Volker Hoffmann Theodor Storm: Der Schimmelreiter
Reclam
Theodor Storm: Der Schimmelreiter Eine Teufelspaktgeschichte ...
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Volker Hoffmann Theodor Storm: Der Schimmelreiter
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Theodor Storm: Der Schimmelreiter Eine Teufelspaktgeschichte als realistische Lebensgeschichte Von Volker Hoffmann
Storm hat seine letzte und größte Erzählung von Februar 1885 bis Mitte 1886 vorbereitet, im Juli 1886 begonnen und dann nach monatelanger, zuerst arbeits-, später krankheitsbedingter Unterbrechung von Frühjahr 1887 bis zum 9. Februar 1888 niedergeschrieben. Er hat die Niederschrift, teilweise aufgemuntert durch beschönigende Auskünfte der Familie, seiner Todeskrankheit abgerungen. Die Erstveröffentlichung der Erzählung in der Deutschen Rundschau im April und Mai 1888 sah er noch. Die Buchausgabe, der er Worterklärungen für »binnenländische Leser« beifügte und für die er noch selbst Korrektur gelesen hatte, erlebte er nicht mehr; sie erschien im Herbst 1888, Storm war am 4. Juli 1888 gestorben.
Der verteufelte Schreib- und Erzählpakt Der Tod ist End- und zugleich Ausgangspunkt für die Erzählung Der Schimmelreiter. Sie endet mit dem Selbstmord des Deichbauers Hauke Haien und dem Untergang seiner Familie in der Flutkatastrophe von 1756. Obwohl die Körper der Ertrunkenen auf dem Meeresgrund »in ihre Urbestandteile aufgelöst« werden (144)1, bedeutet in diesem Fall der Tod nicht das absolute Ende. Der von Hauke Haien geschaffene neue Deich bleibt als Werk für Jahrhunderte stehen (89, 110, 144), und im Volksglauben kehrt der selbstmörderische Werkschaffer als Schimmelreitergespenst an den Ort seiner Tat © 1990, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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zurück, um in Sturmnächten als Warnspuk zu dienen (5, 17, 55, 145). Deich und Gespensterglaube sind die materiell-geistige Basis für eine lange Überlieferungskette. Der Deich und der eingedeichte Koog erhalten im Volksmund inoffiziell den Namen nach ihrem Gründer (110, 124, 144, 146). Um den Anspruch, die wahre Lebensgeschichte des Deichbauers zu tradieren, rivalisieren zwei Typen der mündlichen Volksüberlieferung, das »Geschwätz« der abergläubischen Unterschicht, die Hauke Haien dämonisiert, wenn nicht verteufelt, und die »Überlieferungen verständiger Leute« (75, vgl. 8 f., 144). In der Überlieferungskette folgt etwa siebzig Jahre nach Hauke Haiens Tod der Schulmeister als erster individueller Überlieferungsträger, der aber noch im Bereich der Mündlichkeit bleibt. In einer stürmischen Oktobernacht der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts erzählt er die Lebensgeschichte Hauke Haiens zuerst einer Männerrunde und einem fremden Reiter, der zwei unheimliche Begegnungen mit dem Schimmelreitergespenst hinter sich hat (5 ff.), später den größeren Teil der Geschichte sogar diesem allein (ab 56). Der unbekannte Gast wird, nachdem er den aufgeklärten Schulmeister gezwungen hat, auch aus der Quelle der abergläubischen Unterschichtüberlieferung für seine Erzählung zu schöpfen (9, 75), in der Überlieferungskette der erste ›Verschrifter‹ der Lebensgeschichte. Spätestens in den dreißiger Jahren lässt er sie drucken, wohl in einem Journal. Ich nenne ihn im Unterschied zu dem Schulmeister-Binnenerzähler den Journalverschrifter. Über die Vermittlung einer Reader’s Digest-ähnlichen Zeitschrift lernt schließlich der Endverschrifter als Junge im Haus seiner Urgroßmutter die Geschichte vor 1838 kennen. Er vergisst sie sein Leben lang nicht mehr. Mehr als fünfzig Jahre nach der Lektüre schreibt er sie in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts aus dem Gedächtnis nieder, ohne noch einmal seine damalige Lektürequelle konsultiert zu haben (3). Die über hundertjährige Überlieferungskette verläuft also von kollektiven zu individuellen Trägern und von mündlicher zu schriftlicher Gestaltung. Was damit an © 1990, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Sicherheit und Endgültigkeit gewonnen wird, scheint durch die Vielheit der Überlieferungsträger mit ihren teilweise widersprüchlichen Standpunkten und ihrem in mancher Hinsicht rätselhaften Status wieder gefährdet zu werden. Es lohnt sich, die drei individuellen Überlieferungsträger, den mündlichen Binnenerzähler und die beiden verschriftenden Rahmenerzähler, von denen der Endverschrifter allerdings nur für den Einleitungsabschnitt als Ich-Erzähler verantwortlich zeichnet, näher unter die Lupe zu nehmen. Es fällt auf, dass der Binnenerzähler viel ausführlicher charakterisiert wird als die beiden Rahmenerzähler. Vom Schulmeister erfahren wir neben zahlreichen Merkmalen sogar die Lebensgeschichte in knapper, aber kontinuierlicher Form (8). Der Journalverschrifter bleibt dagegen fast ganz im Dunkeln, und der Endverschrifter erwähnt nur zwei weit auseinander liegende Zeitpunkte seines Lebens (3). Ein weiterer Unterschied kommt hinzu. Im Gegensatz zu dem mündlichen Binnenerzähler, von dessen langjähriger Stoffsammlung (74 f.) wir ebenso explizit hören wie von seiner nächtlichen Wiedergabe des Erzählstoffs, erfahren wir von dem Journalverschrifter nur, wie er von dem Schulmeister den Erzählstoff mitgeteilt erhält, mit keinem Wort aber, wo, wann und wie er ihn schriftlich gestaltet. Auch der Endverschrifter scheint mehr Gewicht auf die Stoffrezeption im Haus seiner Urgroßmutter als auf die näheren Umstände des gegenwärtigen Verschriftungsaktes, den er mit »berichten« umschreibt und für den er »keinen äußeren Anlaß« (3) anzugeben weiß, zu legen. Mit der Verschriftung und Rahmung der mündlichen Binnengeschichte werden die Erzähler geheimnisvoll. Haben sie etwas zu verbergen, das den Argwohn der auf die Mündlichkeit beschränkten Unterschicht bestätigen könnte, dass das Schreiberhandwerk des Teufels ist (vgl. 30)? Haben sie sich in der Person des Schulmeisters auf einen Gewährsmann eingelassen, der samt seiner Geschichte zweifelhafter Herkunft ist? Stecken sie vielleicht am Ende alle drei unter einer Decke © 1990, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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mit dem einzigen Unterschied, dass der Binnenerzähler sich weder über seine Person noch über seinen Erzählstoff richtig im Klaren ist, während die Rahmenverschrifter genau wissen, mit welch anrüchigem Partner und Stoff sie es zu tun haben und deshalb die Beteiligung an der Überlieferung vertuschen oder doch minimalisieren? Die drei individuellen Erzähler haben eine ganze Reihe gemeinsamer Merkmale, die nicht geeignet sind, sie vertrauenerweckender zu machen. Sie bleiben anonym und unter sich, eine Frau wird als Erzählerin nicht zugelassen (8, 144). Alle drei befinden sich in einer isolierten, solitären Position, zwei von ihnen, der Schulmeister und der Endverschrifter, sind Greise. Alle drei agieren am Rande von Leben und Tod. Die Anonymität der drei Erzähler ist hier nicht nur das gewohnte Zeichen für die Überlegenheit des Erzählers übers eine Figuren, deren Namen er kennt und mitteilt und über die er damit nach alter magischer Vorstellung das Verfügungsrecht hat. Das Verschweigen bzw. die Zuteilung von Namen dient hier zusätzlich der Privilegierung der männlichen Erzähler. Die als Konkurrentin drohende Unterschichterzählerin Antje Vollmers erhält, obwohl sie keine Figur der Binnenerzählung ist, den »vollen« Namen (8) und wird so von der die Überlieferung tragenden Erzählspitze ausgeschlossen. Für alle im Rahmen explizierten Erzählsituationen trifft zu, dass Frauen ausgeschlossen werden. Der Schulmeister ist »einer verfehlten Brautschaft wegen« (8) Junggeselle geblieben; der Journalverschrifter kommt zwar aus dem sicheren Quartier eines verwandten Ehepaares, findet sich am Erzählabend aber als Reiter allein den tobenden Elementen ausgesetzt und gerät bei seinem Rückzug in das schützende Wirtshaus in eine reine Männergesellschaft; der Endverschrifter lässt an keiner Stelle die Nähe von Frau oder Kindern verspüren. Dem widerspricht nicht, dass er als Junge den Erzählstoff neben dem Lehnstuhl »der alten Frau Senator Feddersen« (3), seiner Urgroßmutter, empfangen hat. Frauen verlieren nach der populären Anthropologie des 19. Jahrhunderts mit zunehmendem Alter ihre weiblichen Merkmale und nähern sich © 1990, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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dem männlichen Bereich an. Der extreme Frauenausschluss hindert die Männererzähler aber nicht daran, weibliche Produktionsformen zu imitieren und zu karikieren. Das zeigt neben dem Schulmeister der Endverschrifter am deutlichsten. Von der Hand der uralten Frau überschattet, ist ihm der Erzählstoff als Kind »kund geworden« (3), über fünfzig Jahre lang, also während seines ganzen Jugend- und Erwachsenenalters, hat er den Stoff in seinem Gedächtnis mit sich herumgetragen, um mit ihm schließlich in einem Alter, in dem natürliche Fortpflanzung nicht mehr möglich ist, spontan und von innen heraus (»durch keinen äußeren Anlaß«, 3) schriftlich niederzukommen. Nach einer das biblische Vorbild streifenden Empfängnis bzw. »Verkündigung« des Stoffes kommt es zu einer Art männlicher Langzeitschwangerschaft und Spätgeburt in Form der verschrifteten Erzählproduktion, die das künstliche Gegenstück zu der primär von der Frau gesteuerten natürlichen Reproduktion darstellt. Zeugung und Geburt heißt aus dem Nichtleben ins Leben bringen. An dieser Achse von Nicht-Leben oder Tod zu Leben agieren die drei Männererzähler. Der Endverschrifter belebt den Stoff aus neue aus den Gräbern der längst vergangenen Zeit des Journalverschrifters (3). Der Journalverschrifter kommt von dem Deich, der Grenzstelle zwischen Tod und Leben, und von einem förmlichen ›Nachtstück‹, der zweimaligen Konfrontation mit einem wiedererstandenen Toten, in den Erzählraum des