Der Schattenbote Version: v1.0
Er war ein Reisender durch die Jahrhunderte. Ein Su chender. Ein Verdammter. Seine Aug...
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Der Schattenbote Version: v1.0
Er war ein Reisender durch die Jahrhunderte. Ein Su chender. Ein Verdammter. Seine Augen hatten Kulturen kommen und unterge hen sehen. Die, zu denen er zählte, hatten sich durch perfekte Mimikry stets angepaßt. Das Gesicht der Erde änderte sich – aber die Rolle von Jägern und Opfern war immer die gleiche geblieben. Bis zu jenem Tag, da der Kelch gestohlen wurde. Dem Tag, seitdem kein echtes vampirisches Leben mehr nachsproß und vergehendes ersetzte. Niemand nahm mehr den Platz derer ein, die gingen. Schon seit 267 Jah ren nicht mehr. Genau so lange, wie auch die Verdamm nis des Kelchjägers bereits dauerte …
Was bisher geschah Nach einem Kampf gegen mutierte australische Schöpferwesen, die Wondjinas, verfällt Liliths arg mitgenommener Symbiont in einen Traum, den sie direkt miterlebt: So erfährt sie, daß ihre Mutter Creanna von einer schwefeläugigen Vampirin, die den Lilienkelch gestohlen hatte, in fremdem Auftrag aufgezogen wurde – und daß sie lange Zeit mit Landru liiert war! Damals verübte Creanna auf Be fehl der Unbekannten (und mit Hilfe des Symbionten) einen Mordanschlag auf Landru, dem dieser aber entging. Später verliebte sich Creanna in den Schotten Sean Lancaster und zog mit ihm nach Australien, um dort Lilith zu zeugen – ebenfalls ein Schachzug jener Unbekannten. Als Lilith aus dem Traum erwacht, sieht sie sich – und ganz Sydney – einer neuen Gefahr gegenüber. Einer der bösen Wondjinas hat vor seinem Tod einen Tasmanischen Teufel – ein rattenähnliches Nagetier – mit einer schrecklichen Seuche infiziert: einer magischen Abart der Pest, die rasch um sich greift! Bald sind die Krankenhäuser überfüllt; alle Versuche, die Seuche einzudämmen, scheitern. Ein infizierter Mensch führt dem Tasmanischen Teufel als Rattenfän ger immer neue Tiere zu, die den Keim weiter verbreiten, unter anderem durch die Verseuchung der städtischen Wasserversorgung. Auch Lilith wird gebissen und gerät außer Kontrolle, bis ihre vampirische Abstammung sie zwar rettet, aber nicht ganz von dem fremden magischen Ein fluß befreien kann. Die Magie des bösen Wondjina in dem monströs aufgedun senen Nager erkennt Lilith als diejenige, die ihn damals vernichtete, und lockt sie unter dem Einfluß der Infektion in die Kanalisation, wo sie sich selbst an kettet. Schließlich fallen auch Beth und ihr Kollege Moskowitz der Seuche zum Opfer und gelangen ebenfalls unter die Stadt, wo sie vor Liliths Augen getötet werden sollen. Da taucht Virgil Codd auf, der nach seiner Menschwerdung Lilith zu Diens ten ist. Das HAUS schickt ihn – und keine Sekunde zu früh! Er reißt das Herz aus dem Körper des mutierten Nagers und tötet ihn. Die Erkrankten genesen augenblicklich, der Spuk scheint vorbei. Doch die Pest hinterläßt ein tückisches Erbe in den Menschen …
Die Hauptpersonen des Romans Lilith Eden – Tochter eines Menschen und einer Vampirin, dazu gezeugt, eine geheimnisvolle Bestimmung zu erfüllen. Für 98 Jahre lag sie schlafend in einem lebenden Haus in Sydney, doch sie ist zu früh erwacht – die Zeit ist noch nicht reif. Sie muß gegen die Vampire kämpfen, die in ihr einen Bastard sehen, bis sich ihre Bestimmung erfüllt. Dabei hilft ihr ein Symbiont. Der Symbiont – ein geheimnisvolles Wesen, das Lilith als Kleid dient, ob wohl es fast jede Form annehmen kann. Einst gehörte es Creanna und wurde von ihr an Lilith weitergereicht. Der Symbiont ernährt sich von schwarzem Vampirblut und verläßt seine Wirtin bis zu deren Tod nie mehr. Landru – Mächtigster der alten Vampire und der Mörder von Liliths Vater. Seit 267 Jahren jagt er dem verlorenen Lilienkelch nach, dem Unheiligtum der Vampire, ohne den es keinen Nachwuchs geben kann. Landru scheint irgendei ne Schuld auf sich geladen zu haben – welche, ist noch unklar. Virgil Codd – dem ehemaligen Polizeichef von Sydney und Dienerkreatur der Vampire wurde mit Hilfe einer Frucht aus dem Garten des Hauses, wo Li lith erwachte, das Menschsein zurückgegeben. Dafür muß er zu Liliths Verfü gung stehen. Alle weiteren Helfer außer Jeff Warner, dem »Boten des HAUSES«, kamen bei der Wondjina-Krise um. Beth MacKinsey – Journalistin bei einer Sydneyer Zeitung. Bei ihr fand Lilith Unterschlupf. Mittlerweile kennt Beth Liliths wahre Identität – und hat sich, gleichgeschlechtlich veranlagt, in die Halbvampirin verliebt. Die Dienerkreaturen – Tötet ein Vampir einen Menschen mit seinem Biß, wird dieser kein vollwertiger Blutsauger, sondern eine Kreatur, die dem Vam pir bedingungslos gehorcht. Seinerseits kann eine Dienerkreatur den Vampir keim nicht weitergeben, benötigt aber Blut zum (ewigen) Leben und wird – an ders als die Ur-Vampire – mit zunehmendem Alter immer lichtempfindlicher.
Vergangenheit Der schwarzgekleidete Mann betrat die Leichenkammer. Der Gestank, der ihm entgegenschlug, war fast unerträglich. Man che der Toten leuchteten im Dunkeln, weil die Verwesung phospho reszierende Gase freigesetzt hatte. Während Landru sich umsah, begann die fingerlange Kreuznarbe auf seiner Wange zu jucken. Er ignorierte es. Er hatte die unterirdische Versammlungshalle der Sydneyer Vampire aufgesucht und mühelos den »Wegweiser« akti viert, den die Sippe bei der Aufgabe dieses Unterschlupfs hinterlas sen hatte. Landru wußte nun, wo er sie finden konnte, wenn er dies beabsichtigte. Seit er Sydney verlassen hatte, waren nach seinem Empfinden nicht mehr als ein paar Wimpernschläge vergangen. In seinem feingeschnittenen, aber von einer perfiden Note be herrschten Gesicht zuckte kein Muskel, als er sich jene Ereignisse in Erinnerung rief, die ihn den Großteil dieser »Wimpernschläge« ge kostet hatten. Länger als beabsichtigt hatte er sich bei Tanor in Indi en aufgehalten. Und nun wollte er sich überzeugen, ob die Dinge, die dort aufwendig und höchst behutsam vorbereitet wurden, über haupt Sinn machten. »Morla …?« rief er in den gähnenden Schlund des Labyrinths, das unmittelbar hinter dem Leichenberg begann. »Morla, mein Schatz, bist du da?« Sie antwortete nicht, und er hörte auch sonst keine Geräusche. Entschlossen umrundete er die von Greueln gezeichneten Vampi ropfer, die neben dem unterschiedlichen Grad an Verstümmelung alle ein gemeinsames Merkmal aufwiesen: Ihr Genick war gebro
chen. Man hatte verhindert, daß der Keim sie zu Dienerkreaturen machte. An einer unkontrollierten Ausweitung untoter Servanten war nie mandem gelegen – am wenigsten den Vampiren selbst. Auch Die nerkreaturen benötigten Menschenblut zur Aufrechterhaltung ihrer düsteren Existenz, und dieser Saft war zu kostbar, um ihn für zu viele der niederen Kreaturen zu vergeuden. Landru betrat das Labyrinth der unterirdisch miteinander ver zweigten Stollen, die zu Zeiten, als der darüberliegende Friedhof noch nicht entweiht gewesen war, zu jedem einzelnen Grab geführt hatten. Mittlerweile konnte man davon ausgehen, daß alle diese »Ruhe stätten« ihrer Inhalte beraubt waren. Von Morla. Zuletzt war sie auf das angewiesen gewesen, was die Vampire ihr übrigließen – und hatte davon nicht schlecht gelebt. Die meisten Vampire verachteten Geschöpfe wie Morla, nutzten sie aber nichtsdestotrotz als billige »Abfallentsorger«. Landru hinge gen fand Morla und ihresgleichen nicht nur nützlich, sondern auch recht niedlich. Immer wieder rief er den Namen der Ghul, der er Lancasters Schä del anvertraut hatte. Gewissenhaft nahm er sich die Zeit, jeden ent legenen Winkel der Schächte zu inspizieren. Ghuls waren echte Meister im Stollenbau. Sie gruben nicht einfach, sondern tränkten die Wände mit einem körpereigenen Sekret, das in der Moderluft rasch zu einer harten Schicht trocknete, so daß man sich den Gängen bedenkenlos anvertrauen konnte. Als Ghul. Jeder andere, der sich hierher wagte, mußte damit rechnen, daß diese Wesen entgegen landläufiger Meinung mitunter auch ihren
Appetit an Lebendigem entdeckten … Auch in Morlas Ruhehöhle fand Landru die Leichenfresserin nicht. Dennoch wirkten einige Spuren grünlichen Schleims, die er hier fand, ganz frisch. Und mit seinen geschärften Sinnen meinte er auch, die Anwesenheit von etwas, das er nicht sehen konnte, zu spüren. »Morla …? Was soll das Versteckspiel? Ich trage es dir nicht nach, selbst wenn du versagt hast. Komm her, zeige dich!« Er redete mit ihr wie mit einem Schoßhündchen. Aber Morla war nichts weniger als das. Plötzliches Poltern und Vibrieren des Bodens ließ Landru zusam menzucken. Einen Moment stand er regungslos, dann hetzte er den direkten Weg aus Morlas Höhle zurück. Er hatte trotz der laby rinthartig ineinander mündenden Stollen keine Orientierungspro bleme. Seine Augen zehrten geringfügigste Lichtmengen auf. Er rannte wie durch einen diffus erhellten Korridor … … bis zu dem Punkt, wo kein Weiterkommen mehr möglich war. Wo die Decke herabgebrochen war und den Stollen hoffnungslos blockiert hatte! Landru atmete tief und begierig. Er vermied es, Panik aufkommen zu lassen. Dafür bestand kein Anlaß. Es gab noch genügend Umwe ge, die er in seinem Hirn gespeichert hatte und über die er zurück in die von den Vampiren verlassene, unterirdische Kathedrale gelan gen konnte. Er gönnte der Blockade einen letzten mißtrauischen Blick, dann suchte er die nächste Kreuzung auf und nahm einen fast parallel verlaufenden Gang. Er kam nicht weit. Wieder bebte der Boden, und diesmal kam die Decke so nahe herab, daß ihn die Druckwelle mit Staub puderte. Hustend wartete er, bis sich der aufgewirbelte Dreck gelegt hatte. Dann sah er, daß auch hier jeder Versuch, das Hindernis zu beseiti
gen, scheitern mußte. Selbst mit Magie war in dieser Hinsicht nichts zu machen. Landru stellte spätestens jetzt die Zufälligkeit der Einstürze in Fra ge. »Morla?« schrie er. »Morla, was tust du? Ich bin dein Freund … Erkenne mich!« Er legte Suggestion in die Sätze, obwohl er wußte, daß Ghuls dar auf nicht ansprachen. Als keine sofortige Antwort erfolgte, wußte er, daß es fatal werden konnte, sich auf ein Glück zu verlassen, das ihm eine Ewigkeit beigestanden hatte. Hier und jetzt konnten selbst dem Glück Grenzen gesetzt sein. Es war besser, sich auf die eigenen Fä higkeiten zu verlassen. Er war sich nicht zu schade, sich zur schnellstmöglichen Flucht zu entschließen und nun doch Magie ins Spiel zu bringen. Im Rennen beugte er sich nach vorn und verwandelte sich in einen silbergrauen Wolf. Dabei übernahm er die Schnelligkeit und die In stinkte eines Wolfs ebenso wie dessen spezielle Sehweise. Die Stol len, durch die Landru fortan jagte, nahmen einen fast surrealen Cha rakter an. Wie durch eine Infrarotkamera betrachtet, die selbst ge ringster Wärme nachspürte. Das Wissen um die Beschaffenheit des Labyrinths blieb aber auch in diesem Gehirn erhalten. Als die Decke über ihm ihre Stabilität einbüßte, als erste Brocken auf den »Wolf« herabregneten, stand Landru vor der Wahl, alles zu riskieren und den eingeschlagenen Weg beizubehalten, in der Hoff nung, doch noch heil aus dem Einsturzbereich herauszukommen – oder kehrtzumachen und sich auf diese Weise vor dem herabrut schenden Tonnengewicht in Sicherheit zu bringen. Er entschied sich für die riskantere Variante. Er wußte, daß er vielleicht immer diesen berühmten Schritt zu
spät kommen würde, wenn er jetzt die Rute einzog. Unter Hagelschlag aus Geröll und Sand hetzte er geradeaus wei ter. Die Ausläufer der herabkommenden Massen trafen ihn noch mit solcher Wucht, daß ihm die Hinterläufe wegknickten und er nur durch eine abermalige Verwandlung in ein viel kleineres Tier, eine Fledermaus, überlebte. Sofort setzte er die Flucht, getragen von ledrigen Hautschwingen, fort. Ultrahohe Töne gellten aus seinem halboffenen Rachen und schlugen als Echo auf ihn zurück. Mühelos stellte er sich auch auf die neuerlich veränderte Sehweise ein. Aber selbst im Flug spürte er das Zittern, welches das Reich unter dem Friedhof durchlief. Diesmal stürzte der Stollen kurz vor der Stelle ein, wo der Durchbruch zur Leichenkammer lag. Knapp vor dem Ziel mußte Landru sich damit abfinden, daß er ge fangen war. Eingeschlossen in einem Stollenstück, dessen beide Enden über viele Meter so absolut blockiert waren, daß nicht einmal mehr eine Maus eine Lücke gefunden hätte! Fast elegant bremste er seinen Flug und kehrte zur menschlichen Statur zurück. Dieselbe Magie, die ihm den Gestaltwechsel ermög licht hatte, erschuf auch seine Kleidung wieder. Landru fluchte. Der Staub schwebte wie Nebel in der Luft. »Morla, verdammt! Zügele deinen Irrsinn! Zeige dich!« Was war passiert, daß die Ghul – niemand sonst konnte für diese Einsturzserie verantwortlich sein – dermaßen verrückt spielte? War Lilith hier gewesen, um sich den Kopf des Highlanders zu ho len? Es wäre ihr Tod gewesen – aber es hätte nicht Morlas Aggression
ihm, Landru, gegenüber erklärt. Sie war einverstanden gewesen, den Kopf des Mannes zu hüten, den Landru vor 66 Jahren eigenhän dig enthauptet hatte. Auch wenn sie nichts über seine Beschaffen heit als Bombe gewußt hatte.* Was war es dann, das sie erzürnte? Hatte die Explosion Lilith zerrissen, und nahm Morla es ihm krumm, daß auch sie dabei gefährdet worden war …? Wie kleinlich! Es paßte nicht zu dem grünschleimigen Ungeheuer, das Landru ins Herz geschlossen hatte. Abwartend stand er da. Die Schwebeteilchen senkten sich langsam aus der Luft, und Landru überlegte fieberhaft, was er tun konnte, wenn Morla sich nicht besann. Wenn sie ihn hier verschmachten las sen wollte … Er zwang sich zur Kühle. Die Stille schmerzte in seinen Ohren, aber davon ließ er sich nicht beeindrucken. »Seit wann sind Ghuls feige?« schrie er plötzlich überlaut, um die halbtaube, verborgene Widersacherin zu erreichen. Ghuls waren immer feige. Alle Ghuls. Deshalb goutierten sie ja mit Vorliebe Nahrung, die sich nicht mehr wehrte. Irgendwo in Richtung der unterirdischen Kathedrale rieselte ver krustetes Erdreich zu Boden – eine minimale Prise. Landru gab durch nichts zu verstehen, daß er es bemerkt hatte. Aber fortan konzentrierte er sich besonders auf diesen Punkt an der Decke. Aber kein Ghul hörte gern, daß er feige war …! »Dein Fraß soll dir in der Kehle stecken bleiben, feige Morla!« rief *siehe VAMPIRA 9: »Diener des Bösen«
er – und wunderte sich, daß die nächste spürbare Reaktion vom ge genüberliegenden Ende des Schachtabschnitts kam. Auch dort rie selte etwas Sand herab. Landru kannte die Gewandtheit von Morlas äußerlich plump wir kendem Körper. Aber die gerade demonstrierte Flinkheit übertraf alle seine Erwartungen. Er schloß kurz die Augen. Er atmete die Stille, die ihn umgab – und plötzlich hörte er hinter dieser Stille ein kaum wahrnehmbares Scharren. Mit geschlossenen Lidern lokalisierte er den Ursprung. Er lag genau über ihm! Im nächsten Moment brach auch schon die dünne, gehärtete Ober fläche des Stollens und gebar das, worauf Landru die ganze Zeit ge wartet hatte – und auch wieder nicht. Der Gegner war von erschütternder Häßlichkeit, mit Mensch und Vampir nur insofern verwandt, daß auch er zwei Beine, zwei Arme und einen Kopf besaß. Darin erschöpfte sich jede »Ähnlichkeit«. Landru konnte gerade noch einen Ausfallschritt machen, um dem herabplumpsenden, seltsam konturlosen Körper auszuweichen. Er schlug direkt vor seinen Füßen zu Boden und quittierte den Fehl sprung mit wenig Sportsgeist. Haßerfüllt versuchte er, auf Landru zuzurobben. Die breiigen Gesichtszüge mit den Nasenschlitzen wa berten außer Kontrolle hin und her. Aus dem breiten, lippenlosen Maul fauchte und grollte es Landru wie aus den Ventilen einer unter Überdruck stehenden Dampfmaschine entgegen. Er erwartete förm lich, daß ihm Feuerlanzen entgegenzucken würden. Aber dazu war das grünschillernde Wesen, das – obwohl zweifels frei eine Ghul – nicht Morla war, nicht in der Lage. Es besaß kein …
Landrus Gedankenkette endete, als von oben ein zweiter, ebenso schwammiger und sekrettriefender Körper auf ihn herabprallte und seinen kompletten Oberkörper begrub. Hart schlug er zu Boden. Die Luft blieb ihm weg. Statt dessen füll te sich sein zu spät geschlossener Mund mit einer Substanz, die nicht nur widerlich aussah, sondern es zweifelsfrei auch war. Hus tend und spuckend grub er beide Arme bis zu den Ellenbogen in das teigige, grobporige Gewebe der Ghul, die über ihn kam wie eine tödliche Geliebte. Obwohl er der Leichenfresserin eigentlich überlegen war, spürte er deren unbedingten Willen, ihn zu besiegen. Sie gebärdete sich wie tollwütig und riß ihm mit ihren Pranken, die rauh wie schroffe Steinkeile waren, tiefe Wunden ins Fleisch. Landru sah keine andere Möglichkeit als ein erneutes Morphing. Seine danach messerscharf gebogenen Klauen zerfetzten den Leib seiner Gegnerin, und ihr ohrenbetäubendes Gebrüll signalisierte ihm, daß er auf dem richtigen Weg war. Die Kräfte der Ghul schwanden rapide. Landru winkelte die Beine an und katapultierte den schweren, nachgiebigen Körper wie einen leblosen, mit zäher Flüssigkeit gefüllten Sack von sich. Dumpf prallte die Ghul gegen die Schachtwand. Die schwefelgel ben Augen der halslosen Kreatur sahen aus wie geronnen. Aus dem Maul troff Blut, mit Verdauungssäften vermischt, und sofort breitete sich ein Gestank aus, der noch ätzender war als jener in der Leichen kammer. Landru blieb keine Atempause. Er wußte längst, daß er es wider aller Logik mit mehr als einem Gegner zu tun hatte. Vor allem nicht mit Morla. Aber er hatte keine Zeit, über deren Schicksal nachzudenken. Der nächste Angriff lief gegen ihn, und als er kurz zur Decke
schaute, traute er seinen Augen nicht, denn er erhaschte einen kurz en Blick auf eine dritte Ghul … »Bei Cane!« fluchte er – und machte diesmal kurzen Prozeß. Er sah seinen Gegner, und darum konnte er die Waffe einsetzen, die ihm ansonsten half, sein Gelübde einzuhalten. Er streckte die Arme aus und drehte die offenen Handflächen nach oben. Im nächs ten Moment erstand das magische Replikat des verschollenen Lilien kelchs – und wieder einen Moment später geriet der Ansturm der zweiten Ghul ins Stocken. Ihr Gebrüll übertraf das ihrer toten Artge nossin noch um ein Vielfaches. Aus mehr als einem Dutzend Wun den gleichzeitig schoß Blut, das ähnliche Farbe besaß wie der schlei mige Sekretfilm, der den tumben Körper ummantelte. Landrus unsichtbare Klinge schlug gnadenlos immer weitere Wunden in den zusammenfallenden Leib, dessen Augen lautlos um Gnade flehten. Landru war zu keiner Barmherzigkeit aufgelegt. Nicht nach all der Heimtücke, mit der gegen ihn selbst vorgegangen worden war. Und noch während sein zweites Opfer zuckte und röchelte, ver wandelte er sich in seine Fledermausgestalt und glitt hinauf durch eines der Deckenlöcher, aus dem die Brut gekommen war. Er war jetzt sicher, mit wem er es zu tun hatte. Und aus dieser Erkenntnis entstand neuer Handlungsbedarf. Die dritte Ghul schien eine Lehre aus dem Untergang der anderen gezo gen zu haben. Sie verzichtete auf einen weiteren direkten Angriff. Aber wenn es ihr in den Sinn kam, auch den darüberliegenden Stol len hermetisch abzuriegeln, würde Landru alles Taktieren der Welt nicht mehr helfen. Dann würde er unter dem entweihten Friedhof langsam verrotten, ohne Aussicht auf das geringste Blutmahl …! Soweit wollte er es nicht kommen lassen. Der Stollen über dem anderen war frisch gegraben und wesentlich
beengter als das bereits ausgelotete Labyrinth. Die Ghul, die vor ihm flüchtete, schaufelte, auf dem Bauch liegend, wie ein grabender Maulwurf, und als sie ihren Verfolger im Nacken spürte, begann sie die Erde, die sie vor sich wegnahm, hinter sich zu wuchten. Landru beschleunigte seinen Flug und ließ sich von den Brocken, die ihn trafen, nicht ablenken. Mit aller Entschlossenheit, die ihm sein Selbsterhaltungstrieb diktierte, bohrte er sich von hinten in den Leib der dritten Ghul. Dabei versuchte er die Balance zwischen absolut notwendiger Ver letzung und weiterer Handlungsfähigkeit seines Opfers zu finden. Er konnte es sich nicht leisten, es zu töten – noch nicht. Er wollte erst ganz sichergehen, daß nicht noch mehr Schächte der Zerstö rungswut der Ghuls anheimgefallen waren. Auch jetzt wußte er nicht, was in sie gefahren war. Die Artikulationsmöglichkeiten der Ghuls waren verschwindend gering, auch wenn sie verstanden, was man ihnen – laut genug – sagte … Landru gab seine geflügelte Gestalt auf und umschlang den haar losen Schädel, der abrupt innegehalten hatte, von hinten. »Du willst nicht sterben – nicht wahr?« schrie er. »Du willst den anderen nicht folgen … Dann tu, was ich dir sage! Tu es einfach, ohne das geringste Sträuben, oder ich zerstückele deinen unansehn lichen Körper in tausend winzige Portionen!« Die Ghul hielt immer noch wie paralysiert inne. »Bring mich zur Kammer zurück, wo die ›Vorräte‹ lagern, die ihr nicht verdient habt! Beeile dich, bevor ich meine Güte bedauere!« Schleppend setzte sich der breiige Körper, nicht größer als Landru, aber doppelt so breit, in Bewegung. Minutenlang zog er den Vampir hinter sich durch provisorisch an
