FREDERICK D. DE ZSOLNAY
DER SELTSAME JÄGER Kriminalroman
BUCHGEMEINSCHAFT DONAULAND / WIEN
Der englische Originaltit...
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FREDERICK D. DE ZSOLNAY
DER SELTSAME JÄGER Kriminalroman
BUCHGEMEINSCHAFT DONAULAND / WIEN
Der englische Originaltitel lautet: THE PECULIAR FORESTER Die Übersetzung besorgte der Verfasser Schutzumschlag: Fritz Kral
Lizenzausgabe für die Mitglieder der Buchgemeinschaft Donauland
Alle Rechte vorbehalten Copyright 1957 by Frederick D. de Zsolnay, Graz Druck: Elbemühl, Wien IX Papier: Matthäus Salzers Söhne, Wien
HAUPTPERSONEN DER HANDLUNG, IN DER REIHENFOLGE IHRES ERSCHEINENS: John Gayfield, Förster Robbie, Pointer, sein Hund Marjorie, seine Tochter Jan van Raan , Juwelier Robert Burnes, Kriminalinspektor von Scotland Yard James, Schloßwart Miller, Polizist Shrewster, Postenkommandant von Longsberry Blunt, Tierarzt Bertley, Polizeibeamter Wricks, Schloßherr auf Hilligmore Der Arzt von Longsberry Jenkins, van Raans Buchhalter Chefinspektor Walter Ein Gast Jumbie, ein Wirt Ein Constabler Gillespie, Privatsekretär Potter, Bankpräsident Wringly, Maître des British Huntsmen Club Graf Asanow, ein russischer Emigrant Jonathan van Raan, Jans Sohn Dr. Shawler, Rechtsanwalt Jan van Raans Haushälterin Jonathan van Raans Hausfrau Der Türhüter der Potterbank Smith VII, Beamter der Potterbank Gayfields behandelnder Arzt
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1. KAPITEL DER FÖRSTER Langsam zog John Gayfield den Schlüssel aus der Tasche. Robbie, sein brauner Hund, spitzte die Ohren und lauschte schwanzwedelnd den Geräuschen, die wie gewöhnlich seinem Abendessen vorangingen: dem Kratzen des Schlüssels, mit dem sein Herr in der Finsternis das Schlüsselloch zu finden suchte, dem Schlürfen seiner groben Schuhe auf der ausgetretenen Matte vor den paar Stufen, die zur Türe des Forsthauses führten, und schließlich dem Knarren der Türe, als diese endlich aufging. Da mischte sich ein anderer Laut in dieses wohlvertraute Konzert: ein Schuß fiel. Das Geräusch war schwach, aber beide, Herr und Hund, lauschten einen Augenblick lautlos in den regennassen Wald hinaus. Automatisch warf Gayfield einen Blick auf das leuchtende Zifferblatt seiner Uhr, das die neunte Stunde wies. Als alles still blieb, wandte er sich zögernd wieder dem Haus zu. Es war klar, ein Schuß in dunkler Nacht hatte nichts mit Jagd oder auch nur Wilderei zu tun – so war es nicht unbedingt seine Pflicht, dem sofort nachzugehen, obwohl er sich für Tod und Leben in dem seiner Obhut anvertrauten Wald verantwortlich wußte. Sein ausgedehnter Kontrollgang hatte ihn tüchtig hergenommen; der eisigkalte Regen und die hoffnungslose Finsternis machten die Wiederholung eines solchen Marsches wenig einladend und ziemlich aussichtslos. Er trat ein – und die Eile, mit der Robbie ihm folgte, zeigte, daß dieser die Ansicht seines Gebieters teilte. In der Luftlinie mochte der Ort, an dem der Schuß gefallen war, kaum viel mehr als eine halbe Meile entfernt sein, aber bergab-bergauf
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den verschlungenen Weg dorthin zu machen, brauchte nun in der Nacht eine gute halbe, wenn nicht eine dreiviertel Stunde. Flüchtig wusch sich der Förster die Hände, während Robbie seine Toilette auf schnelles, aber ausgiebiges Schütteln seines Felles beschränkte. Dann begaben sich beide einträchtig in das kleine, gemütliche Eßzimmerchen, wo Marjorie ein appetitlich duftendes Mahl vorbereitet hatte. Robbie untersuchte mit Kennermiene den Inhalt seiner wohlgefüllten Schüssel, und Gayfield sank mit einem behaglichen Seufzer in seinen bequemen Armstuhl. Beide zeigten lebhafte Zufriedenheit mit den gebotenen gastronomischen Genüssen, aber Gayfields Ausdruck blieb dabei etwas ernster als gewöhnlich. »Irgend etwas nicht in Ordnung, Väterchen?« fragte Marjories liebe Stimme, als sie ihrem Vater beim Essen zusah. »Hoffentlich nicht, Marjie«, sagte dieser. Er füllte seine Pfeife und starrte ins Feuer. Das Mädchen erhob sich, räumte den Tisch ab und drehte den Radioapparat an. Eine Zeitlang hörte Gayfield die moderne, ihm unverständliche Musik an, dann drehte er wieder ab. Durch die offene Tür konnte er Marjorie in der Küche hantieren hören. Aber ein anderes Geräusch haftete in seinen Ohren. Was mochte der Schuß bedeutet haben, der zu so ungewohnter Zeit in seinem Wald gefallen war? Er mußte wohl von dem Schlag gekommen sein, der etwa eine Meile von seinem einsamen Waldhaus gelegen war. In dichtem Wald abgefeuert, wäre der Schall nicht bis zu ihm gedrungen. Aber an dem offenen Platz, umgeben von Wänden dichter, hoher Bäume, hatte er sich vervielfacht und war vom Wind bis zu ihm getragen worden. Vielleicht war einem dieser verdammten Wilddiebe das Gewehr losgegangen, als er es in irgendeinem Waldversteck verbergen wollte? »Ich sollte doch einmal die Gegend dort untersuchen, vielleicht finde ich noch Spuren im nassen Boden, die mich zu dem Schießeisen führen, das der Kerl nicht nach Hause nehmen wollte – für den Fall einer überraschenden Begegnung. 6
Und habe ich die Flinte, dann werde ich ihren Besitzer schon zu finden wissen; komische Flinte, die so einen schwachen Laut gab… was es wohl für ein Ding gewesen sein mag?« Plötzlich stellte er die Teetasse, die Marjorie ihm eben gebracht hatte, hin. Er sprang so jäh auf, daß Robbie erschrocken seine schläfrigen Augen öffnete und mißbilligend seinen Herrn und Meister beäugte, wie der eiligst seinen Mantel vom Ofen holte, wohin Marjorie ihn zum Trocknen gehängt hatte. Als er diese unmißverständlichen Anzeichen kommenden Aufbruches bemerkte, erhob auch er sich und folgte Gayfield in das Vorzimmer, wo dieser wieder in seine kotigen Stiefel fuhr. Auch Marjorie kam aus der Küche, aufgeschreckt durch das unerwartete Getrampel, und sah besorgt zu, wie ihr Vater das Gewehr vom Haken nahm und ein gefülltes Magazin in die Kammer schob. Schweigend ergriff sie die Taschenlampe, probierte die Batterie und reichte sie dann ihrem Vater. Sie stellte keine Fragen über Wohin und Warum oder die Zeit seiner Rückkehr, denn sie wußte, er mußte Gründe für diesen Gang haben. Sie nahm Robbies Halsband und legte es dem Hund um. Gayfield ergriff die Leine. »Danke, Liebes«, sagte er, »mach die Tür gut zu hinter mir und leg die Kette vor. Vielleicht treibt sich Gesindel im Wald herum. Mach dir keine Sorgen, aber sei vorsichtig.« Sie nickte ruhig. »Addio, Mädel.« Er küßte sie zärtlich, aber etwas geistesabwesend, auf die Stirn. Dann schritt er aus der Tür in die stürmische Nacht hinaus. Robbie schloß sich ihm recht unfroh an, und Marjorie folgte ihren Lieben mit einem langen, ernsten Blick. Mochte sie ahnen, unter welchen Umständen sie sich Wiedersehen sollten? Sie versperrte das Haustor und warf einen Blick auf die Standuhr im Wohnzimmer. Es war ein Viertel nach zehn.
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Es war beinahe zwölf Uhr nachts, als sie den Hund vor der Türe heulen hörte. Gayfield verließ das Haus in übler Stimmung. »Bin ich nicht ein rechter Narr«, dachte er verdrießlich, »natürlich bin ich nun sicher, daß es ein Pistolenschuß war, den ich hörte. Und wer sollte in solcher Finsternis eine Pistole abschießen – und wozu? Aber ich bin ja nicht mehr bei der Polizei. Gott sei Dank, das hab’ ich hinter mir. Also, was geht mich das an? Teufel, aber irgend etwas ist los, keine Frage. Und ich will absolut nicht, daß in meinem Wald etwas los ist… Also, wo fangen wir an, Robbie?« Robbie war in der Dunkelheit nicht sichtbar und von ihm konnte eine deutliche Antwort wohl kaum erwartet werden. Aber er schien die Frage verstanden zu haben, denn er hob seine Schnauze in die Luft und schnüffelte vernehmlich. Dann fühlte Gayfield einen kräftigen Zug an der Leine. Willig folgte er ihm. Der Hund nahm dieselbe Richtung, die er gewählt hätte: er marschierte stracks auf die Blöße zu, von der Gayfield annahm, daß dort der Schuß gefallen war. Also schien auch Robbie ihn gehört zu haben und sich seine Gedanken darüber zu machen. Und nun er das Interesse seines Herrn für diese Angelegenheit zu spüren schien, gehorchte er seinem Instinkt. Um elf Uhr ungefähr erreichten die beiden die Blöße. Eben hatte der Regen aufgehört, eine kühle Brise war dem Sturm gefolgt, unter deren gleichmäßigem Druck die Wolken langsam davonzogen. Ein etwas matter Mond zeigte sich und verstreute ein schwächliches Licht über den großen, kahlen Platz, auf dem die geschlagenen Bäume gelagert zu werden pflegten, bevor sie abtransportiert wurden. Jetzt, da dies bereits erfolgt war und neue Schlägerungen noch nicht begonnen hatten, gähnte er leer und öde den Ankömmlingen entgegen. Gayfield überblickte ihn aufmerksam, sah aber nichts Ungewöhnliches. 8
Robbie sah sich auch einen Augenblick lang um, hob seine Nase neuerdings in die Luft und legte sich wieder in die Leine. Gayfield folgte, ohne zu zögern. Eilig ging es über den Schlag und auf der anderen Seite abermals ins Holz. Hier war es wieder stockdunkel unter den mächtigen Bäumen. Der Hund zog immer stärker, und Gayfield prallte mehrmals heftig an die Stämme, an denen der Hund vorbeisauste. Schließlich erreichten sie einen schmalen Fahrweg, wie er im Wald durch die Holzfuhren entsteht. Da ging es noch eine Zeitlang weiter, aber plötzlich rannte Gayfield in einen harten Gegenstand mitten auf dem Weg, und ein eigenartiger Geruch, der ihm schon eine Weile aufgefallen war, wurde unverkennbar: es war der charakteristische Dunst von Benzin und Öl, warmem Metall und verbrannten Gasen, wie er in der Nähe von Automobilen unvermeidlich ist. Gayfield schaltete die sorgsam aufgesparte Batterie der Taschenlampe ein, und in ihrem Licht erblickte er eine mittelgroße Limousine, die gerade knapp zwischen den Stämmen, die den Weg einsäumten, Platz gefunden hatte. Er drückte sich an der Karosserie entlang nach vorn an den Lenkersitz, erreichte die Vordertür und öffnete sie. Na, das war eine schöne Geschichte! Zwei Füße standen über die Rückenlehne des Lenkersitzes vor, und als er diesen entlang seine Blicke und den Strahl seiner Taschenlampe ins Wageninnere richtete, blickte er in die gebrochenen Augen eines Mannes, der dort zusammengekrümmt auf dem Boden lag. Eine Minute lang starrte er in das verzerrte, totenblasse Gesicht, dann schloß er die Tür behutsam und setzte sich stumm neben Robbie auf einen nassen Baumstumpf, um zu überlegen. Daß da jede Hilfe zu spät kam, war klar. Auch, was er zunächst zu tun hatte: da war der Friedensrichter und der Postenkommandant in Longsberry, der nächsten Ortschaft, zu verständigen. Aber wenn er jetzt hinunterlief und diese verschlafenen Obrigkeiten alarmierte, was mochte indessen mit dem Toten und dem Wagen geschehen, mit den Spuren der 9
Untat, die seinen Wald geschändet hatte? Dies war sein eigenes kleines Reich, und er fühlte dunkel, daß er ein übriges tun mußte, um es von diesem grauenhaften Frevel reinzuwaschen. Entschlossen stand er auf und untersuchte den Wagen. Bald fand er den Schalter der Innenbeleuchtung, und helles Licht verbreitete sich über den kleinen Raum und dessen mattblaue Tapezierung, über die weichen Polster mit dem warmen Plaid darüber, die in so krassem Gegensatz zu dem schaurigen Insassen standen. Einen Augenblick zögerte er, in der Furcht, wertvolle Spuren zu zerstören. Dann aber machte er sich mit größter Behutsamkeit, um so wenig wie möglich zu verändern, über den Toten her. Der Gedanke kam ihm wohl, der oder die Mörder könnten noch in der Nähe sein, ihn beobachten und unter Umständen aus dem Wege schaffen. Es war nun fast elf Uhr dreißig, der Schuß war um neun Uhr gefallen, und einige Zeit mochte vergangen sein, bis man den Wagen dann in sein jetziges Versteck bugsiert hatte. Wer weiß, was die Täter dann noch alles getan hatten, bis sie das Weite suchen konnten – vielleicht hatte er sie durch sein Kommen nur verscheucht, und nun saßen sie noch irgendwo versteckt und beobachteten ihn und sein Treiben. Aber um so weniger durfte er jetzt weg – dann hätten sie ja Gelegenheit bekommen, ihr Tun fortzusetzen, was immer sie noch beabsichtigen mochten, um die Früchte ihrer Tat zu ernten und deren Spur zu verwischen. Im übrigen konnte er sich auf Robbies Wachsamkeit verlassen. Als ob er die Gedanken seines Herrn im voraus erraten hätte, hatte sich das kluge Tier etwa zehn Schritt vom Wagen entfernt ins Dunkel gesetzt und beobachtete aufmerksam die Umgebung: Wenn jemand in der Nähe gewesen wäre oder sich genähert hätte, so hätte Robbie bestimmt sofort Laut gegeben. Also machte sich Gayfield, beruhigt durch diese Rückendeckung, sorgsam an die Arbeit, die ihm seltsam vertraut schien. 10
Er untersuchte zuerst den Körper des Toten. Er hatte ein Loch in der Stirn. Für einen Einschuß viel zu groß, Hirn und Knochenteile waren ausgetreten, am Hinterkopf war die Einschußöffnung, an der gestocktes Blut klebte. Der Mann war von hinten erschossen worden. Und nun sah Gayfield auch an der Windschutzscheibe einige Blutspritzer. Der Mann mußte am Volant von der Kugel getroffen worden sein, die ihm von rückwärts in den Schädel gejagt worden war. Der Mörder mochte die Spitze des Projektils abgeschnitten oder aufgefeilt haben, um diese fürchterliche Dum-Dum-Wirkung zu erzielen, die den augenblicklichen Tod des Opfers herbeigeführt haben mußte. Nachdem er dies festgestellt hatte, suchte Gayfield in den Taschen des Toten. Zu seiner Überraschung fand er Brieftasche, goldene Uhr, ebensolche Zigarettendose, Kleingeld, Taschentuch und sonstigen üblichen Tascheninhalt unangetastet vor. Also kein Raubmord, schoß es ihm durch den Sinn. Oder hatte es andere, wichtigere Beute gegeben? Er durchsuchte nun die Brieftasche. Außer einem Barbetrag von etwa zwanzig Pfund in Noten und einem kleinen Scheckheft enthielt sie Führerschein, einige unwesentliche Notizen und Visitenkarten. Ah, eine Londoner Adresse. Er schob die Karte und das übrige vorsichtig zurück in die Brieftasche. Dann nahm er sein Rapportbuch aus der Jagdtasche und schrieb beim Licht der hierzu eingeschalteten Scheinwerfer: »Fand Auto MXT326 mit einer Leiche, laut Karte Jan van Raan, London V1, 24 Kings Square, etwa 500 Meter NO Holzlagerplatz 3. Sofort telephonisch Scotland Yard melden. Versuche Shrewster ebenfalls zu erreichen, soll ehestens herauskommen und JP* verständigen. Ich versuche Spuren festzustellen, solange noch frisch. JP Justice of Peace = Friedensrichter
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Alles Liebe, Vater.« Diesen Zettel riß er aus dem Buch, rollte ihn zusammen und steckte ihn dann in ein kleines Ledertäschchen, das an Robbies Halsband hing und zur Aufnahme von Botschaften diente, die Vater und Tochter wechselten. Er nahm ihm die Leine ab, und im nächsten Moment war Robbie verschwunden. Noch einmal untersuchte Gayfield den Wagen, soweit dies bei der schwachen Beleuchtung möglich war, die das Innenlicht und seine Taschenlampe boten. Er hatte ein Vergrößerungsglas bei sich, von dem er bei der Untersuchung des Lenkrades, des Schalthebels und der Handbremse ausgiebig Gebrauch machte. Auch die Türgriffe besah er sich genau. Dann folgte er den im weichen Boden deutlich eingedrückten Reifenspuren, die ihn auf den Lagerplatz führten. Auch dort waren sie noch gut zu sehen und brachten ihn zu der Einmündung des Waldweges, den er mit Robbie gekommen war. Aber bevor er ihn erreichte, fand er eine kleine Lache Blut zwischen den Spuren: Hier mußte der Ermordete den tödlichen Schuß erhalten haben. Während sein Mörder die Leiche nach hinten warf und selbst an den Volant rückte, um den Wagen in sein Versteck zu führen, hatte er Blut verloren, das die Lache zu Gayfields Füßen gebildet hatte. Langsam ging er zu dem Wagen zurück, überzeugte sich, daß nichts sich verändert hatte und setzte sich wieder auf den Baumstamm, der ihm schon einmal als Sitz gedient hatte. Aber es dauerte nicht lange, da hörte er schon das Schnaufen seines rasch näher kommenden Hundes, der bald darauf schweifwedelnd vor ihm stehenblieb. Eilig untersuchte Gayfield das Täschchen. Ein anderer Zettel lag darin, und bei dem immer schwächer werdenden Schein seiner Taschenlampe las er: »Bekam Deinen Zettel zwölf Uhr. Erreichte sofort Sc. Y. Dortiger Inspektor wird bei Raans Adresse nachfragen und 12
dann sofort herauskommen. Werde wieder versuchen. Sei vorsichtig. Innigst M.« Gayfield nickte zufrieden. Er gab dem Hund das wohlbekannte Zeichen, am Platz zu bleiben. Wenn es ihm auch nicht gelingen mochte, einen bewaffneten Verbrecher fernzuhalten, so würde er doch sofort Laut geben, wenn sich jemand nähern sollte, und ihn damit zurückrufen. So begab er sich beruhigt auf die Spurensuche, die ihn entlang der Reifeneindrücke bis zur Hauptstraße brachten. Dort machte er zunächst eine ausgiebige Rast – aber als der Mond endgültig durch die Wolken brach und sein strahlendes Licht beinahe Tageshelle zu verbreiten begann, erhob er sich, und seine scharfen, geübten Augen entdeckten eine ganze Menge. Wartend setzte er sich dann auf einen Randstein. Hier mußte der Beamte ja in seinem Auto vorbeikommen, den Scotland Yard herausschickte. Scotland Yard! Was für Erinnerungen voll Stolz und auch voll Enttäuschungen! Sein Haupt sank auf die Brust, und längst vergessene Schatten traten vor seine halbgeschlossenen Augen. Er übersah beinahe den Wagen, der in raschestem Tempo herankam.
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2. KAPITEL DER MANN VON SCOTLAND YARD Der Wagen bremste scharf ab, als Gayfield sich im letzten Moment erhob und zu winken begann. Ein scharf geschnittenes Gesicht beugte sich heraus: »Mr. Gayfield, wenn ich nicht irre?« fragte eine ruhige, klare Stimme. »Mein Name ist Burnes, Inspektor Robert Burnes.« »Guten Morgen, Inspektor«, antwortete Gayfield munter. »Etwas frisch im offenen Wagen? Ungewöhnlicher Anblick heutzutage.« »Erinnerung an einen lieben toten Sportkameraden«, sagte Burnes, und der schneebedeckte Kegel des Ätna und ein kleiner Gedenkstein an einer kurvenreichen Gebirgsstraße am blauen Mittelmeer tauchten in seiner Erinnerung vor der trostlosen, nebelbedeckten englischen Landschaft auf. »Ein älterer Bursche, aber schnell wie der Teufel, ein MercedesKompressor, der noch heute die jüngeren Herrschaften nach Strich und Faden abhängt, wenn es sein muß…« »Ja, die älteren Burschen sind den jüngeren manchmal überlegen.« Gayfield lächelte zu diesen etwas doppelsinnigen Worten. »Meine Tochter verständigte mich, daß Sie kommen würden, so erwartete ich Sie hier. Sie hat Ihnen wohl schon einiges am Telephon mitgeteilt?« »Nicht viel«, erwiderte der Inspektor, »aber wollen Sie nicht einsteigen? Wir können dann weitersprechen, ohne daß Sie das Stehen ermüdet. Sie haben wohl eine unruhige Nacht hinter sich, Mr. Gayfield?« »Es war nicht so schlimm«, meinte dieser, »aber wenn es Ihnen recht ist, würde ich vorschlagen, hier einmal die Straße 14
zu besichtigen, die erzählt eine recht interessante Geschichte, die zu dem gehört, was ich Ihnen im Walde zu zeigen haben werde… und indessen können wir ja weiterreden.« »Ihre Tochter erreichte mich gegen ein Viertel nach zwölf – kurz, nachdem ich meinen Nachtdienst angetreten hatte. Sie berichtete mir, sie habe die lokale Polizei nicht erreichen können und wolle daher London verständigen, daß ein Herr von dort, namens Jan van Raan, als Leiche in seinem Wagen von Ihnen hier im Walde gefunden worden sei; sie nehme aus der Art Ihrer Mitteilung an, daß ein Mord vorliege. Sie gab mir die Adresse 24 Kings Square W1 – seine Geschäftsadresse –, mit Hilfe dieser fand ich ohne weiteres seine Privatadresse im Telephonbuch, wo ich Nachforschungen anstellte –, doch davon später. Zuerst rief ich natürlich Ihren Chief-Constable an, erwischte glücklich seinen Stellvertreter, der mich in ganz ungewöhnlich netter Weise ersuchte, herauszukommen und die Nachforschungen im Einvernehmen mit seinen lokalen Behörden zu beginnen. Meist sind die Herren in der Provinz etwas eifersüchtig und gar nicht erbaut über Einmischungen, rufen uns entweder gar nicht oder erst, bis alles schon total verfahren und ohnehin nichts mehr zu holen ist. So war ich sehr erfreut, meine sofort in London unternommenen Untersuchungen hier gleich persönlich fortsetzen zu können, und kam sogleich heraus.« »Unsere Polizei ist sehr entgegenkommend und so stark beschäftigt«, sagte Gayfield mit einem kleinen Seufzer, »daß sie sich ganz und gar nicht um Extraunterhaltungen reißt und sicher für jede Hilfe dankbar sein wird. Darum ließ ich Sie ja auch durch meine Tochter direkt verständigen. So geht nicht unnütze Zeit verloren, die zum Teufel gewesen wäre, wenn wir mit Mühe und Not unsere Herren benachrichtigt und es denen überlassen hätten, Sie, Gott weiß wann, herbeizuholen.« »Eine ausgezeichnete Idee von Ihnen«, lobte Burnes, »und nun, was gibt es hier zu sehen?« 15
Sie waren indessen eine kleine Strecke auf der Straße zurückgegangen. »Sehen Sie, Inspektor«, begann Gayfield und wies auf eine Radspur auf der Straße. »Hier ist ein Wagen gefahren. Und da«, sie waren der Spur einige fünfzig, sechzig Meter gefolgt, »da hat er gebremst, man sieht deutlich, wie die Reifenspur verwischt wird durch das Rutschen der gebremsten Räder. Der Wagen wurde ziemlich plötzlich zum Halten gebracht. Stimmt’s?« Burnes warf einen verstohlenen Blick auf den Sprecher. »Es scheint so, in der Tat«, antwortete er sodann. »Und nun, sehen Sie wohl, ist er weitergefahren. Aber da scheint jemand an den Wagen herangetreten zu sein, man sieht auf der harten Straße nur ganz schwach die Fußspuren, aber mit einigem guten Willen kann man ihnen folgen. Sehen Sie, da verschwinden sie auf der Straßenseite, und hier, im Gras, sieht man ganz deutlich die niedergedrückten Halme, wo jemand vermutlich längere Zeit gestanden ist.« Burnes nickte zustimmend. »Nun scheint aber ein zweiter Wagen gekommen zu sein«, fuhr Gayfield eifrig fort, ohne das wachsende Staunen seines Begleiters zu bemerken. »Auch dieser hat hier gehalten – aber, wie merkwürdig, er hat kaum gebremst. Ob er wohl darauf vorbereitet war, hier jemanden zu finden? Stehengeblieben ist er auch, man sieht auf dieser zweiten Räderspur, die neben der ersten herläuft, ganz deutliche, wenn auch nur kurze Bremsspuren – und sogar ein wenig nassen Sand dort, wo er wieder etwas scharf angefahren ist, um seinen Weg fortzusetzen. Ich glaube, wir können Ihren Wagen um diese Stunde ruhig eine Zeitlang stehenlassen, nehmen Sie jedenfalls den Zündschlüssel mit – für alle Fälle, und was sonst nicht niet- und nagelfest ist. Sicher ist sicher.« Burnes zog den Schlüssel heraus und nahm seine Handtasche. Dann folgte er Gayfield, der ihm 16
vorausgeschritten war. Nach etwa hundert Metern blieb dieser stehen. »Hier ist eine Abzweigung, kaum sichtbar, sie wird auch nur von Holzfuhrwerken benützt, die den Transport des in meinen Wäldern geschlägerten Holzes durchführen. Da seit Monaten keiner mehr stattfand, sieht man sehr deutlich die Spur eines Autos hier hereinführen. Nun, folgen wir ihr.« Schweigend setzten die Männer ihren Marsch fort, bis sie an die Lichtung kamen. »Hier«, wies Gayfield auf die kleine Blutlache, »hat sich die Tragödie abgespielt.« Er verhinderte Burnes, sich mit dem Gesehenen zu befassen, indem er ihn weiterzog. Sie schritten über die Lichtung und folgten der im matten Morgenlicht nun auch ohne Taschenlampenbeleuchtung sichtbaren Spur in den gegenüber liegenden dichten Wald. Nach einigen Minuten standen sie vor dem Wagen, von Robbies Schwanzwedeln begrüßt. »Alles in Ordnung, Robbie?« fragte Gayfield überflüssigerweise. Er klopfte dem Hund liebevoll und anerkennend den klugen Kopf. »Darf ich Sie mit meinem vierbeinigen Kollegen bekannt machen, Inspektor?« fragte er im Gesellschaftstone. »Robbie, mein treuer Pointer, und dies, Robbie, ist Inspektor Burnes von Scotland Yard, der uns für diese Gelegenheit die Ehre gibt.« »Hallo, Robbie«, sagte Burnes und betrachtete den Hund. Robbie sagte natürlich nichts, wenn man den sprechenden Blick, mit dem er den Gast seines Herrn prüfend musterte, nicht als Antwort nehmen wollte. Immerhin schien es, daß die beiden aneinander Gefallen gefunden hatten, denn Burnes versuchte ein liebenswürdiges Streicheln, und Robbie quittierte diese nicht immer erwünschte Intimität mit einem leisen, aber nicht unfreundlichen Knurren. Dann wandten sich die beiden Männer dem Wagen zu. Schweigend begann Burnes zu arbeiten. Gayfield störte ihn 17
nicht. Er sah ihm aufmerksam zu und verfolgte mit kaum merklichem Lächeln, wie der junge Beamte beinahe genau die gleichen Verrichtungen vornahm, wie er vor einigen Stunden. Sorgfältig untersuchte Burnes alles, was er in die Hände bekam. Dann packte er das Eigentum des Toten in ein großes Kuvert, das er in seiner Handtasche verstaute. Nun ging es noch einmal über den Wagen. »Möchte nur wissen, wo die Tasche hingekommen ist – um die es sich natürlich gehandelt hat. Der Kerl muß genau gewußt haben, was van Raan bei sich hatte«, brummte Burnes vor sich hin. »Da hat er sich mit den übrigen Kleinigkeiten nicht weiter aufgehalten, obgleich auch die, ganz abgesehen von dem bißchen Bargeld, einen netten Wert hatten: Uhr, Zigarettendose, Ring, Kette und so weiter, na, gut über hundert Quid, sollte ich meinen. Aber was spielt das für eine Rolle bei den Tausenden, die das andere wert ist?« »Tausende – was meinen Sie damit, Inspektor?« fragte Gayfield überrascht. »Nach dem Telephongespräch mit Ihrer Tochter sah ich im Telephonbuch die Privatadresse van Raans nach – in seinem Geschäft hätte ich ja in der Nacht keine Auskunft bekommen; ich fuhr sofort hin und es gelang mir, seine Haushälterin munter zu kriegen. Sie sagte mir, er habe wie üblich am Morgen seine Wohnung verlassen, um sich in sein Geschäft am Kings Square zu begeben. Ich erfuhr weiter, daß er eine Handtasche mitgenommen hatte, in der er wertvolle Juwelen nach Hause zu nehmen pflegte – und daß er geäußert hatte, er werde am Abend nicht zum Dinner nach Hause kommen, da er nach Geschäftsschluß einen Kunden auf dem Lande besuchen wolle, wo er höchstwahrscheinlich auch die Nacht verbringen werde. So nehme ich an, daß er besondere Kostbarkeiten aus seinem Atelier mitgenommen hat – ich kenne den Ruf seines Hauses als eines der besten und teuersten am Londoner Platz. Also dürfte der Mord sich gelohnt haben, und es wird um 18
einige tausend Pfund gegangen sein, das können wir ruhig annehmen.« »Nun, da lohnen sich die Vorbereitungen wohl, die da anscheinend getroffen wurden«, meinte Gayfield. Indessen gab Robbie Laut und, aufmerksam geworden, hörten die beiden jemand eilig durch das Holz näher kommen. Alsbald erschien auch ein Mann in der Uniform eines Constablers, der sich den beiden Herren eiligst zuwandte, als er sie erblickte. »Hallo, Mr. Gayfield«, begrüßte er den Förster. »Ihre Tochter erwischte Shrewster vor einer Stunde und erzählte ihm eine abenteuerliche Geschichte. Er sandte mich herauf, um nachzusehen, was es gebe, und ihm dann zu berichten, worauf er unter Umständen selber kommen würde.« »Nett von ihm«, sagte Gayfield trocken, nachdem er einen bezeichnenden Blick mit Burnes getauscht hatte. »Wirklich sehr aufmerksam. Indessen habe ich mich mit Inspektor Burnes, einem lieben Gast, hier ein bißchen umgetan, und wir werden Shrewster alles Nötige erzählen. Vielleicht sind Sie indessen so gut und passen hier auf, daß nichts von den Dingen da wegkommt…« »Hm«, meinte der Constabler zweifelnd, »ich weiß doch nicht, ob ich nicht vor allem einmal selbst eine Untersuchung anstellen sollte, wie der Sergeant meinte. Was hat es eigentlich gegeben?« Er warf einen neugierigen Blick auf den Wagen und griff nach seinem Taschenbuch. »Hören Sie mal, Constabler«, mischte sich nun Burnes in das Gespräch, »wenn Sie hier etwas anrühren, so werden Sie verdammte Unannehmlichkeiten haben. Lassen Sie alles, wie es ist, und passen Sie nur hübsch auf, daß auch sonst niemand etwas anrührt, das genügt völlig. Hier übrigens mein Ausweis, und das übrige werde ich mit Ihrer vorgesetzten Behörde regeln – ich übernehme die volle Verantwortung.«
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Der junge Beamte warf einen achtungsvollen Blick auf den Ausweis, den der Inspektor ihm vorwies. »Wie Sie befehlen, Sir«, sagt er dann, »geht in Ordnung, hier bleibt alles, wie es ist, verlassen Sie sich auf mich.« Und höchst unternehmend schwang er seinen Gummiknüppel. »Allright, my boy«, nickte Burnes zufrieden. »Da liegt einer drin, der gründlich tot ist, wenn Sie’s wissen wollen, aber, wie gesagt, lassen Sie ihn liegen, wenn er auch etwas unbequem gebettet wurde. Es kann sein, daß wir nochmals nachschauen müssen. Ich möchte jetzt einmal schnell telephonieren, um mich mit London über einige Fragen in dieser Sache zu unterhalten. Also gute Wacht bis auf weiteres!« »Setzen Sie sich hierher, Miller«, schlug Gayfield menschenfreundlich vor und wies auf den Baumstrunk, den er in der Nacht trockengesessen hatte. »Und da haben Sie etwas zum Rauchen.« Er gab ihm ein eben erst angebrochenes Päckchen Pfeifentabak. »Schönen Dank, Mr. Gayfield«, sagte der junge Mann erfreut und begann seine Pfeife zu stopfen, während er sich auf seinem neuen Thron niederließ. »Kommen Sie, Gayfield«, drängte Burnes. »Ich möchte so schnell wie möglich meine Ermittlungen beginnen – vielleicht läßt sich telephonisch…« »Es wäre natürlich schön, wenn wir herausbringen könnten, was van Raan mithatte«, stimmte Gayfield zu, der sich anscheinend von dem Platz nicht trennen konnte. »Aber vor acht oder gar neun Uhr werden Sie niemanden in dem Geschäft erreichen können; dagegen glaube ich, sollten wir hier das Eisen schmieden, solange es heiß ist.« »Ich glaube nur, hier ist nichts mehr zu holen«, erwiderte Burnes etwas ungeduldig. »Da mögen Sie recht haben«, gab Gayfield zu, warf aber noch immer zweifelnde Blicke nach dem Wagen. Es begann nun immer heller zu werden, es war fünf Uhr vorbei und die 20
Sonne kündigte sich an. »Nur einen Moment noch«, fügte er hinzu, und während Burnes seine Blicke über die gemachten Notizen schweifen ließ, ging er noch einmal um den Wagen herum. Ei, was war denn das? Da hing ein kleines Stoffrestchen aus der hinteren Tür… vorsichtig öffnete er sie und nahm es in die Hand. Das war doch ein kleines Stück von einem Trenchcoat – der Ermordete hatte einen dunklen, städtischen Mantel an, hm, dies hier mußte also von dem Mörder stammen? Der mochte seinen Mantel in der zugeworfenen Tür eingeklemmt und das Stück abgerissen haben, als er sich entfernte… ja, so mußte es gewesen sein, das Material war alt und brüchig und hatte wohl keinen merklichen Widerstand geleistet, so daß der Eilige in der Aufregung nichts davon bemerkt haben mochte. Na, das konnte ja äußerst wichtig sein… Er warf einen verstohlenen Blick nach dem Detektiv. Der las noch immer in seinen Notizen. Einen Augenblick schwankte Gayfield, aber dann wickelte er das kleine Stückchen Stoff vorsichtig in ein Blatt, das er aus seinem Notizblock riß, und barg es liebevoll in seiner Brusttasche. Wenn er geahnt hätte, was dieses unscheinbare bißchen Stoff ihm noch antun würde, hätte er das gewiß unterlassen. Er schloß nun endgültig die Türe des Wagens und trat zu Burnes. »Bis wir brauchbare Nachrichten aus London zu erwarten haben, haben wir noch gut zwei Stunden vor uns, die ungeheuer wichtig sein können«, sagte er dem überraschten Beamten. »Darf ich Ihnen eine Theorie entwickeln, die sich mir aufdrängt?« Erstaunt musterte Burnes diesen merkwürdigen Weidmann. »Los, Gayfield«, sagte er dann, »bin für jeden Hinweis dankbar.« »Während wir zum Wagen gehen, kann ich sie Ihnen auseinandersetzen«, begann Gayfield. »Ich glaube, wir sind 21
uns einig, daß van Raan irgendwelche Gegenstände von großem Wert mit sich führte – und ebenso, daß diese verschwunden sind. Nun, was kann er in dieser einsamen Gegend damit gewollt haben? Es scheint nach dem, was Sie von seiner Haushälterin erfahren haben, daß er einen Kunden auf dem Land besuchen wollte. Wer kommt in unserer armen Gegend für solche Kostbarkeiten in Betracht? Hier wohnen lauter kleine Leute, die für die Schätze eines Londoner Juweliers nicht in Frage kommen. Ausgenommen – vielleicht – der neue Besitzer von Schloß Hilligmore. Dieses liegt unweit von hier an einer Seitenstraße, die, nicht allzu unähnlich dem Seitenweg, den wir jetzt hinabgehen, in die nach London führende Hauptstraße einmündet. Wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir annehmen, daß jemand, der von diesem Besuch und von der kostbaren Fracht dieses Wagens wußte, an der Einmündung des Holzweges stand und dort dem Ankömmling, der des Weges unkundig gewesen sein mag, eingeredet hat, daß dieser zum Schloß führt. Er mag sich als vom Schloß abgesandter Diener ausgegeben haben, den der Juwelier vielleicht sogar erwartete und weshalb er, wie wir mit ziemlicher Sicherheit feststellen konnten, langsam fuhr, sobald er in die ihm bezeichnete Gegend kam. Er schöpfte keinen Argwohn, als ihn jemand anhielt und sich als Führer zu ihm setzte. Er wurde dann den Holzweg entlang dirigiert, und als er oben auf der Lichtung ankam, die wohl seinen Verdacht wecken mochte, durch einen Schuß aus einer Pistole, die ihm der neben ihm sitzende Führer an den Hinterkopf hielt, ermordet. Schnell warf ihn der Mörder nach rückwärts, rückte an den Volant, führte den Wagen in das Holz, an einen Platz, von dem er annehmen konnte, daß er in dieser Jahreszeit kaum so bald betreten werden würde, packte zusammen, was er im Wagen fand, und verduftete. Interessant, daß anscheinend kurz vorher ein anderer Wagen vorbeikam, den der wartende Mörder irrtümlich aufhielt, um ihn nach Erkennen seines 22
Irrtums wieder weiterfahren zu lassen. Den Wagen werden wir bald haben – die Straße nach London führt hier nicht mehr weit ins Gebirge, und unser braver Shrewster wird bald herausfinden, wer darin gesessen ist und mit wem der Mörder gesprochen hat. Aber auch das läuft uns nicht davon. Dagegen, glaube ich, können wir nicht früh genug mit unseren Nachforschungen im Schloß beginnen, dort muß man wissen, ob van Raan dorthin bestellt wurde, weshalb dies geschah, und da mag sich dann mancher Zusammenhang ergeben. Übrigens haben sie dort auch ein Telephon, über das Sie später mit London sprechen können. Also, wenn es Ihnen recht ist, fahren wir zuerst dorthin, kommen Sie, dort steht Ihr Wagen, ich führe Sie.« »Es ist gerade keine übliche Besuchszeit«, zögerte Burnes. »Um so besser«, sagte Gayfield unternehmungslustig. »Vielleicht wird sich da um so eher etwas herausstellen.« Burnes stieg ein, Gayfield tat mit Robbie das gleiche, und sie folgten etwa achthundert Meter der Hauptstraße. Dann zeigte Gayfield einen Seitenweg, der wirklich ganz ähnlich wie der Karrenweg, den sie gerade heruntergeschritten waren, von der Hauptstraße nach links abzweigte. Er war nur wesentlich breiter und besser gehalten, wenn er auch starke Spuren der Vernachlässigung aufwies. Burnes folgte diesem Weg, und etwa fünf Minuten später hielten die beiden vor einem stattlichen Gebäude, das wohl nicht den Namen eines Schlosses verdiente, aber immerhin ein imposantes Herrenhaus genannt werden konnte. Es war zwar nun voller Tag geworden, aber sie mußten doch ziemlich lange und energisch die Zugglocke betätigen, bis endlich die schwere Tür aufging. Überrascht sahen sie statt eines zerrauften und dürftig bekleideten Dieners einen netten alten Mann in tadelloser Livree. »Hallo, James«, rief Gayfield verwundert, »früh auf heute… das nenn’ ich fleißig…« 23
»Ein Lob, das ich leider nicht verdiene«, sagte der alte Mann mit liebenswürdigem Lächeln, wobei er die beiden Herren einließ. »Gewöhnlich stehe ich recht spät auf, da mein Chef erst um neun frühstückt und vorher nie etwas von mir verlangt. Aber heute war ich früher auf, da Mr. Wricks den ersten Londoner Zug erreichen wollte.« »Oh, Mr. Wricks ist also nicht anwesend«, fragte Burnes enttäuscht. »Ich kam eigens, um ihn in einer dringlichen Sache zu fragen, und nur deshalb so früh, damit ich ihn ja nicht versäume.« »Leider, er verließ das Haus bereits um sechs Uhr früh, um den Sechs-Uhr-dreißig-Zug in Longsberry zu erreichen.« »Teufel«, sagte Burnes, »das ist ein verdammtes Pech! Hat er etwas darüber gesagt, warum er nach London fuhr und wann er wieder zurück sein wird?« »Leider, nein.« »Nun, er wird doch irgend etwas über seine Fahrt gesagt haben, woraus man vermuten könnte…« »Er kam gestern gegen zehn Uhr abend – nein, es war halb elf, ich hatte ihn den ganzen Tag nicht gesehen. Er hatte nach dem Frühstück das Haus verlassen, nachdem er mir aufgetragen hatte, ihm für den Abend einen kalten Imbiß und den Whisky ins Zimmer zu stellen. Ich nahm an, daß er nach London fahren und mit dem letzten Zug zurückkommen wollte. So war ich nicht überrascht, als er, wie gesagt, etwa um halb elf auftauchte. Ich half ihm schnell aus den Überkleidern.« »Er dürfte einigermaßen naß gewesen sein«, bemerkte Burnes. »Leider besitzt Mr. Wricks keinen Wagen. Er hatte den ganzen Weg von der Bahnstation bis herauf zu Fuß machen müssen und sah natürlich dem elenden Wetter entsprechend aus.« James räusperte sich. »Ich meldete, daß ich wunschgemäß ein paar Sandwiches und den Whisky in das Schlafzimmer gestellt hatte, und fragte nach weiteren Befehlen. 24
Aber er nickte nur etwas geistesabwesend und sagte, während er hier die Treppe hinaufging, ich solle ihn um fünf Uhr dreißig wecken, da er früh nach London müsse. Das tat ich auch, und gegen sechs verließ er nach ein paar Bissen, die er mit dem Kaffee hastig hinunterwürgte, das Haus.« »Und er machte keine wie immer geartete Andeutung, auf wie lange er fortgehe?« »Ich frage nie, und er sagte nichts«, erwiderte James. »Aber ich nehme an, daß er abends wieder dasein wird, da er eigentlich nur selten über Nacht fernbleibt.« In diesem Augenblick hörte man die Türglocke. Nach einem fragenden Blick ging James aufmachen und erschien eine Minute später mit einem uniformierten Polizeibeamten. »Hallo, Gayfield«, sagte dieser munter, »ich ging schließlich doch Miller nach und traf ihn, kaum daß Sie ihn verlassen hatten. Da er mir sagte, Sie hätten schon alles genau durchgesehen und daß ohnehin ein Beamter von London die Untersuchung übernommen habe, ließ ich alles, wie es war, und kam Ihnen nach.« »Dies ist Shrewster, unser Postenkommandant, und hier ist Inspektor Burnes«, stellte Gayfield vor. »Ich erzählte ihm, daß ich gegen neun Uhr abend einen Schuß hörte. Als ich darüber nachdachte, wer um diese Zeit wohl Schießübungen veranstalten mochte, wo man kaum die Hand vor den Augen sehen konnte, fiel mir erst auf, daß das Geräusch so gar nicht nach einem Flintenschuß geklungen hatte. Ich hatte gerade das Nachtmahl hinter mir, als mir zu Bewußtsein kam, daß es ein Pistolenschuß gewesen sein mußte, und das ließ nur eine Deutung zu. So packte ich schleunigst meine Sachen und lief in die Richtung, aus der ich den Schuß gehört hatte. Robbie führte mich direkt zu dem wohlversteckten Wagen, den Sie gesehen haben, ich schaute mir die Bescherung an und verständigte durch meine Tochter Mr. Burnes, der sofort herauskam. Meine Tochter konnte Sie nicht erreichen, so blieb mir nicht viel 25
anderes übrig. Aus einer Karte bei dem Toten hatte ich auch festgestellt, daß es sich um einen Londoner handelte, und da dachte ich mir gleich, daß die Untersuchung dorthin spielen werde. Also war ohnehin früher oder später mit dem Eingreifen Ihrer dortigen Kollegen zu rechnen. Und wozu sollte ich Ihnen noch Ungelegenheiten machen?« »Aber, liebster Freund«, unterbrach ihn Shrewster freundlich, »es bedarf doch keiner Entschuldigung? Sie haben großartig die Lage erfaßt, und ich bin glücklich, daß der geschätzte Londoner Herr sofort eingriff, so daß keine umständlichen Übergaben eventueller Resultate, die wir indessen hier erzielt hätten, nötig sind. Wenn Sie wüßten, Inspektor, wie ich überlastet bin mit den teuflischen lokalen Erfordernissen, Grenzstreitigkeiten, Wilddiebereien, Einbrüchen, Raufereien – es ist zum Tollwerden, und dabei habe ich einen jungen Burschen als einzige Hilfe, der mehr eine Last als eine Unterstützung ist. Darum war ich auch gestern nicht im Amt. Wir hatten beide alle Hände voll zu tun, um in Darrow, das gehört auch noch in meinen Rayon, im dortigen Gasthaus Ordnung zu halten. Die hatten dort eine Abendunterhaltung. Es gab natürlich eine Menge Betrunkene, die wir teilweise mit Gewalt nach Hause bringen mußten. Dann hatten wir kaum ein paar Stunden Schlaf im dortigen Gastzimmer, als uns schon das kleine Fräulein aufspürte und heraustelephonierte. Während ich Miller in den Wald jagte, lief ich ins Amt, aber da dort zufällig nichts vorlag, ging ich ihm gleich nach, um zu verhindern, daß er dort etwas anstelle – war todfroh, daß Sie ihm verboten hatten, sich wichtig zu machen. Immerhin wird er verhindern, daß am Tatort etwas verändert wird. Also, alles in schönster Ordnung. Ich glaube, Sie werden mich wohl nicht mehr brauchen? Möchte ins Amt, die Totenschau veranlassen, paßt es morgen?« »Meinetwegen«, sagte Burnes, »ich werde da wohl noch nicht viel zu berichten haben, eventuell gar nicht da sein. In 26
diesem Falle sagen Sie einfach, die Untersuchung läuft gegen unbekannte Täter. Die Jury wird dann auf Mord durch Unbekannte erkennen und sich vertagen. Das macht die wenigste Schererei. Empfehlen Sie mich dem Chief-Constable, ich werde ihn durch meine vorgesetzte Behörde auf dem laufenden halten…« »Oh, machen Sie sich keine Sorge darüber, der ist genau so froh wie ich, wenn man ihn in Ruhe läßt, äh… ich meine… er hat ebensoviel zu tun und ist nur dankbar…« »Ich verstehe«, sagte Burnes lächelnd. Na, da hatte er ja Glück. Die lokalen Herrschaften schienen nicht an übertriebener Tatenfreude zu kranken. »Im übrigen können Sie auch ganz beruhigt sein, die Sache ist bei uns in besten Händen, und wir werden nichts verabsäumen, sie schleunigst und restlos aufzuklären. Es scheint übrigens ein recht einfacher Fall zu sein, der in London seinen Ursprung hat. Aber Sie könnten uns einen wertvollen Dienst leisten…« »Wenn es sich mit meinen Obliegenheiten vereinbaren läßt«, meinte Shrewster mit mäßigem Enthusiasmus. »Ich habe mit Hilfe Mr. Gayfields festgestellt, daß gestern gegen halb neun, es kann auch etwas früher oder später gewesen sein, ein Automobil, außer dem des Ermordeten, auf der Straße nach Darrow vorbeifuhr. Es dürfte bei der Abzweigung, die auf den Holzlagerplatz führt, angehalten worden sein, vermutlich vom Mörder selbst, der darin sein Opfer vermutet haben dürfte. Der Insasse wird mit ihm gesprochen haben, worauf sich der Irrtum herausstellte und der Wagen seinen Weg fortsetzte. Es könnte von ausschlaggebendem Wert sein, den Fahrer dieses Wagens zu finden. Könnten Sie das übernehmen?« »Ich will es gern versuchen. Zwischen acht und neun Uhr gestern abend also?« Er kritzelte etwas in sein Notizbuch. »Wird sich machen lassen. Um diese Zeit war alles, was über ein Vehikel verfügt, im ›Admiral Nelson‹ in Darrow. Dort hört 27
die Straße auf, geht als Karrenweg weiter. Na, ich werde sehen. Finde ich den Betreffenden, schicke ihn ihn gleich her; wenn er Sie nicht mehr antrifft, wird James ihm sagen können, wo er sich melden soll?« »Ausgezeichnet, Sergeant«, sagte Burnes, »besten Dank und auf Wiedersehen.« Shrewster nickte den beiden und James freundlich zu, und weg war er. »Na, das ist ja glatter gegangen, als ich erwartet habe«, meinte Burnes. »Wie spät ist es? Ah, fast neun, da kann ich ja einen Versuch mit Raans Bude machen, jetzt wird auch dort schon jemand sein.« Er ging zum Telephon. »Sie haben doch nichts dagegen, daß ich ein Gespräch mit London führe? Ich werde es nachher mit Mr. Wricks verrechnen.« James neigte zustimmend den Kopf. Nach ein paar Minuten hatte Burnes Verbindung. Gayfield nahm auf einen Wink des Inspektors James zur Seite und begann mit ihm die Möglichkeiten eines Frühstücks zu erörtern, hörte dabei aber mit halbem Ohr das nun folgende Telephongespräch an. »Ist dort Juwelier van Raans Büro?« hörte er Burnes fragen. »Ah, Mr. Jenkins? Sie sind der Buchhalter?… Könnte ich erfahren, was Sie über den momentanen Aufenthalt Ihres Chefs wissen?… Gewiß, ich weiß, er ist nicht dort… auf einer Geschäftsreise? Hm. Hier spricht Schloß Hilligmore… richtig, bei Mr. Wricks… nein, er ist im Augenblick nicht anwesend… nein, Mr. van Raan auch nicht…«
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3. KAPITEL MR. WRICKS TELEPHONIERT Indessen hatte James sich in die Küche verzogen, um das mit Gayfield vereinbarte Frühstück zu bereiten, und dieser beugte den Kopf zum Hörer und konnte nun deutlich eine etwas besorgt klingende Stimme vernehmen. »Oh, das ist aber sehr beunruhigend«, hörte er, »Mr. van Raan ist nicht eingetroffen? Er wollte schon am Abend dort sein. Wie peinlich, er wird gewiß einen Defekt haben, sein Wagen ist etwas ältlich, wenn auch von bester Marke, bitte, würden Sie Mr. Wricks unsere Entschuldigung übermitteln? Er wird sicher ärgerlich sein, da er so dringend darauf bestand, daß Mr. van Raan noch gestern hinauskam. Es sollte das Geschenk ausgewählt werden, das er der jungen Dame zum heutigen Geburtstag überreichen wollte. Mr. van Raan hat seine besten Sachen mitgenommen, bitte dies Mr. Wricks zu sagen, vermutlich wurde er unterwegs von einer Panne überrascht, so daß er die Nacht irgendwo zubringen mußte, wo kein Telephon eine Verständigung erlaubte. Wir werden sicher bald von ihm hören, und gewiß wird er sich noch rechtzeitig einfinden, damit das Geschenk, wenn auch etwas verspätet, doch noch am Geburtstage überreicht werden kann. Ein äußerst bedauerlicher und sehr unangenehmer Zufall…« Burnes tauschte mit Gayfield während dieses Geschwätzes bedeutungsvolle Blicke. »Hören Sie, Mr. Jenkins«, unterbrach er dann den Redeschwall, »könnten Sie mir sagen, welchen Wert ungefähr die Waren hatten, die Ihr Chef mitgenommen hat?« »Gewiß, ich habe ein genaues Verzeichnis, was aus dem Lager entnommen wurde, einen Augenblick…«
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»Bitte, im Augenblick interessiert mich nur der ungefähre Betrag.« »Ah, ich würde sagen, zirka fünfzigtausend Pfund.« »Fünfzigtausend Pfund«, rief Burnes entgeistert. »Aber das ist doch…« »Sie sehen, welchen Wert mein Chef auf Mr. Wricks Zufriedenheit legt, er nahm so ziemlich alles mit, was nur irgendwie in Betracht kommt, wollen Sie das, bitte, berichten und nur um ein klein wenig Geduld bitten. Mein Chef wäre untröstlich, wenn er unverrichteterdinge zurück müßte, Mr. Wricks wird sehr angenehm überrascht sein, was er da zu sehen bekommt…« »Das glaube ich fast selber«, sagte Burnes sarkastisch. »Mr. Jenkins, ich werde Sie von dem weiteren Verlauf verständigen und danke indessen bestens für Ihre wertvollen Mitteilungen.« Er legte ab. »Eine reizende Geschichte – fünfzigtausend Pfund – hol mich der Teufel, diesen Wricks müssen wir kriegen. Das schaut ja mehr als seltsam aus! Vor allem nun zu Ihrem famosen James…« »Für den lege ich die Hand ins Feuer«, widersprach Gayfield. »Daß Sie sich dabei nur nicht die Finger verbrennen«, spottete Burnes. Er drückte auf einen Klingelknopf. Im gleichen Augenblick erschien James mit einem Tablett. Die Halle, in der sich die Männer befanden, war etwas kahl möbliert, was Burnes erst jetzt auffiel. Immerhin fand sich ein halbwegs geeigneter, wenn auch etwas wackliger Tisch, und nach einigem Suchen erwischte man auch ein paar ziemlich bequeme Stühle, die genügend Haltbarkeit versprachen. Man nahm gemütlich Platz, und während Burnes sich ein Ei aufklopfte und von James den Tee einschenken ließ, fragte er ganz beiläufig:
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»Nun, James, sehr nett, daß Sie uns da etwas auf die Beine helfen wollen – aber wo bleibt die kleine Hausfrau?« James ließ vor Schreck fast die Kanne fallen. »Nun ja, die junge Dame, deren Geburtstag heute gefeiert werden soll?« James starrte den Sprecher mit großen Augen an. »Geburtstag?« stotterte er. Burnes legte den Eierlöffel nieder, obwohl er kaum begonnen hatte: »Hören Sie, alter Freund, ich will Ihnen nun die Wahrheit sagen. Sie machen mir einen ganz passablen Eindruck, und Mr. Gayfield weiß so viel Gutes über Sie zu erzählen…« »James ist seit über vierzig Jahren im Dienst dieses Hauses«, nahm der Förster das Wort. »Er diente schon dem alten Lord Longsberry, und, soviel ich glaube, an die zwanzig dem jungen Herrn. Als dieser vor einem halben Jahr das Schloß verließ, um auf sein Gut in Surrey zu übersiedeln, blieb er als Schloßwart und trat vor kurzem in die Dienste des Mr. Wricks, als dieser das Gebäude kaufte.« »Ich konnte mich von dem alten Fleck nicht trennen«, sagte der greise Diener. »Ich bin sozusagen hier geboren, habe nie etwas anderes gekannt und möchte hier auch sterben – in Frieden und in Ehren, wie ich gelebt habe…« Die müde Stimme zitterte ein wenig. »Ich bin überzeugt, daß Sie nichts Böses im Schilde führen«, sagte Burnes mit freundlicher Stimme. »Aber Sie müssen offen mit uns sprechen, ohne Rücksicht auf Ihren Herrn, so gut dies auch gemeint sein mag. Ich sage Ihnen aufrichtig, ich bin von der Polizei, und es handelt sich um nicht mehr oder weniger als einen ganz niederträchtigen Raubmord – also, da heißt es heraus mit der Sprache, wenn Sie nicht selbst in des Teufels Küche kommen und Ihre löblichen und recht bescheidenen Zukunftshoffnungen begraben wollen. Also
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vorwärts: wo steckt das Frauenzimmer, mit dem Ihr Herr und Gebieter heute irgendwas Besonderes vorhatte?« »Ich habe keine Ahnung«, beteuerte der alte Diener. »Ich sollte nicht von ihr sprechen, befahl Mr. Wricks. Er wünschte keinen Tratsch in dem kleinen Nest, so erwähnte ich nichts von ihr. Sie fragten auch bisher nicht danach.« »Hm«, machte Burnes. »Was heißt das, Sie haben keine Ahnung, wo sie ist; seit wann ist sie denn weg?« »Das war vorgestern, wenn ich nicht irre.. .« »Na, Sie haben hier nicht so viele Besucher, also könnten Sie sich das Datum einigermaßen gemerkt haben.« Burnes runzelte die Stirn. »Es mag äußerst wichtig sein, den Tag zu wissen.« »Es war vorgestern mittags«, sagte James nun und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Wie spielte sich das ab?« fragte Burnes und schrieb eifrig in sein Buch. »Es, ja, wie soll ich sagen… es scheint, die Herrschaften waren über irgend etwas nicht vollkommen einig, es wurde sozusagen, es kam zu…« »Es gab einen Krach?« »Es wäre dies vielleicht ein bißchen viel gesagt, aber man könnte es so auffassen – kurz, die junge Dame packte ihre Sachen und verließ das Haus, Mr. Wricks hatte ein Fahrzeug bestellt, das sie zur Bahn brachte…« »Also, Gott sei Dank, dieses Staatsgeheimnis wäre heraus«, atmete Burnes auf. »Und Mr. Wricks?« »Er war etwas ärgerlich, wenn ich so sagen darf, aber natürlich ließ er nichts darüber verlauten – am nächsten Tag, wie ich bereits berichtete, also gestern, fuhr er nach London und ebenso heute – ich habe kaum mehr als ein Dutzend Worte mit ihm in dieser Zeit gewechselt.« »Können Sie mir nun so gut wie möglich beschreiben, was Mr. Wricks an hatte, als er zuletzt verreiste – und was er an 32
Kleidern mit sich nahm. Überhaupt, eine möglichst genaue Personsbeschreibung wäre mir sehr wichtig.« James sah den Inspektor erschrocken an, warf einen hilfeflehenden Blick auf Gayfield, aber als dieser ihm ermunternd zunickte, gab er ausführlich auf alle Fragen Auskunft. Zufrieden klappte Burnes das Notizbuch zu. »Das genügt für den Augenblick, James«, sagte er sodann. »Können Sie mir noch sagen, wann der Zug, den Mr. Wricks benützte, in London eintrifft?« »Um neun Uhr vierzig, Sir«, antwortete dieser. »Teufel«, rief Burnes und warf einen erschrockenen Blick auf die Uhr, »da kommen wir zu spät – es ist gut, James, das ist alles im Augenblick.« Der Diener zog sich zurück und Burnes stürzte ans Telephon. Eine Minute später hörte Gayfield, der sich mit Genuß dem Frühstück hingab, wie er das eben erhaltene Signalement Wricks, versehen mit allen Änderungsmöglichkeiten, die die mitgenommenen Kleider gestattet hätten, mit der Weisung nach London gab, alle Stationen, Flughäfen und Schiffe nach diesem Manne zu überwachen und ihn sofort anzuhalten, wenn er auftauchen würde, da er dringendst zur Einvernahme in einem Mordfalle gebraucht werde. Aufatmend kehrte er dann zu dem Frühstück zurück und machte sich gewissenhaft, wenn auch etwas zerstreut, über die Reste her. »Vielleicht, können Sie mir etwas über unseren unfreiwilligen Gastgeber erzählen«, schlug er nach einer Weile vor, während er dem kaltgewordenen Speck den Garaus machte. »Gern«, sagte Gayfield. »Mr. Wricks erwarb vor etwa drei Monaten dieses Objekt und übersiedelte fast augenblicklich hierher. Ich habe keine Ahnung, wo er herkommt, sein Akzent deutet auf Amerika, aber ich habe kaum mehr als zwei Worte 33
mit ihm gewechselt, gerade daß wir ein paar Bemerkungen über das Wetter austauschten, wenn wir uns im Walde trafen.« »Er ging oft in den Wald?« fragte Burnes mit Interesse. »Jetzt, wo Sie danach fragen, muß ich zugeben, daß er fast immer dort herumstrolchte – es ist mir eigentlich nie aufgefallen. Dabei war seine Aufmachung alles andere als die eines Naturfreundes, er sah eher aus, als käme er direkt aus London.« »Höchst eigenartig«, sann Burnes. »Paßt zu dem Bilde, das ich mir zu machen beginne. So hatte er wenig Zeit für sein neues Heim? Sieht übrigens nicht sehr wohnlich aus.« »Es war früher wunderhübsch möbliert«, beeilte sich Gayfield den alten Herrensitz zu verteidigen. »Der Großteil der Möbel blieb auch hier, nur wenige Familienstücke nahm der junge Lord mit, als er umzog. Wo hätte er sie auch hinstellen sollen? Rosebury Castle, wo er jetzt lebt, ist bummvoll seit jeher. Am Ende haben die Möbelwagen, die ich zuweilen sah, mehr weggeschafft als gebracht? Ich dachte natürlich, Mr. Wricks komplettiere das Zurückgebliebene mit eigenem, wie dies ja in solchen Fällen üblich ist…« »Sie haben Möbelwagen bemerkt?« »Oh, recht bald nach Wricks’ Einzug kamen welche, und das wiederholte sich zuweilen.« »Haben Sie eine Ahnung von dem Kaufpreis?« »Natürlich. Wricks zahlte achttausend Pfund – davon freilich nur eintausendfünfhundert bar, der Rest ist mit vier Prozent belassen worden. Sie müssen wissen, der junge Lord brauchte das Geld nicht. Er wollte nur den Ausgabenetat durch Aufgabe eines doppelten Haushalts verringern, wie unsere Herrschaften eben in diesen schlechten Zeiten tun müssen. Der Preis ist, wie Sie wohl auf den ersten Blick sehen, eigentlich ein nomineller – aber so alte Kästen sind heute kaum verkäuflich, beinahe wertlos. Es waren auch einige ganz schöne Felder dabei und eine Waldparzelle. Ah, da fällt mir 34
ein, daß Mr. Wricks vor drei bis vier Wochen das Holz dort am Stock verkauft hat, sehr billig, aber er erhielt den Kaufpreis sofort. Die Schlägerung soll in etwa drei Wochen beginnen, der Käufer ersuchte mich, sie zu überwachen.« »Haben Sie eine Ahnung, wieviel Wricks da bekam?« »Achthundert Pfund«, sagte Gayfield beiläufig, dann stockte er plötzlich und sah Burnes betroffen an. »Für die Felder hat er ebenfalls so viel erhalten, allerdings mußte die Hälfte sofort an Lord Longsberry überwiesen werden, um die Freigabe aus dem Pfand, für das die Felder natürlich ebenfalls standen, zu erhalten. Ich weiß das genau, da ich von dem Anwalt des Lords befragt wurde, um wieviel sich das Pfand durch Abverkauf nun vermindere. Ich gelte hier als eine Art Sachverständiger. Hm, wenn er nun die guten Möbel hier verkauft haben sollte, so wird er somit seine tausendfünfhundert ziemlich zurückbekommen haben – jedenfalls, viel verliert er nicht, wenn er – nicht mehr zurückkommen sollte…« Eine Weile hingen die Männer ihren Gedanken schweigend nach. Da schrillte das Telephon. Gedankenlos nahm Burnes den Hörer ab, aber bevor er antworten konnte, hatte sich Gayfield auf ihn gestürzt und ihm denselben entrissen, gleichzeitig die freie Hand warnend an die Lippen hebend. Mißtrauisch betrachtete Burnes den gewalttätigen Forstmann, der die Muschel nun ans Ohr hielt und ihm einen triumphierend bedeutsamen Blick zuwarf. »Ah, guten Morgen, Mr. Wricks«, hörte er ihn munter in den Apparat rufen. Wie von der Tarantel gestochen, sprang Burnes an seine Seite und preßte sein Ohr an die Außenseite der Hörmuschel. Deutlich konnte er jedes Wort vernehmen. »Nanu, wer ist denn das schon wieder«, erklang eine wenig sympathische Stimme in ziemlich unverkennbar amerikanischem Slang.
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»Ich bin’s, Mr. Wricks, Gayfield, John Gayfield, der Förster von Hilligmore, wenn Sie nichts dagegen haben. Erinnern Sie sich nicht an mich, wir trafen uns gelegentlich im Wald…« »Gewiß, gewiß, Mr. Gayfield«, sagte die Stimme, und ein etwas besorgt klingender Unterton schwang mit. »Irgendwas los da oben, daß Sie im Schloß sind?« »Nichts von Bedeutung, Sir«, beschwichtigte ihn der Forstmann. »Um die Wahrheit zu sagen, ich kam nur, um dem alten James einmal guten Tag zu wünschen, und geriet ein bißchen ins Plauschen… wollten Sie ihn sprechen? Er ist eben in die Küche gegangen, wollte uns eine Tasse Tee holen, verflucht kühl heute morgen, ich hoffe, Sie nehmen es nicht übel?« »Aber nicht im mindesten, mein lieber Gayfield, lassen Sie es sich schmecken, und wenn noch etwas in der Whiskyflasche ist, so laden Sie Ihren alten Freund auf ein Gläschen ein. Ich fürchte allerdings, ich habe sie gestern erledigt. Können Sie mir den alten Burschen zum Telephon rufen?« »Gewiß, sofort, Sir, besten Dank für die Einladung, nur einen Augenblick, ich hole ihn sogleich.« Er hielt die Sprechmuschel vorsichtig zu und winkte Burnes, die Klingel zu betätigen. »Dachte es mir, daß der Halunke hier anrufen würde, um zu sehen, wie der Hase läuft«, flüsterte er. »Hallo, James«, sagte Burnes halblaut, aber eindringlich zu dem eintretenden Diener. »Hören Sie, da ist Ihr Chef am anderen Ende, lassen Sie sich ja nichts anmerken, daß hier was los ist, sonst setze ich Sie sofort ins Loch – wegen Beihilfe usw. Sie verstehen? Also hübsch aufgepaßt und keinen Ton, der meine Anwesenheit verraten könnte. Gayfield kam nur auf einen Plausch, trinkt eben eine Tasse mit Ihnen, verstanden?« Zitternd nahm der Diener das Telephon. Burnes hätte ihm am liebsten einen Tritt gegeben.
