Dorothy Cannell
Seltsame Gelüste Ein Ellie-Haskell-Krimi Aus dem Englischen von Brigitta Merschmann
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Dorothy Cannell
Seltsame Gelüste Ein Ellie-Haskell-Krimi Aus dem Englischen von Brigitta Merschmann
Zum Buch: Ellie Haskell, die wir schon aus »Die dünne Frau« kennen, hat abgespeckt und den Mann ihres Lebens kennengelernt. Eigentlich hatte sie ihn nur für einen Abend bei einer Begleitagentur für Herren ausleihen wollen, doch als sie ihn sah, war es um sie geschehen. Nun ist sie mit Ben, der außerdem Besitzer eines gutgehenden Feinschmeckerrestaurants ist, verheiratet und erwartet ein Baby. Anstatt sich aber in Ruhe auf ihre Mutterrolle vorbereiten zu können, muß sie ihren Mann, der den Manges, einer exklusiven Gesellschaft von »Rezeptforschern« beitreten will, zur Aufnahmeprüfung begleiten. Dazu muß sie England verlassen, und in die USA fahren, in ein geheimnisumwobenes Haus, das ehemals Filmkulisse war. Die Gastgeberin der Auswahlsitzung ist die ehemalige »Sexgöttin« Theola Faith, deren Tochter Mary gerade ein Buch mit dem Titel »Monster Mommy« veröffentlicht hat. Auch Mary ist anwesend. Unter diesen Umständen soll die Auswahl des diesjährigen Manges vollzogen werden, denn es wird jährlich nur ein Mitglied aufgenommen. Ellie versucht, immer mit ihren Schwangerschaftsbeschwerden kämpfend, die Geheimnisse um dieses Haus herauszufinden… Die Autorin: Dorothy Cannell, auch hierzulande schon bekannt als Krimiautorin von »Die dünne Frau« und »Der Witwenklub«, wurde in England geboren und lebt jetzt in Illinois, USA. Sie gewann bereits mehrere Literaturpreise.
Deutsche Erstausgabe 3. Auflage 1995 © 1990 by Dorothy Cannell First published in the United States of America by Bantam Books Titel des amerikanischen Originals: Mum’s The Word Aus dem Englischen übersetzt von Brigitta Merschmann Lektorat: Kerstin Walter © 1994 by ECON Taschenbuch Verlag GmbH, Düsseldorf Umschlaggestaltung: Molesch/Niedertubbesing, Bielefeld Satz: Formsatz GmbH, Diepholz Druck und Bindearbeiten: Ebner Ulm Printed in Germany ISBN 3-612-25.030-2
Für meine Schwester Margaret, wegen all der Gelegenheiten, bei denen sie sagte: »Setz’ den Kessel auf und lies mir noch ein Kapitel vor.«
Ich träume, daß ich wieder ein Kind bin und zum ersten Mal zu Merlins Schloß fahre. Nein… so stimmt es nicht ganz. Mein erwachsenes Ich sieht zu, wie die zehn Jahre alte Ellie in diesem magischen Gefährt der Kindheit, einem Taxi, durch das Dorf Chitterton Fells chauffiert wird. Die Häuser und Läden, jetzt in Zwielicht getaucht, wurden im klassischen Weihnachtskartendesign erbaut. Schau, da ist der amputierte römische Triumphbogen und, ja… die im Mondschein glitzernde Schlange, die Küstenstraße. Klein Ellie hat ihren blau-golden gestreiften Schulblazer an. Das Abzeichen an ihrem Panamahut verkündet das Motto von St. Roberta’s: Das Leben ist Kampf. Um ihre Zöpfe sind Schleifen groß wie Riesenmotten gebunden, und ihr Gesicht ist ein einziges Lächeln. Klingt das, als wäre sie ein anziehendes kleines Püppchen? Na ja, die Wahrheit ist, sie ist fett. Arme Kleine, sie kam schon fett zur Welt. Und wirklich, dafür gab es keine Entschuldigung. Ihre Eltern führten ein reges und schlankes Leben. Tanten, Onkel und Cousins hatten einen annehmbaren Körperumfang. Und ein Blick auf den Familienstammbaum enthüllt lediglich einen fettleibigen Vorfahren – Augustus Wentworth Grantham, 1784-1863, der zwangsweise ins Exil ging, nachdem er während einer Mahlzeit vor den Augen seines Regiments das Korsett aufgeschnürt hatte. Kein weiterer Makel haftete an der Familienehre, bis ich, Giselle Simons, daran kratzen sollte. Giselle! Ich weiß, meine Eltern wählten diesen Namen als eine Art Zaubertalisman gegen das Unvermeidliche aus. Das erste Wort, das ich fließend beherrschte, war Schokolade.
Während ich durch die Schatten meines Traumes spähe, erinnere ich mich an all die Jahre, in denen ich meine kalorienarme Cousine Vanessa mit Geld bestach. Ich war zu allem bereit, um belastende Fotos von Klein Ellie in den unterschiedlichsten Posen unschicklicher Blöße aus dem Verkehr zu ziehen. Kurze Ärmel, Socken… Shorts. Es war unerläßlich geworden, sämtliche Beweismittel zu vernichten, nachdem ich im Alter von siebenundzwanzig eine Diät angefangen und erfolgreich zu Ende geführt hatte. Tage, Wochen der Selbstzufriedenheit folgten, in deren Verlauf ich sicher war, mich der Ursprungs-Version ein für allemal entledigt zu haben. Doch immer mal wieder schlich Klein Ellie sich von hinten an, klopfte mir auf die Schulter und rief: »Ich bin noch da!« Das Taxi biegt um eine Kurve, und Klein Ellie kurbelt das Fenster herunter, um die Gegend zu beschnuppern. Beug’ dich nicht zu weit hinaus, Klein Ellie. Die Klippe fällt senkrecht ab wie ein Vogel, der vom Himmel geschossen wird. Das Taxi nähert sich der Hügelkuppe. Dort erhebt sich die St.-AnselmsKirche, ihre Mauern haben die Farbe von Bimsstein. Der Mond ist ihr Heiligenschein. Eine Ansammlung müder Grabsteine und Bäume, die sich krümmen und winden, als würden sie die Hände ringen über die Schlechtigkeit der Welt. Klein Ellie lächelt. Jeder würde denken, sie hätte noch nie zuvor den Duft des Meeres gerochen, hätte nie gehört, wie es in weißschäumenden Wellen gegen die Klippen bricht, nie seinen Alka-Seltzer-Geschmack auf der Zunge gespürt, nie eine Möwe auf dem Wind reiten sehen. Welch fröhlicher Optimismus! Welcher Übermut, welche Verletzlichkeit! Sie beugt sich aus dem Fenster, die Arme ausgebreitet, um den Augenblick zu umarmen. Aber es geht gut aus. Sie fällt nicht. Das Fenster sitzt wie angegossen.
Das Taxi gleitet durch schiefe Eisentore auf einen von Unkraut zerfressenen Kiesweg. Schau… da ist der alte Kastanienbaum, der seinen mondgesprenkelten Mantel über den Rasen breitet… und dort das Pförtnerhaus aus Bruchstein mit einer Messingplatte an der Tür: Cliffside Cottage. Das Taxi verringert das Tempo, dann fährt es weiter. Plötzlich kommt der Stammsitz mütterlicherseits in Sicht: Merlins Schloß. Sie hält den Atem an. Es sieht genauso aus, wie Mutter es beschrieben hat. Dennoch, nichts hat sie auf dieses Grimmsche Feenschloß, komplett mit Schloßgraben, efeubewachsenen Mauern, Türmen so spitz zulaufend wie Hexenhüte und, das allerbeste, auf das Fallgatter, vorbereitet. Ein wahrlich magischer Ort. Ach, aber ich weiß etwas, das Klein Ellie noch nicht einmal ahnt. Ein böser Zauberer, Großonkel Merlin, herrscht in diesen Schloßmauern. Stell’ ihn dir jetzt vor, wie er im zahnlosen Mund seine Speisen zerquetscht. Mit wippender Nachtmütze reibt er sich fröhlich die fleischlosen Hände bei der Aussicht, daß ein Kind in seine Obhut gegeben wird. Wie rührend naiv von ihren Eltern, zu denken, daß Ferien am Meer ihr guttun werden, während sie nach Amerika reisen, um dort Ruhm und Reichtum zu suchen. Das Taxi biegt um die letzte Kurve. Während ich mich frage, wann ich wohl endlich aufwache, steigt Klein Ellie aus. Da sehe ich flüchtig zwei stämmige Beine. Socken, die sich an den Knöcheln zu Schmalzkringeln zusammengerollt haben. Ich möchte sie gern hochziehen, ihre Schleifen zurechtzupfen, sie warnen. Doch sie ist schon auf dem Weg zu jener Brücke, die über den Schloßgraben führt. Wird die Brücke unter ihren dumpfen Hopsern zusammenbrechen? Die unsterblichen Worte von Tante Astrid klingen mir in den Ohren. »Nicht jeder kann mit Schönheit, Anmut und Charme gesegnet sein, Ellie.« Gewiß nicht. Nachdem Gott Tantchens Liebling Vanessa reichlich mit diesen Wohltaten beschenkt hatte, blieb nicht
mehr viel davon übrig. »Trotzdem kann man immer danach streben, mehr zu erreichen als das Mittelmaß, Ellie.« »Danke schön, Tantchen.« Es mag zwar stimmen, daß Klein Ellie beim Schulsport immer als letzte in die Mannschaft aufgenommen wird, doch für ein Gummibärchen würde sie sogar auf einem Drahtseil die Alpen überqueren. Aufgepaßt! Um ein Haar wäre sie im Schloßgraben gelandet. An einem der zahllosen Fenster zuckt hoffnungsvoll ein Vorhang, dann fällt er wieder zurück. O nein… Klein Ellie hat ihren Koffer im Taxi vergessen. Dieses entschwindet gerade in die Dunkelheit der Zeit. Doch wird ihr Lächeln deshalb schwächer? Niemals! Sie macht die Entdeckung, daß der Wasserspeier neben der schwerbeschlagenen Schloßtür eine Klingel ist. Ein Ruck an der Zunge, dann rollt er mit den gelb-grün gesprenkelten Augen, und ein tiefes Läuten läßt sich vernehmen. Stille. Klein Ellies pummelige Fäuste hämmern gegen die Tür. »Onkel Merlin! Ich bin’s, Ellie! Mummy und Daddy meinten, du und ich könnten einander helfen. Sie glauben nicht, daß du abgedreht bist. Ich soll für etwas frischen Wind sorgen, damit du einen klaren Kopf bekommst. Dein Leben wird einen neuen Sinn erhalten, wenn du mir dabei hilfst, mager und schön zu werden, indem du mir keinen zweiten Nachschlag erlaubst… äh, keinen dritten Nachschlag.« Stille. »Nun stehe ich hier so allein auf der Treppe; meinst du eigentlich, daß Mummy und Daddy nur sagten, ich sei alt genug, um allein hierher zu fahren, weil sie Angst hatten?« Der Wind lacht zwischen den Bäumen. »Onkel Merlin, du drehst doch nicht etwa eine letzte Kontrollrunde mit dem Staubsauger, oder? Ich habe auf meine Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke geschworen, keine
Bemerkung über den verwahrlosten Zustand des Hauses loszulassen. Glaub’ mir, es stört mich nicht im geringsten, wenn du dich nur einmal im Jahr wäschst statt einmal täglich.« Hat sie endlich die Stille auf sich aufmerksam gemacht? »Onkel Merlin, vielleicht interessiert dich, daß ich Innenarchitektin werden will, wenn ich groß bin. Trockenblumen brauchen heutzutage nicht mehr tot zu wirken, und ich weiß – ich habe Das frechste Mädchen der Klasse gelesen –, wie man selbst die hartnäckigsten Flecken entfernt. Sogar Blut.« Noch tiefere Stille. Rückt der Zeitpunkt näher, an dem ich aufwache? Doch meine Augen wollen sich nicht öffnen. »Onkel Merlin, vielleicht bin ich in einem unpassenden Augenblick gekommen. Soll ich…?« Mit der haarsträubenden Gewalt eines angreifenden Tieres fliegt die Schloßtür nach innen auf. Klein Ellie stolpert blindlings los, als sie von einer unsichtbaren Macht in die gähnende Halle mit ihrem Fliesenboden und der GuckguckTreppe gezogen wird. Spinnweben flattern aus luftiger Höhe wie zerlumpte Fahnen hinunter. Wassertropfen sitzen wie Perlen auf den Wänden. Mottenzerfressene Fuchsköpfe grinsen von den feuchten marmorierten Wänden herunter. Kunstblumen, in Graburnen gestopft, strömen Verwesungsgeruch aus. In diesem Haus ist nur der Schmutz lebendig. »Sei doch nett, Onkel Merlin. Hör’ auf, Verstecken mit mir zu spielen. Ich verspreche auch, daß ich nicht schreie, wenn du eine häßliche Krankheit bekommen hast, seit Mummy und Daddy dich das letztemal gesehen haben. Großes Ehrenwort, ich finde Werwölfe ganz süß. Aber stülp’ dir ruhig eine Tüte über den Kopf, wenn du dich so besser fühlst. Oh, Mann! Da bist du ja, du böser Onkel!«
Klein Ellies Gehirn hat kein Übergewicht. Sie spricht mit einer angerosteten Ritterrüstung am Treppengeländer. Nicht mit Onkel Merlin. Sie hebt das Visier hoch und erkundet das Innere. Niemand zu Hause. Aber nur nicht aufgeben. Unser metallener Ritter hat einen täuschend ähnlichen Bruder, der ein paar Meter weiter Hab-Acht-Stellung einnimmt. Verflixt! Er beherbergt ebenfalls keine Flüchtlinge. »Onkel Merlin, ich warne dich – ich gehe jetzt ganz schnell wieder weg.« Sie kramt in der Tasche ihres Blazers nach dem stets treuen Freund – einem Schokoladenriegel. Gestärkt stolpert sie weiter auf ihrer Entdeckungsreise. Sie steckt die Nase durch die Geländerstäbe, untersucht einen formlosen Schutthaufen, öffnet Türen, die nirgends hinführen. Die Zeit läuft ab. Ich versuche, in den Traum einzusteigen. »Pssst!« »Hör’ zu, Ellie«, fange ich an. »Du brauchst Onkel Merlin nicht zu suchen. Ich kann dir sagen, wie es damals in den Ferien war. Kein Strom. Kalte Bäder. Alles mit Schimmel überzogen – auch das Essen. Und immer dieses Gefühl, daß irgend etwas dieses Haus nicht zur Ruhe kommen läßt. Aber irgendwann merkte ich, daß Onkel Merlin keineswegs das Monster deiner blühenden Phantasie war.« Hört die Kleine überhaupt zu, während sie im Kreis herumgeht und schnieft? Längst nicht mehr so tapfer wie noch vorhin. »Sieh mal, es tut mir ja leid, aber es hat keinen Zweck, nach Mutter zu schreien.« Ich breche ab, weil ich es nicht fertigbringe zu sagen, daß Mutter durch einen Sturz von der Bahnhofstreppe ums Leben kommen wird, wenn Klein Ellie erst siebzehn ist. »Onkel Merlin war ein einsamer alter Mann – eingesperrt, bildlich gesprochen, in einem Keller voller Leichen. Sein schönster Zeitvertreib bestand darin, die Familie mit der Drohung in Angst und Schrecken zu versetzen, er werde sein Vermögen einem Katzenasyl hinterlassen.«
So was von taub! Ich führe Selbstgespräche. Klein Ellie ist verschwunden. Versteckt sich. »Kommst du gefälligst zurück!« fahre ich auf. »Soll ich denn den ganzen Tag im Bett liegen und versuchen, dich zur Vernunft zu bringen? Ich habe mein eigenes Leben. Und nimm es mir nicht übel, aber ich bin ziemlich enttäuscht, weil du dich nicht mal erkundigt hast, wie es weitergegangen ist. Ob du’s glaubst oder nicht, Merlins Schloß ist jetzt mein Zuhause, und selbst auf die Gefahr hin, eingebildet zu klingen, mit Hilfe meines ansehnlichen Talents als Innenarchitektin habe ich seinen früheren Glanz wiederhergestellt. Onkel Merlin, weißt du, hat nicht alles einem Katzenasyl hinterlassen. Das Haus und eine beträchtliche Summe Geldes wurden mir und einem Gentleman namens Bentley T. Haskell vermacht, der, wie ich dir zu meinem Stolz mitteilen kann, mein Ehemann wurde.« Höre ich, wie Klein Ellie die Ohren spitzt? »Überrascht, wie? Hättest wohl nie gedacht, daß ich mir einen Mann an Land ziehe, was? Und glaub’ mir, Ben ist nicht der Feld-Wald-undWiesen-Ehemann von der Art, die Vanessa ausprobieren und anschließend an die Heilsarmee abgeben würde. Ben ist ein Mann mit drei a: attraktiv, anziehend und aufmerksam. Arbeitslos ist er aber nicht. Er ist Koch, und im Augenblick schläft er nach einem hektischen Tag im Abigail’s, seinem Restaurant im Dorf. Andernfalls würde ich euch jetzt bekanntmachen.« Stille. Die Fuchsköpfe grinsen von den Wänden herunter, doch ein anderes Gesicht entdecke ich nicht. »Würdest du mich bitte mal ansehen!« Meine Stimme schallt durch die Halle, durch das Haus… durch die Nacht. »Schau genau her. Siehst du nicht, was ich aus mir gemacht habe? Und sei nicht böse, aber du hast wenig dazu beigetragen. Ich bin dünn. Umwerfend dünn. Ben ist zufällig einer der weitbesten seines Fachs – in Paris ausgebildet. Tja, deshalb ist es natürlich
auch ein wahres Wunder, daß er derjenige war, der mein neues Ich zum Vorschein gebracht hat. Mein Liebling machte mich liebeskrank und schlank. Jetzt verabscheue ich Schokolade. Das Wort Sahne klingt in meinen Ohren obszön. Rohkost und klare Brühe sind mir eine Wonne.« Ich fange an, mir idiotisch vorzukommen, doch von einem Paar glotzender Ritterrüstungen werde ich mich nicht einschüchtern lassen. »Klein Ellie, bist du noch da? Antworte mir!« Von dem ganzen Geschrei wird mir schwindelig. Die Räume von Merlins Schloß, in vergangenem und gegenwärtigem Zustand, verschmelzen zu einer Spirale aus verblassenden Farben. »Warum antwortest du nicht?« Meine Stimme ist weit weg. »Wie kannst du nur so egoistisch sein? Glaubst du, ich wäre den ganzen weiten Weg zurückgegangen, um dich zu suchen, wenn ich auch mit jemand anders plaudern könnte? Verstehst du denn nicht, du bist die einzige, die mir zeigen kann… mich daran erinnern kann… wie es ist, Kind zu sein.« Und ich muß es unbedingt wissen. Ich erwarte ein Baby.
Ich, Mrs. Bentley T. Haskell, wohnhaft in Merlins Schloß, Chitterton Fells, Exinnenarchitektin, stolze Besitzerin eines begabten Katers namens Tobias, habe keinerlei Vorahnung kommenden Unheils. An jenem Samstagmorgen liege ich inmitten der weinroten und silbergrauen Pracht meines ehelichen Schlafzimmers im Bett. Die Sonne verwandelt die bleiverglasten Fenster in bunten Glanz und betont den dunklen Schimmer der Mahagonimöbel. Träge nehme ich den Handspiegel vom Nachtschrank. Igitt! Nur weiter mit dieser brutalen Ehrlichkeit und du stürzt dich aus dem Fenster! Muß ich denn daran erinnert werden, daß ich Wangenknochen aus Schaumgummi habe? Oder daß ich Tante Astrids Mahnung in den Wind schlug, daß einem das Heulen über Lappalien bloß die Farbe aus den Augen wäscht? Zum Glück habe ich langes Haar. Ich drapiere es kunstvoll über mein Gesicht. Die Fasane auf der Tapete haben noch nie etwas von Wandertrieb gehört. Sie sind nicht als einzige völlig unvorbereitet. »Ben, Liebling…« »Was gibt’s Schatz?« erwidert mein dunkelhaariger, schöner und hingebungsvoller Gatte. »Letzte Nacht hatte ich einen so seltsamen Traum. Ich war wieder ein Kind und machte meinen ersten Besuche hier. Damals ahnte ich ja noch nicht, daß Onkel Merlin viele Jahre später auf die verrückte Idee kommen würde, ein Familientreffen einzuberufen, was wiederum mich auf die geniale Idee brachte, dich übers Wochenende von Eligibility Escorts, der Kultivierten Herrenbegleitung, zu mieten. Kommt
es dir nicht auch so vor, als wäre es erst gestern gewesen, daß du dich gegen ein bescheidenes Entgelt bereit erklärtest, meinen völlig vernarrten Verlobten zu mimen?« »Und da sind wir nun, mein Juwel!« Er setzte sich auf die Bettkante und streichelte mit diesen schlanken, eleganten Fingern, die soviel Leidenschaft in einem simplen Biskuitkuchen hervorzuzaubern vermögen, meine Wange. Seine Berührung war unglaublich zart und er unglaublich zerstreut. »Da wir gerade von Träumen sprechen, Ellie, ich habe gerade einen Brief bekommen, den ich sofort gelesen habe, noch bevor ich dir dein Frühstückstablett brachte – und glaub’ mir, sein Inhalt ist die Erfüllung eines Traums!« Seine blaugrünen Augen funkelten verführerisch, als er auf die Tasche seines schwarzseidenen Morgenmantels-für-den-Herrnin-seinem-Schlafzimmer klopfte. Ich lächelte matt aus meinen Kissen und hätte ihm nur zu gern gesagt, wie sehr ich es liebte, wenn sich sein dunkles Haar so in seinem Nacken ringelte. Doch dieser Kraftanstrengung fühlte ich mich nicht gewachsen. An diesem Morgen hatte ich entdeckt, daß ich eine natürliche Begabung zur Übelkeit hatte. »Aufregende Neuigkeiten, Liebling? Hat das Elektrizitätswerk geschrieben, um uns mitzuteilen, daß sie unsere Rechnung stornieren?« Ich befingerte seine männliche Brust, dort wo die schwarze Seide auseinanderklaffte. »Ich hatte schon befürchtet, sie würden mir nicht glauben, daß der heizbare Handtuchhalter die Angewohnheit hat, sich nach Lust und Laune selbst einzuschalten. Aber möglicherweise haben ja meine Beteuerungen, daß Dorcas und Jonas Zeugen sind, Wunder gewirkt.« Dorcas, lassen Sie mich das in einer kurzen Abschweifung erklären, kam als Haushälterin ins Schloß, kurz nachdem Ben und ich hier unseren Wohnsitz genommen hatten. Als passionierte Sportlerin schwingt sie lieber den Hockeyschläger
als einen Mop. Und mir ist das ganz recht so. Dorcas ist ein wahres Himmelsgeschenk. Sie ist für mich die ältere Schwester, die ich nie hatte. In den letzten Wochen hatte sie mehrmals allen Ernstes verkündet, es sei an der Zeit für sie, vom Haupthaus nach Cliffside zu ziehen, dem Cottage am Tor. Sie behauptete, ihr gefalle der Gedanke, einige hundert Meter näher an der Dorfschule zu wohnen, wo sie als Sportlehrerin arbeitet. Ha! Hätte ich geglaubt, daß sie unbedingt ein eigenes Haus haben wollte, dann hätte ich es ja verstanden, aber ich kenne Dorcas. Edelmut ist eine beständige Untugend von ihr. Sie hatte sich die Flause in ihren Rotkopf gesetzt, daß Ben und ich allein leben sollten. Als böte dieses Riesenhaus nicht uns allen genügend Raum, um förmlich in Intimität zu schwelgen. Wenn Dorcas weit vom Schuß war, könnte sie unter Umständen das erste Lächeln des Babys verpassen… seine ersten Gehversuche. Ich mußte ein Machtwort sprechen und ihr klipp und klar sagen, daß ich in meiner derzeitigen Verfassung keine Lust hatte, ihr Zimmer auf Merlins Schloß in einen Erinnerungsschrein zu verwandeln. Es würde ewig dauern, eine Inschrift zu sticken, die über ihrem Bett hängen sollte – Aus den Augen und doch nicht aus dem Sinn. Und jetzt zu Jonas. Er lebt ebenfalls bei uns, wenn er auch eine separate Wohnung über den Ställen besitzt, in die er sich augenblicklich zurückzieht, wenn ihm jemand aus meiner Verwandtschaft die Stirn bietet und zum Tee auftaucht. Tobias, angeblich mein Kater, stiehlt sich dann mit ihm davon. Später finde ich die beiden meist im Schaukelstuhl sitzend, wie sie Von Mäusen und Menschen lesen. Die zerzausten Schnurrbarte von Ovomaltine benetzt, die gute Laune durch Mordkomplotte gegen Tante Astrid, Onkel Maurice und den Rest wiederhergestellt. Wenn es aber um Blumen geht, hat Jonas nicht seinesgleichen. Die Blüten seiner Dahlien sind so groß wie Untertassen, und sie bringen Farben hervor, die noch gar
nicht erfunden sind. Ich sage mir (und manchmal auch ihm), daß er dadurch jedes Recht auf seine Marotten und Spleens hat. Mit seinen weit über siebzig Jahren ist er für Außenstehende bloß der Gärtner, der seit den Kindertagen des verstorbenen Mr. Merlin Grantham zum Inventar gehört. Für uns, die wir ihn lieben, ist er jemand ganz anderes. Ben rutschte auf dem Bett hin und her. Das Frühstückstablett, das er auf meinen Bauch gestellt hatte, hob und senkte sich wie ein Schiff im Sturm. »Ellie, ich spreche weder von der Stromrechnung noch von dem Handtuchhalter, der dich schlicht und einfach haßt. Ich versuchte über einen Brief zu sprechen, den ich aus Amerika erhalten habe.« Meine Augenlider waren so schwer wie Klavierdeckel. Doch in Kapitel eins von Die Schwangerschaftspause wird betont, daß man nicht den Invaliden spielen soll. »Von wem kommt dieser Brief?« Warum brachte er mir eigentlich das Frühstück ans Bett? Ich hatte ihn gebeten, damit aufzuhören. Dieses pochierte Ei starrte mich an. Ein riesenhaftes Auge. Von grauem Star gezeichnet. Die wenigen Schlucke Tee, die ich hinunterbekommen hatte, schwappten im Schiffskörper auf und ab. Marmelade? Ich konnte das Zeug nicht runterkriegen. Ah, aber was war das, was da so geschickt unter die Teekanne geschoben war? Ein Briefumschlag. Meine Lebensgeister erwachten. Die Briefe meiner Freundin Primrose Tramwell waren immer ein Hochgenuß. Sie und ihre Schwester Hyacinth hatten mich in dem Glauben bestärkt, daß Jahre der Diskretion – oder gereifter Indiskretion – ein großes Abenteuer sein können. Den Schwestern, beide über Sechzig, gehörte die Flowers Detection, sie waren Privatdetektive. »Entschuldige, Ben, ich habe nicht ganz mitbekommen…«
Seine schwarzen Brauen zogen sich zusammen. »Verliere ich schon meine Stimme, oder drückt das Baby auf einen Gehörnerv?« »Ich bin noch nicht mal im dritten Monat.« »Dann noch einmal mit Gefühl, mein Briefpartner ist der Sekretär der Mange-Gesellschaft.« Sofort war ich ganz Mitgefühl. »Oh, doch nicht einer von diesen Spinnerklubs, die dir versprechen, gegen eine symbolische Gebühr von tausend Pfund deinen Familienstammbaum zu überprüfen? Wirf ihn in den Papierkorb, Liebling!« Ich zog das spitzenbesetzte Kissen unter meinem Kopf zurecht. »Ellie – « »Hör, dir das mal an. Primrose schreibt: ›Liebste Ellie, Hyacinth und ich senden Dir und Bentley die herzlichsten Grüße. Hier in Cloisters geht das Leben seinen gewohnt friedlichen Gang. Wir sind beklagenswert unterbeschäftigt in unserem freigewählten Beruf. Butler, ein Fachmann auf diesem Gebiet – er hat ja, wie Du weißt, seine Karriere als Einbrecher begonnen –, behauptet, Verbrechen zahlen sich nicht mehr so aus wie in früheren Zeiten‹.« »Zum Glück hat noch niemand das Riechsalz der beiden alten Mädchen vergiftet.« Ben, der am Fußende des Bettes auf- und abging, klang nicht sehr erfreut. »Mußt du unbedingt das Wort ›alt‹ gebrauchen?« wies ich ihn zurecht. »Warum denn nicht? Diesen Zustand möchten doch die meisten von uns gern erreichen. Wir brauchen Zeit, um unsere Träume zu verwirklichen, und einer von meinen war immer…« »Liebling«, sagte ich, »du wirst so gerührt sein. Primrose hat ein altes Familienrezept beigelegt, ideal für Frauen in anderen Umständen. Sie sagt, es wurde von Mitgliedern der königlichen
Familie in Krisenzeiten hochgeschätzt. Es besteht nur aus natürlichen Zutaten.« Ben brachte ein Lächeln zustande. »Liebes, du hast damit das Gespräch großherzigerweise wieder zur Mange-Gesellschaft zurückgeführt. Sie gräbt nicht etwa Familienstammbäume aus, sondern bewahrt die Geschichte in anderem, in einem höheren Sinne.« Er zog seinen Brief aus dem Umschlag und ließ das steife Pergamentpapier knistern. »Die Manges sind ein Geheimklub von Köchen, die sich der vornehmen Aufgäbe widmen, langverschollene Rezepte von kultureller Bedeutung wiederzufinden.« »Alle Achtung!« »Ellie, wir sprechen hier nicht von Tante Maddies verlegtem Rezept für Marmeladentörtchen.« »Das will ich auch nicht hoffen!« Ich legte den Brief von Primrose auf meine Taschenbuch-Ausgabe von Schwangerschaft für Anfänger. Kater Tobias kam hinter dem Schrank hervorgeschlendert, und ich versuchte, seinem Blick auszuweichen. Ben machte es sich auf dem Bett und meinen Füßen bequem. »Nur die Creme de la Creme kommt für eine Mitgliedschaft in Frage, und diese Glücklichen auch erst nach anstrengenden Aufnahmeritualen.« »Und die wären?« »Meine Liebe, das alles ist streng geheim. Die Mitglieder müssen Stillschweigen geloben. Was diejenigen betrifft, die die Prüfung nicht bestehen, für sie wäre es beruflicher Selbstmord auszupacken.« »Himmel!« Wenn dieses pochierte Ei mich weiter so anstarrte, könnte ich mich dazu veranlaßt sehen, mit meiner Gabel hineinzustechen. Lieber doch nicht. Ich verdrängte die furchtbare Vision von auslaufender gelber Flüssigkeit. »Mit anderen Worten, diese Manges sind eine Art Freimaurer mit
Kochlöffel? Geben sie sich solchen Albernheiten hin wie geheimen Handzeichen und Blinzelcodes?« Ben liebkoste meine Laienstirn. »Dies sind die Leute, die vor einem Jahr der Welt verkündeten – der denkenden Welt, Ellie –, sie hätten im Alleingang das Rezept eines Suppentrockenpulvers für Minestrone wiederentdeckt, das von niemand geringerem stammte als…« Die rotbraunen Samtvorhänge hörten auf, sich im Luftzug des offenen Fensters zu bewegen. Kater Tobias, der seinen Schwanz geputzt hatte, saß wie erstarrt da. »… von niemand geringerem als Leonardo da Vinci.« »Du meine Güte! Und die Historiker haben ihn als Künstler abgestempelt, der sich außerdem mit der Flugkraft, Anatomie und so weiter beschäftigte.« Ich mußte den Impuls unterdrücken zu fragen, ob die Suppe unter dem Namen Momma Mona vermarktet werden sollte. Mein Liebster war ganz klar in diese Gourmet-Sekte verknallt. »Warum haben die Manges dir geschrieben?« Ben stand auf. Das Bett ächzte und drohte umzukippen. Ich klammerte mich am Bettrahmen fest, und das Zimmer nahm wieder seine normale Gestalt an. Mein Gatte stand vor dem Kommodenspiegel, in dem er sich äußerst eingehend betrachtete. Seine Augen sprühten smaragdgrüne Funken. »Ellie, hier in diesen Händen halte ich«, (und er starrte auf seine Hände, als sähe er sie zum ersten Mal), »in diesen Händen halte ich eine Einladung der Gesellschaft zum Aufnahmeverfahren.« Ich gab mir Mühe, beeindruckt zu wirken. »Sprachlos, wie? Ich frage mich nur immer wieder, wieso ich?« Er ging vor dem Marmorkamin auf und ab und trat bei jedem vierten Schritt auf das knarrende Dielenbrett. Ich bete diesen Mann an. Er ist mein Ritter in schimmernder Rüstung. Er, der mich vor einem Schicksal, bitterer als der
Tod, bewahrte – vor Tante Astrids Verachtung, schlecht verhüllt als Mitleid: arme Ellie, ein Single aus eigener Schuld! Aber es gibt auch Zeiten, da geht mir seine als Selbstbewußtsein schlecht verhüllte männliche Selbstgefälligkeit ziemlich auf die Nerven. Er hörte auf, hin- und herzugehen und schenkte mir ein trockenes Lächeln. »Nicht zu fassen, was? Ich! Der Sohn eines bescheidenen Gemüsehändlers!« Sein Vater ist ungefähr so bescheiden wie der Herrscher über ein Ölquellenimperium. Paps hält sich für einen wahren Obstund Gemüsemagnaten. »Und stell’ dir vor, wie stolz deine Mutter erst sein wird«, schwärmte ich. Im Vertrauen, Magdalene ist gegen jede Organisation eingestellt, die sich nicht strikt am römischen Katholizismus orientiert. Und bestimmt war es zuviel der Hoffnung, daß sämtliche MangeMitglieder dieser Glaubensrichtung anhingen. »Ellie, ich frage mich, was die Manges dazu veranlaßt hat, meinen Namen aus dem Hut zu ziehen? Das Abigail’s läuft bestens, aber es entspricht nicht dem internationalen Standard, und das Edwardian Lady’s Cookery Book wird mich erst in einiger Zeit in der Kochzunft zu einem Begriff machen.« »Du bist viel zu bescheiden.« Ich spielte die Rolle der Musikuntermalung. Ben beugte sich vor, um mein Haar zu berühren, wobei er mich um ein paar Zentimeter verfehlte. Er ging wieder auf und ab. Dieses verflixte Dielenbrett knarrte immer noch bei jedem vierten Schritt. »Mein ganzes weiteres Leben ist in der Schwebe, und ich hatte keine Ahnung. Glaubst du, die Gesellschaft hat eines ihrer Mitglieder inkognito zum Essen ins Abigail’s geschickt?« »Das wäre durchaus möglich.« Er nahm den Brief in beide Hände, als versuche er, einen Geheimcode zu ertasten. »Schatz, ich habe dir doch von dem
verdächtigen Kerl mit der orangenen Perücke und der Augenklappe erzählt.« »Ich erinnere mich, daß ich ziemlich ängstlich war.« »O mein Gott, Ellie, war das nicht an dem Donnerstag, als die Salate durch Freddys Schuld Zimmertemperatur hatten?« Freddy, zur Information, ist mein Cousin. Angeblich ist er Bens rechte Hand im Abigail’s. Wir hatten das Gefühl, daß wir ihm zu Dank verpflichtet waren, weil er sich im großen und ganzen recht anständig verhielt, als wir Merlins Schloß erbten. Vielleicht schmiß er ja mit Gegenständen um sich, wenn er allein war, aber er hatte wenigstens nie versucht, Ben oder mich aus dem Fenster zu schmeißen. »Warum konnten die Manges ihre Spione nicht an einem Dienstag schicken? Nichts, wenn ich das selbst sagen darf, läßt sich mit meinem Schnecken-Muschel-Topf vergleichen – die Sauce sanft, fast schüchtern…« Einst, ob man’s glaubt oder nicht, hatte ich die Art, wie Ben über Essen sprach, für eine seiner sinnlichsten Eigenschaften gehalten. Jetzt suchte ich Zuflucht bei einer Antacid-Tablette. Er glättete den Brief, küßte ihn und steckte ihn wieder in die Tasche. »Liebling«, sagte ich, da mir einfiel, daß es bald schon wieder Zeit für mein Nickerchen wurde und ich noch nicht mal aufgestanden war, »wo findet dein Treffen mit den Manges denn statt?« Er zog den Gürtel seines Morgenmantels enger, sein Blick hing an meinem Gesicht. »Ellie, das Hauptquartier der Gesellschaft befindet sich in den Staaten. Wo sonst sollten wir uns also treffen?« »Ich…« »Ellie, es liegt ja nicht auf dem Mond. Jonas und Dorcas haben ihren Aufenthalt in Chicago sehr genossen.«
»Na und?« Ich sank in meine Kissen zurück. Die Vorstellung, daß er dann fort sein würde, war ein großer Schock für mich. Ein Seufzer entrang sich mir. Wie schrecklich würde ich ihn vermissen. Welche Frau würde nach weniger als einem Jahr Ehe nicht mit dem Schicksal hadern? Aber bestimmt könnte die Angelegenheit doch nicht länger als höchstens eine Woche oder vierzehn Tage dauern? Aus heiterem Himmel erfaßte mich eine Welle der Euphorie. Noch wenige Wochen zuvor hatte meine Definition von Glückseligkeit darin bestanden, mit Ben im Bett zu sein. Jetzt hingegen mußte ich mir alle Mühe geben, nicht durch das Funkeln meiner Augen zu verraten, daß ich mich unter Umständen daran gewöhnen könnte, allein zu sein. Besonders nachts. Welche Wonne, wenn das Bett nicht jedesmal durchsackte, wenn mein Liebster sich im Schlaf umdrehte oder sich auf den Ellbogen stützte, um sich zu erkundigen, wie es mir ging. Oh, wenn ich doch in den frühen Morgenstunden ins Bad kriechen und mich über diese verflixte Porzellanschüssel breiten könnte, ohne daß eine liebe Männerstimme durch den Türspalt erklärte, wir kämen dem Ende einer unangenehmen, aber bedeutungsvollen Offenbarung stündlich näher. Die Euphorie ebbte ab. Die Gewissensbisse kamen. Darin bin ich unheimlich gut. War ich nicht dieselbe Frau, die vor nur zwei Jahren im fortgeschrittenen Alter von siebenundzwanzig Lenzen dreißig Jahre ihres Lebens für dreißig Minuten mit einem Mann dahingegeben hätte? War ich nicht diejenige, die offiziell den Antrag auf ein Baby gestellt hatte? Ich hatte den Rosenkranz, ein Geschenk meiner Schwiegermutter und angeblich ein Souvenir aus Rom, zur Hand genommen und gebetet, daß das Kaninchen starb, das Teströhrchen zu schäumen aufhörte und auf dem Lackmuspapier das Wort Ja! erschien.
Mein fruchtbarer Held! Nachdem ich ihn mit Hilfe sämtlicher Tricks und Negliges in meinem Repertoire davon überzeugt hatte, daß Vaterschaft seine Bestimmung war, hatte er sich mit wahrem Feuereifer in das Elternprojekt gestürzt. Vom ersten Tag an bestand er darauf, daß wir richtig aßen, Sport trieben und streng nach Lamaze atmeten. Er hielt sich wichtige Zeit frei, um sie mit dem Embryo zu verbringen. Mein Liebster wußte auf die Sekunde genau, wann wir von einem Fötus sprechen mußten. Er legte großen Wert auf die Bildung unseres Kindes und las ihm täglich vor – jetzt schon. Auf diese Weise wollte er mindestens für Genialität, wenn nicht für mehr Vorsorgen. Der liebste Papa glaubte auch daran, daß Vorsingen musikalisches Talent bewirkt. Er hatte keinerlei Vorstellung von dem Horror, den ich durchmachte, wenn meinem Bauch ein Ständchen dargebracht wurde, während in meinen Eingeweiden ein Sturm brauste und der Weg zum Bad ein Tausend-Meilen-Treck über brennenden Wüstensand war. Er hatte keine Ahnung davon, weil ich es ihm nicht erzählt hatte. Ich wollte ihn nicht verletzen. Ich schämte mich, welch einen Aufstand ich um diese freudvolle Erfahrung machte. Frauen von heute gebären in der Mittagspause oder während sie am Xerox-Kopierer stehen; das Rennen läuft, ob zuerst die Kopien von Mr. Browns Memo oder das Baby abgeliefert werden können. Jedes Foto einer Frau in anderen Umständen zeigt sie in Mondweiß gehüllt, wie sie eine Rose an die geöffneten Lippen hält, wobei Meereswellen ihre glänzenden Zehennägel umspülen. Was war bloß mit mir los? Nicht mal drei Monate, und schon war mir zumute, als sei die Uhr des Zeitnehmers stehengeblieben. Ich hatte nicht die Energie, taubenetzt und strahlend auszusehen. Meist hatte ich morgens nicht mal die Energie, aufzustehen und die Minuten bis zu meinem Nickerchen zu zählen. Ich lebte in ständiger Furcht, daß meine Schwiegermutter unerwartet auftauchen könnte und auf einer
Inventur der Wollsachen bestand, die ich für die Babyausstattung gestrickt hatte. Demnächst würde ich mich mal zu Rock-A-Bye Baby unten im Dorf schleppen müssen, einige Spitzenjäckchen kaufen, die Etiketten entfernen, die Halsausschnitte aufribbeln und Stricknadeln hindurchstechen. Was ich brauchte, ersehnte, war eine Erholungspause, nur eine ganz winzige, damit ich mich aufpäppeln konnte, um die kommenden sechs Monate durchzustehen. Da dies nicht möglich war, würde ich mich eben mit Bens Reise nach Amerika zufriedengeben. Bis zu seiner Rückkehr wollte ich durchschlafen. Dorcas würde schon ab und zu die Spinnweben entfernen. Und Jonas würde garantiert unwillkommenen Besuch mit seiner Grobheit erfreuen. »Schläfst du?« Ben baute sich vor mir auf. »Sind bloß meine Augenlidübungen, Liebling! Schließen, öffnen und halten, schließen…« Dorcas betonte immer wieder, wie wichtig pränatale Leibesertüchtigung war. »Ellie, wir müssen uns um unsere Flugkarten kümmern. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit, wenn wir schon in einem Monat fliegen wollen.« »Sagtest du… wir?« Meine Augen waren schlagartig offen. Die Atmosphäre war zum Zerreißen gespannt. »Schatz, würde ich jemals ohne dich fahren?« Er lehnte sich elegant gegen den Mahagonischrank. »Die Gesellschaft drängt darauf, daß du mich begleitest. Natürlich bist du von den Sitzungen im Allerheiligsten ausgeschlossen. Aber du bist Teil des Projekts. Eheliche Unterstützung wird als unumgänglich betrachtet. Denk mal darüber nach, Ellie. Falls mir die Mitgliedschaft angetragen wird, besteht eine hervorragende Chance, daß man dich bittet, als Hilfskraft mitzuwirken.« Ach du grüne Neune! Als ginge es mir nicht schon miserabel genug. Ich arbeitete mich zur Bettkante vor, setzte mich auf
und schaute in seine herrlichen Augen, in denen jetzt ein beigegraues Feuer blitzte. »Ben, Liebling! Du Odysseus. Ich Penelope.« »Und das heißt?« »Du fliegst, ich bleibe.« Tobias gähnte zum Zeichen seiner Langeweile und verschwand hinter dem Kleiderschrank. »Du machst wohl Witze?« Ben zog ein finsteres Gesicht und ließ sich auf den Kaminstuhl fallen. »Du kannst mich nicht allein wegschicken. Ich könnte etwas tun, was wir beide bereuen würden.« »Eine außereheliche Affäre eingehen?« »Dreckige Wörter benutzen – Fertiggericht zum Beispiel.« »Liebling, es tut mir leid. Selbst in meinen glücklichsten Momenten habe ich bei dem Wort Auswahlkomitee nicht übel Lust, Nadeln in lebende Objekte zu bohren.« Das stimmte. Ich war das fette Kind, das in der Schule nie bis in den innersten Zirkel der geheimen Mädchenklubs vorgedrungen war. Wenn Ben unbedingt ein Mange werden wollte, bitte sehr. Er war ein erwachsener Mensch und sein eigener Herr, deshalb hatte er das Recht, kindisch zu sein, wenn er es wünschte. Unter Umständen mußte er neu programmiert werden, wenn ich ihn zurückbekam, aber mir würden schon Mittel und Wege einfallen, wie das gleichzeitig Spaß brachte. Ich legte mich wieder hin und sagte: »Mal von meinen persönlichen Vorurteilen abgesehen, die Reise wäre nicht gut für das Baby. Sämtliche Bücher legen großen Wert auf Stabilität in diesem Lebensabschnitt eines Kindes.« Er schrammte so heftig mit dem Stuhl zurück, daß er mit Sicherheit Kratzspuren auf dem Fußboden hinterließ. »Quatsch. Erst letzte Woche habe ich in einer amerikanischen Zeitung gelesen, daß pränatale Reisen von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung fähiger Köpfe sind.«
Ich spielte mit dem Gedanken, ihn aufs Bett zu locken, mein Haar zu einem Seil zu flechten und es ihm um den Hals zu wickeln. »Ben, was soll ich denn essen, während wir dort sind? Dorcas sagt, die Amerikaner stellen unglaubliche Dinge mit gebackenen Bohnen an, anstatt sie so zu servieren, wie Gott und Heinz sie geschaffen haben: direkt aus der Dose. Und sie servieren Johannisbeergelee zusammen mit Fleisch und Sauce. Schon rein physisch stehe ich das nicht durch.« »Gebackene Bohnen und Gelee«, – er fütterte mich geradezu mit den Worten – »stehen bei den Manges auf der Liste der verbotenen Speisen.« Der Raum drehte sich. Tobias war auf meinem Bauch gelandet. »Ben, ich wäre nur eine Belastung. Jedesmal, wenn du an einer Sitzung teilnehmen und mich stundenlang allein lassen müßtest – vielleicht sogar tagelang –, würdest du dich zu Tode ängstigen.« »Würde ich nicht.« »Du hättest also keine Angst«, – meine Stimme zog sich in die Länge wie Kaugummi –, »daß ich, mit dem miserabelsten Orientierungssinn seit Menschengedenken gesegnet, vielleicht in den falschen Bus einsteige und in Igluville, Alaska, lande?« »Ellie!« Er schlug sich mit der Faust gegen die Stirn, und das ganze Zimmer erbebte. Unglaublich, daß dies noch vor einer Viertelstunde eine glückliche Ehe gewesen war. Ich kraulte Tobias hinter den Ohren. »Ben, bitte versteh doch! Ich habe ein tief verwurzeltes Mißtrauen gegen Amerika, seit meine Eltern mich bei Onkel Merlin ließen, während sie dort drüben auf Jobsuche gingen. Und wenn ich schon eine Lieblingsphobie aufgeben muß, würde ich lieber in jeder Beziehung mit leichtem Gepäck reisen. Wie die Dinge stehen, werde ich gerade schwanger genug sein, um fett auszusehen. Und wenn man berücksichtigt, wie sehr mir meine fette
Vergangenheit zu schaffen macht, wäre dies eine äußerst demoralisierende Erfahrung.« Dabei ließ ich unerwähnt, daß ich in grauenerregendem Tempo Gewicht zulegte. Vor meinem nächsten Besuch bei Dr. Melrose würde ich auf Make-up verzichten und die Füllungen aus meinen Zähnen bröseln. Unfair! Mein Essen, wenn ich überhaupt essen konnte, blieb meist gar nicht lang genug in mir drin, um sich positiv oder negativ auswirken zu können. Ben ließ sich aufs Bett fallen und trieb die Fasane auf der Tapete in panikartige Flucht. »Schatz, leiste dir doch mal Umstandskleidung.« »In diesem Stadium käme ich mir angeberisch vor.« Er griff sich an den Kopf und ließ sich zurückfallen. Ich setzte zum Todesstoß an. »Und was ist mit dem Abigail’s? Zugegeben, Freddy macht sich. Er erzählt den Gästen nicht mehr, daß die Desserts Cholesterin-Bomben sind. Aber kann man ihn sich selbst überlassen, ohne jemanden, der ihn bremst? Ich weiß, was in seinem hinterhältigen Schädel vor sich geht. Er setzt ein Reste-Spezial auf die Speisekarte, noch ehe du die Zeitverschiebung erlebt hast.« Ben setzt sich auf. »Ich glaube, mein Ruf hält Freddy stand. Und er hat es sich verdient, mal unter eigener Regie zu versagen oder Erfolg zu haben.« Manchmal war dieser Mann geradezu teuflisch. Wie konnte er jetzt nur so an meinen Gerechtigkeitssinn appellieren! Er krempelte mich bis zu dem Punkt um, an dem ich mich nur noch fragen konnte, wie das Wetter um diese Jahreszeit in New York war. »Über welches Fleckchen von Amerika reden wir eigentlich?« Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht und verschwand wieder. »Wo würdest du denn gern hinfahren?« »Nach Boston.« Fünfzig zu eins, daß ich im falschen Staat war. Ich hoffte, Enttäuschung in seinen Augen zu sehen, doch er
schaute nach unten und spielte mit dem Gürtel seines Morgenmantels. »Erstaunlich!« sagte er. »Du meinst doch nicht…?« »Nun ja, nicht direkt Boston.« Ich atmete wieder normal. »Einige Meilen außerhalb.« Tobias stieg vom Bett. Kluger Kater. Ich hatte Lust, Ben irgend etwas an den Kopf zu werfen – wenn ich nur die Kraft dazu gehabt hätte. »Ich will nicht in ein Flugzeug steigen.« Der letzte Versuch. »Du hast doch gar keine Angst vorm Fliegen.« »Ich habe Angst vor Turbulenzen und diesen scheußlichen kleinen Papiertüten und den scheußlichen Warteschlangen vor diesen scheußlichen kleinen Toiletten.« Er machte ein finsteres Gesicht und trat seitlich gegen das Bett. »Ellie, ich will ein Mange werden. Ich weiß, du bist mit den Nerven runter, aber denk’ dran, in Kapitel zwei von Das Wartespiel heben sie besonders hervor, daß dies ein positives Symptom ist. Ich bitte dich schließlich nicht darum, eine Bergtour zu machen.« Ich strich mir die Haare aus der Stirn und gab mir alle Mühe, zerbrechlich auszusehen. »Ben, wir sind jetzt seit fast einem Jahr verheiratet. Wir brauchen uns nichts mehr zu beweisen. Liebe heißt nicht, sich aus Edelmut aufzuopfern.« Ich tätschelte seine Wange. »Sei egoistisch, mein Liebster, und geh’ mit Gott.« »Ist das deine endgültige Antwort?« Er richtete sich auf und sprach im Ton eines Menschen, der mit seinem Schiff untergeht. »Dumm von mir, überrascht zu sein.« »Wieso?« fragte ich. »Das möchte ich lieber nicht sagen.« Er zeigte sein Profil von der besten Seite.
