Seltenheit in Mailand – schritten würdevoll, sich ihres hohen Standes bewusst, und wir leierten eifrig und mit lauter Stimme die Gebete her, ohne Unterlass, so wie es uns gelehrt worden war. Ich freute mich auf die Trauerfeier im Dom, das war für mich etwas vom Schönsten. Ich liebte diesen riesigen Bau, der trotz seiner Grösse mit seinen vielen zarten Türmchen beinahe schwerelos erschien, liebte den Anblick der breiten Treppe, der mächtigen Säulen im Innern, mochte die Kerzen, die bunten Fenster. Es gefiel mir, wie die Worte der Gebete widerhallten im hohen Gewölbe und die Melodien sich verwandelten zu einer Klangfülle, die in unserer kleinen Kapelle nie erreicht wurde. Mich bezauberten der Anblick der Messdiener, der Priester in ihren kostbaren Gewändern, das Funkeln der Flämmchen in goldenen Gerätschaften, der huschende Schein auf dunklen Gemälden, der die Gestalten belebte, als würden sie im nächsten Augenblick aus ihrem Rahmen treten. Mir schien, als verwandelte ich mich für kurze Zeit in einen anderen, besseren Menschen, einen Menschen, der für einmal ebenso viel Daseinsberechtigung hatte wie alle die Reichen und Vornehmen um mich herum, denn hier waren wir wichtig. Auf die Worte des Bischofs hatte ich kaum geachtet. Noch beteten wir das Paternoster, in das alle murmelnd einfielen, dann brausten die Orgelklänge auf, rauschten mächtig durch den heiligen Raum; der Gottesdienst war zu Ende.
Pater Bonaventura hob das Kruzifix hoch über seinen Kopf, wir schlossen uns an und schritten zum Ausgang, stellten uns wieder beidseits auf, sangen ‹Alleluja›, schielten aber schon begehrlich nach den beiden Körben, in denen säuberlich auf weissem Linnen die Brotstücke lagen. Noch hatten wir uns zu gedulden, die Trauergemeinde verlief sich nicht sogleich, die Menschen standen in Grüppchen beisammen und sprachen leise, bezeugten der Trauerfamilie ihr Mitgefühl und begaben sich dann zu ihren Kutschen, um sich zum grossen Friedhof bringen zu lassen. Dort sollte die Beisetzung stattfinden und dabei brauchte man uns nicht mehr, wir hatten unsere Schuldigkeit getan. Endlich trat der Witwer zu Schwester Rosalia, übergab ihr einen ledernen Beutel, liess sich von ihr die Hand küssen und wandte sich uns zu. «Ihr habt gut gebetet», sagte er freundlich, «euer Lohn ist verdient, kommt und holt ihn euch.» Damit griff er in die Schale mit kupfernen Münzen, die ihm einer seiner Söhne reichte. Wir durften unter den wachsamen Augen der Schwestern vortreten und den Soldo knicksend in Empfang nehmen. So war es bisher immer gewesen, aber diesmal geschah etwas, das mir im Gedächtnis blieb. Als Anita vortrat, sah ich, wie sein Gesicht sich rötete, er hielt ihre Hand fest, schob mit der andern ihr Tuch weg, fasste sie unterm Kinn und hob ihren Kopf hoch. «Welch hübsches Kind», sagte er, «wie alt bist du denn, meine Schöne?» «Vierzehn, Herr», hörte ich Anita sagen, was nicht stimmte, denn von diesem Alter trennte sie noch gut ein halbes Jahr. «Soso, hmm, vierzehn, na ja», sagte er, lächelte seltsam und wandte sich der Nächsten zu. Das war ich, ich nahm das Geldstück in Empfang, fühlte es kühl in meiner Hand und war froh, dass er mich nicht weiter beachtete. Dann, als wir alle
unser Stück Brot in den Händen hielten, sah ich ihn mit den Schwestern sprechen, welche zu allem, was er sagte, beifällig nickten. «Schau mal, wie sittsam sie tut», flüsterte Agata mir zu und wies zu Anita, die ihr Tuch wieder über den Kopf gezogen, die Augen niedergeschlagen hatte und tat, als merke sie nicht, was um sie herum vorging. «Jetzt wird sie sich noch erhabener benehmen», meinte die rothaarige Omelia, während sie begeistert kaute. Auch wir andern genossen den Leckerbissen, schnupperten den frischen Duft, die knusprige Kruste, die weiche Krume und freuten uns, denn Brot war für uns eine seltene Kostbarkeit. So war denn der Gang zurück zur Casa um einiges aufgelockerter. Jetzt, da wir nicht mehr beteten, achteten die Nonnen darauf, dass wir genügend Abstand zu den ehrbaren Bürgern hielten, um sie nicht zu belästigen. Einige der vornehmen Damen rafften gar ihre Röcke, andere hielten sich schützend ein Tuch vor das Gesicht. Selbst als wir auf unserem Weg nach Hause das uns gegenüberliegende Ospedale Maggiore durchquerten, begafften uns die Kranken im Hof so, als hätten wir Hörner, aber heute störte uns das alles nicht, denn wir assen Brot und besassen einen Soldo. Wir verliessen den Spitalbezirk auf der Brücke mit dem eisernen Geländer, die über unseren Naviglio führte, bemerkten den wartenden, von zwei Pferden gezogenen Fäkalienkahn, dessen Besitzer soeben damit beschäftigt waren, in unserem Innenhof die Fäkalienkisten auszuwechseln. Die standen in den Abortschuppen unter den Latrinenlöchern, und der Gestank war so schlimm, dass nun wir unsere Tücher vor die Nase pressten. Der widerlich süsse Geruch des Kots und der scharfe des Urins erfüllten die Umgebung, und obwohl Türen und Fenster bei diesem allabendlich stattfindenden Geschehen geschlossen wurden, roch man ihn noch eine ganze
Weile, nachdem die Männer ihre stinkende Last auf den Kahn gebracht, die Zugtiere angetrieben hatten und weggezogen waren zum nächsten Haus. Waren sie in den schmalen Naviglio neben unserem Grundstück eingebogen und verschwunden, gab Mutter Oberin den Befehl zum Lüften, und wenn dann die Abendglocke zum Gottesdienst rief, war alles wieder in Ordnung. Aber nicht nur stinkende Lasten wurden auf den Navigli, den Wasserwegen Mailands, befördert. Vom Fenster unseres Schlafraumes aus konnten wir die Kähne sehen, die mit Marmorquadern zum Bau der vornehmen Häuser, mit Maisstroh, mit Gemüsen und Früchten, mit Handwerkszeug und Gerätschaften aller Art und, je nach Gewicht des Gutes, von einem oder mehreren Pferden gezogen, die Stadt erreichten. Manchmal träumte ich davon, auf einem solchen Gefährt zu sitzen und wegzufahren, hinaus in die Weite, und wäre es nur auf einem der unzähligen Rossmistkähne gewesen, die den täglich reichlich anfallenden, gefragten Dünger auf die Felder der Bauern führten. Rossmist stank nicht, er duftete, duftete nach Weite, nach meinem Dorf, nach Geborgenheit und Heimat. Ich liebte diesen Geruch!
Den Soldo hatte uns Mutter Oberin abgenommen, im Vorzimmer zu den oberen Räumen, hatte ihn eingetragen hinter unseren Namen im grossen Buch, hinzugefügt zu den vielen andern, die wir einst mit fünfzehn Jahren als Mitgift ausbezahlt erhalten würden. Es war beruhigend zu wissen, dereinst, beim Verlassen der Casa, nicht ganz mittellos in die Welt hinausgeschickt zu werden. An diesem Abend arbeiteten wir fünf Mädchen, die Schulunterricht erhielten, noch lange in die Nacht hinein, denn am nächsten Tag wurden die künftigen Zieheltern erwartet.
Die Schwestern betrauten uns mit der Aufgabe, die Akten der Kinder nach dem Alphabet zu ordnen und auf Tischen bereitzulegen. Erst eine Stunde vor Mitternacht waren wir entlassen zur kurzen Ruhe, und schon die vierte Morgenstunde sah uns wieder geschäftig. Wir wuschen die Kinder, steckten sie in saubere Kleider, beruhigten sie, wenn sie der Trennung wegen weinten, versprachen ihnen, dass sie bald Eltern haben und glücklich sein würden. Schon am frühen Morgen waren die Balie erschienen, alles junge, dralle Bauersfrauen, die soeben geboren und genügend Milch hatten, um noch einen zweiten Säugling zu nähren. Freudig steckten sie ihren Ammenlohn ein und entfernten sich mit ihrem Pflegling. Das Kinderzimmer leerte sich, nur die kranken und schwachen Würmchen wurden in der Obhut der Sitzammen zurückgelassen. Gegen Mittag war es so weit, die Zahl derer gross, die sich ebenfalls mit dem Geld für ein Ziehkind ihr mageres Einkommen aufbessern wollten. Bauersleute und Handwerker hatten sich in einer Reihe angestellt und wurden von Mutter Oberin nach ihren Wünschen befragt. Zugesprochen wurde ihnen dasjenige Kind, das Mutter Oberin für angebracht hielt. Schwester Annunciata trug Name und Wohnort der Pflegeeltern in die jeweilige Akte ein, Schwester Beatrice händigte ihnen das Kostgeld aus und sie waren entlassen, zogen davon mit ihren Schützlingen, die einem Dasein entgegengingen, das, wie ich heute weiss, meist hart und lieblos sein würde. Viele Knaben waren von Kaminfegermeistern mitgenommen worden. Sie würden weiterhin in Mailand leben und die Kamine der reichen Häuser reinigen. Einige würden dabei im Schlot ersticken, andere sich eine Krankheit der Lunge holen
und wieder andere an Unterernährung sterben. Die Nachfrage war gross. Auch die Bauersleute brauchten willige Knechte, die sie zu jeglicher Arbeit benötigten, oft ungeachtet ihres jungen Alters, und auch da war die Sterberate hoch. Glücklicher konnten sich jene schätzen, die in den Haushalt einer reichen Familie geholt wurden. Sie konnten dereinst Pferdeknecht, Kutscher oder Diener werden, die Mädchen Köchin, Zofe oder Kinderfrau, wenn sie nicht vorher schwanger und ausgestossen wurden. Diejenigen aber, denen es an Klugheit fehlte oder die sonst ein Gebrechen aufwiesen, blieben zeitlebens Sklaven ihrer Herrschaft, herumgestossen, verachtet, ausgenutzt, oft nur gut genug, dem Herrn oder seinen Söhnen bei Bedarf zu Willen zu sein. Das alles wusste ich damals noch nicht, ja, glaubte fest an ihr Glück, denn hatte ich es nicht auch gut gehabt bei Mammina und Babbo? Woher sollte ich wissen, dass es nicht überall so war? Aber der Gerechtigkeit halber muss doch gesagt werden, dass es immer wieder Zieheltern gab, die sich unser erbarmten und die Kinder, deren sie sich annahmen, hielten wie ihre eigenen, ja, sie sogar stillschweigend und ganz selbstverständlich aufnahmen in ihre Familie, wenn sie mit fünfzehn Jahren aus der Obhut des frommen Hauses entlassen wurden. Ihnen sei Dank. Es war eine Stunde vor Tramonto, das Haus widerhallte vor Leere. Zurückgeblieben waren wir zwölf Grossen und die kranken Säuglinge, zu deren Pflege nur noch fünf Balie benötigt wurden. Auch im Wohnteil der Knaben waren wenige übrig geblieben, meistens diejenigen, die schwächlich oder sonst behindert waren.
Wir gingen durch die Räume, ordneten hier etwas, reinigten dort etwas und fühlten uns irgendwie verloren. Da wir nur noch wenige waren, sassen wir beim Abendessen am Tisch der Nonnen, was dazu führte, dass wir kaum zu kauen wagten. Es war sonderbar, etwas lag in der Luft, wir fühlten es, und es ängstigte uns. Nach der Abendandacht, wo sonst die Strafen verteilt worden wären, begann Mutter Oberin zu sprechen: «Gelobt sei Jesus Christus.» «In Ewigkeit, amen.» «Ragazze, es ist an der Zeit, über eure Zukunft zu sprechen. Vielleicht habt ihr euch gewundert, dass heute keine von euch vermittelt worden ist. Das hat seinen Grund, denn wir haben andere Pläne. Caterina, Anna und Michela, tretet vor!» Das waren die drei Mädchen, die in einigen Wochen ihren fünfzehnten Geburtstag feiern konnten. «Wie ihr schon von Schwester Beatrice vernommen habt, werdet ihr heiraten. Wir haben für euch passende Ehemänner ausgesucht. Ihnen werdet ihr an eurem Geburtstag angetraut. Von uns bekommt ihr eine angemessene Aussteuer, so dass ihr nicht mit leeren Händen in euer neues Leben geht.» Die drei zu Bräuten Erkorenen neigten ergeben den Kopf, nur eine lächelte, die andern beiden blickten ernst. «Omelia, tritt vor. Du hast das Glück, von einer edlen Dame bemerkt worden zu sein. Sie wird dich unterstützen und dich mit fünfzehn Jahren aufnehmen, um ihr bei Eignung als Gesellschafterin zu dienen. Bis dahin hast du noch viel zu lernen!» An ihren erstaunten Augen merkte man, wie überrascht unsere rothaarige Kameradin war. Mutter Oberin trug dem Rechnung, indem sie eine kleine Pause einlegte, bevor sie weitersprach:
«Und nun zu dir, Anita. Du hast beim letzten Begräbnis die Aufmerksamkeit des verwitweten Hausherrn auf dich gelenkt. Er wird in Zukunft für dich sorgen, du wirst uns schon in zwei Tagen verlassen.» Triumphierend blickte sich die so Bevorzugte um und trat siegessicher zurück. «Agata und Giulia, kommt her.» Agata griff nach meiner Hand. Die Ihre war eiskalt. «Schwester Annunziata hat mir berichtet, dass ihr gut lernt, eine schnelle Auffassungsgabe besitzt und die lateinischen Gebete ohne Schwierigkeiten beherrscht. Deshalb haben wir beschlossen, euch in unseren Konvent aufzunehmen. Ihr werdet an eurem fünfzehnten Geburtstag ins Noviziat eintreten.» Wir waren entlassen, und nun waren auch meine Hände eiskalt. Nonnen, wir sollten Nonnen werden. Genau das, was ich so befürchtet hatte, war eingetreten: Ich würde zeitlebens hinter Klostermauern bleiben und auch die Tatsache, dass meine Freundin Agata dasselbe Schicksal traf, milderte mein Entsetzen in keiner Weise. Kaum vernahm ich, wie Mirella, Cristina, Sofia und die zwei noch verbleibenden Mädchen zu einem Leben als Converse bestimmt wurden. «Ich hoffe, ihr wisst zu schätzen, was wir für euch tun, und werdet euch dankbar zeigen», sagte Mutter Oberin noch, schlug das Kreuzzeichen und entfernte sich mit ihren Frauen.
So war also über uns bestimmt worden. Nach unseren Wünschen wurde nicht gefragt, es interessierte niemanden; Hauptsache, wir erfüllten die an uns gestellten Aufgaben und muckten nicht auf. An diesem Abend fühlte ich mich schlechter als jemals zuvor. Ich war entrechtet und fremdbestimmt worden, obwohl
ich zu diesem Zeitpunkt die beklemmenden Gefühle in mir nicht auf diese Weise hätte benennen können. Kaum, dass ich atmen konnte vor hilflosem Zorn, der mir, hätte ich ihn in Worten ausgedrückt, in keiner Weise angestanden hätte, denn musste ich nicht froh sein und auf den Knien unserem Herrgott danken, der mir so viel Gutes tat und mich behütete? Behütete vor was? Vor wem? Ich wusste es nicht, und das war wohl das Schlimmste: nicht zu wissen, was ich hätte tun können, um mich meines Schicksals zu erwehren. Und wenn ich es hätte tun können: Welche Zukunft hatte ich denn? Stallmagd oder Küchenmädchen, Gattin eines mir unbekannten Mannes oder Gespielin eines alten Lüstlings! War es das, was ich wollte? Nein und nochmals nein! Aber was dann? Wir waren hinaus auf den Hof gelaufen, Agata und ich, hielten uns fest und weinten, fühlten in unserem Kummer kaum die Kühle der anbrechenden Nacht, noch bemerkten wir die schwarze Gestalt neben dem Holunderbusch, sahen sie erst, als sie sich bewegte und auf uns zutrat. Es war Schwester Annunziata, die nie auch nur den kleinsten Fehler ungerügt liess, und wir erschraken. Sie sah uns eine Weile an, dann lächelte sie und ihre Stimme klang seltsam weich, als sie sagte: «Glaubt mir, Mädchen, es gibt Schlimmeres für eine Frau, als Nonne zu werden.» Dann ging sie zurück ins Haus und überliess uns unserer Überraschung, denn Anteilnahme oder gar Mitleid waren wir nicht gewohnt, hatten solches in diesem Haus noch nie erfahren. Von diesem Tag an liebten wir Schwester Annunziata.
Bereits in den kommenden Wochen füllte sich das Kinderzimmer wieder; jede Nacht wurden Neugeborene in den Torno gelegt. Die Sitzammen kehrten zurück, die gesunden
Kinder wurden so schnell wie möglich aufs Land weitergegeben. An willigen Wöchnerinnen mangelte es nie. Eingedenk unserer kommenden Aufgabe wurden Agata und ich zu neuen Arbeiten hinzugezogen. Wir hatten uns um die Schwangeren zu kümmern, die, weil mittellos, nicht im Ospedale Maggiore aufgenommen wurden, mussten uns mit den Vorgängen einer Geburt vertraut machen, die blutigen Laken und die Brusttücher wechseln und sie den Converse zum Waschen übergeben, ebenso die Leinenstreifen, welche die monatliche Blutung aufnahmen, um sie, wenn sie vom Unreinen gesäubert und weiss gewaschen aus der Waschküche zurückkamen, mit neuer, frischer Baumwolle zu füllen. Solche Binden brauchten wir massenhaft, und obwohl uns niemand auf das Erwachsenwerden vorbereitete, wussten wir, worum es ging, als sich bei uns zum ersten Mal die Regel einstellte. Nun hatten auch wir am Haken neben unserem Bett den Leinenbeutel, der aufnahm, was befleckt war, und aus dem es, vor allem im Sommer, oft genug seltsam roch. So erhielten wir Einblick in die geschlechtlichen Angelegenheiten der Frau. Schwester Beatrice hatte uns mit strengem Gesicht und erhobener Stimme vor Augen geführt, was geschehen könne, falls man sich unzüchtig mit einem Mann einliesse, denn: «Auf diese Weise seid ihr geworden, die meisten von euch jedenfalls», sagte sie und fügte bei: «In Sünde gezeugt und in Schande geboren; das vererbt sich gerne; wie die Mutter, so die Tochter, merkt euch das, denkt immer daran und tut nach den Geboten Gottes.» Tun nach den Geboten Gottes, das wurde uns nicht nur gelehrt, es wurde uns eingehämmert, immer und immer wieder, denn wir waren Kinder der Unzucht, besonders anfällig für die Verführungen Satans. Deshalb war die wöchentliche Beichte bei Fra Bonaventura und Fra Michele,
die dazu vom Kloster San Antonino zu uns herüberkamen, Vorschrift, auch wenn wir oft kaum wussten, inwiefern wir gesündigt hatten, denn unser geordneter Tagesablauf bot dazu wenig Gelegenheit. So knieten wir denn nach ausgiebiger Gewissenserforschung in den engen Beichtstühlen unserer kleinen Kirche, den Beichtspiegel herunterleiernd: Ja, ich war beim Beten unandächtig, nein, ich habe nicht Gottes Namen missbraucht, nicht die Messe geschwänzt, nicht widersprochen, war nicht ungehorsam, habe nicht gestohlen, nicht gelogen und mich nicht gezankt! War ich hoffärtig? Nein, und auch für Geiz gab es keinen Grund, hatte ich doch nichts zu verschenken. Unmässigkeit und Trägheit wären unter den aufmerksamen Augen der Schwestern unmöglich gewesen – aber wie stand es mit Zorn? Ja, zornig über die vielen Ungerechtigkeiten unseres Alltags war ich oft, sehr oft und so heftig, dass ich hätte schreien können. Und Neid, wie stand es damit? War ich neidisch gewesen, als Anita, schön wie nie, in hübsche Kleider gehüllt die Kutsche ihres Gönners bestiegen hatte und aus unserem Leben verschwunden war? Ja, aber nicht so sehr auf die schönen Kleider als vielmehr auf die Freiheit, die sie in Zukunft haben würde. Diese gönnte ich ihr nicht und Neid und Wut hatten mich in der darauffolgenden Nacht mein Laken nass weinen lassen. «Das ist alles, mein Jesus Barmherzigkeit.» Ich mochte Bruder Michele nicht und das lag nicht nur an seinem verunstalteten rechten Fuss, der nur noch drei Zehen aufwies, nein, das lag an seinem frommen Getue, an seiner selbstherrlichen Art, über die Sünden anderer zu richten. Sein Gesicht näherte sich dem Trenngitter, ich roch Schweiss und Knoblauchdunst, seine flüsternde Stimme klang streng. «Hast du nicht etwas vergessen, meine Tochter?» «Nein, das ist alles.»
«Wie steht es mit dem sechsten Gebot?» Das sechste Gebot – Unkeuschheit! Das war mein wunder Punkt. War es unkeusch, wenn ich mir den Vorgang vorzustellen versuchte, der die Schwangeren in ihren Zustand versetzt hatte? War es unkeusch, wenn mir dabei ein heimlichlustvoller Schauer über den Körper lief? Ja, das war es wohl, und Fra Michele nickte befriedigt. «Zur Busse betest du drei Vaterunser und fünf Ave Maria.» Murmelnd sprach er mich frei von meiner Schuld. «Gelobt sei Jesus Christus.» «In Ewigkeit, amen.» Ich war entlassen, kniete in die nächste Kirchenbank, schlug die Hände vors Gesicht und wiederholte in Gedanken still die mir auferlegten Gebete. So tat man, so war es vorgeschrieben, ich war wieder rein von Sünden für eine ganze Woche.
Wieder zog der Herbst ins Land, ein Herbst, der goldener nicht sein konnte. Die Bäume und Sträucher in den beiden Höfen färbten sich bunt und gaben unserem grauen Gemäuer Schönheit und Glanz. Die Kähne auf den Navigli mehrten sich, sie brachten Früchte und Gemüse in die Stadt, und auch in unserem Garten wurde geerntet, was im Frühjahr angepflanzt worden war. Das reichte aber für die Versorgung der Casa nicht aus, wir erhielten zusätzlich einen Teil der Ernte von den klostereigenen Gütern ausserhalb der Stadt, von denen der Konvent drei besass, und so war es nur natürlich, dass ab und zu ein Kahn an unserer Anlegestelle festmachte. Je nach Monat waren die Gemüse verschieden, die abgeladen wurden. Zuerst erhielten wir Körbe voller Erbsenschoten, deren grüne, kugelige Früchtchen wir in langen Stunden auslösten, danach die Zwiebeln und den Knoblauch, und alles breiteten wir auf Tücher und auf Strohmatten zum Trocknen in den Höfen aus.
Dann kamen in schneller Folge Kirschen, Äpfel, Birnen und Feigen. Mit dem grössten Teil dieser Früchte stellten die Converse in der Küche ein Mus her, das durch seine Köstlichkeit weit herum berühmt war und auf den Herbstmärkten feilgeboten wurde. Davon sahen wir auf unserem Tisch nie etwas, aber wenn wir das Glück hatten, in dieser Zeit zum Küchendienst eingeteilt zu sein, durften wir die Pfannen ausputzen, und so kamen wir ab und zu in den Genuss dieser begehrten Leckerei. Was an Lagerfähigem übrig blieb, wurde im Keller auf Hürden aufbewahrt und zweimal in der Woche zum Abendessen gereicht. Darauf freuten wir uns, ganz besonders, solange die Früchte noch fest und saftig waren. Wenn sie zu schrumpeln begannen, schnitt man sie zu Schnitzen und trocknete sie im lauwarmen Ofen. Auch das gab eine willkommene Abwechslung unseres Speiseplans. Dann wurde der Mais angeliefert, und wir banden die blassgelben, fingerlangen Kolben an ihren noch grünen Blättern zu fünfen zusammen und setzten sie rittlings auf die schmalen, zu diesem Zwecke an der Balustrade des lang gezogenen Innenbalkons angebrachten Holzleisten, wo die Körner, bevor wir sie in grossen Mörsern zu Maisgriess zerstiessen, in der Sonne goldgelb und hart wurden. Trauben erhielten wir nur für den Tisch der Schwestern, denn aus dem Anteil, der uns zustand, wurde Wein gepresst, unser alltägliches, mit Wasser verdünntes Getränk.
Es war im Jahr 1798, meinem fünfzehnten Lebensjahr, als die Traubenernte so reichlich ausfiel wie lange nicht mehr. Alle, die etwas verdienen wollten, konnten dies nun tun und zogen aufs Land, um bei der Lese mitzuhelfen.
Eines Tages wurden Agata und ich zu Mutter Oberin gerufen. Wie immer erzeugte dies bei uns ein unbehagliches Gefühl, wir erwarteten Schelte, obschon wir uns keines Fehlers bewusst waren. Sie liess uns denn auch eine ganze Weile warten, während der wir unruhig und unruhiger wurden und die Angst sich unser bemächtigte, denn nichts ist so schwer zu ertragen als die Ungewissheit. Endlich blickte sie hoch, musterte uns eingehend und begann mit ihrer dunklen Stimme zu sprechen: «Der Pächter eines unserer Güter hat Caterinen angefordert. Da ihr fleissig und geschickt seid in allen Handhabungen der täglichen Verrichtungen, haben wir beschlossen, euch beide hinzuschicken. Wir vertrauen darauf, dass ihr das, was wir euch beigebracht haben, so einsetzt, dass mir keine Klagen zu Ohren kommen. Setzt euch und hört mir zu!» Scheu setzten wir uns auf die Kante der Bank vor dem eichenen Tisch, hinter dem sie aufrecht und mit gefalteten Händen sass, falteten ebenfalls die Hände und warteten. «In einigen Monaten werdet ihr ins Noviziat eintreten. Vom Leben ausserhalb unserer Mauern habt ihr noch nicht viel gesehen. Es scheint uns an der Zeit, euch damit vertraut zu machen, bevor ihr euch Gott zuwendet. Auf dem Weingut werdet ihr einem Tagesablauf begegnen, der euch fremd sein wird. Tut, was euch aufgetragen wird von euren Vorgesetzten, aber nichts, dessen ihr euch schämen müsstet. Achtet auf euer Seelenheil, lebt nach den Geboten Gottes, hütet euch vor den schmeichelnden Reden der Männer, haltet euch fern von ihnen. Des Weiteren werden wir euch ausstatten, wie es sich für eine Magd aus unserem Hause gehört. Morgen werdet ihr reisen. Ihr könnt gehen, gelobt sei Jesus Christus.» Unser Amen klang schüchtern. Erst ausserhalb des für uns Furcht einflössenden Raumes begriffen wir nach und nach,
was uns geschehen sollte. Mein Herz begann zu hüpfen, ich fühlte es ganz deutlich, eine unbändige Freude liess mich einige kleine Hopser machen und an dem lachenden Gesicht Agatas sah ich, dass auch sie sich freute. Endlich würden wir hinausgehen in die weite Welt, würden andere Menschen sehen, Menschen, deren Leben sich von unserem so sehr unterschied wie die Nacht vom Tage. So jedenfalls stellte ich es mir vor, konnte kaum schlafen, und als uns Schwester Beatrice am nächsten Morgen die neuen Kleider brachte, fühlte ich mich voller Erwartungen. Schnell schlüpfte ich in den schwingenden Rock, zog das weisse Hemd mit den weiten Ärmeln über den Kopf, schnürte das Mieder und drehte mich um mich selbst. Spiegel hatten wir keine, aber wir sahen uns mit den Augen des andern, begutachteten uns gegenseitig, und was wir sahen, gefiel uns. Das Kopftuch, das so gebunden wurde, dass es uns als Klostermägde erkenntlich machte, schmälerte unser Wohlgefallen nicht, aber etwas fehlte noch, und als mir bewusst wurde, was es war, fühlte ich einen Kloss in meinem Magen. Der bernsteinfarbene Schmuck Mamminas war es, von dem ich auf einmal glaubte, ohne dessen Schutz nicht weggehen zu können. All meinen Mut zusammennehmend, bat ich nach dem Morgengebet um eine Anhörung bei Mutter Oberin, wurde auch zugelassen, erhielt aber abschlägigen Bescheid mit den Worten: «Gott beschützt dich, wenn du ihn darum bittest, nicht ein Schmuckstein, der vielleicht sogar heidnischen Ursprungs ist. Gelobt sei Jesus Christus.» So standen wir noch vor der Mittagsstunde mit unseren kleinen Bündeln bereit, in die wir unsere wenige Unterwäsche und den Wollschal, der uns vor Wind und Kälte schützen sollte, gepackt hatten, als der Lastkahn bei uns anlegte. Die beiden Pferde, die ihn zogen, waren struppig und liessen die Köpfe hängen. Unsere Kameradinnen verabschiedeten uns
lautstark, selbst Schwester Beatrice und Rosalia winkten uns zu, und Schwester Annunziata trat zu mir, steckte mir ein kleines Päckchen zu und flüsterte: «Mutter Oberin schickt dir das, geh in Frieden.» Der Schleppkahn hatte tatsächlich Rossmist geladen, Rossmist, der so frisch war, dass er noch dampfte. Der Fuhrmann und sein Knecht hatten im hinteren Teil ein breites Brett darüber gelegt, so dass wir sauber und trocken sassen, zuhinterst auf der Ladung, den Blick nach rückwärts gerichtet, die Beine baumeln lassend: Wir sahen unsere winkenden Kameradinnen, das Ospedale Maggiore, das fromme Haus und unseren vertrauten Naviglio langsam verschwinden, sahen neue Häuser, andere Wasserstrassen, die in Treidelpfade mündeten, begegneten weiteren Lastkähnen und Menschen und fühlten uns wie aus dem Käfig ausgebrochene Vögel. Erst ausserhalb der Stadt, als die Mauern zurückblieben und sich das Land auftat in seiner ganzen, herbstgoldenen Schönheit, öffnete ich das kleine Päckchen, das ich bis jetzt fest in meiner Hand gehalten hatte. Darin lag das bernsteinfarbene Schmuckstück meiner geliebten Mammina, und ich legte es um und weinte dabei, denn die Güte von Mutter Oberin überraschte und rührte mich.
Es war Abend, als unser Fuhrmann anhielt und uns aussteigen hiess. Er wies in die Richtung, in der wir weitergehen sollten, trieb seine Pferde an und fuhr seiner Wege. Da standen wir nun mitten im Land, sahen die zum Teil schon abgeernteten Maisfelder, die weiten Rebfelder, in denen sich Menschen emsig rührten, hörten das Räderknarren der mit Trauben hoch beladenen Wagen, das Schnauben der Pferde, das Singen der Erntearbeiter, erblickten endlich die Umrisse eines grossen Gehöftes hinter einer dicht belaubten
Baumgruppe. Darauf hielten wir zu, denn es gab sonst nirgends eine andere Behausung. Auch dort waren Leute am Arbeiten, voll beladene Wagen warteten darauf, ihre Last loszuwerden, angetrieben vom Takt klatschender Hände stampften Mädchen und Burschen in grossen Bottichen mit blossen Beinen in den frisch geernteten Trauben, dass der dunkelrote Saft aufspritzte und in Stössen aus dem Spundloch in die Trichter der grossen Korbflaschen floss. Dazu wurde gelacht und gescherzt, alles sah fröhlich und freundlich aus und wir, die wir so etwas zum ersten Mal sahen, standen wie verzaubert da und rührten uns nicht. Da stürzte eine Frau aus dem Hause, eine Frau, klein, rund und quirlig, platzte sozusagen in die fröhliche Runde, verwarf die Hände und rief: «Ihr macht euch hier eine gute Zeit und wir brechen in der Küche unter all der Arbeit beinahe zusammen. Wir brauchen Hilfe, jemanden, der uns zur Hand geht. Sind denn die Caterinen immer noch nicht eingetroffen?» Plötzlich war es still auf dem Platz und ebenso plötzlich wandten sich uns alle Gesichter zu. Da gab ich mir einen Ruck, trat einen Schritt vor, knickste und sagte: «Da sind wir, Signora, soeben angekommen.» «Dem Himmel sei Dank, kommt, ragazze, schnell!» Sie führte uns in das Haus in eine grosse Küche mit einer breiten Feuerstelle, in deren Kamin Schinken und Würste von den Sparren hingen und wo an langen Tischen zwei weitere Mädchen arbeiteten. Draussen hatte das Klatschen und Stampfen von Neuem begonnen, drang aber nur noch gedämpft durch die dicken Mauern. «Ihr könnt eure Sachen dort in die Ecke legen», wies sie uns an; «später zeige ich euch, wo ihr schlafen werdet, aber jetzt haben wir Besseres zu tun.»
Wir erhielten eine steife Schürze, mussten uns die Hände am steinernen Ausguss waschen, bekamen ein Messer in die Hand gedrückt und rüsteten bald ebenso eifrig Rüben, Zwiebeln und Kohl wie die beiden andern Mägde. «Du, wie heisst du?», wandte sich die kleine Frau, die die Köchin sein musste, an mich. «Giulia, Signora.» «Nenne mich nicht Signora, ich bin Geppina – kannst du Polenta kochen?» «Ja Sig… Geppina.» «Dann komm her und rühre sie um, wenn sie die richtige Festigkeit hat, rufe mich.» Der Kessel, in dem die Polenta blubberte, war grösser und die Holzkelle breiter und länger, als ich es je gesehen hatte. Umso kraftaufwendiger war die Arbeit, schon bald schmerzten mich die Arme und in der leise glosenden Hitze des Feuers brach mir der helle Schweiss aus. Aber ich liess mir nichts anmerken, wollte nicht schon zu Beginn als unfähig abgetan werden. Erst als der Mais zu einer dickflüssigen Masse geworden war, liess ich die Arbeit ruhen und rief nach Geppina. Mit einem Messer, dessen Schneide sie quer über den Brei zog, prüfte sie dessen Beschaffenheit und nickte befriedigt. «Zieh das Feuer auseinander, damit es nicht mehr kocht, und komm herüber zum Tisch, du und deine Freundin – wie heisst sie? – du und Agata, ihr könnt den Käse in dünne Scheiben schneiden.» Auf dem Tisch lag ein Viertellaib blassgelben Käses und es war nicht der grünschimmernde Gorgonzola mit seinem faden Geruch, es war ein duftender, fester Käse, der sich gut schneiden und uns das Wasser im Mund zusammenlaufen liess. «Glaubst du, wir bekommen auch etwas davon?», fragte Agata hoffnungsvoll.