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»Ah, den Regenschirm? Werde sofort nachsehen… nein, nein, es ist alles in Ordnung – in bester Ordnung, oh, Mr. Gayfield?… Er kam nur, weil, ah, weil ich, ja, hm, ich offerierte eine Tasse Tee, die ihm sehr guttat… in der Küche?… Ja, ich war in der Küche, als das Telephon läutete, Mr. Gayfield klingelte mir dann, so kam ich nachsehen… ja, ich bin etwas außer Atem, ich lief, so schnell ich konnte… weil ich dachte, hm, ja, ich dachte eigentlich nichts, ich lief eben… ja gewiß, ich werde den Schirm nachschicken… Brüssel – Hotel Albert Premier? Sehr wohl, Sir, sofort… Sie wünschen noch einmal Mr. Gayfield? Sogleich, Sir, ich übergebe…« Aufatmend reichte James dem Genannten den Hörer. »Hallo, Gayfield«, die amerikanische Stimme klang etwas befremdet, »was ist los mit dem alten Idioten? Der bringt nur ein blödsinniges Gestotter heraus, der ist doch sonst nicht so? Also, was ist los, Mann?« »Nichts, Mr. Wricks… ich versichere…« Burnes turnte verzweifelt von einem Bein aufs andere, während er versuchte, der Konversation am Telephon zu folgen. »Also genug von dem Unsinn, heraus damit, was hat es gegeben?« Die Stimme klang recht energisch. »Keine Faxen, wenn ich bitten darf…« »Mr. Wricks, ich weiß nicht, was Sie zu der Annahme bringt…« »Hören Sie, Gayfield, Mann, ich muß für ein paar Tage dringend weg…« »Immerhin, Sir, wenn ich einen Vorschlag machen dürfte«, flötete Gayfield in seinen süßesten Tönen, »es scheint, James fühlt sich gar nicht wohl in seiner Haut, deutete auch vor Ihrem Anruf bereits an, daß er so ungern allein in dem großen Hause ist…«
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»Warum? Bis jetzt war er oft genug allein, wenn ich auswärts übernachtete – und bevor ich einzog, genauso. Also, was ist in den alten Esel gefahren?« »Ich ahne es nicht, Sir, aber ich würde sehr empfehlen, nach Hause zu kommen und allenfalls persönlich gewisse Arrangements zu treffen, die James beruhigen würden.« »Quatsch! Es steht für mich zuviel auf dem Spiel…« »Das glaub’ ich ihm aufs Wort«, murmelte Burnes. »Ich werde wegen des kindischen Angsthasen nicht eine wichtige Reise aufgeben. Er soll mir nur meinen Schirm nachschicken, habe ihn oben stehenlassen in diesem gottverlassenen Wetter; in der Jahreszeit, die man hier komischerweise Frühling zu nennen beliebt, ist es sehr lästig, ohne Schirm herumzurennen. Fahre eben nach Brüssel, also Gott befohlen… der alte Esel soll sich einen zweibeinigen Thermophor ins Bett legen, vielleicht findet sich so etwas für Geld und gute Worte in Ihrer Gegend…« Aus war es. Gayfield legte seufzend das Telephon hin und sah Burnes an. Der erwiderte den Blick in einer Weise, daß James schleunigst den Rückzug antrat. »Werde den Schirm suchen und gleich nachsenden, Hotel Albert Premier«, murmelte er. »Brüssel…« »Sie können ihn ebensogut nach Peking schicken«, schimpfte Burnes hinter ihm her. »Wenn Ihr sauberer Chef in Brüssel ankommt, so esse ich den Schirm auf trockenem Brot – ohne Butter!« Das schrille Läuten des Telephons unterbrach weitere Äußerungen, die dem jungen Beamten auf der Zunge lagen. »Jetzt ist es ohnehin egal«, sagte er bitter und ergriff den Hörer. Neugierig schlich sich Gayfield heran. »Ja, was gibt es?« fragte er, aber dann straffte sich sein Gesicht. »Richtig, ich bin es, Burnes, was ist los bei euch? Nachricht für mich?« 38
»Sagen Sie einmal, Inspektor«, ertönte eine befremdete Stimme, »was ist mit Ihnen los? Sie hetzen die ganze Polizei auf einen Mr. Wricks! Wir bekommen eben die Nachricht vom Croydon-Flughafen, daß dort in dem Elf-Uhr-Flugzeug ein Sitz für einen Herrn dieses Namens nach Brüssel gebucht ist. Wissen Sie das nicht?« »Natürlich nicht«, murrte Burnes, »aber ich kann mit gutem Gewissen versichern, daß er dort nicht mehr auftauchen wird. Immerhin, sagen Sie Ihrer dortigen Filiale, daß man ihn sofort hoppnehmen soll, wenn er doch die Frechheit haben sollte… lassen Sie sich auf alle Fälle einen Haftbefehl ausstellen und sausen Sie selbst nach Croydon – wer ist das übrigens?« »Na, Burnes, Sie erkennen meine Stimme nicht? Ich bin’s, Bertley, der alte Charles…« »Ah, Charlie«, sagte Burnes mit einer wenig begeisterten Dehnung, »hm, also passen Sie auf, falls Sie den Kerl wirklich erwischen sollten…« »Vor allem muß ich schauen, daß ich von Walter den Haftbefehl kriege, Sie wissen, er ist damit sehr sparsam…« »Sagen Sie ihm, es sei für mich, dann tut er es schon. Sie können ihm von mir ausrichten, daß ich die volle Verantwortung übernehme, es handelt sich um einen sauberen, glatten Raubmord, hören Sie? Also nehmen Sie auch ein Schießeisen mit und warten Sie damit nicht zulange, wenn es brenzlig wird. Würde mich freuen, Sie das nächste Mal noch auf diesem Planeten zu treffen. Diese Brüder aus dem Reich der unbegrenzten Möglichkeiten sind manchmal recht geschwind damit bei der Hand…« Er legte den Hörer nieder. »Ein besonderes Kamel, dieser Bertley, aber es wird ohnehin nicht dazukommen. Mit der Zeit würde es klappen, vom Yard bis nach Croydon schafft es der Polizeiwagen in vierzig Minuten, wenn es sein muß, und den Haftbefehl hat er in zehn Minuten, wenn er Walter erwischt…«
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»Sie sind in der Abteilung Walters?« fragte Gayfield in sein lautes Selbstgespräch hinein. »Ja, Sie kennen ihn?« Er blickte neugierig auf den Förster, der in tiefes Sinnen verloren stand. Was für ein seltsamer Bursche, dachte er, eigentlich großartig, wie er sich da einsetzt… der alte Walter hätte es nicht besser machen können…
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4. KAPITEL MR. BLUNT »Kann den Regenschirm nicht finden«, sagte eine klägliche Stimme, und am oberen Rande der Treppe erschien der alte James. »Ich glaube fast, Mr. Wricks besaß gar keinen, kann mich gar nicht erinnern, je einen bei ihm gesehen zu haben…« »Na, das wird ja immer besser«, lachte Burnes gut gelaunt. »Im übrigen machen Sie sich keine Sorgen. Wie gesagt, wenn Ihr Chef nach Brüssel kommt, kann man ihm nur gratulieren. Ich kann mir nicht vorstellen, wie er von dieser Insel wegkommen sollte.« Es läutete wieder, aber diesmal war es die Türglocke. James ging öffnen und kehrte eine Minute später mit einem etwas vierschrötigen Mann in ländlicher Kleidung zurück. »Mr. Blunt, unser Tierarzt«, stellte er den Ankömmling vor. Der warf einen neugierigen Blick auf den Londoner Herrn. »Guten Morgen, Gayfield«, rief er sodann fröhlich. »Also so sieht ein Vertreter unserer Sherlock-Holmes-Zentrale aus…« »Womit kann ich dienen«, fragte Burnes unwillig. »Woher wissen Sie…?« »Ah, Ihr charmanter Kollege Shrewster hat mir von Ihren Sorgen erzählt. Scheußliche Geschichte, was? Jetzt sucht er krampfhaft meinen Kollegen von der anderen Fakultät, um den armen Burschen da oben in handliche Stücke zu zerlegen, wie ich glaube. Na, ich bleibe bei meinen Ochsen, wenn es Ihnen recht ist…« Nach dieser zweideutigen Bemerkung nahm er ungeniert Platz und untersuchte sorgfältig das Geschirr auf dem Tisch nach brauchbaren Überbleibseln. »Es scheint, Mr. Shrewster vertreibt hier so eine Art gesprochener Zeitung«, bemerkte Burnes verdrossen. 41
»Aber nicht im mindesten«, sagte Mr. Blunt und strich sich die Reste der Butter auf einen Toast, der in den Maschen des Brotkorbfutters der Aufmerksamkeit Gayfields entgangen war, was ihn aber nicht vor der wesentlich gründlicheren Untersuchung durch den Medizinmann geschützt hatte. »Er erzählte mir die Geschichte, als er mich als den Fahrer des von Ihnen gesuchten Autos entlarvt hatte«, setzte er fort, nachdem er festgestellt hatte, daß sich aus dem Marmeladetopf nichts mehr herauskratzen ließ. »Er meinte, Sie wollten mich deshalb sprechen, und so rollte ich meine Kiste vor das Haus, um mich bei Ihnen zu melden und gleichzeitig ein Tröpfchen Tee zu erbitten – würden Sie da etwas machen können, James?« »Oh, mein sehr verehrter, lieber Doktor«, sagte Burnes, während James die leere Teekanne in die Küche trug. »Das ist aber reizend von Ihnen, es ist mir ein ganz besonderes Vergnügen, Ihre werte Bekanntschaft zu machen. Wie geht es Ihnen? Ein ganz abscheuliches Wetter für diese Jahreszeit, finden Sie nicht?« Er zog sich einen Stuhl heran und schien mit wärmster Teilnahme die Versuche des Arztes, einen etwas vertrockneten Bückling zu sezieren, zu verfolgen. »Ich höre, Sie hatten gestern einen besonders netten Abend da drüben in Darrow?« »Hm, ich kam gerade noch zurecht, die erste Kopfwunde zu verbinden, Sie müssen wissen, unser Arzt ist oft auswärts im Bezirk tätig, da vertrete ich ihn, was die Sterblichkeit allerdings wesentlich vermindert, wie man mir sagt. Aber ich tue es nicht gern, um die Wahrheit zu sagen. Menschliche Patienten sind meist gefährlicher zu behandeln als wilde Tiere – wenigstens in unserer Gegend würde ich lieber einem Nashorn die Polypen herausschneiden, als einem unserer Herren vom Kirchenchor ein Klistier versetzen. Sie haben keine Ahnung, was diese stillen Bürger für Kräfte zu entwickeln fähig sind, wenn man ihnen einen christlichen Samariterdienst erweisen will. Ah, da ist der Tee, James, Sie 42
retten mich vor dem Tode, dieser Fisch war schrecklich gesalzen, soweit man als Zoologe dieses Stück Leder als species piscis bezeichnen kann. Ah, nichts über eine Tasse kräftigen Tees«, sagte er aufatmend und sich den Mund wischend, »ausgenommen vielleicht ein Gläschen Whisky um diese frühe Stunde. Wie steht es damit, lieber James? Ich erinnere mich gern der guten Tropfen, die der liebe, alte Herr uns verordnete, wenn wir eine Kuh zurechtgeflickt oder ein Pferd geradegebogen hatten. Gott, der war nett und hatte zu jeder Zeit für uns arme, erfrorene Sklaven der Pflicht etwas übrig…« »Darum ließ er seinem Sohn wahrscheinlich so wenig übrig, daß dem nichts übrigblieb, als das Wirtshaus zu verlegen«, bemerkte Burnes sarkastisch. »Der neue Herr scheint da etwas weniger liquid zu sein.« »Traurig, sehr traurig«, seufzte Mr. Blunt und betrachtete elegisch das winzige Rumkännchen, das James vor ihn hingestellt hatte. »Ich bin ein ausgesprochener Anhänger innerer Massage, wie sie durch den Alkohol gefördert wird…« Burnes fand, daß man sich diesen sentimentalen Betrachtungen gebührend lange hingegeben hatte. Er hatte ja keine Eile, im Gegenteil, er hätte seinen Gast gern so lange hingehalten, bis aus Croydon Nachricht kam, ob sich Mr. Wricks dort tatsächlich zur fahrplanmäßigen Zeit eingefunden hatte, und das mochte noch eine halbe Stunde dauern. Aber er war doch auch neugierig, und bei dem Zeitlupentempo, in dem der biedere Tierarzt seine Weisheit verzapfte, konnte man nicht früh genug die Befragung beginnen. »Sie hatten auf dem Weg nach Darrow, so zwischen acht und neun, eine Begegnung?« fragte er nun. »Ja, ich glaube, ich habe mit Ihrem Mörder gesprochen. Ich meine, mit dem Manne, den Sie als Mörder verdächtigen.«
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Also auch das hatte Shrewster bereits verkündet. Immerhin, vielleicht hatte das den Guten so schnell auf die Beine gebracht. »Es liegen gewisse Anzeichen vor, die diesen Mann ernstlich belasten könnten«, sagte Burnes vorsichtig. »Es handelt sich natürlich vor allem um die näheren Umstände. Sie können uns da wertvolle Hinweise geben. Wie spielte sich die Sache ab?« »Auf die einfachste Weise der Welt«, antwortete Mister Blunt und warf dem Tablett, mit dem James eben in dem zur Küche führenden Gang entschwand, einen bedauernden Blick nach. »Auf die natürlichste Weise, die Sie sich denken können. Ich segelte da gerade gemütlich, sagen wir im 30-MeilenTempo, über die Landstraße nach Darrow – ich fahre bei solchem Wetter nie schneller, man muß sich der kranken Tierwelt erhalten –, als im Licht meiner Scheinwerfer ein Mann vortrat. Er hob bittend die Hand, und ich nahm an, er wolle mich um Mitnahme oder um Beistand bei einem Unfall bitten. Ich stoppte natürlich sofort, und er trat an die Tür heran, nachdem er mir nachgekommen war. Ich war ja, da ich wegen Schleudergefahr auf der nassen Straße nur langsam bremsen konnte, an ihm vorbeigefahren. – Ah, wo war ich stehengeblieben?« »Auf der Straße«, sagte Burnes geduldig, »auf der Straße, wenn ich Sie richtig verstanden habe, ein paar Schritte von dem Ort, wo sie jemand aufzuhalten versucht hatte.« »Genau«, sagte Blunt erfreut. »Wie gut Sie sich das gemerkt haben, man erkennt sofort das geschulte Gehirn. Bei den Tieren achtet man auf solche Auffassungsgabe natürlich nicht. Sagen Sie, haben Sie eine Hochschule besucht?« »Ganz richtig«, antwortete Burnes, der ein wenig nervös wurde und nach der Uhr zu sehen begann. »Was sagte der Mann, der Sie aufhielt?«
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»Ah, der Mann, der mich aufzuhalten versuchte? Nun, er trat an meine Tür und ich öffnete sie ein wenig. Sie müssen wissen, ich bin im allgemeinen ein Freund guter Luft, aber bei diesem scheußlichen Wetter hatte ich die Fenster des Wagens geschlossen. Ich hatte eben eine kleine Grippe überstanden. Ja, ich gebe zu, auch wir Ärzte sind gegen solche eigentlich untergeordneten Krankheiten nicht gefeit – besonders wenn wir älter werden. Ich will damit nicht sagen, daß ich mich irgendwie weniger leistungsfähig fühlen würde – aber man ist eben nicht immer zwanzig Jahre alt, und wenn einmal die Elastizität der Gewebe nachläßt – Sie verstehen, das ist eine Lieblingstheorie von mir. Also, wie gesagt – wo waren wir gerade?« »Bei dem geschlossenen Fenster«, erinnerte Burnes, der die Geduld zu verlieren begann und ärgerlich das leise Lächeln Gayfields bemerkte. »Bei dem geschlossenen Fenster?« wiederholte der Arzt verständnislos. »Oder der geöffneten Tür Ihres Wagens«, rief Burnes verzweifelt. »Ah, natürlich, ich entsinne mich, Sie wollten wissen, was dieser Mann sagte, von dem wir annahmen, daß er mich aufzuhalten versuchte, um mich zu ermorden. Stimmt. Ja, zum Teufel, was sagte er nur? Ich fürchte, ich entsinne mich nicht mehr genau des Wortlauts, aber der Sinn war, daß er mich fragte – sagen Sie, ist es wichtig, daß ich es genau wiedergebe?« »Äußerst wichtig«, versicherte Burnes, »es kann Tod und Leben davon abhängen!« Und er starrte mit brennenden Augen auf den Mann vor ihm. »Ah, in der Tat?« meinte der. »Hm, da könnte ich wegen falscher Zeugenaussage, ja sogar wegen Meineides belangt werden, wenn ich etwas Unrichtiges zu Protokoll gebe?« Er
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warf einen scheuen Blick auf das Buch, das Burnes mit gezückter Feder in der Hand hielt. »Nicht unmöglich, also bitte, erinnern Sie sich, denken Sie gut nach und nun sagen Sie mir, ich flehe Sie an, was sagte der Mann?« »Ah, wenn das so ist, Sie müssen verstehen, Mr. Burnes, ich bin, wie gesagt, nicht mehr zwanzig…« »Ich würde das auch nie behaupten«, gab Burnes bereitwillig zu. »Da ist die Elastizität der Gewebe…« »Sie sagten das bereits«, versicherte Burnes. »Und da leidet das Gedächtnis – das heißt, vielleicht leidet es nicht, wer kann das behaupten? Aber man fürchtet, daß es leidet, daß es gelitten hat, man ist unsicher, kurz, ich möchte lieber nicht sagen, was er gesagt hat. Denn wenn ich es sage und es stimmt nicht, so kann ich selbst furchtbare Sachen erleben, Kerker und so weiter, man hat da schon viel angerichtet – nein, ich glaube, ich sage lieber nichts, bevor ich Sie am Ende irreführe, ich würde mir das nie verzeihen, ich könnte einen Unschuldigen – nein, nein, lieber Inspektor, da tue ich nicht mit, mein Gewissen – Sie glauben doch an einen Gott? Sehen Sie, das ist der Fluch des Gebildeten. Die Naturwissenschaft lehrt ihn, nicht zu glauben, das Gefühl aber, wenn es dazu kommt, zwingt ihn, zu glauben… ich glaube, ich sage lieber überhaupt nichts mehr, ich fürchte, ich habe ohnehin schon viel zuviel gesagt…« »Das jedenfalls«, brach Burnes los. »Aber jetzt vergessen Sie den ganzen Unsinn, den ich in Geduld eine Stunde lang angehört habe, und sagen Sie mir klipp und klar, nach bestem Wissen und Gewissen, was der Mann da unten zu Ihnen gesagt hat, oder ich – oder ich…« »Inspektor«, würdevoll erhob sich Dr. Blunt, »ich lehne es ab, unter Drohungen auszusagen. Wir leben in einem freien Lande. Nichts in der Welt wird mich zwingen, noch einmal den 46
Mund in Ihrer Gegenwart aufzutun. Ich bedaure, hierhergekommen zu sein, beredet von einem braven Beamten, der gewiß seine Pflicht zu tun glaubte, als er mich in die Fänge eines verschlagenen Polizeispitzels, eines brutalen Polizeibüttels, eines rohen Folterknechtes von mittelalterlichem Gehaben jagte! Ich lehne diese Art ungebildeter Inquisition ab, sie ist gegen die Menschenwürde, gegen unsere Parlamentsakte, gegen die vom König beschworene Freiheit des Individuums, gegen die HabeasCorpus-Edikte, gegen jedes menschliche und göttliche Gesetz… leben Sie wohl…« Während Burnes einem Schlaganfall nahe zu sein schien, trat Gayfield an die Seite des empörten Mannes der Wissenschaft. »Diese Jugend von heute«, sagte er mißbilligend, »mein lieber Doktor, wer kann sie ernst nehmen? Es ist unter Ihrer Würde, sich darüber zu erregen. Ich stimme Ihnen völlig bei, es ist einfach lächerlich, was sich diese jungen Herren heute erlauben…« »Es ist absurd«, erklärte Mr. Blunt, mit einem verächtlichen Blick auf Burnes. »Es ist unverständlich«, bestätigte Gayfield und trachtete, dem wutbebenden Inspektor hinter dem Rücken des Tierarztes einen beschwichtigenden Blick zuzuwerfen. »So ein Theater wegen einer ganz harmlosen, nebensächlichen Angelegenheit, die höchstwahrscheinlich mit der ganzen traurigen Affäre nichts zu hat. Im übrigen weiß ich genau, was der Mann wollte, als er zum Wagen trat und fragte: ›Mr. van Raan, wenn ich nicht irre?‹.« »Nein«, korrigierte Dr. Blunt kategorisch, »er fragte ganz deutlich, ich kann es vor jedem Richter beschwören: ›Hallo, Mr. van Raan, darf ich bitten?‹.«
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»Ah«, sagte Gayfield, während Burnes’ Bleistift über das Papier raste, »so war es? Wie interessant – ich kann mir denken, daß Sie überrascht waren?« »Nicht allzusehr, um die Wahrheit zu sagen«, gestand Mr. Blunt und setzte sich wieder. »Glauben Sie, Sie könnten James dazubringen, nachzusehen, ob etwas Gin im Hause ist? Um offen zu sein, ich kann mir nicht denken, daß der Besitzer eines solchen Herrensitzes nicht einen Gin im Kasten haben sollte… Ein paar Tropfen Lime oder Orange Juice werden sicher in der Küche sein, die braucht man ja schon zum Kochen für einen besseren Pudding – wollen Sie es nicht versuchen? Ich bin ganz ausgetrocknet im Halse. Wovon das nur kommen mag? Ich rede ohnehin so wenig wie möglich, weil ich so leicht diese gewisse Trockenheit verspüre, die oft der Vorbote eines Schnupfens wird! Wenn die Schleimhäute austrocknen, dann haben die Bakterien leichtes Spiel, sich in die kleinen Risse und Fältchen einzunisten, besonders wenn sie nicht sofort vom Speichelfluß weggeschwemmt werden. Ich habe da einmal eine hochinteressante Abhandlung gelesen, ich wollte sogar einmal in einer unserer lokalen Versammlungen zwecks ärztlicher Beratung darüber vortragen – aber unser Doktor ist so eifersüchtig, seine armen Patienten soll ich ihm natürlich abnehmen, aber im übrigen versteht er keinen Spaß, ein ausgesprochen unangenehmer Kollege… da habe ich es dann aufgegeben.« »Ah, James«, sagte er nun zu dem Diener, den Gayfield indessen herangeläutet hatte, »wie wäre es mit einem kleinen Aperitif, ich denke, ein Glas Gin und Lime wäre gar nicht unangebracht um diese Stunde…« James nickte lächelnd und verschwand. »Ja, diese netten alten Leute, die haben noch etwas von der guten, alten Lebensart bewahrt. Ah, Mr. Burnes, ich glaube, wir sprachen von irgend etwas, oh – richtig, Sie wollten wissen, was ich dem Manne antwortete, als er mich fragte, ob 48
ich Mr. van Raan sei? Lassen Sie mich nachdenken… einen Augenblick…« »Bitte, bemühen Sie sich nicht, Mr. Blunt«, sagte Burnes mit größter Höflichkeit. »Es ist völlig belanglos, was Sie sagten. Ich darf wohl annehmen, daß Sie darauf verzichteten, sich als der Gesuchte auszugeben? Diese bewunderungswürdige Aufrichtigkeit hat Ihr Leben gerettet. Sie sehen, jede gute Tat wird belohnt. Wenn Sie mit einem schlichten Ja geantwortet hätten, würden Sie den Rest Ihres Lebens in einem kalten Grab verbringen, wie der arme Teufel da oben im Wald, von dem Ihnen unser braver Shrewster erzählt hat – das glaube ich Ihnen versichern zu können. Nun, da kommt Ihr Gin and Lime, wünsche guten Appetit…« Das Läuten des Telephons unterbrach weitere Sarkasmen, zu denen Burnes nicht übel Lust zu haben schien. Mit der gleichen Hast, mit der sich Mr. Blunt seinem Getränk zuwandte, stürzte sich Burnes auf den Apparat. »Was, Sie haben ihn?« brüllte er einen Augenblick später. »Ist es die Möglichkeit? Charlie, ich habe es immer gewußt, an Ihnen ist uns ein Napoleon verlorengegangen! Wenn wir mit unseren Zwölfzöllern einmal nicht durch die feindlichen Panzer kommen, werde ich anregen, daß die Admiralität Ihren Kopf nehmen soll, so einen Kopf gibt es ja gar nicht mehr… Was, er hat sich ganz ruhig mitnehmen lassen?… Immerhin, zuerst wollte er nichts davon wissen… hat dem Vogel mit großem Bedauern nachgesehen? Das kann ich mir vorstellen! Wo ist er aber jetzt, während Sie mir Ihre Triumphgesänge vorsetzen… er steht draußen, ein Bobby an seiner Seite? Charlie, nehmen Sie drei Bobbies und zwei Pistolen, wenn Sie ihn zu mir bringen, denn wenn er Ihnen durch die Lappen geht, erwürge ich Sie mit meinen eigenen Händen, ich flehe Sie an, passen Sie auf… ja, natürlich, kommen Sie sofort mit ihm heraus, er dürfte den Weg kennen, aber lassen Sie sich nicht von ihm hineinlegen – Gott befohlen, alter Junge.« 49
Mit leuchtenden Augen legte Burnes den Hörer nieder. »Gayfield, was sagen Sie, sie haben ihn richtig erwischt! – James, ich bitte Sie tausendmal um Entschuldigung, Sie haben Ihre Rolle fabelhaft gespielt, Mr. Wricks hat gar nichts gemerkt, im Gegenteil, er ist uns glatt hereingefallen und ins Netz spaziert… er kommt heraus… Gayfield, die Sache scheint sehr viel einfacher zu liegen und viel glatter zu gehen, als wir ahnen konnten…« »Ich glaube nun eher an das Gegenteil«, sagte Gayfield und versuchte Mr. Blunt die Ginflasche zu entwinden. »Je leichter so etwas am Anfang geht, um so schwerer geht es am Ende.« Das war so ziemlich das richtigste, was an diesem Morgen gesagt worden war.
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5. KAPITEL DER SCHLOSSHERR Gayfield und Burnes wurden nach einigen Stunden, die sie in den wenig bequemen Fauteuils in der Halle zu verschlafen versucht hatten, durch ein kräftiges Hupen geweckt. Kurz darauf ließ James mit allen Zeichen vertraulichen Respekts einen etwas kurz gewachsenen Mann von etwa vierzig Jahren ein; diesem folgte ein recht imposanter Hüne ungefähr gleichen Alters, auf dessen fröhlicher Stirn eine gehörige Portion Selbstbewußtsein zu lesen war. Gayfield erhob sich schnell: »Ah, Mr. Wricks«, versuchte er eine möglichst unbefangene Begrüßung in die Wege zu leiten, aber da kam er nicht weit. »Was ist das für ein verdammtes Versteckspiel«, zankte der Angeredete. »Ich habe ohnehin am Telephon gefragt, was hier los ist, da war es bei Gott nicht nötig, mir Ihre verdammten Polizeidoggen nachzuhetzen. Hätten Sie mir nicht gleich diese infernale Geschichte erzählen können?« »Wieso vermuteten Sie denn, daß etwas los sei und riefen überhaupt an?« fragte Burnes, der sich ebenfalls erhob und den Ankömmling eingehend ins Auge faßte. »Mein Name ist Burnes, ich bin von Scotland Yard mit der Aufklärung eines Mordes betraut, der sich hier unter sehr eigenartigen Umständen abgespielt hat. Sind Sie bereit, meine Fragen zu beantworten?« »Wird mir ein Vergnügen sein«, war die wenig überzeugend klingende Antwort. »Daß etwas los war, erriet ich aus der ungewöhnlichen Anwesenheit Gayfields. Daraus schloß ich unwillkürlich, daß im Walde etwas vorgefallen war, was das Schloß oder mich betraf und was die alten Schwatzbolde nun in 51
meiner Abwesenheit bequatschen mußten. Außerdem klang das Gefasel, das James hervorstotterte, so, daß ich schon glaubte, er spreche aus dem Grabe. Dumm genug, daß ich diesem Ehrenmann trotzdem glaubte, es sei alles in Ordnung«, Gayfield bekam einen höchst ungnädigen Blick ab, »und meine Reise fortsetzte.« »Ich wollte Sie am Telephon nicht mit einer Erzählung der grauenhaften Sache aufregen, von der ich natürlich vermute, daß Sie nur in sehr entfernter Weise mit ihr zu tun haben. Aber Sie werden sich erinnern, daß ich dringend Ihre Rückkehr empfahl…«, wagte Gayfield einzuwerfen. »Mit einer Begründung, die natürlich nicht angetan war, mich zum Abbruch einer dringenden Reise zu bewegen.« »Sie haben mir noch nicht gesagt, was Sie zu dem Telephongespräch und zu ihrer Besorgnis veranlaßte«, erinnerte Burnes. »Das ist doch sonnenklar. Erstens wollte ich James anstandshalber sagen, daß ich ein paar Tage fern sein würde, damit ihn mein Ausbleiben nicht beunruhige – und dann hatte ich meinen Regenschirm vergessen, den ich nachgeschickt haben wollte, hat er Ihnen das nicht gesagt?« »Aber gewiß hat er das, aber er fügte hinzu, daß Sie einen solchen gar nicht besäßen…« »Teufel«, sagte Wricks, »daran dachte ich gar… ah, ich meine, hm, natürlich, jetzt, da wir davon sprechen, fällt mir ein, daß ich ihn irgendwo stehengelassen haben muß, ich vergaß ganz, daß jetzt gar keiner da ist…« »Äußerst merkwürdig.« Burnes runzelte die Brauen, während er dies welterschütternde Ereignis in seinem Buch verewigte. »Was wollen Sie damit sagen«, begehrte Wricks auf. »Daß es mir den Eindruck macht, diese Regenschirmsache diente nur als Vorwand zu dem Telephongespräch, mit dem Sie
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sich vor Ihrer – hm, Abreise vergewissern wollten, wie eine gewisse Sache hier stand…« »Was für eine gewisse Sache?« knurrte Wricks. »Wir kommen eben dazu.« Burnes nahm Platz. »Wollen Sie sich nicht auch setzen?« sagte er menschenfreundlich. »Es wird einige Zeit dauern, bis wir miteinander fertig sein werden.« Verdrießlich zog Wricks einen Stuhl heran. Auch Bertley, der sich indessen mit Gayfield bekannt gemacht hatte, setzte sich mit diesem in die Nähe. Beide verfolgten aufmerksam die immer schärfer werdende Konversation. »Ich habe Zeit«, sagte Wricks unwirsch, »also schießen Sie los und sagen Sie mir vor allem, was da wirklich alles passiert ist, kaum daß ich den Rücken drehe. Ihr lieber Kollege da drüben erging sich nur in vagen Andeutungen.« »Ich denke, es wird gescheiter sein, Sie erzählen zuerst einmal mir einiges«, widersprach Burnes, »zum Beispiel würde ich gerne wissen, was Sie gestern alles getrieben haben.« »Ah«, sagte Wricks, »gestern…« Es klang, als handelte es sich um eine längst entschwundene Zeit, an die er sich nur mühsam erinnern konnte. »Ah, ja. Gestern. Also wie war das? Soviel ich mich entsinnen kann, verließ ich am Morgen das Haus und fuhr nach London. Ich bummelte dort herum, so zwischen einem Glas Port, als ich ankam, und einem niederträchtigen Lunch, der mir bitteres Heimweh nach unseren New-Yorker Beefsteaks verursachte. Dann trank ich Kaffee. Apropos Kaffee, hatten Sie ein anständiges Frühstück?« »James versorgte uns in vollkommen ausreichender Weise«, beruhigte Burnes seinen besorgten Wirt. »Das ist gescheit.« Wricks erhob sich und betätigte die Klingel. »Ich glaube, es ist bald Essenszeit, man muß vor allem den leiblichen Bedarf sicherstellen. Ah, James. Ich fürchte, die Herren schenken uns die Ehre, den Lunch hier einzunehmen. Es scheint, wir sind vier, aber draußen sind noch zwei Beamte 53
im Auto, das uns hergebracht hat, das wären sechs, dazu kommen Sie – ich denke, Sie heizen ein wenig im kleinen Eßzimmer, was meinen Sie? Dort könnte ich mit den drei Herren hier speisen und Sie laden die beiden Beamten draußen zu sich ein. Wie steht es mit den Futtermitteln?« »Ich war, nachdem ich die Anordnungen des Herrn Inspektors vernommen hatte, auf die Eventualität gefaßt«, berichtete James, »und habe für vier Herren alles besorgt und vorgerichtet, da ich annahm, daß Begleitung mitkommen würde. Allerdings war ich nicht auf diese gefaßt. Ich würde mir daher den Vorschlag gestatten, die beiden Herren draußen, für die es bestimmt nicht reichen würde, ins Gasthaus zu bitten. Ich werde telephonisch einen Lunch sicherstellen, der gewiß die Zufriedenheit unserer Gäste finden wird.« »Ausgezeichnete Idee«, lobte Wricks. »Schicken Sie die zwei Halunken draußen ins Gasthaus, sie können in einer Stunde wieder hier sein. So lange wird unser Festmahl inklusive der zu erwartenden Tischgespräche gewiß dauern. Einverstanden, Inspektor?« Burnes warf einen Blick in die Runde. Die Gegenwart des muskulösen Bertley und des anscheinend auf seiner Seite stehenden Jägersmannes erschien ihm als ausreichende Sicherheit zur Bändigung seines unzuverlässigen Gegenübers. So nickte er zustimmend. »Also, das wäre erledigt«, fuhr der Hausherr fort. »Nun könnte ich einen Tropfen vertragen, die Zeit für einen Aperitif ist gekommen. Ich habe mit Mr. Bertleys gütiger Einwilligung auf der Herfahrt ein paar Flaschen besorgt«, beruhigte er James’ verlegenes Lächeln, »Sie finden sie im Auto, schlachten Sie vorerst einmal den Portwein, den Whisky wollen wir nach dem Essen versuchen, abgemacht?« Niemand widersprach, aber auf den Gesichtern Gayfields und Bertleys schien eine gewisse Entspannung einzutreten. Nur Burnes blieb unbewegt, im Gegenteil, es schien, als gehe ihm 54
diese langatmige Vorbesprechung kommender kulinarischer Belange auf die Nerven. Kaum, daß James sich zurückgezogen hatte, begann er wieder mit strenger Amtsmiene: »Wollen Sie nicht Ihren Bericht über Ihre gestrige Tätigkeit fortsetzen?« »Gewiß«, beeilte sich Mr. Wricks zu versichern. »Ah, ja, ich sagte, daß ich nach dem Lunch einen Kaffee nahm.« »Stimmt«, bestätigte Burnes mit einem Blick in das Notizbuch. »Ah«, sagte Wricks, »er war auch miserabel, aber das tut nichts zur Sache. Hm, was tat ich dann? Ich glaube, ich ging in eines von diesen Kinos, das irgendwelche Kriminalfilme spielt – welches war es doch? Teufel, kann mich nicht erinnern, ich glaube, ich habe gar nicht auf den Namen geachtet…« »Auch nicht auf die Handlung?« versuchte Burnes geistreich zu sein. »Um die Wahrheit zu sagen«, gestand Wricks, »nicht allzusehr. Immerhin, es verging die Zeit, und als ich herauskam, begann es dunkel zu werden. Ich beschloß, nach Hause zu fahren, da es aber noch gut eine Stunde bis zu meinem Zug war, trat ich einen kleinen Bummel an und landete zwischendurch in irgendeinem Lokal, wo ich mich mit einem harmlosen Tröpfchen stärken wollte. Dort hatten sie gerade so ein Wurfspiel im Gang, dieses verdammte ›Darts‹, das ist ja hier eine Nationalepidemie. Dabei kam es zu Streitereien, und irgendwie wurde ich hineingezogen, da ich der einzige war, der nicht mitgespielt hatte und so den Eindruck des Unparteiischen machte. Da ich nicht viel von dem Zeug verstand, ließ ich es mir zuerst erklären, dabei mußte ich selbst eine Partie mitspielen, schließlich vergaß man den Streit und erinnerte sich nicht mehr, worum es sich eigentlich gehandelt hatte. Ich spielte weiter und verlor ein ganz nettes Sümmchen, was die Stimmung wesentlich zu heben schien. Es gab mehrere Drinks, als ich plötzlich im Spiel bemerkte, daß 55
ich darüber meinen Zug vergessen und versäumt hatte. Ich war natürlich etwas ärgerlich und wollte schnell weg. Ah, ich vergaß etwas zu erwähnen: In der Zeitung hatte ich während des Mittagessens von einer Auktion in Brüssel gelesen, unter anderem, daß dort ein Ruisdael verkauft werden solle. Ich liebe diesen Maler über alles und beschloß, hinzufahren und das Bild zu ersteigern. Ich entschied mich, vorher nach Hause zu fahren, um das nötige Gepäck für eine mehrtägige Abwesenheit zusammenzusuchen – darum war ich nun besorgt, ich könnte den letzten Zug versäumen. Es gab einen ziemlichen Wirbel, als ich die endlose Partie abbrechen wollte. Schließlich beruhigten sich meine Partner, als ich gutwillig den Einsatz als verfallen erklärte, man besorgte mir ein Taxi, und ich erwischte richtig noch meinen Zug und kam gegen halb elf hier an. James war sogar noch auf und brachte mir ein Nachtmahl. Ich bat ihn, mich um fünf zu wecken, da ich den ersten Zug erreichen wollte, um das Flugzeug, für das ich in London schon einen Sitz belegt hatte, zu erwischen. Soweit ging auch alles programmgemäß, und ich würde vermutlich nun im lieben Albert Premier bei einem Dutzend Austern oder Escargots vinaigrettes und einem Chablis sitzen, wenn mich Ihr famoser Mr. Bertley nicht im letzten Moment aufgehalten und in diese reizende Gegend zurückgeschleppt hätte.« Und mit elegischer Miene schenkte sich Mr. Wricks eine ausgiebige Portion Port ein, den James indessen samt den dazugehörigen Gläsern vor ihm aufgebaut hatte. Er versorgte auch seine Gäste mit dem erquickenden Naß und stürzte den Inhalt seines Glases mit erheblichem Glucksen die Kehle hinab. Burnes sah mit Interesse diesem Treiben zu. Er warf noch einen Blick auf seine Aufzeichnungen, nahm einen Schluck und sagte: »Sie haben also im allgemeinen einen ganz netten Nachmittag erlebt. Es würde mich interessieren, ob Sie nicht 56
irgendeine Verabredung hatten, die nicht ganz im Einklang mit diesem Programm stand?« Wricks setzte die Flasche, die er gerade zum Nachschenken erhoben hatte, mit einem Krach hin. »Himmeldonnerwetter«, sagte er, »am Ende…« »Nun?« »Am Ende ist dieser idiotische Juwelier richtig herausgekommen und das, das hängt mit der Mordgeschichte – – hol mich der und jener…« »Keine Sorge, zu seiner Zeit wird das bestimmt erfolgen«, versicherte ihm Burnes zuversichtlich. »Im Augenblick möchten wir uns mit dieser Angelegenheit befassen. Was ist das für eine Sache mit dem Juwelier, die Sie da angeschnitten haben?« »Ach, hol’s der Teufel«, fluchte Wricks, »habe darauf wie auf den Tod vergessen… Ah, wie war das nur? Hm, ist nicht leicht zu erzählen, es ist da auch jemand dabei, den ich nicht bloßstellen… ah, beim Satan, das wird eine verdammte Sache – hören Sie, bevor ich ein Wort weiter sage, muß ich wissen, ob es wirklich damit zusammenhängt; ist diesem, wie hieß er doch? Ah, ja, ist diesem van Raan am Ende etwas passiert?« »Jan van Raan liegt ermordet in seinem Auto im Wald, keine Meile von Ihrem Schloß entfernt«, sagte Burnes mit tiefem Ernst. »Was wissen Sie darüber?« »Heiliger Gott«, schrie Wricks, »und das sagen Sie mir erst jetzt? Na, das ist eine schöne Geschichte…« »Ich würde das nicht so nennen, Mr. Wricks, wenn ich an Ihrer Stelle wäre«, empfahl Burnes ihm mit gefurchter Stirne. »Ein Mord ist alles andere als eine ›schöne Geschichte‹. Nun, noch einmal, aber bitte ohne Umschweife: Was wissen Sie darüber?« »Verdammt wenig, wenn Sie es genau nehmen, Inspektor«, sagte Wricks, aber er wischte sich dabei den Schweiß von der Stirne. »Bin unschuldig wie ein weißes Lämmchen, ich 57
schwöre es Ihnen. Das heißt, ganz unschuldig – immerhin, vielleicht bin ich die Veranlassung zu seinem Tod, es ist zum Haareausreißen…« »Das verlange ich gar nicht von Ihnen, ich möchte nur wissen, was Sie mit der Sache zu tun haben…« »Ich komme ja schon dazu«, versprach Wricks. »Aber ich suche einen Weg, den Ruf der Dame zu schonen…« »Hören Sie mit dem Unsinn auf«, sagte Burnes energisch, »dieses Gefasel ist vollkommen zwecklos. Jeder Mensch in der Gegend weiß natürlich, daß Sie in letzter Zeit Damenbesuch hatten – was ist da auch schon dabei? Also, heraus mit der Sprache, wie war das?« »Schön, Inspektor, Sie sollen alles wissen. Ich rechne auf Ihre Diskretion, obgleich das verfluchte Frauenzimmer die meine gar nicht verdient. Ein ausgesprochenes Mistvieh, wenn Sie mich fragen, aber immerhin, Gentleman ist Gentleman, Sie verstehen?« »Kein Wort«, erklärte Burnes. »Was hat es gegeben?« »Einen Krach«, sagte Wricks, »zwischen mir und einem süßen Geschöpf, das ich in einem Kino, nein, warten Sie, wie war das? Ah, ich lernte sie bei einem Anwalt kennen, wenn ich mich nicht täusche, wo sie Tippmamsell war, oder wie Sie das nun nennen wollen. Also, ich verliebte mich in den verwünschten Fratzen über beide Ohren – kann nicht behaupten, daß es auf Gegenseitigkeit beruhte, aber das bin ich bei meinem Äußeren und meinen Jahren ja schon einigermaßen gewöhnt. Da muß die eigene Schönheit durch die von passenden Geschenken ergänzt werden, nicht wahr? Na, ich versuchte es auch in der Richtung, Parfüm, Blumen, Bonbons, Theaterkarten, Kino natürlich, Dinners und Tees dansants, keine Ungezogenheit hat sie ausgelassen. Aber es kam zu nichts Rechtem, wenn Sie wissen, was ich damit meine?« »Ich kann es mir vorstellen«, sagte Burnes trocken.
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»Hm. Also wissen Sie, da bekam ich eine besonders dumme Idee. Als wir einmal vor der Auslage eines Juweliers vorbeikamen, blieb die kleine Kanaille stehen, starrte mit dem gewissen traumverlorenen Blick auf den dicksten Brillanten und erwähnte, daß sie in einigen Tagen Geburtstag habe. Also so eine Frechheit! Deutlicher kann man nicht. Na, ich bin nicht ganz auf den Kopf gefallen und antwortete, daß sich das herrlich treffe, da auch ich den meinen in einigen Tagen feiern werde. Unter uns gesagt, das war natürlich nicht wahr – nur so eine Art Schachzug, Sie verstehen? Eine strategische Wendung…« »Könnten Sie diese, unter uns gesagt, recht alltägliche Geschichte nicht ein bißchen kürzer fassen?« schlug Burnes vor. »Wir sind gleich damit zu Ende«, versicherte Wricks. »Also kurz, ich äußerte den Gedanken, unsere Geburtstage gemeinsam auf meinem Landsitz zu feiern, und versprach ihr etwas Hübsches aus dem verdammten Affenkasten als Geburtstagsgeschenk. Ich glaube, ich war recht deutlich über das Gegengeschenk, das ich zu meinem Geburtstag dafür erwartete. Sie zeigte sich gar nicht ablehnend, wir marschierten einträchtig hinein und besahen den ganzen Quark. Ich machte van Raan, der uns persönlich bediente, einige Andeutungen über den Zweck des Besuches und meinen materiellen Hintergrund. Er zeigte sich sehr interessiert – ich meine, nicht an meinem Liebesproblem, sondern an dem Geschäftlichen, und da ich mich natürlich so ohne weiteres nicht zu einem Kauf entschließen wollte, ohne zumindest gewisse Garantien über das Gegengeschäft zu haben, vereinbarten wir, daß er an einem Abend zu uns herauskommen und ein paar nette Sachen zum Aussuchen mitbringen solle. Als Termin wurde der Vorabend des Geburtstages besprochen. Van Raan schlug vor, er werde nach Geschäftsschluß von London wegfahren, den Abend und die Nacht bei uns verbringen und in aller Frühe die 59
Rückreise antreten, um möglichst bei Geschäftsbeginn wieder in seinem Atelier zu sein. Ich erklärte ihm den Weg, und ich glaube, ich sagte, daß ich oder ein Diener ihn auf der Hauptstraße erwarten würde, um ihn dann durch den Wald heraufzuführen, damit er in der Nacht nicht einen unrichtigen Weg nehme. Nun, ich denke, wir vereinbarten noch, daß ich telephonieren wollte, wenn etwas dazwischenkäme, oder ich sagte, ich würde telephonieren, wenn es dabei bliebe – ich weiß es nicht mehr so genau. Jedenfalls nahm ich an, er werde nur dann kommen, wenn wir das noch einmal, zumindest per Telephon, besprochen hätten. Nun ist dieser Unglücksmensch also richtig, ohne vorher noch einmal anzufragen, herausgegondelt, und dabei hat ihn der Teufel geholt! Eine verdammte Sache…« »Sie drücken das zwar nicht in passender, aber in äußerst treffender Form aus, Mr. Wricks«, sprach Burnes finster. »Und wir versuchen nun, diesen Teufel, der ihn holte, herauszufinden. Ich kann Ihnen nur raten, uns dabei die reine Wahrheit zu sagen und so ausführlich wie möglich zu sein – womit ich Sie aber nicht ermutigen möchte, uns mit allerlei Geschwätz aufzuhalten. Wollen Sie mir nun verraten, was sich sonst abgespielt hat, daß der Besuch des Juweliers so total Ihrem Gedächtnis entschwand? Ich kann nicht annehmen, daß ein Mann wie van Raan für fünfzigtausend Pfund Juwelen in einem einsamen Wald spazierenführt, wenn nicht ganz konkrete Abmachungen vorlagen, die ihn dazu verlockten.« »Fünfzigtausend Pfund?« brüllte Wricks. »Sind Sie total übergeschnappt? Und damit fährt dieses Kamel aufs Geratewohl los? Es ist fast unfaßlich, wie unvorsichtig unsere Kaufleute werden, wenn sie ein Geschäft erhoffen! Da wundert man sich, wenn dann etwas passiert. Sicher hat er herumgeschwätzt, mit dem Riesengewinn geprahlt, den er von einem verrückten Amerikaner, für den er mich anscheinend hielt, erwartete. Gott weiß, was Ann ihm für Bären über mich 60
aufgebunden hat – hol sie der Teufel! Und das hat jemand gehört und ihm eine Falle gestellt, in die er hineingerumpelt ist! Jetzt habe ich die Scherereien! Burnes, Sie müssen den Kerl herausfinden, der das angestellt hat – ich habe sonst keine ruhige Minute mehr…« »Das kann ich Ihnen versprechen«, sagte Burnes, »ich meine, daß Sie bis dahin keine ruhige Minute haben werden, dafür werde ich schon sorgen. Was also hat sich vor dem Besuch des armen van Raan hier abgespielt?« »Ah«, sagte Wricks nicht ohne Verlegenheit, »hm, das war so eine Sache. Sehen Sie, ich erwartete von Ann, daß sie mir hier ein wenig entgegenkommen würde, bevor ich in den Beutel greifen sollte. Sie schien das Gegenteil vorzuhaben, so kam es zu erheblichen Differenzen vor ihrer Schlafzimmertür. Schließlich gab es so etwas wie einen Krach, da keiner dem andern recht traute, seinen Teil des Geschäftes auch ehrlich einzuhalten. Es wäre ja auch eine Abwicklung Zug um Zug schwer denkbar gewesen – in Anwesenheit des Juweliers, mit dem ich ja keinesfalls abgeschlossen hätte, bevor nicht – hm, Sie verstehen. Auch wenn ich den Schmuck bei Nichterfüllung der Gegenlieferung zurückbehalten hätte, so wäre doch der Unterschied des Anschaffungspreises und des eventuell zu erzielenden Erlöses bei Nichtverwendung und späterem Weiterverkauf ausschließlich zu meinen Lasten gegangen…« »Sie huldigen ausgesprochen soliden kaufmännischen Grundsätzen«, anerkannte Burnes. »Also, ich verstehe. Ihre holde Ann wurde mit Ihnen betreffs Effektuierung der geplanten Transaktion nicht handelseins, sie reiste ab, wie ich bereits erfahren habe. Warum sagten Sie van Raan nicht ab?« Wricks’ etwas gewöhnliche Züge bekamen einen beinahe vergeistigten Ausdruck. »Sehen Sie, mein lieber Inspektor«, sagte er melancholisch, »das ist eben mein Unglück. Ich bin gar nicht der harte, verbissene Handelsmann – im Grunde bin ich ein weicher 61
Schwärmer, den zarten Regungen und Gefühlen meines Herzens hilflos ausgeliefert.« Burnes konnte bei diesem Selbstporträt das Lachen kaum verbeißen, wogegen Bertley einfach laut herausplatzte und Gayfield ein Schmunzeln nicht unterdrücken konnte. »Ich weiß nicht, Bertley, was Ihre dem traurigen Gegenstande so wenig angemessene Heiterkeit für eine Ursache hat?« fragte Wricks indigniert. »Diese jungen Leute sollte man mit so ernsten Aufgaben gar nicht betrauen. Sie sind ausgesprochen taktlos, um es milde auszudrücken. Also, wie gesagt, ich war tief getroffen durch den Beweis kalter Berechnung und völliger Herzlosigkeit, der die schöne Schale eines so gefühllosen Inneren als meiner selbstlosen Neigung unwürdig brandmarkte. In meinem aufrichtigen Herzenskummer vergaß ich alles andere. Wie ich schon schilderte, versuchte ich im Trubel der Großstadt Trost und Zerstreuung zu finden. Und nun finde ich eine Leiche – es ist herzzerbrechend.« Wricks zog ein Taschentuch, das er aber nur an seine zuckenden Lippen führte, wobei er gespannt die Wirkung seiner Worte auf seine Umgebung zu beobachten schien. Burnes zeigte sich wenig beeindruckt. »Also mit einem Wort, Sie wollen behaupten, daß Sie sich der Abmachung mit van Raan nicht mehr erinnerten, beziehungsweise sie vergaßen?« »Ich muß noch ausdrücklich erwähnen, daß meine Begleiterin im Laden mit van Raan das große Wort geführt hatte, sie traf alle Abmachungen und Vereinbarungen – so wußte ich schließlich wirklich nicht, was sie ausgemacht hatten – und Sie können sich denken, daß ich im Augenblick des dramatischen Endes unserer Beziehungen nicht daran dachte, sie danach zu fragen.« Das klang immerhin nicht so unwahrscheinlich, wie sich Burnes gestehen mußte. Eine verzwickte Geschichte. Eine 62
kleine Pause folgte, in der Burnes das Gehörte abzuwiegen und zu beurteilen schien. »Mein lieber Gayfield«, sagte er sodann, »würden Sie so lieb sein und versuchen, Mr. Blunt zu erreichen? Ich lasse ihn bitten, nach dem Essen herauszukommen. Darf ich ihn zum schwarzen Kaffee bitten, Mr. Wricks, es ist Ihr Tierarzt, ich würde Sie gern bekanntmachen…« »Es wird mir ein Vergnügen sein«, sagte Wricks mit unverhohlener Verwunderung, während er sich erhob, da gerade James die Türe öffnete und zu erkennen gab, daß das Essen serviert war. »Dürfen wir nun ein paar Bissen zu uns nehmen? Kommen Sie, meine Herren«, und er führte seine Gäste in ein nettes, wenn auch recht schäbig eingerichtetes kleines Eßzimmer.
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6. KAPITEL SCHWARZER KAFFEE IN HILLIGMORE Zu behaupten, daß das nun folgende Mahl kurzweilig war, wäre eine starke Übertreibung. Auch war die Kochkunst des braven James gewiß nicht ganz im Einklang mit seinem guten Willen. Immerhin, auch dies ging irgendwie vorbei. Jeder schien seinen Gedanken nachzuhängen, bis Mr. Wricks die Tafel aufhob und man sich in die Halle zurückbegab. Burnes ließ sich mit einem leichten Seufzer in seinen Sessel fallen und gab Wricks zu verstehen, daß er die Unterhaltung fortzusetzen wünsche. Wricks zündete sich umständlich eine Zigarre an und setzte sich gegenüber, rechts und links von ihm nahmen Bertley und Gayfield Platz. Diese Manöver schienen Wricks zu beunruhigen. »Nun, Inspektor«, begann er, »es scheint, Sie haben noch etwas auf dem Herzen, wollen Sie sich nicht durch eine offene Aussprache erleichtern?« »Diesen Vorschlag wollte ich gerade Ihnen machen«, erwiderte Burnes. »Die Geschichte schaut für Sie böse aus.« »Für mich?« versuchte Wricks mit der Miene eines neugeborenen Babys. »Genau. Wen würden Sie an meiner Stelle des Mordes – nach den bisherigen Ergebnissen – verdächtigen?« »Ah«, sagte Wricks, »ich fürchte, Sie werden eine ganze Menge Leute in Betracht ziehen müssen… Es wird nicht leicht sein, den Richtigen zu finden – aber ich vertraue auf Ihren Scharfsinn…« »Sehr schmeichelhaft, Mr. Wricks, Ihr Vertrauen ehrt mich – wollen Sie mir diese Aufgabe erleichtern?«
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»Mit dem größten Vergnügen – aber ich glaube, ich kann nichts mehr dazu beitragen…« »Oh, sogar die Hauptsache«, sagte Burnes einladend. »Beispielsweise ein freimütiges Geständnis…« »Ah«, sagte Wricks ohne jedes Zeichen der Überraschung, »ich erwartete diesen netten Vorschlag von Ihnen schon lange. Aber, leider, gerade das Vergnügen kann ich Ihnen nicht machen. Ich würde eine Verfolgung wegen Irreführung der Behörden riskieren – und außerdem ist die Sache viel zu ernst für solche Späße.« »Allerdings«, sagte Burnes scharf und erhob sich drohend. Auch Wricks stand auf, während die anderen abwartend sitzen blieben. »Allerdings, Mr. Wricks. Verdammt ernst, und ich glaube, es hat keinen Zweck, zu leugnen. Ein reumütiges Geständnis könnte Ihre Lage ein wenig verbessern, Ihnen höchst unangenehme Kreuzverhöre ersparen – und bei der Strafbemessung mildernd ins Gewicht fallen.« »Ich fürchte nur, man würde mir bei einem gewissenhaften Gericht wenig Glauben schenken…« sagte Wricks bedauernd. »Wäre Ihnen das so unangenehm?« schoß wie ein Pfeil eine Frage Gayfields dazwischen. Verblüfft fuhr Wricks herum und starrte einen Augenblick lang in die Augen des Sprechers, die sich durchbohrend auf ihn richteten, als wollten sie in sein Innerstes eindringen. Einen Augenblick glaubten die Anwesenden in seinen Augen den Ausdruck tödlichen Schreckens zu sehen. Aber er schien sich schnell zu fassen. »Ich würde mich damit vermutlich abzufinden wissen«, lächelte er etwas gezwungen, »aber Ihr junger Freund hier wird das Gegenteil zu erreichen suchen. Es scheint, Sie haben ja sehr gewichtige Gründe für den Verdacht, den Sie so unverhohlen äußerten, Inspektor?« »Ich bin der Ansicht, daß jede Jury ihn teilen würde, wenn ich ihr meine Argumente vorlege.« 65
»Wollen Sie mich nicht auch damit beehren?« schlug Wricks vor. »Ich würde so eine Aufrichtigkeit zu schätzen wissen.« »Aber gerne«, willigte Burnes ein. »Sie werden mir zustimmen, wenn ich annehme, daß nur ein Mann, der van Raans Reisezweck und den Inhalt seines Gepäckes kannte, den Mord ausgeführt haben kann.« »Das scheint mir richtig«, gab Wricks zu. »Aber da dürfte ein ziemlich großer Kreis von Personen in Frage kommen – vor allem die Angestellten van Raans, vermutlich seine Hausangestellten ebenso und natürlich der gesamte Anhang dieser beiden Kategorien, denen van Raan wohl nicht davon erzählt haben muß, aber wohl erzählt haben kann, und außerdem Miß Ho… – ah, ich meine die junge Dame, deren Namen ich nicht nennen möchte, und deren Anhang, in den sich der eine oder andere schwere Junge eingeschlichen haben kann. Man weiß ja, was für einen Umgang solche etwas, hm, freidenkende Damen haben können. Na, es mag auch sein, daß unser lieber, guter, alter James ein bißchen geplaudert hat, so beim Kaufmann, Zigarrenhändler, Fleischer, Gasthaus – und damit kann wieder ein ganzes Rudel von Leuten hereingezogen werden, noch dazu von Leuten, die auch die nötige Ortskenntnis hier herum haben – nicht wahr, die billigen Sie mir in Ihrer freigebigen Weise gewiß auch schon als besondere Erschwernis Ihres Verdachtes zu?« Burnes biß sich ärgerlich auf die Lippen. »Nun«, sagte er gelassen, »ich bin ziemlich sicher, daß der Großteil der lokalen Bevölkerung, soweit sie auf die von Ihnen ebenfalls recht großzügig umrissene Art in Frage kommen könnte, ein Alibi haben dürfte, da, wie ich hörte, die gesamte streitbare Einwohnerschaft im ›Admiral Nelson‹ im Kampf lag. Aber ganz abgesehen davon, daß Sie jedenfalls in den Kreis der möglichen Täter kommen, ergeben sich so schwere
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Verdachtsmomente, daß ich kaum Ursache haben werde, nach anderen Verdächtigen Umschau zu halten.« »Wollen Sie mir diese Verdachtsmomente verraten?« »Ich sehe keinen Grund dafür, sie Ihnen vorzuenthalten«, sagte Burnes bereitwillig. »Also hören Sie: Sie gabeln sich in London ein Frauenzimmer auf. Sie bringen mit Hilfe dieser Person und unter Vorspiegelungen, ihr ein Geschenk machen zu wollen, wobei sie großen Reichtum durchblicken lassen, einen angesehenen Juwelier dazu, diese etwas abenteuerliche Fahrt heraus zu machen. Vorher erwerben Sie hier ein Schloß, wobei Sie einen verhältnismäßig kleinen Barbetrag erlegen, den Sie, wie ich bereits erfahren habe, durch Abverkauf von Holz und Möbeln zum größten Teil wieder hereingebracht haben, so daß Sie bei einer plötzlichen Flucht nur wenig verlieren. Sie fangen mit dem Frauenzimmer irgendeinen Streit an, der sie aus dem Hause treibt, falls Sie nicht überhaupt mit dem Mistvieh unter einer Decke stecken. Sie verduften nach London, um sich ein Alibi zu verschaffen, kommen aber rechtzeitig zurück, um Ihren Teil des Stelldicheins mit dem Juwelier einhalten zu können – allerdings in etwas anderer Weise, als er es erwartete. Bei erster Gelegenheit sausen Sie davon, um sich ins Ausland zu begeben – nachdem Sie die Spuren Ihrer Tat so geschickt verwischt haben, daß deren Entdeckung nur einem Zufall zu danken ist; und nur dadurch konnte Ihre Flucht gerade noch verhindert werden.« »So«, unterbrach ihn Wricks hitzig, »und warum bestellte ich noch dazu bereits am Vortag eine Flugkarte unter meinem Namen? Damit Sie mich um so sicherer erwischen können, he?« »Nein«, antwortete Burnes ungerührt, »nur damit Sie, wenn Sie doch gefaßt würden, nicht sofort in einen fast unwiderleglichen Verdacht kämen… Sie wußten ganz gut, daß man auf Grund einer guten Personsbeschreibung Ihre
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polizeiwidrige Fassade, auch ohne daß Sie Ihren Namen angegeben hätten, am Flughafen erkannt hätte.« »Schön«, sagte Wricks, »Sie haben da ja ganz gut herumspioniert und herumkombiniert, um mich in einem Netz zu fangen – aber ob mir eine gewissenhafte Jury daraus einen Strick drehen wird, na, das bleibt wohl abzuwarten.« »Vor allem eines«, fuhr Burnes fort, »macht die Sache einerseits sehr verdächtig, andererseits gibt dieser Umstand Ihnen eine nicht unbeachtliche Möglichkeit, den Verdacht zu verringern: die Frage Ihres angeblichen Reichtums, der nach meinen Erhebungen etwas problematisch aussieht. Wie steht es damit?« »Ah«, sagte Wricks, »ich glaube, da kann ich Sie beruhigen: Ich bin ein äußerst wohlhabender, nach Ihren englischen Begriffen vielleicht sogar ein reicher Mann. Ich schätze mein Vermögen auf fast eine Million Dollar. Sie sehen, ich habe es nicht nötig, mir meinen Lebensunterhalt durch Mord und Totschlag zu verdienen.« »Ich bin hocherfreut, Sie in so guten Verhältnissen zu wissen«, sagte Burnes. »Ohne Zweifel werden Sie mir diese angenehmen Umstände, in denen Sie sich befinden, durch Vorweisung Ihrer Bankguthaben oder anderer Aktiven leicht und schnell nachweisen können.« Wricks’ Stirn umwölkte sich. »Ich bin gewöhnt, zumindest in geschäftlichen Angelegenheiten, Glauben zu finden«, sagte er nicht ohne Würde. »Da es sich hier nicht um rein geschäftliche Belange dreht, werden Sie mir meine taktlose Neugier verzeihen«, sagte Burnes mit unverhohlenem Spott. »Sie werden aber auch von Ihren Geschäftsfreunden gewöhnt sein, bei größeren Transaktionen um Referenzen ersucht zu werden.« »Verdammt«, sagte Wricks. »Richtig«, sagte Burnes, »ich nehme wohl mit Recht an, daß irgendwelche diskrete Umstände Sie verhindern, konkrete 68
Erklärungen abzugeben. Es scheint, ich habe wirklich Pech bei Ihnen…« »So scheint es wirklich«, sagte Wricks unmutig. »Natürlich werden Sie wieder Ihre verfluchten Possen reißen – aber ich kann Ihnen nicht helfen. Die Sache liegt so: Ich betrieb in den Staaten eine anonyme Firma – so eine Art Aktiengesellschaft ohne Aktionäre, wenn Sie verstehen, was ich meine. Es ist da nichts Ungesetzliches dabei, wenn es auch nicht genau den Regeln entspricht, die im allgemeinen bei diesem Gesellschaftsspiel gelten. Die Sache ging großartig. Ich hatte eine gute Hand und ein untrügliches Flair – bis jetzt. Nun, vor einem halben Jahr hatte ich den Eindruck, daß ich mich lange genug geplagt hatte und daß die Sache sozusagen abbaureif wäre. Da begann ich die Liquidation, und es ging alles wie am Schnürchen. So übergab ich das Ganze einer verläßlichen Rechtsanwaltsfirma und verließ die Neue Welt, um in der Alten ein gemütliches Plätzchen für meine alten Tage auszusuchen.« Wricks machte eine Kunstpause und warf einen verstohlenen Blick auf sein Auditorium. Der tiefe Ernst, mit dem ihn Gayfield musterte, schien ihn mehr zu interessieren als der offene Hohn, den er in den Zügen der beiden Polizeibeamten lesen konnte. »Wenn Sie dabei an Dartmoor* gedacht und Ihre Anstrengungen – wie es scheint, nicht ganz erfolglos – darauf gerichtet haben sollten, sich dort ein Plätzchen zu verdienen, kann ich Ihre Wahl nicht gerade glücklich nennen«, füllte Burnes diese Pause wenig ermutigend aus. »Es ist ein trüber Winkel, um die Wahrheit zu sagen, und ohne zu wissen, wohin Ihre Geschäftspraktiken Sie bereits früher gebracht haben sollten, kann ich Ihnen sagen, daß dieser Lokalwechsel Sie enttäuschen dürfte.« Wricks warf ihm einen ungnädigen Blick zu. Berüchtigtes Gefängnis
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»Ihre Spöttereien lassen mich vollkommen kalt. Um fortzufahren: Diese Anwaltsfirma ist nun mit der Liquidation für mich beschäftigt, aber die Sache geht viel weniger leicht, als ich mir vorgestellt hatte. Die Aktien sind trotz ihres guten Gehaltes nicht leicht zu placieren. Die Krise, die indessen, wie Sie wissen, eintrat, hat das Geld knappgemacht und das Mißtrauen verstärkt. Kurz…« »Kurz, Sie wollen uns weismachen, daß Ihr Vertreter nicht genug Gimpel findet, um Ihre Schwindelaktien anzubringen und Ihnen das Geld herüberzuschicken, so daß Sie auf diese Weise auf dem Trockenen sitzen, obwohl Sie ein reicher Mann sind – eine reizende Geschichte, und da sie alles eher als schmeichelhaft für Sie ist, so denken Sie wohl, damit bei uns Glauben zu finden?« »Ich muß das Ihnen überlassen«, ergab sich Wricks mit Duldermiene in sein Schicksal. »Nun, wenn Sie mir einige nähere Details geben, so könnte ich mich durch meine Verbindungen – Sie wissen, Scotland Yard ist da gar nicht so gänzlich hilflos – ein bißchen da drüben erkundigen…« »Ich denke gar nicht daran«, brach Wricks los, »wenn Sie mir nicht glauben, so lassen Sie es eben bleiben – ich werde nicht zugeben, daß Ihre Schnüffler da drüben herumstöbern, bis meine Liquidierungsbemühungen an die große Glocke kommen und meine Aktien unanbringlich werden. Begreifen Sie mit Ihrem Spatzenhirn nicht, wie delikat solche Sachen behandelt werden müssen?« »Ich beginne damit«, sagte Burnes, »aber ich fürchte, mir fehlt die Delikatesse, die Personen Ihrer Bedeutung zu gebühren scheint. Ich werde mir daher erlauben, noch eine bescheidene Frage an Sie zu richten: Wie gedachten Sie das Geschenk für Miß Ho… ah, Ihre junge Lady, zu bezahlen – oder gar den Ruisdael zu erstehen, für den Sie so poetisch geschwärmt haben? Antworten Sie!« herrschte er plötzlich mit 70
rauher Stimme den ihn erschrocken anglotzenden Schloßherrn an. »Nun, nun – nur immer mit der Ruhe«, erwiderte dieser, nachdem er sich gefaßt hatte. »Für solche Kleinigkeiten langt es bei mir noch immer – von solchen Lappalien spricht man ja gar nicht. Wenn Sie das meinen – bitte hier, sehen Sie!« und er zog aus seiner Brieftasche zwei Noten zu fünfhundert Pfund hervor. »Sie wollen doch nicht glauben, daß ich mehr als das für eine, nun sagen wir, bestenfalls Dreiviertelweltdame auszugeben bereit gewesen wäre, und wenn Sie eine Ahnung von Bilderpreisen haben, so werden Sie auch wissen, daß dieser Betrag genügt hätte, um den Ruisdael zumindest anzuzahlen.« Verblüfft starrte Burnes auf die Scheine. Er nahm sie in die Hand und hielt sie prüfend gegen das Licht – die Wassermarke, unverfälschbar, war darin! Die Scheine waren zweifellos echt, das wußte er, obgleich er noch nie solche in dieser Höhe gesehen hatte. Ebenso zögernd gab er sie zurück, als Wricks verlangend und besorgt die Hand nach ihnen ausstreckte. »Ich begreife nicht, wieso Sie solche Scheine bei sich tragen«, murrte er, »Reiseschecks wären doch wesentlich sicherer…« »Ich fürchte mich nicht – und solche Lappalien, wie gesagt, spielen bei den Summen, über die ich zu disponieren gewohnt bin, gar keine Rolle«, antwortete Wricks mit der diesen Worten entsprechenden Grandezza. »Ich würde aber ganz gerne wissen, wo und wann Sie diese Scheine erworben haben«, beharrte Burnes. »Da kann ich Ihre Neugier leider nicht befriedigen«, bedauerte Wricks. »Ich beachte solche Summen, wie gesagt, gar nicht. Wenn ich nicht irre, bekam ich sie kurz vor meiner Abreise in New York von einem Geschäftsfreund, da ich ein wenig Kleingeld bei mir haben wollte – und so sind sie noch immer hier. Ich glaube, ich hatte etwa ein Dutzend mit, aber 71
einige sind bei dem Ankauf und den Tagesausgaben draufgegangen – ich kann das nicht genau sagen. Wie gesagt, über solche geringfügige Summen mache ich natürlich keine Aufzeichnungen.« Er schien sich an der Wut des Detektivs, für den diese »geringfügigen Summen« ein Jahresgehalt und mehr bedeuten mußten, zu weiden. »Sind Sie nun einigermaßen über mein Weiterkommen für die nächsten paar Tage beruhigt?« fragte er zu allem Überfluß. »Sie sehen, ich werde die Gastfreundschaft von Dartmoor oder verwandten Wohltätigkeitsanstalten trotz Ihrer gutgemeinten Einladung kaum in Anspruch nehmen müssen.« »Ich verstehe nicht, wie sich so ein Nabob in diese einsame, unfreundliche Gegend zurückziehen kann«, trat Burnes mißmutig den Rückzug an. »Ich würde es eher begreiflich finden, Personen in Ihrer Vermögenslage an der Riviera oder in Miami zu treffen…« »Sie sind eben eine weltliche, prosaische Natur«, wies ihn Wricks salbungsvoll zurecht. »Ich bin tiefer veranlagt. Nicht in leichter, frivoler Gesellschaft finde ich Erquickung…« »Das sehe ich an der Anteilnahme an der jungen Dame, die gewiß in hohem Maß Ihren sittlichen Anschauungen entsprochen hat…« »Sie zu diesen zu führen war mein sehnlichstes Bestreben, aber ich mußte mich leider überzeugen, daß die sittliche Grundlage nicht in hinreichender Weise gegeben war«, gestand Wricks. »Das ändert aber nichts an meinen stillen, sanften Neigungen. Als ich die Neue Welt verlassen hatte, kam ich in unser liebes, altes England und durchzog diese schlummernde, in leichte Melancholie gebettete Landschaft, die meiner müden, abgekämpften Seele zusprach, wie eine Mutter einem wunden Kinde…« »Ich kann meine Tränen kaum zurückhalten«, knurrte Burnes. 72
»Hier hoffte ich Balsam für die mir vom wilden Weltgetriebe geschlagenen Wunden zu finden…« »Hören Sie auf«, drohte Burnes, »oder ich setze Sie sofort ins Loch – so eine Unverschämtheit ist mir noch nicht vorgekommen. Sie kaltherziger Gangster, Sie brutaler Mordbube…« »Mr. Burnes, ich verwahre mich entschieden gegen Ihre höchst unpassenden Ausdrücke, zu denen Sie kein Recht haben. Nichts ist gegen mich bewiesen, und wenn der Schein Sie zu leichtfertigen Verdächtigungen führt, so muß ich Sie bitten, diese bei dem hierfür zuständigen Forum vorzubringen. Es war mein gutes Recht, diesen Besitz, der mir, wie gesagt, Frieden und Erholung verhieß, zu erwerben, und daß mich die geschäftlichen Umstände zu einer vorübergehenden Beschränkung bei den hierzu nötigen finanziellen Transaktionen zwangen, ist noch lange kein Beweis, daß ich deshalb zu Feuer und Schwert greifen mußte. Ich habe Sie eben überzeugt, daß ich wohl über einige Mittel verfüge…« »Die Sie sich heute morgen ohne weiteres durch Verkauf oder Verpfändung eines Teiles Ihrer Beute beschafft haben könnten«, fuhr ihn Burnes an. »Mein Verdacht ist nicht im geringsten erschüttert, im Gegenteil – Ihr Gestotter über Ihre angeblichen Reichtümer verstärkt ihn nur noch mehr. Eine letzte Frage, bevor ich endgültig vorgehe: Können Sie beweisen, wo Sie gestern zwischen acht und zehn Uhr abend waren?« »Burnes«, sprach Mr. Wricks mit dem Brustton der Überzeugung, »Inspektor Burnes, Sie haben mich einen Gangster und Mörder genannt, es ist nur recht und billig, daß ich Ihnen ebenso aufrichtig sage, wofür ich Sie halte: Sie sind ein Esel! Diese Frage hätte natürlich nicht die letzte – sondern die erste sein müssen!« »Wollen Sie das gefälligst mir überlassen«, pfiff ihn Burnes mit zornrotem Kopfe an. »Ich stelle meine Fragen in der 73
Reihenfolge, die ich für richtig finde. Und Ihre unverschämten Bemerkungen, mit denen Sie ja nur Zeit zum Überlegen Ihrer Antworten gewinnen wollen, sind vollkommen zwecklos. Also jetzt heraus damit: Wo steckten Sie um diese Zeit, Sie verdammter Hanswurst? Antworten Sie!« »Sie meinen zwischen acht und zehn?« fragte Mr. Wricks mit Seelenruhe. »Ah, richtig, zwischen acht und zehn.« Er schien sich seinen Gedanken hingeben zu wollen. »Denken Sie nicht nach, antworten Sie!« donnerte Burnes. »Nicht nachdenken, das dulde ich nicht, nicht einen Augenblick!« Er packte Wricks an der Brust und brachte seine Nasenspitze dicht an Wricks plumpes Riechorgan. »Sofort antworten – ohne jede Überlegung, wo waren Sie – Sie müssen das ohne viel Nachdenken wissen – vorwärts, keinen Augenblick lasse ich Sie nachdenken und neue Lügen ausdenken. Antwort, Antwort, Antwort!« »Sie sind nun wirklich übergeschnappt, Sie armer Narr«, sagte Wricks, ohne einen Versuch sich freizumachen, mit bedauernder Stimme. »Wohl zuviel Nachtdienst in den letzten Tagen? Schrecklich, diese Ausbeutung unserer jungen Leute, ich bin direkt erschüttert über diesen Nervenzusammenbruch – ach, bitte, beherrschen Sie sich ein wenig – so etwas geht vorbei – ich erinnere mich, ähnlich reagiert zu haben, als man mir meldete, daß ein bestbeschriebener Debitor gefallen sei. Immerhin, ich kam darüber weg, auch Sie werden sich erholen, ein paar Tage stillen Landaufenthalts und Sie sind wieder der Alte, mein lieber, armer Alter…« Burnes Stimme hatte nichts Menschliches mehr, als er losbrach: »Sie infernalischer Teufel, augenblicklich beantworten Sie meine Frage! Ich habe einen Haftbefehl für Sie, wissen Sie das? Wenn Sie noch einen Augenblick zögern, spreche ich kein Wort mehr und lasse Sie abführen…«
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»Der Gerechte muß viel leiden«, beklagte sich Wricks, als er aber nun in Burnes’ zornsprühende Augen sah, wurde er ernst. »Hören Sie, Inspektor«, fuhr er fort, »ich brauche doch nicht nachzudenken, wo ich gestern war – Sie sollten das tun – besser gesagt, es würde genügen, wenn Sie einen Blick in Ihre Aufzeichnungen werfen wollten, falls Sie sie lesen können. Dort steht es nämlich ganz genau drinnen. Aber ich kann Ihnen ja die Mühe ersparen – auf die Gefahr, die Anwesenden mit einer Wiederholung dieser Geschichte zu langweilen: Zwischen acht und zehn saß ich im Zuge. Sie werden sich erinnern, daß ich den früheren versäumt hatte, wegen dieser blödsinnigen Partie Darts, die ich, wie Sie wissen…« »Ja, wir wissen«, unterbrach ihn Burnes schnell, »die Geschichte halte ich nicht noch einmal aus. Also, Sie behaupten, im Zuge zwischen London und Longsberry gesessen zu sein, als um neun Uhr der Schuß fiel, der van Raan tötete. Bertley – bitte, wollen Sie so gut sein und bei der Station Longsberry anfragen, ob Mr. Wricks dort um zirka zehn Uhr ausgestiegen ist, beziehungsweise, ob er mit dem letzten Zug aus London angekommen ist.« »Wollen Sie mir erlauben, Ihrem geschätzten Kollegen die Mühe und mir die Kosten dieses Telephongespräches zu ersparen?« fragte Mr. Wricks mit sanfter Stimme, als sich Bertley gehorsam erhob, um zum Telephon zu gehen. »Leider wird mich niemand dort gesehen haben, da ich dort nicht ausstieg.« »Und warum?« fragte Burnes stirnrunzelnd. »Weil die Türe meines Kupees nicht aufging. Ich hatte etwas geschlafen, fuhr im letzten Moment auf, und in der Eile, rechtzeitig herauszukommen, riß ich so ungeschickt an der Tür, daß sie sich irgendwie verklemmte.« »Aber um halb elf waren Sie recht pünktlich zur Stelle, wie mir James berichtete?«
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»Natürlich. Eine halbe Minute später hatte ich die Tür offen, und da der Zug noch nicht in voller Fahrt war, sondern eben langsam aus der Station kroch, sprang ich schnell heraus. Sie werden es mir gewiß nicht verübeln, daß ich nicht mehr zur Station zurücklief, um die Sperre zu passieren, meinen Fahrschein abzugeben und den Beamten zu bitten, eventuell wegen eines Mordes nachfragenden Polizisten zu bestätigen, daß ich dagewesen sei. Ich hatte leider nicht die prophetische Gabe, die kommenden Verwicklungen vorauszusehen, sonst hätte ich es bestimmt getan, besonders, wenn ich wirklich um neun Uhr den Mord begangen hätte; dann hätte ich mich nämlich ganz gut um zehn an der Bahn einfinden und dieselbe Geschichte mit der verklemmten Tür erzählen können, die Sie nun natürlich für ein verdammtes Märchen halten werden, was?« »Sie klingt nicht überzeugend«, gab Burnes zu, »aber in einem haben Sie recht, das bloße Erscheinen an der Sperre würde Sie tatsächlich nicht ganz reinwaschen. Es hat keinen Sinn, damit etwas anfangen zu wollen – die reißt Sie auf keinen Fall heraus. Aber etwas anderes: Dieser Zug geht um acht Uhr ab und trifft hier kurz nach zehn ein… Sie behaupten, etwa gegen sieben noch in einer Bar beim Dartspiel gewesen zu sein? Dabei haben Sie auch einen ganz erheblichen Krach gehabt, an den sich Kellner und Gäste sicher ebenso wie an Ihre edlen Züge erinnern werden. Wir könnten dort nachfragen. Wenn die bestätigen, daß Sie um diese Zeit dort waren, dann können Sie unmöglich den Mord hier verübt haben, kein Auto könnte Sie in zwei Stunden hergeführt haben. Das kann ich, der diese Strecke mit einem der schnellsten Wagen, die auf dieser Insel laufen dürften, zurückgelegt habe, aus eigener Erfahrung bestätigen. Von Zügen ganz abgesehen, von denen keiner zu dieser Zeit gegangen ist. Also mein lieber Mr. Wricks, auf, fahren wir in dieses Lokal und fragen wir da nach. Was machen Sie für ein Gesicht? Ist wieder eine diskrete 76
Angelegenheit im Spiel, wie bei Miß Ho… oder Ihren famosen Aktien?« »Der Teufel soll Sie holen mit Ihren verdammten Späßen«, fluchte Wricks. »Sie haben es erraten. Das heißt, es handelt sich hier nicht um irgendwelche Geheimnisse, die Sache ist nur so, daß ich den Platz nicht finden werde. Sie wissen, ich bin ein Fremder in diesem verflixten Dorf mit seinen zehn Millionen Einwohnern und Hunderten von Quadratmeilen, ich habe keine Ahnung, wo ich gestern überall herumgesegelt oder gar vor Anker gegangen bin – hol mich der und jener!« »Gott, wie peinlich«, sagte Burnes kummervoll, »also auch damit ist es nichts! Wenn ich nur wüßte, wie ich Ihnen helfen könnte? Ich glaube, wir werden vorläufig in ein kleineres Lokal übersiedeln, wo Sie sich ungestört Ihren poetischen Träumen und weihevollen Zukunftsplänen hingeben können. Vielleicht fällt Ihnen dann der Ort ein, wo Sie gestern waren, als der Schuß im Walde fiel? Ich lasse mich auf Untersuchung Ihres Handgepäcks gar nicht ein – über die Beute zu disponieren hatten Sie ja in London vor Abgang Ihres Flugzeuges reichlich Zeit, werden dafür ja schon bestimmte Pläne gehabt haben. Wer so sorgfältig Handschuhe trägt und Türgriffe, Volant und Schalter abwischt, wie es in van Raans Auto geschah, wird mit solchen kleinen Problemen bestimmt leicht fertig. Aber ich höre die Glocke – vielleicht werden wir nun bald jemanden hier haben, der Sie gesehen hat, als die Stunde näher rückte, die van Raan den Tod brachte…« In diesem Augenblick erschien James mit dem Tierarzt auf der Schwelle. Alles sah gespannt der Begegnung entgegen. »Hallo, Dok«, sagte Wricks, »nett, daß Sie sich blicken lassen. Eine ausgesprochen gute Idee, obgleich ich nicht wußte, daß Sie Irrenarzt geworden sind. Immerhin, hier haben Sie eine nette Aufgabe auf diesem Gebiet, falls Sie es zu Ihrer Liebhaberei machen wollten.« Und er wies auf Burnes und Bertley. 77
»Zwei arme Narren von Scotland Yard«, stellte er liebenswürdig vor, »bilden sich ein, daß ich nächtliche Mordexkursionen betreibe. Vielleicht gelingt es Ihnen, sie zu kurieren, mit Eseln dürften Sie einige Erfahrungen haben…« »Was soll dieser Unsinn, Mr. Wricks«, sagte der Angeredete unwillig. »Man ladet mich zum schwarzen Kaffee ein und empfängt mich mit Kreuzworträtseln?« Er blickte sich suchend um und bemerkte mit einiger Beruhigung, daß James eben mit dem Kaffeegeschirr den Raum betrat. Der angenehme Duft schien ihm zu behagen. »Sie scheinen leider die Marke, die der verflossene Schloßherr uns vorzusetzen pflegte, geändert zu haben«, bemerkte er zwar, aber er schien deshalb einer Kostprobe nicht abgeneigt. »Ich kann sie Ihnen immerhin warm empfehlen. James, Sie werden sich gewiß entsinnen, es war die zu neun Pence das Quarter, mit drei Sternen auf blauem Grund, wie hieß die Marke nur?« »Diese ist etwas wohlfeiler«, gestand James, »aber ich kann sie bestens rekommandieren, Mr. Blunt. Ich nehme dafür etwas mehr im Verhältnis zu der gleichen Flüssigkeitsmenge. So gleicht sich das aus, leider auch in den Gestehungskosten.« »Lassen Sie sehen«, befahl der Arzt und bediente sich ausgiebig. »Lassen Sie sehen, bevor ich unserem verehrten Hausherrn diesen Trank verordne – ah, nicht übel, James, gar nicht übel, überhaupt nichts über einen guten Kaffee nach einem reichlichen Lunch. Allerdings ist dazu ein kleiner Kognak sehr zu empfehlen, in der Schweiz nehmen sie einen sogenannten Kirsch dazu, aber ich halte das nicht für unbedingt nötig. Ein netter, kräftiger französischer Kognak genügt völlig – ich bin da gar nicht heikel –, wie wäre es damit, Mr. Wricks? Wenn Sie sich daran gewöhnt haben, werden Sie mir recht geben, daß das sozusagen der Punkt aufs i ist. Wollen Sie es einmal versuchen – mir zuliebe?«
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»Bringen Sie den Whisky«, entschloß sich Mr. Wricks anzuordnen, aber er stieß einen kleinen Seufzer aus, »bringen Sie den Whisky, James, wenn noch etwas davon da ist. Es tut mir leid, Dok«, fuhr er fort, als sich James gehorsam auf den Weg gemacht hatte. »Ich hatte einen ganz guten Kognak, aber er ist aus. James ist eine Seele von Pferd, aber er scheint Ihre bewunderungswürdige Achtung für dieses Getränk zu teilen und dürfte mir Schützenhilfe geleistet haben, als ich der Flasche den Garaus machte. Ah, da kommt der Whisky – Sie nehmen mit diesem Ersatz vorlieb?« »Mit dem größten Vergnügen, mein lieber, mein sehr verehrter Mr. Wricks«, beeilte sich Mr. Blunt zu versichern, »wie gesagt, ich bin keineswegs penibel. Ein süßes Tröpfchen«, fügte er hinzu, nachdem er sich kräftig bedient hatte. »Ich würde mich direkt freuen, wenn ein zweites Gläschen übrigbliebe, wohlverstanden, wenn die anderen Herren sich versorgt haben. Es schmeckt mir gar nicht, allein zu trinken.« Er beobachtete mit Argusaugen die weiteren Schicksale der Flasche, aus der James mit der Mäßigung eines weisen Haushälters an die übrigen der Runde austeilte. Burnes wies das Glas zurück. »Hören Sie, Mr. Blunt, unterbrach er gefühllos dessen Versuche, James an sich heranzuwinken, »hören Sie zu. Sie erzählten mir, daß Sie heute nacht auf der Straße angehalten wurden. Ich nehme an, es war Mr. Wricks, der Sie ansprach – warum sagten Sie mir das nicht gleich?« »Mr. Wricks?« fragte Mr. Blunt fassungslos, und er ließ vor Erstaunen das Glas sinken, das er eben in unmißverständlicher Weise James entgegengehalten hatte, der diese Geste geflissentlich zu übersehen schien. »Wie kommen Sie auf diese Idee?« »Ich habe allen Grund, anzunehmen, daß Mr. Wricks einen Gast erwartete und Sie für diesen hielt. Mr. Wricks, bitte, 79
wollen Sie sich jeder Äußerung enthalten? Mr. Blunt, ich habe Ihnen schon vormittag angedeutet, daß es sich um eine ganz ernste Sache handelt – wollen Sie mir umgehend antworten: ist Mr. Wricks der Mann oder nicht?« Erschrocken starrte der Medizinmann auf Burnes und Wricks. »Ich fordere Sie auf, ohne Umschweife zu antworten«, sprach Burnes in dezidiertem Ton: »Noch einmal: ist er es?« »Nein, keinesfalls«, stotterte der Arzt, »er ist viel kleiner – und dicker, kommt mir vor«, fügte er nach weiterer Besichtigung des Objektes hinzu. »Ja, Mr. Wricks ist ganz wesentlich kleiner – und vor allem, ich hätte Mr. Wricks ja erkannt, und wenn ich auch ein schweigsamer Mann bin, besonders in der rauhen Nachtluft rede ich ja nur das Nötigste – eine weise Vorsicht, die ich in dieser unsicheren Jahreszeit, wo die Grippe wütet, ganz besonders empfehlen möchte –, ich hätte, wenn ich auch vermutlich in meiner diskreten Weise nicht nach Details geforscht hätte, doch zumindest einige Bemerkungen ausgetauscht, über das Wetter wenigstens, man weiß doch, was sich gehört…« »In der Nacht sieht alles etwas größer aus, Mr. Wricks mag einen Ihnen ungewohnten Wettermantel umgeworfen gehabt haben – sind Sie ganz sicher, daß er es nicht war – hat er vielleicht die Hand vor das Gesicht gehalten?« »Das tat er – ja, das tat er«, rief der Arzt. »Woher Sie das nur wissen können, Sie waren doch gar nicht in der Nähe? Natürlich hielt er die Hand vor den Mund, mit einem Zipfel des Mantels. Soviel ich mich nun erinnere, hatte er so eine Art Trenchcoat an, wie ich ihn allerdings noch nie an ihm gesehen habe. So ist es vielleicht doch nicht ganz ausgeschlossen…« Er warf zweifelnde Blicke auf Mr. Wricks. Es war den Anwesenden nicht entgangen, daß dieser abwechselnd blaß und rot geworden und mit unverschleierbarer Besorgnis den Worten und Gesten des Arztes gefolgt war. 80
»Also, Sie geben zu, daß es Mr. Wricks gewesen sein kann?« fragte Burnes mit triumphierendem Unterton in der Stimme. »Hm, ich muß zugeben, daß es nicht absolut ausgeschlossen ist, es war Nacht und ich sah ja nicht allzu genau – als er neben mir war, stand er ja im Finstern, seine Gestalt hatte ich vorher nur kurz im Licht des Scheinwerfers sehen können.« »Mr. Wricks«, rief Burnes nun mit schneidender Kommandostimme, »sprechen Sie mir nun augenblicklich nach, was ich Ihnen vorsage: ›Mr. van Raan, darf ich bitten?‹ Schnell – ohne Nachdenken…« Wricks zögerte einen winzigen Moment. Dann sprach er gehorsam: »Mr. van Raan, darf ich bitten?« Hallo, dachte Burnes, wo ist der amerikanische Dialekt? Das klingt ja ganz komisch… »Sie dürfen Ihre Stimme nicht verstellen«, brüllte er los, aber er verstummte augenblicklich, als er sah, daß der Arzt ganz verstört auf Wricks blickte: »Hm«, sagte Mr. Blunt dann verblüfft, »das klang ja wirklich ganz ähnlich – wie – ja sollte doch, nein, es kann nicht sein.« »Sie erkennen nun auch die Stimme?« schrie Burnes. »Was heißt auch?« protestierte Wricks, aber es klang gar nicht sehr energisch. »Sie schweigen«, donnerte Burnes. »Also Dok, wie steht es, ist er es?« »Er ist es und er ist es nicht«, sagte der Arzt zweifelnd, »ich kann es Ihnen ganz genau sagen…« »Also los, in des Teufels Namen, ja oder nein?« »Ganz genau, wie Sie sagen: Ja oder nein. Das heißt, er ist es oder er ist es nicht, eine dritte Möglichkeit kann ich mit ruhigem Gewissen ausschließen, aber mehr kann ich nicht sagen – und wenn Sie mich auf die Folter spannen. Um ganz 81
genau und präzise zu sein: Ich habe keine Ahnung. Je mehr ich darüber nachdenke, um so mehr verschwimmt das Bild meiner nächtlichen Begegnung. Ah, sagte ich Ihnen nicht etwas über die Gedächtnisschwäche, die ich auf die nachlassende Elastizität alternder Gewebe zurückzuführen pflege – ich kann mich nicht mehr so genau erinnern, ob ich es tat…« »Aber ich«, versicherte Burnes grimmig, »und ich will unter keinen Umständen noch ein Wort darüber hören. Ich danke Ihnen tausendmal für Ihre ganz wundervolle Bemühung, aber ich glaube, wir werden damit für einige Zeit genug haben, ja ich wage fast zu behaupten, daß Sie nach so überzeugender und eingehender Darstellung Ihrer Wahrnehmungen nicht mehr bemüht werden dürften. James, ich glaube, die Flasche ist leer, und der Herr Doktor scheint uns verlassen zu wollen. Mr. Wricks, Sie werden nichts dagegen haben, wenn Ihr werter Butler unseren lieben Freund hinauswi… hinausbegleitet? Herr Doktor, es war mir eine ganz besondere Freude, meine Bekanntschaft mit Ihnen zu erneuern… Meine besondere Verehrung…« Und kochend vor Wut überließ er James die weiteren Zeremonien des Hinausgeleitens, denen sich der Arzt gekränkt unterwarf.
