ohannes Fried Der Schleier der Erinnerung Grundzüge einer historischen Memorik
Erinnern und Vergessen sind grundlegende Prozesse menschlichen Lebens. Wie weit aber reicht die verformende Kraft des Gedächtnisses tatsächlich? Die moderne Geschichtswissenschaft hat sich der Frage bisher kaum gestellt, obschon die Mehrzahl der historischen Quellen auf Gedächtnisleistungen beruht. Die Unzuverlässigkeit des menschlichen episodischen Gedächtnisses erweist sich schon im Hinblick darauf, wie fehlerhaft es die Sachdaten eines Geschehens, den Ort, die Zeit, die daran Beteiligten erinnert und festhält. Diese Unzuverlässigkeit erfordert neue methodische Überlegungen und Zugänge für die historische Quellenkritik. Der Frankfurter Historiker Johannes Fried erläutert in diesem Buch die Ergebnisse moderner Kognitionswissen schaften und konfrontiert sie mit ausge wählten Beispielen der modernen und mittelalterlichen Geschichte. Sein Ergebnis: Vergangenheit wird in der Gegenwart stets neu geschaffen; unbewußt konstruiert aus unterschiedlichen Elementen erinnerten Geschehens . Wesentlich geprägt durch die Erfordernisse der jeweiligen Gegenwart entstehen scheinbar stimmige Vergangenheitsbilder, die doch in ihren elementaren Aus sagen erheblich vom tatsächlich Geschehenen abweichen können. Jede Erinnerung und damit jede Quelle ist deshalb auf ihre Gegenwart hin zu befragen, um sie beurteilen zu können . Am Ende stehen neue Regeln für den Umgang mit Geschichte.
Verlag C.H. Beck München
Johannes Fried
Der Schleier der Erin,nerung Grundzüge einer historischen Memorik
Verlag C.H.Beck 1-
Wir aber sind Gestrige Hesterni quippi sumus (Job 8,9)
© Verlag C. H. Beck oHG, München 2004 Satz: Fotosatz Janß, Pfungstadt Druck und Bindung: Kösel, Krugzell Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff) Printed in Germany ISBN 3406522114
www.beck.de
Vorwort
Ich bin mein Gedächtnis. Die Erkenntnis ist nicht neu. Jede Kultur verdankt sich und ihr Wissen ihrem Gestern. Alles Wissen ist gestrig. Ob es sich heute erweitert, wird sich in der Regel erst morgen entscheiden. Es verdankt sich dem Zusammenwirken von zerebralen, interzerebralen und kulturellen Aktivitäten, wobei
auf beiden Seiten mit im Spiele sind; ob indessen oder wieweit auch eine Rolle spielt, ist zumindest umstritten. Wissenskulturen - gleichgültig, ob in der Vergangenheit oder in der Gegenwart, ob als umfassende Wissensgesellschaften oder als partielle Wissensklüngel - leben und sterben mit ihrem Gedächtnis. Dasselbe gibt sich als kollektives und als kulturelles, doch exprimiert es sich stets als individuelles Gedächtnis. Kulturgeschichte - Kultur im weitesten Sinne des Wortes verstanden - bedarf somit einer umfassenden Gedächtnisforschung, der Erforschung nämlich dessen, was <wir> wissen, unter welchen Bedingungen derartiges Wissen zustande kam, wie es wirkte und neues Wissen möglich machte, wie es generiert, tradiert und transformiert wurde und wird. Historiker freilich sind, wie unten zu zeigen ist, dem Gedächtnis - der. eingeschränkten Zuverlässigkeit seiner Leistungen, seinen und den daraus sich ergebenden Konsequenzen für die Beurteilung seiner Elaborate - weithin ausgewichen, obgleich doch ein Großteil ihres Quellenmaterials sich irgend Erinnerungen verdankt. Zumal Antike und ,Mittelalter -sind ob der Eigenart und Dürftigkeit ihrer Überlieferungen betroffen, aber keineswegs nur sie. Auch die neue re und neueste Geschichte unterliegen den Konditionen, die das Gedächtnis und seine Medien vorschreiben; keine Gegenwart und keine Wissenskultur entkommt der Angewiesenheit auf das Erinnerungsvermögen ihrer Wissensträger und dessen Grenzen. Wo aber liegen diese letzteren und wie wirken sie auf den Kulturwandel ein? Derartige Fragen beschäftigen nicht bloß die Neuro- und Geschichtswissenschaften, vielmehr jedes Unternehmen, das auf Wissen, Wissensmanagement und Wissenskultur angewiesen ist. Sie zielen auf eine kulturelle Gedächtnistheorie, eine umfassende Memorik. Die folgende Untersuchung nahm ihren Ausgang bei Fragen nach der sachlichen Zuverlässigkeit mündlicher Traditionen im Mittelalter, wie sie jede erzählende Quelle der Epoche beherrschten. Bald zeigte sich, daß
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Vorwort
die traditionelle Quellenkritik nicht zureichte, um die Gedächtnis-Phänomene zu beurteilen, mit denen diese Überlieferung aufwartete. Rat und Hilfe wurde gesucht zunächst bei der Ethnologie, sodann bei experimenteller Psychologie und zuletzt bei weiteren Kognitionswissenschaften mit Einschluß der Neurophysiologie. Die Ergebnisse sind Zwischenetappen; sie müssen sich einstweilen mit der gedächtniskritischen Betrachtung einzelner Episoden begnügen und können noch nicht zu umfassenden Entwürfen größerer Zusammenhänge oder ganzer Geschichtsepochen vordringen. Gleichwohl werden auch die vorgetragenen Korrekturen und Hypothesen nicht jedem Historiker, auch vielen Historikerinnen nicht schmecken. Ein erster Entwurf des hier vorgelegten Buches geht auf sechs Vorträge zurück, die ich auf Einladung des unvergeßlichen Cinzio Violante im Dezember 1996 an der Scuola Normale Superiore in Pisa halten durfte. Violantes erstaunten Blicken, seinen Fragen und Kommentaren, seinen Zweifeln und seiner Ermutigung verdankt dieses Buch mehr, als sein Text zu erkennen gibt. Ohne ihn hätte ich es wohl nie zu schreiben begonnen. Ich bedaure zutiefst, ihm das fertige Werk nun nicht mehr übergeben zu können. Die Präferenz italienischer Beispiele - Goten, Langobarden, Benedikt von Nursia, Venedigs Seesieg an der Punta Salvore, der Grenzstein von Marzano, der Streit um das Val di Lago di Bolsena, der Prozeß um die Grafschaft im Val Blenio u. a. - ist durch den Vortrags ort begründet. Dankbar war und bin ich für die Hilfe bei der Übersetzung, die damals, in tagelanger Nachtarbeit, Prof. Livia Fasola und Dr. Gundula Grebner leisteten. Den lebhaften Diskussionen im Anschluß an die Vorträge schulde ich zahlreiche Anregungen und weiterführende Hinweise, auch und nicht zuletzt die Korrektur von Irrtümern. Notwendige Ermutigung zu dem nun abgeschlossenen Unternehmen erfuhr ich durch Ernst-Peter Wieckenberg und Detlef Felken. Überhaupt gilt der Dank zahlreichen Gesprächs- und Diskussionspartnern. Aleida und Jan Assmann, Neithard Bulst, Dieter Groh, Paul Hoyningen-Huene, Christoph von der Malsburg, Wolf Singer seien stellvertretend für viele genannt - die einen, weil sie die ersten waren, mit denen ich die aufgeworfenen Fragen erörtern konnte, die anderen, weil sie nachsichtig die Fragen des Laien ertrugen. Manch ein Streitgespräch mit meinen Frankfurter Kollegen liegt hinter uns. Überzeugt haben wir uns wechselseitig vielleicht nicht, aber die bestehenden Zweifel habe ich, so gut ich konnte, zu berücksichtigen versucht. Peter Wende und Christof Mauch schulde ich Dank für die Einladung, an den Deutschen Historischen Instituten in London resp. in Washington einige meiner Hypothesen zur Diskussion stellen zu können. Auch in Aachen, Bielefeld, Dresden, Düsseldorf, Göt-
Vorwort
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tingen, Konstanz, Landsberg, Münster und nicht zuletzt an der Akademie der Wissenschaften und Literatur in Mai~z durfte ich meine Thesen vorstellen. Einiges davon wurde in mehr oder weniger vorläufiger Gestalt auch zum Druck gebracht; es bildet nun, überarbeitet, einzelne Kapitel des vorliegenden Buches (vgl. FRIED 1998b, 1999a, 2002C, 2002e, 2oo3a). All dieser Gelegenheiten gedenke ich dankbar, zumal der zahlreichen skeptischen und kritischen Fragen, denen vermutlich meine damaligen Antworten und meine jetzigen Ausführungen nicht immer gerecht wurden. Die aufgeworfenen Fragen und Sachverhalte sind zu komplex, als daß sie ein einzelner abschließend behandeln könnte. So versuche ich, mich an einen Gegenstand heranzutasten, der bislang in den Geschichtswissenschaften keinen Platz besaß, und hoffe zugleich auf den Zauber des Anfangs ... Zu danken gilt es auch meinen Frankfurter Mitarbeitern, Kerstin Schulmeyer-Ahl, Olaf Schneider, Barbara Schlieben und Oliver Ramonat, die durch Jahre hindurch kritische Gesprächspartner waren, und denen direkt oder indirekt manch eine Überlegung geschuldet ist. Helfer bei der Einrichtung des Manuskripts und der Korrekturarbeit waren Martin Dallmann, Daniel Föller, Carola Garten, Friederike v. Morr und Andreas Weidemann. Auch ihnen gebührt mein herzlicher Dank. Der nachdrücklichste Dank aber gilt meiner Frau Sigrid, die geduldig und klug, aus der Erfahrung eines ganz anderen Berufsfeldes heraus viele Fragen mit mir erörterte, meine Skrupel und meine Verlorenheit an das Gedächtnis ertrug und immer gespannt auf die Fortsetzung blieb. Ihr sei das Buch gewidmet - in Erinnerung an jenen unvergeßlichen Tag im Oktober, der vor vierzig Jahren seinen Anfang nahm. Frankfurt am Main, im Juli 2004
Johannes Fried
Inhalt
I. 1.1
1.2
11.
111.
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.5.1. 3.5.2 3.5.3 3.5.4 3.6 3.6.1 3.6.2 3.6'3 3.6.4 3.7 3.8
Vier Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung: Wahrnehmung, Erinnerung, Wissen und Wirklichkeit. . . . . . . . . . . . . Der erste Fall: Ein Präsidentenberater . . . . . . . Der zweite Fall: Zwei Physiker . . . . . . . . . . Der dritte Fall: Ein Philosoph im kulturellen Leben Der vierte Fall: Ein Fürst . . . . . . . . . . . . Konsequenzen: Irritation der Wirklichkeit durch Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primäre und sekundäre Verformungs faktoren des Gedächtnisses . . . ; . . . . . . . . . . . . . . Das Schweigen der Forschung: Die Mediävistik als Beispiel . . Neurokulturelle Grundlagen der Geschichtswissenschaft . . . . . . . . . . . . Gedächtnistypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Individuum zum Kollektiv: Kulturelle Transmission des Wissens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethologie und kognitive Verhaltensforschung . . . Ein kurzer Blick in die Evolution des Gedächtnisses Experimentelle Gedächtnispsychologie . . . Wahrnehmung und Bewußtsein. . . . . . . . Die Wirklichkeitsversuche William Sterns. . . Psychische Konditionierung der Erinnerungen. Vergessen................... Einsichten durch Neurobiologie und Neuropsychologie Zur Vorgeschichte der Fragestellung. . . . . . . Neuronale Grundlagen des Gedächtnisses . . . . Reiz- (Informations-)Verarbeitung des Hirns und neuronale Netze . . . . . . . . . . . Die Arbeitsweise des Gedächtnisses . . Sprache als Stabilisator der Erinnerung Wirklichkeit und Sprache . . . . . . .
13 13 22
49
57
80 80 83 86 95 100 100 104 107 112 116 116 118 121 123 128 132
10
Inhalt
3·9 3. 10 3. 11 3. 12
Gedächtnis als konstruktiver Prozeß . Die Wahrnehmung - ein Erinnerungsprozeß Neurokulturelle Gedächtnisforschung . . . . Ergebnisse und Folgerungen für die geschichtswissenschaftliche Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IV.
Zwischen Hirn und Geschichte: Implantierte Erinnerungen . . . . . . . . . . 153
4-1
Scheinrealitäten in der Geschichte und im kulturellen Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . Venedigs Sieg über Friedrich Barbarossa . . . . . . Karl der Große: Ein heiliger Kaiser? . . . . . . . . Die schwierige Suche nach erinnerter Wirklichkeit
V.
Wie zuverlässig sind Erinnerungen? Das Mittelalter als Untersuchungsfeld . . . . .
5. 1 5. 1 . 1 5. 1 . 2 5·1.3 5. 2 5. 2 .1 5. 2 . 2 5. 2 .3 5. 2 -4
Die Erinnerungsfähigkeit von Prozeßzeugen . Der Grenzstein von Marzano . . . . . . . . Ein Streit um das Val di Lago di Bolsena Der Prozeß um die Grafschaft im Val Blenio Die Erinnerungsfähigkeit von Verwandten Dhuoda . . . . . . . . . Thietmar von Merseburg Hermann der Lahme . Fulco von Anjou Lambert von Watterlos Die Irrwege der Erinnerung setzen der Erkenntnis Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. 2 .5 5·3
VI.
Das Gedächtnis mündlicher Kulturen I: Erfahrungen der Ethnologie . . . .. . .
6.1
Unberechtigte geschichtswissenschaftliche Skepsis gegenüber der Ethnologie . . . . . . . . . . Ein Streit um Knochen: Die Mißdeutung des Neandertalers . . . . . . . . . . . . . . . . Überschreibungen in den Erinnerungen schriftloser Kulturen . . . . . . . . Interkulturelle Vergleiche . . Strukturelle Amnesie . . . . Traditionen werden erfunden Stabilisatoren des Gedächtnisses .
6.2 6·3
201
202
205 208 212 21 4
218 218
Inhalt VII.
Das Gedächtnis mündlicher Kulturen 11: Erfahrungen der Mediävistik. . . . . .
7·1.
Die Spur der Gedächtnismodulation in historischen Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entdeckung der Mündlichkeit . . . . . . . . . . . . Spuren suche im Reich der Mündlichkeit: Die «Germania» des Tacitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Gedächtnis zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . «Lügenfeld»: Ritual statt Schrift . . . . . . Königssalbung: Überschreibungen im kulturellen Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Herkunft der Langobarden: Teleskopie in Aktion «Chiavenna»: Ein inversives Implantat? . . . . Wie weit reichen mündliche Traditionen in die Vergangenheit zurück? . . . . . . . «Sagen» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Amaler-Genealogie als Prüfstein . . . . . Die Formbarkeit des Herkunftswissens im frühen Mittelalter Überlieferung . . . . . . . . Verschriftung . . . . . . . . Wiederholte Neuschöpfungen Mutationen der Dietrich-«Sage»: Von der Schrift zur Mündlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das endlose Fließen mündlicher und schriftlicher Überlieferung im Mittelalter . . . . . . . . . .
7. 2
7·3 7·4
7·4-3 7·4·4
7·5
7.5. 2 7·5·3 7·5·3·1. 7.5.3. 2 7·5·)'·3 7·5·3-4
VIII.
Stabilisierungsstrategien von Erinnerungskulturen und deren Grenzen . . . . . . . . . . . .
8.1.
Stabilisierung mündlicher Erinnerung durch die Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grenzen sprachlicher Stabilisierung: Zum Beispiel die irischen dilid» . . . . . . . . . . . . Textstabile und textvariable Überlieferung. Autoritatives Gedächtnis " . . . . . . . Kanonbildung . . . . . . . . . . . . . . . «Machet einen Zaun um das Gesetz»: Kanon, institutionalisierte Lehre und Gedächtnis . . . . Moderne Bibelkritik . . . . . . . . . . Das Vergessen des Nicht-Kanonisierten
8.2
8.5. 2 8·5·3
11.
223 223 227 23 2 237 239
255 255 259
293 29 8 300 302 3 02 3 06
31.1.
1.2
Inhalt
8.6
Die Schrift als modulationsbereiter Stabilisator der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . Sophistik, Rhetorik, logisches Denken . . . . . . . Die Anfänge der Geschichtsschreibung . . . . . . Nur eine begrenzte Leistungskraft der GedächtnisStabilisatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8·7 8.8
IX.
Gedächtnis in der Kritik: Chlodwigs Taufe und Benedikts Leben .
Chlodwigs Taufe . . . . . . . Wer war Benedikt von Nursia? Resümee . . . . . . . . . . .
X.
Memorik: Grundzüge einer geschichtswissenschaftlichen Gedächtniskritik . .
10.1
Auch Historiker vergessen . . . . . . . . . . . . Die Kulturwissenschaften sind auf interdisziplinäre Gedächtnisforschung angewiesen . . . . . . . . . Lassen sich Fehlleistungen des Gedächtnisses korrigieren? Der Anfangsverdacht gegen Erinnerungszeugnisse Erste methodische Postulate . . . . . .. Kalkulation der Gedächtnismodulation Erkenntnisgewinn durch Gedächtniskritik
10.2
10·3 10.3.1 10.3. 2 10·3·3 10·4
Anhang . . . . . . . . . . . . . . .
Anmerkungen . . . . . Abkürzungsverzeichnis Bibliographie . . . . . Register der Personen, Völker und mythischen Gestalten. Register der Orte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31 3 31 7 3 21 33°
333
335 344
35 6
395 397 443 444 5°1
5°7
I.
Vier Fälle
1.1
Einleitung: Wahrnehmung, Erinnerung, Wissen und Wirklichkeit
Man lag zu Tisch. Simonides von Keos, einer der ersten, der mit Dichten seinen Lebensunterhalt bestritt, trug das bestellte Preislied auf seinen Gastgeber vor. Der aber bezahlte den Gesang, weil er zugleich Kastor und Pollux, die Dioskuren, rühmte, in gottlosem Geiz nur mit der Hälfte des versprochenen Lohns; den Rest sollte sich der Sänger von jenen beiden erbitten. Bald darauf wurde Simonides nach draußen gerufen: Zwei junge Männer wollten ihn sprechen. Doch niemand war zu sehen. Noch während er schaute, stürzte der Speisesaal ein. Alle wurden erschlagen. Als die Verwandten nach den Verschütteten gruben, war kein einziger mehr zu erkennen. Simonides indessen wußte, wo ein jeder zu Tische gelegen, und vermochte die Toten zu identifizieren. «So erkannte er, daß es vor allem die Ordnung sei, die das Gedächtnis erhelle». Wer sein Gedächtnis zu schulen trachte, müsse im Geiste Orte bestimmen, die er geordnet abgehe und an die er, was er erinnern wolle, als Bild deponiere - und zwar so, «daß die Ordnung der Orte die Ordnung der Dinge bewahre» und die Orte als Tafel, die Bilder als Buchstaben dienten 1. Das Strafwunder, mit dem Cicero ein halbes Jahrtausend nach jener Zeit seine Leser ergötzte, verschmolz Wahrnehmung (was immer sie sei), Erinnerung, Wissen, Wirklichkeit und Fiktion zu einer Erkenntnistheorie, die auf Konstruktionen setzte und Künftigem die Wege wies. Der römische Redner aber garnierte mit ihm nur die Erfindung der Gedächtniskunst, ohne über deren Voraussetzungen und Folgen, die konstruktive Tätigkeit des Gedächtnisses und ihre Implikationen, genauer nachzusinnen2 • Doch entpuppt sich die Legende als ein Erinnerungszeugnis, das die mannigfachsten Einblicke enthüllt. Ciceros illustriert ganz vordergründig den Triumph des Erinnerungsvermögens über Zerstörung und Untergang, über das Vergessen durch ein bewahrendes Wissen um frühere Wirklichkeit. Sie verdeutlicht, wie jede Gegenwart an das Gedächtnis appelliert, um angemessen handeln zu können, wie dieses Gedächtnis aufgerufen werden muß, um seine Leistungen hervorbringen zu können, wie es die einstigen Wahrnehmungen dazu in Einzelheiten zergliedert, dieselben sich ordnet und
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Vier Fälle
in geordneter Abfolge, als Gang durch einen imaginären Raum voll vorgestellter Bilder zu erinnern erlaubt und wie es dabei den imaginativ errichteten Bildersaal als Wirklichkeit deutet - wie somit fiktiver Raum und fiktive Bilder einst wahrgenommene Wirklichkeit mental zu bewahren vorgeben. Eine eigentümliche Konstellation. Erinnerung hat es in der Tat mit Wirklichkeit zu tun, mit unmittelbar oder mittelbar erfahrenen Wahrnehmungen, mit deren Ordnung und Deutung, mit dem Wissen um dieselben, mit der Kommunikationssituation, die sie aktualisiert, nicht zuletzt mit den Konstruktionsbedingungen, die dabei im Gedächtnis herrschen. Die Welt, die uns umgibt, die wir wahrnehmen, in der wir uns einzurichten haben, und die Weise, wie wir uns in ihr befinden, betrachten wir als Wirklichkeit; sie müssen wir bildund gedanklich ordnen, um in ihr bestehen zu können. Dies geschieht, indem wir unwillkürlich oder willkürlich in unseren Erinnerungen kramen, im Vertrauen auf den Wissensschatz, der seit frühester Kindheit unserem Gedächtnis anvertraut wurde, auf die fortbestehende geistige Verfügbarkeit dessen, was war und uns wichtig dünkt, das gleichwohl Vergessen bedroht und Unvergeßliches bedrückt und bedrängt. Um diese Wirklichkeit zu erfassen, bedarf es einer Fülle ordnender Hirnaktivitäten, die wir indessen, so wird sich zeigen, nur begrenzt und zu geringerem Teil zu lenken vermögen, die sich zumeist unbewußt einstellen und unser handlungsleitendes Wissen einer Mischung aus Zufall und Notwendigkeit aussetzen, außerdem bedarf es aber auch eines kommunikativen Kollektivs, das nach diesem Wissen dürstet, es verlangt und abfragt. Dieses Gemisch prägt unser Weltbild und unser Dasein; es konstituiert unsere Wirklichkeit. Die Ordnung, die Simonides wahrgenommen hatte und an die er sich erinnerte, behielt er nicht für sich. Befragt teilte er sie anderen in einer Weise mit, die ihnen gestattete, sich aufgrund seiner Erfahrungen in nächster Zukunft recht zu verhalten. Er gab sein Wissen um diese Ordnung des gottlosen Gelages mit Hilfe der Sprache, einem überindividuellen, repräsentierenden Zeichensystem, an die Hinterbliebenen weiter und erlaubte ihnen somit, just ihre Toten zu beweinen und keine Fremden zu begraben. Seine Erinnerung floß in ihr Gedenken ein. Ihr Wissen verdankte sich seinem Wissen. Derartige Wissensvermittlung, eine «kommunikativen Kognition»3, ist vermutlich die wirksamste Strategie zur <Eroberung> der Welt, die das Menschengeschlecht je zu entwickeln vermochte; wir folgen ihr heute nicht anders denn alle frühere Menschheit. Ihre Evolution begann auf der Ebene der Tiere. Die wichtigsten Lernprozesse beruhen auf derartiger Kommunikation. Dem Wissen folgte ein entsprechendes Handeln. Das Leben ging trotz der Katastrophe weiter.
Wahrnehmung, Erinnerung, Wissen und Wirklichkeit
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Simonides' Erkenntnis wurde dem kulturellen Gedächtnis anvertraut, das schließlich die Geschichte von der Entdeckung der Gedächtniskunst formte. Auch die Geschichte hat es also mit Wirklichkeit zu tun. So stiftet kommunikative Kognition, die Kommunikation über wahrgenommene, gedeutete und erinnerte Wirklichkeit, auch die Geschichte. Doch gewährt erst der Gebrauch der Schrift, nicht schon das bloße Erinnern, ein Eindringen in die Tiefen der Vergangenheit und befreit, wie eingeschränkt auch immer, die aus den Fesseln der Erinnerung. Thukydides, der erste Historiker, der diesen Namen verdient, ahnte es durchaus. Er wolle, so schrieb er, der Nachwelt überliefern, «wie es gewesen ist» (I, 22). Auch Simonides dachte noch über den Augenblick hinaus, indem er die Erfahrung dieses Augenblicks verallgemeinerte: «daß nämlich die Ordnung der Orte die Ordnung der Dinge bewahre». Eben dies war seine Entdeckung: daß der Einzelfall jeden Fall.abdecke, die Episode überhaupt auf die Wirklichkeit verweise. In der Tat, Gedächtnisprozesse weisen über sich hinaus auf allgemeine Zusammenhänge. Sie verharren nicht bei der Ordnung von Toten, bei der Rekonstruktion von Episoden, auch wenn die Erinnerung an solche für die Gedächtnisforschung den Schlüsselliefert. Sie beanspruchen Geltung für alle «Dinge». Nichts, kein Griff nach der Wirklichkeit, kein abstrahierendes Wissen, keine Orientierung in der Welt, kein Handeln geschieht ohne das Gedächtnis. Wieweit trägt da die «Ordnung der Orte» ? Simonides erinnerte nur Ausschnitte dessen, was seine Sinne erfuhren: die schäbige Bezahlung, daß ihn die Dioskuren hinausgerufen, die Ordnung der noch lebenden Toten - nicht aber die komplexe Wirklichkeit des Gelages, von Gespräch und Gesang, von Speisen, Wein oder Düften. Andere' Gäste hätten anderes, auch er selbst zu anderer Zeit oder anders befragt, anderes erinnert. Selektion und Vergessen schleichen sich von Anfang an in die Wahrnehmungen ein und provozieren im Gegenzug mancherlei kaschierende Aktivität im Gehirn. Gleichwohl repräsentiert, was wir wahrgenommen, deutend geordnet, erinnert und mitgeteilt haben, in einer für uns angemessenen Weise Wirklichkeit. Es wäre indessen vermessen zu behaupten, daß, was wir wahrnehmen oder erfahren, deuten und ordnen, woran wir uns erinnern, was wir darzustellen und weiterzugeben vermögen, bereits die ganze Wirklichkeit sei. Alle historische Erfahrung, alle Dichter, Philosophen, Soziologen oder Linguisten, alle Naturwissenschaften belehren uns täglich, daß wir Menschen trotz der Fülle der uns zu Gebote stehenden Wahrnehmungsund Kommunikationsinstrumente, seien sie kognitiver, psychischer oder religiöser, ethischer oder sozialer, mathematischer, chemischer, physika-
:16
Vier Fälle
lischer oder biologischer Natur, auch eine Kombination aus mehreren von ihnen oder eine Verrechnung von allen, daß wir angesichts der zwingenden Standort- und Bewegungsabhängigkeit aller Wahrnehmung, bei der Unendlichkeit der Perspektiven und Horizonte, bei der Subjektivität jedes Instrumentengebrauchs, aller Deutungen und Bedeutungszuweisungen, daß wir also stets nur Segmente der Welt um uns, nur Ausschnitte von Wirklichkeit bewußt zu erfassen vermögen und dieselbe niemals ganz. Die Mehrdeutigkeit des Erinnerten resultiert daraus. Auch nehmen wir, was wir wahrnehmen, nicht in seiner Totalität und in seiner ruhelosen Verlaufsdynamik auf einmal wahr. Weder Simonides' Ordnung noch die «Geschichte des Peloponnesischen Krieges» durchbrachen derartige Schranken. Thukydides überlieferte, was immer er intendierte, nicht den gesamten Krieg, dessen Zeuge er war und den er zu beschreiben plante, wohl aber ein geschlossenes Bild desselben, mithin eine Abstraktion. Raum und Zeit zertrennen unsere Erfahrungen in eine Serie von Einzelheiten, von separaten Szenen und Momentaufnahmen, deren kognitive erst wieder hergestellt werden muß, um danach dann alles Wissen zu beherrschen. Simonides erinnerte sich an die Liegeordnung der Gäste, nicht an die Dynamik des Gelages, an die räumliche, nicht an die zeitliche . Verlaufsprozesse aber werden, so die Ergebnisse moderner experimenteller Psychologie, als Abfolge statischer Szenen erinnert, also tatsächlich durch ersetzt. Auch hierbei mischt das Gedächtnis in einer dem Bewußtsein unzugänglichen und durchaus souveränen Weise mit. Erinnern ist offenbar ein komplexerer Vorgang, als Simonides oder Cicero ahnten. Erinnerungen sind allem Ordnungsstreben zum Trotz unbewußt-bewußte Konstrukte. Jedes übergreifende und Einzelwahrnehmungen verbindende Konstrukt aber ist , <Schau> (8EüJQLa) oder Setzung, Hypothese, deren Entwicklung wir aktiv und passiv, zugleich als Empfänger und Akteure betreiben, und deren Wirklichkeits gehalt nur eine Serie segmentärer Kontrollen und kontrollierbarer Wirkungen hervortreten läßt. Standort und Bewegung des Beobachters gilt es zu beachten. Die Rolle des Kontrolleurs übernimmt im Leben gewöhnlich die Wirklichkeit selbst. Sie klopft uns mitunter schmerzhaft auf die Finger, sobald wir falsch konstruierten, nimmt aber bereitwillig Falsches hin, soweit es dem Leben nicht schadet. Hätte Simonides sich etwa geirrt, so hätte es vermutlich kein Überlebender bemerkt oder gar Schaden genommen. Wirklichkeit erfahren wir in der Folge niemals objektiv, weil immer wir es sind, die sie erfahren, sie deuten und ordnen, zu Bewußtsein bringen. Derartige Deutung gilt vielfach als sozial bedingt, nicht weil die Wirklichkeit ein soziales Konstrukt darstellt, sondern weil die Bedingun-
Wahrnehmung, Erinnerung, Wissen und Wirklichkeit
17
gen der Möglichkeit ihrer Wahrnehmung, Ordnung, Deutung und Explikation sozialen Vorgaben unterliegen4 • Zugleich und keineswegs etwa in minderem Maße bringen sich auch die körperlichen und psychischen Konditionen des Wahrnehmenden zur Geltung. Doch wäre es unsinnig daraus zu folgern, daß, was wir wahrnehmen und erfahren, deshalb keine oder wegen subjektiver Färbung des Wahrgenommenen und Erfahrenen durch Ordnung und Deutung anderen nicht rekognoszierbare und angemessen, obgleich in symbolischer Form, mitteilbare Wirklichkeit sei. Es zu tun, verbietet abermals das Leben. Indes, wie verfährt die Erinnerung, die Wirklichkeit zu erinnern intendiert und sich auf keine Geschehens- oder stützen kann, mit der einst wahrgenommenen, in Einzelheiten zerlegten und bewußt oder unbewußt gedeuteten und konstruktiv geordneten Wirklichkeit? Ciceros Antwort stimmt optimistisch. Imaginäre Räume mit bildhaften Zeichen retteten, was unterzugehen drohe, durch ihre spezifische Ordnung. Andere teilen diesen Optimismus. Ein schier unerschütterliches Vertrauen in das Gedächtnis zeichnet uns Menschen aus, obwohl viele ahnen oder dumpf zu wissen glauben, daß wir uns irren können. Wir teilen diese Haltung mit einer Vielzahl von antiken, mittelalterlichen oder neuzeitlichen Geschichtsschreibern, mit kritischen Historikern, sich erinnernden Autobiographen und vielen anderen, die wahre Wunderdinge vom humanen Erinnerungsvermögen erwarten. Zumal den Erinnerungen von Zeitgenossen, die gewesen sind, wird bereitwillig Glauben geschenkt. Auch Simonides oder Thukydides vertrauten ihrem Gedächtnis. Wir alle kennen jene allwissende Tante, die lebende Chronik unserer Familie, den unverdächtigen Zeugen. Wer, wenn nicht sie, sollte wissen, was geschehen ist? Erst wenn nachgewiesen sei, daß sich die Augenzeugen irrten, sei Zweifel am Platze; so war zu hören. Und nicht ungern flüchtet man sich auch heute noch, wo ältere Schriftzeugnisse fehlen, zur Hypothese solider, nämlich verläßlicher mündlicher Überlieferung 5 . Doch wie sollte sie entstehen? Wird Sinnloses erinnert? Nichts vergessen? Wäre aber das Gedächtnis, etwa um der Mehrdeutigkeit des Erlebten zu entgehen, an Sinnstiftung gebunden, wer stiftet dann den Sinn? Wer die Ordnung? Was machen dieselben aus dem Erinnerten, und was macht das Gedächtnis aus Ordnung und Sinn? Es war nur die Ordnung der Liegenden, nicht die Dynamik des Geschehens, nicht etwa das Hin und Her der Gespräche beim Wein, nicht die Mienen und Gesten des Herrn und der Gäste, die Simonides zu seiner Theorie führte; es war erst die Notwendigkeit der Identifikation für den Totenkult, die der Ordnung der um die Tafel Lagernden nachträglich Sinn verlieh. Kein Gesche-
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Vier Fälle
hen trägt seine Semantik schon in sich; es gewinnt sie erst in rückblickender Schau, durch den sozialen, religiösen oder wissenskulturellen Kontext, in den diese Schau eingebunden und auf den ihr Inhalt bezogen wird. Die Folgen dieser Konstellation sind beträchtlich. Selbst Simonides, der vor die Türe des Hauses getreten, konnte weder sehen noch ahnen, daß und wie der Tod den Hausherrn und seine Gäste ereilte, und wie die Hinterbliebenen ihn um sein Wissen angehen sollten. Geschehenes, gar die Bedingungen und Umstände seines Zustandekommens, können erst in der Erinnerung zum Ereignis, das seinen spezifischen Sinn aufzuweisen hat, ja, erst erinnernd zu Wirklichkeit werden. Mit solchem Sinn gewinnen sie etwas hinzu, das sie zuvor, als bloße Planung, als bloßes Sinnenspektakel, noch nicht besessen hatten, werden etwas, das sie zuvor nicht gewesen. Derartiger Veränderung und den Fragen, die sich an sie knüpfen, gilt es genauer nachzuspüren. Denn die Semantik des Erinnerten macht vor den Datensätzen nicht halt, derer sich das Gedächtnis bedient, und auf die auch der Historiker angewiesen ist, um seiner Intention zu genügen. Die Wahrnehmung selbst sieht sich auf das Gedächtnis verwiesen. Gegenwart pur zu erfassen, ist uns schlechthin unmöglich. Sie ist genau genommen eine Fiktion - es sei denn, wir betrachten das Feuern der Neuronen im Hirn, das Aufleuchten eines Gefühls oder Gedankens, einer bildhaften Vorstellung, den Erinnerungsblitz als Gegenwart. Denn unsere Augen, Ohren, der Geruchs-, Geschmacks-, Wärme- und Tastsinn, unser gesamter Wahrnehmungsapparat registrieren nur Geschehenes, nicht Geschehendes. Nur die Reaktion darauf und unser Bewußtsein davon sind gegenwärtig. Gleichwohl suggeriert uns unser Bewußtsein die Gleichzeitigkeit unserer Wahrnehmung mit einem Geschehen und damit Gegenwart. Diese entpuppt sich als eine Projektion des Wahrnehmenden in das von ihm Wahrgenommene, als eine unbewußte Verrechnung des eben Erlebten gemäß den gerade dominierenden Parametern mit dem für sogleich Erwarteten durch das Hirn und eine daraus resultierende fa~on de parler. Das Hirn mag dabei in seiner vom Augenblick bedingten Weise fragen, was es wahrnahm, wer beteiligt war, wo alles stattfand, wie es sich vollzog, warum und zu welchem Zweck es geschah, auch wann und in welcher Zeit es sich ereignete, und dergleichen Wissenswertes mehr; es mag den Schmerz registrieren und von einer Ursache herleiten. Aber schon dieses Fragen und jegliche Antwort sind an Vorwissen, an das individuelle und kulturelle Gedächtnis gebunden; Simonides mußte jeden der Gäste namentlich kennen, um seinen Platz im Erinnerungssaal festhalten zu können. Schlich sich kein Entsetzen in sein Gedächtnis ein? Keine Dank- oder Triumphgefühle ? Nichts sonst? Wie dem auch sei, er
Wahrnehmung, Erinnerung, Wissen und Wirklichkeit
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war sich seiner Sache gewiß. Erst die ordnende Erinnerung stiftet - weithin unbewußt und nur in Grenzen auch bewußt aktiv - wahrgenommene Wirklichkeit. Behandelt das Hirn den Verlauf einer Episode und den ihr zugewiesenen Sinn in gleicher Weise? Weist das Hirn seiner eigenen Aktivität ein anderes, gar ein höheres Gewicht zu als den bloßen Sinnesdaten ? Wie also arbeitet unser Gedächtnis, das allein auf sich selbst, auf seine genetische Bedingtheit, sein <Wissen> und auf intersubjektive Kommunikation angewiesen ist? Auch Cicero behalf sich mit Griffel und Tafel, als er seinen imaginären Gedächtn~sraum kontrollierte - ein unverhohlenes Eingeständnis, daß die Mnemotechnik, die er pries, trotz aller Leistungsfähigkeit nur die halbe Wahrheit bot. Was also können wir wissen? Wie zuverlässig ist, was unser Gedächtnis uns zuspielt? Was überhaupt erinnern wir? Die Antwort zielt ins Zentrum der heutigen und jeglicher Wissens gesellschaft. Wissen ist aktualisierbare Erfahrung; es wird durchweg aus einer nahen oder fernen, der eigenen oder einer fremden Vergangenheit gespeist und unablässig durch Erinnerungsfähigkeit, Vergessen und die kommunikative Situation moduliert, in der es abgefragt wird. Es bleibt sich nie vollkommen gleich. Erinnerte Erlebnisse - sinnliche Wahrnehmungen, Gefühle oder Gedanken - werden hier und im folgenden als betrachtet; auch der nachlesbare Inhalt von Schriftstükken, wissenschaftlichen Handbüchern oder die wiederholt zu befragenden Protokolle von irgendwelchen Vorkommnissen oder Sachverhalten dürfen, erfahrungsbedingt wie sie sind, als solche gelten. Wissen ist stets Erinnerung, und diese beruht stets auf Erfahrung, obgleich in der Praxis zweifellos zu unterscheiden ist zwischen dem wissengenerierenden Verlauf eines <Experiments> oder dem Erwerb von Wissen und seinem Ergebnis, der , die aus der Erfahrung gezogeniund dem Gedächtnis <eingeschrieben> wird. Der Saal aber jenes Gelages, dem Simonides Glanz verleihen sollte, liegt auf ewig in Trümmern; das die Erfahrung bedingende Geschehen ist unwiederbringlich vergangen, ist für immer in sich vollendete, unveränderbare, obgleich fortwirkende Realität. Der Tod hatte die Welt um Simonides und seine Freunde verändert, seine Opfer ruhten im Grab. Allein das Gedächtnis des Dichters und der von ihm instruierten Verwandten bewahrte Spuren einstigen Erlebens samt der zugehörigen Sinnstiftung; allein aus Erinnerung gespeiste Erzählungen und Niederschriften stiften den Zusammenhang individueller oder kollektiver menschlicher Erfahrungen und des Lebens. So sind und formen die Erinnerungen vielfältige neue Wirklichkeiten. Schon Quintilian (XI, 2, 11-22), der antike
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Vier Fälle
Rhetoriklehrer, kannte zahlreiche, sachlich abweichende Varianten der Simonides-Episode und bestritt ihretwegen deren Historizität überhaupt. Doch läßt sich zumindest analytisch zwischen abgeschlossener Wirklichkeit hier und erinnerungsoffener Wirklichkeit da, zwischen der Vielzahl weitergegebener und fortwirkender Erinnerungen, endlich auch zwischen Erzählungen mit und Fiktionen ohne dergleichen Erinnerung unterscheiden. Ein sich vielfach verzweigender Erinnerungsfluß, den zusätzlich noch weitere Quellen nährten, entsprang mit dem Gastmahl und seinem abrupten Ende, das zunächst allein Simonides erinnerte, und wird so lange fortfließen, bis alle seine Seitenarme versickert und vertrocknet sind. Diese Erinnerungen stellen den einzigen Zugang zu einstiger Wirklichkeit her, nicht etwa Erzählungen, Texte, Sprache, Intertextualität oder auch Experimente als solche, obgleich die kulturelle Transmission über Zeichen systeme wie die Sprache weiterfließt. So gilt es, diesen semiotisch gefaßten Fluß, so gut es geht, entgegen der Flußrichtung zu seinem Ursprung zurückzuverfolgen, um sich dem einstigen Geschehen zu nähern. Hier stellen sich neue Schwierigkeiten in den Weg. Bereits die Ordnung der Wahrnehmungen setzt einen intellektuellen, an das Gedächtnis appellierenden Deutungs- und Formungsprozeß voraus, der trotz grundsätzlich gleicher kognitionsbiologischer Grundlagen aller Menschen sich keineswegs zu allen Zeiten und in jeder menschlichen Kultur gleich ausnimmt. So steht keineswegs von vorneherein fest, daß Simonides, Cicero und Quintilian, deren Lebenszeiten nur wenige Jahrhunderte auseinanderliegen, oder die Rhetoriklehrer der spätmittelalterlichen Renaissance jeweils das gleiche bedachten, wenn sie die «Ordnung der Orte» betrieben. Bei Simonides spielte der unheimliche Kult der gewalttätig grausamen Dioskuren hinein, bei Cicero die Aufstellung der Ahnenbilder an gut sichtbarer Stelle im Haus, bei Quintilian ein heroen- und überlieferungskritischer Skeptizismus, in der Renaissance der restaurative Rückgriff auf formale Techniken6 • Die Antworten auf jenes <Wer?> oder <Was?> differieren somit gemäß einem analysierbaren Zusammenspiel von Natur und Kultur und besitzen durchweg hypothetischen, nämlich an die kulturellen Prämissen gebundenen Charakter. Jedes Erkennen und jede rationale Deutung unserer Welt verdankt sich einem analogen Frage- und Antwortspiel und entsprechenden Hypothesenbildungen. Offenbar ist auch die «Ordnung der Orte» keine absolute Größe und bedarf zu ihrer Deutung des Wissens um die Konditionen ihrer Festlegung. Das Gedächtnis agiert stets situativ. Das erste Innewerden, die erste systematische Reflexion über
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Fragen und Hypothesen, erfolgte freilich, soweit erkennbar, erst durch die antike griechische Sophistik des ausgehenden sechsten und fünften vorchristlichen Jahrhunderts. Simonides und die jüngeren Redner partizipierten daran. Über neue Disziplinen wie Rhetorik und Dialektik floß der Strom solcher Methodik dann in die römische und abendländische Wissenskultur. Auch der Historiker gewinnt aus ihm sein Datenmaterial. Doch wie wirklichkeitsgemäß nimmt dasselbe sich aus, wenn es Wahrnehmung, Gedächtnis, Vorwissen, Kommunikationssituationen und Explikationen unterliegt? Was also wissen wir von der Vergangenheit? Wie können wir Vergangenes aktualisieren? Wie erinnern wir uns? Die Antworten entscheiden über unsere Gegenwart und Zukunft. Sie gewinnen, weil sie generell unser Wissen implizieren, eine weit über die engere Geschichtsforschung hinaus greifende, generelle Bedeutung. Ihr Beitrag zur Wissensfrage übersteigt zugleich unsere eigene, begrenzte Erfahrung und unser persönliches Gedächtnis; er richtet sich keineswegs bloß an Altertumsfreunde. Jede Art von Wissensverwaltung, jedes Wissensmanagement ist betroffen. Ihnen gilt am Beispiel der Geschichte die folgende Studie. Simonides' Schritt von der Episode zur allgemeinen Erkenntnis diene ein letztes Mal zur Orientierung. Die Leistungskraft des gesunden, nicht pathologischen, nicht traumatisierten oder von Hirnläsionen beeinträchtigten, aber auch nicht speziell geschulten menschlichen Gedächtnisses sei deshalb einleitend an vier Episoden verdeutlicht. Sie sind der neueren Geschichte entnommen und beruhen auf der Annahme, daß das menschliche Hirn vor 1000 Jahren oder in noch früheren historischen Zeiten nicht anders arbeitete als heutigentags, daß sich seitdem trotz zunehmender Schriftlichkeit die humane Erinnerungsfähigkeit nicht wesentlich geändert hat, daß diese Beispiele Alltägliches mit Außerordentlichem vereinen und als typisch gelten dürfen, daß sie zudem umfassender dokumentiert sind als des Simonides Totengedenken oder des Thukydides Kriegsberichte und die Gedächtnisleistungen der folgenden zweieinhalb Jahrtausende, daß sie endlich zuverlässiger überprüft werden können und methodisch sprechender sind als jene aus der Antike oder dem quellenarmen dunklen Mittelalter entlehnten Exempel, von welch letzteren die folgenden Untersuchungen ursprünglich ihren Ausgang nahmen und auf die sie auch wieder zurückführen werden7 • Doch trotz ihres episodischen Charakters steht zu erwarten, daß sie dem Historiker allgemeine Erkenntnisse ermöglichen und ihm gestatten, tiefer in vergangenes Geschehen hineinzuleuchten, als es ohne systematische Gedächtnisforschung geschehen könnte. Vorgestellt wird je ein Fall aus dem Milieu der Politik, der Wissenschaft, des kulturellen Lebens und des späten Hochadels. Die Beispiele sollen
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nicht zuletzt die breite Gegenwärtigkeit des Phänomens illustrieren. Detailreich überliefert, wie sie sind, gestatten sie eine gerade so detaillierte Betrachtung, wie sie für eine Erinnerungsanalyse unabdingbar ist, um die Einzelheiten von der Abstraktion zu trennen und die Analyse für die Geschichtswissenschaft fruchtbar zu machen. Denn das Gedächtnis bearbeitet beides: die Details und die Abstraktion; es bemächtigt sich der Einzelheiten und der Generalisierungen. Eine ausführlichere Präsentation der Exempla wird damit notwendig und gerechtfertigt. Auch die griechischen Verwandten jener Opfer göttlicher Rache wollten kein vom individuellen Gedenken und Massengrab anlegen, sondern nur ihre eigenen und keine fremden Toten bestatten. Doch sollte aller gedacht werden. Die aus den folgenden Beispielen abzuleitenden Folgerungen betreffen demgemäß jegliches Geschehen, dessen Kenntnis sich dem Gedächtnis verdankt, gleichgültig, ob es in der Antike, dem Mittelalter oder der Gegenwart spielt, und damit prinzipiell die gesamte Geschichte. Sie sind von allgemeiner Gültigkeit.
1.2
Der erste Fall: Ein Präsidentenberater
Unter Psychologen und Gedächtnisforschern gelangte John Dean zu einiger Berühmtheit8 • Er war seinerzeit Berater und im Trüben fischender Helfer des einstigen Präsidenten der USA Richard Nixon. In den Watergate-Anhörungen vor dem amerikanischen Senatsausschuß, die den kriminellen Aktivitäten der Wahlkampfstrategen dieses Präsidenten nachspüren sollten und zu ihrer Zeit, in den Jahren 1972 und 1973, nicht nur die USA erregten, spielte Dean eine entscheidende Rolle. Er trat fest und bestimmt auf, beteuerte, ein ausgezeichnetes Gedächtnis zu besitzen - «I have a good memory!» -, wußte tatsächlich die Senatoren mit seinen präzisen, bis in Einzelheiten genauen Erinnerungen zu verblüffen und das alles, ohne sich auf Notizen zu stützen9 . Einmal waren es drei Monate, die das fragliche Gespräch mit Präsident Nixon zurücklag, das andere Mal neun. Einerlei, die Zeit schien Deans mnemonischen Fähigkeiten nichts anzuhaben. Die Presse pries sein tonbandhaft protokollierendes Gedächtnis. Nixon brachte es vorzeitig zu Fall; der Präsident wurde zum Rücktritt gezwungen, seine Helfer wanderten ins Gefängnis. Kurzum, Dean war der ideale Zeuge. Wenn irgendwo in der Weltgeschichte, dann fand Erinnerung hier ihre Opfer. Verhieß nun die Zuversicht des Gedächtnisgenies John Dean tatsächlich Gewißheit über das erinnerte Geschehen, von dem er sprach? Seine Erinnerungen erlangten durch den Verdacht einer aufgeschreckten Öf-
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fentlichkeit und die aufklärerischen Intentionen des Senats ihre Bedeutung. Welche Semantik floß in sie ein? Was widerfuhr ihnen auf dem Weg vom natürlichen zum kollektiven Gedächtnis jener Kommunikationsgemeinschaft, die seinen Aussagen lauschte und für die seine Aussagen bestimmt waren? In welcher Gestalt wird sich künftig ein um kulturelles Gedächtnis besorgtes Kollektiv mit ihnen auseinandersetzen müssen? Ein <Erinnern an sich> ist unmöglich; jedes Erinnern ist an seinen Augenblick gebunden. Wieweit also lassen sich aus der Analyse von Deans Erinnerungen Kriterien für eine erinnerungstheoretische Arbeit gewinnen? Jene Gespräche waren mitgeschnitten und die Tonbänder später, im Jahr 1974, von Nixon als Zeugnis gegen Dean zur Publikation freigegeben worden. Die Geschehen, ließen sich nun mit der Erinnerung an sie vergleichen; jedenfalls partiell, soweit sie das hörbare Wort betrafen. Das Ergebnis entlastete den Präsidenten in keiner Weise; zu tief war er in die Sache verstrickt. Doch es demontierte auch John Dean und enthüllte die widersprüchliche Mehrschichtigkeit seines Gedächtnisses; statt der Juristen nahmen Psychologen sich seiner an. Ihre Ergebnisse werden hier übernommen; sie ersparen uns die detaillierte Dokumentation des Falls. Kaum eine von Deans Angaben stimmte so, wie er sie zu Protokoll gegeben hatte. Kein Kreuzverhör, deren mehreren er unterzogen worden war, hatte vermocht, die Irrtümer und Fehler auch nur erahnen zu lassen, die diesem Zeugen mit beharrlicher Bestimmtheit für Geschehenes oder Gesagtes unterlaufen waren. Kein Zweifel, sein Gedächtnis trog - nach wenigen neun oder nur drei Monaten. Modulation und Vergessen hatten unmerklich teil am Erinnern. Doch vermochte der einstige Präsidentenberater in einem übergreifenden, ganz allgemeinen Sinne das Wesentliche jener Gespräche tatsächlich wiederzugeben: daß Nixon nämlich von dem kriminellen Vorgehen gewußt und zu den Drahtziehern seiner Vertuschung gehört habe. Es geschah in eigentümlich selektierender und damit wiederum in verfälschender Weise. Verlauf und Sinngebung der Gespräche traten in der Erinnerung auseinander. Zahlreiche Einzelheiten des Geschehens waren dem Teilnehmer an dem Geschehen entglitten, hatten sich in seiner Erinnerung verschoben, waren falsch beleuchtet, zu seinen eigenen Gunsten geschönt und aufgewertet worden. Inversionen vom weniger Günstigen zum Günstigeren für die eigene Person hatten sich also ereignet, positive Inversionen, wie man sie nennen kann; doch auch ihr Gegenteil, negative Inversionen, fehlten nicht, die umgekehrte Transformationsrichtung, die zum Nachteil des Gegners statt des Günstigen das Falsche, Verabscheu-
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Vier Fälle
ungs- und Verdammenswürdige hervorkehrte. Eine eigentümliche Mixtur formte die erinnerte Wirklichkeit; Vergessenes, Verschobenes, zutreffend Erinnertes verschlangen sich zu einem mentalen Konstrukt, dem die Realität nicht entsprach, obgleich es Daten realen Geschehens verarbeitete, Realität suggerierte und eine Einheit bildete. Dean hatte verschiedene Begegnungen kontaminiert, Inhalte angesprochen, die er herbeigewünscht, tatsächlich aber nicht realisiert hatte, hatte seine eigene aktuelle Rolle stärker herausgestrichen, als ihr gebührte, und «wissender» getan, als er seinerzeit war. Er hatte seine eigene Geschichte erzählt, nicht die der protokollierenden Tonbänder. Zutreffender waren solche Episoden und Worte, die sich aktiver Teilnahme am Geschehen, nicht bloßem Zuschauerturn verdankten, sich an verbreiteten Erzählmustern orientieren konnten oder sich durch Wiederholung eingeprägt hatten. Er hatte bewußt und unbewußt aus den Informationsbündeln, die ihm zur Verfügung standen, ausgewählt und daraus seine Geschichte, ein geschlossenes Ganzes, gemacht mit sich selbst in günstigem Licht. Er hatte in wiederholten Erzählungen seine Erinnerungen kanonisiert. Dazu traten Kontaminationseffekte sowie eine bemerkenswerte sowohl die Qualität der Ereignisse als auch die tatsächliche zeitliche Abfolge verändernde Inversionsbereitschaft. Als einer der Hauptbeteiligten am Watergate-Skandal beschrieb John Dean mit seinen Erinnerungen gerade «nicht das Treffen ... sondern sein Phantasieprodukt, das Treffen, wie es hätte sein sollen» 10. Gleichwohl war der Mann noch in seiner drei Jahre später erschienenen Autobiographie von der unantastbaren Richtigkeit seiner Aussagen überzeugt, so gewiß war er sich seines Gedächtnisses ll . Er litt an einem Gewißheitssyndrom. Was Deans Fall verdeutlicht, besitzt allgemeine Gültigkeit. Die deformierende Veränderungsdynamik der Erinnerung mag noch rascher und durchdringender wirksam werden oder weniger schnell und tief in das Gedächtnis eingreifen, als es bei diesem Zeugen den Anschein hat, das Phänomen selbst verflüchtigt sich damit nicht 12 • Das Vergessen operiert dabei nicht anders als das Erinnern. Dieselben Gewißheitsannahmen und die nämliche Inversionsbereitschaft kennzeichnen es, die auch das Erinnern durchsetzen. Ich glaube etwas vergessen zu haben und habe es tatsächlich nicht. Ich will etwas vergessen und kann es nicht; ich tue so, als hätte ich etwas vergessen, und habe es bestenfalls verdrängt. Die Folgen sind beträchtlich. Das Gewußte verlagert nun seinen Ort, siedelt sich irgendwo an, schafft und bricht sich unversehens Bahn, ohne sich zu erkennen zu geben, oder könnte es wenigstens. Verdrängtes Wissen sucht sich erst recht eine neue Stätte und kann, über ein, zwei Generationen hinweg, in der Erinnerungsgemeinschaft von Verfremdungen
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verdeckt, selbst überfremdet und sprachlich verhüllt, tatsächlich bewahrt werden, eine Gedächtniskrypta bilden, aus der heraus es fortan agiert und unkontrollierbar seine Fäden spinnt l3 . Erinnern und Vergessen besitzen ihre eigene Semantik. Sie ist situationsbedingt und liegt nicht einfach auf der Hand. Mit dieser Situationsbelastung gehen die Erinnerungsprodukte ins kommunikative und kulturelle Gedächtnis ein. Gedächtnis-Analytiker wissen das und berücksichtigen es bei ihren Analysen l4 .
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Der zweite Fall: Zwei Physiker l5
«Lieber Heisenberg ... Ich bin höchst erstaunt, wie sehr Dich Dein Gedächtnis getäuscht hat ... Ich selbst erinnere jedes Wort unserer Unterhaltung»l6. Niels Bohr, der Vater der modernen Kernphysik, der Nobelpreisträger und Mitschöpfer der Atombombe, vertraute, selbstsicher und unbeirrbar, mehr als 16 Jahre nach dem fraglichen Geschehen in einem niemals abgeschickten Briefentwurf an seinen Meisterschüler Werner Heisenberg, gleich ihm Nobelpreisträger, der Untrüglichkeit seines Gedächtnisses. Der Fall erfordert hier, da bislang noch nicht gedächtniskritisch untersucht, wie auch die beiden folgenden eine ausführlichere Darstellung als jene Watergate-Affäre. Die Begegnung, die Bohr erinnerte, hatte in Kopenhagen unter vier Augen stattgefunden, als Dänemark von der deutschen Wehrmacht besetzt worden war, als die Deutschen glaubten, kurz vor dem Sieg über die Sowjetunion zu stehen, und in ihrem Größenwahn daran dachten, sich ganz Europa zu unterwerfen; vor allem, als in Deutschland Forschungen zur militärischen Nutzung der wenige Monate vor Ausbruch des von Hitler entfesselten Krieges von Otto Hahn und Fritz Straßmann entdeckten, von Lise Meitner und deren Neffen Otto Robert Frisch gedeuteten, in dessen Gespräch mit Niels Bohr weiter geklärten und durch den letzten alsbald bekannt gemachten Kernspaltung betrieben wurden 17. Das Gespräch zweier Freunde, die zugleich Feinde waren, kreiste um eben diese Nutzung von Kernenergie und um die Entwicklung von Atomwaffen, doch mit welcher Absicht Heisenberg vor Bohr das Thema angeschnitten, was beide tatsächlich gesagt oder nicht gesagt hatten, worauf das ganze Gespräch eigentlich zielte, daran erinnerten sich beide, wenn überhaupt, nur mehr kontrovers. Während Bohr meinte, aus Heisenbergs Worten eine Warnung herausgehört zu haben, die siegesgewissen Deutschen würden Atomwaffen entwickeln und seien bereit, sie einzusetzen, wollte Heisenberg das
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schiere Gegenteil vermittelt haben, die deutschen Kernphysiker nämlich würden solche Waffen gar nicht projektieren, weil sie den technischen Aufwand als zu hoch erkannt hätten 18 • Während der eine, Sohn einer jüdischen Mutter, fürchtete, in Kollaboration mit dem Nazi-Regime verstrickt zu werden, wollte der andere verschlüsselt die Botschaft an die auf seiten der Alliierten forschenden Kollegen weitergeleitet wissen, sich wie sie zu verhalten und keine Uranbombe zu entwickeln. «Aber», so be.schrieb Heisenberg 1969 die erste Nachkriegsbegegnung mit Bohr im Jahre 1947, «als wir versuchten, unser Gespräch vom Herbst 1941 zu rekonstruieren, merkten wir, daß die Erinnerung in eine weite Ferne gerückt schien. Ich war überzeugt, daß wir das kritische Thema beim nächtlichen Spaziergang auf der Pileallee angeschnitten hätten, während Niels bestimmt zu wissen glaubte, es sei in seinem Arbeitszimmer in Carlsberg gewesen. ... Bald hatten wir beide das Gefühl, es sei besser, die Geister der Vergangenheit nicht mehr weiter zu beschwören» 19. Zum Glück brachen jene beiden Kernphysiker ihr Schweigen. Zum al Heisenberg kam seit 1948 wiederholt auf die Kopenhagener Begegnung zurück; ein Brief an den Publizisten Robert Jungk vom Januar 1957 freilich, den dieser in seinem unseligen Buch «Heller als tausend Sonnen» auszugsweise veröffentlichte, sowie die Darstellung, die Jungk durch seine Auslegung des Geschehens gab, nötigten Bohr (aber auch Heisenberg, Otto Hahn oder Carl Friedrich von Weizsäcker) zum Widerspruch und entfesselten eine bis heute nicht verstummte Diskussion20 • Bohr hatte schon früher, spätestens seit seiner Flucht aus Dänemark 1943, seine Erinnerungen an das Gespräch Freunden mitgeteilt, sie damals auch dem britischen Geheimdienst nutzbar gemacht, ohne sie zu publizieren. Er scheute zeit seines Lebens vor jeder Veröffentlichung dieser Erinnerungen zurück, obgleich er wiederholt schriftlich fixierte, woran er sich erinnerte. Mehrere nie abgeschickte Briefentwürfe aus den Jahren 1957-62 künden von ihnen und spannen sie auf den Seziertisch gedächtniskritischer Forschung. Die Erinnerungen eines jeden der beiden Protagonisten waren nicht frei von Widersprüchen. Heisenberg etwa erinnerte sich am 6. August 1945 in Farm Hall21 , wo er mit anderen herausragenden deutschen Wissenschaftlern interniert war und ihre Gespräche über versteckte Mikrophone abgehört wurden, erinnerte sich also am Tag von Hiroshima, als ihn die zunächst unglaubliche Nachricht vom Abwurf einer Atombombe überraschte, im Jahr zuvor von einem Beamten des Auswärtigen Amtes mit der Information konfrontiert worden zu sein, die Amerikaner hätten den Abwurf einer Atombombe über Dresden angedroht, sollten die Deutschen nicht alsbald kapitulieren: «Damals wurde ich gefragt, ob ich
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das für möglich hielt, und mit voller Überzeugung antwortete ich:
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würdigen will; denn diese begann er erst 1948 im Zusammenhang mit dem Entlastungsverfahren gegen den ehemaligen Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Ernst von Weizsäcker, den Vater des Physikers und Heisenberg-Freundes Carl Friedrich von Weizsäcker, zu fixieren 31 . Nicht nur der brisante Inhalt des Gesprächs und seine Interpretation verformte sich mit wachsendem Abstand vom Geschehen in der Erinnerung beider Gesprächspartner, auch schlichtere, interpretationsunabhängige Sachverhalte, die äußeren Daten des Geschehens, gerieten ins Wanken 32 . Beide Teilnehmer versetzten ihr Treffen wiederholt in eine falsche Zeit. Während Bohr zunächst, im Jahr 1954, den «Sommer 1940» nannte 33, sodann, in den Jahren 1957-61, er selbst und seine Gemahlin zunächst an das Jahr «1942» dachten 34, sprach Heisenberg im Brief an Jungk von «etwa Ende Oktober 1941»35. Carl Friedrich von Weizsäcker, damals mit Heisenberg in Kopenhagen, meinte sich im Jahr 1999 an den «Januar 1941» zu erinnern36 . Das Gespräch fand tatsächlich zwischen dem 15. und 21. September 1941 statt, wie sich aus den Akten, zum Beispiel aus Heisenbergs seinerzeitigem Bericht an das Reichsministerium für Erziehung, zweifels frei ergibt, vielleicht schon am 16. September37 . Die Zeit zerfloß in der Erinnerung schon bald nach dem Ereignis; sie bliebe, gäbe es keine amtlichen Schriftdokumente, für immer verschwommen. Augenblicke, Zeiträume, die temporale Tiefendimension unserer Erlebnisse festzuhalten, ist offenbar keine Stärke unseres Gedächtnisses. Extrazerebrale Hilfsmittel, der Kalender müssen ihm hier zu Hilfe eilen. Auch der reale Ort des Gesprächs verflüchtigte sich. Bohr folgend fand die entscheidende Begegnung in seinem Arbeitszimmer im Institut für theoretische Physik state S, während sein deutscher Freund ihm für 1947 die Erinnerung an sein privates Studio zuschrieb 39 . Heisenberg selbst dachte 1948 an einen Spaziergang «unter den Bäumen im großen, stillen Fcelledpark (was in der Nähe des Bohrschen Instituts gewesen wäre), dann, seit 1957, beharrte er «auf einem abendlichen Spaziergang in dem Stadtviertel in der Nähe von Ny-Carlsberg» resp. in der «pileallee» (mithin in der Nachbarschaft von Bohrs Wohnung) - durchweg verschiedene Bezirke der dänischen Hauptstadt40 . Tatsächlich wußte Bohr andernorts, daß seine Gemahlin einer Einladung Heisenbergs zu sich nach Hause, obgleich widerstrebend, zugestimmt hatte41 . Erinnert wurde demnach tatsächlich ein privates Treffen Heisenbergs mit Bohr - aber in abweichender Ausgestaltung und mit wenigstens einer weiteren Begegnung verflochten. Im Hinblick auf den Ort vermischten sich offenbar verschiedene Gelegenheiten immer wieder aufs neue. Diverse Erinnerungen überlagern demnach einander, ohne daß der sich Erinnernde es
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bemerkt. Nicht zwei Ereignisse, sondern gleichartige Strukturen wurden festgehalten. - Wir wissen somit nicht, wann und wo die entscheidende Begegnung stattgefunden hat, weil den Beteiligten ihr Gedächtnis immer wieder neue Streiche spielt. - Carl Friedrich von Weizsäcker fügte übrigens später (1988) und in einem Interview im Jahre 1993 noch einen fünften Ort hinzu: Das Gespräch habe «auf der Lange Linie im Hafen von Kopenhagen» stattgefungen42 . Um den Inhalt des Gesprächs steht es nicht besser. Die genaueren Umstände der fraglichen Begegnung decken sich ebenfalls nicht: Beide Physiker gedachten nur eines einzigen Gesprächs zur fraglichen Zeit; doch hatten sich, wie erwähnt, beide wenigstens zwei Mal getroffen: sowohl im Institut als auch in Bohrs Wohnung; und schon früher war Heisenberg Gast im Bohrsehen Haus 43 . Die Dauer des entscheidenden Treffens unter vier Augen memorierten sie als unterschiedlich lang. Während Bohr wiederholt dessen von wachsamer Zurückhaltung diktierte Kürze hervorhob 44, suggeriert Heisenbergs Darstellung einen längeren Dialog45. In Bohrs Geschichte nimmt sich, was er selbst als «Unterhaltung» bezeichnete, deren er «jedes Wort» erinnere, tatsächlich als ein knapper Monolog Heisenbergs aus. «Jedes Wort» schrumpfte somit, soweit es Bohr selbst betraf, zu keinem Wort - so als erinnere er sich nicht des tatsächlich geführten Wortwechsels sondern statt dessen seiner Aussagen über Heisenbergs Mitteilungen, sei es vor dem britischen Intelligence Service (die sich explizit in seine Erinnerungen einschoben46 ), sei es vor amerikanischen Atomphysikern in Los Alarnos und andernorts im Jahr 1943 (die er in allen Briefentwürfen an Heisenberg verschwieg). Schweigen also nistete sich in das Gedächtnis ein. Die deutsche Seitezumindest Vater und Sohn von Weizsäcker47 - wußte beispielsweise im September 1941 bereits von den amerikanischen Bemühungen um einen Reaktorbau und damit um die Gewinnung spaltbaren Materials48 . Heisenberg deutete derartiges mit keiner Silbe an, obgleich das Gespräch mit Bohr vermutlich auch deshalb gesucht wurde. Der Deutsche durfte ja davon ausgehen, daß sein dänischer Freund nach Kriegsausbruch weiterhin Kontakte zu seinen alliierten Kollegen und Freunden unterhielt. Bohr versuchte in der Tat umgehend nach seinem Gespräch mit Heisenberg dieselben zu warnen49, was zwar fehlschlug, Heisenberg auch hinterbracht wurde - woran aber nach dem Krieg keiner der beiden Freunde mehr rührte. Neben Heisenberg befand sich, wie zeitgenössische Aktenstücke belegen, auch Carl Friedrich von Weizsäcker auf einer vom Deutschen Wissenschaftlichen Institut, einer Propagandaeinrichtung der Besatzungsmacht, organisierten Tagung über Astrophysik in Kopenhagen, die vom
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18. bis 24- September dauerte 5o . Heisenberg war freilich bereits am 15. September an- und am 21. wieder abgereist; vielleicht, wie gesagt, schon am 16. traf er sich mit seinem Freund. Doch Bohr gedachte regelmäßig der Anwesenheit auch von Weizsäckers zur fraglichen Zeit in Kopenhagen. Heisenberg wiederum meinte, einen Vortrag «auf Einladung der deutschen Botschaft» und einen einmaligen Besuch bei Bohr zu erinnern; von einer wissenschaftlichen Tagung des Propagandainstituts, von von Weizsäckers Anwesenheit in Kopenhagen und seinem eigenen (erhaltenen) Bericht an das Bildungsministerium war nirgends mehr die Rede51 . Personen und Taten verschwanden so aus der Geschichte. Auch erwähnte Heisenberg an keiner Stelle die laute Propaganda, die - mehrfach bezeugt - er und von Weizsäcker in Bohrs Institut und vor dessen dänischen Mitarbeitern (und deutschen Abhörmikrophonen ?) im Hinblick auf einen deutschen Sieg betrieben52, erwähnte schon gar nicht: ob deren Eindruck nicht damals und nachträglich das entscheidende Gespräch in Wahrnehmung und Erinnerung verändern mußte. Bohr wiederum korrespondierte noch im Oktober 1941 wenigstens mit von Weizsäcker, als verstünde man sich bestens 53, versteckte also vor den Freunden seine wahren Empfindungen. Auf Bohrs Seite erinnerte man sich an Heisenbergs bloß vage Andeutungen54 und seinen Unwillen, technische Details zu erörtern55 • Das stimmt mit dessen Ausführungen überein; der führende Kopf des deutschen «Uran-Projekts» wollte keinesfalls des Geheimnisverrats bezichtigt werden können; und Bohr scheute das offene Eingeständnis eines Vertrauensbruchs gegenüber Heisenberg. Doch legte der Däne 1943 in Los Alamos den amerikanischen Kernphysikern um Robert Oppenheimer, Edward Teller, Hans Bethe, Victor F. Weisskopf und anderen, die damals an der Realisierung der Atombombe arbeiteten, eine (heute verschollene) Zeichnung vor, die Bohr 1941 von Heisenberg erhalten haben soll und die Bohr oder seine Zuhörer geneigt waren, als Reaktorbombe zu interpretieren, obgleich Bethe und Weisskopf sie lediglich als Skizze eines Reaktors erklärten56 . Wie auch immer, die Zeichnung verdeutlicht, daß das Gespräch mit Heisenberg sich anscheinend doch technischen Details zugewandt hatte und keineswegs so kurz gewesen sein konnte, wie Bohr sich später zu erinnern meinte 57 . Zudem hatte letzterer in einer Denkschrift vom 3. Juli 1944 vermutet, daß die deutsche Seite in den ersten Kriegsjahren keine umfangreichen Versuche zur Gewinnung des spaltbaren Uran 235 unternommen habe; erst 1943 sei ihm eine fieberhafte darauf gerichtete Aktivität der Deutschen aufgefallen58 . Später, in den Jahren 1957-62, erinnerte er sich umgekehrt: Heisenberg schien ihm nun 1941 die Bombe
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geplant und Hans Jensen, ein weiterer deutscher Kernphysiker, der Bohr 1943 in Kopenhagen besuchte, bloß Entwicklungen zur industriellen Gewinnung von Kernenergie beschrieben zu haben59 • Auch hier also eine Inversion, eine temporale Inversion, die früher und später vertauschte. Genug der Gegenüberstellung. Sie hat erschreckende Diskrepanzen gerade auch in den je eigenen Erinnerungen aufgedeckt. Sie geben erneut entscheidende Winke über das Zustandekommen und den Wert historischer Quellen, soweit sie Geschehensabläufe boten und sich dem Erinnerungsvermögen verdankten. Das Kopenhagener Gespräch diene deshalb der weiteren Verdeutlichung eines allgemeinen Sachverhalts60 • Auf beiden Seiten wurde vergessen, verdrängt, vermutlich auch aus mancherlei Rücksicht dies oder jenes verschwiegen. Mit dreister Lüge, planvoller Falschmeldung, gar blanker Geschichtsfälschung - das sei eigens betont - hat das alles nichts zu schaffen, vielmehr mit den Irrungen eines vielfältigen Einflüssen ausgelieferten Gedächtnisses. Dasselbe bietet eine trübe Mixtur aus bewußtem und unbewußtem Agieren des Gehirns, weder für Beteiligte noch für Außenstehende leicht zu durchdringen. Oftmals erinnert «es» sich in uns. Doch niemand kann einem Hirn bei seiner Arbeit zusehen, schon gar nicht das arbeitende Hirn sich selbst. Wem aber ist dann zu trauen? Diesem? Oder jenem Beteiligten? Beiden zugleich? Keinem? Wer könnte das entscheiden? Wo kein dritter außer den beiden Beteiligten wissen kann, was einstmals geschah? Wie zuverlässig also memorierte das Gedächtnis Fakten? Nach den miteinander konfrontierten Erinnerungen der beiden Physiker ergibt sich ein desolates Bild: ein Treffen nämlich zu unbestimmbarer Zeit an unbestimmbarem Ort unter unbestimmbaren Umständen und mit unbestimmbarem Inhalt. Allein darin, daß es während der deutschen Besatzung Dänemarks unter vier Augen in der dänischen Hauptstadt stattfand und irgendwie das Uranproblem ansprach und beide Teilnehmer emotional ergriffen hatte, stimmen die Berichterstatter überein. Hier war nahezu alles im Fluß. Zum al das Vergangenheit gewordene Geschehen - weniger der ihm zugewiesene Sinn - veränderte sich, war es nicht buchstäblich festgeschrieben, je nach dem Augenblick und den Bedingungen seines späteren Abrufs durch das Gedächtnis. Ihm ist, stehen keine unabhängigen,
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Vier Fälle
dächtnis ursprünglich zugeflossenen Informationen, bewahrt das letztere nach gewisser Zeit mehr oder weniger ungenau oder gar nicht und stets modulations anfällig und variabel. Ein erschreckendes Ergebnis. Jedes Detail kann als Ganzes, in einzelnen Elementen oder in seinen Verknüpfungen falsch sein, fremde Zusätze aufnehmen, Wichtiges abstoßen, verzerrende Umwertungen vornehmen, obgleich auch zu späterem Zeitpunkt überraschend präzise Erinnerungen aufleuchten können. Doch was in welchem Umfang bei einer eben hervorgebrachten Gedächtnisleistung tatsächlich zutrifft, verrät keine Erinnerung aus sich selbst. Das ist die Crux der Historiker, die gleitende, instabile Erinnerungen gegeneinander abwägen müssen. Während das Gedächtnis progressiv an den Erinnerungen manipuliert, müssen Historiker regressiv die eingetretenen Veränderungen erfassen. Das gelingt keineswegs immer und oftmals nur hypothetisch.
1.4
Der dritte Fall: Ein Philosoph im kulturellen Leben 61
Wie notwendig es ist, sich sorgfältig umzuschauen, verdeutlicht ein drittes Beispiel. Es spielt im höchsten deutschen Bildungsniveau des früheren 20. Jahrhunderts und illustriert die Unabdingbarkeit radikaler erinnerungskritischer Skepsis. Es offenbart zugleich, wie ausgedehnt das Datenfeld ist, das von der Zersetzungsmacht der Erinnerung überflutet wird, und läßt alle jene die Erinnerung konstituierenden Faktoren wieder aufscheinen, denen wir in den früheren Fällen schon begegneten: die aktive Beteiligung (und nicht bloßes Zuschauerturn), die Selektion, die Anpassung an Muster, die Kontamination, die Wiederholung, die Inversion, das Gewißheitssyndrom, die Konstruktion eines Ganzen, die Kanonbildung und die Aktualisierung durch gleitende Anpassung an die sich wandelnde Gegenwart. Es fordert erneut strikteste Zurückhaltung gegenüber jeglichem Datenmaterial aus Erinnerungsleistungen, die sich auf ein der Mündlichkeit verpflichtetes Gedächtnis stützen müssen, und seien sie noch so beharrlich wiederholt. Eine Erzählung klinge höchst plausibel und überzeugend, wirke in sich völlig widerspruchsfrei, gehe unmittelbar auf die Handelnden selbst zurück, sei durch unabhängige, glaubwürdigste Zeugen bestätigt, sie unterliegt dennoch - so lehrt dieses Beispiel - schärfstem Irrtumsverdacht und muß ihre Verwerfung als historische Daten-Quelle solange dulden, bis sie unzweifelhafte, das heißt: gedächtnisunabhängige Bestätigung findet. Denn ihre Daten sind prinzipiell falsch. Das Beispiel entstammt den autobiographischen Skizzen Karl Löwiths.
Der dritte Fall: Ein Philosoph
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Im Jahre 1.940 beteiligte sich der aus Deutschland durch das Nazi-Regime vertriebene Philosoph in den USA, in die es ihn endlich verschlagen hatte, an der Preisaufgabe, das Leben in Deutschland vor und nach dem Jahre 1.933 zu beschreiben. Genauere Recherchen waren zu dem Zeitpunkt nicht möglich; Löwith schickte eine Autobiographie: «Mein Leben in Deutschland vor und nach 1.933», ganz seinem Gedächtnis entsprungen. Unter anderem gedachte er jenes herausragenden Augenblicks, als Max Weber vor Münchener Studenten über «Wissenschaft als Beruf» und «bald darauf» über «Politik als Beruf» sprach. Kurt Eisner war erschossen, so erinnerte sich Löwith, Gustav Landauer bestialisch gelyncht worden. «Der trostlose Anfang des [Ersten Welt-] Krieges hatte ein trostloses Ende gefunden ... In diesem Zustand einer allgemeinen Auflösung aller inneren und äußeren Bestände, an deren Bestehen nur unsere Väter noch glaubten, gab es in Deutschland nur einen Mann, dem Kraft seiner Einsicht und seines Charakters das bedeutende Wort zur Verfügung stand, welches uns ansprach: Max Weber ... Ein Münchner Buchhändler ... stellte uns den Raum zur Verfügung. In seinem Vortrags saal hielt Max Weber auf unsere Bitte im Wintersemester 1.91.8119 seine Rede über Wissenschaft als Beruf. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er bleich und abgehetzt mit raschen Bewegungen durch den überfüllten Saal zum Vortragspult schritt und unterwegs meinen Freund Percy Gothein begrüßte. Er sprach vollkommen frei ... Der Eindruck war erschütternd ... Nach den zahllosen Revolutionsreden der literarischen Aktivisten war Webers Wort wie eine Erlösung. - Ein zweiter Vortrag über Politik als Beruf hatte nicht mehr denselben hinreißenden Schwung»62. Zu deuteln gibt es an diesem Bericht nichts, nicht das geringste; zu mißtrauen ebensowenig. Löwith band seine Erinnerung in vielfältig gesicherte Tatsachen ein. München im Winter 1.91.8119, der Krieg beendet, die Revolution noch nicht überwunden, dennoch eine Sternstunde der deutschen Geistesgeschichte, erlösend «nach den zahllosen Revolutionsreden», mental und emotional ein bewegender Augenblick, ein aktiv beteiligter, seriöser Zeuge, ein skeptischer Philosoph, kurzum: beste Überlieferungsbedingungen. Das Gedächtnis war sich seiner Sache gewiß. Wahrheit winkte. Der Bericht weckt keinerlei Zweifel. Ort, Zeit und Bedeutung des Geschehens stehen danach unumstößlich fest. Löwith selbst gehörte zu den Mitveranstaltern des Vortrages. Ein symbolhaftes Bild hatte sich ihm eingeprägt: der bewunderte Mann, auf dem Weg zum Pult, den Freund begrüßend, bleich, überanstrengt, mit einer bewegenden Botschaft. Der zweite Vortrag, berühmt auch er, folgte alsbald. Knapp zwei Jahrzehnte nach dieser ersten Autobiographie bekräftigte Löwith seine Erinnerung: «Ich hatte 1.91.9 das Glück, Max Webers Mün-
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Vier Fälle
chener Vortrag über Wissenschaft als Beruf zu hören, und seitdem weiß ich, was ein bedeutender Mann ist. Die herben Schlußworte seines Vortrags sind mir noch wie vor vierzig Jahren gegenwärtig»63. Und noch einmal fünf Jahre später schrieb er: «Es war kurz nach der Abdankung der bayerischen Monarchie und dem Zwischenakt der Räterepublik, der Ermordung Kurt Eisners und Gustav Landauers, als Weber den Vortrag Wissenschaft als Beruf und bald hernach den zweiten über Politik als Beruf hielt. Ich war aus dem Kriege zurückgekehrt und hatte mein Studium in München begonnen. Man stand nach dem Ersten Weltkrieg allgemein unter dem Eindruck von Spenglers Buch Vom Untergang des Abendlandes, das 1918 erschienen war, und es gab in einem kleinen Kreis eine Diskussion über Spenglers geschichtsphilosophische Thesen, in der Weber der einzig Kompetente war ... In diesen meinen ersten Münchner Semestern war ich mit Percy Gothein, einem Sohn des Heidelberger Historikers, befreundet, und wir gingen zusammen zu Webers Vortrag ... Weber kam verspätet aus einer politischen Versammlung der demokratischen Partei mit raschem, elastischem Schritt in den Saal hinein, in der Hand hatte er einen kleinen Zettel mit ein paar Notizen ... »64 Zwar wird der Tag jenes großartigen Vortrages nicht mehr erinnert. Doch «Wintersemester 1918119» in dem einen und «1919» in dem anderen Bericht läßt gemäß den bekannten Münchener Semesterzeiten und der allbekannten historisch-philologischen Methode das Datum des Vortrages auf Januar/Februar 1919 eingrenzen. Jeder Anfänger könnte das berechnen und jeder Fachmann beeiden. So galt es denn auch jahrzehntelang. Ja, Marianne Weber, die Ehefrau, bekräftigte dieses Datum, und auch andere Zeitzeugen verbürgten sich für dasselbe. , so konstatiert der methodenbewußte Historiker, bestätigen also den Augenzeugen. Was bedurfte es mehr. Hier winkte Fakten-<;;ewißheit. Allein, der Vortrag fand am 8. November 1917 statt; erst jener zweite über Politik als Beruf folgte fünfzehn Monate später, am 28. Januar 1919. Das steht unerschütterbar fest, beweisbar durch die Münchener Tagespresse und nur durch sie, die am 7. November 1917 Wissenschaft als Beruf ankündigte und am 9. November über den Vortrag berichtete6s . Der hochgelehrte Philosoph, der Zeitgenosse, der Beteiligte, der vertraueneinflößende Augenzeuge, der «rechte Mann», wie der Methodologe Ernst Bernheim ihn genannt hätte66, irrte; die : durchweg nichts wert. Gedächtnis trügt. Es verdient als Datenlieferant kein Vertrauen. Es vermengte alles mit allem; und je häufiger es seine Geschichte wiederholen durfte, desto gewisser wurde sie ihm und desto detailreicher. Doch um keinen Deut den Tatsachen gemäßer; im Gegenteil, es fügte, verfangen in seinem unzutreffenden Konstrukt, weitere Irrtümer hinzu.
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Webers berühmter Vortrag fand mitten im Kriege statt, nicht nach der deutschen Kapitulation und in den Tagen der Revolution, deren Reden den Kriegsheimkehrer noch nicht in Unruhe versetzt hatten; Eisner (t 21.. 2.1.91.9) und Landauer (t 2. 5.1.91.9) lebten noch und wurden deutlich nach den beiden erwähnten Vorträgen, Eisner allerdings vor zwei weiteren ermordet, die Weber in München am 1.2. und 1.). März 1.91.9 hielt67 • Löwith selbst begann sein Studium, wie die Münchner Universitätsakten ergeben, bereits im Wintersemester 1.91.7118, nicht erst im Sommer 1.91.8, wie er sich zu erinnern meinte 68 • Max Weber lebte, als er über «Wissenschaft als Beruf» sprach, noch in Heidelberg und lehrte noch nicht in München. Spenglers «Untergang» gab noch nicht die aufwühlende Begleitmusik seines Vortrages; erst mit «Politik als Beruf» verhielt es sich anders. Die beiden ungleichen Reden überlagerten in Löwiths Erinnerung einander und wurden in eins verwoben. Die fernere wurde durch das Teleskop der näheren wahrgenommen; die spätere überschrieb die frühere. Das Ergebnis war ein nicht mehr zu trennendes Gemisch. Im Gedächtnis leuchtete ein Bild auf, eine Begrüßungsszene. Wann aber begrüßte, abgehetzt, Professor Weber den Studenten Gothein, bei seinem ersten oder zweiten Vortrag 7 Bei einer anderen Gelegenheit? Percy wohnte in der fraglichen Zeit noch in Berlin und nicht in München69 • Wann eilte Weber, verspätet, aus einer Münchner Versammlung der demokratischen Partei zum Vortrag, im November 1.91.7 oder im Januar 1.91.97 Später? Wann also formte sich der erschütternde Eindruck: im Krieg oder hernach ? Löwith erinnerte ein Bild; doch mit welchen Daten es zu verbinden war, hielt das Gedächtnis nicht fest. Alles, was sich nur ihm, dem Gedächtnis, verdankte (mithin nicht die Tatsache der Vorträge oder die gedruckten Texte, die Löwith zweifellos besaß und benutzte), ist wiederum so von Irrtümern, Fehldaten, Verwerfungen und Verzerrungen durchsetzt, daß kein Detail ungeprüft als korrekt hinzunehmen ist: die beteiligten Personen, die Orte, die Zeitangaben, die Zielsetzungen, Motive und Umstände, die einst aktuellen Emotionen, die Rahmenhandlungen und Handlungskontinuen, prinzipiell alles, was das Geschehen einst konstituierte, ist von Irrtümern des Gedächtnisses durchtränkt, das Späteres mit Früherem, Eigenes und Fremdes verschmilzt. Allein die seelische <Erschütterung> blieb, der existentielle Sinn, den die Episode für den Autobiographen angenommen hatte. Verlauf der Episode und die Sinnstiftung, der sie unterworfen wurde, traten abermals in der Erinnerung auseinander. Das sich erinnernde Ich schafft sich ein biographisches Ganzes' seine Wahrheit, sein Selbst, sein geistiges Sein; und davon zehrt es in jedem Augenblick und für alle Zukunft.
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Vier Fälle
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Der vierte Fall: Ein Fürseo
«Lieber Herbert, ich beeile mich, Ihnen über das unerhörte Ereignis, das sich hier zugetragen hat, einige Worte zu schreiben ... » Taufrisch fließt die Erinnerung an eben Gesehenes in die Feder des Zeugen. «Ich beeile mich ... zu schreiben!» Die Daten, die dann geliefert werden, sollen zuverlässig sein. Der tragische Tod von Majestäten, um einen solchen handelte es sich, bewegt die Gemüter und treibt sie zur Niederschrift des Erlebten. So geschah es auch bei Ludwig 11., dem psychisch kranken, zuletzt entmündigten König von Bayern, «dem unwirklich schönen Jüngling», wie ihn der Historiker Michael Doeberl nannte, der, so heißt es, selbst den Tod suchte und von dessen Ende im Starnberger See der eben zitierte Brief tatsächlich handelt. Sein Absender hieß Philipp zu Eulenburg, damals Legationssekretär der Preußischen Gesandtschaft in München und Graf, später ein Mann der Kamarilla um Wilhelm 11. und Fürst, ein verläßlicher Zeuge, wie anzunehmen ist; der Empfänger war Herbert von Bismarck, der Sohn des Reichskanzlers, sein Freund. In der nüchternen Sprache der Presse las sich der Sachverhalt wie folgt: «Nachdem Seine Majestät der König seit der Ankunft in Schloß Berg den ärztlichen Rathschlägen ruhige Folge geleistet hatte, machten Allerhöchstdieselben gestern Abend 6,30 Uhr in Begleitung des Obermedizinalrathes Dr. von Gudden einen Spaziergang in den Park, von dem Allerhöchstdieselben und Dr. von Gudden längere Zeit nicht zurückgekehrt sind. Nach Durchsuchung des Parks und des Seeufers wurden Seine Majestät mit dem Obermedizinalrath Dr. von Gudden im See gefunden ... Um 1.2 Uhr Nachts wurde der Tod Seiner Majestät konstatiert. Gleiches war bei Dr. Gudden der Fall.» So die Münchener «Neueste Nachrichten» vom 1.+ Juni 1.886, vom Morgen nach dem Tod, einem Pfingstmontag. Alle vermeintlich näheren Umstände des «Trauerspiels, das ganz Europa in Aufregung versetzte und eine unerschöpfliche Quelle für Legenden und Sagenbildung wurde» (Eulenburg, ed. v. See S.1.1.5) wurden erst später bekannt: daß der König vermutlich keinem Unglücksfall erlegen, sondern den Tod gesucht hatte, daß Dr. von Gudden vermutlich von allerhöchstderselben Hand stranguliert und unter Wasser gedrückt worden und ertrunken war, daß dieser unglückselige Monarch im Tode somit Mörder und Selbstmörder wurde. Doch der Rest traf zu: daß der König gegen 1.8.30 Uhr in Begleitung seines Arztes einen Spaziergang unternommen, von dem er nicht zurückgekehrt; daß man erst im Park, dann am Seeufer zu suchen begonnen, daß nach vergeblichen ärztlichen Be-
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mühungen seitens des zweiten betreuenden Arztes Dr. Müller gegen Mitternacht der Tod protokolliert worden war. Auch die «Wahrheit» von Selbstmord und Mord sickerte bald durch. Der eingangs zitierte Graf diene mit seinen Erinnerungen zum Studienobjekt. Wie nahmen dieselben sich aus? Sie liegen in mehrfacher Version vor: in dem zitierten, unter dem Datum des 1+ Juni, früh, an Herbert von Bismarck gerichteten (und in dessen Nachlaß tatsä~hlich vorhandenen) Brief sowie in einem nicht zu datierenden, von Eulenburg zur Drucklegung bestimmten und von seiner Witwe 1934 herausgegebenen Bericht, erkennbar mit literarischem Anspruch. Er habe nach Auskunft der Fürstin und gemäß der Versicherung seines Autors als geschehensnah zu gelten71 , enthält aber Daten, die eine Überarbeitung um das Jahr 1912 oder später zu erkennen geben, nahm mithin erst über ein Vierteljahrhundert nach dem Geschehen die zum Druck gebrachte Gestalt an. Gleichwohl, diese Schilderung müsse, da Augenzeugnis, so folgerte der erste Biograph des Fürsten72, «als einzig authentische betrachtet werden». Wir werden sehen, was es damit auf sich hat. Dieser Historiker jedenfalls rechnete nicht mit der Dynamik des Erinnerns. Auch der Brief verlangt genauere Betrachtung. Er liegt in zwei Fassungen vor, deren jüngere unter dem unmöglichen Datum des 13. Juni geht und nach Starnberg lokalisiert ist, während das tatsächlich spedierte Schreiben als Absendeort München angibt. Die Starnberg-Fassung befindet sich im Nachlaß des Absenders und wurde von ihm als Beilage für die Druckfassung seiner «Erlebnisse» bestimmt und dafür in Maschinenschrift übertragen. Beide Brieffassungen unterscheiden sich nur in wenigen Passagen, doch gerade an entscheidenden Stellen. Ich komme darauf zurück. Publiziert finden sich ferner Eulenburgs am 1+ Juni von München aus an den preußischen Prinzen Wilhelm, den künftigen Kaiser, gerichteter Brief sowie ein weiteres (undatierbares) Schreiben an einen nicht mehr identifizierbaren Empfänger73 • Der Graf und spätere Fürst hat sich demnach wiederholt an das denkwürdige Geschehen erinnert, dessen Augen- und Ohrenzeuge er teilweise gewesen. Hier genüge die Gegenüberstellung des Berichts und des Briefes an Bismarck in der Nachlaßfassung, die ihr Urheber ja in gleicher Weise für korrekt hielt. Beide Dokumente stimmen in den Hauptzügen tatsächlich überein, unterscheiden sich aber, obgleich sie demselben Ereignis, demselben Berichterstatter, derselben Betroffenheit gelten, in den angesprochenen Fakten ganz erheblich voneinander. Die Unterschiede verraten einiges über die Arbeitsweise des Gedächtnisses. Ihr Urheber freilich und noch der Kriminalist Wilhelm Wöbking, dem die gründlichste und scharfsinnigste Untersuchung zu Ludwigs 11. Ende zu
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verdanken ist, haben diese Widersprüche nur unzureichend beachtet, obgleich sie kräftig an der Zuverlässigkeit der Augen- und Ohrenzeugnisse rütteln: Brief
Bericht
Ich war gestern abend spät nach Starnberg gefahren [d. h. am 1.2.6.]
Ich war am gefahren .
... wurde heute früh ... um 4 Uhr gewecTet (vgl. dazu unten im Bericht)
Gegen Morgen ... wurde ... ich gewecTet
Gendarmen bewachten den Eingang zum Schloß, und man führte mich, da ich den Leuten beTeannt war, zu dem toten König, den man soeben in seinem Bette, bis auf das Hemd entlcleidet, niedergelegt hatte.
Niemand war sichtbar, niemand hielt mich auf - alles stand offen. Ich schritt eilends zum Schloß und trat ein. 1m Flur hörte ich Tritte. Ich ging dem Laut nach - und es standen zwei Gendarmen vor mir ...
1.1..
Juni '" nach Starnberg
Zwei Zimmer davon lag Gudden. Ich eilte weiter. Die Türen zu den blaus ei-
denen Salons im ersten StocTe standen offen, und ich trat ein. Da stand ich allein vor der Leiche Guddens ... Jetzt aber vernahm ich in dem zweiten Zimmer daneben ein leises Geräusch, wie Tritte von Menschen, die hastig, aber leise durcheinandergehen, und trat durch die Tür. Da stand ich vor der Leiche König Ludwigs, die nur mit einem Hemd belcleidet auf sein Bett gelegt war, das mitten in das Zimmer gestellt war. Dr. Müller und Graf Törring waren im Nebengebäude
Unten, im Zimmer des Gefolges fand ich Dr. Müller und Graf Törring ...
Sie machten mir folgende Angaben
Beide waren tatsächlich nicht fähig, mir zu antworten, sondern stammelten nur wenige unverständliche Worte. Ich wollte mich an Baron Washington wenden - dieser aber hatte sich, halb besinnungslos vor Erregung, auf ein Sofa geworfen und befand sich in einem Zustand völliger UnzurechnungsfähigTeeit. So hielt ich mich an die Gendarmen,
den Verwalter und die Pfleger, und erfuhr folgendes ...
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Als um 8 Uhr zum Abendessen niemand kam, begann das ganze Schloßpersonal zu suchen.
Als der König und Gudden um neun Uhr noch nicht zum Essen zurüc!cgekehrt waren, ... begaben sich einige der Angestellten in den Park ... Unterdessen wurde es dunkel, und die Angst steigerte sich. Baron Washington und Dr. Müller verteilten die Leute des schlosses mit Fackeln in den Park und schlossen sich der Suche an.
Man fand erst gegen 11 Uhr bei Fackel 7 schein am Seeufer den Hut des Königs. Gleich darauf die Leiche des Königs und Guddens im Wasser.
Es mochte ein Uhr in der Nacht sein, als er [sc. Fischer Liedl] plötzlich eine menschliche Gestalt dicht am Ufer im See ... gewahrte. Es war die Leiche Guddens ... Kurz darauf ... gewahrte er nun einen zweiten Körper im See treibend ... Es war der König ... Ich beschloß nun an der Unglücksstelle, die mir genau bezeichnet worden war, selbst nachzuforschen ... Unterdessen war es heller Tag geworden, es mochte vier Uhr gewesen sein, und die hervorbrechende Sonne ließ durch das klare Wetter den Seegrund am Ufer genau erkennen ... (vgl. dazu oben im Brief)
Ich ging zu der Stelle
Der Fischer Ernst ruderte mich an die Stelle" .
und konstatierte, daß in dem Weidengebüsch, hart am Seeufer, ein Kampf stattgefunden hatte. Alles war niedergedrückt und eine Menge Fußspuren, bunt durcheinander, waren im Sande abgedrüclct.
... Schilf ...
Hier hatte der Hut gelegen. Der Rock des Königs ... lag etwas weiter im Wasser ". Die Spuren ließen sich bis in das seichte Wasser verfolgen
Ich verfolgte vom Boot aus die durch das klare Wasser im hellen Sande noch genau sichtbaren Fußspuren des Königs und Guddens. Ein Irrtum war in dieser Hinsicht nicht möglich, da die Leichen durch Fischer Liedl und die in Booten zur Hilfeleistung gekommenen Schloßdiener aus dem See direlct in die Boote gehoben und so dann bis zu dem
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Landungssteg am Schloß gefahren worden waren. An der Unglückstelle war niemand, bevor ich kam, in den See gegangen. Hut und Rock des Königs lagen dicht am Ufer im seichten Wasser ... Von dem Wege aus '" zeigte das geknickte Schilf den Weg, den der König nahm, ... Im Wasser erreichte Gudden den König ... Hier waren die Fußeindrücke auf einem Raum von etwa vier Fuß im Durchmesser ganz durcheinander sichtbar ... Ich stand so sehr unter dem Banne dieser merkwürdigen, sprechenden Fußspuren, daß ich einige Stunden später noch einmal an die Stelle mit dem Boot zurückkehrte, um nochmals den merkwürdigen Anblick zu haben - aber das Wasser hatte bereits die unheimliche Schrift verwischt, und so hatte niemand außer mir in diesem merkwürdigen Buche gelesen.
Die Varianten sprechen für sich. Sie betreffen schlichte Tatsachen, nicht Interpretationen oder elaborierte Hypothesen. Die Erinnerung desselben Zeugen hält nahezu nichts gleichbleibend fest. Sie konstruiert erinnertes Geschehen jeweils neu. Zeiten, Abfolge und Orte geraten dabei durcheinander, Land und Wasser, Fußweg und Bootsfahrt zerfließen, das Weidengebüsch verschwindet, Schilf taucht auf, der Ort des Kampfes geht unter, das Boot der zweiten Tatortbesichtigung scheint sich in die erste Untersuchung einzuschieben, die Details verwandeln sich, lösen sich vollends auf, Personen treten hinzu oder verschwinden, ihr Tun wird umgewertet, der Berichterstatter dominiert mit der Zeit, auch gewichtet er die eigene Rolle höchst vorteilhaft mit einer steigenden Glorifizierungstendenz; Dramatisierung und Stilisierung nehmen zu. Der Leser ahnt, daß die Geschichte mehrfach erzählt wurde, bevor sie die für die «Erlebnisse» gewonnene Gestalt annahm. Dasselbe war nicht mehr dasselbe. Die Dinge selbst, die scheinbar harten Tatsachen - Zeit, Ort, Spuren, Requisiten, Tun und Beteiligte, die Wirklichkeit -, hatten sich in der Erinnerung gründlich gewandelt, keineswegs bloß das Darstellungsmuster oder der Grad der Selbstverherr-
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lichung. Nur der Tod am Rande des Starnberger Sees stand unerbittlich fest. «Der Schrecken, das Entsetzen hatte alles gelähmt, was in Berg war. Als ob das Schloß, die Umgebung, der Park, mit dem König gestorben waren. Nichts rührte sich, als ich lange Zeit umherwandelte. Es war genau, als sei alles ein langer, unwahrscheinlicher Traum gewesen» 74. Eine emotionale Grundstimmung hatte sich aller Erinnerung bemächtigt und trug nup dazu bei, aus einer mit sich selbst identischen Tat - möglicherweise nach relativ kurzer Zeit - zwei verschiedene Tathergänge zu produzieren, wenn noch Tathergang zu nennen ist, was sich als Konstrukt eines ständig umformenden Gedächtnisses zu erkennen gibt. Es kommt noch schlimmer. Denn Eulenburgs Erinnerungen lassen sich partiell an den Aussagen anderer Augenzeugen kontrollieren und falsifizieren. Nur die gravierendsten Divergenzen seien angeführt. Zunächst zur Unglücksstelle: Der Hut und die beiden noch übereinandergezogenen Röcke des Königs wurden in etwa 47 m (60-65 Schritt) Entfernung voneinander am Seeufer entdeckt. Dort, wo die Röcke gefunden wurden, waren Ludwig und Gudden ins Wasser gegangen, wo sich erst im Wasser entsprechende Spuren tatsächlich schwach abzeichneten. Niedergetretenes Gebüsch oder Schilf gab es hier indessen nicht, die Randzone zum See bedeckte vielmehr «Buchenjungholz und Fichten untermischt»; auch war gerade an dieser Stelle das «Gehölz zwischen Seeweg und Ufer lichter als auf der übrigen Wegstrecke» (so das richterliche Protokoll vom 14. Junif5. Eulenburg aber hat - wie der Brief an Bismarck eindeutig ergibt - die Hutanlandungsstelle und nur sie besichtigt. Dort gab es keine Fußtritte von König und Arzt auf dem Seeboden oder an Land; von dort aus waren (entgegen Eulenburgs Annahme) die Spuren vom «Endkampf» des Königs mit seinem Arzt auch nicht zu erkennen. Wohl aber waren hier, etwa 19 m vom Ufer entfernt, die Leichen entdeckt und an Land geschoben worden, wo die Toten, von Landseite unterstützt, ins Boot gehoben wurden. In Eulenburgs Erinnerung verschmolzen die beiden Stellen und mit ihnen die Spuren hier und dort in eins, wenn er denn die relevanten Spuren bei des Königs Rock je wahrgenommen hatte, was zu bezweifeln stehe6 . Das niedergedrückte Weidengebüsch, die «Menge Fußspuren ... im Sande», die der Graf am Ufer gesehen und als Spuren eines Kampfes gedeutet hatte, waren tatsächlich von den Helfern der Leichenbergung verursacht. Mindestens neun Personen hatten sich dabei in nächster Nähe des Ufers bewege 7 • Dort indessen, wo König und Arzt den See erreichten, gab es am Ufer derartige Spuren niche 8 • Auch Eulenburgs Berufung auf den Fischer Liedl führt in die Irre. Derselbe hatte den Schloßverwalter Huber und den Arzt Dr. Müller, die im See zu suchen begannen, gerudert. Erst wurde Ludwigs, dann Gud-
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dens Leiche gesichtee 9, nicht umgekehrt, wie Eulenburg schrieb, auch nicht vom rudernden Fischer, sondern von seinen Passagieren. Die Toten wurden nicht im Wasser «in die Boote gehoben und ... zu dem Landungssteg am Schloß gefahren», so daß niemand «an der Unglücksstelle ... in den See gegangen» war, vielmehr durch den sogleich bei Entdeckung der Königsleiche in das etwa 1,)0 m tiefe Wasser gesprungenen Schloßverwalter von der Fundstelle an Land geschoben und dort im seichten Wasser durch Helfer, die sich am Ufer eingefunden hatten, zwecks Wiederbelebungsversuchen in Liedls Boot gehoben 80 • Andere Boote waren daran nicht beteiligt. Die Spuren, die der Graf unter Wasser sah, waren Hubers und seiner Helfer Tritte, nicht die des Königs und seines Arztes, wie der Graf meinte. Eulenburg hatte ganz offenkundig die falsche Stelle besichtigt. In seiner Erinnerung aber überlagerte sich das Wissen um die richtigen mit den tatsächlich wahrgenommenen falschen Spuren; seine Leser einschließlich des Kriminalisten Wöbking folgten ihm darin bereitwillig. Die Mehrdeutigkeit von Sinnessignalen und Informationen gestattete eine derartige Vermengung. Unser Wissen verzerrt sich, wenn nicht spezifische Vorkehrungen getroffen werden, durch die Kette der Gedächtnisse, an die es angeschlossen ist. Eine solche Kette aber läßt sich nur begrenzt als eine Transmissionsvariable einkalkulieren. Ferner brach in Eulenburgs Erinnerung am Morgen des 14. Juni die Sonne durch und ließ das klare Wetter den Seegrund erkennen. Tatsächlich regnete es in den Morgenstunden heftig und dauerhaft, so daß die schon in der Nacht angelaufene Untersuchung bis zur Wetterbesserung am Nachmittag eingestellt werden mußte 81 . Außer ihm, so der Graf, hätte niemand die Spuren im Wasser registriert. Wann aber besichtigte er die beschriebene Stelle? Nach dem spedierten Brief an Bismarck wurde er «früh um 7 Uhr geweckt»; nach der Zweitfassung in seinem Nachlaß schon «um 4 Uhr», nach dem Bericht unbestimmt «gegen Morgen». Doch will er danach bereits gegen «vier Uhr» früh sich zur Unglücksstelle am See begeben haben, müßte somit gegen 2 Uhr nachts geweckt worden sein. Die Zeitangaben seiner diversen Erinnerungsleistungen stimmen also nicht überein. Je jünger die Erinnerungen, desto früher wurde der Zeitpunkt des Weckens. Vom Tag des Geschehens stammt nur der spedierte Brief. Von ihm allein ist auszugehen. Danach traf Eulenburg erst einige Zeit nach sieben Uhr morgens an der Unglücksstelle ein. Zu diesem Zeitpunkt aber wurden die richtigen Spuren bereits auf Geheiß des noch in der Nacht aus Starnberg herbeigerufenen und tätig gewordenen, die Untersuchung leitenden Oberamtsrichters Jehle durch im Seeboden befestigte Fähnchen und Warn tafeln gesichert, um
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dann am Nachmittag bei besserem Wetter ausgemessen zu werden82. An diese Tafeln erinnerte der Augenzeuge sich nicht, auch nicht «einige Stunden später», als er die Spuren noch einmal aufgesucht haben will. Daß, wie er schrieb, nun «das Wasser ... bereits die unheimliche Schrift verwischt» und somit «niemand außer mir in diesem merkwürdigen Buche gelesen» habe, traf keinesfalls auf die durch die Tafeln identifizierten Spuren zu. Diese wurden vielmehr seit dem Montagnachmittag von der Presse beachtet und waren elf Tage später, am 25. Juni, im ruhigen See noch deutlich zu erkennen, wie der Richter Jehle zu Protokoll gab 83 . Eulenburgs Gedächtnis erfand Geschichten. Indes, seine Erinnerungen wurden maßgeblich herangezogen, um den Geschehenshergang zu rekonstruieren und damit Schuldzuweisungen vorzunehmen 84 . Was kam dabei heraus? Bei heftigem Gerangel habe der König Gudden im Gesicht verletzt, ihm einen «kräftigen Faustschlag gegen den Kopf und auf den Zylinderhut» verpaßt, ihn schließlich «erheblich gewürgt oder gewürgt und untergetaucht. Dr. Gudden wurde bewußtlos, fiel ins Wasser und ertrank oder erstickte auf Grund der fest angesetzten Würgegriffe». So der Kriminalist Wöbking (1986). Auch jetzt kann nur das Wichtigste angesprochen werden. Wöbking stützt seine Folgerungen zumal auf Eulenburg. In der Tat, dieser, ein Diplomat, kein Arzt, gab an, «die fürchterlichen Strangulationsmarken an seinem [d. h. Guddens] breiten Hals» gesehen zu haben. Sie machten den König zum Mörder. Umgehend zog schon der Graf die Folgerung: Gudden «war von seinem König erwürgt worden»85. Wöbking akzeptiert es 86 . Wie steht es darum? Wieder nehmen Eulenburgs Erinnerungen an Dramatik und an scheinbarer Präzision zu, je weiter sie sich vom Geschehen entfernten. «Der König ... hatte ... den ihm auf den Fersen folgenden Arzt am Halse gefaßt und ihn unter Wasser mit so dämonischer Gewalt gedrückt, daß der große, starke Mann [d. i. der König] bis an die Knie im Lehmboden versank. Die Strangulationsmarken hatte ich an der Leiche gesehen»87. So steht es im Bericht von 1934. Der an Bismarck am 14. Juni 1886 geschickte Brief enthielt nicht den geringsten Hinweis auf diese «Marken». Erst dessen undatierbare überarbeitete Nachlaßfassung fügte sie ein: «Gudden trug Zeichen eines stattgehabten Kampfes auf seiner Stirn und Strangulationsmarken am Hals», hieß es nun. Wöbking interpretiert: «Die Gründe für diesen nicht unwesentlichen Zusatz sind zuverlässig nicht mehr festzustellen, dürften jedoch in einer späteren - nach Absendung des Originalbriefes - liegenden Erkenntnis zu finden sein» 88. Welcher Art diese «Erkenntnis» gewesen sein könnte, bleibt unerklärt. Eulenburg berief sich auf sein Augenzeugnis; der Kriminalist glaubte
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ihm: «Eulenburg beobachtete ... Flecken am Hals»89. Der Graf aber hatte am 14. Juni derartige Flecken tatsächlich nicht gesehen, wie der abgesandte Brief an Bismarck unzweifelhaft zu erkennen gibt; und später untersuchte er den Leichnam nicht mehr. Auch lag dem Zeugen, als er vor Guddens Leiche stand, der Gedanke fern, der König habe seinen Arzt erwürgt. Im Brief an Bismarck spekulierte er vielmehr: «Hier [d. h. in dem vom Ufer aus noch einsehbaren «seichten Wasser»90] muß der König Gudden bewältigt haben, der dabei ertrank ... Der König wird, nachdem er Gudden bewältigt hatte, versucht haben zu fliehen. Er schwamm früher gut. Oder er hat sich ertränkt? Oder er hat Gudden von sich gestoßen und hat dieser sich, als er den König verschwinden sah, das Leben genommen? Weiß der Himmel, wie diese Tragödie zuende ging! »91 Wer so schreibt, weiß nichts und hat keine Strangulationsmale gesehen. Eulenburg strich die zitierten Sätze denn auch in der für den Druck bestimmten und um die Strangulationsmarken erweiterten Fassung seines Briefes an den Freund. Erst in der von späteren Informationen überschriebenen Erinnerung, wie sie der Bericht fixierte, hatte er die Marken «gesehen». Indes, Guddens Leiche, die nicht seziert wurde, war im Laufe des 14. Juni wiederholt und gründlich betrachtet worden92 • Man suchte nach Zeichen des Kampfes mit dem König, da man von einem solchen längst überzeugt war, nach Verletzungen, die Gudden vom König beigebracht waren. Man registrierte zwei Schürfungen über Nase und Stirn, deren eine «deutliche Effekte von ansetzenden Fingernägeln» sei, eine kräftige Beule über dem rechten Auge, einen zur Hälfte abgerissenen Fingernagel am rechten Mittelfinger93 . Jeder Hinweis auf Strangulationsmale fehlt, auf Marken, die Eulenburg doch zur nämlichen Zeit oder sogar noch früher im Dämmerlicht der frühen Morgenstunden gesehen haben Will94, obschon spätestens am Montagnachmittag sich die Überzeugung verbreitete: «Gudden ist ... wahrscheinlich vom König, der ihn mit den Händen, vielleicht auch mit einem Fuße, im Wasser festhielt, ertränkt worden». Die «Constatierung» traf der amtierende bayerische Justizminister Dr. Fäustle in einem privaten Brief an seine Gattin; Strangulationsmale zu erwähnen hätte er sich gewiß nicht gescheut, wären solche sichtbar gewesen95 . Für diese «Marken» werden neben Eulenburg noch zwei weitere Zeugen angeführt. Deren einer war gleichfalls Diplomat, der österreichische Gesandte Baron Bruck nämlich, der «Anzeichen ... einer Strangulation» erwähnte. Doch ist sein Zeugnis ohne Wert, da kein Augenzeugnis, vielmehr Kolportage aufgrund von «Mittheilungen ... , welche von den Augenzeugen heute hier vertraulich mitgetheilt wurden»96. Dieser Augenzeuge kann nach allem, was heute bekannt ist, lediglich Professor
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Grashey sein, ein zur Behandlung des Königs zugezogener Irrenarzt und zugleich Guddens Schwiegersohn. Er war noch in der Nacht telegraphisch informiert worden97 und dürfte - wie andere auch - den Leichnam seines Schwiegervaters genau betrachtet haben. Er aber sprach gerade nicht von Strangulation, sondern erwähnte in einem Nachtrag zu seinem Nachruf auf Gudden, der 1886 erschien98 , lediglich «an der rechten Seite des Halses zwischen Kehlkopf und musc. sterno-cleido-mastoideus mehrere wie von Fingereindrücken herrührende blaue Flecken»99. Kein zweiter, kein älterer Bericht hatte sie zu verzeichnen. Die erwähnten Male, wenn sie denn nachträglich, was möglich ist, sichtbar geworden sind, können auch postmortal entstanden sein, etwa bei der Bergung oder dem Transport der Leiche 100. Im übrigen können Guddens Verletzungen im Gesicht und am Hals auch auf heftige Berührung mit Buchenjungholz oder Fichten beim Verfolgen des Königs oder von dem Taxusstrauch herrühren, in den der Arzt bei derselben Gelegenheit gefallen sein dürfte 101 . Er könnte eine «dort [60 cm] abfallende Terrasse»102 in der Eile des Nachsetzens nicht bemerkt haben und gestrauchelt sein, wobei er seinen Schirm verlor, der dort gefunden wurde. Für ein derartiges Zustandekommen der Verletzungen spricht, daß alle Wunden und Flecken, die registriert wurden, einschließlich des abgerissenen Fingernagels nur auf einer, der rechten Körperseite zu finden sind. Genug der Fehlleistungen Eulenburgs. Der Graf und Fürst erinnerte ein reales Geschehen, dessen Partizipant er war. Aber alle erinnerten Fakten waren, obgleich sachlich plausibel, mit der Zeit so durcheinander geraten, daß keines mehr zutraf. In dieser Erinnerung überlagerten wiederholte Geländebesichtigungen je vom Ufer und vom Boot aus einander, vereinten sich wahre und falsche Spuren zu einem einzigen Erinnerungsbild, vermischten sich eigene Wahrnehmungen mit fremden Berichten, Vermutungen, Urteilen und verschmolzen zu einer visuellen Chimäre, die fortan irrige Folgerungen zu produzieren erlaubte, deren einziges Ziel darin bestand, den König als Mörder zu betrachten. So entstand ein plausibles Konstrukt, dessen Wahrheit und Falschheit weder der Zeuge noch sein Publikum zu durchschauen vermochten. Die Wirklichkeit war nicht mehr wirklich. Erst der detaillierte Vergleich der zu unterschiedlichen Zeiten fixierten Erinnerungen und die Konfron tation mit neutralen Quellen gestattet, die Fehlerhaftigkeit des Gedächtnisses und deren Ausmaß zu durchschauen. Arme Historiker, die aus dergleichen Zeugnissen die unwiederbringlich abwesende Vergangenheit erfassen müssen. Sie jagen Gespenstern nach. Kein Gebot, kein Erzählmuster, kein Wille zur Wahrheit schützt vor dem Fließen der Erinnerung unserer wichtigsten Zeugen, vor dem Zerfließen einstiger Wirklichkeit.
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Man sah zudem, was man sehen wollte: Einen irren, brutalen, gewaltbereiten Monarchen, der in seiner Hünenhaftigkeit (Ludwig maß 1,91 m) der Pfleger, nicht des dem Greisenalter sich nähernden Gudden zur Bändigung bedurft hätte. «Armer Gudden! »103 Ludwig aber «war ein Ungeheuer und ist als ein solches gestorben». So der Justizminister Dr. Fäustle in dem erwähnten Brief zwei Tage nach dem Unglück an seine Gemahlin. Es sind die Vorannahmen und Erwartungen des Publikums, welche die «Wahrheit» erfanden. Die Prämissen der untersuchenden Hof- und Regierungsbeamten, der informations gierigen Diplomaten, der berichterstattenden Journalisten und überhaupt der «intimen Kenner» des Königs, ja, selbst noch der Kriminalisten von heute: Sie stempelten den Wahnsinnigen zum Mörder. Das Vorwissen bescherte schon beim Spurenlesen den König als Täter, den schmächtigen Arzt als Opfer 104, lenkte die sinnlichen Wahrnehmungen und suggerierte die vorgewußten Deutungen. Indes, ohne derartige Implikationen macht kein einziger der wahrgenommenen Befunde, kein einziges Indiz Ludwig 11. zu einern Mörder.
1.6
Konsequenzen: Irritation der Wirklichkeit durch Erinnerung
Die vorgestellten Beispiele offenbaren - abweichend von Simonides' oder Ciceros Optimismus - eine erschreckende Unzuverlässigkeit und Fehlerhaftigkeit aller Erinnerungen. Selbst die gelehrtesten Zeugen erinnern sich falsch; Interesse und Motivation ändern diesen Befund, wie der Vergleich der Episoden untereinander verdeutlicht, allenfalls graduell, nicht prinzip eil. Gleichartige Phänomene begegnen einern aber fortgesetzt und allenthalben und keineswegs bloß im 19. und 20. Jahrhundert. In ihnen verbirgt sich ein fundamentales quellen- und erkenntniskritisches Problem, das überall dort zum Tragen kommt, wo Erinnerungszeugnisse unser Wissen dominieren. Psychologen ist das längst vertraut. Historiker aber scheuen sich, die Konsequenzen zu ziehen. Die erinnernd dargestellten Erlebnisse waren, wie real sie auch waren, schon auf der Ebene einfachster Gegebenheiten von Verzerrungen, Verformungen und Fehlern durchsetzt, derer der sich Erinnernde nicht bewußt wurde. Gleichwohl ließ sich die Fehlerhaftigkeit erkennen, weil mehrere Versionen der Erinnerungen desselben Urhebers an dasselbe Erlebnis vorliegen, und weil Kontrollzeugnisse wie richterliche Protokolle, eine Tageszeitung, Tonbänder und geschehensnähere Zeugenaussagen eine Prüfung der je verwerteten Daten gestatteten. Sie erlaubten in den vorgestellten Fällen mit Methoden, die der Geschichtswissenschaft durch-
Konsequenzen
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aus vertraut sind, Falsches zu identifizieren und (partiell) zu korrigieren. Doch ohne derartige Parallelerinnerungen und «neutrale» Kontrollzeugnisse schicken Gedächtniszeugnisse, soweit sie das ursprüngliche Geschehen wachrufen, die Historiker mit wesentlich erscheinenden Pseudo-Informationen unmerklich in die Irre. Betroffen ist die Erkenntnis vergangener Wirlclichkeit, die grundsätzlich in sich abgeschlossen ist, auch wenn sie weiterwirkt: der strafrechtlich relevante Inhalt zweier tatsächlich geführter Gespräche, die reale Konstellation der Begegnung zweier Physiker im Kriege und ihre kommunikative Veränderungsdynamik in der Nachkriegszeit, Zeit, Besucher und Umstände eines berühmten Vortrages, der sensationelle Tod eines Königs. Betroffen ist unser gesamtes Wissen, soweit es sich episodischem Geschehen verdankt. Wer immer sich erinnert, ob Dean, Bohr, Heisenberg, Löwith, Eulenburg oder jeder andere, uns eingeschlossen, intendiert mit seinen Erinnerungen eine zutreffende Vergegenwärtigung eben dieser Wirklichkeit; und dennoch unterlaufen ihnen allen zahlreiche sachliche Irrtümer, die diese Intention paralysieren und selbst die Semantik des Erinnerten tangieren. Allenfalls ein eigentümlich von allen Details abstrahierter, emotional modulierter Kern überdauert die Zeiten. Er aber hatte mit der <äußerem, außerseelischen Wirklichkeit wenig mehr gemein. Die Erforschung der Vergangenheit - des Mittelalters so gut wie der Neuzeit oder der Antike - hat, soweit das Wissen um diese Epochen sich mündlichen Informationen und Erinnerungen verdankt - diese Folgerung erscheint nach den Beispielen des Fürsten, Philosophen, der Physiker und des politischen Beraters unabweisbar - in weitem Umfang mit ausgedehnten, noch nicht durchschauten, vielleicht nie zu durchschauenden wirklichkeitsfernen episodischen Datensätzen des Gedächtnisses und entsprechend fehlerhaften Geschichten zu rechnen, die eine vergangene, in sich abgeschlossene Wirklichkeit vergegenwärtigen wollten und tatsächlich - in die Gesellschaft hinausgetragen - neue Wirklichkeiten erzeugten. Mit jedem Wiedererzählen treten neue Seitenarme dieses Erinnerungsflusses hinzu. Sie alle sind und schaffen Wirklichkeiten, die gleich allen früheren fortfließen, bis sie irgendwo und irgendwie versikkern. Das individuelle Gedächtnis täuscht sogar bei Einsatz schriftlicher Gedächtnishilfen seinen Träger; und das kollektive und kulturelle Gedächtnis, so zeigte die breite und bereitwillige Rezeption der Fehlinformationen, läßt sich leicht in die Irre führen. Schon der individuelle Erinnerungsprozeß gefährdet die durch neuronale Engramme repräsentierte Wirklichkeit aufs höchste. Narrative Momente spielen dabei zweifellos
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Vier Fälle
eine erhebliche Rolle, aber keineswegs bloß sie. Zudem darf die N arration nicht gegen die Wirklichkeit ausgespielt werden. Denn eben sie sollte symbolisch dargestellt, nicht bloß ein wirklichkeitsleerer Text oder eine datenferne Vision geboten werden; und nur die Erinnerung garantiert den intendierten Wirklichkeitskonnex einer Erzählung. Diese Spur ist weiter zu verfolgen. Gerade die Forscher und Forscherinnen, die sich schriftlosen oder schriftarmen Vergangenheiten zuwenden, sind davon betroffen, da ihre Quellen durchweg nach mehr oder minder langen Phasen schriftloser Erinnerung aufgezeichnet wurden. Ihnen bricht weithin die bisherige Basis sicheren Faktenwissens hinweg; sie muß neu gezimmert werden. Damit aber können sie in besonders deutlicher Weise die Erinnerungsprozesse illustrieren, die generell unser Wissen bestimmen. Denn auch die körperfremden Medien, die heute das Gedächtnis stabilisieren Schrift, Buch, Festplatte, Internet und dergleichen mehr -, heben durch ihre gedächtnisabhängige Bedienung und Benutzung grundsätzlich das Gedächtnisproblem nicht auf, sondern steigern nur seine Komplexität. Historische Forschung muß, soweit sie auf erzählende Quellen angewiesen ist, vordringlich Gedächtniskritik betreiben. Das neue Fundament, auf dem künftiges Forschen aufruhen muß, heißt erinnerungskritische Skepsis und verlangt eine <Memorik>, die ihr gerecht wird: Alles,
was sich bloß der Erinnerung verdankt, hat prinzipiell als falsch zu gelten. Keine Rhetorik, kein erinnerungsgläubiges Sich-Klammern an das Renommee eines Erzählers, an in die Erinnerungen eingestreute allgemein bekannte, gut bezeugte, korrekte Ein~elheiten, die derselbe vielleicht anzuführen in der Lage ist, an irgendwelche Instrumentalisierungen vermögen dies zu verhindern. Wer das nicht oder zu wenig beachtet, täuscht sich selbst und andere. Das gilt !übrigens für den Geschichtsschreiber und Geschichtsforscher und in gewissen Grenzen für alle Forscher und Forscherinnen in analoger Weise. Auch sie sind auf ihr Gedächtnis angewiesen, selbst wenn zuverlässige Memorialhilfen zur Verfügung stehen und die Kollektivität des modernen Forschungsbetriebs als Korrektiv wirkt. Das Ganze etwa der Eulenburgsehen Geschichte von der Überfahrt, dem Betreten des Schlößchens, der Begegnung mit den Toten, der Untersuchung des Tatortes, wie es der Fürst in seinem letzten Bericht präsentierte, ist ein nie abgeschlossenes, kontinuierlich fließendes, utopisches Gedächtniskonstrukt, das mit eigentümlich erwartungsgeleiteten Wahrnehmungen begann und sich mit unzutreffenden Daten, irregeleiteten Kombinationen, sachfremden Wertungen oder immer neuen Erzählkontexten mit immer mehr Seitenzweigen fortsetzte, gleichwohl aber Wirk-
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lichkeit intendierte. Um andere Erinnerungen steht es nicht besser. Wir fassen nur verformte Erinnerungen, wenige Stunden, Tage, Monate, Jahre oder Jahrzehnte nach dem Geschehen festgeschrieben, die durchweg anders ausgefallen wären, auch zuverlässiger oder noch unzutreffender hätten ausfallen können, wären sie unter anderen Konditionen angestoßen, abgefragt oder hervorgebracht worden. Das je Berichtete aber ist unzweifelhaft, dar an gibt es nichts zu deuteln, wenn auch in einem nicht in jeder Hinsicht kontrollierbaren Ausmaß falsch. Denn Gedächtnis trügt, indem es immer wieder, von Mal zu Mal, ein neues Ganzes, ein in sich zwar stimmiges, gleichwohl sachlich verändertes Vergangenheitsbild konstruiert, die Wahrheit des erinnernden Augenblicks, nicht aber jene der ursprünglich wahrgenommenen Wirklichkeit, nicht den Sachverhalt des ursprünglichen Geschehens. Der aber beginnt, wie gesagt, mit der Wahrnehmung selbst. Wir stoßen allenthalben auf eigentümlich korrekt-inkorrekte Gedächtniskonstrukte, durchmengt von Fehlern und Verzerrungen, von Rechtfertigungen und Wertungen und durchlöchert von irreführenden Selektionen. Wer wissen will, wie es gewesen, und wie er oder sie, was gewesen, zweifelsfrei erkennen oder doch wenigstens einen Zipfel vergangener Wirklichkeit erhaschen kann, muß in den Zerrspiegel des Gedächtnisses, oder genauer: in dessen Konstruktionsbüro blicken, muß die geschichtswissenschaftlich relevanten Verzerrungskoeffizienten, denen das dort Verarbeitete unterliegt, die Verformungsmöglichkeiten und Verzerrungsformen, erfassen und vermessen, um beurteilen zu können, womit er es zu tun hat.