Schulmeisters. Dieser Raum hat in seiner doppelten Gestalt, der Gaststube und dem Privatzimmer des Schulmeisters, selbst wieder Merkmale des Lebens und des Todes. Einerseits ist er ein Schutzraum vor der elementaren Bedrohung der Sturmnacht, der das totenerweckende Erzählen der Lebensgeschichte des Deichgrafen erst ermöglicht, was die jesuanische »Fürchte dich nicht«-Pose des Binnenerzählers noch unterstreicht (17, 56, vgl. 7 f.). Andererseits ist er wie jeder nach außen abgeschirmte Binnenraum (vg. 55 f.) ein Abbild des Sarges, der nächstliegenden Vorbedingung für Wiederbelebung. Dass es sich bei den zwei Verschriftern nicht nur um einen © 1990, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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wiederbelebenden Erinnerungsvorgang, sondern auch um eine gegenläufige Fixierung der lebendigen Überlieferung und damit um einen Tötungsvorgang handelt, erklärt, dass sie ihre Verschriftung nicht thematisieren und die Verantwortung für das Erzählte durch die lange Überlieferungskette von sich abwälzen. Auf der anderen Seite übernimmt der Journalverschrifter mit messianischem Selbstbewusstsein2 die Aufgabe, die beiden widersprüchlichen Quellen des Binnenerzählers nach seinem Gutdünken zu verbinden und zu trennen (9, 75), und der Endverschrifter ist mit seiner quellenunabhängigen, freien Gedächtnisleistung nahe daran, das Verdienst des Erstverschrifters, des Journalerzählers, gänzlich zu negieren. Die Verschrifter operieren also einerseits tarnend, andererseits durchaus selbstbewusst mit ihrem Werk auf der Grenze von Tod und Leben. Ambivalenz charakterisiert in mehrfacher Hinsicht die Erzähler. Symptome dafür sind nicht nur das genannte Schwanken zwischen Leugnung und selbstbewusster Behauptung der eigenen Gestaltung, sondern auch die unsichere, zwischen Unter- und Überlegenheit wechselnde Position der Erzähler, ihre zwischen vielen und einem Rezipienten pendelnde Publikumsorientierung und der ungewisse Charakter ihres Erzählobjekts, das etwas anderes bedeutet, als es an der Erzähloberfläche vorgibt zu sein. Ich beginne mit dem Publikumsbezug. Der Schulmeister erzählt anfangs die Lebensgeschichte der ganzen Männerrunde in dem öffentlichen Lokal, lässt dann aber die Gesellschaft unwidersprochen zur Beobachtung des Deiches abziehen und lädt den einzig übrig gebliebenen Hörer, den unbekannten Reiter und späteren Journalverschrifter, in sein Privatzimmer nach oben (55 f.), um ihm dort die Geschichte zu Ende zu erzählen. Der Journalverschrifter, der naturgemäß für viele Leser schreibt, die ihm in der Regel unbekannt bleiben, findet den einen ›unbekannten Leser‹, der seine Geschichte nicht vergessen und neu verschriften wird. Beim Endverschrifter © 1990, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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schließlich bleiben alle Möglichkeiten zwischen der universalen Verbreitung der Geschichte und dem einen richtigen Leser offen. Die Beschränkung auf den einzigen Leser oder Hörer hat nichts mit Bescheidung zu tun, wie man an dem von Jugend an hochmütigen (8) Schulmeister-Erzähler sehen kann. Er schließt einen förmlichen Vorladepakt mit dem Hörer, der seine Erzählleistung allein zu würdigen versteht und sie in anderer, verschrifteter und damit dauerhafterer Weise überliefern wird. Auf die Masse verzichtet der Schulmeister wie Hauke Haien mit einem überlegenen, fast mitleidigen Lächeln (55, 110). Der Schulmeister-Binnenerzähler wird an einer Stelle vom Journalverschrifter »der kleine Erzähler« (17) genannt. Aber was heißt schon klein und groß, wenn der untergeordnete Binnenerzähler fast die ganze Geschichte hindurch und immer ausschließlicher das Wort behält3 und der Endverschrifter, der als Gesamterzähler doch für den ganzen Text verantwortlich ist, sich nur in dem Einleitungsabschnitt zu Wort meldet, dann sofort die Regie an den Journalverschrifter, den damaligen Erzähler (3), weitergibt und diesem sogar das Recht des Schlusswortes überlässt? Und umgekehrt, wie ist es um die Größe des Journalverschrifters bestellt, der bei seinem Rückritt am Morgen nach der Erzählnacht den Hauke-Haien-Deich zwar unter die Hufe seines Pferdes (144, 146) wie später die gehörte Lebensgeschichte unter seine Feder nimmt, dessen ganze Verschrifterleistung aber vergessen worden wäre,4 wenn nicht ein Größerer ihm die Feder aus der Hand genommen hätte. Offensichtlich ist oder macht sich jeder der drei Erzähler sowohl groß als auch klein. Die schwankende Rangposition lässt sich bei dem Schulmeister-Erzähler auch an dessen ziemlich ausführlicher Charakterisierung gut ablesen. Der Schulmeister hat deutlich antivitale Züge (alt, klein, mager, spärlicher Haarwuchs, bucklig, kränkliche Stimme, vgl. 8 f.; ernst, 145; sozial nicht integriert; schwarz, grau, 8); diese sind aber nicht nur Zeichen von Schwäche. Der Bereich des Gesichts ist frei von derartigen © 1990, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Schwächesymptomen: die Augenwimpern sind nicht ergraut (8), die Augen selbst sind klug (17,56) und fein (74) und scheinen kein Schlafbedürfnis zu kennen, »über das feine Gesicht« gleitet »ein überlegenes Lächeln« (8). Der so Charakterisierte ist durchaus ein »kleiner Herr« (8, 145), dem auch prompt Hochmut nachgesagt wird (8). Hochmut aber ist die teuflische Ursünde schlechthin, die zum Sturz Luzifers führte. Die Biographie des Schulmeisters weist erstaunliche Parallelen dazu auf. Er wollte ursprünglich hoch hinaus, studierte Theologie – in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war das die Theologie der verteufelten Aufklärung (145) –, stürzte aber aus dieser Höhe wegen einer verfehlten Brautschaft ab und blieb als Junggeselle und armer Dorfschulmeister in seiner Heimat hängen. Die biographische Fallkurve und der Frauenausschluss legen ebenso wie der angelastete Hochmut und die Kombination von körperlichen Schwächezeichen mit geistiger Vitalität nahe, den SchulmeisterBinnenerzähler dem teuflischen Bereich zuzuordnen. Wie alle teuflischen Verführer der literarischen Tradition schmeichelt er sich mit einer Mischung von Schwäche und Stärke ein, um dann Zug um Zug die scheinbare Unterlegenheit in Überlegenheit zu wandeln. Aus einem Auftragserzähler zweiter Wahl, der in der Not, weil die angeblich bessere Erzählalternative nicht zur Hand ist, hinter dem Ofen hervorgezogen wird (8 f.), entwickelt er sich rasch zu einem souveränen Erzähler. Er übernimmt die jesuanisch-herrische »Fürchte dich nicht!«-Pose von seinem Auftraggeber (7) und beschwichtigt damit dessen einzige Einrede, die dieser vorzubringen wagt (17, vgl. 56). Nachdem er schon die Männerrunde zu fesseln wusste, versteht er es vollends meisterhaft, nach deren Entfernung und dem Umzug nach oben den für ihn einzig wichtigen Hörer durch Augenkontakt (9, 56, 74, vgl. 17) und überlegenes Lächeln (8, 9, 55) ›feine‹ Variante des bei allen Teufelspakten notorischen Lachens – bis zur »Fixierung« (74) zu bannen, dass diesem Trinken und Schlafen vergehen (65, 144, vgl. 145). Der Schulmeister verwandelt den kollektiven © 1990, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Fremdauftrag zur Erzählung (8 f.) in einen selbstgesteuerten exklusiven Erzählpakt, der Züge des Teufelspakts trägt. Wenigstens für die Zeit seiner Erzählung erweist sich der an und für sich untergeordnete Binnenerzähler als der überlegene Herr der Erzählsituation. Wie alle teuflischen Verführer bietet der Schulmeister-Erzähler nicht das, was er bieten soll bzw. was er zu bieten vorgibt. Statt die Frage des erregten Reisenden »was ist das mit dem Schimmelreiter?« (8) bündig zu beantworten, antwortet er mit einer langatmigen, von der Frage ablenkenden Lebensgeschichte eines gewissen Hauke Haien, den er erst im letzten Drittel mit der Bezeichnung »Schimmelreiter« (96) in Verbindung bringt. Die lange biographische Abschweifung gibt dem Binnenerzähler aber Gelegenheit, die ganze Variationsbreite der negativen Lebensgeschichte zu entfalten, d. h., alle in der literarischen Tradition belegten Typen der negativen Lebensgeschichte in eine Erzählung zu packen. Das Vexierspiel geht auf der Ebene des erzählten Objekts noch weiter. Unter dem Vorwand einer chronikalischrealistischen Lebensgeschichte schwärzt der Schulmeister-Erzähler auch auf der Ebene der erzählten Geschichte eine ganze Teufelspaktreihe ein. Die Teufelspaktserie wird zur Lebensgeschichte verallgemeinert. Was der Teufelspakt dadurch dämonologisch verliert, gewinnt er an Bedeutungskraft. Das biographisierte Teufelspaktthema wird zu einem erzählerischen Nährboden für weitreichende anthropologische, zeitkritische und poetologische Aussagen.5