Ich zuckte die Schultern, stellte mir aber gleichzeitig den zarten Geschmack auf der Zunge vor und schluckte. Der Kessel mit dem Maisbrei war zur Seite geschoben worden, über dem neu angefachten Feuer kochte die Gemüsesuppe für den nächsten Morgen und Geppina schickte uns mit den andern Mägden zum Tischdecken. Die eine davon war alt, ihr runzliges Gesicht war gelblich fahl, es fehlten ihr einige Zähne; sie hiess Serafina. Ihre knotigen Finger bewegten sich ungeschickt, als sie mir eine Beige hölzerner Becher übergab. Mir schien, als hätte sie Schmerzen in den gichtigen Gelenken, und sie tat mir leid. Die andere war lang und mager, gute zehn Jahre älter als wir. Ihre grossen, schwarzen Augen unter den aussergewöhnlich dichten, über der Nase zusammengewachsenen Brauen blickten aus einem spitzen Gesicht. Das war Petronella, um deren schmale Lippen ein ständiges Lächeln lag. Beide begegneten uns freundlich, und Petronella meinte: «Gut, dass ihr gekommen seid, wir kochen zweimal am Tag für über achtzig Personen. Das macht ganz schön Arbeit. Nur schon das Tischdecken für so viele Leute braucht seine Zeit. Seht her, hinter jedes Essbesteck kommt ein Becher. Beeilt euch.» Der gewölbte Essraum mit seinen Backsteinwänden, der an die Küche angrenzte, war lang und schmal, durch Bogenfenster fiel Tageslicht, im Kamin fand sich erkaltete Asche. Der Wechsel von der Wärme der Kochstelle in die Kühle der Steinmauern liess mich schaudern und Petronella, die es bemerkt hatte, meinte: «Hier wird selten eingeheizt, es genügt die Körperwärme der Menschen, um es behaglich werden zu lassen. Ihr werdet schon sehen.» An den Kanten der zwei langen Tische steckten in Lederschlaufen in regelmässigen Abständen Löffel und Messer, kennzeichneten so den Platz eines jeden. Knechte
traten ein, stellten Krüge mit frisch gepresstem Wein auf die Tische, und einer von ihnen klatschte Petronella auf den Hintern. Sie schrie auf, aber es schien ihr zu gefallen, das sah ich an ihrem Gesicht. Agata und ich blickten uns vielsagend an. Schamlos, das war schamlos! War es das, wovor uns Mutter Oberin hatte warnen wollen? Das Bimmeln einer Glocke zeigte den Feierabend an. Tramonto. Unter Geppinas Anleitung trugen wir das Essen auf und verteilten die Schüsseln mit dem dampfenden Maisbrei, auf dem der geschnittene Käse langsam zerschmolz, gleichmässig auf den Tischen. Nach und nach füllte sich der Saal, Knechte und Mägde, Kinder, Junge und Alte traten hinzu, ein jeder schien seinen festen Platz zu haben, stellte sich davor auf und wartete. Die Stühle am oberen Ende des Tisches waren noch unbesetzt. Geppina winkte uns an den untersten Teil nahe der Küche, reichte uns unser Essbesteck, und wir warteten mit den andern. Es wurde nur leise gesprochen, hin und wieder löste sich ein Lachen aus dem Gemurmel, und auf einmal wurde es still. Der Gutsverwalter mit Frau und drei Kindern trat ein. Sie waren in die Tracht der Gegend gekleidet, gingen zu den noch freien Plätzen, und bevor sie sich setzten, schlugen sie das Zeichen des Kreuzes. Alle taten dasselbe und der Hausherr sprach ein Dankgebet. Dann setzten sie sich, Petronella eilte, ihnen aufzuwarten, und als sie zu essen begannen, bedienten sich auch die andern, tauchten ihre Löffel in die Polenta, und bald vernahm man nur noch die Geräusche des Essens. Wie war ich hungrig! Noch selten hatte es mir so vorzüglich gemundet. Maisbrei und geschmolzener Käse, der keine Ähnlichkeit mit dem glitschigen Gorgonzola hatte, vermischten sich auf der Zunge zu wohlschmeckenden Bissen, kaum konnte ich davon genug bekommen, hörte erst auf zu
essen, als ich glaubte, platzen zu müssen. Frohgemut leckte ich Löffel und Messer sauber, steckte beides in die Schlaufen vor mir, die von nun an meinen Platz kennzeichneten, hörte, wie neben mir Agata satt und glücklich seufzte, wir sahen uns an und wussten: Dies war ein gutes Haus! Unser Tagewerk begann zehn Stunden nach Tramonto, in der Frühe, wenn es noch kaum dämmerte, begann mit Holzschleppen und Wasserholen am Ziehbrunnen, Boden, Bänke und Tische scheuern, gefolgt von den Arbeiten in der Küche, wobei alle allen halfen und so ein Einvernehmen entstand, das besser nicht hätte sein können. Nach dem Morgenessen, das meist aus einer dicken Erbsensuppe oder Minestrone bestand, versammelten sich alle Hausbediensteten im Innenhof, wo die Frau des Verwalters das zu erledigende Tagewerk besprach und Lob oder Tadel verteilte. So wussten wir immer, was von uns erwartet wurde, und das war irgendwie beruhigend. Wir vier Küchenmägde unterstanden Geppina, die uns zwar oft herumkommandierte und dauernd schalt, es aber – das merkten wir bald – gar nicht so böse meinte. Furcht empfanden wir anfangs vor den Knechten und Erntearbeitern, die uns neugierig, aber freundlich begegneten, scheuten uns, mit ihnen zu sprechen, vermieden es, sie anzusehen, ängstigten uns davor, als liederlich zu gelten. Hatte Mutter Oberin uns nicht ermahnt, uns fernzuhalten vom anderen Geschlecht? Wir empfanden es als seltsam, dass sich die andern Mädchen und Frauen so ungezwungen benahmen; sie lachten mit den Burschen, neckten sich gegenseitig, liessen sich gerne von ihnen anfassen, kurz, schienen sich keinen Deut um das sechste Gebot zu kümmern. In unseren Augen waren sie schamlos, doch da alle freundlich zu uns waren, wollten wir
nicht über sie richten, denn auch das wäre falsch und womöglich sündig gewesen. Jeden Mittag beluden wir für die Feldarbeiter einen Leiterwagen mit Körben voll geschnittenem Brot, duftenden Schinkenscheiben und Käse, stellten Krüge mit Wein dazu, der, um den Durst besser zu löschen, mit Wasser verdünnt war, und Agata und ich setzten uns auf den Bock neben den alten Pietro, der uns mit seinem zottigen Gaul in die Rebfelder kutschierte. Wir gewöhnten uns daran, dass wir da freudig empfangen wurden, die Burschen uns die braun gebrannten Arme entgegenstreckten, uns hinunterhoben und oft einen Augenblick zu lange festhielten, liessen uns unser anfängliches Unbehagen nicht anmerken, und es konnte geschehen, dass ich ein wohliges Erschauern und ein süsses Prickeln in meinen Gliedern fühlte. Während wir das Essen unter die Hungrigen verteilten, flogen Scherzworte hin und her, Scherze allerdings, die wir oft nicht begriffen, nicht verstanden, die uns aber dennoch erröten liessen aus der seltsamen Scham heraus, als ahnungslos und dumm zu gelten. «Lasst mir die Mädchen in Ruhe, sie kommen aus einer andern Welt», rief dann etwa der Verwalter, lachte aber ebenfalls und zwinkerte uns zu. Und damit hatte er Recht. Die Welt, die wir verlassen hatten, war nicht zu vergleichen mit der Welt, in der wir nun lebten. Trotz der vielen Arbeit zeigte sie sich uns voller Überraschungen, voller Frohsinn und Überfluss, zeigte uns ein Leben, das wir nie für möglich gehalten hätten. Die geheime Angst vor irgendetwas Ungreifbarem, allgegenwärtig unter der Fuchtel der Nonnen, war weg, liess uns freier atmen, aufrechter schreiten, wir blühten auf und freuten uns auf jeden neuen Morgen. Und trotzdem: Waren wir vielleicht doch in einen Sündenpfuhl geraten? Das fragten wir uns, wenn wir alleine
waren, am Abend, wenn die Arbeit getan war, denn da sahen wir oft, wie in der anbrechenden Dämmerung Paare hinter den Scheunen verschwanden, hörten das Gekicher der Mädchen, die schmeichelnden Reden der Burschen; zu häufig war in der Kammer, wo wir Küchenmägde schliefen, Petronellas Lager die halbe Nacht lang verwaist, als dass wir uns nicht darüber Gedanken gemacht hätten. «Was glaubst du, was sie zusammen tun, wenn sie sich hinter die Büsche schleichen?», fragte Agata. «Du weisst ja, was Schwester Beatrice uns über Mann und Frau erzählt hat. Ich denke, sie tun genau das.» «Ohne dass sie verheiratet sind? Nein, das glaube ich nicht, das ist eine Sünde!» «Frag doch mal Petronella, vielleicht erzählt sie es dir», sagte ich nicht eben freundlich und Agata schaute mich erschrocken an. «Bist du mir böse?» – «Nein, es ist mir nur gleichgültig, was sie tun. Es kümmert mich nicht!» Schnell wandte ich mich ab, denn sie sollte nicht merken, dass ich log. Seit ich ungewollt Zeuge eines solch nächtlichen Tuns geworden war, liessen mich meine Beobachtungen nicht mehr los, verfolgten mich, liessen mich manchmal gar träumend innehalten in meiner Arbeit, denn zu geheimnisvoll war der Vorgang gewesen, zu innig die Umarmung der beiden nackten, im Rausch der Lust vereinten Menschen. Aufgewühlt und mit schlechtem Gewissen, einem sündigen Vorgang beigewohnt zu haben, hatte ich mich davongeschlichen, fühlte eine Unruhe in mir, die sich aus meinem Gehirn über meine Brüste in den Bauch ergoss und in meiner Scham ein süsses, ziehendes Gefühl erweckte, ein Gefühl, das mich gleichermassen entzückte wie ängstigte. War es das, was unter Unkeuschheit zu verstehen war, diese dahinschmelzende Seligkeit, die für kurze Augenblicke alles
Irdische vergessen liess? Wenn ja, warum war das Sünde? Hatte Gott uns diese Gabe nur verliehen, um unseren Gehorsam in seine Gebote auf die Probe zu stellen, indem wir uns ihr zu versagen hatten? Ich wusste es nicht, würde es wohl auch nie erfahren, denn niemals hätte ich diesbezüglich jemanden um Rat gefragt. Aber aufmerksamer als vorher beobachtete ich meine Umwelt. Das Benehmen der Männer gegenüber uns Frauen sah ich mit anderen Augen, mit Augen, die nicht mehr frei von Unschuld waren.
Eines Tages bemerkte ich ein neues Gesicht am Esstisch, das ich, wenn es nicht so anders als alle andern gewesen wäre, wohl übersehen hätte. Es war ein junger Mann von kräftiger Gestalt, dunkler Hautfarbe und kurz geschnittenem, tiefschwarzem Haar. Trotz der Wärme trug er Stiefel und ein weinfarbenes, mantelartiges Gewand mit überlangen Ärmeln, die er zurückgeschlagen hatte. Etwas Rührendes verliehen ihm seine leicht abstehenden Ohren, und seine ausgeprägten Wangenknochen gaben ihm ein geheimnisvolles Aussehen. Das Hübscheste an ihm war sein Mund, seine Lippen waren voll und wohlgeformt. Da er mir schräg gegenübersass, bemerkte ich seine gesittete Art zu essen, sah seine wachen, schwarzen Augen, die unablässig umherschweiften, als wolle er sich jede Einzelheit des Raumes und seiner Menschen einprägen. Diese Augen, die irgendwie anders waren als die meinen, nicht rund, nicht schmal, eher mandelähnlich, ruhten plötzlich auf mir, auf dem Schmuck Mamminas, der mir, was mir erst jetzt auffiel, aus dem Ausschnitt meines Mieders geglitten war, streiften die helle Haarsträhne, die sich aus meiner Haube gelöst hatte und mir nun in die Stirne fiel, und dann trafen sich unsere Blicke und er lächelte. Schnell schob ich die Haare zurecht, liess das Amulett
zwischen meine Brüste gleiten und sah weg, doch was ich auch tat, ich fühlte mich von ihm beobachtet. Das führte dazu, dass ich kaum zu Ende essen konnte und froh war, als der Hausherr mit einem Dankgebet die Tafel aufhob. Aber meine Neugier war geweckt, und – wieder in der Küche – fragte ich Petronella nach diesem Fremden. «Kennst du den seltsamen Mann in der weinfarbenen Kleidung?» «Seltsam sind viele; welchen meinst du denn?» «Den, der mir schräg gegenübersitzt.» «Ach der! Nun, der ist heute eingetroffen. Man sagt, er sei von weit her gekommen, vielleicht gar aus dem Zarenland. Ich glaube, er ist ein Weineinkäufer im Dienst irgendeines hohen Herren.» «Und dann sitzt er mit dem Gesinde an einem Tisch?» «Während der Ernte ist es kaum anders möglich. Aber ich habe gehört, dass der Verwalter ihm morgen das Gut zeigen will. Warum fragst du, gefällt er dir?» «Oh nein, bestimmt nicht», sagte ich schnell, «er ist mir einfach aufgefallen, sonst nichts.» Petronella schnalzte mit der Zunge und Agata sah mich aufmerksam an. Ich wandte mich ab und beschäftigte mich mit meiner Arbeit, tat, als wäre nichts. Sie brauchten nicht zu wissen, dass mich sein Lächeln nicht mehr losliess, seine Augen sich mir eingebrannt hatten und er in meinen Gedanken steckte, so hartnäckig wie ein eingetretener Dorn im Fuss. Weshalb hatte er mich angelächelt, mich, wo es hier doch so viele hübsche Mädchen gab? Gefiel ich ihm vielleicht, oder war es vermessen von mir, so etwas auch nur zu vermuten? Und dann geschah es, dass beim nächsten Essenstransport vom folgenden Tag der schwarze Fremde neben dem Gefährt auftauchte, mich, bevor jemand anderer zur Stelle war, mit
beiden Armen umfing und herunterhob. Wir standen eng beieinander, ich fühlte die Kraft und die Wärme seines Körpers, wir blickten uns an, eine kurze Spanne nur, dann löste ich mich von ihm, fühlte eine Schwäche in meinen Knien, die mich zwang, mich am Wagen festzuhalten, griff, um meine Verwirrung zu verbergen, nach einem der Weinkrüge, bemerkte, dass meine Hände zitterten, war plötzlich so hilflos, dass ich am liebsten geweint hätte. Der alte Pietro schnalzte mit der Zunge und kicherte, und Agata, die darauf wartete, dass ich ihr einen der Brotkörbe abnehme, sah mich verwundert an. «Was hast du denn?», fragte sie leise, «du bist ja ganz blass! Ist dir nicht gut?» «Nein, alles in Ordnung, es ist nichts», sagte ich, reichte den Korb an die Hungrigen weiter, die von meiner seltsamen Schwäche nichts bemerkt zu haben schienen, und versuchte so zu tun, als wäre nichts gewesen.
So vergingen die Tage. Die Traubenlese neigte sich dem Ende zu, einige Helfer hatten sich bereits verabschiedet und waren weitergezogen auf der Suche nach neuem Verdienst. Der schwarze Fremde war aber immer noch hier, schien ein Gast des Hauses zu sein, denn er ritt oft des Morgens mit dem Verwalter aus und tat auch sonst, was ihm gefiel. Aber immer bei der Essensausgabe auf dem Feld war er zugegen, hob mich vom Wagen und hielt mich kurz fest, so dass sich die andern daran gewöhnten und gar nicht mehr versuchten, ihm zuvorzukommen. Auch ich gewöhnte mich daran, freute mich gar darauf und wäre enttäuscht gewesen, ihn nicht wartend anzutreffen. Er hatte mir seinen Namen zugeflüstert, und der klang ebenso fremd in meinen Ohren, wie der Mann selbst es war. Bator! Bator, das hiess für mich Weite, Fremde, nie
Gesehenes, nie Erlebtes, alles Dinge, die zu erfahren ich mich sehnte. Es entging mir nicht, dass die andern sich vielsagende Blicke zuwarfen und kicherten und Agata mich missbilligend musterte. «Was denkst du dir eigentlich dabei?», fragte sie eines Abends. Ich gab mich unwissend. «Was meinst du denn?» «Tu doch nicht so! Du weisst genau, was ich meine! Dieser Fremde und du – alle sprechen schon davon.» «Ach, wovon denn?» «Dass er dir verfallen sei, dass er dir nachstelle, so sagen sie, und du tust nichts dagegen, scheinst noch Freude daran zu haben und benimmst dich schamlos.» Das Wort ‹schamlos› traf mich. «Ich benehme mich nicht schamlos», sagte ich aufgebracht; «ich habe nichts getan, was die andern nicht auch tun und wofür ich mich schämen müsste.» «Noch nicht», sagte sie düster, «aber du bist auf dem besten Weg dazu.» Das war der erste Riss in unserer Freundschaft. Noch bemerkte man ihn kaum, noch hielten unsere Gefühle füreinander stand, aber etwas begann sich zu ändern, wir waren uns plötzlich nicht mehr so nahe, waren keine Einheit mehr, meine erwachte Lebenslust zwängte sich zwischen uns wie ein Keil. Und so sehr ich dies auch bedauerte, ich konnte es nicht ändern. Die Arbeit wurde weniger, und wir wussten, unsere Zeit war bald abgelaufen. Jeden Tag erwarteten wir die Order zur Rückkehr, hofften, dass uns diese nicht vor dem verheissenen Erntefest erreichen würde, auf das wir uns so freuten. Ohne Zweifel war das die schönste Zeit seit dem Tod meiner Zieheltern, und der Gedanke daran, alles zurücklassen zu
müssen, wieder in die Enge der Klostermauern eingeschlossen zu werden, verursachte mir Übelkeit. Und Bator? Ich wusste, dann würde ich ihn nie wieder sehen, und das brachte mich an den Rand der Verzweiflung. Noch fühlte ich seine Lippen auf meiner Haut, seine Hände auf meinen Brüsten, fühlte die mit brennendem Schmerz gemischte Seligkeit und seine kraftvolle Wärme, als wir im Schatten der Zypressen das zusammen taten, was ich in jener Nacht ungewollt heimlich beobachtet hatte. Er nannte mich ‹Giulitschka› und manchmal ganz zärtlich ‹Telema›, was, wie ich glaubte, ein ganz besonderes Kosewort sein musste. Ich liebte ihn! Sollte das nun alles vorbei, alles gewesen sein, das ich vom Leben, vom richtigen Leben erfahren durfte? Sollte ich diese Sehnsucht für immer in mir tragen müssen und als Braut Christi, als sündige Braut Christi, wie Gott wohl wusste, demütig mein Dasein fristen? Demut lag mir nicht, das glaubte ich zu wissen, und ebenso wenig neigte ich dazu, mich ständig unterzuordnen, dazu war ich zu zornig, zu gerechtigkeitsliebend. Aber was konnte ich denn tun? So dachte ich während vieler ruheloser Nachtstunden, während Agata sittsam schlief, Serafina schnarchte und Petronella sich spät und leise zu ihrem Lager schlich, überlegte mir, was Bator wohl sagen würde, wenn ich ihn bäte, mich mit sich zu nehmen, wohin auch immer. Das war der einzige Ausweg, den ich sah, doch ich fürchtete mich vor einer Zurückweisung, und als ich mir endlich, da mir nichts anderes übrig zu bleiben schien, nach einer solch durchwachten Nacht ernsthaft vornahm, ihn zu fragen, war es zu spät, ich hatte zu lange gezögert, denn am nächsten Tag kamen die Franzosen! Sie überfielen uns in der frühen Morgenstunde. Wir hatten soeben unser Tagewerk begonnen, und wir erlebten, wie die Keller geplündert und die Fässer mit dem schönen Wein im
Namen ihres Kaisers, den sie Napoleon nannten, weggeführt wurden. Ich wusste beinahe nichts über das Weltgeschehen. Hinter den Mauern des frommen Hauses vernahmen wir nicht viel, nur, dass die österreichische Besatzung von den Franzosen im Frühjahr aus unserer Stadt vertrieben worden war, um genauer zu sein, am 10. Mai 1796, und das war mir deshalb im Gedächtnis geblieben, weil an diesem Tag nicht nur ein wüstes Geschrei auf der Strasse war und Karren mit Verwundeten im Ospedale eintrafen, sondern weil eine ganze Schar Soldaten bei uns eindrang auf der Suche nach Nahrung und Wertgegenständen. Natürlich hatten sie bei uns nichts vorgefunden als Kinder und Wöchnerinnen, und zu essen hatten wir selbst nicht viel, und so zogen sie unverrichteter Dinge weiter.
Noch nie hatte ich Geppina so wütend gesehen. «Diese verdammte Bande», schrie sie, «nicht genug, dass sie uns schon jedes Frühjahr ausrauben und uns die Haare vom Kopf fressen, müssen sie uns auch noch die Weinernte verderben? Wie ich sie hasse, diese Franzmänner! Aber alles werden sie nicht bekommen – helft mir, Mädchen!» Dann holte sie behände Würste und Schinken aus dem Rauchfang, häufte sie uns auf die Arme und schob dann einen Mauerstein hinter der Feuerstelle zur Seite. Vor unseren staunenden Augen zeigte sich eine Öffnung, in die wir nach ihrer Anweisung das Geräucherte stopften, so schnell es uns möglich war, und als die ersten Soldaten die Küche betraten, hingen nur noch einige kümmerliche Würste im Kamin. «Par nom de Dieu, ist das alles?», fluchte einer der Soldaten und trat drohend auf Geppina zu. Sie jedoch war zu wütend, um Angst zu haben, griff sich eine Pfanne und schlug auf ihn
ein. Dieser entwand sie ihr mit Leichtigkeit, fasste sie um die Hüften, hob sie hoch und küsste sie auf den Mund. Sie schlug mit den Fäusten um sich und ergoss eine Flut von Schimpfworten über ihn, wie sie mir noch niemals zu Ohren gekommen waren. Seine Kameraden krümmten sich vor Lachen, ergötzten sich noch eine Weile an dem ungleichen Zweikampf, bevor sie sich trollten, ihren etwas lädierten Kumpan in der Mitte. Als alle verschwunden waren, schüttelte sich Geppina und wischte sich über die Lippen. Dann begann auch sie zu lachen und wir fielen ein, lachten erleichtert Angst und Schrecken aus unserer Seele weg, welche die Kriegsmänner in uns heraufbeschworen hatten. Diesmal gab es keine Mittagsfahrt und keinen Geliebten, der mich vom Wagen hob. Die Arbeit stand still, viele der Helfer packten ihre Bündel und verliessen das Gut, denn auch ein Erntefest würde es nun keines geben; am Abendtisch versammelten sich nur noch an die dreissig Zurückgebliebene, und Bator war nicht dabei. Der Verwalter wirkte niedergeschlagen, seine Frau hatte verweinte Augen, die Stimmung war gedrückt, obschon Geppina zur Erbsensuppe einen der geretteten Schinken aufgeschnitten hatte. Man sprach nicht oder nur gedämpft miteinander, und nach dem Dankgebet beorderte der Verwalter Agata und mich in sein Kontor. Er teilte uns mit, dass er unsere Hilfe nicht mehr benötige, sagte, dass er sehr zufrieden gewesen sei mit unseren Leistungen, dass er dies auch gerne der Mutter Oberin mitteilen werde, und er hoffe, dass uns sein Lob für unser künftiges Leben nützlich sein werde. Dann gab er uns einen Silberdenaro und meinte abschliessend: «Die Zeiten werden wohl nicht besser, wie ihr gesehen habt. Auch die Wege könnten in Zukunft unsicherer sein, deshalb sollt ihr schon morgen zurückfahren. Der Treidler wird euch zehn Stunden vor Tramonto erwarten. Ich danke euch.»
Damit waren wir entlassen, schlüpften zurück in die Küche, wo Geppina, vorausschauend, eine Wegzehrung aus Maisschnitten und Schinken für uns vorbereitete, und das rührte uns so, dass wir beide zu weinen begannen. Zudem beschäftigte mich die Frage, ob Bator wirklich weggegangen war, ohne Abschied von mir zu nehmen! Einfach so, ich konnte es nicht verstehen; wo war er nur geblieben? Ich war traurig, und Agata meinte: «Das hast du nun davon, er hat sich davongemacht!», ich glaubte, einen kleinen hämischen Unterton in ihrer Stimme wahrzunehmen. Wiederum hatte ich eine beinahe schlaflose Nacht, wusste, dass ich nicht zurückgehen konnte, ohne mich nach dem Verbleiben meines Liebsten erkundigt zu haben, und nahm mir vor, noch vor meiner Abreise um ein Gespräch mit dem Verwalter zu bitten, denn – hatte ich nach einem solchen nicht auch Mamminas Bernstein von Mutter Oberin erhalten? Er empfing mich in seinem Kontor, wirkte immer noch sehr niedergeschlagenn schob unruhig einige Blätter und Bücher auf seinem Tisch hin und her, so dass ich bezweifelte, dass er mir überhaupt zuhörte; aber das hatte er wohl, er reichte mir ein handlanges, schmales, hölzernes Kästchen und darin lag ein kleiner Pfeil, den ich erkannte, weil er ebenso aussah wie diejenigen im Körper des heiligen Sebastian, dessen Bildnis in unserer Kapelle stand. Allerdings war dieser hier viel kürzer, sein Schaft mit Gold verziert, seine scharf geschliffene Spitze aus einem schwarz glänzenden, harten Stein. «Gut, dass du gekommen bist, ich hätte es vergessen. Er hat mir das für dich gegeben.» «Ein Pfeil?» Verständnislos sah ich ihn an. «Ja, wie sie mongolische Krieger immer noch benutzen. Aber dieser hier wurde noch nie von einer Sehne abgeschossen, es scheint ein Schmuckpfeil zu sein.»
«Ist er denn Soldat?» «Das nehme ich mittlerweilen an, sonst wäre er kaum vor den Franzosen ausgerissen. Er erzählte mir, dass er aus einem Gebiet komme, weit von hier, das sich Mongolei nennt. Soviel ich weiss, kämpfen nur die Mongolen noch mit Pfeil und Bogen.» – «Aber er sah doch gar nicht aus wie ein Kriegsmann.» «Er kam nicht in böser Absicht in unser Haus, sondern als Händler. Er sollte Wein einkaufen für seinen russischen Herrn, der für unsere Traubensorten schwärmt. Bezahlt hätte er mit Wodka, so nennen sie ihren Grappa, das wäre ein gutes Tauschgeschäft geworden – che disastro, nun ist auch diese Hoffnung geplatzt, ich habe nichts mehr, um zu tauschen. Weiss nicht mal, wie ich heuer den Zehnten an euer Haus abgeben soll. Verdammter Krieg!» Ich fühlte, wie meine Hoffnung, Bator je wieder zu sehen, schmolz, und kleinlaut fragte ich: «Ist es weit zu dieser Mongolei?» Er sah mich an und etwas wie Mitleid stand in seinen müden Augen. «Sehr weit! Armes Mädchen, wirst ihm wohl niemals wieder begegnen!»
Dieser Satz hallte in meine Ohren, drehte sich in meinen Gedanken, begleitete mich auf der ganzen Rückreise, die ich keineswegs mehr in unschuldigem Zustand angetreten hatte, liess mich gleichgültig die Willkommensgrüsse der Schwestern und unserer Kameradinnen entgegennehmen. Ich ging in unsere Kammer, wickelte Bators Geschenk in ein Stück Linnen und versteckte es unter meinem Strohsack. Ich wusste nicht, was ich sonst damit hätte tun sollen, es liess sich weder an einem Band befestigen, so dass ich es hätte umlegen
können, noch eignete es sich, um in der Schürzentasche mitgetragen zu werden, denn die Gefahr, es zu verlieren, war zu gross. Die Frage, weshalb er mir dieses ungewöhnliche Andenken geschenkt hatte, beschäftigte mich eine ganze Weile, aber ich erklärte es mir so, dass er mir das Kostbarste geben wollte, das er besass, und da es von ihm kam, bedeutete es mir viel, er hatte es berührt und in seinen Händen gehalten. Ich nahm es oft des Nachts, wenn ich vor Sehnsucht nicht schlafen konnte, hervor und küsste es. Den Silberdenaro hatte Mutter Oberin uns noch am Tage unserer Rückkehr abgenommen, der Lohn für die Arbeit ausser Haus floss in die Kasse der Casa. «Ich freue mich zu hören, dass ihr das Vertrauen, das wir in euch gesetzt haben, nicht enttäuscht habt», meinte sie, «und ich hoffe, dass ihr auch Gottes Gebote befolgt und euch nichts zuschulden habt kommen lassen.» Sie schwieg eine Weile, wie um uns Gelegenheit zu einem Geständnis zu geben, falls dem nicht so gewesen wäre, und ich fühlte, wie mein Gesicht heiss wurde. Agata warf mir einen verstohlenen Blick zu. Mutter Oberin hatte ihn zu meinem Schrecken bemerkt, entliess uns aber, ohne darauf einzugehen. Doch am nächsten Abend wurde Agata noch einmal zu ihr bestellt, und als sie von da zurückkam, wich sie meinem Blick aus und beantwortete meine Fragen kaum. Da wusste ich, dass sie mich verraten hatte, und der Schmerz darüber war beinahe so gross wie derjenige über die Trennung von Bator. Dass Mutter Oberin mich nicht zur Rechenschaft zog, erstaunte und verunsicherte mich; ich erklärte es mir damit, dass Agata ihr über meine verlorene Unschuld nichts hatte sagen können, denn sie wusste nichts; nur manchmal, bei der Verteilung der Strafen nach der Abendandacht, musterte sie mich mit harten, forschenden Augen, vor denen ich die
meinigen senken musste, damit mein schlechtes Gewissen mich nicht verriet. Agata begann, sich von mir zurückzuziehen, sprach kaum noch mit mir, und wenn ich des Nachts nach ihrer Hand fassen wollte, griff ich ins Leere. Eines Tages ertrug ich es nicht mehr und sprach sie darauf an: «Warum tust du das, was habe ich dir getan?» «Mir nichts, aber du hast Gottes Gebote verletzt.» «Wie willst du das wissen?» «Ich weiss genug, um mich deiner zu schämen.» «Ich dachte, du seist meine Freundin.» «Ich kann nicht die Freundin einer Schamlosen sein!» «Agata, ich bitte dich, du kannst nicht so hart über mich urteilen, ich kann doch nichts dafür, ich liebe Bator.» «Das ist Sünde, du weisst, dass wir dem Kloster versprochen sind.» – «Aber das wollten wir doch nie, auch du hast geweint, als wir dazu bestimmt wurden.» «Ja, da war meine Seele irregeleitet, jetzt weiss ich es besser, ich werde mit Freuden eine Braut Christi sein. Und nun lass mich in Ruhe, ich will davon nichts mehr hören. Auch Mutter Oberin hat mir geraten, mich von dir fernzuhalten. Ich tue nur, was sie mir aufgetragen hat.» So verlor ich in meinem fünfzehnten Lebensjahr nicht nur den Geliebten, sondern auch meine beste Freundin, die ich in den kommenden Monaten bitter nötig gehabt hätte. Das Erste, was ich bemerkte, war, dass mich jedes Mal nach dem Aufstehen eine Übelkeit befiel, die ich mir nicht erklären konnte. Kaum konnte ich jeweils den Gang zur Latrine erwarten, wo ich mich manchmal übergeben musste, wobei die Ausdünstung des stillen Örtchens diesen Vorgang noch unterstützte. Auf einmal nahm ich sämtliche Gerüche eindringlicher und unangenehmer wahr. Mich ekelte vor dem glitschigen Gorgonzola, ich gierte aber nach dem sauren
Gemüse und verkrampfte mich in der Anstrengung, mir nichts anmerken zu lassen. Hatten nicht die Wöchnerinnen Ähnliches berichtet vom Anfang ihres Zustandes? Aber nein, das konnte, das durfte nicht sein, nicht des einzigen Males wegen, da ich mich hingegeben hatte. Der Himmel sei mir gnädig! Aber auch der Himmel mitsamt all seinen Heiligen hatte sich von mir abgewandt, mein Flehen erreichte sie nicht, und als mein Leinenbeutel neben meinem Bett Woche für Woche leer blieb, während die der andern Mädchen sich zu ihrer Zeit mit Unreinem füllten, wusste ich, dass Gott mich verstossen hatte: Ich war schwanger! Zuerst bemerkte es Schwester Annunziata, sie griff eines Morgens in den Beutel, und als sie ihn leer fand, bedeutete sie mir, ihr zu folgen. Im Aufgang zur Küche, der um diese Zeit menschenleer war, stellte sie mich zur Rede: «Sehe ich das richtig, Giulia, habe ich für dich seit sechs Wochen keine Binden mehr ausgegeben?» Ich nickte und senkte schuldbewusst den Kopf. «Wie kommt das?» Ich zuckte die Schultern, wusste nicht, was ich sagen sollte. «Giulia, hast du dich mit einem Mann eingelassen?» «Ich liebe ihn so sehr», flüsterte ich und begann zu weinen. Sie sah mich an, stumm, mit zusammengepressten Lippen, schüttelte leicht den Kopf, schlug dann das Kreuzzeichen und sagte: «Du dummes Ding, hast du denn nichts gelernt aus dem Schicksal der ledigen Mütter, die bei uns liegen? Ich werde es Mutter Oberin melden müssen. Gott sei dir gnädig!» Aber Gott war mir diesmal nicht gnädig. Mutter Oberin verdammte mich in Bausch und Bogen, drohte mir mit Höllenfeuer, sagte mir, dass mich ihr Haus nie und nimmermehr als Braut Christi annehmen könne, da ich ebenso verdorben und schamlos sei, wie meine Mutter es gewesen
wäre. Der Hinweis auf meine Mutter empörte mich, und auch wenn ich sie nie gekannt und sie mich nicht gewollt hatte, fühlte ich mich ihr in dieser Minute plötzlich nahe. Aber Empörung stand mir in meiner misslichen Lage schlecht an, ich schwieg, fühlte nur den Schmerz der Hilflosigkeit und weinte still vor mich hin. Aber das Schlimmste stand mir noch bevor, nämlich die Beichte bei Pater Michele, der mich nicht aus dem Beichtstuhl entliess, bevor ich ihm haarklein das ganze Geschehen mitsamt den dabei empfundenen Gefühlen geschildert hatte. Diese Erniedrigung vergass ich ihm nie, ich fühlte mich gedemütigt bis ins Innerste, rannte zur Latrine und übergab mich. Die Gebete, die er mir zur Busse auferlegt hatte, betete ich nicht, denn wenn mir der Himmel in meiner Not nicht geholfen hatte, brauchte er auch meine Reue nicht. Am Schluss der nächsten Abendandacht wurde ich dann vor allen gebrandmarkt als die unkeusche Sünderin, die die Frucht der Schande in sich trug, wurde dazu verurteilt, um mein Vergehen zu sühnen, eine Stunde lang auf getrockneten, harten Erbsen auf dem kalten Steinboden der Kapelle zu knien und den Rosenkranz unter der Aufsicht von Schwester Beatrice zu beten – und obwohl mich die davon verursachten Schmerzen einer Ohnmacht nahe brachten, war das nichts gegen die Ächtung, die mir nun zuteil wurde. «Solange man dir deine Schwangerschaft nicht ansieht, kannst du weiterarbeiten wie bisher», sagte Mutter Oberin. «Anschliessend wirst du Küchendienst tun wie Carmela. Aus dem gemeinsamen Schlafraum wirst du verbannt, denn du bist ein schlechtes Beispiel für die andern. Ich werde dir die Zelle gegenüber Carmela im Nebentrakt zuweisen, wo du bleibst, bis du geboren hast. Deine Mahlzeiten wirst du ebenfalls dort einnehmen und deine Abendandacht wirst du nach uns, alleine
und auf Erbsen kniend, verrichten. Du hast mich sehr enttäuscht, Giulia, ich hatte mit dir einiges vor.»
So zogen sich die Tage hin, man mied mich, richtete kaum mehr das Wort an mich, nur Carmela lachte mich jeden Morgen an und nickte mir zu, begrüsste mich mit ihren seltsam spitzen Lauten. Nie hätte ich gedacht, dass die Freundlichkeit dieser behinderten Frau einst der einzige Lichtblick meines Daseins werden würde. Ich war nun im vierten Monat schwanger, die Übelkeit war verflogen. Seit sich mein Bauch zu wölben begann, musste ich zu meiner Erleichterung nicht mehr auf Erbsen knien, verbrachte meine Tage zwischen Küche und Zelle, einer Zelle, die nichts weiter enthielt als Tisch, Stuhl, Bibel und ein Lager, auf dem immerhin ein mit einem Baumwolllaken bedeckter, gut gefüllter Strohsack lag. Selbst eine Decke aus Allerleirauh war mir zugeteilt worden, welche mich in den kalten Winternächten wärmte, denn kalt und feucht war mein Gelass, das jeden Abend hinter mir abgeschlossen wurde. Keine Geräusche drangen in meine Abgeschiedenheit, nur aus Carmelas Zelle kam manchmal eine Art Singsang, den ich am Tage noch nie von ihr gehört hatte. Das Geschenk Bators hatte man mir weggenommen und es zu meinem grossen Schmerz ausgerechnet Agata zur Aufbewahrung übergeben. Licht hatte ich keines erhalten. So war es mir auch nicht möglich, die Heilige Schrift zu lesen, nicht einmal dann, wenn der Mond bei klarem Himmel durch das mit starken Eisenstäben versehene Fensterchen schien. Trotzdem war dies jeweils die schönste Stunde meines Daseins und ich versuchte, sie nicht zu verpassen, ärgerte mich, wenn ich sie verschlief, denn sein freundliches Gesicht schien mich zu trösten, sein blasser Schein schenkte mir Mut und
Zuversicht. In einer solchen Nacht fühlte ich zum ersten Mal die Gegenwart meines Kindes. Es war, als hätte sich in mir ganz leicht ein Blatt im Winde bewegt, ich legte meine Hände auf meinen Leib, wartete, erfüllt von einem plötzlichen Glücksgefühl, und da war es wieder, heimlich, leise und so sanft, dass ich zu weinen begann. Es war das erste Mal seit meiner Verurteilung, dass ich mir gestattete zu weinen. Nun schluchzte ich herzzerbrechend, schrie meinen Kummer, meine Wut, all die Ungerechtigkeit, die mir widerfahren war, aus meiner Seele weg, und je mehr diese Last von meinem Herzen wich, umso stärker fühlte ich die Kraft, die an ihre Stelle trat, eine Kraft, die mich erfüllte bis in die äussersten Enden meines Körpers und in der Entschlossenheit mündete, gegen alle Widerstände für mein Kind zu sorgen, es zu behüten, zu beschützen. Denn von nun an war ich nicht mehr allein, ich war im Begriff, Mutter zu werden. Erst als ich wieder ruhig geworden war, hörte ich das leise Kratzen, sah durch die Spalte zwischen Fussboden und Türe den flackernden Lichtschein, in den etwas hineingeschoben wurde, vernahm die kleinen, spitzen Laute Carmelas, die klangen, als wollte sie mir etwas mitteilen. Dann verschwand das Licht. Eine kurze Weile lauschte ich nach draussen, vernahm nichts als Stille, erhob mich und tastete nach dem am Boden liegenden Gegenstand. Handlang, schmal und hölzern erkannte ich zu meiner Überraschung das Kästchen mit dem goldenen Pfeil, das Geschenk meines Geliebten. Carmela! Ihre Unterkunft lag mir gegenüber, eine Zelle ebenso karg ausgerüstet wie die Meine. Sollte diese Frau, die von allen als tumb abgetan wurde, die Einzige sein, die meine Not erkannt hatte und sie auf ihre Weise zu lindern versuchte?