1.7
Primäre und sekundäre Verformungsfaktoren des Gedächtnisses
Derartige Erinnerungen unterlagen bestimmten Kommunikationssituationen: Bericht an einen Freund, Antwort auf ein Preisausschreiben, Entlastungszeugnis vor einer Spruchkammer oder Aussage vor einer Untersuchungskommission. Der Umstand darf verallgemeinert werden. Gedächtnis ist ein kommunikativer Akt. Erinnerungen wollen geweckt sein, damit sie sich artikulieren können. Dem <Weckruf> kommt dabei ohne Zweifel eine entscheidende Bedeutung zu. Er kann von einer zufälligen Begegnung ebenso ausgehen wie von einem beiläufigen Stichwort oder einer gezielten Frage, von einem Geräusch wie von einem Geruch, von einem Bild wie von irgendeinem Objekt, Sachverhalt oder Geschehen. Ohne Zweifel wirkt die Qualität dieser Stimulanz auf den Inhalt der
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aufleuchtenden Erinnerungen ein. Die Wirksamkeit solcher Kommunikation gilt auf gesellschaftlicher Ebene ebenso wie - und das wird unten zu zeigen sein - auf der zugrundeliegenden neuronalen. Um die für Erin-:nerungen zuständigen Neuronen zum Feuern zu bringen, bedürfen auch sie eines Impulses, der hirnextern so gut wie hirnintern (etwa durch hormonelle Einflüsse) induziert sein kann, eben einer Kommunikation zwischen <Senden und <Empfängen. Die vier Beispiele lassen ferner Bedingungen erkennen, denen die Erinnerungen an Kommunikationssituationen unterliegen. Sie treten unbewußt und bewußt in Erscheinung. Jene seien zuerst betrachtet. Konstitutiv für die Erinnerungsbilder sind erwartungs- oder handlungsgeleitete Wahrnehmungen, die 1) aktive Teilnahme am Geschehen oder passives Zuschauen filtern; die sich 2) ohne bewußte Kontrolle an intuitiv benutzten, nämlich hirnintern verfügbaren Darstellungsmustern orientieren können oder sich 3) durch Wiederholung, nämlich neuronale Netzverstärkung, einprägen - drei Faktoren, die sich in der Gedächtnisforschung von größter Bedeutung erweisen, ohne als solche die Zuverlässigkeit erinnerter Wahrnehmungs daten zu garantieren. Von nachhaltiger Wirkung sind 4) die konditionierenden, von Handlungser: wartungen gelenkten, unbewußten Wissensvorgaben einer jeden Wahrnehmung (die sich neuronal als elektrochemische Engramme manifestieren) und 5) die Anzahl und Dichte der Geschehnisse, die ein Gedächtnis in der nämlichen Zeit verarbeiten muß. Die Zeugen wählen 6) halb bewußt, zumeist aber unbewußt aus den Informationsbündeln, die ihnen zur Verfügung stehen, aus und konstruieren 7) daraus eine Geschichte, ein geschlossenes Ganzes, mit 8) sich selbst in dem eigentümlichen Licht des eigenen Beteiligt- oder Ergriffenseins. Sie können, wie Wiederholungen zeigen, 9) wesentliche Elemente ihrer Erinnerungen kanonisieren und sie damit in der jeweils fixierten Gestalt auf Dauer stellen, was wiederum über die Zuverlässigkeit der Erinnerung nichts besagt. Dazu treten 10) Kontaminationseffekte, die gleichartige Erlebnisse in eins ziehen, weiterhin 11) eine zeitlich Fernes nach zeitlich näher Gelegenem überformende Teleskopie, 12) Früheres durch Späteres verdrängende Überschreibungen, 13) die Mehrdeutigkeit eingehender Signale, sowie 14) eine bemerkenswerte sowohl die Qualität (etwa zu
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abgerufen wird, von der biographischen Erinnerungssituation. Schließlich ist 1.6) auch der Akt der Wahrnehmung, der sich für das Hirn nicht zuletzt als eine Gedächtnisoperation erweist, ein situativ bedingter Enkodierungsprozeß, dessen Konditionen zwar für den Erinnerungsabruf bedeutungsvoll sind, in der Regel aber nicht wiederkehren und damit Erinnertes der jeweils aktuellen Abrufsituation ausliefert. Ein sich erinnernder Zeuge beschreibt unter diesen Umständen entgegen seiner Intention gerade nicht, was tatsächlich geschehen, liefert keine Geschehensprotokolle, keine , vielmehr eine sich von den unmittelbaren Wahrnehmungen entfernende Abstraktion. Gleichwohl ist er in der Regel auch später von der Richtigkeit seiner Erinnerungen, ihrer detaillierten Tatsachengemäßheit, überzeugt, so gewiß ist er sich seines Gedächtnisses. Er verweist damit auf eine neben den schon genannten primären Verformungskräften weiterhin erkennbare :17) generelle Wirkungskomponente des Gedächtnisses, die regelmäßig wiederkehrt: das Gewißheitssyndrom, wie es genannt werden kann. Erinnerung wird sich aus sich selbst heraus ihres Falschseins oder des Grades ihrer Verfälschung nicht bewußt; sie kann sich nicht selbst kontrollieren. Sie ist sich ihrer Sache sicher und gibt sich solide, ohne es zu sein. Erst unabhängige Kontrollmöglichkeiten gestatten die Fehlerhaftigkeit des Erinnerten zu erkennen. Die Relevanz der Erinnerungsmodulation für die Geschichtsforschung wurde von Historikern wiederholt in Zweifel gezogen. «Die Schnelligkeit des Vergessens ... und die Beliebigkeit, mit der Historiographen älteres Geschehen verändernd tradieren konnten», sei überbetont worden 106 • Dagegen sei die «Aufbereitung der Hintergründe des Geschehens in panegyrischer, paränetischer oder didaktischer Weise, wie sie uns die mittelalterliche Überlieferung vielfach bietet», hervorzuheben. Deren «Funktionalisierung und Instrumentalisierung im Diskurs der Zeitgenossen, wenn so etwas überhaupt vorausgesetzt werden darh, böten den Schlüssel, obgleich «die Mündlichkeit dieser Epoche noch immer ein Buch mit sieben Siegeln» sei. «Sachverhalte, an denen die Mächtigen der jeweiligen Gegenwart ein aktuelles und vitales Interesse hatten», setzten, so hieß es später, der Verformung der Erinnerung enge Grenzen und wiesen ihr die Richtung 107. Der Erzähler sei «an bereits existierende Sichtweisen gebunden», habe «daraus resultierenden Erwartungshaltungen» zu entsprechen. Alles sah sich bei dergleichen Postulaten in Interesse, Erzählung, Diskurs verwandelt; nichts war mehr erinnerte Wahrnehmung. Alle Wirklichkeit sah sich extrapoliert. Doch allein die Erinnerung, nicht die bloße Erzählung, irgendein Interesse oder ein Diskurs verbindet das Erzählte
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mit vergangener Wirklichkeit. Das «vitale Interesse» der Zeitgenossen aber kam bei der referierten Betrachtung ohne Gedächtnis, ohne erinnerte Wirklichkeit aus, und die «Sachverhalte», die jenes Interesse weckten, konservierten sich nun in den Tiefkühltruhen der Macht. Der Zweifel der geschilderten Art entspricht einer Geschichtswissenschaft, die sich vornehmlich auf Urkunden und Akten, auf das geschriebene Wort verließ und verläßt, die sich mit Textverknüpfungen und Intertextualität begnügt, und die nicht oder zu wenig auf die Bedingungen von Wahrnehmung, auf die sie begleitenden und ihnen folgenden Erinnerungsprozesse achtete und achtet, denen gleichwohl alles Wissen, auch solches der Historie unabdingbar verpflichtet ist. Diese Bedingungen, dazu die Leistungskraft der Speichermedien und die jeweilige Abrufbarkeit des Wissens treten bei einer solchen Historik weitgehend in den Hintergrund. Wie sollten «Funktionalisierung und Instrumentalisierung im Diskurs der Zeitgenossen», wie die Hintergründe eines Geschehens erinnerungs frei gar in didaktischer, paränetischer, panegyrischer Weise aufzubereiten sein, wie «die Mächtigen der jeweiligen Gegenwart ein aktuelles und vitales Interesse» erinnerungslos entfalten können? Eulenburgs «Erlebnisse» widersprechen derartigen ohne methodische, quellenkritische, statistische Absicherungen getroffenen Behauptungen ebenso eindeutig wie Löwiths Kontaminationen, Heisenbergs Inversionen oder Deans Umwertungen. Gewiß wirken «aktuelles und vitales Interesse», was immer es sein mag, auf die Erzählweisen der Erinnerungen ein; das wird von niemandem bestritten. Aber kein Interesse, kein Erzählmuster, kein Diskurskontext erklärt für sich genommen, wie aus dem Sachverhalt des Weckens morgens um vier eine Spurensuche just zu demselben Zeitpunkt bereits jenseits des Sees, wie aus dem Fußweg eine Bootspartie, wie Spuren am Land zu Spuren unter Wasser, wie aus den Auskunft erteilenden Personen Figuren «in einem Zustand völliger Unzurechnungsfähigkeit» werden konnten und dergleichen Verformungen der Sachverhalte mehr. Bohr und Heisenberg hätten sich an eine Fülle weithin unbewußter Verhaltensweisen während ihres Gesprächs erinnern müssen, um seine Wirklichkeit angemessen wiedergeben zu können. Ihr Dialog schloß, wie jedes Gespräch, neben den vermittelten Sachdaten ein ganzes Bündel non-verbaler Informationen ein, das gleichwohl seinen Inhalt mit bestimmte. Ein solcher wird etwa im Kontext der ganzen Gesprächssituation verstanden: in den kommunikativen Interaktionen der Gesprächspartner - aufeinander zugehen, von einander sich entfernen -, in der Strukturierung der wahrgenommenen Gesprächsmomente, in der Verbindung von Wort, Mimik, Gestik oder sonstigen Körpersignalen -
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das Leuchten der Augen, das Runzeln der Stirn, die Skepsis, die sich in Mundwinkeln artikuliert -, in den unwillkürlichen Lauten und Ausrufen während des Gesprächs, in der Selbstdarstellung der Gesprächspartner vorsichtig, bittend, abwehrend, kalt oder verschlagen -, in Standpunkt und Perspektive der Partner, dem Einsatz technischer Mittel, in der je benutzten Sprache und Sprechweise, auch in den jeweiligen Bedeutungskonstrukten der Beteiligten während des Gesprächs 108 • Diese Elemente müßten ebenso memoriert werden wie die Worte, um ein Gespräch wirklichkeitsgemäß zu erinnern; sie alle aber unterliegen denselben Verformungskräften wie andere Erinnerungen auch. Nicht Aufbereitung, die ihre eigenen Gesetze haben mag, auch nicht «Funktionalisierung» oder «Instrumentalisierung», die der eine oder andere Historiker in den Dienst seiner Interpretationen spannt, stehen somit zunächst im Vordergrund, sondern ein Phänomen, das sich allenthalben manifestiert: das gleitende Anpassen nämlich des Erinnerten an den Augenblick des Erzählens, die kontinuierliche Verformung der Vergangenheit unter dem Druck einer Gegenwart, die als eine Verrechnung von Erinnerung mit Zukunfts erwartung definiert werden kann. Nicht bloß in überwiegend mündlichen Kulturen, auch in solchen mit ausgedehntem Schriftgebrauch sind sie wirksam, wie die «Erlebnisse» des Fürsten zu Eulenburg-Hertefeld oder die Autobiographie eines Karl Löwith zu erkennen gaben. Derartige Verrechnung geschieht unter Beachtung aller wirksamen Faktoren, der körperinternen so gut wie der psychischen und der intentionalen, der äußeren und sozialen oder der literarischen. In der Folge lassen sich gemäß den Arbeitsweisen des Gedächtnisses in keiner Erinnerung, in keiner der Mündlichkeit verpflichteten Aktualisierung von Erfahrung Verformungen des Erinnerten, ihre niemals endende Modulation, das ununterbrochene Fortfließen ihres episodischen Gehalts ausschließen. Selbst die Verschriftung, das
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ist gedächtnis-induziert, bevor wir mit dem Diskurs beginnen oder unser Wissen abfragen, gleichgültig, welche Medien Diskurs und Wissen stützen - ob nur das Gehirn, auffallende Geländemale, Knotenschnüre, die Schrift, ein Lehrbuch, technische oder elektronische Hilfsmittel. Ohne Kenntnis der Erinnerungsprozesse, der Behandlung von Ablauf und autonomer Sinngebung eines Geschehens durch das Hirn, und zwar bis hinab oder hinauf - so meine ich - zu den neurobiologischen Grundlagen, läßt sich kein Wissen adäquat beurteilen. Jedes Interesse aber, jeder Wille, Diskurskontext, jede Anpassung an eine Öffentlichkeit muß bereits mit verformten, nämlich sachlich falschen, ursprünglich aber zuverlässigeren Erinnerungen an einst verarbeiteten Sinnesdaten operieren. Sie erweisen sich somit lediglich als weitere Faktoren in einem schon reichen Bündel souveräner Verformungskräfte, nicht als deren maßgebliche Richtungsweisung oder Grenzziehung. Sie treten zu den primären als sekundäre Verformungskräfte hinzu, lassen sich aber als soziale und literarische Momente leichter durchschauen und einkalkulieren, wurden und werden als solche von der Geschichtswissenschaft auch bereits regelmäßig beachtet. Die Grenzen zwischen primären und sekundären Faktoren sind freilich fließend; auch soll mit <primär> und <sekundär> keine Wertigkeit der fraglichen Faktoren angedeutet sein, vielmehr nur die zeitliche Abfolge ihrer Wirksamkeit. Die sekundären Verformungsfaktoren unterliegen bereits durchweg den primären. Wie maßgebend die Verformungskräfte jeweils im Einzelfall tatsächlich sind, enthüllt kein Bericht, keine Quelle aus sich selbst, sondern nur der Vergleich mit weiteren,
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szenen, Gedanken, Gefühle, Bewußtseinsinhalte, seine älteren und jüngeren Erfahrungen, seine Intentionen, mentalen Attitüden und seine unbewußten, in seinem Hirn durch den langen Marsch der vorpubertären Erziehung eingeübten, 'internalisierten und neuronal verfestigten Verhaltensweisen, wie ein- Zeuge also oder genauer: wie sein Hirn dies alles in einen Zusammenhang bringt und miteinander . Hier vermag die historische Verhaltensforschung vielleicht einmal Hinweise zu liefern, wenn es ihr gelänge, näher in den zu allen Zeiten entscheidenden Zusammenhang zwischen genetischer Konditionierung, Erziehung und Verhalten einzudringen 109 .. Doch einstweilen verweigert er sich einer zureichenden Analyse. Wissen also ist ständig im Fluß, weil es an das natürliche Gedächtnis seiner Adepten, an den gedächtnisabhängigen Umgang mit den verfügbaren Speichermedien und an den gedächtnisgesteuerten Zugriff auf dieselben gebunden ist. Dabei treten Unterschiede in der Behandlung wahrgenommener Sachverhalte, geistiger Ordnung, von Deutung und Sinn hervor, die für die Beurteilung der Erinnerungsprodukte nicht unerheblich sein können. Die aufgewiesenen Irrungen lassen damit in ihrer Gedächtnisabhängigkeit, recht analysiert, Bedingungen des Wissens erkennen, die alle menschliche Kultur durchziehen. Sie machen gleichsam unser Wissen durchsichtiger, als es ohne ihre Kenntnis wäre. Auch Gewinn ist zu verzeichnen. Denn das Gedächtnis, das diese Bedingungen wesentlich konstituiert, arbeitet weithin unbewußt. Nur ein geringer Teil unseres in neuronalen Kodierungen gespeicherten Wissens läßt sich willentlich abrufen. Wir leben von den Impulsen des Zufalls. Das gilt mitunter wohl auch für die großen Forschungsleistungen. Zahlreiche Entdeckungen der Menschheit dürften sich Zufällen, spontanen Einfällen, unerklärlichen Assoziationen, unbewußt erfolgten neuronalen Aktivitäten und keiner systematischen Gedächtniskunst, keinen für gewöhnlich zugetraut werden. Doch kann dem hier nicht weiter nachgegangen werden. Jeder Erinnerungsprozeß nimmt unter dem Druck der angeführten Faktoren und in Abhängigkeit von den zahlreichen von ihnen bedingten Variablen einen nicht vorhersagbaren, bestenfalls erst im nachhinein erkenn- und erklärbaren Verlauf. Niemand, nicht einmal ein Beteiligter selbst, kann ahnen, wie er sich Stunden, Tage oder Jahre nach dem Geschehen an das Erlebte erinnern, wie er es bei unterschiedlicher Gelegenheit in
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Worte fassen, und wie sich das Ergebnis dem Einfluß der jeweiligen Umstände beugen wird. Niemand kann ohne spezielle Memorialhilfen seinen Erinnerungsfluß planen oder lenken. Derselbe fließt, wohin er will, und reißt die erinnerte Vergangenheit mit sich fort; diese ist in die Zukunft so offen wie alles Kommende. Die Sinngebung einer Wahrnehmung bleibt davon nicht verschont. Erscheint sie auch einem raschen Wandel entzogen, so kann sie gleichwohl mit der Zeit und im Fluß der Erinnerungen tiefgreifenden Umwertungen unterliegen. Der fehlerabhängige Fortschritt zeitigt aber erhebliche Konsequenzen für die Erforschung nicht nur der Vergangenheit, sondern auch für die Planung der Zukunft. Zufälle, Spontaneität, Assoziationen lassen sich ebensowenig wie irrende Gedächtnisleistungen - weder planen noch herbeizwingen, allenfalls im nachhinein erklären. Das ist wie im Spiel: Sein Ausgang steht anfangs offen; im Rückblick wirkt das tatsächliche Ende wie determiniert. So bedürften wir, um mit dem Wissen angemessen umzugehen, einer kulturellen Spieltheorie, die Modelle zur Verrechnung einer variablen Menge an Normen und einer kaum zu überschauenden Anzahl an Zufällen sowie Lösungen mit den größten Erfolgsaussichten zu bieten hätte. Eine solche aber ist noch nicht in Sicht. Diese Offenheit der Erinnerung, die jedem ihrer Produkte eine nur ihm eigene Färbung verleiht, bedarf gründlicher Betrachtung. Geht es doch um erinnerte Erfahrung von Wirklichkeit, um den Wirklichkeitsgehalt, den die Erinnerung vermittelt, und das Fortwirken jener Wirklichkeit und um die Spannung zwischen Realität und Erinnerung, übrigens auch um die Wirksamkeit von Fiktionen llo . Die Zeit indessen treibt ihre Scherze mit dem Gedächtnis. Sie verändert alles. Die Historiker haben deshalb nichts zu lachen. Die Geschichtswissenschaft freilich, die sich erst jüngst dem zuwandte, mied, ja floh die Auseinandersetzung mit dem
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Das Schweigen der Forschung: Die Mediävistik als Beispiel
«Einen großen Theil der neue ren Geschichte lernt man aus gedruckten Werken kennen, einen anderen aus Handschriften. Es giebt auch solche Ereignisse, die nur in der Erinnerung leben, in dem Gedächtnis derjenigen, die dar an wesentlichen Antheil hatten ... Jedermann weiß, wie schwer es ist, Geschichte zu schreiben. Doppelt schwer ist es da, wo auf der einen Seite die Abweichung der zu schildernden Welt von unseren Begriffen der Entfernung der Jahrhunderte gleich geschätzt werden kann, und doch auf der anderen der lebendige Bezug, in welchem eben dieselbe zu dem gegenwärtigen Augenblicke steht, auch uns zu jenem parteiischen Für und Wider verleiten könnte, über welches die wahre Historie weit erhaben ist; sie, die nur zu sehen, zu durchdringen sucht, um dann zu berichten, was sie erblickt. üb wir nun glücklich die Klippen vermieden haben? Wenigstens unsere Absicht war allein, die Begebenheit von Angesicht zu Angesicht kennen zu lernen, und sie mit frischem Muthe zu vergegenwärtigen.» So beginnt, so endet das Vorwort, das Leopold Ranke im Jahre 1.829 seiner «Serbischen Revolution», einem genialen Jugendwerk, vorausgeschickt hat!. Hoffnungsvoll, einstige Begebenheiten «von Angesicht zu Angesicht» kennenlernen und vergegenwärtigen zu können, hatte er sich an die Arbeit gemacht, ganz im Vertrauen auf die Ereignisse, die in der Erinnerung lebten. Da war vom Gedächtnis die Rede, aus dem ein Teil der neueren Geschichte zu lernen sei, auch von der «wahren Historie», «die nur zu sehen, zu durchdringen sucht, um dann zu berichten, was sie erblickt». Was aber «lebte» im Gedächtnis? Welche Begebenheiten erblickte die sich auf Erinnerungen stützende «wahre Historie»? Ranke blieb die Antwort schuldig. So frisch sein Mut, so vertrauensselig erweist sich seine Arbeit gegenüber zeitgenössischen Liedern und mündlichen Berichten, kurzum dem Gedächtnis. Zwischen dem zitierten Anfang und dem Ende des Vorworts finden sich keinerlei Reflexionen über dasselbe und seinen Zwillingsbruder, das Vergessen, eingerückt, keine Warnungen, nicht die leisesten Bedenken. Der junge Gelehrte lag mit dieser Haltung durchaus im Trend der Geschichtsforschung seiner Zeit. Er darf deshalb als Repräsentant jener Historikerschaft gelten, der sich die historisch-kritische Methode verdankt.
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Das Schweigen der Forschung
Ranke hatte diese Revolutionsgeschichte aufgrund von Nachrichten verfaßt, die «aus dem Munde der Teilnehmer geschöpft» waren. Die Mündlichkeit der Erinnerung und ihre Leistungskraft standen somit zur Prüfung. Doch Ranke war sich seiner Sache sowie seiner Zeugen sicher: «Ueber die Zustände und Ereignisse vor den Bewegungen haben bejahrte Leute ... ihre Erfahrungen mitgetheilt. Ueber die Verwickelungen der Revolution haben sich ehrenwerte Männer, die zugleich zu den angesehensten und gemäßigtsten gehören ... vernehmen lassen. Die ersten Häupter der Nation ... haben von einigen Vorgängen Auskunft gegeben». Seinen eigentlichen Gewährsmann, Wuk Stepanowitsch Karadschitsch nämlich, aus dessen «serbischem Memoire» der Geschichtsschreiber seine Informationen zog, betrachtete er als einen «der vornehmsten Zeugen». Mündliche Erinnerung galt ihm spontan und vorbehaltslos als Quelle. Ein halbes Jahrhundert später hatte der Altmeister denn auch seine Haltung nicht geändert und sah sich in keiner Weise genötigt, seine früheren Einschätzungen zu widerrufen. Mündliche Erinnerungen hatten ihm 1.829 die Möglichkeit eröffnet, «die Bege-:benheit von Angesicht zu Angesicht kennen zu lernen»; so war es für ihn dann geschehen und dabei blieb es für immer. All das macht Rankes Erstling zu einem Schlüsselzeugnis für (
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quenzen abgewogen. Der Historiker behandelte die mündlichen Zeugnisse gleich seinen bevorzugtesten Quellen, den Zeitungsberichten, dieselben aber als pure Schriftprodukte und als solche für zuverlässig, ja für «wahr». Schlimmer noch: Der soziale Status der Zeugen (<<ehrenwerte Männer, die ... angesehensten») und ihre politische Einstellung (< und der Dauerhaftigkeit lebendiger Bräuche , wahre Wunderdinge4 . Von den alten Germanen führten, so deuchte es viele, direkte Wege zu den gegenwärtigen Deutschen. Jahrhunderte und Jahrtausende zerschmolzen unter der Glut des Glaubens an die Erinnerungskontinuität, als seien sie Schnee in der Sonne; die Erzählungen des
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Das Schweigen der Forschung
Volkes, von Mund zu Mund gewandert, überwanden, so schien es, ohne einschneidenden Wandel alle zeitliche Distanz, wenn auch bei mancherlei Variation. Warum sollte angesichts solcher Zuversicht Skepsis gegen mündliche Berichte der eigenen Zeit, der selbst erlebten Vergangenheit, der Zeitgeschichte aufkommen? Und daß umgekehrt eine kritische Gedächtnisanalyse der eigenen, selbsterlebten Vergangenheit das Erinnern früherer Gedächtnisträger kontrollieren könnte, lag noch jenseits wissenschaftlicher Forschungsperspektiven. Die Sagen aus heidnischer Vorzeit, aus uralten Tagen, schienen ihrerseits sogar eine wissenschaftlich gesicherte Begründung für derartige Zuversicht zu bieten. So sehr ihre Form sie für den Historiker, der Aufstieg und Fall der großen Reiche untersuchte, als Quelle diskriminierte, so sehr garantierte, wie man meinte, eben diese Form die Altertümlichkeit ihres Inhalts. Zwar ständig im Fluß, bewahrten sie doch, so meinte man, das Wesentliche, «die geistige Wahrheit, worin ihr Wesen besteht»5. Wie Sigfrid gegen Verwundung, so schien das Sagengedächtnis gegen Vergessen gefeit zu sein. In gleicher Weise wurde die Überlieferungskonstanz von Mythologien, Rechtsaltertümern und Weistümern eingestuft6 • «war auch vom siebenten bis zum eilften jahrhundert die deutsche überlieferung [der vaterländischen alterthümer] blässer und stumpfer als die dänische im zwölften», so befanden die Brüder Grimm, «hatte im fernen Norden die entfremdung von der einheimischen sage langsamer zugenommen; so thun uns doch Waltharius und Rudlieb oder der reim vom eber bei Notker dar, daß selbst in den klöstern noch manches von den alten liedern unverklungen war. es ist wahrscheinlich, daß eine zeitlang noch abschreiber ihre hand an die von earl dem großen veranstaltete sammlung setzten, deren untergang für uns unberechenbarer verlust geworden ist, aus der sich eine fülle von stof und darstellung des entlegensten alterthums hätte gewinnen lassen. den mittelhochdeutschen dichtern war dieses schon beträchtlich entrückt und alles was sie unbewußt noch aus ihm hernehmen konnten muste zufällig in überlieferten formen der dichtkunst oder der lebendigen ausdrucksweise des volks hängen geblieben sein». Nur gemächlich, behutsam und sacht zog sich durch lange Jahrhunderte der Vergessensprozeß hin. «die deutschen stämme (sind) ganz stufenweise und langsam vom vierten bis zum eilften jh. dem glauben ihrer väter abtrünnig geworden. '" einzelne spuren legen dar, daß solche erinnerungen [d. h. die tradition des volkes von dem glauben und aberglauben der vorfahren] wirklich noch nicht ausgestorben sein konnten» 7 • Die Schriftzeugnisse, von den Exorzismen der christlichen Religion gereinigt, hätten nur wenige Splitter, einige Namen und Worte, aus alter
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Zeit bewahrt. «Haben diese zahlreichen christlichen denkmale gleichsam einzelne knochen und gelenke der alten mythologie übrig gelassen, so rührt uns noch ihr eigener athemzug an aus einer menge von sagen und gebräuchen, die lange zeit hin durch vom vater dem sohn erzählt wurden. mit welcher treue sie sich fortpflanzen, wie genau sie wesentliche züge der fabel erfassen und auf die nachwelt tragen, ist erst eingesehen worden seit man ihres großen werths eingedenk geworden, sie in einfache und reichliche sammlungen nieder zu legen begonnen hat. zu der schriftlichen aufzeichnung verhält sich die mündliche sage wie zur dichtkunst das volkslied oder zu den geschriebenen rechten von den schöffen erzähltes weisthum». «Siegfried», so heißt es kurz darauf, reiche «noch über Armin» hinauf 8 • Jacob Grimm erkannte also, unbeschadet einiger Einschränkungen «die volkssage will mit keuscher hand gelesen und gebrochen sein» -, in den Zeugnissen der Mündlichkeit, weil sie Heidentum spiegelten, die Gewähr für hohes Alter und Zuverlässigkeit des so Überlieferten. Näher am Volk, bewahrten sie das Wesentliche ohne «fremden zusatz» und Substanzverlust9 • Je später die christliche Mission ins Land gedrungen war, je zäher das Volk am Heidentum festgehalten hatte, desto länger und unverfälschter floß die alte Überlieferung. Gewiß, Traditionen rissen bei Kult- und Religionswechsel ab. Doch im Volk blieb das nun Angefeindete und Unterdrückte lebendig. Es war ein hingebungsvolles Vertrauen in die Unverfälschtheit der Erzählung, das die jahrhunderte- und jahrtausendelange Stabilität mündlicher Tradition erfand; entwickelt und gehegt ohne Kontrollverfahren, überzeugt allein von der Bewahrungskraft menschlichen Gedächtnisses und mündlicher Erinnerung. Es war ein blindrnachender Glaube, den Grimm hier artikulierte. Notkers «reim vom eber» etwa, um dieses Beispiel aufzugreifen, war tatsächlich «fremder zusatz», spiegelte Notkers, des gelehrten Schulmeisters, literate Bildung, war nichts weiter als eine Eindeutschung von Ovids Beschreibung des kalydonischen Ebers (Met. 8, 284-289). Die Brüder Grimm verfolgten die Spuren der Langlebigkeit oder, was sie dafür hielten, und vernachlässigten das Vergessen. Sie begnügten sich mit philologischen Vergleichen und setzten auf die Sprachgeschichte, auf das tatsächliche oder erschlossene Alter der Wörter und Namen. Sie griffen bevorzugt auf Kultmythen und ihre Relikte zurück und übertrugen die daran gemachten Beobachtungen auf alles, was ihnen Sage, Mythos, Legende war. Daß die Einseitigkeit des Vorgehens die Ergebnisse verzerrte, bedarf keiner weiteren Begründung. Ob etwa der Anschein hohen Alters durch Verwendung alter Namen, archaisierender Motive, allgemein bekannter Muster eben erst komponiert worden war, ob Attila, Dietrich,
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Gunther oder Sigfrid lediglich literarische Agglomerationszentren für allerlei Neuschöpfungen waren, ließ sich so gar nicht prüfen. Ob und wieweit gelehrte, aus Schriftzeugnissen gespeiste Konstrukte die angeblich mündliche Überlieferung des Volkes geschaffen und geformt haben könnten, wurde nicht einmal als Möglichkeit erwogen. Die Funktionsweise von Gedächtnis und Erinnerung oder Vergessen wurde mehr vorausgesetzt als überprüft. Man kam ohne jegliche Psychologie aus, ohne Tests und Forderung nach Vergleichsgruppen, ohne Verhaltensforschung und ohne Kenntnis des menschlichen Gehirns. Denn man besaß die Überlieferungsprodukte, die Sagen und sonstigen Texte, und ihr Vergleich suggerierte hohes Alter; dazu trat die Bereitschaft zum Glauben. Das Konzept überzeugte so sehr, daß es sich als trennende Barriere zwischen Geschichte und Biologie, zwischen Geistes- und Naturwissenschaften schob. Die Erkenntnisform der einen, der «unexacten Wissenschaften», sei «Verstehen», die der anderen, der «exacten», aber «Erklären» 10. Jacob Grimm und Wilhelm Dilthey trafen sich hierin. Dabei ging man nicht unbedacht zu Werk. Friedrich Rehm zum Beispiel, der Vorgänger Heinrich von Sybels auf dem Marburger Lehrstuhl für Geschichte ll , machte sich um 1830 seine Gedanken über die «Hülfs= und Elementar=Wissenschaften der mittleren Geschichte». Zu den letzteren rechnete er Chronologie, Geographie, Ethnographie oder Völkerkunde sowie die Genealogie. Historische Hilfswissenschaften waren Sprachkunde, Philosophie und Staatswissenschaften; zunächst hatte Rehm hier auch die Psychologie genannt, doch fiel sie alsbald fachlichem Purismus zum Opfer 12 • Das Ziel derartiger Wissenschaft war in Rehms eigenen Worten: «möglichst vollständige Ausmittelung des wirklich Geschehenen in seiner wahren Gestalt, eigenthümlichen Beschaffenheit und Zusammenhang mit anderen Begebenheiten» 13. Rehm entwickelte dazu eine Quellenkunde, die auch die mündliche Überlieferung in ihre Betrachtung einzubeziehen wußte. Es lohnt sich, seine diesbezüglichen Ausführungen ganz zu zitieren. Verraten sie doch viel über die Grundlegung der modernen Geschichtswissenschaft und die Richtung, die sie einschlagen sollte. «Die mündliche Ueberlieferung ... oder Sage bleibt Grundlage aller geschichtlichen Mittheilung und ist bei niederem Culturzustande das einzige Mittel zur Aufbewahrung von Nachrichten. Sie ist allerdings höchst unsicher, sowohl wegen des in die geistige Fähigkeit ihrer ersten Erzähler zur richtigen Auffassung des Geschehenen zu setzenden Zweifels, als wegen der Art der Fortpflanzung, wodurch sie Auslassungen, Zusätzen und Verunstaltungen unterworfen wird; darf jedoch keineswegs ganz verworfen werden. Für sie sprechen die größere Treue des Ge-
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dächtnisses in Aufbewahrung der wenigern empfangenden Eindrücke bei minder gebildeten Menschen, ... die hohe ihr gezollte Achtung, welche sie zum Familien= und Stammes=Heiligthum macht ... und die bei etwas gebildete rn Staaten von höheren Classen des Volks auf Aufbewahrung derselben verwendeten Sorgfalt. Durch sie wird jedoch nur die Thatsache selbst in ihrer Vollendung, nicht aber das Werden derselben vermerkt, genauere Orts= und Zeitbestimmungen mangeln, und es fehlt den einzelnen Bruchstücken an allem Zusammenhange, welcher erst durch spätere Bearbeitung in dieselben gebracht wird. Bei der historischen Benutzung der Sage muß deshalb die Einkleidung derselben ... von dem wesentlichen Inhalte geschieden, alles nach dem Ideenkreise der Zeit und des Volkes, welchen die Sage angehört, ... aufgefaßt und so weit als möglich auf die ursprüngliche Gestalt zurückgeführt werden. Nur da wo andere bewährte Nachrichten fehlen, oder wo die vorhandenen mit ihr im Wesentlichen übereinstimmen, kann durch die Sage die historische Wahrheit einzelner Thatsachen ohne alle Nebenumstände erkannt oder bestätigt werden, nicht aber da, wo sie mit beglaubigten Nachrichten im Widerspruch steht. Im Ganzen ist sie wichtiger zur Kenntnis des Volkes und der Zeit, aus der sie herstammt, als zur Kenntnis der Thatsachen, von denen sie Kunde geben will. Die Sage gewinnt an Glaubwürdigkeit, wenn sie durch Sprachforschungen unterstützt werden kann, oder sich an Denkmäler und fortbestehende Einrichtungen knüpft, oder Stoff der ... sichernden Volkspoesie geworden ist»14. Unversehens wurde die «mündliche Ueberlieferung» zur «Sage» und blieb die historische Quelle, die sich ja in aller Regel gleicher Mündlichkeit verdankte, unberührt von allen Zweifeln. Rehm beschrieb, so hat es den Anschein, das Verfahren, das Ranke zwei Jahre zuvor in seiner «Serbischen Revolution» angewandt hatte. Er tat es im Vertrauen auf das mündliche Gedächtnis der Völker, wie es die Brüder Grimm empfohlen hatten. Im Unterschied zu Ranke attestierte er allerdings «minder gebildeten Menschen» wegen geringerer Erlebnisdichte eine höhere Akkuratesse bei der Erinnerung. Die Gefahren, mit denen die Mund-zu-Mund-Tradition das Erkennen historischer Wahrheit bedrohte, waren zwar keineswegs beiseite gewischt. Aber die Verformungsdynamik selbst, was sie veränderte und was sie beließ, in welcher Zeit sie das alles zuwege brachte, und wie die Beteiligten und Betroffenen darauf reagierten, wurde, wenn überhaupt, nur unzureichend bedacht. Ja, gerade das Gedächtnis blieb bei diesen Erwägungen ausgeklammert. Trotz der erkannten Gefahren intendierte also auch Rehm keine Methode zur Klärung dessen, wie in der Erinnerung Verformtes zu erkennen, gar zu korrigieren sei. Zu systematischer Untersuchung, zu einer eindringlichen Analyse der Reich-
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weite und des Ausmaßes der durch Mündlichkeit bedingten Verwerfungen und Fallstricke konnte sich der Marburger Professor ebensowenig aufraffen wie zuvor Ranke oder die Grimms. Im Gegenteil, historische Sagen, deren unschätzbaren Wert die Brüder Grimm gerade ein Jahrzehnt zuvor postuliert hatten, und die man seitdem allenthalben zu sammeln begann, taugten bei einiger Vorsicht, so befand er, tatsächlich als historische Quellen, und sei es subsidiär. Rehm erläuterte nicht weiter, was er unter «Sage» verstand, und wie dieselbe sich von «schriftlicher Ueberlieferung» abgrenzte. Es ergab sich, im sicheren Besitz der «Deutschen Sagen» (1.81.6118), offenbar von selbst. Sage war Erzählung einer bestimmten Form, Erinnerung in poetischer Einkleidung. Die Hochachtung vor mündlicher Überlieferung verwehrte und erübrigte zudem, und das war die gravierendste Wirkung der Sagenforschung auf die Geschichtswissenschaft, die Kenntnisse der mittelalterlichen Geschichtsschreiber grundsätzlichen, an der Mündlichkeit einhakenden Zweifeln zu unterziehen, obwohl jenes Wissen sich in weit überwiegendem Maße und nicht weniger als die von ihnen überlieferten Sagen mündlicher Erinnerung verdankte. Die Ausführungen der Geschichtsschreiber wurden behandelt, als flösse die vergangene Wirklichkeit selbst aus ihnen, allenfalls von Parteistandpunkten ein wenig getrübt und deshalb filtrierungsbedürftig. Die Frage von Erinnerung und Mündlichkeit verschob sich so zu einem bloßen literarischen Gattungsproblem. Daß sich hinter ihnen das zentrale, das alles entscheidende Hindernis für ein rasches Verständnis der früh- und hochmittelalterlichen Texte verbarg, daß ein gleichartiges Hindernis sich auch vor die schriftlichen Quellen schob, daß es besonderer Vorsichtsmaßnahmen bedurfte, um dasselbe zu überwinden, das wurde kaum geahnt, geschweige denn in seiner Tragweite erkannt und systematisch erforscht. Mündlichkeit und Erinnerung blieben trotz gelegentlichem Unbehagen blinde Flecken in den Augen der Historiker. Mehr noch! Die spezifischen sozialen und kontextuellen Bedingungen, unter denen ihre einschlägigen Quellentexte zustande gekommen waren, und die ihre Auswertbarkeit für alle Zeit beherrschen, wurden überhaupt nicht erfaßt. Hier rächte sich, daß Rehm (gleich Ranke oder den Brüdern Grimm und mit ihnen die gesamte Zunft) die Psychologie, so unentwickelt und spekulativ sie damals, in der ersten Hälfte des 1.9. Jahrhunderts, auch gewesen sein mag, aus den historischen Hilfswissenschaften verbannt hatte. Das Verdikt, das später noch die Verhaltensforschung erfaßte, wurde bis heute nicht grundsätzlich, allenfalls vereinzelt revidiert. Mit ihm war indessen nicht lediglich eine, wie Rehm meinte, wirklichkeitsferne Disziplin eliminiert; mit ihm hatte man vielmehr den Blick auf die konditio-
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nierenden Voraussetzungen aller Erinnerungsarbeit verstellt. Denn die Urheber von Quellentexten unterliegen diesen ebenso wie die Historiker selbst, wirkten und schrieben sie nun vor eintausend Jahren oder leben sie heute. Des weiteren unterschied Rehm nicht zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis, bedachte nicht die Unterschiede im Erinnern verschiedenartiger Gegenstände und Institutionen oder der diversen sozialen Träger der Erinnerung. Es schien einerlei zu sein, ob es das Wissen von der Beherrschung des Feuers war, das durch die Jahrtausende weitergegeben wurde, oder der immer neue Mythos vom ersten Feuerbezwinger und Feuerbringer, dessen man sich entsann. So sollte es bleiben. Die Schlußfolgerungen der Historiker ruhten auf dem Fundament dieses Glaubens an die Erinnerungskraft der Menschen und des illiteraten Volkes und ihre prinzipielle Zuverlässigkeit. Ranke etwa, um noch einmal zu ihm zurückzukehren, erkannte den fundamen talen Unterschied zwischen den frühmittelalterlichen Klosterannalen und jenem Werk, dem er dann den heute noch üblichen Namen gab, den «Annales regni Franeorum», den «fränkischen Reichsannalen» 15: «Ein Mönch in seinem Klo~ter konnte unmöglich die Dinge so genau erkunden, wie sie hier beschrieben sind ... Hier aber haben wir einen Autor vor uns, der die Züge der Heere, ihre Zusammensetzung und Führung, die einzelnen Waffentaten kurz aber sicher angibt, und der auch von den Unterhandlungen bis auf einen gewissen Grad zuverlässige Kenntnis hat. Niemand konnte über die Unternehmungen gegen Benevent und Bayern so gute Nachrichten mitteilen, der nicht dem Rat des Kaisers nahestand.» Indes, gerade die «guten Nachrichten» über Bayern haben sich jüngst, eine Ironie der Geschichte, als ein Produkt verzerrender Erinnerung erwiesen 16 . Gedächtnisblind wie er war, konnte Ranke gar kein angemessenes Urteil über das ihm vorliegende Nachrichtenbündel zu Bayern gewinnen. Dies ist kein Einzelfall; andere Beispiele ließen sich mit Leichtigkeit hinzufügen. Nicht einmal Karls Kaiserkrönung war vor derartig verformender Fixierung und Tradierung gefeit 17 • Das Annalenwerk als Ganzes aber harrt noch seiner Analyse nach mnemologischen und kognitionswissenschaftlichen Kriterien. Einstweilen gelten diese Annalen nach wie vor als der Inbegriff zuverlässiger Information, «als eine Art Tagebuch zum Dienstgebrauch» 18, mitunter geradezu als die vergangene Wirklichkeit selbst. Wir können hier nicht alle bedeutenden Historiker der letzten :150 Jahre Revue passieren lassen. Es genüge der Hinweis, daß in «Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalten>, der weitverbreiteten, ausführlichen, von Wilhelm Wattenbach begründeten, von Wilhelm Levison und Heinz Löwe überarbeiteten Quellenkunde des früheren Mittelalters, das Gedächtnis
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keine Rolle spielt. Für Frankreich läßt sich auf Gabriel Monod, für Belgien auf Godefroid Kurth verweisen, deren kritische Quellenstudien bis heute nachwirken. Nirgends findet sich eine Lehre der Erinnerung, des historischen Gedächtnisses oder Bewußtseins, des Vergessens, der Verschränkungen von Mündlichkeit und Erinnerung in Ansätzen entwickelt, geschweige denn beachtet. Herausgreifen möchte ich Johann Gustav Droysen. Zwar bietet er, ähnlich wie Rehm, einige Bemerkungen über das Erinnern; gleichwohl entwickelte auch er keine quellenanalytische Methodologie der Mündlichkeit, keine kritische Gedächtnistheorie, auf die der Historiker der Antike oder des Frühmittelalters sich hätte stützen können. Droysen holte es auch nicht nach, als er sich der Geschichte Alexanders des Großen oder Preußens zuwandte. Erinnerung bot ihm lediglich die Gelegenheit, sich «das Verständnis seiner selbst und seiner zunächst unmittelbaren Bedingtheit und Bestimmung» zum Bewußtsein zu bringen 19, erfüllte also einen personalistischen, ethischen Zweck, ohne in eine Kritik der Erinnerungsfähigkeit und erinnerten Wissens zu münden. Sie diente mit anderem «nur dazu, jenes seelische Leben zu erregen»20, das jede höhere Kultur begleitet, ist gleichbedeutend mit «historischem Bewußtseim)21. Er pries ihren kulturschaffenden Wert, nicht ihre inhaltliche Gefährdung. Droysen trennte mitunter, wenn auch nicht scharf, zwischen mündlicher und schriftlicher Erinnerung. Er wußte, daß mündliche Erinnerung zu Verwerfungen führen kann, sprach auch von «verfließenden Vorstellungem/2. Aber er ging diesem Einwand nicht systematisch nach. Erinnern und Gedächtnis blieben Grauzonen der historischen Methode. Die Beispiele, die er für verformte Erinnerung brachte, entstammten dem Bereich der Sage, der Heldenlieder und des Heldenepos. Kein einziger «Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit» wurde angeführt, geschweige denn erinnerungskritisch analysiert. Doch auch als Droysen auf das Thema von Erinnerung und Sage zu sprechen kam, holte er das Versäumte nicht nach 23 . Kriterien zur Kritik mündlicher Überlieferung und zur genaueren Bestimmung des verzerrenden Einflusses mündlicher Erinnerung auf schriftliche Quellen ließen sich auf diese Weise nicht entwickeln, die Verzerrung der Geschichtsforschung aufgrund ihres Glaubens an die mündliche Erinnerungsleistung nicht korrigieren. Deren eigentliche Problematik war tatsächlich gar nicht erkannt. Die Wirklichkeit aber sieht anders aus, als diese Historiker sie sich träumen ließen. Für die Erforschung des Mittelalters zeigten sich alsbald erhebliche Auswirkungen. Mehr oder minder vertrauensselig wurden die Berichte
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der frühmittelalterlichen Geschichtsschreiber hingenommen, obgleich sie sich weithin, bald unmittelbar, bald mittelbar, mündlicher Erinnerung verdankten. Schlimmer noch, Jacob Grimm lehrte in seiner «Deutschen Mythologie», daß die Erinnerungskraft des Volkes trotz mancherlei Wandel bis in vorgeschichtliche Zeit zurückreiche. Grimms Paradebeispiel war die «Edda», also jene religiöse Dichtung, die zum größten Teil im 1-3. Jahrhundert auf Island und in einer seit Generationen christianisierten Gesellschaft entstanden war, die sich voll Stolz auf ihre heidnische Vergangenheit berief24 • Tausend Jahre waren für Grimm wie ein Tag. Junges verschmolz mit Altem und ergab einen Brei germanischen Denkens von zäher Beharrungskraft, angeblich uralt. Solcherart Erinnerung, die bis zu den (fiktiven) germanischen Vorvätern zurückgereicht habe, wurde als Hausüberlieferung der Deutschen in Anspruch genommen. Obwohl doch alle Nachrichten dazu aus nicht-römischen, nichtfremden Quellen erst nach Jahrhunderten, dazu in einem geistigen Milieu zu fließen begannen, das sich an römische Dichter und Historiker, an christliche Kirchenväter und an die biblischen Bücher der Juden eben anzulehnen bestrebt war. Alles Ältere indessen, die antiken Nachrichten zu Germanen, war durch Hörensagen, Mündlichkeit, Informanten, Wahrnehmungs- oder Verstehensprozesse geprägt, kurzum durch das Nadelöhr des Gedächtnisses hindurehgepreßt worden. Doch blind für dasselbe hantierte der Mythologe mit Farben, deren Qualität ihm unbekannt blieb. Grimm hatte viele Gefolgsleute. Man unterschied vor allem nicht zwischen den diversen Inhalten der Überlieferung. Erinnerung war gleich Erinnerung, einerlei ob es religiöse Kulte oder Kriege, Wissen oder Handeln betraf. Mythologisches glich - erinnerungstechnisch betrachtet - Geschehenem, Kultisches Heldentaten, Götter Königen. Überhaupt, Kultmythen, mit Ritualen verschlungen, lieferten Jacob Grimm die bevorzugten Beispiele, die er für die Langlebigkeit von Erinnerungen des Volkes ins Feld zu führen wußte. Zwar lernte man mit der Zeit, differenzierter zu urteilen, registrierte gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit Ernst Bernheim beispielsweise die zahlreichen Trübungen, denen die Sinneswahrnehmung ausgesetzt war: durch diverse Standorte, durch Überschichtung mit Phantasie, durch Verfremdung aufgrund von Unvollkommenheiten und Inadäquanz der Sprache als eines Darstellungssystems, durch mancherlei andere Quellen. Auch wurde man ein wenig kritischer gegenüber der Sagenwelt, als es die Brüder Grimm einst waren. Aber doch nur ein wenig und nicht prinzipiell und mit methodologischen Konsequenzen, wie wiederum vor allem die deutsche Geschichtswissenschaft bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zu illustrieren vermag.
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Die historische Leistungskraft des Gedächtnisses wurde bei all dem nicht gründlich in Zweifel gezogen oder systematischen Kontrollen unterworfen. Der erwähnte Bernheim etwa widmete in seinem immerhin 780 Seiten umfassenden «Lehrbuch der Historischen Methode» ganze zwei Sätze von dreizehn Zeilen Länge dem Thema Erinnerung: «Die Treue und Genauigkeit des Gedächtnisses», so lautete deren erster, «spielt überhaupt eine starke Rolle bei der Reproduktion [des Wahrgenommenen], da diese meist nicht angesichts der Vorgänge selbst zum _Beschluß gelangt, sondern großenteils nachher aus der Erinnerung geschöpft wird.» Das traf in einem allgemeinen Sinne zweifellos zu, klang einigermaßen skeptisch, und war doch mehr beiläufig hingeworfen. So blieb es denn folgenlos und damit ohne theoretische, methodologische Vertiefung und Systematisierung. Bernheims zweiter einschlägiger Satz wie gelte zudem schon wieder ab: «Von dem Autor, der die berichteten Thatsachen selbst miterlebt hat, dürfen wir voraussetzen, daß er unmittelbare Kenntnis derselben haben kann, wenn er sonst der rechte Mann ist; von dem entfernteren Zeitgenossen, dessen Erinnerung noch in die Jahre der berichteten Ereignisse reicht und der noch aus der allgemein lebendigen Erinnerung der Zeitgenossen schöpfen konnte, dürfen wir ebenfalls eigene Kenntnis annehmen; bei dem weiter entfernten müssen wir nach den Quellen seiner Kenntnis fragen und diese wiederum auf ihre Unmittelbarkeit prüfen»25. Miterleben, Erinnerung aus den Jahren der berichteten Ereignisse, Unmittelbarkeit - das waren Bernheims vorausgesetzte Garanten für wirklichkeitsgemäße Reproduktion des Wahrgenommenen durch das Gedächtnis. Sie behandelten das Gedächtnis geradezu wie ein Netz, dessen Maschen so grob gestrickt waren, daß Aktivität und Kreativität des Erinnerns nicht aufgefangen werden konnten. Ein Gedächtnis, das Erinnerungen schafft, dessen Kreativität Geschehnisse erinnert, die nie geschehen sind, dessen homogenste und überzeugendste Leistung sich fortgesetzt gegen den Verdacht behaupten muß, geschehensfernes Konstrukt zu sein, ein solches Gedächtnis entzieht sich einer historischen Methode, die Bernheim verpflichtet ist. Dessen weitere Bemerkung, daß nämlich Sage «Wirklichkeit und Dichtung, Erinnerung und Phantasie» durcheinanderwerfe, läßt unschwer erkennen, wie ungeheuer nahe an Wirklichkeit Bernheim die Erinnerung angesiedelt hat 26 . Dreiunddreißig Seiten hatte Ernst Bernheim in seinem verbreiteten «Lehrbuch der Historischen Methode» immerhin der Psychologie gewidmet; doch sie führten nicht zum Gedächtnis. Von ihm und seiner Kritik war hier keine Rede. Als aber, etwa durch Sigmund Freud oder William Stern, die Psychologie sich änderte und von einer «verstehenden» zu
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einer «erklärenden», experimentell und statistisch operierenden Wissenschaft reifte, distanzierte sich die Geschichtswissenschaft in Deutschland von ihr, obgleich Bernheim selbst schon in einer früheren Auflage seines Werkes, wenn auch an versteckter Stelle, auf Sterns Forschungen verwiesen hatte. Es half nichts, obgleich William Stern schon 1902 seine «Psychologie der Aussage» vorgelegt hatte. Die Zunft nahm die experimentelle Psychologie ebensowenig zur Kenntnis, wie sie später auch die Entwicklungspsychologie eines Jean Piaget unbeachtet ließ 27 . Die Katastrophe von 1933 vertiefte die Abkehr noch weiter. Entgegengesetzt verlief die Entwicklung in Frankreich, wo Maurice Halbwachs in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts seine bahnbrechenden Untersuchungen zum kollektiven Gedächtnis durchführte, an die wenig später, 1933, der englische Psychologe Frederick C. Bartlett anknüpfte 28 . Erinnerung aber ist ein psychisch konstituierter Faktor der Wirklichkeitskonstruktion, dessen Bedingungen der Historiker kennen muß, will er vergangene Wirklichkeiten und nicht nur frühere Erinnerungen re-konstruieren, und der ihn grundsätzlich und radikal an der Exaktheit erinnerter Wahrnehmungen zweifeln lassen muß, bevor er wagen darf, Erinnerungszeugnisse als zuverlässig anzunehmen. Das alles verlangt nach Methoden, die Erinnerungskritik selbst und gerade dann erlauben, wenn - wie so oft - keine weiteren Bezugsgrößen als Erinnerungsprodukte zur Verfügung stehen. Unerörtert blieb die tatsächliche Rolle des Gedächtnisses beim Formen der Quellennachrichten und beim Umgang des Historikers mit ihnen. Welches Ausmaß der Veränderung es bewirkte, wie oft, unter welchen Bedingungen seine Verformungskräfte erwachten, wie rasch nach dem Geschehen, in welche Richtung sie sich fortbewegten, ob der Historiker sie erkennen könne und woran, ob sie kalkulierbar wären, welche Quellen und Geschehenshorizonte von ihnen infiziert waren, das alles und noch vieles mehr blieb außer Betracht, unbeachtet und unbekannt. Bernheim streifte, knapp genug, die Problematik mündlicher Erinnerung ausschließlich am Beispiel der Sage, also am Grimmschen Paradigma (das er, wie die beiden Brüder, mit Mythos und Legende verband, und das man an seiner literarischen Gestalt leicht erkennen zu können glaubte). Von den eigentlichen Geschichtsschreibern, denen das Wissen über die Vergangenheit verdankt wird, schwieg auch er. Immerhin: «Man hat auf diesem Wege (über die literarische Gestalt) erkannt, daß die Mythen sehr häufig die Form geschichtlicher Sagen annehmen, ohne daß irgend ein wirkliches historisches Element verhanden ist, während sie sich in anderen Fällen mit wirklich historischen Reminiszenzen auf mannigfaltige Art verbinden und durchsetzen»29. Mißverständnisse, Aneignungs-, Konzentrations-, Übertragungsprozesse, Gestaltungstrieb, Interpretationen,
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Ergänzungen und Motivierungen wurden zu Recht als verformende Kräfte gewürdigt; daß aber Kultmythen und historische Sagen durchaus unterschiedlichen Erinnerungsbedingungen unterlagen, daß sich damit die Frage nach der zeitlichen Dimension von verwerfungsfreier Erinnerung "verknüpfte und damit die Qualität des Vergangenheitswissens überhaupt zur Prüfung stand, wurde nicht angemerkt. Erinnerung war gleich Erinnerung - einerlei, worin sie sich verfing. Die Wirkungen zeigen sich bis weit in das 20. Jahrhundert hinein. Ich greife ein besonders krasses Beispiel angeblich durch Jahrtausende lebendiger Bräuche heraus. Da ist bei Otto Höfler, einem einstmals auch unter deutschen Historikern einflußreichen Wiener Germanisten, davon die Rede 30, daß das «Totenheer», das mit Wotans wilder Schar und der familia Herlechini gleichgesetzt wird, «unter lautem Glockengetön» einherziehe. Hinter der Sage, so behauptet Höfler nun, versteckten sich die Relikte eines altgermanischen, ekstatischen Geheimkultus. Um das zu belegen, werden die Glocken mit einem «Charivari» des 14. Jahrhunderts, dem bayrischen «Haberfeldtreiben» des 19. und 20. Jahrhunderts, dem wutteshere der Zimmerischen Chronik des 16. Jahrhunderts, dem Lärmen antiker Mysterien, südgermanischen Kulten und den blutigen Festen von Alt-Uppsala, welche Saxo Grammaticus beschreibt, und mit manch anderem lärmenden Haufen, mit den heterogensten Dingen also verknüpft. Kein einziges Element dieser langen Serie von Phänomenen läßt sich kontinuierlich bis in taciteische oder caesarische Zeit und zu germanischen Stämmen zurückverfolgen. Alle Beispiele sind pure Wissenssplitter, deren Kenntnis gelehrten Autoren, christlichen Priestern, Volkskundlern und Mythenforschern verdankt wird, deren aus Ähnlichkeiten deduzierte Folgerungen gewiß keine lebendige Tradition nachweisen können. Zweifellos hätten sich auch aus Indien, Tibet oder China entsprechende Lärmszenen beibringen lassen. Welche Vorstellungen im einzelnen tatsächlich auf welche kultischen Handlungen zu welcher Zeit und in welchen Kontext zurückführen, diese Fragen sind nur in den allerseltensten Fällen zu beantworten. Zumeist ersetzen mehr oder weniger begründete Hypothesen sicheres Wissen, oft müssen Spekulationen die Abgründe von Nichtwissen überbrücken, und regelmäßig treten vorauseilende Glaubensüberzeugungen, in Höflers Fall gar völkische, an die Stelle von Quellen 31 . Nichts ist hier evident. Keine einzige Glocke oder Schelle hat sich bisher in kaiserzeitlichen, germanischen Fundhorizonten auffinden lassen. Was Caesar und Tacitus von der Religion der Germanen berichteten, findet sich nicht in der «Edda» des 13. Jahrhunderts, die ihrerseits bereits ein synkretistisches Gemisch aus christlichen, jüdischen, orientalischen und nordischen Kult-
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und Glaubenselementen darstellt. Mit Synkretismen, auch solchen jüngsten Datums, ist also zu rechnen. Maskenzüge und lärmende Menschen begegnen einem in allen Religionen und Kulturen dieser Erde. Totenkulte ebenso. Oftmals wird ursprünglich Fremdes unter einem Namen vereint, als sei es seit alters dasselbe. Wieviel von den einzelnen Berichten gelehrter, aus schriftlicher, nicht einheimischer Überlieferung gespeister Konstruktion verdankt wird, wieviel «lebendiger Tradition», die in diesem Falle ja über Jahrhunderte, über mehr als ein Jahrtausend hinweg mündlich erfolgt und rituell oder von Volksgebräuchen getragen gewesen sein müßte, wieviel der Schule, ob und wie die angebliche Tradition in die angeblichen Traditionsgruppen erst hineingeredet wurde, das vermag in keinem einzigen von Höflers Fällen geklärt zu werden. Der Glaube an die sich stets erneuernde Erinnerung, an ein fortdauerndes Gedächtnis schafft Erinnerung und Gedächtnis, Vergangenheitsbilder und gelehrte Konstrukte. Solche Wissenschaft zerrinnt in neuheidnische Mythologie. Selbst wenn nach 1945 über Erinnerung reflektiert wurde, geschah es ohne Interesse an der Arbeitsweise des Gedächtnisses. So widmete der bedeutende Althistoriker Alfred Heuss in seinem immer wieder zitierten Essay «Verlust der Geschichte» auch der «Geschichte als Erinnerung» ein KapiteP2. Er registrierte jetzt das längst bekannte Phänomen, daß Erinnerung «strukturell reflexiv» sei, daß nämlich «in dem Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit ... stets das eigene Selbst» erscheine, sie «stets individualisierend» verfahre, obgleich in ihr entsprechend der menschlichen «Konstitution als interpersonaler Individualität» auch Kommunikation widerscheine, daß «Erinnerung ... immer selektiv», der Mensch aber «sich seiner eigenen Kontinuität in der Zeit bewußt» sei. Der Gegenstand historischer Analyse sei indessen das «kollektive Gedächtnis», nicht das eigene des Historikers, keine «individuelle Erinnerung». Denn die «Menschen als Angehörige eines Gruppenverbandes» besäßen «ein gemeinsames Bewußtsein ihrer selbst» und ebenso «eine gemeinsame Erinnerung ihrer selbst». Sie sei «so objektiv wie diese Gemeinschaft» und resultiere aus einer vom Historiker ge stifteten «Kette von Tradition» aus «Zeugenschaft» und «Mitteilung». Gewiß, Heuss hat auch die Veränderung der Erinnerung angesprochen. Der Mensch bemerke «auch geschichtlich nicht zu allen Zeiten immer das gleiche». Doch hier verrät sich die mangelnde Vertrautheit mit der Erinnerungsproblematik, wie sie durch Halbwachs oder Bartlett längst dargelegt war. Denn Heuss erwähnte lediglich den Umstand, daß «bestimmte Episoden (eines) Lebens ... je nach den Stadien seines Alters ein verschiedenes Gewicht und verschiedene Bedeutung erhalten». Der-
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artiges trifft zweifellos zu. Daß aber die Belange des Historikers noch viel unmittelbarer betroffen sind, daß nicht nur Gewicht und Bedeutung erinnerter Episoden sich mit der Zeit verschieben, daß vielmehr (zum Teil als Folge jener Verschiebungen) sachliche Abweichungen hinsichtlich Zeit, Ort, Beteiligten, Umständen, Intentionen oder Verhalten und dergleichen mehr fortgesetzt die erinnerte Wirklichkeit paralysieren, nämlich «die Vergangenheit und ihre Fakten» (die auch Heuss intendierte), das bedachte der durch das Zustandekommen der weit überwiegenden Zahl gerade seiner wichtigsten Quellen extrem betroffene Althistoriker nicht. So zutreffend also seine Hinweise waren, sie blieben methodisch steril und flossen nicht in die Untersuchung der Vergangenheit ein. Sie galten dem forschenden Historiker von heute und seiner Psyche, nicht der Quellenanalyse, warfen existentielle Fragen auf, nicht methodologische 33 • Sie dienten mehr der Vergangenheitsbewältigung als der Gedächtnisforschung. Die Psychologie wurde zudem gleich der Anthropologie ausdrücklich aus dem Betrachtungs bereich des Historikers ausgeklammert34 . N euere Einführungsschriften in die Mediävistik und Geschichtswissenschaft haben dar an wenig geändert. Als repräsentativ darf für den deutschsprachigen Bereich die «Einführung in das Studium der mittelalterlichen Geschichte» gelten, die Heinz Quirin erstmals 1949, in gründlich revidierter Fassung 1961 und wiederholt seitdem vorgelegt hat35 • Sie besitzt ein einhundertseitiges Kapitel «Die Arbeit an den Quellen», in dem über allerlei Nützliches, über die «Eigenart der historischen Methode», die «Quellenlektüre», die Philologie, über die «Quellenkritik und Quellenanalyse» gehandelt wird, auch über das literarische Erbe der Spätantike, die «Stilform und Stilanalyse», «die Form als Brücke zwischen Idee und Wirklichkeit», sogar über «die mündliche Tradition des adeligen Sippenbewußtseins», über den «Autor und sein Verhältnis zur Wirklichkeit» oder «Überlieferungsweisen» (um hier nur diese Punkte zu erwähnen). Das hat alles seine tiefe Berechtigung. Doch mit keiner Silbe kommt diese Einführung auf Erinnerung, Vergessen und Gedächtnis zu sprechen, auf die «Psychologie der Aussage», auf Möglichkeiten einer Gedächtniskritik. Der Mangel ist durch nichts zu rechtfertigen, es sei denn mit dem Hinweis auf eine Wissenschaftstradition, die derartigen Fragen noch völlig fernstand. Form und Inhalt, Stil und Tendenzen historischer Texte, literarische Techniken, Urkundenlehre, Formularkunde, das «Übersetzungsproblem» (aus der volkssprachlichen Muttersprache ins gelehrte Latein), die Eleganz der Rhetorik, die Belesenheit der Quellenautoren, Zitatnachweise, das und dergleichen mehr war die tägliche Kost angehender Mittelalter-
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historiker bis in das letzte Viertel dieses Jahrhunderts - und nicht ein Hauch von Erinnerung; keine Gedächtniskritik, keine Techniken der Erinnerungskontrolle, keine Bauformen historischer Anamnese. Ist mir nichts entgangen, so werden die Vokabeln «Gedächtnis» und «Erinnerung» in der einflußreichen Quirinschen Einführung in das Geschichtsstudium nicht einmal erwähnt. Jüngeres propädeutisches Schrifttum folgt diesem Vorbild sogar noch heute 36 • Die scheinbaren Gewißheiten romantischer Forschung, die relative Gleichgültigkeit ihrer idealistischen und positivistischen Nachfolger haben die Historiker im 20. Jahrhundert gegenüber dem Erinnerungsproblem abstumpfen lassen. Sie sahen sich nicht gezwungen, sich mit der menschlichen Basis aller Geschichte Wahrnehmung und Wahrnehmungs selektion, Erinnern, Vergessen, Gedächtnis - auseinanderzusetzen. Eine zaghafte Wende, nahezu folgenlos und deshalb kein Durchbruch, trat in Deutschland mit den Forschungen von Reinhard Wenskus ein. Historiker der germanischen Welt und des frühen Mittelalters, zugleich Ethnologe, der Feldforschungen bei den Hopi in Nordamerika trieb, verstand er, Fragestellungen, Methoden und Sichtweisen der beiden Disziplinen zu vereinen. Wenskus entwickelte dabei, den allgemeinen Tendenzen der westdeutschen Mediävistik nach :1945 folgend, in Anlehnung an ethnologische Forschungen eine neue Verfassungsgeschichte. Die Ergebnisse legte er in einem epochalen Werk nieder, das als solches noch kaum gewürdigt wurde 37 : «Stammesbildung und Verfassung». Wenskus betrachtete soziale Ordnungen und politische Verbände der Spätantike und des früheren Mittelalters. Die Wandervölker der Völkerwanderungszeit wurden hier in neuer Weise gesehen, als auf Mündlichkeit angewiesene Traditionsverbände nämlich, deren Führungsgruppen die Erinnerung an die gemeinsame Abkunft, das Erzählen der gleichen Mythen vereinte. Es verlieh ihnen politische und soziale Identität, die das aktuelle Handeln in eminentem Ausmaß betraf. Wenskus hat zuletzt seine Ausführungen um religionsgeschichtliche Perspektiven erweitert, welche die völkerwanderungszeitliche «Germania» zwar «in die religiöspolitische Vorstellungswelt des gesamten Großraums von Vorderasien bis zum Atlantik» rückten, vor allem aber auf eine noch vorhandene, vielfältig und unterschiedlich ausgeprägte «Grundschicht der sog. niederen Mythologie und des Volksbrauchs» verwiesen 38 . Deutliche Grenzen trennten zwar beide Schichten; sie dürften nicht übersehen werden; gleichwohl vermischten sie sich immer wieder aufs neue und zeitigten dadurch stets andere religiöse Verhältnisse. Das alles hing eminent mit Erinnerung zusammen, oder genauer: mit Ritualen und Kulttraditionen. Die Vorgänge verraten also einiges über die Veränderungsdynamik des
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an Mündlichkeit gebundenen religiösen Gedächtnisses. Indessen hat auch Wenskus die damit einhergehenden Probleme nicht aufgegriffen und vertieft. Doch gerade darauf käme es in unserem Zusammenhang an. Die Mündlichkeit der Kommunikation und des Gedächtnisses und die in ihr liegenden Bedingungen allen Wissens oraler Kulturen wurde nicht weiter erörtert. Damit blieben entscheidende Faktoren der Konditionierung historischen Wissens und des Wissenstransfers aus der Vergangenheit in die jeweilige Gegenwart und unter Zeitgenossen nach wie vor von der Quellenkritik unbeachtet. Auch die durch Mündlichkeit gesteuerte Veränderungs dynamik der gemeinschaftskonstituierenden Traditionen, die ja keineswegs starr fixiert sind, vielmehr flexibel sich der sich fortgesetzt wandelnden Umwelt der jeweiligen Gemeinschaft anpassen, wurde nur bedingt erkennbar. Der Umstand etwa, daß alle uns greifbaren Abstammungsmythen nur Durchgangsstadien eines endlosen Mythendiskurses darstellen, findet sich kaum beachtet. Nicht einmal die schriftliche Fixierung schützt derartige Mythen auf Dauer vor nachhaltiger Veränderung, wie die Geschichte vom Untergang der Burgunden beispielhaft lehrt; ich komme später darauf zurück. Erst der moderne Historiker findet die Mythen ein für allemal fixiert, nämlich just in der Gestalt, in der er sie in seinen Quellen zufällig aufgezeichnet antrifft, also etwa in der Gestalt der Lieder-Edda des 13. Jahrhunderts. Hier spielen Überlieferungschance und Überlieferungszufall, auf die Arnold Esch so nachdrücklich verwiesen hat, eine alles entscheidende Rolle 39 • Doch darf diese Aufzeichnung nicht darüber hinwegtäuschen, daß jede Aufzeichnung nur ein einziges Durchgangsstadium im endlosen Fließen der Erzählung herausgriff und fixierte. Anders im Bereich der Philologien. Dort wird seit geraumer Zeit die Mündlichkeit der Literatur im weitesten Sinne untersucht. Ein ungeheurer Reichtum mündlicher Kulturen offenbart sich nun, und eine hohe, an Mündlichkeit gewöhnte mittelalterliche Wissenskultur zeichnet sich ab, die illiteraten Laien ebensoviel verdankte wie der literaten Geistlichkeit, wenn beide Gruppen teilweise auch mit unterschiedlichen Rollen an ihr beteiligt waren40 . Zumal die Vortrags situation von Dichtung trat in den Blick. Die Texte wurden einst inszeniert, nicht still für sich gelesen. Ihr Vortrag war ein kommunikativer Akt. Wort, Gestik, Mimik und Musik vereinten sich bei der Aufführungspraxis. Texte wurden gehört und gesehen, mit Aktivitäten der Zuhörer durchsetzt 41 . Mündlichkeit brachte sich dabei wenigstens zweifach zur Geltung: Einmal indem die Dichtung für sie typische sprachliche Attitüden aufnahm, zum andern indem sie regelmäßige Hinweise auf eben diese Vortrags situation selbst zu bieten
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hatte. Eine derartige Beurteilung der Mündlichkeit einer Kultur hat nun aber erhebliche Konsequenzen auch für deren Vergangenheitswissen und die Form, in der es präsentiert wird. Sie berührt also unmittelbar den Allgemein- und keineswegs nur den Literatur- oder Bildungshistoriker. Denn das historische Wissen einer derartigen Gesellschaft ist ständig im Fluß, seine Inhalte sind hoher Modulation und Instabilität ausgesetzt. Hier aber steht die Forschung noch ganz am Anfang. Auch das Gedächtnis, die Erinnerungs- und Vergessensprozesse sind grundlegend von den Medien geprägt, derer sie sich bedienen. Mündlich erinnert man sich anders als unter dem Einsatz schriftlicher Gedächtnisträger. Welche Wirkungen zeitigt es für die Vergangenheitsbilder jener Epochen? Wie läßt sich dieser Andersartigkeit näherkommen ? Welche Folgen hat sie für die Geschichtsforschung? Das Verdienst, die Oralitätsdebatte in der deutschen Mediävistik eröffnet zu haben, gebührt Hanna Vollrath42 . Die unmittelbare, eigene Begegnung mit afrikanischen Kulturen verwies sie auf analoge Situationen im europäischen Frühmittelalter. Sie zeigte, daß in der deutschsprachigen Mediävistik die Frage der Literalisierung der mittelalterlichen Gesellschaft unter unzureichenden Vorgaben erörtert wurde. Man habe Mündlichkeit lediglich als fehlende Schriftlichkeit gewertet, mithin als einen defizitären Bildungsinhalt, nicht als eine kommunikative Grundbedingung der oralen Gesellschaft. Doch nicht die Bildung, ein soziales Segment, die Gesellschaft als ganze sei vielmehr betroffen. Der gesamte Bereich des Zusammenlebens, der sozialen Ordnung, des Wissens und seiner Vermittlung, der individuellen und kollektiven Identifikationsprozesse sei von Mündlichkeit geformt und gestaltet. Mündlichkeit konstituiere einen eigenen Typus von Gesellschaft. Vollrath ist uneingeschränkt zuzustimmen. Doch kann es dabei noch nicht bleiben. Wo Mündlichkeit dominiert, herrscht zugleich das (natürliche) Gedächtnis und herrschen mit ihm alle Stufen von Modulation, Verformung, Vergessen, Verdrängen von Vergangenheit. Alle Erinnerung an Vergangenes unterliegt in schriftlosen oder weithin schriftlosen Kulturen, wo alles nur sprachlich vermittelbare Wissen an mündliche Weitergabe gebunden ist, den Bedingungen des Erinnerns. Der Umstand bringt die allergrößten Probleme mit sich. Denn er wirft seine Schatten auf das weitaus überwiegende Quellenmaterial des früheren Mittelalters und betrifft die gesamte Behandlung der Geschichte dieser Epoche - nicht nur durch die Zeitgenossen von einst, sondern auch durch die Historiker von heute. Er besitzt darüber hinaus exemplarische Bedeutung im Rahmen einer historischen Erkenntnistheorie. Die das Gedächtnis berührenden Fragen wurden in diesem Zusammen-
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Das Schweigen der Forschung
hang bislang noch gar nicht gestellt: Was wird wahrgenommen und gespeichert? Unter welchen Umständen? Wie vollständig? Wie korrekt (im Sinne historischer Faktizität)? Was und wie wird selektiert? Wie und unter welchen Umständen wird es vom nie erlöschenden Vergessen paralysiert? Wie spiegeln die Produkte, also die Texte der Geschichtsschreiber und die Bericht erstattenden Notizen, mithin die erzählenden Quellen des modernen Historikers, diese Mischung aus Bewahren und Vergessen? Wie kann sie der heutige Historiker analysieren? Wie die Verwerfungen fassen? Wie entzerren? Mit welchem Instrumentarium und Gewißheitsgrad ? Die Bedingungen des Erinnerns müssen für jeden Einzelfall aufgedeckt, entsprechende Kontrollverfahren eingerichtet werden, Kontrollgruppen von Erinnerungsträgern müssen zur Verfügung stehen, um Klarheit über den Quellenwert der fraglichen Berichte zu gewinnen. Ohne derartige Rückversicherungen schweben alle Aussagen über Erinnerungsleistungen in der Luft. Nur soviel steht fest: Die Geschichtswissenschaft hat die Konsequenzen noch gar nicht angedacht, die ihr die Kognitionswissenschaft zu ziehen aufgegeben hat. Sie hat nämlich bei Gedächtnisquellen nicht, wie bislang noch stets, lediglich zu prüfen, was falsch an ihnen sei, sondern umgekehrt vorzugehen, nämlich nachzuweisen, was sie zutreffend überliefern. Denn das Gedächtnis ist ein notorischer Betrüger, ein Gaukler und Traumwandler ;und ein phantastischer Abstraktionskünstler dazu; und es bietet die lautere Wahrheit. Um so erstaunlicher ist die fortgesetzte Abstinenz der Mediävisten zumal in Deutschland gegenüber der Erinnerungsforschung43 . Selbst noch die jüngsten, durchaus für anthropologische Fragestellungen offenen Einführungen in die mittelalterliche Geschichte etwa aus der Feder von H.-W. Goetz44 oder von H.-H. Kortüm45, schweigen sich mit einer Ausnahme46 über das Gedächtnis aus. Rückt die Gedächtnisforschung einer traditionell philologisch ausgerichteten Geschichtswissenschaft, die sich nahezu ausschließlich mit literarischen Traditionen (die an ihrer Stelle zu untersuchen ja berechtigt ist) und nicht mit dem Gedächtnis befaßt, zu nahe auf den Leib? Man unterstelle, so wurde beispielsweise gegen den Versuch eingewandt, Heinrichs I. Königserhebung nach den Bedingungen mündlich überlieferten Vergangenheitswissens zu beurteilen, unzulässigerweise, Otto der Große habe «nichts mehr von den Einzelheiten der Herrschaftsübernahme seines Vaters gewußt»47. Das ist selbstverschuldete Blindheit angesichts des Erinnerns. Denn auch Ottos (und seiner Informanten) Wissen war im Gedächtnis verankert und nur dort. Wie dieses aber sein Wissen erlangt und welche Qualität dasselbe aufzuweisen hatte, das verrät, um Jahrzehnte dem Geschehen entrückt, die bloße Überlieferung
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nicht. Was immer der Kaiser wußte - Otto war, als sein Vater den Thron bestieg, sieben, acht oder neun Jahre alt -, es war von dem, was tatsächlich in seiner Kindheit geschehen war, weit entfernt, und niemand kann bis heute sagen, wie weit. Es ist aber nach den Erfahrungen der Kognitionswissenschaft mit erheblichen Verzerrungen und zwar auf allen Ebenen, den personalen ebenso wie den lokalen, den politischen ebenso wie den rituellen, den faktischen wie den semantischen und mentalen zu rechnen. Die erwähnte Kritik ist denn auch formuliert, ohne sich über die Leistungsfähigkeit des menschlichen Gedächtnisses vergewissert zu haben. Das ist symptomatisch für den gegenwärtigen Forschungsstand. Kortüm beispielsweise will - so der Untertitel seines Buches - «Vorstellungswelten des Mittelalters» darstellen. Er behandelt dazu synchrone und diachrone Beschreibweisen, Mentalitäten diverser sozialer Gruppen, «Erfahrungen» und «religiöse Vorstellungen». Dagegen ist nichts einzuwenden; im Gegenteil, es ist nachdrücklich zu begrüßen. Nur, von der Psychologie ist nirgends die Rede, von jener Disziplin also, die neben den Neurowissenschaften und der Verhaltensforschung sich am intensivsten mit der menschlichen Vorstellungskraft und den vorgestellten Welten befaßt. Auch von den Bedingungen des Erinnerns wird beharrlich geschwiegen. Doch an jeder Erfahrung, an jeder Vorstellung, an jedem Wissen ist das Gedächtnis maßgeblich beteiligt; und dieses ist ein kreativer Erfinder. Es gibt kein Wahrnehmen ohne Erinnern, kein Verhalten und Handeln losgelöst vom Gedächtnis, keine 5chriftlichkeit ohne mündliche Gedächtnisleistung. So gibt es denn auch keine Vergangenheit, die sich allein auf mündliches Erinnern berufen kann, ohne Vergessen, ohne einschneidende Modulation und Manipulation des tatsächlich Erinnerten. Wer aber den «Vorstellungswelten», dem Vergangenheitswissen, den Traditionsbildungen nachgehen will, der muß sich dem Gedächtnis zuwenden. Wir stehen hier offenbar noch ganz am Anfang einer Forschung, die sich dem Erinnern und Vergessen, den Vorstellungen schriftloser Kulturen, dem kulturellen Gedächtnis buchloser und bucharmer Gesellschaften, ihren Geschichtsbildern und der Geschichtskonstruktion zuwendet. Die Lage nimmt sich in der anglophonen Forschung, auch in Frankreich nur wenig günstiger aus. Darauf kann hier wiederum nur kursorisch verwiesen werden. Paul Thompson48, Michael T. Clanchy 49, David LowenthaPO, Michael Curschmann51, Patrick J. Geary52, Michael Richter53, um nur einige zu erwähnen54, haben sich einschlägigen Fragen zugewandt, freilich auch sie, ohne die Kognitionswissenschaften sonderlich zu beach-
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Das Schweigen der Forschung
ten. Jacques LeGoff hat vor über einem Vierteljahrhundert einen Essay zu «Geschichte und Gedächtnis» vorgelegt, der übrigens zuerst in Italien erschien55 . Doch galt er mehr dem Aufkommen der Geschichtsschreibung als den uns hier interessierenden Fragen nach der Wirkungsweise des Gedächtnisses und den Implikationen für den Historiker, auch wenn diese Seite nicht völlig ausgeklammert war. Bemerkenswert ist in Frankreich die Gemeinschaftsarbeit der Brüder Tadü~, Literaturwissenschaftler der eine, Neurochirurg der andere 56 . Im deutschsprachigen Raum verharrt die Geschichtsforschung indessen zumeist bei der Betrachtung des «kulturellen Gedächtnisses», dem Ensemble der Erinnerungskultur also, der narrativen, geistigen, identitätsstiftenden, legitimatorischen oder zivilisatorischen Traditionen der Gesellschaft, ihrem sozialen und kulturellen Wissen und seinen Trägern57 . Aufs Ganze gesehen wurde die Kulturgeschichte Kultur im weitesten Sinne des Wortes verstanden - ohne zureichende Beachtung des humanen betrieben, des Gedächtnisses, seiner Arbeitsweise und Wirkungen58 . Was also tun, um der deutlich gewordenen Subjektivität und Situativität aller Erinnerung zu entkommen, auf deren Leistungen die Historiker gleichwohl angewiesen sind? Da die Geschichtswissenschaft, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Relevanz solcher Fragen noch kaum entdeckt hatte, sind andere Disziplinen, die sich mit gleichartigen Phänomenen konfrontiert sehen, um Rat zu fragen. Als hilfreich erwiesen sich zumal die Ethnologie, die (kognitive) Ethologie, die (Kriminal-, Aussagen- und Neuro-)Psychologie und nicht zuletzt die Neurophysiologie. Andere Disziplinen wie etwa die Linguistik oder Neurolinguistik müssen, um die Untersuchung nicht unangemessen aufzublähen, übergangen werden. Die Antworten aber, die sich hier abzeichneten, irritierten ein weiteres , Mal. Die Ethnologie, die größere Erfahrung im Umgang mit überwiegend mündlichen Kulturen besitzt als die Mediävistik, registrierte bei allen Völkern rund um den Erdball dasselbe Fließen und Gleiten von Erinnerungen der Vergangenheit von Kollektiven und Individuen. Das Erinnerte paßt sich fortlaufend Detail für Detail und in seinen Grundlinien den Bedürfnissen der erzählenden Gegenwart an, und wieder verrät keine Erzählung aus sich heraus, was zutrifft und was aus späterer überschreibenden Verformung resultiert. Danach wäre es grundsätzlich falsch, den mittelalterlichen, ja, überhaupt den erzählenden Quellen, soweit sie sich einem Gedächtnis verdanken, im Hinblick auf Zeit, Ort, beteiligte Personen, auf Umstände, Motive, auf andere historisch relevante Momente einen Vertrauensvorschuß zuzubilligen. Die Verhaltensforschung schärfte weiter den Sinn für die Herkunft
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des menschlichen Erinnerungsvermögens aus der vormenschlichen Evolution und damit dafür, daß das Gedächtnis dem Menschen nicht um seiner Geschichte, vielmehr um der Gegenwart und Zukunft willen, um anpassungsfähiger Erfahrung, des Wissens, der Zukunftsbewältigung wegen zugeflossen ist. Die Psychologie wartet mit in ihrer Konsequenz für die Geschichtsforschung abermals erschreckenden Testberichten und weiteren Erkenntnissen auf. Und auch die Neurophysiologie bestätigte die unzuverlässige Detailgenauigkeit eines sich an Wirklichkeiten erinnernden Gedächtnisses.
111.
Neurokulturelle Grundlagen der Geschichtswissenschaft
3.1
Gedächtnistypen
Wir Menschen erinnern uns, manche besser, manche schlechter, aber es geschieht durchweg in eigentümlich täuschender Weise: unscharf, unbeständig und lückenhaft, /phantasiedurchsetzt, diverse, doch reale Erlebnisse verschmelzend, unzuverlässig und in erschreckendem Ausmaß falsch. Ohne Betrugsabsicht verbreiten wir Unzutreffendes. Dieser Umstand nötigt den Historiker, der wissen will, was war, und dazu gleich einem Kriminalisten auf Erinnerungszeugnisse angewiesen ist, die individuelle und kommunikative Arbeitsweise des menschlichen Gedächtnisses genauer kennenzulernen, um dessen Leistungen angemessen würdigen und Fehlurteile vermeiden zu können. Einmal betreten, führt dieser Weg, da alles Wissen an das Gedächtnis gebunden ist, zugleich in tiefere Schichten der menschlichen Kultur, ihrer Entstehungs- und Verbreitungsbedingungen. Warum täuscht das Gedächtnis in der geschilderten Weise? Wie vermag der Mensch dennoch seine realen Erfahrungen darzustellen und sie anderen, von Mensch zu Mensch, von Generation zu Generation, über alle Barrieren von Raum und Zeit und die Abgründe zwischen den Gehirnen hinweg weiterzugeben? Wie überhaupt wird aus eingehenden Sinnesreizen Wahrnehmung, Erfahrung und ein tradierbares Wissen? Bewußte Vergangenheit? Wissenskultur? Was geschieht während solcher Transformation des Gegenwärtigen in das Erinnerte, im kommunikativen Kontext, mit dem Wahrgenommenen und Erfahrenen, mit der erinnerten Wirklichkeit? Lassen sich die erinnerungsbedingten Verformungen heilen? Die Fragen beunruhigen die Geschichtswissenschaft oder müßten es doch. Indes, jede Antwort appelliert an das Gedächtnis und entzieht sich damit ihrer primären Kompetenz. Das erste und vorläufig letzte Wort zur Sache steht vielmehr Neurobiologen, Neurophysiologen und Neuropsychologen zu. Die Psychologie und Neuropsychologie trachten dabei nach Erkenntnissen über die kognitive Leistung des Gehirns, Neurophysiologie und Neurobiologie je nach solchen über deren Zustandekommen; sie reduzieren die kognitiven und kommunikativen Phänomene auf ihr neuronales und molekulares Substrat und deren Evolution, Struktur
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und Funktionsweise. Die Geschichtswissenschaft könnte beider Nutznießer, aber auch beider Helfer sein. Denn die Organisation unseres Hirns dürfte sich in seinen geistigen und kulturellen Hervorbringungen und in den interzerebralen, gesellschaftlichen Kommunikationsnetzen spiegeln, in die jeder Mensch eingebunden ist. Wenigstens rudimentäre Kenntnisse über die Wirkungsweise des Gedächtnisses, soweit sie sich den Erkenntnismöglichkeiten anderer Wissenschaften erschließen und im Folgenden angesprochen werden, erscheinen deshalb für den Historiker unabdingbar, eben um abschätzen zu können, welche Fehlschlüsse sich ihm aufdrängen und zu welchen Einsichten diese Wissenschaften über ihr eigenes Forschungsfeld hinaus die Geschichtswissenschaft führen können. Freilich können nicht alle Wissenschaften, die sich mit dem Gedächtnis befassen, hier näher betrachtet werden. Vorgestellt werden als Hinweis auf die kognitive Evolution die Evolutionslehre und die Verhaltensforschung (Ethologie), dazu die kognitive Psychologie und die Neurophysiologie; ausgespart bleiben weitere Kognitionswissenschaften, wie Linguistik, Psycho- und Neurolinguistik oder die Kommunikationswissenschaft l . ist ein psychologischer Hilfsbegriff. Er bezeichnet die Summe individueller Hirnaktivitäten, die auf Enkodierung, Bewahrung, Wiederabruf und Vergessen sinnlicher und neuronaler Informationen gerichtet sind, seien sie Sinneseindrücke, Körpermotorik, Wahrnehmungen, Lernprozesse, Bewußtsein oder sonstige Erfahrungen. Wie es im einzelnen geschieht, ist nur zum Teil bekannt. Doch gibt es kein spezielles Zentrum, das diese Leistungen hervorbringt. Das gesamte Gehirn, der N eocortex und <ältere>, subkortikale Strukturen, wirken vielmehr zusammen. Das vereint das im Laufe der Stammesgeschichte dauerhaft erworbene Können, läßt die Zellen <wissem, was sie sollen, wie sie sich erst mit ihrer zellulären, dann mit ihrer intra-, endlich mit ihrer extrakorporalen Umwelt auseinanderzusetzen und in Wechselwirkung zu treten haben. Auch Neuronen sind gleich den anderen Zellen auf Kooperation angelegt. So artikuliert sich das Gedächtnis in hochkomplexer, sich selbst organisierender Kooperation der jeweils beteiligten Neuronen und Hirnstrukturen. Die Fähigkeit zu diesem Zusammenspiel ist genetisch gesichert; wie sie sich indessen tatsächlich in neuronalen Netzwerken und deren Interaktion entfaltet, ist in starkem Maße von den kulturellen Faktoren abhängig, denen das ausreifende Hirn ausgesetzt ist. So gleicht trotz gleicher genetischer Basis auf neuroanatomischer Ebene kein Hirn einem anderen, und bringen verschiedene Individuen keine identischen Gedanken oder Erinnerungen hervor.
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Neurokulturelle Grundlagen der Geschichtswissenschaft
Auseinanderzuhalten sind <sensorisches> (oder< Ultrakurzzeit>-), - (oder -) und . Endlich gilt es, nichtdeklaratives (implizites), deklaratives (explizites) und prospektives Gedächtnis zu unterscheiden. Letzteres gilt dem Verfolgen von Zielen. Das erste erinnert als prozedurales Gedächtnis erworbene Fertigkeiten (etwa den Fingersatz beim Geigen- oder die Reflexe beim Tennisspiel), Gewohnheiten und Konditionierung; es umfaßt weiter das kategoriale Lernen (die Zuordnung von Phänomenen zu Prototypen, eine Tanne z. B. zu einer (das unbewußte Wiedererkennen, Wiederaufrufen eines früheren unbewußten Reizes, womit zum Beispiel die rechnet). Erinnerung ist die weithin unbewußte Kooperation dieser diversen Gedächtnisaktivitäten und das Bewußtwerden der enkodierten Engramme 2 • Im Zentrum der folgenden Überlegungen steht das deklarative Gedächtnis, sei es episodisch, autobiographisch oder semantisch, nicht das prozedurale, obwohl auch dieses in mancherlei Hinsicht auf jenes einwirkt und auch für den Historiker von Bedeutung sein kann3 . So manifestiert sich etwa die Veränderungsdynamik des prozeduralen Gedächtnisses im allmählichen Wandel der Handschrift eines früh-oder hochmittelalterlichen Schreibers, die trotz auf Gleichheit dringender Schulung und Praxis sich mit der Zeit so stark verändern kann, daß die Anfangs- und Endprodukte desselben Schreibers ohne die Zwischenstufen ihm nicht zugeordnet werden könnten. Episodisches Gedächtnis heißt die Fähigkeit, detailreich (unter Einschluß von Zeit, Ort, Beteiligten, Namen etc.) eigene Erlebnisse oder fremde Erzählungen zu erinnern; das autobiographische Gedächtnis bezieht diese Erlebnisse auf die eigene Person. Das semantische Gedächtnis bewahrt kontextunabhängiges Wissen (wie beispielsweise eine mathematische Formel oder auch eine von den Einzelereignissen gelöste Lebenserfahrung). Es könnte sein, daß an beiden Arten des deklarativen Gedächtnisses unterschiedliche Hirnareale maßgeblich beteiligt sind; doch ist das noch nicht gesichert4 • Das Gedächtnis stand nicht von Anfang an als geschlossenes Ensemble fertig ausgebildeter Fähigkeiten und so leistungsfähig wie heute zur Verfügung. Es besitzt seine , einen allmählichen, in den Jahrmillionen der menschlichen Evolution sich manifestierenden und formenden Aufbau. Diese Genese definierte den Kontext seiner Entfaltung, durch diesen Kontext wiederum wurden seine Aktivitätsweisen und seine Leistungsfähigkeit konditioniert5 . Die Bedingungen dieser Frühzeit wirken somit - gleichsam genetisch und neuronal archiviert - noch immer. Nicht zuletzt die Geschichtswissenschaft ist ihr Opfer.
Vom Individuum zum Kollektiv
).2
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Vom Individuum zum Kollektiv: Kulturelle Transmission des Wissens
Geschichte ist eine Erfahrungswissenschaft; sie wendet sich der kulturellen Evolution zu. Sie betrachtet die ihre Welt erfahrenden, sie erforschenden und verstehenden, sie gestaltenden, an ihr sich erfreuenden und leidenden Menschen, ihre Gesellschaft und Kultur, die diese Erfahrungen in allen verfügbaren Medien bewahren, weitergeben, vertiefen und in jeder denkbaren Weise nutzen, seien dieselben lebenspraktischer, sozialer, psychischer, religiöser oder wissenschaftlicher Natur. Wissen ist aktualisierbare Erfahrung, sie sei eigene oder medial vermittelte fremde, genetisch gespeicherte oder erworbene 6 ; kulturelle Erfahrung aber ist bewußt gewordenes Erlebnis. Unmittelbar erfahren indessen kann immer nur ein Individuum, Kollektive partizipieren durch den Austausch individueller Erfahrungen an diesen; doch nur das Kollektiv kann Wissen über die Zeiten retten und dem kulturellen Gedächtnis anvertrauen. Selbstverständlich ist eine derartige tradierende Fähigkeit nicht. Sie setzt voraus, daß wir uns in unseresgleichen hineindenken oder hineinfühlen, fremde Erfahrung wie eigene verwerten und eigene Erfahrung als für unseresgleichen wertvoll und vermittelbar betrachten können; zudem verlangt sie, daß wir uns diese Erfahrung unabhängig von ihrem aktuellen Anlaß wieder vergegenwärtigen können, auch wenn das auslösende Erlebnis weit zurückliegt oder gar schon vergessen wurde. Diese
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Neurokulturelle Grundlagen der Geschichtswissenschaft
und Kleinkindes bis etwa zum Ende des vierten Lebensjahres und ist offen für Erziehungseffekte 8 . Mit ihnen treten spezielle kulturelle Einflüsse zu den universellen genetischen hinzu. Vielleicht entwickelte sich diese Transmissionsfähigkeit parallel zum Spracherwerb und dem Aufleuchten von Bewußtsein und Selbstbewußtsein. Im Tradierungs- und Lernprozeß artikulieren sich freilich zugleich die primären und (soweit schon ausgebildet) die sekundären Verformungs faktoren des Gedächtnisses; auch sie sind neuronal bedingt und genetisch verankert. Doch werden die Folgen bis zu einem gewissen Grade direkt durch den als seine nur grunzenden, schnalzenden, fauchenden oder winkenden Artgenossen. Diese Strategie war, wie Modellrechnungen ergeben, so erfolgreich, daß nach nur wenigen Jahrzehntausenden die gesamte Menschheit über Sprache verfügte. Deren Entstehung, Elaboration und Transmission setzen ein Kollektiv und ein von diesem durch fortgesetzten Gebrauch bewahrtes Wissen, ein , voraus, auch wenn Sprache sich nur in Individuen realisiert. Das Zusammenspiel der Einzelnen bewahrt das Wissen auch über den Tod einzelner Individuen hinaus. Ein solches Zusammenspiel kann durchaus in Analogie zu den Kooperationsweisen des Hirns verstanden werden: als ein hochkomplexes, sich selbst organisierendes System ohne Leitungszentrum, in dem einzelne Elemente oder ganze Bündel von Elementen von sich aus in der Lage sind, mit anderen zu kommunizieren und zu kooperieren. Auch Neuronen und Neuronengruppen, nicht nur Menschen sind auf Kooperation erpicht; bereits ihre Spezialisierung exprimiert sich in reziprokem Informationsaustausch mit anderen Neuronen und neuronalen Clustern. Dieses Zusammenspiel endet nicht an der knöchernen Hirnschale; es drängt durch Sinne, Gestik, Verhalten oder Tun über das einzelne Hirn hinaus auf interzerebrale Kooperation. Kein lebendiges Hirn existiert allein für sich.
Vom Individuum zum Kollektiv
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Die Sprache steigert die Vielfalt interzerebraler Kommunikation und hilft am verläßlichsten, das Wissen unter Lebenden auszutauschen und dasjenige der Toten zu bewahren, also ein kollektives und kulturelles Gedächtnis aufzubauen. Individuelles Wissen sieht sich durch unter allen Beteiligten wirksamster Selektion und sachlicher unterworfen und in kollektives Wissen transformiert; jene individuell wirksamen Verformungsfaktoren, von denen im ersten Kapitel die Rede war, erhöhen damit ihr Angriffspotential und ihre Effizienz und formen in eigentümlich sich verstärkender Weise das kollektive Gedächtnis. Eine schier grenzenlose, weil zeitresistente" Mehrung des Wissens wird so durch ermöglicht. Sie lernt, sich zahlreicher extrakorporaler Hilfsmittel zu bedienen. Immer mehr Techniken der Weitergabe und Bewahrung des Wissens treten im Laufe der Geschichte hinzu. Diese wiederum gestatten die Akkumulation von Wissen und bilden nicht den unwichtigsten Teil heutigen Wissens. Die Erfindung der Schrift etwa steigerte als Mittel der Gedächtnisstabilisierung die Reichweite verbaler Transmission, veränderte sie aber auch in charakteristischer Weise. Jeder Transfer muß die Hürde zwischen dem individuellen Erfahren und der Wissensaufnahme durch andere und durch ganze Kollektive, die Hürde also der <Entäußerung> und Kollektivierung überwinden, um in das Eingang zu finden. Dabei interagieren beide Seiten, die gebende wie die nehmende, über ihr Gedächtnis in lebhafter Wechselwirkung; das ist nicht anders als innerhalb des Hirns. Das tradierte Wissen wird auf diesem Wege nicht bloß auf Dauer gestellt, gleichsam nur abgeschrieben; es sieht sich vielmehr ständiger Erneuerung und Veränderung unterworfen. Jeder Transfer bewirkt damit zugleich Kreation, ist tatsächlich Generierung neuen Wissens. Die Arbeitsweise der für das Gedächtnis zuständigen Neuronen zwingt dazu. Die Bandbreite des Neuen mag dabei erheblich differieren; sie umfaßt sowohl Inhalte als auch Konstellationen. Vermutlich sind kollektives und kulturelles Gedächtnis Projektionen der Operationsweisen des Hirns in die Gesellschaft, so wie umgekehrt auch diese an die kulturellen Phänomene rückgekoppelt ist. Der Begriff des kulturellen Gedächtnisses wurde durch den Ägyptologen Jan Assmann in der Geschichtswissenschaft heimisch gemacht9 • Hier wird darunter die geistige Form verstanden, in der eine Gruppe, auch eine Zivilisation ihr Wissen, ihr Können, ihren Glauben, ihre gesamte Kultur und ihre Identität aus der Vergangenheit herleitet, auf Dauer stellt und weitergibt. Es ist eine Fortbildung des kollektiven Ge-
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Neurokulturelle Grundlagen der Geschichtswissenschaft
dächtnisses und darf als ein dynamisches Netzwerk von Wissen, Können und Glauben, von Normen und Verhaltensweisen betrachtet werden, das seine Verbindungen unablässig knüpft und löst, manche lange bewahrt, andere rascher verformt, Erinnerungen, solange sie nicht festgeschrieben sind, immer wieder neu aushandelt, das somit fortgesetzt Neues hervorbringt und nicht Benötigtes (vergessen> läßt. Es sieht sich in gleicher Weise der Gedächtnismodulation ausgeliefert wie schon das individuelle und kollektive Gedächtnis. Faßbar wird das kulturelle Gedächtnis in mündlichen, dinglichen, symbolischen, schriftlichen oder institutionellen Überlieferungen: in Priester- oder Herrschergenealogien, in Objekten und deren Gestaltung, in religiösen Kulten und Ritualen, in Mythen, Herkunftssagen, sozialen Ordnungen und Institutionen, bildhaften oder abstrakten Symbolen, auch in Initiationswissen, überhaupt in allen kulturellen Hervorbringungen. Es zeitigt Geschichtserzählungen, gelehrte Dokumentationen, einen immer aufwendigeren Wissenschaftsbetrieb oder bemächtigt sich intellektueller und manueller Fertigkeiten. Der Historiker sieht sich zu seiner Erforschung auf archäologische Befunde und zumal auf die schriftlichen Hinterlassenschaften früherer Kulturen, auch auf Bildzeugnisse und Objekte verwiesen. Doch bergen diese Quellen so zahlreiche Hinweise auf Gesten, Rituale und Mythen, auf Fertigungswissen, auf den Gebrauch des Körpers und entsprechende kulturelle und individuelle Artikulationsweisen, daß der Historiker gut dar an tut, sich bei jenen Disziplinen Rat zu holen, die derartige menschliche Äußerungen bei rezenten Kulturen, mithin überprüfbar, erforschen.
3.3
Ethologie und kognitive Verhaltensforschung
Der Mensch trat nicht plötzlich aus der Hand seines Schöpfers ins Leben; er entstand im Laufe von Jahrmillionen. Indes, die Evolution kann niemand sehen; sie läßt sich nur aufgrund ihrer Wirkungen erschließen. Sie bleibt stets Theorie und wird niemals in einem wörtlichen Sinne evident. Die methodischen Anforderungen an evolutionäre Theorien sind demgemäß hoch. Genau beobachten aber läßt sich das Verhalten von Tier und Mensch; es gleicht sich in vielem. Verhaltensforschung, die Ethologie, ermöglicht denn auch Einblicke in die kognitive Evolution des Menschen und damit in die Bedingungen der Entfaltung seines Gedächtnisses. Die Analyse des Erinnerungsverhaltens verdeutlicht dessen evolutionär bedingte Spielräume und Leistungsgrenzen, seine Artikulationsweisen und Arbeitstechniken. Solche Konditionen zu kennen, kann,
Ethologie und kognitive Verhaltensforschung
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wie gesagt, den Historiker vor Fehlschlüssen bewahren. freilich ist ein junger und bislang wenig beachteter Forschungszweig der allgemeinen Geschichtswissenschaft, zudem noch kaum an Evolution und Neurowissenschaften orientiert lO • Einige Beispiele sollen die Arbeitsweise, den Erkenntnisprozeß und den Nutzen dieser Wissenschaften für die Geschichtswissenschaft verdeutlichen. Sheba, ein Schimpansenmädchen, Gottes Geschöpf, sollte zählen und addieren. Sie war eine begabte Schülerin. Sechs Jahre alt, hatte sie gelernt, immer schwierigere Aufgaben zu lösen. Jetzt galt es, vier in jeweils unterschiedlicher Weise auf jeweils zwei von drei verdeckten Futterstellen verteilte Orangen der Reihe nach zu erfassen, um dann, am , die Tafel mit der zutreffenden Summenzahl zu ziehen. Zwei hier, nichts dort, zwei Früchte da - das verlangte die Tafel ; die erste Schüssel leer, in der zweiten eine, in der dritten zwei Orangen - forderte die Tafel ; leer, schon wieder leer und endlich zwei - ergab die Tafel ; und so fort, neunundachtzig Mal. Obwohl die Äffin Orangen nicht mochte, löste sie die Aufgabe bravourös. 75 von den 89 Versuchen brachten das richtige Ergebnis l1 . Rechnende Affen? Tiere, die sich erinnern? Denkende Schimpansen? Erwachendes Bewußtsein? - Ein solcher Sachverhalt widerstreitet den gut etablierten Ansichten der Historiker, etwa eines Jacob Burckhardt: «Die Geschichte ist aber etwas anderes als die Natur, ihr Schaffen und Entstehen- und Untergehenlassen ist ein anderes». Zwar mochten die Menschengeschlechter in ihrem Wesen noch Animalisches bewahren, sich als reißende Tiere gebärden, einander ausrotten; «im Naturzustand» mochte «ihre Existenz den Tierstaaten ähnlich gewesen sein». Doch die Bewußtsseinsschwelle hob sie weit über alles Tierhafte hinaus. «Die Geschichte dagegen ist», das war Burckhardts Glaube, «der Bruch mit dieser Natur vermöge des erwachenden Bewußtseins; zugleich aber bleibt noch immer genug vom Ursprünglichen übrig, um den Menschen als reißendes Tier zu bezeichnen». Generationen von Geschichtsforschern haben es ebenso gesehen. Keiner von ihnen erklärte genauer, auch Burckhardt nicht, wann denn der «Naturzustand» tatsächlich ende l2 . Zudem stimmt das Bild vom «reißenden Tier» in keiner Weise. Denn es ist das Privileg des intelligenten Menschen, dieser Krone der Schöpfung, zu umfassenden Vernichtungsfeldzügen gegen die eigene Art aufzubrechen, einander zu töten und auszurotten; allein beim Schimpansen, dem unserer Gattung nächsten Primaten, wurde bislang Gleiches beobachtet l3 . Weckte erwachendes und ausgeformtes Bewußtsein Aggressionspotentiale ? Steigerte das leistungsfähigere Gedächtnis die Gewalt-, das kulturelle Gedächtnis die
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Neurokulturelle Grundlagen der Geschichtswissenschaft
Vernichtungsbereitschaft ? Auszuschließen ist derartiges einstweilen nicht. Erinnerung schürt das Begehren. Sheba ist kein Einzelfall. Berichte von Lern-, nicht Dressurerfolgen unter Menschenaffen kursieren seit langem in der gebildeten Menschenwelt und werden immer zahlreicher. Ganz ohne Zweifel, Schimpansen erinnern sich an (kleine) Mengen, können diverse Erinnerungen miteinander verknüpfen und daraus Folgerungen ziehen, Schritte zum Denken einleiten. Gewiß, Shebas Tun resultierte aus einer Koalition von und , der Kooperation nämlich mit menschlichen Trainern; in nützte der Äffin ein derartiges Rechnen wenig. Doch die Gedächtnisleistung, die ihren Additionen zugrunde lag, das heraufdämmernde subhumane Bewußtsein, ist ein Vermögen, das ihr überall hilft, auch in der Wildnis. Indes, wenn der Affe menschlich erinnert, wie äffisch erinnert sich dann der Mensch? Ändert sich die evolutiv bedingte Funktion menschlichen Erinnerns unter kulturellem Druck? Durch Gebrauch? Die historische Forschung impliziert, wo immer sie Mneme und Anamnese tangiert, dieselben Fragen nach Erinnern und Vergessen, ihren stabilisierenden und deformierenden Faktoren, die auch die Kognitionswissenschaften bewegen. Irritiert jedenfalls und überzeugt von der Relevanz ihrer Erkenntnisse für die Geschichtswissenschaft zeigte sich der große Historiker Marc Bloch, ohne freilich schon umfassende Konsequenzen für die Auswertung seiner Quellen zu ziehen 14. Antworten auf die kognitionswissenschaftliche Herausforderung stehen seit über einem Jahrhundert fest, ohne jemals ausreichend diskutiert worden zu sein und ohne sich als ganze je um die Gedächtnisforschung gekümmert zu haben, die spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts mit einschlägigen Untersuchungen aufwarten kann. Doch hat auch die Gedächtnispsychologie die Geschichte als Arbeitsfeld noch nicht entdeckt. Eine Antwort auf die gestellten Fragen lautet in der Fassung, die ihr seinerzeit Johann Gustav Droysen, ein herausragender Geschichtstheoretiker, gab: «Die Natur hat kein Erinnern.» «Nur was Menschengeist und Menschenhand geprägt, geformt, berührt hat, nur die Menschenspur leuchtet wieder auf»15. Natur stehe gegen Kultur, Geschichte sei Entfernung von der Natur l6 . Kultur also wäre ein Sprung aus der Natur heraus. «Mag hinter der Summe natürlicher Dinge und in ihrer Mitte eine ewige Vernunft, ein höchstes Wollen stehen, mag die Natur in Gott ihre Geschichte haben, die einzelnen Momente der Natur, menschlich betrachtet, sind geschichtslos.» So noch einmal Droysen 17. Sind aber das menschliche Gehirn und sein neuronales Verhalten und mit ihm das Gedächtnis, das Denken, Erinnern
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und Vergessen und ihre Hervorbringungen nicht gleichfalls «natürliche Dinge»? Keines Menschen Hand hat sie je geformt, auch wenn ihr Gebrauch sie änderte 18 • Somit kein Sprung aus der Natur; statt dessen Korrektur an einer naturfeindlichen Historik? Dies letzte nämlich, die Änderung des Gedächtnisses durch Gebrauch, gilt beispielsweise auch von den Ratten, mit denen der stolze Mensch gewöhnlich noch weniger Gemeinschaft zu besitzen wünscht als mit den Affen. Die Primatenforschung aber weiß mittlerweile längst, daß Primaten nicht nur eine Rang- und Sozialordnung kennen, sondern daß sie sich ihrer auch erinnern, eine Art Sozialpolitik und Sozialstrategie verfolgen können und mit Vorliebe - nicht anders als Menschen - Dominanzbeziehungen eingehen (mithin Bündnisse, die von einem Individuum einer statusniederen Gruppe initiiert werden und zur statushöheren führen), daß sie endlich auf diese Weise die soziale Ordnung ihres Kollektivs zu stabilisieren und nicht nur durch Kampf zu durchbrechen trachten. Selbst Statuskämpfe können durch (zu diesem Zweck eingegangene) Bündnisse mit dem Sieg des körperlich schwächeren, aber geistig regeren Individuums enden 19 . Für die Errichtung und Aufrechterhaltung derartiger Sozialstrukturen, für Pazifikationsstrategien in der eigenen Horde oder für Vernichtungszüge gegen fremde Gruppen, die alles andere sind als das Produkt eines instinktiven, reflexhaften Verhaltens, setzen Sheba und ihresgleichen ihre Intelligenz ein. Zielsetzungen also bei Tieren? Der Wille zu rechtem Tun gilt als ein höchstes Erziehungsprodukt, nur unter Menschen denkbar, für einen Triumph des Geistes über die Natur und keinesfalls für eine angeborene Verhaltensweise. Jede Gesellschaft ist auf Moral angewiesen und könnte ohne sie nicht bestehen. Ihre Ordnung muß ihre Ethik spiegeln. Neuerdings aber schleichen sich Zweifel an der ausschließlichen Herleitung moralischen Handeins aus der Souveränität des menschlichen Geistes ein. Biologen und Verhaltensforscher haben Moral unter Tieren entdeckt. Ein Schimpanse kann Schuldbewußtsein an den Tag legen, wenn er gegen die Verhaltensansprüche seiner Horde verstößt. Und die Souveränität des menschlichen Willens gerät unter Hirnforschern in Mißkredit. Die Humanethik müsse biologisiert werden, so heißt es in der Folge; sie sei keine Sache ausschließlich von Philosophen und Pädagogen, vielmehr auch und nicht zuletzt von Ethologen. Darauf verwies Konrad Lorenz. «Menschliche Moral könnte in der Tat eine Ausweitung allgemeiner Muster sozialer Integration bei Primaten sein bzw. Anpassung, die von jedem einzelnen Mitglied zur besseren Eingliederung verlangt wird.» Und: «Die Evolution hat die Voraussetzungen für Moral ge schaf-
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Neurokulturelle Grundlagen der Geschichtswissenschaft
fen: eine Neigung, soziale Normen zu entwickeln und durchzusetzen, die Befähigung zu Empathie und Sympathie sowie zu gegenseitiger Hilfe, ein gewisses Gerechtigkeitsempfinden, Mechanismen der Konfliktlösung und so weiten>20. Selbst Altruismus - ein für den aktuellen Einzelfall hervorgebrachtes, kein trieb- oder instinkthaftes Verhalten zugunsten eines fremden, nicht nahe verwandten Individuums sogar unter Gefahr des eigenen Lebens ist auf Tierebene wiederholt bezeugt, für wie menschlich es bisher auch galt21 . Makaken oder Schimpansen dulden und schützen verkrüppelte Individuen, so wie es unter Menschen erstmals, aufgrund der Menschheit - Erdwerke, Steinkreise wie Stonehenge oder die Himmelsscheibe von Nebra - der Stabilisierung der Zeit und der Orientierung in ihr dienten. Des Menschen Spur verlöre sich demnach in der Natürlichkeit seines Gedächtnisses? In Shebas Rechenleistungen und kommunikativem Gedächtnis? Im spurlosen Erinnern ohne Wiederaufleuchten ? Zweifel am geschichtswissenschaftlichen Credo, wie es Burckhardt oder Droysen formulierten und andere praktizierten, werden wach. Erinnern und Vergessen wollen stärker und anders beachtet sein, als in der Geschichtswissenschaft gemeinhin üblich; es könnte sich in mancherlei Weise auf die historische Erkenntnis auswirken. Die ethologische Perspektive verblüfft keineswegs nur Schöpfungstheologen. Der neue Horizont reicht tief. Gemeinschaft, Gesellschaft, Staat erscheinen nun als Fortsetzung der Affenhorde mit - den gleichen (wenn auch verbesserten) - kognitiven Mitteln. Soziale Intelligenz also auch bei Tieren? Eine solche These muß den Historiker irritieren, der seine Methode dem 19. Jahrhundert verdankt. «Staat» war gemeinsam
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mit «Religion» und «Kultur» eine der «drei großen Potenzen» der Weltgeschichte, von denen Jakob Burckhardt einst gesprochen hatte, deren keiner er Priorität hatte zuweisen wollen und die er allein dem hochzivilisierten Menschen zuschrieb. «Kultur», um hier nur sie herauszugreifen, «nennen wir die ganze Summe derjenigen Entwicklungen des Geistes, welche spontan geschehen und keine universale oder Zwangsgeltung in Anspruch nehmen», alle Geselligkeit nämlich, Techniken, Künste, Dichtungen, Wissenschaften. Die «geringern Rassen» grenzte Burckhardt aus seiner Theorie aus, «die der Negervölker usw.». «Die Wilden und Halbwilden gewähren uns nicht einmal einen Maßstab für die Anfänge der Entbindung des Geistigen, weil der Geist dort überhaupt nie zu spontaner Entbindung bestimmt ist»23. Wir registrieren diese zeittypische Haltung, die durchaus den Wurzelgrund der Geschichtswissenschaft bildete, ohne sie anklagen zu wollen. Wir teilen sie heute nicht mehr, ja, wir wissen, daß sie falsch ist. Schon Tiere entfalten, neuronal bedingt, «Kultur», wenn auch keine Wissenschaften, so doch rudimentäre Techniken. Der Mensch, auch jener der
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prähumaner Ebene so gut wie auf humaner; es differenziert Wahrneh-· men und Wahrgenommenes oder kennt Ordnungs- und Sozialisationsmuster längst, bevor es diese darzustellen und auf einen Begriff zu bringen versteht. Es orientiert sich an ihnen, auch wenn es sie noch nicht begreift. Vielleicht sind unsere Begriff~ und rationalen Aussagen zunächst nichts weiter als das sprachliche Äquivalent der sozialen Ordnungsmuster, wie sie vorbewußt in unserem Hirn agieren und unser Verhalten lenken. Unter maßgeblicher Beteiligung des kollektiven Gedächtnisses etablierten sich etwa der hierarchische Aufbau einer Schimpansenhorde24, deren Territorialität, ihre mitunter tödlichen Kämpfe mit fremden Schimpansen oder interne Muster zur Konfliktlösung lange vor jeglicher Verbands- und Konflikttheorie, sogar lange vor jeder Hominisation25 • Ihre Ordnung kennt wenigstens sechs Grundtypen sozialen Verhaltens: den dominanten Alpha-Mann, das ehemals dominante Individuum, den
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neuronale Netzwerke eingefangen hält, die das individuelle, kollektive und kulturelle Gedächtnis und mit ihnen den gesellschaftlichen Handlungsspielraum noch immer steuern und begrenzen. Dieses Verhalten, individuelles Verhalten im Kollektiv nämlich und mittelbar das Verhalten des Kollektivs selbst, ist von Gehirn und Gedächtnis gesteuert. Verhaltensforschung leistet deshalb einen Beitrag zur Hirnforschung. In analoger Weise könnten sich Sozial-, Struktur- und Mentalitätsgeschichte, die Geschichte sozialer oder mentaler Verhaltensmuster und dergleichen mehr als Suche nach neuronalen Netzen, nach der Plastizität des Gehirns, nach beider Entfaltung durch die kulturelle Evolution 'und ihre gesellschaftlichen Manifestationen über die Zeiten hinweg erweisen. Wissen tritt dann als Produkt so gut wie als Faktor biologischer Evolution hervor, legt sich Schicht um Schicht um die älteren Manifestationen des Lebens, deren keine es bis zur Stunde abgestreift hat. Menschliches Verhalten wird von dem genetisch abgesteckten kulturellen Entfaltungsspielraum eingeschränkt; aber nicht nur. Es vermag unter bestimmten Umständen und über Tausende von Generationen durch Selektionsdruck, hin und wieder auch durch Entwicklungssprünge wirksam diesen Spielraum auszudehnen, indem es den Erfolg zufälliger genetischer fördert, die der biologischen von Gattung oder Art dienen. Das gilt zumal für das Gedächtnis. Die Weitergabe von Wissen erfolgt unter Tieren und Menschen, die sich nach heutiger Kenntnis etwa vor sieben Millionen Jahren zu trennen begannen, im Prinzip gleich; doch kann der Mensch mehr als das Tier. Ethologen wie Michael Tomasello unterscheiden denn auch, wie erwähnt, zwischen <sozialen und . Von der ersten sprechen sie, wenn ein Lebewesen fremde Handlungen ohne deren innere Ordnung und Folgerichtigkeit nur , um dann über Versuch und Irrtum eigenständig den möglichen Lernerfolg zu erzielen; von der zweiten, sobald bewußtes und gezieltes Lehren beteiligt ist. Die Lernergebnisse gleichen einander in den vom Lernenden eingesetzten Mitteln und im angestrebten Effekt, nicht aber in der tatsächlichen Durchführung, in der Methode. Ein sozialer Lernprozeß liegt beispielsweise vor, wenn ein Schimpanse gleich anderen Hordenmitgliedern einen Stein zur Hand nimmt und mit ihm so lange herumhantiert, bis er in der Lage ist, eine Nuß zu knacken und sich den Erfolg zu merken; oder so lange übt, bis er mit Hilfe eines von ihm präparierten Stöckchens Termiten, einen Leckerbissen, zu angeln vermag. Nahrungserwerb und Evolution hängen eng miteinander zusammen. Auch menschliche Kulturen bedienen sich derartiger Übertragungstechniken. Beide Transmissions-
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weisen gewährleisten ein langfristiges, über Generationen weitergebbares Wissen, bedürfen aber der Gruppe, soll dasselbe tatsächlich gewahrt werden. Sie unterscheiden sich indessen in der Qualität des Tradierbaren. Der Mensch will nicht nur Nüsse knacken. Das kollektive Gedächtnis beginnt sich bereits auf der Primatenebene aufzubauen, wie beispielsweise die regionale Begrenzung von Werkzeuggebrauch bei Schimpansen oder das hordengebundene Waschen der Bataten bei Makaken verdeutlichen kann 27 • Unter letzteren hatte ein besonders begabtes Mädchen spontan begonnen, ihre Süßkartoffeln im Bach von Schmutz und Sand zu reinigen, bevor sie dieselben verzehrte; später entdeckte sie, daß die Kartoffeln im salzigen Meerwasser gewaschen noch besser schmeckten und wusch sie fortan nur noch dort. Mit der Zeit fand sie Nachahmer, bis schließlich die ganze Horde ihre Bataten im Meer wusch - mit Ausnahme der Alpha-Männer, die von rangniederen Individuen nichts lernen mochten. Erst in der nächsten Generation, nachdem die neuen Alpha-Tiere das Waschen von ihren Müttern erlernt hatten, war die Mode bis in die höchsten Ränge der Horde vorgedrungen. Eine Art Kulturlandschaft, wenn auch in rudimentärsten Ansätzen, zeichnet sich somit bei Affen ab, oder zumindest Vorstufen einer solchen28 • Keineswegs jede Schimpansenpopulation bedient sich eines zugerichteten Stöckchens, um im Termitenhaufen zu graben, eines ausgesuchten Steines, um Nüsse zu knacken, oder jagt dieselbe Ameisenart; und nur ein einziger, auf einer kleinen Insel vor Japan lebender Makakenstamm wäscht des Wohlgeschmackes wegen Bataten mit Salzwasser. Gleichwohl, <soziale Transmission> läßt kollektives Gedächtnis entstehen, weil und solange das Kollektiv die Bedingungen aufrechterhält, welche die Individuen zu ihrem individuellen Lernen, Können oder Wissen führen. Ohne die Gruppe wäre derartiges Wissen zum Untergang verdammt. Hier liegen durch das Kollektiv bedingte Gedächtnis- und Lernprozesse vor, die ihrerseits die unmittelbare Nähe, Interaktion, Kommunikation und Erinnerungsfähigkeit der Gruppenmitglieder voraussetzen und sich auf bestimmte Kommunikationskreise beschränken. ist Bewahrung von Wissen durch seinen fortgesetzten Gebrauch im Kollektiv. hingegen stellt eine qualifiziertere Nachahmung dar, die neben die soziale Transmission tritt. Das Wissen wird jetzt von den Erziehern - zunächst, aber keineswegs ausschließlich der Mutter - erlernt, indem die genaue Abfolge der einzelnen Tätigkeiten beobachtend erfaßt und imitiert oder lehrend vermittelt wird. Der Gebrauch der Mittel, Intention und Methode werden nun gemeinsam nachahmend
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erlernt. Wir vermögen fremdes Wissen und Können bewußt zu übernehmen und gezielt, was wir wissen und können, andere sogar abstrakt, unabhängig von einem aktuellem Anlaß oder dem unmittelbaren Bedarf, zu lehren. Dieser Fähigkeit verdanken sich jede individuelle geistige Leistung und in ihrem kollektiven Zusammenspiel jede Hochzivilisation, aber auch die kulturellen Krisen und Zusammenbrüche. Sie ist heute so wirksam wie eh und je. Es scheint, als sei diese Stufe der Wissensübertragung erst mit den Hominiden, vielleicht schon bei Australopithecus afarensis, erreicht; bei Primaten wurde sie bisher jedenfalls nicht zweifels frei nachgewiesen, allerdings auch noch nicht zwingend ausgeschlossen29 • Sie wirkt seitdem als ein allmählich zunehmender selektiver Druck auf die Evolution des menschlichen Gehirns und der menschlichen Gattungen. Auch beschränkt sie sich keineswegs nur auf die Weitergabe technischen Wissens. Gerade soziales Wissen muß frühzeitig gezielt und bewußt tradiert worden sein30 . Derartiges war nötig, um beispielsweise die Kleinkinder mit dem noch auszuformenden großen Gehirn, extreme der dem Wissen zugrundeliegenden Erfahrungen kam es an, nicht einmal vordringlich darauf, <wer 7> tatsächlich als erster diese Erfahrungen gemacht oder <was 7> genau ihn zu seinem neuen Wissen hatte kommen lassen, nicht auf die kontingenten, historischen Umstände, sondern auf die vom Einzelfall abstrahierbaren Merkmale, auf das generelle <Wie 7> des Erfolgs und auf das kommunikative Gedächtnis, auf Semantik, nicht auf Episodik, die Weitergabe nämlich des das Überleben fördernden Wissenskerns. Er schloß bei Bedarf Details nicht aus; aber sie waren unwesentliches Beiwerk, leicht einer vergessenden Selektion zu opfern. Diese Haltung bewahrt unser Gedächtnis zu seiner Entlastung bis heute. Unser schlampiges Erinnern entpuppt sich als Selektionsvorteil.
J.4
Ein kurzer Blick in die Evolution des Gedächtnisses
Die Fähigkeit zur kulturellen Transmission mußte sich beispielsweise entscheidend auswirken, als vor ca. 2,8 Millionen Jahren eine globale Abkühlung einsetzte, eine katastrophale Klimaverschlechterung, die erst
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nach etwa achthunderttausend Jahren einer neuerlichen Warmphase wich, nachdem sie die Lebensbedingungen der Vormenschen nachhaltig verändert hatte; damals jedenfalls scheint nach Ausweis der allerdings spärlichen Funde der entscheidenden Schritt von der Gattung Australopithecus afarensis zur Gattung Homo getan worden zu sein 31 . Die Wirkungen der Klimakatastrophe (in Zentralafrika sanken die Temperaturen im Jahresmittel um etwa 5° C) isolierten Teilpopulationen und nötigten ihnen eine Sonderentwicklung auf. Der Australopithecus afarensis war durch Jahrmillionen an die weiche Nahrung des nun schwindenden RegenwaIds angepaßt, er mußte sich jetzt aber auf die härtere Nahrung der vordringenden Savanne umstellen, wollte er überleben. Zwei <Strategien> boten sich an, deren eine auf Verstärkung der Kaumuskulatur und Backenzähne zielte (Australopithecus robustus), deren andere sich auf den unter Primaten, also wohl auch unter Hominiden verbreiteten Gebrauch einfachsten <Werkzeugs> wie zugerichteter Stöcke oder geeigneter Steine spezialisierte: Homo rudolfensis. Es kennzeichnete die <evolutionäre Strategie> der nun auftretenden Gattung Homo, «alles auf diese eine Karte zu setzen», auf den Werkzeuggebrauch, auf dessen Verbesserung, auf und Denken, um sich von direkten Umwelteinflüssen allmählich zu emanzipieren; auf die unendlichen <Warum>-Fragen, die uns heute noch an Kleinkindern entzücken. Die Folgen waren beträchtlich; sie griffen nicht nur auf das nachhaltigste in die Sozialstrukturen der frühmenschlichen Gruppen ein, die sich jetzt um Produktion und Gebrauch der Werkzeuge, um Vorstellungen und Ziele zu ordnen begannen und eben diese auch künftig gegenwärtig wissen wollten. «Die zunehmende Unabhängigkeit vom Lebensraum führt (e) von diesem Zeitpunkt an unweigerlich zu zunehmender Abhängigkeit von den dazu benutzten Werkzeugen», schreibt der Paläoanthropologe Friedemann Schrenk. Die Frühmenschen unterwarfen sich damit zugleich einem intellektuellen Selektionsdruck und förderten denselben, indem sie Werkzeuge schufen, Werkzeuge nutzten, Wirkungen überdachten und ihr Wissen weitergaben. Die wachsenden intellektuellen Bedürfnisse, das kulturelle Handeln wirkten so auf die weitere Ausbildung der kognitiven Fähigkeiten des Gehirns zurück. Die fortwährende, anfangs zwar langsam, über Jahrmillionen, dann aber immer schneller sich beschleunigende Verbesserung der Hilfsmittel brachte Abhängigkeit von der schrittweisen Steigerung der geistigen Fähigkeiten, die jene Werkzeuge und Techniken ersannen und verbesserten, ihre Einsetzbarkeit erkannten und ausweiteten und alles lehrend weiterzugeben und <wissend> zu bewahren vermochten, Abhängigkeit auch von den sozialen Einrichtungen, in deren Rahmen dieser Wandel zu
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realisieren war, vom kulturellen Fortschritt, den der kulturell angeregte Ausbau neuronaler Netze ermöglichte 32 . Der Mensch wurde seitdem zum Mitspieler der Evolution. Der Spielraum der biologischen Evolution engte sich nun immer mehr ein, während jener der kulturellen sich ausweiten mußte. Fortan trat die kulturelle Evolution in engste Wechselwirkung mit jener biologischen. Die Fortbildung der biologischen in der kulturellen Evolution, die mit der Gattung Homo eintrat, ermöglichte derselben eine neue Flexibilität im Verhalten; neue Lebensräume konnten erschlossen werden, neue Sozialbeziehungen, neues Wissen traten hinzu. Bewahrt wurden sie vom kollektiven Gedächtnis, mithin durch fortgesetzten Gebrauch im Kollektiv. Die sich beschleunigende Fortbildung des Gehirns - sein Volumen nahm bis an die anatomisch bedingten Grenzen immer rascher ZU 33 -, die Erweiterung der Kommunikation, die nun einsetzende Sprechfähigkeit, die Entwicklung der Sprache, der von ihr zunehmend geprägten Kognition und anderer Techniken kultureller Transmission verdankten sich dieser Kooperation. Die Veränderungen der Nahrungspalette, Veränderungen des Gebisses, des Magens, der Hände trugen das Ihre dazu bei. Die Selektion erfaßte sowohl körperlich-genetische als auch kulturelle Faktoren, die ihrerseits sich wieder auf die Binnenorganisation des neuronalen Netzwerks auswirkte. Das alles führte im Laufe der nächsten 1,8 Millionen Jahre zu den ; sie entsprang vielmehr zugleich dem menschlichen Geist, der unbewußt und ungewollt, doch gemäß jener erwähnten <strategischen Entscheidung> des Frühmenschen mit der biologischen Evolution kooperierte, indem er Selektionskriterien schuf, sie filterte und damit den Selektionsdruck lenkte. Auch das kollektive Gedächtnis war eine Gabe der Natur an die Kultur, obgleich infolge dieser Gabe die kulturelle Entwicklung verändernd auf die Natur zurückwirkte. Eine dynamische Dialektik von Natur und Kultur, Kultur und Natur bemächtigte sich der menschlichen Zivilisation und ihrer Erinnerungsleistungen. Fortan war die ein Teil der des Menschen und blieb es bis heute.
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Der Weiterentwicklung von Gedächtnis und Bewußtsein, den Organen der kulturellen Evolution, fiel dabei durchweg eine Schlüsselrolle zu. Denn die Strategie des - gleichgültig, ob auf materieller, sozialer oder mentaler Ebene - ist an Erinnerung gebunden. Kultur ist seitdem die wahre Natur des Menschen, die «Eigennatur unserer Species», wie der Biologe Hubert Markl formulierte, so wie das Leben im Rudel der Natur des Wolfes entspricht. Wir sind (wie schon Schimpansenhorden) «genetisch bedingt kulturfähig»34. Ist dem so, dann hat der Historiker umgekehrt die in der zu untersuchen, sie jedenfalls mitzubedenken, um die Kulturphänomene, denen nach Jacob Burckhardt seine Aufmerksamkeit gilt, angemessen beurteilen zu können. Neben Genetik und Neurophysiologie, bietet die Ethologie ihm dafür tragfähige Grundlagen. Die Geschichtswissenschaft indessen betrachtet aus den in Kapitel 2 erörterten Gründen die letzten 10000 oder 5000 Jahre, das letzte Jahrhundert oder Jahrzehnt als etwas ganz Besonderes, ja, als ihren einzigen Gegenstand. Seine Bedingtheit durch ältere Fixierung unserer kognitiven Fähigkeiten bleibt unbeachtet. Ist sie Gefangene ihrer Theorie, einer unveränderlich starren Grenzziehung nämlich zwischen und
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Die Ausformung des kulturellen Gedächtnisses, das durch kulturelle Transmission entstand, verkürzte die Lernphasen und gestattete die Transmission qualifizierter und definierter Inhalte. Es konnte Wissen zu Wissen fügen, das Wissen der Individuen miteinander vernetzen und alles verdichten, ergänzen, fortbilden. Elaborierte Gedächtniskulturen entstanden. Komplexe Zeichensysteme und Sprache überwanden endlich die raum-zeitliche Ferne, ermöglichten Kommunikation über kleine und große Distanzen und verliehen dem kulturellen Gedächtnis eine zuvor ungeahnte Reichweite und Dauer. Es diente mit all dem primär dem Überleben der, Gattung, der sozialen Organisation, der Lebensordnung und gewiß keinem antiquarischen Interesse an der Vergangenheit. Auch jetzt betrat der Geschichtsschreiber und Historiker mit seinen Wünschen an die Überlieferung nicht als Ziel oder Ergebnis der Evolution den Plan. Kulturelle Unterschiede, divergierende Erinnerungsinhalte und Erinnerungsweisen der Gruppen konnten mitunter die Funktion übernehmen, welche die geographische Isolation zuvor allein erfüllt hatte: Teilpopulationen nämlich einer Sonderentwicklung zuzuführen. Zur Konkurrenz um Nahrung trat so die Konkurrenz der Kulturen. Die Anforderungen an die Stabilisatoren des Gedächtnisses nahmen mit derselben zu. Homo sapiens und Homo sapiens sapiens, Neandertaler und moderner Mensch lebten durch einige Jahrzehntausende mitunter sogar in enger räumlicher Nachbarschaft nebeneinander her, soweit bislang erkennbar aber nicht miteinander. Auf Dauer freilich erhöhte die kulturelle Konkurrenz den kulturellen Evolutionsdruck und ließ den weniger entwikkelten Kulturen, die sich schlichterer «Werkzeuge» bedienten und weniger komplex organisiert waren, deren Gedächtniskultur eine geringere Komplexität und Reichweite zuließ, kaum mehr eine Überlebenschance. Der Trend hält bis heute an. Doch stehen sich seit etwa dreißigtausend Jahren nur noch Kulturen des Homo sapiens sapiens, unseresgleichen, einander gegenüber. Die Jägerkultur der sibirischen Tundra, noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts bezeugt und als Inbegriff einer <primitivem Zivilisation gedeutet, hat sich in der technischen Welt der Sowjetunion und Rußlands verflüchtigt; die Indianer Nordamerikas hausen nicht mehr in Wigwams; die Aborigines Australiens fahren längst mit dem Automobil durch Sidney. Zivilisatorische Beschleunigungsprozesse lösten einander in immer schnelleren Rhythmen ab. Dies darf als Zeichen wachsender Leistungsfähigkeit des kulturellen Gedächtnisses betrachtet werden. Dasselbe blieb freilich auf die sozialen Institutionen angewiesen, die es hervorzubringen half, sollte es Plastizität und eben diese Dauer gewinnen und be-
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Neurokulturelle Grundlagen der Geschichtswissenschaft
halten. Doch sind Rückkopplungen vom kollektiven zum individuellen Gedächtnis zu registrieren. Das Bewußtsein paßte sich an. Herkömmliches wurde festgehalten, soweit und solange es sich mit den neuen Techniken vertrug. Vergangenes war nicht um seiner selbst willen wichtig, sondern nur soweit an seiner Erinnerung das Wissen haftete, das es zum Nutzen der es bewahrenden Gruppe zu tradieren galt. Erinnert wurde, was gewußt werden mußte. Nur die Kultur, die ihr Wissen zu mehren, es zu stabilisieren, es - mit welchen Mitteln auch immer - weiterzugeben und angemessen zu aktualisieren verstand, setzte sich auf Dauer durch. Nicht die Gewalt (die keineswegs unterschätzt werden soll), sondern das Gedächtnis dominierte in der kulturellen Evolution, und dieselbe förderte die Gewalt eher, als daß sie ihr Einhalt gebot.
3.5
Experimentelle Gedächtnispsychologie
«Alle psychischen Strukturen und Prozesse sind evolutionsgeschichtlich bedingt»35; sie artikulieren und manifestieren sich in unbewußten neuronalen Verschaltungen und Aktivitätsmustern, die sich im Zusammenspiel von Individuum und Gesellschaft, durch den Sozialisationsprozeß des Säuglings, Kleinkindes und Heranwachsenden sowie seiner weiteren Erfahrungen formen. Die Seele (und mit ihr das Gedächtnis) besitzt somit eine lange physische und kulturelle Vorgeschichte, die weit über ihre individuelle Ausprägung in die Stammes- und Kulturgeschichte des Menschen zurückweist. Wir alle sind Erben einer langen Entwicklung und zugleich Kinder unserer Zeit. 3.5.1.
Wahrnehmung und Bewußtsein
Das menschliche Bewußtsein aber ist noch immer ein RätseP6. Was es ist, wie und auf welchen neuronalen Grundlagen es aufbaut, das ist noch ungeklärt, doch beginnt man es aufzuhellen. Neurophysiologie, bildgebende Verfahren, Hochleistungsrechner, Computersimulationen, Neuropsychologie, Neurolinguistik und eine Reihe anderer Disziplinen und Techniken gestatten ein immer tieferes Eindringen in die dunkle Welt des Bewußten und Unbewußten. Gewiß scheint zu sein, daß Bewußtsein stets ein Bewußtwerden von etwas ist. Es setzt konstruktive Hirntätigkeit zumal im Neokortex voraus, die Bearbeitung von eingehenden Signalen, Signaldeutungen, Wahrnehmen, Wissen; es bedient sich eigener Symbole (nämlich abrufbarer Aktivitätsmuster), deren Semantik sich erschließen läßt. Und es ist unlösbar mit dem plastischen, konstruktiven,
Wahrnehmung und Bewußtsein
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modulations bereiten Gedächtnis verbunden. Insofern ist es zwar ein Verhalten des Gehirns und hängt vermutlich mit dessen Größe und Verschaltungen sowie der Flexibilität seiner Aktivitätsmuster zusammen, aber offenbar nicht nur. Die physikalischen und chemischen Prozesse im Hirn, die mit Wahrnehmen und Bewußtsein verknüpft sind, bieten allerdings nur Aktionspotentiale an und keinen Inhalt. Sie funktionieren bei Mäusen, Makaken und Menschen in grundsätzlich gleicher Weise, bei Schamanen nicht anders denn bei Mathematikern, traumatisiert nicht anders denn nichttraumatisiert. Sie gestatt~n wohl durch die komplexere neuronale Verschaltung und flexiblere Aktivierung von Neuronenpopulationen des menschlichen Hirns, daß etwas zu Bewußtsein kommt, dimensionieren dasselbe auch, aber sie ersetzen dieses Etwas nicht. Und sie ersetzen schon gar nicht die Erfahrung, die soziale Welt um uns und deren Wirkungen auf uns. Ihre evolutionäre Herkunft und Funktionstüchtigkeit erklären keinen konkreten Einzelfall bewußten Erlebens, bewußten Erinnerns. Explizites (bewußt verfügbares) und implizites (unbewußt wirksames) Gedächtnis bauen sich synchron vom ersten Lebensaugenblick und mit manchen Inhalten (wie etwa dem Erkennen der Muttersprache) schon pränatal auf3 7 • Kulturelle Rückkopplungen, also die Wechselbeziehung zwischen dem seine Umwelt wahrnehmenden und auf sie einwirkenden Menschen und den Rückwirkungen auf ihn selbst, üben stets nachhaltigen Einfluß auf Inhalt und Aktivitäten seines Bewußtseins und mit ihm seines Gedächtnisses aus. Der Grad der Selbstbetroffenheit lenkt Gedächtnisinhalte und entscheidet mit über deren <Wahrheit> und . Fremdes Leid berührt uns anders als eigenes; fremdes Glück anders als unser eigenes. Die moderne Bewußtseinsforschung behandelt das Bewußtsein entweder als Produkt des Gehirns, und damit als etwas, das auf chemische und physikalische Prozesse zurückgeführt werden kann, oder sie betrachtet es gleich Raum und Zeit als eine eigene, mystische oder als eine sonst nicht weiter ableitbare und rückführbare psychische Grundtatsache dieser Welt 38 • Eine vierte Möglichkeit bestünde, so ergibt sich aus dem Gesagten, in einer Wechselwirkung von Hirn und Kultur, von Genetik und Erfahrung, von Evolution und Geschichte, mithin in der Betrachtung des Bewußtseins und des Gedächtnisses als eines Phänomens, das die Psyche mit einschließt. Es veränderte sich danach nicht nur in der Geschichte, sondern bis in die physische Organisation hinein durch dieselbe, durch die Erfahrungen des individuellen Lebens (jedenfalls bis zur Pubertät) wie der menschlichen Kollektive, die
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Neurokulturelle Grundlagen der Geschichtswissenschaft
auf sich erinnernde Individuen angewiesen bleiben. Dies ist eine auch für Historiker attraktive Vorstellung. Kulturelle Strukturen langer Dauer gewinnen eine biotische und psychische Dimension; und auch kurzfristige Phänomene können im Blick auf anthropologische und vereinen sich in ihm. Die menschliche Geschichte als bewußt erinnerte Vergangenheit und das menschheitliche Wissen sind, so gesehen, ein Teil, ein Faktor der Evolution; und diese steht auch heute nicht still.