Teufelspakt als Lebensgeschichte Der Schulmeister beantwortet die Frage des späteren Journalverschrifters »was ist das mit dem Schimmelreiter?« (8) mit der Lebensgeschichte (vgl. 56 mit 144) des Hauke Haien von dessen Jugendzeit bis zu seinem Tod (9–144). Damit greift er auf ein © 1990, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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belí ebtes Erzählmodell zurück, das sich seit dem Epochenwechsel um 1770 unter dem Einfluss vitalistisch-biologischer Leitbilder grundsätzlich gewandelt hatte. Das Leben wird in den goethezeitlichen Lebensgeschichten nicht länger zu einer Abfolge zufälliger Schicksalsschläge stilisiert, die das Individuum mit christlichem Stoizismus zu ertragen hat, vielmehr wird Leben nun als kontinuierliche, immanent zu steuernde Entwicklung gesehen, die der Mensch mittels Fremd- und Selbstbildung optimal zu durchlaufen hat. Das ideale Lebenslaufbild propagieren vor allem die popularphilosophisch-medizinischen Lebensanweisungen, die angesichts der allgemeinen Werteverunsicherung seit der Französischen Revolution aus dem Boden schießen und für das ganze 19. Jahrhundert verbindlich bleiben.6 Ihre teilweise auf altes Überlieferungsgut zurückgehenden Normvorstellungen für das richtige Leben lassen sich in drei Punkten zusammenfassen: 1. die Verpflichtung zur Makrobiotik, d. h. zum ordnungsgemäßen Durchlaufen aller Lebensalterstufen bis zum Greisenalter; 2. die daraus resultierende altersadäquate Ablösung von der Herkunftsfamilie und die Bildung einer eigenen Fortpflanzungsfamilie, kurz, die Verpflichtung zu Ehe und Fortpflanzung; 3. als Basis der Makrobiotik und Familienbildung die Verpflichtung zu einer »mittleren Lebensführung« im Sinn der Horazischen »aurea mediocritas«, welche die übermenschlichen und untermenschlichen Seinsbereiche (Geisterreich einerseits, Tier-, Pflanzen-, Elementarreich andererseits) im Menschen zur harmonischen, Natur und Kultur verbindenden Synthese bringt. Es liegt auf der Hand, dass die Lebensgeschichte Hauke Haiens, eines Selbstmörders mit 37 Jahren, eklatant gegen die Norm der Makrobiotik verstößt, das Leben nicht eigenmächtig zu verkürzen, sondern bis zum naturbestimmten Tod im Greisenalter fortzuführen. Die vom Schulmeister erzählte Lebensgeschichte gehört demnach zu der Gruppe der negativen Lebensgeschichten, welche in der Goethezeit in einer beachtlichen Typenvarianz nicht zuletzt mit dem Ziel entwickelt wurden, neben der Propagierung der genannten Normen alternative Lebensläufe wenigstens in der © 1990, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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erzählerischen Fiktion durchzuspielen. Auf der gemeinsamen Basis, die Fortpflanzungsfamilie zu verhindern, kann man vier wichtige Typen der negativen Lebensgeschichte nach lebensalterspezifischen Defiziten unterscheiden. Alle vier Typen sind in der Lebensgeschichte Hauke Haiens belegt. Der erste Typ, die Eltern-KindBelastung, liegt bei Hauke in der Form vor, dass die Elterninstanz nur einfach besetzt ist – er wächst mit dem Vater auf, von der Mutter ist nicht die Rede – und dass dieser Vater, wie zu zeigen sein wird, eine zwiespältige Führer- und Verführerrolle im Entwicklungsgang des Jungen spielt. Die Belastung durch die unvollständige Elterninstanz gilt auch für Elke Volkerts, die spätere Frau Haukes; als weitere Belastung von Seiten des Vaters kommt bei ihr noch hinzu, dass sie aus einem degenerierten pseudoaristokratischen Deichgrafengeschlecht stammt (28). Der zweite Typ, die negative Initiation, die oft in die Form eines Teufelspaktes gekleidet wird, fehlt auf den ersten Blick in der Lebensalterphase Hauke Haiens, in der man sie traditionsgemäß erwarten müsste, nämlich in der Übergangszeit zwischen Jugend- und Erwachsenenalter. Sie wird erst kurz vor der eigentlichen Werkgründung, dem Deichbau des mehr als Dreißigjährigen, in Form des Schimmelhandels mit dem teuflischen Slowaken nachgeholt. Wegen der grundlegenden Bedeutung dieses Typs, die mit dessen zeitlicher Verschiebung zusammenhängt, komme ich unten gesondert auf ihn zurück. Der dritte und vierte Typ betreffen das Erwachsenenalter, es handelt sich um die Mesalliance und die solitär-selbstische, junggesellenhafte Sonderlingsexistenz. Bei der Letzteren liegt die Fortpflanzungsverhinderung zugunsten der eigenen Werkschöpfung auf der Hand. Aber auch die Mesalliancen haben trotz erfolgter Eheschließung denselben Effekt. In ihren verschiedenen Erscheinungsformen (Alters-, Besitz-, Standes-, Herkunfts-, Seinsstufen-, Charaktermesalliance) führen sie in aller Regel zur Negierung der Fortpflanzungsfamilie. Hauke Haiens Ehe mit der Deichgrafentochter ist eine Aufstiegsheirat eines grundbesitzarmen Unterschichtlers, © 1990, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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der nur über die Frau das wie ein aristokratisches Familienerbe behandelte Deichgrafenamt erwerben kann. Die Heirat zwischen Hauke und Elke ist also eine Mesalliance bezüglich Standesherkunft und Besitz. Sie führt nicht zur Bildung einer Fortpflanzungsfamilie. Die Missverbindung bleibt lange ganz unfruchtbar, und als ein Kind nach neun Jahren unter Todesgefahr für die Mutter endlich geboren wird, ist es nur ein Mädchen (vgl. 28), das außerdem noch schwachsinnig ist (118). An Stelle der Fortpflanzungsfamilie bildet sich eine betont nichtgenerative, aus extremen Lebensaltern und verschiedenen Seinsstufen gemischte künstliche Familie (die alte Trin’ Jans, die kleine schwachsinnige Wienke, die Möwe Claus und der Hund Perle; vgl. 111– 115). Der mit der Aufstiegsheirat verbundene Spott darüber, dass Hauke Haien zum Deichgrafen »von seines Weibes wegen« (67) wurde, bewegt ihn schließlich zu seiner solitären selbstischen Werkstiftung des Deichneubaus (94), ohne Rücksicht auf seine Ehe und Familie, letztendlich sogar unter Aufopferung derselben. Der erwähnte zweite Abweichungstyp von der Lebenslaufnorm, der Teufelspakt, wird als negative Bildungs- und Initiationsgeschichte7 in der Erzähltradition sinnvollerweise in der Übergangsphase zwischen Jugend- und Erwachsenenalter situiert. In der geschwächten Position, in der das Individuum nicht mehr durch das Elternhaus geschützt und zur eigenen Identität, Berufs- und Familiengründung noch nicht gekommen ist, wird der junge Mann von einer überlegenen, in der Regel ›verteufelten‹ Verführungsinstanz weg von der Verpflichtung zur Fortpflanzungsfamilie hin zur Werkstiftung verführt. Bei Hauke Haien dagegen fällt auf, dass er erst als Erwachsener, bereits im Amt und schon jahrelang verheiratet, den Schimmelkaufpakt schließt, der viele Merkmale des Teufelspaktes aufweist (81–86). Der Verkäufer ist unbekannter, zweifelhafter Herkunft und hat tierische bzw. dämonische Züge. Der Kauf erfolgt per Handschlag. Der Käufer ist dabei offensichtlich über den wahren Charakter der Ware getäuscht worden, denn der Verkäufer lacht wie ein Teufel hinter dem Käufer drein © 1990, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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(84). In der Tat wechselt der eingehandelte Schimmel in der Folge seine Natur; aus einem extrem antivitalen, wenn auch noch jungen Tier wird ein übertrieben vitales Pferd, das nach leichtfertiger, aber bedeutsamer Figurenrede nur der Deichgraf Hauke Haien und der Teufel zu reiten verstehen (86). Weshalb aber erfolgt der Teufelspakt in unserer Geschichte, lebensalterinadäquat, erst so spät? Der erste Grund ist, dass der teufelspaktlerische Schimmelkauf in der Abfolge der Erzählblöcke durch die Verschiebung unmittelbar der Werkstiftung Hauke Haiens zugeordnet wird. Der neue Deichplan nach Haukes Profil ist kaum akzeptiert (82, vgl. 69, 88), da kauft Hauke den Schimmel. Das Pferd entpuppt sich in der Folge als wichtige Werkhilfe für den auch namentlich mit ihm verschmelzenden Werkschöpfer (»Schimmelreiter«, 96), als eine Art helfender Bauteufel, der sich hier aber im Gegensatz zu den Schwanklegenden nicht um seinen Lohn betrügen lässt. Die späte, nach Berufsfindung und Eheschließung situierte Einfügung der Teufelspaktepisode schmälert auch keineswegs ihre Wirkung. Das teuflisch geförderte Werk baut die Fortpflanzungsfamilie nachträglich wieder ab und verschlingt sie schließlich als eine Art Bauopfer vollständig. – Der andere Grund für die nachträgliche Einfügung der Teufelspaktepisode hängt mit ihrer Tarnung durch die bildliche und redensartliche Figurenrede und mit ihrer Abdrängung in den Bereich des Volksaberglaubens durch den Erzähler zusammen, der die Teufelspaktepisode (81–86) durch die Episode des Schimmelgespenstes rahmt (75–81, 86–88). Der Teufelspakt kann unbeschadet nachgetragen, er kann auch ohne weiteres unter realistischen, und, was den Schulmeister betrifft, »aufgeklärten« Erzählbedingungen an den Rand gedrängt und versteckt werden,8 denn er steckt schon lange vor dem Schimmelkauf in der Lebensgeschichte des Hauke Haien. Dessen Lebensgeschichte ist von dem Punkt an, wo sie vom Schulmeister erzählt wird, eine negative Verführungsgeschichte mit den Merkmalen der Teufelspaktgeschichte. © 1990, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Der erste offenkundige Verführer ist der zeichnende, rechnende und schreibende Vater (9, 21), der den Sohn, wenn auch spöttisch (10, 13), zum Buch, damit zur »feinen« Kopf- und Hand-, also Schreibarbeit verführt und auf den Geschmack am Deichgrafenamt (13) und – mit einer bei ihm ungewohnten Rhetorik, die auf das Konto des Teufelspaktlers geht – auch auf den Geschmack an der Deichgrafentochter bringt (23 f.), dem üblichen Köder der teuflischen Verführer. Gelegentliche Vorbehalte und subjektiv durchaus ernst gemeinte Ablenkungsmanöver wie die Verpflichtung des Sohns zur groben Handarbeit (11) besagen wenig, es ist die seit Tiecks Runenberg und Hoffmanns Sandmann bekannte Ambivalenz der väterlichen Verführerfiguren, am Ende siegt doch die Verführung zum lebenaufzehrenden Werk. Sterbend verpflichtet der Vater den Sohn durch das Wortvermächtnis, er sei der rechte Mann für das Deichgrafenamt, und durch das mühsam zu diesem Zweck erweiterte Grundbesitzerbe, auf dem begonnenen Weg fortzufahren (52 f., 56 f.). Viele Teufelspaktgeschichten sind solche Geschichten eines Erbes, das hinunterzieht (z. B. Raabes Meister Anton und Zum wilden Mann9). Die nächsten Verführerfiguren sind der alte Deichgraf Volkerts und seine Tochter Elke, die spätere Braut und Ehefrau Haukes. Waren schon die Verführungssituationen zwischen Vater und Sohn gelegentlich zu einem paktähnlichen Redewechsel zugespitzt worden (13), so weist der Anstellungspakt, den Haukes Vater – listig und boshaft auf den Aufstieg des Sohns bedacht – mit dem Deichgrafen schließt (26–29), Merkmale auf, die auch im weiteren Verlauf des Geschehens neben der knappen eigentlichen Paktformel typisch für alle Paktsituationen sind: das Augenspiel (27 f.), zweideutig formulierte Beschwörungsformeln (29) sowie den Handschlag, der in diesem Fall nach dem Tod von Haukes Vater bei der Paktbestätigung zwischen Deichgraf und Hauke nachgeholt wird (54).
