DAS BUCH Im Jahre 3000 v. Chr. zieht König Memnon mordend und brand schatzend durch das Zweistromland und unterwirft e...
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DAS BUCH Im Jahre 3000 v. Chr. zieht König Memnon mordend und brand schatzend durch das Zweistromland und unterwirft einen Stamm nach dem anderen seinem unerbittlichen Willen. An seiner Seite steht Cassandra, eine bildhübsche Zauberin, die Memnon mit ihren Prophezeiungen zu spektakulären Siegen verhilft. Allein König Pheron von Ur wagt es, sich dem größenwahnsinnigen Kriegsherrn zu widersetzen, und beauftragt den akkadischen Meu chelmörder Mathayus, Memnon und Cassandra zu töten. Mathayus, in zahlreichen Schlachten unbesiegt, gelingt es in einem waghalsigen Unternehmen, Cassandra aus Gomorra zu entführen. Wutentbrannt schickt Memnon seinen Vertrauten Thorak aus, Mathayus zu töten und seine Seherin zurückzubringen. Im Tal der Toten treffen der Akkadier und Memnons Trupp während eines mörderischen Sandsturms aufeinander. Mathayus metzelt seine Feinde unbarmherzig nieder, aber Thorak gelingt es, den Akkadier mit einem Pfeil zu verletzen, dessen Spitze mit dem Gift eines Skorpions getränkt ist. Cassandra, die inzwischen Gefühle für Mathayus hegt, setzt all ihre Heilkraft ein, den Verwundeten zu retten. Doch die Macht des Skorpions wird fortan durch seine Adern fließen ...
DER AUTOR Max Allan Collins gilt als einer der vielseitigsten und erfolgreichs ten amerikanischen Autoren. Sein bisheriges Repertoire umfasst fünf Krimiserien, Filmkritiken, Drehbücher, Kurzgeschichten, Songtexte und Filmromane, darunter internationale Bestseller wie In the Line of Fire, Die Mumie, Air Force One, Der Soldat James Ryan oder U-571. Collins ist von den Private Eye Writers of America für seine Nathan-Haller-Historien-Thriller zehnmal für den Shamus nominiert worden und hat diesen zweimal (True Detective, 1983, und Stolen Away, 1991) gewonnen. Collins lebt mit seiner Frau, der Schriftstellerin Barbara Collins, und ihrem Sohn Nathan in Muscatine, Iowa.
MAX ALLAN COLLINS
THE SCORPION KING
Titel der Originalausgabe THE SCORPION KING Der Roman zum Film
Aus dem Amerikanischen von Martin Ruf
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
basierend auf einem Drehbuch von STEPHEN SOMMERS und WILL OSBORNE und DAVID HAYTER nach einer Geschichte von JONATHAN HALES und STEPHEN SOMMERS
The Scorpion King is a trademark and Copyright of Universal Studios.
Redaktion: Angela Küpper Deutsche Erstausgabe 05/2002 Copyright © 2002 by Universal Studios Publishing Rights All rights reserved. Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2002 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 2002 Umschlagillustration: Copyright © 2002 by Universal Studios Umschlaggestaltung: Nele Schutz Design, München Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling Druck und Bindung: Ebner & Spiegel, Ulm ISBN: 3-453-21508-7 http://www.heyne.de
INHALT
Prolog: Das Schneeungeheuer 11 1 Die akkadischen Meuchelmorder 27 2 Das Geheimnis des Zauberers 37 3 Tod in der Wüste 52 4 Die Stadt der Sünde 69 5 Haremsflirt 85 6 Das Tal der Toten 102 7 Ein Sturm zieht auf 121 8 Eine magische Berührung 134 9 Höhlenmenschen 146 10 Die Rückkehr der Seherin 163 11 Tochter der Furien 180 12 Edle Anstrengungen 195 13 Die Zeit der Prophezeihung 212 14 Das Schicksal des Skorpions 233 Die Spitze des Krummsäbels 237
PROLOG
Das Schneeungeheuer
Die Außenposten des Kriegsherrn Memnon erstreckten sich von der Wüste bis hin zu den schneebedeckten Gebirgszügen, die den Rand der bekannten Welt bildeten. An dieser zerklüfteten Grenze, wo die Winterwinde flüsterten und Eis die nackten Zweige der Bäume umhüllte, bot eine aus Baumstämmen errichtete Festung einem Stamm wilder Krie ger, der mit dem großen Kriegsherrn verbündet war, eine Art Zuhause. Eines Tages würde man diese Männer >Kopten< nennen, doch in jenen längst vergangenen Zeiten nannte man sie einfach nur Mörder. Ihre Festung, ein beeindruckendes, düsteres Zeichen einer barbarischen Zivilisation inmitten der Einöde, war ein fenster loses, dreistöckiges Gebäude, in dem die Krieger Plünderungen planten, gelegentlich Gefangene folterten und zwischen ihren Gräueltaten wilde Feste feierten. An diesem kalten Nachmittag loderte das Feuer innerhalb der Mauern ebenso heftig wie das Temperament der Krieger, denn die üblen Burschen tranken guten Wein und vergnügten sich mit üppigen Huren, die von Lager zu Lager zogen - hartherzi ge, weichhäutige Schönheiten, die an die stinkenden Krieger gewohnt waren, welche Bärte trugen, die Rattennestern gli chen. Felle wurden vom Körper gerissen und enthüllten Brustpanzer, auf denen die Zeichen zahlloser Schlachten zu sehen waren. Hier und da lehnten Speere, Schwerter und Krummsäbel an den roh gezimmerten Tischen und Wänden. Gelegentlich brach unter den verwahrlosten Soldaten Streit aus, bei dem es um eine Frau oder um Kriegsbeute ging oder auch nur um eine
Lügengeschichte, die so schwer zu verdauen war wie verdor benes Wildbret. Draußen im heulenden, eisigen Wind stand ein unglücklicher Krieger, der als Wachposten am einzigen Tor auf jener Seite des massiven Gebäudes eingeteilt worden war. Er war zwar allein, doch er war ein gewaltiger, Furcht einflößender Wäch ter. Er trug den roten Turban der Wachen Memnons, sein Bart und seine Felle waren eisverkrustet, und sein Gesicht, so schien es, war zu einem bösartigen, missmutigen Ausdruck erstarrt. Tatsächlich hatte sein Gesichtsausdruck weniger mit seinem Temperament zu tun als mit seiner Enttäuschung darüber, dass er als Wachposten eingeteilt worden war, während innerhalb der hölzernen Wände ausgelassen gefeiert wurde. Gelegentlich, wenn das Kreischen der Frauen und das Grölen der Männer vermuten ließ, dass jeder sich amüsierte (außer natürlich dem armen Kerl, der in dieser Eiseskälte Wache stand), wandte er sich dem Gebäude zu, blickte ebenso sehnsüchtig wie wütend auf das Tor und richtete seinen Blick dann wieder auf die kahle Landschaft, in der (so dachte er) kaum jemand so verrückt wäre aufzutauchen. Schrilles Frauengelächter lenkte den Blick des Wachpostens wieder zum Tor, und er schüttelte mürrisch den Kopf, denn er dachte daran, dass er noch drei Stunden lang in dieser Kälte würde ausharren müssen. Schließlich wandte er seinen mögli cherweise nicht mehr ganz so aufmerksamen Blick wieder dorthin, wo er hingehörte ... ... und in ebendiesem Augenblick wurde er von einem metal lenen Wurfstern getroffen, der surrend durch die Luft gewirbelt kam und sich mit tödlicher Wucht genau zwischen seinen Augen tief in die Stirn bohrte. Das Letzte, was er tat, war, mit verdrehten Augen nach dem Insekt zu suchen, das ihn anschei nend gestochen hatte, doch er starb, bevor er etwas erkennen konnte. Der Wachposten fiel auf die Knie, und aus einer nahe gelege
nen Schneewehe tauchten zwei Hände auf und rissen ihn in sein weißes Grab. Die feiernden Krieger in der Festung bemerkten nichts von dieser Störung. Sie hatten nur Augen für die Frauen, die zuweilen auf dem Schoß der Krieger - Bauchtänze vorführten, und für das Essen, das hinuntergeschlungen wurde, und den Wein, der die Kehlen hinabrann, während der Widerschein der Flammen die braunen Wände in ein flackerndes Orange tauchte. Genau in diesem Augenblick brach an einem der Tische ein Streit aus, und entsprechend der noblen Ethik solcher Krieger, griffen drei von ihnen gleichzeitig einen Einzelnen an. Bei dieser Auseinandersetzung schien es um eine Frau zu gehen oder ging es um ein Tablett mit Hammelbraten? Das war schwer zu sagen, denn eigentlich amüsierten sich alle gerade wunderbar. Nun, vielleicht nicht alle. Außerhalb der Festung schlurfte ein weiterer riesiger Wächter, der ebenfalls nicht an dem Fest teilnehmen durfte, durch den Schnee, in dem keine anderen Fußabdrücke oder Spuren außer seinen eigenen zu sehen waren. Wütend darüber, dass er seine Pflicht erfüllen musste, während drinnen gefeiert wurde, knurrte der bärtige Posten vor sich hin und hielt dann plötzlich inne. Hatte er im Wind, der durch die tote Vegetation pfiff, nicht etwas gehört? Über diese Frage konnte der Wächter gerade noch nachden ken, als eine bärenartige Klaue aus der Schneewehe hervor und zwischen seine Beine schoss und ihn hinabriss an seinen ... Nun, wir wollen dezent sein. Stellen wir uns also einfach vor, dass er in den Schnee gezogen wurde, wo er in einem Wirbel schneller Schläge und aufstiebenden Pulverschnees ver schwand und seine Knochen splitterten und brachen, bevor eine tödliche Stille folgte. Niemand sah die gewaltige weiße Kreatur, die sich aus dem Schnee erhob. Hätte sie jedoch jemand aus der Ferne beobach
tet, so hätte er den Eindruck gewonnen, dass ein Yeti sich seine Beute geholt hatte. Viele hielten den Yeti - eine Kreatur, halb Affe, halb Mensch, den manche den schrecklichen Schneemenschen nannten - für eine Sagengestalt. Wenige wussten, dass diese Wesen tatsäch lich existierten. Einer dieser Wenigen war ein akkadischer Krieger mit dem Namen Mathayus, der selbst einen Yeti getötet hatte. Genau genommen trug Mathayus das Fell des getöteten Yeti nun als Umhang über seiner nackten, bronzefarbenen Brust; seine mächtigen, muskulösen Beine steckten in ledernen Reithosen. Mathayus hatte dunkle Augen und die heroischen Gesichtszüge einer edlen Statue, sein Atem war Dampf und seine Muskeln zuckten. Trotz all seiner Stattlichkeit hätte er eine wilde Bestie sein können. Das war er nicht. Er ist vielmehr der Held unserer Geschichte. Er war an diesen schrecklichen Ort gekommen, um einen seiner akkadischen Brüder zu retten, denn obwohl Mathayus so Furcht einflößend war wie alle Krieger in jener Zeit, besaß er das Herz eines Königs - edel, voller Mitgefühl und doch energisch. In der Festung erhob sich der Hauptmann der Garnison, der selbst unter diesen monströsen Männern wie ein Monolith aufragte, vom Kopf des Haupttisches und trat vor die massive steinerne Feuerstelle, deren aufflackernde Flammen so gierig wirkten wie die ausgelassenen Soldaten. Seine Stimme war ein überhebliches Knurren. »Wir haben Babylonier getötet!« Die betrunkene Menge erinnerte sich noch gut daran und antwortete mit begeisterten Zurufen. »Wir haben Mesopotamier getötet!«, erinnerte sie ihr Anfüh rer. Und wieder antworteten sie mit brutaler Ausgelassenheit. »Aber ... noch nie zuvor hatten wir das seltene Vergnügen,
einen Akkadier zu töten.« Der Hauptmann deutete auf ihren so genannten Gast: Ein schlanker, doch muskulöser Akkadier mit stoischem, wetterge gerbtem Gesicht, dessen von Schlachtnarben gezeichnete Brust sich schwer hob und senkte, war mit gespreizten Armen und Beinen an ein Balkenkreuz gefesselt worden. Dieser Akkadier, sein Name war Jesup, blieb auf eine geradezu überhebliche Weise ungerührt und betrachtete seine Gastgeber beinahe mitleidig. »Lasst mich gehen«, sagte Jesup, »oder ein Zorn wird euch treffen, den keiner von euch überleben wird.« Die schmierigen Krieger lächelten nur über diese Worte, doch die Frauen, die so viele Kämpfe und Schlachten gesehen hatten wie die Soldaten, starrten den Akkadier voller Respekt und Furcht an. »Ihr werdet eine unbarmherzige Wut kennen lernen«, warnte sie Jesup streng wie ein ärgerlicher Vater, »... unerbittlich ... gnadenlos ... ein Zorn, den selbst die Götter nicht auf sich zu ziehen wagen.« Der Hauptmann gab ein grunzendes Lachen von sich. »Für einen Mann, der sterben wird - der ganz langsam sterben wird - nimmst du den Mund viel zu voll.« Jetzt wagten es die betrunkenen Zuhörer zu lachen, allerdings nicht die Frauen, die sich nach einer Ecke umsahen, in der sie sich verstecken konnten. »Oh«, erwiderte Jesup. Er wirkte amüsiert und sah dem Hauptmann direkt in die Augen. »Ich spreche nicht von mir.« Die Soldaten lachten umso lauter, und sogar die Frauen fielen in das Gelächter ein, wenn auch nervös. Doch als ihr Anführer den Blick des Gefangenen mit seinen Augen festhielt, spürte er einen plötzlichen kalten Schauder, der nichts mit dem Winter zu tun hatte. Draußen trat ein weiterer mächtiger bärtiger Wachposten von hinten an einen seiner Kameraden heran, einen Soldaten
namens Fydor, der sich erleichterte, indem er gelbe Muster in den Schnee zeichnete. »Fydor! Verdammt noch mal, warum hast du deinen Posten verlassen?« Der Wachsoldat packte Fydor an der Schulter und wirbelte ihn herum - doch es war nicht Fydor. Der akkadische Eindringling hatte seinen Umhang aus YetiFell abgeworfen und trug die Felle des Postens, den er getötet hatte - die Kleider des toten Fydor. Jetzt sah er sich einem anderen Wachposten gegenüber und bespritzte die Beine des Mannes unverschämt mit einem Strahl dampfenden Urins. Der getroffene Wachposten blickte unwillkürlich hinab auf seine Hose, wodurch Mathayus genau den Augenblick Zeit gewann, den er brauchte, um den Bastard mit einem Kopfstoß bewusstlos zusammenbrechen zu lassen. Das Krachen der Schädel wurde von den Bergen der Umgebung als leises Echo zurückgeworfen. Der Wachposten fiel wie eine tote Last in den Schnee, und Mathayus kehrte zu seiner gegenwartigen Mission zurück - er fuhr damit fort, sich im Schnee zu erleichtern. Es durfte schließlich nichts geben, das einen Mann ablenken konnte, wenn er in die Schlacht zog. In der Festung nahm der Hauptmann seinen Krummsäbel aus den Flammen der Feuerstelle, der so lange erhitzt worden war, bis der Stahl rot glühend pulsierte. Der Hauptmann packte den Griff des Krummsäbels und bekämpfte seine wachsende Unruhe mit einigen Prahlereien, während er mit der Waffe höhnisch durch die Luft hieb, die Jesup umgab. »Was sollen wir zuerst abhacken?«, fragte der Hauptmann, wobei er sich weniger an den Akkadier als an die Menge wandte - wie ein Musiker, der um die Wünsche seiner Zuhörer bittet. »Das rechte Bein!«, schrie ein betrunkener Krieger. »Das linke!«, kreischte ein anderer.
Wieder andere stimmten für die Arme, wobei sie - was kaum überraschend war - einmal dem rechten und dann wieder dem linken den Vorzug gaben. Die ganze Zeit über blieb der Gefangene reglos. Trotz all seiner Prahlerei fragte sich der Hauptmann: Was weiß der Akkadier, was wir nicht wissen? Draußen hatte ein Wachposten eine nachdenkliche Miene aufgesetzt, als dächte er ebenfalls über diese Frage nach. Das war jedoch eine Illusion, denn trotz seiner weit geöffneten Augen war dieser Mann tot. Er war aufgerichtet worden, als stünde er noch immer Wache und als steckte nicht ein Eiszap fen wie ein Speer in einer Seite seines Turbans. An der Ein trittswunde befand sich ein wenig Blut, das inzwischen gefroren und schwarz war. Der Mann, der das getan hatte, war natürlich Mathayus, der jetzt in Umhang und Kapuze eine Außenwand der Holzzitadele hinaufkletterte. Der Akkadier zog zwei Seile mit sich, die er um einen mächtigen Felsblock gebunden hatte. Das Gewicht des Felsblocks machte diesen Kraftakt des Kriegers besonders schwierig, als er jetzt - auf der Höhe des zweiten Stockwerks zwischen den Baumstämmen nach einem Halt suchte. In diesem Augenblick beobachtete der mit gespreizten Armen und Beinen gefesselte Jesup, wie der Hauptmann mit dem rot glühenden Krummsäbel auf ihn zukam. Kurz darauf schwebte die glühend heiße Klinge direkt unter dem Kinn des Gefan genen. Mit einem sadistischen Grinsen ließ der Hauptmann seine verdorbenen Zähne aufblitzen, als wollte er sagen: »Ich habe keine Angst vor den großen Reden, die du schwingst.« Jesup erwiderte das Lächeln. Und sagte: »Vielleicht haben die Götter Mitleid mit dir ... Mein Bruder jedenfalls nicht.« Der Hauptmann mit dem übel riechenden Grinsen versuchte nun zu lachen, doch dieses Lachen blieb ihm im Halse stecken. Die Worte des Akkadiers wirkten todernst, und der Krieger
ahnte, dass es sich um keine bloße Prahlerei handelte. Es war tatsächlich keine Prahlerei. Denn auf dem Dach saß genau in diesem Augenblick Mathayus auf dem Rand des Schornsteins, aus dem schwarze Rauchschwaden quollen. Mit seinen Händen hielt er den Felsblock hoch über den Kopf, als wollte er irgendwelche Kinder mit seinem meisterlichen Kraftakt beeindrucken. Doch es waren keine Kinder, die er beeindrucken wollte, so kindisch das Denken dieser feindlichen Krieger auch war. Mathayus holte tief Luft, stürzte sich nach vorn und ließ sich in den Kamin fallen, wobei er den gewaltigen Stein immer noch über seinen Kopf hielt, sodass der Felsblock zurückblieb, als Mathayus nach unten verschwand, im Kamin stecken blieb und ihn fast vollständig verstopfte, sodass nur noch winzige Rauchfähnchen nach außen dringen konnten. Fast sofort drang in den Raum darunter dichter schwarzer Rauch aus der Feuerstelle. Für einen Augenblick vergaß der Hauptmann seinen Gefangenen, und wie alle anderen im Raum wandte er seine Aufmerksamkeit der massiven steinernen Feuerstelle und den Rauchschwaden zu. Trotz des dunklen, beißend scharfen Qualms, der immer größere Teile des Raumes verschlang, trat der Hauptmann mutig nach vorn auf die Bedrohung zu, und als ein Pfeil aus den Rauchschwaden schoss, war es, als habe der Hauptmann den Tod gesucht, der ihn jetzt so heftig traf, dass er wie ein Schneeball durch das Zimmer geschleudert wurde. Jesup lächelte. Für ihn roch der Rauch wundervoll. Von seinem Ehrenplatz aus genoss er den Anblick, als drei Krieger, die an einer Theke standen, von drei Pfeilen aus der Feuerstelle von den Füßen gerissen wurden, während sich der Rauch in der Luft ausbreitete wie Tinte im Wasser. Die anderen Krieger sprangen auf und zogen ihre Schwerter, wenn sie sie trugen, oder tasteten danach, wenn sie ihre Waffen irgendwo anders hingelegt hatten. Die Frauen erstarrten. Ihre
Furcht verschlang jeden Gedanken an ein Versteck. Vier Krieger stürzten sich mutig in den schwarzen Rauch und stießen Kriegsschreie aus, die im Lärm verklangen, als Stahl auf Stahl prallte. Dann stolperten die Krieger aus dem dunklen Qualm, Jesups Lächeln wurde breiter und die Frauen kreisch ten, als die vier Männer ohne ihre Köpfe auf den rauen Boden fielen, wo das Blut aus ihren Hälsen floss wie Wein aus einer umgekippten Flasche. Die anderen Krieger waren zwar mutig, doch verständlicher weise entnervt von diesen Ereignissen, und als sie noch zöger ten, trat Mathayus - eine muskulöse, rußbedeckte Gestalt - aus der qualmenden Schwärze, wobei er in der einen Hand einen mächtigen Bogen und in der anderen Hand einen Krummsäbel hielt. Die orangefarbenen Flammen glühten im dunklen Rauch und umgaben ihn mit einer höllischen Aura, seine Hosenbeine und seine Kapuze brannten, und für diese abergläubischen Narren wirkte er wie die Vision eines Dämons, was durch die geköpften Soldaten, die vor ihnen auf dem Boden lagen, noch verstärkt wurde. In seinem rußbedeckten Gesicht glänzten große weiße Augen und ein noch größeres weißes, scheinbar wahnsinniges Lä cheln, und er sprach: »Ich ... bin ... der ... Tod!« Mehr war nicht nötig. Die übrigen Krieger und die Frauen rannten zur Tür, und es wirkte nahezu komisch, wie sie übereinander stolperten und sich durch den Ausgang drängelten. Nur wenige dachten daran, nach ihren Fellen zu greifen, und dann rannten sie nur zu gern hinaus in die eiskalte Wildnis. »He!«, rief Jesup und rüttelte an seinen Fesseln. »Lass sie nicht entkommen!« Mathayus, der die Flammen an seinen Beinen und seiner Kapuze löschte, hörte nicht auf ihn. »Ich habe ihnen versprochen, dass du sie alle töten würdest«, sagte Jesup zu ihm. »Lass mich nicht wie ein verdammter
Lügner dastehen!« Mathayus stöhnte auf und knurrte mit gespieltem Widerwil len: »Du hast Glück, dass wir dieselbe Mutter haben.« Und der rußbedeckte Akkadier zerschnitt die Fesseln seines Bruders. Kurz darauf saßen sie auf ihren Pferden, die hell auflodernden Baumstämme der brennenden Festung hinter sich. Gelassen ritt Jesup in die Freiheit, und er blickte zu seinem Bruder, der aus irgendeinem Grund zögerte und dessen dunkle, durchdringende Augen den Himmel absuchten. »Was ist?«, fragte Jesup. Während er langsam das schwindende Blau über ihren Köp fen musterte, sagte Mathayus leise: »Es kommt mir vor, als ob jemand ... mich beobachtet.« »Nun, wenn das so ist«, meinte Jesup, »sollten wir vielleicht von hier verschwinden.« Mathayus zuckte mit den Schultern, schwang die Zügel, und sie brachen auf, wobei sie ein hölzernes, schlittenartiges Gefährt hinter sich herzogen, auf dem ein Berg toter Krieger lag. Schließlich waren sie Söldner und das Kopfgeld wartete auf sie. Und weit entfernt in der sagenumwobenen Stadt Gomorra beobachtete ein Zauberer, der einen Flügelkragen trug, in seine Vision versunken den akkadischen Krieger mit Namen Mathayus. Er beobachtete und wartete.
Heute, viele Jahrhunderte nachdem unsere Geschichte von Menschen erlebt wurde, ist der Nahe Osten noch immer ein Hexenkessel voller Hass, Angst und Unruhen. Wie wenig sich doch geändert hat. Vor der Zeit der Pharaonen und ihrer Zivilisation, Jahrhun derte vor Dschingis Khan, der sich seinen blutigen Weg bahnte, lange vor den Eroberungen Alexanders des Großen haben diese unfruchtbaren Länder bereits Konflikte heraufbe schworen - eine Einöde, in der zwanzig einander bekriegende Stämme um die Vorherrschaft rangen. Wenn man sich eine Landkarte aus goldenem Papyrus vor stellt, die jene Region vor so langer Zeit darstellt - 3000 Jahre vor Christus -, dann zeigt diese Karte die gesamte bekannte Welt, zu der auch die sagenumwobenen Königreiche von Babylon, Mesopotamien und die verrufenen Städte Sodom und Gomorra gehören. Jene Reiche scheinen nur in der Sage zu existieren, und doch behaupten die ältesten Bücher, die uns die Wahrheit berichten - und die Bibel ist nur eines von mehreren , etwas ganz anderes. All dies waren Orte, die so wirklich waren wie die Welt, die uns heute umgibt. Und sie waren genauso gefährlich. Man stelle sich jetzt vor, dass diese Landkarte blutbeschmiert ist, und folge der leuchtend roten Spur der Zerstörung, einem Pfad, der das Land auslaugt und alles aufsaugt, was in seinem Lauf liegt. Dann schärfe man den Blick und stelle sich die Horden angreifender Reiter vor, einen Horizont, an dem ein Bogenschütze neben dem anderen seine Pfeile in den Himmel schießt, und zahllose Fußsoldaten, die unerbittlich immer weiter marschieren. Der Kriegsherr, der diese Heere kommandierte, wurde Lehrer der Menschern genannt - Memnon in jener uralten Sprache -, doch die Lektionen, die er lehrte, waren streng ... wie Zerstörung den Weg der Eroberung pflastern konnte, wie der Tod ein Volk bezwingen und Platz schaffen konnte für ein
anderes auf seinem Eroberungszug. Memnon ließ seine Weis heit anderen dadurch zukommen, dass er männliche Gefangene nur machte, um sie später hinzurichten und so ihre Frauen zu >befreien<, die dann missbraucht und versklavt wurden ... Schwert und Ketten waren die Hilfsmittel seiner Unterweisung. Die Bevölkerung jener öden Länder nahm sich diese Lektio nen zu Herzen, und Männer aller Rassen, Hautfarben und Religionen riefen ihre Frauen und Kinder zu sich und flohen aus ihrer Heimat, rannten in Panik und Entsetzen davon, und manchen gelang die Flucht. Manchmal. Andere Männer blieben, um als Soldaten zu kämpfen und ihr Heim und ihr Land zu verteidigen ... und sie wurden besiegt. Jene Soldaten, die nicht in der Schlacht fielen und die keine zur Hinrichtung vorgesehenen Offiziere waren, reihten sich am Straßenrand hinter ihren verbrannten, geplünderten Dörfern auf und warteten unter der sengenden Sonne auf die Sieger, die ihr Urteil verkünden würden. Zitternd, verängstigt, allen Mutes beraubt, standen sie da ohne Waffen, während Rauch und Flammen sich aus den Ruinen erhoben und zum Himmel aufstiegen, als wären sie hungrig auf neue Eroberungen. Und unter ihnen bewegte sich ein Riese auf einem schnau benden Pferd, ein menschlicher Albtraum mit einem Gesicht, das einem verbeulten Kriegsschild glich; an seinem roten Turban konnte man erkennen, dass er ein Verbündeter des siegreichen Heeres war. Sein Name war Thorak, und er wusste schon lange nicht mehr, wie viele Männer er getötet hatte. Dem besiegten Heer brüllte er zu: »Kniet nieder vor Memnon, dem Herrn!« Als wollte er einen Schauspieler auf der Bühne präsentieren, deutete Thorak nach hinten, wo der große Kriegsherr auf einem königlichen schwarzen Araberhengst plötzlich mitten unter ihnen aufzutauchen schien, während die Hufe des Pferdes durch den Rauch der Schlacht klapperten. In seinem funkelnden, goldenen Kettenhemd sah Memnon, der
Kriegsherr, nicht so abstoßend aus wie sein widerlicher Oberbefehlshaber Thorak, und doch war er nicht weniger Furcht einflößend. Er war ein muskulöser Mann mit statt lichen, ebenmäßigen Zügen. Seine Wangen waren rasiert und eine dichte Flut schwarzer Haare erhob sich auf seinem anmutig geformten Kopf. Er war schön und wirkte gleichzeitig sehr männlich. Eine Phalanx aus Leibwächtern in roten Turbanen umgab ihn; einige von ihnen waren beritten, andere Fußsoldaten, und jeder von ihnen war ein Musterbeispiel eines hinterhältigen, tapferen und geschickten Kämpfers. Und doch schien Memnon ihnen allen überlegen zu sein, als könnte er sich allein vertei digen und hätte sich nur aus zeremoniellen Gründen mit einer bewaffneten Garde umgeben. Unweigerlich knieten die besiegten Soldaten nieder. Es war klüger, Memnon, ihrem Herrn, ihre Ehrerbietung zu erweisen, klüger, sich seinen Furcht einflößenden Truppen anzuschlie ßen, als hier in den verkohlten Ruinen von Häusern auszuhar ren, die ihnen nicht mehr gehörten, und das Land sinnlos mit dem eigenen Blut zu tränken. Memnon starrte sie vom Rücken seines Pferdes herab an, als fragte er sich, ob die Verstärkung, die sie seinen Truppen bringen würden, all die Mühe wert sei, oder ob es nicht sinnvoller wäre, sie einfach zu töten. Manchmal entschied er sich für Letzteres. Häufiger jedoch nahm der Große Lehrer diese Schüler in der Schule des Schlachtens auf und nickte Thorak zu. Dann wirbelte er auf seinem Pferd herum und ritt donnernd durch das Meer seiner eigenen Soldaten davon. In weniger als zehn Jahren hatte Memnon alle Gegner bis auf einige wenige, weit verstreute Stämme unterworfen, und nur ein einziges Königreich war übrig geblieben. Auf der Landkar te blieb lediglich eine winzige Ecke übrig, die nicht vom Blut befleckt war und in der Memnon nichts zu sagen hatte; ein kleiner Streifen Land in der Nahe des Roten Meeres, das
Königreich Ur. Nur diese winzige Ecke und eine Hand voll tapferer Manner und Frauen standen Memnons Bestimmung im Wege, die er für sich beanspruchte: König der bekannten Welt zu sein und die uralte Prophezeiung zu erfüllen. Wenn die Glocke erklingt und der Donner grollt,
Ein Flammenstern vom Himmel fällt.
Wenn der Vollmond im Haus des Skorpions erstrahlt,
Wird den Hochkönig ehren die ganze Welt.
THE SCORPION KING
DIE AKKADISCHEN MEUCHELMÖRDER
Flammenschatten flackerten in der Nacht über die sieben Obeliske, jene riesigen, drei bis fünf Meter hohen, in die Erde gebetteten Felssplitter, die Steinspeeren glichen, welche von Riesen oder Göttern herabgeschleudert worden waren. Und diese Obelisken waren mit Gesichtern geschmückt, Abbildern der Götter, die einst von primitiven Menschen eingemeißelt worden waren, bevor das Volk von Ur hierher gekommen war. Diese Göttergesichter schienen auf das Zeltdorf in der Nähe hinunterzustarren, auf hunderte von Nomadenzelten, die verschiedenen Clans gehörten - den letzten großen Stämmen, die sich noch nicht dem Kriegsherrn Memnon unterworfen hatten. In dieser dunklen Nacht waren die Stämme hier zu sammengekommen, um ihre Ratsversammlung abzuhalten. Krieger, die die unterschiedlichsten Helme und ledernen Brustpanzer trugen und an deren Seite Schilde und Schwerter lagen, umringten in einem großen Kreis die Versammlung der Stammesführer. Auf langen Stangen steckende Fackeln be kämpften die Kälte der Wüste nach Sonnenuntergang, und in der Mitte züngelten aus einer großen Feuergrube orangefarbene und gelbe Flammen hinauf in die blaue Nacht. Pheron von Ur, der Kriegerkönig, saß auf einem Steinthron und führte den Vorsitz über die Versammlung, die sich um den Feuerkreis scharte. Er bot eine edle, wenn auch schon ergraute Gestalt, und sein weißer Bart und eine einfache goldene Krone waren Zeichen seines Ranges. Ein Streit war ausgebrochen und drohte außer Kontrolle zu geraten; hitzig vorgebrachte Worte und unbeherrschte Ausbrüche waren an die Stelle einer ver nünftigen Diskussion getreten. »Schweigt!«, befahl König Pheron. Doch die Wogen des Streits wollten nicht abebben, und Takmet, ein junger Krieger, dessen Bart noch dünn war und
dessen Brustpanzer noch keine Zeichen einer Schlacht trug, trat vor. »Mein Vater verlangt, dass ihr schweigt!« Der Lärm der bitteren Auseinandersetzung verwandelte sich in ein unterdrücktes Grollen. »Diese Uneinigkeit muss ein Ende haben!«, sagte Pheron, und dabei legte er trotz seiner Erschöpfung alle Kraft, die er nur aufbringen konnte, in seine Worte hinein. »Wir sind hier an diesem heiligen Ort zusammengekommen, um unsere Meiungsverschiedenheiten zu begraben.« Die Männer atmeten tief aus und nickten, denn er hatte weise gesprochen. »Noch immer bleibt uns Zeit, meine Brüder«, fuhr Pheron fort, »Zeit, uns gegen den Tyrannen zu vereinen, denn ohne uns - die letzten freien Stämme - ist die Welt verloren.« Eine Nubierin von königlicher Haltung und außerordentlicher Schönheit trat aus der Dunkelheit: Königin Isis. Sie hatte langes Haar, das ihr bis weit über die Schultern reichte und das so schwarz wie eine Rabenfeder war. Ihre zugleich schlanken und üppigen Formen steckten in einer Lederrüstung. Isis war von einem Trupp dunkler Kriegerinnen umgeben, die so anmutig und so wild waren wie sie selbst. »Memnon hat zehnmal mehr Soldaten als wir alle zusam men«, sagte Isis. »Es tut mir Leid, Pheron. Dein Herz ist voller Kraft, deine Absichten sind edel, doch ein Krieger muss seine Entscheidungen sorgfältig bedenken. Und wir entscheiden uns dafür, uns deiner sinnlosen Schlacht nicht anzuschließen.« »Ihr werdet also fliehen?«, fragte König Pheron. »Wie ver schreckte Weiber?« Die Augen der dunklen Königin funkelten. Doch Pheron fuhr fort: »Denn ihr wisst natürlich, dass Mem non auf seinem Eroberungszug auch bis zu euch vordringen wird. Du hast nur eine Wahl, Isis: Halte stand und kämpfe oder laufe davon.« Mit zusammengekniffenen Augen dachte die Königin über
das Gesagte nach. Der wettergegerbte König - er war ein alter Mann, schon über vierzig - betrachtete die Versammlung der Stammesführer und sah kampferprobte Gesichter, von denen viele einen Bart trugen, er sah die Helme, die Brustpanzer, die Schilde, die Schwerter, und er wusste, dass Krieger vor ihm saßen. »Die Stämme müssen zusammenstehen und gemeinsam kämpfen!« Alle Blicke wandten sich dem König zu. Kein Laut war zu hören außer seiner Stimme, dem leisen Flüstern des Nacht winds und dem Prasseln der Flammen. »Allein«, sagte Pheron, »gibt es nichts, was uns von all den anderen menschlichen Schafen unterscheidet, die abgeschlach tet werden. Memnon wird auf seinem Eroberungszug bis zum Meer vordringen. Und er wird unsere Stämme vernichten, einen nach dem anderen.« Ein Stammesführer der Nomaden, dessen Gesicht dem Leder seines Brustpanzers glich, erhob sich und bekundete stoisch: »Mutige Worte, Pheron - aber was ist mit dem Zauberer? Dieser Dämon, der Memnon begleitet, der mit den Augen der Götter sieht - und der den Ausgang jeder Schlacht vorhersagt?« Ein anderer Stammesführer rief: »So lange dieser verdammte Zauberer bei ihm ist, wird es keinem Sterblichen gelingen, Memnon zu töten!« Der König blickte von Gesicht zu Gesicht - soldatische Herr scher, die die schwer erworbenen Kampfnarben und die Kriegszeichen ihrer Stämme trugen. Sie waren keine Feiglinge. Sie waren mutig kämpfende Männer - und doch nur eine Hand voll, die sich einem gnadenlosen Eroberer gegenübersahen, dem, wie es schien, übernatürliche Kräfte zur Seite standen. »Und wenn dieser Zauberer sterben sollte«, gab Pheron zu bedenken, »was dann?« Aus der Dunkelheit knurrte eine tiefe Stimme: »Ist das wieder so einer deiner Pläne, Pheron? Zu spät. Zu wenig.« Bebend vor Wut stand Takmet auf und schwang seine Faust:
»Du wirst meinem Vater Respekt erweisen!« Der Mann, der gesprochen hatte, erhob sich ebenfalls und trat in den Schein des Feuers. Es war Balthazar, der größte Krieger seiner und jeder anderen Truppe, ein Berg von einem Nubier, dessen Lederrüstung kaum den über zwei Meter großen, muskelbepackten Körper verdecken konnte. Kriegsperlen hingen an seinem unglaublich dicken Hals, und mit seinen zu Schlitzen verengten Augen, der breiten, flachen Nase und den gefletschten Zähnen glich sein Gesicht einer Maske. Seine Wangen trugen Ziernarben, er war bartlos, und Haarflechten, die Schnüren ähnelten, bedeckten seinen Kopf. »Die Wahrheit zollt niemandem Respekt«, erwiderte Baltha zar mit tiefer, vollklingender Stimme. »Sie ist einfach nur die Wahrheit. Und Männer, die die Wahrheit verleugnen, verdie nen keinen Respekt.« Pheron sagte: »So wenig wie Männer, die nicht auf die Stim me der Vernunft hören.« »Hör auf die Stimme der Wahrheit«, verlangte Balthazar, »wenn du, wie du behauptest, ein Mann der Vernunft bist. Und die Wahrheit lautet: Meine Augen haben gesehen, wie Mem non dieses Land wie eine Schar hungriger Heuschrecken verschlungen hat. Wenn wir uns den Horden, die unter Mem nons Kommando stehen, mit unseren schwachen Kräften entgegenstellen, gibt es nur eines, das uns erwartet: die Ver nichtung.« »Und wohin würdest du fliehen, Balthazar?«, fragte Pheron mit gespielter Freundlichkeit. »Wohin würdest du fliehen in einer Welt, die Memnon beherrscht?« Mit funkelnden Augen und geblähten Nasenlöchern antworte te der mächtige Krieger: »Balthazar und sein Volk werden nicht fliehen. Ich werde auch weiterhin tun, was ich schon seit vielen Monaten getan habe. Ich werde die Karawanen dieses Bastards überfallen und seine Nachschublinien schwächen. Das werde ich tun. Aber für
niemanden, für absolut niemanden werde ich mein Volk in den sicheren Tod schicken.« Kühn trat der Sohn des Königs einen Schritt nach vorn. Er war viel kleiner als der Nubier, der ihn weit überragte. Eine seiner Hände lag auf dem Schwertknauf, und in der anderen hielt er einen Weinkelch - möglicherweise die Quelle seines Mutes. Takmet fasste den Riesen ins Auge und entgegnete trotzig: »Dein Volk, Balthazar? Du sprichst wie ein Herr scher.« »Ich bin ihr König, kleiner Mann.« Takmet lachte zu ihm hinauf. »Du bist der König von über haupt nichts. Du herrschst über einen Haufen Sand und ein paar Felsen.« Das Licht des Feuers wurde fast nicht verdunkelt, so blitz schnell bewegte sich dieser große Mann. Seine gewaltige Pranke umklammerte die Hand des kleineren Mannes, die den goldenen Kelch hielt. Und Balthazar begann zu drücken. »Wenn ich kein König bin«, fragte der Riese, und es klang, als interessierte ihn die Antwort wirklich, »warum kniest du dann vor mir nieder?« Denn mittlerweile lag Takmet auf den Knien und heulte auf vor Schmerz. Als die Wachen des Königs aufsprangen und ihre Schwerter zogen, griff der Riese wie zufällig nach hinten und langte nach seinem Schwert, das an einem Baumstamm lehnte. Die Luft war vom Prasseln des Feuers erfüllt - und von der Erwartung eines Blutvergießens. Ein Gegenstand flog durch die Luft und bohrte sich oberhalb von Balthazars Schwert in den Stamm. Es war ein Kama, ein eisernes Wurfmesser mit gebogener Klinge, groß wie ein Beil. Bösartig schwang es zwischen dem Schwertgriff und den Fingern des Riesen hin und her. Eine Stimme erklang, die nicht so tief war wie die Balthazars,
doch tief genug. Besonnen und zugleich mit einer leisen, aber überzeugenden Drohung, sprach sie: »So viel Gerede. Viel leicht muss Memnon nur darauf warten, dass ihr Narren euch gegenseitig umbringt.« Drei mit Kapuzen verhüllte Gestalten schritten durch die Reihen der Wachen, die mehr aus Überraschung denn aus Furcht zurückwichen. Sie sahen aus wie graue Geister, die durch die Nacht schwebten, und alle drei waren groß, doch am größten - fast so groß wie Balthazar - war die mittlere. Sie bewegten sich sogar mit einer geisterhaften Anmut, obwohl sie keine Gespenster, sondern Menschen waren - das verrieten die Schwerter und die anderen Waffen, die gegen ihre Brustpanzer klirrten. Am Rand des Stammesrats blieben sie stehen und schlugen ihre Kapuzen zurück. Der linke und der rechte Mann waren Krieger, die ihre Gesichter mit den Abzeichen des Krieges geschmückt hatten; der Mann in der Mitte, derjenige, der das Kama geschleudert hatte, hatte ein glattes, unbemaltes Gesicht. Dieser Mann war Mathayus, und er ist der Held unserer Geschichte. Sein Körper war außerordentlich kräftig und doch geschmeidig und seine Haltung war königlich und energisch zugleich. Seine Haut glich poliertem Kupfer, und das Licht des Feuers vertiefte diesen Bronzeton. Er hatte dunkle, durchdrin gende Augen, hohe Wangenknochen, ein Kinngrübchen, eine faltige Stirn - und er besaß Stolz. Balthazar entfernte sich vom Baum und von seinem Schwert. Seine tiefe Stimme verriet eine gewisse Ehrfurcht. »Akkadier ... Ich dachte, man hätte sie schon vor langer Zeit ausgelöscht.« »Sie sind die Letzten ihrer Art«, sagte König Pheron. »Und durch ihre Hand wird Memnons Zauberer sterben.« Balthazar betrachtete den König voller Zweifel. »Du setzt dein Vertrauen in einen Clan von Halsabschneidern? In Män ner, die nicht töten, um ihr Land und ihr Volk zu verteidigen -
sondern für Geld?« Mathayus richtete seine Augen auf den Riesen und starrte ihn mit kaltem Blick an. Doch er sagte nichts. »Sie sind mehr als bloße >Halsabschneider<«, entgegnete der König. »Sie sind geschickte Meuchelmörder, die über Genera tionen hinweg in ihren tödlichen Künsten ausgebildet wurden.« Balthazar schnaubte. »Deine Worte können die Wahrheit nicht ändern. Diese Männer töten für Geld. Und solchen Männern kann man nicht trauen.« Inzwischen stand der Sohn des Königs wieder auf den Füßen, und in einem Versuch, etwas Würde zurückzugewinnen, schritt er nach vorn auf das mit Umhängen bekleidete Trio zu. Vor Mathayus blieb er stehen und sah ihm ins Gesicht. »Du!«, sagte er, und man konnte den mangelnden Respekt in seiner Stimme hören. »Die Gesichter der anderen tragen die Zeichen des Krieges. Warum trägst du nicht die schmückenden Abzeichen deines Clans?« »Vielleicht«, sagte Mathayus, »habe ich mir dieses Recht ja noch nicht verdient.« »Oh?« Mathayus ließ seine Hand auf dem Schwertknauf ruhen und meinte: »Vielleicht muss man zunächst genügend Menschen töten, die dumme Fragen stellen.« Takmet, der die Hand auf dem Knauf bemerkte, eilte zu seinem Vater und sagte ohne den Respekt, den er selbst zuvor von den anderen für den König verlangt hatte: »Und wie viel werden diese ... Söldner kosten?« Leise antwortete König Pheron: »Zwanzig Blutrubine.« Und der alte Mann hielt einen Lederbeutel vor sich, den der Junge schockiert und angewidert anstarrte. »Vater!« Takmet schnappte nach Luft. »Das - das ist alles, was von unseren Schätzen noch übrig ist.« Der König runzelte die Stirn und all die Falten in seinem Gesicht vertieften sich. »Schweig, Junge!«
Takmet stand einfach nur da und starrte seinen Vater mehrere Augenblicke lang an, als hätte ihn der alte Mann geschlagen. Und in gewissem Sinne war es ein Schlag gewesen. Der Sohn des Königs zitterte vor Verlegenheit und bemühte sich, seinen Zorn über die Entscheidung des Vaters, die in seinen Augen eine einzige Dummheit war, im Zaum zu halten. Dann stürmte Takmet wutschnaubend davon und verließ den Kreis um das Feuer. Noch einmal sprach König Pheron zu den Stammesführern, um deren Gestalten das orangefarbene Licht des Feuers in der blauen Nacht tanzte. »Wenn die Akkadier den Zauberer töten werdet ihr dann zusammenkommen? Werdet ihr vereint kämpfen?« Es geschah nicht auf einmal. Gemurmelte Diskussionen folgten; aber dann, langsam, Schritt für Schritt, nickten die Köpfe, als einer nach dem anderen Pherons Vorschlag zu stimmte. Sogar die anmutige Königin Isis. Nur ein Stammes führer hatte auf die Frage nicht reagiert. Balthazar. Und schließlich wandten sich alle Gesichter voller Erwartung dem nubischen Riesen zu. Seine Augen wirkten wie Schnitte in seinem narbenübersäten Gesicht, als er einen tiefen Seufzer ausstieß - und schließlich nickte. König Pheron wandte seinen Blick dem akkadischen Trio zu und nickte ebenfalls. »So sei es«, sagte der König. Jesup, der Älteste der drei Akkadier, ging einen Schritt nach vorn auf den König zu und nahm den dargebotenen Beutel mit den Rubinen entgegen. Während sich Jesup vor dem Monar chen halb verbeugte, schwor er den Bluteid der Akkadier. »So lange noch einer von uns atmet«, schwor Jesup dem König, »wird der Zauberer sterben.« Jesup begab sich wieder zu den anderen beiden Akkadiern, und das Trio machte sich auf den Weg. Wieder traten die
bewaffneten Wachen zur Seite, um ihnen den Weg freizuma chen. »Meuchelmörder!«, schrie eine tiefe Stimme. Mathayus wirbelte herum, und Balthazar schleuderte ihm das Kama entgegen, das durch die Luft peitschte, zischte und wirbelte ... ... bis es der Akkadier, der keinen Kriegsschmuck trug, mitten im Flug auffing, als hätte ein Junge einen Ball nach ihm geworfen. Mathayus hob eine Augenbraue und musterte den riesigen Nubier, der alles tat, um sein Erstaunen zu verbergen. Zu Pheron sagte Mathayus: »Solltest du den Wunsch haben, dass er getötet wird, würden wir das umsonst erledigen.« Und schon wurde das in ihre Umhänge gehüllte Trio von der Nacht verschluckt und ließ einen Feuerkreis und einen über raschten Stammesrat zurück.