Wahrnehmung und Bewußtsein
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Verhaltensforscher meinen in der Tat, auf der Tier- und Primatenebene nicht nur Bewußtsein, sondern bei den höheren Primaten zumindest Vorstufen von Selbstbewußtsein erkennen zu können4o . Deutet doch die Irritation eines im Gesicht bemalten und sich im Spiegel betrachtenden Schimpansen auf einen reflexiven Selbstbezug seiner Wahrnehmungen, ganz im Unterschied zum Pavian, der in gleicher Lage eine derartige Irritation nicht zu verspüren scheint, wie bunt er auch bemalt wurde. Ausgeklügelte Experimente zeigen, daß Schimpansen sogar ein Bewußtsein vom Bewußtsein des anderen entfalten. Jedenfalls zögert ein Individuum, sich verdeckte Nahru.ng zu holen, wenn es weiß, daß ein höherrangiges Tier dasselbe Versteck kennt, stürzt sich aber alsbald auf die Futterstelle, sobald es wahrgenommen hat, daß jener höherrangige Konkurrent vom Futter im Versteck nichts weiß41. Sich seiner gegenwärtigen und früheren Erscheinungsweise, sich seines Schmerzes und seiner Lustempfindungen, seiner Wünsche und Sehnsucht, sich seiner selbst, wie dumpf auch immer, inne zu werden, von sich selbst zu wissen, die Reflexivität des Erinnerns sind entscheidende Merkmale und Entfaltungsstufen des Bewußtseins. Sie sind kein Vorrecht des Menschen, vielmehr nur eine von ihm mit der Zeit besonders erfolgreich entfaltete Technik. Doch ebensowenig wie sein Hirn und dessen Arbeitsweisen Neuerfindungen des Menschen sind, sondern nur Sonderformen der Evolution, ist es seine Psyche. Auch sie gründet, wie komplex sie sich auch ausnimmt, in einem breiten Strom psychischen Verhaltens, das weit in vorhumanes Leben zurückweist. Die Seele partizipiert an dem phylogenetischen Kontinuum des Gedächtnisses vom schlichtesten zentralen Nervensystem der Nacktschnecke Aplysia und seiner begrenzten Reizempfänglichkeit, von den gemeinsamen Vorfahren der Primaten und Menschen, den Australopithecinen, an über die Hominiden, den Homo erectus, der sich auf zwei Beinen zu halten vermochte, den Homo habilis, der erstmals Steinwerkzeuge schuf, Dinge und Wissen darzustellen und vermutlich zu sprechen lernte, zu dem Homo sapiens der Frühzeit, dem Neandertaler, und bis zu den körperexternen Gedächtnisleistungen der Gegenwart. Keine Zivilisation kann derartige Vorbedingungen beseitigen; sie kann sie nur gestalten. Auch das Gedächtnis und alle Erinnerungen sind davon unmittelbar betroffen. Das explizite Gedächtnis «ist das Medium aller psychischen Zustände und Prozesse. Wahrnehmen, Lernen, Denken, Emotionen und Motivationen laufen im Gedächtnis ab. Psychische Vorgänge dienen der Steuerung und Kontrolle der Lebensprozesse. Das Gedächtnis sichert die Konsistenz der Steuerung; es verbindet die Gegenwart mit der Vergangenheit und der Zukunft.» Es verarbeitet im Rahmen angeborener und erworbener Para-
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Neurokulturelle Grundlagen der Geschichtswissenschaft
meter alles, womit es im Laufe eines Lebens konfrontiert wird. Lernen ist bald unbewußte, bald bewußte Fremd- oder Selbstsensibilisierung und Fremd- oder Selbstkonditionierung des Gehirns. Es setzt beim Menschen im Mutterleib ein und baut sich empirisch über analysierbare Stufen vom Säugling zum reifen Erwachsenen auf. 3.5.2
Die Wirklichkeitsversuche William Sterns
Systematische Tests zur Leistungsfähigkeit des menschlichen Gedächtnisses begannen bereits um 1900. Sie verbanden Wahrnehmungs- mit Erinnerungskontrolle. Zum al der Psychologe William Stern ist mit seinen «Wirklichkeitsversuchen» hier zu nennen. Testpersonen, unvorbereitet von ihm beispielsweise über die Einrichtung jenes auffällig ausgestatteten Hörsaals befragt, in den sie acht Tage zuvor einzeln zur Vorbesprechung gebeten waren, erinnerten sich nur mit einer mehr oder minder stark variierenden Fehlerquote an diesen durchaus auffallenden Raum. Um die Erinnerung an einen unerwarteten, belanglosen Vorgang stand es nicht besser42 • Früheres Geschehen oder wahrgenommene Sachverhalte bilden keine hieratischen Blöcke in der Erinnerungslandschaft. Sie wandeln sich. «Die fehlerlose Erinnerung ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme», erkannte bereits William Stern43; doch absolutes Vergessen gebe es ebensowenig44 • Allein diese letzte Annahme der Unmöglichkeit des Vergessens scheint unter bestimmten biochemischen Bedingungen des Hirns (wie Eiweißentzug nach dem betreffenden Erinnerungsakt) zu korrigieren zu sein. Der Biologe Richard Semon lieferte etwa zu derselben Zeit eine Erklärung dafür. Er prägte den Begriff des «Engramms» und verwandte ihn für angeborene und erworbene
Die Wirklichkeitsversuche William Sterns
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der ganzen Menschheit, mit einer anthropologischen Konstanten zu tun. Die Evolution bestimmte uns nicht zu Historikern; wohl aber stattete sie uns mit einem so eigentümlich selektierenden, modulierenden und
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Neurokulturelle Grundlagen der Geschichtswissenschaft
Die (subjektive) Wahrheit des Erinnerten war und ist nicht identisch mit der (objektiven) Detailgenauigkeit einer Erinnerung; auf sie aber kommt es dem Historiker an, der aus den Schranken der Subjektivität seines Datenmaterials ausbrechen möchte, um allgemeine Erkenntnisse über vergangene Wirklichkeit zu formulieren. Hier war demnach das Fundament einer Gedächtniskritik gelegt, auf dem auch die historische Forschung hätte aufbauen können. Es verschmolz Erfahrung, Erinnerung und Planung, bestimmte erstmals statistisch das hohe Ausmaß der Fehleranfälligkeit und Konstruktivität der Erinnerungen und hätte, systematisch aufgegriffen und weiterentwickelt, auch der Geschichtswissenschaft neue Fragen und Einsichten erlaubt. Doch die Historiker vertrauten dem Gedächtnis; Stern aber und seine Ehefrau Clara mußten 1.933 Deutschland verlassen. Der erkenntniskritische Fortschritt der Gedächtnisforschung vollzog sich fortan außerhalb Deutschlands, und die Historiker haben ihn kaum zur Kenntnis genommen. Sterns Erkenntnis vom Ausnahmecharakter fehlerloser Erinnerung wurde bis heute nicht widerlegt, vielmehr - zumal zur Beurteilung von Zeugenaussagen - experimentell vertieft und präzisiert49 . Auch wenn die kognitive, die Entwicklungs- und die Aussagenpsychologie in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von Methoden und Techniken entwickelten, die ein sichereres Urteilen über Zeugenaussagen, fehlerhafte Erinnerungsleistungen oder Genauigkeitsraten zulassen, als es um 1900 oder 1930 noch der Fall gewesen ist, auch wenn ihre Versuchsanordnungen selbstkritischer wurden, um Fehlerquellen in ihren Versuchen zu minimalisieren, so handelt es sich lediglich um Verbesserungen der Erkenntnismethoden, nicht um grundsätzlich neue Einsichten, um neue Techniken des Fehlererkennens und Fehlerabschätzens. Deutlicher noch als zu Beginn des 20. Jahrhunderts tritt die Interdependenz von Wahrnehmung und Erinnerung hervor; daß beispielsweise der Wahrnehmungsakt einen Erinnerungsprozeß mit einschließt; deutlicher auch wird differenziert zwischen autobiographischem Gedächtnis, das sich auf die eigene Person, das eigene Selbst bezieht, und anderen Gedächtnisinhalten; deutlicher auch die Differenzierung zwischen episodischem, semantischem und prozeduralem Gedächtnis. Der Grad der , die selektierende und dirigierende Rolle der Selbstwertgefühle oder des Identitätsbewußtseins lassen sich deutlicher als früher als Erinnerungen steuernde und strukturierende Faktoren ausmachen. Schärfer tritt endlich das auf die Umstände des Erlebens reagierende Schwanken der Vergessensraten hervor50 • Das alles läßt sich für die Auswertung historischer Quellen, die durch ein oder mehrere Erinnerungsträger hindurchgelaufen sind, fruchtbar
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machen, obgleich derartige Gedächtnisträger sich gewöhnlich der Analyse des Psychologen entziehen. Für sie bleibt Sterns Satz uneingeschränkt gültig und oberstes methodisches PrinzipsI. Neuere Autoren bestätigen es: «Es ist ausgesprochen unwahrscheinlich, daß eine einmal gemachte Erfahrung in genau derselben Form zu einem späteren Zeitpunkt - als Erinnerung - wieder auftaucht»s2. Historische Gedächtnisquellen sind in der Regel, wenn auch in unbekanntem Ausmaß, fehlerhaft, subjektiv und augenblicks bedingt.
3.5.3
Psychische Konditionierung der Erinnerungen
Zahlreiche Umstände wirken auf die Psyche des sich Erinnernden, keineswegs nur Wunsch, Trieb oder Bedürfnis. Jede Erfahrung und ihre Rahmenbedingungen schlagen sich im Gedächtnis nieder. Nichts geht wirklich verloren (soweit nicht traumatisierende chemische Faktoren eben aktualisierte Erinnerungen auslöschen). Das Gedächtnis ist ein -öffenes kognitives System, kein geschlossenes, wie der radikale Konstruktivismus postuliertS3 . Seine Konstrukte greifen stets auf Erfahrungen - reale oder begehrte, selbst erlebte oder medial vermittelte - zurück, erfinden also nicht ins Blaue hinein. Sie passen sich der sich ändernden Umwelt an, sind ihrerseits performativ, veränderlich. Das beschert eine untrennbare Wechselwirkung zwischen Ereignis, Sinneseindruck, Rahmenbedingungen, Wahrnehmung, Erinnerung und sprachlicher Reproduktion des Erinnerten, aber auch der die Erinnerung abrufenden Konstellation. Schwerlich läßt sich die Bedeutung des erinnerungsgesteuerten Wahrnehmens und der Umstand überschätzen, daß das Bewußtwerden der Wahrnehmungen keineswegs schon ein Bewußtwerden der impliziten Erinnerungen des Wahrnehmungsprozesses bewirkt. Jede Schulung des Wahrnehmens verändert auch das Erinnerungsverhalten; jede Gedächtnisschulung die Wahrnehmung und die Prozesse der Bewußtwerdung. Historische Quellen, denen ein Gedächtnis seinen Stempel aufgedrückt hat, unterliegen somit keinen gleichförmigen, wohl aber gleichartigen Bedingungen. Sie müssen stets für den Einzelfall auf ihren <Wahrheitsgehalt> wie auf ihre Ungenauigkeit hin untersucht werden. Verschiedene Einflüsse auf die Psyche lenken die Wahrnehmung ebenso wie die Selektion des Wahrgenommenen durch das sensorische Gedächtnis und den späteren Abruf der Erinnerungen; sie weisen dem Gedächtnis den Weg, und sei es in die Irre. Zeit und Ort, für den Historiker zentrale Elemente des Geschehens, dessen Abfolge und Verlauf, dessen gesamter Kontext sind regelmäßige und willige Opfer mnemonischer Manipulation, der Verschränkung ursprünglich nicht zusammengehöriger En-
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Neurokulturelle Grundlagen der Geschichtswissenschaft
kodierungen von Erfahrenem. Ein Handgemenge, in das ein Freund verwickelt ist, wird anders erinnert, als ein solches, in das ein Feind verstrickt ist; frühere oder spätere Vorurteile gestalten Wahrnehmung und Erinnerung; Wünsche und Sehnsüchte täuschen über die Vergangenheit; ein Wort führt die Erinnerung in die Irre. Derartiges betrifft uns alle. Die Folgen sind beträchtlich. Eine Aussage oder ein Text spiegelt nicht nur das Geschehen, sondern auch und zugleich die psychischen Dispositionen des Aussagenden oder eines Geschichtsschreibers zum Zeitpunkt seiner Wahrnehmungen und Aussagen und schafft durch diese Mischung stets etwas Neues. Ihre die Wahrnehmung lenkenden Vorurteile, ihr Emotions- und Wissenshorizont, ihr kognitives Repertoire sind folglich aufzuspüren und in die geschichtswissenschaftliche Interpretation einzukalkulieren. Der Textpositivist, der auf der Suche nach dem, wie es eigentlich gewesen, am überlieferten Wortlaut klebt, geht unzweifelhaft in die Irre. Bei (der keineswegs immer bewußt hervorgerufen oder registriert wird) können Einzelelemente aus dem Erfahrenen wie Versatzstücke abgerufen und zu einem neuartig zusammengesetzten Gedächtniskonstrukt montiert werden. Ähnliche Ereignisse, in zeitlicher Nachbarschaft erlebt, rufen die früheren Enkodierungen auf und fließen mit den neuen Wahrnehmungs einheiten zusammen; bruchstückhafte Erinnerungen werden vom konstruierenden Gedächtnis zu einem Ganzen ergänzt. Pro aktive oder retroaktive Störungen der Erinnerung sind die Folge, Überschreibungen älterer durch jüngere Enkodierungen. Beide gehen auf tatsächliche Erlebnisse zurück, sind vermutlich in denselben Teilen des neuronalen Netzwerks eingefangen und deshalb so schwer voneinander zu trennen oder getrennt zu halten. Die Produkte erweisen sich in jeder Hinsicht als aus realen Erfahrungen gespeist; sie erscheinen sachlich als möglich, als wirklichkeits gesättigt, in jedem Detail nachprüfbar und bestätigt. Alle Details derartiger Kontaminationen <stimmem, sind möglich, irgendwie wahrscheinlich. Allein, sie wurden aus Elementen heterogenster Herkunft verknüpft und sind nie in solcher Abfolge und solcher Mischung geschehen. Sie bilden eine irreale Montage. Das Ergebnis zeitigt Ketten von Irrtümern und klingt dennoch für das konstruierende Gedächtnis so plausibel wie für den Empfänger seiner Botschaften. Der Konstrukteur selbst, das Gedächtnis, durchschaut seine Irrtümer nicht. Selbst die Beteiligung von Personen an dem erinnerten Geschehen unterliegt der Irrtumsanfälligkeit des konstruierenden und bewußt-unbewußt manipulierenden Gedächtnisses; Personen oder ihr Handeln werden vermengt, hinzu erfunden oder aus dem Gedächtnis gestrichen, mitunter verdrängt. Lücken im Erinnerungsbild werden bewußt oder
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unbewußt, oft in einer Mischung aus beidem, nach eigenem Gutdünken gefüllt, die Fehlerhaftigkeit also kaschiert. Entsprechende Testergebnisse beziehen sich auf die Beteiligten" selbst, auf unmittelbare Augenzeugen, und zeichnen sich bereits wenige Augenblicke nach dem Geschehen in signifikanter Weise ab. Auch Nicht-Erlebtes, Nicht-Geschehenes - und das erweist sich als besonders heimtückisch - kann dem Gedächtnis implantiert werden. Ein fremdes Photo, ein vor längerer Zeit gesehener Film, eine lebhafte Erzählung, einen Traum kann das Gedächtnis nicht immer als solche von der realen Erfahrung unterscheiden. Irreales kann erinnert zur Realität werden. Was sind die Ursachen solcher Verzerrungen, was deren Bedingungen? Jedes Wahrnehmen ist zugleich ein Erinnerungsphänomen: wahrnehmende, sinnstiftende Erinnerung. Jeder Wahrnehmungsinhalt wird durch die lebenslang angesammelten Vorinformationen seitens des Kurz- oder Langzeitgedächtnisses vom Hirn selbstorganisierend auf seine Semantik geprüft, sinnhaft gedeutet und dabei geprägt. Beide Gedächtnismomente regeln die prästabilisierenden Erwartungen, die beim Wahrnehmungsprozeß stets beteiligt sind, lenken damit unbewußt die Wahrnehmung in erheblichem Maße und legen die einfließenden Impulse aus 54 . Derartige Erwartungen spiegeln ihrerseits wieder soziale und kulturelle, auch individuelle und psychische Faktoren, die sich somit an der Wahrnehmung beteiligen und deren Ergebnis für das wahrnehmende Subjekt plausibel erscheinen lassen. Unterschiede im Wahrnehmen erweisen sich nicht selten als Folgen unterschiedlicher Gedächtnisaktivierung. Die Psyche sieht mit; und das Gedächtnis wird Opfer ihrer vorauseilenden Manipulationen. Freilich wird es sich dieser Wechselwirkung zwischen erinnerungs gesteuertem Wahrnehmen und impliziten Erinnerungen des Wahrnehmungsprozesses selten und allenfalls partiell bewußt. Erinnerte Wahrnehmungen müssen also auf ihre Implikationen, auf die Semantik ihres impliziten Wissens hin befragt werden. Zeitlicher Abstand, Wiederholung (ohne Kanonisationseffekte ) oder das Einschieben mehrerer mündlicher Zwischenträger zwischen Geschehen und Zeugenaussage (den historischen Erinnerungsquellen) vertieft und vermehrt gewöhnlich die Verformungen, variiert sie auch. Keine Geschichte bleibt sich beim Wiedererzählen gleich, wie jeder Erzähler bestätigen kann. «Die Entstellungen, denen unsere Erinnerungsbilder ausgesetzt sind, sind ... oftmals so grob, daß selbst der sorgfältigste und objektivste Rekonstruktionsversuch erfolglos bleibt»; und sie «schreiten voran, solange der Mensch lebt»55. Verhält es sich anders, soll also die Zeugenaussage Vertrauen verdienen und ein Urteil auf sie gegründet
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Neurokulturelle Grundlagen der Geschichtswissenschaft
werden dürfen, muß es eigens nachgewiesen werden. Doch nur unter günstigsten Bedingungen verfügt die historische Quellenkritik über eine Informationsdichte, die den Befragungs- und sonstigen Überprüfungsmöglichkeiten des Psychologen gleichkommt und eine analoge Analyse gestattet. Gewöhnlich läßt sich der Grad von Fehlerhaftigkeit einer vor Jahrhunderten oder Jahrtausenden fixierten Erinnerung, wer auch immer sie erzählte, nicht im entferntesten mehr kontrollieren. Sich blind auf sie zu verlassen, ist demnach methodisch leichtfertig und falsch. Die Gründe für derartige Fehleranfälligkeit des Gedächtnisses sind ohne weiteres einsichtig. Das Bewußtsein besitzt nur eine begrenzte Kapazität. Es nimmt nur Ausschnitte eines Geschehens wahr und macht sie sich bewußt. Jeder Wahrnehmungsakt ist somit höchst selektiv, Das gilt für jegliche Wahrnehmung, keineswegs bloß für einen flüchtigen Sinneseindruck, sondern ebenso für die Lektüre eines Textes; auch sie ist zunächst ein Wahrnehmungsakt. Wäre es anders, würde nämlich jede Einzelheit, der ganze , jeder Sinnesreiz in gleicher Intensität und Vollständigkeit aufgenommen und erinnernd bewahrt werden, das Bewußtsein wäre rettungslos überfrachtet und bis zur Hilflosigkeit überfordert. Es sähe vor oder Überfülle an Details kein Ganzes, nichts Sinnhaftes; es muß selektieren, gewichten und werten und eben damit konstruieren. Derartige Aktivitäten des Gehirns verlaufen zu weit überwiegenden Teilen unbewußt. Wir selektieren, erinnern, entscheiden, denken, konstruieren unsere Welt, ohne daß uns bewußt wird, warum wir es so tun, wie wir es tun. Jeder Wahrnehmungsakt vereint Sinneseindruck und Deutung, bleibt nicht stumpfer Blick oder dumpfer Schmerz, ist gedeuteter Sinneseindruck, zugleich Vergessen und logische Vervollständigung fehlender Einzelheiten und Konstruktion eines Ganzen, das Sinn macht, aber nur partiell in unmittelbarer Wahrnehmung gründet. Die Neurobiologie zeigt, warum und wie es geschieht. Die notwendige Deutung verwandelt somit jede Wahrnehmung und Reizung der Sinne in einen prozessualen Akt des Wissens und seiner zugehörigen Wissenskultur. nimmt sich dabei für das Gehirn als ein neuronales Netzwerk aus, das durch die einkommenden, geschehensabhängigen Sinnesreize zugänglich wird. Gelingt es später - auf welche Weise auch immer -, dieses Netzwerk als Ganzes oder in Teilen wieder zu aktivieren, dann steigen Erinnerungen auf, die zuvor vergessen schienen. Vom Historiker verlangt dieser Sachverhalt, daß er die Konstruktionsmechanismen und ihre Arbeitsbedingungen beachtet, die den Tatsachenmodellierungen seiner Zeugen ihren Sinn verlieh, bevor er sich deren Aussagen bedient, um darzulegen, wie es eigentlich gewesen.
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Die Aussagenpsychologie muß zur historischen Hilfswissenschaft werden. Sie bietet Muster für eine Förmgeschichte der Verformung. Denn die unabdingbare, kontinuierlich von Sinneseindruck zu Sinneseindruck selektierende und modellierende Konstruktionsleistung des Bewußtseins macht dasselbe zum Schöpfer menschlicher Wahrnehmungen und deren Weitergabe. Ihre Deutungen und Transmissionen unterliegen mancherlei Einflüssen und konditionierenden Bedingungen: äußeren Umständen ebenso wie psychischen, Emotionen, mitgebrachtem Wissen, Vorurteilen und Erwartungshorizonten ebenso wie Lernattitüden, dem Assoziations- und Artikulationsvermögen ebenso wie dem kalkulierenden Interesse oder verborgenen Intentionen des Wahrnehmenden, persönlichen Idealen wie objektiven Normen, dem eigenen Urteilsvermögen des Zeugen nicht minder denn den fremden Meinungen, die er zwischen dem Geschehen und seiner Aussage zur Kenntnis nahm; dem Geschlecht wie dem Alter. Kinder erleben ihre Kletterbäume anders als Eltern. Beide erinnern dasselbe und doch nicht dasselbe. Der mit dem Erlebnishorizont seiner Kindheit plötzlich wieder konfrontierte Erwachsene hat wenigstens anfänglich Orientierungsschwierigkeiten. N euere psychologische Untersuchungen legen entschiedenere Skepsis hinsichtlich der Gedächtniskraft älterer Menschen nahe, als die Erzählungen «der Alten» zunächst vermuten lassen 56 • Manches - wie extrem strapazierte Gefühle, extreme Affekte, Traumata oder Symbole 57 - haftet zwar tiefer, stabilisiert somit Erinnerungen, verzerrt sie aber auch wieder, insofern Begleitphänomene leichter und schneller verblassen und jene Stabilisatoren sich damit von selbst in den Vordergrund drängen. All das formt die Wahrnehmung, die Erinnerung und die Aussage über das Wahrgenommene in einer Weise, welche die ursprünglichen Sinneseindrücke nur noch lücken- und fehlerhaft, als mentales Konstrukt kolportiert. Spätere Bedeutungszuweisungen an ein Geschehen verändern zudem die Erinnerung an seinen tatsächlichen Verlauf. Mehrdeutige Sinnesimpulse werden <erinnernd> zur Eindeutigkeit gedrängt. Fehlschlüsse im Konstruktionsprozeß der Wahrnehmung sind unvermeidlich und fließen unkorrigiert dem Gedächtnis zu; sie gelten heimtückischerweise demselben für wahr. Der Zeuge macht unter diesen Umständen keine absichtliche Falschaussage, auch wenn er Falsches sagt. Ein Geschichtsschreiber fälscht unter diesen Umständen keine Vergangenheit, auch wenn er Verfälschtes tradiert. Die Feststellung entlastet manchen historischen Text vom Fälschungsverdikt und erschließt seine gleichwohl falsche Aussage für eine neue Beurteilung. Im natürlichen Gedächtnis, das keine Spezialschulung geformt hat, haften vor allem Bilder, szenische Eindrücke, Empfindungen zu Symbo-
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Neurokulturelle Grundlagen der Geschichtswissenschaft
len verdichtet oder in solche eingefangen, nicht abstrakte Sätze, keine Geschehenskomplexe, zeitübergreifende Zusammenhänge; diese aber bestimmen das schriftgestützte Gedächtnis. Das entspricht der neurologischen Beobachtung, daß visuelle Eindrücke ohne vorgeschalteten Durchgang durch das <sensorische> und unmittelbar in das eingehen können58 . Wiederholung stabilisiert die Gedächtnisinhalte. In schriftlosen oder schriftarmen Kulturen besitzen rituelle Inszenierungen - auf bildhaft-symbolische Darstellung und Wiederholung angelegt - eine erhöhte Memorierchance. Freilich laufen gerade auch sie Gefahr, den individuellen Vollzug in einem Gesamtbild aller Vollzüge aufgehen zu lassen. Die diversen Vollzüge desselben Rituals lassen sich im Gedächtnis nicht trennen. 3.5.4
Vergessen
Zum Erinnern tritt das Vergessen59; das eine vollzieht sich synchron mit dem anderen. Beide erweisen sich für Tier und Mensch in gleicher Weise notwendig. Auch das Vergessen dient dem Leben - woran Friedrich Nietzsche die Historiker schon einmal erinnerte, ohne daß angemessene Konsequenzen für das verfügbare historische Datenmaterial überdacht wurden60 • Die neuronalen Ursachen des Vergessens sind (von einzelnen Faktoren abgesehen) unbekannt, seine individuelle und kulturelle Wirkung indessen ist ungeheuer. Sein Versagen hat weitreichende Folgen, nicht nur für die Behandlung seelischer Traumata. Wie es scheint, entstehen sogar bei erwachsenen Individuen in dem für das Erinnern wichtigen Hippocampus neue Nervenzellen, deren Funktion vorwiegend darin bestehen könnte, nicht mehr benötigte Erinnerungen zu löschen; eine Störung der Eiweißsynthese scheint das Vergessen zu fördern 61 . Weitere Verformungen der Erinnerung und neuerliche Konstruktionsarbeit des Gedächtnisses sind die Folge. Psychologen und Kognitionswissenschaftler verweisen vor allem auf Interferenzen, auf das Überlagern früheren Wissens durch späteres, auf die Überschreibvorgänge als Ursache für Vergessen, nicht auf Speicherverluste des Gehirns. Denn, wie gesagt, nichts geht (solange traumatisierende Eingriffe ausbleiben) völlig verloren. Die Superskription aber verbindet diverse, doch gleichartige Erfahrungen miteinander, trennt sie nicht scharf voneinander ab, vermengt sie. Bekanntes wird leichter erinnert als Unbekanntes; traumatische Erfahrungen sind tiefer in den neuronalen Netzwerken verfangen als Routineerlebnisse 62 . Phobien sind genetisch gesteuert; Angst vergißt sich schwerer als kulturelles Wissen63 ; ein traumatisches Erlebnis, das in der Symbolsprache
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des Verletzten bis zur Unkenntlichkeit verformt erscheint, kann in einer Gedächtnis-Krypta seine ursprüngliche Gestalt bewahren 64 . Doch blendet es anderes aus. Wiedererlebtes Entsetzen löst gleichartige Aktivitäten des Gehirns wie bei dem traumatischen Sinneseindruck selbst aus. Als man Bankangestellten, die Opfer eines brutalen Überfalls geworden waren, erstmals einen Videomitschnitt des Geschehens zeigte, wurden sie erneut von der ursprünglichen vegetativen Erregung übermannt - bis hin zur Deaktivierung des Broca-Zentrums: sprachlos vor Schrecken65 • Für das autobiographische Gedächtnis spielt derartiges unzweifelhaft eine herausragende Rolle; es gestaltet seine Erinnerungen 66 • Doch auch der Allgemeinhistoriker hat die eigentümliche Selektivität und Gewichtung der Erinnerungen zu beachten, will er Gedächtnisdaten verwerten, die durch traumatische Erlebnisse gezeichnet sind67 • Auch das Vergessen erscheint somit als ein konstruktiver Prozeß. Es wirkt als ein negativer Selektionsprozeß, bald bewußt, bald unbewußt aktiv. Er sondert mit souveräner Verfügungsrnacht aus der Fülle von Sinneseindrücken und Wißbarem aus, wessen es nicht zu bedürfen meint. Vergessen macht Geschehenes - partiell, nie vollständig - ungeschehen, verformt und gewichtet Erinnertes, paralysiert das Wissen. Vergessen entlastet das Gedächtnis zugleich aber auch von einschnürendem, beklemmendem Ballast und befreit die kreative Phantasie von den Fesseln des Erlebten und Gewußten, auch von lähmendem Entsetzen. Es sorgt mit für die Selektion unter den zahllosen Einzelwahrnehmungen und Einzelerfahrungen und ermöglicht oder erleichtert so deren vom Einzelfall abstrahierende Weitergabe an das Gedächtnis. Dort aber steht das Vergessen selbst als ein <Wissens>-Muster zur Verfügung. Es ist der komplementäre Teil des Erinnerns, so sinnvoll und notwendig wie dieses. Je besser vergessen wird, desto wirksamer wird das tatsächlich Erinnerte. Auch das Vergessen dient demnach dem Überleben. Wie die Erinnerung entzieht es sich ohne äußere Hilfsmittel jeder Kontrolle. Jede Gedächtniskultur ist immer zugleich auch eine Vergessenskultur. Erinnern und Vergessen halten sich in ihrer kulturellen Bedeutung somit die Waage. Der Historiker sollte das beachten, wenn er Erinnerungsprodukte auszuwerten beabsichtigt. Er hat nach dem Vergessenen zu suchen, um jene beurteilen zu können. Bekannt ist der Fall des russischen Gedächtnisgenies S. W. Schereschewskij, auf den Alexander Lurija aufmerksam gemacht hat68 . Schereschewskij setzte Worte in Bilder um, die er etwa entlang einer gedachten Straße aufreihte, welche er dann in Gedanken abging, oder er plazierte die Wortbilder auf einer Tafel. So vermochte er lange Wortlisten binnen kürzester Frist auswendig zu lernen und sie noch nach Jahrzehnten feh-
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Neurokulturelle Grundlagen der Geschichtswissenschaft
lerfrei wiederzugeben. Die Technik ähnelte jener Gedächtniskunst, die in antiken Rhetorenschulen gepflegt wurde und auch im Mittelalter und in der Renaissance zu Ehren kam 69; und sie entsprach den Ergebnissen moderner Gedächtnispsychologie, die zeigen konnte, daß imaginale Kodierung dauerhafter und verformungsresistenter enkodiert wird als andere und gewöhnlich mit begrifflicher Kodierung im Austausch stehen. Schereschewskijs eidetisches Gedächtnis vergaß nahezu nichts. «Es war schlicht unmöglich, an die Grenzen seines Gedächtnisses zu stoßen oder irgendwelche Anzeichen eines mit der Zeit auftretenden Verblassens von Erinnerungen festzustellen»7l. Doch Abstraktionen waren ihm verwehrt; jedes Wort rief Ketten von Bildern hervor. So war es ihm, dem Gedächtnisgenie, unmöglich, vom Besonderen auf Allgemeines zu schließen oder die Bilderflut und mit ihr sein Wissen zu ordnen. Zuletzt wurde er der Flut erinnerter Bilder nicht mehr Herr, mußte seinen Beruf als Journalist aufgeben und sein Leben kümmerlich als Wortlisten-Künstler fristen 72 • Der Mensch bedarf offenbar des abstrahierenden Vergessens, um sich orientieren und überleben zu können, um aus der Fülle der Erlebnisse das Festhaltenswerte, das zu wissen Notwendige herauszufiltern. Das Vergessen tritt unabdingbar zum <erfolgreichem Erinnern hinzu. Historiker kennen die , das absichtliche Auslöschen von Menschen und Ereignissen aus der öffentlichen Kommemoration; das schleichende, kulturstiftende Vergessen aber lassen sie eher auf sich beruhen73 • Doch die Tilgung der Namen von den Stelen, die Zerstörung der Denkmale, das Streichen aus dem Buch des Lebens, die Retuschierung von Photographien, die Säuberung der Enzyklopädien, die gezielte Entleerung des Geschichtsunterrichts von ganzen Epochen in den Lehrplänen, die, wie wichtig sie waren, fortan für unwichtig gelten, setzt eine spezifische Literalität voraus. Derartige Reinigungsverfahren retten, was nicht immer beachtet wird, Verhaltensweisen in die Schriftlichkeit hinüber, die auf der Ebene mündlicher Erinnerung sich Tag für Tag ereignen. So sind wir im praktischen Leben auch bereit, derartig manipulierende Fälschungen hinzunehmen. Zu vergessen ist ein tiefes Bedürfnis höheren Lebens und komplexer Kultur. Allein der Historiker, der hinter die Vergessensprozesse, hinter die Konstruktionsarbeit des Erinnerungsvermögens, hinter die widersprüchlichen Gedächtniskolportagen schauen will, kann sich damit nicht abfinden. Was aber wird vergessen? Und warum eben dieses? Wie wirken beide, Erinnerung und Vergessen, auf kultureller Ebene zusammen? Mit welchen Folgen? Wie also hat der Historiker mit der Amnesie umzugehen? Wie seine Methoden der Datenauswertung vergessensbewußt zu schärfen 74? Davon wird noch zu handeln sein.
Vergessen
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Vergessen wird allerlei. Zumal die erfolglosen Planungen, fehlgeleiteten Erwartungen, unerfüllten Hoffnungen finden sich selten erinnert. Endzeitängste beispielsweise, die sich auf einen nah bevorstehenden Untergang richteten und wie sie in der Geschichte des Christentums regelmäßig anzutreffen sind, werden verdrängt oder vergessen, sobald der prophezeite, gar vorberechnete kritische Augenblick verstrichen ist und die Sonne noch immer scheint75 • Der Historiker hat somit den Zeitpunkt genau zu gewichten, zu dem das von ihm auszuwertende Zeugnis entstand. Denn dieser Zeitpunkt bedingt dessen Aussage, nicht das bloße Geschehen oder die zu erinnernde Wirklichkeit. Mitunter wird - als negative Inversion - das Gegenteil von dem, was ein Text sagt, der Wahrheit näher kommen als der unmittelbare Wortlaut dieses Textes. Der Autor hat ja nie an einen bevorstehenden Untergang geglaubt. Auch unerfüllte politische Ziele besitzen gewöhnlich kaum eine Chance, erinnert zu werden. Wer hätte sie denn gehegt? Sie werden ersetzt durch das tatsächlich Eingetretene, das Scheitern wird angepaßt an den Erfolg. Wer möchte nicht sein dummes Geschwätz von gestern rasch wieder zuhäufeln. Auch jetzt gilt es, den Zeitpunkt genau zu prüfen, zu dem eine Aussage gemacht wurde, bevor diese selbst gewürdigt werden kann. Psychische Verdrängung verformt Erinnerung. Die symbolische Repräsentation des Verdrängten in der Sprache gestattet aber dem Analytiker mitunter über die Dechiffrierung der sprachlichen Symbole deren unbekanntes Komplement in der Wirklichkeit aufzuspüren. Das Verfahren ähnelt der Auseinandersetzung mit dem mehrfachen Schriftsinn antiker und mittelalterlicher Autoren, dem historischen (Jerusalern als Stadt), dem symbolisch-allegorischen (Jerusalem als Kirche), dem moralischen (Jerusalem als Inbegriff der Wahrhaftigkeit) und dem anagogischen (Neues Jerusalem als künftiger Äon) nämlich76 . Es ist, als spräche ein Autor fortwährend auf der Ebene des allegorischen oder moralischen Sinnes, um historische Botschaften zu vermitteln. Das Beispiel zeigt, daß es zwischen Psychologie und Mediävistik (methodische) Gemeinsamkeiten gibt, die noch kaum ausgelotet sind. Moralische Exempel verlangen mitunter nach ihrer Transponierung auf die historische Ebene. So bietet die Psychologie erste Beiträge zu einer Formanalyse der Verformung.
1.1.6
Neurokulturelle Grundlagen der Geschichtswissenschaft
3.6
Einsichten durch Neurobiologie und Neuropsychologie
3.6.1.
Zur Vorgeschichte der Fragestellung
Die Frage nach dem Zusammenspiel von Geschichte und Gehirn besitzt eine lange Vorgeschichte. Sie kann sich auf erlauchte Ahnherren des englischen Empirismus berufen. So zog Francis Bacon eine Verbindung zwischen Gehirnfunktionen und Wissensformen77 und schickte Thomas Hobbes, der sich schon zuvor auf die «Humane Nature: or the fundamental elements of policie» (1.650) eingelassen hatte, seinem «Leviathan, or the Matter, Forme and Power of a Commonwealth, ecclesiasticall and civil!» (1651) einige Ausführungen über die Sinne voraus, über Wahrnehmen, Imagination und Gedächtnis, über die Gedankenfolge beim Denken und dergleichen mehr, weil er davon überzeugt war, daß der Mensch nichts denken könne, was nicht zuvor als Sinneseindruck gegeben sei78 • Diese schlichte Psychologie entsprach dem Wissen seiner Zeit, und man hätte von seiten der Historiker systematisch weiter in diese Richtung forschen können. Descartes glaubte ja schon, in der Mathematik (<<Mathesis universalis») einen Universalschlüssel zu Natur und Geist, Sein und Denken gefunden zu haben. Indes, in dem Maße, in dem die naturwissenschaftliche Anthropologie sich fortentwickelte, sich im Fächerkanon universitärer Disziplinen ausdifferenzierte und verselbständigte, in dem seit Giambattista Vico auch die Eigenart historischen Erkennens erfaßt wurde, verlor der Historiker, dieser als solcher betrachtet, den Einblick in jene Anthropologie und damit das Interesse an ihr79 . «Das Gehirn und seine Wirklichkeit»80 bedeuten ihm heutzutage nachgerade nichts. Weder in der Quellen- noch in der Wissenschaftskritik spielen sie eine Rolle. Allein die Erforschung der Autobiographie beginnt sich ihnen zuzuwenden 81 . Die Untersuchung des Hirns begann freilich schon im Altertum 82 . Alkmäon von Kroton erkannte nach Sektionen an lebenden Tieren und toten Menschen im Gehirn das zentrale Organ für die Verarbeitung der Sinnesinformationen. Aristoteles griff derartiges Wissen auf; im dritten Buch von «De anima», dann in «De memoria et reminiscentia» dachte er sie weiter. Galen setzte solche Forschung fort. So entstand ein System, in dem sich das neben und gerückt sah, die dann die fünf Sinne des Tastens, Sehens, Hörens, Riechens und Schmeckens mit Informationen versorgten. Dabei blieb es auf Jahrhunderte; allein die begriffliche Unterscheidung in die drei «inneren» und die fünf «äußeren Sinne» fügten spätantike und mittelalterliche Autoren, an ihrer Spitze Augustin, hinzu. Avicenna
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lokalisierte in seinem «De anima»-Kommentar die Fähigkeiten in «Kammern» (ventriculi, cellae); er unterschied fünf innere Sinne, für die in gleicher Weise wie für den ganzen Körper die Humoral- und Komplexionsmedizin zuständig war (Gemeinsinn/Phantasie - Imagination/vis formans - vis cogitativa/bei Tieren nur vis imaginativa - Ästimation memoria). Sie wurden in drei miteinander verbundenen Gehirnkammern oder Ventrikeln lokalisiert: Cellula phantastica, cellula rationalis, cellula memorialis, wobei die beiden ersten gemäß der Lehre des Avicenna noch einmal unterteilt wurden. Als kognitive «Fakultäten» verarbeiteten sie die von außen zugeleiteten Informationen. So ging das antike und arabische Wissen an das lateinische Mittelalter über 83 • Die Empiristen des 16.117. Jahrhunderts knüpften dar an an. Bacon wies ihnen kulturelle Leistungen zu: der Imagination die Kunst, der Kognition oder Vernunft die Philosophie und dem Gedächtnis die Geschichte. Die späteren Aufklärer, etwa Diderot, folgten ihm auf diesem Weg. Zum al nachdem die Scholastik seit dem späteren 12. Jahrhundert die naturwissenschaftlichen Schriften des Stagiriten wieder entdeckt, den «Canon» des Avicenna rezipiert und fruchtbar zu machen begonnen hatte, wies diese Konzeption durch Fragestellung, rationale Beweismethoden und herausfordernde Beharrungskraft des Problems der künftigen Psychologie und Biologie, zuletzt den Kognitionswissenschaften den Weg. Der Arzt und Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck hat 1935 eine derartige Kontinuität an einem anderen Beispiel- an der «Lustseuche», die als solche mit der Großen Konjunktion von 1484 entdeckt und nach jahrhundertelangem Forschen endlich 1905 als Syphilis identifiziert wurde - exemplarisch dargestellt 84 . Exemplarisch jedenfalls für den Westen. Denn die arabische Welt folgte mit einschneidenden Konsequenzen dieser Entwicklung zur modernen Naturwissenschaft seit dem 13. Jahrhundert nicht mehr. Die wachsende fachliche Ausdifferenzierung, die seitdem eintrat, erfaßte zumal die «Physik», d. h. die Naturwissenschaften, die im aristotelisch-mittelalterlichen Wissenschaftssystem der Philosophie zugeordnet waren. Die neue Zergliederung sprengte das Modell der drei Kammern, verzichtete auf die einst intendierte enge Kooperation der Wissenschaften und förderte allein die Spezialisierung. Doch halten wir fest: Es gab einstmals eine holistische Wissenschaftstheorie, die den , als Natur- und als Kulturwesen zu erfassen trachtete und keinen Riß zwischen Gedächtnis<sinm und Geschichte geduldet hätte. Mag sie auch in ihrer einstigen Form nicht erneuerungs fähig sein, transdiziplinäre Forschungen sind gleichwohl dringender denn je. Denn an Bacons Einsicht, daß Geschichte
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Neurokulturelle Grundlagen der Geschichtswissenschaft
und Gedächtnis aufs engste miteinander verbunden sind, hat sich nichts geändert, auch wenn sie lange vernachlässigt war. Der weitere Verlauf der Gedächtnisforschung darf hier auf sich beru:hen; er hat sich völlig von der Geschichtswissenschaft getrennt und führte zu Neurobiologie, Neurophysik und Kognitionspsychologie (und zu den mit ihnen verbundenen Disziplinen), zu kognitiver Verhaltensforschung, ist also abgedriftet in ihm ursprünglich fremde Gefilde 85 . Zumal die molekulare Neurobiologie entschlüsselt immer genauer die kognitiven und mentalen Leistungen von Gehirn und Gedächtnis 86 . Die Genetik begründet Darwins Abstammungslehre neu. Untersuchungen der DNA erweisen beispielsweise Schimpansen, zumal Bonobos, und Menschen als nächste Verwandte, näher miteinander verwandt als diese Primaten mit anderen Primaten oder Affen 87 . 99 % unserer Gene stimmen mit den ihren überein88 . Doch bleiben Schimpansen geistig etwa auf dem Niveau zweijähriger Menschenkinder stehen. Ins Leben übersetzt heißt das, daß unsere gemeinsamen Ahnen noch Millionen Jahre nach dem gemeinsamen Vorfahren von Gorilla und Schimpansen (sowie dem Menschen) die Regenwälder Afrikas bevölkerten. 3.6.2
Neuronale Grundlagen des Gedächtnisses
Die morphogenetischen Grundlagen des Nervensystems, das auch für das Erinnerungsvermögen maßgeblich ist, führen in der Geschichte des Lebens noch weiter zurück. Sie teilt der Mensch mit jeglichem mit einem Nervensystem ausgestatteten Lebewesen, mit Moluskeln, Kriech- oder Wirbeltieren, zumal mit den Primaten. Reizaufnahme, Informationsfluß, Wahrnehmen, Erinnern, Lernen, kulturelle Transmission sind zuallererst elektrochemische Prozesse im Innern unterschiedlicher Neuronen, zwischen weiträumig verteilten Neuronengruppen und diversen Hirnstrukturen. Sie bedürfen je eines sie auslösenden Anstoßes. Die elektrochemischen Mechanismen der Informationsübertragung in den Nervenzellen sind von den einfachsten Schnecken bis hin zum Menschen gleich; verändert hat sich vor allem die Geschwindigkeit der Übermittlung von Informationen in den Axonen und die Speicherkapazität der Systeme. Zahlreiche Hirnstrukturen weisen Tier und Mensch in gleicher Weise auf; doch besitzen erst höhere Wirbeltiere eine für alle höheren Funktionen wie Bewußtsein oder Selbstbewußtsein maßgebliche Großhirnrinde (Neocortex). Auch sie hat sich im Laufe der Evolution entwickelt und unterscheidet sich bei Tier und Mensch nicht prinzipiell, sondern eher quantitativ. Zum al über wichtige, entwicklungsgeschichtlich alte Strukturen des Hirnstamms (wie das auch für das <Einspeichern>
Neuronale Grundlagen des Gedächtnisses
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in das Gedächtnis bedeutsame limbische System mit dem Hippocampus) verfügen Menschen nicht anders als Tiere. Resektion des letzteren bewirkt anterograde Amnesie, während das vor dem Eingriff gespeicherte Wissen erhalten bleibt 89 • So können bestimmte Funktionsweisen des menschlichen Gehirns und seines Gedächtnisses bereits am Nervensystem einer Schnecke, andere an Lurchen, noch andere an Mäusen oder Schimpansen untersucht werden, obgleich ein Menschenhirn um ein Vielfaches größer und komplexer organisiert ist als ein Schnecken-, Lurchen-, Mäuse- oder Schimpansenhirn. Das Nervensystem einer Meeresschnecke wie Hermissenda verfügt lediglich über wenige Tausend N euronen90 und ist damit verhältnismäßig leicht zu erforschen, während der Mensch schätzungsweise 11 10 Nervenzellen mit Kern und Fasern, den Axonen und Dendriten, kooperieren läßt. Die Aktivitäten seines Hirns entziehen sich deshalb einem raschen Erkennen. Vor allem lange Signalketten und die Ordnung der Operationsschritte, die neuronale , sperren sich gegen eine Einsichtnahme 91 • Das menschliche Hirn ist in zahlreiche Zentren organisiert, die, über Axonen und reziproken Bahnverbindungen der Dendriten (bei ca. 1d4 Schaltstellen) miteinander verbunden, in ständiger Wechselwirkung stehen. Zumal die windungs- und furchenreiche Großhirnrinde (Neocortex) ist für seine kognitiven Leistungen zuständig. Sie wird in Areale eingeteilt, deren jedes gewisse Funktionen bündelt. Doch auch subkortikale Strukturen wie der Hippocampus sind für das Gedächtnis von Bedeutung. Dazu kommen die Glia-Zellen, die mehr sind als bloßes Stützgewebe, für das sie lange Zeit galten. Deren drei Typen isolieren die Nervenfasern, beschleunigen durch Cholesterinsynthese die Synapsenbildung, mehren sich entsprechend mit der Zahl der Synapsen, wirken als Abwehrzellen und stabilisieren den Stoffwechsel der N ervenzellen92 . Weibliche Gehirne sind leichter und besitzen ca. 11 % mehr Neuronen; männliche Gehirne sind schwerer und weisen mehr an Glia-Zellen (folglich mehr Synapsen?) auf. Sensibilisierungsvolumen und Wahrnehmungsfähigkeit sind von derartigen Verhältnissen betroffen, nicht aber die Funktionsweise des neuronalen Systems an sich. Im Durchschnitt scheinen Frauen, so zeigen neuropsychologische Untersuchungen, neben zahlreichen anderen zerebralen Unterschieden ein besser ausgebildetes Sprachzentrum, Männer eine höhere mathematisch-räumliche Orientierung zu besitzen. Erinnern Frauen anders als Männer? Die Melodik eines Satzes etwa vermag ein weibliches Gehirn signifikant rascher zu identifizieren als ein männliches 93 . Der Hirndimorphismus beginnt gleichfalls bereits auf der Tierebene. Hermissenda
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Neurokulturelle Grundlagen der Geschichtswissenschaft
indessen vermag wie jede Schnecke nur auf den Reiz zu reagieren, der auf sie einwirkt, ohne den reizauslösenden Menschen wahrzunehmen; ihre Wirklichkeit ist eine Welt aus wenig Reizen und eng begrenzten Antworten. Allein die Wahrnehmung der eigenen Artgenossen ragt über diese kleine Reizwelt hinaus. Von Hermissenda und ihresgleichen aus betrachtet, erweist sich die Evolution als ein ungeheurer, genetisch gespeicherter Lernprozeß im Wahrnehmen und Ordnen der Umwelt, im Bereitstellen von immer mehr Speicherplatz und leistungsfähigeren Prozessoren, von immer höherer Flexibilität der Aktivitätsmuster - ein Prozeß, der sich in den neuronalen Strukturen dauerhaft manifestiert. Der Bau des Hirns erscheint wie ein umfassendes Gedächtnis für die Erfahrungen der Evolution. Die Zusammenhänge in der Welt sehen sich hier, soweit sie dem Hirn zugänglich sind, durch genetisch bedingte und durch Erfahrung modulierte wieder abrufbare neuronale Aktivitätsmuster repräsentiert 94 • Das Hirn der Primaten dürfte dabei nach einer doppelten Strategie verfahren. Es weist Neuronen auf, die einzeln dem schlichten behavioristischen Reiz-Reaktion-Schema folgen und darauf spezialisiert sind, bestimmte, zumal verhaltensrelevante Inhalte wie beispielsweise ein Gesicht zu erfassen. Die weitaus größte Zahl der Neuronen (80-90 %) reagiert merkmalsspezifisch jeweils nur auf bestimmte Teilmerkmale von Objekten (wie Form, Lage, Ort, Größe, hell oder dunkel usw.), kann deshalb auch nur im Verbund ein Objekt vollständig repräsentieren, doch dafür sich selbstorganisierend zu wechselnden, zum Teil genetisch festgelegten, zum Teil erfahrungsabhängigen, mithin stabilen, aber in sich variablen Ensembles oder Clustern assoziieren und damit nicht nur ein einziges, sondern viele Objekte und Zusammenhänge erfassen. Die an solcher Gruppenbildung beteiligten Neuronen sind auch ohne eingehende Außensignale gemäß ihrem <Wissen> ständig aktiv und stehen fortgesetzt in interner Wechselwirkung, ohne sich schon in einer bestimmten Weise gruppiert zu haben. Sie bieten gleichsam ungefragt und je für sich immer aufs neue Wahrnehmungs-Hypothesen an, die an den eingehenden Außensignalen geprüft werden, und feuern erst dann synchron, wenn eine Assoziation gemäß den eingehenden Außensignalen als erfolgreich betrachtet wird95 • Erst damit ist das relevante Objekt wahrgenommen. Jede Wahrnehmung ist von einer Unzahl dynamischer, selektiver und sich selbstorganisierender hirninterner Vorgänge geprägt; sie ist somit nur zum Teil abhängig von dem, was tatsächlich geschieht. Sie deckt sich auch nicht ohne weiteres mit den Wahrnehmungen anderer, und repräsentiert dennoch bis zu einem gewissen Grad für das von außen stimulierte, wahrnehmende Hirn äußere Wirklichkeit.
Reiz- (Informations-)Verarbeitung des Hirns
].6.]
1.21.
Reiz- (Informations-)Verarbeitung des Hirns und neuronale Netze
Hohe neuronale Plastizität stattet Tier und Mensch mit Lern-, Erinnerungs- und Anpassungsfähigkeiten an wechselnde Umweltbedingungen aus, die um so größer werden, je höher die fragliche Species phylogenetisch eingeordnet wird, je komplexer die neuronalen Schaltsysteme und je flexibler seine Spielräume sind96 • Die Nervenzellen bedienen sich elektrischer Wellen unterschiedlicher Frequenz, die meßbar, analysierbar und elektroenzephalographisch darstellbar sind. Diverse bildgebende Verfahren können die jeweiligen Aktivitätszentren sichtbar machen. Charakteristische Wellen- und Oszillationsmuster spiegeln ihre Tätigkeit97 . Lernvorgänge und Kurzzeitgedächtnis etwa manifestieren sich in derartigen Wellenmustern; komplexe Wahrnehmungsvorgänge, die subjektiv als Einheit empfunden werden, zeigen sich als synchrone Oszillation der Gehirnströme in den beteiligten Hirnstrukturen. Auch die an Hören, Lesen, Sprechen und bewußtem Erfassen derselben Wörter beteiligten Hirnregionen synchron98 . Neurobiologen kooperieren mit Mathematikern, um mathematische Modelle zur Funktionsweise dieses mit der Umwelt kommunizierenden Systems zu finden 99 . Eingehende Signale werden zerebral in die «Sprache» des Gehirns übertragen, nämlich unter Einsatz von Proteinen und chemischen Transmittern sowie der erwähnten elektrischen Ströme zu elektrischen und chemischen Signalen und Signalsequenzen transformiert und über vorhandene oder bis zur Pubertät aufzubauende an die relevanten Hirnzentren zur Einspeicherung weitergeleitet. Derartige Enkodierungen bilden die Grundlage kognitiver Tätigkeit mit Einschluß des Gedächtnisses und des Bewußtseins. Das Hirn organisiert dies ohne ein internes Leitungszentrum als ein komplexes, selbstreferentielles, taxonomisches (Bewertungen durchführendes) System. Es steuert sich, ohne daß die internen Bewertungen zu Bewußtsein gelangen, bis hin zu Fehlerdiagnosen selbst. Das Chemie- und Elektrizitätswerk im Kopf kann nicht abgeschaltet werden, es arbeitet unablässig - bewußt und unbewußt, im Wachzustand, im Schlaf, im Traum; auch jene Bewertungen finden ständig - wachend, schlafend, träumend - statt; das Hirn bringt somit ununterbrochen seine Leistungen hervor, indem äußere, eben zu enkodierende Signale mit internen, bereits in der elektrochemischen Sprache verfügbaren Bewertungsmustern zusammenwirken. Aktive Wahrnehmung der Umwelt wirkt als mächtige Stimulanz zur Ausbildung von Gehirn, Gedächtnis und Bewußtsein lOo • Die entscheidenden Schritte werden mit dem Homo habilis, der frühesten Stufe des
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Neurokulturelle Grundlagen der Geschichtswissenschaft
Menschen (vor ca. 1,8 Millionen Jahren), manifest. Assoziationszentren wie der nur dem Menschen eigentümliche parietal-okzipital-temporale Knotenpunkt entstanden. Das zu vermutende erhöhte Erinnerungsvermögen und die erschließbare Fähigkeit zum Darstellen und vielleicht zum Sprechen hängen damit zusammen. Das Broca-Areal als motorisches Sprachzentrum des Hirns, das, so lehrte man allgemein, Grammatik und Syntax kontrolliere, und das Wernicke-Areal als sensorisches Sprachzentrum, das die Semantik lenke, beide in der linken Gehirnhälfte gelegen, galten dafür in erster Linie für zuständig. Die Zentren des bewußten, aufmerksamen Handeins sind nicht dieselben wie jene der eingeübten Routine 101 . Auch wenn die frühere «Annahme eng lokalisierter Zentren mit kleinen Speichereinheiten» nicht mehr geteilt wird und gesichert erscheint, daß das gesamte Gehirn über neuronale Netze und Cluster an der Hervorbringung seiner diversen Leistungen beteiligt ist, so steht doch außer Zweifel, daß die genannten Zentren, das Broca- und Wernicke-Areal, durch weiträumige Vernetzung und Synchronisierung ihrer Aktivitäten unmittelbar am Sprachprozeß beteiligt sind 102 . Beide Areale aber liegen inmitten jenes parietal-okzipital-temporalen Knotenpunktes, in dem sensorische, visuelle, akustische und taktile Informationen verarbeitet werden. Diese Region, wesentlich für kognitive Informationen wie etwa das Gedächtnis zuständig, organisiert die aufwendige Kooperation von Sinneseindrücken und Bewegung. Das Broca-Zentrum könnte sich geradezu zu solchen Kooperationszwecken gebildet und die entsprechenden Verbindungen hergestellt haben, Sprechen und Erinnern sich mithin als Funktionen im Koordinationsbereich von Sinneseindrücken und Bewegung erweisen. Der funktionale Druck macht sich dauerhaft bemerkbar. Aktive Beteiligung an einem Geschehen steigert, wie Experimente zeigen, noch immer Wahrnehmungs- und Erinnerungsvermögen eines jedweden Zeugen. Paläoanthropologische Funde legen die Annahme nahe, daß sich das Broca-Zentrum lange vor den zum Sprechen nötigen anatomischen Veränderungen am Stimmapparat ausgebildet hat. So dürften andere Artikulationsformen, etwa ein Gesten-und Zeichensystem mit Einschluß akustischer Signale und deren erinnernder Speicherung, der eigentlichen Sprache vorausgegangen sein. Entsprechendes wurde bei taub geborenen Kindern beobachtet, die in roher Form selbst Abstraktionen wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft darzustellen vermochten. Denn, so wird vermutet, die neurobiologische Struktur des Gehirns und die kognitive Kompetenz, wie sie sich beim Homo habilis ausbildeten, werden bei dem in Gemeinschaft lebenden Menschen immer ein abstrahierendes
Die Arbeitsweise des Gedächtnisses
1.2)
Darstellungssystem hervorzubringen in der Lage sein und nach einem solchen trachten 103. Die neuronalen Vernetzungen werden dem Menschen bei seiner Geburt nur zum Teil mitgeliefert; das Fehlende hat er unter dem Einfluß seiner Umwelt selbst, wenn auch in einem genetisch vorgegeben Rahmen zu knüpfen. Dies geschieht bis zur Pubertät in vermutlich für jede Fähigkeit (wie etwa das Sehen) und Kompetenz (wie das Sozialverhalten) jeweils kritischen Phasen, die, wenn nicht irreparable Schäden eintreten sollen, einzuhalten sind. Ein , ein zeitigt nicht nur verminderte Leistungsfähigkeit, sondern im Extremfall gerade auch völlige Unfähigkeit zu den entsprechenden Hirnaktivitäten. Unser gesamtes späteres Wissen, Können und Gedächtnis bis hin zu Selbstbewußtsein ist entscheidend von diesem Vernetzungsfahrplan geprägt.
Die Arbeitsweise des Gedächtnisses
Gedächtnis ist nach dem Gesagten das molekulare, biochemische Verhalten der am Erinnerungsprozeß beteiligten Neuronen in Verbindung mit den dabei fließenden elektrischen Strömen. Es besteht in einer Serie von Schaltungen im neuronalen Netzwerk, die - genetisch bedingt und durch
1.24
Neurokulturelle Grundlagen der Geschichtswissenschaft
kulturelle Erfahrungen weiter ausgebaut oder intensiviert und in fortwährend sich ändernder Ordnung genutzt - von externen oder internen Impulsen aktiviert oder blockiert werden. Millionen von Impulsen werden gegeneinander verrechnet; ihre Aktivitäten und Schaltketten unterliegen dabei durchweg autonomer hirninterner Bewertung. Werden einige dieser Schaltungen - alle zugleich ist wegen der dann zu verarbeitenden Datenmenge unmöglich - durch neuerliche Signale unbewußt oder bewußt, ungewollt oder gewollt, assoziativ oder traumatisch aktiviert, wird <erinnert>; bleibt der Zugang zu diesen Schaltungen - aus welchen Gründen auch immer - blockiert, wird . Je stärker das Gedächtnis gefordert und beansprucht, je regelmäßiger es trainiert wird, desto intensiver können die beteiligten neuronalen Verschaltungen genutzt werden. Das ist bei Tier und Mensch im wesentlichen gleich. Hier wie dort stieg während der Evolution mit fortschreitenden Anforderungen an das Wahrnehmungs- und Orientierungsvermögen zu komplexem Erfassen von Umwelt, Nahrung, Konkurrenten und Feinden der Selektions druck in Richtung eines immer komplexeren, flexibleren, Gedächtnisses; hier wie dort entstanden körperexterne, soziale und - nicht nur beim Menschen - auch kulturelle Techniken und Verhaltensweisen, welche die genetisch bedingten, körperinternen Dispositionen und Fähigkeiten verstärken und mitunter auch lenken. Mit der Ausbildung des Neocortex erhöht sich die Empfänglichkeit für mehr und komplexere Reize sowie die Plastizität des Gehirns bis hin zu Bewußtsein und Selbstbewußtsein, dessen Anfänge wenigstens beim Schimpansen zu beobachten sind; mit ihnen weitet sich der Horizont möglicher Antworten auf eingehende Informationen. Die Funktion der Reize und ihrer Beantwortung ändert sich dabei; doch kann das hier nicht weiter referiert werden. Auch bleibe das traumatisierte Gedächtnis außer Betracht. Erlebnisse fließen einem Hirn als komplexe, zum Teil mehrdeutige Informationsmengen zu. Es verrechnet die Fülle der eingehenden Signale grundsätzlich in gleicher Weise: die optischen so gut wie die akustischen, thermischen, olfaktorischen, taktilen oder sonstigen mit dem psychischen, emotionalen, kategorischen, semantischen, linguistischen und dem übrigen relevanten und verfügbaren <Wissen> des Hirns zu dessen Wahrnehmungen, internen Beurteilungen und Konstrukten. Dieses Verrechnen ist die neuronale Konstruktion der Wirklichkeit, die als Engramme der Abfolge neuronaler Aktivität vom Hirn, im Gedächtnis, gespeichert wird. Zahlreiche variable und noch unbekannte Faktoren spielen hier zusammen. Doch stets kommt es zu individuell variierenden, nämlich von den je aktuellen Bedingungen des operierenden Hirns bestimmten Konstrukten, die den Konstrukten anderer Hir-
Die Arbeitsweise des Gedächtnisses
1.25
ne nur insoweit gleichen, als deren Arbeitsbedingungen und zu verarbeitenden Informationen gleich sind. Um einer Reizüberflutung vorzubeugen, bedarf es zuverlässiger <Schutzmaßnahmem des Hirns. Es muß noch vor jeglichem Bewußtwerden aus den unzähligen Informationen, die ihm fortwährend zufließen, fortgesetzt auswählen, muß zwischen und , <wichtig> und unterscheiden und die entsprechenden Ergebnisse festhalten, mithin vergessen oder erinnern. Es muß dazu intern bewerten, etwa Gleichartiges zusammenfassen, von Einzelheiten abstrahieren, Auffälliges und Ungewohntes verarbeiten, um endlich das nicht zu Übergehende in seiner eigenen Sprache - elektrische Impulse, chemische Signale - zu enkodieren und als (modulierbares) Engramm zu speichern. Viele Signale bleiben unbewußt, aber wirksam. Auch derartige Bewertungen, Enkodierungen und Speicherungen sind sich selbst steuernde, flexible neuronale Prozesse ohne lenkende Oberinstanz, bei denen ausgedehnte Regionen des Gehirns synchron beteiligt sind; auch sie vollziehen sich unbewußt. Doch können hier bereits Fehler auftreten, nicht erst während der dritten Phase der Gedächtnisarbeit, dem Wiederabruf des Gespeicherten 106. Die entsprechenden Bewertungszentren sitzen im (phylogenetisch geleitet, dort gefiltert, wobei ein Teil mit begrenzter Speicherkapazität weitergeleitet wird, bevor es endlich in das gelangt 107 . Als mitentscheidend für die neuronale Enkodierung von Wahrnehmungen erweisen sich (neben dem individuellen genetischen Programm des Wahrnehmenden) die kontingenten externen wie hirninternen Begleitumstände des wahrzunehmenden Geschehens, die innerzerebralen Bedingungen, die mit den externen Impulsen zu verrechnen sind. Die psychische Kondition des Wahrnehmenden etwa - Streß, Scham, Glücksgefühle, Hoffnung, die ganze Gestimmtheit -, die neuronal in einem je spezifischen Ausstoß an Transmittern wie Adrenalin oder Glutamat, Peptiden, Hormonen oder Opioiden besteht, sich mithin als neuronale Aktivitätsmuster manifestiert, diese Kondition bedingt und steuert seine Wahrnehmungen und Erinnerungsleistungen. Letztere sind - eine unangenehme Konsequenz - um so zuverlässiger, je näher die hirnrele-
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Neurokulturelle Grundlagen der Geschichtswissenschaft
vanten Operationsbedingungen zum Zeitpunkt des Abrufs den Konditionen zum Zeitpunkt der Erlebnis-Enkodierung und der Einspeicherung der Engramme liegen, und umso problematischer, je weiter sich die hirninternen Bedingungen von den ursprünglichen Verhältnissen entfernten. Wie könnte der Historiker je solche Bedingungen zuverlässig erfassen? Gilt es, neue Informationen aufzunehmen, wird vom Hirn , obwohl in gleicher Weise wahrgenommen, alsbald vergessen, es sei denn, Wiederholung überträgt es an das Langzeitgedächtnis, das für episodisches, semantisches und motorisches Erinnern zuständig ist; nur wenig geht direkt, ohne den über das Kurzzeitgedächtnis, ins Langzeitgedächtnis ein; hieran ist ebenfalls das für Emotionen zuständige limbische System beteiligt. Vor allem Gesichter oder Szenen scheinen - bei Primaten vermutlich ebenso wie beim Menschen - bevorzugt direkt an das Langzeitgedächtnis überspielt werden zu können. Der Grund dafür liegt nahe: rasches Wiedererkennen auch nach längerer Zeit half beim Überleben. Emotionalität, , steigert das langfristige Erinnerungsvermögen. Ob und gegebenenfalls wie weit der Geschlechtsdimorphismus auf die sprachlich fixierten Erinnerungen von Frauen und Männern einwirkt, bleibt noch zu untersuchen. Doch lohnt an dieser Stelle der Hinweis, daß das kulturelle Gedächtnis des Abendlandes weithin von Männern gestaltet wurde. Wiederholung stimuliert gewöhnlich die Zuverlässigkeit einer Erinnerung. Was aber wird genau wiederholt? Wie setzt es sich zusammen? Welchen Änderungen ist es ausgesetzt? Die Antwort entscheidet über das Erinnerte. Das Gedächtnis ist alles andere als eine auf Serienprint programmierte Maschine. Jede seiner Leistungen will eigens beurteilt werden, weil sie eigens hervorgebracht wird. Auch das sollte der Historiker bei der Beurteilung seiner Daten und seinen Interpretationen beachten. Der Einsatz von vertrauten Handlungs-, Erwartungs-, Erinnerungsund Erzählmustern dürfte dem Hirn Wiederholung suggerieren, selbst wenn eine solche nicht vorliegt. Für den Historiker öffnet sich hier e~n weites Feld mit weiten Irrwegen. Die Folgen sind beträchtlich. Wahrnehmungen variieren - von genetischen und kulturellen Operationsbedingungen gelenkt - subjektiv; selten, vermutlich sogar niemals <sehen> zwei Menschen dasselbe, wenn sie Zeugen desselben Vorgangs sind. Selbst eineiige und in demselben Milieu sozialisierte Zwillinge nehmen unterschiedlich wahr; ja, sogar ein und dasselbe Hirn schafft bei gleichbleibendem Objekt seinem Besitzer zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Wahrnehmungsbedingungen. So steigt auch kein Historiker zweimal in dieselbe Quelle 108. Denn
Die Arbeitsweise des Gedächtnisses
1.2 7
alles fließt, nicht nur der Fluß der Welt, sondern auch das Zusammenspiel der Neuronen und die wiederholte Wahrnehmung eines Textes mit identischem Wortlaut. Wo alles fließt, ist kein Standort zweimal zu betreten, kein Blick mit einem anderen identisch, gleichwohl real, auch in einer sprachlichen Beschreibung den Sinnen erschließbare Wirklichkeit. Die zwiefache Unendlichkeit, die sich aus Umdrehen und Umkreisen ergibt, macht allen Wahrnehmungen zu schaffen: die Perspektiven in die Welt und auf einen Gegenstand, sowie das Schwingen zwischen diesen beiden Polen. Eine schier unendliche Vielfalt sachlicher und sprachlicher Variation auch in der Darstellung desselben Sachverhaltes durch dieselben oder durch unterschiedliche Zeugen, je als komplexe Wirklichkeits signale verstanden, ist somit das zu Erwartende. Gleichwohl repräsentieren ihre Wahrnehmungen und deren Explikationen äußere Wirklichkeit, wenn auch in dem von ihrem Gedächtnis modulierten Rahmen. Der Vergleich aber zwischen dieser und jener Erinnerung gestattet bis zu einem gewissen Grade die Korrektur auch jeder weiteren. Das Hirn verhält sich ähnlich anderen komplexen Systemen ohne Konvergenzzentrum - wie etwa Ameisen- oder Bienenstaaten. Sie besitzen ihre Ordnung, ohne daß ein lenkender Geist sie errichtete oder kontrollierte. Steht es, aufs Ganze gesehen, um den Menschen und seine Lebensordnung grundsätzlich anders? Oder sollten auch diese, die menschlichen Gruppen, Verbände und Gesellschaften, die ja, wie wir sahen, auf die Bildung neuronaler Netze und Cluster eines jeden Individuums einwirken, aber auch mehr oder weniger direkt der Kooperation der Gehirne unterliegen, sollten also diese Kollektive irgendwie die Bedingungen des menschlichen Gehirns spiegeln, und sich in direkter Abhängigkeit von den genetisch und kulturell vermittelten, neuronal etablierten und aktualisierten Erinnerungs- und Denkstrukturen organisieren? Wäre dem so, die Kooperation der Geschichtswissenschaft, deren gesamtes Quellenmaterial vom natürlichen Gedächtnis handelnder Menschen geformt wurde, mit den Kognitionswissenschaften wäre zwingend erforderlich. Auch Selbstbewußtsein, ein , dürfte an ein solches Netzwerk gebunden sein; es baut sich nach allem, was heute bekannt ist, während der frühkindlichen, vorbewußten Entwicklungsphase des heran- und in seine Sozialisation hineinwachsenden Menschen vermutlich durch kulturell gesteuerte Interaktion der Gehirne auf. Das sammelt und hortet geradezu Engramme und nährt sich aus ihnen. Werden Teile dieser Netze nicht oder wenig genutzt, schwächt sich ihre Effizienz ab. Unser Wissen, unser Erinnern, der Spielraum unbewußten und bewußten Handelns, unsere gesamte geistige Präsenz ist in den Strukturen dieser Net-
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Neurokulturelle Grundlagen der Geschichtswissenschaft
ze, der Flexibilität der neuronalen Cluster, den Befehlsketten, der Intensität ihrer Bindungen, in den ')Bedingungen und der Abfolge ihrer Aktivierung verfangen. Die Wirkungen berühren unsere Persönlichkeit in all ihren Fasern, mit Leib und Seele, mit Denken, Wissen und Handeln. Wieweit und ob wir noch einen freien Willen besitzen, ist fraglich geworden unter den Bedingungen zu knüpfender und
3.7
Sprache als Stabilisator der Erinnerung
Auch Sprache dient der Wirldichkeitsbewältigung. «Ein Großteil des kognitiven Gedächtnisses ist sprachlich codiert» 109. Erinnerungs-, Abstraktions- und rudimentäres Darstellungsvermögen dürften in der Evolution vor dem Sprachvermögen angelegt gewesen sein: ein Begreifen und Darstellen ohne Worte also, ein konzeptionelles Handeln vor dem Explizieren, ein Verhalten vor dem logischen Diskurs. Darauf verweisen, wie korrekturbedürftig auch immer, die entwicklungspsychologischen Forschungen etwa Jean Piagets llO . Die Übergänge zum Tierreich zerfließen zumindest funktional, obgleich das <Sprachzentrum> nichtmenschlicher Primaten sich auf das Wernicke-Areal konzentriert, während der Mensch auch das Broca-Zentrum einschaltet. Die für das Sprachvermögen signifikante Dominanz der linken Hirnsphäre ist beispielsweise bei Makaken und Schimpansen zu erkennen, auf menschlicher Ebene anatomisch nachweisbar bei Homo erectus und Neandertalerlll . Alle untersuchten Säugetiere besitzen für die artspezifische Kommunikation Zentren, die homolog dem menschlichen Wernicke-Areal sind, mithin jenem Hirnbereich, in dem der Sinn von Wörtern und Sätzen repräsentiert ist. Die Funktion der Sprache ist keine Erfindung des Menschen, vielmehr in der Evolution lange vor uns vorbereitet, obgleich nur Menschen eine Sprache entwickeln und aufgrund ihrer zuständigen Organe und Hirnstrukturen tatsächlich sprechen können. Wiederholt, etwa bei Katzen oder Meerkatzen und keineswegs nur bei Primaten, wurden denn auch referentielle Signale zur Warnung vor bestimmten Gefahren registriert, mithin die Fähigkeit, differenzierte Inhalte in lebensnahem Kontext durch differenzierte, semantisch besetzte Lautgebung an Artgenossen zu vermitteln. Der Leckerbissen <Maus> und die gefahrbringende werden von der Katzenmutter durch unterschiedliches Gurren den Jun-
Sprache als Stabilisator der Erinnerung
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gen angezeigt 1l2; mit tiefen Grunztönen in rascher Folge warnen Meerkatzen gezielt vor einem Adler, mit lautem Aus- und Einatmen vor einem Leoparden, mit noch anderen Signalen vor Schlangen. Die Bedeutung dieser Signale wird, soweit ihre Kenntnis nicht vererbt wird, durch Prägung der Jungtiere erworben. Wie dem aber sei, die Lautzeichen dienen der Erfassung und Bewältigung von Wirklichkeit sowie der individuellen und kollektiven Orientierung in derselben. Auf Schimpansenebene ist der art-kommunikative Begriffsschatz deutlich umfassender; dreißig bis vierzig emotional und kognitiv besetzte Lautgebungen - geschrieen, geknurrt, gebrummt, geschmatzt - werden diesen Primaten zugewiesen: vorsprachliche Begriffe für Nahrung oder Gefahren so gut wie für Erregung, Freude, Dominanzverhältnisse, Warnung oder Beruhigung, zur räumlichen Orientierung, zur Information über Geschlecht oder Größe, auch zur Täuschung 113 • Sie bewirken auch jetzt - wodurch innerhalb der Gruppe Erfahrungswissen stabilisiert und situationsabhängig von einem Individuum an ein anderes weitergegeben wird - symbolische Repräsentation äußerer und innerer Wirklichkeit im eigenen Hirn zum Zweck der Mitteilung an andere Hirne. Trainierten Schimpansen können mit Hilfe der Zeichensprache für Taubstumme weit über einhundert Wörter beigebracht werden, die sie spontan und sinngemäß zu verwenden in der Lage sind. Washoe, die Schimpansin, die von Allen- und Beatrice Gardner trainiert wurde, verfügte nach vier Jahren über ein aktives Repertoire von 160 Wörtern; vierjährige Menschenkinder beherrschen im Durchschnitt etwa 3000 Wörter. Der passive englische Wortschatz von Kanzi, einem Bonobo, der gemeinsam mit einem Kleinkind aufwuchs, betrug zuletzt 400-500 Vokabeln 1l4 . Wieweit hier der Geschlechtsdimorphismus eine Rolle spielte, stehe dahin. Lexikalisches und grammatisches Verständnis trainierter Schimpansen entwickelten sich wie etwa bei einem zweijährigen Kind, doch dann nicht weiter. Objektbezeichnungen, Attribute, Modifikationen, Bejahung und Verneinung, Gleichsetzungen und Unterscheidungen konnten erlernt werden. Sogar kausale Beziehungen zwischen physikalischen Ereignissen konnten rudimentär erfaßt und symbolisch dargestellt werden, ein Apfel etwa, der durch ein Messer in zwei Hälften zerteilt war. Doch fehlt den Primaten, soweit bisher bekannt, die Fähigkeit, kreativ mit diesem Vermögen umzugehen; und über einfache Sätze gelangten sie nie hinaus. Immerhin verfügen sie über rudimentäre, wenn auch nicht eindringlichere Fähigkeiten, sich in andere Lebewesen, zumal in ihresgleichen, hineinzuversetzen. Das alles hat zweifellos wenig mit Textverständnis zu tun, viel aber mit interner Repräsentation äußerer Wirklichkeit durch semantisch bewertete und kulturell vermittelte Laut-
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Neurokulturelle Grundlagen der Geschichtswissenschaft
zeichen zum Zweck einer wirklichkeitsgemäßen Kommunikation mit den Artgenossen. Der Mensch setzt die evolutionäre Entwicklungslinie nur weiter fort. Er hat es dabei instrumentell und funktional recht weit gebracht. Worte können Freude und Lachen auf sein Antlitz zaubern, Tränen in seine Augen, können das kleine, bedrohte Ich aufjubeln oder sich zum Gebete niederneigen lassen. Sie rühren an Tiefenschichten der Seele, in denen wir Menschen eins sind. Jeder einigermaßen begabte Erzähler vermag den Pulsschlag seiner Zuhörer zu beschleunigen, ihnen den Schlaf zu rauben. Seine Worte sind Signale. Erinnerungen, Ängste, Hoffnungen, Haß und Feindseligkeit, Liebe steigen, von Tönen, Textkompositionen geweckt, aus den Tiefen des eigenen Menschseins auf, rufen, halb unbewußt, ver-' gangene Kontexte wach, appellieren an eingelebtes Wissen und die konstruktive Kraft des Gedächtnisses, werden selbst sprachvermittelte Gedächtnisträger. Menschliche Sprache und menschliches Sprechen bleiben kollektives Geschehen. Sie verdanken sich der Gemeinschaft, sie wenden sich an diese und rufen, memoriert, die sozialen Konstellationen wieder auf, die ihnen zuvor Sinn verliehen. In ihnen spiegelt sich der Erfahrungshorizont des einzelnen im Kollektiv. Die Erinnerungsstabilisierung, die sie bewirken, partizipiert am kollektiven Gedächtnis. Das menschliche Sprachvermögen, von animalischen Kommunikationssystemen nicht grundsätzlich, nur qualitativ unterschieden, ist in seiner Genese unbekannt; unklar ist, ob es aufgrund einer Umorganisation des verfügbaren neuronalen Bauplans erfolgte oder durch die Ausbildung einer neuen Architektur; doch gilt es für angeboren. Wann es entstand, ist fraglich und umstritten. Von Bedeutung könnte der Umstand sein, daß Gestik und Sprechen dieselben Hirnstrukturen benutzen. Das dürfte auf deren enge Verwandtschaft verweisen und die Annahme nahelegen, daß die Sprachentstehung aus der Gestik erwuchs. Für gewiß aber darf gelten, daß die Vorfahren des heutigen Menschen, Astralopithecus und Homo erectus, ein umfassenderes Zeichenrepertoire besaßen als die ihnen nächstverwandten Primaten, und daß der Neandertaler, sollte er, was möglich erscheint, noch über keine Sprache verfügt haben, ein hoch entwickeltes System von Lautzeichen besessen haben muß, das ihm seine erstaunlichen kulturellen Leistungen hervorzubringen gestattete. Vermutlich entwickelte sich die Sprache (Wb für auch linguistische Argumente sprechen) nur ein einziges Mal, in Afrika, bei Exemplaren der Gattung Homo sapiens (sapiens). Sie trugen sie dann durch alle Kontinente; oder genauer: die Sprache ermöglichte dieser Menschengattung ihren einzigartigen Siegeszug über die ganze Erde. Bislang nicht umfassend untersucht sind die neuronalen Korrelate des
Sprache als Stabilisator der Erinnerung
1)1
Spracherwerbs. Sprachverständnis und Sprachproduktion sind weiträumig in unterschiedlichen kortikalen Zentren lokalisiert. Die relevanten neuronalen Netzbildungen - sie entsprechen physiologisch jenen des Sehens oder Hörens und der übrigen kognitiven Prozesse - setzen in den ersten Lebenstagen des Kleinkindes (w~nn nicht schon vorgeburtlich) in identifizierbaren Hirnarealen mit phonetischen Differenzierungen zwischen bekannten und unbekannten Lauten ein und benötigen bis zur vollen Sprachbeherrschung in ihrer gesamten Breite und Tiefe eine Reihe von Jahren; die zerebrale Repräsentation gehörter und gelesener Sprache tritt auseinander 115 . Die neuronalen Rezeptionsprozesse vom Eintreffen der akustischen (oder visuellen) Signale zum Verstehen der Information sind indessen durch neue re bildgebende Verfahren vergleichsweise gut erforscht 116 . Die gedächtnis stabilisierende Wirkung der Sprache ist - vermutlich geschlechtlich differenziert - universeller Natur. Sie agiert im Kollektiv, schafft memorierbare Bilder und Begriffe, verbindet Disparates. Sie verzeitlicht Geschehen (wie abweichend auch immer -Konzepte sein mögen), entdeckt Vergangenheit und Zukunft, Möglichkeit und Wunsch, das Einzelne, das Viele, Reihungen und Formeln, die Modulation, den Rhythmus, den Reim. Die Sprache fließt dem menschlichen Hirn wie die Lautzeichen dem animalischen in einer Weise zu, die der unmittelbaren Orientierung in der relevanten Lebenswelt dient. Sie findet sich stets eingebunden in einen sozialen Kontext, in kommunikative Sprechakte, kollektive Kommunikationsstrukturen und Rituale und wirkt auch dadurch als strukturierender, pragmatischer und Semantik verleihender Stabilisator von Erinnerung 117 . Sie erweitert die Repräsentations- und Mitteilungs- zur kreativen Darstellungsfähigkeit, macht die Erinnerung aber auch anfällig für neuartige, eben sprachlich vermittelte Irritationen. Sprache dient der zeitüberdauernden Wissensvermittlung. Nicht zuletzt gestattet sie unter Beiziehung weiterer hörbarer, inszenierbarer, sichtbarer, tradierbarer Zeichen eine mündliche Erinnerungskultur. Doch verliert die Sprache durch ihre bemerkenswerte Einsatzbreite nicht ihre primäre Funktion und genetische Fundierung, eben die hirninterne Repräsentation äußerer Wirklichkeit zum Zweck der Mitteilung an andere und zur Optimierung der Überlebenschancen der eigenen Art. Die Sprache allein machte den Menschen noch nicht zum Historiker, auch wenn er von der Vergangenheit zu erzählen und seine Erinnerungen zu be<schreiben> lernte.
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Neurokulturelle Grundlagen der Geschichtswissenschaft
3.8
Wirklichkeit und Sprache
Die Wirklichkeit, mit der es der Historiker - von Objekten und archäologischen Befunden einmal abgesehen - gewöhnlich zu tun hat, wird ihm also durch die Sprache vermittelt. Gegenwärtige Gegebenheiten können ferner, das folgt aus den Wahrnehmungsbedingungen, denen wir Menschen unterliegen, nur kontextuell gebunden wahrgenommen werden, nie absolut jenseits eines Kontextes erfaßt, dargestellt und überliefert werden. Historiker müssen deshalb beides, Kontext wie Einzelheiten, aus den tradierenden Sprachzeugnissen, ihrem gewöhnlich als Erzählung gefaßten empirischen Datenmaterial, heraus filtern, um sich ihrem Gegenstand, eben der , zu nähern, wie immer sie dieselbe dann hervorbringen und konstruieren. Heute betrachtet man - zumal in postmoderner und sozialkonstruktivistischer Perspektive - mit Vorliebe jede Erzählung primär als Text, als ein literarisches Gebilde, als Reflex eines weitläufigen Diskurses, und würdigt sie entsprechend; historische Quellen werden da nicht ausgenommen. Diskursanalytische Methoden genießen denn auch und keineswegs zu Unrecht hohes Prestige. Historiker indessen sollten diese Erzählungen zunächst als sprachliche Phänomene behandeln; denn hinter jedem Text steckt Sprache, hinter der Sprache aber wirkliches Leben. Keine Erzählung ist ursprünglich Text, bloße Literatu~ im Kern Diskurs. Keine Sprache difnt ursprünglich literarischen Textproduktionen, irgendwelchen Texterklärungen oder Diskursen; jede vielmehr der hirninternen, neuronal zu enkodierenden symbolischen Repräsentation äußerer Wirklichkeit und der Kommunikation über dieselbe. Sie repräsentiert diese Wirklichkeit in näher zu bestimmenden Grenzen zuverlässig, hinlänglich genau, nämlich wiedererkennba~ ja, voraussagbar, sonst hätte das Menschengeschlecht, das sich auf die Sprache verließ, kaum überlebt und seine Kulturen entfaltet. Die Leistungskraft der Sprache ist evident: Wir können anderen Menschen sprachliche Beschreibungen liefern, die sie nie gesehene Dinge auffinden lassen. Wir können mit Hilfe der Sprache Fremden nie betretene Wege weisen, die sie tatsächlich an das erstrebte Ziel führen. Kriminalisten können einen Täter mit sprachlichen Mitteln in die Enge treiben, so daß er gesteht. Wissende können Anweisungen erteilen, welche die erwarteten Ergebnisse zeitigen. Wir können mit Sprache planvoll Erlebniswelten in fremde Seelen zaubern, die nie geschehen sind. Kurzum: Wir verstehen einander selbst über räumliche und zeitliche Distanzen hinweg, auch wenn das Nichtverstehen viele Residuen hat. Auch Irrtum ist möglich.
Wirklichkeit und Sprache
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Autonome, ihren eigenen Regeln unterworfene Sprachoperationen, rein sprachliche Schöpfungen und Inhalte, die nur sprachlich existieren, verbalisierte Abstraktionen und Hypostasierungen, Texte und Diskurse sollen nicht geleugnet werden. Aber sie treten zu jener in der vorhumanen Lautgebung angelegten Wirklichkeits symbolik hinzu und gewinnen ihre Überzeugungskraft aus eben dieser die Wirklichkeit repräsentierenden Symbolik, derer sich die Sprache bedient. Es besteht somit nicht bloß ein kulturell, vielmehr ein auch genetisch vermittelter Zusammenhang zwischen der Sprache und der Wahrnehmung von Wirklichkeit, ein neurokultureller Konnex. In der Tat, wir lernen unsere Muttersprache nicht an Hand einer Sammlung elaborierter Texte, ja, überhaupt nicht als Texte, vielmehr mit ihrem gesamten Reichtum, mit Wortschatz, Syntax, Semantik, Metaphern, mit Melodik, Tempora und Modi, mit Erzählmustern und sonstigen narrativen Mitteln, mit Wortspielen und semantischen Scherzen, auch mit entsprechenden Täuschungsmanövern, in ihrer ganzen mimischen, gestischen, affektiven Ausdrucksbreite, kurzum mit allen wesentlichen Feinheiten, die uns unsere Erzieher und unsere Gesellschaft zur Verfügung stellen können - vielmehr lernen wir die Sprache unbewußt durch kommunikative Nachahmung als Kleinstkinder, Unmündige und Kinder bis zur Pubertät, durch individuelles Hineinwachsen in das uns vermittelte Zeichensystem für die reale Welt, die uns umgibt. Weite Bereiche der Wirklichkeit werden uns über die Sprache vertraut. Das geschieht längst, bevor wir eine Erzählung als solche zu durchschauen, einen Text zu analysieren vermöchten und den sprachlichen Gebilden einen metaphysischen Überschuß zuweisen, der jene Wirklichkeitssymbolik transzendiert. Unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit ist durch frühkindliche Präge- und Lernprozesse an die Sprache gebunden. Laute, Worte, Sätze, alle Syntax, Semantik, Expression und Melodik, alle Tempora und Modi, die Erzählmuster und, was dergleichen mehr, sind für uns, wenn wir sie internalisieren und neuronal enkodieren, in erster Linie Wirklichkeitssignale, die uns im beginnenden Leben aneignende Orientierung in dieser Welt oder doch in unserer Umwelt erlauben, und an Hand derer wir uns tatsächlich in Raum und Zeit, in der Gesellschaft und in deren Sinnwelten, auch in unseren Erinnerungen zurechtfinden, was immer kindlicher Spieltrieb oder spätere Kultur aus dem Sprachvermögen macht. Sprache und Wirklichkeit fließen für uns ineinander. An diesen Wirklichkeitswert der Sprache halten wir uns ein Leben lang; er geht uns (von traumatischen Entwicklungen abgesehen) zu keiner Zeit verloren und mischt sich allem Sprachgebrauch und allen sprachlichen . Wahrnehmungen unter. Selbst wenn wir später die Sprachfiguren
1.34
Neurokulturelle Grundlagen der Geschichtswissenschaft
und erfassen, gar selbst anzuwenden verstehen, geschieht es vor dem Hintergrund eines impliziten Wissens um die Non-Fiktionalität der Sprache, ihre Wirklichkeit vermittelnde Funktion. Obgleich alle Wahrnehmung subjektiv und in keiner anderen Form möglich ist - nur ein Individuum kann sehen, hören, riechen, schmecken, tasten, empfinden und sich des Wahrgenommenen bewußt werden, sprechen oder lesen, kein Kollektiv -, so objektiviert eben die Sprache als das Zeichensystem eines Kollektivs doch zugleich die wahrgenommenen Befunde. Sie macht sie anderen mitteilbar, wenigstens partiell nachvollziehund nachprüfbar. Das folgt aus dem Spracherwerb, der sich einer dynamisch an Komplexität zunehmenden Interaktion des heranwachsenden Individuums mit seiner sozialen und dinglichen Umwelt verdankt. Subjektivismus der Wahrnehmung, individueller Erwerb der kollektiv geprägten Sprache, individueller und kollektiver Denkstil, Objektivismus gehen hier ineinander über, auch wenn erfahrungsbedingt stets Bereiche bleiben, in denen sich zwei Individuen trotz gleicher Muttersprache nicht verstehen. Aller Zeitgeist, alle kollektiven Einstellungen und Merjtalitäten werden in derartigen Austauschprozessen begründet, gehegt und in deren Vollzug fortgesetzt transformiert. Das Wissen, die anderen sind Wesen wie ich (ein Wissen, das uns vermutlich über sprachliche Kommunikatikon zugeflossen ist), die Fähigkeit, sich entsprechend in andere hineinzuversetzen, Interaktionsmuster des Typs: dch weiß, daß du weißt, daß ich weiß> erhöhen die Leistungskraft dieses Austausches mit ein wenig Geduld sogar in fremdem gesellschaftlichem Umfeld. Eine Erzählung (wie sie auch historiographischen Quellen zugrunde liegt) ist somit primär kein Text, kein literarisches Gebilde, vielmehr ein komplexes Gefüge von (in ihrer Leistungsfähigkeit noch genauer zu bestimmenden) Wirklichkeitssignalen, die auch als solche gemeint sind und als solche verstanden werden. Erst aufgrund breiter Erfahrung und mit erheblichem intellektuellen Aufwand, oftmals erst verzögert und spät und keineswegs stets werden unwirkliche Geschichten und fiktionen und, was immer eine nur sprachliche Existenz führt, als solche durchschaut. Zu erinnern ist an Kinder, die sich zu Tode stürzten, weil sie die Geschichte von für Wirklichkeit nahmen. Es ist der Wirklichkeit repräsentierende Charakter der Sprache, der psychische Wirklichkeiten, Realitäten allein der Seele, zu erschaffen vermag. Mit diesen Hinweisen sei in keiner Weise bestritten, daß <Wirklichkeit> als ein mentales Konstrukt erscheint. Ganz im Gegenteil: Sprache ist eine kulturelle und kommunikative Größe, auch wenn ihr genetisch und neuronal gelenkte, mithin körperliche Bedingungen gesetzt sind. Doch darf der Wirklichkeitsgehalt des explizierten Konstrukts nicht un-
Gedächtnis als konstruktiver Prozeß
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terschätzt werden. Wir konstruieren zwar die Welt, die wir wahrnehmen; diese Feststellung stimmt durchaus mit der Arbeitsweise des Hirns überein. Aber das Konstrukt ist als solches, nur deshalb, weil es ein Konstrukt ist, keinesfalls ohne Realitätsgehalt. Es mag unvollständig, fragmentarisch sein, nur wenige Dimensionen einer vieldimensionalen Welt erfassen, eine höchst subjektive Färbung besitzen oder sonstige Schwächen aufweisen, dennoch repräsentiert es im Hirn selbst ohne Zutun des Bewußtseins hinlänglich genau äußere Wirklichkeit. beispielsweise ist als Begriff, als ein Zeichen, eine kulturelle Schöpfung, als Wahrnehmung. aber eine unbewußte Verrechnungsleistung eingehender optischer Signale durch das Hirn, die dasselbe im Laufe der Evolution gelernt hat, mit
3.9
Gedächtnis als konstruktiver Prozeß
Das Gedächtnis gilt heute nicht mehr - wie für Aristoteles, das Mittelalter und die längste Zeit seitdem (auch noch für Hobbes) gleich Phantasie und Alltagsvernunft - als ein innerer Sinn. Auch die gleichfalls auf die Antike zurückgehende Ansicht wurde aufgegeben, es sei ein angehäufter Schatz (diese Metapher findet sich beispielsweise bei dem pseudo-ciceronianischen «Auctor ad Herennium»)1l8, ein gigantischer Speicher, in den Wissen passiv eingelagert werde und abrufbar zur Verfügung stehe. Die Metapher verträgt sich nicht mehr mit dem Wissen über die Funktionsweise neuronaler Netze. Das Gedächtnis agiert nicht als «Reizbeantwortungsmaschine» . Die Erkenntnis setzt sich vielmehr durch, daß das Ge-
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Neurokulturelle Grundlagen der Geschichtswissenschaft
dächtnis sich vornehmlich als kommunikativer und konstruktiver Prozeß manifestiert, der ererbte (genetische) und erlernte (kulturelle) Verhaltensmuster und Organisationsschemata ständig aktiver und wechselnde Umwelt signale beantwortender Neuronen in plastischer Vielfalt aktualisiert 1l9 und in gewissen Grenzen, was mit deren Hilfe generiert wird, unbewußt oder bewußt zu <sinnvollen Antworten> konstruiert. Vom ersten Lebenstag eines Menschen an, ja schon zuvor werden alle eingehenden Informationen aktiv und konstruktiv bald mehr, bald weniger aufwendig, aber nie identisch vom Gehirn verarbeitet, nämlich in aufzubauende existente neuronale Wechselwirkungen und ganze Netze derartiger Wechselwirkungen eingebunden. Ein Großteil der dabei ablaufenden Prozesse spielt sich im Millisekundenbereich ab. Jedes Erlebnis, jede Frage, die einem Gehirn vorgelegt wird, löst eine Fülle neuronaler Assoziationen aus, die sich selbst strukturieren, ein Feuerwerk der Neuronen, das weithin unbewußt Wahrnehmungen und Erinnerungen steuert, sachliche Assoziationen weckt und Antworten vorgibt. Entscheidend ist danach immer das «Jetzt» der Hirnaktivitäten beim Eintreffen und internen Bewerten der Informationen. Erinnerung ist eine augenblickliche, nur begrenzt planbare oder bewußt steuerbare Aktivität des Hirns, keine Rückkehr in irgendeine, und sei es eine neuronale Vergangenheit. Derartige Aktivitätsabhängigkeit macht das Gedächtnis zugleich in hohem Maße modifikationsanfällig. Dem Historiker muß dies zu denken geben. Er kann von den Erinnerungszeugnissen, seinen «Quellen», nicht mehr verlangen, als das sie hervorbringende Hirn zu leisten vermochte. Erlebnisse zergliedern sich in Informationen, die dem Hirn längst vertraut sind (alles, was schon enkodiert und gespeichert wurde), in Fremdes, Ungewohntes und Belangloses. Vertrautes, nämlich ein gleiches elektrochemisches Signal, wird von den je zuständigen Neuronen als Vertrautes registriert, ein Farbsignal vom «Farbgedächtnis», nämlich den dafür zuständigen Neuronen, als dieses Farbsignal, ein Formsignal vom «Formgedächtnis» als dieses Formsignal, ein Ton vom «Tongedächtnis» als dieser Ton, ein Geruch vom «Geruchsgedächtnis» als dieser Geruch; Fremdes wird aufmerksam geprüft, für den Augenblick Belangloses frühzeitig, im Sekundenmaß zur Seite gelegt. Jedes Objekt (von einigen wenigen wie Gesichtern abgesehen, für die hochspezialisierte Neuronen zuständig sind), jedes Erlebnis, jede Wahrnehmung wird auf diese Weise zur elektrochemischen Enkodierung in Einzelelemente zerlegt, in den fraglichen Hirnregionen enkodiert und als Abfolge neuronaler Aktivitäten gespeichert. Syntax, Semantik und Melodik eines Satzes etwa werden in unterschiedlichen Hirnregionen registriert, enkodiert und abgespeichert. Jeder
Gedächtnis als konstruktiver Prozeß \
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Wahrnehmungsakt und spätere Erinnerung müssen diese Elemente wieder vereinen 120. Das aber gelingt, weil in der Zwischenzeit, zwischen Geschehen und Erinnerungsabruf, sich gewöhnlich, und sei es nur leicht, die Operationsbedingungen des Hirns verändert haben, die während der Kodierung geherrscht hatten, in der Regel nur mit einem beträchtlichen Modulationsspielraum. Das Gedächtnis reagiert auf derartige Veränderungen mit veränderten Antworten. Es gebärdet sich somit als aktiver Konstrukteur im Gehirn, geradezu als Konstruktionskünstler. Das aktuelle Umfeld, der situative Kontext, in dem es tätig wird, ist maßgeblich an Enkodierung, Speicherung und Abruf beteiligt. Inhalt und Operation sind dabei nicht zu trennen. Sensorische und semantische Merkmale werden verarbeitet; Umwelt, Erfahrung, Kenntnisse, aktuelle Sinnesreize ebenso, auch Erwartungs-, Handlungs- und Erklärungsmuster, neuronale Strukturen, das gesamte kontextuelle extra- und intrazerebrale Ensemble des Lernprozesses, wirken dabei mit den aktuellen Dispositionen der neuronalen Netze zusammen. Das ist bei Tieren wie bei Menschen, unterschieden allein nach dem Spielraum, den die Gattung zubilligt. Umweltliche, körperliche und psychische Umstände bringen sich bei jeder Aktivierung des Gedächtnisses zur Geltung. Alle Information, die sich dasselbe angeeignet hat und abruft, wird durch die unbewußten und unsteuerbaren neuronalen Aktivitätsbedingungen bestimmt. Der Historiker hat das alles zu beachten. Er findet hier neurobiotische Grundlagen für das Verhalten eines John Dean ebenso wie für die Erinnerungskonstrukte eines Karl Löwith. Die Stimmungen und Umstände des Augenblicks, der unterschiedliche Appell an das limbische System, rufen somit nicht nur Erinnerungen auf; sie gestalten sie maßgeblich mit. Das gilt für Liebende und Trauernde, für jede dramatische Veränderung der äußeren Umwelt; zum Beispiel für Taucher. Hat man doch festgestellt, daß beim Tauchen Erlerntes abgetaucht leichter erinnert wird als über Wasser l2l . Keine Erinnerung bleibt unveränderlich; jede ist unentwegt den konstruktiven Gedächtnisoperationen ausgeliefert, ist selbst, wenn auch in Grenzen, prozeßhaft und in ständiger Umformung. «Retrieval ... is probably one of the most vulnerable points in human memory» (A. Baddeley). Je ferner die Umstände im Kontext des Erinnerns von jenen des relevanten Erlebnisses sind, desto stärker kann sich die Verformung des Erinnerten zur Geltung bringen. Doch können auch hernach wieder zugehörige Engramme aufgerufen werden, welche die Erinnerung partiell wieder in größere Nähe zum ursprünglich enkodierten Erlebnis rücken. Das Verhältnis von Zutreffendem und nicht Zutreffendem ist somit ständig im . Fluß. Das Gedächtnis agiert eben situativ.
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Neurokulturelle Grundlagen der Geschichtswissenschaft
Das alles konditioniert übrigens auch den Geschichtsschreiber - jenen in der Vergangenheit so gut wie jenen in der Gegenwart. Der Zeitpunkt, zu dem er seine Federn wetzt und sich an die Arbeit begibt, ordnet, lenkt und kontrolliert seine Erinnerungen - ganz unabhängig von den speziellen Intentionen, die er mit seiner Arbeit verfolgen mag, und zusätzlich zu ihnen. Zehn Jahre früher, zehn Jahre später also, ja, einen Tag früher oder später, morgens oder abends würde derselbe auf seine Erinnerungen angewiesene Chronist unter anderen Bedingungen schreiben, folglich sein Gedächtnis anders aktiviert und er selbst über das nämliche Geschehen jeweils anderes und auf andere Weise festgehalten haben, als er es zum Zeitpunkt seines Niederschreibens tatsächlich tat. Diese Einsicht ändert nichts am Wortlaut einer vorhandenen, aus mündlicher Erinnerung geflossenen Quelle, wohl aber zeitigt sie erhebliche Konsequenzen für deren Beurteilung und Interpretation, die sich ja oftmals auf das Verständnis eines einzigen Wortes kaprizieren. Denn der situative und kontextuelle Rahmen bringt sich damit nachdrücklicher zur Geltung, als das bislang gewöhnlich angenommen wurde. So gilt es, Abschied zu nehmen von der naiven Annahme, daß Erlebnisse voneinander abgeschirmt und als ganze ungestört im Gedächtnis überdauern. Die Gründe für das irritierende Verhalten des Gedächtnisses sind in der trotz gewaltigen Speichervermögens begrenzten Speicherkapazität des menschlichen Gehirns zu suchen. Die unerschöpfliche Fülle der Einzelheiten dieser Welt müßte das Gedächtnis, würde es alles in unveränderter Intensität zu bewahren versuchen, hoffnungslos überfordern. Es muß, wie gesagt, bewerten und auswählen und eigenständig konstruieren. Allein das Wichtigste eines Erlebnisses gilt es festzuhalten, seinen essentiellen Kern. Doch dieses Wichtigste ist nicht für jedes wahrnehmende und erinnernde Hirn und für jeden Augenblick seiner Aktivität identisch. Die Wertung unterliegt vielmehr momentanen Dispositionen, nicht dem Geschehen als solchem, auch nicht dem bewußt steuernden Willen des wahrnehmenden Menschen, jedenfalls beiden nicht allein. Langfristig enkodiertes Wissen, so zeigen neurophysiologische Experimente, bleibt dem Gedächtnis zwar dauerhafter eingeschrieben als die jüngsten Engramme; letztere sind für Modulationen besonders anfällig. Ein gestörter Enkodierungsprozeß aber löscht Gedächtnisspuren aus; und das gilt auch für den Abruf älterer Engramme. Tritt eine Störung vor dem Abruf des Erinnerten ein, bleibt das «gespeicherte» Wissen erhalten. Folgt sie einem solchen Wiederabruf, wird es ausgelöscht; das einst Gewußte ist jetzt vergessen. Damit ist experimentell nachgewiesen, daß ein Erinnerungsprozeß das vorhandene Engramm auflöst, um es anschließend neu
Gedächtnis als konstruktiver Prozeß
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zu konstruieren. Das «Abgerufene» ist somit nicht mehr identisch mit dem früher «Ab gespeicherten» ; dieses wird vielmehr im Erinnern von dem neuen Engramm überschrieben. Im Erinnerungsprozeß aber wirken dieselben verformenden Faktoren wie bei der primären Wahrnehmung und können den neuen Engrammen eingeschrieben werden 122 • In welchem Umfang das geschieht, entzieht sich dem Bewußtsein und ist nicht zu steuern. Wiederholte Erinnerungen erweitern das Verformungspotential. Diskrepanzen in den Erinnerungen derselben Person an dieselben Geschehnisse verweisen s.omit auf Verschiebungen in der hirninternen Bewertungsskala eingehender, bereits enkodierter oder wieder abgerufener Geschehenssignale für das memorierende Hirn. Neuerliche Wertungen treten auch beim Abruf des Gespeicherten zutage. So formen, um nur darauf zu verweisen, die diesen Abruf auslösenden Informationen, etwa das die Erinnerungen weckende «Stichwort», oder die augenblickliche emotionale Befindlichkeit des Zeugen und mit ihnen Faktoren, auf die der Zeuge nur bedingt Einfluß nehmen kann, maßgeblich seine jeweiligen Explikate. Anders motiviert oder befragt, besser oder schlechter gelaunt, fröhlich oder traurig, satt oder hungrig hätte ein Zeuge zu demselben Geschehen mehr oder weniger und anderes erinnert und expliziert. Derartige hirninduzierte Umwertung gilt keineswegs bloß für die Erinnerungen von Zeugen; sie findet sich selbstverständlich auch - was hier nur angedeutet sei - in deren Bewertung durch Historiker oder Richter, insofern diese nämlich auf ihre eigenen Gedächtnisdaten angewiesen sind, um fremde wahrzunehmen und zu beurteilen. Ein Richter könnte freilich durch weitere Befragung Gegenerinnerungen und Parallelerinnerungen herbeiführen und damit die Erinnerungskontrolle erleichtern. Der Historiker aber verfügt in der Regel nur über ein einziges und oftmals sehr knappes Erinnerungszeugnis ohne derartige Paralleloder Gegenerinnerungen, die deshalb aber nicht unmöglich gewesen wären. Dieses Zeugnis hätte, obwohl vom nämlichen Erlebnis handelnd, in anderem Kontext ganz anders ausfallen können. So muß der Historiker seine Quellen auf diese anderen Möglichkeiten hin prüfen und dabei nach Indizien für jene im ersten Kapitel erwähnten Verformungsfaktoren Ausschau halten. Heisenbergs oder Löwiths Erinnerungen etwa unterlagen deutlich einer wachsenden Kanonisierung, was diese Erinnerungen nicht zutreffender machte.
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Neurokulturelle Grundlagen der Geschichtswissenschaft
3.10
Die Wahrnehmung - ein Erinnerungsprozeß
Die Umformungen des Erinnerten setzen freilich bereits mit der Wahrnehmung ein; eine solche stellt nicht bloß einen Informationsinput dar. Sie bildet das Wahrgenommene (von pathologischen Störungen abgesehen) zu keiner Zeit bloß ab; sie ist vielmehr ein Neuronen aktivierender oder deaktivierender, die eingehenden Sinnes daten höchst selektiv bearbeitender, gleichwohl Kohärenz stiftender, gedächtnisgesteuerter, erwartungs- und handlungsorientierter Konstruktionsprozeß, eine komplexe . Operation nach angeborenen und erlernten Mustern, deren Ergebnisse nur zum geringsten Teil ins Bewußtsein dringen. Zielorientierte Handlungserwartung lenkt die Wahrnehmung. Auch die Wahrnehmung gesellschaftlich-geschichtlicher Vorgänge wird durch interne Bewertungstätigkeit des Hirns in die Sprache elektrischer Impulse und chemischer Signale umgesetzt. Auch dabei bleibt vieles auf der Strecke. Das Gedächtnis steuert durch bereits enkodiertes, in Einzelelemente zerlegtes Erfahrungswissen wie beispielsweise Erkennensmuster für Vertrautes oder Fremdes (etwa die Sprache), durch irritierendes Vorwissen (wie beispielsweise Streß), durch sonstige Prädispositionen (wie Angst), durch unbewußte oder bewußte zielorientierte Erwartung von Wirkungen 123 in unvorhersehbarer Weise, auf Kosten des Unerwarteten die Datenbewertung und Selektion der Daten aus den verwirrenden Einzelheiten, die jeweils auf die Sinne einströmen und die - durch eine Art Vorschaltgedächtnis (oder sensorisches oder Ultrakurzzeitgedächtnis ) gefiltert - nur zum geringsten Teil an das Kurz- und Langzeitgedächtnis weitergegeben werden 124 . Erwartungen aber und unbewußte Handlungsorientierungen setzen Erinnerung voraus. So appellieren Wahrnehmungen an gespeicherte neuronale Aktivitätsmuster, nach denen eingehende Sinnes daten, hirninterne Bewertungen, bereits gespeicherte Engramme und zielorientierte Erwartungen miteinander verrechnet werden. Doch niemand kann voraussagen, auch nicht der Beteiligte selbst, wie das Ergebnis ausfallen wird, welche Erwartungen das Hirn tatsächlich hegen, was es in welcher Weise bewerten und auf Dauer dem Gedächtnis anvertrauen, und was es zu Bewußtsein bringen wird. Das ist wie beim Wetter; es wirken zu viele variable Faktoren gleichzeitig. Schon die im Hirn eintreffenden Sinnesdaten sind auf diese Weise unscharf, und werden als solche nur mit einer gewissen, von Mal zu Mal und von Hirn zu Hirn abweichenden Fehlertoleranz miteinander verrechnet. So dürften keine zwei Gedächtnisaktivitäten identische Erinnerungen hervorbringen. Wir stol-
Die Wahrnehmung - ein Erinnerungsprozeß
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zen, selbstbewußten Reflexionskünstler herrschen nicht absolut im Haus unserer Erinnerungen. «Es» nimmt vielmehr wahr und erinnert sich in uns. Ich aber bin mein Gedächtnis. Das «Ich» erweist sich als abhängig von genetisch bestimmten Faktoren und dem kulturellen Einfluß auf die Struktur der neuronalen Netze. Entziehen sich frühere Gehirnzustände auch jeglichem wissenschaftlichen Zugriff, so hinterlassen sie doch erkenn- und auswertbare Spuren und stehen grundsätzlich dem suchenden Blick des Historikers offen, wenn er - durchaus mit seinen traditionellen Methoden - seine Quellen auf entsprechende Anze~chen durchmustert. Das Kopenhagener Gespräch kann es verdeutlichen. Beide Teilnehmer standen, als sie im Jahr 1.941. einander begegneten, unter Streß. Bohr, der Däne, beispielsweise empfand vor allem Mißtrauen gegen den Freund in den Reihen des Feindes, der sein Land besetzt hielt, Juden verfolgte und mit der Atombombe drohte. Er erkannte in ihm zum Zeitpunkt des Gesprächs und auch einige Zeit danach tatsächlich mehr den gefährlichen Feind denn den alten Freund; auch fürchtete er Überwachung 125 • Heisenberg, der Deutsche, seinerseits übersah oder verdrängte das kriegsbedingte Mißtrauen, das ihm entgegenschlug, auch daß er sich den von demselben gespeisten Erwartungen gemäß verhielt; er setzte unreflektiert auf die alte Freundschaft, übersteigerte dieselbe wohl auch und geriet allein ob seiner eigenen Sicherheit in größte Sorge 126 • So mußten die beiden Akteure dasselbe ganz unterschiedlich wahrnehmen; es war zu keinem Augenblick dasselbe für sie. Und als sie sich später, unter ruhigeren Umständen zu erinnern versuchten, glichen die neuronalen Operationsbedingungen kaum mehr den Verhältnissen von 1.941.. Keiner der beiden beachtete oder verglich später, als ihre Erinnerungen kontrovers aufeinander prallten, die eigene und die mentale Attitüde des Gesprächspartners von einst und jetzt. Streß, Mißtrauen, Vorsicht und Sorge aber trüben nicht nur den Blick, weil sie die neuronalen Aktivitäten konditionieren. Sie lenken und gestalten unabsichtlich und unmerklich, ohne daß sich der Zeuge dessen bewußt wird, mit der Wahrnehmung auch die Erinnerung und mit dieser jene. Sie selektieren aus dem Geschehen, was ihnen gemäß ist, und übergehen den Rest. Sie produzieren eine vorurteilsgesättigte und dadurch ereignisfremde Erinnerung, die sich bei jedem Abruf ein wenig weiter transformiert. Hier hat der Historiker Schritt um Schritt zurückzugehen, um das sich auch hier artikulierende Gewißheitssyndrom zu durchdringen und die subjektiven Wahrnehmungs- und Enkodierungsbedingungen zu durchleuchten. Die Unschärfe erinnerter Ereignisse, mit der sich Historiker vielfach begnügen müssen, kommt somit durch die spezifische Arbeitsweise des
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Neurokulturelle Grundlagen der Geschichtswissenschaft
informationsverarbeitenden Gehirns zustande und unterliegt dort derselben Unvorhersagbarkeit der Bewegung einzelner Moleküle, die auch sonst die Welt der Atome kennzeichnet. So wenig wie etwa Ort und Geschwindigkeit eines Elektrons zugleich wahrgenommen werden können, so wenig ist es möglich, die zerebralen Beobachtungsbedingungen eines' Beobachters und das Beobachtete gleichzeitig zu erfassen, geschweige denn, eine Erinnerung zu erwarten, die den sich nur seines Gehirns bedienenden Beobachter für alle Zeit festlegt. Auch der Entdecker der Unschärferelation erinnert sich nicht schärfer als andere Menschen. Lediglich die Statistik psychologischer Tests vermag in begrenztem Umfang Prognosen zu stellen. Erinnert werden ferner vorwiegend Bilder, nicht Handlungsabläufe; statische Szenen, kein Geschehensfluß. Eulenburg etwa sah sich Jahre nach dem Erlebnis vom Boot auf den Seegrund blicken, doch war der Blick nun in einen falschen Kontext geraten. Löwith hielt in seiner Erinnerung zumal das Bild fest, als Max Weber seinen Freund Percy Gothein begrüßte, ordnete es aber eindeutig dem falschen Erlebnis zu. Gleichwohl stabilisierte es die sich überlagernden Erinnerungen an Webers Münchener Vorträge. Auch derartige Bilder dienen der Entlastung des Gedächtnisses. Sie können, weil gleiche Netzteile benutzt werden, von gleichartigen anderen Bildern oder Szenen respektive ihren Konstruktionselementen so überschrieben werden, daß ein Konstrukt aus einander ursprünglich Fremdem, eine nie wahrgenommene Szene, keine reale Vergangenheit erinnert wird. Gilt es, Abläufe zu erinnern, werden diese, wenn überhaupt, gewöhnlich unbewußt aus einer Reihe von getrennt konstruierten Einzelszenen zusammengesetzt. Auch die dabei vom Gedächtnis verwandten Konstruktionselemente, die das eine mit dem anderen Bild verknüpfen, verdanken sich keineswegs stets oder durchweg dem jeweils zu erinnernden Geschehen; vielmehr schieben sich wiederholt ältere oder jüngere Erfahrungen, nicht zugehörige Szenen ein, die das sich erinnernde Hirn als solche nicht oder nicht immer realisiert. Zudem kann die Abfolge der montierten Bildsequenzen im Vergleich zur Realität gestört sein. In der Erinnerung sowohl an Max Webers Vorträge wie auch an das Kopenhagener Gespräch dürften mehrere derartige Überlagerungen stattgefunden haben. Weder Löwith noch Bohr oder Heisenberg erinnerten den Tag ihrer entscheidenden Begegnungen, das zeitliche Zueinander der wiederholten Begegnungen. Alle drei hatten je eine einzige Szene vor Augen und setzten dieselbe irgendwie in einen als ganzes nicht mehr erinnerten Geschehensablauf. Löwith kontaminierte verschiedene Vorträge Webers. Bohr und Heisenberg vermochten ihre wiederholten Zu-
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sammentreffen im September 1941 nachträglich nicht mehr klar auseinanderzuhalten; bei Bohr verschmolzen Heisenbergs regimegemäßes Auftreten im Institut und eine private Begegnung mit ihm, bei Heisenberg verschwand die Begegnung im Institut vollends. Bei Eulenburg hingegen vereinte sich, was er mit eigenen Augen gesehen, mit dem, was er aus fremdem Mund oder fremder Feder zur Kenntnis genommen hatte, zu einem kanonisierten Erinnerungsbild. Hirnforschung und die übrigen Kognitionswissenschaften können also erklären, was der gedächtniskritische Historiker an seinen Forschungsobjekten beobachten kann, auch wenn jene Disziplinen das Zustandekommen einzelner Erinnerungen noch nicht völlig durchschauen. Immerhin verdeutlichen sie, daß es nicht anders sein kann, daß es in der Regel kein umfassend korrektes Erinnern gibt, daß Gedächtnisleistungen ständiger Transformation unterliegen und somit Gedächtniszeugnisse mehr oder weniger irren. Sie verweisen auf die Allgemeinheit der Erinnerungsunschärfe und begründen sie; sie lassen bei Männern und Frauen eine unterschiedliche Aktivitätsweise auch des sich in Sprache artikulierenden Gedächtnisses erwarten. Beides hat der Historiker hinzunehmen und deshalb Methoden zu entwickeln, welche die Irrungen des Gedächtnisses einzukalkulieren und wenigstens partiell zu korrigieren gestatten. Sie erlauben auch heute schon dort in einem gewissen Umfang Gedächtniskritik, wo keine Gegen-, Parallel- und Kontrollerinnerungen zur Verfügung stehen, wo nur die Subjektivität der einen Seite sich artikulierte. Denn sie signalisieren den typischen Modulationsspielraum jedweden deklaratorischen oder expliziten Gedächtnisses: Zeit, Ort, Dauer, Verlauf, nähere Umstände, gar Motive eines Geschehens und dergleichen Faktoren mehr geraten ins Schwimmen und heischen, je bestimmter sie behauptet werden, um so gründlichere Vorsicht bei ihrer Verwertung, fordern Skepsis, geradezu Mißtrauen. Die Distanz zwischen dem forschenden Historiker und der fernen Vergangenheit schwindet nimmer, obgleich das subjektiv Wesentliche für längere Zeit stabil bleibt.
3.11
Neurokulturelle Gedächtnisforschung
Kommunikation weist freilich eine weitere Dimension auf, die wenigstens knapp und andeutungsweise anzusprechen ist. Wurde doch bislang nur auf das Verhältnis externer Signale und deren hirninterner Repräsentation geachtet, ohne den sozialen Raum derartiger Kommunikation zu betrachten. Erinnerung aber bedarf einer Abrufinformation, um zustande zu kommen; und das Erinnerte wirkt zurück in die Gesellschaft -
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Neurokulturelle Grundlagen der Geschichtswissenschaft
sei es durch Explikation, sei es durch entsprechendes gedächtnisgesteuertes Handeln und beider Rezeption. Was beispielsweise Bohr und Heisenberg jeweils aus ihren Erinnerungen mitteilten, reagierte auf «Stichworte» ihrer Umwelt, verharrte auch nicht unter ihnen, verbreitete sich vielmehr unter Physikern und in einer ausgedehnten Öffentlichkeit, wirkte dort und wirkt noch immer gemäß seinen Inhalten und den jeweiligen Operations bedingungen des rezipierenden und zum Erinnern stimulierten Hirns. Die Modulationen der Erinnerung übertragen sich so auf die gesamte Gesellschaft. Diese besitzt ein neuronales Ferment. Hirne kommunizieren direkt oder indirekt miteinander, indem sie gemäß dem Artikulationsspielraum eines Lebewesens Signale versenden, die von gleichermaßen operierenden Hirnen aufgefangen und «verstanden» werden, und indem sie hinter kontingentem Geschehen entsprechende Signale vermuten. Derartige interzerebrale Interaktion berührt das Forschungsfeld des Historikers nicht minder als die Erinnerungsunschärfe; sie besitzt soziale und kulturelle Dimensionen. Die relevanten Austauschprozesse beginnen bereits im Kindesalter und müssen es tun, weil kein Menschenkind mit einem physiologisch ausgereiften Hirn geboren wird. Ein noch unfertiges Instrument, bedarf das kindliche Hirn des physischen Ausbaus seines neuronalen Netzwerkes 127 • Dieser Ausbau, das Flechten des Netzwerks, wird durch Impulse der kulturellen Umwelt ausgelöst und gelenkt, denen das Kleinkind vom ersten Lebenstag oder Lebensmoment an ausgesetzt ist, und die in kürzer oder länger befristeten kritischen Lebensphasen auf empfangsbereite Neuronen treffen: durch Liebkosungen der Mutter ebenso wie durch Züchtigungen, durch das Erlernen der Sprache, der ersten sozialen Regeln, der ganzen Erziehung ebenso wie durch deren Vernachlässigung. Auf diesem Wege wirkt die Kultur entscheidend mit am Ausreifen des Hirns und an der Formung seiner für Wahrnehmungen, Weltbild, Sozialisation und Denken maßgeblichen neuronalen Netze; und diese Wechselbeziehung setzt sich fort, solange Menschen miteinander kommunizieren und interagieren. Den Flexibilitätsgrad derartiger Netze - ob sie mit der Pubertät auskristallisiert sind (wie der Hirnphysiologe Wolf Singer formuliert) oder ob später noch, vielleicht in gewissen Grenzen, ein weiterer Ausbau erfolgen kann (wie andere vermuten) - lasse ich hier unbeachtet. Aus derartiger Kommunikation entstehen mit der Zeit, und das ist unstrittig, soziales Wissen, gesellschaftliche, politische Ziele, kulturelle Wirklichkeit. Deren Zuschnitt gründet so gut in interzerebraler Kommunikation wie in interaktivem Handeln. Menschliche Kultur und menschliche Natur erscheinen hier wie die zwei Seiten derselben Medaille. Die Neuronen sind, wie auch andere Körperzellen, von ihrer ersten
Neurokulturelle Gedächtnisforschung
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Ausprägung an auf Austausch und Interaktion erst mit ihrer körperinternen, dann mit ihrer körperexternen Umwelt angelegt. So gestaltet diese kulturelle Umwelt (in den Grenzen genetisch bedingter Disposition) die neuronalen Netze der an ihr partizipierenden Individuen; und umgekehrt: so exprimieren sich in der kulturellen Umwelt die neuronalen Geflechte im Hirn jener Individuen, die diese Umwelt mitgestalten. Zur Allgemein-, Geistes-, Sozial-, Struktur- und Kulturgeschichte, zur Wissens soziologie als den bisherigen methodischen Zugängen zur Historie könnte eine neurolculturell orientierte Forschung treten. Im Falle des Kopenhagener Gesprächs etwa schuf die Verarbeitung der Heisenbergschen Erinnerung durch den Journalisten Robert Jungk nicht nur eine idealisierte Vergangenheit, sondern lenkte als Abrufinformation Bohrs Erinnerungen und löste damit eine distanzschaffende Kontroverse zwischen Bohr und Heisenberg, bald eine Flut weiterer Publikationen und Meinungen bis heute aus, die ihrerseits untereinander interagieren und moralische Urteile, politische Haltungen, existentielle Entscheidungen, widersprüchliche Vergangenheitsbilder und Handlungen, komplexe Diskurse provozieren. Die Fehleranfälligkeit von Erinnerung stiftet nun nicht bloß Verwirrung; sie produziert, so ergibt sich, neues Wissen; sie wirkt kreativ. Mit sich selbst stets identische Erinnerungen setzten fortgesetzt mit sich selbst identische neuronale Aktivitäten voraus. Wie sollte da Neues denkbar werden? Erst die hohe Modulationsanfälligkeit neuronaler Prozesse gestattet ein Ausbrechen aus der Routine, provoziert Krisen, Neukombinationen vertrauter Elemente, Assoziationen. Partielles Vergessen, irrige Erinnerungen, die gleichsam ständig mit sich selbst spielenden und variierenden Operationspotentiale des Hirns bedingen demnach Kreativität. Gesellschaftlicher Wandel besitzt somit ein erinnerungsgestörtes, vergessensinduziertes Ferment. Dasselbe genauer zu erforschen, ist ein lohnendes Ziel. Gezielt zu steuern ist auch dieser Sozialisationsprozeß der sich verbreitenden Erinnerungen und ihrer Derivate nicht. Jeder Versuch eines Eingriffs in diesen Prozeß - und sei er von den autoritativsten Instanzen initiiert - führt nur zu begrenzt vorhersagbaren Wirkungen. Auch hier treffen wir auf ein ohne lenkende Oberinstanz sich selbst steuerndes hochkomplexes System. Mangelnde Vorhersagbarkeit besagt aber nichts über nachträgliche Begründbarkeit. Im Gegenteil: So komplex die Selbstentfaltung des Systems auch sein mag, als grundsätzlich endlich müßte sie wenigstens nachträglich erforschbar sein. Hier hätten die Historiker mit Soziologen und vor allem mit (wie es in der Hirnforschung tatsächlich bereits geschieht) Mathematikern zu kooperieren, um die Algorithmen derartiger Systeme zu erforschen.
1.46
Neurokulturelle Grundlagen der Geschichtswissenschaft
Die Geschichtswissenschaft muß hier nicht Zuschauer bleiben. Die Art und Weise nämlich, wie etwas weitergegeben und rezipiert, mit welchen Modulationen und welcher Fehlerquote es aufgegriffen wurde und wird, auch die Beurteilung der jeweiligen Abrufinformationen, welche die Erinnerungskaskaden modellieren, steht wenigstens grundsätzlich ihren Methoden offen, ist historisch erforschbar und bietet ob der angedeuteten Relation zwischen Gedächtnismodulation und Kreativität in günstigen Fällen entscheidende Winke für die Innovationsfähigkeit einer Gesellschaft sowie für die Dynamik und die Richtung kulturellen Wandels. Die bislang viel zu wenig beachteten Erinnerungsweisen einer Zivilisation, die Konfrontation der Leistungen des kulturellen Gedächtnisses mit jenen des zerebralen, können dem Historiker somit Befindlichkeiten der Individuen und Kollektive anzeigen, die ihm bislang verborgen blieben. Hier eröffnet sich ein ausgedehntes Forschungsfeld und Forschungspotential, das traditionelle und neurokulturelle Forschungsansätze miteinander verschränkt.