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Das gilt vor allem für die ganze Reihe von paktähnlichen Abmachungen, die Hauke Haien mit der Deichgrafentochter Elke Volkerts, seiner späteren Braut und Frau, schließt. Schon der Anstellungsvertrag mit dem Deichgrafen wird eigentlich mit dessen Tochter per Augenkontakt geschlossen, als Hauke sie bei ihre Vorliebe für Sonnenuntergänge überrascht (25 f., 50 f.). Dass sie dabei den eisernen Ring, der sie mit ihrem Herkunftshaus verbindet, aus der Hand fallen lässt (25 f.), ist ein Zeichen dafür, dass sie einen weitergehenden Handel mit Hauke, bei dem ein goldener Ring eine Rolle spielen wird (49, 58 f., 64), einzugehen gesonnen ist. Das Einverständnis der Jungen wie auch der weitere Gang der Ereignisse bis zur Verlobung und Heirat erwecken den Anschein, als ob die Paktabmachungen zwischen Hauke und Elke den Lebenslaufnormen der ehelichen Partnerschaft und der Fortpflanzungsfamilie entsprächen. Der Anschein trügt. Längst bevor Hauke das Deichgrafenamt über seine Frau erhält, lässt er sich von Elke versichern, dass er sie »ausgestochen« habe und dass das Deichgrafengeschäft ausschließlich »Mannessache« sei (36). Das folgende Eisboselspiel ist wie sonst das Scheibenschießen in der realistischen Literatur (vgl. Stifters Die Mappe meines Urgroßvaters oder Kellers Das Fähnlein der sieben Aufrechten) ein Initiationsspiel, bei dem mit dem vorgeschriebenen Ziel die Frau – nicht ohne deren tatkräftige Mitwirkung per Auge und Hand – gewonnen wird (37 bzw. 40 bis 49 bzw. 51). Das hier geschilderte Spiel um den Gewinn der Partnerin hat jedoch Züge eines teuflischen Spiels. Die Burschen sollen werfen »wie die Teufel« (37), und Haukes vorletzter Wurf wird von den Umstehenden wie folgt kommentiert: »das war ja, als habe der Erzengel Michael selbst geworfen« (43). Michael aber ist der Gegenspieler von Luzifer, und Haukes vorangegangener Wurf, ein Fehlwurf, weil ihn die Sonne »mit ihrem vollen Strahl in seine Augen« traf (42), zeigt die luci-ferische Kehrseite dieser »Wurfkunst« (43). Für die Frauen, die das angebliche Ziel sind, bedeutet das satanische Männerkunstspiel Elimination: sie haben »keine Stimme in dem Spiel« (42). © 1990, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Der redensartliche Begleitkommentar der alten Männer zu Kapitalwürfen – »Das war ein Wurf, sagte Zacharies und warf sein Weib aus der Luke!« (41) – bringt das Frauenausschlussgesetz der Teufelspakte auf einen aussagekräftigen Bildnenner: wo Männer produzieren – »werfen«, d. h. nichtmenschlich gebären10 –, haben Frauen nichts zu suchen. Auch der handbesiegelte Ehepakt ist ein Hilfspakt eher zu Amt und Werk als zu Frau und Kind (65 f.). Statt seine Frau in der Nähe zu beachten, sind Haukes Augen »so ins Weite« gerichtet (68). Statt ein Kind mit seiner Frau zu zeugen, geht er jahrelang in anstrengender Kopfarbeit, die auch seine Nächte beansprucht (73, 93, 126), gedankenschwanger (»Gedanke [. . .] mit, sich umhergetragen«, 68) und bringt nach sieben Jahren sein neues Deichprojekt als selbstische Männerkopfzeugung (»als seien plötzlich die Flügel ihm gewachsen«, 68) zur Welt. Mit dem eigengeborenen Werkprojekt schließt er seine Frau aus dem Werkbereich aus, »sie sollen nicht mehr sagen, daß ich nur Deichgraf bin von meines Weibes wegen!« (69, vgl. 72, 94), um seiner selbst willen möchte er Deichgraf sein (94). Weil er aber Angst vor der angeborenen Stärke seiner Frau hat (126, vgl. 26 ff.), lässt er das frauenausschließende Werkprojekt wiederholt von seiner Frau in förmlichen Werkpakten mit religiös-blasphemischen Beschwörungsformeln besiegeln (72 f., 82 f., 101): nicht für Kinder, sondern zur Arbeit habe der Herrgott sie beide zusammengebracht (73, 83). Von der Werkrealisierung schließt er dann aber seine Frau so vollkommen aus, dass er sie auch, als er den Schwachpunkt seines Deichwerks entdeckt, nicht zu Rate zieht und so die Katastrophe heraufbeschwört (126, 128 f.). Dass es um mehr als räumliche oder entscheidungsmäßige Ausschlüsse bei dem selbstischen Männerwerk geht, hat die junge Frau rasch begriffen, wenn sie das Männerwerk als »ein Werk auf Tod und Leben« bezeichnet (71). Sie denkt dabei – selbst noch kinderlos – an ein mögliches Kind, das als Bauopfer dem Werk geopfert © 1990, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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werden müsste (72). Als das Kind dann da ist und die Eltern sich gegenseitig eingestehen müssen, dass es schwachsinnig ist, kommt es über den Kopf des Kindes hinweg zu einem Handschlagpakt zwischen den Ehepartnern mit der verräterischen Aussage von Seiten der Frau: »So sind wir denn doch allein geblieben« (117 f.). Das Kind ist also schon vor der Flutkatastrophe trotz vereinzelter überschwänglicher Gefühlszuwendung der Eltern eliminiert. Dass sie selbst durch das »fressend Werk« (126) eliminiert werden könnte, daran scheint die kluge Elke nicht einmal zu denken, als sie ihren letzten Hand-Augen-Pakt zugunsten des Deichwerks und seiner Erhaltung mit ihrem Mann vor dessen Ausritt bei der Flutkatastrophe schließt (134). Aber auch Hauke Haien, der Deichgraf und Werkschaffer selbst, reitet arglos in die Katastrophe. Er hat, obwohl er der Hauptbetroffene ist, bis zum Schluss keine Ahnung, dass er sich im Rahmen eines familienmörderischen Teufelspaktes bewegt. Wie ist diese erstaunliche Unwissenheit auf der Figurenebene – nicht einmal der teuflische Binnenerzähler scheint zu wissen, was er redet11 – zu erklären? Als weiterer Irritationsfaktor kommt hinzu, dass Hauke Haien gegenüber dem Slowaken der Verführte, gegenüber Elke aber der Verführer ist, soweit man diese nicht selbst wenigstens anfangs im Bund mit ihrem schlauen Vater als teuflische Verführerin Haukes sehen will. Und hat der Vater Haukes, der den Sohn auf die schiefe Aufstiegsund jähe Abstiegsbahn gebracht hat, nicht andererseits recht, wenn er sterbend sagt, im Kopf Haukes habe es gelegen, selbst einmal Deichgraf zu werden? Das habe ihn angesteckt (52). Also wieder der Wechsel zwischen der Rolle des Verführers und derjenigen des Verführten in ein und derselben Figur, und dies nicht nur beim Vater, sondern auch beim Sohn, der – vom Vater verführt, wie wir gesehen haben – den Vater selbst ansteckt. Lösbar ist das Paradox nur durch die Annahme von Wechselverführung oder Selbstverführung, bei der der Verführer zugleich der Verführte ist. Dies ist bei Hauke auch tatsächlich von Anfang an der Fall. Schon bei der Verführung zum Buch © 1990, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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und noch mehr bei der Bewerbung um die Stelle beim Deichgrafen geht die Initiative von dem jungen Hauke aus. Er ist der Selbsthelfer in Person (29), was angesichts der Helferfunktion der teuflischen Verführer nichts anderes heißt als der Selbstverführer schlechthin. Er schließt den Pakt mit sich selbst; nur ausnahmsweise, in einer schwachen Stunde, lässt der, »der sonst alles bei sich selber abgeschlossen hatte« (125), sich auf fremde Hilfe ein, was dann auch prompt die Katastrophe herbeiführt. Die Tatsache der Selbstverführung zwingt dazu, die Kette der teuflischen Verführungspakte ätiologisch in die Kindheit zurückzuverlängern – ein Erzählschema, das seit Hoffmanns Sandmann belegt ist – und die Fremdverführung, soweit sie nicht tatsächlich nachträgliche Förderung von außen ist, als Projektion der immer schon erfolgten Selbstverführung auf äußere Verführungsinstanzen zu verstehen. Verführt werden vom Teufel kann nur, wer den Teufel schon in sich hat.12 Die teuflische Verführung ist im Grunde Selbstverführung. Die lebensgeschichtliche Radikalisierung dieser Selbstverführung ist der geborene Teufel. Hauke Haien ist der geborene WerkTeufel, der seine Anlage, teilweise mit fremder Unterstützung, im Laufe seines Lebens nur noch entfaltet. Die frühe und früheste Verankerung dieser Anlage in der Lebensgeschichte erklärt nun auch das fehlende Bewusstsein auf der Figurenebene, sich in einer Teufelspaktsituation zu befinden: der von der Norm abweichende Lebensweg ist die zweite Natur der betroffenen Figur. Die Vervielfältigung der Paktsituationen und ihre Verteilung auf die ganze Lebensgeschichte, der sich die Paktkette auch durch ihren irreversiblen Verlauf anpasst, hat zur Folge, dass der Teufelspakt keine einzelne Episode mehr innerhalb des umgrenzten Lebensabschnitts zwischen Herkunfts- und Fortpflanzungsfamilie ist, keine bloße Lebensteilgeschichte mehr bleibt, sondern totale Lebensgeschichte wird, die alle Typen der negativen Lebensgeschichte absorbiert, angefangen von der Eltern-KindBelastung über die teuflische Verführung bis hin zur Mesalliance und © 1990, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Sonderlingsexistenz. Eine Teufelspaktgeschichte als Lebensgeschichte, welche die ganze in der goethezeitlichen und realistischen Erzähltradition belegte Variationsbreite der negativen Lebensgeschichte spiegelt, das ist also das Danaergeschenk des teuflischen Schulmeister-Binnenerzählers! Bei dieser biographischen Totalisierung des Teufelspaktes wird der Schimmelkauf, obwohl er am augenfälligsten der Erzähltradition des Teufelspaktes entspricht,13 zur zweitrangigen Episode, die der Erzähler souverän lebensgeschichtlich nachtragen und erzähltechnisch tarnen kann. Die Vervielfältigung der Pakte und ihre Anpassung an das Erzählmodell der Lebensgeschichte hat gleichzeitig eine Reduzierung des dämonologischen und phantastischen Charakters des Teufelspaktes zur Folge, was dem ›aufgeklärten‹ Habitus des Schulmeister-Erzählers und der realistischen Poetik entspricht. Der Teufelspakt wird weithin auf die Psychologie und Anthropologie, die nach Vorstellung des Realismus in der Biographie impliziert sind, reduziert. Der nicht mehr geglaubte, d. h. zur Phantastik gewordene dämonische Teil des Teufelspaktmodells wird mit Hilfe uneigentlicher Figurenrede und der Trennung zwischen vernünftigen und abergläubischen Figuren auf realistische Biographie und Historiographie umgelegt. Das heißt nicht, dass diese von der Aufklärung überholten Wissensteile für die erzählte Geschichte an Bedeutung verlören. Das Gegenteil ist der Fall. Selbst der aufgeklärte Schulmeister-Erzähler muss ihnen ihr Recht einräumen. Und die Schwäche der »vernünftigen« Figuren ist, was den Grad ihrer Bewusstheit und die Reichweite ihres Wissens betrifft, nicht zu übersehen. Sie sind nicht nur in punkto Teufelspakt wie mit Blindheit geschlagen. Sie scheinen überhaupt nur dann die Wahrheit zu treffen, wenn sie uneigentlich-bildlich reden, eine Redeweise also benützen, in der sich die abergläubischen Unterschichtfiguren von vornherein bewegen. Letztere behalten mit ihrem »Altweiberglauben« (78, 87, vgl. 28) und ihrem heidnischen Aberglauben (107) von Anfang bis zum Schluss recht: im dritten Glied ist der Familienverstand des © 1990, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Deichgrafengeschlechts in der Tat verschlissen (28), im vierten Glied herrscht Schwachsinn (118); das Deichbauwerk braucht »was Lebiges« (107), wenn es keine Tiere als Ersatzopfer bekommt, holt es sich Menschen; die »Übernamen«, die das Volk für Hauke Haien und seinen Deich prägt, setzen sich durch (96 u. ö., 110); die Sturmflut kommt tatsächlich nach den Unheilsvorzeichen, die von der Unterschicht aufmerksam registriert, von dem aufgeklärten Deichgrafenhaus aber hochmütig übersehen werden (131 f., vgl. auch 120). Wie sonst nur noch die stillschweigende, aber bedeutungsvolle Aneinanderfügung der Erzählblöcke, die wiederholt an die Stelle der zu erwartenden expliziten Motivierung tritt,14 sind der Volksaberglaube und die bildliche Redeweise die eigentlichen Wahrsprecher in unserer realistischen (!) Geschichte, sie allein werden dem schlimmen Ende der Geschichte gerecht. Freilich liegt die Wahrheit (vgl. 3) auch hier, wie stets im Realismus, nie an der Oberfläche,15 sie muss aus den Daten und Perspektiven (vgl. 81 f.) entwickelt bzw. aus dem Wechselspiel von wörtlicher und übertragener Bedeutung erst gewonnen werden. So wird auch das Teufelspaktschema nicht seiner dämonologischen Oberflächenaussagen wegen auf das Lebensgeschichtenmodell projiziert, sondern wegen seiner Fähigkeit, für den Realismus anthropologische und poetologische Bedeutungen erzählerisch umzusetzen.