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7. KAPITEL EINE SATANISCHE ÜBERRASCHUNG Der Doktor war kaum aus der Tür, als sich Burnes an Wricks wandte. »Nun?« fragte er finster. »Nun?« fragte auch Wricks, aber seine Stimme klang gar nicht besonders sicher. Es schien, als ob Burnes nun wirklich nicht wußte, was er auf diese ziemlich einfache Frage erwidern sollte. Da kam ihm Hilfe von unerwarteter Seite. »Ich glaube, Inspektor«, ertönte Gayfields ruhige Stimme, »wir lassen Mr. Wricks nun in Ruhe. Es scheint, er hat mit der Sache herzlich wenig zu tun – und wir täten gut, uns schleunigst nach anderen Spuren umzusehen, bevor die erkalten. Wer weiß, ob sich nicht noch was anderes im Wagen finden läßt – Sie erinnern sich, daß wir ihn noch nicht bei Tageslicht besehen haben…« Obgleich er diese Worte an Burnes richtete, ließ er dabei Wricks nicht aus den Augen, und er merkte, daß der wieder mehrmals die Farbe wechselte. Burnes sah den seltsamen Weidmann verwundert an. »Na, hören Sie, Gayfield«, brachte er endlich hervor, »das ist das allerneueste – am Ende hat Sie unser lieber Hausherr mit seinen schönen Geschichten wirklich beschwatzen können? Sind Sie nicht bei Trost?« »Ich will mich natürlich nicht in den Gang der Untersuchung mischen«, versicherte Gayfield. »Aber ich würde gern mit Mr. Wricks ein paar Worte reden. Sie, mein lieber, junger Freund, haben leider die Eigenschaft, andere einzuschüchtern – das ist bei manchen Leuten ja sehr 83
zweckmäßig. Aber manchen versiegelt es den Mund, Sie erinnern sich, wie zurückhaltend unser Doktor heute vormittag wurde – und wie leicht ich etwas aus ihm herausbrachte, was er Ihnen um keinen Preis sagen wollte…« »Ach, dieser verdammte Hanswurst«, sagte Burnes ärgerlich, »da hatten wir einmal einen Zeugen par excellence! Im Umgang mit seinen Vierfüßlern ist er selber einer geworden.« »Das mag stimmen – im Falle unseres verehrten Gastgebers möchte ich das aber ganz entschieden bestreiten –, trotzdem kann ich mir vorstellen, daß Ihre Art ihn so verstimmt hat, daß man nun nichts Vernünftiges aus ihm herausbringt und er sich am Ende aus purem Trotz einsperren läßt – und Sie haben nicht nur die größte Blamage, wenn es zum bitteren Ende kommt und sich seine Unschuld schließlich herausstellt, nein, Sie haben indessen wertvolle Zeit verloren, die der wahre Täter benützen wird, seinen Raub und sich selbst in Sicherheit zu bringen. Ihm dann nachzulaufen wird aber vergebene Liebesmühe sein.« Wricks schoß bei diesen Worten einen scharfen Blick auf Gayfield, der von diesem wohl registriert wurde. »Ich gestehe, daß ich nicht recht weiß, wo Sie hinauswollen, Gayfield«, murrte Burnes unsicher. »Ich würde Ihnen vorschlagen, mich einmal mit Mister Wricks ein paar Minuten allein zu lassen – ich glaube, wir würden uns ganz gut verstehen.« Und er zwinkerte dem Genannten vertraulich zu. »Habe gar keine besondere Sehnsucht nach so einem tête-àtête«, widersprach dieser widerborstig. »Wenn unser famoser Sherlock Holmes es für richtig findet, soll er mich schön einsperren, ich werd’s aushalten. Ich vergönn’ ihm die Blamage. Die Wahrheit wird schon ans Licht kommen, da bin ich ganz unbesorgt.«
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»Ich auch«, bemerkte Gayfield doppelsinnig. »Aber wozu es ihr unnütz schwer machen? Kommen Sie, Wricks, ich möchte Ihnen gern etwas erzählen…« »Bin gar nicht neugierig«, war die undankbare Antwort. Gayfield benützte den Augenblick, da Wricks finster vor sich hinsah, um Burnes einen vielsagenden Blick zuzuwerfen. »Hm«, sagte dieser daraufhin, »von mir aus. Es ist zwar einigermaßen gegen meine Gewohnheit, so schwer Belastete aus den Augen zu lassen, aber es sei, in Gottes Namen.« »Sie können unbesorgt sein«, versicherte Gayfield, »ich habe nichts Ungesetzliches vor und werde Mr. Wricks schon nicht entwischen lassen. Und er hat ja eigentlich bewiesen, daß er sich gar nichts Besseres wünscht, als ins Loch zu kommen, da wird er sich durch eine Flucht bestimmt nicht ins Unrecht setzen wollen? Ich schlage Ihnen vor, indessen zum Wagen zurückzugehen und noch einmal alles gut zu untersuchen – nehmen Sie auch Bertley mit, seine große Erfahrung wird Ihre Jugend bestens unterstützen.« Ein beschwörender Blick des Sprechers verhinderte Burnes, sich auf ihn zu stürzen, wozu der Inspektor größte Lust zu verspüren schien. »Gayfield hat ganz recht«, mischte sich der Riese ins Gespräch. »Schauen wir uns noch einmal die Bescherung an, kommen Sie, Mr. Burnes. In einer halben Stunde dürften meine Leute auch zurück sein, da können wir alles erledigt haben und vor Dunkelheit mit oder ohne Mr. Wricks, je nach Bedarf, gemütlich in London sein. Also, los!« Burnes erhaschte abermals einen Blick von Gayfield, dem er nun nicht mehr widerstehen konnte. »Gut, meinetwegen«, entschied er unmutig, »passen Sie aber gut auf, Gayfield! Und Sie, mein lieber Hausherr, machen Sie mir keine Zicken, sonst können Sie sich auf etwas gefaßt machen!«
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Triumphierend stolzierte Bertley hinaus, nicht ohne seinem neuesten Bewunderer einen huldvollen Blick zu schenken, der von diesem mit respektvollem Lächeln quittiert wurde. Burnes folgte zögernd dem eitlen Pfau, während Wricks mit gemischten Gefühlen seinen Peinigern nachblickte. »Ah«, sagte er dann, »wie doch der Beruf die Menschen verdummt.« »Sie werden einseitig«, bestätigte Gayfield geistreich, »ausgesprochen einseitig, während unsereiner, im vollen Leben stehend, sich den offenen Blick bewahrt. Nun aber zur Sache, die beiden könnten bald zurückkommen. Entdecken werden sie ja bestimmt nichts – ist auch ganz unnötig, ich weiß genau, wer der Mörder war.« Wricks fuhr herum, als habe man eine Kanone hinter ihm abgefeuert. »Teufel«, schrie er, »wie ist das möglich?« Und entsetzt sah er auf den unschuldig lächelnden Förster. »Nun, Sie scheinen ja gar nicht entzückt von meinen Worten zu sein, die doch Ihre vollkommene Unschuld bedeuten?« »Was fällt Ihnen ein«, beeilte sich Wricks, »ich kann mir nur nicht denken, daß Sie das Herz hatten, mich so lange zappeln zu lassen, wenn Sie die befreiende Wahrheit wußten.« »Nun, die Geschichte war gar nicht schwierig – aber ich wollte vor Burnes natürlich nicht heraus damit, aus Gründen, die Sie sofort begreifen werden. Also hören Sie – Sie sind ein reicher Mann?« »Sie haben mich ja gehört – glauben auch Sie mir nicht?« »Ich bin überzeugt von der Wahrheit Ihrer Worte«, versicherte Gayfield. »Nun, da würden ein paar Tausender keine allzu große Rolle für Sie spielen, wenn ich Sie vom Galgen hole, auf den Sie unser lieber Polizeigeneral unbedingt schicken will?«
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»Ein paar Tausender? Das klingt reichlich unbestimmt – und gar so sicher ist es auch nicht, daß ihm sein löbliches Vorhaben gelingt. Wir haben noch Richter in England – und die amerikanische Botschaft wird mich schon nicht sang- und klanglos umbringen lassen, da können Sie beruhigt sein.« »Nun, es wird nicht so leicht sein, Sie Burnes aus den Fängen zu reißen. Wenn unsere Polizei sich einmal in etwas verbeißt, da kriegen Sie eher einen von unseren Bullies aus dem Bein, als die von Ihren Fersen. Also gut, sagen wir zweitausend?« »Tausend ist genug – so dick habe ich es auch nicht«, feilschte Wricks, »und das auch nur, wenn Sie mir schlagend meine Unschuld beweisen können, so daß Burnes die Untersuchung gegen mich vollkommen abbricht.« »Abgemacht«, frohlockte Gayfield. »Habe ich Ihr Wort?« »Kommen Sie«, sagte Wricks und warf einen Blick aus dem Fenster, »ich gebe es Ihnen schriftlich.« »So ist es recht«, sagte Gayfield befriedigt, »genaue Rechnung, gute Freunde – nicht, daß ich Ihrem Worte nicht glauben wollte, aber es ist in jedem Fall besser. Ich könnte dann auch nicht behaupten, wir hätten mehr ausgemacht – also auch für Sie eine Sicherheit.« Und er folgte munter dem voranschreitenden Hausherrn. Der führte ihn durch einen schmalen Gang in ein kleines Herrenzimmer, das von starkem Nikotingeruch erfüllt war und mit einem Schreibtisch, einem Büchergestell und ein paar Stühlen eingerichtet war. Wricks warf sich in den Stuhl hinter dem Schreibtisch, zog eine altmodische Füllfeder aus der Tasche, fischte aus den auf der Schreibtischplatte herumliegenden Papieren einen unsauberen halben Bogen heraus und schrieb mit einer seltsam ungelenken Schrift ein paar Zeilen darauf.
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»So, das dürfte genügen«, murmelte er dann und hielt Gayfield den Zettel hin. Der las ihn aufmerksam durch, dann nickte er mit dem Kopf. »Das ist fair genug«, bestätigte er. »Nun zu meinem Teil der Abmachung.« Er griff in seine Brusttasche und holte den kleinen Stoffrest hervor, den er aus der Autotür gezogen hatte. »Fehlt dieses Stück aus einem Ihrer Mäntel?« fragte er beiläufig. »Nein, bestimmt nicht«, antwortete Wricks verwundert, »wie kommen Sie auf diese Idee? Das scheint von einem Trenchcoat zu sein – ich besitze ein solches Stück überhaupt nicht in meiner Garderobe.« »Ich dachte es mir«, lächelte Gayfield und nahm das Stückchen Stoff wieder an sich. »Wissen Sie, wo ich es fand? In der rückwärtigen Tür des Autos, das van Raan hergebracht hat. Als der Mörder die Beute – die sich sicher im hinteren Teil des Wagens befand – herausnahm und damit das Weite suchte, dürfte er in der Eile seinen Mantel in der Türe, die er rasch hinter sich zuwarf, festgeklemmt haben. Er lief dann davon und merkte nicht, daß er ein Stück seines Mantels abriß. Sie sehen, daß der Stoff ziemlich alt und schäbig ist und wohl keinen merklichen Widerstand leistete, zumindest keinen, den der Mörder in seiner begreiflichen Aufregung und in der Eile, mit seiner Beute schnellstens so weit wie möglich zu kommen, wahrnahm.« »Gut«, sagte Wricks, »Sie haben da ein Stück Stoff – aber damit noch lange nicht den Mörder. Wie wollen Sie den kriegen? Und ohne den zu haben, wird mich der Bluthund da draußen bestimmt nicht loslassen.« »Er wird ihn bald haben, das ist nun ein Kinderspiel«, sagte Gayfield und beobachtete sorgfältig sein Gegenüber. »Wenn er den Stoff hat, hat er den Mörder so gut wie sicher. Eine Stunde, nachdem ich ihm dieses Stückchen hier gegeben habe, wird die 88
ganze Polizei hinter einem Manne her sein, der einen Trenchcoat dieser Farbe und dieses Alters trägt, dem dieses Stückchen hier fehlt – eine Photographie des Mörders könnte nicht besser sein. Er ahnt gar nicht, daß dieser Mantel ihn verrät. Wie sollte er auch? Er wird denken, ihn Gott weiß wo in der Bahn oder im Wald beschädigt zu haben – wenn er bei dem alten Fetzen den Schaden überhaupt bemerkt. Ich sage Ihnen ohne Übertreibung, diese wenigen Fäden hier in meiner Hand genügen, einen Strick zu drehen, an dem der Gute in kürzester Zeit hängen wird – wie ein Lachs…« Wricks war diesen Worten mit zunehmender Spannung gefolgt. Plötzlich weiteten sich seine Augen wie in namenlosem Entsetzen. Sie schienen auf etwas hinter Gayfield gerichtet zu sein. »Himmel«, schrie er plötzlich auf, »um Gottes willen, Gayfield, sehen Sie doch!« und er wies höchst aufgeregt mit der Hand auf das Fenster, dem Gayfield den Rücken kehrte. Unwillkürlich fuhr Gayfield herum. Er hatte sich sofort wieder in der Gewalt – aber es war bereits zu spät. Mit Blitzesschnelle hatte Wricks in dem Bruchteil der Sekunde, da ihm sein Gegenüber den Rücken kehrte, eine Pistole aus der Schreibtischlade gerissen und dem ahnungslosen Förster einen Schuß in den Rücken gejagt. Mit einem kaum vernehmbaren Stöhnen stürzte Gayfield zu Boden. Gedankenschnell sprang Wricks zum Fenster, drehte sich um – und zwei weitere Schüsse krachten, die sich oberhalb seines Schreibtisches knirschend in die Mauer bohrten. Im gleichen Augenblick beinahe riß er das Fenster auf und sein Taschentuch heraus, wischte die Pistole ab und warf sie dann aus dem Fenster. In diesem Moment hörte er eilige Schritte. Mit zwei Sprüngen war er wieder hinter seinem Schreibtisch und warf sich hinter ihm zu Boden, sich schnell noch mit dem herabgefallenen Mörtel Haare, Gesicht und Kleider beschmierend.
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Als ein tobender Burnes, gefolgt von Bertley und James, eine Sekunde später hereinstürzte, erhob er sich lallend und wies mit schreckensstarren Augen auf das Fenster. »Dort – dort«, stammelte er mühsam. Aber Burnes packte ihn unsanft bei der ausgestreckten Hand. »Infamer Schurke«, brüllte er, kaum seiner mächtig. »Vor meinen Augen ein zweiter Mord, das wird aber dein letzter sein, das schwöre ich dir, du niederträchtiger Satan!« Er riß Wricks so ungestüm nach vorne, daß dieser jammernd in die Knie stürzte. »Ich bin unschuldig«, kreischte er, »lassen Sie mich los, schauen Sie lieber, daß Sie den Hundsfott erwischen, der Gayfield umgelegt hat und beinahe mich auch noch erwischt hätte, da sehen Sie, er hat auf mich geschossen…« und er wies auf die Einschüsse in der Wand über dem Schreibtisch. »Bertley, halten Sie dieses Aas, aber schlagen Sie ihm augenblicklich den Schädel ein, wenn er sich rührt – in Ihrem eigenen Interesse.« Bertley packte den wimmernden Wricks mit einem Ruck, daß dieser vor Schmerz aufbrüllte. »Rühr dich, du Hund«, zischte er dabei und quetschte seinem Gefangenen das Handgelenk wie in einem Schraubstock zusammen. »Keinen Laut, dreckige Memme.« Gespannt sah er zu, wie Burnes zum Fenster stürzte. Mit einem Satz war der gelenkige Bursche draußen und mit einem zweiten wieder im Zimmer, in seiner Hand den Revolver, in sein Taschentuch gewickelt. Mit einem verächtlichen Blick auf Wricks untersuchte er ihn. »Eben abgefeuert«, stellte er fest, indem er den Lauf befühlte und dann zur Nase hob. »Noch warm – natürlich keine brauchbaren Fingerabdrücke, der Herr vergißt nichts; das wird ihm aber nichts helfen. Keine Spuren in der weichen Erde zu sehen – durch die Luft wird der Herr Mörder schon nicht gekommen sein!« 90
»Wieso nicht, Sie gottverlassenes Kamel«, heulte Wricks, »warum nicht? Vielleicht ließ er sich an einem Strick aus dem Obergeschoß oder gar vom Dach herunter, rennen Sie lieber, daß Sie ihn erwischen, als daß Sie mir hier den Arm ausreißen lassen, Sie frecher Schinder! Mein Gesandter wird Sie schon Mores lehren – ich bin ein freier Amerikaner, lassen Sie mich augenblicklich los, Sie widerlicher Elefant!« Obgleich Bertley blinden Respekt vor Burnes hatte, machte ihm diese Rede doch einen gewissen Eindruck, und der Schraubstock um Wricks Hand lockerte sich ein wenig. Burnes merkte das. »Wenn Sie diese Bestie loslassen, erschieße ich Sie beide«, gelobte er wütend. »James, stehen Sie nicht wie ein angemalter Türke da, telephonieren Sie dem Arzt, aber schauen Sie, daß Sie diesmal das Gegenstück unseres famosen Blunt erwischen! Es kommt zwar kaum darauf an, da man dem armen Kerl ohnehin nicht mehr helfen kann. Das scheint ein glatter Herzschuß zu sein, das Blut ist ja nicht zu bändigen…« Er war neben dem Reglosen niedergekniet und versuchte, mit Tüchern, die ihm der entsetzte Diener indessen gebracht hatte, das Blut zu stillen, das aus dem Rücken rann. »Wie das nur möglich war – ich habe ihn beschworen, auf der Hut zu sein…« »Das kann ich Ihnen ganz genau sagen – aber es hat ja gar keinen Zweck, so einem obstinaten Esel etwas beibringen zu wollen«, jammerte Wricks. »Bertley, Sie können doch nicht so dumm sein, hören Sie doch… Gayfield erklärte mir, den Mörder zu kennen – er verlangte Geld dafür, daß er mich vorm Galgen rette…« »Beschuldigen Sie nicht einen armen Toten«, tobte Burnes, »eine dreiste Lüge…« »Sehen Sie in seiner Brusttasche nach«, kreischte Wricks mit überschnappender Stimme, »dort werden Sie meine schriftliche Zusage finden…« 91
»Ich denke nicht daran, nachzusehen – ich kann mir vorstellen, daß Sie in Ihrer satanischen Verschlagenheit so etwas hineinpraktiziert haben, als Sie ihn niedergestreckt hatten…« Burnes sprach mit einer Verachtung, die nicht mehr überboten werden konnte. »Und schoß mit dem Revolver auf mich selbst und warf ihn hinaus, nachdem ich ihn noch abgewischt hatte, und versteckte mich hinter dem Schreibtisch, schrieb diesen Zettel, steckte ihn in Gayfields Tasche – wohlgemerkt, so vorsichtig, daß ich nicht den kleinsten Blutfleck abbekam, und das alles in einer halben Minute, die zwischen den Schüssen und Ihrem Eindringen lag!« raste Wricks. »So ähnlich wird es auch gewesen sein…« murmelte Burnes. Er setzte seine Bemühungen um Gayfield fort und verband die Wunde. Indessen kam James zurück: »Der Doktor ist in einer Minute da«, versprach er, »ich hatte das ganz unwahrscheinliche Glück, ihn zu Hause zu erwischen – ich telephonierte indessen auch der Tochter des Armen – er hat sonst niemand…« »Nein, so war es nicht!« brüllte Wricks von Sinnen. »Bertley, Sie sind der einzige, der noch ein bißchen Hirn zu haben scheint – na, jetzt ist es wohl schon egal, der Kerl ist sicher nun über alle Berge, aber immerhin, hören Sie mich wenigstens an: Ich schrieb Gayfield diese Erklärung aus, von der ich redete, und er teilte mir daraufhin mit, daß er den Mörder kenne. Gerade, als er anscheinend den Namen nennen wollte, fiel ein Schuß, der ihn in den Rücken traf, den er dem Fenster zukehrte. Im nächsten Augenblick krachten zwei weitere Schüsse, die wohl mir galten, aber ich hatte mich hinter meinem Schreibtisch gedeckt, Mörtel und Kalk fielen auf mich, aber ich war unverletzt. Als ich mich vorsichtig erheben wollte, stürzten Sie ins Zimmer. Ich nehme an, daß der Mörder uns 92
belauschte und verhindern wollte, von Gayfield verraten zu werden. Darum erschoß er ihn – und Sie wollen jemandem weismachen, daß ich ihn getötet habe, ich – meinen Wohltäter, den Mann, der mich vor diesem ehrgeizigen Büttel retten wollte, dem nur daran liegt, einen Erfolg nachzuweisen, wurscht, wen er dafür unschuldig an den Galgen bringt? Bertley, Sie sind Zeuge, daß Gayfield für mich mit ihm stritt, daß es Gayfield war, der von meiner Unschuld überzeugt war und mich gegen diesen Bluthund in Schutz nahm! Kann es einen vernünftigen Menschen auf der Welt geben, der mir zumuten würde, so gegen mich selbst zu wüten?« Burnes erhob sich seufzend. Hier schien wirklich jede Hilfe vergeblich. Das Blut war gestillt, aber es war unmöglich, daß in der wachsbleichen Gestalt noch Leben sein konnte. Der Schuß mußte das Herz getroffen haben, daran war kein Zweifel… In diesem Augenblick hörte man draußen das Geräusch eines vorfahrenden Wagens, und kurz darauf betraten zwei recht gut gelaunte Polizisten das Zimmer. »Vorwärts«, kommandierte Burnes, »Haus durchsuchen – jeden Raum…« »Wozu?« protestierte Wricks, »glauben Sie, der Kerl hat bis jetzt gewartet? Würde mich nicht wundern, wenn er mit Ihrem eigenen Wagen weggefahren wäre…« Burnes war über diese neuerliche Frechheit empört, aber er lief doch rasch hinaus, sich nach seinem geliebten alten Freund umzusehen. Da sah er den Doktor ankommen. Mit ein paar Worten erklärte er die Situation, warf Bertley einen warnenden Blick zu, der eine sofortige Verengung des Schraubstocks um Wricks’ Hand und dessen Schmerzensschrei zur Folge hatte, dann machte er sich mit seinen Beamten auf die Suche. Nach einer Viertelstunde kamen die drei zurück, und Burnes hielt es nicht einmal für der Mühe wert, auf Bertleys fragenden Blick die Ergebnislosigkeit seiner Suche zu bekunden. Er trat 93
schweigend zum Doktor, der an dem kleinen Schreibtisch saß und den Totenschein schrieb. »Herzschuß, nichts zu machen«, sagte der Arzt halblaut. »Nein, nein«, rief eine schluchzende Stimme, und eine zierliche Mädchengestalt warf sich aufweinend über den Reglosen. »Vater, Vater, du kannst mich nicht verlassen – Vater hör mich…« Ein jaulender Hund stürzte herein, der indessen mit Vehemenz an der Tür gerissen und nun die Schnalle niedergedrückt hatte. Er warf sich neben dem Mädchen über den stillen Körper. Ein verzweifeltes Jaulen hub an, das mit dem haltlosen Weinen des Kindes zum Himmel schrie. »Mein armes Kind«, sprach der Doktor, dem selbst die hellen Tränen über die greisen Wangen liefen. »Mein armes Kind, Gott wird dich trösten.« »Niemand kann mich trösten«, rief das Mädchen, »ich habe nichts auf der Welt als Daddy, Sie dürfen ihn nicht sterben lassen, Sie können ihn doch nicht weggehen lassen von mir, was soll ich ohne ihn tun? Vater, Daddy, Darling, bleibe bei mir, Robbie, hilf mir doch, halte ihn fest, wir dürfen ihn nicht weglassen…« In diesem Augenblick bewegte Gayfield wie abwehrend die Hand. Diese schwache, kaum merkliche Regung schien alle zu elektrisieren. »Schnell, kaltes Wasser, Eis«, brüllte der Arzt, »James, der Ambulanzwagen soll nicht wegfahren – man soll Gayfield sofort hinaustragen – Dun«, schrie er den eben wieder eintretenden Sanitäter an, »aufpacken, größte Vorsicht – Sauerstoff bereithalten, ich sitze neben ihm, Achtung, daß der Verband nicht verschoben wird – schnell ins Spital – vielleicht ist er zu retten… eine Herznaht, irgendwer soll telephonieren, man soll alles für die Operation fertigmachen, vielleicht erwischen wir einen guten Operateur – schnell, um Gottes willen!« 94
»Einen guten Operateur?« schrie Wricks. »Was soll das heißen – den besten Operateur des Königreiches, ich zahle jeden Betrag! Dieser Mann, der für mich sein Leben wagte, muß gerettet werden, er bedeutet ja auch meines… Doktor, hier sind fünfhundert Pfund« – er riß einen seiner ominösen Scheine aus der Tasche –, »ich beschwöre Sie, tun Sie, was menschenmöglich ist, sagen Sie dem Fahrer, er soll rasen – fliegen – ich zahle alle Strafen – er bekommt hundert Pfund, wenn dieser Mann gerettet wird…« Mit tiefer Empfindung hatte Burnes das junge Mädchen beobachtet, in dessen Mienenspiel sich alle Gefühle wie in einem offenen Buch verfolgen ließen. Er vermeinte, nie etwas so Schönes gesehen zu haben. Unwillkürlich traten zwei andere Frauengestalten vor sein geistiges Auge, die einmal durch sein junges Leben geschritten waren. Gewiß, ihre Schönheit hatte ihn ergriffen, aber was er nun, angesichts dieses unaussprechlich süßen Gesichtchens, dieser holdseligen Erscheinung empfand, war etwas ganz anderes, es war – wie sollte er es sich selbst deuten –, es war ein Glück, daß Bertley seinen lebenden Schraubstock in Funktion erhielt. Wenn Wricks jetzt geflohen wäre, hätte Burnes es nicht einmal bemerkt. Aber dieser wackere Schloßherr schien nur mehr an das Wohl und Wehe des schlichten Forstmannes zu denken, dessen marmorn starre Gestalt eben auf der Bahre ins Krankenauto gehoben wurde. Der Doktor nahm neben ihm Platz und winkte auch dem jungen Mädchen. Schnell sprang Burnes hinzu und half ihr in den Wagen. Ein dankbarer Blick traf ihn, dann flog der Schlag zu. Niemand hatte bemerkt, daß auch der Hund gewandt unter die Bahre gesprungen war, als Burnes dem jungen Mädchen hineingeholfen hatte. »Nun«, sagte Burnes zu seiner kleinen Schar, während oben James begann, die Blutflecken aufzuwaschen, »jetzt heißt es beten – mehr können wir nicht tun.«
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Er warf dem Wagen, der eben zwischen den Bäumen verschwand, noch einen Blick nach. »Und was geschieht mit mir?« fragte Wricks. »Mr. Wricks«, sagte Burnes mit eisiger Stimme, »ich verhafte Sie wegen Mordes und gemeinen Raubes an dem Juwelier Jan van Raan sowie wegen versuchten Mordes an dem Förster John Gayfield. Ich mache Sie aufmerksam, daß jede Ihrer Äußerungen protokolliert wird und bei Gericht gegen Sie verwendet werden kann.« Entsetzt starrte Wricks ihn an. Er erinnerte sich, was Gayfield ihm gesagt hatte – das war außerhalb aller Berechnungen geblieben! Unter diesen ganz unvorhergesehenen Umständen durfte er sich keinesfalls einsperren lassen – das wäre das Ende von allem gewesen. Fieberhaft arbeiteten seine Gedanken. Mit Interesse verfolgte Burnes das bewegte Mienenspiel seines Gefangenen. »Vorwärts, Bertley, her mit den Handschellen«, befahl er, »und nehmen Sie Ihr Schießeisen in die andere Hand – sicher ist sicher. Ich setze mich in meinen Wagen und folge euch. Fahrt nicht allzu schnell und seht euch immer nach mir um, damit wir in London nicht durch den Verkehr getrennt werden. Wricks, ich mache Sie aufmerksam: Wenn Sie sich durch irgendeinen Trick freimachen und versuchen sollten zu entfliehen, so schieße ich Sie sofort nieder, und wenn ich dafür an den Galgen kommen sollte. Ich weiß, daß Sie der Mörder sind! Sie hängen – so wahr ich Burnes heiße! Das schwöre ich Ihnen, und wenn Sie dem Strick entkommen, so erwischt Sie meine Kugel. Also richten Sie sich danach. Sie können Ihre Wahl treffen, soweit es Ihnen Bertley erlaubt.« »Keine Sorge, Burnes«, sagte Bertley grimmig und gab der eben angelegten Handschelle einen Riß, daß Wricks in die Knie brach, »keine Sorge, die Kette hält, und mein Arm hat den gleichen Festigkeitskoeffizienten, wenn er auch nur aus Fleisch und Knochen besteht.« 96
»Burnes, ich bin unschuldig«, schrie Wricks. »Sie haben Gayfield ermordet oder wenigstens Ihr Bestes getan, ihn für ewig stumm zu machen.« Burnes betrachtete sinnend das kleine Stückchen Stoff, das er der Umklammerung von Gayfields Fingern mühsam entwunden hatte. »Verraten Sie mir lieber, was dieses Zeug da zu bedeuten hat? Von Ihren Sachen stammt es nicht – es wird wohl seine Geschichte haben?« »Keine Ahnung, Inspektor, ich schwöre…« »Schwören Sie nicht in einem fort, es wird mir langsam langweilig. Hm, Sie wissen es nicht? Es wird wohl Gayfields Vermächtnis sein! Ich werde ihn fragen. Er wird es mir sagen. Die Liebe seines Kindes hat ihn auf diese Erde zurückgerufen und wird ihn hier auch festhalten. Es ist Ihnen nicht gelungen, den Mann, der des Rätsels Lösung in irgendeiner Form in der Hand hielt, stumm zu machen. Er wird reden – und Sie werden hängen; vielleicht nicht allein.« Das gab den Ausschlag. Wild blickte Wricks um sich. »Hören Sie, Burnes«, sagte er mit heiserer Stimme, »Sie sind ein Esel und haben den Mörder Gayfields entwischen lassen – direkt unter Ihrer Nase.« »Schweigen Sie wenigstens mit dem Stiefel«, fuhr Burnes ihn an. »Wenn ich Ihnen beweisen könnte, daß ich van Raan nicht getötet habe, dann würden Sie doch keinen Grund haben, mich des Mordes an Gayfield zu verdächtigen? Entweder Sie glauben, ich habe ihn umgebracht, weil er mich als den Mörder van Raans enthüllen konnte, oder Sie müssen glauben, daß er das Gegenteil beweisen konnte – dann hätte ich erst recht keinen Grund gehabt, ihn aus dem Weg zu schaffen. Im ersteren Falle aber müßte ich der Mörder van Raans sein. Wenn ich es nicht bin, was für einen Grund hätte ich, einen Mord zu begehen, den man mir sofort anlasten mußte?«
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»Sie hofften, rechtzeitig wegzukommen, glaubten, ich sei weit im Wald bei dem Toten, wie Gayfield mir geraten hatte. Wie konnten Sie ahnen, daß ich nur ein paar Schritte in den Wald gegangen war, wohl wissend, daß Gayfield Ihnen irgendeine Falle stellen wollte, in die Sie auch prompt fielen! Als Sie dies herausfanden, schossen Sie ihn eben über den Haufen – und als Sie merkten, wir seien zu nahe, als daß Sie noch wegkommen konnten, stellten Sie schnell die hübsche Bühne zusammen, die Sie mit Ihren erfindungsreichen Märchen zu beleben versuchen.« »Glauben Sie, was Sie wollen. Aber wenn ich Ihnen beweise, daß ich van Raan nicht getötet habe, müssen Sie mich freilassen. Dann können Sie Ihre Anklage wegen Mordversuches an Gayfield auch nicht aufrechthalten, dann dürfen Sie vielleicht meinen Paß nehmen – aber Sie müssen mich freilassen…« Wie wahnsinnig starrten Wricks Augen in die des jungen Beamten. Na, der kriegt ja etwas früh seine Haftpsychose, dachte dieser erstaunt. »Das hätte wohl mein Chef zu entscheiden…«, sagte er vorsichtig. Eine Hoffnung dämmerte in Wricks auf. »Kommen Sie«, schrie er, »wir fahren nach London – und ich will so lange suchen, bis ich die verdammte Höhle finde, in der ich gestern gespielt habe – ich muß sie finden, ich muß, und wenn ich ganz London auf den Kopf stellen müßte…« »Ei«, sagte Burnes mißtrauisch, »woher diese plötzliche Zuversicht?« »Wer muß, der kann«, rief Wricks. »Kommen Sie, Burnes, der Boden brennt mir unter den Füßen, fahren wir nach London – Sie können mir das nicht verwehren – ich will mein Alibi beweisen.« »Gut«, sagte Burnes, »aber vergessen Sie nicht, Sie bleiben verhaftet, und was ich gesagt habe, das gilt auch weiterhin, bis 98
Sie mir ein lückenloses Alibi nachgewiesen haben. Dann mag Chefinspektor Walter über Sie entscheiden. Bertley, wir fahren! – Sergeant«, wandte er sich an einen der beiden Beamten, »Sie bleiben hier. Veranlassen Sie, daß das Auto mit dem Toten aus dem Wald geholt wird und morgen der Jury zur Verfügung steht. Shrewster soll mich bei der Totenschau vertreten, wie wir bereits besprochen haben, falls ich nicht zugegen bin. Noch eine Frage? Nein? Gut. Also Gott befohlen. James, Sie dürfen Mr. Wricks das Nötigste einpacken, aber etwas schnell, wenn ich bitten darf.« Müde warf er sich in seinen Wagen, während Bertley sich mit dem Gefangenen in den Fond des Polizeiwagens setzte und dessen Fahrer am Lenkrad Platz nahm. Stillschweigend entfernte sich James, um seinem Herrn das Gepäck zu richten.
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8. KAPITEL EIN GESTÖRTES DINNER In London angekommen, parkte Burnes seinen Wagen im Hof von Scotland Yard, und ohne sich dort aufzuhalten, übersiedelte er in das Fahrzeug, in dem Bertley und Wricks noch die Rolle siamesischer Zwillinge spielten. Nach kurzer Überlegung erlaubte er Bertley, dem Verhafteten die Handschellen abzunehmen, und ließ Wricks neben dem Fahrer Platz nehmen, während er sich zu seinem Kollegen in den Fond setzte. »Also, zeigen Sie uns nun, wo Sie sich gestern in so geselliger Weise ausgetobt haben«, forderte er seinen Fahrgast auf. »Aber noch einmal warne ich Sie – unterlassen Sie alle Seitensprünge, wenn Sie nicht Appetit auf eine blaue Bohne haben sollten.« Wricks ignorierte diese Bemerkung und begann den Polizeichauffeur zu dirigieren. Kreuz und quer ging es durch Soho, dann durch die Tottenham-Court-Gegend, Strand und City bekamen auch einen Besuch – verzagt schüttelte Wricks zuweilen seinen Kopf. Burnes verfolgte mit grimmigem Vergnügen dieses Tun, neugierig, was Wricks wirklich im Schilde führe. Nicht im Traum dachte er daran, daß auch nur ein wahres Wort an der Geschichte mit den Darts war. Um so verblüffter war er, als Wricks plötzlich auf ein grell gelb-rotes Kinoplakat wies. »Hier in der Nähe war es«, schrie er aufgeregt, »ich erinnere mich an dieses Riesenplakat, das mich an unsere amerikanischen Anzeigen gemahnte – warten Sie, warten Sie…«
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Und er begann, halb im Wagen stehend, den Lenker hin und her zu jagen. »Jetzt kommt bestimmt eine faustdicke Schweinerei«, flüsterte Burnes warnend seinem Nachbarn zu; und beide hielten ihre Pistolen schußbereit. Aber Wricks ließ plötzlich mit einem Triumphschrei den Fahrer vor einem unscheinbaren Lokal anhalten. »Hier war es«, rief er voll Freude, »habe ich es doch gefunden, nie hätte ich das für möglich gehalten, aber in der Not…« Er machte Anstalten, aus dem Wagen zu klettern. »Geduld«, schrie Burnes, »warten Sie, bis ich Ihnen heraushelfe!« Schnell wie der Blitz stand er am Wagenschlag, den Wricks indessen geöffnet hatte. »Nur alles mit der Ruhe«, und liebevoll packte er seinen Gast am linken Arm, während Bertley in seinen rechten einhakte. So betrat man selbdritt einträchtig die Bar, obgleich die Tür solchem Einmarsch nicht ganz proportioniert war. Mit größtem Staunen mußte Burnes erleben, wie man Mr. Wricks hier begrüßte. »Ah, da sind Sie ja«, rief ein etwas beleibter, stiernackiger Bursche und sprang von einem der Tische auf. »Nett, daß Sie wiederkommen. Und Sie bringen Gesellschaft mit? Was für eine gute Idee! Hallo, Jumbie, schnell eine Runde für meine Freunde hier, fünf helldunkel, aber fix, und her mit den Darts – Zeit ist Geld, und in diesem Falle gutes Geld, was?« Der mit Jumbie Angeredete entpuppte sich als der herkulische Wirt dieser vielversprechenden Gaststätte, und schon kam er mit den bestellten Drinks angewatschelt. »Fein, Sir, daß Sie uns nicht vergessen haben«, begrüßte er Mr. Wricks. »Hm, mit Ihrer Reise nach Brüssel war es also doch nur ein Geflunker? Nichts für ungut – Sie sahen, daß die Partie für Sie faul stand – na – nicht jeder ist ein so guter
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Verlierer. Immerhin, Sie zahlten Ihren Einsatz. Also nichts für ungut – haben Sie zu Hause ein bißchen geübt?« »Ich fürchte, wir gaben ihm allzuviel Gelegenheit dazu«, sagte Burnes mit Stirnrunzeln, wagte aber nicht, den ihm aufgedrängten Becher abzulehnen. Er nahm einen kleinen Schluck, während Wricks und Bertley dem Wirt und dem edlen Spender herzhaft Bescheid taten. »Nun, Sie hatten schon einmal das Vergnügen, mit diesem unserem Freund hier die Waffen zu kreuzen?« »Ein wirkliches Vergnügen«, bestätigte der fröhliche Zecher, dem er seinen Drink verdankte. »Obwohl ich nicht behaupten will, daß unser lieber Jimmy hier ein Meister in unserer Kunst genannt werden kann. Aber er versteht einen Spaß – und das ist bei uns die Hauptsache, was, alter Junge?« Und er gab Wricks einen Schlag auf die Schulter, der einem Ochsen Eindruck gemacht hätte. »Also los, da sind die Darts, was soll es gelten?« »Hm«, sagte Burnes, »um der Wahrheit die Ehre zu geben – wir sind nicht hierher gekommen, die Partie fortzusetzen, die unser lieber Jimmy begonnen hat. Um es genau zu sagen – hm, wann war das übrigens, können Sie sich noch erinnern?« »Freilich«, antwortete der Gefragte befremdet, »es war so gegen sechs, wenn ich nicht irre, daß Jimmy ‘reinsegelte. Er sah ein bißchen zu – fiel mir gleich auf, und als wir dann eine kleine Differenz in unserer Partie hatten, ließen wir ihn entscheiden. Nun, wir brachten die Sache auch ohne ihn zu einem günstigen Ende.« Nachdenklich strich sich der Sprecher über eine blaurote Beule, die die Symmetrie seiner Denkerstirn beeinträchtigte. »Auf diese Weise verloren wir leider ein paar empfindliche Partner – und da war es Jimmy, der in ausgesprochen verständnisvoller Weise einsprang. Er ließ sich das Spiel und unsere Regeln erklären, und ich muß zugeben, daß er die theoretische Seite rasch erfaßte, was jedenfalls ein Zeichen höherer Intelligenz ist. Mit der Praxis allerdings 102
haperte es etwas – er verlor konstant, und das schien ihn zu ärgern. Mit einem Male erklärte er, zu einem Zug zu müssen, da er auswärts wohne und noch unbedingt bei Nacht nach Hause müsse, um sein Gepäck in Ordnung zu bringen; er reise am nächsten Tag dringend nach Brüssel. Er redete ein bißchen viel, so daß wir natürlich gleich sehen konnten, daß er log und nur weg wollte. Es gab, wenn ich so sagen darf, ohne ihm nahezutreten, einen Krach, aber er zahlte die Partie voll aus. Er sah ein, daß er sie unbedingt verloren hätte, und hatte ja kurz vorher Gelegenheit gehabt zu beobachten, wie wir dafür sorgen, daß alles regulär zugeht; Prellereien werden in unserem ehrenwerten Kreis nicht geduldet, und es fehlt uns auch nicht an der nötigen Festigkeit, unsere Prinzipien in die Tat umzusetzen. So fand die Sache eine uns vollkommen befriedigende Lösung, wenn sie vielleicht auch nicht ganz seiner Auffassung entgegenkam. Wir holten ihm noch ein Taxi – Ben hatte seinen Karren in der Nähe –, so ging die Sache eigentlich ganz ritterlich zu Ende. Ich muß sagen, ich freue mich, aus seinem Wiederkommen schließen zu können, daß er unsere Auffassung voll und ganz zu würdigen weiß. Ich sage ja, er ist ein jolly good fellow, der einen Spaß versteht… freut mich, daß wir uns nicht in ihm geirrt haben, solche Burschen sollte es nur noch recht viele geben – wie schön wäre dann das Leben…« Burnes gab durch seinen abweisenden Gesichtsausdruck ziemlich deutlich zu erkennen, daß ihm an einer Vermehrung der Species Jimmy Wricks nicht gerade viel gelegen sei, und wandte sich fragend an den Wirt: »Stimmt das, Barkeeper?« fragte er in scharfem Ton. »Wann hat sich das zugetragen? Ich mache Sie aufmerksam, daß es um eine ernste Sache geht – unwahre Äußerungen könnten Ihnen unter Umständen ein paar Jährchen hinter anderen Gittern als dem Ihrer Bar eintragen.« Er zeigte seinen Ausweis. 103
Jumbie pfiff durch die Zähne. »Oh«, sagte er, »steht es so?« Und mit unverkennbarem Respekt musterte er Mr. Wricks, der sich anscheinend ein recht achtunggebietendes Interesse der Polizei zu erringen gewußt hatte. »Hm, ich kann sagen, daß alles stimmt, was Charlie da erzählt hat – das war gestern zwischen sechs und sieben am Abend. Warum fragen Sie?« »Sind Sie bereit, das zu beschwören?« »Vor jedem Richter«, versicherte Jumbie, »und ich kann noch mindestens ein Dutzend meiner Stammgäste und mein ganzes Personal als Zeugen dafür bringen, inbegriffen den Chauffeur, der Old Jimmy weglotste.« In der Tat drängten sich ein paar Gäste heran, die die Aussagen der beiden bestätigten und sich als respektable Kleinbürger aus der Umgebung auswiesen. Verwirrt notierte sich Burnes ein paar Adressen jener Zeitgenossen, die ihm am vertrauenswürdigsten erschienen. Zu allem Überfluß holte man ihm noch den Straßenposten herein. »Hat seine Richtigkeit, Inspektor«, berichtete der, nachdem er sich Burnes’ Ausweis genau besehen hatte, »ich hatte gestern um die Zeit Dienst wie heute, erinnere mich deutlich, daß da etwas los war, aber als ich dazukam, war alles wieder ruhig. Vorsichtshalber blieb ich in der Nähe und behielt ein Auge auf dieses süße Plätzchen – doch geschah weiter nichts. Ich sah nur, wie der alte Ben nach etwa einer Stunde, dürfte ziemlich genau gegen sieben oder viertel acht gewesen sein, ‘rangepfiffen wurde und mit diesem Herrn da wegfuhr.« »Können Sie sich so genau erinnern, daß Sie ihn mit Bestimmtheit wiedererkennen?« »Absolut, Sir«, versicherte das Auge des Gesetzes, »er ist es. Er war mir schon aufgefallen, als ich eine halbe Stunde vorher in die Bar gekommen war, um nachzusehen, was es gegeben habe. Es kam mir fast vor, als dränge er sich an mich – eine eher seltene Erscheinung in dieser Gegend, wo 104
unsereiner keine besondere Anziehungskraft auf die Eingeborenen auszuüben pflegt. Dachte mir gleich, daß es ein Fremder sein müsse. So habe ich mir dieses Wundertier besonders gut angesehen, und die hier nicht zu häufige Benützung eines Taxis, die er sich leistete, brachte ihn mir noch einmal eindrucksvoll in Erscheinung. Ein Irrtum ist ganz ausgeschlossen.« Das gab den Ausschlag. Burnes gab einen Wink, Bertley leerte noch schnell sein Glas, und zur lebhaften Enttäuschung der Umgebung, die allerdings durch das damit verbundene Verschwinden der nicht allzu beliebten Vertreter des Gesetzes gemildert wurde, verzog sich die Gruppe in das Auto. Burnes befahl, nach Scotland Yard zu fahren. Nachdenklich betrachtete er Wricks, der zu seiner Verwunderung gar kein besonders begeistertes Gesicht schnitt. Im Yard angekommen, schleppte er ihn mit dem getreulich folgenden Bertley sofort vor seinen Chef. Walter hatte einen anstrengenden Tag hinter sich. Mit Geduld hörte er sich den Bericht seines Untergebenen an, während Wricks mit Bertley im Vorzimmer des Polizeigewaltigen schmachtete. Mühsam suchte der Chefinspektor in den widersprechenden Mitteilungen nach Sinn und Ordnung. »Eine verteufelte Sache«, sagte er, als Burnes seine etwas langatmigen Ausführungen beendet hatte und aufatmend sein Notizbuch schloß. »Eine ausgesprochen verteufelte Geschichte«, wiederholte er und fuhr sich sorgenvoll durch die spärlichen weißen Haare. »Wenn dieser Wricks wirklich schuldlos sein sollte, haben wir einen schönen Tanz mit der amerikanischen Botschaft. Ich kenne die Brüder, die verstehen da keinen Spaß – und unsere Zeitungen mit ihrer verdammten Fremdenverkehrspropaganda sind eine glatte Pest bei solcher Gelegenheit, anstatt die heimischen Behörden im Kampf gegen das Verbrechertum, das da herüberdrängt, zu unterstützen und 105
einen manchmal unvermeidbaren Fehlgriff zu bagatellisieren. Wenn das so weitergeht, werden sich die Chikagoer Kanonaden, mit denen die da drüben gerade fertig geworden sind, bei uns einbürgern. Das kann lieb werden.« »Es kann sich hier um keinen Fehlgriff handeln«, beteuerte Burnes. »Auch ich bin ziemlich überzeugt, daß der alte Bursche seine Pfoten in der Pastete hat, wenn er sie auch nicht selber servierte«, meinte der erfahrene Kriminalist. »Was da wohl dahinter stecken mag?« Er dachte einige Augenblicke nach. »Es hat keinen Sinn, ihn ins Loch zu stecken. Ist er unschuldig, haben wir einen Haufen Scherereien, ohne jeden Grund. Und ist er in der Sache drin, verstopfen wir uns die einzige Quelle, aus der wir bei sorgfältiger Beobachtung etwas herauskriegen könnten. Wir müssen ihn laufen lassen – so gefährlich es sein mag, so einen Wildling freizugeben. Wir werden ihm jemanden auf die Spur setzen…« »Den er in fünf Minuten abhängt«, prophezeite Burnes ahnungsvoll. »Und dann ist der Teufel los, in des Wortes buchstäblichster Bedeutung.« »Wir müssen es riskieren, Burnes – es bleibt nichts übrig«, entschied Walter nach kurzem Besinnen. »Lassen Sie ihn einmal herein.« Burnes öffnete die Tür, und die beiden Wartenden traten ein. Wricks näherte sich mit der Miene eines gekränkten Gralsritters. »Ah, Mr. Wricks, wenn ich nicht irre?« begann Walter in seinen schönsten Tönen. »Ein äußerst bedauerliches Mißverständnis – ein beklagenswerter Irrtum, den Sie einem übereifrigen jungen Menschen in der großmütigen Art Ihrer bewunderungswürdigen Nation nachsehen werden – wenn ein alter Mann wie ich Sie darum bittet?«
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»Mr. Burnes tat nur seine Pflicht«, sagte Wricks mit strahlender Miene, holdselig den alten Herrn anlächelnd. Verblüfft betrachteten die anderen diese plötzliche Wandlung. »Ich denke gar nicht daran, ihm das übelzunehmen. Ich bedauere nur, daß er den wahren Täter entschlüpfen ließ – aber wer weiß, ob ihn ein anderer erwischt hätte? Wir alle machen Fehler, nicht wahr? Also nehmen Sie ihm seinen jugendlichen Enthusiasmus, mit dem er sich auf mich gestürzt hat, ebensowenig übel, wie ich ihm die mir von ihm und seinem charmanten Kollegen erwiesenen Aufmerksamkeiten nachtrage.« Wricks rieb sich sein rechtes Handgelenk. »Ich darf wohl annehmen, daß ich mich nun entfernen darf? Es war mir ein besonderes Vergnügen…« »Ah«, sagte Walter liebenswürdig, »sprechen wir nicht mehr davon. Dagegen muß ich Sie bitten, mir zu erlauben, gewisse unliebsame Erinnerungen auf Ihrer Seite durch einen kleinen Gegendienst auszugleichen, den Sie mir gewiß zu danken wissen werden. Ich bitte Sie, unseren Schutz für die nächste Zeit anzunehmen… Wie wir wissen, hat der von uns gesuchte Verbrecher auch Ihrem Leben nachgestellt. Er nahm offenbar an, daß Sie ihn bei seinem Versuch, Gayfield aus dem Weg zu räumen, gesehen haben. Ich zittere, daß er alles daransetzen wird, Sie unschädlich zu machen…« »Oh«, sagte Wricks stirnrunzelnd, »machen Sie sich keine Sorgen um mich, ich fürchte mich absolut nicht…« »Sie sind ein Held«, sagte Walter bewundernd, »ich habe nie daran gezweifelt – aber darum handelt es sich nicht, Sie zu beruhigen. Ich weiß, dessen bedarf es in keinem Falle. Aber es ist meine Pflicht gegenüber dem Angehörigen einer uns so innig befreundeten Nation, für seine Sicherheit zu sorgen – die ist in höchstem Maße bedroht. Wie könnte ich es Ihrem hochverehrten Herrn Botschafter gegenüber jemals verantworten, wenn Ihnen etwas zustieße? Abgesehen von den dienstlichen Unannehmlichkeiten, die mir daraus erwachsen 107
würden, käme mein eigenes Gewissen nie zur Ruhe. Ich bitte Sie also, meinen Schutz gütigst anzunehmen und jeden Versuch, sich ihm zu entziehen, zu unterlassen. Ich müßte Sie sonst in Schutzhaft nehmen. Das wäre eigentlich meine Pflicht – die ich nur zu Ihrer Bequemlichkeit vernachlässige. Aber ich habe volles Vertrauen zu meinen Beamten, die ich mit Ihrer Beobachtung betrauen werde. Ich bitte nur um Ihre gütige Mitarbeit – in Ihrem eigenen, wohlverstandenen Interesse –, da meine Beamten, wenn sich Schwierigkeiten in der Durchführung der ihnen anvertrauten Aufgabe herausstellen sollten, angewiesen sind, Sie sofort in Schutzhaft zu nehmen…« Man konnte sehen, daß Wricks eifrig nachdachte. Er schien sich klar zu sein, daß Walter von seiner menschenfreundlichen Idee nicht abzubringen war. »Ah«, sagte er nach einer kleinen Pause, »ich muß zugeben, daß etwas an dem ist, was Sie da sagen. Ich bin Ihnen für diesen Beweis Ihres gütigen Interesses aufrichtig verbunden, obwohl es mir natürlich äußerst peinlich ist, der Regierung eines so gastlichen Freundeslandes noch Auslagen und Mühen zu bereiten. Um wenigstens die ersteren auf ein Minimum zu reduzieren, schlage ich Ihnen vor, mir nicht einen Ihrer Herren nachzuhetzen, daß er mir mit heraushängender Zunge nachläuft. Es wäre mir ausgesprochen unerträglich, das Gefühl zu haben, daß jemand, während ich beispielsweise in einem guten Restaurant speise, vor der Tür in Kälte und Nässe, hungrig und frierend auf mich warten soll… Nein, das können Sie von mir nicht verlangen, ich könnte keinen Bissen hinunterbringen. Erlauben Sie mir, den Betreffenden als meinen Gast einzuladen! Wenn er mit mir kommt, kann er auch seine Aufgabe, mich zu schützen, besser und leichter erfüllen – meinen Sie nicht?«
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Mißtrauisch beäugten Walter und Burnes ihren so zartfühlenden Schützling, während Bertley, der sich irgendwie in die Konversation gezogen fühlte, mit Interesse nähertrat. »Ich glaube, Mr. Bertley hat sich nach den Anstrengungen dieses Tages und insbesondere mit Rücksicht auf das wohltuende Interesse, das er an meiner Person genommen hat, eine kleine Erholung redlich verdient – auch habe ich mich an seine zuvorkommende Art bereits gewöhnt, er ist gerade das, was ich brauche, um mich sicher zu fühlen: rauh aber herzlich, klug und doch aufrichtig.« Bertley wuchs um zwei Zoll, obgleich man das bei seiner Größe schwer für möglich gehalten hätte. Mit äußerst wohlwollender Miene betrachtete er den Sprecher. Wricks bemerkte dies und fuhr ermutigt fort: »Ich würde es begrüßen, wenn Ihre Wahl auf diesen pflichttreuen und so überaus fähigen Beamten fiele, ja ich möchte sagen, daß ich mich nur dann Ihren wohlmeinenden Anordnungen fügen würde, wenn Sie ihn meine Einladung akzeptieren ließen und mit der von Ihnen gedachten Aufgabe betrauen wollten. Mr. Burnes macht einen so übermüdeten Eindruck, daß ihm jedenfalls für heute eine Pause gegönnt werden muß. Soweit ich verstehe, hatte er während der vergangenen Nacht Dienst und dürfte keine zwei Stunden Ruhe gehabt haben. Sie werden mir zustimmen, wenn ich sage, daß unsere jungen Leute von heute solchen Strapazen nicht gewachsen sind, eine Nervenüberreizung ist die unvermeidliche Folge, die dann zu so bedauerlichen Mißverständnissen führt, wie wir sie heute erlebt haben. Ich kann mir nicht denken, daß ich mich unter seinem Schutz sicherfühlen könnte – ich würde mehr auf ihn als er auf mich aufzupassen haben.« Ein Blick in das magere Gesicht von Burnes, unter dessen brennenden Augen tiefe Schatten lagen, genügte, um Walter erkennen zu lassen, daß Wricks wenigstens in diesem 109
Augenblick etwas Richtiges bemerkt hatte. Er wußte auch, daß er im Augenblick keine besonderen Leute verfügbar hatte. Und wenn er sich auch über die geistigen Qualitäten Bertleys keinen Täuschungen hingab, so war die Aufgabe, die dieser zu übernehmen hatte, immerhin nicht allzu kompliziert – und andererseits war seine Muskelkraft und sein phlegmatisches Nervensystem für so eine Sache entschieden eine Empfehlung. So entschloß er sich trotz Burnes’ skeptischen Blicken, Wricks’ Anregung aufzugreifen und seinen Vorschlag anzunehmen. »Nun, Bertley«, sagte er freundlich, »es freut mich, so schöne Worte über Sie zu vernehmen, noch dazu aus einem allem Anschein nach äußerst sachverständigen Munde. Bitte, nehmen Sie also Mr. Wricks’ Einladung ruhig an. Sie werden sich für seine Großmut sicher durch besondere Anhänglichkeit erkenntlich zeigen; also bitte folgen Sie ihm überallhin, verstehen Sie mich wohl? Überallhin, wohin er auch gehen mag, als seien Sie mit ihm zusammengewachsen. Melden Sie mir sofort alles Auffällige. Verlassen Sie ihn zu keiner Stunde des Tages und der Nacht, sein Leben ist mir unendlich wertvoll. Und ich fürchte, daß es nicht viel wert ist, wenn wir ihn aus den Augen verlieren.« Wie wahr der alte Seher gesprochen hatte, sollte sich nur allzubald zeigen. Walter gab noch einige weise Reden von sich, dann entließ er Wricks samt seinem neuen Mentor mit allen Zeichen besonderer Gnade. »Ah«, sagte er dann, »ich möchte schwören, daß ich jetzt einen ziemlich kapitalen Bock geschossen habe – aber ich hatte nicht viel Wahl. Und gerade, daß Wricks keinen Napoleon neben sich weiß, wird ihn vielleicht zu einer Unvorsichtigkeit führen, die uns weiterbringt. Also leben Sie wohl, Burnes, schauen Sie, daß Sie schleunigst ins Bett kommen – morgen reden wir weiter. Bleiben Sie aber unbedingt von nun an zu 110
Hause, damit ich Sie sofort erreiche, wenn dieser Wricks Extratouren zu reiten beginnen sollte.« Mit Verwunderung bemerkte Walter, daß sein Jünger etwas errötete und mit bemerkenswertem Interesse das Muster des Teppichs zu seinen Füßen zu studieren schien. »Ich möchte ersuchen, die nächsten ein bis zwei Stunden nicht mit mir zu rechnen«, sagte der junge Mann dann etwas stockend. »Ich möchte noch einen dringenden Besuch machen…« »Jetzt in der Nacht?« fragte Walter überrascht. »Es ist bald acht, wenn mich meine Uhr nicht trügt.« »Ich glaube, ich werde noch vorkommen können«, meinte Burnes, der indessen mit seinen Untersuchungen bei den Stiefelspitzen seines Chefs angelangt war. »Wo wollen Sie denn hin«, fragte Walter, »es interessiert mich, da ich Sie vielleicht dort erreichen könnte, für den Fall…« »In das St. Johns Hospital«, gestand Burnes. »Ich hörte, wie Wricks mit dem Doktor ausmachte, dort die Operation vorzunehmen – ich möchte hören, wie es gegangen ist…« »Nehmen Sie das Telephon«, riet Walter, »Scotland Yard bekommt sofort jede Auskunft.« »Ich möchte persönlich hinfahren, vielleicht hat er etwas gesagt.« »Kaum anzunehmen. Und wenn, werden die Idioten nichts davon verstanden haben, es ist ja niemand dort, der den Fall kennt…« »Seine Tochter ist mit ihm…« »Ah, die Tochter, so… hm… eine ältere Dame?« »Könnte ich nicht behaupten«, sagte Burnes, dessen Blicke nun zu dem eigenen Schuhwerk zurückgekehrt waren und dessen Gesichtsfarbe jetzt an einen prächtig gesottenen Hummer erinnerte.
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»Nun, von so einer jungen Gans könnten Sie eigentlich nicht viel erwarten.« »Sie scheint mit ihrem Vater so verwachsen zu sein, daß sie jede Andeutung verstehen und – äh, ausdeuten könnte; mir liegt unendlich viel daran, so rasch als möglich hinzukommen…« »Das scheint wirklich der Fall zu sein«, bemerkte Walter mißbilligend. »Ihr Vater ist dieser Forstmann, von dem Sie in Ihrem Bericht mehrfach sprachen, der so merkwürdig viel Verständnis für die Untersuchung zeigte – hm, wie war der Name…« »Gayfield, John Gayfield«, beeilte sich Burnes zu melden, dessen Haupt sich hob wie eine Blume nach schwerem Regen, nun die Konversation sich einem anderen Gegenstand zuzuwenden schien. »Gayfield, ach ja, ich entsinne mich, Sie nannten den Namen… hm…« Walter versank in tiefes Nachdenken, aber das müde Gehirn tat nicht mehr recht mit. »Ach«, sagte er nach einer Weile, »Burnes, wollen Sie mir nicht den dritten Band vom Kasten heruntergeben? Richtig, den mit F–H, ja, diesen, ganz richtig.« Walter nahm den dicken Folianten. Er begann darin zu blättern, zurück, weit zurück… er überlas ein paar Zeilen, blätterte weiter, las wieder, blätterte weiter – immer weiter zurück… dann ließ er das Buch sinken und schloß die müden Augen. Burnes, dem die seinen auch zuzufallen begannen, dachte gerade daran, sich leise davonzumachen. »Ah«, erwachte Walter aus seinen Träumen. »Sie sind es, Burnes? Hm – Sie haben sich ja heute nicht gerade mit Ruhm bedeckt, wie mir scheint; immerhin, Sie haben einen guten Fang gemacht…« »Mit Wricks, nicht wahr?« rief Burnes hoffnungsvoll. »Mit Wricks?« wiederholte Walter verständnislos. »Nein, ich meinte mit Ihrem Va… äh… Ihrem Förster…« 112
Kopfschüttelnd verließ Burnes seinen Chef, der ihm mit leisem Lächeln nachblickte.