gelegte Gänge, bis er erneut den Boden durchstieß und unmittelbar vor dem Eingang zur Leichenkammer landete. Landrus Fall wurde von dem weichen Körper aufgefangen, der sich totstellte, als könnte ihn das vor dem wirklichen Sterben be wahren. Landru vollendete mitleidlos, was ihm sein Erfahrungsschatz riet: Nie einen gedemütigten Gegner am Leben lassen – sie alle wurden irgendwann von dem Wunsch beseelt, Rache zu üben. Selbst wenn dies noch so aussichtslos war! Er tötete schnell. Die unsichtbare Klinge trennte das haarlose Haupt sauber vom Rumpf. Das leise Röcheln des modrigen Atems verstummte sofort. Landru verließ die Quelle unerträglichen Gestanks nun unverzüg lich und kehrte zurück in die Stadt, wo sich die Wondjina-Krise ge rade auf ihrem Höhepunkt befand. Überall brannten Fanale fremd artiger, faszinierender Magie. Landru verzichtete dennoch darauf, tätig zu werden. Seine vorran gige Absicht bestand darin, Lilith Eden aufzuspüren, von der er nun ahnte, daß sie die magische Bombe überlebt hatte. Der Haß, der ihm im Labyrinth entgegengeschlagen war, konnte nur bedeuten, daß Morla der Bombe zum Opfer gefallen war. Mit oder ohne Lilith. Die Ghul hatte eine Brut hinterlassen, die Landru um ein Haar ins Verderben gerissen hätte. Morlas schreckliche Kinder …
* Später …
Ihr Name war Henna, und ihr flippiges Outfit weckte Landrus dunkle Lebensgeister. Ihr Outfit bestand aus roter Lederkleidung – Jacke und Hose –, kniehohen Schaftstiefeln mit klirrenden Sporen, einer tief in die Stirn gezogenen Schirmmütze – ebenfalls aus weichem, geschmeidigem Leder – und einem über dem Nabel endenden superengen, weißen T-Shirt. Der goldene Ring, der ihren Nabel durchstach, war nicht mehr als ein Blickfang. Wirklich erregend war der in ihren schlanken und dennoch sanft gewölbten Bauch »eingelassene« Nabel selbst – ein Überbleibsel ihrer frühen Kindheit, die sie – wie alle Vampire – als Mensch begonnen hatte. Daß sie ihr Haar kurzrasiert trug (zumindest an den Rändern, die die Kopfbedeckung erkennen ließ), sicherte ihr weitere Sympathien Landrus. Ihre Augen waren dunkel erstarrte Lava, ihr Mund etwas zu dünnlippig, aber darüber ließ sich hinwegsehen. Brauen waren nicht vorhanden, vielleicht hatte sie sich die eigenhändig ausge zupft. In der linken Nasenwand trug sie einen Brillanten. Als »lebender Schmuck« hockte eine mit goldfarbenem Halsband an ihren Halsreif angekettete Ratte auf ihrer linken Schulter – ange sichts der sich gerade ausbreitenden Rattenhysterie eine mehr als gewagte Zierde. Landru paßte die Vampirin in unmittelbarer Nähe des neuen Sip pen-Treffpunkts ab. Als er zwischen den Bäumen hervortrat und ihr den Weg verstell te, kerbte sich neben zwangsläufiger Überraschung auch morbide Verzückung um ihren Mund. Sie erkannte ihn auf Anhieb. Allein die Kreuznarbe machte ihn schon unverwechselbar. Aber selbst ohne dieses »Souvenir« eines Übereifrigen nahm Landru eine Son derstellung unter den Vampiren ein, die man, wenn man dieser Ras
se selbst angehörte, mühelos erfühlte. »Du bist zurück«, sagte Henna und stellte sich Landru sogleich na mentlich vor. »Das wird manche erfreuen, manche nicht …« Landru lauschte dem Klang ihrer rauchigen Stimme. Er registrierte feinste Untertöne, und alles verriet, daß Hennas Verstand eupho risch verfärbt war. Es hatte nicht nur mit Landrus unverhofftem Auftreten zu tun. »Wen könnte es nicht erfreuen?« fragte er. Sein Gesicht schwebte so nahe vor ihrem, daß ihre Zunge im halboffenen Mund vor sicht barem Verlangen zu vibrieren schien. Landru weidete sich an ihrer ungebremsten Begierde. Die Augen der Ratte glommen eifersüchtig. Aber sie wagte nicht einmal zu fauchen. »Hora«, sagte Henna. Ihr Blick strich über seine Haut. Über jede Pore seines Gesichts. Über die rohe rote Narbe. Sie ahnte nicht, daß Landru sein erotisches Charisma bewußt verstärkte, um sie gefügig zu machen. »Hora ist tot«, sagte er, ohne in seinem Bemühen nachzulassen. »Es gibt einen Nachfolger«, erwiderte sie kehlig. »Einen ›neuen‹ Hora. Früher hieß er Herak. Er hielt es für eine gute Idee, sich mit fremden Federn zu schmücken. Er wurde von der Sippe in deiner Abwesenheit anerkannt.« »Von dir auch, Henna?« »Von mir auch.« »Ich erinnere mich nicht an ihn. Wo versteckte er sich bei meinem letzten Besuch?« Henna schürzte die Lippen. Ihre Zunge tanzte wie ein Derwisch darüber und näßte sie. »Das mußt du ihn selbst fragen.« »Ein anderes Mal. Ich habe nicht vor, mich in eure Belange einzu
mischen. Sonst stünde ich jetzt nicht hier vor dir.« »Was heißt das?« »Ich möchte nicht, daß die Sippe von meiner Rückkehr erfährt, Henna.« »Dein Vertrauen ehrt mich.« »Ich kenne dich zu wenig, um dir allzusehr zu vertrauen«, erwi derte er. »Aber es wird dir helfen, mich nicht zu enttäuschen, wenn ich dir sage, daß ich dich sicher finden und töten werde, wenn du mich enttäuschst …« Sie starrte ihn an. Stumm – entsetzt. Dann verfiel sie in unkontrolliertes Kichern. »Aber der Kodex …«, setzte sie an. Sein Blick ließ sie verstummen. Sie begriff. Sie nickte. Ihre Hand hob sich und streichelte über das Mal auf seiner Wange. »Ich möchte meine Zähne hineinstoßen …! Ist das schlimm? Ist das böse von mir …?« »Sehr schlimm und sehr böse«, antwortete er. »Wir werden sehen, was sich machen läßt. Was ist mit dir? Du scheinst mir ein wenig … trunken. Hast du gerade getötet und deinen Durst gestillt?« Sie nickte. Voller Eifer. Dunkle Sonnen schienen hinter ihren Au gen aufzugehen. Die Pupillen verdeckten fast die gesamte Iris. »Ich habe es so genossen. Das Trinken. Aber getötet habe ich nicht.« Landru blickte fragend. »Ich halte mir eine ganze Clique von Jungs«, lächelte sie schwelge risch. »Sie hausen unten am Strand. Sie feiern jede Nacht Feste. Und ich feiere mit. Sie merken nicht, wenn ich über sie komme. Sie wer fen seltsame Pillen ein. Dazu trinken sie Unmengen Alkohol. Ich lausche ihren Phantasien, mit einigen schlafe ich, und wenn ich aus ihnen sauge, ist es anders als bei allen, die ich vorher hatte. Ich spü
re selbst diese Leichtigkeit, die sie die Nacht durchtanzen und lust voll-aggressiv werden läßt. Ich weiß, daß ich sie irgendwann töten muß. Sie tragen den Keim. Aber ich zögere es hinaus …« Landru blickte sie sinnend an. »Du bist entweder sehr mutig oder sehr naiv, daß du mir dies anvertraust.« Ihre Augen glommen noch stärker auf. »Willst du mich bestrafen? Wie Hekade?« Sie fuhr sich mit beiden Händen unter die Mütze und lüftete sie. »Bitte, tu es! Ich hasse mein Haar. Aber es wächst immer wieder nach.« »Du bist verrückt.« »Nach dir. Als ich dich zum erstenmal sah, war ich dir verfallen.« Sie seufzte. Sie zitterte. »Ich bekomme einen Orgasmus, wenn ich nur mit dir rede. Ich weiß, daß du Frauen ohne Haare favorisierst. Deshalb rasiere ich mich. Überall. Du hast mich nie beachtet bei dei nen Besuchen, aber ich hoffte immer, daß sich dies eines Tages än dert und …« »Und?« Sie schmachtete ihn schweigend an. Er las die ungekünstelte Be gierde in ihr, und es schmeichelte ihm. »Du gefällst mir«, räumte er ein. »Aber ich spüre momentan kein Verlangen nach Nähe.« »Das macht nichts«, sagte sie. »Ich werde warten.« Er nickte, erstaunt über ihr Verhalten. »Einstweilen kannst du mir anderweitig helfen.« »Wie?« Er sagte es ihr. »Es geschehen besorgniserregende Dinge in der Stadt«, gab sie be reitwillig Auskünfte. »Vampire töten sich selbst. Menschen fallen übereinander her. Seltsame Lichter erhellen die Stadt. Sie gehen von
den Artefakten der Ureinwohner aus. Einer der ersten Befehle des neuen Hora war, Dienerkreaturen zu den Fanalen zu senden. Keine kehrte zurück – aber wir alle spürten die Todesimpulse.« Sie erstattete ausführlich Bericht. Landru hörte ihn sich an, und er stellte eigene Spekulationen über die Zusammenhänge an, die er Henna jedoch vorenthielt. »Gab es auch Todesimpulse von Dienerkreaturen, die nicht auf diese Art erklärt werden konnten? Impulse jüngeren Datums? Star ben Vampire unter ungeklärten Umständen?« Trotz ihrer Aufgeputschtheit schien Henna einen erstaunlich wa chen Intellekt zu besitzen. »Du sprichst von dem Bastard?« Er nickte. »Ich spreche von Lilith Eden.« »Niemand spricht momentan noch von ihr. Sie wurde seit deinem Fortgang nicht mehr gesichtet, und es gibt existenzielle Bedrohun gen auch ohne sie …. Wirst du uns dagegen helfen?« »Gegen die fremde Magie? Nein. Das soll Hora allein regeln. Es ist seine Feuertaufe. Wenn er versagt, wüßte ich eine würdige Nachfol gerin …« Sein kühles Lächeln entsprach dem Ernst, den er empfand. Er führte den ausgestreckten Zeigefinger in ihren Mund ein und spielte mit ihrer gewandten Zunge. »Ich lasse dich wissen, wann mich nach dir gelüstet.« Sie stöhnte leise. »Ich warte voller Ungeduld.« »Wo finde ich dich am ehesten?« Sie wies hinter sich. »Am Strand. Spätnachts bin ich sicher dort. Folge dem ausgelassensten Treiben. Unser Feuer lockt die ankom mende Flut – und es mag dir zu mir leuchten. Die Tafel ist reich ge deckt. Dir zu Ehren werde ich so viele opfern, bis du auf Wochen gesättigt bist!« »Sind auch Mädchen darunter?«
»Keine Jungfrauen, wie du dir denken kannst.« »Mir reicht ein jungfräuliches Bouquet.« »Das kann ich dir versprechen … Alles verspreche ich dir – wenn du dich nur meiner erinnerst! Bald …« »Bald«, versprach Landru und fügte hinzu: »Wir sollten eine Mög lichkeit schaffen, daß du jederzeit weißt, wann ich dich brauche.« Ihre Augen leuchteten auf. »Jaaa!« dehnte sie rauchig. »Wie?« Er zeigte auf ihre Ratte. »Hast du je von ihrem Blut gekostet?« Henna verneinte. »Sie ist nur ein Schoßhündchen.« »Schenke es mir, nachdem du es ausgetrunken hast … Oder ginge dies zu weit?« Kopfschüttelnd entgegnete sie: »Sage mir nur, warum.« »Du sollst den Keim an sie geben.« »Eine Ratte als Kreatur …? Wozu? Sie …« »Laß es, wenn es dir zu schwer fällt. Aber ich wüßte keine schnel lere Methode, dich überall mit meinem Ruf zu erreichen, solange ich in der Stadt bin.« Endlich begriff sie und tat, wie ihr geheißen. Dann trennten sie sich. Als Landru von ihr fortging – fliehender Nebel im Morgentau –, wußte er immer noch nicht schlüssig, ob Lilith Eden den Anschlag überlebt hatte oder nicht. Er ahnte nur, daß sie mit hoher Wahr scheinlichkeit aus Nepal zurückgekehrt war. So wie ein Jäger ahnt, daß das Wild nur verwundet, aber noch nicht tot ist …
*
333, Paddington Street Obwohl die Sonne hoch im Zenit stand und es noch lange dauern würde, bis sie hinter dem Horizont versank, lag bereits Dämmerung über dem Grundstück. Dämmerung und ein betäubender Phantom duft nicht mehr vorhandener Vegetation … Landru verharrte draußen vor dem Tor. Wieder dachte er kurz an das indische Intermezzo zurück. Sydney hätte ein Oberhaupt von Tanors Qualitäten gut zu Gesicht gestan den. Bereits der alte Hora hatte dazu geneigt, sich in weit zurücklie genden Taten und Erfolgen zu sonnen. Lilith’ Erwachen hatte sein Phlegma dann jäh beendet. Allerdings auf andere Weise, als es wün schenswert gewesen wäre. Hora hatte mit dem Leben bezahlt, das der Kelch ihm einst schenkte. Landru hoffte, daß Hora dafür in derselben Hölle schmorte, die auch ihm selbst drohte, falls er das Unheiligtum seiner Rasse nicht bald aufspürte. Eine kaum abschätzbare Gefahr drohte. Landru hatte mit Tanor darüber gesprochen: Die Zeichen, daß eine Katastrophe im Schwan ge war, verdichteten sich immer mehr. Der Diebstahl des Lilien kelchs hatte eine Lawine losgetreten. Offenbar verhinderte sein Ver lust nicht nur die Zeugung unbedingt erforderlichen Nachwuchses. Es schien auch, als übe sein Verschwinden verderblichen Einfluß auf die existierenden Vampire aus! Landru spürte es geringfügig an sich selbst: jenen Hang zur Nach lässigkeit, jene Überheblichkeit, die mental schwächte und das wah re Ausmaß einer Gefahr mitunter unterschätzen ließ! Aber er kämpfte wenigstens dagegen an. Er spürte den Schwund an Vorsicht, Weitblick und sogar an der für Vampire immer typisch
gewesenen Wildentschlossenheit, die sie über Jahrtausende hinweg zu den ungekrönten Beherrschern dieses Planeten gemacht hatte! Im nachhinein schloß Landru auch nicht mehr aus, daß genau die ses Defizit dafür verantwortlich war, daß ihm Lilith Eden bei der ersten direkten Konfrontation entkommen war. Später, bei der zwei ten und vorläufig letzten Begegnung im Himalayamassiv, hatte dann die pure Notwendigkeit verlangt, sie zu schonen. Im Ange sicht der BLUTBIBEL und der Mächte, die dieses Werk hüteten, war für persönliche Feindschaften kein Platz mehr gewesen. Und danach … Landru hatte in den zerstörten Tempelanlagen keine Spur von Li lith gefunden. Dennoch glaubte er, daß sie wie er überlebt hatte.* Den anschließenden Indien-Aufenthalt hatte er in die Zukunft in vestiert. Lilith war schon jetzt eine in vielerlei Hinsicht ebenbürtige Gegne rin. Und sie besaß die lebende Waffe, die schon ihre Mutter einst ge gen ihn eingesetzt hatte …! In den weit über zwei Jahrhunderten, die seit der Attacke jenes Wesens vergangen waren, hatte sich Landru oft die Frage gestellt, was da eigentlich versucht hatte, ihn zu verschlingen. Eine Antwort hatte er nie gefunden – einem Chamäleon wie diesem, das in der einen Sekunde Kleidung, in der nächsten Bestie zu sein vermochte, war er nie zuvor und nie wieder danach begegnet! Schon allein dieses »Ding« war es wert, Lilith zu stellen. Es ihr ab zujagen und herauszufinden, ob es für seine Zwecke zu zähmen war, konnte lohnen. Auch wenn es mit dem Risiko verbunden war, erneut angegriffen zu werden. Landru fürchtete es nicht. Er hatte es einmal abgewehrt, als die Überraschung noch auf Seiten des »Dings« gestanden hatte. Gewarnt würde er ihm jederzeit widerste hen, davon war er überzeugt. *siehe VAMPIRA 8: »Die Bluttbibel«
Nein, Lilith würde sich auf diesen Verbündeten im direkten Kampf nicht berufen können. Sie würde eine gleich bittere Erfah rung machen wie die Hure Creanna selbst, die sich nur durch er bärmliche Flucht und ein noch erbärmlicheres Versteckspiel gerettet hatte. Solange, bis sie das Balg zeugen und gebären konnte. Hure! dachte Landru. Er hatte Creanna die Demütigung und ihr Hintergehen nie verziehen. Er hatte sie überall gesucht – vielfach war sie ihm nur um Haaresbreite entkommen. Aber nicht nur das »Ding« interessierte Landru an Lilith – auch sie selbst schürte seine Phantasie. Er hatte nie vergessen, was er bei Creanna während ihrer gemein samen Jahre immer gefühlt hatte, aber damals noch nicht klar zu ar tikulieren vermochte: Creanna war so jung gewesen – anders in ih rer Ausstrahlung als jeder andere Vampir, dem Landru je begegnet war. Letztlich hatte dieser Reiz ihn veranlaßt, sie zu seiner Gefährtin zu machen. Aber erst nach ihrem Mordversuch war es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen: Creanna selbst war möglicher weise eine Spur zum verschwundenen Kelch. Und wenn er ihrer nun nicht mehr habhaft werden konnte, weil sie bei der Geburt ihrer lebenden Tochter starb, wie das GESETZ es vorschrieb, so gab es im mer noch Lilith. Das Kind, das hier in Sydney hinter unbezwingbaren Mauern her angewachsen war. Gezeugt in einem Akt der Liebe zwischen sol chen, die einander nicht lieben durften – und ganz ohne Lilienkelch … Oder doch nicht ganz ohne? War der Kelch schon damals von sei nem Dieb mißbraucht worden? Suchte Lilith ihn nur, weil sie noch nicht erkannt hatte, daß er sich längst in ihrem Besitz befand? Landru schloß es nicht mehr völlig aus. Er starrte durch das Torgitter hinein in die düstere Ödnis, wo kein
Grashalm mehr wuchs und wo doch in der Dämmerung des ehema ligen Gartens Bewegung wahrnehmbar schien. Phantomgewächse, die sich leise im Wind wiegten … Landru atmete erneut den Duft der Pflanzen ein, die – Henna hatte es ihm erzählt – von Handlangern der Vampire entfernt worden wa ren. Landru hatte die fremdartige Vegetation mit eigenen Augen ge sehen. Sie war fort, verschwunden, aber ihre betäubenden Sporen schienen immer noch in der Luft zu tanzen. Er war klug genug, das Grundstück nicht zu betreten. Er spürte die Feindseligkeit des Zwielichts, und er spürte die erbarmungslose Macht, die sich im Bauch der Erde verbarg. Er wußte nur nicht, wer diese Macht war. Lilith selbst war der Schlüssel auch zu diesem Geheimnis. Es wäre dumm gewesen, sie einfach zu töten. Je länger er Zeit hatte, darüber nachzudenken, desto logischer erschien es ihm, Lilith zu benützen. Um das Wechselkleid zu erhalten! Um den gestohlenen Kelch zu finden! Und um die Macht zu entlarven, die der Alten Rasse nach der Existenz trachtete! Entschlossen umrundete er das gesamte Anwesen und hinterließ überall seine magischen Siegel …
* Gegenwart Ich will, daß sie geht …! Beth MacKinsay heftete ihren Blick auf die Schlafzimmertür. Jen
seits davon befanden sich Lilith Eden, die Halbvampirin, und Virgil Codd, Ex-Bulle und … Ex-Kreatur. Beth tat kein Auge mehr zu, seit Codd plötzlich im Raum gestan den hatte. Dieses Bild und Szenen dessen, was sich zuvor in der Ka nalisation abgespielt hatte, geisterten unentwegt durch ihr Bewußt sein. Die Reporterin kauerte mit angezogenen Beinen, den Rücken ge gen die Wand gelehnt, im Bett. Anfangs hörte sie noch leise Stim men, ohne daß sie verstand, worüber Codd und Lilith sich unter hielten. Irgendwann wurde es still, aber Beth starrte weiterhin zur Tür. Das Messer, mit dem sie Codd gedroht hatte, lag neben ihr. Eine Deckenlampe streute Licht, das die Haut blaß erscheinen ließ – bei nahe transparent. Auch Lilith war bleich. So bleich und so wunderschön. Und den noch zog es Beth die Magennerven und einiges mehr zusammen, wenn sie sich der Berührungen erinnerte, die sie mit dieser Frau ausgetauscht hatte. Sie sehnte das Ende der Nacht herbei. Die Zeit schlich dahin. Irgendwann ertönten draußen im Wohnzimmer wieder Schritte, und Beth schielte nach dem Messer. Dem Klang nach handelte es sich um Codd, der neuerlich durch die Wohnung geisterte. Dann hörte Beth etwas Seltsames. Etwas … Unbeschreibliches. Sie fand keine passenden Worte dafür. Aber es war beängstigend, und es weckte ihre beständig hinter der Kehle lauernde Hysterie. Leise schrie sie auf. Die Geräusche verstummten abrupt. Zugleich hatte sie den Ein
druck, etwas Schwarzes, Schattenhaftes senke sich über die Decken lampe. Eine Mikrosekunde lang herrschte tiefe, fast greifbare Fins ternis. Dann war wieder alles wie zuvor, und nichts zeigte an, ob es sich um eine bloße Sinnestäuschung oder äußere Einflußnahme ge handelt hatte. Beth glitt aus dem Bett. Sie preßte ein Ohr gegen die Tür. Nichts. Grabesstille. Ein Königreich für einen Schlüssel, dachte sie. Hätte sie noch einen passenden besessen, hätte sie sich wenigstens die Illusion von Si cherheit schaffen können – obwohl sie zweifelte, daß Geschöpfe wie Codd oder Lilith sich im Ernstfall von solch profanen Schutzmecha nismen aufhalten ließen … Lautlos drehte sie den Knauf und zog die Tür zunächst einen Spalt weit, dann vollständig auf. Etwas Unheimliches geschah: Das Licht aus dem Schlafzimmer schaffte es nicht, die Schwelle zu überwinden. Nicht der leiseste »Funke« davon streute in den angrenzenden, stockfinstren Wohn raum! Beth wollte sich schon wieder zurückziehen und die Tür hinter sich zuschnappen lassen, als sie Codd entdeckte. Er hob sich wie ein Leuchtturm von der umgebenden Dunkelheit ab. Weil er selbst noch dunkler war – oder einfach anders dunkel. Das Unheimliche währte Sekunden oder Minuten. Beth wagte nicht, sich zu rühren. Und dann »schwappte« die Helligkeit doch ins andere Zimmer. Riß Mobiliar und anderes aus der Anonymität. Auch Lilith. Sie lag auf der Couch. Schlafend. Beth’ Blick schweifte zurück zu Codd. Dann hob sie ihre Faust und
preßte sie gegen den Mund, als könnte sie damit das hervorbrechen de Entsetzen ersticken. Sie konnte es nicht.