Das teuflische Werk Einer der Gründe, weshalb das Teufelspaktschema für die ›realistische‹ Lebensgeschichte bemüht wird, ist, dass es bestens geeignet ist, nicht nur die Genese, sondern auch die Implikationen eines normabweichenden Lebenslaufs darzustellen. Man braucht nur die Verführungsintervention, die durch ihre Wiederholung und ihre © 1990, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Reduzierbarkeit auf Selbstverführung schon an Eigengewicht verloren hat, weniger zu betonen, so treten drei grundlegende Abweichungen von der Lebenslaufnorm als Implikate des Teufelspaktes hervor: 1. das Verlassen der menschlichen Mitte zugunsten von Vergeistung (Dämonisierung) und Vertierung; 2. extrem selbstische, solitäre Existenz mit antivitalen Zügen und antimakrobiotischer Tendenz; 3. Werkstiftung unter dem eigenen Namen auf Kosten der Fortpflanzungsfamilie. Der Realismus glaubt so wenig wie die Goethezeit mehr an den Teufel, er teilt aber noch die Überzeugung der Anthropologie des 18. Jahrhunderts, dass der Mensch eine Mischung der verschiedenen Seinsbereiche vom Geisterreich bis zum Reich der Elemente ist und dass er jeden vorzeitigen Aufstieg ins übermenschliche Geisterreich, wie er im Teufelspakt gegeben ist, mit einem Absturz ins Animalisch-Triebhafte, Vegetative und Elementare bezahlen muss. Was höchstens vorübergehend in einer besonderen Lebensalterphase wie der Jugendzeit an Phantasieaufschwung ins Geistige und Triebdurchbruch ins Animalische erlaubt sein mag – nicht ohne Grund hat der Teufelspakt in der jugendlichen Transitionsphase ursprünglich seine Stelle –, darf nicht das Gesetz abgeben für ein langes, auf Ausgleich und Harmonisierung bedachtes Leben. Hauke Haien verstößt dauernd gegen die Norm der menschlichen Mitte. Hauke weicht schon durch seine Körperstatur vom Mittelmaß ab. Er überragt seine friesischen Landsleute »um Kopfeshöhe« (110, vgl. 145). Nach der alten Analogie von Körperregion und Seinsstufe ist er damit auch »geistig überragend« (29). Er leitet aus der Körpergröße luziferischen Hochmut und Verachtung der Umwelt ab (110) und wird konsequent von seinen Volksgenossen, weil er ihnen »um Kopfeslänge überwachsen war, zum Spuk und Nachtgespenst« (145), d. h. zu einem Geist gemacht. – Die auffallende Konzentrierung auf den oberen Kopfbereich16 bei der Charakterisierung Hauke Haiens weist in dieselbe Geist-Richtung. Stirne und die feurigen, bald starr fixierenden, bald träumenden Augen sind die Stellen, hinter denen sich die © 1990, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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ununterbrochen produktive Denk-, Rechen- und Beobachtungsarbeit kopfzeugerisch abspielt (5, 11 f., 15, 17, 36, 40, 68–70, 97, 143). Hauke und Elke, die beiden geborenen Rechner (30), haben sich gegen die grobe Handarbeit für die feine »Denk-« und »Geistesarbeit« entschieden (13, 29 f., 68 f., vgl. 11–13). Soweit diese wie im Fall der Schreibarbeit Konsequenzen für die unter dem Kopf liegenden Körperteile hat (Schreiben als feine Handarbeit), wird sie vom Volk folgerichtig für Geister- , d. h. Teufelswerk gehalten (30, vgl. 21). Ansonsten aber herrscht bei dem Deichgrafenpaar der konfliktbesetzte Gegensatz zwischen den Körperbereichen vor; so kommt nicht nur die grobe Handarbeit, sondern auch das noch weiter unten angesiedelte Fortpflanzungsgeschäft für das kopf- und geistlastige Paar kaum in Frage. Das heißt aber nicht, dass die tierhaft-animalische Natur bei Hauke unterentwickelt ist, sie tritt lediglich isoliert und aggressiv statt harmonisch mit den anderen menschlichen Vermögen verbunden auf, wie es für die Sicherung der Fortpflanzung erforderlich wäre. Neben der Geistaffinität ist eine auffallende Tieraffinität für den Teufelspaktler Hauke Haien typisch, die durch das Fehlen einer analogen Bindung an den vegetativen Bereich (11) noch mehr hervorsticht. Haukes Interesse gilt allerdings nicht Zucht- und Nutztieren (11) – auch mit Haustieren hat er kein Glück: den Hund Perle rettet er an falscher Stelle, und die zahme Möwe Claus reitet er nieder (105–108, 136) –, seine Neigung gilt den Tieren in freier Wildbahn oder den halbdomestizierten Tieren, die als Raubtiere noch in dem Kreislauf des Fressens und Gefressenwerdens stehen (Katzen, Ratten, Otter, Wiesel fressen Vögel, Vögel fressen Fische, 15 f. und 121 f., 18 f., 32, 34, 86). In diesen Kreislauf reiht er sich als Rivale der Raubtiere selbst ein: im Kampf mit dem Kater der Trin’ Jans um die schöne unbekannte Vogelbeute wird er selbst zum Raubtier (19). Dass die geschädigte Trin’ Jans ihn mit einer Tierbezeichnung (»Strandläufer«, 19 f.) verflucht, ist nur konsequent. Der spätere Deichgraf ist seinerseits nicht verlegen, der ihm feindlich gesinnten Wirtshausrunde den Tiernamen © 1990, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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»Hunde« anzuhängen (67), auf die das Dorf, nachdem die einzigartige Verschmelzung des Deichgrafen mit seinem Schimmel zu beobachten war (85),17 seinerseits mit einer vertierenden Benennung des Deichgrafen antwortet: »Der Schimmelreiter kommt!« (96.) In dem »Priesterhandel« (85) mit dem Schimmel hat der Deichgraf von einem Verkäufer, der selbst dämonische und tierische Züge trägt (83–85), ein feuriges (85, 97) dämonisches Geistertier, ein Teufelspferd (87, 100, vgl. 86) erworben. Nicht nur vom Verkäufer her, für dessen Charakterisierung die Tradition, den Teufel als negativen Geist mit Tiermerkmalen auszustatten, bereitsteht, sondern auch von der Ware her stellt der Schimmelkauf eine Verbindung von Geister- und Tierreich dar. Schließlich demonstriert die Szene, in der Hauke in einem Werk- und Namenrausch seinen Schimmel tanzen lässt und sich allen Friesen um Kopfeslänge überlegen fühlt (110), dass die Basis vermessener Überhebung ins Geisterreich das Tier ist. Für Hauke ist noch die Affinität zu einem weiteren Seinsbereich typisch, nämlich die zum Bereich der Elemente, vor allem zu Luft und Wasser, denen er sich unerschrocken und wetterfest aussetzt (11 f., 17 u. ö.) und gegen die er aus Einsicht in das Wesen der ihm verwandten Elemente den Erddamm errichtet. Die Sturmflut wird von dem Deichgrafen mit dem furchtbaren Raubgetier der Wildnis verglichen (127, vgl. 12, 117), also über das gemeinsame Merkmal ›wild‹ mit dem Tierreich verbunden. Der Umschlag ins Geisterreich zeigt sich am Schicksal des Deichgrafen: auf dem Meeresgrund lösen sich die von der Sturmflut getöteten Körper des Deichgrafen und seiner Familie »in ihre Urbestandteile«, d. h. in ihre Elemente auf (144). Während das für seine Frau und sein Kind die Ruhe bedeutet, führt bei ihm der Weg über die Elemente ins Geisterreich, auch wenn es nur eine Auferstehung als »Spuk und Nachtgespenst« (145) ist. Der Verlust der Fähigkeit, die verschiedenen Seinsbereiche in der menschlichen Mitte zu integrieren, entbindet isolierte aggressive Triebkräfte, eine für die Anthropologie und © 1990, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Psychologie aufschlussreiche Lehre des Teufelspaktes. Von der zweiten Implikation des Teufelspaktes, der extrem selbstisch-solitären Lebensführung, die ihre eigene Basis lebensfeindlich untergräbt, lassen sich über Psychologie und Anthropologie hinaus sozial- und kunstkritische Folgerungen ziehen. Trotz Ehe und trotz Amt im schützenden Dienst für die Gemeinschaft führt Hauke eine extrem solitäre, junggesellenhafte Existenz, wie seine Pakte mit seiner Ehefrau, die deren Eliminierung bezwecken, gezeigt haben. Das Gleiche gilt für sein Verhältnis zum Dorf. Er ist ungesellig und isoliert (14, 57, 74, 101 f., 111), er verteufelt seine teilweise selbstgezogenen Widersacher (138 f.), gibt ihnen dann aber an ungerechtfertigter Stelle nach (122–129, 140 f.), was die Endkatastrophe herbeiführt. Von Anfang bis Schluss ist er im Grunde »mutterseeelenallein« (13) und einsam, eher bei den Elementen als bei den Menschen, was die Voraussetzung für seine geistige Deichkonzeption, sein Lebenswerk ist: »So für sich, und am liebsten nur mit Wind und Wasser und mit den Bildern der Einsamkeit verkehrend, wuchs Hauke zu einem langen, hageren Burschen auf.