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9. KAPITEL ROSEN VON MR. WRICKS Burnes sah zu, daß er davonkam. Er warf sich in seinen Wagen und flog in sein bescheidenes Quartier. Dort warf er sich auf sein Sofa, während seine Hausfrau ihm ein heißes Bad richtete. Er schlief kaum eine halbe Stunde, dann badete er, rasierte sich und zog sich um, verspritzte eine Mischung seiner Toilettewässer auf sich, seinen dunkelblauen Anzug und sein Taschentuch, zog sich zum sechsten Male den Scheitel und lief dann zu seinem Mercedes. Auf dem Weg ins Spital stoppte er bei einer Untergrundstation, wo er in einem der bis in die Nacht hinein offenen Läden einen Strauß herrlicher Rosen erwarb. Im St. Johns Hospital erfuhr er, daß Gayfield gegen sechs Uhr eingelangt und sofort operiert worden war. Eine der berühmtesten Londoner Koryphäen hatte bereits mit allem Zugehör gewartet, die Operation war anscheinend gut verlaufen, und der Patient war sofort in das im Epping Forest gelegene Whipps Cross Hospital gebracht worden, wo indessen alles für seinen Empfang bereitgestellt worden war. Doktor, Hund und Tochter hatten ihn begleitet. Burnes warf sich abermals in seinen Wagen, und eine gute halbe Stunde später hielt er vor dem Riesenkomplex dieses prachtvollen Spitals, das inmitten herrlicher Parkanlagen, von stillen Wäldern umgeben, an der Stadtgrenze gelegen ist. Ein freundlicher Portier empfing ihn und wies ihn in den Pavillon, in dem Gayfield Unterkunft gefunden hatte. Es war fast zehn Uhr, als er sich melden ließ. Die etwas erstaunte Nachtschwester war von dem Ausweis des jungen Beamten immerhin so weit beeindruckt, daß sie einen Versuch machte – 114
und siehe da, eine halbe Minute später erschien das süße Gesichtchen Marjories, von weichen, dunklen Locken anmutig umrahmt, in der Tür. Sie trug das weiße Kleid einer Pflegerin. »Ach, Sie sind es«, sagte sie etwas erschrocken, »ich erinnerte mich nicht des Namens, den mir die Schwester nannte – ist es etwas sehr Wichtiges, das Sie herführt?« Burnes erholte sich von der leichten Verzückung, in die ihn der anmutige Anblick versetzt hatte. »Verzeihen Sie mir mein spätes Kommen«, sagte er verlegen, »aber die Sache ist furchtbar ernst – es steht Leben und Tod auf dem Spiele, wenn wir einer brutalen Verbrecherbande nicht bald das Handwerk legen. Da müssen private Rücksichten leider schweigen. Als Tochter eines tapferen Försters werden Sie dafür Verständnis haben.« »Gewiß«, lautete die Antwort, »wollen Sie nicht hereinkommen? Hier können wir nicht ewig stehen bleiben.« Sie führte ihn in ein kleines Zimmerchen, das man ihr neben dem ihres Vaters eingeräumt hatte, setzte sich auf die Ruhebank, die wohl ihr Nachtlager darstellte, und schob ihm einen Stuhl hin. »Was wollen Sie wissen?« »Vor allem, wie es Ihrem Vater geht. Er ist unser wichtigster Zeuge.« »Die Operation ist gut verlaufen, wie mir der Professor sagte. Er ist mit der Konstitution meines Vaters zufrieden und hofft bestimmt, ihn durchzubringen.« Innig drückte Burnes die kleine Hand. »Sie können nicht ahnen, wie glücklich mich Ihre Worte machen«, sagte er, wobei er ganz vergaß, diese Hand loszulassen. »Darf ich Ihnen von Herzen gratulieren? Ich fühle mich ja ein wenig schuldig an dem Unglück – leider gab ich dem Drängen Ihres Vaters nach, der auf eigene Faust etwas aus einem verdächtigen Individuum herausbringen wollte – und dabei geschah es.« 115
Mit kurzen Worten schilderte er die Geschehnisse. »Ich kann mir kaum denken, daß Mr. Wricks schuldig ist«, überlegte das junge Mädchen. »Er gab sich unendliche Mühe mit der Sorge für meinen Vater – wenn er an seinem Tode interessiert wäre, hätte er das bestimmt nicht getan! Dr. Shepherd, der uns herbrachte, erklärte mir, daß seine Anordnungen und vor allem die Mittel, die er beistellte, Daddy das Leben gerettet haben dürften. Denn nur so war es möglich, ihn in das beste Spital des Landes zu bringen, wo die modernsten Operationsbehelfe und vor allem Londons größter Chirurg zur Verfügung standen und bei meines Vaters Eintreffen bereits auf ihn warteten. Sie haben keinen Begriff, mit welcher Präzision und wahrhaft bewunderungswürdiger Methodik sofort begonnen wurde! Und dann durften wir in dieses märchenhafte Heim, wo alles vorhanden ist, was die Genesung meines Vaters beschleunigen kann – wo auch ich und sogar Robbie bei ihm bleiben dürfen…« »Sicher seine beste Medizin«, lächelte Burnes. »Zu Ihnen würde man aus dem Paradies zurückkommen, glaube ich…« Verlegen zog das Mädchen ihre Hand zurück. »Sie können beruhigt sein – ich werde alles tun, ihn möglichst bald vernehmungsfähig zu machen. Das ist es ja, was Sie daran interessiert?« Burnes erinnerte sich des Zweckes seines Besuches. »Ich muß wohl annehmen, daß er nichts gesagt hat, was ein Licht auf die Sache wirft?« fragte er der Form wegen. »Leider nein«, bedauerte Marjorie. »Er kam im Wagen für einen Augenblick zu sich, warf mir einen liebevollen Blick zu und versuchte, Robbie zu streicheln, der in diesem Moment, als ob er es erraten hätte, zum Entsetzen des Doktors seinen Kopf unter dem Bett hervorstreckte. Aber er war unfähig, etwas zu sagen – und der Doktor legte ihm auch sofort warnend den Finger auf den Mund.«
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Burnes hatte das Gefühl, daß er nichts mehr zur Begründung weiteren Verweilens vorzubringen hatte. Mit einem Gefühl tiefen Bedauerns erhob er sich. Erst jetzt merkte er, daß er die Rosen noch immer in der Hand hielt. »Sie werden mir doch erlauben, gelegentlich nach Ihres lieben Vaters Befinden zu fragen?« sagte er und überreichte seine Blumen. »Wollen Sie diese Blumen annehmen, um Ihr Zimmerchen etwas aufzuhellen?« »Oh, danke«, sagte Marjorie, »wie schön! Oh, bitte, fragen Sie, sooft Sie nur wollen, ich werde mich immer sehr freuen –« »Vielleicht darf ich morgen gegen Abend wiederkommen?« versuchte Burnes, etwas kühner geworden. »Tagsüber werde ich mit der Totenschau und allerhand anderem zu tun haben…« »Ach ja, kommen Sie nur«, sagte das Mädchen, »vielleicht ist Vater dann schon soweit, daß er ein paar Worte sprechen darf – aber Sie müssen mir auch versprechen, ihn nicht aufzuregen.« »Gewiß, gewiß«, rief Burnes überglücklich. Er hätte in diesem Augenblick versprochen, Trappist zu werden, wenn das die Bedingung seines Wiederkommens gewesen wäre. »Nun dann, gute Nacht für heute«, sagte Marjorie mit liebem Lächeln. »Es war schrecklich nett von Ihnen, so spät noch herauszukommen und sogar Blumen mitzubringen – darf ich sie wirklich für mich behalten? Daddy hat schon welche von Mr. Wricks bekommen…« »Von Mr. Wricks«, rief Burnes – der schmachtende Ritter war verschwunden und ein Racheengel mit blitzenden Augen stand vor dem erschrockenen Kind. »Was wollen Sie damit sagen?« »Nun, Mr. Wricks war eben da; als Sie kamen, ging er gerade. Auch er fragte nach meines Vaters Befinden und bat mich, ihm einen Strauß himmlisch schöner gelber Teerosen ans Bett zu stellen…«
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Entsetzt sah sie, wie Burnes die Tür zu ihres Vaters Zimmer aufriß. Im nächsten Moment stand er bei den Blumen. Rücksichtslos riß er sie aus der Vase und bog die Blüten auseinander. Im nächsten Augenblick hielt er einen kleinen, kugelförmigen Gegenstand in der Hand. Er führte ihn zum Ohr – ein Sprung, er stand am Fenster und die Kugel flog in die Nacht hinaus. Dann riß er das Mädchen an sich, mit dem eigenen Rücken die Fensteröffnung deckend. »Aber Mr. Burnes«, rief das Mädchen erschrocken, doch ohne viel Widerstand zu versuchen. »Jetzt ist keine Zeit für Zimperlichkeiten«, rief dieser und preßte den zarten Körper fest an sich. »Eine Handgranate mit Zeitzünder, geht nicht länger als fünfzehn Minuten, muß jeden Moment losgehen – und wir saßen gemütlich nebenan und tratschten! Ich könnte mir die Haare ausreißen, wenn ich daran denke, was geschehen hätte können, wenn…« Es kam nicht zu weiteren Überlegungen, denn in diesem Augenblick ertönte eine kräftige Explosion. Das Fenster ging in Scherben, und die Splitter sausten um die jungen Leute, ohne jedoch weiteren Schaden anzurichten, als daß Burnes’ Rock einige Schlitze an hierzu wenig geeigneten Stellen bekam. Im nächsten Augenblick allerdings war der Teufel los. Von allen Seiten stürzten Ärzte, Diener, Krankenwärter und Schwestern sowie rekonvaleszente Patienten in den Park, der sofort mit einigen Scheinwerfern der dort eingestellten Sanitätswagen beleuchtet wurde. Stumm verfolgten die beiden jungen Menschen, noch immer eng aneinandergeschmiegt, das groteske Schauspiel. Dann machte sich Burnes frei. Er wäre am liebsten in Ewigkeit so gestanden – aber er entsann sich seiner Pflicht. Er lief hinaus und gab einem der Ärzte einen kurzen Bericht, den auch einer der erschienenen Polizeibeamten anhörte. Außer einigen Metallteilen fand man keine Spuren 118
von dem unheimlichen Gebilde. Allmählich trat wieder Ruhe ein, die Ärzte und das Personal kehrten in die Gebäude zurück, um die erregten Patienten zu beruhigen und die zerbrochenen Fenster mit Tüchern zu verhängen, so daß unerwünschte Zugluft in der kühlen Aprilnacht von den Kranken ferngehalten werde. Burnes warf einen Blick auf den ruhig schlafenden Gayfield und drückte noch einmal eine warme, kleine Hand. Dann sauste er nach Scotland Yard. Die Flüche, die sich bei dieser Fahrt auf seine festgeschlossenen Lippen drängten, hätten Walter und Bertley wenig Freude gemacht. Als Burnes in Scotland Yard ankam, fand er einen halbwahnsinnigen Bertley vor, der ungeheure Wassermengen auf seine Augen schüttete und heulend und brüllend nach Walter verlangte. Wricks hatte mit Bertley Scotland Yard verlassen. Als die beiden in die breite Whitehall hinaustraten, hatte Big Ben eben acht Uhr geschlagen. Wricks hatte mit nicht ganz schloßherrlicher Geschicklichkeit auf zwei Fingern einem Taxi gepfiffen und mit Grandezza seinen Gast zum Einsteigen aufgefordert. Aus gewissen Gründen hatte man sich über den Vorrang nicht sofort einigen können – schließlich war man sozusagen Hand in Hand hineingeklettert. Wricks hatte die Adresse eines renommierten Hotels angegeben, wo man trotz des bescheidenen Gepäcks nachsichtig aufgenommen wurde. Dagegen hatte es Wricks strikte abgelehnt, sein Abendessen in dem Hotelspeisesaal einzunehmen. Wieder war ein Taxi beordert worden, und man war in ein Schlemmerlokal gefahren, dessen Namen Bertley nur aus Romanen kannte. Dort hatte Wricks sich in der Nähe der offenen Tür an einem herrlich gedeckten Tisch niedergelassen. »Vertrage keine schlechte Luft nach altem Fraß und neuen Reichen«, hatte er als Erklärung dieser, wie sich nachher 119
zeigte, wohlbedachten strategischen Aufstellung seinem Begleiter bekanntgegeben. Der hatte sich darüber keine Gedanken gemacht, da Wricks indessen ein einfach phantastisches Mahl bestellt hatte. Sogar dem berühmten Ober blieb die Spucke weg. Vorher wünschte Wricks zu telephonieren und hatte gar nichts dagegen, daß Bertley ihn hierbei begleitete und seinen Schutz sogar auf das Innere der Telephonzelle ausdehnte. Er trat zugleich mit seinem Gastgeber ein und zeigte ein unanständiges Interesse an der nun folgenden Konversation. Da war er aber nicht weit gekommen. Wricks hatte das Piccadilly Hotel verlangt, und dort mußte man ihm einen Mr. Shower aus dem Speisesaal holen. Daß dies ein angenommener Name war, erschien nun selbstverständlich. Als sich dieser gemeldet hatte, sagte Wricks wörtlich (Bertley hatte mitgeschrieben): »Hallo, alter Junge, wie geht’s?« Hatte aber nicht auf die Beantwortung dieser rein rhetorischen Frage Wert gelegt, sondern sofort weitergesprochen: »Konnte wegen besonderer Dummheit hiesiger Behörden nicht abreisen, Ruisdael schwimmen gelassen. Futsch. Alle Pläne geändert. Hoffe, dich bald zu sehen, rufe morgen elf Uhr wieder an. Ta, ta.« Er hatte keine wie immer geartete Antwort abgewartet und war mit einem spöttischen Blick auf ihn, Bertley, zum Essen gegangen, das indessen aufgetragen worden war. Es war herrlich gewesen! Man war über Hors d’œuvres, Suppe, Langusten mit Kaviar, Roastbeef mit Pommes chips und Sprossen, Spargelspitzen mit Artischockenböden bis zu Poulard mit Birnenkompott und grünem Salat gekommen. Dazu hatte es zu den Hors d’œuvers Chablis, zur Suppe Port, zum Roastbeef Haute Sauternes und zum Geflügel Champagner gegeben – aber als Bertley gerade einem herrlichen Kaiserbein amputativ nähertrat, was einigermaßen seine Aufmerksamkeit abgelenkt haben mochte, packte Wricks plötzlich die Pfefferbüchse. Anscheinend kam nicht genug aus 120
der verklebten Sieböffnung heraus, denn er schraubte diese ab, wobei er seinem Unmut über die faden europäischen Speisen im Gegensatz zur wohlgewürzten amerikanischen Küche Ausdruck gab. Als er den Deckel nach einigem Getue heruntergebracht hatte, bediente er jedoch nicht das vor ihm liegende Huhn, sondern die Augen Bertleys mit dem scharfen Inhalt. Nicht genug damit, ergriff er die auf einem Kerzenbrenner nach Schweizer Sitte deponierte Schüssel mit den Bratenresten und drosch das ganze kochendheiße Zeug ihm – Bertley – über den Kopf. Inhalt der Sauciere und der Salatschüssel folgten mit Blitzesschnelle, und ehe der überraschte, schmerzbrüllende Detektiv oder die im Saale hantierenden Kellner sich von ihrem Staunen über dies immerhin unübliche Gebaren ihres Gastes erholt hatten, war Wricks weg gewesen. Eine endlose Zeit war vergangen, ehe Bertley seine verschwollenen Seh- und Sprechwerkzeuge soweit in die Gewalt bekam, daß er Sukkurs heranholen konnte. Bis diesem und dem Personal, das auch die finanzielle Regelung der Sache in äußerst ermüdender Weise zur Sprache brachte, die Situation klargemacht worden war, war der Entschwundene natürlich über alle Berge – eine Spur konnte nicht mehr gefunden werden –, und Bertley blieb nichts anderes übrig, als nach Scotland Yard zurückzukehren, wo er nun Walter und gleichzeitig eine Linderung seiner Schmerzen zu erreichen versuchte. Burnes hörte sich die Geschichte so ruhig wie möglich an. Er war so müde, daß er seiner Wut gar nicht Ausdruck zu geben vermocht hätte. Mit ein paar Worten verkündete er Bertley, wozu Wricks seine so leicht und zugleich mit einem guten und billigen Abendessen gewonnene Freiheit verwendet hatte. Indessen versuchte man ununterbrochen, Walter zu erreichen, aber dessen Hausfrau – er war Junggeselle – konnte nur immer wieder versichern, daß er gegen halb neun nach
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Hause gekommen war, seinen Smoking angelegt und sich ohne weitere Angaben entfernt hatte. Burnes dachte ein wenig nach, als man ihm dies berichtete. Dann hob er selbst den Hörer ab. »Können Sie mir sagen, mit wem Chefinspektor Walter so zwischen halb acht und halb neun telephoniert hat?« fragte er die Hauszentrale. »Gewiß«, lautete die gleichmütige Antwort des Beamten. Burnes hörte das Journalpapier rascheln. »Ah, richtig… sieben Uhr fünfundvierzig – Gespräch mit dem Präsidium… hm… ah, da ist noch etwas, acht Uhr zehn – British Huntsmen Club ruft an, Präsident Potter wünscht Mr. Walter… hm… nichts mehr; sonst noch etwas, Inspektor?« »Danke. Bitte sehen Sie die Nummer des British Huntsmen Club nach und verbinden Sie mich mit dem Kammerdiener…« »British Huntsmen Club, Kammerdiener…« wiederholte die Stimme, und wiederum hörte Burnes Papier rascheln und wenige Sekunden später meldete der Beamte: »British Huntsmen Club, der Kammerdiener, Sir.« »Chefinspektor Walter bei Ihnen?« fragte Burnes. »Chefinspektor Walter? Wen darf ich melden, bitte?« »Inspektor Burnes, sehr dringend!« »Sehr wohl, Inspektor…«
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10. KAPITEL NOCH EIN GESTÖRTES DINNER Walter hatte Burnes lächelnd nachgesehen und dann nach seinen Akten gegriffen. Er ließ sich mit dem Präsidium verbinden und gab eine kurze Schilderung der Ereignisse, von denen ihm Burnes berichtet hatte. Von seinem hohen Vorgesetzten wurde er lebhaften Interesses versichert und nahm mit einem müden Seufzer gute Wünsche für eine baldige glückliche Lösung entgegen. Mehr konnte auch der beste Vorgesetzte nicht für ihn tun. Dann beschäftigte er sich mit einigen laufenden Angelegenheiten. Gerade als er an die Heimkehr dachte, läutete das Telephon. »British Huntsmen Club wünscht Herrn Chefinspektor«, meldete der Beamte. »Chefinspektor Walter?« fragte einen Augenblick später eine liebenswürdige Stimme. »Meine Verehrung – hier spricht Mr. Gillespie – ich bin der Privatsekretär von Präsident Potter…« »Ah, mein lieber, guter Potter«, rief Walter erfreut, »wie geht es dem alten Burschen, hoffentlich nichts passiert…« »Nein, nein«, beeilte sich die freundliche Stimme zu versichern, »mein verehrter Chef ist bei bestem Befinden. Ich suchte ihn eben im Klub auf, um ihm eine Sache vorzutragen – er fand, daß er Ihren Rat sehr begrüßen würde, es handelt sich um eine heikle Angelegenheit. Da beauftragte er mich, ich solle versuchen, Sie zu erreichen. Er würde sich ein besonderes Vergnügen daraus machen, Sie hierher zu einem kleinen Abendessen bitten zu dürfen – er hat Sie so lange nicht gesehen, darf ich fragen, ob Sie ihm die Freude machen würden?« 123
Walter dachte an sein unfreundliches Junggesellenheim und den unvermeidlichen kalten Salat mit dito Aufschnitt, den seine Hausfrau stolz The Souper zu nennen pflegte, und an seinen bescheidenen Klub, der die zweite Alternative für diesen Abend bildete. Dort hatte er bestenfalls ein paar einsilbige Bemerkungen über Wetter und Golf zu erwarten, die einer seiner alten Klubgenossen an ihn verschwenden würde, und die eintönige Speisekarte der dortigen mageren Küche. »Es wird mir eine Wonne sein«, sagte er wahrheitsgemäß, »ich war eben im Weggehen, nun, ich ziehe mich schnell um und bin in dreißig Minuten bei Ihnen. Bitte, empfehlen Sie mich Mr. Potter indessen aufs beste, ich lasse für seine liebe Einladung herzlich danken und stehe selbstredend mit meinem Rat gern zur Verfügung.« Er hängte ab. In Gedanken an die guten Dinge und nicht zuletzt an die interessante Konversation mit dem weltgereisten Bankmann hob sich seine Stimmung in zauberhafter Weise. Vergessen war Wricks mit seinen Tricks und Burnes mit seinen langweiligen Theorien und ebenso der brave Telephonbeamte in der Zentrale, der die Aussicht auf diese Genüsse vermittelt hatte. Ein fröhliches Liedchen aus längstvergangenen Tagen trällernd, verließ der alte Herr das Amt und vergaß anzugeben, wo er in den nächsten Stunden zu finden sei – ein Vergessen, das sich seltsamerweise wiederholte, als er eine halbe Stunde später im Prachteinband seines vorsintflutlichen Smokings seine Wohnung und die unberührten lukullischen Genüsse seiner Hausfrau verließ. Oder war es nicht nur Vergessen? Wer wollte es dem unermüdlichen Diener seiner Pflicht, die er nun mit einer beispielgebenden Treue an die vierzig Jahre erfüllte, verübeln, wenn er ein paar Stunden ungestört sein wollte… und einmal, ohne Spuren zu hinterlassen, sich in ein kleines Paradies zu schleichen versuchte? Niemand wird es je erfahren, ob es Absicht oder nur verzeihliche Zerstreutheit war, die Mr. Walter für eine kurze Zeitspanne unauffindbar machte… 124
Er parkte seinen Privatwagen in der Nähe des Klubs und ging tiefatmend in der frischen, kühlen Abendluft, die vom nahen Hyde Park herüberwehte, durch die Green Street zu dem äußerlich recht nüchternen Gebäude, das den vornehmen Klub beherbergte. Mit unaufdringlicher Zuvorkommenheit half ihm einer der galonierten Diener aus dem Mantel, während ihn ein anderer dem Kammerdiener, der in tadellosem Frack seinen Dienst versah, anmeldete. Mit zurückhaltender Würde näherte sich dieser. »Mr. Walter, wie man mir sagt?« begrüßte er mit der einzigartigen Mischung von Respekt, Würde und gewinnender, aber so gar nicht vertraulicher Intimität, die dieser immer seltener werdenden Spezies gottähnlicher Sklaven eigen ist, den ihm unbekannten Gast. »Darf ich mir erlauben, Sie in die Halle zu führen, bitte nur einen Augenblick Platz zu nehmen, ich glaube, man wartet bereits – ich werde mir gestatten, Sie anzumelden.« Er zog sich zurück, in einer so unauffälligen Weise, daß man hätte glauben können, er sei überhaupt nicht dagewesen. Als Walter die Halle betrat, umgab ihn augenblicklich die unnachahmliche Atmosphäre, die in gepflegten englischen Klubs zu Hause ist, in der olympischen Ruhe sich mit niemals erstarrender, leiser Bewegtheit vermischt und die mit dem Aroma erstklassigen Rauchmaterials, sorgfältig gewählter Kaffee- und Likörsorten und diskreten Herrenparfums geschwängert ist. Diese beinahe heilige Stimmung, die in ihrer Art an alte Kirchen erinnert, ist das unumgänglich notwendige Gegengewicht, das den Londoner City-Menschen in ihrer rasenden Hetzjagd, dem aus wilden Stürmen eben heimgekehrten verantwortungsüberlasteten Schiffs- oder Flugzeugoffizier, dem vom tollen Weltgeschehen umbrandeten Politiker, den in globalen Rechtsstreitigkeiten mit Dutzenden verschiedenartigen Gesetzgebungen jonglierenden Richtern 125
und Juristen und den mit dem verwöhntesten und anspruchsvollsten Publikum der Welt ringenden Künstlern ein Leben überhaupt ermöglicht, das sonst nach kurzer Zeit im Irrenhaus enden müßte. Auch in Walters gehetzter Seele trat sofort die erhoffte Reaktion ein. Sorgen und Kümmernisse des Tages fielen von ihm ab, wohligste Entspanntheit zeigte sich auf seinen müden Zügen, und mit glücklichem, freiem Lächeln ging er einem mit unauffälliger Eleganz gekleideten jüngeren Herrn entgegen, den der Kammerdiener soeben zu ihm führte. »Ich bin Gillespie«, sagte der Ankömmling mit charmantem Lächeln, »ich hatte das Vergnügen, vor kurzem mit Ihnen zu telephonieren. Darf ich Sie zu meinem Chef führen, Mr. Walter? Er erwartet uns im kleinen Salon…« Die Herren schüttelten einander verbindlich die Hände, und Walter folgte seinem Führer durch mehrere Säle in einen kleineren Raum, in dem einige Bridgepartien im Gange waren. »Hallo, Walter, lieber Alter«, begrüßte ihn mit leiser, aber herzlicher Stimme ein jovialer älterer Herr, der an einem der Tische saß. »Verzeihen Sie, daß ich die Partie beende. Ich fing an, um den Hunger zu betäuben – dachte mir ja, daß Sie sich nicht sofort losmachen könnten… Bin gleich so weit… Ach, Gillespie, vertreten Sie mich indessen in würdiger Weise bei meinem Gast…« Lächelnd gab der Genannte einem der galonierten Diener einen Wink. »Was soll es sein, Chefinspektor?« fragte er. »Der Portwein ist nicht übel, auch der Sherry ist nicht zu verachten, angeblich ein Achtundneunziger – soweit unsere Bücher stimmen –, oder wäre Ihnen ein Whisky-Soda zum Anfangen sympathischer?« Walter entschied sich für den Portwein und mußte zugeben, daß er schon lange nicht ein so zartes und doch vollschmeckendes Getränk die Kehle hinuntergebracht hatte. Er sah mit Vergnügen, wie Potter, neben dem er Platz 126
genommen hatte, mit nachtwandlerischer Sicherheit einen kleinen Slam landete und in dem darauffolgenden Spiel mit drei sehr gewagten Sans Atouts dem Rubber in großer Form den Garaus machte. Gillespie hatte indessen einen Ersatz für seinen Chef ausfindig gemacht, so daß sich Potter mit freundlichen Worten verabschieden konnte. Er ordnete seine Abrechnung und zog Walter mit sich in eines der zahlreichen um die größeren Säle angeordneten Konversationszimmer. Gillespie entfernte sich, kam aber einen Augenblick später mit dem Chef des Speisesaales wieder. »Mein lieber Walter«, begann Potter nach herzlichem Händeschütteln, »ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, wie ich mich freue, Sie zu sehen – es muß ein paar Jahre her sein, daß ich nicht das Vergnügen hatte? Sie schauen blendend aus, gar nicht verändert; ja, der Dienst erhält einen jung – die einzige Freude für uns alte Burschen ist doch die Arbeit…« Eine leise Falte, die die frohe Stirne bei diesen Worten furchte, erzählte eine kleine Geschichte – wohl, daß der Versuch, andere Freuden seinem Leben abzugewinnen, nicht ganz glücklich ausgefallen war. »Ich habe mit großem Interesse die zahlreichen Erfolge, die Ihnen beschieden waren, in den Zeitungen miterlebt – Sie wissen, ich hatte immer eine kleine Schwäche für interessante Kriminalfälle, wie sie Ihnen ja in reichem Maße über den Weg kommen. Man spricht von einem sehr hohen Posten, der Ihnen zugedacht sein soll?« »Ich hörte davon«, gab Walter zu, »aber, um die Wahrheit zu sagen, ich habe gar kein besonderes Interesse, meinen Stuhl weicher polstern zu lassen. Je höher man hinaufkommt, um so mehr entfernt man sich von dem wahren Inhalt unseres Berufes, man wird zu einer Registriermaschine – und dazu fühle ich mich noch nicht alt genug. Und die ewigen Intrigen, die so einen begehrten Ruheplatz umtoben, sind erst recht nicht nach meinem Geschmack – so werde ich wohl noch ein 127
Weilchen mit meinen bisherigen Angelegenheiten zu tun haben. Ich kann Ihnen sagen, daß die mir genug Sorgen machen.« »Das glaube ich gern… Ah, da ist unser Freund, unser Nährvater – kommen Sie, Wringly, heute habe ich einen seltenen Gast, da wollen wir uns ein bißchen Mühe geben. Was würden Sie vorschlagen?« Und mit Behagen nahm der Bankier eine der beiden Speisekarten in Empfang, während Wringly die zweite mit einem kleinen Lorgnon, das er vor seine schwachen Augen hielt, verfolgte. Er schoß einen prüfenden Blick auf Walter – und wußte sofort, wo dessen schwache Seite liegen mochte. »Wir haben ganz frische Austern, zu denen ich den siebenundvierziger Chablis anraten würde«, begann er, »dann etwa eine leichte, aber doch kräftige Madrilene, dazu ein Gläschen Gonzales-Sherry, nachher würde ich empfehlen, unsere Vol-au-vents à la Reine zu versuchen, vielleicht mit einem Medoc? Die Lamb-cutlets sind heute nicht sehr zart – das Fricandeau etwas uninteressant, eher für schwache Mägen – hm – leider sehe ich, daß ich mit gutem Gewissen nur das Roastbeef anraten könnte, mit etwas Pomme paille vielleicht? Ein Rüdesheimer würde das immerhin ganz annehmbar machen, wenn ich auch leider gestehen muß, daß ich da nichts Außergewöhnliches in Vorschlag bringe. Dagegen haben wir dann – ich hoffe, die Herren sind bei Appetit?« unterbrach er sich. »Bei allerbestem«, beruhigte ihn Potter, »ich bin hungrig wie ein Wolf, nachdem ich sonst schon um acht Uhr zu dinieren pflege. Wie steht es mit Ihnen, Walter?« »Ich hatte außer einem ziemlich leeren Tee keine Gelegenheit, seit dem Lunch etwas zu mir zu nehmen«, gestand Walter, »ich glaube, Sie werden mit meinem Appetit zufrieden sein.«
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»Bravo«, sagte Potter, »Gillespie fragen wir gar nicht, der bringt die Kräfte der Jugend mit – also tun Sie Ihren Gefühlen keinen Zwang an, Wringly. Was haben Sie noch auf dem Lager?« »Etwas Exquisites, Perlhuhn in Madeirasauce – eine ganz hervorragende Spezialität unseres Chefs, dazu ein klein wenig Apfelpüree und, wenn ich mir erlauben darf, zwischen die beiden Fleischspeisen etwas einzuschieben, so würde ich dazu Spargel wählen, heute früh per Flugzeug frisch aus Südafrika angekommen. Unser Einkäufer hatte das Glück, in Coventgarden eine kleine Partie zu erobern. Etwas davon ist noch da, es wird für die drei Herren zu diesem Zweck gerade reichen. Ich würde raten, mit etwas Sauce mousseline; à la Polonaise mit Bröseln wäre wohl nicht im Interesse der nachfolgenden Perlhühner. Ich hoffe, es werden noch drei da sein, sonst ergänzen wir mit etwas Fasan. Dazu unseren Pommery und dann ein Parfait sicilien, man könnte dazu ein Gläschen Tokayer nehmen, aber ebensogut beim Pommery bleiben – das ist reine Geschmacksache?« »Bleiben wir beim Pommery«, sagte Potter, belustigt über den Ernst, mit dem diese Gewissensfrage gestellt worden war. »Ein ganz klein wenig Käsebäckerei – im allgemeinen bin ich gegen Käse beim Dinner, aber nach dem süßen Parfait kann man etwas Salziges nicht direkt verbieten. Ich könnte aber auch zu den Likören und Kaffee Salzmandeln stellen.« »Salzmandeln«, entschied Potter nach kurzer Überlegung. »Käse am Abend ist ausgeschlossen.« »Ich lasse jedenfalls nach dem Parfait den Aufsatz mit dem Obst bringen. Vielleicht beliebt es, nachher eine Banane oder Grapefruit zu nehmen, die Erdbeeren, die wir von den Kanarischen Inseln bekamen, schmecken zu sehr nach Glashaus. Ich habe da so einen unbestimmten Verdacht – Gott verzeihe mir, wenn ich unserem erprobten Lieferanten damit Unrecht tue –, aber ich kann mich nicht ganz davon befreien 129
und rate sie nur mit Creme an, was nach dem Parfait natürlich nicht in Frage kommt. Und die Ananas sind leider etwas holzig…« »Sehr bedauerlich«, stimmte Potter zu, »aber ich glaube, wir werden auch ohne diese nicht gerade verhungern. Nun noch etwas: Ich habe etwa zehn Minuten lang etwas zu besprechen, bitte, veranlassen Sie, daß wir hier nicht gestört werden und daß das Essen erst dann serviert wird.« »Sehr wohl«, nickte Wringly und fügte den von ihm vollgeschriebenen Blättern eine kurze Notiz hinzu, »ich werde mir erlauben, die Ausführung des Dinners persönlich zu überwachen. Es sind nur einige verspätete Theatersoupers in Vorbereitung, so glaube ich versprechen zu dürfen, daß man sich in unseren Ateliers den hier geäußerten Wünschen und Anregungen, für die ich nicht versäumen möchte, meinen ganz besonderen Dank auszusprechen, mit besonderer Hingabe wird widmen können.« »Ich bin davon überzeugt«, bemerkte Mr. Potter. »An dieses Dinner werde ich mich gewiß noch lange erinnern«, sagte Walter mit einer unverhohlenen Vorfreude, der man nur wenig die stille Sorge anmerkte, daß diese Prophezeiung bei seinem nicht allzu starken Magen auch in einem anderen Sinne wahr werden könnte. »Aber nun, bitte, mein lieber Präsident, ich glaube nicht zu irren, wenn ich annehme, daß die bevorstehende Aussprache mir Gelegenheit geben wird, mich ein wenig nützlich zu machen?« »Ganz richtig, lieber Walter«, bestätigte Potter, »und ich bin Ihnen dankbar, daß Sie damit beginnen. Aber vielleicht lassen wir Gillespie die Sache darstellen, um die es sich handelt, da er sie eigentlich zustandegebracht und letzten Endes auch Ihre Intervention, beziehungsweise Ihren Rat einzuholen empfohlen hat.« »Wie Herr Präsident befehlen«, erbot sich der Genannte. »Ich darf mir vielleicht erlauben, vorauszuschicken, daß ich 130
wohl nur der Privatsekretär des Herrn Präsidenten bin, daß mir aber auch gestattet ist, mich in der Bank nützlich zu machen. Nun traf ich vor einigen Tagen einen alten Bekannten. Als ich nämlich als junger Marineoffizier im Orient Dienst machte, lernte ich dort einen Grafen Asanow kennen, dem es gelungen war, aus Odessa zu flüchten – ich darf vielleicht erwähnen, daß ich dabei etwas behilflich hatte sein können. Nun, die Wiedersehensfreude war groß, wir soupierten mitsammen, und dabei wurden natürlich Erinnerungen ausgetauscht. Asanow ließ durchblicken, daß er nach der Flucht schwere Zeiten in aller Herren Ländern mitgemacht habe, nun aber in England in Vertretung eines sehr hohen Herrn, der seinerzeit im Zarenreich eine große Rolle gespielt habe, tätig sei. Es scheint, daß der Genannte, vermutlich sogar ein Mitglied der ehemaligen Zarenfamilie, über große Werte verfügt, die er rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte, beziehungsweise im Ausland deponiert hatte, als man ihn vertrieb. Immerhin bewog ihn die gegenwärtige Krise, an die Verwertung einiger Schmuckstücke zu denken, und so beauftragte er den Grafen, in London, wo doch am ehesten etwas auf diesem Gebiete zu machen ist, seine Fühler auszustrecken. Nun ist die Sache jedoch so, daß es sich anscheinend nur um eine vorübergehende Illiquidität des Fürsten handelt, die wohl auf die angespannte Lage jener Unternehmungen zurückzuführen sein dürfte, wo er veranlagt hat. So wünschte er, die betreffenden Juwelen – um solche handelt es sich – nicht zu verkaufen, sondern nur zu belehnen. Da es sich hiebei um bedeutende Objekte handelt, die in Branchekreisen bekannt sein dürften, könnte man bei deren Auftauchen die Quelle erkennen, aus der sie stammen, und daraus Schlüsse ziehen, die die finanzielle Lage des hohen Herrn ungünstig beleuchten würden und seinen Unternehmungen, die ja auch bereits mit erheblichen Krediten arbeiten müssen, ernsten Schaden zufügen könnten. Das Dilemma, das sich daraus ergibt, ist klar: 131
Kein gewissenhafter Geldmann würde etwas auf Juwelen leihen, ohne sie von einem Fachmann vorerst auf ihren Wert prüfen zu lassen. Aber jeder derartige Fachmann könnte die Juwelen erkennen und damit deren Besitzer in unliebsame Zusammenhänge bringen. Asanow war nun damit beschäftigt, für dieses Problem eine Lösung zu finden. Da ich wußte, daß mein Chef auf dem Gebiet von Juwelen ein ausgezeichneter Kenner ist und natürlich aus eigenem Kreditbewilligungen dieses Ausmaßes verfügen kann, konnte ich meinem Freunde sofort vorschlagen, die in Rede stehenden Objekte bei uns belehnen zu lassen. Ich vergewisserte mich durch eine Rücksprache mit meinem Chef, daß die finanziellen Kreditbedingungen im Rahmen der dem Grafen gezogenen Grenzen lagen, und so vereinbarten wir, die Juwelen morgen in der Bank meinem Chef zur Begutachtung vorzulegen, worauf die Fertigung der Krediturkunden und die Auszahlung der gewährten Summe sofort vorgenommen werden soll.« »Nun«, sagte Walter verwundert, »das scheint mir ein ganz normales Geschäft zu sein. Wenn die Objekte die nötige Sicherheit für Kapital und Zinsendienst bieten, was natürlich nur der Fachmann entscheiden kann, so sehe ich in den wohl ungewöhnlichen, aber gewiß nicht unglaubwürdigen Begleitumständen keinen Grund zur Sorge…« »So dachten wir auch«, nahm Potter nun das Wort. »Aber vor ein paar Stunden kam Gillespie etwas nervös zu mir – er ist sonst die Ruhe selbst, und ich muß sagen, daß ich mich blind auf ihn verlassen kann und seinem Rate gern vertraue…« »Das ist es eben«, erlaubte sich der sonst so wohlerzogene Sekretär seinen Chef zu unterbrechen, und man sah ihm an, daß er tatsächlich erregt war. »Dadurch trage ich eine große Verantwortung. Ich fürchte, ich habe aus alter Freundschaft nicht alle Möglichkeiten genügend bedacht…« »Was meinen Sie?« fragte Walter. Er war der ihn recht langweilig anmutenden Schilderung Gillespies mit Geduld, 132
aber wenig Interesse gefolgt. An verwegene Einbrüche und rücksichtslose Morde gewöhnt, fand er dieses kaufmännische Gefasel äußerst unwichtig. Ein überängstlicher Geschäftemacher, der eine Rüge des Chefs fürchtet, wenn eine von ihm entrierte Transaktion irgendwie nicht den erhofften Nutzen brächte – einfach widerwärtig, diese gräßlichen Manichäer! »Mir fiel eben ein, daß es sich um gestohlene Juwelen handeln könnte und daß die zartbesaitete Scheu, diese möchten von zuständigen Fachleuten gesehen werden, nicht darauf beruht, daß ihrem Besitzer irgendwelche nebulose Finanzschwierigkeiten drohen, wenn die Absicht ihrer Belehnung bekannt wird – sondern darauf, daß sie in den bei allen Juwelieren zirkulierenden Fahndungsblättern ausgeschrieben sein können und von jedem Fachmann aus diesen Kreisen sofort erkannt würden, was wirklich höchst unerwünschte Folgen für den Besitzer nach sich ziehen müßte! Mein Chef würde natürlich nur den Wert der Juwelen beurteilen, er hat keine Ahnung, was gerade auf den Fahndungslisten steht; da bestünde also keine Gefahr für den Mann, der den Schmuck verwerten will und der, wenn er den Großteil des Wertes als Darlehen erhalten hat, auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Will dann mein Chef nach Jahr und Tag, wenn weder Kapital noch Zinsen erscheinen, die Juwelen veräußern, so sitzt er schön in der Tinte!« Betroffen blickte Walter in die klugen Augen des Sprechers. »Halten Sie Ihren alten Bekannten eines solchen Betruges für fähig – und vor allem des Verbrechens, das diesem bei der, hm… Beschaffung der Juwelen vorausgegangen sein muß?« »Persönlich halte ich den Grafen Asanow für einen untadeligen Charakter«, meinte Gillespie. »Aber ich muß gestehen, daß ich von ihm nie mehr wußte – und auch heute nicht mehr weiß, als was er mir selbst über sich erzählte. Eine Tänzerin in Konstantinopel sprach zuerst von ihm – sie kannte 133
ihn von ihren abenteuerlichen Fahrten auf allerhand Schiffen im Schwarzen Meer, hatte ihn in Odessa zuweilen getroffen. Er ist ein schöner, hochgewachsener Herr, so richtig der Mann, einem dummen Mädel den Kopf zu verdrehen – besonders dieser Spezies –, mit seiner ausgesprochen aristokratischen Erscheinung und seinen guten Manieren. Wie schon gesagt, ich half ein wenig mit, ihn auf unser Schiff zu kriegen, es war ganz einfach: er hatte Lasten heraufzubringen – und blieb oben – und ich hatte die Schiffsvisitation nach der erfolgten Landung mit dem russischen Beamten übernommen. So war es keine Hexerei, die betreffende Stelle, wo der arme Kerl sich verabredungsgemäß verkrochen hatte, zu übersehen. In Konstantinopel bugsierte ich ihn ungesehen in die Arme seiner Dulcinea, nachdem ich ihn an Bord ganz gut herausgefüttert hatte. Wir trafen uns dann ein paarmal – schließlich war er weg. Was die Zeiten aus einem Menschen heute machen – ja, was er schon vorher wirklich gewesen war, wer kann es wissen?« In diesem Augenblick erschien ein Diener und gab Gillespie ein Zeichen. »Das Dinner wartet«, sagte dieser und erhob sich, »viel habe ich ja nicht mehr zu sagen, während des Essens könnte vielleicht ein Entschluß gefaßt werden…« »Sehr vernünftig«, lobte Potter und erhob sich. Auch Walter stand auf. Er folgte dem wegweisenden Gillespie an der Seite des Bankiers in den Speisesaal. Man nahm Platz, und das Essen wurde zelebriert – das Wort servieren kann beim besten Willen nicht auf die feierlichen Handlungen angewandt werden, mit denen Speisen und Getränke unter Aufsicht mehrerer Würdenträger und gelegentlicher Assistenz des mit napoleonischer Strategie disponierenden Wringly den drei Herren vorgesetzt wurden. »Nun, was meinen Sie zu Gillespies Skrupeln?« fragte Potter, nachdem er einige Austern hinuntergewaschen hatte. 134
»Gar nicht ohne«, antwortete Walter, wobei es unbestimmt blieb, ob er damit den Chablis oder die Argumente des Sekretärs meinte. »Ich möchte den Grafen nicht enttäuschen«, sagte Potter, »und auch sein Vertrauen nicht mißbrauchen, indem ich einen versierten Fachmann beiziehe, der ja trotz aller Schweigepflicht irgendeinmal sich verplappern und damit dem Auftraggeber Asanows, wer der auch sein mag, ernsten Schaden zufügen könnte. Ich muß meine Klienten mit allen Mitteln zu schützen versuchen, zu denen nun Asanow und sein Hintermann gehören, sobald ich die Sache abschließe. Guter Rat ist teuer.« Mit einem Seufzer beendete er den Kampf mit der Madrilene, erledigte den Sherry und machte sich über die Volau-vents her. Walter war in Gedanken versunken. In seinem überarbeiteten Gehirn verwirrten sich die Ereignisse des Tages. Warum, zum Teufel, konnte man ihn nicht wenigstens in Ruhe sein Abendessen einnehmen lassen? Er bemühte sich, das zarte Roastbeef in handliche Stücke zu zerlegen, stärkte sich mit einem Schluck Rüdesheimer und war geneigt, die ganze Angelegenheit mit philosophischer Ruhe zu betrachten. »Lehnen Sie die Sache einfach ab«, schlug er friedliebend vor, »wenn Sie irgendwie Bedenken haben, dabei zu Schaden zu kommen. Und ich werde für alle Fälle einen Beamten hinschicken, der sich Ihren lieben Asanow gründlich ansieht und ein bißchen seinen Schritten nachgeht. Da wird sich vielleicht etwas herausstellen.« »Eine blendende Idee«, begeisterte sich Gillespie. »Wir könnten versuchen, die Sache mit irgendeiner Begründung dilatorisch zu behandeln…« Walter nickte ihm freundlich zu, zeigte aber keine Lust, die wirklich wundervollen Spargel, zu dieser Jahreszeit natürlich etwas ganz Ausgefallenes, dilatorisch zu behandeln. Die himmlische Sauce dazu – mit dem hauchzarten 135
Zitronengeschmack… einfach ekelhaft, sich diesem einzigartigen Genuß durch das dumme Geschwätz dieser infantilen Schreiberseele trüben zu lassen. Er beschloß, das Ganze einfach zu ignorieren. Und nun kamen gar die Perlhühner, besorgt zählte er die Häupter: richtig, es waren drei – so bekam er ein ganzes… Ah, und da kam der Champagner! Pommery war seine Leibmarke – wenn er nur nicht zu sauer war, diese verfluchten Amerikaner verdarben mit ihrem groben Geschmack gewöhnlich die ganze Ernte, die sie in ihren fluchwürdigen, bissigen Extra Dry verwandeln lassen mußten… Hm… nein, der war wirklich annehmbar, auch nicht zu kalt… ein Traum… Wie im Traum klang da ein Name auf, und er setzte mit einem Krach das Glas hin. »Van Raan sagten Sie – wie kommen Sie auf den verfluchten Namen?« schrie er den armen Gillespie an, der ihn mit entsetzten Augen ansah. Auch Potter ließ beinahe die Gabel fallen, mit der er gerade ein besonders zartes Stückchen seines Huhns, mit etwas Apfelpüree garniert, in seinen Mund balancieren wollte. Er erwischte es noch rechtzeitig, aber er landete etwas zu tief und stach sich in die Unterlippe, was ihm einen Wehlaut entlockte. Walter nahm jedoch keine Notiz davon. »Wieso kommen Sie darauf?« fragte er etwas milder. »Ich schlug vor, wie Sie sich erinnern…«, stotterte der unglückliche Sekretär. »Ich erinnere mich an nichts«, gestand Walter wahrheitsgetreu, dem vorläufig nur der ominöse Name, den er aufgeschnappt hatte, im Magen lag. »Sie sagten van Raan?« »Wenn ich vielleicht wiederholen dürfte«, versuchte Gillespie zaghaft. »Ich gestattete mir anzuregen, außer dem von Ihnen beigestellten Beamten, der dann den Grafen Asanow beobachten sollte, einen erstklassigen Juwelier zuzuziehen, dem man ohne Angabe, um was es sich handle, eines der Stücke zeigen könnte; dabei müßte man Asanow anderweitig beschäftigen, so daß er nichts davon merkt. Ich glaube, ich 136
könnte das zuwege bringen. Ich dachte dabei an den berühmten Juwelier van Raan, dessen ersten Assistenten, Jenkins, ich zufällig persönlich kenne – ich könnte das ohne weiteres veranlassen…« »Tun Sie das, mein lieber Gillespie – ein ausgezeichneter Einfall. Und je nachdem werden wir uns dann verhalten. Dabei wird die Gegenwart Ihres Beamten, lieber Walter, eine nötigenfalls wertvolle Ergänzung sein. Vielleicht meldet sich der betreffende Herr morgen gegen zehn Uhr bei mir? Besten Dank. Aber nun genug davon, beenden wir in Ruhe unser Essen – dieses Hühnchen war ein Traum. Ah, und das Parfait – der Anblick allein könnte einen sämtliche Juwelen der Erde vergessen machen…« Während Walter als erster bedient wurde, näherte sich ein Diener: »Chefinspektor Walter werden zum Apparat gebeten«, meldete er. »Das auch noch«, rief Potter aufgebracht, »gar keine Rede! Sagen Sie den Leuten, der Chefinspektor ist nicht zu sprechen.« Walter hatte nur mit halbem Ohr zugehört – das Parfait hatte seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch genommen. Er trachtete, von jeder der vertretenen Sorten Eiscreme, aus dem es bestand, etwas zu erwischen, und wählte gerade mit dem dieser wichtigen Aufgabe zukommenden Ernst passende Stückchen aus dem hiezu angebotenen Backwerk, als der Diener wiederkam. »Schauen Sie, daß Sie verschwinden«, ließ Potter den Armen gar nicht zu Worte kommen, »habe ich Ihnen nicht gesagt, der Herr Chefinspektor ist jetzt auf keinen Fall zu sprechen? Sagen Sie dem Idioten, er ist im Augenblick bei seinem Begräbnis und darf nicht gestört werden, marsch!« Walter war etwas aufmerksam geworden und sah dem zögernd Davonschreitenden mit dem milden Blick eines
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Mannes nach, der sich mühsam längst vergangener Zusammenhänge zu erinnern sucht. »Kommen Sie, Walter«, redete Potter ihm zu, indem er sich dem nun bei ihm angelangten Eis zuwandte und dabei ähnliche strategische Operationen begann, wie sie Walter eben siegreich beendet hatte, »kommen Sie, das Zeug wird noch warm werden.« Dazu kam es aber nicht mehr. In dem Augenblick, als Walter den ersten Löffel zum Munde führen wollte, erschien der Diener zitternd wieder: »Verzeihung, Mr. Potter«, brachte er heraus, »Scotland Yard ist am Telephon, Inspektor Burnes – er läßt sagen, es handelt sich um Leben oder Tod, ich soll melden: Wricks ist los!« Walter sprang auf, er ließ den Löffel fallen und warf fast den Tisch um, als er grußlos davonraste. Es hätte ihn nur wenig getröstet, wenn er gewußt hätte, daß der Genannte ebenso wie er auf das Dessert hatte verzichten müssen!
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11. KAPITEL UNERWARTETE TRAGÖDIE »Eine schöne Geschichte«, sagte Walter kummervoll, als seine beiden Untergebenen ihm ihre Berichte erstattet hatten. »Einfach reizend! Und ein erhebendes Gefühl, so einen Zeitgenossen in Freiheit zu wissen.« Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich soll nur einmal den Rücken drehen, und schon ist der Teufel los. Bertley, Sie gehen nach Hause und machen sich lauwarme Umschläge mit Borwasser, bis Sie einschlafen. Und Sie, Burnes«, fuhr er nach dem Abgang des geblendeten Riesen fort, »überlegen sich mit mir, ob das, was meine Tischgesellschaft mir erzählt hat, mit dem zusammenhängen kann, was dieser Bertley angestellt hat.« Und er berichtete, was Gillespie und Potter beunruhigt hatte. »Ich kann mir einen Zusammenhang schwer vorstellen«, meinte Burnes nach einigem Nachdenken. »Die Steine van Raans sind frühestens gestern, vermutlich erst heute in unrechtmäßigen Besitz geraten. Und der Bekannte Ihrer Freunde hat doch schon vor mehreren Tagen die ihm übergebenen zu verwerten gesucht…« »Der Raub mag schon seit einiger Zeit vorbereitet gewesen sein«, gab Walter zu bedenken. »Wenn Ihr Verdacht gegen Wricks richtig ist, so fing es ja damit an, daß ein Schloß gekauft wurde, um das Vertrauen eines Juweliers zu gewinnen und die ganze Sache überhaupt ins Werk zu setzen. Da ist es nur natürlich, daß auch für den Absatz gesorgt wurde, bevor man die Beute noch hatte. Dieser Wricks kann ja mit dem russischen Vogel unter einer Decke stecken. Wenn ich nur eine Ahnung hätte, was sein dummes Gehaben und vor allem der 139
sinnlose Schuß auf den armen Förster für einen Zweck hatte. Daß er Bertley sich selbst auf den Hals lud, kann ich begreifen. Er konnte, wie sich zeigt, mit Recht hoffen, seinen Beobachter eher los zu werden, wenn er ihn bei der Hand hatte, als wenn er ihn nachlaufen ließ – und daß wir ihn keinesfalls unbeschattet herumzigeunern lassen würden, war ihm bald klar geworden. Also, zu denken weiß er, unser braver Schloßherr – da wird er sich auch bei dem Schuß auf Gayfield schon etwas gedacht haben. Wenn ich nur ahnen würde, was!« Die beiden Männer dachten darüber längere Zeit nach – aber die müden Köpfe wollten nicht recht mit. Walter gab es schließlich auf und sagte: »Es hat keinen Sinn, hier die Nacht zu sitzen und sich den Kopf zu zerbrechen. Wir werden trachten, den Burschen zu erwischen, vielleicht kriegen wir es aus ihm heraus, wenn wir ihn schön bitten. Sie haben sein Signalement hinausgegeben, während Sie auf mich warteten, wie Sie sagten? Mehr kann man in der Sache im Augenblick nicht tun. Was diesen merkwürdigen Russen betrifft, so gehen Sie morgen zuallererst in van Raans Laden, erkunden Sie alles, was man dort über den Fall weiß, und dann nehmen Sie sich diesen Jenkins mit, von dem meine zwei Bekannten sprachen, und melden Sie sich beim Präsidenten Potter. Treffen Sie ein paar vernünftige Anordnungen, daß Jenkins den Schmuck irgendwie zu sehen kriegt. Dabei wird Potters Wunsch ja erfüllt, festzustellen, ob es sich um gestohlenes und kurrendiertes Gut handelt. Jenkins wird außerdem sofort sehen, ob es mit dem, was sein Herr bei sich hatte, identisch ist. Machen Sie ein Zeichen mit ihm aus, das Sie darüber informiert, ohne daß der Russe das gleich merkt. Was Sie dann zu tun haben, brauche ich wohl nicht besonders zu erwähnen – das überlasse ich Ihnen. Passen Sie mir aber auf, daß dieser Asanow nicht einen ähnlichen Unfug treibt wie unser heutiger Kunde und vor Ihrer Nase das halbe Bankpersonal ausrottet – das würde meinen alten Potter sicher verstimmen und weder 140
Ihrem noch meinem Renommee besonders zuträglich sein. Sofort nachher Bericht an mich, vergessen Sie, bitte, nicht, daß vorläufig Ihre vorgesetzte Dienststelle ihren Sitz in Scotland Yard hat – nicht in Whipps Cross Hospital!« Damit sah sich Burnes entlassen, einträchtig begaben sich die beiden Beamten zu ihren Wagen, und eine halbe Stunde später lagen beide friedlich in ihren Betten und hörten auf, dem entschwundenen Wricks, beziehungsweise dem entschwundenen Parfait nachzutrauern. In aller Frühe begab sich Burnes zu van Raans Juweliergeschäft. Er studierte nachdenklich die nicht, überwältigende Auswahl im Schaufenster, die aber von Gediegenheit und vornehmem Geschmack beredtes Zeugnis ablegte. Er stellte Betrachtungen über die stille Lage des Geschäftes in der noblen Umgebung an, das gewiß nicht jedem Hergelaufenen in die Augen fallen konnte. Wie Wricks wohl gerade auf dieses verfallen war? Seinem Geschmack war die Wahl wohl kaum zuzutrauen. Wer wohl diese Miß Ho… war? Er hätte doch energischer nach ihr forschen sollen. Wer weiß, was er aus ihr hätte herausbringen können. Er mußte jedenfalls sehen, daß er aus James eine gute Beschreibung von ihr herausquetschte. Mit solchen Gedanken betrat er nach einer Weile den Laden. »Kann ich Mr. Jenkins sprechen?« fragte er einen jungen Mann, der ihm entgegenkam. »Gewiß! Mr. Jenkins, Sie werden gewünscht«, rief dieser durch eine halboffene Türe im Hintergrund. Ein älterer Herr mit sorgenvoller Miene erschien. »Womit kann ich dienen?« fragte er höflich. Burnes musterte ihn schnell. Nichts Ungewöhnliches lag in diesen ruhigen, nüchternen Zügen, wenn auch die Falten und
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dunklen Ringe unter den müden Augen auf eine schlaflose Nacht deuteten. »Mr. Jenkins?« vergewisserte sich Burnes. »Das ist mein Name. Darf ich fragen, mit wem ich das Vergnügen habe?« lautete die Gegenfrage. »Ich bin Inspektor Burnes, von Scotland Yard beauftragt, einige Erhebungen zu pflegen. Darf ich Sie bitten, mir unter vier Augen einige Fragen zu beantworten?« Tödlicher Schreck spiegelte sich in den entsetzten Augen, die sich auf ihn richteten. »Gewiß, Inspektor, kommen Sie, bitte, in das Privatkontor…« Jenkins trat in die Tür zurück, an der er bis jetzt gestanden war, und lud Burnes ein, ihm zu folgen. In einem mit stiller Eleganz ausgestatteten Büro nahm Burnes in einem Fauteuil Platz, während sich Jenkins schwer hinter dem Schreibtisch niederließ. »Ich glaube, Ihre Stimme zu erkennen«, sagte er in niedergeschlagenem Tone, »telephonierten Sie nicht gestern mit mir?« »So ist es, Mr. Jenkins«, sagte Burnes teilnahmsvoll. »Ich darf annehmen, daß Sie sich bereits denken, was mich zu Ihnen führt? Am Telephon durfte ich natürlich nichts Näheres verlauten lassen, aber wie die Dinge nun stehen, kann ich Ihnen wohl die traurige Nachricht anvertrauen: Ihr armer Chef wurde vorgestern nacht um etwa neun Uhr von unbekannten Tätern ermordet, als er auf dem Wege zu dem von Ihnen genannten Mr. Wricks war. Ich brauche wohl kaum zu erwähnen, daß die Juwelen, die er nach Ihrer Angabe bei sich führte, nicht zu finden waren, obgleich der Inhalt seiner Taschen anscheinend nicht berührt wurde.« Jenkins ließ den Kopf in die Hände sinken. Eine Minute herrschte Schweigen.
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»Ich ehre Ihren begreiflichen Kummer, Mr. Jenkins«, sagte Burnes dann freundlich. »Aber wir dürfen uns dem nicht hingeben. Die grausame Tat schreit nach Sühne. Der Arme wurde durch einen Kopfschuß mit einem Dum-Dum-Geschoß erledigt. Wir können wenigstens sicher sein, daß er nicht gelitten hat, sondern augenblicklich tot war. Wollen Sie uns behilflich sein, so bitte ich Sie, sich zu fassen und mir, so gut Sie können, Auskünfte zu geben, die entscheidend sein mögen. Was wissen Sie über die Fahrt Ihres Chefs – vor allem, wie kam es dazu?« Jenkins fuhr sich mit der Hand über die nassen Augen. Dann erzählte er mit ruhiger Stimme, ziemlich ähnlich der Schilderung, die Wricks gegeben hatte, daß dieser eines Tages mit einer hübschen, jungen Dame aufgetaucht war und nach einigem Hin und Her die Fahrt verabredet wurde. »Es war ausdrücklich vereinbart worden, daß telephonisch abgesagt werden sollte, wenn einem der beiden Partner etwas dazwischenkäme«, setzte er fort. »Ich rief vorher noch im Ort an und erkundigte mich ein wenig über unseren neuen Kunden, obgleich mein Chef nichts davon wissen wollte, da er fürchtete, Mr. Wricks könnte es erfahren und dadurch verstimmt werden. So war ich gezwungen, meine Nachforschungen nur ganz oberflächlich vorzunehmen, und begnügte mich damit, zu erfahren, daß er tatsächlich ein größeres Gebäude erworben hatte und als reicher Mann galt, seine Rechnungen pünktlich ordnete und dergleichen, was man so in einem allgemeinen Kramladen erfahren kann. Das war mehr als genug für meinen Chef. Er sah ein großes Geschäft kommen, die junge Dame war äußerst anspruchsvoll gewesen, und es machte den Eindruck, daß ihr ältlicher Kavalier ihr in keiner Weise widerstehen könne. ›Das sind die besten Geschäfte‹, frohlockte mein Chef, nicht immer die appetitlichsten – oft muß man so einem Frauenzimmer noch extra etwas versprechen, wenn sie den Kauf und den Preis, den man verlangt, erreichen kann. Na, und 143
einen anständigen Preis werde ich schon verlangen, wenn solche Spesen in Frage kommen. Sicher so ein verrückter Amerikaner, dem alles egal ist, wenn er nur erreicht, was er will. Er scheint ja ganz versessen zu sein auf den kecken Rangen.‹ So ungefähr drückte sich mein Chef aus – und nichts hielt ihn zurück, das ganze Lager auszuräumen und unser Schaufenster zu plündern. Sie haben vielleicht gesehen, welche ärmlichen Reste es heute enthält. ›In der Nacht ist ohnehin nichts draußen‹, meinte Mr. van Raan, ›und morgen bin ich zurück, zu einer Zeit, zu der Klienten, wie wir sie haben, ohnehin noch nicht unterwegs sind!‹ So nahm das Unglück seinen Lauf. – Er lehnte es ab, einen Begleiter mitzunehmen, so sehr ich ihn darum bat – ›es könnte Mr. Wricks ärgern, wenn ich da noch jemanden ins Haus schleppe. Ich finde mich schon allein zurecht, wir sind ja nicht in Afrika‹. Er war ganz aufgeräumt, in so guter Laune, wie wir ihn schon lange nicht gesehen hatten. Sie müssen wissen, der Geschäftsgang ist seit geraumer Zeit sehr schwach, die geringe Kaufkraft unserer alten Kunden, die, durch Steuern und Erbschaftsabgaben erdrückt, sich einschränken müssen, einerseits und anderseits die rücksichtslose Reklame moderner Geschäfte, die die Neureichen anzuziehen verstehen, haben uns sehr ins Hintertreffen gebracht. So kam alles zusammen, um van Raan zu dieser unverzeihlichen Torheit zu bringen, und nun ist er das Opfer eines brutalen Wegelageres geworden! – Was sagte übrigens Mr. Wricks dazu, daß er nicht auftauchte, war er sehr ärgerlich?«‹ »Hm«, antwortete Burnes vorsichtig, »Mr. Wricks’ Angaben decken sich ziemlich mit den Ihren. Im übrigen hatte er eine Differenz mit seiner Angebeteten, so daß es ohnehin kaum zu einem Abschluß gekommen wäre, auch wenn Mr. Raan eingetroffen wäre. Ich glaube nicht fehlzugehen, wenn ich annehme, daß Mr. Wricks ihn nicht besonders vermißt hat. Um präzise zu sein, wir haben festgestellt, daß er zur 144
fraglichen Zeit gar nicht zu Hause war. Es ist außer Zweifel, daß er sich in London befand, als Mr. van Raan ermordet wurde. Er behauptet, daß abgemacht wurde, es würde noch Näheres telephonisch vereinbart werden, und dazu sei es wegen der Entfremdung mit seiner Dame nicht mehr gekommen. So habe er eben angenommen, Mr. van Raan werde die Fahrt nicht antreten. Anzurufen, um das ausdrücklich zu vereinbaren, hätte er keinen Grund gehabt. Im Zweifelsfalle habe er erwartet, daß van Raan angerufen hätte, im übrigen seien die Details hauptsächlich zwischen der Dame und Mister van Raan besprochen worden.« »Es ist klar, daß er die Verantwortung für das traurige Geschehen von sich abzuwälzen sucht«, sagte Jenkins, »und leider muß ich ihm da einigermaßen recht geben. Mister van Raan hat unverantwortlich leichtsinnig gehandelt. Ich mache mir die allergrößten Vorwürfe, daß ich nicht energischer zu widersprechen gewagt habe – aber wenn ich auch schon dreißig Jahre bei ihm bin und mich seines Vertrauens in hohem Maße erfreut habe, so war ich doch schließlich nur ein Angestellter, der den Launen seines Brotgebers Rechnung tragen muß.« »Kein Wort des Vorwurfs gegen Sie«, beruhigte Burnes den kummervollen Mann. »Wie steht es mit der Wiedererlangung der kostbaren Waren?« kam Jenkins etwas getröstet auf die praktische Seite des Falles zu sprechen. »Davon werden wir wohl kaum vor der Ergreifung des Mörders etwas hören. Immerhin, wir werden die Liste der einzelnen Schmuckstücke sofort an alle in Frage kommenden Stellen gelangen lassen. Können Sie uns eine solche mit möglichst genauer Beschreibung, womöglich mit Bildern, zur Verfügung stellen?« »Sie können sie in zwei Stunden haben.«
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»Das ist recht. Nun aber noch etwas. Es besteht eine, allerdings sehr vage, Hoffnung…« Er erzählte dem staunend aufhorchenden Angestellten die Geschichte Potters. »Eine geniale Methode, gestohlene Juwelen zu verwerten«, rief Jenkins, als Burnes geendet hatte. »Wenn nur unsere lieben Herren Einbrecher nicht daraufkommen – das wäre eine schöne Bescherung! Natürlich gehe ich gerne mit, wenn die Sache auch etwas unheimlich aussieht. Dieser Russe – solche Leute sind zu allem fähig, wenn sie gefaßt werden…« »Ich bin ja dabei«, beruhigte Burnes den besorgten Mann. »Sie brauchen nicht die geringste Angst zu haben, wir sind ja nicht im Urwald…« Diese Redewendung, die Jenkins in ähnlicher Form vor kurzem von einem anderen gehört hatte, schien nicht besonders zu überzeugen. Burnes beglückwünschte sich nur, daß er nicht von den Ereignissen erzählt hatte, die auch seine Gegenwart nicht gerade als besonders wirkungsvoll erwiesen hatten. Er stellte mit einem Blick auf die Uhr fest, daß es langsam dringlich wurde, sich zu Potters Bank zu begeben, wenn man dort noch rechtzeitig eintreffen wollte. Jenkins ermahnte seinen Gehilfen, ihn würdig zu vertreten und besonders auf Russen und Leute mit Schußwaffen ein scharfes Auge zu haben, und setzte sich dann zu Burnes in den Mercedes, der die beiden in die Gefilde der City entführte. Potters Bank war ein ehrwürdiges, etwas schmalbrüstiges Gebäude, das von außen bescheiden, von innen aber ausgesprochen vornehm wirkte. Der übliche galonierte Diener führte die Herren zum Allerheiligsten, wo sie bereits nach wenigen Minuten vom Chef empfangen wurden. Mr. Potter schienen die Orgien des gestrigen Abends nicht gutgetan zu haben. Er machte einen nervösen und fahrigen Eindruck. »Ich hätte gute Lust, den Grafen gar nicht zu empfangen«, zankte er. »Dieser Gillespie hat mir da einen netten Salat 146
angerichtet. Wer weiß, was dieser halbwilde Steppensohn im Schilde führt. Was mir Gillespie von den Heldentaten, die er aufgeführt haben soll, berichtet hat, treibt mir die Haare zu Berg. Inspektor, ich wünsche, daß Sie dem Burschen nicht von der Falte gehen.« »Das wird sich schwer machen lassen«, lächelte Mister Gillespie, der eben eintrat und die letzten Worte gehört hatte. »Guten Morgen, meine Herren, erlauben Sie, daß ich mich bekannt mache, ich bin Gillespie, Mr. Potters Privatsekretär.« Er schüttelte den Ankömmlingen die Hand, wobei diese sich vorstellten. »Sehr erfreut, Inspektor. Graf Asanow ist soeben gekommen und wartet im Tresor. Darf ich hinunterführen?« »Zuerst möchte ich nur kurz die Rollen verteilen«, sagte Burnes. »Vielleicht stellen Sie Mr. Jenkins als Schrankwärter vor, der die Stücke in Verwahrung nimmt, nachdem Sie sie geschätzt haben, verehrter Herr Präsident. Ich halte mich ein wenig im Hintergrund, als wäre ich ein zufälliger Kunde, der etwas zu hinterlegen wünscht. Mister Jenkins bekommt so Gelegenheit, die Sachen zu sehen, und gibt ein Zeichen, wenn sie ihm als gestohlen oder gar als Gut seines toten Chefs bekannt sind. Ich schlage vor, er zieht in diesem Falle sein Taschentuch. Dann trete ich vor und verhafte den Mann an Ort und Stelle – den Befehl hierzu hat mir mein Chef schon gestern ausgestellt. Geht die Sache aber in Ordnung, so übergibt Mr. Jenkins die Juwelen dem richtigen Schrankwärter, und die Sache geht ihren vorbesprochenen Lauf. Ich entferne mich ebenso unauffällig, wie ich gekommen bin. Mr. Jenkins hat sich bereits ehrenwörtlich verpflichtet, die Sache mit vollkommener Verschwiegenheit zu behandeln, so daß niemand davon erfährt, falls er die Stücke als Kronjuwelen, oder was immer sie sein mögen, erkennt.« »Alles gut und schön«, sagte Potter, »wenn es aber zur Verhaftung kommt, dann wünsche ich, daß ich und natürlich alle anderen Anwesenden geschützt werden. Gillespie, ich 147
mache Sie ganz besonders für alles verantwortlich – Sie haben die ganze Geschichte mit diesem famosen Wildling auf dem Gewissen…« »Ich bin mir darüber vollkommen klar, Herr Präsident«, sagte Gillespie mit ernster Stimme. »Ich versichere, ich werde Sie mit meinem eigenen Körper decken, wenn es sein muß… ich werde auf der Hut sein…« So begab man sich in nicht gerade heiterer Stimmung hinunter. Voran schritt Gillespie, während ein Diener Jenkins auf einer Hintertreppe in den Schrankraum hineinbugsierte, damit er dort die Rolle des eben dienstübernehmenden Schrankwächters spielen könne. Hinter Gillespie schritt Potter, den Beschluß machte Burnes, der sich nicht wenig über das Gezappel des imposanten Bankmannes unterhielt. Er wartete ein paar Augenblicke an der Tür, bevor er den anderen in den Tresorraum folgte. Dort sah er einen hochgewachsenen, ernsten Mann stehen, mit aristokratischen, aber düsteren Zügen, die ihm wenig Zutrauen einflößten. »Mir scheint, unser lieber Potter hat nicht so ganz unrecht mit seinen Sorgen«, dachte er unruhig und fühlte nach Pistole und Handschellen. Er sah mit Stirnrunzeln, daß Jenkins so auffallend zitterte, als er sich der Gruppe näherte, daß es einem Blinden auffallen mußte. Er sah, daß Asanow etwas befremdet die unsicheren Bewegungen Potters verfolgte, der einige Papiere hervorzog und zu erklären schien. Dann warf Asanow einen forschenden Blick um sich, dem Burnes in letzter Sekunde gerade noch ausweichen konnte. Es fiel ihm ein, daß er ganz vergessen hatte, sich irgendwie unauffällig mit einem der Beamten zu schaffen zu machen. Asanow mußte sich etwas Schönes denken, wenn er da einen Mann herumstehen sah, dem das Aufpassertum auf die Stirn geschrieben stand. Es schien ihm auch, daß Asanow sehr bedenklich geworden war. Nur Gillespie machte einen einigermaßen unbefangenen Eindruck; nun, der kannte seinen Mann ja schon und war seine 148
Art gewöhnt. Seine Gegenwart schien auch Asanow zu beruhigen, denn nachdem sich dieser noch einmal versichert hatte, daß ihm niemand über den Rücken sehen konnte, öffnete er einen kleinen Lederbeutel, den er aus der Tasche gezogen hatte, und nahm einige Gegenstände hervor, die er Potter reichte. Dieser nahm sie nacheinander in die Hand und reichte sie Asanow zurück. In diesem Augenblick geschah etwas, was nicht auf dem Programm stand. Und was dann folgte, ging so schnell, daß Burnes nachher Schwierigkeit hatte, die Vorgänge sich selbst ganz klar zu machen. Was er dann aussagte, war ungefähr so: Jenkins hatte von den zwischen Asanow und Potter ausgewechselten Juwelen etwas zu sehen bekommen und sofort von weitem erkannt, daß es sich zweifellos um van Raans Eigentum handelte. Er griff sofort nach seinem Taschentuch. Die plötzliche heftige Bewegung, die er unwillkürlich ausführte, fiel Asanow, der halb mit dem Rücken zu ihm stand, auf, er fuhr herum, sah in die vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen des Juweliers und mochte die Wahrheit darin gelesen haben – jedenfalls machte auch er eine höchst beunruhigende Bewegung gegen seine Hüfttasche. Bevor Burnes sich auch nur rühren konnte, sprang Gillespie vor, und Potter, der ohnehin vor Nervosität zitterte, stieß einen Schrei aus. Im gleichen Augenblick krachte ein Schuß, Asanow brach mit einem schauerlichen Aufstöhnen zusammen, und als Burnes hinzusprang, fing er nur noch eine Leiche auf. Gillespie stand mit einer rauchenden Pistole da und sah so entsetzt aus wie Potter und Jenkins, die einem hysterischen Zusammenbruch nahe schienen. Mit Mühe und Not gelang es, die fassungslosen Männer in Ruhe in ein Schreibzimmer neben dem Tresorraum zu bringen, während eine rasch verständigte Ambulanz den Toten wegführte. In dem unbeschreiblichen Durcheinander, das die Einvernahme der drei Männer mit sich brachte, die alle 149
zugleich redeten oder schwiegen, war Potter der einzige, der etwas Haltung bewahrte. Er hatte ohnehin das Schlimmste erwartet und war daher von den Ereignissen am wenigsten überrascht worden. Walter war in wenigen Minuten zur Stelle, und Burnes blickte abwechselnd in alle Ecken, um seinen vorwurfsvollen Blicken zu entgehen. Gillespie war am ärgsten getroffen, wie es schien. Er machte sich die bittersten Vorwürfe, seinen ehemaligen Freund erschossen zu haben. »Er war vielleicht vollkommen unschuldig«, schrie er verzweifelt und weinte wie ein Kind. »Wer weiß, ob man ihn nicht nur benützt hat, die Sachen vorzuzeigen, ohne daß er eine Ahnung hatte, wie diese in den Besitz seiner Auftraggeber gekommen sind. Ihr verfluchter Wricks hat da sicher seine Hände im Spiel gehabt und sich vielleicht als der Abgesandte des vermeintlichen Fürsten ausgegeben, in dessen Auftrag Asanow zu handeln glaubte.« Überflüssig zu sagen, daß man ihm und den anderen indessen die Geschichte van Raans und Wricks’ mit allen Details, soweit sie bekannt waren, erzählt hatte. Burnes tröstete ihn damit, daß kein Zweifel an der Mitwisserschaft des Asanow bestehe. Während er das tat, fiel ihm plötzlich etwas ein: Asanow hatte einen Trenchcoat getragen, der im Rücken einen seltsamen Riß hatte… Plötzlich erinnerte er sich des Stoffrestes, den er den starren Händen Gayfields entwunden hatte. Ohne ein Wort raste er hinaus. Nach einer halben Stunde war er wieder da, den Trenchcoat über dem Arm: »Ein Stückchen des Mantels, in dem Asanow eben erschossen wurde, fand sich in den Fingern Gayfields, als ihn Wricks niederschoß«, verkündete er seinem aufhorchenden Auditorium. »Wie kam dieses Restchen in den Besitz Gayfields? Alles wird mir klar: Wricks spielte den Mörder – mit all seinen Ausflüchten und Ausreden wollte er sich nur 150
immer mehr verdächtig machen. Er wollte, daß wir an seine Schuld glaubten, ihn einsperrten und Indizien gegen ihn sammelten… Indessen wäre sein Kumpan, der den Mord und Raub verübt hatte, auf und davon gewesen. Noch lieber freilich wäre es Wricks gewesen, nach Belgien entkommen zu können. Uns ließ er dabei eine Spur zurück, der wir nachgerannt wären, um ihn endlich triumphierend zu erwischen. Er hätte geschicktungeschickt, so lange als möglich, Stein und Bein geleugnet und uns an der Nase herumgezogen, uns dabei in dem sicheren Gefühl lassend, daß wir in ihm den Täter hatten und nur die Beweise zusammenzusuchen hätten. Monatelang hätte er uns zum besten gehalten, sich vielleicht sogar den Strick um den Hals legen lassen – ehe er in der Todesangst den Platz des Alibis wiedergefunden hätte, den er mit uns natürlich hundertmal vorher vergeblich ›gesucht‹ hätte – oh, dieser Gauner! Und dann hätten wir ihn laufen lassen müssen und uns nach dem wahren Täter umschauen können. Na, daß der sich indessen in völlige Sicherheit geflüchtet und nach einiger Zeit mit Wricks die Beute geteilt hätte – wenn die zwei Ehrenmänner dies nicht vorher schon unmittelbar nach dem Mord besorgt haben –, davon können wir überzeugt sein.« »Aber warum kam es nicht dazu?« rief Potter. »Ganz einfach! Ich wäre dem Lumpen ja hineingefallen, aber dieser verflixte Gayfield kam irgendwie dahinter. Er fand vermutlich das Stoffrestchen und wollte Wricks damit in die Enge treiben, und das gelang ihm leider besser, als er gedacht hatte! Wricks sah den schönen Plan verraten, der ja durch Gayfields frühe Entdeckung des Mordes, die man so bald nicht erwartete, ohnehin ein kleines Loch bekommen hatte. Wie konnte er Asanow warnen, den verräterischen Trenchcoat verschwinden zu lassen? Er mußte Gayfield unter allen Umständen zum Schweigen bringen, und das versuchte er gestern, als es beim ersten Versuch nicht gelang, zu vollenden. Indessen unternahm es Asanow, hier einen Teil der Beute zu 151
versilbern, um die Mittel zur Flucht zu bekommen. Das wäre ihm ebenso gelungen wie Wricks seine Flucht und die zweite Schandtat – wenn nicht eine Reihe von glücklichen Zufällen…« »Keine Zufälle, verehrter Herr Inspektor! Was Sie geleistet haben, erscheint unfaßbar. Diese Voraussicht – diese Überlegenheit in Ihren Dispositionen – ich gratuliere Ihnen zu Ihrem einzigartigen Erfolg«, sagte Potter, »und auch uns, daß wir eine so fabelhaft fähige und aufopferungsbereite Truppe zu unserem Schutz haben. Am meisten Ihnen, lieber Walter, zu dem prachtvollen Nachwuchs, den Sie heranbilden. Nun noch eine Bitte: Sehen Sie zu, daß mein lieber, braver Gillespie seine Tat, mit der er mein Leben rettete, in geeigneter Weise belohnt erhält. Es ist keine Frage, daß dieser blutbefleckte Mörder da unten in meinem stillen Hause ein Blutbad angerichtet hätte, wenn ihm nicht die mutige Tat dieses bescheidenen Zivilisten das Handwerk im letzten Moment gelegt hätte.« »Ich will auch hier mein Bestes tun«, sprach Walter.
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12. KAPITEL WIR SIND ERST AM ANFANG Burnes raste nach Longsberry. Er kam gerade zurecht, um den Coroner vor dem Schlußwort abzufangen. Er berichtete die Ereignisse der letzten Stunden und erreichte unschwer, daß die Jury auf vorsätzlichen Mord, begangen durch einen Täter, der sich Asanow nannte, erkannte. Damit war der Fall für Longsberry erledigt. Aufatmend kehrte er nach London zurück, erkundigte sich in Scotland Yard, was Wricks indessen wieder aufgeführt habe, und war beinahe erstaunt zu hören, daß nichts vorgefallen war. Von Jenkins war die Liste der geraubten Juwelen eingelangt und an alle irgendwie in Frage kommenden Stellen weitergegeben worden. Natürlich waren die bei Asanow vorgefundenen Stücke der Firma zurückgestellt worden und nicht mehr in der Liste enthalten. Leider blieb die Summe noch immer sehr nahe den fünfzigtausend Pfund, die Jenkins seinerzeit genannt hatte. Die bei dem Russen zustandegebrachten Juwelen waren kaum drei- bis viertausend Pfund wert, hatte sich sein Kreditansuchen doch auch nur auf zweitausend belaufen. Aber Burnes hörte sich dies ohne große Bewegung an. Er hatte den Fall aufgeklärt. Die Zeitungen brachten seinen Erfolg in ganz großer Aufmachung: Rätselhafter Mord im Walde an berühmtem Juwelier, innerhalb von sechsunddreißig Stunden von Inspektor Burnes restlos klargestellt, Täter bei versuchtem Angriff von mutigem Bankbeamten in Notwehr erschossen. So ungefähr lauteten die Überschriften der Abendblätter, die Lobeshymnen auf den jungen Beamten, die musterhafte und neidlose Zusammenarbeit der ländlichen mit den städtischen 153
Behörden und die Ruhe und Besonnenheit aller Beteiligten enthielten. Des armen Gayfield wurde da wenig gedacht. Für seine seltsame Handlungsweise wußte man keine rechte Erklärung. Auch Wricks, dem man nur eine episodenhafte Beteiligung als Lockvogel zuzubilligen geneigt schien, kam ohne besondere Ovationen hinweg, auf die er auch sicher keinen großen Wert gelegt hätte. So schienen sämtliche Überlebenden allen Grund zur Zufriedenheit zu haben, ausgenommen die Erben des ausgeraubten Juweliers – aber das trübte die Stimmung unseres Helden wenig. »Wricks und die Steine werden sich früher oder später schon finden«, dachte er optimistisch, »das ist Sache der Fahndungsstellen – keine Spezialaufgabe für einen Beamten meines Ranges«; und fröhlich ging er daran, sich für einen Besuch herzurichten, auf den er sich den ganzen Tag schon freute. Ähnliches äußerte er auch eine Stunde später im Whipps Cross Hospital einer gewissen jungen Dame gegenüber, die ihm beglückt und bewundernd lauschte und mit Genugtuung erzählte, daß es ihrem Vater nach Ansicht der Ärzte ausgezeichnet gehe. Allerdings mußte sie gestehen, daß er selbst noch nicht in der Lage war, sich hierzu zu äußern. Er schlief sozusagen ununterbrochen, aber das schien den Ärzten großartig zu gefallen. Jedenfalls schluckte er widerspruchslos, was man ihm an Medizinen und Kräftigungsmitteln eingab. Die erste Bluttransfusion, die man sofort nach seinem Einlangen gemacht hatte, hatte keinen Schaden angerichtet, man hatte vorsichtig Blutgruppe 0 verwendet, da man in der Eile die seine nicht mehr rasch genug feststellen hatte können. Die späteren waren natürlich ganz genau nach der seinen erfolgt, und seine eiserne Konstitution schien die furchtbare Operation gut überstanden zu haben. Marjorie berichtete mit Hingabe alle Details, friedlich schnaufte Robbie zu ihren
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Füßen, und Burnes lauschte diesen akustischen Genüssen mit seelenvoller Hingabe. So vergingen die Abendstunden schnell, und Burnes verzichtete auf einen Besuch bei Walter – er hatte einen kurzen telephonischen Bericht über das Ergebnis der Leichenschau in Longsberry an ihn gelangen lassen. Er ließ sich von Marjorie durch den dunklen, frühlingsduftenden Park zu seinem Wagen begleiten, die Begleitumstände dieser Begleitung wollen wir mit dem Mantel taktvoller Diskretion bedecken. Mehrere Tage verstrichen, die Burnes mit seinen üblichen Berufsangelegenheiten und einigen dem Fall van Raans entspringenden Formalitäten ausfüllte, wobei die Abende alle den Besuchen in Whipps Cross Hospital gewidmet waren. Erwähnenswert ist vielleicht noch die Besprechung, die in der Kanzlei des Anwaltes Dr. Shawler stattfand. Mr. Shawler war Anwalt und nun Testamentsvollstrecker des ermordeten Juweliers. Burnes fand eines Morgens eine Einladung auf seinem Schreibtisch, sich am nächsten Nachmittag um drei Uhr in der Kanzlei Shawlers einzufinden, um der Testamentseröffnung beizuwohnen und allenfalls Auskünfte in Sachen der gestohlenen Juwelen zu geben. Er entnahm der Einladung, die in Form eines Rundschreibens gehalten war, daß außer ihm noch Potters Bank und die Erben, Jonathan van Raan als Sohn und seine Haushälterin als Legatarin, verständigt worden waren. So begab er sich mit einem Seufzer – solche Geldsachen waren ihm immer ein Greuel – zur bezeichneten Stunde an die angegebene Adresse und fand sich kurz darauf in einem recht nüchternen und alltäglichen Kanzleiraum, in dem er Mr. Potter und Mr. Gillespie, Mr. Jenkins und einen jungen Mann, der ihm von Anbeginn höchst unsympathisch war, sowie eine sichtlich recht betrübte, ältere Frau vorfand. Er begrüßte die Anwesenden, zu denen sich kurz darauf ein älterer, aber sehr rüstiger und energiegeladener Herr gesellte, der sich als Dr. Shawler 155
vorstellte und den Vorsitz der kleinen Versammlung übernahm. Er öffnete ohne viel Einleitung ein größeres Kuvert und entnahm demselben ein Blatt, das außer den vorgeschriebenen Formeln den recht kurzen Willen des Verstorbenen enthielt, wonach dieser seinen gesamten irdischen Besitz seinem Sohn hinterließ, mit den beiden Bedingungen, seinen erprobten Mitarbeiter in den nächsten drei Jahren nicht zu entlassen sowie seiner langjährigen Haushälterin ein Legat von tausend Pfund auszuzahlen. Hierauf legte Jenkins ein Inventar der Firma und die letzte Bilanz, und Gillespie in Vertretung von Potters Bank, bei der der Verblichene sein Konto gehabt hatte, den letzten Auszug vor. Es zeigte sich, daß Potter ein alter Freund und Kunde von van Raan gewesen war, weshalb der Präsident selbst gekommen war, dem Sohn sein Beileid auszusprechen und die Unterstützung seines Hauses bei der Ordnung des Nachlasses zu versprechen. Diese Hilfe schien auch in hohem Maße wünschenswert. Das Inventar hatte einen verhältnismäßig geringen Wert und war durch Warenschulden erheblich belastet, denen nur ganz geringfügige Außenstände gegenüberstanden. Das Bankkonto wies auch nur wenige hundert Pfund Saldo auf, so daß nicht einmal die Mittel vorhanden waren, Mrs. Hawkiss ihr Legat auszuzahlen. Die nette alte Frau erklärte sofort, damit warten zu wollen, bis bessere Zeiten eintreten würden, und entfernte sich mit leisem Weinen. Irgendeine ihm selbst unklare Regung veranlaßte Burnes, ihre Adresse aufzunehmen – sie hatte die bereits abgesperrte Wohnung ihres früheren Herrn verlassen und war zu einer Schwester übersiedelt. Burnes bemerkte, daß der junge van Raan mit gefurchter Stirn sein Tun beobachtete, was seine Antipathie gegenüber dem jungen Herrn noch steigerte. Mit halbem Ohr verfolgte er die finanziellen Debatten, bis er ersucht wurde, sich über die Zustandebringung der geraubten Juwelen zu äußern. 156
»Nun«, sagte er vorsichtig, »wir sind erst am Anfang. Etwas vorherzusagen ist natürlich schwer. Wir können eigentlich nicht mehr tun, als die Augen offen halten und den einzigen uns bekannten Mitschuldigen hoppnehmen, wenn er die Nase aus seinem Bau stecken sollte. Wir haben natürlich prima Beschreibungen von ihm hinausgegeben, und es scheint nach menschlichem Ermessen unmöglich, daß er unsere Insel verläßt, ohne erwischt zu werden, ausgenommen, er läßt sich eine andere Nase und womöglich andere Augen einsetzen, womit beim heutigen Stande der Wissenschaft Gott sei Dank nicht gerechnet werden muß. Wir haben sogar ein paar ganz nette Fingerabdrücke von ihm zustande gebracht. Aber ob wir mit ihm die Juwelen erwischen, ist eine andere Frage – wer weiß, ob er sie je in der Hand gehabt hat. Unsere Theorie ist, daß Wricks mit irgendeinem Frauenzimmer, das er an der Hand hatte, van Raan mit seinen schönsten Sachen in das Schloß einlud, das er eigens zu diesem Zweck erworben hat. Die eigenartigen Verhältnisse auf diesem Zweige des Realitätenmarktes erlaubten ihm das, ohne daß er überhaupt Geld brauchte. Was zu zahlen war, bekam er durch Verkauf von Möbeln und Holzbeständen, die er miterworben hatte. Wenn er über einen Kredit von tausendfünfhundert bis zweitausend Pfund verfügte, war der Ankauf leicht – und den Kredit konnte er sehr rasch durch die vorhin erwähnten Verkäufe wieder zurückzahlen. Nach dem Mord fuhr Asanow nach London und dürfte in aller Frühe am nächsten Morgen, bevor noch irgend etwas bekannt war, ein paar wenig auffallende Stücke versilbert haben; als Wricks mit dem ersten Zug in London eintraf, dürften die beiden Ehrenmänner sich getroffen und letzterer seinen Anteil erhalten haben. Daher die zwei Fünfhundert-Pfund-Noten, mit denen er uns gegenüber protzte. Vielleicht hat er auch gleich seinen ganzen Anteil an dem Raub erhalten. Aber jedenfalls hatte er nichts davon bei sich, als er auf dem Flugplatz festgehalten wurde. Er müßte 157
also seinen Teil schon irgendwo deponiert haben, bevor er sich hinauswagte. Das gleiche dürfte Asanow getan haben, den Wricks vermutlich nach seiner Flucht, vielleicht auch schon durch das in Gegenwart eines unserer Beamten geführte scheinbar harmlose Telephongespräch gewarnt hat. Immerhin glaubte Asanow, das mit Mr. Potter vereinbarte Geschäft noch durchführen zu können. Er mußte sich Mittel verschaffen, um einige Zeit durchzuhalten, bis er daran denken konnte, den übrigen Schmuck zu verwerten. Jedenfalls hatte auch er nichts von dem übrigen Raub bei sich, als er durchsucht wurde. So muß man leider damit rechnen, daß zumindest sein Anteil, in Gott weiß welcher unscheinbaren Verpackung, in einem Hotel, einem Bahnhofdepot, vielleicht einer Anwaltskanzlei« – hier bemerkte Burnes mit Staunen, daß Dr. Shawler zusammenzuckte – »auf den Moment wartet, daß ihn der Adressat abholt! Und wer weiß, welchen Namen Asanow da hinaufgeschrieben hat! In seinem Falle kann man somit überhaupt nicht vorhersehen, ob und wann dieses Paket, dessen Lagerplatz nur er kannte und außer ihm wohl niemand weiß, je gefunden wird. Im Falle Wricks liegt die Sache ähnlich – nur, daß Wricks am Leben ist und sich schon einmal darum umsehen wird, so daß man hoffen kann, ihn dabei zu erwischen. Ich muß zugeben, daß ich auch da nichts Genaueres voraussagen kann.« »Eine ganz verdammte Geschichte«, murrte der junge Erbe, »was wird man also tun können?« »Ich werde das Geschäft, so gut es geht, weiterführen«, sagte Jenkins nach einer kleinen Pause, »der Name ist ja bestens eingeführt. Leider ist viel an der gewinnenden Persönlichkeit meines dahingegangenen Chefs gehangen, aber ich hoffe doch, den Betrieb mit größter Sparsamkeit« – ein vernichtender Blick traf den neuen Herrn – »aufrechterhalten zu können. Große Erträge sind allerdings nicht zu erwarten. Wann wir Mrs. Hawkiss auszahlen können, ist ganz ungewiß. 158
Ich werde froh sein, meinem neuen Chef eine bescheidene Rente herauswirtschaften zu können. Mehr kann ich im Augenblick beim besten Willen nicht versprechen.« »Die Zeiten sind leider schwer«, bemerkte Mr. Potter, »auch wir Bankhäuser sind zu größter Zurückhaltung bei Gewährung von Krediten gezwungen. So möchte ich auch den Sohn meines verewigten Freundes bitten, die von mir in Aussicht gestellte Stützung nur im allernotwendigsten Ausmaß in Anspruch zu nehmen. Doch vorübergehende Kontoüberziehungen bis – sagen wir« – ein fragender Blick flog zu Gillespie –, »hm, zweihundert Pfund kann ich jedenfalls im voraus bewilligen.« Nach einigen belanglosen Redensarten war man auseinandergegangen. Ein paar Tage darauf hatte Gayfield – er war zum erstenmal ins Freie gebracht worden und nahm mit Marjorie den Tee, zu dem sich Burnes eingefunden hatte – von den Ereignissen gesprochen, die seinen stillen Wald ins Licht der Öffentlichkeit gerückt hatten. Bis jetzt hatte man seine schüchternen Versuche, sich damit zu beschäftigen, stets im Keime erstickt, aber nun hatten die Ärzte keine Bedenken mehr geäußert, daß Aufregungen, wie sie mit diesem Thema verbunden sein könnten, ihm schaden würden. So ließ Marjorie zu, daß Burnes seine Fragen ausführlich beantwortete, und Gayfield erfuhr haarklein, was sich seit seiner Verwundung abgespielt hatte – auch von dieser letzten Sitzung in der Anwaltskanzlei. »Nun, da haben Sie ja die ganze Gesellschaft beisammen gehabt«, sagte er dann, »wen halten Sie nun für den Anführer der Bande?« Burnes warf einen erschrockenen Blick auf Marjorie. Hatte die Geschichte den kaum Genesenden doch überanstrengt, daß er nun irre Reden führte? »Schauen Sie doch nicht so – hm – so unklug drein, Burnes«, sagte Gayfield verdrießlich, als er diesen Blick bemerkte, »ich bin keineswegs schwachsinnig und weiß genau, 159
was ich rede. Ich muß leider eher an den geistigen Fähigkeiten dessen zweifeln, der da die ganze Sammlung von Galgengesichtern beisammen hatte und nicht daran dachte, denen mal ordentlich auf den Zahn zu fühlen.« »Was meinen Sie denn, Gayfield?« fragte Burnes verblüfft. »Ja, sagen Sie einmal, glauben Sie wirklich, die zwei armen Narren, Asanow und Wricks, haben das alles eingefädelt? Das ist doch ganz ausgeschlossen! Da muß irgend jemand aus dem inneren Kreis um den Ermordeten dabei gewesen sein – wie er so lieblich in der Kanzlei um Sie versammelt war. Wie wären die zwei Burschen gerade auf van Raan gekommen? Ich bin sicher, daß nur ein Juwelier in sehr bedrängter Lage sich für so ein Abenteuer gewinnen ließ, und daß er das war, müssen die gewußt haben, die es in Szene setzten. Aber woher?« »Teufel…« »Sie glauben, die Sache ist zu Ende? Wir sind erst am Anfang, darum machen Sie sich einmal ein bißchen dahinter, junger Mann«, riet der Förster, »und erzählen Sie mir, was Jenkins, die Haushälterin, Potter, Gillespie und nicht zuletzt der junge Herr van Raan zusammenquatschen, wenn man ihnen auf die Bude rückt. Das würde mich verdammt interessieren. Der einzige, den Sie in Ruhe lassen können, ist der alte James, den Sie sicher einen Augenblick lang im Verdacht hatten, daß er durch das Fenster auf mich geschossen hat, als Ihnen Wricks seine Märchen erzählte, was?« Burnes errötete ein wenig. »Dacht ich’s nicht«, nickte Gayfield vor sich hin, »Sie würden sich alles sehr erleichtern, wenn Sie das, was Sie für richtig halten, als Unsinn, und das, was Sie für Unsinn halten, als richtig annehmen würden. Dann kämen Sie der Wahrheit sicher verdammt nahe.« Burnes überging den Rat geflissentlich. »Ich werde einmal sehen, ob sich da irgend etwas ergeben sollte«, meinte er nachsichtig, wie ein Vater, der seinem 160
unvernünftigen Kind eine kleine Freude machen will. »Ich könnte bei dem jungen van Raan einen Anfang machen, der sah wirklich etwas seltsam aus…« »Ich würde den zuletzt drannehmen«, nörgelte Gayfield, »gerade weil er Ihnen verdächtig vorkommt. Aber schließlich unterhalten Sie sich nach Ihrer Weise, richten Sie nur keinen Unfug an.« »Ich werde schon aufpassen, daß nicht wieder jemand meine Abwesenheit benützt, um sich anschießen zu lassen«, sagte Burnes anzüglich. »Nun, Ihre werte Gegenwart scheint an solchen Zwischenfällen leider wenig zu ändern«, gab Gayfield in gleicher Weise zurück. »Hoffen wir trotzdem, daß die bisherige Strecke durch Ihre kommenden Jagden nicht vergrößert wird, auch da sind wir wohl erst am Anfang!« Burnes wollte heftig erwidern, aber Marjorie, die diesen unerfreulichen Reminiszenzen besorgt gefolgt war, kam ihm zuvor: »Du mußt nun ins Haus, Daddy«, sagte sie zärtlich. »Der Abend wird kühl…« Der Abschied, den Burnes nahm, wurde es auch.