* Lilith schrak ausgehungert aus tiefem Schlaf. Das Kleid um ihren Leib, der Symbiont, bohrte seine winzigen, scharfen Widerborsten in ihre Haut, als könnte auch dieses immer noch rätselhafte Wesen sei ne Not kaum noch bezähmen. Der Schmerz drang jedoch nur beiläu fig in Lilith’ Bewußtsein. Sie sah Beth. Und als sie deren Blick folgte, entdeckte sie ihren »Diener«, der sich von seinem Lager erhoben hatte und nahe dem Eingang zur Küche stand. Sein Gesicht war ihr zugewandt. Gesicht? »Großer Gott …« Lilith krümmte sich unter dem Ausruf, der nicht von ihr, sondern von Beth stammte. Lilith’ Bewegungen kamen nicht so glatt und geschmeidig wie ge wohnt, als sie sich von ihrem Nachtlager erhob. Auch sie war im Kampf gegen die Ratten gebissen worden. Wie Beth, Moskowitz und andere, die über die ganze Stadt verstreut waren. Bei ihr hatten sich jedoch keine Beulen oder andere sichtbare Symptome der magi schen Seuche ausgebildet. Die nichtmenschliche Komponente ihrer Existenz hatte kompli ziertere Reaktionen in Gang gesetzt. Lilith war zeitweise unzurech nungsfähig gewesen. Sie hatte sich wie ein wildes Tier aufgeführt und Beth in diesem umnachteten Zustand sogar offen bedroht. So gesehen konnte man Beth selbst harsche Beschimpfungen wie
jene nicht verübeln: »Nimm dieses Gespenst und verschwinde! Ich ertrage dein totes Fleisch nicht mehr …!« Besonders der letzte Ausspruch hatte sich tief in Lilith’ Gedächtnis gegraben. Lilith drängte die Gedanken zurück. Sie widmete sich ganz dem Mann, der einst als vampirischer Sklave »Gesetz und Ordnung« in Sydney vertreten hatte. Nun stand er zur Salzsäule erstarrt da. Die Arme waren zur gescheiterten Abwehr erhoben, die asketisch ge wordenen Züge zu einer Grimasse verformt. Wenn er wirklich tot gewesen wäre, hätte er umfallen müssen. Aber er schwankte nicht einmal. Felsenfest stand er da. »Codd …? Hören Sie mich?« rief Lilith. Was war passiert? Warum hatten ihre Instinkte so katastrophal versagt? »Zur Hölle! Wenn das ein Trick sein soll, um mich doch noch zu überreden, daß ihr hierbleiben könnt –« Das war Beth. Lilith zuckte zusammen. Der Rausschmiß galt also immer noch. »Vergiß es!« fauchte Lilith. »Wenn ich tricksen wollte, brauchte ich ihn nicht dazu!« Sie streckte die Hand aus und berührte die erogens te Zone eines Mannes: seine Halsschlagader. Beth wartete angespannt auf eine Stellungnahme und knipste währenddessen weitere Lampen an. Lilith’ Blick orientierte sich am Sekundenzeiger der Wanduhr. Sie ließ eine volle Minute verstreichen, ehe sie die Hand zurückzog. »Zwei«, sagte sie. »Zwei?« Beth rührte sich nicht von der Stelle. Lilith nickte mit einladender Geste. »Du kannst dich selbst über zeugen, wenn du mir nicht glaubst: Ich fühle ganze zwei Herzschlä
ge die Minute. Er lebt, aber so stark reduziert, daß ihm vermutlich jeder Arzt einen Totenschein ausstellen würde …« Beth tippte sich an die Stirn. »Hundertzwanzig Schläge in der Stunde … Du mußt mich für bescheuert halten, wenn du erwartest, daß ich dir das abnehme!« »Immer noch auf dem Kriegspfad?« fragte Lilith leise. Sie machte eine kurze Pause, in der sie Beth unverwandt anstarrte. Einen Moment sah es so aus, als wollte Beth zu einer Entschuldi gung ansetzen für etwas, das nicht zu entschuldigen war. Schließ lich zuckte sie nur die Schultern. Lilith gab nicht zu erkennen, wie es in ihr selbst aussah. Sie drehte Beth den Rücken zu und untersuchte Codd gernauer. Der Symbiont an ihrem Körper hatte sich wieder beruhigt. Was ihn zu der schmerzhaften Reaktion bewogen hatte, blieb unklar. Codd reagierte auf keinen Versuch der Kontaktaufnahme. Er blieb starr und steif. Geräusche lenkten Lilith ab. Als sie sich umwandte, sah sie, daß Beth ins Schlafzimmer zurück gekehrt war. Kurz darauf erschien die blonde Reporterin mit auffäl lig veränderter Augenfarbe und frischer Kleidung. Sie hatte ein Fai ble für Kontaktlinsen, von denen sie ein ganzes Sortiment besaß. Ohne innezuhalten, ging sie auf die Wohnungstür zu. »Wohin willst du?« rief Lilith ihr nach. »Arbeiten. Geldverdienen. Beten.« »Beten?« »Daß du und er –«, sie deutete auf Codd, »– daß ihr beide ver schwunden seid, wenn ich zurückkomme. Aus meiner Wohnung und –«, sie lächelte gekünstelt, »– bitte, bitte auch aus meinem Le ben!«
Lilith sog den Atem ein. »Du willst mich jetzt mit ihm allein las sen? In dieser Situation?« »Ich weiß nicht, was für eine Situation es ist«, gab Beth scheinbar ungerührt zurück. Das Knallen der Tür bewies, wie ernst es ihr war. Lilith blickte zu Codd, der dastand wie eine männliche Sphinx. Regungslos. Schweigend. »Zum Himmel!« fluchte sie und erinnerte sich, daß er nicht ihr ein ziges Problem war. Sie mußte ihren speziellen Durst stillen. Unverzüglich. Danach – dessen war sie sicher – würde sie wieder klarer denken können. Ihre Begierde ging soweit, daß sie kurz sogar mit dem bi zarren Gedanken spielte, Codd zur Ader zu lassen. Aber dann schob sich ein dämpfender Filter vor ihr diesbezügliches Verlangen: zwei Schläge pro Minute … Nein, der Gedanke an träges, kaltes Blut ekelte sie. Sie wählte eine andere Lösung – und befriedigte damit zugleich eine Phantasie, die sie seit langem mit sich herumschleppte: Auf dem Couchtisch lagen die Zeitungen vom Vortag. Beth kaufte und las täglich bis zu fünf Konkurrenzblätter – neben dem Sydney Mor ning Herald, für den sie arbeitete. Lilith setzte sich mit zunehmender Unruhe davor und fand mühe los, was sie suchte. Die Namen und Telefonnummern wirkten wie eine nur für sie verfaßte, erlesene Speisekarte …
*
Zur gleichen Zeit, Falstaff-Klinikum, Sydney Der Mann mit dem schulterlangen, hellblonden Lockenschopf ließ sich vom Tuscheln in seiner unmittelbaren Umgebung nicht beirren. Er hatte nur Auge und Ohr für den Streit hinter dem venezianischen Spiegel. Von seiner Seite aus hatte man Einblick in den kargen Nachbarraum – drüben sah man nur eine milchglasige Wand. »Gleich gehen sie einander an die Kehle«, sagte eine Stimme, die Frans Stålheim beim besten Willen nicht mehr ignorieren konnte. »Ich muß die Demonstration abbrechen. Es ist menschenunwürdig, und wäre der Anlaß nicht so besorgniserregend, hätte ich nie –« »Schon gut«, unterbrach Stålheim in geschliffenem Englisch. »Hal ten Sie mich für einen Spanner? Glauben Sie, diese voyeuristische Betätigung mache mir Spaß? Sie selbst haben darauf gedrängt …« »Ich weiß«, lenkte Dr. Hemsfield ein. »Ich weiß, daß Sie eigens aus Ihrer finnischen Heimatstadt –« »Muonio«, korrigierte Frans Stålheim gelassen, aber dennoch mit Nachdruck, »liegt in Lappland, nicht in Finnland!« Hemsfield sah ihn sekundenlang verblüfft-sprachlos an. Sein Blick drückte unmißverständlich aus, was er dachte: Wenn du sonst keine Sorgen hast … Stålheims Körpersprache wiederum drückte aus, daß er gar nicht erwartete, von Hemsfield in dieser für ihn offenbar wichtigen Klar stellung verstanden zu werden. Auch nicht von Schwester Maybritt, die dicht neben dem Stationsarzt stand und vorhin getuschelt hatte. Hemsfield wandte sich zur Verbindungstür. Stålheims Stimme stoppte ihn. »Noch zwei Minuten, wenn es sich einrichten läßt!«
Der Arzt, der als erster mit den Pestfällen in Sydney konfrontiert worden war, blieb stehen. Zu dritt wurden sie Zeugen der Fortset zung eines Streits zweier Menschen, die vor der mysteriösen Erkran kung intime Zuneigung verbunden hatte. Bei Cindy Walker war die Krankheit nicht ausgebrochen. Wohl aber bei Clarence Hotstepper, dem Pathologen. Er war sogar kurzzeitig ins Koma gefallen, mittler weile aber – wie alle bekanntgewordenen Fälle – wieder ohne er sichtlichen Grund vollständig genesen. Jedenfalls körperlich. Psychisch hingegen schien etwas mit ihm und allen anderen Er krankten passiert zu sein. »Sie … hassen sich regelrecht«, murmelte Stålheim, der von Hems field benachrichtigt und auf das Phänomen aufmerksam gemacht worden war. Stålheim galt als der lebende Experte in Seuchenfragen. Speziell was von Tieren übertragene, infektiöse Krankheiten betraf. Er war erst 43 Jahre alt, aber sein Fachwissen war unumstritten. Im Gegensatz zu seiner Person, die sehr umstritten war. Es gab niemanden, munkelte man, der längerfristig mit Stålheim auskam. Er war gerichtlich gegen mehrere ehemalige Arbeitgeber – selbst gegen staatliche – vorgegangen. Stets war er auf diese Weise vorzeitig aus laufenden Verträgen ausgestiegen, und stets hatte er moralische Gründe angeführt. Natürlich hatten Gegen-Statements versucht, seine Vorwürfe, man hätte versucht, sein Wissen zur Ent wicklung virulogischer Waffen zweckzuentfremden, zu entkräften und seine Person unmöglich zu machen. Letztlich hatte ihn aber im mer wieder jemand angeheuert. Bis er sich vor wenigen Jahren ganz aus fremden Diensten zurückgezogen hatte und seither nur noch private Forschungen betrieb, die für ihn vertretbar waren und »gu ten« Zwecken dienten. Aus seinem Einmann-Labor waren seither
verschiedene neuartige Seren gegen einschlägige, über Wirts-Tiere und Insekten verbreitete Epidemien gekommen. Woher Stålheim die nötigen Finanzmittel nahm und welche Lobby ihm bei den notwendigen pharmazeutischen Genehmigungsverfah ren unter die Arme griff, wußte kaum jemand so genau – und die, die es wußten, schwiegen aus Eigennutz. Stålheim hatte zunächst, wie im übrigen auch Hemsfield, ge glaubt, Hotstepper hätte aus verdrängten Schuldgefühlen mit dieser ausgeprägten Abneigung gegen seine Freundin reagiert. Seinetwe gen hatte sie sich in Quarantäne begeben müssen. Bis zuletzt war unklar gewesen, ob er sie angesteckt hatte. Aber Cindy Walker machte ihm keine Vorwürfe. Sie war das ei gentliche Opfer der Veränderung, die mit Hotstepper passiert war. Der Pathologe ging auf keinen ihrer Versuche, die plötzliche Mauer zwischen ihnen abzubauen, ein. Im Gegenteil: Er beschimpfte sie aufs übelste, und er brachte dafür kein einziges Argument zur Spra che, das Verständnis für diese Attacken geliefert hätte! »Er empfindet ihre Nähe bereits als genügenden Anlaß, um Ab scheu zu artikulieren«, murmelte Stålheim nachdenklich, ehe er sich an Hemsfield wandte. »Okay, Kollege, beenden Sie das Trauerspiel.« Mit Schwester Maybritt zusammen beobachtete er, wie Dr. Hems field das einstige Paar trennte und dabei besonders der Frau trös tend zusprach. Minuten später kehrte Hemsfield allein zurück. »Nun?« wandte er sich an Stålheim. »Was erwarten Sie?« fragte der Mann mit dem wettergegerbten, verschlossenen Gesicht. Unter dem geliehenen Kittel trug er Jeans (Hemd, Hose, Jacke) und Turnschuhe. Was seine schlanke Erschei nung vor allem widerspiegelte, war Zähigkeit. Jeder, der ihn auch
nur flüchtig betrachtete, hegte keine Zweifel, daß man sich an ihm die Zähne ausbeißen konnte. »Hilfe, offen gestanden«, sagte Hemsfield. »Ich habe mir bereits die Blutproben angesehen, die Sie mir zur Verfügung stellten«, erwiderte Stålheim. »Hier und mit Ihren be scheidenen Mitteln konnte ich keinerlei Rückstände des Erregers isolieren. Hätte ich einige der Kranken vor ihrer wundersamen Hei lung nicht noch mit eigenen Augen gesehen, müßte ich anhand die ser und der archivierten Proben sogar zweifeln, daß es die SydneySeuche jemals gab … Es ist ein einzigartiger Fall, daß ein Erreger nicht nur aus den Körpern der Patienten, wo vielleicht eine Immun abwehr auftrat, sondern auch aus den gekühlt deponierten Reagenz gläsern verschwand!« »Ich weiß«, sagte Hemsfield resigniert. Er hätte zufrieden sein müssen, daß die Seuche wie ein Spuk vorbeigegangen war. Er war es nicht, weil er dem plötzlichen Frieden nicht traute und ein jeder zeitiges Wiederaufflammen befürchtete. »Was geblieben ist«, fuhr Stålheim fort, »ist allenfalls ein Fall für Psychologen – zumindest solange, bis ich mit meinem Instrumenta rium das Gegenteil nachweisen kann.« »Was benötigen Sie dazu?« »Am liebsten den Zero-Patienten – oder noch besser das, was ihn ansteckte. Beides werden Sie mir kaum zur Verfügung stellen kön nen. Also werde ich mich mit Blutkonserven ehemaliger Befallener bescheiden …«
* Paul Kravetz hatte Sorgen.