Das Geheimnis des Zauberers
Jener Ort in der Wüste, an dem, soweit man wusste, sich Memnons Heer zuletzt aufgehalten hatte, lag einen vollen Tagesritt durch hügeliges Land entfernt. Die Akkadier waren in der Morgendämmerung aufgebrochen und folgten zügig ihrer Route durch das raue, felsige Gebiet. Jesup und Rama ritten auf Pferden, und Mathayus, der den gewaltigen, mit kunstvollen Schnitzereien verzierten Bogen über der Schulter und fünf Pfeile in einem Köcher an seiner Seite trug, saß auf einem
Albinokamel. Dieses Reittier, unter dessen Sattel Mathayus den Beutel mit den Juwelen versteckt hatte, wurde von seinem Herrn Hanna genannt; Mathayus hielt das Tier für ein großartiges, wenn auch störrisches Geschöpf. Für den älteren Akkadier, den abgebrühten Jesup, war Hanna ein schmutziges Vieh. »Wann wirst du nur diesen mottenzerfressenen Sack Flöhe loswerden?«, hatte Jesup bei Tagesanbruch gefragt, als der breitschultrige Akkadier in den Sattel gestiegen war. Hanna, die mindestens so viele Wörter verstand wie ein Fünfjähriger, hatte sich Jesup mit königlicher Verachtung zugewandt und ihn angespuckt. Mathayus lachte, als der ältere, auf seinem Pferd sitzende Akkadier den Kopf zurückwarf. Der Herr des Kamels machte seinem Tier keine Vorwürfe. Er tätschelte Hannas Hals und beruhigte sie. »Nur die Ruhe, Mädchen«, raunte Mathayus. »Er meint kein einziges Wort davon so.« Doch Jesups Gesichtsausdruck besagte: Und ob ich das so meine! Und doch musste der akkadische Kriegsveteran - wenn auch widerwillig - zugeben, dass das Dromedar weit besser geeignet war, mit dem zerklüfteten, kargen Terrain zurechtzukommen, als die Pferde, die er und Rama ritten. Am frühen Nachmittag wichen die Felsen dem Sand, und die Sonne brannte wie ein Loch im Himmel, durch welches das Feuer der Götter bläst. Gemäß ihrer alten Bräuche trugen die Akkadier kein Peplon, obwohl es unter den Kriegern jener Zeit weit verbreitet war. Auch hatten sie auf Tuniken verzichtet und trugen stattdessen Reithosen aus Leder. Doch unter der sengenden Sonne konnte sogar ein Raufbold wie Mathayus verstehen, dass es manchmal sinnvoll war, wenn ein Mann ein Gewand trug. Sobald jedoch die Sonne unterging, sank auch die Temperatur und der Wind war beißend kalt. Die
Nacht war erfüllt vom intensiv blauen Licht des Mondes, das die Wüste in den surrealen, gefährlich einlullenden Schatten eines Saphirs verwandelte. Von der Spitze einer Düne aus sahen sie Memnons Zeltstadt, in der es so viele Lagerfeuer zu geben schien wie Sterne am Himmel. Und doch rückten die Akkadier weiter vor, ein winziger Angriffstrupp gegen ein ganzes Heer. Sie erkundeten das Gelände, prägten sich die Positionen der verschiedenen Wachposten ein, die das Lager kreisförmig umgaben. Diese Krieger hockten mit Brustpanzer, Helm und Peplon bekleidet auf einzelnen Dünen und waren von Fackeln umringt, die auf langen Stangen befestigt waren und im Sand steckten. Eine armselige Strategie, dachte Mathayus, denn die Fackeln boten zwar Wärme und eine nahe gelegene Lichtquelle, doch ihre Flammen machten die Wachen blind gegenüber sich nähernden Eindringlingen. Wie zum Beispiel den Akkadiern. Der schnauzbärtige Rama, der in diesem Trio die hellste Haut besaß, hatte sein Gesicht mit einer Kriegsbemalung ge schwärzt, umso besser mit der Dunkelheit zu verschmelzen. Weder Jesup noch Mathayus machten sich diese Mühe - ihre bronzefarbene Haut bot eine natürliche Tarnung. Doch schließlich musste Rama noch näher herankommen als sie - jedenfalls am Anfang. Der Wachposten auf der nächstgelegenen Düne gähnte; zweifellos genoss er selbstgefällig seinen Dienst, denn welcher Feind würde es wagen, ein Heer anzugreifen, das die ganze Welt bis auf einen letzten, winzigen Winkel erobert hatte? Und er runzelte nur leicht die Stirn und wandte sich neugierig um, als ein seltsames Surren aus der Dunkelheit heranflog wie ein Wüstenvogel. Es war allerdings kein Vogel. Die Eisenbola, die Rama ge schleudert hatte, wirbelte aus der Dunkelheit hervor und schnürte mit der Geschwindigkeit einer Peitschenspitze ihre Kette um den Kopf des Wachpostens, wobei die beiden Eisen
kugeln am Ende der Kette dem Mann gegen die Schläfen schlugen - whapp!, whapp! Der Wachposten taumelte in den Sand, seine Lederrüstung machte zunächst größeren Lärm als er selbst - und dann überhaupt keinen mehr. Er landete flach auf seinem Rücken, als suchte er eine bequeme Position, um den nächtlichen Himmel zu betrachten. Vor Ramas Bola-Angriff hatte sich Mathayus im Schutz der Dunkelheit am Fuß der Düne versteckt; jetzt dauerte es nur wenige Augenblicke, dann war er den Sandhügel hinauf geklettert, hatte den Wachposten aufrecht hingesetzt und ihn abgestützt, indem er ihm den Speer wieder in die Hand drückte - sodass es aussah, als hielte der Mann noch immer Wache, auch wenn er sich dazu hingesetzt hatte. Das weiße Kamel folgte seinem Meister schlurfend die Düne hinauf, als Mathayus die Bola vom Schädel des Wachpostens wickelte. Hanna stöhnte und stieß den Meuchelmörder mit der Nase an, gerade so, als wollte das Tier nach seinem langen Tagesmarsch sagen: Wir haben jetzt keine Zeit für Spaß und Spielereien. Wir sollten unser Lager für die Nacht errichten! »Nur die Ruhe, Mädchen«, flüsterte der Akkadier. Wie zu erwarten war, reagierte das Kamel störrisch: Hanna faltete ihre dünnen Beine zusammen und setzte sich. Mathayus schüttelte den Kopf, denn er wusste, er hatte weder die Zeit, sich mit dem Tier auf einen Streit einzulassen, noch zu diszi plinarischen Maßnahmen zu greifen. Es war wie mit allen Frauen: Es gab einfach ein paar Dinge, mit denen ein Mann sich abfinden musste. Mathayus wandte sich nach links. In einiger Entfernung am Rand des Lagers stand eine roh gezimmerte Aussichtsplatt form, die mit einem einzigen Krieger bemannt war. Auch auf einer Düne zur Rechten befand sich nur ein einzel ner Wachposten - ein gelangweilter Krieger, der inmitten mehrerer Fackeln stand, die auf langen Stangen in den Sand
gesteckt worden waren und seine Sicht behinderten. Dieser Posten käme als Nächstes an die Reihe. Der lange, leise Pfiff des Akkadiers hätte das Geräusch eines Nachtvogels sein können ... ... und nicht das Signal, das Rama zu seiner nächsten Aktion rief. Wieder wirbelte die Bola durch die Nacht und schwang sich peitschenschnell um den Kopf des Wachpostens, der nach hinten in den Sand fiel. Ein zweiter Nachtvogel schien einen klagenden Laut auszu stoßen, doch es war Rama, der Mathayus signalisierte, dass alles in Ordnung war. Hanna jedoch bekundete, dass sie mit den nächtlichen Aktivi täten unzufrieden war, indem sie ein lautes Stöhnen ausstieß; ihr Herr verschloss ihr das Maul mit seiner Hand. »Benimm dich!«, flüsterte der Akkadier und starrte dem Tier ins Gesicht, das darauf mit einem schmollenden Stirnrunzeln antwortete. Dann fletschte es die Zähne, und rührte sich nicht mehr. Hannas Lärm hätte fast die leise zischende Bewegung direkt hinter Mathayus übertönt, doch das scharfe Gehör des Akka diers war an die feinsten nächtlichen Geräusche gewöhnt, und er wirbelte herum, die Hand auf dem Knauf des Krummsäbels. Aber es war nur der ältere Krieger Jesup, der fragte: »Be reit?« Mathayus nickte und deutete auf den Wächter auf der Holz plattform. »Der gehört mir.« Jesup nickte, doch er erinnerte den jüngeren Mann: »Warte auf das Signal.« »Ja.« »Lebe frei ...« Jesup sprach die ersten Worte der traditionellen akkadischen Abschiedsformel. Die beiden Männer hielten sich an den Unterarmen, wobei ihre von einem Lederband geschützten
Handgelenke aneinander rieben. »... stirb gut«, ergänzte Mathayus die rituelle Formel. Als Jesup davonglitt und in der Dunkelheit verschwand, nahm Mathayus rasch seinen großen, eleganten Bogen von der Schulter und legte einen Pfeil an. Aber nicht irgendeinen Pfeil. Dieser hier besaß eine Eisenspitze und das Ende des Schafts trug keine Federn. Die Eisenspitze war durchbohrt und ein Seil aus Darm war hindurchgezogen worden. Obwohl Mathayus sehr kräftig war, bereitete es ihm Mühe, die straffe Bogensehne zu spannen. Die Waffe war fast ein Teil seines Körpers, und doch war es jedes Mal eine Herausforde rung, sie einzusetzen. Als er die Bogensehne schließlich losließ, schien der Pfeil mit unglaublicher Kraft und Schnellig keit wie ein Feuer durch die Nacht zu fliegen, und dabei zog er das Seil mit sich. Fast vierhundert Meter entfernt traf der Pfeil auf sein Ziel und bohrte sich tief in einen dicken Holzpfosten. Mathayus lächelte mit zusammengepressten Lippen, als er über das Lager hin wegsah. Das Seil teilte die Zeltstadt von seiner Düne aus bis zu dem entfernten Posten. Es führte über die Aussichtsplattform hinweg und ein wenig seitlich daran vorbei, doch der gelang weilte Wachposten hatte nichts bemerkt. Bis jetzt jedenfalls. Sogleich band der Akkadier sein Ende des Seils an seinen Sattelknauf. Er legte die Bola so über das Seil, dass die beiden Eisenkugeln zwei Griffe bildeten und gab dem Kamel einen Befehl. Diesmal folgten keine Auseinandersetzungen. Hanna erhob sich. Mathayus prüfte, ob das Seil und das Kamel sein Gewicht tragen konnten. Hanna protestierte stöhnend, aber er warf ihr einen strengen Blick zu. Gelegentlich musste er das Tier daran erinnern, wer hier der Herr war. »Bleib so«, sagte er fest und sah dem Tier direkt in die Au gen. Und das Kamel nickte. Jedenfalls schien es zu nicken und das
genügte dem Akkadier. Er nahm Anlauf, rannte los, packte die Eisenkugeln und glitt das Seil entlang die Düne hinab und über den Sand hinweg Richtung Lager. Hanna rührte sich nicht, denn das war leicht. Es machte fast Spaß, und der Akkadier riskierte es, sich nur noch mit einer Hand festzuhalten und aus seinem Gürtel das beilartige Kama zu ziehen. Als Mathayus an der Plattform vorbeischoss, schwang er die Seite des Kamas, die nicht tödlich war, wie einen Knüppel, schlug dem Wachposten mit voller Wucht gegen die Schultern und riss den Mann von seiner Plattform; der stürzte Hals über Kopf in die Dunkelheit und schlug bewusstlos oder tot am Boden auf. Wenige Minuten zuvor hatten zwei von Memnons sadis tischsten Folterknechten einen Schürhaken in den Kohlen eines Lagerfeuers erhitzt. Die beiden waren ein Paar fetter, schmieri ger, verschwitzter Bestien, die sich so wenig voneinander unterschieden wie eine rechte und eine linke Sandale. Mit beträchtlichem Interesse sah ihnen dabei ein magerer, wieselar tiger Mann mit schütterem Bart zu, der schäbige Lederkleider trug. Er hieß Arpid und im Augenblick stand seine Welt Kopf. Buchstäblich. Denn Arpid, ein Dieb, der sich auf Pferde spezialisiert hatte, hing über dem Feuer, wobei sein Kopf den Flammen so nahe kam, dass sein zotteliges Haar angesengt wurde. Man hatte Arpid an seinen Fußknöcheln aufgehängt, und er baumelte an dem Pfosten wie eine überreife Frucht und beobachtete aus seiner ungewöhnlichen Perspektive, wie einer der Folterer den Schürhaken aus dem Feuer zog und die orange glühende Spitze seinem Kollegen zeigte. Die beiden fetten, primitiven Schlächter starrten liebevoll auf die heiße Spitze des Schürhakens. Für einige Menschen ist die Arbeit nichts weiter als ein Job; doch für diese beiden war das Zufügen von Schmerz eine Berufung.
Sie schienen ein wenig überrascht, als eine tiefe, königliche Stimme aus der Kehle des baumelnden Pferdediebes erklang. »Aufhören! Hört auf und achtet auf meine Worte, denn ich bin ein Hohepriester Seths.« Die Augenbrauen der Folterknechte schossen in die Höhe, und während sie nachdachten, erschienen kleine Fältchen auf ihrem Kinn. »Verschont mich«, intonierte der hängende Mann, »und die Götter werden alle Gaben des Glücks auf euch niederregnen lassen bis ans Ende eurer Tage!« Jetzt lachten die beiden Folterknechte, und der mit dem Schürhaken näherte sich mit der glühenden Spitze den nackten Sohlen des Mannes, der an seinen Fußknöcheln gefesselt war. Panik schüttelte seinen dürren, hin und her schwingenden Körper, und eine völlig andere Stimme drang klagend und jammernd aus der Kehle des Opfers. »Bitte! Nein! Halt! Wartet! Ich habe dieses Pferd nicht gestohlen. Das schwöre ich. Ich habe etwas Anständiges getan.« Jetzt sahen sich die Folterknechte mit weit aufgerissenen Augen an. >Anständig< hatte er gesagt? »Ich habe dieses arme Tier bloß in den Schatten geführt«, schwor der magere Gefangene. »Es war so heiß an dem Tag.« »Nicht so heiß wie heute Nacht«, sagte der Folterknecht mit dem Schürhaken. Als Arpid die Augen schloss und auf den glühenden Schmerz wartete, näherte sich ein akkadischer Meuchelmörder diesem Tableau der Folter; er glitt an einem Seil in das Lager, das an einem Kamelsattel befestigt war. Und Mathayus wäre vorbei geschwebt, hätte das Kamel Hanna sich nicht genau in diesem Augenblick gesagt: Genug ist genug. Die Last des Seils und des ganzen daran hängenden Gewichts waren einfach nicht zu ertragen, auch wenn Hanna ihrem Herrn gehorchen wollte. Und deshalb setzte sich das Albinokamel. Auch Mathayus setzte sich - wenn man das so nennen will.
Weil das Seil plötzlich durchhing, wurde der Akkadier in einen Sandhaufen geschleudert und landete - wie es ein lau nenhaftes Schicksal wollte - umittelbar neben den beiden fetten, schmierigen Folterknechten. Einen Augenblick lang zögerten sie, Arpids nackte Füße zu verbrennen, und starrten Mathayus überrascht an. Doch ihre Überraschung verwandelte sich in Wut, und plötz lich hatten beide Folterknechte rot glühende Schürhaken in den Händen, die sie durch die Luft schwangen, bereit, den Ein dringling anzugreifen. Mathayus ließ es gar nicht erst so weit kommen. Blitzschnell zog er seinen Krummsäbel aus der Scheide und tötete die beiden primitiven Bestien. Ihr Blut tränkte den Sand, bevor noch ein einziger Alarmruf über ihre geifernden Lippen kommen konnte. Der hängende Pferdedieb, der wegen der zischenden Hiebe die Augen geöffnet hatte, betrachtete kopfüber seinen Retter voller Bewunderung und Dankbarkeit. »Ich danke Euch, edler Herr!«, schluchzte er. Mathayus blickte auf die dürre Kreatur, die wie ein Spanfer kel über dem Feuer hing - ein ziemlich mageres Spanferkel. Arpid bedankte sich überschwänglich bei ihm und brabbelte: »Für die Gnade, die Ihr mir erwiesen habt, werden die Götter alle Gaben des Glücks auf Euch niederregnen lassen, bis ...« »Leise«, sagte Mathayus, rammte dem Mann den Ellbogen ins Gesicht und schickte ihn damit in eine Bewusstlosigkeit, die seine Aufregung etwas abkühlen sollte - was vielleicht nicht ganz gelang, da das Feuer die Haare des Diebes verseng te. Weil das Seil hoffnungslos schlaff war, ließ Mathayus es zurück und verschwand in der Dunkelheit, während er sich auf den Weg zum vereinbarten Treffpunkt machte. Schon kurz darauf war er weit in das Lager vorgedrungen; dort schloss er sich den beiden anderen Akkadiern an. Das Trio stand im
Schatten und spähte in einen Korridor zwischen den Zeltreihen. »Dort drüben«, flüsterte Mathayus und deutete in die entspre chende Richtung. Die beiden anderen sahen sofort, warum Mathayus gerade dieses Zelt ausgewählt hatte. Es glich keinem anderen im Lager und keiner der Akkadier hatte je zuvor solch ein Zelt gesehen. Es war groß, hatte die Form einer Kuppel und bestand aus einem Flickwerk verschiedener Tierhäute, die mit astrologi schen Zeichen und okkulten Ideogrammen geschmückt waren. Es war eindeutig das Zelt des Zauberers. Leise und vorsichtig bewegten sie sich über das offene Ge lände zwischen den Zeltreihen. Kein Laut war zu hören bis auf das leise Klirren, mit dem sie ihre Messer zogen, als sie sich rasch dem Zelt des Zauberers näherten. Als sie sich wieder in den Schatten zurückzogen, waren Mathayus' Augen überall, und er hörte das leise Flattern einer Zeltplane im nächtlichen Wind ... ... welche die Füße von einem Dutzend Wächtern enthüllte, die nur auf sie warteten. »Zurück«, flüsterte Mathayus. Er hielt mit gespreizten Armen inne, als ihm klar wurde, in welche Falle sie gegangen waren. Auch die anderen Akkadier rührten sich nicht mehr. Doch es war zu spät, um sich zurückzuziehen. Eine Plane, die über die ganze Länge des kuppelartigen Zeltes verlief, wurde plötzlich aufgeklappt und enthüllte ein Dutzend Bogenschützen, die sofort mit ihren Pfeilen das Feuer eröffne ten. Fast im gleichen Augenblick klappte eine andere Plane eines Zeltes an der anderen Seite des Korridors nach oben, und ein Dutzend weiterer Bogenschützen schoss ihre Pfeile auf die Akkadier ab und nahm sie in ein tödliches Kreuzfeuer. Mathayus kamen seine jugendlichen Reflexe zugute, und er sprang in die Höhe, packte einen überhängenden Teil des großen Zeltes und schwang sich auf das Dach, während unmittelbar unter ihm die Pfeile vorbeizischten und ihn nur
knapp verfehlten ... ... doch sie verfehlten nicht seine beiden akkadischen Brüder, die zu Boden gerissen wurden. Mathayus konnte nur noch entsetzt nach unten starren, als seine Kameraden von den Pfeilen überwältigt wurden. Nichts, was er tun konnte, würde sie jetzt noch retten. Sie waren verloren. Und er konnte sich nur noch nach vorn stürzen, wobei er unbeholfen wie ein Welpe über das einsackende Zeltdach stolperte. Mathayus hatte so schnell reagiert und sich hier oben in Sicherheit gebracht, dass die Soldaten, die unten aus ihrem Versteck ins Freie traten, seine Flucht nicht bemerkten. Es war, als sei der dritte Akkadier einfach verschwunden. Sie suchten ihn zwischen den Zelten, doch ihnen war nicht klar, dass sich der große Meuchelmörder hoch über ihnen befand und sich an der Spitze der Kuppel festhielt, die das Zelt des Zauberers bildete. Mit seinem Messer durchschnitt Mathayus die Tierhäute und schuf eine Öffnung, durch die er sich hinabfallen ließ. Wie eine große Katze landete er fast lautlos auf dem fellbedeckten Boden. Es war, als hätte er eine andere Welt betreten, eine seltsame, von Schatten erfüllte und zugleich goldene Kammer in einem Zelt, in der kunstvolle Draperien und Tapisserien hingen und die mit ihren reich verzierten Bänken und Möbeln einem Palast glich, während der Rauch eines Feuers in der Mitte eine Art Bodennebel schuf, wodurch eine okkulte Atmosphäre entstand. Mathayus ging in die Hocke, nahm den mächtigen Bogen von der Schulter und legte einen Pfeil an. Er schob einen Wandtep pich zur Seite und sah, dass er nicht allein war. Eine Gestalt, die ihm den Rücken zugewandt hatte und in einen langen, wallenden Umhang mit einem hohen steifen Kragen gehüllt war, der mit Mondsymbolen und anderen rätselhaften Zeichen geschmückt war, wirbelte plötzlich herum. Sie bewegte sich so
übernatürlich schnell und fließend, dass es aussah, als schwebte sie. Der Zauberer. Der meisterhafte Bogenschütze schloss ein Auge und zielte, als sich ihm die Gestalt ganz zuwandte ... ... und der Zauberer, so schien es, war eine Zauberin. Zuvor hatte der Umhang sie so sehr verhüllt, dass Mathayus nichts hatte erkennen können. Jetzt sah er alles. Sie war nur spärlich bekleidet, der größte Teil ihrer goldfarbenen Haut war unbedeckt. Sie war schlank und doch wohlgeformt, ihre hohen festen Brüste wurden von einem funkelnden Halter nur halb bedeckt, und ihre Lenden umfing ein goldener Gürtel. Nie zuvor hatte er ein so atemberaubend schönes Gesicht gesehen. Es war oval mit weit auseinander stehenden, großen dunklen Mandelaugen, einer zierlichen Nase, kleinen, vollkommenen Lippen, und dies alles wurde umrahmt von schulterlangem obsidianfarbenen Haar, das von einem goldenen Kopfschmuck gekrönt wurde. Hypnotisch hielten ihre Augen seinen Blick gefangen. War sie ein Traum? Hingerissen und überwältigt von einer so seltenen Schönheit, lockerte Mathayus seinen Griff um die Bogensehne ein wenig. Dann kniff er die Augen zusammen, um seine Konzentration zurückzugewinnen und sich auch weiterhin konzentrieren zu können. Das war Zauberei. Schließlich war er ja gekommen, um einen Zauberer zu töten. Wer konnte behaupten, dass das kein Mann war, kein Meister der Schwarzen Magie, der die Illusion einer Frau heraufbe schworen hatte? »Ich bin Cassandra«, sagte sie. Ihre Stimme war wie Musik, und als sie sich auf ihn zu bewegte, erklangen winzige, an ihren Zehenringen befestigte Zymbeln im Takt zu dieser Musik. Und sie trug goldene Handschuhe - mit silbernen
Klauen. Er war hierher gekommen, um zu töten. Noch einmal zielte er mit seinem Pfeil auf ihr Herz. »Man hat dich betrogen, Mathayus«, sagte sie. Doch ihre Lippen bewegten sich nicht! Die Stimme, diese liebliche, musikalische Stimme erklang nur in seinem Kopf. Er kniff die Augen zusammen, öffnete sie wieder und sah hinab auf seinen angelegten Pfeil, als er sprach. »Du kennst meinen Namen?«, fragte er sie. Sie nickte. In seinem Kopf sagte ihre Stimme: »Und ich weiß, warum du hier bist. Aber ich fürchte, es wird nicht so leicht für dich werden, mich zu töten.« Als Mathayus auf sein schönes Ziel starrte, empfand er etwas Merkwürdiges, das vielleicht durch magische Künste geschaf fen worden war: Die Zeit schien langsamer abzulaufen, wäh rend seine Gedanken rasten. »Also töte mich«, sagte sie, und dieses Mal sprach sie laut. »Falls du es kannst.« Ihre Augen schienen tief in ihn einzutauchen, bis auf den Grund seiner Seele. Er fühlte sich schwach, eine gewaltige Last drückte seinen Arm nieder, der doch so dick mit Muskeln bepackt war. Er schoss den Pfeil ab - doch sein Ziel war nicht die Zauberin. Ein Wachposten im roten Turban hatte unmittelbar hinter Cassandra das Zelt betreten, und der Pfeil riss ihn von den Füßen und tötete ihn. Mathayus war wieder zu sich gekommen. Als er wachsam den nächsten Pfeil anlegte, betrachtete ihn die Zauberin unendlich traurig. »Es tut mir Leid, Akkadier«, sagte sie laut, und es klang, als meinte sie diese Worte ernst. Als hätte sie wirklich sterben wollen. »Du hast deine Chance verpasst.« Eine weitere Wache mit Helm und Lederrüstung stürmte mit gezücktem Schwert auf ihn zu. Mathayus ließ den Bogen
fallen, riss mit seiner Rechten blitzschnell den Krummsäbel aus der Scheide, während seine Linke nach dem Kama griff. Als der Wächter ihn erreicht hatte, lenkte Mathayus den Schwert hieb mit seinem Krummsäbel ins Leere und hieb dem Mann das Kama in die Magengrube, worauf dieser auf den raucher füllten Boden stürzte und verblutete. Der Nächste kam von hinten, und der Akkadier wirbelte herum, schlug mit seiner Klinge gegen die Klinge des Mannes, schlitzte ihm über die Brust und stieß ihn mit seinem Ellbogen zu Boden. Zwei weitere Wächter stürzten sich mit erhobenen Schwertern auf ihn, und der Akkadier vollführte einen seitli chen Stoß mit der Klinge, der einen Angreifer sofort tötete und den zweiten zwar nur verwundete, doch beide Männer stürzten. Dann tötete er den Überlebenden mit einem von oben geführ ten Stich, und die Zauberin erschauerte über den eiskalten Gesichtsausdruck des Meuchelmörders, der sich so konzent riert seiner Arbeit widmete. Mathayus bemühte sich, wieder zu Atem zu kommen, als seine Angreifer plötzlich überall waren und die roten Turbane förmlich in das Zelt strömten. Wie eine Maschine, die nur entwickelt worden war, um zu töten, kämpfte er mit einer so großen Geschicklichkeit und Wildheit, dass die Zauberin jetzt so überrascht war wie er zuvor, als ihre Schönheit ihm den Atem geraubt hatte. Doch es waren schließlich so viele, dass sie Mathayus über wältigten, und sie umringten ihn so dicht in diesem engen Raum, dass er nicht sah, wie Memnon selbst das Zelt betrat. Er wurde von seinem Oberkommandierenden Thorak begleitet, einem narbengesichtigen Dämon in Menschengestalt. Thorak trug einen Dreizack und ging auf das Ein-Mann-Heer Mathay us zu. Mathayus war von den Wachen in roten Turbanen umgeben, die ihn in die Enge getrieben hatten, doch er plante einen letzten glorreichen Ausfall: Auf seinem Weg, der ihn zu einem guten Tod führen sollte, wollte er eine blutige Bresche in die
Reihen seiner Angreifer schlagen. Doch genau in diesem Augenblick wurde der Dreizack nach vorn gestoßen, und die drei Zacken nagelten ihn an die mittlere hölzerne Zeltstange. Und wieder hörte er in seinem Kopf die Stimme der Zauberin, die voll aufrichtiger Trauer sagte: Es tut mir Leid, Akkadier. Es tut mir Leid.
Tod in der Wüste
Das Meer der Soldaten teilte sich um Mathayus, der immer noch von Thoraks Dreizack an den Zeltpfosten gefesselt wurde, und so konnte er sehen, wie sein Gastgeber sich näher te. Es war nicht nötig, dass dieser sich vorstellte: Der Mann im goldenen Kettenhemd, dessen königliche Haltung die ernste Grausamkeit seiner stattlichen Züge nicht zu mildern vermoch te, konnte niemand anderes sein als Memnon selbst. Der Lehrer der Menschen hielt inne, musterte seinen musku lösen Gast mit prüfendem Blick und sagte: »Ein lebendiger, atmender Akkadier. Welch eine Seltenheit. Welch ein unge wöhnliches Vergnügen.« Und Memnon stellte sich direkt vor Mathayus, er pflanzte sich vor dem Krieger mit einer Furchtlosigkeit auf, die nichts mit der Tatsache zu tun hatte, dass der Meuchelmörder sich nicht bewegen konnte. »Ich habe gehört«, sagte Memnon, der Herr, »dass Angehöri ge eures Volkes sich darin üben, große Schmerzen zu ertra gen.« Mit einem kleinen, widerlichen Lächeln nickte Memnon seinem riesigen Oberbefehlshaber Thorak zu und befahl ihm mit einer Geste, den Dreizack zu entfernen. »Nun, wir werden deine Fähigkeit, Schmerzen zu ertragen, auf die Probe stellen.« Mathayus spuckte dem Kriegsherrn ins Gesicht.
Memnons erste Reaktion war ein winziges, höhnisches Lä cheln - erst dann schlug er dem Akkadier den Handrücken mit solcher Wucht ins Gesicht, dass Blut gegen die nahe Zeltwand spritzte. »Du blutest wie jeder andere Mensch auch«, sagte Memnon. Auch Mathayus lächelte höhnisch, doch es war kein winziges Lächeln. Es war ein blutiges, trotziges Knurren. Sein Gesichtsausdruck änderte sich jedoch, als er eine ver traute Stimme hörte. »Wie? Keine kühlen, wagemutigen Worte mehr von einem herzlosen Meuchelmörder?.« Die sarkastische Bemerkung kam von einem jungen Mann mit dünnem Bart in edler Lederrüstung, der in diesem Augen blick das Zelt betrat. Er hielt einen Sack aus Kuhhaut an den Kordeln, der so groß war, dass ein Wasserkrug darin Platz hatte. Takmet! Der Sohn König Pherons von Ur. Jetzt verstand Mathayus, warum die Zauberin von Verrat gesprochen hatte. »Du, Takmet«, fragte Mathayus mit weit aufgerissenen Au gen, »du bist der Verräter?« Das schien den Königssohn zu amüsieren, und er antwortete sarkastisch mit einer angedeuteten Verbeugung. In der brutalen Welt, in der Mathayus all die Jahre gelebt hatte, gab es nur eines, was einen Menschen vom Tier unter schied - selbst von Tieren in Menschengestalt - , und das war sein Wort, seine Ehre. »Du verrätst deinen eigenen Vater?« Takmet zuckte mit den Schultern. »Mein Vater war ein vergesslicher alter Narr.« Bei diesen Worten lief Mathayus ein Schauder über den Rücken, besonders bei dem Wort war. »Er hat nichts Besseres verdient von einem Sohn, den er beleidigt hat.« Der schmächtige Erbe des Thrones von Ur wandte sich an den Kriegsherrn. »Der alte Mann hat dafür bezahlt, dass er mich unterschätzte. Er war entsetzt. Das sieht
man an seinem Gesicht.« Takmet griff mit der Hand in den Ledersack und holte den Kopf seines Vaters hervor. Tatsachlich zeigten die Züge von König Pherons Gesicht, wie überrascht er gewesen war. Mathayus wurde übel und er warf diesem Möchtegernhelden einen wütenden Blick zu, und die Wachen und selbst Thorak runzelten die Stirn. Die Zauberin wandte sich ab, jedoch nicht aus weiblicher Empfindlichkeit, sondern aus Abscheu. Nur Memnon schien erfreut und auf düstere Weise amüsiert. Takmet hob den abgetrennten Kopf in die Höhe, indem er ihn an den grauen Haaren packte und beteuerte förmlich: »Mit dem Kopf meines Vaters gelobe ich dir meine Gefolgschaft.« Memnon machte eine lässige Geste und sagte: »Takmet, du hast deine Loyalität bewiesen. Du wirst den linken Flügel meines Heeres befehligen und mir als Statthalter von Ur dienen, nachdem wir die Stadt eingenommen haben.« Thorak, der neben Mathayus stand, runzelte leicht die Stirn. Memnon bemerkte dies, und daher wandte er sich an seinen Oberbefehlshaber: »Und zusammen mit Thorak, der den rechten Flügel meines Heeres befehligt, werden wir jeden vernichten, der es wagt, unsere Macht herauszufordern.« Mathayus verachtete eine Kreatur wie Memnon, doch selbst er musste zugeben, dass dieser Mann eine charismatische Ausstrahlung besaß. Die Wachen mit den roten Turbanen verschlangen jedes einzelne Wort des Kriegsherrn. »Und sobald der Dämonen-Mond aufgeht«, fuhr der Große Lehrer fort, »werden meine Heere bis zum Meer vordringen und ich werde den Thron besteigen als jener Konig, von dem die uralten Legenden berichten, er sei der Herrscher, den die Götter lieben. Wie es die Prophezeiung verkündet hat.« Durch die von Fellen und Tierhäuten gebildete Kammer mit dem rauchbedeckten Boden nickte ihm Cassandra ihre Zu stimmung zu.
Dann flog eine Zeltwand auf, und mit knirschenden Lederrüs tungen und klirrenden, stählernen Waffen zogen zwei Wächter einen Gefangenen herein. Jesup. Mathayus fühlte, wie ihn eine Woge der Verzweiflung erfass te, als er seinen alten Freund und Kameraden sah, der mehr tot als lebendig wie ein Sack Getreide an den Armen hereinge schleppt wurde und dessen ganzer Körper von roten Pfeilwun den übersät war. Obwohl er kaum mehr bei Bewusstsein war, gelang es dem älteren Akkadier, den Kopf zu heben und über die ganze Breite des Zeltes hinweg Mathayus anzusehen. Eine der Wachen an Jesups Seite sagte: »Wie Ihr sehen könnt, mein Herr, lebt er noch.« »Wie interessant«, meinte Memnon und schritt über den nebelbedeckten Boden. Dann hielt er inne, um eines der Messer aufzuheben, die Mathayus im Kampf verloren hatte. »Obwohl diese Rasse angeblich von der Erdoberfläche ver schwunden ist, ist es erstaunlich schwierig, einen Akkadier zu töten.« Mathayus, der von zwei Wachen festgehalten wurde, betrach tete voll Reue, wie der Kriegsherr das kleine Wurfmesser musterte; es war ein elegantes Exemplar akkadischer Waffen schmiedekunst. »Sehr schön«, sagte Memnon voll ehrlicher Bewunderung und ließ die Klinge gegen seine Handfläche schnippen. »Bringt den Krieger zu mir. Ich möchte ihm meine Ehrerbietung erweisen.« Rasend vor Wut stürzte sich Mathayus nach vorn, doch den Soldaten gelang es, ihn wie einen Löwen im Käfig festzuhal ten. Hilflos sah er zu, wie sein Kamerad über den rauchbedeck ten Fußboden gezogen und vor Memnon geschleppt wurde. Jesup blickte unter seinen halb herabgesunkenen Lidern hervor Mathayus in die Augen - und plötzlich öffneten sich die Augen des älteren Mannes und waren von strahlender Kraft erfüllt.
»Lebe frei«, sagte Jesup. »Stirb gut«, antwortete Mathayus voller Resignation. »Mein Bruder ...« Und mit einer einzigen hinterhältigen, blitzschnellen Bewe gung schoss der Große Lehrer nach vorn und vollführte mit der erbeuteten Klinge einen langen Schnitt. An jedem Tag seines Lebens hatte Mathayus mit dem Tod gelebt, doch der Schmerz, den er empfand, als das Messer die Kehle des älteren Akkadiers aufschlitzte, erfüllte all sein Denken und sein ganzes Wesen mit Wut und Wahnsinn. Der tapfere Mathayus, der - ohne dass er es wusste - genauso reagierte wie die Zauberin, konnte sich nur noch abwenden, und er fühlte sich, als wäre die Klinge in seine eigene Magen grube eingedrungen. Er sah nicht, dass die Zauberin von einer eigenen Woge des Schmerzes erfüllt wurde. Cassandra hatte die Augen zusam mengekniffen und hob eine Hand an ihren Kopf, als wollte sie prüfen, ob sie Fieber habe. Sie nahm ein tiefes Grollen war, und es war ihr, als kämen diese Töne von draußen, wie das Grollen des Donners oder wie die tektonischen Platten der Erde, die sich verschoben. Aber als sie ihre Augen wieder öffnete, konnte sie eindeutig erkennen, dass niemand außer ihr im Zelt diese Töne gehört oder gespürt hatte, obgleich deren Echo noch immer in ihrem Kopf widerhallte und die Stimmen der Männer um sie herum unhörbar machte. Sie wollte den Anblick des Blutvergießens unbedingt vermei den, doch unwillkürlich wurden ihre Augen von Memnon angezogen, der den Dolch, von dem flüssige Rubine tropften, in der Hand hielt. Was sie dabei sah, konnte niemand in diesem Raum erkennen: Memnons Gesicht war von Silber umhüllt seinen Kopf umgab ein schimmernder Lichtkreis. »Ich habe noch nie eine Klinge benutzt, die so scharf ist wie diese«, sagte Memnon und musterte das Messer. »Ich frage
mich, ob sie stumpf geworden ist - jetzt, nachdem ich sie benutzt habe. Oder ob sie beim zweiten Mal noch genauso scharf schneidet.« Und der Große Lehrer trat nach vorn, hob den Dolch und fixierte Mathayus' Kehle. Stirb gut, dachte Mathayus, und rasch, doch ohne die gerings te Unsicherheit richtete er seinen Blick nacheinander auf die drei Männer - Thorak, Takmet und schließlich Memnon - und sagte lächelnd: »Ich werde euch alle wieder sehen. In der Unterwelt.« Memnon erwiderte das Lächeln. »Oh, das wird gewiss noch sehr lange dauern, Akkadier.« Jetzt schwang der Kriegsherr das Messer, um dem Gefange nen die Kehle durchzuschneiden. »Wartet!« Die Stimme der Zauberin war so scharf wie die Klinge. Alle Blicke wandten sich ihr zu. »Wartet!« Ihre Worte besaßen große Autorität, als sie sprach. Sie hatte das Kinn erhoben, und ihre schönen, aber harten Augen waren zu schmalen Schlitzen verengt, die wie kostbare dunkle Juwelen funkelten. »Mathayus soll heute Nacht nicht sterben.« »Falls das deine Prophezeiung ist«, erwiderte Memnon, immer noch bereit, mit der Klinge zuzustoßen, »dann brauche ich womöglich eine neue okkulte Ratgeberin.« Und doch bewegte der Kriegsherr die Klinge nicht weiter. »Ändert Eure Zukunft«, entgegnete sie kühl, »falls Ihr das wollt.« Memnon warf ihr einen raschen Blick zu. »Sollte Mathayus durch Eure Hand sterben oder durch die Hand eines Menschen, der unter Eurem Befehl steht, wird Unheil über Euch hereinbrechen. Die Götter sehen uns, mein König.«
Die Wachen mit den roten Turbanen, diese mächtigen Krie ger, die schon so viele Menschen getötet und schon so viel Blut vergossen hatten, wurden durch die musikalische Stimme der Zauberin eingeschüchtert. Mathayus amüsierte sich beinahe über die Ehrfurcht und Angst in ihren Gesichtern. Auch Memnon sah ihre Reaktion. Und der Kriegsherr wusste ebenso gut wie seine Soldaten, dass seine Erfolge auf dem Schlacht feld wenigstens zum Teil durch das übernatürliche Wissen dieser Frau ermöglicht worden waren. Memnon ließ das Messer sinken, doch er blickte seinem Gefangenen direkt in die Augen. »Ein Rätsel also. Wie kann ich dich töten, ohne meine Hände zu gebrauchen - oder die Hand irgendeines Menschen, der unter meinem Befehl steht? Was hast du gesagt, Akkadier? Stirb gut?« Mathayus sagte nichts, doch sein Blick verriet all die Verach tung, die er empfand. Der Kriegsherr antwortete mit gespielter Besorgnis. »Gut zu sterben, ein edler Tod - das ist wichtig für euch, nicht wahr? Ich werde mein Bestes tun, um dir zu Diensten zu sein.« Mathayus beobachtete, wie Memnon sich abwandte und auf die Zauberin zuging, doch der Akkadier sah den Schlag nicht kommen, mit dem Thorak seine Faust auf den Kiefer des Gefangenen krachen ließ. Dieser Schlag beförderte ihn zwar nicht in die nächste Welt, doch in eine sehr dunkle Kammer in dieser Welt. Als der Meuchelmörder das Bewusstsein wiedererlangte, stand die Sonne hoch am Himmel. Mathayus war viele Stunden lang bewusstlos gewesen, denn jetzt war es nicht Morgen, sondern heller Tag, und er spürte sofort, dass er sich nicht bewegen konnte. Sein Gesicht befand sich nicht allzu weit über dem Boden, und vor sich erblickte er einen Graben aus Sand und Felsen, in dem einzelne sonnengebleichte Schädel aus dem Wüstenboden ragten. Die Schädel mochten zwar beunruhigend sein, doch sie waren
nicht das Schlimmste. In dieser flachen, grubenartigen Rinne gab es mindestens ein Dutzend Erdhügel, die wie Kegel geformt waren. Sie waren zwischen einem und nicht ganz zwei Metern hoch und besaßen eine Öffnung an der Spitze. Große Insekten huschten in diese Öffnungen hinein und wieder aus ihnen heraus. Es waren Ameisen, die konzentriert und in größter Eile ihren Aufgaben nachgingen. Inzwischen hatte der Akkadier erkannt, dass er bis zum Hals im Sand eingegraben worden war. Zwei Wächter, die rote Turbane trugen, saßen auf Felsen am Rand des Grabens. Einer von ihnen erhob sich von seinem Felsblock und ging zwischen den Erdhügeln und Steinen hindurch. In der einen Hand trug er ölgetränkte Lappen und in der anderen eine Fackel, die so grell leuchtete wie die Sonne. Methodisch zündete der Wächter die Lappen an - und ließ sie in die Erdhügel fallen. Von rechts hörte der Akkadier eine näselnde Stimme, die beinahe lässig sagte: »Faszinierend, nicht wahr?« Mathayus konnte sich kaum bewegen. Er konnte nur den Kopf ein wenig zur Seite drehen, und als er das tat, sah er den Pferdedieb, der in der vergangenen Nacht über den Flammen gehangen hatte. Auch er war bis zu seinem mageren Hals neben dem Akkadier eingegraben worden. »Der Rauch versetzt die Ameisen in Panik«, erläuterte der Pferdedieb kühl. »Er bringt sie dazu, dass sie ihre Bauten verlassen. Siehst du das?« Der Wächter sprang zurück, als tausende dieser mächtigen Insekten wie eine Welle aus den Erdhügeln brandeten. »Nicht mehr lange«, sagte der Dieb, »dann werden unsere nackten Köpfe ihr Festmahl sein.« Mathayus hatte ihm kaum zugehört, denn er versuchte, sich zu befreien. Aber alle Bemühungen schienen umsonst. »Du findest das komisch, was?« »Du bist Akkadier, richtig?«
»Ja.« »Ich habe gehört, wie die Wachen sich unterhalten haben. Ich dachte, deine Rasse sei längst ausgestorben.« »Noch nicht.« »Du meinst, so lange dich die Ameisen noch nicht geschnappt haben?« »Ich glaube, ich kann mit deinem Humor nichts anfangen.« »Ich heiße Arpid. Ich bin ein ehrlicher Mann, dem man vor wirft, ein Pferdedieb zu sein. Und du bist?« »Mathayus. Lach mich bitte aus. Vielleicht hilft mir dann meine Wut, hier rauszukommen.« »Das glaube ich nicht. Genau das ist es nämlich, was ich so komisch finde. So ein halb verhungerter Bursche wie ich und so ein muskelbepackter Riese wie du - und doch werde ich es sein, der entkommt. Während du hier einen grausigen Tod stirbst, den du dir nach dem Ratschluss eines unerbittlichen Schicksals zweifellos selbst zuzuschreiben hast. Denn du hast mich letzte Nacht dem sicheren Tod überlassen.« »Du? Du wirst entkommen?« »Richtig. Männer wie du bestehen nur aus Muskeln. Aber es fehlt ihnen an Hirn. Du bist ein armer Kerl, der nur die Ober fläche sieht - oder etwa nicht?« Dem Dieb mit dem spärlichen Bart gelang es, in Richtung des Wächters zu nicken, der am Eingang des Grabens auf seinem Felsblock saß. »Der ist genauso wie du. Während die uns hier eingegraben haben, habe ich so getan, als würde ich schlafen. In Wirklichkeit habe ich meine Lungen vollgepumpt, bis sie so groß waren wie die Blase eines Kamels.« Der Wächter, der die brennenden Lappen in die Ameisen bauten geworfen hatte, ging zu seinem Felsblock am Rand des Grabens zurück. Mathayus sah, wie der Mann einen Wein schlauch hob und trank. Der andere Wächter inspizierte die Beute, die sie gestohlen hatten: die Waffensammlung, die einst Mathayus gehört hatte, einschließlich des mächtigen Bogens.
Der Wächter entdeckte soeben, dass er die Bogensehne nicht spannen konnte. Ein winziges Lächeln huschte über die Lippen des Ak kadiers, doch es hielt nicht lange an, denn er sah, wie sich ihm Reihen auf Reihen von Ameisen näherten, eine Armee, die aus den umliegenden Erdhügeln aufgebrochen war und nur ein Ziel kannte: Mathayus' Kopf. »Wenn du fliehen kannst«, sagte Mathayus zu seinem Mitge fangenen, während die Ameisen auf ihn zu krabbelten, »worauf wartest du dann noch?« »Siehst du das da?«, fragte Arpid und meinte damit nicht die herankommenden Ameisen, sondern den Wächter, der etwas näher bei ihnen saß und aus einem Weinschlauch trank. »Was ist mit ihm?« »Nichts. Nur dass er seit etwa einer Stunde diese Yakpisse trinkt. Schon sehr bald wird die Natur ihr Recht verlangen und - ah! Was habe ich dir gesagt?« Der Wächter erhob sich von seinem Felsen und machte sich auf zu einer kleinen Gruppe Steine. Mit dem Rücken zu den Gefangenen erleichterte er sich in den sandigen Graben hinein. »Ich will verdammt sein, wenn du nicht Recht hast«, meinte Mathayus und wandte sich an seinen Mitgefangenen ... ... doch er sprach mit einem leeren Loch im Boden! Arpid war verschwunden. Er war aus dem Loch geglitten, das nicht breiter schien als der Kopf eines Mannes. Doch falls dieser magere Kerl seine Lungen tatsächlich bis zum Bersten mit Luft vollgepumpt hatte, dann ... Jetzt war Mathayus allein im Graben - oder fast allein. Er hatte immer noch seine Freunde, die Ameisen, und die waren weniger als sechs Meter entfernt. Der Akkadier war so mutig wie nur irgendein Mann, der in seiner Welt lebte, doch jetzt erfasste ihn eine Woge der Panik, noch bevor die Woge der Ameisen ihn erreicht hatte. Hektisch warf er sich in seinem Gefängnis aus Sand hin und her. Aber er
konnte sich nicht befreien. »He!«, schrie jemand. Es war der Wächter, der sich erleichtert hatte und der jetzt entdeckte, dass der Pferdedieb Arpid verschwunden war. Der andere Wächter war beschäftigt. Er saß auf dem Boden und versuchte, mit Hilfe seiner Füße Mathayus' Bogen zu spannen. Aber auch so gelang es ihm nicht. Der Wächter bewegte sich ein, zwei Schritte den Abhang hinab, während er die Landschaft aus Steinen, Schädeln, Ameisen und dem bis zu seinem Kopf eingegrabenen Akkadier absuchte. »Wo ist der kleine Scheißkerl?«, fragte der Wächter Mathay us, doch dieser starrte schon längst auf den näher kommenden Tross aus Ameisen, der jetzt noch viereinhalb Meter entfernt war. Durch die langsamen, doch entschlossenen Schritte der Insekten verringerte sich die Entferung immer mehr. Mathayus konnte also zunächst wirklich nicht erkennen, dass Arpid hinter dem Wächter mit dem roten Turban aufgetaucht war und einen dicken Ast schwang, den er mit voller Wucht gegen den Hinterkopf des Mannes sausen ließ, als schlüge er nach einem Ball. Der Wächter viel vornüber zwischen die Felsen. Er war bewusstlos. Der andere Wächter, der sich so lange mit dem gewaltigen Bogen abgemüht hatte, gab schließlich auf und erhob sich stolpernd, doch er war nicht schnell genug. Ein weiterer Schlag mit dem Ast traf ihn, und er fiel den Abhang hinunter in den Graben, wo er gegen mehrere Amei senhügel stieß, bis er schließlich auf dem Boden liegen blieb. Innerhalb weniger Augenblicke war der Wächter von Schwärmen von Insekten bedeckt, die sich von den Schreien und den wilden Schlägen, die der Mann nach allen Richtungen austeilte, nicht beeindrucken ließen. Doch schon rollte eine weitere, unerbittliche schwarze Flut Ameisen auf den Akkadier zu, und die Entfernung wurde
immer geringer. »Arpid!«, schrie Mathayus. »Mach schon!« Der Dieb saß jetzt auf demselben Felsen, auf dem der zu Boden geschlagene Wächter gesessen hatte, und nahm einen langen, genüsslichen Zug aus dem Weinschlauch. Nachdem er getrunken hatte, wischte er sich über das Gesicht und den spärlichen Bart und blickte mit einem Gesichtsausdruck zu Mathayus hinunter, der besagte: Oh - bist du immer noch dort? »Hol mich verdammt noch mal hier raus!«, schrie der Akka dier, während die Ameisen auf ihn zu marschierten. Arpid hob eine Augenbraue und suchte eine bequeme Positi on auf dem Felsen. »Und warum sollte ich das tun?« Diese Erwiderung machte Mathayus für einen Augenblick sprachlos, und er starrte den Dieb nur an. Dann brüllte er wütend: »Weil ich dich umbringe, wenn du es nicht tust.« Zwei Ameisen, die Anführer ihrer riesigen Truppe, hatten sich auf eine Erkundungsmission begeben und kletterten auf den Kopf des Akkadiers. Heftig schüttelte er sich, und sie antworteten mit Stichen und Bissen. Arpid wiegte in gespieltem Mitleid seinen Kopf hin und her. »Du musst zuerst diese widerlichen Viecher überwinden, bevor du mir irgendetwas antun kannst. Und das scheint nicht beson ders wahrscheinlich. Dir ist sicher klar, dass sich Skelette nicht plötzlich erheben und spazieren gehen. Ganz zu schweigen davon, dass sie jemanden umbringen könnten.« Und wirklich: Der Ameisenschwarm hatte das Fleisch des gestürzten Wächters verschlungen. Nur noch einige wenige kostbare Streifen Fleisch hingen an einem Haufen Knochen. »Ist das nicht widerlich?«, meinte Arpid und schauderte. »Hol ... mich ... hier ... raus!« Arpid schien über diese Möglichkeit nachzudenken. Er nahm eine Fackel, die einer der Soldaten in den Sand gesteckt hatte, und ging rasch einige Schritte in den Graben
hinab. Dann hielt er inne. »Mathayus ...« »Ja!« »Was bekomme ich, wenn ich dir helfe?« »Du willst mit mir um mein Leben schachern? Du elende Ratte!« »Du solltest eigentlich wissen, dass ein bisschen Honig dich weiter bringt als Essig. Frag deine kleinen Freunde. Die werden dir das gerne bestätigen - zwischen zwei Bissen.« Mathayus war es gelungen, die beiden Ameisen abzuschüt teln, doch die anderen kamen immer näher, ein groteskes Bataillon aus Antennen und Insektenaugen und kleinen Zan gen. »Vergiss es«, sagte Arpid, und machte sich auf den Rückweg. »Warte! Warte!« Arpid hielt inne, drehte sich wieder um und sah mit erhobe nen Augenbrauen den Abhang hinab. Mathayus schäumte vor Wut, doch es gelang ihm, ein winzi ges Lächeln zustande zu bringen. »Was ist bloß aus meinen Manieren geworden?« Der Schwarm des fleischfressenden Todes war jetzt weniger als einen Meter entfernt. Der Akkadier biss die Zähne zusam men und zwang sich, weiter zu lächeln. »Werter Herr«, sagte der Meuchelmörder mit schiefem Grin sen. »Wenn Ihr vielleicht so freundlich wäret, mich verdammt noch mal hier rauszuholen?« Arpid zuckte mit den Schultern. »Das war schon besser. Versprichst du mir, mich nicht zu töten?« »Ja! Ich schwöre es!« »Du bist ein Akkadier, denk dran. Wenn du etwas schwörst, dann hältst du dich auch daran, immer. Richtig? Du bist einfach so. Das ist dein Ehrenkodex. Richtig?« »Ja. Ja. Das stimmt.« Ein weiterer Spähtrupp aus zwölf, dreizehn Ameisen kletterte
jetzt auf den Kopf des Akkadiers und begann, nur so zum Aufwärmen ein wenig an ihm zu knabbern. Blinzelnd warf Mathayus den Kopf hin und her und bemühte sich, sie abzu schütteln. Eine Ameise kroch auf seine Lippen, und er biss sie in der Mitte durch und spuckte sie aus. »Wenn du etwas schwörst«, fragte Arpid rhetorisch, »erfüllst du dann bei deiner Ehre diesen Schwur, auch wenn du ihn hinterher bereust?« »Ja! Ja!« Der kleine Dieb näherte sich mit der Fackel in der Hand. »Dann versprich mir, dass du mich mitnehmen wirst als dein als dein vertrauenswürdiger Partner und Kamerad. Und dass wir alles, was wir jemals erbeuten, gerecht teilen werden.« »In Ordnung! Ich verspreche es! Ich schwöre es!« Arpid stieß die Fackel direkt in den Pfad der Ameisen, die sofort in alle Richtungen davonhuschten. Dann kniete er vor dem Kopf nieder, der aus dem Sand ragte. »Abgemacht, Akkadier. Beweg dich nicht.« Und der Dieb zupfte sorgfältig die Ameisen aus dem Gesicht des Meuchelmörders. Nur wenige Minuten später stand Mathayus bereits oben auf dem Hang und sammelte seine Waffen zusammen, während der überlebende Wachposten noch immer bewusstlos mitten im Sand zwischen den Felsen lag. Der magere Dieb war aufgeregt und voller Begeisterung, doch er half dem Akkadier nicht. »Was für eine wunderbare Wendung der Dinge«, sagte der Dieb. »Wo immer du auch hingehst, begleitet dich der Tod. Und es wird viele Tote geben. Ich meine, schau dich doch nur an - so ein gewaltiger Kerl wie du. Und wo der Tod ist, gibt es Leichen, und wo es Leichen gibt, gibt es Börsen, die nur darauf warten, geleert zu werden. Gold, Silber - wer weiß, was für Schätze wir noch teilen werden! Denn wir haben abgemacht, dass wir alles teilen, das Geld und die Arbeit. Ich übernehme das Stehlen, und du erledigst die Kerle. Na, klingt das nicht
fair?« Der Blick des munteren kleinen Diebes fiel auf Mathayus' kunstvoll gearbeiteten Bogen. Er ging hinüber und hob die wuchtige Waffe hoch. Und dann hob jemand den Dieb hoch, indem er ihn am Tuch packte, das er um den Hals trug, und schleuderte ihn einige Meter entfernt zu Boden. Mathayus brachte sein Gesicht ganz nahe an das des Diebes und starrte ihn an. Er nahm ihm den Bogen weg und sagte: »Berühre ihn nie wieder. Nie wieder.« Obwohl seine Luftröhre noch immer halb zugeschnürt war, erwiderte Arpid: »Na ja, ich glaube, das fängt doch ganz gut an mit uns. Oder nicht?« Mathayus ließ den Dieb los, als hätte er keine Verwendung mehr für ihn. Dann stieß der Akkadier einen lauten, scharfen Pfiff aus. Der Dieb blickte sich um. »Wen rufst du?«, fragte Arpid. »Mein Reittier«, sagte Mathayus. Kurz darauf erschien das Albinokamel mit großen Sprüngen auf der Kuppe eines nahe gelegenen Hügels. Der Meuchelmörder ging zu dem Tier, streichelte seinen Hals und schwang sich in den Sattel. Und ritt davon. »Also!«, rief Arpid. »Wohin gehen wir?« Mathayus sagte nichts. Er trieb das Kamel zu größerer Eile an, und das Tier gehorchte. »He!«, schrie der Dieb. »Wir haben eine Abmachung!« Der kleine Mann trottete dem großen Mann hinterher, der auf seinem Albinokamel ritt. »Schon gut«, schnatterte der Dieb atemlos, während er dem Akkadier hinterher rannte. »Ich werde dir sagen, wohin wir gehen! Du bist gekommen, um diese Frau zu töten, die Hexe. Nur - du hast es nicht geschafft. Du hast gesehen, wie wunder schön sie ist, und das hat dich scharf gemacht. Deshalb hast du
alles verpfuscht!« Mathayus warf ihm einen wütenden Blick zu. Dann trieb er das Kamel weiter an, das in einen scharfen Galopp verfiel. Verzweifelt rannte auch Arpid immer schneller und schrie: »Deshalb musst du jetzt deine Ehre wiederherstellen. Und diese Hure töten. Nur - du weißt nicht, wo sie ist. Du weißt nicht, wo Memnon sie hingebracht hat. Aber ich weiß es!« Wütend knurrte Mathayus vor sich hin und ritt weiter. Aber langsamer.