»Wie du wünschst.« Ich plante bereits meine Tage ohne ihn. Bis Mittag im Bett. Gehörte Chitterton Fells möglicherweise zum Einzugsgebiet von Essen auf Rädern? »Andererseits, wenn du darauf bestehst, daß ich es sage. Mum hat einmal ihrer Besorgnis Ausdruck verliehen, du könntest eine Art… wohlmeinender Miesmacher sein.« »Deine Mutter hat was gesagt?« Ich wollte mich gerade schon vom Bett hochrappeln, wurde aber durch einen Schwindelanfall und eine Neuauflage von Bens aalglattem Lächeln gerettet. Um ein Haar wäre ich auf den ältesten Trick der Welt hereingefallen! Ich drückte zitternde Finger auf meine Augen und jammerte: »Und vermutlich hat dein Vater ihr zugestimmt! Undankbare Schwiegereltern zu haben ist schlimmer als der Biß einer Giftschlange, und dabei trage ich ihr Enkelkind unter dem Herzen.« Während Ben sich bemühte, seine Zunge wieder in Gang zu bringen, überlegte ich, daß er ja wohl nicht die Absicht hatte, ein gefühlloser Klotz zu sein. Er hatte sich lediglich dem Aberglauben verschrieben, daß alles an einer Schwangerschaft natürlich war, Natur pur, bis auf die Morgenübelkeit. Ach, wie schön war das Leben in den guten alten Zeiten, als Schwangerschaft bedeutete, sich in sein Boudoir zurückziehen zu dürfen. Eine Schale mit Bonbons in Reichweite, um die aufwallenden Gelüste zu stillen. Immer einen Roman – mit einer jungfräulichen Heldin – griffbereit. Und nicht zu vergessen die unverzichtbarste aller Bequemlichkeiten der alten Zeit – die Zofe, die auf Zehenspitzen hereinkam, um im Kaminfeuer zu stochern. Halt. Weg mit dieser Phantasie! Ich mit meinem Glück wäre die ewig schwangere Zofe gewesen. Ich seufzte. Das Leben im Hier und Jetzt hatte vielleicht seine Vorzüge. Konnte es sein, daß ein Abstecher nach Amerika doch nicht so barbarisch war, wie es sich anhörte? Ein tapferes
Lächeln umspielte meine Lippen. »Ben, gönnst du mir noch einen kleinen Aufschub für meine endgültige Antwort?« Er kniete sich neben das Bett, nahm meine herunterhängende Hand und preßte sie an die Lippen. Es war eine dieser von Venus persönlich kreierten Szenen, wir beide allein, ein Bild der Harmonie! Aber wie immer, wenn die Tür aufspringt und ein Dritter hinzukommt, sahen wir am Schluß ganz schön lächerlich aus. Um ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, Dorcas klopfte wenigstens an; was sie jedoch nicht tat, war, auf ein »Herein!« zu warten. »Tut mir schrecklich leid, daß ich so hereinplatze!« Ihr rotes Haar quoll über die Spangen, die es bändigen sollten. Verlegen zupfte sie an der Trillerpfeife um ihren Hals. Zum Glück blies sie nicht hinein, wie es ihre Gewohnheit war, wenn jemand (sie selbst eingeschlossen) eine Aufforderung brauchte, um aktiv zu werden. Ihre haselnußbraunen Augen hefteten sich auf Ben, der noch auf den Knien lag. »Hab’ ich dich doch glatt bei deiner Frühgymnastik erwischt, stimmt’s? O je… ich wollte nicht…« Die Jahre hatten Dorcas nicht davor bewahrt, in bestimmten Situationen knallrot zu werden. Ich rettete sie. »Ben hat Guck-guck mit Tobias gespielt.« Mann und Tier, die nicht besonders viel füreinander übrig haben, verzogen den Mund. Dorcas trat energisch näher. »Haha, wie witzig! Aber längst nicht so komisch ist, daß ihr Besuch habt.« »Jemand, den wir kennen oder gern kennenlernen würden?« Ben stand auf. »Doch niemand aus meiner Verwandtschaft?« Offen gestanden, das letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte, war, einen Blick auf meine Gene zu werfen. Der noch Harmloseste des Haufens, Freddy, hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, als er einmal sagte, wenn er seine Mutter ermorden würde, würde die Antwort seines Vaters nur lauten: »Verdammt noch
mal, Junge. Ich verlasse mich darauf, daß du Geld für das Begräbnis rausrückst, nachdem du mich derart überrumpelt hast!« »Keiner von denen«, sagte Dorcas. »Es sind die Misses Tramwell.« »Aber das ist doch toll! Ob Primrose in ihrem Brief – ich bin nie dazu gekommen, ihn zu Ende zu lesen – erwähnt hat, daß sie uns besuchen wollten?« Meine Vorfreude fand in Bens Gesicht keine Entsprechung. Er mag die Tramwells, aber noch lieber mag er es, sonntags morgens pünktlich um zehn im Abigail’s zu erscheinen. Ich streckte einen Zeh aus dem Bett, um sozusagen die Wassertemperatur zu testen. »Kein Grund, mein Prinz Schwachherz, durchs Fenster zu entfliehen. Hyacinth und Primrose werden nicht im Traum daran denken, dich in ein Frauengespräch zu verwickeln.« Ich brach ab, erschrocken über Dorcas’ Gesichtsausdruck. Besonders über ihre Nase, die immer zuckt, wenn sie aufgeregt ist. »Enttäusche dich nur ungern, Ellie, aber die Damen sind nicht in der Stimmung für ein Frauengespräch. Sie sagten, sie seien in einer Sache auf Leben und Tod da.« »O Ben!« Ich umklammerte den Bettpfosten. »Das hätten wir wissen müssen! Sie würden nie so früh am Tag kommen, wenn nicht etwas passiert wäre.« Er legte die Arme um mich. »Eine Sache auf Leben und Tod! Welch ein Klischee!« »Nur wenn es um andere geht«, flüsterte ich an seiner männlichen Brust. »Liebste Ellie.« Die beiden Schwestern erhoben sich gleichzeitig von dem Sofa im Salon. »Ach, wie furchtbar zart und mitgenommen du aussiehst.« Meine Stimmung hob sich. Das Duftgemisch des Spätsommers wehte durch die geöffneten Fenster herein. Welch ein Genuß,
verwöhnt zu werden! Jede nahm mich an einem Arm, und so zogen sie mich auf das elfenbeinfarbene Brokatsofa, als wäre ich unglaublich kostbar und unglaublich zerbrechlich. Ich hatte vergessen, wie sehr ich sie mochte. Primrose mit ihren silbrigen Locken, dem verknitterten Blumengesicht und den lebhaften blauen Augen, Hyacinth, größer und bleich, mit ihrem schwarzen Haarkegel, der vom Kopf abstand, und den tiefliegenden Augen. Der wahrscheinlichste Grund für ihr Erscheinen und für Dorcas’ Botschaft war wohl, daß sie einen dringenden Fall mit mir zu besprechen wünschten. Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich Flowers Detection assistiert, als eine örtliche Frauengruppe das Gesetz in die eigenen weißbehandschuhten Hände genommen hatte und Mord zu ihrem Gemeinschaftsprojekt erkor. Ein Grund mehr für meine Abneigung gegen jede Form der Organisation. Wer konnte wissen, was die Manges in ihrer Freizeit anstellen? Wie mein Onkel Maurice zu sagen pflegt: »Gelegenheit schafft Fanatismus.« »Liebes Kind, ich nehme doch an, du bist nicht allein die Stufen heruntergekommen.« Primrose stopfte mir ein Kissen in den Nacken, bevor sie das vertraute Riechsalzfläschchen aus ihrer Handtasche holte. Der maßgeschneiderte Eindruck, den ihr Wollanzug machte, wurde durch die Donald-Duck-Knöpfe aufgehoben, die andererseits sehr gut zu ihrer Mickey-MausUhr paßten. Was die Satinschleifen in ihren Locken betraf, wirkten sie so lange etwas geschmacklos, bis man sich ihre Schwester genauer ansah. Hyacinth steckte in Haremshosen und in einer scharlachroten Bluse mit breiten Ärmeln. Messingohrringe in Form von Vogelkäfigen hingen bis zu ihrem Hals hinunter. Bei jeder Bewegung schwankten die winzigen Kanarienvögel darin. Mein Blick schweifte unwillkürlich zu dem Porträt von Abigail, Onkel Merlins Mutter, hinüber, das seinen stolzen
Platz über unserem Kamin hat. Ihr schlichtes, offenes Gesicht und ihre freundlichen Augen hätten den Raum selbst dann zu einem Zuhause gemacht, wenn er kein einziges Möbelstück enthalten hätte. Erkannte ich da die Andeutung eines Augenzwinkerns, als sie jetzt zu mir hinunterlächelte? »Wirklich, ihr dürft mich nicht so verwöhnen«, wies ich die Schwestern zurecht. Sie setzten sich zu beiden Seiten neben mich und nahmen jeweils eine meiner Hände. »Ben muß dringend zum Restaurant, er kommt aber gleich noch kurz rein, um hallo zu sagen, bevor er verschwindet. Er will es auf keinen Fall missen, euch zu sehen. Und Dorcas hat versprochen, Kaffee zu bringen, nachdem wir etwas Zeit zum Unterhalten hatten.« »Ben kümmert sich weiter um sein Restaurant?« Hyacinth legte ihre Stirn in Falten. »Man würde doch annehmen, daß er jemanden finden könnte, der ihm die Arbeit abnimmt, damit er in dieser strapaziösen Zeit bei dir sein kann.« »Männer!« Ich zuckte mit den Schultern. Hyacinth wiederholte diesen Ausspruch – und führte noch weiter aus. »Ich bin stolz, sagen zu können, daß unser Vater sich niemals erlaubte, einer Beschäftigung nachzugehen, wenn meine Mutter guter Hoffnung war.« »Das tat er ja auch nicht, wenn sie nicht schwanger war.« Primrose stellte das Riechsalz ab. »Die Anforderungen, die sein Klub an ihn stellte, waren höchst beschwerlich, und in unserer Jugend war es auch noch nicht allgemein üblich, daß die Eltern arbeiteten, es sei denn, sie waren aus niederen Gründen dazu gezwungen.« Sie drückte meine Hand. »Ich nehme an, dein Vater hält noch einige von diesen alten Werten hoch.« »Sicher. Er wohnt immer noch in einer Grashütte auf der Tropeninsel Kiwikki, ernährt sich von heißer Kokosmilch und
organisiert den örtlichen Schönheitswettbewerb – Miss Blaue Lagune.« Primrose machte »ts, ts«, aber ich sah, daß ihre Stiefmütterchen-Augen glänzten. Hegte sie eine romantische Phantasie von meinem Vater, wie er – eine Kombination aus Errol Flynn und Tarzan – sich eines Tages durch ein offenes Fenster an einem Seil hereinschwingen würde, wenn sie zufällig zu Besuch war? »Weißt du noch, Hyacinth, als Vater die Familie für vierzehn Tage in ein Zelt auf dem Rasen umziehen ließ, weil wir lernen sollten, wie die gewöhnlichen Sterblichen leben? Ach, denk nur an die verärgerten Dienstboten, die die Mahlzeiten hin- und herschleppen mußten!« »Sehr richtig.« Hyacinth neigte den Kopf, und die Kanarienvögel in den Vogelkäfig-Ohrringen begannen zu trällern. »Aber laß uns die Zeit nicht mit Reminiszenzen verschwenden! Wir müssen den Grund unseres Besuches erklären.« Primrose, die nervös an ihren Fingern knetete, zirpte dazwischen. »Ja, ja, das müssen wir, aber vielleicht wäre es doch besser, damit zu warten, bis die werte Dorcas den Kaffee gebracht hat. Unser lieber Vater pflegte zu sagen, es gibt keine trockenen Themen, nur trockene Kehlen. Zugegeben, er beklagte immer das Fehlen von Portwein…« Sie zupfte an ihren Perlen. »Ellie, meine Liebe, ist dieser Stoffhocker neu? Es ist solch ein netter, hübscher Raum! Wir haben die Möglichkeit erwogen, eine ähnliche Wandbespannung aus elfenbeinfarbener Seide für die Novizinnensuite in Cloisters anzuschaffen. Du weißt ja, sie wird manchmal auch Brautzimmer genannt.« Hyacinth runzelte die Stirn. »Primrose, diese Verzögerungstaktik führt lediglich dazu, daß die Erfüllung unseres Auftrags noch schmerzlicher wird.« Sie griff nach
meinen Händen, und ihre lackierten Fingernägel glühten wie Feuer. »Liebe Freundin, wir haben dich zu dieser unpassenden Stunde unangemeldet überfallen, weil wir uns große Sorgen um dein Wohlergehen machen.« Ich hatte mich ja tatsächlich ein wenig schwach gefühlt, doch ihre Worte brachten mich schlagartig zur Besinnung. Sie trafen mich wie ein Schwall kaltes Wasser, um genau zu sein. Was konnte in den Augen der Schwestern mein Glück bedrohen? Es fiel mir wie Schuppen von den Augen! Schwangerschaft, selbst wenn sie völlig normal verlief, war für die Misses Tramwell vermutlich an sich eine Sache auf Leben und Tod. Ich setzte mich entschlossen auf und verkniff mir ein Lächeln bei dem Gedanken, daß sie auf dem schnellsten Wege hergekommen waren, nur um darauf zu bestehen, ich solle die vollen neun Monate im Bett verbringen. »Bitte, ihr dürft euch keine Sorgen um mich machen. Von der obligatorischen Morgenübelkeit abgesehen, geht es mir prächtig, wirklich!« Hyacinth machte ts, ts. »Du sollst wissen, Ellie, daß Prim und ich keinerlei Aversionen dagegen haben, daß du dieses Kind bekommst. Im Gegenteil, wir haben die Nachricht des bevorstehenden freudigen Ereignisses mit Entzücken aufgenommen. Babys mögen wir beide besonders gern.« »Und wir haben nur ein ganz kleines bißchen Angst vor ihnen«, fügte Primrose mit ihrem zarten Lächeln hinzu. Hyacinths Blick umwölkte sich. »Zweifellos, Ellie, wird ein Kind sehr zu dem Glück deines Zusammenlebens mit Bentley beitragen – sobald ihr die Anfangsschwierigkeiten mit gestörter Nachtruhe und dem Ende der Romantik hinter euch habt. Wir haben mit unserer Ortshebamme – der klugen Schwester Krumpet – telefoniert, die uns versichert hat, eine Geburt müsse nicht mehr die primitive Drangsal der Vergangenheit sein. Antiquiert wie ich bin, wird mich dennoch nichts und
niemand davon überzeugen, daß Geburten eine passende Fernsehunterhaltung sind oder daß das Lächeln der gebärenden Mütter nicht künstlich ist.« Sie holte Luft. »Meine Liebe Hy«, – Primrose zupfte an den Schleifen in ihrem Haar herum –, »nimmst du nicht einen ziemlichen Umweg, um zum Ziel zu gelangen?« Hyacinth nickte. »Ich nehme an, meine Liebe, du glaubst an hellseherische Kräfte?« »Na ja, gerade in dieser Beziehung bin ich ein chronischer Skeptiker.« Ihre schwarzen Augen hielten mich fest, und die Kanarienvögel hörten auf, in den Vogelkäfig-Ohrringen zu zirpen. »Gestern saßen Primrose und ich am Tisch im Frühstückszimmer. Ich zeigte ihr gerade das Morgenjäckchen, das ich für ein gewisses Baby stricke, als Chantal mit dem Toasttablett hereinkam.« »Unser Dienstmädchen«, fiel Primrose ein. »Ein eingebildetes Kind, das von Zigeunern abstammt.« Hyacinth brachte sie mit einem Blick zum Schweigen. »Während ihrer Freizeit bereitet Chantal sich auf ihren Abschluß an der Universität vor. Ihre Arbeit in Cloisters ist aber ideal, weil ihr Examensthema das Kräuterwissen von Klöstern ist. Auf dieses Beruhigungsmittel, das Primrose dir geschickt hat, ist Chantal gestoßen, als sie einen Schrank leerräumte, den seit einigen hundert Jahren niemand mehr angerührt hatte.« Primrose tippte auf ihre Mickey-Maus-Uhr. »Tatsächlich, ja, Elli, und wir sind sicher, Ellie, daß du es ebenso zuträglich finden wirst wie Anne Boleyn und der liebe Sir Walter Raleigh in den Augenblicken höchster Not.« Hyacinth schloß die Augen. »Um zum Thema zu kommen – wie es der Zufall wollte, vermißte ich mein weißes Garnknäuel, und Chantal hob es vom Fußboden auf.«
»Immer so hilfsbereit«, flötete Primrose. »Chantal ist eine begabte Hellseherin«, sagte Hyacinth. »Liebes Kind«, sagte Primrose, »du kannst uns ruhig vorwerfen, daß wir zu viele Schauergeschichten lesen, aber Hy und ich waren beide Zeuginnen, wie Chantal völlig erstarrte, als sie dieses Wollknäuel zurückgeben wollte. Ihre Augen waren kohlschwarz, pardon, pechschwarz vor Entsetzen. Ihr dunkles Haar legte sich wie ein Schleier um ihre plötzlich kreidebleichen Wangen. Sie zerdrückte die Wolle in den Fingern. Und als sie schließlich sprach, schien ihre Stimme aus jedem Winkel des Zimmers zu kommen, nur nicht von ihren steifen Lippen. Chantals Worte, liebe Ellie, lauteten folgendermaßen.« Um den Schlag abzupolstern, rückte Primrose das Polster in meinem Nacken zurecht. Sie sagte: »›Ich sehe ein Haus mit vielen Türmen, von Wasser umgeben‹.« »Der Wassergraben um Merlins Schloß! Was könnte klarer sein?« half Hyacinth nach. Ihre Schwester klammerte sich mit ihren Pergamenthänden an die Perlen um ihren Hals, bis diese klapperten wie Zähne. Ihre Stimme klang geisterhaft. Chantal beschrieb dann euer Schloß. »›Ich bin jetzt in dem Haus mit den Türmen. Die Wände sind rot. Und rot bedeutet Zorn. Die Luft, die ich atme, ist dumpf vor Eifersucht und Furcht. Eine Explosion bereitet sich vor, alles pulsiert, bis – puff! Eine riesige Wolke ballt sich tintenschwarz über dem Dach zusammen. Sie droht die Hoffnungen und Träume all jener zu zerstören, die sich drinnen aufhalten. Nehmt euch in acht vor der schwarzen Wolke!‹« Primrose verstummte. Kater Tobias betrat den Raum wie ein wandelndes böses Omen, dann machte er auf dem Schwanzende kehrt. In der klaffenden Türöffnung stand Ben. Er schlug die Hand vor die Stirn und taumelte, als drohte er zu fallen. Ich sackte derweil zusammen und glitt vom Sofa.
Hyacinth setzte mich wieder hin. Ihre Satinbluse glänzte blutrot. Verstand auch nur eine dieser beiden entzückenden Frauen, was sie mir antaten? Meine Hände umschlossen schützend mein Baby. Primrose legte wieder los. »Der Atem der armen Chantal flatterte dann wie die Flügel eines müden Vogels. ›Dieses Haus ist aus Feuer und Schwefel erbaut und versinkt in Schatten… Ärger im Nordturm… Kein anderer Ausweg als nach oben… Kritzeleien, aber nicht an der Wand… Ein Füller schlimmer als ein Schwert… Mrs. Haskell muß die Wahrheit in sich selbst finden‹.« Primrose hielt das Riechsalz sowohl unter meine als auch unter ihre Nause. »Meine liebe Ellie, Chantals Stimme wurde immer leiser und bebte, woraufhin Hyacinth und ich zu unseren Stolas griffen. Ja, da kannst du mit gutem Grund schockiert sein. Nach dem Stil, in dem wir Flowers Detection führen, sind wir bekannt für unsere stählernen Nerven.« Mein Kopf fühlte sich an wie ein Revolver, der jeden Moment losgehen konnte. »Merlins Schloß ist zwar ein Haus mit Vergangenheit, aber in letzter Zeit brodelt es nicht gerade vor Unrast.« Ich hob die Stimme. »Manchmal ärgern mich Ben und Jonas, aber Männer werden immer Kinder bleiben. Was Dorcas betrifft, hat sie keinerlei Anlage zur Eifersucht.« Das Schrillen eines fernen Teekessels entpuppte sich als Dorcas, die nervös in ihre Pfeife blies. Sie und Jonas standen bei Ben und spähten durch die Tür. Kater Tobias trug auch nicht gerade dazu bei, meine Nerven zu beruhigen. Er umkreiste das Sofa. »Ich bin sicher, meine Liebe«, sagte Primrose tröstend, »daß niemand der gegenwärtig hier Wohnenden die Quelle der Gefahr ist. Ich vermute, eines Tages wird es an der Tür klopfen…« Mein linkes Bein brach in konvulsivisches Zucken aus, und prompt landete mein Fuß auf Tobias’ Schwanz. Er sprang hoch
in die Luft und überschüttete mich in Katzensprache mit Verwünschungen. »Hat Chantal sonst noch etwas gesagt?« flüsterte ich. Hyacinth schüttelte den Kopf und brachte die Kanarienvögel dadurch zum Wackeln und Zwitschern. »Sie weiter auszufragen, hätte lediglich dazu geführt, sie in einen Zustand zu versetzen, in dem es ihr nicht mehr möglich gewesen wäre, das lila Schlafzimmer in Schuß zu bringen. Prim und ich haben den ganzen gestrigen Tag mit Nachdenken verbracht, was am besten zu tun wäre. Wir zogen uns früh ins Bett zurück, nach wie vor überaus angegriffenen Gemütes, standen heute morgen jedoch in friedvoller Gelassenheit auf. Wir fuhren in unserem verläßlichen Leichenwagen hierher, in einem Mordstempo, um dich zu drängen, diese Stätte zu verlassen, bevor die Zerstörung beginnt.« Ich wäre in Ohnmacht gefallen, wenn mir danach zumute gewesen wäre. »Schluß jetzt! Welch ausnehmend mitreißender Vorschlag!« Ben verließ die Türöffnung mit der atemberaubenden Wirkung eines Gemäldes, das zum Leben erwachte. Als er zum Sofa hinüberkam, schien er durch meinen Kopf zu gehen. Die Tür stand jetzt weit offen, und Jonas und Dorcas waren verschwunden. Waren sie oben und packten? Während er vortäuschte, mir lediglich einen Kuß auf die Stirn hauchen zu wollen, flüsterte Ben: »Der Fluch der Zigeunerin – Augen pechschwarz vor Entsetzen! Tintenschwarze Wolken! Das reicht, um den Wunsch in mir zu wecken, mich wieder an der Abfassung von Groschenromanen zu versuchen.« Er richtete sich auf und ging zu den Schwestern hinüber, um sie zu begrüßen. »Wie schön, euch wiederzusehen!« Er ließ sich in einen der Queen-Anne-Sessel fallen, und seine Augen blitzten wie gestohlene Juwelen. »Verzeiht mir, daß ich gelauscht habe,
aber das war ein klassischer Fall von Hypnose! Ich konnte kein Glied rühren.« Die Mrs. Tramwell waren in einer Zeit aufgezogen worden, als es zu den Grundprinzipien des Lebens gehörte, daß man männliche Verfehlungen verzeihen mußte. Primrose errötete passend zu ihrer pinkfarbenen Bluse. Hyacinth führte einen knallroten Fingernagel zu ihrem Haarkegel und sagte: »Die Entschuldigung des Gentleman ist angenommen, Ben. Ich hoffe doch, daß du nicht glaubst, Primrose und ich übertreiben bei Chantals düsterer Vision.« Ben rückte seinen Sessel zurecht, sein Gesicht war in geometrische Schatten getaucht, und so erklärte er feierlich: »Im Gegenteil, ich fürchte sogar, ihr unterschätzt den Ernst der Lage noch. Ellie und ich stehen ungeheuer tief in eurer Schuld. In dem Augenblick, als ihr die Worte Eifersucht, Zorn und Furcht ausspracht, wußte ich bereits, in welcher Gestalt sich die Gefahr materialisieren wird. Uns steht ein Besuch der Verwandtschaft bevor.« Er meinte natürlich meine Familie, eine Beleidigung, an die ich mich klammerte wie an eine Rettungsweste. Onkel Maurice wäre mal wieder auf der Flucht vor seinen Gläubigern, Tante Lulu würde eine Erholung von der täglichen Plackerei des Ladendiebstahls benötigen. Ich tätschelte besänftigend das Baby. Mich überspülte eine Welle des Glücks. Gott würde mich doch nicht dafür bestrafen, daß ich letzte Woche zweimal vergessen hatte, meine Eisentabletten einzunehmen. »Was meinst denn du dazu, Schatz?« Ben sprach mit widerlich süßer Stimme. »An welchen Ort könnten wir fliehen, der hinreichend weit von der schwarzen Wolke entfernt ist?« Er legte einen Finger an die Stirn und schloß die Augen. »Wie wär’s mit Amerika?« »Ich glaube, das könnte noch etwas zu nah sein, Liebling.« Glück wirkt immer wie Champagner auf mich. »Wäre
Australien nicht sicherer? Denk’ nur an die aufregenden Feinschmeckerdinge, die du mit Känguruhs anstellen könntest. Ganz köstlich, kann ich mir vorstellen, und so leicht zu füllen.« Hyacinths gemalte schwarze Augenbrauen zogen sich zusammen. »Australien! Bist du sicher? Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß ein Land, in dem die Jahreszeiten in umgekehrter Reihenfolge verlaufen, auch nicht sonderlich zivilisiert sein kann.« Ben legte die Hände hinter den Kopf, kreuzte die Fußknöchel und schenkte mir sein Paschalächeln. »Meine liebe Ellie«, sagte Primrose, »ich habe das starke Gefühl, daß Amerika vorzuziehen wäre. Auf die eingestandenermaßen entfernte Möglichkeit hin, daß Chantals düstere Voraussagen doch nicht eintreffen, wäre es Hyacinth und mir außerordentlich peinlich, euch in die Unkosten gestürzt zu haben, die eine Reise zur anderen Erdhälfte mit sich bringt. Außerdem wollen wir natürlich auch Bentley zufriedenstellen, nicht wahr?« »Nicht um jeden Preis.« Primrose sprach schnell weiter. »Wir haben eine Schwester, Violet, die in Detroit lebt. Ein ziemlich grüner Landstrich, wie man uns zu verstehen gegeben hat. Sie heißt jetzt Wilkinson, und ihr Mann und ihre Söhne sind im Beerdigungsgewerbe tätig. Man braucht sich zumindest keine Sorgen zu machen, daß sich die Liebe Vi nicht in guten Händen befindet, wenn ihre Zeit gekommen ist. Bitte besucht sie doch, wenn ihr Zeit habt, und sagt ihr, wie gut es Hy und mir geht.« Sie zupfte an einer der Schleifen in ihrem Haar. »Und wenn ihr vielleicht auch so nett wäret, ihr zu sagen, daß unser Arzt meint, wir sähen bemerkenswert jung aus.« »Ich glaube, einen Telefonanruf können wir schon versprechen, nicht wahr, Liebes?« sagte die Ratte… ich meine, der Gatte.
Ben kann in meinem Gesicht lesen wie in einem Kinderbuch. Er wußte, daß ich bis ans Ende der Welt reisen würde, wenn auch nur die entfernteste Möglichkeit bestand, daß die schwarze Wolke alias meine Cousine Vanessa zu einem ausgedehnten Besuch eintraf. Neulich hatte sie am Telefon gesäuselt: »Liebling, ich bin sicher, schwanger siehst du einfach entzückend aus. So füllig zu sein, das war immer so ganz… du!« Nichts würde ihr größere Freude bereiten, als ihre gummibanddünne Taille vor mir und Ben zur Schau zu stellen. Nicht, daß er die geringste Notiz davon nehmen würde. Ich hörte den Wink in seiner Stimme, als er den Tramwells zusicherte, wir würden ihnen Ansichtskarten aus Amerika schicken. Wozu sich noch sträuben? Wenn das Schicksal einen erst mal am Wickel hat, ist Sträuben nutzlos. Außerdem war ich spät dran mit meinem Mittagsschlaf, und Ben mußte schleunigst ins Abigail’s. Die Manges brauchten uns nur noch das geheime Paßwort zu schicken, dann würden wir aufbrechen. Ein Seitenblick zum Bücherregal festigte meinen Entschluß. Die Alben, die Dorcas und Jonas während ihrer Amerikareise angelegt hatten, schienen sich derart eifrig gepaart und vermehrt zu haben, daß sie in alarmierendem Tempo die Herrschaft über die Bücherregale übernahmen. Lieber lernte ich die Neue Welt aus eigener Anschauung kennen als durch wöchentliche New Geographie-Sitzungen mit einem Paar ehemaliger Forschungsreisender. Bens nächste Worte, an die Tramwells gerichtet, holten mich in die Wirklichkeit zurück. »Aha, da ist Dorcas mit dem Kaffee. Und ich glaube, Jonas kennt ihr schon.« »Das Vergnügen haben sie bereits gehabt.« Jonas gab sich die Ehre, indem er seine ausgebeulten Hosenbeine ein Stück hochzog. Schrecklicher Mensch! Er hatte seine Gärtnerstiefel nicht ausgezogen. Sein grauer Schnäuzer
zuckte hinterhältig, als er Primrose eine Platte mit Teegebäck hinhielt. Dorcas hielt ihre Trillerpfeife bereit (Ben hatte es übernommen, den Kaffee einzuschenken, um die ganze Prozedur zu beschleunigen, schließlich lockte das Abigail’s), doch gegen Jonas war kein Kraut gewachsen. Er umklammerte die Platte mit dem Gebäck, als müsse er sich daran festhalten und brummte: »Ich riskiere den Rausschmiß, wenn ich mich so in den Vordergrund dränge, Miss Primrose, aber ich war’ ein ausgewachsener Lügner, wenn Sie nicht so aussehen wie einer von diesen Filmstars, wie Sie so dasitzen.« Sein rustikaler Charme veranlaßte Primrose dazu, ihren Tee zu verschütten. Hyacinths Gesichtsausdruck wurde frostig. »Da kann einer ja froh sein, Prim, daß er mit dir verglichen wird. Wie du dich erinnern wirst, bin ich zu verschiedenen Gelegenheiten mit der berühmten Theola Faith in ihrer verführerischen Glanzzeit verwechselt worden. Wobei mir einfällt«, – sie nahm ihre Schwester am Ellbogen und zog sie hoch –, »wir müssen uns auf den Weg machen.« »So bald?« Ben leerte beide Kaffeetassen, die er in den Händen hielt. Hyacinth hob ihr Tasche auf. »Ich fürchte, ja. Auf dem Heimweg nach Cloisters wollen wir eine Veranstaltung des Theola-Faith-Fanklubs von Warwickshire besuchen. Ihre Tochter – ein völliger Niemand, was sie persönlich betrifft, keiner hatte überhaupt eine Ahnung, daß’ Theola Faith eine Tochter besitzt – schrieb ein abscheuliches Buch über sie, darin bewirft sie ihre eigene Mutter mit Dreck. Wir haben die Absicht, die Bibliothek zu boykottieren.« Der Name Theola Faith rührte an eine alte Erinnerung. Theola Faith war die Sexgöttin ihrer Generation gewesen, von Millionen verehrt. Als ich neun oder zehn war, hatte meine
Mutter eine kleine Tanzrolle in einem ihrer Filme, Villa Melancholie, gespielt. Aber dies war nicht der Augenblick, um zu prahlen. Ich richtete meine Gedanken auf die Zukunft und fragte mich, ob es wohl auch weibliche Manges gab. Nicht, daß es eine Rolle spielte – eine große weiße Kochmütze wirkt selbst an dem göttlich inspiriertesten weiblichen Wesen unvorteilhaft. Ich bin nicht mit Chantals hellseherischen Fähigkeiten gesegnet. Oft sehe ich nicht einmal, was vor meiner eigenen Nase passiert, so zum Beispiel, daß Kater Tobias das Sofa umkreiste und sich daranmachte, Hyacinths VogelkäfigOhrringe zu erstürmen. Selbst wenn der Raum sich verdunkelt hätte und eine arktische Brise aufgekommen wäre, ich hätte den Wink nicht verstanden, daß Ben und ich, indem wir der schwarzen Wolke zu entfliehen suchten, geradewegs hineinliefen. Wir fuhren nach Amerika.
Am Tag der Abreise wußte ich schon beim Aufwachen, daß etwas nicht stimmte. Ich fühlte mich wohl. Jeder Teil von mir war lebendig – in der Aussicht auf die Freuden des Marathonwartens am Flughafen. Auf das Vergnügen, mich seitlich durch den Mittelgang eines Flugzeugs zu schieben, meine Tragetasche auf dem Kopf balancierend! Ich hätte die glücklichste Frau an Bord sein können, wäre Bens Klaustrophobie nicht gewesen. »Nein. Liebling.« Ich drückte seine Hand, als das Flugzeug abhob. »Mach dein Fenster lieber nicht auf.« Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich seit dem Tag, an dem wir die Einladung der Manges erhalten hatten, keinen Blick mehr in Schwangerschaft für Anfänger geworfen hatte. Jetzt, als ich zusah, wie Ben starr vor Aufmerksamkeit dem Wetterbericht des Flugkapitäns lauschte, hatte ich nicht übel Lust, über meinen Gefährten auf dem Sitz am Mittelgang zu klettern und das Buch aus dem Gepäckfach zu holen. Doch Ben wollte meine Hand nicht loslassen. Der Getränkewagen ratterte den Gang entlang, und ich hatte ja noch einen Trumpf im Ärmel beziehungsweise in meiner Handtasche, der eine beruhigende Wirkung auf uns beide haben würde. »Ben, Liebes.« Ich drehte sein Gesicht zu mir und schaute ihm tief in die Augen. »Heute morgen kam ein Brief von deiner Mutter. Möchtest du, daß ich ihn dir vorlese?« »Das wäre nett.« Wie Jane Eyre, die sich nach dem Brand um Mr. Rochester kümmerte, zog ich den Brief meiner Schwiegermutter heraus. Es war eine Antwort auf ein Schreiben, das ich ihr vor einiger
Zeit geschickt hatte. Ben, wie so viele Vertreter seines Geschlechts, wollte ebensowenig mit der Familienkorrespondenz zu tun haben wie Spitzenunterwäsche tragen. »›Lieber Ben, bitte richte Ellie unsere besten Wünsche aus. Auch vielen Dank für ihren letzten Brief von vor zwei Tagen. Paps meint, es sei nett von ihr, so oft zu schreiben, doch die Post wird ja immer teurer, da wird Briefeschreiben zu einem richtigen Luxus. Eine schöne Reise Euch beiden. Denkt nicht daran, daß Paps und ich schon nächtelang nicht schlafen können aus lauter Sorge, wie es Euch ergehen wird. Haben wir nicht immer gesagt, daß wir wußten, auf was wir uns einlassen, als wir beschlossen, Eltern zu werden? Wir haben Dich aufgezogen, mein Sohn, damit Du Dein eigenes Leben führst. Paps und ich haben auch kein Wort gesagt, als Du anfingst, für Eligibility Escorts zu arbeiten‹.« Stimmte genau, sie hatten einfach aufgehört, mit ihm zu reden. »›All meine Gebete wurden erhört, wenn Du nicht zuläßt, daß unser Seelenfrieden Deinem Glück im Wege steht. Mrs. Badger, die Frau zwei Häuser weiter, erzählt solche furchtbare Geschichten von ihrer Nichte Rosemary, die in New York lebt. Scheint so, als würde das arme Mädchen alle paar Wochen fast ermordet, und sie muß nach Hause schreiben und um Geld bitten, damit sie in eine ungefährlichere Gegend ziehen kann‹.« »Ein Segen, daß wir nach Boston fahren!« sagte ich munter. Ben war noch blasser geworden. »Nicht direkt in die Stadt. Du erinnerst dich doch noch, ich habe dir erklärt, daß wir von dort zum Treffpunkt mit den Manges noch ein Stück fahren müssen.« »Ja, Schatz, und du hast versprochen, ein hübsches Auto für uns zu mieten.« Ich beobachtete, wie er seine Medizin hinunterkippte – Whiskey mit Eis. Ich hob die Stimme, damit mein Nachbar am Gang – ein orientalischer Gentleman in
einem T-Shirt, auf dem Made In Japan stand – sich beim Horchen nicht so anstrengen mußte, und fuhr fort. »›Ich muß Dir sagen, mein Sohn, die Sache mit diesen MangeLeuten hört sich für mich nicht sehr vertrauenerweckend an. Bist Du auch sicher, daß Du den Namen richtig verstanden hast? Mrs. Wardle um die Ecke sagt, dabei muß sie an Kannibalen denken. Anschließend hat sie mir eingeredet, daß Du von weißen Sklavenhändlern dorthin gelockt wirst. Paps sagt, er hat Dir diesen Bericht aus der Zeitung über irgend so eine schreckliche religiöse Gruppe geschickt, die glaubt, daß man erst in den Himmel kommen kann, wenn man aufhört zu essen. So geht’s ja wirklich schnell, meint Paps. Sie nennen sich Diätologen. Über Köche denken sie wie wir Katholiken über Heinrich VIII. Paps, wie Du sicher errätst, sagt, ich rege mich aus dem ganz falschen Grund auf. Er denkt, diese Manges wollen Dich dort drüben haben, um Dir irgend etwas zu verkaufen. Seine Vermutung ist, es handelt sich um den Plan eines Friedhofs nur für Köche. Mrs. Wardle meint, mit der Welt gehe es schneller bergab als mit einem herrenlosen Kinderwagen, der von einem Hügel rollt. Sie sagt es zwar nicht offen, aber ich weiß, sie denkt daß Leute, die in Häusern mit solch feinen Namen wie Merlins Schloß leben, es förmlich darauf anlegen, von allem möglichen Gesindel übers Ohr gehauen zu werden‹.« »Mutter spricht wahre Worte.« Der orientalische Gentleman neigte den Kopf auf seine zu einem Dach zusammengelegten Finger. »Sehr viele schlechte Menschen auf dieser Welt.« Mit unbewegter Miene erwiderte ich die Verbeugung, dann strich ich Ben die feuchten Locken aus der Stirn. Ich mußte schnell weiterlesen, denn das Mittagessen war nur noch wenige Sitzreihen entfernt. »›Ich nehme an, mein Sohn, daß Ellie nicht eine solch schwierige Schwangerschaft auszustehen hat wie ich mit Dir.
Jeder Tag ein stürmischer Ozean ohne Land in Sicht. Mal eine Stunde zwischendurch ging es mir gut, nur als Erinnerung, wie sich das anfühlte. Doch die große Gnade, wie man so schön sagt, ist, daß man alles vergißt, wenn das Baby erst mal da ist!‹« »Kalbfleisch Marsala oder Pfeffersteak?« erkundigte sich die blonde Stewardeß mit dem Hundert-Watt-Lächeln. Für manche Dinge gibt es keine wissenschaftliche Erklärung. Ben vergaß seine Klaustrophobie, als ein kleines weißes Tablett vor ihm hingestellt wurde. Fleisch mit künstlichen Geschmacksstoffen? Durch Vinaigrette wiederbelebter Kopfsalat? Das Unternehmen, sich boshafte Namen für das Essen auszudenken, versprach ihn eine Weile zu beschäftigen – wenn nicht gar für den restlichen Teil der Reise, oder zumindest, solange ich auf dem Klo war. Ich stolperte den Gang zum Waschraum hinunter. Eine Frau, die vor mir anstand, deutete an, dort nehme ein Priester die Beichte ab. Sie wartete, wie sie mich säuerlich informierte, schon seit zehn Minuten. Heraus kam ein unverschämtes Weibsstück, eine Make-upTasche von Gucci unter den Arm geklemmt, in den Händen ein Hardcover-Buch, von dem eine Ecke um ein Haar in meinem Auge gelandet wäre. Doch von einem Menschen, der an die fünfzig Leute als Geisel hält, indem er das Klo mit Beschlag belegt, kann man schwerlich erwarten, daß er sonderlich sensibel ist. »Tut mir ja so leid«, heuchelte sie, mit Lippen so knallig rot wie das Blut, das den schwarzen Glanzumschlag von Monster Mommy belebte. »Ich fürchte, ich habe mich von einer fesselnden Szene zur nächsten mitreißen lassen und dadurch komplett die Zeit vergessen.« Ein Schnipp-Schnipp ihrer Finger zum Steward. »Drinks für alle Fluggäste. Nein, für mich nichts. Gleich nach der Landung muß ich eine extrem
strapaziöse Cocktailparty besuchen, da bin ich deplaziert wie geröstete Erdnüsse, wenn ich nicht nach Kapitel und Seitenzahl zitieren kann. Die Zeitschrift People schreibt: ›Dieses Buch wird früher oder später auf jedem Kaffeetisch in Amerika liegen, selbst auf den Vinyltischen. Es wird sich in Ihr Herz einschreiben, den Buchstaben M in ihre Seele einbrennen‹.« Ein Schnipp-Schnipp ihrer Finger zu einem Mann, der aussah, als hätte er seine tägliche Dosis Magnesiummilch nicht eingenommen, anscheinend ihr Ehemann, denn er zog sie am Ohr mit sich weg. Um das Ganze für uns Leidgeprüfte, die wir mit zusammengepreßten Oberschenkeln dastanden, noch schlimmer zu machen, schlafwandelte eine Stewardeß den Mittelgang hinunter und las dabei etwas, das verdächtig nach demselben Buch aussah. Was war nur aus den Fluggesellschaften geworden? Als ich schließlich die nur im Stehen zu benutzende Toilette betrat, überfiel mich die gewohnte Panik. Wir würden landen, bevor ich herausbekam, wie man entsprechend der Gebrauchsanweisung in drei Sprachen – Englisch war nicht dabei – das Türschloß bediente. Plötzliche Dunkelheit, nachdem ich auf einen Knopf gedrückt hatte. Da ich Angst hatte, sonst noch etwas zu berühren, für den Fall, daß es eine erzwungene Landung zur Folge hatte, stemmte ich einen Ellbogen gegen die Tür und schaffte es dabei auch noch, meine Tasche auszukippen. Als ich auf den Knien liegend die Sachen einsammelte, schlug meine Panik eine ganz neue Richtung ein. Hatte ich mein Heim auch auf verantwortungsvolle Weise verlassen? Die letzten paar Tage waren ein Tohuwabohu gewesen. Hatte ich für Jonas genügend Vorräte an Ovomaltine angelegt? Hatte ich Dorcas oft genug daran erinnert, Tobias seine Vitamine zu verabreichen? Was war, wenn tatsächlich meine komplette Verwandtschaft auf der Türschwelle erschien, in den Händen leere Koffer, bereit zu einem Überfall? Dorcas
ist mit einem weichen Herzen geschlagen. Das gleiche gilt für Mr. Jonas Scrooge, wie erbittert er auch gegen diesen bösen Geist ankämpfen mag. Ja, ich hatte die Vorsichtsmaßregel ergriffen, die wenigen Schmuckstücke, die mir meine Mutter hinterlassen hatte, unter dem losen Dielenbrett in meinem Schlafzimmer zu verstecken, doch Tante Lulu hat die Nase eines Polizeispürhundes. Als ich mich wieder auf meinen Sitz quetschte, flüsterte ich Ben ins Ohr (um den orientalischen Gentleman nicht in Angst und Schrecken zu versetzen): »Ich habe unserem Flugkapitän aufgetragen umzukehren.« Er schenkte mir das Lächeln eines erfahrenen Reisenden. »Ellie, du mußt die Vorstellung aufgeben, daß wir Dorcas und Jonas einem Schicksal bitterer als der Tod überlassen haben. Ich glaube nicht an Chantals hellseherische Fähigkeiten.« »Die Tramwells halten große Stücke auf sie.« »Das würden sie auch noch, wenn sich herausstellen sollte, daß sie ein Vampir ist. Solange sie eine anständige Tasse Tee zubereiten kann.« »Liebling, du hast ja so recht!« Plötzlich war ich nicht nur glücklich, ich war völlig davon überzeugt, daß Ben und ich gemeinsam unbesiegbar waren. Wenn ich auch in den Augen meiner Schwiegermutter keine Traumfrau darstellte, ich war die passende Gefährtin für einen Mange! Wer wußte schon besser über den Fettgehalt einer Apfelsine Bescheid! Ich rutschte auf meinem engen Sitz rüber, schlang die Arme um den Hals meines Mannes und küßte diesen wundervollen, verführerischen Mund. Ich atmete sein Aftershave ein, spürte, wie seine geschickten Hände zu meinen Schultern hinaufglitten… »Wir haben wieder blauen Himmel«, sagte der orientalische Gentleman. »Er meint, wir landen gleich«, flüsterte Ben.