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13. KAPITEL FAMILIE VAN RAAN Burnes zögerte, im Geschäft van Raans nach der Adresse des jungen Besitzers zu fragen, da es ihn nicht gut dünkte, daß man dort von seinen Nachforschungen erfuhr. Er beschloß, sich bei der ehemaligen Haushälterin danach zu erkundigen, deren Aufenthalt er sich ja notiert hatte. So fragte er in dem kleinen Häuschen in Fulham nach Mrs. Hawkiss und wurde bald in ein sauberes Zimmerchen geführt, wo ihn die alte Frau freundlich empfing. »Ich dachte mir gleich, daß Sie bald einmal kommen würden«, begann sie nach kurzer Begrüßung, »Sie sollen ja den erschrecklichen Tod meines armen Herrn aufklären, nicht?« »Ich glaube, es bereits getan zu haben«, meinte Burnes, »aber immerhin, es sind da noch einige Fragen, die mich interessieren. Sie wissen ja, wir von der Polizei haben nicht nur die Aufgabe, Verbrechen zu verfolgen, in erster Linie haben wir sie überhaupt zu verhindern. Ich hoffe, daß dieser Fall viel dazu beiträgt, unsere waghalsige Kaufmannschaft etwas vorsichtiger zu machen. Das wird mehr gegen die Ausbreitung solcher Geschehnisse wirken als eine noch so strenge Abstrafung der Schuldigen. Darum möchte ich gerne wissen, ob irgendwelche besonderen Umstände Ihren Herrn verleitet haben können, diese Fahrt mit so wertvollem Gepäck allein und bei Nacht, in eine unbekannte Gegend, zu unternehmen. Man sagte mir schon, wie ja auch bei der Testamentseröffnung erwähnt wurde, daß die Geschäftslage nicht gerade rosig war, aber das allein wird einen erfahrenen Kaufmann nicht zu so einem Risiko veranlaßt haben.«
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Die alte Frau sah sinnend vor sich nieder. Nach einer kleinen Pause sagte sie zögernd: »Wissen Sie, Jan van Raan war eine optimistische Natur. Von dem gewissen alten Schlag, der in der viktorianischen Zeit den Glauben an Erfolg und Überwindung alles Widrigen in sich aufgesogen hat – und sich gar nicht denken kann, daß etwas ernstlich schiefgehen könnte.« »Um so weniger wird er seine geschäftliche Lage so pessimistisch beurteilt haben, daß ihn dies zu einer unbesonnenen Unternehmung verleitet hätte.« »Gewiß, aber andererseits fühlte er sich in unserem alten, lieben England so absolut sicher – er war überzeugt, daß in den dunklen Forsten in Hilligmore, wo er sein trauriges Ende fand, die gleichen Sicherheitsverhältnisse wie in Picadilly herrschen…« Burnes warf der alten Frau einen scharfen Blick zu. »Sie müssen offen mit mir sprechen«, sagte er dann unmutig, »sonst hat unsere Unterredung gar keinen Sinn. Ich sah Ihnen an, daß Sie etwas auf dem Herzen hatten, als ich Sie in der Kanzlei sprechen hörte, und ich habe das Gefühl, daß wir nicht alles wissen, was in diesem traurigen Fall mitgespielt hat. Ich war sicher, Sie würden mir in der Erinnerung an Ihren Herrn zu helfen versuchen, alle Hintergründe aufzudecken und jene, die an seinem Ende mit schuld sind, der gerechten Strafe zu überantworten. Sollte ich mich getäuscht haben?« »Mein Gott«, klagte Mrs. Hawkiss, »wie gerne würde ich Ihnen helfen… ich habe auch das Gefühl, daß wir nicht alles wissen – aber ich selbst weiß ja gar nichts…« »Nun, was vermuten Sie?« »Ich weiß es nicht. Wirklich nicht, Inspektor. Ich würde es sagen, sofort sagen, wenn ich auch nur eine Ahnung hätte – vielleicht sollte ich Ihnen sagen, daß Mr. van Raan noch eine Ursache hatte…«
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»Noch eine Ursache… wofür, Mrs. Hawkiss?« drängte Burnes. »Für seine Reise. Nicht nur, daß er sich auf die Sicherheit im Lande verließ und Mr. Wricks nach den erhaltenen Auskünften tatsächlich vollkommen vertraute, nicht nur, weil ein gutes Geschäft dringend not tat, um der Firma weiterzuhelfen, nein – vor allem, um das Geld für seinen Sohn zu schaffen…« »Ah«, rief Burnes, »Geld für seinen Sohn – der junge Mann gab wohl viel Geld aus?« »Gewiß. Mr. van Raan fiel es oft schwer, die Summen aufzubringen, die der junge Herr für seine Studien brauchte – und für anderes. Mr. van Raan war seinem Sprößling gegenüber sehr schwach, wie ich leider sagen muß. Und so war der wieder ganz besonders erbittert, als der alte Herr einmal nein sagen mußte zu einer verrückten Idee.« »Einer verrückten Idee?« Burnes zog seinen Stuhl näher an den der Frau heran. Er bebte vor Erregung. Nun kam etwas heraus! Sollte der alte Gayfield wirklich richtig vermutet und er, Burnes, gleich richtig getippt haben? Das wäre… »Was meinen Sie damit, Mrs. Hawkiss?« »Nun, die Sache ist jetzt heraus, also hören Sie den Rest: Jonathan verliebte sich vor einiger Zeit in die Stenotypistin von Shawler. Er hatte oft mit dem Anwalt zu tun, und es scheint, daß das junge und hübsche Mädel sofort das Gefühl hatte, hier ein williges Opfer aus reichem Hause zu finden. Wie Sie sich an den fünf Fingern auszählen können, betrug Mr. van Raans Vermögen, das im Lager seiner Firma steckte, außer dem Goodwill, der in dem Geschäft selbst liegt, an die fünfzigtausend Pfund. Ein Riesenbetrag in den Augen eines mittellosen Mädels! Sie mußte das ganz gut wissen, da sie ja die Bücher des Anwalts, der für Mr. van Raan tätig war, selbst führte. Also machte sie dem jungen Esel schöne Augen, und der fiel prompt darauf hinein, rannte ihr nach wie ein 164
Besessener – und als sie sich absolut nicht ergab, machte er ihr ein Heiratsversprechen. Das scheint gewirkt zu haben – aber dann kam das bittere Ende: Als es darum ging, es einzulösen, mußte der junge Mann mit seinem Vater sprechen, und da war der gute Daddy mit einem Male unerbittlich. Bis hierher und nicht weiter – das schien sein eiserner Entschluß zu sein. Es gab die furchtbarsten Szenen, ich dachte schon, der junge Herr ginge mit dem Messer auf meinen…« Entsetzt schwieg die alte Frau und starrte auf den Beamten, der eifrig in sein Notizbuch schrieb. »Um Gottes willen, verstehen Sie mich nicht falsch…« rief sie erregt. »Ich wollte damit keineswegs einen Verdacht… das kommt gar nicht in Frage…« »Regen Sie sich doch nicht auf, meine liebe, gute Frau Hawkiss«, beruhigte sie Burnes, »sprechen Sie nur ruhig weiter. Also, der junge Mann war auf seinen Vater nicht gut zu sprechen, weil der seinen Eheplänen im Wege stand? Nun, man wird ja bald sehen, ob er seine Unabhängigkeit jetzt, wo ihm niemand mehr entgegentritt, in dieser Richtung ausnützen wird. Ohne die Hilfe seines Vaters hätte er wohl nicht heiraten können?« »Oh, das schon«, sagte Mrs. Hawkiss, »aber die junge Person wollte nicht! Sie sagte, sie wolle nicht Veranlassung für Unfrieden und Zerwürfnis zwischen Vater und Sohn sein und all das schöne Zeug, aber ich bin sicher, sie wollte damit nur erzwingen, daß der Junge sich noch schärfer ins Zeug legte und der Alte einen Batzen zu dem Gebäude beitragen sollte, das sie sich da aufgerichtet zu haben glaubte. Ja, das war noch lange nicht alles. Sie zwickte sich einen alten Herrn auf, mit dem sie unseren Jungen halb toll vor Eifersucht machte. ›Um ihre hoffnungslose Liebe zu Jonathanchen zu vergessen‹, wie sie versicherte, und ›um ihm den Abschied leicht zu machen!‹ Sie können sich denken, daß der temperamentvolle, verliebte Junge nun ganz überschnappte und zu jedem Unsinn zu haben war. 165
Der alte Herr bekam es direkt mit der Angst vor dem eigenen Sohn zu tun, ich durfte gar nicht mehr aus dem Zimmer, wenn er kam, um den armen alten Mann zu quälen, und da gab es nichts, was der Junge nicht vorbrachte. Selbstmord und Mord an der unerreichbaren Geliebten, die er keinem andern gönne und die sich nun seinetwegen opfere – das war noch das wenigste, was er in Aussicht stellte, wenn ihm der Vater nicht helfen wolle, sie zu gewinnen…« »Das haben Sie mit eigenen Ohren gehört?« »Oft genug, ich war selbst schon krank davon und beschwor den jungen Mann, doch endlich Vernunft anzunehmen. Es war alles umsonst, er tobte immer ärger – bis ihm der alte Herr endlich das Haus verbot…« »Das ist sehr interessant…« murmelte Burnes. »Ja, aber nun kommen wir zu dem, was Mr. van Raan in allererster Linie bestimmte, zu Mr. Wricks zu fahren… Der kam mit dem jungen Geschöpf zu ihm ins Geschäft. Sie hatte ihn wahrscheinlich absichtlich dorthin geführt, um meinen Herrn zu demütigen, indem sie ihm eine wertvolle Kundschaft verschaffte – und damit der junge van Raan erfahre, wie reich ihr neuer Freund sei und was er für Ausgaben für sie mache. Mein Chef aber faßte das ganz anders auf. Er glaubte, wenn er seinem Sohne beweise, daß das Frauenzimmer ihrem neuen Freund solche Geschenke abluchse, ihm damit klarmachen zu können, daß sie nur auf Geld aus sei. Er fieberte danach, mit einem saftigen Scheck Wricks’ vor ihn zu treten und ihm zu beweisen, was die Tugend seiner Angebeteten in Pfund und Shilling wert sei… es war ihm ja leider nicht mehr vergönnt.« »Jetzt verstehe ich alles«, rief Burnes, »alles wird mir klar. Mrs. Hawkiss, ich danke Ihnen von Herzen für Ihre Mitteilungen – Sie haben mich ein großes Stück weitergebracht…« Unsicher sah ihn die alte Frau an: »Was meinen Sie damit?« fragte sie ängstlich. 166
»Wir sprechen noch darüber, liebe Mrs. Hawkiss«, sagte Burnes gönnerhaft. »Ich hoffe, Sie werden nun ruhiger schlafen, nachdem Sie sich das vom Herzen geredet haben.« Mrs. Hawkiss sah zwar gar nicht danach aus, aber mit müdem Lächeln begleitete sie ihren Gast zur Tür. Mr. Jenkins war nicht überrascht, als Burnes ihn in dem sehr stillen Geschäft aufsuchte. Er machte einen bekümmerten Eindruck. »Es ist schwerer, als ich gedacht hatte«, sagte er auf eine diesbezügliche Frage. »Auf Kredit bekomme ich keine Waren, besonders da wir unseren besseren Lieferanten noch ziemlich viel schulden. Und wenn man den Kunden nicht eine reichhaltige Auswahl bieten kann, hat man wenig Aussicht, zu einem Geschäft zu kommen. Wie soll ich jemals hoffen, unsere Bestände erneuern zu können?« Burnes nickte teilnahmsvoll. »Da werden Sie sich wohl bald um einen anderen Platz umsehen?« fragte er freundlich. »Ein Herr von Ihrer Erfahrung, der sicher auch einen gewissen Anhang aus guten Kundenkreisen mitbringen würde, dürfte keine Schwierigkeiten haben, bald einen zusagenden Wirkungskreis zu finden.« »Das ist wohl richtig«, stimmte Jenkins bei, »aber ich werde dieses Haus, in dem ich nun zweiundzwanzig Jahre tätig bin, nie verlassen. Man wächst in so etwas hinein, mein lieber Inspektor – sehen Sie, ich habe keine Familie und eigentlich keine anderen Interessen. Für mich ist das die ganze Welt. Ich führe selbst die Bücher. Sie werden keine Eintragung finden, die nicht von meiner Hand ist – nicht ein Stück ist in diesem Hause, an dem ich nicht selbst mitgearbeitet hätte. Mein Chef – kennen Sie die Geschichte der van Raans?« »Es ist mir nur Unzusammenhängendes darüber zu Ohren gekommen.« 167
»Nun, ich weiß nicht, ob es Sie interessiert.« »Mehr als Sie glauben. Alte Familiengeschichten waren immer schon meine besondere Vorliebe«, log Burnes gewissenlos. »Da könnte ich Ihnen einiges erzählen«, setzte Jenkins fort. »Wollen Sie sich das anhören? Ich habe Zeit. Wenn in dieser stillen Stunde am frühen Nachmittag jemand kommen sollte, wird mich mein Assistent schon rufen. Dann müssen Sie mich so lange entschuldigen. Aber ich glaube, wir werden ganz ungestört sein.« Er zündete sich umständlich eine Zigarre an, während Burnes sich gemütlich seine Pfeife stopfte und sich in einem bequemen Fauteuil häuslich einzurichten begann. »Die van Raans kamen zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts aus Holland herüber. Es waren tüchtige, wohlerfahrene Diamantenschleifer, und um 1780 erwarben sie hier dieses Geschäft, das seither unverändert im Besitz der Familie blieb. Es ist seltsam – uns Außenstehende scheint das mehr zu beeindrucken als die Familienmitglieder selbst. Ich fühle immer eine Art heiligen Schauers, wenn ich durch die schmalen Räume und dunklen, engen Gänge gehe, die so viel alte Familientradition atmen, Tradition einer Familie, zu der ich doch gar nicht gehöre. Nun, mein Chef liebte gewiß in seiner Art seinen Beruf, und er war ein hervorragender Fachmann – aber er hatte den Kopf immer woanders. Wenn er nur irgend konnte – weg war er! Angeblich Material einkaufen, Konkurrenzerzeugnisse studieren, Paris, New York, Wien – überall sauste er umher. Er war ein unruhiger Geist. Wohl hatte das Vorteile, er brachte manche neue Idee, aber gerade das half uns wenig bei der alten, vornehmen Stammkundschaft mit ihrem gediegenen, konservativen Geschmack. Schon gar nichts bei der neureichen Gesellschaft, die ja trotzdem nicht kam, weil wir nicht in der Lage waren, es der aufdringlichen Reklame der neuzeitlichen Konkurrenz gleichzutun, die uns 168
diese Art Kundschaft wegfischte. So ging das Geschäft immer mehr zurück. Böse Auftritte hatte ich mit dem alten Herrn, der eigensinnig sein konnte wie ein sizilianischer Esel, manchmal hätte ich ihn rein erschlagen können, wenn er unseren Betrieb auf diese Weise in Gefahr brachte, mein Lebenswerk vor meinen Augen direkt zertrampelte. Wenn ich zusehen mußte, wie das Gebäude, das da von Generationen mit Fleiß und edler Kunst aufgebaut worden war, an dem leichtfertigen Ungeschick, der bornierten Dummheit und sträflichen Gleichgültigkeit eines einzelnen aus der Art geschlagenen Sprosses zugrunde gehen sollte…« Der ältliche Herr hatte sich in eine unerwartete Wut hineingeredet. Erstaunt starrte Burnes ihn an. Dieser Blick brachte Jenkins zur Wirklichkeit zurück. Erschrocken sah er die scharfen Augen des jungen Beamten auf sich gerichtet. Burnes war sich seines Fehlers sofort bewußt und versuchte, seiner Stimme und seinem Ausdruck wohlwollende Teilnahme zu verleihen. »Da haben Sie es bestimmt schwer gehabt, Mr. Jenkins«, sagte er. »Ich hoffe, Sie fanden wenigstens eine Unterstützung in dem jungen Herrn, der ja an der Erhaltung des Familiengeschäftes sehr interessiert gewesen sein muß?« »Nun, das war die traurigste Enttäuschung«, meinte Jenkins, der sich wieder vollkommen in der Gewalt hatte. »Master Jonathan wollte davon überhaupt nichts wissen. Wenn ich ihn fragte, wie er sich die Zukunft denke, wenn er kein Interesse an dem Werk habe und sich so gar nicht auf die Übernahme, die ja doch einmal kommen müsse, vorbereite, pflegte er zu sagen: ›Mein lieber Jenkins, meine Ahnen haben sich damit genug geplagt. Wozu sind Sie da? Sie sind doch gar nicht alt und werden noch lange mittun können, und sollte das Zeug einmal in meine Hände kommen, dann werden Sie es eben allein führen und mir für später einen ebenso selbständigen Geschäftsführer heranziehen. Ich werde mein Leben in Cannes 169
bei den Regatten oder in Schottland auf den Jagden bei meinen Freunden verbringen – und mich mit der schönen Rente begnügen, die Sie ja leicht produzieren werden, wenn der alte Narr nicht mehr hineinreden kann…‹ Das war wenig ermutigend.« »Nun, da wird das Ende Ihres alten Chefs für Sie, den er in allen Fällen so gehandicapt hat, doch eine wahre Erleichterung sein«, meinte Burnes mit dem unschuldigsten Gesicht der Welt. »Und ebenso für den jungen Herrn – mit dem Sie tadellos zusammenarbeiten werden, da er Ihnen ja nichts in den Weg legen wird.« »Leider ist das nicht ganz so«, sagte Jenkins, und Burnes entsann sich der finsteren Blicke, die der Sprecher in der Anwaltskanzlei für seinen jungen Chef gehabt hatte. »Jonathan ist ein toller Verschwender. Ich weiß genau, wenn ich einmal seinen Launen nicht nachkommen kann – und wie kann ich das auf die Dauer, selbst wenn ich nicht das ganze Lager verloren hätte? –, dann wird er mitleidslos das Unternehmen liquidieren. Was hilft mir dann das Testament des alten Herrn, das mir drei Jahre wenigstens meine Stellung erhält? Wenn Jonathan uns in den Konkurs treibt, ist alles für mich zu Ende. Darum streiten wir nun unausgesetzt. Er sagte mir, daß er alles veräußern wolle, wenn die gestohlene Ware nicht bald gefunden wird und eine ihm zusagende Ertragsfähigkeit des Geschäftes eintritt…« »Nun, das wäre ja eine Möglichkeit für Sie, das Ganze bald billig in die Hand zu bekommen – ohne dann weiter von dem alten oder jungen, ihrer Ahnen so wenig würdigen van Raan in Ihrer Geschäftsführung belästigt zu werden… Sie wären ein weit würdigerer Verwalter dieses alten, ehrwürdigen Platzes… Sie könnten vielleicht sogar den Namen übernehmen und den Ihrigen anhängen – ›Van Raan – Jenkins‹, das klänge gar nicht so übel, nicht?«
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»Ich habe wohl manchmal in kühnen Träumen daran gedacht«, gab Jenkins mit versonnenen Augen zu. »Es wäre zu schön, um wahr zu sein –« »Mein Gott«, warf Burnes leichtfertig hin, »warum? Sie sehen, wie Ihnen da der Zufall in die Hände arbeitet. Der alte van Raan tot, der junge verkaufslustig, das Ganze um einen Bettel zu haben, das wertvollste Aktivum, nun, nach dem Verschwinden des Warenlagers, sind ja eigentlich Sie, der den Kundenstock so einigermaßen zusammengehalten hat und wohl bei Klienten und Lieferanten als die Seele des Unternehmens gilt. Man kann Sie eigentlich nur beglückwünschen zu dem Ende des alten Herrn. Wie heißt es? ›Neues Leben blüht aus den Ruinen…‹ Und wenn Sie einmal Herr in diesem Hause sind, wer weiß, ob sich dann nicht vielleicht so allmählich das alte Inventar auch findet…« »Das wäre wohl zu hoffen – aber es würde doch dem jungen van Raan überantwortet werden müssen…« »Nicht unbedingt. Es könnte ja von einem tüchtigen Fachmann so komplett umgearbeitet werden, daß selbst Sie es kaum wiedererkennen würden…«, »Ich verstehe Sie nicht ganz…«, stammelte Jenkins. »Machen Sie sich nichts daraus, ich verstehe mich selbst noch nicht recht. Immerhin, wenn wir schon so nett beisammensitzen: Können Sie mir sagen, wo Sie in der Nacht zum fünften April waren?« »In der Nacht…?« »In der Nacht, in der Ihr Chef erschossen wurde. Der Mörder trug einen alten Trenchcoat. Wir müssen zumindest annehmen, daß der Mann mit dem Trenchcoat der Mörder war. Ein Stückchen des Mantels war abgerissen. Es wurde gefunden – eingeklemmt in die Tür des Wagens. Kann sein, daß es sich losriß, als der Mörder hastig das Auto verließ. Kann aber auch sein… daß… es von jemand absichtlich in die Tür geklemmt wurde… nach vollbrachter Tat…?« 171
Entsetzt blickte Jenkins in die scharfen Augen, deren Blick sich in die seinen bohrte. »In jener Nacht?« wiederholte er mühsam. »In jener Nacht« – er nahm sich zusammen. »Mr. van Raan verließ die Firma um fünf Uhr, ich blieb hier und bediente einige Kunden. Um halb sechs entfernte sich mein Gehilfe, während ich mich über die Bücher machte. Ich war irgendwie unruhig, warf mich kurz darauf in meinen Wagen und fuhr ins Freie…« »Ins Freie«, wiederholte Burnes, der in seinem Buch mitgeschrieben hatte. »Wann kehrten Sie nach Hause zurück?« »Um halb zwei etwa.« »Um halb zwei?« rief Burnes überrascht. »Ich würde Sie fragen, was Sie so lange ferngehalten hat, wenn das nicht etwa taktlos ist – ich nehme an, eine schöne Frau, die Sie unbedingt schonen müssen, steckt dahinter?« »Nein«, wehrte Jenkins mit einem müden Lächeln ab. »Ich parkte meinen Wagen in der Nähe von Putney Heath und lief dort herum.« »In dem ekelhaften Regen? Ich bewundere Ihre Naturliebe…« »Ich fühlte mich wohl in dem Sturm, der mich umtobte«, sagte Jenkins leidenschaftlich. »In mir sah es nicht viel anders aus.« »Ich gehe wohl nicht fehl, wenn ich annehme, daß Sie in der Einsamkeit da draußen niemand gesehen hat, so, sagen wir, zwischen sechs Uhr und zwölf Uhr?« »Meine Wirtin sah mich um halb zwei nach Hause kommen, mein Assistent verließ mich um halb sechs – dazwischen habe ich niemanden gesehen oder gesprochen. – Wünschen Sie, daß ich Sie, hm, in Ihr Amt begleite? Ich möchte vorher nur einige Anordnungen treffen, für den Fall, daß meine Abwesenheit länger dauern sollte.« Burnes dachte einen Augenblick nach.
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»Ich habe eigentlich keine weiteren Fragen für den Augenblick, Mr. Jenkins. Sie waren so ausführlich in Ihren Mitteilungen, daß ich alles gehört zu haben glaube, was mich in der Sache interessiert. Ich möchte Sie nur bitten, sich weiterhin zu meiner Verfügung zu halten, für den Fall, daß sich eine Fortsetzung dieser Aussprache als zweckmäßig ergeben sollte. Bis dahin möchte ich mich nun von Ihnen verabschieden. Sie bleiben ja noch einige Zeit, sagen wir eine halbe Stunde, im Geschäft?« »Zumindest bis halb sechs«, versicherte Jenkins. »Das ist mir angenehm. Ich möchte Ihnen nahelegen, diese Zusage in Ihrem eigensten Interesse einzuhalten, das Gegenteil könnte einen sehr schlechten Eindruck machen und von nachteiligen Folgen für Sie begleitet sein.« Liebenswürdig verabschiedeten sich die beiden voneinander an der Pforte des Hauses. Nachdenklich sah Jenkins dem jungen Manne nach, der in der Telephonzelle an der Ecke verschwand, von der aus man die Tür, in der Jenkins stehenblieb, gut übersehen konnte. Er blieb merkwürdig lange darinnen – merkwürdigerweise blieb Mr. Jenkins ebensolange in den Anblick der Telephonzelle versunken. Er verließ seinen Platz nicht, sogar als ein Kunde kam, rührte er sich nicht weg und überließ seinem Assistenten die Bedienung. Er wandte sich erst ab, als er Burnes aus der Zelle kommen und gemächlich zu einem Auto schlendern sah. Er bemerkte noch einen unauffällig gekleideten Herrn, der eiligen Schrittes hergekommen war, einen Blick in die Zelle geworfen hatte und alsbald in der Nähe verschwand. Er wunderte sich auch gar nicht, als er beim Verlassen seines Geschäftes sah, wie dieser Mann sich langsam eine Zigarette anzündete und ihm gemächlich nachging.
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14. KAPITEL VERWIRRUNGEN Als Burnes die Telephonzelle verließ, nachdem er sich überzeugt hatte, daß der von ihm eiligst bestellte Beamte seinen Posten angetreten hatte, beschloß er, dem jungen van Raan seinen Besuch zu machen. Erst da fiel ihm ein, daß er weder Mrs. Hawkiss noch Jenkins um die Adresse gefragt hatte. Einen Augenblick dachte er daran, zu Jenkins zurückzukehren, aber er fand es besser, dies zu unterlassen. Die Adresse konnte er bestimmt im Bankhaus Potters erfahren. So rollte er mit seinem Mercedes in die City und ließ sich bei Potter melden. Er mußte eine geraume Zeit warten, dann führte ihn ein Diener in das Sekretariat, wo ihn Mr. Gillespie in liebenswürdiger Weise empfing. Nach der üblichen Wetterbesprechung und gegenseitigen Versicherung besten Wohlbefindens ersuchte Gillespie, seinen Chef zu entschuldigen, der mit Arbeit so überhäuft sei, daß er Mr. Burnes bitten lasse, sich, wenn irgend möglich, mit dem Sekretär zu begnügen und allenfalls mit diesem eine Verabredung für einen der nächsten Tage zu treffen. Burnes beeilte sich zu versichern, daß er entzückt sei, seine Wünsche Mr. Gillespie vortragen zu können, vollkommenes Verständnis für die Inanspruchnahme des Herrn Präsidenten habe und diesen nur im äußersten Notfall bemühen wolle. Eigentlich sei er nur gekommen, sich ein wenig über die Person des jungen van Raan und vor allem nach dessen derzeitiger Adresse zu erkundigen. »Ach, Master Jonathan«, sagte Gillespie entgegenkommend, »wir werden das gleich haben…« Er verlangte telephonisch von der Korrespondenzabteilung die gewünschte Anschrift. 174
»36, Cromwell Square, South Kensington«, berichtete er nach einer Minute, und Burnes notierte sich dies dankend. »Ich hoffe, Sie haben gute Nachricht für den jungen Mann. Etwas von den Juwelen aufgetaucht?« »Leider nein«, sagte Burnes bedauernd, »ich wollte nur die Bekanntschaft mit dem unglücklichen Erben fortsetzen und ihn vor allem ersuchen, mit der Polizei in Kontakt zu bleiben, damit wir sofort Dispositionen erbitten können, wenn etwas greifbar werden sollte. Ich fürchte allerdings, daß wir, wie ich ja schon bei der Testamentseröffnung ausgeführt habe, erst dann etwas finden werden, wenn das Rätsel ganz gelöst ist – da liegt noch einiges im Dunkel.« »Oh«, sagte Gillespie verwundert, »ich habe die Zeitungsberichte natürlich nur flüchtig verfolgt, wir armen, gehetzten Sklaven des Mammons kommen ja kaum dazu, etwas anderes als die Börsenberichte zu studieren; immerhin gewann ich daraus den Eindruck, daß die Angelegenheit mit dem Tode Asanows erledigt und das weitere mehr oder weniger übliches Routinewerk sei. Ähnlich sprach sich zumindest Ihr Chef aus – nun scheint es, daß noch nicht alle Probleme gelöst sind?« »Wir sind noch nicht am Ende«, sagte Burnes vorsichtig und schoß einen mißtrauischen Blick auf den freundlich lächelnden, eleganten jungen Herrn. Irgend etwas gefiel ihm nicht an ihm, aber was konnte das sein? Mir scheint, ich werde schon vom Verfolgungswahn ergriffen – in jedem sehe ich schon van Raans Mörder oder zumindest den Juwelendieb, dachte er ärgerlich. »Über die Komplicen dieser anscheinend groß angelegten Tat, vor allem diesen Wricks, wissen wir noch verdammt wenig. Asanow hat nicht die geringste Spur hinterlassen. Keine Marke in den Kleidern – keine Abgängigkeitsmeldung irgendeines Unterstandgebers. Er dürfte sein Quartier am Tage seines Todes aufgegeben haben, so daß sein Nichtwiederkommen ganz selbstverständlich war. So wartet sein Gepäck und wohl auch sein Anteil an den 175
Juwelen Gott weiß wo auf ihn – wenn es nicht der tüchtige Wricks indessen ausgekundschaftet und abgeholt hat. Den müssen wir zuallererst einmal finden, bevor wir den Fall abschließen können. Dann fehlt uns noch die Frau, die mit Wricks bei van Raan erschienen ist – kennen Sie sie vielleicht?« Wie aus der Pistole geschossen überfiel diese Frage den ahnungslos lächelnden Bankbeamten, und Burnes richtete gleichzeitig seinen Blick voll auf die freundlichen, dunklen Augen, die sofort ernst wurden. Kaum einen Augenblick zögerte Gillespie, aber dieses winzige Zögern erweckte sofort einen Verdacht in dem Detektiv. »Gewiß«, sagte der Gefragte sodann, »ich glaube, der junge van Raan stellte sie mir einmal vor – soviel ich weiß, war er recht, hm, wie soll ich sagen, nun, ich nehme an, er war mit ihr recht gut, bevor sie Wricks kennenlernte. Ich weiß nicht recht, ob ich darüber reden darf – Sie wissen, wir Bankleute sind unseren Kunden gegenüber zu größter Diskretion verpflichtet, darum war ich mir nicht gleich im klaren, ob ich das erwähnen sollte. Aber Sie werden sicher schon davon gehört haben? Miß Hobbs war übrigens eine Angestellte des Dr. Shawler, bevor sie Jonathan kennenlernte – aber das dürfte Ihnen alles schon bekannt sein?« »Ich erfuhr einiges, aber ziemlich ohne Zusammenhang, so daß ich mir kein rechtes Bild machen konnte. Allerdings muß ich gestehen, daß ich all diesen Schlafzimmergeheimnissen wenig Bedeutung beimesse.« »Da mögen Sie im allgemeinen wohl recht haben«, sagte Gillespie nachdenklich. »Aber Sie müssen natürlich alles in Betracht ziehen, was mit dieser reichlich mysteriösen Sache zusammenhängt. Schade, daß ich so entsetzlich überbürdet bin – ich würde Ihnen nur zu gern meine Mitarbeit anbieten, soweit diese für Sie irgendeinen Wert haben könnte. Immerhin weiß ich als Bankier der betreffenden Personen einiges, was 176
Anhaltspunkte geben könnte. Wenn mir, wie ich gestehen muß, Jonathan persönlich nicht sonderlich sympathisch ist, so ist er doch ein Kunde unseres Hauses, und mein Chef stand seinem Vater ziemlich nahe – schon dies ist ein Grund, daß ich alles tun müßte, ihm zu seinem Eigentum zu verhelfen.« »Sie haben irgendwelche Bedenken gegen Jonathan van Raan?« »Nun, das möchte ich gerade nicht sagen«, wich Gillespie diplomatisch aus, »ich muß aber einräumen, daß er mir keine besondere Zuneigung einflößt. Er rennt allen Weibern wie verrückt nach, ist launisch und jähzornig, dabei ein ganz gerissenes Aas und einfach unberechenbar. Eine Zeitlang hatte ich den Eindruck, daß er meine Freundschaft suchte – und natürlich bemühte ich mich, dem Sohn eines geschätzten Kommittenten mit größter Liebenswürdigkeit entgegenzukommen, und begleitete ihn sogar öfters in die von ihm so heiß geliebten Bar- und Tanzlokale. Dort kam ich auch ein paarmal mit seiner Miß Hobbs, die ich allerdings schon bei Dr. Shawler getroffen hatte, zusammen. Ich habe keine Ahnung, was die Ursache war, aber mit einem Male wurde er ausgesprochen kühl zu mir – vielleicht auf Veranlassung von Miß Hobbs, die kein Hehl daraus machte, daß ich ihr nicht besonders gefiel. Sie war eher gewöhnlich, wissen Sie, und ließ sich ziemlich gehen, so daß man bald wußte, wie man mit ihr daran war.« »Das ist alles recht interessant, was Sie mir da erzählen«, sagte Burnes, »langsam bekomme ich einen Einblick in den Hintergrund, vor dem sich die Tragödie des Juweliers abspielte. Sie haben doch nichts dagegen, daß ich mir ein paar Notizen mache? Unter Umständen ist auch anscheinend Unwesentliches oft von Bedeutung.« Eine kleine Pause trat ein, in der man Burnes’ eilige Feder kratzen hörte.
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»Nun, wenn Sie überall ein wenig forschen, so mögen Sie wohl manches Wissenswerte erfahren – waren Sie schon bei Mr. Shawler?« »Warum sollte ich dorthin gehen?« »Nun, er dürfte als Rechtsberater des alten van Raan einiges wissen. Ich will Ihnen nicht gerade raten, dort viel Zeit zu verschwenden, aber vielleicht steht es dafür. Sie könnten bei ihm etwas über Miß Hobbs erfahren, die ja dort einige Zeit angestellt war. Um die Wahrheit zu sagen – Sie nehmen mir das sicher nicht übel? –, ich erwähnte bereits, daß ich Miß Hobbs, wenn auch nur flüchtig, kenne. Ich habe versucht, selbst ein wenig Detektiv zu spielen und ihr nachzuforschen. Der junge van Raan war da nicht sehr ergiebig, als ich vorsichtig wegen ihrer Adresse antippte. Er wurde beinahe grob, und ich bekam unschwer heraus, daß er mit ihr gebrochen hatte – oder sie mit ihm –, als Mr. Wricks aufgetaucht war. Jedenfalls hat sie damals ihr Quartier gewechselt und scheint Jonathan ihre neue Adresse verheimlicht zu haben, um seiner Eifersucht zu entgehen, wie ich glaube – oder gar noch unangenehmeren Verfolgungen, zu denen er wohl in seiner Leidenschaft fähig gewesen wäre. Ich hätte gar zu gern mit ihr gesprochen – man hätte doch vielleicht etwas über die verschwundenen Juwelen und ihren Hüter Wricks erfahren. Aber sie ist wie vom Erdboden verschwunden, auch in den Lokalen, wo sie zu verkehren pflegte, hat man ungefähr seit dem Zeitpunkt des Mordes nichts mehr von ihr gehört.« »Auch das ist riesig interessant«, sagte Burnes. »Wirklich zu schade, daß Sie so wenig Zeit haben, Ihre Mitarbeit wäre sicher von hervorragendem Wert. Natürlich nimmt Sie Ihr Chef ungemein in Anspruch?« »Das kann ich wohl sagen«, meinte Gillespie mit einem Seufzer. »Sie müssen wissen, wir haben jetzt schwere Zeiten in der Bank. Mein Chef muß mit der Zeit gehen, will er sich behaupten – und das ist für einen älteren Herrn mit so 178
konservativen Ansichten besonders schwer. Ich vertrete mehr die moderne Richtung mutiger Kreditausweitung, ich stehe auf dem Standpunkt, daß nicht im Senken der Ausgaben, sondern im Erhöhen der Einnahmen der Verdienst zu suchen ist. Da gibt es immer wieder heftige Kämpfe, und manchmal habe ich recht genug von dem eigensinnigen Patron, der uns, aber ganz besonders sich selbst, das Leben mit seinen unzeitgemäßen Skrupeln schwer macht. Ich denke oft, so alte Leute sollten uns jüngeren Platz machen, damit wir nicht ohnmächtig zusehen müssen, wie gute Anlagen durch altmodische Kurzsichtigkeit und Engstirnigkeit zugrunde gerichtet werden. Manchmal«, Mr. Gillespies Stimme wurde elegisch und seine klugen Augen fast träumerisch, »manchmal wünsche ich, ich wäre reich, so reich, daß ich mein eigenes Geschäft in der City aufmachen könnte. Was wäre jetzt zu verdienen, wenn man ein Kapital oder auch nur Sicherheiten für einen Kredit hätte! Ja ich ging in meinen Gedanken schon so weit, den jungen van Raan, der ja auch von seinem Geschäft geringen Ertrag und ebenso geringe Freude daran hat, um die Juwelen seiner Erbschaft zu bitten, um damit ein Geschäft, wie es mir vorschwebt, zu begründen… Aber dazu stehe ich ja viel zu schlecht mit ihm. Und, vor allen Dingen müßten ja die Juwelen zuerst wieder da sein…« Burnes lauschte diesen eigenartigen Worten mit gemischten Gefühlen, ähnliches hatte er schon mehrmals am heutigen Tage gehört. Er sah sich den gesprächigen jungen Mann gründlich an. Dann sagte er bedächtig: »Sie haben Glück, Mr. Gillespie, daß Sie nur zum jungen van Raan in schlechten Beziehungen stehen. Wenn Sie gleiche Gefühle für den alten Herrn eingestanden hätten, hätte ich wohl die Keller dieser Bank oder Ihr Schlafzimmer nach jenen Juwelen abgesucht!« Gillespie blickte etwas verdutzt, aber dann lachte er so herzlich, daß Burnes selbst mit einstimmen mußte. 179
»Na, da hätte ich mich beinahe um meinen Kragen geredet«, sagte er munter, »müssen Sie mich gleich mitnehmen, Inspektor?« »Scherzen Sie nicht, Gillespie«, sagte Burnes ernst werdend. »Vielleicht werde ich Sie wirklich einmal mitnehmen müssen…« »Es wird mir immer ein besonderes Vergnügen sein«, sagte Gillespie höflich und stand auf, da er sah, daß Burnes Anstalten machte, sich zu erheben. »Hoffentlich kommen Sie bald wieder, Inspektor, und erzählen mir, wie es weitergeht. Vergessen Sie nicht, daß ich ein leidenschaftlicher Liebhaber von Detektivgeschichten bin!« Burnes sah sich den jungen, eleganten Mann noch einmal gut an, als er wegging, und es schien ihm, als ob auf der faltenlosen Stirn ein leichter Schatten läge. Zehn Minuten später stand er vor dem Hause 36, Cromwell Square. Er besah das schmucke Gebäude einige Zeit, dann trat er ein und stellte auf der im Hausflur angebrachten Tafel fest, daß Jonathan van Raan im dritten Stock wohnte. Burnes kletterte die schmale Treppe empor und betätigte die Glocke energisch. Obwohl er das mehrmals tat, blieb alles stumm. Mißmutig stieg Burnes wieder hinunter. Er hätte sich ja denken können, daß ein einsamer Junggeselle nicht am Nachmittag zu Hause sitzen werde. Als er unten ankam, traf er auf eine einfach gekleidete Frau, die ihn fragend ansah. »Kein Glück gehabt?« fragte sie freundlich, »kann ich jemandem etwas ausrichten?« »Ich suchte Mr. van Raan – aber leider…« »Ach, wenn es der ist – er sitzt im ›St. Georg und der Drache‹, gleich die zweite Ecke links, und trinkt sein Gläschen«, sagte die Frau. »Ich würde überrascht sein, wenn er nicht dort ist.« Burnes bedankte sich und marschierte hinüber. Richtig, in der »Private Bar« saß der Gute und hatte vor sich einen 180
Whisky stehen. Burnes trat zur Bar, bestellte sich einen double Scotch und setzte sich ohne weitere Umschweife zu dem jungen Mann, der schon reichlich illuminiert zu sein schien. »Hallo, Mr. van Raan«, begrüßte er den Aufschauenden, »auch schon durstig?« »Woher kenne ich nur Ihr verdammtes Galgengesicht?« war die wenig liebreiche Antwort. »Ah, ich weiß, Sie sind der Polizeispitzel, den man hinter den Lumpen hergejagt hat, die meine Steine geklaut und meinen alten Herrn umgelegt haben, was?« »Erraten«, sagte Burnes, »aber jetzt habe ich gerade Feierabend gemacht und möchte ein paar Minuten nichts von dieser verdammten Geschichte hören. Sie müssen sich eben mit Ihren Brillanten noch ein bißchen gedulden – warum haben Sie es so eilig? Wollen sie wohl irgendeiner Holden um den Schwanenhals kleben?« »Jedenfalls hätte ich eine bessere Verwendung dafür als der verdammte alte Jenkins, der sie sicher nur in seinen Tresor legen würde, um sie bei Nacht zu bestaunen, der Idiot ist ja verrückt mit dem Zeug – würde glatt einen Mord begehen, um sie zu kriegen.« »Da würden Sie sich in Ihrem eigenen Geschäft gar nicht sicher fühlen, wenn Sie sie hätten?« lachte Burnes. »Also seien Sie froh, daß man Sie darum erleichtert hat, wer weiß, wer Sie erschlagen würde, um diese Herrlichkeiten an sich zu bringen.« »Wer?« schrie der Betrunkene, »das weiß ich ganz gut – dieser verdammte Rechtsverdreher, der Shawler –, der hat die größte Freude, daß ich sie nicht kriege, der haßt mich wie die Pest…« »Da hat er wohl Ihren Vater sehr gerne gehabt und sich darüber geärgert, daß Sie dem alten Mann Sorgen gemacht haben?« »Meinen Vater hat er schon gar nicht gemocht – würde mich nicht wundern, wenn er ihn selbst umgebracht hätte, der 181
geldgierige Geizkragen, der seine Mädel schindet und ausbeutet, daß es eine Schande ist. Eine habe ich ihm aus den Fängen gerissen, dafür spuckt er heute noch Gift und Galle, wenn er mich zu Gesicht kriegt.« »Mr. Shawler hat doch eine gutgehende Kanzlei und einen guten Namen als gediegener, gewissenhafter Jurist…« »Gewissenhafter Jurist – dieser Kerl – seit Jahr und Tag bat ich meinen Vater, ihm die Vertretung zu entziehen, diesem Bankerotteur und Spieler.« »Das erste Mal, daß ich so etwas über Dr. Shawler höre…« »Alles in der Welt hört man einmal zum ersten Male«, sagte Jonathan tiefsinnig. »Der Kerl führt ein Doppelleben – Maidie hat es mir gesagt, sie kennt diesen alten Faun ganz genau. Ah, wenn die Menschen wüßten…« »Und Ihr Vater zog nicht die Konsequenzen?« »Er hat mir nicht geglaubt, und von der armen Maidie hat er das Schlimmste gehalten – so hat er sich weiter von dem abgefeimten Halunken hineinlegen und ausplündern lassen. Schon seine Honorarnoten – ich sage Ihnen, furchtbar! Na, er hat ja Schulden bis über die Ohren, auch davon habe ich von Maidie einiges erfahren, und außerdem hat es mir ein Bankmann im Vertrauen gesagt, mit dem mein Vater gut stand…« »Mr. Potter?« fragte Burnes zweifelnd. »Der oder ein anderer«, sagte Jonathan wegwerfend. »Na, mir kann’s ja gleich sein, ich hoffe, mit dem Kerl nichts mehr zu tun zu haben, die Erbschaft hab’ ich übernommen, und wenn sich etwas von den Steinen findet, brauch’ ich sie nicht durch seine Vermittlung von der Polizei zu holen.« »Daß Sie nicht aufhören können von dieser dummen Geschichte«, stöhnte Burnes, »den ganzen Tag komme ich nicht los davon. Endlich hoffte ich auf eine ruhige Minute, da muß ich gerade auf Sie stoßen, und natürlich fangen Sie erst recht davon an. Ich möchte gern einen Tropfen trinken und 182
sehen, ob ich irgendwo ein nettes Mädel erwische, das einen Spaß versteht. Wo ist denn Ihre? Wird ja ‘ne Freundin auf Lager haben, für mich?« »Mein Mädel?« Tiefe Traurigkeit überflutete das Gesicht des jungen Mannes. »Weg, rein weg – nicht zu finden. Gerade jetzt, wo alles gut werden kann! Wenn ich das geahnt hätte«, und Tränen rannen über sein Gesicht, »dann hätte der alte Mann nicht sterben müssen…« Burnes fuhr auf: Das war ja ein Geständnis… »Mein armer Junge«, sagte er, »was Sie da sagen, ist ja furchtbar – aber alles im Leben kann gesühnt werden…« »Das nicht, das nicht – er ist tot! Er kann nie wiederkommen, nie mir verzeihen…« »Wenn Sie ein reumütiges Geständnis ablegen, Ihre Strafe auf sich nehmen, wie hart sie auch sein mag, dann….« »Was faseln Sie da?« schrie der junge Mann totenbleich. »Was fällt Ihnen ein!?« Er riß sich zusammen. »Ein Geständnis, ich? Ich hab’ ihn nicht ermordet, sind Sie toll?« »Sie sagten soeben…« »Nichts sagte ich«, schrie van Raan, »Sie versuchen, mir das Geständnis einer Tat zu unterschieben, die ich nie begangen habe, weil Sie einen Mörder brauchen, den Sie nicht finden können! Darum soll ich an den Galgen?« Der Wirt trat heran: »Beruhigen Sie sich um Gotteswillen, Sir, und Sie, schauen Sie, daß Sie hinauskommen! Meine ehrenwerten Gäste so in Aufregung zu bringen…« Burnes zog seinen Ausweis und hielt ihn dem Manne vor, aber da kam er schön an: »Ein Polizeispitzel – in meinem ehrbaren Haus?« schrie der Wirt. »Will die Worte eines Betrunkenen verdrehen? Packen Sie sich sofort – wir sind alle Zeugen, daß der junge Mann hier, den wir seit Jahren als brav und ruhig kennen, im Rausch halb unverständliche Worte herausgestottert hat! Daraus ihm
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einen Strick zu drehen soll Ihnen nicht gelingen – hinaus, oder ich rufe die Polizei…« Burnes mußte sich eingestehen, daß der Zustand van Raans nicht derart war, daß die Aussagen ernst genommen werden würden, die er jetzt gemacht hatte. Immerhin, was er da herausgeplärrt hatte, gab zu denken – und das beschloß Burnes gründlich zu tun. Grußlos ging er. Er mußte eine Zeitlang warten, bis er bei Dr. Shawler eingelassen wurde. Der Anwalt empfing ihn ruhig, aber man sah ihm an, daß seine Gedanken flogen. »Ich komme, mich nach einer Ihrer Angestellten zu erkundigen«, begann Burnes nach den ersten Begrüßungsphrasen. »Ich höre, Sie hatten eine Miß Hobbs eine Zeitlang in Ihren Diensten – können Sie mir einiges über sie erzählen?« »Nicht viel«, sagte der Anwalt abweisend, »obwohl ich mir natürlich denken kann, warum Sie nach ihr fragen, und obwohl ich Ihnen gern helfen würde. Sie war nur drei Monate bei mir. Sie lernte hier den jungen van Raan kennen, und er beredete sie, trotz meines wohlgemeinten Abratens, ihm zu folgen und die Stelle bei mir aufzugeben. Sie kam dann irgendwie zu Wricks – aber das werden Sie schon gehört haben, und sonst kann ich Ihnen nicht viel sagen.« »Auch nicht ihre Adresse?« »Sie gab bei ihrem Eintritt wohl eine an, aber wir haben bald erfahren, daß sie tatsächlich nie dort wohnte. Nun, es war mir gleichgültig.« »Sie wissen gar nichts von ihr?« »Nicht das mindeste.« Burnes erbat und erhielt eine ganz genaue Personsbeschreibung. »Ich fürchte, ich kam heute sehr ungelegen«, sagte er nachher. »Sie sind so überarbeitet, Mr. Shawler, viel Ärger gehabt?« 184
Shawler nahm sich zusammen: »Um die Wahrheit zu sagen, ja. Ich habe heute einen bedeutenden Klienten verloren. Sie kennen ihn: Mr. Potter. Um es richtig zu sagen, es ist nicht der Verlust sosehr, als die Art, wie er erfolgte, was mich erregt. Ich stand mit dem alten Herrn seit bald zwei Jahren nicht mehr so wie früher, wir hatten fortwährend Meinungsverschiedenheiten. Er, der früher streng solid gewesen war, war sehr unternehmend geworden, und ich fürchte, daß ihn die gewagten Geschäfte, in die er sich gegen meinen Rat einließ, eine hübsche Summe gekostet haben. Eine Zeitlang war er verdammt knapp, aber es scheint, er hat sich in allerletzter Zeit doch irgendwie herausgearbeitet. Und nun hat er mir den Stuhl vor die Tür gesetzt, ganz plötzlich. Eben war sein Sekretär hier, teilte mir dies in seinem Auftrag mit und ersuchte mich, ihm seine Akten ehest auszuhändigen. Ich kann das natürlich nicht verweigern, aber ich kann diese Riesenarbeit, die Zusammenstellung des Expensars, die damit Hand in Hand gehen muß, nicht von heute auf morgen durchführen. Ich werde wohl eine eigene Hilfskraft dafür aufnehmen müssen – es ist ekelhaft. Aber das wird Sie weniger interessieren… nun, man wird mit allem fertig. Haben Sie noch etwas auf dem Herzen?« »Würden Sie mir noch ein paar Worte über Ihren Klienten, den jungen van Raan, sagen?« »Aber gern, was wollen Sie wissen?« »Was halten Sie von seinem Charakter?« »Ich halte ihn jeder Lumperei fähig.« »Auch – eines Mordes?« Die beiden Männer sahen sich an. »Nein«, sagte der Anwalt schließlich, »das würde ich denn doch nicht behaupten. Und schon gar nicht an seinem Vater, obgleich er ihn nicht ausstehen konnte, wegen…« »Ich kenne den Grund des Zerwürfnisses«, unterbrach ihn Burnes. »Noch eine Frage: Wie war der Vater?« 185
»Nun«, sagte Shawler bedächtig, »das war ein netter Kerl, aber keiner von den Menschen, denen man Geld oder eine verantwortliche Aufgabe in die Hand geben sollte. Eine Zigeunernatur, die anständige Leute wie mich oder den armen Jenkins zur Verzweiflung bringen kann. Verstehen Sie, was ich meine? Jeden Tag andere Pläne, andere Launen. Solche Leute gehören nicht in diese Welt, und vor allem, man sollte ihnen ihr Geld wegnehmen, damit sie andere damit nicht ruinieren können. Wenn ich die Macht gehabt hätte, ich hätte ihn glatt…« »Das genügt, genügt mir völlig«, unterbrach ihn Burnes eilig. Wenn das so weiter geht, dachte er, sind unsere Gefängnisse nicht ausreichend, alle Menschen aufzunehmen, die sich des Mordes an van Raan fähig und dazu auch willig bekennen. Alle, die sich heute dazu bereit erklärt haben, können es doch nicht gewesen sein – ich würde ja doch schwören, daß es überhaupt keiner von ihnen war – aber wer dabei seine schmutzigen Pfoten im Spiel gehabt hat, na, das ist ein anderer Kaffee! – Diese Gedanken durchfuhren den jungen Beamten, als er sich eiligst von dem etwas überraschten Rechtsanwalt empfahl. Im übrigen hatte er auf der Uhr festgestellt, daß es bald möglich sein werde, bei Gayfields zu erscheinen, und da wollte er keine Minute versäumen. Der brave Mercedes half ihm dabei redlich, und die Verkehrspolizisten, die den Kollegen und seine Renntriumphe kannten, drückten ein Auge zu, als er an ihnen vorbeiflitzte.
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15. KAPITEL THEORIEN Als Burnes gegen sechs Uhr in das Spital kam, hatte er das Gefühl, daß Vater und Tochter eben irgendeine heikle Frage besprochen hatten. Er fühlte sich bereits so vertraut, daß er ziemlich ungeniert fragte, was sie drücke. »Vater macht sich Sorgen wegen des Aufenthalts, der ein Heidengeld kostet«, gestand Marjorie freimütig. »Wie Sie wissen, übergab Mr. Wricks unserem Doktor eine FünfhundertPfund-Note, und der gab sie der St.-John-Hospital-Direktion zur Verrechnung weiter. Von dort aus wurde die Operation mit etwa siebzig Pfund verrechnet, die Überführung mit dem Ambulanzwagen mit etwa zwanzig, und unser lieber Hausarzt weigerte sich, auch nur einen Penny für seine Assistenz und Begleitung anzunehmen. Wenn Sie bedenken, daß der berühmte Professor, der meinen Vater so fabelhaft operierte, allein fünfzig Pfund bekam, so werden Sie sicher finden, daß diese Kosten in Ordnung gehen. Somit sandte die Direktion des Hospitals rund vierhundertzehn Pfund an dieses Haus, mit dem Ersuchen, uns diesen Betrag gutzuschreiben. Hiervon wurden nun zwei Wochenrechnungen in Abzug gebracht – heute war die zweite Woche um –, mit ärztlichen Visiten, Medikamenten und Verpflegung für Vater, mich und Robbie betrug es bisher zirka achtzig Pfund. Sicher nicht übertrieben bei der wirklich erstklassigen Behandlung und Unterbringung, aber immerhin weit über unsere Verhältnisse.« »Das spielt ja alles keine Rolle, da dies von dem Geld bestitten wird, das…«, Burnes stockte plötzlich. »Das Wricks zahlte – das aber van Raan gehörte, da es höchstwahrscheinlich aus dem Verkauf seiner Juwelen stammt. 187
Somit schulden wir Jonathan van Raan oder, genau gesagt, der Verlassenschaft, fünfhundert Pfund, von denen bereits hundertsiebzig weg sind, die wir unter Umständen ersetzen müssen – keine sehr erfreuliche Aussicht. Jedenfalls wissen wir aus Ihrem Bericht, daß der Erbe ohnehin mit Schwierigkeiten kämpfen muß, also dürfen wir ihm sein Eigentum nicht vorenthalten.« Burnes schaute die kleine Mathematikerin mißmutig an. »Sie reden ja wie ein Professor«, sagte er ein bißchen verstimmt. »Ich würde mir an Ihrer Stelle nur darüber Sorgen machen, wie wir Ihren lieben Vater wieder in Ordnung kriegen – wer dafür die Kosten zahlt, ob der Täter oder das Opfer einer Schandtat, in die Ihr Vater durch seine Pflichttreue hineingezogen wurde, ist letzten Endes eine Sache, die eine liebende Tochter weniger als die zuständigen Stellen befassen sollte.« »Sie irren, Mr. Burnes«, sagte die zarte Rechenkünstlerin etwas förmlicher, als es nun bereits ihre Art geworden war. »Ich führe für Daddy die Wirtschaft – wenn Sie wüßten, wie hilflos er in Sachen des täglichen Lebens ist! So obliegt es auch mir, darüber schon jetzt nachzudenken, wie wir uns zu dieser Angelegenheit stellen sollen. Vorläufig fragte ich bei Mr. Shawler an, um mich über die Rechtslage zu informieren. Er sagte, er werde mit van Raan sprechen. Heute nachmittag rief er an und teilte mir mit, daß dieser keinen Anspruch auf das Geld erhebt. Er ließ durchblicken, daß er ohne Rücksicht auf die Rechtslage, die nicht ganz einfach sei, seinem jungen Klienten den Rat gegeben habe, nur auf jenen Betrag Anspruch zu erheben, den wir nach erfolgter Genesung meines Vaters an Mr. Wricks zurückzugeben hätten. Nun erhebt sich, selbst wenn wir das großmütige Geschenk van Raans akzeptieren dürfen – was uns noch nicht ganz klar ist –, die Frage, wie weit wir in den Ausgaben für meinen Vater gehen dürfen. Und da kämpfen meine Gefühle für Daddy einen schweren Kampf mit 188
meinem Ehrgefühl. Vielleicht auch mit meinem Geiz, der eine Schmälerung unseres kleinen Sparkapitals ungern ertrüge, von dem wir eventuell Rückzahlungen an van Raan machen müßten, wenn wir uns ihm nicht verpflichten wollen – oder er seine Ansicht ändert.« Burnes sah finster vor sich nieder. Gerade Jonathan van Raan war es, von dem man da Gefälligkeiten annehmen sollte? »Es widerstrebt mir natürlich, von dem jungen Mann, der so viel auf einmal verloren hat, über Nacht aus einem reichen Erben zu einem armen Schlucker wurde, Geld anzunehmen«, sagte Gayfield. »Um so mehr, als ich nicht in Ausübung meiner Pflicht, sondern infolge meiner Einmischung in eine Sache, die mich eigentlich als Privatmann gar nichts anging, zu Schaden kam.« »Nun«, sagte Burnes, »da kann ich Sie aber vollkommen beruhigen. Wenn Sie sich nicht eingemischt hätten, hätte man den armen van Raan senior bestimmt nicht so bald entdeckt. Wer weiß, wann seine Angestellten gewagt hätten, seinen großmächtigen Kunden um Auskunft zu belästigen! Es ist ja kaum auszudenken, wann man den Wagen in dem verlassenen Waldwinkel entdeckt hätte, und unser lieber Wricks wäre lange nicht zu finden gewesen – auf seiner Lustreise nach Belgien und Gott weiß wohin. Und dann? Indessen hätte Asanow nach Herzenslust Schmuck in der Bank abladen und belehnen können! So haben wir jedenfalls das für van Raan sicherstellen können, was er dort belehnen wollte, das sind allein drei- bis viertausend Pfund, die der junge Mann Ihnen allein verdankt. Sie hätten unbedingt das Recht, von ihm dafür zumindest Schadenersatz, vielleicht sogar Schmerzensgeld, ja eine Rente für späterhin…« »Also, mit einem Wort, eine ausgiebige Versorgung und noch eine Mitgift für meine Tochter zu verlangen?« lachte Gayfield fröhlich auf. »Nun, immerhin, ich glaube auch,
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Marjorie, wir sollten uns nicht zu viele Skrupel machen – besonders, da wir Burnes solche Ansichten äußern hören…« »Die ich vor jedem Gericht vertreten würde«, versicherte Burnes mit dem Enthusiasmus eines fahrenden Ritters. »Die uns vor allem das moralische Recht einräumen, dich ohne Gewissensbisse nach Herzenslust gesund pflegen zu dürfen«, fügte Marjorie mit glücklichem und dankbarem Lächeln, das dem tapferen Streiter galt, hinzu. »Ach, lieber Robert, ich bin ja so froh, daß Vater sich so schnell erholt, er läuft schon ein wenig am Stock herum, die Ärzte bezeichnen es als ein Wunder…« »Die bezeichnen es immer als ein Wunder, wenn ihnen etwas gelingt, da sie ja am besten wissen müssen, wie wenig sie dazu beitragen«, knurrte Burnes undankbar, der das Lob anderer aus diesem Munde nicht gern hörte. »Hat Ihnen das der schöne, junge Assistenzarzt gesagt, der so oft bei Ihrem Vater zu sehen ist?« »Dr. Sewell ist sehr besorgt um Vater – Gott sei Dank«, sagte Marjorie, »ich bin ihm unendlich dankbar, daß er ihm so viel Zeit widmet, obwohl er ohnehin alle Privatpavillons zu betreuen hat…« »Natürlich, die am besten zahlenden Patienten bekommen den schönsten Mann zur Bedienung«, bemerkte Burnes bissig. »Es ist kein Wunder, daß so viele ältere Damen ihre Gatten martern, sie hier in Pflege zu geben – wenn auch vermutlich die erste Klasse im allgemeinen Haus drüben ebenso genügen würde…« »Und darum ist ja auch die hübscheste Schwester hier«, neckte ihn Marjorie, »das erklärt vielleicht ein wenig die vielen Herrenbesuche, deren wir uns erfreuen…« Burnes wollte auffahren, aber Gayfield legte sich ins Mittel: »Passen Sie auf, wenn Sie sich mit meinem Mädel in ein Duell einlassen«, sagte er hell auflachend, »sie bleibt Ihnen nichts schuldig! Aber ich glaube, wir haben über die männlichen und 190
weiblichen Anziehungskräfte dieses Hauses genug gesprochen. Haben Sie gar nichts sonst zu berichten? Darf ich Sie übrigens für das Dinner anmelden? Sie machen uns doch das Vergnügen?« »Ich sollte eigentlich van Raans Börse nicht belasten – aber ich nehme an, daß es keine wesentliche Rolle für ihn spielen wird. Wenn mich nicht alles täuscht, hat er ohne unsere Hilfe die Juwelen seines Vaters zustande gebracht – oder zumindest den Anteil, der auf ihn nach Ablohnung seiner Spießgesellen Wricks und Asanow entfällt.« Und Burnes berichtete die Resultate seiner Tagesarbeit. Eine lange Pause entstand, als er geendet hatte. »Um mir ein Urteil bilden zu können, müßte ich den jungen, Mann einmal sehen«, meinte Gayfield. »Ich kann mir sehr schwer vorstellen, daß ein Mensch eines so scheußlichen Verbrechens fähig ist, den eigenen Vater ermorden zu lassen.« »Geld und Liebe sind die stärksten Triebfedern im Menschen«, dozierte Burnes. »Aber vielleicht beeinflußt Sie die Großmut des schönen Jonathan, die er Ihnen gegenüber bewiesen hat.« »Sicherlich«, sagte Marjorie resolut. »Wer auf so leichte Art ein paar hundert Pfund hergibt, ist eines Mordes aus Geldsucht kaum fähig – und seine Liebe? Ich kann mir nicht recht denken, daß er noch immer so wahnsinnig verliebt gewesen sein kann, nachdem er von der Freundschaft seiner Angebeteten mit dem ältlichen Manne gehört hatte. Es wird ihm gewiß sehr nahe gegangen sein, aber damit war es für ihn zu Ende. Wegen dieser Sache hätte er keinen Grund mehr gehabt, seinen Vater aus dem Wege zu wünschen, und so fasse ich auch die Worte auf, die Sie, Burnes, als Geständnis deuten wollen.« »Ich glaube, Marjorie hat ganz recht«, sagte Gayfield, »im übrigen ist die Sache so raffiniert und von so weiter Hand her
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vorbereitet, daß ich das einem so jungen Gehirn gar nicht zutrauen möchte…« »Jonathan ist fast so alt wie ich«, sagte Burnes gereizt, »wollen Sie vielleicht behaupten, daß ich im Plänemachen älteren Jahrgängen nicht ebenbürtig wäre?« »Ich würde auch Ihnen eine solche Gemeinheit nicht zutrauen«, wich Gayfield aus. »Auch dürfte es ihm schwergefallen sein, das Anfangskapital für den Ankauf des Schlosses aufzubringen.« »Wieso?« widersprach Burnes. »Der Sohn des bekannten, reichen Juweliers bekam gewiß leicht einen Kredit in der Höhe von eintausendfünfhundert bis zweitausend Pfund – eine Lappalie für den Erben eines Vermögens von fünfzigtausend.« »Wie Sie glauben«, sagte Gayfield friedfertig. »Immerhin scheint mir der Rest der Gesellschaft auch beachtenswert. Und da kommen alle miteinander in Frage: der Anwalt mit dem angeblichen Doppelleben, der Buchhalter mit der krankhaften Liebe für das Geschäft, der Bankier und sein charmanter Sekretär…« »Wieso kommen die zwei da herein?« »Nun, Geld ist Geld, und die zwei wußten von den eigentümlichen Umständen des Juweliers…« »Also, wenn jeder Bankier jeden seiner um ihr Geschäft besorgten Klienten umbringen ließe, um sich ihr Vermögen anzueignen, würden ihnen wenige Kommittenten übrigbleiben.« »Und wenn alle Söhne, denen die Väter eine Heirat verbieten, diese schlachten zu lassen beginnen würden, könnten wir bald die Hälfte unserer männlichen Bevölkerung ins Grab legen«, erwiderte Gayfield. »Potter ist ein schwerreicher Bankier…« »Woher wissen Sie das?« »Das weiß die ganze City.«
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»Sein Anwalt sollte das noch besser wissen – und der sagte ein paar ganz anders lautende Worte darüber.« »Shawler sprach in Erregung – im übrigen ist er selbst viel verdächtiger. Wenn überhaupt jemand anderer als der junge van Raan in Frage kommt, ist es er.« »Es ist schwer, so vom grünen Tisch zu entscheiden, wo man anpacken soll. Am besten, jeder arbeitet nach seinem Gefühl. Mich interessiert die Bank am meisten, wenn ich ehrlich bin. Diese Geldleute sind am rücksichtslosesten, verstehen sich glänzend auf Geschäfte – und die Manipulationen in Hilligmore mit allen daranhängenden kleinen Verwertungsaktionen riechen sehr stark nach Geschäftstüchtigkeit, wie sie sowohl jungen Schürzenjägern wie auch Anwälten weniger liegen. Also, ich möchte die Bank auf mich nehmen, wenn ich zu kriechen in der Lage bin.« »Ich bleibe meinem lieben Jonathan auf den Fersen«, sagte Burnes eigensinnig. »Und ich könnte dem Herrn Rechtsanwalt auf den Zahn fühlen«, sann Marjorie. »Robert, Sie sagten doch, daß er eine eigene Hilfskraft für die Aufarbeitung und Fertigstellung der Akten Potters nehmen möchte? Sie können mich empfehlen. Ich möchte mir gern ein kleines Taschengeld verdienen, wozu habe ich auch Buchhaltungs- und Korrespondenzkurse gemacht?« »Bravo, Marjorie«, rief Gayfield strahlend, »ich wollte dir eben diesen Vorschlag machen.« »Ich weiß, Papa«, sagte das Töchterchen, »man konnte es dir an der Nasenspitze ansehen. Aber eine Bedingung: Du bleibst hübsch zu Hause, wenn ich weg bin, verstanden?« »Wie redest du mit deinem Vater, frecher Fratz?«, rief Gayfield empört. »Haben Sie je so ein respektloses Frauenzimmer gesehen, Burnes?«
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»Jedenfalls noch nie so einen gewissenlosen Vater«, rief dieser aufgebracht. »Sie können auch nur einen Augenblick daran denken, Ihr Kind in diese Mörderhöhle zu schicken?« »Sie haben eben die Unschuld des wackeren Rechtsverdrehers hinausposaunt…« »Ist mir gar nicht eingefallen…« »Sie haben mit einer solchen Überzeugtheit die Schuld Jonathans festgestellt, daß demnach jeder andere schuldlos sein muß. Ich selbst glaube, daß es Potter ist, bleibt also nur Marjorie, die Shawler verdächtigt. Und wenn sie trotzdem hingehen will…« »Ich verdächtige ihn auch nicht«, widersprach Marjorie. »Aber er bleibt auf der Liste übrig, so nehme ich ihn auf mich, obgleich er das unwahrscheinlichste und so auch das undankbarste Objekt sein dürfte. Doch damit muß ich mich abfinden. Vor allem werde ich Vater und vielleicht auch Ihnen, hochverehrter Herr Inspektor, nützlich sein können, wenn ich die mir dort zur Einsicht zur Verfügung stehenden Akten der Häuser Potter und van Raan etwas durchstöbern werde.« »Ausgezeichnet!« lobte Gayfield. »Und Sie glauben, daß ich noch einmal zusehen werde, wie jemand in dieser Gangstersache zusammengeschossen wird oder gar noch Ärgeres…« Mit leidenschaftlichen Blicken umfaßte der junge Mann die zarte Gestalt vor ihm. »Ich fürchte mich nicht«, sagte Marjorie. »Genau wie Ihr Vater, das ist ja das Unglück«, schrie Burnes verzweifelt. »Nein, das lasse ich nicht zu.« Auch Gayfield war ernst geworden. »Ich unterschätze die Gefahr nicht, der ich mein Kind aussetze – aber wir sind immer und überall von Gefahren umgeben; wir müssen Gott vertrauen, daß er sie bewahren wird…«
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»Aber Sie müssen ihm eine faire Chance dafür geben«, wehrte sich Burnes. »Ich verbiete diese Tollheit absolut und unbedingt…« »Mein lieber Inspektor«, sagte Gayfield entschieden, »ich habe das Gefühl, daß Sie da ein bißchen zu weit gehen. In meiner kleinen Familie entscheide ich, und ich bitte Sie, sich da nicht einzumischen, sosehr ich Ihnen für das wohltuende Interesse, das Sie uns zeigen, dankbar bin. Ich rechne auch zuversichtlich, daß Sie ein Auge auf mein Kind haben werden, und bin stolz und glücklich, sie unter so guter Hut zu wissen.« Burnes machte ein sehr zweifelhaftes Gesicht, aber er wurde einer Antwort enthoben, da Robbie in diesem Augenblick den klugen Kopf hob. Auch die anderen hatten ein Geräusch im Nebenraum gehört. »Ich glaube, wir gehen zu Tisch«, sagte Gayfield. »Jetzt habe ich natürlich vergessen, ein Gedeck für Sie zu bestellen, aber es wird sich sicher etwas für Sie finden. Man ist hier immer auf Gäste vorbereitet.« Man erhob sich. Burnes und Marjorie stützten Gayfield. Sie gingen dem Ausgang zu, der in die Halle führte, aber Robbie, der vorauslief, machte an einer anderen Türe halt. Es war eine Glastür, die mit Gaze verhangen war. Da es auf der anderen Seite dunkel war, sah man nicht hindurch. »Hallo, Robbie«, rief Burnes und öffnete die andere Tür, »du irrst dich .. .« »Robbie irrt sich nie«, sagte Gayfield stirnrunzelnd, »sieh mal nach, Marjorie, was er hat!« Marjorie trat neben den Hund, der sich an der Tür aufgerichtet hatte und seine Nase durch die Gaze durchzustecken versuchte. Marjorie schob diese beiseite und stieß einen kleinen Ruf der Überraschung aus: »Daddy«, rief sie, »sieh doch, da hat jemand ein Stück aus der Glasfüllung herausgeschnitten…«
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Im nächsten Moment stand Burnes neben ihr, riß die Tür auf und starrte hinein. Das Zimmer, ein kleiner Salon, war leer. Er machte Licht und sah Robbie am Boden an einem Gegenstand schnuppern. Es war ein kleines Glasstück, das genau in das Loch paßte, das man oben in die Scheibe geschnitten hatte. »Mit einem Diamanten sauber herausgeschnitten und mit einer darangeklebten Einpennymarke festgehalten, um es nicht auf unserer Seite herunterfallen zu lassen«, verkündete Burnes. »Jemand scheint sich für unsere Unterhaltung sehr interessiert zu haben.« Er lief in die Halle, und im nächsten Moment hatte er einen jungen Mann hereingeholt, den er am Arm gepackt hielt. »Aber mein lieber Mr. van Raan, warum kommen Sie nicht näher, wir hätten uns sehr gefreut, unsere Pläne, Ihnen zu Ihrem Eigentum und dem Mörder Ihres Vaters zum Galgen zu verhelfen, vor Ihnen besprechen zu können. Sie hatten doch bestimmt große Schwierigkeiten, durch das kleine Loch in der Tür zuzuhören? Was für einen reizenden Diamanten Sie da am Fingerchen tragen, gestatten?« Derb riß er die Hand des jungen Mannes zum Licht und betrachtete den Stein durch seine Lupe. »Hm, Glassplitter natürlich nicht mehr zu finden, wohl sauber abgeputzt nach Gebrauch, was? Immer ordentlich, mein lieber junger Freund! Ah, ich vergaß ganz, vorzustellen: Mr. und Miß Gayfield, und hier Ihr großzügiger Wohltäter, Mr. van Raan. Sagen Sie mir, was treiben Sie hier, außer Glasscheiben zu zerschneiden?« »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden«, murrte Jonathan, dem man ein wenig anmerkte, daß er noch unter Alkoholeinfluß stand. »Ich wurde vor etwa zwei Stunden angerufen, ich sollte hier Bekannte treffen, seitdem sitze ich hier in der Halle, die man mir bezeichnet hat, und warte in Geduld, wie man mich gebeten hat.« »Waren Sie nicht vorher in dem Salon hier?« 196
»Nicht einen Augenblick – aber vor ein paar Minuten kam ein Herr heraus.« »Sie kannten ihn nicht«, fragte Gayfield. »Er kam mir irgendwie bekannt vor«, sagte van Raan, »aber ich habe nicht besonders achtgegegeben. Übrigens trug er einen Bart – und ich habe eigentlich keinen Bekannten, der einen hat.« »Natürlich – der große Unbekannte«, höhnte Burnes. »So lassen Sie doch Mr. van Raan los«, sagte Gayfield, »was soll er sich von Ihnen denken?« »Daß ich eine so große Zuneigung zu ihm habe, daß ich ihn verhindern möchte, uns zu schnell zu verlassen«, höhnte Burnes. »Mr. van Raan«, sagte Gayfield entschuldigend, »nehmen Sie diesem überarbeiteten Beamten seine Gespensterseherei nicht übel. Wir hatten eben eine Unterredung, und er bildete sich ein, daß jemand zuhöre. Nun, wie dem auch sei, es hat jeder das Recht, sich hier aufzuhalten, wenn auch das Zerschneiden von Glastüren nicht zu den üblichen Beschäftigungen harmloser Gäste gehört. Dank Ihrer Freigebigkeit werden Sie ohnedies die Reparatur, die man mir auf die Rechnung setzen wird, bezahlen, also ist da nichts weiter dabei. Doch will ich Ihnen noch sehr für die Großzügigkeit danken, mit der Sie meinen Aufenthalt, zu dem mich Ihr Widersacher eingeladen hat, auf sich nehmen. Ich hoffe von Herzen, mich durch rege Mithilfe bei der Aufklärung des Verbrechens, das Sie so bitter getroffen hat, und bei der Wiederbeschaffung Ihres geraubten Eigentums dankbar zeigen zu können.« »Auch ich danke von Herzen«, schloß sich Marjorie mit ihrem reizendsten Lächeln an, »wir werden Ihnen nie vergessen, was Sie für Daddy getan haben.« »Jetzt geben Sie ihm noch einen Kuß«, brummte Burnes vor sich hin, »und ich erwürge den Kerl mit eigenen Händen.« 197
Es kam aber weder zu dem einen noch zu dem anderen. Angesichts so holder Weiblichkeit entfloh van Raans Unmut im Augenblick, er machte seine schönste Verneigung, murmelte etwas von guten Wünschen für baldige Genesung und seiner Wiederkehr, um sich danach zu erkundigen, und entschwebte mit vernichtendem Blick auf seinen jungen Bändiger. Das folgende Nachtmahl wurde durch weitere Vermutungen über die Person des Lauschers wenig angenehm gewürzt. Man konnte sich nicht einigen. Burnes blieb steif und fest dabei, daß es Jonathan gewesen sein müsse, dessen ganze Geschichte erstunken und erlogen sei. Er habe sich, als er die Aufmerksamkeit des Hundes bemerkte, leise hinausgeschlichen und sich in der Halle verborgen, wo er auch übersehen worden wäre, wenn der Hund ihn nicht gewittert hätte. Er sei vielleicht gar nicht betrunken gewesen, als Burnes mit ihm gesprochen hatte, sondern sei dem Detektiv gefolgt, um etwas über seine Pläne zu erfahren. Die wisse er nun. Eine schöne Bescherung. »Die haben wir jedenfalls, obgleich ich eher glaube, daß jemand anderer neben uns war, der den armen van Raan nur herauslockte, um ihn uns durch eine Spioniererei noch verdächtiger zu machen. Bei Ihnen ist es dem Betreffenden ja gelungen. Wir müssen nun doppelt vorsichtig sein – aber deshalb werde ich meinem Kind doch nicht verbieten, zu Shawler zu gehen.« Und dabei blieb es.
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16. KAPITEL PRAXIS Mr. Shawler zeigte sich entzückt, als Gayfield ihn am nächsten Tage anrief, sich vorstellte, seine Geschichte kurz wiederholte und die Dienste seiner Tochter, die ja doch einmal selbst ihr Brot zu verdienen beginnen müsse, aushilfsweise anbot. Er empfing Marjorie auch mit großer Freundlichkeit und deckte sie sofort mit Stößen von Akten zu, die Potters Bankangelegenheiten betrafen. Sie machte sich mit Eifer daran, aber der halbe Tag verging, bis sie überhaupt wußte, wo zu beginnen – und dann mußte sie alle Augenblicke ihren neuen Chef um Auskünfte bitten. Es war ihr sehr unangenehm, ihn fortwährend stören zu müssen, und so freundlich er sich auch bemühte, ihr die einzelnen Angelegenheiten zu erklären, manchmal mußte er sie warten lassen, wenn er bei einer Unterredung mit einem wichtigen Klienten war oder gerade ein dringendes Telephongespräch hatte. Endlich, gegen Abend, hatte er mehr Zeit und setzte sich mit ihr nach Geschäftsschluß an die Arbeit. Aber nun war er zerfahren und nervös und fand sich selbst kaum zurecht. »Es wird nichts übrigbleiben, mein Kind«, sagte er schließlich, »als daß Sie in die Bank gehen und sich dort über diese Frage aufklären lassen. Ich kann mich beim besten Willen nicht an alle Einzelheiten erinnern, anderseits will ich doch alles so übergeben, daß kein Nachfolger mir etwas Übles nachsagen kann. Und zur Erstellung der Kostennote muß ich alles bis ins kleinste Detail ausarbeiten, die Bankleute sind sehr genau geworden, und Potter wird mir nun kaum viel helfen wollen, daß die Direktion meine Rechnung anerkennt.« »Hat dies nicht Mr. Potter allein über?« 199
»Nein, er ist nicht mehr ganz das, was er war – das ist ja mit ein Grund zu alldem, was uns nun auseinanderbringt. Ich habe es immer kommen sehen und ihn gewarnt, aber nur Spott oder gar Vorwürfe, daß ich ihn entmutige, zu hören bekommen. Ja, mein Kind, das Leben ist seltsam.« Shawler nahm die Brille ab und putzte sie versonnen. Er blickte in das langsam verlöschende Kaminfeuer. »Was für gute Freunde waren wir noch vor wenigen Jahren! Ich glaube, wir ergänzten uns gut. Er hatte immer Ideen und Pläne – und ich half ihm, die richtigen Wege zu gehen, um all die tausend Fallen von Bürokratismus und behördlichen Vorschriften zu umgehen, die ein wahres Labyrinth für den gesunden Menschenverstand darstellen. Er brachte es weit – von einer bescheidenen Wechselstube, die sein Vater betrieben hatte, zu dem imposanten Bankhaus, in dem er vor kurzem herrschte…« »Es gehört nicht mehr ihm?« »Ja und nein – es ist schwer, sich da völlig zurechtzufinden. Tatsache ist, daß er vor einiger Zeit in Schwierigkeiten kam und daß ihm von einer Gläubigergruppe, die um ihre Gelder besorgt war, ein geschäftsführender Vizepräsident beigegeben wurde, dessen Gegenzeichnung für alle Transaktionen erforderlich ist. So ist er nicht mehr Herr im eigenen Hause, soweit ich orientiert bin.« »Er genießt einen so guten Ruf«, staunte Marjorie. »Von dem zehrt die Bank noch heute«, bestätigte der Anwalt. »Darum läßt man nach außen hin nicht viel über diese Änderung verlauten, die dem Unternehmen, wenn sie bekannt wird, schaden könnte – das wäre ja nicht im Interesse der stützenden Finanzgruppe, deren Exponent dieser Vizepräsident nun ist.« »Wie es nur gekommen sein mag«, wunderte sich das Mädchen. Der Anwalt starrte düster in das verlöschende Kaminfeuer.