Die Stadt der Sünde
Obwohl Gomorra berüchtigt war als Hort der Sünde und der Dekadenz, wirkte die Stadt ordentlich und anständig. Wenigstens auf den ersten Blick. Unzählige Wachen Memnons in ihren roten Turbanen schütz ten diese Festungsstadt, die im Herzen eines geradezu überwäl tigenden Felsentales lag und von den Zinnen und Türmen des Palastes des Großen Lehrers beherrscht wurde. Der stattliche Thronsaal aus Sandstein, den jener Palast be herbergte, war eines so berühmten Kriegsherrn würdig: Er war vergoldet, besaß zahllose Pilaster und war mit dezenten und doch farbenprächtigen Ornamenten geschmückt, die bereits die Kultur Ägyptens vorwegnahmen, die sich erst in den folgenden Jahrhunderten entwickeln würde. Fackelartige Lampen dunkle Metallschalen auf spindeldürren Beinen - erfüllten den weitläufigen Raum mit einem goldenen Schimmer, in dem sich zahllose Draperien, kunstvolle Bildteppiche, gewaltige Urnen und einfache, schwere Möbel befanden. An einer der Wände schliefen zwei junge Tiere in Ketten - ein Tiger und ein Löwe - , die nicht sehr viel größer als Welpen
waren, doch das waren keine Kuscheltiere für einen gewöhnli chen Menschen, nicht einmal für einen gewöhnlichen Herr scher. Ein riesiger, goldgeschmückter Thron, über dem ein Symbol prangte, das einem Schild glich, und der rechts und links von Stoßzähnen aus Elfenbein eingefasst wurde, war wie geschaffen für einen König; und dieser König wollte Memnon sein. An einer Seite des Thrones führte ein Balkon ins Freie, von dem aus man über die Türme der Stadt hinwegblicken konnte - jene legendäre Stadt der Sünde, die jetzt dem Kriegs herrn Memnon gehörte. An einem kleinen runden Tisch in der Nähe des Balkons saß die Zauberin Cassandra. Sie hatte sich über eine Landkarte aus Pergament gebeugt, auf der sie Achate, Jade und andere glatte Steine zu einem Muster angeordnet hatte, das eine übernatürli che Eingebung ihr diktierte. Sie trug eine durchscheinende Robe, unter der ein funkelndes Kettenhemd ihre Brüste und ihre Lenden bedeckte, und mit ihrem goldenen Kopfschmuck sah sie aus wie eine Königin. Zwei ebenso spärlich bekleidete Schönheiten fächerten ihr in diesem heißen Wüstenklima mit Fächern aus großen Federn Kühlung zu. Doch in ihrem versun kenen, fast tranceartigen Zustand bemerkte Cassandra die Anwesenheit der beiden ebenso wenig wie die Hitze. Mit ihren eleganten, von Gold und Juwelen bedeckten Fin gern fuhr sie suchend über die Landkarte und die Runensteine, die sie darauf angeordnet hatte ... ... und beschwor eine Vision herauf: In vollem Galopp ritt die Kriegerkönigin Isis auf einen Wald zu, hinter dem (wie Cas sandra von irgendwoher wusste) eine Siedlung auf sie wartete. Plötzlich brachte die Königin ihr Pferd zum Stehen, denn Rauch erhob sich aus dem zerstörten Dorf in den Himmel. Um sie herum und an ihrer Seite befanden sich ihre Kriegerinnen, der Stammesrat. Doch noch mehr ihrer Kämpferinnen kamen auf sie zu und zeigten ihr die Spuren des Krieges: Blut, Ruß und Verzweif
lung. Über einem Sattel hing eine tödlich verwundete Kriege rin, und im Gesicht der Königin kämpften Wut und Trauer miteinander. Cassandra öffnete die Augen. Sie konnte Königin Isis' Qual fühlen, doch obwohl sie diesen Schmerz teilte, verbarg sie ihn sorgfältig: Keine Tränen rannen über ihr Gesicht. Wie so viele Seher hatte Cassandra innere Verteidigungsmauern errichtet, denn ohne diese wäre sie zur Sklavin ihrer eigenen Visionen geworden. Eine vertraute Stimme hallte durch den Thronsaal: »Welche Neuigkeiten hat meine Zauberin heute für mich?« Sie wandte sich um, nickte ihren beiden Dienerinnen zu, die sich eilig zurückzogen, als Memnon, ein Kriegerkönig in schwarzer Lederrüstung, durch seinen Thronsaal schritt. Thorak, seine rechte Hand, und Takmet, seine linke Hand, begleiteten ihn. Sie blieb sitzen, wandte sich jedoch Memnon zu und betrach tete ihn mit halb geschlossenen Lidern. »Die Truppen von Königin Isis wurden in alle vier Winde verstreut.« Memnon grinste wie ein gieriges Kind und nickte befriedigt seinen beiden wichtigsten Ratgebern zu. »Das Volk von Ur«, sagte sie, »ist tief erschüttert über den Tod seines Königs.« Bei der Erwähnung des Vaters, den er ermordet hatte, lächelte Takmet vor sich hin. Die Zauberin ließ sich nicht anmerken, wie abgestoßen sie davon war. Sie fuhr fort. »Pherons Stämme evakuieren ihre Dörfer. Sie sind völlig kopflos. Sie haben keinen Anführer.« Memnons Augen verengten sich. »Und was ist mit dem Nubier?« Cassandra schüttelte den Kopf, und ihre hin und her schwin genden Ohrringe ließen eine leise Musik erklingen. »Balthazar ... und auch sein Volk ... sie bleiben mir verbor
gen.« Die Augen des Kriegsherrn funkelten. »Werden sie von den Göttern geschützt?« Sie zuckte leicht mit ihren Schultern. »Meine Gabe enthüllt es mir nicht, edler Herr.« Memnon holte tief Luft und stieß sie schwer wieder aus, bevor er zuerst Takmet und dann Thorak anlächelte. »Überbringt unseren Generälen die Nachricht vom Chaos in Ur. Sie sollen meine Heere in Bereitschaft versetzen.« »Ja, mein Herr«, sagte Takmet. Und Thorak antwortete mit denselben Worten. Als die Ratgeber den Saal verließen, trat Memnon auf Cas sandra zu und berührte ihre Schulter. Sein Lächeln war überra schend freundlich. »Denkst du, dass ich grausam bin?« »Ich denke nur sehr selten an Euch«, antwortete sie, doch ihr Ton war nicht so verächtlich, wie ihre Worte vermuten ließen. Er schlenderte zu einem Tisch mit verschiedenen Speisen und riss eine Rehkeule aus einem Stuck Wildbret. »Du stellst meine Gutmütigkeit wirklich auf eine harte Probe, Cassandra.« »Ich bin nur hier, weil ich eine Aufgabe zu erfüllen habe.« Die Rehkeule wie einen Knüppel haltend, drehte er sich zu ihr. »Ach ja? Vielleicht hast du vergessen, wie das Leben wirklich ist - außerhalb der Palastmauern.« Der Kriegsherr schleuderte die Rehkeule durch den Thron saal, und sein junger Tiger und sein Löwe stritten sich darum und schnappten knurrend einer nach dem anderen und nach dem Fleisch. »So ist das Leben da draußen, mein Kätzchen«, sagte er zu ihr. »Herzlos. Unwissend. Wild.« Wie gut diese Beschreibung auf Memnon selbst passt, dachte die Zauberin, doch sie teilte die Meinung ihres Herrn nicht. Memnon winkte die Wachen von der Seite des Thronsaals herbei, die die beiden Tiere trennten, indem sie sie an ihren Ketten zuruckrissen. Ein Wächter hieb das noch übrige Fleisch
mit seinem Schwert in zwei Portionen und verteilte es unter den beiden Tieren. Memnon ging wieder zu der sitzenden Frau zurück. »Diese Unwissenheit ... diese Barbarei ... ich kann das alles ändern. Warum nennt man mich wohl den Lehrer der Menschen? Ich kann die Barbarei überwinden und die Zivilisation bringen noch zu unseren Lebzeiten. Wie die Prophezeiung es vorherge sagt hat.« Es schien, als habe Cassandra nicht zugehört. Sie erhob sich und trat zu dem Tisch mit den Speisen und Getranken. Sie nahm einen Kelch und schenkte sich Wein ein. Doch ihre Worte verrieten, dass sie sehr genau zugehört hatte. »Ich kenne die Prophezeiung.« »Das solltest du auch«, sagte er und ging zu ihr. »Schließlich war es deine Vision, Cassandra. Wiederhole sie.« »Ihr kennt sie nicht, mein Herr? Denkt Ihr nicht ständig an diese Worte?« »Wiederhole sie!« Sie seufzte. »Wenn die Glocke erklingt und der Donner grollt ... Ein Flammenstern vom Himmel fallt ... Wenn der Vollmond im Haus des Skorpions erstrahlt ... Wird den Hochkönig ehren die ganze Welt.« »Wie süß diese Worte klingen«, meinte er und streichelte ihre Wange mit seinem Handrucken. »Was für eine anmutige Frau du bist. Was für eine Königin du sein würdest. Denn ich bin der König aus jener Legende, Liebste, ein König, den selbst die Götter preisen.« Sie sah ihn an, doch ihr anmutiges Gesicht blieb ausdrucks los. Sie zuckte nicht mit der Wimper und sie sagte nichts. »Wenn jene Zeit anbricht, wenn die Prophezeiung sich erfüllt hat«, fuhr er fort, »sollst du deinen Platz an meiner Seite einnehmen. Auf einem Thron natürlich - und in meinem Bett.« Sie lächelte - ein winziges Lächeln. »Nur eine Jungfrau kann
mit dem zweiten Gesicht gesegnet sein. In Eurem Freudenbett, mein Herrscher, würde ich meine Gabe verlieren. Und Ihr würdet Euren Vorteil auf dem Schlachtfeld verlieren.« Er erwiderte ihr Lächeln und betrachtete ihr vollkommenes Gesicht. »Ah, meine schöne Zauberin - wenn ich König der Welt bin, brauche ich deine Visionen nicht mehr. Alles, was ich dann noch brauche, ist der liebliche Anblick, den du mir selbst bietest.« Memnon fuhr mit seiner Hand ihren nackten Arm entlang, und seine Finger berührten dabei ihr Fleisch nur zart. Doch als er den Gedanken an die Ekstasen genoss, die ihn erwarteten die sie beide erwarteten - , zuckte die Zauberin zurück. Ein Schauder durchfuhr sie, eine Woge des Widerwillens. Sie zog sich von dem Kriegsherrn zurück und streifte dabei den Griff eines Dolchs, der in seinem Gürtel steckte, ohne zu ahnen, dass dies das Wurfmesser war, das einst dem Akkadier Mathayus gehört hatte. Der Kontakt mit einem Gegenstand des Meuchelmörders schuf eine aufblitzende telepathische Verbindung, und eine neue Vision erfüllte ihr Denken, erfüllte ihr ganzes Wesen, und führte sie mit einem Mal in die Wüste, wo sie sah ... ... wie ein magerer Mann mit dürrem Bart neben einem selt samen weißen Kamel daherrannte, und auf diesem Kamel ritt der Akkadier - Mathayus! Also lebte der Meuchelmörder noch! Ist mein Leben noch immer bedroht?, fragte sie sich. Doch sie teilte diese Vision nicht mit Memnon, gleichgültig, ob sie eine Bedrohung darstellte oder nicht - nicht einmal, als er die Überraschung in ihren Augen bemerkte und ahnte, dass sie eine neue Vision gehabt hatte, und fragte: »Was ist?« Stattdessen sagte sie zu ihrem Herrn, dass sie von der Reise erschöpft sei. Memnon suchte im Gesicht der Frau nach einer Täuschung oder einem Trick, doch er sah nichts. Also befahl er ihr, sie
solle sich ausruhen. »Ich brauche dich morgen, wenn meine Generäle zusammen kommen«, sagte er. Sie senkte den Kopf. »Ich danke Euch, mein Herr.« Als sie sich umwandte und sich von ihm entfernte, rief er ihr nach: »Cassandra!« Sie hielt inne, drehte sich aber nicht wieder zu ihm um. Leise sagte er: »Dein Wohlergehen ist von größter Wichtig keit für mich. Das weißt du doch, nicht wahr?« Das war seine Art, dieser Frau zu sagen, dass er sie liebte; nie würde er noch vertraulichere Worte gebrauchen. Es fiel ihm leicht, sein Verlangen zu gestehen und die Lust, die er für sie empfand, viel leichter, als sich zu den zärtlichen Gefühlen zu bekennen, die ihn beschämten. »Ja, mein Herr«, antwortete sie und hasste ihn dabei. »Ihr seid höchst wohlwollend.« Und als sie aus dem Thronsaal glitt, blickte ihr der Kriegsherr lange nach und nahm gierig jede Kurve ihres geschmeidigen Körpers in sich auf, genoss das Wippen ihres dunklen Haares auf ihren schmalen Schultern, das Funkeln ihres Schmucks und die Anmut ihrer Bewegungen. Wie ein Trinker, der dem Alkohl abgeschworen hat, schwelg te dieser starke Mann in der Schwäche seiner Liebe zu ihr, und er sehnte sich nach dem Tag, an dem ihre Reinheit keine Rolle mehr spielen würde, wenn er sie lieben und ihre Reinheit entweihen konnte. Vom Pferdedieb gefolgt und das Kamel am Zügel haltend, blieb Mathayus auf dem Kamm eines felsigen Hügels stehen und betrachtete das Tal, das sich vor ihm ausbreitete - und die befestigte, von Mauern umgebene Stadt, deren große und kleinen Gebäude allesamt von einem festungsartigen Palast überragt wurden. »Das ist also das Haus des eitlen Königs«, sagte der Akkadier
knapp und bitter. »Gomorra«, erwiderte Arpid mit großen, aufmerksamen Augen und nahm den Anblick in sich auf. »Die großartigste Stadt der Welt.« Mathayus konnte nichts Großartiges an ihr finden, nicht einmal am Palast, der für den Meuchelmörder nicht mehr war als ein Kästchen, das er aufbrechen und aus dem er den schur kischen Kriegsherrn herausschütteln wollte. Doch der magere kleine Pferdedieb stimmte noch immer Lobeshymnen auf diesen Ort an und seufzte wie ein Mann, der sich an seinen ersten Kuss erinnert. »Eines musst du wissen, mein Partner. Wenn wir nach einem anstrengenden Tag unsere Beute zählen, gibt es keinen besseren Ort, um sich zu entspan nen, als Gomorra.« Stirnrunzelnd dachte er nach. »Außer vielleicht Sodom.« Mathayus, der bereits den mächtigen Bogen auf seiner Schul ter trug, drehte sich zu Hanna um und holte aus seinen Sattelta schen weitere Waffen: Messer, Pfeile, das Kama und noch einige andere. Das schien dem Dieb einigen Wind aus den Segeln zu nehmen. »Natürlich, Gomorra, das ist schon was, genau«, stammelte Arpid und entfernte sich einen Schritt weit von Mathayus. »Und ich würde mich dir liebend gern anschließen ...« Der Akkadier beachtete den Mann nicht. Genau in diesem Augenblick entfaltete er seinen langen Umhang mit der Kapu ze. Als der Akkadier das Kleidungsstück überwarf, nahm sein Begleiter ein Messer aus einer der Taschen und versetzte mehreren unsichtbaren Angreifern einige Hiebe. »Glaub mir«, sagte Arpid, »ich würde es eigenhändig mit diesen roten Wachen aufnehmen - aber bei dem Preis, der auf meinen Kopf ausgesetzt ist, würde ich es niemals durch die Tore schaffen.« Mathayus drehte sich zu ihm. Jetzt endlich beachtete er den Dieb.
»Oh. Aber ich verlasse mich doch auf dich, mein Partner.« »Ich fürchte, mein übler Ruf würde nur unerwünschte Auf merksamkeit auf dich lenken. Du solltest dich durch die Hintertür einschleichen.« »Wir gehen nach Gomorra, nicht nach Sodom.« »Ich möchte dir wirklich nicht im Weg stehen, Mathayus.« Der Akkadier legte seine kräftige Hand auf die knochige Schulter des kleinen Mannes. »Du wirst uns hineinführen, Dieb. Durch den Vordereingang.« Kurz darauf näherten sie sich dem Tor von Gomorra. Um hang und Kapuze verbargen Mathayus' Gesicht. Er führte das Kamel am Zügel, und der Dieb folgte ihm, wobei er sich hinter Mathayus' mächtigem Körper verbarg. Unter seiner Kapuze hervor betrachtete der Meuchelmörder alles um sich herum mit wachsamen Augen: die hochmütigen Wachen in den roten Turbanen, die sämtliche Besucher über prüften, die in die Stadt kamen, die Ochsenkarren durchsuchten und Menschen und Gepäck argwöhnisch musterten; und die Reihe der Bogenschützen, die auf einem Mauervorsprung stan den und das Tor überwachten. Die Wachen am Boden brauchten nur kurz zu nicken, und schon würden die Schützen jeden Unruhestifter in ein Nadel kissen verwandeln. »Siehst du das, Mathayus?«, flüsterte der Pferdedieb von hinten. »Memnons Stadt ist bis zum Bersten mit Soldaten gefüllt, wie eine satte Zecke mit Blut. Wir müssen umkehren.« »Ich verlasse mich auf dich.« »Das weiß ich, und ich wäre froh, wenn ich etwas für dich tun könnte.« Mit einem breiten, schrecklichen Lächeln wandte sich Mathayus dem Dieb zu: »Oh, natürlich kannst du das.« Und dann hob der Akkadier den Arm, rammte ihn in Arpids Gesicht und schlug ihn bewusstlos. Nur wenige Augenblicke später hing der bewusstlose Dieb
über Hannas Sattel, und der in seinen Umhang gehüllte Akka dier führte das Kamel bei den Zügeln zu den Wachen am Tor. Diese betrachteten ihn misstrauisch, aber weil sie jeden voller Misstrauen ansahen, war das keine große Überraschung. »Was führt dich nach Gomorra?«, fragte ein stämmiger Wachposten. »Ich will das Kopfgeld abholen, das mir zusteht«, sagte Mathayus. Er nickte zu der Gestalt hin, die über dem Sattel des Kamels hing. »Arpid, der Pferdedieb. Ich habe gehört, dass er gesucht wird.« Ein weiterer Wachposten trat nach vorn, hob den Kopf des Diebes bei den Haaren und besah sich dessen Gesicht. Dem schlummernden Arpid schien das nichts auszumachen. »Ich kenne diesen Hund«, sagte der Wächter und stieß ein kurzes, widerliches Lachen aus. »Diesmal werden sie den Bastard köpfen, so viel steht fest!« Mathayus tätschelte den Schädel des Bewusstlosen mit ge spielter Zärtlichkeit. »Und wie viel hübscher er dann aussehen wird, nach dieser kleinen Veränderung.« Die Wachen lachten, denn Mathayus hatte ihren Humor richtig eingeschätzt, und winkten ihn durch das Tor. Kurz darauf stand der Akkadier mitten in einem lärmenden, von Menschen wimmelnden Basar und führte seinen noch immer schlummernden Kameraden durch die exotischen Reihen der Bauchtänzerinnen, Flammenschlucker, Schlangen beschwörer, Feuerläufer und Schwertschlucker. Auf diesem Markt verkauften Händler Obst, Gemüse, geflochtene Körbe und kostbare Teppiche, kurzum, alle Dinge, die die Menschen jener Zeit kannten - und vielleicht auch ein paar, die kurz zuvor noch unbekannt gewesen waren. Schauerliche Spelunken boten Speisen und Getränke an, sofern es einem gelang, die zwielich tigen Gäste zu überleben, und vor einer dieser derben Ka schemmen hielt Mathayus an einem Pferdetrog. Der Akkadier zog den Dieb von seinem Kamel und tunkte
seinen Kopf ins Wasser, wodurch der Mann sofort wieder zu sich kam. »Was ... was«, prustete Arpid, »was ist passiert?« »Dank deiner Geschicklichkeit sind wir an den Wachen vorbeigekommen«, sagte Mathayus. »Du hast uns hineingebracht.« »Ah ja.« Aus dem triefend nassen Haar rann Wasser über sein Gesicht. »Ein Mann, der von seinem Grips lebt, ist schwer zu besiegen.« »Nur allzu wahr«, sagte Mathayus, packte den kleinen Dieb im Nacken, hob ihn hoch und setzte ihn auf einen derben Holzhocker vor der Spelunke. Der Akkadier rief nach dem Wirt. »Einen Krug von deinem besten Wein für meinen reisemüden Freund hier draußen!« Arpid saß einfach nur da und versuchte triefend nass und mit geröteten Augen wieder etwas Haltung zu gewinnen, wahrend Mathayus das Albinokamel an einem Pfosten in der Nahe festband. Vorsichtig nahm er den Beutel mit den Juwelen aus dem Versteck unter dem Sattel und verschnürte die kostbare kleine Tasche sicher an seinem Gürtel. »Pass für mich auf Hanna auf«, sagte Mathayus zu seinem immer noch etwas benommenen Gefährten, der sich nicht von seinem Hocker gerührt hatte. »Du kannst ... kannst auf mich zählen«, erwiderte Arpid und betastete vorsichtig seinen Kiefer, der aus irgendeinem Grund schmerzte. »Immer«, sagte der Akkadier lächelnd und glitt in die chaoti sche Menschenmasse. Der kleine Dieb blieb auf seinem Hocker sitzen. Er blinzelte und gewann seine Aufmerksamkeit mehr oder weniger wieder. »Einen Augenblick«, rief er Mathayus nach, obwohl dieser bereits auf dem von Menschen wimmelnden Markt ver schwand. »Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist diese riesige Faust ...«
Aus der Kneipe kam eine überaus üppige, attraktive Kellnerin mit einem Krug Wem, die eine Art Haremskleid trug. Sie füllte Arpids Glas, der diese verlockende, wenn auch schlampige Erscheinung anstarrte und bereits vergaß, wie würdelos es gewesen war, die Faust des Akkadiers im Gesicht zu spüren. »Bitte sehr, mein Herr«, sagte sie mit einem falschen Lächeln mädchenhafter Unschuld. »Lasst mich wissen, wenn Ihr sonst noch etwas braucht.« Der Pferdedieb seufzte und erwiderte das Lächeln. Wieder schien sein Blick zu verschwimmen, doch jetzt lag das nicht mehr an Mathayus' Faust. »Es ist so angenehm«, sagte er gedankenverloren, »wieder in dieser großen Stadt zu sein.« Unterdessen wand sich der Akkadier durch den Basar, diesen Strudel aus Handel, Sünde und Dekadenz, und näherte sich den Toren des Palastes. »Nur hier gibt es die«, sagte ein Schwertverkäufer, »die bes ten Klingen im ganzen Land. Niemand kann sich in Gomorra Respekt verschaffen, wenn er keine edle Klinge an seiner Seite trägt.« Doch Mathayus war bereits bis an die Zähne bewaffnet und ignorierte das Verkaufsgeschrei auf dem Hauptplatz des Marktes, wo man alles kaufen konnte, von Damast bis hin zu gewissen Damen. Von einem einzigen Gedanken beherrscht, schritt er auf die Zitadelle zu, die Memnons Palast bildete. Schließlich blieb er stehen, stützte die Hände auf die Hüften und sah hinauf zu den schwer bewaffneten Wachen in roten Turbanen, die die Wälle entlang schritten und die Tore dieses wuchtigen Gebäudes sicherten, das einem Schloss und einer Festung zugleich ähnelte. Er war noch damit beschäftigt, das Gelände auszukund schaften, als wie aus dem Nichts eine Gruppe Straßenjungen auftauchte. Der jüngste dieser Burschen war vielleicht sechs, der älteste nicht viel alter als zehn Jahre, und ihre schmutzigen
Gesichter und flinken Fuße schienen überall zu sein, als sie um ihn herumschwirrten und den Straßenstaub aufwirbelten. »Einen Führer, edler Herr?«, fragte einer. »Ihr braucht einen Führer, edler Herr«, sagte ein anderer. »Um Euch in Gomorra zurecht zu finden«, schnatterte ein dritter. Mathayus kniete nieder und winkte den Anfuhrer der schmut zigen Truppe mit seinem Finger zu sich. »Du, Junge - bist du als Führer so geschickt, dass du mir einen Weg in den Palast zeigen kannst?.« Dunkle Augen funkelten im schmutzigen, dunklen Gesicht. »Ein geschickter Führer wurde das nicht tun, edler Herr - oder er würde selbst eine Führung bekommen: durch die Verließe Memnons.« Die kleine Horde der Straßenjungen lachte wie eine krei schende Elster, und Mathayus lächelte sie an, als sich plötzlich einer an seine Seite heranschlich und mit einem einzigen Aufblitzen einer Stahlklinge den Beutel Rubine vom Gürtel des Akkadiers schnitt. Der kleine Übeltäter rannte davon und Mathayus schoss hinter ihm her, doch die anderen Burschen stoben ebenfalls lachend davon und holten den Jungen mit dem Beutel ein; blitzschnell wechselte die Beute von einer Hand in die andere, bis der Akkadier schließlich nicht mehr erkennen konnte, welcher Junge die Rubine hatte. Nur aufgrund einer Vermutung verfolgte er einen der kleinen Diebe, wand sich zwischen Marktbuden hindurch, stürzte Holzkarren und Tische mit Früchten und Gemüse um und bekam den Jungen schließlich zu fassen. Er packte ihn bei den Fußen, wirbelte ihn durch die Luft, hielt ihn kopfüber vor sich hin - hatte Arpid einst so angefangen? - und schüttelte ihn. Ein paar Münzen fielen aus den Taschen des Kindes, der Beutel allerdings nicht. Verängstigt deutete der Junge auf einen anderen, älteren
Burschen. Der mochte vielleicht zwölf Jahre alt sein, und er schoss mit beeindruckender Geschicklichkeit zwischen den Marktbuden hindurch. Grob ließ der Akkadier seinen Gefange nen zu Boden fallen und verfolgte nun den älteren Jungen - und musste sofort entdecken, dass ein weiterer dieser Burschen an ihm vorbei in die entgegengesetzte Richtung rannte. Die akrobatische Straßenbande hatte es geschafft: Der Akka dier wusste nicht mehr, wohin er sich wenden sollte. Er hielt in seinem Lauf an, lehnte sich an einen Karren und versuchte, sich zu konzentrieren. Aus seinen Augenwinkeln sah er eine aufflackernde Bewegung, seine Hand schnappte nach vorn, und er bekam einen Jungen zu fassen, der in diesem Augenblick hinter dem Wagen vorbei schoss. Er krallte sich im Hemd des Straßenjungen fest, riss ihn von den Füßen, hob ihn direkt vor sein Gesicht und sah in die dunklen, hin und her huschenden Augen des Kleinen. Das Kind schenkte ihm ein Schafsgrinsen, streckte seine Hand aus - und reichte ihm den kostbaren Lederbeutel. Mathayus nahm sein Eigentum wieder an sich, setzte den Jungen ab und befahl ihm mit hartem Blick, sich nicht zu rühren. Nachdem Mathayus den Beutel wieder an seinen Gürtel gebunden hatte, packte er den Kiefer des Jungen, druckte ihn auf, griff ihm mit den Fingern seiner anderen Hand in den Mund - und zog einen Rubin heraus. Das Kind zuckte mit den Schultern und lächelte. Man kann doch einem kleinen Jungen nicht vorwerfen, wenn er's versucht, oder? Mathayus lächelte ebenfalls und hob den funkelnden Edel stein hoch. »Wie würde es dir gefallen, diesen hier zu behal ten?« Der Junge nickte begeistert. Mathayus warf einen vielsagenden Blick auf den hoch aufra genden Palast. »Als Dieb warst du nicht besonders gut. Ich hoffe, dass du
dich als Führer besser eignest.«
Haremsflirt
Die hohen Gärten in Memnons Palast leuchteten üppig und golden in der untergehenden Sonne, die vor ihrem unmittelbar bevorstehenden Verschwinden schwertartige, funkelnde Lichtstreifen aussandte, welche von den Marmorpfaden zurückgeworfen wurden. Diese Pfade führten zu einer kleinen, in der Mitte der Gärten gelegenen Arena, von der aus man auf einer Seite die Stadt überblicken konnte. Hier hielt Memnon Hof, und er wirkte dabei trotz seiner einfachen, dunklen Lederrüstung wie ein König; doch er ließ niemanden in den Genuss seiner Weisheit kommen, plante weder den weiteren Verlauf des Krieges, noch beschäftigte er sich mit anderen Staatsangelegenheiten. Vielmehr trainierte er hier vor seinen Soldaten und Höflingen seine beträchtlichen kämpferischen Fertigkeiten, denn er hatte keine Angst davor, seine Kampf kunst vor ihren Augen auf die Probe zu stellen. Er wusste, er würde nicht versagen. Genau in diesem Augenblick kämpfte Memnon, der in jeder Hand einen Kampfstock hielt, mit einem Meister der Kampf kunst, der mit den gleichen Waffen ausgerüstet war. Der Meister stammte aus dem Osten und war vor einigen Monaten als Mitglied einer Expedition hierher gekommen, die für Memnons Hofmagier Philos einige überaus seltene Mittel und Gerätschaften hatte beschaffen sollen. Der orientalische Meister, dessen Kopf rasiert und dessen geschmeidiger Körper unter den umherwirbelnden Roben nicht zu fassen war, hatte Memnon in zahlreichen Kriegskünsten
unterrichtet, und dazu gehörte auch diejenige Art des Kampfes, in dem sie sich in diesem Augenblick gegenüberstanden. Jetzt allerdings war die Zeit gekommen, wo der Große Lehrer den Meister unterrichten musste. Memnon griff den kleineren Mann an, indem er die Kampf stöcke in solch schwindelerregendem Tempo herumwirbeln ließ, dass die Höflinge und Soldaten beim Zuschauen die Augen weit aufrissen. Mit brutaler Leichtigkeit entwaffnete der Kriegsherr den Meister und schlug ihn zu Boden. Auf die übliche orientalische Etikette - Verbeugungen und dergleichen mehr, die Memnon für amüsant, aber unangemessen hielt wurde verzichtet, als zwei Soldaten den verletzten Meister davonschleiften, während der verzückte Applaus der Höflinge erklang. Nickend gab Memnon einem Bogenschützen mit gestutztem Bart und nackter Brust, der einen roten Turban trug, das Zeichen, die nächste Probe seiner Geschicklichkeit zu begin nen. Der muskulöse Bogenschütze nahm einen gewaltigen Bogen aus einer großen, mit kunstvollen Schnitzereien verzier ten Waffentruhe, in der zahlreiche Pfeile und Bögen lagen. Memnon warf die beiden Kampfstöcke weg, die sofort von zwei Sklaven aufgehoben und davongetragen wurden, und dann schritt er in die Mitte des hofartigen Gartens. Weit streckte er die Arme aus, als wollte er einen guten Freund begrüßen. Dann bewegte er mit immer noch durchgedrückten Armen langsam die Hände vor seiner Brust aufeinander zu, bis seine offenen Handflächen vielleicht noch dreißig Zentimenter voneinander entfernt waren. Der Blick des Kriegsherrn traf den Blick des Bogenschützen. Die Höflinge holten tief Luft, ein erstauntes und verängstigtes Murmeln ging durch ihre Reihen. Die ausgestreckten Arme des Großen Lehrers bildeten eine imaginäre Route, die der Pfeil des Bogenschützen nehmen würde. Hatte Memnon tatsächlich die Absicht ...?
Genau diese Absicht hatte er. Der Kriegsherr behielt ebenso ruhig seine Position bei, wie seine Augen den Bogenschützen fixierten, der die Sehne spannte. Zur gleichen Zeit gesellte sich ein neuer Gast zu den ver sammelten Zuschauern. Er befand sich auf einem Balkon, der den hofartigen Garten überblickte. Mathayus war aus einem kleinen Gang in einem Turm auf diesen Balkon gelangt. Mit zusammengepressten Lippen lächelte er seinem Führer, dem Straßenjungen, zu, als er ihm den versprochenen Rubin gab. Der grinsende Junge umschloss ihn blitzschnell mit seiner Faust und verschwand in die Richtung, aus der sie beide gekommen waren. Der Akkadier kroch bis an die Brüstung des Balkons, legte eine Hand auf den Sandsteinsims und warf einen vorsichtigen Blick auf die Szene, die sich unter ihm abspielte. Zunächst begriff er die möglicherweise tödliche Übung nicht, die Memnon hier arrangiert hatte. Der Akkadier begriff nur, dass sich der Kriegsherr, sein Ziel, endlich in seiner Reichweite befand. Die unterschiedlichsten Gefühle durchströmten Mathayus: Freude über seinen Erfolg und Wut darüber, den Mann vor Augen zu haben, der seine beiden akkadischen Brüder abge schlachtet hatte. Doch als er seinen fast unkontrollierbaren Zorn bezähmt hatte und die leidenschaftslose Haltung annahm, die ein profes sioneller Meuchelmörder zur Ausübung seiner Kunst benötigte, erahnte Mathayus schließlich das bizarre Spiel, das hier offen sichtlich gespielt werden sollte. Einen kurzen Augenblick lang fragte er sich, ob Memnon einem Scharfrichter gegenüberstand. Hatte eine Palastrevolte den Versuch des Meuchelmörders, sich zu rächen, bereits zunichte gemacht? Dann wurde ihm klar, dass der überhebliche, stolze Memnon sein Leben riskierte, um seine Männer zu beeindrucken und
seine übermenschlichen Fähigkeiten zur Schau zu stellen. Und Mathayus konnte die Absurdität, die Aufgeblasenheit einer solchen Selbstherrlichkeit kaum fassen. Unter ihm waren die Wachen mit den roten Turbanen und die Höflinge sprachlos und voll Ehrfurcht für ihren Herrn und Meister. Memnon nickte. Und der Schütze schoss den Pfeil ab. Mathayus zuckte entsetzt zurück, als er sah, wie Memnon ohne mit der Wimper zu zucken blitzschnell die Hände schloss und den Pfeil abfing - nur wenige Zentimeter von seinem Brustpanzer entfernt, der dem Herzen des Kriegsherrn niemals ausreichend hätte Schutz bieten können. Der Große Lehrer nickte dem Bogenschützen zu. Dieser erwiderte die Geste, doch er verbeugte sich tiefer dabei, und im Hof erscholl Applaus. Mathayus klatschte nicht. Er legte seinen eigenen Pfeil an seinem mächtigen Bogen an, und seine Lippen waren so straff wie die Bogensehne, denn er wusste, dass sogar ein Mann von Memnons Geschicklichkeit einen Pfeil nicht fangen konnte, den er nicht kommen sah. Nun, er konnte ihn jedenfalls nicht mit seinen Händen abfangen. Doch als Mathayus auf seine Nemesis zielte und den Mann präzise und genüsslich ins Auge fasste, gab es unter ihm eine Bewegung, die ihn ablenkte. Der Akkadier achtete nicht weiter auf diese Unterbrechung, konzentrierte sich erneut, fixierte ruhig sein Ziel, richtete die Waffe aus, zog die unglaublich straffe Bogensehne zurück und dachte: Durch den Hals, das wäre ein guter Schuss... ... als unten plötzlich zwei Wachen in roten Turbanen einen sich windenden Gefangenen herausbrachten und vor Memnon schleiften. Weil sich der Akkadier so weit oben befand, wurde sein Ziel allerdings nicht verdeckt, und zunächst hatte er vor, wie geplant zu schießen.
Doch dann erkannte er den Gefangenen. Es war der Junge! Der Straßenjunge, der ihm geholfen und ihn durch eine Hin tertür genau in den richtigen Turm geführt hatte, sodass er hier seine Position beziehen konnte. Verdammt! Jetzt verdeckten die Wachen, die den Jungen nach vorn zerr ten, dem Meuchelmörder immer wieder die Sicht, und er hielt inne. Mit schmerzenden Muskeln hielt er noch immer die straffe Bogensehne gespannt, war bereit zu feuern und wartete darauf, endlich feuern zu können. Doch jetzt zeigte einer der Wächter Memnon den Rubin, den er offensichtlich bei dem Jungen gefunden hatte. »Warum verschwendet ihr meine Zeit?«, sagte Memnon wütend zu den Wachen, wobei er jedoch dem Kind direkt ins Gesicht sah. »Warum stellt ihr meine Geduld auf die Probe? Ihr kennt die Strafe für Diebstahl.« Die Wachen zerrten den Jungen zu einem Tisch in der Nähe und zwangen ihn, seinen kleinen Arm auszustrecken. Aus der hinteren Reihe Wachen mit den roten Turbanen trat ein stäm miger Mann vor, der eine große Axt in den Händen hielt. Die Klinge funkelte im schwindenden Sonnenlicht, und der Akka dier blinzelte auf seinem Beobachtungsposten. Der Mann hob die Axt, und Mathayus, der frustriert und mit düsterem Gesicht leise fluchte, suchte sich ein neues Zeil und schoss. Die Kraft von Mathayus' Arm, die Geschwindigkeit des Pfeils, sein massiver Schaft und seine rasiermesserscharfe Spitze erfüllten ihre Aufgabe: Der Pfeil traf den Griff der Axt mit voller Wucht und riss sie aus den Händen des Wächters. Krachend wurde sie in einen Baum geschleudert, wo die Klinge surrend im Holz stecken blieb. Alle Blicke wandten sich dem Balkon zu, wodurch der Junge fliehen konnte, doch die Anwesenheit eines Eindringlings löste
sofort Alarm aus. Mit theatralischen Gesten stürzte sich die Hälfte der Wachen auf ihren Herrn und Meister zu und drängte ihn aus dem Garten, während die andere Hälfte die Verfolgung aufnahm. Den Bogen über der Schulter und den Krummsäbel in der Hand, rannte der Akkadier den Gang hinab, der vom Balkon wegführte und an dessen Ende er einen kleinen Eingang entdeckte. Er stürzte in den dahinter liegenden Korridor, drückte die erste Tür, die er fand, mit der Schulter auf und schob sich in ein Zimmer. Er schloss die Tür und sicherte sie mit einem Holzbalken, der zuvor glücklicherweise den Eingang noch nicht versperrt hatte. Dann drehte er sich schwer atmend um und betrachtete seine neue Umgebung - und die war höchst ungewöhnlich. Mathayus hatte dergleichen noch nie gesehen, und deshalb erkannte er auch nicht, dass er sich in einem primitiven, aber viel versprechenden Labor befand, in dem überall seltsame und phantasievolle Erfindungen standen, die man in viel späterer Zeit wohl mit denen da Vincis verglichen hätte. Das größte dieser Werke war eine Waffe, die Mathayus noch nicht kennen konnte, denn sie war erst kürzlich von dem Mann erfunden worden, der in dieser Kammer hauste: Es handelte sich um ein großes Holzkatapult. Auf roh gezimmerten Holztischen brodelten und quollen verschiedene farbenprächtige Tränke und Mixturen, die von mehreren Öllampen zum Kochen gebracht wurden. Mathayus kannte die chemischen Gerüche nicht, die die bescheidene Kammer erfüllten, und seine Nase zuckte wie die eines Kaninchens. Dann reagierte eine der Phiolen, die über den Flammen koch ten, und gab ein leises, aber beeindruckendes Zischen von sich, das sich schließlich in eine kleine Explosion verwandelte, bei der beißender Rauch ausgestoßen wurde. Wie gesagt, Mathayus war so mutig wie nur irgendein Krie ger seiner Zeit; doch solche Hexenkrafte waren diesem außer
ordentlichen Mann unheimlich, denn er hatte nie etwas anderes gelernt, als zu kämpfen. Deshalb sah er sich nach einem Fluchtweg um, als jemand in dem immer dichter werdenden Rauch zu husten begann. Der Akkadier wirbelte herum, und als eine Gestalt aus dem chemischen Nebel auftauchte, stieß der Krieger seinen Krummsabel nach vorn und brachte den anderen Mann mitten in seiner Bewegung zum Stehen. Mathayus tötete diese exzent risch aussehende Kreatur jedoch nicht, sondern hielt sie an Ort und Stelle fest, indem er die Spitze seiner Klinge an die Kehle des Mannes legte. Der Mann war klein, hatte ungekämmtes weißes Haar, und eine wenig beeindruckende Robe hing an seinem mageren Korper herab. »Was für ein Gestank, mein Herr! Der Preis des Fortschritts. Ich bin Philos! Kann ich Euch helfen?« Mathayus sah in die arglosen Augen dieses merkwürdigen kleinen Kerls und wusste sofort, dass er es wagen konnte, ihm zu vertrauen. Jedenfalls stellte der Magier - denn um einen Magier musste es sich bei diesem seltsamen Burschen wohl handeln - keine Gefahr dar. »Ich muss einen Weg finden, hier rauszukommen«, sagte Mathayus offen. Doch bevor sein Gegenüber antworten konnte, wurden beide von heftigen Schlägen gegen die verriegelte Tür unterbrochen, und derbe Stimmen riefen: »Aufmachen! Mach auf da drin!« Mit erhobenem Krummsäbel wirbelte der Akkadier herum, bereit zum Kampf. »O nein«, erwiderte Philos. »Nur zu«, hielt Mathayus dagegen, der immer darauf vorbe reitet war, gut zu sterben, »mach die Tür auf.« »Nein! Nein, nein, nein. Ich will nichts davon wissen. Hier gibt es keine Gewalt. Kommt, da entlang.« Nur wenige Augenblicke später öffnete Philos die Tür und bat diejenigen, die gerade gerufen hatten, mit freundlichen Gesten
herein. Unter der Führung des entsetzlichen Thorak stürzte ein Trupp Wachen in roten Turbanen in den Raum. »Oh«, stöhnte Philos. »Thorak. Musst du dich in jedem Au genblick deines Lebens wie ein Vieh verhalten? Kannst du mich nicht in Ruhe lassen?« »Wenn es nach mir ginge, Magier, könntest du schon längst die ewige Ruhe genießen«, entgegnete Thorak, als seine Männer das chaotische Labor zu durchsuchen begannen, wobei sie Philos' kostbare Erfindungen mit brutaler Rücksichtslosig keit behandelten. »Bitte!«, sagte Philos. »Seid vorsichtig damit!« »Hüte deine Zunge«, knurrte Thorak. »Gerade heute solltest du meine Geduld nicht auf die Probe stellen.« »Nur heute nicht? Wie ungewöhnlich«, flüsterte Philos. Der narbengesichtige Thorak ging zu einem Tisch, auf dem mehrere Experimente vorbereitet worden waren, und griff nach einer Schale mit einem schwarzen Pulver. Mit den Fingern nahm er eine Prise der Substanz und roch daran. »Sei vorsichtig!«, schrie Philos. »Das ist äußerst gefährlich! Magisches Pulver aus China.« Thorak grinste den Magier höhnisch an und blies das Pulver in die Flamme einer in der Nähe stehenden Kerze. Es gab ein kleines, nicht allzu beeindruckendes Puffen, was dem riesigen Anführer der Wachen ein weiteres höhnisches Grinsen entlock te. Philos zuckte mit den Schultern. »Nun ja, ich habe die richti ge Zusammensetzung wohl noch nicht herausgefunden.« Verachtung erfüllte Thoraks Gesicht, als er mit seiner mäch tigen Hand die Schale mit dem Pulver auf den harten Boden stieß, wo sie zersprang. Dann trat der narbengesichtige Wächter drohend so dicht an den kleinen Magier heran, dass sein Brustpanzer dem schmäch tigen Kerl über die Nase kratzte. »Du hast Glück, dass Mem non, unser Herr, an deiner Magie Gefallen findet.«
»Ich nenne es lieber Wissenschaft.« »Wissenschaft, von mir aus. Nenn es, wie du willst. Es ist sowieso nur Schwindel.« Die Wachen wandten sich schulterzuckend an ihren Führer. Sie hatten niemanden gefunden. Thorak sah sich ein letztes Mal im Zimmer um und ging dann zu dem Katapult, dessen Spannbalken mit einer Plane abgedeckt war. Philos beeilte sich, Thoraks Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. »Du und ich - wir müssen unsere Meinungsverschiedenheiten überwinden. Wir beide haben denselben Herrn. Jeder von uns dient Memnon auf seine eigene Art.« Thorak trat wieder auf den Magier zu - oder den Wissen schaftler, je nachdem. »Der Tag wird kommen, kleiner Mann, an dem der Große Lehrer von dieser Idiotie genug hat. Und ich werde zusehen, wie deine Knochen in der Sonne bleichen.« Philos schluckte. »Auch ich wünsche Euch einen guten Tag, edler Herr.« Thorak stolzierte hinaus, und die Wachen folgten ihm, doch er wartete, bis sie alle an ihm vorbeimarschiert waren, sodass er selbst die Tür zuschlagen konnte. Wieder sicherte sie Philos mit dem Holzbalken. Er lauschte auf die verklingenden Schritte, und dann sagte er: »Wir scheinen wieder allein zu sein. Endlich.« Mathayus warf die Plane ab. Er hatte sich in der Wurfschale des Katapults zusammengekauert. Zunächst rührte er sich nicht und genoss die wenigen Augenblicke der Ruhe. Schon bald würde er sich wieder in Bewegung setzen müssen. »Danke«, sagte der Akkadier zu dem Wissenschaftler. Der kleine Mann seufzte kopfschüttelnd und ging zu seinem Gast, wobei Trauer und sogar Angst in seinem Gesicht zu erkennen waren. »Die Zeiten sind düster, mein Freund«, meinte er. »In Mem nons angeblicher Zeit des Friedens sind mehr Köpfe gerollt als
in meinem ganzen übrigen Leben, selbst in Kriegszeiten.« »Ich werde deine Freundlichkeit nicht vergessen, alter Mann.« Wieder seufzte Philos schwer, doch er brachte ein Lächeln zu Stande. »Wie kann man sich selbst noch ins Gesicht sehen, wenn man seinen Nächsten einfach dem kalten Wind aussetzt?« Und dann hockte sich der Wissenschaftler unten auf das Katapult, lehnte sich zurück gegen den Spannhebel, entriegelte so den Wurfbalken ... ... und schleuderte Mathayus mitten durch das Fenster hinaus in die Luft. »Nun ja«, sagte Philos, stand auf und legte die Finger an die Lippen. »Er hat schließlich gesagt, dass er hier raus wollte.« Mit weit aufgerissenen Augen flog der Akkadier dahin, kein Vogel schwebte so elegant über die Türme und Minarette des Palastes. Aber noch während er die Aussicht genoss, wusste er auch, dass jeder Vogel eleganter landen konnte als er. Es sei denn, er hatte viel, viel Glück. Er hatte es, auch wenn ein nicht so kräftiger Mann sich ge wiss verletzt hätte, als Mathayus auf der Rückseite einer hohen, massiven Mauer hart auf einer Markise aufschlug, die schräg unter ihm wegsackte, wodurch er wie auf einer Rutsche herabsauste und schließlich durch filigrane, mit kunstvollen Schnitzereien verzierte Fensterläden krachte. Diese führten in eine Kammer, deren Bedeutung ihm schon sehr bald klar werden sollte. Der Akkadier sah ziemlich mitgenommen aus, als er in einem Haufen gesplitterten Holzes auf dem Fußboden saß, doch er war froh, dass sein Bogen die Reise unbeschädigt überstanden hatte. Er befand sich in einem großen, runden Raum, von dessen Decke Draperien aus Satin hingen. Der Marmorboden war mit zahlreichen Kissen bedeckt, die um einen kleinen, aber
kunstvoll gestalteten Springbrunnen angeordnet waren. Seitlich davon befand sich ein riesiger Gong, der wirkte, als hielte er Wache. Nichts davon konnte den Akkadier jedoch so sehr beein drucken wie die Bewohnerinnen dieses zugleich einfachen und üppigen Gemachs. Wie gebannt starrte er sie an. Er war von mindestens einem Dutzend wunderschöner Frauen umgeben. Sie saßen auf den Kissen um den Springbrunnen oder streiften gedankenverloren durch das Gemach. Sie trugen die reizende, spärliche Kleidung von Haremsmädchen - und das waren sie offensichtlich auch. Er betrachtete sie voller Erstaunen: So viele Schönheiten waren hier an einem Ort versammelt und boten sich ihm dar wie ein überreiches Bankett zauberhafter weiblicher Reize. Einen Augenblick lang fragte er sich, ob er beim Aufprall auf die Fensterläden gestorben war und sich jetzt im Paradies befand; oder ob er bewusstlos war, im Sterben lag und einen letzten süßen Traum genoss, bevor er in die Unterwelt hinab steigen musste. »Ein Mann!«, zwitscherte das Mädchen, das ihm am nächsten saß. Mathayus legte die Hand auf ihren hübschen Mund. »Still«, bat er. Dann wurde ihm klar, dass sie ihn ebenso verwundert anstarr ten wie er sie. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, warum, denn ihm war nicht klar, welch faszinierendes Exemplar der Spezies Mann er für diese attraktiven jungen Frauen darstellen musste. Er nahm seine Hand von dem Mund des Mädchens. Sie gab keinen Laut von sich. Gut. Er erhob sich, zog seinen Krummsäbel und sah sich um. »Wo sind wir hier?« Ein anderes Mädchen flüsterte: »In Memnons Harem natür lich.« Und plötzlich kamen sie von allen Seiten auf ihn zu, ein
einziger anmutiger Schwarm Mädchen. »Doch das würde man niemals vermuten«, sagte eine andere. »Unser Herr besucht uns so selten.« Ein weiteres entzückendes Geschöpf beschwerte sich: »Es scheint, er hat Wichtigeres zu tun.« Eine andere streichelte den nackten Arm des Meuchelmör ders. »Immer ist er fort auf seinen Feldzügen. Für uns hat er keine Zeit. Wir sind so - einsam hier.« Das Mädchen, das zuerst gesprochen hatte, sagte: »Wir seh nen uns nach der Berührung eines Mannes«, und zart nahm sie seine freie Hand - die andere hielt den Säbel - und führte sie an eine ihrer vollen, festen Brüste. Ohne darüber nachzudenken, umfasste er die Brust, und das Mädchen bedeckte seine Hand mit ihrer Hand und hielt sie dort fest. Sie kreischte vor mädchenhaftem Vergnügen, doch er zog seine Hand weg und erwiderte: »Du bist wunderschön, aber das ist kein guter Zeitpunkt.« »Welcher Zeitpunkt könnte denn besser sein?«, entgegnete eine von ihnen, und ihre Augen funkelten über dem Schleier, der ihre Lippen bedeckte. »Es könnte wundervoll werden«, sagte eine andere, und sie alle umringten ihn, drängten sich an ihn und riefen: Bleib hier! Bleib bei uns! Welche Genüsse wir dir bereiten können! Wir wissen, wie man einem Mann Genuss verschafft! Sie umschwirrten ihn und zogen ihm die Kleider aus, und er war wie betrunken von ihrem Anblick, ihren Düften und den exotischen Freuden, die um ihn zu schweben schienen wie schimmernde Träume. Obwohl er ein großer Krieger war, war er schließlich auch noch ein Mann - und nur ein Mann -, und er bemerkte nicht, dass sie ihn in Wirklichkeit entwaffneten und seine Dolche aus seinem Gürtel zogen. Er spürte nicht, wie der mächtige Bogen und der Köcher nicht mehr um seine Schulter hingen, die ein anderes Mädchen von seinem Rücken gestreift hatte.