Der Bostoner Flughafen erzeugte auf Anhieb das Gefühl sprichwörtlicher Weite, das erdichtete Image der Vereinigten Staaten. Die Ebbe und Flut von Menschen, angetrieben vom Nebelhorntuten der Lautsprecher, verbannte jeden flüchtigen Gedanken daran, sich auf dem Gepäckkarussell zusammenzurollen und eine Siesta zu halten. Der Zollbeamte war nett. Er glaubte meinen Beteuerungen, daß ich weder Schweizer Uhren noch antiken Schmuck in meine Schuhspitzen gestopft hatte, und ich lud ihn für seinen nächsten Aufenthalt in England zu uns ein. Da stand ich und dachte ernsthaft, es gehe mir gut – bis ich sah, daß unser Gepäck sich wie ein Rudel streunender Hunde um unsere Fußknöchel versammelte. Die kleinen Taschen waren die Welpen. »Willst du sie an gute Pflegeeltern weggeben?« fragte ich. Doch was Ben betraf, er nahm meine Stimme ebensowenig wahr wie die Hinweise aus den Lautsprechern. Er war auf der Suche nach einem Kofferkuli, die Fortschritte, die er dabei machte, wurden scharf von mehreren streunenden Frauen beobachtet. Ein düsterer Gedanke tauchte auf. Konnten sie die Manges sein, die man geschickt hatte, um ihn mit offenen Armen zu empfangen? »O nein.« Er gab sich alle Mühe, sich weitere Arme wachsen zu lassen, um die Koffer aufeinanderstapeln zu können. »Den Weg zur Mangezentrale müssen wir auf eigene Faust zurücklegen. Die Organisation will keine Grünschnäbel.« »Schlauer Gedanke!« Ich zog es ohnehin vor, keine Manges im Weg zu haben, während wir die paar Tage Besichtigungstour genossen, die mir Ben versprochen, ja, auf denen er regelrecht bestanden hatte. »Bist du in Ordnung?« Ich knöpfte meine Jacke zu und schlang meine Tasche über die Schulter. Ben sah wie ein kranker Lord
Byron aus, seine ebenholzschwarzen Locken klebten feucht an seiner bleichen Stirn. Er brachte ein tuberkulöses Lachen zustande. »Habe nur gerade überlegt, Schatz, ob du mir deine Morgenübelkeit vermacht hast.« Demnach bemerkte er, daß es mir besser ging. Wahrscheinlich hatte er Angst gehabt, etwas zu sagen, für den Fall, daß es falscher Alarm war. Mein Gesicht hielt ich gegen seine Tweed-Schulter gepreßt, als er sagte: »Ich bin kampfbereit. Auf zum Autoverleih.« Sein Blick glitt volle eineinhalb Sekunden durch den Luxusleasing-Ausstellungsraum, bis er an einem üppigen Kabrio hängenblieb, ganz Busen und kein Hinterteil. Der Agent mit der Clownsnase und der gelben Fliege erinnerte mich an den Moderator einer Spielshow, der von Preisen umringt war. Er versicherte uns, in unserem Wahlauto lasse es sich auch bei hundert Meilen pro Stunde gemütlich fahren. »Hat einen traumhaften Start, Sir! Sie brauchen das Gaspedal nur leicht anzutippen, und schon läuft dieses Schmuckstück davon – mit Ihnen oder ohne Sie!« »Gefällt’s dir, Ellie?« Ben liebkoste die Motorhaube. »Sehr. Schwarz macht so schlank.« »Du bist schlank, Liebes.« Er sollte seine Brille öfter tragen. In drei Tagen hatte ich drei Pfund zugelegt. Der Himmel mochte wissen, woher sie kamen. Konnte es sein, daß eine böse Macht das Wasserreservoir von Chitterton Fells mit Kalorien verseuchte? Ben ging um den Wagen herum und schenkte ihm den bewundernden Blick, der für mich allein hätte reserviert sein sollen. »Nach Ihrer fachmännischen Einschätzung, Sir: Ist dies auch das passende Fahrzeug für eine werdende Mutter? Die richtige Federung, das richtige Bremsverhalten?«
»Liebling.« Ich säuselte unterwürfig. »Können wir nicht wie die Einheimischen mit Bussen oder Taxen fahren? In der City gibt es soviel zu sehen und zu tun, vielleicht haben wir gar keine Zeit, weiter raus zu fahren.« Es gelang mir nicht, ihn dazu zu bringen, mich anzusehen, geschweige denn ihn davon zu überzeugen, daß die Manges zu der Meinung gelangen könnten, sein Pioniergeist sei nicht genügend auf die Probe gestellt worden. Doch eine Viertelstunde später, als wir mit geöffnetem Verdeck unter einem strahlend blauen Himmel über die breiten, offenen Straßen dahinglitten, hatte ich den überwältigenden Drang, mein Haar aus dem Knoten freizuschütteln und im Wind flattern zu lassen. Was die Meteorologen auch sagen mögen, diese große orangene Sonne war nicht dieselbe, die jeden Tag an unserem britischen Himmel aufgeht. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich komplett durchgelüftet und nicht im mindesten müde – wenn es hier auch neun Uhr morgens war, was zu Hause vier Uhr nachmittags bedeutete. »Glücklich?« Ben drückte meine Hand. »Selig.« »Und wir lassen nicht zu, daß irgendwelche kleinen Enttäuschungen oder Änderungen an der Planung uns die Reise verderben?« Hatte sich der Autohändler von ihm irgendwelche schlechten Neuigkeiten über unser Hotel entlocken lassen? Waren die Zimmer üppig vulgär? Spielte unter jedem rotierenden Bett ein Live-Orchester? Oder, noch schlimmer – wenn man an unser Gefolge aus Koffern und Taschen dachte –, waren die Aufzüge außer Betrieb? Zum Glück waren meine Befürchtungen grundlos. Das Mulberry Inn erfüllte in jeder Hinsicht meine Hoffnungen. Der Holzfußboden in der Empfangshalle hatte die leuchtende Farbe
von Ahornsirup, die Wände waren in frischem Cremeweiß gehalten und die Türen in Preußischblau. Eine MayflowerMatrone mit Mittelscheitel und einer Stimme, die mit einem Hauch Irland gewürzt war, schaute zögernd von einem aufgeschlagenen Buch auf. Sie begrüßte uns von einem handgeschnitzten Schreibtisch aus, der auf einem Teppich stand, wie Grandma ihn an langen Winterabenden knüpfen würde. Aus Stoffetzen, manche stammten noch von Onkel Franklins langen Unterhosen. Nur minimale Enttäuschungen mußten wir verkraften. Statt eines Krugs mit Rum stellte unsere Gastgeberin uns in Aussicht, daß man zwischen fünf und sechs im Zinnsalon Käse und Wein servieren würde. Und bei dem Buch, das sie so gefesselt hatte, handelte es sich nicht etwa um Puritanische Mode für die reife Figur, sondern um ein modernes Exemplar mit schwarz-rotem Einband. Es war derselbe Reißer, der die Frau im Flugzeug sich im Klo verschanzen ließ. Sie lachte verlegen und hielt mit ihren molligen Händen den Titel zu, als zeige er einen blanken Busen und Ben und ich seien Kirchenälteste. »Eigentlich lese ich solche Dinge nie.« Ein altmodisches Erröten folgte ihren Worten. »Ich habe kein Interesse an Filmstars und dem Unsinn, den sie so treiben, aber alle Welt schwärmt von diesem Buch – dem riesigen Honorarvorschuß, dem großen Geschäft mit der PaperbackAusgabe, den Filmrechten. Und die Kundschaft, die wir hier haben, erwartet eine gewisse, äh, Kultiviertheit.« Ein Blick auf die Rechnung, die sie uns hinschob, zeigte, daß die Preise allemal von Kultur zeugten. Ben sah unzufrieden aus, doch meine weibliche Intuition sagte mir, daß ihn nur bedrückte, wie schwierig es war, ein hinreichend schockierendes Kochbuch zu schreiben, das in der öffentlichen Meinung ebensolche heftigen Reaktionen auslösen würde. Vielleicht konnte ja sein Nachfolgeband zum Edwardian
Lady’s Cookery Book etwas weniger zurückhaltend in der Sprache und weniger einfühlsam in der Behandlung solcher Themen wie dem Töten kleiner Hummer sein… »Mit Büchern von dieser Sorte«, – er tippte auf den schwarzen Glanzumschlag – »ist es ganz ähnlich wie mit Wein. Ich habe gehört, die einzige Bedingung für die Mitgliedschaft in den meisten Countryclubs in diesem Land ist heutzutage, weißen Zinfandel zu trinken.« Die Mayflower-Mrs. stimmte liebenswürdig zu, daß Zin zur Zeit in sei und klemmte sich das Buch unter den Arm. »Mr. und Mrs. Haskell, ich wünsche Ihnen einen sehr angenehmen Aufenthalt.« Nachdem sie uns den Zimmerschlüssel überreicht hatte, geleitete sie uns an einer länglichen Standuhr vorbei durch einen Türbogen für Zwerge, der zu einer Sonnenbank und einer verwinkelten, verzauberten Treppe führte. Ich dachte mir, daß ich mich lieber nicht nach einem Aufzug erkundigen sollte, für den Fall, daß dies als papistische Erfindung verdammt würde. Ein soldatischer Siebzigjähriger in einer Uniform, die wohl aus dem Unabhängigkeitskrieg stammte, kümmerte sich um die beiden Koffer, die Ben vom Wagen hereingebracht hatte. Seine Backen blähten sich wie Blasebalge, als er zur dritten Etage vorauskeuchte, um uns in einem nach Nelkenöl duftenden Zimmer in Musselin mit Zweigmuster abzuliefern. Wenn überhaupt irgendwelche Menschen Eltern brauchen, dann die älteren! Keine Mutter, die den Namen verdiente, würde ihm erlauben, so hart zu arbeiten! Ich gab ihm ein Taschengeld, mit dem er sich zur Ruhe setzen konnte. Und er ging mit dem hübschen Gruß: »Einen schönen Tag noch.« Entzückt ließ ich mich auf das Messingbett fallen. Auf dem Kaffeetisch unter den schmalen Fenstern mit den Engelsflügelvorhängen, gleich neben dem vergißmeinnichtblauen Teegeschirr, stand ein Elektrokessel.
Ben ging um das Gepäck herum und setzte sich zu mir aufs Bett. »Sollten wir nicht auspacken?« fragte ich tugendhaft. »Später!« Er zog mich auf die bestickte Tagesdecke. »Bist du sicher, daß du Lust zu einem… Mittagsschlaf hast?« Ich wandte ihm meine Lippen zu, blieb aber verführerisch auf Distanz. »Wie bitte?« Die sonnengoldenen Funken in seinen Augen machten mich schwach und gaben mir gleichzeitig einen Energieschub. »Vorhin am Flughafen warst du etwas blaß. Weißt du noch?« »Da hast du recht.« Er schob mir die Jacke von den Schultern, drehte sie auf einem Finger und warf sie in hohem Bogen durch die Luft. Sie landete auf dem glockenförmigen Schirm der Nachttischlampe. »Zeit für die Physiotherapie.« »Laß uns nicht übertreiben«, warnte ich. »Schließlich muß ich dich doch in Topform bei den Manges abliefern.« Er knöpfte schon meine Bluse auf. »Zur Hölle mit den Manges.« Augenblicklich wurde es dunkel im Zimmer. Es ließen sich ächzende Laute vernehmen, als sammele sich der Wind draußen zu einem Sturm. Meine Augen waren geschlossen, und er atmete angestrengt. Manchmal fiel es mir schwer zu glauben, daß ich die Frau mit dem Sonderpreisvermerk war, die Ben vom Regal genommen und abgestaubt hatte. Er war so unglaublich! Alles an ihm war tadellos gepflegt, bis hin zu seinen langen Wimpern. In diesem Moment hätte ich ihm alles gegeben, bis auf die Zustimmung, das Baby Esau zu nennen. Ich drehte meinen Kopf auf dem Kissen und hoffte, daß mein Haar mir um die Schultern floß wie bei der Heldin von Love’s Last Lament. Doch wie nicht anders zu erwarten, weigerte sich das Gummiband, das meine wilden Locken bändigte, nachzugeben, und meine Beine
konnten sich obendrein nicht auf Satinlaken rekeln, weil das Mulberry Inn nichts von solchen vulgären Dingen hielt. Ich mußte mich damit begnügen, meine Schuhe auszuziehen und einen Fuß an Bens Bein zu reiben. Der Duft von Nelkenöl verflüchtigte sich, die Federmatratze umfing unsere Körper. Seit ein paar Wochen war ich nicht ich selbst gewesen, ehelich gesprochen, doch jetzt brachten der würzige Duft seines Aftershaves, sein rauhes männliches Kinn und die verlockende Geschicklichkeit seiner Hände an den Knöpfen meiner Bluse die erlesene Ekstase zurück, die dem Wissen entsprang, daß ich auch noch wegen etwas anderem als meinem Kopf geliebt wurde. Meine Lippen spielten mit seinen. »Du machst mich wahnsinnig vor Begehren«, flüsterte er. »Gleichfalls«, murmelte ich. Ja, es war alles sehr hübsch, aber hinterher… nun, ich hätte als Touristin versagt, wenn ich weiter dort gelegen hätte und unser Urlaub damit vergangen wäre, daß ich ihm tief in die Augen schaute. Halbwegs respektabel gekleidet in meinem aquamarinblauen und seeschaumgrünen Spitzenneglige (das ich mir noch gegönnt hatte, bevor ich mich den Schwangerschafts-BHs und Umstandskleidern mit Hummeln auf den Taschen überantwortete), schlug ich vor, daß wir uns eine Kostprobe der amerikanischen Kultur zu Gemüte führten. »Du willst rausgehen und die U.S.S. Constitution besichtigen?« »Nein.« Ich zupfte ein loses Ende des Laura-Ashley-Lakens zurecht, das er mit solch hinreißendem Machismo trug. »Ich will fernsehen.« »Na gut, aber denk’ dran, du hast nur drei Wünsche.« Er schwang seinen Fernbedienungs-Zauberstab. Erstaunlich! Das trockene Waschbecken in der Ecke verwandelte sich in einen Fernseher. Das Bild war sofort da. Die Worte Villa Melancholie erschienen auf dem Bildschirm.
»Sieht aus wie dein ganz persönlicher Schierlingsbecher, Ellie.« »Meine Mutter hatte eine Rolle in dem Film.« »Das hast du mir nie erzählt.« Er berührte mein Haar. »Ich habe ihn nie gesehen.« Ich legte die Hand auf seinen Mund. »Sie hat mich immer vor die Wahl zwischen diesem Film und Bambi gestellt.« Ein Schwall brandungsähnlicher Musik, mit Unterströmungen von Gezeitenangst. Ein Nebelschwaden, der für einen Augenblick – wie das Taschenbuch eines Zauberers – gelüftet wurde und einen Vollmond enthüllte, der aus einem Gewässer auftauchte – einem Fluß oder vielleicht auch einem See – und über einem Haus feinster Gruselmachart schwebte. Das Scheppern eines Beckens erklingt, bei dem jeder Schlagzeuger hellhörig geworden wäre, und die vernarbte Eingangstür geht nach innen auf. Der Zuschauer wird in eine holzgetäfelte Halle von dunkler Pracht geführt. Alles in edlem Schwarzweiß. Ich schnappte nach Luft, als der gebieterische Butler, komplett mit lackschwarzem Haar und bleistiftdünnem Schnäuzer, die Treppe hinunterkam, mit einer Kerze, die er in die Höhe hielt. »Ladies und Gentlemen«, deklamierte er, und seine Stimme troff vor Blut, »ich bedauere es zutiefst, der Überbringer unerfreulicher Nachrichten zu sein.« Seine Lippen verzogen sich zur Karikatur eines Lächelns, was seine gespenstische Blässe noch unterstrich. »Der Herr ist eines unnatürliches Todes gestorben, und das Testament ist so löcherig wie ein Stück Schweizer Käse.« Unsicheres Schweigen von den Empfängern dieser Nachricht – eine Matriarchin, die offenbar ein Mann ist, mit Augen so scharf wie Hutnadeln; ein stämmiger Schuljunge mit Brille; eine temperamentvolle blonde Fächertänzerin in Arbeitskluft, die einen halbherzigen Sprung vollführte während sie ein kleines Stück Papier zu Konfetti zerreißt.
»Das ist deine Mutter?« Ben pfiff. Ich brachte ihn durch ein Schsch zum Schweigen. »Nein. Sie hatte nur einen nicht nennenswerten winzigen Part in der Revueszene. Laß uns nichts verpassen…!« Zu spät. Villa Melancholie wurde ausgeblendet, und statt dessen erschien in Nahaufnahme ein grauhaariger, breitschultriger Mann mit dem Normgesicht eines TVInterviewers. »Guten Abend. Ich bin Harvard Smith, und dies ist Talk Time. Was Sie gerade gesehen haben, war eine Szene aus einem der beliebtesten Filme der Schauspielerin Theola Faith. Heute abend haben wir ihre Tochter, Mary Faith, zu Gast bei uns im Studio. Sie ist die Autorin des kürzlich erschienenen Bestsellers Monster Mommy der ihre äußerst unerquickliche Kindheit schildert, die sie bei der Frau erlebte, die Millionen unter dem Namen Kitten Face bekannt ist. Sie ist also das Kind jener berühmten sinnlichen Komödiantin, die in den Fünfzigern und Sechzigern die Miete der Kinos im ganzen Land einspielte.« Die Kameras schwenkten den Tisch entlang, an zwei Gläsern und einem Wasserkrug vorbei, zu einer Frau, die die Leser zu Land und in der Luft in ihren Bann schlug, eine Frau mit einem nichtssagenden Lächeln und groben Gesichtszügen. Ihr Haar war zu einem französischen Knoten aufgesteckt, und sie trug eine Schmetterlingsbrille. Ihr Alter lag um die Vierzig, wenn man großzügig war. »Vielen Dank, Harvard.« Ihre erstickte Stimme paßte zu dem Hosenanzug mit Brusttaschen und der Fliege. Sie nahm einen Bleistift und legte ihn wieder hin. »Als Ihr heutiger Gast ergreife ich die Gelegenheit, allen Fans meiner Mutter, die uns zuhören, zu versichern, daß es mich schmerzt, ihnen die Illusionen rauben zu müssen. Bitte glauben Sie mir«, – ihr Gesicht wurde weicher, weil ihr Mund zitterte –, »ich habe
Monster Mommy nicht geschrieben, um Theola Faith die Jahre der Vernachlässigung heimzuzahlen – die Cocktailpartys in der Badewanne, den Weihnachtsmann, der den Kamin hinunterkam und nichts trug als Ruß.« »Mich, Mr. Unschockierbar, hat das Hühnersuppen-Spiel zutiefst schockiert.« Moderator Harvard reichte ihr dienstbeflissen ein Glas Wasser. Mary Faith stellte es hin. »Mit meinem Buch, das zu schreiben eine unglaubliche Nervenkraft kostete, richte ich mich an die Frau, die jahrelang meine Existenz geleugnet hat, die mich als die Tochter ihres Dienstmädchens ausgab und mich in ihrer Hollywood-Plüschvilla praktisch als Gefangene hielt. Zu ihr sage ich, Mommy, es ist noch nicht zu spät. Du kannst dich noch ändern. Du kannst zu einem menschlichen Wesen werden. Falls du es tust, werde ich auf dich warten, mit offenen Armen. Ich werde nicht nach dem Namen meines Vaters fragen, ich werde nicht fragen, warum du mich in Jungenkleidung stecken ließest, bis ich sechs Jahre alt war und meine schönste Puppe in den Mülleimer warfst. Ich bitte dich lediglich um ganze vier kleine Worte – Tut mir leid, Kleines.« Moderator Harv rang sich ein Lächeln ab. »Mary, Sie sind wirklich eine tapfere Frau. Während der Pause erwähnten Sie, daß Ihre Mutter Ihnen zum Geburtstag eine Morddrohung schickte.« »Ja, Harvard! Doch die feste Gewißheit, daß ich nur die reine Wahrheit schreibe, nahm ihren Worten den Stachel.« »Sie nehmen ihre Drohungen nicht ernst?« »Huch!« Mary Faith hatte ihr Glas umgestoßen. Die Kamera fuhr näher an ihr aufgesetztes Lächeln heran. »Harvard, um einen Mord zu begehen, braucht man ein gewisses Maß an Charakterstärke, über das Theola Faith nicht verfügt. Mein Coming-Out war das Netteste, was ich seit Jahren für mich selbst getan habe, und eines möchte ich noch klarstellen. Hinter
jeder erfolgreichen Schriftstellerin stehen eine ausgezeichnete Agentin und eine engagierte und inspirierende Lektorin. Deshalb möchte ich, wenn ich darf, Sadie Fishman und Monica Mary O’Bryan danken, Gott segne euch.« Ich riß Ben die Fernbedienung aus der Hand und schaltete den Fernseher aus. »Ellie!« »Tut mir leid.« Ich ließ mich aufs Bett sinken. »Plötzlich fiel mir ein, daß das Baby sein Ohr an das Nabel-Schlüsselloch pressen könnte. Und ich will nicht, daß er oder sie auf irgendwelche dummen Ideen kommt.« »Darling, du wirst keine Monster Mommy sein«, prophezeite der Mann in der Laura-Ashley-Toga, während er eine Nachttischlampe anknipste. »Ben, ich habe keinerlei Referenzen aufzuweisen. Keine Erfahrungen in dem Job. Sag mal, wenn du das Baby wärst, wärst du glücklich?« Auf seinem Gesicht und Oberkörper lag ein rosiger Schein von der Lampe. Er legte sich neben mich und strich besänftigend mit der Hand über meinen Arm. »Erzähl mir mehr über deine Mutter.« Ich wandte mich von ihm ab und steckte mein Haar zu einem Knoten zusammen. »Ich habe ausschließlich positive Erinnerungen an sie. Sie war wunderschön, klug und atemberaubend dünn. Sie war wie eine Wunderkerze, die als ein Regen aus silbrigem Licht in der Luft verbrennt. Mein Vater betete sie an. Als sie starb, entfloh er in seinen MidlifeCrisis-Vergnügungspark und ist seitdem nicht mehr vom Karussell abgestiegen.« »Du hast mich«, murmelte Ben an meinem Nacken. »Ist da ein Gutschein für das Abendessen inbegriffen?« »Ich habe an den Zimmerservice gedacht«, sagte er, löste die Toga und zog mich hinein.
Es war mitten in der Nacht, und ich wachte schwitzend und mit angstvollem Herzklopfen auf. Wo war ich? Der Raum war eine schwarze Schachtel, in die durch die Ritzen Lichtfäden eindrangen. Was die Person neben mir im Bett anging, so streckte ich die Hand aus und betastete wie blind deren Gesicht. Die vertrauten Konturen wärmten langsam meine Hände, und ich konnte mich wieder beruhigt in die Kissen zurücklehnen. Mein Atem normalisierte sich. Mir war so etwas auf Reisen schon öfter passiert. Ich kannte es, um genau zu sein, seit Klein Ellie damals diesen ersten schicksalhaften Besuch auf Merlins Schloß gemacht hatte. Mir nützte selbst die Zeitverschiebung nichts, als ich wieder eindöste. Zu Hause wäre jetzt Vormittag. Ich umarmte mein Kissen, und mir fiel ein, daß ich mein Abendgebet vergessen hatte. »Bitte, lieber Gott, mir ist es egal, ob mein Baby ein Junge oder ein Mädchen wird, wenn es nur dünn ist. Und wo wir gerade diese kleine Unterhaltung führen, komm bloß nicht auf die Idee, daß ich berühmt werden will.« Ich sank gerade wieder in die herrlichen Fluten des Schlafs zurück, als Ben mir mit einem Finger, der sich anfühlte wie ein Poloschläger, auf die Schulter klopfte. »Aufwachen! Aufwachen!« Die nachfolgende Szene wirkte wie aus einem im Schnellsuchlauf abgespulten Horrorfilm entnommen. Ich wurde unter eine dampfend heiße Dusche verfrachtet, herumgedreht, abgerubbelt und in meine Klamotten gesteckt. Noch während ich mir mit dem Kamm durch die Haare fuhr, rannte ich schon aus der Tür, sauste die Treppe hinunter, schlidderte durch die Halle und nach draußen auf die Straße, wo mir die brutale Bostoner Sonne ins Gesicht knallte. Welch fataler Fehler, das lachsrosa Hemdchen aus Seide anzuziehen. Innerhalb von Minuten würde sich die Farbe meines Gesichts damit beißen. Der Himmel war fast zu Weiß
ausgebleicht, und obwohl wir schnell gingen, klebten meine Füße immer wieder auf dem Pflaster fest wie ein heißes Bügeleisen auf Nylonwäsche. »Was soll denn die ungebührliche Eile?« fragte ich diesen irren Engländer, der uns in die Acht-Uhr-Sonne hinausgeschleift hatte. Daß er aussah wie gerade aus dem Seidenpapier einer Austin-Reed-Schachtel ausgewickelt, trug auch nicht gerade dazu bei, meine Gereiztheit abzuschwächen. »Liebes, wollen wir denn den Tag verschwenden?« Sein Blick wich meinem aus. Naiverweise dachte ich, er wollte nur sicherstellen, daß wir nicht von einem der Autos überfahren wurden, die versuchten, noch über die gelbe Ampel zu kommen, als wir über die Pflasterstraße hetzten, die zwar sehr bezaubernd war, aber hart zu den Füßen. Einen schreckensstarren Moment lang fürchtete ich, ich müßte über die Haube des letzten Wagens zwischen mir und dem Gehsteig springen oder – wie es meine Gewohnheit war, wenn mir beim Turnen in der Schule aufgetragen wurde, über einen Bock zu springen – darunter her krabbeln. All dies zur Erklärung, warum ich immer noch keine Ahnung hatte, daß Ben etwas vor mir verbarg, als er mich zu den Golden Arches und in McDonald’s hineinführte. Auf heimischem Boden wäre er zu einem solche Ort nur mit den Füßen voran gelangt. Ihm war doch sicher bewußt, daß die Mange-Spione hier in Boston überall sein konnten! Um fair zu sein, er klang nervös, als er unsere Bestellung aufgab, und er wählte einen Tisch aus, der durch Plastikblätter abgeschirmt wurde, die sich um den Raumteiler aus Messingstäben wanden. Doch er hatte fast sein komplettes Egg McMuffin verspeist, bevor er überhaupt auf das hiermit verbundene Risiko einging. »Ellie, das ist ja toll! Ich werde möglicherweise gegen den unwiderstehlichen Drang ankämpfen müssen, wieder herzukommen.«
»Gütiger Himmel! Ich weiß nicht, wovor ich größere Angst habe – daß du einen Seitensprung mit einer schnellen Frau oder in einem Schnellrestaurant machst!« Ben bestand darauf, daß wir noch mal zum Schalter gingen, um uns eine zweite Portion zu holen. Ein großer Fehler. Der rothaarige Mann vor uns erzählte dem süßen jungen Ding, das seine Bestellung aufnehmen wollte, von dem Buch, das er gerade las. »Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich nicht bloß den Klappentext gelesen.« Die Stimme war voller Stolz. »Sagen Sie, sprechen Sie von Monster Mommy?« Das kam von einer elfenhaften Frau hinter uns. Ohne ein Entschuldigen-Sie-mal stieß mich ein stämmiger Mann im Schutzhelm mit seinem Ellbogen zur Seite. »Jemand hier, der den Teil mit den Sonntagsausflügen zu jenem Ort genauso schlimm findet wie ich? Und ich will verdammt sein, wenn ich nicht auch Angst hatte, ohne Licht zu schlafen, und das, obwohl ich in der Bronx geboren und aufgewachsen bin. Diese arme kleine Mary! Wer braucht bei so einer Mutter noch Feinde? Mein Dad war immer total heiß auf das Sexkätzchen, und jetzt lacht Mom sich so kaputt, daß ihr fast die Reißverschlüsse platzen.« Ich konnte spüren, wie sich Krampfadern an meinen Beinen bildeten, während ich so dastand. Und wir Engländer reden immer davon, daß uns das Leben in den Vereinigten Staaten zu hektisch ist! Doch mein Unbehagen war nicht nur körperlicher Natur. Ich fing an, mich von diesen Worten verfolgt zu fühlen: Monster Mommy. Ich wollte sie verscheuchen, aus meiner Nähe verbannen. Und was fanden wir, als wir Stunden später zu unserem Tisch zurückkamen? Abfälle lagen dort – Zigarettenasche und ein Exemplar der Zeitschrift People, und vom Titelblatt strahlte mich das Gesicht von Monster Theola Faith an. Ein hastiges Durchblättern, während Ben seinen
Milchshake verschlang, und schon stieß ich auf den dreiseitigen Bericht: »Wird Mutterschaft zu einer fragwürdigen Beschäftigung?« Eine Profilaufnahme von Mary Faith, ganz Nase und Kopftuch, gefolgt von einem ausführlichen Kommentar von Monster Mum zu dem brandheißen Bestseller ihrer Tochter. »Warum sollte das Buch der lieben Mary auch kein Bombenerfolg werden? Ich bin sicher, sie hat nur Worte benutzt, die sie selbst schreiben kann -Schimpfwörter.« »Was ist, Schatz? Wandelt ein Geist über dein Grab?« fragte Ben. »Zwei. Die Tramwells.« Es kam alles zurück, die düsteren Warnungen vor der schwarzen Wolke fast im gleichen Atemzug mit der Erwähnung von Theola Faith, einem Menschen, der mit der ersten und letzten Reise meiner Mutter nach Amerika in Beziehung stand. Ganz klar, daß das Schicksal irgend etwas Schlimmes vorhatte… Höchste Zeit, wieder abzureisen. Höchste Zeit, mich zusammenzureißen. Zum Glück schmolz mein Unbehagen bald dahin, zusammen mit dem Eiswürfel, den ich vorn in mein Kleid fallen ließ, bevor ich mich wieder in die sengende Hitze hinauswagte. Ben schlug vor, wir sollten den schwarzen Sportwagen auf dem Parkplatz des Mulberry Inn stehenlassen und den Bus nehmen oder zu Fuß gehen. Hätte ich nicht befürchtet, seinem Pioniergeist schweren Schaden zuzufügen, dann hätte ich gefragt, ob wir den Wrumm-wrumm etwa gemietet hatten, um ab und zu mal rauszugehen und ihn zu tätscheln. Die Geduld einer Frau ist grenzenlos. Besser, ich verwendete meine Energien auf die Gelegenheiten zur geistigen Bereicherung, die sich in Boston boten. Meine Ausbildung in Geschichte war von Lehrern verdorben worden, die alles nach 1750 als Gegenwart einstuften. Ich konnte deshalb viel Neues lernen, als ich erfuhr, daß Paul Revere die Reisekosten absetzte, die ihm entstanden, als er sein
Pferd zur Massachusetts Bay-Kolonie schickte, als wir Briten kamen. Die erste Frau des großen Patrioten (so zu hören von unserem Busfahrer und gleichzeitigen Reiseführer) verabschiedete sich aus diesem Tal der Tränen, nachdem sie ihm mehrere Sprößlinge geboren hatte. Und Frau Nummer zwei, so erfuhren wir, trug im Laufe der Zeit ihren Anteil zu den Problemen des Helden bei. Ich hatte niemals darüber nachgedacht, warum Mr. Revere, sobald die Nacht anbrach, draußen in der Nähe der Old North Church auf seinem Pferd herumstreifte. Jetzt hingegen war alles klar. Hubby war aus dem Schlafzimmer und dem Haus verbannt worden. Während ich meinem Gatten durch endlose blaßgrüne Museumshallen folgte und in Glaskästen mit übel zugerichteten Sporen und rostigen Wasserflaschen spähte, spürte ich, daß der Lauf der Geschichte vielleicht von einer einzigen Frau abhing – einer guten Frau, die das Bettuch über ihren belagerten Busen zog und zischte: »Mein Gatte, jetzt reicht’s! Bin ich nicht schon gezeichnet genug, Schwangerschaftsstreifen von Kopf bis Fuß?« Manche Dinge können eben nur die Mitglieder des ältesten Klubs der Welt verstehen. Wieder draußen im Freien, spähten wir über einen Eisenzaun – von der Sorte, die aussieht wie eine Reihe von Speeren in den Händen eines unsichtbaren Feindes – auf die Grabstätte eines Helden. Regen fiel in sanften Tränen, als wir unsere Besichtigungstour fortsetzten. Lauter Soundsos wohnten, arbeiteten und schmiedeten Komplotte in diesen schmalen Häusern mit dem weißen Anstrich und den abgescheuerten Stufen. Diese Soundsos waren allesamt Männer. Deren Frauen zu beschäftigt waren, kleine Patrioten aufzuziehen, um etwas von Bedeutung zu tun. Dem Himmel sei Dank für die moderne Zeit, in der weiblich zu sein nicht automatisch bedeutete, daß man im Schatten stehen mußte.
Ben wischte ein Spinnweben aus Regen weg und stellte seine Kamera auf die Old North Church ein. »Die frische Luft hat dir unglaublich gut getan, Schatz. Deine Wangen leuchten wie Granatäpfel.« Die Kamera wanderte wieder in seine Tasche, und er nahm meine Hand. »Glaubst du, meine blaue Krawatte mit den roten und goldenen Streifen wäre das richtige für meine erste Mange-Sitzung?« »Ausgezeichnet«, sagte ich. Ein Liebespaar kam an uns vorüber, ineinander verschlungen, als wären sie eine RodinSkulptur. Jemand kickte eine leere Coladose zu einer Mülltonne, wo sie wie betrunken um ihre eigene Achse torkelte. »Darf man fragen, wo du den Kontakt aufnehmen sollst?« Ben blinzelte wie eine Siamkatze. Was bedeutete, daß er mich nicht ansah. »Gute Frage, Ellie. Ich glaube, wir sollten uns gleich nach dem Lunch auf den Weg machen.« »So bald schon!« Wie hatte ich bloß auf die Idee verfallen können, daß wir zwei oder drei Tage für uns hatten? Da ich prompt ein schlechtes Gewissen bekam, hatte ich wohl mal wieder nicht richtig zugehört. Besagte Überlegungen hielten mich davon ab zu bemerken, daß Ben meiner Frage ausgewichen war, genauso wie wir dem Banjospieler auswichen, der im Schneidersitz auf dem Pflaster saß. Wohin mein Liebster ging, würde auch ich gehen, doch ich war kein bißchen schlauer, wo wir landen würden. Er griff meine Hand fester und schlug eine schnellere Gangart ein. »Schatz, ich möchte nicht drängen.« »Was, und einen netten faulen Tag ruinieren?« »War es denn… nett?« Vielleicht war ihm ein Insekt ins Auge gekommen, vielleicht zuckte er auch gar nicht, aber irgendwie hatte ich den Eindruck, daß er hoffte, Boston habe meine Erwartungen nicht erfüllt. Natürlich. Die Zeitschrift Ja, wir
gebären hatte ja behauptet, eine Schwangerschaft zeitige sonderbare Auswirkungen auf Männer. Während des Mittagessens in einem Restaurant, dessen Marmortheke und Dekors in rostfreiem Stahl an eine umgebaute Fischhalle denken ließen, gestand Ben, daß der Hafen keinen großen Eindruck auf ihn gemacht hatte. »Was hast du denn erwartet, Boote in Form von Teekannen?« Und später, als wir unser Gepäck im Kofferraum des schwarzen Kabrios verstauten, behauptete er, die Besitzerin des Mulberry Inn habe mißtrauisch geguckt, als er bar bezahlte. »Nun ja, Darling, das war ja auch ein ziemliches Bündel, was du ihr da hingeblättert hast. Ich mußte ja selbst darüber nachdenken, ob du die Bank an der Ecke ausgeraubt hast, während ich im Bad war.« »Ich wollte das Bargeld aufbrauchen, das Dorcas uns gegeben hat, bevor ich die Reiseschecks anbreche.« »Vernünftiger Gedanke. Als sie uns den Rest ihres US-Geldes anbot, dachte ich, sie spricht von Kleingeld. Vielleicht hat Dorcas eine Bank ausgeraubt?« Die drei Frauen mit gestylten Fönfrisuren, die gerade in das Auto neben uns einsteigen wollten, preßten ihre Handtaschen an sich. Alle drei hatten die Initialen D.A.R. auf ihre Strickkostüme gestickt. War es meine kleine Witzelei über Dorcas, die sie so schockierte, oder aber unser britischer Akzent? Würde eine von ihnen ihren Rock heben, eine Pistole aus einem Gurt hervorzaubern und schreien: »Geld her!«? »Komm schon, Doris.« »Ja, Dillis Ann.« »Setzt du dich nach hinten, Deborah?« Und weg waren sie. Ben warf die letzten Taschen in den Kofferraum, schloß mit Schwung den Deckel und entging nur um Haaresbreite dem Schicksal, eine Hand zu verlieren. »Du hast doch die Reiseschecks?«
»Haben Sie mir doch selbst gegeben, oder, Sir?« Ich klopfte auf meine Handtasche. »Sagtest, du würdest zu Weihnachten Hackbraten aus mir machen, wenn ihnen ein Unheil geschähe. Und wo wir gerade beim Thema sind, ich habe nie ganz kapiert, was du gegen Kreditkarten hast.« »Eine Eigenheit, die aus meiner Zeit bei Eligibility Escorts stammt.« Er untersuchte einen Finger an seiner linken Hand. »Ein gefühlloser Klotz von Frau, die mich als Partner für eine Moorhuhnjagd engagierte, wollte mich auf eine ihrer Kreditkarten setzen lassen.« »Was?« rief ich entgeistert. »Ellie, bitte!« Seine schwarzen Brauen zogen sich zusammen. »Ich habe nie ein Geheimnis aus meiner Vergangenheit gemacht.« »Du hast mir nie erzählt, daß du dich in wollene Jagdhosen gezwängt hast, um kleine Tiere zu töten.« »Wenn es dich beruhigt«, sagte er, während er seitlich um den Wagen herumging, »jeder Schuß von mir ging daneben. Miss Gottes-Geschenk-an-sich-selbst fand, ich sei gänzlich unfähig und weigerte sich schließlich, mich überhaupt zu bezahlen.« Er hielt die Autotür für mich auf. »Warum ziehst du so ein Gesicht?« »Warum sitze ich am Lenkrad?« Er trat zurück und wurde beinahe von einem Motorradfahrer erfaßt, der auf den Parkplatz gerast kam. »Weil ich will, daß du fährst.« »Kommt nicht in Frage! Dr. Melrose hat gesagt, ich soll auf fremdem Boden keinen Fuß aufs Gaspedal setzen.« Einer von diesen vielgepriesenen Momenten absoluter Ruhe, in denen die Erde stillzustehen scheint. »Schatz, es ist doch nichts dabei, hier zu fahren. Und ich kann meine Brille nicht finden.« »Du hast sie ins Handschuhfach gelegt.«
»Stimmt. Ich wollte dich nicht beunruhigen.« Er krümmte sich, streckte die Hand aus und wandte den Blick ab. »Weißt du noch, als ich mal eine Blutvergiftung am Finger hatte und fast gestorben wäre?« »Kommt mir irgendwie bekannt vor.« »Ich habe ihn mir gerade im Kofferraum eingeklemmt.« »Ben, das ist nicht derselbe Finger.« »Ach nein?« Er runzelte die Stirn und betastete den Nagel. »Nun, stimmst du mir wenigstens zu, daß es dieselbe Hand ist und daß Dr. Melrose mir dringend angeraten hat, mich vor einem Posttrauma zu hüten? Ellie, ich kann kein Risiko eingehen. Nicht jetzt. Wenn du etwa eine Stunde fährst und ich meine Hand ganz still in meinem Schoß liegen lasse…« Ich zerrte am Lenkrad in der Hoffnung, daß es abfallen und diesem Wahnsinn so ein Ende setzen würde. »Ich kann nicht zwei neue Dinge auf einmal lernen. Die Schwangerschaft reicht mir. Auf der falschen Straßenseite zu fahren ist zuviel für mich.« Er rutschte neben mich, während ich noch vor mich hin brabbelte, zog einen Füller aus seiner Brusttasche und kritzelte triumphierend ein R auf meine rechte Hand. In der ersten Blüte unserer Ehe hatte ich gedacht, ich hätte Ben mein Leben zu verdanken. Aber nicht mein Herzblut. Tausend Flüche über sein Haupt! Mochte sein Deodorant mitten in einer Mange-Sitzung versagen! Vor Angst durchgeschüttelt wie ein Farbtopf in einer dieser Mischmaschinen, drehte ich den Schlüssel im Zündschloß. Wrrruuummm. Der Wagen schoß rückwärts und bog meinen Nacken durch wie einen Nelkenstengel. Dann ein entsetzliches Schleudern, bevor er auf die Parkplatzausfahrt zuruckte. Mein Fuß hatte das Gaspedal noch nicht mal berührt. Der Mann beim Autoverleih hatte die Wahrheit gesagt, als er meinte, das Auto würde losflitzen, mit oder ohne Beteiligung des Fahrers. Wir
waren im Begriff, uns mit einem Satz in den Verkehr zu stürzen, über vier gerammelt volle Spuren hinweg. Ob wir oben auf einem anderen Auto landen würden? Oder auf etwas noch Höherem – von wo aus wir einen besseren Blick auf die City haben würden? Keine Zeit, auf die Bremse zu treten. Ich riß das Lenkrad nach links herum – oder meine ich rechts? Brillanter, instinktiv ausgeführter Schachzug. Der Schweiß auf meiner Stirn trocknete. Wenn ich es weiter schaffte, keine Kollision zu verursachen… »Fühlst du dich besser?« Ben rieb meine Schulter. »Hab’ dir doch gesagt, daß nichts dabei ist.« Ich konnte nicht in seine gesunde Hand beißen, ohne den Blick von der Fahrbahn abzuwenden. Die Straße war regelrecht übersät mit Ampelanlagen. »Schatz, ich tue das nur für dich. Was würdest du machen, wenn mir etwas passieren sollte?« »Einen Chauffeur heiraten«, zischte ich. Eine Ampel raste auf uns zu. Und, um das Elend vollkommen zu machen, es fing an zu regnen, in trägen, schweren Tropfen. Kaum heftig genug, um einen Haufen Bügelwäsche zu befeuchten, aber in einem Kabrio ist wenig schon genug. Ben haßt es, in Autos mit geschlossenem Verdeck zu fahren, wegen seiner Klaustrophobie. »Soll ich das schließen…?« Er zeigte großmütig mit einem Finger nach oben. Himmel, es war der verletzte! Sanft legte er die Hand wieder in seinen Schoß, als wäre sie ein todkrankes, heißgeliebtes, Hündchen. »Nein.« Wenn wir erst bis zur Taille im Wasser saßen, würde dieser Mann vielleicht erkennen, welch preisverdächtige Idiotin ich war. Entschlossen, jedweden möglichen Spaß aus der Situation zu ziehen, tat ich so, als spiele ich eines dieser AutorennenVideospiele auf einem Kleinmonitor. Die Sorte, wo man
mehrmals getötet werden kann, ohne Konsequenzen. Fahrzeuge, Fußgänger, Gebäude sausten vorbei. »Wie weit ist es noch bis zu unserem Ziel?« »Schatz, fahr’ den Schildern zur Autobahn nach.« Ben klang etwas erstickt. Holte er sich auch noch eine Lungenentzündung? Egal. Ob ich jemals eine klare Antwort bekommen würde? »Etwas außerhalb von Boston«, hatte er gesagt, als er mich überredete, mit ihm zusammen der Einladung der Manges zu folgen. Die Wahrheit erhob endlich ihr häßliches Haupt. Ich war im Begriff, die nächsten Tage einhundert Meilen von Boston entfernt im Vorort eines Vorortes zu verbringen. Nicht der richtige Zeitpunkt, um ein Geständnis zu erzwingen. Jede Menge Gehupe um uns herum. Winkte die Frau in dem Volvo einem Freund zu? Oder schüttelte sie die Faust? Da ich mich auf meiner Spur unerwünscht fühlte, wechselte ich auf eine andere und schaffte so knapp den Rückzug. Ben stellte sich schlafend. Jetzt fiel mir alles wieder ein – wie grün er am Flughafen geworden war, als ich erwähnte, die Manges könnten auftauchen und daß unsere Besichtigungstour im Zeitraffertempo vor sich gegangen war. Der Finger des armen kleinen Babys, zur Hölle damit! Er hatte darauf bestanden, daß ich fuhr, weil er nicht wollte, daß ich die Hände frei hatte, wenn die Wahrheit herauskam! Sogar sein Sex der letzten Nacht erschien mir jetzt in anderem Licht. Als ich mir den Regen aus dem Gesicht wischte, um ihn besser anfunkeln zu können, wurde mein Herz zum Verräter. Er sah so unschuldig aus mit seinem feuchten, zerzausten Haar. Hatte ich mir das alles nicht selbst zuzuschreiben, weil ich wegen dieser Reise solche Schwierigkeiten gemacht hatte? Als ich zugab, daß mir ein Besuch in Boston nicht übel gefallen würde, mußte er selig gewesen sein, weil der Mange-Treffpunkt in relativer Nähe lag.
