1.
Der dunkelhaarige Mann auf dem Thron wand sich vor Lachen. Er hieb mit der Faust auf die Lehne des kunstvoll geschn...
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1.
Der dunkelhaarige Mann auf dem Thron wand sich vor Lachen. Er hieb mit der Faust auf die Lehne des kunstvoll geschnitzten Holzgestühls. »Sag das noch einmal«, würgte er hervor. Der Angesprochene war ein noch dunklerer Typ. Der Humor seines Gegenübers schien ihn nicht zu beeindrucken. Gleichmütig wiederholte er: »In Myra nennen sie es das Jahr der Schlange.« Das reizte den am Thron zu einem erneuten Lachanfall. »Was meinst du, Jaggar, ist das noch ein Omen – oder schon eine Verpflichtung?« Seine Augen funkelten. Jaggar hakte die Daumen in seinen breiten, ledernen Gürtel. Er gab keine Antwort. »Wahrhaftig, wir sollten nicht mehr zu lange warten, Jaggar. Ehe das Jahr zu Ende geht, sollten wir dafür sorgen, daß unsere Banner der Schlange über ihren Zinnen flattern ...« Jaggar schüttelte den Kopf. »Hör mich erst an, König.« König Jellis nickte, aber er war verärgert. Vorsichtig sagte Jaggar: »König, der Zeitpunkt ist nicht so günstig, wie er scheint ...«
Als Jellis keine Antwort gab, fuhr er rasch fort: »Dieser neue myranische König ... Dragon ... Er ist sehr beliebt. Es heißt, daß er nicht nur das Volk und ein starkes Heer auf seiner Seite hat, sondern auch noch andere starke Verbündete.« »Pah, wer sollte das sein? Myra hat keine Freunde an den Küsten des Großen Meeres ...« »Ich meine kein anderes Land«, unterbrach ihn Jaggar rasch. Der König sah ihn fragend an. »Sie nennen sich Söhne von Atlantis. Es scheint sie überall in Myra zu geben, und auch weiter im Osten ...« »Söhne von Atlantis?« wiederholte Jellis nachdenklich. Dann platzte er plötzlich wieder vor Lachen. »Söhne, sagst du? Muß ein kräftiger Bursche gewesen sein, dieser Atlantis, wenn es so viele von ihnen gibt, daß sie mir gefährlich werden könnten!« Jaggar zog die Stirn in Falten, aber er war vorsichtig genug, nicht zu deutlich zu zeigen, daß ihm diese Art von Humor unter den gegebenen Umständen nicht behagte. »Atlantis soll ein fernes Land sein. Man sagt, sie seien Weise. Manche halten sie auch für Magier. Der einstige König von Myra ließ viele von ihnen töten. Es heißt, weil er sie fürchtete. Aber sie sind für den Frieden, wie ihr König Dragon.« »Nur wer schwach ist, ist für den Frieden«, meinte Jellis wegwerfend. Warnend widersprach Jaggar »Darauf würde ich
mich nicht verlassen, König. Dieser Dragon besiegte ein fast fünfzig Tausendschaften starkes Heer der Myraner ...« »Um so besser. Dann werden auf beiden Seiten keine wesentlichen Streitkräfte mehr übriggeblieben sein. Nichts, womit unsere dreihundert Schiffe nicht fertig würden!« »Dreihundert?« entfuhr es Jaggar erstaunt. »So muß die Bruderschaft des Großen Meeres Verbündete haben, denn ich weiß nur von zweihundert kriegstüchtigen Schiffen.« »Zweifelst du an den Worten des Ersten Kapitäns der Bruderschaft?« fragte der König drohend. »Wie könnte ich?« lenkte Jaggar ein. »Dennoch ...« »Wenn ich sage, daß wir dreihundert Schiffe nach Myra schicken werden, so wird es nicht eines weniger sein.« Jaggar nickte. Er zwang sich zu seinem gewohnten Gleichmut, mit dem er bei Jellis immer am besten gefahren war. »Laß mich dich dennoch warnen, König. Gleich, wen man trifft und befragt – alle munkeln von der Stärke dieses Dragon. Es scheint mir nicht ratsam, Myra anzugreifen, selbst mit dreihundert Schiffen nicht.« »Ist es, daß du alt wirst, Jaggar, und furchtsam?« Der König musterte den Kapitän der Schwarzen Wellenreiterin ein wenig spöttisch.
»Du weißt, daß ich keins von beiden bin. Aber ich wäre dir ein schlechter Kundschafter, wenn ich dir die Gefahr verheimlichen wollte, die dein Vorhaben scheitern lassen könnte.« König Jellis‘ derbe Züge wurden hart. »Stimmt es, was die Planken deines Schiffes raunen? Daß du Beute hattest? Die die Wellen dir wieder wegnahmen?« Jaggar fluchte innerlich. Seine Mannschaft hatte nicht dicht gehalten. Bootsmann Galis wahrscheinlich. Andererseits hatte der König seine Schnüffler wohl auf jedem der Schiffe. Zähneknirschend berichtete er von seinem Fang des myranischen Mädchens mit dem Mausgesicht und von seiner zweiten Beute, dem Fischmädchen, und wie er beide wieder im Meer verlor. Damit war die Audienz beendet. Jaggar verließ wütend und mit rotem Kopf den Palast. Seine Wut verrauchte langsam, während er durch die Straßen von Candis schritt. Seit seiner Ankunft hatte er nichts anderes getan, als sein Mißgeschick mit der Beute verflucht. Nun warSchluß. Es war schwer, Spott zu ertragen; am schwersten, wenn dieser vom König kam, den keine Faust zum Schweigen bringen konnte. Jellis‘ Willkür war wie die Unberechenbarkeit einer Schlange. Jaggar starrte zum Hafen hinab. Außer der Schwarzen Wellenreiterin lagen noch zwei weitere
Schiffe der Piratenflotte vor Anker. Dreihundert hatte der König gesagt. Unmöglich! Vielleicht wenn er alles zusammenraffte, was das Wasser unter den morschen Planken halten konnte. Es gab noch eine ganze Reihe rascher Segler in den östlichen Häfen der Schlangeninsel – die kleinen Flotten der Stadtbefehlshaber. Natürlich würden sie im Ernstfall ihre Schiffe an den König abgeben. Es blieb ihnen gar nichts anderes übrig. Sie hätten nur ein kurzes Leben, wenn sie sich weigerten. Wie der verstorbene Amokar war auch Jellis nicht zimperlich in der Wahl seiner Mittel. Gewalt war, was er am besten verstand. Und der König besaß viele Klingen, die dafür sorgten, daß Schwäche und Illoyalität kurze Beine hatten in Candis. Jaggar hatte keine Angst – nicht um sich oder um seinen Rang in Jellis‘ Flotte, aber er haßte alles Sinnlose. Den Tod ebenso wie diesen Krieg mit Myra. Er liebte das Meer. Er liebte sein Schiff. Er liebte den Kampf und das Abenteuer, und er fragte nicht lange, auf wessen Kosten es ging. Und er war seinem König treu, auch wenn er wenig Liebe für ihn empfand. Überall in der Stadt trugen die Türen der Häuser das rote Kreidebildnis Minos‘, des Stiers; Ährenbündel
schmückten die Fenster und kündeten davon, daß Erntezeit war. In ein oder zwei Tagen würden im Tempel vor den Toren der Stadt die Erntedankfestlichkeiten beginnen, die dem König immer ein Dorn im Auge gewesen waren. Eines Tages würde es Schwierigkeiten geben, dachte Jaggar. Die Unbekümmertheit der Priester erstaunte ihn. Vertrauten sie so sehr auf das Volk, auf die Zahl ihrer Anhänger, daß sie hier in Candis unter des Königs Augen Minos in solchem Ausmaß zu huldigen wagten? Wußten sie nicht, daß den König die Masse des Volkes wenig kümmerte? Oder wußten sie es wohl und rannten trotzdem mit der gleichen Starrköpfigkeit in die Gefahr, wie Jellis es sich in den Kopf gesetzt hatte, Myra anzugreifen? Was steckte nur in diesen Menschen, daß sie so stur waren? In seiner Heimat, an der Totenküste, waren die Menschen anders – geduldiger. Sie warteten, bis ihre Zeit gekommen war. Und niemand kam es in den Sinn, darin Feigheit zu sehen. Als er den Marktplatz erreichte, der auf die Kais hinausführte, sah er, daß sich eine größere Menschenmenge angesammelt hatte. Verwundert mengte er sich unter sie und sah in der Mitte einen jungen Mann, der so ganz anders gekleidet war als die Stadtbevölkerung mit ihren sackartigen Gewändern
und den ausgebleichten, geknoteten Kopftüchern, die das Gesicht vor der Sonne schützten. Er trug Beinkleider, die so auffallend bunt und geckenhaft waren, daß Jaggar beinah laut aufgelacht hätte. Das Wams war ebenso halbseitig rot und halbseitig grün. Er war dunkelhaarig, aber viel hellhäutiger als die Umstehenden. Dann sah Jaggar das Saiteninstrument in seiner Hand, das er nun an die Brust hob. Der Wind trug halbverwehte Töne an Jaggars Ohren. Neugierig schob er sich näher. Der Junge sang irgend etwas, und die Nächststehenden lachten. Als der Kapitän nahe genug war, daß er die Worte verstehen konnte, erkannte er, daß der Junge, selbst wenn man von der Hautfarbe absah, nicht von der Schlangeninsel war. Es gab ja einige fast weißhäutige Stämme im Innern der Insel. Aber der Sänger war auch der Sprache des Landes nicht sehr mächtig. Er berichtete etwas von einem Kampf mit einer Raubkatze. Aber die Dramatik ging in dem unfreiwilligen Humor verloren. Wenn er sich mit Worten nicht auszudrücken vermochte, versuchte er es mit Gesten und war dabei nicht allzu erfolgreich. Die Zuhörer lachten. Die Menge war gutmütig. Sein bizarres Kostüm und die gute Ernte trugen wohl dazu bei. Seine Aussprache machte Jaggar stutzig. Wenn ihn
nicht alles trog, dann mußte der Junge myranischer Herkunft sein. Er hatte oft genug an Myras Küsten Menschen reden hören, um nun ziemlich sicher zu sein. Was suchte ein myranischer Sänger in Candis? Jaggars Heiterkeit wich Mißtrauen. Ein Schnüffler in der Maske eines Narren! Es mochte besser sein, wenn er den Jungen genauer in Augenschein nahm. Er schob sich durch die Menschen und blieb vor dem Sänger stehen, der zögernd seine Laute sinken ließ und unsicher auf den Kapitän blickte. »Sag uns, woher du kommst«, verlangte Jaggar. »Aus Balava«, erklärte der Junge schnell. Das war gelogen. Jaggar war vor Jahren selbst einmal in Balava gewesen. Die Sprache hatte mit der des Hauptteils von Myra wenig gemeinsam. Es war klar zu erkennen, daß der Junge nicht aus Balava stammte. Andererseits hatte dieser ja auch nur behauptet, aus Balava zu kommen, nicht, daß dort seine Heimat wäre. Es war unklug, ihn hier vor allen Menschen auszufragen. Er mußte ihn mit auf sein Schiff nehmen. Dort würde die Wahrheit leichter zu erfahren sein. »Im Namen des Königs«, sagte er, »du kommst jetzt mit mir!« Der Junge wurde bleich. Er sah sich gehetzt um, aber überall standen dicht gedrängt die Menschen, die
zwar über Jaggars Absichten nicht erfreut waren, denn sie sahen sich um ihr Vergnügen betrogen, die ihm aber sicherlich die Flucht verwehren würden. Resigniert zuckte er mit den Schultern und hing sein Instrument über die Schulter. »Wohin?« »Auf mein Schiff«, erklärte Jaggar. »Die Schwarze Wellenreiterin.« In den Augen des Jungen blitzte es auf, eine Regung, die er sofort unterdrückte. Aber Jaggar entging sie nicht. »Dann seid Ihr Kapitän Jaggar?« »Allerdings«, bestätigte der verblüfft. »Hat sich mein Name bis Balava durchgesprochen?« Der Sänger sagte mit belegter Stimme: »Es gibt wenig Küsten, an denen man Euren Namen nicht kennt, Kapitän.« Jaggar spürte deutlich, daß diese Bemerkung nicht als Anerkennung gedacht war. Die Sache begann einigermaßen geheimnisvoll zu werden. Als sie aus der murrenden Menge tauchten und auf das Schiff zuschritten, fragte Jaggar: »Wie lange bist du schon hier?« »Seit heute morgen.« »Es sieht so aus, als hättest du mich gesucht, oder irre ich mich?« Der Junge gab keine Antwort. »Wie heißt du?«
Erneutes Schweigen. »Dir ist doch klar, daß ich dich peitschen lassen kann, bis dir die Haut in Fetzen vom Körper hängt – oder bis du redest?« »Ich heiße Wigor«, gestand der Junge hastig. »Na also«, brummte Jaggar zufrieden, eine Antwort erhalten zu haben. Er hatte vorerst nicht die Absicht, auch nur ein Wort zu glauben. »Wie alt bist du?« »Das weiß ich nicht.« »Auch gut. Wir werden es schon herausfinden, wir beide.« »Ich weiß es wirklich nicht«, erwiderte der Junge nachdrücklich. »Vor neun Jahren fing ich an, die Jahre zu zählen.« »Also bist du älter als neun. Bravo«, meinte Jaggar grinsend. »Und wenn wir noch ein wenig bohren, fällt dir sicher wieder ein, aus welchem Grund du hierhergekommen bist. Na?« »Seht Ihr es nicht? Ich bin ein Barde, der ...« Jaggar lachte schallend. Wie König Jellis war er rasch mit dem Lachen und mit dem Spott zur Hand, ohne darauf zu achten, daß es verletzend sein mochte, so verletzend wie er es eben selbst noch im Palast empfunden hatte. »Barde sagst du?« Jaggar schüttelte sich. »Ein Possenreißer wärst du zur Not. Aber ich fürchte, man wurde nicht über deine Possen lachen, sondern über
dich selber. Und noch etwas. Ich höre zum erstenmal, daß ein Mann aus Balava jemanden mit Ihr anredet. Das ist eine myranische Eitelkeit. Na, wir werden das alles noch herausfinden.« Es klang sehr zuversichtlich. Sie hatten die Kais erreicht. Einige Bootsleute kamen von der Wellenreiterin herbei und starrten neugierig und belustigt dem Kapitän und seinem Fang entgegen. Einer von ihnen war Galis, bemerkte Jaggar mißmutig und betrachtete den grinsenden Hünen kalt, der das halbe Dutzend der übrigen Bootsleute beinah um einen Kopf überragte. Eines Tages würde er mit ihm abrechnen. Dieses wissende, höhnische Grinsen bewies es eindeutig: Galis war Jellis‘ Mann! »Was hast du denn da für einen seltsamen Vogel, Kapitän?« rief einer der Männer lachend. Die anderen stimmten mit ein. Jaggar hielt den Jungen am Arm fest. »Komm nicht auf den Gedanken, wegzulaufen. Die schlitzen dich auf, bevor du ein Dutzend Schritte hinter dir hast. Wenn du ruhig bleibst, werden sie nur ihren Spaß mit dir haben ...« »Wie mit anderen Gefangenen auch?« unterbrach ihn der Junge. »Du sagst es. Und ich fürchte, du wirst heute für uns singen müssen. Welch grauenhafte Vor...« Wigor schien ihn gar nicht zu hören. »Wie mit
Mädchen auch!« fragte er. Jaggar starrte ihn an. »Nicht ganz«, sagte er grinsend. Aber er verbiß sich eine weitere Bemerkung, als er den Jammer in den Augen des Jungen sah Er schüttelte verwundert den Kopf. Wovon sprach dieser junge Narr eigentlich. Dachte er etwa ... In dem Augenblick kam ein vielstimmiger Schrei vom Marktplatz. Er wandte sich um und sah, daß alle auf das Wasser der Bucht hinausstarrten. Verwundert wandte er sich ebenfalls in die Richtung. Was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Vom offenen Meer her kam etwas in das Hafenbecken, durchbrach in rhythmischen Abständen die glatte Wasseroberfläche wie ein riesiger sich krümmender Wurm. Ein Schädel mit breitem Rachen, spitzen Zähnen, zwischen denen das Wasser herausquoll, wenn er emportauchte, und großen runden, seitlichen Augen, ein langeraalglatter Körper, der in der Mittagsonne wie Silber glänzte – eine der gefürchteten, legendären Seeschlangen, von denen Männer zu berichten wußten, daß sie ganze Schiffe mit Mann und Maus in die Tiefen des Meeres zogen. Und sie kam geradewegs auf die Kais zu, als wolle sie sich mitten aus der gelähmten Menge ein Opfer schlagen oder eines der Schiffe erbeuten mitsamt seiner lebenden und toten Ladung.
Einen Augenblick war der Impuls zu rennen übermächtig. Aus den Augenwinkeln sah er, daß Galis und die Männer der Wellenreiterin in panischer Flucht auf die ersten Häuser zuliefen, um dahinter Schutz zu suchen. Dann siegte der Mann in ihm, der er immer gewesen war. Wie gut oder schlecht seine Taten auch immer gewesen sein mochten, niemand durfte es geben, der ihm Feigheit vorwerfen konnte, ohne dafür den Biß der Klinge zu fühlen. Auch Jellis würde dafür bezahlen – auf die eine oder andere Weise. Fast unbewußt zog er die Klinge blank und riß das Entermesser mit der Linken aus dem Gürtel. Keine zehn Manneslängen von ihm entfernt tauchte der Kopf der Schlange aus dem trüben Wasser des Hafens und hielt in ihrer Bewegung inne. Reglos starrte sie auf die Menschen, die Schritt für Schritt zurückwichen. Jaggar schien sie nicht wahrzunehmen. Vielleicht stand er bereits zu weit seitlich für die starren Augen des Wesens. Nach einem endlosen Augenblick, in dem sicherlich keine Seele im ganzen Hafen zu atmen wagte, sank sie in die Fluten zurück, und ihr Schwanz peitschte das Wasser zu grauem Schaum. Die Schiffe schwankten unter dem Wellengang und knarrten in ihren Verankerungen. Dann war es still. Nichts mehr kam empor. Mit einem erleichterten Pfeifen stieß Jaggar die Luft
aus. Eine Schlange aus dem Meer! Wahrhaftig. König Jellis schien recht zu haben mit dem Omen. Vielleicht war dieser Dragon bei weitem nicht so stark, wie man ihm berichtet hatte. Es geschahen Dinge, wie sie noch nie zuvor geschehen waren. Die Myraner hatten recht: Es war das Jahr der Schlange! Dann geschah etwas sehr Merkwürdiges: Ein Mensch tauchte aus dem leicht bewegten Wasser an die Oberfläche und schwamm in kräftigen Stößen zur felsigen Hafenmauer, an der er mit affenartiger Behendigkeit hochkletterte und vor den verblüfften Bewohnern Candis‘ auf den Marktplatz zuschritt. Jaggar folgte ihm unwillkürlich, ohne daß es ihm recht bewußt wurde. Ein Wunder war geschehen! Ein Mann war aus dem Rachen der Schlange gestiegen – oder so gut wie. Nichts anderes konnte es bedeuten, als daß die Schlange ihn in den Hafen gebracht hatte. Und wie zur Bestätigung seiner Gedanken hörte er die Stimme des Mannes, der die Arme ausgebreitet hatte und laut verkündete: »Ich bin der Abgesandte von Mis, der Göttin der Schlange. Bringt mich zu eurem König!« In der Stille, die nach diesen Worten herrschte, sagte Jaggar mit gewaltsam fester Stimme: »Ich, Fremder, ich bringe dich zum König!«
Er schritt an dem triefenden Fremden vorbei, nicht ohne ihn neugierig zu mustern. Aber nichts Ungewöhnliches fiel ihm auf. Der Mann war alt, bestimmt an die siebzig oder achtzig Winter. Sein wallender Kinnbart war grau, sein Haar schlohweiß. In seinem Gesicht war kein Funken von Schwäche, als wäre sein Alter nur äußerlich, eine Maske der Würde. In seinen Augen war eine Unerbittlichkeit, die Jaggar erschreckte, aber nur für einen Augenblick, dann nickte der Fremde ihm freundlich zu. »Ich sehe, du bist auch ein Sohn der Schlange!« »Du mußt dich irren. Fremder«, widersprach Jaggar nachdrücklich. Der Alte schüttelte den Kopf. »Ich sehe Gift in deinem Herzen. Männer wie dich kann ich gebrauchen. Ein Dutzend von deiner Sorte für Mis‘ Tempel ...« Jaggar ging nicht darauf ein. »Du willst einen Tempel errichten?« fragte er neugierig. »Vielleicht«, antwortete der alte Mann ausweichend. Sie erreichten den Palast. Viele der Bewohner Candis‘ waren hinter ihnen hergeschritten, und wer es nicht selbst gesehen hatte, wie der Fremde aus dem Rachen der Schlange gestiegen war, der bekam es in hastigen Worten berichtet. Wie ein Lauffeuer breitete sich die Nachricht in Candis aus, daß Mis selbst ihren obersten Priester gebracht habe, um ihr Erbe über die Schlangeninsel anzutreten.
Mis – der Name war allen vertraut. Eine Legende aus einer Vergangenheit, die Äonen zurücklag. Als die Welt noch jung war. »Sag mir deinen Namen«, bat Jaggar, »damit ich ihn dem König nennen kann.« Der Fremde nickte. »Merkt ihn euch wohl: Er ist Serphat. Welches ist das Gemach?« »Das letzte linker Hand, Priester.« »Gut. So laß mich allein. Ich bin es gewöhnt, in die Gemächer der Könige allein zu gehen.« »Wie du meinst, Priester«, antwortete er enttäuscht. Aber er zeigte die Enttäuschung nicht. Früher oder später würde Jellis ihn rufen. Er sah den Alten mit den beiden Wachen vor des Königs Tür verhandeln und schmunzelte. Die würden ihn nicht durchlassen. Das kostete sie den Kopf. Dann sah er verblüfft, wie sie plötzlich wie ein Mann zur Seite traten und dem Fremden den Weg freigaben. Der trat ein, ohne sich noch einmal umzusehen. Verwundert ging Jaggar auf die Tür zu. Er hielt vor den beiden Wachen an, die starr wie Figuren dastanden. Mit wachsendem Mißtrauen bemerkte er, daß die beiden ihn scheinbar nicht wahrnahmen. Keiner würdigte ihn eines Blickes. Sie starrten ins Leere, und Kelim mochte wissen, was in ihnen vorging. Er berührte einen. Er schwankte, machte aber keine Anstalten, sich festzuhalten.
Der Fremde mußte etwas mit ihnen getan haben. Immer wieder einen mißtrauischen Blick auf die beiden Krieger werfend, näherte sich Jaggar leise der Tür und lauschte, den Kopf an das Holz gepreßt. Er wurde belohnt. Stimmen waren hörbar, schwach zwar, aber weitgehend verständlich. Der König war offensichtlich verärgert. In der Stimme des Alten schwang eine versteckte Drohung. Der König mußte sie wohl vernehmen. Von Mis war die Rede, und von Macht. Der Priester hatte offenbar Forderungen gestellt, denn Jellis erwiderte eben in heftigen Worten, die Jaggar ein Grinsen entlockten. Darauf folgte eine Antwort, ruhig und von unmenschlicher Kälte. Es klang wie eine Beschwörung. Dann kam das gefährliche Zischen eines Reptils, das Jaggar einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Er hörte Jellis entsetzt aufschreien und nach den Wachen rufen. Jaggar riß die Tür auf und starrte auf die unglaubliche Szene. König Jellis stand mit bleichem Gesicht an seinem Thron. Seine Hände umklammerten die Lehnen mit solcher Gewalt, daß die Knöchel der Finger weiß hervortraten. Seine Augen quollen hervor und wichen nicht von der schenkeldicken, gute drei Manneslängen messenden Schlange, deren schmaler Kopf zischend vor dem Thron pendelte.