»Bleib bei uns«, schnurrte eine Grünäugige, »und deine wildesten Phantasien sollen Wirklichkeit werden.« Dann riss ihm eine der Frauen in einer plötzlichen, fast wil den Bewegung den Krummsäbel aus der Hand, während ein paar Schritte entfernt eine andere an einer großen Troddel zog und den mächtigen Gong ertönen ließ, dessen hallender Klang die ganze Welt zu erfüllen schien. Und diese süßen Haremsmädchen verwandelten sich in hin terhältige Kreaturen; noch immer hatten sie nichts von ihrer Anmut verloren, doch jetzt krallten sie sich an ihm fest und kratzten und bissen ihn wie ein Haufen gefräßiger Wildkatzen. Mit einer raschen Bewegung schwang Mathayus die Arme in die Höhe und befreite sich von ihnen, wobei er sie in alle Richtungen davonschleuderte wie Stoffpuppen, und ein hübsches Hinterteil nach dem anderen landete schief auf den verstreuten Kissen. Seinen Säbel und mehrere Dolche besaß er bereits wieder aber noch nicht seinen mächtigen Bogen -, als ein halbes Dutzend Bogenschützen in den Harem stürmte, an ihrer Spitze der brutale Thorak. Thoraks Narben wurden weiß vor Überraschung und Wut. »Es ist der Akkadier! Er lebt! Aber nicht mehr lange. Tötet ihn!« Als die Bogenschützen ihre Pfeile abschossen, duckte sich der Meuchelmörder hinter den riesigen Gong. Mit einem Hieb seines Krummsäbels durchtrennte er die Seile, mit denen die goldene Scheibe an ihrem Podest befestigt war, und dann stützte er sich dagegen wie gegen einen riesigen Schild. So schnell er konnte, rollte er den Gong durch den Raum, wobei er sich dahinter versteckte, während von der anderen Seite die Pfeile einschlugen und über das Metall tanzten. Er erreichte den Eingang, der Gong schoss krachend durch die geschlossenen Haremstüren und gab ohrenbetäubende Klänge von sich.
Als die Wachen in den Korridor stürmten, ließ Mathayus seinen goldenen Schild von einer Seite zur anderen kreiseln, so dass die Pfeile keinen Schaden anrichten konnten. Am Ende des Gangs tauchte der Akkadier hinter der sich drehenden Scheibe weg, die mit einem gewaltigen Lärm zu Boden fiel, während er eine Tür aufriss und in das nächstgelegene Zimmer stürzte. Er schloss die Tür mit einem Knall und verrammelte sie mit einer reich geschmückten Truhe. Wieder befand er sich in einem seltsamen Raum dieses Palastes. Er sah sich um und versuchte, sich zurechtzufinden. Dies hier war kein magisches Gemach - oder vielleicht doch. Er stand in einem Raum aus goldfarbenem Sandstein, der mit Hieroglyphen geschmückt war, die irgendwie weiblich wirkten, und dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch den angeneh men Duft nach Ölen und Blumen und Weihrauch. Er wusste sofort, dass er sich in einem der Zimmer Cassandras befand; nicht in ihrem Schlaf- oder Wohnzimmer, nein. Sondern in ihrem Bad. Und er wusste, dass es der Zauberin gehörte, weil Cassandra selbst in einem großen Becken lag und ihr lieblicher Kopf und eine Schulter aus dem Wasser ragten, das mit Rosenblüten bestreut war. Ihre mandelförmigen Augen öffneten sich weit, denn obwohl sie eine Prophetin war, hatte sie nicht vorausgesehen, dass er in einem ihrer Räume auftauchen würde. Sie war sprachlos vor Überraschung. Doch das war er auch. Den größten Teil des Bodens in diesem nicht allzu großen Zimmer nahm das riesige Becken ein, und die Dienerinnen, die die Zauberin vom Beckenrand aus umsorgt hatten, waren überhaupt nicht sprachlos. Sie kreischten wie verschreckte Kinder und rannten in die angrenzenden Zimmer ihrer Herrin. Rasch gewann Cassandra ihre königliche Haltung wieder, als
sie aus dem von Rosenblüten bedeckten Wasser stieg und die feuchte Mähne ihres langen, dunklen Haars zurückwarf, wobei jeder Zentimeter ihres goldenen, wohlgeformten Körpers zu sehen war, die vollkommenen Brüste, die schmale Taille, die elegant geschwungenen Hüften; über ihre makellose Haut glitten Wassertropfen wie Perlen, und keines ihrer weiblichen Geheimnisse blieb verborgen. Sie stützte die Arme auf die Hüften, und mit erhobenem Kinn und aufragenden Brüsten stand sie vor ihm. Keine andere Frau genoss so ungezwungen ihre eigene Schönheit. Sie fragte: »Nun, Meuchelmörder, wirst du mich töten oder einfach nur anstarren?« Mathayus seufzte. Zuerst die Haremsmädchen, und jetzt das. »Immer diese schwierigen Entscheidungen«, sagte er. Dann pochte jemand an die Tür, rammte gegen die Tür, genau genommen. Die Wachen schrien und taten ihr Bestes, sich ihren Weg in das Zimmer zu bahnen. Plötzlich rief ihn Cassandras Stimme, doch aller Trotz und aller Stolz waren verschwunden. Ein süßer, mystischer Klang ertönte, als wehte eine freundliche Brise über die Landschaft seiner Seele. »Akkadier, Akkadier ...« Er runzelte die Stirn und sagte so leise, dass es angesichts des Lärms, mit dem die Tür aufgebrochen wurde, fast nicht zu hören war: »O nein, Hexe. Diesmal nicht.« Er riss sie mit sich, als er in das Becken sprang, und ver schwand unter der Decke der Rosenblüten, die auf dem Wasser dahintrieb. Cassandra schrie auf vor Überraschung, doch nur kurz, es war kaum mehr als ein Japsen, und schon tauchte auch sie unter die Rosen hinab. Es dauerte noch einige Augenblicke, bis die Wachen schließ lich durch die Tür brachen, und als sie in das Zimmer traten, schwebten die Rosenblüten wieder ruhig auf dem Wasser, und niemand schien mehr im Bad zu sein.
Mit gezücktem Schwert schritt Thorak das Zimmer ab und sah sich um. Frustriert runzelte er die Stirn. Memnon hatte sich persönlich der Suche angeschlossen, und er betrat den Raum unmittelbar hinter seinem vertrauten Ratgeber. Unter Wasser hebelte Mathayus die Spitze seines Krummsä bels unter ein Eisengitter am Boden des Beckens und drückte es auf. Sofort begann das Wasser durch eine schmale Röhre abzulaufen. Je mehr sich das Becken leerte, umso deutlicher waren die schattenhaften Gestalten unter Wasser zu sehen, und Memnon schrie: »Tötet ihn!« Das Rohr war jedoch so breit, dass der Akkadier und die Zauberin hineingleiten konnten, und er musste sie nicht einmal mit sich ziehen, denn der Sog des ablaufenden Wassers trieb die beiden in die Tiefe. Memnons Wachen kamen zu spät, als sie mit ihren Schwer tern auf das rasch sinkende Wasser einhieben. Mathayus und Cassandra waren verschwunden. Vom Wasser mitgerissen, glitten sie immer schneller den gewundenen Abfluss hinab.
Das Tal der Toten
Philos, der sich selbst so gern als Mann der Wissenschaft bezeichnete, stand am hohen Fenster des Turmes, in dem sein primitives, doch visionäres Labor lag, und sah hinab, um her auszufinden, woher der Lärm kam, der seine Aufmerksamkeit geweckt hatte. Unten versammelte sich eine Phalanx von Wachen, und einer der Männer deutete hinauf zum Fenster des Wissenschaftlers
und schickte dann mehrere gut bewaffnete, rote Turbane tragende Kämpfer los. Sie hatten offensichtlich die Aufgabe, ihn zu holen. »O je«, sagte Philos und blinzelte. »Ich muss wohl annehmen, dass meine Zeit hier beendet ist.« Er holte seine Reisetasche, die er unter einem Holztisch verborgen hatte, und begann, schnell zu packen. Er achtete jedoch darauf, dass er ein gewisses chinesisches Pergament nicht vergaß. Unterdessen saß der magere Dieb Arpid vor dem Zelt eines Weinhändlers auf dem großen Markt von Gomorra und trank. Er war noch nicht völlig betrunken, aber nüchtern war er auch nicht mehr. Als er jedoch die Hörner und Trompeten der Palastwache hörte, die lautstark Alarm schlugen, wurde seine Wachsamkeit blitzschnell geweckt. Arpid seufzte und dachte: Nun - ich habe diesen Narren gewarnt. Er erhob sich und prostete einigen verkommenen Burschen zu, die nichts anderes zu tun hatten, als in den Tavernen herumzuhängen. »Trinken wir auf meinen Freund, den Akkadier. Möge er in Frieden ruhen. Das wenige, was noch von ihm übrig sein mag.« Die Betrunkenen, die Banditen und die übrigen zwielichtigen Gestalten, die um ihn herum saßen, hoben zustimmend ihre Kelche. Sie würden jedem zutrinken, selbst einem Angehöri gen des Stammes der Akkadier, auch wenn jeder wusste, dass diese schon längst von der Erdoberfläche verschwunden waren (bis auf diesen Idioten, der den Trinkspruch ausbrachte, so schien es). Arpid hatte sein neues Glas kaum geleert, als ein Trupp Wachen lärmend und mit gezückten Waffen auf den Basar stürmte. Der Dieb verbarg das Gesicht, bis die Soldaten
vorbeigeeilt waren. Dann stand er auf, verbeugte sich vor seinen erlesenen Gefährten und sagte: »Edle Freunde, es tut mir Leid, doch ich muss nun aufbrechen.« Und er ging. In einer nahe gelegenen Straße unmittelbar hinter dem Marktplatz wuschen Beduininnen Kleider in einem großen Springbrunnen. Schließlich ging das Leben selbst dann weiter, wenn Memnons Soldaten sich in Marsch setzten und in der Stadt lautstark Alarm geschlagen wurde. Ein Kind einer dieser Frauen, ein kleiner Junge, der seine Mutter begleitete, betrachtete eine abgegriffene Münze, die er auf der staubigen Straße gefunden hatte. Der Junge hatte noch nie eine Münze besessen und wusste nicht, was er damit tun sollte, doch als er sich dem Brunnen zuwandte, wurde ihm plötzlich alles klar: ein Wunsch! Der Junge warf die Münze, und als würde sich der Wunsch sofort erfüllen, schoss eine schöne nackte Frau unter einem im Brunnen treibenden Kleidungsstück aus dem Wasser hervor. »Ehre den Göttern!«, sagte der Junge, und für den Rest seines Lebens sollte sein Glaube unerschütterlich bleiben. Cassandra beugte sich schwer atmend über den Brunnenrand, während der Junge mit großen Augen ihre geschmeidigen Formen genoss. Dann tauchte der Akkadier hinter ihr auf und schnappte nach Luft. Der Junge runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, denn diese zweite Erscheinung enttäuschte ihn. Dann bedeckte die Mutter die Augen des Kleinen und zog ihn fort. Immer mehr Menschen kamen herbei, doch sie näherten sich so vorsichtig, dass diesem stattlichen, Fleisch gewordenen Gott und seiner Göttin genug Raum zum Atmen blieb. Schwer atmend mussten sich beide einen Augenblick lang erholen. Sie hatten eine abenteuerliche Schussfahrt durch das Rohr hinter sich, bei der sie schließlich aus einem Mauerloch in eine feuchte Wasserkammer gefallen und dann den Brun
nenschacht hinauf ins Licht und an die Luft gespült worden waren. Jetzt sahen sie wie lebende Statuen aus, die den Brun nen schmückten. Dann drehte sich die Zauberin mit einer heftigen Bewegung zu Mathayus um, während das Wasser noch aus ihren langen Haaren floss und überall auf ihrer goldenen Haut Wasserperlen funkelten. Die gefährliche Lage, in die beide geraten waren, war vorüber, und Cassandra hatte ihre königliche Haltung wiedergewonnen. Ihre Finger mit den langen Nägeln verwan delten sich in Klauen und schossen auf das Gesicht des Akka diers zu. Mathayus packte sie mit festem, hartem Griff an den Handge lenken, während sie vor Wut raste. »Wie kannst du es wagen, mich zu berühren!«, knurrte sie. »Dein Kopf wird auf einem Pfahl stecken, Vögel werden deine Augen aushacken und deine Gedärme werden von der höchsten ...« Er riss sie an sich, als wollte er sie küssen, doch das tat er nicht. Mit fester Stimme, aber so leise, dass die Menge es nicht hören konnte, teilte er ihr seine Botschaft mit. »Zauberin«, sagte er mit süßer Stimme, »ich bin ein Akka dier, der den Auftrag hat, dich zu töten.« Ihre Augen funkelten, und in ihre Wut mischte sich Furcht. »Doch so, wie es jetzt aussieht«, fuhr er fort, »bist du mir von größerem Nutzen, wenn du lebst, als wenn du tot bist.« Sie sagte nichts. Sie reckte ihr Kinn in die Höhe, doch sie zitterte, und das lag vielleicht nicht nur an der Kälte des Wassers. »Ich würde vorschlagen, wir besorgen uns etwas zum Anzie hen«, meinte er. »Nackt fängst du dir noch eine Erkältung ein und noch mehr unerwünschte Aufmerksamkeit.« Von einer der Waschfrauen besorgte er sich für ein paar Münzen Beduinenkleider und Halstücher, und kurz darauf ging der Akkadier mit seiner Geisel auf die großen Stadttore Go
morras zu, die in diesem Augenblick von weniger Wachen gesichert wurden als üblich. Offensichtlich hatte das Alarmsig nal der plärrenden Hörner die meisten Torwächter zu anderen Aufgaben gerufen. Das war auch der Grund, warum niemand den Akkadier und Cassandra, die Zauberin, aufhielt, als sie, in die Kleider und Tücher einfacher Wüstenbewohner gehüllt, an den Wachen vorbeigingen und Gomorra verließen - scheinbar in eine liebe volle Umarmung versunken. Und diese Umarmung wurde dadurch, dass der Meuchelmörder seinen Dolch gegen die Taille der Hexe drückte, nicht weniger intim. Der kleine Pferdedieb und selbst ernannte Partner des Akka diers hatte zuvor bereits von der mangelnden Aufmerksamkeit der Wachen am unterbesetzten Stadttor profitiert. Er führte ein Kamel bei den Zügeln und wirkte überaus respektabel, als er neben einem reichen Kerl dahertrottete, der auf einem Pferd saß. Jenseits der Tore versuchte Arpid den reichen Reisenden in einen Kunden zu verwandeln, indem er ihm die störrische Hanna für nur vierzig Duranas anbot. Der Dieb hatte zwar durchaus selbst Verwendung für ein Reittier - selbst für eines wie Hanna - , doch das Kamel war so störrisch, dass es ihn nicht einmal aufsitzen ließ. Da war es besser, wenn ein anderer versuchen würde, dem Tier ein wenig Verstand einzubleuen, während Arpid sich ein Pferd kaufte, das ein angenehmeres Transportmittel wäre. Selbst wenn sich Arpid dazu noch einmal in die Stadt schleichen musste. Der reiche Reiter ignorierte ihn jedoch. »Sagte ich vierzig Duranas?«, fragte der Dieb bescheiden. »Edler Herr, ich wollte eigentlich dreißig sagen. Habt Ihr solch ein Kamel schon jemals gesehen? Die weißen sind selten, edler Herr.« Keine Antwort.
Und Arpid konnte diese störrische Kreatur kaum mehr weiter ziehen. Er rief seinem potenziellen Kunden zu: »Warum nicht? Der Preis ist so niedrig, das ist fast schon Diebstahl!« Kein Verkauf. »Komm schon, du Sack Flöhe«, sagte Arpid zu Hanna, riss an den Zügeln und tat, was er konnte, damit das Kamel weiterlief. Doch Hannas einzige Reaktion bestand darin, dass sie brüllte. Es war ein lautes, wütendes, blökendes Rufen ... ... dessen Echo sich über die karge Landschaft hinweg aus breitete bis zu der Stelle, an der der Akkadier und seine schöne Geisel in Beduinenkleidern zu Fuß unterwegs waren. »Halt!«, sagte Mathayus zu Cassandra mit erhobener Hand. Sie gehorchte. Der Akkadier lauschte, und der Wind trug ihm ein vertrautes Schnauben zu. Und dann gleich noch eins. Er grinste. »Das ist mein Kamel. Eindeutig.« »Was?« »Still!« Der Akkadier hob zwei Finger an die Lippen und stieß einen lauten, energischen Pfiff aus. Und in der Ferne riss Hanna, die sich von den Bitten und dem Gezerre des Pferdediebs nicht beeindrucken ließ, den Kopf herum und spitzte die Ohren, als sie diesen wohl vertrauten Ton hörte. »Was?« Arpid schüttelte den Kopf. »Was ist jetzt schon wieder los, du räudiges Vieh? He!« Das Kamel warf die Zügel herum, riss den kleinen Dieb von den Füßen und stürmte davon, um dem Ruf seines Herrn zu folgen. Mathayus wartete geduldig, die Hände auf die Hüften ge stützt, und bald darauf grinste er breit, als das Kamel mit klappernden Hufen auf einem nahe gelegenen Hügel erschien. Irgendetwas - oder irgendjemand - wurde von dem Tier mitgeschleift. Mathayus blinzelte, um durch den Sand, den das
Kamel aufwirbelte, erkennen zu können, wer das war. Ah! Der Pferdedieb Arpid, der umbarmherzig an den Zügeln mitgerissen wurde. Das Kamel kam an der Seite seines Herrn zum Stehen, und der Akkadier streckte die Hand aus und kraulte den Hals des Tieres. »Gutes Mädchen«, sagte er und warf Cassandra einen Blick zu. »Siehst du? Sie weiß, wie man sich benimmt.« Die Zauberin verschrankte die Arme, starrte ihn an und blick te dann angewidert zur Seite. Inzwischen war auch Arpids Rutschpartie beendet, er war direkt vor Mathayus' Füßen gelandet. Heftig hustete er den eingeatmeten Sand aus. Als der Dieb wieder sprechen konnte, lächelte er den Akkadier an und brachte dabei etwas zustande, was in zivilisierteren Tagen als überaus gequälte Grimasse bezeichnet werden sollte. »Das ist - wunderbar. Die Götter seien gepriesen.« Der Dieb hustete. »Gerade haben wir nach dir gesucht.« »Ihr habt mich gefunden«, sagte der Akkadier. Arpid erhob sich mit schmerzverzerrtem Gesicht, doch Mathayus half ihm nicht dabei. Als er sich den Sand aus den Kleidern klopfte, entdeckte er schließlich die schöne Frau in ihrer Mitte. »Hm«, meinte er. »Wer ist deine wunderschone Freundin?« »Das ist der Zauberer«, sagte der Akkadier trocken. Der Dieb riss die Augen auf. »Was meinst du damit?« »Genau das, was ich gesagt habe: Das ist Memnons Zauberer. Eine Zauberin.« Er wandte sich an die Frau, wobei er in Richtung Hanna nickte. »Steig auf.« Mit einem resignierenden Seufzen trat die anmutige Dame nach vorn, wobei die locker sitzende Beduinenrobe verführe risch um ihren Körper wehte. »Beeil dich«, sagte der Akkadier. »Es wird bald Nacht.« Sie erlaubte ihm, ihr auf das Kamel zu helfen.
Mit offenem Mund starrte Arpid die Frau an.
»Bei allen Göttern! Du hast den Zauberer des Kriegsherrn
gestohlen. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll.« »Von mir aus kannst du ersticken«, entgegnete Mathayus. »Warum bist du so wütend auf mich, Partner?« Der Akkadier betrachtete das Reittier, um festzustellen, ob mit Hanna alles in Ordnung war. »Du bist mit meinem Kamel weggerannt, du Dieb.« Arpid schlug sich noch etwas mehr Sand aus den Kleidern und erwiderte leicht verärgert: »Mein Freund, wenn du auch nur mit halbem Auge hingeschaut hattest, hättest du erkannt, dass das Kamel mit mir wegrannte.« Mathayus schwang sich hinter der Zauberin in den Sattel; dieses Erzeugnis nomadischer Handwerkskunst bot beiden Platz. Jedenfalls, wenn sie eng beieinander saßen. Dann trieb der Akkadier das Kamel an, und das Tier verfiel in ein gemächliches Traben, wobei der Dieb hinter ihnen zu ruckblieb. Wieder einmal. Er rannte hinterher und rief: »Und nun, mein Partner, mein Freund - wohin gehen wir jetzt?« »In das Tal der Toten«, sagte der Akkadier leichthin.
Arpid runzelte die Stirn und lief plötzlich langsamer.
»Das ...«
»... Tal ...«
»... der ...«
»... Toten. Genau. Du kannst dich uns anschließen, wenn du
willst.« Als der Akkadier und seine elegante Freundin davonritten, hielt Arpid inne. Er starrte hinauf in den Himmel und schrie ihnen hinterher: »Bist du verruckt? Niemand kann das Tal der Toten betreten. Deshalb heißt es ja das Tal der Toten! Lebend gehst du hinein, und dann bleibst du drin. Tot. Sogar Memnons Heer würde es nicht wagen, das Tal zu betreten.« Vom schwankenden Kamelrücken aus warf Mathayus einen Blick zurück auf den Dieb. »Nicht einmal, um seine Zauberin
zurückzugewinnen? Die ihn in seinen Schlachten von Sieg zu Sieg führt?« Einige zögerliche Schritte weit trottete Arpid hinter ihnen her. »Naja ...« »Natürlich würde er das. Memnon würde seine Männer bis ans Ende der Welt schicken, um sie zurückzuholen. Er würde sie in den sicheren Tod schicken, wenn es sein müsste.« Arpid schluckte und eilte ihnen ohne große Begeisterung nach. »Nicht ihr Tod macht mir Sorgen, Partner, sondern unserer. Wie steht's denn damit?« Aber darauf wusste Mathayus keine Antwort und ritt schwei gend weiter. Auch die Zauberin schwieg, und schließlich gab es nichts mehr, was Arpid hätte sagen können. Doch er folgte ihnen. Die Nacht hatte sich über Gomorra gesenkt, und in Memnons majestätischem Thronsaal warteten die beiden wichtigsten Ratgeber auf die Befehle des Kriegsherrn. Der treue Diener Thorak stand aufmerksam da, er hing an jedem Wort, das über die Lippen seines Herrn und Meisters kam, und verschlang jede Bewegung Memnons mit seinen Augen. Der jüngste Neuzugang zu diesem innersten Kreis, der Va termörder Takmet, lümmelte dagegen an einem Tisch herum und nippte an einem Weinkelch, als sei die Katastrophe noch nicht hereingebrochen. Doch natürlich war sie hereingebrochen. Voller Sorgen saß der Große Lehrer auf seinem Thron und betrachtete mehrere Skorpione, die in einer gläsernen Schale durcheinander krochen, welche auf der breiten, steinernen Armlehne des Thrones stand. Er zog den Dolch aus dem Gürtel, den er Mathayus gestohlen hatte, führte ihn wie eine Lanze von oben herab in das Glas und spießte eine der zucken den Arachniden auf. Die Entschiedenheit, mit der der Kriegs
herr das tat, schien nicht so recht zu seinem Gesichtsausdruck zu passen, den er zur Schau trug, während er den Dolch mit dem sich windenden, sterbenden Skorpion hochhob und das Tier mit anscheinend müssigem Interesse betrachtete. »Nimm ein Dutzend deiner besten Männer«, sagte Memnon plötzlich, und Thorak folgte seinen Worten mit gespannter Aufmerksamkeit. Sogar Takmet horchte auf. »Verfolge ihn, töte ihn und bring mir Cassandra wieder.« Thorak verbeugte sich knapp. »Ja, edler Herr.« Memnon zog die dünne scharfe Klinge über den Unterleib des Skorpions, schlitzte ihn bis zum Schwanz auf und beendete den Todeskampf des Tieres. »Schick unsere schnellsten Reiter zu mir zurück, die mir seinen Tod bestätigen sollen«, befahl Memnon. »Und ihre Sicherheit.« Memnon griff in einen Köcher an der Seite des Throns und entnahm ihm einen Pfeil, dessen Spitze er in den Giftsack des toten Skorpions drückte. Er drehte die Pfeilspitze hin und her und tränkte sie mit dem Gift. »Edler Herr«, sagte Takmet und erhob sich schließlich. »In unserem Heer machen Gerüchte die Runde, dass Cassand ra entführt wurde.« Memnon wandte sich mit scharfer Stimme an Thorak. »Stimmt das? Gibt es diese Gerüchte?« Der narbengesichtige Oberbefehlshaber starrte den anderen Ratgeber an, doch er verbarg, wie sehr er sich darüber ärgerte, dass Takmet sie in Schwierigkeiten brachte. »Ja, edler Herr. Natürlich werden unsere Generäle und Feld offiziere erfahren müssen, dass sie entführt wurde. Wenn sie sie retten sollen.« »Nicht sie werden sie retten - du wirst sie retten. Und die Männer, die dich begleiten, brauchen erst davon zu erfahren, wenn die Zauberin wieder in unserer Obhut ist.«
»Ja, edler Herr.« Der Kriegsherr runzelte die Stirn und dachte nach. »Bring diese Gerüchte zum Schweigen. Töte alle, die ihre verräterischen Zungen nicht im Zaum halten können. Die Einzelheiten bleiben dir überlassen. Die Leute müssen davon überzeugt sein, dass die Prophetin hier ist, auch wenn wir diese Täuschung nicht allzu lange aufrecht erhalten können.« Thorak nickte. »Und wenn du den Akkadier siehst«, fügte Memnon hinzu, »gib ihm das von mir.« Der Kriegsherr reichte dem Ratgeber den Pfeil mit der vergif teten Spitze. Thorak nahm ihn vorsichtig entgegen und umwi ckelte die Spitze sorgfältig mit einem Stück Leder. Nicht einmal eine Stunde später hatte Thorak seine Truppe zusammengestellt. Er hatte die brutalsten und vertrauenswürdigsten Männer aus den Mitgliedern der königlichen Wache ausgesucht, und jetzt ritt er mit ihnen aus der Festungsstadt hinaus in die Nacht. Und in die Unterwelt, wenn es sein musste. Im Thronsaal stand der Lehrer der Menschen nachdenklich vor einer mächtigen Steinplatte, die in einem goldenen Rahmen in der Nähe seines Throns aufgestellt worden war. Diese Steinplatte war bereits in jenen längst vergangenen Zeiten uralt gewesen; sie trug eine Inschrift aus grob gezeichneten Hiero glyphen, die nur die weisesten aller Gelehrten entziffern konnten. Der Kriegsherr fuhr mit den Fingern vorsichtig, voller Hoch achtung und fast zärtlich über die Symbole; es war, als stünde er unter einem Zauber. Seine Fingerspitzen hielten bei der Darstellung eines Mannes inne, der die Arme triumphierend erhoben hatte; die Flammen im Hintergrund des Bildes schie nen diese Geste nachzuahmen.
Dann ruhten Memnons Finger auf dem eingemeißelten Emb lem des Mondes ganz unten auf der Steinplatte. Nicht mehr lange, dann wird das alles mir gehören, dachte er. Zuerst Cassandra und dann die ganze Welt. Gegen Mittag des nächsten Tages hatten die drei Reisenden die Ebenen der Nomaden durchquert und die Wüste beinahe erreicht. Zähneknirschend musste der Akkadier zugeben, dass der kleine Dieb mittlerweile seinen Respekt verdient hatte, denn Arpid war es gelungen, mit dem Kamel Schritt zu halten. Natürlich war Hanna, die Mathayus und die vor ihm sitzende Cassandra trug, unter dieser Last langsamer vorangekommen als üblich, und gelegentlich war Mathayus selbst zu Fuß gegangen, während er das Tier am Zügel geführt und die Zauberin allein im Sattel gesessen hatte. An der Spitze eines zerklüfteten Hügels stießen sie auf drei Holzpfähle, die über dreieinhalb Meter hoch waren - eine Warnung an alle, die dieses verbotene Gebiet betreten wollten, welches in den Legenden das Tal der Toten hieß. An jedem Pfahl waren mehrere menschliche Schädel befestigt, die von den Knochen kleiner Tiere - zumeist Schlangen - und der getrockneten Haut von Menschen umwunden waren, die versucht hatten, dieser Route zu folgen. Der kleine Pferdedieb hielt dies für keine besonders ver lockende Einladung, und er sagte: »Ich glaube, wir sind weit genug gekommen.« Von der Hügelkuppe aus konnte er die Landschaft überbli cken, die sie erwartete: Ein oder Streifen Land, der mit Sand hügeln übersät war, die Pockennarben glichen, zog sich bis hin zum Horizont. Dieses Terrain würde keinen einzigen Fehler verzeihen, und gleich dahinter lag die Tod bringende Wüste falls man der Landkarte trauen konnte, die Mathayus studierte. Der Akkadier rollte die lederne Karte zusammen, steckte sie wieder in die Satteltasche und sagte zu dem Dieb: »Nein,
Partner. Wir fangen gerade erst an. Nimm das als Begrüßung.« »Eine Begrüßung«, meinte Arpid und betrachtete nachein ander die drei Pfähle mit den Schädeln. »Nun ja, warum sollten wir nicht weiterziehen? Deine Freundin ist eine Zauberin, du bist ein erfahrener Meuchelmörder und ein riesiger Barbar. Wer von uns sollte bei diesem Unternehmen schon zu Schaden kommen?« Mathayus zuckte mit den Schultern. »Genau. Wer eigentlich?« »Oh, ich weiß nicht. Der magere Dieb vielleicht?« »Niemand hält dich. Du kannst gehen, wohin du willst«, erinnerte ihn der Akkadier, wahrend er neben seiner schönen Geisel stand, die auf dem Kamel saß. Er langte nach oben und strich ihr das lange Haar aus dem Gesicht, und sie sah ihn erschrocken und gekränkt an. »Fass mich nicht an«, sprach sie und griff nach seinem Hand gelenk. Entschieden, aber nicht roh befreite er seine Hand, strich ihr das Haar noch einmal nach hinten und zog ihr einen goldenen Ohrring, der wie ein Reif geformt war, vom Ohrläppchen. Sie runzelte die Stirn, betrachtete Mathayus verwirrt und wollte nach dem Ohrring greifen, was ihr jedoch nicht gelang. Der Akkadier ging auf den nächstgelegenen Fetischpfahl zu und befestigte das Schmuckstuck an seinem Häkchen an der Spitze des Pfahls. »Du Vieh«, knurrte sie. »Was, bei allen Göttern, tust du da?« »Bei allen Göttern - überhaupt nichts.« Mathayus deutete ein Lächeln an. »Ich markiere nur den Weg für deinen Herrn und Meister.« Sie zuckte zurück, presste voller Verachtung die Augen zu kleinen Schlitzen zusammen, und ihr Kinn kräuselte sich. »Niemand ist mein Herr.« »Vielleicht nicht«, erwiderte er und schwang sich hinter ihr in den edlen Nomadensattel. »Aber was du denkst, ist ohne jede
Bedeutung. Was für mich zählt, ist wie Memnon die Sache sieht.« Der Akkadier trieb sein Kamel an, das langsam in das öde Tal hinabstieg. Der Ritt war anstrengend, doch bei weitem nicht so mörderisch wie die Wüste, die sie bald darauf erreichten. Die Sonne brannte herab auf den Sand und die Skelette derer, die vor ihnen versucht hatten, diesen Weg zu nehmen, und von denen nichts übrig geblieben war als groteske, von der Sonne ausgebleichte Wegmarken. Cassandra erstarrte, als sie einen Skorpion sah, der aus der leeren Augenhohle eines menschlichen Schädels kroch, und Mathayus fragte amüsiert: »Fürchtest du dich vor diesen kleinen Viechern?« Sie antwortete nicht. Sie verriet ihm nicht, dass Bruchstücke einer Vision sie durchfuhren wie ein Blitz. Der Mann, der hinter ihr saß, war irgendwie mit diesem Skorpion verbunden, aber sie wusste nicht, wie. Gelegentlich gab Mathayus nach und ließ den Dieb reiten, während er selbst zu Fuß weiterging. Der kleine Mann war schließlich so weit gekommen, und diese Kleinigkeit konnte der Akkadier für ihn tun. Arpid gehörte jetzt zu ihnen, denn er zog mit ihnen zusammen durch die ungeheure, öde Wüsten landschaft, und er beklagte sich nur selten, während er neben ihnen hertrottete. Sogar die Frau machte keine Schwierigkei ten. Allein die Sonne, die gnadenlos herabbrennende Sonne, schien sein Feind zu sein. Thorak und sein Dutzend hervorragender Krieger befanden sich noch mehrere Stunden hinter der kleinen Gruppe. Bei Sonnenuntergang erreichte ein Fährtenleser den Hügelkamm mit den Fetischpfählen. Er zog den goldenen Ohrring der Zauberin vom Schädel eines Pfahls, ritt zurück zu den Männern mit den roten Turbanen und reichte das Schmuckstück dem Oberkommandierenden.
Weiß leuchteten die Narben in Thoraks vor Wut gerötetem Gesicht, denn er wusste, dass der Akkadier ihm einen Köder hingeworfen hatte und ihn verhöhnte. Üblicherweise hätten sie jetzt das Lager aufgeschlagen, doch Thorak befahl seinen Soldaten weiterzureiten. Sie würden die anderen so lange verfolgen, bis die Sonne nur noch eine fahle Erinnerung wäre. Im kühlen, nächtlich blauen Schimmer der Sanddünen und unter einem Himmel, an dem mehr Juwelen funkelten, als jeder Kriegsherr jemals zusammenraffen konnte, schliefen der Akkadier, der Dieb, die Frau und das Kamel. Der Dieb jeden falls schlief auf seiner Seite des Feuers, doch wegen seines dröhnenden Schnarchens war es für die anderen schwierig einzuschlummern. Trotzdem gelang es Mathayus, ein wenig Schlaf zu finden; den Krummsäbel hatte er quer über die Brust gelegt, bereit, sich sofort gegen jeden Angriff zu verteidigen. Auch Cassandra schlief - wenigstens so lange, bis sie nach einem besonders lauten Schnarchen des Diebes die Augen aufschlug. Plötzlich war sie hellwach und sah hinüber zu Mathayus, der sich nicht rührte, auch wenn Arpid mit seinem Schnarchen ganze Bäume umsägte. Ohne den Akkadier aus den Augen zu lassen, erhob sie sich so leise und anmutig wie eine freundliche Brise, als sie sah, dass nichts seinen Schlaf zu stören schien. Zuerst ging sie nur langsam und sah sich immer wieder zum Feuer und zum Lager hin um; leicht streichelte der Sand ihre kleinen Füße. Dann begann sie zu rennen. Sie wusste, dass Memnon Truppen aussenden würde, um nach ihr zu suchen. Sollte es ihr gelingen, noch vor Tagesanbruch den Meuchel mörder so weit wie nur möglich hinter sich zu lassen, dann ... Doch keine fünf Meter vom Lager entfernt fiel sie vornüber in den Sand, denn jetzt straffte sich ein seidenes Band, das um ihren linken Knöchel gebunden worden war.
Keuchend drehte sie sich um und zog an diesem Band, als hinge ein großer Fisch am anderen Ende. Und sie lag damit nicht einmal so verkehrt. Mathayus tauchte aus der Nacht auf, und als er vor ihr stand, sah sie, dass das Seidenband auch um seinen linken Knöchel gebunden war. »Wo willst du hin, Zauberin?«, fragte er amüsiert. »Glaubst du, du findest deinen König irgendwo dort draußen in der Wüste? Vermisst du deinen geliebten Herrn so sehr?« Ihre Augen funkelten vor Wut. Sie stand auf und schleuderte ihm ihre winzige, harte Faust entgegen. Er packte die Faust, doch mit ihrer anderen Hand fuhr sie ihm wie mit einer Kralle ins Gesicht. Ihre Fingernägel waren lang und scharf und ihre Wut war unbändig, fast überwältigend. Überrascht von der Kraft und der Heftigkeit ihres Angriffs, packte er sie, riss sie in die Höhe und warf sie über seine Schulter wie einen Sack Getreide. Sie landete mit einem dumpfen Aufschlag auf dem Wüstenboden. Mathayus entwirrte das Seidenband zwischen ihnen und näherte sich ihr. Sie drehte sich mit verzerrtem Gesicht um; immer noch bebend vor Schmerz und gleichzeitig voller Stolz sagte sie: »Memnon ist nicht mein geliebter Herr. Er ist auch nicht mein Liebhaber. Ich bin eine Jungfrau.« Fast hätte Mathayus darüber gelacht, doch er tat es nicht, denn sie klang so entrüstet und so ernst. »Meine Kräfte verdanke ich meiner Reinheit«, fuhr sie fort. »Sogar Memnon, dieses Ungeheuer, würde es nicht wagen, meine Reinheit zu entweihen.« Memnon, dieses Ungeheuer? »Entschuldige dich bei mir«, verlangte sie. »Sofort!« Der Akkadier betrachtete ihre Schönheit, als sie im Sand vor ihm lag. Ihr Haar war zerzaust, und sie sah ein wenig mitge nommen aus, doch im blauen und elfenbeinfarbenen Schimmer der Nacht war sie deswegen nicht minder anziehend. Ihre
Überzeugung war zweifellos beeindruckend. »Es tut mir Leid«, sagte er. »Wirklich.« Sie schluckte und suchte in seinem Gesicht nach Sarkasmus oder Unsicherheit, doch sie fand keins von beidem. Sie senkte den Kopf, und ihre Stimme zitterte, als sie sprach. »Ich war elf«, erzählte sie, »als Memnon die Geschichten von einem Kind, einem Mädchen, hörte, das die Augen der Götter besaß. Er ritt in mein Dorf und befahl vier seiner Soldaten, sich vor mir aufzustellen. Er sagte: Nenn mir die Namen dieser Männer. Jeder falsche Name bedeutet, dass dieser Mann stirbt.« »Seine eigenen Männer!«, flüsterte Mathayus erschrocken. »Seine eigenen Männer«, wiederholte sie und nickte. »Ich war entsetzt, aber was hätte ich tun können? Ich nannte ihm die Namen, alle vier.« »Du hast ihnen das Leben gerettet.« »Ja. Und anschließend haben eben diese vier Soldaten meine Familie ermordet, und ich wurde fortgebracht.« Der Akkadier fühlte sich wie betäubt, als hätte er einen hefti gen Schlag ins Gesicht bekommen. Er fühlte mit ihr, denn sie hatte unter Memnons Grausamkeit so sehr gelitten wie nur irgendein Mann oder irgendeine Frau. Leise sagte er: »Der Große Lehrer lässt uns alle in den Ge nuss seiner Lektionen kommen, nicht wahr?« Und er beugte sich hinab und knüpfte das Seidenband um ihren zarten Knöchel auf. Dann ging er zurück zum Lager, zum Feuer und zu seinen Decken. Auch sie ging schließlich zurück, setzte sich an die Stelle, an der sie zuvor geschlafen hatte, und umschlang ihre Knie mit den Armen. Er hatte ihr den Rücken zugewandt. »Flieh, wenn du willst. Du bist nicht mehr meine Gefan gene.« Er drehte sich kurz um und warf ihr einen viel sagenden Blick
zu. »Du solltest nur daran denken, dass es hier draußen schlim mere Gefahren gibt als mich.« Noch immer mit dem Rücken zu ihr gewandt, legte er sich nieder und schlief ein. Er schnarchte ein wenig, doch das gewaltige Schnarchen des Diebes, der von der ganzen Aufre gung nichts mitbekommen hatte, übertönte ihn bei weitem. Lange, sehr lange saß die Zauberin da, betrachtete den Mann, der sie entführt hatte, und fragte sich, was für ein Mensch er wohl sein mochte. Wer war dieser Mann, der es gewagt hatte, sich gegen Memnon, den Herrn, zu erheben? Aber trotz all ihrer Visionen und Prophezeiungen war sich Cassandra nicht im Klaren darüber, dass sie den Akkadier in diesem Augenblick zu lieben begonnen hatte. Dass ihrer beider Zukunft miteinander verbunden war.