3.12
Ergebnisse und Folgerungen für die geschichtswissenschaftliche Praxis
Wieweit also nutzt der ganze kognitionswissenschaftliche Aufwand dem Erkenntnisfortschritt der Geschichtswissenschaft? Eine erste Antwort führt zu größerer Gewißheit, insofern Psychologie und Neurobiologie hinsichtlich des Gedächtnisses auf dasselbe Phänomen verweisen, das auch der aufmerksame Historiker seinem Datenmaterial entnehmen kann: daß nämlich Erinnerungen stets fließen, niemals stillstehen, daß sie von Wiederholung zu Wiederholung neu geschaffen werden und kein gleitendes Kontinuum darstellen, und daß sie von Mal zu Mal ein anderes Vergangenheitsbild als Wirklichkeit erinnern. Damit wird ein körperbedingtes dynamisches Moment in aller Kulturgeschichte und Wissenskultur sichtbar. Doch hat es den Anschein, als bewahre das semantische Gedächtnis die aus der erlebten Wirklichkeit gezogenen Lehren, das kontextunabhängige Wissen, länger und zuverlässiger als das episodische Gedächtnis die Umstände, denen sich das Wissen verdankte. Unsere Erinnerungen sind somit weniger daten- als bedeutungsgenau, was für die Beurteilung von Erinnerungsprodukten erheblich sein dürfte. Gleichwohl vereint auch das semantische Gedächtnis vielerlei Wirklichkeiten: die selbst erlebten ebenso wie die von Fremden erzählten, mitunter sogar die geträumten, ohne daß sie zu jeder Zeit in ihrer Herkunft scharf auseinandergehalten werden können. Für den Historiker
Folgerungen für die geschichtswissenschaftliche Praxis
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aber kommt es auf beides an, auf die Episoden so gut wie auf ihre Deutungen. Denn beide wirken im systemischen Netzwerk der Gesellschaft weiter. Dieses Gedächtnis aber, unser gesamtes kognitives System operieren so eigentümlich, wie sie arbeiten, weil sie in die Evolution eingebunden sind, weil sie derselben ausgeliefert und nicht über ihr stehen. Auch die Geschichte erhebt sich nicht über dieselbe. Das Gedächtnis ist - und zwar von seinen ersten und bescheidensten Äußerungen bei Singvögeln, fischen oder Ratten oder noch kleineren Gehirnen an - kein bloßer Speicher, dem irgendwelche Daten beliebig eingelagert und entnommen werden könnten, in dem nur zu kramen wäre, um die deponierten Dinge wieder ans Licht zu ziehen, auch wenn Speicherungsprozesse unzweifelhaft eine Rolle spielen. Es ist ein kommunikativer Prozeß. Eine Nachtigall, die ohne den Gesang ihrer Artgenossen aufgezogen wird, hat - wie Experimente zeigen - ein eingeschränkteres Repertoire als ihre artgerecht aufgewachsenen Genossen; Fische lernen durch Beobachtung und Kooperation. Soziale Kommunikation und Gebrauch steigern die Leistungskraft des Gedächtnisses. Es baut genetisch gesteuert und erfahrungsbedingt gehirn-interne, komplexe Schaltungen auf und bringt auch beim Menschen seine Leistungen von Mal zu Mal durch situativ bedingte Aktivierung seines neuronalen Netzwef:k~s hervor. Vernetzung, Informationsfluß, Flexibilität und Kooperation verschiedener Neuronen, Neuronenpopulationen und Hirnstrukturen kennzeichnen somit alles Erinnern. Einzelne Zellen und umfassendere Organisationen weisen jeweils weit über sich hinaus auf ein komplexes, sich selbst organisierendes, flexibles Zusammenspiel aller betroffenen Bereiche. Die interzelluläre und interregionale Kooperation der beteiligten Gehirnzentren endet auch nicht mit dem einzelner Körper; der neuronale Kooperationsbedarf überwindet vielmehr die Grenzen des Individuums und erstreckt sich auf artspezifische interzerebrale Prozesse, auf sozialen und kulturellen Austausch mit wechselseitigen Rückkopplungseffekten an die partizipierenden Hirne und die sozialen und kulturellen Strukturen. Der Mensch vermag solche Aktivität nur begrenzt bewußt zu steuern. Statt dessen ist dieses neuronale System, ob sein Betreiber gleich schläft, ob er wacht, ob er will oder nicht will, fortwährend in Aktion, spielt geradezu mit seinem Besitz, den retikulären Verflechtungen, assoziiert, handelt unbewußt-bewußt konstruktiv, ist Täter und Opfer zugleich und somit aufs höchste kreativ. Unser Wissen, unser soziales Verhalten, der Umgang mit unserem Körper, unser Denken und Reden, unser zielvolles Handeln, kurzum: unsere gesamte Kultur sind davon betroffen. Eine erste Folgerung klingt banal, zeitigt aber für die Geschichtswis-
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Neurokulturelle Grundlagen der Geschichtswissenschaft
senschaft erhebliche Konsequenzen: Der reflexive Mensch, die Krone der Schöpfung, ist, obgleich er sich erinnern muß und sich tatsächlich erinnert, nicht zum Historiker geboren. Sein Gedächtnis dient vielmehr denselben Zwecken wie das eines jeden anderen Lebewesens auch: den Bedürfnissen nämlich des Lebens, des Überlebens von Individuum und Gattung, der Kommunikation mit seinen Artgenossen, der Anpassung an seine Umwelt, sein Habitat, seinen Lebensraum und dafür, diesen in der für ihn relevanten Weise zu erfassen - nicht indessen der Geschichtsschreibung, der präzisen zeitlichen Zuordnung vergangener Dinge, der Detailgenauigkeit von Geschehnissen und dergleichen Anforderungen mehr. Es darf anachronistisch operieren, einander Fremdes kontaminieren, überschreiben oder umwerten - gerade so, wie es das Leben verlangt. Ein spezifisch geschichtswissenschaftliches Erinnern gibt es beim Menschen so wenig wie bei Schimpansen oder Ratten. Wir sind erst vor wenigen tausend Jahren Geschichtsschreiber und erst kurz vor heute Geschichtsforscher geworden, denen jeder Anachronismus, jede Überschreibung, jede Unsauberkeit in den Referenzen ein Greuel ist. Unser Erinnerungsvermögen verweist auf ganz andere Bedürfnisse als jene faktizistische Akkuratesse, die der Historiker verlangt, oder als die Konfrontation dessen, was wirklich geschah, mit dem, was biographisches oder kulturelles Gedächtnis daraus machte. Die kulturelle Evolution blieb auch hier nicht stehen. Geschichtsforschung ist ein zivilisatorisches Produkt, das alles biologisch konstituierte Gedächtniswesen übersteigt und die Kommunikationspotentiale der Neuronen auf interzerebrale Kooperation ausweitet. Gleichwohl verdankt sich die Mehrzahl geschichtswissenschaftlicher Daten diesen aus der biologischen Evolution und Phylogenese ererbten Instrumentarien und ihren Operationsweisen und damit anderen Attitüden und anderen Bedürfnissen als sie die historische Forschung benötigt. So vermischen sich Natur und Kultur in den Datensätzen der Geschichtswissenschaft und verlangen zu deren Bewertung und methodengerechten Benutzung nach klarer analytischer Scheidung. Als der Vor- und Frühmensch, etwa auf der Ebene der Australopithecinen, den langen Marsch zur Hochzivilisation antrat, lag jegliches Geschichtsdenken in jahrmillionenweiter Zukunft. Sein Wahrnehmungsund Denkapparat, sein Leben im Kollektiv, sein Gedächtnis und Verhalten, sein Bewußtsein richteten sich auf das Überleben. Sehr allmählich wurde sein Hirn leistungsfähiger, und begann er selbst, vergangene Erfahrungen etwa in der Wahrnehmung seiner Umwelt, im Gebrauch und Zuhauen roher Schlagsteine (<
Folgerungen für die geschichtswissenschaftliehe Praxis
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terzugeben; durch Jahrmillionen zog sich dieser Prozeß hin, durch Tausende von Generationen. Es brachte kulturelle und durch Selektionsdruck körperliche Anpassungsvorgänge des einen Wissens und Könnens an anderes Wissen und Können mit sich, bildete die neuronalen Netzwerke der Individuen fort, mit der Zeit auf immer höherem Niveau, und schuf gemeinsame Zeichensysteme, «Sprachen», Rituale, Traditionen. Die kognitiven Fähigkeiten des menschlichen Gehirns reiften somit, indem der Mensch sie gebrauchte, indem er ihrer inne zu werden und sein Wissen anderen weiterzugeben begann, indem er seine Erinnerungen aus der Fülle des Geschehenden auszugrenzen, zu hegen und darzustellen lernte, indem er bewußte Erinnerung zur Antizipation des Kommenden dienlich zu machen, mit kulturellen Errungenschaften zu verschränken und sinnhaftes Handeln zu intendieren vermochte. Es war seine Strategie im . Die Elaboration des Gedächtnisses schuldet also der kulturellen Entwicklung fortgesetzte Stimulation; nichtsdestoweniger bleibt sie für alle Zeit an die natürlichen Bedingungen des Bewußtseins, an die biochemischen Prozesse des Wahrnehmens, Denkens, Erinnerns oder Vergessens und damit an die evolutionären und phylogenetischen Vorgaben des Gehirns gebunden. Und diese teilen wir mehr oder weniger mit der halben Schöpfung. Genetische Untersuchungen scheinen zu zeigen, daß die rezente Menschheit sich auf einen einzigen Genpool zurückführt, wir also Nachkommen einer einzigen Art, des Homo sapiens sapiens, sind, deren Ursprünge wahrscheinlich in Ostafrika, kaum in Asien zu suchen sein dürften 128. Unser aller Gehirn ist somit gleich organisiert und funktioniert, wie unterschiedlich auch seine individuelle oder kulturelle Prägung sein mag, nach einheitlichen Bauplänen; es besitzt prinzipiell, von der allgemeinen Bandbreite kultureller Bedingungen und individueller Begabungen abgesehen, eine gleiche Leistungsfähigkeit, weil die einkommenden Sinnessignale gleichartige neuronale Reize stimulieren, gleichartige chemische Prozesse auslösen, gleichartige Wirkungen hervorrufen. Die gesamte Menschheit erinnert sich denn auch, soweit keine kulturellen, etwa durch regionale Sonderentwicklungen bedingten Erinnerungshilfen hinzutreten, in der gleichen Weise. Das erlaubt trotz kultureller Differenzen den interkulturellen Vergleich und die wechselseitige Kontrolle. Doch ist streng zu unterscheiden zwischen den allgemeinen Operationsweisen und den stets individuellen Operationsbedingungen. Die letzteren sind bei keinen zwei Hirnen, ja, nicht einmal bei demselben Hirn zu unterschiedlicher Zeit identisch. Entsprechend vielfältig sind die Ergebnisse. So sind die neuronalen Leistungen an die kulturellen Einflüsse rückge-
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Neurokulturelle Grundlagen der Geschichtswissenschaft
bunden. Die Entwicklungspsychologie und genetische Erkenntnistheorie hat entsprechende Konsequenzen gezogen, während die Geschichtswissenschaft sich mit der Anerkennung dieses Sachverhalts schwertut 129 • Insbesondere das bahnbrechende Werk von Jean Piaget ist zu erwähnen~~o. Wie die Ontogenese die Phylogenese wiederhole, das ist einer der Grun\lgedanken Piagets, so wiederhole die kognitive Entwicklung des Kindes den Zivilisationsprozeß der Menschheit. Die Betrachtung heutiger Kinder von ihren ersten Lebenstagen an ließe demnach die kognitive Stammesgeschichte des Menschen und nicht nur sie Revue passieren, gewährte somit auch Aufschlüsse über Entstehung und Wirkweise des Gedächtnisses und die Modulationsfreude des Erinnerns. Die modernen Kognitionswissenschaften sind vorsichtiger geworden und folgen Piaget nicht, jedenfalls nicht in allem und schon gar nicht blind in seine kulturgenetischen Spekulationen l31 . Gleichwohl ist es richtig, keinen scharfen Bruch zwischen Natur und Kultur zu postulieren und das Gedächtnis als ein Übergangsphänomen zwischen beiden zu interpretieren. Wie dem nun aber sei, kulturelle Faktoren, aufgebrachte oder fehlende Zuwendung zum Kind, die ganze Erziehung, frühe musikalische oder künstlerische Ausbildung wirken, so zeigen neurobiologische und neuropsychologische Untersuchungen, maßgeblich am Aufbau jener neuronalen Netze mit, solange dieselben nach der Geburt noch formbar sind und bevor sie sich auskristallisiert haben. Die vorpubertäre Erziehung verändert somit die neurobiotische Konstitution des Gehirns, die «neurokulturellen» Einschreibungen in das Gedächtnis, formt also jenes Algorithmenwerk mit (wenn es denn ein solches ist), nach dem wir denken, fühlen, wollen und Selbstbewußtsein entfalten. Dieser Prozeß endet, wie gesagt, etwa mit der Pubertät. Späteres Lernen besteht in der Intensivierung vorhandener Verbindungen oder - im Falle des Nichtgebrauchs, des «Vergessens» - in deren Abschwächung. Die Erziehungskonzepte und mehr noch die tatsächlichen Erziehungspraktiken einer Gesellschaft entscheiden somit über deren kulturelle Leistungskraft eben gerade, weil sie den genetisch ermöglichten Spielraum kulturellen Handeins abstecken. und , auch von mißratener Schulpolitik oder desinteressierten Elternhäusern ist kaum zu überschätzen. Transmentale Kommunikation über Gehirne, Raum und Zeit hinweg wird erschwert (wenn auch nicht völlig verwehrt), sobald und soweit unvertraute kulturelle Faktoren - fremde Sprachen, Gesten, Umwelten, unbekannte Interaktionsmuster, fremde Werturteile und dergleichen mehr
Folgerungen für die geschichtswissenschaftliehe Praxis
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- im Spiele sind. Auch dieser Umstand zeitigt Konsequenzen für geschichtswissenschaftliche Interpretationen. Betroffen ist keineswegs bloß das menschliche Selbstbewußtsein, vielmehr jedes Verstehen eines anderen. Das gilt für die Gegenwart so gut wie für die Vergangenheit. Wir werden vermutlich niemals vollständig die Attitüden fremden Wahrnehmens, fremden Denkens, das Weltbild eines Homo sapiens sapiens der Steinzeit, eines C. Julius Caesar, eines Karls des Großen, von irgendwelchen Frauen oder Männern nachempfinden können; niemals jene der bekannten oder namenlosen mittelalterlichen Ritter, Bauern, Stadtbürger, Kleriker, Mönche oder Heiligen, niemals umfassend die Parameter ihres Handeins nachvollziehen können. Bestenfalls sind konstruktive Annäherungen möglich, soweit nämlich gleichartige genetische Voraussetzungen und verwandte kulturelle Stimulatoren am Aufbau der neuronalen Netzwerke beteiligt waren oder sind. Unterschiede im Denken und Erinnern, in Sprachkompetenz und mentalen Attitüden verschiedener Kulturen sind somit nicht zu leugnen; sie sind vorwiegend sozial und kulturell, aber eben auch neuronal bedingt. Sie entziehen sich aber trotz solcher Differenzen keineswegs prinzipiell der Einsicht eines lernfähigen Bewußtseins; denn sie arbeiten nach denselben biochemischen Bauplänen und Operationsmustern. Ihre Artikulation aber unterliegt kulturellen Einflüssen. Kein Mensch verfügt etwa jenseits der Symbole, Sprachen, Erzählweisen oder der Denkmuster seiner Zeit über ein explizites Gedächtnis. Aber als Modulatoren von Erinnerung wirken neben den kulturellen Faktoren genetisch bedingte Vorgaben. Der Historiker muß sie beachten, will er sich dem Anderen und Fremden angemessen nähern. Das Ergebnis nimmt keine unserer erzählenden Überlieferungen, kein einziges der erzählenden Momente dokumentarischer Akten (Diplomatiker mögen an die Narrationen mittelalterlicher Urkunden denken) aus. Es zwingt zu weniger naivem Umgang mit und zu größerer Skepsis gegenüber überlieferten Gedächtnisdaten, als sie bislang üblich sind. Erinnerungszeugnisse sind stets Gegenwartszeugnisse; sie verraten primär nur etwas über die situative Verflechtung des Augenblicks, in dem sie zustande kamen und expliziert wurden, erst sekundär künden sie irgendwie auch von dem Erinnerten. Auch dies hat der Historiker zu beachten, will er die Wirklichkeit seiner Quelle nicht verfehlen. Gedächtnisforschung mündet in der Folge durch erinnerungsskeptische Quellenkritik zunächst in Destruktion bislang verbreiteter Geschichtsbilder. Aber sie muß dabei nicht verharren; sie kann, da sie das schöpferische Zusammenspiel von Gehirn und Kultur zu sehen lehrt, zu . neuen Konstruktionen fortschreiten. Sie fordert bislang vernachlässigte
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Neurokulturelle Grundlagen der Geschichtswissenschaft
methodologische Präzisierungen, die biologische und kulturelle Anthropologie stärker als je miteinander verschränken und neurokulturelle Parameter individueller und kollektiver Interaktionen im forteilenden Zivilisationsprozeß liefern. Die Arbeitsweise einer gedächtniskritischen Geschichtswissenschaft wird sich nicht bloß wie bisher auf hypothetische Kombinationen verfügbarer Quellenzeugnisse konzentrieren, sie wird sich vielmehr auf hypothetische Korrekturen überlieferter Erinnerungen ausdehnen müssen - gewiß ein weites Feld, aber ein betretbares. Wer sich ihm zuwendet, wird zu einem menschengemäßen Umgang mit den Überlieferungen ansetzen, wird fehlerhafte Daten, deren situati~e Konditionierung entdecken, um den Blick auf bislang unerkannte politische, soziale oder kulturelle Zusammenhänge freizuräumen, ohne daß jetzt schon feststünde, zu welchen Geschichtskonstrukten das alles ihn führen wird. Die folgenden Kapitel wenden sich dem Mittelalter als einer Epoche zu, die in besonderer Weise von der Gedächtnisproblematik betroffen ist. Denn nahezu alle ihre erzählenden Quellen, denen sie in der Regel den Zusammenhang des Geschehens, die entscheidenden Hinweise nämlich auf Motive und Intentionen, auf Beteiligte, auf Zeit und Ort, auf die Details der Ereignisse und überlieferten Sachverhalte verdankt, sind weithin erst nach mehrfachem Durchgang durch das Gedächtnis wechselnder Zeugen niedergeschrieben worden. Mündlichkeit und Erinnerung manifestierten sich in ihnen und hinterließen, ohne daß sie auf den ersten Blick hervortreten, ihre fehlweisenden Spuren. Nie Geschehenes hat sich hier oder da unerkannt als Implantat wie im individuellen, so im kulturellen Gedächtnis einzunisten vermocht. Unzutreffende Details und Geschehenskomplexe drängten sich in Berichte, welche Wirklichkeit zu erfassen intendierten. Alle jene Verzerrungskoeffizienten, die im einleitenden Kapitel angesprochen wurden, machten sich bemerkbar, ohne daß es bisher ausreichend beachtet wurde. Eine gründliche Neusichtung und Kritik der verfügbaren Quellen ist somit eine unabdingbare Notwendigkeit. Im folgenden werden erste Hinweise dazu erörtert.
IV.
Zwischen Hirn und Geschichte: Implantierte Erinnerungen
«Ist mir min leben getroumet, oder ist ez war?» Unzählige Menschen verfielen, dem Ende ihres Lebens nahe, ins Sinnen. Das Leben ein Traum? Fließen Heute und Gestern, Wirklichkeit und Unwirklichkeit in einer Weise ineinander, daß der sich erinnernde Mensch sie nicht mehr zu trennen vermag? Dichter und Philosophen griffen das Thema auf. Der alte Walther von der Vogelweide (L. 1.24,2) war einer von ihnen. Er blickte nicht ohne Bitterkeit zurück und erinnerte sich einer Welt, die es nicht mehr gab. Kultur - ein Traum? Was geht es die faktenbesessenen Historiker an, die wissen wollen, was wirklich geschah? Träume jedoch entfernen sich nach landläufiger Meinung von jeglicher Realität. Indes, auch Historikern macht der Traum, das Nichterlebte als Erlebtes, zu schaffen. Reinhard Elze, der frühere Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom, unzweifelhaft ein seriöser Forscher, erzählte mir einmal, daß er als junger Habilitand einen in der über zweihundertbändigen «Patrologia Latina» des Jacques-Paul Migne versteckten Beleg für seine Arbeit zur Päpstlichen Kapelle mit seinem Text und seinem Platz auf der fraglichen Seite noch genau vor Augen sah, ihn aber nicht mehr verifizieren konnte. Wochenlang habe er die schrecklichen Schwarten durchsucht, wieder und wieder, um das Gesehene zu verifizieren. Der Beleg blieb unauffindbar. Er war geträumt. Der unbestechliche Beobachter, der Elze war, räumte ein, was vermutlich uns allen immer wieder passiert, und was William Stern vor einem Jahrhundert bereits registriert hatte: daß Traum, Wunsch und Leben ineinander greifen und unser Gedächtnis <Wirklichkeiten> produziert, die nie geschehen sind, die wir gleichwohl für erlebt halten. Denn der Traum speist sich aus denselben Hirnaktivitäten wie jede unserer Erinnerungen an das Leben. Wir Menschen besitzen ein ausgesprochen schlechtes «Quellengedächtnis», wie man die Erinnerung an die Herkunft und das Zustandekommen unseres Wissens nennen kann. Jeder Zeuge aber, jeder Erinnerungsquellen produzierende Geschichtsschreiber, war oder ist, ob er will oder nicht, auch ein träumender Mensch. Fließt der Traum oder genauer: die Erinnerungen verarbeitende, unbewußt schöpferische Aktivität des Hirns also doch in die erinnerten Geschichtsbilder ein? Wie
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Zwischen Hirn und Geschichte: Implantierte Erinnerungen
kommen solche zustande? Ich bin weit davon entfernt, diese Frage umfassend beantworten zu können. Unser Kopf freilich treibt eigentümlichen Schabernack mit uns Menschen. In ihm ereignet sich manches, was Realität und Irrealität zu vermischen vermag und unser dort repräsentiertes Wissen gefährdet. «Der assoziative Cortex (kann) als bewußtseinschaffendes System», so registrierte der Hirnforscher Gerhard Roth, «die von außen eindringenden Einflüsse (und hierzu gehört alles, was nicht vom Cortex kommt) nicht von den selbstgenerierten Zuständen unterscheiden»l. Externe und interne Wirklichkeit zerfließen hier mitunter in eins. So verweist uns der Traum auf Aktivitäten unsers Hirns, die, ohne an tatsächliche Erfahrungen anzuknüpfen, eigenständig semantisch besetzte Hirnsignale verarbeiten und damit Wirklichkeit suggerieren. Psychologen kennen das Phänomen einer implantierten Erinnerung, die in einen Menschen, sei er Kind oder Erwachsener, oder Erinnerung an ein Nicht-Geschehenes, ein NichtErlebtes und Nicht-Wahrgenommenes, als hätte er oder sie es erlebt oder wahrgenommen, mithin eine fremdinduzierte Fiktion, die als eigenes Erlebnis erinnert wird. Bei diesem Phänomen versagt jegliches Quellengedächtnis; zudem sind die beteiligten in der Regel selbst Opfer ihrer Überzeugung von der Angemessenheit ihrer Diagnose und Behandlung; sonst wären sie Scharlatane. Jean Piaget beispielsweise, der große Entwicklungspsychologe, auch er ein unverdächtiger Zeuge, erinnerte sich noch als erwachsener Mann, wie er als kleiner Junge entführt werden sollte und nur durch das entschlossene Dazwischentreten des Kindermädchens gerettet wurde. Viele Details standen ihm noch lebhaft vor Augen. Er vermochte sie genau zu beschreiben: den Entführer, der ihn an der Hand fortzerrte, das Handgemenge mit dem Mädchen, die Kratzer in dessen Gesicht ... Zweifel an der Wirklichkeit des erinnerten Geschehens waren unangebracht. Erst später entpuppte sich, wie Piaget selbst bekannte, die ganze Geschichte als Erfindung der Nurse, als Fiktion und eine dem Kind (durch die Dramatik der Erzählung) implantierte Erinnerung2 . Nicht immer erweist sich die Aufklärung als so harmlos. Mitunter geht es tatsächlich um Leben und Tod. So etwa, wenn übereifrige Psychiater und sonstige Berater sexuellen Mißbrauch und Vergewaltigungen im Kindesalter ins Gedächtnis ihrer erwachsenen Patientinnen oder Patienten. hineinreden und dauerhaft implantieren, etwa den Mißbrauch einer Tochter durch ihren Vater, oder Augenzeugen einen Mörder <sicher> identifizieren und auf diese Weise den Scheintäter vor eine reale Jury bringen. Die amerikanische Psychologin Elizabeth F. Loftus bei-
Scheinrealitäten
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spielsweise konnte als forensische Gutachterin derartige Implantate nachweisen. «The studies show that one can implant entire false memories into the minds of adults as well as children»3. Das Gedächtnis behandelt beides, das Wahrgenommene und das Implantierte, gleich. Bei manchen psychologischen Experimenten akzeptierten bis zu einem Viertel der Probanden und keineswegs bei allen Versuchen stets dasselbe Viertel falsche, nämlich auf vermeintlicher Wahrnehmung beruhende Erinnerungen als echt, als tatsächlich wahrgenommen. Implantate beruhen auf keinen Wahrnehmungen, doch werden sie vom Hirn als Wahrnehmungen,gewertet. Unser Hirn wehrt sich offenbar nur unzureichend gegen derartige Vorspielungen unzutreffender Tatsachen. Vergangene Wirklichkeit und implantierte, erfahrungsfreie und wirklichkeitsferne Erinnerung, hirnexternes Geschehen und interne Schöpfungen sind da nicht mehr zu unterscheiden. Zumal wenn derartige Gebilde unter dem Siegel realer Erlebnisse an uns herangetragen werden, besitzen wir kaum eine Chance, uns gegen ihre Schein realität erfolgreich zur Wehr zu setzen. Hätte Piaget nicht selbst seine Pseudoentführung entlarvt, kein Biograph dürfte an der Realität des Irrealen rütteln. Geht es den Historiographen, auf die der Historiker der Antike und des Mittelalters angewiesen ist, anders, jenen Autoren der biblischen «Bücher der Könige und Richter», der Taten Alexanders des Großen, einem Plutarch, Polybios, Livius, Lukas, Einhard, Commynes oder Luther, und wie sie alle heißen? Verfügten sie über Kontrollmöglichkeiten, die ihnen das eine vom anderen, das Externe von dem unbewußt von fremden Hirnen Produzierten, trennten? Und vermochten Historiker ihre Erinnerungen zu durchschauen? Wie dem auch sei, niemand wird zweifeln, daß dergleichen Implantate nachhaltige Wirkung zeitigen konnten. Hier öffnen sich Einblicke in den psychodynamischen Prozeß der Zivilisation.
4.:1
Scheinrealitäten in der Geschichte und im kulturellen Gedächtnis
In der Tat, Implantationen lassen sich auch auf kultureller Ebene und in der Geschichte beobachten. Sie weisen mancherlei Ursachen auf: den Irrtum so gut wie die Lüge, lückenhafte Kolportage wie Irreführung durch Dritte, fremde Behauptung wie eigene Vermutung oder fehlerhafte Schlußfolgerung und dergleichen mehr, das, hat es sich einmal von seinen Urhebern gelöst, von einer Information über reales Geschehen nicht mehr zu unterscheiden ist. Gesellschaftliche oder politische Krisen öffnen ihnen breite Einfallstore. Auch Abstammungsmythen sind, wie in
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Zwischen Hirn und Geschichte: Implantierte Erinnerungen
der Ethnologie seit langem bekannt, empfänglich für derartig abwegige Erinnerungen. Beide, die Implantationen in einem Individuum wie jene in einem Kollektiv, entspringen kommunikativen Prozessen, wenn auch von unterschiedlicher sozialer Komplexität. Hoffnung und Not machen erfinderisch. Menschliche Heilsbringer, Wundertäter, positive oder negative Helden sind besonders häufig anzutreffende Inhalte. König Artus oder Dietrich von Bern - für viele einst wirkliche Heroen - ließen sich nennen. Die h1. Barbara, der h1. Christophorus, die Patronin der Bergleute, der jahrhundertelange Garant eines seligen Sterbens (deshalb im Spätmittelalter an jeder Kirchenwand anzutreffen), Nothelfer sie beide, sind beispielsweise derartige kulturelle Implantate, die, seit längerem schon als solche erkannt, neuerdings aus dem Heiligenkalender gestrichen wurden. Doch auch der h1. Benedikt von Nursia, der ~(Vater der Mönche», könnte, ja, dürfte allein der Glaubens-, nicht der sinnlichen Welt angehört haben4 • Die Geschichte der «Konstantinischen Schenkung» ist so bekannt, daß sie hier auf sich beruhen mag s. Sie gilt seit Lorenzo Valla als Fälschung, doch greift diese Beurteilung zu kurz. Tatsächlich war sie im Verein mit der ganzen Konstantinslegende ein Implantat in das kulturelle Gedächtnis des lateinischen Abendlandes, das sich Jahrhunderte dar an erinnerte und orientierte und das Irreale zum Ordnungsprinzip seiner realen Welt erhob, obgleich vereinzelt auch schon früher Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit geäußert wurden. Die allgemeine Profan- und Kirchengeschichte blieb schon gar nicht von implantierten Erinnerungen verschont. Die Kaiserkrönung Karls des Großen oder die Königserhebung Heinrichs «des Voglers» weisen Implantate auf, die in der Wissenschaft noch kaum bemerkt oder lebhaft bestritten wurden, so überzeugend haben sie sich im kulturellen Gedächtnis eingenistet. Dort wurde Byzanz aus der Geschichte aus-, hier der Erzbischof von Mainz in sie eingeblendet6 • Nicht die Faktizität beider Ereignisse, der Krönung und der Thronbesteigung, wohl aber das Wie ihres Zustandekommens sind implantierte Scheinrealitäten. Weitere Beispiele ließen sich unschwer anführen, auch wenn die meisten sich hinter einem festen Wirklichkeitsglauben verstecken7 • Als solche aufspüren und nachweisen lassen sich Implantate nur, wenn ausreichende Kontrollmöglichkeiten für die erinnerte Vergangenheit zur Verfügung stehen, was indessen je früher die Epoche, desto seltener der Fall ist, und was uns keine Gewähr dafür bietet, daß das sonst Überlieferte kein Implantat sei. Die Möglichkeit aber der Implantation ergibt sich aus der Natur des menschlichen Gedächtnisses, das beim Individuum souverän mit neuronal enkodierten Informationen umspringt
Venedigs Sieg über Friedrich Barbarossa
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und bei Kollektiven, die auf das Zusammenspiel von Individuen angewiesen sind, nach kurzer Zeit bereits die wahren Zusammenhänge durch die unzutreffenden dauerhaft ersetzen kann. Im folgenden seien zwei Beispiele näher betrachtet, da sie zugleich methodische Konsequenzen von allgemeinerer Bedeutung ins Auge zu fassen erlauben.
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Venedigs Sieg über Friedrich Barbarossa
Man schrieb das Jahr :1177. Die Seekommune Venedig erfocht einen grandiosen Sieg, würdig jedweden Gedenkens 8 . Die Geschichte aber hatte sich folgendermaßen zugetragen: Der Kaiser Friedrich, jener mit dem roten Barte, wütete gegen den Papst Alexander IH., der sich auf Schiffen, die ihm der König Wilhelm H. von Sizilien zur Verfügung gestellt hatte, in die Lagunenstadt flüchtete. Eine Nacht lang konnte er sich unbemerkt verstecken; doch schon am folgenden Tag, dem 24- März, dem Tag vor Mariä Verkündigung, ward er erkannt und feierlich, wie es einem Papste gebührt, vom Dogen, Sebastiano Ziani, dem Patriarchen, Klerus und Volk in die Markuskirche geleitet, um anschließend im Patriarchenpalast Wohnung zu nehmen. Gekommen aber war Alexander, weil er der Hilfe bedurfte und dem Schutz der Markusrepublik vertraute. Zum Dank gewährte er dem Dogen und seinen Nachfolgern das Recht, an Festtagen eine weiße Kerze vor sich hertragen zu lassen. Alsbald schickte der Doge seine Gesandten an den staufischen Hof, um den Frieden zwischen Papst und Kaiser zu stiften. Friedrich empfing die Herren gnädig; doch kaum, daß er ihr Anliegen vernommen, ward er zornig. «Geht! Entbietet eurem Dogen unsere Liebe!» Doch solle er seinen Feind, Alexander, nicht länger schützen, denselben ihm vielmehr unverzüglich ausliefern. Weigere er sich, so sei der Freundschaftspakt zwischen ihnen zerbrochen, und er, der Kaiser, werde bei nächstbester Gelegenheit mit seinen Kriegsgaleeren die Lagune überschwemmen und sein siegreiches Adlerbanner auf dem Markusplatz aufpflanzen. Alexander erschrak. Der Doge aber stärkte dem Stellvertreter Gottes den Mut: Überzöge der rote Friedrich sie mit Krieg, dann versteckten die Venezianer sich nicht, träten ihm vielmehr mit aller Macht auf ihren Schiffen entgegen. Und so kam es dann auch. Der Kaiser sandte seinen Sohn Dtto mit 75 Kriegsgaleeren, einer gewaltigen Streitmacht, gegen die Serenissima; Sebastiano eilte ihm an der Spitze seiner Flotte entgegen. Hoffnungsvoll segnete der Papst das Unternehmen. Vorkämpfer der Kirche sei der Doge; mit kostbarem Schwerte übertrug Alexander ihm für alle Zeit diese Würde. Am Himmelfahrtstag kam es zur Schlacht, weit draußen vor Istrien,
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Zwischen Hirn und Geschichte: Implantierte Erinnerungen
an der Punta Salvore. Mit nur dreißig Galeeren wagte der Doge den Kampf. Doch Christus stand ihm bei. Acht kaiserliche Kriegsschiffe wurden (mit griechischem Feuer) in Brand geschossen, zwei in Grund gebohrt, der Rest erobert - ein grandioser Sieg. Der Kaisersohn wurde gefangen; kniefällig bat er den Hl. Vater um Gnade. Vergebens suchten Gesandte der Könige Ludwig VII. von Frankreich und Heinrich II. von England den Frieden zwischen Papst und Kaiser zu erneuern. Der Rotbart selbst sollte den Frieden erbitten. In eigener Person und demütig mußte er, um seinen Sohn aus der Haft zu befreien, nach Venedig eilen. Zwar holte ihn der Dogensohn Pietro Ziani (zugleich der zweite Nachfolger seines Vaters) mit sechs Galeeren am 24. Juli ehrenvoll von Ravenna aus ein. Im Markusdom aber beugte der Kaiser unwillig seinen Nacken unter den Fuß des Papstes - eine üble Szene, nachmals weit im Bild verbreitet. Noch Luther und die Reformatoren sahen im Fußtritt Alexanders den Beweis, daß «die Bepste voller Teuffel sind gewest» und «der hellische Trache und Lewe, Otter und Basilisee» in Alexander, daß der Antichrist auf dem Thron der Apostel saß, und schürten, indem sie daran erinnerten, den Zorn und den Haß gegen den römischen Papst9 • Die Serenissima aber hatte mit dem Sieg über den Kaiser die Herrschaft über die Adria gewonnen und gefestigt - mit päpstlichem Segen. Niemand machte sie ihr fürderhin streitig. Alexander selbst reichte dem Dogen zum Zeichen dafür seinen Ring: «Dich, Doge, mein Sohn, und alle deine Nachfolger wollen wir Jahr für Jahr am Himmelfahrtstage mit goldenem Ring dem Meer vermählen, gleich einem Mann, der seine ihm untertänige Gemahlin freit.» Wer aber zwischen Himmelfahrt und ihrer Oktav bußfertig die Kirche besuche, die der Schauplatz des päpstlichen Triumphes geworden, den Markusdom, empfing den Ablaß des siebenten Teils seiner Sünden. Friedrich endlich verließ am 18. September die Stadt, um in die Lombardei zu ziehen; und am 16. Oktober geleitete der Doge mit zehn Galeeren den Papst und den Kaiser, den er in Ravenna an Bord nahm, über Ancona, wo Alexander dem Dogen zum Dank das Recht verlieh, unter dem Schirm zu gehen, nach Rom zurück. Dort endlich erhielt der Doge zu ewigem Zeichen die silbernen Trompeten und die acht Fahnen, mit denen die Römer ihren Pontifex eingeholt hatten. Soweit der Chronist. Des Papstes Triumph war Venedigs Werk; die «trionfi» des Dogen, die Herrschaftszeichen des Dogats, bezeugten es für immer. Wer wollte zweifeln, daß die Historie, in jedem Geschichtsbuch Venedigs zu lesen, sich so zugetragen hat, wie sie erzählt wurde lO . Zahlreiche Chronisten - vor allen der Doge Andrea Dandolo, der zahlreiche archivalische Quellen verwertete - und prächtige Bildinszenierungen verewig-
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ten die Folge der Taten. Kaufleute und Pilger wie der Ritter Arnold von Harff trugen ihre Kenntnis auch nach Deutschland; aus der Seeschlacht konnte dabei eine Landschlacht werden. Die Unterwerfung des Kaisers unter den Papst fand, vielgescholten, im römischen Lateranpalast sichtbare Gestalt. Der Dogenpalast zu Venedig, zumal dessen im Jahr 1525 abgerissene Kapelle S. Nicole (nach 1319), sowie die Sala deI Maggior Consiglio (nach 1340) boten monumentale Darstellungen der Schlacht und des ihr folgenden Geschehens. Als der Schmuck der genannten Sala bei dem Palast-Brand im Jahr 1577 vernichtet wurde ll , wurde er alsbald - noch heute sichtbar - erneuert. Die Kerze, das Schwert, 'die Hochzeit mit dem Meere (die alljährlich wiederholte «Festa della Sensa»), der Ablaß und alle übrigen «Trionfi» des Dogen, die bleierne Bulle, der Schirm, die Tuben und Fahnen, bürgten nicht nur sichtbar in Zeremoniell und Ritual für die Wahrheit der Bilder; sie tradierten die Geschichte der Schlacht und dieses Friedens von Venedig zugleich dem Gedächtnis der kommenden Generationen und zahlloser Besucher der Handelsmetropole. Hier winkte gesichertes historisches Wissen. Jahr für Jahr, Fest für Fest erneuerte sich und stabilisierte sich die kollektive Erinnerung. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts huldigte die Kommune Siena, die Heimatstadt des Papstes Alexander, mit einer sprechenden Bildsequenz von der Hand des Spinello Aretino in der Sala Nova (resp. der Sala di Balia) des Palazzo Comunale ihrem großen Sohn 12 • Noch heute tobt dort die Schlacht an der Punta Salvore, wird dort der Kaisersohn vom Dogen gefangen und vor den Papst geführt, unterwirft sich der rote Friedrich in entehrender Form (auf den Rücken gebogen) dem Hl. Vater. Das alles erschien nicht weniger historisch als die Eroberung Konstantinopels durch den uralten, blinden Dogen Enrico Dandolo im Jahr 1204. Wer sollte da zweifeln 7 Indes, wer sollte bei so vielen Zeugen, bei so detailgenau festgehaltenen Daten und Fakten und Dankbezeugungen, bei so vielen sichtbaren Beweisen erkennen, daß alles, die kaiserliche Flotte und ihr Admiral, die gewaltige Schlacht, der grandiose Sieg, die brennenden Schiffe, die Toten, der Fuß des Papstes auf dem Nacken des Kaisers, jedes noch so detaillierte Datum, daß das alles pure Erfindung war, ein mit der Zeit entstandenes Geflecht aus wahr und falsch, gewonnen zwar aus Urkunden und Aufzeichnungen und sichtbaren Ritualen, aus guten Referenzen mithin, doch frei entworfen und zusammengefügt, nach bestem Wissen und Gewissen und der Empfänglichkeit des Augenblicks in sich schlüssig und widerspruchsfrei konstruiert und implantiert in das Gedächtnis Venedigs und anderer Städte und manch eines Geschichtsschreibers Italiens sowie
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- der Reformation der Deutschen? Konstruktive Operationen sind das Kennzeichen des individuellen Gedächtnisses, das sich auf dem Weg von den Individuen zu den Gruppen, Gemeinschaften oder Verbänden deren Kulturen mitteilt. Einmal aber in eine durchgefeilte Erzählung gebannt, wirkt diese wie ein autoritatives Implantat. Es strahlte, wie erwähnt, wirkmächtig auch nach Deutschland aus. Hier hielt die Geschichte jener Schlacht (wenn auch verändert und um die venezianischen Details verkürzt) Einzug auch in das mehrfach aufgelegte, gegen das Papsttum hetzende Machwerk «Bapsttrew Hadriani iiii. vnd Alexanders iii. gegen Keyser Friderichen Barbarosa geübt» von 1.545 und mit ihm in alle frühen Luther-Gesamtausgaben. Was tat's, daß dessen Autor den Kaiser Friedrich lebend von seinem Kreuzzug (auf dem er bekanntlich ertrank) zurückkehren und jetzt seinem Sohn den voreiligen Angriff auf Venedig verbieten ließ! Diese Reformatoren übernahmen unkritisch als Wirklichkeit, was ihnen das kulturelle Gedächtnis vorgaukelte. Ihr Otto, «ein junger hitziger und freidiger Fürst», war in seinem Tatendrang nicht aufzuhalten, und das Verhängnis nahm seinen Lauf. Der Kaiser mußte «zu lcreutz krichen»; er «war da in der klippen und
muste singen, wie es der Bapst gern hort. Darumb legt er sich auf! die erd und bat umb vergebung. Da gieng der Bapst hinzu und trat im für allem volck mit eim fuß auf! den Hals ... Den Keyser verdros der grausam hochmut ... , das er nicht gar schweigen konnte, ... Sonder sprach: <non tibi sed Petrü> ... Da trat jm der Bapst noch einest auf! den Hals und sprach: <et mihi et Petra»>. So empfing Friedrich gedemütigt die Absolution und den apostolischen Segen 13 • Kritischer Sinn hatte noch keinen Besitz von Erinnerung, kulturellem Gedächtnis und Geschichtserzählung ergriffen, und kein Mensch stieß sich daran, daß allenthalben andere Geschichten erinnert, niedergeschrieben und verbreitet wurden, und daß niemand war, der fremde Erinnerung zu korrigieren begehrte, solches gar vermocht hätte. Erst in altgläubiger Abwehr derartiger Konstrukte sah sich das Gedächtnis mit den Quellenzeugnissen des Geschehens von einst konfrontiert. Mit dem 16. Jahrhundert, dem Zeitalter der konfessionellen Auseinandersetzungen, setzt denn auch, worauf hier nicht weiter einzugehen ist, die historische Aufklärung ein; sowohl die päpstliche als auch die kaiserliche Seite artikulierten nun Gegendarstellungen. Zu Recht berühmt sind die bewundernswerten, methodisch innovativen «Annales ecclesiastici» des Kardinals Caesar Baronius (1605-1612). Der Glaube verlangte nach Entmythologisierung der Historie. Sogar in Venedig irritierte bereits um 1500 das Fehlen jeglicher urkundlichen Überlieferung zur (angeblichen) Verleihung der Herrschaft
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über das Meer durch Alexander III. Sie stünde, so beantworteten im Jahr 1505 venezianische Gesandte die bedrohliche Frage des Papstes Julius II. danach in höchst delikater Weise, auf der Rückseite der «Konstantinischen Schenkung» zu lesen, jenem Dokument also, dem das Papsttum nach Auffassung der Zeitgenossen seine weltherrscherliche Stellung verdankte, und das damals bereits seit zwei Menschenaltern in Verruf geraten war, unter dem Druck der konfessionellen Kämpfe alsbald aber wieder und dann bis ins 19. Jahrhundert seine ku:uialen Verteidiger fand. Auch Venedig sah sich somit einstweilen nicht genötigt, sein Vergangenheitsbild kritisch zu durchleuchten oder gar zu revidieren 14 . Erst die Darstellung des Baronius 15 brachte hier die endgültige Wende. Was aber war geschehen? Ein Implantat in das kulturelle Gedächtnis Venedigs hatte tatsächlich andernorts etwas Neues hervorgebracht und dort einen Haß zu artikulieren erlaubt, den kein geschichtsschreibender Doge je intendiert hatte. Eine zwiefache Wirkung ging somit nun von dem historischen Geschehen aus: Der tatsächlich geschlossene Frieden von Venedig im Jahre 1177, dessen Dokumente erhalten sind,16 wirkte ebenso fort wie jenes Implantat. Auch dieses war real und schuf, einmal ins kulturelle Gedächtnis eingespeist, eine neue Wirklichkeit. Damit beginnt die Arbeit des Historikers, der beide zu erforschen hat. Wie kann er Kollusion und Kollision von Wirklichkeit und Implantat erfassen? Wie jene konstruierten Gespinste des Gedächtnisses durchdringen und zur Wahrheit wenigstens der äußeren Fakten sowie der realen Wirkungen derartiger Einschaltungen, gar zur Wahrheit des ganzen bald grandiosen, bald erschreckenden, doch stets folgenreichen Geschehens vordringen? Zur Schlacht an der Punta Salvore? Zum Frieden von Venedig? Zur Geburt des Hasses? Zu vergangenen Wirklichkeiten? Ein Kinderspiel! Lächelnd winkt der erfahrene Quellenkritiker und Geschichtsforscher angesichts der venezianischen Mären und Bildinszenierungen ab. Diese und jene Quelle, hervorragend informiert, zeitnah, zuverlässig, die Fülle der originalen Urkunden und der sonstigen Zeugnisse, ein kurzer Vergleich, ein Blick in die Handbücher und Regestenwerke falsifiziere die ganze Geschichte von des Papstes Flucht und der Schlacht und dem Fuß auf dem Nacken des Kaisers. Zudem ließen sich die einzelnen Elemente, aus denen die Fiktion sich konstruiert sieht - biblische Sprüche, ältere Papstbilder, Mythen, reales Geschehen -, schon früher nachweisen; erst ihre Vereinigung erfolgte im 14. Jahrhundert, wobei wir allerdings weitere, nicht überlieferte Vorstufen vermuten müssen. Interesse verdiene allenfalls, warum und von wem diese Fabeleien ins Leben gerufen wurden, wieweit ihre Urheber selbst an sie glaub-
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ten und warum sie es taten, wer noch auf sie hereinfiel, wie sie fortwirkten. Doch leicht zu entlarvende Lüge seien sie allemal. Rasch und ohne sonderlichen intellektuellen Aufwand erkennt dieser Historiker das «vitale Interesse», das offenkundige venezianische Legitimationsbedürfnis, die Herrschaftsrepräsentation der Serenissima, den Kampf um die Adria, die spannungsreichen Beziehungen zum Heiligen Stuhl, die diesen Chronisten, die selbst wiederholt Dogen waren oder wurden oder dogalen Familien entstammten, die Feder führten und irreale Fiktionen zeitigten. Er durchschaut, jener Historiker, den verherrlichenden Diskurskontext, in den sich das ganze Geschehen gestellt findet, die ätiologischen Momente zur Erklärung der «Trionfi» des Dogen; das spätere, in Augenblicken arger Bedrängnis dringliche Buhlen gerade um die Gunst des Papstes, der - zum Nachbarn auf Venedigs «Terra ferma» geworden - weithin und gefahrverheißend der Markusrepublik aus mancherlei Gründen zürnte; er enthüllt endlich auch, dieser moderne Forscher, daß die Erzählung gezielt mit den Erwartungen des lauschenden Publikums spiele, daß, was sie brachte, von Vorurteilen gefiltert aus einem breiteren Wissen selektiert worden sei, daß absichtsvoll ausgesuchte Erzählmuster die Adressaten der Mär für sich einnehmen sollten. Kurzum, dieser Historiker entdeckt den Erzähler und sein Publikum als gestaltende Mächte der Vergangenheitsbilder und mit diesen der Gegenwart, entdeckt die Manipulierbarkeit jedweder Geschichte und wie jenseits derartiger Manipulation alles wirkliche Leben verschwimmt. Ein großer Triumph der entmythologisierenden Geschichtswissenschaft. Aber er hat noch zu wenig erkannt und keineswegs die methodologischen Konsequenzen seiner Entdeckungen schon erfaßt, solange er, dieser belesene Historiker, übersieht, daß alle diese Momente nur Faktoren eines viel umfassenderen Faktorenbündels darstellen, das insgesamt auf die konstruktiven Operationsweisen von Hirn und Gedächtnis verweist, die auch das allgemeine Wissen beherrschen. Im Falle des Seesieges an der Punta Salvore tritt es offen, wenn auch bislang noch kaum durchschaut zutage l7 • Hatte doch Venedig nur ein Vierteljahrhundert nach der angeblichen Seeschlacht einen echten, einen grandiosen und die Welt tatsächlich verändernden Sieg errungen: im Jahre 1.204 nämlich, als unter Führung seines Dogen Enrico Dandolo und unter maßgeblicher Beteiligung seiner Kriegsflotte die Kreuzfahrer Konstantinopel eroberten. Dieser Sieg veränderte gründlich die politische Konstellation im Osten des Mittelmeeres und schuf die Voraussetzung für Venedigs beherrschende Machtstellung in der östlichen Mediterranee. Doch war er unter skandalösen und rechtlich anstößigen, von vielen Zeitgenossen scharf kritisierten Umständen erfochten.
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Venedigs Sieg über Friedrich Barbarossa
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Das kulturelle Gedächtnis Venedigs reagierte umgehend darauf. Der reale Sieg, der in der Stadt und zum al in und an S. Marco und in seinem Schatz mit zahlreichen Kostbarkeiten und Spolien aus Konstantinopel, mit heiligsten Reliquien, welche jahrhundertelang in Prozessionen zur Schau gestellt wurden, unvergeßlich und immerfort gegenwärtig zu sein schien, wurde in Venedig zwar nicht mit Schweigen übergangen, aber zu keiner Zeit in einer seiner Bedeutung angemessenen Weise erinnert; er sah sich eher heruntergespielt, irgendwie marginalisiert, geradezu verdrängt. Erst nach dem Fall Konstantinopels im Jahre 1453 und angesichts der wachsenden Türkengefahr im 16. Jahrhundert sollte es sich abermals ändern - jetzt freilich unter den Vorzeichen einer von Renaissance und humanistischer Quellenkritik geprägten Geschichtsschreibung. Für die älteren Historiographen indessen war es ein Sieg zumal der Kreuzfahrer, die Venedig für seine Hilfe angemessen entschädigten. Allein, daß er «Herr über ein Viertel und die Hälfte des ganzen Kaiserreichs der Romania» sei, fügte der Doge fortan seinem Titel (bis 1356) bei. Immerhin registrierte sein Nachfahre, der Doge und Geschichtsschreiber Andrea Dandolo anderthalb Jahrhunderte später, daß Enricos «wundervolles Werk den Staat der Venezianer gewaltig vergrößert» habe. Der Chronist stützte sich, als er daran erinnerte, auf Akten und Verträge. Seine Darstellung ging denn auch - so scheint es - über eine nüchterne Berichterstattung nicht hinaus; tatsächlich freilich reinigte er das Geschehen von allen zwielichtigen, skandalträchtigen Implikationen und bösen Anschuldigungen, wie sie in geschehensnahen Quellen durchaus anzutreffen waren. Ganz anders war derselbe Autor mit der Schlacht an der Punta Salvore verfahren. Das Wissen um die Wirkung jenes Sieges blieb also präsent. Um so erstaunlicher ist, wie wenig die Serenissima ihren Triumph auszuschmükken bestrebt war, wie unscheinbar sich derselbe in ihrem Selbstbewußtsein und ihrer Selbstdeutung ausnahm. Keine dogalen «Trionfi», nicht ein einziges Herrschaftszeichen der Serenissima wurden mit ihm in Verbindung gebracht. Die Siegestrophäen von 1204 und an ihrer Spitze das «wahre Kreuz» und die Ampulle mit dem Blut des Herrn sowie die porphyrnen «Tetrarchen» und die goldenen «Pferde von S. Marco» in Venedig verloren ihre triumphale Qualität oder streiften doch ihren Zusammenhang mit dem Sieg über Konstantinopel ab. Die Reliquien gaben zwar Anlaß zu aufwendigen Prozessionen der gesamten Staats- und Kirchenführung der Markusrepublik; doch bewahrte weder die Liturgie noch der Tag der jeweiligen Prozession etwas von der kriegerischen Herkunft der Heiltümer. In den «Tetrarchen» glaubte man bald heimtückische Kaufleute zu erkennen, die paarweise des Schatzes
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wegen einander ermordeten, bald heimatlose Prinzen, bald edle Albanier, bald verwegene Schatzräuber, bald die Tyrannenmörder Aristogeiton und Harmodios; Vergessen hatte sich der Herkunft dieser Figuren, des Anlasses ihres Erwerbs und der imperialen Qualität des Porphyrs bemächtigt. Die Rosse galten zunächst als Dokumente des Triumphes über Friedrich Barbarossa, bevor sie von gelehrten Humanisten mit Konstantinopel, Konstantin dem Großen und Nero in Verbindung gebracht wurden. Anderes wurde zu harmlosen Importen erklärt, wie sie die Venezianer seit je tätigten. Die Fiktion verdrängte die Wirklichkeit. Punta Salvore und der von der Schlacht erzwungene Frieden traten an die Stelle der Metropole Konstantinopel und des skandalumwitterten Kreuzzuges. Statt des realen Sieges über den «rhomäischen» Kaiser in Byzanz schob sich anscheinend noch während des 13. Jahrhunderts und, ohne daß es genauer zu datieren wäre, der erfundene Sieg über den «römischen» Kaiser des Westens in das kollektive Gedächtnis der Venezianer und zahlreicher Fremder. Was immer die Gründe dieser <Überschreibung> gewesen sein mögen - rechtliche oder politische Skrupel, der Kirchenbann des Papstes, den Enrico Dandolo auf sich gezogen hatte, der baldige Tod dieses Dogen, nachhaltige Zweifel an der Legitimität des von ihm geführten Krieges, wie sie zumal von Innocenz IH. und den Kanonisten Italiens aufgeworfen wurden, der tatsächliche Verlust Konstantinopels im Jahre 1261, Scham oder was immer - diese Überschreibung spiegelt die manipulative Macht des kulturellen Gedächtnisses. Sie konstruiert aus echten Elementen ein fiktives Bild; und ihr mußte sich vor dem Zeitalter kritischer Geschichtsforschung eine jede Vergangenheit unterwerfen. Auch der reale im Jahr 1177, den die Geschichtsschreiber Venedigs mit ihren Konstrukten überdeckten, war davon betroffen. Das Gedächtnis ersetzte ein skandalträchtiges Bild durch eines, das auch der höchsten, sakrosankten Rechtsautorität, dem Nachfolger Petri und Stellvertreter Gottes auf Erden, zu schmeicheln verstand, und vollbrachte damit eine gründliche Selbstreinigung Venedigs. Erst die Türkengefahr und der Sieg von Lepanto 1571 tauchten die verdrängte Vergangenheit in ein helleres Licht, versöhnten Venedig mit seiner eigenen Geschichte und ließen jetzt auch die Eroberung Konstantinopels in gewaltigen Schlachtgemälden feiern, die fortan gemeinsam mit der Schlacht an der Punta Salvore und ihren Folgen die Sala deI Maggior Consiglio schmücken durften. Sie erschienen nun geradezu als der Kreuzzug allein der Serenissima, auf dessen Höhepunkt der Doge den neuen, den lateinischen Kaiser krönte 18 •
Venedigs Sieg über Friedrich Barbarossa
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Die geschichtswissenschaftliehe Dekonstruktion ist somit das eine, der frühere Glaube das andere. An ihm partizipierten die ihn mit ihren Werken manifestierenden Autoren. Wie also kam es zur Verdrängung der Wirklichkeit? Wie wurden jene Vergangenheits bilder möglich? Warum war ihnen Erfolg auch jenseits der venezianischen Grenzen beschieden? Angesichts so herausragender und so gut dokumentierter europäischer Ereignisse wie des realen Friedens von Venedig im Jahre 11-77 und des späteren Todes des Rotbarts im Saleph? Da kam es offenbar nicht auf ein faktizistisch korrektes Erinnern an, vielmehr auf die für den Augenblick aktuelle Botschaft, der das kulturelle Gedächtnis dienstbar war, auf die Bedürfnisse der gegenwärtigen Gesellschaft Venedigs, Italiens oder des von der Reformation aufgewühlten Deutschland. Vermag eine Gemeinschaft auch nicht ohne ein geistige Orientierung stiftendes Vergangenheitsbild, ohne <Wahrheit> zu leben, so kann sie sich doch mit ahistorischen, mythischen, sachlich falschen Visionen arrangieren. Und diese bilden ein eigentümliches Konstrukt aus Geschehenem und Erfahrenem, aus Möglichem, Geglaubtem, Gefolgertem und stets aus Erinnertem. Fortan konkurrieren die in Gedächtniskrypten abgesunkenen Wirklichkeiten und die neuen Schöpfungen des Gedächtnisses um die Gestaltung der Zukunft. Doch auch in dieser Konkurrenz spiegeln sich die unbewußten Aktivitätsweisen des Hirns, indem sie in das kollektive Wissen eingreifen, Handeln lenken und Neues bewirken. Gegenwärtiges Leben bedarf, anders als der kritische Historiker, keines wirklichen Geschehens von einst, vielmehr der Helden, berauschender Taten, erhebender Bilder, mythischer Identifikationen und dergleichen Animation. Der Glaube an eine heroische Vergangenheit erscheint notwendiger als das Wissen um verflossene Wirklichkeit, wie bedeutsam sich diese bei näherem Zusehen auch ausnehmen möchte und wie tausendfach ihre Impulse fortwirken und die Welt gestalten mochten. Das Geschriebene, das allgemein Geglaubte, das von den höchsten religiösen, politischen oder wissenschaftlichen Autoritäten für wirklich und wahr Gepriesene entzog sich beharrlich aller Kritik. Mittelalterliche Geschichtsschreiber handelten danach; sie emanzipierten sich nicht von den Bedürfnissen des Glaubens. Ihnen ging die mythische «Wahrheit» der nackten «Wirklichkeit» vor, wobei sie den Unterschied vermutlich selten hätten registrieren können. Übrigens glaube ich nicht, daß es sich heutigentags wesentlich anders verhält. Der «alte Barbarossa, der Kaiser Friederich», war den Deutschen bekanntlich ein nationaler Nothelfer, der im Kyffhäuser nur schlief, um wiederzukehren (F. Rückert), den sie unter dem letzten deutschen Kaiser mit einem gewaltigen, furchteinflößenden
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Denkmal feierten; und der «Hohenstaufe» ist ihnen noch immer der Held, zu den ihn Luther erklärte: «Ein seer trefflicher, theürer, weidlicher, küner und sieghafter Fürst, das ich jhn jn meinem hertzen seer lieb habe» 19. Auch unsere Welt will betrogen sein.
4-1.2
Karf der Große: Ein heiliger Kaiser?
Implantationen kennen zudem noch eine andere Seite. Sie korrespondiert mit dem Auslöschen, einem Verdrängen und Vergessen oder Tabuisieren von Erinnerungen, die in qualitativer Inversion Gegenbilder erzeugen und erinnern lassen. Auch der tatsächlich geschlossene Frieden von Venedig im Jahre 1177, ein umfassendes Vertrags- und Aussöhnungswerk zwischen Papst und Kaiser, wurde von den Chronisten der Markusrepublik mit keiner Zeile gewürdigt. So wie die Implantation Geschehnisse hervorzubringen vermag, kann derartiges Verdrängen sie überdecken und verschwinden und anderes an ihre Stelle treten lassen. Auch jetzt verdankt sich das die Realität auflösende Implantat kommunikativen Prozessen, die sich einer vollständigen Kontrolle der Beteiligten entziehen; und abermals ist das Ergebnis eine Erinnerung ohne wirklichkeitsnahen Kern, mit einem geradezu herausoperierten Kern. Auf jeden Fall widersetzt es sich zäh den Aufklärungsbemühungen der Historiker. Das Phänomen sei wiederum an einem Beispiel, dem Begräbnis des Kaisers Otto IH. in Aachen im Jahre 1002, illustriert und verdeutlicht. Vorauszuschicken ist, was erst neuerdings erkannt wurde, daß Otto nämlich in dem in Aachen bestatteten Karl dem Großen den Apostel der Sachsen verehrte, dessen Erhebung zur Ehre der Altäre er seit dem Pfingstfest des apokalyptischen Jahres 1000 betrieb. Ein Spruch des Papstes war dazu nicht nötig; es genügte die Zustimmung des Ortsbischofs, Notkers von Lüttich, oder des zuständigen Metropoliten, Heriberts von Köln. Damals soll Otto, von einem Traumbild geheißen, nach dreitägigem Fasten, wie es sich gehörte heimlich, doch in Gegenwart zweier Bischöfe, vor kompetenten Zeugen nach dem Grab des fränkischen Heros suchen und es öffnen lassen haben, um den Leib erst mit gebeugten Knien zu verehren, dann ihn «emporgehoben» (levatum) dem Volke zu zeigen, ihn neu unter einer «goldenen Krypta» zu bergen und der bald eintretenden Wunder zu harren 20 . So weiß es ein annähernd zeitgenössischer, dem Ort des Geschehens freilich fern stehender Gewährsmann: der Aquitanier Ademar von Chabannes um 103021; teilweise bestätigt die Chronik von Novalesa (in Piemont) um 1050, die sich auf ein Augenzeugnis beruft, diesen Bericht. Beide Nachrichten verdeutlichen auf jeden Fall, wofür die Graböffnung ohne
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jene posthumen Erinnerungs-Inversionen gehalten wurde. Träfe es die Wirklichkeit, was nicht auszuschließen ist, so wäre Karl damals bereits zur Ehre der Altäre erhoben. Doch starb Otto III. keine zwei Jahre später in jugendlichem Alter von knapp zweiundzwanzig Jahren. Manch ein Zeitgenosse - nicht freilich jene beiden soeben erwähnten Zeugnisse - deutete seinen frühen Tod als ein Zeichen göttlichen Zorns, als Strafe für ein todeswürdiges Verbrechen. Manch einer, der dem Kaiser nahegestanden hatte, wie beispielsweise der Informant der Hildesheimer Annalen, der Bernward von Hildesheim gewesen sein dürfte 22, und zumal die unmittelbar in Aachen Beteiligten, unter ihnen vermutlich wiederum Bernward, erkannten nun in der Graböffnung die Verletzung der Totenruhe und darin eben jenen ruchlosesten Frevel, der jene bittere Strafe verlangte. Damit aber hatte der Himmel selbst sein Urteil auch über Karl gesprochen: Derselbe war kein Heiliger. Alles, was zu seiner Verehrung in die Wege geleitet worden war, verfiel mit Ottos Tod in normativer Inversion dem Vergessen, war eben Sakrileg und Verbrechen und kein Heiligenkult und durfte nicht als solcher erinnert werden. So erklärt sich, daß nur fernstehende Autoren, vom Tod des Kaisers nicht mehr betroffen, das Geschehene überliefern. Schuldig aber waren nicht bloß der Kaiser, auch die beteiligten Bischöfe: Bernward und Heribert, auch Notker, wenn er gegenwärtig gewesen sein sollte. Ottos Tod war zugleich eine himmlische Warnung an sie 23 . Allein eine Grabsuche, die im Rahmen des liturgischen Gebetsgedenkens für den Kirchenstifter zulässig war, entging der Diskriminierung und schob sich jetzt statt der Elevation in den Vordergrund. Der Vorgang spiegelt sich in den Quellen, sobald deren zeitliche Ordnung mit ihrer Nähe zum Geschehen verschränkt wird. Die wichtigste, weil zeit- und geschehensnächste Information bietet Johannes Diaconus von Venedig. Johannes kannte Otto persönlich; er war wiederholt und gerade eben noch der Bote zwischen ihm und dem Dogen; es ist nicht einmal auszuschließen, daß er an des Kaisers Totenlager in Paterno gestanden hat. Der Diakon aber schrieb, daß Ottos Leichnam nach Aachen geleitet worden sei, «um dort mit seinem Vorgänger Karl seligen Angedenkens am Tag des Gerichts bereit stehen zu können»24. Eine solche enge Gemeinschaft in der Erwartung des Jüngsten Gerichts suchte man seit der Antike gewöhnlich mit Heiligen25 . Johannes überlieferte als einziger diesen Hinweis, der noch einmal und nun aus des Kaisers nächster Umgebung bezeugen kann, daß Otto Karl als Heiligen zu verehren gedachte. Der Venezianer, der über die Graböffnung und ihre Strafwürdigkeit schweigt, brachte diese überhöhte Form der Verehrung des großen
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Karl durch seinen jugendlichen Nachfolger Otto noch nicht mit dessen vorzeitigem Tod in Zusammenhang. Anders die Quellen aus dem näheren Umfeld der Beteiligten - wie die Hildesheimer Annalen. Sie spiegeln ein vermutlich von Schuldbewußtsein und Angst gelenktes Verdrängen. Jetzt war - trotz der beteiligten Bischöfe - die Graböffnung nur aus weltlicher «Bewunderung» Karls und deshalb «gegen das kirchliche Recht der göttlichen Religion» geschehen, forderte «die Rache des ewigen Richters» und ließ Karl den Großen selbst seinem Nachfolger wegen des begangenen Verbrechens sein Ende verkünden26 • Nur Ottos «vorzeitiger Tod» wurde erwähnt, der nun ein Sühnetod war, während sein Begräbnis neben Karl sich mit Schweigen übergangen sah. Karls Heiligkeit hatte sich vollends verflüchtigt. Doch dabei blieb es nicht. Alle seinerzeit anwesenden Bischöfe - keiner von ihnen war vorzeitig ins Grab gesunken - verschwanden nun in den ihnen nahestehenden Quellen aus der Erinnerung an das Geschehen; der mit dem Tod bestrafte Otto allein blieb als Frevler. Brun von Querfurt, gleich Otto ein Sachse, der den Kaiser trotz seiner Sünden schätzte, aber kein Zeuge der Vorgänge um das Karlsgrab und weder beim Tod in Paterno noch beim Begräbnis in Aachen zugegen war, Brun also schwieg über die Graböffnung, rückte aber immerhin noch «das Vorbild an Religion, den besten» Karl dem «heiligen und großen Kaiser» Konstantin zur Seite, den Glaubensbringer also dem Glaubensbringer, und ließ Ottos todwürdige Sünde in der Mißachtung des hl. Petrus gipfeln, dessen Stadt Rom er selbst, Otto, «wie die alten, heidnischen Kaiser» zu erneuern gedachte27 . Der unzeitige Tod verlangte auf jeden Fall nach einer Erklärung. Andere wiederum, wie die Quedlinburger Annalistin, die gleich Brun um das Jahr 1008 schrieb, wußten von Aachen nur als dem Ort, den Otto nach Rom vor allen anderen liebte, während Graböffnung und Karl, auch Ottos jugendliches Alter gänzlich ausgeblendet blieben28 . Neue Erklärungen tauchten auf. Der Bischof und Chronist Thietmar von Merseburg, ein ängstlich auf die Zeichen aus dem Jenseits bedachter Mann, verwies ein Jahrzehnt später nicht anders denn andere jüngere Geschichtsschreiber lediglich im Kontext einer legitimen Suche nach dem unbekannten Stiftergrab auf das heikle Geschehen29 • Warum aber dann der vorzeitige Tod des blutjungen Kaisers, dessen dynastische Folgen der Merseburger schmerzlich zu beklagen hatte? Thietmar ließ die Frage unausgesprochen und somit auch die Antwort offen. Die Lebensbeschreibung des hl. Erzbischofs Heribert von Köln endlich, des Mannes, der bei der Graböffnung unzweifelhaft zugegen war und sie geistlich gelenkt haben dürfte, der dann für Ottos Begräbnis in Aachen Sorge getra-
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gen hatte, wußte sie indessen eindeutig zu klären. Ihr Autor Lantpert, der um die Mitte des 11. Jahrhunderts schrieb, unterschlug zwar abermals jeden Hinweis auf Grabsuche und Heiligkeit Karls; aber er ließ jetzt den jungen Herrscher (wie vor ihm schon Ademar von Chabannes) durch Gift aus der Hand einer rachsüchtigen Frau aus Rom sein Ende finden. So verflüchtigte sich zuletzt auch der göttliche Zorn wider Otto III. und seine Berater und es blieb die Abscheulichkeit eines Verbrechens 30 • Kein Hauch einer Spur von Karls Heiligkeit war fürderhin mehr zu finden. Die Inversion war im kulturellen Gedächtnis der Deutschen wirksam implantiert. Erst nach über einem Jahrhundert und unter gänzlich gewandelten Umständen wagte ein Kaiser erneut, Friedrich Barbarossa, und nun erfolgreich, die Heiligkeit Karls des Großen durch den jetzt zuständigen Papst, der freilich ein Gegenpapst war, zu verkünden. Und erst nach annähernd einem Jahrtausend wurden die voreilige Heiligkeit Karls, ihre Verdrängung und normative Inversion, der sie unterworfen wurde, als einstige Handlungsimpulse wieder entdeckt. Doch beides, Implantat und einstiges Geschehen, wirkten fort und formten je auf ihre Weise mit an der Zukunft des h1. Karl.
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Die schwierige Suche nach erinnerter Wirklichkeit
Geschichte also, wie es sie nie gab, und wie sie niemand erlebte, wurde dem kulturellen Gedächtnis eingeschrieben. Implantierte Erinnerungen werfen sich den Mantel erlebter Wirklichkeit über; und unser aller Gedächtnis nimmt es hin. Es sind gewöhnlich knappe Einzelszenen oder kurze Episoden, die so das Gedächtnis in die Irre schicken, selten umfassende Geschehensbündel. Selbst die Episode um die Schlacht an der Punta Salvore galt nicht der Ereigniskette von Alexanders Flucht nach Venedig bis zu seiner Rückkehr nach Rom, sondern zunächst der zeitlich gestreckten Verleihung der dogalen «Trionfi», auch der Umwertung de's Skandals und Selbstreinigung Venedigs, sodann dem Fuß des Papstes auf dem Nacken des Kaisers. Warum dulden wir solche Phantasmen? Warum gehen wir nicht entschlossen dagegen vor? Was hemmt uns und gestattet solche Triumphe des Irrealen? Warum nimmt der Mensch unwirkliche, fiktive Vergangenheiten als eigenes Erlebnis an? Wie oft ist es der Fall? Und wie wirkt es fort? Was endlich folgt aus dergleichen Fragen für die Arbeit des Historikers, zumal des Mediävisten und eines jeden, der dem Gedächtnis verdankte Quellen auswerten muß? Die Antworten . fallen nicht leicht. Nichts mehr mit Kinderspiel. Jetzt geht es um den
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Menschen selbst, um uns: unser Erkennen, unsere Erinnerungen, unser stolzes, selbstbewußtes Denken, unseren sich frei dünkenden, das Bewußtsein beherrschenden Willen. Ihn hält unser Gedächtnis in Ketten. Könnte es die Wirklichkeit sein, die derartige Maskerade provoziert? Die uns unwirkliche Geschichte hinzunehmen gebietet? In der Tat, unser Gedächtnis wird bereits geformt, bevor unser Bewußtsein und unser Wille, was immer er sei, sich artikulieren. Dieser Wille dürfte selbst ein kulturelles Implantat ins Gedächtnis~sein, ein durch Erziehung, mithin fremdinduziertes Aktivitätsmuster unseres Hirns. Wäre dem so, so trieben dem Willen entzogene Gedächtnisinhalte als solche unbemerkt in uns ihr Unwesen. Die Willensphilosophie und zumal die Lehre vom freien Willen ist ja als Charakteristikum des antiken und christlichen Westens kein Gemeingut der gesamten Menschheit. Implantate wären danach als neuronale Enkodierung überall möglich, in jeder Kultur, der freie Wille indessen nur dort, wo er rechtzeitig, nämlich im empfänglichen Kindesalter als kulturelle Schöpfung implantiert wurde. Derartige Implantate schleichen sich gewöhnlich über die Sprache, mitunter auch über Imaginationen ins Gedächtnis ein. So wenig aber der assoziative Cortex Außen- und Binnensignale unterscheiden kann, so wenig vermag er Realität und Irrealität unserer sprachlich oder bildhaft kodierten Erinnerungen scharf voneinander zu trennen. Der Gesichtssinn spiegelt gleich einem Zauberkünstler auch fiktive Bildwelten als Wirklichkeit in das Gedächtnis. Doch ist es vordringlich die Sprache, die uns irritiert, und der kommunikative, von Schutzmechanismen entblößte Kontext, in dem sie uns attackiert. Sie, dieser Garant hinlänglich genauer, hirninterner symbolischer Repräsentation äußerer Wirklichkeit, diese Hinterlassenschaft des Frühmenschen zur effizienten Wirklichkeitsbewältigung narrt uns mit Unwirklichkeit. Die Sprache, die uns erlaubt, fremde Erfahrungen nachzuvollziehen und eigene anderen mitzuteilen, schickt zugleich unser Gedächtnis in die Irre, weil sie gestattet, fremde, in Wirklichkeit nie erlebte Fiktion wie selbsterlebtes Eigenes anzunehmen und erinnernd für wahrgenommene Wirklichkeit auszugeben. Alles aber, was mit unserem Gedächtnis geschieht - bis hin zu Verformungen, irrealen (nämlich nur sprachlichen) Konstrukten und Implantationen, ja, bis hin zu bewußten Falschinformationen, Lügen und fiktionen -, geschieht auch in der Geschichtsschreibung. Wie läßt sich ihnen begegnen? Nicht immer steht ein ausreichend breit gefächertes und vielfältiges Vergleichsmaterial zur Verfügung, dessen Widersprüche Einblikke in den Wirklichkeitsgehalt jeder einzelnen von ihnen und damit auch der historischen Erzählungen gewähren. Der Vergleich, der im kultur el-
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len Leben auf individuellen und kollektiven Erfahrungen beruht, kann durchaus - wie im Falle der Seeschlacht von der Punta Salvore - Fiktionen enthüllen oder doch - wie angesichts von Ottos IH. Tod - auf Verdrängen und Gedächtnisreinigung verweisen. Trübe, spärliche, verschleiernde Sachdaten bei einem Überschuß an «ideologischer» Information (auch dies verrät die fingierte Seeschlacht oder Phänomene wie die «Konstantinische Schenkung») nötigen zur Implantationsvermutung, wenn sie auch jeweils für sich genommen keinen definitiven Beweis für ein Implantat zu liefern vermögen. Entsprechendes gilt für eigentümlich schwebende Zeit- und Orts- oder Zeugennennungen, wie sie einen so oft in den historischen Quellen begegnen; auch sie wecken berechtigte Vermutungen, die nach einer Beweisführung in diese oder jene Richtung, für oder gegen ein Implantat, verlangen. Die Geschichtswissenschaft, soviel wurde deutlich, ist unmittelbar betroffen. Ist sie doch, recht betrachtet, eine Auseinandersetzung eines Gedächtnisses mit fremden Gedächtnissen. Im Unterschied zu unseren Vorgängern verfügen wir heute allerdings über immer mehr und immer leistungsfähigere Gedächtnishilfen. Doch wissen wir alle, daß es Jahrhunderte brauchte, um Texte wie die «Konstantinische Schenkung» als Legende zu entlarven; oder daß selbst anerkannte Spezialisten für einen Augenblick auf die gefälschten Hitler-Tagebücher hereinfielen, obgleich auch ihnen bekannt war, daß der späte Hitler nahezu niemals schrieb. Anderes harrt noch der Entmythologisierung. Vor der erinnerungskritischen Analyse von Basistexten unserer geistigen und religiösen Kultur, wie etwa der Apostelgeschichte des Lukas (um von den heiligen Texten anderer Religionen zu schweigen), scheuen noch viele zurück31 • Die Erfahrungen mit Gedächtnisimplantaten wie Venedigs Version vom Frieden von Venedig oder der ob des unzeitgemäßen Todes Ottos IH. verdrängten Heiligkeit Karls des Großen dürften auch hier manche unliebsame Entdeckung verheißen. Wie dem aber sei, die Geschichtswissenschaft muß, nicht anders als der Strafrichter, Implantate von Wirklichkeit zu unterscheiden und die Listen des Gedächtnisses zu überlisten trachten. Sie muß erkennen, was einst wirklich geschah: daß der oder jener geboren, dies oder das zu der und der Zeit an dem oder jenem Ort getan, gedacht oder erlitten wurde, mit der und der Wirkung, daß jenes sich dann ereignete oder dort zutrug, und dergleichen mehr; und eben auch, wann Berichtetes tatsächlich nicht geschehen war, daß Barbarossa nicht nach seinem Kreuzzug gestorben und kein Barbarossa-Sohn als Gefangener in Venedig seiner Befreiung harrte 32; und sie muß nicht zuletzt die Wirkungen tatsächlicher Wirklichkeit mit den nicht minder realen Wirkungen erinnerter Wirklichkeiten konfrontieren, seien diese
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Zwischen Hirn und Geschichte: Implantierte Erinnerungen
letzteren auch noch so fiktiv. «Geschichte» mag jenseits von Tatsachen als geistige Form, als immer neue gedanklich-konstruktive Vereinigung historischer Phänomene konzipiert werden - unabhängig von der Wirklichkeit wird sie damit nicht.
v.
Wie zuverlässig sind Erinnerungen? Das Mittelalter als Untersuchungsfeld
Man raube ihnen die Quellen, die Quellen ihres Wissens, so wurde wiederholt von Mediävisten geklagt, nachdem sie die ersten Forschungen zum Gedächtnis kennengelernt hatten, die sich den Konsequenzen für die Geschichtsforschung zugewandt haben. Auch manch ein Althistoriker geriet in Bedrängnis, als er an die späte Quellenbasis für Alexander den Großen erinnert wurde. Ein Abgrund von Angst tat sich da auf, Angst nämlich zu verlieren, was bisher für gesichert galt. Angst aber macht blind. Erinnerungskritische Forschung indessen raubt keine Quellen, sie wertet das Vorhandene allenfalls um. Sie bedeutet tatsächlich und in erster Linie eine erkenntnistheoretische Herausforderung. Was läßt sich von vergangener Wirklichkeit noch erkennen, wenn unser Gedächtnis so funktioniert, wie es funktioniert? Wann kann ein Historiker sichere Aussagen treffen? Die sachlich unzuverlässige Arbeitsweise des Gedächtnisses hinterläßt im historischen Quellenmaterial erkennbare Spuren, die ihrerseits als Quellen betrachtet werden dürfen. Sie verweisen durchweg auf komplexe Erinnerungs- und Aushandlungsprozesse zwischen Individuen und Gesellschaft und damit auf kognitive Sachverhalte, welche die Quellen explizit gewöhnlich nicht ansprechen. Freilich verbergen sich diese Spuren in der Regel unter dem Schutzmantel einer Sprache, die unmittelbar erlebte und unverfälscht kolportierte Wirklichkeit suggeriert. Das Gewißheitssyndrom manifestiert sich somit auch in den schriftlichen Hinterlassenschaften vorwiegend mündlich orientierter Kulturen. Entsprechende Spuren, die selten fehlen, müssen geduldig aufgesucht, identifiziert und vorsichtig interpretiert werden, um in der angedeuteten doppelten Weise das fragliche Material angemessen auswerten zu können: im Blick auf seine sachlichen Informationen sowie auf die ihnen immanenten kognitiven und kollektiven Prozesse. Sie können in günstigen Fällen zu vertieften Einsichten in die Bedingungen und den Modulationsspielraum von Wirklichkeitswissen vergangener Zeiten und der daraus resultierenden Wissensgesellschaft führen. Derartige Spurensuche soll beispielhaft für eine jener Geschichtsepochen, das Mittelalter, geschehen, deren schriftliche Hinterlassenschaften in eminentem Maße von den Modulationen des Gedächtnisses betroffen
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Wie zuverlässig sind Erinnerungen?
sind. Nahezu alle <erzählenden Quellen> der Epoche wurden mit mehr oder weniger weitem Abstand von dem berichteten Geschehen niedergeschrieben und verdankten ihre Nachrichten in ausgedehntem Maße (wenn auch nicht ausschließlich) mündlichen Traditionen. Wie aber erinnerte man sich damals? Ein geläufiges Vorurteil behauptet ja, die Zeitgenossen jener fernen Jahrhunderte hätten sich, bar jeder Überfrachtung an Wissensstoff und fern jeder Hilfe der gedächtnisschwächenden Schrift, besser erinnert als heutige Menschen. Diese Annahme beruht freilich auf blanken Vermutungen, nicht auf gesicherten Untersuchungen über heutige Analphabeten. Besteht das Vorurteil also zu Recht? Siebzig oder achtzig Jahre, mithin die Weitergabe eines Ereigniswissens von den Großeltern an die Enkel, gelten unter Historikern, gelegentlich auch unter Ethnologen für die Grenze zuverlässiger im Modus der Mündlichkeit erfolgender Rückerinnerung. Man mochte für diese Frist auf den Chronisten Thietmar von Merseburg verweisen, der bis zu seinem Tod 1.01.8 an seiner Chronik schrieb und sich um 1015118 seiner beiden Urgroßväter namens Liuthar erinnerte, die in derselben Schlacht im Jahr 929 gefallen waren l . Ähnlich wußte, um ein weiteres Beispiel anzuführen, auch der Mönch auf der Reichenau, Hermann der Lahme, ein Jahrhundert nach dem Geschehen, daß sein Ururgroßonkel Dietbald von Dillingen und sein Urgroßonkel Graf Reginbald, der Oheim seiner Großmutter Bertha, im Jahre 955 im Kampf gegen die Ungarn auf dem Lechfeld den Tod gefunden hatten2 . So reichte also das mündliche Familiengedächtnis tatsächlich generationentief in die Vergangenheit zurück? Moderne Historiker sind in der Tat geneigt, es zu glauben3 • Auch der Ägyptologe Jan Assmann bestätigt für das kulturelle Gedächtnis die Grenze von 80-100 Jahren4 • Doch das kulturelle Gedächtnis ist nicht identisch mit der erinnerten Wirklichkeit; und reine Mündlichkeit ist unter diesen mittelalterlichen Literaten selten faßbar und nachzuweisen und noch seltener ein zuverlässiger Reportator. Zudem verrät kein Name etwas über das zu erinnernde Geschehen. Thietmar fand in den Geschichtswerken Widukinds von Corvey oder der Quedlinburger Annalen und in sonstigen Texten eine Gedächtnisstütze, bei schriftlichen Aufzeichnungen also; auch Memorialquellen, Zeugnisse des institutionalisierten, teilweise verschrifteten Gebetsgedenkens, waren ihm vertraut. Weiteres, das heute verloren ist - seien es Annalen, Urkunden, Grabverse oder Inschriften -, wird hinzugekommen sein. Hermann von Reichenau verfügte gleichfalls über schriftliche Quellen, welche die Familienmemoria tradierten, zum al über die Lebensbeschreibung des hl. Ulrich, der wiederum einer seiner Ururgroßonkel war5 . Bloß erinnerte Zeitan-
Die Erinnerungsfähigkeit von Prozeßzeugen
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gaben sind höchst problematisch, wie K. Löwiths Autobiographie oder Bohrs Erinnerungen an «Kopenhagen» zur Genüge lehrten. Wie detailreich und verläßlich war somit das Gedächtnis schriftferner <mündlicher Kulturen> von einst? Die Frage soll durch eine Untersuchung mittelalterlicher Zeugenaussagen und an einigen Beispielen herausragenden Familiengedenkens einer Antwort näher geführt werden (Kap. 5). Erschwerend fällt dabei das Fehlen von Parallelüberlieferungen und Kontrolltexten ins Gewicht. Im Anschluß daran werden Erfahrungen der Ethnologie und Kulturanthropologie vergleichend betrachtet, soweit sie das Erinnerungsverhalten mündlich orientierter Gesellschaften betreffen (Kap. 6), um endlich Spuren von Gedächtnismodulation in mittelalterlichen erzählenden Quellen unter methodologischen Gesichtspunkten auszuwerten (Kap. 7). Dies alles kann freilich nur beispielhaft dargestellt werden, an der Analyse und Auswertung von Einzelfällen 6 •
5.1
Die Erinnerungsfähigkeit von Prozeßzeugen
Gerichtliche Zeugenaussagen, die sich bloß mündlicher Tradition verdankten, gelten gewöhnlich als recht zuverlässig, sind indessen für den auf ein präzises Datenmaterial angewiesenen Historiker ohne Kontrollmöglichkeit eine höchst zweifelhafte Wissensquelle, wenn nicht ganz unbrauchbar7 • Die vierzig, fünfzig, sechzig oder noch mehr Jahre, die da mühelos überwunden wurden, müssen erhebliche Zweifel weckenS. Niemand vermag ihren Inhalt zu kontrollieren. Was an ihm stimmte, was nicht, wie jüngere Informationen ältere überlagerten, welche Verzerrungskoeffizienten dabei wirksam wurden, wieweit die Zeugen vor ihrer Aussage ihr Wissen austauschten, aushandelten und - bewußt oder unbewußt - aufeinander abstimmten, verraten die erhaltenen Gerichtsprotokolle selten oder nie und keinesfalls auf den ersten Blick. Wie viele und welche Details stimmten? Auf sie kommt es dem Historiker gerade an. Wie waren sie zeitlich zu verorten ? So lange derartige Fragen nicht zweifelsfrei zu beantworten sind, ist auch der Geschichtsforscher nicht berechtigt, die erwähnten Aussagen und mit ihnen die postulierten Belege für die Erinnerungsdauer für gewiß zu nehmen. Wieder warnen John Dean, Fürst Eulenburg, der Philosoph Löwith oder der Nobelpreisträger Heisenberg. Wer sich in einem Fall an ein Detail desselben Falles zutreffend erinnerte, konnte sich mit einem anderem abgrundtief täuschen - ohne es zu bemerken und ohne dem späteren Historiker, der nur auf dergleichen Aussagen angewiesen ist, auch nur den Hauch einer Chance zu lassen, die Irrtümer zu rea-
1. 76
Wie zuverlässig sind Erinnerungen?
lisieren und die zutreffende Angabe dem zugehörigen Detail oder Ereignis zuzuordnen, die falsche aber als solche zu durchschauen. Alles konnte der Verformung unterliegen: die absolute und relative Chronologie, die Beteiligten, die Handlungen, die Geschehensorte, die in die Darstellung eingeflochtenen Urteile, kurzum: die Gesamtheit der «harten Fakten». Lassen sich also Kriterien finden, um die mittelalterlichen Prozeßzeugen wenigstens ansatzweise zu kontrollieren? Welche Qualität von Erinnerung spiegeln jene Aussagen? Wie ordneten sie die erinnerten Einzelheiten zu einem Ganzen? Was erinnerten diese Zeugen überhaupt?
5.1..1.
Der Grenzstein von Marzano
Aufschlußreich ist eine Episode, die bereits Renato Bordone kurz beleuchtet hat9 . Da sei einst zwischen den Bischöfen von Pavia und Piacenza um die Grenze ihrer Diözesen ein Prozeß ausgetragen worden, der so wissen die von einer späteren Untersuchung erhaltenen Urkunden durch ein Duell zweier Kämpen für ihre Herren zugunsten des Pavesen geendet haben soll. Neun Zeugen bestätigten immerhin dieses Duell. Doch wann es stattgefunden hatte, wußte keiner mehr zu sagen; es ist bis heute unbekannt. Kein Augenzeuge war aufzutreiben. Soweit eine Informationsquelle angegeben wurde, war es «der Vater» oder «die Alten von S. Marzano», des Ortes, um den sich alles drehte. Doch existierte - so noch einmal die erhaltenen Urkunden vom späteren Prozeß - ein Grenzstein bei S. Marzano, der nach dem Kampf errichtet worden sein soll. Und er besagte etwas. Doch was? Die ersten drei Zeugen erinnerten sich wie eben ausgeführt; der vierte, der Priester von S. Marzano, war unsicher, wußte vom Duell der beiden Bischöfe, auch daß der Pavese gewonnen, wußte aber nicht, wofür er gekämpft hatte. Die dritte Gruppe von abermals drei Zeugen erklärte, die Grenze zwischen den Territorien der beiden Grafschaften sei umstritten gewesen; der achte, der sich äußerte, wagte keine Festlegung, ob die Grafschaften oder das Land von S. Sisto (d. h. der Kirche von Pavia) umkämpft war; der letzte Zeuge schließlich gab zu Protokoll, das Duell sei nicht um die Grafschaften, sondern um das Territorium von S. Marzano ausgetragen worden. Unklar ist, zu wessen Gunsten die jeweiligen Zeugen ihre Aussagen machten, wie weit sie also Erinnerungen, Gegenerinnerungen oder Kontrollerinnerungen boten. Bordone zitierte diesen Fall allein, um zu illustrieren, wie trügerisch Erinnerungen jenseits der Grenze von sechzig Jahren waren. Doch genügt diese Betrachtungsebene in keiner Weise; die Aussage war ohne ko-
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gnitionswissenschaftliche Untersuchungen zum Gedächtnis zustande gekommen. Solche hätten den Historiker schnell belehrt, daß in viel kürzerer Zeit divergierende Erinnerungen produziert werden, insofern die vom Geschehen empfangenen Sinneseindrücke fortwährend umformende Ergebnisse. Das Duell von Pavia, von dem wir nicht wissen, wann es stattgefunden hat, illustriert denn auch etwas ganz anderes, keineswegs eine Sechzig-jahres-Frist sicherer Erinnerungen: nämlich die unabdingbare Notwendigkeit neutraler Vergleichszeugnisse zur Kontrolle der Verläßlichkeit erinnerter Sachinformationen. Ohne solche, das heißt im Falle der Historiker: ohne. weitere Quellen, läßt sich schlechthin nicht entscheiden, welche der verschiedenen Zeugenaussagen der Wahrheit am nächsten kam. Ein mittelalterlicher Richter konnte es ebensowenig, wie immer er sich entschieden haben mochte. Indes, der Historiker muß und will noch hinter die Faktenentscheide der Richter blicken; und da beginnt der Boden zu wanken, den er betritt. Möglich ist, daß sich die ersten drei Zeugen korrekt erinnerten, möglich, daß es die zweite Dreiergruppe tat. Aktualisierung für den gegenwärtigen Prozeß dürfte ihre Erinnerungen manipuliert haben. Auszuschließen ist aber keineswegs, daß allein der neunte Zeuge den Sachverhalt zutreffend memorierte; und schließlich muß ins Auge gefaßt werden, daß kein einziger der Zeugen die Wahrheit kannte. Offen ist ferner, ob die übereinstimmenden Aussagen jeweils drei unabhängige Zeugnisse darstellten oder aufgrund vorangegangenen Wissensaustausches vereinheitlicht worden waren. Der Historiker muß die Antwort auf die Frage nach Ursache und Zweck des bischöflichen Duells, wenn ein solches denn stattgefunden hat, schuldig bleiben. Erinnerte Vergangenheit schickte auch mittelalterliche Zeitgenossen in die Irre. Sie brach sich in einem sich widersprüchlich erinnernden kollektiven Gedächtnis, das seine Äußerungen fortgesetzt modulierte und sich - selbst Gewißheit suchend - unmerklich der erinnernden Gegenwart anpaßte. Die Glaubwürdigkeit lag in der allgemeinen Lebenserfahrung eines jeden Menschen. Wer wollte da zweifeln; und wer sollte in einer so weithin von Mündlichkeit beherrschten Gesellschaft wie damals das sich autobiographisch gebende Gedächtnis überprüfen können? Greifbar indessen und unbezweifelbar war jener «Grenzstein», der bei S. Marzano stand. Er aber behielt seine Geschichte auf ewig für sich. Das Drama, das sich um ihn rankte, wurde nur als mündliche Erzählung, nicht als wahrgenommenes Geschehen erinnert; es könnte sich um eine ätiologische «Sage» handeln, von einem Erzähler ins Leben gerufen, der die Semantik des steinernen Mals zu entziffern trachtete oder auch nur seine Zuhörer zu unterhalten wünschte.
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5.L2
Ein Streit um das Val di Lago di Bolsena
Im Jahre 1194 stritten die Bischöfe von Sovana und Orvieto um das Val di Lago di Bolsena lO • Beide Parteien legten ihre Beweisurkunden, ihre Instrumenta vor. Schriftlichkeit war also im Spiel, ohne daß wir aus Mangel an weiteren Quellen ihre volle Wirkung abschätzen könnten. Die Richter hörten zusätzlich insgesamt 57 Zeugen, die sich ohne Schriftdokumente zu erinnern hatten. Die ihnen gestellten Fragen wurden nur ungefähr protokolliert und auch die Antworten vielfach nur in abgekürzter Form festgehalten: Wie alt sie seien. Wie weit zurück sie sich erinnerten und ob sie das Erinnerte beeiden könnten. Ob sie die Kleriker des Tals zur Synode des Bischofs von Sovana oder von Orvieto hätten eilen sehen. Wer dort die Kirchen geweiht, dorthin das Chrisma (das Salböl) gesendet, wer hier gefirmt und die Weihen vollzogen habe. Ob sie frühere Streitigkeiten und Prozesse erinnerten. Wann das alles geschehen sei; und ob sie dabeigewesen seien. Ob sie es mit eigenen Augen gesehen, mit eigenen Ohren gehört hätten. Und dergleichen mehr. Fragen also, die weithin auf kontinuierliche Rechtsverhältnisse zielten, nicht auf Einzelereignisse, auf sich Wiederholendes, nicht auf Einmaliges, die mithin ein fortgesetzt wiederkehrendes Geschehen im Blick hatten und keine detaillierte Sequenz von Einzelakten. Die Antworten erfolgten stereotyp. Er habe die Kleriker zur Synode gehen sehen oder nicht, den Bischof firmen sehen oder nicht, er habe von früheren Prozessen gehört, sei aber nicht dabeigewesen, er wisse es nicht und so fort; nicht selten sagte einer dasselbe wie ein zuvor gehörter Zeuge, was in diesem Fall keine Bestätigung bedeutet. Mannigfache Aushandlungsprozesse zwischen allen Beteiligten schimmern immer wieder durch die Protokollnotizen hindurch. Zusammen mit der Schriftlichkeit könnten sie sich etwa in der namentlichen Nennung bestimmter Bischöfe niedergeschlagen haben. Damit wäre kein Geschehensgedächtnis, sondern ein Geschehen ganz eigener Art faßbar, die kommunikative Phase nämlich des kulturellen Gedächtnisses. Die Schwierigkeiten begannen mit dem Lebensalter, den Zeitangaben, der gen aue ren zeitlichen Verortung des erinnerten Außerordentlichen im gemächlichen Fluß der Jahre und seiner inhaltlichen Fixierung. Die Zeugen sollten sich an ihre Kindheit oder frühen Jugendjahre erinnern. Welcher Bischof diese oder jene Kirche geweiht habe? Damals. Indes, sie vermochten nicht einmal ihr Alter zutreffend anzugeben. Wie dann das
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Lebensjahre, schon gar nicht dreiundsiebzig, sechsundachtzig, einundneunzig Lenze. Wer zählte diese schon? Wieweit sie sich zurückerinnerten? Wieder bemühten sie sich um Genauigkeit: Vierzig, fünfzig, ausnahmsweise einmal auch vierundsechzig oder einhundert Jahre ll . Gewöhnlich sind die Antworten so stereotyp, daß sie sich jedem kritischen Zugriff entwinden. Die Ausnahmen bieten größeren Aufschluß. Zeuge 27 gab an, ein erster Prozeß zwischen Sovana und Orvieto sei vor vierzig oder mehr Jahren geführt worden, und fügte wie zur Bekräftigung hinzu: vor vierzig Jahren sei sein Heimatort zerstört worden, weshalb er dann ins Nachbardorf gezogen sei; er selbst sei damals älter als vierzehn Jahre alt gewesen. Da hatte sich in der Erinnerung eine einschneidende Begebenheit seiner Jugendjahre mit der vereint. Der Prozeß der Bischöfe, die Destruktion des Dorfes und der Umzug bildeten ein irgendwie zusammengehöriges Gedächtniskonstrukt, in dem er selbst, der alte Mann, als Giovanotto hervortrat. Doch kaum hatte der Notar seine Aussage protokolliert, meldete der Greis sich abermals: Die Zerstörung sei vor siebzig Jahren geschehen. Anscheinend hatte man ihn, kaum daß er seine Aussage beendet hatte, eines besseren belehrt. Der Aushandlungsprozeß des kulturellen Gedächtnisses stand also nicht still. Was aber traf nun zu? Wann war der Mann «älter als vierzehn» ? Vor vierzig, vor siebzig Jahren? Zu anderer Zeit? Wann hatte der Prozeß, an den er sich zu erinnern meinte, tatsächlich stattgefunden? Dabeigewesen war dieser Zeuge ohnehin nicht. Er wußte alles nur vom Hörensagen. Erinnerte er überhaupt jenes Verfahren zwischen Sovana und Orvieto, das die Richter interessierte? Oder nur eine Information, die ihm irgendwann später zugeflossen war? Einen anderen Prozeß? Wenn er sich nach seiner Aussage mit anderen besprach, dann dürfte er es auch zuvor schon getan haben. Waren seine Angaben vor Gericht das Ergebnis derartiger Abstimmung? Hatten die Fragen der Richter seine Aussage gelenkt und so, wie sie dann erfolgte, erst zustande gebracht? Wann überhaupt hatte er von jenem früheren Prozeß erfahren? Woran also erinnerte er sich, als er glaubte, sich an jenen Prozeß zu erinnern? Die Fragen sind nicht zu beantworten und hinterlassen mancherlei Zweifel bei der Beurteilung nicht nur der Aussagen dieses Zeugen. Ein anderer, der dritte Zeuge, sei, so gab er an, damals, als er bei jenem ersten Verfahren den Bischof Ildizo (von Savona) und den Bischof von Orvieto auftreten sah, ein kleiner Junge gewesen, dem gerade der erste Zahn ausgefallen war, und habe gehört, worüber die Herren sich stritten. Gefragt, ob er im Prozeß tatsächlich gehört habe, worum es ging, mußte er verneinen. Sein Wissen gründete demnach im bloßen Hörensagen, das er zu einem unbestimmbar späteren Zeitpunkt mit Erinnertem ver-
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schmolzen hatte. Schwerlich hatte er schon als Sechsjähriger auch nur annähernd das Spektakel erfaßt, das da vor seinen Augen abgelaufen sein soll. Wann also war der Zeuge über die Parteien und den Streitgegenstand so informiert worden, daß er sich das Erinnerte als den fraglichen Prozeß ins Gedächtnis rufen konnte? Von wem? Er wird Szenen memoriert haben, deren inhaltliche Bestimmung andere zu deutlich späterer Zeit vorgenommen hatten, ohne daß heute noch zu kontrollieren wäre, unter welchen Umständen dies geschehen war, und wie es sich in der Zeugenaussage niederschlug, und ob sich die erinnerten Szenen und deren inhaltliche Deutung tatsächlich deckten. Hier ist auf jeden Fall mit Aushandlungsprozessen zu rechnen, die sich durch längere Zeit hinzogen, wiederum also mit einer Phase des kulturellen Gedächtnisses und nicht mit der Erinnerung an ein bestimmtes, fest in der Zeitleiste verortetes Geschehen. Weiter traten drei angeblich einhundertjährige Männer laikaIen Standes als Zeugen Orvietos auf, deren erster sich achtzig, deren anderer sich gar an die gesamten einhundert Jahre seiner Lebenszeit zu erinnern behauptete, deren letzter allerdings die Frage nach seinem Erinnerungsvermögen mit Schweigen überging 12 • In ihren Aussagen manifestierte sich von Anfang an das Gewißheitssyndrom, das Vertrauen nämlich in den stabilen Besitz der eigenen Erinnerungen, wie verzerrt und verworren diese auch sein mochten. Jener erste gab an, unter Bischof Guilielmus (1103 -36) jung gewesen zu sein, was im Zusammenhang so viel hieß wie: zu jung für den Bischofsdienst, der darin bestand, die Zehnten und andere kirchliche Abgaben in den strittigen Ortschaften einzutreiben. Diesen Dienst erfüllte er dann unter den Bischöfen Gualfredus (1156-7), Ildibrandus (1140-55), Guiskardus (1157-9) und Milo (1159-61), mithin vor etwa fünfzig bis dreißig Jahren, während er unter deren Nachfolgern Rusticus (1168-75) und dem prozeßführenden Riccardus (1178-98) verhindert gewesen sei. Er kannte also, was nicht verwunderlich ist, die Bischöfe seiner Heimatstadt, in deren Dienst er gestanden hatte, wenn er auch die Reihenfolge des nur ein knappes Jahr amtierenden Gualfred und seines länger regierenden Vorgängers Ildibrand vertauschte. Indes, vermochte der Zeuge mit der Kenntnis der Namen auch die jeweiligen Geschehnisse den zugehörigen Regierungszeiten zuzuordnen? Mit welcher Trefferrate ? Irgendwelche Rechte des Bischofs von Sovana seien ihm nicht zur Kenntnis gelangt. Doch bestätigten andere Aussagen solche und entschieden später auch die Richter zugunsten Sovanas 13 . Ja, der Zeuge wußte um jenes frühere Verfahren, das seiner Erinnerung nach zwanzig oder mehr Jahre zurücklag, bei dem der Bischof von Sovana abgewiesen worden sei; er selbst sei damals sechzig Jahre alt gewesen. Einhundert Jahre minus
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zwanzig Jahre ergab eben sechzig Jahre. Oder war es umgekehrt: Hatte jener erste Prozeß stattgefunden, als er, der Greis, erst sechzig war, lag nunmehr also vierzig Jahre zurück? Der alte Mann erinnerte sich schlecht, hatte seine Augen vor fremden Ansprüchen verschlossen oder projizierte das Ergebnis eines früheren Prozesses, der zugunsten Orvietos ausgegangen war, in seinen eigenen Erfahrungsschatz. Für welche Zeit tatsächlich zutraf, woran er sich erinnerte, und was sich in seine Erinnerungen hineingemischt hatte, ist nicht mehr auszuloten. Auch die Aussagen des zweiten und dritten Zentenars blieben ohne zeitliche Präzision. Sie taugen ebensowenig zur Gedächtniskontrolle und bilden Erinnerungsmixturen dubioser Qualität. Was jeweils tatsächlich geschah, wann, mit welchen Beteiligten und welchen Ergebnissen, das bleibt vage und dunkel. Jenes frühere Verfahren wurde wiederholt von verschiedenen Zeugen angesprochen 14 . Doch wann es stattgefunden hatte, erinnerten sie wenn überhaupt - durchweg unterschiedlich. Ein erster meinte, vor fünfzig oder mehr Jahren (Nr.I); ein anderer ließ bloß vierzig oder mehr Jahre verstrichen sein (Nr. 27), korrigierte sich dann aber und scheint an siebzig Jahre geda~ht zu haben. Seine vierzig Jahre bestätigte, noch bevor die siebzig Jahre ins Spiel gebracht waren, wenn auch nicht explizit, der nächste Zeuge, ein fast einhundert Jahre alter Mann (Nr. 28). Ein weiterer Centenarius (Nr.38) ließ dieses Verfahren «vor zwanzig oder mehr Jahren» stattgefunden haben, nämlich als er sechzig Jahre alt war 15 • Andere Zeitangaben stehen - von der Regierungszeit des wahrscheinlich jenes Verfahren anstrengenden Bischofs Ildizo von Sovana (1126-51) abgesehen 16 - nicht zur Verfügung. Doch auch der Zeuge Nr.1 gab ausdrücklich an: nicht zu wissen, wie alt er gewesen sei, als die Causa verhandelt worden war, und erinnerte sich lediglich, daß dies vor fünfzig oder mehr Jahren geschehen sein müsse. Mit diesen Angaben eine Datierung zu stützen, geht nicht an 17. Keine Erinnerung ist besser begründet als die andere. Jenes erste Verfahren ist schlechthin undatierbar. Die Aussagen der übrigen Zeugen mögen auf sich beruhen; sie bieten nicht geringere Schwierigkeiten und keine besseren Grundlagen zur Erfassung des tatsächlich Geschehenen. Immerhin glaubte einer von ihnen, sich noch an den Romzug König Heinrichs V. zu entsinnen 18 . Er sei damals (man muß das Jahr 1111 geschrieben haben) sieben Jahre alt gewesen, und der König sei durch Acquapendente, seinen Heimatort, gezogen; das letzte traf zu. Doch hatte nicht auch Lothar III. Acquapendente passieren müssen? Später Barbarossa? Vermochte der uralte Greis die sporadischen Erscheinungen der Könige wirklich voneinander zu trennen? Wiederholt wird das Aushandeln der Aussagen und damit der Vergangenheit erkennbar. Besonders deutlich geschah es bei den ersten Zeugen
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Wie zuverlässig sind Erinnerungen?
für den Bischof von Orvieto (Nr. 34-37). Gleichsam als deren Sprecher trat der Priester Girardus auf, ein rüstiger Mann von gut sechzig Jahren (Nr.34); die drei nach ihm Gehörten sagten dasselbe wie er. Die Zeugen konnten sich offenbar besprechen, bevor sie an die Reihe kamen; sie hörten die Aussagen der anderen und konnten noch im Verfahren ihre eigenen mit den fremden abstimmen. Die Aushandlungsprozesse und mit ihnen die Verformung der erinnerten Vergangenheit reichten also bis in die notarielle Protokollierung hinein. So wundert es nicht, daß das Ergebnis, das gesamte Anhörungsprotokoll, sich recht geschlossen ausnimmt; es bot keine Summe unabhängiger und sich wechselseitig bestätigender Erinnerungen. Die Zeitangaben, die jeder dieser steinalten Zeugen zu machen wußte, erfolgten durchweg bestimmt und waren dennoch in der Regel falsch; auch die relative Chronologie blieb mitunter ungewiß, ebenso das genaue Geschehen, alle Details. Einer (Nr. 20) gab an, vor etwa vierzig Jahren in die Diözese Sovana gezogen zu sein, erst dreißig Jahre hier, dann dreißig Jahre dort gewohnt zu haben. Dreißig plus dreißig ergab vierzig. Erinnert wurde Gesehenes, Gehörtes, visuelle Szenen oder Fama, das Wiederkehrende und Regelmäßige, bloße Episoden, keine Zeitverhältnisse oder Geschehensabläufe. Das Außerordentliche, das hin und wieder im Gedächtnis aufleuchtete, blieb in der Regel isolierte, kontextlose Episode, die ohne die von Vorwissen gesättigten Fragen nirgends einzuordnen war. Erfragt waren die Zelebranten der Kirchweihen und Klerikerordinationen, Chrisma-Sendung, Zehnt eint reibung und dergleichen kontinuierlich erfolgende oder erinnerte Akte, die sich im Gedächtnis schwerlich voneinander trennen ließen. Die stete Wiederkehr des Gleichen aber taugt wenig zur Kontrolle der Zeitleiste zurück in die Vergangenheit. Für die Zwecke des Prozesses - die Klärung der Zuordnung nämlich der strittigen Ortschaften zu dieser oder jener Diözese - mochte sie genügen, zur Absicherung einer kritischen, vergangenes Geschehen qualifizierenden Erinnerungstheorie ist sie ungeeignet. Nicht einmal das wirkliche Alter jener Zuordnung ließ sich auf diese Weise klären. Immer wieder lassen sich Aushandlungsprozesse, eine die Erinnerung verformende Dynamik, registrieren, deren Ausgangspunkte ebensowenig faßbar werden wie deren weiteres Geschick, dessen Verlauf mithin dunkel bleibt. Teleskopische Effekte müssen vermutet werden, auch wenn die Protokolle sie nicht ohne weiteres zu erkennen geben. Sie könnten beispielsweise das auffallendste juristische Detail jenes kollektiv erinnerten früheren Prozesses verzerren: die Verweigerung des Iuramentum calumniae nämlich, des «Gefährdeeides», durch den klagenden Bischof Ildizo von Sovana, die den ersten Prozeß entschieden habe 19 . Wie-
Der Prozeß um die Grafschaft im Val Blenio
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der lassen sich Aushandlungsprozesse erkennen, jetzt freilich vor allem auf seiten derer von Orvieto. Die Zeugen des Bischofs von Sovana traf das juridische Argument wohl eher unvorbereitet. Ihr erster, ein Augenzeuge von annähernd achtzig Jahren (Nr.1), gab zu Protokoll, daß die Eidfrage später aufgebracht wurde; schließlich seien die Parteien auseinandergegangen, ohne daß er wußte wie20 . Bloße Ausflucht oder echtes Unwissen? Ein weiterer, nicht minder betagter Augenzeuge (Nr. 8) wußte, daß der Bischof von Sovana den Eid habe nicht leisten wollen und daß das Verfahren dann wegen Krankheit dieses Ildizo geruht habe 21 • Lediglich die Zeugen für Orvieto behaupteten mit Bestimmtheit, daß eben dieser Eidverweigerung wegen ihr Bischof freigesprochen worden sei. Doch gerade diese Zeugen hatten sich erkennbar abgesprochen 22 • Als ein zwingendes Erfordernis für Kleriker durfte dieser Eid indessen um 1140/50 gerade nicht gelten; erst im späteren 12. Jahrhundert kam er regelmäßiger in Gebrauch23 • So erscheint keineswegs gesichert, daß die Eidfrage in jenem frühen Verfahren den Ausschlag gab und nicht vielmehr die Folge teleskopierender Vergangenheitsbetrachtung war. Krankheit und Tod Ildizos sowie die anschließende mehrjährige Vakanz des Bistums könnten ohne jede Eidverweigerung den Abbruch des Verfahrens bewirkt haben 24 . Auch ganz andere, heute verborgene Gründe könnten dazu geführt haben. Die Aussagen der Zeugen geben nicht die geringste Garantie für die Wirklichkeit des Ausgesagten.
5 ·:1.3
Der Prozeß um die Grafschaft im Val Blenio
Gab es keine besseren Zeugen als die uralten Männer vom Val di Lago di Bolsena? Zuversicht weckt jene Aussage, die der gut sechzigjährige Guido de Curte im Rechtsstreit zwischen Friedrich 11. und der Kirche von Mailand um die Grafschaft des Val Blenio im Jahr 1221 machte. Das Tal führte vom Lukmanierpaß nach Biasca und Bellinzona hinab, besaß mithin im 12. Jahrhundert eine herausragende strategische Bedeutung für die staufische Politik. Friedrich Barbarossa wählte in der Tat die hier verlaufende Straße wiederholt, wenn er die Alpen überquerte 25 . Guido nun berief sich auf das, was ihn sein Vater Alcherius gelehrt hatte. Der war Vogt der Grafen von Lenzburg gewesen, welche die Grafschaft vom Reich zu Lehen trugen, und hatte den Sohn frühzeitig zu seinen Amtsgeschäften mitgenommen. So wurde er mit den Aufgaben des Vaters vertraut, wuchs in diese hinein und konnte sich später erinnern: «Ich sah meinen Vater das Amt innehaben und verwalten». Routine also bildete die Basis seines Gedächtnisses. Er gedachte der drei Brüder Werner (1127/vor 1167), Kuno (1167/69),
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Wie zuverlässig sind Erinnerungen?
den er selbst, Guido, habe Gericht halten sehen, und Arnold (1169/72), für den er nur seine Boten (Missi) habe auftreten sehen. Sie seien per naturam Grafen - so hatte man ihm gesagt - von Lenzburg gewesen. Deren erster, Werner, so hatte er gehört, sei von König Konrad IH., deren zweiter und dritter von Friedrich 1. mit der Grafschaft belehnt worden 26 . Das «von Natur aus» unterschied sie von seinem Vater, einem Mann nichtgräflicher Herkunft, der später die Grafschaft von Barbarossa erhielt. Einer aus der Familie lebe auch noch jetzt: Onricus. Mit diesem Irrtum offenbart sich die besondere Qualität dieser Erinnerungen. Denn Ulrich von Lenzburg, ein Vetter der Vorgenannten, den Guido 1221 noch unter den Lebenden glaubte, war tatsächlich im Jahr 1172/73 gestorben. Er war der letzte seines Geschlechts und hatte sein Erbe, wie anderweitig überliefert, dem Kaiser vermacht, ohne daß die Modalitäten dieses Erbvertrags bekannt wären. Der Rotbart aber hatte Guidos Vater mit der Grafschaft in der Talschaft Blenio belehnt. Nach bisheriger Ansicht geschah das nach Ulrichs Tod27 • Jene Fehlinformation indessen muß auf die Monate unmittelbar nach dem Tod des Grafen Arnold zurückgehen. Der Vogt von Blenio und sein Sohn besaßen offenbar später keine Gelegenheit, ihr Wissen zu aktualisieren - trotz der Belehnung durch Barbarossa. Dieselbe war demnach vor dem Hinscheiden des letzten Lenzburgers erfolgt; der Kaiser mußte die Grafschaft im BlenioTal entsprechend früher übernommen haben. Ulrichs Tod war für die Talschaft irrelevant geworden. Präzision also und Mangel in einem. Zu welchen Spekulationen aber würden sich die Historiker hinreißen lassen, verfügten sie nur über Guidos Wissen? Der Kaiser habe, so wußte Guido weiterhin, einmal für vier Tage in Blenio geweilt; er, Guido, habe ihn da gesehen. Der Kaiser habe dem Vater die Burg Serravalle (beim Talausgang) zu bauen geboten und sie ihm später .zu Lehen gegeben. Alcherius sei, so gab Guido weiter an, vor etwa dreißig Jahren gestorben, demnach um 1190. Die Burg sei mittlerweile von den Mailändern zerstört, die ihre Vögte eingesetzt hätten, während er selbst sich bemüht habe, die Rechte des Reiches in der Talschaft zu wahren. Alle diese Angaben reichten weit zurück und sind doch weniger erstaunlich, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Der Vogt eines Grafen, der Amtmann des Königs kannte seine Herren; daß er seinen Sohn darüber unterwies, erzog denselben für eine nämliche Aufgabe. Guido wurde tatsächlich ein treuer Anhänger des Reiches. Mit Herrschaft aber waren Rechte und Einkünfte verbunden. Der Einzug der Gefälle und die Wahrnehmung der Rechte verwies auf die Herren, in deren Namen sie erfolgte, und erinnerte ständig an sie, die Lenzburger oder den Kaiser. Wieder also formte Routine das Gedächtnis. Ob es einmal anders gewe-
Der Prozeß um die Grafschaft im Val Blenio
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sen sei? Der Zeuge erinnerte sich nicht. Wann er den Grafen Konrad habe Gericht halten sehen? Vor etwa fünfzig Jahren. Einige Augenzeugen wußte er sogar noch zu benennen: Aushandlungspartner im Erinnerungsprozeß? An den Streitgegenstand aber entsinne er sich nicht mehr; er sei damals ein «Knabe» von zehn oder zwölf Jahren gewesen. Wann der Kaiser die Burg habe erbauen lassen? Vor fünfzig Jahren oder früher. Die fünf Dezennien bildeten offenbar eine unübersehbare Landmarke in Guidos Gedächtnis. üb damals, als er den Grafen und die Lenzburger Missi habe Gericht halten und den Kaiser im Blenio sah, Mailand zerstört gewesen sei? Nein, die Mailänder seien schon seit gut sieben Jahren heimgekehrt gewesen. Wie konnte der «Knabe» das wissen? So präzis die Angaben zu sein scheinen, sie sind es nicht. Die Zeiten passen nicht zusammen und sind konstruiert; und mit ihnen verschiebt sich das gesamte Geschehensgefüge, das Guidos Aussagen zu bieten scheinen. Die Grafen wirkten vor 1172 im Tal, der Kaiser danach; der genannte Konrad war 1169 gestorben. Die Mailänder bauten seit 1167 ihre Stadt wieder auf. Sieben oder mehr Jahre später, im Jahr 1174 oder danach, weilten alle Lenzburger indessen im Jenseits und der Rotbart fernab des Blenio-Tales. Der Editor des Vernehmungsprotokolls, F. Güterbock, wollte deshalb das Jahrsiebt großzügig bemessen und allein für den Kaiser gültig sein lassen. Doch das hatte der Zeuge nicht ausgesagt. Statt an 1174 sei nämlich, so der moderne Forscher, an 1176 zu denken. Der Kaiser sei damals heimlich - so heimlich, daß davon kein anderer Gewährsmann wußte - dem zur Schlacht von Legnano aus Deutschland anrückenden Ersatzheer bis Serravalle entgegengezogen. Der kritische Historiker vertraute also dem späten Erinnerungszeugnis der «sieben Jahre» in ungesichertem Kontext mehr als den zwei oder drei unabhängigen zeitgenössischen Quellen, die durchweg den Kaiser das Heer von Pavia aus kommend bei Corno hatten treffen lassen, dem Kardinal Boso mit seiner Vita Alexanders III. und der Kölner Königschronik sowie Gottfried von Viterb028 • Die berüchtigte Schlacht aber, in deren Folge die Mailänder sich erst im Blenio-Tal etablieren konnten, spielte in dem gesamten Protokoll keine Rolle. Dies alles berührt ein grundlegendes methodologisches Problem. Wieweit ist erinnerten Zeitangaben auch dann zu vertrauen, wenn ihr mehrere, voneinander unabhängige Quellen widersprechen ? Was - von den erinnerten Herren und der Routine abgesehen - stimmte überhaupt in Guidos Aussage? Das Protokollierte ist zudem mehrdeutig. So ist keineswegs erwiesen, daß Friedrich vier Tage in Serravalle weilte, wo ihn der junge Guido sah, und zur nämlichen Zeit den Bau der Burg befahF9. Das eine geschah «sieben oder mehr Jahre» nach Rückkehr der Mailänder in ihre Stadt
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(d. h. 1174 oder später), das andere «vor fünfzig oder mehr Jahren» (mithin um 1171 oder früher). Sollte es den nämlichen Zeitpunkt meinen? Zwingend auszuschließen ist es nicht; doch könnte der Zeuge durchaus zwei getrennte Geschehnisse im Sinn gehabt haben: einen Bauauftrag unabhängig von einem aktuellen Besuch im Blenio. Guido berief sich für ersteren gerade nicht auf sein Augenzeugnis, vielmehr auf die Fama sowie auf einen Befehl des Kaisers, den er aus dem Umstand erschloß, daß der Vater den Bau leitete, nach dessen Vollendung er die Burg dann zu Lehen erhielt. Gesehenes, Gehörtes, Gefolgertes und Konstruiertes machten seine Erinnerungen aus. Der kaiserliche Befehl kann sehr wohl bei der Investitur mit der Grafschaft ergangen sein, für die Guido kein Augenzeuge war. Vielleicht kommt sogar ein früherer Zeitpunkt in Betracht. Denn «vor fünfzig oder mehr Jahren» könnte ja bereits einer der Lenzburger den Bau befohlen haben, den der Kaiser dann begrüßte. Friedrich seinerseits kannte das Blenio-Tal von früheren Durchreisen; der Wunsch, an der strategisch wichtigen Stelle eine Burg zu errichten, mochte durchaus nahegelegen haben. Auch die Richter zweifelten an den «sieben Jahren»; sie hakten nach: Ob damals, als Graf Kuno im Blenio zu Gericht saß, die Kaiserlichen noch die Mailänder Burgen und Länder besetzt gehalten hätten? Das wisse er nicht, so Guido, glaube es aber nicht. Er war also über die Mailänder Verhältnisse nicht ausreichend informiert. Beruhte seine Zeitangabe auf zuverlässigerer Erinnerung? Sie, die ja sowohl die Gegenwart der Grafen von Lenzburg als auch den Kaiserbesuch im Blenio einbezog, darf in keiner Weise gepreßt werden. Sie kann mehr oder weniger Jahre kontaminiert haben, sie kann ganz spekulativ oder konstruiert gewesen sein. Auch Guidos episodenhaftes Gedächtnis überwand die Zeithürde nicht. Er und Seinesgleichen erinnerten allgemeine Sachverhalte, denen Wiederholung einen Platz im Gedächtnis einräumte. Alles Weitere blieb von Fehlern durchsetzt und unbestimmt. So wertvoll Guidos Erinnerungen mangels besserer Quellen sind, sie bleiben vage, von Irrtümern durchsetzt und allenfalls eingeschränkt beweiskräftig.
5.2.
Die Erinnerungsfähigkeit von Verwandten
5.2.1
Dhuoda
Mehr und verläßlicheren Aufschluß verspricht die Erinnerung an Verwandte, an Eltern, Ahnen, Tanten und Oheime. Ihnen verdankte jedermann Leben, Status und Prestige. Wie also stand es um ihr Gedenken? Allzu hoch dürfen die Erwartungen an das natürliche Erinnerungsver-
Dhuoda
1.87
mögen indessen auch jetzt nicht geschraubt werden. Die aquitanische Gräfin Dhuoda beispielsweise, die in den politisch bewegten Jahren um 841/43 für ihren ältesten Sohn Wilhelm ein Gedenkbuch, ein Manuale, verfaßte, erinnerte sich nur an wenige Personen aus insgesamt drei Generationen, an ihren Gemahl, ihre beiden Söhne, den Paten ihres ältesten Sohnes, ihre Schwiegereltern, den Schwager und Schwägerin, an keine Töchter - insgesamt also an einen sehr kleinen Kreis engster Verwandter aus einem kurzen Zeitraum von nicht einmal fünfzig Jahren. Auch diese Frist kommt nur zustande, wenn der Historiker die ganze Lebensspanne der erwähnten Schwiegereltern einkalkuliert. Denn Dhuoda gedachte nur deren Existenz, nicht deren Leben, schon gar nicht ihrer Taten; ja, «manches aus der Zeit ihrer Eltern- oder gar Großelterngeneration (war) ihr sicher nicht mehr bekannt»3o. Jenseits dieses kleinen, überschaubaren Personenfeldes aber herrschte für eine kurze Spanne das trübe Licht gleitenden Nichtmehrwissens und alsbald die finstere Nacht unendlichen Vergessens. Es wurden keineswegs gleichbleib end dichte Erinnerungen festgehalten. Dhuoda erwähnte vereinzelte Taten allein von den Angehörigen ihrer eigenen Generation, und das Wenige ohne präzise Information, ohne Kontext, ohne genaue Zeitvorstellungen und Handlungsabläufe und ohne irgendwelche weiteren Beteiligten. Nicht einmal den Namen ihres jüngsten Sohnes kannte sie, der bald nach seiner Geburt zum Vater geholt worden war; und völlig vergessen hatte sie, die Mutter, so gesteht sie, den Ort, an dem sie mit ihrem ältesten Sohn niedergekommen war. Die Eheleute lebten nicht gemeinsam, und die Kommunikation zwischen ihnen war spärlich. Ihr wechselseitiges Wissen und ihre Erinnerungshorizonte waren entsprechend begrenzt; sie divergierten erheblich .und mußten, sollten sie vereint werden, eigens und damit zwangsläufig verformt werden. Gleichwohl, die Geburt eines Sohnes erhöhte den Status der Mutter; Wilhelms Geburt war somit ein herausragendes Ereignis in Dhuodas jungem Leben. Doch die Erinnerung an dasselbe hatte keine zwei Jahrzehnte Bestand. Ob die Gräfin sonst mehr memorierte, sei dahingestellt; für aufschreibenswert hielt sie es nicht. Vergessen suchte bereits damals die Hauptakteure der Geschichte heim, mitten im Leben - so wie auch heute. Dhuodas Vergeßlichkeit erinnert noch einmal an Einhards Karls-Vita: «Über seine (nämlich Karls) Geburt und Kindheit wie auch seine Knabenjahre zu schreiben», so steht da im vierten Kapitel bekanntlich zu lesen, «halte ich für töricht, weil nirgends etwas darüber schriftlich aufgezeichnet ist, und man niemanden mehr am Leben findet, der Kenntnis zu besitzen behaupten könnte.» Der Autor selbst, Einhard, hatte den Kaiser
1.88
Wie zuverlässig sind Erinnerungen?
gut gekannt, war - knapp vierzig Jahre nach dessen Geburt, knapp zwanzig Jahre nach dessen Thronbesteigung - an seinen Hof gekommen, dort erzogen worden, war sein Tischgenosse und Baumeister gewesen; er muß Leute getroffen haben, die ihm auch von Karls Kindheit hätten berichten können. Hatten sie geschwiegen oder sich nicht mehr erinnert? War es Karl ähnlich wie später Dhuoda ergangen? Wie dem nun sei, ohne schriftliche Aufzeichnungen resignierte der Geschichtsschreiber der Karolinger, als er etwa anderthalb Jahrzehnte nach des Kaisers Tod sich anschickte, dessen Leben zu beschreiben. Auf keinen Fall verweist die Kenntnis von irgendwelchen Personen, von Eltern und Großeltern oder gar das Wissen, daß auch diese Voreltern Eltern besaßen, auf ein das historische Geschehen zu Lebzeiten dieser Personen und Ahnen fixierendes Gedächtnis. Mehr als Namen und Verwandtschaftsgrade wurden gewöhnlich nicht erinnert. Der Taten des großen Karl erinnerte Einhard sich anhand des Tatenkatalogs der Augustus-Vita des Sueton, eines schriftlich vorliegenden Musters also. Dasselbe lenkte, selektierte und manipulierte, wessen der Autor sich entsann. Wieviel Wirklichkeit hinter derartigen Gedächtniskonstrukten stand, bedarf einer eigenen Untersuchung. 5.2.2
Thietmar von Merseburg
Aber widersprechen solcher Skepsis nicht Beispiele wie Thietmar von Merseburg oder Hermann der Lahme, die sich so wacker ihrer Ahnen erinnerten? Thietmar nannte insgesamt etwa sechzig seiner Blutsverwandten oder Kognaten aus sechs Generationen beim Namen, Frauen und Männer, ein phantastisches Gedächtnis 31; Hermann brachte immerhin Verwandte aus fünf Generationen zusammen. Indes, die Nachrichten, die der Bischof von Merseburg mit seiner Familie verknüpfte, beschränkten sich weithin auf Geschehnisse der jüngsten Vergangenheit, und sie konnten sich regelmäßig auf Schriftzeugnisse stützen 32; und auch Hermanns Gedächtnis bewahrte Erinnerungsnotizen nur seiner eigenen Zeit. Die seltenen Nachrichten, die weiter zurückreichen, müssen demnach die Beweislast für die ausdauernde Leistungskraft des an Mündlichkeit gebundenen Gedächtnisses tragen. Vermögen sie es? Thietmars väterlicher Großvater Liuthar war ein mächtiger Mann. Sein Enkel aber wußte lediglich, daß er an dem Mordkomplott gegen Otto den Großen von 941. beteiligt war, deshalb für ein Jahr nach Bayern in die Verbannung geschickt wurde und zwar zu Berthold, dem Markgrafen der bayerischen Nordmark, einem der jüngeren Babenberger, und daß er später zur Sühne das Stift VYalbeck gestiftet habe (H, 21 und VI,
Thietmar von Merseburg
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43)' Zu kontrollieren ist dieses Nachrichtenbündel nicht; weder Widukind von Corvey (11, YI) noch die Quedlinburger Annalen (zu 941) erwähnen Liuthar unter den Verschwörern. Die Verläßlichkeit der mündlichen Tradition ist damit keineswegs erwiesen. Der Merseburger Bischof dürfte die zusätzliche Information indessen, falls sie nicht pure Erfindung ist, als Propst von Walbeck und dort aus institutionalisierter Memoria oder schriftlicher Quelle gewonnen haben und gerade nicht aus mündlicher Erzählung. Der Geschichte fehlt ja die besondere familiengeschichtliche Pointe, daß nämlich der genannte Berthold alsbald Liuthars Schwiegersohn wurde, der Gemahl Eilas, einer Tante, die Thietmar gut kannte und die er mehrfach erwähnte (V, 14 und V, 38). Auch Heinrich, der mütterliche Großvater des Geschichtsschreibers, war berühmt. Er hatte, so hieß es, im Jahr 972 gegen den sächsischen Herzog Hermann Billung opponiert, als dieser sich in Magdeburg von Erzbischof Adalbert wie ein König empfangen ließ und in des Königs Bette schlief. Er sei schließlich von Hermann nach Rom vor den Kaiser geschickt worden und habe als Ottos Blutsverwandter erfolgreicher als andere dessen Zorn zu besänftigen vermocht (11, 28). Die Geschichte wird wiederum nur von Thietmar und denen überliefert, die ihm folgten; sie gilt ob der Hervorhebung Heinrichs als «stilisierte Familientradition»33. Wie weit sie zutraf, muß offen bleiben. Indes, bei aller Ausschmükkung, die der Enkel der Rolle des Großvaters zubilligte, sie begnügte sich mit Üblichem - daß Heinrich «gern» zum Kaiser ging, sich vor ihm zu Boden warf, seine (nicht vorhandene Schuld) beklagte, daß der Kaiser ihn aufhob und den Friedenskuß gab. Um solches zu beschreiben, bedurfte es keiner Erinnerung. Hier häuften sich verbreitete Erzählmotive. Heinrichs Auftritt entbehrt in Thietmars Darstellung nicht einmal gewisser innerer Widersprüche. Warum hatte dieser Graf des Kaisers Zorn erregt und bedurfte des Gnadenaktes? Warum wurde Herzog Hermann nicht bestraft? Warum beklagte derselbe Hermann den Grafen vor dem Kaiser? Thietmar, das Familiengedächtnis, schweigt darüber. Heinrich spielte in seiner Quelle, wo immer sie zu suchen ist, offenbar keine Hauptrolle. Selbst Hermann Billung, der Urheber von Heinrichs Italienfahrt, tat es nicht. Ob er nämlich und wie er bestraft wurde, überging der Chronist mit Schweigen, trotz des großväterlichen Zorns gegen den Herzog und obwohl derselbe wie Otto der Große selbst erst im folgenden Jahr verstarb. Eine Familientradition hätte sich schwerlich allein auf den kapriziert, der dem Großvater gar nicht bedrohlich wurde, den Erzbischof. Daß in Thietmars Bericht gerade und ausschließlich Adalbert von Magdeburg
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Wie zuverlässig sind Erinnerungen?
den Mißbrauch des Herrscherrituals zu büßen hatte, verrät überdeutlich, woher die Information stammte, die der Geschichtsschreiber verwertete: aus Magdeburg und seinem Domstift. Dort, unter Thietmars Mitbrüdern, erzählte man sich die Geschichte; dort mochte der Merseburger das kaiserliche Schreiben einst selbst gesehen und gelesen haben. So schöpfte er aus einem Aktenstück und nicht aus mündlicher Familientradition34 • Von seinen beiden Urgroßvätern Liuthar schrieb Thietmar, daß sie ber'de in der Schlacht von Lentzen gefallen seien. Der Sachverhalt war bei Widukind nachzulesen; und mehr hatte auch der Urenkel jener Helden nicht zu bieten. Leistungskräftige Mündlichkeit lebendiger Familientradition ist hiermit nicht zu erweisen, viel eher zu widerlegen. Mit diesen wenigen Nachrichten aber erschöpfen sich bereits die Informationen zur älteren Familiengeschichte, soweit der Merseburger von ihr handelte. Der Schluß ist unabweislich: Thietmar erwähnte in seiner Chronik, sobald er seiner eigenen Zeit den Rücken kehrte, nichts, was er nicht aus schriftlichen Quellen erfahren hatte, die auch heute noch bekannt oder erschließbar sind. Er gedachte allein jener Taten, die er in Urkunden oder Werken der Geschichtsschreibung hatte aufspüren können und schmückte sie aus. Sein zeitliches Tiefen-Gedächtnis war, soweit wir erkennen können, an die Schrift gebunden. Allein einige wenige Namen und das Wissen um die Verwandtschaft führten regelmäßiger in die Vergangenheit hinab. Doch mündlich tradiertes Taten-Wissen war daran nicht geknüpft. Das ist ein ernüchternder Befund bei einem Autor, der in Gedanken so sehr mit seinen Verwandten lebte wie der Bischof von Merseburg. Die postulierte familiäre Erzähltradition zerrinnt in nichts. 5.2.3
Hermann der Lahme
Ungleich höhere Schwierigkeiten als der geschichtsschreibende Adelssohn aus Sachsen hatte der Reichenauer Mönch Hermann zu bewältigen, um Nachrichten zur Familiengeschichte zusammenzutragen. Er war wie Thietmar ein hochadeliger und ein hochgelehrter Mann dazu, doch durch Lähmung an Roll- und Tragestuhl gefesselt. Sein Kloster konnte er kaum verlassen; sein Wirkenskreis beschränkte sich auf dieses kleine Fleckchen Erde. Immerhin kannte die Weltchronik, die er gegen Ende seines Lebens schrieb, abgesehen von seinen Eltern und seinen insgesamt vierzehn Geschwistern fünfzehn Verwandte aus fünf Generationen mit Namen35 • Einige mehr hätte Hermann der Ulrichs-Vita entnehmen können, die er als Quelle benutzte, und die zu seiner Zeit Abt Berno überarbeitete 36; doch sah er keinen Anlaß, ihrer eigens zu gedenken. Seines
Fulco von Anjou
1.91.