»Jaggar«, stieß der König hervor, »wo sind meine Männer?« »Sie können dich nicht hören, König ...« »Sag mir, daß ich träume, Jaggar ...!« »Ich fürchte, nein. König«, brachte der Kapitän hervor. »Dein Schwert, Jaggar!« rief der König. »Worauf wartest du? Töte sie ...!« Jaggars Hand fuhr zum Griff und erstarrte dort. »Glaubst du nicht, König«, sagte die Schlange mit zischenden Lauten, »daß ich euch beide töten könnte, bevor dein Freund seine Klinge gezogen hat?« Gleichzeitig verlor sie ihre Form, zerfloß auf dem Boden zu einer dunklen Masse, die sich neu formte. Der Priester stand wieder vor ihnen, mit einem kalten Lächeln auf den Lippen. »Aber ich bin nicht hier, um zu töten, König Jellis. Meine Göttin Mis bedarf deines Wohlwollens, und sie verspricht reichen Lohn.« Jaggar entspannte sich. Er spürte noch immer Gefahr, aber sie schien nicht mehr so greifbar, wie noch im Augenblick zuvor. Er erkannte, daß es nichts gab, das ein gutes Schwert hätte tun können – außer den Alten zu töten. Aber nach allem, was er erlebt hatte, zweifelte er daran, daß der Alte auch tot blieb. Er sah, wie der König sich in seinen Thronstuhl setzte und seine gewohnte sarkastische Haltung
wiederzugewinnen suchte. »Was ist es, das Mis von mir will?« fragte er. »Daß das Bildnis des Stieres für immer von dieser Insel verschwindet. Daß die Altare Mis geweiht werden, und daß alles Blut nur Mis zu Ehren vergossen wird.« Jaggar sah, wie der König innerlich lachte. Minos Gott zu zertreten, das lag ihm schon längst im Sinn. Jellis nickte. »Gewährt«, sagte er. Er gewann seine alte Selbstsicherheit wieder. »Wenn du, Priester deiner Göttin, das Volk mit deiner Macht überzeugst ...« Der Alte nickte. Er deutete zu den Fenstern. »Sieh hinaus, König. Sie alle, die dort unten stehen, kennen Serphats Macht. In aller Herzen ist Furcht und Bewunderung. Sie werden Mis dienen.« Der König trat an eines der Fenster und starrte hinaus. Der ganze Vorplatz des Palasts hatte sich mit Menschen gefüllt, die neugierig nach oben starrten. Er wandte sich um und sagte spöttisch: »Sie hoffen auf ein Wunder. Auf meinen Tod.« Wenn diese Worte den Alten beeindruckten, so zeigte er es nicht. Er fragte: »Wann beginnt das Fest zu Ehren Minos?« »Morgen«, erklärte Jellis. »So werde ich morgen an deiner Seite sein, um auch die Priester Minos zu lehren, daß das Bildnis der Schlange schon in diese Felsen gehauen war, bevor
Mino über diese Welt schritt.« Er ging zur Tür. »Serphat, sagtest du, heißt du?« fragte der König rasch. Der Alte wandte sich ungeduldig um und nickte. »Was ist der Lohn, den mir Mis verspricht« » »Macht«, antwortete er, und gekleidet in seine Stimme klang es, als bedeutete es unendlich viel. Wieder fühlte Jaggar die Kälte. Er sah auf Jellis, aber aus des Königs Zügen war nichts zu erkennen. »Und Beistand gegen Myra, das dir sehr am Herzen liegt. « Jellis‘ Augen leuchteten auf. »Da hast du recht. Es liegt mir sehr am Herzen.« Er blickte Jaggar triumphierend an. Als sie beide zur Tür sahen, war der Alte verschwunden.
2.
Jaggar erwachte durch ein leises Plätschern, das nicht mit dem Rhythmus der Wellen übereinstimmte. Er hatte einen sehr leichten Schlaf. Im Gegensatz zu den Bordwachen! Da war es wieder! Er hatte sich nicht geirrt. Daran
hatte er auch nicht gezweifelt. Es lag an seiner Art, die Gefahr zu fühlen, noch bevor die Sinne etwas wahrnahmen. Er starrte in der Dunkelheit gegen die Decke seiner Kajüte und lauschte. Gleich darauf hob sich etwas aus dem Wasser, und das Schiff schwankte kaum merklich. Er wartete auf die hastigen Schritte der Wachen. Aber sie blieben aus. Fluchend tastete er nach seinem Gürtel und zog das schmale, zweischneidige Schwert aus der Hülle. Er zweifelte nicht einen Augenblick daran, daß der nächtliche Besuch ihm galt. Es mochte eine ganze Menge Leute geben, die ihm an den Kragen wollten. In erster Linie der König, dem Jaggar nun ein lästiger Zeuge seiner Unterredung mit dem Schlangenpriester sein mußte! Im gleichen Augenblick wußte er auch, warum die Wachen sich nicht rührten. Wenn der Anschlag vom König ausging, dann war Galis darauf vorbereitet und hatte dafür gesorgt, daß es keine Hindernisse gab. Ein leises Scharren an der Bordwand ließ erkennen, daß der Eindringling die Reling erreicht hatte und überkletterte. Noch immer schwankte das Schiff leicht gegen die Bewegung der Wellen. Mehrere waren es also, die kamen. Er tastete rasch nach seinen Beinkleidern und zog sie an. Dann sein Hemd, das er mit dem breiten Gürtel um die Mitte band. Er
vergewisserte sich, ob sein Messer im Gürtel steckte. Wieder erklang das Scharren und sagte ihm, daß es höchste Eile war, etwas zu unternehmen. Mit der Klinge blank in der Rechten tastete er sich vorsichtig zur Kajütentür. Auf dem Niedergang war noch alles still. Er lächelte grimmig. Vermutlich warteten sie, bis sie alle beisammen waren. Er öffnete die Tür und starrte ins Freie. Der helle Himmel ließ ihn alles gut sehen. Rasch schlüpfte er hinaus. Sich in einer der Mannschaftskabinen zu verbergen, bedeutete nur einen Aufschub. Er mußte an Deck. Vorsichtig schlich er die Treppe hoch und riskierte einen Blick über Deck. Niemand zu sehen. Alles war ruhig. Er zögerte keinen Augenblick. Die Klinge an den Leib haltend, damit sie nicht verräterisch im Mondlicht aufblitzte, erreichte er mit zwei Sprüngen den Großmast, in dessen Schatten er so gut wie unsichtbar war. Das Deck war leer, aber Geräusche kamen vom Bug her – flüsternde Stimmen. Dann sah er am Fockmast mehrere Gestalten auftauchen. Er zählte ein halbes Dutzend, als sie an ihm vorbeischlichen – auf die Kajütentreppe zu. Er sah ihnen nach, bis sie alle verschwunden waren, dann verließ er den Schatten des Mastes und hastete auf die Treppen des Steuerhauses zu.
Plötzlich sprang eine einzelne Gestalt über die Reling und stellte sich ihm in den Weg. Sie hielt eine krumme Klinge in der Faust und war nackt bis auf enge, knielange Beinkleider, die vor Nässe troffen. »Kapitän Jaggar«, rief die Gestalt halblaut. Jaggar erkannte sie an der Stimme wieder. »Wigor!« entfuhr es ihm. »Ja. Kapitän. Jetzt ist der Augenblick, für den Raub an myranischen Küsten zu bezahlen. Erinnert Ihr Euch nicht an Deyman, das Ihr vor acht Monden plündertet?« »Nein«, knurrte er und sah nervös zur Kajütentreppe. Jeden Augenblick mußten die Männer herausfinden, daß er sie übertölpelt hatte. Dann kamen sie und fanden ihn hier, und er hatte noch einen Gegner dazu. Seine Klinge ruckte hoch, aber der Junge war auf der Hut. Er sprang einen Schritt zurück. »Was war in Deyman, an das ich mich erinnern müßte?« »Ihr habt drei Mädchen geraubt und zwei Männer erschlagen!« Die Stimme des Jungen zitterte. »Wenn ich Männer erschlug, dann war es im Kampf. Und wenn ich Mädchen raubte, dann weil sie schön waren und gutes Gold brachten. Was wirfst du mir also vor?« »Eines dieser Mädchen war mir versprochen«, sagte
der Junge langsam, als wollte er die Worte gut einwirken lassen. »Und einer der Männer war mein Bruder! Und Ihr werdet jetzt für beide bezahlen!« Er sprang vor und schwang die Klinge. Jaggar parierte nicht, um seine anderen Widersacher durch das Klirren der Schwerter nicht aufmerksam zu machen. Er wich zurück. »Warte!« sagte er rasch. Der Junge hielt zögernd inne. »Ihr könnt Euer Leben nicht mehr erkaufen, Kapitän. Ich bin ein halbes Jahr hinter Euch hergefahren, um es zu nehmen. Eures gegen meines!« Er wollte erneut auf Jaggar eindringen. Der wich wiederum zurück. »Warte, bei Kelim! Hör mich an!« »Ich höre, Kapitän!« »Still!« zischte Jaggar. Er deutete in die Richtung der Kajüte. »Wenn du deine Rache haben willst, dann mußt du sie dir erkaufen. Du bist nicht der einzige Feind, den ich in dieser Nacht habe. Ein halbes Dutzend Schergen eines größeren Feindes wird mein Bett in diesem Augenblick leer finden. Horch!« »Ihr meint, sie wollen Euch ermorden? Im Bett?« fragte der Junge ungläubig und mißtrauisch. »Wolltest du das nicht auch? Bist du nicht bei Nacht auf mein Schiff geklettert?« fragte Jaggar unwillig. »Ja, ich will Euch töten. Aber nicht im Bett und nicht von hinten, wenn Ihr Euch stellt ...« »Also gut, ich werde mich stellen. Nachher, wenn
der König nicht seine besten Schergen geschickt hat ...« »Der König?« entfuhr es dem Jungen. »Der König trachtet Euch nach dem Leben ...?« »Allerdings. Ich denke nicht, daß ich mich täusche. Es ist im Grunde einerlei. Wenn du wirklich auf einen ehrlichen Kampf erpicht bist, dann bleib meinem Rücken fern, so lange ich mit diesem Gesindel beschäftigt bin!« »O nein!« rief der Junge halblaut. »Ich fahre nicht ein halbes Jahr hinter Euch her, auf Schiffen, die mich halb blind vor Übelkeit gemacht haben, nur um dann zuzusehen, wie Euch jemand vor meinen Augen ab ...« Das Wort erstarb ihm in der Kehle. Er war in seiner Erregung für einen Augenblick unbedacht geworden, und Jaggar hatte den Moment genützt. Mit einer raschen Bewegung ergriff er den Schwertarm des Jungen und hielt ihm die Klinge an die Kehle. »Du bist jung und unvorsichtig. Und so wirst du nicht sehr alt werden.« Er betrachtete das totenblasse Gesicht des Jungen und wußte, daß es nicht besser war, wenn er zustieß, als das, was des Königs Männer vorhatten: Mord. Tumult drang aus dem Unterdeck. »Wie ist es? Kämpfst du an meiner Seite gegen diese Brut, oder ...« »Das war es, was ich vorschlagen wollte«, würgte Wigor hervor. Jaggar ließ ihn los und drängte ihn in den Schatten
des Mastes zurück. »Bleib in Deckung«, flüsterte er. »Sie sollen nicht gleich sehen, daß sie es mit zweien zu tun haben.« Dann stürmten die ersten die Treppe hoch und sprangen an Deck. »Ihr sucht mich, wenn ich recht geraten habe!« sagte Jaggar laut, daß es über das nächtliche Deck hallte. Einen Moment standen die Gestalten überrascht still. Dann kamen sie näher – zögernd, als scheuten sie davor zurück, ihr Opfer hier im offenen anzugreifen, wo es nicht ohne Zeugen bleiben würde, als wären sie unsicher, wie ihr Auftraggeber in diesem Fall entscheiden würde. Dann aber rief einer ein paar Worte und stürmte auf Jaggar los. Sein Schwert blitzte im Mondlicht auf, als es in seitlichem Bogen herabkam. Jaggar parierte mit dem Entermesser und stach mit seiner geraden Klinge zu. Mehrere Aufschreie folgten. Einer aus Schmerz, der röchelnd verklang. Die anderen aus Wut von der Kajütentreppe her. Im nächsten Augenblick knarrten die Bohlen, als sie mit blitzenden Klingen auf ihn zuliefen. Alle Lautlosigkeit und Vorsicht war vergessen. Nur die Wut über den Verlust des Gefährten beherrschte die Angreifer. Gleichzeitig drangen sie auf ihn ein, aber sie sahen plötzlich zwei Gegner vor sich, als Wigor aus dem Schatten sprang.
Sie zögerten überrascht. Jaggar nützte den Moment. Sein Schwert zuckte vor – biß in einen der Leiber. Der Mann fiel mit einem Aufschrei. Mit erneuter Wut drangen die nächtlichen Angreifer auf sie ein. Vier gegen zwei. Jaggar sah aus den Augenwinkeln, daß der junge Wigor wie ein Teufel focht, um die beiden bulligen Angreifer abzuwehren. Dann war er mit seinen eigenen Gegnern beschäftigt. Sie behinderten einander selbst ein wenig, aber die Dunkelheit war auf ihrer Seite. Es war schwer, die Schwerter zu sehen und zu parieren. Langsam wich er zur Reling zurück, damit sein Rücken frei blieb. Er hörte einen Aufschrei und sah, daß die anderen den Jungen in die Enge getrieben hatten. »Ich komme!« rief er und sprang auf seine Widersacher los. Einen hieb er nieder. Der zweite traf ihn am Arm und schnitt tief. Jaggar sah den Triumph in den Augen des anderen. In diesem Augenblick wurde das Schiff lebendig. Männer krabbelten schlaftrunken aus dem Unterdeck hervor, halbnackt und unbewaffnet bis auf den einen oder anderen, der sich mit dem Messer schlafen legte. Aber allein ihre Zahl wirkte auf die gedungenen Mörder alarmierend. Zwei ergriffen die Flucht und stürzten sich über die Reling in die Fluten. Der dritte stand über dem hilflos am Boden liegenden Wigor und wollte es sich nicht nehmen lassen, den tödlichen Stoß zu Ende zu bringen.
»Hund!« rief Jaggar. Sein Messer flog und fand sein Ziel. Die hochaufgerichtete Gestalt schien sich unter dem Anprall noch zu strecken. Das erhobene Schwert beschrieb einen weiten Bogen nach vorn und entfiel der kraftlosen Faust. Mit lautem Klirren schlitterte es über das Deck, als die Gestalt über den Jungen fiel. Während die Männer der Besatzung Fackeln herbeiholten und aufgeregt über das Deck schwärmten, fühlte Jaggar, wie sein Arm zu schmerzen begann. Blut floß warm über die Haut. Er schlitzte den Ärmel seines Hemdes, während er auf Wigor zuschritt, und wickelte ihn straff um die Wunde. Der Junge rappelte sich benommen hoch. »Die Taue«, stammelte er.»Ich stolperte über die Taue ...« Er starrte auf den Griff des Messers, der aus dem Rücken des Toten ragte, der ihm beinahe selbst den Tod gebracht hätte. Jaggar grinste. »Du siehst, man kann sich die Art zu kämpfen nicht immer aussuchen.« Wigor nickte bleich. »Merk es dir. Ich bin mit dem Dolch so rasch wie mit dem Schwert! Aber jetzt wollen wir sehen, wer unsere nächtlichen Besucher waren.« Das Schiff beleuchtete den halben Kai mit dem Lichtschein seiner Fackeln. Jaggar gab Befehl, alle bis auf zwei oder drei zu löschen. Zu gut hatten sonst ein paar Bogenschützen aus dem Hinterhalt das Werk vollbringen können, an dem die nächtlichen
Meuchelmörder gescheitert waren. Er gab dem Steuermann Anweisung, nach den Männern zu suchen, die zur Zeit des Überfalls Wache hatten. Sie wurden auch gleich darauf im Laderaum entdeckt, bewußtlos und gut verschnürt. Jemand hatte viel Zeit dazu gehabt. Galis war nicht an Bord, wie sich herausstellte. Aber es fehlten auch noch drei andere Männer, die den Landurlaub bei ihren Familien in Candis verbrachten. Die vier Leichen an Bord waren unbekannte Männer. Keiner der Besatzung hatte sie je zuvor gesehen, wenigstens konnten sie sich nicht erinnern. Sie trugen die typische Candiser Kleidung, ein sackartiges Gewand, um die Mitte mit einem Gürtel gerafft. Sie waren barfuß und ohne Kopfbedeckung. Nichts wies auf ihren Auftraggeber hin. Mißmutig befahl Jaggar, sie ins Meer zu werfen und dafür zu sorgen, daß sie unten blieben. Dann wies er zwei seiner Bootsleute an, einen Heilkundigen aus der Stadt zu holen, der nach seinem Arm sehen sollte. Die Wunde war recht tief, und es gab Kräuter, die den Schmerz lindern konnten. »Nun, wie ist es mit unserem Kampf?« fragte er den Jungen. Wigor schüttelte den Kopf, »Ich bin in Eurer Schuld.« »Und ich in deiner. Ich schlage vor, wir verschieben
unseren Streit, bis wir Zeit und Muße dafür haben«, meinte Jaggar bereitwillig. Der Junge gefiel ihm. »Einen wie dich könnte ich brauchen. Eine Klinge, auf die ich mich verlassen kann, wenn sie auch noch ein wenig unerfahren ist. An meiner Seite wird sie lernen, was ihr noch fehlt ...!« »Um zu rauben und zu plündern?« fragte Wigor bitter. Jaggar lachte. »Um Beute zu machen«, sagte er zustimmend. »Und du sollst deinen guten Anteil davon haben ...« »Seht Ihr denn nicht, daß ich das nicht kann? Daß es mir von ganzem Herzen widerstrebt?« Jaggar zuckte die Schultern. »Wir wollen es bei Wein besprechen. Es wird noch eine Weile dauern, bis der Heiler kommt. Sei mein Gast.« Er deutete auf die Kajütentreppe. »Du mußt mir mehr von deiner Braut erzählen, Junge. Sicher werde ich mich an sie erinnern.« Sie stiegen hinab, und im Licht der entzündeten Öllampe sah Jaggar, daß die ganze Kabine durchwühlt worden war. Die Decken zeigten deutlich, daß mehrere Klingen in das Bett gefahren waren. »Mörderpack!« murmelte Jaggar angewidert. Der Junge starrte entsetzt auf die Löcher in den Decken und der Unterlage. Jaggar sah, daß er sein Narrenkostüm abgelegt hatte. In der einfachen
Candiser Kleidung sah er noch jünger aus. Der Steuermann kam den Niedergang herab. »Käpt‘n! Glaubst du nicht, es wäre besser, außerhalb der Bucht zu ankern?« »Nein, Megil. Ich denke, daß es genügt, wenn wir die Wachen verdoppeln. Sage den Kanaken, daß ich sie an den Mast knüpfe, wenn sie sich noch einmal übertölpeln lassen. Und schick Galis zu mir, sobald er an Bord kommt. Ich möchte doch zu gern hören, was er von der Sache hält.« »Aye, Käpt‘n.« »Ah, Megil. Haben wir noch Schiffskleidung an Bord?« Der Steuermann nickte. »Bring mir Beinkleider, die ihm passen.« Jaggar deutete auf den Jungen. »Und Torquis soll ihm einen Gürtel schneiden. Man soll sehen, daß er kein Fremder ist, sondern einer der unseren ...« »Aye, Käpt‘n.« Der Steuermann verschwand. »Kapitän«, widersprach Wigor. »Es scheint mir, Ihr habt nicht verstanden, was ich vorhin sagte, nämlich daß ich ...« »Daß du nicht mit mir auf Beutezug gehen willst. Doch, das habe ich verstanden. Und jetzt hör mich genau an, du Edelmann. Du bist hier in Feindesland ...!« »In Feindesland?« wiederholte der Junge.
»Mhm. In wenigen Tagen wird König Jellis mit einer gewaltigen Flotte nach Myra segeln. Und wie ich ihn kenne, wird er rechtzeitig beginnen, das Feuer zu schüren, das die Bevölkerung der Insel für seine Pläne begeistert. Was denkst du, wo du endest, wenn je einer auf den Verdacht kommt, daß du aus Myra stammst?« Der Junge schwieg. Er war bleich. »Im Teich der Krokodile«, fuhr Jaggar ungerührt fort. »Und sie sind immer hungrig.« »Krieg zwischen Myra und der Schlangeninsel!« stieß Wigor hervor. »Und Zogor ist noch im Kampf gegen Urgor!« Jaggar lachte. »Du mußt in der Tat eine Weile von zu Hause fortgewesen sein. Zogor ist längst geschlagen ...!« »Zogor geschlagen? Über fünfhundert Hundertschaften geschlagen? So ist dieser Dragon ...?« »Ganz recht, junger Freund. Dragon herrscht über Myra. Das ändert die Situation, nicht wahr?« Wigor schien ihn gar nicht zu hören. Er mußte sich erst mit der ungeheuerlichen Tatsache vertraut machen, daß Zogor und das gewaltige myranische Heer geschlagen waren. Nicht daß einer seines Dorfes König Zogor Verehrung oder Sympathie entgegengebracht hätte. Daß jemand es vollbracht haben sollte, dieses reiche, starke Myranien zu erobern und Zogor von seinem blutigen Thron zu fegen, konnte
er nicht fassen. Aber es änderte nichts. Deyna war seine Heimat, egal, wer sie regierte. Es konnte nur zum Besseren kommen. Und nun griff Jellis diesen Dragon an, der vielleicht noch an den Wunden des Krieges leckte und schwach war ... Das mußte alles erst verdaut werden. König Jellis, so sagten die Menschen hier auf der Insel, war willkürlich und grausam. Das würde bedeuten, daß ein Zogor den anderen ablöste! Von Dragon wußte er wenig. Gab es überhaupt andere als willkürliche, grausame Könige? »Also, wie ist es?« fragte Jaggar. »So lange du auf der Insel weilst, bist du einer von der Wellenreiterin. Du hast keine Feinde, außer meinen ...« Wigor grinste zum erstenmal. Es war ein Zugeständnis. »Sie sind nicht gerade wenige, Eure Feinde«, meinte er. »An sämtlichen Küsten sitzen welche, und im Heimathafen lauert der König selbst auf Euch. Aber solange der König unser gemeinsamer Feind ist, nehme ich Euer Angebot dankend an und leihe Euch meine Klinge, die noch einen guten Lehrmeister braucht.« Jaggar nickte erfreut. »Wir werden gemeinsam nach Myra fahren. Dort magst du dich auf die andere Seite schlagen. Diese Gelegenheit will ich dir gern verschaffen. Und sollten wir uns dann gegenüberstehen, so ist der rechte Augenblick für das Eisen.« Er schlug gegen den Griff seines Schwertes.
»Abgemacht?« Er hielt dem Jungen die unverletzte Rechte hin, die dieser enthusiastisch ergriff. »Aye, Käpt‘n!« »Deinen Namen werden wir ändern müssen«, überlegte Jaggar. »Jeder würde sonst wissen, daß du nicht von der Insel bist. Ich werde der Mannschaft sagen, daß du Wiquin heißt, so ist zumindest ein wenig von deinem Namen erhalten.« Schritte näherten sich über die Treppe. »Das wird der Heiler sein«, sagte Jaggar. »Sei schweigsam und einsilbig. An der Sprache würde dich jeder erkennen, obwohl es auch einige Stämme auf der Insel gibt, in den Bergen im Westen, die anders sprechen als wir.« Jemand pochte an die Tür. »Galis ist hier, Käpt‘n!« Das war die Stimme des Steuermanns. »Herein mit ihm!« brüllte Jaggar. Die Tür flog auf, und der Bootsmann der Wellenreiterin trat ein. Seine grobschlächtigen Züge waren angespannt. Sein rechtes Handgelenk hatte er mit einem Tuch umwunden, an dem ein roter Blutfleck sichtbar war. »Käpt‘n?« Es klang unsicher. »Seit wann bist du vom Schiff?« fragte Jaggar barsch. »Seit Stunden«, erwiderte der Bootsmann. Jaggar sah ihn grimmig an. »Du glaubst mir nicht, Käpt‘n?« fragte Galis. »Quelim, der Wirt, wird es dir
bestätigen ...« »Und das?« Jaggar deutete auf die Wunde an der Hand. »Ich hatte Streit«, erwiderte Galis. »Das sehe ich«, bemerkte Jaggar trocken. »Hat man dir inzwischen berichtet, was geschehen ist?« Galis nickte zögernd. »Es gab einen Überfall?« »Den gab es«, bekräftigte Jaggar. »Und einer auf dem Schiff muß ein Verräter sein. Der gleiche, der die Wachen überwältigte und in den Laderaum schloß. Hast du jemanden in Verdacht, Bootsmann?« Um die Mundwinkel des Mannes zuckte es. »Ich war nicht an Bord, Käpt‘n. Nein, ich weiß nicht, wer diese Schweinerei begangen haben soll ...« »Natürlich, ich vergaß, daß du nicht an Bord warst. Du wirst jetzt die Aufsicht über die Bordwachen übernehmen, und ich hänge dich eigenhändig an den Großmast, wenn es in dieser Nacht noch zu einem einzigen Zwischenfall kommt. Klar. Bootsmann?« »Aye, Käpt‘n«, knirschte Galis und verließ die Kajüte. Als die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, entfuhr es Wigor: »Käpt‘n Jaggar, dieser Mann war ...« Der Kapitän legte warnend den Finger an die Lippen. Wigor schwieg. Als Jaggar zur Tür schritt, entfernten sich draußen hastig Schritte über die Treppe ans Deck. Jaggar grinste, aber seine Fäuste waren geballt. »Eines Tages werde ich ihm den Hals
umdrehen, auch wenn er des Königs Schurke ist!« »Käpt‘n, der Mann war vorhin dabei. Er gehörte zu den Angreifern!« Jaggar fuhr herum. »Bist du sicher? Hast du sein Gesicht erkannt?« »Nein.« Wigor schüttelte den Kopf. »Aber ich verwundete einen am Gelenk der rechten Hand.« Jaggar schritt nachdenklich auf und ab. »Galis selbst also tut die schmutzige Arbeit. Dann besteht kein Zweifel, daß der König dahintersteckt.« Er wandte sich an den Jungen. »Ich habe einen Auftrag für dich. Aber es wird nicht leicht sein!« »Das ist mir recht, Käpt‘n.« »Behalte Galis im Auge. Tag und Nacht. Folge ihm, wenn er an Land geht. Finde heraus, mit wem er sich trifft. Und töte ihn, wenn du sicher bist, daß er neuen Verrat plant ...« »Töten?« entfuhr es Wigor. »Es ist der einzige Weg. Der König würde niemals dulden, daß ich Galis aus meiner Mannschaft entlasse.« »Aber der König wird einen neuen Mann finden«, wandte der Junge ein. Jaggar nickte. »Möglich. Aber er hat nicht mehr viel Zeit. Wir werden bald auf dem Weg nach Myra sein, wenn ich die Lage recht einschätze. Serphats Einfluß wird gewaltig sein, und des Königs Gier wird siegen, all meinen Warnungen zum Trotz ...«
»Wer ist dieser Serphat?« »Diese Schlange«, erklärte Jaggar, »die gestern aus dem Meer stieg und dir die Chance zur Flucht gab, sie ist Serphat.« »Aber was hat der König mit einer Schlange zu schaffen, und welchen Einfluß sollte sie ...?« »Du wirst alles am Morgen selbst sehen. Bei Sonnenaufgang in Minos Tempel, mein Junge. Und es scheint, als würde es ein blutiges Fest werden.«
3.