Ein Sturm zieht auf
Am Vormittag des nächsten Morgens hatten Thorak und sein Dutzend Krieger mit den roten Turbanen ihr Ziel fast erreicht. Sie waren sich ihres unmittelbar bevorstehenden Erfolges allerdings nicht bewusst, als sie den Hang einer großen Düne hinaufritten, auf die der Wind düstere Muster zeichnete, während die Sonne erbarmungslos auf sie niederbrannte. Die Beute jedoch war sich der Verfolger sehr wohl bewusst. Mathayus ritt auf Hanna, und von hinten hatte die Zauberin ihre Arme um ihn gelegt; ihre kühle Distanz war nur mehr eine ferne Erinnerung. Sie befanden sich auf einer Düne unweit
ihrer Feinde, und Mathayus lauschte auf die Geräusche, die der Wind zu ihnen trug. All seine Sinne waren schärfer und wacher als die des Diebes, der neben ihnen durch den Sand trottete, und die Zauberin schien in mystische Grübeleien versunken. Er wirbelte das Albinokamel herum und sah eine Staubwolke; sie war noch fern, doch nicht so fern, als dass sie keine Bedrohung dargestellt hätte. Trotzdem lächelte der Akkadier, er grinste sogar. »Thorak.« Der Pferdedieb drehte sich um, sah die aufsteigende Staub wolke und schüttelte den Kopf resignierend wie jemand, den man an der Nase herumgeführt hatte. »Welch eine Überraschung. Wie haben sie uns nur gefunden? O ja, natürlich. Du hast ihm ja ein Zeichen hinterlassen.« »Genau. Und dieser Narr reitet direkt hinein in die Gefahr.« Arpid sah Mathayus an, als zweifelte er an der geistigen Gesundheit seines Reisegefährten. »Ach nein. Das tut er?« »Aber natürlich.« »Wie viele Männer hat er, was meinst du?« Nachdenklich betrachtete der Akkadier die entfernte Staub wolke. »Nur ein Dutzend, würde ich sagen.« »Ach so. Nur ein Dutzend der kühnsten Krieger aus Mem nons Roter Wache. Und wir sind zu dritt, einschließlich einer Frau und eines zitternden Feiglings.« Mathayus schüttelte den Kopf. »Dieser Narr reitet direkt auf einen Sturm zu.« Die Zauberin betrachtete ihn mit kindlicher Neugierde. »Ein Sturm?« »Verzeih mir, wenn ich das erwähne«, ergriff der Dieb wieder das Wort, »du magst ja ein beeindruckender Partner sein - aber du bist kein Sturm. Du bist nur ein einzelner Mann. Ein außergewöhnlicher Mann, zugegeben. Aber nur ein einzelner
Mann.« Der Akkadier grinste seinen mageren Gefährten an, wandte dann den Blick von der Staubwolke ab, die Thorak und seine Männer aufwirbelten, und drehte sich zum gegenüberliegenden Horizont um. Seufzend schüttelte der Dieb den Kopf und murmelte: »Das ist zweifellos der übelste Schlamassel, in den du mich bisher gebracht hast.« Und dann blickte auch Arpid auf, sah in die Richtung, in die sich der Akkadier mit einem Grinsen im Gesicht gewandt hatte. Wie konnte dieser Narr nur so erfreut darüber sein?, fragte sich Arpid. Der Dieb suchte den Horizont ab und entdeckte einen dunkel braunen Streifen, der sich ihnen unerbittlich näherte - wie ein lebendiges Wesen. »Vielleicht war ich etwas voreilig«, bemerkte Arpid erstaunt. »Ich glaube, du hast es geschafft, dich selbst zu übertreffen, Akkadier. Das hier ist zweifellos der übelste Schlamassel, in dem ich jemals gesteckt habe.« »Der Tag ist noch jung, Dieb«, erwiderte Mathayus und packte Hannas Zügel fester. »Mögen die Götter uns schützen«, sagte Cassandra und be trachtete mit großen Augen die unheilvolle, immer dichter werdende Dunkelheit. Es war, als hätte die ungeduldige Nacht beschlossen, viele Stunden zu früh hereinzubrechen. »Es ist ein Sandsturm.« »Und er kommt genau zur richtigen Zeit«, behauptete der Meuchelmörder. Der Lärm schwoll an, ein hohes, unheimliches Dröhnen, das dem Schrei eines Pferdes glich. »Ausgezeichnet«, sagte der Dieb und warf die Hände in die Luft. »Das ist genau das, was uns noch fehlt. Ich könnte gar nicht darauf verzichten. Eben dachte ich, wie schön es doch wäre, wenn gerade jetzt ein Sandsturm ausbrechen würde.«
Mathavus warf seinem Partner einen spöttischen Blick zu. »Kümmere dich um dich selbst, Dieb.« Dann wandte er sich knapp an die Zauberin. »Ich muss dich hier lassen.« Die Zauberin schien bei diesem Gedanken zu erschrecken. »Du willst mich verlassen?« Der Akkadier sprang vom Kamel und half der Frau herunter. Dann nahm er eine Decke aus einer der Satteltaschen und reichte sie ihr. Seine Augen suchten ihren Blick und hielten ihn fest, doch die einzigen Worte, die er laut aussprach, waren: »Deck dich zu.« Dann schwang er sich zurück in den Sattel und schoss mit Hanna die Düne hinab. Reitend griff der Akkadier in eine andere Satteltasche und zog einen schmalen, eingefetteten Lederstreifen hervor, der recht merkwürdig aussah. Er hatte einen längs verlaufenden Schlitz, der eine Öffnung für die Augen bildete. Obwohl diese Sandmaske hauptsächlich als Schutz diente, war sie gleichzeitig eine bizarre Schlachtkleidung, die dem Meuchelmörder ein einschüchterndes Aussehen verlieh. Mit einer Hand band er sie um, während er Hanna noch schneller vorantrieb, deren Hufe im Sand klapperten und eigene kleine Sandstürme aufwirbelten. Auf einem flachen Streifen Wüste hatten die zwölf Wachen in den roten Turbanen angehalten, als ihr Anführer die Hand gehoben hatte. Er hatte gehört, wie etwas - jemand - schnell näher kam. Thorak war davon überzeugt, dass das nicht der Akkadier sein konnte. Ein Mann allein würde es niemals wagen, dreizehn Männer offen anzugreifen. Also konnte es nur ein Kurier des Heeres sein, den Memnon ausgeschickt hatte. Ein Krieger im roten Turban deutete hinüber. »Dort!« Und den Hang einer Düne herab kam ein einzelner Mann ein Ungeheuer, das eine Ledermaske trug und ein weißes
Kamel ritt: der Akkadier. War er tatsächlich so verrückt, sie wie ein Ein-Mann-Heer anzugreifen? »Er greift allein an?«, sagte ein Krieger zu einem anderen. »Die Sonne hat sein Gehirn gekocht«, meinte der andere, der Fährtenleser des Trupps. »Der Wüstenkoller hat ihn gepackt.« In ihrer Mitte erklang Thoraks dröhnende Stimme. »Tausend Duranas für den, der mir seinen Kopf bringt!« Thoraks Männer waren zweifellos loyal, doch der süße Duft des Geldes trieb die Tapferkeit der Krieger in neue Höhen. Schwerter schossen aus den Gürteln, und mit nackter Brust, die Köpfe von den roten Turbanen bedeckt, gaben die Krieger ihren Pferden die Sporen und galoppierten auf den Wahnsinni gen zu, wobei sie Kriegsrufe ausstießen, bei denen jedem normalen Mann das Blut in den Adern gefroren wäre. Aber natürlich war Mathayus kein normaler Mann. Er war der Letzte der Akkadier. Er befand sich auf einer blutigen Mission, und er stürmte den Kriegern in vollem Galopp entgegen. Allerdings war er nicht allein, auch wenn seine Feinde das vermuteten. Er ritt dahin an der Spitze eines Heeres - eines Heeres aus Sand. Als er den Abhang hinabstürmte, folgte ihm der Sandsturm über den ganzen Horizont hinweg, ein viele Meilen breiter, brauner Strudel der Zerstörung, der so hoch war wie Memnons Palast, eine gigantische Mauer unzähliger wirbelnder und brennender Sandkörner. Die tausend Duranas waren vergessen, und die Reiter gerieten in Panik, als sie den Verrückten sahen, dessen Züge unter der geisterhaften Ledermaske mit dem schmalen Augenschlitz nicht zu erkennen waren. Vornüber gebeugt schoss er auf sie zu und schwang seinen Krummsäbel, dicht gefolgt vom Sandsturm. Er war ein einziger Albtraum, und die Krieger zügelten ihre Pferde. Der Sandsturm überholte den Akkadier, wehte tobend vor
ihm dahin, und selbst als der braune Wirbel Kamel und Reiter einhüllte, ritt Mathayus nicht langsamer. Thorak war verblüfft über den Mut dieses Mannes, und plötz lich wurde ihm der tollkühne Plan des Meuchelmörders bewusst. In hilflosem Schock musste er mit ansehen, wie der angreifende Krieger im Sturm verschwand, während Thoraks hochgerühmte Rote Wache den eigenen Angriff abbrach, die Pferde die Köpfe zurück warfen und die Reihen seiner Truppe auseinander brachen, als der Sturm sie mit voller Wucht traf. Die Welt hatte sich in einen bitteren Sandstrudel verwandelt, der sie verschlang, sich in ihrem Fleisch festbiss und ihre Augen blendete. Der Wind riss die Männer aus den Sätteln und schleuderte sie auf den Wüstenboden, und wenn sie dort zu stehen versuchten, warf er sie wiederum zu Boden. Doch Thorak unterwarf sich nicht. Er hielt sich im Sattel seines edlen Pferdes, die Zügel in der einen und die Streitaxt in der anderen Hand, und schrie: »Akkadischer Bastard!« Dann ritt er in den Sturm und suchte, obwohl er nichts sehen konnte, das Ziel seiner Wut. Die Welt war entsetzlich, ein blendendes Gewirr aus fallen den Körpern, peitschendem Sand und verschreckten, sich aufbäumenden Pferden. Die hervorragenden Kämpfer, die Thoraks Truppe bildeten, hatten sich in wimmernde Narren verwandelt, die, umgeben von den Schreien der anderen, allein umherirrten. Nur wenige saßen noch in ihren Sätteln. Mathayus, der auf diesen höllischen Sturm vorbereitet war und ihn sogar genoss, tauchte vor jedem einzelnen seiner desorientierten Feinde auf, als hätte der grimmige Tod selbst Gestalt angenommen, und jedes Mal verschwand er so schnell wieder, wie er gekommen war. Seine blitzende Klinge färbte die braune Welt rot. Er sprang aus dem Sattel, griff zwei Soldaten an, riss sie zu Boden, und blitzschnell stach er mit dem zischenden Krummsäbel in der einen und dem Dolch in der anderen Hand zu.
Dann verschwand er, nur um plötzlich an einer anderen Stelle aufzutauchen. Die Klingen in seinen Händen surrten durch die Luft, drei Krieger gingen gleichzeitig unter der Wucht des Stahls zu Boden, und ihre Leichen wurden von einem Wall aus Sand verschlungen, die den gerade Getöteten ein schnelles Grab bereitete. Die Schreie der Schlacht schienen nicht von dieser Welt zu sein, als Mathayus eins wurde mit dem Sturm und erbarmungslos sein Todesurteil vollstreckte. Selbst der tapfere Thorak wurde ein Opfer des brennenden Sandes und war mittlerweile fast völlig geblendet. Wütend riss er sein Pferd herum und schwang die Streitaxt, während er mit unerträglicher Frustration die Grauen erregenden Schreie seiner Männer hörte, deren Klang sich mit dem kreischenden Wind vereinte. Er gab seinem Pferd die Sporen und ritt auf die Schreie zu. Und plötzlich, als hätte sich der Sand zu Ehren Thoraks geteilt, erschien der Akkadier vor ihm, der soeben mit seinem Krummsäbel in der Hand einen weiteren tapferen Mann einen unwürdigen Tod sterben ließ. Thorak stürmte auf ihn zu, griff ihn an und schwang die Streitaxt zu einem Hieb, den Mathayus unmöglich sehen konnte. Doch Mathayus spürte ihn kommen, er wirbelte herum, und Stahl prallte auf Stahl. Wild schlugen beide aufeinander ein, der Krieger zu Pferd, der Barbar am Boden; Mathayus kämpfte wie eine Naturgewalt, als er seine Hiebe führte, und er glich dabei dem Wirbelwind, der beide umgab. Doch der narbengesichtige Oberkommandierende behauptete ebenfalls seine Stellung - was auch an seinem Vorteil lag, weil er auf einem Pferd saß -, und mit jedem Hieb krachte die Streitaxt gegen den Krummsäbel, auf jede Parade des einen reagierte der andere geschickt und präzise. Beide waren große Krieger, und möglicherweise hätte jeder von ihnen das Können des anderen bewundert, wenn sie nicht mit aller Kraft darum gekämpft hätten, sich gegenseitig umzubringen.
Thorak sah eine Lücke in Mathayus' Verteidigung und wollte sie nutzen, doch der Akkadier kam dem Hieb zuvor, schlug dem Krieger die Streitaxt aus der Hand und stieß seinen Krummsäbel mit solcher Wucht nach vorn, dass er durch die Lederrüstung des Mannes drang. Vom Sand gepeitscht und vom Schmerz durchbohrt, rutschte Thorak vom Pferd und fiel sterbend auf den schwankenden Wüstenboden. Der Akkadier wandte sich ab und suchte nach neuen Opfern, doch Thorak hatte immer noch einige Sekunden zu leben, und die nutzte er. Memnons vertrauenswürdigster Ratgeber zog in seinen letz ten Augenblicken einen Pfeil, einen ganz bestimmten Pfeil, aus seinem Köcher und entfernte den Lederstreifen, der die Pfeil spitze umschloss. Den Pfeil wie ein Messer gebrauchend, stach er nach oben und traf den Akkadier in den Oberschenkel. Mathayus zuckte vor Schmerz zusammen und fiel auf die Knie, als wollte er beten. Nur das Tosen des Sandes war zu hören, der sie beide umgab; alle Wachen in den roten Turbanen waren tot, die meisten von ihnen bereits zur Hälfte unter dem Sand beerdigt. Das Letzte, was Thorak sah, war der verwundete Akkadier vielleicht würden sie ihren Zweikampf in der Unterwelt fort führen. Dann verschlang der Sandsturm auch sie. Etwas später war die Sandfront weitergezogen, und die hell braune Haut der Wüste wurde nur noch leicht von einer freundlicheren Brise aufgewirbelt, deren Finger sinnlose Bilder und Muster in die ruhelosen Dünen zeichneten. Das Schlachtfeld war so still wie die Toten, die unter dem Sand ruhten. Es war, als sei nie irgendjemand hier gewesen; dass nur Minuten zuvor ein wütender Kampf getobt hatte, schien völlig unvorstellbar. Nicht allzu weit entfernt, an der Stelle, an der der Akkadier seine Gefährten zurückgelassen hatte, wo sie den Ausgang der Schlacht abwarten sollten, schien es im Sand genauso wenig
Leben zu geben. Dann schoben sich Finger durch die Oberflä che einer Düne, als würde sich ein Toter aus seinem Grab erheben. Ein einzelnes Auge öffnete sich blinzelnd, das übrige Gesicht war noch mit Sand bedeckt. Überrascht und erfreut, noch am Leben zu sein, setzte sich der Pferdedieb auf, und bevor er an einen seiner beiden Beglei ter dachte, nahm er sich Zeit, den Sand aus seinen Kleidern zu klopfen. Er stand auf der Spitze einer Düne, beschirmte mit einer Hand die Augen vor der Sonne und betrachtete das Schlachtfeld. Die Stimme einer Frau sagte: »Arpid!« Er wandte sich in ihre Richtung und erinnerte sich plötzlich wieder an die Zauberin, die hustend verlangte: »Hilf mir. Bitte.« Sie lag halb begraben im Sand; die Decke, die Mathayus ihr gegeben hatte, war längst weggeweht worden. Tatsächlich fühlte sich der Dieb ein wenig schuldig, weil er sie vergessen hatte, sodass er nun zu ihr rannte und ihr aufhalf. Es dauerte eine Weile, bis sie wieder sicher auf den Füßen stand. Dann fragte sie beunruhigt und voller Sorge: »Der Akkadier was ist mit dem Akkadier?.« »Das Schlachtfeld ist verlassen«, antwortete Arpid und zuckte mit den Schultern. »Es ist, als hätte der Sandsturm alle gepackt und an einen weit entfernten Ort geschleudert.« »Wir müssen nachschauen«, erwiderte sie mit fester Stimme. »Wir müssen ihn suchen.« »Natürlich«, meinte er zustimmend, wobei er eine merkwür dige Leere in seiner Magengrube empfand. Hatte er etwa Gefühle für diesen verdammten Akkadier entwickelt? Dieser Bastard hatte ihn erbärmlich genug behandelt, und Arpid war nur bei ihm geblieben, weil das sicherer gewesen war. Warum also war er besorgt? Und traurig? Es war neu für den Dieb, für einen anderen Menschen etwas zu empfinden, und
diese Erfahrung war wirklich beunruhigend. Die Zauberin und der Dieb gingen zum Schlachtfeld, und als sie es gründlicher inspizierten, war es doch nicht völlig leer: Ein halbes Dutzend halb begrabener Leichen lag vor ihnen. Vorsichtig und behutsam gingen sie über diesen so schnell entstandenen Friedhof. Plötzlich bewegte sich der Sand vor ihnen. Ein Pferd tauchte aus einer kleinen Düne auf und schüttelte sich wiehernd. Dies lockte ein anderes Pferd hervor und noch ein drittes, die sich ebenfalls aus dem Sand erhoben. Die Männer waren zugrunde gegangen, doch ein Großteil ihrer Pferde hatte überlebt. »Jetzt können wir endlich reiten«, sagte der Dieb zu der Frau. Eine weitere kleine Düne geriet in Bewegung, als sich noch ein Tier aus dem Sand erhob: Hanna! Arpid rannte zu dem Tier. Es war schwer zu glauben, dass er sich freute, diesen Sack Flöhe wieder zu sehen - und doch war es so. Cassandra trat neben Arpid, der das Kamel an den Zügeln hielt, und sagte: »Keine Spur von seinem Herrn.« »Er muss irgendwo sein«, erwiderte Arpid. »Wenigstens seine Leiche.« Sie runzelte die Stirn. »Ich fühle nicht, dass er tot ist. Such weiter.« Arpid betrachtete das Kamel. »Warum hilfst du uns nicht? Wo ist er, altes Mädchen? Wo ist dein Herr?« Hanna stieß ein ungeduldiges Knurren aus, und plötzlich erkannten die beiden, dass das Tier neben einem kleinen, runden Sandhügel stand. Erstaunt sahen sie, wie sich eine Gestalt daraus erhob, den Sand abschüttelte und ein erschöpf ter, blutender und von blauen Flecken übersäter Krieger auftauchte. Mathayus.
Mit vor Freude geweiteten Augen sahen sich Arpid und Cassandra an. Als der Akkadier sein Grab verließ, kam ein zweiter Krieger zum Vorschein, der unter ihm vom Sand beerdigt worden war. Es war Thorak, der im Tod die Augen weit aufgerissen hatte. »Für eine so hässliche Bestie sieht er ziemlich hübsch aus«, beschied Arpid. Mathayus war zu Cassandra gegangen. »Geht es dir gut? Bist du verletzt? Haben sie ...« »Nein«, antwortete sie. »Es hat mich niemand - angerührt.« Die Zauberin war überrascht über seine Besorgnis, über die Tiefe der Gefühle, die in den dunklen Augen des Meuchel mörders zu lesen waren. Hatte er all das durchgemacht, weil er eine Mission zu erfüllen hatte? Für Kopfgeld? Aus Rache? Oder einfach, um sie zu retten? »Mir geht's gut, danke der Nachfrage«, sagte Arpid zu dem Akkadier, der überhaupt nicht mit ihm gesprochen hatte. »Ich weiß deine Besorgnis wirklich zu schätzen.« Cassandra betrachtete Mathayus mit forschendem Blick. Er schien nicht ganz sicher auf den Beinen zu sein. »Bist du ...« »Mir geht es gut«, entgegnete er. Und dann bemerkte sie den Pfeil, der aus der Seite seines Beines ragte. Er war nicht allzu tief eingedrungen, doch er steckte ziemlich fest. »Du brauchst Hilfe«, sagte sie und schnappte nach Luft. Der Akkadier griff nach unten, packte den Pfeil, biss die Zähne zusammen und riss ihn aus seinem Fleisch. Aber so heroisch diese Leistung auch war - der gewaltige Barbar schrie auf vor Schmerz, und sein Schrei hallte durch die Wüste. Aus Respekt vor ihm hatte sich die Frau von seinem gequäl ten Aufschrei abgewandt; der Dieb hingegen, weil ihm übel wurde. Der Akkadier stolperte zur halb begrabenen Leiche Thoraks
zurück. Ein Amulett, das um den Hals des Toten hing, trug die Insignien der Palasttruppe. Mathayus riss es ab und sagte: »Helft mir, sein Pferd zu finden.« »Dort ist es«, rief der Dieb und deutete darauf. Thoraks unverkennbarer schwarzer Hengst lief wie die ande ren Pferde auf dem Schlachtfeld umher. Der Akkadier ging zu ihm und inspizierte den Sattel. »Noch ein Überlebender«, sagte er zufrieden. Als Arpid und Cassandra zu ihm getreten waren, sahen sie, was er damit meinte: Es war ein Falke. Eine kleine Lederkappe bedeckte seinen Kopf, und seine Beine waren mit einem dünnen Lederriemen am Stattel festgebunden. Mathayus befreite den Vogel und befestigte Thoraks Insignien an dem Metallring, den das Tier um den Fuß trug. Die Zauberin berührte den Arm des Akkadiers. »Was tust du?« »Ich sende Memnon eine Botschaft«, sagte er, doch seine Stimme war schwach und seine Augen schienen trübe. Trotzdem gelang es Mathayus, dem Falken die kleine Leder kappe abzunehmen und den Vogel in die Luft zu schleudern. Er zog einige Kreise, schlug erhaben mit den Flügeln und flog davon. Der Akkadier blieb stehen, stützte die Hände auf die Hüften, beobachtete, wie der Vogel nach Gomorra flog, und lachte ein tiefes, herzhaftes Lachen - aus dem jedoch plötzlich ein Husten wurde. »Mathayus!«, rief Cassandra. Mit verkrampft zuckenden Bauchmuskeln konnte sich der Akkadier kaum noch aufrechthalten. »Was ist mit dir?«, fragte sie. Seine Finger deuteten auf die Pfeilwunde. »Ver ... vergiftet.« Und der mächtige Krieger fiel mit zuckenden Beinen vorn über in den Sand.
Eine magische Berührung
Als die untergehende Sonne die Felslandschaft um die mäch tige Stadt Gomorra in ein leuchtendes orangefarbenes Licht tauchte, das aussah, als hätte die Erde selbst Feuer gefangen, flog ein Falke über die Festungsmauern in seinen Horst in Memnons von Türmen umringten Palast. Der Markt wurde gerade geschlossen - bis auf die Lasterhöh len natürlich - , und bald würden sich alle Bewohner hinter die Steinmauern zurückziehen, um zu essen, zu trinken und ihre Zeit mit Freunden und der Familie zu verbringen. Alle außer den übelsten Lüstlingen jedenfalls. Memnon jedoch ruhte nicht. Er hatte seine Generäle in den Thronsaal befohlen, in dem auf einem großen Tisch Landkar ten ausgebreitet wurden. Das drängendste Problem stellte natürlich Ur dar, das einzige noch nicht eroberte Land, und der Kriegsherr besprach seine jüngste Strategie mit den Führern seiner Schlachten. Wie üblich folgten die Generäle seinen Ausführungen mit größter Aufmerksamkeit, doch einer von ihnen - Toran - wirkte merkwürdig distanziert, fast geistesab wesend. Und das beunruhigte den Großen Lehrer, der es vorzog, dass seine Schüler an jedem Wort hingen, das von seinen Lippen kam. Auch Takmet war anwesend, der Erbe des verwaisten Thro nes von Ur, doch auch er schien mit etwas anderem beschäftigt zu sein und drängte sich nicht mit den anderen zusammen um den großen Kartentisch. Natürlich hatte Memnon Takmet bereits über seine Strategie informiert, doch auch so stellte das nervöse Aufundabschreiten dieses Mannes eine Störung dar. Als Einziger in dieser Versammlung - außer Memnon - wuss te Takmet, warum Cassandra nicht hier war; er wusste, dass der
Akkadier sie entführt hatte. Ein Falkner betrat den Saal. Auf seinem Arm saß der königli che Vogel, der soeben eingetroffen war. Der Falkner näherte sich dem Kriegsherrn, deutete eine Verbeugung an und berich tete: »Eine Botschaft von Thorak.« »Endlich«, sagte Memnon und seufzte zufrieden. »Der Akkadier ist tot.« Doch kurz darauf entdeckte der Kriegsherr, dass er Thoraks Insignien vor sich hatte - seine blutbeschmierten Insignien und nichts sonst. Wut und fast so etwas wie Trauer erfüllten ihn. Über viele Jahre hinweg war der narbengesichtige Krieger seine rechte Hand gewesen, und jetzt hatte ihn der Akkadier getötet und schickte ihm diese höhnische Botschaft. Memnon quetschte das blutige Amulett in seiner mächtigen Hand und stand einige Augenblicke lang gedankenverloren da. Dann trat General Toran vor. »Edler Herr«, fragte er, »stimmt etwas nicht?« Der Kriegsherr bezwang seine Gefühle und blickte seine Generäle gelassen an. Er brachte sogar ein kleines Lächeln zustande. »Nein. Ganz im Gegenteil. Es ist alles in Ordnung.« Die Generäle sahen einander an. »Und damit, meine Herren, denke ich, ist unsere Besprechung zu Ende«, beschied Memnon. Die Generäle verbeugten sich und gingen durch den Thronsaal auf die Türen zu, als Toran innehielt und sich umwandte. Auch die anderen Generäle blieben stehen, wenn gleich der Ausdruck ihrer Gesichter Unsicherheit spiegelte. Mit einer Kühnheit, die keiner von ihnen jemals gewagt hatte, sagte General Toran: »Edler Herr, üblicherweise nimmt die Seherin an diesen Besprechungen teil. Wir alle wissen, wie wertvoll ihr Rat ist.« Auch Takmet rührte sich nicht mehr und warf Memnon einen vielsagenden Blick zu.
»Warum ist die Zauberin heute Abend nicht bei uns?«, fragte der General kühn. Die anderen Generäle, die um ihn standen, nickten. Memnon verbarg seinen Zorn über diesen Affront und sagte nur: »Sie ist verhindert.« Wieder sahen die Generäle einander besorgt an, und Toran fragte: »Nichts Ernstes - hoffe ich?« Deutlich war das Misstrauen in seiner Stimme zu hören. Memnon lächelte, aber seine Augen blieben hart. »Falls es etwas Ernstes wäre, würdet ihr informiert werden. Schließlich seid ihr in diesem Krieg meine vertrauenswürdigen Ratgeber, nicht wahr?« Wieder deutete General Toran eine Verbeugung an. »Gewiss, edler Herr.« Die anderen Generäle verbeugten sich ebenfalls, antworteten auf dieselbe Weise und gingen hinaus. Mit einem wütenden Grollen wischte Memnon die Landkar ten vom Tisch und schleuderte die lederumhüllten Insignien Takmet entgegen, der zusammenzuckte. Der Ratgeber mit dem spärlichen Bart beteuerte: »Ich habe kein Wort davon erwähnt. Ich habe nichts verraten!« »Oh, könnte ich nur dein wertloses Leben gegen das von Tho rak eintauschen«, sagte der Kriegsherr bitter. »Geh! Lass mich in Frieden!« Und Takmet, der trotz all seiner Fehler kein Narr war, tat genau das, wozu er aufgefordert worden war. Die Nacht war überraschend kühl in der sonnenlosen Wüste, und zahllose purpurne Sterne erfüllten den Himmel. Weiß wie Elfenbein glitten die Strahlen des fast vollen Mondes über den Sand, und der Pferdedieb Arpid befand sich in einer unge wöhnlichen Lage: Er kümmerte sich um das kleine Lager. Er zündete ein Feuer an, während der Akkadier zitternd unter seiner Decke lag und sein Geist verwirrt durch die labyrin
thischen Gänge des Fiebers streifte, wobei Schweißtropfen wie Perlen seine kupferfarbene Haut überzogen. Die Zauberin kniete neben Mathayus und versorgte seine Wunde, die sie mit Wasser aus einem Ziegenlederbeutel reinigte und mit Stoffstreifen verband, die sie von ihren Beduinenkleidern abgerissen hatte. Mathayus murmelte im Delirium, und nur gelegentlich konnte man ein Wort verstehen, wie etwa >Memnon< oder >Cassandra<. Der Dieb sah, wie sie mit einem feuchten Tuch die Stirn des Akkadiers abtupfte, und überrascht von so viel Zärtlichkeit, setzte er sich auf seine eigenen Decken. Er fragte sich, ob diese Frau wusste, dass sie diesen Mann liebte. Freundlich fragte Arpid: »Kannst du ihn retten, Zauberin?« Sie sah den kleinen Dieb an, und ihre dunklen Augen leuchte ten im Glanz des Feuers. »Vielleicht. Doch sein Fieber ist hoch. Es war Skorpiongift.« Neugierig runzelte er die Stirn. »Wie hast du das herausgefunden? Durch die Anzeichen seiner Krankheit?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß es einfach. Das ist alles. Dieser Mann ist mit dem Skorpion verbunden - auf eine magische Weise, die nicht einmal ich ergründen kann. Vielleicht ist das sogar gut. Wenn er überlebt, wird das Gift immer in ihm sein.« »Es ist gut, wenn man Gift im Blut hat?« Sie wrang das Tuch aus. »Vielleicht verleiht es ihm die Stärke des Skorpions. Und in Zukunft Widerstandskraft gegen das Gift.« »Aber wird er überleben?« »Das wird sich noch heute Nacht zeigen.« Arpid reckte sich. »Na ja, es wird wohl besser sein, wenn du deine magischen Kräfte einsetzt. Er stellt unsere einzige Möglichkeit dar, aus der Wüste herauszukommen. Wenn er stirbt, sterben wir auch.«
Cassandra lehnte sich zurück und unterbrach ihre Arbeit. Sie dachte über die Worte des kleinen Diebes nach. Dann blickte sie hinauf zu dem fast vollen Mond, und ihre anmutigen Züge badeten in seinem Elfenbeinglanz. Vielleicht lauschte sie auf Worte, die nur sie allein hören konnte - Arpid war sich nicht ganz sicher. Er wusste nur, dass sie gedankenverloren wirkte, beinahe in Trance. Dann schien sie sich zu entspannen, ihre Schultern sanken locker herab, und ihr Gesichtsausdruck war ruhig, als sie sich dem Dieb zuwandte und leise prophezeite: »Er wird nicht sterben.« Arpid runzelte die Stirn. »Aber er wurde vergiftet, hast du gesagt.« »Still jetzt, kleiner Dieb«, erwiderte sie, aber ihre Stimme war wohlklingend und freundlich. »Unterbrich mich nicht.« »Wobei?« »Pst.« Und Cassandra legte eine Hand auf das Herz des Akkadiers und eine auf die hässliche Wunde in seinem Oberschenkel. Sie schloss die Augen und zog sich in sich selbst zurück. Das Mondlicht schien sie in eine Aura zu hüllen, und ihr ganzer Körper erstrahlte in seinem Glanz. Oder war es die Zauberin selbst, die dieses Leuchten ausstrahlte? Nein, natürlich nicht. Es war einfach nur der Mond. Arpid wusste irgendwie, dass die Zauberin den Meuchel mörder heilte, dass sie mit all ihrer Macht und mit jeder Faser ihres Seins auf ihre Kräfte zurückgriff und ihre magischen Künste zur Heilung einsetzte. Unweit des Lagers trottete eine andere Gestalt dahin, ein kleiner Kerl mit unordentlichem weißem Haar, bescheidener Kleidung und so gewaltigem Gepäck auf seinem Rücken, dass ein Maultier darunter zusammengebrochen wäre. Doch Philos,
der Wissenschaftler, hatte kein anderes Transportmittel als seine in Sandalen steckenden Füße, auch wenn sein Orientie rungssinn viel ausgeprägter war als der der meisten anderen Reisenden. Zum Teil lag das an den genauen Karten, die er in seinem Gepäck bei sich trug, doch es gab da auch noch eine seiner eigenen Erfindungen, ein Instrument, das man eines Tages in leicht veränderter Form als >Kompass< bezeichnen würde. Dieses merkwürdige Instrument des Wissenschaftlers bestand aus Holz, Glas, einer Art primitivem Ziffernblatt und einer Nadel, die in Richtung des magnetischen Nordpols zeigte. Seltsamerweise zitterte in diesem Augenblick jedoch die Nadel und wurde nach Osten abgelenkt. Unter dem purpurnen Himmel und dem elfenbeinfarbenen Mond hielt die kleine Gestalt inne. Philos wandte sich in die Richtung, die ihm die Nadel seines Instruments anzeigte. Irgendetwas geschah da draußen in der dunklen Wüste. Etwas Großes. Etwas, das keine Wissenschaft war. In dem kleinen Lager setzte sich Arpid auf und beobachtete die Zauberin bei ihrer mystischen Heilung. Plötzlich verschwand die schimmernde Aura, und die schlan ke Frau drohte fast zusammenzubrechen, doch sie sank nur ein wenig nach vorn, ihre Schultern hingen schlaff herab, und sie hielt den Kopf gesenkt. Es war, als wäre alle Energie ver schwunden und als atmete sie nicht mehr; sie wirkte wie eine Kerzenflamme, die jemand ausgedrückt hatte. Der kleine Pferdedieb glaubte an Magie, er zweifelte nicht im Geringsten daran; doch noch nie hatte er selbst miterlebt, wie magische Kräfte wirkten, und er starrte die Zauberin mit weit aufgerissenen Augen an. Mehrere Augenblicke lang schwieg er, denn er wagte nicht, Cassandra anzusprechen, die zusam
mengesunken vor ihm im Sand saß und vor Anstrengung zitterte. Schließlich fragte Arpid zögernd: »Ist er … geheilt?« Die Zauberin schwieg lange. Sie fühlte sich leer, all ihre Kräfte waren verbraucht - und sie hatte in die Seele des Akka diers geblickt; Erinnerungen und Bilder aus seiner gewalttati gen Vergangenheit schwirrten ihr durch den Kopf. Er war ein so brutaler Mensch - und gleichzeitig voller Güte. Es gab viel, worüber sie nachdenken musste. Cassandra stand auf und ging zu ihrer eigenen Decke, legte sich hin und wollte schlafen. »Und?«, fragte Arpid. »Wird er leben?« »Das liegt nun in den Händen der Götter«, sagte sie. Sie wandte sich von ihm ab. Doch der kleine Dieb hatte gesehen, welche Hände den im Fieber liegenden Akkadier auf magische Weise berührt hatten. Und das waren nicht die Hände der Götter gewesen. Oder etwa doch? Mathayus erwachte in der Morgendämmerung. Er kam nur langsam zu sich. Seine Augen blinzelten und waren gerötet, und Arpid dachte, dass der Akkadier so wirkte, als litte er unter dem schlimmsten Kater seit Anbeginn aller Zeiten. Doch wenigstens lebte dieser Mann. Als Mathayus wieder klar sehen konnte, schwebte ein Gesicht mit dünnem Bart über ihm, und er zuckte zusammen. »Ahhh!« »Sie hat dich geheilt«, sagte derjenige, dem das Gesicht gehorte - der Pferdedieb. »Ich wusste es! Ich konnte ihre magischen Kräfte spüren! Ich konnte sie sehen!« Langsam und zögernd setzte sich der Akkadier auf, wobei er sich mit den Ellbogen abstützte. Er schloss die Augen, öffnete sie wieder und kämpfte gegen seine Benommenheit an. »Mich geheilt? Sie?«
»Sie hat mehr zu bieten als ein hübsches Gesicht, Partner.« Mathayus sah über das fast niedergebrannte Lagerfeuer hin weg zu Cassandra, die immer noch schlief. Sie wirkte so unschuldig, und sollte er jemals einem anmutigeren Wesen begegnet sein, so konnte er sich nicht daran erinnern. Aber er litt natürlich unter heftigen Kopfschmerzen, die seinen Blick trübten. Sie schien seine Aufmerksamkeit zu spüren und erwachte. Ihre Augen trafen die seinen, und beide sahen einander lange an. Es war offensichtlich, wie erleichtert sie war, dass er überlebt hatte, und ein winziges, zärtliches Lächeln huschte über ihre Lippen. Plötzlich war der Akkadier verlegen und sagte: »Wir sollten aufbrechen.« Und das taten sie auch, ohne über die erstaunlichen Ereignis se des Vortages zu sprechen. Etwa eine Stunde später saß Mathayus im Sattel seines Kamels, und Cassandra und Arpid ritten auf Pferden, die von Thorak und seinen Kriegern stamm ten, während die Wüstensonne erneut auf sie niederbrannte. Noch immer konnte sich Mathayus nicht richtig konzentrieren und seine nächsten Schritte planen, so überrascht war er, am Leben zu sein. Zum ersten Mal seit vielen Tagen dachte er nicht ununterbrochen an Memnon. »Ich möchte dir danken«, sagte der Akkadier zu der Zauberin. Sie wandte sich ab und lächelte still vor sich hin. Sie wollte ihm nicht zeigen, wie sehr sie sich über seine Dankbarkeit freute. Erst nach einer Weile sah sie ihn wieder an, und ihr Gesicht war eine schöne, ausdruckslose Maske. Sie sagte: »Dankbarkeit ist hier nicht nötig. Das war reiner Eigennutz. Wenn du gestorben wärst, so wären auch wir ...« Doch eine Explosion unterbrach sie, ein lautes Dröhnen, das den Wüstenboden zu erschüttern schien. Verwirrt blickte der Dieb zum Himmel. »Donner? Ohne Wolken?«
Mathayus sah die schwarzen Rauchschwaden, die über einer nahe gelegenen Düne aufstiegen. Prüfend sog er die Luft ein, und ein vertrauter chemischer Geruch kitzelte seine Nase. »Das ist kein Donner. Aber ich glaube, ich weiß, wer dafür verantwortlich ist.« Ein winziger Bursche tauchte aus der schwarzen Wolke auf. Er rannte wie ein Mann, der aus einem brennenden Haus flieht. Doch Philos, der Wissenschaftler, hatte keine Angst. Er war hingerissen. »Es funktioniert! Es funktioniert endlich!« Begeistert rannte der kleine, rußverschmierte Kerl den sandi gen Abhang hinab, und als er das Trio sah, wuchs seine Begeisterung noch. Er eilte ihnen entgegen, und es sah fast so aus, als vollführte er einen kleinen Tanz. »Ah, ich wusste es!«, rief der Wissenschaftler. »Ich wusste, dass Ihr in der Nähe wart, meine Dame. Ich habe es gefühlt letzte Nacht. Und eine meiner Erfindungen hat es bestätigt. Also habe ich diesen Weg eingeschlagen.« Der Wissenschaftler verbeugte sich tief und voll Hochachtung vor Cassandra und sagte: »Meine Seherin - und du, Barbar, seid gegrüßt. Versteht Ihr? Ich habe die chinesische Mixtur verbessert! Mein magisches Pulver funktioniert!« Die drei Reisenden betrachteten dieses Energiebündel über aus erstaunt und schwiegen. »Übrigens«, fragte der Wissenschaftler leichthin, »habt Ihr zufällig etwas Wasser übrig? Ich habe absolut keins mehr.« Der Ziegenlederbeutel war beinahe leer, doch der Wissen schaftler schlug vor, nach Vögeln Ausschau zu halten und ihnen zu folgen, denn >unsere geflügelten Freunde<, wie er sie nannte, kannten sicher den Weg zur nächsten Oase. Und nicht einmal eine Stunde später erreichten sie eine Oase, die so schön und so vollkommen war, dass sie eigentlich eine Luftspiegelung hätte sein müssen. Doch das war sie nicht. Sie
war echt. Und das bestätigten auch die Vögel, die über den Palmen ihre Kreise zogen. Unweit der Oase ragten Berge steil in die Höhe, und die Wüste schien jetzt nur mehr ein Teil der Welt zu sein; sie füllte nicht mehr die ganze Welt bis zum Horizont aus. Kristallklares Wasser schimmerte in einem Felsenteich unter der Sonne. Cassandra kniete nieder und bildete mit ihren Händen eine Schale, um von der kühlen Flüssigkeit zu schöp fen. Sie blickte auf zu Mathayus, der neben ihr stand. Seine Beine schwankten noch ein wenig, doch es ging ihm eindeutig besser. Sie fragte: »Sollen wir es wagen, davon zu trinken? Oder ist es vergiftet?« Bevor der Akkadier antworten konnte, schoss der kleine, schmutzige Dieb an ihnen vorbei und sprang ins Wasser, das hoch aufspritzte, während er selbst tief hinabtauchte. »Jetzt schon«, meinte Mathayus. Trotzdem trank sie das Wasser, und der Akkadier ging neben ihr in die Hocke und füllte den Ziegenlederbeutel und mehrere Wasserflaschen. »Wo sind wir?«, fragte sie. »Ich bin mir nicht ganz sicher«, sagte er. »Was … was werden wir als Nächstes tun? Wohin werden wir gehen?« »Es kommt mir so vor, als sei ich zu früh aus der Unterwelt emporgestiegen. Ich muss zugeben, dass ich noch nicht klar denken kann.« Sie berührte seinen Arm. Ihr Lächeln war so hinreißend wie die Oase. »Das kommt schon noch. Du brauchst Zeit. Nur ein wenig Zeit.« Eine vollkommene Oase, dachte er. Zu vollkommen? Sie wollte noch etwas sagen, doch er unterbrach sie.
»Still«, raunte er, und sein Blick glitt langsam über ihre Umgebung. Er führte seine Hand zum Krummsäbel ... ... und überall um sie herum schien der Sand zu explodieren, der die Wasserstelle wie ein Ring umgab. Männer mit harten und wilden Gesichtern, die Lederrüs tungen und Tierhäute trugen, erhoben sich aus den Erdlöchern, in denen sie sich verborgen hatten, warfen sandfarbene Schilf matten ab und zielten mit Armbrüsten und Schleudern auf die kleine Gruppe. »O je«, stöhnte Philos, der am Wasser kniete. »Banditen«, sagte Mathayus schwer atmend. Doch Männer wie diese hatte er schon einmal gesehen. Er kannte ihren Kriegsschmuck, die Halsbänder aus Knochen und Perlen. Cassandra hielt sich an seinem Arm fest, als die Banditen vorrückten. Zu fliehen oder zu kämpfen war unmöglich angesichts der Armbrüste, die auf ihre Kehlen gerichtet waren. Nicht einmal in Bestform hätte Mathayus eine Chance gehabt. »Ich lebe!«, schrie Arpid, schoss aus dem Wasser in die Höhe und plantschte herum wie ein kleines Kind. Dann sah er die Banditen und hörte auf, im Wasser herumzu spritzen. »Noch«, sagte Arpid, und das Wasser rann über sein Gesicht wie Tränen.
Höhlenmenschen
Mathayus, Cassandra, Arpid und Philos, dieses seltsame Quartett Wüstenreisender, wurden aus der Oase in die Berge getrieben, die sich am Rand der idyllischen Wasserstelle erhoben. Wuchtige Felsen, überhängende Ranken und der Schleier der Vegetation bildeten eine natürliche Tarnung, die
den Eingang zu einer großen Höhle verbarg. Eine Karawane hätte eine ganze Nacht in der Oase verbringen können, ohne zu ahnen, dass in unmittelbarer Nahe das Bergversteck der Banditen lag. Jedenfalls dann, wenn die Karawane Glück hatte und diesen gut verborgenen Manner nicht zum Opfer fiele. Die schmutzigen Banditen führten die kleine Gruppe durch einen dunklen, feuchten Gang, der von Fackeln erleuchtet wurde, plötzlich mündete die Höhle in ein offenes, natürliches Amphitheater Es war später Nachmittag, und Sonnenflecken funkelten auf der erstaunlichen, tempelgroßen Arena, in der zahllose Zelte und Holzstege sichtbar wurden Die kleine, abgeschiedene Welt aus roh behauenem Holz, Seilen, Baum ranken und Leinwand war von grünen Kletterpflanzen umge ben, über denen sich die kahlen Felsklippen erhoben. Überall hatten die Banditen ihre Beute verstaut, die zweifellos aus Memnons Karawanen gestohlen worden war, und das schien dem Akkadier das edelste Ziel, das sich ein Bandit aussuchen konnte. Doch der Meuchelmörder und seine kleine Gruppe waren und blieben Gefangene, selbst wenn die Banditen denselben Feind hatten. Mathayus und seine Gefährten wurden von bewaffneten Wachen in die Mitte der natürlichen Arena geführt, während unzählige der Höhlenbewohner näher kamen. Die Menge bestand aus Banditenkriegern, die mit Schilden und Speeren bewaffnet waren. Sie trugen Lederrüstungen und hatten sich mit der Kriegsbemalung verschiedener Stamme geschmückt. Frauen und Kinder mischten sich unter die Männer, drängten sich heran und warfen den Gefangenen unverhüllt misstrau ische Blicke zu. Überraschenderweise wirkten einige Gesichter verängstigt, was besonders für die Frauen und Kinder galt. Keiner der Höhlenkrieger konnte sich mit Mathayus' Größe und Kraft messen - und keine der Frauen besaß die exotische Schönheit Cassandras.