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»Es gibt eben Zufälle im menschlichen Leben«, sagte er sinnend. »Zufälle«, fuhr er fort, »die auch starke Charaktere, wie Potter unstreitbar einmal einer war, verändern. In den letzten zwei Jahren hat er sich total gewandelt. War er früher das Vorbild ruhiger, wohlüberlegter Solidität in der Wahl seiner Geschäfte, so ist seither das Gegenteil der Fall. Es gibt kaum eine waghalsige Spekulation, für die er nun nicht zu haben wäre. Ich beschwor ihn, sich nicht in solche Sachen einzulassen, aber einige vorübergehende Erfolge machten ihn einfach tollkühn, und so kam es, wie es kommen mußte – es traten riesige Verluste ein. Es war oft kaum herauszufinden, wohin die Unsummen gegangen waren, die da verloren wurden. Es war einfach der Teufel los. Manchmal hatte ich ihn direkt in Verdacht, daß er sozusagen gegen sein eigenes Geld konspirierte und diese Summen, wenigstens zum Teil, in irgendwelche Kanäle verschwinden ließ, vielleicht ins Ausland verschob. Da konnte ich als ehrenfester Anwalt, der seinen Ruf nicht auf das Spiel setzen will, nicht mit. Es gab einen Krach nach dem anderen. Die unerfreuliche Situation, die indessen durch den Entzug seines Alleinbestimmungsrechtes in der Bank eingetreten war, machte ihn besonders reizbar. Ich fürchte fast, er verdächtigt mich, dazu durch meine Unkenrufe beigetragen zu haben. Und nun hat er mir den Stuhl vor die Tür gesetzt. Es ist nicht nur das Honorar, das ich von der Bank zu beziehen pflege – für die unzähligen Interventionen, die ich in Verbindung mit ihr durchzuführen hatte –, es ist auch die alte Freundschaft, deren Verlust mir nahegeht, verdammt nahegeht. Nun, da ist nichts zu machen, aus ist aus. Es wird wenigstens ein wenig ruhiger hier werden. Vielleicht ist es ganz gut so, man wird ein bißchen alt und ein bißchen müde. Und darum genug für heute, mein Kind, kommen Sie morgen recht früh, damit Sie alles bald beisammen haben, was Sie in der Bank besprechen wollen. Auch ich werde etwas früher als sonst kommen, um ein bißchen Zeit zu haben, Ihnen dabei zu helfen. 201
Morgen wird alles besser aussehen«, fügte er mit einem Anflug seiner sonstigen frohen Energie hinzu, »ich freue mich schon darauf, Ihr liebes Gesichtchen ausgeruht und munter wiederzusehen. Ein rechter Sonnenstrahl für einen alten Knaben wie mich. Ich hoffe, ich habe Sie mit meinen Geschichten nicht gelangweilt. Es scheint, man wird schwatzhaft, wenn man in die Jahre kommt. Weiß Gott, was mich dazu gebracht hat, Ihnen all das zu erzählen.« Das fragte Gayfield sich und seine Tochter ebenso, als sie eine Stunde später ihren Rapport abstattete. Burnes war schon eine ganze Weile vor ihr gekommen und hatte hauptsächlich an seinen Fingern gekaut, als die beiden Männer stumm auf das Mädchen warteten, an dem beide in so verschiedener Weise hingen. »Also morgen geht es zu Potter«, murrte Burnes unzufrieden. »Ich glaube, ich werde mir eine Küchenschürze kaufen und Ihnen meinen Ausweis und meine Pistole übergeben und meinen Dienstwagen ebenfalls beistellen. Mein Privatauto darf ich aber behalten, nicht wahr? Zum Einkaufen werde ich es ja doch brauchen können – oder muß ich zu Fuß mit dem Körbchen herumlaufen, Herr General?« »Das möchte ich ganz Ihnen überlassen«, antwortete die kleine Kommandeuse huldvoll. »Und jetzt dürfen Sie mir erzählen, was Sie getrieben haben.« »Zu Befehl, General«, meldete Burnes resigniert, »ich habe sozusagen meinem Herrgott und unserer Königin den Tag gestohlen – ich habe nichts herausgebracht, obgleich ich den ganzen Tag herumgesaust bin und meinem Mercedes mindestens fünf Gallonen in den Rachen gegossen habe. Dieser Wricks und diese fluchwürdige Hexe Hobbs sind nirgends aufzufinden, keine Spur zu entdecken. Es ist zum Tollwerden. Und über den jungen van Raan habe ich nur herausbringen 202
können, daß er ebenso hinter dieser Bestie her ist. Ich habe die Wohnung, die er ihr eine Zeitlang gemietet hatte, bevor sie ihm mit Wricks entlief, auf den Kopf gestellt und die ganze Umgebung abgekämmt – nichts, weniger als nichts war zu erfahren. Die Kanaille muß verschlossen wie eine Auster gewesen sein – mit niemandem hat sie sich auch nur in ein Gespräch über das Wetter eingelassen.« »Die paar Angestellten Shawlers wissen auch nichts von ihr, sie nannten sie eine hochmütige Gans, mit der man nichts anfangen konnte, die, ausgenommen für van Raan junior, nicht einmal für die wohlhabenden Klienten einen Blick hatte, obgleich sie allgemein auffiel und mancher von denen nicht übel Lust bezeigte, ihr näherzukommen.« »Ah«, rief Gayfield, »das ist ja sehr interessant!« »Warum?« murrte Burnes. »Sie war eben etwas beständiger als manche ihres Geschlechtes, die sich sofort nach jedem die Augen ausguckt, ob das nun junge Ärzte oder alte Anwälte sind…« »Robert«, lachte Marjorie, »Sie werden direkt geschmacklos!« »Dann ist es wohl besser, ich verderbe Ihnen nicht diesen genußreichen Abend«, erwiderte Burnes verbittert. »Ich muß ohnehin ins Büro, nachsehen, was Wricks für neue Teufeleien ausgeheckt hat, und mich mit einem Fachmann beraten. Chefinspektor Walter wird schon sehnsüchtig auf meinen Bericht warten.« »Wollen Sie ihm schöne Grüße ausrichten?« fragte Marjorie sanftmütig. »Ich werde nicht ermangeln«, sagte Burnes, mit etwas steifen Verbeugungen seinen Abschied nehmend. Marjorie sah dem jungen Mann doch etwas betreten nach. Aber sie war nicht überrascht, daß er am nächsten Tag wieder bei ihrem Vater saß, als sie, noch später denn am Vortag, aus der Kanzlei kam. 203
»Nun, was sagte der Chefinspektor«, rief sie munter, während ihr Burnes aus dem Mantel half, wobei Robbies Begrüßungszeremonien als wenig zweckdienlich empfunden wurden. Gayfield lächelte seinem Kind zärtlich zu. »Er erwidert herzlich Ihre Grüße«, berichtete Burnes und rückte ihr einen Stuhl zurecht. »Darf ich läuten, um das Nachtmahl für unser gefeiertes Oberhaupt zu bestellen?« Es klang noch immer ein wenig gereizt, aber es lag so viel Herzlichkeit in der Stimme, daß Marjorie ihm innig in die Augen sah. »Das wäre schrecklich lieb von Ihnen«, sagte sie dann. »Ich habe einen Mordshunger, obgleich ich ein herrliches Mittagessen hatte. Kannst du raten, Vater, mit wem? Und wer mich im Rolls Royce mitnahm?« »Die letzte Frage beantwortet die erste, mein Kind«, sagte Gayfield vergnügt. »Nachdem ich annehmen darf, daß du dich nicht mit wildfremden Leuten ins Auto setzt, und wir nur einen Mann kennen, der über einen Rolls Royce verfügt, so kann es nur dieser gewesen sein, also Potter.« »Erraten, Daddy«, jauchzte Marjorie, »es war himmlisch!« »Nun«, sagte Burnes etwas prosaisch, »darf ich fragen, wie es dazu kam?« »Nach der Erzählung, die ich Ihnen gestern angedeihen ließ, sollte ein gewiegter Detektiv sich diese Frage eigentlich selbst beantworten können«, schmollte Marjorie. »Aber während man das Nachtmahl bringt, erzähle ich der Reihe nach: Also, ich war um neun Uhr im Büro, und um ein Viertel zehn kam schon Mr. Shawler, der doch sonst nie vor zehn sichtbar wird. Er schien sehr erfreut, mich bereits an der Arbeit zu finden, er half mir mit frischen Kräften, das Wichtigste herauszuschälen, und dann begab ich mich in Potters Bank. Von der Außenseite war ich enttäuscht – aber drinnen, Daddy dear, da war es wirklich wie in den Romanen: Die dunklen, getäfelten Wände, die tiefen, weichen Teppiche, die prachtvollen Bronzebeschläge an 204
den Eichentüren und vor allem diese fast lautlose Hetzjagd, die tadellos galonierten Diener mit dem Zylinder auf dem Kopf, die geräuschlos dahinfliegenden Clerks mit ihren bunten Mappen, die smarten Messenger- und Liftboys, ich wußte gar nicht, wohin zuerst schauen.« »Die richtige Unschuld vom Lande«, sagte Burnes respektlos. »Zuerst wurde ich zu einem alten Diener geführt, der sich mit stiller Würde mein Anliegen anhörte. Es stellte sich aber bald heraus, daß ich von unserer Kanzlei bereits angesagt war, und nun wurde ich in einen nett eingerichteten Kanzleiraum geführt, wo ich wieder ein paar Minuten warten mußte. Dann erschien ein sehr eleganter, jüngerer Herr, der mich mit größter Liebenswürdigkeit begrüßte und sofort von Tennis, Jagd und Fischerei zu sprechen begann. Er war einfach reizend, und sein Geplauder nahm mich ganz gefangen. Er hatte so eine nette, unaufdringliche und doch treffende Art, über all die kleinen Sorgen zu sprechen, die mir aus unserem Waldleben so geläufig sind. Er war selbst viel auf dem Lande gewesen, auch viel gereist, in China und Indien und natürlich auch in den Staaten, und die wenigen Worte, mit denen er das streifte, öffneten gleich eine ganze Welt vor mir.« »Also, jetzt wissen wir wenigstens, wozu wir Sie zu Shawler geschickt haben«, rief Burnes empört, »damit Sie sich von diesem idiotischen Gecken Gillespie den Kopf verdrehen lassen!« »So hieß er wirklich«, rief Marjorie überrascht, »woher wissen Sie das?« »Aus Ihrer enthusiastischen Beschreibung habe ich diese Krone der Schöpfung unschwer erkennen können«, zürnte Burnes. »Sind Sie bis zum Verlobungskuß gekommen?« »Leider nein«, sagte Marjorie mit Verachtung. »Nach einiger Zeit, während welcher ich wirklich mit Vergnügen seinem Bericht zugehört hatte, ersuchte ich ihn, mich zu Mr. 205
Potter zu bringen, da ich ihn um einige Auskünfte betreffs der Akten Mr. Shawlers bitten müsse. ›Ach, der Präsident hat jetzt leider keine Zeit‹, meinte Mr. Gillespie ziemlich gleichgültig, ›lassen Sie das Zeug da‹ – und er nahm mir das Paket mit den Akten ab, ›ich werde mich dann selbst damit befassen, sobald ich genügend Zeit finde, und Ihnen das Ganze in einigen Tagen zurückschicken.‹ Ich hatte das Gefühl, daß dies Mr. Shawler ganz und gar nicht recht gewesen wäre – aber ich wagte nicht, so ohne weiteres zu widersprechen. Anderseits hatte sich Mr. Gillespie nun erhoben, und ich merkte, daß er keine Zeit mehr für mich hatte. Während ich noch nachdachte, wie ich meine Akten wieder zurückbekommen könnte, ohne ihn zu verletzen, ging plötzlich die Tür auf und ein atemloser Boy stürzte herein: ›Mr. Gillespie, schnell zum Präsidium, es gibt dort noch Mord und Totschlag…‹, schrie er und war weg. Gillespie schien mich total vergessen zu haben und raste hinaus, natürlich mit meinen Akten unter dem Arm – da blieb mir freilich nichts anderes übrig, als hinter ihm herzurennen. Es war nicht leicht, in seinem Kielwasser zu bleiben, da ihm alles eiligst Platz machte, um mich mit gleicher Beflissenheit von weiterem Vordringen in die heiligsten Gefilde, denen wir uns anscheinend näherten, abzuhalten. Irgendwie wand ich mich aber doch immer wieder durch und stürzte atemlos mit ihm zugleich in einen großen Saal. Ich hatte nicht viel Zeit, die einfach überwältigende Pracht um mich zu bewundern, denn ein diesem vornehmen Stil gar nicht angemessener Tumult empfing mich. In olympischer Majestät stand ein weißhaariger Herr, dessen frische Gesichtsfarbe zu dieser ehrwürdigen Umrahmung wenig paßte, in der Mitte der um ihn herumfuchtelnden Pygmäen. Ich konnte wirklich nicht herausfinden, um was es ging, denn das Getöse der erregt durcheinander debattierenden Herren machte es unmöglich, einzelne Worte zu verstehen. Beinahe mit Brachialgewalt 206
kämpfte sich mein Begleiter zu dem alten Herrn durch, wobei ich mit Sorge bemerkte, daß er meine Akten abwechselnd als Schutz- oder Hiebwaffe benutzte. Endlich hatte er sich an den großen Tisch herangearbeitet und brachte mit seinen eindrucksvollen Gesten und seiner markigen Stimme eine Art Ruhe zustande. Dann ergriff er das Wort: ›Meine Herren‹, sagte er ungefähr, ›es wird Ihnen nichts helfen. Mein Chef ist wieder vollkommen Herr der Lage. Wir bedürfen Ihrer Mittel nicht mehr. Eine Rate wird vereinbarungsgemäß nun zurückgezahlt – und das berechtigt uns, auf die weiteren Dienste des von Ihnen nominierten Vertreters Ihrer Interessen, den wir als Vizepräsidenten kooptieren und dem wir die Geschäftsführung überlassen mußten, zu verzichten. Ich verstehe Ihre Aufregung nicht, so etwas war ausdrücklich vorgesehen…‹ ›Wir wollen aber wissen, woher mit einemmal die Gelder gekommen sind‹, schrie ein kleiner, aufgeregter Herr. ›Sie ließen durchblicken, daß der Paragraph, der Ratenzahlungen vorsah, nur eine Formalität war – sonst hätten wir nie das Kapital mobilisiert, das Sie jetzt wieder zurückpfeifen. Was glauben Sie, was wir da an Spesen verlieren, wenn wir wieder ausgebootet werden?‹ ›Das ist Ihre Sache‹, antwortete Gillespie kategorisch. ›Das ist unfair‹, tobte ein anderer Herr, dessen Gesicht zum Platzen rot war. ›Wie soll ich nun das Geld meiner Kommanditisten veranlagen, das ich auf Grund Ihres Hilfegeschreies aus lauter guten, ruhigen Sachen gezogen habe?‹ ›Verdammter Schwindel‹, brüllte ein anderer, ›Bauernfängerei!‹, und das Getöse begann wieder. Besonders ein magerer, großer Herr mit einem Zwicker und höchst abstoßenden, scharfen Zügen trieb es arg. Nicht nur, daß er einer der lautesten Schreier war, er hetzte die anderen durch giftige Bemerkungen, die ich nur zur Hälfte verstehen konnte, 207
noch mehr auf. Ich erfuhr später, daß er der geschäftsführende Vizepräsident war, den Potter anscheinend nun an die Luft setzen konnte. Ich muß sagen, alle meine Sympathien waren bei dem ruhigen, alten Herrn, um dessen feinen Mund es wie leichter Spott lag, als er zuletzt, nachdem alles sich heiser geschrien hatte, das Wort nahm: ›Ich hätte gar nicht gedacht, daß in unserem alten, lieben England, in unseren stillen Kontoren so viel Temperament entwickelt werden könne. Ich danke Ihnen – ja, meine Herren, ich muß sagen, ich danke Ihnen allen von ganzem Herzen für diesen Beweis Ihres aufrichtigen Interesses an meiner Bank – und gleichzeitig für diesen ebenso erschütternden Beweis Ihres hohen Verantwortungsgefühles Ihren Auftraggebern gegenüber, deren Belange Sie hier wahrzunehmen haben. Leider ist meine Aufgabe gerade das Gegenteil der Ihren: Ich muß im Interesse meiner, der inneren Aktionäre, die auf mich setzen, meine Freiheit zu erringen suchen, ohne die ich deren Erwartungen nicht erfüllen kann. So lassen Sie uns in diesem Kampfe, den wir hauptsächlich für jene führen, die uns ihr Vertrauen geschenkt und ihre Ersparnisse anvertraut haben, alles Persönliche zurückstellen. Meine Herren, zur Sache. Mein neuer Rechtsberater hat Ihnen bereits ausführlich die Rechtslage auseinandergesetzt. Ich darf nicht nachgeben, obgleich ich Ihnen ohne weiteres beistimme, daß für Ihre Seite gewisse Härten entstehen, die aber im Interesse meiner Gruppe nicht vermieden werden können. Ich habe für diese zu stehen – es war Ihre Sache, den Vertrag…‹ ›Er wurde uns aufgedrungen‹, schrie einer der Herren. ›Man sagte, es wäre keine Zeit für juristische Haarspaltereien, wir vertrauten Ihnen… seit wann ist es üblich, in unseren Kreisen Bankgeschäfte von Rechtsanwälten studieren zu lassen? Hätten wir vielleicht zuerst eine richterliche Entscheidung für jede Eventualität, die sich daraus ergeben konnte, herbeiführen sollen? Wie lange hätte das gedauert? Und Ihre Gruppe, Mr. 208
Präsident, war es, die am lautesten schrie, sie könne nicht mehr weiter, wenn wir nicht schleunigst einsprängen…‹ ›Es ist richtig, daß die Zeit drängte – und ich werde Ihnen immer dankbar sein, daß Sie nicht durch langwierige Verhandlungen Ihre Hilfe verzettelten‹, sprach der alte Herr mit großer Würde und Bestimmtheit. ›Eine schöne Dankbarkeit…‹, hieß es wieder. ›Was Dankbarkeit, wir wissen, daß so etwas im Geschäftsleben kaum zu erwarten ist – aber hier handelt es sich um eine Verletzung von Treu und Glauben! Gilt ein Handschlag, ein gesprochenes Wort nicht mehr in unseren Reihen? Muß alles in hieb- und stichfesten Paragraphen niedergelegt werden? Dann adieu, Business…‹, so rief ein alter Herr, beinahe mit Tränen in den Augen. ›Was für einen Handschlag, was für ein gesprochenes Wort meinen Sie?‹, rief nun Mr. Potter, denn das war der schöne, alte Herr, wie ich ja bald heraus hatte. ›Ich warne Sie, Beleidigungen auszustoßen, die in keiner Weise gerechtfertigt werden können. Vielleicht waren wir diesmal etwas smarter als Sie, aber nobel waren Sie auch nicht, als Sie uns Ihre halsabschneiderischen Bedingungen diktierten, die mein Werk beinahe lähmten und einer Konkurrenz auslieferten, von der ich nicht genau weiß, wie nahe sie einigen von Ihnen gestanden sein mag. Bekennen Sie sich als anständige Leute, als britische Sportsleute, geschlagen und tragen Sie diese Niederlage, wie es unsereinem geziemt. Vor kurzem lag ich auf dem Boden; habe ich mich damals so aufgeführt? Bewahren Sie Ihre Würde! Ich sehe eine Dame in unseren Reihen, ich weiß zwar nicht, was sie zu uns führt – aber ich bitte Sie, ihr nicht ein abstoßendes Schauspiel zu bieten, das uns alle in ihren Augen herabsetzen müßte. Die Sitzung ist geschlossen!‹ Der Tumult flaute ab. Ich hörte ein paar Bemerkungen, zum Beispiel sagte ein älterer Herr zu einem anderen beinahe anerkennend: ›Das hat Old Pott eigentlich gar nicht übel 209
gemacht – wenn man nur wüßte, wie er sich die Mittel beschafft hat, uns auszuzahlen…‹, worauf der andere erwiderte: ›Er wird eben irgendwelche Reserven gehabt haben – vielleicht ein Aktienpaket, das plötzlich stark gestiegen ist und das er nun höher belehnen konnte, oder es ist ihm gelungen, eine bisher dubiose Position zu liquidieren – die Dummen werden nicht alle, er mag da jemanden für irgendwelche Schwindelwerte, die ihm sein guter Gillespie eingebrockt hat, gefunden haben‹. – ›Sagen Sie nichts gegen Gillespie – das ist ein ganz schlauer Junge‹, antwortete der erste wiederum. ›Und er scheint dem Alten blind ergeben zu sein… Der wird wohl Näheres über diese neueste Sanierungsaktion wissen…‹ ›Ein Rätsel, dieser alte Potter‹, sagte wieder ein anderer, als er an mir vorbeikam, zu seinem jüngeren Begleiter, ›irgendwie gelingt es ihm doch immer wieder, aus einer Impasse herauszukommen.‹ – ›Kein Rätsel – ein Wunder ist dieser geniale Finanzmann‹, erwiderte ihm der Jüngere, ›ich verstehe, daß er mit allem fertig wird…‹ Ich muß zugeben, daß auch ich Hochachtung zu empfinden begann, nicht nur für den alten Herrn, sondern auch für alle anderen, die nun ruhig, wenn auch noch innerlich sichtlich erregt, fortgingen. Da war kaum einer, der im Vorbeigehen nicht wenigstens die Andeutung eines freundlichen Lächelns versuchte, in dem fast etwas wie eine Bitte um Entschuldigung lag, sich in meiner Gegenwart so gehen gelassen zu haben. Als der Saal sich geleert hatte, kam der alte Herr auf mich zu: ›Miß Gayfield‹, sagte er mit unbeschreiblicher Würde – ich hätte beinahe gesagt Hoheit – zu mir, etwa wie unsere Königin zu einem vornehmen Großen ihres Reiches bei einem Empfang in ihrem Palaste sprechen würde. ›Man sagte mir, daß Sie wegen einiger Auskünfte kommen würden – ich hätte Sie aber nicht hier in dieser wenig erfreulichen Szene vermutet. Sind Sie nicht in zufriedenstellender Weise bedient worden?‹ 210
›Mr. Gillespie war schrecklich nett zu mir‹, beeilte ich mich zu versichern, ›aber er wurde plötzlich abberufen, und in der Eile vergaß er, mir meine Akten zurückzugeben, darum lief ich ihm hierher nach. Es ist mir furchtbar peinlich, daß ich so in eine Sitzung geriet, bei der ich wahrlich nichts zu suchen hatte – ich bitte Sie inständigst, meine Entschuldigung anzunehmen…‹ ›Sie haben sehr tapfer gehandelt, mein kleines Fräulein‹, sagte der große Mann mit einem reizenden Lächeln, das sein schönes Gesicht noch anziehender machte. ›Ganz wie Ihr prachtvoller Vater, von dessen Heldenmut man soviel Schönes gesprochen hat. Ich hoffe, es geht ihm gut? Mister Shawler teilte mir ein paar Worte über Sie mit, als er mir Ihren Besuch und dessen Zweck ankündigte. Nun, lieber Gillespie, geben Sie unserem kleinen Gast die Akten zurück…‹ ›Ein Mißverständnis, Herr Präsident‹, brachte der Angeredete hervor, wobei mich ein nicht allzufreundlicher Blick traf. ›Ich glaube, dem Fräulein ziemlich klargemacht zu haben, daß ich die Akten erst durcharbeiten müsse. Sie hätte gar nichts davon, wenn sie sie wieder so mitnehmen müßte, wie sie sie gebracht hat.‹ ›Ja, haben Sie ihr nicht…‹ ›Unmöglich, Herr Präsident, die Materie ist viel zu groß, als daß sie in einigen Minuten erledigt werden könnte. Ich werde mein Bestes tun, sie in einigen Tagen durchzuarbeiten und Mr. Shawler zurückzustellen.‹ ›Hm, eigentlich wollten wir raschest reinen Tisch machen‹, sagte Mr. Potter unmutig. ›Es tut mir leid, mein Fräulein, Sie enttäuschen zu müssen, aber ich fürchte, wir werden Gillespies Vorschlag akzeptieren müssen.‹ ›Ich bin aber eigens zur schnellen Aufarbeitung der Akten als Aushilfe in Mr. Shawlers Kanzlei eingestellt worden, dort hätte ich nichts zu tun, wenn die Akten hier bleiben.‹
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›Vielleicht könnte man mit Shawler vereinbaren, daß Miß Gayfield hier ihre Arbeit fortsetzt, da kommen wir am raschesten zum Ziel.‹« »Das sagte natürlich dieser verdammte Geck, was?« tobte Burnes wütend. »Das fehlte noch gerade, daß Sie von dem alten Halunken zu diesem gewissenlosen Schürzenjäger übersiedeln…« »Sie irren, Robert«, sagte Marjorie sanft, »es war Mister Potter, der diesen Vorschlag machte, und ich muß sagen, daß Mr. Gillespie zu meinem ehrlichen Befremden beinahe beleidigend deutlich zu erkennen gab, daß ihm an meiner Hilfe äußerst wenig gelegen sei. ›Ich kann es ganz gut allein schaffen‹, erklärte er, ›eine so wenig erfahrene Kraft wie Miß Gayfield würde mich nur aufhalten. Außerdem kann ich ohnehin nur sporadisch daran arbeiten, wie sich eben hie und da eine freie Viertelstunde ergibt – was soll sie zwischendurch machen?‹« »Das sagte er wirklich?« rief Burnes mißtrauisch. »Und wobei blieb es zum Schluß?« »Nun, Mr. Shawler wurde angerufen, erklärte sich mit allem einverstanden, bat aber, die Sache nach Tunlichkeit zu beschleunigen, da er sie im Gegensatz zu Mr. Gillespie in einem Zuge bereinigen wolle und nicht jeden Moment damit belästigt werden dürfe. Er werde einmal einen Abend oder sogar eine halbe Nacht opfern, aber dann den Kram auf einmal geordnet haben. Ich solle so lange dortbleiben, bis ich alles so weit hätte, und dann mit ihm eine Zeit besprechen, in der alles abgewickelt werden sollte. Indessen war es spät geworden, und Mr. Potter erbot sich, mich in die Kanzlei zu führen, wenn er nun in sein Restaurant zum Speisen fahre. Die Kanzlei liege ja nicht gerade auf seinem Weg, aber eine kleine Fahrt nach den Anstrengungen des Vormittags werde ihm gut tun und das Mittagessen verdaulicher machen. Am Nachmittag sollte ich mich dann bei Gillespie melden, der mir je nach seiner 212
sonstigen Beschäftigung bei der Arbeit helfen sollte. Das geschah, und ich arbeitete ganz nett mit Gill – so heißt er dort«, fügte sie schnell hinzu, als sie eine drohende Falte auf Burnes’ Stirn sah, »wenn er auch manche Akten beiseite legte, die er erst später vornehmen wollte, und immer wieder abgerufen wurde, so daß wir nicht weit kamen.« »Kann mir denken, warum«, meuterte Burnes, »der Kerl will diese reizenden Schäferstündchen möglichst lange fortsetzen…« »Warum war er dann am Anfang so dagegen?« fragte Marjorie. »Nur freches Affentheater – er wußte ganz gut, daß es doch dazu kommen werde. So wollte er sich ein besonderes Air damit geben.« »Glaube ich nicht«, sagte das Mädchen keck. »Er war gar nicht auf Flirten eingestellt. Aber nun komme ich zu dem reizendsten und zugleich wichtigsten Ereignis des heutigen Tages: Meinem Tête-à-tête mit Mr. Potter…« »Das nennt sie das reizendste Ereignis des Tages«, rief Burnes empört, »das geht wirklich zu weit…« »Geben Sie doch endlich Ruhe, Burnes, man kommt ja gar nicht zum Reden. Also, Old Pott – so nennt man den lieben, alten Herrn dort allgemein – führte mich zu seinem herrlichen Rolls – er nahm mich leicht am Arm .. .« »Immer schöner«, rief Burnes, »gezwickt hat er Sie nicht? So ein wenig irgendwohin…« »Wenn Sie weiter so reden, so werde ich Sie gleich zwicken – irgendwohin«, rief Marjorie aufgebracht. »Dieser wirklich vornehme alte Herr hat bessere Manieren als Ihresgleichen! Vielleicht sind Sie gewöhnt, junge Damen zu zwicken…« »Das müßte Ihnen doch schon aufgefallen sein, was?« antwortete Burnes. »Leider bin ich zu wohlerzogen, aber ich habe das Empfinden, daß meine Art anscheinend etwas zu
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zurückhaltend ist, als daß sie junge Damen interessieren könnte. Ich werde versuchen, mich zu bessern.« »Das hätten Sie wirklich recht nötig, aber in ganz anderem Sinn, wenn wir Freunde bleiben sollen«, sagte Marjorie, und nun klang doch ein etwas ernsterer Unterton mit, der Burnes’ sichtlich beabsichtigten Ausbruch zu einem mäßigen Grollen dämpfte. »Nun, wo war ich?« fuhr das Mädchen fort. »In Potters Affenkiste«, half Burnes widerwillig nach. »Noch nicht«, erinnerte sich Marjorie. »Der Weg dahin war wie ein Triumphzug Aschenbrödels an der Hand des Märchenprinzen.« »Potter als Märchenprinz – das ist der beste Witz, den ich seit langem gehört habe«, unterbrach sie der unverbesserliche Burnes. »Wenn Sie Krampus gesagt hätten, würde ich es verstehen.« »Alle Herren der Bank, wohl auch alle Klienten, die wir unterwegs trafen, grüßten mit ausgesuchter Höflichkeit, es war fast wie ein Spalier, ein kleiner Messenger-Boy lief uns voraus und schrie: ›Das Auto für den Herrn Präsidenten‹, der Portier übernahm den Ruf, und als wir oben auf der Stiege ankamen, da fuhr unten der herrlichste Wagen vor, den ich je gesehen habe – mit einem dunkelblau livrierten, vornehmen Chauffeur, wie aus Stein gehauen; ein Diener sprang an den Schlag und half uns mit gezogenem Zylinder hinein…« »Der muß zumindest vier Hände gehabt haben, um Schlag, Zylinder und außerdem die hohen Herrschaften zu halten«, meinte Burnes spöttisch, »den hat der Märchenprinz wohl direkt aus dem Affenkäfig im Zoo bezogen? Dort soll es solche Geschöpfe geben…« »Die Fahrt war wunderschön, der Wagen glitt dahin wie ein Schwan, so still und majestätisch, der nette, alte Herr neben mir deckte mich mit einem wundervoll weichen Plaid zu, bewundernd sahen uns die Leute nach…« 214
»Das kann ich mir denken«, brummte Burnes. »Plötzlich schlug mir Mr. Potter vor, mit ihm zu essen: ›Bis Sie in Ihr Büro kommen, wieder wegkommen, irgendwo in dem Trubel etwas Genießbares finden, werden Sie schon wieder zurückhasten wollen – kommen Sie, essen Sie mit mir in dem reizenden stillen Restaurant, in dem ich Stammgast bin‹. Er gab, ohne viel auf meinen schwachen Protest zu achten, dem Chauffeur durch das Sprachrohr die nötigen Anweisungen, und nach wenigen Minuten hielten wir vor einem entzückenden italienischen Weinlokal. Über das Essen sage ich lieber gar nichts, es war einzigartig, lauter Sachen, die ich nicht einmal dem Namen nach kenne, und zum Schluß eine Menge Bananen, ich hatte gar nicht gedacht, daß es so schöne geben kann. Aber nun zur Sache: Mr. Potter trank ein Gläschen Portwein, dann sah er mich einen Augenblick ganz merkwürdig an und sagte: ›Sie erinnern mich an jemanden, den ich einmal sehr liebhatte.‹« »Das habe ich gern, wenn jemand so anfängt«, fluchte Burnes. »›Ich möchte um alles in der Welt nicht, daß Ihre geschäftliche Karriere mit so einem trüben Mißton beginnt, wie er Ihnen heute in meinem Hause serviert wurde. Sie schauen so nett und ordentlich aus, sind sicher von Ihrem braven Vater da draußen am Land gut und redlich erzogen worden – Sie werden sich nun etwas Schönes von uns denken.‹ Ich gab natürlich zu verstehen, daß mir seine Art, wie er den Wirbel dort gemeistert hatte, unendlich imponierte.« »Bravo«, applaudierte Burnes, »Sie erwiderten also seine dreiste Liebeserklärung in ziemlich unmißverständlicher Form!« »›Es ist nicht so schlimm mit uns Geschäftsleuten‹, fuhr Old Pott fort, ›Kämpfe gibt es überall im Leben, bei uns werden sie wenigstens unblutig geführt.‹«
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»Auf seine Bank trifft das nicht gerade in vollem Maße zu«, widersprach Burnes, »ich hatte da vor kurzem meine Erfahrungen.« »›Aber auch bei uns handelt es sich oft um Tod und Leben. Nicht nur, daß so mancher von uns freiwillig den Tod sucht, um den Zusammenbruch seines Lebenswerkes nicht erleben zu müssen, nein, von unseren Entscheidungen hängt Sein oder Nichtsein vieler Familien ab, deren Habe wir verwalten. Das muß sich ein gewissenhafter Kaufmann immer vor Augen halten, wenn er seine Schritte abwägt und seine Pläne schmiedet, die so viel für andere bedeuten mögen. Der Beschluß einer Generalversammlung, der auf die Vorschläge des leitenden Generaldirektors, des geschäftsführenden Präsidenten hin gefaßt wird, mag ganze Städte entstehen oder veröden lassen, Tausende von Existenzen hängen vielleicht von ihm ab. Wehe dem, der da leichtfertig und frivol verfährt und anderen mit unreellen Luftschlössern ihre Zustimmung abringt oder abschwindelt, er wird einmal dafür Rechenschaft ablegen, vielleicht schon hienieden. Und wie der Staatsanwalt alles gegen den Verklagten, der Verteidiger alles zu seinen Gunsten vorbringen und mit ganzer Kraft vertreten muß, so hat jeder von uns die Pflicht, zu seiner Meinung und zu seiner Pflicht zu stehen. Daß es da zu Tumulten kommen kann, daß wilde Leidenschaften für Augenblicke auch besonnene Männer wildmachen können, haben Sie heute gesehen – ich hielt es für meine Pflicht, Ihnen die Hintergründe aufzuzeigen, die Ihnen wohl kaum klar sein konnten. Ich wollte Sie einen Blick in die Welt tun lassen, die unseren Beruf romantischer und abenteuerlicher macht als den der einstigen Piraten…‹« »Ein vortrefflicher Vergleich«, konnte Burnes nicht sich enthalten einzuwerfen. »›… Entdecker neuer Welten, stahlgepanzerter Ritter und tollkühner Sportsleute – mit dem einzigen Unterschied, daß die Resultate nicht immer so offen zutage treten. Sie werden es 216
vielleicht begreifen, daß man sogar zum Verbrecher für sein Werk werden kann, wenn man das Gefühl hat, daß es wichtiger ist für die Allgemeinheit als das Leben eines minderwertigen Zeitgenossen, eines eitlen Narren oder eines Mannes, der ohnehin schon zum Verbrecher geworden war.‹« »Donnerwetter«, sagte Gayfield, »hör auf, oder Burnes setzt den alten Knaben sofort ins Loch. Das ist doch keine Offenbarung, das ist fast eine Beichte…« Auch Burnes war sehr überrascht. Sprachlos sah er das junge Mädchen an, das mit geröteten Backen und leuchtenden Augen diese mörderische Lehre verkündete. »Ich hätte größte Lust dazu«, bemerkte Burnes, »aber nicht wegen dieses idiotischen wichtigtuerischen Gewäsches, sondern wegen der beispiellosen Impertinenz, einem jungen, unverdorbenen Geschöpf auf diese bombastische Weise Eindruck zu machen, nachdem er als Artillerievorbereitung eine Batterie Weinflaschen und ein lukullisches Mahl aufmarschieren ließ, von der Flottendemonstration, die er seinen pompösen Karren vorher veranstalten ließ, gar nicht zu reden.« Marjorie aber sprach weiter: »›Sehen Sie‹, fuhr Potter nach einer Weile fort, ›ich habe mein Leben lang wacker gekämpft. Es gab Krisen, private und geschäftliche, ich habe sie irgendwie überwunden. Aber eines kann ich nicht vertragen: Treulosigkeit. Und das ist der Grund meines Bruches mit dem Anwalt, bei dem Sie jetzt arbeiten. Ich weiß nicht, warum, aber ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß Sie von mir ein falsches Bild haben sollen. Glauben Sie mir, es ist nicht Laune oder irgendein Projekt, das er zu verhindern suchte, was mich zwingt, ihn auszubooten. Mit einem offenen, ehrlichen Widerstand, besonders wenn er aus redlicher Überzeugung geleistet wird, kämpfe ich gern und suche ihn zu überwinden. Wenn ich aber bemerke, daß es sich einfach um niedrigen Neid, bösartige Engstirnigkeit und feiges 217
Intrigantentum handelt, dann bin ich unerbittlich. Vor einiger Zeit mußte ich zu der Überzeugung kommen, daß meine Ansichten, meine Methoden veraltet waren und mit den Erfordernissen der Gegenwart nicht Schritt halten konnten. Ich mußte neue Wege finden, neue Quellen erschließen – für einen alternden Mann keine leichte Aufgabe. Daß man da nicht immer gleich das Richtige trifft, ist verständlich, und es darf einen nicht irremachen. So ging ich, unbekümmert um engherzigen Protest alter Freunde, meinen Weg. Er kostete schwere Opfer – aber ich habe das Gefühl, daß sie nicht umsonst gebracht wurden. Mancher meiner alten, bewährten Freunde verließ mich, neue fanden und bewährten sich. So steuerte ich mein Schiff durch Sturm und Gefahren der letzten Krisenjahre mit ihren unvorhersehbaren Umstellungen und unberechenbaren Entwicklungen, und es ging. Es wäre noch viel besser gegangen, manche schwere Demütigung wäre mir erspart geblieben, wenn nicht in den eigenen Reihen einer gewesen wäre, der nicht offen abgefallen ist – nein, der insgeheim gegen mich gearbeitet hat, meine Stelle unterwühlte, meine Anstrengungen vereiteln wollte. Später kam ich darauf – aber ich war in der Lage, in die er mich gebracht hatte, nicht sogleich fähig, die Konsequenzen zu ziehen. Nun aber habe ich den Sturm gemeistert, die Wellen gehen noch hoch, aber sie brechen sich ohnmächtig an dem starken Bug. Ich habe wieder das Steuer, das man mir entwunden hatte, in die Hand bekommen, und nun geht es wieder mit allen Segeln und vollem Wind vorwärts ins Unbekannte, ins Ungewisse – ich habe das Fürchten verlernt. Und wenn mein Schiff einst untergehen sollte, so wird es mit vollen Segeln geschehen: mit fliegender Fahne, und ich werde auf der Brücke stehen, die Kappe in der Hand, aber das Haupt erhoben im Gefühl, daß ich bis zum letzten gekämpft habe – wie es einem Manne, einem Briten zukommt.‹
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Ist das nicht wundervoll, Daddy – Burnes, verstehen Sie nicht, daß sich da wahre Größe zeigt?« »Möglich«, sagte Burnes skeptisch. »Der Brand von Rom, den irgend so ein alter Esel zu seinem Privatvergnügen, oder weil er die Straßen dem modernen Verkehr anpassen wollte, angezettelt hat, soll ja auch eine große Sache gewesen sein. Aber denen, die sich dabei die Pfoten verbrannt haben, hat er wenig Spaß gemacht, das möchte ich wetten. Und schließlich ist der betreffende Feuervogel auch noch zum Handkuß gekommen, wenn ich mich nicht irre, die Geschichte ist schon lange her, habe die Details nicht mehr ganz gegenwärtig.« Gayfield war in tiefes Sinnen versunken. »Du hast Glück, Mädel«, sagte er dann. »Alle Leute, denen du begegnest, bekommen so eine Art von Gestehungswahn, sie bekommen irgendeinen Drang, dir alles zu erzählen, rein, als würdest du so eine Art Wahrheitsserum ausströmen. So hast du aus Shawler und Potter Sachen herausgebracht, die ein Berufsdetektiv nicht in Jahren hätte herausquetschen können. Dir ist es bei der ersten Gelegenheit gelungen.« »Nun«, sagte Burnes eifersüchtig, »ich habe auch sehr bald aus Jenkins und van Raan allerhand herausgeholt…« »Ganz richtig«, lenkte Gayfield ein. »Sie haben da Ausgezeichnetes geleistet. Jetzt kommt es nur noch darauf an, aus alldem die richtigen Schlüsse zu ziehen – und damit werden wir früher oder später beginnen müssen.« »Richtig! Haben Sie etwas herausgebracht, Gayfield?« fragte Burnes begierig. »Haben Sie schon etwas unternommen?« »Das Wichtigste«, sagte Gayfield. »Ich habe herrlich geschlafen – und allerhand geträumt…«
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17. KAPITEL LUNCH MIT GILLESPIE Mit Feuereifer stürzte sich Marjorie am nächsten Tag auf ihre Arbeit, aber sie kam nicht sehr weit, da sie alle Augenblicke Gillespie zu Rate ziehen mußte, und der hatte alle Hände voll zu tun. Er konnte ihr nur für kurze Minuten zu Hilfe kommen, und wenn er sich mühsam in dem Wust, den sie gerade vor sich hatte, zurechtgefunden hatte, wurde er schon wieder weggerufen. Die rapide Umstellung in der Bank, die der gestrige Umschwung herbeigeführt hatte, machte sich bemerkbar. Potter bedurfte aller Hilfskräfte, und sein Privatsekretär war meist der erste, der da ins Feuer mußte. Marjorie war schon fast verzweifelt, als er ihr kühl lächelnd eröffnete, daß sie am Nachmittag überhaupt nicht auf ihn zählen dürfe, da er am Abend eine wichtige Sitzung habe, für die er sich sorgfältig vorbereiten müsse. Dazu bedürfe er vollkommener Konzentration. »Während der alte Herr sich bei seinem Lunch und seinem Port, seiner Zigarre und allerhand anderen erfreulichen Zutaten« – ein etwas anzüglicher Blick streifte das junge Mädchen dabei – »für diese Unterhaltung stärkt, kann ich die Materie studieren, damit ich auf jede noch so ausgefallene Frage richtige und schnelle Auskunft geben kann«, beklagte er sich. »Ich werde kaum Zeit haben, ein paar Bissen hinunterzuwürgen. Sie werden es begreiflich finden, daß ich für die Motten in Ihren Akten kaum Zeit habe. Also, packen Sie Ihren Kram schön zusammen und lassen Sie den lieben Gott einen guten Mann sein.« »Aber ich muß weiterkommen«, flehte Marjorie, »bitte, helfen Sie mir doch, da ist die Sache mit der 220
Lachszuchtgesellschaft, ich kann nicht herausfinden, wie das steht… anscheinend hat da eine Sitzung stattgefunden, in der die Fischrechtsfrage erörtert wurde – aber wie das geendet hat, darüber finde ich nichts in dem Protokoll…« »Also geben Sie her – hm, richtig, ich entsinne mich, diese verdammten Narren da oben in Schottland beschwatzten uns, ihnen Geld für eine Zuchtanlage zu geben, die mußte dann in einige Wildbäche verlegt werden, kostete ein Heidengeld, und zum Schluß stellte sich heraus, daß die Fischereirechte erst erworben werden mußten, woran von diesen Superklugen natürlich nicht gedacht worden war. Hm, warten Sie, es wurde beschlossen – ja Teufel, was war es nur? Ich erinnere mich, daß ich mir die Bande anhörte und mehr oder weniger zu ihren Vorschlägen ja und amen sagen mußte, weil mir bei Gott nichts Besseres einfiel. Hm, da fehlt eine Seite aus dem Sitzungsprotokoll, da war doch Shawler dabei – wie ist das möglich? Ah, jetzt fällt mir das ein, ich übergab die Sache an die Fischerei-Produkte-Verwertungsgesellschaft, die wir kurz darauf gründeten, als Einlage, die mit zehntausend Pfund bewertet wurde. Ich erinnere mich noch, wie Steeder, der das Ganze organisierte, sich darüber aufregte. Er behauptete, dieser Posten sei zu dubios, als daß er überhaupt bewertet werden und als Einlage angerechnet werden könne. Es gab einen ziemlichen Krach, aber wir setzten es durch – richtig – so war es! Jombart von der Mercantile half uns wacker mit, der war ja froh, daß wir überhaupt etwas gründeten, wo er wieder seine lausigen Haifischflossen-Aktien loswerden konnte…« »Haifischflossen?« fragte Marjorie hilflos. »Aber ja, irgend jemand hat dem alten Nilpferd eingeredet, daß bei der Haifischverwertung die Flossen ungenügend ausgenützt würden, so brachte er ein paar Trottel dazu, Geld für eine Firma herzugeben, die das Zeug nach einem deutschen Patent zu irgendeinem Spezialartikel verarbeiten sollte. Das Patent soll gar nicht so schlecht gewesen sein – aber irgendwie 221
ging es nicht, und die Sache lief eben, wie solche Sachen nun einmal laufen, die nicht leben und nicht sterben können. Inzwischen muß aber etwas mit dieser anderen Gruppe los gewesen sein, in die unsere famosen Lachsonkel hineingelegt – ah, ich meine, eingebracht wurden…« »Ich finde aber keinen Akt der von Ihnen erwähnten Fischerei-Produkte-Verwertungsgesellschaft.« »Aber ich sagte ja, es kam gar nicht dazu, darüber einen Akt anzulegen, weil die Mercantile das Ganze schlucken mußte, suchen Sie unter Mercantile – haben Sie das?« »Hier, bitte«, sagte Marjorie freudestrahlend und legte ein dickes Bündel vor. »Ah«, sagte Gillespie mit mäßiger Begeisterung, »ich glaube, Sie können das Ganze wegschmeißen. Mir fällt eben ein, daß wir die ganze Geschichte vor etwa drei Monaten als unverwertbar glatt abgeschrieben haben, jedes Wort darüber ist reine Zeitverschwendung.« »Um Gottes willen, Old Potts Anteil von zehntausend Pfund…« »Verloren, mein Kind. Im übrigen, so etwas ist nicht so arg, eine rein theoretische Summe, die nur schätzungsweise ermittelt wurde. Die effektiven Ausgaben waren kaum ein Drittel. Allerdings gingen dabei noch andere Werte mit verloren, bei denen mein armer Chef auch Haare gelassen hat. Bei solchen Sachen wird immer gleich Goodwill mit berechnet, noch bevor die Geschichte zum Laufen kommt, und den Ausgaben für effektive Investitionen zugeschlagen, um ein richtiges Wertbild zu ergeben, das mit den effektiven Baraufwendungen nur in losem Zusammenhang steht. Aber das sind höhere kaufmännische Überlegungen, mit denen Sie kaum vertraut sein können.« »Also, wie soll ich den Akt der Lachsfische abschließen?« fragte Marjorie verzagt. Ihr schwirrte der Kopf.
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»Stopfen Sie ihn in den der Mercantile, wo vermutlich im Bauch der Haifischflossenbande auch das fehlende Schlußblatt des Sitzungsprotokolls vor Anker gegangen sein dürfte, hinter dem Sie her waren«, riet Gillespie. »Und auf das Ganze schreiben Sie ›erledigt‹ und machen ein Kreuz über den Umschlag, so quer, wie wir es über die Nylon-Raffinerie und die Ziegelumtauschgesellschaft gemacht haben, die ja ähnliche Entwicklungen genommen haben…« Marjorie folgte mit einem Seufzer diesem Rate. »So«, sagte Gillespie befriedigt, »damit wäre das geschafft. Was wollen Sie schon wieder, Brown?« »Der Herr Präsident läßt bitten, mit dem Akt der CoventryStahlgesellschaft zu ihm zu kommen«, meldete der eingetretene Messenger. »Ich soll außerdem den Schirm Mr. Fowlers mitnehmen, den er hier stehen ließ. Ah, da ist er.« Der Jüngling packte einen ältlichen Schirm und hielt Gillespie die Tür, der indessen einen Akt hervorgesucht hatte. »Gottlob, ich war auf diese Katastrophe vorbereitet, als Fowler vor einer Stunde anrief und um eine dringende Unterredung mit Old Pott bat«, bemerkte er zu Marjorie. »Sie sehen, wie gut, daß ich Sie dann verließ und mir das Zeug anschaute, sonst säße ich jetzt schön da. Aber nun weiß ich ganz genau, wo der Hase im Pfeffer liegt. In höchstens zehn Minuten habe ich den alten Gauner draußen. Hören Sie, Miß Marjorie, machen Sie kein so unglückliches Gesicht, das bricht mir mein schwaches Herz. Ich hasse im allgemeinen Mittagessen mit Tischgesprächen über das Geschäft, aber, wenn es Sie tröstet, nehmen Sie Ihr Paket zusammen und kommen Sie mit mir essen, wir können dabei das Wichtigste besprechen, so daß Sie nicht den ganzen Nachmittag verlieren.« »Das ist schrecklich nett von Ihnen, Mr. Gillespie«, sagte Marjorie mit dankbarem Blick, »ich werde auf Sie warten und mir indessen notieren, was ich Sie zu fragen habe, um Sie dann 223
ein paar Stunden in Ruhe lassen zu können und doch irgendwie weiterzukommen.« Der geplagte Sekretär lächelte ihr freundlich zu, aber man konnte sehen, daß seine Gedanken schon woanders waren. Mit neuem Mut machte sich das Mädchen über die Papiere her. »Ich habe Ihnen leider keinen Platz in einem Rolls Royce anzubieten«, sagte Gillespie eine halbe Stunde später zu ihr, als die beiden einträchtig die Bank verließen. »Mein bescheidener Morris Minor steht vor dem Flat-House, wo ich ein paar sonnige Räume mit einer riesigen Zimmerlinde und einem großen Goldfischbassin teile. Ich benütze die Underground, um ins Büro zu fahren. Wenn ich eine dienstliche Fahrt unternehmen muß, steht mir der Dienstwagen des Präsidiums zur Verfügung. Da Old Pott nur seinen Privatwagen benützt und die Direktoren meist ihre eigenen Vehikel nehmen, ist der wunderschöne Daimler-Sechssitzer praktisch immer frei. Wenn Sie wollen, können wir damit zum Essen fahren, aber es ist schade um die Zeit. Wir können ebensogut in meinem Klub essen, der gleich um die Ecke ist. Macht es Ihnen etwas, ein paar Schritte zu laufen? Kommen Sie, geben Sie mir Ihr Riesenpaket, ich bin ein alter Sportler und Kummer gewöhnt…« Er nahm dem Mädchen fröhlich das Paket ab und stieß einen komischen Seufzer aus, als er dessen Schwere zu fühlen bekam. »Na, Sie haben sich da ein ganz gewichtiges Programm für unser Mittagessen vorbereitet«, sagte er, »wenn wir das Ganze durchgehen sollen, können wir gleich auch zum Abendessen dortbleiben « »Ich habe nur einige Fragen an Sie, aber ich nahm alles mit, was damit zusammenhängt, damit wir nötigenfalls immer nachsehen können«, erklärte sie. An seiner Seite wand sie sich geschickt durch das Gewühl der Menschen, die in Massen nun aus den finsteren Palästen der City strömten, um einen eiligen 224
Imbiß in einer der zahllosen Gastwirtschaften der Umgebung zu nehmen. Gillespie führte sie durch ein dunkles Haus über eine enge Stiege in ein nett eingerichtetes Kellerlokal hinab. ›The Bankgent’s Club‹ stand auf einem schmalen Messingschild neben der Tür. Es waren ziemlich viele Leute um die kleinen Tische versammelt, die von sauberen Serviererinnen bedient wurden. Gillespie trug den Namen seiner Begleiterin schnell in das Gästebuch ein und lotste sie dann zu einem winzigen Ecktisch. »Hier esse ich immer«, erklärte er. »Weiß Gott, es ist kein feudales Lokal, aber meinen bescheidenen Ansprüchen genügt es.« Die Kellnerin brachte die Suppe. Bedächtig löffelnd, fuhr Gillespie fort: »Ich bin kein starker Esser und werde leicht satt. Ich hoffe, es geht Ihnen ebenso, denn… hier kommt das Menü, sehen Sie selbst.« Und er wies auf die hauchdünnen Roastbeefscheiben, durch die man beinahe den Teller sehen konnte. Sie waren von zwei mageren Kartoffeln, einem Eckchen Yorkshirepudding und zwei wässerigen Kohlsprossen garniert. »Aber es wird rasch serviert, es ist sauber, und man kann einen Tropfen zu trinken bekommen. Was hätten Sie gern?« »Ein Coca-Cola«, bat Marjorie bescheiden. Gillespie gab diesen Wunsch dem Mädchen weiter, das die geleerten Suppenteller mitnahm, nachdem sie den beiden Gästen des Hauptgericht vorgesetzt hatte. Marjorie fühlte sich auf dem bequemen Stammsitz Gillespies, den er ihr liebenswürdig abgetreten hatte, wogegen er sich mit einem schnell herbeigeholten Hocker begnügte, sehr wohl. Das einfache, aber trotzdem wohlschmeckende Essen sagte ihr zu. Sie hatte das Aktenpaket unter ihren Stuhl legen müssen. Auf dem winzigen Tisch, an dem Gillespie sonst in seiner ›Splendid Isolation‹ zu speisen pflegte, war kaum Platz für zwei Gedecke gewesen. Das enge Zusammensein mit dem 225
gepflegten, sympathischen Mann, der so nett zu plaudern wußte und immer so unerwartete Einfälle hatte, brachte sie auch in gute Stimmung. Während er behaglich sein kleines Glas Lager trank, schlürfte sie ihr moussierendes Coca durch ein Nylonröhrchen und fand, daß man nicht unbedingt einen Millionär neben und einen Hummer vor sich haben müsse, um für einen Augenblick wunschlos glücklich zu sein. Dankbar und mit einem kleinen Anflug von Bewunderung sah sie auf ihren Tischnachbarn, der längst auf ein anderes Thema übergegangen war und von seinen Ruderpartien in seinem Einsitzer auf der Themse erzählte. »Das muß schon schön sein, so am Abend über den stillen Fluß zu gleiten, in dem lautlosen Boot«, meinte sie sinnend, »allein mit seinen Träumen und Hoffnungen… wenn die Nebel fallen und die Sterne zu glitzern beginnen…« »Man kann sich da einen ganz schönen Schnupfen holen«, ernüchterte sie der junge Mann und begann in seinem Reispudding zu löffeln. »Ich bekam neulich einen, na, Old Pott schimpfte nicht schlecht, als ich ihn zwei Tage lang mit seinen zweibeinigen Rechenmaschinen alleinließ.« »Er hat es nicht leicht, unter dem Wust der auf ihn einstürmenden Vorschläge, Projekte, Programme und Börsenberichte aus aller Welt klaren Kopf zu behalten und das Richtige zu treffen…« »Er trifft es auch nicht allzu oft«, bemerkte Gillespie, »und leider ist er ein eigensinniger alter Bock. Haben Sie eine Ahnung, wie schwer es im Anfang war, ihn zur Vernunft zu bringen?« »Das sagte Mr. Shawler auch«, bestätigte Marjorie, »er führt das Zerwürfnis mit seinem alten Freund hauptsächlich darauf zurück.« »So, tut er das?« erwiderte Gillespie ärgerlich. »Der alte Schöps soll sich bei der eigenen Nase nehmen, mit seinen rückständigen Ansichten wären wir längst vor die Hunde 226
gegangen – er bestärkte den alten Herrn noch in seinem Widerstand gegen meine Pläne…« »Ihre Pläne?« »Nun ja«, sagte Gillespie zögernd, »ich war es ja hauptsächlich, der etwas frischen Wind in die schlappen Segel zu bringen versuchte. Natürlich gab es Untiefen, wo man gelegentlich festsaß, aber wir kriegten den alten Kasten schon wieder flott, obgleich es manchmal eher bedenklich aussah. Nun, große Konzepte verlangen eben große Mittel, da darf man nicht allzu zimperlich in der Wahl sein.« »Davon bekam ich ja zufälligerweise eine kleine Kostprobe«, sagte Marjorie lächelnd. »Ich habe Sie, aber auch Old Pott restlos bewundern müssen, wie Sie beide die Situation in die Hand bekamen.« »Es war eine ungewöhnlich laute Angelegenheit«, gab Gillespie zu, »aber dabei mehr ein Sturm im Wasserglas. Es gibt leider ernstere Entscheidungen, vor die man manchmal gestellt wird und die man ohne Wimpernzucken treffen muß. Wo gehobelt wird, fliegen Späne – und ich war von frühester Jugend an am Hobel, da lernt man das Geschäft.« »Ich verstehe, daß Sie manchmal eine Entspannung brauchen, die Sie im Frieden der Natur, bei Ihrem Golf, Ihrem Ruderboot suchen, oder im Getümmel der Sportplätze, bei aufregenden Rennen, hitzigen Tennisturnieren, tollen Autorennen…« Gillespie warf einen Blick auf das gerötete Gesichtchen an seiner Seite. Es schien ihm zum erstenmal zum Bewußtsein zu kommen, daß neben ihm eine wunderschöne Vertreterin des anderen Geschlechts saß. »Teufel«, sagte er beinahe überrascht, »Sie scheinen ja gar keine verbohrte Maschinenklapperschlange zu sein, manchmal haben Sie beinahe menschliche Regungen! Dabei sind Sie anderseits so gar nicht die aufgeputzte Großstadtpflanze, die nur für Fetzen und Parfüms, Juwelen und bestenfalls 227
Varietésitze Interesse hat. Woher stammen Sie eigentlich, Sie Wunderkind?« »Ich lebte bis jetzt bei meinem Vater in dem Forst, den er zu betreuen hatte, nachdem ich in unserer kleinen Kreisstadt ein paar Kurse besucht hatte. Meine Mutter starb bei meiner Geburt; als ich größer wurde, führte ich Daddys Haushalt – und so bin ich etwas in meiner zivilisatorischen Ausbildung zurückgeblieben, nicht wahr?« »Da haben Sie wenig versäumt. Richtig, natürlich, jetzt erinnere ich mich, Ihr Vater war ja in diese eklige Geschichte da draußen verwickelt? Mein Gott, wo hatte ich meinen Kopf! Nun, da hatten Sie ja eine schöne Aufregung, nicht?« »Das kann man wohl sagen«, seufzte Marjorie. »Gott sei Dank, mein Vater erholt sich schon ein wenig – er ist alles, was ich habe.« »Ein tapferer Bursche, sich mit einem so gefährlichen Verbrecher einzulassen«, sagte Gillespie anerkennend. »Ist er jetzt dort draußen allein?« »Er ist in der Stadt, im Whipps Cross Hospital«, berichtete Marjorie. »Ein schöner Platz«, lobte Gillespie. »Bitte empfehlen Sie mich unbekannterweise dem alten Herrn, mit meinen besten Wünschen für baldige, volle Genesung. Darf ich ihn einmal besuchen kommen?« »Er würde sich unendlich freuen«, versicherte Marjorie. »Vielleicht kommt auch Old Pott mit«, überlegte der Sekretär. »Er interessiert sich sehr für die Sache. Sie wissen ja, daß ich dabei so einigermaßen zum Mörder wurde? Ich habe das, was man Ihrem Vater antat, mit Zinsen zurückgezahlt – wenn auch vielleicht nicht an die richtige Adresse.« »Sie retteten durch Ihre mutige Tat vor allem das Leben Ihres Chefs«, erinnerte Marjorie, »das ist Ihre schönste Rechtfertigung für eine Tat, die die Welt von einem
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gefährlichen Verbrecher befreite und Ihnen schon deshalb nicht allzuviel Gewissensbisse verursachen sollte.« »Menschenleben ist Menschenleben«, sagte Gillespie mit gefurchter Stirn. »Auch der Verbrecher hat seine Rechte – wissen wir immer, was ihn zu seinen Taten trieb? Es ist leicht, gut und ehrbar zu bleiben, wenn man wohlbehütet aufwächst.« »Das Gute und das Böse liegt in uns selbst«, meinte Marjorie. »Es liegt an uns, es zu entwickeln.« »Wenn es einem gelingt, sich aus Not und Elend, aus dem Sumpf eines bitteren Familienlebens hinaufzuarbeiten, so verdient der doch gewiß mehr Bewunderung als sein Nebenmensch, der im Schutz geordneter Verhältnisse heranwächst?« fragte Gillespie. »Freilich – er wird dabei auch seinen Charakter entwickeln, der ihn über seine weniger gestählten Mitmenschen hinausführen und damit für seine Selbstüberwindung und Festigkeit belohnen wird.« »Und der, der all den Versuchungen im verzweifelten Kampf, in den ihn unverschuldete Geburt und widrige Umstände gestoßen haben, erliegt, verdient der nicht eine andere Beurteilung als sein glücklicherer Zeitgenosse, der nie in eine Lage kam, die höchste Bewährung von ihm verlangte? Wer weiß, wie der sich unter solchen Umständen verhalten hätte? Ich verlange wenigstens Verständnis für die so Entgleisten…« »Da haben Sie vollkommen recht, aber soviel ich weiß, wird das auch allen zuteil, die vor unsere Richter kommen.« »Kann man einer Katze vorwerfen, daß sie eine Maus, einen Vogel fängt, selbst wenn sie gut genährt ist? Aber eine halbverhungerte, ausgestoßene, verwilderte Katze schießt man mitleidslos zusammen, wenn man sie auf dem Felde trifft, wo sie sich eine Beute sucht, um ihren Hunger zu stillen?« »Das Leben ist hart und grausam«, sagte Marjorie bedrückt. Das Beispiel der wildernden Katze hatte sie tief berührt, da ja 229
ihr eigener Vater oft kummervoll von seiner traurigen Pflicht, diese Schädlinge an dem ihm anvertrauten Wild auszurotten, erzählt hatte. »Ja, ja, so ist es«, erwiderte Gillespie und seine schönen Züge zogen sich zusammen. »Und es macht uns zu dem, was wir sind – es ist nicht unser Werk allein – können Sie mich verstehen?« Erstaunt fühlte Marjorie seine Hand die ihre mit schmerzendem Druck umfassen und begegnete seinem leidenschaftlichen Blick. Aber rasch hatte er sich gefaßt. »Habe ich Sie erschreckt, kleines Fräulein?« fragte er sanft. »Manchmal ergreift es mich so sonderbar, wenn ich einen Menschen treffe, für den es sich verlohnen würde, ein schönes, friedliches Leben zu führen, wenn ich denke, daß auch ich vielleicht…« Er schwieg und sah vor sich hin. »Was ist Ihnen, Mr. Gillespie«, fragte Marjorie herzlich, »haben Sie einen stillen Kummer?« Gillespie hob den Blick und sah sie erstaunt an. »Ich?« sagte er mit allen Zeichen aufrichtigen Staunens. »Wie kommen Sie auf diese Idee? Mir geht es ausgezeichnet. Diese platonischen Philosophien entlocken mir manchmal etwas laute Töne, aber meinen gesunden Appetit haben sie noch nie gestört.« Er trank mit Behagen den Rest seines dünnen schwarzen Kaffees. »Hm, Donnerwetter, die Zeit ist schnell vergangen, ich muß trachten, daß ich wieder in die Bank komme.« »Um Himmels willen«, erinnerte sich Marjorie entsetzt, »wir haben noch kein Wort über die Akten gesprochen…« »Machen Sie sich keine Sorgen«, lächelte Gillespie unbeschwert, »ich muß Ihnen verraten, daß Sie sich höchst überflüssige Mühe mit dem alten Griesgram machen. Es wird gar nicht zu dem Bruche kommen! Old Pott braucht den Burschen mehr, als er glaubt. Früher oder später kriegt der seine Akten ja doch wieder zurück, dann kann er weiter auf 230
dem alten Stiefel brüten… aber sagen Sie es ihm nicht weiter, sonst wird er vorzeitig größenwahnsinnig…« »Sie werden die beiden Herren versöhnen?« rief Marjorie strahlend vor Freude, »wie schön von Ihnen!« »Wenn die Zeit dazu gekommen ist. Jetzt müssen wir sie noch ein bißchen pfauchen lassen. Also nichts verraten, kleiner Kamerad, abgemacht?« Glücklich lachend schlug sie in die feste Hand, die sich ihr entgegenstreckte und kräftig zupackte. »Das wird ein schöner Tag werden, wenn die zwei Frieden schließen werden!« prophezeite Marjorie, den Schmerz in der gequetschten Hand verbeißend. »Das wird ein anderes Essen geben als heute!« lachte Gillespie übermütig und schulterte die Akten. »Ich finde, das heutige war ganz reizend«, erklärte das junge Mädchen. »Ich danke Ihnen sehr und freue mich schon, Sie einmal zum Abendessen bei uns behalten zu dürfen…«
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18. KAPITEL TEE MIT SHAWLER Marjorie sah bald ein, daß jeder Versuch sinnlos war, ohne Gillespies Hilfe in den Wirrwarr ihrer Akten Ordnung zu bringen. Seufzend packte sie alles zusammen und begab sich in Shawlers Kanzlei. Sie berichtete dort von den geringen Fortschritten und Gillespies Überarbeitung, die ihr die nötige Unterstützung entzog. Sie ließ durchblicken, daß man dort der Angelegenheit nicht allzuviel Dringlichkeit beimesse, ohne dabei etwas von den Vermittlungsabsichten ihres neuen Freundes zu verraten. »Ach«, sagte der Anwalt, »Sie mögen recht haben – ich glaube, Potter wird ohnehin in ein paar Tagen jemand mit einem Ölzweig schicken. Ich bin auch auf das gefaßt. Der Kollege, den er als meinen Nachfolger ausersehen hat, rief mich heute wegen einer eben in Verhandlung begriffenen Causa an und ersuchte mich, diese selbst zu erledigen. ›Es hat ja keinen Zweck, daß ich mich da einschalte‹, meinte er, ›bis es zur Hauptverhandlung kommt, sitzen Sie ja wieder bei Potter im Sattel. Ich nehme die ganze Sache nicht weiter tragisch.‹ Nun, ich weiß nicht recht, ob ich noch einmal mit diesem Halbwilden…« »Aber natürlich, Mr. Shawler, müssen Sie das tun«, rief Marjorie eifrig, »Sie können den lieben, alten Herrn doch nicht wegen eines unbedachten Wortes im Stiche lassen – er hat böse Zeiten hinter sich, da darf man nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Sie gehören doch zusammen, so ein wundervolles Team – wie können Sie auch nur einen Augenblick daran denken, eine ausgestreckte Freundeshand auszuschlagen?« 232
Sie hatte sich ganz warmgeredet, und Shawler blickte mit Entzücken in das bildhübsche Gesichtchen vor ihm. »Sie meinen es sicher gut mit uns zwei alten Knackern«, sagte er mit freundlichem Lächeln, »aber lassen Sie sich um Gottes willen nichts von solchen Gedanken drüben anmerken. Besonders dieser verteufelte Erzhalunke, dieser Gillespie, dieser freche Windhund, darf nichts von so etwas ahnen, sonst setzt er Himmel und Hölle in Bewegung, um das zu hintertreiben. Ich denke sogar daran, meine Wiederaufnahme der Potter-Vertretung von seinem Ausscheiden aus der Bank abhängig zu machen.« Kummervoll schüttelte Marjorie den Kopf. Wie wenig die Menschen sich doch verstehen, wie wenig sie von einander wissen, dachte sie betrübt. »Ja, mein Kind, wenigstens der Form wegen machen Sie sich unentwegt an Ihre Arbeit, auch wenn Sie umsonst sein sollte. Zumindest fliegt ein bißchen Staub aus den alten Folianten.« Die Anmeldung eines Klienten machte dem Gespräch ein Ende, und mit einem leisen Seufzer ging Marjorie wieder an die Akten, aber ihr Eifer war dahin. Alsbald begannen ihre Gedanken zu wandern. Sie erlebte im Geiste noch einmal das Zusammensein mit Gillespie und nahm sich vor, ausführlich ihrem Vater davon zu erzählen. Bei dieser Gelegenheit erinnerte sie sich ihrer Absicht, die van-Raan-Akten einmal durchzusehen. Ihre Kollegin schrieb eifrig an einigen Briefen, die sie vor kurzem aufgenommen hatte, und schenkte ihr keine Aufmerksamkeit. Suchend schlenderte sie zum Aktenschrank und fand bald einige Faszikel, auf denen der Name des Ermordeten stand. Sie nahm aufs Geratewohl das erste zur Hand und brachte es auf ihren Tisch. Hui, da gab es allerhand zu sehen: Prozesse mit einem Herzog, der eine Faktura bemängelte, mit einem Lord, der eine Bestellung bestritt, mit einem Lieferanten, der Zahlung begehrte, die van Raan wegen 233
Minderwertigkeit der Lieferung verweigerte, und ähnliches – und immer handelte es sich um bedeutende Summen. Entsprechend hoch waren auch die seitlich angemerkten Anwaltshonorare. Das Mädchen konstatierte aus den Hinweisen, die beigefügt waren, daß diese seit etwa vier Jahren nicht mehr bezahlt worden waren. Ein ganz flüchtiger Überschlag ergab eine Summe von etwa dreitausend Pfund. Vorsichtig stellte Marjorie den Faszikel zurück, als sie die Stimme des Anwalts in ihrem Rücken vernahm. Erst jetzt wurde ihr bewußt, daß das Schreibmaschinengeklapper aufgehört hatte. »Miß Webb«, hörte sie den Anwalt sagen, »wenn Sie im Vorbeigehen bei Stetchers sagen wollten, mir Tee und Sandwiches zu schicken… oh, Miß Gayfield? Noch hier? Nett von Ihnen – auch für Miß Gayfield Tee und vielleicht ein paar Kuchen? Wir können nun nach Büroschluß noch ein bißchen den Potter-Akten auf den Leib rücken, wenn Sie es nicht eilig haben?« Marjorie sah, daß ihre Kollegin sich zum Weggehen fertiggemacht hatte und nun mit kurzem Kopfnicken davonging. »Ich stehe zu Ihrer Verfügung, Mr. Shawler«, sagte sie, »ich kann ganz gut eine Stunde länger bleiben, wenn Ihnen damit gedient ist.« »Das ist mir sogar sehr recht. Dann kann sich Gillespie morgen überzeugen, wie ernst wir es nehmen, seinen Plunder loszuwerden – und das wird Potter auch nicht lange verborgen bleiben.« Er zog sich in sein Zimmer zurück, und als nach einigen Minuten ein Kellner aus dem kleinen Teeraum im Erdgeschoß mit den bestellten kulinarischen Genüssen erschien, rief er sie in das Chefzimmer. Sie machte sich sofort daran, die paar Schalen und Tellerchen nett auf dem Konferenztisch aufzubauen, appetitlich 234
legte sie die lieblos aufeinandergetürmten Sandwiches vor, schenkte mit hausfraulicher Zartheit den dünnen Tee ein und fragte nach Shawlers Wünschen betreffs Milch, Zucker und Zitrone. »Ein Tröpfchen Milch«, bat der Anwalt, »ich finde, ohne Milch hat der Tee so wenig Geschmack.« Marjorie, die sich auch bedient hatte, fand, daß die weißliche Flüssigkeit, der er jenen Namen gegeben hatte, an dem hoffnungslosen Gebräu wenig änderte, trank aber das Ganze ohne Wimpernzucken geduldig hinunter. Sie begnügte sich, die trockenen Bisquits zu knabbern, und harrte in Demut des Tischgespräches, das der hohe, Sandwiches schlingende Chef ihr gönnen würde. »Ah«, sagte dieser, nachdem er sich ein wenig gestärkt zu haben schien, »das war eine ausgezeichnete Idee, nichts über eine Tasse dieses aromatischen Getränks. Ich glaube, die Überlegenheit, die unser Volk anderen gegenüber an den Tag legt, kommt daher, daß wir so viel davon konsumieren. Es befruchtet und regt das Hirn an wie nichts anderes in der Welt.« Marjorie unterdrückte eine Bemerkung über das zu erwartende Resultat solcher Befruchtung und Anregung und sah den Sprecher erwartungsvoll an. »Hm«, fuhr der Anwalt nach einer wirkungsvollen Pause fort, »dieser Gillespie – ich würde ihm am liebsten die Ohren ausreißen. Solche Lausbuben sind imstande, gräßliche Sachen anzurichten – ich würde ihnen nicht so weit über den Weg trauen.« Und seine Finger deuteten eine wirklich recht unwesentliche Distanz an. Marjorie schwieg beharrlich. »Sie hatten mit ihm nun einige Zeit zu tun, wie ich annehme. Ist Ihnen nichts an ihm aufgefallen?« »Mr. Gillespie macht den Eindruck eines sehr fähigen, aber stark überlasteten Menschen«, sagte Marjorie vorsichtig.
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»Sie hatten keine Gelegenheit, ihm, wie soll ich sagen, rein menschlich, sozusagen außerberuflich, nahe zu kommen?« Marjorie sah den Anwalt an. Hatte man ihm etwas erzählt? Nicht unmöglich, daß er in der Bank erfahren hatte, mit wem sie zum Essen gegangen war. Im übrigen war er ihr Chef, ihr Brotgeber, sie war ihm gegenüber zur Aufrichtigkeit über ihren Verkehr mit seinen Klienten verpflichtet. »Da Mr. Gillespie sich in der Bank immer nur auf Sekunden mit meinen Angelegenheiten befassen konnte, hatte er die Freundlichkeit, mir zu erlauben, meine Akten ihm zum Lunch mitzubringen«, sagte sie diplomatisch, »wo wir darüber sprechen wollten.« Der Anwalt schien nicht mehr zuzuhören. Nach einer Weile, in der man Marjories Zähne an den Keksen knabbern hören konnte, hob Shawler plötzlich den Kopf: »Mir geht die Sache van Raan nicht aus dem Sinn«, sagte er mit fester Stimme. Oh, dachte Marjorie, jetzt kommt es. Er ist es, der uns belauscht hat. Er hatte unsere Adresse von Wricks. Aufgepaßt, jetzt geht es los! »Was denken Sie davon?« kam der erste Schuß. »Gar nichts«, sagte das Mädchen verwirrt, »was sollte ich denken?« »Nun, Ihr Vater bekam da einen ganz gehörigen Denkzettel, der seiner Tochter gewiß auch Kopfzerbrechen gemacht hat.« »Es geht ihm gottlob besser…« »Ich habe mit Vergnügen davon gehört und habe die Absicht, ihm demnächst meinen Besuch zu machen, um diesen stillen Helden der Pflicht persönlich kennenzulernen – und den Vater eines so entzückenden jungen Mädchens.« Nach dieser etwas unmotivierten Abschweifung entstand wieder eine kleine Pause, in der Marjorie in ihrer Verlegenheit das Teegeschirr auf das Tablett abzuräumen begann.