Eigentlich war er der typische Sonnyboy, und über viele Jahre hat te er tatsächlich am oberen Glückslimit balanciert. Doch neuerdings drückten die horrende Miete und Spielschulden, über deren genaue Höhe er längst den Überblick verloren hatte. Lange würden seine Gläubiger sich nicht mehr hinhalten lassen, und sein Job war längst keine »Bank« mehr, seit jeder Möchtegern-Playboy auf die Idee kam, sein Hobby als Gewerbe zu betreiben. Nein, die Lage war nicht rosig. Ein wenig hellte sich Kravetz’ Miene auf, als das Telefon zum zweitenmal an diesem Tag summte – beim erstenmal hatte sich eine weibliche Stimme verwählt. Vielleicht hatte sie aber auch im letzten Augenblick der Mut verlassen … Er nahm einen tiefen Schluck eisgekühlten Whisky. Dann hob er ab und hauchte: »Paul hier. Was kann ich für dich tun?« Die Stimme am anderen Ende besaß ein Timbre, das Kravetz spon tan elektrisierte. Sechs Tage die Woche verkaufte er Lust. Da nutzte sich vieles ab, wurde zur Routine. Kravetz vermied es im allgemei nen, seinen Klientinnen den ekstatischen Lover vorzuspielen. Er be schränkte sich darauf, sich Zeit für sie zu nehmen, ihnen zuzuhören, wenn sie ihre Eheprobleme bei ihm ausschütteten, und ihnen – na türlich – auch einen Körper zur Verfügung zu stellen, den sie zu Hause in dieser sportgestählten Form nicht mehr geboten bekamen. Mit dieser Ehrlichkeit hatte er sich einen guten Kundenstamm erar beitet. Er wußte, daß die Mehrzahl ihre Dollars sauer erarbeiten oder vom kargen Haushaltsgeld abzwacken mußte. Das war ihm Verpflichtung. Leider standen ihm aber auch genau diese Skrupel im Weg, wenn es darauf ging, den schnellen Dollar zu machen … »Machst du auch Hausbesuche?« Paul Kravetz stand weiterhin unter Strom. »Natürlich!«
»Bist du teuer?« »Was heißt bei dir teuer?« »Ich weiß nicht, ich habe keine Erfahrung in solchen Dingen … Bist du stark?« Er bezog es auf sein Geschlechtsteil. Frauen fragten gern danach. Es war ein Mythos, daß sie sich nicht dafür interessierten. »Ich kann dir eine Bei-Nichtgefallen-Geld-zurück-Garantie anbie ten. Dann entscheidest du selbst und schickst mich in die Wüste, wenn ich dir nicht gut genug bestückt bin. Ist das ein Angebot?« »Es ist ein ganz tolles Angebot. Aber ich glaube, du mißverstehst. Ich bin … nun, ich bin Muskelfan. Mit Kerlen, die unter 90-60-90 lie gen, kann ich nichts anfangen. Ich brauche etwas zum Reinkuscheln und Wohlfühlen.« Sie gefiel ihm immer besser – nein, das war untertrieben: Sie mach te ihn verrückt! Er hatte so etwas noch nie erlebt. Meist waren es die unscheinbaren Frauen, die ihn buchten. Hier, das spürte er im kleinsten Nerv, verlangte ein Prachtgirl nach ihm! Er konnte es kaum erwarten, daß sie ihm grünes Licht und die Adresse gab. »Kommst du mit Taxi oder eigenem Wagen?« »Eigenem. Ist das ein Problem?« Diskretion war das A und O in seinem Geschäft. »Im Gegenteil. Du kannst in der Tiefgarage parken.« Sie gab ihm die Stellplatznummer. »Wie lange wird es dauern?« »Bis ich bei dir bin – oder bis ich komme?« Sie lachte angeregt über seine Zweideutigkeit. Auch das gefiel ihm. Sie inspirierte ihn. »Wenn der Verkehr mitspielt«, sagte er, »bin ich in einer halben Stunde bei dir.«
»Je eher du es schaffst, desto besser für mich!« Sie legte auf. Er auch. Ein paar Sekunden ließ er das kurze Ge spräch noch einmal Revue passieren, so als müsse es erst einen »in neren Filter« durchlaufen, um ihm endgültig klarzumachen, daß die Anruferin etwas Besonderes war. Aber letzte Zweifel ließen sich nicht bannen. Es gab Frauen mit phantastischen Stimmen – nur die »Resonanzkörper« konnten selten mithalten … Paul Kravetz ging ins nicht luxuriös, aber sauber und geschmack voll eingerichtete Bad und legte noch einmal Hand an seine Schön heit. Etwas After Shave, etwas Deo … und ab ging die Reise. Es war noch früher Morgen, aber bereits nach der Rush-hour. Sein importierter Plymouth kam zügig voran. Alles in allem brauchte er knapp zwanzig Minuten, um in die Tiefgarage des Apartmenthau ses einzutauchen. Fünf Minuten später fuhr Kravetz im Lift nach oben. Daß die innere Spannung immer mehr zunahm, zeigte sich daran, daß er sich schon zum zweitenmal eine Zigarette in den Mund klemmte – sie aber sofort wieder in die Schachtel zurücksteckte, weil viele Nichtraucherinnen es haßten, einen »kalten Aschenbecher« zu küssen. Sein Verzicht lohnte. Als die Wohnungstür vor ihm zurückschwang, glaubte er mehr denn je zu träumen. Sie sah phänomenal aus, war fast so groß wie er und nur in einen Stringbody gehüllt, der sich wie ein dunkles Netz hauteng um ihren mindestens 90-60-90-Körper schmiegte. Aber nicht nur ihre Figur, auch ihr Gesicht war atemberaubend. Sie hatte nichts Ordinäres. Gar nichts. Ihre schmalen Züge waren die personifizierte Anmut und Exotik. Leicht schrägstehende, jadegrüne Augen musterten Kravetz
mindestens ebenso ausführlich, wie er das von einer schwarzen Haarmähne umgebene Gesicht mit den pure Sinnlichkeit verheißen den Lippen. Ihre Beine schienen endlos lang. Die ganze Statur wirkte zart und zierlich und doch von mühsam gebändigter Energie erfüllt. Die Warzen und Höfe ihrer straffen Brüste zeichneten sich in vollster Be tonung unter dem dünnelastischen Stoff ab. Noch ehe sie den Mund aufmachte, spürte Kravetz erneut einen durch und durch gehenden, elektrischen Schauer. Sein Glied wuchs augenblicklich. »Hallo«, sagte er und dachte: Idiot! Laß dir was Besseres einfallen, sonst schickt sie dich gleich wieder von der Fußmatte! »Hallo«, hauchte sie mit verschämtem Augenaufschlag, der nur gespielt sein konnte. Wenn eines klar war, dann, daß sie ganz genau wußte, was sie tat. Und das nicht zum erstenmal, wie sie am Telefon behauptet hatte. Kravetz hütete sich, ihr daraus Vorwürfe machen zu wollen. »Darf ich?« Er räusperte sich und zeigte an ihr vorbei in die Woh nung. »Ich bitte darum, Paul!« Sie trat einen Schritt zurück. Die Grazie ihrer Bewegungen betörte ihn vollends. »Wofür steht das ›E.‹ auf dem Türschild?« fragte er. »Elisabeth«, sagte sie. »Ein schöner Name.« Sie schien eine Erwiderung auf der Zunge zu haben, schluckte sie dann aber herunter und schloß statt dessen hinter ihm. »Welche Reihenfolge ist dir lieber: Erst das Vergnügen und dann die Arbeit – oder umgekehrt?« fragte sie auf dem Weg durch das di rekt hinter der Tür beginnende Wohnzimmer auf eine weitere Tür
zu. Ihre Frage machte ihn etwas ratlos. »Was verstehst du unter Ar beit? Es wird mir ein Vergnügen sein, dir –« Sie öffnete die Tür zum Schlafzimmer und ließ ihn zuerst eintre ten. »Ich hoffe, es macht dir nichts aus, wenn er zusieht?« Kravetz verstummte, stockte aber nur kurz in der Vorwärtsbewe gung, als er den Mann sah, der ihm den Rücken zukehrte und Rich tung Bett stand. Kravetz hatte davon gelesen, aber selbst noch keinen einzigen Fall gehabt, daß eine unbefriedigte Ehefrau besonderen Kitzel daraus zog, ihren eigenen Gatten bei ihren außerehelichen Ausschweifun gen zusehen zu lassen. Er räusperte sich etwas tiefer, ehe er antwortete: »Nein. Nein …« Verdammt, dachte er. Ich hätte wissen müssen, daß bei einer sol chen Frau immer ein Haken dabei ist … Es war ihm gleich komisch vorgekommen, daß diese rassige, kaum älter als zwanzigjährige Schönheit es nötig hatte, für ihre Auf risse zu bezahlen. Plötzlich schwante ihm, was sie eventuell als »Arbeit« bezeichnete. »Über Sonderwünsche«, sagte er rauh, »müssen wir allerdings vorher verhandeln. Ich meine, es gibt da gewisse Tabus und Gren zen …« »Keine Sorge«, beruhigte sie ihn. »Er ist völlig passiv. Ich weiß nicht einmal, ob er uns wahrnehmen kann …« »Ist er … blind?« Kravetz hatte sich dem reglosen Mann noch nicht weiter genähert. Das holte er nun, mit einem flauen Gefühl im Ma gen, nach. Als er ihn von vorne betrachtete, war er überzeugt, an eine Perver
se geraten zu sein. Eine Puppe, dachte er. Mein Gott, wo kriegt man Puppen mit sol chem Ausdruck her …? Die gläsernen Augen schienen seine Blicke aufzusaugen. Er wandte sich um. »Sorry, aber ich glaube …« »Zieh dich aus!« Er knöpfte sein Hemd auf, streifte es ab, öffnete den Gürtel und schlüpfte aus den Hosen. »Alles.« Erst als er Strümpfe und Slip ablegte, schien sie zufrieden. »Ich denke«, sagte sie, »ich werde auf die Rückgabegarantie ver zichten …«
* Als Lilith sich auf dem Bett ausstreckte und die Schenkel öffnete, folgte der Symbiont widerstandslos ihrem Wunsch, sich an der wichtigsten Stelle zu »öffnen«. Paul hatte keine Mühe, in sie zu dringen, aber sie genoß es nicht wie sonst. Sie dachte zuviel. Denken und Sex – das vertrug sich nicht. Bei gutem Sex mußte man sich fallenlassen. Alle Sorgen ab streifen … Sie legte ihre Hände um seinen muskulösen Po und gab ihm mit sanft fordernden Bewegungen zu verstehen, daß es ruhig etwas wil der zur Sache gehen durfte. Sie ließ ihn weitestgehend er selbst sein, während er ihr nun allmählich doch noch jene Wonnen bereitete, die sie lange vermißt hatte. Sie vergaß Zeit und Raum.
Lilith stieß kleine, kehlige Schreie aus, und es gefiel ihr, daß auch Paul nicht stumm blieb. Sein keuchender Atem, das selbstvergesse ne Stöhnen rissen auch sie mit. Sie fühlte sich fortgetragen von Kräf ten, die ihre eigene Magie besaßen, und sie sparte nicht an »Lob«, flüsterte Paul leise, fiebrige Anfeuerungen ins Ohr und erkannte, wie schon öfters, daß sie dadurch selbst stärker entflammt wurde. Sie brauchte keinen Stellungsmarathon, um auf ihre Kosten zu kom men. Sie hatte kein anderes Bedürfnis als dazuliegen und sich von diesem kraftstrotzenden Männerkörper nehmen zu lassen. Sie kam gleichzeitig mit ihm. Sie kam, als er lustvoll über ihr ver harrte und sich ein einziger, langgezogener Ton aus seinem Mund befreite. Er bog den Kopf in den Nacken und spannte die Haut sei nes Halses, als wenn er wüßte, was der Preis seiner Lust war. In elementarer Schönheit sprangen Lilith die Details dieses Halses an: der ausgeprägte, ruhende Adamsapfel, die Stränge der Sehnen und Muskulatur, die pochenden, direkt vom und zum Herzen füh renden Adern, deren Magnetismus einzigartig und unwiderstehlich war … Lilith’ Vampirzähne schoben sich zügellos über ihre Unterlippe. Filigran wie zwei elfenbeinerne Kunstwerke. Und ebenso unaufhalt sam berührten sie die pochende, bläulich hervortretende Ader, in die sie sich einen Atemzug später senkten, ohne einen Tropfen der darin fließenden Kostbarkeit zu vergeuden. Wie im Rausch trank Lilith das Lebenselixier. Wie im Rausch unterband sie das flüchtige Aufbegehren des Man nes, der wenig später selbst Genuß an ihrem Treiben fand. Noch ein mal schwoll er in Lilith’ Schoß an und bewegte sich wie in Trance. Ein nie versagender Mechanismus in Lilith’ Bewußtsein beendete den kontrollierten Blutrausch. Sie löste ihre nadelspitzen Zähne, de ren Absonderungen die beiden kleinen Wunden sofort schlossen
und die Gewebevernarbung in Gang setzten. Sie wartete, bis auch Paul zu Ende gekommen war, dann überließ sie ihn minutenlang seinem süßen Schwindel. Sie nutzte die Zeit, um aufzustehen, sich vom Symbionten züchtig einkleiden zu lassen und endgültige Befehle in Pauls Bewußtsein zu verankern. Nachdem auch er sich angezogen hatte, packten sie Virgil Codds puppenhaft starren Körper und schleppten ihn, nachdem Lilith den Lift gerufen und die Kabine leer vorgefunden hatte, gemeinsam aus der Wohnung. Mit einer guten Portion Glück fuhren sie ohne Zwi schenaufenthalt hinab zur Tiefgarage. Auch dort begegnete ihnen niemand. Codd wurde sicher im Kofferraum des Plymouth verstaut. Die Sonne stand hoch im Zenit, als der Wagen, von Paul gesteuert, in das viktorianisch geprägte Villenviertel einbog, das zeitweise Schauplatz behördlich verordneten Notstands geworden war. Da mals hatten massierte Polizeikräfte das Gebiet weiträumig abgerie gelt, um den Vorgängen in der Hausnummer 333 auf die Spur zu kommen. Unter denen, die dem Haus zu nahe gekommen waren, hatte es Tote und vergreiste Opfer gegeben. Ausgelöst wurden diese Phäno mene durch Lilith’ Flucht aus dem Gebäude, das längst nicht mehr stand. Als sie nun dort eintrafen, war das Grundstück leer. Öde und verlassen. Kein Grashalm wuchs mehr. Nur die Mauerumfriedung war noch weitestgehend erhalten. Dort, wo die Bulldozer durchgestoßen wa ren, befand sich eine provisorische, leicht zu überwindende Absper rung. Das eigentliche Tor, das Lilith immer offengestanden hatte, war mit einer an Sinnlosigkeit kaum zu überbietenden Kette und einem
Vorhängeschloß verschlossen. Schloß und Kette wirkten neu. Es wäre interessant gewesen herauszufinden, wer den passenden Schlüssel dazu hütete. Kopfschüttelnd rüttelte Lilith daran. Es war früher Nachmittag. Die Paddington Street, wie auch der Rest der Stadt, sonnte sich in glühender Hitze. Jenseits des Tores aber herrschte schattiges Zwielicht, das Lilith an Zeiten erinnerte, als sich ein dschungeldichter Garten ausgebreitet hatte. Verrückt, dachte sie. Außer der mannshohen Mauer gab es keine Schattenspender mehr. Und doch lag das gesamte Anwesen wie un ter einer getönten Glasglocke. Die Magie des Hauses war immer noch aktiv. Auch nach der Be seitigung des Oberflächlichen existierte etwas unterirdisch. Lilith wußte es. Und deshalb war sie gekommen … Sie winkte Paul zu sich, der im Wagen gewartet hatte. Als er zu ihr trat, zeigte sie durch das Torgitter und fragte: »Fällt dir etwas auf?« »Nein«, antwortete er bereitwillig. »Gar nichts?« »Nein.« Vielleicht sah er den unnatürlichen Dämmerschein wirklich nicht. Vielleicht sah ihn nur, wer vampirische Wahrnehmungsschärfe be saß. Lilith schickte den Callboy ins Auto zurück. Sie wollte das Grund stück zunächst allein betreten. Und sie wollte nicht bis zum Dunkel werden warten. Sie überkletterte die Mauer an einer sichtgeschützten Stelle. Als sie in die Dämmerung vordrang, tauchte sie zugleich in ein spürbar an ders temperiertes Medium. Kühler Schatten umschmiegte sie, wäh
rend der in Meeresnähe immer spürbare Wind abrupt endete. Die Luft hing wie tot zwischen den Mauern des ehemaligen Gartens. Sie blieb auch schwer und unbeweglich, als Lilith ihre Schritte über den weichen Boden lenkte und dabei stets das Gefühl hatte, etwas Halb stoffliches zu durchschreiten. Kein Besuch dieses Ortes war wie der andere. Irgend etwas hier war stets im Wandel begriffen. Aber so extrem wie heute hatte sie noch nie gefühlt, daß etwas gegangen war. Die Trägheit der Düster nis gefiel ihr nicht. Die Luft war von einer Qualität, mit der Lungen wenig anzufangen vermochten. Dieser Ort, dachte Lilith fröstelnd, wirkte mehr denn je … ver flucht! Von hier hatte die Entartung der Wondjinas Ihren Lauf genom men. Es schien denkbar, daß die Schöpferwesen etwas unternom men hatten, um diesen Ort für immer als Gefahrenherd auszumer zen. Was hätte das für Jeff Warner bedeutet? Lilith hielt inne, als sie eine melancholische Melodie zu hören glaubte. »Benny …?« rief sie heiser in die leere Dämmerung. Die Flöte verstummte. Falls sie je erklungen war. Lilith neigte eher dazu, an eine Überreizung ihrer Sinne zu glau ben. Nicht nur die Abwesenheit des Windes, auch die herrschende Stille war erstaunlich. Von der Straße drang kein Laut. »Warner?« Sie setzte ihren Weg fort. Dorthin, wo sie zuletzt mit dem ehemali gen Police Detective gesprochen hatte. Seither schien eine Ewigkeit vergangen zu sein.
Lilith blieb erneut stehen. Irritiert lauschte sie in sich hinein und meinte, schon wieder Hunger zu verspüren. Bohrendes Verlangen nach Blut … Sie harrte aus, und während sie wartete, fror sie, als wäre dies der einsamste, kälteste Ort der ganzen Welt. Zugleich aber spürte sie, daß etwas geschah. Unsichtbare Prozesse, von Dämmerung ummantelt wie von einem in sich gekrümmten Raum, der sie den Sinnen entzog. Wieder ertönte eine Melodie, die aus Bennys Flöte kommen konnte – oder aus etwas völlig anderem. Mit dem Atem des Todes hatte der junge Asiate Sydneys Ratten in die Kanalisation geführt, um sie von dem mutierten Tasmanischen Teufel infizieren zu lassen – und die Pest weiterzutragen.* Benny war von Codd hierher geschickt worden. Wahrscheinlich hatte sich hier sein Schicksal erfüllt – auf welche Weise auch immer. Erfüllte sich hier auch ihr, Lilith’, Schicksal? Wie gut oder schlecht war die Idee gewesen, hierher zu kommen? Nachdem sie weitere Male vergeblich nach Warner oder etwas an derem gerufen hatte, kehrte sie langsam zur Mauer zurück. Sie war noch nicht bereit, aufzugeben. Nichts hinderte sie daran, das Grundstück auf dieselbe Weise zu verlassen, wie sie es betreten hatte. Aber als sie federnd auf der an deren Seite aufsetzte, hielt sie sekundenlang erschrocken in der Hocke aus. Erschrocken darüber, daß sich ihre Augen auf sehr eindeutige Weise umstellten. Tiefste Nacht umfing sie!
* *siehe VAMPIRA 16: »Die Pest in Sydney«
Schon einmal war mit der Zeit manipuliert worden – an jenem be fremdlichen, vom Kelch ausgelöschten Ort Llandrinwyth in Wales! Und nun war es wieder geschehen. Mitten in Sydney! Lilith war felsenfest überzeugt, nicht länger als eine halbe Stunde auf dem Grundstück verbracht zu haben. Paul Kravetz belehrte sie eines Besseren. »Du warst acht Stunden fort …« Mehr noch als seine Uhr, auf die er sie einen Blick werfen ließ, be stätigte das sternfunkelnde Firmament seine Behauptung. Acht Stunden! Lilith rang um ihre Beherrschung. Irritiert starrte sie auf Pauls Handgelenke. Beide waren verbunden. Dies erstaunte um so mehr, da er – immer noch in Lilith’ Hypnose bann stehend – eigentlich völlig passiv auf sie hätte warten müssen. Im Fußraum auf der Fahrerseite lag noch der offene Verbandskas ten. »Was ist passiert?« fragte Lilith. Er blinzelte verständnislos. Auch als sie ihre Frage präzisierte, schien er unfähig, eine Antwort darauf zu geben, warum er sich die Verbände angelegt hatte. Aber das Blut, das an beiden Innenseiten der Gelenke durch schlug, bewies eindeutig, daß er versucht hatte, sich die Pulsadern zu öffnen! Lilith fluchte hemmungslos. Daß nichts war, wie es sein sollte, setzte ihr ungewöhnlich zu. »Du mußt doch wissen«, suggerierte sie ihm, »warum du das ge tan hast!«
»Ich habe nichts getan!« log er stur gegen seine Hypnose. Lilith befahl ihm, auszusteigen und die Heckklappe zu öffnen. Es hätte sie nicht mehr wesentlich stärker verblüfft, wenn Codd ver schwunden gewesen wäre. Aber er lag auch nach den vielen Stun den in unverändert unbequemer Stellung innerhalb des Koffer raums. Gemeinsam mit Kravetz hob Lilith ihn heraus und schulterte ihn. Sie war auch nach der Zeitfalle entschlossen, das Anwesen erneut aufzusuchen. Mit ihrem eiskalten Diener. Aber ohne Paul Kravetz, um dessen Verletzungen sie sich viel leicht später kümmern wollte. Wenn er später noch da war. Sie gab ihm den unmißverständlichen Befehl, nach Hause zu fahren und al les Geschehene zu vergessen, wenn sie nicht binnen höchstens zwei Stunden zurückkehrte. Ihn mit in den Garten der Dämmerung zu nehmen, erschien ihr unverantwortlich. Bei Codd war der Fall anders gelagert. Er mußte dorthin. Wohin sonst? Sie schlüpfte mit ihm durch die schlecht gesicherte Mauerlücke. Und wieder war nichts so, wie sie es erwartete.
* Schwarzer Nebel näherte sich dem Plymouth. Paul Kravetz empfand keine Furcht, als er die Stimme aus dem Nebel hörte. Sie war ihm vertraut. Er verstieß gegen keinen gültigen
Befehl, als er ihr gehorchte, die Verbände von den Gelenken rollte und die blutverklebten Binden achtlos durch das offene Fenster auf die Straße warf. Ausdruckslos streckte er die Arme nach draußen. Die alten Wunden waren noch nicht verheilt, als wie durch Zaube rei neue Schnitte entstanden, aus denen kraftvoll Blut entwich. Es verspritzte nicht planlos, sondern strömte wie durch unsichtbare Schläuche hinüber in den finster wabernden, nächtlichen Nebel. Kravetz spürte, wie ihm kalt und kälter wurde, je mehr Blut floß. Schwindel setzte ein. Und die maskuline Stimme sagte: »Keine Angst. Es ist genug. Ich wollte mich nur noch einmal überzeugen, daß ich mich nicht irrte vorhin …« Der Strom versiegte. Menschliches Gewebe vernarbte gerade soweit, daß kein weiterer Blutstropfen mehr hervorquoll. Kravetz zog die Hände zurück und beugte sich benommen nach unten. Mit zittrigen Bewegungen legte er sich erneut Verbände an. Dann schloß er den Verbandskasten und richtete sich wieder auf. Der schwarze Nebel war immer noch da. Als er schließlich davontrieb, glaubte Kravetz ein letztes, böses Flüstern zu vernehmen, das er sofort wieder vergaß. »Kein Zweifel. Ich schmecke ihn. Er trägt den Keim! Wer hätte das gedacht …«
* Der Garten wimmelte von phantomhaftem Leben, kaum daß Lilith
beide Füße hineingesetzt hatte! Im selben Moment kam unverhoffte Bewegung in die Last, die sie auf der Schulter trug. Codd zappelte wie ein Fisch, den es an Land verschlagen hatte und der ein letztes Mal seine Lebensgeister mobi lisierte. Erleichtert setzte Lilith den schweren Mann ab. Das Grauen stand immer noch in sein kantiges Gesicht gemeißelt – aber es blieb ungewiß, ob es sich in diesem Moment nicht auf die Vorgänge hier bezog. »Codd«, sagte Lilith rauh. »Ist alles wieder in Ordnung?« Noch ehe er antwortete, wußte sie, daß nichts in Ordnung war. Ihr Diener konnte sich kaum auf den Beinen halten. Er schwankte wie ein schwacher Baumschößling in stürmischem Wind – obwohl noch immer nicht der leiseste Lufthauch spürbar war. An Lilith vorbei starrte Codd auf die schattenhaften Bewegungen innerhalb der Mauern. Wie Lilith schien auch er die Gestalten zu sehen: Menschen und Tiere, die nicht hierher gehörten. Die alle den Eindruck vermittelten, als seien sie irgendwann irgendwo aus ihrer Umgebung herausge schnitten und in dieses absurde Schattentheater verpflanzt worden – ohne daß sie selbst den Umgebungswechsel erkannten. Möglicherweise waren auch nicht sie selbst, sondern nur ihre Spie gelungen verpflanzt worden. Fata Morganen ganz spezieller Art … Ein Mann stand über einen Tisch gebeugt und wühlte in den Inne reien eines aufgeschlitzten Fisches, als suche er nach einem verbor genen Schatz darin. Unweit davon verfuhr eine Frau ähnlich mit einem Kuchenteig. Eine andere hantierte mit einem feinen Sieb und beobachtete faszi
niert die Muster, die das Mehl hinterließ. Eine vierte Gestalt folgte den Spuren eines Huhns, das Körner vom Boden aufpickte. Dabei schien es dem Beobachter um die Rei henfolge zu gehen, in der das Huhn die Körner pickte, denn er machte sich eifrig Notizen in einem Buch, wo das Muster des ausge streuten Futters skizziert war. Anderswo geschah beinahe derselbe Vorgang mit Mäusen. Oder ein Mann folgte einem Kind und maß dessen Schatten aus. Der Schatten war ebenso deutlich oder undeutlich erkennbar wie all die anderen Phantome innerhalb des Gartens. Und die Art, wie eine ganze Gruppe geschlossenen Auges um einen Tisch herumsaß und mit den Händen eine Kette bildete, ließ wenig Zweifel, daß sie spiritistischen Kontakt ins Jenseits suchten … Zukunftsschauen, dachte Lilith in plötzlicher Hellsichtigkeit. Alle diese Leute versuchen, den Schleier der Zukunft zu lüften. Aber warum? Was hatten sie hier verloren? Was bezweckte das HAUS damit, ihr dieses gespenstische Panop tikum vorzuführen? Warum sandte es nicht einfach einmal mehr Jeff Warner, um in Kontakt mit der »verlorenen Tochter« zu treten? Codds stoßender, saugender Atem schien zum einzigen Geräusch auf dem Grundstück zu werden. Lilith versuchte ihn zu stützen, aber er streifte fast brüsk ihre Hand ab. »Nicht …! Ich … verbrenne!« Lilith versuchte, sich von allen trügerischen Bildern abzuschirmen. »Was ist passiert?« fragte sie eindringlich. »Was ist während der Nacht in der Wohnung passiert?« Codd sank mit verzerrtem Gesicht – zeitlupenhaft – auf die Knie
und wehrte erneut jeden Versuch ab, ihn aufrecht zu halten. In sei nen Augen flackerte es, als fühlte er sich in unlöschbarer Sehnsucht dem Ende seiner Qualen hingezogen. Ein Ende, das er selbst formu liert hatte: Ich verbrenne! Was verbrannte ihn? Was hatte ihn erstarren lassen? »Gefahr!« keuchte er. Schlug Rauch aus seinem Mund? Lilith konnte nicht glauben, was sie sah. Sie hatte Dienerkreaturen in bläulich züngelnden Flammen vergehen sehen. Aber Codd war wieder Mensch geworden. War er das wirklich? Zwischen fettem, geruchlosem Qualm, der in die Schatten des Gar tens sickerte, sprudelten Codds Worte hervor. Er hatte den Oberkör per weit nach hinten gebogen und die Arme gereckt, als müßte er sich erneut gegen etwas erwehren, was Lilith’ Augen verborgen blieb. »Was ist passiert?« Lilith verfiel unbewußt in hypnotischen Befehl ston. »Gefahr …«, röchelte Codd wieder, während Flammen aus seinen Kleidern schlugen. Stumme, kalte Zungen. »Etwas … kam …« »Etwas kam? Heute nacht?« Er schien sie nicht mehr hören zu können. Lilith krampfte es das Herz zusammen. Sie hatte ihn hierher gebracht, damit ihm geholfen wurde – nicht um ihn umzubringen. »Kam aus … den Schatten … War ein … Schatten … Mußte …« Codd hustete. Er hustete Rauch und dunklen Staub aus verkohlten Lungen. »Ich mußte … schützen … dich schützen … vor ihm!« Lilith stand wie angewurzelt.