Als die ersten Strahlen der Morgensonne über die Berge der Schlangeninsel krochen und Candis und den Hafen in ihr Licht tauchten, waren die meisten Bewohner der Stadt schon auf den Beinen, um letzte Vorbereitungen für das Fest Minos, des Stieres, zu treffen. Aber diese Vorbereitungen wurden unterbrochen durch ein Schauspiel, das einige schon am Vortag gesehen hatten. Vom offenen Meer her tauchte rhythmisch der gewaltige Leib einer Schlange. Die Mutigeren unter den Zuschauern, die das alles schon gesehen hatten, liefen auf den Kai zu. Die anderen wichen langsam zu den Häusern zurück. Diese
Atemlosigkeit, mit der Serphat bei seiner ersten Ankunft begrüßt worden war, stellte sich nicht mehr ein. Aber immer noch war es ein großer Zauber, der geschah, und er beeindruckte die Menschen tief. Als Serphat schließlich in seiner menschlichen Gestalt aus dem Wasser stieg, ging ein Raunen durch die Menge. Er breitete die Arme aus und rief: »Ich bin Serphat, der Oberste Priester der Mis, Beherrscherin der Insel. Ich bin gekommen, um ihre Macht zu zeigen, damit die Priester des Mino ihr Haupt neigen vor Mis.« Erneut ging ein Raunen durch die Menge, heftiger, erregter diesmal. Das war eine Herausforderung an ihren Gott. Der alte Priester schritt quer über den leeren Platz und schlug die Richtung zum Palast ein. Zögernd folgte ihm die Menge. Die Vorbereitungen zum Fest waren vergessen. Sie alle spürten, daß etwas geschehen würde. Jaggar und Wigor und einige der Bootsleute der Schwarzen Wellenreiterin starrten ihnen nach. »Narren!« sagte Jaggar. »Schon rennen sie hinter ihm her!« »Aus Neugier wohl nur«, meinte Wigor. »So beginnen alle Dinge. Die Neugier ist ein Fluch.« Er grinste. »Dennoch werden wir uns dem Pöbel anschließen. Es mag ein Schauspiel werden, an das wir
uns lange erinnern.« »Doch neugierig?« spottete Wigor. Jaggar nickte. »Aber ich fürchte, daß es nichts Gutes sein wird, das wir zu sehen bekommen. Und ich irre mich nicht oft. Es steckt mir in den Knochen, Megil!« »Käpt‘n?« »Halte die Wellenreiterin zum Auslaufen bereit. Und ich meine zum Auslaufen, verstehst du mich? Es mag sein, daß wir es verdammt eilig haben werden!« »Aye, Käpt‘n«, sagte der Steuermann, aber es klang ein wenig verwundert, und wohl auch enttäuscht, daß er mit dem Großteil der Mannschaft hier auf dem Schiff bleiben mußte. Die Erntefestlichkeiten zu Ehren Minos waren immer eine große Volksbelustigung, bei der jeder auf seine Rechnung kam: der Fromme wie der Säufer und der Raufbold wie der Weiberheld. Und kein Magen blieb hungrig. Es währte alles bis spät in die Nacht hinein. »Wir nehmen zehn der Männer mit. Zehn, die du entbehren kannst.« »Aye, Käpt‘n.« »Galis kommt mit. Ich möchte ihn im Auge behalten.« »Aye, aye.«
Die Menschen hatten den Palast erreicht.
Als Jaggar und seine Begleiter dort ankamen, wurden die Tore geöffnet. »Sie lassen sie hinein. Das ist seltsam«, entfuhr es Jaggar. »Noch nie zuvor durften die Bürger in den Palastpark. Es gefällt mir nicht.« Sie ließen sich von der Menge vorwärtsdrängen. Hier, mitten unter den Leuten, würden sie nicht auffallen. Dann erkannte der Kapitän, wohin die Menschen drängten, wohin die Wachen sie führten. Das Platschen von aufgewühltem Wasser war deutlich genug zu hören. Vor dem riesigen Becken hielten sie an. Rundherum standen die Bürger Candis‘ dicht gedrängt, während vor ihnen im grünlich trüben Wasser die riesigen Krokodile, Jellis‘ besondere Lieblinge, die ihm den Henker sparten, mit zunehmender Erregung ihre gewaltigen Kiefer ans Ufer heranschoben – und das mit hungrigem Schnappen. Ungewöhnlich groß waren diese Bestien – mehr als vier Manneslängen maßen die meisten von ihnen. Woher der König die Tiere erhalten hatte, wußte niemand. Die meisten hatten sie noch niemals zuvor gesehen, obwohl jeder wußte, daß es sie gab. Sie waren ein Teil des Gesetzes auf der Insel. Nur wenige, die sie sahen, blieben am Leben. Gleich darauf wurde offenbar, warum der König beschlossen hatte, das Volk in den Palastgarten zu
lassen. Der Priester der Mis war an seiner Seite. Irgendein Schauspiel stand bevor, daran zweifelte Jaggar nicht. Vielleicht eine öffentliche Hinrichtung. Er schüttelte sich unwillkürlich. War das bereits das Ende des minoischen Kultes? Dann sah Jaggar etwas, das ihn erstarren ließ. Ein Junge hatte sich zu weit an den Rand des Beckens gewagt. Er beobachtete zwei der Krokodile, die ruhig an der Oberfläche lagen. Und er übersah ein drittes, das mit rasender Geschwindigkeit auf ihn zuschoß. Niemand schien es zu bemerken. Aller Aufmerksamkeit war auf den Priester und den König gerichtet, die in einem Spalier von Wachen auf den Teich zuschritten. Jaggar wollte schreien, aber es war bereits zu spät. Der große schuppige Rachen glitt blitzschnell aus dem Wasser. Er faßte den Jungen, der noch im letzten Augenblick aufspringen wollte, an den Beinen und glitt mit ihm zurück in die schäumenden Fluten. Ein vielstimmiger Schrei übertönte den des Jungen. Er tauchte gleich darauf auf, schlug wild mit den Armen. Hinter ihm färbte sich das Wasser rot, wo einst seine Beine gewesen sein mochten. Vier oder fünf der Tiere schossen wie Pfeile auf ihn zu und rissen ihn buchstäblich vor aller Augen auseinander. Von Entsetzen gepackt, wich die Menge von dem Becken zurück. Die Tiere peitschten durch das Wasser.
Ihr mörderischer Appetit war durch das Blut geweckt. Nur zwei Personen schienen von dem grauenvollen Schauspiel unberührt. Der Priester war der eine. Und der König der andere. Aber für ihn war es nicht neu. Eine Frau, offenbar die Mutter des Jungen, stürzte aus der Menge nach vorn. Mehrere hielten sie auf. Aber sie war wie besessen. Einige des Königs Wachen eilten herbei, ergriffen die Frau und brachten die Widerstrebende vor den König. Dort sank sie vor ihm auf den Boden. Sie verschwand aus Jaggars Blickfeld. Es war ihm, als vernähme er ihre schrille, schmerzerfüllte Stimme. Kurz darauf sah er, wie die Wachen sie aus dem Palast führten. Jellis und der Priester aber traten, umgeben von einem Ring von Wachen, an den Rand des Beckens. Der König breitete die Arme aus, und es wurde still im Park bis auf die Bewegung im Wasser. Die Tiere schwammen unruhig hin und her, als ahnten sie, was bevorstand. »Hört mich an, Bürger von Candis. Dies ist der Priester der Mis, der Göttin, die es verdiente, in aller unserer Herzen zu sein. Ihre Altäre sind zu Staub zerfallen, aber sie wurde nie wirklich vergessen. Ihre Macht ist ohnegleichen, wenn die Worte ihres Priesters die Wahrheit sind. Deshalb sind wir hier versammelt – um zu sehen, ob er die Wahrheit spricht. Er mag uns Mis‘ Macht zeigen, wenn er durch dieses Becken
schreitet.« Aufgeregtes Raunen ging durch die Menge. Als wieder Stille eingetreten war, fuhr Jellis fort: »Was sagt ihr? Wäre das Beweis genug? Würdet ihr solch einer Göttin folgen?« Zustimmung kam erst zögernd aus der Masse. Vielleicht hatten die wenigsten die Absicht, ihre Gottheit zu wechseln, dachte Jaggar. Aber das Schauspiel lockte. Man wollte sehen, wie der Fremde hineinstieg zu diesen Ungetümen, die eben einen Jungen verschlungen hatten. Ein zustimmender Sturm brach los unter der Menge. Damit sprach sie ihr eigenes Urteil und wahrscheinlich das von Minos‘ Tod, grübelte Jaggar. Dann sah er selbst gespannt zu, wie der alte Priester in das Becken zu steigen begann. Er stand bis zur Mitte seines Körpers im Wasser, als die erste der Bestien auf ihn zuschoß. Die Menge stöhnte auf. Jetzt, jetzt mußte er untergehen. Ein Fleck von Blut an der Oberfläche würde alles sein, was von ihm und seiner Göttin blieb. Da geschah etwas Seltsames: Ein heller schlangenartiger Arm griff nach dem Tier und umschlang seinen Rachen. Er zog es nach unten, während der Priester ruhig weiterschritt. Das Wasser wurde aufgewühlt vom peitschenden Schwanz der ertrinkenden Bestie. Die Menge hielt den
Atem an. Zwei weitere Krokodile witterten die willkommene Beute und glitten im aufschäumenden Wasser auf den Priester zu. Wiederum hoben sich schlangenartige Arme aus dem Wasser, schnappten nach den angreifenden Tieren, als diese den Rachen öffnen wollten, und rissen sie mit unglaublicher Gewalt unter das Wasser. Jaggar sah, daß selbst der König fasziniert auf das Geschehen starrte. Es war unfaßbar. Immer wieder tauchten große Schlangen aus dem Wasser auf und hielten die Bestien von dem Priester fern. Mis selbst mußte ihren Priester schützen. Mit eigener Hand, oder mit ihren Geschöpfen. Es war deutlich zu erkennen, daß mit jedem Schritt des Priesters die Sympathien für ihn wuchsen. Als er aus dem Becken stieg, war die Begeisterung ohne Grenzen. Und wer noch immer seinen Augen nicht trauen wollte, der konnte einen zweiten Blick auf die treibenden Körper der toten Krokodile werfen. Wigor starrte auf den Kapitän. »Ihr seid der einzige hier, in dessen Gesicht noch Zweifel stehen. Haltet Ihr es für einen Trick?« Jaggar schüttelte sich. »Ich weiß nicht, wofür ich es halte. Ich weiß nur eines, daß es so gut wie besiegelt ist, daß wir Myra angreifen.«
Das Labyrinth lag weiß und blendend unter der Mittagssonne. Es war das Symbol für die Irrwege des Lebens, für die Gefahren, und für den einen rechten Weg, der den Göttern gefällig war. Sieben Eingänge besaß dieser steinerne Koloß, an denen sieben Jungfrauen bereitstanden – Priesterdienerinnen, die ihr heiliges Amt antraten. Junge Männer machten sich bereit für den mutigen Gang durch den steinernen Irrgarten, aus dem es nur einen Ausgang gab, und in dem sie dem heiligen Stier begegnen würden. Es war in alter Zeit ein Wettstreit zwischen den einzelnen Sippen und Stämmen gewesen, zu dem sie ihre Söhne schickten, wenn sie das Mannesalter erreicht hatten. Früher war es ein blutigeres Spiel gewesen, bei dem der Tod durch Minos‘ Hörner nicht selten kam, und bei dem nur die Klügsten und Tapfersten den Ausgang erreichten. Und die Priester besaßen alte Schriften, die davon kündeten, daß das Labyrinth einst ein Gottesurteil war, in dem Minos selbst Tod oder Leben gab. Aber die Jahrtausende hatten Minos‘ Glauben verändert. Mit der Seßhaftwerdung der Stämme und der friedlichen Besiedelung des Landes bekam auch der Gott friedlichere Züge. Blut floß nur noch selten,
und was einst Gottesurteil gewesen sein mochte, war nun eine Mutprobe, der sich keiner unter den jungen Männern ausschloß, wenn er nicht Schande auf sich laden wollte. Das Labyrinth lag in einem ovalen Tal, dessen felsige Wände flach genug anstiegen, daß die Zuschauer sich Plätze zum Sitzen suchen konnten. Dicht gedrängt saß der Großteil der Bevölkerung Candis‘ bereits an den Hängen und starrte erwartungsvoll hinab in das Labyrinth, das oben offen war und Einblick bot in seine schmalen Korridore zwischen den zwei Mann hohen Steinwänden. Man konnte nur vereinzelt aus seitlichem Blickwinkel Durchgänge erkennen, denn die Mauern selbst waren nicht durchbrochen. Das Ganze sah aus wie ein großer rechteckiger Kasten, der in kleinere regelmäßige Rechtecke geteilt war. Man würde sowohl den Stier wie auch die jungen Männer in den Kammern deutlich verfolgen können. Das Labyrinth war eine Arena. Hoch über dem Tal stand Minos‘ Tempel, ein klotziger, ebenso rechteckiger Bau mit Mauern aus dem gleichen hellen, glattgemeißelten Stein wie der Irrgarten. Aus ihm drang noch Singen, aber es war bereits der triumphierende Schlußgesang, der hundertkehlige Dank für die Ernte, die seit Jahren nicht mehr so reich gewesen war. Minos war gut zu seinen Kindern
gewesen. Als die Priester den Tempel verließen, führten sie den heiligen Stier mit sich auf dem breiten Weg ins Tal hinab. Er folgte ihnen ruhig, friedlich. Die Menschen verstummten und folgten der Gruppe mit den Blicken in die Arena hinab. Eine der Türen des Labyrinths wurde geöffnet, und der Stier wurde mit Schreien ins Innere gejagt. Er kam mächtig in Schwung, prallte gegen die Mauern und fand einen Weg beinah ins Zentrum, bevor er sich beruhigte. Dort drehte er sich ein paarmal, sah hoch, als das Stimmengewirr der Zuschauer anschwoll und das kleine Tal erfüllte, schüttelte sich und verharrte abwartend. Die Spannung wuchs merklich. Die Priester und ihre Dienerinnen führten die jungen Männer zu den Eingängen. Ein Hörnerstoß erklang vom Tempel. Ein zweiter. Schweigen senkte sich langsam über die Versammelten. Ein Priester hob ein kelchartiges Rohr an den Mund und sprach hinein. Die Stimme hallte im Tal wider, aber sie war deutlich zu verstehen. Es war ein Gebet, mit dem er die Festlichkeiten eröffnete. Dann hieß er alle willkommen und sprach sein Bedauern darüber aus, daß nicht, wie in früheren Jahren, alle gekommen waren. Er vermißte einen großen Teil der Bewohner der Stadt und warnte vor
dem Priester der Schlange, der am Vortag nach Candis gekommen war, und der Krieg im Herzen trug. Stimmengewirr brandete auf. Die Versammelten hörten mit wenigen Ausnahmen zum erstenmal von der Ankunft Serphats. Die meisten waren von den umliegenden Dörfern gekommen. Die Hörner erklangen erneut – bis Stille eintrat. Der Priester sprach wieder. Er warnte eindringlich vor dem Gift der Schlange und vor falschen Wundern, die zu Krieg und Macht verleiten sollten. Dann gab er das Zeichen zum Beginn. Die Mädchen schoben die Männer in das Labyrinth und verschlossen die Türen hinter ihnen. Einzelne Gruppen begannen die aus der Höhe der Sitzplätze winzig wirkenden Gestalten im Labyrinth anzufeuern. Bald war das Tal erfüllt von Rufen und Schreien, das sich orkanartig steigerte, wenn einer dem immer unruhiger werdenden Stier zu nahe kam. Als einer plötzlich dem Stier gegenüberstand, erstarben die Stimmen. Das Tier scharrte mit den Hufen. Es fühlte sich offenbar gefangen zwischen den schmalen hohen Wänden. Und hier stand einer seiner Peiniger vor ihm. Er kam in Bewegung, und als die Gestalt zurückwich in den Seitengang, aus dem sie gekommen war, folgte der Stier. Er senkte den Kopf und griff an. Es gab kein Ausweichen und kein Hochklettern an den glatten Wänden. Nur ein
Vorwärts oder Zurück. Der Junge nahm die Beine in die Hand. Er schlüpfte in einen Seitenkorridor und war ein wenig im Vorteil, weil das Tier Zeit brauchte, seine Masse abzubremsen und um die enge Kurve zu zwängen. Der Junge blieb stehen, was ihm einen Beifallssturm eintrug. Das schien ihn mutig zu machen. Er wartete, bis das Tier die Hörner erneut zum Angriff senkte. Die übrigen in den Nebenkammern des Irrgartens hatten angehalten und lauschten. Der Junge ging ein gewagtes Spiel ein – und hatte Glück. Als der Stier heran war, griff er nach den Hörnern und klammerte sich fest. Er zog sich hoch, wurde gegen die Wände geschleudert, als der massige Kopf des Tieres sich vergeblich schüttelte. Die Menge schrie auf, als er abzugleiten drohte. Aber er kam wieder hoch und glitt auf den dunklen Rücken, als der Schädel des Stieres gegen die Wand prallte und den Jungen zermalmt hätte. Er klammerte sich einen Augenblick an das Fell, um Atem zu schöpfen, während das Tier sich mehrmals benommen schüttelte. Dann sprang er behende in den Korridor hinter den Stier, der sich in dem engen Raum nicht umdrehen konnte. Donnernder Beifall belohnte den Jungen für seine mutige Tat. Ein dünner Ton von königlichen Trompeten drang
in die Arena. Der Beifall erstarb langsam. Die Gesichter wandten sich nach oben. Im grellen Sonnenlicht kaum zu erkennen, stiegen der König und sein Gefolge von den Pferden. In der Stille schritten sie den Hang herab zu den Plätzen, die ihnen vorbehalten waren. Jellis sagte mit lauter Stimme: »Ist es, Anmaßung, Priester des Minos, oder Mißachtung meiner Gewalt, daß man das Fest ohne mein Beisein beginnt?« Der Priester unten in der Arena ergriff wieder das Rohr. »Du weißt, daß es nicht so ist, König. Aber Minos‘ Geburt liegt um die Mittagsstunde des Erntedanktages. Die Festlichkeiten beginnen jedes Jahr zur selben Stunde. Dem Gesetz nach bist du der erste Priester Minos! Er wird verzeihen, daß du seine ...« »Schweig!« donnerte Jellis. Der Priester wußte, daß er einen Fehler gemacht hatte, den König in aller Öffentlichkeit zu rügen, aber es war zu spät für Reue. »Hier an Minos‘ heiliger Stätte«, begann er erneut. Der König hob die Hand, und der Talkessel war plötzlich umringt von Männern der Palastwache. Sie hielten den Pfeil an der Sehne. Der hundertfache Tod ließ den Priester verstummen. Auch die Jungen im Labyrinth sahen die schußbereiten Wachen hoch über ihnen. Auch ihr Herz stand still. Sie waren ohne Deckung, ohne Schutz. Jellis senkte die Hand. Die Bogen spannten sich gleichzeitig. Und sangen hundertfach.
Der Stier sank zu Boden – durchbohrt von hundert gefiederten Schäften. Kein Laut kam von unten. In die tödliche Stille sagte der König: »Hiermit erkläre ich das Ende des Stiergottes auf unserer Insel. Fortan soll bei Androhung des Todes keiner meines Volkes mehr an seinen Altären opfern ...!« »Frevler!« schrie der Priester. »Minos‘ Fluch über dich!« Jellis‘ Hand zuckte erneut hoch! Aber der Priester der Schlange kam ihm zuvor. Er sprang hinab in die Arena, und kein Mensch hätte solch einen Sprung überlebt. Er aber erhob sich unverletzt vor den weit aufgerissenen Augen und zum Schrei geöffneten Mündern der Menge. Eines seiner Beine verlängerte sich blitzschnell, wurde zu einer silbernen, zuckenden Schlange, die nach dem Priester Minos‘ griff, sich um ihn wand. Ein Stöhnen ging durch die Menge. Der Priester versuchte sich zu befreien. Es war beinah etwas Unmenschliches an der Art, wie er sich schüttelte – so, als wäre etwas von der Kraft eines Bullen in ihm und unbezwingbar. Aber dann fiel er und lag still. »Zweifelt noch jemand am Tode Minos‘?« rief der König nicht ohne Hohn. Keine Antwort kam. »Bis zur Dunkelheit«, fuhr er fort, »ist dieser Tempel
leer. So leer, daß nichts mehr an Minos erinnert. Ich stehe in der Gunst Mis‘ der Schlange des Meeres, und sie prophezeite mir die Herrschaft über die Gestade des Großen Meeres. Mis‘ Priester werden fortan in diesem Tempel sein. An ihren Altären werdet ihr opfern, oder ein Meer von Blut wird fließen für die Schlange ...!« Seine Hände wiesen nach oben, wo Serphat erschien in Gestalt einer Schlange, die mit gefährlichem Zischen sprach: »Dies ist die Insel der Schlange. Ihr seid in meiner Welt. Und wohin die Wasser fließen, werdet ihr meinen Namen tragen!« Sie löste sich auf, und Serphat, der Priester, stand auf dem Rand des Abhangs. Leidenschaft und Haß ließen Serphats Stimme schwanken. »Myras Gestade werden die ersten sein, die wir Mis zu Füßen legen!« Das Volk schwieg betroffen. Es war zu träge, um aufzubegehren. Der König hatte immer entschieden. Gelitten hatten nur einzelne. So war es auch jetzt wieder. Sie waren auch beeindruckt von Serphats Verwandlung. Sie würden nicht gegen eine Göttin rebellieren, die so große Pläne mit dem König hatte. Eroberungen brachten Reichtum. Die kargen Felder liefen nicht fort. Wenn die Pläne der Götter Eroberungen bedeuteten, dann würden sie erobern. Warum am eigenen Boden Blut vergießen, weil die Götter Streit hatten?
4.
Jellis hielt es nicht auf dem Thron. Immer wieder erhob er sich und schritt grübelnd auf und ab. Er hatte das Gefühl, einen Schritt zuviel getan zu haben, sicher, das Volk rebellierte nicht offen! Noch nicht! War es die plötzliche Begeisterung, die Aussicht auf Reichtum und Macht, die ihn so sehr für die Ideen dieses Priesters eingenommen hatten? Oder war es mehr? Er fühlte sich unfrei in seiner Gegenwart. Er dachte Dinge, die ihm fremd waren. Und er handelte mit einer Plötzlichkeit, die ihn überraschte. Gewiß; er war jähzornig, und die Wut ließ ihn manchmal Dinge tun, die ihm später sinnlos erschienen. Aber nun handelte er ohne Zorn und tat Dinge, vor denen er zurückschreckte. Es stimmte, Minos‘ Kult war ihm immer ein Dorn im Auge gewesen, und früher oder später hätte er die Priester fühlen lassen, daß sie ihm ein Ärgernis waren. Aber das, was heute geschehen war ...! Er hatte das plötzliche, lähmende Gefühl, daß er nicht einen Bund mit den Göttern, sondern mit einem Teufel geschlossen hatte, und daß dieser Teufel mehr Macht über ihn besaß, als er gedacht hatte. Nach allem, was vorgegangen war, konnte er nicht
sofort aufbrechen und Eroberungszüge beginnen. Er hatte dem Volk mit seiner Willkür einen harten Schlag versetzt, den es überraschend gut hingenommen hatte. Nun galt es, es im Auge zu behalten und notfalls mit harter Hand durchzugreifen. Wenn er nun fortsegelte, mochte es gut und gern sein, daß er die Insel erobern mußte, wenn er zurückkam. Welch ein Risiko! Was drängte Serphat so sehr nach Myra, daß er keine Stunde verlieren wollte? Wußte Mis wahrhaftig, daß Myra schwach war? Jaggar kam ihm in den Sinn. Jaggar hatte ihn gewarnt davor. Er hatte Myra gesehen und die Küsten ausgekundschaftet. Jaggar mochte vorsichtig sein und vielleicht auch ein wenig übertreiben. Aber er war nicht blind ... Warum hatte er versucht, Jaggar zu töten? Das war eine Frage, die ihm am meisten zu denken gab. Jaggar war einer der besten Kapitäne der Bruderschaft des Großen Meeres, auch wenn er Fehler machte. »Es ist seine verfluchte Vorsicht, die mich rasend macht«, murmelte er. Aber er wußte auch, daß ihm Jaggars Warnungen immer wieder zu denken gaben, bis er selbst zögerte. Jaggar war sein Vertrauter in vielen Dingen gewesen. Er wußte viel, das gefährlich werden konnte, wenn er sich ihn zum Feind machte.