Aber warum wusste sie davon, wie hatte sie es geschafft, das Kästchen zu entwenden? Ich behielt es bis zum Morgengrauen in meiner Hand, suchte dann die Mauer neben meinem Lager ab, fand eine tiefe Spalte zwischen zwei Backsteinen und schob es dort hinein. Dann hörte ich, wie Schwester Beatrice die Türe aufschloss, mir eine Schüssel mit Minestrone auf den Tisch stellte und wieder ging, ohne einen Gruss, ohne einen Blick, und ich setzte mich hin und ass. Dann, als ich wusste, dass alle in der Kapelle waren, begab ich mich zur Latrine, wusch mich anschliessend am Brunnen im Hof und betrat die Küche. Sie war leer, nur Carmela war da, auch sie von der Morgenandacht ausgeschlossen, lachte, nickte, trat zu mir und legte ihre Hand auf meinen Leib. Dazu stiess sie zärtliche Laute aus, hob dann die Hand und streichelte meine Wange. Hätte ich mich früher vor ihrer Berührung geekelt, so rührte sie mich nun und ich fühlte wiederum Tränen in meinen Augen. «Danke, Carmela», flüsterte ich, dann kamen die andern zurück, niemand achtete sich meiner, doch aus ihren Gesprächen vernahm ich, dass die Novizin Agata einen schweren Verweis erhalten habe, da sie unachtsam mit ihr anvertrautem Gut umgegangen sei. Genaueres schien niemand zu wissen, doch Carmela und ich sahen uns verstohlen an und lächelten. Da sie nicht sprechen konnte, würde ich wohl nie erfahren, wie es ihr gelungen war, in den Besitz des Kästchens zu gelangen. Meine Arbeit begann mit dem Ausfegen der Feuerstelle, dem Scheuern der Pfannen, dem Wischen der Vorratskammer und endete beim Rüsten des Gemüses. Wenn diese Arbeiten getan waren, hatte ich die Latrinen zu reinigen und zweimal die Woche den Fliesen unserer Kapelle mit Wasser und Bürste neuen Glanz zu verleihen. Zurück in meiner Zelle erwartete mich meistens ein Korb voller Flickwäsche, die mich beschäftigte, bis es zu dunkel wurde, um noch etwas zu sehen.
Dann brachte man mir das Abendessen, meist Maisbrei und Käse und dazu einen Krug Wasser. Wein gab es für mich nicht mehr. Unter der Aufsicht von Schwester Annunziata, Rosalia oder Beatrice betete ich später eine Stunde auf dem Steinboden der Kapelle, dann wurde ich zur Nachtruhe in meiner Zelle eingeschlossen. Einmal die Woche hatte ich bei Pater Michele die Beichte abzulegen. Dieser Mensch war mir so zuwider, dass mir jedes Mal übel wurde. Ich hasste ihn und gönnte ihm seinen verunstalteten rechten Fuss. Er war es auch, der den Schwestern riet, mir die Kommunion vorzuenthalten, denn dazu sei ich zu unwürdig. Je mehr mein Leib sich rundete, desto mühsamer wurde mir meine Arbeit, und es war Schwester Annunziata, die mir beim Abendgebet stumm ein Kissen unter die Knie schob. Wenn sie es war, die mir das Essen brachte, fand ich hin und wieder ein saures Gemüse oder ein kleines Stück Fleisch unter dem Maisbrei und manchmal legte sie verstohlen eine Handvoll gedörrter Apfelschnitze dazu. Sie und Carmela waren die einzigen Menschen, die mir etwas Zuneigung entgegenbrachten und mir die Hoffnung gaben, nicht ganz verlassen zu sein. Während dieser Zeit meiner Schwangerschaft war Carmela sechsmal in ihren Zustand verfallen, und jedes Mal war mir gewesen, als hätte ich in der vorangehenden Nacht Geräusche vor ihrer Zelle vernommen, das leise Tappen von Schritten, das Knarren einer Angel, welche sich nach einer ganzen Weile der Stille in umgekehrter Reihenfolge wiederholten. Manchmal geisterte ein Lichtschein unter meiner Türe vorbei, doch die Fülle meines Körpers hinderte mich daran, mich so weit hinunterzubeugen, dass ich durch die handbreite Spalte einen Blick auf die huschenden Füsse hätte richten können. Die Bewegungen meines Kindes waren mittlerweile kräftig geworden. Oft, des Nachts, sprach ich mit ihm, erzählte ihm
von seinem Vater, gab ihm zärtliche Kosenamen, freute mich auf den Moment, wo ich es würde in meine Arme nehmen können. Manchmal aber befiel mich Furcht vor dem, was mir bevorstand, rief mir das Geschehen der Geburt vor Augen und ich ängstigte mich davor, in meiner schweren Stunde allein gelassen zu werden. Und so sollte es dann auch sein, doch vorher geschah noch etwas, das unser Haus in argen Aufruhr versetzte: Die Russen marschierten in Mailand ein! Wie schon gesagt, vernahmen wir nicht viel von dem, was ausserhalb unserer Mauern geschah, und ich in meiner Abgeschiedenheit schon gar nicht. Aber aus dem Gerede in der Küche konnte ich mir einiges zusammenreimen. Ich hörte von der Schlacht vom 27. April 1799 bei Cassano an der Adda, wo die Franzosen von den Russen unter ihrem Feldherrn Suworow verjagt worden waren, und ich dachte an das Gut und den Überfall der Franzmänner und gönnte ihnen des geraubten Weines und unserer ausgestandenen Angst wegen diese Niederlage. Als die Russen drei Tage später in Mailand einmarschierten, wurden sie von der Bevölkerung freundlich empfangen. Doch es sollte sich erweisen, dass die Freundlichkeit fehl am Platze war; die Soldaten des viel gepriesenen Generals fielen über unsere Stadt her wie die Heuschrecken. Zu ihrer einzigen Entlastung muss gesagt werden, dass die abgezogenen Franzosen nichts Essbares zurückgelassen hatten und die hungrigen Kriegsleute nahmen, was noch zu nehmen war. Am schlimmsten trieben es die Horden einer Volksgattung, die man Mongolen nannte. Als ich das vernahm, erschrak ich. Hatte nicht der Verwalter damals gesagt, mein Liebster käme aus dem Mongolenland? Sollte mein zärtlicher Bator wirklich diesem wilden Haufen angehören? Ich konnte es nicht glauben, vermutete, dass die Gräueltaten, die man sich erzählte,
erfunden seien, aber kurz darauf wurde ich eines Besseren belehrt. Natürlich waren auch wir von der Nahrungsknappheit betroffen, aber immerhin besassen wir noch eingelagerte Hülsenfrüchte und Mais und das, was in unserem Garten wuchs. Als ein der heiligen Katharina geweihtes, frommes Haus wähnten wir uns sicher, bedachten aber nicht, dass sich nicht alle Menschen nach dem Christentum richteten. In der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai erhob sich in den Strassen rund um unser Anwesen ein schrecklicher Lärm. Schreien, Grölen und grober Gesang drang von jenseits der Mauer, Schüsse, Gelächter und das Kreischen zu Tode geängstigter Frauen. Dann dröhnten Schläge an unser Tor, raue Kehlen verlangten in unverständlicher Sprache Einlass. Plötzlich waren die Stimmen im Innern unseres Hofes, in meinem Gang, meine Türe erzitterte unter dem Ansturm schwerer Stiefel. Voller Entsetzen tastete ich nach der Mauerlücke und barg den Pfeil in meiner Hand, fest entschlossen, mich und mein ungeborenes Kind zu verteidigen. Als die Türe barst, stand ich unter meinem Fenster mit dem Rücken zur Wand. Feuerschein drang durch das kleine Viereck und liess mir den Eindringling im mantelartigen Gewand wie mit Blut übergossen erscheinen. Ich sah die Axt in seiner Hand, sah die schmalen Augen im dunklen Gesicht und sein Grinsen, als er mich mit einem harten Griff an sich zog. Er stank und ich stiess mit den Füssen nach ihm. Grob schleuderte er mich auf mein Lager, Schmerz durchzuckte mich, dann warf er sich, ungeachtet meines Zustandes, auf mich und zerriss mit einer einzigen, ruckenden Bewegung mein Hemd. Da stach ich zu! Genau in die Grube seines Halses bohrte ich meine kleine Waffe, fühlte, wie er erstarrte. Ein Blutstrom quoll aus seinem Mund, ergoss sich über mich, die Axt klirrte auf den Boden, und dann brach er ohne einen Laut auf mir
zusammen. Draussen tobte noch immer die wilde Meute, mich ekelte; aber ich bewegte mich nicht, versteckte mich unter seinem massigen Leib, bis wieder Stille eingekehrt war und der Morgen graute. Da riss ich dem Toten den Pfeil aus der Wunde, schob ihn zur Seite und kroch unter ihm hervor. Schräg hing meine Türe in den Angeln, diejenige Carmelas war völlig aufgebrochen. Ich fand sie nackt und zitternd auf ihrem Lager sitzend, sie hatte das Gesicht in den Händen vergraben und wiegte sich heftig hin und her. Ich legte ihr die Felldecke um und nahm sie in die Arme, sprach leise zu ihr, doch sie hörte mich nicht, war irgendwo in ihrer Welt versunken. Vom Trakt der Balie ertönte Kindergeschrei, die Küche war leer, kein Feuer brannte, aber im Hof war geschäftiges Treiben um einige am Boden liegende Gestalten. Blutverschmiert, wie ich war, trat ich herzu, vernahm, dass die Vergewaltiger vor niemandem Halt gemacht hatten, nicht einmal vor den Nonnen, und dass einige der Mädchen voller Angst aus dem Fenster gesprungen und zu Tode gekommen waren. Unter ihnen befand sich auch Agata und mir blieb nur noch, ihr die Hände zu falten und zu weinen und zu beten. Auch im Kloster St. Antonino, wo die Knaben wohnten, hatten die Mongolen übel gehaust, hatten mit dem heiligen Öl ihre Stiefel gesalbt, den Messwein getrunken und den Leib Christi, die gesegneten Hostien, entweiht, indem sie sie ihren Pferden zu fressen gaben. Zudem schleppten sie die goldenen Messgeräte weg, stahlen, was nicht niet- und nagelfest war, und plünderten unsere wenigen Vorräte. Wir hatten so gut wie nichts mehr zu essen und vernahmen später, dass dasselbe Schicksal auch anderen Klöstern und frommen Häusern zuteil geworden war. Was ihren General, den grossen Suworow, betraf, der an diesem Morgen hoch zu Ross in die prächtigen Säle des
Stadtpalastes eingeritten war, so hatte dieser wohl solches Tun bei Todesstrafe verboten, doch schien es, als wäre ihm nach seinem Sieg die Macht über seine mongolischen Krieger gründlich entglitten. Er selbst hielt sich ebenfalls nicht an seine Befehle, man erzählte sich, dass er im Palast, seinem Quartier, all die kostbaren Spiegel zertrümmert hätte, kein Mensch wusste, weshalb. Das Leben in der Casa war aus den Fugen geraten. Schwester Beatrice hatte die Schmach der Vergewaltigung nicht verwunden und erhängte sich an einem Dachsparren. Mutter Oberin lag tagelang in der Kapelle auf den Knien und flehte um Vergebung, und die beiden Padres Michele und Bonaventura hatten alle Hände voll zu tun mit dem Abnehmen der Beichte und dem Trösten der geschändeten Frauen. Nur Schwester Annunziata versuchte, Ordnung in das Durcheinander zu bringen, gelangte an die Stadtväter mit der Bitte um Nahrungsmittel, bat im Ospedale um Hilfe für die zum Teil übel zugerichteten Opfer und sah zu, dass die Toten zu Grabe getragen wurden. Meine Zelle wurde gereinigt, die Leiche des Mongolen an der Mauer ganz hinten im Garten verscharrt, die eingeschlagenen Türen wurden geflickt, die Schlösser neu befestigt und zur Beruhigung aller mit Schlüsseln versehen. Das war ein Luxus, der normalerweise nicht in Betracht gezogen worden wäre, denn die Schlösser waren alle gleich gefertigt und ein einziger Schlüssel hätte vollauf genügt. Schwester Annunziata alleine war es also zu verdanken, dass wir überlebten, und als uns dann gegen Ende Mai aus dem Mutterhaus eine junge Nonne, Schwester Immaculata, als Hilfe zugeteilt wurde, nahm alles langsam wieder seinen gewohnten Lauf. Meine Türe und die Carmelas hatten keine Schlüssel erhalten, eingeschlossen wurde ich aber nicht mehr. Innerhalb meiner
Zelle, der Küche und der Kapelle durfte ich mich frei bewegen. Sonst hatte sich an meiner Lage nichts geändert, nur dass ich immer schwerer und unbeweglicher wurde, je näher die Zeit meiner Niederkunft rückte. Den Aufregungen der vorangegangenen Zeit war es wohl zuzuschreiben, dass dieses Ereignis gute vierzehn Tage vor dem errechneten Termin einsetzte und mein Sohn das Licht der Welt, oder besser gesagt, meiner Zelle, im Morgengrauen des zehnten Juni des Jahres 1799 erblickte. Die ganze Nacht hatte ich mich in Wehen befunden, hatte versucht, nicht zu schreien, konnte aber, je länger es dauerte, mein Stöhnen nicht mehr unterdrücken. Dann kam die Zeit, wo es mir gleichgültig war, ob mich jemand hörte oder nicht, ich liess der Natur freien Lauf. Und als sich der graue Schimmer des neuen Tages durch mein vergittertes Fenster schlich, vernahm ich den ersten, zitternden Schrei meines Kindes, das aus mir heraus in sein Leben geglitten war. Ich tat, wie ich es gelernt hatte, fasste das glitschige Körperchen und zog es an meine Brust, hielt es fest und streichelte es, wischte Blut und Schleim mit einem Zipfel meines Lakens von ihm ab und sah, dass ich einen Knaben geboren hatte. Ich wickelte die Felldecke um uns beide und so lagen wir eine Weile, doch bevor der Schlaf der Erschöpfung mich überfiel, band ich mit einer Strähne meines Haares die Nabelschnur ab, griff in die Höhlung zwischen den beiden Backsteinen, nahm den Pfeil und trennte meinen Sohn mit einem Schnitt der scharfen Klinge von mir. Dann vergewisserte ich mich, dass das Kind atmete, und prüfte seine kleinen Glieder. Befriedigt sah ich, dass alles gut war, einzig der blaugraue Fleck über seinem Kreuzbein erschreckte mich, doch ich war zu müde, um darüber nachzudenken, ich würde es mir bei heilem Tageslicht genauer ansehen. Ich nahm meinen Sohn ganz nahe zu mir und erlaubte mir endlich, mich auszuruhen.
Ich erwachte, als Schwester Immaculatas erschrockenes Gesicht sich über mich beugte, dann war sie weg und plötzlich war ich umgeben von Frauen, die sich um mich bemühten. Ich erkannte einige der mir bekannten Sitzammen, hörte, wie Schwester Annunziata befahl, mir ein neues Lager zu bereiten, fühlte Hände, die mich wuschen, hörte das Geschrei meines Sohnes, der mir bald darauf gesäubert und in Linnen gewickelt an die Brust gelegt wurde, und als er kräftig zu schmatzen begann, war ich so glücklich, dass ich weinen musste.
Meine Arbeit wurde weniger, ich brauchte nicht mehr die Latrinen zu reinigen und die Böden zu schrubben, bekam dafür die Zeit zur Pflege meines Sohnes zur Verfügung gestellt. Sein kleines Lager stand neben dem meinen, und nach der Abendandacht gehörten wir uns ganz allein. Beim Schein der Talgkerze, die ich nun jeden Abend erhielt, überwachte ich seinen Schlaf und stillte ihn, wann immer er Hunger hatte. Noch immer mied man mich, nur Carmela verhielt sich ganz närrisch, schlich sich des Tags manchmal von ihrer Arbeit weg in unsere Zelle und schaute zu, wie ich ihn stillte und wickelte. Der dunkle Fleck im unteren Teil seines Rückens, den Schwester Rosalia hämisch «das Mal der Sünde» genannt und den ich noch an keinem Säugling der Casa gesehen hatte, war immer noch sichtbar, hatte sich gar noch vertieft, aber er schien ihm keine Beschwerden zu verursachen, und so störte er auch mich nicht weiter. Mein Luca war für mich das schönste Kind der Welt, mit seinem dunklen Haarflaum, der leicht gebräunten Haut, den zarten Fingerchen und winzigen Zehen. Noch waren seine Augen blau, aber ich wusste, das waren sie bei allen Neugeborenen, es würde sich möglicherweise noch ändern. Es war seltsam, dass ich in diesen Tagen nicht an unsere Zukunft
dachte, dass ich glücklich war, wie es war, und glaubte, dass es immer so bliebe. Drei Wochen nach der Geburt wurde ich zu Mutter Oberin gerufen, und ich ging hin mit dem bekannten Gefühl eines Steines in der Magengegend. Meine dunklen Ahnungen trogen mich nicht. Abgemagert bis zum Skelett, aber durch die schwere Heimsuchung um nichts gnädiger geworden, gebot sie mir, mich zu setzen, und meinte: «Es freut mich, Giulia, dass du die Geburt gut überstanden hast. Immerhin hast du begriffen, was wir dich darüber gelehrt haben. Wie man mir sagte, ist dein Kind gesund und kräftig, aber immer noch im Zustand der Sünde. Deshalb wird Pater Michele ihn heute Abend nach der Andacht auf den Namen Innocente taufen.» «Ehrwürdige Mutter, er heisst Luca. Und ich möchte, dass Pater Bonaventura ihn tauft.» «Meine Tochter, du bist kaum in der Lage, Wünsche anzubringen. Und nur, dass du dir keine Hoffnungen machst: Dein Sohn wird sobald als möglich in Pflege gegeben.» Es war, als würde mein Herz zu schlagen aufhören. «Bitte nicht, ehrwürdige Mutter, trennt mich nicht von ihm, ich werde alles tun, was Ihr verlangt, wenn Ihr ihn mir lasst. Er ist doch mein Sohn!» «Genau deshalb, es geht nicht an, dass eine Converse unseres Hauses ein Kind hat. Und als Converse wirst du in Zukunft dein Dasein fristen. So haben wir es bestimmt. Du brauchst mir jetzt nicht zu danken, du wirst eines Tages selbst einsehen, dass es für dich das Beste ist. Und glaube ja nicht, dass das Geschehene dich mit uns gleichstellt. Unsere Schändung ist ein Martyrium, was du getan hast, reine Fleischeslust. Du kannst gehen.»
Da war es wieder, das Gefühl der Wut in mir, einer Wut, gewachsen aus Erniedrigung und Hoffnungslosigkeit, die mich beinahe erstickte. Ich rannte zurück in meine Zelle, nahm mein Kind in die Arme und weinte hemmungslos. Ich wusste, dass mir meine Hände gebunden waren, ich konnte nichts tun als zu hoffen, dass meine Milch möglichst lange floss. An diesem Abend also wurde mein Sohn im Beisein aller von Pater Michele auf den Namen Innocente Colombo getauft, nicht ohne dass seine sündige Abstammung erwähnt worden wäre. Ohnmächtig stand ich dabei, mein Herz schmerzte.
Später in dieser Nacht hörte ich wiederum die Geräusche auf dem Gang. Diesmal hinderte mich keine Körperfülle mehr am Niederknien, ich brachte mein Gesicht, so nahe es nur ging, an die handbreite Spalte, erhaschte im flackernden Lichtschein einer Kerze einen kurzen Blick auf durchgetretene Sandalen, in deren einer ein Fuss mit nur drei Zehen steckte, vernahm das Öffnen und Schliessen der gegenüberliegenden Türe und prallte zurück. Im ersten Schrecken begriff ich nicht, was Pater Michele um diese Zeit in der Zelle Carmelas zu suchen hatte, doch nach und nach begann ich zu verstehen. Atemlos lag ich auf dem kalten Boden, presste mein Ohr an die Spalte, glaubte spitze Schreie zu vernehmen und ein lang gezogenes, unterdrücktes Stöhnen, dann öffnete sich die Türe, und im geisternden Lichtschein entfernten sich die Schritte. Je länger ich so sass und nachdachte, desto unglaublicher erschien mir die Niedertracht dieses mir verhassten Menschen, der sich nicht scheute, seine fleischlichen Gelüste an einem hilflosen Wesen zu stillen, das ihn seiner Behinderung wegen weder abwehren noch verraten konnte.
Luca regte sich, ich hob ihn hoch, legte ihn an meine Brust, überdachte, was ich gesehen hatte, und auf einmal, wie eine Offenbarung, zeigte sich mir ein Weg, den zu begehen ich mich nicht scheuen würde. Ich wusste, ich würde mein Kind behalten.
Am nächsten Tag hatte Carmela wieder ihren Anfall, und nur sie und ich kannten die Ursache dafür. Schon in der darauffolgenden Nacht begann ich mich auf meinen Feldzug vorzubereiten, schlich nach Mitternacht, als ich alle schlafend wusste, in das Kontor der Oberin und entwendete zwei Stücke unbeschriebenes Pergamentpapier nebst Tintenfass und Federkiel. Zurück in der Zelle machte ich mich im trüben Licht der Kerze an meine mühsame Arbeit. Als der Morgen graute, besass ich zwei beschriebene Blätter mit demselben Wortlaut, die ich, zufrieden mit mir selbst, noch einmal durchlas, bevor ich sie um das Kästchen mit dem Pfeil wickelte und in der Mauerritze versteckte. Tintenfass und Federkiel schob ich unter meinen Laubsack, beides würde ich noch benötigen; mochte Mutter Oberin nur danach suchen, es kümmerten mich weder die mögliche Strafe noch ihr Zorn. Nun kam der schwierigste Teil meiner Vorkehrungen. Ich brauchte einen Schlüssel! Seit dem Überfall besass, wie gesagt, jede Kammer ihren eigenen und der hing innerhalb des Raumes an einem Nagel an der Türe und war so gross, dass sein Fehlen unweigerlich aufgefallen wäre. Da wollte es mein Glück, dass mich die Köchin nach einem neuen Käse in den Keller schickte. Dort war es angenehm kühl, ich beeilte mich nicht sonderlich, sah mich um, bemerkte die beinahe leeren Hürden, die beiden übrig gebliebenen Fässer mit Wein, die spärlichen Gemüse, öffnete das mit einem engmaschigen Netz umschlossene Gitter
zum Käseschrank und nahm heraus, was mir aufgetragen worden war. Erst beim Hinausgehen sah ich den Schlüssel, auch er hinter der Türe innerhalb des Gelasses, und mein Herz tat einen kleinen Aussetzer vor Freude. Ich hatte gefunden, was ich noch brauchte; ich würde ihn mir holen! In der nächsten Nacht schlich ich mich hin, vorsichtig, da ich über einen der Höfe gehen musste und nicht ausschliessen konnte, dass sich jemand, Kühle suchend, dort aufhielt, öffnete langsam die leise knarrende Türe, tastete nach dem Schlüssel und schob ihn unter mein Hemd, wo er kalt und schwer zwischen meinen Brüsten lag. Ohne Zwischenfall erreichte ich meine Zelle, stiess den Schlüssel probehalber in mein Schloss, tat dann zur Sicherheit dasselbe bei Carmela und sah erleichtert, dass er passte. Dann legte ich meinen Fund zu den Schreibutensilien unter meinen Strohsack. Nun war ich gerüstet. Aufmerksamer als sonst horchte ich in der nächsten Zeit nach den schleichenden Schritten, ängstigte mich, schlafend den nächsten Besuch zu verpassen, und als es dann so weit war, der Lichtschimmer unter der Türe vorübergeisterte und ich Carmelas spitze Schreie vernahm, packte mich die Angst vor dem, was ich zu tun gedachte. Vermessen! Das war vermessen. Wer war ich denn, dass ich einen Pater zur Rechenschaft ziehen konnte? Aber dann sah ich meinen hübschen, kleinen Sohn, fühlte den Schmerz beim Gedanken, ihn zu verlieren. Es ging ganz leicht, gab kaum ein Geräusch. Pater Michele war eingeschlossen, bevor er die Gefahr, in der er schwebte, wahrnehmen konnte. Ich wartete, die Klinke bewegte sich, bewegte sich mehrmals und immer heftiger, dann ein unterdrücktes Gemurmel, das ich nicht verstand, und schliesslich ein Fusstritt gegen das Holz, das aber einer Sandale mit Leichtigkeit standhielt.
«Pater Michele, seid Ihr da drin?», fragte ich sanft. Stille! Dann ein Flüstern: «Bist du das, Giulia?» «Ja, Pater Michele, ich bin es.» «Hilf mir, Giulia, die Türe klemmt.» «Nein, Pater Michele, die Türe klemmt nicht; ich habe sie abgeschlossen.» «Du hast was?» «Abgeschlossen.» «Warum, was habe ich dir getan?» «Verschiedenes, Pater Michele, aber davon will ich jetzt nicht sprechen.» «Was willst du dann?» «Ich will, dass ihr ein Geständnis unterschreibt.» «Was für ein Geständnis, um Himmels willen?» «Ich lese es Euch vor.» Dazu brauchte ich kein Licht, ich wusste es auswendig, erhob meine Stimme, damit er auch alles gut verstehen konnte, und begann: «Mailand, im Juli 1799. Ich, Pater Michele vom Kloster San Antonino in Mailand, gestehe, die stumme, schwerhörige und als tumb geltende Carmela Colombo in deren Zelle viele Male aufgesucht und mit ihr gegen ihren Willen der Fleischeslust gepflegt zu haben. Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, dies nie wieder zu tun. – Habt ihr alles verstanden, Pater?» Es blieb still, eine ganze Weile. «Habt Ihr verstanden, Pater?», fragte ich noch einmal. «Das werde ich ganz bestimmt nicht unterschreiben», knirschte er und ich lachte. «Ihr werdet es tun, sonst hole ich Mutter Oberin und schreie das ganze Haus zusammen.» «Du bist eine gottlose Teufelin, Giulia.»
«Der Teufel seid Ihr, Pater Michele. Ich schiebe Euch die Blätter durch die Türe, Licht habt Ihr ja.» «Weshalb hast du es zweimal aufgeschrieben?» «Zu meiner Sicherheit, Pater Michele, ich werde sie an verschiedenen Stellen aufbewahren.» Ich tauchte den Federkiel in die Tinte und schob ihn nach, vernahm das Kratzen auf Pergament, das mir anzeigte, dass er tat, was ich verlangte, und dann hielt ich die für mich kostbaren Blätter wieder in meinen Händen, kontrollierte den Namenszug, sah, dass es gut war, und atmete auf. «Dann schliess jetzt auf.» «Nur noch etwas Geduld, Pater Michele, ich bringe die Dokumente an einen sicheren Ort. Morgen werde ich Euch im Beichtstuhl anvertrauen, was ich wirklich von Euch will. Aber macht Euch keine Hoffnung, mich hinters Licht führen zu können. Sollte mir oder meinem Sohn etwas geschehen, ist dafür gesorgt, dass alle Welt von Eurem Fehltritt erfährt.» Das war nun sehr übertrieben und im Augenblick wusste ich auch keinen sichereren Ort als einen Platz auf meinem Leib, schob die Schriftstücke unter mein Mieder, schlug den Weg zum Hof ein und blieb dort eine Weile. Sollte er glauben, dass ich sein Geständnis vergraben oder sonst wo versteckt hatte, dort würde er sie vergebens suchen. Dann kehrte ich zurück und liess ihn frei. Als ich in sein bleiches, verzerrtes Gesicht sah, wusste ich, dass ich mir einen Feind fürs Leben gemacht hatte. Carmela aber rannte weinend auf mich zu, umschlang mich mit ihren dünnen Armen und ich hielt sie fest, versicherte ihr mit lauter Stimme, dass Pater Michele nie wieder versuchen würde, ihr Schande anzutun. Sie schien mich zu verstehen, nickte und lachte unter Tränen und streichelte meine Wange. Noch eine ganze Weile waren wir so beisammen, dann regte sich Luca und ich ging, ihn zu pflegen.
Ich betrat die Kapelle als Letzte, die andern hatten schon gebeichtet, nur zwei der Mädchen knieten noch im Kirchenstuhl und beteten ihre auferlegte Strafe. Ich schlüpfte in Pater Micheles Beichtstuhl, sagte «Gelobt sei Jesus Christus», doch er antwortete mir nicht. Durch das vergitterte Fensterchen sah ich, dass er sich zurückgelehnt und die Augen geschlossen hatte. Ohne Umschweife kam ich zur Sache. «Ich brauche Eure Hilfe.» «Was willst du?» – «Es geht um mein Kind.» «Was ist mit Innocente, ist er krank?» «Er heisst Luca! Ihr habt bestimmt vernommen, dass Mutter Oberin beschlossen hat, ihn mir wegzunehmen.» Keine Antwort. «Ich will ihn aber behalten, der Gedanke daran, dass ihn eine andere Frau nährt und aufzieht, ist für mich unerträglich. Wenn es Euch gelingt, Mutter Oberin davon zu überzeugen, dass er bei mir am besten aufgehoben ist, wird niemand jemals von Eurer Verfehlung vernehmen. Aber sonst…!» «Wenn du mir die Dokumente gibst, werde ich ein gutes Wort für dich einlegen.» «Pater Michele, heute stelle ich die Bedingungen.» «Mit dir haben wir eine Schlange an unserem Busen genährt», knirschte er. «Ich habe viel Leid erfahren müssen, Pater Michele, das stählt den Willen.» «Was weisst du schon von Leid!» «Genug, um Euch nun darum zu bitten, für mich zu sprechen.» «Ich will sehen, was ich tun kann.» «Ich hoffe für Euch, dass es Euch gelingt, die ehrwürdige Mutter umzustimmen. Gelobt sei Jesus Christus.» Er antwortete mir wieder nicht, und ich erhob mich, sah, dass die Bänke leer waren; somit brauchte ich auch nicht zu tun, als
würde ich bereuen, verliess die Kapelle und eilte zurück in meine Zelle. Ich nahm meinen Sohn in meine Arme, wiegte ihn und weinte dazu, denn im Nachhinein ängstigte mich das Ungeheuerliche meines Tuns in meiner tiefsten Seele. Später kniete ich nieder, betete zur Jungfrau Maria, bat sie, im Himmel für meine Vergebung zu bitten, da sie, wenn sie es vermocht, bestimmt dasselbe für ihren Sohn getan hätte, um ihn nicht am Kreuze sterben sehen zu müssen. So war ich in meiner Seele hin und her gerissen zwischen Hoffnung, Freude und Entsetzen, hatte wirre Träume und war froh, als der Morgen graute. Bevor ich mich um Luca kümmerte, griff ich prüfend in die Mauernische nach dem Kästchen und dem einen Pergament, welches ich dort wohlverwahrt wusste, fühlte das zweite Pergament auf meiner Haut, für welches ich noch immer keinen sicheren Aufbewahrungsort gefunden hatte, da fiel ein schüchterner Sonnenstrahl in mein Gelass, glitt über die Wand und blieb auf dem Tisch und der schweren Bibel liegen. Es war wie die Antwort auf eine Frage. Ich nahm das heilige Buch auf, drehte es um, blätterte es durch und sah, dass sich der brüchige, lederne Einband am Buchrücken gelöst hatte. Eine lange, schmale Öffnung war entstanden, die ich vorsichtig noch etwas erweiterte, dann rollte ich das zweite Dokument zusammen, presste es flach und schob es hinein. Es verschwand gänzlich darin, das Versteck schien mir gut und um der grösseren Sicherheit willen ritzte ich in die Unterseite des heiligen Buches mit der Pfeilspitze ein Kreuz. So würde ich es jederzeit erkennen und wiederfinden können. Der Einmarsch der Russen in Italien hatte verschiedene Scharmützel zur Folge, von denen wir erst vernahmen, als die Verwaltung des Ospedale Maggiore bei Mutter Oberin Caterinen verlangte. Obschon die Ca’ Grande das grösste Spital Italiens war, konnte es die vielen Verwundeten kaum
mehr unterbringen und die Ärzte und Schwestern waren mit ihren Kräften beinahe am Ende. Das mächtige, viereckige Gebäude war überbelegt, der lange, schmale Krankensaal mit dem hohen Backsteingewölbe mit Betten, die sich oft zwei Personen teilten, überfüllt. Sie lagen in den Bogengängen, im ungeschützten, riesigen Innenhof auf der nackten Erde, und jeden Tag kamen neue hinzu, nahmen die Plätze derjenigen ein, die gestorben waren, viele, ohne dass sie ärztliche Hilfe erhalten hätten. Über dem Ospedale lag der Geruch von Krankheit und Tod. Dass auch ich zu den sechs Auserwählten gehörte, wunderte mich nur so lange, bis ich sah, welche Arbeiten uns zugeteilt waren: Wir hatten die Nachttöpfe sowie die Gefässe mit Eiter und Blut zu reinigen; diese Tätigkeit zog sich durch den ganzen Tag hin, hörte nie auf. Der Latrinengeruch haftete an uns, setzte sich fest in den Kleidern und Haaren, wir stanken! Die einzige Erleichterung für mich bestand darin, dass ich zweimal des Tags in meine Zelle zurückgehen konnte, um Luca zu stillen, und es war in einer solchen Pause, da ich zu Mutter Oberin berufen wurde.
Wie immer, bevor ich zu meinem Sohn ging, hatte ich mir am Brunnen im Hof gründlich die Hände gewaschen, wusch mir nun auch noch das Gesicht und betrat ihr Kontor. Das Erste, was ich sah, war die Gestalt Pater Micheles, die sich dunkel vor den Umrissen des Fensters ausnahm. Mir stockte der Atem! Weshalb war er da? Hatte er mich verraten, seine Untat vor Mutter Oberin umgewandelt in eine einleuchtende Erklärung? Mir wurde übel. «Gelobt sei Jesus Christus», flüsterte ich. «In Ewigkeit, amen, setz dich Giulia.» Ich gehorchte, wagte aber nicht, aufzuschauen.
«Es ist dir bekannt, dass wir Innocente so bald wie möglich in Pflege geben wollten. Nun haben wir aber gesehen, dass du dich bis heute vorbildlich um dein Kind gekümmert hast. Deshalb haben wir beschlossen, ihn dir weiterhin zu überlassen; ich hoffe, du weisst unsere Güte zu schätzen.» Ich war aufgesprungen! Eine tiefe Freude überschwemmte mich, die mich vor Mutter Oberin in die Knie sinken und stammeln liess: «Oh ich danke Euch, ich danke Euch!» «Danke nicht mir, danke Pater Michele, er hat sich für dich eingesetzt, ihm gebührt deine Hochachtung.» Da neigte ich mich auch vor ihm, ergriff seine Hand, die kalt und knochig war, und küsste sie, fühlte, wie er zurückzuckte, als wollte er mich abwehren. Doch vor Mutter Oberin musste er den Schein wahren, und ich sah seinen zusammengekniffenen Augen an, dass ihm das sehr schwerfiel. Dann war ich entlassen, ging auf einer Wolke des Glücks zu Luca, und während ich ihn nährte, wandelte sich das Glücksgefühl in Genugtuung und die Genugtuung in Überlegenheit, in ein plötzliches Gewahrwerden von Macht, einer Macht, die mir die Möglichkeit bot, nicht mehr hilflos nach den Bestimmungen anderer leben zu müssen. Es war das erste Mal, dass ich so fühlte, es sollte nicht das letzte Mal sein.
Als ich einige Tage später mit meinem Unrat zum weiss-nichtmehr-wievielten Male zur Latrine eilte, bemerkte ich nahe des Eingangs eine junge Frau in Kindsnöten. Sie hatte sich neben dem Tor auf die Erde gelegt, doch niemand kümmerte sich um die Stöhnende, alle waren mit sich selbst zur Genüge beschäftigt. Ich sah, dass bereits die Presswehen eingesetzt
hatten, und ohne lange zu überlegen, stellte ich den Kessel in eine Ecke und stand ihr bei. Sie gebar ein Mädchen, und als ich ihr das Kind notdürftig gereinigt in die Arme legte, erkannte ich sie: Es war Anita, eine Anita allerdings, deren Schönheit verblasst, deren glänzendes Haar stumpf und deren Hochmut gebrochen war. Ihre Züge schienen alt, zu alt für ihre sechzehn Jahre, und sie sagte: «Du hast mich kaum mehr erkannt, nicht wahr?» «Dein Kind hat mich so in Beschlag genommen, dass ich nicht darauf geachtet habe, aber wie kommt es, dass du hier bist und nicht bei deinem Herrn?» Sie lachte, und dieses Lachen klang nicht mehr süss wie einst, klang hart und höhnisch. «Wen meinst du denn, etwa den, der versprochen hat, sich meiner anzunehmen, und dessen Bett ich angewärmt habe, oder einen seiner Söhne, denen ich zu Willen sein musste, wann immer sie es wünschten?» Sie begann hemmungslos zu schluchzen und ich kniete neben ihr, fühlte mich hilflos, nahm ihr das Kind ab und wartete, bis sie ruhiger wurde. «Ich werde mit Mutter Oberin sprechen, sie wird dich und dein Kind aufnehmen und für euch sorgen.» «Ich kann nicht zurückkommen.» «Warum?» «Ich schäme mich so.» «Dazu ist kein Grund vorhanden. Ruh dich erst mal aus und überlege es dir, ich bringe dir morgen Bescheid.» Dann verliess ich sie, um meine stinkende Arbeit wieder aufzunehmen, fragte mich dabei, wohin mein Hass auf Anita hingekommen war. Sie tat mir nur noch leid. Doch am nächsten Morgen, als ich sie hinüberholen wollte in das fromme Haus, war sie weg, einzig ihr kleines Mädchen lag
schlafend auf dem selben Platz, an dem es geboren worden war; ich hob es auf und brachte es in die Kinderstube, ein Findling mehr, geworden aus anmassender Überheblichkeit eines reichen Geschlechts, das die Frucht seiner verwerflichen Unzucht ohne Gewissensbisse dem Schicksal überliess und sich nicht weiter kümmerte um die zur Hure gemachte Frau. Diese zog man zwei Tage später als Leiche aus dem Naviglio, mit grünem Schlamm in ihrem schwarzen Haar, und wir beerdigten sie inmitten der Kindergräber am Ende unseres Gartens. In der Folge kümmerte ich mich um Anitas Kind. Es wurde auf den Namen Omelia getauft, besass die tiefblauen Augen seiner Mutter und das rötliche Haar seiner Erzeuger und gedieh erfreulich gut. Nach einigen Tagen gab Mutter Oberin das Kind in meine Obhut, da ich mehr als genügend Milch hatte und mit Leichtigkeit noch ein weiteres zu stillen vermochte. Zudem konnte sie so den Lohn für die Amme sparen, denn mir stand als Magd der Casa nichts zu. Die Hilfe, die ich bei Anitas Geburt geleistet hatte, war aber im Ospedale nicht unbemerkt geblieben. Kurze Zeit später wurde ich zur Oberschwester gerufen, die mich, ohne mich zu fragen, als Schwesternhilfe einteilte. In dieser neuen Tätigkeit lernte ich Verbände wechseln, Wunden auswaschen, musste Essen austeilen und diejenigen, die sich nicht bewegen konnten, füttern. Diese Arbeit machte mir bei weitem mehr Freude als die vorangegangene, schon deshalb, weil ich ein sauberes Kleid, eine weisse Schürze und ein ebensolches Häubchen tragen durfte.