Stand da und blickte auf den in kalter Hitze Zerfallenden, dessen Augen aussahen, als seien sie bereits innen von dunklem Rauch be schlagen. Noch höher hob er seine Arme, als könnte er die Grenzen der Dämmerung durchstoßen. Er hatte keine Chance. Und Lilith hatte keine Chance, ihm zu helfen. Sie besaß kein Mittel gegen das, was diesen Mann von innen zerfraß. »Aufhören!« schrie sie – aber weder die Schemen, in ihre Studien vertieft, noch das, was sie hierher spiegelte, reagierten darauf. Mit ohnmächtig geballten Fäusten hörte Lilith die letzten Worte, die Codds zerstäubende Lippen verließen. »Ich hoffe … ich war dir ein … guter … Diener …« Die Augen schienen von einem Netz aus Sprüngen durchzogen zu werden. Schwärze quoll hervor. Bevor Codds Zunge zerfiel, quälte sich ein Name über sie hinweg und erreichte Lilith wie eine schreckliche, un sühnbare Anklage: »Alice …!« Wie von Sinnen wich sie von dem sterbenden Körper zurück. Bahnte sich einen Weg zwischen Gaukeleien, die so sinnlos schienen wie Codds Tod. Sie hatte längst begriffen, daß er sein Leben für sie geopfert hatte. Irgend etwas hatte in der Nacht versucht, zu ihr zu gelangen, und Codd hatte sich ihm in den Weg gestellt. Der Preis, den er dafür be zahlt hatte, war entschieden zu hoch. Und der Schuldige, der ihn dazu getrieben hatte, es zu tun, befand sich HIER. HIER IRGENDWO. Ich wollte nie Diener, dachte Lilith, verzweifelter als jemals zuvor. Ich wäre mit der Gefahr – wie immer sie ist – allein fertig geworden. Und wenn nicht, hätte wenigstens kein anderer dafür bezahlt … Zum erstenmal, seit sie den verschlungenen Pfaden ihrer Bestim mung folgte, überwogen die Selbstzweifel die Überzeugung, den
richtigen Zielen zu folgen. Wer steckte hinter der Prophezeiung und ihrer Geburt? Wer hatte schon ihre Mutter Creanna mißbraucht? Konnte jemand, der so kalt über Leichen ging, überhaupt Gutes im Schilde führen? Tod den Vampiren! schien ein erstrebenswertes Ziel. Vampire knechteten die Menschen unerkannt seit grauer Vorzeit. Aber in Li lith’ eigenen Adern floß vampirisches Erbe! Und die Diebin des Kelchs war ebenfalls eine Vampirin gewesen! Es ergab keinen Sinn! Von Tag zu Tag ergab es weniger Sinn! Sie verlor Verbündete – sie verlor Freunde. Warum dieser Fluch? Immer fadenscheiniger erschien es ihr, daß das HAUS ihr wirklich Helfer zur Verfügung hatte stellen wollen. Diener war ein höchst dehnbarer Begriff … Übergangslos verschwanden die Phantome. Dämmerung rottete sich zusammen. Etwas – keine Stimme im her kömmlichen Sinn – sprach zu ihr. Fragte. Drängte. Gab Befehle. Sie schauderte. Nichts Vertrautes war mehr an diesem Ort. Und plötzlich befand sie sich wieder draußen auf der Straße. Lauschte dem Echo, das zu töten befohlen hatte. Nicht nur Vampire … Der Plymouth stand noch dort, wo sie ihn verlassen hatte. Lilith stieg zu Paul. Sein schwerfälliges Verhalten fiel ihr ange sichts der eigenen Verstörtheit kaum auf. »Fahr los«, sagte sie. »Wohin?« Dorthin, wo du sterben willst …
»Zu dir«, sagte Lilith. »Erst einmal zu dir.«
* Moe Marxx rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Der Chefredakteur des Sydney Morning Herald beäugte Beth MacKinsay, als wittere er ein Komplott. »Sind Sie ganz sicher?« wiederholte er seine bereits gestellte Frage. Beth nickte, und tatsächlich spürte sie keinerlei Zweifel. »Ich möchte künftig mit Seymor zusammenarbeiten – nicht mehr mit die sem ausgelaugten Wrack!« »Warum?« »Persönliche Gründe.« »Die Sie mir aber nicht verraten wollen?« »Ungern.« Marxx beugte ihr seinen spindeldürren Körper entgegen. »Und ich dachte immer, Sie und der alte Mosk wären ein Herz und eine Seele …!?« Beth schwieg. Sie hoffte, daß Marxx, den sie nicht nur als Vorge setzten, sondern auch als Menschen schätzte (tue ich das?), nicht weiter in sie dringen würde. Der Mann, dessen rauhe Schale die meisten mißverstanden, mus terte sie eine Weile ebenfalls stumm, ehe er sich zurücklehnte und sagte: »Wenn ich Ihren Wunsch nicht respektiere, werden Ihre Ar beiten möglicherweise noch mieser als ohnehin schon in letzter Zeit. Was bleibt mir also übrig? Okay. Sagen Sie’s ihm, öder muß ich das übernehmen?« Beth lächelte. Sie schätzte auch Marxx Offenheit. Er hatte recht: Sie
hatte jüngst einiges an Mist gebaut. Aber das würde sich ändern. Sie wollte ihn nie wieder enttäuschen. »Wen meinen Sie?« fragte sie. »Moskowitz oder Seymor?« »Im Grunde meine ich beide.« »Gut«, schlug sie mit soviel Enthusiasmus vor, daß Marxx mit den Zähnen knirschte, »dann übernehmen Sie den Alten und ich den …« »… Jungen?« Marxx’ Miene wurde plötzlich noch säuerlicher, weil er zu begreifen glaubte, warum Beth plötzlich soviel an Seymor lag. In noch tiefere Verwirrung stürzte sie ihn, als sie sich spontan zu ihm über den Tisch beugte und ihm einen Kuß auf die Wange hauchte. »Danke, Chef! Sie sind ein Schatz!« Damit verließ sie sein rundum verglastes Büro, suchte Seymor auf und verblüffte ihn mit dem Angebot, gemeinsam einen Kaffee in der Kantine zu schlürfen. »Wir sollten viel mehr und viel öfters miteinander reden … Nun, ich denke, das wird sich in Zukunft einrichten lassen. Ich hatte gera de ein sehr ergiebiges Gespräch mit unserem Chef.« Nach Marxx war der Seymor der zweite, der sie anstarrte, als hätte sie den Verstand verloren. Kurz darauf ging ein Anruf beim Chefredakteur des Sydney Mor ning Herald ein. Moskowitz war am Apparat. »Eine Bitte, Moe …« Marxx haßte nichts mehr als die Vertraulichkeit einiger »Altge dienter«. Aber er befürchtete, daß es seiner Autorität mehr schaden als nützen könnte, dies zu unterbinden. »Ich wollte Sie auch gerade anrufen. Was gibt es?« »Ich möchte nicht mehr mit dieser MacKinsay arbeiten. Könnten Sie das diskret arrangieren?« Marxx sog den Atem ein. »Sie haben vermutlich triftige Gründe,
die sie mir aber nicht unbedingt auf die Nase binden wollen?« »So ist es …«
* »Empfängst du hier deine zahlenden Liebschaften?« »Die meisten. Ab und zu mache ich Hotelbesuche.« »Keine Hausbesuche wie bei mir?« »Selten. Die wenigsten Frauen geben sich so emanzipiert …« Das Apartment in der Craigend Street war eher karg als luxuriös eingerichtet. Alles wirkte ein wenig kalt und abweisend. Daß sich Frauen auf der Suche nach käuflicher Liebe hier wohl fühlten, ver mochte Lilith nicht ganz nachzuvollziehen. Aber sie mußte ja auch nicht bezahlen. Er mußte es … Sie gab ihm den Befehl, sich an den runden Eßtisch zu setzen. Dann zeigte sie auf seine Verbände. »Was hast du da getan? Zeige es mir!« Bereitwillig begann er, die Binden aufzuwickeln. Er verzog keine Miene, als er an mit Haaren verkrustetes und an der Haut klebendes Blut geriet und die letzten Bahnen ruckartig entfernte. Lilith’ Augen weiteten sich, als sie die kaum vernarbten Schnitte sah. Sie begann zu frieren, obwohl sich die Zimmertemperatur auf ei nem durchaus angenehmen Level bewegte. Sie hatte solche Verletzungen bereits mehrfach gesehen. Häufig genug jedenfalls, um sicher sagen zu können, daß Paul sie sich nicht selbst zugefügt hatte. Es waren charakteristische Male: Längsschnit
te. »Landru …«, entwich es ihren Lippen. Sie hatte Opfer des Vampirs und Kelchsuchers oben in den Ge birgsregionen des Himalayas gesehen. Und seit dem Traum des Symbionten, als Lilith die Geschichte ihrer Mutter nacherlebt hatte, wußte sie, daß Landru durch ein Gelübde gezwungen war, sich auf diese Weise des Blutes seiner Opfer zu bemächtigen. Er bezeichnete sich selbst als Verdammten, und irgendeiner Tat hatte er sich – dar an gab es kaum noch Zweifel – in der Vergangenheit schuldig ge macht. Aber zugleich war Landru der Feind schlechthin. Lilith’ In timfeind! Sie jagten dasselbe Objekt – aus unterschiedlichen Beweggründen. Landru wollte den Lilienkelch aufspüren, um ihn in den Besitz der Alten Rasse zurückzuführen und für dringend notwendigen Nach wuchs zu sorgen. Lilith’ Ziele waren profaner – aber sie hätten zugleich den Grund stein zur Erfüllung ihrer großen Aufgabe gelegt: Sie versuchte das Unheiligtum der Vampire zu finden, um es endgültig aus dem Ver kehr zu ziehen. Es zu vernichten und damit jede weitere Ausbrei tung des uralten Vampirgeschlechts zu verhindern, das nicht in der Lage zu sein schien, sich »herkömmlich« zu vermehren. Wenn der Kelch als Garant vampirischen Nachwuchses auch künftig aus schied, erhöhte dies ihre Chance, ihr Stiefvolk langfristig seiner Machtgrundlage zu berauben. Erst würde sie Sydney »säubern«, dann … Was denke ich denn? erschrak sie. Zugleich erinnerte sie sich der Einsichten, die sie im toten Garten der Dämmerung erhalten hatte, und ihr Entsetzen über sich selbst weitete sich aus. Du mußt viel mehr töten! hatte eine feminine, gestaltlose Stimme
ihr dort wortlose Eindrücke souffliert. Du darfst dich nicht länger darauf beschränken, deinen Durst an den Menschen zu stillen. Du mußt sie … NEIN! Paul blickte erwartungsvoll zu ihr herüber. Sie hatte ihr »Nein!« laut hinausgebrüllt. Er ahnte trotzdem nicht, was in ihr vorging. Es war absurd. Sie war keine Killerin. Sie tötete Vampire. Es war ihre Bestimmung, die Erde vom Joch der Sippen zu befreien. Aber Menschen töten …? »Nein!« Noch während sie abermals aufschrie, wurde sie von der erschüt ternden Ahnung beschlichen, daß dies eines der Dinge war, gegen die sie sich nicht länger wehren konnte. Was war in 333, Paddington Street geschehen? Nicht nur mit Codd, dem Bedauernswerten. Nicht nur mit Benny, mit Jeff Warner und all den anderen, die der Sphäre des HAUSES zu nahe gekommen waren? Warum hatte sie das starke Empfinden gehabt, den Garten zum letzten Mal betreten zu haben und Jeff Warner nie wieder als Ge sandten des HAUSES zu begegnen? Das Gefühl, auf ewig allein zu sein. Allein gegen die Herren dieser Welt zu kämpfen, von denen Landru einer der Schlimmsten war … Was würde aus Beth werden? Hatte sie sich aus eigenem Willen von ihr losgesagt – oder spielten tatsächlich die Nachwirkungen der Wondjina-Pest eine Rolle? Lilith versuchte ihre Gedanken vom Töten abzulenken. Die Stim me in ihr hörte nicht auf, sie dazu aufzufordern: Töte Paul! Töte ihn! Du hast sein Blut getrunken – nun tue auch den zweiten Schritt! Tu es, oder SIE holt dich doch zurück in deine hundertjährige Wiege.
Um dich zu vollenden. Um dir jede Chance auf Selbstbestimmung zu nehmen … »Schalte den Fernseher an!« befahl sie Paul. »Und dann kümmere dich um deine Verletzungen. Wasche sie.« Er gehorchte und händigte ihr die Fernbedienung aus. Lilith sah ihm nach, wie er sich schleppend ins Bad bewegte. Sie hatte begrif fen, warum er sich nicht an die Ursache der Schnitte erinnerte. Landrus Hypnoblock war zu stark. Es war wie in den sieben Dör fern von Nepal. Der Wahnsinn lauerte hinter der Schranke, die Landru seinen überlebenden Opfern auferlegte. Wer das Vergessen niederriß, nahm den Irrsinn des Betroffenen in Kauf. Tu es! flüsterte die böse Stimme in ihr. Nimm es in Kauf! Obwohl es sie zermürbte, hörte sie nicht darauf. Sie zappte durch die TV-Kanäle und fragte sich, während sie News-Sendungen such te, warum Landru sie nicht persönlich attackiert hatte. Warum er sich auf Paul beschränkte und auch diesen nicht tötete, sondern am Leben ließ. Und noch eine andere Frage blitzte erstmals durch ihr Gehirn: War Landru, solange ihn das Gelübde band, überhaupt in der Lage, sich Dienerkreaturen zu schaffen? Vermochte er den Keim auf jene indi rekte, magische Weise, über die er seinen Durst stillte, weiterzuge ben …? Hatte er Paul leben lassen, weil dieser auch nach seinem Tod, ir gendwann, nicht zum Sklaven eines Vampirkeims wurde? Weder Landru noch den anderen Angehörigen der Alten Rasse lag an einer unkontrollierten Vermehrung ihrer Vasallen. Das war schon zu Creannas Zeiten nicht anders gewesen. Lilith sog die Nachrichten lokaler Stationen, die sich mit der über wundenen Seuche befaßten, wie ein trockener Schwamm in sich ein. Wie elektrisiert hörte sie dann die sachliche Stimme einer Moderato
rin: »… wurde unter den genesenen Kranken ein seltsames Phänomen beobachtet: Körperlich scheinen sie wieder vollkommen hergestellt, weisen aber einen psychischen ›Defekt‹ auf: Ihre Persönlichkeiten haben sich gewandelt und ins Extrem verkehrt. Vorhandene Sympa thien wurden zu Antipathien. Liebende hassen sich plötzlich, und wie uns Dr. Frans Stålheim, der unumstrittene Experte auf diesem Gebiet, in einem vor dieser Sendung aufgezeichneten Interview er klärte, gibt es noch keinen sicheren Anhaltspunkt, daß dafür die von Ratten übertragene Epidemie verantwortlich ist. Hören Sie selbst …« Das Bild blendete um auf einen nicht sehr freundlich in die Kame ra blickenden, weizenblonden, langmähnigen Mann. Er hatte stahl blaue, zwingende Augen, von denen sich Lilith seltsam berührt fühlte und zugleich Mühe hatte, den Gedanken zu unterdrücken: Finde ihn! Trinke sein Blut! Töte ihn! Ihre Finger umkrampften die Fernbedienung. Auf Pauls Treiben im Bad achtete sie überhaupt nicht mehr. Sie war nur noch bemüht, Stålheim zuzuhören und nicht die Kontrolle über sich zu verlieren. Plötzlich klammerte sie sich an eine Hoffnung, die von Stålheims kühlen Kommentaren eigentlich schon wieder zunichte gemacht wurde: Vielleicht war doch noch nicht aller Tage Abend. Vielleicht konnte Beth von ihrer plötzlichen Abneigung befreit werden! Dieser Stålheim brauchte bloß ein Mittel zu finden … Bloß! Lilith lachte heiser. Sie war eine Null auf medizinischem Gebiet, aber das Wenige, was sie aus Stålheims Stellungnahme heraushörte, bestärkte sie in der Überzeugung, daß ihre Hoffnung lächerlich war. Stålheim hatte im Blut der ehemaligen Patienten nicht einmal den Erreger ermittelt, der die »Pest« ausgelöst hatte und nun den Stim
mungsumschwung bewirkte. Er redete von einem »Zero-Patienten«, und es dauerte lange, bis Lilith begriff, daß er damit den Erst-Infi zierten meinte, über den er die Quelle der Ansteckung ausfindig machen wollte. Offenbar wäre dieser »Zero-Patient« für Stålheim der Schlüssel zu einem möglichen Erfolg gewesen – aber niemand wußte, wo er zu suchen war. Die Seuche war genauso blitzartig und geheimnisvoll an vielen verschiedenen Orten ausgebrochen, wie sie wieder ver schwunden war. Niemand kannte den Grund für ihr Auftreten und niemand den Grund für ihre plötzliche Harmlosigkeit. Stålheim ver trat die Theorie, daß sich das Immunsystem der Menschen kurzfris tig auf den Erreger eingestellt und ihn besiegt haben mußte. Aber es gab auch Tote, denen dieses »Kunststück« nicht geglückt war … In dieser Hinsicht wußte Lilith mehr als jeder andere – Beth viel leicht ausgenommen. Sie merkte sich den Namen des Senders, dem Stålheim das Inter view gegeben hatte, und ging zum Telefon. Die Vermittlung hatte keine Mühe, sie mit der TV-Anstalt zu verbinden. Lilith gab sich für Beth aus, um als Journalistin problemlos zur zuständigen Redakteu rin durchgestellt zu werden. Wenige Minuten später befand sie sich im Besitz der Hoteladresse, unter der Frans Stålheim abgestiegen war. Unmittelbar nachdem sie aufgelegt hatte, wurde sie erneut von Einflüssen bedrängt, die ihren Ursprung in der Paddington Street hatten. Töte! Trinke nicht länger nur das Blut deiner Opfer … Niemals …! Die Abwehr kam nur noch halbherzig. Paul kehrte zurück. Er hatte sein Hemd ausgezogen. Nirgends wa ren mehr Spuren eigenen Blutes zu erkennen..