Er wußte auch, daß Jaggar wenig Liebe für ihn hegte und dennoch einer der loyalsten Männer der Bruderschaft war. Warum nur wollte er ihn töten? Er muß sterben, weil er Zweifel sät! Das war ein seltsamer Gedanke, aber er schien vertraut. Als hätte er ihn unbewußt schon einmal gedacht – in jenem Augenblick, da er die Mörder dingte. Daß sie versagt hatten, war erleichternd und bedrohlich zugleich. In diesem Zwiespalt der Empfindungen wurde ihm bewußt, daß er nicht mehr allein war. Serphat stand in der Tür. Wie kalt seine Augen sind, dachte Jellis, als bemerke er es zum erstenmal. Dann vergaß er den Gedanken. Er begann einen Eifer, eine Begeisterung zu fühlen ... Er lief dem Alten entgegen. »Serphat – wie stehen die Dinge?« »Gut, König«, erwiderte der Alte, ohne den Blick von ihm zu lassen. »Deine Truppen sammeln sich bereits westlich der Stadt. Achtzig Galeeren sind auf dem Weg nach Candis. Und die Flotten deiner Lehensstatthalter kommen deinem Befehl nach ...« »Sie kommen meinem ...?« begann er verwundert. Er konnte sich nicht entsinnen, einen entsprechenden Befehl gegeben zu haben. Aber die Erinnerung schwand rasch und machte der freudigen Erwartung Platz. In ein, zwei Tagen würde die gesamte Flotte vor
Candis aufkreuzen, bereit, nach Myra zu segeln. Mit Mis‘ Hilfe, dachte er. Mit Mis‘ Hilfe, echoten fremde Gedanken. Er wischte mit der Hand über seine Augen. Träumte er am lichten Tag? Er sah, daß er allein war. Es war besser, Jaggar zu beseitigen. Er war ein Verräter! Er wiegelte die Kapitäne der Bruderschaft auf gegen den Plan des Königs und Ersten Kapitäns! Der Angriff auf Myra war zu wichtig. Nichts durfte ihn gefährden. Auch keine Warnungen vor unerwarteter myranischer Stärke. Diesmal durfte ihm Dragon nicht entkommen! Die Fremdheit seiner Gedanken fiel ihm nicht auf. Auch nicht, daß der Name Dragon ihn mit leidenschaftlichem Haß erfüllte. Er wußte nur, daß er handeln mußte. Er ging zur Tür. »Wache!« rief er. Einer der beiden Wachen kam herein. Er war so erstaunt über des Königs Gesicht, das blaß war und abwesend, daß er vergaß, Haltung anzunehmen. Der König bemerkte es gar nicht. »Laß mir Galis holen!« befahl er.
Wigor, oder Wiquin, wie ihn seine Gefährten auf der Schwarzen Wellenreiterin nannten, saß auf einem Stapel Taue und beobachtete Galis‘ mächtige Gestalt.
Seine Gedanken waren bei den Geschehnissen am Mittag. Es war nicht so sehr der Tod des Priesters oder des Stieres, der ihn bewegte, sondern diese unheimliche Gestalt: Serphat. War es nur ein Trick, ein Betrügen der Augen, oder vermochte er sich wahrhaftig in eine Schlange zu verwandeln? Eines war sicher: Er mußte Gewalt über die Schlangen besitzen, vielleicht durch den starren Blick seiner Augen, sonst hätte er den Teich der Krokodile nicht lebend durchquert. Und wenn er den bannenden Blick der Schlangen besaß, um wieviel mehr mußte es ihm möglich sein, die Menschen um sich in seinen Bann zu ziehen. Er nahm sich vor, dem Blick dieser Augen auszuweichen, wenn er dem Priester wieder begegnen sollte. Vielleicht war dann die Wahrheit besser zu erkennen. Nach allem, was geschehen war, würde Mis es nicht schwer haben, die Insel in ihren Bann zu ziehen. Der Gedanke ließ ihn schaudern. Der nächste Schritt – Myra! Wenn es nur eine Möglichkeit gegeben hätte für eine Warnung – für diesen Dragon! Wenn er Jaggar dazu bringen könnte, daß er floh! Der Kapitän war ein seltsamer Mann. Kein Teufel, wie er einst gedacht hatte in jener schmerzlichen Stunde, als Welora für immer verschwand, die als seine Braut erkoren war. Jaggar war überzeugt, daß es der König war, der ihn
töten lassen wollte. Und er floh nicht. Er fühlte Loyalität zu diesem mörderischen König. Seine Ehre stand auf dem Spiel – als Kapitän der Bruderschaft. Er würde ein Gejagter sein, ein Ausgestoßener auf dem Großen Meer. Das alles verstand Wiquin, aber er verstand nicht, warum Jaggar so sicher war, daß gerade der König ihn töten wollte! Er seufzte. Er saß hier fest, und die Welt war dabei, auseinanderzubrechen. Zum Teil wenigstens. Wenn der König wirklich darauf aus war, den Kapitän zu töten, dann ließ er sich Zeit. Galis machte nicht den Eindruck, als ob er etwas vorhatte. Es mochte Täuschung sein, aber.. Jaggar kam aus der Kajüte und blickte mißmutig auf die Bucht hinaus. Daß er hier festlag, gefiel ihm nicht, das konnte Wiquin deutlich sehen. Wiquin nickte grüßend. Überraschend sagte Jaggar: »Wenn du je an Flucht gedacht hast, Wiquin, dann ist es jetzt zu spät. Wenigstens ein halbes Hundert Segel stehen vor der Bucht.« »Ich hab sie gesehen. Käpt‘n«, erwiderte der Junge. Er gab sich einen Stoß. »Käpt‘n, ein paar Dinge lassen mir keine Ruhe ...« »Als da sind?« fragte Jaggar. »Warum seid Ihr so sicher, daß es der König ist, der
Euch nach dem Leben trachtet?« »Weil ich weiß, daß Galis im Palast war«, erwiderte Jaggar unwillig. »Das ist alles?« fragte der Junge ungläubig. »Nein. Ich habe keine Feinde außer Jellis.« »Seid Ihr dessen so sicher? Ein Pirat, ein Plünderer wie Ihr ...!« Jaggar sah ihn seltsam an. »Es mag sein, daß an Myras Küsten viele gern meinen Kopf hätten. Aber hier ... Jellis ist der Erste Kapitän der Bruderschaft. Er bestimmt. Aber die Bruderschaft weiß, daß ich in den myranischen Gewässern Erkundigungen einzog. Sie wird meinen Bericht hören wollen. Der fällt nicht sehr günstig aus, denn ich habe erfahren, daß Myra stark ist ...« »Kann sich die Bruderschaft gegen den König stellen?« warf Wiquin ein. Jaggar schüttelte den Kopf. »Nein. Aber sie ist nicht ohne Einfluß. Das kann für den König eine Menge Ärger bedeuten ...« »Und deshalb, meint Ihr, läßt er Euch heimlich aus dem Weg räumen?« »Es ist der einfachste Weg.« »Und Ihr könnt nichts dagegen tun. Warum flieht Ihr nicht?« »Weil es das Ende wäre. Die Bruderschaft ist meine Welt ...«
»Ihr meint, das Plündern und Rauben und Töten an fremden Küsten ist nicht nur eine Quelle des Reichtums, sondern auch eine Lebensweise?« Zorn verdunkelte das Gesicht des Kapitäns. Rasch sagte Wiquin: »Sagt mir noch eines, Käpt‘n. Was treibt den König so sehr nach Myra? Ich meine, es gibt nähere Küsten. Warum ausgerechnet Myra?« Jaggar dachte darüber nach. Er vergaß seinen Zorn, was den Jungen innerlich aufatmen ließ. Schließlich zuckte er die Schultern. »Es ist die Richtung, in der seine Augen immer am längsten blickten. Früher oder später hätte er es getan ...« »Glaubt Ihr nicht, daß dieser Priester der Schlange etwas damit zu tun hat? Blickt er nicht mit den gleichen hungrigen Augen nach Myra?« Nachdenklich sagte Jaggar: »Es fiel mir nicht auf. Aber vielleicht hast du recht ...« »Immerhin muß der König Euch geschätzt haben, und Eure Vorsicht, sonst hätte er nicht gerade Euch als Kundschafter geschickt.« Jaggar schüttelte den Kopf. »Das hat auch noch andere Gründe. Ich war sein Vertrauter in vielen Dingen. Ich weiß mehr, als ihm lieb ist ...« Jaggar hielt inne und nickte, als Wiquin den Satz zu Ende sprach. »... Nun, da er einen neuen Vertrauten hat?« Jaggar wurde plötzlich lebendig. »Ich kann zwar
nicht ohne des Königs Einwilligung den Rat der Kapitäne zusammen rufen, aber ich kann mit einigen von ihnen reden, mit Malquir zum Beispiel. Seine Merinque ankert auf der anderen Seite der Bucht. Mis«, fügte er verächtlich hinzu. »Es gab eine Zeit, da erschlugen wir die Schlangen, wo wir sie fanden. Wenn es nach mir geht, wird sie wiederkommen. Laß mir Galis nicht aus den Augen.« »Aye, Käpt‘n.« »Und nimm den Mund nicht so voll. Manchen sitzen die Schwerter lockerer als mir.« »Aye, Käpt‘n«, wiederholte der Junge, ein wenig rot werdend. Wenig später kam ein Mann an Bord, den Wiquin noch nie zuvor gesehen hatte. Er machte keinen sehr vertrauenerweckenden Eindruck. Der Junge musterte ihn mißtrauisch. Der Steuermann ging auf ihn zu. Wiquin konnte nicht hören, was sie sagten, aber er konnte erkennen, daß Megil ihn mit allem Nachdruck vom Schiff wies. Das schien der Fremde schließlich einzusehen, aber er deutete immer wieder auf das Vorderdeck und schüttelte einmal sogar drohend die Faust. Der Steuermann nickte schließlich mit besänftigenden Handbewegungen. Als er an Wiquin
auf dem Weg zum Vorderdeck vorbeikam, zischte er verärgert. »Canlos von der Diebesgilde. Merk dir, daß du am besten nichts mit ihm zu schaffen hast. Auf seine Art ist er ein Teufel.« Der Junge sah ihm verwundert nach und fuhr alarmiert hoch, als der Steuermann auf Galis zuging und auf ihn einredete. Dabei deutete er auf den wartenden Dieb am Kai. Galis nickte hastig und eilte sofort vom Schiff. Interessiert sah Wiquin, wie die beiden in eifrigem Gespräch über den Marktplatz eilten. Mit der Diebesgilde also hatte Galis zu schaffen! »Steuermann!« rief Wiquin. »Sagt dem Käpt‘n, daß ich von Bord ging. Und sagt ihm auch, daß es Galis und dieser Canlos waren, denen ich folgte.« »Aye, aye!« Nicht ohne Unbehagen eilte Wiquin hinterher. Aber er hatte keine eigentliche Angst. Er hoffte nur, daß sich nun endlich ein paar der Geheimnisse aufklärten. Die beiden gingen in die Richtung des Palastes. Es erschien dem Jungen nicht ungewöhnlich. Die Diebesgilde mochte ihre Finger in allerlei Geschäften haben – sicher auch mit dem König. Für ihn war bald klar, daß der Dieb Galis zum Palast führte. Er hielt mehr Abstand, um sicherzugehen, daß sie ihren Verfolger nicht bemerkten. Als er den Palast
erreichte, sah er gerade noch, wie eine der Palastwachen Galis ins Innere führte. Der Dieb verschwand in einer der Seitenstraßen. Wiquin zögerte. Vermutlich dauerte es eine Weile, bis der Bootsmann wieder erschien. In den Palast ungesehen einzudringen, schien wenigstens am Tage unmöglich. Nach einem Augenblick eilte er hinter dem Dieb her und hatte ihn gleich wieder vor sich. Der Junge beschleunigte seinen Schritt und begann zu laufen, als der Mann vor ihm erneut abbog. Als er um die Ecke kam, erkannte er, daß Canlos vor ihm stand und ihn offenbar erwartete. »Wer bist du?« Der Dieb musterte ihn kalt. Wiquin hatte den Dolch in der Faust und hielt ihn Canlos an die Kehle. Der sah ihn an, als wäre er verblüfft darüber, daß jemand es wagte, Hand an ihn zu legen. Mehr nicht. Wiquin mehrte seine Verblüffung damit, daß er den Dolch schmerzlich hochruckte, so daß ein roter Punkt am Hals des Diebes erschien. »Vorwärts! Dort in den Hauseingang. Ich habe ein paar Worte mit dir zu reden!« Der Dieb nickte. »Du wirst es früh genug bereuen.« Aber er ging Schritt um Schritt zurück. »Warum wählst du nicht den einfacheren Weg?« Er hielt die leere Hand auf.
Wiquin schob ihn in den Hauseingang. »Wenn ich Gold hätte, vielleicht. Aber es ist müßig, darüber zu reden, denn ich habe keines.« »Du dauerst mich«, begann der Dieb, schwieg aber, als Wiquin dem Dolch erneut einen kleinen Ruck versetzte. »Ich will nur wissen, in wessen Auftrag du Galis geholt hast«, sagte er drohend und fügte hinzu: »Und ich habe nicht viel Zeit.« Der Dieb wollte sich losreißen, aber Wiquins Dolch zog einen dünnen roten Strich über den Hals bei diesem Versuch. Keuchend hielt er still. »Ich sage noch immer, du wirst es bereuen!« zischte er. »Später vielleicht«, meinte der Junge ungerührt. »Jetzt könnte es für dich etwas zu bereuen geben. Also: von wem hattest du den Auftrag, den Bootsmann vom Schiff zu holen?« Canlos, der Gewalt verabscheute, besonders, wenn sie an ihm angewandt wurde, zuckte die Schultern. »Also, wenn du es für dein Leben gern wissen möchtest, Coris gab milden Auftrag.« Wiquin ließ ihn nicht los. »Wer ist Coris?« »Der Wächter am Palasttor. Du scheinst nicht von hier zu sein. Deine Aussprache ...« »Sie soll dich nicht kümmern. Und zu wem solltest du Galis bringen?« »Zu Coris natürlich.«
Wiquin betrachtete ihn mißtrauisch. »Was könnte Coris von Galis wollen?« »Bin ich Coris, daß ich es wissen sollte?« knurrte Canlos. »Vielleicht«, sagte Wiquin grinsend ... Trotzdem besten Dank für die Auskunft, Schade, daß ich nicht mehr Zeit habe, denn ich bin sicher, daß du noch eine Menge weißt ...« »Schon möglich, Fremder«, sagte eine Stimme hinter ihm. Wiquin fuhr herum. Ein bärtiges Gesicht sah ihn mit blitzenden Augen an. Etwas knallte gegen seinen Hinterkopf, und das bärtige Gesicht verlöschte.
Als er erwachte, sah er ein anderes Gesicht vor sich – das eines kleinen Mädchens, das ihn neugierig musterte. »Du bist nicht tot!« sagte sie, und das schien sie zu erschrecken. Wiquin selbst war weniger erschrocken darüber. Ein stechender Schmerz im Nacken ließ ihn aufstöhnen. Er massierte die Stelle und sah, daß Blut an den Fingern war, als er die Hand zurückzog. »Nein«, murmelte er. »Es sieht so aus, als wäre ich
nicht tot.« Die Kleine wich zurück, offenbar vollkommen konfus darüber, daß er erwacht war. Er schüttelte den Kopf, als sie verschwand. Seltsame Bräuche hatten sie hier, wenn die Kinder nichts dabei fanden, bei herumliegenden Toten herumzulungern. Er setzte sich stöhnend auf und erkannte, daß er noch immer in dem Hausflur lag. Sie hatten ihn offenbar nur niedergeschlagen und sich aus dem Staub gemacht. »Ich hätte wissen müssen«, dachte er laut, »daß die Diebesgilde nicht einfach zusieht, wenn einer der ihren in der Klemme ist.« Mit schmerzlich verzogenem Gesicht trat er ins Freie. Dem Stand der Sonne nach war es später Nachmittag. Viel Zeit konnte also nicht vergangen sein. Vielleicht kam er noch nicht zu spät. Er hastete die Straße zurück zum Palast. Er unterdrückte den stechenden Schmerz. Der Bärtige hatte ihm ordentlich eine verabreicht. Ein paarmal sah er sich um, aber außer dem kleinen Mädchen war niemand auf der Straße. Ob sie ihn von den Fenstern aus beobachteten, konnte er nicht sagen. Aber er vermutete es. Der Palast tauchte vor ihm auf – still und scheinbar leer unter der heißen Nachmittagssonne. Er straffte sich und hoffte, daß die Wunde unbemerkt bleiben würde.
Die Wachen am Palastgarten griffen nach ihren Schwertern, als er auf das Tor zuschritt. Einer trat ihm entgegen. »Wohin?« »Hat Galis den Palast schon verlassen?« fragte Wiquin. »Wer ist Galis, und was kümmert es dich?« fragte der Soldat grob. »Ich habe eine Botschaft von Canlos.« Die Wache sah ihn ungerührt an. »Und?« »Sie ist für Coris«, sagte Wiquin forsch und hoffte, daß das die erhoffte Wirkung brachte. Tatsächlich brummte der Mann: »Coris scheint seine Finger überall zu haben. Na, was geht‘s mich an. Wenn du mit Galis den Bootsmann meinst, den der Dieb vorhin brachte, nein, er ist noch nicht wieder ‚raus. Du findest Coris innerhalb des Tores. Wenn du ihn nicht siehst, ruf nach ihm!« Er deutete zum Palasteingang und nahm die Hand von seinem Schwertknauf. »Danke«, sagte der Junge und schritt zielsicher auf das Tor zu. Bisher war es nicht sehr schwierig gewesen. Als er durch das offene Tor schritt, sah er einen älteren Mann in der Kleidung der Wachen, doch ohne Brustharnisch und ohne Schwert. Eine Säulenhalle erstreckte sich vor ihm scheinbar ohne Ende. Eine Abteilung Wachsoldaten stand neben dem Tor und wartete offensichtlich auf Befehle des Alten.
Der sah Wiquin neugierig entgegen, wie etwa einem Fuchs, der freiwillig in die Falle gegangen war. »Bist du Coris?« fragte Wiquin und versuchte sich völlig ungezwungen zu geben. »Der bin ich, junger Freund.« Der Alte kam auf ihn zu. »Ich habe eine Botschaft von Canlos.« Überraschenderweise sagte der Alte: »Ich dachte es mir.« Unmerklich nickte er den Wachen zu, die daraufhin dem Jungen keine Beachtung mehr schenkten, außer vielleicht den einen oder anderen musternden Blick. »Komm mit.« Der Junge folgte Coris durch mehrere Gänge, die mehr breiten Hallen glichen. Mehrere Palastdiener begegneten ihnen, aber keiner beachtete sie. Wiquin fragte sich die ganze Zeit über, ob er etwas sagen sollte. Aber der Alte schien keinerlei Fragen zu erwarten. Offenbar wußte er genau, was der Junge wollte, oder besser, was Canlos wollte. Ganz im Gegenteil zu Wiquin, der ihm unbehaglich folgte. Immerhin war die Sache recht gut gelaufen. Mit, dem Alten wurde er sicher fertig, wenn es sich als notwendig erweisen sollte. Es wurde immer geheimnisvoller, und Wiquin glaubte bereits, auf der völlig falschen Spur zu sein und nur seine Zeit zu vergeuden, während Galis den Palast verließ und vielleicht einen neuen Anschlag auf
Kapitän Jaggar plante. Der Alte öffnete eine schwere eiserne Tür, und schritt voran in ein Kellergewölbe von vorerst unübersichtlicher Tiefe. Es ging nicht so weit hinab, wie der Junge befürchtet hatte. Der Alte nahm eine Öllampe von einem Steinvorsprung und entzündete sie nach einigen Versuchen. In dem schwachen Schein sah Wiquin mehrere eiserne Türen, auf denen dick und braun der Rost saß. An ihnen schritt der Alte vorbei. Es roch nach Feuchtigkeit und Moder, und von irgendwo kam das Tropfen von Wasser. Sie konnten nicht weit vom Krokodilsteich sein, kam es Wiquin in den Sinn. Vor einer Tür, die öfter benutzt aussah, hielt Coris an. Er schob den Riegel zur Seite und trat mit erhobener Laterne ein. Der Junge folgte ihm. Sie befanden sich in einem feuchten Raum aus roh behauenem Stein. Das Rauschen von Wasser war sehr nah. Mehrere große Eisengitter bildeten den Boden vor ihm, und darunter sah Wiquin wild schäumendes Wasser über felsigen Grund rauschen. »Es führt direkt zum Meer«, sagte der Alte. »Hier drin verschwinden sie alle.« Wiquin fragte sich, was er wohl meinte. Coris ging ans andere Ende des Raumes und winkte dem Jungen, zu folgen. »Hier. Mit ihm haben sie Besseres vor.« Er zog ein Stück Segeltuch beiseite, und Wiquin hielt
den Atem an. Galis lag vor ihm am Boden, bleich, das vierschrötige Gesicht in Pein verzerrt. Sein Hemd war blutdurchtränkt. Eine breite Wunde klaffte am Rücken und an der Brust, als hätte ihm jemand eine breite Klinge von hinten in den Leib gerammt, daß sie vorne wieder herauskam. Galis war tot. »Sag das Canlos, und auch, daß der Priester wieder im Palast ist.« Wiquin nickte stumm. »Was haben sie mit ihm vor?« Der Alte zuckte die Schultern. »Das weiß ich nicht. Das hier ist schon mehr, als ich wissen sollte.« Als er zur Wellenreiterin zurückkam, fand er einen mißmutigen Jaggar vor, der sich bitter über die Sturheit Kapitän Malquirs beschwerte, der sich geweigert hatte, die Bedenken gegen den Myrafeldzug weiterzuleiten. Nicht ohne Wissen des Königs jedenfalls! Und mit Mis‘ Priester habe er nichts zu schaffen. Als er Wiquins Bericht hörte, wurde er sehr nachdenklich. »Im Palast ermordet«, murmelte er. »Wie paßt das nur zusammen? Bist du sicher, daß es seine Leiche war, die du gesehen hast?« »Kein Zweifel«, erwiderte der Junge. »Verstehst du es?« »Noch nicht, Käpt‘n. Aber wenn noch genügend
Zeit bleibt, komme ich sicher dahinter.« »Ich fürchte, daß uns nicht mehr viel Zeit bleiben wird. Wir laufen morgen aus.« »Morgen schon?« entfuhr es Wiquin. Er ballte die Fäuste. »Das scheint dir ebensowenig zu gefallen wie mir«, lachte Jaggar. »Nein, es gefällt mir nicht. Käpt‘n ...« Er zögerte. »Helft Ihr mir?« Jaggar sah ihn verwundert an. »Wobei?« fragte er vorsichtig. »Als ... als ich hierherkam, da schwor ich mir, ich wollte Welora finden ...« »Welora?« fragte Jaggar. Dann dämmerte ihm, was der Junge meinte. Er nickte. »Sag mir, wie sie aussah. Vielleicht erinnere ich mich an sie. Aber ich warne dich gleich. Ich erinnere mich an die wenigsten. Da war nur eine, auf meiner letzten Fahrt, eine mausgesichtige kleine Hexe.« Er zuckte bedauernd mit den Schultern, »Sechs Monde bist du hinter mir her?« fragte er dann. »Und gleich nach dem Überfall aufgebrochen?« Der Junge nickte. »Drei Mädchen nahmen wir mit?« Erneut nickte Wiquin erwartungsvoll. »Dann kann sie nicht hier auf der Schlangeninsel sein«, erklärte er nach einer Weile. »Ich weiß, daß wir unsere Beute verkauften. An einen Kauffahrer aus
Namos.« Die Erinnerung schien ihn ungemein zu erheitern, denn er lachte laut auf. »Was wollte ein Händler aus Namos mit myranischen Mädchen?« fragte der Junge verwundert und mißtrauisch. »Jeder weiß, daß die Frauen auf Namos das Regiment führen. Sie sollen schlimmer sein als die Katmahza. Jaggars Heiterkeit schwoll noch. »Aber er hatte Gold, das wir ihm in jedem Fall genommen hätten. So schlugen wir ihn breit, die Mädchen für eine anständige Summe zu kaufen. Andernfalls, machten wir ihm klar, würden wir sein Schiff ausplündern.« »Und er zahlte?« »Das tat er. Und er war froh, mit so heiler Haut davonzukommen. Wir waren in guter Laune an diesem Tag, und die Wellenreiterin saß tief im Wasser, so reich waren wir mit Beute beladen. Es war an der Zeit, umzukehren ...« »Dann ist sie verloren«, murmelte der Junge traurig. »Hast du sie geliebt. Junge?« fragte Jaggar plötzlich voller Mitgefühl. Wiquin schüttelte den Kopf. »Nein ... oder vielleicht doch ... ach, ich weiß es nicht. Aber ich wuchs mit ihr auf. Wir waren Nachbarskinder. Dann war plötzlich alles so leer ohne sie.« »Ja«, sagte Jaggar bedauernd. »Aber vielleicht ist sie noch nicht verloren. Das Schiff des Händlers hatte den
Kopf eines Tieres mit einem gewundenen Horn auf dem Bug. Es sah häßlich aus. Ein Einmaster. Ich würde ihn unter Hunderten wiedererkennen. Wenn dieser unselige Angriff auf Myra erst beendet ist und wir kein Futter für die Haie geworden sind, werden wir uns die Häfen Namos‘ genauer ansehen. Haben wir das Schiff, haben wir auch eine gute Spur. Was meinst du?« Wiquin sah ihn erfreut an. »Ist das ein Angebot, Käpt‘n?« »Eins, das fair genug ist, denke ich.« Er grinste. »Aber wenn sie wirklich auf Namos ist, wird das nicht ohne Spur an ihr vorübergehen, fürchte ich. Die Taube, die fortflog, kommt als Drache wieder. Sie wird eine andere sein, bis das Jahr um ist. Und früher werden wir sie nicht finden ...« »Das wäre das Risiko wert, Käpt‘n, Und was wollt Ihr dann tun, sie stehlen?« »Und dir verkaufen.« Er grinste breit. »Aber vielleicht beruhigt es dein zartfühlendes Gemüt, wenn wir sie eintauschen!« Er brach in schallendes Lachen aus, als er Wiquins verständnisloses Gesicht sah.