Andererseits gab es auch nur wenige Gestalten, die so kläg lich anzusehen waren wie Arpid und Philos. Sie standen in der Nahe des größten Zeltes, das aus Holzbal ken und Leinwand errichtet worden war Plötzlich wurde eine Zeltplane, die als Eingang diente, beiseite geschoben, und ein Mann erschien, den Mathayus nur zu gut kannte Es war der nubische Riese Balthazar, den der Akkadier ver spottet hatte. Das Kama, diese Waffe, die so leicht tödlich sein konnte, war bei der Stammesversammlung von König Pheron zwischen ihnen hin- und hergeschleudert worden. Balthazar sah ebenso stattlich und beeindruckend aus wie bei ihrer letzten Begegnung. Locken, die Seilen glichen, hingen von seinem ansonsten kahlen Schädel, seine gewaltigen Muskeln schienen wie aus Ebenholz geschnitzt, und im Ge sicht, das von schmalen Augenschlitzen und einer breiten Nase beherrscht wurde, trug er die rituellen Ziernarben. Schlachtper len hingen um seinen baumstammgleichen Hals, und seine Schultern waren so breit, dass es unmöglich war, beide zugleich mit einem einzigen scharfen Blick zu erfassen. Einen Augenblick lang erstarrte der nubische König, und dunkle Wut stieg in ihm auf wie Rauch in einem brennenden Haus. Dann verzog dieser nubische Berg von einem Mann die Oberlippe zu einem höhnischen Grinsen. »Meuchelmörder«, sagte er, und seine tiefe Stimme vibrierte. »Die Götter meinen es gut mit mir. Als wir uns das letzte Mal begegneten, warst du so freundlich, allen anzubieten, mich zu töten.« Schwer ließ sich der Riese auf einem Thron aus Baumstäm men und Flechtwerk nieder. »Und jetzt habe ich die Möglichkeit, deine Freundlichkeit zu erwidern.« Cassandra sah Mathayus an und erwartete, dass er etwas ent gegnen würde. Doch der Akkadier schwieg und blickte konzentriert und
ohne mit der Wimper zu zucken auf sein Gegenüber. »Meine Kundschafter«, sagte Balthazar, lehnte sich vor und stützte die Hand auf sein Knie, »haben mir berichtet, dass deine Mission misslungen ist. Es heißt, dass der Zauberer noch lebt.« Mathayus antwortete nicht. Und Cassandra fragte sich, ob sie in Gefahr wäre, würde der Nubier herausfinden, wer sie war. »Meine Kundschafter haben mir auch berichtet, dass deine beiden Brüder ermordet wurden. Und doch hast du genau den gleichen Eid abgelegt wie sie: So lange auch nur einer von euch noch einen Tropfen Blut im Leib hat, wird der Zauberer sterben. Wie kommt es dann, dass du überlebt hast?« »Gib mir ein Schwert«, erwiderte Mathayus, »und ich werde mein Bestes tun, um dir die Sache zu erklären.« »Kühne Worte!« Der Nubier rutschte auf seinem Holzthron hin und her. »Die tollkühne Prahlerei eines Eindringlings.« »Wir sind keine Eindringlinge. Deine Leute haben uns hierher gebracht.« »Schweig!« Balthazar deutete mit einem seiner dicken Finger auf den Akkadier. »Unser Überleben hängt davon ab, dass dieses Versteck geheim bleibt. Wodurch du zu einem Problem wirst, Akkadier. Solange du lebst, zumindest.« Schüchtern trat der kleine Dieb vor. »Verzeiht, edler Herr, ich wage dies nur, um Euch die Wahr heit zu sagen, denn ich bin überzeugt, Ihr seid gerecht. Also, was mich angeht - ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie ich hierher gekommen bin. Ich habe einfach nicht aufgepasst. Und außerdem bin ich beinahe blind.« Balthazar knurrte den kleinen Mann an, und sein Gesicht war so hart wie die Felsen, die sie umgaben. Jetzt trat der Wissenschaftler nervös lächelnd nach vorn. »Was mein ungeschickter Freund zum Ausdruck bringen
möchte, ist unsere Verlegenheit und unser Bedauern über die Tatsache, dass wir so einfach in Euer innerstes Heiligtum gestolpert sind. Edler Herr, solltet Ihr unser Leben verschonen, so soll es uns eine außerordentliche Freude sein zu vergessen, dass wir jemals auch nur das geringste Fleckchen Eurer, äh, bezaubernden kleinen Enklave gesehen haben. Gut. Nachdem wir uns also alle einig sind, brechen wir am besten auf.« »Das«, sagte der König, »ist eine Möglichkeit, die euch nicht offen steht.« Und Balthazar erhob sich mit entschlossenem Gesicht, als hätte er eine Entscheidung getroffen. Aus den Augenwinkeln sah Mathayus wie sich jemand durch die Menge schob - nein, nicht einfach jemand, sondern eine ganze Gruppe. Es waren etwa ein dutzend Menschen die sich derb einen Weg durch die Zuschauer bahnten. »Balthazar1«, rief eine Frau mit kraftiger Stimme. Königin Isis erschien, eine dunkle, edle Schönheit in knapper Lederrüstung Ihre überlebenden Kriegerinnen umgaben sie, wilde faszinierende Geschöpfe, deren Zahl seit dem Stammes rat in Ur erheblich zusammengeschrumpft war. Stolz stand sie da, die Hände in die Hüften gestemmt, und blickte zu dem riesigen nubischen König auf. »Du brichst deine eigenen Gesetze, wenn du diese Besucher einfach abschlachtest. Du weißt sehr wohl, dass dieser Ort den Feinden Memnons heilig ist.« Balthazar zitterte vor unterdrückter Wut und schwieg, doch er wandte den Blick nicht von ihr. »Der Wind trägt die Geschichten über das Land«, fuhr Isis fort, »und sie erzählen davon, wie sich die mutigen Akkadier gegen Memnons Manner erhoben. Nun, ich weiß, dass sich einige hier unter uns befinden, die meinen Stamm nicht allzu sehr mögen. Dazu gehörst auch du, Balthazar. Manche Männer fürchten sich vor starken Frauen.« »Isis«, drohte Balthazar, »fordere meine Gutmütigkeit nicht
heraus.« Sie fuhr fort, als hätte er nichts gesagt, und richtete ihre Worte eher an die Menge als an den König. »Ich zum Beispiel mag die Stämme aus den Bergen im Wes ten auch nicht allzu sehr.« Sie deutete auf einige Manner mit bemalten Gesichtern, die mitten in der Menge standen. »Und doch haben wir sie aufgenommen, so wie wir alle auf nehmen, die hierher kommen und Schutz suchen in einer Zeit, die so sehr von Memnons Gräueln erfüllt ist. Gleichgültig, wie unsere persönlichen Gefühle auch immer aussehen mögen.« Balthazar schüttelte den Kopf. »Der Akkadier ist anders«, sagte er. »Er ist ein Meuchelmörder. Jeder kann sich seine Loyalität kaufen - sofern er dafür am meisten zahlt. Deshalb ist er gefährlich.« Doch Isis schüttelte den Kopf. »In dieser Angelegenheit ist dem Urteilsvermögen getrübt.« Der nubische König warf den Kopf zurück und brüllte: »Es ist mein Urteilsvermögen, das jeden von euch hier am Leben erhält!« Dann ging Balthazar zu den Gefangenen. Er pflanzte sich vor ihnen auf und sagte: »Schafft mir die Frau und die beiden anderen aus den Augen.« Der Akkadier trat vor Cassandra und sagte mit unheilvoller Stimme: »Eine eindeutige Warnung, König. Die erste Hand, die sie berührt, schneide ich ab.« Cassandra sah Mathayus, wie sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Die Sorge und die Leidenschaft in seiner Stimme und in seinen Augen waren deutlich spürbar. War es möglich, dass dieser Mann sie liebte? Balthazar zog sein mächtiges Schwert und grinste erbar mungslos: »Ich hätte mir keine bessere Einladung vorstellen können, Akkadier.« Mathayus sprang zur Seite, und so sicher und geschickt, als
wollte er einen Apfel pflücken, zog er ein Schwert aus dem Gürtel eines der Wächter. Sofort wich die Menge zurück und schuf eine größere Arena, als der Akkadier furchtlos auf den riesigen Nubier zustürmte, der selbst mit erhobenem Schwert auf die näher kommende Gefahr zuschoss. Die Schwerter prallten mit unglaublicher Wucht aufeinander und wurden buchstäblich zerschmettert. Unter den Hieben der gewaltigen Krieger splitterten die mächtigen Klingen wie Glas. Mathayus und der Nubier sprangen zurück, und jeder betrach tete sprachlos sein Schwert, das unmittelbar oberhalb des Griffs abgebrochen war. Einen Augenblick lang schien die Zeit stillzustehen, und die beiden starrten sich an, als fragten sie sich, was sie nun tun sollten. Dann trafen beide die gleiche Entscheidung und stürmten mit erhobenen Fäusten aufeinander zu. Die Menge johlte vor Vergnügen, denn diese rauen Burschen waren stets dazu bereit, einem Kampf auf Leben und Tod zwischen zwei fast gleichwertigen Gegnern zuzuschauen. Und ihn zu genießen. Der Akkadier war ein wenig kleiner als der Nubier, und die Muskeln des Königs waren so gewaltig, dass der Akkadier dagegen beinahe leicht und geschmeidig wirkte. Die blosse Masse machte die Schläge des Königs wuchtiger als die des Meuchelmörders, doch durch Mathayus' flinke Gewandtheit waren sie sich ebenbürtig. Beide Kämpfer schwankten unter den Schlägen, doch keiner ging zu Boden und keiner gewann die Oberhand. Frustriert packte Balthazar einen Eisentopf von einer der Feuerstellen und rammte ihn beim nächsten Angriff gegen den Kopf des Akkadiers. Benommen stolperte Mathayus nach hinten und fiel in ein Zelt, das er mit sich zu Boden riss. Balthazars Männer warfen ihrem König einen Kampfstock zu, und der Nubier trat nach vorn und schlug nach Mathayus, der sich auf der Zeltplane hin und her rollte und flink den herab
prasselnden Schlägen auswich. Mathayus fand die hölzerne Zeltstange unter der Plane, er packte sie und parierte die Angriffe des Nubiers und seiner herabsausenden Waffe. Die Schläge und Paraden der beiden Männer antworteten einander so perfekt, dass es schien, als würde der Kampf nie entschieden werden. Jeder Angriff und jede Abwehr bewiesen aufs Neue, wie ebenbürtig sich die Krieger waren. Jetzt war der Akkadier frustriert, und er bot alle Wut auf, zu der er fähig war, um diesem ritterlich-freundlichen Schlagab tausch, zu dem ihr Zweikampf inzwischen geworden war, ein Ende zu bereiten. Er schrie auf in archaischem Zorn, stürzte sich auf den Nubier, ließ seinen Stock durch die Luft sausen wie eine Sichel durch Dschungelgras und trieb den überrasch ten Riesen zum Ruckzug. Die Raserei des Akkadiers triumphierte über die überlegene Kraft des Königs, und mit einem Schlag, der seine hölzerne Zeltstange zersplittern ließ, schlug er dem Nubier den Kampf stock aus der Hand, der so weit davonflog, dass der König nicht mehr nach ihm greifen konnte. Dann trieb er Balthazar gegen eine Holzwand ... ... und der zersplitterte, gezackte und immer noch scharfe Holzstock fand den Weg an die Kehle des Nubiers und drückte sich in dessen Fleisch. Im Amphitheater der Banditen herrschte Totenstille. Jeder wusste, dass Mathayus den König augenblicklich toten konnte, wenn er härter zustieß. Besonders Balthazar wusste das. Doch obwohl der Akkadier die Spitze seines Stocks noch immer gegen die Kehle des Königs hielt, tat er etwas ganz anderes. Er sprach. »Wir sind Brüder, Balthazar. Wir dienen derselben Sache.« »Brüder?«, entgegnete der mürrische Krieger bitter. »Du hast meinem Volk den Tod gebracht. Memnon wird dich verfolgen, so sicher wie die Nacht dem Tag folgt.«
»Ich habe die Soldaten getötet, die er nach mir ausgeschickt hat. Ihre Knochen bleichen im Wüstensand.« Die Augen des Nubiers funkelten und seine Nasenflügel zitterten. »Memnon wird neue Soldaten aussenden! Er wird so lange nicht aufhören, bis er sie hat - seine Zauberin.« Obwohl er gegen die Wand gedrückt wurde, gelang es dem großen Mann, auf die erschrockene Zauberin zu deuten. »Ja, Akkadier, ich weiß, wer sie ist. Sie ist nicht nur eine Hure, deren Ehre du verteidigst. Sie ist die Seherin, die Mem non um jeden Preis wiederhaben will.« »Und sobald er sie und ihre mächtigen Visionen wieder hat«, sagte Mathayus, »wird er hierher kommen. Schneller und tödlicher als jemals zuvor.« Mathayus gab die Kehle des Königs frei, wandte sich dann an die Menge und sprach mit lauter, kräftiger Stimme: »Memnon wird überhaupt nirgendwo Halt machen!« Den Stock in der Hand, schritt er durch die Arena. »Versteckt euch hier, so lange ihr könnt. Aber glaubt mir, wenn ich euch sage, er wird euch finden. Wenn ihn niemand aufhält. Sollte das nicht geschehen, wird er dieses Land verhee ren wie eine schreckliche Krankheit, und er wird euch alle auslöschen.« Ein tiefes, dröhnendes Lachen schüttelte die Brust des nubi schen Königs. »Und wer wird ihn aufhalten, Akkadier?.« Mit erhobener Augenbraue wandte sich Mathayus an Baltha zar. »Wirst du allein dich seinen rasenden Heeren entgegen stellen?«, fragte der König. Er lachte nicht mehr, sondern seine Frage klang völlig nüchtern. Ohne zu zögern sah Mathayus Balthazar direkt ins Gesicht und sagte: »Ja.« Die Menschen im Flüchtlingslager betrachteten ihn mit ehr fürchtigem Schweigen. Ein Schauder durchfuhr Cassandra,
denn eine innere Stimme sagte ihr, dass sie in diesem Augen blick die Geburt eines Königs miterlebte. Und sogar Balthazar schien den Akkadier in neuem Licht zu sehen. Schließlich hatte noch nie ein Krieger bei einem Kampf mit dem riesigen Nubier ein Unentschieden erreicht. Der nubische König stieß einen schweren Seufzer aus. Sein Leben war verschont worden, also war es in Ordnung, wenn er ein kleines Zugeständnis machte. »Eine Nacht in unserem Versteck - und dann bete zu den Göttern, Akkadier, dass sich unsere Wege nie wieder kreuzen.« Der König verschwand in seinem Zelt, die Wachen zogen sich zurück und Mathayus und seine kleine Gruppe mischten sich unter die versammelten Stämme. Als Banditen hatten diese Männer Memnon beraubt und ihm immer wieder kleine Nadelstiche versetzt; doch jetzt wussten sie, dass sich unter ihnen einer befand, der mutiger war als sie und der erklärt hatte, er wolle sich Memnon und seinen Lakaien allein entge genstellen, wenn es sein musste. Als der purpurne, sternenübersate Mantel der Nacht sich funkelnd über das von Steilklippen umgebene Lager senkte, erklang an den Lagerfeuern Musik. Flöten und Trommeln stimmten einfache und doch wohlklingende, primitive und doch kunstvolle Melodien an. Eine wohlwollende Atmosphäre erfüllte die hereinbrechende Dunkelheit, und die Feindschaft, die im Kampf zwischen dem Akkadier und dem König zum Ausdruck gekommen war, hatte sich in einen Waffenstillstand verwandelt, der fast schon einem Bündnis glich. Man hatte den Besuchern ein Zelt zur Verfügung gestellt. Cassandra schlenderte darauf zu und genoss die Musik und die Kameradschaftlichkeit. Sie hielt an einem großen Feuer inne, um das sich eine freundliche Gruppe Menschen versam melt hatte. Drei Schweine steckten auf einem einzigen langen Bratspieß über den Flammen. Der kleine Pferdedieb saß
inmitten seiner neuen Bekannten. Im Augenblick hatte er sich mit einer der schönen, wilden Kriegerinnen von Königin Isis auf einen Wettkampf im Armdrücken eingelassen. Die Königin selbst sah zu und feuerte ihre Kriegerin an, während der exzentrische Wissenschaftler Arpid anspornte. Das Kamel Hanna stand in der Nahe, senkte den Kopf in einen Futtersack und zeigte sich nicht sonderlich interessiert. Mathayus aller dings war nirgendwo zu sehen. Philos sagte: »Es kommt auf die Hebelwirkung an, mein Junge! Die Hebelwirkung! Hier geht es nicht nur um Kraft. Es geht auch um Wissenschaft.« Und genau in diesem Augenblick knallte die lachende Krie gerin Arpids Faust auf den Tisch. Philos schüttelte den Kopf und kicherte. Der Dieb massierte seine schmerzende Hand und meinte: »Ein Mann von Ehre lässt eine Dame immer gewin nen.« Dann wandte er sich an die anmutige Kriegerin und fragte voller Zuversicht: »Drei Runden - und man muss zweimal gewinnen, um zu siegen?« Cassandra lächelte über die Launen des Diebs und schlender te weiter. Sie hatte etwa die halbe Strecke zu ihrem Zelt zurückgelegt, als ein kleiner Junge von vier oder fünf Jahren neben ihr auftauchte und sie am Ärmel zog. Sie sah hinab, und er blickte mit großen, dunklen Augen bewundernd zu ihr auf und bot ihr in einer Schale Datteln an. Sie fragte sich, ob sie jemals ein hübscheres Kind gesehen hatte. Lächelnd nahm sie von den angebotenen Früchten und strich dem Jungen über das Haar. Einen Augenblick lang war sie keine Seherin mehr, sondern nur noch eine Frau, eine junge Frau, die daran dachte, zu heiraten und selbst Kinder zu haben - in deren Adern vielleicht akkadisches Blut fließen würde. Doch als sie den Jungen berührte und ihre Finger sein Haar zerzausten, hatte sie plötzlich eine Vision ... ... und sie sah sich selbst genau an der Stelle niederknien, an
der sie das Geschenk des Jungen entgegengenommen hatte, und wieder lag ihre Hand auf seinem Kopf, wieder strichen ihre Finger durch sein Haar, doch jetzt war sein Körper kalt und starr und tot. Um sie herum im Versteck der Banditen zerrissen Schreie die Nacht, und ein Feuer brannte die Zelte und Holzstege nieder. Sie sah zum Himmel auf und fragte die Götter: Warum? Stumm strahlte der volle Mond auf sie herab. Sie drehte sich um und ließ den Blick über das Lager schweifen. Überall lagen tote Männer und Frauen und Kinder, und überall war Blut. Ganz in der Nähe lag der kleine Pferdedieb. Im Tod hatte er die Augen weit aufgerissen, und sein magerer Korper war verdreht. Sie hörte dröhnende Hufschläge, und dann sah sie Memnon, der direkt auf sie zuritt, die Wachen in den roten Turbanen an seiner Seite, während die übrigen Soldaten das Lager verwüs teten und alles vernichteten, was noch atmete. Wütend starrte der Kriegsherr seine Zauberin an, und doch wollte er sie wiederhaben. Immer näher stürmte er, um seine Seherin zu holen. Sie zuckte zusammen, als er von seinem galoppierenden Pferd herab nach ihr griff, um sie in seine Arme zu ziehen, und entsetzt wandte sie sich ab ... ... und war wieder im Lager, und die einzigen Flammen, die es gab, spendeten Wärme in der Nacht; auf den Feuern wurden Speisen gekocht, und das einzige Kreischen, das sie horte, war kreischendes Gelächter. Der kleine Junge sah sie merkwürdig an. Er fürchtete sich. Ihre Trance war ihm unheimlich, und er lief davon. Mit raschen, doch unsicheren Schritten ging sie zu ihrem Zelt, das zwischen mehreren Felsen in der Nähe eines Lagerfeuers stand, kroch hinein, setzte sich auf den Boden und betrachtete durch eine Öffnung in der Zeltplane den Mond - den fast vollen Mond. Etwas später trat Mathayus in das Zelt. Er spürte ihr Unbeha
gen und fragte: »Ist etwas nicht in Ordnung?« Sie sah ihn nicht an. Ihre Augen waren noch immer auf den Mond gerichtet. »Memnon weiß, dass ich hier bin. Er wird es jedenfalls sehr bald wissen.« Sie deutete zum Himmel hinauf. »Der Mond tritt ins Haus des Skorpions. Morgen Nacht wird geschehen, was ich in meiner Vision gesehen habe. Memnon wird seine Heere in Marsch setzen, dieses Lager stürmen - und es vernichten.« Mathayus kniete sich neben sie. »Der Mond ist nichts weiter als der Mond. Memnon wird durch diese Hände sterben. Vergiss die Prophezeiung.« Sie sah ihn an und bewunderte seinen Mut, doch sie wusste, wie lächerlich es war, wenn gerade er nicht an geistige Mächte glaubte. Schließlich waren es einzig ihre magischen Kräfte, die ihm das Leben gerettet hatten. »Ich muss es wissen«, sagte sie. »Was wissen?« Zart legte sie ihre Finger an seine Wange, schloss die Augen und beschwor eine Vision herauf. Ein blendend weißer Blitz durchfuhr sie ... ... Memnon stand auf einem Altar, der in seinem hohen Pa lasthof errichtet worden war, und Gomorra breitete sich vor ihm aus wie ein Bankett. Er hatte die Hände zum Himmel erhoben, wo ein riesiger Mond, der Vollmond, in einem Silber kreis erstrahlte, er leuchtete intensiver als die Sonne bei Tag. »Ihr großen Götter im Himmel«, rief Memnon, und seine Stimme hallte über die Stadt hinweg, »blickt auf mich herab! Und macht mich zu einem von Euch.« Hinter dem Kriegsherrn schlich Mathayus leise über den Hof, das Schwert in der Hand. Er näherte sich den Stufen, die hinauf zum Altar führten. Der Kriegsherr stand mit dem Rücken zum Akkadier. Cassandra schauderte, denn die Vision hörte hier noch nicht auf, sie änderte sich nur, denn jetzt ...
... hastete ein Soldat, der einen roten Turban trug, durch einen von Fackeln beleuchteten Gang des Palastes. Er hatte einen Bogen in der Hand, und von seinem Rücken hing ein Köcher mit Pfeilen. Der Soldat rannte durch ein Tor, das auf den Hof führte, und trat auf eine kleine gelbe Blume, die zwischen den Steinen wuchs. Der Bogenschütze sah, wie sich Mathayus mit erhobenem Schwert dem Kriegsherrn von hinten näherte. Er legte an, schoss, und der Pfeil ... traf den Akkadier in den Rücken! Mathayus fiel auf den Palastboden und ... ... Cassandra schrie: »Nein!« Im Mondlicht, das durch die Öffnung zwischen den Zeltpla nen hereindrang, umfasste Mathayus die Frau mit seinen Armen, doch die Zauberin wandte sich ab, presste die Augen zusammen, und eine einzige Träne glitt wie ein funkelndes Juwel über ihre zarte Wange. »Was hast du gesehen?«, wollte der Akkadier wissen. Sie schluckte und weigerte sich zitternd, ihn anzusehen, doch sie antwortete »Wenn du Memnon angreifst wirst du zugrunde gehen. Du wirst sterben Das, Akkadier, ist dein Schicksal.« Er sagte ihren Namen und drehte sie zu sich Er hielt ihr Kinn zwischen den Händen, hob ihr Gesicht und sah in ihre gequäl ten Augen. Tränen hingen in ihren Wimpern wie Perlen. »Hör mir zu«, erwiderte er, und trotz der düsteren Prophe zeiung konnte sie in seinem Gesicht keine Angst erkennen nur ein schwaches Lächeln, das, so schien es, jeder Vision trotzen wollte, die versuchen würde, ihn zu unterwerfen. »Ich schaffe mein eigenes Schicksal.« Sie zuckte zusammen, als sie diese Worte hörte, und schüt telte langsam den Kopf. Es war, als spräche er eine fremde Sprache Wie konnte er so etwas nur glauben - und zu allem Uberfluss diese Worte auch noch aussprechen? Sie hatte ihr bisheriges Leben mit Menschen verbracht, die ohne zu zögern taten, was ihre Prophezeiungen verlangten, und die ihre Worte
und alles, was diese Worte bedeuten mochten, fürchteten. Und doch glaubte dieser eine Mann, dass die Worte der Götter seinem Willen unterworfen waren - dass die Zukunft etwas war, das man formen konnte. Hat er Recht?, fragte sie sich. Konnte ein Mensch, ein Sterblicher, den Lauf des Schick sals ändern? »Hast du nicht genug von diesen Visionen?«, fragte er sie. Noch immer hatte er dieses leichte Lächeln auf den Lippen, doch seine Stimme klang anders. Leidenschaftlich. »Was … was meinst du damit?« Der Akkadier zog sie in seine Arme und küsste sie tief und leidenschaftlich, und sie umschlang ihn verzweifelt und erwiderte seine Küsse mit demselben Hunger wie er. Sacht ließ er sie auf den sandigen Boden sinken, und während die Flammen des Lagerfeuers auf und nieder flackerten, als feierten sie ein Fest, vereinigten sich ihre Seelen. Und nicht nur ihre Seelen. In seinen Armen liegend, betrachtete Cassandra diesen muti gen, närrischen Mann, er schlief, und sein Schlummer war tief. Er hatte mit Balthazar gekämpft, nachdem er in der Nacht zuvor beinahe gestorben war, und das war eine Meisterleistung, die nur wenige andere überlebt hätten. Doch für Mathayus schien es lediglich zu bedeuten, dass er eine Nacht durchschla fen musste. Sie konnte es nicht wagen, ihn zu küssen - nicht einmal auf die Stirn oder die Wange -, denn möglicherweise würde er dann aufwachen. Stattdessen glitt sie mit leidendem und zugleich erfülltem Herzen aus seiner schlummernden Umarmung und trat hinaus ins Mondlicht. Sie fühlte sich verwandelt - fühlte sich mehr als Frau und vielleicht weniger als Seherin, und trotzdem glaubte sie an eine Welt jenseits unserer sichtbaren Welt. Sie ging zum Rand eines
Abgrunds, und im elfenbeinfarbenen Licht des Mondes ent zündete sie in einer kleinen Zeremonie eine Kerze, kniete nieder und stellte sie auf einen Felsen. Ruhig vor der flackernden Flamme kniend, flüsterte sie leise ein Gebet. Dieser Mann, sagte sie zu dem fast vollen Mond, glaubt, dass die Zukunft, die du mir gezeigt hast, geändert werden kann. Führe mich, Mutter, auch wenn deine Tochter jetzt eine Frau ist. Führe mich auch weiterhin und sage nur, was ich tun soll! Sie lauschte, und in ihr stiegen Gedanken auf, von denen niemand zu sagen vermag, ob sie von ihrer mystischen Mutter oder von ihr selbst kamen. Und doch verpflichtete sie sich, genau das zu tun, was diese Gedanken von ihr verlangten, gleichgültig, wie gefährlich auch immer es sein mochte, denn jetzt hoffte sie, mit ihren eigenen Mitteln die Zukunft zu ändern. Cassandra blies die Kerze aus und lächelte. Kurz darauf erreichte sie die Koppel, in der die Banditen ihre Pferde und Kamele untergebracht hatten. Natürlich ging sie zu dem weißen Tier. Sie stand neben Hanna und streichelte freundlich die Schnauze des Kamels. »Du liebst ihn auch, nicht wahr?«, fragte sie das Tier. Das Kamel schüttelte den Kopf, was vielleicht nur ein Reflex war. Vielleicht aber auch eine Antwort. »Dann«, flüsterte die Zauberin in das Ohr des Kamels, »musst du mir helfen, ihn zu retten.« Hanna tat, was sie zuvor nur für Mathayus getan hatte: Sie beugte sich hinab, all ihre Launen waren verschwunden und sie war so gehorsam wie nie. Und Cassandra stieg in den Sattel. Im Licht des fast vollen Mondes sah die anmutige Reiterin selbst wie ein Albinogeschöpf aus, und kurz darauf galoppierte sie aus der Oase heraus in Richtung Gomorra. Und zu dem Mann, den sie so sehr verachtete, wie sie den Akkadier liebte.
Die Rückkehr der Seherin
Balthazar schnarchte in seinem königlichen Feldbett, das so groß war wie ein Boot, und hatte seine Arme um eine der beiden schönen jungen Frauen gelegt, mit denen er schlief. Er war darin geübt, bei jedem verdächtigen Geräusch aufzu wachen, gleichgültig, wie tief sein Schlaf oder wie unscheinbar das Geräusch sein mochte. In der Morgendämmerung genügte ein leises Rascheln an einem der Lagerfeuer in diesem Amphi theater, das ihm als Versteck diente, und sofort erhob sich der Riese aus dem Schlaf. Von einem Felsvorsprung in der Nähe seines Zeltes aus überblickte der Nubier das Lager. Er hatte die Hände in die Hüften gestemmt und musterte die ruhige, schlafende Welt der verbündeten Stämme, diese bunt zusammengewürfelte Truppe, auf der alle Hoffnungen ruhten, wenn es eine Zukunft ohne Memnon geben sollte. Das einzige Lebenszeichen im klaren Licht der Morgendämmerung war ein einzelnes Feuer, um das der Pferdedieb, der Wissenschaftler und der Akkadier saßen. Sie unterhielten sich. Und Mathayus schien seine Waffen zusammenzustellen wie für eine Schlacht. Balthazar band sich sein eigenes Schwert um und ging den Pfad hinab, bereit, dieses Problem ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen. Er trat auf den Akkadier zu, der seine Dolche und das Kama in seinen Gürtel steckte. Den gewaltigen Krummsäbel trug er bereits. »Welchen neuen Ärger bedeutet das schon wieder, Meuchelmörder?« Mathayus antwortete nicht. Der riesige nubische Krieger, der
vor ihm stand, hätte genauso gut nicht existieren können. Im Herzen des Königs stieg Wut auf wie Dampf, doch plötz lich stand Königin Isis neben ihm, und ihre Finger lagen auf seinem Arm. Sie schien aus dem Nichts aufgetaucht zu sein. »Die Zauberin ist verschwunden«, sagte sie leise und nüch tern. »Zurück nach Gomorra.« Balthazar stieß ein schnaubendes Lachen aus. »Zweifellos zurück in Memnons Bett.« Der Akkadier wirbelte herum, und seine Augen funkelten. »Sie ist nicht seine Frau. Sie war es nie und sie wird es nie sein.« Der Nubier runzelte die Stirn. »Wenn sie deine Frau ist, Akkadier - wo ist sie dann? Warum flieht sie in die Sicherheit Gomorras?« »Sie sucht keine Sicherheit«, entgegnete Mathayus. »Sie ist mutiger als jeder Einzelne von uns - mutiger als wir alle zusammen. Hör mir zu, König. Sie hat die Vernichtung deines Volkes gesehen.« »Was? Wie ...« »In einer Vision. Letzte Nacht. Sie sah, wie Memnon hierher kam, um sie zu finden, und alle abschlachtete. Um sie wieder in seine Schlangengrube mitzunehmen. Und damit dieser Albtraum niemals wahr werden würde, ging sie zurück zu ihm. In ihr Gefängnis.«
Balthazar dachte darüber nach.
»Sie - sie hat ihre Freiheit für uns geopfert?«
Arpid hob eine Augenbraue.
»Wenn nicht mehr.«
Mathayus hatte sich wieder seinen Waffen zugewandt. Er
bereitete sich zum Aufbruch vor. »Ich hole sie zurück, bevor er ... Ich reite ihr nach.« Wieder stieß der König ein schnaubendes Lachen aus, doch aller Hohn war daraus verschwunden. »Ich verstehe. Und jetzt erwartest du, dass ich dir helfe. Dass
mein Volk dir hilft. Weil eine Verrückte eine Vision gehabt hat.« »Ich erwarte überhaupt nichts von dir ...« Der Akkadier unterbrach sich und betrachtete den Nubier mit hartem Blick. »Und gestern war sie keine >Verrückte<, sondern die Zaube rin, die Memnon zu diesem Versteck führen würde. Du selbst hattest Angst davor. Nun, das hat sie dir erspart. Also erspare du mir weitere deiner Weisheiten, o großer König.« Und der Meuchelmörder ging davon, um eins von Memnons Pferden zu satteln, dessen Reiter in der Schlacht im Sandsturm getötet worden war. Balthazars Gefühle waren gemischt. Einerseits war er wütend über den Mangel an Respekt des Akkadiers und dessen Sar kasmus, und andererseits bewunderte er den Mut dieses Mannes. Und er fühlte sich gedemütigt durch das Opfer, das die Seherin den Stammesvölkern gebracht hatte. Der Nubier schüttelte den Kopf und sagte zu Isis: »Dieser Narr. Will er allein gegen Memnon kämpfen?« Doch es war der Dieb, der ruhig antwortete: »Genau das hat er gesagt.« Und Philos fügte gewichtig hinzu: »Er ist ein Mann, der zu seinem Wort steht. Oder er ist überhaupt nichts.« Balthazar spürte, wie Isis' Blick ihn traf, und er wandte sich zu ihr. Sie sahen einander direkt in die Augen. Dann seufzte der Nubier schwer und nickte ihr zu. Und die bezaubernde Kriegerkönigin lächelte Nur Minuten später gab Mathayus seinem Pferd die Sporen und führte es durch die Öffnung zwischen den Felsen am Rand der feuchten Höhle, die zur Oase und zur Wüste führte. Plötzlich tauchte Balthazar hinter einem dieser Felsen auf. Im unheimlich flackernden Licht der Fackeln, die die Höhle beleuchteten, hob er die Hände und stellte sich Mathayus entgegen.
Der Akkadier zügelte sein Pferd und sagte ungeduldig: »Geh mir aus dem Weg! Ich habe keine Zeit für deine kleinlichen Auseinandersetzungen.« Dann trat Königin Isis neben Balthazar und stellte sich ihm ebenfalls entgegen. Mathayus runzelte die Stirn. Die Kriegerin hatte ihn zuvor unterstützt, war sie jetzt plötzlich seine Feindin7 Isis Erscheinen machte den Akkadier sprachlos, und Baltha zar nutzte diesen Moment. Mit fester Stimme sagte er: »Du reitest in den sicheren Tod, Akkadier. Wenn ich dich allein ziehen lasse«, und jetzt lächelte der König grimmig, »welcher Ruhm bleibt dann noch für mich übrig7« Überrascht fragte der Akkadier »Du würdest dich meinem Kampf anschließen?« »Wie du selbst gesagt hast Es ist nicht dein Kampf. Es ist unser Kampf.« Noch immer zügelte der Akkadier sein Pferd. Nachdenklich runzelte er die Stirn: »Ich bin es gewohnt, in kleinen Gruppen zu kämpfen. Ich weiß nicht, wie man ein Heer führt.« »Ah - das heißt also, dass du dich zum Führer eines Heeres erklärst.« Das Gesicht des Meuchelmorders zeigte keinerlei Drohung, als er sich vom Pferd herab dem Mann zuwandte, gegen den er nur einen Tag zuvor gekämpft hatte: »Ich möchte niemanden beleidigen. Aber wir haben nicht genügend Männer, um Memnons Heer offen anzugreifen. Ich würde deshalb vorschla gen, dass wir heimlich vorgehen. Eine kleine Gruppe von uns schleicht sich in seine Stadt und in seinen Palast, sobald ich seinen Kopf habe, wird seine Herrschaft enden. Dann wird es nicht mehr nötig sein, dass dein Volk sich abschlachten lässt.« »Das stimmt«, sagte Balthazar nachdenklich. »Unsere kleinen Überfalle haben Memnon mehr Schaden zugefögt als jeder noch so tollkühne offene Angriff! Das klingt vernünftig, Akkadier.« Isis trat vor »Ich würde vorschlagen, dass wir uns beeilen
Unterwegs haben wir genügend Zeit, unsere Strategie zu planen.« »Einverstanden«, meinte Mathayus. Auch der König nickte zustimmend, und dann eilten sie ms Lager zurück, um ihre Truppe zusammenzustellen. Die leuchtend orangefarbene Kugel der Sonne ging unter, und die blauen Schatten der einbrechenden Nacht senkten sich über Gomorra, als Memnon in seinem hohen Palasthof ein rauschen des Fest feierte. Die Tische waren zu einem Rechteck angeordnet worden und bildeten ein wahrhaft königliches Bankett. Sie waren überladen mit Speisen und Getränken, die jede Phantasie übertrafen - und die die Verdauung herausforderten. Die Höflinge stöhnten angesichts der Orgie dieses Mahls, und die Ehrengäste, Mem nons Generäle, legten ihre steifen militärischen Manieren ab und genossen den edlen, unablässig strömenden Wein, wäh rend ihre hungrigen Augen sich nicht von den schönen Bauch tänzerinnen lösen konnten, die vor ihnen auftraten. Flöten und Zymbeln vereinten sich mit dem Klang der Tam burine zu einer Musik, die die tanzenden Frauen inspirierte, welche ihrerseits den Generälen den Schweiß auf die Stirn trieben. Der Sohn des ermordeten Königs Pheron saß an Mem-nons Seite und widmete sich ganz unterschiedlichen Spielzeugen: zwei Huren, die ihm aus den Reihen der persönlichen Konku binen des Königs zur Verfügung gestellt worden waren, und einem gigantischen, kunstvoll geschnitzten Bogen. Die beiden Frauen liebkosten den schlanken Prinzen und überhäuften ihn mit Aufmerksamkeiten, doch Takmet konzentrierte sich auf den Bogen. Erfolglos versuchte er, die straffe Bogensehne zu spannen. Der Bogen gehörte natürlich dem Akkadier. Er hatte ihn zurücklassen müssen, als er in Memnons Harem in die Falle
gegangen war. Jeder schien sich zu amüsieren - das Fest war außerordentlich und unübertroffen -, nur derjenige nicht, der das Fest veranstal tet hatte. Memnon, der Kriegsherr, hatte wenig gegessen und noch weniger getrunken, während er in der Mitte des größten Tisches auf einem goldenen Thron saß. Er war konzentriert, angespannt und sogar besorgt. Irgendwo jenseits der Stadttore in der Wüste befand sich seine Zauberin noch immer in den Klauen des Akkadiers. Hatte dieser Bastard sie geschändet, ihre Sehergabe zerstört und ihn eines Genusses beraubt, von dem er schon lange träumte? War sie seine Gefangene oder war sie die willige Sklavin dieses kupferhäutigen Sohnes eines Kamels und einer Ziege? Nachdem die Bauchtänzerinnen ihre Vorführung beendet hatten und Applaus im steinernen Palasthof erklang, erhob sich der Große Lehrer von seinem goldenen Thron. Die Tänzerinnen rannten davon, und ihre Zymbeln an den Zehenringen, ihre Büstenhalter und Lendenschürze, die golde nen Kettenhemdchen glichen, klimperten. Die Gäste schwiegen und wandten ihre Aufmerksamkeit ihrem Gastgeber zu, der eine schwarze Lederrüstung trug. Mit lauter, bedeutungsvoller Stimme sprach Memnon: »Heute ist die erste Nacht des Hauses des Skorpions.« Vom Himmel sandte ein glänzender, beinahe voller Mond seine elfenbeinfarbenen Strahlen hinab in den Palasthof. Memnon deutete auf die leuchtende Kugel. »Wenn der Mond voll ist«, sagte er mit vibrierender, weit tragender Stimme, »werde ich auf diesem Altar stehen.« Jetzt deutete der Kriegsherr auf die breiten Stufen, die zu einem Altar führten, der im Palasthof errichtet worden war. »Und die Götter werden sich zu mir wenden. Sie werden mich auserwählen, und sie werden mich salben. Mich, den Scorpion King.« Wenn die Gäste nicht schon schweigend zugehört hätten,
wären sie jetzt gewiss mit einem Schlag verstummt. Memnons Worte waren Zeichen eines so unbändigen Größenwahns, dass sie nicht wussten, wie sie darauf reagieren sollten. Wenn man applaudierte, zerstörte man möglicherweise diesen feierlichen Augenblick; wenn man lachte, würde man umgebracht werden. Und gerade jetzt ließ Memnon seinen stählernen Blick über den Palasthof schweifen. »Und die Erde selbst«, sagte er mit leiserer Stimme, doch al ler Ohren waren seinen Worten zugewandt, »wird unter meinen Füßen erzittern.« Wieder antwortete ihm nur verängstigtes Schweigen. Roh und völlig überraschend wurde es schließlich gebrochen, als ein Stuhl über den Steinboden scharrte. Alle Blicke flogen General Toran zu, der aufgestanden war. »Mein Herrscher«, ergriff der General das Wort, »das alles ist ja gut und schön. Aber es gibt da etwas, das ich Euch mitteilen muss. Etwas, das unseren Truppen Sorge bereitet.« Die Gäste wechselten nervöse Blicke. War General Toran mutig oder einfach nur tollkühn? Flüsternd fragten sie sich, ob zu viel Wein im Spiel war. »Wie bedauerlich«, sagte Memnon mit normaler Stimme. »Natürlich bin ich beunruhigt. Alles, was meinen Männern Sorge bereitet, beunruhigt mich. Sag mir bitte, worum es geht.« Toran schien sich unwohl zu fühlen angesichts dieser gelas senen Reaktion. »Mein Herrscher«, sagte der General, »es wird behauptet, dass die Zauberin nicht länger an Eurer Seite weilt.« Memnon zuckte mit den Schultern. »Soldaten werden häufig Opfer von Palasttratsch. Du hast mein Wort, dass sie in Sicher heit ist.« »Bei allem gebotenen Respekt, mein Herrscher - wenn unsere Männer kämpfen und vielleicht sterben müssen, brauchen sie mehr als nur das.« Die Luft schien plötzlich kälter geworden zu sein; eine Wüs
tenbrise ließ die Flammen der Fackeln und Kerzen flackern. Memnon trat von seinem goldenen Thron weg und ging langsam auf den General zu. Sein Gesichtsausdruck wirkte ruhig und freundlich. Als er vor dem Mann zum Stehen kam, fragte er: »Genügt mein Wort nicht?« Jetzt schien der General zu begreifen, auf welch gefährliches Terrain er sich begeben hatte, und er überlegte, wie er sich aus dieser Lage befreien konnte. Doch er machte keinen Rückzie her. »Das ist es nicht. Euer Wort ist über jeden Zweifel erha ben. Doch die Seherin - nun, sie ist ein Symbol, das den Männern Mut macht. Und Symbole wirken am stärksten, wenn sie weithin sichtbar sind.« Memnon schien für einen Augenblick darüber nachzudenken. Dann erwiderte er: »Ich bin besorgt darüber, General, dass die Männer so wenig Vertrauen haben, dass sie ...« Eine Stimme unterbrach ihn. Es war die vertraute Stimme einer Frau. »Mein Herr? Verzeiht mir.« Alle wandten sich um, auch Memnon, und er konnte seinen Schock nicht verbergen. Die Zauberin, die über ihrem goldenen Kettenhemd, das Brust und Lenden kaum bedeckte, nur ein hauchdünnes Kleid trug und deren langes Haar von ihrem goldenen Kopfschmuck gekrönt wurde, schritt mit königlicher Haltung über den Palasthof. Als sie Memnon erreicht hatte, sagte sie: »Ihr habt darum gebeten, also bin ich hier. Vergebt mir mein Zuspätkommen.« Mit ruhigem, königlichem Blick wandte sie sich an die Generä le. »Meine Herren, verzeiht meine Abwesenheit bei den letzten Zusammenkünften des Rates. Ich habe mich nicht wohl gefühlt. Doch ihr sollt wissen, dass mein Geist zu neuen Kräften gekommen ist, denn unser Sieg steht unmittelbar bevor.« Die Generäle blickten sie mit großen Augen an. Toran wäre bei ihrem Anblick beinahe zurückgetaumelt.
Leichthin sagte Memnon zu den Generälen: »Genügt das, um die Männer zu beruhigen?« Dann wandte er sich an Cassandra. »Bitte sag den Generälen, was du gesehen hast, meine Zaube rin.« Langsam glitt ihr Blick über die versammelten Gäste. Die flackernden Fackeln warfen dunkle Schatten über den Palast hof, der in elfenbeinfarbenes Mondlicht getaucht war. »Ich sehe einen großen Sieg. Eure Feinde werden euch deut lich vor Augen stehen.« Den etwas angetrunkenen Generälen fiel nicht auf, wie viel deutig diese Worte waren. Sie lächelten voller Zuversicht und griffen nach ihren Weinkelchen. General Toran stand noch immer da, doch er hatte den Kopf verdrießlich gesenkt. Mit einem dümmlichen Lächeln sagte er: »Mein Herrscher, ich entschuldige mich in aller Form.« Memnon hob die linke Hand und wischte die Entschuldigung großmütig beiseite. »Ich verstehe dich, alter Freund. Es ist nur menschlich, sich zu fürchten und schwach zu sein.« Und mit der anderen Hand stieß der Kriegsherr den Dolch des Akkadiers in die Brust des Generals und traf ihn mitten ins Herz. Toran blieb nicht viel mehr als ein kurzer Augenblick der Überraschung, dann fiel er tot nach hinten auf den Tisch, wobei er einen Weinkelch umstieß, dessen Inhalt wie Blut auf den Boden des Palasthofes floss. »Und jeder, der so schwach ist wie er«, sagte Memnon, »ist für mich als General nutzlos.« Lässig blickte er in die Gesichter der sprachlosen Generäle und fuhr fort: »Betrachtet das als weithin sichtbares Symbol. Ich nehme an, dass es wirkt. Gibt es jetzt noch jemanden, der an meinem Wort zweifelt?« Die Generäle sahen einander an, schüttelten die Köpfe und versicherten murmelnd ihrem Herrn ihre Loyalität und ihren Glauben an ihn. »Wie beruhigend«, erwiderte Memnon. »Doch jetzt ist das
Fest vorüber. Zu Bett, meine Generäle. Nehmt eine Hure mit, wenn ihr wollt, doch schlaft euch aus. Denn morgen beginnt unser Eroberungszug.« Die Gäste, die sich bei all diesen Ereignissen wunderbar unterhalten hatten, applaudierten betrunken und voller Zustim mung. Memnon wandte sich an Cassandra und sagte so leise, dass nur sie es hören konnte: »Warte auf mich in meinen Gemä chern.« »Mein Herrscher?« »Es gibt da etwas, über das ich mit dir reden möchte.« »Gewiss, edler Herr.« Sie deutete eine Verbeugung an, verließ ihn und verschwand im Palast. Memnon beobachtete sie mit kaltem, wachsamem Blick. Dann wandte er sich an Takmet. »Verstärke die Palastwachen«, befahl der Kriegsherr. Takmet, der immer noch erfolglos versuchte, den Bogen des Akkadiers zu spannen, sagte: »Sofort, edler Herr« und schob die beiden Huren von seinem Schoß. Memnon verabschiedete sich nicht weiter von seinen Gästen. Voll düsterer Gedanken ging er in den Palast und folgte dabei dem Weg, den die Zauberin genommen hatte. Außerhalb der gut befestigten Stadtmauern von Gomorra rollte ein Pferdekarren auf eine Brüstung zu, auf der vier Bogenschützen standen. Der Karren war mit einer schäbigen Plane bedeckt, und seine Räder knirschten und stöhnten, als er sich den großen Stadttoren näherte. Ein halbes Dutzend schwer bewaffneter Wachen in roten Turbanen ging auf den kleinen Mann mit dem dünnen Bart zu, der die Zügel in den Händen hielt. Neben ihm saß eine zweite magere Gestalt, deren weiße Haare eine zerzauste Mahne bildeten und die ebenfalls unge fährlich aussah. »Was ist in dem Karren?«, fragte einer der Wächter.
Arpid sah den einschüchternden Burschen an. »Was in dem Karren ist?« »Du hast mich sehr wohl verstanden.« Die Hand des Wächters näherte sich seinem Schwertgriff, und die anderen Wächter taten es ihm gleich. Nervös blickte Arpid nach hinten unter die Plane. »Ihr wollt wissen, was in dem Karren ist. Na ja, um die Wahrheit zu sagen, es ist eine Art Überraschung.« Die Wachen kamen näher, und das Misstrauen kitzelte ihre Nacken. Die Bogenschützen bemerkten die sich anbahnende Konfrontation, stellten sich in Position und beobachteten den Karren besonders wachsam. Einer der Bogenschützen horte jedoch am Ende der Brüstung ein Geräusch. Metall, so schien es, klirrte auf Stein Als seine Kameraden ihre Aufmerksamkeit auf den Pferdekarren richte ten, zog sich dieser Bogenschütze in den dunklen Schatten am anderen Ende der Brüstung zurück, um nachzuschauen, was geschehen war. Drunten vor dem Tor sprang Arpid vom Karren. All seine Nervosität war verschwunden; ohne zu zögern riss er die Plane zurück, und ein halbes Dutzend Frauen wurde sichtbar. Jede von ihnen - fast jede von ihnen - war eine atemberaubende Schönheit, und sie alle trugen spärliche Kleider, die den Gewändern von Haremsmädchen oder Bauchtänzermnen ähnelten und bestens geeignet waren, die Männer jener Zeit abzulenken. (Und naturlich auch Männer anderer Zeiten.) Die Wachen in den roten Turbanen hatten keine Ahnung, dass es sich bei diesen Schönheiten um Königin Isis und ihre wilden Kriegerinnen handelte, denn sie trugen Kleider, die sich in einem Schlafzimmer als weitaus sinnvoller erwiesen als in einer Schlacht. »Ein königliches Geschenk für die Festlichkeiten heute Nacht«, sagte der Pferdedieb. Er verbeugte sich pompös, und mehrere Wächter kicherten.
»Sie sollen zu Prinz Takmet gebracht werden.« »Glücklicher Bastard«, sagte einer der Wächter. Arpid drehte sich zu dem Karren hin, in dem so viele Schön heiten saßen, und die Mädchen schnurrten und winkten den Wachen zu. »Meine Damen«, sagte er, »steigt herab und begrüßt unsere tapferen Soldaten. Wo wäre das Königreich ohne sie?« Die Wachen halfen den Mädchen vom Wagen, und dann gingen sie plaudernd und flirtend davon, während die Bogen schützen neidisch nach unten starrten. Inzwischen hatte der einzelne Bogenschütze entdeckt, dass im Schatten am Rand der Brüstung ein Eisenhaken hing. Er sah über den Mauervorsprung hinweg in die Tiefe und entdeckte ein hin und her schwingendes Seil, das gerade jemand losgelas sen zu haben schien. Er wirbelte herum, um seine Kameraden zu warnen, doch kein Wort kam mehr über seine Lippen. Mathayus, der die geschlitzte Ledermaske trug, brach dem Mann von hinten das Genick, und das leise Knacken ging unter im Lärm der Wachen, die mit den vermeintlichen Haremsmäd chen scherzten. Der Akkadier warf den Mann über die Brüstung, und fast lautlos schlug seine Leiche im Sand auf. Drunten näherte sich einer der Wächter einer breitschultrigen Schönheit. Ihm gefielen stattliche Frauen, und für die halb verhungerten Geschöpfe, die in unserer Zeit so beliebt sind, hatte er kaum etwas übrig gehabt. »Endlich«, sagte er, »endlich eine Frau mit etwas Fleisch auf den Knochen. Zeigst du mir dein hübsches Gesicht, meine Schöne?« Der Wächter hob den Schleier und blickte in das von zahllo sen Schlachten vernarbte Gesicht Balthazars. »Zufrieden?«, fragte der Nubier. Und er versetzte dem Wächter einen wuchtigen Schlag in den Bauch, der ihn zu Boden riss.
Auf dieses Zeichen hin töteten die Kriegerinnen, die an den Armen der übrigen Wachsoldaten hingen, diese Narren rasch und effizient, indem sie ihnen mit ihren Dolchen die Kehlen durchschnitten oder sie ihnen ins Herz rammten; sie machten keine Gefangenen. Mehrere starben noch mit einem Lächeln im Gesicht. Entsetzt über dieses plötzliche Gemetzel schrie der Anführer der Bogenschützen auf der Brüstung: »Angriff!« Die drei in einer Reihe stehenden Bogenschützen legten die Pfeile an und zielten. Bevor sich jedoch ein einziger Pfeil von der Sehne lösen konnte, flogen mehrere Dolche durch die Luft, die den ersten und zweiten Schützen mit einem scharfen, tödlichen Hieb in den Rücken trafen. Der Anführer wirbelte herum, schoss seinen Pfeil ab, doch der Akkadier nahm die hölzerne Abdeckung einer Regenrinne auf der Brüstung als Schild und lenkte das Geschoss ab. Der Bogenschütze legte gerade einen neuen Pfeil an, als sich das Messer des Meuchelmörders mit solcher Wucht in sein Herz bohrte, dass er hinab in den Sand vor den Stadttoren fiel. Alles war blitzschnell gegangen. Der freundliche Wissenschaftler, der noch immer auf dem Pferdekarren saß, war völlig benommen von dieser unglaubli chen Geschicklichkeit - und vom Tod, der so rasch zugeschla gen hatte. »Bei allen Göttern«, murmelte er erstaunt und fragte sich, wie es nur dazu gekommen war, dass er mit solchen Männern und Frauen in die Schlacht zog. Von der Brüstung aus beobachtete Mathayus das Gelände auf beiden Seiten der Stadtmauer, um festzustellen, ob ihr Angriff leise genug vor sich gegangen war. Offensichtlich ja. Dann hob er zwei Finger an seine Lippen und pfiff. Das Albinokamel, das in der Mitte des Marktplatzes an einen Pfosten gebunden worden war, spitzte die Ohren, als es den schrillen, vertrauten Ton hörte. Prompt erhob sich das Tier auf
seine Hinterbeine und trat mit den Vorderhufen hart gegen den Holzpfosten, der splitternd zerbarst. Dann galoppierte Hanna, von ihrem Herrn und Meister geru fen, in die Dunkelheit, wobei sie die spärlichen Überreste des Pfostens hinter sich her schleifte. Der Akkadier kletterte am Seil hinab zu seinen Freunden außerhalb der offenen Stadttore. Plötzlich tauchte Hanna unter ihm auf, und er ließ sich auf ihren Rücken fallen. Er kraulte den Hals des Tieres; jetzt waren sie alle wieder beisammen jedenfalls alle bis auf das andere weibliche Wesen, das er liebte. »Sehr gut«, lobte Mathayus die kleine Truppe. »Jeder weiß, was er zu tun hat? Balthazar?« »Die Wachen ausschalten«, sagte der Nubier. »Isis?« »Das Tor sichern«, antwortete die Kriegerkönigin. »Philos?« »Alle einschließen«, sagte der Wissenschaftler. »Arpid?« Doch der kleine Dieb starrte auf seine Sandalen. »Ist etwas nicht in Ordnung, Partner?«, fragte Mathayus und lenkte das Kamel hinüber zu dem kleinen Mann. »Nichts. Nein«, erwiderte Arpid und schlurfte mit den Füßen. »Schau mich an.« Arpid hob den Kopf, doch noch immer blickte er dem Akka dier nicht direkt ins Gesicht. Seine Wimpern waren feucht. »Es ist nur - niemand hat mir jemals zuvor etwas zugetraut. Nichts, das so wichtig gewesen wäre.« »Partner.« Jetzt sah Arpid dem Akkadier in die Augen. Mit dem schlichten und rückhaltlosen Vertrauen, das für ihn so typisch war, sagte Mathayus: »Ich vertraue dir.« Das schien den Dieb mit neuem Selbstbewusstsein zu erfül len.
»Ich werde dich nicht enttäuschen.« »Das weiß ich.« Der Akkadier wandte sich an seine Kriegertruppe - an alle, denn jetzt waren auch der Dieb und der Wissenschaftler Krieger, ein kleines Heer, das die mächtige Stadtfestung ein nehmen wollte. Er sagte: »In Ordnung, meine Freunde. Jetzt ist der Augen blick gekommen. Seid vorsichtig. Haltet die Augen offen.« »Akkadier ...«, hob Balthazar an. Mathayus wandte sich an den Riesen in Haremskleidern. Würde der Nubier ihn zu einem so späten Zeitpunkt Mathayus noch als Führer der Truppe in Frage stellen? Doch alles, was dieser Berg von einem Mann sagte, war: »Pass auf dich auf.« Mathayus konnte nur lächeln. »Habt Dank für Eure Besorgnis, schöne Dame. Hüa!« Und das Kamel führte seinen Herrn in die Stadt. »Dafür wird er bezahlen«, grunzte Balthazar und rückte seinen Schleier zurecht. Königin Isis und ihre Kämpferinnen, die wieder im Karren saßen, bemühten sich nach besten Kräften, nicht zu lachen, und Arpid kletterte auf den Sitz neben Philos. Der ließ die Zügel auf den Rücken der Pferde klatschen, und der Karren rumpelte durch die Tore von Gomorra.