Meine Geistesabwesenheit machte mich zu einem regelrechten Verkehrsirrlicht, ich fuhr gewissermaßen einhändig. Doch plötzlich landete im Sturzflug ein Lastwagen vor mir. Versehentlich ging ich das Risiko ein, erneut die Spur zu wechseln. Merkwürdig! Auf dem Dach des Autos unmittelbar vor mir wehte ein weißes Fähnchen. Ebenso auf dem Dach des Autos davor. Höchste Zeit für eine Kontrolle im Rückspiegel. Das Auto hinter mir hatte ein Fähnchen. Ich wurde von einer Reihe Fähnchen verfolgt. Meine feuchten Hände rutschten vom Lenkrad ab. Mir fiel ein amerikanischer Film ein, den ich kürzlich gesehen hatte. Eröffnungsszene – eine Beerdigung. Diese Autos fuhren zum Friedhof, und ich befand mich unter den Trauergästen, ohne einen Kranz in den Händen. Gesichter, die sich an die Rückscheibe des Autos vor uns drückten. Der Verkehr auf der anderen Spur hing eine Meile weit ganz dicht zusammen. »Ben!« wimmerte ich. »Was?« Er schoß hoch. »Nichts.« Der Regen kam in Strömen, heulte vor Mitleid. Ein riesiges grün-weißes Schild blitzte vor mir auf. Autobahn. Ben zog ein Stück Papier aus seiner Tasche. »Ellie, hier müssen wir jetzt abfahren… ich meine, auffahren.« »Vielen Dank für die frühe Vorwarnung.« Ich wischte mir das Gesicht mit dem Ärmel trocken, umklammerte das Lenkrad, hielt den Atem an und hechtete seitwärts. Ich fahre auf den Zubringer. Da die Scheibenwischer mit dem Guß nicht mehr mithalten können, weiß ich nicht, ob ich 35 oder 55 Meilen pro Stunde fahren soll. Einordnen! schreit das Schild, das auf mich zugerast kommt. Will mich da jemand auf den Arm nehmen? Zu meiner Linken zieht ein Strom von Lkws dahin, alle größer als ein durchschnittliches Haus, alle schwanken im Wind. Meine Hände rutschen weiter vom
Lenkrad ab. Die Fahrbahn schmilzt zum Miniformat dahin. Meine Füße sind verkrampft und werden taub. »Einordnen!« schreit Ben. Ich schließe die Augen und tue, was man mir sagt. Friede senkt sich über meine Seele. Die Straße erstreckt sich vor mir wie ein schwarzes Öltuch, und schlagartig hört der Regen auf, als hätte Gott mit den Fingern geschnippt. Boston hörte auf und an seine Stelle traten Hügel und Felder, die vorbeiglitten wie eine riesenhafte Wandmalerei. Das da oben war doch bestimmt ein Regenbogen? Ich fing an, die Kolonien zu mögen. Ich stellte im Radio eine sanfte Melodie ein, lockerte die Finger und lächelte Ben zu. »Wohin jetzt, Mr. Haskell, Sir?« Sein Haar klebte ihm durch den Regen im Brutus-Stil auf der Stirn. Und Brutus war ein ehrenhafter Mann. »Schatz« – er unternahm den vergeblichen Versuch, seinen Charme spielen zu lassen –, »vielleicht habe ich es falsch rübergebracht, oder sollte ich sagen…« »Gelogen?« »Das ist das richtige Wort.« Ich klopfte ihm auf die Schulter. »Ich bin nicht sauer, wirklich nicht. Jeder Ort hat seinen Charme.« Meine Hände glitten vom Lenkrad. Hatte ich, blind wie ich war, undankbarerweise den Grund seines Schweigens falsch gedeutet? Hatte er die ganze Zeit eine herrliche Überraschung für mich geplant? Ich bemächtigte mich wieder des Steuers. »Ist es so etwas? Irgend etwas Niedliches, Abgelegenes? Hexerei, eine Fundgrube für Antikläden und mit einer kleinen weißen Kirche auf dem Hügel?« Ein Seufzer zum Steinerweichen. »Schatz, ich bin sicher, für die Bewohner von Mud Creek, Illinois, ist es all dies und noch mehr.«
Wäre Christoph Kolumbus bis nach Illinois gekommen, hätte er gemerkt, daß er sich in der Annahme, die Welt sei rund, irrte. Dies war ein Land, flacher als der Ozean an einem völlig windstillen Tag. Die Straße schnitt breit und gerade durch Maisfelder, die sich von hier bis in die Unendlichkeit erstreckten. Selbst die Bäume waren erst nach den Empfehlungen der Tourismusbehörde angepflanzt worden, so wie man diese Minischmuckbäume auf Weihnachtstorten setzt. Jetzt würden Mr. und Mrs. Bentley T. Haskell jeden Augenblick in ihrem Luxusleasing-Kabriolett das SackgassenSchild erreichen und in die Unendlichkeit abstürzen. Ich hatte Ben seine hinterhältige Täuschung verziehen. Ich verstand sogar, warum er keinen Flug von Boston nach Mud Creek gebucht hatte. Wer will denn schon auf einer Rollbahn landen, die nachts hochgeklappt wird? Und um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, der Mann war völlig unfähig, die amerikanische Weite in englische Dimensionen umzusetzen. England ist ein Land für Tagesausflügler. Als Dorcas und Jonas nach Chicago flogen, hatten sie eigentlich gedacht, daß sie an einem Tag zum Grand Canyon fahren, dort die Nacht verbringen und am folgenden Abend wieder zurück sein könnten. Ben war etwas realistischer. Er wußte, daß eine ansehnliche Entfernung zwischen Mud Creek, Illinois, und Boston lag, aber er hatte sich vorgestellt, es sei etwa einer Fahrt von Schottland nach Devon vergleichbar, nicht einer von London nach Warschau. Ich hatte mich nicht einmal beklagt, als wir die gestrige Nacht im Happy Hang Out Hotel in Plainsville, Ohio, verbrachten.
Wir waren stundenlang in die Irre gefahren, wenngleich wir dachten, wir wären richtig, und über Meilen waren wir richtig gewesen, als wir dachten, wir hätten uns verfahren. Alles, was ich mir da gewünscht hatte, war, mich in Kissen wenigstens von der Dicke einer Brotscheibe sinken lassen zu können. Und meine Migräne auszukosten. Was ich nicht verzeihen konnte, war diese gnadenlose Hitze. Bens gottlose Besessenheit von den Manges war der ganze Grund. Wer konnte Gott einen Vorwurf daraus machen, daß er den Himmel in ein Inferno verwandelte? »Wasser?« flüsterte ich mit ausgetrockneten Lippen. Ben drückte meine Schulter. Sein Finger hatte eine wundersame Genesung durchgemacht. »Schatz, ich habe doch angeboten, das Verdeck zu schließen.« »Man darf den Ausblick nicht ruinieren.« »Ich halte an der nächsten Ausfahrt.« Die Sonne war das Gelbe eines Spiegeleis, umgeben von dem Weiß einer Wolke. Das Kleid klebte mir feucht am Körper. Was bei einer Frau mit Modellfigur ja ganz sinnlich wirken mochte, doch ich hatte zu meinem Elend zwischen Frühstück und Lunch ein paar weitere Pfunde zugelegt. »Ben, sieh dir diese Vögel an.« Mit dem Blick folgte er meinem ausgestreckten Finger. »Was ist damit? Sie flattern doch bloß dahin und sind mit sich selbst beschäftigt.« »Sie folgen uns schon seit einer Stunde.« »Ellie«, er rückte die Brille zurecht, die er ja angeblich nicht finden konnte, als er darauf bestand, ich solle fahren, »das sind doch bloß harmlose Krähen.« »Falsch. Es sind Geier, die unsere Knochen abnagen wollen, sobald wir uns eingestanden haben, daß dieses grausame Land gewonnen hat.« »Du sagtest, du magst Chicago – «
»Ich liebe es. Ich hätte sehr gern angehalten und mir eine Postkarte gekauft.« Kaum waren diese Worte heraus, da bereute ich, ihn nicht schon eher angegiftet zu haben. Die Atmosphäre reinigen und neu anfangen. Wenn man weiß, daß die Ehe oft ein Dornengestrüpp ist, verleiht das den Rosen einen noch süßeren Duft. Als wir auf den Parkplatz des Log Cabin Diner fuhren, fragte er mit vor Zärtlichkeit ganz schwacher Stimme, ob ich die Reiseschecks griffbereit hätte, weil er nur noch ein paar Dollar von Dorcas’ Geld übrig habe. »Gleich zur Stelle, Liebling!« Ich zerrte am Riemen meiner Tasche, während wir in eine Parklücke direkt neben der Eingangstür fuhren. Optimismus beflügelte meine Seele. Unsere Ehe war durch diese Probe stärker geworden. »Dauert nicht lange.« Ben sah zu, wie ich meinen riesigen Schlüsselring hervorzog, mein Päckchen Taschentücher, den Brief meiner Schwiegermutter… »Ellie«, sagte er trockenamüsiert, »du schleppst Zeug mit dir herum, das in etwa so nutzlos ist wie ein Regenschirm in der Wüste.« Ich schob mir das Haar aus dem Gesicht »Halleluja! Ich habe meinen Kamm gefunden. Er kommt in zwei Hälften, aber wen stört das schon?« »Das Lokal könnte jeden Moment schließen.« »Ach, du Nuß«, sagte ich besänftigend, »es ist doch erst sechs Uhr, und in diesem Land der Bequemlichkeit wird nie etwas geschlossen.« Ich schüttelte den Inhalt meines Make-upBeutels in meinen Schoß. »Vielleicht habe ich sie in das Seitenfach gesteckt.« Meine Hände hörten auf zu kramen und fingen an zu zittern. Das verliebte Glitzern verschwand aus seinen Augen. »Sag’ jetzt bloß nicht, du hast sie verloren.«
Ich hatte nie verstanden, wieso die Frauen Heinrichs VIII. so lieb und brav den Kopf auf den Richtblock gelegt und auf den tödlichen Schlag gewartet hatten. Jetzt, da ich um mein Leben kämpfte, stellte ich fest, daß Ben größer war, als ich gedacht hatte. »Die Schecks sind hier. Gib mir nur etwa eine Stunde Zeit, sie zu finden.« Ben war wütend, auf seine intensiv maskuline Art. Ein Knurren entrang sich seinen Lippen, was mich zur Tür zurückweichen ließ. »Sag’s schon!« ging ich zum Gegenangriff über. »Sag’ schon, du hättest sie mir nie anvertrauen sollen! Sag’, daß ich uns die Ferien vermasselt habe. Sag’, daß ich deine Chance, ein Mange zu werden, ruiniert habe.« Ein Donnergebrüll, das aus heiterem Himmel kam, übertönte, was immer er sagte. Sekunden später verdunkelte sich der Himmel, ich spürte die ersten Regentropfen, und mir fiel die schwarze Wolke ein. Kapitel drei von Wie man Babys aufzieht von der Zeugung an betonte, daß sonderbare Phantasien nichts Ungewöhnliches seien. Ich warf alles in meine Tasche zurück und fauchte: »Erinnere dich freundlicherweise mal daran, Liebling, wer mich in diesen nervlichen Zustand versetzt hat, in dem mein Inneres nach außen gestülpt ist und meine Hinterseite nach vorn.« Er heuchelte Geduld. »Nützt ja nichts, wenn wir ein Karussell aus Schuldzuweisungen daraus machen. Könntest du sie in eine andere Tasche oder in irgendein Kleidungsstück gesteckt haben?« »Nein.« »Wann hast du sie das letztemal gesehen?« »Sprich nicht in diesem Ton mit mir. Ich bin keine Verdächtige in einem Raubüberfall.« »Ich habe sie dir am Flughafen gegeben.«
»Das hast du.« Der Regen kam inzwischen mit voller Wucht herunter, sein Gesicht und diese blöde Sache verschwammen, bis… Der Erinnerungsblitz traf mich wie ein Messer zwischen die Rippen. Ich – wie ich den Brief meiner Schwiegermutter vorlas, mit all seinen düsteren Warnungen, Ben vorlas, im Flugzeug. Und wie der charmante orientalische Herr sagte, sehr viele schlechte Menschen auf dieser Welt. Ach, er konnte doch bestimmt kein hämischer Taschendieb gewesen sein? Aber denk an Tante Lulu! Sieht aus wie eine Shirley Temple in mittlerem Alter und würde einem Toten die Goldzähne stehlen. »Ach, verdammt!« Ben ließ sich in seinem Sitz zurückfallen. »Was soll’s! Sie sind weg. Es ist wohl zuviel verlangt, schätze ich, daß du American Expr-« »Die Bank hatte ein Sonderangebot für eine andere Sorte, einen Apostel-Teelöffel je fünfhundert Pfund.« »Schade«, bemerkte er. »Aber Gott sei Dank haben wir die Quittungen. Wir haben doch Quittungen, Ellie?« Ich verflocht die Finger zu einer Art Wiege. »Du hast sie in dem Briefumschlag mit den Schecks gelassen?« Er wuchs zu doppelter Größe, wie der Brotteig, den er ständig macht. »Ich glaube, Ellie, das steht hier unter Todesstrafe.« Aus dem Log Cabin Diner kamen Leute, die wohlgenährt und glücklich aussahen. Schrecklicher Gedanke, daß zwischen uns und dem Hungertod ganze zwei Dollar standen. Ob wir hineingehen und so tun könnten, als hätten wir unseren Restebeutel vergessen? Schande! Essen sollte unwichtig sein, wenn das Leben eines geliebten Menschen zerstört ist. Ben brauchte mir nicht erst zu erklären – obwohl er es tat, wiederholt –, daß er heute abend um halb acht bei den Manges sein mußte, was bedeutete, daß wir keine Zeit hatten, uns zur nächsten Polizeistation zu begeben und uns ihrer Gnade anheimzustellen.
Als gesagt war, was man sagen konnte, um alles noch schlimmer zu machen, riß Ben den Zündschlüssel herum, und der Wagen schnurrte wieder auf die Autobahn. Diesmal herrschte kein freundschaftliches Schweigen. Er hatte dem Gebot der Vernunft entsprochen und mir eine kleine Tüte Milch gekauft. Während ich trank, zog er demonstrativ seinen Sicherheitsgurt enger. Die Straße wickelte sich vor uns auf wie eine Papierrolle im Wind. Die vorbeifegenden Bäume verwandelten sich in Fächer, und mein Haar löste sich aus dem Knoten und flatterte mir in die Augen… Ich kam erschrocken wieder zu mir und stellte fest, daß Ben an den Straßenrand gefahren war und den Motor ausgeschaltet hatte. »Zeit für eine Kaffeepause?« Mein Sarkasmus verschmutzte die Luft. »Nach deinem ganzen Gerede, daß Zeit knapper ist als gute Ehefrauen.« Er hing über dem Lenkrad. Er hatte einen Herzanfall… er war tot! Wie konnte er mir das antun – mich als Witwe mitten im Nichts zurückzulassen? Ich packte ihn an den Schultern und riß seinen Kopf hoch. »Ellie, wir haben kein Benzin mehr.« Das war schlimmer als der Tod. Wenn ich die Reiseschecks nicht verloren hätte, dann hätte er Benzin an der Tanksäule des Log Cabin gekauft. Selbst wenn wir uns jetzt durch diesen Maisdschungel kämpfen und lebensspendendes Benzin auftun konnten, wie standen die Chancen, daß man uns erlaubte, einen Schuldschein auszuschreiben? Ich versuchte Ben zu beruhigen, die Manges würden schon Verständnis haben und, da sie sich seinetwegen versammelt hatten, nicht stehenden Fußes umkehren und nach Hause gehen, nur weil er fünf Minuten – oder fünf Stunden – zu spät kam. Doch meine Stimme wurde vom Wind weggetragen, und ich war nicht sicher, ob das auf meinem Gesicht Regen oder Tränen waren, als sich seine Hand um meine schloß.
»Du darfst dir keine Vorwürfe machen, Liebes.« Seine Stimme war leise, eine Mischung aus Müdigkeit und Heldentum. »Ich fange langsam an, an Chantals schwarze Wolke zu glauben.« Durchnäßt und angstgeschüttelt zu sein war schlimm genug, aber unter einem Fluch zu stehen? Dem war ich körperlich nicht gewachsen. Ich öffnete meine Tasche, kramte nach einem Taschentuch und zog den Umschlag heraus, der den Brief meiner Schwiegermutter enthielt. Komisch, er fühlte sich dicker an, als ich in Erinnerung hatte. Und kein Wunder! In dem Umschlag steckten die Reiseschecks. »Ben, jetzt wird mir alles klar! Ich muß sie zu dem Brief gestopft haben, als mir auf dem Flugzeugklo die Tasche hinfiel und ich in solche Panik geriet. Wenn ich daran denke, daß ich diesem unschuldigen orientalischen Gentleman die Schuld gegeben habe…« Mein Liebster hörte nicht zu. Er stand auf seinem Sitz. Er wedelte heftig mit den Armen und rief: »Gerettet! Gerettet!« Wundersamerweise hatte der Wind sich gelegt, der Regen aufgehört, und die Sonne war in strahlendem Glanz durch die Wolken gebrochen. Nicht genug, hinter uns bremste ein Wagen ab. Das Paar darin dachte, Ben habe »Hilfe! Hilfe!« gerufen. Welche Botschafter der Gastfreundschaft. Dr. Bernie Wetchler und seine Frau Jorie aus Peoria. Sie brachten einen Benzinkanister zum Vorschein, gaben sich die Ehre, winkten ab, als wir uns bedanken wollten, und fuhren weiter. »Sehr anständig von ihnen anzuhalten, um uns zu helfen. Ich muß sagen, Liebling, das stellt beinahe meinen Glauben an die menschliche Natur wieder her. Von nun an bin ich fertig mit dem ganzen abergläubischen Quatsch. Was ist los, hast du etwas im Auge?« »Nein, Schatz.« Ein Lächeln trat auf sein Gesicht. »Es widerstrebt mir, die Seifenblase platzen zu lassen, aber sie
haben angehalten, weil sie in dem Buch, das die Frau laut vorlas, gerade an einer extrem aufregenden Stelle waren.« »Sag jetzt bloß nicht… nicht Monster Mommy! Ben, dieses entsetzliche Buch verfolgt uns!« Er zog mich an sich. »Sch! Vorhin waren es noch Geier. Du bist erschöpft, und ich bin ein rücksichtsloser Schuft, weil ich dir in deinem Zustand eine solche Reise zumute. Schütteln wir den Staub dieses Ortes schleunigst von unseren Füßen. Kein einziges böses Wort kommt mehr für die Dauer des gesamten Aufenthalts über meine Lippen, das schwöre ich!« Mein Liebling hatte recht. Wir mußten uns auf den vor uns liegenden Weg konzentrieren. Das Leben hatte uns wieder. Wenn Ben dem Wagen die Sporen gab, könnte er es noch rechtzeitig zu seinem Mange-Treffen schaffen. Mud Creek, 436 Einwohner. Sein Charme lag in der Bequemlichkeit, die es bot,… Sich hier zu verirren wäre schwierig. Jenseits der Main Street lagen Felder, nach vorn hatte man den Blick auf den schlammigen Illinois River. Als wir an Nelga’s Fashions Schaufensterauslage mit seinem bedruckten Eine-Größe-für-alle-Kleid vorbeifuhren, überlegte ich, daß der Ort das ideale Versteck eines jeden Kaufsüchtigen sein könnte. Wir kamen am Scissor Cut Hair Salon, der Lucky Strike Bowling Alley und einem Eckcafe mit einer Speisekarte aus Pappe am Fenster vorbei. Näherten uns einer Reihe von Ampeln, die mit einem durchhängenden Kabel verbunden waren, und befanden uns jetzt auf einer Höhe mit Jimmy’s Bar, einem Wellblech-Backstein-Gebäude mit Saloon-Türen wie im Wilden Westen. Ob ein gespornter Stiefel sie aufstoßen und schwungvoll mehrere Körper auf die staubige Straße befördern würde? Würde ein pistolenschwenkender, tabakkauender Schurke auf die Straße schlendern und uns, mit der Sonne im
Rücken, auffordern, verdammt nochmal nach Dodge zu verschwinden? »Ben, du hast mir nie erzählt, weshalb die Manges Mud Creek ausgewählt haben.« »Wer würde vermuten, daß sie hier ein Treffen abhalten?« »Clever.« Zeit für mich, mir den Kopf zu zerbrechen, welchen Eindruck ich machen würde. Als ich in meinen Taschenspiegel spähte, sah ich, daß die Sonne meiner Nase zugesetzt hatte, doch ich hatte keine Zeit, deshalb mit meinem Schicksal zu hadern. Eine Reihe holperiger Bodenwellen, und Ben zog den Wagen um eine Kurve. Waren wir da? War dies der Treffpunkt? Nein, es sei denn, die Manges trafen sich an einer Tankstelle mit vorsintflutlichen Zapfsäulen. Während Ben neben dem verrosteten Softdrink-Automaten anhielt, verkündete er, er wolle nach dem Weg fragen und, falls nötig, um Hilfe bitten. »Ist das Haus nicht auf der Main Street?« Ben faltete die Mange-Verlautbarung auseinander und schirmte sie mit den Händen ab. »Tut mir leid, Schatz! Dir ist doch klar, daß ich einen Vertrauensbruch begehe, wenn ich dich auch nur die Unterschrift sehen lasse.« »Soll ich mit verbundenen Augen hingebracht werden?« »Das Haus ist Mendenhall, benannt nach dem ersten Eigentümer. Es kann ja nicht schaden, wenn ich dir erzähle, daß Josiah Mendenhall ein Whiskeybaron war, der sein Vermögen mit destilliertem Getreide machte. Das ist Bourbon«, fügte er freundlich hinzu. »Und ich dachte, es wären die Ausdünstungen des Flusses, was ich hier inhaliere«, informierte ich Bens Rücken. Er war aus dem Sattel gesprungen – ich meine über die Seite des Autos – und steuerte auf die Glastür der Werkstatt zu. Kurz darauf stieß ein zweiter Kopf zu seinem, und ich konnte sehen, wie Hände in der Luft gestikulierten.
Mann, war ich müde. Wäre das himmlisch gewesen, jetzt genüßlich eine Stunde in einem heißen, parfümierten Bad liegen zu können! Ich lehnte mich in meinem Sitz zurück, die Augen halb geschlossen, und betrachtete das Gebäude im Warenhausstil auf der anderen Straßenseite. War das die Destillerie? Hatte der alte Josiah den Fluß zu Transportzwecken genutzt? Durch eine Lücke zwischen der Werkstatt und einem wachsfarbenen Holzhaus mit eingesunkener Veranda konnte ich einen Streifen Wasser sehen und etwas, das ein Leuchtturm sein konnte. Er erhob sich auf einer winzigen Insel. Tante Astrids Warnung – aus überflüssigem Grübeln entstehe nichts Gutes – fiel mir ein und verursachte mir Unbehagen. Ich wurde so gewaltsam aus meinen Gedanken gerissen, daß ich gegen das Armaturenbrett knallte. Unmittelbar auf die Panik folgte die kristallklare Erkenntnis, daß man mir hintendrauf gefahren war. Daß unser Wagen ganz normal geparkt war und daß ich ihn gar nicht abgestellt hatte, hielt mich nicht davon ab, meiner mangelnden Fahrpraxis in den USA die Schuld an dem Unfall zu geben. Der Fahrer kam um meinen Wagen herum. Er war ein Schrank von einem Mann. Durch seinen schwungvollen Gang flatterte das Jackett auf, die gelbweißlichen Locken wurden vom Luftzug hochgehoben. Verzweifelt schaute ich zu der Glastür nach Ben. Doch die Köpfe waren verschwunden. Mir blieb nichts anderes übrig, als ein selbstsicheres Lächeln aufzusetzen und daran zu denken, daß ich britische Staatsbürgerin war. Der Mann hielt ein Flugblatt in der Hand. Eine Do-it-yourselfVorladung? »Machen Sie sich mal bloß keine Sorgen, junge Dame, nicht der kleinste Schaden an Ihrem Wagen und nur ein winziger Kratzer an meiner alten Klapperkiste.«
»Das ist nett.« Wenn Ben sich nur beeilen würde! An diesem Mann war etwas, das mir nicht gefiel: Er hatte es versäumt, eine Bemerkung über meinen hinreißenden englischen Akzent zu machen. Ansonsten war er zu liebenswürdig. Sein Lächeln ging über die gesamte untere Hälfte seines Gesichts und entblößte unregelmäßige Zähne, die dieselbe Farbe hatten wie seine Locken. Ich war regelrecht starr vor Schreck und kreischte deshalb los, als eine Frau über seine Schulter spähte. Ein konturloses Gesicht mit verblichenem kastanienbraunen Haar: Sie stand zwei Schritte hinter ihm und drehte das Bündchen ihres farblosen Pullovers zu einem Knoten. »Ein gesegneter Abend ist das!« Der Mann hob das Gesicht zum Himmel, und ein Strahlen breitete sich auf seinen Zügen aus – leider verdarben diese Zähne alles. »Perfekt«, sagte ich. Die Frau riskierte ein Lächeln, dann verschwand es wieder. »Wie sündhaft der Mensch auch sein mag, er kann nicht alles Gute zerstören! Ist es nicht so, Ma’am?« »Sehr richtig.« »Junge Dame, mich beunruhigt, daß Sie einen so teuren Wagen fahren. Doch ich verurteile Sie nicht. Ich hoffe dennoch, daß Sie zu denjenigen zählen, denen die Bosheit, die sich in der amerikanischen Familie breitmacht, auf der Seele lastet.« Er hob die Hand, um sein Haar zurückzustreichen, und ließ sie gleich oben, um die Sünde in ihre Schranken zu weisen. »Eigentlich nicht.« Ich wich vor seinem Lächeln zurück. »Alle, die ich getroffen habe, seit ich in diesem Land bin, waren furchtbar nett.« »Der Teufel hat seine Gefolgschaft. Wissen wir das nicht allzu gut, Laverne?« »Das stimmt, o ja, Enoch«, sagte die Frau. »Ich muß jetzt wirklich weg«, stammelte ich.
Sein Gesicht stieß durchs Fenster, als ich auf den Fahrersitz hinüberglitt. »Junge Dame, ich muß Ihnen die Frage stellen: Gehören Sie zu den Erretteten?« War ich moralisch verpflichtet, diesem Pharisäer zu erzählen, daß ich regelmäßig den Gottesdienst in St. Anselm’s besuchte und daran arbeitete, Jonas in den Schoß der Kirche zurückzuführen, indem ich darauf bestand, daß er die Altarblumen höchstpersönlich dorthin brachte? »Zu den Erretteten? Ich fühlte mich vollkommen sicher, bis Sie mir hintendrauf fuhren.« »Die Wege der Vorsehung.« Enoch beugte das Haupt zu einem kurzen stillen Gebet, bevor er mir sein Flugblatt in die Hand drückte. »Wir gehen nur einmal durch dieses Leben, und Er in seiner unendlichen Weisheit mag beschlossen haben, daß wir uns niemals wiedersehen. Lesen Sie, und es wird Ihnen alles klar werden. Junge Dame, ab dem heutigen Abend werden wir regelmäßig eine Fürbitte für Sie sprechen. Durch eine Spende, die Sie gleich in diesen Umschlag geben können, nehmen Sie teil an unserer St. Brethren-Kollekte.« Als Ben wenig später herauskam, war die alte Klapperkiste nur noch ein entferntes Brummen, und ich hatte einstimmig beschlossen, den kleinen Zwischenfall nicht zu erwähnen, solange er mich nicht darauf ansprach. Ich glaubte nicht, daß ich für mein Schweigen gleich in die Hölle mußte. Ich schaute auf das Flugblatt, Einhundert und eine Sünde, und mußte zu meinem Entsetzen erkennen, daß es das Produkt der Diätologen war, derselben religiösen Gruppe, vor der meine Schwiegermutter so beredt in ihrem Brief gewarnt hatte. Die Essenshasser. Diese Fanatiker, die sich ein paar Extrasterne in ihrem Heiligenschein verdienten, wenn sie auf der Seite der Guten gegen die Erzfeinde kämpften – gegen die Köche. Ben durfte den Diätologen um keinen Preis in die Hände fallen. Ob
Exzentriker oder nicht, vielleicht waren die Manges letztlich doch gar nicht so schlimm. »Liebes?« Ben baute sich fast genauso vor mir auf wie zuvor Enoch. »Ich wollte dich nicht erschrecken.« »Das hast du auch nicht, ich habe nur geschrien, um meine Lunge freizumachen.« »Ich war so lange weg, Ellie, weil ich gemerkt habe, daß wir mehr brauchen als eine bloße Wegbeschreibung zum Treffpunkt der Manges.« »Ach?« Oh wie sehr liebte ich seine Zähne, aber warum stieg er nicht wieder ins Auto und stand statt dessen da, die Hände auf dem Rücken verschränkt, wie der Herzog von Edinburgh? Woher kam dieser bekümmerte Ausdruck in seinen Augen, dieser verzweifelte Unterton in seiner Stimme? »Ellie, Mendenhall liegt auf einer Insel mitten im Fluß.« »Na, das ist ja ein Tritt in die… vors Schienbein!« Mit einem Blick auf meine Uhr stellte ich fest, daß es zwanzig nach sieben war. Noch zehn Minuten, um zu seinem Mange-Treffen zu gelangen. Kein Wunder, daß er total aufgeregt war! Aber die Manges würden sich doch bestimmt nicht weigern, das Gespräch mit ihm zu führen, nur weil er eine Winzigkeit zu spät kam. Wir durften uns nicht von der Panik kleinkriegen lassen. Ich bot an zu fahren, wenn er mir beschrieb, wie wir zur Fähre gelangten. Bens Gesicht war blaß. »Es gibt keine.« »Können wir ein Boot mieten?« Er öffnete die Wagentür. »Wir würden kostbare Zeit verschwenden! Ich habe deshalb gleich ein Boot gekauft.« »Ein was?« In meinem Kopf lief eine Diavorführung ab mit Yachten, Motorbooten, Segelbooten, Tankern. »Du meinst, du hast ein Boot vom Tankwart gekauft, ohne einen Blick darauf zu werfen?«
»Er war ein anständiger Bursche, wenn auch überhaupt nicht auskunftsfreudig, wem Mendenhall gehört – die Manges haben es sich offenbar übers Wochenende geliehen, und er hatte einige alberne Vorurteile bezüglich der Organisation.« »Wo ist das Boot denn angedockt?« »Gleich hier.« Er nahm die Hände nach vorn und hielt mir ein orangenes Paket hin, nicht viel größer als ein Plastikregenmantel in einer Reißverschlußtasche, dazu ein Paar überdimensionale Salatlöffel aus Holz. »Genau das, was du dir immer gewünscht hast, Ellie! Ein Schlauchboot.« »Gab es das nicht auch noch in einer anderen Farbe?« fragte ich. Da Zeit der wesentliche Faktor war, blies Ben die Neil Gwynn schon mal auf, während ich zur Anlegestelle fuhr. Dem Himmel sei Dank für Kabrios. Das Boot wuchs mit furchterregender Schnelligkeit zu ungeheuren orangenen Ausmaßen an. Ben konnte es nur festhalten, indem er auf seinem Sitz kniete, das Gesicht nach hinten gewandt. Doch auch so war das Ding wie ein Wal, es schaukelte vor und zurück. Als ich auf den Schotter weg, der zum Fluß führte, abbog, flog es beinahe davon. Ich konnte mir vorstellen, wie es über dem Wasser emporschweben würde, um dann mit machtvollem Getöse wie ein abgeschossener Vogel in die salzige Tiefe zu stürzen. »Ob es unser Gepäck tragen kann?« Ich parkte unter einer knorrigen Trauerweide und griff vergeblich nach dem hinteren Ende der Nellie. Mit Backen, aufgebläht wie zwei Tennisbälle, nickte Ben. Wenig später trugen wir unser Gefährt über Ufergeröll zu einem Streifen Matsch von der Konsistenz eines halbzerflossenen Sahnebonbons und erreichten das Flußufer.
»Hier, laß mich mal – bevor du dich noch ganz verausgabst!« Ich nahm ihm die Düse ab und ließ dabei fast ebenso viel Luft ab, wie ich später wieder hineinblies, doch das Gefühl war herrlich. Endlich! Jetzt stand ich auf gleichem Fuß mit all den anderen werdenden Müttern. Denen, die sich auf ihre Managerschreibtische stützen, Make-up auf die Schatten unter ihren Augen tupfen und sich dabei unermüdlich um die jüngste Fusion kümmern… oder die zu Hause die Stellung halten, alles fegen und auf Hochglanz bringen, während ihnen eine Schar Kleinkinder unter vier Jahren an den Beinen hängt. »Beeil dich!« schrie Ben, was dazu führte, daß ich um ein Haar die Verschlußkappe hinunterschluckte. Wir wieselten in Lichtgeschwindigkeit umher. Koffer wurden an Bord geworfen, und schon war es Zeit, loszuplanschen. »Komm schon, Ellie!« Nachdem Ben an Bord geklettert war, hielt er mir die Hand hin. Der Augenblick der Wahrheit war gekommen. »Ich kann nicht! Ich habe dich in dem Punkt, wieviel Gewicht ich zugelegt habe, angelogen. Meine Füße werden unten durchstoßen. Autsch!« Er schnappte mich wie einen Fisch. Der Weg zu meinem Platz erwies sich als äußerst wackelige Angelegenheit. Eines meiner Beine war jedesmal länger als das andere. Ben warf mir die Ruder zu, begleitet von einem Grinsen. »Die Insel ist direkt geradeaus. Wie wär’s, wenn du dir die Ehre gibst, während ich mir den Matsch von den Schuhen wische, Liebling? Ich darf bei der Ankunft ja nicht völlig unansehnlich sein, oder?« »Gott bewahre!« Wenn’s auch komisch klingt, ich war ganz gut im Rudern. Ein Sport, bei dem ich sitzen konnte, war garantiert das richtige. Darf ich vorstellen, Ellie Haskell, Kapitän des St.-Roberta-Teams. Unter Freunden auch bekannt als die Skullduggeries. Als ich mein Salatbesteck in das bronzefarbene Wasser tauchte, war ich gut drauf. Die Luft roch
nach in der Sonne gebackenen Algen, und mein Liebster sah verwegen-schön aus. Sein Haar kostspielig zerzaust, seine Bräune eine 24-Stunden-Erfolgsstory. Mendenhall war noch zu weit weg, als daß ich die Umrisse des Hauses erkennen konnte. »Zum Teufel aber auch, das ist wie eine Fahrt auf einem Sofa ohne Sprungfedern, stimmt’s, Liebes?« Ben nahm die Ruder. »Immer noch Angst, zu spät zu kommen?« »Nicht übermäßig.« Sein elegantes Rudern zeigte, daß alles eine Frage der Armtechnik war. »Dieses Boot aufzublasen hat mir geholfen, einen klaren Kopf zu bekommen.« Ein Wedeln des Ruders schickte einen Spritzer fauliges Wasser in meine Richtung. »In dem Brief der Manges wird immer wieder betont, daß sie mit ihrer Einladung keinerlei Verpflichtungen eingehen, doch der Bursche an der Tankstelle erwähnte, daß heute mehrere ortsfremde Wagen durchgefahren seinen, und da fiel’s mir ein. Die Gesellschaft würde sich nicht an einem Ort wie dem hiesigen versammeln – wo du keine frischen Feigen bekommen kannst, selbst wenn dein Leben davon abhinge –, es sei denn, sie brauchen mich unbedingt.« »Wie sind die Manges denn zum Haus gekommen?« Mein Informant gab widerwillig zu, daß der Eigentümer ein Motorboot besitze. Er kombinierte, man habe es denen, die zur angegebenen Zeit gekommen seien, geschickt… Bens Lippen bewegten sich weiter, doch der hörbare Teil seiner Ausführungen ging verloren. Aus der Wasserödnis erhob sich eine Gischtfontäne, und hindurch schnitt brüllend ein Motorschiff, bemannt mit zwei Wasserpolizisten, die mit weißen Schirmmützen ausstaffiert waren. Ich setzte einen verächtlichen Blick auf und ließ eine Hand aus dem Boot hängen. »Übertreiben diese Amerikaner es nicht etwas mit ihren Hobbys, Schatz? Müssen sie auch noch das passende Outfit tragen?«
Ben fand das kein bißchen lustig… und das zu Recht. Warum dachte ich auch nie nach, bevor ich eine spöttische Bemerkung machte? Dies könnte gut das Boot unserer Gastgeber sein. »Ellie!« Sein Jammerschrei durchdrang den Wind. »Es ist die Küstenwache!« »Oh, Mist!« Wenn ich schnell betete, würde Gott uns dann Schonung gewähren? Captain Griesgram und Captain Grimasse sausten in einer Flutwelle um uns herum, ihre Gesichter jeder Zoll so schmuck wie ihre Uniformen. Ob sie wohl verlangten, daß wir unsere Pässe vorzeigen? Würden sie uns verhaften lassen? »Abend, Sirs!« Ben versuchte zu salutieren und schlug sich dabei mit dem Ruder fast ein blaues Auge. »Drehe bloß eine Runde mit der kleinen Lady.« »Dürfen wir Ihnen den Vorschlag machen, sie anderswo spazierenzufahren, wo es weniger riskant für Ihre Sicherheit und die anderer Verkehrsteilnehmer ist.« Sie sprachen im Chor, im monotonen Tonfall einer vorgefertigten Botschaft. »Entweder sind Sie binnen zwei Minuten von diesem Kanal verschwunden, oder wir lassen Sie abschleppen!« »Aye, aye!« sagte ich, als sie davonbrausten. Ben nahm wieder die Ruder, tauchte sie klatschend ins und aus dem Wasser und murmelte: »Verdammt demütigend.« »Für manche Leute bedeutet eine kleine Uniform eben alles«, tröstete ich ihn. Meine Augen brannten Löcher in die Rücken der beiden neugierigen Beamten. »Keine Sorge, Liebling, die Manges sind bestimmt zu sehr damit beschäftigt, auf dich zu warten, um aus dem Fenster zu gucken.« Ich hörte keine Antwort, nur das rhythmische Verdrängen von Wasser. Auch als das Haus endlich in Sicht kam, wirkte die Insel nicht größer als ein riesiger Stein. Welch unglaubliches Denkmal schlechten Geschmacks. Man stelle sich Josiah Mendenhall, Whiskeybaron, vor, wie er mit der Faust auf den Tisch schlägt
und nur das Beste von allem verlangt. Und er hatte wirklich von allem bekommen. Aus dem Dach wuchsen vier Zwiebeltürme plus ein Turm in der Form einer Glocke. Der angelaufene rote Backstein war mit Schmiedeeisen und Gitterwerk in Hülle und Fülle verziert, nicht zu vergessen die schimmelgrünen Schindeln an der gewölbten Vorderseite, die wie Fischschuppen aussahen. Einige der Fenster waren aus buntem, andere aus geschliffenem Glas; und der ganze Kram lastete auf einem gigantischen Teetablett von Veranda. »Ben, Mendenhall ist ein absolutes… Horrorschloß!« Diese Worte wurden von einem Schwindelanfall begleitet, wie ich ihn seit den Tagen der Morgenübelkeit nicht mehr erlebt hatte. Ich klammerte mich an den Seiten des Bootes fest und gleichzeitig an die Hoffnung, daß sei nur ein vorübergehender Zustand. Alles war besser als die Erkenntnis, daß das Schicksal uns genarrt hatte. »Ben!« Ich hievte mich auf die Knie und packte seinen Arm. »Weißt du nicht mehr? Chantal sprach doch von einem Haus, das von Wasser umgeben ist. Wir dachten, sie meinte Merlins Schloß wegen des Schloßgrabens, und den Teil mit Feuer und Schwefel haben wir nicht wörtlich genommen – aber sieh dir nur diesen rußigen roten Backstein an.« Sein Entsetzensschrei war mehr, als ich mir erträumt hatte. »Setz dich hin!« Und das tat ich – mit einem solchen Plumpser, daß ihm ein Ruder aus der Hand flog. Er wollte danach greifen, beugte sich zu weit vor, das Boot schaukelte, und bevor wir auch nur einen Ton sagen konnten, gingen wir beide baden. »Verzeih’ mir, Liebling«, prustete ich. »Ich weiß, so hast du dir das Treffen mit den Manges nicht vorgestellt.«
Während mein Liebster bäuchlings wieder im Boot landete, sagte er in freundlichem Ton: »Dir ist doch klar, daß du mein Leben ruiniert hast?« Ich gab keine Antwort. Dies war nicht der passende Zeitpunkt, um ihm die Neuigkeit zu verkünden, daß das Haus Villa Melancholie war.