5.
Jaggar schritt unruhig in seiner Kajüte auf und ab. Nacht lag über der Stadt und dem Hafen. In den meisten der Häuser oben auf den Hügeln, wo die wohlhabenderen wohnten, und im Palast brannten noch flackernde Lichter und hielten die Dunkelheit fern, die über dem Land kauerte. Wolken hatten sich vor den Mond geschoben und bedeckten den größten Teil des Himmels. Die wenigen Sterne gaben kaum Licht genug, die Hand vor den Augen zu sehen. Jaggar war nervös. Wenn um seinetwillen noch etwas geschah, dann mußte es in dieser Nacht geschehen. Am Morgen würde der Rat der Kapitäne zusammentreffen, um des Königs Pläne zu vernehmen, über die wohl kaum jemand noch im Zweifel sein konnte. Jaggar hatte keine Furcht vor dem Krieg. Das war es nicht, was ihn bedrückte. Es war seine augenblickliche Stellung. Es schien, als wäre bereits jemand rascher gewesen – um eine Nasenlänge voraus – und hatte die Kapitäne gegen ihn gestimmt. Malquirs barscher, beinah beleidigender Ton sprach dafür, mit dem er Jaggars Ansinnen abgewiesen hatte, als bedeutete es keine Warnung, sondern blanken Verrat. Bei Meldos nicht anders. Beinah Verachtung. Jaggar wußte, daß er allein war, und daß es wenig gab, das er tun konnte. Außer warten. Was hatte den König in solch einen erbitterten Feind
verwandelt? War es Serphat, der Schlangenpriester, der sich sein Vertrauen erschlichen hatte? Hatte der junge Wigor recht mit seiner Vermutung? Wigors Name brachte seine Gedanken für einen Augenblick auf etwas, das ihn erheiterte. Er stand einen Moment sinnend, die Daumen in den Gürtel gehakt. Dann verließ er die Kajüte und begab sich an Deck. Er sah sich um, konnte aber Wigor nirgends entdecken. Dann stieg er in die Mannschaftsräume hinab. Als er nach geraumer Weile wieder zum Vorschein kam, begleiteten ihn drei Männer, die sich mit grinsenden Gesichtern vom Schiff begaben und in der Richtung des Marktplatzes in der Nacht verschwanden. »Junge!« Wiquin hörte die Stimme, aber er erwachte erst, als Jaggars kräftige Faust ihn schüttelte. »Käpt‘n?« Er schüttelte die Schlaftrunkenheit ab. Es war noch immer finster wie in einem Loch. »Komm mit.« Wiquin rieb sich den Schlaf aus den Augen und stolperte hinter Jaggar her an Deck. Er atmete auf. Die Wolken waren zum größten Teil verschwunden, und das Mondlicht spiegelte sich auf den Planken. Man konnte gut sehen. »Was ist los, Käpt‘n? Laufen wir aus?« Das war eine
völlig verrückte Frage, denn nichts deutete auf ein Auslaufen hin. Das Deck war leer bis auf eine einsame Gestalt an der Bugreling. Die Gestalt schien dem Jungen irgendwie bekannt. Jaggar führte ihn hin. »Bootsmann!« rief er. Der andere drehte sich um und sah den beiden entgegen. Das Mondlicht fiel voll auf sein Gesicht. Wiquin hatte Mühe, einen entsetzten Aufschrei zu unterdrücken. »Ja, Käpt‘n?« Auch die Stimme ließ keinen Zweifel daran. Vor ihnen stand Galis – so lebendig wie eh und je. Benommen starrte er Galis an und war froh, daß sein Gesicht im Schatten war. »Wiquin wird dich ablösen.« »Es ist nicht nötig, Käpt‘n.« »Das ist ein Befehl, Bootsmann.« »Aye, Käpt‘n.« Wiquin vermeinte, Wut in den Augen Galis‘ zu sehen. Der Junge fröstelte unwillkürlich. Während der Bootsmann unter Deck verschwand, beschäftigte Wiquin nur eine Frage: Wer war der Tote in der unterirdischen Palastkammer? Jaggar ergriff ihn am Arm und drehte ihn herum, daß er ihm ins Gesicht sehen konnte. Er war nicht wütend, aber es war etwas an ihm, das keinen Zweifel
ließ, daß er eine Antwort erhalten würde. »Also, was hat es zu bedeuten?« »Käpt‘n ... ich ... ich verstehe es nicht.« Er berichtete noch einmal in allen Einzelheiten, wie er in den Palast gelangt war, und was Coris ihm gezeigt hatte. Er beschwor, daß er nicht den geringsten Zweifel gehegt hatte, daß Galis es war, der tot in dieser Kammer lag. Kein anderer als der Bootsmann konnte es gewesen sein, wenn er nicht einen Zwillingsbruder besaß. Ein Schwert hatte ihn durchbohrt. Und nun war Galis zurückgekommen! Von den Toten? Oder hatte dieser Priester der Schlange seine Hand im Spiel? Es war nicht von der Hand zu weisen. Zu viele merkwürdige Dinge waren seit seiner Ankunft auf der Insel geschehen. Vielleicht war er wahrhaftig von den Göttern geschickt. Aber es war seltsam, daß sie einem solche Macht in die Hand gaben – wenn es Macht war, und nicht Jahrmarktsgaukelei. Viel eher schien er Wiquin ein Hexer, der den König für sich zu gewinnen suchte für irgendwelche dunklen Pläne. Er zweifelte nicht an dem, was er im Palast gesehen hatte. Galis war tot – oder wenigstens tot gewesen! Dann stimmten die alten Geschichten, daß die Toten aus den Gräbern zu steigen vermochten, wenn sie von bösen Geistern beseelt waren! Die Zombys. Galis mußte einer sein! Und beseelt war er von
Serphat! Das war der nächstliegende Gedanke. Und warum war er gekommen? Es gab nur eine Antwort: Um Kapitän Jaggar zu töten, der ihm im Wege war. Es war plötzlich alles sehr klar und einleuchtend. Wiquin ließ den Kapitän stehen und hastete die Treppe zu den Mannschaftsräumen hinab. Megil, der Steuermann, kam ihm entgegen. Sein Gesicht war blaß. Die Männer starrten hellwach aus ihren Schlafkojen. Ihre Gesichter waren nicht viel dunkler als das des Steuermanns. »Wo ist Galis?« fragte Wiquin, von einer dumpfen Ahnung befallen. »Wir wissen es nicht«, antwortete einer. »Er war eben noch hier, und es war verdammt merkwürdig.« »Was?« fragte der Junge. »Sag schon, was war merkwürdig?« »Er ... er kam herein und legte sich in seine Koje. Wir dachten uns nichts dabei. Er war ja immer ein wenig wortkarg, und es ging uns ja nichts an, wo er so lange war. Aber dann fing Quiller, der über ihm schläft, plötzlich an, seinen Namen zu rufen. Wir waren wieder alle wach, als er ihn schüttelte und mit der Hand zurückzuckte, als hätte ihn eine Tarantel gebissen ...« Quiller selbst, der Koch, ein kleiner dunkelhaariger Mann, rief aufgeregt »Er war so kalt. Wie Eis. Ich dachte Kelim, der ist tot! Ich horchte, aber er atmete
nicht. Nicht ein Zug ... Ich rüttelte ihn, und da packte mich das Grauen. Er fühlte sich an, als hätte er keine Knochen im Leib, alles schwammig und weich. Ich bin nicht furchtsam, Wiquin, das werden dir die Kameraden bestätigen, aber der Schlangenpriester spukte mir den ganzen Tag im Kopf herum, wie er sich in diese schleimigen Kreaturen verwandelte, und wie er das vielleicht mit jedem von uns machen könnte. « »Aber wo ist er?« fragte Wiquin von leichtem Grauen erfüllt. Sie schüttelten die Köpfe. »Quiller kam herunter und sagte aufgeregt, daß er glaube, daß Galis nicht wirklich Galis sei ... und bis wir aus ihm herausbekamen, was nun eigentlich los war, war Galis verschwunden. Er ... Er konnte nicht durch die Tür gegangen sein, denn der Steuermann stand die ganze Zeit davor. Und sonst gibt es keinen Weg nach draußen. Wir haben schon alles durchsucht.« Ein erstickter Schrei kam von Deck der alle erstarren ließ. Wiquin stürmte als erster los. Es war die Stimme des Kapitäns gewesen, dessen war er sich sicher. Erneut kam ein Schrei wie von aller Pein der Unterwelt erfüllt. Wiquin erreichte das Deck und sah zwei Gestalten nicht weit von sich ineinander verschlungen zuckend. Im Laufen riß er sein Schwert aus dem Gürtel. Hinter ihm ertönte das Getrappel der Mannschaft, die die Treppen hochstürmte. Irgend
jemand hatte eine Lampe mitgebracht, die ihren flackernden Schein über das Deck warf. Einen Augenblick hatte Wiquin Mühe, die ringenden Gestalten zu unterscheiden, dann sah er deutlich, wie der Kapitän zurücktaumelte und stürzte. Als die andere Gestalt sich über ihn beugte und erneut zupacken wollte, war der Junge heran und hieb mit der flachen Klinge zu. Galis, oder was es auch war, das in seiner Gestalt hier stand, fuhr herum und griff nach dem Jungen. Der eisige Griff lähmte Wiquin. Er fühlte, wie seine Sinne schwanden. Er schrie gequält auf und stieß das Schwert mit letzter Kraft in den Körper vor ihm. Es war, als schnitte es durch Fett. Ohne Widerstand zu finden, glitt es durch den Magen und das Rückgrat seines Gegners, der den Griff nicht lockerte. Er schrie erneut, diesmal in panischer Furcht, als er erkannte, daß er keinem menschlichen Widersacher gegenüberstand. Dann, während seine Sinne schwanden, sah er undeutlich, wie die Schiffsleute sich auf die Gestalt stürzten. Einer schlug mit der Lampe zu, und brennendes Öl ergoß sich über das Gesicht Galis‘, das zerfloß, als wäre es schleimige, flüssige Substanz. Es löste sich auf in kleine Teile, die wie Würmer über das Deck auf das Wasser zukrochen. Ein unmenschliches Kreischen begleitete diese Auflösung. Die Männer standen starr, gelähmt, von Ekel
geschüttelt, und Wiquin spürte, wie der eisige Griff sich löste, wie er wieder atmen konnte. Er hob mühsam den Kopf und sah, wie der Körper Galis‘ zusammensank, und selbst die Kleider sich in die fließende Substanz verwandelten, die zäh über die Planken glitt und mit deutlichem Klatschen den Weg ins Wasser fand. »Der Käpt‘n!« stieß Wiquin hervor »Seht nach dem Käpt‘n!« Bewegung kam in die Männer. Einige löschten das Feuer. Zwei hoben die reglose Gestalt Jaggars hoch und trugen sie hinab in seine Kajüte. Der Steuermann half Wiquin auf die Beine. Wiquin glaubte nicht stehen zu können, so schwach fühlte er sich – als hätte jemand alle Kraft aus ihm herausgesaugt. Mit Megils Hilfe schaffte er es bis zur Kapitänskajüte, wo man Jaggar auf sein Lager gebettet hatte. »Er ist nicht tot, Leute«, sagte einer. »Er atmet noch. Holt den Heiler!« Einige stürmten los. Wiquin betrachtete Jaggars bleiches, beinahe weißes Gesicht, in dem kein Leben schien. Er erinnerte sich unwillkürlich an Coris‘ Worte: »Sage das Canlos und auch, daß der Priester wieder im Palast ist.« Kein Zweifel mehr – der Priester war es, der Jaggars
Leben wollte. Aber danach wurde später niemand fragen. Wer oder was immer dieser Priester war, ein Gott oder ein Ungeheuer, aber sicherlich kein Mensch, er hatte eine Schlacht verloren. Aber er würde es wieder versuchen. Er mußte es wieder versuchen, nun, da ein ganzes Schiff seine höllische wahre Gestalt gesehen hatte und wußte, daß er mit Feuer verwundbar war. Sie durften nicht länger hierbleiben! Er wandte sich an den Steuermann. »Können wir auslaufen?« Der nickte. Er fühlte wohl ähnlich. Und er kam sich hilflos vor, nun, da der Kapitän todkrank lag und keine Befehle geben konnte. Auch er ahnte, wenn sie ihn retten wollten, mußten sie handeln. Auf eigene Faust! »Ja«, sagte der Steuermann. »Aber es ist Wahnsinn. Sieh die Wolken. Sie werden gleich den Mond verdunkeln. Dann ist es wieder so dunkel, daß es schwer wird, das Wasser vor dem Bug zu sehen.« »Um so besser«, sagte Wiquin. »Dann werden sie unsere Flucht nicht so rasch bemerken ...« »Wiquin, da draußen liegen über sechs Dutzend Schiffe. Zwischen denen müssen wir durch, abgesehen von der Engstelle der Hafenausfahrt ... Es ist Irrsinn!« »Aber der einzige Weg, nicht wahr, Megil, das hast du auch bereits erkannt?«
Nach einem Augenblick nickte der Steuermann. »Was ist mit den Männern? Sind sie dem Käpt‘n ergeben genug, daß sie dieses Risiko eingehen und sich gegen den König und die Bruderschaft stellen? Und du, Megil, bist du es?« Der Steuermann gab keine Antwort. Er überdachte alles gründlich. Schließlich sagte er: »Wenn du für den Käpt‘n bist, bin ich dein Steuermann.« Sie besiegelten es mit einem Handschlag. »Es wäre zu riskant, die Männer vor die Wahl zu stellen. Die meisten gäben für den Käpt‘n ihren rechten Arm. Aber wir brauchen sie alle. Wenn wir das offene Meer erreichen ...« Megil schüttelte den Kopf. »Wenn wir tatsächlich das offene Meer erreichen, dann ist es noch immer Zeit, sie vor die Wahl zu stellen und sie irgendwo an der Küste abzusetzen.« Wiquin nickte. Es gefiel ihm nicht, aber sie hatten keine andere Wahl. »Die Männer sollen an die Ruder gehen. Wir warten, bis der Heiler an Bord ist und wir wissen, wie es steht.« Megil nickte mit blassem Gesicht. »Wie ist es«, fragte er, »hast du Kraft genug zum Stehen?« Wiquin lächelte ein wenig verzerrt. »Keine Bange, Steuermann.« Dann lauschte er, wie es unter Deck lebendig wurde, als sich die Männer an die Ruder begaben. Er mußte sich eingestehen, daß er nicht viel von Schiffen verstand, aber Megil schien ein fähiger
Mann. Wenn sie erst draußen waren und die Segel gesetzt hatten, dann ging es nach Nordosten. Nach Myra. Dafür würde er sorgen, auch wenn Jaggar Kraft genug erlangte, um das Schiff wieder selbst zu führen. Der Heiler kam an Bord und stellte nur Schwäche fest, keine Verletzung. Jaggar brauchte Ruhe, das war alles. Aber er war dem Tode näher gewesen als einer mit einem Pfeil im Rücken. Eines interessierte den Heiler ganz besonders: Wie der Kapitän in diesen ungewöhnlichen Zustand gekommen war. Aber darüber verlor keiner von der Schiffsbesatzung ein Sterbenswort. Sie wußten ja selbst nicht genau, wie es geschehen war, und der Schreck saß ihnen noch tief in den Gliedern. Keiner fragte, warum sie ausliefen. Sie waren dankbar, daß jemand das Kommando übernommen hatte, und daß sie dieses Wasser verlassen konnten, in dem noch immer dieses unheimliche Wesen lauern mochte. Als der Heiler von Bord ging, übersah Wiquin die drei Mann der Schiffsbesatzung, die aus der Stadt zurückkamen mit einem großen Bündel, das sie unter Megils Anleitung unter Deck schafften. Wiquin atmete auf, als beinahe lautlos die Taue von den Molen fielen und das Schiff mit den leichten
Hafenwellen vom Kai glitt. Unsagbar langsam und sacht schwangen die Ruder aus und tauchten ein. Das Schiff erzitterte leicht. Nichts war in der Schwärze zu sehen. Furcht erfüllte Wiquins Herz. Jeden Augenblick mochten sie gegen eines der Schiffe oder gegen die Felsen prallen – und das würde das Ende bedeuten. Aber der Steuermann kannte den Hafen. Der Kai entschwand, die vereinzelten Lichter der Stadt bewegten sich, als die Schwarze Wellenreiterin sich scheinbar mühelos drehte. Ein dunkler Schatten tauchte kurz neben der Bordwand auf, aber lautlos glitt das Schiff an dem Hindernis vorbei. Als sie das Hafenbecken hinter sich hatten und der schwarze Felsen der Ausfahrt zurückblieb, die Lichter klein und fern wurden – da erst wagte Wiquin aufzuatmen. Aber noch hatten sie ein Stück vor sich, gegen das die Hafenausfahrt ein Spiel schien. Gut achtzig ankernde Galeeren, durch die sie sich einen Weg suchen mußten – mit der gleichen Blindheit. Der Mond kam ein wenig durch eine dünnere Wolkenschicht und enthüllte dunkle Kolosse voraus. Geisterhaft ragten sie hoch, nah und drohend. Einmal geschah es, daß sie knirschend über eine Ankerkette
glitten. Das Schiff neben ihnen kam in Bewegung. Nur eine geschickte Wendung des Steuermanns ließ die Bordwände um Handbreit aneinander vorbeigleiten. Die Ruder scharrten unter Wasser die Galeere entlang und mußten der schlafenden Besatzung wohl den Eindruck vermittelt haben, eine Horde Wassermenschen beginne ihre Hülle aufzubohren. Bange Augenblicke verstrichen, als auf der Galeere Tumult losbrach, aber bevor die Wachen begriffen, was geschah, war die Wellenreiterin in der Finsternis verschwunden. Hinter ihr riefen erregte Stimmen, und Lampen flammten auf. Aber niemand sonst schien sich dem Tumult anzuschließen. Das Meer vor ihnen blieb dunkel. Eine gute Stunde verging, dem Stand des Mondes nach zu schließen. Vorsichtig tasteten die Ruder nach dem Wasser, nach Hindernissen. Mehrmals glaubten sie ein Schiff in unmittelbarer Nähe auszumachen. Dann kam lange nichts mehr. Der Mond stand im letzten Drittel des Firmaments. Ein Wind kam auf, wie von den Göttern gesandt, und vertrieb die Wolken. Vor ihnen war das Meer frei. Sie hatten die Flotte passiert. Der Steuermann war plötzlich neben ihm. »Wir sollten Segel setzen. Wiquin.« Er nickte. »So setzt Segel.«
»Und der Kurs ... Käpt‘n?« Wiquin lächelte. Er fühlte sich plötzlich befreit von allem. Der Boden unter seinen Füßen gehorchte ihm! Er, Wigor aus Deyman, befehligte ein Schiff. »Nach Osten«, sagte er ohne Zögern. »Wir werden Pathos anlaufen und Wasser und Proviant an Bord nehmen.« »Aye. Käpt‘n.« Für die Reise heim, dachte er. Und um diesen Dragon zu warnen. Die Ruder wurden eingezogen. Die Männer liefen an Deck. Bald rollten die Segel auf und fingen den Wind. Das Schiff drehte nach Osten und flog über die dunklen Wellen.
6.