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»Nun, Sie werden ja doch über das Ereignis gesprochen haben«, drängte der Anwalt. »Das Gegenteil wäre ja unnatürlich. Was hat Ihr Vater für eine Ansicht? Er hat ja zuweilen den Besuch eines Herrn von unserer Polizei, der die Sache untersucht.« Teufel, dachte Marjorie, der geht ja die Sache gut an. Woher er das erfahren haben wird? Sie hatte das Teegeschirr mit einer Symmetrie zusammengestellt, die eine weitere Beschäftigung mit diesem Gegenstand nicht mehr gerechtfertigt hätte, nicht einmal in den kurzsichtigen Augen des Anwalts. »Wollen Sie mir nicht sagen, was Sie wissen möchten, Mr. Shawler?« fragte sie einfach. »Ich möchte gerne wissen, was andere Leute über den Fall denken, der mir keine Ruhe läßt«, sagte der Anwalt erregt. »Ich hatte eigentlich sofort das Gefühl, daß Sie zum Spionieren herkamen, aber als ich in Ihr süßes, liebes Gesichtchen mit den reinen, hellen Augen sah – ich weiß, sie sind im Grunde dunkel, doch es liegt so viel Glanz und Licht darin, daß es einem das Herz warm macht, kleine Marjorie –, da wollte ich es nicht wahrhaben. Aber nun, da ich sah, daß Sie plötzlich van Raans Akten in Ihren kleinen Händen hielten, da dachte ich mir doch, daß Sie diese Angelegenheit beschäftigen muß… es ist ja auch ganz natürlich. Sie wollen sich an denen rächen, die Ihren armen Vater zum Invaliden gemacht haben…« »Was sagen Sie da, Mr. Shawler«, rief Marjorie erschrocken, »Vater wird nicht mehr ganz gesund werden?« »Mein Kind, ich dachte, Sie wußten es… verzeihen Sie, wenn ich Sie erschreckt habe… man sagte mir im Hospital, er werde genesen, aber natürlich, seinen Beruf…« »Gott«, rief das Kind verzweifelt, »das ist doch unmöglich, ohne seinen Wald… man darf ihm das jetzt gar nicht sagen – und Robbie, was wird er machen?«
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»Hören Sie, Marjorie«, nahm der Anwalt mit seiner festen, klaren Stimme das Wort, die so oft dem Staatsanwalt ein Opfer entrissen hatte, »hören Sie – wir wollen den Lumpen zur Strecke bringen. Ich glaube nicht, daß Asanow und Wricks die Geschichte ausgeheckt haben – was meinen Ihr Vater und der Inspektor Burnes?« »Die Polizei hält den Fall eigentlich für erledigt, soviel Mr. Burnes uns sagen konnte – und ich glaube, er teilt insgeheim diese Ansicht, obwohl er, vielleicht aus Höflichkeit, meinem Vater nicht widerspricht, wenn der sich in ähnlichen Vermutungen ergeht wie Sie.« »Ihr Vater hält auch mich für verdächtig?« rief Mr. Shawler. »Geben Sie es ruhig zu, warum sollte er nicht? Darum schickte er Sie zu mir, das ist doch klar?« Er war es also – dachte Marjorie. »Jedermann weiß es, und so wird er es auch erfahren haben, daß ich mit dem Juwelier nicht allzugut stand, daß ich ihn wegen seiner in letzter Zeit höchst unsauberen Geschäfte verachtete – und daß er mich haßte, weil ich von ihnen wußte. Aber das ist doch kein Grund zum Mord! Aber natürlich, jedermann weiß auch, daß ich seinen Sohn, dessen Schandleben den Vater zu diesen Dingen trieb, noch weniger ausstehen konnte und daß ich mir kein Gewissen daraus machen würde, ihm einen Reichtum zu nehmen, mit dem er nichts Gutes beginnen würde. Und wenn er gar daraufkommt…« Finster starrte der Mann vor sich hin. »Was wollten Sie sagen, Mr. Shawler?« fragte Marjorie mit sanfter Stimme. »Ich?« rief der Anwalt, »nichts – ich habe schon zuviel gesagt. Gott weiß, wie Sie das auslegen werden, wenn Sie mit Ihrem Vater und dem hitzigen jungen Schnüffler reden…« Er war doch nicht draußen, durchfuhr es Marjorie, sonst würde er Burnes für seinen Verdacht gegen den jungen van Raan segnen… 238
Mit einem Tigersprung war der kraftvolle Mann auf sie losgesprungen. Mit leidenschaftlicher Gebärde nahm er ihren Kopf zwischen seine Hände und richtete ihr Antlitz auf das seine. »Wer sind Sie, kleine Teufelin – süßer Engel, daß ich nicht schweigen kann? Sie müssen mir helfen, aus diesem Verdacht zu kommen! Ich glaube, ich weiß, wer das alles auf dem Gewissen hat. In der Bank liegt der Schlüssel zu diesem Rätsel! – Woher hat Potter mit einem Male die Mittel, seine Widersacher hinauszuwerfen? Dieser ölige Mensch, dieser Gillespie hat da seine Finger im Spiel, oder ich will verflucht sein…« »Warum sagen Sie das nicht der Polizei?« »Die Idioten würden mich auslachen«, knirschte Shawler. Er hatte das Mädchen losgelassen und lief, die Hände in den Taschen, auf und nieder. »Ich würde mir nur eine Verleumdungsklage auf den Buckel laden – und die Kerle warnen. Warum nehmen sie mir die Akten fort? Da muß ein Fingerzeig darin sein, den sie mir entreißen wollten –« »Aber die Akten sind ja noch da – wir selbst haben einen Teil hingetragen…« »Sie haben recht – ich bin etwas nervös, in letzter Zeit kam soviel zusammen… aber ich habe das bestimmte Gefühl – Marjorie, Sie müssen mir helfen – und wenn es soweit ist, dann muß ich mit Ihnen reden.« Er ergriff sie bei den Armen und starrte ihr mit flackernden Augen ins Gesicht. »Wenn ich in Ihre Augen sehe, ist mir, als sähe ich hohe Bäume, wenn ich ihre Stimme höre, ist das Rauschen des Waldes darin – Marjorie…« Sanft machte sich das Mädchen los. »Ich werde jetzt gehen müssen, Mr. Shawler«, sagte sie, »darf ich das Teegeschirr mitnehmen?«
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19. KAPITEL NEUE TRAGÖDIE Der Krach, den Burnes machte, als Marjorie im häuslichen Kreis ihre Erlebnisse erzählte, war nicht schlecht. Selbst Robbie, der schon an die Tonart des ungestümen jungen Herrn gewöhnt war, hob mißbilligend den Kopf und setzte sich kampfbereit neben Marjorie. »Also, nun hört aber der verdammte Unsinn auf«, schrie er erbost. »Lauter Verbrecher oder Narren! Alle können sie diesen verflixten Reisenden in Gold und Edelsteinen nicht umgebracht haben, obgleich sie alle tatsächlich die besten und vielversprechendsten Anlagen dazu mitbringen – aber soweit sie nicht an den Galgen gehören, gehören sie zumindest in ein Narrenhaus. Und dort lassen Sie Ihre Tochter herumzigeunern, jeden Tag mit einem anderen dinieren, lunchen, soupieren und Gott weiß was noch?« »Sie maßen sich ziemlich nahverwandtschaftliche Kommandotöne an, mein lieber Burnes«, verwies ihn Gayfield. »Ich glaube, Sie können mir die Angelegenheit ruhig überlassen. Mein Mädel wird sich schon zu helfen wissen, wenn ihr jemand zu nahe kommt.« Burnes schwieg. Er war übler Laune. Erst nach der letzten Zusammenkunft, die ja auch nicht allzu harmonisch verlaufen war, war er sich dessen bewußt geworden, daß ihn niemand nach seinen Entdeckungen gefragt hatte. Wenn er auch froh war, daß ihn dies des Geständnisses, keine gemacht zu haben, enthoben hatte, so war er doch nachträglich über die Mißachtung empört, die aus dieser Gleichgültigkeit gesprochen hatte. Er erinnerte sich mit düsterer Miene der ergebnislosen Aussprache mit Walter, von dem er doch eine der gewohnten 240
Anregungen erwartet hatte. Statt dessen hatte er nur ein leises Lächeln geerntet, mit dem er wenig anzufangen wußte, und den Rat, Augen und Ohren offenzuhalten. Und heute… »Na, gottlob«, sagte er nach einer Weile, »die Geschichte geht zu Ende.« »Was haben Sie Neues zu erzählen?« fragte Gayfield mit mäßiger Teilnahme. »Ich dürfte heute unseren lieben Wricks erwischen«, sagte Burnes beiläufig, »und auch seine schöne Miß Hobbs.« »Aber das ist doch blendend«, rief Marjorie freudig, »da muß man Ihnen von Herzen gratulieren – ich wußte ja, Sie würden es schaffen…« »Nun, Ihr ehrendes Vertrauen in meine bescheidenen Fähigkeiten hielt Sie immerhin nicht ab, Ihre eigenen Untersuchungen anzustellen«, bedankte sich Burnes höflich, aber kühl. »Hoffentlich erspart es Ihnen weitere Bemühungen in dieser Sache.« »Wollen Sie uns nicht Näheres verraten, Robert?« fragte Gayfield liebenswürdig. »Es ist noch eine gute Stunde bis zum Dinner, da könnten wir eine kleine Unterhaltung ganz gut brauchen.« »Ich fürchte, Sie mit der Erzählung trockener Tatsachen bei der Entwicklung Ihrer phantastischen Luftschlösser zu stören. Es war normale Routinearbeit, wie wir es nennen, was schließlich zum Erfolg führte. In ganz England hielten unsere Leute die Augen offen, um sofort zu melden, wo neue Personen zuzogen oder auftauchten, die den Gesuchten ähnlich sein könnten. Heute erhielt ich endlich Nachricht, daß sich ein Pärchen, von dem man nicht recht weiß, wo es herkommt, seit einiger Zeit in einer etwas abgelegenen Villa in Hampstead zeigt. Die Beschreibung paßt auf Wricks und Hobbs wie angegossen.« »Warum hat man sie nicht gleich hoppgenommen?« fragte Gayfield mit Unschuldsmiene. 241
»Die Beschreibung stammt von einem Konfidenten – das heißt, man glaubt, es ist ein solcher. Wir erhielten einen anonymen Brief, in dem wir darauf aufmerksam gemacht wurden.« »Eine wirklich ruhmreiche Leistung der Polizei also«, sagte Gayfield, ohne eine Miene zu verziehen. »Warum sitzen Sie noch hier?« »Ich soll um zehn Uhr kommen, steht ausdrücklich in dem Schreiben. Dann herrscht dort Ruhe. Käme ich früher, würde man dort noch wach sein und mein Kommen bemerken – und allenfalls flüchten oder Widerstand leisten.« »Ich beglückwünsche Sie zu Ihrem neuen Kommandanten, Burnes«, sagte Gayfield, »ich ahnte nicht, daß unsere Beamten Befehle von anonymer Seite entgegennehmen.« »Haben Sie noch irgendwelche Bemerkungen?«, fragte Burnes gereizt. »Darf ich Ihnen von meiner kleinen Tour berichten?« bat Gayfield höflich. »Daddy, du warst aus«, rief Marjorie erschrocken. »Ach, ich hatte das Gefühl, ich müßte unseren verschiedenen Gönnern meinen Besuch machen«, meinte Gayfield unschuldig. »So bestellte ich einen Wagen und fuhr in die Bank. Ein reizendes Häuschen. Ich begrüßte Potter und gab der Hoffnung Ausdruck, daß die Juwelen bald gefunden würden. ›Das würde die Lage eines Ihrer sehr geschätzten Kommittenten sehr verbessern‹, sagte ich dabei. ›Ich fürchte nur, daß dabei noch anderes herauskommen kann. Es scheint, Wricks arbeitete nicht nur mit Asanow, wir haben in den allerletzten Tagen – um nicht zu sagen Stunden, ziemlich schwerwiegende Tatsachen erfahren…‹« »Woher wußten Sie schon damals…« rief Burnes überrascht. »Ich wußte natürlich gar nichts«, erwiderte Gayfield, »aber das konnte Potter ebensowenig ahnen wie Mister Gillespie, der 242
mir ein paar Minuten später von seinem reizenden Mittagessen mit dir erzählte, liebe Marjie, und mir die schmeichelhaftesten Komplimente über dein vorteilhaftes Aussehen machte. Ich setzte ihm dieselben Weisheiten vor, die ihn allerdings sowenig zu beeindrucken schienen wie vorher seinen Chef. Ich fuhr dann zu Jenkins und erging mich ebenfalls in mystischen Prophezeiungen, die ich eine halbe Stunde später bei deinem werten Herrn und Meister Shawler wiederholte. Ich bat letzteren, dir von meiner Dankvisite nichts zu erzählen, da ich fürchtete, du würdest sofort herausrasen, um dich zu vergewissern, daß ich noch ganz sei – oder zumindest so nervös sein, daß deine Arbeit darunter leiden könnte. Im übrigen muß ich sagen, daß diese beiden letztgenannten äußerst nervös wurden und mich nach allen Regeln der Kunst auszuquetschen versuchten.« »Und wie war die Reaktion des jungen van Raan?« fragte Burnes gespannt. »Den besuchte ich gar nicht, da ich mich ja bei ihm schon in Ihrer Gegenwart bedankt habe«, antwortete Gayfield. »Außerdem wußte ich den bei Ihnen gut aufgehoben – und, um die Wahrheit zu sagen, ich glaube, daß bei ihm am wenigsten zu holen ist. Aber das ist Ansichtssache.« »Ich verstehe überhaupt nicht, warum Sie da herumlaufen und alle Leute verrückt zu machen versuchen. Wenn der Verbrecher darunter wäre, würde er dadurch doch nur gewarnt werden«, murrte Burnes. »Das ist er ohnedies, seit er unseren ersten Kriegsrat belauschte. Aber nun ist er vielleicht doch ein bißchen nervös geworden – wann übrigens bekamen Sie Ihren famosen Brief?« »Um halb sechs Uhr, gerade als ich mein Amt verlassen wollte«, sagte Burnes. »Hm, das sagt leider wenig. Ich hatte meine Tour um vier beendet, da kann es also jeder von ihnen gewesen sein«, murmelte Gayfield. 243
»Um vier?« fragte Burnes. »Ah, das war also, bevor ich Gillespie sprach.« »Mir scheint, Gillespie hatte heute viele Besuche«, meinte Gayfield. »Ich war dem jungen van Raan gefolgt«, berichtete Burnes. »Er verschwand etwa um halb fünf in der Bank, nachdem er sich in einer Bar anscheinend Mut angetrunken hatte. Eiligst sauste ich hinein, während der zurückgekehrte Jonathan abermals in einer Bar untertauchte. Ich verlangte Gillespie, der mich beinahe sofort empfing. Ich fragte ihn geradeheraus, ob er mit Jonathan gesprochen habe. Er gab es ohne weiteres zu und berichtete, der junge Mann habe, gestützt auf die seinerzeitige Zusage Mr. Potters, ein Darlehen verlangt, und zwar gleich tausend Pfund, die er dringend brauchte. Gottlob vertröstete ihn Gillespie und gab ihm keinen Penny.« »Nun, was hätte es Sie schon gestört, wenn er dem armen Teufel unter die Arme gegriffen hätte?« sagte Gayfield vorwurfsvoll. »Damit er sofort flüchtet? Ihm ist der Boden zu heiß geworden, wer weiß, was ihm seine Komplicen zu raten aufgeben, denen ihr Untergrunddasein sicher keine Freude macht. Andererseits können sich die ja nicht rühren, weil er vermutlich die Juwelen hat – und nur er als Juwelier sie verwerten kann.« »Wozu braucht er dann das Geld?« fragte Gayfield hartnäckig. »Er wagt es eben nicht, sie im Augenblick zu verwerten, und im Geschäft kann er nichts umarbeiten, weil das dort seinen Leuten, vor allem Jenkins, sofort auffallen würde. Nun, Gillespie versprach mir, nichts herzugeben – so wird Jonathan schön hier sitzenbleiben müssen, bis ich ihm mein Händchen auf die Schulter legen kann.« Gayfield machte ein besorgtes Gesicht. »Sie haben Gillespie von Ihrem Verdacht erzählt?« 244
»Gillespie und Potter, der dazukam, als wir die Sache besprachen. Auch sagte er mir zu, festzubleiben, wenn der junge Mann ihn angehen sollte. Kaum, daß ich dann in mein Büro kam, fand ich den Brief.« »Zeigen Sie her«, befahl Gayfield. Widerspruchslos gehorchte Burnes. Gayfield las das Schreiben, beroch es, hielt es gegen das Licht und besah es mit der Lupe. Dann reichte er es Burnes zurück: »Das verrät nichts«, sagte er mit einem Seufzer. »Burnes, seien Sie vorsichtig.« »Um Gottes willen, Vater, er ist in Gefahr?« rief Marjorie besorgt. »Er nicht«, sagte Gayfield, »er ist dem Schurken viel zu wertvoll.« Man begab sich nach diesem dunkelsinnigen Ausspruch zum Dinner und versuchte, von anderem zu sprechen, aber es kam keine rechte Stimmung auf. Bald danach empfahl sich Burnes. Diesmal begleitete Marjorie ihren Helden zum Auto, und ihr inniger Händedruck sagte mehr als alle guten Wünsche, die sie dem jungen Mann mit auf den Weg gab. Burnes warf sich in seinen Mercedes und sauste nach Hampstead. Er kannte die Gegend nicht allzu gut und erkundigte sich unterwegs in einer Polizeistation nach der Lage des Hauses, das in dem anonymen Schreiben angegeben war. Er hatte einen Polizeiwagen mit drei Mann für halb zehn zu dieser Station bestellt und wartete geduldig deren Erscheinen ab. Auf die Minute trafen sie ein. Er stieg zu ihnen ein und erklärte ihnen das Vorhaben. Seinen Wagen, an den sich Wricks erinnern mochte, ließ er vor der Polizeistation stehen. Der Scotland-Yard-Dienstwagen unterschied sich in nichts von einem beliebigen Personenwagen, und auch die Insassen waren in unauffälliges Zivil gekleidet. Man näherte sich dem bezeichneten Platz, umfuhr ihn, und etwa zweihundert Schritte weiter ließ Burnes halten. Einer der 245
Beamten blieb im Wagen, die beiden anderen postierte Burnes etwa fünfzig Schritte von dem Hause entfernt auf den beiden Straßen, an denen die Vorder- beziehungsweise Rückseite des dazugehörigen Grundstückes lag, und schärfte ihnen ein, niemanden passieren zu lassen, der irgendwie dem Signalement von Wricks oder Hobbs entsprach. Es war indessen zehn Uhr geworden. Vorsichtig pirschte sich Burnes an das stille, dunkle Gebäude heran. Es kam ihm vor, als schleiche vor ihm eine Gestalt durch den finsteren Garten. Vorsichtig folgte er ihr. Als er vor dem Gebäude ankam, war aber nichts mehr von ihr zu sehen. Einen Augenblick blieb er stehen und sah sich um. Er hatte vor sich ein teilweise zerstörtes Haus, von dem eine Bombe nur die Hälfte stehengelassen hatte. Man hatte es notdürftig instand gesetzt, aber teilweise waren die Fenster noch mit Brettern verschlagen. Nur wenige kleinere Fenster enthielten Glastafeln. Es sah aus wie eine der vielen Notwohnungen, die man rasch zusammengekleistert hatte und die von den Ausgebombten wieder verlassen worden war, als man ihnen anderswo eine bessere Unterkunft verschafft hatte. Also, da sollten Wricks und seine schöne Freundin wohnen? Hm, es konnte wohl möglich sein… tagsüber trieben sie sich vermutlich in allerhand Verkleidung herum, und nachts schlichen sie sich hier herein, wo sie sich wahrscheinlich häuslich eingerichtet hatten. Kein angenehmes Leben, aber für fünfzigtausend Pfund, auch wenn man diese mit ein paar Genossen teilen mußte, ließ sich so etwas schon eine Zeitlang aushalten. Wer sie wohl verraten hatte? Burnes schlich an der Wand entlang um das Haus, um eine Möglichkeit zu heimlichem Eindringen zu suchen. Sollte er keine finden, so wollte er die beiden Beamten holen und die Festung im Sturm nehmen – nichts konnte einfacher… Zwei, drei Schüsse bellten auf. Sie kamen aus dem Inneren des Hauses. Mit einem Satz war Burnes an der Tür, während 246
draußen auf der Straße die Alarmpfeifen seiner Leute gellten und ihre Eilschritte auf dem Pflaster dröhnten. Noch einmal warf sich Burnes mit aller Kraft gegen die Tür, aber sie gab nicht nach. Da waren seine Leute heran. Dem Gewicht der drei starken Männer war das morsche Holz nicht gewachsen, die Tür ging in Trümmer, und die drei Männer taumelten ins Haus. »Licht hierher!« schrie Burnes und der Strahl der Blendlaternen suchte eine Ecke, aus der ein furchtbares Stöhnen hörbar war. Ein grauenhafter Anblick bot sich den Beamten: Ein junges, schönes Weib lag blutüberströmt auf dem Fußboden, ein Mann, mit dem Gesicht nach unten, reglos zu ihren Füßen. Und da – ja, was war das, was da im bleichen, gespensterhaften Licht der drei Lampen auf sie zukam? Schwankend wie ein Betrunkener, erschien Jonathan van Raan. Blut troff von seinen Händen und der Ausdruck seiner Augen war fürchterlich: »Maidie, Maidie«, lallte er, dann brach er vor der Leiche zusammen. Konvulsivisches Schluchzen erschütterte seinen Körper… »Lassen Sie das Theater – Ihre Reue kommt zu spät«, sagte Burnes. »Jonathan van Raan, ich verhafte Sie wegen Mordes an Joseph Wricks und Maida Hobbs sowie wegen Beihilfe zum Mord an Ihrem Vater Jan van Raan. Ich mache Sie aufmerksam, daß jede Ihrer Äußerungen zu Protokoll genommen und gegen Sie bei Gericht verwendet werden kann.« Vollkommen gebrochen erhob sich der junge Mann. Einen Blick warf er auf das noch im Tode schöne, wenn auch furchtbar verzerrte Gesicht des Mädchens, das er so geliebt haben mußte. Dann ließ er sich widerstandslos hinausführen. Indessen hatten sich auf die Pfiffe der Beamten mehrere uniformierte Polizisten eingefunden, und auch der Wagen war herangekommen. Einer der Uniformierten nahm darin an Seite van Raans Platz. Die anderen teilte Burnes als Wache beim Haus ein, und einen sandte er zum nächsten Telephon, Arzt 247
und Mordkommission herbeizurufen. Einige verschreckte Nachbarn wurden rasch beruhigt und nach Hause geschickt. Die Mordkommission hatte ihre Arbeit schnell beendet: »Sofort tödlich wirkende Schüsse, aus nächster Nähe abgegeben«, konstatierte der Polizeiarzt. »Dum-Dum-Wirkung, vermutlich durch Abschneiden oder Schlitzen der Projektilspitzen, daher die fürchterlichen Verletzungen. Das Mädchen durch das Herz geschossen, der Mann hat zwei Schüsse bekommen, einen durch die Brust und einen in den Kopf.« »Die Schüsse wurden aus der hier auf dem Boden liegenden automatischen Pistole abgegeben«, berichtete der Waffensachverständige. »Drei Patronen aus dem Magazin sind ausgeschossen. Die Spitzen der übrigen sind angefeilt, um die vom Arzt konstatierte Dum-Dum-Wirkung zu erzielen. Auf der Waffe sind keine Fingerabdrücke erkennbar, sie wurde entweder abgewischt oder mit Handschuhen betätigt. Die Fabrikationsnummer ist weggefeilt.« »Bilderaufnahmen beendet«, meldete der Photograph. Burnes ging durch das Haus. Alle Fenster und Türen waren verschlossen. Ein Schlüsselbund, der auch die Schlüssel zum Haupttor und zu einer kleinen, ebenfalls wohlverschlossenen Hintertür trug, fand sich in des Toten Hosentasche. Trotz der furchtbaren Verstümmelungen, die der Kopfschuß verursacht hatte, konnte Burnes sofort Wricks’ unverkennbare Züge agnoszieren. Ebenso hatte er auf den ersten Blick die ihm nur in Beschreibungen geschilderte Maida Hobbs erkannt. So blieb nicht mehr viel zu tun übrig. Alles entfernte sich bis auf die aufgestellte Wache. Burnes führte seinen Gefangenen im Triumph nach Scotland Yard. Dort gab er kurz seine Beschuldigungen zu Protokoll. Die völlige Apathie, in die van Raan versunken war, machte eine sofortige Einvernahme unmöglich. Es war fast ein Uhr nachts geworden, als Burnes todmüde ins Bett fiel. 248
20. KAPITEL GAYFIELD EMPFÄNGT BESUCHE »Nun, Mr. van Raan, erzählen Sie uns die ganze Geschichte«, sagte Burnes am nächsten Tag zu Jonathan van Raan. Er hatte sich den Mann vorführen lassen und sah nicht ohne Teilnahme die tiefen Schatten unter den Augen des jungen Menschen. Erwartungsvoll spitzte der Protokollführer die Ohren. In der Morgenzeitung war schon ein kurzer, aber aufregender Artikel über die schaurigen Ereignisse der vergangenen Nacht gestanden. Jonathan sah den Inspektor fragend an: »Wo soll ich anfangen?« »Vielleicht schildern Sie mir die Ereignisse des gestrigen Tages«, schlug Burnes vor. »Daran knüpft sich automatisch die Vorgeschichte. Wie begann Ihr Tag?« »Nun, eigentlich wie alle. Ich erwachte gegen neun Uhr und frühstückte im Bett. Ich wohne möbliert bei einer älteren Witwe, die kleine Appartements vermietet – ich glaube, Sie sprachen einmal mit ihr, als Sie mich suchten.« Burnes nickte. »Nun, ich las dann die Zeitung und einen oder zwei Briefe. Dann erhob ich mich, machte Toilette und begab mich auf einen Morgendrink in die Bar, in der wir uns einmal getroffen haben. Dort plauderte ich wie gewöhnlich mit dem Bartender. Ich bummelte dann ein wenig in den Hyde Park und warf gegen Mittag einen Blick ins Geschäft, wo ich mit Jenkins einen kleinen Konflikt hatte.« »Können Sie mir sagen, worum es ging?« »Gewiß. Ich verlangte Geld, da ich einige Rechnungen, auf die sich meine Morgenpost bezog, zahlen wollte. Es gab einen 249
unerfreulichen Auftritt, weil Jenk behauptete, er könne nicht einen Penny erübrigen. Ich sagte, wenn das Geschäft seinen Besitzer nicht ernähre, so würde ich liquidieren. Darüber stritten wir eine Zeitlang, und ich war so erbittert, daß ich sofort zu einem Agenten ging, um den Verkaufsauftrag zu geben. Dort mußte ich erfahren, daß die Durchführung sehr lange dauern werde, da die Zeiten schlecht seien und so weiter, wie das Gerede dieser Art Leute eben zu sein pflegt, wenn sie ihre Aufgabe ganz besonders schwer erscheinen lassen und dafür eine Extragratifikation herauslocken wollen. Ich war so verdrossen über das verlogene Getue, daß ich beschloß, zur Bank zu gehen, um dort Geld auf das Geschäft zu leihen. Wenn ich es nach einer Zeit nicht zurückzahlte, würde die Bank die Liquidierung betreiben, dachte ich, und mir diese Mühe abnehmen. Nach dem Essen spielte ich ein paar Stöße, äh – hm, Karten, und gegen vier Uhr begab ich mich in die Bank, wo ich meine Vorschläge äußerte. Man machte mir allerhand halbe Versprechungen, aber ich erhielt das Geld nicht.« »Sie wurden sehr dringend – hatten Sie vielleicht die Absicht zu verreisen?« »Keine Rede«, erklärte van Raan. »Ich dachte gar nicht daran. Immerhin ärgerte mich das scheinheilige Gequatsche, ich wurde wohl auch ein wenig heftig. Schließlich ging ich auf Umwegen über ein paar mir bekannte Barlokale nach Hause. Zu Hause fand ich einen Brief. Ich öffnete ihn…« »Wann war das?« fragte Burnes. »Etwa gegen halb sieben. Ich las den Brief, den ein Bote eingeworfen haben mußte, da er keine Marke trug. Dieser Brief war von – von ihr. Sie schrieb mir darin, ich solle sie um neun Uhr besuchen kommen, sie wolle unbedingt mit mir sprechen, bevor sie das Land verlasse, um Wricks’ Sklaverei zu entgehen. Ich sah eine Chance. Punkt neun war ich draußen. Maidie ließ mich ein. Es war ein scheußliches Loch – aber mir schien es das Paradies zu sein. Sie schloß mich in die Arme, 250
wir machten Pläne, gemeinsam zu fliehen. Sie schwor mir, sie habe nichts mit dem abscheulichen Mord an meinem Vater zu tun, Wricks habe sie nie in seine Pläne eingeweiht, und so habe sie unwissentlich den Lockvogel gespielt. Wricks habe ihr eingeredet, daß sie wegen Mithilfe gesucht werde, und sie bewogen, sich mit ihm in der Bombenruine zu verbergen, bis Ruhe eingetreten sei, der Raub verwertet und die Flucht gewagt werden könne. Er habe sie bedroht und sorgfältig bewacht. Aber sie sei so eingeschüchtert gewesen, daß sie ohnehin nie einen Fuß ins Freie gesetzt habe. Wricks habe das Notwendigste in den dunklen Abendstunden gekauft, wobei er sich mit falschem Haar und Bart und einigen Schminken unkenntlich gemacht habe. Heute aber, sagte sie mir, habe er fortgehen müssen, und sie habe rasch die Gelegenheit benützt, mir eine Botschaft zukommen zu lassen. Es sei ihr möglich gewesen, den Brief mit ihrer Adresse einem Gassenjungen zuzustecken, der ihn mir gegen ein gutes Trinkgeld eiligst überbringen sollte. Während wir so sprachen, ging die Tür auf und Wricks erschien. Ich stürzte mich sogleich auf ihn, und wir begannen zu kämpfen. In diesem Augenblick stieß Maidie einen Schreckensruf aus: Die hintere Tür öffnete sich. Ich war mit Wricks zu sehr beschäftigt, als daß ich hinsehen konnte, aber ich bemerkte, daß Maidies Gesicht sich entspannte: ›Ach, du bist es, Liebster‹, rief sie, ›hast du mich aber erschreckt‹, dann schrie sie plötzlich auf, einige Schüsse krachten, und ich spürte, daß der Mann, mit dem ich noch rang, plötzlich zusammensackte, während aus seinem Mund ein Blutstrom brach, der mich bespritzte. Im gleichen Augenblick verlosch die matte Lampe, die den dürftigen Raum bis dahin schwach erhellt hatte. Ich war wie betäubt, hörte nur noch, wie die Tür zuflog und von draußen abgesperrt und der Schlüssel
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abgezogen wurde. Dann kam ein rasendes Donnern an der anderen Tür, Alarmpfiffe gellten und Sie stürzten herein…« »Ausgezeichnet, Master Jonathan. Sie haben die Nachtruhe gut verwendet, sich eine reizende, kleine Geschichte auszudenken. Also ein Brief der Teuren brachte Sie hinaus – kann ich ihn sehen?« »Als ich eingetreten war, verlangte Maidie ihn zurück und verbrannte ihn…« »Wie aufmerksam«, lobte Burnes, »vermutlich, daß man nicht darauf kommen solle, mit welchen Damen Sie verkehren?« »Ich weiß nicht, warum sie es tat«, sagte van Raan, »mir war alles total gleichgültig – ich hatte nur Augen für sie…« »Hm«, sagte Burnes, »können Sie sich vorstellen, daß ich die Geschichte ganz anders sehe? Sie sind mit den Mitgliedern Ihrer Bande in Streit geraten und haben sie umgebracht, dadurch die Entdeckungsgefahr für sich vermindernd und vor allem, um die Anteile der Dahingegangenen ungeschmälert behalten zu können. Nun sind Sie ja der einzig Überlebende, der weiß, wo die Beute liegt, der einzige, der jetzt Aussicht hat, sie zu genießen. Sie hatten nur das Pech, daß ich gewarnt worden war und rechtzeitig auf der Szene erschien.« »Was befehlen Sie, daß ich antworte«, sagte der junge Mann mit bitterer Ironie. »Sie haben sich in der Überzeugung meiner Schuld nun einmal festgerannt, was hat es für einen Sinn, mich mit Ihnen herumzustreiten? Das werde ich meinem Anwalt überlassen. Mir ist in diesem Augenblick alles so entsetzlich gleichgültig – sie ist tot, und ohne sie ist mir das Leben zuwider.« Viel mehr war mit ihm nicht anzufangen. Burnes gab es nach einer Weile, in der er es zur Abwechslung mit gütigem Zureden versuchte, auf. Er nahm eine Kopie des Protokolls an sich und begab sich an die Stätte seines gestrigen Triumphes, um sich die Szene einmal bei Tageslicht zu besehen. Viel kam 252
da nicht heraus. Aber er begriff, daß der Platz gut gewählt war. Weit und breit nur Ruinen, die Gärten, die sie umgaben, eine undurchdringliche Wildnis, wer mochte sich je hierher verirren, um nach ein paar Verbrechern zu suchen? Und wenn es geschah, wem mochten die beiden aufgefallen sein, die sich da leicht genug verstecken konnten, wenn sich jemand zeigte? Er erinnerte sich undeutlich, daß es ihm vorgekommen war, eine Gestalt umherschleichen gesehen zu haben. Obgleich er nach allem Erlebten keinen Zweifel mehr an van Raans Schuld hegte, war er doch gewissenhaft genug, sich gründlich nach Spuren umzusehen. Er wußte, daß Gayfield ihn damit martern würde, wenn er ihm davon erzählte – und er hätte es unfair gefunden, dem alten Mann etwas von seinen Wahrnehmungen zu verschweigen. Also arbeitete er sich durch das Dickicht um das Haus herum zur Hintertür, bei der ein eventueller Täter, wie van Raan ihn angegeben hatte, hätte kommen und gehen können. An und für sich war es natürlich nicht ausgeschlossen, daß jemand auf ihn gelauert hatte und bei seinem Kommen vor ihm zur Hintertüre gelaufen war, durch welche er dann eindringen und nach vollbrachter Tat wieder fliehen konnte, während Burnes mit seinen Leuten die vordere Tür bearbeitete. Ohne viel Geschick zu entwickeln, hätte der Mörder in dem Gewirr der Gärten, deren Zäune längst zerfallen waren, in den Rücken der herangerufenen Polizisten kommen und entwischen können, während man sich im Hause mit den Leichen und dem mutmaßlichen Täter befaßte. Burnes mußte sich gestehen, daß all dies ohne weiteres möglich war. Ebenso leicht war es freilich möglich, daß der junge van Raan trotz seiner Erregung nicht vergessen hatte, den Revolver sauber abzuwischen, bevor er ihn von sich warf! Verdammt, Gayfields Narrheit scheint ansteckend zu sein, dachte er, ich fange auch schon an, klare Tatsachen zu bezweifeln und ausgefallenen Hirngespinsten nachzurennen.
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Er hatte ganz recht gehabt. Gayfield entwickelte haargenau diese Theorie, als Burnes ihm und Marjorie das Protokoll van Raans übergab und dazu die Geschichte erzählte. »Daß Sie keine Spuren fanden, beweist natürlich gar nichts«, argumentierte der alte Förster auf seinen diesbezüglichen Vorhalt. »In so einem Dickicht gibt es außer den ausgetretenen Pfaden, wie Sie ja einen zur Hintertür fanden, noch haufenweise zertrampelte Steige und Plätze, wo Kinder und Hunde sich gelegentlich herumtreiben – und die muß der Mörder nicht einmal benützt haben. Er sperrte die Hintertüre nach seinen Schießübungen kaltblütig hinter sich zu, hörte sich mit Behagen das Terzett an, das Sie mit Ihren Leuten vor der Haupttür zum besten gaben, und bummelte dann ganz gemütlich durch den Garten, wobei er nur aufpassen mußte, nicht zu früh auf die Straße zu kommen, wo er vielleicht aufgefallen wäre. Nicht einmal das, es dürften sich ja mehrere junge Leute aus der Umgebung nach der Nachtmusik dort eingefunden haben. Vielleicht war er sogar unter denen, die einer Ihrer Leute nach Hause jagte – er wird sich das nicht zweimal haben sagen lassen.« Es war ein wunderschöner Samstagnachmittag. Man saß vor dem Pavillon im Park. Marjorie war schon seit dem Mittagessen da, weil sie nachmittag keine Bürostunden hatte, und Burnes war zum schwarzen Kaffee herausgekommen. Mit einem glücklichen Lächeln, dem man ansah, daß sie mit den Ereignissen des vergangenen Abends ganz zufrieden war, die ja ihrem Helden nicht geschadet hatten, versorgte sie ihre streitenden Sorgenkinder, wobei Robbie, der ein teilnehmendes Interesse für die Milch und Zuckerdose an den Tag legte, nicht vergessen wurde. Da fuhr ein prachtvoller Wagen vor. Ein Chauffeur in diskreter Livree öffnete den Schlag, und elastisch sprang der
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schöne Gillespie heraus, dem langsam und umständlich folgenden Mr. Potter heraushelfend. »Ah, mein liebes Kind«, begrüßte der alte Herr das aufspringende Mädchen, das ihm entgegenlief. »Welche Freude, Sie zu treffen, ich hoffte es im stillen, aber bei dem schönen Wetter vermutete ich Sie auf einem Ausflug. Mein lieber Gayfield, Sie nehmen es mir doch nicht übel, daß ich so bald Ihren Besuch erwidere? Nun, Sie haben es hier ja prachtvoll, und unter so schönen Augen und in so anmutiger Umgebung erholt man sich bald, nicht wahr? Oh, mein verehrter Inspektor, welch angenehme Überraschung, auch Sie hier? Gewiß mit den allerletzten Bulletins vom Kriegsschauplatz – wir gewöhnliche Sterbliche müssen uns ja mit den mageren Brocken begnügen, die uns die Behörde durch die Zeitungen servieren läßt…« Unter verbindlichem Geplauder nahm der alte Herr auf einem bequemen Korbstuhl Platz, den Burnes mit unterdrücktem Fluchen herbeitrug, während Gillespie in nicht minder zuvorkommender Weise seiner Freude über das gute Aussehen des Rekonvaleszenten Ausdruck verlieh und Marjorie mit einer nichtssagenden Höflichkeit begrüßte, die Burnes’ finstere Stirne ein wenig entwölkte. Während man noch über die Erstaunlichkeit des Wetters redete, das eher einem frühen Maientag als dem späten April entsprach, und interessante Betrachtungen über die Veränderungen des Witterungscharakters in den letzten hundert Jahren anstellte, fuhr ein netter, aber wesentlich bescheidenerer Wagen vor, dem Mr. Jenkins entstieg, der sich mit etwas verdutzter Miene dem unerwartet großen Kreis anschloß. Das Gesprächsthema, das bereits etwas ins Stocken gekommen war, erfuhr neue Impulse, wurde aber bald wieder unterbrochen, da abermals ein Wagen vorfuhr, der Mr. Shawler absetzte.
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»Es scheint, ganz London hat sich verschworen, mir den heutigen Nachmittag zu verderben«, brummte Burnes, der sich nach immer neuen Sitzgelegenheiten umsehen mußte. Endlich hatten alle Platz genommen und ließen sich den von Marjorie eiligst herbeibeorderten Kaffee schmecken, zu dem ein etwas nach Medizin schmeckender Kognak gereicht wurde. Burnes war bemüht, den braven Haussohn zu spielen, und ließ mit einem liebenswürdigen Lächeln, das er selbst als idiotisches Grinsen bezeichnet hätte, seine Zigarettendose plündern. Natürlich wandte man sich bald den Ereignissen des gestrigen Abends zu, und der junge Beamte bildete den Gegenstand herzlicher Bewunderung. »Nun, endlich ist das Rätsel gelöst«, sagte Potter. »Ich weiß, unsere Polizei hätte keine Ruhe gehabt, einen Verbrecher wie Wricks frei herumlaufen zu wissen – und nun hat man dabei auch den herzlosen Buben gefaßt, der das Ganze mit seinem abscheulichen, hm… ah, mit seiner Komplicin ausgeheckt haben dürfte. Ein Vatermord, wie gräßlich, wenn er auch nicht mit eigener Hand ausgeführt wurde! Nun, die Erschießung seiner Mitschuldigen wird ihn an den Galgen bringen. Wir können beruhigt sein; dieses Scheusal wird der Menschheit nicht mehr gefährlich – und das ist Ihr Verdienst, Inspektor! Ob man jetzt die Juwelen findet? Gott weiß, wo der junge Mann sie verborgen hat. Er hatte gewiß die Absicht, sie umzuarbeiten. Was wohl damit geschehen wird? Sind nach ihm Erben vorhanden, oder fällt das herrenlos gewordene Gut an die Krone? Gillespie, Sie sollten ja über solche Rechtsfragen Bescheid wissen. Oh, Verzeihung, wir haben ja einen berufenen Fachmann unter uns, mein verehrter Mr. Shawler, wie ist da die Rechtslage?« Mr. Shawler räusperte sich umständlich und machte alle Anstalten, einen kleinen Vortrag zum besten zu geben, als die ruhige Stimme Gayfields erklang: 256
»Ich denke, diese Frage wird gar nicht aufgeworfen werden. Wenn die Juwelen gefunden werden sollten, was ich in allernächster Zukunft, allerdings ohne Mithilfe des jungen van Raan, erwarte, so wird er sie natürlich behalten, ebenso sein Leben. Er ist vollkommen unschuldig.« »Wie können Sie so etwas sagen?« rief Burnes mit rotem Kopf, der sich eben seine Pfeife anzünden wollte, da seine Zigaretten ausgegangen waren. »Ich nehme es Ihnen gewiß nicht übel, wenn Sie Ihre eigenen Ansichten haben – aber solche Behauptungen aufzustellen, sind Sie in keiner Weise berechtigt.« »Ich kann sagen, was ich will«, erklärte Gayfield, »ich habe hier kein Amt, sondern nur eine Meinung – also lassen Sie mich in Ruhe, junger Mensch. Ich nehme es Ihnen nicht übel, wenn Sie mir nicht glauben. Aber ich werde meiner Überzeugung Ausdruck verleihen, wo und wie ich will.« Eine peinliche Pause entstand. »Nun«, sagte Gillespie in seiner liebenswürdigvermittelnden Art, »dies ist ja alles rein akademisch, wir wollen uns gewiß nicht in die Amtsbefugnisse behördlich autorisierter Personen einmischen. Aber, lieber Inspektor, Sie dürfen wirklich einem Mann, der bereits einmal bewiesen hat, daß er einen scharfen Blick hat, nicht verargen –« »Was hat er bewiesen?« rief Burnes hitzig. »Er hat mir einen Fund, den er vor meinem Kommen gemacht hatte, verheimlicht und auf eigene Faust ›Erhebungen‹ begonnen, die ihn beinahe das Leben und mich unendliche Scherereien kosteten. Ohne ihm deshalb, wo er noch als Halbinvalider vor uns sitzt, Vorwürfe machen zu wollen, muß ich doch bemerken, daß die Sache ganz anders gegangen wäre, wenn er mir das Stoffrestchen aus Asanows Mantel gezeigt hätte, bevor er sich selbständig machte…« »Nun, Sie haben sich vor kurzem etwas anders ausgedrückt – und im übrigen, wissen Sie, möchte ich ausdrücklich 257
bemerken, daß ich den Stoff erst fand, als Sie erklärten, im Wagen alles gesehen zu haben, und schon ungeduldig auf mich warteten, die Untersuchung anderweitig fortzusetzen«, erwiderte Gayfield. »Sie schienen mir damals etwas schnell in Ihren Entschlüssen, und so sah ich mich genötigt, diesen folgenschweren Fund selbst auszuwerten. Der Fall lag nicht ganz einfach. Sie müssen verstehen, daß ich Sie nicht kannte und eine Ansicht verfolgte, die der Ihren anscheinend entgegengesetzt war. Aus ganz demselben Grunde kann ich Ihnen auch heute nicht sagen, was für einen Beweis ich besitze, daß van Raan unschuldig ist. Ich werde auch diese Sache selbständig durchführen. Ich wiederhole nur: Van Raan ist unschuldig – ziehen Sie aus dieser meiner Behauptung welche Konsequenzen Sie wollen. Im übrigen bringe ich Ihnen zur Kenntnis, daß ich heute von hier übersiedle. Ich möchte mich der Aufmerksamkeit entziehen, die jemand, der mein Wissen fürchtete, schon einmal an mich verschwendete, um mir den Mund zu schließen. Ich gebe meine neue Adresse nicht an, damit der Betreffende mich nicht so leicht findet – wenn er in diesem Augenblick unter uns weilt.« Betroffen sahen sich die Herren an. Die harmlose Konversation begann Formen anzunehmen, die man bei diesem Nachmittagsbesuche nicht erwartet hatte. »Ich hoffe«, begann der Anwalt… »Hoffen wir alle«, sagte Gayfield entschieden, »das können wir jedenfalls. Hoffen wir, daß es mir gelingt, einen der bösartigsten Verbrecher unschädlich zu machen, der je die menschliche Gesellschaft bedroht hat. Ich kann Ihnen nur eines sagen: Ich habe keine Ahnung, wer es ist. Aber daß van Raan es nicht ist, kann ich unumstößlich beweisen und das werde ich tun. Meine Beweise dafür sind noch schlagender, als die, die ich in der Hand hatte, als mich Wricks niederknallte.« Tiefer Ernst hatte sich aller bemächtigt. Man sah, daß diese mit dem Brustton der Überzeugung gesprochenen Worte 258
großen Eindruck gemacht hatten. Es schien allen klar zu sein, daß die Konversation nach diesem Ausbruch nicht mehr in jene Bahnen zurückführen konnte, die man an einem schönen Samstagnachmittag zu wandeln liebt. Als erster erhob sich Gillespie. »Verehrter Herr Präsident, darf ich erinnern, daß Sie für den Tee bei Lady Brentwick angesagt sind? Ich glaube, es wäre Zeit, nach Hause zu fahren und sich umzukleiden.« »Ah, mein lieber Gayfield, ich fürchte, wir dürfen Sie nicht länger in Ihrer Erholung stören«, sagte Dr. Shawler und folgte Potters Beispiel, der sich mit Würde erhoben hatte. Auch Jenkins stand auf. »Ich muß mich ebenfalls empfehlen, lieber Mr. Gayfield«, sagte er höflich. »Darf ich noch meine besten Wünsche für eine baldige Genesung aussprechen? Ich versprach meinen Neffen, sie heute in den Zirkus zu führen, da muß ich mich beeilen zurechtzukommen…« »Sie haben einen schnellen Wagen, wie ich sehe«, sagte Gayfield, »so darf ich hoffen, daß Sie sich nicht zulange bei mir aufgehalten haben.« »Er ist schnell«, gab Jenkins mit müdem Lächeln zu. »Ich wäre ohne weiteres imstande gewesen, meinen Chef damit auf seiner letzten Fahrt einzuholen, obgleich ich erst eine halbe Stunde nach ihm das Geschäft verließ – wenn Sie das damit sagen wollten.« »Mein alter Rolls könnte sicher mit Ihnen Schritt halten«, versicherte Potter mutig. »Ich weiß nicht, ob meiner nicht auch das gleiche hätte leisten können, wenn ich eine halbe Stunde vor Ihnen weggefahren wäre – was ja damals ohne weiteres möglich war«, erklärte Shawler mit Todesverachtung. »Ich bin von diesen Möglichkeiten vollkommen überzeugt, meine Herren« sagte Gayfield, liebenswürdig allen die Hand reichend. »Ich würde nur gern wissen, wer von Ihnen vielleicht 259
davon Gebrauch gemacht haben könnte.« Und damit verabschiedete man sich. »Sie hätten die Herren zu den Wagen begleiten sollen«, tadelte Marjorie, als sie nach einigen Minuten zurückkam. »Ich glaube, das ist nur das Vorrecht von Familienangehörigen«, murrte Burnes, »und dieses Privileg genieße ich noch nicht.« »Was für einen Beweis hast du denn wirklich für Jonathans Unschuld, Daddy?« fragte Marjorie, nachdem sich der verstimmte Burnes ebenfalls empfohlen hatte. »Ich?« fragte Gayfield erstaunt. »Natürlich gar keinen, das ist der Jammer. Im Gegenteil, ich muß zugeben, daß Burnes mit seinen Argumenten vielleicht recht hat, wer kann das wissen? Aber ich werde schon daraufkommen. Und nun heißt es packen, wir fahren in einer Stunde in unser neues Heim, ich bin zu gesund für diesen Platz. Ich möchte es, wie gesagt, auch bleiben, sowenig das vielleicht manchen Leuten passen mag.« »Wo fahren wir hin, Daddy dear?« fragte Marjorie, ihn zärtlich auf die Stirn küssend. »Das sage ich dem Chauffeur, aber erst, wenn wir hier heraus sind«, sagte Gayfield. »Sicher ist sicher.«
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21. KAPITEL DIE NACHT IM BÜRO Gayfield war nicht allzu angenehm überrascht, als Sonntag gegen Mittag Burnes in dem kleinen Appartementhaus erschien, in dem er bei seiner ersten Exkursion zwei möblierte Zimmer mit Bad bestellt hatte. »Wie haben Sie mich ausgekundschaftet?« fragte er ungnädig. »Ich wollte alle Besuche, vor allem den Ihren vermeiden, da man Sie kennt und ich keine Lust habe, unseren Gegnern meinen Aufenthalt zu verraten. Ich stoppte gestern eigens unterwegs bei einem Café, wo ich alles abladen ließ, um erst zwei Stunden später in einem anderen Taxi meine Fahrt hierher fortzusetzen. Ihr Besuch gefährdet unsere Sicherheit.« »Nicht mehr, als die verrückte Spioniererei Ihrer Tochter in den gefährlichen Verbrechernestern, wo Sie sie hinzuschicken belieben.« »Ich glaube nicht, daß dort der Ihrer Ansicht nach alleingefährliche Jonathan herumspukt – und die übrigen unserer Bekannten sind ja reine Engel, wenn ich unserem erfahrenen Detektiv glauben darf?« »Es war nicht schwer, von unseren Leuten herausbringen zu lassen, wo Sie abgestiegen sind. Ein so ungleiches Paar wie Sie und Ihre Tochter, dazu ein reinrassiger Pointer – es war unserem Fahndungsapparat ein Kinderspiel«, wechselte Burnes das Thema. »Gottlob steht unserer Gegenseite kein solcher Apparat zur Verfügung«, seufzte Gayfield erleichtert. »Also, setzen Sie sich in Gottes Namen – ich hoffe nur, Sie haben Ihren stadtbekannten Mercedes nicht als Aushängeschild vor das Tor gestellt.« 261
»Ich ließ ihn heute überhaupt zu Hause«, sagte Burnes, der ein merkwürdiges Interesse an den Türen zeigte. Er begann seine Pfeife zu stopfen und Zeichen milder Ungeduld zu geben. »Wollen Sie nicht essen gehen?« fragte Gayfield freundlich. »Es ist beinahe ein Uhr, und ich fürchte, ich halte Sie mit meinem unnützen Geplauder auf. Sie haben sicher für diesen schönen Nachmittag etwas Besonderes vor?« Undeutliche Grunzlaute ließen bezüglich dieser Absichten nichts Klares erkennen. Gayfield lächelte ganz leise: »Ich glaube, Marjorie wollte mit Robbie zu den Affen gehen…« »Eine brillante Idee«, sagte Burnes begeistert. »Ich möchte mich gern anschließen.« »Aber man sagte ihr, daß Hunde im Zoo nicht zugelassen werden, so mußte sie die Idee wieder aufgeben.« »Das Gescheiteste, was sie tun konnte«, sagte Burnes niedergeschlagen. »Nichts ist gräßlicher als ein Zoo am Sonntag, mit all den schauerlichen Rangen und dem unerträglichen Kindergeschrei.« »Wir dachten daran, nach Brighton ans Wasser zu rutschen…« »Fabelhaft«, strahlte Burnes, »ich könnte Sie mit meinem Wagen nach dem Essen abholen, in einer Stunde sind wir dort…« »Aber die Tage sind noch kurz, man müßte zurückfahren, kaum daß man ankommt.« »Sehr richtig«, stimmte Burnes mit Grabesstimme zu. »Und dieser Sonntagsverkehr – man braucht auf der Rückfahrt drei Stunden für die lausigen fünfzig Meilen.« »So hat sie sich entschlossen, in ein Kino zu gehen«, faßte Gayfield bescheiden zusammen, »und ich werde mit Robbie den Hydepark unsicher machen. Es ist nicht weit dorthin, und zurück kann ich eventuell ein Cab nehmen, wenn ich müde werden sollte.«
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»Ist es dabei geblieben«, fragte Burnes vorsichtig, bevor er seine Stimme wieder in Jubelhymnen zu investieren beschloß. »Oder ist sie indessen daraufgekommen, daß dort am Sonntag zu viele Menschen sind oder sonst etwas los ist, was ihr nicht paßt?« Gayfield wurde einer Antwort enthoben, denn in diesem Moment fegte Robbie mit einem Triumphgeheul herein und mit einem Satz auf Onkel Roberts Knie, so daß der nicht aufstehen konnte, um die eben mit lachenden Augen folgende Marjorie zu begrüßen. »Hat er uns also richtig ausgeschnüffelt«, rief sie nicht allzu poetisch beim Anblick ihres Ritters, aber mit so glücklichem Leuchten in den schönen Augen, daß Burnes diese Worte schöner als Tennysons gesammelte Werke dünkten. »Nirgends ist man vor unserer Polizei mehr sicher«, seufzte Gayfield. »Hast du unser Essen unten bestellt?« »Freilich, aber ich wußte nicht, daß wir einen Gast haben, so muß ich ein viertes Gedeck auflegen lassen«, rief sie übermütig. »Kommen Sie, Bob, schauen wir, ob neben Robbie noch ein Plätzchen an unserem Tisch für Sie frei ist.« Mit elastischen Schritten folgte ihr der junge Mann, als sie mit Robbie hinauswirbelte, während Gayfield mit glücklichem Lächeln langsam folgte. Das Essen verlief in einer Harmonie, wie sie das Kleeblatt schon lange nicht vereint hatte, obgleich es von weit mäßigerer Qualität war als die noblen Menüs in dem Privatpavillon von Whipps Cross. Bei schwarzem Kaffee wurden vergnügt die Kinoprogramme studiert und nach langer Beratung dem Portier eine Kartenbestellung übergeben. »Nun, unterhaltet euch gut, Kinder«, sprach Gayfield mit beinahe väterlicher Toleranz, »aber sei mir rechtzeitig zurück für das Nachtgeschäft, Marjie.«
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»Was für ein Nachtgeschäft?« fuhr Burnes mißtrauisch auf. »Schon wieder ein Abenteuer mit einem unserer neuen Anbeter, mein Fräulein?« »Ich habe Marjorie vorgeschlagen, heute nacht in Shawlers Kanzlei zu gehen und einmal in Ruhe die Akten Potters und vor allem Jenkins’ und van Raans, aber auch die Geschäftsbücher von Shawlers Kanzlei zu studieren. Da mögen sich interessante Hinweise entdecken lassen. Es ist Sonntag, und da ist niemand dort zu erwarten. Am wenigsten Shawler selbst, in dessen Wohnung ich festgestellt habe, daß er auf einem Weekendausflug bei Freunden ist und kaum vor Montag zurückkommt, jedenfalls nicht vor dem späten Abend. Da wird er sicher zu müde sein, um eine Nachtarbeit zu beginnen, besonders vor dem greulichen Montag. Ich glaube, der famose Gillespie hat ihm eine Einladung Potters in dessen WeekendVilla bei Henley vermittelt. Die beiden Kampfhähne plauderten ganz nett, als sie sich gestern bei mir trafen. Da wird nun draußen so etwas wie eine Versöhnung gefeiert werden. Soviel ich herauskriegen konnte, sind sie allein, der Herr Privatsekretär hat die Aussprache durch seine Gegenwart anscheinend nicht versteifen wollen und ging lieber rudern.« »Gott, wie nett«, freute sich Marjorie. »Die lieben, alten Herren finden also wieder zusammen! Nun sind meine Tage dort wohl gezählt, und die Akten wandern ungeschoren wieder an ihre alten Ruheplätze.« »Um so notwendiger, daß du heute hingehst«, ermahnte Gayfield, »es wird vielleicht die letzte Gelegenheit sein, sich umzutun.« »Schade um die Zeit«, murrte Burnes, »immerhin, es mag etwas daran sein. Vor allem wird es Sie beruhigen, daß nichts unterlassen wurde, was Ihrem Herzens-Jonathan vom Galgen helfen könnte. Ich gehe natürlich mit.« »Wissen Sie, daß das eine ganz ausgezeichnete Idee ist?« rief Gayfield erfreut. »Ich dachte schon daran, Sie um diese 264
Gefälligkeit zu bitten, fürchtete aber, Sie würden Ihre Nachtruhe nicht meinen Träumen opfern wollen.« »Aber den meinen«, sagte Burnes mit einem Blick auf Marjorie, der einen Elefanten gerührt hätte. Innig drückte sie seine Hand. »Mir war etwas bange«, gestand sie, »so allein in der Nacht in dem finsteren, unbewohnten Bürogebäude arbeiten zu sollen. So lieb, daß Sie mitkommen, Bob, danke!« Burnes machte das gleiche Gesicht, das vor etlichen siebenhundert Jahren jener Ritter gemacht haben dürfte, der in den Löwenkäfig stieg, den hinabgefallenen Handschuh seiner Dame sicherzustellen, und das vermutlich in weiteren hundert Jahren ein Atomreiter machen wird, wenn er der Seinen ein Elektron mit einem Bleifächer von der Nase wegzuscheuchen hätte. Sie fanden etwas früh, daß es höchste Zeit war, ins Kino zu gehen, um die bestellten Sitze nicht von anderen besetzt zu finden – etwas, das in der englischen Geschichte wohl noch nie vorgefallen sein dürfte. Immerhin schien Gayfield diese Eile vollkommen begreiflich zu finden, und Marjorie tröstete Robbie, der sich nicht eingeladen sah, diesen Ausflug seiner Herrin mitzumachen, mit einem zärtlichen Ohrenkraulen. Man konnte es Burnes an der Nasenspitze ansehen, wie gern er sich dieselbe Tröstung von seiner Begleiterin hätte angedeihen lassen, obgleich er weit weniger trostbedürftig schien. Nach dem endlosen Kino aßen die jungen Leute ein paar Bissen, dann mahnte Marjorie zum Aufbruch. Sie fuhren mit einem Autobus in die City und langten gegen neun Uhr vor dem düsteren Bürohause an, in dem Shawler seine Kanzlei hatte. Marjorie zog den Haustorschlüssel, den man ihr ausgehändigt hatte, damit sie nach abendlichen Überstunden aus dem Hause gelangen könne, das Punkt dreiviertel sechs abgesperrt wurde. Unbemerkt gelangten sie hinein. Mit dem Lift fuhren sie hinauf in den sechsten Stock, in dem die 265
Kanzlei lag, und wenige Sekunden später tasteten sie sich durch den dunklen Korridor zu der Kanzleitür. Marjorie zog wieder ihren Schlüssel heraus und brachte ihn nach kurzem Suchen in das Schlüsselloch. Sie versuchte aufzusperren – aber das Schloß bewegte sich nicht. Befremdet versuchte sie es noch einige Male – umsonst. Flüsternd erklärte sie Burnes, was los war. Er bat, ihn einen Versuch machen zu lassen. »Manchmal spießen sich die verdammten Dinger«, bemerkte er, aber als er ihr den Schlüssel abnehmen wollte, fiel er mit dem Krach einer platzenden Granate zu Boden. Mit einem leisen Fluch begann Burnes im Dunkel zu suchen. Seine Taschenlaterne wagte er nicht zu benützen. Welche Ausrede hätte er brauchen sollen, wenn zufällig jemand in den zahlreichen anderen im gleichen Stockwerk liegenden Kanzleien an einer Sonntagsarbeit gewesen wäre und den Lichtschein bemerkt hätte? Auch Marjorie begann zu suchen, und da die beiden ihre Finger, wenn die sich trafen, seltsamerweise nicht sehr schnell auseinanderbrachten, dauerte es einige Zeit, bis das Mädchen mit einem kleinen Freudenlaut das Finden des gesuchten Gegenstandes zu erkennen gab. Nun griff Burnes weniger zaghaft zu, er bekam den Schlüssel zu fassen und steckte ihn nach einem ziemlich geräuschvollen Kratzen in die hiezu bestimmte Öffnung. Aber soviel er sich auch mühte, er konnte ihn nicht herumdrehen. Zufällig berührte Marjorie jedoch die Klinke – und die Türe ging geräuschlos auf. »Verdammt, das Biest war gar nicht verschlossen«, fluchte Burnes. »Niederträchtige Schlamperei«, assistierte die junge Dame nicht allzu damenhaft. »Der zerfahrene Alte hat gestern nicht ordentlich abgesperrt, als er als letzter davonging.« Sie traten leise ein, schlossen die Türe, ohne sie jedoch zu versperren, und dann machte Burnes ungeniert Licht. Vergnügt legten sie die Überkleider ab, dann führte Marjorie mit den
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Allüren einer empfangenden Hausfrau ihren Gast in das Schreibzimmer. »Ein hübscher Raum«, sagte Burnes, der alles schön zu finden schien, was ihm seine Dame präsentierte. Er betrachtete die kahlen Wände, die mit staubigen Bücherkästen verstellt waren. »Das Chefzimmer ist natürlich noch viel netter«, sagte Marjorie stolz, »wir können es nachher ansehen, jetzt schauen wir uns die Akten an.« Sie holte ein paar dicke Briefordner und etliche nicht weniger wohlbeleibte Bücher herbei. »Nun«, sagte Burnes stirnrunzelnd. »Sie scheinen sich ja für die Nacht einrichten zu wollen.« »Ich hoffe, meine Gesellschaft wird Ihnen besser zusagen als die, die Sie vorgestern bei van Raan hatten«, bemerkte Marjorie. »Ich kann ruhig die ganze Nacht hierbleiben, und wenn die Kollegin morgen kommt, ihr sagen, daß ich eben früher ankam. Sie können ja der erste Klient sein, bis dahin wird Ihnen schon eine Geschichte einfallen, was Sie von Shawler – oder auch nur von mir – so früh wollten.« »Wieder eine Nacht ohne Schlaf«, seufzte Burnes elegisch. »Sie können sich drüben im Chefzimmer aufs Kanapee legen, Bob«, schlug Marjorie vor, deren mütterliche Instinkte erwachten, »wenn es Ihnen bei mir zu fad wird. Nun her mit dem Hauptbuch.« Nachdem sie etwa eine Stunde geschmökert hatten, sagte Marjorie: »Shawler scheint eine Reihe Kunden in den letzten Jahren verloren zu haben, und nicht seine schlechtesten.« »Jedenfalls ist das Geschäft verdammt zurückgegangen«, bestätigte Burnes, »das kann jedes Kind aus diesen Büchern sehen. Und er hat eine Reihe von alten Rechnungen nicht einmal einzutreiben versucht – Mordsschlamperei, oder – mag er es aus anderen Gründen nicht gewagt haben?«
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Die beiden sahen sich an. »Schaut nicht gut aus«, meinte Marjorie. »Was Daddy wohl dazu sagen wird? Nun einmal zu van Raans Aktenmappen. Wo die nur stecken? Ich ließ sie doch hier im Kasten? Ah, vielleicht hat Shawler sie zu sich hinübergetragen, er erwähnte so etwas, als wollte er sie selbst einmal durchsehen. Wenn ich nicht irre, um die Besteuerung des Erbes zu errechnen.« Sie verschwand leichtfüßig im Nebenraum und war einen Augenblick später wieder da, ein dickes Aktenbündel in der Hand. »Eine ganz nette Bibliothek, die Sie da hereinschleppen«, murrte Burnes, »na, her damit, schauen wir, wie weit wir damit kommen.« Sie machten sich über die endlosen Schriften, die im großen und ganzen darum gingen, Lieferanten die Höhe ihrer Forderungen zu bestreiten und Kunden Zahlungs- oder Übernahmsverpflichtungen nachzuweisen. »Ekelhaft«, sagte Burnes verdrossen, »aber kein Grund zu behördlichen Maßnahmen. Rätselhaft, daß eine Firma vom Range Raans mit solchen Praktiken arbeitete! Nun begreife ich, daß er empfindliche Klientenkreise verlor und den armen Jenkins zur Tobsucht brachte, der alles mitmachen mußte. Übrigens höchst eigenartig, daß ein Anwalt wie Shawler solche Sachen vertrat. Er muß auch im Druck gewesen sein, Geld zu verdienen.« »Ich verstehe jetzt eine Bemerkung, die er machte, als er den Akt holte«, sann Marjorie. »Er sagte etwas von widerlichem Zeug, mit dem er sich nun zwecks Ordnung der Hinterlassenschaft befassen müsse. Richtig, die Bank hatte kurz vorher angerufen und ihn ersucht, die Sachen vorzunehmen, damit sie der Steuerbehörde bald den Abschluß des Nachlasses zur Bemessung der Erbschaftssteuer vorlegen könne. ›Ich komme aus diesen Schweinereien nicht heraus‹, zankte er, als er sich daraufhin den Akt bei uns 268
zusammensuchte, womit er auf die Potterakten anspielte, die ja nicht allzu sauber sind.« »Eine reizende Gesellschaft, mit der wir es hier zu tun haben«, seufzte Burnes, weiterblätternd und ein Kuvert beschnuppernd. »Wieso liegt da ein verschlossener Brief? ›Nach meinem Tod zu öffnen‹ – na, Mr. Shawler hat sich nicht übermäßig beeilt, diesen Wunsch seines Klienten zu erfüllen«, sagte er und riß nach kurzer Überlegung den Umschlag auf. »Burnes, was tun Sie da«, schrie das Mädchen erschrocken. »Ich erfülle den Wunsch eines Toten«, sagte der junge Mann seelenruhig, ein maschingeschriebenes Blatt entfaltend, das er dem Kuvert entnommen hatte. »Außerdem bin ich mit der Untersuchung seines gewaltsamen Endes betraut – nichts ist natürlicher, als daß ich dieser Sache sofort nachgehe… Hol mich der Teufel – na, das ist das Pünktchen auf dem I!« Er gab Marjorie das Blatt, die daraus laut vorlas: »Lieber Dr. Shawler, ich bin in furchtbarer Gefahr! Ich fürchte, mein Sohn trachtet mir nach dem Leben. Es ist mir nicht möglich, gegen mein eigen Fleisch und Blut die Polizei zu Hilfe zu rufen, aber vielleicht tut Gott ein Wunder, und mein armer Junge findet doch noch den Weg zurück – aus dem verbrecherischen Kreis, in den ihn seine Geliebte verstrickt hat. So will ich Ihnen auch noch nichts von meinen Besorgnissen verraten, aber ich lege diesen Brief zu Ihren Akten, wo Sie ihn nach meinem Tode finden müssen. Wenn dieser ein gewaltsamer war, sollen Sie wissen, wer daran die Schuld trägt. London, am 26. März. Ihr unglücklicher Jan van Raan.« Marjorie ließ den Brief sinken. Burnes nahm ihn ihr aus der Hand und verglich die Unterschrift mit der, die er auf anderen Schriftstücken gefunden hatte. »Die Unterschrift ist echt, daran ist gar kein Zweifel«, sagte er nach kurzer Prüfung. »Nun, ich bin nicht überrascht.« Marjorie hatte sich gefaßt: »Es kann eine gute Fälschung sein«, sagte sie. 269
»Wer sollte sich die Mühe genommen haben, diesen Brief hier hereinzuschmuggeln? Die Sache sieht auch ohne ihn für den jungen Burschen hoffnungslos aus…« »Der Mann, der erfahren hat, daß mein Vater einen Gegenbeweis in Händen hat, und der daran glaubt. Er will den Strick um Jonathans Hals fester ziehen. Ich glaube mehr an meinen Vater, als an dieses so plötzlich auftauchende Dokument, das höchstwahrscheinlich erst vor ganz kurzer Zeit hier hereingekommen sein kann – sonst hätte Shawler es längst bemerkt und eröffnet.« »Vor ein paar Minuten sagten Sie selbst, daß er den Akt van Raan nur mit Widerwillen an sich nahm. Wer weiß, wann er ihn zuletzt in Händen hatte? Vielleicht an jenem 26. März, an dem vermutlich der alte van Raan bei ihm war und den Brief, über den er aus begreiflichen Gründen nichts sagen wollte, in den Akt steckte, als der Anwalt gerade nicht hinsah, etwa mit einem Telephongespräch oder dem Studium eines Schriftstückes beschäftigt war.« »Dann wäre der Brief obenauf gelegen…« »Im Gegenteil, van Raan mußte ihn irgendwohin stecken, wo er dem Anwalt nicht sofort auffiel, um unerwünschten Fragen aus dem Weg zu gehen, die er damals aus Zartgefühl und wegen einer – leider vergeblichen – Hoffnung vermeiden wollte. Übrigens, sehen wir in dem Vormerkbuch nach, ob der Alte an dem Tag hier war.« Marjorie schlug auf. ›Jan van Raan, vier Uhr dreißig‹ stand da an dem betreffenden Datum im Vormerkkalender, den Marjorie vom Schreibtisch ihrer Kollegin herbeigeschafft hatte. Sie legte ihn schweigend wieder zurück. »Der Fälscher kann sich nach diesem Kalender gerichtet haben«, murmelte sie verzagt. »Sie haben auf alles eine Antwort«, sagte Burnes gereizt. »Ich glaube nicht an die Schuld Jonathan van Raans«, sagte das Mädchen nach einigem Nachdenken. »So ein Papierwisch 270
wird mich nicht vom Gegenteil überzeugen – und meinen Vater noch weniger. Da müssen ganz andere Beweise kommen…« »Wozu?« rief Burnes aufgebracht. »Die Jury wird sich mit dem, was ich bisher zustande gebracht habe, begnügen – und darauf kommt es mir an, nicht auf die Gefühle eines jungen Mädchens, das jedem hübschen Jungen nachrennt und in ihm einen unschuldigen Engel sieht. Na, Sie werden noch Ihre Erfahrungen machen…« »Ich fürchte, es wird mir manches nicht erspart bleiben, vielleicht aber kann ich auch Ihnen eine furchtbare Erfahrung ersparen… die meinen armen Vater aus der Bahn geworfen hat…« Ein leises Schluchzen erstickte ihre Stimme. »Robert, so etwas darf Ihnen nicht widerfahren, schon deshalb werden wir nichts unversucht lassen, bis wir den armen Kerl aus Ihren Klauen gerettet haben. Nicht, weil er mir gefällt, Sie Esel, vielleicht wäre es nicht so schade um den leichtfertigen, weiberhörigen Schwächling… Aber Sie, Bob, Sie dürfen nicht an einem Irrtum zugrunde gehen, wie mein lieber, guter Daddy… und meine Mutter…« Haltloses Schluchzen erschütterte den zarten Körper. »Marjorie, liebe, kleine Marjorie«, rief Burnes und ergriff ihre Hand, »um Gottes willen, was haben Sie denn, Marjorie, verzeihen Sie mir, Sie müssen doch längst wissen, wie sehr ich Sie schätze, daß ich alles in der Welt für Sie tun könnte – können Sie glauben, daß ich Sie kränken – Ihnen wehtun will?« Sanft wehrte das Mädchen seine etwas stürmischen Tröstungsversuche ab, die zu Taten überzugehen begannen, als die Worte versagten. »Mein Vater war Kriminalbeamter wie Sie, jung und tatenfroh, von unbändigem Ehrgeiz und leidenschaftlicher Begeisterung für seine Aufgabe, Recht und Gesetz zu verteidigen, erfüllt. Er hatte schon einige kleine Erfolge gehabt, 271
da wurde er von seinem Chef mit einer großen Aufgabe betraut: einen rätselhaften Mord aufzuklären. Überraschend schnell fand er überzeugende Indizien gegen einen Mann, der auf Grund dieser zu einer langen Zuchthausstrafe verurteilt wurde. Bis zuletzt hatte er geleugnet, aber die Beweise waren so zwingend, daß sich seine eigene Familie von ihm abwandte. Seine junge Frau beging Selbstmord, wobei sie ihre zwei kleinen Kinder mit sich nahm. Nach einem halben Jahr fand man den unglücklichen Menschen erhängt in seiner Zelle auf. Es war ihm gelungen, bei seiner Arbeit täglich etwas Hanf beiseite zu schaffen, und endlich langte es zu dem Strick, vor dem ihn die Beredsamkeit eines jungen Anwalts gerettet hatte. Am Tag vorher war seine Mutter gestorben. Der Gram, daß sie einem Menschen das Leben geschenkt haben sollte, der einem anderen das seine nahm, hatte sie getötet. Wenige Tage später gestand ein Verbrecher, bevor er für einen anderen Mord gehängt wurde, auch den Mord ein, den man dem Opfer meines Vaters zur Last gelegt hatte.« »Marjorie!« »Kein Wort des Vorwurfes traf meinen Vater – man wußte, daß er in ehrlicher Überzeugung gehandelt hatte. Aber er brach zusammen. Tagelang sprach er kein Wort, er ging nicht ins Amt, er aß keinen Bissen. In diesen Tagen kam ich zur Welt. Die Verzweiflung über das Unglück meines Vaters raffte meine durch die verfrühte Geburt geschwächte Mutter nach wenigen Monaten dahin – das brachte meinen Vater wieder zu sich. Meiner Mutter letzte Worte waren, als er apathisch an ihr Sterbebett trat: ›Laß das arme Würmchen nicht sterben – vielleicht kann sie einmal gutmachen, was du unschuldig angerichtet hast.‹ Er quittierte den Dienst, in dem er nichts mehr leisten konnte. Er hätte ja nie mehr an die Richtigkeit seiner Schlußfolgerungen glauben können. Man ließ ihn nur ungern gehen. Man hatte seine hervorragenden Gaben schätzen gelernt. Er machte einen Försterkurs und vergrub sich dann im 272
Wald, mit seinem Hund und mir – dort haben Sie uns gefunden. Sein Gerechtigkeitsfanatismus hat ihn in diesen Fall verwickelt. Er wird ihn nicht aufgeben, solange er das Gefühl hat, eine Ungerechtigkeit verhindern zu können. Und in seinem stillen Wald, da hat er vielleicht mehr und besser zwischen Gut und Böse unterscheiden gelernt, als Ihnen Ihre kriminalistische Ausbildung vermitteln konnte.« »Sie sind von der Unschuld Jonathans überzeugt?« »Ich weiß, daß Jonathan unschuldig ist.« »Woher?« »Ich fühle es. Er ist ein schwacher, aber kein schlechter Mensch. Auch Robbie dachte so, als Sie ihn in der Halle aufstöberten, er ließ ihn sofort in Ruhe, nachdem er ihn gestellt hatte.« »Nun, wenn Sie und Robbie so ein feines Gefühl haben, wer von den anderen Galgengesichtern, die sich am Samstag um Ihren Wunderpapa versammelten, soll es gewesen sein? Ein Außenstehender kommt doch hoffentlich nicht mehr in Frage? Oder soll ich vom letzten Bettler bis zum Ministerpräsidenten die gesamte Bevölkerung vor Robbies weiser Schnauze defilieren lassen?« Marjorie blieb von seinem Spott vollkommen unberührt: »Es sind alles schlechte, habgierige und rücksichtslose Egoisten, die dort waren. Robbie mochte keinen von ihnen leiden«, sagte sie, »alle denken nur an ihren Vorteil. Die Armen – sie wissen nicht, daß es tausendmal mehr Freude macht, einem anderen etwas Liebes zu tun als sich selbst. Es ist ein Vergnügen, mit ihnen zusammen zu sein, ihnen zuzuhören, man muß sie beinahe bewundern, ihre Kraft und ihr Zielbewußtsein, ihre Klugheit und Weltsicherheit. Und doch könnte jeder der Verbrecher gewesen sein, denn in ihrer Philosophie ist nicht Raum für den, der ihren Plänen im Wege steht, oder dessen Ende ihnen nützen könnte. Wenn sie nicht mordeten, so nur deshalb, weil sie es noch nicht nötig hatten, 273
oder weil das Risiko, entdeckt und bestraft zu werden, im Verhältnis zum eventuellen Vorteil zu groß war. Wehe, wenn dieses Verhältnis sich einmal umkehren sollte – ich weiß nicht, wer von ihnen die Kraft hätte, der Versuchung zu widerstehen.« »Eine charmante Umgebung, in der wir leben«, seufzte Burnes, »es verlohnte sich demnach kaum, dieses Gesindel vor sich selbst zu schützen. Ich könnte mich eigentlich um einen lustigeren Beruf umsehen.« »Wenn alle Polizisten das sagen würden, dann würden bald alle Hemmungen fallen, die meinen Vater, mich und alle rechtlich denkenden Menschen jetzt noch vor Raub und Mord bewahren – wäre Ihnen das wirklich gleichgültig?« Innig umfaßte Burnes die zarte Gestalt, die sich vertrauensvoll an ihn lehnte. »Ich glaube, ich werde die ganze Nacht hierbleiben«, sagte er, »wenn Sie versprechen, mich mit diesen widerlichen Akten zu verschonen und mir von Ihrem Wald zu erzählen, der so ein Wunder wie Sie zum Blühen brachte…« Leise strich ihm das Mädchen über das Haar… da gab es plötzlich einen Krach, das Licht ging aus, und Burnes spürte im Finstern einen Luftzug, aus dem er schloß, daß jemand die Tür zum Nebenraum geöffnet hatte. Instinktiv stieß er das Mädchen von sich und griff nach seiner Pistole, aber im gleichen Moment warf sich jemand mit großer Wucht auf ihn. »Hab’ ich dich!«, brüllte Burnes frohlockend und faßte kräftig zu, fiel aber durch die Wucht des Stoßes, den er empfangen hatte, mitsamt seiner Beute über einen Stuhl, der hinter ihm gestanden war. Er schlug sich den Kopf tüchtig an einer Kante an, bekam einen ganz beachtlichen Rippenstoß von dem Angreifer, den er gepackt hatte und bei seinem Sturz krampfhaft festhielt. Die Stöße wiederholten sich mit verzweifelter Wucht, aber um so fester wurde sein Entschluß, nicht loszulassen. 274
»Ruhig halten, oder…«, donnerte er, als er den Schmerz im Hinterkopf überwunden hatte. »Ach, Sie sind es, Robert«, rief eine Stimme, die an Zartheit in keinerlei Beziehung zu den Rippenstößen stand, die ihre Besitzerin soeben ausgeteilt hatte. »Lassen Sie doch endlich los, Sie tun mir ja weh.« Erschrocken lockerte Burnes seinen eisernen Griff, aber es war gar nicht einfach, sich in der Dunkelheit und in der halb liegenden Stellung, in der er sich befand, von dem Mädchen und dem Stuhl loszumachen, mit denen seine Gliedmaßen einen anscheinend unentwirrbaren Knäuel bildeten. Bis sich die zwei aufgerichtet hatten und Marjorie die Streichhölzer fand, um Burnes den Weg zu seiner Taschenlaterne, die friedlich auf einem Aktentischchen stand, zu beleuchten, verging eine ganze Weile. »Es war jemand im Chefzimmer«, erklärte er, nachdem er einige Entdeckungsfahrten unternommen hatte, »der sich dort hinter einem Kasten verbarg, als er uns an der Tür hantieren hörte. Zeit genug dazu haben ihm unsere Experimente mit dem unversperrten Schloß ja gelassen. Dort hörte er sich vergnügt unsere Unterhaltung an, wir sprachen ziemlich laut – und die Tür war ja eine Zeitlang nur angelehnt.« »Gott, wie unangenehm«, sagte Marjorie errötend und versuchte, ihr Haar ein bißchen in Ordnung zu bringen. »Als er meinen frommen Vorsatz vernahm, die Nacht hier zu verbringen, was ihm natürlich gar nicht in den Kram paßte, da er ja dann früher oder später entdeckt werden mußte, beschloß er den verzweifelten Durchbruchsversuch, der ihm natürlich glatt gelang, da wir gerade, hm, von etwas anderem sprachen. Er erzeugte im Nebenzimmer einen Kurzschluß, indem er mit seinem Taschenmesser das Kabel der Tischlampe zerschnitt und die Enden im geeigneten Moment zusammenbrachte. In der Finsternis stürzte er sich auf uns, und während wir uns balgten, lief er davon. Eine glatte Sache.« 275
»Wer es nur gewesen sein mag?« »Shawler?« mutmaßte Burnes. »Wozu sollte der in der Sonntagnacht in sein Büro schleichen?« »Er mag hier vielleicht ein kleines Geschäft vorgehabt haben, bei dem er ungestört sein wollte.« »Der Brief«, rief Marjorie, »der Brief mit der Anklage des alten van Raan. Er mußte die Unterschrift fälschen – eine zeitraubende Sache, zu der er andere Papiere mit einer Originalunterschrift als Vorlage brauchte…« »Nun, immerhin, er hätte eigentlich ruhig aus der Kanzlei herauskommen und uns ganz nett mit einer Frage nach unseren Absichten in Verlegenheit bringen können, ohne sich in seinem Geschäft dadurch stören zu lassen«, meinte Burnes überlegend. »Dann wäre das plötzliche Auftauchen dieses Briefes im Akt mir vielleicht aufgefallen. Er dachte natürlich, wir würden bald wieder gehen, wollte vielleicht auch wissen, was wir vorhatten. Eines ist sicher: Jonathan van Raan war es nicht, der sitzt ja im Loch.« »Das werden wir gleich feststellen«, sagte Burnes, besorgt gewisser Erfahrungen gedenkend, die er in dieser Sache schon gemacht hatte. Er ergriff das Telephon, ließ es aber nach ein paar Worten, die er mit Scotland Yard gewechselt hatte, beruhigt sinken. »Er war es nicht«, gab er bekannt, »aber natürlich kann es jeder aus der Bande gewesen sein, der sich die Schlüssel von Miß Hobbs angeeignet hatte. Ich war ein Esel, nicht sofort Verdacht zu schöpfen, als wir die Tür unversperrt fanden. Ich hätte die Kanzlei gründlich untersuchen sollen, dann hätten wir den Kerl jetzt…« »Oder ein paar blaue Bohnen unter den Rippen«, sagte Marjorie. »Zu denken, daß der Kerl uns die ganze Zeit in der Hand und in Schußweite hatte…«
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»Daß er von dieser Gelegenheit keinen Gebrauch machte, sollte eigentlich den nicht ganz von der Hand zu weisenden Gedanken eingeben, daß es irgend jemand war, der mit der Mordsache nichts zu tun hatte. Hier sind so viele dunkle Sachen, daß ich mir vorstellen könnte, daß irgendein obskurer Klient unseres lieben Shawler sich veranlaßt sah, etwas verschwinden zu lassen…« »Oder einzuschmuggeln«, ergänzte Marjorie. »Ich werde die Überzeugung nicht los, daß dieser so plötzlich aufgetauchte Brief damit in Zusammenhang steht.« »Möglich ist in dieser Welt alles«, sagte Burnes, »aber ich halte mich lieber an Tatsächliches…« »Und das wäre?« »Jonathan van Raan«, sagte Burnes mit Bestimmtheit. Traurig sah ihn das Mädchen an. Die Stimmung, die ihr eine seltsame Macht über diesen selbstsicheren Tatmenschen gegeben hatte, war dahin, das fühlte sie. Nüchtern und klar starrten ihr die Augen des Polizeimenschen entgegen – die würden sich nicht von ihren Gesichten beeinflussen lassen. »Sie wollen also nicht aus der traurigen Erfahrung meines Vaters lernen?« fragte sie kummervoll. »Wir müssen alle unsere Pflicht tun, Marjorie«, sagte er fest, »oder das, was wir für unsere Pflicht halten.« Marjorie schlüpfte in ihren Mantel: »Sie haben recht, Robert«, sagte sie entschlossen, »wir wollen es alle so halten.« Schweigend brachte Burnes sie nach Hause.