»So, Liebling! Jetzt siehst du wieder aus wie neu!« Nicht durch das leiseste Zittern in meiner Stimme würde ich das Wüten pflichtvergessener Eifersucht in meinem Innern verraten, als er sich mit den Fingern durchs Haar fuhr und seine Locken alle mit einem Schlag wieder da waren. Was spielte es schon für eine Rolle, wenn jemand dachte, ich selbst hätte Jonas im Bauch des Wals Gesellschaft geleistet? »Ben, wenn ich dich mit diesem Raumspray besprühe, werden wir den letzten Hauch von Eau de Fluß los. Dann brauchst du nicht jedesmal zurückzuzucken, wenn ein Mange in deine Nähe kommt.« Das Bootshaus hatte sich als Zufluchtshafen vor dem Sturm erwiesen. Wir hatten die schlaffe Neil Gwynn, das übriggebliebene Ruder und unser Gepäck hereingeschleppt. Und nachdem wir uns erst mal in trockene Sachen gezwängt hatten, fühlte ich mich wie zu Hause. Über den Ruderbooten, Kanus, Gartenmöbeln und sich wie Kobras schlängelnden Seilen schwebte der sichere, trockene Geruch nach Speicher und Politur. Ich wollte nie wieder von hier fort. Aber zwei Herzen können nicht immer im gleichen Takt schlagen. Ben wollte nicht stillhalten, damit ich ihn besprühen konnte. Er hüpfte herum und versuchte, zwei Socken gleichzeitig anzuziehen. Sein Versuch, sich auf den Rand eines Ruderbootes zu setzen, hatte nur dazu geführt, daß er hinein fiel. Armer Liebling! Boote schienen immer diese Wirkung auf ihn zu haben. »Ellie, steck dieses Zeug weg. Das ist Insektenspray.«
»Du liebe Güte!« Ich stellte die Dose aufs Regal zurück und stopfte Neil in ihre kleine orangene Tasche. »Liebling, warum setzt du dich nicht auf diese Marmorbank, gegenüber von den Kanus?« »Du glaubst, ich habe Zeit für eine Verschnaufpause?« Während er sprach, wich er zurück und setzte sich doch unfreiwillig auf die besagte Bank, die jedoch unter ihm wegrutschte, so daß er auf seinem Hinterteil landete. Das erwartete steinerne Poltern kam nicht. Jammerschade, daß Ben nicht gleichermaßen still blieb. Aber vielleicht war dies nicht der Zeitpunkt, ihn mit den Worten zurechtzuweisen: Nicht vor dem Baby. Ich warf Neil Gwynn hin und eilte ihm zu Hilfe. »Und du nennst dich Innenarchitektin, Ellie? Deine Marmorbank ist so leicht wie eine Melonenschale.« »Sie ist hohl, das ist richtig.« Ich stellte den Gegenstand auf und klopfte fachmännisch darauf. »Von Menschen hergestelltes Melolit, circa 1956. Überzeugender Sandgipsüberzug. Hättest du nicht auch gedacht, daß es soviel wiegt wie Stein?« »Würde es dir etwas ausmachen, diese Museumsbesichtigung abzubrechen, damit wir hier verschwinden können, bevor man uns wegen Vandalismus verhaftet? Das Gepäck kommen wir später holen.« »Hervorragend«, stimmte ich zu. Albern von mir, daß es mich störte, daß er mir kein Kompliment über mein Aussehen machte. Hielt er das marineblaue Kleid mit dem Matrosenkragen für geschmacklos? Normalerweise gefiel es ihm, wenn mein Haar im Nacken zu einem Knoten zusammengefaßt war, aber man kann keinesfalls von idealen Arbeitsbedingungen sprechen, wenn man nur einen Taschenspiegel zur Verfügung hat. Als ich ihm auf dem Weg über die Insel nachhastete, waren meine Gedanken ein Chaos. Lampen, deren Helligkeit mit dem
Leuchten von Glühwürmchen vergleichbar war, verbreiteten flackerndes Licht zwischen den Bäumen. Ein LiliputanerKönigreich. Nicht viel größer als drei Hektar. Ein Reich aus Kalkstein, mit gestutzten Bäumen, ungepflegtem Rasen und trostlosen Blumenbeeten. Aber war es wirklich die Villa Melancholie? Konnte dies tatsächlich das Gruselschloß aus dem Film sein, den meine Mutter mit Theola Faith gedreht hatte? Drüben im Bootshaus war ich zu dem Schluß gekommen, daß ich ein Opfer meiner Phantasie war. Zu viel Monster Mommy. Und der Fernsehausschnitt in Boston hatte die vergessenen Schuldgefühle an die Oberfläche gezerrt, daß ich mir meine Mutter in dem Film nie angesehen hatte. Aber ich durfte nicht vergessen, daß sie wohl nie den Fuß auf dieses Gelände gesetzt hatte, auch wenn das Haus als Kulisse benutzt worden war. Ihren Part in der Revueszene hatte man in einem Chicagoer Nachtklub gedreht. Als ich hinter Ben die aufgerauhten Stufen zur Haustür hochstieg, wußte ich überhaupt nichts mehr, dies konnte ebensogut die Sommerresidenz des Teufels sein. Für manche Leute wäre Mud Creek bestimmt die Hölle. »Ich möchte wissen, wie sie für Strom sorgen.« Ich sah zu, wie Ben nach dem Türklopfer griff, der die Form einer geballten Faust hatte. »Nehme an, sie haben einen Generator.« Die Tür wurde von bunten Scheiben eingerahmt. Römische Damen, die Weintrauben aßen. War das das Klomp-klomp sich nähernder Schritte oder das Echo des Türklopfers? Zweimal falsch geraten. Der Übeltäter war eine lockere Abflußrinne, die über uns gegen das Mauerwerk schlug. Gab es auf der Insel einen Brunnen, oder mußten die Bewohner das Flußwasser abkochen? Was war das? Wieder falscher Alarm? Nein! Knarrend ging die Tür auf. Im Handumdrehen
war ich wieder zehn Jahre alt – mutterseelenallein zu Besuch bei Großonkel Merlin. »Ja?« Flackerndes Licht von einer Kerze versah den Sprecher mit einem Heiligenschein. Er war groß, wenngleich gebeugt, und kahl wie eine Glühbirne. Sein Gesicht war zerknittert, seine Hände zitterten, doch die eisblauen Augen hingen unverwandt an unseren Gesichtern. »Ihre Namen bitte?« »Bentley Haskell.« Wieso war mir nie aufgefallen, daß Ben das Lächeln eines Vertreters mit sechs hungernden Kindern und einer sterbenden Mutter hatte? »Und dies ist meine entzückende Frau Giselle.« »Spät dran sind Sie!« tadelte der Adressat dieser Worte. Ben riß derart an seinem Schlips, daß er sich beinahe von seiner irdischen Mühsal befreit hätte. »Meine untertänigste Entschuldigung! Eine Reihe unvorhergesehener, unglücklicher Zwischenfälle – « »Keine Ausflüchte!« Die Kerze wackelte vor Zorn, und Wachs spritzte auf meine Hand. »Ich bin der Türhüter. Und die Anweisungen waren unmißverständlich. Ankunftszeit – halb acht.« Der Mann legte eine Hand ans Ohr und lauschte auf eine Uhr, die irgendwo in dem gähnenden Schlund des Hauses fünfmal schlug. »Hören Sie das? Zwanzig Minuten nach acht. Es gibt niemanden, der dem Botschafter der Manges eine lange Nase zeigen kann. Raus! Ich sage, raus, Sie beide.« »Wie meinen Sie das, raus?« Ich blitzte ihn an. »Wir sind ja nicht mal drinnen!« Schieb’s auf die Hormone, aber wäre dieses Ausstellungsstück eines Präparators jünger gewesen, hätte ich ihm meine Reisetasche auf den Fuß fallen lassen. »Ein toller Botschafter sind Sie! Hier stehen wir, unserem heimatlichen Boden entrissen, erschöpft von der Überquerung der glühendheißen Ebene, ganz zu schweigen von den wütenden Unwettern und den schäumenden Wasserschnellen! Und alles nur, damit Sie uns die Tür weisen.« Ich schob meine
Tasche in den Türspalt und rief: »Führen Sie mich zu Ihrem Vorgesetzten!« »Hat da jemand meinen Namen gelästert?« Die abgenutzte tiefe Stimme wurde von Füßestampfen begleitet. »Was soll der Krach? Hab’ ich denn niemals auch nur fünf Minuten Ruhe?« Meine Reisetasche fiel mir aus der Hand, die Tür wurde weit aufgerissen, und siehe da – eine extrem kleine Frau mit dem Gesicht einer Marionette erschien, ihre braungrauen Locken quollen unter einem Rüschenhäubchen hervor. Sie funkelte zu uns hoch. »Guten Abend, ich bin Bentley Haskell, und dies ist meine entzückende Frau Giselle.« »Solche Sprüche kenn’ ich, kann ich selbst hersagen.« Sie stieß ihren Mitgastgeber mit dem Ellbogen zur Seite und wich in einer Art Zwergenhüpfer zurück. »Bewegen Sie sich hier herein, Sie beide. Es soll nicht von mir behauptet werden, daß ich Sie nicht das Bad benutzen ließ, bevor ich Sie rausgeworfen hab’.« Sie war nicht größer als ein Kobold. Ich hätte sie aufheben und in meine Tasche stecken können. Doch ich hatte Angst, daß sie bissig war. »Was willste?« Sie fuhr zu ihrem Kollegen herum, der es gewagt hatte, ihren Arm zu berühren. »Die junge Frau war sehr schwierig.« Seine Stimme wurde so zittrig wie seine Kerze, er alterte vor meinen Augen. Ein Opfer geriatrischen Mißbrauchs. »Ich bin völlig kaputt. Muß mich mit meiner Zeitung hinsetzen und ein paar Melonenkerne kauen.« Mit zärtlichem Blick streckte unsere winzige Gastgeberin ihre Hand etwa eine Meile in die Höhe, um seine knochige Schulter zu tätscheln. »Mach das nur, und ich sorge dafür, daß du gefeuert wirst.«
Ben nahm meine Tasche und flüsterte: »Ich glaube, sie fangen an, uns zu akzeptieren.« »Kann ich nicht behaupten.« Die Frau rückte ihre gestärkte weiße Schürze zurecht. »Aber ich bring Sie zum Sitzungsraum. War bloß ein Ulk, daß ich Sie rauswerfen will. Ist nicht meine Aufgabe oder die von dem alten Kahlköpfchen, ihnen diese Ehre zu erweisen.« Bens erleichterter Seufzer war bestimmt im ganzen Mittelwesten zu hören. Ich befürchtete schon, er würde niederknien und ihr die Füße küssen. »Mein Name ist Jeffries«, informierte sie uns, »und dies hier ist Peeps.« »Schreibt sich P-E-P-Y-S«, prahlte der griesgrämige Inhaber des Namens. »Sind Sie ein Abkömmling des großen Tagebuchschreibers?« fragte Ben begeistert. »Wie ich es als Schuljunge genossen habe, seine Sachen zu lesen!« Jeffries schmatzte mit ihren schlaffen Lippen. »Wir halten hier nichts von diesen Schütte-dein-Herz-aus-Büchern. Wir mögen nette Geschichten über Leute, die sich an den Frühstückstisch setzen, um ihre Eier Benedikt zu essen und Pläne fürs Mittagund Abendessen zu schmieden.« Ben und ich standen beide mit offenem Mund da, doch Jeffries wandte sich an Pepys und blies seine Kerze aus. »Du und dieser verdammte Leuchter! Trägst ihn mit dir herum wie eine Wärmflasche. Gib her und stapele ihre Koffer bei den anderen an der Treppe auf.« Im Beerdigungstempo zogen wir durch die deprimierend weite Halle, über uns angelaufene Balken einer Decke, die für Nullen- und Kreuzspiele gedacht schien. Ben, gegen den die Minuten arbeiteten, konnte sich nur schwer zurückhalten, einfach loszurennen. Ein dreiarmiger Kristallüster, der an das Schild eines Pfandleihers erinnerte, hing dunkel in der Rotunde
des zweiten Stockwerks, doch Pepys Kerze mußte tatsächlich nur Show gewesen sein, denn an den Mahagoniwänden angebrachte Gaslampen hüllten das Treppenhaus in geheimnisvolles Licht. Sie warfen trübe Schatten auf dunkle Ölgemälde und auf den rotbraunen und cremefarbenen Mosaikfußboden. Ich hatte das Bild eines Butlers vor Augen, der die Stufen hinabstieg und eine Kerze in die Höhe hielt. »Ladies und Gentlemen, der Herr ist eines unnatürlichen Todes gestorben und… das Testament hat so viele Löcher wie ein Stück Schweizer Käse.« »Etwas gesehen, das man klauen könnte?« Jeffries blieb vor einer Tür stehen und verzog das Gesicht zu einer Trollgrimasse. »Ich… ich habe nur dieses Gemälde da bewundert.« Mein Finger deutete unsicher auf ein Porträt in Öl. Der Hintergrund war ein grünliches Schwarz wie Motoröl. Thema: eine Stärkeund-Essig-Frau in voluminösem Schwarz, nur aufgehellt durch ihre weiße Haube, die mit einer vertrackten Schleife unter dem Kinn zugebunden war. Konnte es sein, daß Leben in dem alten Mädchen steckte? Ein Finger ihrer rechten Hand war erhoben. Pepys’ brüchige Stimme ertönte plötzlich hinter mir. »Die Lady zeigt himmelwärts, das war seinerzeit so Brauch, wenn ein Bild zum Gedächtnis gemalt wurde.« »Und wenn Sie scharf auf solche Sachen sind«, fügte Jeffries hinzu, »wird Ihnen das Porträt von Cat Cadaver über dem Kamin besonders gefallen.« Und mit dieser gruseligen Bemerkung ging die Tür auf. Ben sah vermutlich ein Zimmer mit lauter Manges darin und verspürte den Wunsch, sich niederzuwerfen und zu rufen: »Gnade, mächtige Herren!« Ich hatte nur Augen für die Innenausstattung mit der geschnitzten Holztäfelung und der roten Velourstapete, für die Tischdecken mit Bommelfransen
und die rubinroten Lampen mit ihren Tingeltangel-Schirmen. Blutrote Samtvorhänge blähten sich im Luftstrom auf und wirkten wie der Eingang zur Kristallkugelecke einer Wahrsagerin. Die staubige Luft roch muffig. Welche Vibrationen würde die Zigeunerin Chantal in diesem scheußlichen Raum wahrnehmen? Waren hier Mächte des Bösen am Werk? Nicht nur die des schlechten Geschmacks? Auf dem Kaminsims ruhte eine bronzene Urne. Enthielt sie Büroklammern und Garn oder die Asche von Josiah Mendenhall? Ich gab mir Mühe, nicht hinzusehen, aber da war es – das berüchtigte Porträt von Cat Cadaver. Oh, mein Liebling Tobias, wie sehr würdest du es verabscheuen, in diesem Zustand der Leichenstarre in der Erinnerung bewahrt zu werden! Ich hörte, wie Jeffries uns lautstark ankündigte. Der Moment für mich, mir zu wünschen, ich wäre um zwanzig Pfund leichter, nicht schwanger und fünftausend Meilen weit weg. Kritische Blicke begutachteten uns. »Guten Abend. Ich bin Bentley Haskell, und dies ist meine entzückende Frau Giselle – « »Enchante, mon ami! Ich bin Solange, und neben mir steht mon man Vincent.« Die Stimme war voll und cremig wie französische Schokolade, ihre Besitzerin eine große Frau mit glänzendem, hochfrisiertem Haar und einem aristokratischen Gebaren, als sei sie gerade dem Schinderkarren entstiegen. Ihre Begrüßung hatte den Bann gebrochen. Die formlose menschliche Masse geriet in Bewegung und spaltete sich in lebendige, atmende Wesen auf, einige männlich, andere weiblich. Ben griff nach meiner Hand. Mit gerötetem Gesicht und gesenktem Blick (wie es sich für einen an das göttliche Recht des Königs der Köche Gläubigen geziemt) ging er auf den nächststehenden Stuhl zu. Ein Sessel, der von einer Frau in
einem kürbisfarbenen Hosenanzug besetzt war. »Es ist ein so ungeheures Privileg, daß es mir gestattet wird, mich in der Gesellschaft der großen Manges aufzuhalten – ich bin ganz sprachlos, ich kann Ihnen nur danken, daß Sie mich Ihrer Zeit für würdig erachten.« Ich bereitete mich innerlich darauf vor, daß der Flügel in der Bibliotheksecke »Dies ist mein Augenblick! Mein großer Augenblick!« anstimmte. »Sie unterliegen einem trrragischen Irrtum, mon frère«, verkündete Vincent, der Mann von Solange. »Wir sind alle Kandidaten, genau wie Sie. Mit dem einzigen Unterrrschied, daß wir der Aufforrrderung, hier zu erscheinen, etwas zügiger entsprochen haben.« »Großer Gott!« Ben ließ meine Hand fallen und wäre prompt auf einen rotbraunen Brokatsessel gesunken, wenn er frei gewesen wäre. »Das kann nicht sein! Ich dachte, ich sei der einzige Kandidat – « »Mann! Das erinnert mich an einen Witz.« Der Sprecher war ein stämmiger Junge von etwa elf Jahren. Er trug ein Hawaiihemd, eine Drahtbrille und ein süffisantes Grinsen zur Schau. »Iiist er für Erwachsene geeigneeet?« Vincent hatte schwarzgefärbtes Haar und einen Teint à la vin rouge. »Bingo, Schatz, ist es eine Zote?« Dies kam von der molligen Frau, die als Bruder Tuck durchgegangen wäre, wenn man von ihrem kürbisfarbenen Hosenanzug absah. »Mom, bitte!« Der Junge preßte die Hände auf seine plumpen Knie. »Ein Mann stirbt und denkt, er ist er einzige, der in den Himmel gekommen ist. Es gibt keine anderen Leute weit und breit, klar. Dann kommt Petrus, klopft an die Tür und sagt: ›Du bist in der Hölle, und schlimmer noch – du sitzt in Einzelhaft! ‹ Kapiert?«
Gezwungenes spärliches Gelächter, gefolgt von einer Stille, die besonders von vier Leuten auf einem Sofa mit schneckenförmiger Rückenlehne verbreitet wurde. Eine grauhaarige Matrone, die eine Ansteckblume trug, ein grauhaariger Mann mit von Sorge gezeichnetem Gesicht, ein spindeldürrer Mann mit Charlie-Chaplin-Bärtchen und, neben ihm, eine jugendliche Frau mit wallendem Haar, blutarmem Teint und so dünn, daß man, wenn man sie vors Licht gehalten hätte, bestimmt durch sie hätte hindurchsehen können. »Findet ihr das nicht lustig?« wollte der Junge wissen. Ben war so starr wie Cat Cadaver. Wie schwer mußte es für ihn sein, sich mit der Anwesenheit eines Kindes hier im heiligen Zirkel der Manges abzufinden! »Ich fiiinde, mon pétit chou« – die Französin wandte sich an den Jungen –, »solange wir auf die Ankunft der Manges warten, wird keinem von uns groß nach Lachen zumute sein. Wie wäre es, wenn wir uns alle um Mr. und Mrs. Haskells willen encore vorstellen?« Bingos Mutter präsentierte ein grimmiges Lächeln. »Ich bin Ernestine Hoffman, Hausfrau…« Pause für einen Applaus, der nicht kam. »Meine Hobbys sind Gärtnern, das Sammeln von Tassen und das Dekorieren unseres Hauses mit Zierdeckchen. Seit einundzwanzig Jahren bin ich mit meinem entzückenden Ehemann Frank verheiratet, der aufgrund geschäftlicher Verpflichtungen nicht bei uns sein kann.« Sie zupfte an ihrem Kürbiskragen. »Und zu guter Letzt, aber eigentlich an erster Stelle – bin ich stolze Mutter des wundervollen jungen Mannes zu meiner Rechten.« Verständlicherweise war Ben wie betäubt. Die Frau hatte vergessen, ihren Spezialbereich zu erwähnen, der die Aufmerksamkeit der Manges auf sie gelenkt hatte. Ganz zu schweigen von dem Grund, aus dem sie ihren kugelrunden Sohn mitgeschleppt hatte.
»Hier seht ihr den großen Meisterkoch!« Der fette Junge lümmelte sich in seinen Sessel, schob das Haar aus seiner Angestellter-im-mittleren-Alter-Stirn und legte die Hände auf die beträchtliche Wölbung, die sein grelles Hawaiihemd nur unzureichend kaschierte. »Laßt euch aber nicht gleich alle einschüchtern. Und gebt ruhig Mom die Schuld. Sie hat mich zu diesem Fun-Festival geschleppt. Es ist nicht leicht, wißt ihr, Bingo Hoffman, Wunderkind, zu sein. Hier meine Biographie: Im Alter von einem Jahr fing ich an, Rezepte zu rezitieren. Mit zwei schleuderte ich Crepes in die Luft, mit fünf hatte ich die wissenschaftlichen Daten für die endgültige Beantwortung der Frage zusammengetragen: Sollte ein Omelett im Uhrzeigersinn geschlagen werden? Mit sechs hatte ich meine eigene Kolumne in der Zeitung…« Ein Gähnen ging durch den Raum. Über das Gesicht des Franzosen huschte kurz ein schuldbewußter Ausdruck. Bingos Mom blitzte ihn an. »… habe überall in den Staaten Vorträge gehalten und Kochvorführungen absolviert.« Bingo blies seine ohnehin schon ballonartigen Backen auf, dann ließ er die Luft mit einem müden Seufzer entweichen. »Und wenn ich nach Cleveland zurückkomme, fange ich mit meiner eigenen Fernsehshow an.« »Wunderbar, Schatz!« ließ sich die angenehme Stimme der grauhaarigen Frau mit der Ansteckblume vernehmen. »Aber übertreib’ es nur nicht. Du bist ja noch ein Junge. Nimm dir Zeit für ein bißchen Spaß.« »Niemand setzt Bingo unter Druck, es ist sein eigener Wunsch«, schnaubte Bingos Mom. Ben schnellte wie unter einem Elektroschock auf seinem Platz vor und sagte: »Ich dachte, die Mange-Mitglieder müßten im konventionellen Sinne Koch sein.« Ich spürte, wie ich so rot wurde wie der Raum. Diese Verwendung von Burgund und
Scharlachrot war erstickend, besonders in Kombination mit dieser Mahagonidecke, die auf uns lastete wie ein Sargdeckel. »Die Zeiten ändern sich, mon garçon.« Der Franzose erhob sich. Er steckte in einem konventionellen dunklen Anzug. Dennoch konnte ich ihn mir ohne weiteres mit Zylinder, wirbelndem Umhang und weißen Handschuhen vorstellen. »Die Manges sind vielleicht auf friiisches Blut aus. Ich selbst stamme aus einer der edelsten Familien Frankreichs. Aber das bringt den Hummer nicht auf den Tisch.« Er nahm eine silberne Schnupftabakdose von einem kleinen Tischchen und umschloß sie mit den langen weißen Fingern seiner linken Hand. »Ich biiin der Zauberer Comte Vincent!« Er öffnete die rechte Hand, und da war die Schnupftabakdose. »In meiner Nachtklub-Nummer werrrfe ich Eier, Mehl und Schokolade in ein Skelett, ich bewege die Hände – un, deux, trois! Eine Stichflamme, ein lauter Knall! Ich lüfte meinen Hut, so!, um mich zu verbeugen, und voilà, un Gâteau Magnifique!« Beifall von der freundlichen Frau mit der Ansteckblume, schwach begleitet von dem Rest. Ich konnte seinen imaginären wehenden Umhang sehen, als Comte Vincent die Schnupftabakdose wieder hinstellte und einen langstieligen Schuhanzieher nahm, den er anschließend wie einen Stab schwenkte. »Ma chére Comtesse Solange ist immer meine Assistentin.« Die Dame neigte den Kopf. Ihr dickes Rouge und der freche Schönheitsfleck über ihrer Lippe schienen ihr makelloses blauschwarzes Haar und das diskrete schwarze Taftkleid Lügen zu strafen. »Macht mich zu einem vergleichsweise verdammt gewöhnlichen Burschen«, grummelte der magere Mann mit dem Charlie-Chaplin-Bärtchen. »Jim Grogg ist mein Name, ich bin Gastronom bei einer großen Fluggesellschaft und mache keinen Hehl daraus, daß ich die Herausforderung – ja, das Erlebnis – genieße, ein Fertiggericht-Feinschmecker zu sein.
Die Kirschen auf unseren Puddings liegen immer exakt in der Mitte.« Die Erinnerung an unseren transatlantischen Flug war für Ben noch zu frisch. Sein Gesicht wurde so blutleer, daß er mit jener mageren Frau mit dem wallenden Haar konkurrieren konnte, die Mr. Grogg schließlich voller Stolz als Divonne, seine Lebensgefährtin, vorstellte. Die Spannung stieg. Ben traf daran keine Schuld. Die Worte Wann werden die Manges uns mit ihrem Erscheinen beehren? schienen auf einem grellen Transparent quer durch den infernalischen Raum gespannt. Bingo zielte immerzu mit Papierkügelchen auf die Kürbishosenbeine seiner Mutter, und ihr Lächeln wurde immer dünner. Die Frau mit dem freundlichen Gesicht befestigte ihre Ansteckblume neu. Mr. Grogg legte den Arm um die hauchdünne Divonne. Der Comte jonglierte mit Bleistiften, schneller und immer schneller… »Mein Name ist Ellie Haskell.« Ich wandte mich besonders an die Frau mit der Ansteckblume, die neben dem Herrn mit den tief in sein hübsches Gesicht eingegrabenen Kummerfalten saß. »Nett, Sie kennenzulernen. Ich bin Lois Brown, und dies ist mein Mann Henderson.« Sie glättete die lose fallende Vorderseite ihres seidenen Blümchenkleids. Ihr Lachen war angenehm. »Ich komme mir vor wie für einen Ball ausstaffiert. Die Kinder haben das hier für mich ausgesucht und mir die Ansteckblume gekauft. Wir haben sieben Stück. Alles gute, anständige Kinder. Manchmal wünschte ich nur, sie würden sich zu Hause nicht so wohl fühlen. Henderson und ich schütteln immer wieder das Nest, aber die Lieben, sie weigern sich, auszufliegen oder aus dem Nest zu fallen.« Sie warf besagtem Ehemann, dessen Miene noch düsterer wurde, einen liebevollen Blick zu. »So wie Ernestine bin ich Hausfrau. Die Arbeit stört mich nicht, aber ich stehe nicht gern früh auf. Was das Kochen anbelangt, habe ich nie darüber nachgedacht, ob
ich es gern tue oder nicht. Diese stets offenen Schnäbel zu stopfen, war auf jeden Fall eine große Aufgabe. Ich habe auf der Provinzkirmes einige Schleifen für meine Kuchen gewonnen, wäre aber nie auf den Gedanken gekommen, daß ich anders bin als jede gewöhnliche Josephine Blow. Dann, vor einigen Monaten, habe ich mein Rezept für Eiscreme mit Apfelsoße an den Fond für die Obstbauern der Amerikanischen Bäcker eingesandt und den Hauptpreis gewonnen: eine Schiffsreise, zwei Übernachtungen auf der Nantucket und fünfzig Dollar. Und gerade merke ich, daß Sie etwas Kleines erwarten, meine Liebe.« »Um Gottes willen«, ereiferte sich Ernestine Hoffman, Bingos Mom. »Ich kann nur hoffen, Ihre Entbindung wird leichter als meine.« Sie warf einen milde tadelnden Blick auf das Wunderkind, das sich die Taschen mit dem staubig wirkenden Inhalt einer Bonbondose vollstopfte. »Der Arzt hatte dergleichen natürlich noch nie erlebt – nicht mal auf der Universität und auch nicht in den sechs Jahren, als er den Eingeborenen in der Dritten Welt half – « Die hohläugige Divonne betrachtete mit einem boshaften Ausdruck auf ihrem bleichen Gesicht meine sich verbreiternde Taille. Lois Brown lachte fröhlich. »Vielleicht haben Sie ja soviel Glück wie ich, Liebes.« Meine Stimmung hob sich. Vielleicht bestand die Mutterschaft ja doch nicht nur aus Schmerz und Leiden. »Nun, jeder einzelne meiner sieben Lieblinge kam in weniger als fünf Minuten heraus. So leicht wie Kirschbienenstich. Zu meinen letzten beiden Entbindungen habe ich sogar die Nachbarn eingeladen. Und alle blieben hinterher noch zu dem hübschen kleinen Büffet, das ich angerichtet hatte – « Jemand stöhnte auf. Ich glaube, ich war es.
Ben, der die Hand vor die Augen gelegt hatte, sah nicht, wie die Tür aufging. Alle anderen rutschten zur Kante ihrer jeweiligen Sitzgelegenheit vor, bis auf den Comte, der immer noch jonglierte. Er verkalkulierte sich mit einem Bleistift und wurde am Ohr getroffen. Ob die Manges alle weiße Kochmützen und schwarze Schnäuzer trugen? Auch die Frauen? Die Antwort folgte nicht sogleich. Herein kamen – allein – Jeffries und Pepys. Sie hielt ein Tablett mit Eßbarem in den Händen. Er hielt ein anderes Tablett, das mit Flaschen, Gläsern und Porzellan beladen war und seine knochigen Knie schlottern sowie seinen Kahlkopf von Schweiß glänzen ließ. Erleichtert versammelte sich die Schar der Gourmets um einen Tisch in der Bibliotheksecke des Zimmers. Das heißt, alle bis auf die blutarme Divonne und meinen Gatten Ben, den man erst mit einem Spatel von seinem düsteren Schmollwinkel hätte loskratzen müssen. Er tastete nach meiner Hand. »Ellie, ich kann es nicht glauben. Ich trete gegen einen Zauberer, einen Lieferanten von Fertiggerichten, ein Kind und, was am schlimmsten ist, eine gewöhnliche Hausfrau an.« »Sei ein Mann, mein Freund!« Er erhob sich von seinem Sessel, und seine Augen wurden so schwarz wie sein Haar. »Ellie, du begreifst nicht, welch ein Anschlag auf meine Männlichkeit das ist.« »Ach, um Himmels willen, Ben! Hast du etwa Angst, daß Mrs. Lois Brown mit dem Nußknacker auf dich losgeht?« Er gab keine Antwort, da Jeffries neben uns aufgetaucht war. Das Häubchen tief in die Stirn gezogen und mit einem Gesicht, von dem mein Cousin Freddy sagen würde, es sei von innen nach außen gestülpt. Besonders, wenn sie lächelte.
»Streiten oder essen?« Sie bot ein Tablett mit perfekt angerichteten gefüllten Pilzen und Shrimps in Speckhülle an. Bens Blick war eine Mischung aus Bewunderung und Neid. Um sein Schweigen zu überspielen, lud ich meinen Teller voll. »Muß es Mrs. Jeffries heißen?« »Das ist meine Sache.« Ihre Locken hüpften. »Es gibt nicht viel anderes, was eine Frau in meiner Stellung ihr eigen nennen kann. Unabhängig trotz ihrer Armut, das waren meine Eltern.« Kaum ausgesprochen, war sie wieder weg, um Bingo ihr Tablett hinzuhalten. Ich konnte hören, wie er über den Oreganogehalt der Pilze theoretisierte, beim Kauen bliesen sich seine Backen auf. Armer Junge. Er erinnerte mich an das dicke Kind, das ich einmal gewesen war. Als ich mich wieder zu Ben umwandte, fand ich ihn in krampfhaftem Gespräch mit Mr. Henderson Brown, Ehemann der netten Frau mit der Ansteckblume. »War heiß heute, nicht wahr?« Mr. B. reagierte, als hätte man ihn gebeten, zehn Großstädte in Jugoslawien zu nennen. »Tut mir leid, ich kann mir kein Urteil über das Wetter erlauben. Mir ist immer kalt.« »Diese Pilze sind Spitze«, leistete ich meinen Beitrag. »Ja, aber sind sie auch gut für uns?« Vielleicht machten es die grau-braunen Haare, aber Mr. Brown erinnerte mich stark an Eeyore. »So oft lassen wir uns vom Reiz des Augenblicks hinreißen«, brütete er. »Wird der Erfolg meiner Frau gut für sie sein? Für mich? Sie war immer so häuslich und vernünftig, und das hier könnte sie in eine Frau aus Dynasty verwandeln. Was ist, wenn sie sich neu ausstaffieren will, Hüte tragen wird und durchsichtige Nachthemden? Ich bin nicht der Mann für solche Dinge, wissen Sie.« Die Falten in seinem Gesicht waren permanent da. Schade. Er wäre recht attraktiv gewesen, wenn das Gewicht, das auf seinen Schultern lastete, ihn nicht um
einige Zentimeter kleiner gemacht und seinen Rücken gebeugt hätte. »Wie sind Sie auf die Insel rübergekommen?« fragte Ben ihn. »Mit dem Motorboot. Es wartete auf uns, als wir um sieben Uhr am Fluß ankamen.« Mit einer Handbewegung schloß er die ganze Gruppe ein, die im Zimmer verstreut war. »Wir sind alle zusammen rübergefahren.« Ein unseliger Hinweis darauf, daß wir zu spät eingetroffen waren. Da Ben noch unter Schock stand, weil er nicht der einzige Kandidat war, hatte er vielleicht vergessen, daß er die Pünktlichkeitsregel gebrochen hatte. Um ihn zu beschäftigen, schickte ich ihn los, mir ein Tonic zu holen. Mr. Brown bot an, mit ihm zum Getränketisch hinüberzugehen. Er selbst trank nicht – das hatte, wie er sagte, etwas mit seinem Bauch oder Magen zu tun. Die Comtesse tippte auf meinen Arm. »’Allo! Ich störe, um zu fragen – wie lange sind Sie schon schwanger?« »Vier Monate!« Ich winkte Ben und den Drink weg. Schließlich war es schon Jahrzehnte her, seit ich mich mit einer Frau unterhalten hatte. »Was, so kurrrz erst?« Sie wedelte ungläubig mit den Händen. Ihre kirschroten Nägel waren länger als meine Finger. »Sie sind très grande für vier Monate.« Sie tätschelte meinen Bauch und hob die Stimme. »Mal alle herrrhören, ist sie nicht breit für nur vier Monate enceinte?« Niemand schaute in unsere Richtung. Auch gut, denn mein Lächeln fiel etwas frostig aus. Sie kniff mich in die Wange, ihre Augen glänzten wie Onyx. »Es muß Ihnen nicht peinlich sein. Gönnen Sie sich etwas Erfreuliches! Nennen Sie mich Solange!« »Haben Sie Kinder?«
»Vincent und ich haben sechs. Alle mit süßen braunen Augen und lockigem Haar.« »Wie entzückend!« »Es sind Pudel.« Als Divonne, Mr. Groggs Vampirliebste, an uns vorbeigeschwebt war, fragte ich Solange, ob sie wisse, wem Mendenhall jetzt gehörte. »Sie wissen nicht Bescheid?« Vor Staunen spannte sich ihre mit Rouge bedeckte Haut über den Wangenknochen. »Nun, ma chérie, dieses Haus gehört der großen Schauspielerin Theola Faith.« Pepys wankte heran und versuchte, meinen Teller zu nehmen, doch ich brauchte etwas zum Festhalten. Obwohl, wenn die Wände ganz zusammenrückten, würden sie mich ja stützen. Wenn man dem Schicksal ins Auge sieht, bar jeden albernen Aberglaubens… »Froschbeine«, sagte Solange. In der Annahme, sie biete mir etwas zu essen an, zuckte ich nun zurück. »Der Butlerrr, er geht wie ein Frosch.« Solange sah zu, wie Pepys den Raum durchquerte. »Ich frage ich, ob er wohl schon hier war, als die hinreißende Theola Faith das Anwesen von einem ihrer Liebhaber geschenkt bekam. Von dem Regisseur des Films, der hier gedreht wurde – sie spielte dariiin eine Tanzkönigin, die mit einem achtzigjährigen komme horrible verheiratet ist, dessen Ohr von einerrr der Federn ihres Tanzfächers durchbohrt wird.« »Dann ist dies tatsächlich Villa Melancholie.« Im Zimmer herrschte plötzlich eine Stille, als hätte jemand eine katastrophale Prognose für den Aktienmarkt abgegeben. Doch die Gruppe starrte nicht mich an. Bingo stand abseits und hielt ein Buch hoch. Der Titel hob sich grell von dem rot-schwarzen Einband ab: Monster Mommy.
»In letzter Zeit irgendwelche guten Bücher gelesen?« Wenn das junge Genie spricht, sind die Leute ganz Ohr. Man hätte einen Pappteller fallen hören können, bevor seine Mutter in einem Wirbelwind aus kürbisfarbenem Polyester das Zimmer durchquerte. »Bingo, Schatz! Schlag’ diesen Müll nicht auf!« »Schsch!« ging es durch die Ränge. Die Tür öffnete sich. War dies Theola Faith, die nur auf das Stichwort gewartet hatte? Meine Cousine Vanessa betrat das Zimmer. Zumindest dachte ich das einen schwindelerregenden Moment lang. Gott sei Dank täuschten mich meine Augen. Die anmutige Schöne mit dem goldbraunen Haar, den sherryfarbenen Augen und dem herrlichen Teint war nicht meine Cousine Nemesis. Sie glich ihr nur so sehr, daß beinahe kein Unterschied mehr festzustellen war. Ich konnte mich nicht rühren. Ich konnte nicht mal in Bens Arme sinken, weil er irgendwo hinter mir war, vier zu weit weg, um mich auffangen zu können. »Ladies und Gentlemen, bitte verzeihen Sie, daß ich Sie habe warten lassen.« Der Vanessa-Klon durchquerte geschmeidig und elegant das Zimmer, ihr schwarzes Strickkleid schmiegte sich um ihre makellose Figur. Ein Chor stummer Antworten. Pepys schien unwillig, das Zimmer zu verlassen. Jeffries, deren Rock sich aufplusterte wie ein Staubwedel, stellte sich auf die Zehenspitzen, packte ihn am Ohr und führte ihn zur Tür hinaus. Nachdem sie stolz unter dem Porträt von Cat Cadaver Position bezogen hatte, fuhr die Neuankömmlingen mit rauchiger Stimme fort: »Ich bin das Mange-Mitglied, das beauftragt wurde, die Befragungsprozedur durchzuführen. Nach dieser wird entschieden, wer von Ihnen mit der Einladung beehrt wird, der Mange-Gesellschaft beizutreten.« Ich sah, wie Ernestine Hoffman sich an Sohn Bingos Haar zu schaffen machte und bekam auch sein begleitendes
Stirnrunzeln mit. Jim Grogg, der an seinem Charlie-ChaplinBärtchen herumzupfte, war bereits zwei Nummern kleiner geworden. Seine Dame auf dem Sofa stellte sich tot. Der Comte pflückte zerstreut Silbermünzen aus dem Haar seiner Frau. Ich spürte Bens Schatten. Ich erkannte sein Atmen. »Ich bin Valicia X.« Die Mange-Dame befingerte die Perlen um ihren perlmuttfarbenen Hals. »Tut mir leid, der Nachname wird nicht genannt. Sie werden sicher die Notwendigkeit verstehen, solche Informationen streng geheimzuhalten. Und ich verlasse mich darauf, daß selbst mein Vorname nicht über die Schwelle dieses Zimmers dringt.« Valicia! Die Ähnlichkeit mit dem gefürchteten Namen meiner Cousine war beängstigend. »Ein besonderes Willkommen den Gatten und«, – ein LipglossLächeln für Ernestine Hoffman – »Müttern. Habe ich jemanden unberücksichtigt gelassen?« Die vampirhafte Divonne öffnete die Augen. »Ich bin sein unbedeutender Anhang«, sagte sie und zeigte matt auf Jim Grogg. Valicia X lächelte, ohne die Lippen zu verziehen. Sie hätte für eine Modezeitschrift posieren und den Kamin samt CatCadaver-Porträt als neckischen Hintergrund benutzen können. Hätte ich Umstandskleidung getragen, dann hätte ich wenigstens demonstrieren können, daß ich schwanger war. Solange hatte erkannt, daß ich mich für zwei anzog, aber Vanessa… Valicia X würde eine Schwangerschaft niemals als beachtenswerte Entschuldigung für eine Gewichtszunahme akzeptieren. Sie beschrieb das Programm für die nächsten drei Tage. Keine formellen Mahlzeiten bis auf ein abendliches Barbecue im Freien, übermorgen, am 4. Juli, und ein Abschiedsessen, von den Kandidaten selbst zubereitet, erst danach sollte der Name des Auserwählten verkündet werden.
Ansonsten würden Jeffries und Pepys Buffet-Mahlzeiten servieren. Die Zeiten sollten noch an der Tür des Speisezimmers angeschlagen werden. Mange-Kandidaten waren von der Teilnahme an sämtlichen Aktivitäten, die mit Kochen zu tun hatten, ausgeschlossen, es sei denn, sie erhielten spezielle Anweisungen. Ebensowenig war es ihnen gestattet, die Insel zu verlassen. Die anderen durften es, wenn Pepys verfügbar war, um das Motorboot zu steuern. »Und nun, liebe Mange-Kandidaten«, – Gaslicht ließ ihr üppiges Haar schimmern und streichelte die perfekten Wangenknochen –, »versammeln wir uns zu unserer ersten Sitzung.« In dem nun folgenden allgemeinen Aufbruch fiel mein Blick auf Bens Ärmel. Ich würde später versuchen, ihm seine Meinung über Valicia X zu entlocken, obwohl sein Urteil nicht viel wert war, wenn man bedachte, daß er sie als Mange sah, nicht als Frau. Ich drehte mich zu ihm um, bereit, ihn in meine Liebe – wenn schon nicht in meine Arme – einzuhüllen und ihm flüsternd Glück zu wünschen, als Pepys hereinkam, mit arg zitternden Händen. Auf dem Antlitz des wandelnden Leichnams loderte das Feuer der Selbstgerechtigkeit. »Ms. Valicia, es ist nicht angenehm für mich, aber ich kenne meine Pflichten. Ich muß Ihnen einen furchtbaren Verstoß zur Kenntnis bringen!« Jemand hielt den Atem an. O nein! Hier kam es – die Enthüllung von Bens verspäteter Ankunft. Jetzt konnte ich meinen Liebsten nicht mehr ansehen. Es war alles meine Schuld, weil ich diese verdammten Reiseschecks verloren hatte. Sie wandte dem knochigen Butler ihr klassisch schönes Gesicht zu. Bingo stürzte zu dem Teller mit den Hors d’œuvres und schob sich Unmengen davon in den Mund.
»Was ist denn, Pepys?« erkundigte sich Valicia. Er steigerte die Panik bis ins Unendliche, ehe er antwortete. »Ich brachte gerade Gepäck nach oben, als das hier aus einer der Taschen fiel.« Eine Packung mit weißem Pulver baumelte von seinen Fingern herab wie eine tote Ratte an ihrem Schwanz. Ein Keuchen ließ den Raum erbeben. Womit hatten wir es hier zu tun? Heroin? Kokain? Valicia glitt zu ihm hinüber, nahm die Plastiktüte aus den hämischen Klauen ihres Getreuen, tauchte elegant einen Finger hinein, führte ihn an ihre glänzenden Lippen und verkündete: »Wie ich vermutet habe. Backpulver.« Völlig entsetztes Schweigen. Ein Schnipp-Schnapp ihrer Finger. »Aus wessen Tasche fiel es, Pepys?« »Aus meiner.« Jim Grogg trat vor. »Verdammt, ich wußte, daß es gegen die Regeln verstößt, irgendwelche illegalen Substanzen mitzubringen, aber ich dachte mir, welche Chance habe ich schon, der Zulieferer einer Fluggesellschaft, gegen einen Haufen berühmter Köche? Deshalb beschloß ich, meine Chancen zu erhöhen. Schätze, das bedeutet, ich bin draußen, stimmt’s?« Valicia X ließ die Packung in Pepys Knochenfinger fallen, dann bedeutete sie ihm, daß er gehen solle. Während sich die Tür schloß, sagte sie: »Mr. Grogg, jeder einzelne Kandidat in diesem Zimmer wurde ausgewählt, weil er oder sie nicht in das normale Raster paßt. Sie hätten die gleichen Chancen gehabt. Wie die Dinge stehen, können Sie heute nacht hierbleiben und sich morgen noch am Frühstücksbuffet bedienen, bevor sie dann schleunigst von hier verschwinden.« »Lady, wenn ich ein Eis am Stiel dabeihätte, würde ich es Ihnen in den… die Nase rammen.« Mit flatterndem Haar schwebte Divonne zu Mr. Grogg hinüber und drückte seinen
Kopf an ihren nicht existierenden Busen. »Komm her, Babylein. Es hätte dir doch sowieso keinen Spaß gemacht, ein alberner alter Mange zu sein.« Sein Schluchzen war herzzerreißend. Dies war nicht der Augenblick für Triumphgefühle, weil die Axt nicht auf einen näheren, lieberen Menschen niedergesaust war. Endlich sah ich Ben an. In seinen Augen spiegelte sich ein grenzenloses Staunen. Er starrte zu Valicia hinüber, als sei sie eine Erscheinung. Sofort vergaß ich die Nöte Mr. Groggs. Mit dem sicheren, unfehlbaren Instinkt einer Ehefrau wußte ich, daß Ben so dastand, seit sie den Raum betreten hatte. Was noch entsetzlicher war, in diesem Moment warf Valicia X zufällig einen Blick auf meinen Mann, den ich als meinen Ehemann betrachtete. Sein Staunen ließ sie erstarren. Ihr Atem stockte… ihr Herzschlag pochte mir in den Ohren. Und mich durchfuhr messerscharf ein Wiedererkennen. O Gott, wie gut ich mich an dieses Gefühl erinnerte. Das Gefühl, daß ich knietief in Wolken watete, an jenem Tag, als ich den Mann von Eligibility Escorts zum ersten Mal sah. Irgendwie, durch irgendein Mittel würde ich ihn zurückerobern. Nicht erst morgen, ich würde es schon heute abend tun.
Die Ehezerstörerin Valicia zog sich mit den Mange-Kandidaten in den geheimen Sitzungsraum zurück. Ben, Bingo, Lois Brown und der Comte gingen in gespanntem, demütigem Schweigen mit, augenscheinlich voller Ehrfurcht, weil sie den ersten Schritt im Mange-Wettbewerb unternahmen. Was den armen Jim Grogg betraf, wurde er von Divonne von der Bühne geschleift, womit sich erwies, daß sie aus Fleisch und Blut bestand. Ich hoffte von ganzem gebrochenen Herzen, daß sie ihn in den Hals biß oder was immer dazu nötig war, ihr Schlafzimmer in einen Ort der Zuflucht zu verwandeln. Mein eigenes Elend bedeutete nicht, daß auch andere leiden sollten. Ja, ich fing sogar schon an, mich zu fragen, ob ich die Nummer der gekränkten Ehefrau nicht vielleicht übertrieben hatte. Unsicherheit hatte Mr. Grogg zu Fall gebracht, und es war nicht zu leugnen, daß ich ebenfalls anfällig für diesen Gefühlszustand war. Ellie, hier spricht dein Ich. Willst du wirklich, daß Ben zu der Sorte Mann gehört, dessen Blut nicht zu kochen anfängt, wenn eine Frau den Herd andreht? Ja! Er kann hinsehen, aber nicht glotzen. Oh, verdammt, ich kenne den Spruch! Wenn es hart auf hart kommt, bleibt die starke Frau gelassen. Ich legte mein Lächeln an, glättete meinen Matrosenkragen und lehnte die Cashewkerne ab, die Solange mir auf einem Teller anbot. Kein Gramm zusätzliches Gewicht, bis ich in Umstandskleidung schlüpfen konnte. »Hat jemand Lust auf eine Partie Bridge?« Ernestine Hoffman biß sich fürchterlich mit der rubinroten Lampe, die neben ihr stand. Aber mir gefiel ihre glockenförmige Hose und wie sie
durch ihre Puddingschüsselfrisur der Mode eine lange Nase zeigte. Dies war mal eine Frau, die es nicht als ein gesellschaftliches Erfordernis betrachtete, mit dem attraktivsten Mann im Raum zu flirten. »Iiich biiin einverstanden, und was ist mit Ihnen, ma pétite!« Mit einem kirschroten Nagel tippte Solange mir auf die Wange. »Ich spiele nur passiv mit, indem ich zuhöre.« »Und was denken Sie, monsieur, der Sie da so still unter der großen Lampe mit dem Schirm wie ein chapeau de grandmère sitzen?« Sie ging zu Henderson Brown hinüber, aber nicht, als wäre sie auf Männerfang. Ihre schwarzweiße Eleganz war nicht darauf angewiesen, ihre Sinnlichkeit wie einen Seidenschal um den Hals zu tragen. Nicht, daß Mr. Brown überhaupt Notiz davon genommen hätte, vermutlich wäre er noch nicht einmal aufmerksam geworden, wenn sie sich ihm auf den Schoß geworfen und angefangen hätte, seine Weste aufzuknöpfen. War es bloße Phantasie, oder war er tatsächlich grauer geworden, seit ich ihn das erstemal angeschaut hatte? »Verzeihung.« Bedrückt griff er sich an die Knie. »Ich spiele keine Kartenspiele.« Sein Blick wanderte zu einer Wanduhr, deren Zifferblatt hölzerne Ranken in Form eines Vogelhauses umrahmten. Er zuckte wie von einer Tarantel gestochen zusammen, als ein Kuckuck heraussprang und zehnmal seinen Spruch hersagte. Ich fühlte mich an Hyacinths Vogelkäfigohrringe erinnert, die gegen ihren Hals schlugen, als sie die düsteren Prophezeiungen Chantals wiedergab: Ein Gekritzel nicht an der Wand… sondern in einem Buch. Ernestine hatte das Exemplar von Monster Mommy genommen und blätterte es jetzt durch, ihre Miene drückte grimmige Anspannung aus. Mr. Brown runzelte die Brauen. »Was passiert in dieser Sitzung?«
Der Drang, ihn in die Ecke zu schicken, war groß. Seine Sorgen waren reinstes Popcorn im Vergleich zu denen anderer Menschen. Die Comtesse tätschelte seinen Arm. »Nur ruhig, mein Täubchen! Die bonne femme spricht über die Anorrrdnung der Kirschen auf dem gâteau. Sie legt keine in den Nabel eines Mannes, während sie den Tanz der sieben Schleier tanzt.« Er stemmte sich aus seinem Sessel hoch. »Meine Lois war immer eine gute Frau, sie ging regelmäßig in die Kirche. Sie ist nie zu Tupperware-Partys gegangen. Warum hat sie plötzlich dieser Wahn erfaßt? Ich habe keine andere Frau mehr angesehen, seit dem Tag, an dem ich zu Smart Mart ging, um für ein anderes Mädchen einen Verlobungsring zu kaufen. Lois war die Verkäuferin. Sie lächelte, und das war’s. Sechs Jahre darauf heirateten wir.« »Sie alter Romantiker!« Ernestine blätterte weiter in Monster Mommy. »Ich habe ihr alles gegeben, unter anderem sieben Kinder.« »Très bon!« Solange ging zum Klavier und kam wieder zurück. Mr. Brown stand unter dem Porträt von Cat Cadaver und schien genauso unter Leichenstarre zu leiden. »Ich habe mir immer Mühe gegeben, ihr meine Dankbarkeit zu zeigen. Wenn sie den Wäscheschrank putzte, ging ich hin, um es mir anzusehen. Ich habe ihr immer gesagt, sie sei die beste Köchin in der ganzen Stadt. Warum reichte ihr das nicht? Warum muß sie so einer verdammten, verzeihen Sie meine Ausdrucksweise«, – ein vergebendes Lächeln von Solange –, »Geheimgesellschaft beitreten?« Er schlug mit der Faust in seine Handfläche. »Diese Frau, Valicia X – ich traue ihr nicht ein Stück über den Weg.« Bei näherer Überlegung mochte ich den Mann. »Frauen haben Wünsche«, sagte ich traurig. »Damit meine ich nicht, daß wir einmal wöchentlich den Wunsch verspüren, nackt durch ein
Kaufhaus zu laufen oder ein Stück rohes Fleisch zu kauen, diese Wünsche finden sich nur nicht immer in einem Wäscheschrank wieder.« Meine Trostworte waren an die muffige Luft verschwendet. »Ich begreife nicht, wie Lois sich von alldem so beeindrucken lassen kann.« Sein Arm schoß zur Seite und veranlaßte einen Kerzenständer zu einem Steptanz auf dem Kaminsims. Ernestine schaute auf und markierte die Stelle in ihrem Buch mit dem Finger. »Als mein Bingo hier hereinkam, sagte er, ›Mom, dieses Zimmer sieht aus, als warte es darauf, jemanden zu ermorden‹.« »Mais oui, war das nicht auch so miiit diesem bösen Butler in Villa Melancholie? Wurde er nicht mit durchbohrtem Herzen auf genau jenem Fenster-embrasure gefunden?« Die schwarzen Augen der Comtesse blitzten, als sie auf die roten Samtvorhänge zeigte. Ein erschrockenes Würgen von Ernestine erklang. In plötzlich unvorteilhafter Ähnlichkeit zu ihrem Sohn Bingo blähte sie die prallen Wangen auf. Aber man behaupte nicht, unser Gespräch sei daran schuld gewesen. »Gütiger Gott, dieses scheußliche Buch!« Sie durchlitt noch mehrere andere Seiten von Monster Mommy, quergelesen. »Als Kind machte Mary Faith die ›Qual der Verdammnis ‹ durch – ihre eigenen Worte – , als sie von dieser perversen Frau aufgezogen wurde. Hier erzählt sie, wie sie jahrelang dachte, Begita, das Dienstmädchen, sei ihre Mutter. Bis zu ihrem elften Geburtstag mußte sie Theola Faith mit Miss Faith anreden, erst dann wurde ihr als Geburtstagsgeschenk erlaubt, sie Theola zu nennen.« »Haben sie lange Zeit hier gelebt?« Interessiert hockte sich Solange auf die Sofalehne, ihr schwarzer Rock streifte ihre Knöchel. Blättergeraschel. Ernestine kreuzte die Kürbisbeine und holte Luft, wodurch ein Knopf von ihrer Jacke absprang. »›Meine
Mutter beschwört, daß Mendenhall ihr von Richard Greenburgh zum Geschenk gemacht wurde, der es anläßlich der Dreharbeiten zu Villa Melancholie erwarb. Bei ihren seltenen Ausflügen zu dem Haus weigerte sie sich jedesmal, sich von mir begleiten zu lassen. Ihr Grund? Sie hatte Angst, daß ich krank würde, weil ich mich amüsierte! An meiner Stelle durfte Vanilla, ihr Spaniel, mitkommen, in meiner Kleidung. Meine Bitten und Tränen rührten sie überhaupt nicht. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie ihren silberblonden Kopf zurückwarf und dieses irre Lachen lachte‹.« »Mon Dieu!« Solange legte ihre Hände an die Stirn. »Eine teuflische Frau! Wenn dieses Theola Faith jetzt hier im Haus wäre, würde ich sie mit diesen bloßen Händen ermorrrden!« Henderson Brown richtete sich ruckartig von 1,75 m zu 1,95 m auf. »Lois gehört nicht an diesen bösen Ort. Ich werde die Kinder anrufen und ihre Meinung einholen.« »Nicht von hier aus, o nein.« Ernestine stoppte seinen raschen Abgang zur Tür. »Als ich Frank anrufen wollte, sagte mir diese Jeffries, daß es kein Telefon gibt.« »Verdammt!« Ohne ein Wort der Entschuldigung stürzte Mr. Brown aus dem Zimmer. Vielleicht kommst du schon zu spät, John Wayne, dachte ich. Ganz ohne Zweifel hast du dir alle Mühe gegeben, deine Frau dazu zu erziehen, dir zur Ehre zu gereichen. Aber irgendwann im Laufe der Jahre hast du versehentlich die Haustür offengelassen. War ich des Vergehens schuldig, Bens Fußknöchel aneinandergekettet zu haben? War es unserer Ehe bestimmt, ein Geschlurfe auf drei Beinen zu werden? Würde die Ankunft des Babys die Situation verbessern oder verschlimmern? Diese und andere weltbewegende Fragen mußten warten. Wie Tante Lulu gern sagt: Wir leben nicht in einer Vakuumröhre. »Arrrmer kleiner Monsieur Brown!« Solange tröstete sich mit einem Cashewkern.