Als am 19. August 1799 Feldmarschall Suworow nach Beendung des Feldzuges von seinem Zaren zum Fürsten
Italiski erhoben wurde und seine Soldaten feiernd die Stadt durchstreiften, als sich der Verdacht bestätigte, dass vier weitere Mädchen durch die Vergewaltigung der Mongolen schwanger geworden waren, als Mutter Oberin durch diese neue Heimsuchung zusammenfiel und anfing zu kränkeln, sich durch die Hitze Seuchen zu verbreiten begannen und die Nahrungsmittel noch knapper wurden, da erschien in der Casa der Mann, der von sich behauptete, mein Onkel zu sein!
Bator 1840
Nach dem Schneefall 1793 Damals, als der Fluch der Tenger über uns hereingefallen war, der den todbringenden Schneefall brachte, war die Not unseres Landes nicht unbemerkt geblieben. Suchtrupps auf Schneeschuhen waren ausgeschickt worden, und diesem Umstand war es zu verdanken, dass viele Menschen gerettet wurden. Mich fand eine Patrouille russischer Kosaken, die im Dienste des Generals Graf Alexander Wassiljewitsch Suworow stand, am Rande des Todes im Schnee, und ich wusste nicht, sollte ich darüber glücklich oder traurig sein. Dass für meine Familie jede Hilfe zu spät kam, verbitterte meine Seele. Ich haderte mit dem Schicksal, verwünschte gar den grossen Dsairang, gab ihm die Schuld an dem verheerenden Geschehen, denn hatte er es nicht versäumt, die Geister zu besänftigen und wohlwollend zu stimmen? Je mehr meine körperliche Genesung voranschritt, desto tiefer versank ich in meiner Trauer, hockte, trotz gutem Zureden meiner Kameraden und Vorgesetzten, tagelang verstört auf meiner Pritsche und war zu nichts zu gebrauchen. Ich fand keinen Sinn mehr in meinem Dasein und der Gedanke, mich umzubringen, wurde von Tag zu Tag stärker. Doch offenbar war ich im Schattenland noch immer nicht willkommen, denn eines Tages setzte sich ein junger Bogenschütze an mein Lager. Das störte mich, ich wandte mich ab, zog die Decke über mein Gesicht und stellte mich schlafend, aber nach einer Weile hörte ich ihn sprechen:
«Ich habe mich getäuscht», sagte er, «das ist unmöglich der, den ich zu kennen glaubte. Das ist nicht einer der besten Bogenschützen des Graslandes, nicht der, der in Ich Churee Chot zu Ruhm und Ehren gekommen ist. Dieser eine hiess Bator, war ein schneller und sicherer Reiter und mit Pfeil und Bogen unübertroffen.» Er schwieg und ganz gegen meinen Willen hatte ich ihm zugehört, der Klang der Stimme hatte mich erreicht, seine Worte hatten mich aufgescheucht, doch noch immer regte ich mich nicht und er fuhr fort: «Schade, ich hätte mich gefreut, ihn wiederzusehen, aber das, was ich hier antreffe, ist ein bejammernswürdiges, sich selbst bemitleidendes Bündel Mensch, zu nichts mehr nütze, als zu weinen und andern das Leben mit seinem Starrsinn schwer zu machen. Dieser Mensch denkt nur an sich und sein Leid, hat nicht begriffen, dass er nicht allein ist, dass er sein Schicksal mit mir und Hunderten andern teilt. Da sieht man, was geschieht, wenn einem Mongolenjungen die Haare zu spät geschnitten werden!» Da riss ich die Decke von meinem Gesicht, fuhr auf und sah ihn an, erkannte ihn nicht sogleich, denn lange hatten wir uns nicht gesehen. Noch immer standen seine kurzen Haare wie Stoppeln von seinem Kopf ab und blickte er aus kleinen Schlitzaugen, aber er war gross geworden, sein Körper breit, seine Glieder kräftig, er war ein Mann! «Bist du das, Dscherlik?», fragte ich ungläubig. Er nickte. «Ja, Bator, so begegnen wir uns wieder. Aber mein Herz schmerzt und meine Galle ist bitter, wenn ich dich jetzt sehe. Dein Zustand ist eines Mongolen nicht würdig. Wirf deine Trauer ab und steh auf, das Leben geht weiter!» So war das, und wenn ich es richtig sehe, hat mir mein einstiger Nebenbuhler, den ich früher so hasste, das Leben gerettet. Seltsam, dass daraus im Laufe der nächsten Zeit, in
der ich – ins Soldatenleben eingebunden – alles lernte, was im Feld, im Kampf und zum Überleben nötig war, eine tiefe Freundschaft entstand. Wir haben uns in langen Nächten ausgesprochen, von seiner beim Schneefall umgekommenen Frau, die er ein halbes Jahr nach der Zurückweisung durch Telema geheiratet hatte, sprach er in den schönsten Worten. Das tröstete mich, denn heimlich hatte ich mich immer in seiner Schuld gefühlt. Das gemeinsame Leid um unsere verlorenen Familien verband uns tief. Meist ritten und kämpften wir Seite an Seite, das kurze, klobige Gewehr am Rücken, die Lanze am Sattel befestigt, auf dem Kopf die hohe, spitze Pelzmütze mit dem hängenden Zipfel der Kosaken. Durch unser mutiges Verhalten errangen wir die Beförderung zum Offizier und wurden gar mit dem goldenen Pfeil ausgezeichnet. Dieser, eingebettet in einem handlangen Holzkästchen, war die höchste Auszeichnung, die ein mongolischer Soldat erringen konnte; ich trug ihn immer bei mir, er war mein ganzer Stolz! Als Graf Suworow, damals noch General, dank seiner eigenmächtigen Kampfhandlung bei Brest gegen die Polen unter Sierakowski siegte und am vierten November 1794 die Warschauer Vorstadt Praga eroberte, was die Kapitulation Warschaus zur Folge hatte, war ich als Hauptmann mit dabei. Wie stolz waren wir alle, als ihm am dreissigsten November desselben Jahres von der Zarin Katharina II. der Rang des Feldmarschalls und zugleich das Oberkommando über alle russischen Truppen verliehen wurden. Suworow wurde gehasst von seinen Feinden, besonders von den Polen, die ihm vorwarfen, bei der Eroberung Pragas grausam vorgegangen zu sein. Um nämlich Warschau vor der Vernichtung zu retten, liess er die Brücke über die Weichsel sperren, welche der einzige Fluchtweg aus der Vorstadt gewesen wäre. Dementsprechend gab es unter der
eingeschlossenen Zivilbevölkerung viele Tote, ja, man sprach im Nachhinein von einem Gemetzel, was sicher der Sache nahe kam. Und trotzdem war Suworows Strategie gut durchdacht, denn auf diese Weise konnten sich die Kampfhandlungen nicht in die Stadt verschieben, was im Gegenzug viele Menschenleben und auch die Kunstschätze der Metropole rettete. Diese Massnahme erlaubte es Suworow, Warschau von den zutiefst verängstigten Bürgern am folgenden Tag unversehrt zu übernehmen. Von seinen Soldaten aber wurde er geliebt, denn er kümmerte sich um seine Männer. Oft war er bei der Ausbildung, die echten Gefechten nachempfunden war, zugegen. Er legte grossen Wert darauf, uns Sinn für Strategie und Taktik beizubringen. Seine Reglementsvorschriften, zusammengefasst in einer Schrift, welche den Namen ‹Soldaten-Katechismus› trug, waren durch gesunden Menschenverstand gekennzeichnet, die jedem Mann, auch dem einfachsten, leicht verständlich und folgerichtig erschienen. Wenn er zu uns sprach, war es, als lauschten wir einem Vater, und wenn er unsere Reihen abschritt, mit seinen hellblauen Augen einen jeden musterte, da und dort ein Wort an jemanden richtete, sich nach dem Ergehen erkundigte, dann war da kaum einer, der nicht für ihn durchs Feuer gegangen wäre. Und dennoch: Wenn ich an den Tag denke, an dem ich dem Feldmarschall persönlich vorgestellt worden bin, packt mich noch heute ein heftiges Unbehagen. Es war nach der Eroberung Warschaus, ich hatte meine Kompanie mit Erfolg befehligt und diesem Umstand war es wohl zu verdanken, dass mir kurze Zeit danach die Ehre einer Audienz zuteil wurde. An jenem besagten Tag also war ich aufgeregt wie selten, putzte mich heraus, verschmähte meinen Deel, den ich sonst immer trug, kleidete mich in die Galauniform, die ich extra für
diesen Zweck beim Heeresschneider hatte anfertigen lassen, heftete alle Auszeichnungen, die ich besass, an meine Brust und benutzte gar etwas von dem Riechwasser, das seit kurzem gross in Mode war. Ich wartete um acht Uhr in der Früh im Vorzimmer seines Palais und war schon recht ungeduldig, als sein Sekretär mich holte. Dieser musterte mich, wie mir schien, etwas spöttisch mit gehobenen Brauen, dann betrat ich den Raum, in dem etliche hohe Offiziere im Gespräch beisammenstanden. Der kleine, schmächtig erscheinende Feldmarschall drehte mir den Rücken zu, ich erkannte ihn an seinen hellen, fliegenden Haaren, dann wandte er sich um, und nun geschah, was mich noch heute in meinen Träumen heimsucht und mir den Schweiss aus allen Poren treibt. Er musterte mich kurz und sein Gesichtsausdruck verwandelte sich in schieres Entsetzen, er begann zu schreien, kroch unter den Tisch, rief in einem fort: «Ein Gespenst, ein Gespenst, helft mir, befreit mich von diesem Wesen», und während ich wie vom Donner gerührt dastand, sah ich die von verhaltenem Lachen zuckenden Schultern der Offiziere, fühlte, wie mich sein Sekretär am Arm fasste und hinausführte. Der Schreck war mir so in die Glieder gefahren, dass ich nicht sprechen konnte, nicht wusste, wie mir geschehen war. Da legte mir der Sekretär die Hand auf die Schulter und sagte tröstend: «Nehmt es nicht so tragisch, Ihr seid nicht der Erste, dem dies widerfährt.» «Aber warum, warum?» «Ihr habt Euch mit Eurem Äusseren zu viel Mühe gegeben, er mag das nicht. Geht in Euer Quartier, zieht den Deel an, die Lederhosen, die Stiefel und die Kopfbedeckung, die Ihr sonst immer tragt, und kommt wieder. Ich erwarte Euch hier eine Stunde nach Mittag, dann wird der Feldmarschall Euch ganz anders empfangen.»
Ich tat, wie mir empfohlen worden war, fand mich zur angegebenen Zeit wieder im Palais ein und trat mit sehr kleinem Selbstbewusstsein vor den grossen Mann. Und siehe da: Er empfing mich freundlich, fragte, wie viele Lanzen ich hätte – damit meinte er Soldaten und ich konnte es ihm auf den Mann genau mitteilen, wie ich auch seine weiteren Fragen richtig zu beantworten wusste –, er lobte unser Vorgehen bei der Einnahme Pragas, bot mir Radieschen an und meinte beiläufig: «Nach dem Schrecken von heute Morgen, wo mich ein Gespenst heimgesucht hat, ist es eine wahre Freude, sich mit Euch zu unterhalten. Macht weiter so und bleibt euch selbst.» Dann war ich entlassen und erst im Nachhinein erfuhr ich, dass meine präzisen Antworten gefallen und die Radieschen eine ganz besondere Auszeichnung bedeutet hatten.
Ende 1795 kehrte Suworow nach St. Petersburg zurück, um 1796 dann das Kommando über die neurussische Armee in Tultschin zu übernehmen. Seine mongolische Truppe diente derweil unter Korsakov. Dann, als sich nach dem Tod der Zarin Katharina und der Thronbesteigung Pauls I. die Armee nach preussischer Manier zu verändern begann, wurden die Mongolen in Reserve nahe der russisch-polnischen Grenze geschickt. Die Männer begrüssten diesen Befehl, denn nie und nimmer hätten sie sich eine preussische Zopfperücke aufgesetzt oder preussische Uniformen angezogen, noch wünschten sie, nach preussischer Manier gedrillt zu werden. Der Feldmarschall selbst hielt sich ebenfalls nicht an die neuen Vorgaben, nannte sie unsinnig, ja, schmiedete gar Spottverse an die Adresse des Zaren, wie «Mit dem Zopf kann man nicht schiessen» oder «Puder ist kein Schiesspulver, Locken sind keine Kanonen, ein Zopf ist keine Mauer, und ich selbst bin
kein Preusse, sondern ein ureigener Russe». Diese Aussagen wurden von seinen Soldaten aufgenommen und herumgeboten und schliesslich dem Zaren zu Ohren gebracht. Dieser wiederum nannte Suworow einen «alten Narretei», und unter diesen Umständen erstaunte es niemanden, dass das Verhältnis zwischen den beiden äusserst gespannt war. Paul I. konnte nichts mit den Ansichten seines alten, erfahrenen Feldherrn anfangen und erteilte ihm eine Rüge nach der andern. Dies wiederum erboste Suworow, er sah keine Möglichkeit mehr, weiter im Dienste des Zaren zu bleiben, und bat um seinen Abschied. Der Zar gewährte ihm diese Bitte nur zu gerne und verfügte mit Befehl vom 17. Februar 1797 den Ausschluss Suworows aus der Armee. Er wies ihm ein Haus in einem kleinen Dörfchen des Nowgoroder Gebietes zu, hielt ihn unter Hausarrest und es wurde ihm verboten, seine Nachbarn zu besuchen. Seine Post wurde zensuriert; der einst ruhmbedeckte Feldmarschall, der von dreiundsechzig Schlachten keine einzige verloren hatte, wurde tief gedemütigt. Doch Pauls Ziel, Suworows Sturheit zu brechen, erreichten auch diese Massnahmen nicht.
Nach einiger Zeit versuchte der Zar das Verhältnis zu seinem Feldherrn wieder zu verbessern, und er sandte ihm eine Einladung zum Dienst. Doch Suworow lehnte das Angebot «in dieser Form als seiner unwürdig» ab und liess verlauten, er sei erst dann bereit zu dienen, wenn er seine absolute Vollmacht zurückerhalte. Aber für Paul I. war diese Forderung nicht annehmbar und beide verfielen erneut in ihren Groll.
Wie es Suworow bei dieser strengen Bewachung möglich war, das kriegerische Geschehen weiterhin zu verfolgen und auf
dem Laufenden zu sein, war schleierhaft. Tatsache jedoch ist, dass ich eines Nachts im Quartier unserer in Reserve liegenden Truppen durch ein Klopfen an der Tür erwachte. Der in einen langen Kapuzenmantel gehüllte Mann, von dem ich weder Gesicht noch sonst etwas erkennen konnte, überbrachte mir den mündlichen Befehl, mich – als Händler verkleidet – in dem von Napoleon beschlagnahmten Teil Italiens umzuhorchen. Vor allem die Stärke der französischen Besetzer, ihre Bewaffnung, den Gesundheitszustand der Soldaten sollte ich erkunden. Des Weiteren wurde Auskunft über Unterkunftsmöglichkeiten auf Landgütern rund um Mailand verlangt, und als ich mich ungläubig zeigte, dem Befehl nicht traute, liess mein später Besucher einige Radieschen auf den Tisch kollern. «Erinnert Euch dies an etwas?», sagte er mit gedämpfter Stimme und ich nickte. «Er hat mir aufgetragen, Euch Folgendes zu sagen: Ein Mann, der seine Truppe und die genaue Zahl seiner Lanzen kennt, also kein ‹Nichtbestimmtsager› ist wie viele andere, wird mir verlässliche Angaben machen können. Übermittle meinem Gespenst, dem ich vertraue, meinen Segen, Gott sei mit ihm.» Diese Worte rührten mich derart, dass mir das Wasser in die Augen stieg und ich Haltung annahm, als stünde der verehrte Feldmarschall persönlich vor mir. «Ich werde ihn nicht enttäuschen», flüsterte ich zurück, und der Vermummte, in dem ich mittlerweile seinen Sekretär vermutete, nickte. «Kleidet Euch wie ein Handelsmann, reitet ohne Euren Bogen, ohne Eure Lanze, wir erwarten Eure Berichte alle zwei Wochen, schickt sie an Eure Mutter.» «Ich habe keine Mutter mehr.»
«Ab sofort habt Ihr wieder eine, Ihr findet die Anschrift in Eurer Satteltasche. Lernt sie auswendig und vernichtet den Zettel – und noch etwas: Verschlüsselt Eure Meldungen so, als schriebet Ihr wirklich an Eure Mutter, und erwähnt niemals, aber wirklich niemals den Namen Suworow.» Dann wandte er sich zum Gehen. Ich bereitete mich zur Reise vor, besorgte mir die erwähnte Kleidung und verbarg nach kurzem Zögern einen kleinen, scharfen Dolch und das hölzerne Futteral mit dem goldenen Pfeil in meinem Gewand. Auch meinen Deel legte ich dazu, er würde mir unterwegs gute Dienste leisten. Am nächsten Morgen stand mein Pferd für mich bereit, in der Satteltasche fand ich Geld, einen Pass, eine Landkarte, ebenfalls die erwähnte Anschrift, und ich machte mich auf den weiten Weg über Polen, durch das Deutsche Reich, die kleine Schweiz nach Italien, um meinen Auftrag auszuführen.
Es war bereits Anfang Dezember, als ich ohne wesentliche Zwischenfälle auf umgekehrtem Weg wiederum meine in Reserve liegende Truppe nahe der russisch-polnischen Grenze erreichte. Viel hatte ich gesehen, viel erlebt. Als einfacher Händler hatte ich mich in den Kneipen und Gasthäusern herumgetrieben, hatte mich zu den Männern an die Tische gesetzt, mit ihnen gegessen, getrunken, ihren Gesprächen gelauscht. Waren sie vom Wodka oder Wein benebelt und redselig geworden, versuchte ich, mit belanglosen Fragen aus ihnen herauszuholen, was ich wissen wollte. So kam ich auch auf das Weingut nahe Mailands, wo ich mich viel zu lange aufhielt, was meinen ganzen Zeitplan durcheinander brachte. Aber da war dieses Mädchen! Nicht, dass ich mich jemals von einer Frau, die ich besessen habe, hätte beeindrucken lassen, dafür war die Erinnerung an
meine Telema zu wach, ihr Bild in meinem Herzen noch immer gegenwärtig. Oft hatte ich mich auf meinem langen, einsamen Ritt im Zwiegespräch mit ihr ertappt, ihr erzählt, was ich sah und was ich dachte, auf ihre Antwort gehorcht, die sich formte in meinem Kopf, und mich verbunden gefühlt mit ihr. Und doch, da war dieses Mädchen!
Schon als ich sie sah, beim Nachtessen im gewölbten Speisesaal, konnte ich kaum den Blick von ihr wenden. Ich weiss nicht, waren es ihre Augen, war es ihr Haar, das die Farbe von dunklem Honig hatte und Erinnerungen in mir wachrief, oder war es der Bernsteinschmuck, der ihr beim Griff nach dem Weinkrug aus dem Mieder glitt? Ich wusste nur eines: Ich wollte sie haben! Je mehr ich um sie warb, desto mehr verfiel ich ihrem Liebreiz, ihrem kindlichen Wesen, ihrer manchmal so spröden Art. In die Besessenheit, sie besitzen zu wollen, mischte sich eine ebenso grosse Besessenheit, sie zu beschützen, für sie zu sorgen, ihr beizustehen, und als sie sich mir endlich hingab, war es für mich das Schönste seit dem Tod meiner Telema. Ich hatte mich verliebt, nein, ich liebte sie! Aber nichts von alledem, was ich für sie hatte tun wollen, wurde Wirklichkeit. In einer frühen Morgenstunde überfielen die Franzosen das Gut. Ungern hätte ich mich von ihnen aufspüren lassen, wusste man doch, dass Napoleons Horden mit ihnen verdächtig erscheinenden Menschen nicht zimperlich umgehen. Die Aufzeichnungen, die ich bei mir trug, hätten auf Aussenstehende, die in mir einen Händler vermuteten, ohne Zweifel befremdlich gewirkt. Gerade dass ich noch beim Verwalter meinen goldenen Pfeil für Giulia hatte zurücklassen können, von dem ich hoffte, dass
sie ihn auch erhielte, verabschiedete ich mich sozusagen Hals über Kopf von meinem Gastgeber, dringende Geschäfte vorgebend, versprach ihm aber, wieder zu kommen und unseren Tauschhandel zu Ende zu führen. Danach trug mich mein Pferd in schnellem Galopp durch den frühen Morgen, weg von dem Ort, der von französischen Soldaten nur so wimmelte. Auf der tagelangen Rückreise hatte ich genügend Musse, über mein seltsames Leben nachzudenken, ein Leben, das sich mit dem Erscheinen der Reiter der Nacht grundlegend veränderte, so, wie es mir der grosse Dsairang, der meine Nabelmutter war, einst vorausgesagt hatte. Mein Pferd, das kurz vor Betreten russischen Bodens unter mir zusammengebrochen war, hatte ich ersetzen müssen. Das fiel mir nicht leicht, es war, als hätte ich einen guten Kameraden verloren, und ich trauerte einige Tage um meinen treuen Begleiter. Doch ohne Reittier konnte ich nicht sein, und so erstand ich mir auf dem Pferdemarkt einen jungen Trakehner Hengst, dessen noch etwas ungestüme Art mir gefiel und der mich an den Braunen aus meinem längst vergangenen Leben erinnerte. Bereits nach einer Woche hatten wir uns so weit angefreundet, dass er sich, ohne mir Schwierigkeiten zu machen, reiten liess. Über dieses kräftige und ausdauernde Tier sollte ich noch froh sein!
Wenige Stunden nach meiner Ankunft im alten Quartier, wo man mich aufgenommen hatte, ohne Fragen zu stellen, erschien des Nachts wieder der vermummte Mann. Er brachte mir den Dank meines verehrten Feldmarschalls und die Beförderung zum Adjutanten in dessen persönlichen Diensten. Dies ehrte mich sehr, obwohl diese Ernennung zu diesem Zeitpunkt nicht in Kraft treten konnte, da Suworow immer
noch unter Polizeiaufsicht stand und ihm die Hände gebunden waren. In der folgenden Zeit übten wir uns nicht nur in Schiess- und Bajonettkämpfen, sondern, zusammen mit den ebenfalls hier stationierten Kalmücken, auch im Lanzenfechten. Diese Arbeit vertrieb uns die Wartezeit, hielt die Moral hoch und uns in guter körperlicher Verfassung. Das Bogenschiessen kam ebenfalls nicht zu kurz, was mich besonders freute, denn der Bogen war und blieb meine bevorzugte Waffe. Manchmal des Nachts, wenn ich mich schlaflos auf meinem Strohsack wälzte und, das Schnarchen der Kameraden in den Ohren, meiner Telema gedachte, dann schob sich vor ihr Bild immer häufiger das Gesicht Giulias, ihr ergebener, staunender Ausdruck, als sie in meinen Armen lag, ihre sanfte Wärme und reine Liebe. Dann packte mich eine Sehnsucht, die mich hochriss von meinem Lager, mich in die Finsternis hinaustrieb, mich laufen liess wie einen Irren, bis der Schweiss mir über den ganzen Körper rann und meine Lungen zu platzen schienen.
Immer nach einer solchen Nacht verabredete ich mich mit Dscherlik, ging abends mit ihm in die Kneipe, wo wir tranken und von früher sprachen, immer und immer wieder dasselbe, was uns aber nie dasselbe zu sein schien, da die heraufbeschworenen Bilder jedes Mal ein anderes Aussehen annahmen, ein neues, noch nie gesehenes, und die, je mehr wir dem Wodka zusprachen, je länger je trauriger wurden. Am Morgen brummte uns der Schädel, aber wir lachten und umarmten uns, denn wir hatten getan, wie Männer tun, wenn ihre Seele friert vor Einsamkeit und das Elend um das Verlorene sie überfällt.
So verstrichen die Wintermonate. Erst Anfang Januar wendete sich das Blatt; wir wurden von den kriegerischen Ereignissen eingeholt: Unser Korps, zusammen mit zwei weiteren, wurde nach Norditalien verlegt. Nach der langen Ruhepause waren wir voller Tatendrang und Unternehmungslust, wir freuten uns auf was auch immer, waren einfach froh, wieder eingesetzt zu werden und unterwegs zu sein. Dass wir nicht unter Suworows Befehl standen, sondern unter dem der Generäle Rosenberg und Herrmann, trübte allerdings unsere Stimmung beträchtlich. Zudem hatten Dscherlik und ich uns trennen müssen, er war mit General Rimskij-Korsakow auf dem Marsch nach Süddeutschland. Aber etwas später wurde unserem verehrten Feldmarschall der Oberbefehl über die mit uns verbündeten österreichischenglischen Truppen in Italien übertragen und dessen Traum, seine militärische Karriere mit einem Sieg über die Franzosen zu krönen, schien in Erfüllung zu gehen.
Im Februar 1799 bat Österreich den Zaren Paul I. um Hilfe. Russland sollte sich der neu gegründeten Koalition gegen Frankreich anschliessen. Diese Bitte erwuchs aus der Tatsache der fortgesetzten Niederlagen der Koalition gegen Napoleon. Da der Wiener Hof vergeblich unter seinen Generälen nach einem geeigneten Heerführer suchte, dessen Fähigkeiten einen Gegenschlag mit der Aussicht auf Erfolg gewährleisteten, bat Österreich den Zaren inständig, den Oberbefehl über die in Italien eingesetzten verbündeten Truppen Suworow zu übertragen. Aus dieser Sachlage heraus änderte Zar Paul I. seine Haltung ihm gegenüber, und er berief den Verbannten als Feldmarschall zurück. Suworow nahm sofort an.
Die in ihrer Würde gekränkten österreichischen Generäle bereiteten dem ungeliebten Russen bei seinem Eintreffen in Italien vielerlei Unannehmlichkeiten, so dass das Verhältnis gespannt und unerfreulich war. Besonders der kaiserliche Hofkriegsrat unter der Leitung des hochmütigen aristokratischen Barons Thugut verfügte oft sinnlose Auflagen, die dem russischen Strategen zuwiderliefen. Diese Machtkämpfe führten zu Verstimmungen, die später schwere Folgen für die russische Armee haben sollten.
Die erste Begegnung mit unserem Feldmarschall nach seiner Verbannung versetzte uns vorerst in Schrecken: Gebeugt, zusammengeschrumpft, um Jahre gealtert, nahm er die Parade ab, aber seine Augen strahlten, seine Worte waren treffend, sein Unternehmungsgeist lebendig wie eh und je. Wir jubelten ihm zu, und er schien die Zuneigung und Liebe, die ihm aus unseren Reihen zuströmten, zu geniessen. Wiederum schweisste er durch seine Gegenwart seine Truppen zu einer Einheit, zu einem Ganzen, vermittelte Stärke und Zuversicht, was sich bei der Schlacht an der Adda in einem Sieg gegen Frankreich niederschlug und uns in Hochstimmung versetzte. Durch eine Bosheit des Barons Thugut war die Organisation der Koalitionsarmee einem österreichischen General übertragen worden, was zur Folge hatte, dass unsere Versorgung mit Verpflegung und Futter miserabel war. Dies erzeugte in uns Misstrauen gegen die Verbündeten und schmälerte das anfängliche Wohlwollen, besonders als sich zeigte, dass auf den Bauerngütern, die ich auf meiner Reise als Kundschafter ausfindig gemacht hatte, nichts mehr zu holen war. Was die Franzosen nicht ratzekahl gefressen hatten, war von den Österreichern beschlagnahmt worden. Wir litten
Hunger und waren gezwungen zu plündern, obwohl Suworow dies, wie immer, ausdrücklich verbot. Dass beim Einmarsch in Mailand die Soldaten angesichts der aufgefundenen Vorräte ausser Rand und Band gerieten, war deshalb nicht seine Schuld. Dass Landsleute von mir die Klöster stürmten, töteten und vergewaltigten, war unvermeidbar, denn wenn die Ordnung einer Armee auseinander bricht, ist sie wie eine Sturzsee, wie eine Feuersbrunst, wie ein losgelassener, alles vernichtender Höllensturm. Die neue Eigenart unseres Feldmarschalls, sämtliche Spiegel in seinen Quartieren zu zerschlagen, erhöhte ebenfalls nicht unsere – anfänglich bei der Bevölkerung durchaus vorhanden gewesene – Beliebtheit; aber sie gab uns Rätsel auf. In meiner Funktion als Adjutant zählte ich nun zu Suworows ständigen Begleitern; ich war zugegen bei den meisten Zusammenkünften und Verhandlungen. Ganz gegen den Willen des Zaren hatte er einen Stab gebildet, dem auch englische und österreichische Offiziere angehörten. Er schätzte Letztere ihrer Geländekenntnisse wegen, ärgerte sich aber oft über ihre Art des langsamen, bedächtigen Vorgehens. So hatte er gleich nach seinem Eintreffen in Italien bei den österreichischen Verbänden das Üben des schnellen Bajonettangriffs angeordnet und versucht, ihnen jeden Gedanken an Rückzug abzugewöhnen. Diese Taktik beherrschten wir schon lange, und jener Soldat, der Suworow auf die Frage «Was ist eine Retirade» geantwortet hatte: «Ich weiss es nicht, in unserem Regiment ist dieses Wort unbekannt, ich habe es noch nie gehört», war bereits bei Lebzeiten eine Legende. Ebenso verbot er umfassendes Rekognoszieren.
«Rekognoszierungen», so sagte er, «dienen nur den Furchtsamen und zeigen dem Gegner, dass man im Anmarsch ist. Man findet den Feind immer, wenn man es will. Kolonnen, Bajonette, die blanke Waffe, Angriff – das sind meine Rekognoszierungen.» Er kämpfte gegen alle Formen des ‹Nichtwissens› und legte Wert darauf, dass alle Führer über seine Absichten Kenntnis hatten, verordnete, dass selbst den einfachen Soldaten ihre Aufgabe zu erläutern sei. So förderte er das überlegte, sinnvolle Erfüllen eines Befehls und erzog seine Leute zur Eigeninitiative und zum Mitdenken. Als Ausbildner handelte er nach dem Grundsatz «Je schwerer die Ausbildung, desto leichter der Kampf». Verständlich, dass diese neuen Ansichten bei den vor Neid zerfressenen österreichischen Oberen auf Ablehnung stossen mussten. Nichtsdestotrotz erfüllte Suworow die ihm auferlegte Pflicht in vollem Masse. Binnen fünfundvierzig Tagen vertrieben wir die französischen Verbände aus Norditalien, und er konnte nach der Schlacht von Novi am 15. August den Österreichern das Po-Tal übergeben.
Mit seinem Sekretär, der sich mir eines Abends bei einem Becher Wein als ‹der Vermummte› zu erkennen gegeben hatte, verband mich vom ersten Tag an eine Übereinstimmung der Gesinnung, die einer Freundschaft sehr nahe kam. Und da ich nun recht vertraut mit ihm war, wagte ich ihn eines Tages nach den zerbrochenen Spiegeln zu fragen. «Du musst wissen, Bator», sagte er in seiner bedächtigen Art, «dass ihm die Gefangenschaft in diesem Nowgoroder Nest stark zugesetzt hat. Er ist nicht der Mensch, der untätig herumsitzen kann. Als er eines Tages sein Konterfei in einem
Spiegel seines Hauses erblickt hatte, als er sah, wie tief die Furchen in seinem Gesicht und wie weiss seine Haare geworden waren, ergriff er den Feuerhaken und zerschlug das Glas. Später sagte er zu mir: ‹Ich blickte in den Spiegel und sah einen alten Mann!› Das ist alles.» Wir schwiegen eine Weile. Plötzlich erinnerte ich mich an Telema und unser kindliches Gespräch am Weiher, sah uns eng beisammen auf der nassen Erde liegen, unsere Gesichter, die im klaren Wasser schwammen, sah ihr hübsches Gesicht und meine abstehenden Ohren und glaubte zu begreifen, was in unserem Feldmarschall vorgegangen war. «Bei uns sagt man, dass die Seele abhanden kommt, wenn man sich zu oft betrachtet.» Er nickte. «Ich denke, das kommt der Sache sehr nahe. Niemand mag es, an seine eigene Endlichkeit erinnert zu werden.» Von da an waren in Suworows Quartieren niemals mehr Spiegel zu finden, dafür war ich besorgt, und er verlor nie ein einziges Wort darüber.
Nun bereitete sich Suworow auf einen Feldzug nach Südfrankreich vor. Doch das war nicht im Sinne der Österreicher, denen der Russe zu erfolgreich war. Tatsache ist, dass er vom Hofkriegsrat in Wien die Weisung erhielt, durch die Schweiz zu marschieren, um dort seinen Landsmann Kimskij-Korsakow zu unterstützen. Dieser war mit seinen Truppen von Süddeutschland herkommend in Richtung Zürich unterwegs, wo sich Franzosen und Österreicher gegenüberstanden. Obschon dieser Befehl Suworow zuwiderlief, da er befürchtete, dass seine Armee auf einen Marsch über das Gebirge zu wenig vorbereitet war, musste er sich fügen. Kopfschüttelnd meinte er bei einer Besprechung
mit seinen Generälen: «Diese Leute scheinen den Verstand verloren zu haben!» Obschon der Zar mittlerweile der Politik der österreichischen Regierung ebenfalls misstraute, wollte er keinen Bruch der Koalition; aber er erteilte seinem Feldmarschall unbegrenzte Handlungsvollmacht und segnete ihn mit den Worten: «Sei mannhaft, Graf Suworow. Lebe mit Gott und Ruhm: Geh deinem Schicksal entgegen.»
Wir alle gingen unserem Schicksal entgegen! In meinem Kopf haben sich die Geschehnisse festgesetzt und eingebrannt, und nie werde ich die Schrecken und Entbehrungen dieses Feldzugs vergessen, eines Feldzugs, der so anders war als alles, was wir bisher erlebt hatten, der eigentlich gar keiner war, da er für uns ohne Nutzen und mit grossen Verlusten einherging. Zudem hat er unserem verehrten Feldmarschall, dem grössten Strategen aller Zeiten, das Herz gebrochen, denn was da geschah, war nicht seine Schuld; ihm waren die Hände durch das Mitspracherecht der Verbündeten gebunden.
Es war Anfang September, als wir die eintönige Ebene der Lombardei und das Land Italien verliessen, um die von den Franzmännern besetzte Schweiz zu befreien. Wir hatten nur wenig Gepäck mitnehmen dürfen; für Vorgesetzte wie Soldaten galt dasselbe: ein Bündel mit Verpflegung und ein gerollter Mantel, das war alles, was uns zugestanden wurde. Wir Lanzenreiter durften unsere Pferde behalten, die Soldaten und Offiziere mussten zu Fuss gehen. Später sollten sie Maultiere erhalten, die für den Marsch durch das Gebirge besser geeignet waren.
Ich war froh, meinen Trakehner nicht zurücklassen zu müssen. Er hatte sich in der Zwischenzeit bestens bewährt, seine Klugheit und sein Einfühlungsvermögen verbanden uns zu einer in jeder Lage bestmöglich handelnden Einheit. Das war lebenswichtig, denn ein Pferd, das im Gefecht bockt, konnte gut und gerne seinen und den Tod seines Reiters verursachen. Noch waren wir frohgemut, als wir das kleine Dorf Taverne erreichten. Unsere Mundvorräte waren zusammengeschrumpft, aber die Aussicht auf die von den Österreichern versprochene, bereitgestellte Verpflegung stimmte uns zuversichtlich. Für meinen Herrn fand ich im Haus des Kaufmanns Gaudenzio Gamba ein gutes Nachtquartier. Der Bruder dieses Mannes, Antonio Gamba, war im Alter Suworows, also um die siebzig, und diese beiden Männer waren sich augenblicklich gewogen, unterhielten sich bis tief in die Nacht hinein. Am nächsten Tag zeigte sich, dass weder genügend Verpflegung noch die dringend benötigten Maultiere vorhanden waren. Unsere Verbündeten hatten uns im Stich gelassen. Durch diesen neuerlichen Treuebruch fühlten wir uns verraten, die Männer waren entrüstet, wünschten die Kaiserlichen ins Pfefferland, schworen Vergeltung, nannten sie «verdammte Pest». Gedrückt war die Stimmung, Mutlosigkeit schlich sich ein, niemand konnte sich vorstellen, wie wir uns ohne Maultiere in das vor uns liegende, unbekannte Gebiet wagen sollten.