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22. KAPITEL GAYFIELD MACHT BESUCHE Wie Marjorie erwartet hatte, machte der Brief, von dem sie ihrem Vater am nächsten Tag erzählte, geringen Eindruck auf ihn. Aber ihre Geschichte hörte er mit Interesse an. »Ein letzter Versuch, Jonathan festzunageln. Schade, daß der Lauscher aus euren Worten erkennen mußte, daß es zwecklos war. Gott weiß, was er nun für einen verdammten Unfug aushecken wird, um seine Haut zu retten.« »Du bist ganz sicher, daß der junge van Raan nichts mit dem Verbrechen zu tun hat?« fragte Marjorie, die nun selbst anscheinend schwankend wurde. Die ruhige Überzeugung Burnes’, dessen Klugheit sie ja kannte, war doch nicht ohne Eindruck geblieben. »Wen verdächtigst du eigentlich?« »Potter, Gillespie, Jenkins, Shawler, Walter, Burnes, mich und nun bald auch dich selbst«, sagte ihr Vater unwirsch. »Weiß ich es selbst ja kaum mehr. Eine verzwickte Geschichte. Nun, geh in deine Tretmühle und halte die Augen offen, schau dir deinen Boß vor allem gut an, vielleicht fällt dir doch etwas auf. Ich werde mir die Sache durch den Kopf gehen lassen. Kommst du zu Mittag nach Hause?« »Kaum, Daddy dear«, sagte die junge Dame, »mach’ mit Robbie einen kleinen Spaziergang, vergiß nicht, deine Hühnerbouillon um elf Uhr, das Menü für Mittag werde ich unten angeben. Etwas Kalbfleisch mit Karotten, wenn es dir recht ist, und ein bißchen Zwetschgenkompott?« »Warum nicht gar einen Milchgrieß mit Bitterwasser?« murrte Gayfield. »Ich möchte einmal wieder ein ordentliches Beefsteak mit Zwiebeln und einen Gurkensalat, und einen
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anständigen Gorgonzola mit einem Schluck Brandy, um den ganzen Quark sauber hinunterzukriegen.« »Du sollst aber nicht zu schwere Sachen essen«, seufzte das Mädchen. »Dann dürft ihr mir auch keine schweren Aufgaben geben«, gab Gayfield zu bedenken. »Ein Pferd, das ziehen soll, muß Hafer kriegen.« »Sollst du haben, Daddy darling«, machte Marjorie einen Vermittlungsvorschlag: »Also eine Haferschleimsuppe…« »Pfui Teufel…« »Und dann Lammkoteletts mit Reis und Birnenkompott, und zum Schluß einen leichten Gervais – und ein Gläschen Kognak.« Die Lammkoteletten und der Kognak schienen Gayfield versöhnlich zu stimmen. »Wie du glaubst, mein Kind«, sagte er nachgiebig, »aber vergiß nicht nachher einen guten Schwarzen – ich habe am Nachmittag ein paar Besuche vor.« Besorgt musterte Marjorie ihren unternehmungslustigen Vater. »Nimm aber deinen festen Krückstock mit«, ermahnte sie ihn, »und auch Robbie. Er kann sehr nützlich sein, wenn du schwach werden solltest.« Besaß sie wirklich prophetische Gaben, das kleine Fräulein? Im Anfang verlief der Tag, wie sie ihn geplant hatte. Aber gegen drei Uhr bürstete Gayfield den Staub, den Robbie sich gelegentlich des vormittägigen Spazierganges im Spiel mit einigen Straßenbekanntschaften geholt hatte, aus dessen Fell, nahm seinen Stock und verließ das Haus. Er gab der Krempe seines Hutes einen unternehmenden Kniff, ersuchte den Hauswart, ihm ein Taxi herbeizurufen, und fuhr zu Dr. Shawler. Ein zärtlicher Blick beruhigte seine Tochter, die ihn anmelden ging. 279
»Ich hoffe, ich störe Sie nicht zu sehr, lieber Mr. Shawler«, begrüßte er den Anwalt, der ihm entgegenkam. »Ich muß gestehen, daß ich im Augenblick sehr beschäftigt bin, aber dem Vater meiner entzückenden kleinen Waldfee darf ich doch ein paar Minuten widmen, vor allem, um ihm zu diesem süßen Geschöpf zu gratulieren…« »Sie haben recht, Mr. Shawler, Marjie ist einzigartig. Ich wüßte nicht, wie ich ohne sie leben könnte.« »Da würden Sie sie wohl nicht gern hergeben?« »Einmal wird es wohl sein müssen, das ist das Los der Töchter – und der Väter. Mich trifft es besonders hart, und Robbie wird genug zu tun haben, sich selbst zu trösten, als daß er mir ein Trost sein könnte.« »Einmal wird es sein müssen«, wiederholte der Anwalt sinnend, »ich gestehe ganz offen, seit ich sie gesehen habe, kann ich nicht mehr ruhig schlafen.« »Das sieht man Ihnen an. Sie waren gestern wohl lange auf?« »Ich war tagsüber in Henley gewesen – Old Pott hatte mich über das Weekend eingeladen.« »Das freut mich zu hören. So darf ich hoffen, daß die Folgen einer Unstimmigkeit, von der mir berichtet wurde, damit bereinigt sind?« »Nicht gänzlich – man wird sehen. Ich stellte Bedingungen. Mir ist eine Persönlichkeit seiner Umgebung nicht sympathisch. Seltsamerweise war es gerade diese, die die Zusammenkunft herbeiführte, aber ich mußte in recht undankbarer Weise auf ihrer Entfernung bestehen, bevor ich die Vertretung wieder zu übernehmen bereit sein wollte. Diese Frage kann natürlich nicht in ein paar Stunden geklärt werden, besonders da der Betreffende in seltsam taktvoller Weise der Zusammenkunft ferngeblieben war und in seiner Abwesenheit nichts Endgültiges entschieden werden konnte.«
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»Nun, da hatten Sie gestern sicher einen netten Abend bei einem der berühmten Potter-Dinners?« »Nein«, sagte der Anwalt, »Potter hatte in der Stadt eine Verabredung für den Abend. So verließ ich ihn gleich nach dem Tee, den wir in seinem prächtigen Park einnahmen.« »Das muß eine idyllische Angelegenheit gewesen sein. Ich verstehe, daß Sie dann eine größere Fahrt machten, um den genußreichen Aufenthalt im Freien fortzusetzen…« »Sie haben es erraten«, sagte Shawler mit etwas gezwungenem Lächeln. »Man hat so poetische Anwandlungen, wenn man ein so süßes Mädchenbild im Kopf hat –« »Da kamen Sie wohl spät nach Hause?« »Gegen ein Uhr.« »Und zwischen Ihrer Abfahrt von Potters Heim in Henley und Ihrer Ankunft zu Hause sah Sie wohl niemand?« Aufmerksam richtete der Anwalt seinen Blick auf den alten Förster. »Ich denke nicht«, sagte er langsam, »darf ich fragen, was Sie damit meinen?« »Ich hoffe, Sie sind nicht auf Seitenpfade geraten«, forschte Gayfield, »und haben einen vorübergehenden Ersatz für das Bild in Ihrem Herzen aufgegabelt?« »Was fällt Ihnen ein Gayfield?« rief Shawler unmutig. »Für wen halten Sie mich? Nein, ich liebe wahr und ehrlich – glauben Sie mir. Und ich sage Ihnen ganz offen, nehmen Sie es wie Sie wollen, ich liebe Marjorie mit allen Fasern meines alternden, aber noch jugendlichen Herzens. Ich bin der Mann, um sie zu kämpfen, und ich werde alles daransetzen, sie zu gewinnen – wie immer Sie sich dazu stellen mögen. Ich bin nicht arm…« »Ihre Angelegenheiten scheinen immerhin nicht im besten Stande zu sein, nach den etwas unerfreulichen Geschäftsverbindungen, die Sie in den letzten Jahren eingingen…« 281
»Das sind dumme Gerüchte, die meine Feinde, vor allem dieser Gillespie, über mich ausstreuen. Der möchte am liebsten selbst Ihr Töchterchen ergattern. Passen Sie mir nur auf den gut auf, er ist ein rücksichtsloser Schürzenjäger, und gerade dann, wenn er sich uninteressiert stellt, ist er am gefährlichsten.« »Ich werde ein Auge auf ihn haben«, versprach Gayfield wahrheitsgetreu. »Und meine Lage – sehen Sie, Gayfield, ich habe Geld gemacht – aber ich habe die Zeiten verfolgt. Ich habe es gemacht, wo ich es fand, denn mich interessiert meine Praxis nicht mehr. Ich gehe fort von hier, wo die Besteuerung wirklichen Reichtum sich nicht mehr bilden läßt. Ich habe nur ausgehalten, bis ich die nötige Summe beisammen hatte – das ist nun endlich der Fall. Und ich habe alles hinausgebracht, dorthin, wo man noch leben kann wie ein Herr – nach Südamerika – in guten Dollarscheinen, prima Aktien und anderen beständigen Werten…« »In Juwelen und Gold zum Beispiel.« »Auch. Daß ich in der Wahl meiner Mittel da nicht wählerisch war, gebe ich zu. Man muß auch über Leichen gehen können, wenn man ein Ziel erreichen will, das fast unerreichbar scheint. Sie sind Jäger: Wenn Sie einen guten Braten wollen, so müssen Sie ihn sich erjagen und erschießen, da darf Ihre Hand am Abzug nicht zittern, kein weichliches Mitleid mit dem lebenden Geschöpf vor Ihnen Sie beschweren. Es gibt ja deren so viele, und zuerst kommt das eigene Recht, zu leben – und gut zu leben! Und nun gar, da ich Ihre Tochter kennengelernt habe, nun erst preise ich meinen Entschluß, der es mir ermöglicht, ihr alle Herrlichkeiten einer neuen, von gesunder Lebensfreude erfüllten Welt zu bieten: Rio de Janeiro, Buenos Aires, Valparaiso – nicht dieses halbtote London, dieses totgehetzte New York. Geben Sie sie mir, Gayfield, ich will sie zum glücklichsten Geschöpf der Welt machen, sie soll mich dafür vergessen lassen –« 282
»Was für einen Preis Sie für dieses Paradies gezahlt haben?« Gayfield warf einen tiefernsten Blick auf den Anwalt. »Das ist Ihre Sache, Mr. Shawler! Marjorie wird den richtigen Weg selbst zu suchen haben. Nun aber zum Zweck meines Besuches. Sie haben ja sicher gehört, daß Jonathan van Raan von meinem – äh, von Mr. Burnes verhaftet wurde. Ich möchte Sie bitten, mich in den Akt der van Raan, der bei Ihnen liegt, Einsicht nehmen zu lassen…« »Gern, Mr. Gayfield!« Der Anwalt erhob sich. »Hier ist er, ich hatte ihn gerade in Arbeit. Miß Marjorie erzählte mir, als ich in das Büro kam, daß Mr. Burnes in aller Frühe hier war, Einblick verlangte und irgendein Papier an sich nahm, das eine besonders schwere Belastung für den Sohn des Ermordeten enthalten soll. Im übrigen ist der Akt natürlich komplett.« »Ich zweifle nicht daran«, sagte Gayfield. »Darf ich ihn nach Einsichtnahme auf dem Tisch meiner Tochter lassen? Dann muß ich nicht noch einmal stören kommen und darf mich wohl jetzt verabschieden. Bei dieser Gelegenheit bitte ich Sie sehr, London in den nächsten Tagen nicht zu verlassen – es könnte ein unangenehmes Licht auf Sie werfen. Sie verstehen mich? Ich bin nicht angewiesen, Ihnen das zu sagen, Sie wissen, ich habe keine amtliche Funktion, nur ein privater Rat…« Mit gefurchter Stirn schüttelte Shawler die Hand des Försters… Draußen blätterte Gayfield den Akt durch. Lange, sehr lange untersuchte er einige Blätter, die die Unterschrift des ermordeten Juweliers trugen. »Gib ein bißchen acht – die Gegend hier ist nicht ganz ungefährlich«, flüsterte er seiner Tochter zu, als er eine halbe Stunde später Abschied nahm. Mit einem Seufzer betrachtete er die Uhr des wartenden Taxis, dessen Tür ihm der entzückte Wagenlenker höflichst aufriß. Er gab ihm die Adresse von van Raans Geschäft an. 283
Mr. Jenkins furchte die Stirn, als er seinen Besuch erkannte. »Ah, Mr. Gayfield«, sagte er, »erfreut, Sie wohlauf zu sehen. Was für ein lieber Hund, wie nett, daß Sie ihn mitbrachten. Wohin sind Sie unterwegs?« »Zu Ihnen«, sagte Gayfield munter und warf einen Blick auf die Tür im Hintergrund, der keinerlei andere Deutung zuließ. Seufzend führte ihn der Juwelier hinein und beobachtete besorgt, wie Robbie die diversen Stuhlbeine beschnupperte. »Er will nur herausfinden, mit wem Sie zu verkehren pflegen«, beeilte sich Gayfield den Hausherrn zu beruhigen. »Er hat gerade draußen noch die Straßenlaterne nach den Qualitäten der lokalen Hundepersönlichkeiten untersucht – so brauchen Sie wirklich nichts für Ihre Möbel zu befürchten.« Gayfield schien in den Anblick seines Gegenübers versunken. »Sie schauen etwas müde drein«, sagte er teilnehmend, »wohl eine schlechte Nacht gehabt?« »Ich schlafe fast nicht mehr«, sagte Jenkins. »Die Sorge um das Geschäft verzehrt mich einfach.« »Ich würde wetten, Sie waren wieder einmal auf einer kleinen Tour?« »Das nicht«, widersprach Jenkins eilig. »Sie können meinen Hauswart fragen. Ich kam um sieben Uhr heim und rührte mich nicht vor heute um neun aus dem Hause.« »Ich brauche doch nicht Ihren Hauswart zu belästigen, Ihre Wirtsfrau –« »Die war über Land und kam erst gegen acht Uhr früh heim.« »Nun, da würde mir Ihr Hauswart auch nicht viel helfen können. Sie besitzen doch sicher einen Torschlüssel und können, ohne den Mann zu bemühen, sich ein- und auslassen?« Mr. Jenkins schien diesen Punkt übersehen zu haben.
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»Warum fragen Sie?« erkundigte er sich unruhig. »Ist wieder etwas vorgefallen? Ich dachte, die Sache ist erledigt – mit der Verhaftung Jonathans?« »Ja und nein, mein lieber Mr. Jenkins. Es mag Sie interessieren zu hören, daß die Beweise in meinen Händen sich verdichten, die seine Unschuld einwandfrei darlegen.« »Dann verstehe ich nicht, warum man ihn in Haft läßt.« »Das war nicht mein Werk, und vorläufig besteht genug Grund, den Verbrecher in Ruhe zu wiegen, der ja annehmen muß, die Argumente Inspektor Burnes’ hätten gesiegt. Hm, sagen Sie, Mr. Jenkins, wollen Sie mir mitteilen, ob Sie nicht oft gezwungen waren, Mr. Jan van Raans Unterschrift unter dringende Schriftstücke zu setzen, wenn er gerade auf seinen vielen Reisen war?« »Wie kommen Sie auf diese Idee?« fragte Jenkins erbleichend. Mit unsicherer Hand faßte er nach der Tischkante – seine Finger zitterten. »In seinen Akten fanden sich Papiere mit zweierlei Unterschriften«, sagte Gayfield beiläufig. »Sie sind schwer zu unterscheiden, doch glauben die Schriftsachverständigen, daß sie nicht von derselben Hand sind.« Jenkins ließ nur ein leises Röcheln hören. Er riß die Schreibtischlade auf und – im nächsten Moment hatte Robbie seinen Ärmel gepackt und riß den Arm herunter. »Geben Sie mir die Pistole, Jenkins«, sagte Gayfield freundlich und ließ den Stock sinken, den er gegen die bewehrte Faust seines Gegenübers gehoben hatte. »Machen Sie keine Dummheiten.« Widerstandslos lieferte Jenkins die Waffe aus. »Ich brauchte ihn deshalb nicht umzubringen«, stöhnte er, »glauben Sie mir! Er war mit meinen Vorschlägen, die Summe allmählich abzuzahlen, einverstanden – er begriff mich – o Gott, ich wußte, man würde mir das nie glauben…«
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»Ich will es versuchen, Jenkins«, sagte Gayfield nach einigem Überlegen, »um wieviel handelte es sich?« »Fünftausend«, flüsterte der Juwelier. »Ich mußte den Stein bekommen, ich dachte, eine große Sache in Händen zu haben – er verstand mich – er allein – und nun ist er nicht mehr imstande – mir zu helfen… was soll ich tun…« »Beten, daß ich den Richtigen finde – wenn es einen gibt… außer Ihnen…«, sagte Gayfield und ging.
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23. KAPITEL ZWEI VON DER ALTEN GARDE In tiefem Sinnen ließ sich Gayfield zur Bank fahren. Er entließ den Chauffeur, der seine Enttäuschung, den erwarteten Dauerposten nun doch nicht gefunden zu haben, durch ein eher mageres Trinkgeld nur wenig gemildert fand. Verwundert betrachteten die Cityleute den etwas sportlich gekleideten, älteren Herrn, der mit seinem Jagdhund öfters das Gebäude umschritt. Schließlich blieb er vor dem Eingang stehen und warf einen unsicheren Blick auf den reich galonierten Portier, der den seltsamen Alten schon die ganze Zeit mit wohlwollender Miene betrachtete. »Darf ich Ihnen behilflich sein«, fragte der Betreßte höflich, »ich irre wohl nicht, wenn ich annehme, daß Sie ein Anliegen an unser Haus haben?« »Es ist so, in der Tat, es ist so«, sagte Gayfield mit all der Scheu des schlichten Landmannes einer so kolossalen Erscheinung gegenüber. Der Türhüter wuchs sichtlich um zwei weitere Zoll, was bei seiner Größe, nebenbei gesagt, keine wesentliche Rolle spielte. »Darf ich mir erlauben, zu fragen, welcher Natur dieses Anliegen ist«, erkundigte er sich huldvoll. »Ich erlaube mir das nur, damit ich Sie auf das beste bedienen kann, ohne Ihnen überflüssig etwas von Ihrer kostbaren Zeit zu nehmen.« »Es handelt sich um die Veranlagung von Geld«, gestand der Landmann bescheiden. »Es ist nicht der Rede wert, einige kleine Ersparnisse, zwei- bis dreitausend Pfund. Glauben Sie, ich dürfte einen Ihrer Beamten damit belästigen?«
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Der Türhüter war bei diesen Worten wieder zwei Zoll kleiner geworden und stieg sogar die Stufe hinab, die er über dem Fragesteller eingenommen hatte. »Es spielt keine Rolle, welcher Betrag es ist, hier wird das Scherflein des kleinen Mannes mit derselben Umsicht und Liebe entgegengenommen wie die Millionen eines Riesenkonzerns – und mit der gleichen Gewissenhaftigkeit verwaltet. Sie haben Klugheit und Umsicht bewiesen, indem Sie sich an unser Haus gewendet haben. Zumindest sind Sie in dieser Hinsicht trefflich beraten worden. Es wird mir ein Vorzug sein, Sie zu einem Herrn begleiten zu lassen, der Sie aufs beste bedienen wird.« Und mit einer Armbewegung, mit der Nelson seinen Armaden den Befehl zum Angriff gegeben hätte, wenn er den rechten Arm nicht verloren gehabt und den linken nicht zum Anhalten am Geländer der Brücke gebraucht hätte, winkte er einen zylinderbehuteten Riesen heran, der dieses Winkes bereits seit einiger Zeit gewärtig gewesen war. »Aber ich möchte nicht zu einem der großen Direktoren«, wehrte der Mann vom Lande ängstlich ab, als er sich in der Mitte dieser beiden Giganten befand, die sein Hund mißtrauisch beschnupperte. Der Torhüter brachte schnell seine weißen Beinkleider in Sicherheit. »Ich verstehe«, sagte er und konstatierte mit Genugtuung, daß das überlegene Grinsen seines Kollegen, mit dem dieser seinen Seitensprung quittiert hatte, verschwand, als sich der Hund nun ihm selbst zuwandte. »Auch nicht einen dieser jungen Herren, die sicher nicht viel Verständnis für meine kleinen Sorgen haben könnten…« »Führen Sie unseren werten Gast zu Mr. Smith VII«, entschied der Portier, nachdem er den Fall gewissenhaft geprüft zu haben schien. »Sie werden entzückt sein, diese Koryphäe unserer Firma kennenzulernen.« 288
Mr. Smith VII, bei dem Gayfield nach etlichen Minuten eindrucksvoller Umwege durch das Haus landete, entpuppte sich als ein etwas verbrauchter, älterer Herr mit Zwicker und müden Bewegungen. Gayfield ging neben ihm auf einem bequemen Polsterstuhl vor Anker und marterte ihn mit einer langen Geschichte, wie er durch redliche Arbeit und nimmermüde Sparsamkeit zweitausendfünfhundert Pfund gespart habe, die er nun möglichst fruchtbar, aber auch möglichst sicher anzulegen wünsche. »Mein Portier nannte mir Ihre werte Firma«, fügte er der Erzählung hinzu, »die er mir für meine Zwecke wärmstens empfahl.« Mr. Smith VII erwachte aus dem wohligen Halbschlummer, in den ihn Gayfields Märchen versenkt hatte. »Oh«, sagte er mit Interesse, »wollen Sie mir den Namen dieses so wohlinformierten Herrn verraten?« Gayfield nannte irgendeinen Namen. »Und das Haus?« fragte VII, eifrig notierend. Gayfield nannte eine erfundene Adresse und betete nur, sein Gegenüber möge nicht auf einem Plan die noch ungeborene Straße, die er eben getauft hatte, suchen. »Ah«, sagte VII, »es ist immer interessant, festzustellen, wie aufmerksam selbst kleine Leute das Geschäftsleben verfolgen. Unser Haus erfreut sich ja besten Rufes, aber immerhin ist es erstaunlich, daß sein Name auch in solche Sphären gedrungen ist. Unsere Klienten rekrutieren sich hauptsächlich aus Geschäftskreisen, wie dies bei den meisten Privatbanken von Qualität der Fall ist. Allerdings üben wir auch auf kleinere Einleger in der unmittelbaren Umgebung eine gewisse Anziehungskraft aus, obwohl wir uns natürlich mit dem Kundenfang, wie ihn die Großbanken betreiben, nicht befassen.« »Wie interessant«, sagte Gayfield bewundernd. »Glauben Sie, daß meine Einlage angenommen würde?«
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»Ich werde es bestens empfehlen«, sagte der Gefragte mit Würde, »und ich glaube bestimmt versprechen zu können, daß diese Empfehlung genügen wird, Ihnen ein Konto bei uns eröffnen zu lassen. Im allgemeinen, wie Sie vielleicht wissen dürften, verlangen wir englische Bankiers von neuen Kommittenten Referenzen, aber ich darf hoffen, daß man dies nachträglich zu tun bereit sein wird, so daß Sie die Überweisung augenblicklich vornehmen könnten. Darf ich Sie um einen Scheck über die Summe bitten, die Sie uns anvertrauen wollen? Ich nehme an, daß Sie diese auf einem Bankkonto deponiert haben?« Der biedere Mann wand sich in Verlegenheit. »Ich muß gestehen«, sagte er schamübergossen, »daß ich unmodern genug war, mein Geld selbst zu verwahren. Ich lebe etwas abseits, da habe ich es immer in meinem Kleiderkasten verwahrt.« »Wie unvorsichtig«, tadelte VII, »eigentlich eine Herausforderung des Schicksals, eine Einladung zum Einbruch…« »Es ahnte ja niemand davon – und mein braver Hund…« »Danken Sie Gott, der die Schwachen im Geiste – äh, ich meine, die arglosen Gemüter zu beschützen scheint… Nun, so darf ich Sie ersuchen, mir Ihre Banknoten zu übergeben. Ich hoffe, es werden keine darunter sein, die indessen außer Kurs geraten sind – sie zu verwerten, macht natürlich Spesen…«, und er suchte die schlichte Kleidung seines Gastes nach irgendwelchen Schwellungen ab, die das Vorhandensein der anscheinend erwarteten Einpfundnoten-Massen verraten könnten. »Ich ließ das Geld zu Hause, im Nachtkästchen«, gestand Gayfield, »ich wollte es doch nicht den Gefahren des mir so ungewohnten Großstadtverkehrs aussetzen, wie leicht hätten wir totgefahren werden können, und das schöne Geld wäre dabei vielleicht verschwunden.« 290
»Eine außerordentlich kluge Überlegung«, stimmte VII bei. »Ich sehe gerade, daß wir uns der Sperrstunde nähern. Darf ich hoffen, Sie morgen wiederzusehen? Ich könnte Ihnen einen Beamten an die von Ihnen angegebene Adresse schicken, der Sie herbegleiten würde, damit Sie in jeder Beziehung geschützt werden?« »Eine wunderbare Idee und eine wirklich überwältigende Aufmerksamkeit«, rief Gayfield hingerissen. »Wir tun für unsere Klienten alles, was in unserer Macht steht, ohne Kosten und Spesen zu scheuen«, wehrte VII bescheiden ab. »Sie nehmen mir eine große Sorge ab! Schon die Bahnfahrt mit den vielen Notenpaketen war eine Qual. Sie können sich vorstellen, ich hatte doch alles in Einpfund- und Halbpfundnoten…« »Ich dachte es mir«, sagte VII und griff nach seinem Hut. »Darf ich Sie hinausführen? Wir haben den gleichen Weg.« »Nur, wenn Sie mir erlauben, Sie auf ein Gläschen Port einzuladen…« »Oh, wirklich, Sie sind charmant«, sagte VII entzückt, »ich sollte dies gar nicht annehmen, es ist uns in der Bank nicht gestattet, Präsente zu akzeptieren…« »Aber außerhalb der Bank – ein kleines Plauderstündchen…« »Ich freue mich darauf…« »Die Freude ist ganz auf meiner Seite…« Einträchtig wandelten die drei durch die nun in der rushhour überfüllten engen Gassen der City, bis VII vor einer Kellerstiege zögerte: »Hier gibt es einen ausgezeichneten Tropfen und einen stillen Winkel…« »Sie sind einzig, gerade der echte Gentleman, wie ich ihn einmal zu finden hoffte«, sagte Gayfield glücklich. »So überlegt und wohlmeinend, ruhig und sicher – ich möchte mich 291
Ihrer Führung und Beratung immer anvertrauen! Ich hoffe auch in den Geschäften, die wir in der Bank machen werden, auf Ihren unschätzbaren Rat…« Wenige Minuten später saßen die beiden an einem kleinen Tisch in einem wirklich unendlich gemütlichen Lokal, wie man es eben nur in London findet: eine mit dunklem Holz getäfelte Diele, mit wurmstichigen, aber soliden, ledergepolsterten Fauteuils und Bänken, schweren Eichentischen und Schränken vollgestopft, mit rauch- und alkoholduftender Atmosphäre, die einen Abstinenzler zum Trinker und einen Todfeind des Nikotins zum Pfeifenanbeter gemacht hätte. Ein paar alte, schön geschliffene Gläser mit dunkelrotgolden leuchtendem Port standen vor den zweien, dazu ein paar Schwergewichtssandwiches. Auch Robbie war mit einer Wurst von abenteuerlichen Dimensionen bedacht worden. »Ah«, sagte Gayfield beim dritten Glas, »das ist ganz wie in den alten Tagen. Mr. Smith, ich fühle mich in meine goldene Jugend versetzt…« »Ich heiße William«, bemerkte VII einladend, »aber meine Freunde nennen mich Bickie – warum eigentlich, kann ich mich nicht mehr genau erinnern, ich glaube, Billie war ihnen zu alltäglich . ..« »Das muß ein Kreis kluger Burschen gewesen sein«, lobte Gayfield, »an Ihnen ist auch nichts Alltägliches, zu Ihnen paßt ein besonderer Name – cheerio, Bickie – ich heiße John, John – nichts anderes, einfach und simpel John . ..« »Simple John?« fragte Bickie tiefsinnig, »es scheint, der Name konnte nicht besser gewählt werden…« »Ich meine, John schlechtweg«, beeilte sich Gayfield, dem die Sache nun doch etwas zu weit zu gehen schien. »Wenn Sie dabei bleiben wollten, würden Sie mich verbinden…« »Es ist mir wirklich eine Ehre«, sagte Bickie und sah sich nach dem vierten Glas um.
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»Es ist wunderbar, wie sich zwei Seelen finden können«, schwärmte Gayfield, als die Titulaturfrage nun annehmbar geregelt schien. »Ich diente bei den Lancers, im ersten Weltkrieg…« »Ich war beim Intelligence Corps«, log Gayfield fröhlich, einen beinahe ungezogen erstaunten Blick seines neuen Freundes ignorierend, »das waren Zeiten.« »Das waren sie«, bestätigte Bickie in tiefer Erkenntnis dieser unumstößlichen Weisheit. »Ich war in Frankreich, vier Jahre«, setzte er fort, »nach dem Friedensschluß kam ich ein paar Monate nach Deutschland – ekelhafte Gegend, kein Port, kein Whisky – und das Bier: einfach gräßlich. Von den dicken Weibern gar nicht zu reden – und diese Sprache – eine Katastrophe.« »Ich war im Orient«, berichtete Gayfield wahrheitsgemäß, »Ägypten, Mesopotamien – Kut el Amara – Bagdad…« Die bedeutungsschweren Namen lösten die Zungen, und manche schöne Erinnerung wurde ausgetauscht. »Ich glaube, es wird Zeit zu gehen – also auf morgen«, sagte Gayfield. »Welches Glück, daß ich dem Rate des Portiers folgte. Nun habe ich nicht nur eine zuverlässige Anlage für meines Alters Notpfennig gefunden, sondern auch einen zuverlässigen Freund! Gott, was brauche ich noch mehr? Hab Dank, Du da droben! Komm, Robbie…« »Hören Sie, John«, sagte Bickie. Er schien einen Entschluß zu fassen. »Hören Sie – ich kann einen alten Kriegskameraden, einen von der alten Garde, nicht hineinfallen lassen – hol’s der Teufel, wir von damals müssen verdammt zusammenhalten in dieser schlechten Welt…« »Nun«, sagte Gayfield mit gut gespielter Überraschung, »was meinen Sie damit?« »Setzen wir uns noch einen Augenblick«, sagte Bickie und ließ dem Wort die Tat folgen. »Wenn ich Ihnen raten darf – ich möchte Ihnen morgen nicht den Messenger schicken. Suchen 293
Sie sich eine andere Bank für Ihre sauer verdienten EinpfundNoten.« »Teufel«, sagte Gayfield und setzte sich zu seinem neuen Freund, »was wollen Sie damit sagen?« »Es gibt bessere Anlagen und vor allem sicherere Anstalten als die, die Ihnen der Portier, der sicher eine Prämie von unserem famosen Gillespie erwartet, anempfohlen hat. Wenn Sie eine Gelegenheit dazu kriegen, ihm unauffällig den Hals umzudrehen, so tun Sie es.« »Was ist denn in dieser renommierten Firma los?« fragte Gayfield erstaunt. »Es war ein gutes Haus, bis vor ein paar Jahren. Niemand weiß viel davon, aber ich erinnere mich sehr gut der Sache. Old Pott, so nennen wir unseren Chef, müssen Sie wissen, war immer ein fideles Haus, aber in seiner Firma hielt er eiserne Ordnung, da war nichts, was nicht tiptop und above board war. Aber da lernte er ein Mädel kennen, und dann war der Teufel los. So ein alter Heuschober brennt am hellsten, wenn er Feuer fängt – wenn Sie verstehen, was ich meine. Die Geschichte ging schief, das Mädel ging ihm mit einem anderen durch. Jawohl, so etwas gibt es noch, John! Mit einem Chauffeur, der nicht einen Knopf hatte – außer denen auf seiner Livree natürlich. Nun, der alte Esel schnappte beinahe über. Er kam tagelang nicht ins Geschäft, sämtliche Detektive kämmten das Land durch nach dem hübschen Lärvchen. Das war sie, man muß es ihr lassen. Old Pott hatte keinen schlechten Geschmack, das können Sie mir glauben – nach all dem, was hinter seinen fünfzig Lenzen lag, die ziemlich bewegt verlaufen sein sollen. Aber der Fratz war weg – bis heute hab’ ich nichts mehr von ihr gehört. Nun, wie gesagt, Old Pott wurde ganz melancholisch, Direktoren und Klienten schüttelten die Köpfe, es ging drunter und drüber, er sprach nur mehr von Liquidation oder Bankrott, wir alle zitterten um unser bißchen Brot. Schließlich packte er sich zusammen und ging 294
auf eine Weltreise – und das rettete uns. Seine Direktoren kriegten das Schiff wieder in Fahrt, als er sie in Ruhe ließ. Nun, er kam nach einem halben Jahr wieder – aber nun ging erst recht der Teufel los. Da war kein noch so riskantes Geschäft, schwupps! stak er mit beiden Füßen drinnen, und meist kam er ohne seine Schuhe heraus. Die alten, bewährten Direktoren, die ihn bremsen wollten, flogen der Reihe nach, die alten Klienten folgten, die Geschäfte wurden immer toller. Zum Schluß saß er so fest, daß ihn die eigenen Gläubiger halten mußten. Natürlich taten sie das nicht, ohne einen ihrer Leute ‘reinzusetzen, der auf ihn aufpaßte – wie ein Gendarm, und langsam richtete sich die alte Fregatte wieder auf.« »Nun, also«, sagte Gayfield erleichtert, »Sie haben mir einen schönen Schrecken eingejagt.« Bickie zog ihn wieder auf seinen Sitz nieder. »Auch wir hofften nun, die Sache werde wieder laufen – aber was geschah? Irgendwie bekam Old Pott wieder Oberwasser, es gab einen Riesenkrach, und er warf seine Gläubiger samt deren Aufpasser im Bogen ‘raus.« »Fabelhaft«, sagte Gayfield und versuchte, seinen Ärmel Bickies etwas unsicher gewordenen Fingern zu entwinden. »Ein genialer Bursche, genau, wie man ihn mir beschrieb. Ich bewundere seinen Genius restlos, der soll mein Geld verwalten…« »Was Genius«, ereiferte sich Bickie, »es gelang seinem Sekretär, diesem Laffen Gillespie, ein paar seiner sauberen Kumpane aus der guten Gesellschaft zu beschwatzen, eine ›vorübergehende Illiquidät‹, wie er die totale Ebbe in unserer Kasse nannte, damit zu überwinden, daß sie ihm aus ihren Schmuckschatullen die Perlenketten ihrer Frauen, ihre Diademe, ja sogar Ringe und solches Zeug borgten, auf die er Kredit nehmen konnte – wenn der verbraucht ist, haben wir die alte Geschichte wieder. Nur Gillespies und Potters aristokratische Narren, die sich ihr altes Bankhaus erhalten zu 295
können glaubten, werden ihre paar Klamotten angebaut haben – und da soll Ihr gutes Geld nicht mit zum Teufel gehen, alter Kamerad.« »Auf Schmuckstücke ein Bankhaus fundieren – das klingt ein wenig seltsam«, forschte Gayfield. »Es wurde auch recht geheim behandelt. Ich erfuhr davon nur durch einen Zufall. Ein alter Schulkollege war dabei, der etwas von Juwelen versteht und als Sachverständiger zugezogen wurde. Früher war er Juwelier und ist nun Tresorbeamter der Bank, die die Anleihe gab. Ich sah ihn neulich, und er erzählte mir von der ganzen Transaktion. Ein aktiver Juwelier sollte nicht zugezogen werden, weil der allenfalls die Juwelen einiger hoher Herrschaften darunter hätte erkennen können. Denen wäre es kaum recht gewesen, wenn man erfahren hätte, daß sie diese ausgeliehen haben…« »Besonders, wenn sie diese unrechtmäßig erworben hätten… Sagen Sie, da las ich vor kurzer Zeit von einem Raub – einem Mord an einem Juwelier. Kann es sich um die Beute handeln, die dabei verschwand? Es sollen fünfzigtausend Pfund gewesen sein und bisher hat man keine Spur davon!« Gespannt verfolgte Gayfield das Mienenspiel seines Nachbarn. Einen Augenblick stutzte VII. »Unsinn«, sagte er dann. »Das war doch so vor zwei bis drei Wochen? Die Sachen, von denen ich rede, sind mindest drei Monate in der Bank – es dauerte nur lange, bis die Belehnung erfolgte. Die allgemeine Geldknappheit verzögerte die Sache, auch gingen manche Stücke erst später ein – na, und ein Mörder ist Old Pott nicht, da lege ich meine Hände ins Feuer…« Teufel, wo war sein Zuhörer hingekommen? Bickie wartete ein paar Augenblicke, dann fragte er nach seinem Freund und erfuhr, daß dieser soeben mit seinem Hund in einem Taxi verschwunden war. Die Rechnung hatte er vorher gezahlt…
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»Anständiger Kerl, Gott segne ihn«, murmelte Bickie und trank sein Glas aus. »Freilich, einer von der alten Garde…«
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24. KAPITEL GAYFIELD HAT DAS WORT: Bis hierher hatte ich gelesen, als… ja, also wie war das, ich muß etwas früher beginnen: Ich erzählte diese komische und eher verwickelte Geschichte meinem Freund, dem Verfasser dieses Buches, in einer schwachen Stunde, wie sie alte Leute, die wenig zu tun haben, manchmal heimsuchen. Ein paar Wochen später kam er zu mir und warf mir einen Packen eng beschriebener Blätter hin: »Da haben Sie Ihre Geschichte«, sagte er dabei, »wie gefällt sie Ihnen?« Nun, wie gesagt, ich habe das Zeug gelesen. Bis hierher, zu dem Punkt, wo ich angefangen hätte. Ich habe meine Geschichte gar nicht wiedererkannt, auch wenn er nicht alle Namen geändert hätte. Alle Ereignisse sind total verdreht, daß man sich natürlich nicht auskennen kann. Ich sagte ihm das. »Wenn ich die Geschichte so erzählt hätte, wie Sie sie mir vorgesetzt haben, wenn ich sie also wie einen Polizeirapport hingeschrieben hätte, so würden die Leser nach fünf Minuten einschlafen – und eine Detektivgeschichte soll im allgemeinen nicht als Schlafpulver benützt werden.« Nun, so las ich das Zeug noch einmal und diesmal bis zum Ende. Und da sah ich, daß hier, nach meiner Unterredung mit Smith VII, die Geschichte eigentlich vollkommen klar war. Ich verstehe heute nicht, was für ein Esel ich war, damals einen immerhin nicht ganz richtigen Schluß zu ziehen, der mich beinahe das Leben gekostet und einem der ärgsten Schurken unserer Zeit die Früchte seiner Schandtaten überlassen hätte. Nun, vielleicht habe ich eine Entschuldigung: damals hatte ich alles etwas verwirrt und nicht schön schwarz auf weiß vor mir 298
– wie jetzt – wie Sie, lieber Leser. Oder kommen Sie vielleicht auch nicht darauf, wer der Schuldige war, Potter, Gillespie, Jenkins, Shawler – oder vielleicht doch Jonathan? Nun??? Raum für die Vermutungen des Lesers – und deren Begründung
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25. KAPITEL DIE SCHLACHT Es war fast halb sieben, als Marjorie ins Hotel kam. Sie war sehr müde. Die kurze Nachtruhe nach den aufregenden Ereignissen in der Kanzlei hatte nicht genügt, sie wieder auf den Damm zu bringen. Der Hauswart hielt sie auf, als sie an ihm vorbeikam. »Eine Nachricht für Sie, Miß Gayfield, von Ihrem Vater«, sagte er. »Er telephonierte vor ein paar Minuten, daß er nicht zum Essen zu Hause sein wird, und bittet Sie, nicht auf ihn zu warten. Er ist mit einem Freund in der Stadt und wird mit ihm essen. Sie sollen recht früh zu Bett gehen.« »Er soll sich mehr um sich selbst kümmern, er braucht es viel nötiger«, seufzte das kleine Fräulein halblaut. »Hat er nicht gesagt, ob ich ihn irgendwo erreichen kann?« »Ich fragte eigens danach«, sagte der Mann verständnisvoll, »da ich mir ja denken konnte, daß Sie sich Sorgen machen würden um den lieben Herrn, der ja noch gar nicht so gut beisammen ist. Aber er wurde gleich ungeduldig und sagte, er wolle nicht gestört sein und werde schon zur Zeit nach Hause kommen.« Traurig ging das Mädchen in ihr Zimmer. Das sieht Daddy ähnlich, sann es. Genau wie zu Hause im Wald. Wenn er eine Spur verfolgte, da ließ er sich auch nie zurückhalten und dachte an nichts anderes. Ich würde mich ja nicht sorgen, wenn er in Ordnung wäre, aber er ist doch noch so schwach, so entsetzlich schwach – er weiß selbst nicht, wie schwach er ist, ich durfte es ihm ja gar nicht sagen! Er wird sich noch umbringen… Mit diesen trüben Gedanken ließ sich das Mädchen auf das Sofa fallen, als sie in ihr Zimmer gekommen war, und versank 300
sofort in einen Schlaf tiefster Erschöpfung. Ein kräftiges Klopfen an der Tür weckte sie. Ein Messenger-Boy stand draußen mit einem Brief. Sie las: »Liebe Miß Marjorie, verzeihen Sie, daß ich Sie wieder störe, kaum daß Sie zu Hause sind. Ich hoffe aber, Sie hatten eine ausgiebige Rast während des Weekends und können deshalb noch einmal in die Kanzlei kommen, um eine wichtige und dringende Arbeit zu erledigen, die mit den Ereignissen der letzten Tage in Zusammenhang steht. Ich laufe gerade in eine Sitzung, konnte Sie vorher telephonisch nicht erreichen. Ich hoffe, dieser Brief trifft Sie rechtzeitig, so daß Sie um neun in meiner Kanzlei sein können. Es wäre mir sehr wichtig und ich wäre Ihnen für Ihre Mühe unendlich dankbar – natürlich brauchen Sie dafür morgen nicht so früh zu kommen. Also auf bald. Ihr ergebener F. S.« »Keine Antwort«, sagte Marjorie zu dem Messenger-Boy, der daraufhin verschwand. Sie machte sich schnell fertig. Es war halb neun, und sie brauchte bestimmt eine halbe Stunde bis zur Kanzlei, selbst wenn sie nicht lange auf den Bus warten mußte. Sie warf noch einen Blick auf die wohlbekannte Unterschrift des Anwalts und lief. Punkt neun stand sie etwas atemlos vor der Tür der Kanzlei. Alles war still in dem leeren Haus, und ein leichter Schauer kroch ihr über den Rücken. Wie glücklich wäre sie gewesen, wenn ein gewisser junger Mann neben ihr gestanden wäre – wie gestern, wo sie sich so sehr über seine spöttischen Bemerkungen geärgert hatte. Wo er jetzt wohl sein mochte? Den ganzen Tag hatte sie nichts von ihm gehört. So nett war es gestern gewesen, in seinen Armen – wenn nur dieser Schuft nicht dazwischen gekommen wäre. Sie war sicher, Bob hätte ein Jahr seines Lebens gegeben, wenn er statt ihr den gesuchten Verbrecher in seinen starken Armen gehalten hätte, in diesen Armen, deren Druck so weh und doch so wohl getan hatte, daß man sie immer wieder fühlen wollte. Zum Beispiel jetzt, nun 301
sie endlich aufgesperrt hatte und in das schweigende Dunkel des Kanzleivorraumes trat, mit der Linken nach dem Schalter suchend. Nun, da war er ja wieder, dieser Druck um sie – Himmel, was war das, wer hielt sie da eisern umfaßt? Sie wollte aufschreien, hörte, wie die Tür hinter ihr zufiel – dann wußte sie nichts mehr von sich… Sie erwachte in tiefer Dunkelheit, und ihr erstes Gefühl war ein scharfer Schmerz in ihren Handgelenken. Sie wollte sie zum Munde führen, da bemerkte sie, daß sie auf dem Rücken zusammengebunden waren und daß sie selbst auf dem Boden lag, das Gesicht nach abwärts. Mühsam versuchte sie, sich herumzudrehen. Sie wollte schreien, aber nur ein ersticktes Stöhnen entrang sich ihrem Munde, vor den ein dickes Tuch gebunden war. Sie hörte eine Tür gehen, und eine heisere, wohl verstellte Stimme ertönte: »Halten Sie still, und keinen Laut, sonst erschlage ich Sie wie eine Ratte – aber vorher können Sie sich noch auf etwas Schönes gefaßt machen!« Sie erschrak fürchterlich. Sie war in den Händen eines unbarmherzigen Feindes, der um sein Leben kämpfte und ihres in dieser Schlacht nicht schonen würde! Wer es wohl war? Konnte es jemand anderer sein als Shawler? Sie zitterte bei dem Gedanken noch mehr. Seine kaum verhüllte, wilde Leidenschaft kam ihr in Erinnerung, der sie damals ohnehin nur mühsam entwischt war, als sie zusammen in der Kanzlei allein gewesen waren. Was er wohl mit ihr vorhatte? Er mußte sie ja töten, damit er nicht von ihr verraten werden konnte – aber was er ihr wohl vorher antun würde? Verzweifelt wanderten ihre Gedanken zu ihrem Vater. Wenn der nur von ihrer Not wüßte! Ach, der Arme, er war selbst so schwach! Um Gottes willen, er war ja selbst in größter Gefahr – sicher hatte der Anwalt gestern seine Gedanken erfahren, als sie diese Burnes erzählte und der Schurke hinter der Tür versteckt
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horchte. Als sie versicherte, ihr Vater werde nicht ruhen, bis er den Schuldigen entdeckt habe… Sie kämpfte verzweifelt mit ihren Fesseln, obwohl sie genau wußte, daß es ihr nichts helfen würde, selbst wenn sie frei käme – aber die Fesseln lockerten sich nicht, sie gab es auf… Sie hörte plötzlich die Glocke und dann die Korridortür gehen. Dann hörte sie undeutlich zwei Stimmen, erkannte die Stimme Shawlers, die nun ganz normal klang. Dagegen konnte sie die zweite Stimme, die viel leiser war, nicht erkennen. Sie verstand kein Wort, aber plötzlich ging die Tür auf und Shawlers Kopf erschien für einen Augenblick im hellen Licht der Lampe seines Zimmers. Er warf nur einen Blick herein, wohl um sich zu überzeugen, daß sie ihre Lage nicht verändert hatte. Sie lag aber so im Schatten des Tisches in dem ohnehin dunklen Raum, daß er sie gewiß gar nicht sehen konnte. Er verschwand auch gleich wieder und die Tür wurde geschlossen. Das Gespräch ging draußen weiter, dann kam das Läuten des Telephons, wieder hörte sie deutlich die Stimme des Anwalts, der seiner Haushälterin anscheinend etwas auftrug. Dann verstummte das Gespräch nebenan, unheimliche Stille trat ein, sie vermeinte schleichende Schritte zu hören, etwas wurde über den Fußboden geschleift, und das Geräusch kam näher. Unvorstellbare Angst erfaßte sie. Nun kam es, das Entsetzliche, o Vater, wo bist du, Robert, Liebster – wo seid ihr, meine Freunde – wo ist Robbie – Robert! Ihre Gedanken verwirrten sich, sie hörte einen furchtbaren Krach, eine donnernde Stimme, lautes Rufen ihres Namens und dann kamen zwei starke Arme, aber diesmal waren es die richtigen – ihre Hände wurden frei, das Tuch wurde von ihrem Munde gerissen und etwas anderes legte sich auf ihn – das war doch kein Tuch? Nein, das waren zwei Lippen, glühende Lippen, die sich auf ihre preßten, als ob sie sie ersticken wollten – und dann wurde sie wieder ohnmächtig…
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Burnes hatte einen ekelhaften Tag hinter sich, wie er sich offen eingestand, als er gegen sieben endlich aus dem Amt kam. Er fuhr nach Hause und wusch sich. Nichts hatte er erreicht, Walter hatte das Dokument mit Raans furchtbarer Anklage sehr skeptisch behandelt und sich angelegentlich erkundigt, was der Förster gesagt habe, als er es zu Gesicht bekommen hatte. Gayfield hatte aber kaum hingehört und nur versonnen, halb wie im Traum, vor sich hingenickt. Gott, wird der Arme alt, hatte Burnes gedacht und sich leise hinausgeschlichen. Er wartete dann lange auf das Gutachten der Schriftsachverständigen, die die verschiedenen Proben sorgfältig verglichen. Schließlich erfuhr er, daß sie kein endgültiges Urteil abgeben könnten. Es schien ihnen, es sei die Unterschrift etwas anders, die auf dem fraglichen Brief stand, aber auch die anderen Proben waren nicht ganz einheitlich. Man müsse weitere Proben haben. Burnes versprach, solche am nächsten Tag zu beschaffen, erledigte einige laufende Angelegenheiten, erkundigte sich zum drittenmal, ob Jonathan van Raan nicht doch zufällig ausgebrochen sei, und verließ, nachdem man ihn beruhigt hatte, das Büro. Nun ging er unruhig und in Zweifeln in seinen Zimmern auf und ab, aber immer wieder stand ein süßes Mädchenantlitz vor seinen Augen, immer wieder glaubte er ihre klangvolle Stimme zu hören, den Druck ihrer lieben, kleinen und doch so festen Hand zu spüren. »Ich muß mich von diesem Einfluß frei machen«, dachte er, »mein Gott, ich kann ja gar nicht mehr selbständig denken… wie soll ich zu einem vernünftigen Urteil kommen, wenn ich greisen Waldläufern und verträumten Waldnixen zu glauben anfange…« Er fand sich am Volant seines Wagens. »Ein bißchen frische Luft wird mir gut tun – ich werde diesen Abend endlich einmal allein verbringen.« Zehn Minuten später fand er sich vor dem 304
Hotel, wo Gayfields abgestiegen waren. Zögernd ging er hinein. »Mr. Gayfield ist heute mit einem Freunde auswärts speisen gegangen«, antwortete der Portier auf seine Frage. »Und das Fräulein?« fragte Burnes zögernd. »Miß Gayfield ging vor etwa einer halben Stunde eilig weg«, berichtete der Gefragte weiter. Burnes sah auf die Uhr. Neun Uhr vorbei – wo mochte das Mädel stecken? Ihr Vater war anscheinend nicht mit ihr. Oder hatte er sie ohne Wissen des Portiers nachkommen lassen? »Ich werde vielleicht später noch einmal vorbeikommen«, sagte er und ging. Gayfield kam etwa eine halbe Stunde später mit Robbie. Er hörte von Marjories Weggehen und von Burnes Anfrage. Hm, das war dumm. Er wäre gern zur Ruhe gegangen, um die verwirrenden Auskünfte, die er heute gesammelt hatte, ruhig zu überlegen. Nun mußte er auf das Mädel warten und womöglich auf Burnes auch noch. Er ging in sein Zimmer und gab sich dort seinen Gedanken hin. Vielleicht ist sie in die Kanzlei gegangen, überlegte er. Woanders kann sie ja kaum sein, wenn sie nicht mit Burnes ist, der ja anscheinend auch auf der Jagd nach ihr war, dachte er dann. Er hob den Hörer ab und verlangte die Nummer von Shawlers Büro. »Wer spricht?« antwortete eine Minute später eine Stimme. Das war doch Gillespie…? »Gayfield hier«, sagte er, »kann ich Dr. Shawler sprechen oder meine Tochter, Mr. Gillespie?« »Die ziehen sich eben an«, sagte Gillespie, »wir sind gerade auf dem Weg zu Potter, der uns für heute noch einmal zu sich gebeten hat. Ich bin etwas in Eile – Sie wissen, wenn der Chef ruft! Die endgültige Abklärung soll jetzt erfolgen. Old Pott hat Ihr Töchterchen auch eingeladen. Wollen Sie sie nicht abholen kommen? Der alte Lustmolch läßt sie sonst sicher nicht vor dem Morgen weg. Wir Burschen halten das schon aus, aber das 305
arme Ding sah todmüde aus, wollte aber kein Spielverderber sein. Kommen Sie in einer halben Stunde hin, Ihnen wird er sie schon herausgeben…« Also schön, dort schien man ja in bester Stimmung zu sein. Also darum hatte man sein Mädel geholt! Gillespie und Shawler hatten wohl die Friedensbedingungen in der Kanzlei des Anwaltes festgelegt und sie hatte sie schriftlich verewigt. Und nun kam das Festmahl, auf das sich sein Kind so herzlich gefreut hatte. Also hatte sie richtig vorausgesehen, wie schon so oft. Ob er nicht mittun sollte? Morgen war auch ein Tag – da würden sie sich beide ausschlafen können, denn nun wußte er eigentlich so viel, er konnte sich Zeit lassen. Hm, konnte er das wirklich? Noch einmal griff er zum Telephon. Scotland Yard. Nein, leider – Chefinspektor Walter war nicht mehr da, vermutlich zu Hause, Telephon 2438… Gayfield hatte die Verbindung in einer Minute. »Hallo – hier Walter«, hörte er eine Stimme, die sein Herz erzittern ließ, wie vor einem Vierteljahrhundert, als sie ihm Lebewohl gesagt hatte… »Guten Abend, Sir«, antwortete er, »hier spricht Gayfield.« Nur eine Zehntelsekunde war es still drüben. »Ah, Gayfield«, klang es im gleichen, ruhigen Tonfall. »Was gibt es? Dachte mir, daß Sie mich nun einmal rufen würden.« Wie in alten Zeiten erstattete Gayfield Rapport. Alles erzählte er – es dauerte gut zehn Minuten. »Danke, Inspektor«, sagte Walter, als er geendet hatte. »Ich werde sofort Weisung geben, Jenkins und Shawler zu beschatten. Was sind Ihre nächsten Schritte?« »Ich gehe jetzt zu Potter, meine Tochter holen«, sagte Gayfield in der gleichen eintönigen Weise.
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»Ah, Potter«, wiederholte Walter. »Hm, grüßen Sie ihn von mir, Sie müssen wissen, er ist einer meiner ältesten Freunde. Machen Sie keinen Fehler, Gayfield – gute Nacht.« Aus war es. Der Portier bestellte ein Taxi, und Gayfield wollte Robbie mit sich nehmen. Der Bursche konnte sich aber kaum rühren, so angefressen hatte er sich mit der dicken Wurst, die er in Gesellschaft von Smith VII vertilgt hatte. Robbie schien sich selbst nicht ganz klar zu sein. Abwechselnd schaute er auf sein bequemes Lager und seinen geliebten Herrn. Aber schließlich schien die Liebe zu siegen. Er sprang an ihm hoch. »Also komm mit, alter Bursche, obwohl es heute kaum etwas zu erjagen geben wird.« Das Auto war vorgefahren und setzte Herrn und Hund vor dem Parktor ab. Langsam schritten die beiden dem Hause zu. »Wie still doch der Park ist«, dachte Gayfield. »Man möchte nicht glauben, daß hinter diesen dunklen Fenstern ein zauberhaftes Dinner vorbereitet wird. Potter wird sich nicht lumpen lassen, noch dazu vor meiner Marjorie. Die kleine Hexe hat dem alten Filou anscheinend auch den Kopf verdreht – wie sie das nur anfängt?« Erschrocken bemerkte er, daß Robbie in die Pfützen am Wegrand planschte. »Na, du wirst die kostbaren Perser schön schmutzig machen…«, dachte er. »Robbie, schön Platz, aufs Herrchen warten, und keine Katzenmusik, wenn es lang dauert. Herrchen kommt bestimmt wieder…« Er postierte den Hund etwa zehn Schritte vom Eingang, dann läutete er. Gillespie öffnete selbst die Tür. Einen Augenblick sah Gayfield in zwei kalte, graue Augen – eine Schwäche schien ihn zu übermannen – er taumelte zurück, aber blitzschnell faßten ihn starke Arme.
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»Aber, mein lieber Gayfield, nur schön hereinspaziert«, klang eine etwas spöttische Stimme, »seit wann sind wir so schwach?« Er wurde in ein Zimmer gestoßen, das Licht flammte auf. Er sah in die Mündung einer Pistole. »Nur immer mit der Ruhe«, ertönte die Stimme wieder, »hier sind wir ganz ungestört. Old Pott ist im Klub, und wenn er kommen sollte, bevor wir fertig sind, wird er uns sicher nicht stören. Er ist sehr rücksichtsvoll mit seinem armen, geplagten Sekretär, der ja nun Gott sei Dank die Bank wieder fest in der Hand hat, dank van Raans wirklich prachtvollen Juwelen – aber ich langweile Sie gewiß mit dieser Geschichte, die Sie ja heute sicher erfahren haben, als Sie mit unserem geschwätzigen Smith VII ausgingen? Ich habe Sie beobachtet, als Sie zu ihm geführt wurden – und mir meinen Reim darauf gemacht. Nach dem, was ich gestern in Shawlers Kanzlei gehört hatte, wo Ihr freimütiges Töchterchen mir alles über Ihre lobenswerten Absichten erzählte, mußte ich sofort zuschlagen.« »Sie werden mich nicht lange überleben«, murmelte Gayfield, der am Ende seiner Kräfte schien. »Ich will auch in dieser Hinsicht mein Bestes tun«, versprach Gillespie, »besser gesagt, ich habe es schon getan. Morgen wird man den verdammten Lausbuben, diesen Jonathan, ja wohl entlassen müssen, denn Ihre Tochter wird beschwören, daß Shawler die ganze Sache angezettelt hat. Ich lockte sie in seinem Namen in die Kanzlei, wo ich sie erwartete und schwach betäubte, so daß sie ihn mit mir reden hörte. Ich war, nachdem ich sie im Nebenzimmer verstaut hatte, wieder hinuntergegangen, wo ich vor dem Hause auf Shawler wartete, den ich in seine Kanzlei bestellt hatte, um die Friedenspräliminarien zu besprechen. Wir gingen zusammen hinauf, und es war ein leichtes, ihn unter dem Vorwand, ich hätte ein Geräusch gehört, ins Nebenzimmer schauen zu lassen, 308
so daß Ihr Töchterchen ihn deutlich sehen und hören konnte. Dann erledigte ich ihn. Niemand wird ihn finden. Man wird annehmen, daß er geflohen ist und die Juwelen mitgenommen hat. Man wird auch von Ihnen nie mehr hören. Er selbst ist in meinem Auto draußen verpackt, wo Sie bald neben ihm sitzen werden, allerdings mit einer anderen Bestimmung.« »Es wäre nett, wenn Sie mir diese mitteilen wollten, obgleich ich dafür nur theoretisches Interesse habe«, murmelte Gayfield. »Nun«, sagte Gillespie, »Sie können beruhigt sein, daß ich mir für Sie ein sehr natürliches Ende ausgedacht habe. Ich lasse Sie in eines der zahllosen Basements fallen, wie sie ja hier vor fast allen Häusern angebracht sind. Man wird es ganz natürlich finden, daß ein so schwacher Greis in einem Schwächeanfall in der Nacht da hinuntergefallen ist und sich dabei sein zartes Genick gebrochen hat. – Aber ich sehe, Sie werden ganz schwach, um so besser, da erspare ich mir den Schlag auf den Kopf, den ich Ihnen mit meinem Gummiknüttel hier verabreichen wollte, um Sie gefügig zu machen. Vielleicht ganz gut, er könnte eine Verletzung hervorrufen, die sich mit denen, die Sie sich mit meiner Nachhilfe im Basement zuziehen werden, am Ende nicht vereinigen ließe. Also los, armer Jubelgreis – hm, der Kerl ist schwerer als ich dachte…« Er schleppte Gayfield hinaus, nachdem er durch das Guckloch in der Eingangstür festgestellt hatte, daß die Luft rein war. Draußen stellte er ihn wieder hin. »Nicht rühren«, sagte er leise, während er geräuschlos die Haustür schloß. »Für den äußersten Fall habe ich hier einen kleinen Dolch…« Aber als Gayfield plötzlich sehr lebendig wurde, kam es doch nicht dazu. Ein rasender, tobender Hund fiel im Augenblick, als Gillespie zur Waffe griff, über ihn her, und ein wuchtiger Hieb mit dem schweren Krückstock, den Gillespie vorsorglich seinem Gast auf die letzte Reise hatte mitgeben wollen, traf den eleganten Sekretär über den Kopf, so 309
daß er zusammenstürzte. Gayfield hob die Finger zum Mund, und ein schriller Pfiff durchgellte die stille Nacht. Wie aus dem Boden gewachsen stand da ein langer, magerer, alter Herr vor ihm, umgeben von einem halben Dutzend handfester Polizisten. »Ah, mein lieber Gayfield«, sprach eine ruhige, wohlbekannte Stimme, und Gayfields Herz schlug wie vor einem Vierteljahrhundert, »es freut mich, Sie nach langer Zeit wiederzusehen. Ich konnte mir wirklich nicht das Vergnügen versagen, nach unserem Telephongespräch zu ihrem Stelldichein zu kommen – mit der nötigen Begleitung, die dem erwarteten Fest entsprechen sollte. Aber ich sehe, es hätte dessen gar nicht bedurft, Sie hatten ja Ihre eigene Eskorte! Was für ein charmantes Tierchen – sollten Sie einmal Junge von ihm kriegen, wollen Sie mir eines reservieren? Vielleicht komme ich einmal auch in eine ähnliche Lage. Wenn ich Mr. Robbie vorher gekannt hätte wie seinen Herrn, hätte ich mir nicht die Freiheit genommen, ihre Vorkehrungen ergänzen zu wollen…«
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26. KAPITEL GAYFIELD HAT NOCHMALS DAS WORT: Nun, da haben Sie die Geschichte – kennen Sie sich aus? Einiges sollte man noch hinzufügen, was mein lieber Freund, der Verfasser, als unwesentlich Ihrer Vorstellungskraft überlassen wollte: Wie zum Beispiel Burnes zu Marjorie in die Kanzlei kam, um sie von ihren Fesseln zu befreien. Ganz richtig, Sie haben es erraten: Als er sie zum zweitenmal an diesem Abend, so gegen elf, wieder nicht in unserer Wohnung traf, kam er doch endlich darauf, daß sie nur in der Kanzlei sein könne. Er verriet mir allerdings, daß er zuerst Marjorie im Verdacht hatte, sich mit irgendeinem der zahlreichen Verehrer, die er ihr zumutete, in den Strudel des Londoner Nachtlebens gestürzt zu haben. Er erinnerte sich des schönen Arztes da draußen im Whipps Cross Hospital, so daß er den armen Medizinmann aus dem Bett schreckte, bevor er sich zur Expedition in die Kanzlei Shawlers entschloß. Daß er die dann mit gewohnter Energie durchführte, bestätigte mir der dortige Hauswart, den er aus den Federn jagte, um mit ihm hinaufzurasen, die Tür einzustoßen und bei meinem Mädel Wiederbelebungsversuche anzustellen, von denen sich der züchtige Portier diskret abwandte. Wenn diese auch nicht den Polizeiinstruktionen über Erste Hilfe entsprachen, so hatten sie immerhin den gewünschten Erfolg. Sie haben sicher auch erraten, daß Walter und ich sofort den armen Shawler im Wagen Gillespies, der dicht am Hause parkte, aus seiner peinlichen Lage befreiten. Er sah aus wie ein gutverschnürtes Postpaket. Außer einigen Beulen, die ihm sein nächtlicher Besucher verschafft hatte, um ihn in verpackungsfähige Ruhe zu bringen, hatte er glücklicherweise keinen Schaden 311
genommen. Sie werden sich sicher auch gesagt haben, daß Jonathan nun auf freien Fuß gesetzt wurde. Ich möchte erwähnen, daß Walter dies noch in derselben Nacht verfügte. Es ist klar, daß Potter die Juwelen wieder herausgeben mußte, die in ähnlicher Weise, wie Asanow es im kleinen versucht hatte, die Grundlage eines ihn befreienden Kredites gebildet hatten. Doch half ihm Jonathan van Raans Entgegenkommen, dies in einer Weise zu tun, daß er nicht wieder unter die Kuratel seiner Gläubiger geriet. Nun, da der unheilvolle Einfluß Gillespies weggeräumt war, der ihn zu den gewagten Geschäften getrieben hatte, fand der tüchtige Bankmann bald wieder zu sich selbst und seinen alten Freunden zurück, und heute steht seine Bank fest wie eh und je. Shawler gab seine Kanzlei auf und wanderte seinem Vermögen nach, wenig beweint von seinen Kollegen und Klienten. Jenkins und der junge van Raan führen das Geschäft weiter. Der wunderschöne Ring, den meine Tochter von Jonathan als Geschenk für ihre Beihilfe zu seiner Rehabilitierung bekam, stammt aus den Beständen dieser Firma. Es schien dem unverbesserlichen Frauenfreund eine große Freude zu machen, ihn persönlich zu überreichen und ihr wirklich reizendes Lächeln dafür zu bekommen. Aber es wurmte ihn ganz gehörig, daß sie ihn als Verlobungsring bald weitergab – und noch dazu gerade dem Mann, der ihn am meisten verdächtigt und verfolgt hatte. Nun, Sie haben es ganz richtig erraten, Burnes trägt heute das schöne Stück, das einst zu den mit so viel Blut umkämpften Juwelen gehörte. Die Aufklärung der ganzen Geschichte war nun ein Kinderspiel. Gillespie hatte in einer Gesellschaft den reichen und lebensfrohen Potter kennengelernt und ihm seine einstmalige Geliebte, eine kleine, wenig talentierte, aber bildschöne Schauspielerin zugeführt. So gewann er durch sie, in die sich der alternde Mann rettungslos verliebte, ganz bedeutenden Einfluß, den er dadurch auf die Spitze zu treiben 312
suchte, daß er das Mädchen zwingen wollte, Potter zu heiraten. Dieser war dazu fest entschlossen. Gillespies Einfluß, der ihm natürlich Wunderdinge über den Charakter und die Untadeligkeit der jungen Dame einredete, mag da eine ganz große Rolle gespielt haben. Aber nun zeigte sich, daß das Mädel wirklich nicht alltäglich war: Sie schlug die Hand des reichen Bankiers aus, und, angewidert von dem häßlichen Charakter ihres bisherigen Liebhabers Gillespie, dessen Beweggründe sie endlich durchschaute, wandte sie dem ganzen Trubel den Rücken und heiratete einen braven, anständigen Menschen aus dem Mittelstand. Potter war untröstlich. Was nun geschah, kennen wir aus der Erzählung Smiths des Siebenten. Gillespie begleitete Potter auf seiner Weltreise und gewann mit seiner geschickten Art ungeheuren Einfluß auf den gemütskranken Liebhaber, der ihm nach seiner Rückkehr die Geschäftsführung vollkommen überließ. Aber auch sein Reichtum hielt den wahnsinnigen Spekulationen und der tollen Verschwendungssucht seines neuen Beraters nicht stand, und Gillespie sah sich bald gezwungen, nach neuen Mitteln zu suchen, wollte er das Bankhaus seinem Herrn und sich selbst erhalten. So verfiel er auf die Idee, sich zur Deckung eines Kredites Juwelen zu beschaffen, von denen er aussprengte, sie seien von treuen Klienten beigestellt worden, um eine vorübergehende Geldknappheit zu überwinden. Die Belehnung derselben erfolgte ohne Zuziehung beruflicher Schätzmeister, da die Spender angeblich anonym bleiben wollten – kurz, eine ähnliche Sache, wie sie Asanow im kleinen versuchte. Er begann mit der Sache ein paar Monate, bevor der Mord verübt wurde, indem er angeblich schon damals den Schmuck deponierte. Tatsächlich handelte es sich damals nur um ganz unbedeutende Stücke, die er sich, Gott weiß wie, borgte. Natürlich konnte er auf diese keinen nennenswerten Kredit bekommen. Damit mußte er warten, bis der große Coup gelang, für den er damals schon Hilligmore erwarb. Er veranlaßte die 313
ihm vollkommen hörige Maida Hobbs, bei Shawler eine Stellung zu nehmen, wo er sie mit dem jungen van Raan zusammenbrachte, den sie auf sein Geheiß auch bald zu umgarnen verstand. Er inszenierte die Liebesintrige mit dem angeblich reichen Schloßherrn Wricks, die die Einladung van Raans nach Hilligmore zur Folge hatte. Den Mord beging Asanow, der in der Maske eines Dieners dem Juwelier auflauerte und ihn den falschen Weg in den Wald führte. Während der Russe mit den Juwelen floh, machte sich Wricks so verdächtig als möglich – natürlich mußte er den Mord dabei energisch ableugnen. Da er ihn ja nicht begangen hatte, war es ihm leicht gewesen, ein Alibi vorzubereiten, das ihn im letzten Moment retten sollte, sobald die Spuren des wirklichen Mörders samt allen Hintergründen total verwischt worden waren. Ich durchschaute dies aber, da ich ja auch den Mord wesentlich früher entdeckte, als Gillespie und seine Helfer annehmen konnten. Wricks suchte mich aus dem Wege zu räumen, kam dadurch aber so in Bedrängnis, daß er vorzeitig sein Alibi preisgeben mußte, um vor allem Gelegenheit zu bekommen, seine Hintermänner zu warnen. Als Gillespie erfuhr, wie brenzlig die Sache stand, ließ er Wricks und die kleine Hobbs untertauchen und opferte Asanow und einen Bruchteil des Raubes, in der Hoffnung, die Polizei werde sich mit diesem Erfolg begnügen. Als ich aber dem zweiten Anschlag entgangen war und die weitere energische Verfolgung der Sache betrieb, versuchte Gillespie durch Preisgabe von Wricks und Maidie Hobbs Jonathan zu belasten, daß er kaum vom Galgen zu retten gewesen wäre. Als dies trotz allen Machinationen fehlschlug, versuchte er Shawler vorzuschieben, was wirklich beinahe gelungen wäre, wie Sie sich erinnern. Gillespie wurde dabei auch seine Mitwisser und Teilhaber an der Beute los. Und nun kommen wir zu dem Punkt, der mir – und auch Ihnen – den Täter verraten hätte, wenn, ja, wenn ich mir sofort die Mühe und Zeit genommen 314
hätte, darüber gründlich nachzudenken und Sie die Geschichte sorgfältig gelesen hätten: Als Jonathan die Ermordung seiner Geliebten schilderte, sagte er ganz klar und deutlich, daß Miß Hobbs, als die Hintertür aufging, sehr erschrak – und in so einem Moment ist man unfähig zu heucheln. Als sie nun den Mann, der in Jonathans Rücken für einen Augenblick auftauchte, erkannte, sagte sie: »Ach, du bist es, Liebster – hast du mich erschreckt!« Nun, zu wem sagt ein junges, hübsches Mädchen Liebster? Doch nicht zu einem alten Kracher, wie Potter, Jenkins oder Shawler? Die hätte sie höchstens in wohlüberlegter Absicht so tituliert, und zum Überlegen, wie sie diesen überraschenden Besucher anreden sollte, kam sie in diesem Augenblick des Schreckens natürlich nicht. Also konnte es sich nur um einen jungen, attraktiven Mann handeln. Und wer von unseren fünf Verdächtigen konnte dies sein? Nachdem Jonathan, als bereits anwesend, jedenfalls ausschied, blieb nur Gillespie übrig – und darauf hätte ich sofort nach Jonathans Bericht kommen müssen. Erst recht nach dem aufschlußreichen Gespräch mit Smith VII, das mir anderseits zeigte, wie sehr das Bankhaus in den Verdacht der Juwelenverwertung kam. Irgendwie spürte ich die Zusammenhänge ja, aber ich dachte, zu einer gründlichen Überlegung Zeit zu haben, und begnügte mich, Walter um Beschattung der Verdächtigen zu bitten und ihm die Resultate meiner Nachforschungen bekanntzugeben. So rumpelte ich wirklich in die Falle, die mir Gillespie gestellt hatte, und um ein Haar wäre sein Plan geglückt: Wenn man mich tot in einem Basement gefunden und Marjorie am Morgen befreit hätte, und, vor allem, wenn Shawler auf Nimmerwiedersehen verschwunden wäre! – Die Sache wäre allen sonnenklar erschienen. Nun, so kam es schließlich doch anders. Gillespie landete am Galgen, was, genau genommen, wirklich die beste
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Verwendung für diesen kaltherzigen, skrupellosen Schurken war. Ich hatte noch einen kleinen Rückfall, und als ich wieder so ziemlich beisammen war, hatte ich eine Aussprache mit meinem Arzt. »Nun, Dok«, so ungefähr begann ich, »jetzt ist das faule Leben bald vorbei – jetzt geht es wieder hinaus in meinen lieben Wald. Höchste Zeit, Robbie setzt schon bedenklich Fett an, und ich traue mich kaum mehr in den Spiegel zu sehen… Sie haben Ihre Sache großartig gemacht, ich hoffe, Sie bald bei mir zu sehen, auf einen Bock oder gar einen Hirschen – wenn Lord Longsberry nichts dagegen hat…«, und was man eben bei solchen Farewells zu schwatzen pflegt. Aber der Doktor zog ein ernstes Gesicht. »Muß Sie leider enttäuschen, lieber Gayfield«, sagte er, »Sie sind wohl gesund und haben noch eine ganze Reihe schöner Jahre vor sich – aber mit dem Wald ist es nichts mehr. Keine Klettereien über schroffe Felsen, steile Hänge und Abgründe, kein Waten mehr durch eisige Wildbäche, kein stundenlanges Sitzen in Kälte und Sturm, um auf das Wild zu warten. Das ist vorbei.« Mir kam in diesem Moment etwas Rauch von meiner Pfeife in die unrechte Kehle, und ich konnte nicht gleich antworten. Ich drückte ihm die Hand, dabei kam mir der Rauch in die Augen, so daß sie naß wurden. Teufel, es ist nicht leicht, alles aufzugeben, was man in fünfundzwanzig Jahren lieben gelernt hat. Ich kaufte ein kleines Haus in Putney, nicht weit vom Richmond Park, wo ich oft mit Robbie umherstreife, der langsam ein bißchen steif wird, aber noch immer seine Freude an den Hirschen dort hat, die nun nicht mehr vor ihm davonlaufen, sondern ihm das stolze Geweih zeigen, wenn er ihnen zu nahe kommt.
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Bob und Marjorie sind natürlich bei mir, er erzählt uns von seinen Problemen, und hie und da tue ich ein bißchen mit, im Einverständnis mit meinem alten Freund Walter, der es sich nicht nehmen ließ, Roberts Trauzeuge zu sein, und von dem der schreckliche Wandschirm stammt, in dem unsere Photos stecken. Darunter eines, das ihn als jungen Instruktionsoffizier im Kreise seiner Schüler zeigt. Marjorie glaubt bestimmt, mein Gesicht irgendwo im Hintergrund des verblichenen Bildes zu erkennen…
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EIN WORT DES AUTORS Ich habe mir den Tadel meines Gewährsmannes sehr zu Herzen genommen, aber ich weiß nicht, was ich zur weiteren Erläuterung seiner hier wiedergegebenen Geschichte hinzufügen soll. Wenn einer der Leser einen Fehler, eine Unklarheit findet, so wäre ich ihm aufrichtig dankbar, wenn er mir darüber schreiben wollte. Es wäre mir eine ganz große Freude, ihm mit allen nötigen Informationen zu dienen, die vielleicht einer späteren Auflage mit Nennung seines Namens, wenn er dies gestattet, angefügt werden könnten. London, im März 1953.
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INHALT 1. KAPITEL Der Förster....................................................... 5 2. KAPITEL Der Mann von Scotland Yard........................ 14 3. KAPITEL Mr. Wricks telephoniert ................................ 29 4. KAPITEL Mr. Blunt ....................................................... 41 5. KAPITEL Der Schloßherr .............................................. 51 6. KAPITEL Schwarzer Kaffee in Hiligmore..................... 64 7. KAPITEL Eine satanische Überraschung....................... 83 8. KAPITEL Ein gestörtes Dinner .................................... 100 9. KAPITEL Rosen von Mr. Wricks ................................ 114 10. KAPITEL Noch ein gestörtes Dinner ........................... 123 11. KAPITEL Unerwartete Tragödie.................................. 139 12. KAPITEL Wir sind erst am Anfang ............................. 153 13. KAPITEL Familie van Raan......................................... 162 14. KAPITEL Verwirrungen .............................................. 174 15. KAPITEL Theorien ...................................................... 187 16. KAPITEL Praxis ........................................................... 199 17. KAPITEL Lunch mit Gillespie ..................................... 220 18. KAPITEL Tee mit Shawler........................................... 232 19. KAPITEL Neue Tragödie ............................................. 240 20. KAPITEL Gayfield empfängt Besuche ........................ 249 21. KAPITEL Die Nacht im Büro ...................................... 261 22. KAPITEL Gayfield macht Besuche.............................. 278 23. KAPITEL Zwei von der alten Garde ............................ 287 24. KAPITEL Gayfield hat das Wort ................................. 298 25. KAPITEL Die Schlacht ................................................ 300 26. KAPITEL Gayfield hat nochmals das Wort ................. 311 EIN WORT DES AUTORS.................................................. 318 INHALT................................................................................ 319