»Arme kleine Mary!« Ernestine, der das Haar in Büscheln vom Kopf abstand und der inzwischen zwei weitere Knöpfe an ihrer Kürbisjacke fehlten, hatte Monster Mommy halb durch. »Mein Frank würde mich umbringen, wenn ich zuließe, daß Bingo das hier in die Hände kriegt! Wenn ich ihn auch nicht vom Herd weglasse, ehe er nicht mit seinen Übungen fertig ist, na und! Wenn ich ihm auch sage, daß Baseball was für Kinder ist, die paté defoie de volaille nicht von choufard unterscheiden können, na und! Ein Genie zu sein, ist eine Chance, die den meisten Menschen nicht gegeben ist. Ließ Mozarts Mutter Wolfgang etwa lauter Dummheiten machen?« Ein Seufzer entrang sich dem mütterlichen Busen. »Mein Bingo, er ist nie zur Schule gegangen, wenn ich ihn nicht gefahren habe. Dieser arme Wurm« – das Geräusch aufgeregt umgeblätterter Seiten –, »sie wird Gott weiß wie viele Meilen weit zu irgend so einer verrückten Grande Dame am Ende der Welt geschickt. Hören Sie zu: ›Im zarten Alter von neun oder zehn wurde ich zu Guinevere DeVour nach Tottery Towers geschickt. Die Art ihrer Beziehung zu meiner Mutter ist bis zum heutigen Tag ein Geheimnis. Damals wußte ich nur, daß Theola Faith mich aus dem Apartment heraushaben wollte, weil sie eine Orgie für über fünfzig Leute geplant hatte und außer sich war, weil sie sich entscheiden mußte, was sie nicht anziehen wollte‹.« »Très witzig!« Solange ging zu den Samtvorhängen. »Gestatten Sie, daß ich ein Fenster öffne. Ich bin völlig erhitzt.« Ihr Rouge stand von ihren Wangen ab wie Blatternarben, und meine Kräfte schwanden ebenfalls dahin. Ich zog meine Schuhe aus und legte meine geschwollenen Füße auf das brokatbezogene Sofa. »Lesen Sie weiter, Ernestine.« »›Begita, das Dienstmädchen, weinte und bettelte für mich. Sie schwor, sie werde mich in einem Schrank einsperren, damit ich
nicht im Weg war, doch Theola wollte nichts davon hören. Sie hatte furchtbare Angst, ich würde irgendeinem großen Tier aus Hollywood auffallen. Die Möglichkeit, mir könnte die Rolle der Little Lucy Lamplight in ihrem damaligen Film, While the Mouse is Away, angeboten werden, machte sie geradezu neurotisch. Spätabends wurde ich in einen Bus geschoben, und man drückte mir die Adresse von Guinevere DeVour in die schüchterne Hand mit der Anweisung, nicht vor Ablauf von zwei Wochen nach Hause zu kommen – es sei denn, ich wollte, daß mein Wellensittich künftig im Freien schliefe. Theola drohte mir noch andere Dinge an, falls ich im Bus mit jemandem sprach, sei es auch nur, um nach dem Weg zu fragen. Vierundzwanzig Stunden später stand ich, ein verängstigtes Kind, auf den Stufen von Tottery Towers. Keine Antwort auf mein panisches Klopfen! War ich denn total verlassen? In heller Verzweiflung drückte ich gegen die Tür, entdeckte, daß sie unverschlossen war und fand mich in einer alptraumhaften Eingangshalle wieder. Was ich für ungewaschene Vorhänge gehalten hatte, waren riesige Spinnweben. Tierköpfe grinsten zur Begrüßung von den Wänden herüber. Ich kämpfte gegen die Panik an, als Guinevere DeVour auf der Treppe erschien, in ein leichentuchartiges Nachthemd gehüllt, und einen durchdringenden Schrei ausstieße‹.« »Mon Dieu!« Solange sank in den Sessel am Fenster. »Ich kann dieses Ferkelgekreisch direkt hören.« Ernestine ließ Monster Mommy in ihren Schoß fallen. »Frank sagt auch immer, daß ich gut vorlese.« »Ich glaube, das war ein echter Schrei«, unterbrach ich sie. »Er kam von oben.« »Dieserrr unglückliche Monsieur Brown. Wir sind kriminell, daß wir ihn so allein ziehen lassen, wo er bis zur Nase in Problemen steckt. Vielleicht ist errr aus dem Fenster gehüft.
Nein, ma cherie.« Solange drückte mich wieder hinunter. »Sie bleiben hier. Madame Hoffman und ich gehen nachsehen.« Und wums! war ich allein in diesem teuflischen roten Zimmer. Bestimmt war nichts allzu Furchtbares passiert, sonst wären draußen in der Halle Schritte zu hören. Auch wenn die MangeKandidaten und ihre sinnliche Anführerin außer Hörweite waren, Pepys und Jeffries hätten es nicht versäumt, auf jedwede Unbotmäßigkeit hin herbeizueilen. Vielleicht war Mr. Brown auf eine Maus getreten. Ich ging zum Getränketisch hinüber, goß mir einen Schluck Rotwein ein und führte ihn schon an die Lippen, als ich doch noch zur Vernunft kam. Seit ich schwanger war, hatte ich keinen Tropfen von Getränken angerührt, die stärker waren als Tee. Und ich würde nicht zulassen, daß dieses Haus mich in einen Gesundheits-Glücksspieler verwandelte. Eine Glockenschnur hing zu meiner Linken an der Wand; gebieterisch zog ich daran. Die Minuten verstrichen. Der Kuckuck schoß aus der Uhr und zählte bis elf; die winzige Tür klappte wieder zu. Mir war auch nach Dunkelheit und Schlaf zumute. »Sie haben geläutet.« Jeffries schob sich ins Zimmer, die Rüschenhaube hing ihr in die Augenbrauen, die Mundwinkel bis aufs Kinn hinunter. Am besten erwähnte ich den Schrei gar nicht, für den Fall, daß sie es als Kritik an ihrer Haushaltsführung auffaßte. »Hallo!« sagte ich überschwenglich. »Was wünschen Sie?« »Nur ein Glas Wasser, aber wenn es zuviel Mühe macht…« »Kann sein, kann auch nicht sein. Mein Therapeut sagt immer, ich soll keine übereilten Entscheidungen treffen. Jetzt wissen Sie auch den Grund, warum Pepys immer noch am Leben ist. Der Mann ist zu drei Vierteln verrückt und zu einem Viertel wahnsinnig. Er haßt diese Frau.«
Ein Mann, der nicht dem Zauber von Valicia X erlag, war ein Mann nach meinem Herzen. »Gestern nacht hat er eine Schnecke in ihrem Bett versteckt.« »Bravo!« Da wir uns auf dem besten Weg zu einem gewissen höflichen Einvernehmen befanden, beschloß ich, einen Vorstoß zu wagen. »Jeffries, kommt Theola Faith oft nach Mendenhall?« Ihr Gesicht war wieder eingefroren. Ich hatte die Grenze überschritten, die ihr Therapeut gezogen hatte. »Ich werde jetzt mal gehen und über das Glas Wasser nachdenken.« Wieder allein, erstickte ich fast an der Stille. Das Mahagoni, die rote Tapete und das Bommelvelours waren bedrückend. Ich mag Zimmer nicht, die eine Rolle spielen, und dieses tat immer noch wie eine Filmkulisse. Als ich mich auf den einzigen Sessel sinken ließ, der bequem wirkte, kam ich mir vor, als versinke ich in einem Treibsand aus Polstern. Zu allem Übel saß ich auch noch mit dem Rücken zur Tür. Die Zeit fiel von mir ab wie die Kleidung einer Stripperin. Ich war wieder Klein Ellie bei jenem ersten schicksalhaften Besuch auf Merlins Schloß. Tante Sybil hatte mich mit der Anweisung verlassen, stillzusitzen und kein Glied zu regen, im Grunde genommen keine schwierige Aufgabe, bis ich die Tür des Salons hinter mir aufschwingen hörte. Meine stämmigen Beine strampelten in dem vergeblichen Versuch, den Fußboden zu erreichen, während der Rest von mir immer tiefer in das bodenlose Loch sank, wo sich eigentlich die Sprungfedern befinden sollten. Wieder im Hier und Jetzt, gewann ich meinen Mut zurück, indem ich mich im stillen ermahnte, daß ich dem Baby angst machte. »Ahoi!« Ein rauhes Flüstern. Die Tür hatte sich nicht geöffnet. Da meine Ohren gespitzt waren, hätte ich es gehört.
»Jemand da, Kameraden?« Ich hörte auf zu atmen. Die Stimme kam vom Fenster her – die Comtesse hatte es als Einladung an den Arm und das Knie, die jetzt sichtbar wurden, offengelassen. »Das erste verflixte Quentchen Glück an diesem Tag.« Erleichterung überkam mich. Wer es auch sein mochte, es war nicht der Feind. Dieser Tonfall war eindeutig britisch. Als ich mich endlich auf die Füße gekämpft hatte, saß eine stämmige weißhaarige Frau mit Bernhardinergesicht, die einen Blumenmädchenhut und – um das Maß voll zu machen – meinen Morgenmantel trug, auf der Fensterbank. »Mist!« Sie verzog enttäuscht das Gesicht und tapste zum Sofa. »Wußte ja, daß es dumm ist, noch zu hoffen, aber so wurde Marjorie Rumpson nun mal erzogen. Nie jammern oder sich geschlagen geben. Wäre ein Wunder gewesen, wenn ich das Haus unbemerkt hätte betreten können. Ach, was soll’s! Die Welt wird auch nicht ärmer, wenn ich keine Mange werde.« »Sie sind eine Kandidatin?« Als ich dicht an sie heranging, schnappte ich den unverkennbaren Duft von Eau de Fluß auf. Der schwarze Hut nickte; eine Träne lief an Marjorie Rumpsons Backe hinunter. »Mein Mann auch. Haben Sie sich in der Zeit geirrt?« »Nie und nimmer! Der Tag, die Stunde sind unauslöschlich in mein Herz eingegraben. Aber heute morgen hatte meine liebe alte Mum einen ihrer eigenartigen Anfälle, und ich brachte es nicht übers Herz, sie allein zu lassen, bis der Doktor kam und sagte, es sei nur der Backpflaumensaft. Die schlaue Alte hatte ihn in den Blumentopf neben ihrem Bett gekippt.« »Ihre Mutter muß in den Jahren sein.« »Siebenundneunzig.« »Bemerkenswert. Kein Wunder, daß Sie so fit sind.«
»Ich hätte es sonst auch nicht bis hierher geschafft, meine Liebe. Habe mir das Flugzeug eines Freundes geliehen, um von Kanada herüberzufliegen (wir leben da, Mum und ich, seit dreißig Jahren), bin in Chicago gelandet, von da per Anhalter – so ein netter Bursche auf dem Motorrad. Dann, als ich in Mud Creek ankam – « »Sie haben ein Boot gefunden, das Sie übergesetzt hat?« Ich bemerkte, daß ich inzwischen neben ihr saß und ihre Hand hielt. »Ich habe eine Stunde damit vertan, an diverse Türen zu klopfen, bevor ich das einzig Richtige tat: Ich zog mich aus, steckte etwas Wäsche und ein Baumwollkleid in eine Plastiktüte, verstaute mein Gepäck unter einem Baum und schwamm raus ins tiefe Wasser.« »Sie meinen, Sie sind hierher geschwommen?« »Nichts dabei.« »Nackt?« »Nein, Herzchen – so abgebrüht bin ich auch wieder nicht! Ich wollte den Fischchen ja nicht den Appetit aufs Abendessen verderben. Hatte mein Korselett an, die Tüte war am Träger des Büstenhalters befestigt.« Ich drückte ihre Hand. »Sie hätten ertrinken oder…« – fast sagte ich »schlimmer noch« – »von der Küstenwache aufgegriffen werden können.« »Ich sah auf halber Strecke ein irgendwie offizielles Schiff und ergriff deshalb die Vorsichtsmaßregel, ein Stück unter Wasser zu schwimmen. Ich befürchte aber, daß ich nicht mehr so in Form bin wie damals, als ich mit meinem Cousin George für die Durchquerung des Ärmelkanals trainierte. Wohnte mein Leben lang am Wasser. In Bournemouth, als wir noch in England lebten.« »Gott sei Dank haben Sie es geschafft.« Ich zupfte das plattgedrückte Band an ihrem Hut zurecht, vermied dabei aber,
den Veloursmorgenmantel anzusehen, den sie so hübsch ausfüllte. »Keine unnötige Angst! Nur eine kleinere Katastrophe – habe auf dem Weg die Plastiktüte verloren. Sie können sich vorstellen, daß ich mich wie ein Schneekönig freute, als ich ein Bootshaus und darin Koffer mit alten Sachen fand. Der Schaden der Heilsarmee ist mein Gewinn. In keines der Kleider oder Hemden paßte ich auch nur halbwegs hinein, aber das hier« – sie strich das Verlours über ihren großformatigen Knien glatt – »ist besser, als in meinem Alles-in-einem wie Neptun aus den Fluten emporzusteigen.« »Ganz bestimmt!« Ersticktes Husten. »Und diese Gummisandaletten machen den Aufzug perfekt. Darf ich fragen, weshalb Sie durchs Fenster reingekommen sind?« Marjorie St. Bernhards Backen zitterten. »Saublöd, ich weiß. Aber ich dachte, wenn ich unbemerkt ins Haus gelange, kann ich irgendwie vertuschen, daß ich zu spät komme. Habe mir nie mit dem Gedanken geschmeichelt, ich sei die einzige Kandidatin, und setzte mir daher diese Idee in meine alberne alte Birne, es gäbe einen Begrüßungscocktail. Alle zu benebelt, um Köpfe zu zählen. Ein kleines bißchen Glück, und ich könnte unbemerkt ins Haus schlüpfen und so tun, als sei ich schon die ganze Zeit anwesend. Zu bescheiden, um mich in den Vordergrund zu drängen.« Sie zog ein Papiertuch aus der Schachtel, die ich auf die Armlehne des Sofas gestellt hatte, und schneuzte sich. »Es gibt keine Party, nicht wahr?« Das war ja schlimmer, als einem Kind zu sagen, daß es den Weihnachtsmann nicht gibt. Mit einem Kloß im Hals berichtete ich ihr von der gerade stattfindenden Sitzung, in einem Geheimzimmer, unter der Leitung einer gewissen Valicia X. Unmöglich, hinter dem Berg damit zu halten, daß die Anzahl der Kandidaten nicht ausreichte, um Hoffnungen auf eine
Verwechslung zu rechtfertigen. Dann war ich an der Reihe, nach einem Papiertuch zu greifen. »Tut mir leid! In letzter Zeit bin ich etwas sensibel.« Wie um das zu unterstreichen, sprang ich vom Sofa auf, als sich die Tür öffnete. Ich hatte Jeffries und meine Bitte um ein Glas Wasser völlig vergessen. Doch, wie sich herausstellte, war dies die Rückkehr der Kundschafter. Ernestine Hoffman und die Comtesse Solange waren so lange weggewesen, daß wir uns vielleicht noch einmal hätten bekannt machen sollen. Statt dessen machte ich mich daran, meine neue Freundin vorzustellen. »Dies ist Ms….« »Miss Marjorie Rumpson.« Sie reckte das Kinn vor, zog ihren Hut gerade und stand auf. »Noch eine Kandidatin?« Ernestine wirkte nicht sehr erbaut. »Verzeihen Sie uns, daß wir nicht da waren, um Sie zu begrüßen.« Solange streckte eine beringte Hand aus. »Mais Madame Hoffman und ich waren auf der Suche nach dem Schreihals.« Miss Rumpson sah verwirrt aus. »Wir fanden nichts Außergewöhnliches und traten schon den Rückweg an, da wurden wir getrennt.« »Ich ging ins Bad und konnte nicht mehr heraus!« Ernestines gerötetes Gesicht biß sich fürchterlich mit ihrem Kürbisoutfit. Da mir die Schrecken des Flugzeugs wieder einfielen, versicherte ich ihr, daß ich unter demselben Syndrom litt. Die stromlinienförmige Eleganz der Comtesse kam neben Miss Rumpsons unkonventionellem Aufzug äußerst vorteilhaft zur Geltung. »Mes amies, ich habe eine Ahnung, was den Schrei betrifft. Ich glaubeee, Monsieur Groff und Mademoiselle Divonne machen grand amour, damit sie diese alberne Sache mit dem Backpulver vergessen!«
Miss Rumpson sah noch verwirrter aus, deshalb erklärte ich den anderen schnell, in welcher Zwangslage sie sich befand. Die Reaktionen waren unterschiedlich. Ernestine strömte nicht gerade über vor Mitgefühl. Wie schade, meinte sie, doch die Dame hätte das Boot in jedem Falle verpaßt. Solange hingegen ging um Miss Rumpson herum, lockerte das Oberteil des Morgenmantels über dem Gürtel, zupfte an dem Kragen und klopfte ihr auf die Schulter. »Ich würde sagen, diese bonne femme, die den Fluß gemeistert hat, sollte sich durch eine kleine Schwiiindelei den Zutritt zu diesem Haus verschaffen und die Lösung für ihr Problem finden. Dies iiist ihre Geschichte: Sie trifft pünktlich ein – macht klopf-klopf an der Tür, aber niemand kommt. Sie geht hinein – Herz macht bum-bum – und will sagen ›Hier bin ich!‹ Wo sind die anderen? Sie findet die Toilette, will sich frischmachen und ist eingesperrt.« Miss Rumpson zitterte vom Kopf bis zu den Sandaletten vor Aufregung. »Klingt unsinnig genug, um zu funktionieren«, lobte ich. Ernestine hob Monster Mommy vom Boden auf, wohin es vom Sofa gerutscht sein mußte, und legte es auf einen Tisch. »Sie können mir glauben, ich komme nicht gern als hartherzige Hannah daher, aber ich habe doch die Verantwortung, zuerst an meinen Sohn Bingo zu denken. Es ist die wichtigste Aufgabe einer Mutter, das Feuer des Genies in ihrem Sprößling zu schüren. Da Mr. Grogg und jetzt Miss Rumpson aus dem Rennen sind, stehen die Chancen für ihn immer besser.« »Werden Sie bei Jeffries oder Pepys petzen?« fragte ich. »Schsch! Ich höre Schritte.« Solange trieb uns zusammen. »Schnell! Versteckt Marge hinter den Vorhängen!« Ernestine sah genauso überrascht aus wie wir übrigen, weil sie bei der Verschwörung mitmachte.
Es war Jeffries, die mit einem Glas Wasser hereinkam. Ob es ihren Verdacht erregte, wie die roten Samtvorhänge hingen? Würde bis zu ihrem Abgang so viel Zeit vergehen, wie das Holen des Wasserglases gedauert hatte? Sie stand da, die Hände in die Hüften gestemmt, bis mir klar wurde, daß sie darauf wartete, daß ich das Wasser trank. Als ich einen Schluck nahm, rechnete ich halb damit, daß mir langsam der Hals zuwuchs und meine Augen aus den Höhlen quollen, weil die Wirkung des Giftes einsetzte. »Ausgezeichnet!« brachte ich heraus. »Natürliche Kohlensäure. Kommt aus einer Quelle in der Stadt. Wir kriegen morgens unseren Bedarf geliefert.« »Kann ich auch ein Glas haben?« fragte Kavallerist Ernestine. Auftrag erledigt. Sobald Jeffries sich mit finsterem Blick aus dem Zimmer verzogen hatte, kam Miss Rumpson aus ihrem Versteck hervor; rasch erklärten wir ihr, daß es Wahnsinn wäre, ihr Geschick einem Menschen anzuvertrauen, der beim Sturz eines anderen Kandidaten mitgeholfen hatte. »Also meint ihr, Herzchen, es wäre das Klügste, mich gleich der Gnade dieser Valicia X anheimzustellen?« Ich kämpfte gegen das Schaudern, das dieser Name hervorrief, und nickte. »Vorausgesetzt, Sie vergessen Ihre Lügen – Ihren Text nicht.« Erstaunlich, welchen Schick Solange in meinen Morgenmantel gezupft hatte. Wie Miss Rumpsons Wangen durch Ernestines Kürbisjacke zum Blühen gebracht wurden. »Knallrot vor verflixter Angst!« »Unsinn«, sagte ich. Es würde keine leichte Aufgabe sein, das Geheimzimmer ohne die Hilfe von Pepys oder Jeffries zu finden, aber manchmal habe ich einen sechsten Sinn, was Häuser betrifft. Daher einigten wir uns darauf, daß ich mich mit Miss Rumpson aufmachte, während die anderen beiden die Stellung hielten.
Vorwärts und ab in die Halle. »Welch hübsches Gemälde!« Marjorie bummelte vor dem Porträt der alten Lady herum, die gnadenlos durch die Schichten der nachgedunkelten Patina spähte und der Nachwelt ihren Fingerzeig gab. »In einem dunklen Treppenhaus würden Sie ihr nicht begegnen wollen.« Ich trieb meine neue Freundin weiter und durchquerte die im Schatten liegende Halle, als wäre sie der Leicester Square in der Hauptverkehrszeit und wir könnten jederzeit von einem Bus überrollt werden, an dessen Steuer Pepys saß. Befand sich das Geheimzimmer irgendwo in dem weiten Raum jenseits dieser gewundenen Achterbahn von Treppe? Mein Kopf sagte, vielleicht, doch meine Beine – die anfingen, der späten Stunde Tribut zu zollen – stimmten dafür, zunächst im unteren Stockwerk nachzusehen. Mehrere dunkle Korridore zweigten von der Halle ab. Jeder einzelne von ihnen konnte die Vertraulichkeit bieten, die das Mange-Programm verlangte. Der Trick war, nicht in der Küche zu landen. Und in der Suppe. Neben einer Tür war ein Schwarzes Brett befestigt, an dem ein Essensplan und eine Liste der Zimmer angeschlagen waren, die von den Kandidaten und dem unbedeutenden Anhang bewohnt werden sollten – um die Vampirin Divonne zu zitieren. Sollte ich den Türknopf drehen und diese Tür öffnen? Wenn ja, was dann? Im ersten Rausch des Heldentums hatte ich mich nicht auf diesen Moment vorbereitet. Was war, wenn ich nicht nur die Ablehnung von Miss Rumpson heraufbeschwor, sondern auch Schande über Ben brachte? Würde er für meine Mißachtung der geheiligten Mange-Regeln zur Verantwortung gezogen? Konnte ich andererseits der Frau, die willens war, jedes Opfer für ihre betagte Mutter zu bringen, sagen, daß alles umsonst gewesen war? Das Leben, dachte ich traurig, ist voller Wenns, Unds und Abers. Ben würde eben einfach sagen müssen: Bin ich denn der Hüter meiner Frau?
Als ich die Tür öffnete, erwachte ein verlassenes Speisezimmer durch das hereinscheinende Licht der Halle zu schwachem Leben. Hatte man in Amerika eine Vorliebe für großformatige Tische ebenso wie für riesige Betten? Dieser Eichenblock war ideal für die durchschnittliche, entfremdete Familie. Um nach dem Salz zu fragen, wäre die Flüstertüte eines Nachtwächters vonnöten. Dies waren keine Stühle, es waren Throne, und der eiserne Kronleuchter knarrte wie ein Galgen, obendrein warf er zerstückelte Schatten an die Wand. In dem Halbdunkel funkelten sechs riesige Messer drohend an ihrem Ehrenplatz an der Wand. Sicher war es doch kein getrocknetes Blut, was da die rasierklingenscharfe Schneide des größten Messers zierte? Ich wäre noch geblieben, um den Charme der Kavaliersmesser in mich aufzusaugen, doch Marjorie Rumpson atmete schon stoßweise, und ihre braunen Augen erinnerten mich mehr denn je an einen Bernhardiner. Wir gingen einen Korridor hinauf und den nächsten hinunter und öffneten ergebnislos eine Tür nach der anderen. Einmal glaubte ich, eine drittes Paar Füße zu hören, aber die Phantasie spielt einem ja manchmal Streiche. Mit Sicherheit war auch der Duft nach gebratenen Bananen nur ein Produkt meiner Einbildung. Gerade wollte ich Marjorie vorschlagen, zum oberen Stockwerk weiterzuziehen, als ich eine Tür bemerkte, die in die Holztäfelung der Treppenwand eingelassen war. Leicht zu übersehen, denn es gab keine Türklinke, nur eine Fingerrille. »Führ uns, Macduff.« Miss Rumpson keuchte in mein Ohr, als ich die Holztäfelung zur Seite schob und nach einem Lichtschalter tastete. »Sprengt nicht eure Korsettes, noch ist nicht alles verloren!« Sie durchquerte die Halle, erstaunlich leichtfüßig. Das Gaslicht und ihr Blumenmädchenhut verwandelten sie in eine Figur aus dem Variete. Sie hatte Pepys’ Leuchter auf dem Tisch mit der Marmorplatte entdeckt
und kam mit angezündeter Kerze und einem Päckchen Streichhölzer zurück. Ich betrat die innere Treppe in der Gewißheit, daß ich den Verstand verloren hatte und ihn nie wiederfinden würde. Miss Rumpson schob die Tür zu, und wir begannen mit dem Abstieg. Das Geländer war ein durchhängendes Seil, das zwischen zwei Pfosten ganz oben und ganz unten gespannt war. Die Stufen waren so schmal, daß ich nicht über die jeweils folgende hinausblicken konnte, bis ich plötzlich in einem unterirdischen Raum stand. »Heiliger Feuerball«, sagte Miss Rumpson. Genau meine Empfindung. Dies war eine Mischung aus dem alten Kuriositätenladen und Alices Wunderland. So weit der Schein der Kerze reichte, konnten wir handbemalte Lederkoffer und Marmorsäulen, Statuen, Uhren, Seidenschirme, steinerne Gartenbänke und Federfächer sehen… Aber keine Mange-Sitzung. »Tja, meine Liebe, wenn das nicht dem Faß den Boden ausschlägt!« Miss Rumpsons Stimme schlug gegen vergoldete Spiegel, glitt über Truhen-Imitate hinweg und unter schwarzlackierten Tischen hindurch. »Hier unten ist ein Sarg.« Wenn ich nicht so viel Gewicht zugelegt hätte, dann hätte ich mich mit einem Satz in ihre Arme geflüchtet. »W… wo?« Kaum waren die Worte heraus, hätte ich mir wegen meiner Leichtgläubigkeit einen Tritt geben können. Sie mußte mich auf den Arm genommen haben. Falsch. Ich folgte mit dem Blick ihrem ausgestreckten Finger und sah einen Sarg, der in die Lücke zwischen einem viktorianischen Zweisitzer und einer Kommode mit Aufsatz gezwängt war.
Die Schleife an Miss Rumpsons Hut zitterte wie Espenlaub, doch sie erklärte beherzt, wir seien es dem Gesundheitsamt schuldig, eine Überprüfung vorzunehmen. »Na klar.« Ich paßte meine winzigen Schritte den ihren an. Hatte ich bei Divonne richtig gelegen? Ging sie nie ohne ihren Sarg auf Reisen? Hatten sechs Geisterpferde dieses Möbelstück über den Fluß gezogen, oder hatte sie darin gesessen und gerudert? Setzte ich unser Baby auch bestimmt keiner Gefahr aus, indem ich eine Inspektion vornahm? »Soll ich Ihnen den Vortritt lassen?« flüsterte ich Miss Rumpson zu. »Nie im Leben, meine Liebe.« Sie duckte sich hinter mich, überlegte es sich dann aber doch noch mit ihrer Feigheit. »Sollen wir es als Team anpacken?« Das war ganz gewiß nicht eine meiner liebsten Arten, den Tag zu beschließen. Aber ich durfte ja keine Feigheit zeigen, solange das Kleine in den entscheidenden Monaten war. Ich stellte die Kerze auf einem Tisch ab und sagte: »Auf die Plätze, fertig, anheben!« Wirklich, ich rechnete nicht damit, daß sich ein Körper in dem Sarg befand. Mir war die blitzartige Erleuchtung gekommen, daß der verrückte Sammler, der für das Durcheinander in diesem Raum verantwortlich war, den Sarg von einem Bestattungsunternehmen erworben haben mußte, der wegen Geschäftsaufgabe verkaufte. Der Deckel ächzte – oder war es Miss Rumpson? Mit Sicherheit würden wir feststellen, daß der Sarg zu Lagerzwecken benutzt wurde. Mein Tip waren Bettlaken. Die Sorte, die sich nicht abnutzt und gemangelt werden muß. Falsch! Ich bekam keine Luft mehr – und daß leider nicht nur, weil Miss Rumpson mir den Hals abdrückte. Da lag jemand auf dem weißen Satinkissen. Jemand, den ich wiedererkannte.
Miss Rumpson schrie laut genug, um Tote zu wecken, und der Leichnam setzte sich auf. Woraufhin die Frau, die dem Himmel und tiefen Wassern getrotzt hatte, um ihre Verabredung mit dem Schicksal einzuhalten, die Hände von meinem Hals sinken ließ. Ich nahm die Kerze und fand meine Stimme wieder. »Ms. Mary Faith, wie sie leibt und lebt!« Eine Stille trat ein, die mir eine Verschnaufpause verschaffte. War dies tatsächlich die Frau, die ich in Talk Time mit Harvard Smith gesehen hatte? Dasselbe braune Haar, vorn toupiert und hinten zu einem französischen Knoten aufgesteckt. Dieselbe Schmetterlingsbrille. So aus der Nähe war der Blick weniger freundlich als er noch im Fernsehen gewirkt hatte. Ihr Teint sah aus wie geimpft, und ihr Mund war eher das Produkt eines Lippenstiftes als von Mutter Natur. Diese Frau hatte eine unselige Vorliebe für Make-up. Doch wie fragte man, ohne auf ordinäre Weise neugierig zu wirken, was sie in einem Sarg machte? »Oh, bei meinem Leben, ich halte es nicht aus!« Sie preßte eine Hand an die Stirn, ihre Schultern in dem mausfarbenen Angorapullover zitterten. »Wieso gerade ich? Welche Sünden habe ich begangen, außer daß ich geboren wurde? Kann ich nicht mal in meinem eigenen Heim Frieden finden, gibt es keinen Winkel, in den ich mich verkriechen kann, ohne daß die Reporter mich jagen?« Ihre sich in die Höhe schraubende Stimme brachte die Kerzenflamme zum Flackern. Die Möbel und Kunstgegenstände bewegten sich, als schlichen sie heran, um
besser zu hören; der übrige Raum blieb in Dunkelheit gehüllt. Wir konnten nur sehen, was direkt vor unserer Nase stand. Und es roch ebenso intensiv nach angehaltener Zeit wie nach Zement und Staub. »Wir sind keine Aasgeier von der Presse. Wir gehören zu der Mange-Truppe«, quälte ich mir ab. »Der Himmel verhüte, daß wir stören!« Miss Rumpson, die zuvor geschrumpft zu sein schien, füllte wieder ganz meinen Morgenmantel und Ernestines Jacke aus. »Niemand ist ein eifrigerer Verfechter des Rechts zu sterben als Marjorie Rumpson!« Ihre Backen arbeiteten wie Blasebalge. »Sobald meine liebe alte Mum mir sagt, daß sie abkratzen will, werden meine Schachteln mit Mrs. Belchers altmodischem Schlafpulver zum Einsatz kommen. Ich werde ihr etwas in die heiße Milch rühren, den Rest auf ihren Zimttoast streuen und den lieben Schatz zum letzten Mal ins Bett stecken!« »Sie Teufelin!« Mary Faith saß starr da, mit den Händen klammerte sie sich an den Seiten des Sarges fest, als wären es die Stäbe eines Kinderbettes, und ihre Brillengläser blitzten. »Sie… Sie Elternschänderin!« Miss Rumpson sah nicht mehr wie Nanny aus, die alte Hündin, die in Peter Pan auf die Kinder aufpaßt. Ihre Backen zitterten, als sie sprach. »Wenn ich ein Mann wäre, würde ich Sie herausfordern, Madam.« »Und ich erkläre Ihnen hiermit, daß dies kein Selbstmordversuch ist!« Ms. Faith drückte das Satinkissen an ihre Brust und brach in heftiges, herzzerreißendes Schluchzen aus. »Ich habe nur versucht, Gespenster zu vertreiben. Mutter hatte in jedem ihrer Häuser einen Sarg. Sie sagte immer, nirgends könne man besser Liebe machen. Wenn ich als Kind irgend etwas tat – Atmen reichte dazu schon –, um sie in einen ihrer Tornado-Wutanfälle zu versetzen, schloß sie mich in einen Schrank ein. Doch einmal, als sie sich dem Wahn hingab,
sie sei königlichen Geblütes und darauf bestand, daß ich jedesmal einen Knicks machte, wenn ich zu ihr kam, stolperte ich, und sie steckte mich in den Sarg, stellte eine Kommode auf den Deckel und ließ mich erst heraus, als ich schon blau angelaufen war.« »Schrecklich!« In Wie man Babys aufzieht von der Zeugung an wurden solche Dinge nicht behandelt. Ob sich jede Frau in eine Monster Mommy verwandeln konnte, wenn der Boden fruchtbar war? »Arme Ms. Faith!« Ich, die ich bis zu solch einem hohen Grad zurückhaltend bin, daß ich sogar an meine eigene Schranktür klopfe, bevor ich sie öffne, kniete mich auf den Steinfußboden und berührte ihr Haar. Durch die dicke Sprayschicht fühlte es sich an wie Nylon. Ich hatte schon Angst, ich könnte eine Mulde hinterlassen haben, wie in einem zu kurz gebackenen Kuchen. »Ben, mein Mann, könnte sich gut in Sie hineinversetzen. Er leidet unter Klaustrophobie. Ihre Mutter hätte Sie töten können.« Ms. Faith ließ das Kissen fallen. Ihre kummervollen Augen, die denen ihrer wunderschönen Mutter so ähnlich waren, richteten sich auf mich. »Ich bildete mir immer ein, Schritte zu hören. Ich zählte sie, um wach zu bleiben, und endlich kam sie. Dieser Sarg und der andere Müll« – sie zeigte mit einer ringlosen Hand darauf – »wurden bei den Dreharbeiten zu Villa Melancholie benutzt. Hinterher gab der Regisseur Richard Greenburgh einer Laune Theolas nach und ließ sämtliche Requisiten hier. Er hatte dieses scheußliche Haus für einen Appel und ein Ei erstanden.« »Und nach dem Film schenkte er es Ihrer Mutter?« Miss Rumpson, von der ganzen billigen Romantik mitgerissen, schien ihre Meinungsverschiedenheit mit Mary Faith schon vergessen zu haben.
»Glauben Sie etwa, der große Richie hat eine rote Schleife um Mendenhall gebunden und es ihr als Pfand ihrer unsterblichen Lust geschenkt?« Marys Stimme kam so kreischend heraus, daß ich vom Boden aufsprang. Meine Knie hätten diese Haltung ohnehin nicht länger mitgemacht. »Das hat nur Theola behauptet! Wieder eine ihrer Lügen! Er hatte das Haus für mich vorgesehen, als ein Geburtstagsgeschenk. Begita hat es mir gesagt. Inzwischen habe ich schließlich und endlich genug Mut gesammelt, um die Fesseln der Vormundschaft durch meine Mutter abzuschütteln und den Anspruch auf mein Erbe geltend zu machen. Letzte Woche bin ich hier hereinmarschiert und habe meinen Wohnsitz auf Mendenhall genommen.« »Bravo, Herzchen!« rief Marjorie Rumpson. Mit fiel meine Vermutung wieder ein, daß Jeffries von Valicia X gesprochen habe, als sie sagte: »Pepys haßt diese Frau.« Vielleicht hatte sie ja Mary Faith gemeint. »Und die Manges?« fragte Marjorie. »Ein merkwürdiger Haufen.« Mary Faith stand so vorsichtig im Sarg auf, wie ich in das orangene Boot gestiegen war. »Ich habe mich mit einer Lektorin getroffen, die sich auf Kochbücher spezialisiert hat, und mit ihr über eine eventuelle Fortsetzung zu Monster Mommy gesprochen: Essen, das deine Mutter dir aufgezwungen hat.« Sie streckte die Hand aus, damit man ihr auf den Fußboden hinunterhalf, ungefähr so, wie Königin Elizabeth es beim Verlassen der Britannia zu tun pflegt. »Die Lektorin war eine Mange?« Ich spürte Marjories wachsende Besorgnis, das Treffen könnte beendet sein, bevor wir das Geheimzimmer fanden. »Weiß ich nicht, aber kurz darauf nahm die Gesellschaft Kontakt mit mir auf – sie kamen auf mein vermeintliches Angebot zurück, Mendenhall für eine Kandidatenkür benutzen
zu dürfen. Was die Sache dann besiegelte, war die Erwähnung von Pepys und Jeffries.« »Sie meinen…?« stammelte ich. »Manges, beide. Als Kind hatten sie mich nie gemocht, aber was soll’s! Ich beschloß, einen neuen Anfang zu machen. Die Jahre der Knechtschaft bei meiner Mutter haben sie vielleicht zur Vernunft gebracht, obgleich sie sie kaum jemals zu Gesicht bekommen haben. Vor einem Besuch von ihr machten sie das jeweilige Haus sauber, dann zogen sie zur nächsten Bude weiter. Ich betete, wir könnten Frieden schließen! Die letzten Wochen habe ich dem Versuch gewidmet, ihre Sprache sprechen zu lernen!« Marys Gesicht drohte durch das pfannkuchendicke Make-up hindurchzubrechen. »Ich hab’s versucht! Beim Himmel, wie habe ich versucht, die Vergangenheit zu begraben! Diese beiden halfen dabei, mich wie eine Gefangene zu halten, als ich ein Kind war. Theola brauchte nur einen Wink zu geben, und schon hüpften sie wie die Karnickel.« Rums ging der Sargdeckel zu! Ihre Schulterblätter stachen durch den mausfarbenen Pullover. Die Brille rutschte an ihrer Nase hinunter und wurde mit einem Stups zurück an ihren Platz befördert. »Ich weiß!« Mary Faith hob das Kinn, und ihre Augen funkelten vor Zorn. »Ich werde ein Buch über sie schreiben!« »Ausgezeichnet!« Durch ein Kneifen von Marjorie aufgerüttelt, schilderte ich deren Zwangslage und fragte Mary, ob sie wisse, in welchem Raum die Mange-Sitzung stattfinde. »Dies ist eine Frau« –, ich legte die Hand auf die Schulter meiner Freundin –, »die das Wohl der Mutter vor ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse stellt. Helden fallen heutzutage nicht
mehr vom Himmel. Wir dürfen nicht zulassen, daß sie vom Mittelmaß erdrückt werden.« Bescheiden, doch würdevoll stand Marjorie Rumpson, Kandidatin der Manges, da. Mary schaute sie an, widerstreitende Gefühle kämpften auf ihrem Gesicht. »Ihre Mutter muß ein echter Mensch sein.« »Sie ist die Allerbeste.« Marjorie richtete sich höher auf, in eine Aura von Kerzenlicht gehüllt. Aber hatte sie sich Ms. Faiths Verständnis vielleicht selbst verscherzt? Eine Pause, die meine Schwangerschaft zu überdauern drohte. Der Sarg sah allmählich immer einladender aus, doch schließlich sagte sie: »Ich helfe Ihnen.« Sie hob die Hand, wodurch sie unsere Dankesbezeugungen zum Verstummen brachte, und nahm die Kerze. »Kommen Sie!« Mary schlängelte sich seitlich zwischen den Möbeln und anderen Gerätschaften hindurch, ihre Stimme schwebte über uns, als wir die im Schatten liegenden Stufen hochstiegen. »Ich bin ein Mensch, der sehr schnell seine Entscheidungen trifft. Und ich bin zu dem Schluß gekommen, daß Sie wohl beide – Ellie und Marjorie, ist das richtig? – zu dem Sarg geführt worden sind… in dieses Haus.« Ich sollte ihr ihre Freundlichkeit wirklich vergelten, indem ich versuchte, sie zu mögen. Mitleid ist keine Basis für eine Beziehung welcher Art auch immer, wie ich nur zu gut aus meiner fetten Vergangenheit wußte. Sie blies die Kerze aus und trat in die dunkle Halle. Schweigend überquerten wir die rotbraunen und cremefarbenen Fliesen. Kein Knarren sich öffnender Türen war zu hören. Niemand, der uns beobachtete, bis auf Lady Finster von ihrem Porträt aus. Mary sauste die Treppe hinauf, Marjorie Rumpson und ich zockelten hinterher. »Ich weiß auch nicht, was das mit Ihnen beiden ist – ein Gefühl von sympatique vielleicht, aber ich möchte, daß Sie meine Freundinnen werden. Enge
Freundinnen. Sie bleiben noch, wenn die anderen weg sind, und wir unternehmen dann etwas zusammen. Wir machen eine Tour durch Peoria oder gammeln einfach durch Mud Creek. Spielt eine von Ihnen Bowling?« Sie wartete die Antwort nicht ab. »Mein ganzes Leben lang hatte ich den Wunsch dazuzugehören, und jetzt wird es endlich wahr. Sie mögen mich doch nicht nur wegen des Buches, nicht wahr?« »O nein!« rief ich. Marjorie konnte nur keuchen. »Sie verstehen doch, wie furchtbar wichtig es ist, daß man mich um meiner selbst willen mag und nicht wegen einiger mit Worten bedruckten Seiten? Die Tatsache, daß man um mich herumscharwenzelt, weil ich nicht bloß einen Bestseller, sondern den Megasuperbestseller geschrieben habe, ärgert mich. Monster Mommy erzählt davon, was ich bin, doch es drückt nicht aus, wer ich bin – wenn Sie mich verstehen.« Ich war das keuchende Echo von Marjorie. Meine Beine liefen mir voraus – meinem wahren Ich –, während ich den Blick auf Marys Kopf heftete. Das rot ausgelegte Stockwerk, das sich kreisförmig um das Treppenhaus herum zog wie eine Aschenbahn, hatte mehr Türen als ich Atemzüge. »Ein Rezensent der Panhandle Postscripts hat über das Buch geschrieben, daß es ›den Schleier menschlicher Schwächen hebt und uns neue Einsichten in die ganze Palette elitärer Dekadenz bietet, indem es zum Kern der…‹« Die nächsten Worte verpaßte ich, da ich meinen Schuh verlor. Marjorie stolperte darüber, und ich zog ihn wieder an – falsch herum –, wobei ich Mary Faiths Freundschaftsangeboten hinterherhüpfte. »Der Daily Dispatch erklärte es zu einem ernsthaften Buch über ein ernsthaftes Thema.« Ich kreuzte die Zehen und sagte, ich hätte das Buch nicht aus der Hand legen können.
Was stimmte, wenn man bedachte, daß ich es nie in der Hand gehalten hatte. Ich brach in Schweiß aus vor Angst, ich könnte aufgefordert werden, Kapitel und Vers zu zitieren. Zum Glück wurde meine Panik vorerst gegenstandslos, denn Mary öffnete nun eine deutlich sichtbare Tür. Konnte dies der geheime Sitzungsraum sein? Würde Ben mir auf entzückende Weise zürnen, weil ich in das Allerheiligste eindrang, ohne Rücksicht auf das Paßwort oder das Gebot der Vertraulichkeit? Doch es war ein Bad – mit genügend dunkler Eiche ausgestattet, um einen ganzen Wald zu zerstören, mit einem WC, bei dem man auf der Brille stehen mußte, um an der Kette ziehen zu können, und mit einer wie ein Sterbebett durch Vorhänge abgetrennten Badewanne. Lauerten die MangeKandidaten und ihre sinnliche Anführerin hinter dem weißen Schleier? Oder hatten sie sich in das Schränkchen unter dem Waschbecken mit den Messingarmaturen gequetscht? Nicht so voreilig! Mary Faith öffnete den Medizinschrank. Also wirklich! Sie winkte Marjorie und mich näher heran und nahm ein Fläschchen Antacid-Tabletten, eine leergedrückte Zahnpastatube und eine Auswahl von Deodorants von den Glasregalen, dann drückte sie auf einen winzigen Knopf, nicht größer als eine Schraube, über dem mittlerem Regal. Husch, husch wurde die Rückwand des Schranks durchsichtig, und die Regalbretter sahen aus wie eine Jalousie. »Dieser moderne Fortschritt!« sagte Marjorie. Mary schüttelte ihren toupierten Kopf. »Das wurde schon für die Dreharbeiten zu Villa Melancholie installiert.« Wir schauten in einen fensterlosen Raum, voll mit Bücherregalen. Das Mobiliar beschränkte sich auf einen Servierwagen, auf dem eine Riesenkaffeekanne und Pappbecher standen, und einen Tisch, um den die MangeGesellschaft saß. Ben blickte in unsere Richtung. Sein Haar
war zerwühlt, seine Krawatte hing schief, und ein Bleistift baumelte wie eine Zigarette von seinen Lippen. Albernerweise hob ich die Hand und formte mit dem Mund »Ich liebe dich«. Neben ihm saß Bingo Hoffman, die Brille war ihm auf die Spitze seiner elf Jahre alten Stupsnase gerutscht, seine Miene war durch und durch selbstgefällig, sein buntes Hawaiihemd ein Farbklecks in diesem Raum, der dem Inneren eines Pappkartons ähnelte. Mit dem Rücken zu uns saß Lois Brown, die Haltung ihrer breiten Schultern und ihr wohl wöchentlich gewaschenes und gelegtes Haar wiesen sie als das Salz dieser Erde aus. Eine Frau, die Plätzchen für die vierte Klasse backen würde, auch wenn ihre Kinder seit Jahren nicht mehr zur Schule gingen. Neben ihr stand Comte Vincent LeTrompe; er stapelte Pappbecher aufeinander und deckte sie mit seiner Serviette zu. »Das ist Ihre Konkurrenz!« Ich legte den Arm um Marjorie. »Was ist mit Pepys und Jeffries?« sagte sie. »Mir haben sie erzählt, daß sie nicht an allen Sitzungen teilnehmen«, informierte uns Mary. »Die Frau am Kopfende des Tisches ist die zuständige Mange.« Ich konnte nicht länger in die andere Richtung blinzeln, wenn Valicia X uns ihr Gesicht zuwandte. Als ich sie völlig neutral musterte, mußte ich ihr zugestehen, daß sie ein vollendetes Profil hatte, eine atemberaubende Figur und herrliches Haar. Jammerschade, daß es der Frau an Fehlern mangelte. Sie erhob sich und verteilte Papierbögen. Ben schaute nur flüchtig auf, als er seinen bekam. Hervorragend! Worin auch immer ihre anfängliche Verführungskunst bestanden haben mochte, es war vorüber, verbraucht, abgelaufen wie alle ungerechtfertigten Hoffnungen. War das eine Zeile aus Monster Mommy, laut vorgetragen von Ernestine? Erstaunlich, wie sehr ich sie und die Comtesse Solange nach solch kurzer Bekanntschaft vermißte.