»Den Wein, o König des myranischen Reiches, würde ich nicht trinken.« Es war ein wenig Sarkasmus in der Stimme. »Das Volk hat noch keine Zeit gehabt, nachzudenken über all die neuen Gesetze, die Ihr erlassen habt. Es würde sie mit Euch vergessen. Die Menschen hängen am Alten, wie schlecht und peinvoll es auch gewesen sein mag.« Der Sprecher war ein ältlicher Mann mit einem
grauen Kinnbart und buschigen Brauen. Er war schlank und hochgewachsen und für Myras Straßen ungewöhnlich gekleidet. Eine lange weiße Kutte wies ihn als einen der Weisen aus, jener Gruppe von Männern und Frauen, die sich Söhne von Atlantis nannten. Über der Kutte trug er einen Schulterumhang aus dickem Gewebe: das den Regen abhielt, der seit dem Morgen in grauen Schleiern um Myraniens Hauptstadt wogte. Der, an den die Worte gerichtet waren, war nicht kleiner als die weiße Gestalt, aber ein halbes Leben jünger. Seine jungenhaften Züge spiegelten eine Spur von Besorgnis wider. Er trug Jacke, Beinkleider und Stiefel in dunklem Rot wie jene der myranischen Heerführer. Das Schwert hatte er abgelegt. Es lag auf dem großen marmornen Tisch des Audienzsaales, in dem König Zogor einst seine Daikane empfangen hatte. Die Glut in der gewaltigen steinernen Feuerschale verbreitete angenehme Wärme. Nur in ihrer Nähe war es an solchen regnerischen Tagen in den kalten Steinhallen des myranischen Palastes zu ertragen. »Was meint Ihr damit, Cheron‘?« fragte er und lächelte. »Daß Gift in dem Wein sein könnte?« Er stellte den albernen Kelch ab. Der mit Cheron Angesprochene nickte ernst, während er seinen nassen Umhang ablegte. »Stellt Ihr keine Vorkoster an, König Dragon?«
»Nein, mein lieber Cheron. Ihr Leben wäre so wertvoll wie meines.« Cheron lächelte. »Das sagt Ihr, der Ihr auf dem Thron sitzt, nur einen Schritt von den Göttern entfernt?« »Oh, ich habe nicht vor, darauf sitzen zu bleiben«, erwiderte Dragon. »Ihr wißt, daß Erinnerungen in mir sind, die ich um jeden Preis finden muß. Vielleicht komme ich ihnen näher, je mehr ich von dieser Welt kennenlerne.« Cherons Lächeln vertiefte sich. »Das ist ein langer Weg, wenn Ihr sie erst erobern wollt!« »Es sieht so aus, nicht wahr?« Dragon nickte. Er griff nach dem Kelch, ließ ihn dann aber stehen. »Kommt, es ist ungemütlich hier, und ich bin sicher, die Königin hat Langeweile.« Die beiden Männer verließen die Halle. Halb auf den Treppen zu Amees Gemächern stürmten ihnen zwei Knaben und ein Mädchen entgegen, von denen das Mädchen die Ältere war. »Seid gegrüßt, meine Kinder«, sagte Cheron lächelnd. Während sie gemeinsam nach oben schritten, sagte einer der Knaben: »Wie steht es, Cheron, kommt ihr alle in die Stadt und fangt ihr die Schulen an?« »Ja, Kim. Der Ältestenrat hat es beschlossen.«
»Das ist eine gute Botschaft«, sagte Dragon erfreut. »Ich weiß, wie schmerzlich die Gräber eurer ermordeten Brüder euch mahnen. Aber ihr habt nichts zu befürchten, schon gar nicht, solange Partho mit dem Heer im Osten der Stadt lagert. Aber ihr wißt ebensogut wie ich, daß nicht Myras Bürger euch Übles wollten, sondern daß es einzig und allein Cnossos‘ Werk war und Zogors, der unter seinem Einfluß stand.« Cheron nickte. »Ihr solltet die Kinder nicht von Eurer Seite lassen, König Dragon«, mahnte er. »Ihr habt Feinde in der Stadt, und ihre Stimmen werden lauter. Aber sie werden sich nicht mit dem Reden begnügen. Eure Gesetzesänderungen, so segensreich sie sein mögen, besonders die Aufhebung der Sklaverei, haben eine Reihe von einflußreichen Leuten zwar nicht an den Bettelstab gebracht, aber doch um ihre Einkünfte betrogen. Ein Dolch zwischen die Rippen würde ihr Problem am einfachsten lösen.« Er wandte sich an das Mädchen. »Was denken die Menschen um deinen König, Yina?« »Die seltsamsten Dinge«, erwiderte sie. Ihre Miene verdüsterte sich. »Du hast recht, Cheron. Wenn er durch die Straßen reitet, dann gibt es viele, die ihn lieben oder verehren oder als den Mann schätzen, der Großes vollbracht hat. Aber es gibt einige, die ihn hassen. Ihre Gedanken sind ganz klar. Ich kann sie
lesen wie in einem Buch. Aber ich weiß nicht, wer sie denkt. Ich kann nicht erkennen, zu welchem Gesicht sie gehören.« Cheron nickte. »Ihr seid in Gefahr, König Dragon. In größerer Gefahr, als Ihr wahrhaben wollt. Myra ist alles andere als Euer rechtmäßiger Thron. Und wenn auch vielleicht niemand viel Sympathie für Zogor aufgebracht hat, so haben doch viele von seinem Despotismus Gewinn gehabt. Das alles versucht Ihr fortzufegen.« Er nickte erneut. »Das Volk wird freier atmen unter Eurer gerechten Hand, aber Euch wird man nicht nur Blumen streuen.« Vor Amees Gemach sagte Yina plötzlich: »Es ist jemand im Palast, der an den Tod denkt.« »Wo?« fragte Cheron rasch. Das Mädchen runzelte die Stirn. Sie lauschte angestrengt in sich hinein. »Von unten ... scheinen die Gedanken zu kommen«, sagte sie zögernd. »Maus, woher?« fragte einer der Knaben. »Aus dem Keller?« Sie schüttelte langsam den Kopf. »Nein ... es ... entfernt sich.« Sie eilte zum nächsten Fenster und starrte hinab in den regenverschleierten Park. »Da!« Eine graugekleidete, verhüllte Gestalt lief über den Rasen, sprang auf die Mauer und war im nächsten Augenblick verschwunden. Cheron nickte ernst. »Ihr solltet die Wachen
verstär...« Ein würgender Schrei drang aus der Halle herauf und endete in einer Reihe stöhnender Laute. Danach war Stille. Die Gruppe war erstarrt stehengeblieben. »Das war eine Frau«, sagte Yina. Ihr Gesicht war blaß. »Sie hat aufgehört zu denken ...« »Tot?« fragte Cheron. Das Mädchen nickte. Sie liefen die Treppen hinab in die Halle. Sie hielten an, und ihre Blicke glitten suchend durch den leeren Raum. Kim war es, der die reglose Gestalt zuerst entdeckte. Es war eines der Küchenmädchen, das neben dem marmornen Tisch lag. Ihre Augen waren starr und weit, der Kelch in ihrer Hand – leer. Rote Tropfen von Wein waren an ihren Lippen und auf dem blanken, steinernen Boden. Sie hatte den Wein getrunken, der für den König bestimmt gewesen war. Die Königin lag auf seidenen Kissen im größten ihrer Gemächer und blickte fröstelnd auf den wolkenverhangenen Himmel. »Es sieht so aus, als hättest du ein Land erobert, mein Liebster, über dem der Himmel seine Schleusen niemals schließt.« Sie sah blaß aus. Dragon nickte. »Wir hatten Glück, daß uns solch ein
Regen nicht während des Marsches überraschte.« Dann sagte er lächelnd: »Hast du vergessen, wie trüb und trostlos der Himmel über Urgor war, als der Regen den Raxos schwellen ließ?« »Du hast recht«, sagte Amee und legte ihre weiße Hand auf die Schwellung ihres Leibes. »Aber ich hätte deinem Sohn Sonne gewünscht, wenn er geboren wird.« Dragon setzte sich zu ihr und legte die Arme um sie. »Wie lange hat der Himmel noch Zeit, sich zu besinnen?« »Nicht mehr lange.« Am späten Nachmittag hellte es auf, und Dragon begab sich zum Hafen, um mit den Kapitänen seiner Flotte zu reden. Es wäre einfacher gewesen, sie zur Audienz in den Palast zu bitten, aber Dragon wußte, wie ungern sie ihr Territorium verließen und wie unbehaglich sie sich im Palast fühlten. Es fiel ihnen schwer genug, sich daran zu gewöhnen, daß der König ihnen Aufmerksamkeit zollte. Unter Zogors Regentschaft hatten sie den Königspalast nie betreten, und der König keines seiner Schiffe. Allein mit Kelkari hatten sie zu tun gehabt, der die Flotte befehligte. Yina begleitete Dragon. Auf dem Rücken dieser großen myranischen Pferde wirkte sie noch mehr wie
eine Maus, klein und spitznasig wie sie war. Ein Dutzend Männer der Garde trabten zu beiden Seiten des Königs, der am liebsten allein geritten wäre. Auf halbem Weg hinab zum Hafen begegnete ihnen eine Gruppe der wohlhabenderen Bürger Myras. Die meisten von ihnen hatte Dragon bereits kennengelernt bei den ersten Sitzungen des neu einberufenen Stadtrats, der halb aus verdienten Würdenträgern der Stadt und einflußreichen Händlern und halb aus Mitgliedern von Cherons Gruppe von Weisen gebildet worden war. Einige jedoch waren Dragon noch fremd. Sie alle verneigten sich grüßend, und Dragon hielt an. Einige Worte wurden getauscht, als Yina plötzlich unruhig wurde. »Onkel«, sagte sie warnend, aber Dragon winkte ihr, zu schweigen. Sie fing Gedanken von Ungeduld auf. Die Männer vor ihr erwarteten etwas. Sie waren nervös, ihre Nerven zum Zerreißen gespannt. Sie erkannte plötzlich, daß alles einem Plan angehörte. Sie hielten Dragon absichtlich auf! Sie drängte ihr Pferd an das des Wachkommandanten. »Gorich, sie halten den König absichtlich auf.« Der Kommandant, der von den besonderen Fähigkeiten des Mädchens wußte, fragte: »Bist du sicher, Yina?« »Ja«, sagte sie ängstlich. »Es muß jeden Augenblick
etwas geschehen. Gorich, was können wir tun?« Sie wartete keine Antwort ab, sondern ließ in ihrer Angst ihr Pferd aufbäumen und herumtänzeln, daß die ganze Gruppe in Bewegung kam. Pferde wieherten, die Männer fluchten, und Dragon hatte Mühe, sein plötzlich ebenso aufgeregtes Pferd zu beruhigen. Gorich wurde blaß, als sein Blick etwas am Dach des Hauses vor ihnen erfaßte. Mit einem warnenden Aufschrei lehnte er sich weit aus dem Sättel und stieß den König mit solcher Wucht, daß dieser den Halt in den Steigbügeln verlor und von seinem tänzelnden Pferd fiel. Mehrere Schreckensschreie folgten, als ein gefiederter Schaft wie von Zauberhand aus dem Hals von Yinas Pferd ragte, das hinter dem Dragons gestanden hatte. Während es lautlos zusammenbrach und Yina Mühe hatte, nicht unter ihm begraben zu werden, liefen die Ratsmitglieder in Deckung. Die Soldaten hatten ihre Bögen in den Händen, die Pfeile schußbereit. Aber der heimtückische Schütze war verschwunden. Ein Teil der Wachen drang in den Garten ein und durchsuchte ihn. Die anderen hatten sich schützend um den König und das Mädchen gruppiert. Yinas Pferd starb nach wenigen Augenblicken. »Wir müssen fort hier«, drängte der Kommandant. »Um den Kadaver werden sich meine Männer kümmern, wenn noch etwas von ihm übrig ist, bis wir
zurückkehren!« Dragon nickte und stieg auf. Er nahm das Mädchen zu sich aufs Pferd. Auf Gorichs Kommando kamen die Männer von ihrer Suche zurück. In beschleunigtem Tempo ritt die Gruppe zum Hafen hinab. »Ihr solltet nie ohne eine Waffe ausreiten«, meinte Gorich warnend. »Eines Tages mögen welche sich in den Weg stellen, die auch ein Handgemenge in Kauf nehmen. König Zogor ritt nie ohne einen Harnisch unter dem Wams durch die Straßen. Dieser weisen Vorsichtsmaßnahme solltet Ihr Euch auch nicht verschließen. Gewiß, das Volk sieht zu Euch auf, wie es noch nie zu einem König Myras aufgeblickt hat – ohne Furcht und mit glänzenden Augen. Aber unter tausend von ihnen steht einer mit Haß im Herzen und einem Dolch in der Faust.« Dragon nickte stumm. Er fühlte sich plötzlich einsam unter all den Menschen, die die Straßen des Hafenviertels bevölkerten. Er war trotz allem der Eroberer. So sehr man das Ende von Zogors Gewaltherrschaft begrüßt hatte, so unzufrieden begann man nun mit dem Sieger zu werden, dem Emporkömmling, der sich unterfing, die myranische Gesellschaft umzukrempeln! Dragon lächelte bitter. Der wahre Feind war nicht das Schwert, sondern der Drang der Menschen, an den alten Traditionen festzuhalten. Es würde schwer sein,
diese Ideale des Friedens und der Gewaltlosigkeit in ihre Herzen zu pflanzen, wie sie Romons und Cherons Söhne von Atlantis im Sinn hatten. Und wären nicht manchmal diese Augenblicke einer unverständlichen Erinnerung gewesen, die von größerem zu künden schienen, er hätte gezweifelt, daß jemals etwas anderes als Schwert und Barbarei in dieser Welt von Gewalt triumphieren würden. Seine Gedanken kehrten zu näherliegenden Dingen zurück. »Hast du erkannt, wer den Anschlag plante?« fragte er das Mädchen. »Ich glaube schon, Onkel«, erwiderte sie. »Ein Name war fast in aller Gedanken. Sie fürchteten, daß Melor sie verraten habe, als der Schuß nicht gleich kam. Dieser Melor muß alles vorbereitet haben ...« »Melor«, entfuhr es Dragon verwundert. »Ich kenne ihn. Ich hielt ihn für loyal. Er machte einen guten Eindruck auf mich ...« »Er hat Bergwerke, keine drei Tagesritte von der Stadt. Er braucht die Sklaven, die Euer Gesetz ihm nun verwehrt«, erklärte Gorich, der das Gespräch mit angehört hatte. »Er ist keiner, der offen kämpft. Aber er scheut nicht davor zurück, seine Probleme mit Gewalt zu lösen.« »Melor«, wiederholte Dragon gedankenvoll. Er mußte gründlicher sein in der Wahl der Männer, die er
um sich versammelte. Es gab nur einen Weg, das in der kurzen Zeit zu erreichen. Er würde künftig Yina in die Ratsversammlungen mitnehmen. Das mochte für die Anwesenden befremdend wirken, aber wiederum auch nicht befremdender als ihre ständige Begleitung bei seinen Ausritten. Yina mochte die Spreu vom Weizen scheiden. Sie konnte in den Gedanken jedes einzelnen lesen, wie groß seine Loyalität für den neuen König war, und was er von dessen neuen Gesetzen und Ideen hielt. Beruhigt ritt er weiter und dachte dankbar, was er wohl ohne die Maus anfangen würde. Und ohne die Zwillinge. »Wie geht es Amee?« fragte er impulsiv. Das Mädchen lauschte in sich hinein, um Kontakt mit Kim oder Kano aufzunehmen, die sich im Palast bei der Königin befanden. Endlich hörte Kim ihr »Rufen«. Sie wiederholte Dragons Frage. Kim antwortete. »Sie ist guter Dinge«, beantwortete sie Dragons Frage. »Seit die Sonne scheint.« Die Kapitäne, die sich auf dem einstigen Schiff Kelkaris versammelt hatten, begrüßten den König nicht mit den freundlichsten Mienen. Sie waren loyal, das wußte Dragon. Sie waren es gewohnt, loyal zu sein, gleich welchem König sie gerade dienten. Sie hegten keinen
heimlichen Groll. Sie hatten erkannt, daß man mit diesem König Dragon reden konnte, ohne für eine falsche Bemerkung das Schwert fürchten zu müssen. Ihr mehr oder weniger offener Ärger betraf nur die seltsamen Ideen dieses Königs, der vielleicht zu Lande ein fähiger Krieger und Feldherr sein mochte und zu regieren verstand, aber der wenig Ahnung von der Seefahrt hatte. Sonst hätte er erkennen müssen, daß die Abschaffung der Sklaverei auch der Abschaffung der Seefahrt gleichkam oder wenigstens der Auflösung der Flotte! Denn wer, so argumentierten sie, wenn erst einmal keine Sklaven mehr an den Rudern hingen, wer wollte dann noch rudern? Mit dem Wind allein ließ sich kaum eine Seeschlacht gewinnen! Oder war der König anderer Meinung? Er war. Er meinte, daß freie Ruderer, die Sold dafür bekamen und wie alle anderen als Teil der Schiffsbesatzung galten, mit allen Rechten und Pflichten, sogar noch Besseres leisten würden als geschlagene, erniedrigte Menschen, denen es wenig bedeutete, ob das Schiff, das sie ruderten, in den Sieg oder den Untergang fuhr. »Aber sie werden nicht genug leisten«, wandte einer ein. »Sie werden zu früh erschöpft sein, ein Luxus, den sich künftige feindliche Schiffe nicht leisten werden ...«
»Nein, Kapitän«, widersprach Dragon. »Es gibt keinen besseren Arbeiter als den freien, der sein Werk mit einem Ziel vor Augen vollbringt. Und das will ich euch beweisen. Heute abend noch. Seid ihr bereit zu einem Wettstreit?« Die Kapitäne nickten zögernd. »So laßt zwei Galeeren bereitmachen für eine Wettfahrt und voll bemannen. Eine wird einer aus euren Reihen befehligen, mit Sklaven an den Rudern. Die andere fährt unter meinem Kommando mit freien Männern, denen guter Sold versprochen ist. Wir wollen sehen, welche Kraft ein Schiff schneller bis zu den Leuchtfeuern von Faraun zu treiben vermag. Die Peitsche oder die Freiheit!« Mißtrauisch machten sich die Kapitäne ans Werk. Sie waren überzeugt, daß der König verlieren würde, denn nichts war ein mächtigerer Schöpfer von Kraftreserven als die Peitsche, das hatten ihnen jahrzehntelange Erfahrungen in vielen Schlachten gezeigt. Und nun kam einer, der behauptete, ein freier Mann würde nicht minder gut rudern ohne den Biß des Leders, wenn nicht sogar besser. Aber als die beiden Galeeren schließlich in der Ausgangsstellung am Kai angelegt hatten und die Kommandanten an Bord gingen, da waren sie alle von Eifer und Jagdfieber gepackt. Es war eine gute Übung, und der König würde das seine daraus lernen. Er war
ein fairer Mann, das beeindruckte sie. Um so mehr, als er einige von ihnen bat, zu ihm an Bord zu kommen und sich selbst zu überzeugen, daß alles seinen rechten Lauf nahm. Es wurde rasch dunkel, zu rasch, als daß sie das Rennen noch vor Einbruch der Nacht zu Ende bringen konnten. Deshalb gab Dragon Anweisung, einen Teil der Flotte in den Hafen zu führen und Schiffe entlang der verhältnismäßig schmalen Fahrrinne bis zum Kap von Faraun zu verankern, die mit Fackeln und Lampen und Feuern an der Küste den beiden Wettfahrern den Weg weisen sollten. Es wurde Stunden dauern, bis diese Vorbereitungen getroffen waren, aber das war bedeutungslos. Die Stadt wurde langsam hell vom Schimmer zahlreicher Lampen, solcher, die sich bewegten und an Sänften durch die Straßen schaukelten, solcher, die an den Hauswänden zum Eintritt in die rauchigen Stuben von Schenken riefen, und solcher, die in den Parks der Villen am Fuß des Palastes manch festliches Abendmahl mit dem Zauber einer friedlichen Sommernacht umgaben. Es war eine Nacht für Feste, und die myranische Seele war Festlichkeiten immer zugeneigt. Alle sollten wissen, daß an diesem Abend für die Freiheit gekämpft wurde, deshalb schickte Dragon Boten in die Stadt, die den Bewohnern verkünden
sollten, was im Hafen geschah. Er ließ Wein herbeischaffen und mehrere Rinder schlachten, die am Gelände des Hafens gebraten werden sollten, damit auch die essen und trinken konnten, die an solch einem Abend zu darben pflegten. Langsam, während der Abend fortschritt, verwandelten sich die Stadt und der Hafen in ein gleißendes Meer von funkelnden Lichtern, und immer weiter breiteten sich die Lichter aus – hinaus in die Dunkelheit, mit jeder Galeere, die ankerte. Es war schade, daß Amee nicht dabeisein konnte, dachte Dragon. Aber es würde zuviel für sie sein in ihrem augenblicklichen Zustand. Aber wenn sie aus dem Palast blickte, dann mußte sie diesen imposanten Anblick sehen. Er bat Yina, mit den Zwillingen Kontakt aufzunehmen und solcherart der Königin mitzuteilen, was dieser festliche Glanz bedeutete. Gorich und seine Männer und Yina wichen nicht von Dragons Seite während der Vorbereitungen. Bald war die halbe Stadt am Hafen versammelt. Solch eine Gelegenheit für einen Angriff auf den König würde sich nicht so rasch wieder ergeben. Ohne daß Dragon es bemerkte, ließ Gorich den Ring von Wachen um ihn verdoppeln und verdreifachen. Es würde vielleicht nicht ohne Tote abgehen in diesem Gewühl von Menschen, aber der König würde nicht unter ihnen sein.
7.
Das Schicksal wird nicht immer nur von göttlichen Händen geformt. Während der König der Stadt klarmachte, daß mit seiner Regentschaft keine Trauerzeit begonnen hatte, und daß Friede etwas war, das gefeiert werden mußte – während die Königin in ihren Gemächern lag, umsorgt und geschützt ihrer Niederkunft entgegensah und die ersten Wehen kommen fühlte – gab es jemanden in dem dunklen Teil der myranischen Hauptstadt hinter den Hügeln, wohin der Schein der Fackeln nicht mehr drang, der mit blicklosen Augen in eine buntere Welt jenseits der Wirklichkeit sah und den Augenblick kommen fühlte, auf den sie gewartet hatte. Es war Maratha, die Seherin. Sie lag in einem spärlich eingerichteten Schlafraum eines der am weitesten am Stadtrand gelegenen Häuser, in dem sie sich einquartiert hatte, als kurz nach Amees Ankunft Hotch, der Drache, sie bei Nacht nach Myra brachte. Eine Lampe brannte am anderen Ende des Zimmers, nicht für ihre blinden Augen, sondern für das Mädchen, das jeden Abend kam und der hochschwangeren Frau zur Hand ging. An diesem Abend schickte sie sie fort. Der
Augenblick war nahe, und es durfte keine Zeugen geben. Sie würde alle Kraft brauchen für ihr Vorhaben. Ihre Maske würde fallen. Sie lauschte auf die Schritte des Mädchens, die sich entfernten. Es war still im Haus. Stickig. Die Fenster waren verschlossen und verriegelt wie die Türen. Sie schlug die Decken von ihrem geschwollenen Leib zurück. Schweiß bedeckte ihr blasses Gesicht und ließ das blonde lange Haar zu Strähnen zusammenkleben. Ihre Augen waren dunkel, leer, von einer schwindelnden Tiefe. Ihre Hände umklammerten ihren Bauch – ihr kostbarstes Gut: König Dragons Sohn. Und der künftige Erbe seiner Reiche. Der Erstgezeugte! Der wahre Erbe. Nicht das Balg der Königin! Ihr innerer Blick, ihre Gedanken wurden klarer und griffen hinaus aus dem geschlossenen Raum über halb Myra hinweg. Der Schmerz von Amees Wehen schnitt wie ein scharfes Messer in ihr Bewußtsein und erfüllte sie mit Triumph. Der Augenblick war gekommen. Sie sammelte sich, ihre Arme stemmten sich in die Hüften. Vage Bilder sanken herab auf ihren augenlosen Geist. Amees Körper tat sich auf, gab sein Innerstes preis, das zuckende neue Leben, das mit kräftigen Wehen ins Freie drängte. Gespannt beobachtete sie die
Geburt von Dragons anderem Sohn. Kräfte in ihr, die weit über das menschliche Maß hinausreichten, ähnlich jenen, mit denen sie ihre Gestalt zu wandeln vermochte, machten sich ans Werk, ihr eigenes Kind zu formen nach dem genauen Ebenbild von Amees Geborenem. Das brauchte eine lange Zeit, währenddessen Amees Knabe gewaschen und gesalbt wurde und Kim und Kano aufgeregt versuchten, die Maus zu erreichen, um ihr mitzuteilen, daß Dragon einen Sohn hatte – Atlantor. Maratha brauchte all ihre Kraft. Langsam verfiel ihr glattes Gesicht, wurde faltig, ausgelaugt von dem Übermaß an Lebenskraft, den der formende Vorgang verschlang. Ihre Haare wurden grau und schließlich weiß und das Mädchen wäre sicherlich erschrocken, hätte sie die Greisin erblickt, die erschöpft auf dem Bett lag und sich nun selbst unter den ersten Wehen zu krümmen begann. Aber ihre seltsamen Kräfte griffen helfend ein, und Dragons zweiter Sohn wurde ohne Schmerzen geboren. Die Frau sank erschöpft zurück. Der erste Schritt war getan. Zur gleichen Zeit stand Dragon unter Deck seines Schiffes und sprach zu den Männern an den Rudern. Ihre Ketten waren gelöst worden. Bisher hatten die
Kapitäne sich standhaft geweigert, die Rudersklaven zu entlassen. Dragon erklärte ihnen, worum es ging, und nach anfänglichem Mißtrauen, wie es jeder gepeinigten Kreatur eigen ist, begannen sie zu begreifen, was es war, das der neue König ihnen da anbot. Ein unbeschreiblicher Tumult entstand, den einer der Aufseher grob mit der Peitsche beenden wollte. Aber Dragon wies ihn zurecht, daß er im Augenblick zu freien Männern rede. Er entließ den Aufseher mit dem unbestimmten Gefühl, einen neuen Feind gewonnen zu haben. Dafür aber sechzig begeisterte Freunde, die für ihren König durchs Feuer gehen würden. Er begann das Verhältnis zu begreifen, von dem Gorich gesprochen hatte: daß auf tausend begeisterte auch eine haßerfüllte Stimme kam. Aber es schien ihm, daß Gorich bei weitem untertrieben hatte. Er mußte künftig sehr vorsichtig sein. Die Sklaverei, das hatte er in den wenigen Tagen seiner Regentschaft in Myra erkannt, war nicht nur von wirtschaftlicher Bedeutung – sie war eine Lebensanschauung bei diesen Menschen. Ihre Aufhebung bedeutete einen tiefen Eingriff in die myranische Seele. Er durfte jene nicht vorschnell verurteilen, die ihm nach dem Leben trachteten. Er mußte sie verstehen und zu überzeugen versuchen. Wie heute ...
Unter dem donnernden Beifall der Menge glitten die Schiffe in die Mitte des Hafens hinaus. Fackelzeichen verkündeten die Bereitschaft zum Start. Die Riemen knarrten. Beider Schiffe Ruder tauchten gleichzeitig ins Wasser, ließen es aufschäumen. Die Galeeren ruckten vorwärts. Der Rhythmus der Takttrommler wurde rascher. Einer spornte den anderen an. Dragons Männer legten sich in die Riemen mit der Kraft einer wilden Hoffnung. Die Sklaven des zweiten Schiffes krümmten ihren Rücken über das Ruder in Pein und Furcht. So fuhren sie lange nebeneinander her den von Fackeln und Feuern erleuchteten Meeresarm entlang. Männer, Leder und Holz begannen zu ächzen. Schweiß floß über die gepeitschten Rücken ebenso wie über jene, die einen Schauer vom Vorgefühl der Freiheit zu verspüren glaubten mit jedem Ruderzug, den sie taten. Dragon beobachtete das andere Schiff mit geballten Fäusten. Es führte um eine halbe Länge, und gut die halbe Strecke lag bereits hinter ihnen. War der Schmerz wahrhaftig der bessere Antreiber? Er lief unter Deck, sprang auf den schmalen Steg zwischen die rudernden Männer. »Vorwärts!« rief er. »Das ist die entscheidendste Schlacht eures Lebens. Es mag stärkere Feinde geben, die uns eines Tages auf See begegnen, aber keine schmählicheren als jene, denen ihr jetzt gegenübersteht. Es ist das ganze myranische
Reich, das von jetzt an genauso auf euren Schultern liegt wie auf denen der Männer auf dem Deck. Ihr habt den besten Steuermann, das beste Schiff und den besten ...« »König!« keuchte einer. Dragon grinste. »Was wollt ihr dann noch? Trommler! Ist dir nicht klar, daß die Zukunft des Reiches von deinem Schlag abhängt?« »Doch, mein König!« »Dann nimm den Eindruck von den Männern, daß dies eine Vergnügungsfahrt ist. Oder bist du wie die Kapitäne der Meinung, daß man Sklaven braucht, um eine Schlacht zu gewinnen?« »Nein, mein König!« beeilte sich der Trommler hastig zu versichern. Sein Schlag wurde kräftiger und rascher, unmerklich zuerst, dann fühlbar, als die Ruderer mithielten. »Jaaahhh«, entfuhr es Dragon wie ein Seufzer. Seine Faust schlug den Takt gegen seinen Schenkel. Er lächelte, als er mehrere der Kapitäne auf der Unterdecktreppe stehen sah. Es fiel ihnen noch immer schwer, zu begreifen, was es war, das diese Männer trieb. Sie kannten nur die Knute. Und nun kam einer, der diese Sklaven aus ihren Ketten schlüpfen ließ und mit Worten anfeuerte, daß sie ruderten wie die Teufel. Es würde vielleicht Jahre währen, bis sie sich daran gewöhnt hatten, bis es zu ihrer Anschauung wurde.