Großonkels Rudpert, Mönch der Reichenau wie er selbst, gedachte er, weil er dessen (verlorenes) Gedicht über die Wirren, welche die Feuersbrunst des Jahres 1006 dem Kloster bescherte, noch vor Augen hatte 37 . Die (vermutlich väterliche) Großmutter Bertha, die erst 10)2 gestorben war, hatte er wahrscheinlich als Kind noch erlebt 38; vom väterlichen Großvater Wolfrad registrierte er lediglich das Todesjahr. Von Vater und Mutter erwähnte er den Eheschluß, von der Mutter auch Jahr und Tag ihres Todes sowie die von ihm gedichtete Grabinschrift39 • Zwar wußte er die Namen der Eltern seiner Mutter, doch darüber hinaus nur, daß sie «durch edles Geblüt hervorleuchteten», mithin nichts (zu 1052). Obwohl sieben seiner Geschwister die Mutter überlebten, die - so Hermann - einundsechzigjährig und nach vierundvierzigjähriger Ehe im Jahr 1°52 verstarb, nannte der Chronist einzig seinen jüngeren Bruder und Mitmönch Werner mit Namen und ihn vielleicht nur deshalb, weil er nach Jerusalem pilgerte 4o • Allein vom hl. Ulrich, dessen Geschwistern und Neffen berichtete er ein wenig mehr (zu 955 und 971-3), doch wiederum nichts, das nicht der erhaltenen Lebensbeschreibung des Heiligen zu entnehmen war. Das ist abermals ein schmaler Befund. So überraschend und wertvoll die in die Weltgeschichte eingestreuten Lebensdaten der Verwandten auch sein mögen, als familiäre Erinnerungsleistung bleiben sie spärlich und blaß. Daß ein umfassendes und Jahrzehnte zurückreichendes, bloßer Mündlichkeit zu verdankendes Erinnerungsgut, ein fakten sicheres Ereigniswissen, sich in derartiges Schweigen hüllte, daß es größeres Vertrauen zu genießen hätte als Erinnerungsleistungen sonst, bedürfte doch eines handfesteren Beweises als lediglich der Überlieferung einiger weniger Namen. Hermann übergab seiner Chronik, dem kulturellen Gedächtnis, allein, was er hatte nachlesen können, keine langlebigen Familientraditionen. Sollte er lediglich ein Opfer seiner Krankheit gewesen sein, die ihn zum Eingeschlossensein in Klostermauern und damit zu eingeschränkten Recherchen verdammte? 5.2.4
Fulco von Anjou
Betrachten wir zur Probe das Exempel eines gesunden und reisefreudigen Standesgenossen, des Grafen Fulco Rechin von Anjou. Er beschloß im Jahr 1096, als eben die ersten Kreuzfahrer ins Heilige Land aufbrachen und er selbst einige Wochen den Papst Urban H. begleitet hatte, eine kurze Geschichte seiner Ahnen und Vorgänger niederzuschreiben41 . Gleich Dhuodas Manuale oder Einhards Karlsbiographie besitzt auch diese Geschichte kein Vergleichsstück. Historische Untersuchungen zu den Ver-
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Wie zuverlässig sind Erinnerungen?
gangenheitsdimensionen des schriftlosen Gedächtnisses zItIeren sie gleichwohl immer wieder42 . Der Graf wollte «der Schrift anvertrauen, wie seine Vorfahren die Grafschaft erwarben und bis in seine eigene Zeit besaßen; dann wie er sie selbst besaß». Fulco erinnerte sich zu diesem Zweck allein seiner gräflichen Vorfahren, kaum daß er Vater und Mutter mit Namen nannte, den Bruder gar nur als namenlosen Kontrahenten aufführte. Urkunden zog er nicht heran, obwohl es sie gab; doch könnte deren Wissen gelegentlich hinter seinen Erinnerungen stehen. Seine Geschichte ist am Ende nicht vollständig überliefert; auch scheint bereits der letzte erhaltene Abschnitt über den ersten Kreuzzug nicht mehr auf Fulco selbst oder nicht mehr auf dessen erste Schreibaktior von 1096 zurückzugehen. Das Erhaltene ist aufschlußreich genug. Fulco berief sich auf zwei Quellen, tatsächlich aber zog er noch eine dritte und vierte heran, vielleicht schriftlich und institutionell die eine, dinglich die andere. Er nannte den Bruder seiner Mutter, von dem er die Grafschaft geerbt hatte, Geoffroy Martel (der von 1040 bis 1060 regierte), als wichtigsten Informanten für die Frühzeit seines Geschlechts; daneben stützte er sich auf seine eigenen Erinnerungen. Unerwähnt aber blieben die Memorialquellen, die ihm zur Verfügung gestanden haben müssen und Grabinschriften, Nekrologe oder institutionalisiertes Gebetsgedenken gewesen sein dürften; und unreflektiert blieb vor allem das früherer Verhältnisse an den gegenwärtigen Zuständen, das Gedächtnis der Dinge also. Alle ausführlicheren Angaben, die Fulco zu machen wußte, beziehen sich allein auf jene Vorgänger, deren Gräber zu seiner Zeit bekannt waren und deren Gedächtnis entsprechend gepflegt wurde. Die Institutionalisierung des Gedenkens in einem Kloster oder Stift stabilisierte wenigstens partiell die Erinnerung, soweit sie nämlich in der Memoria wieder und wieder rekapituliert wurde. Die augenscheinlichen Befunde aber waren allein schon durch das, was sie zeigten, eine informative Quelle für das Vergangenheitswissen in schriftlosen oder schriftarmen Kulturen. Die zahlreichen Burgen etwa, die Fulco erwähnte, und in deren Auflistung und Bauherren-Nennung ein Gutteil seiner Geschichte bestand, mußten allein durch ihren baulichen Zustand den Erbauer verraten. Neubauten des Onkels, mithin der letzten zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre vor Fulcos eigenem Herrschaftsantritt, ließen sich ohne weiteres von den älteren Konstruktionen, den Anlagen des Großvaters, unterscheiden; die zweifellos notwendigen Instandhaltungsarbeiten offerierten dem Landesherrn geradezu eine Zeitleiste zur Rückschau in die Vergangenheit. Einerlei, ob er in jedem Einzelfall die alten korrekt von den noch älteren unterscheiden konnte, wir haben es bei Fulco keines-
Fulco von Anj ou
1. 93
wegs mit bloßer Mündlichkeit zu tun. Im Gegenteil, es bleibt nachzuweisen, was von all seinen Informationen tatsächlich sich bloß mündlicher Erinnerung verdankte; es wird sich zeigen, daß es wahrscheinlich nicht viel mehr als die nackten Namen seiner Ahnen waren, wenn diese nicht auch - was wahrscheinlich ist - den Memorialquellen entnommen waren. Der Umstand will stets bedacht sein. Fulco hatte über die ersten vier Grafen seines Geschlechts, deren ältester noch in das 9. Jahrhundert zu setzen ist und deren jüngster sein Urgroßvater war, nichts in Erfahrung zu bringen vermocht; erst spätere Erfindungen füllten die von ihm registrierten Lücken. Lediglich die Namen und die Gewißheit, daß jeweils der Sohn dem Vater gefolgt sei, schuldete der Autor den Angaben seines Onkels. «So weit entfernt sind sie von uns, daß nicht einmal mehr die Orte bekannt sind, wo ihre Leiber ruhen.» Er halte sich deshalb an die ihm Näherstehenden, seinen Großvater, dessen Vater (seinen Urgroßvater also!) und seinen Onkel. Fulco wußte demnach um den Erinnerungswert des Totengedenkens. Die Heldentaten (probitates) seines Urgroßvaters, Geoffroy Grisegonnelle, könne er freilich nicht aufzählen. Derselbe habe Laudunum (eine der Hauptburgen der Grafschaft) nach einem Sieg in der Schlacht und langer Verfolgung dem Grafen von Poitiers entrissen, habe die Bretonen in die Flucht geschlagen, als sie Angers überfielen, schließlich mit Herzog Hugo (dem Großen von Franzien) Marsonum belagert, wobei er erkrankte und starb. Er ruhe in der Martinskirche zu Tours. Die Annahme liegt nahe, daß Fulco eine Grabschrift zitierte, die er eben gerade, als er mit Papst Urban in Tour weilte, zur Kenntnis hatte nehmen können, oder daß er von den Mönchen mit Informationen versorgt worden war43 • Allein, der Umstand gibt zu denken, daß Fulco den vierten Grafen seines Geschlechts nicht mit dem Vater seines Großvaters hatte identifizieren können. Die Individuen zerfließen und mit ihnen ihre Taten. Von seinem Großvater, dem berüchtigten Fulco Nerra, dem eigentlichen Baumeister der Grafschaft Anjou, wußte der Geschichtsschreiber ein wenig mehr zu berichten. Dieser Fulco hatte die Region in Angst und Schrecken versetzt, seiner selbst sich die Sage angenommen. Er habe, so schrieb sein Enkel, Maine erworben, zahlreiche Burgen errichtet, die der Rechin tatsächlich aufzulisten wußte, habe mit den benachbarten Fürsten, dem Grafen Odo (von Blois), dem Bretonenfürsten Conan, Kriege geführt, sich einmal mit dem Grafen Heribert von Vermandois verbündet, habe zwei Klöster, St-Nicolas in Angers und Beaulieu, gegründet und sei zweimal nach Jerusalem gepilgert, wo er dann am Johanni-Tag des Jahres 1.040 gestorben sei; begraben liege er in Beaulieu. Drei Jahre später wurde Fulco Rechin selbst geboren. Das präzise Todesdatum zeigt
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Wie zuverlässig sind Erinnerungen?
auch jetzt, woher wenigstens ein Teil des Wissens stammte: von den Mönchen nämlich, die das Grab des berühmten Mannes hüteten. Auch die Mönche von St-Nicolas werden das Stiftergedenken gepflegt und dafür Hulderweise des Enkels erwartet haben. In ähnlicher Weise wie seines Großvaters erinnerte sich der Geschichtsschreiber auch seines Onkels Geoffreoy Martel, der ihn, als er siebzehn Jahre zählte, zum Ritter gemacht habe, und dem er die Namen seiner ältesten Ahnen verdankte. Nach dessen Tod stritt Fulco acht Jahre mit seinem Bruder um die Grafschaft. Seinen eigenen (nicht erhaltenen) Tatenbericht leitete er mit einem bösen Vorzeichen, einem Meteoritenfall, frischen Erinnerungen an den Aufenthalt des Papstes Urban 11. in seiner Grafschaft im Jahre 1096 und den Aufbruch zahlreicher namentlich genannter Fürsten zum ersten Kreuzzug (iter ]erosolimitanum) ein; die Ereignisse lagen, als Fulco schrieb, nur wenige Wochen zurück. Mit der Bemerkung, daß das gewaltige Heer bei seinem Aufbruch die Juden zur Taufe gezwungen oder erschlagen habe, brechen seine Aufzeichnungen (fürs erste?) ab 44 • Das alles - die Sterne, die vom Himmel fielen, der Zug nach Jerusalem, Taufe und Tod der Juden - waren Zeichen, die auf die Endzeit wiesen. Fulco hatte Grund, sich ihrer zu erinnern. Überhaupt, es ist nicht zu bestreiten, Graf Fulco erinnerte sich. Aber an was und wie? Seine Angaben waren überaus allgemein, wiederholt ohne Namen, von wenigen Todesdaten und dem Papstbesuch abgesehen, ohne ein einziges Datum, in der Frühzeit ohne ein zeitliches Gerüst trotz schriftgestützter Informationen, über die der Graf zweifellos verfügte. Die lange Regierungszeit des Großvaters (987-1040) ist zu einem einzigen Bild kontaminiert, synchronisiert und ohne jeglichen Hinweis auf Umstände und Kausalitäten erinnert - eben gerade so, als diente der bauliche Zustand der Burgen zur Konstruktion der großväterlichen Leistungen durch den Enkel. Erst die Taten des Onkels gliederten sich in Aktivitäten vor dem Tode des Vaters und danach; das Geschehen selbst blieb aber weiterhin vage. Wiederholt wurde ein «Später» signalisiert postquam autem, unde postea, post haec. Dies alles betraf zugleich die Lebzeiten des Geschichtsschreibers und war teilweise vermutlich unter Beteiligung seines, Rechins, eigenen Vaters geschehen, über den der Sohn ansonsten nichts zu sagen hatte. Das Erinnerte selbst beschränkte sich auf Kriege und Burgenbau; auf die zeitlos sichtbare Expansion der Grafschaft Anjou und deren Anerkennung durch den Lehnsherrn, den König von Frankreich. Auch was sich erwähnt fand, war - so möchte es scheinen - irgendwie aus den aktuellen Verhältnissen am Ende des 11. Jahrhunderts abzulesen. Im einzelnen ist es schwer zu überprüfen. Rückschläge hat Fulco denn auch keine verzeichnet, Nie-
Lambert von Watterlos
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derlagen der Seinen ebensowenig, Reflexionen über Ursachen und Gründe des HandeIns schon gar nicht. Das Werden der Verhältnisse entzog sich seinem Blick. Auch Verträge, (von einer Ausnahme abgesehen) wechselseitige Bündnisse, das Verwalten der Grafschaft, der Beitrag der eigenen Vasallen, die Bischöfe und sonstigen Prälaten, die Gräfinnen blieben ganz außer Betracht. Keiner der Weggefährten, Helfer oder Gegner sah sich erwähnt. Der territoriale Umfang der Herrschaft, seiner eigenen Grafschaft, deren Wirklichkeit in Burgen unterschiedlichen Alters, das war Fulcos Erinnerungsbild; der Rest war dunkel. Die Intention bestimmte das Gedächtnis. Daraus optimistische Folgerungen für die Zuverlässigkeit des mündlichen, schriftlosen Erinnerns zu ziehen, gar eine rückwärtige Reichweite von gut einhundert Jahren zu deduzieren, besteht nicht der geringste Anlaß. 5.2.5
Lambert von Watterios
Im :l2. Jahrhundert scheinen die Verhältnisse sich gebessert zu haben. Als die Welfen seit Heinrich dem Schwarzen nach genauerer Kenntnis ihrer Vorfahren verlangten, ließen sie nach der mit der Grabpflege verbundenen Memorialüberlieferung und nach Schriftzeugnissen forschen; über eine statische, immer den nämlichen Inhalt vermittelnde, generationentief in die Vergangenheit reichende mündliche Familienmemoria verfügten sie freilich nicht 45 . Ihr Traditionsgut war wie das jeder anderen adeligen Familie dieser weithin durch Mündlichkeit geprägten Epoche «in ständiger Veränderung begriffen; es (verlor) sich, intensiviert(e) sich, wandelt(e), erweitert(e) und erneuert(e) sich»46. Dennoch war ein gewisser Erfolg jener Forschungen nicht zu verhehlen, wie das vorläufige Endprodukt der welfischen Bemühungen, die «Historia Welforum», bezeugt47 . An sie und ihresgleichen ließ sich künftig weiter anknüpfen, ohne daß deshalb der kontinuierliche Umformungsprozeß adeliger Hausüberlieferung zur Ruhe gekommen wäre. Die Ausbreitung der Schriftlichkeit seit dem 9. Jahrhundert förderte nicht zuletzt das wechselseitige Wissen voneinander und mit ihm die Erinnerung. Ein Beispiel bietet Lambert von Watterlos, der Autor der Annalen von Cambrais, an denen er seit 1.152 bis zu seinem Tod im Jahr 1.170 schrieb. Aus Anlaß seiner Geburt, die er zum Jahr 1.108 erwähnte, und deren Datum zu kennen für einen Kleriker aus kirchenrechtlichen Gründen vonnöten (wenn deshalb auch nicht gesichert) war, schrieb Lambert nieder, was er von seiner Familie festgehalten wissen wollte. Von wem hatte er sein Geburtsjahr erfahren? Ob es stimmte, läßt sich ohnehin nicht überprüfen, weshalb es auch nicht zum Nachweis eines
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Wie zuverlässig sind Erinnerungen?
über Jahrzehnte sicheren Gedächtnisses taugt. Gleichwohl ist Lamberts Geschichte ein für seine Zeit einzigartiges Zeugnis familiären Erinnerns. Fernand Vercauteren und Georges Duby haben ihr eigene Untersuchungen gewidmet48; andere sie immer wieder herangezogen, um Gedächtnisfragen zu erörtern. Doch lohnt eine Nachlese. Adelsstolz und Klerikertum lenkten Lamberts Erinnerung. Drei Generationen mit insgesamt 68 verwandten und verschwägerten Personen, bis zu den vier Großeltern und einer Großtante mit ihrem Gemahl, reicht sie hinauf, jenseits dieser Schwelle verschwimmt alles im Dunkeln. Kein älterer Ahnherr, keine fernere Ahnfrau werden mehr aufgeführt49 . Nur daß sie die Ortsherren waren oder aus flandrischem Adel stammten, findet sich noch festgehalten, unüberprüfbar wie das meiste. Reich vertreten ist die Generation der Eltern; doch werden die Tanten nur beim Namen genannt, wenn sie Kleriker zu Söhnen hatten. Waren es die kirchlichen Synoden, auf denen die Vettern sich trafen, auf denen sie voneinander und von ihren Müttern erfuhren? Lamberts leibliche neun Geschwister sahen sich bloß summarisch erwähnt, blieben aber bis auf den ältesten, schon to~ ten Bruder (für den zu beten war) ohne Namen. Eine namentliche Nennung zeichnete neben den Klerikern allein den ältesten Vetter, offenbar der Chef des Hauses, aus. Erinnern selektierte, und dieser Vergessensprozeß setzte alsbald, noch zu Lebzeiten der Handelnden ein. Indes, und das ist unter methodischen Gesichtspunkten noch viel wichtiger, auch diesseits der Erinnerungschwelle wird vieles, ja das meiste nur schemenhaft und verschwommen wahrgenommen. Einige Namen und den Stand ihrer Träger erinnerte Lambert, jedoch, von einer Ausnahme - der Dienstnahme eines Onkels bei König Heinrich I. von England (t '1'135) - abgesehen, kein Ereignis, keine besondere Tat, kein zeitlich geschichtetes und mehrdimensionales Handeln. Es wäre voreilig, hier das Gedächtnis Jahrzehnte zurückreichen zu lassen, nämlich so lange, als Vorfahren erinnert wurden, oder das, was erinnert wurde, für bare Münze zu nehmen. Zu viele Brechungen schoben sich zwischen das Einst und das Heute. Der Großeltern zu gedenken, zu wissen, daß vier der elf (namenlosen) Brüder der Großmutter Kastellane unter Robert 11. von Flandern (1093-1111) waren, hieß nicht Erinnerung an Geschehnisse pflegen, die sich vor fünfzig oder siebzig Jahren abgespielt hatten, es besagte nur etwas über die soziale Einstufung besonders herausragender Vorfahren und Verwandter durch die Nachkommen. Den beiden Großmüttern verdankte die Familie ihren gegenwärtigen Besitz; warum aber die Großväter so vorteilhafte Ehen eingehen konnten, blieb unerwähnt, unerinnert; von Lamberts Vaterseite war ohnehin nichts zu melden. Wie weit reichte in diesem Falle das Gedächtnis zurück? Wiederholt verwies
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der Autor auf mündliche Überlieferungen. Einmal zitierte er ein Lied berufsmäßiger Dichter vom Tod der zehn Brüder seines mütterlichen Großvaters in ein und derselben Schlacht. Gewiß ein denkwürdiges Geschehen. Es ließe sich vielleicht, wären Texte erhalten, mit analogen Liedern etwa von der Babenberger Fehde vergleichen50 • Die Namen der Erschlagenen aber verschwieg Lambert, keinen ein~igen erinnerte er, ebensowenig die näheren Umstände der Schlacht und des Heldentodes. Gewußt hat er allenfalls, was die Mimen zur Cantilena sangen. Dasselbe aber verdankte sich schwerlich dem Wissensbedürfnis informationssüchtiger Nachfahren oder moderner Historiker, vielmehr den Erfordernissen epischen Vortrags, mithin einer für uns nicht faßlichen Gegenwart. Gesichertes Faktenwissen läßt sich auf diesem Wege abermals nicht gewinnen.
5.3.
Die Irrwege der Erinnerung setzen der Erkenntnis Grenzen
Die Suche nach Spuren des Zutreffenden in den beiden Untersuchungsfeldern - gerichtliche Zeugenaussagen und Familienmemoria - passen zueinander und laufen auf dasselbe hinaus: Erinnerung fließt, verzweigt sich und verliert sich je weiter in die Vergangenheit zurück desto tiefer in dem Schlund des Vergessens. Nur was sich an Erinnerungsmale klammern kann, seien diese Texte, Bauten, Gräber oder Institutionen, nur Momentaufnahmen einer bewegten, unentwegt fortfließenden, sich verwandelnden Vergangenheit, lassen sich für eine gewisse Zeit im Gedächtnis festhalten. Ohne Zweifel erinnerten sich die Zeugen, doch nicht wahllos und an alles, selten präzis und analog zum Geschehen. Auf Jahre oder Jahrzehnte verweisende Antworten auf die Standardfrage: wie weit sich der Zeuge zurückerinnere, dürfen keinesfalls wörtlich genommen werden; sie besagen für das Erinnerte nichts. Und wenn einmal weit in die Vergangenheit hinabreichende Erinnerungen greifbar werden, stehen sie ohne Kontext und isoliert im Gedächtnis, ohne Vorher und Nachher, ohne Beiwerk, Bedingungen und Folgen. Gewißheit über die Wirklichkeit des Erinnerten, ist so nicht zu gewinnen. Derartige Erinnerungskritik ist freilich kein Zaubertrick. Sie spiegelt keine Quellen hinweg, liefert vielmehr Kriterien zu ihrer genaueren Analyse als bisher. Was also besagen die überlieferten Zeugnisse? Attitüden der Erinnerung zeichnen sich ab. Die diesen Zeugen gestellten Fragen, von aktuellen Bedürfnissen diktiert, selektierten und formten ihre Erinnerungen, verursachten, konstruierten und schufen gewöhnlich unkontrollierbar mit an den Erinnerungsprodukten. Episodisches kam
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Wie zuverlässig sind Erinnerungen?
hier ebenso selten zur Sprache wie Geschehensfolgen. Geschah es einmal, dann ist das Ergebnis unkontrollierbar. Mit kollektiven Aushandlungsprodukten, dem kommunikativen Gedächtnis, ist stets zu rechnen, desgleichen mit augenblicksbedingten Konstrukten. Jede Detailgenauigkeit verflüchtigte sich. In der Regel wurden Zustände erfragt, nicht Ereignisse, Bedeutungen, nicht deren Genese. An die wiederkehrende Routine, die das Gedächtnis in eins zusammenzog, erinnerten sich die Leute leichter, wenn auch zeitlich unbestimmter. Strukturen waren ihnen geläufiger als Ereignisse oder Prozesse. Das semantische Gedächtnis arbeitete, so scheint es, zuverlässiger als das episodische. Handelt es sich hierbei um einen Grundzug oraler Kulturen? Die vierte Dimension, die Zeit, war keine Größe, mit der die Zeugen operierten. In Jahren und Jahrzehnten zu denken, mit Ersitzungs- oder Verjährungsfristen zu kalkulieren, die relative Zuordnung der Zeiten, entsprach den Erfordernissen des gelehrten Rechts, nicht der lebensweltlichen Erfahrung einer von Mündlichkeit beherrschten Gesellschaft, deren Individuen nicht wußten, wie alt sie waren. Sie orientierten sich eher an den Zuständen des eigenen Körpers, an der Zuordnung der eigenen Person zu anderen, denn an der Zählung der Jahre. Ohne besondere Vorkehrungen erweist sich das familiäre Gedächtnis als nicht minder problematisch. Es verheißt ebensowenig Gewißheit über die Vorfahren und ihre Taten wie die Zeugenbefragung. Thietmar von Merseburg oder Hermann der Lahme stützten sich denn auch auf Schriftwerke. Fulco Rechin gedachte stolz der Leistungen seiner Ahnen, ein Stolz, der sich in Burgen maß, in Fundierung, Ausbau und Kontinuitätsstiftung der Grafschaft, in männlichen Leistungen. Frauen hatten hier nichts zu suchen. Sie, und mit ihnen die Ahnen selbst, versanken in Namenlosigkeit und Vergessen. Ein sich an genealogischen oder orientierendes Familienbewußtsein hatte sich noch nicht formiert und durchgesetzt; nur erste Anfänge eines solchen sind im 10. und 11. Jahrhundert zu erkennen. Eine durchaus archaische Sicht hatte Hermann der Lahme. Mutter und Großmutter, den Frauen und der von ihnen gepflegten Memoria, verdankte er seine Kenntnisse der älteren Mitglieder seiner Familie; gleichwohl war auch er stolz auf Väter und Oheime, obgleich nun Besitz und Grafschaften unerwähnt blieben. Der Adel der Ahnen dominierte statt dessen über die Ämter. Lambert von Watterlos band das Familiengedenken an die Priester und ihre Mütter, in keiner Weise an genealogische Verwandtschaftslinien. Andere Beispiele, die sich überprüfen lassen, erbrächten dieselben Ergebnisse. Andreas von Bergamo etwa, der Fortsetzer der Langobardengeschichte des Paulus Diaconus 51 , besaß für die Jahrzehnte zwischen 744
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und 860 nur die dürftigsten Meldungen. Über schriftliche Vorlagen verfügte er angeblich nicht. Solche waren damals auch in Italien dünn gesät. So berief Andreas sich auf die «Alten», die antiqui homines. Sie aber, das gerade zeigt seine Geschichte, erinnerten sich an nichts. Erst seit 860 beginnen seine Nachrichten kräftiger zu fließen, mit dem Einsetzen des eigenen Gedächtnisses; und seine Informationen müssen skeptisch benutzt werden. Unsere Untersuchung zeitigt immer dasselbe Ergebnis. Das Gewicht der ominösen vierzig, siebzig oder einhundert Jahres-Grenzen, von denen moderne Historiker sprechen, darf keinesfalls überschätzt werden. Im Gegenteil, der Glaube an diese Gedächtnisräume birgt Gefahren. Die in so abgelegene Zeiten zurückreichende Erinnerung war allenfalls in Ausnahmefällen detailgenau, gewöhnlich aber vage, bildhaft-statisch, verschwommen, vielfach episch verbrämt, ja, falsch. Sie bezeugen kein Erinnerungskontinuum, sondern mannigfache Brüche, Modulationen und Transformationen. Eine scharfe Scheidelinie zwischen und Informationen vermag der Historiker ohne zusätzliche Quellen in der Regel nicht zu ziehen. Im Licht der modernen Gedächtnis- und Kognitionsforschung ist mit einschneidenden Verformungen, sinnstiftenden Neukonstruktionen und legitimatorischen Manipulationen zu rechnen, die heute niemand mehr durchschaut. Erinnert wurden bestenfalls herausragende Einzelpersonen, statussichernde Erbgänge, deren Folgen die Gedenkenden lebendig vor Augen hatten, vereinzelt auch Taten, doch alles isoliert voneinander, ohne Kontext. Memoriert wurden Einzelerinnerungen, nicht die Gesamtheit der Geschehnisse, keine Zusammenhänge, keine Verläufe, auch keine relative Chronologie der Erinnerungsfetzen. Auch bewahrte nicht jedermann das Nämliche im Gedächtnis. Und wie korrekt derartige Memoria war, wieviel jüngeres Wissen sich darüber gelagert hatte, läßt sich gewöhnlich nicht überprüfen. Untersuchungen in rezenten schriftlosen Kulturen zeigen, daß nur ein kleiner Prozentsatz der Erinnernden das tatsächlich Geschehene mehr oder weniger zutreffend memoriert hatte 52 • Statt dessen offenbart sich je die Gegenwart als ein verschwommenes Gemisch aus Erfahrungen, die unzusammenhängenden Episoden abgelauscht wurden. Wirklichkeitsferne Erinnerungen verlieren ohne weitere Prüfung jeglichen Beweiswert für eine faktengestützte Geschichtswissenschaft, obgleich sie ihnen vertraute. Allenfalls ein Bündel sich einander ausschließender Hypothesen läßt sich formulieren. Nur einstige Routine, die regelmäßige Wiederkehr des Gleichartigen, verheißt ein wenig mehr an Sicherheit - für das Wiederkehrende, nicht für den Einzelfall. Die Verformungskräfte waren hier wie da, bei Zeugen wie Verwandten, uner-
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müdlich am Werk und drängten immer weiter, unvorhersehbar hierhin und dorthin. Zahlreiche Faktoren wirkten selektierend und konstruktiv auf das Erinnerte ein: Vergessen so gut wie Teleskopie, Anpassung an aktuelle Konstellationen nicht minder denn wechselnde Bedürfnisse. Aber keiner dieser Faktoren ließ den Fluß der Transformationen und seiner Verzweigungen zum Stillstand gelangen. Das gilt erst recht für das kollektive Gedächtnis in der Abfolge der menschlichen Generationen. Was hier einmal vergessen war, war es für alle Zeit; was einmal der Modulation unterlag, kehrte nie mehr zur ursprünglichen Wahrnehmung zurück. Erst die Verschriftung konnte Erinnertes wie eine Momentaufnahme vor weiterer Veränderung bewahren, den einen von der Schrift erfaßten Moment im Fluß der Transformationen auf Dauer stellen und das Festgeschriebene auf ewig zu Vergangenem machen. Aber sie überliefert kein Davor und kein Danach, obgleich sie nur ein flüchtiges Durchgangsstadium der fortfließenden Erinnerung darstellt. In ihr steckt die Wahrheit des Schnappschusses und nicht die Dynamik des Lebens. Zudem unterlag auch, was der Schrift anvertraut wurde, weiterem Wandel, dessen Richtung neben den gesellschaftlichen nun literarische Bedingungen bestimmten, die Gestaltungskräfte des kulturellen Gedächtnisses. Doch wer an derartiger Literalisierung nicht partizipierte, war weiterhin den Modulationskräften mündlich kolportierter Erinnerung ausgesetzt. Ohne einen Blick auf die Grenzen des Erinnerungsvermögens fehlt der Erforschung überwiegend mündlicher Kulturen die anthropologische Mitte. Entsprechende Erfahrungen beschränken sich auch nicht auf die europäische Geschichte. Sie sind, wie es scheint, universal. Ethnologische Forschungen warten dafür mit Beispielen rund um den Erdball auf.
VI.
Das Gedächtnis mündlicher Kulturen I: Erfahrungen der Ethnologie
Ethnologie und Kulturanthropologie gewähren in mancherlei Hinsicht Interpretationshilfen zur europäischen Geschichte: «Social anthropology and history are both branches of social science ... there is an overlap between them and each can learn much from the othen>. Der Ethnologe E. E. Evans-Pritchard blickte, als er dies notierte, besonders aufmerksam auf die Epoche der Merowinger und Karolinger und überhaupt auf das schriftarme und ritualreiche frühere Mittelalter!. Wie weit nun lassen sich aus der Kenntnis außereuropäischer Kulturen anthropologische oder kulturtheoretische Kriterien zur Analyse und Deutung europäischer Überlieferungen aus jener Epoche gewinnen? Zumal die Attitüden des Erinnerns und eines nur oder überwiegend auf orale Tradition gegründeten Vergangenheitswissens wird von derartigem Interesse tangiert2 • Die Reaktionen auf solche Instrumentalisierung einer von den Historikern im vergangenen Jahrhundert eher gemiedenen Disziplin sind freilich gespalten. Skepsis gegen den Vergleich mit den «Primitiven» - den «Völker[n] eines ewigen Stillstandes»3 - kann sich auf ein jahrhundertealtes Vorurteil und auf erlauchte Geister berufen, obgleich seit der Aufklärungszeit durchaus befürwortende Stimmen zu vernehmen waren. Hierfür berühmt sind beispielsweise Joseph-Franc;ois Lafitaus Vergleich der Irokesen und Huronen (1724) mit Nachrichten aus antiken Schriftstellern oder Giambattista Vicos Gleichbehandlung von Germanen und «Amerikanern» (d. h. Indianern) (1725) mit der Folgerung: «daß es sich mit allen anderen Barbarenvölkern, antiken und modernen, ebenso verhalte». Der Vergleich ließ sich bis zu einer nomologisch fixierten zivilisatorischen Evolutionstheorie verdichten: von der «primitiven Urgesellschaft» zur «Hochzivilisation» europäischer Prägung. Unter diesen Umständen bedeuteten Karl Marx' und Friedrich Engels' Hinwendung zur Ethnographie, um die «Urgesellschaft» zu erfassen und zu beschreiben, keinen Bruch. Engels vertiefte sich beispielsweise mit der Lektüre von Lewis H. Morgans «Ancient Society» 4 gerade in den seit Lafitau beliebten Vergleich der «Rothäute», etwa der Irokesen, mit den alten Griechen und Römern, den Iren, Schotten, Germanen, den asiatischen, hebräischen oder afrikanischen Stämmen.
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Das Gedächtnis mündlicher Kulturen I
6.1
Unberechtigte geschichtswissenschaftliche Skepsis gegenüber der Ethnologie
Doch die Ablehnung ließ nicht allzu lange auf sich warten; sie nistete sich tief in die Geschichtswissenschaft ein, längst bevor die Ethnologie (in Deutschland seit 1869) oder die - im Argumentationszusammenhang wichtige - Paläoanthropologie sich als eigenständige Wissenschaften haben etablieren können; und sie beherrscht ungeachtet so bedeutender Historiker und Mediävisten wie Jan Huizinga oder Marc Bloch, die sich auf ethnologische Erkenntnisse beriefen, die Geschichtswissenschaft zumal in Deutschland noch immer5 . Vielfältige Ursachen dürften dafür verantwortlich sein. So wandte man sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus wissenschaftsinternen Gründen mehr und mehr vom Evolutionismus ab; einige herausragende Väter der Geschichtswissenschaft lehnten zudem dezidiert den Vergleich der Europäer mit den «Wilden» ab; auch sah sich der Gedanke kultureller Evolution - zumal in seinen marxistischen und darwinistischen Varianten - dem Materialismus- und Atheismusverdacht ausgesetzt und in der Folge hartnäckig diskriminiert. «Welches waren», so fragte beispielsweise Jacob Burckhardt in seinen «Weltgeschichtlichen Betrachtungen», «die frühesten Notformen des Staates? Wir möchten dies z. B. gerne für die Pfahlbauleute wissen. Aber die Verweisung auf Neger und Rothäute hilft nicht, so wenig als die auf die N egerreligion bei der Religionsfrage; denn die weiße und gelbe Rasse sind gewiß von Anfang an anders verfahren, die dunkeln können für sie nicht maßgeblich sein»6. Anthropologie, Ethnologie und Geschichte sehen sich hier eigentümlich verschränkt und in dieser Verschränkung verworfen. Völker fremder «Rassen» könnten, darauf läuft Burckhardts (offenkundig gegen längst übliche Vergleiche zielendes) Postulat hinaus, nicht dazu dienen, Phänomene unter «Kulturvölkern» zu erklären, und zwar wegen anthropologischer, «rassischen> Inkompatibilität. Rassenkunde lehrt Ausgrenzung und verwehrt den Einzug der Ethnologie in die Geschichtsforschung. In Deutschland wirkte dieser Effekt besonders nachhaltig. Wie nun, wenn die kulturellen Techniken der «Neger und Rothäute», geographisch weit genug voneinander entfernt, vergleichbar wären? Etwa in ihren Erinnerungstechniken, in ihren Verwandtschaftssystemen oder sozialen Ordnungsmustern ? Wie, wenn sich herausstellte, daß auch «die weiße und gelbe Rasse» sich der nämlichen Erinnerungstechniken, Verwandtschaftssysteme und Ordnungsmuster bedienten? Wie, wenn dieselben genetisch. und neuronal fixiert waren? Der Rassebegriff, gar
Unberechtigte Skepsis gegenüber der Ethnologie
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hierarchisch differenziert, ist für die Geschichtswissenschaft obsolet geworden. Er hat politisch Unheil gestifM und wissenschaftlich versagt. An seine Stelle traten Kultur- und Zivilisationstheorien. Entwicklungsgeschichtlich fällt das Urteil ohnehin anders aus. Die Perspektive läßt sich nun geradezu umkehren: «Wir sind alle Afrikaner», heißt es etwa bei dem Paläoanthropologen Friedemann Schrenk7 ; und diese Herkunft steckt tief, bis in die Verhaltensweisen unseres Gehirns in uns allen. Zwar sind <wir> Menschen, einschließlich heutiger Afrikaner, alle mehr oder weniger weit von jenen «Afrikanern», den frühesten Vor- und Frühmenschen, entfernt, die Schrenk ansprach, doch dürfte auch der Homo sapiens sapiens von Afrika seinen Ausgang genommen und eine kleine Gruppe von wenigen tausend Individuen am Anfang dieser Gattung gestanden habens. Zudem sollte das kulturelle Kontinuum nicht unterschätzt, gar mit einem Federstrich beseitigt werden, das «uns» genetisch mit diesen wenigen verbindet. Es könnte ja sein, daß gleiche genetische Bedingungen unseres Nervensystems auch prinzipiell gleiche Weisen seines Gebrauchs bedingen, was Variation nicht ausschließt; daß die menschliche Evolution nicht nur bei «Neger», «Rothaut», «Weiß» und «Gelb» gleichartige Körperteile hervorbrachte - das Knie zum aufrechten Gang, die Gelenkigkeit der Hände zur Herstellung von Geräten, den Kehlkopf zur Sprache oder die Hirnvergrößerung zu Denken und Bewußtsein -, daß vielmehr auch Kulturentwicklung um Kulturentwicklung, Schicht um Schicht, Faktor um Faktor sich der Evolution und dem systemischen Zusammenspiel von Natur und Kultur verdankt; daß beide, Kultur und Natur, gemeinsam wirkend, zwar mancherlei Unterschiede erzeugten, doch im wesentlichen Gleichartiges und somit Vergleichbares hervorbrachten. So gesehen warten Paläoanthropologie, Archäologie und Ethnologie mit wichtigsten Erkenntnismöglichkeiten zur Freilegung, Identifikation und Analyse kultureller Faktoren auch der höchsten Hochzivilisationen auf, die menschliche Handlungsimpulse und deren Wirkungen angemessener zu beschreiben erlauben als zuvor. Doch dürfen auch die Unterschiede zwischen den Kulturen und ihr Einfluß beispielsweise auf die Ausbildung neuronaler Netze im Erziehungsprozeß ihrer Angehörigen nicht verwischt werden. Die Körper passen sich den kulturellen Bedingungen an. Nicht jede menschliche Zivilisation kennt beispielsweise, was in unserem Zusammenhang von besonderem Interesse ist, eine Institutionalisierung historischer Lehre oder gar historische Kanonbildung mit ihren stabilisierenden Wirkungen auf die Vergangenheitsbilder. Geschichtsdenken erweist sich keineswegs als eine anthropologische Konstante, auch wenn die meisten oder alle menschlichen Kulturen einen Modus des Vergangenheitsdenkens aufweisen dürf-
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ten. Es stellt eine Erfindung früher vorderasiatischer Hochzivilisationen dar, den Entwurf nämlich eines Deutungs- und Verstehensmusters als einer spezifischen Sinnformation, eines eigenen Ganzen, das - soweit erkennbar - zuerst unter den Hethitern auftrat, in Israel weiter elaboriert, schließlich im Westen, durch die Griechen, seines bis dahin bewahrten normativen Kohärenzzusammenhangs entkleidet zu einer literarischen Form erhoben wurde und sich seitdem über die Erde ausbreitete9 . Geschichte denken setzt mithin einen kulturellen Lernprozeß voraus, nicht anders als die Verbreitung des Otto-Motors, und übt damit bis in die Körper hinein Druck auf das soziale Ambiente aus. Doch unter welchen Bedingungen vollzog sich dieser Prozeß, dem sich mit der Zeit alle europäischen Völkerschaften, ja, die Völker der ganzen Welt ungeachtet ihres früheren Zivilisations standes unterworfen sahen und sehen? Die Skepsis gegenüber der Ethnologie wurde nur zu rasch verallgemeinert, ohne im entferntesten zu beachten, daß Burckhardt sie auf das Paradigma des <Staates> stützte; und sie wird beibehalten, obgleich anhand von Ausgrabungsbefunden erkennbar wurde, daß sich das Zusammenleben der Horden und Gruppen afrikanischer oder europäischer Frühmenschen gleich ausnahm und weniger die Unterschiede unter den Menschen als vielmehr die wechselnden Bedingungen ihrer Habitate zu divergierenden Kulturen führten. An anderer Stelle bezog Burckhardt auch die «Religionen» in sein Verdikt mit ein: «Gleich ausgeschieden mögen hier die Religionen der geringern Rassen, die der Negervölker usw., der Wilden und Halbwilden werden. Sie sind für die Primordien des Geistigen noch weniger maßgebend als der Negerstaat für die Anfänge des Staates überhaupt»lO. Burckhardt beschränkte sich mit seiner Betrachtung auf wenige Hochkulturen. Olmeken, Mayas ll oder Azteken 12, bei denen unabhängig von der Alten Welt Schrift, Zeitrechnung und Frühformen von Geschichtsdenken sich entfalteten, beachtete er nicht. Er überging die gattungsmäßigen Fähigkeiten des Menschen und ihre Bedeutung für die Entwicklung menschlicher Kulturen. Doch könnte es sein, daß auch die Religion biologische Grundlagen besitzt und dieselben immer wieder gleichartige Attitüden und Verhaltensweisen erzeugen, was wiederum Variationen nicht ausschließt; daß somit «die Primordien des Geistes» viel weiter in die außereuropäische und europäische Vorzeit zurückreichen, als Burckhardt lehrte. «Die interkulturelle Ähnlichkeit religiöser Phänomene auf der ganzen Welt ist unverkennbar» 13. «Welch ein erstaunlicher Chiffrierschlüssel der primitiven Gesellschaft ist doch der Leviticus. Ich habe bei den Kanaken noch nichts gefunden, was ich nicht bei den Hebräern und bei vielen Völkern, über die ich lesen konnte, wiederfinde», notierte
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zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Missionar und Ethnologe 14 . Ist dem so, dann lehrt der Vergleich, gleichartige Fähigkeiten und Verhaltensweisen, aber auch Unterschiede in den differenzierenden, kulturbestimmenden Faktoren - zum Beispiel das Fehlen jeglicher Eisenverhüttung, Kupfer- und Bronzebearbeitung bei den Mayas - genauer zu fassen und deren kulturgenerierende Wirkungen genauer als bisher zu beschreiben. Es gestattet nicht zuletzt Einblicke in das Erinnerungswesen der verschiedenen Kulturen.
6.2
Ein Streit um Knochen: Die Mißdeutung des Neandertalers
Als Jacob Burckhardt seine Zweifel zu Papier brachte - das erste Konzept der «Weltgeschichtlichen Betrachtungen» geht auf das Jahr 1.868 zurück, doch erfolgte die Herausgabe erst 1.905 -, hatte bereits im Jahr 1.857 Carl Fuhlrott auf der Generalversammlung des Naturhistorischen Vereins der preußischen Rheinlande in Düsseldorf die im Vorjahr gefundenen Gebeine des Neandertalers vorgestellt und sie im Kern zutreffend für die Überreste eines frühen Vorfahren der Menschheit erklärt, der in der Eiszeit gelebt habe. Fuhlrott erntete Unglauben und Spott. Das Gerippe eines Krüppels, eines mongolischen Kosaken, eines Deserteurs der russischen Armee, die gegen Napoleon gefochten, und der in den Höhlen von Neandertal Zuflucht gesucht habe, gebe der Mann für einen Urmen. schen aus - so höhnte der Bonner Anatom Mayer. Unter zwielichtigen Umständen verschaffte sich der berühmte Rudolf Virchow Zutritt zu Fuhlrotts Haus, um anschließend in einem berüchtigten Gutachten die in Augenschein genommenen Knochen als Relikte eines modernen Menschen zu deklarieren, der in seiner Jugend Schläge auf den Kopf und im Alter Rachitis bekommen habe 15 • Fuhlrott war, obgleich er Zutreffendes erkannt hatte, wissenschaftlich vernichtet. Doch Virchow, Mitbegründer der preußischen «Fortschrittspartei» und einer ihrer links stehenden Abgeordneten, zudem gegenüber Ethnologie oder Vorgeschichtsforschung durchaus aufgeschlossen, hätte es besser wissen müssen; denn bereits 1.863, lange bevor der Mediziner und Pathologe gegen Fuhlrott zur Feder griff, war Charles Lyells grundlegendes Werk «Geological Evidence of the Antiquity of Man» erschienen, im folgenden Jahr auch ins Deutsche übersetzt worden (<
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Das Gedächtnis mündlicher Kulturen I
weiter und weiter in die Vergangenheit zurückführende Vorgeschichte und mit ihr eine körperliche und neuronale Ausstattung, die «uns» alle zusammenschweißt. Das Beispiel aus der modernen Wissenschaftsgeschichte stimmt höchst nachdenklich. Eine vorurteilsvolle Wissenschaft, die, obgleich von höchster Autorität, auf unzureichender Wissensbasis ihre Urteile fällt, führt unweigerlich in die Irre. Das gilt für Anatomen und Mediziner so gut wie für Jacob Burckhardt und die Geschichtswissenschaft. Die historisch-kritische Methode war längst fixiert, Niebuhr längst gestorben, Ranke hatte seine frühen Hauptwerke längst geschrieben, die «Geschichte der romanischen und germanischen Völker», «Die römischen Päpste», die «Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation» u. a. Die Prinzipien der modernen Geschichtswissenschaft waren also längst fertig ausgeprägt, als die Herkunft des Menschen aus den Tiefen der Evolution erwogen wurde. Erst 1859 erschien Darwins «Entstehung der Arten». Historiker spotteten auch über diesen verschrobenen Mann. Ihre Disziplin fand offenkundig im Schatten einer unzureichenden Anthropologie zu ihrer theoretischen Fundierung und verharrte im Zuge einer vertiefenden Trennung der Humanwissenschaften bei derselben. Die Anthropologie freilich hat sich seitdem entscheidend gewandelt, die Geschichtswissenschaft aber muß erst noch die Konsequenzen ihrer methodologischen Menschenferne ziehen 16 . Das Vorurteil gegen die Relevanz des interkulturellen Vergleichs, rassistisch abgesegnet, genoß also höchste Autorität; Ranke teilte es selbstverständlich und gab es an seine Schüler und diese an die ihren weiter. Er wollte die «Urgeschichte» aus der Historie ausgeklammert wissen. Nur, «wo noch urkundliche Spuren übrig sind», setze die Historie ein; wo solche fehlten, da sei der Gegenstand «von der Historie auszuschließen». «Endlich können wir auch jenen Völkern, die noch heutzutage in einer Art von Naturstand verharren und vermuten lassen, daß derselbe von Anfang an so gewesen sei, daß sich der Zustand der Urwelt in ihnen konserviert habe, nur eine geringe Aufmerksamkeit widmen.» Selbst das indische und chinesische Altertum gehöre mehr der «Naturgeschichte» denn der Historie an l7 • Indes, daß die «Urgeschichte» noch in uns stecken könnte, daß Schicht um Schicht dieser Urgeschichte noch unser gegenwärtiges Leben und mit ihm alle Historie bedingt und beeinflußt, daß der kulturelle «Fortschritt», die zivilisatorischen Transformationen, denen die Gesellschaften unterlagen, die biologischen Erwerbungen der Vergangenheit voraussetzt, dieser Gedanke kam Ranke nicht in den Sinn. Das Vorurteil blieb, auch nachdem die Ethnologie sich gewandelt hatte. Stellvertretend dafür sei auf Bronislaw Malinowski verwiesen, der gegen die verbreitete Evolutionstheorie die Funktionalismustheorie setzte,
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mit seinen Studien über die Trobriander in
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nach dem illiteraten, technisch rückständigen keltischen oder germanischen Norden; die Erneuerung dieser Konfrontation im Mittelalter; endlich die neuzeitliche Auseinandersetzung der Europäer mit allen anderen Völkern der Erde. Diese haben sich dabei als weder dauerhaft überlegen noch als resistent gegen das fremde Wissen erwiesen. Und umgekehrt: Auch die Fremden, die angeblich «Wilden», adaptieren europäisches Wissen. Es besteht keinerlei Berechtigung, Europa oder China aus dem weltweiten Vergleich menschlicher Zivilisationen auszusparen. Irgendwann haben die dort lebenden Menschen gleichartige Stadien kultureller Entwicklung durchlebt, wie sie aus Afrika, Amerika oder Australien bekannt sind, und im Austausch mit Fremden die eigenen Kulturen ausgebildet. So werden sich die Erinnerungsweisen schriftloser Gesellschaften gleicher Kulturstufe aller Kontinente voneinander weniger unterscheiden als jene der «Weißen» in den germanischen Wäldern und Sümpfen, akephale, segmentäre Gesellschaften, die sie waren, und der Weltstadt Rom 21 . Wie nahmen sich diese aus?
6.3
Überschreibungen in den Erinnerungen schriftloser Kulturen
Ein erstes Beispiel gelte Europa22 . Aufgezeichnet hat die kleine Anekdote der ungarische Prähistoriker und Schriftsteller Ferenc Mora (1879-1934.). Sie handelt von dem früheren Polizeipräsidenten von Szeged, Gustl Szluha, und spielt in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Szluha ließ sich auf seinem Weingut des Abends nach der Lese von seinen Leuten Märchen erzählen. Eines Tages geschah es, «daß die Einöd-Bauern den Herrn Präsidenten an die Leine nahmen» und er ihnen die fällige Geschichte erzählen sollte. Der Herr erinnerte sich Homers und erzählte vom zehnjährigen Kampf des Helden Achilles gegen Hektor um die schöne Helena. Im folgenden Jahr waren seine Bauern wieder an der Reihe. «Es war einmal, war's vielleicht auch nicht. Es geschah aber noch in der , daß es eine große Schlacht gab zwischen den Madjaren und den Türken. Aber die war eine so unglaublich große Schlacht, daß sie gerade zehn Jahre gedauert hat. Da gab es damals unter den Madjaren einen jungen Husaren, Ag Illes mit Namen, der war ein bärenstarker Bursche ... »23 Die Adaptation des Fremden an das Eigene, das als Plot, als vertrautes Erzählmuster zur Verfügung steht, geschieht regelmäßig, rund um den Erdball. In die Vergangenheit zurück führen solche Vorgänge, vom immer wieder verwendeten und wenig aussagekräftigen Muster abgesehen, nicht. Wer irgend dieser Geschichte, so historisch verortet sie sich auch ausnimmt, trauen wollte, ginge in die Irre. Jedes Detail war korrekt: der
Überschreibungen
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Trojanische Krieg, die homerischen Helden, die zehn Jahre, die jahrelangen Kriege der Madjaren gegen die Türken, der bärenstarke Husar; die ganze Erzählung ergab eine in sich glaubwürdige Einheit; selbst das bäuerliche Milieu der «oralen Tradition» stimmte. Doch nichts gehörte ursprünglich zusammen und kein Erforscher mündlicher Überlieferungen, der nicht die Bauelemente und Entstehungsbedingungen dieser speziellen Geschichte kennte, könnte ihre vollkommene Märchenhaftigkeit durchschauen oder erkennen, was wie zu trennen sei. Das Echte ist mit dem Wirklichen nicht identisch. Mit ähnlichen Überlagerungen wie bei den Bauern von Szeged hat man zu allen Zeiten und überall zu rechnen, sobald die Überlieferungen unterschiedlicher Gruppen, gar fremder Kulturen einander zu begegnen beginnen. Das verhielt sich im Mittelalter nicht anders. Zumal die frühe Phase der Kulturangleichung germanischer Völkerschaften an die griechisch-römische Welt mußte derartige Überlagerungsphänomene hervorgebracht haben, wobei die Schwierigkeit ihres Erkennens im Anschein archaischer, barbarischer Altertümlichkeit besteht. So wird beispielsweise gegenüber den ganz ungermanischen Genealogien der sich von heidnischer Vorfahrenschaft herleitenden Fürsten, zumal ihrer Herkunft von Wotan oder sonst einer Gottheit stärkster Zweifel entgegenschlagen. Darauf ist unten zurückzukommen24 • Überlagerungen verschiedener Kulturen wurden auch durch den Kulturexport der europäischen <Entdecken, Missionare und Ethnologen bewirkt, so bestrebt letztere auch waren, authentische Überlieferungen der «Wilden» aufzuzeichnen. Ein hübsches Beispiel verdankt sich dem Ethnologen Karl-Heinz Kohl. Es ist die Geschichte vom deutschen 50-Pfennig-Stück, die sich in einem Dorf auf Flores, einer ostindonesischen Insel, im Jahre 1986 zugetragen hat, und die es zur Bestätigung ihrer eigenen Erzählung werden ließ. Auf der Rückseite der Münze pflanzt eine Frau einen Baum. Schaut man ein wenig anders, gräbt sie ihn aus. Das Bild lieferte den Dorfbewohnern, denen der Ethnologe derartige Münzen für kleine Gefälligkeiten in die Hand drückte, den Beweis für die Wahrheit ihres Mythos «vom Baum des Reichtums». Ihn hatte ein einheimisches Mädchen, fremden Männern folgend, mit in den Westen, die Welt des Reichtums, genommen, von dort kam jetzt sein Bild zurück25 ; dort also befand er sich tatsächlich. Geschichten hier und dort erzählt, ein überraschend aufgetauchtes Bild beweisen die Wahrheit fremder und einheimischer Erinnerung und Welterfahrung. Weshalb sollte man zweifeln? Der Vergleich fügte das Fremde zum Eigenen und förderte keine Wissenskritik. Das Muster, die eigene Überlieferung, bleibt wirksam, solange das Erinnern vorwiegend an Mündlichkeit gebunden
21.0
Das Gedächtnis mündlicher Kulturen I
ist und dem Leben dient. Es adaptiert und schmilzt ein, was ihm zu entsprechen scheint. Das war und ist in Indonesien nicht anders als in Euro~ pa und in seinem Mittelalter. Einheitliche Befunde sind ohnehin nicht zu erwarten. Auch die europäischen Gruppen differieren erheblich. Die Ethnologie produzierte denn auch konkurrierende Theorien zur Interpretation oraler Traditionen. Seit dem frühen 20. Jahrhundert stritten beispielsweise amerikanische Ethnologen über den historischen Quellenwert mündlicher Traditionen der Ureinwohner des Landes wie etwa der Hopi 26 • Lieferten dieselben zuverlässige historische Daten? Korrekte Geschehens-Plots? Entschieden verneinende Stimmen wurden laut 27 . Mit der Zeit meldeten sich die Gegenstimmen immer häufiger; heute scheint die Mehrzahl der amerikanischen Ethnologen der mündlichen Tradition eine durch Jahrhunderte stabile Erinnerungsfähigkeit zu attestieren, wie es scheint, ohne den Ordnungsbegriff «oral tradition» stets angemessen erkenntniskritisch zu hinterfragen. Fortgesetzt winken ihnen die Bauern von Szeged zu. Eine gewisse Distanz trennt den ethnologischen Beobachter immer von dem Beobachteten; Clifford Geertz hat darauf verwiesen und überlegt, wie sie durch das Eindringen in die Innensichten der Befragten - in ihre symbolischen Formen, Worte, Bilder, Institutionen, Verhaltensweisen - abgebaut werden könnte 28 • Nicht das Alter elaborierter und jahrhundertelang in aufwendigem Studium auswendig gelernter Texte wie der Veden oder irischer Erzählungen steht hier zur Diskussion, sondern die Frage verformungsresistenter Tradition erlebter Zeitgeschichte in mündlicher Überlieferung. Die Frage selbst zeugt bereits von modernem Geschichtsverständnis; ihre Beantwortung setzt deren Methoden voraus. Beispiele, die derartige Zeitresistenz historischer Ereignisse in mündlicher Erinnerung belegen sollen, betreffen Jahrhunderte zurückliegendes Geschehen. Sie wurden gewöhnlich im 1.9. und 20. Jahrhundert aufgezeichnet. Es fehlen zur kritischen Beurteilung Vergleichsquellen, auch Zwischenstufen von den Ereignissen zu den Niederschriften; es fehlt eine plausible Theorie, wie - ohne Spezialistentum, ohne Kanonisation der Erzählungen, ohne sprachliche Elaboration - dieser oder jener Inhalt stabilisiert worden sein soll; es fehlt überhaupt die Möglichkeit, das Alter und die Auswahl derartiger «Traditionen» zu bestimmen. Wie etwa lassen sich indigene Erzählungen von den Implantaten europäischer Missionare, Siedler, Lehrer abgrenzen, die unzweifelhaft vorauszusetzen sind. Wer um 1900 oder um 1960 nach der Gegenwart der Spanier in New Mexico fragte, war gewiß nicht der erste oder gar der einzige, der es tat 29 . Was aber seine Vorgänger bewirkt haben, entzieht sich jeg-
Überschreibungen
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licher Nachprüfung. Es ist wie bei den Bauern von Szeged. Angebliche Erinnerungen an über tausend Jahre zurückliegende Vulkanausbrüche, die zur Sprach- und Völkertrennung geführt haben sollen, dürften sich entsprechender Einwirkungen von Missionaren verdanken 30 . Ätiologische Sagen sind allenthalben zu registrieren. Was hier wem vorausgeht, das Erzählte den Ruinen oder diese der Tradition, ist oftmals nicht zu entscheiden. Auch im Hinblick auf Afrika weichen die Urteile der Vertreter eines historisch-kritischen und eines ethnologisch-strukturalistischen Ansatzes voneinander ab 31 . Wie· sind mündliche Überlieferungen zu beurteilen, die vielfach divergierten, wie für die Geschichte der sie erzählenden Gruppen fruchtbar zu machen? Führt der Vergleich diverser Erinnerungen des nämlichen Geschehens zu dessen hartem Kern? So hofften die stieß und seine Thesen modifizierte 32 . Oder hatte man in erster Linie die aktuellen Bedürfnisse und Interessen der von den Erzählern repräsentierten Gruppen zu beachten, denen sich die Erzählungen anpaßten, und in denselben gerade keinen Niederschlag vergangener Ereignisse zu erkennen? So lehrten <Ethnologen>. Mit Verformungen der mündlichen Überlieferung, wie sie der gleitende soziale Wandel mit sich bringt, rechneten somit beide Gruppen, gerade auch Vansina33 • Die Diskussion drehte sich um Triebkräfte und das Ausmaß der Verformungen, auch um die Frage, ob und in welcher Weise sie auf ein ursprüngliches Geschehen verwiesen und ob dieses «rekonstruiert» werden könne. Nur eine weitgestreute Fülle von Feldforschungen, die Sichtung des bereits verfügbaren Materials und zahlreiche Detailstudien vermochten in dieser Debatte eine Klärung herbeizuführen. Erschwert wurde sie durch den Umstand, daß selbst die frühen Schrift,zeugnisse, wie sie etwa europäischen Kolonialbeamten zu verdanken waren, unkritisch fixierten, was ihnen ihre Informanten erzählten, gar selbst interessengeleitet selektierten und eigenständig gewichteten, was sie zu hören bekamen, und keineswegs unvoreingenommen die mündlichen Traditionen, gar die Vielzahl konkurrierender Versionen derselben festhielten 34 • So liegt ein höchst problematisches Quellenmaterial vor, das eindringlicher Interpretation bedarf, soll es über die Vergangenheit Auskunft geben. Wie dem aber sei, für bestimmte Probleme wie etwa die Frage nach der Exaktheit von Erinnerungen in überwiegend auf Mündlichkeit angewiesenen Gesellschaften - und darauf kommt es hier an stellt die Ethnologie (und die ältere Ethnographie) ein reiches Datenma-
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Das Gedächtnis mündlicher Kulturen I
terial und vielfältig erprobte Auswertungsmethoden zur Verfügung, an denen der Historiker nicht vorübergehen darf.
6.4
Interkulturelle Vergleiche
Auch wurde zeitweise die universale Einheit des Denkens von der Ethnologie grundsätzlich in Frage gestellt, wahrscheinlich zu Unrecht. Träfe es zu, jedem interkulturellen Vergleich wäre von vornherein der Boden entzogen. Auf der Basis von Emile Durkheims These, unterschiedliche Gesellschaften besäßen unterschiedliche Denksysteme, relativierten manche Ethnologen die menschliche Erkenntnisfähigkeit und attestierten nahezu jeder Kultur eine eigene Erkenntnistheorie. Danach bliebe nicht nur die Kultur der Buschmänner, Eskimos oder der australischen Aborigines, sondern strenggenommen auch das europäische Mittelalter aus theorie-immanenten Gründen in seiner Fremdheit der Moderne für alle Zeit unerreichbar und auf ewig fremd. Durkheim und seine Schüler, auch Maurice Halbwachs, hatten freilich die Neurobiologie noch nicht in ihre Überlegungen einbezogen. Auf der Basis ihrer These wäre jeder Versuch, mit Hilfe interkultureller Vergleiche die besonderen Erinnerungsweisen fremder Kulturen, auch die Geschichte abgelegener Zeiten, letztlich sogar die eigene Vergangenheit zu ergründen, von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Indes, auch diese These besaß ihren Schwachpunkt: Beanspruchte sie doch für sich selbst, was sie allen anderen bestritt: universale Erkenntnisweise zu sein, welche die Andersartigkeit der anderen zu erkennen vermöchte. Jene These war also nicht konsequent, vielmehr widersprüchlich in sich. Sie wird heute in der Regel nicht mehr verfochten. Gleichwohl bleibt die Forderung nach Berücksichtigung ethnologischer Erkenntnisse für die europäische Geschichte grundsätzlich gültig. An dieser Stelle setzte der Oxforder Anthropologe Maurice Bloch mit seiner Kritik ein. Sie stellte die perspektivischen Verzerrungen jener ethnologischen Untersuchungen heraus 35 • Die fraglichen Feldforschungen hatten sich durchweg Ritualen zugewandt, so stellte Bloch fest, und gerade nicht der Lebenswelt. Rituale aber folgten anderen Kategorien als Alltagswahrnehmungen und Alltagsdenken und dem «gewöhnlichen» Handeln der Menschen. So konnten sie auch andere Zeitvorstellungen oder Erkenntnisweisen zeigen als diese. Das tägliche Wahrnehmen aber bediene sich, so Bloch, universaler Vernunft, nur jene böten mancherlei Exotisches. Wir hätten demnach zwei Ebenen strikt auseinanderzuhalten: die Ebene des Rituals und die des Alltags. Entsprechendes gilt für das Gedächtnis. Zwischen ritualgeleitetem und
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alltäglichem Erinnern sowie den ihnen jeweils zuzuordnenden Überlieferungen muß streng unterschieden werden. Kultmythen etwa dürfen nicht gleich historischen Sagen behandelt werden; sie gehören verschiedenen Erinnerungsebenen an. Rituelles Handeln mag die Zeit aufheben und eine ewige Gegenwart suggerieren, andere Sozialstrukturen präsentieren oder andere Erkenntnisweisen nahelegen als die rituallose Lebenswelt. Aber sie ersetzt oder verdrängt dieselbe nicht. Beide Ebenen besitzen je andere Leistungsstärken und werden jeweils von anderen Verformungskräften gelenkt. Doch gibt es Übergangszonen. Das ist im folgenden genauer zu betrachten. Die Zusammenhänge, mit denen wir es hier zu tun haben, findet man in allen Kulturen. Die weltweite Streuung des ethnologischen und kulturanthropologischen Vergleichsmaterials vermag das zu verdeutlichen. Es erfaßt eine Vielfalt von Erinnerungstechniken mündlicher oder semiliterater Kulturen europäischer wie außereuropäischer Gesellschaften 36 . Bemerkenswert sind eigentümliche Wampum-Gürtel oder Piktogramm-Aufzeichnungen der Delaware, Dakota oder Kiowa aus dem 19. Jahrhundert 3? Die Mündlichkeit der Überlieferung läßt, wirken ihr keine elaborierten Gedächtnis-Stabilisatoren - wie beispielsweise die Quipuschnüre der Inka - entgegen, die psychischen Verformungsprozesse, die flexible, situative Gedächtnismodulation und die mit ihr einhergehende Ungenauigkeit der Erinnerungen verstärkt hervortreten. Details zerfließen rasch und für immer. Was unzutreffend erinnert wurde, läßt sich nicht mehr heilen; der Verformungsprozeß schreitet unaufhaltsam - bald rascher, bald gemächlicher voran. Als Stabilisatoren des kollektiven Gedächtnisses erweisen sich allerlei Objekte, Landschaften, Geländemale, Grabstätten, speziell errichtete Monumente, Waffen, Schmuck und dergleichen mehr; auch wiederholte Unterweisungen in «Männer-» oder «Frauenhäusern»38. Gleichwohl, auch sie bildeten keinen ewig haltbaren Damm gegen den schleichenden Wandel einer Erzählung, die sich an ein Objekt, ein Geländemal oder was immer bindet, gegen die gierige Aushöhlung der Vergangenheit durch die fortgesetzt anbrandenden Fluten immer neuer Gegenwarten. Er ist mehr oder weniger kontinuierlich und allenthalben zu registrieren, sobald nur eine Geschichte in ihren Wiederholungen verfolgt werden kann. Mündlichkeit, kollektive Erinnerung, Geschichtsdenken und Geschichtsschreibung treten auseinander. Der Historiker hat seine Erkenntnismethoden entsprechend zu modifizieren.
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Das Gedächtnis mündlicher Kulturen I
6.5
Strukturelle Amnesie
Die Ethnologie bietet eine lange Serie von Beispielen zum Umgang mit dem Gedächtnis in oralen oder semiliteraten Kulturen. Die seßhaften, Bodenbau treibenden Hopi in Arizona etwa, eine Gruppe der westlichen Pueblo-Indianer, bilden seit den frühesten Feldforschungen im 19. Jahrhundert ein dankbares Untersuchungsfeld, da sie seit jeher eine spezifische Form elaborierter Mündlichkeit pflegten: Wer von einer Reise oder Unternehmung zurückkehrte, hatte in der Kiva, dem Kulthaus, seinen Gruppengenossen genau und detailliert zu berichten, was er erlebt hatte 39 . Das schien die Zuverlässigkeit der Erinnerungen zu gewährleisten. Der Plot einer Geschichte soll tatsächlich durch mehrere Jahrzehnte un- ' verändert von der mündlichen Tradition bewahrt worden sein, wobei unklar ist, wer die Träger der Überlieferung sind und wie weit die gedächtnisstabilisierende Wirkung jener Fragen eines Interviewers, die ihr Vorwissen aus der Literatur schöpften, und überhaupt die Verbreitung älterer Berichte (etwa in Zeitungen und Journalen) auf die Überlieferung einwirkten. Gleichwohl waren auch bei den Hopi Teleskopie und zeitliche Inversion an der Tagesordnung; erweisen sich auch bei ihnen die Altersangaben der Informanten und chronologische Hinweise als besonders verformungsanfällig; konnten ursprünglich unbeteiligte Personen hinzutreten; drangen traditionale Handlungsmotive und mythische Verhaltensmuster in ein anders geartetes reales Geschehen ein40 . Im Ergebnis traten eigentümliche Mischungen von einst Geschehenem, später Hinzugefügtem und Mythischem hervor, die ohne gesicherte Kontrolldaten derartige Tradition für eine akkurate Datensammlung, die ein Geschehen in Raum und Zeit und mit allen wichtigen Beteiligten verorten möchte, nur bedingt verwertbar macht. Es ist, um Mißverständnissen oder Diskriminierungen vorzubeugen41 , zu betonen, daß auch die folgenden Beispiele tatsächlich Beispiele sind, nämlich besonders bündige Illustrationen eines rund um die Erde zu beobachtenden Phänomens der «strukturellen Amnesie» darstellen, des Verlusts an Details bei gleitender Anpassung der Erzählung an die Gegenwart bei gleichbleibendem Erinnerungsplot, gleichbleibender Struktur des Erinnerten, daß sie nicht entfernt dazu dienen, den Beweis für derartiges Vergessen anzutreten42 • So können Glieder einer zu memorierenden Genealogie aus mancherlei Gründen aus der Abfolge der Namen ausfallen, ohne daß sich damit die Erinnerungsstruktur der Genealogie verflüchtigt hätte. Sie hatte sich lediglich an die Bedingungen und Bedürfnisse des Augenblicks angepaßt. Der Sachverhalt derartig kollekti-
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ven und kulturellen Vergessens ist längst bewiesen, längst von Autoren wie Maurice Halbwachs oder Frederick Bartlett für die Sozial- und Geschichtswissenschaften fruchtbar gemacht, wenn auch in der deutschen Geschichtswissenschaft, erinnerungsblind, wie sie sich bislang gab, nicht sonderlich beachtet worden. Es geht im folgenden also nicht um Beweise, sondern um Konsequenzen aus dem Phänomen der «strukturellen Amnesie» für die Beurteilung gleichartiger Phänomene des europäischen Mittelalters. Die bisher virulente Unterstellung, die vorliteraten Kulturen Europas verhielten sich grundsätzlich anders als die übrigen oralen Kulturen dieser Erde, zeugt mehr von Arroganz als von Wissenschaft. Bei den Gonja in Nordghana - einem unter dem Einfluß des durch maghrebinische Fernhändler vermittelten Islam lebenden Königreich mit ständigen Beziehungen zur literaten, muslimischen Außenwelt, mit einer im wesentlichen auf den Kontext dieser Religion, seltener auf Briefe, Handelsgeschäfte oder historische Darstellungen (deren älteste aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts stammt) eingeschränkten, arabischsprachigen Literalität43 - registrierten britische Kolonialbeamte die Geschichte von Ndewura Japka, ihrem legendären Reichsgründer, der sein Reich in sieben Provinzen gegliedert habe, deren jede einer seiner sieben namentlich genannten Söhne verwaltete. Die Zahl der Provinzen entsprach in der Tat der Situation, als die Briten um die Jahrhundertwende die fragliche Region ihrer Herrschaft unterstellten. Alsbald führten sie eine Verwaltungsreform durch, so daß statt der bislang sieben nur noch fünf Bezirke zu verwalten waren. So blieb es auf Jahrzehnte. Dann aber, nach sechzig Jahren, wurde die Geschichte vom Reichsgründer noch einmal erfragt. Jetzt besaß Japka nur noch fünf Söhne; jene zwei, deren Provinzen von der Kolonialverwaltung aufgelöst worden waren, waren spurlos aus der Geschichte verschwunden44 • Wären ihre Namen nicht von britischen Kolonialbeamten festgehalten worden, kein Gedächtnis hätte sie dem Vergessen wieder entreißen können. Bei den Tiv in Nigeria wurden lange Genealogien memoriert, aus denen sich die Rechte der jeweilig Genannten ergaben. Kolonialbeamte schrieben sie auf, weniger um sie der Nachwelt zu erhalten, als um für Gerichtsverfahren gerüstet zu sein. Vierzig Jahre lang stützte man sich auf sie, obgleich sie Gegenstand zahlreicher Kontroversen waren. Die Tiv behaupteten, die Aufzeichnungen seien falsch; die literaten Beamten aber betrachteten dieselben als Dokumente der altüberkommenen Rechtslage. Tatsächlich hatten sich die Genealogien flexibel den gleitend sich wandelnden, realen Verhältnissen angepaßt, während das Schriftzeugnis der Kolonialherren in seiner unflexiblen Starrheit längst veraltet war und festhielt, was niemand mehr wissen wollte45 • Die memorierten Genealogien waren·
21.6
Das Gedächtnis mündlicher Kulturen I
keine historischen Quellen, gaben gerade keine Kunde über die Vergangenheit, obgleich sie im Vergangenheitsmodus memoriert wurden, vielmehr aktuelle Daten der erzählenden Gegenwart. Vergangenheit, genauer: der Modus der Vergangenheit erweist sich als Legitimitätserfordernis der Gegenwart, nicht als tradiertes Einst. Sehe ich recht, so entspricht dieser Sachverhalt der neuronalen Selbststeuerung des Gehirns, in dem nur als ein verfügbares, <jetzt> aktualisiertes und zum Feuern gebrachtes neuronales Netzwerk erscheint. Die beiden Beispiele, denen ungezählte zur Seite gestellt werden können, verdeutlichen nicht nur das unter Ethnologen längst bekannte und vielfach beobachtete Phänomen der «strukturellen Amnesie». «Schon allein aus Gründen der Gedächtnisökonomie kann nur das weitergegeben werden, was auch aktuell von Bedeutung ist»46. Derartige Beobachtungen stellen auch den Historiker oraler oder semiliterater Gesellschaften vor ein methodisch kaum lösbares Dilemma. Die Schriftzeugnisse, die sich ihm bieten, stehen im Verdacht, nichts weiter als Fixierungen eines transitorischen Momentes im gleitenden Vergangenheitsbild dieser Gesellschaften zu bieten, nicht getreulich frühere Sachverhalte zu fixieren, vielmehr lediglich Zeugnis abzulegen für die zum Zeitpunkt der Niederschrift aktuelle Lage, ein Zeugnis, das sich aus Legitimitätsgründen der Vergangenheitsform bedient. Historiker, verfangen in Schriftgläubigkeit, Quellenpositivismus und ihren eigenen historistischen Denkweisen, haben den Vergangenheitsmodus in ihrem Sinne mißverstanden: nämlich als erinnernde Bewahrung von . Im Streit der Dagara mit den Sisala im Grenzgebiet von Ghana und Burkina Faso um die Siedlungsgebiete beispielsweise, der nicht zuletzt den alten Gegensatz von Jägern und Bauern aufleben ließ, bringt jede der beteiligten Gruppen ihre eigene Version des Siedlungshergangs hervor. Erzählung und Gegenerzählung konkurrieren, ohne daß bereits Aushandlungsprozesse eine einzige, gar eine offizielle Version zustande gebracht hätten. Die entsprechenden Erzählungen weisen nicht nur im Vergleich miteinander charakteristische und gerade wesentliche Kernpunkte des Geschehens verformende Abweichungen auf, so daß es methodisch falsch wäre, sich nur auf eine Version zu stützen; sie verändern sich zudem auch innerhalb der eigenen Gruppe mit dem Fortgang der Zeit, passen sich gleitend dem Wandel der politischen und sozialen Situation und der Interessen an. Sie «teleskopieren» und operieren mit dem «floating gap». Zwar gibt es gewisse Übereinstimmungen zwischen den verschiedenen Versionen; doch dieselben bedienen sich weit verbreiteter Cliches, allenthalben griffbereiter Wandermotive - Jäger gegen
Strukturelle Amnesie
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Bauern, Ziegen für Land, Frauenraub und dergleichen mehr -, wie sie in den Auseinandersetzungen zwischen Jägern und Bauern allenthalben auftreten~ so daß auch hier die Historizität des Einzelgeschehens kaum akkurat herausgearbeitet werden kann. «Die faktische Geschichte wird sich immer nur annäherungsweise ermitteln lassen»47. Vor allem aber - und das ist ein gravierender Einwand, der zumal dem Historiker zu schaffen macht: Fällt nur eine einzige dieser Erzählgemeinschaften vorzeitig aus (sie sei liquidiert, ausgestorben oder ausgewandert, entmachtet, assimiliert oder aus sonst einem Grund verschwunden), dann verstummt mit ihr in der Regel auch ihre Erzählung, die zur überlebenden ist; dann beherrscht allein die Version des <Siegers> die Vergangenheit und somit eine Version, deren Glaubwürdigkeit damit unkontrollierbar wurde; selbst wenn Traditionselemente wie etwa religiöse Kulte der Unterlegenen in die Überlieferungen der Sieger aufgenommen werden, so sind es die letzteren, welche über die Art der Adaptation befinden. Gerade die wesentlichen Elemente der Erzählung sind betroffen, die einstige soziale Konstellation selbst. Der noch erkennbare Plot verrät bestenfalls die halbe Geschichte, aber auch diese nur dem, der die ganze schon kennt. Zeit, Ort, Beteiligte und Geschehen haben sich verschoben und verflüchtigt. Wo immer in mündlichen Gesellschaften nur die Überlieferung einer einzigen Gruppe faßbar wird, ist mit untergegangenen Gegenerzählungen zu rechnen und nach den geringsten Hinweisen auf sie Ausschau zu halten. Allenfalls bei einigem Glück mag es gelingen, noch Spuren der Retuschen - kleinste Hinweise gleich einer überzähligen Hand, einem Fuß zu viel, einem falschen Augenschlag auf manipulierten Photographien - zu erkennen und für das zu errichtende Vergangenheitskonstrukt zu verwerten. Daraus ergibt sich die methodologische Forderung: Die Glaubwürdigkeit des so fragmentarisch Überlieferten - es handelt sich beispielsweise um eine beachtliche Menge frühmittelalterlicher Quellen ist schlechthin nicht zu kontrollieren. Ihm Glauben zu schenken, ohne der Gegenerinnerungen habhaft geworden zu sein, die Tradition also der Sieger - und sei es die Geschichte, wie Karl der Große seinen Vetter Tassilo ausschaltete oder wie Heinrich der Vogler die Krone gewann - mit welchen Kautelen auch immer garniert zu servieren, setzt an die Stelle des Geschehenen, das Geglaubte, den Anspruch einer Partei; setzt, wenn man so will, die Wahrheit der Vergangenheits-, Traditions- oder Geschichtsbilder der Sieger gegen die Wirklichkeit menschlicher Gruppen und Verbände.
21.8
Das Gedächtnis mündlicher Kulturen I
6.6
Traditionen werden erfunden
Heutige Ethnologen registrieren mit Staunen, daß sie selbst durch ihre Feldforschung und deren monographische Darstellung kulturelle Traditionen der von ihnen untersuchten Gesellschaften produzieren, ja fabrizieren können 48 • Ein bekanntes Beispiel dieser Art betrifft die Maori, in denen bald Semiten (Nachkommen der verlorenen jüdischen Völker), bald Arier gesehen worden waren, bevor ihnen eine eigene Identität zugebilligt wurde 49 • Diffusions- und Wanderschaftstheorien förderten die Erfindung und Akzeptanz von «Traditionen» durch Europäer. So soll ein Mann namens Kupe im Jahr 925 die neuseeländischen Inseln entdeckt, um die Mitte des 1.2. Jahrhunderts Toi und sein Enkel Whatonga sie von Tahiti aus besiedelt und schließlich die «Große Flotte» von sieben Kanus um 1.350 von Hawaiki aus das Land in Besitz genommen haben; von diesen Booten leiteten sich alle Maori her. Die hübsche Geschichte im Verein mit dem Kult des Gottes 10, des Unerschaffenen, Ewigen, Höchsten, des Weltschöpfers, der die übrigen Götter erschuf, ist, soweit zu überprüfen, - gleich der Geschichte vom bärenstarken Husaren von Szeged - ein. Konstrukt, eine Komposition nämlich von Europäern. Sie wird erstmals um 1.91.3h 5 greifbar und fabriziert unter Verwertung heterogenster Materialien - einheimischer Erzählungen, des biblischen Vorbilds, der Geschichte der Einnahme Englands durch Wilhelm den Eroberer, auch der Geschichte der Angelsachsen nach Beda Venerabilis - eine Tradition, die dann selbst von den Maori als die ihre akzeptiert wurde. Möglich wurde derartige Aneignung, so zeigt sich, weil um 1.900 die gesellschaftspolitische Integration der Maori, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihr neues politisches Selbstbewußtsein sich Ausdruck zu verschaffen suchte.
6.7
Stabilisatoren des Gedächtnisses
Jede Gesellschaft braucht ihre Gedächtnisträger, seien sie Sänger oder Erzähler, Schamanen oder Gelehrte, die nicht nur unterhalten, sondern vor allem Religion, Herrschaft, Recht und Sitte zu thematisieren wissen und dem Kollektiv eben auch eine Vergangenheit vor Augen stellen, mit der es sich identifizieren kann und die seine Gegenwart zu legitimieren vermag. Mitunter werden drastische Mittel ergriffen, um «korrekte» Dauerhaftigkeit mündlicher Überlieferung zu erzwingen. Im afrikanischen Königreich Buganda sollen alle offiziellen Hofsänger
Stabilisatoren des Gedächtnisses
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geblendet worden sein, um ihre Kunstfertigkeit zu erhöhen oder um sich von schönen Frauen nicht in Versuchung führen zu lassen. Sie hatten Lob- und Totenlieder auf die Könige und andere Hofleute zu dichten und vor allem die Ahnen des Königs zu besingen. Dies letzte war besonders gefährlich: Ein einziger Fehler konnte den Tod bedeuten. Bei den Ashanti standen zwei Scharfrichter hinter dem Sänger, bereit zum Töten, wenn ihm ein Fehler unterlief50 . Es mangelt indessen an Kontrollaussagen, um die Wirkung derartiger Bedrohung auf die Dauerhaftigkeit der Erinnerungsprodukte überprüfen zu können. Auch konnte bestenfalls das so Kanonisierte auf Dauer gestellt werden und nichts sonst. Waren die Mittel auch drastisch, so darf ein langanhaltender Erfolg solcher Kooperation von Macht und Gedächtnis gleichwohl bezweifelt werden. Denn ungeregelt blieb die Selektion der richtigen Erinnerungen etwa durch die Könige selbst. Hier spätestens schlich sich die Verformung des Vergangenheitswissens in die Überlieferungen ein. Die Nalumin in Papua-Neuguinea sicherten ihr kulturelles Gedächtnis im Kulthaus der Männer durch das Aufbewahren spezieller Kultobjekte - Federn, Knochenstücke wie beispielsweise Schweineunterkiefer, Versteinerungen, Geräte, Nahrungsmittel, sakrale Gegenstände -, an die sich bestimmte Mythen, Erzählungen oder Lieder knüpften, die von wenigen Spezialisten gewußt und weitergegeben wurden51 • Die der Kulthäuser, wie man sie genannt hat, waren für das entsprechende Wissen zuständig; sie gehörten alle dem mächtigsten Klan der Nalumin an. Gingen die Objekte verloren, ging mit ihnen ihre Geschichte unter. Darüber hinaus gab es Landmarken, Wege oder Naturmonumente, an die sich in analoger Weise das Gedächtnis der Ahnen heftete; so entstanden Erinnerungsräume um das Dorf. Was ohne Objekt im Kulthaus oder ohne Ort im Erinnerungsraum blieb, wurde nicht erinnert. Vergleichbare an Objekt und Ort gebundene Erinnerungstechniken finden sich auch andernorts, selbst in Europa52 • Überlieferungen ohne dingliche oder rituelle Anbindung sehen sich erhöhter Verformungsgefahr und rascherem Vergessen ausgesetzt als solche mit entsprechender Rückversicherung. Ständige Wiederholung der Erzählungen bewahrte diese wenigstens für eine gewisse Zeit vor Transformationen. Doch existiert auch jetzt keine Untersuchung über die inhaltliche Stabilität derartiger Erinnerungen; Verformungen etwa durch wiederholtes Aushandeln der Vergangenheit durch verschiedene Klane waren an der Tagesordnung. Älteres blieb auf der Strecke, Neues schob sich an seine Stelle. Faktizistische Präzision der Erinnerungen wird man nicht postulieren
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Das Gedächtnis mündlicher Kulturen I
dürfen. Festgehalten wurde ohnehin nur das, was für die Gegenwart Relevanz besaß, nicht, wie es «tatsächlich» dazu gekommen war. Gravierende Folgen zeitigte die (erst 1978 erfolgte) Missionierung der Nalumin. Der zwanzigjährige Rhythmus der sich über Monate hinziehenden Initiationen mit der Mythen-Übermittlung, deren letzte um 1958 stattgefunden hatte, riß nun ab. Das Traditionswissen der N alumin begann, vollends zu versinken. Doch auch innerhalb der Zwanzig-JahreFrist griff Vergessen und Verformen auf das zu Erinnernde über. «Ich habe vieles erfahren, was ich erzählen kann», stellte im Jahr 1983, ein Vierteljahrhundert nach der letzten Initiation, einer der damals Initiierten resignierend fest, «aber etwas habe ich auch vergessen»53. Auch mit dem Kulthaus wandelte sich das Gedächtniswissen fortgesetzt; ohne das Kulthaus und die dort wirksame Institutionalisierung des Erinnerns aber geht die überkommene Traditionspflege und mit ihr die Vergangenheit unter. Entsprechendes gilt von den Sawos, einer weiteren Gruppe auf Papua-Neuguinea, die am mittleren Sepik siedelt 54 . Die wichtigste Form ihrer Überlieferung sind die Namensgesänge, die einzelnen Klanen oder Klangruppen zugeordnet sind und regelmäßig zur Aufführung gelangen. Sie werden etwa bei Totenfesten gesungen und verbinden die Namen der Ahnen mit mythischem Wissen, den Taten der Urahnen oder den magischen Funktionen des Klans. Ihre Kenntnis beschränkt sich auf sehr wenige Männer. Länge und Umfang einer Performance ist abhängig von den durch den fraglichen Klan zur Verfügung gestellten Nahrungsmitteln; denn der Gesang erstreckt sich über viele Stunden. Aufgebaut ist er nach einer festen Struktur aus mehreren Strophen oder Abschnitten, von denen mehrere hundert zu einem Namensgesang vereint sein können. Ein Bündel von Stäbchen, deren Anzahl der Zahl der Strophen entspricht, gehört zu jedem Namensgesang; es wird in den Häusern des zugehörigen Klans verwahrt. An ihm haftet gleichsam das Gedächtnis; die KlanMitglieder werden die Richtigkeit des Vortrags kontrollieren können. Wiederholung garantiert die Stabilität der Erinnerung, wenigstens bis zu einem gewissen Grad. Gleichwohl gibt es «keine absolut festgelegte Form des Gesanges»; Inhalt, Reihenfolge der Einzelgesänge oder die Namensfolge unterliegen permanenten Veränderungen, sind also unablässig offen für Verformungen jeglicher Art. Allein die Struktur bleibt unangetastet. All dies stellt zweifellos bemerkenswerte Zeugnisse für das Bemühen dar, Erinnerung auf Dauer zu stellen. Die Aktivitäten sind verbunden mit einer extremen Informationsselektion. Nicht alles kann mit der
Stabilisatoren des Gedächtnisses
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nämlichen Intensität erinnert werden, nur weniges wird weitergegeben. Das Ausgewählte bedarf zudem kontinuierlicher Wiederholung, um bewahrt zu werden. Die Selektion aber erfolgt fortgesetzt. Sie streicht einst Memoriertes, fügt Neues hinzu, mithin, paßt die Vergangenheit der Gegenwart an. Wie erfolgreich das ganze Verfahren auf diese Weise ist, läßt sich nur abschätzen. Weit in die Tiefen der Vergangenheit reicht das Wissen, das sich derartigen Techniken verdankt, jedenfalls nicht. Gleichwohl gilt es, die Intention zu beachten. Mythen, Kultsagen, Kultlieder oder Ritualtexte, oft in gebundener Rede überliefert, sind gegen Vergessen oder Verformung in der Regel besser gefeit als kultferne Erinnerungen. Ihre Tradition ist institutionalisiert, mitunter kanonisiert, regelmäßig rituell inszeniert. Allein, sie überliefern ein ausgegrenztes Wissen, kein aus dem Fluß des Geschehens geschöpftes. Das Handeln der Menschen, die Fülle und Kontingenz des Geschehens verflüchtigt sich. kommt auf diesem Wege nicht zustande. Das Interesse am Kanon richtet sich nicht auf eine fortlaufende Geschichtsschreibung, auf Annalistik oder reflektierendes Festhalten irgendwelcher Vergangenheiten. Sie bewahrt lediglich verpflichtendes und deshalb prinzipiell unantastbares, im letzten normatives Wissen. Dasselbe vermehrt sich nicht mit dem Fortgang der Zeit und der Mehrung der Menschen oder nur in Ausnahmefällen. Als Modell für mündliche Tradition und als Maßstab ihrer Leistungskraft können solche Sagen letztlich nicht dienen. Nur spezialisierte Erinnerungspflege vermag die Zeiten mehr oder weniger ausgiebig zu überdauern 55 • Ohne eine derartige fällt, was geschah, über kurz oder lang dem Vergessen anheim. Die Hochzivilisation der Maya - nur dieses eine Beispiel noch -, die eine Symbol- und Silbenschrift kannte, einen komplizierten Kalender, eine schriftunterstützte Erinnerungskultur, ein elaboriertes Inschriftenwesen und Bücher besaß, die mehrere Großstädte und eine schriftkundige Bildungselite vorweisen konnte, verfiel aus inneren, einstweilen noch unbekannten Gründen vor ca. 1.000 Jahren. Die Städte und Tempel sanken in Trümmer; Wald überzog, Urwald überwucherte sie; keine Inschriften wurden mehr in Stein gehauen, keine Kalenderkunst mehr betrieben. Indes, wenigstens ein Teil der Bevölkerung blieb; sogar einige wenige Schreibkundige gab es noch zu Zeiten der Conquistadoren. Doch das Wissen, das im Lande einst gepflegt und tradiert worden war, hatte sich verflüchtigt und ging vollends unter, als die Spanier dem Land ihre Religion überstülpten. Keine Erinnerung überdauerte die Jahrhunderte bis zu den ersten spanischen Chronisten, keine Geschichtserzählung, keine Sage, kein Götter-, kein Heldenmythos, kein Schlachtgesang, kein Liebeslied rettete sich in die
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Das Gedächtnis mündlicher Kulturen I
mündliche Überlieferung des Volkes. Schriftloses Schweigen breitete sich über alle Vergangenheit, die Nacht ewigen Vergessens. Ohne Schrift und ohne Spezialisten mündlicher Erinnerungspflege welkte die Vorzeit spurlos dahin. Erst seit jüngster Zeit und allmählich gelingt es durch die Entzifferung der Schrift und der Kalender, die Vergangenheit der Maya ein wenig aufzuhellen56 •
VII.
Das Gedächtnis mündlicher Kulturen 11: Erfahrungen der Mediävistik
7.1
Die Spur der Gedächtnismodulation in historischen Quellen
Kein Zweifel, wir Menschen erinnern uns. Aber in alle Erinnerungen schleichen sich - von absichtlichen Verdrehungen und Lügen abgesehen - aufgrund der Arbeitsweise unseres Hirns fortgesetzt unbewußt und unbemerkt Veränderungen ein, die den ursprünglichen Wahrnehmungen eines Informanten schwer zusetzen und die von seiner Erinnerung intendierte Wirklichkeit verfehlen. Auch wer informiert wurde, unterliegt gleichartigen Bedingungen und vermag fremde Erinnerungen, wenn überhaupt, nur begrenzt zu kontrollieren; er akzeptiert sie gewöhnlich, wandelt sie sich an und gibt sie verformt weiter. Derartige Modulationen sind als solche unabhängig von der Sprache, auch wenn verschiedene Sprachen verschiedene Strategien zur Stabilisierung von Erinnerungen entwickeln. Darauf ist unten zurückzukommen. Derartige Verformungen beginnen mit dem Wahrnehmungsprozeß selbst und setzen sich in allen Äußerungen fort, an denen das Gedächtnis beteiligt ist. Den Historiker kann dies nicht gleichgültig lassen; ein Großteil seiner Quellen ist von derartigen Verformungen gezeichnet, obgleich es nicht ohne weiteres zu erkennen ist. Es besteht kein Grund zu der Annahme, daß es zu anderen Zeiten oder in anderen Gesellschaften, in der Antike etwa oder dem europäischen, Byzanz und wichtige Bereiche der islamischen Kultur mit einschließendem Mittelalter, unter Afrikanern oder den Aborigines Australiens je anders gewesen sei, auch wenn es aus Überlieferungsmangel schwerer zu verfolgen ist als in der Neuzeit und im konkreten Einzelfall aus Quellenmangel ein Nachweis nicht immer gelingt. Doch darf eine derartige Unmöglichkeit keinesfalls zu der Annahme verleiten, ein zufällig erhaltenes Einzelzeugnis sei deshalb hinsichtlich seiner Faktenaussagen zuverlässig. Denn Unkontrollierbarkeit gestattet keine Ausnahme von der Regel. Wir haben vielmehr ein konstantes, sich bald stärker, bald schwächer, sich im vorhinein in seinen Windungen nie vorhersagbar artikulierendes Verformungspotential zu registrieren, das offenbar zur geistigen Grundausstattung des Homo sapiens sapiens gehört und sich in je spezifischer Weise allen seinen kognitiven Leistungen untermischt. Die geschicht-
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Das Gedächtnis mündlicher Kulturen II
liche Überlieferung bietet keinen Anlaß, den kognitionswissenschaftlichen Erkenntnissen zu widersprechen. Ganz im Gegenteil, sie bestätigt sie und verdeutlicht deren Relevanz für jede Kulturgeschichte. Die historische Forschung ist um so stärker betroffen, je weniger Quellen und Kontrollzeugnisse ihr zur Verfügung stehen, je mehr dieselben sich dem Gedächtnis und je seltener sie sich eingefahrener Routine verdanken. Zumal durchkomponierte historiographische Werke mit literarischem Anspruch müssen erinnerungskritische Skepsis erregen. Orale und semiliterate Gesellschaften unterliegen derartigen Konditionen fast uneingeschränkt. Antike und Mittelalter erweisen sich für entsprechende Untersuchungen als besonders ergiebig, deren aber auch als besonders bedürftig. Das Wissen über ihre Geschichte fließt zumeist aus spärlichen, immer wieder versiegenden historiographischen Quellen, die selten stabilisierende Routine, in überwiegendem Maße die Modulationskräfte des Gedächtnisses gestalteten. Diese Geschichte offenbart .sich dem forschenden Blick des Historikers nur durch abtönende, verformende, verzerrende Filtersätze aus Erinnerungen, die sich nicht entfernen, sondern nur einkalkulieren lassen. Der Umstand erfordert ein neuartiges Lektüreverhalten, das nur in der Praxis kontrolliert und geschult werden kann. So müssen im folgenden neuerlich einzelne Fälle erörtert werden. Vermutlich aber ist die gesamte Geschichte beider Epochen betroffen. Ein erster Schritt verlangt die Bestandsaufnahme einschlägiger Hinweise. Gleich einem Chemiker, der Spurenelemente nachweisen möchte, hat man die verfügbaren Quellen, soweit sie sich dem Gedächtnis verdanken, in zeitlicher Schichtung auf Spuren primärer und sekundärer Verformungsfaktoren, von Gedächtnismodulationen jeglicher Art zu durchsuchen. Schichten von Erinnerungen werden da hervortreten und mit ihnen Schichten von Wirklichkeiten, Schichten erinnerungsgefärbter Wahrnehmungen. Diese Spurensuche darf keine Quellengruppe aussparen und keinem Text voreilig unterstellen, daß er verformungsresistent geschehene Wirklichkeit tradiere, er erscheine noch so zuverlässig und genieße höchstes Ansehen. Sie hat die verschiedenen (im ersten Kapitel herausgearbeiteten) Artikulationsformen mnemonischer Verfremdungs- und Konstruktionsfreude zu beachten und eine Art Formkunde der Verformung zu betreiben. Mündlichkeit, Schriftlichkeit, der kulturspezifische Umgang mit letzteren und spezielle Stabilisatoren der Erinnerung, die besonderen Stabilisierungstechniken einzelner Gesellschaften oder gesellschaftlicher Gruppen und ihre Leistungsfähigkeit sind dabei angemessen zu berücksichtigen. Alle Erinnerungszeugnisse sind zur Auswertung kon-
Gedächtnismodulation in historischen Quellen
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sequent jeweils in ihrem sie konditionierenden gesellschaftlichen Kontext zu betrachten. Widersprüche zwischen ihnen sind erste Indikatoren für Erinnerungsmodulation; sie dürfen nicht werden. Die eintausend Jahre des sogenannten Mittelalters (von ca. 500 u. Z. bis ca. 1500 u. Z.), denen sich nun die Aufmerksamkeit zuwendet, sehen sich nicht durch gleichbleibende Stadien von Mündlichkeit geprägt. Im Gegenteil: Der zumal von religiös-kirchlichen Erfordernissen initiierte Literalisierungsprozeß schritt in diesem Jahrtausend kraftvoll voran. Die Zeitgenossen waren damit trotz mancherlei Skrupel nicht nur in der Lage und willens, von der heidnisch-antiken Schriftkultur zu retten, was heute noch greifbar ist; sie setzten auch aller Betrachtung der griechischrömischen Kultur (soweit sie sich nicht auf Inschriften, Münzen oder archäologische Befunde stützen kann) eine mittelalterlich getönte Brille auf, durch die allein noch diese Antike wahrzunehmen ist. Das haben die Ideologen der Renaissance völlig verdrängt, die sich die Wiederbelebung der Antike zugute hielten, doch nichts gerettet, das vom Mittelalter Gerettete vielmehr nur neu interpretiert haben. Gleichwohl repräsentieren diese mittleren Jahrhunderte zwischen einer trotz aller Literalität weithin schriftlosen Antike und einer keineswegs zu resignieren, vielmehr in mancherlei Hinsicht einen beträchtlichen Gewinn an Sachkenntnis zu verzeichnen hat. Gemustert wurden dazu zentrale Texte der mittelalterlichen Überlieferung wie etwa Gregors von Tours «Historien», die «Dialoge» Gregors des Großen, die karolingischen Reichsannalen und Kapitularien, die «Sachsengeschichte» des Widukind von Korvey und weitere Zeitgenos-
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Das Gedächtnis mündlicher Kulturen II
sen des 10. und frühen 11. Jahrhunderts, die Anekdoten, die der gefeierte Bologneser Rechtslehrer Odofred im 13. Jahrhundert seinen Studenten auftischte, und die sonstigen Quellen zur Frühgeschichte der Universität Bologna. Noch andere Beispiele kommen im folgenden zur Sprache; sie sollen den Umgang mit Erinnerungen und die Schichten ihrer Ablagerungen in verschiedenen Texttypen und deren Verformungs- und entsprechende Lektüreweisen verdeutlichen. Weitere Exempel könnten leicht hinzugefügt werden. Sie mehren sich, sobald man auf das Phänomen verzerrter Erinnerungen zu achten gelernt hat. Alle zusammen genommen verdeutlichen sie dessen allgemeine Gegenwärtigkeit auch unter den mittelalterlichen Geschichtsschreibern. Solche Präsenz nötigt uns, die Quellen unter anderen Prämissen zu interpretieren als bisher. Die Widersprüche zwischen diesen Quellen zwingen zur Spurensuche. Da ließ etwa ein Geschichtsschreiber Karl den Großen sich erinnern, wie er als Kind bei einem bestimmten <politischen> Ereignis anwesend war und dabei im Spiel seinen ersten Zahn verlor. Manche Historiker hielten das für ein verläßliches autobiographisches, über erschließbare Informationsketten auf uns gekommenes Zeugnis und deduzierten aus ihm allerlei wichtige Informationen. Doch haben sie sich wie die Zeitgenossen des Autors von einer späten Fiktion täuschen lassen, die das jedermann Vertraute und damit Plausible zur Tarnung benutzte2 • Parallelzeugnisse liegen in diesem Falle nicht vor. Selbst Augen- und Ohrenzeugen konnten irren, wie etwa der Karlsbiograph Einhard. Kolportierte er doch ein falsches Lebensalter seines Helden, obgleich er jahrzehntelang an dessen Hof gelebt und ihn wiederholt gesprochen hatte. Karl selbst dürfte sein wirkliches Alter ebensowenig gekannt haben wie seine nächste Umgebung3 . Auch die annähernd zeitgleichen und mit dem Königshof in Verbindung stehenden «Reichsannalen» überliefern unzutreffende Angaben. Nicht also die herausragenden Werke der karolingischen Geschichtsschreibung, die offiziösen und vielfach überlieferten, redaktionell durch-· komponierten «Reichsannalen», nicht Einhard, der literate, antike Autoren bis in Wortwahl, Satzgefüge und Aussage kopierende und Vertrauen erweckende Hofgenosse des großen Karl, erwiesen sich im Hinblick auf das Geburtsjahr des künftigen Kaisers als vertrauenswürdig, sondern eine knappe, nur in einer einzigen (Pariser) Handschrift überlieferte Notiz der bis vor kurzem als wenig zuverlässig geltenden, episodisch anmutenden «Annales Petavienses», denen zu folgen noch manche Gelehrte sich scheuen4 • Sie aber lassen Karl sechs Jahre jünger sein als jene angeblichen Hauptquellen. Sechs Lebensjahre mehr oder weniger lohnten, so könnte man mei-
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nen, den Forschungsaufwand nicht, der um Karls Geburtsjahr, überhaupt um Erinnerungen getrieben wurde und wird. Doch läßt erst die korrigierte Datierung den allgemeinen historischen Kontext dieser Prinzengeburt, ihre tatsächlich herausragende politische Bedeutung erkennen; und das ist entscheidend. Denn Geschichte spielt in der Zeit, und die Chronologie ist das Rückgrat der Geschichte. Fehler hier verzerren das Geschehene bis zur Unkenntlichkeit und Unerkennbarkeit. Gerade auf der Zeitebene bedarf der Historiker unbedingter, objektiver Gewißheit; gerade hier aber toben sich, wie jene vier Eingangsbeispiele verdeutlichten und weitere Exempel. verdeutlic;hen werden, die Verzerrungspotentiale, die schöpferische Assoziationsfähigkeit und Konstruktionslust des Gedächtnisses ungehemmt aus. Was hier verbogen wird, kann der Historiker nur unter glücklichen Umständen wieder richten, wenn ihm nämlich hinreichend verläßliche Quellen zur Verfügung stehen. Das ist für Antike und Mittelalter selten der Fall. Auch hier hat die Gedächtniskritik zu keinem Verlust, sondern zu vertiefter Einsicht in den Gang der Dinge geführt.
7.2
Die Entdeckung der Mündlichkeit
Erinnerung also fließt. Jeder Appell an frühere Enkodierungen ist tatsächlich unbewußt ablaufende Neuschöpfung durch das Hirn. Die komplexen' zu keiner Zeit abgeschlossenen (wenn auch endlichen), im letzten sich selbst steuernden, nämlich unbewußt, aufgrund zahlreicher variabler Faktoren intra- und extrazerebrale Informationen bewertenden und selektierenden Erinnerungsprozesse der Individuen, deren kollektivierendes Aushandeln sowie die dabei jeweils maßgeblichen Faktoren können bestenfalls im nachhinein erfaßt werden. Zu viele variable Größen sind an diesen Prozessen beteiligt. Die Ergebnisse derartiger Erinnerungsprozesse, die historischen Quellen, nötigen den Historiker, ihr Zustandekommen genauer zu betrachten, den Weg also vom individuellen Erleben zum kollektiven und kulturellen Gedächtnis für jeden Einzelfall zu untersuchen und zumal seinen Beginn: das individuelle, der Mündlichkeit verpflichtete Erinnern an die erfahrene Wirklichkeit. Das kulturelle Gedächtnis partizipiert durch die Erfahrungen und Erinnerungen der je Beteiligten an diesem unaufhörlichen Fließen. Wie also bahnt sich der Erinnerungsfluß mit seinen zahllosen Seitenarmen seinen Weg von der einzelnen Wahrnehmung oder Erfahrung und dem komplexen Geschehen zum kollektiven und kulturellen Gedächtnis? Wie wirken sich die individuellen zerebralen Enkodierungsprozesse auf
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Das Gedächtnis mündlicher Kulturen II
die Aushandlungsprodukte der Kollektive aus, und wie <speichern> die letzteren individuelle Erfahrungen in den Netzwerken ihres kollektiven Wissens? Wie wirkt sich dabei das kulturelle Umfeld aus? Wie leiten die Erfahrenden weiter, was sie erfuhren, solange sie sich nicht der Schrift bedienen oder, wenn sie sich eben der Schrift zu bedienen lernten? Und wie verändert der routinierte Schriftgebrauch ihre Attitüden? Kurzum: Wie spielen und zusammen? Diesen letzten Fragen, die für Historiker von größter Bedeutung sind, ging Alexander R. Lurija nach, ein seinerzeit blutjunger russischer Psychologe, durchaus den Fortschrittsutopien der Oktoberrevolution zugeneigt. Mit der Verschriftung, so erkannte er, kommen andere mentale Verhaltensweisen auf. Er meinte, sie am Beispiel der vom jungen Sowjetstaat verlangten '«Elimination der Illiteralität» bei bislang schriftlosen Völkerschaften Usbekistans und Kirgisiens nachweisen zu können. Seine Untersuchungen, an denen er kurz vor 1930 arbeitete, entsprachen alsbald freilich nicht mehr dem in der Stalin-Ära Gewünschten. So wurden sie erst um 1970 veröffentlichts. Mit einem Katalog von Testfragen an eben seit wenigen Monaten oder etwas länger mit der Schrift konfrontierten Erwachsenen suchte Lurija jene Attitüden zu erfassen. «Was haben Huhn und Hund gemeinsam?» So lautete beispielsweise eine dieser Fragen; darauf folgten Antwort und weitere Fragen. «Sie sind nicht gleich. Ein Huhn hat zwei Beine, ein Hund vier. Ein Huhn hat Flügel, ein Hund nicht. Ein Hund hat große Ohren, die eines Huhns sind klein.» - «Du hast mir erklärt, worin sie sich unterscheiden. Worin aber gleichen sie einander?» - «Sie sind überhaupt nicht gleich.» - «Gibt es ein Wort, das du für beide gebrauchen kannst?» - «Nein, natürlich nicht.» Lurija erkannte, daß die Struktur kognitiver Aktivitäten und mentaler Attitüden keineswegs statisch sei, daß vielmehr in so fundamentalen Bereichen wie Wahrnehmung, Verallgemeinern, Kategorisieren, in logi-. sehern Folgern und Denken oder Vorstellungsvermögen bei fortschreitender Literalisierung - oder genauer: durch entsprechende Schulung6 gemäß den sozialen Bedingungen des Lebens dramatische Veränderungen in Richtung auf Abstraktion und Generalisierung eintreten, grundstürzende «Veränderungen in der Basisstruktur kognitiver Prozesse». Der Grad oder die Intensität der Literalisierung (resp.literater Schulung) ändern mithin nachhaltig und zuletzt irreversibel die mentalen Prozesse. Wer in seiner Jugend mit der Schrift umzugehen gelernt hat, wird nie mehr wie ein Illiterat denken können, selbst wenn er Illiteralität erforscht. Auch dies wird durch die Neurophysiologie bestätigt, die neuronale Enkodierungen in der variablen Abfolge elektrochemischer Prozesse
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gespeichert sieht. Derartige Literalität verändert die neuronale Schaltarchitektur ihrer Adepten. Der amerikanische Jesuitenpater Walter J. Ong hat aus Lurijas mit annähernd vierzigjähriger Verspätung publizierten Untersuchungen und im Aufgreifen des auf Milman Parry zurückgehenden Konzepts oraler Kultur allgemeine Kriterien zur Charakteristik mündlicher Kulturen entwickelt, die sich, wie es schien, den Wirkungen von Literalisierung und Schulung entgegensetzen ließen7 • Ongs Ausführungen zu den Kompositions- und Überlieferungs attitüden oraler Kulturen bieten einen ersten Zugang zu Phänomenen, auf die der Mediävist ebenso wie der Altertumsforscher, der Bibelforscher und «Neutestamentler» allenthalben, und, wie gezeigt, auch der Neuhistoriker stoßen. Doch sind einige Vorbehalte vonnöten. Denn Schriftgebrauch gleicht nicht Schriftgebrauch. Die Mission der beiden Buchreligionen des Christentums und des Islam zum Beispiel erreichte in Europa oder Afrika illiterate Gesellschaften, in denen fortan die Schrift allein im religiösen Kontext Bedeutung besaß oder besitzt, während das alltägliche Leben ohne Schriftgebrauch auskam oder auskommt. Das lateinische Mittelalter etwa, aber auch lange Jahrhunderte der europäischen Neuzeit repräsentieren diesen Typus, insofern zu ihrer Zeit der Schriftgebrauch nur allmählich in die nichtklerikale Welt expandierte und erst spät, zum Teil erst im 19. und 20. Jahrhundert, die ländliche Gesellschaft erfaßte. Ong nun hat neun Kriterien der «Psychodynamik der Oralität» als typisch für mündliche Kulturen namhaft gemacht und beschrieben; sie gelten mit gewissen Einschränkungen auch für semiliterate Kulturen. Diese seien «eher additiv als subordinativ», eher «aggregativ als analytisch», seien «redundant oder nachahmend, «konservativ oder traditionalistisch», verharrten in der «Nähe zum menschlichen Leben», fänden Gefallen am «kämpferischen Ton» der Darstellung, seien «eher einfühlend und teilnehmend als objektiv-distanziert», im wesentlichen homöostatisch, da sie obsolete Erinnerungen ausschieden, schließlich «eher situativ als abstrakt». Diese sich sprachlich manifestierenden mentalen Attitüden begegnen einem allenthalben auch in mittelalterlichen Zeugnissen und bieten damit einen ersten Schlüssel zum Verifizieren der Reflexe von Mündlichkeit auch noch im Medium der Schrift. Ist die Literalität allerdings weit genug fortgeschritten, können diese Merkmale bewußt als Stilmittel eingesetzt werden, beispielsweise um Altertümlichkeit vorzutäuschen. Hier gilt es entsprechend zu unterscheiden. Explizite Hinweise auf Mündlichkeit lassen sich regelmäßig in mittelalterlichen Texten fassen, beispielsweise in althochdeutschen Glossen 8 oder in den Formulae Marculfi, die seinerzeit durch Alf Uddholm einer
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Das Gedächtnis mündlicher Kulturen II
gründlichen sprach- und stilgeschichtlichen Untersuchung unterzogen worden sind. In den Formeln traten die nämlichen Sachverhalte zutage, auf die später Ong und der Ethnologe Jan Vansina hinwiesen 9 . Modale Übergangsphänomene zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit werden deutlich. Als charakteristisch stellte der Philologe das «Gleiten des Gedankens» (<
donatumque in perpetuo esse volo ad baselica illa ... porcionem meam in villa nuncupante illa ... totum et ad integrum ad prefata baselica volo esse donatum)13. Hier schoben sich offenkundig - wie der Vergleich mit Ongs Beobachtungen lehrt - typische Elemente der gesprochenen Sprache in die schriftlich fixierte Formelwelt des Rechts. Mündlichkeit und Schriftlichkeit lassen sich in exemplarischer Deutlichkeit gemeinsam und ineinander geflochten beobachten. Derartige Beispiele für Mündlichkeitsanalysen von schriftlichen Quellen ließen sich leicht vermehren. Gewiß, der Abstraktionsgrad wuchs mit dem Fortgang der Literalität und der Schulungszeit, wie Lurija durchaus erkannte. Auch dieser Sachverhalt läßt sich in der Geschichte wiederholt verifizieren. Was sich etwa im 6./7. Jahrhundert noch ganz erzählend-situativ ausnahm, unterlag - dem allgemeinen Schulwesen folgend - zunehmender Abstraktion und Systematisierung, bis dann nach längerer Vorbereitung seit der Zeit Karls des Großen im späten 11, und 12. Jahrhundert die antike logisch-dialektische Wissenschaft wiedergeboren und bald auf neue Höhen gehoben wurde. Der Historiker indessen hat damit zu rechnen, daß die den Berichten zugrundeliegende mündliche Erzählung nicht nur jenen Gestaltungskräften unterlag, die
Die Entdeckung der Mündlichkeit
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Lurija und Ong analysierten und namhaft machten, daß mit der im Literalisierungsprozeß fortschreitenden Kategorisierung des Denkensalso zugleich ein Abstraktionsprozeß stattfand, der verändernd auf das Erzählte und zu Berichtende einwirkte; sie haben vielmehr auch zu beachten, daß diese Prozesse von umfassenden Gedächtnismodulationen begleitet sind. Die Sprache und mit ihr das Gedächtnis partizipierten selbstverständlich an den wechselnden Bedingungen von Mündlichkeit und Schriltlichkeit. Der Grad der Verzerrung ursprünglich wahrgenommener Wirklichkeit läßt sich nur dann einigermaßen bestimmen, wenn ausreichende Vergleichs quellen und Parallelerinnerungen zur Verfügung stehen. Das ist im frühen und hohen, selbst im späteren Mittelalter überaus selten der Fall und auch in der Neuzeit nicht grundsätzlich vorauszusetzen. Steht nur ein einziges Überlieferungszeugnis zur Verfügung, ist sein Wahrheitsgehalt schlechthin nicht zu kontrollieren und darf - schriftgläubig - keinesfalls vorausgesetzt werden. Das gilt gerade auch für die wiederholt als Beispiele phänomenalen mündlichen Gedächtnisses angeführten Fälle etwa des Dänenkönigs Sven Estridson, von dem Adam von Bremerr (11, 43) im späten 11. Jahrhundert schwärmte, «er habe die gesamte Überlieferung der Barbaren gekannt, als wäre sie schriftlich festgelegt», oder Hugos 1. von Amboise, der in der um 1150 aufgezeichneten Geschichte seines Hauses als Gedächtnisgenie galt (notitia antiquitatis nimia)14. Keines dieser Beispiele kann überprüft werden; keines taugt mithin zum Beweis einer im Sinne datensüchtiger Historiker leistungskräftigen mündlichen Erinnerung l5 . Vielmehr ist auch in ihrem Fall damit zu rechnen, daß die weit überwiegende Anzahl aller Gedächtnisdaten von undurchdringlichen Verformungen überschichtet und durchsetzt und insofern bei allem Reichtum wenig verläßlich ist. Als methodische Forderung ergibt sich zwingend die Notwendigkeit, daß der Historiker eigens den Beweis für die Zuverlässigkeit seiner Datensammlung zu erbringen hat, will er gesicherte, nicht hypothetische Folgerungen auf sie stützen. Das Erinnerte steht niemals still; es wird mit jedem Abruf immer wieder neu und anders konstruiert als zuvor. Historiker haben daraus die Konsequenzen zu ziehen. Ihre sind keine stehenden Gewässer, auch wenn sie als Texte wie angehalten erscheinen. Einen Moment früher, einen später hätten sie bis in die Substanz des Dargestellten anders ausgesehen. Jedes wiederholte Erinnern schafft, in das kommunikative Gedächtnis der Gesellschaft und ihrer Gruppen eingespeist, ein neues Faktum, das als geglaubte Wirklichkeit unabhängig von der einstigen Wirklichkeit und früheren Erinnerungen und neben ihnen weiterwirkt.
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Das Gedächtnis mündlicher Kulturen II
Welche Phase dieser Transformationen endlich das spätere kulturelle Gedächtnis bestimmt, steht nicht von vornherein fest. Wer immer sich den Erinnerungen schriftloser oder schriftarmer Kulturen zuwendet, stößt auf dieselben Phänomene: auf ein partielles Vergangenheitswissen, das unaufhaltsam weiter fließt, Älteres abstößt, noch Bewahrtes verformt, Neues hinzunimmt, dessen Verläßlichkeit ohne Kenntnis der Flußrichtung und der Strömungsgeschwindigkeit insgesamt recht fragwürdig ist und nur bei ausreichenden unabhängigen Parallelquellen geprüft werden kann und das in jeder veränderten Gestalt als neues Faktum weiterzuwirken vermag. Es ist somit nur eingeschränkt verwertbar und nur dann eine aufschlußreiche Quelle, wenn die Bedingungen seines Zustandekommens faßbar und jene sichtbaren Phasen genauer bestimmbar sind. Die Konsequenzen, die sich für den Historiker ergeben, der mit Gedächtnisquellen zu operieren hat, lassen sich kurz umreißen: Er hat jeden Quellentext als ein einziges Durchgangsstadium in einem endlosen Strom sich wandelnder Erinnerungen zu betrachten. Er hat das Zuvor und das Danach zu bedenken, das Woher und das Wohin, selbst wenn er keines von ihnen zu fassen vermag. Er muß eine Formgeschichte der Verformung entwerfen und eine methodisch kontrollierte Memorik einsetzen, um im Festgeschriebenen die Modulationskräfte zu erkennen, die es in das nicht mehr Geschriebene transformieren. Dieses Fließen hält an, bis sich die letzte Spur der einst erinnerten Wirklichkeit verflüchtigt hat. Es kommt freilich noch schlimmer. Unser Hirn erfindet Geschichten, die es für Wirklichkeit hält, oder adaptiert derartig erfundene Geschichten als wirklich. Auch einem fremden Hirn kann eine erfundene als wirkliche Geschichte implantiert werden.
7.3
Spurensuche im Reich der Mündlichkeit: Die «Germania» des Tacitus
Es gibt bislang keine zureichende Methodik für Historiker zum Aufspüren, Analysieren und Auswerten der sich mehr und mehr zerteilenden und unablässig fortfließenden Spuren mündlicher Erinnerung in den schriftlichen Überlieferungen. Die besten Hilfen zum Erkennen derartiger Gedächtnisspuren sind in den Büchern von Ong und Vansina zu finden 16 . Einzig die , ein Zweig der gegenwärtigen Zeitgeschichtsforschung, ist von der Feststellung fehlender Analysekriterien auszunehmen 17 . Die Altertumsforschung und Mediävistik indessen, die wegen der Eigenart ihrer Quellen eine solche Methodologie am dringlichsten benötigten, haben - auch jetzt von Ausnahmen abgesehen 18 -
Spuren suche im Reich der Mündlichkeit
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bis heute noch nicht begonnen, systematisch darauf zuzuarbeiten; die Erfahrungen der
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Das Gedächtnis mündlicher Kulturen II
viele räumlich und zeitlich getrennte Erinnerungsschichten werden durch dasselbe verschliffen? Zum Vergleich (nicht zur Kontrolle) lassen sich etwa die älteren Angaben eines Caesar (der wohl den «Germanen»-Namen erfunden hatte, und dem auch Tacitus wichtige Informationen verdankte) oder eines Velleius Paterculus heranziehen. Letzterer war unter Kaiser Tiberius Legat in Germanien; er hatte an einigen Germanenfeldzügen teilgenommen und darüber knapp berichtet. Dieser Mann schrieb unter völlig anderen Umständen als der zwei Generationen jüngere und berühmtere Tacitus. Velleius hatte «Germanien» tatsächlich bereist und zahlreiche «namenlose» Völkerschaften kennengelernt; er hatte leibhaftige «Germanen» in ihrer sozialen und lebensnahen Umwelt gesehen, ihre Sprachen anscheinend aber nicht verstanden; er hielt nicht fest, was ihm unter die Augen und zu Ohren gekommen, und vertraute seiner Feder nicht an, was ihm sonst kolportiert worden war. Der andere indessen, der Geschichtsschrei;.. ber, hatte nichts gesehen und dennoch beschrieben, was er nicht wahrgenommen hatte. Er bediente sich fremder Augen und Ohren, deren Träger ihr Erinnern nach den Winken des sie Befragenden lenkten. Welche Wirklichkeit hielt der Geschichtsschreiber fest? Der Legat betrachtete den furchteinflößenden Körperbau seiner Feinde und nicht viel mehr. Er hatte Krieger vor Augen, keine Frauen, keine Greise, keine Priester. Er erwähnte Arminius, den Sieger vom Teutoburger Wald, und Marbod, den König der Markomannen, weiterhin einen germanischen Bewunderer des Caesar Tiberius und sonst niemanden. Allein, daß diese Leute zum Lügen geboren seien, dünkte ihn wichtig. Er schwieg über die Bewaffnung seiner Gegner und ihre Kampfesweise. Ihre Lebensformen weckten - anders als bei Tacitus - sein Interesse nicht. Eine einzige germanische Frau fand beiläufige Erwähnung, doch nur, weil ein römischer Offizier sich zur Unzeit mit ihr eingelassen haben soll. Velleius und seinesgleichen waren höchst problematische Informanten. Was ihnen ein Tacitus entlockte, wenn, wieder in Rom, deren Erinnerungen ineinanderzufließen begannen, war hoch stilisiert und nahm sich bemerkenswert oberflächlich aus, allgemein und im Kontext antiker Ethnographie fast topisch. Auch Kaufleute lieferten anscheinend keine zusammenhängenden Berichte, die zu erwähnen lohnten. Nicht einmal Handelswaren sprach Tacitus an, die zu den «Germanen» gelangten und von ihnen begehrt wurden; allein der Bernstein sah sich als von den Römern geschätztes Exportgut hervorgehoben. Doch was jene Barbaren für römisches Gold und Silber gaben, behielt der Ethnograph für sich. Er verdankte vielleicht Kaufleuten seine scheinbar intime Kenntnis verschiedener Stämme und
Spurensuche im Reich der Mündlichkeit
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deren Siedelgebieten, doch schwerlich bezog er von ihnen seine insgesamt dürftigen, alle Unterschiede nivellierenden und generalisierenden, zum Teil wohl auch mißverstandenen Hinweise auf Siedlungsweise und materielle Kultur in den Regionen rechts des Rheins und hoch bis zur Ostsee und nach Skandinavien. Schwerlich haben «die Germanen» ihre Vorratsgruben mit Dung, einige indessen vermutlich mit Torf gedeckt. Schwerlich lebten die Völkerschaften am Rhein gleich jenen an der Nord- und Ostsee; archäologische Befunde lassen erhebliche Unterschiede in Tracht und Totenkult oder in dem Grad der Durchdringung mit römischer Kultur erkennen. Auch die angeblich höhere Wertschätzung von Silber im Vergleich zum Gold wird durch die Grabfunde zugunsten des letzteren korrigiert. Und ob alle «Germanen» dieselben Ursprungsmythen tradierten und die nämlichen Götter in der nämlichen Weise verehrten, stehe dahin. Ihre Toten begruben sie keineswegs nach ein und demselben Ritual, wie der Geschichtsschreiber aber anzunehmen nahelegt. Die Suche nach den Spuren mündlich erinnerter Wirklichkeit und den auf sie einwirkenden Modulationsfaktoren verweist somit auf erhebliche Differenzen im Quellenmaterial. Dabei ist ohne Zweifel den archäologischen Befunden größeres Vertrauen entgegenzubringen als dem römischen Ethnographen, der sein Studienobjekt gar nicht kannte. Tacitus explizierte im Spiegel der Ethnographie eine Analyse der zeitgenössischen römischen Gesellschaft: Die germanischen Barbaren, deren Barbarität gebührend hervorzuheben war (wie mußte es doch den Römer schütteln, wenn er vom Dung über den Vorräten hörte!), konnten sich moralisch mit der feinen römischen Gesellschaft messen. Der Autor der «Germania» kannte vermutlich noch eine dritte Gruppe möglicher Informanten: romanisierte und gefangene «Germanen». Woher kamen sie? Was wußten sie? Was sind ihre Berichte wert? Eine Nachrichtenquelle läßt sich vielleicht benennen; sie könnte kräftig geflossen sein. In Rom lebte nämlich zu Tacitus' Zeit die Seherin der Brukterer, Veleda, die auch von benachbarten Stämmen am Niederrhein verehrt wurde und maßgeblich am Bataver-Aufstand beteiligt gewesen war20 . Gefangen oder vor aufgebrachten Landsleuten dorthin geflohen, endete sie in Rom21 . Tacitus wird sie dort gesehen, wohl auch gesprochen haben22; er könnte von ihr einige seiner wichtigsten Informationen empfangen haben. Gefangen, entmachtet, in der Hand des Feindes, mit ungewohnten Fragen konfrontiert, in unvertrauter Sprache sich artikulierend - wie zuverlässig ist solchermaßen eingebettetes Wissen? Und wie transponierte der Germanien-unkundige, doch schriftmächtige Römer die fremdsprachigen Aussagen einer sich in den Attitüden reiner Mündlichkeit bewegenden Infor-
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Das Gedächtnis mündlicher Kulturen II
mantin in die kategorial argumentierende und generalisierende Sphäre lateinischer Literatur? Hier prallten Kulturen aufeinander und mußten sich alle primären und sekundären Verformungskräfte des Gedächtnisses austoben. Wie immer, aus derartig heterogenen Informationen und Intentionen kompilierte Tacitus, der feinsinnige Literat mit pädagogischem Eros, seine «Germania». Sie stellt ein Konglomerat aus diversen, in ihrem Wert weithin unkontrollierbaren mündlichen Quellen und eigenen Schlußfolgerungen dar, ein wirklichkeitsfernes, doch Einheit stiftendes Konstrukt, das die alten Römer - wie die spärliche Überlieferung anzunehmen nahelegt - nicht sonderlich ernst genommen haben. Die Traditionen der antiken Ethnographie und Kulturtheorie sind in sie ebenso eingeflossen wie das logisch geformte, zur Abstraktion bereite Vorwissen des gebildeten Römers und seine politisch-moralische Absicht. Die moderne Kritik hat davon manches aufgedeckt, doch gerade das Wichtigste, die Angaben über «die Germanen» selbst, ihr Leben, ihre Religion und Mythen, das Gerüst der entzieht sich den üblichen Methoden der Geschichtswissenschaft. Nichts etwa wußte Tacitus über hölzerne Kultidole männlichen und weiblichen Geschlechts, die bei «Germanen» durch Jahrhunderte hindurch in Gebrauch waren und die durch verbesserte archäologische Methoden in den letzten Jahrzehnten vielfach geborgen wurden 23 • Wie genau, wie unzutreffend verallgemeinernd, wie regional gültig, wie variationsbedürftig sind also die Erinnerungen, die Tacitus kolportierte? Der Quellenmangel verwehrt gesicherte Antworten. Doch verschafft dieses Manko dem römischen Zeugnis keinen Beweiswert. Die Wirksamkeit aller Faktoren von Gedächtnismodulation verlangt nach Beachtung und verbietet, dem Ruhm eines Autors einen besonderen Vorschuß an Vertrauen zu gewähren. Mannigfache Spuren mündlicher Traditionen und verschwommener Erinnerungen von diverser Herkunft und unterschiedlichem Alter finden sich in der «Germania» vereint, ohne daß ihre Auswertung über skeptische Zurückhaltung schon hinausführte. Gleichwohl ist die Suche nach ihnen (die hier nicht durchgeführt, nur angedeutet werden kann) unumgänglich, um das erhaltene Datenmaterial angemessen auswerten zu können - und sei es nur, um allzu hohe Erwartungen zu dämpfen. Sie hat die je verwandten Sprachen und Zeichensysteme (wie etwa Rituale) mit zu beachten, in denen Erfahrungen, Wissen und Erinnerungen tradiert wurden. Einen ersten Hinweis auf Tacitus' Vorgehensweise zeigt bereits das zweite Kapitel seiner «Germania». Es behandelt die Herkunft «der Germanen». Sie seien die Ureinwohner des Landes und hätten sich mit kei-
Das Gedächtnis zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit
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nen anderen Völkern vermischt. «Denn wer vormals seine Wohnsitze zu ändern trachtete, zog nicht auf dem Landweg sondern kam zu Schiff». Der Geschichtsschteiper trat also mit fertigen Erklärungsmustern an seine Aufgabe heran. Sie waren den Erfahrungen der Mittelmeerwelt entlehnt, wo jede Wanderbewegung auf Schiffe angewiesen war, nicht den Bedingungen der großen Landrnassen <Eurasiens>. Entgangen war dem Historiographen die weite Ausdehnung noch unlängst keltischer SiedeIbereiche in seinem «Germanien» - ein Umstand, der zahlreiche und Historiker der Neuzeit und noch des 1.9. und 20. Jahrhunderts irritierte. Eine weitere Spur zeichnet sich in der fehlerhaften oder fehlenden Abgrenzung von «Germanen», «Slawen», «Balten» oder «Finnen» ab, Angehörigen also unterschiedlicher Sprachgruppen. Auch daß, wie er behauptete, sich «die Germanen» selbst «Germanen» nannten (c. 2), findet nirgends eine Bestätigung. Diese «Germanen» dürften anders gewesen sein, als der Römer sie beschrieb; und mehr als das: Vermutlich hat es sie als solche gar nicht gegeben, und sie verdanken ihre ethnische Existenz der eine Vielfalt von Völkerschaften einschmelzenden Konstruktionslust des moralisierenden Zeitkritikers, der Tacitus war. Erhebliche Vorbehalte gegenüber dieser «Germania» sind mithin am platz. Was aber für dieses berühmte Stück antiker Literatur gilt, gilt für andere gleichartige Schriftwerke nicht minder: Sie alle sind von einem dichten Netzwerk mündlich tradierter Erinnerungen durchsetzt; sie alle verlangen in gleicher Weise Zeichenkunde, Skepsis und Mißtrauen; sie alle fordern dazu auf, die Spuren zerebraler Operationsweisen und Gedächtnismodulationen, das Verschmelzen von Informationsschüben unterschiedlichster Herkunft mit kognitiven und handlungspraktischen Erwartungen des Hirns, in den überlieferten Erinnerungszeugnissen aufzudecken und zu verfolgen. So müssen derartige Texte in neuer Weise gelesen werden, indem auf derartige Spuren geachtet wird. Falsche Prämissen und Trugschlüsse schicken den Interpreten sonst rasch in die Irre.
7.4
Das Gedächtnis zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit
Gleitende Übergänge verwehren eine scharfe Grenzziehung zwischen Oralität und Literalität. Gesellschaften im Übergang von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit legen die Attitüden der Mündlichkeit und mit ihnen das Ausgeliefertsein an die Modulationswillkür des Gedächtnisses nicht plötzlich ab, sondern bewahren sie trotz Schriftkenntnis noch lange. Ei-
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Das Gedächtnis mündlicher Kulturen II
gentümliche Mischformen der Überlieferung entstehen, die Merkmale beider Modi aufweisen, und in denen sich zugleich - wie von Zauberkünstlern versteckt - die Modulationsprodukte des Gedächtnisses verbergen. Das eines jeden Erinnerungen aufzeichnenden Schriftzeugnisses verlangen nach Beachtung, selbst wenn sie nicht überliefert sind. Das wird im Vertrauen auf das geschriebene Wort von Historikern gerne übersehen. Besondere Aufmerksamkeit erheischt zudem die Sprache der Rituale, derer sich mündliche Kulturen mit Vorliebe bedienen. Sie ist mehrdeutiger als die gesprochene Sprache und insofern für jene Modulationskräfte besonders anfällig. Ein längeres Verweilen bei diesem Gegenstand erscheint deshalb angebracht. Zahlreiche unschwer überprüf- und leicht nachvollziehbare Beispiele bieten sich zur Klärung methodologischer Konsequenzen an. Da hatte etwa der bayerische Herzog Tassilo III., derselbe, den sein Vetter Karl der Große vom Herzogsthron stürzte, einst zahlreiche Klöster mit Privilegien bedacht, von denen die Urkunden für Salzburg erhalten sind. Zwar sehen sie sich nur kopial überliefert, doch viele von ihnen existieren in jeweils zwei Abschriften aus dem 8. Jahrhundert, die rund zehn Jahre voneinander trennen. Deren eine, der sog. Indiculus Arnonis, entstand einige Jahre vor Tassilos Sturz, deren andere, die sog. Breves Notitiae, wurde bald hernach angefertigt. Jetzt hatte sich überall, wo zuvor nur der Herzog oder der (noch minderjährige) Herzog gemeinsam mit seiner Mutter als Aussteller aufgetreten war, klammheimlich die explizite Zustimmung König Pippins eingeschlichen, des Vaters des großen Kar!. Der Einschub war falsch, aber ihn als Fälschung zu deklarieren, würde die Bedingungen der an Mündlichkeit gewohnten Gesellschaft verkennen24 • Vielmehr hatte sich die Memoria den gewandelten Zeiten angepaßt; und sie riefen nach einem Karolinger. Nun hatte der junge Bayernherzog noch mit dem Frankenkönig kooperiert, während der dem Knaben- und Jugendalter entwachsene Tassilo gegen denselben revoltierte. Beides traf in einem faktizistischen Sinn nicht zu; doch entsprach beides fortan, Revolte und Kooperation, der erinnerten Realität. Hier läßt die günstige Überlieferungslage einmal unmittelbar die Aktualisierungskunst des Gedächtnisses bei der Arbeit beobachten. Nicht auszudenken, wenn allein die jüngere Reihe überliefert worden wäre. Die Rechts- und Verfassungsgeschichte des früheren Mittelalters sähe anders aus.