Gleich am Morgen in der Frühe hatte Suworow seinen Generalstab zusammengerufen. Mir oblag es, dafür zu sorgen, dass der grosse Kachelofen eingeheizt wurde, und zwar in einem Masse, dass die Wärme in der Gaststube ins beinah Unerträgliche stieg und uns der helle Schweiss ausbrach. Nur
der Feldmarschall schien sich bei dieser Höllenhitze gut zu fühlen, und als seinem Sekretär Tropfen von der Stirn auf das eben beschriebene Blatt fielen und er sich dafür entschuldigte, lachte er nur und meinte: «Der Empfänger wird glauben, dass ich Tränen vergossen habe oder du im Schweisse deines Angesichts gearbeitet hast. Und das stimmt, du bist schweissbedeckt, ich bin weinerlich!» In der Folge sollte ich dasselbe noch oft erleben, und ich konnte nie verstehen, weshalb dieser Mann – der in den kommenden harten Tagen nur mit einem weissen Kamisol unter seiner Uniformjacke, weissen Beinkleidern, einem abgetragenen, ungefütterten Soldatenmantel bekleidet, die Füsse mit Leinensocken und Halbstiefeln geschützt, dass dieser Mann, der aller Unbill trotzte und zusammen mit seinen Männern im Schneegestöber kampierte, solch einander widersprechende Bedürfnisse hatte.
Angesichts der Lage, in der wir uns befanden, wurde beschlossen, die Pferde der Kosaken als Lasttiere zu verwenden. Des Weiteren erging der Befehl, alles Essbare, das bei den Einheimischen noch zu finden war, aufzukaufen und mit hartem Geld zu bezahlen. Das trug uns den Ruf der Gerechtigkeit und Menschlichkeit ein, was dazu führte, dass mancher Bauer ein Säcklein Mehl oder eine Speckseite mehr aus seinem Versteck holte, als er ursprünglich zu geben bereit gewesen war. Trotzdem war die Ausbeute mager, die unsichere Zeit hatte ihre Spuren hinterlassen, nicht nur wir, auch die Bevölkerung litt Hunger. Dass unser Weitermarsch über den Gotthard führen würde, sprach sich schnell herum. Es war der direkteste Weg, brachte uns unmittelbar ins Innerste der Schweiz und in den Rücken der französischen Truppen. Bei seinem Vorgehen
stützte sich Suworow auf österreichische, englische sowie eigene Generäle, in deren einem Korps, im Korps Bagration, sich Grossfürst Konstantin befand, der zweite Sohn des Zaren. Dass auch Suworows Sohn Arkadi als gemeiner Soldat im selben Korps diente, vernahm ich erst viel später; Suworow erwähnte seinen Sohn nie.
Unsere Vorbereitungen dauerten fünf Tage, länger als geplant, und noch wussten wir nicht, dass diese fünf Tage uns zum Verhängnis werden sollten. Gut gelaunt schrieb Suworow am Abend des zwanzigsten Septembers in seiner Unterkunft in Bellinzona an General Hotze, der als Schweizer in österreichischem Dienste stand und mit seinen Truppen in Einsiedeln unsere Ankunft erwarten sollte, folgenden Reim: «Am Zwanzigsten sind die Tragtier bereit, den Einundzwanzigsten zieht Ros(enberg) zum Streit, den Zweiundzwanzigsten folgt Derfeld zur Schlacht, denVierundzwanzigsten ist Gotthardsberg erobert durch Macht, dann haben wir durch Säbel und Bajonett die Schweiz vor ihrem Untergang gerett’.»
Dass General Hotze in Schanis in der Nacht vom vierundzwanzigsten auf den fünfundzwanzigsten September auf einem Aufklärungsgang zusammen mit seinen Begleitoffizieren in einen Hinterhalt der Franzosen geriet und tödlich verwundet wurde, konnte Suworow nicht wissen. Aber auch dieses Ereignis hatte Folgen. Der Abmarsch am einundzwanzigsten September erfolgte gegen vier Uhr morgens.
An der Seite Suworows schritt Antonio Gamba, von dem wir mittlerweilen wussten, dass er Hauptmann eines Schweizer Regimentes war, und der sich trotz des tränenreichen Widerstandes seiner Familie dazu entschlossen hatte, uns als Führer zu begleiten. Um seinen Hals hatte er das drei Meter lange Seidentuch geschlungen, das Suworow ihm geschenkt hatte, und unser Feldmarschall trug ein dreispitziges Barett – die Gegengabe Gambas. Dieser Mann war für uns unschätzbar. Er wich während der ganzen Alpenüberquerung nicht von Suworows Seite, setzte sein Leben in unseren Dienst, kannte Weg und Steg und stimmte seine Landsleute uns gegenüber wohlwollend. Flussaufwärts führte der Weg, es goss in Strömen, der Regen durchnässte unsere Uniformen, Mäntel, Decken, der kalte Herbstwind drang durch Mark und Bein. Zelte hatten wir keine mitnehmen dürfen, wir behalfen uns am Ende unserer Tagesetappe in Giornico mit dürftigen Laubhütten, die aber wenig geeignet waren, uns Schutz zu bieten und Wärme in unsere erstarrten Glieder zu bringen. Der Regen fiel unablässig. Am nächsten Abend kampierten wir in einem Ort namens Dazio. Noch hatten wir genügend Mundvorrat in unseren mitgeführten Bündeln. Auch beunruhigte es uns nicht, dass wir der Nässe und des dichten Nebels wegen in drei Tagen nur siebzehn Kilometer zurückgelegt hatten. Wir lagen noch zehn Kilometer vor Airolo und wussten, dass wir etwas weiter oben auf die uns erwartenden Franzosen treffen würden. Der ausgeklügelte Angriffsplan Suworows liess uns guten Mutes sein. So hatte das sechstausend Mann starke Korps Rosenbergs die Aufgabe erhalten, die am Berg verschanzten Feinde über den Lukmanier zu umgehen, abzulenken und so den Weg für Suworows drei
nachkommende, aus sechzehntausend Mann Fussvolk und acht Regimentern der Kosaken-Kavallerie bestehende Kolonnen freizulegen. Es war der vierundzwanzigste September, an dem wir zur Eroberung des Sankt Gotthards übergingen. Es regnete noch immer, der schmale Weg, der oft von reissenden, in tiefen Gräben verschwindenden Rinnsalen überschwemmt war, führte steil aufwärts zu unzugänglichen Höhen und schneebedeckten Hängen. Angesichts des trüben Wetters, der Nässe, der aufgeweichten Pfade und des überall lauernden Feindes erschien der vor uns liegende Berg unheimlich und drohend. Das empfanden auch die Soldaten so und sie begannen zu murren und schimpfen: «Der Alte hat wohl den Verstand verloren, weiss der Teufel, wohin er uns führt.» «Was sagen sie?», fragte der Feldherr und man antwortete ihm: «Sie hören es doch selbst.» «Ja, ich höre es; Gott erbarme, sie loben mich, genauso haben sie mich damals in der Türkei und in Polen gelobt!» Dann ritt er frohgemut weiter. Die Soldaten begannen zu lachen und schritten mit neuem Schwung voran. Dank Rosenberg, dem, wie geplant, das Gros der französischen Armee nacheilte, trafen wir nur auf die Nachhut der Feinde, die aber erbitterten Widerstand leistete und sich in den Schutz zerklüfteter Gesteinsbrocken und angsteinflössender Felswände eingenistet hatte. Sie waren im Vorteil, ihre Stellung war der unseren überlegen, aber wir waren zahlreicher. Dank unserem leichten Gepäck flogen wir wie Adler bergauf, nahmen eine Stellung nach der andern und drängten die französische Meute immer höher in die Berge, wo die vom Pulverrauch stickig gewordene Luft sich mit dem feuchten Hauch dicker Wolken vermischte und unser
Vordringen erschwerte. Wir kämpften uns vorwärts im ungewohnten Gelände, über Höhen, die nicht weniger zu werden schienen, die immer neue hervorbrachten, übersät mit Gefallenen und Sterbenden. Das Regenwasser in den Rinnsalen färbte sich rot, die Leichen, die den Weg versperrten, wurden über die Hänge in die Tiefe gestossen. Die Versuche der Franzosen, sich hinter Felsblöcken und in Mulden zu verschanzen, scheiterten an der Schnelligkeit unseres Angriffes, aber auch am Auftauchen der Bataillone General Bagrations, der durch die Umgehung über die Alpe de Sorescia den Franzosen in den Rücken fiel und sie überraschte. Unsere Geschütze waren über die ganze Zeit nicht zum Einsatz gekommen, wir kämpften mit Lanzen, Säbeln, Bajonetten und Gewehrkolben, machten keine Gefangenen. Die verwundeten, vor Schmerzen schreienden und stöhnenden Feinde fanden kein Pardon, erhielten den Gnadenstoss. Der Rausch des Kämpfens liess uns Menschlichkeit und Mitleid vergessen, wir mussten töten. Töten für unser Vaterland, für unsere Ehre und vor allem für unseren Feldmarschall, dem wir folgten und für den wir selbst zu sterben bereit waren. Endlich standen wir vor der Passhöhe dieses schrecklichen, eisigen, schneebedeckten Gebirges. Aus Nebel und Dunst schälten sich die Umrisse eines Gebäudes, eine Verheissung für unsere erschöpften, kampfmüden Glieder. Es war ein von Mönchen geführtes Hospiz. Der Abt, ein Greis mit langem, grauem Bart, empfing unseren Feldmarschall persönlich und bat ihn zu Tische; aber Suworow sagte: «Nein, ehrwürdiger Abt! Ich selbst und alle meine Kinder, die viel für Gottes Willen getan haben, wir sterben zwar vor Hunger; aber führt uns zuerst in die Kirche, wir möchten unserem Gott ein Lob sprechen. Danach gehen wir in den Speiseraum.»
Das Gebet wurde begonnen, und obschon ich nicht christlichen Glaubens war, betete ich mit, wandte mich in Gedanken an Christus, an Buddha und alle Götter des Graslandes, denen ich mich näher fühlte, und es schien mir auf einmal keinerlei Unterschied mehr zu sein zwischen ihnen, sie flossen zusammen zu einer einzigen, mächtigen, heiligen Einheit. So knieten wir als seine engen Vertrauten mit ihm, der unser Vater war, dankten für die Gnade, noch am Leben zu sein, empfingen den Segen des Abtes, und keiner unter uns war ohne Tränen. Erst dann begaben wir uns zum Mittagsmahle. An dem langen Holztisch sassen der Feldherr und der Gottesmann Seite an Seite, unterhielten sich angeregt und umarmten sich immer wieder. Das Essen aus Kartoffeln, Erbsen und Fisch mundete nach dieser Anstrengung vorzüglich, über dem Feuer kochte Wasser für Tee und Suppe, Mönche füllten die siedende Flüssigkeit in Kessel, eilten zwischen dem Heerlager und der Küche hin und her und verteilten ihre Gaben an die halb erstarrten Männer, die dankbar die köstliche Wärme schlürften und ihre Schnauzbärte im Dampf auftauen liessen. Dieser Berg hatte uns einen Sieg gebracht, aber auch unzählige Opfer gefordert. In ihrer Güte gingen die Mönche auf die Suche nach Verwundeten, viele wurden im Hospiz aufgenommen, aber noch mehr sollten im eisigen Wind erfrieren, weil sie im aufkommenden Schneegestöber nicht gefunden wurden. Es waren an die eintausendzweihundert Mann und diese, unsere Kameraden, mussten wir zurücklassen, mussten sie den Mönchen anempfehlen mit der Bitte, sie mit ihrem Segen in Gottes Namen der Erde zu übergeben. Manch einer vermisste seinen Bruder, seinen Freund, seinen Gefährten, aber Zeit zum Trauern hatte niemand, wir waren im Kampf.
Mittlerweile hatten sich die Franzosen bergabwärts zurückgezogen und wir folgten ihnen auf dem Fusse, drängten sie zurück bis ins Urserental, wo General Rosenberg sie mit seiner Einheit noch weiter trieb, nämlich Richtung Göschenen bis zur sogenannten Teufelsbrücke. Dort verschanzten sich die Feinde bei Einbruch der Dunkelheit.
Nach dem langen, für Mensch und Tier anstrengenden Tag lagerte die erschöpfte Armee in der Nacht des vierundzwanzigsten auf den fünfundzwanzigsten Herbstmonat zwischen Hospental und Andermatt in freiem Felde. Es regnete nicht mehr, ein roter Mond warf sein Licht zwischen abziehenden Wolken hervor auf ein weites, von kleinen Feuern gesprenkeltes Heerlager und auf die müden, in ihre feuchten Mäntel eingehüllten Männer, die in den wenigen Stunden der Ruhe versuchten, neue Kraft zu schöpfen für den kommenden Tag. Für unseren Feldmarschall hatte ich im ersten Dorf im Gasthof zum Alten Ochsen eine recht gute Unterkunft gefunden. Das Hauptquartier lag im zweiten Ort, nur drei Kilometer weiter weg in einem Haus namens ‹Schönbächler›, und auch da wurde bei der Lagebesprechung der Kachelofen eingeheizt, dass uns das Wasser nur so vom Körper troff. Die Nachtruhe war kurz, bereits nach Mitternacht setzten wir uns flussabwärts in Richtung Schöllenen in Bewegung. Die Reuss, wie sich der vorerst noch ruhig fliessende Gebirgsbach nannte, entpuppte sich schon nach einer kurzen Strecke ausserhalb des Dorfes als wildes, gefährliches Gewässer, stürzte sich mit ohrenbetäubendem Brausen und Tosen in eine Schlucht. Ungeheure, senkrecht in das Flussbett abfallende Felsen versperrten den Weg als eine von der Natur gebildete Mauer und durch diese Mauer war ein niedriger Durchgang
gehauen worden, ungefähr achtzig Schritte lang, nass und glitschig und so schmal, dass kaum ein Mann mit einem Lasttier passieren konnte. «Der Eingang zur Schweiz», raunten die Männer und bekreuzigten sich, denn unheimlich und schwarz gähnte uns der Höllenschlund entgegen.
Dies war das Urnerloch und es stoppte unseren Vormarsch, denn genau da lauerten uns die Franzosen auf. Und sie waren sich ihrer Sache so sicher, dass sie diesen feuchten, schmalen Durchgang, der wie ein Nadelöhr wirkte, mit nur einer Handvoll Leuten verteidigten. Ein Frontalangriff unsererseits war unmöglich, denn ein jeder, der am Ausgang erschienen wäre, hätte sich zum Abschuss freigegeben. Unmittelbar nach dem Urnerloch schwang sich in einem kühnen Bogen die steinerne Brücke des Teufels über den tosenden Fluss, eingenebelt vom gischtenden Wasser, und – überzeugt von ihrem bevorstehenden Sieg – lagen auch dort nur zwei feindliche Abteilungen. Suworow wollte das Leben seiner Soldaten nicht unnütz aufs Spiel setzen und befahl Flankenangriff. Eine Abteilung erkletterte die steilen Felswände der rechten Seite, eine andere überquerte die Reuss in ihrer Schlucht, bezwang die Hänge am linken Ufer und tauchte im Rücken der erschrockenen Feinde wieder auf. Diese Umgehungen kosteten viel Zeit und waren trotz der Steigeisen der Österreicher gefährlich und kräfteraubend. Dazu donnerten und brüllten die wilden Wasser, und es waren nicht wenige, die ihnen zum Opfer fielen, stumm, um die Kameraden nicht mit ihrem Schrei zu verraten, die mitgerissen wurden und an den glatten, keinen Halt bietenden Felsen zerschellten.
Es wurde Nachmittag, bis die erste Abteilung in der Lage war, die Franzosen mit Gewehrfeuer zu bestreichen. Als diese der drohenden Einkesselung bewusst wurden, begannen sie sich in Eile zurückzuziehen. Noch gelang es ihnen, einen Bogen am linken Ende der Brücke zu sprengen, dann war das Teufelsding in unserer Hand. Nicht der ganze Übergang war bei der Sprengung zerstört worden, aber es war eine Kluft entstanden, die ein weiteres Vorrücken unmöglich machte. Solange die abziehenden Franzosen uns noch unter Feuer hielten, war eine Wiederherstellung kaum möglich, doch die Umgehung unserer zweiten Abteilung über die Felsen trug ihrerseits Früchte und ihr Gewehrfeuer zwang den Feind zum vollständigen Rückzug. Das Holz einer Scheune diente unseren Pionieren zur behelfsmässigen Instandstellung des zerstörten Teils und es waren viele Offiziere, die ihre Schärpen hergaben, um die Balken damit zusammenzubinden. Der Weitermarsch von Fels zu Fels über das schäumende, brüllende Gewässer gestaltete sich ausserordentlich schwierig. Auf dem glitschigen Holzgerüst scheuten die Tragtiere, und betrug auch die Entfernung zum heil gebliebenen Teil der Steinbrücke nur wenige Meter, verloren doch einige ihre Balance und fielen in den Tod, rissen ihre Führer mit. Es brauchte all unseren Mut, auf die Reste der dürftig zusammenhaltenden Bretter zu treten, denn viele von uns waren nicht schwindelfrei und die Haare sträubten sich uns beim Blick in die Tiefe. Nie vergesse ich, wie unser Marschall, hoch zu Ross, von seinem Freund Gamma geführt, mutig den schwankenden Übergang bewältigte – ein Vorbild für uns alle. Dann stiegen wir hinab zwischen Gestein und Wasser, und es war, als würden wir direkt in die unterste Hölle fahren. Aber nach gut neun Stunden wurde das Land flacher, menschliche Behausungen tauchten auf, im ersten Dorf stiessen wir auf ein
verlassenes Franzosenlager und bald darauf auf deren Nachhut, die der vorausgeschickten Brigade Auffenberg erbitterten Widerstand leistete. Erst als auch Miloradowitsch mit seinen Männern eintraf, gelang es uns, die Feinde in die Berge zu scheuchen. Den Lohn für unsere Mühe erhielten wir im herzlichen Empfang der Einheimischen, die uns als Befreier sahen, was unseren vor Grauen erstarrten Seelen eine Wohltat war. Leider änderte dies nichts an der Tatsache, dass die Verpflegung ungenügend und mager war, da die Franzosen alles Essbare bereits für sich in Anspruch genommen hatten. Holz gab es keines, Feuer konnten nicht entzündet werden, und so kampierten die Soldaten im Ort Amsteg einmal mehr im Freien in ihren klammen Kleidern. Wir waren alle erschöpft, unser Hunger war so gross, dass wir den Bauern das Schweinefutter beschlagnahmten und wegassen. Der Weg über den Gotthardsberg und durch die Schöllenen hatte nicht nur viele Opfer gefordert, sondern auch zu viel Zeit gekostet. Wir waren in Verzug geraten und würden Altdorf erst am Fünfundzwanzigsten, Schwyz gar noch einen Tag später erreichen als geplant. Suworow schickte einen Kurier mit diesbezüglicher Nachricht an seine Generäle Hotze und Linken, die an der Linth lagen, und an Korsakow im Raume Zürich, mit der Aufforderung, sich zwecks Vereinigung am siebenundzwanzigsten Herbstmonat in Einsiedeln einzufinden. Darauf freute ich mich, denn ich hoffte, dann meinen Freund Dscherlik endlich wieder zu sehen. Aber es kam ganz anders. Überall, wo wir durchzogen, erregten wir Aufsehen, denn die Menschen waren unseren Anblick, besonders den der Kosaken, nicht gewohnt. Wie seltsam müssen ihnen die spitzen, roten Mützen, die gefältelten, weiten Hosen, die langen Bärte vorgekommen sein und auch, dass diese Männer mit ihren oft schmalen Augen so gar nicht ihrem gewohnten Menschenbild entsprachen. Nichtsdestotrotz genossen sie hohes Ansehen,
denn die Geschicklichkeit, mit der sie mit ihren kleinen, an langen, ledernen Riemen befestigten Spiessen kämpften, sie warfen, zurückzogen und wieder warfen, die grossen Säbel, die Lanzen, die Wendigkeit ihrer Pferde und ihr Mut erheischten Respekt und Anerkennung. Aber wir litten Hunger! Wir waren froh, endlich in Altdorf einzutreffen, denn da erhofften wir uns eine Pause, neuen Proviant und ein warmes Essen. Doch die Enttäuschung war gross, der Anblick des brandverwüsteten Fleckens niederschmetternd. Ausgeraubt waren die Einheimischen, nichts war mehr zu holen. Für Suworow hatte ich im Hause ‹Jauch›, einem der wenigen vom Feuer verschonten Gebäude, eine Unterkunft gefunden. Auf meinem Weg dorthin sah ich Kameraden, die eine Gerberei stürmten und voller Gier auf dem erbeuteten Leder herumkauten. Das war so himmeltraurig anzusehen, dass sich mir das Herz verkrampfte. Aber das war noch nicht alles: Bei der Lagebesprechung zeigte sich, dass, entgegen der Aussage der Österreicher, keine direkten Wege nach Brunnen bestanden. Auf den schlechten, von den Franzosen erbeuteten Karten war dies ebenfalls nicht ersichtlich, und als sich dann herausstellte, dass die kleinen Boote in Flüelen nicht dazu geeignet waren, eine ganze Armee überzusetzen, war guter Rat teuer. Der Not gehorchend entschied sich Suworow mit der Zustimmung seiner Generäle dazu, der Strasse über den Kinzig-Kulm ins Muotatal zu folgen. Am sechsundzwanzigsten September, um fünf Uhr morgens, nahm die Vorhut General Bagrations den Weg über den Kinzig in Angriff. Ein Lichtblick waren die Gebrüder Franz und Johann Müller, die sich als Führer angeboten hatten. Diese Hilfe wurde gerne angenommen, denn zu unwirtlich und drohend erschien das zu überquerende Felsmassiv.
Zwei Stunden später folgten wir mit den Einheiten Derfelden und Auffenberg und der Nachhut Rosenbergs. Wir schleppten uns unter tief hängenden, dunklen Wolken durchnässt, ausgehungert und entkräftet die schlammigen, mit rutschigen Steinen durchsetzten Pfade hinan. Diejenigen, welche Pferde besassen, führten sie am Zügel, nur die Kosaken auf ihren kleinen Tieren sassen niemals ab und bezwangen den Übergang im Sattel. Mein Trakehner ging an meiner Seite oder, besser gesagt, ich an seiner, denn oft klammerte ich mich an seinen Hals, liess mich von ihm weiterschleppen, und das tat er behutsam und geduldig, mit dem wissenden Blick um menschliche Not in seinen schönen Augen. Die Sohlen meiner Stiefel hatten sich gelöst; ich band sie mit einem Streifen Tuch fest um die Reste meines Schuhwerks, fühlte aber jeden Stein und jede Unebenheit. Viele meiner Kameraden besassen gar keine Schuhe mehr, sie hatten die nackten Füsse mit Lappen umwickelt und die Blutspuren auf den nassen Steinen zeugten von aufgeplatzter und wundgerissener Haut. Ein kalter, schneidender Wind blies durch die Fetzen unserer Uniformen, und heftiges Schneetreiben liess uns bis auf die Knochen erstarren. Viele, die Verwundungen davongetragen hatten, blieben erschöpft und sterbend am Wege liegen oder rollten über die Felsen in den Tod. Es war ein Zug des Jammers, und doch klagte niemand, denn wir wussten den Sohn unseres Zaren bei der Vorhut Bagrations, der zu Fuss marschierte wie ein gemeiner Soldat, und uns voran ritt Suworow in seinem alten, dünnen Soldatenmantel, fror und litt wie wir alle, und beide gaben uns Mut und Zuversicht. «Wo führst du uns hin, Väterchen?», fragte einer der Kosaken bei einem kurzen Halt und Suworow antwortete: «Zum Ruhm, mein Sohn, zum Ruhm!»
Unter diesen Voraussetzungen muss es uns verziehen werden, dass die Alphütten an unserem Wege aufgebrochen, die Käselager geplündert und die Balken verfeuert wurden. Nur diesem Umstand hatten wir es zu verdanken, dass viele von uns die Nacht durchhielten und das Tal der Muota lebend erreichten. Wir waren zwölf Stunden zu Fuss unterwegs gewesen. Unser Feldherr, der in einem Schafstall übernachten wollte, um Zeit zur Lagebeurteilung zu haben, war dermassen von den Strapazen gezeichnet, wie ich es noch nie gesehen hatte. Gegen seinen Willen zwangen wir zwei Bauern, ihn in einer Sänfte zu Tale zu tragen, und der Umstand, dass er es geschehen liess, sprach für seine körperliche Verfassung.
So ergoss sich am Morgen des 27. September das Gros der russischen und österreichischen Truppen in die Ebene des Muotatals, ergoss sich während dreier Tage: ein nicht enden wollender Strom ausgemergelter Bagagepferde und halb verhungerter, halb erfrorener, zerlumpter Menschen, die die Felder der Bauern überschwemmten, mit Lanzen nach Kartoffeln und Rüben gruben, sie roh, mitsamt der daran haftenden Erde assen, die Äpfel von den Bäumen rissen, das Heu aus den Ställen holten, das Vieh wegführten und unverzüglich schlachteten. Aber wir stahlen nichts, wir bezahlten, was verlangt wurde. Die letzten Franzosen waren vertrieben worden, zur Freude der Talbewohner, die schwer unter der fremden Herrschaft, welche während eines Jahres hatte verpflegt werden müssen, gelitten hatten. So kamen wir wirklich als Befreier, obwohl auch wir beschlagnahmten, was noch übrig war, vor allem Leder und Schuhe und was wir an wärmender Kleidung auftreiben konnten. Die Menschen gaben mitleidig, was sie
entbehren konnten, und wiederum wurde alles bezahlt mit gutem Geld aus der Armeekasse. Nach den Geboten unseres Feldmarschalls taten wir niemandem etwas zuleide, ehrten Geistliche, Kirchen, Frauen und Kinder und derjenige Kosake, der im Hürital eine Bauerntochter vergewaltigte, wurde als abschreckendes Beispiel unverzüglich standesrechtlich erschossen. So hielt Suworow trotz des trostlosen Zustandes seiner Truppen die Mannszucht aufrecht und schuf uns unter der Bevölkerung ein grosses Wohlwollen. Dass ich hier, in diesem abgeschiedenen Bergtal, inmitten des Krieges meine Giulia wiederfinden sollte, war wie ein Wunder, war möglicherweise dem grossen Dsairang zu verdanken, der sich seiner Pflicht als meiner Nabelmutter erinnerte und mir noch einmal etwas Glück bescheren wollte, war vielleicht auch dem Wirken neidischer Geister zuzuschreiben, denen es gefiel, mir dieses Glück nur vorzugaukeln – ich weiss es nicht und es lohnt sich nicht mehr, darüber zu mutmassen. Es ist, wie es ist.
Es war am Nachmittag des 27. September, als Suworow mit seinem Stab das dortige Frauenkloster der Franziskanerinnen betrat und der Oberin Mutter Walburga Mohr mitteilte, er sei gekommen, die Schweiz zu befreien.
In der Zwischenzeit entfachte General Masséna an der Limmatfront den Kampf gegen Rimskji-Korsakow. Die Franzosen überquerten die Limmat bei Dietikon in der Nacht vom 24. auf den 25. September, bei Niederwasser, begünstigt durch Dunkelheit und Nebel. Durch den Abzug des Verbündeten Erzherzog Ernst nach Holland und die zeitliche Verspätung Suworows verunsichert,
unterschätzte Korsakow dieses Manöver und erkannte den Ernst der Lage zu spät. Die Nachricht vom Tode Hotzes tat ein Übriges, kopflos entschied sich der Kriegsrat in Zürich für den Rückzug nach Eglisau. Die widersprechenden Befehle Korsakows lähmten die Truppen und führten dazu, dass die Franzosen leichtes Spiel hatten. Sie erbeuteten grosse Teile der russischen Artillerie und die Kriegskasse. Korsakow begann sich zurückzuziehen und wandte sich mit seinen dreizehntausend Überlebenden gegen Kloten und dann nach Schaffhausen. Der Zeitplan Suworows war damit, wegen des Wartens auf Nachschub in Taverne, endgültig ausser Kontrolle geraten und sinnlos geworden. Der schlechten Übermittlungsmöglichkeiten wegen erfuhr er jedoch zu spät davon.
Mutter Oberin Walburga Mohr
Muotathal 1799 Am Tag des sechsundzwanzigsten September befanden sich noch ungefähr zweihundert Franzosen in unserem Tal. Mit Genugtuung hatten wir Napoleons Besatzer Richtung Zug abziehen sehen, hatten aufgeatmet und gehofft, die schlimme Zeit der Belagerung sei überstanden. Seit Wochen hatten wir täglich an die hundertfünfzig Soldaten und Offiziere verköstigt, die vielen Verwundeten, die die Scharmützel forderten, nicht eingerechnet. Diese hatten wir bei uns zu pflegen, und obschon jeden Morgen eine Fuhre von ihnen nach Schwyz abgeschickt worden war, nahm das kein Ende, immer wieder kamen neue, und diejenigen, die starben, vergruben wir auf unserem Kirchhof. Das Tal und wir mit ihm waren ausgeplündert, die Pferde eingezogen, die Lebensmittel bis auf das, was noch im Boden war oder an den Bäumen hing, beschlagnahmt. Kaum wussten wir, woher wir das zum Leben Nötige hernehmen sollten, und wenn wir nicht hin und wieder eine Fuhre Brot aus Schwyz erhalten hätten, wäre das Hungertuch allgegenwärtig gewesen. Die Hoffnung, mit dem für Notfälle aufbewahrten Geld neue Vorräte einkaufen zu können, hatte sich zerschlagen, die Franken hatten uns bis auf den letzten Louisdor ausgeplündert, mit sogenannten Bussen, die jeder Grundlage entbehrten. Quittung erhielten wir keine, auch für das viele geraubte Leder und die hundert Paar Schuhe und noch so vieles andere nicht.
Einige Schwerverwundete, die einen Transport nicht überlebt hätten und wohl auch nicht den morgigen Tag, lagen noch bei uns; wir kümmerten uns um sie, wie unser Gelübde es verlangte. Zwei von meinen Schwestern waren geflohen und mit ihnen viel Volk aus dem Tal, denn zu deutlich hatten die neuen Herren ihre Vorherrschaft ausgedrückt: Sie bedrängten die Mädchen und schlugen eine Frau blutig, nur weil sie nicht mit ihnen hatte tanzen wollen, sie erschossen ohne ersichtlichen Grund in der Nähe unseres Klosters fünf Knaben, ein Schuhmacher wurde seiner vom Pech schwarz verfärbten Hände wegen, gevierteilt, weil sie ihn als Spion verdächtigten und glaubten, die Arbeitsspuren an seinen Fingern kämen vom Schwarzpulver. Die Hausbewohner mussten ihre Stuben den Soldaten überlassen und mit den Ställen vorlieb nehmen, und beim Plündern der Käsekeller liessen sie es nicht dabei bewenden, sich vollzustopfen, sondern verdarben, was übrig blieb, oder warfen die Laibe über die Flühe in die Tobel. So geschah noch viel Schreckliches, und es war kein Wunder, dass wir bei ihrem Abzug aufatmeten. Ich ordnete eine Andacht an, die erste, die wir in Ruhe feiern konnten seit langer Zeit, und meine Schwestern gelobten, jeden Tag während eines vollen Jahres ein Vaterunser und Ave Maria zu Ehren des heiligen Josef zu beten, denn ohne seine Hilfe und den Segen Gottes hätten wir es nicht mehr lange ausgehalten. Im Morgengrauen des siebenundzwanzigsten September aber kamen vom Hürital herab Reiter, mit Hunderten bis auf die Knochen abgemagerten, vor Schwäche torkelnden Bagagepferden und Mauleseln. Es war die Vorhut der russischen Armee unter General Bagration, die die wenigen verbliebenen Franzosen, so diese nicht fliehen konnten, töteten oder gefangen nahmen – und dies trotz ihres trostlosen Zustandes. Noch nie in meinem Leben habe ich so viel
menschliches Elend gesehen. Die Neuangekommenen waren in einer Verfassung, die jeder Beschreibung spottet. Ausgehungert, zerlumpt, auf zum Teil nackten, notdürftig mit irgendwelchen Lumpen umwickelten Füssen wankten sie daher und stürzten sich auf das wenige übrig gebliebene Essbare, das im Tal noch zu finden war. Von uns verlangten sie Kartoffeln und Käse. Wir gaben, was wir noch hatten, doch das war wenig genug, denn der Anmarsch der Russen dauerte drei Tage und drei Nächte. Diese Armee bestand aus vielerlei Völkern, deren Sprachen kein Christenmensch verstehen konnte: Es war eine harte, rohe und kriegerische Gesellschaft aus Russen, Kosaken, Kalmücken, Tataren und Beschkiren. Viele waren von grossem Wuchs und brauner Farbe. Sie trugen kurze Gewehre und kleine Spiesse an ledernen Riemen. Auch Säbel, Pistolen, Dolche und gar Mistgabeln konnte ich sehen. Was ihre Bewaffnung betraf, waren sie gut ausgerüstet. Ihr Heerführer, der berühmte Suworow, der, in einer Sänfte getragen, am Nachmittag bei uns ankam, war unübersehbar von den Strapazen gezeichnet. Doch dieser kleine, schmächtige Mann besass eine Ausstrahlung, die unweigerlich auf alle, die in seine Nähe kamen, übersprang. In fehlerfreiem Deutsch bedankte er sich bei mir für die Aufnahme, fragte nach unserem Wohlergehen und verwickelte mich trotz seiner körperlichen Schwäche alsobald in ein höfliches, tiefgründiges Gespräch über Not, Krieg und Gott. Ich war beeindruckt, liess es mir aber nicht anmerken, denn Kriegsmann ist Kriegsmann! Wir beherbergten auch die Offiziere seines Stabes, unter dem sich gar der Sohn des Zaren, der junge Grossfürst Konstantin, befand; sie alle waren dankbar für das Dach über dem Kopf und bezahlten was wir dafür von ihnen verlangten. Einige Jahre später sollte man mir dies allerdings zum Vorwurf machen, aber hatte ich denn eine Wahl? Unsere
Aufgabe ist wohl die Mildtätigkeit, aber meine Pflicht war es auch, für meine Schwestern und den Weiterbestand unseres Klosters zu sorgen, und genau dies würde das Geld der Russen gewährleisten. Seltsam, dass Menschen so schnell vergessen und den Stab über jemanden brechen, ohne den wahren Sachverhalt zu kennen. An jenem Abend beriet sich Suworow mit seinen Offizieren, und es dauerte einige Stunden, bevor sie sich zur Ruhe legen durften. Ich fand keinen Schlaf. Nach Mitternacht war mir, als hörte ich das Klappen einer Türe, erhob mich und ging, um nachzusehen. Aus der Stube des Feldmarschalls tönten seine Schritte – hin und her, hin und her – auch er schlief nicht, und ich klopfte an. Er öffnete sogleich und ich fragte: «Habt Ihr mich rufen wollen, Exzellenz?» «Ja, ehrwürdige Mutter, das wollte ich. Da hat mir der Wind die Türe aus der Hand gerissen und der Mut hat mich verlassen. Nun habe ich Euch geweckt; das tut mir leid.» Er lächelte. «Aber da Ihr nun schon da seid, tretet bitte ein, ich möchte zu gerne wissen, was Ihr zu unserem Plan sagt.» «Ich? Kann Euch denn meine Meinung – die Meinung einer Frau – wirklich interessieren?» «Ich schätze kluge Frauen, ehrwürdige Mutter, es wäre dumm, nicht auf Eure Eingebungen zu achten! Zudem sind wir hier auf fremdem Boden, Ihr aber kennt Euch aus, wie sollte da Eure Ansicht nicht wichtig sein für mich?» Er lächelte wieder und machte eine einladende Geste, und ich folgte ihm zu dem mit Karten belegten Tisch. Die Lampe gab matten Schein, aber ich sah die Strecke, die sein Heer zurückgelegt hatte, rot eingezeichnet, sah das Wort ‹Muotatal› schwarz unterstrichen, verfolgte den roten Faden über Schwyz bis Zürich.