Tochter der Furien
In einem Gang des Palasts hatte Memnon seine Zauberin eingeholt, und jetzt führte er sie in den von Fackeln erleuch teten, aus goldfarbenem Sandstein gemeißelten Thronsaal; fest lag seine Hand auf Cassandras Arm. Sie konnte nicht sagen, ob
sie ein willkommener Gast oder nur eine weitere Gefangene war. Doch man musste keine Hellseherin sein, um das Miss trauen des Großen Lehrers zu spüren. Memnon schickte Wachen und Diener aus dem Saal, indem er ihnen knapp befahl: »Lasst uns allein!« Und dann waren sie allein. Sie ging zu dem kleinen runden Tisch, auf dem ihre Schalen mit den Runensteinen standen. Noch immer befanden sie sich an ihrer gewohnten Stelle, so als warteten sie nur auf ihre Rückkehr. Oder hatte man sie während ihrer Abwesenheit bewusst so stehen lassen, sodass andere vermuten würden, sie befände sich noch immer im Palast? Memnon setzte sich nicht auf seinen Thron. Er streifte im Saal umher wie ein nervöser Panter. »Ich bin erleichtert, dich unverletzt zu sehen«, sagte er, doch sein schneidender Tonfall widersprach seinen Worten. »Ich bin überrascht, dass der Akkadier dich nicht getötet hat.« »Was hätte ich ihm tot schon genutzt?«, fragte sie. »Er wollte dich. Ich war nur sein Köder, ein Faustpfand.« Eine Augenbraue des Kriegsherrn hob sich. »Und doch bist du dieser Faust entschlüpft.« Mit einem winzigen und doch deutlich sichtbaren Lächeln wandte sie sich an den Kriegsherrn. »Ich habe meine eigenen Mittel und Wege. Meine eigenen Schliche.« Das Lächeln, mit dem er sie ansah, war widerlich. »O ja. Dessen bin ich mir nur allzu bewusst. Du hast sein Vertrauen gewonnen ...« »Ja. Und so entkam ich ihm. Nachts, in der Wüste.« »Wohin hat er dich gebracht? In ein feindliches Lager?.« »Nein. In eine Oase in der Wüste. Und die Palmen und das Wasser und meine freundlichen Worte haben seine Aufmerk samkeit eingelullt. Er wurde selbstzufrieden.« Memnon trat hinaus auf den Balkon und wandte ihr den
Rücken zu. »Hast du gesehen, wie mein treuer Ratgeber Thorak ermordet wurde?« »Ich kenne die Tragödie, edler Herr. Sie geschah während eines Sandsturms. In seinem Schutz griff der Akkadier Eure mutigen Soldaten an. Ich lag im Sand begraben und konnte nicht davonlaufen. Das gelang mir erst später.« Mehrere Augenblicke lang schwieg Memnon. Dann wandte er sich ihr zu und fragte: »Und der Barbar - er hat deine Reinheit nicht befleckt?« Ihre Augen senkten sich. »Nein, edler Herr. Nichts hat sich an meiner Reinheit geändert.« »So wenig wie an deinen Visionen?« »Ja, edler Herr. Es ist, wie ich gesagt habe. Ich habe Euren großen Sieg gesehen.« »O ja, o ja. Jedenfalls behauptest du das.« Memnon ging zur Tür, rief einen Diener herbei und flüsterte einige Worte, die Cassandra nicht verstand. Der Diener ver beugte sich knapp und eilte davon; und Memnon schritt an Cassandra vorbei auf seinen Thron zu. »Wir werden ja sehen, meine Liebe. Setz dich an deinen Zaubertisch. Entspann dich und warte.« »Warten, mein Herr? Worauf?« Er saß jetzt auf seinem Thron und ließ die Hände auf den breiten Armlehnen aus Sandstein ruhen. »Wart's ab, meine Liebe, wart's ab.« Sie saß an ihrem runden Tisch, und ihr war plötzlich kalt; aber das hatte nichts mit der Abendbrise oder einer prophe tischen Vision zu tun. Die beiden mageren Wagenlenker fuhren ihren Karren mit der schönen Fracht an den geschlossenen Marktbuden vorbei auf den größten Platz der Stadt in der Nähe des Palasts. Philos brachte den Karren in der Nähe der Palasttore zum Stehen, vor
denen vier Mitglieder der Roten Wache Stellung bezogen hatten. Der Wissenschaftler drehte sich um und sprach leise mit Königin Isis, die unmittelbar hinter ihm saß. Die Kriegerinnen hockten mit ihren hübschen Hinterteilen auf weichen Säcken, die Kissen ähnelten. Die Säcke sahen aus, als enthielten sie Getreide, doch das war nicht der Fall. Die Plane verbarg den ausgestreckt daliegenden Balthazar, der sein Haremskostüm mit einem Umhang vertauscht hatte, unter dem er eine Leder rüstung trug. Der nubische König würde nicht in Frauenkleidern in den Kampf ziehen. Isis' Kriegerinnen hatten ihre hauchdünnen Schleier abgelegt, und obwohl sie noch immer nicht allzu viel anhatten, waren ihre Brüste und Lenden jetzt wenigstens von Lederrüstungen bedeckt, die sie üblicherweise in der Schlacht trugen. Philos sagte zu Isis: »Dort drüben ist es.« Er deutete auf ein großes Metallgitter in der Straße, nicht weit von den königlichen Wachen entfernt. Bei der Vorbereitung des Angriffs dieser kleinen Truppe spielte der Wissenschaftler eine wichtige Rolle, denn als Memnons früherer Hofmagier kannte sich Philos im Palast gut aus, und dieses Wissen war Gold wert. Die Königin und ihre Kriegerinnen sprangen vom Karren, und einer der Wächter im roten Turban, der sie beobachtet hatte, ging zu ihnen hinüber und rief: »He! Ihr Weiber da!« Isis wandte sich um und fixierte ihn mit stählernem Blick. Der Wächter zog sein Schwert und kam näher. Mit der Spitze der Waffe tippte er leicht gegen den schlanken Hals der Königin und fragte knurrend: »Was habt ihr Weiber vor?.« »Nimm dein Schwert von meinem Hals«, befahl die Königin. Er runzelte die Stirn. »Keine Frau sagt mir, was ich zu tun habe!« Sie beugte sich nach vorn, so dass die Spitze der Klinge ein
kleines Grübchen in ihr Fleisch drückte, und ihre Augen funkelten, als sie sagte: »Es gibt immer ein erstes Mal.« Dann zog sie den Kopf zurück, und in einer raschen und anmutigen Bewegung, die der Wächter nur verschwommen wahrnehmen konnte, schwang sie ihr rechtes Bein in die Höhe und trat mit ihrem Fuß gegen das Handgelenk des Mannes, so dass sein Schwert durch die Luft flog und sich mehrmals überschlug. Die Königin packte die herabfallende Waffe so sicher und geschickt, als würde sie eine Traube pflücken. Der Schwertgriff war wie geschaffen für ihre Hand. Alles ging so schnell, dass der Wachsoldat kaum etwas davon begriff, bevor Isis ihm das Schwert zurückgab - indem sie es ihm tief in die Brust rammte. Sie betrachtete seinen überraschten Gesichtsausdruck und seine großen leeren Augen und sagte: »Ein erstes und ein letztes Mal.« Dann stieß sie den Wächter zu Boden. Einige Augenblicke lang hatten die anderen Wachen verwirrt zugesehen. Dann zogen sie viel zu spät ihre Schwerter und rannten hinüber, doch die Kriegerinnen, die so geschmeidig und anmutig waren wie Haremstänzerinnen, zogen ihre eigenen Klingen und töteten sie fast lautlos. Blut rann über die Straße und funkelte im Mondlicht, und Philos war erschüttert über dieses Gemetzel, wie edel das Ziel auch sein mochte; doch er half Arpid, die Säcke aus dem Karren zu laden, auf denen die Frauen gesessen hatten ... ... Säcke mit jenem schwarzen Pulver, dessen Zusammen setzung der Wissenschaftler mit Hilfe der Formel aus China schließlich herausgefunden hatte. Währenddessen packte der in seinen Umhang gehüllte Bal thazar mit seinen mächtigen Händen das Metallgitter in der Straße und hob es mit einem leichten Knirschen hoch; kein anderer Laut war zu hören.
So viel war in diesen wenigen Minuten geschehen, doch es hatte so gut wie keinen Lärm gegeben. Immer noch hatte niemand ihre Anwesenheit bemerkt - niemand, der noch lebte, jedenfalls. Mit der Fackel in der Hand tauchte Arpid neben dem Nubier auf, und die beiden sahen sich kurz an. Dann hüpfte Arpid in die Öffnung, die Balthazar geschaffen hatte, als er das Gitter hochgehoben hatte. Arpid nahm seine Fackel, um sich dort drunten zurecht zufinden, und entdeckte schließlich eine Stelle, an der er sie befestigen konnte. Der orangefarbene Schein der flackernden Flammen beleuchtete sein Gesicht, als er wieder nach oben sah. »In Ordnung«, sagte er zu Balthazar. »Fangen wir an.« Der breitschultrige König gab den Kriegerinnen ein Zeichen, die sich in einer Reihe aufstellten und die Säcke aus dem Karren herrüber reichten. Arpid nahm den ersten Sack. Ein wenig von dem schwarzen Pulver rieselte heraus. Der Dieb nahm eine Fingerspitze davon und schnippte sie in die Fackel, die grell aufflammte. Arpid war begeistert. »Hast du das gesehen?«, fragte er. Philos, der in der Nähe des Karrens stand, sagte: »Ja, wun derbar. Zünde doch noch ein bisschen mehr von dem Pulver an, nur so aus Spaß. Vielleicht schaffst du es ja, uns alle umzu bringen.« Isis reichte dem kleinen Dieb einen weiteren Pulversack, doch Arpid schmollte. »Nur ein kleines Experiment«, murmelte er. »Wo wäre dieser Narr schließlich ohne seine Experimente?« Doch Philos hörte die Bemerkung nicht. Der Wissenschaftler stand neben dem riesigen Nubier, runzelte besorgt die Stirn und fragte: »Glaubst du, dass Mathayus sie rechtzeitig retten wird?« Während sie sich unterhielten, stand Hanna, das Albino kamel, in der Nähe einer Außenmauer des Palastes. Sie hatte
ihren Kopf zurückgeworfen, um ihren Herrn zu beobachten, der in dreißig Metern Höhe die Palastmauer erklomm - eine fast unglaubliche Leistung, auf die selbst eine Spinne neidisch sein konnte. »Es kommt darauf an, welche unerwarteten Gefahren auf ihn lauern«, erwiderte der Nubier. »Und es kommt auch auf die Geschicklichkeit des Akkadiers an. Die ist allerdings beträcht lich, wie ich aus eigener Erfahrung weiß.« »Nun, sie sollte auch beträchtlich sein, sonst sitzt er da drin in der Falle, und er und seine Freundin werden durch die Explosi on in eine andere Welt befördert.« Balthazars Augen verengten sich in der narbenübersäten Maske seines Gesichts. »Ist dieser schwarze Staub wirklich so mächtig?.« Philos lächelte. »Der Knall wird die Tore von Gomorra er schüttern und so viel Verwirrung schaffen, dass hoffentlich niemand bemerkt, dass wir die Zauberin entführen.« Balthazars Blick wurde hart. »Und du, kleiner Mann, bist du bereit für deine Mission?.« »In den meisten Schlachten sind Muskelberge, wie du sie hast, eine gute Sache. Aber, mein Freund, durch diese kleinen Löcher in Memnons Palast können nur magere Kanalratten wie Arpid und ich schleichen.« Kurz darauf ließ der Nubier den Wissenschaftler an seinen mächtigen Armen hinab in das zuvor vergitterte Loch. Acht Pulversäcke hatte Arpid entgegengenommen. Die beiden kleinen Männer blickten mit verschmierten Gesichtern hinauf zu dem gewaltigen Banditenkönig, der ihnen aufmunternd zunickte. »Der Akkadier hat ein Motto«, sagte der Nubier. Isis stand neben ihm und blickte auf die beiden tapferen Kanalratten hinunter. »Lebe frei ...« Isis ergänzte die rituelle Formel: »Stirb gut.« »Wenn es euch nichts ausmacht«, erwiderte Arpid und griff
nach seiner Fackel, »dann werde ich mehr Energie für den ersten Teil aufwenden.« Und dann verschwanden die beiden mageren, ungewöhn lichen Helden in der Dunkelheit unter der Straße. Und unter dem Palast. Memnon saß auf seinem Thron und betrachtete seine Zaube rin mit forschenden Augen; sie selbst saß noch immer an ihrem Tisch. Einige Augenblicke zuvor war ein Diener in den Thronsaal gekommen, hatte seinem Herrn einige Worte zugeflüstert und war wieder verschwunden. Der Große Lehrer hatte die Fingerspitzen aneinander gelegt und sagte mit einem geheimnisvollen Lächeln: »Morgen also wird mein Sieg vollkommen sein.« Die Zauberin wich seinem Blick aus und meinte nur: »Genau, wie ich es Euch gesagt habe. Das habe ich gesehen.« »Das also ist deine Vision.« Jetzt wandte sie sich zu ihm. »Ja, edler Herr. Ich habe es gesehen.« Er musterte ihr Gesicht. »Tatsächlich?« Ihre Blicke trafen sich, doch die Gesichter dieser beiden starken Menschen blieben völlig ausdruckslos. Es war, als trügen beide Masken, die keine ihrer Regungen verrieten. »Und doch«, sagte Memnon freundlich, »spüre ich eine Veränderung in dir. Du erscheinst mir irgendwie - wie soll ich es nur ausdrücken? Geringer.« »Ich versichere Euch, mein Herr, ich bin noch immer ich selbst. Rein und unberührt.« »Ich bin überaus erfreut, das zu hören. Dann sollte eine kleine Demonstration deiner Fähigkeiten keinerlei Problem für dich darstellen.« Der Kriegsherr stieg vom Thron herab und ging zu einer
Seitenwand, an der ein Vorhang eine Nische verbarg. Er zog den Vorhang zurück, und ein zweiter runder Tisch erschien, der viel größer war als derjenige, an dem Cassandra saß. Auf dem Tisch standen sechs große Urnen aus gebranntem Ton. Jede von ihnen trug einen Deckel. Memnon klatschte einmal in die Hände - ein lautes, knal lendes Klatschen - und zwei kupferhäutige Sklaven erschienen. Sie trugen Kopfbedeckungen aus rechteckig zugeschnittenem Leinen und schwere Lederrüstungen, und sie brachten einen großen, geflochtenen Weidenkäfig herein, in dem mehrere tödliche Schlangen durcheinander glitten - Kobras, Aspisvipern und Ottern -, die ein unheimliches, hin und her zuckendes Gewirr bildeten. Mit einem Stock, an dessen Spitze sich eine kleine Schlaufe befand, griff einer der Sklaven mitten hinein und hob geschickt eine gewaltige Königskobra heraus, die ihre Nackenregion spreizte und wütend zischte. Der andere Sklave nahm den Deckel von einer der sechs identischen Urnen, und der Schlan genfänger senkte das sich windende und spuckende Reptil in das Gefäß, wahrend der andere Sklave den Deckel so schnell wie möglich wieder schloss. Cassandra war aufgestanden und sah entsetzt zu, obwohl sie sich bemühte, ihre Gefühle nicht zu zeigen. Memnon hingegen verbarg seine Gefühle nicht. Er grinste und sagte mit gespielter nostalgischer Sehnsucht: »Dich wiederzuhaben, aufs Neue mitzuerleben, welche Wunder du zuwege bringst - es ist ganz so wie in den alten Zeiten.« Und mit weit aufgerissenen Augen sah sie zu, wie mehrere sich wütend windende Giftschlangen in die Urnen befördert wurden. In alle bis auf zwei. An einer anderen Stelle des Palastes, in den unterirdischen, katakombenartigen Gängen hasteten Arpid und Philos immer
weiter, auch wenn jeder der Manner dabei vier Pulversäcke schleppen musste. Als der Gang sich gabelte, hielt Philos inne, sah sich einen Augenblick lang um und deutete dann nach rechts. »Hier entlang«, sagte er. Arpid runzelte die Stirn und sah den Wissenschaftler an. »Bist du sicher?« »Natürlich bin ich sicher«, entgegnete Philos ein wenig belei digt. »Schließlich habe ich hier einmal gewohnt.« Mit einem Winken entließ der Große Lehrer die Sklaven, die die Schlangen gebracht hatten, und befahl ihnen, in einer Ecke des Thronsaales zu warten. Dann trat er zu seiner Zauberin, ergriff ihren Arm und führte sie hinüber zur Nische, als würde er sie zu einem Staatsbankett begleiten. Doch der große runde Tisch mit den sechs massiven Urnen war kein Bankett, es sei denn, man betrachtete reines Entsetzen als passenden Haupt gang. Er trat einen Schritt von ihr weg, packte den Tischrand - und versetzte ihn in eine schwungvolle Umdrehung. Es war also doch eine Art Bankett: Der Kriegsherr hatte auf perverse Weise einen drehbaren Serviertisch in ein wirbelndes Rad des Verhängnisses verwandelt. Memnons Blick huschte von Cassandras Gesicht zu dem sich drehenden Tisch und wieder zurück, als er sagte: »Und jetzt, meine Zauberin, meine Seherin, zeig uns, was du sehen kannst.« Hypnotisiert starrte sie den Tisch an, dessen Drehung lang sam zum Stillstand kam. »Welche beiden, meine Seherin? Welche beiden Urnen sind leer?« Sie holte tief Luft, atmete schwer wieder aus und trat nach vorn. Langsam ging sie um den Tisch herum und betrachtete jede Urne genau. Dann blieb sie vor einer Urne stehen und
legte die Hände auf den Deckel. Memnon beobachtete sie voller Eifer, und als sie ihre Augen plötzlich weit aufriss, fragte er sich, ob etwas nicht in Ordnung war. Tatsächlich war überhaupt nichts in Ordnung, obwohl sich Cassandra nach besten Kräften bemühte, nicht zu zeigen, was sie empfand. Sie schloss die Augen wieder, berührte die Urne noch einmal - und ihr Kopf war völlig leer. Der uralte Mythos erwies sich als wahr: Nur eine Jungfrau konnte die Gabe des Zweiten Gesichts besitzen; sie jedoch hatte sich dem Akkadier hingegeben. Und ihre Gabe weggeworfen. Sie sah Memnon an und wusste, dass man keine Hellseherin zu sein brauchte, um seinen fragenden Blick zu deuten. Wenn sie sich weigerte und diese Prüfung zurückwies, käme dies einem Geständnis gleich, und sie würde unweigerlich sterben. Doch vielleicht standen ihr die Götter, die ihr einst ihre Visio nen geschenkt hatten, noch immer bei, auch wenn sie ihre Gabe nicht mehr besaß. Leise betete Cassandra zu ihnen - nicht, damit die Götter ihr eine Vision schickten, sondern damit sie ihre Hand führten. Denn es war unmöglich, sich der Prüfung zu entziehen. Sie streckte die Hand aus, nahm den Deckel von der Urne und blickte hinab in die unbekannten Tiefen, hinab in das stygische Innere des Gefäßes, das zurückzustarren schien. Dann schob sie rasch ihren Arm in die Urne. Memnon beobachtete sie mit erhobener Augenbraue, Schweißperlen traten ihm auf die Stirn und sein Lächeln wirkte gequält. Niemand konnte sagen, ob der Große Lehrer hoffte, sie würde die Prüfung bestehen, oder ob er hoffte, sie würde versagen. Ihre Finger kratzten über den Boden der leeren Urne, und sie zog den Arm zurück. »Ausgezeichnet«, sagte Memnon, aber Cassandra wusste nicht, ob er sich wirklich über ihren Erfolg freute.
Der Kriegsherr nahm die leere Urne vom Tisch und ließ sie achtlos zu Boden fallen, wo sie zerbrach. Sie schauderte bei diesem Geräusch - und angesichts seines merkwürdig fröhlichen Gesichtsausdrucks. Noch fünf Urnen waren übrig, von denen vier Giftschlangen enthielten. Memnon betrachtete sie mit offensichtlichem Vergnügen und sagte: »Jetzt gibt es nur noch eine.« Und wieder drehte er die Tischplatte. Warum er das zum zweiten Mal tat - abgesehen davon, dass er sie länger quälen wollte -, wusste sie nicht; vielleicht glaubte er, sie habe sich die Urnen mit den Schlangen irgendwie gemerkt, als er die Tischplatte das erste Mal gedreht hatte. Doch das hatte sie nicht; sie hatte die Bewegung völlig ver chwommen wahrgenommen. Allein das Glück war bisher auf ihrer Seite gewesen. Oder die Götter. Als die Tischplatte jetzt langsamer wurde und schließlich zum Stillstand kam, führte Memnon Cassandra zurück an den Tisch und wich nicht mehr von ihrer Seite, während sie lang sam darum herumging. Er beobachtete genau, welche Urne sie wählen würde. Schließlich blieb sie zwischen zwei Urnen stehen und konnte sich nicht entscheiden. Sie lauschte auf eine innere Stimme oder irgendeinen Instinkt, der sie führen würde. Zitternd streckte sie die Hand aus. Der Kriegsherr schien amüsiert, als er sagte: »Ich bin kein Zauberer, aber ich werde dir sagen, was ich sehe ...« Sie ignorierte ihn und legte die Hand auf einen der beiden Deckel. »... nämlich Angst.« Hätte er nicht gesprochen, hätte sie vielleicht gehört, wie Schuppen kaum wahrnehmbar gegen den gebrannten Ton rieben. Doch so hörte sie es nicht. Und indem sie Memnon einen trotzigen Blick zuwarf, steckte Cassandra die Hand in die Urne. Sie erstarrte.
Memnon, der sie gespannt beobachtete, trat mehrere Schritte nach hinten. War sie gebissen worden? Die Zauberin zog ihre Hand aus der Urne, wandte sich lang sam um und streckte dann dem Kriegsherrn den Arm entgegen ... ... Wie das kostbare Meisterwerk eines Juweliers wand sich eine Kobra um ihren Unterarm, der Kopf mit der gespreizten Brillenzeichnung nahe Cassandras Hand, doch sie ignorierte diese Hand und spuckte und zischte gegen den in der Nähe stehenden Memnon. Diese Wendung der Ereignisse warf Memnon völlig aus der Bahn, sowohl im wörtlichen wie im übertragenen Sinne, denn er stolperte mehrere Schritte zurück und schrie: »Was für eine Magie ist das?« Furchtlos und mit erhobenem Kinn sagte Cassandra: »Meine Magie.« Er umrundete sie in immer größeren Kreisen und versuchte, sich in Sicherheit zu bringen. Doch sie schritt mit glühenden Augen auf den Kriegsherrn zu. »Ich bin eine Tochter der Furien, törichter Sterblicher. Ich sehe das Schicksal der Welt in den Sternen.« Memnon hob sein Schwert, um sich zu verteidigen, doch er zog sich immer weiter zurück. Einige Meter hinter ihm befand sich ein mit filigranen Läden verschlossenes Fenster ... ... und durch das Fenster hindurch konnte Cassandra die Gestalt sehen, die dort kauerte, und dieser Mann sah ihr direkt in die Augen: Mathayus! Draußen hielt sich der Akkadier an einem höher gelegenen Fenstersims fest, spannte die mächtigen Beinmuskeln an, schwang sich von der Wand zurück, und die Sohlen seiner Sandalen zielten auf die Fensterläden. »Ich sehe dein Schicksal, o eitler König«, sagte Cassandra mit fester und doch leiser Stimme. »Deine Zeit ist gekommen.« Und Mathayus schoss krachend und polternd durch die Fens
terläden, die unter seiner Wucht zersplitterten, rammte Mem non mit ausgestreckten Beinen, und der Kriegsherr taumelte durch den Thronsaal, wobei ihm das Schwert aus der Hand fiel. Die Sklaven, die die Schlangen versorgten, sahen den er staunlichen Auftritt des Eindringlings und reagierten sofort. Der eine rannte an die Tür und der andere zu einer langen Kordel. Er riss daran, und die Alarmglocken begannen zu läuten. Der Lärm dröhnte Cassandra in den Ohren, und sie schleuderte die Kobra vom Handgelenk. Das Tier, das nichts mit diesen Menschen zu tun haben wollte, glitt rasch davon. Der Akkadier sprang auf die Beine. Er riss den Krummsäbel aus dem Gürtel, und der Stahl ruhte in seiner Hand. An der anderen Seite des üppigen Thronsaals gelang es dem Mann, der König der Welt sein wollte, sich endlich abzufangen, und er sah dem ungeladenen Gast in die glühenden Augen, während dessen mächtige Klinge im Licht der Fackeln funkelte. Dann sah der Akkadier zu Cassandra, und sein besorgter Blick - auf den hin sie ihm zunickte und ihm damit zeigte, dass sie in Ordnung war - verriet dem Kriegsherrn alles über die wahre Natur ihrer Verbindung. Er wusste jetzt, dass er betrogen worden war von zwei ... Liebenden. Mathayus bewegte sich langsam auf ihn zu und schwang den Krummsäbel. »Ich bin gekommen, um diese Frau zu holen«, sagte der Akkadier. »Und deinen Kopf.« Der Kriegsherr wusste, dass ein Paar uralter, aber funktions tüchtiger Schwerter ganz in der Nähe als Schmuck an einer Sandsteinwand hing. »Der Meuchelmörder und die Zauberin«, höhnte Memnon. »Wie süß. Wie romantisch.« Und mit Reflexen, die denen einer flink dahingleitenden Schlange glichen, warf er sich herum und riss beide Schwerter aus ihren Halterungen. Jede seiner Hände packte eine der Klingen, und er wirbelte sie mit der Geschicklichkeit eines
wahren Kämpfers durch die Luft. Er war noch nicht besiegt. Er war noch nicht einmal angeschlagen. »Ich möchte ganz sichergehen«, sagte Memnon. »Also werde ich euch gemeinsam begraben.« Die Kämpfer stürmten aufeinander zu, und klirrend prallten die Schwerter aufeinander. Vibrierender Lärm erfüllte den Thronsaal, obwohl die Glocken auch weiterhin dröhnend Alarm schlugen und ihre eigene tödliche Musik anstimmten.
Edle Anstrengungen
Außerhalb der Palastmauern warteten Balthazar, Königin Isis und ihre Kriegerinnen verborgen in den nächtlichen Schatten auf die Explosion, die ihnen das Zeichen zum Angriff geben sollte. Als jedoch die Alarmglocken erklangen, die weit über den Palast hinweg hörbar waren, reagierte die kleine Gruppe bestürzt. »O nein«, rief Königin Isis. »Verdammt«, keuchte Balthazar, als er die Phalanx der Wa chen in den roten Turbanen sah, die mit gezückten Schwertern und in voller Schlachtordnung um eine Ecke des Palastes herum auf sie zustürmten. Die fast nackten Kämpferinnen sahen im Licht des Mondes und der flackernden Fackeln zugleich hinreißend und tödlich aus. Mit katzenhafter Anmut rollten sie ihre Schultern und gin gen mit erhobenen Schwertern und Speeren auf den Palast stufen in Position, um es mit jeden Angreifer aufzunehmen, mochte er nun von innerhalb oder von außerhalb der zinnenbe wehrten Festung kommen. Doch es war Balthazar, der seinen Umhang abwarf, die schwarze Lederrüstung freilegte, die seinen gewaltigen Leib umhüllte, und nach vorne trat, um
diesen waffenstarrenden Willkommensgruß zu erwidern. Obwohl die Roten Wächter zu zehnt waren, hielten sie stol pernd inne, als sie den riesigen Nubier sahen, der sein Schwert erhoben hatte und die Soldaten in ungeduldiger Erwartung angrinste. »Gut«, sagte er freundlich. »Wer von euch wird wohl das Glück haben, zuerst zu sterben?« Obwohl sie so hoch in der Überzahl waren, rührten sich die Wachen mehrere Augenblicke lang nicht, gerade so, als hofften sie, die Erscheinung würde wieder verschwinden, wie eine wirre Ausgeburt ihrer Phantasie und der Nacht. Doch Balthazar verschwand nirgendwohin; allenfalls würde er mitten durch ihre Reihen stürmen. Der Anführer der Wachen schrie: »Angriff«, und mit erhobenen Schwertern stürzten sich die Soldaten auf ihn. Königin Isis hatte den Nubier zuvor schon im Kampf gese hen, doch auch sie war von seiner beängstigenden Geschick lichkeit beeindruckt. Sein mit gewaltigen Muskeln bepackter rechter Arm hob und senkte und schwang und drehte die Klinge mit blitzschneller, atemberaubender Präzision. Baltha zars Strategie war makellos; er benutzte den Körper eines seiner Feinde als Deckung und riss damit den nächsten Angrei fer zu Boden, bis sie alle buchstäblich übereinander stolperten und die Lebenden über die Toten fielen. Schon kurz darauf lagen diese hervorragenden Wachsoldaten verstreut auf dem Boden vor den Palaststufen wie menschlicher Abfall, und der nubische König überragte sie wie ein unbarm herziger Gott. Balthazar nickte seinen gefallenen Gegnern feierlich zu und sagte: »Wir sehen uns wieder in der Unterwelt.« Dann schritt er, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Palasttreppe hinauf zu den goldenen Toren am oberen Treppenabsatz. »Warte!«, rief Isis. »Was machst du? Wo gehst du hin?« Balthazar wandte sich um. Oben auf der Treppe wirkte er wie
ein gewaltiger Wächter und nicht wie der Eindringling, der er in Wirklichkeit war. »Das magische Pulver hätte schon längst wirken sollen. Wir müssen unseren Schlachtplan ändern.« Mit funkelnden Augen fragte Isis: »Und wie genau?« »Ich gehe hinein«, sagte der Nubier, »und helfe dem Akka dier.« Die Königin deutete auf ihre Kriegerinnen, die auf der Treppe in Stellung gegangen waren. »Sollen wir auch mitkommen?« »Nein.« »Du willst es tatsächlich allein wagen?« »Ja. Genau so, wie der Akkadier gesagt hat - dass er sich Memnon und seinem Heer allein stellt.« »Aber ...« »Isis, habe ich eine Wahl? Bewacht die Tore.« Und Isis stand Wache, als der nubische König Memnon einen unangekündigten Besuch abstattete. Als die Alarmglocken ertönten, befanden sich Philos und Arpid in den unterirdischen Gängen des Palastes und verstau ten ihre Pulversäcke an Stellen, an denen sie, wie der Wissen schaftler entschied, den größten Schaden anrichten würden. Arpid hatte keine eigene Meinung zu diesem Thema. Er akzeptierte sein Schicksal und platzierte die Pulversäcke genau dort, wo es ihm gesagt wurde. Er hielt gerade einen Sack in der Hand, als das Glockengeläut die beiden unterbrach. »Im Namen der Götter, was ist das?« »Das ist der Alarm für die Rote Wache«, sagte Philos. »Wir müssen uns beeilen!« Arpid gehorchte, wirbelte herum, und aus einem kleinen Loch in dem Sack, den er wie ein Baby hielt, sprühte schwarzes Pulver in Philos' Gesicht. »Sein vorsichtig, du Narr!« Der Wissenschaftler wischte sich das gefahrliche Zeug von
den Wangen. »Der Sack hat ein Loch. Wir sind nicht hierher gekommen, um uns selbst in die Luft zu jagen!« »Vielleicht sollten wir es flicken.« Der Dieb zog eine Fackel aus der Halterung an der Wand und wollte sich anschauen, wie groß der Riss war, doch dabei drehte er sich hin und her wie ein Hund, der seinem Schwanz nachjagt, und das Pulver zog eine schwarze Spur über den Boden. »Nicht!« sagte Philos. »Tu das ...« Doch irgendwie war brennendes Öl aus der Fackel in die schwarze Spur gefallen und hatte sie entzündet. Arpid schrie auf, presste den Sack an sich, aus dem das Pulver rieselte, und rannte davon. Die Funken sprühende Pulverspur folgte ihm unerbittlich. Im chaotischen Lärm der Alarmglocken schoss Arpid schrei end den Korridor hinab. Der Wissenschaftler schüttelte den Kopf, rannte ihm nach, riss ihm den Sack aus den Händen und trat das zischende Pulver aus. Arpid lächelte dümmlich und keuchte: »Tut mir Leid.« Der Wissenschaftler betrachtete den Dieb mit wachsender Verwirrung. »Ich hätte mit dem klügeren Partner des Akkadiers zusam menarbeiten sollen.« »Mit welchem klügeren Partner denn?« »Mit dem Kamel. Beruhige dich.« Der Sack, den Philos Arpid aus den Händen gerissen hatte, war der letzte. Mit einem Messer schnitt er die Spitze ab und begann, seine eigene Zündspur zu legen, die sich bis zu den anderen Säcken zog, die die beiden im Gang verteilt hatten. Als er fertig war, betrachtete Philos seine Arbeit mit einigem Stolz, doch auch mit Besorgnis. »Komm mit, Dieb. Ich kann nur hoffen, dass wir nicht zu spät sind.« Philos eilte davon, und Arpid folgte ihm rasch. Keiner von beiden bemerkte, dass der Dieb mit seiner Sanda
le in die Zündspur getreten war und sie unterbrochen hatte. Im Thronsaal schwiegen die Alarmglocken schließlich, doch der Kampf tobte weiter. Mit zwei Schwertern gleichzeitig stürmte Memnon auf den Akkadier ein. Beide Männer waren geschickte Kämpfer, die ihr gegenseitiger Hass antrieb. Ständig wechselte der leichte Vorteil, den einer gegenüber dem anderen gewann, die Schwer ter schossen mit meisterhafter Geschicklichkeit aufeinander zu, und Funken stoben von den aufeinander prallenden Klingen. Cassandra, die sich von der Schlange befreit hatte - wohin war das Tier nur verschwunden? - half dem Akkadier auf entscheidende Weise in gleich doppelter Hinsicht; Memnon war so sehr in den Kampf verwickelt, dass er nichts davon bemerkte. Sie verbarrikadierte die Türen zum Thronsaal, so dass der Kampf ausschließlich zwischen diesen beiden Män nern ausgetragen werden konnte. Und sie nahm ein filigran geschmücktes Schwert von der Wand, versteckte es hinter ihrem Rücken und versuchte, irgendwie hinter Memnon zu gelangen; doch der Zweikampf war so heftig, dass sie ihre Position ständig wechseln musste. Aber sie hoffte, das Schwert in den Rücken des Kriegsherrn zu rammen, die Zukunft zu ändern und so ihrer eigenen Prophezeiung zu trotzen. Außerhalb des Palastes kniete Königin Isis vor zwei un scheinbaren Gestalten: Sie half Philos und Arpid aus dem Loch in der Straße. »Wir haben es endlich geschafft«, sagte der Wissenschaftler zu ihr. Er sah sich um. Die Kriegerinnen hatten auf den Stufen des Palastes Position bezogen, und in der kühlen Wüstenbrise tauchten die Fackeln den obersten Treppenabsatz in ein fla ckerndes Licht. Dann bemerkte der Wissenschaftler die Abwe senheit des Nubiers.
»Als dein Pulver nicht wie geplant in die Luft flog«, sagte die Königin, »ging Balthazar in den Palast, um Mathayus zu helfen.« »Aber warum? Überall wimmelt es von Mitgliedern der Roten Wache!« »Stimmt. Doch du solltest unseren Freund nicht unterschät zen..« Mit einem Nicken deutete die Königin auf eine schattige Stelle in der Nähe der Außenmauer, wo zehn tote Wachsolda ten, die Balthazar besiegt hatte, in einen Schlaf gesunken waren, von dem es kein Erwachen gab. Obwohl der Wissenschaftler wie bereits zuvor schon über das Blutvergießen erschrak, sagte er nur: »Nun ja, er ist ein bemer kenswerter Bursche, was das angeht.« Dann zog Philos eine kleine Sanduhr unter seiner Robe her vor und stellte sie auf den Kopf. Der Sand begann, durch die Verengung in das untere Glas zu rieseln. »Wenn das obere Glas mehr oder weniger leer ist, sollte es eine gewaltige Ablenkung geben.« Isis seufzte und betrachtete den Palast. »Sie könnten Hilfe gebrauchen.« Der Wissenschaftler nickte. »Aufgeht's, Leute«, murmelte er und wandte sich dabei an den abwesenden Mathayus und an Balthazar. »Die Zeit läuft ab.« Und an der Sanduhr konnte man erkennen, dass das tatsäch lich der Fall war. Doch in den unterirdischen Korridoren, in denen die Säcke mit dem Pulver verstaut worden waren, war das Feuer erloschen. Es gab überhaupt keinen Grund, sich zu beeilen. Cassandra schien mit ihrer Klinge einfach nicht hinter den Rücken des verhassten Memnon zu kommen, doch es sah so aus, als machte Mathayus ihre Mühen überflüssig. Der Akkadier hatte jetzt die Oberhand gewonnen; sein mäch
tiger Krummsäbel zwang Memnon zum Rückzug, bis der Kriegsherr gegen die massive, fast zwei Meter hohe Goldstatue eines Widders stieß, die den Kampf vom Rand des Thronsaals aus ohne jedes Interesse beobachtete. Dann krachte etwas gegen die Türen. Es gab einen tiefen, nachhallenden Knall, als mehrere Männer versuchten, zum Thronsaal durchzubrechen, wobei sie möglicherweise einen Rammbock benutzten. Die beiden Kämpfer wechselten mehrere schnelle Hiebe, und obwohl Memnon in diesem Augenblick in einer schlechteren Position war, grinste er seinen Gegner wölfisch an, als er seine Männer an der Tür hörte. »Eine edle Anstrengung, Akkadier, doch meine Palastwachen sind die wildesten Krieger, die man auf der Welt finden kann.« »Oh, ich weiß«, knurrte Mathayus, während sein Krummsä bel klirrend die Klinge des Kriegsherrn traf. »Ich habe die Wüste mit dem Blut deiner besten Soldaten getränkt.« »Ah«, hielt Memnon dagegen und parierte die Worte glei chermaßen wie den Hieb, »aber willst du nun gegen alle gleichzeitig kämpfen?« In diesem Augenblick brachen die Türen des Thronsaals auf, und es zeigte sich, dass Balthazar der Rammbock gewesen war, der mit vier Wachen gleichzeitig kämpfte. Sie krallten sich an ihn, als hinge ihr Leben von ihm ab, wo sie doch in Wirklich keit alles taten, um diesen Berg von einem Mann zu Boden zu reißen. Er hatte sein Schwert noch immer in der Hand, doch die Wachen hatten ihn gepackt und hielten seine Arme fest, und der Nubier war zwar nicht hilflos, doch ernsthaft behindert. Der große Mann schrie vor Wut auf und schleuderte die vier Männer von sich, die über den Boden des Thronsaals rutschten wie Spielzeugsoldaten, die ein gelangweiltes Kind weggewor fen hatte. Jetzt behinderte nichts mehr Balthazars Schwert. Er stürmte in den Thronsaal, verschaffte sich einen Überblick über die
Lage und wirbelte dann herum, um sich dem nächsten Angriff zu stellen. Er brauchte nicht lange zu warten. Immer mehr Wachen stürmten vom Gang aus in den Saal; die vier, die er abgeschüttelt hatte, waren wieder auf die Beine gekommen und schwangen ihre Schwerter. Der Nubier lächel te, als wollte er sie freundlich begrüßen, stürzte sich mit gezücktem Schwert auf sie und mähte sie nieder wie Unkraut. Ein Wachsoldat, der gerade erst in den Saal gekommen war, schlich sich an dem kämpfenden Nubier vorbei und marschier te drohend auf Cassandra zu. »Zauberin!«, rief der Wächter ihr befehlend zu, und seine Stimme erhob sich über den Lärm der aufeinander prallenden Schwerter. »Zauberin! Flieh! Sofort! Das ist kein Ort für eine Frau. Hier ist es nicht sicher.« »Ich glaube, du hast Recht, großmütiger Freund«, sagte Cassandra, und in einer einzigen fließenden Bewegung, deren Geschwindigkeit und Eleganz den Wächter hypnotisierte, schoss das Schwert hinter ihrem Rücken hervor und versetzte ihm zwei lautlose Hiebe. Der Wächter glitt zu Boden, als wollte er sich nur kurz ausru hen, doch die Ruhe, die er gefunden hatte, sollte ewig dauern. An den Eingangstüren hieb der gewaltige Nubier eine Schnei se des Todes durch die Reihen der besten Soldaten Memnons. Dieses Ein-Mann-Heer erschütterte Memnons Selbstvertrauen, denn Mathayus war offensichtlich nicht allein gekommen. Wie viele Eindringlinge gab es noch? Mathayus stürmte nach vorn, seine Schwerthiebe prasselten auf Memnon nieder wie auf einen störrischen Baum, der ihm den Weg versperrte, und wieder zwang der Akkadier den Kriegsherrn zum Rückzug, während der goldene Widder mitten in diesem Chaos vollkommen gleichgültig blieb. Vor dem Palast wartete der Rest der kleinen Truppe auf eine Explosion, doch die kam einfach nicht, auch wenn mittlerweile
aller Sand durch das Stundenglas geronnen war. Der Dieb betrachtete das Instument, das der Wissenschaftler in Händen hielt, und fragte ihn: »Bedeutet das, dass unser Pulver hätte in die Luft fliegen müssen?« »Ich musste noch etwas Zeit einrechnen, denn wir waren ja noch eine Weile da unten, aber ...« Königin Isis sah ihn missbilligend an. Philos schüttelte den Kopf. »Wie ist das nur möglich?« »Könnte es sein, dass du ein verrückter alter Schafskopf bist?«, fragte Arpid, dessen Geduld angesichts dieser Pfusch arbeit langsam erschöpft war. »Ein Narr, der keine Ahnung von magischem Pulver hat?« Doch der Wissenschaftler schien ihn nicht zu hören. Lauter als zuvor wiederholte er: »Wie ist das nur möglich?« Isis runzelte die Stirn. »Was können wir machen?« »Wir müssen noch einmal hinein«, sagte der Wissenschaftler, »und uns das Pulver ansehen.« Arpid riss die Augen auf. »Was? Und dann explodiert es direkt vor unseren Augen?« Auch das schien Philos nicht zu hören. Der Dieb hatte seine Frage kaum ausgesprochen und noch keine Antwort erhalten, da rannte Philos schon die Stufen hinauf in den Palast. Diesmal nahm er die Vordertür, wobei er sich flink zwischen den Kriegerinnen hindurchschlängelte. Arpid sah Isis an und schüttelte den Kopf. »Na, das läuft ja wunderbar.« »Geh mit ihm«, sagte die Königin. »Was? Ich möchte nicht getötet werden!« Isis zeigte ihm ihren Dolch. »Genau darauf will ich hinaus.« Arpid schluckte. »Der alte Knabe braucht vielleicht Hilfe.« Und der Dieb rannte ihm nach. Isis seufzte.
»Männer«, sagte sie, und ihre Kriegerinnen verdrehten die Augen und nickten. Schon nach wenigen Sekunden hatte Arpid Philos eingeholt, und weil sie diesmal eine andere, direktere Route nahmen schließlich kannte sich der Wissenschaftler aus im Palast -, hatten sie die unterirdischen Korridore des großen Gebäudes schnell erreicht. Es dauerte nicht lange, bis Philos den Fußabdruck entdeckte, der die Zündspur des Pulvers unterbrochen hatte. Rasch beseitigte der Wissenschaftler den Schaden und ent zündete das Pulver erneut mit einer Fackel, die er von der Wand nahm. Das Pulver flammte sofort auf, und das Feuer schoss die Zündspur entlang auf das vorbestimmte Ziel zu. »Das war einfach«, sagte Arpid, erleichtert, nicht in die Luft geflogen zu sein. »Deine dummen Füße waren schuld an allem!«, zischte Philos. »Schau«, sagte der Dieb, »wenn wir uns jetzt darüber streiten, wer schuld ist, dann löst das unsere Probleme überhaupt nicht.« »Genauso wenig, wie wenn wir uns hier noch länger unter hielten. Es sei denn, du möchtest auf die Explosion warten. Hier würdest du sie ganz aus der Nähe miterleben.« »Nein!« »Dann renn, du Narr, renn!« Und sie rannten los. Arpid voraus, dicht gefolgt von dem älteren Mann. »Los, los, alter Mann! Beeil dich, wenn du nicht verletzt werden willst!«, schrie Arpid und wandte sich nach hinten um zu Philos. Und krachte, als er wieder nach vorn sah, mit der Stirn gegen einen tiefhängenden Balken und fiel in Ohnmacht. Der Wissenschaftler erreichte kurz darauf die Stelle und betrachtete seinen auf dem Boden liegenden Gefährten. »Unglaublich«, sagte er. Er seufzte, beugte sich vornüber und
schwang sich den kleinen Dieb auf die hängenden Schultern. Gar keine Frage, dachte er, während er seine bewusstlose Last den Gang entlang schleppte, das Kamel wäre die bessere Wahl gewesen. Noch immer tobte ihm Thronsaal die Schlacht. Der Schwert kampf zwischen dem Akkadier und dem Kriegsherrn hatte längst einen Punkt erreicht, an dem schwächere Männer zusammengebrochen und möglicherweise an der unglaublichen körperlichen Anstrengung gestorben wären. Doch sie waren nicht die Einzigen, die sich in diesem Saal auf einen übermenschlichen Kampf eingelassen hatten. Von niemandem unterstützt, veranstaltete Balthazar sein eigenes Gemetzel unter den Palastwachen. Einer nach dem anderen sanken die erfahrenen Schwertkämpfer in den roten Turbanen blutüberströmt zu Boden, besiegt von der flinken Geschick lichkeit und der überragenden Kraft des Nubiers. Mörderische Raserei erfüllte Balthazar, als er plötzlich gegen jemanden stieß - einen Feind, der von hinten zu kommen schien. Der Nubier wirbelte herum, bereit, einen weiteren Wächter zu töten, und er hatte sein Schwert bereits erhoben, als er merkte, dass seine Klinge das Rückgrat des Akkadiers zu zerschmettern drohte, denn Memnon hatte Mathayus gegen Balthazars Rücken gedrängt. Doch Mathayus drehte sich nicht einmal um. Blitzschnell hob er seine Klinge über den Kopf und lenkte den Hieb des Nubiers ins Leere; dann schoss seine Klinge wieder nach vorn, und er parierte einen weiteren Stoß des Kriegsherrn. Über den Lärm der aufeinander prallenden Klingen hinweg rief er dem Nubier zu: »Versuch bitte, nur sie umzubringen!« Jetzt kämpften beide Männer Rücken an Rücken, denn immer mehr Wachen drängten sich Balthazar entgegen, der es mit zweien auf einmal aufnahm, während Memnon seinen Angriff auf Mathayus fortsetzte.
»Du bist über mich gestolpert, Akkadier«, brachte der Nubier zwischen zwei Schwerthieben hervor. »Als Meuchelmörder bist du der größte Stümper, der mir jemals begegnet ist.« Mathayus warf Balthazar einen raschen Blick zu, dessen Gesicht von einem Gefühl verzerrt wurde, das völlig unge wohnt für ihn war: Angst. Dann brüllte der Nubier: »Pass auf!« Ein Wachsoldat, der seinem Herrn zur Hilfe kam, zielte mit seinem Schwert auf das Gesicht des Akkadiers. Mathayus sprang zur Seite, und plötzlich hörte er ein Zischen und begriff, was Balthazar mit seiner Warnung wirklich gemeint hatte. Neben den Füßen des Akkadiers reckte sich die Königskobra in die Höhe, die überaus irritiert schien, mitten in dieses Chaos geraten zu sein. Dann schlugen zwei Schlangen gleichzeitig zu - die Kobra und Memnon. Geschickt wich Mathayus beiden aus, doch jetzt musste er auf die Angriffe und die Paraden des Kriegsherrn reagieren, während eine zischende Schlange um ihn herum schlich, für die es nur ein Ziel zu geben schien: die Waden des Akkadiers. Diese Ablenkung kam Mathayus teuer zu stehen. Seine Gegenschläge wurden schwächer, weil er nicht nur Memnon, sondern auch der Giftschlange ausweichen musste. Der Kriegsherr hatte die Schlange zwar gesehen, doch für ihn stellte sie nur eine kleine Bedrohung dar, wenn überhaupt, denn erstens war sie dem Akkadier viel näher, und zweitens wurden seine eigenen Waden von der schweren Lederrüstung geschützt. Er nutzte seinen Vorteil, und mehrmals hintereinander schnitt seine Klinge über die Brust des Akkadiers. Keine der Wunden war tödlich, doch Blut rann daraus hervor, und jetzt machte auch noch der Schmerz dem Barbaren zu schaffen, nicht nur die Ablenkung. Balthazar hätte Mathayus geholfen und die Schlange in Stü
cke gehackt, wenn er gekonnt hätte, doch seine Aufmerksam keit galt den Eingangstüren, durch die unablässig Verstärkung für Memnon strömte, obwohl es ihm noch immer gelang, die Wachen, die sich bereits im Saal befanden, zu töten oder durch den Eingang zurückzudrängen. Langsam spürte der große Nubier, was ihn dieser Kampf kostete. Seine Arme schmerzten und sein Atem ging schwer. Wie viele von diesen Bastarden musste er noch töten? Links und rechts von ihm sanken sie getroffen zu Boden - doch unablässig stürmten neue Wachsoldaten auf ihn ein. Inzwischen hatte sich der Akkadier einer Öllampe genähert, während die Schlange und der Kriegsherr ihm folgten. Er trat die spindeldürren Beine der Lampe um, die Feuerschale fiel mit einem Knall zu Boden, und das Öl floss auf die Schlange zu. Aufspritzende Tropfen verbrannten bereits ihre Schuppen. Und die Kobra hatte genug. Sie glitt davon. Mochten sich die Menschen doch ihrem Kampf widmen, so lange sie wollten. Aber Mathayus hatte nicht einmal einen kurzen Augenblick der Erleichterung für sich gewonnen, denn Memnon hatte anscheinend seinen toten Punkt überwunden und stürmte schon wieder auf ihn ein. Die Lampe, die Mathayus umgeworfen hatte, war zwar nütz lich gewesen gegen die Kobra, doch jetzt schien das Feuer neue Opfer zu suchen. Die Flammen hüllten den unteren Abschnitt eines riesigen Wandteppichs ein. Innerhalb von Sekunden loderte der ganze Wandteppich auf, und das Feuer griff auf die anderen Tapisserien über, bis die Wände selbst zu glühen schienen. Jetzt trennte ein Feuerwall Mathayus und Memnon, und der Akkadier hätte beinahe die Zauberin gepackt und den endgülti gen Sieg über den Kriegsherrn auf später verschoben, hätten ihn die Flammen nicht auch von seiner Geliebten getrennt. Das knisternde Feuer schoss in alle Richtungen, eine mörderische Hitze breitete sich im Thronsaal aus, und die Kämpfer waren
plötzlich schweißgebadet. Memnon schien die Glut zu genießen, er wirkte wie ein Dämon in seinem Element. Er schlug den Deckel einer weite ren Öllampe ab und stieß seine Klinge in das kochende Öl. Mathayus starrte in die tanzenden Flammen: Wo war dieser Bastard? Plötzlich flog Memnon mitten durch das Feuer in einem Kopfsprung auf ihn zu, der das große kriegerische Geschick dieses Mannes bewies. Er überschlug sich in der Luft und landete direkt vor den Füßen des Akkadiers, hieb mit dem Schwert auf ihn herab, dass die Klingen klirrten und Funken nach allen Seiten stoben. Verwundert und entsetzt riss Cassandra die Augen auf, als sie die beiden Kämpfer sah, die jetzt mit flammenden Schwertern aufeinander einhieben und die Stöße der Klingen parierten. Doch das auflodernde Feuer schien Memnon zu inspirieren und den Akkadier möglicherweise zu beunruhigen, denn der Kriegsherr war sichtlich im Vorteil, und immer weiter und weiter trieb er den größeren Mann zum Rückzug. Trotz der tosenden Flammen und der lärmend aufeinander prallenden, lodernden Klingen hörte sie ein erschöpftes Grun zen und wandte sich zum Eingang. Es war eindeutig: Der große Nubier wurde langsam müde. Achtlos lagen die Leichen seiner Feinde um seine Füße verstreut, doch Balthazar wurde fast überwältigt, als immer mehr Wachen durch den Eingang strömten und ihn in den brennenden Thronsaal zurückdrängten. »Mathayus!«, schrie Cassandra. »Du musst ihm helfen.« Flink wich der Akkadier dem surrenden Flammenschwert Memnons aus, und dann sah er es selbst: Balthazar kämpfte, so hart er konnte, doch die bloße Anzahl der Feinde überwältigte ihn. Fast. Dann schlitzte eine der Wachen das Bein des Nubiers auf, es war eine tiefe, klaffende Wunde, und Balthazar heulte wütend auf. Die Wunde trieb ihn nur dazu an, sich noch heftiger in den Kampf zu stürzen, doch jetzt schlug er blind um sich.