Der Gedanke kam mit quietschenden Reifen zum Stehen. Mary drückte auf einen zweiten winzigen Knopf in dem Medizinschrank, und plötzlich konnten wir auch hören, was im Allerheiligsten gesprochen wurde. Mein Herz hämmerte wie Fäuste gegen eine Tür. Ben sprach. »Mrs. X, halten Sie diese Regel, die bis zur Zubereitung des Schlußmahls jegliches Kochen untersagt, nicht für grausam und für eine ungewöhnliche harte Bestrafung?« Die Ellbogen auf die Rückenlehne seines Stuhls gestützt, hob er fragend eine Augenbraue. Armer Liebling, die raffinierte Mrs. X würde sich garantiert von seiner schmeichelnden Art abgestoßen fühlen. Wenn ich nur diese Glasbarriere durchbrechen und ihn vor sich selbst beschützen könnte… »Mr. Haskell«, begann sie. Ihre Stimme war wie Zitronenlimonade – etwas herb, aber erfrischend. »Ich versichere Ihnen, ich habe die Absicht, es Ihnen allen so leicht wie möglich zu machen.« Der Comte riß die Serviette von den Pappbechern, und sie waren verschwunden. Lois Brown stellte eine Frage zu einem Schnelltest. »Mein Genie braucht Nahrung«, grummelte Bingo, »daher rege ich an, daß wir eine Riesenpizza mit allem Drum und Dran bestellen. Und gleich im Anschluß daran will ich, daß meine Mommy mich ins Bett steckt und mir eine Geschichte über Vitamine E vorliest.« Seine in kindlicher Unschuld gesprochenen Worte ließen meinen Verstand zurückkehren. »Ms. Faith«, sagte ich und schob eine widerspenstige Haarsträhne zurück. »Dürfen wir denn hier so einfach mithören?« »Wahr gesprochen, meine Liebe!« Marjorie gab sich Mühe, die Aufschläge ihrer Kürbisjacke über ihren Dunlop-Kissenbusen zu ziehen. »Wie wär’s, wenn ich hineingehe, bevor Madame
Mange die Sitzung aufhebt. Ach herrje! Je länger ich warte, um so weniger glaube ich selbst an die Ausreden, die ich wegen meiner Verspätung auftischen werde.« Das Band an ihrem Hut war eine verläßliche Wetterfahne für ihren emotionalen Zustand. Lieber schafften wir Sie hier heraus, bevor sie noch auf dem Abtritt übernachtete und Calgon anflehte, sie von hier wegzubringen. »Ach, kommen Sie, meine Damen.« Mary verzog die dünnen Lippen zu einem Lächeln. »Erinnern Sie sich an meine unsterblichen Worte in Kapitel sieben?« Ich gab mir alle Mühe, kein verständnisloses Gesicht zu machen. »Ms. Faith, ich erdreiste mich nicht, es wiederzugeben.« Mary schien ganz offensichtlich etwas von dem berühmten Sinn für Theatralik von ihrer Mutter geerbt zu haben. Sie kreuzte die Hände über ihrer Angorabrust, hob das Gesicht himmelwärts und deklamierte: »Die Wahrheit ist ein Feind, dem man sich stellen muß.« »Sehr klug!« Marjorie betupfte ihre Augen. Mary schaltete den Mechanismus im Medizinschrank aus, stellte die ursprüngliche Ordnung wieder her und umarmte Marjorie und mich plötzlich. »Wie schön, euch beide zu meinen lieben, liebsten Freundinnen zu haben! Als Kind waren die einzigen Arme, die um mich gelegt wurden, meine eigenen. Jetzt denke ich, daß ich nie mehr allein sein werde!« Das Maß an Verantwortung war entsetzlich. War ich nun moralisch verpflichtet, sie bei der Abreise in einen Koffer zu packen und nach Hause mitzunehmen? Wir hatten in Merlins Schloß auf jeden Fall Platz für sie. Unter dem barschen Einfluß von Dorcas und Jonas würde sie eventuell sogar zu einer Frau erblühen, die gar nicht mehr den Wunsch verspürte, mit dem Füllfederhalter zuzustoßen. Wer konnte in Abrede stellen, daß sie jetzt schon eine Frau mit Courage war? Sie erbot sich,
Marjorie in den Sitzungsraum zu begleiten und Ms. X davon in Kenntnis zu setzen, daß die Kandidatenkür anderswo fortgesetzt werden müsse, falls Marjorie Rumpson nicht die Erlaubnis erhielt, als vollwertige Kandidatin an den Sitzungen teilzunehmen. Wir drei zogen wieder über den Hauptkorridor des zweiten Stockwerkes und betraten eine Schlafkammer. Das deckenhohe Himmelbett mit den Gobelinvorhängen und der gußeiserne Kamin wiesen Tod und beschwerliche Entbindung als die Bestimmung dieses Raumes aus. »Das Zimmer meiner Mutter, nun gehört es mir.« Mary zog die Luft ein und streichelte eine halsstarrige Stehlampe, bevor sie zu einem reichgeschnitzten Kleiderschrank voranging, der eine vierköpfige Familie hätte beherbergen können. Sie öffnete die Schranktür, schob einen Wall aus Kleidungsstücken, darunter mehrere Pelzmäntel und einen Samtumhang, weg und legte eine innere Tür frei, die – Sie haben es schon erraten – in den geheimen Sitzungsraum führte. Eine weitere Attraktion der Villa Melancholie. Bis dorthin kam ich noch mit. Wir waren an dem Ort angelangt, wo unsere Wege sich trennen mußten. Es war an der Zeit, Marjorie das Beste zu wünschen, ihren Hut noch einmal kurz herzurichten und ihr den erforderlichen kleinen Schubs zu geben. Auf Wiedersehen und vielen Dank, Ms. Faith. Endlich allein. Ich stand an die geschlossene Schranktür gelehnt, und mein Kopf tickte im Rhythmus einer Countryand-Western-Ballade. Ich bin so allein, so weit weg von zu Hause, Schatten an der Wand, sie sagen, geh’ nicht in den Korridor… Oh, ich war clever, keine Frage, wenn es darum ging, mir selbst angst zu machen. Was war das… ein Rascheln draußen vor der Tür – der Zimmertür, nicht der Schranktür? Ich spielte mit dem Gedanken, unters Bett zu kriechen; doch wenn es hart auf hart
kommt, werde ich lieber im Stehen als im Liegen erwischt. Ich strich mein Haar zurück und stürzte aus dem Zimmer… wo ich eine Taube vorfand. Ein echter, lebender Vogel jener Spezies, die imstande war, im Alleingang wieder Hüte in Mode zu bringen. Da ich größer war als sie (oder er), fühlte ich mich nicht allzu unterlegen, und ich wollte gerade um irgendeine Legitimation bitten, als Solange und Ernestine die Treppe hochkamen. Sie waren unten in der Halle gewesen und hatten dort Ausschau nach irgendwelchen Anzeichen gehalten, daß Marjorie und ich unsere Mission lebend überstanden hatten, da schoß die Taube vorbei, und beider Neugier war hinreichend geweckt, um ihr zu folgen. Es handelte sich ja leider nicht um einen Papagei, also weigerte sie sich, Informationen wie beispielsweise zu Alter, Geschlecht, politischer Überzeugung oder Stellung in diesem Haushalt zu geben. Und kaum fing ich an, über meine jüngsten Erlebnisse Bericht zu erstatten, da neigte die Taube ihren perlgrauen Kopf, fixierte mich mit einem gelangweilten, scharfen Auge und machte dann die Flatter quer durch die Halle. »Erzählen Sie weiter«, drängte Solange gespannt. »Nachdem Sie Mademoiselle Mary trafen, was dann?« Mitten in meinem Monolog fiel mir ein, daß es ein Fehler sein könnte zu enthüllen, daß ich an einem Ort gewesen war, wo niemals zuvor die Frau eines Mange-Kandidaten den Fuß hingesetzt hatte – daß ich Dinge gesehen und gehört hatte, die hart an die Grenze des Glaubwürdigen gingen. Aber sie waren doch meine zuverlässigen Verbündeten, oder nicht? Sie können mir glauben, wenn man einmal das dickste Mädchen in der vierten Klasse war, dann neigt man dazu, seine Beziehungen mit viel Butter zu bestreichen. Und wenn nötig, noch Marmelade draufzutun. Außerdem schworen beide auf ihr Leben, ihren jeweiligen Kandidaten nichts zu verraten.
Ernestines Auge zuckte zwar ein bißchen, aber wer von uns war nicht müde? Solange sah splendide aus. Sie behauptete, Müdigkeit stehe ihr, und ich konnte nur hoffen, daß dieser Zustand auf Ms. X nicht dieselbe freundliche Wirkung hatte – Solange hatte herrliche Schatten unter den Augen, die ihre Wangenknochen betonten. Die Comtesse kniff mir in die Wange und nannte mich einen kleinen welken Kohlkopf. »Ma cherie, die bonne Ernestine und ich haben Jeffries in unsere Herzen geschlossen, seit sie uns je ein Glas Wasser gebracht hat. Ich sagte ihr, wir könnten uns die Hände an ihrem Lächeln wärmen, daß sie enchanté iiist und ich blau vor Neid. Da ließ sie sich herab, uns zu erzählen, daß sie für morgen als Mannequin zu der Modenschau in Jimmy’s Bar eingeladen iiist, aber sie iiist zu beschäftigt.« »Natürlich ist sie das, wenn sie in ihrer Eigenschaft als Mange Überstunden machen muß! Kommt, Mädchen, machen wir sie nicht schlecht! Sie und Pepys tun eine Arbeit, die getan werden muß, wenn wir die Fortschritte in der Essenszubereitung sehen wollen, nach denen die Nation verlangt.« Ernestine klang aufgedreht, doch ihr Gesicht sah aus, als hätte sie seit einer Woche nicht darauf geschlafen. Ich wollte gerade in mein Zimmer gehen, als mir noch etwas einfiel. »Ich habe Miss Rumpson in der ganzen Zeit nicht mal gefragt, auf welchem kulinarischen Gebiet sie Expertin ist.« Ernestine kicherte. »Sie lesen bestimmt nicht Tattle Tale, die Zeitschrift für sensationsgeile Leute. Verflixt. Hier in diesen vier Wänden gestehe ich, daß ich an einem Zeitungsstand ab und zu gratis einen Blick hineinwerfe. Vor ein paar Wochen stand ein ganzseitiger Bericht über Marjorie Rumpson drin. Diese Frau verdient sich ihren Lebensunterhalt mit dem alten Sprichwort von dem Weg, der zum Herzen eines Mannes führt. Sagen wir, es gibt einen Typ, den Sie sich unbedingt angeln
wollen, der aber immer wieder vom Haken gleitet, dann schicken Sie Miss Rumpson sein Sternzeichen, Geburtsort, Lieblingsfarbe, die Namen beider Eltern, Sie wissen schon, wie das geht, und Sie schickt Ihnen – gegen Entgelt – eine Zusammenstellung von Rezepten. Der Schmaus bringt seine erotischen Säfte zum Kochen und macht ihn auf Lebenszeit zu Ihrem Sklaven. Und wenn Sie an diese Scheiße glauben, bin ich Miss America.« Marjorie Rumpson – eine Hexe! Und ich hatte mich beklagt, weil ich aus Massachusetts weggeschleift wurde, ohne daß ich Salem gesehen hatte. »Wir haben Jeanne d’Arc verbrannt.« Solange seufzte. »Zeit fürs Bett, fiiinde ich, und ich hoffe, daß mein Angetrauter bald kommt. Ellie, Ihr Zimmer iiist 3L, das dritte links ganz oben. Bonne nuit.« Meine Antwort fiel leicht zerstreut aus. Mir war eingefallen, daß ich Mary Faith nicht wiedergesehen hatte, seit sie mit Marjorie in dem Kleiderschrank verschwunden war. Nach all dem Gerede von strikter Geheimhaltung bezweifelte ich, daß man sie aufgefordert hatte, nach ihrem Plädoyer für Marjorie noch zu bleiben. War es möglich, daß sie dieses Stockwerk über eine andere Treppe verlassen hatte? Das bizarre Haus schrie förmlich danach, erkundet zu werden. Doch ich mußte endlich meine Handtasche aus dem roten Zimmer holen und ging deshalb nach unten. Als ich am Speisezimmer vorbeikam, fand ich die Tür offen. Ich blieb stehen, um die Messer zu betrachten, die an der Wand ausgestellt waren. Es waren doch sechs gewesen. Jetzt glitzerten nur noch vier in dem grellen Licht. Ich stellte mir vor, wie Pepys und Jeffries im Schatten lauerten, die Klingen gezückt, um jeden, der den Namen der Manges entehrte, zu Filet zu verarbeiten. Merkwürdig, was für Phantasien schwangere Frauen entwickeln! Ich schwor mir, daß mein Kind
nicht die übertriebene Einbildungskraft seiner Mutter haben würde und eilte wieder nach oben. Beim Betreten des Schlafzimmers, das ich mit meinem Einzigen teilen sollte, stieß ich ein Schimpfwort aus. Winzig. Und ich hatte gedacht, in Amerika sei alles größer und besser! Der uns zugewiesene Raum hatte die Größe einer Vorratskammer und enthielt mehr Winkel als eine Lektion in Geometrie. Die Wände waren mit einer silbernen Lurextapete ausgeschlagen, ein weinroter Faden setzte Akzente. Der Lampenschirm erinnerte mich an einen Damenhut vom Trödler, und die Vorhänge hätten auch Unterwäsche sein können, die jemand zum Trocknen aufgehängt hatte. Verflixt! Bei dem Versuch, zum Bett zu gelangen, geriet ich zwischen die Plastikwalnußkommode und einen Nachtschrank aus geschnitztem Resopal. War dies die tiefere Bedeutung des Wortes elektrisch? Ich trat einen meiner Schuhe aus und landete ein Tor zwischen den Bettpfosten, dann prallte der Schuh gegen meine Reisetasche. Trotz aller Kritik an Pepys, es war nett von ihm, daß er sie für mich heraufgebracht hatte. In der Gewißheit, daß meine Zahnbürste und mein Nachthemd in Reichweite waren, fühlte ich mich irgendwie weniger allein. Zeit, mich fürs Bett fertig zu machen und für die Rückkehr des Kandidaten Haskell. Meine Eifersucht auf Valicia X schien ich in einem anderen Leben erlebt zu haben. Ben wäre nicht im Vollbesitz seiner männlichen Hormone gewesen, wenn er nicht zweimal hingeschaut hätte, als er ihr begegnete. Arme Frau, sie war – um es kraß auszudrücken – hinreißend. Etwas, auf das die Gesellschaft in der heutigen Zeit eher herabsieht. Während ich mein Haar bürstete, dachte ich, ich Glückspilz, daß ich nicht jeden Tag vor dem Spiegel stand und überlegte, was um Himmels willen ich tun konnte, um schlechter auszusehen, damit man mich ernst nahm. Ich nahm eine Pinzette, und mein
Mitgefühl für Ms. erlosch wie eine Kerze. Ob sie sich je im Leben die Augenbrauen gezupft hatte? Mit offenem Haar, in dem weißen Bastistnachthemd, das mir Bens Mutter zu meinem letzten Geburtstag geschickt hatte, sah ich aus wie ein wohlgenährter Geist. Noch nie war ein Spiegel mein bester Freund gewesen. Gekränkt zuckte ich mit der Schulter, ging seitlich zum Bett und legte mich auf die Tagesdecke, die vorgab, eine Wiese mit Mohnblumen zu sein. Die Versuchung, unter die Decke zu schlüpfen, war groß, aber ich erinnerte mich an den Ausspruch von Tante Astrid: Eine Frau sollte nie ihre ehelichen Pflichten vergessen. Vermutlich war dies der Grund, warum der verstorbene Onkel Horace immer diese dunklen Ringe unter den Augen hatte. Ich wälzte mich hin und her und versuchte, eine richtig unbequeme Lage zu finden. Zwecklos. Der Schlaf lauerte, um in dem Augenblick, wenn ich die Augen schloß, zuzuschlagen. Warum nicht Schwangerschaft für Anfänger aus meiner Tasche holen und mir die Illustrationen ansehen, die das in diesem Stadium vorgeschriebene Aussehen des Babys zeigten? Lieber nicht. Ich zog meine eigene Version vor, wie das kleine Elfchen aussah. Seidige Locken, eine Knopfnase, Grübchenkinn, das alles in einem gesmokten weißen Kleidchen und mit Häubchen. Als ich mich ausstreckte, stieß ich fast die Wasserflasche vom Nachtschrank. Ich beschloß, daß ein Glas meine Lebensgeister wiederbeleben könnte, spielte mit einem Schluck Wasser herum, versuchte die Sorte zu bestimmen und tippte auf edles Naturquellwasser von vorzüglicher Klarheit und mit feuriger Kohlensäure… als mir klar wurde, daß der Schlaf mir die Sicht trüben mußte. Neben der Nachttischlampe lag ein Exemplar von Monster Mommy. Normalerweise ziehe ich die Miederaufschlitzer den Seelenentblößern vor, doch Mary Faith war auf ihre Art so nett gewesen, daß ich mich verpflichtet fühlte, es aufzuschlagen, in
meine Kissen zurückzusinken und mit Genuß deprimiert zu sein. Kapitel eins. Hallo, Mutter, hier spricht deine Tochter. Hörst du mir da draußen zu? Es ist furchtbar wichtig für mich, daß du begreifst, daß dieses Buch aus Liebe geschrieben wurde. Ich biete dir die Gelegenheit, zu wachsen – dich zu verändern. Du sollst wissen, daß ich dich für das, was du mir angetan hast, nicht hasse – angefangen an dem Tag, als du mich zur Welt brachtest. Ich hätte eigentlich am 23. November geboren werden sollen, aber du mußtest ja unbedingt Bergsteigen gehen, und deshalb gebarst du mich am 15. November in einer alten Hütte. Kein Wunder, daß ich mich ein Leben lang hin- und hergerissen fühlte. Innerlich bin ich Schütze, doch offiziell bin ich Skorpion. Mein Herz blutete – um meinetwillen. Ich hatte den falschen Beruf. Mir stand es ebensowenig zu, Mutter zu werden, wie einem Arzt, Sexumwandlungen vorzunehmen. Ich hatte noch nie eine Windel gewechselt, nie mehr als zwei Worte zu einem Baby gesprochen – falls guckguck zählt. Woher sollte ich wissen, ob es genug zu essen bekam? Oder zuviel? Saugen Katzen Babys wirklich den Atem ab? Sollte ich mit Tobias reden, sobald ich nach Hause kam, und ihm erklären, daß der Zeitpunkt gekommen war, an dem er draußen für sich selbst sorgen mußte? Monster Mommy war aufgeschlagen, und es war unmöglich, sich eines gewissen müden Interesses zu enthalten. Doch nach eineinhalb Seiten über die sexuell aktive Ritterrüstung schrie ich, Ellie Haskell, »Was für ein Schund!« und warf das Buch angewidert hin. »Unfair!« schallte es vom Geist vergangener Kindheit zurück. Mary mochte die Welt zwar durch die verzerrte Brille der Präpubertät sehen, doch ihr
Entsetzen war echt. Theola Faith war ein Monster. Ich zog die Decke bis zum Kinn hoch und kämpfte gegen eine Panik, die ich mir nicht erklären konnte. Sie erzeugte ein vertrautes klammes Frösteln, das nichts mit der Tatsache zu tun hatte, daß sich die Tür öffnete. »Ellie!« Mit einem Satz durchquerte Ben das Zimmer, warf sich aufs Bett und zerdrückte mich in seinen Armen. »Die Sitzung hat so lange gedauert, ich hatte schon Angst, du hättest mich offiziell für tot erklären lassen. Komm her, mein Engel.« Er fuhr mit den Fingern durch mein Haar und küßte meine Augen, meine Nase, meine Lippen. »Habe ich dir eigentlich schon mal gesagt, daß du meine Gesundheit, meine Kraft, mein einziger Lebensgrund bist?« »Hast du getrunken?« Ich richtete ihn an seinem Haar auf und schaute ihm tief in die Augen. Er hatte zwar keinen Alkoholatem, aber ich hätte es den Manges durchaus zugetraut, einen Drink zu erfinden, der kuß- und promillesicher war. Er steckte den Finger in seinen Schlipsknoten. »Liebling, du weißt es doch besser, du darfst keine Fragen über die Vorgänge in dem geheimen Sitzungszimmer stellen. Aber ich kann dir versichern, nichts ist so berauschend wie du…« »Hmmmm.« Das war keine gute Nachricht für Valicia X. Ich übernahm es, seinen Schlips aufzubinden und sagte ihm, er solle die Schuhe von der Designer-Mohndecke nehmen. »Wäre es ein Verstoß gegen den Mange-Kodex, mir zu sagen, was du von den anderen Kandidaten hältst?« »Als Mitangehörige der menschlichen Spezies?« Er setzte sich auf und ließ die Schuhe auf den Boden fallen. »Ellie, selbst wenn ich mit anderen Kandidaten gerechnet hätte, es wäre trotzdem ein herber Schlag für mich gewesen. Vincent LeTrompe, ein Zauberer! Ein Wunderkind namens Bingo! Lois Brown, Hausfrau. Und Margaret Rumpson, eine moderne Hexe.«
»Marjorie«, verbesserte ich. Er fragte nicht, woher ich das wußte. Er knöpfte gerade sein Hemd auf. Sein zerstreuter Blick verlieh seinen Augen die Farbe des Meeres an einem bewölkten Tag. »Ben.« Ich kniete mich aufs Bett und massierte seine Schulter. »Man fragt sich doch unwillkürlich, weshalb du der einzige traditionelle Koch in der ganzen Gruppe bist.« »Liebling« – er griff rückwärts nach meiner Hand – , »meine Lippen sind versiegelt.« »Weil du es nicht weißt? Oder weil du Angst hast, daß dieses Zimmer voller Wanzen ist?« Sein Lachen war auch keine Antwort. Aber ich hatte immer noch die Hoffnung, daß er zu Wachs in meinen Händen würde, wenn ich sein Haar nur richtig streichelte und auf diese besondere Art an seinem Ohr knabberte. Wenn es bei solch hartgesottenen Spionen wie James Bond klappt, warum dann nicht auch bei dem eigenen Ehemann? Ich hatte mir doch ganz bestimmt eine Belohnung verdient, weil ich Valicia X nicht erwähnte. Eine innere Stimme flüsterte Feigling, doch ich biß nicht an. Der Moment, das Pferd von hinten aufzuzäumen, war gekommen. »Solange LeTrompe und Ernestine Hoffman finde ich sehr sympathisch.« Ich rieb seine Schultern. »Großartig.« »Mr. Henderson betet seine Frau förmlich an.« Knabber, knabber an seinem Nacken. »Liebling, ich weiß, du wirst mein Vertrauen ebensowenig enttäuschen wie ich deines. Er ist in großer Sorge, weil Lois sich auf die irre Welt der Köche einläßt. Sie könnte beim Kochen ja dem Sherry verfallen.« Diesmal bekam ich meine Reaktion. Ben löste sich von meinen Händen und begann auf- und abzugehen – wenngleich es bei dem begrenzten Raum aussah, als trete er Wasser. »Lois Brown ist ein echtes Juwel. Nett, anständig, nimmt immer nur
das Beste von den anderen an. Verdammt! Warum mußte sie zu der Mannschaft gehören! Ich habe ja keinerlei Bedenken, die Kerle aus dem Feld zu schlagen – und das schließt auch Miss Rumpson ein. Sie kann es verkraften, aber bei Mrs. Brown…« »Du hast Angst vor Lois Brown, Geliebter mein!« »Zur Hölle, Ellie« – er trat einen Schuh zur Tür –, »mußt du mich immer durchschauen, bis ins Innerste? Meine Gefühle haben nichts mit Galanterie zu tun. Sie ist diejenige, gegen die ich alles aufbieten muß. Ich kann leicht mit einem Mann konkurrieren, der gekochte Kaninchen aus seinem Hut zaubert. Ich habe auch keine Angst vor einem hochnäsigen Kinderstar, der sich mehrmals am Abend ›entschuldigt‹. Ich kann es jederzeit mit Lady Liebeszauber aufnehmen. Aber eine Frau, die drei Mahlzeiten für acht Personen auf den Tisch bringt, Tag für Tag, Jahr für Jahr – ohne jemals wegen Lebensmittelvergiftung belangt zu werden –, die macht mir zu schaffen.« »Liebling, du wirst einen fairen Kampf führen«, tröstete ich ihn. Sollte ich Valicias Ähnlichkeit mit Vanessa erwähnen, damit er sein unverschämtes Starren erklären konnte? Zu spät! Der Friede unseres außerhäuslichen Boudoirs wurde von einem durchdringenden Schrei gestört. »Keine Sorge«, versicherte ich meinem Helden, als er sich an mich klammerte. »Alte Häuser erzeugen immer diese eigenartigen Geräusche. Unsere kleine Gruppe hat vorhin schon solch einen Schrei gehört. Aber es sind keine Leichen aufgetaucht. Wir kamen zu dem Schluß, daß Jim Grogg und seine Dame Divonne den Mond anheulen.« »Was, Mr. Backpulver? Dieser jämmerliche Kerl?« Ben lächelte über meine Leichtgläubigkeit. »Mitnichten! Dieser Schrei verlangt nach Nachforschungen. Liebes, versteck’ dich
unter dem Bett, wenn du dich irgendwie nicht sicher fühlst. Denk’ an deinen Zustand.« Und damit war er verschwunden. Sollte dies die Geschichte meines Aufenthaltes auf Mendenhall werden? Der wohlverdiente Schlaf eine stets unerfüllte Hoffnung? Halt, schrie eine Stimme in meinem Kopf. Mußt du denn ewig jammern? Ben hat dich nicht verlassen, um zu einem Rendezvous zu eilen. Er… Schritte vor meiner Tür, Stimmen in der Halle… Mein Magen begann zu revoltieren. Ich hatte Angst, mich in den Korridor vorzuwagen und zu erfahren, welch schlimmes Unglück geschehen war, doch hier konnte ich auch nicht bleiben. Ich hielt Ausschau nach meinem Morgenmantel und erinnerte mich, daß er jetzt Miss Rumpson gehörte. Na, egal. Wenn gerade keiner zur Hand ist, geh’ als Scarlett O’Hara. Ich zog die Mohndecke ab und wickelte sie um mich. Dieser Kloß in meinem Hals mußte mein Herz sein! So weit mein Blick reichte, war der Flur verlassen. Dann ging die Tür zum Bad auf und heraus kam Bingo Hoffman. Unter dem Arm hatte er ein zusammengerolltes Handtuch, und er trug einen knallroten Morgenmantel, in dem er aussah wie ein Gehilfe des Weihnachtsmanns. »Schau dir das an!« Mit dem Daumen schob er seine Brille hoch. »Was wollen Sie denn sein, ein amerikanischer Indianer?« Ich dachte nicht daran, meinen Aufzug zu erklären, sondern verlangte Informationen zu dem Schrei. »Ach das!« Durch seine verächtliche Miene blähten sich seine ohnehin vollen Backen auf. »Ich habe dem Haufen gesagt, daß ich es nicht war, aber im Zweifelsfall halte dich immer an die Kids. Ich war auf dem Weg zu Mums Zimmer, um ihr etwas zu erzählen, als ich über das Geländer schaute und das Mendenhall-Gespenst sah. Sie hatte ein ausgeflipptes langes Kleid an und eine schwarze Haube mit weißem Rüschenrand auf dem Kopf. Und jetzt kommt der Witz an der Sache…«
Bingo schmatzte mit den Lippen. »… Sie streckte den Finger aus.« »Lady Finster«, flüsterte ich. »Was?« »Die Frau auf dem Porträt unten.« Vorsichtig – mit Kindern gehe ich meistens so um wie mit streunenden Hunden – berührte ich ihn an der Schulter. »Du armes Ding, da hat sich jemand einen Scherz erlaubt, und dir hat es richtig Angst gemacht.« Er zog das Handtuch enger. »Also! Ich habe vor Schreck aufgeschrien. Eigentlich war es aber eher ein Keuchen. Ich habe bestimmt nicht geschrien, als wäre ich mitten in einem Stephen-King-Film. Meine Vermutung ist, daß es Ms. Faith war, die aus einem Alptraum aufgeschreckt ist.« »Du bist ein wahres Genie!« Überzeugt, daß Bingo mich lieber von hinten sehen wollte, entschuldigte ich mich und ging ins Bad. Dort lehnte ich mich gegen die Tür und holte ein paarmal tief Luft, um wieder zu Kräften zu kommen – wobei die Luft einmal den falschen Weg nahm. Was war dieses Kratzen hinter dem Duschvorhang? Würde ein Messer durch den Stoff stoßen, wenn ich mich rührte? Ich hatte schon die Hand am Türknauf, als ich ein Surren hörte – etwa wie von einem elektrischen Mixer. Manchmal denke ich, mein ganzes Leben ist ein einziger Mixer. Der Vorhang bewegte sich und… dieses verflixte Taube landete auf dem sichtbaren Teil des Wannenrandes. »Du!« Ich zog den Vorhang weg, um sicherzugehen, daß sie allein war, und sah die Kritzelei. Auf den Kacheln an der Wand stand in großen grünen Buchstaben: DIESES HAUS WIRD DICH NOCH KRIEGEN. Aha, trug Bingo deshalb ein Handtuch mit sich herum? Ein Versteck für seine Marker. War das Wunderkind im gründe seines Herzens bösartig?
Einen Augenblick sahen die Taube und ich einander an, bevor ich mich ostentativ abwandte und den Medizinschrank öffnete. Wenn je ein Abend nach einer Antacid-Tablette verlangte, dann dieser! Und mir fiel ein, daß ich ein Fläschchen davon gesehen hatte, als Mary Faith Marjorie Rumpson und mir die zusätzliche Dimension des Schranks zeigte. Ich weiß auch nicht, was genau mich dazu trieb. War es die Gelegenheit, vor der Taube angeben zu können? Ich entfernte die Deodorants und so weiter und drückte auf den Miniknopf über dem dritten Regal. Abrakadabra! Als Zauberer war ich dem Comte ebenbürtig. Ich konnte direkt in das geheime Sitzungszimmer schauen. Ich sah den Wagen mit der Kaffeekanne und den Pappbechern. Ich sah den Tisch… und ich sah die niederschmetternd schöne Valicia X, wie sie mit Ben sprach! Mein Herz krampfte sich zusammen, doch ich schaffte es, den Knopf zu meiner Linken zu drücken; seine Stimme war so nah, er hätte zu mir sprechen können. »Gleich als Sie zur Tür hereinkamen, wußte ich es«, sagte er. »Ja?« Ihr tizianrotes Haar wogte ihr aus der Elfenbeinstirn. »Und haben Sie die Minuten gezählt, bis wir allein sprechen konnten?« Ihr Lachen war eine Lawine, die mich in eisige Kälte unter sich begrub. »Sagen Sie mir eines, Ben, hat Ihre Frau Verdacht geschöpft?«
Da ich sonst nirgends hin konnte, machte ich in dieser Nacht eine Reise nach Hause zu St. John’s Wood, wo ich aufgewachsen war. Ich hatte immer gefunden, daß das Haus Ähnlichkeit mit meinem Onkel Maurice hatte – makelloser zweireihiger Anzug, glasige Augen, leicht schäbig unter dem neuen Anstrich, und dennoch hielt er sich für Klassen besser als seine Nachbarn. Wir lebten in dem Apartment in der obersten Etage, dem behelfsmäßig umgebauten einstigen Quartier der Dienerschaft – Dads beständiger kleiner Witz war, daß wir eines Tages in etwas Besseres absteigen würden. Der Traum war nicht verschwommen. Kein Gefühl, als sähe man durch den rissigen Film des Schlafs. Ich war dort, kletterte den Steilhang aus Stufen hoch, die nackten Bretter so ausgetreten, daß sie spiegelglatt waren. Ich spürte, wie mein Rock über meine Beine streifte, ich roch feuchte Zeitungen und Messingpolitur und Fisch. Das Geländer fühlte sich unter meiner Hand hart und real an. Höher, immer höher hinauf, an Apartment Nr. 5 vorbei, wo die alte Mrs. Bundy lebte. Schreckliche Frau, pochte immerzu mit dem Stock an ihre Decke. Doch hin und wieder war sie auch in freundlicher Stimmung. Ich weiß noch, wie sie mich an meinem siebten Geburtstag ihre Katze Angela streicheln ließ. Und ein anderes Mal steckte sie ein Päckchen Weingummi in meinen Schulranzen, begleitet von einem asthmatischen »Kein Wort davon zu Vater«. Sie meinte Mr. Bundy, nicht meinen Vater. Die Luft wurde dünn. Da ich nicht in Form war, mußte ich das Geländer als Schleppseil benutzen. Dad sagte gern, wir lebten oben bei den Göttern. Ausdrücke vom Theater kamen ihm
immer leicht über die Lippen. Er hatte in seiner Jugend auf den Brettern gestanden. In Minirollen. Soldaten oder Polizisten, solche Sachen. »Ich werde dafür bezahlt, daß man mich sieht, nicht hört«, wie er es ausdrückte. Eine harte Probe für jemanden, der glaubte, Shakespeare habe beim Schreiben an ihn gedacht. Einmal, als er in einer Grabraubszene einen Leichnam spielte, brach er in eine feurige Rede aus und konnte nicht wieder aufhören, bis er von dem Schwert des Hauptdarstellers durchbohrt wurde. Er und meine Mutter, eine Tänzerin, lernten sich kennen, als sie beide in Mikado mitwirkten. In jeder Lebenslage Künstlerin, meine Mutter. Besaß ihre Elternrolle auch nur einen Funken mehr Realität für sie als die Rolle der Giselle, nach der sie mich benannte? Ob sie zu Hause war? Meine Hand war bleischwer, als ich bei Nr. 6 anklopfte. Die Tür war kaum zu sehen unter der Collage aus Theaterplakaten. Und plötzlich hatte ich entsetzliche Angst, daß mein Kommen ein Fehler war. Hier war nichts für mich zu holen. Mutter war seit Jahren tot, und wo Vater war, wußte Gott allein. Keiner von beiden kannte Ben oder auch Mrs. Bentley Haskell. Zu spät. Die Tür war langsam aufgegangen, und eine verträumte Stimme rief: »Komm rein, Ellie Schatz.« Das Wohnzimmer sah genauso aus wie am Tag unseres Einzugs. Ein gemütliches, verrücktes Chaos, die Möbel standen an den merkwürdigsten Stellen. Die Standuhr erhob sich mitten im Zimmer, auf dem nackten Fußboden. Und vor dem Kamin stand ein Schreibtisch, als warte er darauf, an die richtige Stelle geschoben zu werden. Von dem Kronleuchter baumelte jahrealter Weihnachtsschmuck herab. Ein Teppich war zu einer Art Nackenrolle zusammengelegt, während auf der Fensterbank gefaltete Leinenvorhänge darauf warteten, aufgehängt zu werden, wenn Zeit dazu war. Meine Eltern
hatten nie genug Zeit, alles zu erledigen, was sie sich vorgenommen hatten. Ein einschlägiges Beispiel: Mutter war eine Treppe hinuntergerannt – nicht die schrecklichen Stufen, die ich gerade erklommen hatte, sondern die Bahnhofstreppe –, als sie in den Tod stürzte. Für einen Geist sah sie unheimlich gut aus. Ebenso unverändert wie das Zimmer. Einer der wenigen Vorteile, wenn man jung starb. Ein seltsamer Gedanke, daß ich eines Tages, in nicht allzu ferner Zeit, älter wäre, als sie jemals geworden war. Auf der anderen Seite haben manche Menschen eine ausgesprochene Begabung dafür, jung zu sein. Mit sechs Jahren mußte ich sie schon daran erinnern, draußen bei Nebel einen Schal zu tragen. Ich hatte sogar einmal gedroht, ihre Handschuhe an Gummibändern in ihren Mantel einzunähen, wenn sie noch ein Paar verlor. »Komm, umarme mich, Liebling!« Sie war in mehrere durchsichtige Musselinschichten gehüllt, die zu einer Art griechischem Tutu drapiert waren. Natürlich trainierte sie gerade an der Stange. Dad hatte die Ballettstange angebracht, und erwartungsgemäß verlief sie nicht ganz gerade. Ich blies ihr einen Kuß zu. Sie vollführte eine Arabeske und war dabei eine Spur unsicher auf den Spitzen. »Eine Ewigkeit ist es her, seit ich von dir gehört habe.« Sie geriet etwas aus dem Gleichgewicht, als sie eine tiefe Kniebeuge machte. »Du bist schwer zu erreichen.« Ich setzte mich auf einen Stuhl, auf dem ein Papierstapel lag. »Mutter, wir müssen uns unterhalten.« »Jederzeit, mein kleines Mädchen.« Mit dem rechten Arm vollführte sie eine fließende Bewegung. »Wie reizend von dir, vorbeizukommen. Dein Vater ist immer zu sehr damit beschäftigt, lebendig zu sein, um sich zu melden. Und die
Leute haben diese alberne Vorstellung, daß ich sterbenslangweilig bin, seit ich entschlief.« »Mutter!« »Mit aller gebührenden Bescheidenheit, ich bin tot lebendiger als viele andere Leute, die ich kenne…« »Oh, bitte!« Ich preßte die Finger an die Schläfen. »Du änderst dich doch nie! Immer treibst du in deinen eigenen privaten Gewässern.« Mutter hörte auf, nur auf einem Bein zu stehen, nahm die Hand von der Stange und drückte sie an ihre elegant-knochige Brust. »Mein Liebling, haben du und dein hinreißender Ehemann Probleme?« Ich kämpfte gegen das Schniefen in meiner Stimme. »Unsere Beziehung ist ein Scherbenhaufen, Mutter, ich bin hier, um Anklage zu erheben. Hättest du mich zu einer schönen, charmanten und witzigen Frau erzogen, dann hätte Ben sich nie einer anderen zugewandt.« Sie hob die linke Augenbraue und gleichzeitig das rechte Bein, doch ich gab ihr nicht die Gelegenheit, etwas zu sagen. »Wie kannst du es rechtfertigen, ein Kind zur Welt gebracht zu haben, daß im Alter von acht Jahren mehr wog als du mit dreißig? Wo war dein Sinn für Verantwortung, als du mir einen Vater aufhalstest, der glaubt, alles, was man besitzt, sollte in einen Koffer passen? Du sagst, er hat keine Zeit für dich, na schön, und was ist mit mir? Ich soll angeblich am Leben sein.« »Ellie, Liebstes.« Sie machte an der Stange weiter. »Soviel Zorn! War ich denn zu beschäftigt, um etwas davon zu bemerken?« »Zu beschäftigt, um Mutter zu sein. Meine Weihnachtsgeschenke habe ich selbst eingewickelt.« »War das denn so falsch? Daddy und ich wollten, daß du jede Seite der aufregenden Weihnachtszeit voll auskostest.«
»Von sechs Jahren an habe ich meine Geburtstagsfeten selbst ausgerichtet.« »Wir wollten, daß du selbständig bist.« »Na, herzlichen Dank. Ist das auch die Erklärung dafür, daß ihr mich mutterseelenallein mit Zug und Taxi zu Merlins Schloß geschickt habt, zu einem uralten Großonkel, den ich noch nie gesehen hatte? Laß mich dir eines sagen, Mutter, diese Erfahrung hat mich fürs Leben gezeichnet. Das Ergebnis ist das Scheitern meiner Ehe. Und sag’ jetzt nicht, daß ich Ben ohne Onkel Merlin nie begegnet wäre. Solche Bemerkungen sind hier fehl am Platz. Du hast nicht mal gemerkt, daß ich ein Baby bekomme, oder? Oder?« »Ellie.« Mutter stand ganz still, nur ihr Tutu regte sich. »Du könntest doch ein Buch über meine Verfehlungen schreiben.« »Warum nicht!« Ich stand auf und strich energisch die Ärmel meiner Bluse glatt. »Andere Menschen machen das auch. Wie soll eine geschiedene werdende Mutter denn auch sonst für ihren Unterhalt sorgen?« »Mein armer Liebling!« Ihre Stimme war ein Flüstern an meinem Ohr, aber ich konnte sie schon nicht mehr sehen. Welche Erleichterung, aufzuwachen und festzustellen, daß der Schlaf meine Erinnerung nicht getrübt hatte. Ich spürte noch jeden qualvollen Atemzug des Verrats vom gestrigen Abend. Dem Himmel sei Dank, daß es Stolz gibt. Als Valicia X von mir als der ahnungslosen Ehefrau sprach, schloß ich den Medizinschrank und floh ins Schlafzimmer. Und als Ben etwa fünf bis zehn Minuten später zurückkam, stellte ich mich tot. Oh, dieser entsetzliche Judaskuß auf meinen Nacken, diese tückischen Hände, die mein Haar zurückstrichen, die Qual, ihn murmeln zu hören: »Schlaf gut, meine Liebste.« Sonnenstrahlen stachen durchs Fenster und bespritzten die Wände. Neun Uhr zeigte der Reisewecker. Als ich mich umdrehte, fand ich Bens Seite des Bettes leer vor. Er hatte
mich wohl im Schlaf sprechen gehört und mußte erkannt haben, daß sein Leben in Gefahr war. Das Leben türmte sich vor mir auf, unüberwindlich wie ein Berg aus Kleidern, die gewaschen werden mußten. Niemand, der mir Blumen brachte; niemand, der mir sagte, ich sähe toll aus, wenn ich mich miserabel fühlte; niemand, der das Bügeln übernahm. Dieses Biest! Warum hatte er mir das Leben vorher nicht unerträglich gemacht, so daß es mir jetzt leichtfiel, ihn zu verlassen? Gab es denn keine Tiefen, in die er nicht sinken würde? Drüben beim Fenster stand unser aus dem Bootshaus gerettetes Gepäck. Woher wußte ich denn, daß er und nicht Pepys dafür verantwortlich war? Ganz einfach. Der Verräter hatte mir einen Zettel auf der Frisierkommode hinterlassen. Ich las ihn schnell, dann zerriß ich ihn fein säuberlich. Er hoffte, ich hätte einen schönen Tag! Und er verabschiedete sich mit Küssen. Ha! Fühlte er bereits, daß seine Affäre mit dieser Frau bald in einem letzten Auflodern der Leidenschaft verglimmen würde? Sollte ich wie eine Wärmflasche in Reserve gehalten werden, für den Fall, daß die Zentralheizung ausfiel? Der Mann mußte dafür bezahlen. Ich schaute aus dem Fenster auf das Wasser, das die Insel umgab und spielte mit dem Gedanken, zu sterben – an irgendeinem seltenen Flußpilz, durch eheliche Vernachlässigung ausgebrochen. Sollte er seine Reue doch in eine Pfeife stopfen und rauchen. Nein! Ich durfte mich nicht solchen Phantasien hingeben. Nichts durfte den gleichmäßigen Verlauf meines Elends stören. Ich mußte an mein Kind denken. Und, um der Wahrheit die Ehre zu geben, ich fühlte mich ekelhaft gesund. Was mir keine andere Wahl ließ, als ein Bad zu nehmen und mich zur Vorbereitung auf eine heiße Affäre mit dem ersten Mann, der mir über den Weg lief, anzukleiden. Mit meinen Aussichten stand es nicht zum besten, denn mein Rock wollte sich erst nicht zuknöpfen lassen, und schon nach
wenigen Schritten hörte ich ein Reißen. Und wenn schon! Der sexy Schlitz vom Knie bis zum Oberschenkel paßte zu meinem neuen Image. Ich hatte aufgehört, mir das Haar zu raufen und ließ es locker herunterhängen. Oben an der Treppe präsentierte der Zufall mir Mr. Brown. Sein attraktives Gesicht war eine Durchgangsstraße der Gefühle. Keines davon glücklicher Natur. »Guten Morgen«, sagte ich und klimperte mit den Wimpern. »Ja, aber ist es auch wirklich ein guter Morgen?« Er ließ die Schultern hängen und unternahm einen halbherzigen Versuch, sich meines Namens zu entsinnen. »Ellie Haskell«, half ich nach. »Ebenfalls mit einem Kandidaten verheiratet.« »Richtig – Sie sind nicht die Französin, auch nicht die in der orangenen Hose, sondern die Schwangere. Sagen Sie mal, steht Ihnen dieser unamerikanische, gottlose Mumpitz nicht bis hier?« Er schlug mit der Faust an sein Kinn. Ich vergaß mein eigenes Elend, um seines zu lindern. »Mr. Brown, die Mange-Gesellschaft ist doch kein religiöser Kult.« »Wir wissen doch gar nicht, was sie ist, oder? Als ich unten war und versuchte, etwas zum Frühstück hinunterzuzwängen, erzählte mir die Französin, daß die neueste Kandidatin eine Hexe ist.« Et tu, Solange? »Mrs. Haskell, haben Sie gar keine Angst? Fragen Sie sich nicht, wozu Ihr Mann hinter verschlossenen Türen gemacht wird? Werden Sie Ihn überhaupt noch wiedererkennen, wenn Sie ihn zurückbekommen? Denken Sie an Ihr Kind!« Mr. Brown verstummte. Rein zufällig oder auch mit Absicht hatte er mir ins Gesicht gesehen, und jetzt verzog er angewidert seines. Er schaute auf den Schlitz an meinem Rock und betrachtete mein üppiges Haar, als hätte ich eine Krankheit, die sich seine
Lois ebenfalls einfangen könnte. Ich hatte Lust zu schreien: Sie sind ja nur unglücklich, weil Ihre Frau in die Vorstellung verliebt ist, eine Mange zu sein! Was ist das schon! Mein Mann ist verliebt in eine Mange. Und Sie, mein Herr, haben Ihre Chance verspielt! Ich würde bedeutend lieber ein schnell wirkendes Beruhigungsmittel nehmen als eine Affäre mit Ihnen einzugehen. Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Wenn Sie mich entschuldigen…« »Rechnen Sie nicht damit, Ihren Mann unten zu treffen«, sagte er bedrückt. »Die heutige Sitzung hat schon begonnen.« Perfekt. Ich würde mich lieber mit ins Meer treiben lassen, als diese Stufen hinunterzugehen und Ben zu treffen… und seine Valicia. Ich war nicht in der Stimmung, irgend jemanden zu treffen oder mich im Speisezimmer unter die Leute zu mischen. Ich brauchte Zeit. Zeit für ein Face-Lifting, Zeit, um Klavier spielen zu lernen, Zeit, um fließend sechs Sprachen sprechen zu können. Eine witzige, charmante, kompetente Frau lächelte im Angesicht des Verrates. Ich verließ Mr. Henderson Brown. Zwei Türen vom Bad entfernt, in einem Alkoven versteckt, fand ich… einen Aufzug. Nun, warum sollst du dich nicht etwas verwöhnen, Ellie Liebes? Schließlich bist du schwanger. Als ich die schmale Holztür öffnete, fand ich dahinter eine weitere Tür – eine Falttür im Ziehharmonika-Stil – die mich von der hölzernen Fahrstuhlplattform trennte, die in dem dunklen Schacht aufgehängt war. Vorsicht. Manchmal kam mit der Morgenübelkeit ein Anfall von Höhenangst. Ellie, du mußt das nicht tun. Nimm die Treppe, um dir Bewegung zu verschaffen. Unsinn! Dies war ein Abenteuer! Als ich die Aufzugskabine mit ihren sechs Fuß hohen Seiten aus Maschendraht betrat, weigerte ich mich zu glauben, daß ich im Begriff war, mich selbst zur Gefangenen zu machen. Eine Lampe ging an. Die
Knöpfe für die einzelnen Stockwerke waren bequem zu erreichen. Ein elektrisches Summen glitt meinen Arm hoch, Seile wurden ächzend über eine rostige Walze gezogen. Drei, zwei, eins: ein raketenschneller Abstieg. Ein Ruck ging durch meine Eingeweide, als der Boden unter meinen Füßen wegsackte. Ich packte die Seiten der Kabine, dann zog ich die Hände weg; die Wände des Schachtes rückten immer enger zusammen je tiefer ich kam. Ein halbes Jahrhundert später erreichte ich die Eingangshalle. Erstaunlich, daß alles noch genauso war wie am Abend zuvor – die erdrückende Mahagonipracht, der Kronleuchter vom Pfandleiher, die sauerstoffarme Luft. Villa Melancholie. Heimstatt der schwarzen Wolke. Ob irgend etwas anders verlaufen wäre, wenn ich die Tramwells besucht und selbst mit Chantal gesprochen hätte? Was hatte sie noch mal gesagt? Daß ich die Antwort in mir selbst finden müsse? »Bonjour, Elliiieee! Sie reisen aber stilvoll.« Solange hätte aus einer Hochglanz-Modezeitschrift ausgeschnitten sein können, etwa anno 1789. Sie glitt auf mich zu, der Kragen ihres Umhangkleides reichte ihr bis zu ihren Ellbogen; ein breiter schwarzer Gürtel schnürte ihre Taille zusammen. Sie trug auffällige schwarze Ohrringe, und ihr Haar war im Nacken zu einem tiefen Knoten zusammengebunden. »Na, was haben Sie denn für Kummer, ma chérie?« Mit einem feuerroten Nagel berührte sie meine Wange. »Sie sehen aus, als wollten Sie gleich in Tränen ausbrechen.« Um ein Haar hätte ich mich ihr an den Hals geworfen und die ganze traurige Geschichte herausgeschluchzt. Mich hielt nur die Angst ab, daß der Schlitz in meinem Rock noch größer wurde und außerdem, daß Solange als Französin es eventuell nicht nur für akzeptabel, sondern sogar für très bien hielt, wenn ein Mann eine Mätresse hatte. Auf gar keinen Fall wollte ich eine Spielverderberin genannt werden.