«Lügenfeld»
7.4.1.
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«Lügenfeld»: Ritual statt Schrift
Die erforderliche Autorität schlich sich nach den Bedürfnissen des Tages in das Gedächtnis ein. Sie konnte Erinnerungen geradezu dominieren. Auch Urkunden und ihr Rechtsinhalt waren dagegen nicht gefeit. Besonders deutlich illustriert die Absetzung eines Kaisers, Ludwigs des Frommen, des Sohnes Karls des Großen, in der Darstellung Nithards, selbst ein Enkel des großen Karl, die manipulierende Aktivität des autoritativen Gedächtnisses 25 • Nithard gilt im übrigen als ein zuverlässiger Geschichtsschreiber; zudem· verfügen wir über aufschlußreiche Parallelund Kontrollzeugnisse, die sein Erinnerungskonstrukt zu durchleuchten gestatten. Dieser Historiograph nun verfaßte ein knappes Jahrzehnt nach dem Geschehen im Auftrag seines neuen Königs, Karls 1I., auf dem Höhepunkt der karolingischen Bruderkriege (840/42) eine Geschichte derselben, der er explizit zum genaueren Verständnis dieser Streitigkeiten eine knappe, bemerkenswert selektierende Skizze der früheren Ereignisse vorausschickte. Sie faßte Karls des Großen und Ludwigs des Frommen Regierungszeit auf wenigen Seiten zusammen, wobei sie alle entscheidenden und Ludwig in besonderer Weise demütigenden Momente mit Schweigen überging. Mannigfache und komplexe Maßnahmen und Entwicklungen wären anzusprechen gewesen, nicht zuletzt jene erschütternde Katastrophe auf dem «Lügenfeld» bei Colmar im Jahr 833, als der fromme Ludwig von seinen Getreuen - Bischöfen und Grafen - im Stich gelassen wurde und sein ganzes Heer zu seinem ältesten Sohn Lothar überlief. Noch heikler war das anschließende Vorgehen der Sieger gegen den alten Kaiser. Schlimme Vorwürfe wurden damals gegen ihn erhoben, deren <Summe> die Ankläger einer Cartula anvertrauten, die sie Ludwig während des Verfahrens in die Hand drückten, die er vorweisen, deren Inhalt er damit publik machen und anerkennen mußte. Er wurde zu Kirchenbuße gezwungen und von den anwesenden Bischöfen seiner Waffen und der Kaiserwürde entkleidet26 • Man hatte sich also redender Rituale zur Deposition, aber auch der Schrift bedient, um das ungeheure Geschehen zu inszenieren und unanfechtbar zu machen. Die Verwendung der Schrift aber war in das Ritual eingebunden; und damit waren unterschiedliche Erinnerungsweisen mit durchaus abweichenden Ergebnissen aufgerufen. Wie würde man in Zukunft mit beidem, dem Ritual und dem Schriftzeugnis, umgehen? Im folgenden Jahr vermochten die Anhänger des frommen Kaisers die Oberhand über ihre Gegner zurückzugewinnen. Sie nötigten nun ihrer-
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Das Gedächtnis mündlicher Kulturen II
seits Lothar, dem Vater die schon verlorene Herrschaft wieder zu überlassen. Doch verlangte Ludwig, wie sein anonymer, gut informierter, am Kaiserhof tätiger und seinem Herrn wohlgesonnener Biograph, der sogenannte Astronom, behauptet, bevor er die Herrschaft wieder antrat, die Rekonziliation, die Wiedereinkleidung mit den Waffen sowie eine befestigende Krönung durch die Bischöfe 27 . Die frühere Absetzung sollte also nicht einfach durch die Ereignisse überholt werden; sie sollte unsichtbar, damit ungeschehen, vergessen gemacht werden. So geschah es denn auch, und zwar zu St-Denis, wo Lothar seinen Vater zurückgelassen hatte, am Sonntag «Reminiscere», an dem die hl. Messe mit der Bitte um das Erbarmen Gottes, Schutz vor den Feinden und Befreiung aus aller Not eröffnet wird. Gottes erbarmendes Erinnern sollte menschliches Vergessen bringen. Konnte sich dem ein Schriftwerk von Menschenhand wie jene ominöse Cartula widersetzen? In der Tat, Nithard erwähnte von diesen dramatischen Geschehnissen um Ludwigs Ab- und Wiedereinsetzung im Jahre 833/34 allein die Krönung und das rituelle Anlegen der Waffen in St-Denis und unterdrückte alle Anschuldigungen und Entehrungen des alten Kaisers. Er tat es nicht, um dem unwissenden Volk Sand in die Augen zu streuen, auch nicht zur beschönigenden Kenntnis der Nachwelt. Er wünschte vielmehr, seinen jugendlichen König über die Bedingungen seines Herrschaftsbeginns zu informieren, hielt somit höchstes Herrschaftswissen fest; und eben dieses verfiel jenseits der Rituale dem Vergessen. Nicht einmal der König bedurfte mehr des vollen Wissens über die nur ein Jahrzehnt zurückliegende Vorgeschichte jener Kämpfe, in die er selbst verstrickt war. Und niemand hielt Geschehenes seiner Wirkungen wegen fest. Der Geschichtsschreiber streifte mit keinem Wort das vorangegangene Depositionsritual in St-Medard, zum al jene Cartula mit der Summe aller Anschuldigungen. Sein Bericht machte tatsächlich ungeschehen, was es zu vergessen galt. Das blieb nicht ohne Wirkung für die dargestellte Vergangenheit. Jetzt erschien als eine Rebellion des Sohnes gegen den Vater, was tatsächlich eine förmliche Absetzung Ludwigs des Frommen durch die Franken gewesen war. Die Geschichte, die Nithard erzählte, hatte sich von den Ereignissen entfernt und war eine völlig andere geworden als jene, die beispielsweise der erwähnte Biograph des frommen Kaisers nur wenige Monate zuvor und vielleicht für Karls Bruder Lothar niedergeschrieben hatte. Das Vergessen hatte seinen Einzug in das Herrschaftswissen gehalten. Allein die mehr oder weniger zufällig erhaltenen Parallel- und Kontrollzeugnisse gestatten heute, nach 1200 Jahren, auszuloten, welch gewaltigen Kahlschlag derartiges Vergessen in der Erinnerung an einstige Wirk-
«Lügenfeld»
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lichkeit anrichten konnte. Wäre allein Nithards Werk erhalten, kaum ein Historiker würde zögern, ihm zu folgen, und dürfte es dennoch nicht. Und welch ein Zeitgenosse, dessen Leben und Handeln von jenen unterdrückten Ereignissen und jener deformierenden Erinnerung betroffen war, hätte öffentlich dem Gedächtniskonstrukt des königlichen Geschichtsschreibers zu widersprechen vermocht oder gewagt? Die Wirkungen der Wirklichkeit und die Wirkungen der Erinnerungen zerteilten sich in je für sich weiterfließende Flußarme des politischen und kulturellen Wandels. Der gedächtniskritische Historiker hat sie einzukalkulieren. Wie aber durfte Nithard solche Desinformation wagen? Belog er seinen Herrn? Unterschlug er ihm die Wahrheit? Immerhin war der junge Karl 11., in dessen Auftrag er seine Geschichtsbücher zur Erklärung der gegenwärtigen Bruderkriege verfaßte, selbst von den aufwühlenden Ereignisse betroffen. Man hatte ihn, den damals zehnjährigen Knaben, von Vater und Mutter getrennt, ins Kloster Prüm gesteckt - irrtümlich behauptete Nithard (1,4), er sei «gemeinsam mit dem Vater inhaftiert worden» -, dann mit den Eltern befreit und in seinen früheren Stand eingesetzt. Karl wußte also um die Ereignisse, um das tatsächliche Geschehen; er hatte es leidvoll erfahren. Nithard durfte ihm nur eine <wahre> Geschichte präsentieren. Auch Könige und Geschichtsschreiber unterliegen der modulierenden Verformungsmacht und bedienen sich der je verfügbaren Stabilisatoren des Gedächtnisses. Nithards Erzählung verrät tatsächlich viel über eine nachhaltig Erinnerung bewahrende Wirkung des Depositionsrituals. Rituale sind eine <sprache>, die verstanden werden muß. Sie repräsentiert nicht anders als Worte und Syntax eine Wirklichkeit, die sich dem Ritual-entwöhnten Interpreten gleich einem sprachunkundigen Gesprächspartner entzieht. Sie dient wie jedes Zeichensystem nicht zuletzt der Stabilisierung des Gedächtnisses. Doch fehlt diesem System vielfach die Eindeutigkeit seiner Zeichen und deren Verknüpfungen, eben der Rituale. Das erschwert jede Interpretation, die nun die Modulationen des Gedächtnisses in einem Feld von Mehrdeutigkeiten verorten muß. Jenes Depositionsritual nun wurde allgemein, auch von Nithard beachtet, obgleich dieser Geschichtsschreiber es mit Schweigen überging. Doch seine verletzende Wirkung wurde ersetzt, gleichsam und ungeschehen gemacht durch das Krönungsritual in StDenis, an das zu erinnern Nithard sich tatsächlich beeilte. Nicht jene Aufzeichnungen, die von der Schuld des alten Kaisers kündeten (und die uns ein gütiges Geschick bewahrte), beherrschten demnach die Erinnerungen der beiden Karolinger, sondern die Investitur mit den Waffen
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Das Gedächtnis mündlicher Kulturen II
und die Krönung. Kein einziger seiner Zeitgenossen kam mehr auf jene inkriminierende Cartula zu sprechen, deren Spuren sich allein noch unter den Briefschaften ihres maßgeblichen Urhebers, Agobards von Lyon, finden, und der vor allem wir unser Wissen verdanken. Auch Ludwigs anonymer Biograph, obgleich wesentlich detailreicher und zur Zeit der Niederschrift seines Werkes vermutlich im Umfeld Lothars I. tätig, hatte von der Cartula und ihrem schlimmen Inhalt nichts mehr zu vermelden. Sie verschwand mit ihrem gesamten Inhalt spurlos aus der Geschichte, so wie sie die Geschichtsschreiber erzählten. Es blieb allein die niedergeschlagene Rebellion. Das kollektive Gedächtnis dieser an Mündlichkeit gewohnten, nur halbliteraten Gesellschaft folgte offenkundig nicht den schriftlichen Aufzeichnungen, es orientierte sich vielmehr an den vollzogenen Ritualen. Diese galt es zu memorieren oder ungeschehen zu machen; die Aufzeichnungen der Chronisten folgten der ritualgeleiteten Erinnerung dann wie von selbst. Das ritualferne oder rituallose Wort mochte hier oder da in irgendwelchen Handschriften ein Schattendasein fristen, als Stabilisator des kollektiven Gedächtnisses taugte es, zufällig und geradezu überflüssig wie es nun war, wenig. Nicht also der vorübergehende Erfolg der
Königssalbung: Überschreibungen im kulturellen Gedächtnis
Bei nicht-urkundlicher Überlieferung schlich sich der Wandel von Tatbeständen unmerklich herbei. Eine befremdende Notiz der Quedlinburger Annalen zum Jahr 920 soll dies verdeutlichen; sie lautet: «Nach des Königs Konrad Ableben wurde Heinrich, der Sohn des Herzogs von Sachsen, der Herr der , unter allgemeiner Zustimmung von Senat und Volk zum König gewählt und gesalbt»28. Die antikisierende Färbung der Notiz und der anachronistisch aktualisierte «Herzog von Sachsen» mögen hier auf sich beruhen; allein der Hinweis auf die Königssalbung Heinrichs I. sei herausgegriffen. Dieselbe hatten zuvor schon Widukind von Corvey und Gerhard von Augsburg dezidiert ausgeschlossen; und selbst Thietmar von Merseburg, dem die Quedlinburger Annalen zur
Königssalbung
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Verfügung standen, folgte den beiden älteren Geschichtsschreibern und nicht der Annalistin. Die Salbung gilt deshalb heute in der Tat für nicht geschehen. Allein aber auf das Quedlinburger Zeugnis - eine durchaus hofnahe, bald nach der Jahrtausendwende entstandene Quelle - angewiesen, stünde eine Königssalbung Heinrichs I. für die Geschichtsforscher von heute unumstößlich fest. Sie wäre dennoch falsch, doch keine Fälschung. Sie zeigte vielmehr das kulturelle Gedächtnis unmittelbar bei seiner aktualisierenden Erinnerungsarbeit. Die Königssalbung wurde unter den Ottonen seit Otto 1., dem Sohn jenes vermutlich nicht gesalbten Heinrich, tatsächlich praktiziert. Sie unterstrich die Legitimität der Königswürde und des königlichen Zweiges der Familie. Doch dann griff ein Vetter, Heinrich der Zänker, nach der Krone, ein Neffe des gro~n Otto von seines Bruders Seite, nannte sich gar schon König, ohne indessen gesalbt worden zu sein. Durchgesetzt hat er sich nicht. Die Quedlinburger Annalen registrierten sein Scheitern samt seinem Salbungsdefekt gleich zweimal, zum Jahr von Heinrichs Erhebung 984 und aus Anlaß seines Todes im Jahre 995. Genau in dieser Zeit entstand die Vita Ulrichs von Augsburg. Deren Autor Gerhard war freilich nicht der Erfinder der Geschichte von dem ungesalbten König und erzählte sie auch nicht um ihrer selbst willen. Er stand dem Zänker durchaus nahe und bediente sich der Geschichte, um die Heiligkeit seines Helden Ulrich sowie das Erfordernis der Salbung für einen König unter Beweis zu stellen. Ihr Mangel galt als ein von dem Heiligen warnend beschriebener Defekt. An diesem litt eben jetzt die ottonische Nebenlinie. Doch kaum war der letzte Repräsentant der gesalbten Königslinie, Otto 111., ins Grab gesunken, trachtete dessen Vetter Heinrich, der Sohn des ungesalbten Zänkers, nach dem Thron. Eiligst, noch vor aller Zustimmung und Huldigung, ließ er sich salben. Er hatte die Lehre aus dem Scheitern seines Vaters gezogen und die Winke des hl. Ulrich verstanden. Der Defekt des ungesalbten Urahnen, auf den der neue König sich legitimierend berief, war nunmehr im Urenkel, dem König und Kaiser Heinrich 11., geheilt; und jetzt durften auch die Quedlinburger Annalen - dem neuen König durchaus wohlgesonnen - die Salbung wohl entgegen ihrer Quelle, den verlorenen älteren Hildesheimer Annalen, rückprojizieren auf den ungesalbten Heinrich I. Ihm haftete nun kein Makel mehr an; auch er war gesalbt. Die aktuelle Gegenwart überschrieb die Erinnerung an ihn. Wer außer einem schriftliche Quellen durchforschenden Geschichts:... schreiber wie Thietmar von Merseburg hätte den Fehler zu korrigieren vermocht? Verformte Erinnerung in der von Mündlichkeit dominierten Gesellschaft triumphiert über alles tatsächliche Geschehen. Wie kann der Historiker derartig verformte Erinnerungen durchschauen?
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Das Gedächtnis mündlicher Kulturen II
7.4.3
Die Herkunft der Langobarden: Teleskopie in Aktion
Mehrfache, doch im Vergleich zueinander widersprüchliche Erinnerungsquellen verweisen auf Gedächtnismodulationen unbekannten Ausmaßes und warnen vor übereilter Akzeptanz einzelner Überlieferungsversionen. Die archaische Vorgeschichte der Langobarden, deren Einzug nach Italien diesem Land einen Neubeginn seiner Geschichte bescherte, bietet dafür ein besonders aufschlußreiches Beispiel. Sie wurde erstmals fixiert, als das Volk seit zwei Generationen in Italien siedelte und herrschte, als seine Oberschicht und nicht nur diese, zumal das für das kulturelle Gedächtnis in erster Linie zuständige Königtum längst neuen geistigen Attitüden, neuen intellektuellen Bedürfnissen, seit gut anderthalb Jahrhunderten einer neuen, der christlich-arianischen, bald sogar der katholischen Religion huldigten und die heidnische Vergangenheit, die Herkunft aus der Barbarei des Nordens abgelegt haben wollten. Rühmenswert mochten die militärischen Heldentaten sein, der Sieg über den byzantinischen Feldherrn und Gotenbezwinger Narses und die Römer; die kulturferne Herkunft, die damals ein Gregor der Große laut beklagte, war in der neuen Heimat eher beschämend. An sie zu erinnern, kam keinem Einwanderer Italiens in den Sinn und wurde erst möglich, nachdem die geistige und kulturelle Anpassung an die neue Umwelt vollzogen war. Vorgeschichten werden stets erst im nachhinein konzipiert. Dieser Umstand konnte nicht ohne Auswirkung auf die Erinnerungsprodukte sein. Der Historiker von heute hat es freilich nicht leicht, diesen Anpassungsprozeß aufzuklären, der damals nicht unterblieben sein kann und vorausgesetzt werden muß. Nicht zuletzt hindert ihn seine eigene Überzeugung, die ihn in den frühen Selbstzeugnissen der Langobarden irgendwie mitgeschlepptes und noch nicht abgelegtes Heidentum, germanische Urzeit und uralte Überlieferungen zu erkennen nötigte, statt die frischesten Spuren eben jenes Anpassungsprozesses wahrzunehmen. Diese Attitüde verwehrte ihm, den kulturellen Rahmen als konstruktive Bedingung und formenden Faktor des Erinnerungsvermögens und damit der Erinnerungsprodukte ernst zu nehmen. Nur verstreute und insgesamt spärliche Notizen und Wissenssplitter zu den Langobarden vor der Eroberung Italiens finden sich bei einigen römischen Geschichtsschreibern und Geographen29 • Erst seit der Mitte des 7. Jahrhunderts begegnen einem Zeugnisse anderer Art: ein aufschlußreicher Abschnitt nämlich bei dem sog. Fredegar (IH, 65), einem katholischen Christen und vielleicht einem Franken, sowie in drei aus dem langobardischen Italien stammenden Texten. Deren frühester ist die
Die Herkunft der Langobarden
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«Origo gentis Langobardorum», ein Bericht, der sich in manchen Handschriften des Edikts Rotharis vorangestellt findet, des ältesten langobardischen Gesetzbuches, das König Rothari hat kompilieren und im Jahr 643 promulgieren lassen3o • Mit ihm war ein Dreivierteljahrhundert nach der Eroberung Italiens die entscheidende Anpassungsphase der Langobarden an die römisch-italische Welt vollendet. Doch ist die Verbindung von Geschichts- und Rechtstext nach Ausweis der überwiegenden Anzahl der Edikthandschriften und entgegen einer einflußreichen Forschungsthese nicht ursprünglich, vielmehr selbst ein Zeugnis fortschreitender Anpassung; Rothari seinerseits hatte sich mit einer schlichten Königsliste begnügt, die ihm «alte Leute» (antiqui homines) aus unbekannter Quelle mitgeteilt haben sollen und die bei ihm selbst als dem siebzehnten König endete; sie darf keinesfalls als altes Erinnerungszeugnis gelten31 • Unklar ist somit, wann die «Origo» entstand, auch, wo es geschah, und wessen Erinnerungen sie zum besten gab. Sie selbst verrät es nicht; doch wurde sie von Paulus Diaconus benutzt, dem zweiten Geschichtsschreiber der Langobarden. Eine allseits verbindliche, gleichsam kanonisierte Frühgeschichte der Langobarden stellte sie offenkundig nicht dar, wie die Variationen durch Paulus und eine noch jüngere Überarbeitung belegen. Die Benutzung schriftlicher Quellen - etwa römisch-italischer Provenienz - ist keineswegs ausgeschlossen. Fällt doch auf, daß die Nachrichten zur Frühgeschichte der Langobarden erst mit dem Augenblick konkreter und weithin kontrollierbar werden, in dem die Langobarden in das Blickfeld römischer und fränkischer Herrscher und Historiographen treten, nämlich dem ausgehenden 5. Jahrhundert32 • Davor klafft die Lücke, die in ein mit Mythen operierendes Konstrukt einmündet. Die verbreitetste und umfangreichste Fassung der Langobardengeschichte floß aus der Feder des eben genannten Diakons. Er hat sie nach seiner Rückkehr aus dem Frankenreich und vom Hofe Karls des Großen als Mönch im Kloster Montecassino nach dem Jahr 787 verfaßt. Dazu tritt drittens die «Historia Langobardorum Codicis Gothani», die unter dem italischen König Pippin (807-:10), einem Sohn Karls des Großen, entstand und in einer einzigen, im:1:1. Jahrhundert geschriebenen Handschrift ursprünglich aus Mainz, heute in Gotha überliefert ist. Die genaueren Umstände der Entstehung dieser Geschichtswerke sind in keinem Falle zu kontrollieren. Kein einziges von ihnen beruft sich auf alte «Lieder», obgleich gelehrte Forschung sie regelmäßig, wenn auch nie einhellig zu entdecken meint 33 . Paulus Diaconus erwähnte nur Preislieder auf den Langobardenkönig Alboin, den Gepidensieger, der sein Volk nach Italien führte. Diese carmina seien unter Bayern und Sachsen und
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unter Völkern ihrer Zunge verbreitet 34 • Paul wird sie im Frankenreich kennengelernt haben, wo sich ja schon der falsche Fredegar für die langobardische Frühgeschichte interessiert hatte. Pauls Nachricht läßt sich nicht weiter kontrollieren und deuten. Eigene langobardische Liedüberlieferung kannte der Geschichtsschreiber allem Anschein nach nicht. Hatte es sie einst gegeben, so war sie in seiner Umgebung verstummt. Die beiden jüngeren langobardischen Werke bezogen ihr Wissen über die archaische Vorgeschichte ihres Volkes vornehmlich aus der «Origo», doch bot die jüngste Darstellung, die Langobardengeschichte des Gothaer Edikt-Codex (C.2), gerade die einleitenden Mythen in christlichem Sinne überarbeitet, während der Diakon sie gelehrt kommentiert hatte. Paulus war überhaupt als Geschichtsschreiber bestens ausgewiesen. Ein Mann von hoher literater Bildung, wußte er zahlreiche Quellenwerke heranzuziehen, darunter die verlorene, doch wohl hofnahe Langobardengeschichte des Secundus von Trient, der er sich bis zum zweiten Jahrzehnt des 7. Jahrhunderts - wenn auch ohne die Herkunftsgeschichte seines Volkes - anvertrauen konnte 3S; ferner benutzte er römische Autoren und sogar den Goten Jordanes 36 • Bisweilen berief er sich auf mündliche Erzählungen, ganz prosaische Berichte37 , und nicht zuletzt verstand er es, sichtbare Monumente, Kirchen, Palastbauten und dergleichen mehr als historische Quellen auszuwerten, ohne daß er sich explizit auf Inschriften berief, auch wenn diese nicht gefehlt haben dürften38 • Doch erkannte er nicht immer die Widersprüchlichkeit der Aussagen seiner Quellen. Die «Origo» also, vielleicht um die Mitte des 7. Jahrhunderts oder etwas später in Italien verfaßt, erinnerte als erste der erhaltenen Quellen an die heidnische Herkunft des Volkes; ihre Darstellung wurde zum Erinnerungsmuster aller langobardischen Frühgeschichte. Doch dürfte eine analoge, in wichtigen Details abweichende Version kursiert haben, deren Spur sich bei dem sogenannten Fredegar erhalten zu haben scheint 39 . Die «Origo» weist sogar Spuren mündlicher Überlieferung auf. Ihr Erinnerungskonstrukt darf tatsächlich als Stufe langobardischer Anpassung an die Hochzivilisation des Mittelmeerraumes gelten. Man war sich mittlerweile seiner neuen Identität so gewiß und diese so selbstverständlich, daß der Blick zurück in die heidnische Vorzeit gewagt werden konnte. Er entsprang keinem mitgeschleppten Barbarentum, war vielmehr Zeichen der Angleichung der neuen Herren Italiens an und die . Waren doch auch diese einstmals Heiden, bevor sie zum Hort und Rückhalt der wahren Religion wurden. Das alles nötigt zu einer genaueren Betrachtung der «Origo». «Im Norden liegt», so schrieb ihr Autor, «eine Insel, die heißt, Scada-
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nan, das ist . Dort hausen viele Menschen. Unter ihnen gab es ein kleines Volk, das Winniler hieß. Bei ihnen war eine Frau mit Namen Gambara. Sie hatte zwei Söhne, Ybor der eine, Agio der andere mit Namen. Sie besaßen gemeinsam mit ihrer Mutter mit Namen Gambara die Herrschaft über die Winniler. Es erhoben sich aber die Herzöge der Wandalen, das ist Ambri und Assi, mit ihrem Heer und sagten zu den Winnilern: <Entweder zahlt ihr uns Tribut oder ihr rüstet euch zur Schlacht und kämpft mit uns>. Da antworteten Ybor und Agio mit ihrer Mutter Gambara: . Da baten Ambri und Assi, das sind die Herzöge der Wandalen, Godan, daß er ihnen den Sieg über die Winniler gibt. Godan antwortete und sprach: . Zur selben Zeit bat Gambara mit ihren beiden Söhnen, das sind Ybor und Agio, welche die Fürsten über die Winniler waren, Fream, die Gemahlin Godans, daß sie den Winnilern gnädig sei.» So beginnt die «Origo» 40; und in demselben Stil fährt sie fort: Kurze Aussagen parC\taktisch nebeneinander gestellt, keine Hypotaxe, redundant, situativ auf schlichtestem Niveau, nicht der Anflug eines analytischen Vorgehens, ganz unprätentiöse Handlungsmuster: <Er waD, <er tat>, <er hieß>. Genau so präsentieren sich die Darstellungsmuster der durch Mündlichkeit geprägten Kulturen noch im 20. Jahrhundert41 . Der Umstand, daß der Autor der «Origo» Latein schrieb, mithin zur literaten Bildungsschicht des Landes zu rechnen ist, hat anscheinend nicht oder nur unwesentlich verändernd auf die Darstellung eingewirkt. Alles schien in gleicher Weise Wirklichkeit zu sein: Gambara wie Acquo (der unter dem Namen Agilulf ein bekannter König der Langobarden war), das Handeln Wodans wie der Kriegszug Odoakers, die Maskierung der Frauen wie die Ermordung Alboins. Wie historisch zuverlässig war solches Erinnern? Wie geschichtlich der Kampf der Winniler mit den Wandalen? Der Namenswechsel? Die Taten der Königin Rosimunde (c. 5)? Die genannten Stationen der Wanderung - Scadanan, Golaida, Rugilanda, Feld, Pannonia, Italia? Die jeweilige Dauer des Aufenthaltes: «einige Jahre» in Rugiland (c.3), «drei Jahre» in Feld (C.4), «zweiundvierzig Jahre» in Pannonien (c. 5)7 Die bisherigen Erfahrungen mit Zeiterinnerungen warnen vor annähernd wörtlicher Übernahme. Wurden alle Informationen mündlicher Überlieferung verdankt? Was war alte Stammestradition ? Was wahr, was Fiktion, was wirklichkeitsfernes Konstrukt? Was besaß wenigstens einen historischen Kern? Die Fragen lassen sich nicht oder nur unvollkommen beantworten. Anscheinend hat man noch gar nicht bemerkt, daß dieser «Origo» (wie dann auch der Langobardengeschichte des Gothaer Codex), dem Edikt Rotharis
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als Prolog vorangestellt, eine ausgesprochen heilsgeschichtliche Komposition zugrunde liegt. Denn das Volk brach von der Insel Scadanan auf, von «der schädlichen Insel» (C.1), weilte (wie einst das Volk Israel in der Wüste) etwa vierzig Jahre in Golaida42, eilte dann in wenigen Jahrzehnten nach Pannonien, von wo es an Ostern des Jahres 568, dem Auferstehungstage, aufbrach (c. 5), um «von göttlicher Allmacht geführt» 43 Italien zu erobern, sein gelobtes Land, «wo Milch und Honig fließt und sie das Heil der Taufe fanden», so schließlich in katholischer (nicht arianischer) Perspektive die «Historia Langobardorum Codicis Gothani» 44. Symbolischer kann die Vorgeschichte der Langobarden schwerlich gefaßt werden, ein heilsgeschichtliches Konstrukt, ein Erinnerungsbild des kulturellen Gedächtnisses, geschlossen und wahr in sich, doch deshalb noch nicht wirklichkeitsgemäß. Wieviel geschehenswirkliche Vergangenheit es bietet, entzieht sich der geschichtswissenschaftlichen Einsicht. Gänzlich anders als in den aus Italien stammenden Fixierungen der langobardischen Sage findet dieselbe sich bei dem im Frankenreich tätigen «Fredegar» behandelt. Hier erfolgt der Namenswechsel des aus Scathanavia auswandernden Volkes in keiner Schlacht gegen die Wandalen, die dieser Geschichtsschreiber nicht einmal erwähnte, sondern gegen Chuni, d. h. Awaren, und zwar beim Übergang der Langobarden über die Donau nach Pannonien (im heutigen Ungarn), im Süden also, nicht im N orden, in einer vergleichsweise späten Phase ihrer Geschichte, nicht in einer frühen. Der Namenszuruf ereignete sich nun ohne Freas Eingreifen, erklang gewaltig über den beiden Heeren und wurde dann als Ruf ihres Gottes Wodano interpretiert. «Fredegars» Chronik ist um 658/60 zu datieren; woher sie ihre Nachrichten zu den Langobarden bezog, ist ungewiß 45 • Ihre Darstellung darf als die älteste erhaltene gelten oder entstand doch etwa gleichzeitig mit der Niederschrift der «Origo». Sie zeigt auf jeden Fall, daß die Herkunftssage zwar einen mythischen Kern besaß, doch höchst flexibel auf Zeitumstände reagierte. So verkündete die «Historia Langobardorum» des Gothaer Codex (c. 2) die höchst aktuelle Auskunft der Altvordern (antiqui patres), daß die Langobarden besonders lange in Paderborn gesiedelt hätten - einer Gründung eben erst Karls des Großen. Diese «Altem> beherrschten das Teleskopieren offenbar hervorragend. Ihr Wissen war eine Mixtur aus Alt und Neu, die nicht immer so klar wie in diesem Falle durchleuchtet werden kann, gewöhnlich vielmehr undurchsichtig bleibt - was sie nicht zuverlässiger macht. Der genaue Bestand jenes Kernes der Langobardensage und sein Alter lassen sich denn auch ohne Spekulationen in keiner Weise mehr ausmachen. Vielleicht darf der kultische Namenswechsel im Kontext einer Schlacht einem solchen Kernbestand zugewiesen werden; doch kann
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auch dies junge ätiologische Sage sein. Alles andere ist zweifelhaft, kann sich gelehrtem Wissen, Kontaminationen, Übertragungen oder anderen Verzerrungsfaktoren verdanken. Doch nicht einmal die langobardische Herkunft dieser Sage erscheint mir über jeden Zweifel erhaben; als ätiologische Sage kann sie späten und synkretistischen Ursprungs sein. «Fredegar» bestimmte Scathanavia sehr vage als Land, «das zwischen der Donau und dem Ozean liegt»; an die «Insel» Scadanan oder Skandinavien - wie die «Origo» oder Paulus Diaconus - dachte er dabei bestimmt nicht. Auch finden sich die Wandalen von keinem älteren Schriftsteller mit den Langobarden in Berührung gebracht; erst der Autor der «Origo» erwähnte dieses gerade unlängst in Italien, etwa in den «Dialogen» Gregors des Großen, besonders übel beleumdete Volk als Gegner der Winniler-Langobarden. War deren Sieg über jenes Schrecken einflößende Volk nichts weiter als ein rückprojizierter Vorbote ihres Sieges über die eigentlichen Wandalenbezwinger in Italien, über Narses und seine Römer nämlich? Die «Historia» des Gothaer Codex, im Umfeld der Karolinger und unter dem Einfluß einer mißverstandenen oder bewußt umgedeuteten Stelle der «Etymologien» des Isidor von Sevilla (IX, 95-6) geschrieben, kannte die Wandalenschlacht schon nicht mehr. Das alles muß vorsichtig machen im Hinblick auf die Altersfrage der Sage, auf ihre historische Glaubwürdigkeit (als ursprünglicher langobardischer Herkunftsmythos) und die ihrer einzelnen Elemente. Jahrhundertealtes Erzählgut darf jedenfalls nicht postuliert werden. Umstritten ist denn auch alles. Die Herkunft der Langobarden aus Skandinavien wurde ebenso behauptet wie verworfen, ihr Indigenat an der Niedereibe desgleichen46 . Unlängst wurde ihre Wanderung aus dem Main-Lahn-Rhein-Gebiet über die Niedereibe nach Italien für möglich gehalten47 • All dies geschah aufgrund von mündlichen Erzählungen, deren älteste erst um die Mitte des 7. Jahrhunderts aufgezeichnet worden war, deren Nachrichten dennoch mehr als sechshundert Jahre zurückreichen sollten. Der archäologische Befund läßt sich in keiner Weise mit den Zeitangaben der «Origo» in Übereinstimmung bringen; ja, er läßt im breiten Kontinuum elbgermanischer Siedlungsausbreitung die Langobarden selbst verschwinden48 • Allen Ernstes wurden aus der «Origo» oder mit Hilfe des Paulus Diaconus die germanischen Verhältnisse der Zeitenwende rekonstruiert. Mirakel der Erinnerung wurden auch jetzt postuliert, ohne die tatsächliche Leistungskraft eines schriftlosen Gedächtnisses auch nur im entferntesten kontrolliert zu haben. Wieder und wieder wurde der Überlieferung ihr hohes Alter und ihre Glaubwürdigkeit attestiert. Ein paradoxes Verfahren.
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Gleichwohl fällt auf, daß sich die Langobarden in Italien <erinnertem, auf altem Kulturboden mit ausgiebiger historiographischer Tradition. Nur zwei Generationen vor den Langobarden hatten dort die Goten geherrscht. Auch sie hatten dort ihre Geschichtsschreiber gefunden. Von denselben mochte man jetzt lernen, wie die eigene, langobardische Geschichte auszusehen habe, auch daß eine solche notwendig sei. Wie anpassungsbereit die langobardische Führungsschicht bereits war, lehrt nicht zuletzt das älteste <Selbstzeugnis> des langobardischen Königtums, das sich erhalten hat, die Helmzier mit dem Bildnis des thronenden Agilulf, des dritten Vorgängers Rotharis (um 600)49. Es steht trotz einiger unrömischer Elemente ganz in der spätantiken Tradition des Majestätsbildes. Zwar hatte sich bei den jüngeren Eroberern keine Königsdynastie durchsetzen können. So blieb es bei der bloßen Abfolge der Herrscher, um die Vergangenheit zu ordnen. Angesichts dieser Umstände ist es schwerlich dem Zufall zuzuschreiben, daß die Goten 1.7 Amaler-Generationen von ihren Anfängen trennten, und daß die Langobarden dieselbe Abfolge von 1.7 Königen kannten, die sie nach Gambaras und ihrer Söhne Tod führten, welche die gotischen Amaler vorzuweisen hatten; die nämlichen 1.7 Generationen, die bei Vergil von Troja nach Rom übergeleitet hatten5o • Das Beispiel lehrt noch einmal, daß die volkstümlich wirkende «Origo», zu der die Königsliste gehört, mehr Spuren literaten, gelehrten Wissens aufzuweisen hat, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Das sollte auch jetzt vorsichtig stimmen mit der Annahme ungestörter langobardischer Herkunftssage und langer mündlicher Tradition. Greifbar wird vielmehr ein Konglomerat vielfältigster Traditionen eben das, was zu erwarten ist, wenn sich ein Kollektiv oder ein Gemisch aus Kollektiven unklarer Herkunft über vielfältige politische, religiöse, kultische und kulturelle Umbrüche hinweg, in völlig neuer Umgebung, in fremder Sprache und neu erlernten Artikulationsmustern nach seinem endgültigen Triumph seiner Vorgeschichte zu besinnen beginnt. Das Ergebnis mußte unter allen Umständen alt, heidnisch und aussehen. Doch wie alt es tatsächlich war, verrät es dem kritischen Historiker nicht mehr. Vermutlich aber war es recht jung, als es das Licht der Öffentlichkeit erblickte. Paulus Warnafrid, der Diakon, stieß sich an mancher Aussage der «Origo», seiner Quelle. Er war ein gelehrter Mann, weithin belesen und an römischer Geschichtsschreibung interessiert. Außerdem war er Christ und, als er seine Langobardengeschichte schrieb, Mönch. Beides schlug sich in seinen Wertungen nieder und wirkte sowohl als Quelle wie als Filter seines Wissens und des Umgangs mit ihm. Allzu vertraut
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kann der gelehrte Mann mit der Frühgeschichte seines Volkes nicht gewesen sein; sonst hätte er sich nicht so sklavisch an seine Vorlagen gehalten. Wie fließend er noch das Langobardische beherrschte? Von Einzelwörtern abgesehen, gibt es kein positives Zeugnis dafür. Nicht einmal seine eigene Familiengeschichte (IV, 37) überwand die zeitliche Distanz zur voritalischen Vergangenheit, ja, nicht einmal jene zur urgroßväterlichen Generation. Paulus glaubte zwar, sich um die zweihundert Jahre zurück bis zur fünften Generation zurückzuerinnern, an seinen Ururgroßvater Leupchis und seinen Urgroßvater Lopichis nämlich, die beide «Wolh-Namen trugen. Leupchis sei mit Alboin ins Friaul gekommen, doch, schon betagt, alsbald gestorben, Lopichis als Knabe von den Awaren verschleppt worden, von einem Wolf und einer Vision geleitet, aber wieder nach Friaul zurückgekehrt, wo er mittellos neu beginnen mußte. Totemismus in frühmittelalterlich-christlichem Gewand? In Paulus' Familie erzählte man eine Geschichte, die schon nach drei Generationen im «floating gap» zerrann und in einen ätiologischen und christlich getönten Mythos mündete. Der Geschichtsschreiber freilich sammelte zusätzliches Material, um die Informationen zu präzisieren und anzureichern, die er der «Origo» entnahm. Möglicherweise befanden sich darunter auch weitere mündliche Überlieferungen, die heute anderweitig nicht zu fassen sind, und deren genauere Analyse deshalb verwehrt ist. Scadanan wurde nun zu Scadinavia, der den Alten wohlbekannten Insel. «Eine lächerliche Fabel», «verlachenswürdig und für nichts zu halten» deuchte den Diakon die Geschichte von Wodan und Freia. «Denn der Sieg ist nicht in die Macht von Menschen gegeben, er wird vor allem vom Himmel geschenkt» (I, 8). Gewiß sei freilich, daß die Langobarden ihren Namen nach ihren Bärten trügen, die kein Schermesser gesehen hätten. Denn lang heiße dang> und bart bezeichne den Bart. Und bekannt sei auch, daß Godan derselbe wie Wodan sei, der bei den Römern Merkur heiße und von allen Völkern Germaniens als Gott verehrt würde (1,9). Ferner tauchten nun die Amazonen auf (I, 15), die den Langobarden bekannt geworden sein könnten, als sie mit der römisch-griechischen Welt in Berührung kamen. Die mündliche Tradition der Langobarden paßte sich also ihrer neuen mediterranen Umwelt an. Doch da stimme etwas nicht, registrierte der gelehrte Paul aufs neue. «Allen nämlich, die mit den alten Geschichten vertraut sind, ist bestens bekannt, daß das Volk der Amazonen, lange bevor sich die (Kämpfe zwischen ihnen und den Langobarden) hätten zutragen können, vernichtet worden sind.» Allenfalls könnten die fraglichen Gebiete den Historiographen unzureichend bekannt geworden sein, «so daß dort bis zur frag-
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lichen Zeit ein solcherart Frauengeschlecht gelebt haben könnte» (1,15). Der gelehrte, in antiker Tradition gebildete Paulus kritisierte und spekulierte, verarbeitete heterogenes Material, zog Vergleiche zwischen seinen Quellen, wagte hypothetische Schlüsse, kurzum, er analysierte, was er vorgefunden hatte, um daraus seine Geschichte der Langobarden zu konstruieren. Das alles wäre ohne Schriftlichkeit unmöglich gewesen. Dieser Langobarde war ein Literat voll angelesenen Wissens und trainierter Rhetorik; und was dar an alte langobardische Überlieferung war, ist zweifels frei nicht mehr zu eruieren. Im Blick auf diesen Literaten ist unmittelbar nachzuvollziehen, wie sich mündliche Erzählungen, wie sich überhaupt Vergangenheit unter dem Einfluß antiker Schriftkultur zu ändern begann. Abermals wird man fragen, ob die Nachrichten stimmen, die Paulus über die anderen bekannten Überlieferungen hinaus vorzubringen hatte. Jetzt endlich, nicht früher, benutzte Alboin in frevlerischem Übermut die Hirnschale seines erschlagenen Gegners Cunimund als Trinkpokal, aus dem ihm zuzutrinken er Cunimunds Tochter Rosamunde befahl; keiner der Vorgänger des Diakons hatte derartiges zu berichten gewußt51 • Kontrollieren läßt es sich nicht. Nach der bisherigen Erfahrung im Umgang mit der Mündlichkeit wird abermals Zurückhaltung und Skepsis angebracht sein. Nichts schien fixiert und fest verankert, alles schwamm in einem fortgesetzten Kontinuum von Zugaben und Abstrichen, von Veränderungen und Neufundierungen, von Mythos, Erinnerung, Gelehrsamkeit und Konstrukt. Erst mit der Verschriftung gewann die Vergangenheit festere Gestalt und erst durch die geradezu kanonisierende Rezeption des Vergangenheitsbildes der «Origo» durch Paulus Diaconus wurde die langobardische Frühgeschichte unveränderlich - wirksam bis hin zur kritischen Geschichtswissenschaft unserer eigenen Gegenwart.
7.4.4
«Chiavenna»: Ein inversives Implantat?
Fiktionen können zu erinnerter Wirklichkeit werden. Ein herausragendes Beispiel aus der deutschen Geschichte mag dies illustrieren: der berühmt-berüchtigte Chiavenna-Zwischenfall, angeblich im Jahre 1176. Er dürfte, abweichend von der heute üblichen Meinung, als ein Implantat in das kulturelle Gedächtnis zu betrachten sein. Friedrich Barbarossa habe, so wußte ein wiederholt, doch spät überliefertes Gerücht, vor seiner schlimmen Niederlage bei Legnano vergebens Heinrich den Löwen in Chiavenna kniefällig um Hilfe gebeten. Es bedurfte der Niederlage, der Peripetie der kaiserlichen Italienpolitik durch dieselbe und den folgenden
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Frieden von Venedig zwischen Kaiser und Papst im Jahre "1"177, des Sturzes des einstigen Herzogs von Sachsen und Bayern, endlich des Triumphes des Kaisers über seinen Vetter, um diese vage Geschichte in Umlauf zu setzen. Deren Verbreitung spiegelt den ausgedehnten interpretativen Spielraum in der geschichtswissenschaftlichen Analyse von Gedächtnisimplantaten52 . Dabei ist nicht zu zweifeln, daß an Heinrich den Löwen - wie an andere Fürsten auch - eine Aufforderung zur Militärhilfe ergangen war, doch sind eine persönliche Begegnung und der dabei angeblich erfolgte Fußfall des Kaisers vor dem Herzog angesichts der verfügbaren Quellen weder nachweisbar noch als einstige Wirklichkeit wahrscheinlich zu machen, sondern lediglich als Implantat in das kulturelle Gedächtnis zu betrachten. Nicht, daß Treffen oder Fußfall grundsätzlich undenkbar gewesen wären; die Geschichte kennt einige wenige, in etwa vergleichbare Beispiele für die Selbsterniedrigung eines Königs. Sie stellten die stärkste Form einer Bitte dar, die den Gebetenen zur Zustimmung geradezu verpflichtete 53 • Eine Möglichkeit bedeutet indessen noch keine Wirklichkeit. Aus staufischer oder späterer Zeit ist zudem dergleichen nicht bezeugt. Der kaiserliche Fußfall dürfte sich vielmehr als realitätsferne, inversive, fremdes Geschehen überschreibende Erinnerungsfigur in die Geschichte eingeschlichen haben: Friedrich hatte sich ja "1"177 tatsächlich vor dem Papst Alexander IH., Heinrich sich nach seiner Niederlage vor dem Kaiser mit Fußfall erniedrigen müssen. Die Quellen zu setzten erst zwei Jahrzehnte nach dem angeblichen Geschehen ein. Bestimmte Zeugen des Geschehens wurden mit Ausnahme der Kaiserin Beatrix und des welfischen Truchsessen Jordan von Blankenburg - beide waren zur Berichtszeit bereits tot - nicht erwähnt. Das Überlieferte läßt sich, was für seine jeweilige Interpretation relevant ist, in drei Gruppen einteilen: "1) in Quellen, die nach dem Tod der beiden Protagonisten, doch vor der staufisch-welfischen Doppelwahl von "1"198, 2) in solche, die nach der allgemeinen Anerkennung Ottos IV. (des Löwensohnes ), doch vor dem Auftreten Friedrichs H. in Deutschland, und 3) in solche, die nach dem endgültigen Triumph des staufischen Königtums entstanden. Ihre Darstellungen sind im Vergleich miteinander höchst divergierend, weisen aber bezeichnende Stereotype auf und sind von so zahlreichen typischen Momenten verzerrender Erinnerung durchsetzt, daß auch gegenüber jenem (zur zweiten Gruppe zählenden) Text, dem heute gewöhnlich trotz nachweisbarer Fehler weithin Vertrauen entgegengebracht wird, der Darstellung des Otto von St. Blasien (zu dem unzutreffenden Jahr "1"17"1), Skepsis angebracht ist. Die Geschichte von des Kaisers
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Das Gedächtnis mündlicher Kulturen II
persönlicher Begegnung mit dem Herzog und seiner kniefälligen Hilfsbitte begann erst seit den letzten Jahren des 12. Jahrhunderts zu kursieren und diente in rückschauender Betrachtung durchweg zur Begründung des Welfensturzes. Im Prozeß gegen den Löwen, der tatsächlich mit dessen Deposition und Exilierung endete, hatte sie, soweit zu erkennen, nicht die geringste Rolle gespielt. Erstmals erwähnt wurde sie um 1196, von einem Fremden, dem Hennegauer Chronisten Giselbert von Mons, dem sie vermutlich über Köln (wo mit dem Erzbischof Philipp von Heinsberg der schlimmste Feind des Herzogs residierte) vermittelt worden sein dürfte. Sie enthält bereits Wendungen, die dann immer wieder, auch bei Otto von St. Blasien und noch später, auftauchen - ein sicherer Hinweis auf die Verbreitung einer quasi-kanonisierten Version. Das angesprochene Geschehen war, wie die erhaltenen Berichte zeigen, weder zeitlich noch örtlich fixiert. Jeder Chronist fügte es dort ein und ließ es dort spielen, wo es ihn am wahrscheinlichsten dünkte; der schwäbische Mönch Otto verlegte die Episode eben in die Zeit vor der Schlacht von Legnano und in die südlichste Grafschaft Schwabens, was ihm die folgende Niederlage des Kaisers gegen die Mailänder zu erklären erlaubte. Er allein nannte Chiavenna, wußte aber von dem Fußfall nichts oder nichts Genaues, daß nämlich Friedrich aus Furcht vor den Mailändern «demütiger als es der kaiserlichen Majestät gezieme» Heinrich um Hilfe gebeten habe, da dieser allein noch hätte helfen können. Ein anderer fügte hinzu: «Man sagt, daß er sich ihm zu Füßen geworfen hat»54. Es kursierte also ein Gerücht. Daß es der Wirklichkeit entsprach, müßte ebenso nachgewiesen, nicht nur postuliert werden, wie die keineswegs gesicherte persönliche Begegnung der beiden Fürsten selbst. Das Ritual eines Fußfalls bedürfte einer gewissen Öffentlichkeit, um die Wirkung zu erzielen, die es erzielen sollte. Von einer entsprechenden Versammlung aber fehlt jegliche Spur in den besten zeitgenössischen, zumal italienischen Quellen. Soweit sie über die Schlacht berichten, lassen sie überlegene kaiserliche Truppen und militärische Schlamperei der Deutschen bei der Feindaufklärung erkennen. Der Mönch in seinem Schwarzwaldkloster wußte davon wiederum nichts und entwickelte statt dessen seine Erklärung mit dem -Konstrukt. Vermutlich haben wir es mit einem Produkt nachträglich emotionalisierender Propaganda zu tun, welche die schwäbischen Freunde des Löwen für die staufische Seite gewinnen und dessen Gegner bei der Stange halten sollte. Es etablierte sich, als reale Möglichkeit von wirklichem Geschehen nicht zu unterscheiden, im kulturellen Gedächtnis. Die implantierte Episode operierte mit einer spiegelnden, den «Hochmut» des Löwen (eine Todsünde!) verdeutlichenden und damit seinen Sturz legiti-
«Sagen»
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mierenden Inversion: von der tatsächlich erfolgten Erniedrigung des Herzogs zur begründenden Erniedrigung des Kaisers. Doch muß die weitere Ausschmückung dieses Geschehens, in der möglicherweise auch das berühmte «Krönungsbild» im Evangeliar Heinrichs des Löwen und dessen umstrittene «Königspläne» eine Rolle spielten, an dieser Stelle auf sich beruhen55 . Beide spiegelten das stolze Wesen des Welfen, das den Zorn und die Feindseligkeit auch seiner fürstlichen Standesgenossen weckte. Das Implantat indessen mag den Vorstellungen der Zeitgenossen von fürstlicher Vasallentreue und kaiserlicher «Ehre» und den darauf gerichteten Erwartungen entsprochen haben; es mag Befürchtungen und Urteilsmuster der Zeitgenossen verdeutlichen56 • Doch hat der Historiker zu erkunden, welche Wirklichkeit hinter derartigen Berichten stand, ob (wie geartet auch immer) ein tatsächliches Geschehen, ob ein bloßes Gerücht oder gezielte Propaganda, und damit sich der Frage zu nähern, wie damals im späteren 1.2. Jahrhundert gemacht und ein Mächtiger zu Fall gebracht wurde. Ein Gerücht aber wurde damals, in einer Zeit, die weithin auf mündlich kolportierte Informationen angewiesen war, in der Erinnerung leicht zu Wirklichkeit.
7.5
Wie weit reichen mündliche Traditionen in die Vergangenheit zurück?
7.5.1
«Sagen»
«Hat Siegfried gelebt?» Die Frage wurde ernsthaft erörtert, vor allem in Deutschland, die Frage nach der Historizität der «Sage» und mit ihr die zeitliche Reichweite und Zuverlässigkeit des an Mündlichkeit gebundenen und Verformungen ausgesetzten Gedächtnisses; denn von dem Drachentöter schweigen alle historischen Quellen. Viele Antworten geben sich gleichwohl historisch; deren eine sei zitiert: «Der vertriebene Sproß eines ripuarischen Fürstenhauses, der am Rhein ansässig war, kommt zu den burgundischen Königen, findet Aufnahme in ihrer Gefolgschaft und steigt darin zu solchem Ansehen, daß er die Hand der burgundischen Schwester erhält und zum vertrauten Berater und Helfer der Könige wird. Macht und Bedeutung des Fremden wecken den eifersüchtigen Haß der einheimischen Großen, die es verstehen, dem König Mißtrauen gegen den Freund und Schwager einzuflößen. Er läßt es geschehen, daß ein entschlossener Mann der Gegenpartei den fremden Schwager ermordet, doch bleiben dessen Kinder - aus Rücksicht gegen die Schwester? vor dem gleichen Schicksal bewahrt. So etwa mag sich das zugetragen haben, was später Siegfrieddichtung wurde.»
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Das Gedächtnis mündlicher Kulturen II
Ripuarische Fürsten, burgundische Könige, germanische Gefolgschaft, der Mord im Königshaus - sie gelten dem Gelehrten für historische Daten. Der Held - hatte gelebt; am Niederrhein war seine Heimat gewesen, am Mittelrhein war er zugrunde gegangen. Indes, war hier tatsächlich «aus der Dichtung Geschichte (gewonnen)>>, wie der Urheber jener Zeilen, der renommierte Altgermanist Helmut de Boor, es glauben machen wollte57 ? Sie müßte denn, von Generation zu Generation erzählt, ein Dreiviertel Jahrtausend im Kern unbeschadet überstanden haben, bevor sie ihre älteste erhaltene Niederschrift (um 1200) erfahren hätte. Eine grandiose Ermutigung aller ? Doch wessen Geschichte aus wessen Mund? Traf sie die Wahrheit? Historische Tatsächlichkeit? Nichts dergleichen ist nachzuweisen. De Boors These spiegelte statt des dunklen Frühmittelalters das düstere Milieu ihres Erscheinungsjahres, des schicksalsschweren 1939. De Boor wurde aus mancherlei Gründen widersprochen, doch nicht, weil die Erinnerungsleistung schriftloser Kulturen in Zweifel gezogen oder ihre Erinnerungsformen analysiert worden waren. Die Debatte hält an. Professionelle Sänger, Skalden und Skops, hätten sich des Nibelungenstoffs bemächtigt, so konstruierte man, ihn in Verse gebracht, ausgestaltet, an den Höfen der Könige und Großen vorgetragen, aufgeführt und somit gerettet. Die «Sage», davon war mancher Forscher überzeugt, hatte die schriftlose Zeit überdauert, elaborierte Mündlichkeit dieses Wunder vollbracht58 • «Was aber», so meinte ein deutscher Historiker, «seit dem 12. Jahrhundert neu gedichtet und nun erst aufgeschrieben wurde von den Helden und Taten der Frühzeit, von Burgundern und Nibelungen, Dietrich von Bern und Gudrun, vom König Artus und seiner Tafelrunde, Karl dem Großen und seinen Paladinen, das muß vorher durch die Jahrhunderte ungeschrieben lebendig und bildungskräftig geblieben sein wie alle Rechtsüberlieferung auch». Die Gleichartigkeit von Geschichts- und Rechtsüberlieferung, welche die Brüder Grimm hervorgezaubert hatten, trug fatale Frucht59 . Überlegungen der zitierten Art haben den Mediävisten Karl Hauck bewogen, von einer «Liedzeit» historischer Überlieferung zu sprechen60 . Auf das Medium elaborierter Mündlichkeit gestützt, hätten «Lieder» schriftloser oder schriftarmer Kulturen Wissen aus der Vergangenheit in eine spätere Gegenwart transportiert. In der Tat, die Lebensbeschreibung des hl. Liudger erwähnte den blinden Scop Bernlef als Sänger. Man hörte ihn gern, «weil er die Taten der Alten und die Kriege der Könige vorzutragen verstand»61. Schon Tacitus hatte historische «Lieder» seiner «Germanen» erwähnt. Wie aber hatten sie ihren Stoff gewonnen? Unverformt, im Kern vergessensresistent, zuverlässig? Und über welche
«Sagen»
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zeitlichen Distanzen hinweg? Wovon sang Bernlef überhaupt? Man hat im früheren Mittelalter zweifellos mit einer ausgedehnten Liedkultur zu rechnen62 . Wie aber wirkte sie sich auf die historische Überlieferung aus? Derartige Fragen lassen· sich nicht mit Gewißheit beantworten. Doch sonderbar, die der Schrift anvertrauten, erhaltenen Texte aus dem Umkreis des Nibelungenstoffs, um nur sie zu erwähnen, divergieren erheblich, obwohl sie zeitlich näher beieinander als die besungenen Ereignisse von ihnen entfernt liegen. Das ist eine bedenkliche Konstellation: Wo Kontrolle möglich ist, da variieren die Texte, wo Hypothesen Belege ersetzen müssen, da wird der Überlieferung kernige Unveränderlichkeit unterstellt, die in leichtem Flug Jahrhunderte und Jahrtausende überwand. Läßt diese Position sich halten? Zahlreiche Zeugnisse lassen erkennen, daß der Sagenstoff von den mittelalterlichen Zeitgenossen nicht im Gegensatz zur Geschichtsschreibung verstanden wurde, daß er vielmehr, allenfalls von einem leichten Unbehagen begleitet, gemeinsam mit dieser und als Teil von ihr überliefert werden konnte. Dieser Umstand wirft Licht auf die Frage der Verformungsresistenz mündlicher,Erinnerung. Sind diese «Sagen» kernstabile Produkte schriftloser Transmissionen eines heldischen Vergangenheitswissens? Welche Techniken der Mündlichkeit sorgten für die angebliche Zeitresistenz dieses Wissens? Oder spiegeln sie beides: eine Mischung nämlich aus schriftgestützter Tradition und mündlicher Erzählkunst, wie sie noch immer auftritt? Waren gar schriftliche Zwischenlandungen nötig, um jenen Flug über die Zeiten zu überstehen? Die gelegentliche Verschriftung also der eigentliche Garant, der dieser Mündlichkeit zu Dauer verhalf? Aus der europäischen Geschichte ist ja keine den Brahmanen vergleichbare Kaste bekannt, die als Träger umfassender Lied- und Textkompositionen gleich den heiligen Vedas und ihren Kommentaren hätte auftreten können. Jene Spielleute und Sänger lassen sich mit den Brahmanen schlechthin nicht vergleichen. Alter und Verformungsresistenz der «Sagen» und gleichartiger Fabeln, die Wirklichkeit, die sie spiegeln, sowie die Überlieferungsmedien ihres Wissens stehen im folgenden zur Diskussion. Zweifellos schafft Schriftlichkeit auch neue Traditionen bislang schriftloser Kulturen. Damit bereiten Zivilisationen am Übergang zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit erhebliche methodische Schwierigkeiten. Konfrontiert mit den bewahrenden Aufzeichnungen der Schriftträger übernehmen sie Inhalte von diesen, die sie fortan als eigene ausgeben und in ihre mündlichen Darbietungen einbeziehen. Vermutlich liegen derartige Verhältnisse, ohne daß es im einzelnen genau verfolgt werden könnte, im Zusammenwirken von Römern und
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Das Gedächtnis mündlicher Kulturen II
vor. zu verkörpern. Die romantische Sagenwelt der Brüder Grimm hielt die Forschung bis ins 20. Jahrhundert verzaubert. «Sagen» gingen, so etwa lehrte Jacob Grimm, «mit anderen Schritten» und sähen «mit anderen Augen» als die Geschichte, es fehle ihnen «ein gewisser Beigeschmack des Leiblichen», «des Menschlichen», wodurch sie aber um so mächtiger und ergreifender wirkten65 . Grimm handelte hier zwar bloß vom Inhalt der Erzählung, nicht vom Alter seiner Überlieferung, auf das es uns ankommt. Dieses aber, das Alter, verschmolz für ihn mit dem Inhalt und attestierte der «Sage» als dem vornehmsten Beispiel mündlicher Überlieferung bei gewissen zugestandenen Variationen im Detail und im Arrangement eine prinzipielle Beharrungskraft, nämlich Stoff zu sein, «aus uralten Zeiten hangengeblieben»66. Schon der wissenschaftliche Ordnungsbegriff <Sage>, den Grimm in Anlehnung an die nordische «saga» prägte, war Programm: «kunde von ereignissen der vergangenheit, welche einer historischen beglaubigung entbehrt», «die bei ihrer wanderung von geschlecht zu geschlecht durch das dichterische vermögen des volksgemüthes umgestaltet wurde» 67 - es sei in Versen oder in Prosa. Hatte nicht Tacitus im zweiten Kapitel seiner Germania bereits von «uralten Liedern», carmina antiqua, gesprochen? Bestätigte nicht Cassiodor, der Minister der Gotenkönige im 6. Jahrhundert, der von den «vorgeschichtlichen Liedern», prisca carmina, seiner Herren wußte 68 , den Tacitus und die neuzeitlichen Sagenforscher? 2030 Jahre, länger als das römische Imperium, habe das Gotenreich gewährt, behauptete jener geschichtsschreibende Minister oder wenigstens sein Leser Jordanes, der dieses Wissen von ihm haben will. Das klang alt, sehr alt sogar. Und sammelte nicht Karl der Große «die heidnischen und uralten Lieder, die die Taten und Kriege früherer Könige besangen», eine Sammlung, die vielleicht (teilweise) auf der Reichenau abgeschrieben wurde und dennoch verloren ist 69 ? De Boor hielt sich an solche Vorga-
Die Amaler-Genealogie
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ben, obwohl keines der Lieder, von denen Tacitus oder Cassiodor sprachen, erhalten ist und auch Karls des Großen Sammlung spurlos unterging, und obwohl der große Snorri Sturluson, der Dichter der Heimskringla im 13. Jahrhundert, sich zwar auf einzelne Lieder, aber auf kein «volksläufiges, anonymes Corpus von Erzählprosa» beriepo. Andere Forscher handhabten es ebenso71 . Etwa Godefroid Kurth, Belgier, dennoch Gefolgsmann Jacob Grimms und seines Paladins Karl Müllenhoff, sann er über die ältesten Lieder der Franken nach. Zwar ist auch von ihnen keine einzige Verszeile erhalten, nicht einmal ein expliziter Hinweis auf derartige Lieder. Was tat's? Kurth glaubte an ihre Existenz, an ihre «puissante vitalite», und sein Glaube ließ ihn sie oder doch ihre Spuren in der sog. «Fränkischen Völkertafel» entdecken. Dort war von «den drei Brüdern Irmino, Ingo und Iscio» die Rede als den Stammvätern der Völker des früheren 6. Jahrhunderts. Leicht waren in ihnen die Patronyme der taciteischen Irminonen, Ingävonen und Istävonen zu erkennen; doch literarische Abhängigkeit von Tacitus' «Germania» lehnte Kurth dezidiert ab. «Diese patronymen Namen gehören mehr ins Reich der Mythologie oder der Heldenlieder als in jenes der Geschichte». Uralte Lieder also, über ein halbes Jahrtausend gesungen, vom 1. bis ins 6. Jahrhundert - so der Glaube Godefroid Kurths, eines bedeutenden Forschers 72 . Heute gilt die «Völkertafel» als ein zwar lateinisch geschriebenes, doch byzantinisches Produkt des früheren 6. Jahrhunderts, als Werk eines hoch literaten Gelehrten, der - ähnlich Cassiodor - die «Germania» kannte73 • Von mündlichen Traditionen also keine Spur, wohl aber von spätantik gelehrten Deduktionen und Konstrukten und - von schriftlicher Überlieferung am Ausgangspunkt der «uralten» Lieder, wie sie die Forschung seit zweihundert Jahren postuliert. Gleichwohl, nur die These von der Eigenständigkeit der «Völkertafel» gilt für widerlegt, nicht der Glaube an die Vitalität mündlicher Tradition. Noch unlängst wurde der Versuch unternommen, mit Hilfe nordisch-isländischer Sagas via mündlicher Tradition die frühmittelalterlichen Verwandtschaftsverhältnisse und die Geschichte der Goten zu klären 74 • Der jüngste für die Dietrich-«Sage» soll gar dem Jahr 1922 entstammen, in der Lausitz erzählt, 1400 Jahre nach Theoderichs Tod75 .
7.5.2
Die Amaler-Genealogie als Prüfstein
Doch war, was für alt galt, tatsächlich alt? Die Liste der gotischen Könige aus dem Amalergeschlecht, die Jordanes überliefert und die er gleichfalls dem Cassiodor entnommen haben dürfte, diene als Beispiel für eine erste
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Das Gedächtnis mündlicher Kulturen II
Kontrolle 76 • Sie strich bereits die (angebliche) Erinnerung auf - wie gleich zu zeigen ist - signifikante 440 Jahre zusammen77 . «Alt» war relativ. Wie alt also waren die «alten» burgundischen oder gotischen Lieder tatsächlich, die von der Abstammung der Völker handelten? So alt wie die Burgunden? Die Goten? Wie alt waren diese Völker? Wer genau sollte die Lieder gesungen haben? Wie oft? Zu welcher Gelegenheit? In wessen Interesse? Auf keine dieser Fragen lassen sich gesicherte Antworten geben. Könnten die Lieder tatsächlich Neukreationen des 5. oder 6. Jahrhunderts gewesen sein, jener Zeit nämlich, in der sie zum ersten und einzigen Mal erwähnt wurden? Akkommodationen an römische Vorstellungswelten, wie sie sich u. a. in der eben erwähnten gelehrten «Völkertafel» niederschlugen? Nötig geworden, weil die Ostgoten oder ihre Könige, die «Amaler», zu Herren im Römischen Reich aufgestiegen waren? Auf alt getrimmte Konstrukte zur Legitimation junger barbarischer Herrschaft im Imperium römischer Hochzivilisation, etwa eines um die Nachfolge von Tochter und Enkel bangenden Theoderich78 ? Wie wenig Jordanes oder seiner Autorität Cassiodor zu trauen ist, wurde erst neuerlich mit Blick auf die Widersprüche zwischen den spätaniken Quellen durch Peter Heather und Arne S0by Christensen gezeige9 • Ist es um die von dem antiken Historiographen erwähnten Lieder besser bestellt? Cassiodor gestand immerhin, und das ist ein nicht hinwegzudisputierendes Schlüsselzeugnis, daß die Geschichte der Goten und der amalischen «Gotenkönige von langem Vergessen verhüllt gewesen wan, bevor er selbst sie dem «Schlupfloch des Alters» entrissen und «die Amaler im Glanz ihres Geschlechts wieder aufgebaut» habe 80 • Das war in der Spätzeit Theoderichs geschehen, des einstigen Aufsteigers, als den ihn der gut informierte Zeitgenosse Malchos noch charakterisiert hatte 8 !, oder unter Amalaswintha, des Königs Tochter, und Athalarich, deren Sohn, - und zwar auf Latein, nicht auf Gotisch. Es wandte sich an Römer, die von Barbaren regiert werden sollten, nicht an Goten, die des Lateins in der Regel gar nicht mächtig waren. Vergessen hatte dominiert, nicht Erinnerung. Eine kanonische , ein inhalts stabiles Lied von den Amalern, kann es unter diesen Umständen ebensowenig gegeben haben wie eine ritualisierte, etwa in Liedform oder im Kult regelmäßig wiederholte Inszenierung der Vorfahren- und Verwandtennennung. Im Gegenteil, Cassiodor lehrte die Königsfamilie, «was auch die alten Traditionen der Alten nicht boten»; er griff dafür zu einem patrilinearen Konstruktionsmuster, wie es ihm die zeitgenössische römische Mode nahelegte. Sein
Die Amaler-Genealogie
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ob die Goten ursprünglich patrilinear organisiert waren. Von einer volks sprachlichen Variante der cassiodorischen Amaler-Genealogie findet sich nicht die geringste Spur, wie sich überhaupt bei den Goten kein genealogisch geformter Ahnenkult beobachten läßt. Nicht einmal Theoderichs Vater stand unter den Zeitgenossen in Ravenna und dem Osten zweifels frei fest 82 . Die Gotizität der Ahnenreihe schlechthin zu postulieren birgt die Gefahr, Römisches in die germanische, Mittelmeerisches in die nordische oder pontische Welt einzuschleusen. Doch könnte eben eine derartige kulturelle Akkommodation das Ziel der ganzen erfindungsreichen Enthüllungsaktion gewesen sein 83 . Cassiodor also, der belesene Christ und Angehörige des Senats, der ahnenstolze römische Aristokrat mit einer eigenen, endlos in die Tiefe der Vergangenheit reichenden, patrilinearen Vorfahrentafel, als Schöpfer , das die Amaler (nach Ansicht heutiger Forscher) repräsentieren sollen84 ? Hohe Literalität am Ausgangspunkt angeblich jahrhundertealter mündlicher Traditionen? Von der Hand zu weisen ist es jedenfalls nicht. Der andere Teil des Volkes, die Westgoten, besaß kein den Amalern vergleichbares Königsgeschlecht. Die «Balthen», denen nach Jordanes der berüchtigte Alarich entstammte, und die im Rang den Amalern folgten, wie derselbe Historiograph vermeldet, können schwerlich die Beweislast hohen Alters tragen; unter ihnen hat auch - trotz vermutlich gleicher gentiler Herkunft - noch niemand <Sakralkönige> aufspüren können 85 • Isidor von Sevilla, ihr später Geschichtsschreiber, mußte, als er schrieb, keine römische Hocharistokratie für seine barbarischen Herren gewinnen; so bedurfte es auch keiner Herleitung von Heroen oder «Halbgöttern». Baltha, das wußte Jordanes, sei der gotische Beiname jenes Alarich und heiße «kühn»86. Die Balthen-Tradition begann also frühestens mit diesem Plünderer Roms, über dessen Grab der Busento rauscht, wenn nicht, was wahrscheinlicher ist, Jordanes oder Cassiodor selbst ihr Erfinder war. Jordanes' «Getica» allein überliefert den Balthen-Namen; westgotische oder fränkische Historien kennen ihn nicht. Der gotische Geschichtsschreiber und sein Hauptinformant Cassiodor fixierten in ihren Werken eine Manifestation des kulturellen Gedächtnisses, dessen Elemente und Faktoren erst auf der Ebene des natürlichen Gedächtnisses geprüft werden müssen, bevor ihre inhaltlichen Aussagen in faktizistischem Sinne als Bausteine einer wirklichen Vergangenheit benutzt werden dürfen. Da aber fällt ins Gewicht, daß das kulturelle Ge-
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Das Gedächtnis mündlicher Kulturen II
dächtnis nicht erinnert, was einst tatsächlich geschehen war, sondern wessen es eben jetzt, in seiner Gegenwart, bedurfte. Der Umstand berührte, als Cassiodor für Theoderich die Feder spitzte, die Legitimation des Barbarenkänigs für die feine, hocharistokratische, senatoriale römische Gesellschaft87 . Geschlechtsname aber, Ahnenstolz und namentliche Verehrung der Altvordern kennzeichneten den vornehmen Römer des ausgehenden 5. und 6. Jahrhunderts; und «Genealogien» waren eine Erfindung der biblischen Juden und der Griechen, denen die Römer dann folgten, als sie sich der griechisch-orientalischen Kulturhöhe akkomodierten 88 . Ob die und zu gens/, nicht zu Känigsgeschlechtern oder Adelsfamilien. Auch sie liegt somit auf einer völlig anderen Ebene als die Amaler-Genealogie des Cassiodor. Die Zeugnisse vergleichbarer Königsgenealogien setzen erst lange nachdem germanischsprachige Völker in den Bannkreis der mittelmeerischen Zivilisationen eingedrungen waren, ein und zwar gleichfalls auf Latein und ohne jegliches volkssprachliche Korrelat. Ihre Adressaten waren keine Barbaren. Eben Cassiodor hatte (wohl im Jahr 521/22) einen Ordo generis Cassiodoriorum, eine «Übersicht über das Geschlecht der Cassiodore», verfertigt und dem Exconsul und Magister officiorum Cethegus gewidmet90; sein Zeitgenosse Boethius entstammte der glanzvollen gens Anicia, die sich, jung wie sie wa~ mit scheinbar bis in die klassische Zeit zurückführenden Ahnen schmücken mußte; sein Pflege- und Schwiegervater Symmachus gar der traditionsbewußtesten aller spätantiken senatorialen Adelsfamilien, der gens Aurelia, die lange ein Hort gebildeten Heidentums war und einen noch exklusiveren Stammbaum aufwies (oder aufweisen mußte, da sie sich über das 4. Jahrhundert nicht zurückverfolgen konnte). Durch Jahrhunderte zurück zählten römische Senatoren ihre Ahnherren auf. Agamemnon und Aeneas, die Scipionen und Gracchen, Tacitus und andere erlauchte Gestalten tauchten da unter den Vorfahren auf: Fiktionen über Fiktionen. «Phantasievolle Ausgestaltung des eigenen Stammbaums war '" in der spätrömischen Reicharistokratie üblich, zumal in Rom selbst.» «Ein Gleichklang des Namens konnte genügen, um in einer bekannten Größe der Vergangenheit den Stammvater des eigenen Geschlechts zu finden»91. Von <Stammüttern> war nirgends die Rede. In dieser Gesellschaft sollten die Gotenherrscher bestehen; ihr «Ge-
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26)
schlecht» (genus, sanguis) sollte der Purpmwürde römischer Senatorengeschlechter irgendwie angeglichen erscheinen92 • In ihr und für sie formte sich ihr barbarisches <Sippenbewußtseim als romanisiertes Geschlechtsbewußtsein neu oder vielmehr: wurde es für sie geformt, und niemand kann sagen, wie es sich zuvor, allein unter Barbaren, ausgenommen hatte. Und wie die Ostgoten hielten es später die anderen barbarischen Herrschergeschlechter und <Sippem, die Abstammungslinien vorwiesen. Sie alle paßten sich ihrer römischen Umwelt an. Der Name der «Hamaler»/ «Amaler» begegnet einem nur bei Cassiodor und bei denen, die ihn ausschrieben; der Minister Theoderichs brachte ihn zur Geltung, wie römische Aristokraten ihren Geschlechtsnamen herauszustreichen pflegten. Als Gentilname benutzt wurde Hamali/ Amali zunächst nur in Schreiben Theoderichs des Großen an neugewonnene Mitglieder der eigenen Familie, die Cassiodor diktiert hatte 93 . Gerade sie mußten in die neue Familientradition eingeweiht werden. Als Namensbestandteil in der Königsfamilie ist der Amalername vor Theoderichs Schwestern Amalafrida und Amalabirga nicht bezeugt94; vor allem taucht er bei historisch gesicherten Königen germanisch-sprachiger Völker erst seitdem auf. Theoderich selbst dürfte den Namen vor seiner Erhebung zum König noch nicht aufgegriffen haben95 . Eine alte Tradition scheint sich im Amalernamen also nicht zu verbergen. Allein seine etymologische Bedeutung scheint klar zu sein, obgleich im Gotischen kein entsprechendes Wort bezeugt ist. Der Name könnte «die Beständigen», vielleicht auch «die Fleißigen», «Unermüdlichen» bezeichnet haben96 . In der Tat, die Beständigkeit der Gemeinschaft von Theoderichs Vater Thiudimir mit seinen Brüdern Valamir und Vidimir wußten Jordanes und wohl schon Cassiodor überschwenglich zu feiern: «Diese drei Brüder beachteten ein schönes Ziel: Wenn der wunderbare Thiudimir anstelle seines Bruders Valamir den Befehl führte, half ihm Valamir bei der Rüstung und Vidimer wünschte den Brüdern zur Seite zu stehen. So schützten sie sich in wechselseitiger Liebe, keinem mangelte die Königswürde, die beide in ihrem Frieden besaßen»97. Eines Rates (consilia unita) waren sie alle drei; als ihre gemeinsame Geisel kam Theoderich selbst an den Hof des römischen Kaisers nach Konstantinopel98 . Waren diese drei Brüder also die eigentlichen «Hamaler»/ «Amaler», ihr Bündnis der Gründungsmythos des Geschlechts, die Königsfamilie seitdem das «Geschlecht der Beständigen, der fest bei ihrem Bündnis Beharrenden», Amalafrida endlich, Theoderichs Schwester, «die Eifrige im Frieden», die über alle Nichten und Töchter Theoderichs hinaus tatsächlich, wie Cassiodor für seinen König schrieb, «die einzigartige Verkündigung des Hamaler-Geschlechts», generis Hamali singulare praeconium war99, eben
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Das Gedächtnis mündlicher Kulturen II
weil sie die erste war, die diesen Namen trug? Es anzunehmen, erscheint plausibel. Wäre dem so, die mündliche des nordischen Volkes zerschmölze in der Esse römischer Traditionsschmiede. Weder die erhaltenen Fragmente aus Malchos «Byzantialca» noch der Panegyricus des Ennodius, den dieser Rhetor geistlichen Standes im Jahr 507 auf Theoderich den Großen hielt, kannten den von Cassiodor verbreiteten, angeblich so ruhmreichen Familiennamen des Königs, obwohl sich beiden wiederholt Gelegenheit geboten hätte, ihn zu nennen lOO . Dem Gotenherrscher gefiel es vielmehr, von seiner Erziehung in Griechenland zu hören; von ihr handelte Ennodius, in ihr sah der Barbar den Vorboten seines römischen Königtums, nicht so sehr in seiner «amalischen» Sippe 101 . Erst später, wohl gegen Ende seiner Regierung, als es galt, die Nachfolge seines minderjährigen Enkels zu sichern, des Sohnes seiner Tochter Amalaswintha, verlangte den König nach einer Herkunft, welche die der römischen Senatoren überstrahlte oder wenigstens ähnlich hell wie diese aufleuchten zu lassen vermochte und Legitimität suggerierte. Jetzt, als Amalaswintha aufgewertet werden mußte, wurde auf den Amaler-Namen zurückgegriffen, erfand der im Entwerfen von Genealogien erprobte Cassiodor die heroische, halbgöttliche Deszendenz aus heidnischer Zeit. Das war römisch für Römer gedacht; unter Römern, nicht unter Goten wurde das Ergebnis propagiert 102 • Altvertraute Lieder gotischer Barden, an den Lagerfeuern der Wanderzeit gesungen, handelten gewiß nicht von ihm 103 . Zu kontrollieren waren die Erfindungen ebenfalls nicht. Wer hätte auch, was Cassiodor konstruierte, auf seine historische Glaubwürdigkeit hin überprüfen sollen, wenn er selbst es war, der die Genealogie dem Vergessen entriß und die Königssippe in bislang unbekanntem Glanz erstrahlen ließ, und eben diese Sippe das Ergebnis akzeptierte und propagierte? Gewiß, auch Cassiodor wußte um Lieder der Goten als einem Teil ihrer mündlichen Überlieferung. Wieweit aber verstand er ihre Sprache? Auch bei der Konstruktion der Amalergenealogie stützte er sich vereinzelt auf gotische «Fabeln», wie es heißt, keinesfalls auf eine geschlossene Genealogie 104 • Doch was er tatsächlich vorgefunden hatte und wie er es für seine Enthüllungen und Konstruktionen verwandte, läßt sich schlechthin nicht überprüfen; sein Epigone, vermutlich ein Gote, vielleicht ein Alane, verachtete die mündlichen Traditionen seines Volkes und seiner einstigen HerrenlOS. Cassiodors Verweis könnte topisch sein; wirklich kontrollieren läßt er sich nicht. Entmythologisierte der katholische Christ und der Mönch, der Jordanes vielleicht war? Verkehrte er etwa, der - fern von Italien und fern seines Volkes, vermutlich im griechischsprachigen Ostteil des Reiches - mit Berufung auf eine flüchtige
Die Amaler-Genealogie
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Lektüre der Gotengeschichte des Cassiodor wohl erst nach dem Jahr 550 zur Feder griff, als man in Konstantinopel zum Krieg gegen die Ostgoten rüstete, die einst im Volke verbreiteten Kultmythen in Zeugnisse profaner Geschichte? Seine «Goten» waren ja ethnisch gesehen ein Konglomerat zahlreicher Völkerschaften mit mancherlei Traditionen und vermutlich kein altes, vielmehr ein recht junges Volk. Viele waren längst getauft, kannten die Bibel und die Evangelien und hatten begonnen, in ihrer eigenen Sprache Schriftwerke hervorzubringen. Das alles konnte nicht folgenlos bleiben. Die «alten Gesänge» konnten unter diesen Umständen ebenfalls jung sein, wenn es sie überhaupt gab. Ebensowenig wie Theoderichs Minister ist dem Jordanes, durch den wir allein von jenen Liedern und Cassiodors Kenntnissen wissen, beim Abfassen seiner Gotengeschichte auf die Finger zu sehen. Nahezu nichts außer seiner «Getica» und wenigen gotischen Sprachdenkmälern hat die Jahrhunderte bis heute überdauert; doch wird zur Zeit jener Geschichtsschreiber mehr zu greifen gewesen sein. Verzerrt von römischer und christlicher Perspektive, gebrochen von den Umwälzungen ihrer jüngsten Geschichte, sind tiefgreifende Verformungen und Umbrüche der - und imitierte die vergilische Generationenfolge von dem Trojaner Aeneas bis hin zum Gründer Roms: bald 16, bald 17 Könige hier wie dort 107 . Die 17gliedrige gotische Generationenfolge aber, die mit Gapt und seinem (angeblichen) Sieg über die Römer im Jah. re 87 einsetzte, mündete in Athalarich, Theoderichs Enkel; derselbe er-
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Das Gedächtnis mündlicher Kulturen II
schien somit als 16. Gotenkönig in der Rolle des Romulus. Mit diesem Enkel begann ein neuer 440-Jahre-Zyklus, der nach alter römischer und von dem hl. Augustinus bestätigter Tradition eine Wiedergeburt, eine neuerliche Vereinigung desselben Körpers mit derselben Seele, einleitete 108 • Auf die Sukzession des Jahres 526 war die Genealogie also zugeschnitten. Was Cassiodor ausbreitete, war römische Doktrin, nicht barbarische. Mehr noch: Es stand in uralter orientalischer Tradition. Schon von dem Geschichtsschreiber und Geographen Hekataios von Milet, dem Autor der ältesten bekannten «Genealogiai», berichtete Herodot, daß er sich im 16. Glied von Göttern abstammend wußte 109 • Und Josia, der König Judas im letzten Drittel des 7. Jahrhunderts vor unserer Zeit, derselbe, der die wegweisende Reform des Judentums und der mosaischen Religion in die Wege leitete, war in 16. Generation Nachkomme des Königs David llo . Jerusalem aber hatte mit dem Norden nichts zu schaffen; und auch Milet war von Scandza, der angeblichen Herkunftsinsel der Goten, entfernt, weit, sehr weit entfernt. Das Verfahren sollte Schule machen. Der Langobardenkönig und Gesetzgeber Rothari wird später, um das Jahr 640, auf dieselbe Generationenzahl zurückgreifen, um seinem Königtum die Weihe hohen Alters zu geben; es «besteht bei einer eingehenden Analyse der onomastischen Struktur dieser Überlieferung ... der begründete Verdacht, daß in den ersten Namen dieser Reihe Fragmente verschiedener Ursprungsmythen, primordialer gesta und ... Hausüberlieferungen großer Adelsgeschlechter stecken, die erst im sechsten und siebten Jahrhundert amalgamiert wurden»lll. Cassiodors Amaler-Katalog bediente sich mithin der richtigen Mittel und vermochte die römischen Legitimationsbedürfnisse der Jahre nach Theoderichs Tod zu stillen ll2 . Er war <wahn, aber er stimmte nicht. Er war weder alt noch unveränderlich und zentral für die gotische . Er spiegelte vielmehr das politische Geschick eines der buchkundigsten Minister aller Zeiten. Gelegentlich läßt sich das Konstruktionsverfahren der römischen Geschichtsschreiber erkennen. So erwähnt Jordanes Taten gotischer Helden, des Eterpamara, Hanale, Fridigern, Vidigoia und anderer nämlich, die sie «in Liedern und zur Kithara priesen» 113. Doch trotz solcher Gesänge wußte er von den heiden erstgenannten Heroen (deren Gotenturn im übrigen zweifelhaft ist) schlechthin nichts, von den beiden anderen nur soviel, wie er der griechisch-römischen, mithin schriftlichen Überlieferung hatte entnehmen können 114 . Offenbar kannte der Geschichtsschreiber (oder seine Autorität Cassiodor) die Lieder nicht oder nur schlecht; vertrauenswürdig dünkten sie ihn ebensowenig 115 . Zudem er-
Formbarkeit des Herkunftswissens
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wähnte er die Fabeln dort, wo er die Amazonen den Goten als Gemahlinnen zur Seite gesellte und diese Goten in der antiken Mythologie zu verorten suchte 1l6 . Dazu traten die Identifikationen der Goten mit Geten und Skythen, ja sogar mit dem biblischen Gog. Uralte gotische Geschichtserinnerung wird man hierin schwerlich erkennen dürfen. Hatten Cassiodor oder Jordanes solche je vernommen und hatte dieselbe sich nicht längst, wie zu erwarten, an die neue Umwelt der Goten am Rande oder inmitten des römischen Imperiums akkommodiert, so war sie im Bildungswissen des gebildeten Römers zerronnen. Vermutlich glichen die historischen Konstruktionsverfahren der römischen Geschichtsschreiber beim Auswerten der gotischen Lieder just jenem bei der Erstellung der Amaler-Genealogie, so daß auch bei der Jordanes-Lektüre mehr spätrömisch-christlicher Geist denn gotisches Gedächtnis ans Tageslicht kommt. Zum Beweis für uralte Erinnerung taugen die «alten Lieder» jedenfalls nicht, die der Historiograph erwähnte, und deren Alter so unbekannt ist wie deren Inhalt. Was Jordanes und Cassiodor von den Goten tatsächlich wußten, das Datenmaterial, das sie offerierten, wurde in erster Linie schriftlich aufgezeichneter griechischer oder lateinischer Überlieferung verdankt und spiegelte keine die Jahrhunderte überlebende mündliche Tradition eines wandernden Volkes 1l7 .
7.5.3
Die Formbarkeit des Herkunftswissens im frühen Mittelalter
Wie lange also mochten Verse das Wissen um historisches Geschehen retten? Und wie genau elaborierten sie die Erinnerung? Konnten sie die <Erinnerung> an Siegfried, den angeblichen Zeitgenossen Theoderichs des Großen, ohne ein geschultes Spezialistentum ein Dreivierteljahrtausend bis um das Jahr 1200 transportieren? Wie weit reichte ohne sprachliche Elaboration, ohne trainierte Sänger das schriftlose Gedächtnis in die Nacht der Vergangenheit zurück? Wann und wie wurden leistungssteigernde Mittel eingesetzt, um die Dunkelheit aufzuhalten? Und mit welchem Effekt? Wie lassen sich die Übertragungen und Projektionen fremder Geschichte auf die <eigene> Geschichte erkennen? Die «alten Lieder» waren gegen derartige Verformungskräfte in keiner Weise gefeit. Die beispielsweise machte Dietrich/Theoderich zu dem von Odoaker des Landes Verwiesen und betrachtete ihn nicht als Eroberer - eine klare qualitative Inversion l18 . Die historische «Sage» stützte sich nicht wie manche Kultmythen auf Rituale, auf ein regelmäßig inszeniertes, ritualisertes Gedächtnis, nicht wie die Vedas auf eine eigene Kaste. Eine erhöhte und rasche Wand-
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Das Gedächtnis mündlicher Kulturen II
lungsfähigkeit war die Folge. Wie die Goten, wie die kaiserzeitlichen «Germanen» ursprünglich, jenseits römischer Grenzen oder fern römischer Bildungseinrichtungen, ihr Vergangenheits- und Herkunftswissen auf Dauer gestellt hatten, die Lieder, deren Sänger und die Institutionen ihres kulturellen Gedächtnisses, entzieht sich der Kenntnis des Historikers. Der Blick auf rezentes ethnologisches Vergleichsmaterialläßt vermuten, daß recht unterschiedliche Techniken in Gebrauch standen mit recht divergierender und wenig verläßlicher Leistungskraft für die Transmission nackter Daten und einer hohen Veränderungsfrequenz für solche 1l9 . Wie zuverlässig ist also das Dämmerlicht, das von den vagen Bekundungen gotischen und sonstigen , degende>, und dergleichen Ausdrücke mehr, die im Deutschen durchweg etwas anderes bezeichnen als «Sage», und signalisieren damit zugleich, daß sie derartige Überlieferungen nicht auf eine Stufe mit ihren Geschichtserzählungen stellen. Allein das Italienische hat «saga» als ungebräuchliches und mittlerweile auch wieder abgestoßenes Fremdwort übernommen. Ein , den historischen «Sagen» einen Hauch präzisen Faktenwissen über die Vergangenheit entnehmen zu können, von der sie erzählen. Ebensooft wurde es bestritten. Wessen Erinnerung man mit den sagenhaften Überlieferungen zu fassen glaubte, durch wessen Erinnerungsfilter der Stoff hindurchgegangen war, wessen Parallel-, Gegen- und Kontrollerinnerungen heranzuziehen wären, das alles wurde kaum reflektiert. Es hätte alsbald zu der sozialgeschichtlich bedingten Veränderung der Erinnerungssemantik führen können. Heute setzt sich mehr und mehr die Ansicht durch, «Sagen» «nicht als feste Größen - fix in Wortlaut, Aufbau und Deutungsfiguren -, sondern als unfeste Gebilde» zu betrachten, den verformenden Interessen ihrer Erzählgemeinschaften ausgeliefert und da-
Formbarkeit des Herkunftswissens
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mit in einer Weise modulationsfähig, die sie für alle Datenüberlieferung unbrauchbar machen, ja, daß «Sagen» Erfindungen jüngerer Vergangenheit seien 122 . Doch ist mit derartigen Überlegungen die Frage nach der über Jahrhunderte mit sich selbst identischen Einheit jeder «Sage» noch nicht geklärt. Besteht eine derartige Annahme zu Recht? Besonderer Aufschluß für das Problem des Erinnerungsvermögens schriftloser oder schriftarmer Kulturen wurde von den frühmittelalterlichen Herkunfts- und erwartet. Sollten sie doch mündliche Erinnerungen tradieren, Arkanwissen der Adelsgruppen; und reichten sie, wenn dem tatsächlich so war, in eine Zeit zurück, aus der kaum eine andere Quelle zur Verfügung stand. Zudem gelten , oftmals mit den religiösen Kulten verbunden 123, an die sich das Identitätsbewußtsein der namengebenden Gruppen knüpften, für wesentlich resistenter gegen Verformungen als bloße und sonstige sagenhafte Überlieferungen 124 . Wieweit das zutrifft, bleibt in jedem Einzelfall zu prüfen 125 • Vermutungen führen nicht weiter. Daß Vorsicht ratsam ist, wurde eben am Beispiel Cassiodors verdeutlicht. Der gelehrte Römer beweist Konstruktivität anstelle mündlicher Tradition. Traditionszeugnisse oder Zeugnisse, die dafür gehalten werden, liegen neben Goten und Langobarden vor aus der oben evozierten <Burgundensage>, vielleicht aus dem fränkischen <Sagenkreis>, von den Sachsen, Polen und Tschechen, ohne daß noch zu erkennen wäre, welche Gemeinschaften sich diese Geschichten tatsächlich erzählten. Der h1. Beda überliefere, so heißt es, angelsächsische Erinnerungen. Die skandinavischen «Sagen» setzen erst im Hochmittelalter ein und bleiben deshalb hier außer Betracht; was an ihnen tatsächlich alt ist, ist umstritten. Bemerkenswert spät finden sich Zeugnisse für Bayern und Alemannen, gentile Neubildungen des früheren Mittelalters. Für sie gab es keine Traditionen, keine <Stammessagen>. Hochmittelalterliche, von literaten Bildungsträgern erfundene Ersatzgebilde des 1.1.112. Jahrhunderts mußten statt dessen herhalten. Durchsetzen konnten sie sich nicht. Die landsässigen Alemannen kamen danach von Übersee und «schlugen ihre Zelte am Berge Suabo auf»; die Bayern, hochgelehrt und heldenhaft kühn, führten sich, wie konnte es anders sein, auf Herkules zurück 126 • In wessen Kopf mit wessen Interesse zu welchem Ziel waren derartige Märlein ersonnen worden? Die <sagenschaffende> Kunst war, gestützt auf schriftliche Überlieferung und gelehrtes Wissen, ständig am Werk. War es im Falle der Goten, Langobarden, Burgunder, Franken oder Angelsachsen, der Dietrich, Gunther und Etzel prinzipiell anders, außer daß es früher geschah und eine längere Überlieferungsgeschichte besaß? Befähigte sie auch jetzt die <Sagenerzählen in nicht immer zu durchschauen-
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Das Gedächtnis mündlicher Kulturen II
der Anlehnung an antikes, literarisch vermitteltes und fremdes Wissen fortgesetzt zu archaisch aussehenden Neuschöpfungen ? Wie dem nun sei, höchste Vorsicht in der rezeptions- und überlieferungsgeschichtlichen Beurteilung dieser Geschichts- und Abstammungsfabeln ist geboten. 7.5.3.~
Überlieferung
Ein erster Eindruck drängt sich durch die Überlieferungs situation auf. Die erhaltenen frühmittelalterlichen ein solches Herkunftswissen, weil die Verbände jung waren, sich eben erst konstituiert hatten, <entdecktem die Sänger und Geschichtenerzähler alsbald das Verrnißte. Das ist ein bezeichnender Umstand. Nicht irgendwelche Vergangenheiten wurden im Gedächtnis memoriert, sondern nur solche, welcher die Menschen in ihrer Gegenwart bedurften und an denen sie ein lebendiges Interesse hegten. Interessen aber sind kontextgebundene, instabile Phänomene. Zudem konnten
Überlieferung
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französische Geschichte in der Regel nicht oder nur ungenügend; doch steigt ihr Wis::;en in dem Maß des eigenen Betroffenseins. Die Goten aber fanden ihren Cassiodor und Jordanes, die Franken ihren Gregor von Tours, auch den einen oder anderen anonymen Geschichtsschreiber. Die Langobarden bedienten sich der Hilfe des schreibgewandten Italien, bevor ihr Landsmann Paulus Diaconus, spät genug, für die Prinzessin Adelberga, für Karl den Großen oder seine Mitmönche in Montecassino historische Forschungen trieb. Sächsische Traditionen sind bei Rudolf von Fulda im 9. und bei Widukind von Corvey im 10. Jahrhundert rudimentär zu fassen, während Thietmar von Merseburg, ein so adelsstolzer, traditionsbewußter Sachse wie der Corveyer Mönch, sie zu Beginn des folgenden Saeculums bereits mit Schweigen überging. Das Selbstbewußtsein der Sachsen, wer immer ihre Sprecher damals waren, hatte sich binnen zweier Generationen einschneidend geändert. Es bedurfte keiner alten «Sagen» mehr. Was Widukind erzählt hatte, begegnete fortan nur noch in gelehrter Umgebung, nämlich bei Widukind-Kennern, und sonst nicht wieder. Die polnische «Sage» rettete der Gallus Anonymus im frühen 12. Jahrhundert, die tschechische der Mönch Christian im 10. für die Nachwelt. Der Prager Chorherr Cosmas reicherte diese letzte im 12. Jahrhundert mit allerlei Bildungswissen an; doch ist ihre Ursprünglichkeit unter Slawisten zu Recht umstritten und zweifelhaft, wie überhaupt das Alter, die Entstehungszusammenhänge und die vorliterarischen Erzählgemeinschaften aller erwähnten Zeugnisse gänzlich unbekannt sind. Die Überlieferungslage erschwert die Beurteilung. Die gentilen
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tion, die in den heute verfügbaren Quellen stets ineinanderflossen, nicht mehr klar getrennt werden können. Mit Inversionen mythischer Gestalten zu historischen Helden ist stets zu rechnen. Auch wirkte die Intention der Geschichtsschreiber, eine spezifisch heidnische Vergangenheit zu evozieren oder zu verdammen. Die vorchristlichen Kulte erscheinen, wenn überhaupt, ihres Kontextes beraubt, verzerrt und verfremdet. Die durchweg christlichen Literaten, die sie anklingen ließen, haben die Mythen (wenn es denn solche waren) entzaubert, verstümmelt, unterdrückt. Der Wanderer Wotan durchlief diverse Verwandlungsstadien. An die Stelle des meerentsprossenen Merowech trat ein Produkt der Gelehrsamkeit, die Geschichte von der Emigration der Franken aus Troja nämlich, welche die Barbaren zu Brüdern der Römer machte. Dabei steht der Beweis noch aus, daß die Fabel vom dem Meer entsteigenden Stier tatsächlich altfränkisch ist und nicht gleichfalls ein junges Konstrukt gelehrter Bildungsträger in Analogie zu römischen Traditionen, die Heidentum suggerieren soll: Die römische Wölfin gleichsam als merowingische Vergangenheit stiftendes Monster 128 . Ihre erste Erwähnung fand die <Stiersage> bei dem sogenannten «Fredegar» zu Beginn der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts, wobei Einflüsse römischer Mythologie faßbar werden. Mitunter gilt die Erzählung Einhards, wonach der letzte Merowinger sich eines Ochsengespanns bediente, um durch die Lande zu reisen, als Bestätigung. Denn das primitive Gefährt wird auch heute noch wiederholt als ritueller Kultwagen gedeutet, den Stiere gezogen und den zwar nicht der erfindungsreiche Biograph Karls des Großen, dafür aber Jacob Grimm als solchen erkannt hatte - wider besseres Wisseni denn, so gestand Grimm andernorts: «Von heilighaltung der rinder weiss ich weniger mitzutheilen»129. Einhard, auf dessen Erinnerung an die «rois faineants» nichts zu geben ist, erwähnte das Transportmittel des letzten merowingischen Herrschers, der auf dem Ochsenkarren reisen mußte, statt, wie es sich für einen König gebührte, hoch zu Roß, um die Erbärmlichkeit seiner Lebenshaltung rustico more, «nach Art des niederen Volks», zu karikieren. Mehr darf in die dürren Worte nicht hineingelesen werden. Überflüssig zu betonen, daß auch die frühen Merowinger sich im Herrscherzeremoniell der Pferde zu bedienen wußten, wie allein schon das Grab ihres ersten faßbaren, noch ungetauften Königs, Childerichs, bezeugt, mit dem zusammen mindestens zweiundzwanzig Pferde und kein einziger Stier bestattet wurden 130. Auch die langobardische stellt kein unantastbares Erinnerungsprodukt aus der heidnischen Vorzeit des Volkes dar. Paulus Diaconus vermenschlichte Wotani derselbe sei, so schrieb der Chronist, in Wahrheit mit Merkur identisch, habe keineswegs zur angegebenen
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Zeit bei den Völkern Germaniens gelebt, sondern viel früher in Griechenland 13l . Hier schimmern Interpretatio Romana und antike, aufklärerische Entmythologisierungskunst durch das Wissen des gelehrten Langobarden. Nicht besser ist es um die sächsischen Zeugnisse bestellt. Vom sächsischen Gott Saxnot, bekannt aus einer althochdeutschen Abschwörformel und aus einer angelsächsischen Königsgenealogie, ist bei Widukind von Corvey mit keiner Silbe die Rede. phol begegnet nur in dem einen Merseburger Zauberspruch. Vergessen hat die Erinnerung überwuchert, wurde sie nicht rechtzeitig verschriftet. Ludwig der Fromme verachtete die barbara et antiquissima carmina, die alten, heidnischen Lieder, die von den Taten und Kriegen früherer Könige handelten und die sein Vater gesammelt hatte und er selbst hatte auswendig lernen müssen; er wollte sie künftig weder gelesen, noch gehört, gelehrt oder erinnert wissen 132. Doch was nannten die Karolinger «uralt» und was «barbarisch»? Mit der möglichen Ausnahme des profanen «Hildebrandsliedes» ist in der Tat keine dieser Dichtungen auf uns gekommen, nicht einmal die Liedthemen sind mit Gewißheit zu identifizieren; und auch das «Hildebrandslied» gilt für «verzerrt in die Schriftkultur überführt» 133. Wie sollte es auch anders sein? Indes, es ist ein Verlust nur für Antiquare, nicht für eine lebendige Gemeinschaft mit ihren Sorgen. Memoria überliefert nicht wahllos und alles, sie selektiert seit jeher und in jedermanns Hirn nach den Bedürfnissen ihrer aktuellen Gegenwart. Sie verändert damit fortgesetzt ihren Inhalt. Es geschieht mitunter bewußt, zumeist aber und kontinuierlich unbewußt. Der beste Traditionalist war, wer die aktuellste Vergangenheit bot. Diese aber begründete und legitimierte die Gegenwart und forderte die Vorgabe hohen Alters; sonst verfehlte sie ihr Ziel. Keine ethnographische Neugier trieb die Geschichtsschreiber, wie Jordanes, Gregor von Tours, Paulus Diaconus, Widukind von Corvey oder Cosmas von Prag. Im Wissen um den Sieg des Neuen notierten sie absterbende Traditionen oder was sie dafür hielten. Ob und wieweit dabei ihre eigene Kompositionsgabe zu Buche schlug, läßt sich nicht mehr kontrollieren, doch immerhin vermuten. Diese Autoren schrieben aus aktuellem Anlaß; sie betrieben keine Feldstudien und wollten keine alten Überlieferungen des Volkes vor dem Vergessenwerden retten. Schwämmen gleich saugten sie auf, was sie für verwertbar hielten oder ihre Auftraggeber wünschten. Ob die Sachsen von den Dänen, den Normannen oder Griechen respektive den Makedonen abstammten, wie Widukind das letzte mit Berufung auf Josephus und Lukian - notierte (I, 2), spielte da kaum eine Rolle; entscheidend war einzig, daß dieses Volk «alt und adelig» war. Buchwissen und Mündlichkeit flossen dabei ineinander.
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Was auf diese Weise zu Pergament gebracht wurde, markiert einen Endpunkt, einen Stillstand und mit ihm einen einschneidenden Kulturbruch, insofern der Blick in die Vergangenheit sich von der älteren Überlieferung und deren Kontexten löste, sich der Schrift und einer fremden Sprache bediente, skizziert und festgehalten wurde, als die Führungsschicht des Volkes bereits die religiösen Kulte der Väter hinter sich gelassen hatte und getauft war, als somit neue Normen, neue Lebens- und Herrschaftsformen etabliert waren oder durchgesetzt werden sollten. Die «Sagen», die unter derartigen Umständen aufgezeichnet wurden, manifestierten und legitimierten den Kulturbruch, der zwischen Heidentum und Christentum, zwischen alter und neuer Ordnung lag.
7.5.3.2 Verschriftung Die zweite Beobachtung, die es festzuhalten gilt, betrifft die Tatsache der Verschriftung selbst. Sie nämlich war es, die die Kenntnis der «Sagen» offenbar nicht nur für die neuzeitlichen Geschichtsforscher rettete, sondern bereits für die mittelalterlichen Erzähler. Gerade jene «Sagen», die im 12.113.Jahrhundert in elaborierter Gestalt auftauchten, verweisen auf frühzeitige Verschriftung. Das gilt zumal für den Nibelungenstoff, der nicht vor dem 10. Jahrhundert (wenn überhaupt schon so früh) bezeugt (und nicht bloß erschlossen) ist und damals am Hofe des Bischofs Pilgrim von Passau niedergeschrieben wurde, um von dort aus seinen Siegeszug in die mittelhochdeutsche (und auch in die altnordische?) Epik anzutreten 134. Welche Inhalte er zu dieser Zeit aufwies, woher dieselben stammten und wann sie zusammengefügt worden waren, welchen <Sagenschmiedem sie sich also verdankten, das alles läßt sich nicht mehr erkennen. Ganz unklar ist, wie der nordische Sigurd/Sigfrid-Stoff mit dem Burgunder- und Dietrich-Stoff zusammenfand. Noch in dem nur ein wenig älteren lateinischen Versgedicht «Waltharius» erscheinen Gunther (ein Franke!) und Hagen in deutlich anderem Kontext als im Nibelungenlied, vor allem ohne Hinweis auf den Burgunden-Untergang, ohne Dietrich von Bern und ohne Sigfrid. Es handelt sich offenbar um transplantierbare Romangestalten. Die widerspruchsreiche Debatte der modernen Forscher zu dieser Frage belehrt nur über die Unmöglichkeit, tiefer in die Vergangenheit herabzusteigen als das 10. Jahrhundert. Doch ist es auch gar nicht nötig. Daß unter Chronisten etwa am Hofe Karls des Großen (ohne Reflex auf die «Sage») die reale burgundische Katastrophe bekannt war, bezeugt zum Beispiel die Metzer Bischofsgeschichte des Paulus Diaconus. Attila habe danach Gundigar den Untergang bereitet 135 • Die Stelle scheint aus einer nicht erhaltenen Vorlage übernommen zu sein. Noch weiter zurück
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in die Vergangenheit will nur gehen, wer in der Nachfolge der Brüder Grimm die «Sage» als mündliche Tradition betrachtet, die von dem historischen Geschehen selbst ihren Ausgang nahm. Doch die wirkliche Geschichte des Gotenkönigs Theoderich oder des Burgunderkönigs Gunther stand in den Büchern der Bildungsträger und Schulmeister des früheren Mittelalters zu lesen. Die «Sage» konnte sich an deren Lektüre und Kommentierung ebenso entzünden wie an der Wirklichkeit. Genau in diesen Kreisen, am Hofe eines bildungshungrigen Karls des Großen, des Bischofs Pilgrim von Passau, des Bischofs Gunther (!) von Bamberg, unter den Mönchen von Fulda und St. Gallen, bei den Kanonissen von Quedlinburg finden sich denn auch die ältesten Spuren der Heldenlieder und Heldenepen. Das weist darauf hin, daß die fraglichen Mären tatsächlich in literatem Kontext stehen, auf den dann im 12. Jahrhundert die Dichter zurückzugreifen wußten. Die Dietrich-«Sage» besitzt ältere Wurzeln als der «Nibelunge not». Bereits das «Hildebrandslied» aus dem früheren 9. Jahrhundert kennt Dietrichs Exil am hunnischen Hof; aus etwa derselben Zeit stammt der berühmte Runenstein von Rök (Östergötland, Schweden), der «Dietrich» auf seinem «gotischen Roß» über die Maringa (Märingen) herrschen, vielleicht auch die angelsächsische «Klage Deors», die ihn in Mcaburg residieren läßt. Hinter dem Namen verbirgt sich die Maronia, «Meranien», Istrien. Wie umfangreich die Dietrich-«Sage», wenn es sie je gab, damals war, ist nicht mehr zu kontrollieren; woher sie stammte und ihr Wissen bezog ebensowenig wie ihr Alter 136 . Es ist nicht auszuschließen, daß das Wissen um diesen Dietrich vom karolingischen Hof in Aachen, einem hochliteraten Zentrum, über den Kanal und in den wikingischen Norden floß - aus Aachen, wo jene eindrucksvolle, goldglänzende Reiterstatue Theoderichs stand, ein Sinnbild herrscherlicher Macht, auf die Walafrid Strabo seine Verse machte, was den Wikingern nicht unbekannt blieb. Entscheidend aber ist, daß auch jetzt noch frühere Spuren schriftlicher Aufzeichnung vorliegen. Der fränkische Chronist Pseudo-Fredegar (H, 56-57,59) verfügte nämlich im 7. Jahrhundert über «Gesta Theoderici», «Taten Dietrichs», unter die sich fabulöser Stoff gemischt hatte, der noch wenig von der späteren Dietrich-«Sage» bot. Der Geschichtsschreiber stützte sich dabei auf heute verlorene Aufzeichnungen 137. Der Gotenkönig war danach gar kein Gote, sondern ein Makedone von Geburt. Weiterhin ist an Karls des Großen «Liederbuch» zu erinnern, das ein Dietrich-Lied enthalten haben könnte; immerhin brachte der Karolinger gleich nach seiner Kaiserkrönung im Jahre 800 die Theoderich-Statue aus Ravenna nach Aachen, an die sich zweifellos Fabeln knüpften, viel-
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leicht aus Italien importiert, gewiß auch in Aachen produziert. Frühe Verschriftung verschaffte dem Erzählstoff offenbar Dauer. Auch weniger bekannte «Sagen» überlebten durch schriftliche fixierung und wirkten über sie weiter. Der «Liber Historiae Franeorum» aus dem früheren 8. Jahrhundert berichtet (c.41) - nach unbekannter Quelle unbekannten Alters - von einer nirgends bezeugten, vermutlich nie geschlagenen Schlacht der Frankenkönige Dagobert (t 638/39) und ChlGtharII. (t 629) gegen die Sachsen nahe der Weser. Ein dramatisches Geschehen entfaltete sich da. Mitten im Kampf wurde - Zeichen höchster Gefahr - dem jungen Dagobert ein Büschel seines Haupthaares abgeschlagen. Hilfe heischend schickte er es seinem Vater. Der Bote eilte, er flog von Sachsen über den Rhein, durch den Kohlenwald, zurück zu Chlothar, der noch in der Nacht «beim Lärm der Kriegstrompeten» aufbrach, um rechtzeitig vor Ende des Kampfes sein weißes Königshaar an der Weser zu zeigen - nach kaum einer Nacht Hunderte von Kilometern entfernt. Hier wurden Ereignisse <erinnert>, die nie geschehen waren. Warum sie in Verse gegossen wurden, ist nicht zu erkennen. Warben sie für die Sachsenkriege der Karolinger? Das Lied, das hier erschlossen werden kann und dessen Spuren der «Liber Historiae Franeorum» bewahrte 138, raffte Zeit und Raum, historische Personen und erfundenes Geschehen zusammen, der Geschichtsschreiber übernahm es, ohne sich daran zu stoßen. Mythische Zeit und historische Zeit flossen in eins. Das mündliche Lied galt für ebenso seriös wie die schriftlichen Quellen auch. Es gab keinen Grund, zwischen beiden zu scheiden. Nach gut einem weiteren Jahrhundert griff der Bischof Hildegar von Meaux, dem «Liber» folgend, in seiner um 869 komponierten Vita des hl. Fara darauf zurück. Von mündlicher Überlieferung war nun nirgends die Rede. Die «Sage» war eigentlich <Schreibe>; gleichwohl veränderte sie unter den Händen des jüngeren Literaten ihre Gestalt; Schreibe also von Leser zu Leser fortgeschrieben. Was nun dem neuzeitlichen Geschichtsforscher als «Sage» erscheint, war tatsächlich Lesestoff, aus Büchern geschöpft, vielleicht für Lateinschüler aufbereitet, nicht den Lippen des Volkes abgelauscht. Das Niederschreiben der «Sagen» erfolgte offenkundig in Wellen. Eine erste Phase zeichnet sich gegen Ende der Völkerwanderungszeit ab, als spätantike und frühmittelalterliche Autoren sich ihrer annahmen. Eine jüngere Phase kennzeichnet das hohe und spätere Mittelalter. In beiden Fällen zeigt sich, daß die zunächst schriftlich fixierten
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Kein spätantiker oder mittelalterlicher Autor berichtet noch einen der Traditionsinhalte, die Tacitus erwähnte. Seine «Germania» fand ja auch keine Verbreitung. Die «Sage» um Dietrich von Bern, von der eine einzige Fassung im 12. Jahrhundert genauer faßbar wird, unterscheidet sich grundlegend von den Überlieferungen der Goten, soweit sie bei Jordanes anzutreffen sind. Eine kontinuierliche Weiterentwicklung der «uralten» gotischen Lieder stellt sie gewiß nicht dar. Die mündliche Überlieferung riß selbst dort ab, wo wie bei den Franken Kontinuitäten in die ältere römische Kaiserzeit nachweisbar sind. Auch die hochmittelalterlichen Lombarden wollten nichts. mehr von ihrer langobardischen Vergangenheit wissen; im Gegenteil, als kultivierte «Lombarden» traten sie den barbarischen «Langobarden» mit Heeresmacht entgegen. Jede Voreiligkeit bei der Annahme langer, ungebrochener mündlicher Traditionen verbietet sich angesichts solcher Konstellationen l39 • Andere Texte als im Kultischen wurzelnde und deshalb vielleicht gegen schnellen Wandel ein wenig resistentere
7.5.3.3 Wiederholte Neuschöpfungen Wir haben mit diversen und wiederholten Neukompositionen zu rechnen. Mündlichkeit und allerlei sonstige Erinnerungsträger wirkten dabei zusammen. Münzen mit Herrschernamen, bildgeschmückte Grabsteine, Götterbilder, Weiheinschriften, Texte von Kirchenvätern oder Historiographen konnten Stoff und Anstoß liefern l40 • Als man 1174 bei Andernach am Rhein das Grab eines Mannes fand, der eine Münze Valentinians im Mund trug, glaubte man, das Grab dieses Kaisers gefunden zu haben. Sein beiliegendes Schwert mit dem «Siegstein» (lapis victoriae) sandte man an Friedrich Barbarossa 141. Über derartige Zeugnisse stolperte man allenthalben in den Grenzen des ehemaligen Römischen Imperiums und zumal am Rhein; die schöpferische Phantasie fand immer neue Nahrung - ohne einen Hauch alter Erinnerung, aber artikuliert nach traditionellen Deutungs- und Erzählmustern, gleichsam «den Abgründen der Vergangenheit entrissen». Unterschiede in der Erzählweise <echten
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und aufweist, die dann auf die Geschichtsschreibung übergriff1 45 . Alle diese Lieder boten historischen Stoff und spiegelten zugleich die rasch wirkende Veränderungs dynamik, der die Erinnerung, das kulturelle Gedächtnis, selbst unter Einsatz der Schrift unablässig aus-
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gesetzt ist. Als zeitüberwindende Vermittler kommen vordringlich gelehrte Leute in Frage, die sich der Schrift bedienten. Die Epen erweisen sich als Sammelbecken für ursprünglich separate Erzählelemente. Schriftlichkeit spielt im Transformationsprozeß bei allen eine große Rolle. Die Schule war stets ein dankbarer Abnehmer der Fabeln und eine schöpferische Erfinderin von neuen obendrein. Dabei waltete durchaus die Mündlichkeit des Unterrichts. Gerade das Rolandslied mit seinen diversen Fassungen illustriert die ständige Fortentwicklung der Überlieferung, selbst noch bei schriftlicher Fixierung. Es verrät zudem viel über die Geschwindigkeit des Wandels, da seine französische Version, die Chanson de Roland, um :[100, seine aus dem Französischen ins Deutsche übertragene Fassung, das Rolandslied des Pfaffen Konrad, bereits um 1.170 zu datieren ist und beide Texte beträchtliche Unterschiede aufweisen, die nicht auf die ungleiche Ausdruckskraft der beiden Sprachen zurückgeführt werden können. Noch spätere Übertragungen ins Spanische und Italienische zeigen noch weitere Abweichungen. Die Handschriften des Nibelungenliedes selbst verdeutlichen das Fortdichten und Fortschreiben eines Textes trotz seiner schriftlichen Fixierung; die wichtigsten Manuskripte des 13. Jahrhunderts (zeitlich nahe beieinander gelegen) nötigen, neben die sogenannte «Not»-Fassung eine «Lied»-Fassung zu setzen 146 . Ein unaufhörliches Verändern und Fortdichten, Überschichten und Verformen war da am Werk, wobei die Erinnerungsmedien - mündliche und schriftliche Traditionen, steinerne Monumente, Bildzeugnisse oder sonstige Erinnerungsträger - einander ergänzten. Angesichts dieses Sachverhaltes bedürfte es unzweideutiger, zwingender Belege für die Annahme jahrhundertelanger, kernhaft unveränderter und mit sich selbst identischer mündlicher Geschichtstradition und historischer Erinnerung im Medium historischer «Sage». Solche sind aber nicht in Sicht. Alles, was bislang zum Beweis angeführt wurde, resultiert aus bloßen Kombinationen und Hypothesen moderner Gelehrter, die vor allem der Glaube an den Grimmschen Sagenbegriff auszeichnet. Das gilt selbstverständlich auch für die Sigfrid- de Hoors. Der gesamte Erzählstoff um den Burgundenuntergang zerfällt in viele Mären. Was verarbeitet werden konnte, erweiterte und verengte sich kontinuierlich um fabulöse, mythische, fremde historische Elemente unterschiedlicher Provenienz, nahm Neues auf, stieß Altes ab, ließ Einzelmotive - etwa die Rache - wuchern und beschnitt sie wieder, übersprang Zeiten und Räume, war fortwährend im Fluß - bis in das 19. und 20. Jahrhundert, wenn an jene Gestalt der Mythe und ihr Fortwirken hier mit gedacht werden . darf, die Richard Wagner ihr gab 147 . Als Quelle zum Erfassen der früh-
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mittelalterlichen Bewahrungskraft einzigartiger Inhalte allein im Medi:.. um der Mündlichkeit ist derartiges schlechthin unbrauchbar. Es belegt nur einmal mehr die Veränderungs- und gerade nicht die Beharrungspotentiale der Erzähltradition einer Gesellschaft, die auf Mündlichkeit angewiesen war, mit der Zeit aber auch Zugang zu schrift- und monumentgestützter Überlieferung fand. Die Königs- und sonstigen Namen jener Mären verraten ganz im Unterschied zu de Boors Behauptungen nichts; denn sie waren allgemein, aus historisch-schriftlicher Überlieferung bekannt und von dort immer wieder abrufbar. Ebensowenig verweisen ihre formalen Bildegesetze auf die Ereignisgeschichte, statt dessen auf sich selbst, auf die Kenntnis der Regeln frühmittelalterlicher, germanischer Namengebung nämlich. Sigfrids Name ist im Norden bestens bezeugt. Im 9. Jahrhundert trugen ihn mehrere Könige der Wikinger. Spätere Geschichtskonstrukte wie beispielsweise die Geschichte der flandrischen Grafen von Guines, die Lambert von Ardres im früheren 1 J. Jahrhundert, just in derselben Zeit verfaßte, in der das Nibelungenlied aufgezeichnet wurde, griffen auf ihn zurück 148 . Das Lied von der Nibelunge nOt bediente sich wie jede Erzählung realistischer Elemente, was seinem Stoff kein Quentchen mehr an Realität und Echtheit verschaffte, ebensowenig wie die Erwähnung des Zweiten Weltkrieges in deutschen Landser-Romanen, allenfalls ein wenig mehr an Legitimität. Jedes Herausgreifen einzelner Angaben als historisch oder grenzt unter diesen Umständen an Willkür 149. Doch so wie jene KriegsEvokation einer Erzählung fiktive Authentizität verleihen soll, so gehören Dietrich von Bern, Ermanarich und Gunther oder die übrigen Rekken zu den Instrumentarien eines fiktionalen Wirklichkeits entwurfs. Was unverändert überdauerte, verweist - von der erwähnten Hilfestellung durch die Schrift abgesehen - auf die wichtigste Quelle oraler Tra~ dition: die alles dominierenden Erzählmuster. Sie manifestieren einmal mehr die Abstraktionskraft der allein an Mündlichkeit gebundenen Erinnerung. Hier ging es gleichsam um Belehrung für immer, nicht um Vergangenheitswissen zugunsten des Historikers. Der Rest ist so dürftig und flüchtig, daß auf diesen Bestand keine These langanhaltender, ungestörter mündlicher Geschichtstradition mit einem verformungsresistenten Kern gestützt werden kann. Was endlich die heutige Geschichtsforschung über den Untergang des Burgunderreiches am Rhein weiß 150, deckt sich mit dem Liedstoff in so unmaßgeblicher Weise, daß es hier vollends unbeachtet bleiben kann. Die Hunnen, Attila-Etzel, der Rhein, Worms, Ungarn sind in diesem Kontext nicht signifikant für eine wirkliche Geschichte, sondern nur für
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eine Ansiedlung der erzählten Historie in einem geschichtlichen Raum. Auch sie sind nichts weiter als Elemente von Wirklichkeit, wie sie jede Fiktion ebenfalls kennt. Mehr als einen belanglosen Terminus post quem für Dichter und Publikum bieten sie nicht. Kurzum, das Nibelungenlied und sein Umfeld erweisen die lebendige, abstrahierende und neu komponierende Verformungsmacht mündlicher Erinnerung, nicht deren starres Festhalten an einmaligen Fakten. Das alles läßt vorsichtig werden gegenüber dem Alter und der Überlebenskraft mündlicher Überlieferung und der Tradierung wirklichkeitsnaher historischer Sachverhalte. Ihnen stehen die klaren Aussagen der tatsächlich verfolgbaren Traditionen entgegen. Der Tod Attilas im Jahr 453 zum Beispiel, den die «Sage» vom Untergang der Burgunden streift, ist bereits in den heute noch greifbaren Zeugnissen spätantiker Historiographie in so unterschiedlicher Weise dargestellt, daß die ein halbes Jahrtausend später einsetzenden Belege mündlicher Dichtung ohne weiteres darauf zurückgeführt werden können, ohne die Annahme langer, kontinuierlicher mündlicher Tradition zu fordern 151. Die Langobarden-«Sage», die an die Wanderungen der Langobarden aus ihrer Urheimat nach Italien erinnert und in Kombination mit den Nachrichten kaiserzeitlicher römischer Geschichtsschreiber als Beispiel eines weit zurückblickenden Gedächtnisses angesehen wurde, beweist ebensowenig wie die oben betrachtete Nibelungen-«Sage»152. Denn erst nachdem die Langobarden in den Umkreis der geschichtsschreibenden und Ethnographien produzierenden Mittelmeerkultur eingetaucht waren, sich ein knappes Jahrhundert mit ihr und ihren literarischen Mustern hatten vertraut machen können und sich hatten taufen lassen, erinnerte sich der eine oder andere Angehörige ihrer neuen Bildungselite der heidnischen Vorzeit. Wieviel fremden Stoff, wieviel gelehrtes Wissen, wieviel Erfindung und legitimierende Fiktion ihre «Sage» dabei aufgesogen hat, vermag heute niemand mehr zu durchschauen, es mag geographischer, kultureller, ethnischer oder religiöser Natur sein. Die fränkische Troja-«Sage» ist ohnehin jung und von Anfang an schriftgebunden, ein Konstrukt lateinisch schreibender Literaten und ein Stoff nur für ihresgleichen. Sie begegnet einem, aus schriftlichen Vorlagen geschöpft, beispielsweise auch in den Quedlinburger Annalen und selbstverständlich dann in den «Grandes Chroniques de France». Eine von der schriftlichen Überlieferung unabhängige mündliche Erzähltradition, eine Liedform dieser «Sage» ist nirgends nachzuweisen. Die Volkssprache bemächtigt sich ihrer erst mit den erwähnten Chroniken, mithin nicht vor dem hohen Mittelalter. Unter den Angelsachsen trifft man auf .keine , die bei den Sachsen des Kontinents verbreitet ge-
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wesen wäre und umgekehrt. Hier oder da oder in beiden Gemeinschaften diesseits und jenseits des Kanals mußte man demnach seit der Emigration ganz neue Traditionen erfunden haben. Wie solche Erzählungen zustande kommen konnten, verdeutlicht der um das Jahr 900 tätige Poeta Saxo (lU, 14 H.). Er gab in seiner Nachdichtung der fränkischen Reichsannalen aus Anlaß der Unterwerfung der Awaren durch Karl den Großen im Jahre 791, doch entgegen seiner Vorlage und auf andere Quellen gestützt, den Tod des Hunnenkönigs Attila zum besten, «wie ihn die Alten zu erinnern pflegen» (lU, 17), und wie ihn ein weiteres Jahrhundert später auch die Quedlinburger Annalen boten. Der sächsische Dichter aber verstand zu aktualisieren: Der Hunne war nun zum Awaren geworden. Die Franken nämlich hätten einst dem Attila den Tod bereitet; jetzt, im Jahr 791, wollten die Hunnen, die der Poet gemäß dem Sprachgebrauch seiner Zeit in den Awaren erkannte, sich an ihnen für den Tod ihres Königs rächen. Deshalb überfielen sie Karl den Großen, den Frankenkönig, der sich zu wehren wußte. Lockere Assoziationen - im vorliegenden Fall etwa durch den aus schriftlicher Tradition bekannten Awaren-Namen oder die östliche Herkunft dieses Volkes ausgelöst - genügten, um derartige Neuschöpfungen hervorzubringen. Konstruktive Korrespondenz beherrschte die StoHgestaltung: Die Awaren kämpften gegen die Franken, weil sie den Tod ihres Heroen an seinen Mördern rächen wollten. Was tat's, daß die fränkische Schuld an Attilas Tod hier erstmals behauptet wurde. Wie sollte ihr Kriegszug denn anders zu erklären sein? Die Geschichte der Karolinger unterlag, und das ist entscheidend, aller schriftlichen fixierung und aller Literalität zum Trotz, in den Händen des sächsischen Dichters den Erzählschemata, derer sich auch die Mündlichkeit bediente. So wurde aus prosaischer Annalistik poetische «Sage», gleichsam Lied, «aus uralten Zeiten hangengeblieben» - ohne auch nur den leisesten mündlichen Zwischenträger, nichts weiter als Schreibe, aus gelehrter Lektüre geronnen. Derartige Sagen erfindende Techniken aber waren im früheren Mittelalter und auch später vertraut - bis hin zu den Brüdern Grimm. Zwar kursierten, das steht fest, volkssprachliche, mündlich verbreitete Lieder von königlichen Taten; doch ihre zeitliche Reichweite und inhaltliche Stabilität waren begrenzt. Wie viele mag es einst gegeben haben? Überliefert ist ein einziges, das fränkische «Ludwigslied», das glücklicherweise bald nach seiner Entstehung aufgeschrieben und fast ebenso bald wieder vergessen wurde. Genaue historische Fakten sind ihm nicht zu entnehmen; nicht einmal die Identität seines Ludwigs gibt das Lied preis: Einan kuning uueiz ih, Heizsit her Hludwfg. Ohne die moderne
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Geschichtswissenschaft wäre er nicht zu identifizieren und hätten seine Taten jedem gleichnamigen König gelten können. Der Poeta Saxo durfte denn auch, auf die Reichsannalen gestützt, ungeniert behaupten, mehr als derartige Lieder zu bieten, nämlich schriftgestützte Erinnerung. Seine Verse vom Untergang der Awaren stellen wiederum ein Schlüsselzeugnis dar. Man wird fortan nicht mehr die Unterschiede in der Ausformung einzelner «Sagen» lediglich als Folge mündlicher Tradition betrachten dürfen, vielmehr in jedem Einzelfalle bedenken müssen, daß nahezu jede erhaltene «Sage» gleich den Versen des sächsischen Dichters in Wirklichkeit <Schreibe> ist, wird also prüfen müssen, ob jene Unterschiede tatsächlich der Verformungskraft durch Mündlichkeit oder der Variationsfreude und Konstruktionstechnik von Literaten und den Wirkungen ihrer Erzählmuster entsprangen. Stoffbehandlung und Form der Lieder geben darauf keine Antwort. Zweifellos ließen sich mündliche Erzählungen widerstandslos in Geschichtswerke integrieren; sie waren Stoff von gleichem Stoff und paßten sich denselben Bedingungen an wie die geschriebenen Texte in den Händen nicht von Abschreibern, sondern von Benutzern I53 . Doch ist damit - ebensowenig wie etwa in dem sich durch die Jahrtausende ziehenden Troja-Stoff - kein mündliches Erzählkontinuum ein und derselben «Sage» entdeckt. Zudem wirkte eine Dynamik in beide Richtungen: von der Schrift zur Erzählung und von einer solchen wieder in die Schrift. Schriftlichkeit verwandelte sich in Mündlichkeit, bot Erzählstoff für die Schule oder für lange Winterabende und gesellige Feste, ließ sich ausschmücken, mit allerlei Wissen aufblähen, das den Hörern immerhin Wiedererkennen ermöglichen konnte. Die geschriebene Geschichte paßte sich fließend und unmerklich an die von Mündlichkeit bereitgehaltenen Erinnerungsmuster an und konnte ohne weiteres in Oralität hinüberwechseln, um dort ein neues Leben zu beginnen, bevor sie sich abermals in konservierende Schriftlichkeit rettete und weiterwirkte. Ohne die erhaltenen Vorlagen wären derartige Produkte auch von kritischen Forschern der Gegenwart in keiner Weise von <echten Sagen> zu unterscheiden. Die literarische Sagengestalt garantiert kein hohes Alter des Inhalts. Entsprechende <skript-orale> Erinnerungen waren jung, wie altertümlich ihr Stoff auf den ersten Blick auch zu sein scheint. Maßgeblich für ihre angemessene Beurteilung wird künftig ein verbessertes Verständnis für die Techniken der Mündlichkeit und deren Verformungs trends sein, wie es nur die praktische Erfahrung in der Betrachtung oraler oder semioraler Kulturen vermitteln kann. Albert B. Lord, der Erforscher serbischer Liedepen, und Milman Parry, der Homer-Experte, glaubten sich
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schon am Ziel, indem sie annahmen, bereits an der Form die ursprüngliche Mündlichkeit von Dichtung erkennen zu können. Gleichwohl wiesen sie mit der Zuwendung zu rezenter Mündlichkeit den Weg zur Erforschung der längst verstummten Gesänge, auch wenn sie nicht ahnten, wohin dieser Weg die Debatten der Forscher noch führen würde. Er hat aber mittlerweile das Terrain der Kognitionswissenschaften und der Neuropsychologie erreicht. Weitere Beispiele ließen sich leicht hinzufügen. Zu denken wäre, um nur sie zu erwähnen, an die Fabeln der «Gesta Treverorum»154, an die «Sagen» und Legenden der Quedlinburger Annalen 155 oder der mittelhochdeutschen «Kaiserchronik» 156, an die Geschichten, die Gerald von Wales zu erzählen wußte 157, an den König Artus oder an die Märlein, die Johannes Codagnellus von Cremona zum besten gab 158 • Die Werke entstanden im 11., 12. und 13. Jahrhundert. Sie alle behandelten die «Sagen» gleich der schriftlich überlieferten Historie (aus der sie ihren Stoff vielleicht auch gewonnen hatten); und sie veränderten die aus schriftlichen Quellen bekannte Historie unter dem Einfluß der mündlichen Erzählmuster und mancherlei sonstigen Traditionen, deren Herkunft gewöhnlich verschwommen bleibt. Allenfalls gelegentliche Vorbehalte gegen mündlich verbreitetes Wissen (wie sie etwa Widukind von Corvey formulierte) und Unsicherheiten sind zu spüren. Das zu Beginn des 11. Jahrhunderts bei den Nonnen von Quedlinburg entstandene Annalenwerk, verarbeitete dabei einen so reichen <Sagenschatz>, daß eine genauere Betrachtung verlohnt 159 • 7.5.3.4 Mutationen der Dietrich-«Sage»: Von der Schrift zur
Mündlichkeit Der Goten- und Burgundenthematik, die thüringische Iring-«Sage», die zuvor Rudolf von Fulda, der Schulmeister des Bonifatius-Klosters um die Mitte des 9. Jahrhunderts, in seiner «Translatio s. Alexandri» sowie Widukind von Corvey in seiner Sachsengeschichte nach 960 beachtet hatten, ferner die fränkische Troja-Fabel und anderes waren den Quedlinburger Kanonissinnen aus Schriftwerken bekannt. Die Annalistin verschmolz, um diese Geschichten zu erzählen, zweifellos mündliches Erzählgut mit schriftlichem Bildungswissen. Doch was stammte woher? Was war jeweils wie alt? Bezeichnend ist die Art und Weise, wie hier Vergangenheit konzipiert wurde. der
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mündlichen, die aber der schriftlichen Überlieferung zuzuweisen. Der Sachverhalt nimmt sich komplexer aus. Die Nachrichten zur Geschichte der Goten und Dietrichs von Bern seien, weil in etwa überprüfbar, herausgegriffen 160. Sie setzen mit Theoderich dem Großen ein, der im Jahr 526 starb, und über den es weitgestreut die verschiedensten schriftlichen Überlieferungen gab. Dazu kamen die noch auf Jahrhunderte sichtbaren Bauwerke, Bildzeugnisse (beispielsweise der König zu Pferd mit dem Schild in der Linken, dem Speer in der Rechten), Münzen und Inschriften Theoderichs in Italien, zumal in Pavia und Ravenna. Sie waren den Karolingern seit dem großen Kar!, den Sachsen seit ihrem ersten Otto in zunehmendem Maße vertraut und konnten deren <sagengefärbtes> Vergangenheitsbild entscheidend mitgestalten l61 . Objekte der hier genannten Art wurden bislang von den <Sagenforschern> kaum beachtet. Doch spielten sie im Assoziationshorizont der Dichterwerkstätten und <5agenfabriken> keine geringe Rolle. Theoderichs mosaizierte oder in Erz gegossene Reiterbilder (die vielleicht von ihm adaptierte Kaiserbilder waren) standen zwar in römischer Tradition, konnten später aber leicht (wer immer ihm seine Feder lieh) heroisiert oder dämonisiert und mit den Assoziationen, die sie weckten, in jegliche Erzählung eingepaßt werden. Nicht zuletzt erinnerten Gregors des Großen weit verbreitete und in den Klöstern viel gelesene «Dialogi» (IV,) fortgesetzt an die Schreckensgestalt des grausamen und ketzerischen Königs in den Feuerschlünden des Vulcanus (d. i. des Stromboli). Schon zuvor hatte Ennodius, der lateinische Lobredner am Hofe des Gotenkönigs, den siegreichen Theoderich gegen die Feinde «fliegen», gegen sie «wüten» sehen: «Bedrängt von Gepiden, Fluß und Pest flogest du (transvolasti) gegen die gezückten Schwerter (der Feinde)>>. Als der Untergang drohte, «erschien der unbesiegliche Held und stärkte die Männer: <Mir nach, wer seinen Weg durch die feindliche Schlachtreihe sucht. Auf keinen anderen soll er achten, wer ein Vorbild des Kampfes will. Tapferkeit braucht keine große Armee. Wenigen fallen die Siege zu, vielen die Früchte des Siegs. An mir wird mein Heer gemessen, in meinen Taten triumphiert das Volk ... >Wie ein Unwetter gegen die Saaten, wie ein Löwe gegen das Vieh hast du gewütet (vastasti). Niemand konnte dir im Kampf widerstehen, niemand dir auf der Flucht entrinnen.» «Die gewaltige Schar der erschlagenen Feinde verriet den Rächen> 162. Bilder einer unaufhaltsamen Kriegsfurie. Der «fliegende», der unwiderstehlich dahinrasende, der rächende Todbringer Dietrich von Bern - ganz nach römischem Geschmack und in rhetorischer Tradition.