Mathayus wusste, dass er Balthazar helfen musste; wenn nicht, hätten die Wachen den großen Krieger bald überrannt und in Stücke gehackt. Mit aller Kraft, die Mathayus aufbringen konnte, schwang er sein Schwert gegen Memnon, der diesen Schlag nur abwehren konnte, indem er seine beiden Schwerter gleichzeitig zu Hilfe nahm. Deshalb war Memnon abgelenkt und nicht darauf vorbereitet, dass ihm der Akkadier mit aller Wucht gegen die Brust trat, worauf der Kriegsherr nach hinten in die Flammen fiel. Die Masse der Wachen begann, Balthazar einzukreisen, und bald wäre es selbst für Mathayus zu spät, es mit jedem Einzel nen von ihnen im Kampf Klinge gegen Klinge aufzunehmen. Blitzschnell fasste er einen Entschluss. Er rannte zu der fast zwei Meter hohen Widderstatue, bot all seine Kraft und all seinen Willen auf, hob die mächtige Statue an, hielt sie wie einen Baumstamm über den Kopf, zielte damit auf die Wachen, die seinen Verbündeten angriffen, und schleuderte sie ihnen entgegen. Die massive Statue prallte mitten unter ihnen auf. Einige begrub sie unter sich, die übrigen sprangen zur Seite. Schwer atmend nickte Balthazar Mathayus zu, und Mathayus nickte zurück. Das war alles, was der Nubier gebraucht hatte, um für den Augenblick wieder eine sicherere Position zu gewinnen. Cassandra hatte das alles staunend und voller Bewunderung mit angesehen, und sie fragte sich, ob sie an Memnon heran kommen konnte, um ihn mit ihrer Klinge zu überraschen. Doch als sie sich umwandte, war es Memnon, der sie über raschte. Der Kriegsherr rannte auf sie zu - genau wie in ihrer Vision, auch wenn sie sich an einem anderen Ort befand und er nicht auf einem Pferd saß. Doch seine gefletschten Zähne und sein von Hass verzerrtes Gesicht waren genau so, wie sie es gese hen hatte!
Ohne seinen Lauf zu unterbrechen, rammte er ihr die Schulter in den Bauch, dass sie heftig nach Luft schnappte, und das kleine Schwert flog ihr aus der Hand, als er sie wie einen Mehlsack über die Schulter warf. Er schoss durch das Inferno im Thronsaal und entführte sie. Als Mathayus zu den Eingangstüren rannte, fiel ein Wandtep pich von oben herab und schuf einen Feuerwall, der ihn zurückdrängte. Mathayus stieß fast mit Balthazar zusammen und fragte: »Ist alles in Ordnung, mein Freund?« Der Nubier lächelte grimmig. »Du gehst ihnen nach mein Freund. Ich werde diese Bastarde aufhalten.« An verschiedenen Stellen des Thronsaals kamen die überle benden Wachsoldaten wieder auf die Beine und formierten sich neu. »Du rettest sie, Akkadier«, befahl Balthazar. »Wer bin ich schon, dass ich mich einem König widersetzen würde?«, erwiderte Mathayus. Und er rannte durch die Flammen, hinaus auf den Gang.
Die Zeit der Prophezeihung
Wieder kniete Isis draußen vor dem Palast nieder, um Philos zu helfen. Das erschöpfte Gesicht des Wissenschaftlers tauchte im Loch in der Straße auf, wo sich zuvor das Gitter befunden hatte. Doch diesmal brauchte er besondere Unterstützung. Der kleine Pferdedieb, der nach dem Schlag gegen die Stirn noch immer bewusstlos war, musste wie ein zusätzlicher, allerdings größerer Pulversack aus dem Loch gehievt werden. Das Stirnrunzeln der Königin wirkte wie eine Frage, doch der Wissenschaftler, der an Isis' kräftiger Hand aus der Abfluss
rinne gezogen wurde, sagte nur: »Frag nicht.« »Aber ihr habt Erfolg gehabt?« »O ja. Doch der Zeitpunkt ist jetzt nicht mehr so perfekt. Wir müssen warten. Wir sind von den Launen der Götter abhängig. Die Wissenschaft kann nur ein klein wenig dabei helfen.« Und an einer verborgenen Stelle unter dem Palast schoss eine Funken sprühende Flamme die Zündspur entlang. Der Palasthof funkelte im Mondlicht, als Memnon mit der Zauberin über der Schulter ins Freie trat. Er setzte sie grob auf dem Boden ab, hielt inne und schöpfte Atem - aber nicht deshalb, weil er dieses Leichtgewicht von einer Frau getragen hatte, sondern weil er sich von dem Zusammenstoß mit Mathayus im Thronsaal erholen musste; es war der härteste Kampf, den der Große Lehrer jemals hatte bestehen müssen. Auch Cassandra atmete schwer, und sie hielt ihren Magen, der von dem Stoß schmerzte, mit dem Memnon sie von den Füßen geschleudert hatte, um sie in seine Klauen zu reißen. Erschöpft und schwer atmend beugte sich Memnon über sie, wobei er sich mit den Händen auf den Hüften abstützte. Seine Oberlippe verzog sich zu einem bissigen, höhnischen Grinsen: »All diese Jahre - hast du mich angelogen.« Sie schüttelte den Kopf, und es gelang ihr zu sprechen. »Ich habe nie - nie gelogen.« In den Fenstern des sie umgebenden Palastes tobte das Feuer, das vom Thronsaal auf die anderen Räume übergegriffen hatte. Plötzlich senkte sich ein großer Wandteppich über den Ein gang, aus dem sie gerade eben auf den Hof gekommen waren, und bildete eine zuckende, flackernde Feuerwand. Memnons Atem ging jetzt ruhiger. »Und was ist mit meinem großen Sieg, den du vorhergesehen hast?« »Ich habe ihn gesehen. Ich habe ihn tatsächlich gesehen.« Ihre Lippen kräuselten sich zu einem höhnischen, trotzigen Lächeln. »Und ich habe gehofft, ich könnte ihn verhindern.«
Der Kriegsherr trat auf sie zu, und sie rückte von ihm weg. »Du hast deine Jungfräulichkeit verteidigt wie ein Juwel. Doch dieser Diamant war nichts weiter als billiges, funkelndes Glas.« »Wage es nicht, mich zu berühren. Mathayus wird dich um bringen, wenn du mich anfasst.« »Er wird es auf jeden Fall versuchen.« Memnon hielt inne und blickte zum Himmel auf, wo der Mond beinahe seinen höchsten Punkt erreicht hatte und hell vor dem purpurnen Nachthimmel aufleuchtete. Sein Licht war so friedlich und ruhig im Gegensatz zu den tobenden Flammen, die den Palast vernichteten, und den bitteren Kämpfen, die darin ausgefochten wurden. »Nun, meine Liebe, deine Täuschung hat dir nichts genutzt.« Schnell wie eine Kobra schoss seine Hand nach vorn. Er packte sie an den Armen, wirbelte sie herum, riss sie von hinten an sich und legte einen Arm um ihren schlanken Hals, während sein Unterarm gegen ihre Kehle drückte. »Die Zeit ist gekommen, meine Liebe«, sagte er zärtlich und zog sie über den Palasthof. Sie wand sich hin und her, doch sie vermochte ihm nicht zu entkommen. »Ich werde diese Stufen hinaufsteigen und eins werden mit den Göttern.« Kaum noch atmend, verkrallte sich Cassandra in Memnons Arm, doch es war umsonst. Er riss sie mit sich und schleppte sie in Richtung des Altars, den der Große Lehrer sich selbst errichtet hatte. Ein Dutzend Stufen führten hinauf auf eine Plattform, die von Widdern umgeben war und auf der die Statue eines Gottes thronte, der aussah wie er selbst. »Du sollst alles mit deinen eigenen Augen sehen«, sagte er. »Vielleicht hast du deine prophetische Gabe verloren und empfängst keine Visionen mehr, doch bald werden deine Augen von meiner Vision erfüllt sein - einer Welt, die von Memnon beherrscht wird!« Der Kriegsherr stieß die sich windende, noch immer Wider
stand leistende Frau vor die Altarstufen. Plötzlich schien sich der lichterloh brennende Wandteppich, der den Eingang zum Palasthof versperrte, in zwei Teile zu spalten. Der Akkadier hatte mit einem einzigen, mächtigen Schwert hieb einen Durchgang für sich geschaffen, und er stürmte durch das Feuer wie die Vision eines Gottes, der aus Rauch und Flammen erbarmungslos und unaufhaltsam immer näher kommt. Unbeirrbar und tödlich hatte er seinen Blick auf Memnon gerichtet, als würde er dem Flug eines Pfeils folgen. Brutal schleuderte Memnon Cassandra von sich und stellte sich Mathayus entgegen. Cassandra fiel hart auf den Steinbo den, schürfte sich einen Arm auf und japste nach Luft; nur schwer kam sie wieder zu Atem, doch voller Hoffnung und Furcht sah sie Mathayus' Angriff. Memnon zog ein Schwert und lenkte den ersten, wuchtigen Hieb des Akkadiers ins Leere, doch nur knapp. Und jetzt, im offenen Gelände des Palasthofes, surrten die Schwerter der beiden Männer erneut durch die Luft und prallten dröhnend aufeinander, während das elfenbeinfarbene Licht des Mondes und die orangefarbenen Flammen des Feuers ihre umherhusch enden Körper beschienen. Im Thronsaal hatte Balthazar alle Gegner getötet oder we nigstens verwundet, doch er konnte kaum mehr stehen. Blut strömte aus seiner klaffenden Beinwunde und schwächte ihn. Der Nubier ließ das scharlachrote Chaos aus Toten und Ster benden hinter sich und humpelte aus dem Thronsaal, in dem sich das Feuer immer weiter ausbreitete, hinaus auf den Gang, um sich in Sicherheit zu bringen. Doch für den Banditenkönig gab es keine Sicherheit. Ein langer Stab wurde ihm entgegengeschleudert. Er streifte ihn am Kopf, und Balthazar fiel auf den Steinbo den. Trotz des heiseren Tosens der Flammen konnte er den Huf
schlag eines Pferdes hören - mitten im Palast? - , und das erschien Balthazar wie eine bizarre akustische Halluzination. Doch als er sich auf seine Ellbogen stützte, sah er, dass die Erscheinung des abstoßenden Vatermörders Takmet nur allzu wirklich war. Takmet ritt auf einem schwarzen Hengst auf ihn zu, doch die Schwärze des Tieres konnte nicht dunkler sein als die Seele des Reiters. Im breiten Korridor brachte der Reiter sein Pferd neben dem gestürzten Nubier zum Stehen. Er grinste auf Balthazar herab, lachte wahnsinnig und schwang eine mit einem Widerhaken versehene Lanze. Takmet stieß damit nach Balthazar, der sich im letzten Augenblick zur Seite rollen konnte. Unter großen Schmerzen erhob sich der Nubier auf die Knie, und das Echo der barschen, selbstgefälligen Stimme des ab stoßenden Prinzen hallte von den Wänden wider, um die orange-blaue Flammen zuckten. »Edler Balthazar - wenn ich kein König bin, warum kniet Ihr dann vor mir?« Diese Beleidigung war ein Geschenk der Götter, denn sie inspirierte den Berg von einem Mann. Wut erfüllte ihn mit neuer Energie. Mit der einen Hand packte er sein Schwert fester, mit der anderen Hand stützte er sich an der Wand ab und erhob sich auf seinem unverletzten Bein, um sich dem Reiter mit der Lanze entgegenzustellen. Im Palasthof tobte noch immer der Kampf zwischen dem Barbaren und dem Mann, der König sein wollte, während die Zauberin, die dem einen gedient hatte und den anderen liebte, hilflos zusah. Mathayus kämpfte mit ungezügelter Wut, doch Memnon glich durch seine Geschicklichkeit, seine eleganten Bewegungen und seine unglaubliche Geschwindigkeit seine etwas geringere Kraft sehr gut aus. Weil er so erfahren darin war, mit einem Schwert in jeder Hand zu kämpfen, konnte er
alle Schläge des Akkadiers mit einer Klinge abwehren, um mit der anderen anzugreifen. Sie waren bei ihrem Kampf bis zu den Altarstufen gekom men, und noch immer stürmte Memnon auf Mathayus ein und drängte seinen Gegner zurück, bis Mathayus gegen eine brennende Öllampe stieß, die auf einem kleinen Podest stand. Mit der Geschicklichkeit eines weitaus zierlicheren Mannes sprang der Akkadier rasch zur Seite, und Memnon nutzte den kurzen Augenblick, um seine beiden Klingen erneut in das auflodernde Öl zu stoßen. Wieder tanzte Feuer auf den Schwertern des Kriegsherrn, und mit wirbelnden Klingen griff er Mathayus an. Mit flackernden, blendenden Schwertern führte er seine Hiebe geschickt gegen den Akkadier, und das Öl spritzte auf Mathayus' Arme. Die Tropfen flammten auf, und Mathayus musste sich jetzt nicht nur gegen einen überragenden Kämpfer wie Memnon zur Wehr setzen, sondern auch noch Zeit gewinnen, die Flammen abzuschütteln, die wie Insekten auf ihn einstachen. Der Kriegs herr nutzte die Ablenkung und drängte Mathayus an den Rand des hohen Palasthofes. Mathayus warf einen kurzen Blick über die Schulter. Tief unter ihm lagen die Straßen Gomorras. Erst jetzt hatte sich Cassandra mit zitternden Beinen von dem Steinboden erhoben, auf den Memnon sie geschleudert hatte, und sie schrie verzweifelt auf. Sie wünschte sich, noch über einen kleinen Rest magischer Kräfte zu verfügen, um ihrem Geliebten zu Hilfe zu kommen und den widerlichen Kriegs herrn zu vernichten. In einem Gang des Palastes war es zu einem Zweikampf gekommen, bei dem es ebenfalls um Leben und Tod ging, als der wahnsinnige Takmet von seinem Pferd aus mit der Lanze immer wieder nach Balthazar stieß. Der verwundete Nubier schien verloren. Immer weiter musste er sich zurückziehen.
Und während diese Kämpfe noch andauerten und das Feuer sich immer weiter ausbreitete, folgte eine Funken sprühende Flamme tief unter dem Palast ihrer Zündspur, die zu den Säcken mit dem schwarzen Pulver führte. Mathayus schwankte über dem Abgrund; ein langer Sturz in die Tiefe war nur einen Schritt weit entfernt, und mit vorge schobener Schulter hieb Memnon, das Flammenschwert in der Rechten, auf ihn ein. Doch Mathayus konterte. Er packte Memnons Schwertgriff, druckte sich mit seinem ganzen Gewicht dagegen und wirbelte den Kriegsherrn herum auf die niedrige Brüstung zu. Eine kleine Mauer, die als Schmuck diente und den Altar stützte, rettete Memnon; er krachte mit voller Wucht dagegen. Mathayus sprang zurück, damit ihn sein Gegner nicht im letzten Augenblick packen und in die Tiefe schleudern konnte. Schwer atmend gönnte sich Memnon einige wenige Augen blicke der Erholung, lehnte sich gegen die Steinmauer und blickte selbst kurz in den Abgrund. Sein wildes Grinsen besagte, dass er dem Akkadier zähneknirschend Respekt zollte, denn Mathayus hatte den vermeintlich unsterblichen Kriegs herrn die unmittelbare Nähe des Todes spüren lassen. Doch für solche Feinheiten hatte Mathayus keine Zeit. Er schwang sein Schwert in hohem Bogen, um den Bastard in zwei Teile zu spalten. Doch der Kriegsherr wich dem Hieb aus, schwang sein Bein herum und traf den Akkadier mit der Stiefelspitze hart in die Seite. Der Schmerz ließ Mathayus zusammenfahren, dasselbe Bein trat noch einmal zu, und der Stiefel traf sein Kinn. Halb aufgerichtet stolperte der Akkadier nach hinten und prallte gegen einen Tisch neben den Altarstufen, der unter seinem Gewicht zusammenbrach. Zwar hatte Mathayus seinen Krummsäbel noch in der Hand, doch mittlerweile war er benommen und kaum noch bei Bewusstsein, so dass Memnon
jetzt leichtes Spiel hatte, wenn er ihn töten wollte. Doch als der Barbar wieder halbwegs klar denken konnte, sah er, dass sein Gegner ihn nicht angriff: Memnon stand nur da und starrte hinauf zum Mond. Wäre Mathayus nicht so benommen gewesen, hätte er die Gelegenheit genutzt, sich auf den Kriegsherrn gestürzt und ihn mit einem Hieb seines mächtigen Krummsäbels in die Unter welt geschickt. Stattdessen wandte auch er verwirrt den Blick zum Mond und fragte sich, ob er nicht im Delirium liege, denn ... die Kugel des Mondes war von einem silbern leuchtenden Kreis umgeben, und auf der fernen Mondoberfläche konnte man das Abbild eines Skorpions erkennen. Memnon wusste, dass er jetzt warten musste, bis er den Ak kadier töten konnte, wenn auch nicht lange. Denn jetzt war der große Augenblick gekommen, der nicht ungenutzt verstreichen durfte, die entscheidende Konstellation von Mensch und Himmel, ein Augenblick, in dem Wirklichkeit und Schicksal eins wurden: Die Zeit der Prophezeiung war angebrochen. Memnons Schwert brannte nicht mehr, als er die breiten Steinstufen hinaufschritt. Als der die Mitte der Treppe erreicht hatte, hielt er inne und rief mit grimmiger und entschlossener Stimme zum Himmel hinauf: »Ihr großen Götter hoch oben, blickt herab zu mir!« Mathayus kam mühsam wieder auf die Füße. Glaubte dieser Wahnsinnige tatsächlich, er könne den Göttern Befehle ertei len? Noch immer wandte sich der Kriegsherr auf den Stufen an den Himmel und an den Mond, doch jetzt war seine Stimme leiser: »Nehmt mich auf in eure Reihen.« Als Cassandra begriff, was er vorhatte, packte sie Entsetzen, denn ihre Prophezeiung schien sich zu erfüllen. Sie befanden sich im Palasthof, genau, wie sie es im Lager der Banditen vorhergesehen hatte; und Memnon stand auf den Altarstufen, während Mathayus sich darauf vorbereitete, ihn von der Seite
aus anzugreifen. Erschrocken wandte sie sich den Toren zu, die auf den Pa lasthof führten, und versuchte, sich genauer an ihre Vision zu erinnern. Ein Bogenschütze war aus einem dieser Tore ins Freie ge rannt - aber aus welchem? Immer wieder fixierte sie die Tore, erst eins, dann noch eins und dann noch eins - drei Tore waren es insgesamt. Genau in diesem Augenblick, dachte sie, rennt ein Bogen schütze durch einen der Gänge des Palasts und zieht einen Pfeil aus dem Köcher, ohne in seinem Lauf langsamer zu werden. Aber welcher Gang ist es? Welches Tor? Plötzlich wandte sie sich dem linken Tor zu, doch nicht, weil sie ihre mystischen Kräfte wieder erlangt hätte. Sie hatte nur etwas erspäht, das zwischen den Steinen wuchs, eine Blume, die versuchte, sich zur Sonne vorzukämpfen, die längst unter gegangen war. In ihrer Vision war der Bogenschütze durch ein Tor gerannt und hatte dabei eine kleine gelbe Blume zertreten. Und die Zauberin wusste: In wenigen Augenblicken würde er das wieder tun. Ein Mann, der nur auf seinen Beinen steht - von denen eins auch noch schwer verwundet ist -, ist logischerweise dazu verdammt zu sterben, wenn er gegen einen Reiter kämpft, der ihn mit einer Lanze angreift. Und als sollte diese Logik bewiesen werden, rammte Takmet seine Lanze mit dem Widerhaken genau in die Wade des Nubiers. Er riss die Waffe nach oben, und Balthazars Bein schoss in die Höhe; auch sein anderer Fuß fand keinen Halt mehr, sodass der Banditenkönig nach hinten gegen eine Steinwand krachte, nach unten glitt und unbeholfen auf den Boden des Ganges sank.
Balthazar war in die Ecke gedrängt worden. Schwer atmend und blutend saß er auf dem Boden, während Takmet höhnisch grinsend auf seinem Pferd thronte. Als das Pferd des Prinzen fast gemächlich auf den Nubier zutrottete, hob Balthazar die Hände und gab auf. Takmets Grinsen verschwand, und eine rasende Wut loderte in ihm auf, die den tosenden Flammen glich, die beide umga ben. »Mich wolltest du zwingen, vor dir zu knien? Wie kannst du dir nur so eine Frechheit erlauben, du nubischer Hund? Mit welchem Recht verlangst du, dass ein Prinz vor dem Pöbel kniet?« Wütend stieß Takmet die Lanze vor und zielte dabei zwischen Balthazars erhobene Hände, die ... ... die Lanze packten und festhielten. Takmet riss die Augen und den Mund auf. Balthazars Blick brannte sich bis tief hinab in die Seele des Reiters - sofern der noch eine hatte - , und er beantwortete die Fragen des Prinzen. »Warum ich mir so eine Frechheit erlaube? Weil ich etwa zweihundert Pfund schwerer bin als du, du Verräter.« Und mit einer Kraft, die nur wenige Männer besitzen, riss Balthazar die Lanze hoch und hob den scheinbar gewichtslosen Takmet aus dem Sattel, wirbelte ihn durch die Luft und schleu derte ihn - wie vorauszusehen war - krachend gegen eine Wand. Takmets Aufschlag war so hart wie der eines Insekts, das gegen den Helm eines angreifenden Kriegers prallt. Er glitt die Steinwand hinab zu Boden, als sei jeder seiner Knochen zu Brei zermalmt worden. Zusammengesunken kauerte er da und wartete auf Balthazar. Er musste nicht lange warten. Mit neu gewonnener Kraft ging der Nubier auf ihn zu, und dabei humpelte er kaum noch. Irgendwie gelang es dem benommenen Prinzen, sein Schwert zu ziehen, doch selbst er
wusste, dass der Kampf vorüber war. Eine große Hand schoss nach vorn und drückte die Hand des kleineren Mannes auf. Kraftlos öffneten sich die Finger, und die Klinge fiel ohne Schaden anzurichten klirrend auf den Boden. »Nur zu, Nubier«, sagte Takmet und klang dabei nicht einmal trotzig, sondern einfach nur erschöpft. »Bring die Sache zu Ende. Nimm dein Schwert.« Balthazar schüttelte den Kopf. Und hob eine Faust, die etwa so groß war wie der Kopf eines Kindes und die einen Schatten über das Gesicht des einzigen Sohnes des toten Königs von Ur warf. »Das«, sagte Balthazar, »ist für deinen Vater.« Dann schoss diese Faust direkt auf die aufgerissenen Augen Takmets zu, und das Letzte, was der Prinz hörte, war das widerliche Knacken, mit dem seine Gesichtsknochen brachen. Im Palasthof hatte sich Mathayus inzwischen ein wenig erholt. Er stand wieder auf den Beinen, hatte den Krummsäbel in der Hand und ging angriffsbereit auf die Altarstufen zu, um Memnon, diesen Wahnsinnigen, zu vernichten. »Mathayus!« Der Akkadier hielt inne, als er Cassandras Stimme hörte, drehte sich um und sah, wie sie mit weit gespreizten, erhobe nen Händen dastand. Im Mondlicht sah sie aus wie ein Geist, und ihr Gesichtsausdruck war feierlich. Und unmittelbar hinter ihr sah er, wie ein Bogenschütze durch eines der Palasttore hinaus in den Hof rannte, wobei sein Fuß eine Blume zertrat; der Pfeil des Schützen lag bereits an der Bogensehne. Mathayus zuckte zusammen. Es dauerte nur Sekundenbruchteile, dann wusste er, was Cassandra in ihrer Vision gesehen hatte - nämlich dass er in diesem Palasthof sterben würde - , und er wusste, was sie jetzt vorhatte. Wie er, so wollte auch sie die Zukunft verändern,
selbst wenn das bedeutete, dass sie sich selbst opfern musste. Sie würde ihr eigenes Schicksal bestimmen, auch wenn das ihr Untergang war. Ihr Blick sagte ihm, dass sie ihn liebte, und Resignation machte sich auf ihrem Gesicht breit, als sie sich zu dem Bogenschützen umdrehte, der jeden Augenblick schießen konnte. Als der Pfeil auf Mathayus zuflog, warf sich die Zauberin ihm in die Bahn, doch der Akkadier hatte ihre Bewegung vorausge sehen. Er stürzte sich auf sie, riss sie aus der Flugbahn des Pfeils in die Sicherheit seiner Arme, wobei er sich umdrehte und dem Schützen den Rücken zuwandte. Der Pfeil traf ihn zwischen die Schulterblätter, wo er vibrie rend stecken blieb. Kein Schmerzensschrei kam von den Lippen des Akkadiers, doch ein Schauder durchfuhr ihn. Cassandra, die in seinen Armen lag, spürte diesen Schauder, als sei er die Reaktion ihres eigenen Körpers. »Nein«, sagte sie voller Qual, da sich ihre Prophezeiung erfüllt hatte, und brach in Tränen aus. »Nein.« Mathayus taumelte zu Boden, der Krummsäbel fiel ihm aus der Hand, seine Arme lösten sich von ihr, während der Bogen schütze, der sicher sein wollte, dass er den Feind seines Herrn getötet hatte, auf ihn zurannte. Sie alle überragend, stand Memnon auf den Altarstufen und betrachtete die Szene. Er genoss es, dass sein Feind endlich besiegt war, und er war großmütig genug, keinen Groll gegen über dem Bogenschützen zu hegen, auch wenn dieser ihn um das Vergnügen gebracht hatte, den Barbar eigenhändig zu töten. Memnon konnte es sich erlauben, großzügig zu sein, schließlich lag der Weg, auf dem er in die Reihen der Götter aufgenommen werden würde, deutlich vor ihm. Der Bogenschütze hatte sein Schwert gezogen und Mathayus schon fast erreicht; jetzt würde er die Sache zu Ende bringen,
sollte der Pfeil nicht die beabsichtigte Wirkung gehabt haben. Schäumend vor Wut griff Cassandra nach Mathayus' Krumm säbel. Sie beugte sich über den Akkadier, und als der Bogen schütze die beiden erreicht hatte, schwang sie die Waffe nach oben und stieß die Klinge tief in die Brust des Schützen. Der Mann sah sie an, und sein Gesichtsausdruck passte eher zu einem Menschen, dessen Gefühle verletzt worden waren, und nicht so sehr zu jemandem, der gerade tödlich von einer Waffe getroffen worden war. Dann taumelte er, und als sein Körper auf dem Boden aufschlug, war er so tot wie die Steine, auf die er fiel. Mathayus allerdings war nicht tot, obwohl er schwer verwun det war. Er nahm all seine Kraft zusammen, versuchte klar zu denken, stützte sich mit einer Hand ab und sah, wie Memnon die letzten Stufen zum Altar hinaufschritt. Der Akkadier wusste, dass Memnon viel zu weit entfernt war, als dass er ihn mit einem Dolch hätte treffen können; das wäre selbst dann unmöglich gewesen, wenn er nicht so geschwächt gewesen wäre. Doch dann sah er einen vertrauten Freund - keinen Menschen, sondern ein Ding, einen kostbaren Gegenstand aus seiner kriegerischen Vergangenheit - seinen Bogen! Die gewaltige Waffe lag noch genau dort, wohin sie der inzwischen tote Prinz von Ur nach der Feier geworfen hatte, als er nicht in der Lage gewesen war, die mächtige Bogensehne zu spannen. Natürlich wusste Mathayus nicht, wie der Bogen ausgerechnet an diesen so überaus passenden Ort gekommen war, doch er war weit davon entfernt, diesen glücklichen Umstand in Frage zu stellen. Schmerzen durchführen seinen Körper, doch seine Entschlos senheit und sein Pflichtgefühl überwanden seine Qual - eine Qual, die lächerlich gering war verglichen mit der Agonie einer Welt, die von Memnon beherrscht wurde. Während Cassandra sich weinend abgewandt hatte und deshalb nicht sah, dass
Mathayus überlebt hatte, kroch dieser zu dem Tisch mit dem Bogen. Auch der Große Lehrer hatte noch nicht gemerkt, dass der Barbar überlebt hatte. Er stand auf dem von ihm selbst errichte ten Altar und hatte die Augen nach wie vor auf den Silberkreis des Mondes und das Bild des Skorpions gerichtet. Mit erhobener Faust trotzte Memnon dem Himmel und schrie seinen Ruhm heraus. »Hört mich, ihr Götter! Ich bin Memnon, Sohn des Osiris, Herrscher der Welt! Und ihr, selbst ihr, werdet mir gehorchen!« Obwohl im Palast das Feuer prasselte und dröhnte, konnte Memnon die Bewegung in seinem Rücken hören. Der wache Selbsterhaltungstrieb des Kriegers war stärker als seine vorübergehende Selbstversunkenheit. Und der Kriegsherr sah, wie Mathayus den Bogen in der Hand hielt. Doch Memnon hatte keine Angst. Der Akkadier war verwundet und würde vermutlich bald sterben. Und Memnon war schließlich ein Gott. Der Akkadier, dieser bedauernswerte Narr, stand immer noch nicht auf den Beinen. Wie ein Hund, der im Abfall wühlt, suchte er neben und unter dem Tisch nach Pfeilen, die es nicht gab, denn an dem mächtigen Bogen war kein Köcher befestigt. Memnon schüttelte den Kopf und kicherte. Mathayus richtete sich auf, doch er war noch immer schwach auf den Beinen. Mit dem Bogen in der Hand - doch ohne Pfeile - starrte er hinauf zu dem Mann, der die ganze Welt beherrschen wollte. Ihre Blicke trafen sich, und keiner von beiden wandte sich ab. In den Augen des Kriegsherrn spiegelten sich die Flammen, die ringsumher aufloderten, und der Wahnsinn schien in diesen Augen zu tanzen. Der Akkadier konnte es nicht zulassen, dass dieser Bastard am Leben blieb. Mathayus biss die Zähne zusammen, griff mit der Hand über
die Schulter und riss sich in einer einzigen, fließenden Bewe gung den Pfeil aus dem Fleisch zwischen seinen Schulter blättern, als wäre sein Körper ein lebendiger Köcher. Ein schwächerer Mann - fast jeder andere Mann - wäre vor Schmerz ohnmächtig geworden. Der Meuchelmörder jedoch spürte, wie ihn neue Energie erfüllte, und mit atemberaubender Geschicklichkeit schwang er den Pfeil nach vorn und legte ihn an die Bogensehne. Der Schmerz trieb Mathayus an, die mächtige Sehne zurückzuziehen, die wie für einen Prometheus geschaffen schien. Memnon grunzte. Er war fast ein wenig beeindruckt, doch er hatte keine Angst. Auch als er noch kein Gott gewesen war, hatte sein Lieblingstrick gerade darin bestanden, einen Pfeil im vollen Flug mit den Händen aufzufangen. Hatte er das nicht genau in diesem Palasthof bewiesen? Inzwischen hatte die Zauberin bemerkt, dass ihr Geliebter von den Toten auferstanden war. Neue Hoffnung erfüllte sie, als sie sah, wie sich der Barbar in einem letzten Versuch, die Zukunft zu verändern, seinem Feind entgegenstellte. Doch Cassandras Hoffnung schwand, als plötzlich Wachen in den Palasthof stürmten. Ein Hauptmann befahl ihnen, stehen zu bleiben, und sie erstarrten, als sie sahen, wie ihr Herr vor dem purpurnen Nachthimmel auf dem Altar stand, während der Pfeil des Akkadiers auf seine Brust zielte. Die kleine Truppe, die außerhalb des Palastes dem Akkadier zur Hilfe kommen sollte, war bedrückt. Alle Pläne hatten sich offensichtlich zerschlagen. Die Zündspur war wohl wieder unterbrochen worden. Isis schritt auf und ab, und ihre Kriegerinnen standen mutlos auf den Stufen des Palastes. Leise über sich selbst fluchend, schüttelte Philos den Kopf. Arpid stolperte hinüber zu dem kleinen Wissenschaftler. Der Dieb war vor Enttäuschung wie benommen. Ermutigend und
tröstend zugleich, legte er Philos die Hand auf die Schulter und sagte: »Du musst dich mit der Wahrheit abfinden. Es wird nicht geschehen.« Die Augen des Wissenschaftlers waren weit aufgerissen und verstört. Er zuckte mit den Schultern und gestand seine Nieder lage ein. »Kann es tatsächlich sein, dass uns das chinesische Pulver im Stich lässt?« Es wäre wunderbar gewesen, wären genau in diesem Augen blick die Pulversäcke in die Luft geflogen, doch das geschah nicht. Stattdessen kam eine gewaltige Truppe von Memnons Soldaten mit erhobenen Schwertern um die Ecke. Arpid und Philos sahen sich entsetzt an. Die tapfere Königin hob ihr Schwert, doch trotz ihres ent schlossenen Gesichtsausdrucks wussten sie und ihre wilden Kriegerinnen, dass sie in wenigen Sekunden abgeschlachtet werden würden. Droben im Palasthof hatte Memnon seinen Wachen befohlen, sich nicht einzumischen. Lieber stand er allein auf dem Altar, um den Pfeil zu empfan gen. Zunächst streckte er seine Arme weit aus, und dann führte er sie langsam zusammen, bis die Handflächen nur noch etwa dreißig Zentimeter voneinander entfernt waren - genau so, wie er es in ebendiesem Palasthof zuvor bereits so geschickt vorgeführt hatte. Schließlich sprach der Kriegsherr. Seine Stimme dröhnte, als er sich an den verwundeten Akkadier wandte, der mit dem schon einmal benutzten Pfeil direkt auf ihn zielte. »Du würdest es wagen, dich der Prophezeiung der Götter entgegenzustellen?« »Ich sollte dir etwas mitteilen, Großer Lehrer, etwas, das ich gelernt habe«, erwiderte Mathayus und zielte weiterhin auf die Brust des Mannes, »etwas, das ich gelernt habe - über Prophe
zeiungen.« Irgendwie gelang es dem Meuchelmörder, die straffe Bogen sehne noch ein paar Zentimeter mehr zurückzuziehen. Mathay us kniff die Augen zusammen, und mit entschlossenem, grimmigem Gesicht brachte er den Pfeil, dessen Spitze mit seinem eigenen Blut beschmiert war, in die richtige Position. Mit vorgestreckten, leicht geöffneten Händen stand Memnon da und musterte seinen Feind genau. Und der Hauch eines Zweifels zeigte sich auf dem Gesicht des Kriegsherrn. »Setz nicht alle Hoffnungen auf sie«, sagte Mathayus. Und ohne ein weiteres Wort schoss er den Pfeil ab. Sekundenbruchteile bevor Memnons Hände aufeinander zufliegen und den Pfeil packen konnten, hatte eine Flamme die Zündspur aufgezehrt und erreichte tief unten im entlegensten Winkel des Palastes die Säcke mit dem schwarzen Pulver. Die gewaltige Explosion erschütterte das ganze Gebäude und alle Menschen darin, einschließlich Memnon. Der Kriegsherr wurde so sehr aus dem Gleichgewicht gebracht, dass sich der Pfeil in seine Brust bohren konnte. Die Soldaten, die nach Mathayus' Schuss nach vorn gestürmt waren, wurden wie Stoffpuppen durcheinander gewirbelt, als eine gewaltige orangefarbene, rote und blaue Flamme gekrönt von einem Rauchpilz in die Höhe zischte. Sie erfüllte den Himmel mit Feuer und dunklen Wolken, sodass der silberne Mond nicht mehr zu sehen war. Der gewaltige, von Menschen geschaffene Donnerschlag übertönte jeden anderen Laut. Die Fundamente der Brüstungen wurden so heftig erschüttert, dass eine der gewaltigen Glocken zu schlagen begann. Und inmitten all dieser Ereignisse wurde der Große Lehrer Memnon, der König der Welt, von seinem Altar gerissen, als besäße der Pfeil die Macht der Götter. Seine Robe fing Feuer, und als er über die Palastmauer hinunter auf die Straße flog, glich der Kriegsherr einer Sternschnuppe, bei deren Anblick
sich seine befreiten Untertanen etwas wünschen durften. Drunten auf der Straße genossen Arpid und Philos mit strah lenden Augen und breit lächelnden Gesichtern den Erfolg, den sie mit dieser Explosion erreicht hatten; sie standen ganz in der Nähe, als Memnons brennender Körper mit einem widerlichen Geräusch hart auf dem Boden aufschlug. Die Soldaten, die auf Isis und ihre Kriegerinnen losmarschiert waren, erkannten die brennenden Überreste ihres Oberbefehls habers und wichen entsetzt und verwirrt zurück. Es gab niemanden mehr, der sie führte. Der Dieb und der Wissenschaftler wandten sich zimperlich von dem menschlichen Scheiterhaufen ab, in den sich Memnon verwandelt hatte, doch Isis lächelte beim Anblick dieses Bastards, der in seinem eigenen Saft schmorte. Sie amüsierte sich geradezu, denn sie und ihre Kriegerinnen hatten dazu beigetragen, diesen Kampf zu gewinnen, ohne dass sie das Schlachtfeld hatten betreten müssen. Im Palasthof humpelte Mathayus bis zum Rand der Brüstung und starrte hinab auf den zerschmetterten, brennenden Körper. Der Triumph half ihm, seine Schmerzen zu vergessen. Arpid, Philos, Isis und ihre Kriegerinnen und selbst die frühe ren Soldaten Memnons wurden Zeugen eines eindringlichen, unauslöschlichen Bildes, das sie bis zu ihrem Tod nicht mehr vergessen sollten. Als sie hinaufblickten, stand der Akkadier inmitten der Flammen. Ein mächtiger, zustimmender Mond umgab ihn, und die strahlende Mondkugel schien mit dem Symbol eines Skorpions geschmückt zu sein wie die Verzie rung auf dem Schild eines Kriegers. Dann war Cassandra an seiner Seite. Mathayus zog sie in seine Arme und hielt sie so fest, als wären sie ein einziger Mensch. Voller Bewunderung blickten sie einander in die Augen.
Inzwischen hatte Balthazar den Weg zum Palasthof gefunden, und als er zu seinem Waffenbruder humpelte, beobachtete er erstaunt und voller Stolz, wie die Soldaten aus Memnons Heer die Waffen fallen ließen, vor dem Akkadier niederknieten und ehrfürchtig zu ihm empor starrten: Vor ihren Augen war eine Legende geboren worden, und sie würden diese Botschaft überall verbreiten. Mathayus und Cassandra sahen gemeinsam hinab auf die zerschmetterten, brennenden Überreste des Kriegsherrn, als der Nubier hinkend neben sie trat und sagte: »Wenn die Glocke erklingt und der Donner grollt ...« Cassandra lächelte den humpelnden Riesen an. Dann sah sie zu ihrem eigenen riesenhaften Helden auf und fuhr fort: »Ein Flammenstern vom Himmel fällt.« Und auf den Eingangsstufen des Palastes blickten Königin Isis, ein Dieb und ein früherer Hofmagier durch Feuer und Rauch hinauf zu der gottgleichen Gestalt des Akkadiers, der von einem leuchtenden Mond umgeben war, und die restlichen Soldaten Memnons warfen ihre Waffen ebenfalls weg und fielen auf die Knie. »Wenn der Vollmond im Haus des Skorpions erstrahlt«, sagte Isis. »Wird den Hochkönig ehren die ganze Welt«, führte Philos den Gedanken zu Ende. »Ich hab's gewusst«, sagte Arpid. Er reckte den Daumen zum Himmel und rief den unter worfenen Soldaten zu: »Das ist mein Partner!«
Das Schicksal des Skorpions
Am nächsten Morgen stieg von den Straßen und Mauern Gomorras noch immer Rauch in den Himmel auf. Die Schlacht war vorüber, der Wiederaufbau würde bald beginnen, und der Palast musste natürlich renoviert werden (wobei ein kleiner Beutel mit Rubinen gute Dienste leisten sollte), doch das Königreich selbst brauchte eine neue Vision. Allerdings würde keine Zauberin dem Reich diese neue Vision geben, sondern vielmehr der neue König. Mathayus hatte sich ausgeruht, seine Wunden waren verbun den worden, und mit neuer Kraft schritt der Kriegerkönig in Begleitung seiner Königin durch die Straßen Gomorras. Der laute Jubel würde erst später kommen; jetzt gab es nichts als bewundernde, ehrfürchtige Blicke, die der Akkadier - wie er seiner Geliebten freimütig gestanden hatte - beunruhigend und sogar ein wenig peinlich fand. Cassandra versicherte ihm, dass er diese Gefühle überwinden würde, und keine Zauberei war nötig, dergleichen vorherzu sagen. Der Akkadier und die frühere Seherin des toten Memnon verabschiedeten sich außerhalb der großen Stadttore von ihren Kampfgefährten. Königin Isis hatte für sich und ihre Kriege rinnen einige Pferde besorgt, und auch Balthazar bereitete sich darauf vor, in sein Versteck nahe der Oase zurückzureiten. Mathayus trat auf den großen Nubier zu, als dieser gerade auf sein Pferd steigen wollte. »Bleib, mein Freund«, sagte er. »Es gibt so vieles, was hier zu erledigen ist.« Ein schwaches Lächeln huschte über das von Schlachtnarben gezeichnete Gesicht. »Ich habe ein eigenes Königreich, das geführt werden will, und ein eigenes Volk, um das ich mich kümmern muss. Ich lasse dir dein weißes Kamel, den kleinen Dieb und den Hofmagier, damit du nicht in Schwierigkeiten kommst.« Mathayus erwiderte das Lächeln, nickte und wandte sich dann an Isis. »Und du? Wirst du bleiben, um über meine Soldaten zu
befehlen? Der Einfluss einer Frau würde ihnen gut tun.« »Da bin ich mir sicher«, sagte Isis. Auch sie lächelte, doch nur knapp. »Aber auch ich habe ein eigenes Königreich.« Balthazar fing den Blick des Akkadiers auf und sah ihm fest in die Augen. »Du bist jetzt ein König und kein Meuchelmörder mehr. Ich glaube, du wirst ein guter König sein - solange du nicht ver gisst, wie du auf den Thron gelangt bist. Und solange du das Volk nicht vergisst, aus dem du stammst.« Mathayus nickte gewichtig und sagte: »Balthazar, ich bin der Letzte der Akkadier. Das Volk, aus dem ich stamme, wird in mir weiterleben.« Mit einem kleinen Funkeln in den Augen blickte der Nubier zu Cassandra. »Und in deinen Nachkommen, da bin ich mir sicher.« Mathayus lachte. »Und in meinen Nachkommen. Doch, mein Freund, in meinem Königreich wird immer ein Platz für dich sein. Und für dich, edle Königin.« Die Krieger und Herrscher nickten einander feierlich zu. Dann wandte sich Mathayus wieder an Balthazar. »Lebe frei«, sagte er. Dem akkadischen Ritual gemäß hielten sie sich bei den Un terarmen. »Herrsche gut«, sagte der Nubier. Dann stieg dieser Berg von einem Mann auf sein Pferd, grinste seinen Kampfgefährten an und musterte ihn genau. Aber das Grinsen war verschwunden, als er sprach. »Nubische Augen werden dich beobachten, Scorpion King.« Mathayus nickte und dachte über diesen Rat - diese War nung? - nach, als er dem großen Mann nachblickte, der davon ritt. Königin Isis und ihre Kriegerinnen brachen ebenfalls auf. Nur einmal hielten sie inne und winkten ihm auf überraschend mädchenhafte Weise zum Abschied zu. Der König wandte sich der Frau zu, die er bald heiraten
würde, hielt sie leicht bei den Armen und fragte sie: »Und welche zukünftigen Ereignisse siehst du voraus, meine königli che Zauberin?.« Cassandra wusste, dass er sie nur neckte, doch sie dachte ernsthaft über diese Frage nach. »Frieden«, sagte sie. »Wohlstand.« »Gut! Und für wie lange?« Sie runzelte die Stirn. »Nun ja. Nichts dauert ewig, mein König. Das gilt für jedes Königreich. Keine mystische Sehergabe ist notwendig, um dies vorherzusagen.« Mathayus zuckte mit den Schultern, als wollte er ihr zu ver stehen geben, dass ihm klar war, wie richtig diese Einsicht war, und dass er daran nichts ändern konnte. Er blickte zum Hori zont und sah, wie sich schwarze Wolken zusammenballten und drohend auftürmten; noch waren sie fern. »Ein Sturm zieht auf, meine Königin«, sagte er. »Ja. Und es werden noch viele Stürme kommen. Doch das ist eine andere Geschichte. Wir stehen am Ende dieser Geschich te.« »Und am Beginn einer neuen?« Sie umarmte ihn. »Ja. O ja.« Als er sie in den Armen hielt, lächelte er sie verschmitzt an und flüsterte: »Wie kommt es, dass du diese prophetische Gabe besitzt? Behaupten die Legenden nicht, dass ...« »Vielleicht bewahrt eine Frau in den Augen der Götter ihre Reinheit, wenn sie sich einem Mann hingibt, den sie liebt.« Sie löste sich aus seinen Armen und zwinkerte ihm zu. »Oder vielleicht war das nur ein Mittel, um einen gierigen König in die Schranken zu weisen. Kannst du dir eine bessere Möglichkeit vorstellen, um zu verhindern, dass ein Lüstling ein armes Mädchen ausnutzt? Meine Vorfahren vermochten es jedenfalls nicht.«
Er musste darüber lächeln, dass diese Täuschung so lange zur Familientradition gehört hatte. Flink wie ein großer Krieger und er war schließlich ein großer Krieger - ergriff er ihre Arme. »Mein Glück«, sagte er. »Wir werden unser eigenes Schicksal erschaffen.« Und dann umarmte der akkadische Meuchelmörder, der König geworden war, die Zauberin, die Königin werden würde, und küsste sie tief und leidenschaftlich. Sie erwiderte seinen Kuss, doch als sie sich vor den Toren Gomorras, jener sagenumwobenen Stadt des Bösen, umarmten, beschloss sie, ihm nichts von der schrecklichen Vision zu erzählen, die sie gerade gehabt hatte. Cassandra liebte diesen Mann. Jetzt war er König, und das sollte er genießen, so lange er konnte. Und nicht nur das. Genau, wie sie ihm gesagt hatte, waren alle Schwierigkeiten, ja sogar alle Tragödien, die vielleicht noch vor ihnen lagen, Teil einer anderen Geschichte.
DIE SPITZE DES KRUMMSÄBELS
Ich danke Stephen Sommers, dem Regisseur (und Mitver fasser der Drehbücher) von Die Mumie und Die Rückkehr der Mumie, der es mir ermöglicht hat, eine kleine Rolle in dem Team zu spielen, das für diese unterhaltsamen Filme verant wortlich ist. Die Mumien-Filme sind moderne Nachfolger der legendären Horrorfilm-Zyklen der Universal Studios. Da ich, wie so viele andere meiner Generation, mit diesen klassischen Filmen aufwuchs, hat mich der Auftrag, jene Romane zu schreiben, die offiziell in dieser großen Tradition stehen, sehr
fasziniert. The Scorpion King geht jedoch auch auf eine weitere klassi sche Tradition zurück, nämlich auf die heroischen Abenteuer, die mit Romanfiguren wie Conan und Tarzan und mit mythi schen Helden wie Herkules und Odysseus verbunden sind. Diesen Roman zu schreiben gab mir die Möglichkeit, den Schöpfern der beiden ersten großen Helden - Robert E. Howard und Edgar Rice Burroughs - meine Referenz zu erweisen (und mich vor dem visionären Filmemacher Ray Harryhausen und dem blinden Dichter Homer zu verbeugen), was mir sehr viel bedeutet. Ich möchte mich bei den Drehbuchautoren Jonathan Haies, Stephen Sommer, Chuck Russel und Will Osborne bedanken, die so ein humorvolles, actionreiches und gut geschriebenes Skript geschaffen haben. Dank dieser Herren war meine Arbeit ein außerordentliches Vergnügen. Cindy Chang von Universal unterstützte mich so zuvor kommend wie immer, indem sie mir Drehbücher, Fotos und anderes Material zur Verfügung stellte; und sie behandelte mich mit Nachsicht und Geduld. Danke! Auch andere halfen mir weiter und zeigten sich ähnlich ge duldig. Ich danke Tom Colgan von Berkley Books, dem Scorpion King unter den Agenten, Dominick Abel, und der wunderbaren Zauberin, die niemals hatte voraussehen können, wie das Leben mit mir werden würde - meiner Frau Barbara Collins.