«Es ist ein guter Weg nach Zürich», sagte ich dann, «die Franzosen haben ihn schon mehrmals beschritten.» «Aber sie kommen nicht wieder, Frau Mutter», sagte er, «dafür bürgen ich und meine Soldaten. Wir werden Euer Land von den Franzmännern befreien.» «Gebe Gott, es wäre so. Es fällt mir schwer, daran zu glauben; aber wenn ja: Könnte es denn wieder die alte, schöne Freiheit werden, die es uns ermöglicht, uns aus eigener Kraft der Einmischung fremder Mächte zu erwehren?» «Keine trüben Gedanken, Ehrwürdige. Meine Kosaken sind mutig und verwegen.» «Vorerst sehen sie aber recht elend aus. Es jammert mich, dass wir ihnen keine bessere Verpflegung bieten können.» Er antwortete nicht, beugte sich weiter über die Karte und sagte: «Hier, das ist der Weg, den meine Truppen morgen nehmen werden. Über diese Brücke werden wir gehen – wie heisst sie?» «Das ist die steinerne Brücke, Herr General, aber wir nennen sie ‹die Teufelsbrücke›.» Er stutzte. «Teufelsbrücke? Sonderbar, wie viele Brücken in Eurem Land diesen Namen tragen! Nun, wie auch immer, wir werden sie passieren und dann Richtung Schwyz weiterziehen; vielleicht sind da noch einige Franzosen zu vertreiben. Von da aus ist es ein Leichtes, zu den Mannschaften Korsakows zu stossen und vereint mit Hotze und seinen Österreichern ein Riesenheer zu bilden. Wir werden die Franzosen erdrücken, nicht umsonst sind wir über die Berge gezogen.» Ich konnte seine Zuversicht nicht teilen, trat zum Fenster und sah hinaus in die Nacht, überblickte das dunkle Tal, das gesprenkelt war von unzähligen kleinen Feuern, an denen die fremden Krieger in erschöpftem, bewusstlosem Schlaf ihr
Elend zu vergessen suchten. Ein lautloser Schatten streifte vorbei, der heisere Schrei eines Käuzchens strich durch die Finsternis und mich schauderte. Still verliess ich den General, suchte aber nicht meine Stube auf, sondern kniete in der Kapelle vor dem Altar nieder, wo das ewige Licht seinen roten Schein vergoss zum Zeichen, dass da einer ist, der unser aller Geschick in den Händen hält und der wacht, wenn alle andern schlafen. Der Morgen des achtundzwanzigsten September brach an, meine Schwestern regten sich, die Andacht war nur kurz, denn die Verwundeten und Erschöpften in der Krankenstube brauchten ihre Pflege. Da lagen Franzosen neben Russen, viele von ihnen litten an weggeschossenen Körperteilen, an hässlichen Wunden, an erfrorenen Gliedern, welche schwärten und einen schlechten Geruch verbreiteten. Das Stöhnen mischte sich mit dem bellenden Husten der Erkälteten und dem Weinen der Fiebernden und Delirierenden. An diesem Tag erhielten wir, wie durch ein Wunder, wieder eine Fuhre Brot aus Schwyz und mit dieser Fuhre kam nicht nur eine junge Frau mit ihrem Kind bei uns an, sondern auch ein seltsames Gerücht, das die Russen aufscheuchte wie einen wild gewordenen Bienenschwarm. Es war der Käse- und Weinhändler Sebastian Schelbert, der, zurückgekehrt aus dem Württembergischen, die Kunde brachte, dass General Masséna die Russen bei Zürich besiegt und zum Rückzug gezwungen habe. General Hotze und seine Begleitoffiziere seien bei Schanis auf einem Aufklärungsmarsch erschossen, der Rest der Truppen geschlagen und ins Rheintal verjagt worden. Das war für uns alle wie ein Schlag ins Gesicht, und ich, die ich nun die Pläne Suworows kannte, machte mir grosse Sorgen. Keiner seiner Offiziere getraute sich, ihm die schlechte Nachricht zu überbringen, sie mieden ihn, so gut sie konnten, gedrückt war
die Stimmung beim Mittagessen, und Suworow, der voller Zuversicht war und noch von nichts wusste, schickte sie ärgerlich weg. «Mit solchen Offizieren kann ich keine Besprechung abhalten», meinte er kopfschüttelnd, «weiss der Himmel, was in sie gefahren ist, es lässt sich doch alles gut an – oder etwa nicht?» In stummem Gebet bat ich um die Eingebung der richtigen Worte und sagte: «Bitte, Exzellenz, ich möchte mit Euch in meiner Studierstube sprechen, ich muss Euch etwas mitteilen.» Er folgte mir, setzte sich entspannt auf den angebotenen Stuhl und meinte lächelnd: «Weshalb diese Feierlichkeit, Frau Mutter; was wolltet Ihr mit mir besprechen? Ich hoffe, nur etwas Gutes!» «Wollte Gott, ich könnte Euch Erfreuliches melden, es wäre für uns alle besser.» Nun stand er auf, das Lächeln in seinem Gesicht hatte misstrauischem Ernst Platz gemacht. «Redet, Frau Mutter, was ist es, was mir offenbar niemand zu sagen wagt?» «General Masséna ist auf dem Vormarsch hierher. Die Franzosen haben einen grossen Sieg über die vereinigten Armeen errungen – der Angriff Korsakows wurde niedergeschlagen, Hotze ist ebenfalls unterlegen, beider Truppen sind zerstreut – und Hotze hat bei Schanis den Tod gefunden.» Ich lehnte mich erschöpft an den Tisch, stützte fest meine Hände auf den kühlen Schiefer, um ihr Zittern zu verbergen, ich fühlte mich schwach. Suworow starrte mich an, dann schüttelte er den Kopf.
«Das kann nicht sein, Ehrwürdige, Korsakow hatte von mir keinen Befehl zum Angriff; da hat sich jemand einen schlechten Scherz mit Euch erlaubt.» «Ich fürchte nein, Exzellenz, der Mann, der die Nachricht überbrachte, ist ein Muotataler, er würde nicht lügen, ich kenne ihn gut.» Noch einen Augenblick sah er mich starr und ungläubig an; dann erlebte ich in dem gesitteten, wohlerzogenen Feldmarschall den wütenden Kriegsmann: Er tobte! «Verleumdung», schrie er, «wo ist der verfluchte Kerl, der solche Lügen verbreitet? Bringt ihn her, ich will ihn sehen.» Kurz darauf schleppten zwei seiner Männer den überraschten Käsehändler her, im Schlepptau seine weinende Frau mit den Kindern und viel neugieriges Volk aus der Umgebung. Wie gesagt, ich kannte Baschi gut und sah, wie er erschrak, sich plötzlich vor dem General der Russen zu finden. Unsicher sah er mich an, und ich nickte ihm aufmunternd zu. «Erzählt mir ganz genau, was Ihr gesehen und gehört habt in Zürich.» Suworows Augen blitzten gefährlich. «So wahr mir Gott helfe, Exzellenz, die Franzosen sind auf dem Vormarsch. Sie haben Korsakow und seine Truppen besiegt und in die Flucht geschlagen, und General Hotze fand mit vielen seiner Österreicher den Tod bei Schanis.» «Entweder seid Ihr ein Idiot, der die Truppen nicht unterscheiden kann, oder ein elender Lügner im Dienste der Franzosen, dazu gedingt, mir meinen Plan zu zerstören. Auf solche Spione kann ich verzichten. Führt ihn ab», wandte er sich an die beiden, die Baschi festhielten, «übergebt ihn den Füsilieren, sie sollen ihn hinrichten!» Da warf sich seine Frau jammernd vor ihm nieder, doch er kehrte sich ab, ein durch und durch erschütterter, zutiefst enttäuschter Mensch. War es Angst, was ich in seinen Augen sah, bevor er davonging?
Ich konnte nicht glauben, was ich gehört hatte, kümmerte mich noch um seine weinende Frau, als meine Schwestern in heller Aufregung hereinstürzten. «Sie bringen ihn um, sie erschiessen ihn, Frau Mutter, tut etwas!» Da eilte ich hinaus in den Garten, wo eine frühe Dämmerung alles unwirklich erscheinen liess, und was ich sah, liess mir das Blut in den Adern gefrieren. Man hatte den Unglücklichen an einen Baum gebunden, zwei Füsiliere standen bereit, und obwohl der totenbleiche Baschi seine Unschuld beteuerte, hörte niemand auf ihn, die Füsiliere gingen in Stellung – da erfasste mich ein grosser Zorn, so unheilig, wie ich ihn noch niemals empfunden hatte. Ich warf mich dazwischen mit ausgebreiteten Armen, schützte Baschi mit meinem Körper und rief: «Wer seid Ihr, Suworow, dass Ihr es wagt, auf diesem geweihten Grund und Boden zu morden? Hat Euch Euer Glaube ganz verlassen? Genügen Euch die vielen Toten an Eurem Weg denn noch nicht? Wenn Ihr schiessen wollt, dann tut es, aber da müsst Ihr mich mit erschiessen.» Seine Stimme aus der anbrechenden Dunkelheit klang fremd, wie nicht zu ihm gehörend: «Das ist das Los, das jeden Spion trifft, der versucht, mich zu hintergehen.» «Zeigt Euch, Exzellenz, und lasst uns sprechen. Ich habe Euch einen Vorschlag zu machen.» Er trat in den Schein der Lampe, die einer seiner Soldaten entzündet und an einen Ast gehängt hatte. Ich gesellte mich zu ihm, wir standen auf einer Insel aus Licht, verdunkelt war die Sicht auf die Umstehenden, standen, als wären wir allein auf dieser Welt, und ich sah vor mir einen gebrochenen, alten Mann.
«Sprecht, Frau Mutter, lasst mich hören, was Eure edle Seele mir zu sagen hat.» «Ihr seid ein Held, Exzellenz, und kein Mörder, so geht jedenfalls Euer Ruf. Daran will ich Euch erinnern, denn Ihr scheint es vorübergehend vergessen zu haben.» «Das hier ist Männersache, Ihr wisst nichts von Kriegsrecht.» «Da spricht meine Herkunft dagegen. Ich stamme aus einer Soldatenfamilie und weiss sehr wohl davon. Aber Ihr sagt es selbst: Kriegsrecht! Ich denke, es ist niemandes Recht, zu richten auf blosse Vermutung hin, aber es ist Eure Pflicht, nachzuprüfen, ob dieser Mann hier wirklich ein Spion ist. Schickt einige von Euren Leuten nach Schwyz, sie sollen uns Kunde darüber bringen, ob er gelogen hat oder nicht. Bis dahin bleibt er hier bei uns. Sollte sich aber Eure Vermutung bestätigen, so soll er Euch übergeben werden; dann tut mit ihm, wie es üblich ist.» Misstrauisch sah er mich an. «Er verbreitet Lügen, ich weiss es bestimmt. Korsakow hätte niemals ohne meinen Befehl etwas unternommen.» «Einige Stunden, Exzellenz, es kostet Euch nur einige Stunden und rettet Euch vielleicht vor einem bösen Irrtum.» Noch schwankte er, ich sah, dass es ihm schwerfiel, dem Rat einer Frau zu folgen. Dann trat er aus dem Lichtkreis zurück in das Dunkel und befahl: «Nehmt den Mann in Verwahrung. Wir prüfen seine Aussage nach.» Ich hatte einen Sieg errungen, aber die ausgestandene Angst sass in meinem Körper fest. Ich war todmüde, sehnte mich nach einem Moment der Ruhe, schleppte mich mühsam die Holztreppe zu meiner Kammer hoch, hörte das Weinen eines Säuglings und erinnerte mich wieder der jungen Frau, die heute mit der Brotfuhre angekommen war. Einen kurzen
Augenblick zögerte ich, die Sehnsucht nach Ruhe war gross, dann aber klopfte ich an die Türe der ihr zugewiesenen Kammer und trat ein. Doch ich traf die Mutter nicht an. Stattdessen stand da ein russischer Offizier, hielt im Arm das weinende Kind, wiegte es und sprach in zärtlichen Worten auf es ein. Ein Kerzenstummel spendete spärlichen Schein, ich trat näher und hob das Licht auf die Höhe seines Gesichts. Ich erkannte den Adjutanten des Feldmarschalls, den, der das Heizen des Kachelofens im Gästezimmer, wo sich Suworow mit seinem Stab beraten hatte, zur Entrüstung meiner Schwestern in überschwenglichem Masse angeordnet hatte. Er wirkte verlegen, neigte den Kopf und meinte: «Kind weinen… ich wiegen.» Ich fühlte die Schwere meiner Beine, nickte nur und hoffte, nicht in ein längeres Gespräch verwickelt zu werden. «Ich auch Kinder… einmal… vorher… lange Zeit!», sagte er und wirkte auf einmal traurig. Da kamen schnelle Schritte die Treppe herauf, vorsichtig legte er den Säugling zurück, wollte den Raum verlassen, aber die junge Frau versperrte ihm den Eingang und schaute bestürzt um sich. «Che cosa?», fragte sie auf Italienisch und ich antwortete in derselben Sprache: «Lui ha cullato tuo bimbo.» Ich duzte sie, denn sie war noch sehr jung, beinahe noch ein Kind, und ihr Gesicht spiegelte Verlorenheit, was mich veranlasste, ihr beruhigend zuzulächeln. «Grazie», sagte sie in Richtung des Offiziers – dann stutzte sie, griff zur Kerze, und als der Schein über sein Gesicht fiel, begann sie zu zittern. «Bator?», flüsterte sie mit weit geöffneten Augen und hielt sich am Bettpfosten fest, krampfte ihre Hand um das dunkle Holz, dass ihre Finger sich weiss und blutleer davon abhoben.
Auf einmal hing das Licht in ihrer andern Hand ganz schräg, Wachs tropfte auf die Dielenbretter, ich nahm es ihr ab und stellte es wieder auf die kleine Konsole, sah, wie der Offizier einen Schritt auf sie zu tat, ihr Gesicht in seine Hände nahm und ungläubig fragte: «Giulia?» Da verliess ich leise den Raum, ahnte das Schicksalhafte um diese beiden Menschen, und bevor die Andacht begann, erlaubte ich meinem müden Körper endlich einige Minuten der ersehnten Ruhe.
An diesem Abend trank der General eine Flasche Wein, essen wollte er nicht, seine Offiziere gingen bedrückt und unruhig umher, sprachen, wenn überhaupt, mit gedämpfter Stimme; alle warteten auf die Rückkehr der beiden als Muotataler Bauern verkleideten Kundschafter. Als diese endlich erschienen, bedurfte es keiner Worte, die Unglücksbotschaft war ihnen ins Gesicht geschrieben: Sebastian Schelbert hatte nicht gelogen! Als ich nach der Andacht, der Aufforderung Suworows folgend, das Gästezimmer betrat, sassen sie alle um den mit Karten bedeckten Schiefertisch. Still setzte ich mich in eine Ecke, wohl wissend, dass meine Meinung in dieser Runde von lauter Kriegsmännern nicht gefragt war. Alle wirkten niedergeschlagen, Suworow ging hin und her, mit Augen voller Zorn. «Korsakow hat verloren», rief er und schlug die Faust in seine Hand, «aber eine Niederlage ruft nach einem neuen Sieg, wir werden nicht versagen!» Aber seine Worte fanden kein Echo, finster blickten die Männer und ich biss mir auf die Lippen, um meine Worte zurückzuhalten. Gerne hätte ich ihm beigepflichtet, ihn
unterstützt in seinem Willen, zu viel stand auf dem Spiel für unser Land. Wenn er sich entschloss, sein Heer gegen die Franzosen zu führen, war vielleicht noch etwas zu retten. Sollte er sich aber zum Rückzug entschliessen, war der Traum von Freiheit und Frieden für die Schweiz ausgeträumt. «Wo ist Linken?», fragte er plötzlich, und Fürst Bagration erhob sich: «Er ist auf eigene Faust losgezogen, hat sich bereits mit den Franzosen geschlagen, hat Glarus verlassen und befindet sich auf dem Rückzug über den Panixer.» «So kurz vor der Vereinigung unserer Truppen? Der Mann sollte auf dem Pragel sein und nicht auf dem Panixer. Verräter, elender, mit eigener Hand könnte ich ihm den Hals umdrehen!» Da konnte ich nicht mehr schweigen, das Soldatenblut meiner Vorfahren meldete sich. Ich erhob mich und legte ihm die Hand auf den Arm, um seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. «Herr General, hört mich an. Baut nicht auf Männer, die Euer Vertrauen nicht verdienen. Wagt alles im Glauben an Gott. Wie oft hat er unseren Vätern die Arme gestärkt, um sie siegreich gegen übermächtige Feinde zu führen. Vorwärts, Russen, wagt das Letzte für Eure Ehre und unser Land!» Tiefe Stille folgte meinen Worten, und plötzlich ergriff der General meine Hände. Nie werde ich seinen Blick vergessen, den Blick eines zutiefst erschütterten Menschen, in dessen Seele sich die widersprüchlichsten Gefühle stritten. «Ein Königreich für diese edle Frau», sagte er mit weicher Stimme, «sie ist zu gross für dieses arme Klösterlein, ein Land sollte sie regieren.» Dann beugte er sich über meine Hände und küsste sie. Ich fühlte, wie ich errötete, wandte mich um und ging, vorbei an den Offizieren, die sich erhoben hatten, aus der Stube. Kaum hatte ich die Türe hinter mir geschlossen, hörte
ich Suworow mit gewohnter Bestimmtheit seine Befehle geben, und bald danach polterten die Offiziere die Treppe hinunter, um ihre Kompanien über die neuen Verfügungen zu unterrichten. Boten sprengten gegen das Hürital, um den Rest des russischen Heeres zur Eile anzuspornen, Kosaken ritten auf ihren wendigen Rösslein um das Kloster, eine Vielzahl bunter Infanterie besammelte sich auf unserem Boden, und das Gewirr fremder Sprachen schwirrte wie Mücken durch die Luft. Die unbeschreibliche Unruhe hatte sich auch der Tiere bemächtigt, Rosse wieherten, Maulesel schrien, der Schein unzähliger Fackeln bewegte sich in Windeseile kreuz und quer durch die Gegend, und alle wussten: Ein Angriff war geplant, Gefahr war im Anzug. Die Glocken im Dorf läuteten Sturm. Allen war bekannt, was das bedeutete – zu oft hatte man diese Klänge in der vergangenen Zeit vernommen: Es war das Zeichen zur Flucht. Die Einheimischen packten ihre paar übrig gebliebenen Habseligkeiten zusammen und sammelten sich vor der Kirche, um unter dem Schutz des Allmächtigen und ihres Pfarrers den beschwerlichen Marsch hinauf in die Berge anzutreten. Während die einen einmal mehr ihre Heimstätten verliessen, ergossen sich an ihrer Stelle Ströme von halb toten Soldaten aus dem Hürital, die Gesichter gezeichnet von Hunger und Kälte, vermischten sich mit dem Haufen der bereits Angekommenen, und in aller Augen stand die Sorge vor dem Kommenden, dem Ungewissen.
Unter einem grossen Baum in der Klostermatte versammelten sich bei Morgengrauen des 29. September die Offiziere und warteten auf den General. Aus meinem Fenster sah ich zu, wie er entschlossenen Schrittes zu ihnen trat, seine Schultern gestrafft, seine ganze Erscheinung eiserner Wille, wie er seine
Vertrauten musterte, jeden einzeln, als wollte er ihnen seine Gedanken aufzwingen, und wie ihm alle zunickten, bereit zu tun, was er verlangte. Nur Grossfürst Konstantin wandte seinen Blick ab. Es war mir nicht möglich zu verstehen, was gesprochen wurde, der aufgekommene Wind trug die Worte mit sich fort und ich begann leise zu beten, denn dort drüben würde in Kürze die Entscheidung über die Zukunft unseres Landes fallen. Sie sprachen lange; plötzlich warf sich Suworow dem Grossfürsten zu Füssen, und ich glaubte zu sehen, dass er weinte. Der junge Konstantin Pawlowitsch hob ihn auf, nahm ihn in seine Arme, küsste ihn und nun wischten sich alle über die Augen, schnäuzten sich durch die Finger. Dann löste sich die Versammlung auf. Meine Nerven waren so angespannt, dass mein ganzer Körper schmerzte, ich war entschlossen, mir über die getroffene Entscheidung Klarheit zu verschaffen, jetzt gleich, da klopfte es an die Türe und der General trat ein. «Es ist alles aus, Frau Mutter, wir sind eingeschlossen», murmelte er, «wir müssen versuchen, uns durch das vom Feind besetzte Gebiet bis nach Glarus durchzuschlagen. Die Brigade Auffenberg wird die Vorhut bilden, Bagrations Grenadierregiment wird folgen. Ich werde mit der Hauptkolonne unter General Derfelden marschieren, und Rosenberg wird den Marsch im Rücken sichern und versuchen, das Tal zu halten. Noch nie in meinem Leben habe ich mich zurückgezogen, aber wir haben keine andere Wahl mehr. Die österreichischen Verbündeten haben uns zu oft im Stich gelassen, die Intrigen des Barons von Thugut und die absurden Weisungen des Hofkriegsrates tragen nun ihre verdorbenen Früchte. Ich darf nicht mehr angreifen, wie ich es plante; ich muss dem Rat des Grossfürsten folgen, dessen Leben ich nicht gefährden darf und den ich heil nach Russland zurückbringen will. Das ist nun die einzige Aufgabe, die mir geblieben ist. Es
tut mir leid um Euer Land, Ehrwürdige, ich habe es anders gewollt.» Dann ging er, ein geschlagener Mann, und ich weinte und betete, doch Trost wurde mir nicht zuteil.
Noch in derselben Stunde brach die Vorhut auf, die Soldaten, gestärkt durch die Bereitschaft, ihr Leben für Gott und Russland zu ihrem Ruhm und ihrer Ehre hinzugeben, wohl wissend, dass sie sich den Weg nach Glarus erkämpfen mussten. Bedrückt standen wir zum Abschied bereit, als am nächsten Tag der grosse Feldherr mit seinen Offizieren unser Kloster verliess. Die kleine Italienerin hielt ihr Kind fest im Arm, den Blick auf den Adjutanten des Generals geheftet. Bereits im Sattel, beugte sich Suworow zu mir und sagte: «Wenn ich hätte tun dürfen, wie ich es wollte – hättet Ihr an mich geglaubt, Ehrwürdige?» «Ich hätte an Euch geglaubt, Exzellenz», nickte ich unter Tränen und wir reichten uns ein letztes Mal die Hand. Dann sprengte er davon mit seinem ganzen Stab, nur der Adjutant wandte sich noch einmal um, den Blick auf das Mädchen gerichtet, grüsste sie mit der Hand an der Mütze und verschwand in der Menge von Reitern und Fussvolk. So verliessen sie uns und mit ihnen verliess uns auch die Hoffnung auf die Befreiung unseres Vaterlandes. In Zukunft würden wir nach der Pfeife Napoleons tanzen müssen, daran änderte auch die Bereitschaft der Nachhut unter Rosenberg nichts, der mit seinen Kosaken die ankommenden Franzosen blutig empfing und sie in die Flucht schlug. Dabei spielte sich bei der Teufelsbrücke, deren hölzerner Oberbau, von den Franzosen abgebrannt, nur noch aus ihrem Steinbogen bestand, ein schauerliches Gemetzel ab. Die über den wütenden Angriffen der zu allem entschlossenen Russen kopflos
flüchtenden Franzmänner verkeilten sich auf dem engen, unsicheren Übergang derart ineinander, dass sie als dichte Menschenknäuel hinunter in die Schlucht und die tosende Muota stürzten, wo sich ihre Leiber häuften. Bis nach Schwyz drängte Rosenberg sie zurück, bevor er kehrtmachte und seinem Feldherrn über den Pragel nachfolgte, wie ihm befohlen worden war. Zurück liess er unzählige Tote und Verwundete, um welch Letztere wir uns kümmerten und von denen wir aufnahmen, so viele wir konnten. So lagen sie denn überall, in den Stuben, in den Gängen, in den Schuppen und dem Küchenvorraum. Selbst in die Kapelle hatten wir sie gebettet, und da litten und starben Russen neben Franzosen, und Unterschiede gab es keine mehr, denn alle waren sie Menschen, die Hilfe brauchten. Nachdem die Russen abgezogen waren, hatte General Lecourbe vorübergehend sein Hauptquartier bei uns eingerichtet. Er erschien mir unfreundlich, ziemlich hochmütig und herrschsüchtig. Das zeigte sich auch daran, wie er jeweils unser Kloster betrat, als wäre es sein Eigentum – und wir mit ihm, nur gut genug, allen seinen Wünschen sofort und unbedingt nachzukommen. So beschwerte er sich auch über den Geruch der schwärenden Eiterwunden und faulenden Glieder der Verwundeten und murrte, ein Tuch vor seine Nase gepresst: «Hier stinkt es wie in einem Schweinestall, Ehrwürdige; die verdammten Russen verpesten den hintersten Winkel.» «Die Franzosen stinken ebenfalls, General. Verschafft uns Medikamente und Verbandszeug, dann werden wir das zu ändern wissen.» Darauf sagte er nichts, verschwand in der Stube, die kurz zuvor noch General Suworow bewohnt hatte, und berief seinen Stab ein. Ich aber presste nun meinerseits mein Tuch auf Mund und Nase, denn er hatte nicht Unrecht, der Gestank war
entsetzlich, und wir brauchten oft all unsere Kraft, um die Soldaten unseren Ekel nicht merken zu lassen, wenn wir sie mit dem wenigen versorgten, das uns noch zur Verfügung stand. Wir besassen keine schmerzstillenden Salben, keinen Mohnsirup mehr, um ihnen Linderung zu verschaffen, und Branntwein, um die Wunden auszuwaschen, war schon lange nicht mehr vorhanden. Wir taten, was wir konnten, aber die Männer starben uns unter den Händen weg, wurden so schnell wie möglich fortgebracht und in das dafür ausgehobene Massengrab gelegt. Weniger wurden die Verwundeten dadurch aber nicht, unverzüglich nahmen andere ihren Platz ein. Unsere Andachten fielen aus, kein Gottesdienst wurde mehr abgehalten, dazu fehlten uns die Zeit und die Kraft, denn wir arbeiteten beinahe rund um die Uhr bis zur Erschöpfung. Zwei Tage später aber wurde eine grosse Kiste in unseren Hof geschafft, gefüllt mit allem, was wir zur Pflege unserer Schützlinge brauchten! Es reichte gut für einen Monat und heimlich bereute ich mein vorschnelles Urteil über General Lecourbe. Giulia, die junge Mutter, von der ich der sich überstürzenden Ereignisse und der fehlenden Musse wegen bisher nur wusste, dass sie auf dem Weg von Mailand nach Luzern durch die Kriegswirren zu uns verschlagen worden war, entpuppte sich als wahrer Segen: Zusammen mit meinen Schwestern eilte sie unermüdlich treppauf und treppab, wusch Wunden aus, verband verstümmelte Glieder, kümmerte sich um Fiebernde, tröstete Sterbende, wusch und schnitt Verbandszeug, legte überall Hand an, wo sie gebraucht wurde. Mit all diesen Arbeiten schien sie sich bestens auszukennen, und als sich nach einigen Wochen die Lage etwas beruhigt hatte, die Franzosen wieder Herr im Tale waren, die Einheimischen zurückkehrten in ihre Häuser, als aus den verschonten Teilen
der Schweiz hin und wieder Fuhren von Brot und Käse, ja selbst Geld aus Russland zu unserer Unterstützung eintrafen, fand ich endlich die Zeit, mich ihrer anzunehmen. An einem Abend Mitte November beorderte ich sie in meine Stube. Sie kam, blieb abwartend bei der Türe stehen, in ihrem Blick, ihrer Haltung bemerkte ich Angst und Abwehr; ich wunderte mich darüber, wies freundlich auf die Stabelle mir gegenüber und sagte: «Gelobt sei Jesus Christus, setz dich Giulia!» Steif kam sie meiner Aufforderung nach, und als sie erwiderte: «In Ewigkeit, amen», lag in ihrem Gesicht ein Anflug von Trotz. Wohl deshalb begann ich nicht gleich mit der Examinierung, sondern sagte: «Ich möchte dir danken, mein Kind.» Überrascht blickte sie auf. «Du hast uns viel geholfen in dieser schweren Zeit.» «Das habe ich gerne getan.» «Du gehst erstaunlich geschickt mit den Verwundeten um; wo hast du das gelernt?» «Im Ospedale.» «Dann hat dich der Himmel geschickt!» Sie schwieg. «Berichte mir, Giulia, aus welcher Gegend hat dich der Himmel zu uns geschickt?» Da war er wieder, der Trotz in ihren Augen. «Muss ich das wirklich sagen, Ehrwürdige Mutter?» «Es würde mich freuen, wenn du mir vertrauen könntest.» Da erhob sie sich und ging zum Fenster, sah hinaus in die Finsternis, die noch schwärzer war durch den von dichten Wolken verhangenen Himmel, und begann zu erzählen, und nach dem zögernden Anfang sprudelten die Worte aus ihr heraus wie aus einer aufgebrochenen Quelle. Erst als sie zu
dem Punkte kam, an dem ihr Onkel im Findelhaus erschienen war, wurde sie still. Die Pause nutzend, läutete ich nach Schwester Michaela und bat um Kräutertee, und erst, wie er dampfend und würzig duftend vor uns stand, sie beide Hände um die Tasse schloss, als hielte sie sich daran fest, fuhr sie fort: «Ich wusste nicht, was ich darüber denken sollte. Noch nie hatte ich erlebt, dass sich Angehörige nach sechzehn Jahren noch meldeten. Auch war die Oberin auf einmal die Freundlichkeit selbst, nichts war ihr mehr anzumerken von ihrem Abscheu gegen mich. ‹Giulia›, lächelte sie, ‹dein Onkel Ferdinand aus der Schweiz ist gekommen, um dich heimzuholen. Dir ist grosses Glück widerfahren, du wirst uns verlassen, um das Erbe deiner leiblichen Mutter anzutreten.› – Das kam alles so plötzlich, ich traute der Sache nicht, aber das Erkennungszeichen passte und die Angaben über den Monat und das Jahr meiner Geburt stellte Mutter Oberin zufrieden. Sie versprach meinem Onkel, alles für meine Abreise vorzubereiten, und ich sagte: ‹Ich gehe nicht ohne Luca!› – ‹Wer ist Luca?›, fragte der Mann und ich antwortete: ‹Mein Sohn.› – ‹Du hast einen Sohn, wie alt ist er denn?› – ‹Zweieinhalb Monate.› – ‹Ach! Und dein Mann?› – ‹Er ist Soldat.› – ‹Dann bist du verheiratet?› – ‹Nein.› Ich bemerkte die Blicke, die sie sich zuwarfen. ‹Nun, damit habe ich nicht gerechnet; es wird sehr schwierig sein, mit einem Säugling über die Berge zu ziehen; besser, du lässt ihn hier und wir holen ihn nächsten Sommer, wenn er kräftiger und das Wetter wärmer ist.› Mutter Oberin pflichtete sofort bei: ‹Das ist ein guter Vorschlag, Giulia, wir werden ihn gut behüten, du weisst ja, welche Sorgfalt wir auf die Pflege der Kinder verwenden!› – ‹Abgemacht›, sagte mein Onkel, ‹dann hole ich dich übermorgen ab, acht Stunden nach Mitternacht, halte dich bereit.›»
Giulia schwieg, sie atmete schwer und trat wieder ans Fenster. Ich goss Tee nach und wartete. «Ich weiss, Ehrwürdige Mutter, es ist eine Sünde», fuhr sie fort, «aber als ich hörte, wie wiederum über meinen Kopf hinweg über mein Leben bestimmt wurde, erfasste mich ein brennender Zorn. Von Neuem fühlte ich diese Hilflosigkeit, der ich nichts entgegenzusetzen hatte als meine Wut. ‹Ich verlasse diesen Ort nicht ohne mein Kind!›, sagte ich scharf, und erstaunt blickte der Mann auf. Ich glaube, er nahm mich erst jetzt richtig wahr und die Oberin lächelte. – ‹Sie war schon immer etwas starrköpfig, darauf müsst Ihr Euch gefasst machen.› – ‹Liegt offenbar in der Familie›, meinte der Onkel, ‹aber ich hoffe sehr, du lässt dich umstimmen. Die Reise ist für ein kleines Kind gefährlich, es könnte sterben.› – ‹Dann bleiben wir beide hier.› – ‹Sei vernünftig, Mädchen.› – ‹Ich bin vernünftig.› – ‹Aber es geht nicht.› – ‹Dann lassen wir es. Ich brauche das Erbe meiner Mutter nicht, ich werde nicht mit Euch gehen.› Die Oberin verwarf die Hände: ‹Wie sprichst du denn mit deinem Onkel? Entschuldige dich auf der Stelle!› – ‹Dazu gibt es keinen Grund. Ich habe es deutlich gesagt: Ohne Luca gehe ich nirgends hin.› Da änderte sich die Stimme des Mannes, wurde weicher, freundlicher: ‹Es ist ja gut, Giulia, reg dich nicht auf; dann eben mit Kind. Ich werde die nötigen Vorkehrungen treffen.› Er verabschiedete sich und ich wunderte mich über meinen leichten Sieg, der mir nicht ganz geheuer war. Der folgende Tag war ausgefüllt mit Reisevorbereitungen. Das Geld, das sich in all den Jahren auf meinen Namen angesammelt hatte, zahlte man mir aus und ich packte meine wenigen Habseligkeiten zusammen. Meine grössten Schätze waren Bators Pfeil, die Schürze meiner Mammina und das Stücklein Leder aus Babbos Werkstatt. Ich vergass auch nicht,
das von Pater Michele unterschriebene Dokument aus dem Buchrücken der Bibel dazuzulegen. Das Amulett meiner Mammina aber legte ich um, davon wollte ich mich in Zukunft nie wieder trennen. Das zweite Dokument brachte ich zu Schwester Annunziata, die, wie es den Anschein machte, die nächste Mutter Oberin sein würde. Ich erzählte ihr, was es damit auf sich hatte, und bat sie, für Carmela zu sorgen. Sie war erschüttert, versprach, alles zu ihrem Schutze zu tun, segnete mich und wünschte mir Glück auf meinen künftigen Weg. Etwas später lag in meiner Zelle ein weiteres Bündel, gefüllt mit Windeln und wollenen Tüchern für Luca, einem Umschwinger, um ihn bequem an meinem Körper tragen zu können, und einem warm gefütterten Schultertuch für mich. Das werde ich Schwester Annunziata nie vergessen», sagte Giulia leise und ich erhob mich, um den Docht der Lampe höher zu stellen. Als der Schein ihr Gesicht erhellte, sah ich, dass ihre Augen feucht waren. Dann fuhr sie fort: «Der Abschied von Carmela war nicht leicht, ich habe versucht, ihr alles zu erklären, auch, dass sie nun unter dem Schutz Schwester Annunziatas stünde. Ich weiss nicht, ob sie es verstanden hat, sie weinte herzzerbrechend. Pünktlich zur festgesetzten Zeit hielt am Reisetag eine Kutsche vor der Casa. Alle hatten sich beim Tor versammelt, sahen zu, wie wir sie bestiegen, und winkten uns nach. Trotz dem Leid, das ich in diesen Mauern durchgemacht hatte, fühlte ich eine leichte Wehmut. Immerhin verliess ich den Ort meines bisherigen Lebens. Aber dann war da die Wärme meines Kindes, das gab mir Trost.» «Hattest du immer genügend Milch?» Sie nickte. «Ja, dem Himmel sei Dank, daran hat es nie gemangelt, trotz all der Anstrengungen, die unser noch warteten.»
Wie auf ein Stichwort vernahmen wir Kinderweinen, ein Klopfen an der Türe und die Stimme Schwester Aloisias: «Luca weint, er will sein Essen, ich habe ihn gleich mitgebracht.» Sie lachte und legte den Kleinen in die Arme seiner Mutter, verliess den Raum wieder und Julia nahm ihn an ihre Brust. Schmatzend begann er zu trinken. Er war ein kräftiges, wohlgeformtes Kind, mit dem Goldton der Haut, den ich bei den mongolischen Soldaten so oft bemerkt hatte. Ich wartete, bis Luca seine Bäuerchen gemacht, müde von der Anstrengung des Essens die Augen geschlossen und Julia ihn im Kissen auf den Boden gebettet hatte, dann fragte ich: «Und wie seid ihr durch das besetzte Gebiet gekommen?» «Mein Onkel, offenbar ein angesehener Kaufmann aus der Stadt Luzern, besass nicht nur genügend Geld, sondern auch starke Papiere, die uns den Weg frei machten, wo immer wir hinkamen. Er sprach sehr gut italienisch, und ich muss ihm zugutehalten, dass er alles tat, um uns die Reise so angenehm wie möglich zu gestalten. Selbst für den Übergang über die hohen Berge hat er mir ein Maultier besorgt, was um einiges müheloser war, als wenn ich zu Fuss hätte gehen müssen. Sogar zwei Ruhetage hat er auf der Passhöhe angeordnet, damit Luca und ich uns etwas erholen konnten. Er sprach mit mir über meine verstorbene Mutter, die mich in ihrem Testament bedacht hat und deren Hinterlassenschaft ich nun antreten werde, und versuchte, mich mit der künftigen Verwandtschaft bekannt zu machen. Ganz besonders herzlich erzählte er von seiner Tochter Anna. Ich glaube, er liebte sie sehr.» «Du sprichst von deinem Onkel in der Vergangenheit, was ist geschehen?» «Das ist sehr traurig. Ich verstehe es nicht und ich weiss bis heute nicht, was mit ihm geschehen ist: Je näher wir dem Luzernersee kamen, desto dichter wurden die Scharen der
französischen Truppen. Noch erwischten wir einen Platz auf einem der kleinen Schiffe in Flüelen, das uns aber nicht, wie vorgesehen, nach Luzern brachte, sondern nur bis Brunnen. Dort mussten wir aussteigen und gerieten dann in ein Gewirr von Soldaten und Flüchtlingen, alle Unterkünfte waren besetzt, eben dass wir für gutes Geld noch einen Platz auf einem Fuhrwerk ergattern konnten. Dieses führte uns nach Schwyz, und von da an ging gar nichts mehr; aber wir fanden immerhin einen geschützten Ort zum Übernachten in einer Scheune, zusammen mit einer Frau, einem Mönch und noch drei weiteren Männern, die ebenfalls hier unterstanden. Den einen der Männer kannte Onkel Ferdinand. Er nannte ihn ‹Baschi› und dieser ihn ‹Ferdi›, und sie freuten sich sehr über ihr Zusammentreffen. Das Huhn, das dieser Baschi einer Marketenderin abgekauft hatte, wurde am offenen Feuer gebraten und unter alle gleichmässig verteilt. Danach flüsterten die beiden Männer noch lange zusammen und machten dazu ganz ernste Gesichter. Seltsam war das Verhalten des Mönchs, der, die Kapuze weit ins Gesicht gezogen, weder ass noch trank und tat, als kümmere er sich um nichts. Sie kam mir bekannt vor, diese Gestalt im grauen Gewand, doch Mönche gibt es viele und sie gleichen sich alle. Ich versuchte zu schlafen, aber von der Strasse her störten die Schritte der marschierenden Soldaten, ihr Gesang und ihre Stimmen, die Unverständliches schrien und mir Angst machten. Gegen Morgen dann erschienen seltsame, zerlumpte Gestalten, die um Essen baten, und da wir nichts mehr hatten, gab ihnen Onkel Ferdinand einige Münzen.» Sie schwieg, ich wartete. Es dauerte eine Weile, bis sie weitersprechen konnte. «Es hatte zu regnen begonnen. Vergebens versuchten wir, ein Feuer anzufachen. Der Mönch war verschwunden, die Frau und zwei der Männer waren ebenfalls weggegangen und auch
Baschi verabschiedete sich, sagte, er hätte vor seiner Rückkehr in sein Tal noch das eine oder andere zu tun. Da entschloss sich mein Onkel, auf die Suche nach einer besseren Unterkunft zu gehen, und befahl mir, auf ihn zu warten und mich nicht von der Stelle zu rühren. Ich richtete mich auf eine längere Wartezeit ein, da sah ich den seltsamen Mönch zurückkommen. Ein heftiges Gefühl der Angst, der Gefahr befiel mich, ich nahm Luca auf und rannte Onkel nach, geriet dabei mitten in ein Gewühl von Bauern, welche mit Heugabeln, Hacken und Äxten auf französische Soldaten einhieben. Das Geschrei und Gedränge war erschreckend, schützend hatte ich meine Arme um mein Kind gelegt, presste es fest an mich. Beinahe hatte ich Ferdinand erreicht, rief seinen Namen, sah, wie er sich mir zuwandte, fühlte hinter mir die schwere Nähe eines Körpers, bemerkte kurz die gesichtslose Gestalt im grauen Habit, fühlte raues Tuch und auch, wie Onkel mich hart an der Schulter packte und zur Seite riss. Dann war da auf einmal der rote Fleck auf seinem Wams, der immer grösser wurde, der Onkel brach zusammen, ich konnte ihm nicht helfen, obwohl ich schrie und um Hilfe rief, er wurde einfach weggespült von der tobenden Menge, immer weiter, bis es mir endlich gelang, mich in die Einfahrt eines Hauses zu retten. Dort blieb ich, bis die Meute sich verzogen hatte, und ging dann zurück, dorthin, wo ich glaubte, dass er zusammengebrochen war. Aber ich fand ihn nicht mehr, niemand wollte ihn gesehen haben, alle hatten mit sich selbst genug zu tun. Als es Abend wurde, ging ich zu unserer Scheune. Mein Bündel befand sich noch immer unter dem Haufen Stroh, wo ich es verborgen hatte. Mein Magen knurrte und mir war kalt, die Nacht brach herein, es war mir gelungen, ein jämmerliches Feuerchen zu entzünden, das aber mehr rauchte als wärmte.