Das würde sich ändern. Gleich. Lilith winkte ihn zu sich heran. Sie fühlte sich schlecht. Sie wollte es nicht. Aber sie beobachtete sich bei dem, was sie tat, als stünde sie unbeteiligt neben sich. »Komm her, Paul!« Er kam – arglos, wie es schien. Hypnose verhüllte sein Aufbegeh ren, obwohl Lilith’ Vampirzähne bereits deutlich zwischen den Lip pen hervorgetreten waren. Obwohl ihr Gesicht alle Anmut wie eine verzichtbare Maske fallenließ. Sie wartete, bis er vor ihr stand. Die Bräune verlieh seinem musku lösen Oberkörper im Kunstlicht einen golemhaften Bronzeton. Den noch wirkte er anziehend. Nein! Tu es nicht! Sie belächelte ihr Zögern. Wölfische Begierde erfaßte jede Pore von Pauls Haut. Allmählich mußte er selbst in hypnotischer Fessel er kennen, daß diesmal alles anders als bei ihrer ersten Zusammen kunft verlief. Daß Lilith’ Absicht über Sex und Blut hinausreichte. Er versuchte zurückzuweichen. Er krümmte sich unter jäher, peitschender Furcht. Er quälte die Arme nach oben, um sie von sich zu stoßen … Umsonst. Unbarmherzig umfaßte Lilith seine Schultern. Das matte Flehen in seinen Augen rührte sie – aber nicht den Zwang, der sie selbst zu ei nem Werkzeug machte. Sie empfand weder Durst noch Lust. Sie hatte sein Blut bereits ge kostet (wie Landru …). Nun wollte sie Versäumtes nachholen. Ihre Hände lösten sich von den Schultern und hinterließen mit den scharfgekrümmten Nägeln Spuren auf Pauls Bronzehaut. Glitten hö
her und legten sich erstickend um seinen Hals …
* Landru bezähmte den alten Haß. Lilith erinnerte in so vielem an ihre Mutter, die Hure Creanna. Die unterschiedliche Haarfarbe spielte dabei keine Rolle. Kopfüber hing Landru vor der Scheibe und starrte ins Innere der Wohnung. Seine Krallen hatten sich ins Fenstergebälk gebohrt. Seine sensiblen Sinne nahmen das Geschehen drinnen mehrgleisig wahr. Das feine, für ultrahohe Wellen empfängliche Gehör dieses Körpers ließ sich mühelos auf menschliche Laute einstellen. Durch die Dop pelverglasung hindurch hörte er jedes Wort, das drinnen gespro chen wurde. Lamellenvorhänge schützten ihn vor einer Entdeckung. Ihm selbst aber genügten die winzigen Lücken dazwischen, um den Raum dahinter zu überblicken. Er war Lilith seit der Paddington Street gefolgt. Auf lautlosen Schwingen. Nebelumhüllt. Ihre Ankunft bei der Nummer 333 hatte die Schwellenmagie akti viert, die Landru bei seinem letzten Besuch hinterlassen hatte. Nun endlich hatte er den Beweis, daß Lilith nicht nur die Vorgän ge im Himalaya, sondern auch den präparierten Kopf ihres Vaters überlebt hatte! Der in Indien betriebene Aufwand war folglich nicht umsonst ge wesen. Er würde sich bezahlt machen. Bald. Landru hatte es nicht lassen können, ein wenig mit Lilith zu »spie len«. Sie sollte wissen, daß er ihre Fährte aufgenommen hatte. Das erhöhte den Reiz. Bevor er nicht sicher wußte, daß sie bei ihrem Besuch des Grund
stücks keinen Hinweis auf den Verbleib des Kelchs erhalten hatte, wäre ihr Tod Verschwendung gewesen. Nein, übertriebene Eile war Landrus Sache nie gewesen … Er registrierte ihr gehobenes Interesse an einem Fernsehbeitrag ebenso wie ihr anschließendes Telefonat. Als sie laut Name und Adresse eines Hotels wiederholte, war klar für ihn, daß sie sich frü her oder später dorthin wenden würde. Bis dahin geschah nichts Spektakuläres. Das änderte sich, als Lilith den heimlichen Beobachter damit ver blüffte, daß sie ihrem Begleiter an die Kehle ging. Nicht, um sein Blut zu trinken, sondern um ihn unbarmherzig zu würgen! Landru traute seinen Augen nicht. Sein träges Herz beschleunigte selten. Hier geschah es. Und es geschah noch mehr. Landru spürte kaum, wie sich seine Krallen unter dem Eindruck dessen, was sich im Innern der Wohnung tat, unaufhaltsam aus dem Fenstersturz lösten. Wie Lähmung auf ihn übersprang und unerklär liche Panik sein Bewußtsein zu trüben begann. Sein Fledermauskörper verselbständigte sich und floh mit ihm von seinem Fensterplatz. Aber das Gefühl, etwas Wichtiges zu versäu men, befähigte Landru, die Gewalt über sich zurückzuerlangen. Er kehrte zu seinem aufgegebenen Posten zurück. Er war nur wenige Minuten weg gewesen. Doch als er zurück kehrte, war bereits alles vorbei. Der Mann, dessen Blut Landru Auskunft über eine unerwartete Ei genschaft Lilith’ gegeben hatte, lag zusammengekrümmt und re gungslos am Boden. Landru wechselte von Fenster zu Fenster und stellte fest, daß Li
lith gegangen war. Er sah sie gerade noch das Haus verlassen und heftete sich an ihre Fersen.
* Kurz zuvor … Plötzlich fühlte sie die Anwesenheit eines Dritten. Augen, die auf ihr ruhten. Lähmender Atem, der nach ihr griff … Ruckartig drehte Lilith den Kopf. Keine Richtung ließ sie aus. Aber sie entdeckte nichts, gar nichts außer – Wo bin ich? Das radikale Gefühl, plötzlich über verschneiten Gebirgskuppen zu schweben, entführte sie in eine Vision übermächtiger Stärke. Auf einem der Gipfel sah sie einen unbekannten, düster-schönen, obwohl gesichtslosen Mann in wehendem Umhang stehen. Sein An blick war ihr fremd und dennoch vertraut. Ein Mond von geradezu mystischer Kraft und Größe beleuchtete ihren Versuch, sich dieser Gestalt zu nähern. »Wer bist du?« hörte sie sich rufen. Sie streckte die Arme nach ihm aus, während seine eigenen vor der Brust verschränkt blieben – ein Bild der Unnahbarkeit. Er antwortete nicht. Doch dann bildete sich ein edler Mund dort, wo vorher gar nichts war, und Augen, die in Melancholie ertranken. Der Mund formte die Worte: – – – – – – »Ich verstehe dich nicht!« schrie sie, ohne daß ihre Hände ihn er
reichten. Je näher sie ihm kam, desto weiter rückte er von ihr ab … Die Vision erlosch. Lilith starrte in Pauls blau verfärbtes Gesicht. Sie sah die Unter würfigkeit selbst im Angesicht des Todes – und lockerte ihren un barmherzigen Würgegriff. Was tue ich?? Paul rutschte an ihr zu Boden. Er gab keinen Laut von sich, blieb reglos liegen. Lilith hoffte, daß er nicht tot war, nur ohnmächtig. Aber sie kam nicht dazu, sich zu überzeugen. Wieder drängten die anderen Gedanken an die Oberfläche. Wenn er noch nicht tot ist, vollende dein Werk! Er muß sterben, auf der Stelle! Mit aller Macht stemmte sich ihr Geist gegen die Einflüsterung. Mühsam wandte sie sich von Paul ab, konzentrierte sich ganz auf die Wohnungstür. Sie mußte gehen, sofort, bevor sie der körperlo sen Stimme in ihrem Inneren gehorchen konnte. Der Gedanke an eine selbstgestellte Aufgabe erleichterte ihr die Flucht; ein Gedanke, der ihr vorhin bei dem TV-Interview mit Dr. Stålheim gekommen war. Die fremden Einflüsterungen brachen ab, als sie ins Freie trat. Tief atmete Lilith die kühle Nachtluft ein. Dann strebte sie die Straße hinab, fort von der Wohnung eines hübschen, käuflichen, vielleicht toten Lustknaben. Fort dorthin, wo immer Nacht war …
*
Die Ratten waren immer noch da. Aber sie waren nicht mehr Hand langer jenes dämonischen Lenkers, der sie als seine Augen, seine Ohren und seine Soldaten mißbraucht hatte … Lilith’ Augen entlarvten die überall entlang der unterirdischen Kanäle kauernden, naßglänzenden Felleiber. Die Nager schienen auch sie zu studieren. Neugierig und immer jenen tückischen Glanz im Blick, der ihnen auch ohne Dämonie zu eigen war. Manche hock ten auf ihren molligen Hinterleibern und säuberten sich mit den Vorderpfoten die Barthaare. Ihre spitz zulaufenden Schnauzen wa ren witternd erhoben und schienen unter einem ständigen Strom fluß zu vibrieren. Lilith atmete tief aus und ein. Sie war genau dort in die Kanalisation hinabgestiegen, wo sie letz te Nacht mit Beth, Moskowitz und dem lächelnden Benny Sydneys Unterwelt verlassen hatte.* Der Regen hatte aufgehört, und der Fäkalienstrom war in sein ge mauertes »Bett« zurückgekehrt. Lilith bewegte sich geschickt über glitschigen Boden. Sie war nicht barfuß. Der Symbiont hatte ein dunkles Catsuit gebildet, das auch die Füße einschloß. An den Soh len befand sich ein noppenartiges Profil, das sich als äußerst rutsch fest erwies. Vergeblich hatte Lilith versucht, geistigen Kontakt zu dem leben den Mimikrykleid herzustellen, das sie als Erbe von ihrer Mutter er halten hatte. Aber der Symbiont schwieg seit langem. Möglicherwei se hatte ihn die Manipulation der Wondjinas für immer mundtot ge macht, und Lilith war sich noch nicht schlüssig, ob sie dies begrüßen oder bedauern sollte. Manchmal fehlte ihr ein »Gesprächspartner«. Einsamkeit ist ein ruhiger Sturm, hatte sie einmal in Beth’ Hausbi *siehe VAMPIRA 16: »Die Pest in Sydney«
bliothek gelesen. Damals hatte sie noch nicht das nötige Gefühl ge habt, diesen Satz zu deuten. Auch das hatte sich geändert. Sie bewegte sich auf direktem Weg dorthin, wo sich das Gewölbe des Flutungsbeckens befand, in dem sie mit magischen Ketten fest gehalten worden war. Ketten, die sie selbst nicht zu sprengen ver mocht hatte, Codd hingegen fast spielerisch. Codd … Sie verdrängte die Erinnerung an den zerfallenden, verbrennen den Körper des Mannes. Tief im Innern hoffte sie immer noch, daß das Haus ihr einen makabren Streich gespielt hatte. Daß Codds grausames Ende nur ein Trugbild gewesen war und er in Wahrheit nur in den Schoß der Erde gesunken war – dorthin, wo auch Jeff Warner bei ihren Begegnungen stets verschwunden war. Das Gewölbe war leer und verlassen. Nichts deutete mehr hin auf die Zeit von Lilith’ Gefangenschaft. Selbst die Menschenskelette, un ter denen sich die Mutation jenes rattenähnlichen Geschöpfes ver borgen gehalten hatte, waren entweder vom reißenden Wasser fort getragen oder anderweitig beseitigt worden. Hier war die Mutation gestorben. Hier hatte Codd ihr das Herz aus dem Leib operiert – mit bloßen Händen. Es hatte noch geschlagen, als er es dem Rattenheer zum Fraß vor warf. Und dann war der riesenhaft entartete Körper der Mutation zeitrafferschnell geschrumpft, hatte sich zurückgebildet zu dem, was er gewesen war, bevor die Rache des Wondjinas ihn zu Mons tergröße aufgebläht hatte: ein kleiner Tasmanischer Teufel – einer je ner selten gewordenen Raubbeutler, die nur noch auf Tasmanien zu finden waren. Zum Beispiel oben an den Hängen des Mount Reid, wo der vieltausendjährige Urbaum ebenfalls Opfer der Ereignisse geworden war …
Enttäuscht ließ Lilith die Schultern sinken. Die Tatsache, daß der vom Regen angeschwollene Strom selbst die Gerippe davonge schwemmt hatte, machte ihr endgültig bewußt, wie aussichtslos ihr Vorhaben war. Lilith sah die schiere Unlösbarkeit dessen, was sie sich vorgenom men hatte. Sie wollte für Stålheim »Patient Zero« bergen – und für Beth. Aber selbst dieser geringe Hoffnungsschimmer schwand hier un ten angesichts der tristen Realität … In diesem Moment geschah es. Geschah es wieder! Lilith wurde von einem ähnlichen Gefühl übermannt wie in Pauls Wohnung. Sekundenlang verblaßte ihre Umgebung, und sie glaubte wieder in rauhen Gebirgslüften zu schweben. Glaubte jenen Ge heimnisvollen, fast Gesichtslosen zu sehen, der vergeblich das Wort an sie zu richten versuchte, umgeben von schneebedeckten Bergzin nen. Aber diesmal hatte der Mann ein Gesicht. Das Gesicht von Frans Stålheim, dem Seuchenexperten! Lilith wankte, kniff die Augen zusammen, und als sie sie wieder öffnete, waren die Bilder verschwunden. Sie stand in einem auf den ersten Blick unveränderten Gewölbe, in dem jedoch mehr als das lei se Rauschen des Wassers zu hören war. Flötenspiel! »Benny …?« Lilith drehte sich um ihre eigene Achse. Unwillkürlich erwartete sie, den jungen Asiaten auftauchen zu sehen, begleitet von einem Rudel grauer Nager. Hatte er Codds Befehl mißachtet und war nicht zur Paddington gegangen?
Lilith wünschte es fast, obwohl sie keine Gelegenheit gehabt hatte, Benny näher kennenzulernen. Sicher schien jedoch, daß auch er ein Opfer der verderblichen Wondjina-Magie geworden war. Und dar über, was ihn auf dem Anwesen 333 erwartet hätte, machte sich Li lith keine Illusionen mehr. Nicht nach ihrem letzten Besuch … Die schwermütige Melodie wurde nicht lauter. Ihr Ursprung schi en sich nicht zu bewegen, geschweige denn näher zu kommen. Lilith vermochte trotz Anstrengung nicht einmal die genaue Rich tung zu bestimmen. Doch dann geschah das, was ihr bei anderer Gelegenheit bereits vertraut geworden war: Die Ratten der Umgebung spitzten die Oh ren, hielten eine Weile wie gebannt inne – und setzten sich dann flink in Bewegung. Alle in dieselbe Richtung. Dorthin, wo sie den Ursprung der Melodie vermuteten. Lilith hatte nichts zu verlieren. Sie jagte den Ratten hinterher.
* Er folgte Lilith in die Unterwelt. Seine Tarnung war perfekt. Als Rat te unter Ratten bewegte er sich. Die Nager fühlten seine Andersar tigkeit und wichen ihm aus. Aber nicht einmal sie ahnten, wer sich unter der Maske verbarg. Und Lilith? Bei ihr war er nicht sicher, ob sie seine wahre Identität erspüren konnte. Deshalb hielt er Distanz zu ihr. Immer am äußersten Rand des eigenen Blickfelds nahm er die Wege, denen auch sie folgte. Er wußte nicht, was sie hier unten suchte. Aber er wollte es herausfin den. Von nun an würde er sie nie wieder aus seiner Beobachtung lassen, bis einer von ihnen beiden den Kelch gefunden hatte …
Im selben Moment, als auch Lilith innehielt, hörte Landru die un wirkliche Melodie, von der auch sein Rattenkörper sich, wenn auch schwach, angezogen fühlte. Noch während er überlegte, ob er dem Locken nachgeben sollte, sah er, daß die Ratten der Umgebung dies taten – und daß auch Li lith den Ursprung der flötenhaften Klänge ergründen wollte. Sofort setzte er sich in Bewegung, gab dem inneren Drängen nach und eilte Lilith sogar voraus. Denn er stand der Quelle des Spiels näher. Je näher er dem Ziel kam, desto mehr spürte er die Gefahr, die von der Melodie ausging. Er verlangsamte seine Bewegung und schottete sich innerlich ge gen allzu starke Einflußnahme ab. Es gelang ihm. Im Gegensatz zu den echten Ratten, die der Todesmelodie schutz los augeliefert waren … Was ist das? dachte Landru, als sie ein kleineres Gewölbe erreich ten und er dort die schattenhafte Gestalt sah, bevor Lilith um die letzte Biegung kam. Ein Schatten, vom Ruch des Todes umgeben. Ein Schatten, um den sich die Ratten rotteten, als ginge es um ihr Leben. Um das ging es auch! Fasziniert beobachtete Landru – selbst voll rättischem Sentiment –, wie die grauen Nager von Schattenhand nach Belieben dirigiert wurden. Wie sie sich über den glitschigen Boden verteilten und dort ihre zugewiesene Position annahmen, ehe sie von Schattenhand starben. Ja, starben.
Selbst Landru spürte den unwiderstehlichen Sog des Todes in sei nem Körper. Nicht nur dies, sondern auch die Neugierde veranlaß ten ihn, seine Tarnung unverzüglich aufzugeben. In Original-Gestalt sah er, was der sich jetzt zurückziehende Schatten auf den Boden ge schrieben hatte. Er las und begriff und handelte, ohne nachzudenken, im selben Moment, als hinter ihm Lilith’ Schritte laut wurden. Wieder wechselte er – allmählich ermüdend – den Körper. Als Fliegender Hund, das australische Pendant einer Fledermaus, raste er auf das Muster toter Ratten zu. Wischte mit ausgebreiteter Schwinge über tote Leiber und wirbelte ihre Botschaft in dem Mo ment durcheinander, als Lilith in das Gewölbe trat. Mit peitschendem Flügelschlag schoß Landru dicht über den Bo den hinweg in den nächstgelegenen Schacht.
* Lilith sah etwas verschwinden. Schattenhaft. Aber sie erkannte nicht, was es war. Überall lagen die toten Körper der gerade noch quicklebendigen Tiere, denen sie gefolgt war. Die Melodie war verstummt. Benny war hier nicht. Wer dann? Was war geschehen? Lilith’ Instinkt warnte nicht. Aber das hatte nicht zu bedeuten, daß die Gefahr vorbei war. Schon einmal – bei dem, was Codd nachts in
der Wohnung ereilte – hatte er gar nicht oder sehr spät funktioniert … Sie brauchte Sekunden, um zu begreifen, daß die nicht wahllos verstreuten Kadaver lesbare »Worte« bildeten: L NDRU VORSI HT IND EN HUTE DI H VOR M R S E ZW NGEN MIC Z M ICH (An dieser Stelle klaffte eine gewaltige Lücke, und dann folgten nur noch zwei gut leserliche, von eng an eng liegenden Ratten ge formte »Buchstaben«:) AN Lilith’ Blick klebte an dem eingangs stehenden Begriff, den sie trotz geringfügiger Zerstörung perfekt zu lesen verstand. LANDRU. Er hatte sich wieder an ihre Fersen geheftet. Er war wieder in Syd ney. Sie wußte es bereits, seit sie Pauls Verletzungen gesehen hatte. Aber wer warnte sie hier und jetzt vor ihm? War Landru hier? Innerhalb der Kanalisation? Es hätte zu ihm gepaßt, daß er selbst dieses Katz-und-Maus-Spiel mit ihr betrieb. Sie ließ ihren Blick wandern. War er der fliehende Schemen gewesen, den sie gerade eben gese hen hatte? Lilith’ Blicke verfingen sich an Kadavern, die keine Buchstaben, aber eine klarverständliche Form bildeten. Einen Pfeil.
Spontan wandte sie sich in die angezeigte Richtung. Schon in unmittelbarer Nähe des »Rattenpuzzle« endete der Weg in einer Sackgasse. Aber dort lag etwas, nach dem sich Lilith nur noch zu bücken brauchte. Ein weiterer Kadaver. Seltsam gut erhalten. Wie schlafend. Seinetwegen war Lilith gekommen. Es waren die Überreste des Tasmanischen Teufels. Befremdet hob sie den Kadaver auf …
* Die nächste Frustration ließ nicht lange auf sich warten. In dem Ho tel, in das Lilith sich sofort im Anschluß an die Suche in der Kanali sation begab, erfuhr sie, daß Dr. Frans Stålheim bereits abgereist war. »Wann? Wohin?« fragte sie den Portier, der den Geruch, den die Fragestellerin verbreitete, eher geringschätzte, ansonsten aber ge blendet von ihrer attraktiven Erscheinung war. Lilith brauchte kaum nachzuhelfen – und das mit der dringend er forderlichen Dusche wußte sie selbst. »Zurück in seine Heimat. Seine Maschine ging vor –«, er blickte auf seine Uhr, »– drei Stunden.« Lilith überwand ihre Enttäuschung. »Haben Sie seine dortige Adresse?« Der Portier nickte gewichtig. »Jeder, der hier nächtigt, muß den Meldezettel ausfüllen …«
»Den will ich haben!« »Bitte? Warum sollte ich –?« »Her damit!« Sie hatte keine Geduld mehr. Gehorsam durchblätterte der Portier einen dicken Ordner und händigte ihr schließlich den Meldeschein ganz und gar unbürokra tisch aus. »Danke.« Lilith befreite ihn von schlechtem Gewissen und jeder Erinnerung an seine Hilfeleistung. Sie steckte den Zettel in die Tasche, die keine Tasche war, sondern Bestandteil des Symbionten, und ging. Mit einem Taxi fuhr sie durch grauenden Morgen zu Beth’ Wohnung. Sie war entschlossen, es anschließend in der Redaktion zu versuchen, wenn sie Beth da heim nicht antraf. Etwas mußte passieren. Bald. Noch länger in Depression zu verfallen, war keine Lösung! »Kennen Sie einen gewissen Nick?« fragte Lilith zwischendurch den Fahrer und war selbst überrascht, daß sie nach so langer Zeit plötzlich wieder an den Mann dachte, der ihr erster Liebhaber gewe sen war. Und der erste Mann, dessen Blut sie sich selbst beschafft hatte. »Er fährt ebenfalls Taxi …« »Nick?« echote der mittelalte Driver. »Es gibt ein paar hundert Kollegen mit diesem Vornamen. Geht’s ein bißchen genauer?« Lilith beschrieb den hellblonden, sportlichen Mann. Alles, was sie erntete, war bedauerndes Schulterzucken. »Sorry. Was wollen Sie von ihm? Hat er Ihnen das Wechselgeld unterschlagen?« Nein, ich müßte ihn töten, dachte sie abstrakt..