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Das Gedächtnis mündlicher Kulturen II
Handschriften mit des Ennodius Text sind seit den 820er Jahren im deutschen Sprachgebiet, in Lorsch etwa, zu greifen. Auch bei dem karolingischen Dichter Walahfrid Strabo, dem Höfling Ludwigs des Frommen und Mönch von der Reichenau, «durchflog» der Tyrann Tetricus, dessen vergoldetes Reiterstandbild von Karl dem Großen aus Ravenna nach Aachen geholt und dann unter Ludwig zum Gegenstand mißbilligender, dämonisierender Deutungen geworden war, als alles verschlingende Pest den Erdkreis derer, «die durch Krieg und Mord mächtig sind»163. Die lateinischen Texte hielten Bilder bereit, die unschwer die Phantasie <des Volkes) entzündeten. Man ahnt, auf welchem Wege der Gotenkönig zum «wilden Jäger», zur Inkarnation Wotans, werden konnte. Uralte Erinnerungen an ein gotisches Sakralkönigtum spielten dabei keine Rolle l64 . Statt dessen kann seine Wiedergeburt als Dämon ganz auf die rhetorischen Mittel der klerikalen Literaten zurückgeführt werden, die Texte lasen, Texte interpretierten, fortspannen und neu komponierten, die alles weiter erzählten und ihre Schüler und Hörer ergözten. Das alles wird man bei der Beurteilung der Quedlinburger Annalen im Auge behalten müssen. Sie zeichnen eine Geschichte, die alle Merkmale einer Kompilation aus heterogenen Stücken und Schichten an sich trägt. Intrigen Ermenrichs/Ermanarichs (eines Gotenkönigs des 4- Jahrhunderts in Südrußlands Steppe) und Odoakers (eines Thüringers oder Ski ren und gerade keines Goten, immerhin aber eines Königs in Italien, den Theoderich im Jahr 493 eigenhändig ermordete) hätten, so konnte man lesen, Dietrich an den Hof Attilas flüchten lassen, des Hunnenkönigs, der tatsächlich bereits ein Dreivierteljahrhundert zuvor gestorben war (453), mit dessen Hilfe der königliche Recke aber die Herrschaft über die Goten wiedergewonnen habe. Odoaker sei dann in Ravenna besiegt, doch auf Attilas Intervention mit dem Leben beschenkt und ins Exil geschickt worden, wo ihm beim Zusammenfluß von EIbe und Saale, also im Sächsischen, einige Dörfer überlassen worden seien. Das alles sei zur Zeit Papst Leos des Großen (t 461) geschehen, eines echten Zeitgenossen Attilas 165 . Das Wissen, das hier ausgebreitet wurde, ist offenkundig buch-vermittelt, wie allein schon die Namen beweisen; gleichwohl folgte es den Attitüden der Mündlichkeit. Moderne Historiker können aus solchen Geweben keine historischen Erkenntnisse ziehen - es sei denn über die Bildungsverhältnisse und den geistigen Horizont des 10. und frühen 11. Jahrhunderts in Sachsen und die Konstruktionsweisen von Vergangenheitsbildern in dieser Epoche 166 . Theoderichs Vertreibung durch Odoaker und sein hunnisches Exil tauchten andeutungsweise erstmals um 830 im Hildebrandslied auf; noch in den sog. «Gesta Theoderici» des «Fredegar» findet sich von
Mutationen der Dietrich-«5age»
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ihnen keine Spur; sie boten auch keinen Anhaltspunkt für eine Zusammenführung Theoderichs mit Ermanarich. Die althochdeutschen Verse aber führten den Goten «nach Osten» (ostar), wo seine Leute aus der Hand des «Hunnenkönigs» (Huneo truhtfn) güldene cheisuringu (<. Diese Konstruktionsbereitschaft im Umgang mit der Vergangenheit schmolz in Quedlinburg alles um: das historische Wissen, den Erzählstoff so gut wie die ältere sächsische Geschichtsüberlieferung. Die Kanonissen integrierten die Erzählung, die sie vielleicht in schriftlicher Gestalt kennengelernt hatten, in einer Weise in ihr Geschichtswerk, die verdeutlicht, daß sie den Unterschied zwischen den Medien und der Qualität ihres jeweiligen Wissens nicht durchschauten. Wie TheoderichDietrich im hunnischen Exil lebte, so sein besiegter Feind Odoaker im sächsischen; dies letzte war erst seit Ottos des Großen Kaiserkrönung im Jahr 962 möglich. Fand es sich, wie zu vermuten, bereits in der Vorlage für die Annalen, besagt es etwas über deren Alter. Doch das eine erschien so wirklich wie das andere, und keines von beiden war es tatsächlich. Nicht minder falsch wäre es freilich, in den Quedlinburger Annalen den Niederschlag ungebrochener mündlicher Tradition seit der Zeit Theoderichs des Großen und damit etwas über deren Langlebigkeit erkennen zu wollen. Denn auch die «Sagen», genauer: die Ependichter, die im 1.2. Jahrhundert die literarische Szene betraten, konnten sich direkt oder indirekt wie die Geschichtsschreiber auch - historischer Quellen bedienen oder doch ihr Wissen an solchen auffrischen. Der gewiß topische, damit aber keineswegs per se wertlose Hinweis auf «das Buch» als Wissensquelle fehlt denn auch in nahezu keiner hochmittelalterlichen Geschichtsdich-
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Das Gedächtnis mündlicher Kulturen II
tung. Wieviel die jeweiligen Erzähler aber gelehrten Informanten mit Buchwissen verdankten, wie sie dasselbe ihren Bedürfnissen anpaßten, ob ihnen das angeblich mündliche Traditionsgut tatsächlich mündlich zugeflossen war, das ist den hochmittelalterlichen Dichtungen ebensowenig zu entnehmen wie den Ausführungen der Quedlinburger Kanonissen um die Jahrtausendwende. Zudem gab es auch im Mittelalter Kenner eben jener «seriösen» Quellen, auf dit:; unser Wissen sich gründet; sie werden eben"" falls nicht geschwiegen haben. So spiegeln die Quedlinburger Annalen ein Geflecht aus mündlicher, objekthafter und schriftlicher Tradition, aus Hören, Belehrung und Lektüre, aus Rhetorik und Erzählmustern, das sich im Laufe der Zeiten fortwährend veränderte und das heute niemand mehr aufzudröseln vermag. Daß hier aber eine einzige, mit sich selbst identische, wenn auch alternde historische «Sage» fixiert wurde, «aus uralten Zeiten hangengeblieben», nämlich eine von Geschlecht zu Geschlecht seit den Tagen des großen Theoderich weitergegebene mündliche Geschichtstradition, ist weder zu erwarten noch zu erweisen. Es darf demnach auch nicht vorausgesetzt werden. Das alles verlangt, was andere mit anderen Argumenten auch schon festgestellt haben 169, den Ordnungsbegriff der historischen «Sage» in dem Sinne aufzugeben, in dem ihn die Brüder Grimm geprägt haben: nämlich als eines durch die Jahrhunderte mit sich selbst identischen Traditionskörpers, der zwar altern (und insofern sich ändern), zwar mancherlei Ausgestaltungen erfahren konnte, doch dabei nie seine zeitüberdauernde Identität verloren hat. Eine solche Vorstellung scheint mir in die Irre zu führen. Zutreffend wäre allenfalls, statt von der einen Dietrich- oder Burgunden-«Sage», von einer Vielzahl und Vielfalt derartiger Mären zu sprechen, die sich untereinander berühren konnten, aber nicht mußten und keinesfalls sich zu einem einheitlichen <Sagenkranz> verflochten, kurzum: von einem <Sagenpotentiab. Die Wissensträger, die Schulmeister, Literaten und Dichter des Mittelalters griffen wiederholt auf separates Wissen, hier und da anzutreffende Einzelheiten und auf Zusammenhang stiftende Erzählungen einer breiten gelehrten, historischen und fiktionalen Überlieferung zurück. In höchst unterschiedlicher Weise verstanden sie, schriftliche, mündliche, monumentale, manchmal auch bloß namenkundliche Zeugnisse zu verarbeiten und neue Fabeln zu komponieren. Namen, historische so gut wie fiktive, konnten bei ihrem Publikum Wiedererkennungseffekte auslösen, die ihren Schöpfungen besondere Überzeugungskraft verliehen. Zwar lebten einst Ermanarich, Leo oder Attila, Odoaker und Theoderich tatsächlich. Bis auf Odoaker waren sie auch, was sie nach der Darstellung der Nonnen vorgaben gewesen zu sein: Könige nämlich und ein Papst.
Das endlose Fließen mündlicher und schriftlicher Überlieferung
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Aber keine der ihnen zugewiesenen Handlungen ist historisch im üblichen Sinn. Kein Kontext, keine Daten stimmen. Nur wer die Geschichte kennt, sucht hinter der Rabenschlacht den Kampf um Verona und Ravenna zu erkennen, trennt zwischen den Zeiten Attilas und Dietrichs oder will Ermanarich in die Geschichte der Wanderungen des Gotenvolkes einordnen. Die Personen der Epen sind überhaupt keine historischen Gestalten, vielmehr Fiktionen, für die leibhaftige Heroen ihre Namen geben mußten. Das <Sagengeflecht> selbst bietet nicht den geringsten Anlaß zu seiner Historisierung. Noch in Theoderichs und seiner Tochter Zeit selbst scheint die in der jüngeren «Sage» übermächtige Gestalt des Ermanarich keine sonderliche Rolle im kollektiven Gedächtnis des Volkes gespielt zu haben 170. Sie wurde erst später geschaffen, was hieß: aus gelehrtem Wissen, auch wenn ihr Namensgeber früher gelebt hatte. Diesen Fabeln in irgendeinem Punkt Vertrauen zu schenken, führt in die Irre. Über ihrem Wissen die These von der Langfristigkeit mündlicher Erinnerungen und eines harten geschichtlichen Erzählkerns zu bauen, setzt die Geschichte auf Sand. De Boor irrte. Siegfried hat nicht gelebt.
7.6
Das endlose Fließen mündlicher und schriftlicher Überlieferung im Mittelalter
Tassilos Urkunden, Nithards Verdrängen, Heinrichs I. angebliche Königssalbung, Barbarossas Kniefall vor Heinrich dem Löwen, die Geschichten von der Herkunft der Langobarden, selbst die «Sagen» sind nur nachprüfbare Beispiele für ein allenthalben anzutreffendes Phänomen. Sie zeigen dunkle Verformungskräfte in der historischen Überlieferung wirksam und fordern mit Notwendigkeit, deren Wirkungen aufzuspüren. In den erwähnten Fällen stehen, was keineswegs stets gegeben ist, zureichende Kontrollquellen zur Verfügung, welche die Manipulation und ihren Kontext erkennen oder wenigstens erahnen lassen. Diese Beispiele verraten damit indessen nicht immer, was tatsächlich geschah; sie sind gleichwohl von hohem methodologischem Wert. Verdeutlichen sie doch, in welcher Weise sich Verformungs signale verstecken und welche Gefahr einer Täuschung in elaborierten Geschichten steckt. «Sagen» verdienen kein sonderliches Vertrauen in ihr scheinbares historisches Wissen. Wir wissen zuwenig über die Sänger, die sie formten, nicht, woher sie ihr Wissen bezogen, wie sie Heterogenes vereinten und nicht mehr Gewünschtes abstießen. Stabile, durch Jahrhunderte tradierte mündliche Textkorpora sind nicht zu erwarten. «Sagen» repräsentierten keine alte Tradition und überlieferten keine gesicherten historischen In-
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Das Gedächtnis mündlicher Kulturen II
formationen. Sie treten vielmehr als komplexe Gebilde hervor, die sich mancherlei Wissen und einem unkontrollierbaren Zusammenspiel verschiedener Formen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit verdankten, doch kaum den Geschehnissen selbst. Unkontrollierbare Erinnerungen waren ihnen stets vorgeschaltet; und sie verformten sich, solange sie erzählt wurden, kontinuierlich. Der Fluß des von ihnen fort und fort modulierten Wissens war unaufhaltsam, bis er zuletzt versickerte und versiegte. Der Wechsel aus der barbarischen Welt in die Hochzivilisation der mittelmeerischen Kultur sowie jener vom Heidentum zum Christentum bewirkten kaum zu überbrückende Brüche. Welche Überlieferungen in welcher Gestalt und von welchen Gruppen jeweils zuvor gepflegt worden waren, ist nicht mehr zu kontrollieren. Monumenten- oder schriftgestützte Traditionen, wie sie etwa erhaltene Denkmäler oder die Schule liefern, ergossen sich in die angeblich uralten mündlichen Traditionen und schufen eine Mischform, die sich so gut auf die Geschichtsschreibung wie auf Mündlichkeit stützte. Gelehrte Autoren oder die Kooperation zwischen solchen und professionellen Erzählern, nicht die schöpferischen Imaginationen «des volksgemüthes» begründeten die Erzählungen und dichteten die «Sagen» fort. Sie reichten nicht tiefer in die Vergangenheit zurück als jede andere Überlieferung auch. Elaborierte Mündlichkeit - Verse oder Lieder - erleichterte zwar ihr Fortleben, doch verstummte auch diese mit der Zeit. Allein schriftgestützte Erinnerung vermochte sie immer wieder zu erneuern und den Anschein langer Tradition aus den Tiefen der Vergangenheit zu erwecken. Faktengetreue Episoden wurden auf diese Weise nicht konserviert. Über die Vergangenheitsbilder der sie erzählenden Gemeinschaften hinaus verraten derartige «Sagen» nichts. Indes, nur auf den ersten Blick mag das Ergebnis solcher Entmythologisierung der Geschichtsbilder als ein Trümmerfeld, ein Scherbenhaufen erscheinen; bei näherer Betrachtung zeitigt sie einigen Gewinn. Der Blick etwa auf die Herkunft der Langobarden läßt einen kulturgeschichtlichen Wandel hervortreten, zeigt, wie die Heiden unbekannter Herkunft ihr gelobtes Land betraten; auch: wie derartiges Geschehen sich in Erzählungen niederschlug, die sich der Sprache alter Überlieferung und der Wunder zu bedienen wußten. Der fluß der langobardischen Geschichten offenbart so die Anpassungsweisen barbarischer Eroberer an die Hochzivilisation Italiens: auch die Auseinandersetzung dieser frühmittelalterlichen Epoche mit den hier virulenten Bildern von Heidentum, die Stiftung einer neuen Identität in einer fremden und kulturell überlegenen Umwelt, kurzum: die eines neuen Volkes. Der Dietrich-
Das endlose Fließen mündlicher und schriftlicher Überlieferung
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Stoff kann verdeutlichen, wie gelehrtes, aus schriftlicher Überlieferung stammendes Wissen in einer bucharmen Zeit zu mündlicher Erzählung wurde. Weitere Beispiele für die Verformungskraft schriftgestützter oder mündlicher Erinnerung anzuführen, erübrigt sich an dieser Stelle. Sie sind allenthalben zu greifen. Das gesamte historische Handbuchwissen vom Mittelalter und manchen Bereichen der Neuzeit ist betroffen, soweit seine Kenntnis sich dem Gedächtnis verdankt, die halbe Weltgeschichte. Die Frühgeschichte aller europäischen Völker und Reiche, der Franzosen, Angelsachsen, so gut wie der Deutschen, Polen, Tschechen oder Ungarn, der Russen und all der anderen, bliebe nicht unberührt. Ihre Geschichte wird neu zu schreiben sein, wenn erst die Erinnerungskritik konsequent auf das verfügbare Datenmaterial angewandt wurde. Zu betrachten wäre grundsätzlich jeder Text, der einen Hauch von Erzählung enthält und somit mehr oder minder durch Mündlichkeit und Erinnerung hindurchgegangen ist, bevor er seinen Weg in die Bücher fand, die Urkunden übrigens mit ihren narrativen Teilen durchaus mit eingeschlossen. Nur eine Vielzahl von Daten vermag, wenn überhaupt, darüber Gewißheit zu schaffen, was einst geschehen; und nur mühselige Einzelforschung, die auch die kleinsten Hinweise verwertet, läßt, wenn es denn gelingt, die Verformungen durch das Gedächtnis durchschauen und zuvor unbekannte oder unbeachtete und unterbewertete Tatsachen ans Licht treten. Archäologische Daten können dabei einige Bedeutung gewinnen. Freilich dürfen sie nicht zirkelhaft mit den von ihren Verformungen noch nicht erlösten Überlieferungsdaten verflochten werden, um als Beweis für wirkliches Geschehen zu dienen. Völlig heilen läßt sich eine Verzerrung durch das Gedächtnis kaum, was - bei Lichte besehen - die Mittelalterforschung vor keine grundsätzlich neue Lage stellt; denn die Erforschung schriftarmer Zeiten war stets an eine Vielzahl von Prämissen und Hypothesen geknüpft. Zu Resignation besteht somit kein Anlaß. Die vorgestellten Beispiele mögen sich noch so destruktiv ausnehmen, ihre Analyse noch so entmythologisierend wirken, ihre überraschenden Einblicke in bislang verborgene Zusammenhänge vermögen auch zu entschädigen. Die <destruiertem Quellen haben sich nun in Zeugnisse für Identifikations- und Verstehensprozesse schriftloser und schriftarmer Kulturen verwandelt, für Kommunikationsprozesse, für das Zusammenleben der Menschen, für die mentalen Welten, in denen sie lebten, als diese Texte niedergeschrieben wurden. Es stehe dahin, was für den Historiker höher zu schätzen sei, der eingetretene Verlust oder der sich abzeichnende Gewinn.
VIII.
Stabilisierungsstrategien von Erinnerungskulturen und deren Grenzen
8.1
Stabilisierung mündlicher Erinnerung durch Sprache «Ich singe die Bilder des Buchs Ich sehe sie ausfliegen; Ich bin ein schöner Vogel Ich lasse die Bücher sprechen im Haus der Bilder» 1•
Sprache will gesungen sein, um sich dem Gedächtnis einzuprägen, rhythmisch, in Verse gebracht, auch wenn sie dem Buch anvertraut wurde, will sich niederlassen im Haus der Bilder, im Gedächtnis. So hielten es die Azteken, bevor die Spanier kamen und ihre Handschriften verbrannten. Ihre Weisen lernten die Bücher auswendig, sangen dieselben, als gäbe es die Schrift nicht - so wie der katholische Priester die Messe singt und die anderen Rituale seines Gottesdienstes, die er in den Büchern fixiert weiß; wie der Mönch den Psalter auswendig siI\-;' ge nd im Chor zu beten versteht, obgleich er als Buch vor ihm liegen konnte. Derartiges Singen war ein kommunikativer Akt, forderte Sänger und Publikum, die rechte Stunde, war ritualisierte , nicht einfach ein . Solcher Sang überdauerte die Zeiten. Erfahrungen mit dem Singen zur Gedächtnisstabilisierung reichen wie ethnologische Befunde nahelegen - weit in prähistorische Zeiten zurück und treten, sobald historische Quellen zu fließen beginnen, bereits in hochentwickelter Form zutage. Die indischen Veden, die Kultgesänge keltischer Druiden, die ein zwanzigjähriges Studium erforderten und denen Caesar Bewunderung zollte (Bell. Gall. 6, 14) und die doch mit ihnen untergingen, die serbischen Volksepen 2, die tagelangen afrikanischen Gesänge 3 und viele andere Beispiele bezeugen weitreichende mündliche Transmissionsleistungen. «Die Vedas auswendig zu lernen und in einer Weise zu wiederholen, daß man nie auch nur einen einzigen Fehler macht, selbst nicht in den Akzenten, bildet den ganzen Inhalt ihres [der Brahmanen] Lebens»; so erläuterte einer dieser Weisen4 • Spezielle, sich an den Hörsinn wendende Mittel wie Rhythmus und Vers, der Reim, AI-
Grenzen sprachlicher Stabilisierung
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literationen, Paarformeln und dergleichen mehr boten sich zur Stabilisierung an, wurden fortentwickelt und verfeinert. Selbst Prosatexte (wie sie auch in Verbindung mit den Veden überliefert sind) profitieren davon. Irische Erzähler warten mit Hunderten von langen, komplexen textstabil überlieferten Geschichten auf, wie es heißt5 • Auch Bücher wurden in Antike und Mittelalter, seltener noch in der Gegenwart zum Sprechen gebracht6 . Sie wurden laut, in Gesellschaft vorgelesen, inszeniert, gehört, ihre Texte durch Reimprosa, rhythmische Satzschlüsse und dergleichen Mittel noch hörbarer gemacht, bis weit ins Mittelalter von ihren Urhebern «diktiert» (dictare), sprechend konzipiert und komponiert, nicht leise «geschrieben» (scribere). Dies letzte tat nur der Ab-Schreiber und auch er vermutlich erst seit den Zeiten Karls des Großen. Neuentwicklungen im Schriftwesen seit dem 13. und 14- Jahrhundert machten endlich den Verfasser zum «Schriftsteller», der still vor sich hinschrieb. Lautes Lesen und Wiederlesen, so lehrten die antiken Rhetoriker, stärkt die Konzentration und fördert das Gedächtnis. Der Appell an mehrere Sinne, an Sehen, Sprechen, Hören, an aktive Betätigung steigert seine Leistungskraft. Jüdische Gelehrte, die sich dem Studium des Talmud zugewandt haben, lesen ihn auch heute nicht stumm, lernen seine Texte vielmehr auswendig, indem sie dieselben «singen». Manch einer von ihnen beherrscht so den gesamten Talmud, Tausende von Seiten. Stilles Lesen verbreitete sich erst über das Schweigegebot benediktinischer Mönche und im Laufe des Mittelalters. Es führte zu anderen Weisen auch des Erinnerns.
8.2
Grenzen sprachlicher Stabilisierung: Zum Beispiel die irischen «filid»
Das Erinnerungsvermögen also, vertraut es nur dem Gesungenen, Gesprochenen, Gehörten, vollbringt, so scheint es, Wunder an Verdauerung. So geht auch mündliche Überlieferung in das kulturelle Gedächtnis ein. Indes, nur Individuen erinnern sich, keine Kollektive. «Kollektives Gedächtnis» ist ein kommunikativer Prozeß, der kommunikative Techniken voraussetzt. In der Tat, Sprache, Symbole jeglicher Art (Bild, Zeichen, Gesten u. a. m.), Ritual, Partizipation anderer an der Darbietung, Elaboration der sprachlichen Mittel, Wiederholung, Rhythmus, Vers, Syntax und Semantik, Rhetorik und Dialektik, Denkstil, Kanonisierung des Wortlautes, Spezialistentum, eine spezifische Gedächtniskunst und anderes mehr dienen als Mittel der Verdauerung, wirken aber zugleich <deformierend> auf die Inhalte ein.
294
Stabilisierungs strategien von Erinnerungskulturen
Immerhin steht mit der Sprache ein Repräsentationssystem zur Verfügung, das über ihr eigenes Medium, den Klangkörper, hinaus auf die tatsächliche Wirklichkeit verweist und diese gemäß der (nicht ~unbe grenzten) Leistungskraft seiner Symbole zeitresistent vergegenwärtigen kann. Es sollte diachron so tauglich sein wie synchron, sobald jedenfalls seine Eigendynamik - der Wandel der sprachlichen Symbole und Strukturen - hinreichend in Rechnung gestellt wird. Die korrekte Wegbeschreibung gilt, hat sich im Straßensystem nichts geändert, auch zehn Jahre, nachdem sie gegeben wurde; gilt sogar, wenn Straßenzüge und Stadt verschwunden. Sie gestattet somit, bei gewissen Anhaltspunkten das nicht mehr Existente wenn auch nicht umfassend, so doch im Rahmen der überlieferten Beschreibung zutreffend zu rekonstruieren. Die Sprache tradiert, wenn auch symbolisch verschlüsselt, textferne Realität. Die Geschichtsforschung, angewiesen auf derartige diachrone Vermittlung, darf zuversichtlich sein, vergangene Wirklichkeit tatsächlich zu erkennen, obgleich sie sich in neuer, die Verformungskräfte des Gedächtnisses systematisch zu berücksichtigender Weise des Gehalts an Tatsächlichkeit der von ihr zu analysierenden Symbolwelten vergewissern muß. Sprache also stabilisiert Erinnerungen; Mündlichkeit aber gefährdet sie wieder. Die Elaboration der Sprache nun baut Dämme gegen das Vergessen. Doch schützt sie nicht für immer und schon gar nicht alles 7 • Die Verzerrungen der Eulenburg, Löwith, Dean verdeutlichen darüber hinaus, daß jene Vergessensresistenz nicht jede Wahrnehmung und jedes Moment der Geschehenskomplexe in gleicher Weise vor Verformung bewahrt, daß sie sich vielmehr ausgewählter und vor allem bearbeiteter Inhalte annimmt. Auch wer die heiligen Vedas kennt, kennt deshalb noch nicht die Geschichte der Menschen, zu deren Zeit sie seit ihrer Entstehung je gesungen wurden, nicht deren soziales, politisches, religiöses Leben, die Geschichte der Kriege und Frieden, von Aufstieg und Niedergang. Wer die heiligen Texte zu memorieren weiß, ist deshalb kein besserer Beobachter seiner eigenen Gesellschaft, des bunten Treibens und Geschehens in der Welt von Gestern und Heute, kein zuverlässigerer Überlieferer als derjenige, der die Lieder nicht kennt. Die Geschichte bleibt, sofern sie keine kanonisierten Texte auf Dauer stellen, den Verformungskräften des Gedächtnisses ausgeliefert. Die Geschichte unterliegt somit keinen günstigeren Bedingungen als jegliches sonstige Geschehen. Auch sie hat, bevor sie in feste Form gegossen oder festgeschrieben wird, diverse mündliche «Bearbeitungsstufen» zu überwinden, sieht sich längst den die individuellen Erinnerungen an das ursprüngliche Geschehen verformenden Kräften ausgesetzt, bevor es die für den Historiker faßbare Gestalt annimmt. Zahlreiche Faktoren wirken
Grenzen sprachlicher Stabilisierung
295
ein: die Vielzahl der Beteiligten an einem Geschehen und der Zeugen, ihre divergierenden, hochgradig selektierten, selten widerspruchs freien Wahrnehmungen und Erinnerungen; der unterschiedliche Grad ihrer Beteiligung macht sich formend bemerkbar, ebenso die jeweilige physische und psychische Kondition der Täter, Opfer oder Zeugen; soziale Einflüsse bringen sich zur Geltung wie die Lebensverhältnisse oder die aktuellen oder späteren Interessen von Erzähler und Publikum, Sender und Empfänger; alsbald nach dem Geschehen setzen Aushandlungsprozesse unter allen unmittelbar oder mittelbar Betroffenen oder Beteiligten und unter den von ihnen Informierten ein; nachträgliche Folgen des Geschehens (die im nachhinein dessen Einheit konstituieren) ziehen nicht spurlos an den Erinnerungen vorüber; auch die Interessen, Kompetenzen und Erinnerungsleistungen späterer Nutznießer des Geschehens sowie der kolportierten Erzählungen, die Sprachkompetenz der Memorierenden, der situative Kontext der Memoration und anderes mehr - all das dringt in unvorhersehbarer, erst nachträglich erkenn- und erklärbarer Weise in die Erinnerungen an ein Geschehen ein. Die Prozeßhaftigkeit allen Geschehens, sein Verlaufs charakter sind gewöhnlich nicht planbar, ja, im Vollzug nicht einmal wahrnehmbar. Denn niemand kann wirklich wissen, worauf er jetzt das Hauptaugenmerk zu richten hätte, vielmehr erst im nachhinein erfassen, worauf zu achten gewesen wäre. Somit ist jede Geschichte auf erinnernde, von zahlreichen Variablen abhängige Konstruktion angewiesen, um überhaupt etwas zu sein, und sieht sich jede Vergangenheit den konstruktiven Verformungskräften des Gedächtnisses überantwortet. Die Anfänge elaborierter Mündlichkeit müssen bescheiden gewesen sein. Der gesamte Bereich mündlicher Kulturen wird hierfür zum Untersuchungsfeld. Die Beobachtungen münden dann von selbst in den Gegenstandsbereich der Ethnologie und Kulturanthropologie. Der Effekt der Elaboration freilich half, die raum-zeitliche Distanz zu überwinden, löste sich aus jeder Gegenwart, damit zugleich das Festgehaltene aus den Fesseln situativ aktualisierenden Erinnerns und es. Das setzte gründliche Schulung voraus und ging nicht ohne Spezialistentum. Die irischen filid beispielsweise waren im spätantiken und frühmittelalterlichen Irland für alles Gedächtniswesen zuständig. Sie hatten die sprachlichen Mittel zu pflegen, den Stil und die Reimkunst, hatten die Geschichte zu kennen, die Mythen und Heldensagen, die Genealogien, die Geographie und Topographie, die Steuern und Abgaben des Landes; ursprünglich auch das Recht, bevor dieses nicht - gleichfalls mündlich, in Versform und zum bestimmt - der Obhut der brehon übertragen wurde 8 . Der Schrift war nichts anvertraut9 .
296
Stabilisierungs strategien von Erinnerungskulturen
Indes, «Ereignisse und Fakten entstehen als solche nur im Rahmen und auf dem Boden einer bestimmten Semantik»lO; sie können mithin von derselben nicht einfach gelöst werden, sollen sie bleiben, was sie waren. Symbolische Form, sprachliche Gestalt, ausgesuchte Details und Arrangements, literarische Muster machen nun die Wahrheit der erinnernden Erzählung aus, nicht eine analoge imaginale Kodierung des wahrgenommenen Geschehens. Der Erinnerungsstabilisator Sprache erweist sich somit als ein tiefgreifender Verformer expliziter Erinnerung. Die zum Einsatz gelangten Mittel unterwerfen sich die Erinnerungen, begrenzen und fixieren sie gemäß der ihnen impliziten Darstellungsgrenzen und Semantik. Ein Duft, ein Geschmack auf der Zunge, eine Melodie, Wärme oder Kälte, der Schmerz sind sprachlich nicht zu bewahren, auch wenn sie bei der Enkodierung einer Wahrnehmung maßgeblich mitwirkten. Verse sprechen nicht nur anders als Prosa, sie transportieren auch andere Inhalte, Hexameter andere als stabende Verse, andere als Gedichte mit Endreim. Jedes In-Worte-Fassen von Erfahrungen schneidet aus ihrer Ganzheit Segmente aus, die sprachlichen Methoden der Verdauerung steigern diese Verfremdung noch weiter. Die endlose Fülle des erfahrenen Geschehens, seiner unzähligen Einzelheiten, deren Zusammenwirken, deren Wirkungen auf Dritte läßt sich nicht in Worte fassen. Erzählmuster stilisieren und normieren die erinnerten Erfahrungen, ohne daß dies dem sich erinnernden Subjekt stets bewußt wird. Kaum ahnen läßt sich der Reichtum an Assoziationen, auf den ein Text bei (seinem> Publikum zurückgreifen kann. Wie auch immer, die Anforderungen an das Gedächtnis waren gewaltig, möglich durch eine ausgeklügelte Mnemotechnik, kontinuierliches Training und langes Studium. Auch bei den filid spielten Vers, Rhythmus, Assonanzen, Paarformeln, regelmäßig wiederkehrende Mengen und Zahlenverhältnisse für die Anordnung des Stoffes und andere Mittel eine maßgebliche Rolle. Wer die letzte Prüfung bestanden hatte, der ollav, mußte, so heißt es, dreihundertfünfzig Geschichten auswendig vortragen können. Diese filid sind seit der vorchristlichen Antike und den Zeiten des hl. Patrick bezeugt. Aufgezeichnet wurden ihre Texte freilich erst im Verlauf des Mittelalters. Damals trugen sie bereits vielfache Hinweise auf den Religionswechsel und die Anpassung an die christlichmittelalterliche Gegenwart. Auch elaborierte Mündlichkeit stabilisierte demnach nur bedingt. Als man im 1.5. Jahrhundert der Entstehung der einheimischen Ogam-Schrift nachging, wartete man mit divergierenden Antworten auf, deren keine zutrafll . Die Tradition lieferte also keine sicheren Daten, schon gar nicht für Wissen außer halb des traditionellen Überlieferungsstoffes. Gleichwohl weisen Spuren in die alten Zeiten zu-
Grenzen sprachlicher Stabilisierung
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rück. Doch eben nur Spuren. Der Veränderungsprozeß, dem alles Mündliche ohne spezielle Vorkehrungen ausgeliefert ist, hat auch vor den irischen Traditionen nicht Halt gemacht. Das ist ein bemerkenswerter Umstand. Nur besonders aufbereitetes Wissen vermag dem Vergessen zu widerstehen, nicht jede x-beliebige Erfahrung oder Vergangenheit. Nur, was sprachlich zubereitet wurde, besitzt in der Zeit der Oralität eine Chance zeitüberwindender Vergessensresistenz; und nur, was noch gesellschaftliche Relevanz besitzt. Nicht alles fließt in Verse oder eine spezifische Erzählprosa; selbst die herausragenden Geschehnisse bleiben weitgehend unbesungen. Es war ein höchst selektiertes Wissen, das dem mündlichen Gedächtnis übereignet wurde, und es steht zu bezweifeln, daß seine Träger oder Hörer die Fülle des Geschehens um sie herum in gleicher Weise zu erinnern vermochten oder weitergegeben haben. Ihre Fähigkeit erinnert an einen geübten Schauspieler von heute, der «HamIet», «Lear» oder «Faust» beherrscht, der binnen kürzester Zeit jede weitere Rolle auswendig zu lernen versteht und deshalb doch keinen zuverlässigeren Memoiren- oder Zeitgeschichtsschreiber oder auch nur einen besseren Zeugen für einen Verkehrsunfall abgibt als jeder Berufsfremde. Ein Gedächtnisspezialist ist kein Informationsspezialist, kein Chronist. Bei allem Gedächtnistraining der fiUd beispielsweise und so viele ihrer auch Mönche wurden, über den hl. Patrick, die Ausbreitung des Christentums, die Gründung der Bischofssitze haben sie wenig oder nichts Zuverlässiges überliefert 12 • Was nicht dürftige Annalen, christlich-literates Werk, verzeichneten, verschwimmt in ewigem Vergessen. «Viele haben versucht, die Erzählung (narratio) [über Patrick] nach den Überlieferungen (quod tradiderunt) ihrer Väter und derer zu ordnen, die von Anfang an Diener der Rede (ministri sermonis) waren; doch gelangten sie, weil die Erzählung (narratio) ein so schwieriges Werk darstellt und weil unterschiedliche Meinungen und vieler Leute viele Vermutungen kursieren, auf keinen gemeinsamen und sicheren pfad der Geschichte (historia) . ... Ich will mich nun bemühen, von den vielen Taten des hl. Patrick das wenige Bekannte, von zweifelhaften Autoren und aus anfälliger Erinnerung (memoria labili) ... aufzubereiten (expUcare)>>, so stöhnte Muirchu, Patricks ältester Biograph, gut zweihundert Jahre nach des Heiligen Tod13 • Was er festhielt, war, soweit historisches Geschehen gefragt war, spärlich genug, aus großer Distanz wahrgenommen und insgesamt mehr Legende als gesicherte Historie. Mündlichen Überlieferungen, wie immer ausgesehen haben mochte, was ihm zugeflossen war, traute er insgesamt wenig. War das Gedächtnis der Gedächtniswunder also für den Historiker unbrauchbar?
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Stabilisierungs strategien von Erinnerungskulturen
In der Tat, die weltliche irische Geschichte der Zeit wurde, von vereinzelten Ausnahmen abgesehen, durch keine sprachliche Elaboration auf Dauer gestellt. Wir kennen sie nicht besser als die der gleichzeitigen Angelsachsen oder Franken. Die mündliche Kultur selektierte in extremer Weise; ihre Überlieferung war ein reicher Schatz an Traditionen, den es zu bewahren galt, dem aber selten etwas hinzugefügt wurde. Das aktuelle Geschehen wurde selten aufgegriffen, wenn es nicht - wie andernorts auch - in Annalen einen Niederschlag fand. Doch diese waren gerade nicht Sache der Sänger; ihr Vorbild war römische Literatur. Jährlich fortgedichtete <mündliche Jahresberichte> gab es nicht. Statt dessen filterte ein medienbedingter Selektionsprozeß das Vergangenheitswissen, das dann späteren Generationen noch verfügbar sein sollte. Die Selektionsprinzipien wurden dabei in der Regel nicht mit erinnert. Die irische Gesellschaft mit ihrer hohen Gedächtniskultur überlieferte historisches Geschehen somit nicht besser als andere Gesellschaften ohne eine solche. Ihre Erinnerungsleistung konzentrierte sich auf Mythen, Kultgesänge, Märchen, auf Genealogien, auch auf die alte Geschichte, deren Memoration kollektive Identität verlieh, mitunter auf einen einzelnen Helden, nicht aber auf die gegenwärtige Welt, das aktuelle Leben, die Fülle der Vorkommnisse zu Lebzeiten des Sängers, die Mission, die Gründung der Kirchen, den Handel, die Politik. Bestenfalls wurde, gleichsam aus weiter Ferne, im nachhinein, als sich schon vieles verflüchtigt hatte, das eine oder andere in den Traditionsstoff aufgenommen und damit seinen sprachlichen Bedingungen unterworfen.
8.3
Textstabile und textvariable Überlieferung
Irland gilt als ein Beispiel für hohe Stabilität mündlicher Erzählung. Auf entgegengesetzte Verhältnisse verwies Albert Lord, dessen Feldstudien serbischen Volksepen galten 14 • Schon Goethe hatte sich ob ihrer Vortragskunst verwundert und die Frage nach dem von ihnen besungenen Zeitalter aufgeworfen 15. Lord war Schüler, Mitarbeiter und Nachfolger des Altphilologen Milman Parry. Beide hofften, die Homerische Frage klären zu können, indern sie, voll Skepsis gegen die Leistungskraft des Gedächtnisses und einer verbreiteten Ansicht folgend, eine mündliche Entstehung der Epen voraussetzten und diese nach Erfahrungen mit einer rezenten Rezitationskunst in einer schriftlosen Gesellschaft analysierten. Das Beispiel, das sie wählten, waren eben die Epen der Serben. An ihnen entwickelten sie die These, daß Homer gleich den serbischen Sängern auf eine Reihe typischer und allgemein bekannter Erzählmu-
Textstabile und textvariable Überlieferung
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ster, nach Lord von «Formeln», zurückgriff, zwischen die er während der Darbietung einzelne Handlungsstränge (<<slots») neu komponierte und in das vorhandene Gerüst einhängte. So hätten die Epen zwar eine gewisse Grundform bewahrt, doch von Vortrag zu Vortrag Inszenierung und Inhalt geändert; sie seien von Mal zu Mal neu entstanden 16 . Mit dauerhafter Erinnerung wäre es dabei nicht weit her. Zwar wird diese Theorie, soweit sie Homer betrifft, heute nicht mehr einhellig geteilt; der griechische Dichter wird wieder stärker als ein sich der Schrift bedienender Literat betrachtet, und auch sonst wurden erhebliche Bedenken gegen die Thesen erhoben 17. Aber Parrys und Lords Feldforschungen hatten doch einen erhellenden Einblick in die Arbeitsweise jener Sänger gewonnen, der von allgemeiner Bedeutung für die Betrachtung schriftloser Kulturen ist. Zunächst lauscht der angehende Sänger den Rezitationen erfahrener Meister; dann übt er sich an Rhythmus und Melodie des Vortrags, auch im Beherrschen der Tambura, des zweisaitigen Zupfinstruments, das seinen Gesang begleitet; endlich beherrscht er den Vortrag mehrerer Lieder und vermag sie eigenständig zu kombinieren und auszuschmücken. Auch irische Erzähler bereiteten sich im stillen auf ihre spätere Karriere vor; sie treten in der Regel erst in fortgeschrittenem Alter, mit etwa vierzig Jahren, auf; jüngere Erzähler sind selten. Hier wie dort handelt es sich um Spezialistentum. Doch so ähnlich die jeweilige Vorbereitungsphase auch gewesen sein mag, im Ergebnis unterscheiden sich beide Gedächtniskulturen gründlich. Die Iren bewahren strenger, trotz mancherlei Variation, den Inhalt ihres Vortrags als die Serben; sie komponieren nicht während der Erzählung. Mündliche Überlieferung tradiert, so halten wir fest, was geschah, keineswegs kontinuierlich und verharrt schon gar nicht dauernd auf dem <jüngsten Stand> der Ereignisse. Vielmehr treten wenigstens zwei Erinnerungstypen in schriftlosen Kulturen nebeneinander. Der eine hält nach langwieriger Schulung - Wort für Wort textstabil fest, was es zu bewahren gilt; der andere handhabt - auch er nach gründlicher Schulung - seine Erzählung textvariabel, konzipiert sie von Darbietung zu Darbietung neu und behält nur gewisse Erzählmuster bei 18. Zwischenfarmen sorgen für weitere Vielfalt. Ein allgemeiner Verweis auf hilft dem Historiker somit wenig, solange er nicht weiß, mit welchem Überlieferungstyp er es zu tun hat; und selbst wenn jener erste nachgewiesen ist, so hält er damit keineswegs die Gewähr in Händen, daß das Überlieferte auch historisches Geschehen war. Wer irische Geschichte, serbische Epen oder auch «llias» und «Odyssee» memorierte, erinnerte noch nicht in gleicher Weise und Intensität die eigene Vergangenheit und die Fülle jenes Geschehens, dessen sich kein Sänger angenommen
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Stabilisierungs strategien von Erinnerungskulturen
hatte. wird in der Regel gar nicht von der auf Dauer stellenden Erzählkunst erfaßt und tritt allenfalls - wenn überhaupt - mit erheblicher Verspätung und in elaborierter Form in den Erzählzyklus ein, erst also, nachdem das Gedächtnis sich seiner angenommen hat 19 • Mit dem Einzug der Schrift in die Kultur wächst auch das historische Bewußtsein20 . Mit der Zeit verbreiten sich Annalen, ein kontinuierliches Jahresgedächtnis, annalenförmige Chroniken, eine hochentwickelte Geschichtsschreibung; jetzt erst wurde gezieltes Suchen in der Vergangenheit möglich. Die Literalisierung in der Antike und ihre Wirkung auf das Gedächtniswesen stehe dahin 21 ; immerhin verdankt sich ein Großteil des Wissens zum Beispiel über Alexander den Großen erst einer Jahrhunderte nach seinem Tod einsetzenden Geschichtsschreibung. Die Anfänge der mittelalterlichen Erneuerung der Schriftkultur waren bescheiden, wie die schlichten Frühformen der Annalistik, etwa in Randbemerkungen zu Ostertafeln, verdeutlichen können. Noch lange herrschte Mündlichkeit vor, in der das Gedächtnis dominierte. Mittelalterliche Anweisungen zur Schulung der Memoria verraten indessen, daß auch jenem Erinnern Vergessen beigemischt war; daß das Gedächtnis geschult werden mußte, mit dem Rohrstock nämlich und spezifischen Memorierungstechniken, um es zu stabilisieren; daß es der fortschreitenden Verschriftung und erinnernden Wiederholung bedurfte, um Vergangenes gegenwärtig zu halten; und daß der Historiker des Mittelalters nur über Zeugnisse einer oral-literaten Mischkultur verfügt, nicht über reine Mündlichkeit.
8.4
Autoritatives Gedächtnis
Auch genießt in überwiegend mündlich orientierten Gesellschaften nicht jedermanns Zeugnis gleichrangige Geltung und gleiches Gewicht; die Erinnerungen weisen vielmehr eine unterschiedliche soziale Wertigkeit auf. So war etwa die Geschichtsschreibung der Karolingerzeit geprägt durch eine weitgehende Konzentration auf die Königsperspektive. Nahezu ausschließlich das Handeln der Könige wurde verfolgt; alles, was geschah, auf dieses zurückgeführt, er mochte aus eigenem Antrieb oder aufgrund fremden Rates in das Geschehen eingreifen. Das Handeln der Großen verschwand aus den Augen so, als hätte es dasselbe nicht gegeben oder als sei es ohne Bedeutung gewesen. Eigene Zielsetzungen scheinen diese Leute nicht verfolgt zu haben; sie traten, wenn überhaupt, nur verschwommen ins Bild. Selbst so informierte Geschichtsschreiber wie der Karolinger Nithard, der an maßgeblichen Entscheidungen in der
Autoritatives Gedächtnis
301
Epoche der Bruderkriege beteiligt war und über schriftliche Dokumente wie Teilungsverträge, Grenzbeschreibungen und Kapitularientexte verfügte, schildert zu keiner Zeit, wie die Entscheidungen tatsächlich zustande kamen. Die Großen bleiben mit ihren antagonistischen Interessen und Maßnahmen außer Betracht, kaum daß der eine oder andere von ihnen mit Namen genannt wurde. Das dichte Geflecht der mannigfachen politischen Kräfte war kaum zu durchdringen. Dazu fehlten die sozialanalytischen Techniken und gedanklichen Modelle. Gleichwohl besaß jede Gruppe, und sei sie eine einzelne Familie, ihre Autoritäten, deren Zeugnis, ohne professionell zu sein, vor anderen Wahrheit zugebilligt wurde. In der halbliteraten höfischen Gesellschaft des Mittelalters mag es ganz allgemein der Herr gewesen sein, wer immer er war, in der ländlichen der Priester, in der Familie mögen es die «Alten», eine allwissende Tante sein; manche Gesellschaften kennen ausgebildete Spezialisten. Heiligkeit garantiert Autorität. Der junge Leopold Ranke ließ den «Ehrenmann» verläßliche Erinnerungen hegen, so als würde ein Schurke sich schlechter erinnern. Prestige, Macht, Vertrauensvorschuß regeln somit die gesellschaftliche Akzeptanz der Erinnerungen. Ich nenne, was dabei entsteht, autoritatives Gedächtnis. Es formt zweifellos entscheidend mit am kulturellen Gedächtnis des fraglichen Kollektivs, führt aber nicht zuverlässiger zu dem tatsächlichen Geschehen zurück als jede andere Erinnerung an dasselbe Geschehen. Eher im Gegenteil: Gerade das autoritative Gedächtnis neigt zur Kanonisation, selektiert bewußt oder unbewußt und unterliegt besonders leicht späterer Verformung, sei es, weil es aus den erinnerten Einzelmomenten eine in sich geschlossene, gar «die Geschichte» konstruiert, sei es, weil es teleskopisch die Vergangenheit jeder neuen Gegenwart anpaßt oder die Bedeutung der auf die eigene Gegenwart zuführenden Geschehensmomente überbetont. So ist die Autorität genau zu bestimmen, deren Erinnerungen sich überliefert sehen. Der Prozeß von individuellen Erinnerungen zum kollektiven Gedächtnis stellt somit eine Bündelung von sozial gewichteten Erinnerungen zu einem Geschehen dar, eine nachträgliche Konstruktionsleistung, die von zahlreichen hirninternen und -externen Variablen abhängig und deshalb vorgreifend nicht, stets nur im nachhinein zu erfassen ist. Vergangenes ist, soweit es auf Erinnerung angewiesen ist, immer etwas Gegenwärtiges. Doch wirkte auch das nicht und das unzutreffend Erinnerte, die Vergangenheit mithin, doppelt fort; und so konnten in jeder Gegenwart Erinnerungen an früheres Geschehen und seine unbeachteten Folgen aufeinanderprallen und Wirkungen erzeugen, die kein Historiograph als solche festzuhalten vermochte.
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Stabilisierungs strategien von Erinnerungskulturen
8.5
Kanonbildung
8.5.I
«Machet einen Zaun um das Gesetz»: Kanon, institutionalisierte Lehre und Gedächtnis
Indes, gibt es nicht uralte, Jahrtausende weit in die Vergangenheit zurückführende Überlieferungen, die sich dem mündlichen Gedächtnis verdanken? Die Bibel beispielsweise, das Alte Testament? Die Debatte um den historischen Wahrheitsgehalt und Quellenwert dieser Bibel ist jahrhundertealt. Zum al im I9. Jahrhundert blühte die Bibelkritik auf. Immer wieder ging und geht es gerade um die historisch positivistische Zuverlässigkeit der mündlichen Traditionen, die durch die heiligen Texte hindurchschimmern. Durfte man sich auf sie verlassen, wenn es galt, die Geschichte Davids oder Salomos, Moses' oder Josuas zu schreiben? Die Antworten unterliegen bis heute geistigen und religiösen Vorurteilen, welche moderne Juden, Christen, Muslime oder Atheisten diesen Texten gegenüber hegen. Gleichwohl fordern gerade die historischen Bücher der Bibel zur Konfrontation mit der modernen Geschichtswissenschaft und Archäologie heraus. Hat die Bibel doch recht? Am Anfang des biblischen Gottesbundes stand das Erinnerungsgebot. Die Bibel erneuerte es immer wieder. In ihre heiligsten Gebete ging es ein22 • Die Wirkung war einzigartig, mächtig bis heute: «Und Mose rief das ganze Israel und sprach zu ihnen: Höre, Israel, die Gebote und Rechte, die ich heute vor euren Ohren rede, und lernet sie und behaltet sie, daß ihr danach tut. Der Herr, unser Gott, hat einen Bund mit uns gemacht am Horeb» (Dtr 5, 1-;-2) .... «Höre, Israel, ... diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollen dir ins Herz geschrieben sein, und du sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzest oder auf dem Wege gehst, wenn du dich niederlegst oder aufstehst. Und sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie als Merkzeichen auf der Stirne tragen, und sollst sie über deines Hauses Pfosten schreiben und an die Tore» (Dtr 6, 1-9?3. Erinnerungsgebot und Gebet blieben über Jahrtausende unantastbar, ein Vorbild und unumstößlicher Beweis fernhinreichender Gedächtniskraft gerade mündlicher Tradition, ein Wunderwerk des kulturellen Gedächtnisses. Sie waren Aufforderung zum Hören der Gottesgebote (nicht zu deren Lektüre), zu ihrem Einschreiben ins Herz, zur Weitergabe des Gehörten und ins Herz Geschriebenen an Kinder und Kindeskinder. Hören und Sprechen - das mündliche Gebot verlangte die mündliche Erinnerung, die gleichwohl genau sein sollte, nichts vergessen durfte. Die rabbinische Mischna, die auf die wiederholende mündliche Lehre
«Machet einen Zaun um das Gesetz»
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zurückgehende Textschicht des Talmud, konkretisierte die Erinnerungsleistung noch weiter, indem sie die Geschichte vom Empfangen und von der Weitergabe der Tara, Lehre auch sie und dann erst «Gesetz» (<: «Mose empfing die Tara vom Sinai und gab sie Josua weiter, und Josua den Ältesten und die Ältesten den Propheten. Und die Propheten gaben sie den Männern der Großen Synagoge weiter. Diese sagten drei Dinge: Seid zurückhaltend im Gericht, und zieht viele Schüler heran, und macht einen Zaun um die Tara. - Simeon der Gerechte gehörte zu den Letzten der Großen Synagoge. Er pflegte zu sagen: Auf drei Dingen beruht die Welt - auf der Tara, auf dem Kult, und auf den Werken der Nächstenliebe»24. Simeon nun gab die Tara an Antigonos von Sokho weiter und ihnen folgten alsbald einundzwanzig weitere Gelehrte und Patriarchen, bald einzeln, bald paarweise Empfänger und Lehrer der (mündlichen) Tara, bis hinab zur eigenen rabbinischen Zeit. Die Rabbinen, denen die Mischna verdankt wird, wußten um die Gefahren des Vergessens und ihre stete Aktualität. Wo immer sie konnten, errichteten sie Dämme dagegen. An wieder anderer Stelle lehrten sie, wie jene Weitergabe erfolgte und fürderhin erfolgen sollte: «Es lehrten die Rabbanen: Wie wurde die Lehre weitergegeben? Mose lernte aus dem Munde der Macht (Gottes): Aaron trat ein und Mose lehrte ihn seinen Abschnitt. Aaron trat ab und setzte sich zur Linken Moses. Seine Söhne traten ein und Mose lehrte sie ihren Abschnitt. Seine Söhne traten ab: ... Die Ältesten traten ein und Mose lehrte sie ihren Abschnitt. Die Ältesten traten ab. Das ganze Volk trat ein und Mose lehrte es seinen Abschnitt. Aaron aber hatte vier Abschnitte gelernt, seine Söhne drei, die Ältesten zwei, das ganze Volk einen. Nun trat Mose ab und Aaron lehrte (alle) seinen Abschnitt. Aaron trat ab und seine Söhne lehrten sie ihren Abschnitt. Seine Söhne traten ab und die Ältesten lehrten sie ihren Abschnitt. So hatten alle vier Abschnitte gelernt. Von daher sagt R. Eliezer: Man muß seinen Schülern viermal wiederholen»25. Judentum war lehrende, lernende, erinnernde Weitergabe der beiden Toras. Bibel und Talmud lehren dem Frommen und Gläubigen mit derartigen Geboten, Gebeten und Erzählungen das Muster, den Archetyp mündlicher Tradition, die die Zeiten zu überwinden vermag. Unveränderlich überdauerte und überdauert danach die Weisung die Jahrhunderte, von Mose am Horeb - wann immer im 2. Jahrtausend vor unserer Zeit - zur «Großen Versammlung», die Esra im Jahre 458 oder 398 v. ehr. einberief, und von dort bis , von Mund zu Mund der Söhne Israels. Eine grandiose Vision mündlicher Lehre und Tradition, auch wenn
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Stabilisierungs strategien von Erinnerungskulturen
sie rechtzeitig verstanden hatte, sich der Schrift zu bedienen. Das «Gesetz» wurde tradiert, das «Gesetz» wurde gehütet; eine Mauer schützte es vor Verfälschung und Mißweisung26 . Religion, Gedächtnis und kollektive Identität sind hier in eins komponiert. Erinnerung stiftet und erneuert fortwährend die Gemeinschaft, über Jahrtausende hinweg. Doch was wird erinnert? Was nicht? Warum wird das eine erinnert, das andere nicht? Was geschieht mit dem Nicht-Erinnerten? Bewußt oder unbewußt, direkt oder indirekt gingen spätere <Sagenforschen, Jacob Grimm etwa, bei den Rabbinen zur Schule 27 . Die sagenund liedhafte Überlieferung aller Völker war nicht anders zu denken als die Tradition der Israeliten. Das «Volk» «läßt ihren Inhalt, wie er ist und wie es ihn weiß»; er ist mit der Geschichte «das gleich unverletzliche Gut», <
«Machet einen Zaun um das Gesetz»
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derlichkeit mündlicher Überlieferung und Unterweisung Ereignis geworden zu sein. Institutionalisierte, auf Wiederholung, Kanonisierung und Interpretation gestützte rabbinische Lehre realisierte, so will es scheinen, das kulturelle Gedächtnis auf der Ebene der Mündlichkeit. Derartige Lehre garantierte die Weitergabe eines - trotz Anpassung der Halakha an die sich wandelnden Bedürfnisse wechselnder Zeiten - unveränderlichen Wissens. Sie erschwerte oder verhinderte damit allerdings auch jeden
)06
Stabilisierungs strategien von Erinnerungskulturen
8.5.2
Moderne Bibelkritik
Die Lehre, die Tara, hatte, lange bevor jene Erzählung in der Mischna Gestalt gewann, in den «fünf Büchern Mose» ihre schriftliche Form gefunden; sie offenbarte sich nun als die Geschichte der Weltschöpfung, Abrahams und der Patriarchen, vom Auszug aus Ägypten, von Mose und der Übergabe des Gesetzes am Sinai mit 365 Verboten und 248 Geboten, als Geschichte auch der Prüfungen des Volkes, der Vertragserneuerungen und der Verheißung. Doch war dieses Werk nicht das erste Geschichtsbuch des Volkes Israel. Auch ist es schier unmöglich, die vagen vorbiblischen, mündlichen Traditionen genauer zu bestimmen und von den dem Pentateuch ebenfalls als Quelle dienenden, bereits in schriftlicher Form vorliegenden Rechtsbüchern, Erzählungen, Sagen oder Legenden unterschiedlichster Provenienz durch eine klare Trennlinie abzugrenzen. Die antike Ausgrenzung verhindert nun die strikte geschichtswissenschaftliche Grenzziehung zwischen sagen- und legendenhaftem Wissen, Gedächtnismodulationen einerseits, den historischen Daten andererseits. Über scharfsinnige und doch anfechtbare Schlußfolgerungen hinsichtlich der Entstehung der als Ganzes heute noch in dreierlei - der protomasoretischen/masoretischen, der samaritanischen und der alexandrinisch-griechischen - Gestalt vorliegenden Tora ist nicht hinauszugelangen34 . Auch die Archäologie kann die zahllosen Hürden nicht überwinden, die sich einem datenorientierten Wissenwollen entgegenstellen. So wie die Bibel heute erscheint, ist sie das Ergebnis eines sich seit der judäischen und israelitischen Königszeit in Schüben über mehr als ein halbes Jahrtausend hinziehenden, allmählichen und in seinen Etappen noch deutlich zu erkennende Verschriftungsprozesses 35 • Königliches Verwaltungschriftgut machte - wie andernorts auch - im 10. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung den Anfang; Inschriften traten seit dem 9./8. Jahrhundert hinzu, auch erste Rechtsbücher (wie das Bundesbuch oder die Gesetzessammlung des Deuteronomiums), möglicherweise schon kleinere historiographische Texte; doch frühestens für das ausgehende 7. Jahrhundert, mithin mehrere Jahrhunderte nach der und der Reichsgründung, vermutlich sogar erst während oder nach der Exilszeit kann mit umfangreichen historiographischen Kompositionen - dem deuteronomistischen Geschichtswerk (die Bücher Josua, Richter, Samuel und Könige) und dem Pentateuch (die ersten fünf Bücher der Bibel) - gerechnet werden. Sie adaptierten, wie es scheint, ältere Elemente und Deutungsfiguren mesopotamischer und hethitischer Provenienz und bildeten daraus ein neues Ganzes, nämlich als ein
Moderne Bibelkritik
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geistiges, näherhin theologisches Deutungs- und Verstehensmuster des eigenen kollektiven Seins, urbildlich für viele Nachfolger und Nachahmer bis heute 36 . Ob es der Geniestreich eines einzelnen Mannes war, ob das Werk mehrerer aufeinander aufbauender Propheten, ob es in der Tempelpriesterschaft entstand oder außerhalb derselben, das alles muß offen bleiben. Doch so zukunftsträchtig die Errungenschaft selbst war, so wenig ist zu erkennen, daß zuvor effizientere, das auf Mündlichkeit angewiesene Gedächtnis nachhaltiger stabilisierende Faktoren zur Geltung gelangten als sonst in oralen oder semioralen Kulturen. Erinnern und Vergessen, Modulation und Verformung des Vergangenheitswissens und seiner Traditionen, die kognitiven Bedingungen des natürlichen Gedächtnisses dürften nicht anders wirksam geworden sein als sonst unter illiteraten Menschen. Erst durch die epochemachende Erfindung der Geschichte als eines geistigen Konzepts der Kohärenz-, der Sinn- und Identitätsstiftung des Gottesvolkes und durch deren Verschriftung wurde es anders. Auf Dauer gestellt wird Vergangenheit nur, wenn sie und als solche kanonisiert wird oder quasikanonische Autorität gewinnt. Die Komposition des deuteronomistischen Werkes erfüllt eben diese Bedingung. Sie manifestierte die Offenbarung Gottes im Gesetz, die Erfüllung seiner Verheißung an sein Volk; sie ist, so gesehen, Geschichtstheologie. Zeitlich kaum vor das späte 7. Jahrhundert, wahrscheinlich sogar erst nach der Zerstörung Jerusalems und des Ersten Tempels (5871 86) anzusetzen, entstand sie - wie wahrscheinlich ihre erschlossenen Quellenschriften auch - im Kontext schwerer politischer und religiöser Krisen, nach der Zerschlagung des judäischen Nordreiches durch die Assyrer (722) und während des babylonischen Exils 37 • Der Pentateuch, der gleichfalls als Geschichtswerk konzipiert wurde, ist noch jünger. Wie es scheint, gaben erst die Kämpfe der nach Jerusalem zurückgekehrten babylonischen Exilsgemeinde gegen die im Land gebliebenen Altjudäer und Altisraeliten und ihre abweichende rituelle Praxis den Anlaß zur Komposition dieses Werkes, der künftigen Tora38 . Die Verkündung des «Gesetzes des Himmelsgottes» durch Esra (Esr 7,12) und ihre Durchsetzung durch Nehemia dürften damit in Zusammenhang zu bringen sein. Sie dienten der effektiven Ausgrenzung der Kulte dieser beiden Gruppen, der Altjudäer und Altisraeliten, vom wahren «Israel». Die Einhaltung der 613 rituellen Vorschriften der «fünf Bücher Mose» spielten dabei eine entscheidende Rolle, und die Tora wird ihretwegen frühzeitig für alle jüdischen Gruppen höchste Autorität erlangt haben. Der Abschluß des biblischen Gesamtkanons erfolgte indessen erst unter dem Eindruck der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahre 70
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Stabilisierungs strategien von Erinnerungskulturen
nach der Zeitwende. Bis zur Kanonisierung aber blieben die Texte, wie die masoretische, samaritanische und alexandrinische Tora sowie die Texte von Qumran zeigen, offen für die kulturellen Wandlungsprozesse, denen die Textproduzenten ausgesetzt waren. Das natürliche Gedächtnis stemmte sich nicht dagegen. Die Wirkungen der entstehenden Geschichtskonzeption und ihrer Umsetzung in Geschichtsschreibung sind mit Händen zu greifen. Sammler und Autoren im Umkreis und in der Nachfolge des Deuteronomisten hatten aus einem heterogenen Material unterschiedlichster Provenienz - aus eigenen und fremden Liedern, mündlichen Erzählungen, ätiologischen Sagen, erotischen Schwänken, Lehrfabeln gesungen und erzählt, vielleicht bei dem zentralen Heiligtum von Gilgal, dem Kreis der zwölf Steine, aus kurzen Textstücken und kleineren Sammlungen, aus den Resten davidischen oder salomonischen Verwaltungsschriftgutes, aus Prophetien und dergleichen mehr -, sie hatten aus disparatem Material ein auf die politische und religiöse Einheit Israels gerichtetes Ganzes zu formen. Auch wenn vieles unklar bleibt, so verraten die Nahtstellen der Komposition, die noch erkennbar sind, die gedanklichen Brüche und Risse, die Widersprüche zwischen den einzugliedernden Elementen, die das Werk durchsetzen, dem kritischen Historiker einiges über den Kompilationsprozeß. Archäologische Befunde lassen ein anderes Bild entstehen als das der Bibeltexte39 . So berichten Jos 6 und 8 eindringlich - <
Moderne Bibelkritik
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den Ausgrabungsschichten des 7. Jahrhunderts v. u. Z. häufen sich Kamelknochen41 . Ja, die Königsstadt selbst, Jerusalem, die Stadt Davids und des prachtvollen salomonischen Tempels, scheint nicht existiert zu haben. An ihrer Stelle befand sich in der fraglichen Zeit (10. Jahrhundert) allenfalls ein kleines «Bergdarf» 42. Die Konstruktionen des kulturellen Gedächtnisses teleskopieren, wie eindringliche Textvergleiche und archäologische Befunde erkennen lassen; sie besagen wenig für die Zuverlässigkeit des sich auf Mündlichkeit stützenden Erinnerungsvermögens. Wo sich der Bibeltext ihm anvertraut, verdient er kein historisches Vertrauen; er spiegelt in erster Linie das Wissen und die Verhältnisse seiner Abfassungszeit, durchsetzt von Schichten älteren, doch gleichgearteten, mithin zu früherer Zeit aktualisierten Wissens. Heterogenes und Anachronistisches floß dabei in bunter Mischung zusammen; gelehrte Zirkelschlüsse von der Bibelkritik zur Archäologie und wieder zurück besorgen den Rest. Archäologische Daten lassen beispielsweise die Zerstörung der mächtigen kanaanitischen Stadt Hazor XIII um die Mitte des 13. Jahrhunderts oder kurz danach durch Feuer erkennen. Man brachte es mit Idc 11,11 in Zusammenhang, wonach Josua, der Nachfolger des Mose, die Stadt einäscherte: «The excavations of Hazar provided, for the first time, decisive archaeological data for fixing both, Joshua's dates and, indirectly, the date of Exodus from Egypt»43. Doch es war allein der biblische Text, der - in der vorliegenden Gestalt vielleicht sieben Jahrhunderte nach dem Brand verfaßt - den Ausgräber, Y. Yadin, dazu bewog, Josua mit der Feuerkata, strophe von Hazor in Verbindung zu bringen. Ein klassischer Zirkelschluß also, der siebenhundert Jahre in nichts zerrinnen läßt. Yadin setzte voraus, was er nachzuweisen meinte: Wenn Josua gemäß Idc 11,11 Hazor niedergebrannt hat, dann muß eine nachweisbare Brandkatastrophe in Hazor XIII Josuas Werk gewesen sein; nun wurde Hazar XIII tatsächlich durch Feuer zerstört, also war die Katastrophe Josuas Werk. Für eine genauere Bestimmung des realen Geschehens und der reale Daten bewahrenden Leistungskraft bloß mündlicher Überlieferung ist mit derartigen Zirkeln nichts zu gewinnen, Gewißheit schon gar nicht über die wirkliche Geschichte der Landnahme und Reichsgründung und ihrer Protagonisten, keinerlei Bestätigung des kulturellen Gedächtnisses. Wieder scheinen die mächtigen Ruinen der nach der Katastrophe für einhundert bis einhunderfünfzig Jahre aufgegebenen und danach nur partiell wieder besiedelten Stadt die Phantasie angeregt und auf den legendären Eroberer des ganzen Landes Israel gelenkt zu haben. Es bedürfte eines unabhängigen Nachweises, daß die archäologisch ge. sicherte Feuersbrunst durch das in der Bibel erinnerte Eingreifen Josuas
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Stabilisierungs strategien von Erinnerungskulturen
ausgelöst wurde, um Hazors Fall zum Zeugnis für Josuas Taten und - indirekt - für die Datierung des Auszugs aus Ägypten zu machen. Ein solcher Nachweis aber ist, wie die Dinge liegen, weder zu erbringen noch durch Wahrscheinlichkeitserwägungen herbeizuzaubern44 • Hazor aber ist nur ein herausragendes Beispiel für die Gefahren zirkulärer Argumentation im Zusammenspiel von Archäologie und Geschichtsforschung, die beide das Amalgam des kulturellen Gedächtnisses, wie es sich in der Bibel manifestiert hat, nicht mehr nach seinen Bestandteilen zu analysieren vermögen. Doch nicht nur die Frühphase der Landnahme und des «Ersten Tempels» wurde Opfer der von Josia gewünschten Vergangenheit, sondern auch die spätere Geschichte nach der Zerstörung des «Zweiten Tempels» unterlag in mancherlei Weise der freien Schöpfung des kulturellen Gedächtnisses. Auch die Mischna, der die Geschichte von der Weitergabe des Gesetzes verdankt wird, ist eine autoritative, verschriftete Auswahl und Neuverarbeitung der rabbinischen Lehre von dem Gesetz, aus der «Mündlichen Tora» also, wie sie sich seit dem Jahre 70 unserer Zeitrechnung zu verfestigen begann. Sie hatte gleich dem Pentateuch und den «Propheten» einen sich durch Jahrhunderte erstreckenden Weg von der Mündlichkeit zur Verschriftung zurückgelegt, dabei auch gewisse Transformationen erfahren, bevor sie ihr heutiges Gesicht erhielt. Über einhundert Jahre nach der Zerstörung des Tempels erstmals aufgezeichnet, verlieren sich ihre Anfänge in mündlicher Tradition. Wie weit die verarbeiteten Materialien zurückreichten, ist umstritten und in jedem Falle zweifelhaft45 ; doch schwerlich folgte der überlieferte Text einer bloß additiven Kompilation diverser Lehrmeinungen. Die Institutionalisierung des Lehrens, das sich nach der Zerstörung des Tempels und dem Bar-Kochba-Aufstand in den Lehrhäusern Palästinas und Babyloniens konzentrierte, und das Ideal lebenslangen Tora-Lernens, das sich allmählich herausbildete, verliehen ihr eine zunehmend verformungsresistente, schriftlich fixierbare Gestalt. Gleichwohl bleibt «die Annahme einer Jahrhunderte lang wortgetreuen oder auch nur sachgetreuen Überlieferung durch mündliche Weitergabe» problematisch und «ein durch nichts beweisbares Postulat»46. Erst die Verschriftung, die Kontinuität der Lehre und die kanonische Autorität der verschrifteten Lehre sorgten für die Dauerhaftigkeit von Inhalt und Wortlaut der Mischna. Die Entwicklung im einzelnen ist wiederum kaum noch zu erkennen. «Für heute ist es nur mehr annäherungsweise rekonstruierbar, wie diese Schuldiskussionen in ihren mündlichen und dialogischen Ablauf weitergegeben wurden, welchen redaktionellen Gestaltungen sie dabei jeweils unterlagen, wie sie nebenbei und allmählich verschriftlicht und erneut
Das Vergessen des Nicht-Kanonisierten
)11
redaktionell gestaltet, durchkomponiert wurden, bis - oft erst im Mittelalter - die Textgestalt erreicht wurde, die in den einzelnen Handschriften vorliegt»47. Auch auf den halakhischen Texten, die in der Mischna vereint wurden, lastete also ein Kanonisierungsdruck, dem sie freilich nicht vollständig erlagen. Gleiches widerfuhr auch den anderen Teilen des Talmud einschließlich der Gemara, der ursprünglich ebenfalls mündlichen Auslegung der Mischna. Der Prozeß der Kanonisierung wiederholte sich in der jüdischen religiösen Tradition somit mehrfach hintereinander, in immer kürzeren Intervallen. Institutionalisierte mündliche Unterweisung stand dabei stets am Anfang, schriftliche Fixierung und Kanonisierung oder Quasi -Kanonisierung am Ende des Weges. Der Lohn war die Gewißheit der Überlieferung, des kulturellen Gedächtnisses, das vor dem natürlichen Gedächtnis bestehen konnte. Dabei interessiert weniger die Frage, warum die Kanonisierung oder Quasi-Kanonisierung möglich wurde, wieweit und wie die kanonische Überlieferung unbeschadet die Zeiten überwand. Denn dem Gedachtnis trat ja alsbald die Schrift helfend zur Seite, so daß der Anteil der Mündlichkeit an der kanonisierten Vergangenheit nicht mehr definiert werden kann. In unserem Zusammenhang steht vielmehr die allein an Mündlichkeit geheftete Erinnerung der eigenen Vergangenheit diesseits und jenseits des Kanons und der autoritativen Texte im Vordergrund, das Gedächtnis außerhalb der institutionalisierten Lehre. Wie also erinnerten Juden ihre außer- und nachbiblische Geschichte? 8.5.3
Das Vergessen des Nicht-Kanonisierten
Die Antwort mag überraschen. Sie zeigt, daß, von einigen
)12
Stabilisierungs strategien von Erinnerungskulturen
dern die Ausgrenzung durch verschriftete Kanonbildung mehr oder minder fest institutionalisierter Lehre hatte das Wunder des zeitübergreifenden Gedächtnisses vollbracht. «The biblical appeal to remember thus has litde to do with curiosity about the past.» Y. H. Yerushalmi hat eindrücklich auf diese Diskrepanz zwischen dem kollektiven Gedächtnis und einer landläufigen Geschichtsschreibung verwiesen. Geschichte als bloße Vergangenheit, als nur menschliches Geschehen diesseits biblischer Zeit und vor dem Kommen des Messias glich flüchtigem Treibsand, war bedeutungslos und verdiente kein Gedenken50 . Allein die Prüfungen und Leiden des Volkes gehörten in die Heilsgeschichte. Das Ausblenden der <normalem Geschichte aus dem Gedächtnis, wie ereignisreich sie auch gewesen sein mochte, läßt sich überall im jüdischen Mittelalter, beispielsweise in rheinischen Bischofsstädten, beobachten. Dort trifft man auf die ältesten zweifels freien Spuren jüdischer Gemeinden seit dem beginnenden 11. Jahrhundert, während zu dessen Ende blühende Gemeinden von den Kreuzfahrern ausgelöscht wurden. Ihre Frühgeschichte, ob sie - wie keineswegs ausgeschlossen ist - etwa seit spätantiker Zeit bestanden, ob sie unter den Karolingern oder erst im 5l 10. Jahrhundert gegründet wurden, entzieht sich heutigem Wissen . Niemand schrieb ihre Geschichte oder vor dem Ende des 11. Jahrhunderts auch nur historische Notizen. Obwohl auch in diesen denkbaren Gemeinden die kontinuierliche Pflege jüdischer Traditionen, ihres kulturellen Gedächtnisses, vorausgesetzt werden muß, hat sich keinerlei mündliche Erinnerung an deren Geschichte erhalten - wenn es sie denn gegeben haben sollte. Juden erinnerten nicht anders denn Nichtjuden. Die weltbewegenden Geschehnisse, die das Ende des Römischen Reiches und die Etablierung des fränkischen und dann ottonischen Königtums, die die Umstürze des Investiturstreites brachten, zeitigten gewiß auch für die jüdischen Gemeinden erhebliche Konsequenzen und glitten nicht spurlos an ihnen vorüber. Gleichwohl erlosch ohne Kanonbildung und kontinuierliche, institutionalisierte Weitergabe eines kanonisierten Wissens, ohne schriftliche Aufzeichnung, ohne jegliche Erinnerung daran. Auch ein Josephus kann darüber nicht hinwegtäuschen. Der gesamte Westen des römischen Imperiums - auch er ein Raum jüdischer Diaspora - blieb ohne geschichtliches Erinnern der jüdischen Gemeinden. Die lange Übergangsphase von der Antike zum späteren Mittelalter ging trotz kollektiver Gedächtnispflege nicht in das kulturelle Gedächtnis der Judengemeinden ein. An Mündlichkeit gebundene Erinnerung - so ist festzuhalten - bedarf in erhöhtem Maße der Institutionalisierung durch Lehre, kontinuierlicher Memoration, der Kanonbildung und Verschriftung, um eine Chance auf zu gewinnen.
Schrift als Stabilisator der Erinnerung
}1}
Ohne derartige Gedächtnishilfen unterliegt auch die jüdische Geschichte denselben raschen Verformungskräften und dem Vergessen, die jede andere kanon- und schriftlose Erinnerungskultur heimsuchen.
8.6
Die Schrift als modulationsbereiter Stabilisator der Erinnerung
Tradierung und Transfer von Wissen, der Aufbau umfassender Wissenskulturen bedürfen der Medien und Träger, die dauerhafter sind als das Erinnerungsvermögen von Individuen. Hier springt die Gruppe ein, in der jene leben, an die sie ihr Wissen vermitteln und in der das Wissen der Einzelnen gegeneinander verhandelt und miteinander wird. Das Kollektiv schafft somit die Bedingungen und Möglichkeiten und unterhält die Trägermedien und Zeichensysteme, die den Wissenstransfer über die Zeiten hinweg zu gewährleisten vermögen. Der allmähliche Wandel des Erinnerten wird damit nicht verhindert; gleichwohl moduliert mit dem Fortgang der natürlichen, sozialen und kulturellen Verhältnisse auch das Kollektiv die Erfahrung und das Wissen der Individuen von einst. Es erweist sich damit als ein hinreichend leistungsfähiger und zugleich eminent anpassungsfähiger Speicher für jegliche Wissenskultur, dessen Leistungskraft allein von der zeitüberdauernden Qualität und der Flexibilität seiner Medien abhängig ist. Als leistungskräftigstes Zeichensystem hat sich bislang die Schrift erwiesen. Ihre Ausbreitung veränderte das Erinnerungsverhalten einer Gesellschaft entscheidend. Sie erhöhte als körperexternes Speichermedium die Verfügbarkeit des Vergangenen, seine Tradierung, seine Objektivierung in ungeahntem Maße; sie mehrte das Wissen und zeitigte zugleich Wirkungen, die Erinnern und Gedächtnis selbst veränderten, indem sie das Gedächtnis vom gesprochenen und gehörten, vom memorierten und inszenierten Wort zum geschriebenen, gelesenen und jederzeit abrufbaren verlagerte. Sie schuf neue Darstellungs- und Denkweisen, die sich von jenen oraler Kulturen tiefgreifend unterschieden, machte Erinnern zum , <eigentlich>, war. Eine derartige Intention stellt eine Abstraktionsstufe dar, die auf der Ebene bloßer Mündlichkeit sinnlos wäre, ohne Nutzen und unrealistisch. Denn da ist alles wirklich, was erinnert wird, von welchen Anachronismen, Auslassungen, Verzerrungen es auch durchmengt sein mag. Jene
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Stabilisierungs strategien von Erinnerungskulturen
<eigentliche> Wirklichkeit indessen bewahren oder erkennen zu wollen, jene entschleierte, Vergangenheit, ist ein Symptom des Denkens in Kategorien der Schrift, nicht des Gedächtnisses; des Festzuschrei,benden, Festgeschriebenen und Nachlesbaren, des endlos Wiederholund Kontrollierbaren. Daß auch dieses sich ändert oder sich ändern kann, wird von den mitlebenden Zeitgenossen kaum wahrgenommen. Der Wandlungsprozeß trat nicht plötzlich zutage; er setzte allmählich mit dem Gebrauch der Schrift ein. Dieselbe diente keineswegs von Anfang an der Fixierung erinnerter Vergangenheit. So erstreckte sich jener Prozeß, wo immer er begann, je über Generationen und Jahrhunderte. Die Veränderungen werden für den Historiker zumal dort sichtbar, wo bislang schriftlose Kulturen sich eben der Schrift zu bedienen lernten: in den frühen Hochkulturen; in Ägypten, bei Sumerern und Hethitern, in Israel, Griechenland oder Rom (bzw. bei den Etruskern); während des Mittelalters zumal bei den germanischen und slawischen Völkern, aber auch bei ihren romanischen Nachbarn 52; während des 19. und 20. Jahrhunderts in den meisten Ländern der . Dies letzte macht die ethnologische Forschung für die historische, die sich jenen vergangenen Kulturen zuwendet, auch für den Althistoriker und Mediävisten so wertvoll53 • Die ältesten Schriftkulturen nutzten durch lange Zeit die Schrift vorwiegend zu Verwaltungszwecken und in religiösem, rechtlichem Kontext oder - wie in Ägypten - zur Totenmemoria, ohne ein spezifisches Geschichtsdenken zu entwickeln54 . Ägypten erweist sich überhaupt, menschheitsgeschichtlich gesehen, als ein revolutionärer Einschnitt. Bewußtwerdungsprozesse, einsetzende Reflexivität, lassen sich in den schriftlichen Hinterlassenschaften der Gräber und Tempel erkennen. Der Gedanke der «Verantwortlichkeit» vor der Ma' at, der Göttin mit den Flügeln, entstand, vor der den Kosmos und die Menschenwelt ordnenden Gerechtigkeit und Wahrheit, die «die Menschen zur Gemeinschaft verbindet und dem Handeln Sinn und Richtung gibt». Zwar war noch keine Ausdifferenzierung von Staat, Gesellschaft, Religion erfolgt und somit auch nicht von als einer speziellen menschlichen Reflexionsweise; noch bestimmte ein einziger, alldurchdringender Zusammenhang Menschenwelt und Kosmos. Doch Ma' at verhalf dem Pharaonenturn im Mittleren Reich (2040-1650) zum Kerngedanken vom Mythos der Einung, zur Rückbesinnung auf diese Einheit vor der ersten, von Chaos und Unheil gezeichneten Zwischenzeit (2150-2040). Damit gingen Erinnerung und Literatur erstmals eine Allianz ein, die bis heute hält55 • Auch Keilschrifttexte der Hethiter bemächtigten sich erinnernd, darstellend und gestaltend der Vergangenheit. Urkunden, Abgabenlisten und Briefe wurden den Tontafel-Archiven anvertraut, die mit den Tafeln
Schrift als Stabilisator der Erinnerung
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jahrhundertelang ein Wissen um früheres Geschehen bewahrten. Seit dem 18. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung traten neuerliche Änderungen ein. Sie brachten eine geistige Revolution oder genauer: einen Schritt darauf zu. Denn die fraglichen Texte standen noch immer in engster Nachbarschaft zu Recht und Religion 56 . Sie bezeugten den unauflöslichen Zusammenhang des göttlichen Willens und HandeIns mit menschlicher Ordnung, Gerechtigkeit und Wahrheit. Über diese wachten die Götter, während die Menschen sie kultisch erneuerten. Ihre Verletzung rächten die Götter; deren Verehrern halfen dieselben. Die Wahrung des Kultes garantierte den Erfolg, der seinerseits den Fortbestand der göttlich-menschlichen Gemeinschaft bekundete; die einsetzende Historiographie hielt es fest. Diese Geschichtsschreibung - wenn sie denn tatsächlich so genannt werden darf 57 - besitzt nichts Antiquarisches; ganz im Gegenteil. Nicht ihr (spärliches) Datenmaterial galt es zu memorieren, sondern die von demselben bezeugte Gegenwart des Rechts, die tatsächliche Bewahrung der Ordnung, die Einhaltung der göttlichen Gebote, auch deren Erneuerung, die Wiederherstellung der Ordnung. Nicht Vergangenheit, sondern Gegenwart sollte festgehalten werden, die ewige Gegenwart göttlicher Ordnung. Deutlicher konnte die Gegenwartsbindung der Erinnerung nicht festgeschrieben werden. Auch die Minoische Kultur verfügte mit oder über die Schrift, verwandte dieselbe aber, soweit erkennbar, für ökonomische, allenfalls rudimentär für kultische Zwecke, doch gerade nicht zur Aufzeichnung der Vergangenheit. Geschichte mußte lange warten, bis sie der Schrift anvertraut wurde. Selbst die alten Israeliten nutzten jahrhundertelang die Schrift bloß für die Verwaltung, bevor sie mit der Geschichtsschreibung begannen. Die biblischen Geschichtsbücher - wie etwa das Josua-Buch (vermutlich aus der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts v. u. Z.) - weisen denn auch eine Serie von Geschichten und Rückprojektionen der in die auf, die mehr aufgrund literarischer Motive denn faktengewisser Erinnerungen komponiert wurden 58 . Griechenlands frühe Inschriften, älteste Zeugnisse ihres Schriftgebrauchs, wurden von keinen Historien begleitet. Und noch Jahrtausende später verrät etwa jener Runenstein von Haithabu, der für den Kriegshelden Skarthe durch einen dänischen König namens Sven beschriftet wurde, obgleich unverrückt und allgemein sichtbar, nichts über diesen Mann; nicht einmal die Identität des genannten Königs läßt sich noch klären. Trotz des zeitresistenten Monuments, trotz der dauerhaften Schrift, trotz eines zweifellos herausragenden Geschehens ging das Wis-
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sen um den Kontext verloren und mit ihm das Wissen um die Menschen selbst und ihr Tun, weil mit dem Einzug der Schrift nicht schon Erinnerungen fixiert und Geschichte geschrieben wurde. Was auch immer sie im Einzelfall veranlaßt haben mochte, Geschichtsschreibung bedeutete stets einen kulturellen Sprung noch über die Schrift hinaus, einen Fortschritt der Erinnerungskultur. Übergangsformen lassen sich vielfach auch später erkennen. So wirkten etwa in den antiken und mittelalterlichen Missionsgebieten des Christentums oder des Islam sakrale Lieder und Texte oder religiöse Vorschriften als Katalysatoren der Literalisierung. Nur das Heilige wurde zunächst schriftlich fixiert - Bibel, Evangelien, Koran -, das profane Leben in seiner ganzen Buntheit mit Einschluß seiner Vergangenheit blieb mündlich. Die säkulare Schriftlichkeit zog nur ganz allmählich nach. Lesen war ohnehin die längste Zeit in Antike und Mittelalter lautes Lesen, Vorlesen, appellierte also zugleich an die Wahrnehmung von Mimik und Modulation, an Gesichts- und Gehörsinn, mehr an Gemeinschaft und Kommunikation als an Individuum und Isolation und keineswegs nur an Schriftexegese. Das neuartige Buchwissen überlagerte denn auch das bloß erinnerte Wissen und vermischte sich mit ihm. Die mentalen Attitüden der Mündlichkeit erhielten sich trotz des Gebrauchs der Schrift, so wie die genetischen Grundlagen des Gedächtnisses den Menschen noch immer mit den Affen verbinden. Hier können nicht alle kulturellen Übergangsphasen vorgestellt werden, die sich im Laufe der Zeit und über die Erde verteilt zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit schoben. Doch stellt eine jede von ihnen dem Historiker ein Untersuchungsmaterial zur Verfügung, das untereinander zwar mancherlei Abweichungen aufweisen mag, im ganzen aber doch typische Attitüden erkennen läßt. So gingen in späterer Zeit nicht überall Verwaltung und Religion, spezialisierter Schriftgebrauch, der Historie voraus, wie ja die Schrift auch nicht überall neu erfunden wurde. Gerade im mittelalterlichen Mitteleuropa verhielt es sich umgekehrt, gingen erzählende Texte der Verwaltungsschriftlichkeit voran, was als eine charakteristische Folge seiner Akkulturation an die Mittelmeerwelt verstanden werden darf. Der entscheidende Punkt aber, die Wirkung der Literalisierung auf die mündliche Erinnerung, stimmt mehr oder minder überall überein. Das hängt zweifellos mit der gleichartig entwickelten, phylogenetisch und evolutiv bedingten Fähigkeit der menschlichen Spezies zusammen, sich zu erinnern und zu vergessen, und mit der manipulativen Macht des Gedächtnisses. Die Mündlichkeit der Erinnerung erlischt mit der Einführung von Schrift (oder Elektronik) nicht, selbst wenn diese, was keineswegs erwie-
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sen ist, das Gedächtnis verkümmern lassen sollte. Sie behält ihre Nischen und Lebensbereiche, färbt immer wieder die Produkte der Literaten (und Internetsurfer) oder transportiert literarische Produkte in illiterate Bereiche. Jede Zeugenaussage in einem Verkehrsunfall unterliegt, wie geschickt auch der protokollierende Polizist sein mag, den Bedingungen der Wahrnehmung und einer nur mündlichen Erinnerung. Eine gänzlich verschriftete Lebensordnung ist undenkbar. Auch der schriftgewohnte Journalist, Geschichtsschreiber oder Historiker konstruiert situativ Vergangenheit. Sein Assoziationshorizont und seine Darstellungsweise sind von den Umständen seines Arbeitens mit bedingt. Spuren von Mündlichkeit finden sich demgemäß in aller schriftlichen Überlieferung.
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Sophistik, Rhetorik, logisches Denken
Der Dichter Simonides von Keos lebte und sang noch vor dem Zeitalter geschulter Vernunft; er soll neunzigjährig im Jahr 467/66 gestorben sein. Seine Gedächtniskunst orientierte sich am sinnlich erfahrbaren Raum und an keiner kognitiven Ordnung; auf die Schrift zur Memorialhilfe, obgleich es sie längst gab, berief er sich ebensowenig. Doch begann es sich noch zu seiner Zeit und vielleicht eben, wie die Legende will, durch ihn zu ändern. In der europäischen Geschichte gehen fortan Literalisierung und Kategorisierung, Schriftgebrauch und geschultes Denken Hand in Hand. Ein Werk wie die Veden - Ritualtexte und Erklärungen in einem - und eine Kaste an Tradenten gab es hier zu keiner Zeit. Statt dessen beherrschten seit dem späteren 6. Jahrhundert vor unserer Zeitwende Dialektik und zumal Rhetorik, zur Wissenschaft führende Disziplinen, das Feld. Sie gehörten fortan zum Grundbestand jeden Unterrichts. Zumal über die Schulen des Mittelalters (ein vergleichbares einheitliches Schulsystem gab es in der Antike nicht) verbreiteten sie sich gleichmäßig durch ganz Europa, soweit es sich des Lateins als Wissenschaftssprache bediente. Seitdem bedeutete (wenn auch nicht in jedem Einzelfall, gleichwohl tendenziell und auf die Gesamtkultur bezogen) Literalisierung zugleich die Einübung in kategoriales und dialektisches Denken. In der griechischsprachigen Welt von Byzanz fehlten beide Disziplinen zwar nicht, wirkten sich aber aufgrund eines anderen Schulsystems anders aus. Die antike Rhetorik, deren Bedeutung für die Verwissenschaftlichung der Kultur in Europa kaum zu überschätzen ist, brachte zugleich andere Techniken der zeitüberdauernden Tradierung und Stabilisierung des Wissens hervor, als sie die zahlreichen Erzählkulturen der Menschheit
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schufen59 • Sie entdeckte, selbst eine Hochblüte oraler Kultur, das logische, dialektische Denken nach beschreibbaren und einübbaren Regeln, wie sie endlich Aristoteles abschließend formulierte; und sie gab dem Gedächtnis mit der Ausbildung des systematisch folgernden Denkens neue Erinnerungshilfen zur Hand: zu den sinnlichen eben logische Orte. In neuer Weise wurde mit der Kategorienlehre und dem Fragen nach den Kategorien, mit den Lehren von der Satzaussage, vom logischen Schließen und Urteilen abstrahierendes Denken, Folgern und Urteilen eingeübt und durch die Folgerichtigkeit der Gedankenschritte die Erinnerung an entsprechende Aussagen gefestigt. Die neue Denkweise forderte die Gedächtniskunst heraus: Seitdem die Rhetorik sich als eigene Disziplin zu entfalten begann, seit den Anfängen der Sophistik, eines Protagoras von Abdera oder Gorgias von Leontinoi im 5. Jahrhundert v. u. Z. oder - wenn Cicero und andere zu Recht an Simonides erinnerten60 - noch früher, erkannten diese Rhetoren die Hinfälligkeit eben dieses Gedächtnisses und entwickelten, indem sie auf das Zusammenspiel optischer, akustischer und begrifflicher Informationen achteten, spezifische mnemonische Techniken zu seiner systematischen Schulung oder Merkbilder und Diagramme zu seiner Unterstützung61 . Ihre Methoden hatten Erfolg und wurden zumal in der Renaissance wiederentdeckt. Es hat, so Cicero, «im allgemeinen weder jemand ein so ausgezeichnetes Gedächtnis, daß er die Reihenfolge von Worten, Namen und Gedanken ohne Anordnung und Bezeichnung eines Stoffes behalten könnte, noch ein so schwaches, daß es durch diese Übung und Gewöhnung nicht gefördert werden könnte». Die erlernbaren Erinnerungstechniken setzte dieser antike Autor vorzugsweise mit Griffel und Wachstafel gleich. Verschriftung war also auch für ihn die sicherste Gewähr für Nichtvergessen; und die Leistungskraft geschulter Gedächtniskunst wurde an der Schrift gemessen (Orat. 2, 357)' «Wir können uns», so Cicero weiter, «dasjenige am deutlichsten vorstellen, was sich uns durch die sinnliche Wahrnehmung mitgeteilt und eingeprägt hat; der schärfste unter allen unseren Sinnen ist aber der Gesichtssinn. Deshalb kann man etwas am leichtesten behalten, wenn das, was man durch Gehör oder durch Überlegung aufnimmt, auch noch durch die Vermittlung der Augen ins Bewußtsein dringt». Das war so gut beobachtet, daß es die modernen Neurowissenschaften nur bestätigen können. Der Vorgang besitzt symptomatische Bedeutung. An der Schwelle von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit erkannte man die Hinfälligkeit des natürlichen, ungeschulten Gedächtnisses. So gut es in der Zeit der Mündlichkeit gewesen sein mag, es war nun nicht mehr gut genug. Es bedurfte -
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gleich dem Epensänger und Erzähler - der spezialisierenden Schulung, der Folgerichtigkeit einzelner Abrufsequenzen oder der Konzentration zur gezielten Abrufbarkeit bestimmter Inhalte. Auch diese Beobachtung spricht nicht für eine in Antike oder dem ihren Anweisungen folgenden Mittelalter grundsätzlich andere Organisation des Gedächtnisses als heutigentags. Allerlei Hilfen wurden nötig, einprägsame Bilder zur Gedächtnisstütze entworfen. Da zeichnet man beispielsweise im 13./14. Jahrhundert grob eine Hand, nicht das Werk eines Anatomen, schon gar nicht das eines Künstlers, vielmehr ein schlichtes mnemonisches Hilfsmittel, das sich der dreigliedrigen Finger einschließlich des Daumens, der Handballen und des Handgelenks als Erinnerungsstütze für die tägliche Meditation bediente, «weshalb Gott zu lieben sei» - Handballen für Handballen, Glied für Glied ein Leitfaden des Erinnerns 62 . Bilder können noch immer ohne Umweg an das Langzeitgedächtnis überspielt werden; und Konzentration ermöglicht dem Schauspieler nach wie vor, tausende von Versen und Prosazeilen, selbst absurde Dialoge im Gedächtnis zu behalten. Derartige Fähigkeiten indessen verheißen keinesfalls ein gesteigertes Erinnerungsvermögen oraler Kulturen für vergangene Erlebnisse. Auch der Rhetorikunterricht erleichterte nur ein bestimmtes Erinnern. Er diente zunächst der Ausbildung zum Advokaten, schulte vornehmlich die Selektion zweckrelevanter Daten, brachte dann in kulturellem Kontext mit der Zeit höhere Bildung und mündete schließlich in die Verwissenschaftlichung der geistigen Kultur. Dieser Unterricht förderte - auf die Rede ausgerichtet, wie er war - paradoxerweise die Ausbildung der literaten Kultur und mit ihr auch des Geschichtsdenkens. Alle Geschichtsschreiber des Altertums und des Mittelalters von Thukydides an sind durch eine rhetorische Schulung gegangen. Sie veränderte tatsächlich das individuelle, kollektive und kulturelle Wahrnehmen und Erinnern, insofern das Selektierte einem wirksameren Schutz vor dem Vergessen unterstellt wurde. Aber sie erhöhte nicht die allgemeine und medienlose Speicherkapazität des Gedächtnisses für irgendein politisches, soziales, geistiges oder sonst ein Geschehen, durchaus «harte Fakten», wie wir Historiker sie benötigen, um unsere Geschichtskonstrukte zu errichten. Der Triumphzug der Rhetorik (samt der sie begleitenden Dialektik) in Antike und Mittelalter bewirkte die prinzipielle Einheitlichkeit des europäischen Denkens und Gedächtniswesens (gerade im Vergleich zu außereuropäischen Zivilisationen). Man wird somit bei jedem zu interpretierenden Text entsprechender Provenienz zu fragen haben, in welchem Maße sein Urheber jenem intellektuellen Schulungsprozeß ausgesetzt war. Es lassen sich dabei, ohne daß dies hier weiter begründet werden soll, für das
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westlich-lateinische Abendland verschiedene Phasen unterscheiden: eine Frühphase von Karl dem Großen bis etwa um die Jahrtausendwende, die sich noch kaum an originalen Texten aristotelischer Kategorien- und Aussagenlehre orientierte; eine erste Rationalisierungsphase, die durch die Rezeption der «Alten Logik» (Logica vetus) gekennzeichnet ist und bis Petrus Abaelard (ca. 1130) reichte; eine zweite Rationalisierungsphase, die sich mit dem gesamten aristotelischen «Werkzeug» (Organon) auseinandersetzte und etwa bis um 1230 währte; die Hochscholastik, die zu eigenständigen erkenntnistheoretischen Neuerungen führte und im frühen 14- Jahrhundert ihren Höhepunkt und Gipfel erreichte; schließlich die Verstiegenheiten der Spätscholastik, die dann die Opposition der Renaissance und des Humanismus weckten. Das alles formte die Erinnerungsweisen der westlich-europäischen Bildungseliten und den Interpretations-· rahmen der nahezu ausschließlich ihnen verdankten historischen Quellen in entscheidendem Maße. Der Wechsel von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit führte zu weiteren Verschiebungen, obgleich sich noch lange Zeit Attitüden der Mündlichkeit in die Werke der Schrift hinein retteten. Im Mittelalter aber änderte sich die logische Ordnung und Organisation der geschriebenen Texte in einer Weise, die zunehmend auf sichtbare, seltener auf hörbare Zeichen setzte. Das geschah unter dem maßgeblichen Einfluß damaliger «Dialektiker» und brachte für die Geschichte der abendländischen Wissenschaft tatsächlich eine Revolution. Glichen bislang Schriftdokumente ähnlich der gesprochenen Sprache einem kontinuierlich dahinströmenden Buchstabenfluß, den nur selten Satzzeichen lenkten, und dem oftmals jegliche Worttrennung fehlte, der jedwede rasche Orientierung verhinderte und sich einer intensiven Wissensvernetzung widersetzte, so empfingen die Texte jetzt - seit karolingischer Zeit zaghaft, seit dem 12. Jahrhundert immer entschiedener - eine durchkomponierte Strukturierung. Klare Worttrennung, Einschnitte markierende Initialen, Buch- und Kapiteleinteilungen, Absätze, Paragraphenzeichen, deren aller Durchnummerierung, Zwischenüberschriften oder Rubriken, zu späterer Zeit auch eine geregelte Interpunktion verschafften jedem Text eine schon äußerlich sichtbare Ordnung, erlaubten, relevante Textpassagen wiederzufinden, erleichterten fortan jede rationale Textdurchdringung, intensivierten und beschleunigten die Wissensvernetzung und wurden zum Wesensmerkmal jeder mit Texten operierenden Wissenschaft. Rasche Orientierung im Wissen, Querverweise in demselben wurden nun möglich, erleichtert und sicherer. Allegationsmethoden etwa, das zielsichere Verweisen auf Parallelstellen, entwickelten sich binnen weni-
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ger Jahrzehnte unter oberitalienischen Juristen des 11. und 12. Jahrhunderts. Die bloße Mündlichkeit hatte für eine gleichartige Wissensvernetzung viel höhere Barrieren zu überwinden und konnte sie zu keiner Zeit in gleicher Intensität verwirklichen. Nur oder in einem unstrukturierten Text eine bestimmte Stelle aufzusuchen, sie gar mit einer anderen zu vergleichen, strapazierte die Geduld - soweit es überhaupt möglich war. Zumindest bedurfte es wiederholter Rezitation längerer Passagen desselben Textes, um dergleichen logische Operationen zu meistern. 63 Jetzt aber leitete das wissenorganisierende System der Scholastik einen sprunghaften. Fortschritt der Wissenschaften im Abendland ein, der ohne derartige Mittel undenkbar gewesen wäre. Das alles zeitigte auch ein anderes Erinnern, aber keineswegs nur. Wirkungen zeigten sich vielmehr bis in Wahrnehmung, Urteilen und Verhalten hinein, auch in der Auseinandersetzung mit fremden Kulturen. So konzipierte der Geschichtsschreiber und Bischof Thietmar von Merseburg seine «Chronik» noch weiterhin im Modus symbolischen Denkens, was sein Erinnern und Schreiben entscheidend prägte 64; doch bedienten sich nur zweieinhalb Jahrhunderte später die ältesten bekannten europäischen <Spione>, die ausgesandt wurden, um die seit 1240/41 das Abendland bedrohenden Mongolen auszukundschaften, der Franziskanermönch Johannes de Plano Carpini und der Dominikanermönch Wilhelm Rubruck, jener auf das kategoriale Erfassen der Wahrnehmungen hinlenkenden Fragemuster der Rhetorik - Wer? Was? Wann? Wo? Warum? Zu welchem Zweck? Mit welchen Mitteln? -, und diese Vorgehensweise gestattete ihnen zunächst ein geschärftes Wahrnehmen, sodann im erinnernden Nachhinein eine im wesentlichen zuverlässige Berichterstattung über die wahrgenommenen Mongolen65; erst im 19. Jahrhundert wurden diese durch gleichartige neue re Berichte ergänzt und auch übertroffen, deren vermehrter Wirklichkeitsgehalt sich freilich noch immer der Weiterentwicklung antiker rhetorisch-dialektischer Bildung verdankte. So lenkten Rhetorik und Kategorisierung die Wahrnehmung und stabilisierten die Erinnerung und ermöglichten im Verein mit der Schrift auch eine neuartige Zuwendung zur Vergangenheit.
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Der letzte Schritt der Gedächtniskunst, das Frühere nämlich für sich und ohne zugehöriges Jetzt zu betrachten, ließ lange auf sich warten. Das Vergangene allein um seiner selbst willen kennenlernen zu wollen und zu erforschen, es zu keinem anderen Zwecke zu erhellen, als einer rück-
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wärtsgewandten Neugier zu frönen, blieb der jüngsten Manifestation des Gedächtnisses vorbehalten, der elaboriertesten und der menschlichsten, die überhaupt denkbar ist: der Geschichtswissenschaft seit der Wende vom '18. zum '19. Jahrhundert. Ihre historistische Intention, das Vergangene in seinem Eigensein zu erfassen, darf für frühere Geschichtsschreiber keinesfalls vorausgesetzt werden. Sie ist aber zugleich auch die problematischste und - in doppeltem Sinne - kritischste Erinnerungsform, die sich denken läßt, da sie jede Vergangenheit zwar kritisch, doch ohne die ihr zugehörigen Gegenwarten zu greifen versucht. Geschichtswissenschaft will mehr sein als eine Manifestation von Gedächtnis. Sie greift nach der entschleierten, nach der nackten Vergangenheit. Wie weit das möglich ist, stehe dahin. Was aber wird ohne jene schriftgebundene Intention, erkennen zu wollen, was eigentlich war, erinnert oder vergessen? Bereits Herodot, der «Vater der Geschichtsschreibung», wie ihn Cicero erstmals nannte (De legib. '1, 5), schrieb gegen das Vergessen an (I, pr.), und Thukydides, der erste kritische Historiker, klagte über die Hinfälligkeit der Erinnerungen und sann auf Abhilfe. Herodot stand in der Tradition der älteren ionischen Geschichtsschreibung, die - der Bibel gleich - mit den ältesten Zeiten, dem Urbeginn, dem Chaos, der Theogonie und den Heroen der Vorzeit einsetzte und an die eigene Gegenwart heranführte. Er benutzte kultische Mythen, Theogonien, die er zu Geschichtserzählungen umformte. Mythen operieren mit mythischer Zeit, das heißt: mit ewiger Gegenwart, nicht mit fließender Vergangenheit. Sie erinnern, indem sie abstrahieren. Herodot aber ging über das Vorgefundene hinaus, insofern er ein begrenztes Darstellungsziel verfolgte, nämlich in der kontingenten Fülle generationenübergreifenden menschlichen Geschehens, in den Kreisläufen menschlicher Dinge die Ursachen aufzuklären, weshalb Hellenen und Barbaren Kriege führten (I, pr.). Und zwar «jetzt», zu seiner, Herodots, Zeit. Gegenwartsverpflichtet war beides, die mythische Tradition sowohl wie die entmythologisierte Ursachenforschung für die aktuellen Kriege, Entscheidungshilfe vielleicht dazu 66 • Der Historiograph betrieb dafür Ethnographie, sammelte eigene und fremde Erfahrungen, unterwarf sie Selektionsprozessen und Erzählmustern, immer bestrebt, seine Geschichte zu einem Ganzen abzurunden. Das Gedächtnis diente als sichere Bezugsquelle von Wissen über die Vergangenheit. Die bislang unbewußte Sinnzuweisung an Erinnertes, überhaupt an das, was das Gedächtnis unbewußt leistete, wurde hier zu einer bewußten, expliziten, literarischen Technik. Mit der altorientalischen «Theologie des Willens» (J. Assmann) hatte
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dies letzte wenig zu tun; einen normativen, dem Willen der Götter entspringenden Sinn des Geschehens gab es nun nicht. Was immer geschehen war, trug, so sah es Herodot, seinen Sinn in sich; der Historiograph hatte ihn aufzuweisen und darzustellen. Beobachtungen, Berechnungen, Einzelinformationen, umfassende Berichte, Redeauftritte und abwägendes Prüfen wurden zu fortlaufenden Erzählungen verwoben; Geschichte entstand als sinnstiftendes Literatenwerk. Reflexionen und Deutungsmuster lenkten die Argumente. «Weichliche Länder pflegten weichliche Menschen hervorzubringen», hieß es zum Beispiel (IX, :122); Verallgemeinerungen dieser Art stand eine glänzende historiographische Zukunft bevor; Tacitus etwa folgte derartigen Einsichten; seine ganze «Germania» war Explikation dieses Theorems. Die Zuverlässigkeit und <Wahrheit> historischer Quellen kündigte sich nunmehr als Problem an. Eine breite Palette sprachlicher Abwägungsmuster läßt sich erkennen. «Die Ägypter erzählen ... », «So erzählt man in Korinth, so in Lesbos ... ». Hier «könne man jener Sage folgen, die man für glaubwürdiger hält»; dort «habe ich meine eigene Meinung dargelegt» (11, :146); «Daran glaube ich nicht ... », «Möglich ist ja ... »; «Es gibt eine zweite Überlieferung ... »; «Ich aber behaupte ... » (VII, 2:14). Gleich seinen Vorgängern reiste auch Herodot durch die Länder, von denen seine Geschichtsbücher handeln, sammelte und schrieb auf, was er sah und erfuhr und was man jeweils erzählte. Er vereinte es zu seinen~~ Historien. Kenntnis und Beschreibung der Fremde und Geschichtsschreibung, die Erforschung des Raumes und der Zeit hingen aufs engste zusammen67 • Das so gewonnene Wissen aber war episodisch; die zugehörige Semantik besorgte und formulierte der Geschichtsschreiber. Das <Eigentliche> war sein Werk. Manches wird Herodot in Delphi beim Orakel erfahren haben, wo die zahlreichen Weihgeschenke an ihre Stifter erinnerten. Eine noch sichtbare Gabe mochte die Wahrheit der an sie geknüpften Erzählung sichern. Herodot kannte die Geschichte von Arion, dem Sänger, der auf dem Delphin ritt (I, 2) f.). Er ließ sie sich in einem festumrissenen historischen Kontext ereignen und bekräftigte ihre Glaubwürdigkeit durch den Hinweis auf Parallelüberlieferungen und Bildwerke: «So erzählt man in Korinth und in Lesbos, und ein ehernes Weihebild des Arion von bedeutender Größe ist in Tainaron aufgestellt: ein Mann reitet auf einem Delphin.» Das Verfahren erinnert an die Geschichte vom deutschen 50Pfennig-Stück, die sich Jahrtausende später in einem Dorf auf Flores, einer ostindonesischen Insel, im Jahre :1986 zugetragen hat, und die der Frankfurter Ethnologe Karl-Heinz Kohl berichtet. Im ägyptischen Theben führten Priester den Herodot ins Innere des Tempels und zeigten
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ihm die hölzernen Statuen ihrer Oberpriester, dreihundertfünfundvierzig an der Zahl, immer der Sohn auf den Vater folgend; und sie kannten sie alle (11,1.42-3)' Vor ihnen hätten die Götter geherrscht, als ihr letzter Horos, der Sohn des Osiris. Eine ungeheure Erinnerungsleiste in die Vergangenheit zurück, bis in den Mythos. Herodot rechnete nach: drei Generationen für ein Jahrhundert, mithin zehn-, elftausend Jahre bild-gestütztes Gedächtnis - der Grieche staunte, aber zweifelte nicht. Es empfiehlt sich, Herodot bei seiner Tätigkeit noch ein wenig länger über die Schultern zu schauen, um die Erinnerungsweisen im Übergang von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit genauer zu erfassen. Da ist zum Beispiel vom Untergang des Kandaules die Rede, des letzten Herakliden in Lydien, und vom Aufstieg der Mermnaden, der Familie des Kroisos und ihres Ahnherrn Gyges (I, 7 H.). Herodot stützte sich für seine Darstellung auf ein Gedicht des Archilochos von Paros in dreifüßigen Jamben, ein Werk elaborierter Mündlichkeit also. Was sich da als Eigenname behandelt sah und einen individuellen Herrscher zu benennen vorgab, «Kandaules», war tatsächlich eine Amtsbezeichnung, kein Name. Personales erschien in der Gestalt des Allgemeinen, unmerklich abstrahiert; und umgekehrt: Allgemeines hatte sich personalisiert. Die Erinnerung an das, was war, wenn es denn eine solche war, verfestigte sich in einer den Einzeldingen und Einzelereignissen entrückten Weise. Auf die Ebene alltäglichen Geschehens transponiert, klang die Geschichte eher trivial und entpuppte sich als ein weitverbreitetes Erinnerungsmuster. Kandaules hatte seinen Gastfreund Gyges, einen Fremden, ins Schlafgemach seiner Gemahlin, «der allerschönsten Frau der Welt», geführt, damit er mit eigenen Augen den Beweis seines Glücks vor Augen sähe. Die Frau aber entdeckte Gyges, als er sich von dannen schlich, schämte sich, entehrt, wie sie war, und rächte sich an ihrem Gemahl, indem sie mit ihrer Schönheit Gyges betörte und dazu brachte, Kandaules zu töten, um selbst den Thron zu besteigen. In ähnlicher Weise wie Herodot den Untergang der Herakliden schilderte, entwarf mehr als ein Jahrtausend später Fredegar das Ende römischer Herrschaft in Trier. Auch hier wurde eine Frau entehrt und bewirkte durch ihre Rache den Untergang eines großen Reiches. Lüstern nach der Gemahlin des Senators Lucius, «die schöner war als alle anderen», wußte der Kaiser Avitus die Dame in sein Schlafgemach zu locken und zu vergewaltigen. Der geprellte Ehemann rief die Franken herbei, die Trier umgehend niederbrannten und schließlich die Herren ganz Galliens wurden. Die Geschichte der Reiche, Städte und Völker erscheint personalisiert, als Verhalten einiger weniger Personen auf familiärer Ebene geradezu als Bettgeschichte. Als Rache aus gekränkter Ehre zur Wiedergewinnung des
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verlorenen Gesichts vollzieht sich das Verhängnis. Die Geschichten folgten damit einem Erinnerungs-, Erzähl- und Erklärungsmuster, das so alt sein dürfte wie das Ehrgebot für eine verheiratete Frau und das durch seine Musterhaftigkeit die Wahrheit des Erzählten garantierte. Geschichte um Geschichte wurde nach ihm geformt, eine Unzahl von Vergangenheiten nach einheitlichem Muster konstruiert, deren keine <den Tatsachem entsprach. Auch der Tod Alboins, des Königs, der die Langobarden im Jahre 568 christlicher Zeit nach Italien führte, unterlag, nur ein wenig variierend, der prägenden Kraft dieses Musters. Paulus Diaconus, hochgebildeter Langobarde und Geschichtsschreiber seines Volkes, bezeugt es (Hist. Langob. 11, 28). Die Demütigung der Frau geschah nun, indem Alboin seine Gemahlin zwang, aus der Hirnschale ihres von ihm erschlagenen Vaters zu trinken. Der Mörder wurde abermals im Bett gedungen. «Niemand soll das für unmöglich erachten. Bei Christus, ich sage die Wahrheit. Ich habe die Schale an einem Feiertage selbst gesehen, als König Ratchis sie in Händen hielt, um sie seinen Trinkgenossen zu zeigen.» Das Muster leistete gute Dienste, solange der Blick zurück den Vorgaben mündlichen Erinnerns folgte, und selbst dann noch, als - wie bei dem Diakon Paul- die Literalität von der Erinnerung Besitz zu ergreifen begonnen hatte. Objekte dienten als Erinnerungsstütze und als Beweis für die unterstellte Tatsächlichkeit. Das Wissen über die Vergangenheit war in der Zeit der Mündlichkeit eine Serie objektverhafteter, mustergeleiteter Geschichten, nicht Protokoll , sondern in dem <ewig> gültigen Wissen, das aus ihnen zu ziehen war, und das sich ihrer aller zugleich, unter Aufhebung jedes zeit-
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lichen oder situativen Nach- und Nebeneinanders, zu ~edienen verstand; in ihrem Sinn, den der Erzähler, der Geschichtsschreiber erkannt und dargestellt hatte. Einen entscheidenden Schritt weiter als Herodot ging Thukydides (I, 20-23). Er wurde subtiler. Seine Darstellung verknüpfte Handlungsstränge und soll, so erklärte er, aufgrund beigebrachter Beweise Glaubwürdigkeit besitzen. Thukydides suchte nach den besten Quellen, für die er die eigene Anschauung oder sorgfältigste Forschung erkannte. So gedachte er denen zu genügen, «die wissen möchten, wie es gewesen ist» (I, 22). Das klang recht vergangenheitsverpflichtet. Doch es war nur die halbe Geschichte. Denn auch Thukydides betrachtete nicht irgendeine Vergangenheit, vielmehr «Dinge, die nicht etwa der grauen Vorzeit, sondern noch ganz der Gegenwart angehören» (I, 20). «Gleich bei Ausbruch des (Peloponnesischen) Krieges» habe er begonnen, ihn zu beschreiben, da dieser, wie er ahnte, «groß und denkwürdig» werden würde (I, 1). Er beschrieb ihn als selbst Beteiligter (VI, 104-6), erinnerte sich seiner als ein von ihm in eminentem Maße Betroffener; und er erkannte in der Geschichte seiner Zeit ein Exempel dafür, wie es «zu allen Zeiten» zugehe: «Mir soll es genügen, wenn auch nur diejenigen, welche wissen möchten, wie es gewesen ist und mehr oder weniger zu allen Zeiten in der Welt zugehen wird, mein Buch für ein nützliches halten» (I, 22). Auch hier überlagerte das Allgemeinwissen die Einzelheiten der Vergangenheit und stiftete für die Gegenwart Sinn. Das «wie es gewesen» fließt hinüber in das «wie es zu allen Zeiten zugehen wird». Thukydides traute der Schrift zu, Geschehen zu bewahren, «wie es gewesen ist». An solchem Vermögen ließ sich das Gedächtnis überprüfen. Er sammelte Erfahrung im Umgang mit demselben und begann, seine Zuverlässigkeit zu bezweifeln. Die Athener, so wußte der Geschichtsschreiber beispielsweise, hielten den Hipparchos für einen Tyrannen, den Harmodios und Aristogeiton ermordet hatten, während er in Wahrheit der verschmähte Liebhaber des Harmodios war und kein Tyrann, vielmehr nur der jüngere Bruder eines solchen, des Hippias nämlich (I, 20 und VI, 54-9). Dessen Herrschaft habe erst nach und infolge der Ermordung des Hipparchos «schwerer auf den Athenern gelastet» (VI, 59)' Es wurde also des Opfers gedacht und der Tyrann vergessen. «Da aber Hipparchos durch sein trauriges Ende so berühmt wurde, glaubte man später, er sei damals auch Tyrann gewesen» (VI, 55). Thukydides kritisierte ein Teleskopierverfahren. Er habe statt dessen, so gibt er an, über den Sachverhalt «genauere Nachforschungen angestellt als andere» (VI, 55) und, so ist hinzuzufügen, auch scharfsinnigere Schlußfolgerungen gezogen. Genauer: das bedeutete das Beibringen
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glaubwürdiger Beweise (vgl. I, 21), wie sie zum Beispiel in alten, halbverwitterten Inschriften zu finden waren (VI, 54-9); scharfsinniger: das setzte Schlußfolgerungen aufgrund von Indizien voraus, wie sie Thukydides als geschulter Sophist, als dialektisch geschulter Rhetoriker, zu ziehen verstand (vgl. VI, 55). Ohne solche kontrollierenden Verfahren aber «sind die Menschen nur zu sehr geneigt, alles, was man ihnen von älteren Zeiten erzählt, umgehend für die Wahrheit zu nehmen» (1,20) - unkritisch gegenüber dem Erinnerten und deshalb hilflose Opfer der Erinnerungsflut, die über sie hereinbricht. Thukydides erfaßte mit derartigen Beobachtungen den tiefen Einschnitt im Erinnerungswesen seiner Zeit, der Herodot noch entgangen war. Schriftstücke nämlich und geschulte Dialektik unterstützten nun das Gedächtnis, veränderten - bewußt und gezielt herangezogen - das Wissen über die Vergangenheit, weil sie es nachprüfbar machten, und schufen eine andere, die <wahre> Geschichte, so wie sie «wirklich» war. Bloße Mündlichkeit sah sich diskreditiert, wenn auch nicht völlig. Ohne Schriftzeugnis und ohne Logik aber dürfe man - so des Thukydides implizite Empfehlung - «nicht jeder überlieferten Nachricht in gleicher Weise Glauben schenken» (1,20). Dies leuchtet ein, freilich nur dem, der sich von der Leistungskraft beider, dem Schriftbeweis und dem logischen Argument, hat überzeugen können. Für eine umfassende und theoretisch begründete Kritik der Mündlichkeit war es noch zu früh. Thukydides trennte nicht zwischen den verschiedenen Gedächtnisschichten. Gleichwohl, die neue Erkenntnis setzte einen Kulturschub voraus, der Literalität und Logik miteinander verschmolz und ihre Einheit sozial, durch Professionalisierung, verfestigte. Ohne ihn standen alle überlieferten Nachrichten gleichberechtigt und gleicherweise <wahr> nebeneinander, unterlagen unkontrollierten, zufälligen Selektionsmechanismen und produzierten eine Vergangenheit, die das, was tatsächlich war, zerschmelzen ließ wie Eis in der Sonne. Die älteren Dichter, selbst Herodot, ein nur unwesentlich älterer Zeitgenosse des Thukydides, hatten solches noch nicht erkannt. Warum nicht? Auch des Thukydides Mitbürger hatten sich schwergetan, wie jene irrige Geschichte vom Tyrannenmord zu erkennen gibt. Ihr Interesse an der Vergangenheit war, so deutete der Historiker an, von deren Wirkung auf ihre Gegenwart abhängig, nicht von antiquarischem Wissenwollen. Die Wirkung des Mordes aber ließ sich allenthalben fassen: kollektive Angst, Mißtrauen, übersteigerte Reaktionen, irgendwie der ganze Krieg, dessen Geschichte eben dargestellt werden sollte. Keiner der Athener war vom angeblichen Tyrannenmord persönlich betroffen, ihr politischer Verband insgesamt aber, die Polis, war durch die Beseitigung der
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Tyrannei aufgewühlt und tiefgreifend verändert. Das entschied über ihr Vergangenheitsbild. Späteres hatte Früheres überlagert und verformt, Ursache und Wirkung vertauscht und eine Geschichte produziert, die zwar nie geschehen war, gleichwohl für geschehen galt. Persönliche Betroffenheit schärfte und lenkte die individuelle Erinnerung; entscheidend für die Leistungskraft solchen Erinnerns konnte geradezu der Grad der unmittelbaren Betroffenheit sein. Je geringer er war, desto verschwommener wurde die Erinnerung, desto mehr paßte sie sich dem allgemeinen Wissen an. Das kollektive Gedächtnis jedoch glitt über Einzelheiten hinweg und bewahrte - durchaus in personalem Gewand - das Allgemeine, welches die Einzelheiten verwischte: So wurde aus Hippias Hipparch und aus dem Geliebten der Tyrann. Thukydides entzifferte diese Inversion. Gleichwohl, bei aller kritischen Einstellung gegenüber der mündlichen Überlieferung, sein Programm verhieß keine neuartige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit um ihrer selbst willen. Was dieser erste kritische Historiker verkündete, war die alte Funktion des Erinnerns, die auch ihm noch die Feder führte. Er wurde sich nur seiner Intentionen und seines Verfahrens bewußt und veränderte daraufhin seine Vorgehensweise, zog ausgiebiger Erkundigungen ein, verwertete vermehrt Schriftquellen, zumal Inschriften, denen er ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit attestierte, bediente sich überhaupt der Schrift und vor allem geschulter Logik. Er erhöhte mit all dem die Überprüfbarkeit seines Wissens, nahm ihm indessen nichts von seiner perspektivischen Ausrichtung auf die Gegenwart und entkleidete es auch nicht seiner Herkunft, die zumeist auf mündliche Berichte und Erinnerungen zurückführte. Alles Frühere schrumpfte zur Vorgeschichte des Gegenwärtigen und Zukünftigen. Das Wissen um die Vergangenheit diente wie eh und je als Entscheidungshilfe für heute. Möglich war es, weil Thukydides selbst von den Ereignissen, an die er erinnerte, ganz unmittelbar betroffen war; sein eigenes Gedächtnis wies ihm - oft genug und ohne jegliche Warnung - die Richtung und den Weg zur vergangenen Wirklichkeit. So ahnte der Geschichtsschreiber mehr die Verformungskraft des Gedächtnisses, als daß er sie schon zu analysieren verstand. Die Funktion des Erinnerns, die in der Antike wie später im Mittelalter und weithin in der Neuzeit das Feld beherrschte, nämlich aus der Geschichte zu lernen, die Geschichte als Exempelsammlung, als Muster, Vorbild oder Warnung für aktuelles Handeln zu nutzen, folgte unverändert der evolutiven Ausrichtung des Erinnerungsvermögens auf Gegenwart und Zukunft. Die Unmittelbarkeit jeder Epoche zu Gott -
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dieser vom Heute abstrahierende Gedanke - kam Thudydides noch nicht in den Sinn. Erinnerung war auch für ihn ein Wissen für die Gegenwart, überschichtet von dem, wie es immer sein sollte. So entwickelte Thukydides auch keine Methode der Trennung des durch Mündlichkeit Verformten in schriftlich Fixiertem. Er vertraute eben der Schrift. Doch war sein Verfahren heuristisch genauer und erklärungsreicher geworden als je zuvor. Es hatte zugleich durch seine schriftliche Fixierung eine für alle Zeit unveränderte, eine objektivierte Historie heraufgeführt; und dies sollte Folgen zeitigen. Thukydides' Werk indessen konnte nicht wirklichkeits gemäßer sein, als es die Wirkungen jener Mündlichkeit zuließen, die nach wie vor den herangezogenen Erzählungen innewohnte, aus denen - trotz aller Skepsis - der Historiograph das Gerüst seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges gezimmert hatte. Auch dieser große Geschichtsschreiber verhielt sich wie Jahrtausende später der Fürst Eulenburg, Karl Löwith oder John Dean. Er unterlag den Str~tegien des Gedächtnisses, der Musteranpassung, der Wiederholung, der Selektion und Inversion seiner Daten, dem Gewißheitssyndrom, der Konstruktivität und gleitenden Aktualisierung seiner Erinnerungen - was es im einzelnen noch vielfach aufzuklären gilt. Die Geschichte der Geschichtsschreibung sei hier nicht weiter verfolgt. Ihre Entwicklung dehnte sich über die Jahrhunderte von der Antike über das Mittelalter zur Neuzeit. Ohne Zweifel bewirkte die Renaissance mit ihrer erklärten Absicht, «zu den Quellen» zurückzusteigen, einen Modernisierungsschub, der für die Erforschung der Vergangenheit unabdingbar war. Gleichwohl bedurfte es der , um eine systematische und konsequente Historisierung der Vergangenheit auf den Weg zu bringen68 ; und erst die moderne Quellenkritik, Geistes- und Sozialgeschichte und Wissenssoziologie, auch rechnergestützte Datenverarbeitung öffneten die Wege zu einer Geschichtsforschung als Erfahrungswissenschaft, die aus dem Zusammenwirken natürlicher und kultureller Handlungsspielräume menschliches Handeln zu begründen und damit in neuer Weise die Erfahrungen der Vergangenheit für die Gegenwart nutzbar zu machen vermögen. Das Gedächtnis und seine Operationsweise aber ist einer der Faktoren, die dabei berücksichtigt werden müssen.
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Stabilisierungs strategien von Erinnerungskulturen
8.9
Nur eine begrenzte Leistungskraft der Gedäch tnis-Stabilisatoren
Bloße Erinnerung, die sich auf keine weiteren Hilfsmittel als das Gehirn zu stützen vermag, überlebt, so zeigte sich, nur in einer nicht vorhersagbar und unkontrollierbar verformten und sich unablässig weiter verformenden Gestalt, werden keine Gegenmaßnahmen ergriffen, allenfalls zwei bis drei Generationen. Die Inventions- und Aktualisierungskunst mündlicher Erinnerungen ist ständig am Werk, wie die Traditionen indigener Gesellschaften verdeutlichen können; und der Einsatz der Schrift vermag es nur eingeschränkt zu ändern. Traditionen, die <echt> aussehen, können sich bei genauerer Nachprüfung als falsch oder verformt oder als spät erfunden erweisen. Der Historiker, der sich mit mündlichen Traditionen konfrontiert sieht, wird ohne genaue Kenntnis ihrer Herkunft dieselben nur mit erheblichen Vorbehalten für seine Datensammlung heranziehen können. Die Erfahrungen der Ethnologie entsprechen denn auch den durch die Kognitionswissenschaften erkannten Verhaltensweisen des menschlichen Gedächtnisses. Ihre Befunde unterscheiden sich, solange keine Kanonisierung Überlieferungen auf Dauer stellte, nur unwesentlich von den Beobachtungen der Bibelforscher. Beide dürfen denn auch für die Beurteilung analoger Phänomene in den europäischen Kulturen berücksichtigt werden. Sie stellen dafür ein weites und reiches Vergleichsmaterial zur Verfügung, das methodisch bisher noch kaum genutzt wurde. Sie verdeutlichen das kontinuierliche Weiterfließen mündlich tradierter Erinnerungen; sie verweisen auf den Modus der Vergangenheit als ein Interpretament der Gegenwart, auf das Aushandeln der Erinnerungen nach den Bedürfnissen des Tages, deren Situativität und Abhängigkeit von der Kommunikation der Individuen und Gruppen, auf das Fortfließen der Inhalte. Autoritative Eingriffe in den Erinnerungsprozeß sind zwar nicht ausgeschlossen; aber das autoritative Gedächtnis unterliegt einem nämlichen Verformungs druck wie das darstellende. Um mündliche Traditionen auswerten zu können, bedarf es auch jetzt der Erinnerungen der einen, der Gegenerinnerungen der Gegenseite, der Parallelerinnerungen beider Seiten und neutraler Kontrollzeugnisse. Erst deren wechselseitiges Abwägen gestattet, den Wirklichkeitsgehalt der Erinnerungsleistungen von Individuen oder Kollektiven angemessen zu würdigen. Die Nacht des Vergessens dämmert kontinuierlich und in kaum merklichen Übergängen herauf. Elaborierte Mündlichkeit bewahrt zwar län-
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ger, verformt aber das zu Bewahrende zu Liedern, kanonischen Texten oder zu kultrelevanten Mythen, reißt die dargestellten Einzelheiten aus dem diachronen Zusammenhang des Geschehens und ihrem Kontext heraus. Sie bewirkt eine schlaglichtartige Beleuchtung des Selektierten, doch zugleich die völlige Verdunkelung des Ausgesparten. Auch das Kanonisierte ist eingeschlossen in ewiges Vergessen und bewahrt nur in den seltensten Fällen die Schlüssel, die diesen Abschluß wieder entriegeln. Das Ausgeschlossene, das Abweichende und Fremde rettet kein Kanon, obgleich er sich eben diesen Abgrenzungen verdankt. Hier wird ein methodisch kontrolliertes Hinterfragen des Überlieferten nach allen Regeln der Gedächtniskritik unabweisbar, soll, was den Kanon hervorgebracht hat, in seinem Eigensein hervortreten können. Die Schrift als in der Tat wirksamster Stabilisator der Erinnerung endlich entläßt dieselbe nicht völlig aus den Verwandlungsateliers modulationsbereiter Aktualisierung. Sie bleibt angewiesen auf die der Mündlichkeit verpflichteten und damit auf die allen Verformungs kräften des Gedächtnisses durchaus erkennbar ausgelieferten Primär-Informationen; auch stellt sie nur auf Dauer, was der sich ihrer bedienende Schriftkundige gemäß seinem erinnerungsgespeisten Vorwissen und seinen kognitiven Fähigkeiten selektierte. Die Schrift entbindet den Historiker somit nicht von der Beachtung der Arbeitsweisen und Arbeitsbedingungen des menschlichen Gedächtnisses, wie sie durch die Kognitionswissenschaften erforscht werden. Doch verbesserte sich im Laufe der Jahrhunderte seit der Antike die Handhabung der schriftgebundenen Mittel und gestattete eine immer präzisere Wahrnehmung, eine angemessenere Deutung des Wahrgenommenen und eine inhaltsstabilere Transmission des erworbenen Wissens. Die Entdeckung der Rhetorik, ihrer gezielten Gedächtniskunst und des mit ihr einhergehenden logischen, durch den Gebrauch kontrollierbarer Regeln in folgerichtigen Schritten gelenkten Denkens steigerte erneut die Zuverlässigkeit der Erinnerung wenigstens an jenes Wissen, das sich ihren Regeln unterworfen sah, oder genauer: ihre potentielle Zuverlässigkeit. Denn die mit dem sich nun mehrenden Wissen wachsenden Anforderungen an das Gedächtnis überstiegen bald die memorativen Kapazitäten des einzelnen Menschen. Die Gelehrten erinnerten sich nicht besser als andere Menschen, vielmehr nur an anderes. Die Anforderungen an das kollektive und kulturelle Gedächtnis nahmen zu. Sie konnten sich auf Archiv und Bibliothek stützen und erhöhten die text stabile Verfügbarkeit und Vergleichbarkeit des Wissens sowie seine zeitübergreifende Kontrolle; auch beschleunigte sich nun seine Mehrung rasant, forderte aber im Gegenzug zur Bewältigung der nun
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Stabilisierungs strategien von Erinnerungskulturen
immer rascher anfallenden Stoffmassen neue Formen des Zugriffs und der Bearbeitung, die zugleich neue Formen des kollektiven Gedächtnisses darstellten: Schule, Universität und Wissenschaft, Wissensspeicher, Wissensorganisation und -distribution, Wissensmanagement und dergleichen mehr69 . Bereits zu Ende des 12. Jahrhunderts wurde der mit Bibliothek und Universität unaufhaltsame Wissenszuwachs nicht ohne Sorge beobachteeo. Das Leistungsvermögen und die Flexibilität derartiger Gedächtnishilfen sowie eine effiziente Zugriffsmöglichkeit auf sie entschieden (und entscheiden noch immer) über den kulturellen Erfolg einer Gesellschaft. Das alles ist selbstverständlich auch für das mittelalterliche Jahrtausend zu beachten. Die strukturellen, semantischen und praktischen Merkmale seiner Informationen glichen zu Beginn denen, die auch sonst in menschlichen Gesellschaften anzutreffen sind. Trotz einer gewissen Schriftlichkeit herrschten weithin die Attitüden der Mündlichkeit. Kanonisierung hat nur die heiligen Schriften erfaßt, neben der Bibel, die Liturgie und das Kirchenrecht, später bedingt auch die Texte der Kirchenväter, die freilich lange Jahrhunderte mehr in Florilegien gelesen als im zur Kenntnis genommen wurden. Werke der Geschichtsschreibung, die für neue Werke ausgewertet und nicht bloß abgeschrieben wurden, lassen einen anders gearteten und damit verformungsanfälligeren Umgang mit der Erinnerung erkennen. Zwar führten die aus der Antike übernommenen und weiter entwickelten mnemonischen Techniken durchaus zur kulturellen Wissensstabilisierung; aber sie steigerten nur die kollektiven, nicht die individuellen Gedächtnisleistungen. Nichts berechtigt, den mittelalterlichen gedächtnisabhängigen Quellen größeres Vertrauen hinsichtlich ihres Wirklichkeitsgehaltes entgegenzubringen als den im Einleitungskapitel vorgestellten vier Beispielen für unwillentliche und unwillkürliche Fehlerinnerungen. Die Menschen im Mittelalter besaßen kein anderes Gedächtnis als ihre Nachfahren heute; deren Fehler waren auch die ihren. Was also kann der Historiker tun, der durch die irritierenden Schöpfungen des Gedächtnisses dringen und sie entwirren will? Auch jetzt sollen - getreu der <Methode> des Simonides von Keos - Einzelfälle untersucht werden, um allgemeine Antworten zu finden: die Taufe des Merowingers Chlodwig, des ersten katholischen Frankenkönigs, ein epochemachendes Ereignis, und die Identität des hl. Benedikt, des, wie es so schön heißt, «Vaters des abendländischen Mönchtums».