Dieses bisschen Wärme lockte wiederum einige der zerlumpten Gestalten an; ich betete zu Gott, fürchtete mich und hielt den Pfeil Bators die ganze Zeit griffbereit in meiner Hand. Aber sie taten mir nichts, beachteten mich kaum und irgendeinmal schlief ich mit Luca in den Armen auf meinem Bündel ein. Ich erwachte erst, als ich Kälte fühlte und er zu weinen begann. Die Zerlumpten waren verschwunden und mit ihnen mein Umhang, den ich als Decke benutzt hatte. Da beschloss ich, diesen Ort zu verlassen und erneut nach meinem Onkel zu suchen, lief den ganzen Tag herum, vergebens, denn ich fand ihn nicht, er war wie vom Erdboden verschluckt. Ich wusste mir keinen Rat mehr, aber ich besass das Geld, das mir die Oberin mitgegeben hatte. Ich trug es auf mir in einem ledernen Beutel und hoffte, mit seiner Hilfe Essen und vielleicht eine Fahrgelegenheit zu finden, um in diese Stadt Luzern zu gelangen, die ja mein Ziel war. Also schob ich mich in die Gaststube eines überfüllten Wirtshauses, drängte mich zur Theke vor und verlangte eine heisse Suppe. Die Frau schien mich nicht zu verstehen, wandte sich um und ging mit einem vollen Tablett in den hinteren Teil des Raumes. Ich folgte ihr mit den Blicken, und da sah ich Baschi. Er sass dort im Kreise anderer Männer, und voller widersinniger Hoffnung, etwas über den Verbleib meines Onkels zu erfahren, drängte ich mich durch. Aber Baschi wusste nichts von Ferdinand, und ich begann zu weinen, vor lauter Angst, vor Hunger und Müdigkeit. Er liess mir Suppe kommen, und als ich gegessen hatte, sagte er: ‹Wenn du willst, kannst du im Stall neben meinen Pferden schlafen, dort ist es warm. Um alles andere kümmern wir uns morgen.› Am nächsten Tag bot er mir an, ihn zu begleiten, allerdings nicht nach Luzern, sondern ins Muotatal. Er habe eine Fuhre Brot im Kloster abzuliefern, und die Ehrwürdige Mutter
Oberin würde mich und Luca bestimmt für einige Tage aufnehmen. Ich zögerte noch, aber er meinte: ‹In diesen unsicheren Zeiten ist es gefährlich für eine junge Frau, ohne männlichen Schutz unterwegs zu sein. Du kannst hier nicht bleiben, unter all diesem Kriegsvolk, schon um meines Freundes Ferdinand willen nicht; ich bin es ihm schuldig, mich um dein Wohlergehen zu kümmern.› – ‹Aber ich kann hier nicht weg, ich muss ihn doch suchen!› – ‹Wenn er gekonnt hätte, wäre er zur Scheune zurückgekommen, und wenn er tot ist, kannst du ihm auch nicht mehr helfen. Sollte er aber trotzdem noch leben, werdet ihr euch ohne Zweifel später in Luzern treffen.› Deshalb weiss ich auch jetzt noch nicht, was mit ihm geschehen ist, denn ich ging mit Baschi. Nun kennt Ihr meine Geschichte, Ehrwürdige Mutter. Ich weiss, dass ich diesem gütigen Mann viel verdanke und Euch auch, denn was wäre aus mir und meinem Kind geworden, wenn Ihr uns nicht aufgenommen hättet?» Die Glocke läutete zum Gebet, es war Mitternacht, Luca regte sich, vom Klang im Schlafe gestört. Sie hob ihn hoch und ich fragte: «Suworows Adjutant – der, den du Bator nanntest – ist er Lucas Vater?» «Ja!» «Werdet ihr euch Wiedersehen?» «Ich weiss es nicht. Wenn er überlebt – vielleicht. Ich habe ihm gesagt, wo ich hingehe.» Da nahm ich sie in die Arme, und einer Eingebung folgend, sagte ich: «Giulia Bator, möge der Herr dich und deinen Sohn beschützen, sein Wille geschehe», und sie antwortete: «In Ewigkeit. Amen!»
Alles, was ich dann noch für sie und ihren kleinen Sohn tun konnte, war, sie mit dem ersten Kinderzug unter dem Schutze unseres Pfarrers fortzuschicken, weg vom drohenden Hungerwinter. Während die Jugend unseres verwüsteten Tales ihre Eltern verlassen musste, um in den vom Krieg verschonten Kantonen von mitleidigen Menschen in Pflege genommen zu werden, würden sie und ihr Sohn in den Schoss ihrer Familie zurückkehren. Und als auch das getan war, konnte ich mich endlich der Aufgabe annehmen, die mir am meisten Sorge bereitete, nämlich zu versuchen, meine mir ergebenen Schwestern und unser ausgeplündertes Kloster vor dem Untergang zu bewahren.
Am ersten Oktober befahl Suworow die Wiedervereinigung aller Truppen in Glarus, stiess mit dem Hauptteil der Armee durchs Klöntal und nach Glarus vor und weiter nach Näfels, wo General Masséna die Linth verteidigte. Trotz mehrmaligen verzweifelten Angriffen durch die Kosaken unter Bagration gelang es nicht, die Brücke über die Linth einzunehmen. Suworow quartierte sich in einem Gebäude in Riedern ein, wo er vom zweiten bis vierten Oktober die vom Muotatal herkommende Nachhut erwartete. Der Mangel an Munition und die Entkräftung der Truppen veranlassten ihn, Bagration zurückzubeordern. Er beschloss, den Panixerpass zu übersteigen, um nach ins Vorderrheintal zu gelangen, das von den Truppen von General Linken gehalten wurde. So gelang es ihm, einen Grossteil seines Heeres zusammenzuhalten. Er nahm den Weg durch das Sernftal nach Elm, wo er am fünften Oktober nachts eintraf und sein Hauptquartier einrichtete. Am sechsten Oktober um zwei Uhr morgens brach
er bei schlechtem Wetter auf um den schwierigen Panixerpass zu überqueren, und erreichte llanz am siebten Oktober. Die ausgehungerten, bis zu den Knien im Schnee einsinkenden Soldaten waren insgesamt vom fünften bis neunten Oktober unterwegs. In den kalten Nächten starben im Sernftal zweihundert Mann und zahlreiche Lasttiere. Am achten Oktober erreichten noch fünfzehntausend von den im Tessin aufgebrochenen zweiundzwanzigtausend Männern Chur, wo sie sich endlich aus den Vorräten der österreichischen Magazine verproviantieren konnten. Suworow verliess am zehnten Oktober die Schweiz über Maienfeld und den Luzisteig endgültig, erreichte am elften Balzers, Vaduz und Schaan in Liechtenstein, vereinigte sich in Feldkirch mit dem Tross und besammelte den kümmerlichen Rest seiner russischen und österreichischen Truppen. Rimskij-Korsakow erreichte ihn erst am neunzehnten Oktober, und Suworow bereitete sich auf einen neuen Angriff gegen die Franzosen vor. Doch da rief ihn Zar Paul I. zurück. Am einundzwanzigsten Januar 1800 traf Suworow in St. Petersburg ein. Der Zar enthob ihn seines Amtes, entzog ihm das Kommando und verweigerte ihm die verdiente Ehrung. Der Generalissimus Feldmarschall Graf Aleksandr Wassiljewitsch Suworow Rimnikskij, Prinz von Italien, starb am achtzehnten Mai 1800 beinahe unbeachtet im Hause seines Sohnes Arkadij in St. Petersburg, nachdem er Russland zu dreiundsechzig Siegen, einer einmaligen militärischen Doktrin und Organisation und einem bis heute anhaltenden Mythos verholfen hatte.
Anna
Luzern 1799 Ich erinnere mich, dass der Tag, an dem meine Kusine Julia bei uns eintraf, unter einem so schlechten Stern stand, wie man es sich in den ärgsten Albträumen nicht hätte vorstellen können. Nicht, dass wir sie nicht erwartet hätten, sie war schon lange überfällig und mit ihr mein Vater, der sie hatte heimholen müssen. Mutter konnte vor Sorge um ihn kaum mehr denken. Vergebens versuchte die Familie sie zu beruhigen. «Ich fühle, es ist ihm etwas geschehen», stöhnte sie immer wieder, «Ferdinand kommt nicht mehr zurück, und alles nur dieses – dieses Geschöpfes wegen!» Dann umarmte Tante Berthe sie, und ihr Mann, mein Onkel Alfred, brummte: «Das wird es nicht, wir haben ihm den besten Passierschein ausstellen lassen, den man bekommen kann. Zudem kennt er die Strecke wie seine eigene Hosentasche, er weiss sich schon zu helfen.» «Ha, die Franzosen foutieren sich um Passierscheine», rief da Karl, mein anderer Onkel, «die fackeln nicht lange, wenn ihnen ein Gesicht nicht passt!» Onkel Karl war noch ledig und – was die Politik anbelangte – immer bestens auf dem Laufenden. Die Kreise, in denen er sich bewegte, wussten immer schneller etwas mehr als alle andern. Deshalb schluchzte Mutter auf und Berthe zischte auf ihre französische Art: «Idiot!» und «keine Angst, Rose», und nahm sie erneut in die Arme.
Sie machten mir Angst mit diesem Gerede. Seit dem plötzlichen, zu frühen Tode meiner geliebten Tante Hanna, Mutters Schwester, war nichts mehr, wie es einst gewesen. Zwar war die Beerdigung noch friedlich verlaufen, so, wie es sich gehörte für die Herrin eines bekannten Webereibetriebes, aber gleich nach der Testamentseröffnung begannen die Unstimmigkeiten. Sie äusserten sich darin, dass Mutter zornentbrannt und mit erhobener Stimme mit Vater hinter verschlossener Türe Gespräche führte, Berthe und Alfred von ihrem Haus über der Strasse häufig zu uns herüberkamen, um im Salon erregt irgendetwas zu erörtern, von dem ich ab und zu, dann, wenn ich es wagte, vor der Türe zu lauschen, geheimnisvolle und mir unverständliche Wortfetzen wie ‹Bastard› oder ‹Hurenkind› aufschnappte. Ich stellte mir darunter etwas sehr Hässliches vor, da diese Namen immer mit grösstem Abscheu geäussert wurden, fand sie aber ungemein fesselnd und fügte sie unverzüglich meinem Wortschatz bei.
Am allerschlimmsten war der Nachmittag, als der Bischof unserer Stadt mit dem Generaloberen und einigen Würdenträgern bei uns eintraf, Vaters ältester Bruder Ulrich mit Tante Emma aus dem Appenzell angereist kam, zwei Notare samt Gehilfen antrabten, alle mit ernsten, gewichtigen Mienen, um sich in unserer Bibliothek zu versammeln. Das war nun ein besser geeigneter Ort, um zu lauschen, denn diesem Raum war ein kleines Gelass angeschlossen, wo Vater immer einige Flaschen seines besten Cognacs aufbewahrte. Dort hinein hatte ich mich verzogen, schlechten Gewissens zwar, aber gewillt, endlich das Geheimnis, das die Familie während Wochen in Aufruhr zu versetzen wusste, zu enträtseln.
Nicht, dass ich alles, was da gesprochen wurde, begriffen hätte, aber in meinem Kopf formte sich nach und nach eine Geschichte, die mir einleuchtend erschien. Demzufolge hatte meine verwitwete und kinderlose Tante Johanna nicht, wie es als sicher angenommen worden war, ihre Schwester, also meine Mutter, als Erbin eingesetzt, sondern ein uns unbekanntes, von ihr in jungen Jahren unehelich geborenes Kind namens Julia. Dieser so genannte «Bastard» war, um der Schande zu entgehen, ausser Landes gebracht worden, genauer gesagt nach dem italienischen Mailand, wie es offenbar in solchen Fällen üblich war. Um die Entrüstung noch grösser zu machen, hatte sie verfügt, dass, falls dieses Mädchen verstorben sei, die Kirche Nutzniesser ihres Nachlasses werden solle. Und das war nun Öl ins Feuer, denn wir standen mit dem Klerus nicht immer auf gutem Fusse. Ich hörte, wie Onkel Ulrich rief: «Dieses Testament ist ungültig, niemand aus unserer Familie würde so etwas Widersinniges tun, wir werden es anfechten!» Die Worte des Bischofs klangen ruhig, ich verstand nicht alles, nur halbe Sätze wie: «… kaum möglich sein – letzten Willen respektieren», und dann Mutter, den Tränen nahe: «Sie war verwirrt, ohne Zweifel, das hat man schon lange gesehen, krank war sie!» Danach verstand ich gar nichts mehr, denn alle sprachen durcheinander, ein Gewirr von Entrüstung, Wut und Gezeter, das sich erst legte, als eine Faust krachend auf das Tischblatt niederfuhr. Die erschrockene Stille, die darauf folgte, hielt einige Sekunden an, dann sprach mein Vater: «Beruhigt euch, es bringt uns nicht weiter, wenn wir uns gegenseitig anschreien. Die Frage ist einzig und alleine die: Kann man etwas unternehmen? Dafür habe ich unsere Rechtsberater eingeladen, sie werden uns Auskunft geben.»
Das war gut gesagt, das Geräusch rückender Stühle zeigte an, dass man sich wieder setzte, das Rascheln irgendwelcher Dokumente drang bis zu mir, und als nun gesprochen wurde, erkannte ich die Stimme eines mit meinem Vater befreundeten Notars. «Auf das Begehren der Familie habe ich die mir zur Verfügung gestellten Dokumente überprüft; sie sind in Ordnung. Nichts deutet darauf hin, dass die Erblasserin krank oder verwirrt gewesen wäre. Aber da sie das Testament bei meinem Kollegen aus dem Nachbarort hinterlegt hat, würde ich gerne ihn zu Worte kommen lassen.» Er sagte wirklich «zu Worte kommen lassen», und das gefiel mir sehr, ich fügte es dem «Hurenkind» und dem «Bastard» bei, um es im gegebenen Moment zur Verfügung zu haben. Dann presste ich mein rechtes Ohr wieder an die Türe, denn jetzt kam der fremde Notar ‹zu Worte›: «Dem Totenschein des behandelnden Arztes zufolge wurde meine Klientin, eure Verwandte, in ihrem achtunddreissigsten Lebensjahr durch einen Schlagfluss ums Leben gebracht. In all den Jahren der Zusammenarbeit ist mir nie – und ich sage, nie – auch nur der geringste Zweifel an ihrer Zurechnungsfähigkeit gekommen. Nach dem Tod ihres Mannes hat sie seine Weberei in Ehr und Treuen weitergeführt und zum Blühen gebracht. Ebenso hat sie sogleich nach dessen Beerdigung dieses jetzt von euch angefochtene Testament abgefasst und es zusammen mit dem Erkennungszeichen ihres ausgesetzten Kindes in meine Verwahrung gegeben. Zu jenem Zeitpunkt stand sie in der Blüte ihrer Jahre und war kerngesund. Von Verwirrtheit oder Krankheit kann also keine Rede sein; das Testament ist rechtsgültig!» Da erhob sich wiederum Gemurmel und Lärm, aber ich beachtete es nicht weiter, denn mich plagten ganz andere Sorgen: Meine Blase war zum Platzen voll, dringend wurde
der Gang zum stillen Örtchen; der hätte mich aber mitten durch die verwandtschaftliche Versammlung geführt und verraten. Ich war also gefangen mit meiner Not und suchte nach einem Topf oder einem Becken, wohl wissend, dass ich das hier nicht finden würde. Verzweifelt hob ich, als ich es wirklich nicht mehr aushielt, meine Röcke, kauerte mich hin und liess der Natur freien Lauf. Das so entstandene Rinnsal bewegte sich langsam der Türe zu – der Spalte zwischen ihr und den Dielenbrettern – und mir brach der Angstschweiss aus. Da erlösten mich Stühlerücken und sich entfernende Stimmen aus meiner misslichen Lage. Noch wartete ich, bis alles ganz ruhig wurde; dann verliess ich vorsichtig mein Versteck. In der Halle vernahm ich ihre Stimmen aus dem Salon. Ich atmete auf, sie würden mich nicht sehen. Einen Augenblick war ich versucht, mir in der Küche Wischlappen und Eimer zu holen, doch das hätte Fragen nach sich gezogen. Deshalb huschte ich die Treppe zum ersten Stock hinauf. In Mutters Boudoir lag Fifi schlummernd in seinem Körbchen, ich hob ihn hoch, küsste und streichelte ihn, schlich mich zurück und ehe der kleine Hund sichs versah, war er am Ort meiner Schande eingeschlossen. Kurz hörte ich noch sein Winseln, dann verkroch ich mich in meinem Zimmer, und als Mutter mich etwas später aufsuchte, sass ich artig hinter meiner Näharbeit. Ich erwartete ein Lob, denn alle Welt wusste, wie sehr ich Handarbeiten hasste, aber sie schien nichts zu bemerken, war immer noch aufgeregt, befahl mir nur, mich herzurichten und unverzüglich zu Tisch zu begeben. Die Suche nach Fifi setzte noch am selben Abend ein und ich war es, die ihn fand und mit einem dankbaren Blick belohnt wurde. Das alleine war die Sache schon wert gewesen, denn Anerkennung erhielt ich von Mutter nur selten; das Rinnsal war nicht einmal erwähnt worden, eine Magd trocknete es auf, und die Angelegenheit war erledigt.
Auf Anraten des Notars machte sich mein Vater Mitte August auf, um ‹das Hurenkind› zurückzuholen. Grosse Sorgen machten wir uns zu diesem Zeitpunkt nicht, da wir durch unsere Warentransporte Weg und Steg bis Mailand bestens kannten. Unser Name hatte durch die jahrelangen Geschäftserfahrungen und europaweiten Beziehungen einen guten Klang, unsere Säumer wurden geachtet und unsere Waren begehrt, wir waren überall gern gesehen. Weinend hatte ich mich beim Abschied an Vaters Hals geklammert, denn ich liebte ihn sehr, und so hörte ich, wie Onkel Alfred ihm zuraunte: «Wenn du sie nicht findest, dann weisst du, was du zu tun hast. Komm nicht ohne ein Mädchen zurück!» Dann begann das Warten. Wir schätzten den Tag seiner Rückkehr auf Anfang September, aber diese Frist verstrich und mit ihr Woche um Woche, und unsere Angst wuchs. Spätestens jetzt begriffen wir, dass diese Reise doch nicht ganz so ungefährlich war. Sie führte je länger, je wahrscheinlicher durch kriegerisches Gebiet, denn die Franzosen rückten vor und das Wissen um den Passierschein schien die Erwachsenen nicht mehr zu beruhigen. Was mich betraf, hatte ich mir ein Vorgehen angewohnt, das mir erlaubte, mich beinahe unsichtbar unter den Familienmitgliedern zu bewegen. Dadurch vernahm ich vieles, was nicht für meine Ohren bestimmt gewesen wäre, und die Franzmänner wuchsen durch das bruchstückhaft Gehörte in meinen Gedanken zu bösartigen Kriegsgurgeln, welche sich sehr ungezogen benahmen, Häuser anzündeten, Vorratslager plünderten und Frauen und Mädchen jagten, um mit ihnen, wenn sie sie erwischten, Unaussprechliches zu tun. Alles dies beunruhigte mich natürlich sehr, besonders des Nachts, wo ich mich, nass vom Angstschweiss, unter meiner Decke beinahe bis zum Ersticken verkroch.
Da war dann der Passierschein mein einziger Lichtblick, mein einziger Trost, denn konnte damit einem Menschen wie meinem Vater, einer so angesehenen Persönlichkeit, wirklich Unheil drohen? Ich sah ihn vor mir, den Schein, den ich mir ähnlich wie eine Votivtafel vorstellte, in der hoch erhobenen Hand, mitten durch die Kriegsscharen schreiten, sah, wie sich vor ihm eine Gasse auftat und der Weg freigegeben wurde. Über solchen Gedanken schlief ich dann meist ein und an der Qual des ausgestandenen Schreckens der Nacht rächte ich mich im hellen Tageslicht mit dem Spottvers, den eine der Mägde in der Küche zum Besten gegeben hatte: D Franzose mit de rote Hose, mit de blaue Finke, pfui, die stinke! Mutter war in diesen Tagen noch ungeniessbarer als sonst, und ich war gut beraten, ihr möglichst aus dem Weg zu gehen. Es war meine angeheiratete Tante Berthe, die gute Seele, die sich um mich kümmerte, obschon es mich ängstigte, sie ständig mit rot geweinten Augen anzutreffen. Sie war es, die schon immer darauf geachtet hatte, dass meine Kleider so geschnitten wurden, dass das faustgrosse Gewächs an meinem Hals so wenig wie möglich zur Geltung kam. Sie nannte das ‹kaschieren›, was aus ihrem französischen Munde klang, als wäre es etwas Lobenswertes. Nur, das war es natürlich nicht, war vielmehr der verzweifelte Versuch, mich halbwegs gesellschaftsfähig aussehen zu lassen. So gut wie nie bestand ich unter Mutters missbilligenden Blicken, daran änderten auch die teuersten Stoffe nichts. Sie nannte es ‹Perlen vor die Säue werfen›, und ich hatte mir angewöhnt, einfach nicht hinzuhören. Aber es schmerzte! Während dieser Zeit trug Onkel Alfred die Verantwortung für unser Handelshaus. Mutter fiel tagelang aus, war ihres Kummers wegen kaum mehr in der Lage, dem Haushalt
vorzustehen, und einmal mehr war es Berthe, die sich um alles sorgte. Was Onkel Karl betraf, so hatte er sich noch nie um unser Transportunternehmen gekümmert, es langweilte ihn. Er trieb sich lieber in seinen politischen Kreisen herum und nahm an Kundgebungen teil. Ich war damals elf Jahre alt, neugierig und etwas naseweis, war der Kummer meiner Hauslehrerin und wegen meines Kropfes das Ärgernis meiner Mutter. Sie empfand mich als persönliche Schande. «Von mir hat sie das nicht!», erwähnte sie immer wieder in Gesellschaft und ich fühlte mich schuldig, hilflos, zornig und beschämt. Manchmal, wenn ich mich im Spiegel betrachtete, versuchte ich, die Geschwulst zurückzupressen, zurück in meinen Hals, von wo sie kam, doch das änderte nichts an meinem Aussehen, es verursachte mir nur Atemnot und Herzklopfen. Dann weinte ich deswegen, und die gut gemeinten Worte meiner Tante Berthe konnten mich nicht trösten. Zu trösten vermochte mich einzig und allein mein Vater, wenn er mich in die Arme nahm, mir versicherte, dass er meine dunklen Augen hübsch fände, dass ich wunderschönes Haar hätte und er mich liebe, so wie ich sei. «Auf das Herz kommt es an, mein Kind. Lerne mit dem Herzen zu hören, dann brauchst du dich um diesen Kropf nicht mehr zu kümmern», sagte er, und hoffnungsvoll fragte ich: «Verschwindet er, wenn ich mit dem Herzen höre?» «Nein, aber er wird unwichtig. Menschen, die dich lieben, werden sich dessen nicht mehr achten. Und daran, mein Kind, wirst du diejenigen erkennen, denen du vertrauen kannst.» «Und Mutter? Sie mag mich nicht.» «Mutter will nur das Beste für dich, daran musst du immer denken. Sie liebt dich genauso wie ich.» Das zu glauben fällt und fiel mir schwer, heute wie damals, aber seine Trostworte habe ich nie vergessen; wie kostbare
Perlen trage ich sie in mir als das Wertvollste, das er mir hinterlassen hat.
Es war am einundzwanzigsten November, einem Mittwoch, als wir die Kunde von Vaters Tod erhielten. Der Säumer, der in unserem Entrée stand, mit dem Hut in der Hand, und Mutter ein offizielles Schreiben überbrachte, ihr den goldenen Siegelring aushändigte, den Vater immer am Mittelfinger getragen hatte, fühlte sich sichtlich unbehaglich. Noch bezeugte er in unbeholfenen Worten sein Beileid, dann ging er, ohne, wie es üblich war, auf ein Geldstück zu warten, froh, der schreienden Frau zu entkommen. Alle Dienstboten waren herbeigeeilt, noch wusste niemand genau, was geschehen war, jemand schickte zu Tante Berthe, die Wirtschafterin kümmerte sich mit Riechsalz und kalten Tüchern um meine ohnmächtige Mutter und ich verkroch mich in der kleinen Nische unter der Treppe, starr vor Schreck, gelähmt vor Entsetzen, denn ich hatte begriffen: Mein geliebter Vater war nicht mehr! Ich hörte, wie man die Ohnmächtige hinauftrug, sah, wie der Arzt erschien mit seiner grossen Ledertasche, lauschte seinen schnellen Schritten über mir auf den Stufen, vernahm das Schluchzen der Mägde, bemerkte Tante Berthes hastiges Tun, die bestürzten Mienen meiner herbeigeeilten Onkel, sah und hörte alles um mich herum, und alles, was ich sah und hörte, verschwand in dem grossen, schwarzen Strudel, der irgendwo tief in mir drin aufgebrochen war. Mir war, als befände ich mich hinter einer durchsichtigen Wand, weit weg, abgetrennt vom hilflosen Treiben, und doch erschien mir alles in einer noch nie erlebten Klarheit. So bemerkte ich auch als Erste die Frauengestalt mit dem Bündel in der Hand und dem Kind im Tragtuch an ihrem Leib, die, wie aus dem Nichts gewachsen, plötzlich in der Halle
stand, unbeachtet, als wäre sie unsichtbar für die andern, als könnte nur ich sie wahrnehmen. Ich wusste sogleich, wer sie war, unsere Blicke hielten einander fest, langsam bewegte sie sich auf mich zu, beugte sich zu mir herunter und fragte: «Anna?» «Mein Vater ist gestorben», sagte ich, da legte sie das Kind auf ihr Bündel, kauerte sich hin und nahm mich in die Arme. Erst jetzt begann ich zu weinen. Mir war, als flösse mit meinen Tränen alles Leben aus mir, denn was war ich ohne meinen Vater, den Einzigen, der mich je geliebt hatte. Mich in den grossen, schwarzen Strudel fallen zu lassen war mein Wunsch, aber das war mir verwehrt durch den warmen Körper, an den ich mich lehnte, durch die Arme, die mich umschlangen, durch die Stimme, die Zärtliches flüsterte in einer mir unverständlichen Sprache. Da regte sich das Kind, begann zu weinen und plötzlich waren aller Augen auf uns gerichtet. Ich wischte mein Gesicht an meinem Ärmel trocken und sagte in die eingetretene Stille: «Das ist Julia!»
Julia
Luzern 1799 Die Ankunft in meiner ursprünglichen Familie war zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt erfolgt. Sie starrten mich an wie vom Donner gerührt, als wäre ich ein Gespenst oder ein grausliches Tier, das es abzuwehren galt. Eine Welle der Ablehnung schlug mir entgegen. Der jüngere der beiden Männer musterte mich wie eine Ware, als wolle er mich auf meine Tauglichkeit prüfen, die Frau rief: «Mon Dieu!», und der ältere Herr klemmte seine Augengläser auf die Nase. Kurz überlegte ich, ob ich mich wieder davonmachen sollte – da fühlte ich plötzlich Annas warme Hand in meiner, und noch einmal sagte sie: «Das ist Julia!» Es war der Klang ihrer Stimme, der die Anspannung löste, und der ältere Herr befahl: «Bring Julia in die Bibliothek, wir kommen gleich nach.» «Das ist Onkel Alfred, Tante Berthe ist seine Frau, der andere ist Onkel Karl; er ist der jüngste Bruder meines Vaters. Mama liegt im Bett, sie ist ohnmächtig, weil Vater gestorben ist», erklärte das Kind, führte mich in den Raum mit den vielen Büchern und ich nickte, obwohl ich nicht alles verstanden hatte. Als sie endlich kamen, war ich dabei, Luca zu stillen, und Karl sah so unverhohlen auf meine Brust, dass ich errötete und sie schnell bedeckte. «Wessen Kind ist das?», fragte er in meiner Sprache und ich antwortete: «Mein Sohn Luca.»
«Mon Dieu», rief Berthe wieder, «du hast ein Kind?» «Noch ein Bastard mehr», höhnte Karl und die Art, wie er dies sagte, weckte meine eingeschüchterten Lebensgeister, fachte sie an zu unverhohlenem Zorn. Die Worte der Ehrwürdigen Mutter Oberin fielen mir ein, und ohne lange zu überlegen, sagte ich: «Mein Name ist Giulia Bator, wir tragen beide den Namen seines Vaters, Luca ist kein Bastard.» «Dann hat er einen Vater? Sollte der nicht an deiner Seite sein, wenn dem so wäre?» «Das kann er nicht, er ist Soldat und marschiert mit dem russischen Heer.» «Ha, ein Soldatenliebchen!» «Tais-toü», sagte Berthe, neigte sich zu mir und schob das Tuch von Lucas Gesicht. Er begann zu weinen; sie nahm ihn mir ab und bemerkte erschrocken die feuchten Tücher. «Er muss gesäubert werden, immédiatement. Komm, Julia, ich bringe dich zu deiner Stube, und ihr» – sie wandte sich an die Männer – «ihr könnt sie später weiterbefragen, wenn sie sich etwas ausgeruht hat.» Dafür war ich ihr dankbar, doch an der Türe wandte ich mich um und sagte: «So viel zum Soldatenliebchen: Lucas Vater ist General Suworows persönlicher Adjutant.» Noch sah ich ihre verdutzten Gesichter, dann ging ich hinter Berthe zum ersten Mal die breite Treppe hinauf in mein Gemach, das für einige Zeit mein neues Zuhause sein sollte. Erst drei Tage später begegnete ich Onkel Ferdinands Frau Rose zum ersten Mal. Die Nachricht von seinem Tod hatte sie sehr mitgenommen, sie sah leidend aus, als sie mich im Salon empfing. Trotz ihrer Trauer klang ihre Stimme hart, ihre Worte kalt, und ich fühlte mich in keiner Weise willkommen. Wie ich es schon den beiden Männern erzählt hatte, musste ich ihr noch
einmal von unserer Reise berichten, musste beschreiben, was in Schwyz mit ihrem Mann geschehen war, wie ich ihn gesucht und nicht gefunden hatte, und obwohl ich ihr von dem seltsamen Mönch erzählte, ging sie darauf nicht ein. Sie liess keinen Zweifel daran, dass sie mir die Schuld an Ferdinands Ableben gab. Das bedrückte mich, denn es tat mir unendlich leid, dass dieser Mann – wie es das offizielle Schreiben vermeldete – in einem behelfsmässigen Lazarett dahingesiecht und schliesslich an seiner schweren Verletzung gestorben war. Er hatte sich mir auf unserem gemeinsam zurückgelegten Weg als wohlgesonnen erwiesen, und es war traurig, dass seine Familie nie wissen würde, wo er begraben lag. Das würde mir seine Frau Rose, die meine Tante und die Schwester meiner Mutter war, nie verzeihen. Der Schmerz hatte sie bitter gemacht, voller Verachtung liess sie mich fühlen, dass ich als unerwünschter Eindringling ganz und gar nicht in ihre Welt passte, in eine Welt, die mir, Zugegebenermassen, völlig fremd erschien und mich mehr ängstigte als alles, was mir bisher widerfahren war. Die uns zugeteilte Stube war so schön ausgestattet, dass ich mich anfangs kaum getraute, mich in den Sessel zu setzen oder unter die weichen Decken des breiten Bettes zu legen. Luca schlief neben mir in einer Wiege in reinen Tüchern; schwere Vorhänge schirmten das Tageslicht ab, mein Bild im Spiegel über der weissen, mit kleinen Schubladen versehenen Kommode wurde mir von Tag zu Tag fremder, je mehr ich den Gepflogenheiten des Hauses angepasst wurde. Innerhalb einer Woche besass ich mehrere Kleider, die mir die Schneiderin auf Roses Befehl hatte anmessen müssen, meine Haare waren in Locken gelegt, von meinem dürftigen Besitz waren mir nur Mamminas Schürze, Babbos Lederstück, das Bernsteinamulett und Bators Pfeil geblieben.
Kaum wusste ich, wie mir geschah, mein Äusseres hatte sich so schnell verändert, dass sich meine Seele weigerte, damit Schritt zu halten, und einfach an Ort und Stelle stehen blieb. Es gelang ihr nicht, mein altes Ich mit diesem neuen in Einklang zu bringen, und ich fühlte mich entzweigerissen und heimatloser denn zuvor. In dem grossen Haus mit den vielen Türen, die in Räume führten, deren Nutzen ich nicht begriff, sah ich mich gefangen, war beschämt, wenn ich bei Tisch unter den vielen Essbestecken das falsche wählte, verwirrt, wenn die vielen Bediensteten mich ‹junge Frau› nannten und kicherten, wenn ich mich suchend nach dieser vermeintlich hinter mir stehenden Person umdrehte. Zudem beengten mich die ungewohnten neuen Kleider und behinderten meine Bewegungen. Aber das Schlimmste war die Anwesenheit einer Kinderfrau, die sich, mehr als mir lieb war, um Luca kümmerte und über meinen Kopf hinweg seinen Tagesablauf bestimmte. Mein Protest bei Tante Rose hatte nichts genützt, kühl sah sie mich an: «So hat es die Familie bestimmt. Bei allem, was du lernen musst, bevor du das Erbe deiner Mutter antreten kannst, ist dir das Kind nur hinderlich. Es ist in unser aller Interesse, aus dir ein vollwertiges Mitglied unserer Gesellschaft zu machen – jedenfalls soweit du dazu fähig bist. Viel hat man dir ja nicht beigebracht in deinem bisherigen Leben.» Das kränkte mich und ich sagte: «Ich bin nicht dumm, ich kann lesen und schreiben und mit Zahlen verstehe ich umzugehen, darauf hat man in der Casa Wert gelegt.» «Das mag ja sein, reicht aber kaum aus, um eine Weberei zu führen; zudem musst du unsere Sprache lernen. Meine Güte, ich frage mich dauernd, was sich deine Mutter gedacht hat, als sie dir ihr Hab und Gut hinterliess.»