« (17.) Er bildet sich seine eigene Meinung (10), wie ein Originalgenie schafft er sein eigenes Werk, ja er rechnet sich sogar sein eigen Christentum zurecht (98). In einer extrem selbstischen Existenz ist er sein eigener Selbsthelfer (29) bzw. Selbstverführer, ein Selbstmacher, Selbstmörder und Selbstaufersteher (122) in einer Person. Das vorzeitige Ende des Deichgrafen zeigt, dass eine dermaßen solitäre Existenz für den Menschen, der von der Lebensnormliteratur zur Familien- und Gesellschaftsbildung verpflichtet wird, lebensfeindlich ist. Lebensfeindliche Züge sind Hauke wiederum schon mit der Körperstatur gegeben. Im Gegensatz zu der Gruppe der dicken Lebensfreunde (26 f., 29 f., 33) sind alle an der Teufelspaktkette Beteiligten, und zwar unterschiedslos Mensch und Tier, hager (8, 17, 25, 28, 63, 97), mager und fleischlos (81, 85). Haukes Nachtarbeiten (73, 93, 126) zeugen ebenso von vorzeitigem Verschleiß seiner © 1990, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Lebenskraft wie seine wunderkindhafte Frühreife (10 f., 12) und sein vorschnelles Altern (63). Lebensleugner schon zu Lebzeiten, ist er für den Selbstmord mit 37 Jahren und die Fortexistenz als Gespenst prädestiniert. Die bisherige Charakterisierung von Hauke Haien als Über- bzw. Untermensch, als Egoist und antivitaler Kurzleber könnte wie eine biographische Schwarzmalerei und Verteufelung aussehen, die aber gerade im Fall des »Schimmelreiters« durch die dritte Implikation des Teufelspaktes, die Werkstiftung, mehr als ausgeglichen würde. Denn schließlich schafft der Deichgraf nicht irgendein privatistisches Kunstwerk, sondern mit Hilfe der Dorfgemeinschaft einen Schutzdamm für Mensch, Haustier und Weidefläche vor den bedrohlichen Elementen. Dass er nach dem Bruch des alten Deichs in der Sturmflut selbst den Tod sucht, wäre dann nicht als Selbstmord, sondern als Sühnetod für die eigene Fahrlässigkeit und als Opfertod für die Gemeinschaft zu sehen, gemäß seinem Vermächtnissatz vor dem Todessprung in die Fluten: »Herr Gott, nimm mich; verschon die andern!« (143.) Die Werkstiftung aber wäre keine Implikation des Teufelspaktes, wenn die Dinge so einfach lägen. Schon dass die Werkstiftung auf Kosten der Fortpflanzungsfamilie mit dem Ziel, den Namen des Mannes in Überbietung der natürlichen Fortpflanzung zu verewigen, vorgenommen wird, sollte zu denken geben. In Wirklichkeit ist sowohl das aus einem Teufelspakt resultierende Werk wie der in seinem Rahmen agierende Werkschaffer zutiefst ambivalent, die altruistische Kulturleistung wird mit hohen Opfern erkauft, wenn sie nicht überhaupt als Vorwand und Tarnung für das selbstherrlich konstruktiv-destruktive Werkschaffen des Künstlermannes, der mit einigem Recht als Teufel erscheint, zu sehen ist. Was in Hauke Haien steckt und was von ihm als Werk zu erwarten ist, ahnt man seit dem Zeitpunkt, da er sein pubertäres Initiations-Gesellenstück18, den Totschlag des Angorakaters der alten Trin’ Jans – immerhin deren letztes Andenken an ihren © 1990, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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ertrunkenen Sohn –, dem Vater gegenüber wie folgt rechtfertigt: »Ja, man wird grimmig in sich, wenn man’s nicht an einem ordentlichen Stück Arbeit auslassen kann« (23). Der eingeweihte Vater erwartet mit Recht von einem Werkschöpfer, der ein dermaßen mörderisches Triebinneres nach außen zu schaffen hat, noch Schlimmeres (23). In der Tat scheint das ganze Schützeramt und Retterwerk des Deichgrafen nichts anderes zu sein als die Umkehrung und mühsame Zähmung einer vernichtenden, mörderischen Natur, die, kaum gebändigt, jederzeit wieder durchbrechen kann. Hauke Haien teilt die wilde Raubtiernatur nicht nur mit der Katze, sondern auch mit dem Meer (vgl. 19 mit 137). Sein Fixiertsein auf den Deich von Jugend an (11–14) ist nichts anderes als ein lebenslanges Gebanntsein an die Grenzlinie zwischen Leben und Tod. Vom Deich aus hält er schon als Junge Ausschau nach den angeschwemmten Toten (15) und beobachtet den mörderischen Fresskampf zwischen den Vögeln und den Fischen (15 f.). Als Vater eines schwachsinnigen Kindes hat er nichts Besseres zu tun, als seine Tochter wiederum in diesen Kampf ums Leben (134), der für die unterliegende Seite ein Kampf zum Tode ist, einzuführen (121 f.). Er tut dies unter ausdrücklichem Hinweis auf die Allgegenwart Gottes als männliche Gegenlektion zum weiblichen Lehrstück der Trin’ Jans, die über eine Undinen-Geschichte der kleinen Wienke das Leiden der Kreatur vermittelt (119 f.).19 Der Vater, der von dem schwachsinnigen Kind mit dem göttlichen Attribut der Allmacht ausgestattet wird (116 f.), besetzt als Mann im Gegensatz zu dem (mit-)leidenden Weib aktiv und wetterfest diese Leben-Tod-Achse: Das Gesetz des Deiches zu wissen, heißt, über Leben und Tod zu verfügen. Das Gesetz des Deiches ist das bekannte (von Stifter so benannte) »sanfte Gesetz« der Kunstmänner des 19. Jahrhunderts, d. h. das von der Natur abgeschaute Gesetz des langsamen, aber umso unerbittlicheren Verfalls zum Tode. Das eklatant künstliche, aus der Barockzeit stammende ›steile‹ Deichprofil wird auf das quasi-natürliche, klassizistisch ›sanfte‹, flache Profil umgelegt (12 f., 69, 88 f., © 1990, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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109, 123, 138). Die Fremdzerströung der Wellen wird in Eigenzerstörung umgewandelt, die für den Deich und das von ihm geschützte Hinterland zwar augenblicklich zum Vorteil gereicht, das Problem der für alles Lebendige geltenden Todesbedrohung aber nur für einige Zeit verschiebt. Hauke Haien ist auf den Tod fixiert, seine grauen Augen haben neben dem Merkmal des geistigen Feuers von Anfang bis zum Schluss das Todesmerkmal der Starre (12, 143). Bei seinem Siegeswurf herrscht Todesstille (45). Totenstille empfängt ihn für eine Sekunde in der Katastrophennacht (136). Er teilt die Todesfaszination mit seiner Frau Elke, die sie wie so manche Figur der realistischen Literatur (Kellers Pankraz, Fontanes Schach von Wuthenow, Stine und Graf Waldemar) in einen ästhetischen Kult der Sonnenuntergangsverehrung verwandelt (25 f., 50 f.). Im Grunde steht Hauke mit seinem Deich-Lebenswerk wie Elke, in der sich, als sie aus ihrem Marschhof »unbeweglich« dem Begräbnis ihres Vaters auf dem fernen Geest-Friedhof zuschaut, »Gedanken des Todes und des Lebens« zu streiten beginnen (61), auf der Grenze zwischen Leben und Tod. Beide werden auf den Tod krank und erstehen wieder von den Toten (98–101, 122), beide treffen sich bei ihrem »Leben fortgesetzter Arbeit« werktags – vom kurz bemessenen Mittagessen abgesehen – »nur [. . .] beim Auf- und Niedergang des Tages« (66). Die Leben-Tod-Achse ist der gemeinsame Nenner, nur scheint es Elke als Frau mehr mit dem Vom-Tod-ins-Leben-bringen zu halten – sie macht es Hauke im Haus des toten Vaters »wieder ein wenig lebig« (53) –, während Hauke als Mann die Vernichtung mindestens ebenso gut beherrscht wie das Retten und Schützen. Mit dem Eingriff in den Kampf ums Leben und dem Anspruch, über den Tod verfügen zu können, gerät der Kulturmann in gefährliche Nähe zu Gott. Wenn man Gott nicht nach der deistischen Vorstellung möglichst weitgehend aus dem Spiel lässt, wie Haukes Vater (29) und gelegentlich auch der Sohn selbst zu erwägen scheinen (118, 130), © 1990, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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dann bleibt nur, dass »der liebe Gott [. . .] überall« (121) ist, d. h. auch bei dem ewigen Kampf des Fressens und Gefressenwerdens, das man gerade vom Deich aus, aber auch am Deich selbst beobachten kann (120 f.). Der Deich, an dem das Meer (12, 123), die Mäuse (123) und die sorglose Behandlung durch Mensch und Tier (33) fressen, ist nach Aussage von Haukes Hauptgegner selbst »ein fressend Werk« (126) in mehrfacher Hinsicht. Er zehrt die Arbeitskraft des Dorfes auf und »frißt« – als neuer Deich, der sich mit dem bestehenden nicht organisch verbindet –, »den alten Deich« (126). Die Katastrophennacht bestätigt diese Aussage. Der neue Deich lässt die Zerstörungskraft des Meeres an sich abgleiten, die dadurch auf den alten Deich und die prekäre Verbindungsstelle zwischen altem und neuem Deich, »die unheimliche Stelle« (128, vgl. 132, 138), konzentriert wird und hier zum Deichbruch