»Nein, aber er hatte eine phantastische Ausdauer.« Der Fahrer errötete bis in die Ohrspitzen. Wenig später erreichten sie das Ziel, und Lilith schenkte ihm das Gefühl, ein traumhaftes Salär für die kurze Fahrt erhalten zu haben. Dann fuhr sie mit dem Lift zu Beth’ Apartment. »Wer ist da?« rief die unverkennbare Stimme der Freundin durch die geschlossene Tür. Aber zuvor mußte Lilith mehrmals Sturm läu ten. Sie hatte keinen Schlüssel mehr. Sie hatte ihn zurückgelassen, als sie mit Codd und Paul gegangen war. »Ich!« Auch Beth hatte keine Mühe, sie zu identifizieren. »Verschwinde!« »Mach auf! Wir müssen reden – sofort!« »Es gibt nichts mehr zu reden«, versetzte Beth. Ihr Ton bestätigte diese Aussage. Einmal mehr fragte sich Lilith kopfschüttelnd, welchen bösartigen Streich die verschwundene Seuche mit den ehemals Befallenen trieb. »Es gibt sehr viel zu bereden – und es betrifft dich. Du kannst dich nicht ewig verstecken. Du bist immer noch krank, und ich will dir helfen. Verdammt – hörst du keine Nachrichten? Liest du deine ei gene Zeitung nicht mehr?« »Wovon redest du?« »Davon, daß du kein Einzelfall bist! Deine plötzliche Abneigung mir gegenüber ist doch nicht allmählich gewachsen – sie kam über Nacht. Mit der Seuche, die du überwunden hast …« »Ich würde noch lauter schreien«, giftete Beth scheinbar unbeein druckt. »Damit dich auch wirklich jeder auf dieser Etage hört!« »Du kannst es ändern: Mach auf und laß mich herein!«
Tatsächlich drehte sich der Schlüssel, und die Tür schwang auf. Aber Beth’ Miene war unversöhnlich, als Lilith die Wohnung betrat. »Seit wann trägst du Brille?« wunderte sie sich. »Seit ich Kontaktlinsen nicht mehr ausstehen kann!« Lilith sah sie an. Beth trug außer der Brille wenig bis nichts. Nur einen Hauch von einem Negligé. »Arbeitest du heute nicht?« »Ich habe mir freigenommen. Das Leben besteht nicht nur aus Ar beit!« Lilith schüttelte nur noch den Kopf. Zugleich bedrückte es sie, die sen ungemein anziehenden Körper zu sehen, mit dem sie soviel ver bunden hatte, ohne sich ihm hingeben zu können. »Du mußt doch selbst erkennen«, sagte sie, »wie sehr du plötzlich alles verabscheust, was du einmal mochtest!« »Der Mensch ändert sich – Gefühle ändern sich. Warum kannst du nicht akzeptieren, daß –« »Weil du mir etwas bedeutest!« unterbrach Lilith sie. Beth verstummte. Dann lachte sie gehässig. Lilith wollte nicht wahrhaben, daß sie in den Augen der Freundin nun offenen Haß las. Sie öffnete die Tasche. »Igitt, wie schön!« Beth’ Ausdruck wechselte von abweisend zu freudig erregt, als ihr Blick über den Kadaver streichelte. »Du weißt, was das ist?« fragte Lilith rauh. »Ein Tasmanischer Teufel.« »Es ist der Tasmanische Teufel. Mit seiner Hilfe kann vielleicht die Ursache und ein Gegenmittel für die Gefühlsverirrungen gefunden werden. Wir müssen ihn auf dem schnellsten Weg nach Europa bringen. Nach –« »Du spinnst!« Offen stand wieder Abscheu zwischen ihnen, als
Beth den Blick von dem Tierkadaver abwandte. »Was soll ich in Eu ropa?« »Der Mann, der uns helfen könnte, lebt dort. Er heißt …« Lilith unterbrach sich, als plötzlich eine fremde Stimme aus dem Schlafzimmer ertönte. »Probleme, Darling?« »Ich werde allein damit fertig!« »Du hast Besuch?« fragte Lilith beherrscht. Eifersucht war ihr fremd. Erschüttert war sie nur über diese vorläufig letzte Facette von Beth’ Persönlichkeitsveränderung. »Männerbesuch?« »Etwas dagegen?« Lilith überlegte, ob sie versuchen sollte, die schlimmsten Entglei sungen der Freundin hypnotisch zu korrigieren. Sie entschied sich dagegen. Es wäre ein Faß ohne Boden geworden. Ehe sie ging, nannte sie Beth die Adresse von Paul. Etwas Besseres fiel ihr auf die schnelle nicht ein, und sie hatte fest vor, bei ihm un terzuschlüpfen, bis sie alle Vorbereitungen für ihre Reise nach Finn land getroffen hatte. Sie war ihm etwas schuldig. Sie mußte sich um ihn kümmern. Falls er ihre letzte Begegnung überlebt hatte …
* »Wer war das?« fragte George Seymor, als Beth zurückkehrte. »Jemand, der nicht kapieren will«, antwortete sie kühl Gerade die se Kühle erregte ihn. Sie kroch zu ihm zurück ins Bett. »Machen wir weiter, wo wir un terbrochen wurden …«
Seymor erhob keine Einwände. Seine Hände strichen begehrlich über den gertenschlanken, biegsamen Körper der Frau, die hinter vorgehaltener Hand als »Macbeth« tituliert wurde. Eine Frau, die sich zu behaupten wußte. Seymor hatte nie das Gefühl gehabt, einmal bei ihr landen zu kön nen. Es hielten sich sogar hartnäckige Gerüchte, daß Beth MacKinsay keinen Mann landen ließ. Es war ihm egal. Hier und jetzt gab sie sich, wie man es sich von einer Vollblutfrau nur wünschen konnte. Viel war noch nicht passiert. Ein bißchen Streicheln, ein paar feuchte Zungenspiele … Dann hatte es geklingelt. Beth legte die Brille ab und schlüpfte zu ihm. Ihre kleiner fester Busen schmiegte sich weich und warm gegen Seymors für einen Mann etwas zu glatten, zu haarlosen Brustkorb. Ihre Nacktheit wirkte so erotisierend auf ihn, daß sich seine Erektion im Nu wie derherstellte. »Eine Freundin?« fragte er ohne jede Betonung. »Schnee von gestern.« Sie versiegelte ihm die Lippen. Erst mit dem Zeigefinger, dann mit dem Mund. Seymor stöhnte unter dem neuerlichen Drängen ihrer Zunge. Wenig später stöhnte er aus anderem Grund. Es läutete erneut an der Tür. »Eine hartnäckige Freundin …« In Beth’ Augen blitzte es auf. »Bleib!« bat er. »Nein!« widersprach sie, ganz Macbeth. »Ich stoße ihr noch einmal Bescheid. Zum allerletzten Mal!« Sie löste sich von ihm und glitt aus Bett und Tür. »Wenn sie es vorhin nicht begriffen hat«, gab Seymor zu beden
ken, »begreift sie es nie!« Dann wunderte es ihn, daß Beth ihrer Freundin draußen nicht lautstark den Marsch blies. Er hörte nur flüsternde Stimmen, sonst nichts. Er war einfach zu faul, um aufzustehen und nachzusehen. Er wartete. Sein Glied erschlaffte zum zweiten Mal. Seymor warf einen ent schuldigenden Blick darauf. Ob es ihm verzieh, würde sich beim dritten Versuch herausstellen. Doch dazu kam es nicht mehr. Als Beth zurückkehrte, wirkte sie wie ausgewechselt. Seymor spürte sofort, daß sich etwas zu seinen Ungunsten verändert hatte. »Wer war es? Nicht deine Freundin …?« Beth schüttelte den Kopf. Und dann sagte sie etwas, was seine Irri tation nicht unwesentlich steigerte: »Nein. Deine Ablösung …«
* In der Eile hatte Lilith versäumt, Pauls Tür beim Weggehen zu schließen. Es war ein glücklicher Zufall, daß man den Callboy bei nur angelehnter Wohnungstür zwischenzeitlich noch nicht entdeckt hatte! Der Callboy lag noch dort, wo Lilith ihn zurückgelassen hatte. Während sie sich ihm näherte, kehrten unerwartet die bereits ver drängt geglaubten »Befehle« zurück. Töte ihn! Nimm nicht nur ein wenig Blut – sauge ihn völlig aus! Sie haßte diese Stimme. Und plötzlich kam ihr der Verdacht, daß auch sie sich – anders als Beth oder irgendein sonstiges Bißopfer der
Ratten – verändert haben könnte. Daß die »Stimme« gar nichts mit ihrem Besuch des Gartens zu tun hatte, sondern Symptom eines Wandlungsprozesses in ihr war … Sie beugte sich zu dem Mann hinab. Als sie merkte, daß er noch lebte, verspürte sie Durst. Aber sie bezähmte sich mit aller Gewalt, weil sie fürchtete, nicht mehr aufhören zu können, wenn sie einmal damit angefangen hatte. Sie erkannte, daß er längst wieder bei sich, aber dennoch zu keiner Initiative fähig war. Er stand immer noch im Bann ihrer Hypnose. Und er schien sich an ihren Angriff zu erinnern, denn als Lilith die Gedankenblockade behutsam lockerte, schrie er seine über Stunden angestauten Ängste lauthals hinaus. Lilith mußte ihn noch vorsichtiger »wecken« und zugleich jene Episode aus seinem Gedächtnis löschen, die sie gern auch aus ihrem eigenen gestrichen hätte. Später am Abend sorgte dann eine alte (ehemalige?) Freundin für eine zunächst freudige Überraschung. Plötzlich stand Beth vor der Tür. Lilith hatte nicht so schnell mit ihr gerechnet. Im Grunde hatte sie überhaupt nicht mehr mit ihr gerechnet. »Hilf mir«, bat Beth. »Ich kann dich noch immer nicht ausstehen – aber ich erinnere mich an Zeiten, als das anders war … Hilf mir – wenn du kannst …!« Im nächsten Moment stürmten die Vampire Pauls Wohnung.
* Mehrere Fenster barsten gleichzeitig unter der Wucht eines halben Dutzends Fledermausgestalten, die sich noch in der Metamorphose
auf Lilith, Paul und Beth stürzten. »Vorsicht!« Lilith’ gellender Schrei verhinderte nicht, daß die Vampire ihre Opfer packten. Drei warfen sich ihr selbst entgegen, während die andere Hälfte sich auf Paul und Beth verteilte. Paul schrie wie ein Wahnsinniger. All das mühsam in ihm aufge baute Beruhigungswerk fiel unter dem unwirklichen Angriff in sich zusammen. Bestien in Menschengestalt bohrten erst ihre Klauen – und dann ihre Zähne in sein Fleisch! Lilith wollte ihm zu Hilfe eilen, aber die Übermacht zwang sie, erst die eigene Haut zu retten. Beth war völlig ihrem Blickfeld entschwunden. Sie hörte sie auch nicht schreien. Vielleicht, dachte Lilith schwerfällig, war sie bereits tot. Dann mußte sie aufhören zu denken. Sie handelte nur noch instinktiv. Wie eine Maschine. Wie ein zum perfekten Töten geschaffener Automat. Sie verlor den Überblick darüber, was genau sie tat. Statt darauf zu warten und zu hoffen, daß der Symbiont in den Kampf eingriff, ver ließ sie sich lieber auf ihre eigene, immer routinierter werdende Technik. Gellende Schreie erfüllten den Raum. Schreie, die auch in den Nachbarwohnungen gehört werden muß ten. Aber niemand kam. Einige mochten vielleicht die Polizei alarmie ren. Bis zu deren Eintreffen würde jedoch längst alles vorbei sein. Für die eine – oder die andere Seite.
Nacheinander brach Lilith drei Genicke: die einzige ihr bekannte und, vom klassischen Pfählen abgesehen, hundertprozentige Metho de, Mitglieder der Alten Rasse sicher zu töten und ihre Wiederkunft zu verhindern. Auch ihr selbst wurden bei dem Kampf Wunden geschlagen, die jeden Menschen heillos zum Sterben verurteilt hätten. Ihr aber ge lang es, die Schmerzen zu ignorieren und sich um die verbliebenen Gegner zu kümmern. Für Paul kam jede Hilfe zu spät. Einer der Vampire hatte ihm die Kehle durchtrennt. Er war verblutet und starrte mit gebrochenen Augen ins Leere. Sein Mörder und ein weiterer Vampir ergriffen die Flucht, als sie sahen, wie leicht Lilith mit ihren Geschwistern fertig geworden war. Nur ein letzter blieb zurück. Er lag über Beth. Und Beth rührte sich nicht. Bis Lilith den Blutsauger aufschreiend packte und ihn von ihr zerr te. Er wehrte sich nicht. Er konnte es nicht mehr. In seinem Herzen steckte der Griff eines unbekannten Dolches. Und um Beth’ Lippen schmiegte sich ein scheues, vergängliches Lächeln. Sie lebte …
* Sie flohen vom Ort des Massakers. Beth war mit ihrem Wagen zur Wohnung von Paul Kravetz ge kommen, und in diesem Auto fuhren sie jetzt gemeinsam zum Apartment der Reporterin zurück. Lilith hatte den Dolch aus dem Herzen des zerfallenden Vampirs
herausgezogen und mitgenommen. »Woher hattest du die Waffe?« fragte sie noch während der Fahrt durch das nächtliche Sydney. Beth starrte verkniffen nach vorn. Lilith spürte den inneren Kampf, den sie focht, fast körperlich. Nichts war in Ordnung zwi schen ihnen. Beth empfand für sie immer noch … ja, was? Abscheu? Haß? »Er lag auf der Kommode«, antwortete die blonde Fremde. Fremd war alles zwischen ihnen geworden. »Ich brauchte nur zuzugreifen. Es war ein – Reflex.« »Er hat dir das Leben gerettet. Nicht auszudenken, wenn er dich gebissen hätte …« Beth nickte. Ihre Miene ließ ahnen, daß ihr selbst dieses Gespräch und die unmittelbare Nähe Lilith’ kaum erträglich waren. Aber sie kämpft dagegen an, machte sich Lilith Mut. Wenigstens das tut sie. »Hast du den Kadaver noch?« fragte Beth. »Den des Tasmanischen Teufels?« Sie nickte. »Ja«, sagte Lilith und tippte gegen die taschenartige Ausbeulung an ihrer rechten Hüfte. »Ihn zu verlieren wäre wirklich fatal.« »Du meinst, mir damit … helfen zu können?« »Ich wüßte momentan keinen anderen Strohhalm, nach dem wir greifen könnten.« Sie schwieg für einige Sekunden. Dann fragte sie unvermittelt: »Wohin hast du Codd gebracht? Wie geht es ihm?« »Er ist tot.« Lilith berichtete knapp, was geschehen war. Wieder schwieg Beth eine Weile, ehe sie fragte: »Hast du in der Paddington eine neue Spur des Kelchs erhalten?«
»Nein«, sagte Lilith. »Wirklich nicht?« Erstaunt musterte sie Beth, die ungewohnt verkrampft hinter dem Steuer saß. »Nein! Warum sollte ich dir etwas verschweigen?« Lilith fuhr sich durch die dichte Haarmähne. »Könnten die Vampire dir gefolgt sein?« Beth zuckte die Achseln. »Sie wissen nichts von mir, oder? Wenn doch, bin ich so gut wie tot.« Den Nachsatz sprach sie fast emotions los. Lilith spürte erneut, wie gewaltig sie sich verändert hatte. Der Rest der Fahrt verlief wortkarg. Die nächsten beiden Tage verliefen wortkarg. Beth duldete Lilith in ihrer Wohnung – mehr als dies schien aus ihrer Warte nicht möglich. Es kam zu keiner noch so geringen Geste der Zuneigung. Diese Beth würde Lilith nie wieder Gefühle wie Freundschaft oder Begehren entgegenbringen. Diese Beth nicht. Wenn auch Stålheim scheiterte, von dem Lilith bislang nicht viel mehr als sein Gesicht auf der Mattscheibe kannte, würde sich daran nie mehr etwas ändern. Eine Vorstellung, die ihr angst machte. Als sie sich nach Abschluß der Reisevorbereitungen an der Air port-Sperre voneinander trennten, verloren sie immer noch keine überflüssigen Worte. Beth winkte Lilith nach. Es sah aus, als wäre sie froh. Froh, Lilith endlich los zu sein …
*
Endlich! Beth kehrte auf dem schnellsten Weg in ihre Wohnung zurück, schälte die Schuhe von den Füßen, legte sich ins Bett und schloß die Augen. Der Alptraum wich nur zögernd. Erst als sie sich in die Erinnerung an das flüchtete, was sie vor zwei Tagen wirklich bewogen hatte, Lilith aufzusuchen, löste sich ihre Anspannung in fiebrige Sehnsucht. Sehnsucht nach ihm. Sie hatte Seymor hinausgeworfen, weil er es so gewollt hatte. Er hatte plötzlich vor der Tür gestanden, nicht abermals Lilith. Er hatte ihr gesagt, daß er sich unter vier Augen mit ihr unterhalten müsse. Sie hatte ihn sofort erkannt. An der Narbe auf seiner Wange. Am Charisma einer Legende. Seltsamerweise hatte sie sich nicht vor ihm gefürchtet. Keinen Au genblick. Er hatte geduldig gewartet, bis sie Seymor an die Luft setzte. Dann war er wiedergekehrt. Beth erinnerte sich an jedes Wort. Jede Geste. Jede … Berührung. »Ich hörte, daß auch du sie haßt«, sagte er. »Erzähle mir, warum.« Sie gab ihm bereitwillig Auskunft. Sie wußte nicht, ob er mit den Fähigkeiten, die man seinesgleichen nachsagte, nachhalf. Es war ihr gleichgültig. Sie war wie benommen in seiner Gegenwart. Sie hing an seinen Lippen. Sie gierte nach seinen Komplimenten, die er im mer wieder einstreute. Den Blicken, die ihren Körper streichelten. »Wir stehen auf derselben Seite, du und ich. Willst du mir helfen?« »Was soll ich tun?« »Wiege sie in Sicherheit. Bestärke sie, dir zu helfen. Finde für mich
heraus, ob sie in der Paddington Street etwas über den Verbleib des Kelchs erfahren hat …« Dann hatte er ihr den Dolch gegeben, mit dem sie den Vampir in Paul Kravetz’ Wohnung getötet hatte. »Wozu brauche ich eine Waffe?« hatte sie gefragt. »Soll ich Lilith – töten?« »Nein. Ich will ihr diesen Ort verleiden. Ich habe eine gute Freun din – keine so lebendige wie dich, aber immerhin –, die dafür sorgen wird, daß Lilith der Boden in Sydney zu heiß wird. Daß sie bald nach Europa reist …« Plötzlich hatte er eine Ratte in der Hand gehalten. Beth liebte Ratten. Er hatte ihr den Hals umgedreht. »Warum tust du das?« Er hatte es ihr erklärt. Er war so klug. Wenig später war Henna aufgetaucht. Landru hatte der Punkerin in aller Deutlichkeit erläutert, was er von ihr erwartete. Sie sollte dem neuen Sippenoberhaupt weismachen, daß sie Lilith Eden zufäl lig in einer bestimmten Wohnung habe verschwinden sehen. Landru selbst wollte bei der Sippe nicht in Erscheinung treten. Nachdem Henna wieder gegangen war, hatte Beth gesagt: »Lilith wird die Vampire töten.« »Ich weiß.« »Du bist selbst ein Vampir …« »Ich denke in größeren Maßstäben.« »Aber ich bringe mich selbst in tödliche Gefahr …« Er nahm ihr jede Angst. »Nicht mit diesem Dolch. Vertraue mir!« Sie bereute nicht, es getan zu haben.
Nun wartete sie, daß er zurückkehrte und ihr den versprochenen Lohn für ihre zweitägige Farce brachte …
* Tage später Die »Hölle« Lapplands … Bis zu diesem Moment war die Reise ohne besondere Vorkommnis se verlaufen. Vom finnischen Helsinki aus war Lilith mit einer Char termaschine über den Polarkreis hinaus ins Land der Samen, nach Ivalo, geflogen. Von dort war eine Weiterreise nur in einem schnee tüchtigen Geländetaxi möglich gewesen. Lilith hatte keine Zeit ver lieren wollen und sich, ortsunkundig, dafür entschieden. Seitdem war sie mit Jarl Sibelius unterwegs, einem gebürtigen Lappen, der sie während der vielstündigen Holperfahrt – erst über Ölsandpisten, später über Straßen, die noch aus der Pionierzeit zu stammen schienen – in die Naturwunder seiner Heimat einführte. Jarl Sibelius war ein kurzweiliger Erzähler – und einer, dessen Mundwerk keine Minute stillzustehen schien. Als der Elch mit dem prächtigen Schaufelgeweih nur eine Fahr zeuglänge vor ihnen aus dem Dickicht auf die Fahrbahn sprang, er klärte der windgegerbte Mund des Endfünfzigers gerade das Phä nomen der Mitternachtssonne (die Sommersonnenwende lag erst wenige Tage zurück). Selbst Sibelius, der die Ruhe selbst zu sein schien, konnte nur noch durch scharfes Herumreißen des Steuers ausweichen. Er tat es, ohne Rücksicht auf die eigene Gesundheit oder die seines
Fahrgastes. Das Leben des Tieres war ihm ebenso wichtig wie das eigene. Deshalb landeten sie frontal an einer mächtigen Kiefer. Lilith konnte den Aufprall gerade noch abfangen, Jarl Sibelius wurde aus dem Sitz gelupft und stieß mit der Stirn gegen die Windschutzschei be, die sich als mindestens ebenso hart wie sein Dickschädel erwies. Der Motor stotterte immer noch, als er ächzend zurückkippte und sich wie ein begossener Pudel schüttelte. Anschnallgurte gab es in seinem Jeep nicht. Dafür klaffte jetzt eine Platzwunde senkrecht über der Nasenwurzel des Lappen, während der Elch ungerührt die Fahrbahn überquerte und auf der anderen Seite wieder im Dickicht verschwand. Lilith beugte sich sofort zu dem Mann vor, dessen Gesicht blut überströmt war. Die Mücken, die schon die ganze Fahrt über auf ihn eingestochen hatten, fielen plötzlich im Schwarm über das frische Blut her. Und während Jarl Sibelius gottlos fluchend die »Ruska«, die mückenlose Zeit, herbeiwünschte, wurde Lilith überwältigt von eigenem, erschreckendem Blutdurst. Im Grunde kam es nicht überraschend. Sie hatte nur einmal, kurz nach ihrer Ankunft in Helsinki, ein Opfer auf der Flughafentoilette gefunden. Eine junge, Vitalität versprühende Frau, die bedingungs los Lilith’ Hypnose verfallen war. Es hatte keinerlei Komplikationen gegeben. Kein bohrendes Drän gen, das Lilith aufforderte, die Spenderin des erquickenden Elixiers zu töten, wie es zuletzt mehrfach in Sydney geschehen war. Dafür kam die dunkle Begierde nun um so heftiger über Lilith. Die Augen des Lappen weiteten sich entsetzt, als die rassige Frau mit der schwarzen Haarmähne auf ihn zuzuckte und – Lilith bezähmte sich im letzten Augenblick. Sie schrie auf.