Aber sie waren ehrlich genug, die Anerkennung zu zeigen. Hier war ein Mann, der etwas Unglaubliches vollbrachte. Wahrlich, ein würdiger König. »Beinahe gleich schnell«, sagte einer, als Dragon an Deck ging, um nach dem anderen Schiff zu sehen. »Schneller«, berichtigte Dragon. »Wir holen auf, seht ihr? Wir werden sie um zwei Längen schlagen!« »Verzeiht, mein König. Glaubt Ihr nicht, daß Ihr übertreibt?« »Nein. In unseren Männern steckt noch jene Kraft, die diese armen Teufel dort drüben durch den Schmerz verlieren.« Die Kapitäne schwiegen nachdenklich und blieben stumm, als des Königs Schiff überholte und sich von seinem Gegner löste. Die Leuchtfeuer der Felsen von Faraun strahlten in der Finsternis wie Juwelen, halb am Firmament. Stöhnen und das Klatschen von Leder blieb hinter ihnen zurück. Der Trommelschlag wurde noch um eine Spur rascher, wie es auch der Herzschlag der Männer nun sein mußte. Das Schiff flog über die glatte See. Der Abstand vergrößerte sich. Die Felsen kamen in Sicht. Es gab keinen Zweifel mehr am Sieg. Einer der Kapitäne sagte: »König, hältst du uns nun für schlechte Kapitäne?« »Nein«, rief Dragon. »Denn ihr wißt eure Schiffe gut zu führen. Lernt auch die Menschen zu führen, und es wird niemanden auf dem Großen Meer geben, der uns
besiegen könnte.« Auf Kommando wurden die Ruder eingezogen. Das Schiff lief ins Ziel. Der Anker klatschte ins Wasser. Das verfolgende Schiff hatte bereits aufgegeben. Dragon ging unter Deck. Sein Blick flog anerkennend über die schwitzenden, erschöpften, schwieligen, bärtigen, ausgemergelten Gestalten. »Männer Myras!« rief er triumphierend. »Ihr habt einen großen Sieg errungen. Ihr seid frei!« Wie ein Orkan brach es los. Vergessen waren Erschöpfung und Müdigkeit. »Geht an Deck«, sagte Dragon. »Sie sollen es alle sehen!« Es wurde zu einem Freudentanz. »Nun, wie ist es?« fragte Dragon die Kapitäne. »Seid ihr auf meiner Seite?« Einer nickte. Aus ihm sprach die Unsicherheit aller. »Ihr habt unzweifellos überzeugt, König Dragon. Aber es wird eine große Schwächung bedeuten, die Rudersklaven freizugeben. Beinahe alle sind Gefangene aus König Zogors Eroberungszügen. Einmal frei, werden sie nicht bleiben ...« »Glaubt Ihr? Ich sage Euch, zehn myranische Ruderer, deren Herz für Myra schlägt, wiegen mehr als hundert Sklaven, für die Ihr wiederum ein Dutzend myranische Aufseher brauchtet. Gebt ihnen das Gefühl, dazuzugehören, und die wenigsten werden gehen.
Viele wissen nichts anderes, als zu rudern, sie werden es für guten Sold weiter tun.« Er sah die Kapitäne fest an. »Ich brauche eine Flotte, auf die ich mich verlassen kann, eine, die die Küsten zu schützen vermag, eine, mit der ich selbst Myra wiedererobern könnte, wenn es meiner Hand entglitte. Wollt ihr mir das sein? Ein starker, loyaler Arm, der meinen Vorstellungen von Frieden auch den nötigen Nachdruck verleiht, damit jenen, deren Fluch es ist, am Krieg zu gewinnen, ein Zaum angelegt wird?« Die Männer blickten ihren König an, einer, der so anders war als alle, die den myranischen Thron bisher innegehabt hatten. Zustimmung war in ihren Blicken. Es fiel ihnen schwer, sie in Worte zu fassen. Er war ein Mann der Tat. Einer mit einem Kopf voller Ideen. Einer mit Überzeugungskraft! Unter seiner Herrschaft mochte Myra zu einem Reich werden, wie es noch nicht viele gegeben hatte. Und sie sollten sein Arm sein! Bei den Göttern, das wollten sie! »Wir sind dein Arm. König«, sagte einer, und die anderen nickten beifällig. »Selbst wenn es Myra wäre, das wir für dich erobern müßten!« Dragon nickte lächelnd. Das war sein zweiter Sieg über Myra. Ein Teil der Vergangenheit war besiegt. Die Männer ließen sich überzeugen. Sie ließen sich aus ihren Traditionen reißen. Sie ließen sich für die Zukunft begeistern. Es lag an Cherons Brüdern, diese
Zukunft vertraut zu machen. »Onkel! Onkel!« Yinas Rufe rissen Dragon aus seinen Gedanken. Die Schiffe hatten bereits gewendet und befanden sich auf der Rückfahrt in den Hafen, wo es ein Fest geben würde, wie Myra es noch nie erlebt hatte. Er fing das Mädchen auf, das ihm über eine Rolle Taue entgegengestolpert kam. Aufregung rötete ihr sonst so blasses Gesicht. »Maus, Maus«, tadelte er. »Du wirst dir das Genick brechen.« »Onkel«, schnaufte sie. Ihre Augen glänzten. »Eine Botschaft von Kim. Du hast einen Sohn.« Amee lächelte glücklich. »Ich bin so froh, daß es ein Sohn ist. Dragon«, flüsterte sie mit dem Blick auf das schlafende Kind. »Man sieht, wie verschieden die Werte sind«, erwiderte Dragon. »Die Katmahzari dächten anders darüber.« »In Urgor wäre es vielleicht gleichgültig«, sagte Amee. »Aber der König Myras braucht einen Sohn.« »Atlantor – Atlantis! Wenn ich nur endlich wüßte, was es bedeutet«, murmelte er. Er betrachtete das Neugeborene, das seinen Blick zu fühlen schien, denn es erwachte. Und begann zu schreien.
Die Königin nahm den Kleinen aus seinem Bettchen und hielt ihn hoch, wobei er sich zusehends beruhigte. »Er hat ein Mal«, sagte sie plötzlich und deutete auf den rechten Fuß des Kindes, an dem ein brauner Fleck sichtbar war, zu klein, um sofort aufzufallen. Dragon grinste. »Bist du sicher, daß es ein Mal ist? Es sieht so braun aus ...« »Beleidige den Erben Myraniens nicht«, meinte Amee lächelnd und legte den Kleinen in das Bettchen zurück. Dragon trat zum Fenster und blickte hinab auf den funkelnden Hafen. »Ein großer Tag«, murmelte er. »Wir sollten es auch feiern«, seufzte Amee, ihre meergrünen Augen halb geschlossen. »Morgen. Oder übermorgen, wenn ich mich kräftiger fühle. Laß Partho kommen. Ich vermisse ihn. Das Heer kommt ein paar Tage ohne ihn aus. Wir und Iwa und die Kinder ... und Cheron ...« Ihre Stimme wurde schläfrig. »Wir sollten es wirklich feiern ... daß ich mich hier zu Hause zu fühlen beginne ... Was in Urgor wohl jetzt geschieht ...?« »Wir werden es bald wissen, Amee. Boten sind unterwegs. In einigen Wochen werden die Daikane alle hier versammelt sein – zum zweitenmal in diesem Jahr. Vielleicht ist es ein großer Schritt voran zu dem Ziel, das Romon uns gezeigt hat ...« Der myranische Riese, dachte er, so nannten sie dieses Reich. Unbezwinglich. Unbeugsam. Grausam!
Und wir haben es bezwungen. Er betrachtete Amees entspanntes Gesicht. Sie schlief, das Kind neben ihr. Gesänge trug der Wind halb verweht vom Hafen herauf. Der myranische Riese geisterte durch seine Gedanken. Plötzlich war ein anderes Bild vor seinen Augen. Er sah einen Riesen – hilflos und gefesselt. Ein Gesicht tauchte auf aus einer dunklen Flüssigkeit, verzerrt in Qual, den Mund weit offen zum Schrei ... Unwillkürlich zuckte Dragon zurück, so nah und wirklichkeitsgetreu war das Bild. Entsetzen schnürte ihm die Kehle zu. Es verblaßte, und Dragon sah wieder den stillen Raum um sich, die beruhigende Wirklichkeit. War das eine Erinnerung gewesen? Gab es solch grauenvolle Dinge in seiner Vergangenheit? Es beschäftigte ihn lange in dieser Nacht, selbst im Schlaf noch.+ 8.
Die Schwarze Wellenreiterin lag vor Phelos, einem kleinen Fischerdorf an der Küste der Insel Pathos, vor Anker. Wiquin beobachtete die Seeleute, die volle Wasserfässer an Bord brachten und Proviantkisten. Megil überwachte die Verladung. Zwölf Männer der Besatzung hatten sich dafür entschieden, das Schiff hier zu verlassen. Sie besaßen Familien auf der
Schlangeninsel, zu denen sie zurückkehren wollten. Das wäre auf der Wellenreiterin unter den gegebenen Umständen für die nächste Zeit nicht möglich gewesen. Die übrigen Männer hielten zum Kapitän, der noch immer schwach und ohne Bewußtsein in seiner Kajüte lag. Aber er lebte noch, und er schien etwas von der Zähigkeit des Unkrauts an sich zu haben. Auch Wiquin – er wagte noch immer nicht, seinen wahren Namen vor der Besatzung bekanntzugeben, obwohl sie sich ihm willig unterstellte – fühlte sich noch schwach. Der Gedanke an die Berührung Serphats ließ ihn schaudern. Vielleicht war er einer der Fischmenschen, von denen die Seefahrer berichteten. Nur sie konnten solch kaltes Blut in den Adern haben. Aber dann dachte er an die gallertartige Masse, die über das Deck mehr geronnen als gekrochen war, und sie hatte nichts mit Blut oder Knochen gemein gehabt. Das Ausscheiden der zwölf Besatzungsmitglieder bereitete ihm einigen Kummer. Sechzehn Mann, die sie nun waren, würden das Schiff sicher nicht in jeder Situation voll in der Gewalt haben. Auch Megil sah mißmutig drein. Aber kurz vor dem Ankerlichten kamen schließlich drei Matrosen aus Phelos an Bord, die anheuern wollten, als sie hörten, daß die Wellenreiterin nach Myra wollte. Wiquin heuerte sie an. Der Steuermann schien
wenig erbaut darüber und die Mannschaft nicht minder. Aber sie sahen schließlich ein, daß wenigstens einige der Lücken gefüllt werden mußten. Sie nahmen Kurs nach Norden, in der Hoffnung, daß der günstige Wind anhielt und kein Sturm aufkam, der der unzureichenden Besatzung schwer zu schaffen gemacht hätte. An dem Abend nach ihrer Abfahrt von Phelos vernahm Wiquin plötzlich Geschrei und Gezeter von den Laderäumen her. Er ging der Sache nach und fand zu seiner Überraschung vier der Besatzungsmitglieder um ein Mädchen geschart, das sich mit Händen und Füßen gegen die plumpen Vertraulichkeiten der Seeleute wehrte. Sie schreckten auf, als er eintrat. Das Mädchen sah sich wütend um. Sie war drauf und dran, auf einen der Männer loszugehen. Der Steuermann kam hinter Wiquin die Treppe herab. Er winkte den Männern, zu verschwinden, was sie schleunigst taten, bevor Wiquin sich ihre Gesichter allzu deutlich einprägte. »Wer ist sie?« Der Steuermann zuckte die Schultern. »Sie sagt ihren Namen nicht.« »Aber wie kommt sie an Bord?« »Der Käpt‘n ließ sie an Bord bringen. Die drei Männer, die er beauftragte, sagten, sie hätten sie aus
dem Palast, und sie garantierten dafür, daß sie eine Menge wert sei ...« »Aus dem Palast?« fragte Wiquin verwundert. »Sie haben sie entführt?« »Sieht so aus.« »Wozu?« »Das weiß der Käpt‘n. Aber den können wir nicht fragen. Bis es soweit ist, bleibt sie am besten an Bord.« Wiquin schüttelte noch immer verwundert den Kopf. »Wer sind die drei Männer? Wissen sie nicht, was der Käpt‘n im Sinn hatte?« »Das wußten sie nicht.« »Ich muß mit ihnen reden. Vielleicht ...« Der Steuermann nickte bedauernd. »Sie sind in Phelos mit den anderen von Bord gegangen.« »Warum hast du mir nicht früher davon Meldung gemacht?« fragte Wiquin ungehalten. Megil zuckte die Schultern. »Es bestand keine Veranlassung. Ich dachte, sobald der Käpt‘n wieder auf dem Damm ist, wird er schon wissen, was er mit ihr wollte. Ich hatte den Eindruck, daß du nichts davon wissen solltest ...« Wiquin nickte langsam. »Da magst du nicht unrecht haben. Er hat kein Wort erwähnt ...« Er betrachtete das Mädchen. Sie hatte schulterlanges, dunkles Haar, dunkle Augen, einen
vollen, roten Mund. Sie erwiderte seinen Blick trotzig und abwehrbereit, als wolle sie sagen: »Ich würde an deiner Stelle nichts anfassen!« Er grinste bei dem Gedanken. Da war allerhand zum Anfassen – gut entwickelte Brüste unter einem am Vortag wohl noch weißen Hemd. Auch der knöchellange rote Rock zeigte Spuren einiger Auseinandersetzungen. »Wir können sie nicht im Laderaum eingeschlossen lassen«, meinte Wiquin entschieden. »Wir haben Platz genug in den Mannschaftsräumen, um sie von der Mannschaft fernzuhalten. Sie braucht jedenfalls frische Luft und Wasser. Und sie kann sich vielleicht um den Käpt‘n kümmern ...« Der Steuermann sah ihn zweifelnd an. Wiquin griff nach dem Arm des Mädchens. Sie wich zurück. »Na, komm schon«, sagte er geduldig. »Du willst doch nicht wieder hier eingeschlossen werden, oder?« Sie schritt an ihm vorbei hinter dem Steuermann die Treppe hoch. Auf Dock sah sie sich wachsam um. Auch die Männer ließen kein Auge von ihr. Schließlich ging sie mit stolz erhobenem Kopf voran in den unbewohnten Teil der Mannschaftsräume. Sie schloß sich ein, bevor Wiquin irgendwelche Fragen an sie richten konnte. Schulterzuckend kam er wieder an Deck und beauftragte einen Bootsmann, ihr Wasser
zum Waschen und etwas zu essen zu bringen, aber die Finger von ihr zu lassen. Der stellte alles vor die verschlossene Tür und kam wieder hoch. Er wollte offenbar möglichst wenig mit der Sache zu tun haben. Sie kam die ganze Nacht nicht mehr heraus, aber Wasser und Essen waren verschwunden. Während der Nacht frischte der Wind auf, und die Männer hatten bis zum Morgen zu tun, das Schiff auf Kurs zu halten. Der hohe Wellengang fegte das Schiff wie eine Nußschale durch die nachtschwarze Gischt. Wiquin, der alles andere als ein Seefahrer war, verbrachte den größten Teil der Zeit an der Reling und kotzte sich die Seele aus dem Leib. Als die Morgendämmerung kam, fiel er zu Tode erschöpft in seine Koje, wo ihn der Schlaf von der Übelkeit erlöste. Am Morgen hatte sich die See noch immer nicht wesentlich beruhigt. Wiquin erwachte vollkommen gerädert. Der Steuermann versuchte ihm klarzumachen, daß sie ziemlich weit vom Kurs abgekommen seien, und zwar in westlicher Richtung. Wiquin war das in seinem Zustand völlig gleichgültig. Er war auf dem Weg zur Reling, als er das Mädchen an Deck bemerkte. Sie sah nicht viel besser aus als er selbst. Sein Mitleid ließ ihn seine Übelkeit vorübergehend vergessen. Er setzte sich zu ihr, als er sah, daß sie weinte. Er legte den Arm um ihre
Schultern. Sie wehrte ihn nicht ab, und er zog sie an sich. So saßen sie eine Weile, bis die Wolken aufbrachen und die Sonne herauskam. Der steife Wind ließ nach. Die See wurde ruhiger. Das Grinsen der Mannschaft störte Wiquin wenig. Es war nicht das erstemal, daß er es erlebte. Auch auf der Jagd nach Jaggar war er mehrfach seekrank gewesen. Hier als stellvertretender Kapitän allerdings, gestand er sich ein, hatte er keinen besonders vorbildlichen Eindruck hinterlassen. Aber er wußte auch, daß das Grinsen der Männer gutmütiger Natur war. Sie achteten ihn für den Mut, den er in Candis bewiesen hatte. Solange der Käpt‘n ausfiel, waren er und der Steuermann für sie der Käpt‘n. Die Übelkeit schwand, je ruhiger das Wasser wurde. Das Mädchen fror, und er nahm sie mit in die Kapitänskajüte, um nach Jaggar zu sehen. Er bat den Steuermann, Schiffskleider für sie zu beschaffen. Wenn Wiquin erwartet hatte, daß das Mädchen den Kapitän kannte, sah er sich nun enttäuscht. Sie betrachtete ihn zwar interessiert, aber das war alles. Einer der Männer brachte die Kleider. Während das Mädchen sich umzog, begab sich Wiquin in die Kombüse. Er verspürte mörderischen Hunger, was nach der gründlichen Magenentleerung kein Wunder war. Mit Woqua, einem aromatischen, heißen
Candieser Getränk, Trockenbrot und Räucherfleisch beladen, gelang es ihm schließlich, bei dem Mädchen einen so guten Eindruck zu erwecken, daß sie seine Fragen zu beantworten begann und nach und nach redseliger wurde. Sie hieß Selaqua, aber alle nannten sie Sela, und er sollte es ruhig auch tun. Sie gestand auch ein, daß sie über zwanzig Sommer zählte, aber sie sah wesentlich jünger aus, und Wiquin war nicht bereit, alles zu glauben. Er freute sich, daß sie auftaute und nach einer Weile sogar wieder lachte. Er fand sie sehr schön. Sie wollte wissen, wer sie an Bord gebracht hätte und warum. Wiquin erklärte ihr, daß er das nicht wüßte, daß es aber etwas mit dem Kapitän zu tun habe. Er sagte ihr auch, daß die Männer, die sie gebracht hatten, nicht mehr hier waren. Dann versuchte er etwas über sie zu erfahren, und sie wurde sehr wortkarg. Als er sah, daß nichts aus ihr herauszubringen war, wechselte er das Thema, was sie sofort wieder gesprächiger werden ließ. Als sie allerdings erfuhr, daß es wohl sehr lange dauern würde, bis man sie zurückbringen könnte, nickte sie düster, als hätte sie sich bereits damit abgefunden. Am Nachmittag gerieten sie erneut in einen schweren Sturm, der sie weiter nach Nordwesten trieb. Erschöpfung machte sich bei den Männern bemerkbar
und Mutlosigkeit, die wohl auch damit zusammenhing, daß Kapitän Jaggar noch immer kein Lebenszeichen von sich gab. Es war nun der zweite Tag auf See, und selbst das Heulen der Elemente vermochte ihn nicht zu wecken. Wiquin selbst empfand immer wieder ein leises Grauen, wenn er die bleiche Gestalt anblickte. Einige Augenblicke länger unter dem Griff der eisigen Hand, und ihm wäre ein gleiches Schicksal beschieden gewesen. Erst in der Abenddämmerung klärte es auf, aber eine steife Brise hielt den Wellengang ungemütlich hoch. Dennoch wagte ein Mann sich auf den Mast, weil sie befürchteten, in die gefährlichen Riffe der Fischerinseln zu treiben. Der Mann sichtete Land, an dem sie vorbeitrieben. Es mußte sich um eine größere Insel handeln. Bald sahen sie Berge, wenn sie aus den Wellentälern hochtauchten. Landen war unmöglich. Das Gebirge schien als eine Art Windschatten zu wirken, denn das Wasser wurde merklich ruhiger, als sie die Insel passiert hatten. Aber die Wellen waren noch immer hoch genug, um Wiquins Appetit weitgehend lahmzulegen. Dann meldete der Ausguck ein Schiff, das auf sie zukam und sie ebenfalls bereits gesichtet haben mußte. Das verursachte einige Aufregung. Diese Gewässer waren bekannt für allerlei unerfreuliche Dinge, die sich
hier abspielen sollten. Die Männer fingerten unruhig an ihren Waffen. Die meisten besaßen nur Dolche oder Entermesser, abgesehen von ein paar Äxten. Der Steuermann öffnete die Waffenkammer des Schiffes, in der mehrere gekrümmte Klingen und eine Reihe großer Bögen hingen. Er verteilte die Schwerter. Nur zwei der Männer wußten mit einem Bogen umzugehen, einer davon war Wiquin. Als sie wieder an Deck kamen, war das fremde Schiff schon ziemlich nahe. Noch war nicht zu erkennen, ob es freundliche oder böse Absichten hatte. Wiquin war klar, daß sie keine großen Chancen hatten, wenn die Absichten des anderen feindlich waren. Sie konnten keinerlei Flagge an dem Schiff entdecken, und das stimmte sie noch mißtrauischer. Zudem war das fremde Schiff schneller, da es trotz des heftigen Windes mit beinahe vollen Segeln fuhr. Es kam heran und schlug zu. Ein Hagel von Pfeilen bohrte sich in die Planken, in den Mast und das Steuerhaus. Niemand wurde verletzt, aber während die Männer der Wellenreiterin Deckung suchten, kamen die ersten Enterhaken in hohem Bogen über die Wellen. Der Angreifer mußte verdammt waghalsig sein, wenn er es bei diesem Seegang versuchte.