führt. Die Katastrophennacht zeigt aber, dass der Deich in einem viel reflexiveren, selbstmörderischen Sinn »ein fressend Werk« ist: Er frisst seinen eigenen Schöpfer und dessen Familie. Wenn aber nun wirklich Gott in dieses mörderische Geschehen verflochten ist und sich nicht wie die unbarmherzige Natur bzw. der Mond den Kampf der Elemente mit dem Menschen von oben »leuchtend aus der Höhe« nur ansieht (142 f.), dann kämpft am Deich Gott gegen Gott, denn der Deich ist, obwohl ein Werk der Menschenhände, »nach [. . .] von Gott verliehener Einsicht projektiert« (90, vgl. 83) und Gottes Mithilfe beim Bau sowie Gottes dauerndem Schutz anvertraut (94, 97, 103, 106). Es ist das »verantwortlich Amt« des Deichgrafen, mit dem anscheinend gottgewollten und gottgefälligen Deich »die Gemeinde vor unseres Herrgotts Meer zu schützen« (128, vgl. 90)! Für das Paradox gibt es drei Lösungen. Entweder ist Gott wie der Deichgraf Schöpfer, Erlöser und Vernichter in einer Person. Oder Gott teilt sich in zwei Personen, und der Sohn kämpft als Erlöser wie der Deichgraf, der vom Schulmeister mit dem gekreuzigten Herrn Christus verglichen wird (144 f.),20 gegen den mörderischen Schöpfervater. Gegenüber diesen zwei blasphemischen © 1990, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Denkmöglichkeiten mutet die dritte Lösung wie eine Denkentlastung an, vergleichbar der in der Geschichte wiederholt belegten Projektion auf die »andere Seite« (8, 131, 145). Es ist die Lösung des Teufelspaktes. Danach war Gott nur scheinbar (103) in der Sicht der verblendeten beteiligten Personen bei dem neuen Deichwerk, in Wirklichkeit war es ein Werk des Teufels. Der Kulturmann, der in der göttlichen Naturordnung die wilde Unordnung und den Tod entdeckt hat, usurpiert eine prometheische Nachschöpfer- und teuflische Erlöserrolle21, um in seinem Sinn und im Sinn des zivilisationsgläubigen 19. Jahrhunderts Ordnung zu schaffen, d. h. ein dauerhaftes Werk gegen den Tod zu errichten. Auf der Suche nach Dauer beschreitet der Deichbauer Hauke Haien grundsätzlich einen richtigen, wenn auch keinen sicheren Weg. In dem Wissen, dass Dauer nie für das individuelle Leben und in seinem speziellen Fall Überleben auch nicht in Form der Nachkommenschaft möglich ist, ersucht er sich durch das Deichwerk zu verewigen (89, 110, 138, 141). Das Problem ist damit allerdings nur verschoben, nicht beseitigt. Das Werk ist nämlich, um zu überdauern, seinerseits auf Überlieferung, eine Art künstlicher Generationsbildung angewiesen. Je neuer aber das Werk ist, je mehr es die Verbindung zum Alten vernachlässigt, wie dies bei dem betont neuen Deichwerk von Hauke Haien (103, 109 f. u. ö.) der Fall ist (126, 128), desto überlieferungsgefährdeter ist es. Im Gegensatz zu dem Werkvermächtnis von Sokrates oder Jesus (144) bildet sich bei Hauke Haien vorläufig keine angemessene Überlieferung. Lediglich ein Bollwerk aus Erde und Stroh sowie eine auf die Unterschicht beschränkte mündliche Namentradition (110) und widersprüchliche Lebensgeschichtenüberlieferung, die sich mit einer Gespenstererscheinung herumzuschlagen hat, zeugen von dem Lebenswerk Hauke Haiens. Wird es bei dem Deichwerk, das man im Alltagsgebrauch unter die Hufe des Pferdes nimmt (144, 146), und bei der kollektiven mündlichen Volksüberlieferung bleiben? Das wäre auf jeden Fall nicht die letzte Antwort des bildungs-, schrift- und © 1990, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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kunstgläubigen 19. Jahrhunderts auf die Frage, wie man am besten Dauer angesichts des sicheren Todes erreichen kann. Die Antwort wird weder dem Volk mit seiner mündlichen Überlieferung noch Gott, von dem das gläubige Volk die Auferweckung von den Toten zum ewigen Leben erwartet (59), überlassen. Die Antwort wird Kunstmännern anvertraut, welche die Überlieferung individuell erst mündlich, dann schriftlich weitertragen. Schon beim Schulmeister wird deutlich, dass er trotz vieler Merkmalsgleichheiten mit Hauke Haien im Unterschied zu diesem über größere Fähigkeiten zur Traditionsbildung verfügt. Er kann erzählen, während Hauke nur zählen kann. Und er kommt mit seinem Erzählen an ein Ende und übergibt sein Erzählwerk in fremde Hände, während der Deichgraf mit seinem Zählen und Rechnen nicht fertig wird und sein Werk nicht eigenverantwortlich weitergeben kann. Ein Zeichen für das ungleiche Vermögen, Überlieferung zu bilden, ist das unterschiedliche Schlafverhalten. Hauke Haien findet vor lauter Zählen und Rechnen keinen Schlaf (73 f., 93, 126). Der Schulmeister aber schließt sein Erzählwerk ab und überlässt dann sich und seinen Zuhörer dem Schlaf (145). Der Schlaf aber, der hier nicht automatisch auf ein Tagwerk (61), sondern mehrfach herbeigewünscht (145 f.) auf das künstliche Nachterzählwerk folgt, ist nichts anderes als eine natürliche Vorform für die künstlichen Sicherungsbemühungen um Dauer. Als kleiner Tod, der die Voraussetzung für das Auferstehen am nächsten Morgen ist, weiht der Schlaf in die Geheimnisse regenerierender Überlieferungsbildung ein. Im einen Fall ist es der Lebensstoff, im anderen Fall der Erzählstoff. Der Tod ist nur durch die Vorwegnahme des Todes – die kalkulierte Selbsteliminierung des Schöpfers und die Wiedererstehung in anderer Form, die Merkmale des Todes trägt – zu bekämpfen. Das weiß der kleine Erzählherr. Im Gegensatz zu dem selbstischen Deichgrafen entäußert er sich seines Werks, übergibt die Geschichte einem mächtigeren Überlieferer und schickt diesen in
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den Schlaf, aus dem dieser zu seinem Verklärungsritt über den Hauke-Haien-Deich am nächsten Morgen (146) – und zur späteren Verschriftung erwacht. Die Verschriftung ist im Gegensatz zu der lebendigen, aber auch vergänglicheren mündlichen Überlieferung nichts anderes als eine weitere Form der Vorwegnahme des Todes, um Dauer zu erreichen, eine dem Schlaf und der – Leben transformierenden – Lebenserzählung verwandte gesteigerte Form, den Tod gleichsam homöopathisch mit dem Tod zu bekämpfen, die freilich ihren höheren Anspruch auf Dauer mit einer größeren Nähe zum Tod erkaufen muss. So ist es kein Zufall, dass die Verschriftungsakte der beiden Rahmenerzähler, auf die die ganze Überlieferung zu ihrer endgültigen Sicherung und Gestaltung zuläuft, verschwiegen oder doch in ihrer Bedeutung stark heruntergespielt werden. Durch diese Tarnung wird von dem Rahmenverschrifter für das vorgelegte Schriftwerk die Lebendigkeit mündlicher Erzählung postuliert. Umgekehrt aber erzählt der mündliche Binnenerzähler so gut wie schriftlich. Der Schulmeister gehört zu den Erzählern in der realistischen Literatur, die wie der souveräne Dante in C. F. Meyers Erzählung Die Hochzeit des Mönchs sprechen, als schrieben sie ihre Geschichte.22 Wenn Schriftlichkeit sich als mündliche Erzählung ausgibt, Mündlichkeit dagegen sich als geschriebenes Wort produziert, dann geraten die in unserer Geschichte säuberlich geschiedenen Identitäten der Überlieferungsträger ins Gleiten. Der Endverschrifter gerät in die Nähe des mündlichen Binnenerzählers, und dieser übernimmt auf weite Strecken die Aufgabe des Endgestalters. Die ganze lange Kette der sich steigernden Überlieferungsinstanzen entpuppt sich ebenso wie die Behandlung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit als Täuschungsspiel des letztverantwortlichen Endverschrifters. Dieser verfolgt damit verschiedene Zwecke. Einmal geht es um die Tarnung der schlimmen, der ›natürlichen‹ Lebenslaufnorm zuwiderlaufenden Werkstifter- oder Künstlergeschichte, dann um die Vorspiegelung des eigenen erzählerischen Artefakts als quasilebendiges Naturprodukt, schließlich um die © 1990, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Absicherung der ungewissen Wirkungszukunft des eigenen Erzählkunstwerks durch eine angeblich schon erfolgte, die Gräber überwindende lebendige Überlieferungskette. Gegenüber dieser Täuschungskunst auf der Verschrifterseite sind Hauke und der Schulmeister zwei kleine Kunstteufel, die nicht wissen, wer sie sind; die Verschrifter dagegen, die ihren Erzählstoff und die unterlegenen Überlieferungsträger kräftig verteufeln, wissen genau, was für Kunstteufel sie sind – sie sagen es aber natürlich nicht.