Sie hatte keinen Hunger, keinen Durst! Was tat sie da? Ein röchelnder Laut löste sich aus Jarl Sibelius’ Mund. Seine Hand krampfte sich in die Herzseite seiner Brust. Er hatte ihre Vampirfratze gesehen. Das Gesicht hinter der Anmut, die jeden Mann betörte. Lilith versetzte ihn schlagartig in Hypnose und gab ihm den Be fehl, jeden Muskel zu entspannen. Danach atmete er freier. Der be fürchtete Herzanfall blieb aus. Lilith gönnte ihm Minuten der Erholung und zur Säuberung sei ner Wunde, ehe sie den Jeep gemeinsam auf die Piste zurückmanö vrierten. Sie war sich nicht zu schade, ihre verblüffenden Körper kräfte einzusetzen. Sie und der Vierradantrieb bereinigten den Un fall relativ rasch. Der Rammschutz vor der Kühlerhaube hatte grö ßere Schäden vermieden. Als sie die Fahrt fortsetzten, hatte Jarl Sibelius Lilith’ »BeinaheAusrutscher« vergessen. Er plapperte wieder fröhlich über Ge schichte, Eßkultur und Wirtschaft seines Landes. Was Lilith am Ziel der Reise wollte, interessierte ihn hingegen mit keiner Silbe. Dafür hatte sie gesorgt. »Der heilige Teich«, sagte er Stunden später, als sie mit einem grandiosen Blick über einen waldumsäumten See auf einer Anhöhe hielten. »Der Pakasaivo, auch ›Hölle Lapplands‹ genannt. Eine alte Kultstätte unseres Volkes. Dort hinten liegt Muonio. Man kann ein paar der Hausdächer durch die Baumgipfel erkennen …« Lilith nickte geistesabwesend. Türkisfarben, zum Ufer hin dunkler werdend, lag der gewaltige See unter ihnen. Auch die nach Süden verlaufende Fjällkette war zu erkennen.
Der Kontakt zu Beth war abgebrochen. Versuche, sie von unter wegs zu erreichen, waren ausnahmslos gescheitert. Lilith’ Sorgen wurden dadurch nicht weniger. Wie hatten die Vampire Pauls Wohnung gefunden? Waren sie Beth gefolgt oder ihr, Lilith? Beth hatte sich strikt geweigert, Lilith zu Dr. Stålheim zu begleiten. Und Lilith hatte auf möglichen Zwang verzichtet, weil sie nicht ab zuschätzen wagte, welche Folgen dies bei Beth’ gegenwärtiger Ver fassung haben konnte. Dr. Frans Stålheim … Er wußte noch nichts von seinem »Glück«. Er wußte nicht, daß Lilith auf dem Weg zu ihm war, um »Patient Zero« zu überbringen … »Fahren wir weiter«, sagte sie. »Ich will vor Einbruch der Dunkel heit in Muonio sein!« Um nach Einbruch der Dunkelheit bei Stålheim zu sein. Jarl Sibelius machte ihr einen Strich durch diese Rechnung: »Das schaffen wir nie …« Er machte eine Pause und feixte: »Es gibt hier für die nächsten Wochen keine Nacht mehr. Jedenfalls wird es nicht dunkel …«
* Muonio war ein lausiges Nest in der »Hölle«. Daß die Lappen gleich die ganze Gegend mit diesem Titel belegt hatten, schien Gründe zu haben, die bis in die Gegenwart reichten. Der Pakasaivo-See und Muonio – das war wie Feuer und Wasser. Der See wirkte paradiesisch. Die kleine Stadt war nicht viel mehr
als eine Ansammlung ärmlicher Baracken und Speicher zur Aufbe wahrung und Trocknung der Fische, die man im Gewässer fing. Lilith war froh, daß wenigstens die Menschen leidlich freundlich waren. Sie trug keine provozierende Kleidung, sondern etwas, das einem einfachen, sackähnlichen Mantel ähnelte. Schlichtheit war auch mehr als angebracht in einer Umgebung, wo Mode ein Unwort zu sein schien … Jarl Sibelius setzte sie vor einem Schuppen ab, den er als das »bes te Hotel des Ortes« pries. Es mußte das einzige sein. Sie quartierte sich dennoch ein. Sich und Sibelius. Das war eine der Bedingungen ihres Deals. Sie wollte, daß er in ihrer Nähe blieb, bis sie mit Stålheim gesprochen hatte und wußte, wohin die »Reise« ging. Dafür zahlte sie ihm jetzt und sofort die erste Hälfte der ver einbarten Beförderungskosten. Danach lud er sie zu einem original samischen Festmahl ein, das Poronkaeristys hieß und ein Gulasch aus Rentierfleisch zu sein schi en, und es beschämte sie, das Angebot ausschlagen zu müssen. Statt dessen erbat sie sich, daß er ihr half, den genauen Ort herauszufin den, wo sie Frans Stålheim finden konnte. In derselben hellen Nacht machte sie sich in beschwerlichem Marsch auf zur abgeschiedenen Station jenes Mannes, der ihr helfen sollte, Beth wiederzugewinnen.
* Frans Stålheim arbeitete in einem anderen Trakt, als es geschah. Aber er hörte das Schreien der verendenden Tiere durchs offene Fenster bis in sein Büro.
Aufspringen und nach dem Gewehr greifen war eine Bewegung. Es war nicht das erste Mal, daß ein Wildhund die Umzäunung durchbrach und in den Käfigen wütete … Im Laufschritt überwand er die kurze Distanz zu den Versuchstie ren, deren Tod geplant war. Aber Stålheim bevorzugte als Rechtfer tigung dafür etwas mehr als das bloße Füllen eines anderen Tierma gens. Er betrieb seine Forschungen nicht, um zu quälen, sondern um Menschen zu helfen. Er sah keine Zerstörungen, keine Spuren eines Einbruchs, als er sich dem Schuppen näherte. Er stieß die Tür mit dem Fuß auf und enterte den Raum mit in Anschlag gebrachtem Gewehr. Er sah den Schatten und schoß. Das Grauen krümmte seinen Finger – nicht klar denkender Ver stand. Die Kugel durchschlug den eisigen Schatten, ohne in ihrem Flug gebremst zu werden, und riß ein faustgroßes Loch in die gegenüber liegende Wand. Ein zweites Mal feuerte Stålheim nicht. Die Erscheinung war verschwunden. Immer noch da waren die toten Mäuse. Ungläubig starrte Stålheim auf die systematische Anordnung der Kadaver. Der Schatten ließ ihn schon an seinem Verstand zweifeln – aber das hier … HÜTE DICH VOR MIR GLAUBE MIR NICHT ICH WERDE Tote Mäuse bildeten lesbare Buchstaben. »Vor wem soll ich mich hüten?« murmelte Stålheim – ehe er er neut zusammenfuhr und herum wirbelte.
Eine Stimme hatte gesagt: »Sind Sie Frans Stålheim? Sie müssen mir helfen!«
* »Wer sind Sie?« Der langhaarige Mann hatte den Gewehrlauf hochgerissen, ließ ihn aber sofort wieder sinken. »Wer sind Sie?« wiederholte er stockend. Irgend etwas hatte ihn völlig aus der Bahn geworfen. Lilith sah Schweiß auf seiner Stirn stehen – ein Kunststück angesichts der herrschenden Temperaturen. »Ich komme aus Sydney. Ich wurde geschickt, um Ihnen das Tier zu bringen, von dem die dortige Epidemie ihren Ausgang nahm. Leider hat man es erst gefunden, nachdem Sie abgereist waren …« Zunächst schien es, als würde er sie gar nicht hören. In unbewuß ter Geste schien er mit seinem Körper etwas vor ihr abschirmen zu wollen. Lilith erhaschte dennoch einen Blick – und sah tote Mäuse. Tierleichen, die Worte bildeten. Wie in Sydneys Kanalisation …! »Wie – ist das passiert?« fragte sie rauh und zeigte hinter ihn. »Waren … waren Sie das?« »Ich?« Er lachte, als wollte er sich von einem Druck befreien. »Für wen halten Sie mich?« Sie schwieg. Er sagte: »Ich weiß nicht, wer es war. Ich sah nur noch einen – Schatten …« Lilith fror immer mehr. Und dann mußte sie auch noch erkennen,
daß ihre hiesige Mission viel schwerer werden würde als erwartet. Frans Stålheim sprach nicht auf ihre Hypnose an! »Hüte dich vor mir. Glaube mir nicht. Ich werde –«, las sie. »Seien Sie still!« Stålheim kämpfte mit seinen Nerven. Er riß die Tür hinter sich zu und lenkte Lilith zurück ins Büro. »Noch einmal: Wer sind Sie? Warum dieser Überfall?« »Überfall?« Er machte eine ungeduldige Bewegung. Lilith legte den Tasmanischen Teufel vor ihm auf den Tisch. Er wich zurück. »Sind Sie völlig übergeschnappt? Wenn das wirk lich wäre, was Sie behaupten … Verdammt, das Biest kann hochin fektiös sein!« »Ich bin immun«, behauptete Lilith. »Ich gehöre zu denen, die die Krankheit bereits hatten …« »Toll – aber ich vielleicht nicht!?« Stålheim zeigte auf eine Plastik tüte. »Packen Sie es da hinein! Schnell!« Sie gehorchte. »Und jetzt desinfizieren Sie Ihre Hände, Ihren ganzen Körper, Ihre Kleidung …!« Noch während er sprach, band er sich einen Atem schutz vor den Mund und besprühte die Tischplatte mit einer ät zend riechenden Flüssigkeit. »Ich soll mich ausziehen? Hier vor Ihnen?« »Ich schaue weg!« Lilith wurde Zeugin, wie er ihre Kleidung, sie, sich selbst und das ganze Büro desinfizierte. Er versuchte die begehrlichen Blicke, mit denen er ihren Körper musterte, zu verbergen. Lilith bemerkte sie dennoch. »Und jetzt von vorn«, sagte er nach der ganzen Prozedur. »Wer schickt Sie? Die Gesundheitsbehörde? Können Sie sich ausweisen?«
»Ich kann. Aber meine Papiere sind unten im Ort. In Muonio.« »Holen Sie sie!« »Sie glauben mir nicht?« »Ich glaube nur mir selbst!« »Kommt man damit weit?« »Man überlebt.« »In Ordnung, ich werde meinen Ausweis holen. Aber beantworten Sie mir bitte jetzt schon eine Frage: Könnten Sie mit Hilfe des Kada vers ein Serum gegen die emotionalen Veränderungen der Seuchen opfer herstellen?« »Sie können nicht von der Gesundheitsbehörde kommen!« sagte Stålheim. »Warum nicht?« »Sie fragen wie ein blutiger Laie! Ich verrate Ihnen kein Geheim nis, wenn ich sage, daß ich seit meiner Rückkehr bemüht bin, Spu ren des Erregers im Blut der Geheilten zu finden. Aber allein das ist eine Sache, die Wochen, vielleicht Monate in Anspruch nehmen kann. Ein wirksames Serum zu schaffen, wird noch wesentlich län gere Zeit in Anspruch nehmen – wenn es je gelingt. Wir haben es hier mit etwas völlig Neuem zu tun. Etwas, das in die Neurologie hineinreicht. Die körperlichen Folgen der Pest verschwanden, ohne daß irgend jemand sagen kann, warum. Seelische Erkrankungen sind Neuland für mich …« »Sie sollen auch nicht Psychiater spielen. Die Veränderungen der Psyche haben einen greifbaren Grund! Finden Sie ihn! Er steckt im Blut dieses Tieres – wahrscheinlich tausendmal potenter als im Blut der Menschen, die jetzt mit den Spätfolgen –« Sie wurde vom Läuten des Telefons unterbrochen. Dr. Stålheim hob ab. Sekunden später übergab er an Lilith.
»Für Sie!« »Für mich …?« Er nickte. »Sie müßten am besten wissen, wem Sie gesagt haben, wo man Sie erreichen kann …« Darüber dachte Lilith vergeblich nach. Ihr fiel nur Jarl Sibelius ein, der vielleicht von ihrem Quartier aus anrief. Es war nicht der Lappe. Es war – »Endlich habe ich dich gefunden!« sagte die Stimme im Telefon. »Ich war schon kurz vorm Verzweifeln. Du mußt mir helfen! Ich … weiß nicht, was mit mir geschehen ist. Als ich vorgestern aufwachte, war ich nicht mehr in Indien. Und du warst verschwunden. Warum hast du mich verlassen?« Lilith hatte das Gefühl, die Wände kämen auf sie zu. Sie schwank te so heftig, daß Stålheim sie spontan an den Schultern stützte. »Was ist?« fragte er, ohne daß er sie erreichte. Lilith hörte nur die Stimme aus dem Hörer. Die Stimme, die nicht aufhören wollte. Die Stimme eines Toten. »… Ich bin in Mauretanien, aber ich weiß nicht, wie ich hierher ge langt bin. In Bir el Khzaïm, im Hotel Keur Massada … Bitte, komm und hilf mir … Schnell …!« »Duncan?« krächzte Lilith. Ihre Kehle war trocken wie Wüsten sand. »Duncan …? Aber du … Nein, das ist unmöglich …!?« Die Verbindung brach ab. Lilith stand da wie vom Donner gerührt.
*
Sydney Seymor ließ nicht mehr locker. Wo sie ging und stand, nötigte er sie fast zu einer Wiederaufnah me des so abrupt beendeten Techtelmechtels. Ihre plötzlich wieder abweisende Haltung konnte oder wollte er offenbar nicht akzeptie ren. Beth konnte und wollte es selbst nicht. Aber sie mußte. Sie mochte Seymor eigentlich immer noch, aber seit der Begeg nung mit Landru vermochte sie an nichts anderes als seine Gunst mehr zu denken. Die sie erringen wollte. Der sie sich würdig zeigen wollte … Zur Hölle, warum kehrte er nicht zurück? Sie arbeitete noch unkonzentrierter als zur Zeit der Wondjina-Kri se. Moe Marxx machte es mit. Noch. Moe war ein feiner Kerl. Sie wollte seine Geduld nicht überstrapazieren. Sie wollte es nicht, aber … Es geschah fast wie von selbst, daß sie der Weg Tage nach Lilith’ und Landrus Verschwinden an der Paddington Street vorbeiführte. Hausnummer 333. Die Zahl des Satans, dachte sie zynisch. Die Hälfte der Zahl des Teufels … Dann verging ihr der Sarkasmus. Als sie das Schild erblickte, das unübersehbar an der Mauer des Anwesens angebracht war.
Sie glaubte es zunächst gar nicht. Aber dieses Schild kostete Geld. Es war riesig. Es sprang jeden Passanten und jeden Vorbeifahrenden regelrecht an. Es lautete: Hier entsteht ein zwölfstöckiges Wohn- und Geschäftshaus Interessenten wenden sich an: Salem Enterprises, Tel. 235 1666
* Muonio, Lappland Duncan Luther war tot! Er war in den Klauen indischer Vampire gestorben. Sein Rückgrat war zerbrochen worden. Sein Herz hatte aufgehört zu schlagen. ER! WAR! TOT! Und jetzt hatte er zu ihr gesprochen. Am Telefon. Sie haben ihn zur Kreatur gemacht! war Lilith’ erster Gedanke. Es konnte nur diese Erklärung geben! Sie hatten seinen Leichnam in ihre Gewalt gebracht und ihm nachträglich den Keim einge pflanzt … Ging das? Es war ein Erklärungsversuch. Der einzige, der ihr einfiel. Denn es war Duncans Stimme gewesen. Keine Imitation! Er hatte sie um Hilfe angefleht.
Lilith schwindelte. Sie war wie betäubt. »Was ist?« fragte Stålheim. »Schlechte Nachrichten?« Schlechte Nachrichten? Es wäre die beste Nachricht des Jahres gewesen, wenn sie ihr hätte trauen dürfen. Aber es war eine Falle. Es mußte eine Falle sein! Oder hatte sie sich geirrt. Damals im TAJ MAHAL war alles so schnell gegangen. Sie und Himachal Pradesh hatten fliehen müssen. Nicht nur vor den Vampiren – auch vor den Ermittlungsbehörden, die von den Vampiren kontrolliert wurden … War es denkbar, daß Duncan wiederbelebt worden war? Nein! Dann hätte er sich aus einer Klinik in Indien gemeldet, nicht aus einem Kaff in Afrika. Und wie hatte er sie überhaupt an diesem Ort erreichen können? Er konnte unmöglich wissen, wo sie sich zur Zeit aufhielt. Außer Beth wußte niemand, wohin sie gereist war … Nun, vielleicht hatte er Beth MacKinsay angerufen, und die hatte ihm die Adresse Stålheims genannt … Lilith wischte die bohrenden Gedanken beiseite. Sie wußte plötz lich, daß sie Duncans Ruf folgen mußte – selbst wenn er zu einer Dienerkreatur gemacht worden war. Gerade dann! Ein solches Schicksal war schlimmer als der Tod! Zugleich aber fragte sie sich, ob sie es überhaupt fertigbrächte, ihn von solchem Schattendasein zu erlösen … »Es ist alles in Ordnung«, wandte sie sich an Stålheim, obwohl nichts mehr in Ordnung war. Gar nichts. »Helfen Sie nicht mir – hel fen Sie den vielen Menschen, die irgendwo sitzen und mit ihren Mit menschen nicht mehr klarkommen. Ich bettele nicht, damit Sie Ihre verdammte Pflicht tun!« »Meine Pflicht?«
Sie nickte. Dann verließ sie ihn. Nicht, um irgendwelche Papiere zu holen. Am frühen Morgen brachte Jarl Sibelius sie nach Ivalo zurück, zum dortigen Flugplatz. Frans Stålheim hatte sich Zeit ausbedun gen. Die sollte er haben. Bis zu ihrer Rückkehr aus Mauretanien! Zwei Dinge gingen ihr nicht mehr aus dem Sinn: Duncans Anruf und die Warnung der toten Mäuse: HÜTE DICH VOR MIR. GLAU BE MIR NICHT. Beides, fühlte sie plötzlich, paßte irgendwie zusammen …
* Zwei Dinge, die keinerlei Ähnlichkeit miteinander hatten, gingen Stålheim nicht mehr aus dem Kopf: die unbekannte Schöne und der Tasmanische Teufel. Schon am Morgen nach dem Verschwinden der Frau bemühte er sich, telefonisch Erkundigungen über sie einzuziehen. Vergeblich. Er war nicht sehr wundergläubig, aber als er später eine erste Blutund Gewebeprobe des Kadavers untersuchte, fand er auf Anhieb ein solches Konzentrat unbekannter, virenähnlicher Gebilde, daß es ihn fast umwarf. Wie gefährlich diese Erreger jetzt noch waren, ließ sich nicht sa gen. Stålheim hoffte nur, daß die Unbekannte die Seuche nicht von Australien nach Europa gebracht hatte. Wo alles noch einmal von vorn beginnen würde.
Diese Befürchtung zerschlug sich, als er – nachdem er wußte, wo nach er zu suchen hatte – dieselben Erreger, nur prozentual viel spärlicher, im Blut der Geheilten feststellte. Es handelte sich um absolut identische »Bauweise«. Beide hatten ihre Pestwirkung offenbar gleichzeitig eingebüßt. Warum, blieb nach wie vor ein Rätsel. Dennoch war Frans Stålheim überzeugt, mit dieser Grundlage einen schnelleren Erfolg vorweisen zu können, als er der Unbekann ten gegenüber schwarzgemalt hatte. Sie würde Augen machen, wenn sie zurückkam. Wenn sie zurückkam. Am nächsten Tag erhielt Stålheim lieben Kollegenbesuch. Ein Dr. Landers von der WHO, der Weltgesundheitsorganisation. Er kannte den seriös auftretenden Mann namentlich nicht. Aber er hatte ausgezeichnete Referenzen vorzuweisen, und Stålheim, der sonst eigentlich stets allein arbeitete, war hocherfreut, in diesem spe ziellen Fall einen kompetenten Mitarbeiter zur Seite gestellt zu be kommen. Dr. Landers besaß Charisma, und trotz seines freundlichen Auftre tens war er ein Mann, zu dem man aufblicken mußte. Stålheim tat es mit einem leichten Schaudern, das er sich selbst nicht erklären konn te. Vielleicht lag es an Landers’ Blick, der ihm durch und durch ging. Oder an der fingerlangen, kreuzförmigen Narbe, die unter sei nem linken Auge prangte … ENDE
Das Elfenschwert von Arndt Ellmer Hals über Kopf bricht Lilith auf. Noch immer kann sie nicht glau ben, wer sich da so unvermittelt am Telefon gemeldet hat. Doch es wird noch eine Weile dauern, bis sie ihre Zweifel überprüfen kann. Denn das Flugzeug, mit dem sie reist, stürzt kurz nach dem Start ab. Nicht zufällig – an Bord halten sich Wesen auf, die man eigentlich nur aus der nordischen Sagenwelt kennt: Trolle. Sie suchen eine Kostbarkeit, die ihnen gestohlen wurde. Wer sich ihnen in den Weg stellt, stirbt. Und sie machen keinen Unterschied zwischen Mensch und Vampir …