«Ich habe sie nicht darum gebeten.» Starr sah sie mich an, nickte langsam. «Ach ja, eben erinnerst du mich daran: Gute Sitten wird man dich auch lehren müssen. Ab morgen wirst du zusammen mit Anna bei Jumpfer Böni dem Unterricht beiwohnen. Ich hoffe, du weisst das zu schätzen und machst uns keine Schande. Übrigens, was dein Erbe betrifft: Halte dich um vierzehn Uhr bereit, wir erwarten dich in der Bibliothek, der Notar deiner Mutter will dich kennen lernen.» Damit war ich entlassen, etwas zu kräftig liess ich die Türe hinter mir zufallen, Anna huschte hinter einer der Eingangssäulen hervor und nahm meine Hand. «Schlimm?» «Non tanto!» Dann machte ich die Bewegung des Schreibens, deutete auf sie, auf mich, sagte «insieme» und sie nickte, lachte, klatschte in die Hände und hüpfte auf und nieder. So zeigte sie mir an, dass sie sich freute, und brachte zustande, dass auch ich, wenn nicht gerade Freude, so doch eine Art Neugierde auf den gemeinsamen Unterricht empfand. Hand in Hand gingen wir dann zu Luca, der frisch gewickelt und zufrieden in seinem Bettchen lag. Es war Zeit, ihn zu stillen, ich nahm ihn auf und gab ihm zu trinken, sie sah zu, ganz ruhig, beinahe andächtig. Dann streckte sie die Arme aus, und ich übergab ihn ihr, sah das Leuchten auf ihrem Gesicht, als sie ihn leise wiegte und Zärtliches murmelte, und wusste, dass ich sie liebte, beinahe so sehr wie meinen Sohn.
Meine Hände waren feucht vor Aufregung, als ich zur angegebenen Zeit vor der Bibliothek stand. Drinnen hörte ich Stimmengemurmel. Ich klopfte an und trat ein. Fünf Augenpaare blickten mir entgegen, nur Rose achtete sich meiner nicht und sah auf die Hände in ihrem Schoss.
Berthe lächelte mich an, die drei Onkel blickten starr. Recht behalten sollte ich mit der Einschätzung des gross gewachsenen, alten Herrn, in dem ich den Notar vermutete und der mir freundlich einen Stuhl zurechtschob. Nicht alles, was ich an diesem Nachmittag zu hören bekam, war mir verständlich, nur so viel, dass ich durch die Hinterlassenschaft meiner verstorbenen Mutter zu einer wohlhabenden Frau geworden war. Von einem Gut ausserhalb der Stadt war die Rede, von einer dazugehörenden Weberei, die Baumwolle verarbeitete. Das war endlich etwas Greifbares, etwas, worüber ich mir ein Bild machen konnte in der Fülle all des Neuen, Unbekannten, denn vom Weben und Spinnen, das ich in der Casa erlernt hatte, verstand ich allerlei. Ich hörte nicht mehr zu, hing meinen Gedanken nach, bemerkte die plötzliche Stille um mich herum, sah den Federkiel, der mir gereicht wurde, und sagte: «Ich will es sehen!» «Unterschreibe das Testament, Julia.» Die Worte Onkel Ulrichs klangen scharf. «Zuerst will ich es sehen», sagte ich noch einmal, und Berthes «mon Dieu» mischte sich mit den harschen Worten Alfreds, der mir das zu unterzeichnende Pergament näher schob. «Sei nicht dumm und tu, was man dir sagt. Oder kannst du vielleicht doch nicht schreiben?» «Ohne Eure Unterschrift, mit der Ihr die Annahme Eures Erbes bezeugt, ist das Testament nicht rechtsgültig, Frau Julia», sagte der Notar, tauchte den Federkiel noch einmal in die Tinte und reichte ihn mir wieder. Ich dachte an Pater Michele und wie ich ihn zur Unterschrift genötigt hatte und sagte: «Ich unterschreibe nichts, was ich nicht kenne, ich will mein Erbe zuerst sehen», wunderte mich gleichzeitig über meine
unnachgiebige Haltung, sah die ungehaltenen, ja, zornigen Mienen der Anwesenden und fühlte, dass da noch etwas war, das man mir vorenthalten hatte. «Starrköpfig wie ihre Mutter», murmelte Rose und der Notar sagte schnell: «Das Ansinnen der Erbin ist verständlich, fahren wir doch montags hin, dann können wir die Sache an Ort und Stelle abschliessen und gültig machen. Frau Julia, als Verwahrer Eures Erbes stehe ich zu Eurer Verfügung.» Er raffte seine Papiere zusammen und Rose bedeutete mir, mich zu entfernen. Da stand ich auf, ging zur Türe und verliess den Raum, nicht ahnend, dass ich mich durch die Verweigerung meiner Unterschrift in Lebensgefahr befand.
An diesem Abend sah ich ihn wieder! Ich stand mit Luca am Fenster und zeigte ihm die weissen Flocken, die in dichten Schleiern vom Himmel fielen, zeigte ihm den Laternenanzünder, der in seinem unförmigen Umhang aussah wie ein pelziges Tier, und – davonschlurfend – trübe Lichtkreise voller wirbelnder Punkte zurückliess. Das war hübsch anzuschauen, ein wenig verlor ich mich in diesen Anblick, und so bemerkte ich die schemenhaften Umrisse des Menschen auf der gegenüberliegenden Strassenseite nicht sogleich. Der graue Habit verschmolz beinahe im düsteren Schein, mit tiefen Schatten verbarg die Kapuze sein Gesicht. Er stand da, wie ich ihn von irgendwoher in Erinnerung hatte, und jäh überfielen mich die Bilder an das Gemetzel in Schwyz, an die Gestalt im rauen Mönchsgewand, an den schweren, mich kurz streifenden Körper, an den Blutfleck auf dem Wams meines Onkels, und ich begann zu zittern. Schnell legte ich Luca zurück in sein Bettchen, eilte die Treppe hinunter in die Halle, beinahe verhedderte ich mich im Saum meines Kleides,
prallte gegen die aufspringende Türe des Salons, wo sich die Familie nach dem Essen immer zusammenfand, und stotterte: «Der Mönch, da ist er wieder, draussen neben der Laterne!» Die Männer waren hochgesprungen, rannten zur Haustüre, ein Schwall kalter Luft wirbelte Schneeflocken über die Steinfliesen, ein Fuhrwerk holperte vorüber und Tante Berthe geleitete mich zu einem Stuhl, sagte: «Beruhige dich, Julia, die Männer kümmern sich darum.» Noch wunderte ich mich nicht, dass ich plötzlich beachtet wurde, fühlte mich aber zum ersten Mal seit meiner Ankunft ernst genommen, trank die brennende Flüssigkeit, die Rose mir im kleinen Glas reichte, und selbst in ihren Augen bemerkte ich eine noch nie dagewesene Wachsamkeit. «Nichts zu sehen», sagte Ulrich, Karls spöttischer Blick schien meine Wahrnehmung zu bezweifeln, und Alfred bat mich zum wiederholten Male, über das Geschehen in Schwyz zu berichten. Dann brachte mich Berthe auf meine Stube. Doch bevor sich die Salontüre hinter uns schloss, hörte ich, wie Alfred etwas von ‹nicht aus den Augen lassen› und ‹beschützen› sagte, und die Angst vor einer unbekannten Gefahr erfasste mich von Neuem. Der Schnee lag knietief, als wir uns am nächsten Morgen im vierspännigen Schlitten zur Kirche fahren liessen. Eingehüllt in Mäntel und Decken glitten wir durch die verzauberte, in der Sonne glitzernde Stadt, die Luft roch frisch und sauber, ich sog davon ein, so viel ich konnte, bis ich glaubte, platzen zu müssen. Es war mein erster Ausgang seit meiner Ankunft, und ich wollte ihn nutzen, wollte so viel wie möglich von meiner Umgebung wahrnehmen. Alles war weiss, die Dächer, die Strassen, die Bäume, die Eisschollen, die träge unter der Brücke hindurchschwammen, die Schwäne im Fluss, unsere dampfenden, vom Reif
eingehüllten Pferde, die Schaffelle, die uns warm hielten, der blasse Himmel, der sein Blau verloren hatte und durchlässig schien, als könnten die im Aufwind segelnden Möwen durch ihn hindurch bis in die Ewigkeit fliegen. Die Angst des vergangenen Abends war verschwunden, ich wusste Luca sicher in der Obhut der Kinderfrau, und ich glaube, es war in diesem Moment, da ich die Annehmlichkeiten einer begüterten Familie zu schätzen begann. Ich fühlte mich lebendig wie lange nicht mehr, hatte unter der Decke den Arm um Anna gelegt, die mir im Vorbeifahren die überdachte Holzbrücke zeigte, die seltsam eckig das Wasser überquerte, den Berg, den sie Pilatus nannte, und die mit farbigen Mustern versehenen Häuser. Unser Ziel war die Franziskanerkirche, auf deren weitem Platz ein Brunnen stand, Kutschen vor- und wieder wegfuhren, Menschen sich begrüssten, den Schnee von den Füssen stampften, bevor sie unter dem mit Malereien geschmückten Tor die Kirche betraten. Wir hatten uns in die Beichtbänke gesetzt, ich fühlte die vielen neugierigen Blicke, die mich streiften, meine Verwandten grüssten verhalten lächelnd hierhin und dahin und dann war ich an der Reihe, kniete mich in den Beichtstuhl und reinigte mein Gewissen von aller Sünde. Mittlerweile hatte sich die Kirche gefüllt, Orgelklänge und Gesang begleiteten den Lauf der Messe, die Menschen traten zum Empfangen der Kommunion aus den Bänken, wir reihten uns ein, bewegten uns langsam vorwärts, näherten uns den beiden Franziskanern, die die Hostien austeilten, knieten nieder – da sah ich, wie sich eine graue Kutte aus dem Seiteneingang näherte, sich, den goldenen Kelch mit dem Leib des Herrn in den Händen, zwischen die beiden Brüder schob. Ein von dichtem Bart verhülltes Gesicht neigte sich mir zu, Augen mit grauem, stechendem Blick schienen mich in Bann zu schlagen, noch fühlte ich die seltsam bitter schmeckende
Hostie auf meiner Zunge, da erkannte ich ihn, der Schreck lähmte mich, mir wurde schwindlig, die Beine glitten unter mir weg und ich versank in bodenloser Schwärze.
Die Familie umstand mein Bett, als ich wieder zu mir kam, der Arzt fühlte meinen Puls und sagte: «Mit etwas Ruhe wird alles wieder gut, Frau Julia. Wie fühlt Ihr Euch jetzt?» «Mir ist übel.» «Kein Wunder! Nehmt brav die Medizin, die ich Euch verschrieben habe, dann geht es Euch bald besser.» Er packte seine Tasche und verabschiedete sich, Berthe hielt mir eine Tasse an den Mund, nötigte mich zu trinken, und ich fragte: «Was ist geschehen?» Alfred setzte sich zu mir. «Die Hostie war vergiftet, Julia, ein Glück, dass du sie ausgespuckt hast.» «Der Mönch, es war der Mönch, was ist mit ihm?» «Man sucht ihn. Als sich die Aufregung um deine Ohnmacht in der Kirche gelegt hatte, war er vom Erdboden verschwunden. Ich weiss, du fühlst dich noch schwach, aber wir müssen darüber sprechen. Du musst das Testament unterschreiben, noch heute, es duldet keinen Aufschub mehr; man trachtet dir nach dem Leben.» «Aber warum, ich verstehe das nicht.» «Wir haben dir nicht alles über das Testament deiner Mutter gesagt. Obschon wir uns nicht besonders mochten, waren wir geschäftlich verbunden durch die Erzeugnisse ihrer Weberei, mit denen wir Handel treiben. Um diese Geschäftsbeziehungen auch in Zukunft und zu deinem Nutzen aufrechtzuerhalten, hat sie verfügt, dass wir dir in unser aller Interesse die
Unterstützung zukommen lassen, die es dazu braucht. Weiterhin heisst es wortwörtlich, und das ist das Wichtigste: Falls meine vor sechzehn Jahren im Mailänder Findelhaus ausgesetzte Tochter Julia Johanna unauffindbar oder gestorben ist, so soll mein ganzes Hab und Gut der Kirche zufallen. Ebenfalls soll es der Kirche zufallen, wenn meine aufgefundene Tochter das Erbe ausschlägt oder stirbt, bevor sie mit ihrer Unterschrift die Annahme desselben bezeugt hat. Dann aber ist es ihr alleiniges Eigentum für alle Zeit, sie mag darüber nach ihrem Gutdünken verfügen. Verstehst du nun? Das ist Grund genug für die Institution Kirche, alles zu unternehmen, um in den Besitz dieses Nachlasses zu kommen.» Ich schloss die Augen, musste nachdenken: Hinter meiner Stirn erstand die Gestalt des grauen Mönchs, sein Gesicht, das Ekel in mir erzeugte, seine hasserfüllten Augen, die ich nie mehr vergessen hatte, der Blutfleck auf dem Wams Ferdinands, der mir, das wurde mir nun bewusst, das Leben rettete, in dem er das Seine verlor, der bittere Geschmack der Hostie in meinem Mund. «Warum habt ihr mir das alles vorenthalten?» «Wir wollten dich nicht ängstigen.» Eine Weile schwiegen wir, aber da war noch etwas, das ich wissen wollte: «Onkel Alfred, hat euch meine Mutter gehasst?» «Sie hat uns die gewaltsame Trennung von dir nie verziehen, nie verziehen, dass Rose ihr nicht beigestanden ist im Kampf gegen die Eltern, die die Schande eines Bastards in der Familie nicht hinnehmen wollten, nie verziehen, dass wir sie verurteilt und zur Heirat mit einem Mann gezwungen haben, den sie nicht liebte.» «Wer war mein Vater?»
«Wir wissen es nicht, sie hat es niemandem verraten; aber nun ruh dich aus, bis der Notar kommt, und fürchte dich nicht, das Haus wird von meinen Knechten bewacht.» So freundlich hatte er noch nie mit mir gesprochen, was ich seiner Angst vor dem Verlust des Vermögens zuschrieb. Als er mich verlassen hatte, lehnte ich mich zurück in die Kissen. Ich war zu müde, um alles, was ich vernommen hatte, richtig einzuordnen, dachte nur, ich sollte es mir überlegen, und schlief dabei ein. Einige Stunden später tat ich, was von mir verlangt wurde, und nahm mit meiner Unterschrift nicht nur das Erbe meiner Mutter an, sondern trat endgültig einer Familie bei, deren Mitglieder mir, wie ich wohl fühlte, nicht alle gut gesonnen waren.
Der Mönch
Luzern 1799 Der Mann im grauen Habit wartete bereits seit Stunden. Seine Beine schmerzten, er verlegte sein Gewicht von einem Fuss auf den andern, getraute sich aber nicht, das Vorzimmer des Generaloberen zu verlassen. Angst hatte sich in seinem Magen festgekrallt, drang mit seinem Schweiss durch alle Poren, umgab ihn mit dem Geruch der Jämmerlichkeit.
Sie würden Rechenschaft von ihm verlangen, würden wissen wollen, warum er versagt hatte. Aber das war nicht seine, das war ihre Schuld. Zu spät hatte er den Befehl erhalten, da waren die beiden schon seit Tagen unterwegs gewesen. Er hatte sie erst in Schwyz eingeholt. Dass er dort alles verdorben hatte, war einzig dem Umstand zuzuschreiben, dass er im Gedränge niedergeschlagen worden war; einen ganzen Tag lang war er wie von Sinnen gewesen – und als er wieder klar denken konnte, war das Mädchen verschwunden, war wie vom Erdboden verschluckt. Was dann in der Kirche geschehen war und wie er hatte fliehen müssen, war so erniedrigend für ihn gewesen, dass ihn schauderte. Er hasste sie!
Was sie wohl mit ihm tun würden? – ‹Es ist für Dich die letzte Möglichkeit, uns Deinen Gehorsam zu bezeigen›, hatte man ihn gewarnt.
Er konnte sich nicht rechtfertigen, sie wussten von seiner Vorliebe für Frauen. Die Spur seiner zahlreichen Verbannungen reichte von Deutschland über Frankreich bis nach Mailand. Er konnte die Weiber nicht lassen. Er brauchte ihre Wärme, ihr weiches Fleisch, ihren Geruch. Diese unselige Neigung hatte ihm sein ganzes Leben lang nur Ärger gebracht; aber mit Carmela hatte er sich sicher gefühlt. Und dann kam diese Giulia! Wie er sie hasste!
Was sie wohl mit ihm tun würden? Ob sie ihm den Verlust des Landgutes je verzeihen konnten? – Sie mussten es! Im Namen Christi mussten sie Gnade walten lassen! Er würde alles tun, um sie von seiner Reue zu überzeugen, er würde auf Dornen knien, fasten, die niedrigsten Arbeiten verrichten – wenn sie ihn nur nicht exkommunizierten oder gar verstiessen, ihn ausschlossen aus der Bruderschaft. Er stöhnte leise, er wusste, mit dieser Schande würde er nicht weiterleben können.
Als der Generalobere endlich geruhte, ihn zum Strafverhör zu empfangen, war er nur noch ein von Angst gebeutelter armer Wicht.
Zwei Tage später barg man die Leiche eines unbekannten, bärtigen Mönches in grauem Habit aus dem See, deren einzige Besonderheit darin bestand, dass ihr rechter Fuss nur drei Zehen aufwies.
Der Fergger
1799 Die Stube hat sich geleert, ich öffne das Schiebefenster, frische Luft strömt in den von vielen Gerüchen geschwängerten Raum. Auf dem Tisch türmen sich neu gewobene Stoffballen, bereit zur Abgabe. Einen ganzen Nachmittag lang haben meine Helfer und ich die Ware der Heimarbeiter begutachtet, nachgeprüft, ausbezahlt, haben neues Garn verteilt und ihren Sorgen gelauscht. Meistens drehen sich diese um Geld, die einzige kranke Kuh, den Husten der Kinder oder um das eigene, im feuchtkalten Webkeller eingefangene Zipperlein. Sie erhoffen sich davon eine mildere Beurteilung des Tuches und weniger Abzüge für verpfuschte Teile. Eigentlich ist es immer dasselbe, und ich kann dieses Gejammer nicht mehr hören. Seit Johannas Tod ertrage ich es nur noch schwer, mich um andere kümmern zu sollen, ich habe mit mir selbst genug zu tun. Es ist, als wäre ich innerlich abgerückt von mir selbst, ausserhalb meines Körpers, als sähe ich mich von weither meine Aufgabe erfüllen, seelenlos und ohne Gefühl, angetrieben von irgendwem in gleichmässiger Bewegung wie die Pedale der Webmaschinen, deren Geklapper mein Leben begleiten. Was vorher Musik war in meinen Ohren, ist mir zur Plage geworden, was meine Sinne fesselte, verdamme ich jetzt, der Schmerz hat mich vernichtet, ich bin mir selbst fremd geworden, ich habe sie geliebt! Das Heulen der Sirene reisst mich aus meinen Gedanken. Feierabend! Die Arbeiter strömen aus dem Tor, ihre Kinder
hinter sich herschleifend, die vor lauter Müdigkeit nach dem anstrengenden Arbeitstag kaum noch Hunger verspüren, nur noch wünschen, sich auf ihren Strohsack fallen zu lassen, um zu schlafen. Ihr schäbiges Heim teilen sie mit einem meist betrunkenen Vater, einer abgearbeiteten, dauernd schwangeren Mutter und noch einigen Geschwistern, die ebenfalls, kaum können sie gehen, mit ihren schwachen Kräften zum kärglichen Unterhalt beisteuern müssen. Ein elendes Leben, schlechter noch als das der Heimarbeiter, die ausser ihrem Webstuhl ein Haus, und sei es noch so ärmlich, auf ihrem Grund und Boden ihr Eigen nennen, gar einige Ziegen besitzen, manchmal eine Kuh, Hühner, ein Schwein und dazu auf Gemeindeland einen Kartoffel- oder Gerstenacker bebauen dürfen. Ein wirklich elendes Leben also für diese Ärmsten der Armen, das aber vor der Wende zum Besseren stand, denn ich weiss, dass Johanna einen Mittagstisch für die Kinder plante, um sie wenigstens einmal im Tag mit einer warmen Mahlzeit zu versorgen. Bereits war diese Massnahme mit dem Gutsverwalter und der Wirtschafterin verhandelt worden. Zudem bat sie mich bei einer unserer wöchentlichen Besprechungen um meinen Rat zur Gründung einer Fabrikschule. Sie hatte davon von einem Händler aus dem St. Gallischen vernommen und war begeistert von dem Gedanken. Die alte Scheuer, in der ausrangierte Geräte stehen, sollte zur Schulstube umgewandelt werden – da ereilte sie der Tod aus heiterem Himmel. Sie hat mir das Haus, in dem ich seit Jahren lebe, hinterlassen, hat mir einen ansehnlichen Geldbetrag verschrieben und meine Anstellung als Fergger auf Lebenszeit gesichert – so, als hätte sie von ihrem frühen Tod gewusst. Wie immer, wenn ich daran denke, wird mir der Atem eng. Ich reisse das zweite Schiebefenster auf, der nach Frost
riechende Wind kühlt mein Gesicht, in das beleuchtete Viereck im Schnee torkelt die Gestalt des alten Jakob, winkt mir zu. «Hast du es schon gehört, Julian, morgen kommen die neuen Herrschaften, kann ja lustig werden», und weg ist er, untergetaucht in der frühen Dunkelheit des Winterabends. Ja, morgen kommen die neuen Herrschaften und niemand hier weiss genau, wer diese sein werden. Seit Johannas Tod waren wir Herrn Alfred Rechenschaft für Fabrik und Anwesen schuldig, er leitete die Geschäfte; aber niemand hat uns aufgeklärt über die neuen Besitzer. Die Aufregung ist gross, die Unsicherheit auch, denn einem jeden ist bekannt, dass sich mit neuer Herrschaft das Leben der Angestellten verändern kann, so grundlegend wie der Wechsel von Sonnenschein zu Hagelwetter.
Der nächste Tag ist kalt und sonnig, das Land glitzert und schmerzt in den Augen. Man hat sich versammelt, die Hausbediensteten stehen bereit, warten, geschützt vor der Kälte, in der Halle auf ihren Auftritt. Die Stimmung ist gespannt, auch unter den Vorgesetzten der Fabrik, bei denen ich stehe. Wir haben für die Zeit des Empfangs unsere Posten verlassen, so hat es Herr Alfred angeordnet. Nur die Arbeiter müssen ihre Neugier zähmen, die Webstühle dürfen nicht stillstehen. Wir sehen die Schlitten schon von weitem, wie schwarze Käfer arbeiten sie sich durch den gleissenden Schnee, werden grösser, fahren mit Glockengeschell ein in den Hof. Die Pferde dampfen, die Stallburschen legen ihnen Decken über. Als Erste springt Fräulein Anna heraus, keck wie immer, winkt mir zu, die Leute freuen sich, alle mögen Anna. Um ihren Hals ist ein Wolltuch geschlungen, so, wie sie meistens einen Schal trägt, es verbirgt ihren Kropf. Die Herren Alfred und Karl sind aus
dem zweiten Schlitten ausgestiegen, reichen den Damen helfend die Hand. Der dritte Herr wird wohl der Notar sein, er putzt sich die beschlagene Brille. Beim Anblick von Rose, Johannas Schwester, krampft sich mir der Magen zusammen. Ihre wenigen, kurzen Besuche auf dem Gut endeten meistens mit einem unschönen Streit. Die Französin, Alfreds Frau, nickt in die Runde, wie sie das immer tut, tritt etwas zur Seite, um der unbekannten Dame Platz zu machen, auf die nun alle Blicke gerichtet sind. Und dann sehe ich sie zum ersten Mal, und doch nicht zum ersten Mal, sehe eine junge Frau, deren Erscheinung, deren Haltung, deren Gesicht mir vertraut sind, so vertraut, dass mir der Atem stockt. Johanna! Ein Raunen geht durch die Versammlung, alle haben es bemerkt, man geleitet sie ins Haus, das Gesinde folgt, die Türe schliesst sich, wir von der Fabrik stehen da, der Webermeister löst die Spannung, sagt: «Himmelherrgott, das glaube ich nicht; so muss unsere verstorbene Herrin – Gott sei ihrer Seele gnädig – vor zwanzig Jahren ausgesehen haben! Wer ist sie?» Die durch die Luft schwirrenden Vermutungen höre ich mir nicht mehr an, es treibt mich fort, ich weiss, wer sie ist! Vor dem verschneiten Grab, dessen Kreuz in der kalten Decke beinahe verschwindet, muss ich mich niederknien. Ich weine, ich schluchze – Johanna! Du hast sie zurückgeholt, ich danke dir! Und Johanna lächelt.
Die Batori
1806 Sechs Jahre sind vergangen, längst habe ich mich auf dem schönen Besitz meiner Mutter eingelebt; ‹Besitz meiner Mutter›, so nenne ich ihn in meinen Gedanken noch immer, obschon mich mittlerweile alle Welt als die Herrin betrachtet. Heute ist Sonntag, ein schöner Nachmittag im Juli. Von meinem Lieblingsplatz auf dem kleinen Hügel überschaue ich gerne mein Eigentum. Hier habe ich mir eine Bank hinstellen lassen, hierhin kann ich mich zurückziehen und neue Kraft für die mannigfaltigen, tagtäglich anfallenden Pflichten schöpfen. Am dreistöckigen Gutshaus habe ich den Anstrich erneuern lassen, es leuchtet wie eine Perle aus dem Grün des Kastanienbaumes. Eingerahmt wird es von dem Haus der Bediensteten, dem des Gutsverwalters, den Ställen und Scheunen. Etwas weiter weg stehen das lang gezogene Gebäude der Fabrik, deren Webstühle heute stillstehen, und das kleine Haus meines Ferggers Julian mit der kürzlich angebauten Ferggerstube. Da treffen sich jeden zweiten Montag die Heimarbeiter, bringen zur Begutachtung, was sie in ihren dunklen, feuchten Kellern am eigenen Webstuhl gefertigt haben. Sie kassieren ihren Lohn, erhalten neues Rohmaterial und erlaben sich – bevor sie ihren oft weiten Heimweg antreten – an Brot, Speck und Most. Meiner Wirtschafterin ist dies ein Dorn im Auge, sie nennt es ‹verwöhnen›, aber so lautet meine Anordnung; noch zu gut ist mir im Sinn, wie wir uns immer auf die Gaben nach den Trauerfeiern gefreut hatten.
Meinem Fergger, der nahe der fünfzig ist und mir von Anfang an wohlwollend entgegenkam, verdanke ich viel. Er war es, der mich mit Geduld in mein Geschäft und das Baumwollgewerbe einführte, das doch um vieles umfangreicher war, als ich es mir vorgestellt hatte. Es ist ein gutes Gefühl zu wissen, dass ich mich auf ihn verlassen kann. Luca liebt seinen ‹Öhmi Julian› sehr und ist in seiner Stube immer willkommen. Die beiden verstehen sich gut, und ich bin froh, dass er in ihm einen männlichen Ausgleich zu unserem Weiberhaushalt hat. Heute sind sie schon früh zum Beerensuchen im Oberwald aufgebrochen, die Himbeeren sind reif, und wenn er heimkommt, werden Mund und Hände mit rotem Saft verschmiert sein. Auch mit den Arbeiterkindern versteht sich mein Sohn gut. Jeden Tag nach der Mittagssuppe besucht er mit ihnen zusammen während einer Stunde die Fabrikschule. Beides ist auf Anregung meines Ferggers ins Leben gerufen worden, und wir sind sehr stolz darauf; nicht alle Betriebe sind so fortschrittlich wie wir. Die Buben und Mädchen, die in den harten Alltag der Familie eingebunden sind, freuen sich über das nahrhafte Essen, das meistens ihre einzige warme Mahlzeit am Tage ist, und ebenso freuen sie sich auf den Unterricht, denn er ist eine willkommene Abwechslung zu ihrer eintönigen Tätigkeit. Sie mögen den jungen Lehrer, den ich angestellt habe; er geht freundlicher und verständnisvoller mit ihnen um als der strenge Webermeister. Was Luca angeht, so eignet er sich auf diese Weise bereits etwas Wissen an, bevor er in einem Jahr auf die Internatsschule kommt. Noch mag ich nicht daran denken, doch ich weiss, es muss sein, und ich fürchte mich davor; es wird unsere erste Trennung werden! Die Fabrikarbeiter wohnen alle in der näheren Umgebung. Ihre Unterkünfte sind ärmlich, oft überbelegt, sie besitzen kein
Land wie die meisten Heimarbeiter, ihre Sitten sind oft roh, das Schnapstrinken Gewohnheit. Diese Umstände will ich ändern, das habe ich mir vorgenommen. Schon habe ich den Platz ausgesucht, auf dem die neuen Häuschen erbaut werden sollen. Eine Siedlung nur für meine Angestellten. Es wird sie, so hoffe ich, an meinen Betrieb binden, wird weniger Wechsel bedeuten und so gleichmässigere Erzeugnisse ermöglichen. Das wird nötig sein: Ich plane die Umstellung von der Baumwoll- zur Seidenbandweberei. Ein Webstuhl ist auf Probe bestellt, den französischen Seidenweber erwarte ich in den nächsten Tagen. Ich weiss schon seit einiger Zeit, wie meine Bänder aussehen sollen. Ich werde die farbigen Muster von Mamminas Schürze kopieren und einweben lassen. Das ist neu, noch nie dagewesen, und alles, was neu ist, verkauft sich gut. Das sagt auch mein Fergger, und ich vertraue ihm. Meine Verwandtschaft steht meinem Plan noch zweifelnd gegenüber, aber auch sie sieht, dass sich der Absatz baumwollener Ware vermindert hat und Neuerungen ins Auge gefasst werden müssen. Unsere Geschäftsverbindung hat sich bis jetzt bewährt. Das ist zu einem grossen Teil ihr Verdienst, denn sie haben mir während dreier Jahre an Bildung zukommen lassen, was nötig war, um im Geschäftsleben und der Gesellschaft bestehen zu können. Karl hat sich verheiratet und führt zusammen mit Alfred den Handel, und Rose beginnt langsam, den Verlust ihres Mannes zu verschmerzen. Dass ich alljährlich eine gewisse Summe dem Kloster in Muotathal und dem frommen Haus in Mailand zukommen lasse, geht sie nichts an, ist meine Sache; es gibt Dinge, die fühlt man im Herzen, die muss man selbst entscheiden. Es ist unnötig, darüber zu sprechen. Auch unser persönliches Verhältnis ist um vieles besser geworden. Berthes Herzlichkeit hat viel dazu beigetragen, die
Wogen zu glätten, und Anna – mit ihren nun siebzehn Jahren eine hübsche junge Frau – ist mir eine liebe Freundin geworden. Die Geschwulst an ihrem Hals beginnt zu schwinden, seit sie alle Tage von dem neuen, aus Deutschland hergebrachten Jodwasser trinkt. Sie besucht mich oft, und das sind dann die arbeitsfreien Tage, die ich mir nehme. Wir fahren über Land, erzählen uns kleine Heimlichkeiten und lachen viel, und wo wir auch hinkommen, immer vernehmen wir von irgendwoher den Ruf: «Die Batori, hier kommt die Batori!» Ja, so nennt man mich, der Name meines Liebsten ist mir geblieben. Hier ahnt niemand, dass ich nie verheiratet war, und ich habe nichts dazu getan, es richtigzustellen. Lange habe ich gehofft, Bator wiederzusehen, aber diese Hoffnung habe ich begraben, so wie auch er wohl begraben liegt, irgendwo in unbekannter Erde. Aber er hat mir einen wunderbaren Sohn hinterlassen, einen Sohn, der soeben vor seinem geliebten Öhmi den Hügel hinanstürmt, verschwitzt und zerzaust und mir mit zerkratzten Händen glücklich lachend seinen gefüllten Korb mit den dunkelroten Beeren, auf denen etwas Weisses liegt, entgegenstreckt und ruft: «Mutter, schau, was wir gefunden haben!» Alle drei bestaunen wir das aufgebrochene weisse Ei eines im Frühjahr geschlüpften Raben, rot gefleckt, dort, wo es auf den Beeren aufgelegen hat, und plötzlich fragt Luca: «Öhmi Julian, weisst du, dass ich einen Fleck an meinem Hintern hatte, als ich klein war?» «Nein Luca, das weiss ich nicht.» «Das hat mir Mutter erzählt, es ist das Erbe meines Vaters, der aus einem Land kommt, das weit weg von hier liegt. Aber ich kenne ihn nicht, und nun liebe ich dich. Möchtest du mein Vater sein, Öhmi Julian?»
Mein Fergger schaut in die erwartungsvollen Augen meines Sohnes, dann sieht er mich an und er lächelt nicht, als er sagt: «Nicht dein Vater, Luca; aber vielleicht dein Grossvater?» Er nimmt das Kind an der Hand, steigt mit ihm den Hügel hinab, und ich fühle mich plötzlich schwach, denke immerzu: Julian-Johanna – Giulia-Gianna… Julian? Wie ein Schlag trifft mich die Erkenntnis, und ich muss mich wieder setzen. Dann höre ich Luca rufen, und in einem plötzlichen Glücksgefühl erhebe ich mich und gehe ihnen entgegen, meiner eigenen, kleinen Familie. Ich habe endgültig nach Hause gefunden.
Bator
1840 Die Geschichte meines bisherigen Lebens habe ich beinahe aufgeschrieben. Meine Hand ist müde vom Führen des Stiftes, mein Beinstummel schmerzt, ich muss mich erheben. Mit den Krücken, die neben mir liegen, stemme ich mich hoch, umrunde mühsam meine Jurte, um das Blut in meinen Adern kreisen zu lassen. Das Feuer muss angefacht werden, bald wird Dscherlik zurückkommen, sein Pferd kennt die Wege, die er reitet. Zusammen werden wir essen, Arrak trinken und schweigen. Wir sprechen nur wenig, wir verstehen uns auch so; zu viele Jahre sind wir uns nahe, um vieler Worte zu bedürfen. Die Sonne steht noch eine Handbreit über dem Hügelkamm, es bleibt mir etwas Zeit, ich will sie nutzen, um meinen Bericht zu vollenden, festzuhalten, was von meiner Vergangenheit übrig geblieben ist. Wiederum sehe ich das kleine Kloster, eingebettet ins schmale Tal zwischen den hohen Bergen, Berge, die uns das Fürchten gelehrt hatten, von denen ich noch heute hin und wieder träume in erschreckenden Bildern. Ungerecht war das Spiel, welches die Geister mit mir trieben. Ich habe ihnen nie verziehen, dass sie es zuliessen, Julia dort wiederzusehen! Keinen Nutzen sehe ich heute darin, denn es hat mir nur Kummer und Leid gebracht. Eine einzige Nacht war uns gegönnt, liebend neben dem Lager unseres Kindes, dessen Anblick mich gleichermassen glücklich wie unglücklich machte, wohl wissend, dass ich die beiden würde verlassen müssen. Schmerzlich war der Abschied, unsicher das
Versprechen eines Wiedersehens, hart der Aufstieg über den Pass in Regen und Kälte. Das Feuer des Kampfes, das mich bis jetzt erhalten hatte, war erloschen, wir wussten alle, unsere Mission war gescheitert. Noch gab es Scharmützel, noch einmal kämpften wir gegen die Franzosen, überquerten den schrecklichen Panixer, halb verhungert, einzig darauf bedacht, heil auf österreichischem Gebiet einzutreffen. Verlaust, vor Dreck starrend erreichten wir schliesslich Feldkirch, konnten uns endlich satt essen – und dann begann mein Fuss zu schwären! Erst achtete ich mich dessen nicht, doch der Schmerz wurde so heftig, dass ich kaum mehr gehen konnte. Als General Suworow mit seinen Truppen weiterzog, lag ich im Lazarett mit abgesägtem Fuss, doch das erfrorene Fleisch schwärte weiter, und das Bein – wollte ich nicht sterben – musste bis zum Knie entfernt werden. Manchmal denke ich, dass der Tod besser gewesen wäre, denn meine Laufbahn als Soldat, die so vielversprechend ausgesehen hatte, war hiermit beendet. Ich wusste nicht, was ich beginnen sollte, fühlte mich nutzlos, die Rückkehr zu Julia war mir nun verwehrt, zu sehr hätte ich mich meiner Bedürftigkeit geschämt. Mir blieb nur die Weiterreise in einem der unzähligen Krankentransporte, inmitten von Kameraden, die, ebenso wie ich, aller Hoffnung beraubt waren.
Es war am Ende einer Tagesetappe. Man hatte uns in einem verschimmelten Zelt nahe einem halb zugefrorenen Teich untergebracht, wir assen eben die dünne Suppe, als uns Lärm und Geschrei vom Wasser her innehalten liessen. Kurz darauf trug man einen sich heftig zur Wehr setzenden Menschen herein; seine Kleider tropften, seine Zähne schlugen
aufeinander, so dass wir nur mit Mühe die Worte verstehen konnten, die er dauernd wiederholte. «Lasst mich sterben, so lasst mich doch sterben!» Ich hatte mich mühsam herangeschoben, wollte den Lebensmüden sehen, der vielen von uns aus der Seele sprach, bemerkte die selbst im nassen Zustand noch struppigen Haare, erkannte ihn. «Dscherlik», rief ich und die Freude würgte mein Herz, «Dscherlik, mein Freund! Ich bin Bator, erkennst du mich?» Sein Gesicht wandte sich mir zu, eine kalte Hand tastete über meine Wange, stumpfe, blicklose Augen starrten weit aufgerissen ins Leere – und ich begriff, nahm ihn in die Arme, wiegte ihn wie ein Kind, meine Tränen tropften auf ihn nieder, und ich hörte seine geflüsterten Worte: «Bring mich zurück, Bator, bring mich nach Hause!» Seither bin ich sein Auge, und er ist mein Bein. Zusammen haben wir unser Leben weitergeführt, jeder zum Nutzen des andern. Es macht uns nichts aus, dass unser Dasein nur noch aus den einfachen Dingen des Alltags besteht, wichtig ist alleine das Wissen, geborgen zu sein in der endlosen Weite unseres geliebten Graslandes. Und wenn ich auch sicher bin, dass ich bald ins Salz gehen werde, so bekümmert mich dieses nicht, denn ich weiss, ich werde weiterleben in meinem Sohn, werde als Mensch im Menschen sein für alle Zeit.