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Literaturhinweise Erstdruck: Deutsche Rundschau 55 (1888) S. 1–34, 161–203. Erste Buchausgabe: Berlin: Gebr. Paetel, 1888. Gesammelte Schriften. Erste Gesamtausgabe. 19 Bde. [Bd. 1–6 u.d.T.: Sämtliche Schriften.] Braunschweig: Westermann, 1868–89. [Der Schimmelreiter in Bd. 19.] Werke. Hrsg. von Theodor Hertel. Kritisch durchges. und erl. Ausg. in 6 Bänden. Leipzig/Wien: Meyer, 1919. (Meyers Klassiker Ausgaben.) [Der Schimmelreiter in Bd. 4.] Sämtliche Werke in 8 Bänden. Hrsg. von Albert Köster. Leipzig: Insel Verlag, 1919–20. [Der Schimmelreiter in Bd. 7.] Werke (Insel-Storm). Mit einem Essay von Thomas Mann. Hrsg. von Gottfried Honnefelder. 2 Bde. Frankfurt a. M.: Insel Verlag, 1975. [Der Schimmelreiter in Bd. 2.] Sämtliche Werke in 2 Bänden. Mit Anm. und einer Zeittafel von Karl Pörnbacher und einem Nachw. von Johannes Klein. München: Winkler, 1977. [Der Schimmelreiter in Bd. 2.] Der Schimmelreiter und andere Novellen. Hrsg. und überpr. sowie mit einem Nachw., einer Zeittafel, Anm. und bibliogr. Hinw. vers. von Hartmut Vinçon. München: Goldmann, 1979. Der Schimmelreiter. Sylter Novelle (Entwurf). Text, Entstehungsgeschichte, Quellen, Schauplätze, Abb. Mit Textillustr. von Gustav Olms und Hans Volkert. Hrsg. von Karl Ernst Laage. 2., erw. und verb. Aufl. Heide (Holstein): Boyens, 1983. Sämtliche Werke in 4 Bänden. Hrsg. von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1987–88. [Der Schimmelreiter in Bd. 3.] © 1990, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Weimar (1793–1919). Studien zur deutschen Literatur. Stuttgart 1969. S. 250–268, 383 f. Holander, Reimer Kay: Theodor Storm, Der Schimmelreiter. Kommentar und Dokumentation. Dichtung und Wirklichkeit. Frankfurt a. M. / Berlin 1976. (Ullstein Buch. 3934.) Laage, Karl Ernst (Hrsg.): Theodor Storm, Der Schimmelreiter. Sylter Novelle (Entwurf). Text, Entstehungsgeschichte, Quellen, Schauplätze, Abbildungen. Mit Textillustr. von Gustav Olms und Hans Volkert. 2., erw. und verb. Aufl. Heide 1983. – (Hrsg.): Theodor Storm: Sämtliche Werke. Bd. 3: Novellen 1881–1888. Frankfurt a. M. 1988. (Bibliothek Deutscher Klassiker. 30.) S. 634-756 (Text), S. 1049–1124 (Kommentar). Loeb, Ernst: Faust ohne Transzendenz: Theodor Storms Schimmelreiter. In: Studies in Germanic Languages and Literatures. In Memory of Fred O. Nolte. Hrsg. von Erich Hofacker und Lieselotte Dieckmann. St. Louis (Miss.) 1963. S. 121–132. Lorenz, Hildegard: Varianz und Invarianz. Theodor Storms Erzählungen: Figurenkonstellationen und Handlungsmuster. Bonn 1985. (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft. 363.) Peischl, Margaret T.: The Persistent Pagan in Theodor Storms Der Schimmelreiter. In: Seminar. A Journal of Germanic Studies 22 (1986) S. 112–125. Peter, Hans-Werner: Individuum, Familie, Gesellschaft in Theodor Storms Schimmelreiter und Wilhelm Raabes Akten des Vogelsangs. Braunschweig 1982. Rogers, Terence John: Techniques of Solipsism. A Study of Theodor Storms’s Narrative Fiction. Cambridge 1970. (Modern Humanities Research Association. Dissertation Series. Vol. 1.) Schwarz, Anette: Social subjects and tragic legacies. The uncanny in Theodor Storm’s Der Schimmelreiter. In: The Germanic review 73 (1998) S. 251–266. © 1990, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Anmerkungen 1
Alle Zitatnachweise nach: Theodor Storm, Der Schimmelreiter. Novelle, mit einem Nachw. von Wolfgang Heybey, Stuttgart 1963 [u. ö.] (Reclams Universal-Bibliothek, 6015). Die Ziffern in runden Klammern beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe. 2 Mit der Aussage ». . . traut mir nur zu, daß ich schon selbst die Spreu vom Weizen sondern werde!« (9) bezieht sich der Journalverschrifter auf eine Charakterisierung des Messias durch Johannes den Täufer (Mt. 3, 12). 3 Der Erzählfluss des Schulmeisters wird an fünf Stellen unterbrochen (10 f.; 16 f., 55 f., 74 f., 129), aber die Unterbrechungen, von denen vier ohnehin auf das Konto des Schulmeisters gehen, werden im Verlauf der Erzählung immer seltener und fehlen in der zweiten Hälfte, von einer kleinen Selbstunterbrechung (129) abgesehen, ganz. 4 Sogar der Endverschrifter, der die Geschichte nach der Lektüre nie mehr aus dem Gedächtnis verloren hatte, hat die Quelle vergessen, was übrigens dem textexternen Befund entspricht. Storm erinnert sich schon 1843 nicht mehr, in welchem Wochenblatt er die Schimmelreitersage gelesen hatte (Brief vom 13. Februar 1843 an Theodor Mommsen), und findet auch später die Quelle nicht mehr (Brief vom 25. April 1881 an Karl Gottfried Ritter von Leitner; Brief vom 10. Februar 1885 an Christian Hinrich Eckermann). Storms vermutliche Quelle wurde erst 1949 durch Karl Hoppe namhaft gemacht (»Der gespenstige Reiter. Eine unbekannte Quelle Storms«, in: Westermanns Monatshefte, 1949, H. 5, S. 45-47). 5 Das Gesagte gilt für die Teufelspaktgeschichten des literarischen Realismus überhaupt. Die Biographisierung und die nichtdämonologischen Semantisierungen sind offensichtlich die Vorbedingung, dass sich das Teufelspakt-Thema unter realistischen Erzählbedingungen überhaupt halten kann. Vgl.: Volker Hoffmann :»Zum wilden Mann. Die anthropologische und poetologische Reduktion des Teufelspaktthemas in © 1990, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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der Literatur des Realismus am Beispiel von Wilhelm Raabes Erzählung«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 30 (1986) S. 472–492. 6 Die Auflagen- und Ausgabenfolge der beiden berühmtesten Diätetiken der Goethezeit zeigt, wie kontinuierlich dieses Schrifttum durch das ganze 19. Jahrhundert gewirkt hat: Christoph Wilhelm Hufeland. Die Kunst das menschliche Leben zu verlängern, Berlin 1796; 5. Aufl. (letzter Hand) u. d. T.: Makrobiotik oder die Kunst das menschliche Leben zu verlängern, Berlin 1823; 8. Aufl. Berlin 1860; neu durchges. und mit Anm. verm. von M. Steinthal, Berlin 1871 (diese Ausgabe erscheint 1886 in 7. Aufl. zusammen mit Hartmanns gleich zu nennender Glückseligkeitslehre); ferner, in stark überarbeiteter Form, herausgegeben von dem Arzt und Literaten Hermann Klencke 1873 als Band der Universal-Bibliothek bei Reclam; dort ab 1905 wieder nach dem Originaltext der Ausgabe letzter Hand, herausgegeben von Dittmar. – Philipp Karl Hartmann: Glückseligkeitslehre für das physische Leben des Menschen, oder die Kunst, das Leben zu benutzen und dabey Gesundheit, Schönheit, Körper- und Geistesstärke zu erhalten und zu vervollkommnen, Dessau/Leipzig 1808; ab der 4., umgearb. und verm. Aufl. (1861) hrsg. von Moritz Schreber mit dem Untertitel Ein diätischer Führer durch das Leben; 13. Aufl. Leipzig 1892. 7 Michael Titzmann hat den Bildungsroman als Initiationsroman analysiert: »Bemerkungen zu Wissen und Sprache in der Goethezeit (1770–1830). Mit dem Beispiel der optischen Kodierung von Erkenntnisprozessen«, in: Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen, hrsg. von Jürgen Link und Wulf Wülfing, Stuttgart 1984, S. 100–120. 8 Im Zusammenhang mit der Tarnung des Teufelspaktes ist auch Storms Tilgung einer längeren Passage gegen Schluss des Textes zu sehen, welche den Teufelspakt allzu unverhüllt thematisierte. Vgl. Karl Ernst Laage (Hrsg.), Theodor Storm, »Der Schimmelreiter« [. . .], Heide 21983, S. 122–125. © 1990, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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9
Vgl. Marianne Wünsch, »Eigentum und Familie. Raabes Spätwerk und der Realismus«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 31 (1987) S. 248–266. 10 »Werfen« in der Bedeutung von »gebären bei (Säuge-)Tieren« ist allgemein üblich, »werfen« wird sprichwörtlich aber auch für die Machenschaften des Teufels gebraucht (Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 14,2, Leipzig 1960, Sp. 300). Das folgende Sprichwort, das in seinem vorliegenden Wortlaut wie eine Parallele zu dem Stormtext erscheint, dürfte historisch aus der kirchlichen Kritik am Glücksspiel zu erklären sein: »Wenn der Wurf aus der Hand ist, ist er des Teufels«, in: Die deutschen Sprichwörter, gesammelt von Karl Simrock, Stuttgart 1988 (Reclams Universal-Bibliothek, 8453), Nr. 11927, S. 605; auch schon belegt im »Epilogus« von Klingers Faust’s Leben, Taten und Höllenfahrt (1791), Stuttgart 1986 (Reclams Universal-Bibliothek, 3524), S. 227. 11 Nur an einer Stelle, der zweiten Selbstunterbrechung seiner Erzählung, scheint der Schulmeister zu ahnen, dass er es bei Hauke Haien mit einem teuflischen Menschen zu tun haben könnte. Denn was sollte ein »ehrlich Christenherz« außer dem Narren und dem Dummkopf mehr »verwirren können« als der Teufel? (16.) 12 In Fouqués Erzählung Die vierzehn glücklichen Tage expliziert der Teufel selbst die Regel, dass nur derjenige vom Teufel verführt werden kann, dem der Schöpfer ein teuflisches Partikelchen von Anfang an eingepflanzt hat. (Friedrich de la Motte Fouqué, Romantische Erzählungen, hrsg. von Gerhard Schulz, München 1977, S. 198 f.) 13 Die viel besprochenen Anspielungen auf Goethes Faust (V. 31, 4755, 10177–10233, 11511–11603) im Schimmelreiter sind nur die Spitze des Eisberges innerhalb der intertextuellen Bezüglichkeit der Erzählung. 14 Aus der Reihung der Erzählblöcke ergibt sich u. a., dass nicht nur der Frauenausschluss, sondern auch die Kinderlosigkeit einen Grund für Haukes neue Deichkonzeption darstellt (66), dass der zwischen Deichbaugenehmigung und © 1990, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Ausführung gekaufte Schimmel als Helfer für den Bau gedacht ist und dass das zwischen den beiden Deichbausaisonen nachgeborene Kind (98) gleichsam durch die Erzählabfolge in die zuvor erwähnte »Wiege« für Kinder im Deich gelegt wird, die bei Hochwasser höchst gefährdet ist (33). 15 Vgl. Elkes Rätselantwort (25 f.), die verborgene Natur des Schimmels (81 f., 84 f.) usw. 16 Schon der Bereich des Mundes ist bei Hauke Haien weniger betont, er ist wortkarg (10), eine Eigenschaft, die er mit Elke Volkerts teilt (29, 31, 50, 51, 57–59 u. ö.). 17 Die Verschmelzung von Pferd und Reiter wird durch viele Merkmalsgleichheiten unterstrichen (z. B. das fleischlose Angesicht, die feurigen Augen, 85). Auch füttert und reitet er den Schimmel stets selbst (84 f., 86, 87). 18 Vgl. Winfried Freund, Theodor Storm: »Der Schimmelreiter«. Glanz und Elend des Bürgers, Paderborn [u. a.] 1984, S. 61, 67 f. 19 Ebd., S. 88 f. 20 Spätestens seitdem Hauke Haien wunderbar von einer jungen Jungfer zum Deichgrafen gemacht wurde (65), wird der jungfraugeborene Retter- und Schützermann vom Erzähler mit dem Erlöser Jesus Christus in Verbindung gebracht. 21 Der Schulmeister orientiert seine Hauke-Haien-Lebensgeschichte an dem spätantiken Biographiemodell des göttlichen Wundermanns, das durch die Evangelien zum allgemeinen Wissensgut geworden ist. Merkmale dieses Biographietyps sind wunderbare Kindheit, Tugendpreis (Aretalogie), Wundertaten und Passion. Vgl.: Ludwig Bieler, ΘEIOΣ ANHР. Das Bild des ›göttlichen Menschen‹ in Spätantike und Frühchristentum, Bd. 1.2, Wien 1935–36. 22 Vgl. Conrad Ferdinand Meyer, Die Hochzeit des Mönchs, in: C. F. Meyer, Sämtliche Werke in zwei Bänden, Bd. 1 (mit Anmerkungen von Karl Pörnbacher), München 1978, S.197. © 1990, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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© 1990, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Erstdruck: Interpretationen. Erzählungen und Novellen des 19. Jahrhunderts 2. Stuttgart: Reclam, 1990. (Reclams Universal-Bibliothek. 8414.) S. 333–370.
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