IX.
Gedächtnis in der Kritik: Chlodwigs Taufe und Benedikts Leben
«Du hast gehört, wie deine Großmutter, Frau Chrotchilde seligen Angedenkens, ins Frankenland kam und wie sie Herrn Chlodwig auf den katholischen Glauben hinlenkte; und da er sehr schlau war, gab er keine Ruhe, bis er das Wahre erkannte.» Gedächtnis, Hören und Mündlichkeit kennzeichneten die Vergangenheitsbilder des frühen Mittelalters: «Du hast gehört» - Audisti. Mündlichkeit auch dann, wenn - wie im vorliegenden Fall - das heutige Wissen der Schrift, einem Brief nämlich, verdankt wird, den der Bischof Nicetius von Trier an die langobardische Königin Chlodoswinda, eine Merowingerin, sandte. Nicetius war Mönch, bevor er den Bischofsthron bestieg, und stammte aus Aquitanien; die Verehrung des hl. Martin, die auch bei Chlodwigs Taufe eine Rolle gespielt haben dürfte, hat er aus seiner Heimat mit an die Mosel gebracht. In Glaubensdingen war er ein unerbittlicher Hüter der Orthodoxie. Auch jetzt ging es um sie. Der heilige Mann drängte die rechtgläubige Königin, ihren Gemahl, König Alboin, für die katholische Lehre zu gewinnen 1. Die erinnerte Vergangenheit sollte die Gegenwart leiten und formen. Die Rolle der Ehefrau stand dabei im Mittelpunkt, nicht die genaueren Umstände, daß Chlodwig getauft worden war, Alboin aber zur Konversion gedrängt werden sollte. Wir haben es mit situativ selektiertem, schriftlich fixiertem Hörensagen zu tun. Darüber, über jenes Audisti, «du hast gehört», kommt kein Historiker hinaus. In der Tat, die bisherige Untersuchung warnt vor allzu großen Erwartungen in die Erinnerungsfähigkeit oraler und schriftarmer Kulturen. Ohne trainiertes Spezialistentum, ohne Aufzeichnungen und schriftgestützte Zwischenstufen zwischen Erlebnis- (oder Informations-) und Memorialzeit unterliegt alles Erinnern höchster Veränderungsdynamik. Der ganze Kontext erinnerten Geschehens, die beteiligten Personen, die angegebenen Zeiten, Daten, Orte und Regionen, die überlieferten Handlungen, Ziele, Absichten und Leistungen, jeder einzelne Umstand - kurzum: die können entstellt sein. Nichts ist vor partieller oder vollständiger Verformung gefeit. Was jeweils in welcher Weise verzerrt oder unverzerrt erinnert wird, läßt sich ohne begleitende und unabhängige Quellen schlechthin nicht erkennen. Singuläre Überlieferungen erinnerter Vergangenheit ohne erinnerungskritische Analyse hinzuneh-
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Gedächtnis in der Kritik
men - also, um nur wenige Beispiele zu nennen, in weiten Teilen Gregor von Tours, Gregor dem Großen, Paulus Diaconus, Widukind von Corvey, dem «Gallus Anonymus», Cosmas von Prag, den ältesten Chroniken der Polen und Tschechen oder dem gelehrten Odofredo von Bologna2 , der sich auf die Frühzeit seiner Alma Mater besann, zu folgen, ohne die jeweils eingesetzten Erinnerungsmittel und Erinnerungsmuster, die unablässig, doch unbewußt wirksamen mnemonischen Aktualisierungskräfte, die Vergessensstrategien des individuellen und kollektiven Gedächtnisses für die erinnerte Information (nicht oder nicht nur für die erinnernde Gegenwart) und damit insgesamt die Verformungskräfte in Rechnung zu stellen, die auf das Erinnerte eingewirkt haben - derartig einzige Texte also zu betrachten, als seien sie unmittelbare Manifestationen der Ereignisse selbst, geradezu polizeiliche Unfallaufnahmen oder Parlamentsprotokolle, macht die Historiker, ohne daß sie es merken, zu mythenspinnenden Nornen. Nicht einmal wiederholte schriftliche Aufzeichnungen bewahren sie völlig vor diesem Los; sind doch auch diese Texte nie vollends frei von Verzerrungen, welche die ihnen zugrundeliegenden Akte der Erinnerung und Mündlichkeit bewirkten. Wenn wir im folgenden zwei herausragende Beispiele der Geschichtsschreibung des frühen Mittelalters Chlodwigs Taufe und St. Benedikts Erdenleben - genauer betrachten, kommt es uns dabei weniger auf die Abtragung der einzelnen historischen, literarischen, epigonalen oder stilistischen Schichten in den verschiedenen Überlieferungen an (die in Chlodwigs Falle immerhin verdeutlichen, daß es keine spezialisierte, gar kanonisierte mündliche Überlieferung gab), auch nicht auf den Bildungskontext, in dem die Historien und Chroniken stehen, so wichtig er auch sein mag, als vielmehr auf die Erinnerungsschichten selbst, die einander überlagerten und die Geschichtsschreiber prägten, auf deren Haltung gegenüber den memorativen Mitteln, auf den Gebrauch diverser Erinnerungsmuster, auf die mustergeleitete konstruktive Kraft historischen Gedächtnisses, welches stets Vergessen und Kreativität mit einschließt. Literalität, der Gebrauch literarischer Muster und die Realisierung spezieller Darstellungsziele, überlagert dann die Erinnerungskonstrukte noch einmal und überzieht sie mit einem zweiten Verformungsraster; beide Verformungskräfte wirken wechselseitig aufeinander ein. Doch wird der literarische Prozeß hier nicht eigens untersucht, sondern nur beiläufig vermerkt.
Chlodwigs Taufe
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Chlodwigs Taufe
Woran nun erinnerten sich Nicetius und Chlodoswinda? Was hörte man zu ihrer Zeit von Chlodwigs Taufe? Die Fragen führen tief in kirchliche und nationale Geschichtsbilder der folgenden Jahrhunderte bis heute und nicht zuletzt in das Innere der geschichtswissenschaftliche Methode 3 • Die wichtigste erzählende Quelle zu Chlodwig, dem ersten christlichen Frankenkönig, seien, so heißt es immer wieder, die «Zehn Bücher Geschichten» des Bischofs Gregor von Tours4; erst in jüngster Zeit melden sich Stimmen, die ihren «störenden Einfluß» (<
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Gedächtnis in der Kritik
nichts, absolut nichts so stimmt, wie Gregor es niedergeschrieben hat, daß aber jedes einzelne seiner Erzählmomente zutreffende Elemente aufweisen könnte. Das Mischungsverhältnis von (was immer es sei), Vergessenem und Fiktionalem in Gregors Erinnerungskonstrukt, der Verzerrungskoeffizient, ist für jeden Einzelfall eigens zu gewichten. Doch ist das, so steht bei einem so frühen und isolierten Autor zu befürchten, nur ausnahmsweise tatsächlich möglich. Auch der Historiker kommt vielfach über die Mythen nicht hinaus. Bevor Gregors Geschichte zu betrachten ist, gilt es, sich zu vergewissern, was Chlodwigs unmittelbare oder nahe Zeitgenossen zu sagen hatten. Es ist nicht eben viel, was von ihnen überkommen ist. In annähernd chronologischer Abfolge sind es: drei Briefe des Remigius von Reims, die ob ihrer einzigen Überlieferung inmitten einer wohl zu Schulzwecken angelegten Sammlung von Briefen im Hinblick auf ihren Inhalt keineswegs über jeden Zweifel erhaben sind9 • Gregor von Tours könnte diese Sammlung gekannt und verwertet haben lO • Ferner besitzen wir desselben Remigius Testament, das freilich in seiner Echtheit zumindest umstritten, seiner Sprache nach auf jeden Fall in karolingischer Zeit überarbeitet worden ist ll . Dazu kommen ein oder zwei weitere Briefe des Avitus von Vienne, die Gregor gleichfalls gekannt haben könnte, auch wenn er sie nicht zitiert 12, ferner zwei Schreiben Theoderichs des Großen an seinen fränkischen Kollegen 13, ein einziges Schriftstück Chlodwigs selbst 14, dazu ein an den Frankenkönig adressiertes Synodalprotokoll 15 und schließlich verstreute Notizen in hagiographischen Texten des 6. Jahrhunderts 16 . Zu beachten ist weiter, da zeitlich deutlich vor Gregor von Tours und aus nichtfränkischer Tradition geschöpft, auch eine Passage in Prokops «Gotenkriegen»17. Mehr als sporadische und zufällig erhaltene Einzelnachrichten stellt dies alles nicht dar. Nicht einmal zusammengenommen vermitteln sie eine ihren Namen verdienende Geschichte König Chlodwigs und seiner Taufe. Wie so oft, so besitzen wir auch in diesem Fall von einem der großen Täter der Weltgeschichte so spärliche Informationen, daß Legendenbildung sicheres Wissen ersetzen konnte. Erst Gregor von Tours bietet - kursorisch genug - eine zusammenhängende Darstellung von Chlodwigs Königtum und bestimmt damit das Vergangenheitsbild bis zum heutigen Tage. Zu Lebzeiten des Merowingers aber hat kein Dichter die Federn zu seinem Lobpreis gespitzt, kein Geschichtsschreiber seine Historien diktiert. Sein Aufstieg erfolgte fernab der literarischen Zentren der ausklingenden Antike; scheinbar plötzlich stand er da, und seine Taufe sah sich erst nach seinem Tod verklärt. Gleichwohl verraten die erwähnten Einzelzeugnisse einiges. Der älteste Text mit Chlodwigs Namen ist ein Brief des hl. Remigius mit Glück-
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wünschen zu seinem Amtsantritt wohl in der römischen Provinz Belgica Secunda und mit einigen geistlichen Ermahnungen 18 . Die Datierung ist umstritten, die Interpretation fällt nicht leicht. Einige Forscher setzen die Epistel zu 481 oder 482, als Chlodwig seinem Vater im Königtum gefolgt war, andere zu 486, als der Merowinger das Reich des Syagrius übernommen hatte. Wieweit sie vollständig ist, läßt sich aufgrund der Überlieferung nicht mehr klären. Sie könnte gekürzt, umstilisiert, aus einem Brief ganz anderer Art zu einem bloßen Glückwunschschreiben samt christlichem Fürstenspiegel gemacht worden sein. Einerlei, der Brief scheint auf jeden Fall vor Chlodwigs spektakulärer Taufe an ihn abgegangen zu sein; doch er behandelte den Adressaten - gleich einem Christen. Die Geschichtswissenschaft hat dies nie übersehen, sich mit der Beurteilung aber merkwürdig schwer getan 19 . Remigius, sein späterer Taufspender, erinnerte da den jugendlichen König an das Vorbild seiner Eltern (parentes tui) und mahnte ihn zuallererst und vor allem, dafür zu sorgen, daß Gottes Ratschluß von ihm nicht weiche 20. Eigentümliches Licht fällt hier auf Chlodwigs und seiner Eltern Religion: Kein krasses Heidentum kennzeichnete sie, sondern allenfalls ein Übergangsstadium, ein NochNicht-Christentum, das Gott, zu dem sich der Briefschreiber bekannte, günstig gelenkt hatte, wenn nicht gar, auch das erscheint möglich, offene Neigungen zur arianischen Häresie, mithin bereits zur christlichen Religion21 . Remigius' jüngere Schreiben, deren eines Chlodwig Trost ob des Verlustes seiner (gemeinsam mit ihm 7)22 getauften Schwester spendete 23 , deren anderes das Kirchenregiment des Königs berührte, galten bereits unstreitig dem Christen; sie besagen also für die Bekehrungsgeschichte nichts. Doch stand der Merowinger offenbar schon vor seiner Taufe dem Christentum recht nahe. Eben dies verrät auch die nicht allzulange nach seinem Tod, wohl auf Veranlassung seiner Witwe Chrotchilde entstandene «Vita s. Genovefae», die zu berichten wußte, daß bereits Childerich, Chlodwigs Vater, die Heilige in «unsagbarer Liebe verehrte»24 - obgleich sein Grab ihn noch als krudesten Heiden auswies. Dasselbe läßt ein Schreiben des Avitus von Vienne erkennen. Es ist inmitten der Briefe dieses Heiligen überliefert25; sein Wortlaut dürfte deshalb ehrfurchtsvoll behandelt und ohne weitere Verformung (wenn auch am Schluß verstümmelt) tradiert worden sein. Auch Avitus war ein katholischer Bischof. Sein Brief deutete einleitend an, daß Häretiker, zweifellos Arianer, den fränkischen König umworben und einigen Einfluß an seinem Hof besessen hätten26, daß Chlodwig endlich aber, nach einigem Zögern, so legt der ganze Tenor des Briefes nahe, sich für das nicaenische Bekenntnis entschieden habe 27 . Die Zeilen verraten noch die ungeheure Erleichterung und die Triumphgefühle ihres Schreibers. Anders als viele
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in der gleichen Lage, so führte er aus, habe der Merowinger sich nicht unentschlossen und in scheuer Verehrung auf die Kulte seiner Ahnen besonnen, vielmehr mit ihnen gebrochen, nur den Adel bewahrt und seinen Nachkommen die Mitherrschaft im Himmel gesichert28 • Das war in den Dimensionen der Sippe gedacht. Die Königin Chrotchilde aber, Chlodwigs Gemahlin und Stammutter künftiger Merowinger, die Jahrzehnte später Nicetius von Trier ins Spiel bringen sollte, und deren Mitwirkung an Chlodwigs Taufentschluß bis heute für gesichert gilt29 , fand in dieser Darstellung vom königlichen Seelenkampf zum Nutzen der eigenen Kinder keine Erwähnung. War sie nicht, wofür sie später galt, die Chlodwig zur Taufe drängende Katholikin ? Konnte Avitus sie also gar nicht nennen? Der Briefschreiber beließ es nicht bei einem mißverständlichen Schweigen. Er nannte offen die Ratgeber, die bei derartigen Konversionen üblicherweise zum Glaubenswechsel mahnten und überredeten: «Priester» nämlich und «Tischgenossen», sacerdotes und sodales 30 • Das waren zweifellos keine Umschreibungen für Ehefrauen. Gleichwohl, hätte Avitus guten Grund gehabt, Chrotchilde zu erwähnen, hätte es einen Anlaß dafür gegeben. Mühte er, der burgundische Bischof, sich damals doch um die Konversion seines eigenen arianischen Königs, Gundobad, Chrotchildes nächsten Verwandten in Burgund. Sollte auch die Königin erst der Konversion bedurft haben, bevor sie ihren Gemahl im rechten Glauben hätte bestärken können? Avitus <schmeichelte> allein dem Herrscher: Schon vor seiner Perfectio, der Taufe, habe er den Glauben zu beachten gewußt: «Was predigen wir den Glauben einem Vollkommenen? Den Glauben, den du vor deiner Vervollkommnung (in der Taufe) schon ohne Prediger sahest?» (Numquid fidem perfecto praedicabimus, quam ante perfectionem sine praedicatore vidistis?) Hier zeichnet sich eine ganz andere Bekehrungsgeschichte ab als sie dann, Jahrzehnte später, Nicetius um riß und Gregor von Tours ausmalte. Auch sie findet Bestätigung. Prokop nämlich berichtete31 , die Arborycher, die Bewohner des Landes zwischen Seine und Loire, das Chlodwigs Vater Childerich unlängst von sächsischen Seeräubern gesäubert hatte, hätten sich nach einigen ausgeglichenen Kämpfen den Franken angeschlossen. Denn diese, die Franken oder «Germanen», wie Prokop sie nannte, seien Christen und die Arborycher hätten nicht mit den arianischen Westgoten zusammengehen wollen. Prokop also oder Gregor von Tours? «Die Franken», das meinte in erster Linie die Herrscherfamilie der nächsten Nachbarn, die Merowinger, nicht etwa die Rheinfranken um Köln. Abermals fehlt jede Spur noch virulenten Heidentums in Chlodwigs engster Familie, statt dessen: Hinweise auf eine Haltung, die
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mancherorts bereits für ein Zeugnis christlichen Glaubens galten. Bedurfte es somit keiner Bekehrungshilfe aus Burgund? Erst spätere Quellen strichen in auffallender Weise Chlodwigs Kultwechsel hervor und rückten zugleich Chrotchilde in den Mittelpunkt, weil sie ihn in die Wege geleitet habe. Deren älteste ist, wenn sie denn echt ist, Remigius' Testament. Dessen beide Fassungen (kürzer die eine, länger die andere) sind recht problematisch und zweifels frei für das 6. Jahrhundert kaum in Anspruch zu nehmen. Der Bischof verfügte unter anderem über Besitzungen, die ihm Chlodwig geschenkt habe, «den ich», so läßt Remigius sich hier wie dort vernehmen, «aus dem hl. Taufbecken hob». Einige dieser Güter habe er gleich - so nun allein die umfangreichere Fassung - an die Armenfürsorge weitergeleitet. Habe er dieselben doch erhalten, «als der König noch Heide war und Gott nicht erkannte. Er, der noch Ungläubige, sollte mich nicht nach weltlichem Besitz gierend erachten und mich weniger nach seinem Seelenheil, als vielmehr durch ihn nach äußeren Gütern trachten sehen». Chlodwig habe diese Haltung staunend zur Kenntnis genommen und «gläubig, doch vor dem Glaubensbekenntnis», et fidelis et ante fidern, Remigius gestattet, Notleidenden Hilfe zu leisten. Abermals also ein Hinweis auf ein faktisches Christentum vor der Taufe, gepaart mit einem möglicherweise kostbaren Zeugnis intensiver Beziehungen zwischen Bischof und König zur nämlichen Zeit. Da es dem besonders verdächtigen umfangreicheren Testament entnommen ist, muß es unberücksichtigt bleiben. Auch die weiteren Quellen verraten über Chlodwigs Bekehrung unmittelbar nichts, insbesondere schweigt die vorliegende Vita des hl. Remigius (die Vita Rernedii wohl aus dem 6. Jahrhundert) über dieselbe 32; und selbst in Theoderichs des Großen Briefen findet sich keine Spur von derselben, was gut zu dem Arianerturn des Gotenkönigs paßt. Vor allem wird die Taufe von keinem Zeitgenossen mit einem militärischen Ereignis, einem Sieg in der Schlacht, in Verbindung gebracht. Ganz im Gegenteil. Avitus, der mit ihr den Triumph über Häretiker feierte - vestra fides nostra victoria est33 -, deutete in seinem zitierten Schreiben an, daß die früheren Siege des Neophyten ihn fortan verpflichteten, für die Ausbreitung des Glaubens unter den Heiden zu sorgen. Ganz anders die <wichtigste> Quelle zu Chlodwig, die «Historien» Gregors von Tours. Er machte den König zum krudesten Heiden, ja, zum «Neuen Konstantin» und damit zum Inbegriff einer Zeitwende 34 . Jetzt ereignete sich das Schlachtwunder, das zur Taufe führte und weitere Wunder vorbereitete. Gregor rühmte die Rolle der frommen, ja «heiligen» Gemahlin 35 und ließ den Bischof und Taufspender Remigius «heimlich» die Szene
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betreten. Er erzählte eine ganz andere Geschichte, als sie den zeitgenössischen Quellen zu entnehmen ist. Jetzt war Chlodwig noch völlig im Unund Aberglauben gefangen; von Taufe war auf lange Zeit noch keine Rede. Chrotchilde geriet vielmehr in Sorge um das Heil ihres erstgeborenen Sohnes; dessen Taufe habe Chlodwig nur zögerlich zugestimmt. Der Knabe starb alsbald; der Vater sei ungehalten gewesen, habe seine Götter empfohlen und Chrotchildes Gott geschmäht. Als ein zweiter Sohn geboren wurde, wiederholte sich das Spiel; doch die Königin suchte ihre Zuflucht im Gebet und - siehe - der Zweitgeborene genas. Ihr Gemahl aber war noch immer nicht für den Glauben gewonnen. Es bedurfte der Schlacht gegen heidnische Alemannen und der drohenden Niederlage, um ihn seine Zuflucht bei dem fremden Gotte suchen zu lassen. Derselbe half. Endlich durfte Chrotchilde, wenn auch nur heimlich, nach dem Religionslehrer Remigius rufen, der Chlodwig zuletzt zum Glaubenswechsel bewog. Als dann auf dem folgenden Marsfeld das Volk, das fränkische Heer, zustimmen sollte, da hatte - ein Wunder - es den Glauben schon angenommen, bevor der neugetaufte König auch nur ein einziges Wort an dasselbe zu richten vermochte. Dreitausend Franken ließen sich umgehend taufen. Neue, großartige, von Wundern umleuchtete Siege gegen die Westgoten und die Vernichtung der heidnischen (?) Franken am Rhein waren der Lohn. So stellte es Gregor dar, siebzig Jahre nach dem Geschehen. Ein ungebrochenes Heidentum des Merowingers also, der seine Götzen anrief, und eine katholische Königin, die ihren Gemahl zur Taufe drängte, ein Taufspender, der Remigius hieß, ein Schlachtwunder gegen Heiden wie weiland bei Konstantin, überhaupt: ein neuer Konstantin, ein neuer Silvester, wobei der Geschichtsschreiber aus Tours lediglich übergangen hatte, daß es ein Arianer war, der dem römischen Kaiser das Taufsakrament gespendet hatte. Nichts von der längst kirchenfreundlichen, fast christlichen Haltung der Königsfamilie, wie sie in den zeitgenössischen Briefen zu erkennen ist. Heimlich habe statt dessen die Königin den Religionslehrer zu sich rufen lassen, um ihren in Superstition gefangenen Gemahl in den neuen Glauben einzuführen; heimlich bestellte der Bischof, Remigius nämlich, den Heiden zu sich, um ihn zu belehren, den Heiden, der tatsächlich längst sein Briefpartner war und seine öffentliche Unterweisung genossen hatte, der mit erhobenen Armen und tränenden Auges - weithin sichtbar - für den Sieg in der Schlacht sich dem Gotte des Remigius geweiht und der seinen Täufer schon vor seiner Initiation mit Gaben überschüttet haben soll. Wem nutzte das alles? Diese erbauliche Geschichte? Warum wurde sie so erzählt, wie sie erzählt wurde? Und welcher Mittel bediente der Chronist sich dazu? Daß Gregors Bild nicht das einzige war, das man sich von Chlodwigs
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Taufe und Königtum machte, lehrt das schon zitierte Pastoralschreiben, das Bischof Nicetius von Trier etwa sechzig Jahre nach dem Geschehen an Chlodoswinda, die merowingische Königin der Langobarden, richtete. Sein Wissen über Chlodwigs Taufe stammte gleich jenem des turonischen Geschichtsschreibers aus Tours. Gleichwohl war es anders. Dort, am Grabe des hl. Martin, war Nicetius Zeuge gewesen, wie die Blinden sehend, die Tauben hörend wurden und die Stummen zu sprechen begannen36 . Dort, in Tours, würde, so mahnte er, - und wir folgen seinem Brief - Alboin die wahre Gottesverehrung finden, so wie Chlodwig dort, durch St. Martins Wunderwirken, zum Glauben gelangt sei 37 • Auch die hll. Remigius und Medardus in Reims und Soissons empfahl der Trierer Bischof der jungen Königin: «Ich glaube, du solltest sie besuchen. Wir können nicht darlegen, wieviele Wunder wir Gott durch sie wirken sahen». Nicetius hatte also gleichfalls an ihren Gräbern gebetet. Doch merkwürdig: Jetzt, im Blick auf diese Wundertäter, kam ihm nicht in den Sinn, an Chrotchildes, Chlodoswindas Großmutter, Tat zu erinnern, dienach Gregor - eben jener Remigius vollendet hatte, dessen Wunderkraft er der langobardischen Königin empfahl: die Taufe Chlodwigs. Die wahre Gottesverehrung war vielmehr - am Grabe St. Martins, in Tours zu finden. Kannte der weitgereiste und wissende Mönch und Bischof Nicetius die Remigius-Traditionen nicht? Verblaßten sie vor dem Wissen, das er aus Aquitanien und Tours mit an die Mosel gebracht hatte? Rechnete man Chlodwigs Taufe dort, im Süden, nicht unter die Wunder des Reimser Heiligen? War sie also noch gar nicht geheimnisumwittert und mirakulös? Oder sollte der vom Himmel geschenkte Sieg, der die Taufe bewirkte, sich aus Gründen innerer Stimmigkeit des Erinnerungsbildes aus einem Krieg gegen Ketzer zu einer Schlacht gegen Heiden verwandelt haben? Auch die Geschichte, die Gregor bot, folgte jahrtausendealten Erzählund Erinnerungsmustern; christlich gewendet, überraschte sie ihre Leser mit einem Heiligenleben Chlodwigs 38 . Das spricht in einem positivistischen Sinne nicht für ihre Korrektheit, wohl aber für ihre innere <Wahrheit> im Sinne der sie sich erzählenden Zeitgenossen von einst. Die treusorgende Gemahlin, noch im Königsspiegel des Sedulius Scottus im 9. Jahrhundert in den Mittelpunkt des königlichen Hauses gestellt, und das dramatische Schlachtwunder, das man im Falle Chlodwigs andernorts gar nicht gegen Alemannen, sondern gegen Westgoten sich ereignen sah39, gehören zu den verbreitetsten Gedächtnishilfen, deren sich schriftlose und literate Gesellschaften bedienen. Sie <stimmten> immer. Gregor selbst bediente sich desselben Musters noch ein weiteres Mal, als er . Chlodwig zum Entscheidungskampf gegen die Westgoten ziehen ließ.
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Abermals flehte der Franke zu Gott um den Sieg, versprach jetzt Geschenke für St. Martin in Tours, ward wunderbar zum Schlachtort geführt, dort von den Feinden gestellt und - verwundet, doch nicht getötet. Mit knapper Not dem Tod entronnen, mit Wunderkraft begabt, erschien er mit seinem Heer vor Angouleme. «Solche Gnade ließ ihm da der Herr zuteil werden, daß die Mauern, als er sie anblickte, von selbst niedersanken.» Die Verehrung des hl. Martin erhöhte die Franken zum auserwählten Volk. So kehrte Chlodwig denn auch «als Sieger nach Tours zurück», um dort als Konsul und Augustus mit Purpur und Diadem gefeiert zu werden40 . Das alles und noch mehr waren Elemente des Heiligenlebens. Sie überhöhten das Taufwunder, indem sie Chlodwig zum begnadeten Herrscher des neuen Gottesvolkes erhoben. Durch St. Martin ließ der Geschichtsschreiber sich erfüllen, was durch St. Remigius vorbereitet war. Die Traditionen, die wir bei Nicetius und Gregor fassen, führen unmittelbar nach Tours. Dort ließ der Trierer Bischof den König unter numinoser Einwirkung des hl. Martin und ohne den ihm wohlbekannten Remigius den Taufbeschluß fassen; dort lebte nach ihrer Entmachtung Chlodwigs Witwe Chrotchilde; und dort wetzte Gregor seine Federn, um eine Geschichte zu fixieren, die nun freilich St. Martins Einfluß vom Bekehrungs- zum Sieghelfer steigerte und folglich Remigius zum gewinnenden Glaubenslehrer machen konnte. Es wundert nicht, in beiden Taufgeschichten, jener der Bischöfe und jener Chrodchildes, mit dem maßgeblichen, alles lenkenden Einfluß der burgundischen Prinzessin und ersten katholischen Königin der Franken konfrontiert zu werden, deren wörtliche Erzählung ein moderner Forscher, Wolfram von den Steinen, noch aus Gregors Geschichte herauszuhören glaubte41 . Doch, mit Verlaub, was ist, um desselben Historikers Worte zu gebrauchen, «eine tadellose mündliche Überlieferung»42? Ich sehe nicht, daß von den Steinen sich darüber ausgelassen hätte. Gleichwohl, was. immer Chrotchilde erinnerte, man konnte seiner in Tours teilhaftig werden. Doch stimmte es? Gregors Bericht, der zweifellos, wie sollte es anders sein, ihre, aber auch fremde Erinnerungen vereinte, trennt eine unbekannte Anzahl ihn mehr und mehr, immer weiter verändernder, Wundergeschichten erzählender Zwischenträger von Chlodwigs Gemahlin. Was traf von ihm noch zu? Der Vergleich mit Nicetius' Brief läßt die manipulierende Kraft des kollektiven Gedächtnisses (das sich mündlicher wie schriftlicher Informationen bediente) direkt bei der Arbeit beobachten. Chrotchilde war hier wie dort, bei Nicetius wie Gregor (oder auch ihren jeweiligen Quellen), tätig, die Zeitstellung von Chlodwigs Besuch in Tours war bei bei-
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den Autoren die nämliche: zwischen Taufe und Gotenkrieg. Doch St. Martin war bei Gregor mächtiger geworden, hatte sich vom Taufakt gelöst und, von St. Hilarius begleitet, begonnen, zum Reichsheiligen der Franken aufzurücken. Bald wurde Martins Mantel zum kostbarsten Heilturn der Merowinger, sein einstiger Träger zu ihrem einzigartigen Patron. In den ältesten fränkischen Königslaudes, deren frühestes Zeugnis freilich erst aus karolingischer Zeit stammt, sind Martin der Reichsheilige Aquitaniens und Hilarius, Martin und Mauritius gemeinsam die Heiligen des «römischen» Heeres 43 • Dem hl. Remigius blieb eine solche Karriere verwehrt. Auch des Hilarius Aufstieg zeichnete sich in Gregors Geschichtsbild schon ab. Denn er überliefert, oder genauer: pointiert noch ein weiteres Wunder um Chlodwig. Es ereignete sich, als der König sich im Gotenkrieg mit seinem Heer der Stadt Poitiers näherte44 • Plötzlich umleuchtete ihn, den gottbegnadeten künftigen Sieger, himmlischer Feuerglanz, der von der (Bischofs-)Kirche des hl. Hilarius ausging45 • Gregors Quelle war des Venantius Fortunatus «Vita s. Hilarii», doch hat er das Vorgefundene noch weiter ins Wunderbare gesteigert. Poitiers war die Bischofsstadt seines Freundes, eben des Venantius; dorthin unterhielt er auch nach dessen Tod enge Beziehungen46 • Abermals wird ein Erinnerungshorizont faßbar, dem der Geschichtsschreiber nun selbst verpflichtet ist, der Horizont nämlich der Kollaboration katholischer Römer im arianischen Westgotenreich mit den Franken und der nachdrücklichen Empfehlung ihrer himmlischen Helfer an die zur Abfassungszeit regierenden Herrscher und Nachfahren Chlodwigs. Kurzum: Die «Zehn Bücher Geschichten» Gregors von Tours bieten das turonische Erinnerungsbild am Ende des 6. Jahrhunderts über die Anfänge des christlichen Frankenreichs, den Sieg des wahren Glaubens gegen die Häresie und den Unglauben, ein knappes Jahrhundert zuvor. Chlodwigs Taufe war ein Teil von ihm, das Fundament nämlich eines großartigen Denkmals im Zeichen St. Martins. Doch befand sich alles im Fluß; und welche Details <stimmtem, welche die schöpferischen Fähigkeiten individueller und kollektiver Erinnerung geschaffen hatte, was dann ein Opfer literarischer Gestaltung und typologischer Geschichtsschreibung wurde, läßt sich nicht mehr entscheiden. Ein letztes Beispiel aus dem Umkreis des Taufkomplexes vermag dies in exemplarischer Deutlichkeit zu illustrieren: die Frage nämlich nach dem Zeitpunkt von Chlodwigs Taufe innerhalb des Kirchenjahres. Im Laufe des früheren Mittelalters kristallisierte sich die Osternacht als der übliche Tauftermin heraus 47 • Doch bei Avitus fand der Akt zu Weihnachten statt, was nach . gallikanischem Ritus damals noch möglich war. An der Nachricht zu
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zweifeln, besteht kein Grund. Nicetius sah keinen Anlaß einer zeitlichen Festlegung der Taufe, als er Chlodoswinda an das Vorbild ihrer Großmutter gemahnte. Gregor von Tours schwieg darüber gleichfalls, auch wenn er eher den Oster- als den Weihnachtstermin ins Auge gefaßt zu haben scheint48 , was allerdings Folgen hatte. Dennbereits Fredegar, der Gregor benutzte, sprach mit Selbstverständlichkeit von Ostern als dem Zeitpunkt von Chlodwigs Taufe49; und so sollte es fortan bleiben. Mittlerweile hatte sich der Ostertermin allgemein als Tauftermin durchge:setzt50 • Die normative Gegenwart hatte die schweigsame Vergangenheit überlagert und verdrängt. Hätte ein gütiger Zufall nicht des Avitus Brief überliefert und enthielte derselbe nicht jenen beiläufigen Hinweis auf das Weihnachtsfest, kein kritischer Historiker, und wäre er noch so philologisch geschult, würde an der Faktizität des Falschen zweifeln. Kein Textvergleich, keine Hermeneutik, keine exegetische Methode bewahrte ihn davor, den Irrtum zur Wahrheit zu erklären. Wie oft aber versagt die Methode des Zufalls? Nur eines darf mit Gewißheit festgestellt und muß festgehalten werden: daß nämlich, was unsere «wichtigste» Quelle, die «Frankengeschichten» des Gregor von Tours, zum besten geben, falsch ist, objektiv falsch, ein fiktives Gebilde. Allein das Ausmaß ihrer Verwerfungen und Verformungen, ihrer Konstrukte und Erfindungen ist ungewiß. Die Zweifel erfassen Chlodwigs präbaptismale Stellung ebenso wie Chrotchildes Rolle, den Sieg über Alemannen und Ketzer, wie St. Martin, St. Hilarius, St. Remigius und wie manches andere mehr. Die weite handschriftliche Verbreitung dieser
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Wer war Benedikt von Nursia?
Da ist noch eine andere Gestalt derselben Epoche, groß und überragend, wundersam und verehrungswürdig, eine Gestalt, deren gleichfalls um 600 gezeichnetes Bild das irdische Dasein ihres Lebens aus der Erinnerung ausblendete und verdunkelte und es einer höheren Wahrheit zu-
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führte als jener der nackten Gegenwärtigkeit, es verklärte und schaubar machte: der Vater des abendländischen Mönchtums, St. Benedikt. Wer war er? Gerade unlängst kam er erneut ins Gerede, weil man die einzige Quelle, die über ihn und sein Leben, über sein Werk und seine Klöster etwas zu berichten wußte, die «Dialoge» Gregors des Großen, zu einer späteren Fälschung erklärte 51 • Der Brite Francis Clark hatte die (alte und nun erneuerte) These in zwei stattlichen Bänden zu begründen (und neuerlich zu verteidigen) gesucht, daß die vier Bücher der Wundergeschichten, die unter dem Namen des großen Papstes verbreitet sind, erst etwa achtzig Jahre nach dessen Tod fabriziert worden seien52 • Träfe es zu, die mächtige Gestalt des heiligen Mannes verflüchtigte sich im Lügengespinst. Clark konnte mancherlei für seine These geltend machen, daß Gregor selbst im Unterschied zu seinen anderen Werken die «Dialoge» niemals erwähnte, daß sie im «Liber Pontificalis», dem zeitgenössischen, offiziösen Geschichtswerk der römischen Kirche, unter den fast vollständigen Schriften des Papstes nicht aufgeführt seien, daß Isidor von Sevilla, ein nur wenig jüngerer Bewunderer Gregors, sie in seiner Literaturgeschichte (De viris illustribus) nicht gekannt habe, auch daß ihr Wortschatz und Stil den übrigen Werken aus Gregors Feder nicht gleiche; und anderes mehr. Clark wurde alsbald und heftig widersprochen, nicht zuletzt von dem jüngsten Editor der «Dialoge», Adalbert de Vogüe 53 , und von einem der besten gegenwärtigen Kenner von Gregors Gesamtwerk, Paul Meyvaert54 • Die «Zwiegespräche» seien echt, darauf lief alle Kritik hinaus, schon einige Jahre vor Gregors Tod, nämlich um 593/94 geschrieben, von ihm selbst freilich zu Lebzeiten nicht . Die wechselseitigen Argumente der Diskussionspartner können hier auf sich beruhen. Insgesamt scheint nun gesichert zu sein, daß die «Dialoge» vom Beginn des 7. Jahrhunderts an Verbreitung gefunden haben. Clark ist über sein Ziel hinausgeschossen, insofern er ihre Entstehung um 600 leugnete. Gleichwohl behalten viele seiner Argumente ihre Gültigkeit. Seit dem Zeitalter des Humanismus und der Reformation hatte man trotz ihrer literarischen Durchformung an Inhalt und Stil der «Dialoge» Anstoß genommen und sie als Fremdkörper im Werk des Papstes betrachtet oder zu erklären gesucht 55 • Auch bleibt es Clarks unbestreitbares Verdienst, die auffallende Rezeptionsgeschichte der «Dialoge» genauer ins Auge gefaßt zu haben. Mögen dieselben tatsächlich im früheren 7. Jahrhundert hier und da bekannt gewesen sein, ihre eigentliche Rezeption auf breiter Front, ihre ungeheure Wirksamkeit, setzte erst Jahrzehnte nach Gregors Tod im Jahr 604 ein, vielleicht sogar erst in der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts und zwar an der Peripherie der latei-
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nischen Christenheit, nicht an ihrem Ursprungs ort Rom oder in Italien. Dies hat die Nachlese zu Clarks Zeugnissen eindeutig bestätigt56 • Das aber ist ein merkwürdiger Umstand. Denn Gregors gesicherte Schriften lassen eine solche Verzögerung und eine solche exzentrische Rezeptionsgeschichte nicht erkennen. Der Sachverhalt entlastet die «Dialoge» nicht von Clarks Zweifeln an ihrer Authentizität. Waren sie also tatsächlich des Papstes Werk? Und welches Licht fällt nun auf Benedikt von Nursia? Vor allem irritiert Gregors Verhalten selbst 57 . Er schwieg über diese Schrift; kein einziger seiner zahlreichen Briefe spielte auf die «Dialoge» an58, nicht eine einzige Bitte um ein Exemplar derselben erreichte ihren Autor. Der Papst brachte sie nicht in Umlauf. Seine Zurückhaltung glaubte man mit einem Hinweis auf seine Persönlichkeit erklären zu können. Der Inhalt der Wunderberichte mit dem immer wieder durchbrechenden Eigenlob ihres Autors, also Gregors, passe nicht, so wurde geltend gemacht, zu Charakter und Spiritualität des Heiligen, die auf Bescheidenheit und Demut, nicht auf Ruhmseligkeit und Ehre ausgerichtet gewesen sei59 . Von Gregors Psyche ist hier nicht zu handeln; sie kennt niemand. Wenn aber Gregor die Mirakelberichte tatsächlich geschrieben haben soll, dann passen sie auch zu seinem Charakter. Dort, in der Psyche ihres Autors, kann der Grund ihres Verschweigens nicht zu suchen sein. Sollte das Argument umzukehren sein? Nicht die «Dialoge» zu verschweigen wäre dann nötig, sondern sie zu nennen grundlos. Hatte sie der Papst gar nicht verfaßt ? Wer war dann Benedikts Schöpfer? Der für die Autorfrage entscheidende Prolog des ersten Buches der «Dialoge» scheint indessen keinerlei Zweifel zu dulden. Gregor gab sich selbst als Verfasser zu erkennen. Pure Fiktion dürfte das nicht sein. Der Papst führte diese Gespräche, um auf Bitten seines Diakons Petrus der geringen Kenntnis vorbildlicher «heiliger Männer» zu seiner Zeit nachzuhelfen. Doch fallen wiederum einige Merkwürdigkeiten und Besonderheiten auf. Dem Werk fehlt der sonst übliche Widmungsbrief. Die «Dialoge» sehen sich anders behandelt als Gregors übrige Schriften. Der erwähnte Prolog trägt zudem Zeichen von Unfertigkeit, worauf erneut Paul Meyvaert hingewiesen hat60 • Das aber widerspricht der landläufigen Ansicht, welche die «Dialoge» als ganze um das Jahr 593/594 entstanden sein läßt, zehn Jahre vor des Papstes Tod61 • Vorwort und Widmung waren es anscheinend nicht. Auch die ehedem arianische Kirche Sant' Agatha dei Goti in der Subura zu Rom, die Gregor den «Dialogen» zufolge «vor zwei Jahren» (ante biennium) dem katholischen Kultus geweiht habe, sperrt sich gegen diese Datierung. Denn die Weihe dürfte im Jahre 593/94-erfolgt sein, Gregor sich also im Jahre 595/596 an sie erinnert, die fragliche Episode erst jetzt ihren Weg in die «Dialoge» gefunden haben62 •
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Widersprüche zwischen den Daten tun sich auf. So wird an die Tiberüberschwemmung vom Herbst 589, ante hoc fere quinquennium (etwa fünf Jahre vor heute), erinnert, während die bereits im Januar 590 ausbrechende Seuche erst ante triennium (vor drei Jahren) wütete 63 . Ein Herbst dauerte auch nach römischem Kalender nicht zwei Jahre. Die mangelnde Stimmigkeit der Daten schlug für die Wundergeschichten nicht zu Buche. Sie könnten geradesogut Fiktion sein wie die vier Tage auch, welche die «Dialoge» den «Zwiegesprächen» gewidmet sein ließen64 - ein bloßes Stilmittel, um die Verzeitlichung der Wunder, ihren real-historischen Sinn und Sitz im Leben und damit ihre erbauende Wirkung zu gewährleisten; und darauf kam es ausschließlich an. Konnten aber Daten fiktiv sein, dann auch Episoden und der ganze Text. Schließlich fügt sich, um nur dies noch zu erwähnen, die Thematik des vierten Buches - «Vom Leben der Seele nach dem leiblichen Tod» - nicht ohne weiteres zum Gegenstand der ersten drei Bücher, den «Taten der Erwählten»65. Sollte das Werk nicht aus einem Guß, vielmehr spätere Montage sein? Sollte dasselbe tatsächlich sein, was es zu sein vorgibt: schriftlicher Niederschlag erinnerter Gespräche zu verschiedener Zeit, mithin von Mündlichkeit? Was bedeutete dies für seinen Inhalt? Ohnehin sind die für die Datierung geltend gemachten Belege nicht zwingend, da sie sich stets nur auf einzelne Episoden, nicht auf das Gesamtwerk beziehen 66 . Andernfalls hätten wir zu folgern, daß Tagesangaben wie «vorgestern» (ante biduum) die Bücher III und IV und in ihrem Gefolge die «Dialoge» insgesamt auf denselben Tag datierten67 . Derartige Zeitangaben gehen von der Erzählzeit der einzelnen Episoden aus und beziehen sich nicht auf die Verschriftungszeit der «Dialoge». Sie lieferntechnisch gesprochen - für die Entstehungszeit der «Dialoge» keinen Terminus ad quem, sondern lediglich einen vagen Terminus post quem. Sie verdeutlichen, nun realistisch gedeutet, eine sukzessive Erörterung der Wundergeschichten, Episode für Episode, Gespräch für Gespräch; belegen in der Tat, sind sie nicht bloße Fiktion, daß eine episodenhafte Verschriftung der Wundergeschichten erfolgt war, ohne daß dabei bereits ein Gesamtplan die Feder führte. Die Montage dieser Einzelstücke zu einem durchgeformten Ganzen erfolgte dann zu späterer, uns unbekannter Zeit und - wenigstens prinzipiell- von unbekannter Hand. Zwar läßt sich auf Eigenzitate des Papstes in seinen Briefen verweisen, welche ihm aus den «Dialogen» erinnerlich gewesen sein könnten; aber die fraglichen Wendungen sind so allgemeiner Natur, daß sie keinesfalls die Wundergeschichten voraussetzen, vielmehr umgekehrt authentische Worte des Papstes gewesen sein können, die, wer immer sie zu zitieren vermochte, jedweder Kompilator, benutzen durfte 68 .
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Auch Gregors Vertrauter Paterius konnte - und zwar zu Lebzeiten seines Herrn - aus den «Dialogen» zitieren, als er seinen «Uher testimoniorum», einen Bibelkommentar69, aus einem Netzwerk von gregorianischen Zitaten wob. Doch machte er nur zurückhaltend von den «Dialogen» Gebrauch, indem er von 525 Gregor-Zitaten nur drei Stellen aus ihnen entlehnte; auch zitierte er in der bei ihm üblichen Weise nur deren «erstes Buch» als solches, während von den beiden übrigen Stellen die eine lediglich mit der inhaltlichen Umschreibung des Fundortes, die andere ohne jede Herkunftsangabe erscheineo. Die «Dialoge» könnten demnach, als er sein Zeugnisbuch kompilierte, noch in Arbeit gewesen sein, unfertig. Verweise innerhalb der «Dialoge» von einem späteren zu einem früheren Kapitel bezeugen nicht deren Entstehungsabfolge, sondern lediglich eine Schlußredaktion71 ; gleiches gilt von dem wiederholten Stilbruch, der die Ebene des Gesprächs verläßt, um sich auf die Ebene der Lektüre zu begeben72 • Das alles legt die Annahme sukzessiver Entstehung der «Dialoge» und späterer Textmontage nahe. Wann nun erfolgte diese Schlußredaktion, und wer hat sie durchgeführt? Gregors <Schweigen> könnte einen wichtigen Wink geben. Läßt sich doch nicht erweisen, daß Gregor selbst sein eigener Redaktor war. Sollte die Spur zu Paterius führen, der den «Codex Dialogorum» als einziger zu Lebzeiten seines Herrn erwähnte, diesen selbst mit eingeschlossen? Oder zu dem Dialogpartner, dem römischen Diakon und päpstlichen Familiaren Petrus, Gregors Mitarbeiter bei der Bibelkommentierung, die in den «Dialogen» so regel~äßig durchscheint73 ? Petrus steuerte, wie es scheint, manche Anekdote beC4; überhaupt war er es, der den Papst ermuntert hatte, Wunder italischer Heiliger zu beschreiben75. Sollte er mehr gewesen sein als der aufmerksam lauschende, gelegentlich fragende Partner im Zwiegespräch? Die weiteren Zeugnisse früher Kenntnis der «Dialoge» können den Eindruck einer nicht gregorischen oder gar postumen Schluß redaktion bestätigen. Sie nehmen sich merkwürdig genug aus. Zumal Isidor von Sevilla scheint die Mirakelsammlung gekannt zu haben76, doch schrieb er sie gerade nicht dem Papste zu. Nicht minder bemerkenswert ist das Zeugnis des spanischen Abtes und späteren Bischofs Taio von Saragossa, der direkt und indirekt aus den «Dialogen» zitierte77 • Er war nach Rom gereist - wann genau ist ungewiß -, um Handschriften und unbekannte Schriften Gregors aufzuspüren. Dort aber hatte er, so berichtete er nach Hause, noch Notare und Familiare des Papstes getroffen. «Wir sahen, wir sahen unseren Gregor in Rom. Nicht mit den Augen des Körpers, wohl aber mit den Augen des Geistes. Wir sahen ihn nicht nur in seinen Notaren, sondern in seinen Familiaren, die ihm persönlich treue Dienste ge-
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leistet hatten. Aus ihren Berichten erfuhren wir von seinen Taten (virtu-
tes)>>78. Mündliche Traditionen also hinter den «Libri Dialogorum» ? Doch Taio brachte neben Erinnerungen auch Handschriften nach Hause zurück: vor allem des Paterius Liber testimoniorum und - die «Dialoge» selbst, als ein Werk des gefeierten Papstes; aus beiden zitierte er. Erzählungen aber und Handschriften dürfte er ein und derselben Provenienz verdankt haben: den Notaren und Familiaren des toten Papstes, vielleicht sogar noch dem Paterius selbst, vielleicht auch dessen Kollegen Petrus. Abermals erscheinen diese beiden Vertrauten des großen Gregor oder wenigstens ihr engster Wirkungskreis am Ausgangspunkt der «Dialoge». War einer von ihnen auch ihr Redaktor? Ihr Kompilator? Wie dem nun sei, die «Dialoge» sind in Gregors Umgebung entstanden und verdanken sich seinem tätigen Interesse. Zumindest gehen sie auf seine Gespräche zurück und sind, was sie vorgeben zu sein: literarisch gestaltete Zwiegespräche, die Gregor tatsächlich führte. In jedem Falle werfen sie Licht auf die geistige Atmosphäre des päpstlichen Hofes zu seiner Zeit. Sie sollten erbauen, die Seele des Zuhörers wie in klösterlicher Kontemplation über alles Vergängliche sich aufschwingen und allein Himmlisches betrachten lehren79 . Vor allem aber waren sie ein Werk des Gedächtnisses, gewoben aus Erinnern und Vergessen, auch aus dem gestalterischen Schöpferturn der Dialogpartner und Literaten. Gregor selbst sah es so. Bat er doch einen seiner Informanten, den Bischof Maximian von Syrakus, ihm mitzuteilen, «was euch (Maximian) ins Gedächtnis zurückkehrte», und erinnerte sich, von demselben einst über den Abt Nonnosus etwas erfahren zu haben, was er, Gregor, mittlerweile dem Vergessen überantwortet habe 80 . So trugen die «Dialoge» Geschichten vom Hörensagen zusammen, in gleicher Weise dem Vergessen wie Erinnern, den Bedürfnissen religiöser Erbauung wie den Mitteln literarischer Gestaltung unterworfen; Geschichten von genau fünfzig Heiligen, aus abgelebten Zeiten und eigener Gegenwart, aus ganz ltalien 8l , die der Papst ohne kritische Nachfragen übernahm. Geordnet wurden sie gleich einem Triptychon mit dem vierten Buch über das Leben der Seele nach dem Tod als Prädella, mit der Vita des «Gesegneten» (dem zweiten Buch) als idealem Zentralbild, um das sich als die beiden Flügelbilder die reichen Nebenszenen des ersten und dritten Buches fügten; mit 1.50 Kapiteln insgesamt - so viele wie die Zahl der Psalmen, des herausragenden Gebetstextes aller frommen Christen und zum al der Mönche 82 • Ihr Zweck gliederte und gestaltete den Stoff und lenkte das Gedächtnis. Benedikt gab der Mannigfaltigkeit
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und Fülle der Einzelszenen die Einheit und Mitte seelischen Lebens - ein Heros kontemplativer Schau. Das alles berührt den Mann aus Nursia 83 . Denn über die «Dialoge» hinaus findet sich kein weiteres Zeugnis seines Lebens und Wirkens, da entgegen der Ankündigung Gregors des Großen die berühmte Mönchsregel schweigt84, die unter Benedikts Namen geht 85 und die der Papst tatsächlich ebensowenig genauer gekannt zu haben scheint wie das äußere Leben des Mönchsvaters selbst 86 • Statt ihrer finden sich durch die «Dialoge» hindurch und zumal durch deren zweites Buch gestreut zahlreiche Anspielungen auf die tatsächlich ältere «Regula Magistri», aus der zu großem Teil auch die Benediktsregel schöpfen sollte 87 • Gleichwohl wurde <erinnert>, wurde eine durchstilisierte Erinnerungsfigur auf den Weg gebracht, die den Erzähler aus anekdotischen Szenen und ohne zu erinnernde Realität ein Bild, eine Gestalt entwerfen ließ, der niemand im wirklichen Leben begegnet sein konnte, und deren Tatenvon einer ominösen Cella abgesehen, deren Namen und genaue Lage niemand anzugeben wußte - dank der Barbaren, der alles verschlingenden Zeit und des Vergessens keine Spuren hinterlassen hatten 88 . Hier wurde - in höchstem Maße topisch und allegorisch, voller Anspielungen auf die ältere Hagiographie und biblische Muster, ohne Individualität 89 über sieben Mal Trennung und Abschied ein spiritueller Lebensweg gewiesen, der, von der Symbolik des mehrfachen Schriftsinns geebnet, aus der Höhle des Eremitendaseins zum Gipfel der Klostergemeinschaft führte, vom Sacro Speco auf den hohen Montecassino (wo der Teufel den Heiligen schreckte) und dort noch höher hinauf in den höchsten Stock eines Turmes (wo sich dem «Mann Gottes» der Himmel öffnete und er die ganze Welt vor sich liegen sah90 ), ein Leben, das von den zwölf Wundern in der Tiefe zu den zwölf Zeichen und den zwölf Wundern auf dem Gipfel, von der Absage an die (weltliche) Gelehrsamkeit zur Wiedervereinigung mit der (geistigen) Bildung führte und so eine apokalyptisch getönte Sakrallandschaft im Süden Roms mit einem heiligen Leben vereinte. Der Hinweis auf Benedikts «Regel» erfüllte die Aufgabe des autoritativen Beweises. Auf ihre Kenntnis, auf die gesta oder , auf die historistische Glaubwürdigkeit kam es nicht an; somit auch nicht darauf, ob, was erinnert wurde, sich tatsächlich so abgespielt hatte, wie es berichtet wurde, und sich tatsächlich auf ein und dieselbe Person bezog. Frühestens etwa 50 Jahre nach seinem Tod, in ganz mirakulöser Umgebung und ohne die geringste Spur älterer Belege oder fortwirkender Taten wurde Benedikts Leben beschrieben - zu spät, zu gleichnishaft und zu erbaulich, um in faktizistischem Sinne zuverlässige Daten liefern zu können. Kein einziges Detail dieses «Lebens» läßt sich anderweitig über-
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prüfen. Ohnehin war es kein exteriores Leben, das da von Gregor entworfen wurde, sondern eine Sequenz isolierter heiliger Taten, ohne äußeren Lebenszusammenhang, allenfalls eine Biographie der Seele. Es verdankt sich derselben Quelle, die zur nämlichen Zeit den Gotenkönig Theoderich in den Feuerschlund des Stromboli fahren und auf dem Montecassino noch ungehemmtes Heidentum, Apollo-Kult gar toben sah91 • Der äußeren Daten wurden wenige aufgeführt. Benedikt sei in Nursia geboren, habe Amme und Schwester gehabt, in Rom studiert, sich bekehrt, sei Eremit, Klostergründer und Abt geworden, habe eine Regel geschrieben und sei in seiner jüngsten Gründung, Montecassino, gestorben. Das ist so dürftig, so blutleer und nichtssagend, daß es - von den nur scheinbar Individualität verleihenden Ortsnamen abgesehen - auf jeden zutraf, der im 6. Jahrhundert Klostergründer und Abt wurde. Die Mönchsregel eines «Gesegneten» aber macht noch keinen Benedikt; ihre Existenz beweist nicht die seine. Die wesentlichen Aussagen der «Dialoge» erfüllten indessen mustergültig die Forderungen an das Leben eines «heiligen Mannes», an ein seelisches, kein leibliches Leben. Die Grabungen im Sacro Speco92 oder im benachbarten Kloster der Santa Scolastica haben ihm keine greifbarere Substanz verliehen, keine Aufschlüsse über Benedikt erbracht93 • Selbst in den vier Büchern der «Dialoge» Gregors des Großen finden sich nicht die geringsten Spuren älterer Quellen. Solche dürften tatsächlich nicht existiert haben, wohl aber Benedikts und Scolasticas, auch der angeblichen «Zeugen» sprechende Namen einen weiteren Wink geben94, der in dieselbe heilsgeschichtliche Richtung weist wie die zwölf mal zwölf Mönche, die Benedikt in seine Klöster entsandt haben soU95, die ja die einhundertvierundvierzigtausend Erwählten der Apokalypse evozierten, wie das siebenfache Abschiednehmen und die drei mal zwölf Zeichen und Wunder, die der «Gesegnete» wirkte. Eigentümlich komplexe Erinnerungsprozesse werden greifbar. Sie zeigen, wie das Zusammenwirken von Mündlichkeit und Schriftlichkeit mit der Zeit Realitäten hervorbrachte, die jenseits des äußeren Lebens lagen, sich literarisch manifestierten und allen späteren verpflichtendes Lebensziel (nicht Lebensform) und als solches lebendige Wirklichkeit waren 96 . Da besaß man einen Text, der sich als Produkt von Gesprächen und mündlichen Erinnerungen gab, der seinerseits seine Autorität aus der Heiligkeit seines Urhebers schöpfte und zwar bei einem späteren Publikum, das über seine Herkunft nicht mehr Bescheid wußte. Damit war aus Mündlichkeit das autoritative Zeugnis der Schrift geworden, und die Wahrheit war fortan für alle Zeiten sakrosankt. Woher aber hatten die «Dialoge» ihr Wissen? Bei aller Wundertätig-
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keit - niemand hatte vor ihnen Erinnerungen an den Wundertäter gesammelt oder in noch erkennbarer Weise des Erinnerns für würdig befunden. Eine Benedikt-Tradition jenseits der gregorischen «Dialoge» ist nirgends zu greifen, eine erste Zerstörung des Klosters auf dem von antiken Trümmern übersäten Montecassino ebensowenig97 • Wohl aber ließ sich - ohne Kenntnis von Archäologie - in die weithin sichtbaren Ruinen alles Zerstörte lokalisieren. Lag hinter diesen <Erinnerungen> mehr als eine die Fiktion verschleiernde Erzählstrategie ? Selbst der vielschreibende Papst erwähnte Benedikt, dieses Idealbild eines Abtes, ausschließlich in seinen Wundergeschichten. Ihr Autor berief sich auf das Zeugnis von vier Informanten, deren drei er bereits verstorben sein ließ, deren vierter, Honoratus, aber noch, hochbetagt, unter den Lebenden weilen sollte, als die Gespräche stattfanden98 • Kein einziger von ihnen läßt sich anderweitig fassen. Dazu kamen gelegentlich noch - auch sie Träger symbolischer Namen - ein unidentifizierbarer Würdenträger Aptonius, ein sonst nicht weiter herausragender Schüler Benedikts mit Namen Peregrinus sowie ein ehemaliger Diener Exhilaratus, den Gregors Gesprächspartner Petru~ als einen Konversen noch kennengelernt haben wi1l99 . Keiner dieser Zeugen war tatsächlich greifbar, keiner zu befragen. Sie alle zerfließen als unfaßliche Schemen. Honoratus aber, der noch leben sollte, ist der rätselhafteste von allen 100. Sollte er doch «eben jene Zelle leiten, in der Benedikt zuerst gelebt hatte» 101. Welche Zelle aber war das? Die Höhle von Subiaco? Das anonyme Monasterium, das Benedikt bald wieder und zwar zornig verließ, das er aber tatsächlich als erstes geleitet hatte? Eine seiner zwölf Gründungen im Umkreis des Sacro Speco? Nirgends ist dieser «Ehrwürdige» bekannt. Weder in Subiaco noch sonst wird sein Gedächtnis gefeiert; allein eine späte Fälschung erwähnte ihn 102; und die «Dialoge» hüteten sich, genauer zu werden. Sie kamen nur noch ein weiteres Mal auf Honoratus zu sprechen, aus Anlaß nämlich von Benedikts prophetischen Worten über Rom, daß die Stadt «nicht von Barbaren zerstört, sondern von Unwettern, Sturmwinden, Blitzen und Erdbeben erschöpft zerfallen», daß ihre Mauern also allen drohenden Kriegsgefahren trotzen werde. Diese Prophetie habe er, Gregor, von Honoratus erfahren, der sie seinerseits aber (weil noch zu jung) nicht aus des Heiligen Mund, vielmehr «von Brüdern» vernommen habe 103 • Hörensagen also auch hier - oder fiktive Autorität. In der Tat, die Prophetie sollte trösten und zwar wirksam und jetzt, angesichts der Gefahr, die von Barbaren, den Langobarden nämlich, ausging 104. Spätestens dieses Ziel schenkte dem Zeugen das Leben. Dieser Mann mit dem sprechenden Namen mußte leben, um die Hoffnung wek-
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ken zu können, die jenes Vatizinium verleihen sollte. Sein Zeugnis war von allerhöchster Dringlichkeit 105 • Gregor organisierte die Abwehr gegen die Langobarden. Benedikts Prophetie verhieß den Seinen göttlichen Beistand und Schutz. Honoratus aber dürfte derselben Quelle seine Existenz verdanken wie eben jene prophetischen Worte des Heiligen selbst. Belege für dessen Leben waren nicht vonnöten. War er der «heilige Mann», der «Gesegnete» schlechthin, der aller Gerechten Geist erneuerte, so erfüllte sich in ihm alles, was irgendein Weiser über Heiligkeit wußte; vereinten sich in ihm alle heiligen Eremiten und Klostergründer Italiens zu Gregors Zeit;.und trug diese Fülle ihre Wahrheit und Wirklichkeit in sich - so wie Benedikt «in sich selbst wohnte» und «sein Geistesauge nicht außerhalb seiner selbst schweifen» ließ, so wie Petrus nach der Verleugnung des Herrn und der verlorene Sohn, als er zum Vater zurückkehrte, «in sich» waren 106. Die Regel aber, die Gregor noch niCht kannte, könnte in engerer zeitlicher Nachbarschaft mit seinen «Dialogen» entstanden sein, vielleicht in Rom, von wo aus sie tatsächlich die monastische Welt eroberte. Sie wies in mancherlei Weise dem Mönchtum und der Klosterordnung neue und gänzlich ungewohnte Wege. Dekretiert werden konnte sie nicht, selbst wenn der Apostolische Stuhl ihre Ausbreitung gefördert wissen wollte (was wiederum nicht nachzuweisen ist). Sie mußte sich gegen andere Regeln durchsetzen, mußte Akzeptanz unter Patronen und Mönchen finden, um sich verbreiten zu können, Überzeugungskraft ausstrahlen, um akzeptabel zu werden. Sollte der wundertätige Heilige, der «Gesegnete» schlechthin, der gütig-strenge Vater der Mönche, deshalb in Erscheinung getreten sein? Denkbar wäre es. Doch Erfolg wäre ihm nach Ausweis des Fehlens aller Spuren seiner Regel in Italien vor dem 8. Jahrhundert zunächst versagt geblieben. Gregor selbst jedenfalls förderte sie nicht. Indes, wie der Kult, so fand auch die Benedikt-Regel frühe Verehrer in Gallien und bei den Angelsachsen 107; und wie jener, so wanderte auch sie später zurück nach dem Süden und begann, sich etwa zur nämlichen Zeit, dem früheren 8. Jahrhundert, dort zu verbreiten 108 - in Rom und Italien, wo sie vielleicht erst ein Jahrhundert zuvor in starker Abhängigkeit von der «Regula Magistri» entstanden sein mochte 109 . Nichts illustriert diese Verhältnisse klarer als der älteste erhaltene Codex aus Montecassino, der auf kein benediktisches Ur exemplar zurückführt - ein solches wird in der Überlieferung nicht greifbar -, sondern auf eine Fassung anianischer Prägung, mithin der karolingischen Reform, die durch das Aachener Synodalwerk von 816117 begründet worden war llO • Waren aber dieser Benedictus und sein «Leben» sowie die Herkunft
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Gedächtnis in der Kritik
<seinen Regel apokryph, so bedurfte es langer Zeit und weiter Umwege, um den «Gesegneten» und seine Schwester, «die Gelehrte» (Scolastica), in den himmlischen Chor aufzunehmen lll. Auch dieser Prozeß ist in mancherlei Hinsicht aufschlußreich 112. Begegnen einem die ältesten Spuren des Benediktkultes und der liturgischen Verehrung des Mönchsheiligen doch erst spät, nicht vor dem Beginn des 8. Jahrhunderts, und wiederum zunächst außerhalb Italiens 113. Das paßt schlecht zu einem Mann, der schon zu Lebzeiten berühmt geworden sein soll114, und zu einem von einem heiligen Papst propagierten Wundertäter, wohl aber sehr gut zu der wiederauflebenden Gregor-Verehrung zu Beginn dieses Jahrhunderts durch die Päpste Gregor II. (7~5-3~) und Gregor III. (73~-4~)115. Niemand in Rom kannte den Heiligen zuvor. Die Belege setzten, obschon Benedikt als römischer Heiliger zu betrachten ist 116, vielmehr dort ein, wo sich neben der Regel frühzeitig die «Dialoge» verbreitet hatten und hingebungsvoll gelesen wurden, in Gallien und bei den Angelsachsen, wo man allein auf die Schrift angewiesen war und keine zusätzliche mündliche Überlieferung zur Kontrolle heranziehen konnte, wo mithin allein die Autorität des Buches und seines , jetzt also des hl. Gregor, zählte, nicht ein Wissen, das sich in unreflektierten Gewohnheiten, in Benedikts Fall gar in Unterlassungen, manifestierte 117. Dort, in Fleury und Le Mans nämlich, fanden sich dann auch wunderbarerweise und zu unbekannter Zeit sein und seiner Schwester Leiber; legendenhafte Erzählungen, die im späteren 8. Jahrhundert Gestalt gewannen und mit jeder Wiederholung immer genauer wurden, berichteten davon, wie die Reliquien dorthin gelangt sein sollen 118 . So sehr ihn auch die Fremden verehrten, in seiner Heimat war Benedikt (gleich seiner Schwester Scolastica) «kein volkstümlicher Heiliger»119. Niemand verehrte ihn dort, niemand trug dort seinen Namen 120; niemand pflegte sein Gedächtnis und hegte sein Grab 121 . Nicht einmal Petronax, der Neugründer des Klosters Montecassino, suchte dasselbe 122 . Benedikt und seine Schwester mußten dort, in Rom, Montecassino oder Subiaco, erst <entdeckt>, ihre Reliquien dort erst vermißt werden, bevor sie verehrt werden konnten, und es steht zu bezweifeln, daß der «Gesegnete» und die «Gelehrte» dort ursprünglich überhaupt <jemand> waren 123 . Die <Entdeckung> jedenfalls vollzog sich fern der ewigen Stadt und ihres Umlandes 124, und die der Reliquien trägt alle Anzeichen einer <Erfindung> derselben zur Legitimation ihres Fehlens in Montecassino 125 . Zudem will eine sichere Abgrenzung des angeblichen Gründers von Montecassino und seines gleichzeitigen, doch jüngeren Namensvetters
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in der Campagna, der gleichfalls nur in Gregors «Dialogen» auftaucht, nicht recht gelingen l26 • Sollte dieser Unbekannte der Mann und der Name hinter Gregors des Großen heiligem Mönchsvater gewesen sein? Der Mann, an den der eine oder andere Zeitgenosse des Papstes sich tatsächlich zu erinnern vermochte? Träfe dies zu, was durchaus zu erwägen ise 27, dann zerfiele der Erzvater der Mönche in mehrere Gestalten, verschmölze in Gregors Perspektive zu einer Synthese, einem Konstrukt, einem Übermenschen, einer Idee, kurzum zu jenem «guten Menschen», nach dessen Wundern Petrus, des Papstes Dialogpartner, um so stärker dürstete, je mehr er von ihnen zu trinken bekam 128 • Sein vergangenes, sein künftiges Leben verdankte sich dem erbaulichen Gespräch, mündlicher und später, sehr später kultischer Tradition, keiner gelebten Wirklichkeit. Die «Dialoge» also protokollierten keine Lebensgeschichte; sie entwarfen vielmehr einen Typus, die Figur des «heiligen Mannes» 129, «des Gesegneten» schlechthin, des Thaumaturgen, der staunens- und wunderbarerweise ein neuer Moses, ein neuer Elisaeus, ein neuer Elias, ein neuer David war, der vom Geist aller Gerechten erfüllt war 130, der in die Geheimnisse Gottes einzudringen vermochte, mit Gott vereint und eines Geistes mit ihm war l3l . Ob und wieweit hinter diesem Bild gelebtes Leben stand, war gänzlich unerheblich. Die Wahrheit des Typus blieb davon unberührt. Sie war Projektion der Lebenden, der nach Erlösung und Erbauung Lechzenden, und ihres Bildes von Heiligkeit, zum al eines herausragenden, wahrhaft vorbildlichen und schon den Zeitgenossen heiligmäßigen Mannes, der Zeit seines Lebens die Kontemplation, das Kloster und den Mönchsstand pries, nach ihnen dürstete und beklagte, sie verloren zu haben: Gregors des Großen selbst l32 • Man hat ja mit vollem Recht den «Dialogen» «Elemente einer spirituellen Autobiographie» des Papstes attestiert 133 . In der Tat, in klaren Zügen spiegelte Benedikts Leben, soweit es in den «Dialogen» überhaupt angedeutet wurde, Gregors eigene Biographie, seinen Weg vom gelehrten Römer und Weltmann, der die Wissenschaften floh, zum «gesegneten» Eremiten, Klostergründer und Vater der Mönche, der - gleich dem Apostel Paulus- seinen Willen gebeugt sah, als Papst das Kloster verließ und dennoch Gott diente 134; den Scolastica also aus Liebe durch die Macht ihres Flehens zum gottgefälligen Bruch seines Gelübdes verleitete; zu einem Bruch, den, obgleich nicht zu dulden, Gott selbst sanktionierte 135 und der beide, Benedikt und Scolastica, dazu brachte, «sich wechselseitig an heiligen Gesprächen geistlichen Lebens zu sättigen» 136 gerade so wie Gregor selbst es in seinen «Dialogen» mit dem Diakon Petrus hielt l37 • So ausschließlich und spät (nämlich drei Tage vor ihrem
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Gedächtnis in der Kritik
Tod) die Schwester zu dem einen Ziel in das Leben ihres Bruders trat 138, so ewig durfte sie ihm fortan verbunden bleiben. Kein Tod trennte diesen «Gesegneten» von seiner «Gelehrsamkeit» mehr; noch das Grab vereinte beider «Leiben, «deren Geist in Gott immer eins gewesen ist» 139. Gregor und Benedikt - sind sie ebenso eins, wie schon Benedictus und Scolastica im Tode und in Gott vereint waren? Wer also war Benedikt wirklich, im tatsächlichen Leben? Wir wissen es nicht; und für den Augenblick scheint er nicht mehr zu sein als ein Mythos, eine fromme Legende, ein Phantom, vielleicht eine Projektion, ein Produkt einer erbaulichen Geschichte, das wie der h1. Christophorus oder die h1. Barbara seinen Weg ins «Martyrologium Romanum» fand. Daß Benedikt von Nursia mit seiner Schwester dort zu Recht seinen Platz gefunden hat und nicht, wie jene beiden, wieder auszuschaben sei, bedarf erst des Beweises. Abermals hatte das Gedächtnis oder genauer seine Verformbarkeit eine Geschichte zu schaffen und als real zu verbreiten erlaubt, die fern des gelebten Lebens angesiedelt war. Auch jetzt überlagerte Erinnerung das Leben.
9.3
Resümee
Das Resümee darf kurz ausfallen. Die beiden Beispiele können verdeutlichen, daß der gedächtniskritische Historiker sich keineswegs mit verformten Erinnerungen begnügen muß. Die strenge zeitliche Schichtung der Quellen drückt ihm vielmehr im Falle von Chlodwigs Taufe Kontrollmöglichkeiten mit abweichenden und durchaus widersprüchlichen Informationen in die Hand, die nicht - wie gewöhnlich - werden dürfen. Was Gregor von Tours, dem im wesentlichen alle Geschichtsschreibung zu diesem Geschehen folgte, wußte, stimmte mit dem Wissen der Zeitgenossen des ersten christlichen Frankenkönigs nicht überein. Dennoch ist kein Verlust zu beklagen, vielmehr ist ein anderes Geschehen zu erkennen als jenes, das die Handbücher von heute postulieren und die Erinnerung an dasselbe in ihren Mutationen während des 6. Jahrhunderts bis hin zu dem Geschichtsschreiber in Tours zu verfolgen. Auch der Blick auf Benedikts Leben läßt durch erinnerungskritische Textanalyse anderes hervortreten, als bisher gesehen wurde: Wie näm-lieh eine ideale Mönchs- und Abtsgestalt entstand, welche symbolische Bedeutung ihr zu ihrer Zeit in ihrer Umwelt zukam, wie sie dann literarisch von Fremden aufgenommen wurde und dabei historisch zu wirken begann, indem ihre Fiktionalität nicht mehr erkannt und für Wirklich-
Resümee
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keit gehalten wurde, und wie diese irreale Realität endlich an ihren Ursprungsort zurückkehrte, um dort verspätet ins Leben zu treten. Auch dieser Weg läßt - nicht anders als Chlodwigs Taufe - das kulturschöpferische Zusammenspiel von Vergangenheitsbildern und Gegenwartsgestaltung, von individuellem und kulturellem Gedächtnis in seiner nimmer endenden Modulationsfreude erkennen und nicht zuletzt, daß der Historiker in dieses Spiel hineinleuchten kann, auch wenn er dessen Regeln (noch) nicht kennt.
x.
Memorik: Grundzüge einer geschichtswissenschaftlichen Gedächtniskritik
10.1
Auch Historiker vergessen
«Gegenwärtig, wo allenthalben erinnert wird, Zeitzeugen befragt werden, um zu hören, was sie 1989 im Herbst in Ostdeutschland, in der inzwischen untergegangenen Deutschen Demokratischen Republik, erlebt haben, steht Erinnerungsleistung hoch im Kurs. Dies ist Grund genug, daß sich der Historiker bei der Wiederbegegnung mit einem solchen Text (nämlich eigene tagebuchähnlichen Aufzeichnungen vom 6., 7. und 8. November 1989) prüft, was das Gedächtnis vermag. Was hat es festgehalten und was nicht, frage ich mich. An welcher Stelle setzt Erinnerung ein, und wo versagt sie, weil sich das Vergessen, aus welchen Gründen auch immer, als stärker erweist? Selbst wenn ich über ein schlechtes Erinnerungsvermögen verfügte, was nicht der Fall ist, der Grad des Vergessens, auf den ich selbst stoße, ist beträchtlich. Er sollte vorsichtig stimmen gegenüber Erinnertem, sofern wir es nicht als ein Stück Erinnerungsrealität mit Neuwert ansehen, als Ausdruck einer besonderen Erinnerungskultur, in der Gegenwärtiges Vergangenes zu beherrschen vermag.» Mit diesen Worten leitete Hartrnut Zwahr, Professor der Geschichte und der politischen Wende von 1989 in Leipzig, seine Edition und Kommentierung eigener Aufzeichnungen aus diesem Epochenjahr ein. Die unvermutete Wiederbegegnung mit dem selbstgefertigten, doch zwischenzeitlich abhanden gekommenen Schriftzeugnis belehrte über die Verformungsmacht des Gedächtnisses auch des wissenschaftlich geschulten, emotional in Anspruch genommenen und aufs höchste interessierten Historikers. Er registrierte die doppelte Selektion durch Wahrnehmung und Gedächtnis nach nicht mehr nachvollziehbaren, selbst dem einstigen Beobachter verschlossenen Kriterien - dazu aller Aufmerksamkeit zum Trotz das Vergessen. «Ohne das Geschriebene wüßte ich kaum noch viel mehr von dem Kundgebungs- und Demonstrationsereignis dieses Tages, als daß es unaufhörlich regnete und die Leute trotzdem ausharrten» 1. Die Schrift aber hielt fest und rief versunkene Erinnerungen wieder auf.
Auch Historiker vergessen
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Der Historiker machte sich selbst zum Studienobjekt. Die Konfrontation seiner Erinnerungen mit eigenen Notizen lehrte ihn, daß jegliche Wahrnehmung trotz stärkster Betroffenheit und Sensibilisierung für die Bedeutung des Geschehens schutzlos dem Vergessen ausgeliefert ist, werden nicht umgehend Vorkehrungen dagegen getroffen. Der Leipziger Historiker steht nicht allein; uns allen ergeht es gleich. Selbst Gelehrte wie Gottfried Wilhelm Leibniz, der große Mathematiker, Philosoph, Bibliothekar und Historiograph, stehen nicht abseits. Ein Gedächtnisgenie, exzerpierte er für seine «Annales Imperii Occidentis Brunsvicences» alte Geschichtsschreiber, ließ, die Zettel dann achtlos in seiner Tasche verschwinden, ohne je wieder einen Blick auf sie zu werfen, und zitierte später das Exzerpierte aus dem Gedächtnis. Das Ergebnis nahm sich überraschend korrekt aus; Quellenangaben und Zitate schienen zu stimmen. Und doch war Wesentliches falsch und das Ganze weder verläßlich noch geschichtswissenschaftlich zu gebrauchen. Der große Gelehrte hatte verschiedene Quellen kontaminiert, Erinnerungslücken durch eigene Konstrukte gefüllt, den Zusammenhang verwechselt und dergleichen mehr nicht anders als weniger Begabte, die sich komplexer Episodenbündel zu erinnern suchen. Alle Genialität, alle Intention, alles Interesse schützten den Autor nicht vor den Modulationskünsten seines Gedächtnisses 2 • Das Gewißheitssyndrom schickte ihn offenkundig in die Irre. Mittelalterlichen Geschichtsschreibern erging es nicht besser, obgleich sich ihr Vergessen hinter dem herrschenden Quellenmangel wirksam zu verstecken vermag. Sie selbst oder ihre Gewährsleute erinnerten sich nicht zuverlässiger als moderne Kollegen. Derartiges Zerfließen und sich Verflüchtigen der Erinnerungen wurde zu allen Zeiten beachtet. Die Menschen sträubten sich dagegen. Mit allerlei Hilfsmitteln suchten sie zu retten, was es zu bewahren galt: Sie mochten sich des eigenen Körpers, der Hände, der Glieder als Memorialhilfen bedienen, semantisch besetzter Geländemale, der Knotenschnüre, speziell präparierter Objekte, der Lieder oder Rituale, trainierter Spezialisten, der räumlichen Ordnung der Dinge (wie der Gäste beim letzten Gelage), der Dialektik und Logik, die jene sinnlich erfahrbaren Orte durch eine kognitive Ordnung, durch logische Orte, ergänzte und erweiterte, oder eben protokollierender Schriftdokumente, der Archive und deren sachlicher Ordnung. Ausgeprägte Gedächtniskulturen entstanden. Erfolg war ihnen nur begrenzt, nach Leistungskraft der eingesetzten Mittel vergönnt. Was sie konservierend zu retten vermochten, waren bestenfalls verformte Ausschnitte des Lebens, nie dieses selbst oder dessen unverfälschten Kontext, schon gar nicht das Ganze; und nur unter glücklichsten Umständen führten diese Ausschnitte umfassendere Erinnerungskomplexe wieder herauf.
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Memorik: Grundzüge einer Gedächtniskritik
Geschichtsforschung aber - dieselbe als kollektiver Prozeß betrachtet - ist unersättlich. Sie begnügt sich nur widerwillig mit Ausschnitten und Fragmenten; und gegen die Verformungskräfte richtet sie ihre gesamte Forschungsstrategie. Ihr Erkenntnisziel ist universal. Gierig verlangt sie nach allen relevanten Daten, den , nach den primären Wahrnehmungen eines Geschehens, deren Ordnungsparametern, deren Wirklichkeitsgehalt, dürstet nach allen geschehensbedingten Erinnerungen von Belang, nach der das Ereignis konstituierenden Semantik, sucht nach ihren Kontexten und Urhebern, nach deren Transformationen durch das Erinnern, den Einflüssen, die darauf einwirkten, und den Wirkungen, die davon ausgingen, um daraus ihre Schlüsse zu ziehen und ihre Erkenntnisse zu begründen. Sie möchte verstehend eindringen in die kogn'itiven Verhaltensweisen und die kommunikativen Kognitionsprozesse menschlicher Gruppen und Individuen. Sie ist, will sie ihr Ziel erreichen, auf Sinnesdaten angewiesen, die von Sachverhalten und ausgingen, die ihren Zeugen zugeflossen sind und von diesen erst wahrnehmend, dann erinnernd bearbeitet wurden. Diese Wissenschaft greift grundsätzlich nach der Erfahrung aller Menschheit zu allen Zeiten, nach deren Erinnerung und Speicherung in allen verfügbaren Medien vom natürlichen Gedächtnis bis zu den elektronischen Speichern heutigentags und der Aktualisierbarkeit des Gespeicherten für jedweden Augenblick. Sie verfolgt Einzelheiten und präzise Details, und , urteilt über das extrem selektierende kulturelle Gedächtnis, spürt den mnemonischen Arbeitsprozessen sowie dem Vergessenen und Verdrängten nach, das gleichwohl in Individuen und Kollektiven je auf seine Weise fortwirkt. Die Geschichtswissenschaft ist eine Erfahrungswissenschaft, und die erste Erfahrung, der sie sich zuwenden muß, obgleich sie es bislang zumeist unterließ, ist die Schöpfe.rmacht der die ursprünglichen Wahrnehmungen deformierenden, jegliche Erfahrung transformierenden, individuelles und kollektives Wissen konstituierenden Erinnerungen, die das Vergessen mit einschließen. Sie will verhindern, daß alle Erregung, alle Betroffenheit endet an einem trüben Regentag und bei einer ausharrenden Masse Mensch. Das eigene Selbst und die Autobiographie dürfen sich täuschen, sich gar selbst betrügen, sich mit mannigfach bearbeiteten, wieder und wieder umgedeuteten Erfahrungen begnügen und auf gesicherte Fakten verzichten. Das hat jeder vor sich selbst zu verantworten. Der Historiker indessen kommt ohne Wirklichkeit nicht aus. Sie muß er freilegen, erfassen und festhalten: Zeit, Ort, beteiligte Personen, das <Was> ihres Tuns, das <Wie> ihres Vorgehens, die Wirkungen, die sie erzielten. Begegnungen, Kommunikation und Kognition, die gesellschaftlichen Bedingun-
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gen, unter denen sich alles vollzog, gilt es zu registrieren, den Umgang mit den eingesetzten Hilfsmitteln. Das <Warum> des Geschehens verlangt nach Beachtung, wie weit es äußerem Zwang, Naturkatastrophen, Seuchen, Hungersnöten, fremder Gewalt oder Verführung unterlag, ob es inneren gehorchte, welche Motive die Beteiligten bewegten, und dergleichen Umstände mehr. Auch das einstige Wissen der Betroffenen, seine Herkunft, Vernetzungen und jeweilige Verfügbarkeit gilt es zu erforschen, endlich wie sich alles im individuellen und kollektiven Gedächtnis niederschlug, um es einkalkulieren und in seinen Wirkungen verfolgen zu -können. Dafür nutzt der Historiker seine Methoden. Die Kenntnis solcher Faktoren erlaubt, einstige Handlungsspielräume auszuloten und aus der Geschichte zu lernen. Fragen danach sind prinzipiell eindeutig zu beantworten, auch wenn dies aus Quellenmangel oftmals nur hypothetisch möglich ist. Das Gedächtnis aber, dem auch der Historiker sein Wissen verdankt, sei es das eigene oder sei es ein fremdes, vermag nur unscharf und verschwommen solcher Art Faktoren zu fixieren; es vermengt sie in der Regel mit Fremdem, mit irrealen Konstrukten und Implantaten. Unbewußt, nicht absichtsvoll oder gar lügend verformt es die erinnerte Wirklichkeit. Zeiten fließen ihm ineinander, Orte vertauscht es, Personen läßt es bald verschwinden, bald hinzutreten, sie nicht mehr tun, was sie taten; Worte, Sätze und Gedanken reißt es aus dem Zusammenhang, erfindet und ordnet es neu; Gehörtes oder Gelesenes gewichtet es nach eigenem Gutdünken. Leibniz, bei seinen Fehlkonstruktionen ertappt, erhebt warnend seinen Finger. Ursprünglich konstitutive Zuordnungen lösen sich auf; die Identität erinnerter Einzelheiten und ganzer Geschehensbündel, ihre Zuordnung zu ursprünglichen Kontext, gerät ins Wanken; zumal Motive attackiert das Gedächtnis - sie sind so flüchtig - und täuscht das alt gewordene Ich über seine früheren Interessen und Wünsche. All dies hängt mit der Arbeitsweise unseres Hirns zusammen, die auch den Historiker nicht freistellt. Sie taugt für das Leben, nicht aber als Datenspeicher oder zur Datenverarbeitung für die Geschichtswissenschaft. Das Gedächtnis muß den Historiker geradezu betrügen. Vermag derselbe sich davor zu schützen? Das Hirn zu überlisten? Denn es ausschalten, das kann er nicht. Die allgemeine Bedeutung solcher List, wenn sie denn möglich, steht unzweifelhaft fest. Denn alles menschliche Wissen verdankt sich dem individuellen, kollektiven oder kulturellen Gedächtnis und den Manipulationen, welche die kommunikativ generierten Erinnerungen an den ursprünglich eingegangenen Sinnesdaten, den früheren Wahrnehmungen, Erfahrungen und Lehren, an den einstigen Intentionen und Aktivitäten
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Memorik: Grundzüge einer Gedächtniskritik
vornehmen und weitergeben. Die Inhalte des episodischen und semantischen Gedächtnisses sind stets gefährdet, wenn auch unter je anderen Bedingungen und in je anderen zeitlichen Rhythmen. Eine Erfahrung, die nicht wiederholt abgefragt und keinem Gedächtnis eingeschrieben wird, eine Erfindung, die niemand erinnert, geht für immer verloren; ein wissenschaftliches Experiment, das nicht protokolliert und publiziert und damit dem kulturellen Gedächtnis überantwortet wird, ist, als wäre es nie unternommen. Vergessenes und Verdrängtes kann freilich wenigstens eine Zeitlang im Untergrund agieren und sich irgendwie Bahn brechen, ohne daß es seine Herkunft offenbart und seine Folgen erkennt. Gedächtnis weist stets in die Vergangenheit zurück, auch wenn es für irgendein Heute aktualisiert werden soll und kann und muß. Wir sind stets Gestrige (Job 8, 9), kalkulieren aber mit der Zukunft. Episodisches Wissen ist von Verformungen und Verfälschungen bedroht, weil seine Semantik mit einer unaufhaltsam fortfließenden Welt mitschwimmt; die Zuverlässigkeit entsprechender Transmissionsleistungen an Dritte und über die Zeiten hinweg sinkt in der Folge, finden sich keine stabilisierenden Erinnerungsträger. Das semantische Gedächtnis kann nachträglich episodische Erinnerungen verformen oder vorgreifend (als Erwartung) die Perspektiven künftiger Episoden verzerren. Die Herrschaft des Gedächtnisses über unser Wissen bleibt dauerhaft erhalten; nichts ist ihm entzogen. Selbst Speichermedien sind in irgendeiner Weise, wenn auch in unterschiedlichen Graden - durch Eingabe, Verarbeitung und Abruf - dem natürlichen Gedächtnis des das Medium bedienenden und benutzenden Menschen ausgeliefert. Leibniz' Zettelsammlung erinnert daran. So treten eigentümliche Spannungseffekte zutage, da die vergessene Wirklichkeit ebenso fortwirkt wie das Erinnerte oder erinnernd Verformte; auch letzteres ist Wirklichkeit. Eine Schichtenfolge von Erinnerungen und Wirklichkeiten, die sich durchaus in den einschlägigen Quellen spiegelt, und in der die Fundamente des kulturellen Gedächtnisses gründen, gilt es zu ergraben und zu deuten. Neue Fragen werden damit aktuell.
10.2
Die Kulturwissenschaften sind auf interdisziplinäre Gedächtnisforschung angewiesen
Die Erforschung der Vergangenheit ist kein Selbstzweck; sie dient der Bewältigung der Gegenwart, indem sie Schicht um Schicht unseres Wissens, seiner Entstehungs- und Rahmenbedingungen und mit ihnen die Grenzen seiner Geltung aufdeckt. Sie spürt jenen von immer neuen Er-
Kulturwissenschaften und interdisziplinäre Gedächtnisforschung
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innerungen zwar überlagerten, aber nicht toten Wirklichkeiten und beider Wirkungen nach. Der bringt sich damit anders als bisher im Betrachtungshorizont der Geschichtswissenschaft zur Geltung; dieselbe erschließt sich die anthropologische Dimension ihres Gegenstandes in neuer Weise. Kulturanthropologie, Ethologie, Kognitionswissenschaften und Hermeneutik treten nun analogen Forschungen der Geschichtswissenschaft zur Seite. Eine Kulturtheorie auf anthropologischer Basis wird möglich. <Wirklichkeit> beschränkt sich nun keineswegs auf Phänomene wie beispielsweise Kriegs- oder Seuchenzüge, die neue Machtverteilungen oder Bevölkerungsdichte mit sich brachten, auf das Leben herausragender Männer. Eine solche Sicht folgt nur einem von der Antike bis ins 19. und 20. Jahrhundert genährten Vorurteil, daß lediglich oder vornehmlich derartige Segmente gesellschaftlichen und kulturellen Geschehens den Gegenstand der Geschichtsschreibung und Geschichtsforschung ausmachten. Die Erforschung der Wirklichkeit hegt demgegenüber einen holistischen Anspruch, dem prinzipiell der , die Gesamtheit seiner Erfahrungen und Aktivitäten, seines Verstehens unterliegen, und dem sich nichts entzieht, dem freilich nur ein aufwendiger Forschungsverbund mit einer Vielzahl diskreter und reduktionistisch vorgehender Arbeitsschritte, kein einzelner Historiker gerecht werden kann. Erst seit dem 20. Jahrhundert rückten auch natürliche, gesellschaftliche oder im umfassenden Sinne kulturelle Prozesse - wie etwa, um nur einige zu erwähnen, der wiederholt zu registrierende Klimawandel, technische und intellektuelle Innovationen, deren gesellschaftliche Folgen, der immer neue Umgang mit dem Körper, der Wandel der Mentalitäten, der Kommunikation und sozialen Interaktion, Generierung, Transfer und Management des Wissens, Entdeckungen in Makro- und Mikrokosmos, in den Natur- oder Biowissenschaften - in den Mittelpunkt geschichtswissenschaftlicher Aufmerksamkeit. Die zu berücksichtigende Datenmenge steigt in der Folge ins Unermeßliche. Die methodischen Konsequenzen, auch der daraus resultierende Erkenntnisanspruch, sind beträchtlich. Geschichte wird eine Erfahrungswissenschaft von umfassender Geltung. Zuvor verborgene Zusammenhänge werden sichtbar: soziale Integration oder Desintegration, kulturelle Konfrontation oder Synergieeffekte, die Wirkungen, die sie auf die Gesellschaften und ihre Ökonomie, auf Herrschaftsordnungen und Politik, auf Zielsetzungen und Normen, auf Lebensformen und Lebensordnungen, auf kommunikative und kognitive Prozesse sowie wechselseitig aufeinander ausüben. Sie alle sind ihrerseits Folgen gesellschaftlicher Konstellationen; sie alle aber schlagen sich im individuellen ebenso wie im kommunikativen und kollektiven Ge-
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Memorik: Grundzüge einer Gedächtniskritik
dächtnis nieder. Sie entfalten dort ihren Einfluß, lange bevor sie in irgen deiner Weise zu Bewußtsein gelangen und erinnernd zu der komplexen Wirklichkeit werden, in die sich der Mensch hineingestellt sieht. Und sie beherrschen von dort, vom Gedächtnis aus, die Gesellschaft, deren Wissen und Handeln. Beide, Gesellschaft und Wissen, lassen sich nicht auseinanderdividieren. Sind sie auch nicht identisch, so manifestiert sich im Wissen doch die Gesamtheit der Erfahrungen einer Gesellschaft und der Aussagen, die sie oder ihre Individuen über sich und das für sie Relevante treffen können. Ohne Gedächtnis vermöchten sie nichts. Es artikuliert sich in komplexen Austauschprozessen. Das individuelle Gedächtnis operiert dabei mit der Vielzahl von Neuronen und Hirnstrukturen. Diese aber sind vom ersten Lebensaugenblick eines Individuums an auf Vernetzung, Kommunikation und Kooperation zunächst mit ihren N achbarzellen angelegt, sodann über diese hinaus durch zu <empfangende> und zu <sendende> Signale mit jener Gemeinschaft, in der Individuen mit gleichartiger kognitiver Apparatur leben. Die dieses zerebral-interzerebralen Spiels, die Algorithmen seines Verlaufs, beginnt man allmählich zu erforschen. Hier bedarf der Historiker der Hilfe fremder Disziplinen. Aus diesem umfassenden Zusammenwirken, aus der Kommunikation der Individuen im Kollektiv, speist sich das kollektive Gedächtnis, das bei Fortbestand dieser Kommunikation wie ein Speicher wirkt, der selbst den Austausch der Individuen übersteht. Das kulturelle Gedächtnis wiederum ist ein kollektives Gedächtnis, das durch eine Vielzahl von Speichertechniken und Speichermedien (wie elaborierte Sprache, Ritual, Schrift oder geschulte Logik), von Kommunikationskreisen (wie Sprach-, Verkehrs- oder Religionsgemeinschaften) zeitüberdauernd und kulturbestimmend wirksam ist. Kommunikation und Kooperation finden auf allen Ebenen statt - eine Wechselbeziehu~g, zu der die einzelnen Partner zwar ihren Beitr
Kulturwissenschaften und interdisziplinäre Gedächtnisforschung
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pretation ihrer Informationen gebunden. Wohl aber drückt eine solche Memorik dem Forscher Kriterien in die Hand, die nicht nur die Fehleranfälligkeit seines Datenmaterials begründen, bestimmte Fehlleistungen auf die Operationsweisen des Hirns zurückführen, sondern sie einzukalkulieren gestatten, sie in ihrer komplexen Vernetzung und mit ihren Wirkungen zu analysieren erlauben und insgesamt ungewohnte Perspektiven aufweisen, die es fortan zu verfolgen gilt. Sie dringt zudem und das erscheint noch wichtiger als die bloße Quellenkritik - tiefer in die übergreifenden Zusammenhänge allen historischen Geschehens mit den genetischen und kulturellen Konditionen ein als die herkömmlichen Methoden. Die unerschöpfliche Modulationsbereitschaft des individuellen und kollektiven Gedächtnisses zeitigt eigentümliche Dynamisierungseffekte. Jede Transmission von Wissen, ein unlöslich mit dem Gedächtnis verbundenes Geschehen,'bewirkt zugleich dessen Mutation und Generation. Gedächtniskritik macht deren Dimensionen faßbar, wie beispielsweise die Geschichte der «Konstantinischen Schenkung» illustriert. Ein Implantat in das kulturelle Gedächtnis des Abendlandes, unterlag sie während des Mittelalters tiefgreifenden Wandlungen. Sie entstand im 9. Jahrhundert zur Abwehr kaiserlicher Macht in der Kirche. Danach habe der Kaiser Konstantin der Große dem Papst die Stadt Rom geschenkt und die Patriarchengewalt über den gesamten Westen des Römischen Reiches übertragen. So entsprach es der tatsächlichen politischen Lage. Das hohe Mittelalter aber machte daraus eine Schenkung der Kaiser- oder Königsherrschaft über die westliche Reichshälfte. Dieser nahm sich dann die Kanonistik des 12. und 13. Jahrhunderts an, paßte sogar den Text der neuen Deutung an, und machte damit erst das vergleichsweise harmlose Dokument zu der berüchtigten und von Luther verfluchten «Konstantinischen Schenkung». Alles Wissen und sein Wandel, keineswegs nur die Verwaltung des Etablierten, hängen gleich Marionetten an den Fäden modulierender Operationsweisen des episodischen und semantischen Gedächtnisses, an den von ihnen beherrschten Verstehensprozessen der Erinnerungsträger und an den kulturellen Transmissionstechniken, über die eine Gesell- . schaft verfügt. Jede Wissensgeschichte, welche die Bedingungen von Wissen, die Wissenskultur, erforscht, impliziert diachrone Gesellschaftsgeschichte und Gedächtniskritik. Das Gedächtnis aber trügt, eben weil es moduliert. Die Ungewißheit unseres Wissens über die sich in der Natürlichkeit des Gedächtnisses verlierende Vergangenheit beunruhigt die Historiker. Eine nicht endende Reihe von Beispielen zeigt, wie vielfältig - wenn auch verdeckt unter
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Memorik: Grundzüge einer Gedächtniskritik
dem Schutzmantel des Gewißheitssyndroms - die Irrwege des Gedächtnisses sein können und daß ihnen niemand entgeht, kein Beobachter und Zeitgenosse, niemand, «der dabei waf», kein politischer Berater, kein Gelehrter, kein Fürst und kein Historiker, und sei er noch so aufmerksam und konzentriert. Jede bedingt zugleich Exklusion und Vergessen. Das gilt allgemein und keineswegs nur für Kulturen ohne oder mit begrenztem Schriftgebrauch. Wo immer erinnerte Informationen ohne spezielle Kontrolle verarbeitet werden, tobt sich die Irrtumsanfälligkeit unseres Gedächtnisses aus. Und wo immer die Geschichtsforschung auf Gedächtnisquellen angewiesen ist, unterliegt sie den strengsten Postulaten der Erinnerungskritik, um nach einstiger Wirklichkeit und nicht ins Leere zu greifen. Die mittelalterliche und zumal die frühmittelalterliche Geschichte - an der Grenze zwischen Oralität und Literalität angesiedelt - verdeutlicht diesen Umstand in exemplarischer Weise; die Antike ist in gleichem Maße betroffen. Dem Mediävisten wie dem Althistoriker droht durch konsequente Gedächtniskritik das Hinschmelzen ihres bisherigen Wissens, winken aber im Gegenzug neue Einsichten. Allein für die jüngere Geschichte nimmt es sich günstiger aus, weil die Qualität der nun verfügbaren Quellen, deren Vielfalt und Masse weithin, wenn auch nicht vollständig und immer für einen Ausgleich sorgen. Denn gerade die Masse der Daten provoziert die selektive, modulierende Macht des Gedächtnisses und kann auf schwer überschaubare Irrwege führen. Ausgleich schafft aber in jedem Fall die Dichte und Interdisziplinarität der Forschung. Die Erfahrungen mit der mittelalterlichen Überlieferung besitzen, es sei noch einmal hervorgehoben, sofern das Gedächtnis betroffen ist, allgemeine Gültigkeit; sie treffen grundsätzlich auf jede Wissenskultur und jedes Wissensmanagement zu. Ihre Auswertung erfordert im Blick auf die Veränderungsdynamik aller Erinnerung, da dem Gedächtnis die Arbeitsweisen des Gehirns zugrunde liegen, eine eigene Methodik, die, will sie Fehlschlüsse vermeiden, neurowissenschaftliche und psychologische Erkenntnisse mit den kulturwissenschaftlichen verbinden muß. Der Blick auf psychische, genetische und neuronale Grundlagen des menschlichen Gedächtnisses vermag Ursachen für dessen sachliche Irrungen zu erkennen, die eben nicht persönlich oder kulturell bedingt sind. Insofern handelt es sich bei der fehlerproduzierenden Arbeitsweise des Gedächtnisses um eine allgemein menschliche Kondition, auf die Individuen, Gruppen und Kulturen ihre eigenen Antworten finden müssen und gefunden haben. Der Horizont der Möglichkeiten ist freilich begrenzt. Doch macht nicht zuletzt dieser Umstand menschliche Kulturen vergleichbar und ihre Erfahrungen wechselseitig verwertbar.
Der Anfangsverdacht gegen Erinnerungszeugnisse
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Ethnologie und Kulturanthropologie vermehren den Erfahrungsschatz im Umgang mit mündlichen Traditionen, die ja keineswegs bloß in oralen oder halb literaten Kulturen, sondern auch in der heutigen Industrie- und Massengesellschaft - man denke etwa an den Schulbetrieb, an den Bereich der öffentlichen Meinung oder an den Wissensfluß in wirtschaftlichen Unternehmungen - alles andere als bedeutungslos sind. Sprache, Mündlichkeit und Schriftlichkeit, kategoriales, an Beweisregeln gebundenes Denken, kommunikative Kognition und dergleichen Umstände mehr verändern die Erinnerungsleistungen. Doch bleibt stets ein weiter, an die Arbeitsweise des Gehirns gekoppelter Spielraum für Fehlerproduktion. Gewiß, Vergessen, Verdrängen und Tabuisieren, das Verformen und Verschmelzen von Erfahrungen in der Erinnerung gehören zum Leben und zum Handeln; jedermann darf und muß seine Erfahrungen von einst einem gewandelten Heute anpassen, jeder Politiker «sein Geschwätz von gestern» vergessen. Aber der Historiker darf es nicht. Er muß zu den Wirklichkeiten jenseits der Erinnerungen und Textualisierungen vordringen, muß das Vergessene wiederzugewinnen und Akkomodationen als solche zu erkennen trachten, will er die Kräfte, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart wirken, erfassen und damit seiner eigensten Aufgabe genügen. Er muß die Schichten der Erinnerung mit den Schichten der früheren und fortwirkenden Wirklichkeit konfrontieren, um die durch deren Auseinanderdriften erzeugten Spannungen und Triebkräfte in den betrachteten Gesellschaften und Kulturen zu registrieren und zu <messen>. Spurensuche wird nötig, die Suche nämlich nach Spuren abweichender Erinnerungen, die der Verformungsdynamik des kulturellen Gedächtnisses besser widerstanden als dieses selbst und damit Einblicke in die Genese des kulturellen Gedächtnisses gewähren.
10.)
Lassen sich Fehlleistungen des Gedächtnisses korrigieren?
:[0.3.:1
Der Anfangsverdacht gegen Erinnerungszeugnisse
Die Erinnerungen bedienen sich einer wirklichkeitsnahen Sprache und dringen mit der Macht sprachlicher Suggestion in das individuelle, kollektive und kulturelle Gedächtnis ein. Der Transformationsprozeß vom Geschehenen und Suggerierten zum Erinnerten besitzt für jede Kultur herausragende Bedeutung. Er reißt in einem auf den ersten Blick nicht zu erkennenden Ausmaß die einstige von der Erinnerung fortgesetzt intendierte Wirklichkeit mit sich. Als notwendig erweist sich somit eine gehörige Portion Mißtrauen gegen das kulturelle Gedächtnis, jedenfalls
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Memorik: Grundzüge einer Gedächtniskritik
sobald es sich episodischen Erinnerungen zuwendet und aus den von ihm konservierten Erinnerungszeugnissen erkannt werden soll, was einst tatsächlich geschehen und wie; was geworden ist; wer dar an in welcher Weise beteiligt war; wann, wo und in welchem sozialen Kontext es geschah; welche Wirkungen es zeitigte; welche Semantik es barg und dergleichen mehr. Denn derartige Traditionen sind bereits von zahlreichen kognitiven Aushandlungs- und Ausgleichsprozessen gespeist. Gleichwohl gibt auch das kulturelle Gedächtnis vor, Fakten und Wirklichkeiten zu erinnern. Auch intendierten die früheren Geschichtsschreiber nicht anders denn die modernen Geschichtsforscher die Übermittlung von Wirklichkeitswissen. Allerdings haben sich der Faktenund der Wirklichkeitsbegriff im Laufe der Geschichte erkennbar verschoben. Wie also lassen sich Sachverhalte von den für real gehaltenen Vorspiegelungen des kulturellen Gedächtnisses unterscheiden, wenn beide sich derselben Sprache bedienen? Alle Erinnerungszeugnisse unterliegen grundsätzlich einem Anfangsverdacht, die Wirklichkeit nämlich, von der sie handeln, nur verschwommen und verformt wiederzugeben. So verlangen es die statistisch ausgewerteten Experimente von Psychologen. Dem Historiker steht freilich selten ein entsprechend präpariertes Erinnerungsmaterial zur Verfügung. Er hat Einzelfälle zu interpretieren und muß sich demgemäß behelfen. Doch kann er, sofern er Erinnerungssequenzen desselben Zeugen oder voneinander unabhängige Erinnerungsdaten besitzt, dieselben auf noch vorhandene Signale primärer und sekundärer Verformungsfaktoren überprüfen, um die zu erwartende manipulative Konstruktionsmacht des Gedächtnisses aufzuspüren. Psychologie und Neurophysiologie, überhaupt die Kognitionswissenschaften können ihm dabei behilflich sein, indem sie· ihn lehren, wie das Gedächtnis bei seiner Manipulationsarbeit vorgeht oder vorgehen kann. Zu unterscheiden ist dabei zwischen der (episodischen) Wahrnehmung und dem (semantischen) Erfahrungswert, den ein Zeuge aus seiner Wahrnehmung gewinnt; doch ist für den Historiker beides von Belang und unterliegt beides, wenn auch in anderen Rhythmen, der Modulationsbereitschaft des Gedächtnisses. Erinnerungskritik mündet somit zunächst in Quellenkritik. Ebensowenig wie diese läßt jene Quellen verschwinden, auch wenn sie Korrekturen am verbreiteten Handbuchwissen nötig macht. Sie prüft erinnerungskritisch den Quellenwert und die Tragweite der Aussagen. Gedächtniszeug-' nisse, mithin die meisten erzählenden Quellen, sind also im Hinblick auf ihre faktizistischen Aussagen grundsätzlich mit Skepsis, nicht mit vorauseilendem Vertrauen zu benutzen; denn jedes ist in jedem Fall, wenn auch in unbekanntem Umfang und mit nicht verifizierten Aussagen, als
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sachlich falsch zu betrachten, obgleich es auch Zutreffendes tradiert. Ein Erinnerungszeugnis beweist somit nichts, sondern verlangt nach dem Beweis (nicht der bloßen Annahme) der Glaubwürdigkeit jeder einzelnen seiner Faktenbehauptungen. Es wird erst dann interpretationsfähig, wenn das Verhältnis der angesprochenen Fakten und deren Modulation abgeklärt ist. Wer Erinnerungszeugnisse heranzieht, dem obliegt die Beweislast, zu klären, was in positivistischem Sinne jeweils zutrifft, nicht umgekehrt: Nicht der Skeptiker muß nachweisen, was nicht zutrifft. Wenn eine derartige Beweisführung nicht gelingt, bleibt jede Sachaussage, die sich auf das fragliche Erinnerungszeugnis stützt, in hohem Maße hypothetisch und anfechtbar. Diese Forderung bedeutet eine Umverteilung der bisherigen Beweislast im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit der historischen Quellen. Alles kann falsch sein; so muß prinzipiell alles als falsch betrachtet werden. Was aber trifft zu? Welche Aufzeichnungen, welche Sachdaten sind zuverlässig? Eine generalisierende Antwort ist nicht möglich. Grundsätzlich darf keine Quellengattung, soweit deren Werke durch das Gedächtnis geformt wurden, von jenem Anfangsverdacht und einer anschließenden Gedächtniskritik ausgenommen werden. Zumal dort, wo ausschließliche oder überwiegende Mündlichkeit der Erinnerung herrschte und späte Verschriftung erfolgte, ist in erhöhtem Maße mit Verformungen und deren Fortwirken zu rechnen. Es beginnt beim Augenzeugen und seinem Bericht, erfaßt die autobiographischen Notizen, die auch im früheren Mittelalter so selten nicht sind - Beda, Willibrord, Alkuin, Hrabanus Maurus, Heiric von Auxerre, Rather von Verona, Abaelard, der Kaiser Karl IV. und zahlreiche andere Autoren ließen sich nennen. Die Zuverlässigkeit derartiger Aufzeichnungen wird gewöhnlich nicht in Zweifel gezogen. Doch woher stammte das autobiographische Wissen? Betroffenheit eines Zeugen durch das Geschehen kann ebenso gut ein Indiz für zuverlässige Informationen sein wie für unzuverlässige oder Nichtbetroffenheit. Bewahrt das Gedächtnis mit Vorliebe doch nicht, wie es gewesen ist, sondern wie es gewesen sein sollte, und kollektive oder individuelle, zeitüberspannende Aushandlungsprozesse der schlichtesten Fakten mit sich selbst verbergen sich in jedem autobiographischen Zeugnis. Der Mehrdeutigkeit einer Erinnerung aber ist nur schwer (wenn überhaupt) zu entkommen. Wie genau etwa wußte in einer Zeit ohne Geburtenregister ein Kleriker um sein Geburtsjahr, das gleichwohl für seine Karriere von rechtserheblicher Bedeutung war? Er müsse es wissen, so gibt man zu bedenken, da die verschiedenen Weihen ein bestimmtes, eben das Alter ver-
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langten. Indes, auch ein vielschreibender Kleriker war hinsichtlich seiner Geburt wie jeder gewöhnliche Mensch angewiesen auf die Erinnerungen seiner Eltern, seiner Taufpaten und Verwandten, vielleicht seiner Amme und entsprechender anderer Zeugen. Wir erinnern uns unserer Geburt (von unbewußten Enkodierungen abgesehen) in keiner Weise, unseres Alters nur mit fremder Hilfe. So ist also Skepsis angebracht. Selbst im Falle Karls des Großen wußten seine Zeitgenossen nicht, wie alt er war, als er starb. Noch heute müssen sich Einwanderungsbehörden oder Familiengerichte zwischen widersprüchlichen Geburtsdaten entscheiden, die sich noch wenig bürokratisierten Gesellschaften verdanken: im Paß kann ein anderes Datum angegeben sein als in der vorgelegten Geburtsurkunde. Erzählende Quellen sind gründlich zu prüfen; sie unterliegen neben dem Primär- einem zusätzlichen Holismus-Verdacht. In sie eingestreute Reden, wie sie die mittelalterlichen Autoren und ihr an Hören und Sehen gewohntes Publikum zu schätzen wußten, sind immer verdächtig. Wo geschlossene Vergangenheitsbilder anzutreffen sind, ist im Interesse des dargestellten Ganzen mit besonders starker Manipulation gerade auch der zu rechnen. Derartige Bilder wurden weithin unbewußt und unkontrolliert konstruiert und müssen dies sein, weil sie als ganze sich jeder sinnlichen Wahrnehmung entziehen und statt dessen den unbewußten Selektions- und Konstruktionsweisen des Hirns und seiner souveränen Sinngebung unterliegen. Sekundäre Verformungsfaktoren sind damit nicht ausgeschlossen und zusätzlich zu beachten. Im Zeitalter der Mündlichkeit setzt sich in der Regel nicht die zutreffendste Erinnerung durch, sondern die autoritative. Auch die einsetzende Schriftlichkeit ändert daran nichts. Der Historiker muß deren Rang im Reigen des Deformierten erkennen; dabei hilft ihm die Kenntnis der Modulationsfaktoren. So wird der Historiker den Einheit und Sinn stiftenden Bildentwürfen auch zeitgenössischer Geschichtsschreiber von einst - wie etwa den sogenannten «Reichsannalen» für die Frühzeit Karls des Großen oder der «Sachsengeschichte» eines Widukind von Corvey für die frühere Ottonenzeit - gerade nicht oder nur mit äußerster Vorsicht folgen dürfen und sich bevorzugt an geschehensnahe Einzelzeugnisse halten, die jeder Einbettung in ein Ganzes entbehren. Je näher dem Ereignis und je episodenhafter die Erinnerung an dasselbe der Schrift anvertraut wurde, desto höher ist die Chance, zuverlässig zu memorieren; doch können zutreffende Einzelheiten auch später wieder erinnert werden. Das Ganze aber ist immer ein Konstrukt und zu keiner Zeit eine Wahrnehmung. Andere Quellengruppen sind gleichfalls, wenn auch in unterschied-
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lichen Graden betroffen. Es versteht sich von selbst, daß jegliche Art von Zeugenaussage dringend jenem Anfangsverdacht unterliegt. Sie erhält Richtung, Struktur und Sinngebung zunächst durch die unbewußten Aktivitäten des Hirns, die durch die Befragungskonstellation ausgelöst werden, bevor eine bewußte Gestaltung sich ihrer annimmt. Auch Briefe heischen nach Skepsis, soweit sie Ganzheitsentwürfe und keine episodenhaften Informationen bieten; und selbst diese können problematisch sein. Auch Briefe verdanken sich in der Regel einem die Erinnerungen strukturierenden Anlaß. Mittelalterliche Urkunden sind in ihren narrativen Teilen und sogar in den dispositiven dann keine zuverlässigen Informanten, wenn - wie gewöhnlich - die explizierten rechtlichen Sachverhalte bloß erinnert und nicht dokumentiert wurden. Entsprechendes gilt von den mittelalterlichen Inschriften oder Bildzeugnissen. Wissenschaftliche Texte des Mittelalters bieten, von ihren erzählenden Passagen abgesehen, gewöhnlich korrekte Informationen zur Wissenschaftsgeschichte, aber auch nicht zu mehr. Selbst der gelehrteste Autor erinnert grundsätzlich nicht besser als andere Menschen. Kaum vom Gedächtnisproblem tangiert sind normative Quellen, sofern sie keine erinnerte Wirklichkeit referieren. Entsprechend wenig verraten sie, vielleicht von gewissen Intentionen abgesehen, über diese Wirklichkeit. «Akten», Steuerverzeichnisse und andere serielle Quellen dürften - erinnerungskritisch betrachtet - in der Regel zuverlässige Daten überliefern; doch können hier andere Fehlerquellen einfließen. Problematisch sind Geburtsregister aus überwiegend mündlich orientierten Gesellschaften, da ihre Einträge aus höchst unsicherer Erinnerung hervorgehen können. Protokolle verdienen eine gewisse Glaubwürdigkeit, obgleich sie durch die Wahrnehmungsbedingungen der Protokollanten gefärbt sind. Derartige Dokumente stiften freilich keinen Zusammenhang und nennen oftmals auch keine Akteure. Sie erklären nicht, wie sie und ihr Inhalt möglich wurden; welche Planungen, welches Handeln, welche Zufälle zu ihnen führten, welche Wirkungen von ihnen ausgingen. Für zuverlässig dürfen archäologische Befunde gelten. Freilich setzt deren Qualität eine entsprechend qualifizierte Methodik voraus und ist ihre Interpretation im Lichte der verfügbaren Schriftquellen von irritierenden Zirkelschlüssen gefährdet. Ein Ausgrabungsbefund spricht zunächst nur für sich selbst. Soll er mit einem Schriftzeugnis in Verbindung gebracht werden, bedarf es zuverlässiger Hinweise, die keinen zirkulären Postulaten unterliegen. Die erzählenden, den historischen Zusammenhang stiftenden Quellen setzen für Antike und Mittelalter oftmals erst längere Zeit nach dem be. richteten Geschehen ein und haben als geschehensfern zu gelten. Unter
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diesen Umständen bringen sich die genetisch und neuronal gesteuerte konstruktive Arbeitsweise des Hirns und die davon bedingte ungeheure Modulationsfähigkeit des Gedächtnisses besonders nachhaltig zur Geltung. Sie stellen kein Erinnerungskonstrukt unveränderlich auf Dauer, bemächtigen sich vielmehr früher oder später, bald stärker, bald schwächer jeden Details und der memorativen Konstruktionsweise und leiten sie auf unvorhersehbare, obgleich nachträglich erklärbare Irrwege; um Verformung handelt es sich auch, wenn der memorierte Kontext des Berichteten nicht mehr zutrifft. Die erinnerungsrelevanten Hürden, die der Historiker zu überwinden hat, sind entsprechend hoch. Jahre oder Jahrzehnte nach den Ereignissen fixiert, allein oder überwiegend aufgrund mündlicher Erinnerungen einer nicht abschätzbaren Zeugenzahl geformt, gewöhnlich durch mehrere, nicht immer erkennbare Zwischenetappen hindurchgegangen, erprobten Erzählmustern und den Erwartungen eines wechselnden Publikums unterworfen, aufgrund eigener, keineswegs stets bewußter Folgerungen und Ansprüche der Erzähler, auch ihrer eigenen Emotionalität konstruiert, unterliegt das kulturelle Gedächtnis und unterliegen mit ihm die Historien und zahlreiche weitere Quellen der kritischen Geschichtswissenschaft unablässig wirksamen Verformungskräften. Diese erlahmen nicht einmal dann, wenn die Erinnerungen verschriftet wurden; auch Schriftzeugnisse geraten in den Sog erinnerungstypischer Verformungskräfte. Notwenige Folgerungen liegen auf der Hand.
1:0.3.2
Erste methodische Postulate
Manche Antwort auf die Frage, wieweit sich an den erhaltenen, für Antike und Mittelalter oftmals einzig verfügbaren Texten entsprechende Fehlleistungen erkennen, in ihrer Tragweite abschätzen, gar korrigieren lassen, wurde bereits in den voranstehenden Kapiteln angedeutet. Illusionär wäre freilich die Erwartung, durch Erinnerungskritik die ganze Wirklichkeit erfassen oder <wiederherstellen> zu können, die ein Beobachter bezeugte. Eine derartige Totalität vermöchten die menschlichen Sinne nicht wahrzunehmen, mithin auch kein Gedächtnis zu bewahren. Stets werden nur Ausschnitte von Wirklichkeit erfaßt und gemäß Vorwissen und Erwartungen des wahrnehmenden Hirns von diesem zu einem eigenständigen Ganzen verrechnet. Das Ergebnis läßt in der Regel Spuren der modulierenden Tätigkeit des Gedächtnisses erkennen. Die Suche nach ihnen verläuft, sobald Verformungstypen bekannt sind, keineswegs aussichtslos. Widersprüche zwischen den Quellen bieten erste Anhaltspunkte zu ihrer Aufklärung;
Erste methodische Postulate
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eine vorschnelle Akzeptanz dieser oder jener Variante führt aber gewöhnlich in die Irre. Fehlen derartige Hinweise, so vermag kein Historiker die tatsächlich eingetretenen (doch nicht erkennbaren) Verformungen zu fassen. Er weiß dann nicht, wie er seine Quelle auszuwerten hat und was er weiß. Die Geschichtsforschung freilich mied, ja, floh bisher die Auseinandersetzung mit dem Gedächtnis und seinen Fehlleistungen, die übrigens weitere Irrtümer etwa durch die Versprachlichung und Verschriftung der ursprünglichen Wahrnehmungen und die auf diese Umsetzungen einwirkenden Faktoren keinesfalls ausschließen. Noch in jüngster Zeit wurde erinnerungsblind die Instabilität von Gedächtnisleistungen seitens der Historiker eher kategorisch bestritten. Was an Deformationen nachweisbar sei, so wurde aufs Geradewohl behauptet, sei irgendwelchen Diskursen zuzuweisen - als verliefen Diskurse erinnerungsfrei. Tatsächlich indessen sind alle Menschen zu allen Zeiten bei all ihren Tätigkeiten den Modulationsspielen ihres Gedächtnisses ausgeliefert. Will der Historiker in dieses Treiben Einsicht nehmen, mit Hilfe von Gedächtniszeugnissen (auf die er tatsächlich in umfassender Weise angewiesen ist) also erkennen, was einst in Wirklichkeit geschah, wer und was die «Welt» gestaltete, die er untersucht, hat er gewisse Grundregeln zu beachten. Zuallererst gilt es, entgegen dem bisherigen Trend in der Forschung, den Sachverhalt des irrenden, unwillkürlich Fehler produzierenden Ge-
dächtnisses in seiner Relevanz für die Geschichtswissenschaft anzuerkennen, dessen erstaunlich hohe Fehlerquote hinzunehmen und in ihrer Bedeutung für das Zustandekommen der historischen Quellen, für deren Aussage und Kritik sowie den Diskurs, in den sie eingebunden waren, zu erfassen, um so eine Neubestimmung ihres Quellenwertes in die Wege zu leiten. Gedächtnisleistungen sind weiter als erstarrte Momentaufnahmen eines fortfließenden Erinnerungsflusses zu betrachten. Jedes Erinnerungszeugnis stellt nur ein isoliertes Durchgangsstadium in einem endlos fließenden Strom sich wandelnder Erinnerungen dar. Es besitzt ein Zuvor und ein Danach, ein Woher und ein Wohin. Jede Auswertung muß dem Lauf dieses Flusses und seinen Verzweigungen und zwar entgegen der Flußrichtung bis zu seinen Quellen zu folgen suchen, nach dem Woher und dem Wohin also fragen, notfalls eine auf sein verschüttetes oder überdecktes Bett gerichtete Prospektion betreiben, um Strömungsrichtung und -dynamik dieses Flusses, gleichsam seine Wirbel, zu bestimmen. Der bisher obwaltende Glaube an die prinzipielle Zuverlässigkeit des geschriebenen Textes ist durch ein Wissen um das Fließen seines Inhaltes zu erset.zen. Auch ein der Schrift anvertrautes Erinnerungszeugnis offeriert nur
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ein mehr oder minder zufälliges Erinnerungsprodukt eben nach einem Zuvor und vor einem Danach, ein von der Augenblickskonstellation des Erinnerungsabrufs beherrschtes Stadium, das in seiner Mobilität und Flüchtigkeit durchschaut und kalkuliert werden muß, und keine abschließende Wahrheit. Das alles gilt in noch viel stärkerem Maße für mündliche Überlieferungen. Es bedarf eines Schriftzeugnisses, um verstummter Mündlichkeit nachlauschen zu können. Doch verklungen ist verklungen; die Gefahr, sich zu verhören, ist groß. Der Historiker vermag somit nur aus schriftlichen Hinterlassenschaften Hinweise auf mündliche Traditionen und deren Eigenleben zu gewinnen. Die Spuren der Mündlichkeit, wie sie durch A. R. Lurija, W. Ong, J. Vansina oder andere herausgearbeitet wurden, sind deshalb in den verschrifteten Zeugnissen zunächst aufzuspüren, bevor die Texte ausgewertet werden können. Sie verweisen auf Momente der Erinnerung, die erhöhter Modulation ausgesetzt waren, und verdeutlichen - recht gelesen - die Richtung, in welche die zunehmende Literalisierung der Gesellschaft wirkt. Berichtszeit und Geschehenszeit sind peinlich auseinanderzuhalten. Erinnerungen sind an ihren Augenblick gebunden. Sie konservieren in keinem Fall unverändert die ursprüngliche Aktivität oder Wahrnehmung eines Zeugen. Derartige Situativität macht sich schon beim Enkodieren und Einspeichern ins Hirn und nicht erst bei einem Abruf der Erinnerung und deren Explikationen bemerkbar; sie muß bedacht sein, auch wenn sie nicht immer rekonstruiert werden kann. Mehrdeutigkeit der Informationen kann sich beim Enkodierungs- wie beim Abrufprozeß von Erinnerungen bemerkbar machen. So ist zu prüfen, wann ein Informant oder ein Geschichtsschreiber sich ans Werk machte und wie die Konstellation dieses Augenblicks sich auf die mnemonischen, kognitiven und historiographischen Bedingungen ausgewirkt hat. Die Gegenwart des Autors verrät Wesentliches über seine Sicht der Vergangenheit und die Momente, die er auswählte und für mitteilenswert hielt, in welche Perspektive und in welche zeitliche Ordnung, in welches Sinngefüge sein Gedächtnis alles rückte, über die Art und Weise, wie er die erinnerten Gegenstände zu einem Ganzen vereinte. Ordnung als Erinnerungshilfe, die Einsicht in die «Ordnung der Orte», war ja der Dank der Götter an den Sänger Simonides. Die zeitliche Schichtung der verfügbaren Quellen ist streng zu beachten; sie bewahrt die Spuren der Transformation. Doch kann Späteres den Chronisten früher erreicht haben und damit eine unzutreffende Geschehensfolge suggerieren. Derartiges dürfte im Zeitalter der Mündlichkeit und gemächlicher Kommunikation häufig vorgekommen sein. Jüngeres
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besitzt nur dann einen primären Quellenwert, wenn es sich seinerseits auf nachgewiesen zuverlässige ältere (verlorene, aber erschließbare) Informationen stützt. Sind nur späte Zeugnisse überliefert, ist erhöhte Vorsicht am Platze. Erinnerungszeugnisse fordern somit eine systematische Suche nach Spuren nie ausbleibender Gedächtnisverformung. Was nicht als zutreffend nachgewiesen werden kann, taugt zu keiner Beweisführung; und eine Hypothesenbildung ohne Gedächtniskritik gleicht nur einer logisch unzulässigen Petitio principii. Jede Erinnerungszeugnisse verwertende Hypothese verlangt nach 'angemessener Prüfung und muß umgehend gegen weitere mögliche und gleichermaßen geprüfte Hypothesen abgewogen werden. Jedes voreilige Urteil trübt den Blick und verbaut Einsichten in vergangene Wirklichkeiten, sie mögen sachlicher oder psychischer, kognitiver oder praktischer Art gewesen sein. Zum al die Rolle dessen, der sich erinnert, ist in seinen stets
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Die Kooperation mit den Neurowissenschaften erscheint unvermeidlich, da diese Disziplinen nicht zuletzt derartige Verformungen systematisch untersuchen und neurofunktional begründen. Doch bedarf es der Zuarbeit auch anderer Wissenschaften wie etwa der historischen Verhaltensforschung, die beispielsweise die durch vorpubertäre Erziehung eingeübten und internalisierten, neuronal verfestigten Denk- und mentalen Konstruktionsattitüden von Individuen und ganzen Epochen und damit unbewußt die Erinnerung steuernde Kräfte untersucht; bedarf es weiter der Kulturanthropologie und Ethnologie, um jenes Fließen, jenen Modulationsdruck der Mündlichkeit auf die Erinnerungen, angemessen, nämlich durch den vergleichenden Blick geschärft, beobachten und analysieren zu können. Die beiden letzteren Disziplinen untersuchen rezente Gesellschaften und verfügen dadurch über längerfristige und wiederholbare, kulturvergleichende Untersuchungen und auf breiter Basis überprüfbare Beurteilungskriterien mündlicher Traditionen und analoger Gedächtnisoperationen in ihrem kulturellen Kontext. Die Methoden und Erfahrungen der «Oral History» verdienen auch in der Mediävistik oder Alten Geschichte eindringlichere Beachtung, als ihnen gewöhnlich widerfährt. Bei Berücksichtigung des neurokulturellen Zusammenspiels dürfen deshalb ethnologische Erkenntnisse auch für die Erforschung vergangener Kult\lren Anwendung finden. Das Ziel ist eine neurokulturell orientierte Memorik. Weil die Modulationsdynamik mündlicher Erinnerung unbewußt wirkt und in ihrer Assoziationsvielfalt weithin unüberprüfbar agiert, sehen sich selbst Darstellungen, die sich auf schriftliche Quellen stützen, für Zeitgenossen unerkennbar und unaufhaltsam bewußter oder unbewußter Modulation ausgesetzt. Schriftlichkeit und schriftliche Aufzeichnungen schützen nur unvollkommen vor verformender Veränderung der zu erinnernden . Zum al in Gesellschaften überwiegender Mündlichkeit, wie jener des Mittelalters, unterliegt auch das schriftlich Fixierte der kontinuierlichen Verformungskraft des Gedächtnisses, sofern es nicht mechanisch abgeschrieben wird. Es offeriert mit der Zeit schwindende Hinweise auf die primäre Tat und ursprüngliche Wahrnehmung, die dem Niedergeschriebenen zugrunde liegt. Ein solcherart sekundäres Zeugnis besitzt als solches zu keiner Zeit eine höhere Beweiskraft als das mündlich Tradierte, es sei denn, die Autorität . Zurückhaltung empfiehlt sich auf jeden Fall gegenüber der Annahme langlebiger mündlicher Traditionen. Allein ein hochtrainiertes Spe-