Wiquin schob das Mädchen in Deckung und suchte sich ein Ziel auf dem auf und ab tanzendem Schiff. Er entdeckte ein lohnendes: ein Bootsmann, der einen weiteren Enterhaken schwang. Der Pfeil traf ihn in die Brust. Er fiel samt dem Haken. Auch der zweite Schütze fand ein Ziel. Ein neuer Hagel von Pfeilen ergoß sich über das Deck. Einer der Männer schrie auf, aber er war nicht schwer verletzt. Es war unmöglich, das Deck zu überqueren, um die Entertaue loszuschneiden. Handbreit um Handbreit zog sich das Schiff daran näher an die Wellenreiterin. Die hohen Wellen donnerten zwischen den Bordwänden. Wenn der Abstand gering genug war, würden die Männer springen. Verzweifelt versuchte Megil den Kurs zu ändern. Doch der andere Steuermann war geschickt. Er machte jedes Manöver mit. Auf beiden Seiten hatten die Männer Deckung gesucht vor dem gefiederten Tod. Wiquin wartete mit gespanntem Bogen. Als er sah, daß der erste der Gegner sich zum Sprung bereit machte, schoß er. Er traf nicht, aber der andere sprang in die Deckung zurück. Dann brachte ein Manöver die Schiffe für Augenblicke so nah, daß die Bordwände einander fast berührten. Ein Dutzend Männer
sprangen, landeten auf dem Deck der Wellenreiterin und stürzten auf die Besatzung los. Wiquin schoß und sah einen fallen. Für einen zweiten Pfeil blieb keine Zeit. Er bekam gerade noch seine Klinge blank. Zwei kamen in seine Richtung. Undeutlich hörte er die Schreie der Männer, als sie aufeinander loshieben, dann parierte er, wich der zweiten Klinge aus und stach zu. Der erste Angreifer fiel, der zweite torkelte an ihm vorbei, den Kajütenniedergang hinab, wo das Mädchen stand. Sie fing ihn mitten im Fall ab. Als sie sich wieder von ihm löste, sah er einen blutigen Dolch in ihrer Faust. Sie lächelte ihm verzerrt zu. Wiquin hob seinen toten Gegner wie einen Schild vor sich und wagte sich aus der Deckung. Ein halbes Dutzend Pfeile zuckten um ihn in den Boden, zwei trafen den Toten. Dann hatte er die Reling erreicht und hieb wie ein Berserker auf die Entertaue ein. Zwei gelang es ihm zu kappen. Ein drittes riß nach dem ersten Schlag, als die Schiffe auseinanderzugleiten begannen. Ein Pfeil hieb ihm die Klinge aus der Hand. Instinktiv ließ er sich fallen. Zwei weitere Haken hatten sich innerhalb der Reling verkeilt. Ihre Taue konnte er mit dem Dolch kappen. Vorsichtig begann er darauf zuzukriechen. Dabei konnte er das ganze Deck übersehen. Überall kämpften Männer. Mehr als zwei
Dutzend der Gegner mußte es gelungen sein zu entern. Er sah drei Angreifer das Steuerhaus stürmen. Megil taumelte heraus, die Hände an den Unterleib gepreßt, und stürzte. Zwei von den Angreifern erschienen wieder, sahen sich um. Sie entdeckten das Mädchen. Erstarrt beobachtete Wiquin, wie sie von zwei Seiten auf sie zukamen. Ihr Gesicht zeigte keine Spur von Furcht. Sie hielt den Dolch scheinbar gesenkt in der Rechten. Wiquin wußte, daß es für ihn zu spät war, ihr zu helfen. Er konnte sie nicht mehr rechtzeitig erreichen. Dennoch sprang er auf, kappte das letzte der Taue mit einem Hieb seines Messers und hastete über das Deck. Pfeile bohrten sich mit dumpfem Ton in die Planken. Wie durch ein Wunder blieb er unverletzt. Im Lauf sah er verblüfft, daß das Mädchen nicht auf den Angriff wartete, sondern selber angriff. Sie sprang, und ihre Hand zuckte hoch. Der Angreifer vor ihr krümmte sich. Der zweite faßte sie an den Haaren und riß sie herum. Ihre Hände waren leer. Der Mann hob sein Messer. Aus, dachte Wiquin von Schmerz und Grimm erfüllt. Aber noch während er es dachte, geschah etwas, das den Mann sein Opfer loslassen ließ. Die Kajütentür flog krachend auf. Kapitän Jaggar stand in ihr – noch immer weiß wie ein Toter, aber in seinen Augen war ein wilder Grimm. Er hatte sein Schwert in der Rechten, sein Entermesser in der
Linken. Und er zögerte nicht. Er stieß dem Mann beides in die Brust. Dann taumelte er auf Deck, unbekümmert um die Geschosse und offenbar noch schwach auf den Beinen. Er sah Wiquin und rief etwas, das dieser in dem Tosen und Heulen nicht verstehen konnte. Er lief ihm entgegen. »Rücken an Rücken, Junge!« Die Angreifer entdeckten die beiden mitten auf dem Deck. Vier umringten sie, und Wiquin fühlte sich fast an die alten Zeiten erinnert. Er hielt sich mit dem Rücken gegen den Käpt‘n und wehrte den ersten Angriff seiner beiden Gegner ab. Jaggar fluchte. Im nächsten Augenblick fühlte Wiquin einen brennenden Schmerz am Oberarm. Sein Gegner zog die Klinge mit einem Grinsen zurück. Sie war rot. Wütend sprang Wiquin hinterher, stieß mit seinem Schwert zu, fühlte es abgleiten und fand ein Ziel mit dem Dolch, der bis ans Heft eindrang. Hastig wandte er sich um und erstarrte beinahe vor Schreck. Er hatte sich verleiten lassen. Jaggars Rücken freizugeben. Sein zweiter Gegner stach zu. Aber etwas lenkte die Klinge ab. Sela! Sie hatte eines der gegnerischen Krummschwerter aufgehoben und Wiquins Stelle eingenommen. Dann
war Wiquin heran und brachte den Angreifer zu Fall. Plötzlich war alles vorüber. Der letzte der Gegner fiel. Das feindliche Schiff verschwand hinter den Wellenbergen wie ein Spuk. Einen Augenblick schien alles unwirklich nur die Toten an Deck sagten eine andere Wahrheit.
9. Die Verluste der Wellenreiterin, obwohl vergleichsweise gering, waren schwerwiegend: Megil, der Steuermann, und vier Bootsleute. Damit war die Besatzung auf vierzehn Mann geschrumpft, wenn man den frisch erwachten und mit Begeisterung begrüßten Jaggar dazurechnete. Aber Jaggar war schwach wie ein Neugeborenes. Der Kampf hatte ihn erschöpft. Sela kümmerte sich um ihn, während die Mannschaft die Toten ins Wasser warf und die Waffen aufsammelte. Wer ihr Gegner gewesen war, wußten sie nicht. Aber daß sie ihm die Lust am weiteren Angriff genommen hatten, erfüllte sie mit Genugtuung, auch wenn es nun Wunden zu lecken galt. Wiquin befahl einen der Männer ans Steuerruder und hieß ihn Kurs halten. Er gab Befehl, nach Land
Ausschau zu halten. Mehr war nicht zu tun. In diesem Sturm und bei der Unterbesetzung des Schiffes war an eine sinnvolle Steuerung nicht zu denken. Er verstand auch zu wenig. Jaggar mußte helfen. Der Kapitän ließ sich über die Geschehnisse aufklären. Er hörte stumm zu und unterbrach nicht. Er sagte auch nicht, was er dachte. Er schien die Situation zu akzeptieren. Wiquin war sehr erleichtert darüber. Jaggar glaubte, daß sie so weit nach Nordwesten getrieben worden waren, daß sie die Felseninseln vor Namos passiert hatten. Dann konnte der Angreifer ein Inselpirat gewesen sein, die dort die Gewässer überwachten. Jaggar bedachte das Mädchen immer wieder mit seltsamen Blicken. Aber er stellte keine Fragen. Er wurde zusehends kräftiger. Er erinnerte sich an die Geschehnisse im Candiser Hafen. Aber man konnte auch sehen, daß er nicht glücklich über die Entwicklung der Dinge war. Als das Mädchen die Kajüte verließ, fragte Jaggar: »Meine Männer haben sie an Bord gebracht, nicht wahr?« Wiquin nickte. »Weißt du, wo sie sie schnappten?« »Megil sagte, im Palast.« »Nichts Genaueres?« Der Junge zuckte die Schultern. »Ich hörte alles nur
aus zweiter Hand. Bis gestern hielten sie es vor mir geheim. Megil sagte auch, daß die Männer geglaubt hatten, sie wäre einiges wert ... Wollt Ihr sie verkaufen?« »Da bin ich mir jetzt nicht mehr sicher!« Wiquin schüttelte den Kopf. Er verstand die Welt nicht mehr. »Ihr wollt sagen, Ihr raubt auch an der eigenen Küste und verschachert ...« Der Kapitän grinste und unterbrach ihn. »Die Ware ist auch nicht schlechter.« »Aber irgend etwas muß Euch doch heilig sein!« rief der Junge erregt. »Irgendeine Loyalität ...« »Meinst du?« unterbrach ihn der Kapitän sarkastisch. »Es sieht nicht so aus, als hätten wir noch eine Loyalität zu verschenken. Du vielleicht!« sagte er grimmig. »Aber ich will dein Gewissen in einigen Punkten erleichtern. Ich hatte auch vor in dieser Nacht auszulaufen. Mir war klar geworden, daß ich mich gegen das Schicksal nicht auflehnen konnte. Ich mußte ihm zu entfliehen versuchen. Vielleicht kommt der König eines Tages zur Besinnung. Aber nach diesem Erlebnis sieht es wohl nicht so aus – solange Serphat um ihn herumscharwenzelt und ihn für seine finsteren Pläne breitschlägt, auf welche Art auch immer ...« Er schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ihn müßten wir beseitigen ...!« Wiquin, der sich schon wieder gegen Süden segeln
sah, sagte rasch: »Und das Mädchen?« »Ich wollte eine von Jellis‘ Konkubinen ...« »Ihr wolltet den König bestehlen?« fragte der Junge ungläubig. »Hm – bestehlen ... Er hat sie ohnehin allesamt von mir, und ich denke, daß sie seine Launen inzwischen gründlich satt haben. Jede von ihnen wäre vermutlich vorausgelaufen zum Schiff ...« Er grinste. »Ich würde es also mehr eine Befreiung nennen.« »Und was wollt Ihr mit ihr?« »Sie als Tauschware verwenden. Junge.« »Als Tauschware ...?« »Bist du schwer von Begriff. Wir wollten nach Namos, stimmt‘s?« Wiquin nickte. Ihm begann zu dämmern, was der Kapitän vorhatte. Er wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte. »Eines muß man diesen Namitern lassen, oder besser, ihren Frauen – man kriegt gelegentlich mal eines ihrer Schiffe in die Zange, aber an ihren Küsten hat noch niemand eine Frau geraubt. Aber zu einem Tauschgeschäft hätten wir sie vielleicht breitschlagen können, wenn wir deine kleine Braut gefunden hätten ...« »Käpt‘n«, sagte Wiquin kopfschüttelnd, »wenn die namitischen Frauen wirklich so sind, wie Ihr sagt, und daß sie auf Namos das Regiment führen, denkt Ihr
dann, sie würden eine der ihren ... tauschen, wie ein paar Krüge oder einen Sack Mehl ...?« Jaggar grinste. »Sie tauschen ihre Männer, hab ich gehört.« Er wurde ernst. »Dein Mädchen ist eine Myranerin, das mag alles ein wenig ändern. Zudem wollte ich Jellis eins auswischen ... Und das ist mir besser gelungen, als ich dachte. Meine Pläne haben sich gewaltig geändert ...« »Wir fahren nicht nach Namos?« »Dazu ist keine Zeit. Wir verschieben es.« »Aber es ist zum Greifen nahe.« »Es muß warten. Denk an Jellis‘ Flotte.« Wiquin atmete auf. »So bringt Ihr mich nach Myra?« Der Käpt‘n schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin vielleicht ein Ausgestoßener, aber kein Verräter. Geht das in deinen Schädel? Ich werde mich niemals gegen die Bruderschaft stellen. Aber ich werde sie von dem Dämon befreien, der sie ins Unglück stürzt. Sobald der Wind dreht, wenden wir nach Süden, nach Candis. Vielleicht haben die Stürme die Flotte davon abgehalten, auszulaufen. Vielleicht habe ich mich auch geirrt, und dieser Dragon ist schwächer, als ich dachte, und wir schlagen Myra ... aber nicht unter diesem Teufel Serphat. Von ihm werden wir Jellis befreien. Dann mag er frei entscheiden, was geschehen soll ...« Wiquin nickte unbewußt. Er empfand fast Sympathie für diesen einsamen Kapitän. Es war schwer
abzuschätzen, inwieweit ihn Loyalität zum König oder zur Bruderschaft oder persönliche Rachegefühle leiteten. Serphat war etwas Unheimliches. Drohendes. Galis, daran zweifelten sie beide nicht, war ein Beispiel für das, was mit ihnen allen geschehen konnte. Und sie waren die einzigen, die es wußten. »Und was«, fragte Wiquin, »glaubt Ihr, gibt Euch nun bessere Chancen in Candis als vor zwei Tagen?« »Ich habe den König auf meiner Seite«, erklärte Jaggar ernsthaft. »Ihr habt ...?« Der Junge verstand gar nichts mehr. »Mehr oder weniger.« Der Kapitän lächelte. »Meinen Männern unterlief nämlich ein kleiner Fehler. Sie stahlen nicht eine des Königs Konkubinen, sondern seine heimliche Tochter, Selaqua, die kaum einer gesehen hat. Er hält sie verborgen, weil sie die Züge einer Iquani hat. Die Iquani, so sagt man in Candis, nehmen die Seelen der Männer, mit denen sie sich paaren. Die Menschen der Schlangeninsel fürchten und hassen die Iquani. Sie würden sie eher töten, als mit ihnen verkehren. Selbst ein Mann wie Jellis, dessen Macht fast unbeschränkt ist, würde auf seinem Thron nicht mehr sicher sein, wenn bekannt würde, daß er seine Seele an eine Iquani verloren hat ...« »Warum verleugnet er sie nicht einfach oder beseitigt sie? Das dürfte ihm nicht schwerfallen.«
»Da hat ihm der Teufel einen Streich gespielt. Wenn es nämlich etwas gibt, das der König wirklich liebt, etwas, wofür er seinen Kopf hinhalten würde, dann ist es dieses Mädchen.« Wiquin hatte kein Verlangen, nach Candis zurückzukehren, selbst unter diesen scheinbar günstigen Bedingungen. Er mußte nach Myra – diesen Dragon warnen. Jaggar mochte in Candis Erfolg haben. Aber mit oder ohne diesen Schlangenpriester standen die Chancen hoch dafür, daß die gewaltige Flotte nach Myra segelte. Vorerst hielt der Sturm an und trieb das recht hilflose Schiff weiter nach Nordwesten – die ganze Nacht über. Währenddessen reifte in Wiquin der Plan, mit einem der Boote zu fliehen, sobald der Sturm nachließ. Und mit Sela! Wenn es stimmte, was Jaggars über sie und Jellis gesagt hatte, dann war sie eine wertvolle Geisel. Eine, die Jellis vielleicht von seinem Vorhaben abhalten würde. Sela sah an den Gesichtern der beiden Männer, daß sie wußten, wer sie war. Sie wich ihnen aus. Selbst ihre anfängliche Zuneigung zu Wiquin schien nun
erloschen oder zurückgedrängt von einer verzweifelten Wachsamkeit. Sie wußte, daß sie für jeden eine brauchbare Beute war. Sie spürte, daß Wiquin andere Pläne hatte als Jaggar. Und sie wußte natürlich, was ihr Vater plante. Sie hatte auch gemerkt, daß ihr Vater sich während der letzten Tage oft sehr seltsam verhalten hatte – so, als wäre er nicht bei Sinnen. Instinktiv spürte sie auch, daß der Priester der Schlangengöttin Mis, der auf die Insel gekommen war, etwas damit zu tun hatte, daß etwas Bedrohliches von ihm ausging – obwohl sie ihn nur von fern gesehen hatte. Aber nun war sie hier – auf einem fremden Schiff, zwischen zwei Männern, deren Blicke nachdenklich geworden waren, als sie ihren Wert abwägten. Sie würde mit ihnen reden, wenn sie reden wollten. Aber sie hatten gesehen, daß sie eine Klinge zu gebrauchen wußte. Seit dem Überfall durch das fremde Schiff trug sie Schwert und Dolch im Gürtel und ließ keinen Zweifel daran, daß sie sie wieder gebrauchen würde. Während der Nacht versuchte Wiquin den Kapitän über die Position des Schiffes auszuhorchen. Er sprach auch mit den Männern darüber. Aber keiner vermochte Genaues zu sagen. Bei Morgengrauen riß der Himmel auf. Der Wind flaute ab. Das Schiff glitt in ruhigen Wellen. Die Männer atmeten auf. An Hand der noch schwach
leuchtenden Sterne fiel es Jaggar nicht schwer, ihren ungefähren Standort zu bestimmen. Demnach befanden sie sich mehr als zwei Tagesreisen westlich von Myra auf direktem Kurs nach Kybor, einer Insel nahe der balavischen Küste. Das waren erfreuliche Neuigkeiten für Wiquin. Aber für diese Nacht war es zu spät zur Flucht. Er mußte sich gedulden und hoffen, daß die See ruhig blieb. Die Sonne ging auf und vertrieb die düsteren Bilder der vergangenen stürmischen Tage. Während das Schiff Kurs nach Südosten nahm, begannen die Männer die entstandenen Schäden auszubessern. Im Laufe des Vormittags flaute der Wind fast vollkommen ab. Es wurde heiß, und sie machten kaum Fahrt. Jaggar fluchte, um so mehr, als ihm nicht entging, daß Wiquin mit ihrer Lage nicht unzufrieden schien.
Wiquin versuchte mehrmals mit Sela zu reden, aber sie blieb wortkarg, als wartete sie darauf, daß er ein bestimmtes Thema anschnitt. Aber er schwieg über seine Absichten. Er wartete auf den Abend. Jaggar erholte sich zusehends. Die Sonne schien es zu sein, die ihm neue Kräfte gab. Er war beinahe den
ganzen Tag über an Deck und gab den Männern Anweisungen. Einen unterwies er in der Bedienung des Steuerruders. Um das Mädchen kümmerte er sich scheinbar nicht, aber der Junge sah, daß der Käpt‘n sie wachsam im Auge behielt. Wiquins Nervosität wuchs. Er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß der Käpt‘n etwas von seinem Vorhaben ahnte. Endlich brach die Dunkelheit herein. Es wurde kühl, und man konnte wieder atmen. Die Mannschaft blieb so lange an Deck, daß Wiquin fast verzweifelte. Um Mitternacht endlich war das Deck leer bis auf die Steuerwache. Der junge Myraner machte sich ans Werk. Er schlich an das Steuerhaus. Der Bootsmann sah ihn erstaunt an. »Noch auf, junger ...« Wiquin brachte ihn mit dem Griff seines Dolches zum Schweigen. Er ließ die reglose Gestalt vorsichtig zu Boden gleiten. Dann hastete er in die Kombüse und schleppte Wasser und Proviant in eines der beiden Boote. Mit viel Mühe und Schweiß schwenkte er das Boot aus und ließ es ins Wasser. Es scharrte über die Bordwand, und Wiquin hielt den Atem an. Niemand regte sich. Nach einem Augenblick hastete er auf Zehenspitzen zu den Mannschaftsräumen ins Unterdeck. Nun kam der schwierigste Teil.
Sela! Er pochte an ihre Tür, leise, daß es niemand außer ihr hören konnte, aber es klang noch immer verräterisch laut. Sie hörte ihn und öffnete zögernd einen Spalt, als er sich zu erkennen gab. Sie sah ihn fragend an. Seine Hand tastete nach ihr in der Dunkelheit, bekam sie an der Hüfte zu fassen. Ihr Arm kam hoch, während er nach innen drängte. Im nächsten Augenblick erstarrte er, als er die Spitze eines Dolches an seiner Kehle fühlte. Sie schloß die Tür hinter ihm. »Sela«, krächzte er. »Du gehst fort, nicht wahr?« Er wollte nicken, aber das brachte ihn in innigen Kontakt mit der Messerspitze. »Ja«, keuchte er. »Und du wolltest dich verabschieden?« »Ja, Sela.« »Du lügst!« Er japste als der Druck des Dolches sich verstärkte. Wütend schob er den Dolch beiseite und rang einen Augenblick mit ihr. Er fühlte, daß sie Luft für einen Schrei holte. Rasch drückte er seine Lippen auf die ihren. Es war süß, und sie wehrte sich nicht sehr. Er war jedoch vorsichtig genug, ihre Hand mit dem Dolch nicht loszulassen. Sie fühlte sich warm und aufregend an in seiner Umklammerung. »Ich gehe nicht ohne dich«, sagte er und verschloß ihren Mund erneut. Und er dachte, daß es auch ohne ihre Bedeutung als Geisel ein Jammer wäre, sie
zurückzulassen. Er entwand ihr den Dolch, ergriff sie am Haar und bog ihren Kopf weit zurück. »Kommst du mit mir – freiwillig und leise? Oder muß ich dich mit Gewalt vom Schiff schaffen?« »Du wirst es mit Gewalt tun müssen«, keuchte sie. Ein kurzer Schlag wie beim Steuermann, nur mit etwas mehr Gefühl, und sie wurde schlaff in seinen Armen. Er lauschte gespannt. Nichts regte sich. War Jaggar nicht mißtrauisch, oder hielt er es für Wahnsinn, hier mit einem Boot zu fliehen? Einerlei. Es gab kein Zurück mehr. Er zerrte die leblose Gestalt des Mädchens die Treppen hoch und zum Boot. Vorsichtig ließ er sie hineinfallen und kletterte selbst nach. Zwei Schnitte an den Haltetauen, und das Boot war frei. Der Koloß der Schwarzen Wellenreiterin verschwand in der Nacht. Sie waren allein mit dem Rauschen des Meeres. Der Junge griff nach den Rudern. Er beobachtete die Sterne einen Augenblick und schwenkte das Boot nach Osten. Es würde eine lange Fahrt werden.
10.
Das Mädchen erwachte nach einer Weile.
Sie sah ihn an und schien sich zu erinnern, was geschehen war. Eine Weile beobachtete sie ihn prüfend und ohne Groll. Der feine Instinkt, der den Frauen ihres Volkes eigen war, sagte ihr, daß der Junge ihr verfallen war. Sie lehnte sich zufrieden zurück. Sie würde ihm seine Seele nehmen – irgendwann auf dieser Fahrt. Und er würde tun, was sie verlangte. Sie war eine Iquani – die mit dem Blick befahlen! Der Morgen dämmerte, und Wigor sank erschöpft neben dem Mädchen nieder. Noch immer blähte kein Lufthauch das kleine Segel. Er erwachte gegen Mittag durch einen Schreckensruf des Mädchens. Benommen starrte er auf das gleißende, ruhige Wasser, das sich rundum bis zum Horizont erstreckte. Er hatte befürchtet, daß die Wellenreiterin ihnen folgen könnte. Aber das Schiff war nirgends zu sehen. Dann entdeckte er, was das Mädchen erschreckt hatte. Mehrere Rückenflossen durchschnitten das Wasser nicht weit vom Boot. Haie! durchzuckte es ihn, und Sela schien das gleiche zu denken. Er griff nach dem Bogen. Seltsamerweise entfernten sich die großen Fische daraufhin vom Boot. Aber sie blieben in sicherem Abstand für die nächste Zeit ihre Begleiter.
Er verglich Sonnenstand und Kurs und bemerkte zu seiner Verwunderung, daß das Mädchen den Kurs nach Osten gehalten hatte. Sie lächelte ihm zu und reichte ihm Essen und Wasser aus dem Proviant. Danach ruderte er eine gute Stunde, bis ein Wind aufkam, der das Segel reffte und ihre kleine Nußschale vorwärts schob. Wigors Freude darüber wurde allerdings durch den Anblick dunkler Wolken am westlichen Horizont gedämpft. Es sah nach Sturm aus. Und sicherlich waren sie in diesem Boot verloren. Während des halben Nachmittags beobachtete er die ständig wachsende Wolkenwand mit großer Besorgnis. Er sah die wachsende Angst in Selas Gesicht. Er versuchte ihr ermutigend zuzulächeln. Die Wogen wurden größer. Der Wind zerrte an dem kleinen Segel, als wolle er es in Fetzen reißen. Das Boot glitt bald mit unglaublicher Geschwindigkeit dahin und kippte gefährlich über die Wellenspitzen. Bevor Wigor das Segel einholen konnte, zerriß es der Wind mit einem Knall. Verzweifelt klammerten sie sich fest. Es wurde dunkel. Die Umwelt bestand nur mehr aus schäumendem, rasendem Wasser. Wigor zog das Mädchen an sich und versuchte sie mit einem Stück Tau an sich festzubinden. Aber es war unmöglich. Sie hatten Mühe, einander
festzuhalten. Das Boot wurde herumgerissen, schleuderte die beiden unter die Ruderbank, wo sie halb betäubt lagen. Eine Welle spülte das Mädchen über Bord. Wigor sah, wie sie in einer hohen Welle versank. »Sela!« Er krallte sich am schlüpfrigen Holz fest, zog sich hoch und sprang hinterher. Sie war zwischen den Wellen verschwunden, und er schrie sich die Seele aus dem Leib. In dem Tosen war nicht ein menschlicher Laut zu vernehmen. Dann sah er sie wie ein Wunder nah vor sich auftauchen. Ihre Arme streckten sich ihm entgegen. Sie rief etwas, bevor der Wellenkamm über sie rollte. Er versuchte, auf sie zuzuschwimmen, aber diese riesigen Wellen hatten eine eigene Art von Strömung, die ihn von ihr wegtrug. Er tauchte unter, schluckte Wasser, glaubte, seine Lungen würden bersten. Dann tat sich das nasse Grab auf, und er bekam Luft. Entsetzt sah er Sela und zwei Rückenflossen, die durch die Wellen auf sie zustießen. Gleich darauf schlug etwas gegen ihn, ein kalter, glatter Körper. Er schrie auf. Zwei, drei der gefährlichen Flossen tauchten vor ihm aus dem Wasser und waren im nächsten Augenblick unter ihm. Sie hoben ihn hoch. Etwas schlang sich um seine Mitte – ein Tau.
Bei den Göttern! Das waren keine Haie! Er wurde vorwärts gerissen. Sie zogen ihn mit unglaublicher Geschwindigkeit an den gewaltigen, rollenden Wogen entlang. Weit vor sich glaubte er Sela zu erkennen. Eine Weile versuchte er, seinen Körper der Geschwindigkeit anzugleichen. Aber langsam verließ ihn die Kraft. Es gab Augenblicke, da er durch tiefe Wogen glitt und dachte, er würde nicht mehr auftauchen. Dann wieder sprangen die Fische mit ihm über die Schaumkronen, und er konnte Luft in seine gequälten Lungen pumpen. Aber mehr und mehr schwand der Sinn für das, was geschah. Er verlor das Bewußtsein. Der letzte Eindruck war der von Stimmen und von helfenden Händen, deren Finger mit dünnen Häuten verwachsen waren. Und von besorgten Gesichtern, die menschlich und doch nicht ganz menschlich schienen ... ENDE Auf der Schlangeninsel und auf dem Großen Meer, das von den Seglern und den Galeeren der Bruderschaft beherrscht wird, beginnen sich die Ereignisse zu überstürzen. Auch in Myra herrscht Unruhe. Ränke werden geschmiedet, und ein Magier fordert DIE MACHT DER GÖTTER ... DIE MACHT DER GÖTTER so lautet auch der Titel des
nächsten Dragon-Bandes. Autor des Romans ist Hugh Walker.