»Diese Ringe unter Ihren Augen, Sie konnten wohl auch schlecht einschlafen nach dem großen Schrei. Aber ich glaube, daß wir nicht noch mal aus dem Schlaf schrecken müssen. Mr. Grogg und Mademoiselle Divonne sind weg. Kein Wort des Abschieds. Kein Wort des Abschieds, es sei denn…« Sie zupfte meinen Kragen zurecht. »… ich nehme, das was ich gestern abend auf meinem Kissen fand, als bon voyage.« »Schnecken?« frage ich. »Non!« »Das wäre ja eine nette Geste. Jemand nahm das preisgekrönte Rezept meines Vincent für La Potage Grandmère und spießte es ans Kissen. Mein Vincent hat Angst, ›buh!‹ zu sagen, weil er glaubt, es ist ein Test der Manges.« »Oje.« Nichts Gutes ahnend erinnerte ich mich an Bens Bemerkung, daß Bingo mehrmals im Laufe des Abends darum gebeten hatte, ihn »zu entschuldigen.« Wir gingen gemeinsam ins Speisezimmer. Ich hatte gedacht, ich würde nie wieder etwas essen wollen, merkte jedoch, daß ich gegen das verführerische Aroma, das von dem Büffet aufstieg, nicht immun war. »Hat Pepys die Groggs mit dem Boot nach Mud Creek gebracht?« fragte ich Solange. »Was? Ich soll Leute in mein Boot lassen, die Backpulver in dieses Haus geschmuggelt haben? Nur über ihre Leichen!« Gelächter erscholl. Das Sonnenlicht war weniger freundlich zu Pepys als zur Comtesse. Eisblaue Augen blinzelten unter Lidern hervor, die Ähnlichkeit mit an den Rändern ausgefransten Knopflöchern hatten. Sein zerknittertes Gesicht und der Kahlkopf hätten gut eine Gummimaske sein können – eine, die etliche Nummern zu groß war. Der Rest bestand aus einem Sack loser Knochen, die man in einen dunklen Anzug geschüttet hatte. »Wie sind Jim Grogg und Divonne denn von hier weggekommen?« fragte ich. Die fehlenden Messer hatte ich
mir nicht nur eingebildet. Jetzt hingen nur noch vier in dem kunstvollen Schaukasten an der Wand. Zwei Konsolen waren leer. »Keine Ahnung, ist mir auch völlig schnuppe!« Pepys verdrehte die Augen, bis ich nur noch das fahle Weiß sah. »Ich hab’ genug damit zu tun, mich zu fragen, was meine liebe neue Arbeitgeberin, Miss Mary Faith, wohl den ganzen Tag in ihrem Zimmer treibt.« »Sie bemüht sich, Sie unsterblich zu machen!« Solange goß sich Kaffee ein. Pepys schüttelte sich. »Und ihre Mutter, welch ein Unterschied! Ich kann mich keinen Augenblick ruhig hinsetzen, wenn Miss Theola sich hier aufhält! Sie fährt durchs Haus wie ein Wirbelwind und stolpert in ihrem FederFlitterkram herum. Stößt Ziergegenstände vom Klavier. Schreit nach Jeffries und mir, wir sollen mit ihr singen.« Seine schwieligen Hände arrangierten einige Weintrauben auf einer Platte mit Räucherlachs. »Genug! Die Damen werden mich entschuldigen, wenn ich Sie jetzt verlasse.« Mit geballten Fäusten und angewinkelten Armen joggte er langsam zur Tür hinaus. »Keine Sorge.« Die Comtesse stellte ihre Kaffeetasse ab, und ihre Lippen verzogen sich zu einem Dreiviertellächeln. »Wir werden ihn wiedersehen. Mein Vincent sagte mir, Pepys hat heute von Valicia X die Anweisung erhalten, jeden, der es wünscht, zum Festland zu bringen. Das macht ihm nicht die geringste Mühe, denn er muß sowieso noch Miiiss Rumpsons Gepäck abholen. Ich gehe jetzt, meine Gurkenmaske ruft, und dann geht es ab nach Mud Creek. Mrs. Hoffman kommt mit. Sie auch, Elliiieee, bitte!« Ich versprach es, und sie ging. Nun, warum auch nicht? Zu den Attraktionen des Festlands zählte schließlich der schwarze Mietwagen. Die Schlüssel waren in meiner Tasche, zusammen
mit den berüchtigten Reiseschecks. Wäre es nicht das Beste für alle Beteiligten, wenn ich mich hinters Lenkrad schwang und in den Sonnenuntergang fuhr? »Edelmut steht dir nicht, Ellie!« sagte Tante Astrid gern zu mir. Mutter hatte es anders ausgedrückt: »Liebling, wenn du die Nase hoch trägst, siehst du nicht, wohin du gehst.« Eine Träne rollte an der Nase hinunter und fiel auf meine Lippen. Mist! Meine Wimpern würden zu einem Nichts schrumpfen. Wie hieß es, bei Fieber hungern, bei gebrochenem Herzen essen? Unentschlossen schwankte ich zwischen zwei Servierschüsseln hin und her, die auf der Anrichte aus schwarzer Eiche standen, als Jeffries hereinkam. Zum Glück lag der Raum im Halbdunkel. Jeffries würde nicht merken, daß ich geweint hatte. »Warum heulen Sie so?« »Ich habe eine Stauballergie«, konterte ich. Sie war das Ebenbild von Crosspatch, der Fee. Ihre Dienstmädchenuniform stand ihr ebensowenig wie mir das Ballettröckchen, als ich acht Jahr war und ungefähr ihre Größe hatte – im Quadrat. Diese Pferdehaar-Locken, und ein Gesicht wie ein Türklopfer! Man mußte ihr gratulieren, weil sie nach einem Blick in den Spiegel nicht auf Lebenszeit bettlägerig wurde. Ohne einen Finger zu rühren, hatte sie mich von der Anrichte verscheucht und stand Wache an der Schlange silberner Servierschüsseln und Platten mit Aufsatz. Brauchte ich eine Eintrittskarte, um bedient zu werden? Ach, herrje. Sie hob einen Deckel, und ein herrlicher Duft nach Tomaten und Kräutern, mit Schinken angereichert, stieg in einer Dampfwolke auf. Sie rührte mit einem massiven Holzlöffel um und ging weiter, um einen anderen Deckel zu heben. Diesmal hatte das Aroma auf meiner Zunge Karamelgeschmack. Mein Magen knurrte.
»Ha’m Sie was gesagt?« Jeffries stieß einen Löffel, der größer als sie selbst sein mußte, in eine Pfanne mit Rührei und reichlich Käse, Sahne und Schnittlauch. »Hat Ihnen jemand die Zunge abgebissen?« »Ich nehme ein wen... – pardon, reichlich von allem.« Sie fixierte mich mit ihren Walnußaugen und stach mit dem Finger nach den drei Tellern, die ich ihr hinhielt. »Sammeln Sie für Ihre Schublade?« »Eier sind Eier und Tomaten sind Tomaten, und die beiden sollen einander nie begegnen.« »Wenn Sie nicht spinnen!« Erstaunlicherweise hörte es sich bei ihr an wie ein Kompliment. »Und ich nehme an, Sie halten auch nichts von Papptellern.« »Nein, tue ich nicht.« Sie löffelte Rührei auf einen meiner Teller, weißes Porzellan mit blauem Rand. »Ich sage immer zu Pepys, daß Pappteller mehr zum Untergang des guten alten Amerika beigetragen haben als alles andere. Damals, zu der Zeit, als ich Theola Faiths Garderobiere war und seine Verrücktheit Türsteher beim Palace Theatre, da wußten die Leute noch, wie man eine Party feiert.« Ich reichte ihr den nächsten Teller. »Wie ist sie eigentlich so – Miss Faith? Aus einer Äußerung von jemandem« (ich erwähnte Mary lieber nicht) »habe ich den Eindruck gewonnen, daß Sie sie nicht oft zu sehen bekommen.« Im Stil einer Drehtür ging Jeffries sofort in die andere Richtung – Unfreundlichkeit war angesagt. »Sie ist ein wahrer Boß – so ist sie! Mehr sage ich nicht. Nicht, solange diese Frau, die sich ihre Tochter nennt, im Haus ist. Hier haben die Wände nicht nur Ohren, sie haben auch Münder!« Ihre Heftigkeit ließ mich zurückweichen. »Wir stehen auch in diesem Buch, wissen Sie, Pepys und ich. Sie hat uns andere Namen gegeben – um die Unschuldigen zu schützen. Setzt das nicht allem die Krone auf?
Glauben Sie, ich erkenne mich nicht überall wieder? Wippende Locken und ein Koboldlächeln. Wollen Sie behaupten, daß Sie nicht gerade direkt davorstehen?« Schnell! Lass’ dir einen Themawechsel einfallen! »Dies muß eine hektische Zeit für Sie sein, aber wenigstens haben Sie zwei Leute weniger zu versorgen, seit die Groggs weg sind. Wer hat sie nach Mud Creek gebracht?« »Ich war’s nicht. Und was vermuten Sie?« »Ich…« Und wich vor ihrem Schöpflöffel zurück. »Und glauben Sie bloß nicht, einer der Kandidaten hätte sich eingemischt. Sie haben die Regel gehört, daß die die Insel nicht verlassen dürfen. Ihr Hilfsleute habt euch alle dumm gestellt, also bleibt nur noch sie übrig.« »Valicia X?« »Äußerst unwahrscheinlich! Sie hat Angst vor Wasser.« »Ich verstehe… Mary…« Ich zog einen der thronähnlichen Stühle zurück und saß in einsamem Glanz am Tisch. Manche Gewohnheiten legt man nur schwer ab. Ich machte mir Sorgen um Ben. Falls er die Groggs verloren am Ufer hatte stehen sehen, als er wegen unseres Gepäcks zum Bootshaus ging, war er so unbesonnen gewesen, sie in die Freiheit zu rudern? Ihn reizen solche illegalen Aktionen. »Ist das Essen nicht gut genug für Sie?« Jeffries stand mit der Kaffeekanne an meiner Schulter. »Köstlich!« »Sie starren wohl immer so gegen die Wand, ja?« »Nein.« Ich zog den Ellbogen von etwas Feuchtem weg. »Gestern abend habe ich zufällig einen Blick hier hinein geworfen, und es hingen sechs Messer an der Wand dort. Jetzt sind es nur noch drei.« Ein markerschütternder Schrei entrang sich Jeffries’ Lippen. Ich fing die Kaffeekanne gerade noch rechtzeitig auf. Jeffries hüpfte von einem Fuß auf den anderen, ihr Gesicht war
wutverzerrt wie das eines Zwerges, der beim Nachhausekommen entdeckt, daß alle seine Zaubersprüche gestohlen wurden. »Zuerst pfuscht jemand mit den Regeln herum, und jetzt das hier! Diese Messer wurden in Villa Melancholie benutzt!« »Ich muß schon sagen!« Ich klammerte mich am Sitz meines Stuhles fest. »Darf ich fragen, ob Sie öfter solche Schreie ausstoßen?« »Urschrei. Ein Rat meines Therapeuten. Manchmal geht es tagelang, ohne daß ich mir Luft mache, aber gestern abend hat mich dieser gesunde Impuls zweimal überwältigt, und – « Ihre nächsten Worte gingen unter. In dem Raum befand sich kein elektrischer Deckenventilator, aber plötzlich war es, als sei einer auf volle Stärke gedreht. Zwei von meinen Tellern sprangen in die Luft, und die Kaffeekanne geriet wieder ins Schleudern. Die allgegenwärtige Taube startete einen Überfall auf uns. Unser gefiederter Freund mußte sich hinter den Vorhängen versteckt und unser Gespräch belauscht haben. Doch was war das…? Ich sah doppelt! Es waren zwei. Sie flogen immer rundherum und zwangen mich durch ihre heftigen Flügelschlägen die Waffen zu strecken, ich hielt die Arme über den Kopf. Jeffries, zu Hilfe! »Reg dich ab, Derby! Und du auch, Joan! Oder ich breche euch die Beine, das schwöre ich euch.« Zahm hockten sich die beiden Vögel auf die Gardinenstange und fixierten uns mit ihren scharfen Augen, als wollten sie sagen: »Wie dumm diese Sterblichen doch sind.« Hinter uns hörte ich eine Tür zugehen. Als ich meine Schultertasche aus meinem Zimmer holte, bekam ich Zweifel wegen des Ausflugs nach Mud Creek. Zu zweit ist es gemütlich, ein Dritter stört, wenn einer von dem Trio schlecht drauf ist. Ernestine und Solange würden ganz dicke Freundinnen und in strahlender Laune sein, sich
Geheimnisse des reiferen Alters zuflüstern und über die neuesten Scheidungswitze kichern. Ich würde pflichtgemäß an den falschen Stellen lachen. Und sie würden einander anstoßen. Sich vielleicht an die Stirn tippen. Hand aufs Herz, wollte ich das? Eine Frau konnte nur eine bestimmte Dosis Einsamkeit ertragen. Womit ich ausdrücken will, daß mein Motiv, zu Mary Faiths Zimmer weiterzugehen und an ihre Tür zu klopfen, keineswegs altruistischer Natur war. Ich wollte aus ihrem verwundeten Lächeln Trost schöpfen, mich an ihrer wehleidigen Stimme aufrichten. »Herein.« Die Einladung klang so wenig begeistert, wie ich es mir nur wünschen konnte, und das Zimmer war genauso, wie ich es von gestern abend in Erinnerung hatte. Ein Ort, passend fürs Totenbett und fürs Wochenbett. Der massive Kleiderschrank war der Eingang zu dem Geheimzimmer. Die graubraunen Vorhänge waren bis zur Wand weggezogen, zweifellos eine Arbeit für zwei kräftige Männer. Die dunklen Möbel schienen fast nach Gewicht eingekauft worden zu sein, so wie Kohle, eine Tonne für soundsoviel Dollar. Die reglose Gestalt in der Mitte des Heinrich-VIII.-Himmelbetts war ganz bestimmt Mary. Pepys und Jeffries konnten ja nicht laufend ihr gedrängt volles Programm unterbrechen, um etwas Ekliges unter die Bettdecke ihrer Arbeitgeberin zu stecken. Als eine Hand den Bettvorhang wegschob, der von einer goldfarbenen Kordel zusammengehalten wurde, unterdrückte ich ein Wimmern. »Stellen Sie meinen Tee auf den Tisch und bleiben Sie hier raus, bis ich wieder läute. Sie haben es mit der Frau zu tun, die in der New York Times vorgestellt und zweimal zu Guten Abend, USA eingeladen wurde. Ich bin nicht mehr das Kind, dem man mit dem Trockner drohen konnte.«
Niemand anders als Mary. Als sie sich aufsetzte, stieß ich fast einen Schrei aus. Die Sonne leuchtete grausam ihre zerdrückte Toupierfrisur und ihr mit einer maskenähnlichen Creme vollgepacktes Gesicht aus. Sie hatte keinen Mund und zwei schwarze Löcher, wo ihre Brille hätte sein sollen. Diese lag neben dem Telefon auf einem Nachtschrank, auf der Seite des Bettes, die am weitesten von der Tür entfernt war. Anscheinend hielt sie mich für Pepys oder Jeffries, obwohl sie in meine Richtung blinzelte. Und wie nicht anders zu erwarten, fühlte ich mich schuldig – als hätte ich mich unter falschem Vorwand bei ihr eingeschlichen. Arme Mary. Ich konnte meine Cousine Vanessa oder auch Valicia X bewundernd sagen hören: »Niemand wird so unscheinbar geboren, man muß hart dafür arbeiten.« Das langärmelige Nachthemd, das Mary trug, war so spröde, daß es schon wieder Hoffnungen weckte. »Ich bin’s, Ellie Haskell!« Auf Zehenspitzen trat ich vor, meine Tasche schlug gegen meine Seite. »Verzeihen Sie, daß ich so hereinplatze, aber ich wollte fragen, ob Sie Lust haben, nach Mud Creek zu fahren. Einige von uns – « »Was, ich?« Sie zuckte zum Kopfende zurück. »Meinen Sie wirklich mich?« Sie griff zwar nach einem Taschentuch, brach jedoch nicht in Tränen aus. Statt dessen machte sie sich daran, das weiße Zeug von ihrem Gesicht abzuwischen. Dann strampelte sie wie ein aufgescheuchtes Fohlen die safrangelben Laken und die Gobelindecke weg und stand auf. »Theola hat mir immer eingebleut, daß ich nicht dafür geschaffen bin, Freunde zu haben, aber gestern abend wußte ich gleich, daß Sie und ich geistesverwandt sind. Sie haben die gleiche geduckte Haltung wie ich.« »Herzlichen Dank.« Ich versuchte, einen erfreuten Eindruck zu machen. »Bei Ihnen sieht sie gut aus.« Mary warf das Taschentuch weg. »Geben Sie mir bitte meinen Morgenmantel, Süße. Oh, es ist
so aufregend – wie der Morgen nach eine Party mit Übernachtung! Das Mittagessen geht an mich.« »O nein!« protestierte ich. »Sie haben recht. Beste Freundinnen teilen immer alles. Müssen wir die beiden anderen den ganzen Tag mitschleppen?« Mist! Ich konnte den Morgenmantel zwischen den Kleidungsstücken, die in unordentlichen Haufen auf den Stühlen lagen und von der Fensterbank quollen, nicht entdecken, und ich hatte allmählich den Verdacht, daß Mary eine Schulmädchenschwärmerei für mich entwickelte. Der rechte Zeitpunkt, um mich an die Worte meiner Mutter zu erinnern, ja, von ihnen regelrecht heimgesucht zu werden: Ellie Liebes, wenn du wirklich beliebt sein möchtest, sei eine Einsiedlerin. Auf diese Weise bist du in aller Munde, du wirst zu Partys eingeladen, wo niemand mit deinem Erscheinen rechnet, der kleinste Auftritt erzeugt einen Riesenwirbel, und du brauchst dich nie mit anderen Menschen abzugeben. Ich ging über einen Grizzlybär-Teppich zu dem schwarzen Marmorkamin und wieder zurück und stolperte dabei fast über den herabbaumelnden Gürtel des Morgenmantels. Ich wollte ihn ihr anreichen, doch sie setzte gerade ihre Brille auf. Und das Telefon läutete. Wir starrten es beide an, als könnten wir unseren Ohren nicht trauen. »Jeffries sagte, es gäbe keines.« Meine Stimme klang vorwurfsvoll. Rrrrring! Rrrrring! Mary, deren Gesicht durch das Fett so fahl aussah wie geschmolzene Butter, ging seitlich zum Nachtschrank, streckte die Hand aus und… rieb sie. »Ein Telefon, meinen Sie!« Sie heftete den Blick darauf, trat einen Schritt vor, zwei zurück. »Manges sprechen mit gespaltener Zunge! Valicia X wollte
nicht, daß die Kandidaten es erfahren, damit sie nicht mogeln und sich von auswärts Hilfe holen.« Das Telefon plärrte weiter. »Möchten Sie, daß ich rangehe?« bot ich ihr an. »Ich kann mir vorstellen, daß die Reporter Sie förmlich belagern.« »Ja, das muß einer sein! Oder jemand von meinem Verlag…« Ihre Miene entspannte sich, doch sie nahm den Hörer ab, als sei er eine tote Ratte. »Hallo?« Vor meinen Augen schrumpfte sie, so unglaublich es klingen mag, zur Größe eines Kindes zusammen. Plötzlich konnte ich sie mir mit Affenschaukeln und einem Panamahut, wie ich ihn in St. Roberta’s getragen hatte, vorstellen. Ich schlich mit ihrem Bademantel vorwärts, als sie auf die Bettkante glitt. »Theola!« Sie packte den Hörer mit beiden Händen, ihre Knöchel wurden blau. Oje! Ihre Atemgeräusche gefielen mir ganz und gar nicht! Ich wünschte, ich hätte eine Sauerstoffmaske griffbereit, oder wenigstens das Riechsalz von Primrose Tramwell. Ich wünschte auch, ich hätte mir das Schienbein nicht an der Rittertruhe am Fußende des Bettes angestoßen. Aber das war jetzt egal! Mary setzte sich aufrecht hin. Ihr Mund war fester geworden, und ihre Brille blitzte mutig. »Genug der Nettigkeiten, Theola, wo zum Teufel steckst du?« Ihre Stimme ging schrill in die Höhe. »Raten? Warum sollte ich? Ich lasse mich nicht auf deine teuflischen Spielchen ein… In Ordnung - Florida! Was meinst du mit eiskalt? In Miami ist es nie… verdammt, du hast es schon wieder geschafft, mich zur Zielscheibe eines deiner albernen Witze zu machen! Aber, um dir zu zeigen, daß ich nicht nachtragend bin« – ihr Lachen schäumte wie ein Getränk mit Kohlensäure, das man kräftig durchgeschüttelt hatte –, »warum läßt du dir von mir nicht ein hübsches kleines Haus auf dem Land kaufen, ein Mausoleum auf dem Happy-Meadows-Friehof? Ich kann es mir leisten. Die
Millionen, die ich mit Monster Mommy mache, sind fast so obszön wie deine Affäre mit den Tarzooki-Boys – Vater, Sohn und Großvater. Was meinst du damit, ich soll den Mund halten, solange es noch nicht zu spät ist? Wie willst du mich denn mundtot machen – mein Spielzeug in den Mülleimer werfen? Nein, ich werde nicht dementieren.« Marys Stimme kam jetzt stoßweise. »Du hast mir auch meinen sechsten Geburtstag verdorben, indem du verlangtest, daß mein Haar passend zu deinem gefärbt wurde und daß wir uns ähnlich anzogen, damit wir so tun konnten, als seien wir Schwestern. Alle hielten mich für deine kleine alte Großmama.« Marys angestrengtes Atmen konnte man bestimmt bis nach Mud Creek hören. »Du hörst mir jetzt zu, Theola – oder hättest du es lieber schwarz auf weiß im Fortsetzungsband? Entweder behandelst du mich wie eine Erwachsene, die das Recht hat, sich ihre eigene Meinung zu bilden – nämlich die Meinung, daß du ein Herz aus Stein hast und ein Silikongehirn –, oder es gibt keinerlei Hoffnung mehr, daß wir jemals wieder zueinander finden können… Wie bitte? Du willst mich um jeden Penny verklagen, den ich mit Monster Mommy verdient habe? Da kann ich ja nur lachen!« Ein Lachen, in dem deutlich Hysterie mitschwang. »Deine Zeit als Komödiantin ist vorüber, Theola Faith.« »Vielleicht sollte ich besser gehen«, warf ich ein. »Nein, bitte!« Mary preßte ihre Hand auf die Sprechmuschel. Ihr Gesicht war kalkweiß. In dem Bewußtsein, daß ich mich schonen mußte, setzte ich mich auf einen Stuhl mit Verzierungen in Form von Löwenköpfen. »Also sind wir jetzt bei Drohungen angelangt, ja!« Mary schoß vom Bett hoch, ihr Busen wogte unter dem mädchenhaften Nachthemd. Irgendwie hatte sie es geschafft, sich mit der Telefonschnur zu umwickeln. »Noch mal… du würdest gern was mit mir machen? Warte einen Moment! Warum wiederholst du das nicht vor einem Zeugen – den Spruch, daß
du mich nachts in deinen Kofferraum sperren und mich auf Nimmerwiedersehen von der Felsklippe stoßen willst.« Mit zitternden Händen hielt Mary mir den Hörer hin, wobei sie sich fast strangulierte. Ich rappelte mich auf und wußte nicht, ob ich half oder eher schadete, wenn ich ihr mein Ohr lieh, doch Marys Aufschrei – »Ellie, hören Sie sich das an. Sie meint ernst, was sie sagt!« – ließ mich meine britische Zurückhaltung vergessen. »Zu spät! Sie hat aufgelegt.« Marys Augen wurden starr. Der Hörer fiel ihr aus der Hand, und sie sank gegen mich. Unbeholfen klopfte ich ihr auf die Schulter. »Na, na!« sagte ich in ihr heftiges Schluchzen. »Wenn ich nur aus ihr herausbekommen hätte, wo sie sich aufhält. Je mehr Staaten zwischen uns liegen, um so sicherer fühle ich mich.« In dem Gesicht, das sich meinem zuwandte, stand das nackte Entsetzen. »Sie wissen ja nicht, wie sie sein kann! Ich muß sofort von hier weg.« Sie schlängelte sich zum Schrank durch, öffnete die Tür und hielt inne. »Nein!« Sie preßte die Finger an ihre Schläfen und schob die Schmetterlingsbrille hoch. »Die neue Mary Faith – der Liebling der Literaturszene – läuft nicht davon. Ellie, auf dieser Insel bin ich so sicher wie irgendwo sonst. Und eines kann ich auf jeden Fall verhindern.« Sie ging entschlossen zum Nachtschrank hinüber. »Du wirst nicht wieder anrufen, Monster Mommy!« Bei dem letzten Wort riß sie wütend die Telefonschnur aus der Wand. Damit hatte sie Jeffries zu einem ehrlichen Menschen gemacht. Es gab kein Telefon auf Mendenhall. »Ellie, macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Sie doch nicht nach Mud Creek begleite?« Mary legte sich auf die Gobelindecke, mit geschlossenen Augen, ganz starr, und ließ mich, zu meiner Schande muß ich es gestehen, an die Worte eines Variete-Liedchens denken…
»Oh, sie gibt eine entzückende Leiche ab, das tut sie, ihr Gesicht hat einen lieblichen bläulichen Schimmer…« Als ich die graubraunen Vorhänge gegen die falsche Herzlichkeit der Sonne zuzog, dachte ich, wie schade, daß niemand Theola Faith umbringt. Die Überfahrt nach Mud Creek in dem Kajütboot ließ Pepys in seinem ganzen Charme erstrahlen. Sein ebenholzschwarzer Anzug war in grünliches Licht getaucht, seine verengten Lider ließen weiße Schlitze frei – er sah aus wie ein Ertrunkener, der aus den Tiefen des Wassers auferstanden war. Es gab nur sporadisch ein Gespräch zwischen den Passagieren, zu denen außer Solange, Ernestine und mir auch Henderson Brown gehörte. Vielleicht war es sein finsteres Gesicht unter dem weißen Leinenhut, das zu der Atmosphäre eines Geisterschiffes beitrug, das niemals das andere Ufer erreichen sollte. Die Sonne setzte den Himmel in Brand, und noch ehe wir die halbe Wegstrecke zurückgelegt hatten, drohte mein Rücken von der Hitze rissig zu werden, und meine Augenbrauen waren versengt. Der leichte Wind legte sich schnell wieder. Die Gischt, die das Boot aufspritzen ließ, brannte mir im Gesicht, sie kühlte es nicht. Der Fluß lag so glatt da wie braunes Flaschenglas, bis auf eine gelegentliche Welle, die plop-plop machte. Ich versuchte, mich auf die Landschaft zu konzentrieren – die Kalksteinfelsen hinter uns mit den Bäumen, die wie ein Irokesenhaarschnitt aussahen. Man konnte sich gut vorstellen, wie Indianer dort oben auf Erkundung gingen, als sich in Mud Creek erst wenige Siedler niedergelassen hatten. Ah, da war das Ufer, es kam uns entgegengeeilt wie ein ungewolltes Schicksal. Durch Lücken zwischen den Gebäuden sah ich Maisfelder… und einen Teil einer roten Scheune. Weiter rechts stand eine weiße, mit Schindeln verkleidete Kirche. Derselbe puritanische Friede, wie ich ihn auf der Fahrt hierher erlebt
hatte. Jetzt konnte ich auch die Schotterstraße sehen, auf der wir den Wagen abgestellt hatten. Die Bäume waren hübsch. Aber auch Wohlwollen ist nicht grenzenlos. Die Tankstelle war nicht niedlich, die Lucky-Strike-Bowlingbahn nicht pittoresk, und Jimmy’s Bar sah eher nach einem Kaufhaus aus. Plötzlich trat Henderson Brown mir in die Hacken, so eilig hatte er es, das Boot zu verlassen. Als ich mit meinen Reisegefährten in einem Häuflein auf dem Pier stand, hörte ich den Motor wieder anspringen und sah, wie Pepys das Boot für die Rückfahrt nach Mendenhall wendete. Er hatte etwas davon gesagt, daß er uns wieder abholen wollte, aber die Einzelheiten hatte ich nicht mitbekommen. Ich fühlte mich leblos. Ein Stück Treibholz wurde ans Ufer gespült. Und als ich mich das nächste Mal umschaute, befand ich mich auf der Main Street, vor mir eine Sackgasse, die von Mülltonnen bewohnt wurde, und darin eine herumschnüffelnde Katze. Die Ähnlichkeit zu Tobias ging über zwei Ohren, vier Beine und einen kräftigen Schnurrbart nicht hinaus. Und doch hatte ich große Lust, sie zu kidnappen und… ich war wieder in meinem Körper, so wie er nun einmal war, mit einem Morgen, den ich totschlagen mußte, und einem Ehemann… Die anderen einigten sich darauf, getrennte Wege zu gehen und sich um eins in Jimmy’s Bar wiederzutreffen. Ich kämpfte gegen den kindischen Impuls, Ernestine zu bitten, mich mitkommen zu lassen, während sie Sonnenöl kaufte, und schwang meine Tasche über die Schulter. Also wirklich, Ellie! Du solltest eines dieser Namensschildchen für Minderjährige ohne Begleitung tragen, die die Fluggesellschaften an alleinreisende Kinder ausgeben. Gestern hatte ich noch das Gefühl gehabt, Mud Creek habe dichtgemacht in Erwartung einer Schießerei. Jetzt fragte ich mich, ob die guten Bürger wohl ihr Vormittagsschläfchen hielten. Ernestine, die Comtesse und Henderson Brown waren
verschwunden. Stand die einzige Ampel ständig auf Rot? Nein, ein Lieferwagen kam um die Ecke, am Steuer ein Jugendlicher, der eine Baseballmütze trug. Ein Hüne von einem Mann im Arbeitsoverall tauchte aus dem Nichts auf und stapfte die eingefallenen Stufen zu dem Eßlokal mit der Pappspeisekarte im Fenster hoch. Die gefederte Tür knallte wieder zu. Ob es hinter all diesen staubigen Fenstern vor Leben vielleicht nur so strotzte? Mein Gehirn briet zusammen mit dem Rest meines Körpers, in der Sonne, doch mir sollte ein Zeichen gesandt werden. Es schwang in Form eines Schilds über der Tür eines windschiefen grauen Hauses, aus dem man einen Laden gemacht hatte. Nelga’s Fashions, mit dem Eine-Größe-für-alleKleid im Fenster. Ein Blick auf meinen geschlitzten Rock überzeugte mich, daß ich auf diesen Laden ebenso angewiesen war wie er auf mich. Eine Frau mit grobem Gesicht und kurzgeschnittenem Haar saß auf einem Küchenstuhl, mit dem Rücken zu einem Ständer mit bedruckten und karierten Kleidungsstücken. »Suchen Sie etwas Bestimmtes?« Sie stellte die Beine nebeneinander, stand aber nicht auf. »Etwas für Schwangere.« Ich drückte mich an der Theke herum, die mit Spielzeugtieren vollgestellt war. »Vielleicht bin ich etwas voreilig, ich bin nämlich erst im vierten Monat. Was meinen Sie?« »Schauen Sie sich ruhig um.« Nach ihrem Tonfall zu urteilen, mißfiel es ihr, wenn die Leute etwas kauften, doch niemand – so geht’s nun mal auf der Welt zu – weist die Bösen in ihre Schranken; also kann man sich auch gleich damit abfinden. »Finden Sie etwas, das Ihnen paßt, zehn Prozent Nachlaß auf den ausgezeichneten Preis.« »Danke.«
»Ich liebe die Art, wie Sie sprechen, wenn ich Ihnen das sagen darf.« »Danke.« Sie schlug die Beine wieder übereinander. »Meine Großmutter hat auch dieses gebrochene Englisch gesprochen. Kam als Mädchen von Li-ce-ster-shire rüber, ich glaube, das war’s. Kennen Sie jemanden namens Wright?« »Tut mir leid…« Mein Preisnachlaß war wohl dahin. »Auf der Durchreise, oder sind Sie mit dieser Mange-Gruppe gekommen?« Das klang, als kämen sie im Paket mit einem Rezept für französische Zwiebelcremesuppe auf der Rückseite. Ich wich ihrem Blick aus und gab die Verbindung zu, als bekenne ich mich zur Mitgliedschaft in der Bande von Jesse James. »Sagen Sie mal« – sie griff nach einem Teller mit Pfefferminzbonbons –, »was geht da eigentlich so vor… drüben auf der Teufelsinsel?« »Das kann ich wirklich nicht sagen.« Sie jonglierte mit den Bonbons. »Sie würden Eiernudeln aus Ihnen machen, oder – wenn Sie singen?« »Nichts dergleichen.« Ich ging die Röcke mit Gummizug durch. »Die Regeln der Gesellschaft schreiben absolute Geheimhaltung vor.« »Was?« Sie drehte ihren Stuhl auf einem Bein, um mich ansehen zu können. »Paßworte und mit Blut unterzeichnete Verträge – solche verrückten Sachen?« Ihre Neugier störte mich nicht. Schließlich war es völlig natürlich. Ein gesundes Interesse, geweckt von der Aussicht auf perverse Praktiken. Diese Einstellung ist weit verbreitet. Schließlich erklärt sich dadurch auch der enorme Erfolg solcher Bücher wie Monster Mommy. Doch dieses Gespräch über die Manges erinnerte mich an die verdeckteste Operation von allen, an die Geheimaktion zwischen Valicia X und
meinem Mann. Da ich im Begriff war, auf ein rosa-gestreiftes Kleid mit einer riesigen pinkfarbenen Schleife Tränen fallen zu lassen, nahm ich es zusammen mit mehreren Röcken und anderen Hängerkleidern vom Ständer und erklärte Nelga Fashions, die Manges würden wohl ab und an mit Sauce unterzeichnen, nicht aber mit Blut. Bis eins hatte ich noch eine Stunde Wartezeit zu überbrücken; wieder draußen auf dem Gehsteig, entschied ich mich deshalb für einen gewagten Schritt. Ich ging ins Scissor Cut, nahm mehrere Atemzüge Haarspray und kam zu dem Schluß, daß ich Glück hatte. Meine Mission im Scissor Cut bestand darin, mich von Vorher zu Nachher verwandeln zu lassen. Ich hatte weder Valicia Xs makelloses Gesicht noch deren tadellose Figur. Meinem Haar fehlten die bernsteinfarbenen Glanzpunkte. Dafür war es aber länger, und blitzartig kam mir die Erleuchtung, daß meine Ehe noch zu retten war. Ich war ja nicht gezwungen, eine rote Schleife um Ben zu wickeln und ihn dieser Frau als Geschenk zu überreichen. Ich brauchte mir bloß die gespaltenen Haarspitzen abschneiden zu lassen. Nur eine der Trockenhauben war besetzt, und in den drei Waschbecken steckten keine Köpfe. Die Frau am Empfang, die ein T-Shirt mit der Aufschrift »Die beste Urgroßmutti der Welt« trug, fuhr mit dem Finger über das Terminbuch auf der Glasvitrine und sagte, Barbara könne mich übernehmen. Als Barbara kam, lächelte sie flüchtig, ohne mich dabei anzusehen. Normalerweise ist das der Todeskuß einer Friseuse. Aber vielleicht war sie auch nur verlegen. Ihre Augen waren leicht gerötet, und sie sprach, als wäre sie erkältet. Ich folgte ihr an der Kundin unter der Trockenhaube vorbei, einer älteren Dame, die so tief und fest schlief wie der Terrier auf ihrem Schoß.
Wenig später saß ich auf einem schwarzen Vinylstuhl, den Nacken über den Rand des Haarwaschbeckens gebeugt. Nicht die bequemste Stellung; ich schätze, dasselbe könnte man auch über Geburten sagen. Das Wasser war wohltuend. Barbara fragte, ob ich eine Haarkur wolle, und ich gurgelte eine Antwort. Friseure und Zahnärzte! Die Massage ihrer Hände war entspannend. Ich versank in einem Gefühl angenehmer Wärme. Mendenhall ließ sich das Trinkwasser bringen, trotzdem mußte es irgendwo auf der Insel eine Quelle geben. Ich dachte an die fehlenden Messer. Bestimmt hatte sich doch keiner oder keine der Mange-Konkurrenten bewaffnet, um für die bevorstehenden Ausscheidungskämpfe gerüstet zu sein? Ich wußte, daß der Wettbewerb hart war, aber keiner würde es doch wohl so weit treiben wollen? Plötzlich spritzte mir ein Schwall Wasser ins Gesicht, drang in meinen Mund, stieg mir in die Nase. Ich konnte nicht atmen, mein Genick brach fast, und diese Hände, Barbaras Hände, die Hände einer Frau, die vor drei Minuten noch nicht einmal etwas von meiner Existenz wußte, stießen mich in eine Welt der Dunkelheit hinab, wo die Geister leben. Komisch, mein letzter Gedanke galt nicht Ben, sondern Rowland Foxworth, dem lieben, attraktiven Vikar von St. Anselm’s. Wie schrecklich traurig, wenn ihn meine Überführung auf britischen Boden aus praktischen Gründen darum betrog, meinen Sterbegottesdienst abzuhalten.
»Na, na, Schätzchen es ist doch alles wieder gut. Du hattest einen Schock, das ist alles. Hier, nimm ein paar von meinen Beruhigungspillen.« Eine zweite Stimme war zu hören, die heißen Tee erwähnte. Nicht sonderlich verlockend, wenn man bedachte, daß er nach amerikanischer Art serviert werden würde. Ohne Milch. Es ließ mich aber ohnehin völlig kalt, denn ich merkte schnell, daß ich nicht die Adressatin all dieser Freundlichkeiten war. Empfangsdame Urgroßmutter und Roxanne, eine Haarstylistin, saßen auf einer Vinylbank, die Arme um Barbara gelegt, die in ein flauschiges Handtuch schluchzte. Ich hatte ein ähnliches Handtuch um, das Großmutti geistesabwesend auf meinen Kopf hatte fallen lassen, etwa so, als sei ich ein Papagei in einem Käfig, dessen Gekrächze zum Verstummen gebracht werden mußte, bevor davon alle fürchterliche Kopfschmerzen bekamen. »Es tut mir so leid!« Barbara hob ihr tränennasses Gesicht. »Ich muß durchgedreht sein. Sie sehen aus wie diese kleine Schlampe, die mir meinen Dave gestohlen hat. Sie hat im Catfish Fry um ein Bud Light mit ihm gewettet, daß sie ihn unter den Tisch essen könnte. So hat es angefangen. Und jetzt weiß ich, daß ich ihn nie mehr zurückbekommen werde – nicht, solange sie in der Bank arbeitet!« »Ganz ruhig, Süße!« Roxanne wiegte Barbara wie ein Baby. »Wenn ich nicht zulasse, daß er sie donnerstags abends trifft, könnte sie die Hypothek auf das Haus kündigen. Die ganze Woche habe ich überlegt, was wäre, wenn sie zum Waschen und Fönen hierher käme. Und vorhin ging plötzlich alles
durcheinander. Es war Darlenes Kopf über dem Waschbecken…« Die Schleusen öffneten sich wieder. »Du hast die Nerven verloren, weiter nichts!« Urgroßmutti drückte einen Styroporbecher an die bebenden Lippen, während Roxanne die roten Haare streichelte. »Ich werde meine Lizenz verlieren. Was wird dann aus mir und den Kindern? Und sie wird mich auf Schadenersatz in Millionenhöhe verklagen.« Ihr Finger zeigte auf mich. »Wenn nichts anderes bleibt, werde ich mich umbringen müssen, damit die Kleinen wenigstens von der Versicherungsprämie leben können.« Barbaras Stimme wurde so schrill wie ein pfeifender Kessel. Schließlich sahen die drei mich an – nicht als echte Beteiligte an diesem menschlichen Drama, sondern als Zeugin, die zur Vernunft gebracht werden mußte. Urgroßmutti zielte mit einem Lächeln auf mich, das mein Herz, wenn nicht gar meinen durchnäßten Oberkörper wärmen sollte. »Sie sehen ja, Herzchen, wie die Sache steht! Barb hat eine sehr schwere Zeit durchgemacht.« Doch noch ehe ich antworten konnte, griff Roxanne nach meinem Handtuch und fing an, meine Haare trockenzurubbeln. »Diese rote Spur an Ihrem Hals kommt von Ihrem zu engen Halsausschnitt. Wie wär’s, wenn ich Sie jetzt auf Kosten des Hauses föne und Ihnen so viel Kaffee bringe, wie Sie trinken können?« Sanft, aber bestimmt entfernte ich das Handtuch und knüllte es zu einem Ball zusammen. »Ich bitte Sie alle, verschwenden Sie keinen weiteren Gedanken an mich. Mir geht’s prima…« »Sind Sie sicher?« Barbara liefen immer noch die Tränen übers Gesicht. »Ja.« Ich stand auf und klopfte ihr auf die Schulter. Mir fiel Mary ein, und mir wurde bewußt, daß ich das heute schon öfter
getan hatte. »Es war eine positive Erfahrung für mich. Als ich hier hereinkam, sah mein Leben nicht allzu gut aus – aus ähnlichen Gründe wie bei Ihnen, aber mir ist wieder mal eines klar geworden: Wie trostlos das Leben auch sein mag, es ist immer noch besser als die Alternative.« »Dann werden Sie kein Wort sagen?« fragte Barbara und schaute mich immer noch mißtrauisch an. »Versprochen.« Ein wehmütiges Lächeln huschte über mein Gesicht, als ich ihr aufs Klo folgte, um mich umzuziehen. Die Manges hatten ihre Geheimnisse, und ich hatte meine. Als ich Jimmy’s Bar betrat, war ich nicht überrascht, daß mir keiner von meinen Freunden und Helfern entgegengeeilt kam und mich mit Willkommensrufen empfing. Ich war eine andere Frau. Roxanne hatte beschlossen, daß einfaches Trockenfönen kein ausreichender Ersatz war. Sie hatte mein Haar auf dicke pinkfarbene Lockenwickler gedreht, es mit Haarlack eingesprüht und mich unter die Trockenhaube gesetzt, bis es goldbraun gebacken war. Und so wurde eine Country-andWestern-Sängerin geboren. Was meine Klamotten betraf – ich hatte gedacht, der Wechsel von normaler zu Umstandskleidung wäre einen Toast mit Champagner wert, doch er hatte sich auf dem Klo des Scissor Cut vollzogen, ohne jeglichen Tusch oder Trommelwirbel. Jimmy’s Bar mochte ja gute Umsätze erzielen, doch ich persönlich war nicht sehr von dem roten Gummifußboden und der Styropordecke eingenommen. Ein gutaussehender Bursche in ultraengen Jeans wollte weder vor- noch zurücktreten, um mich vorbeizulassen. »Miss…« Er war so nah, daß ich seine Wimpern zählen konnte. »Ich wollte mich hier mit ein paar Leuten treffen.« Ich schaute durch einen Tunnel zwischen den Köpfen hindurch und sah Ernestine, vom Hals an aufwärts, drüben bei der hinteren Wand.
»Miss, Sie stehen auf meinem Fuß.« »Verzeihung!« Die Männer von heute sind so zerbrechliche Wesen. »Außerdem tragen Sie noch ein Preisschild.« Verdammter Mist! Ich kletterte über drei Leute hinweg, um zu Ernestine zu gelangen und fand sie an einem Tisch mit Solange und Henderson Brown, der sich unter seinem weißen Sonnenhut versteckte. Seine finstere Miene hellte sich nicht auf, als die Kellnerin auf uns zusteuerte. Vermutlich ein Zeichen der Mißbilligung angesichts ihres beträchtlichen Busens, der sich dagegen sträubte, von dem Rüschenausschnitt ihrer Bluse in Schach gehalten zu werden. Nach ihrer römischen Nase und dem entschlossenen Kinn zu urteilen, war sie nicht sehr erfreut darüber, so ausstaffiert worden zu sein wie Heidi auf dem Weg zur Berghütte ihres Großvaters. Sie leckte an ihrem Daumen und schlug eine Seite ihres Bestellblocks um. »Was darfs sein, Herrschaften.« Henderson nahm seinen Mut zusammen, um sich zu äußern. »Wir brauchen getrennte Rechnungen.« »Kostet nix extra.« Heidi hielt ihren Bleistift bereit. »Was woll’n Sie trinken?« Solange und Ernestine bestellten weißen Wein. Henderson zwang sich zu einem dünnen Lächeln. »Ich bin chronischer Abstinenzler. Wasser bitte, wenn es frisch ist.« »Kriegen nirgends besseres, ob mit oder ohne französisches Etikett.« Heidi hatte eine tiefe Stimme. »Natürliches Quellwasser, frisch und klar wie ein Frühlingstag.« Zum ersten Mal im Post-Valicia-X-Zeitalter mußte ich ein Lachen hinunterschlucken. Sie klang wie eine Fernsehreklame. Rückblende ins Mulberry Inn. Ben und ich sahen uns den Ausschnitt aus Villa Melancholie an und Mary Faiths Interview mit Harvard Smith. Während ich jetzt hier in Jimmy’s Bar saß, kam mir die Erkenntnis, daß ich eine Marionette in der Hand
des Schicksals war. Es hatte mich Tausende von Meilen weit zu diesem Ort hüpfen und tanzen lassen. Was man nicht ändern kann, kann man zumindest durch ein gutes Mittagessen erträglicher machen. »Einen Hamburger, eine doppelte Portion Fritten und eine Cola bitte.« »Will der Rest von Ihnen auch bestell’n?« Heidi warf einen schrägen Blick auf die große runde Uhr über der Bar. »Die Modenschau soll in zehn Minuten anfangen.« Ernestine erinnerte uns daran, daß Jeffries das Angebot, als Model aufzutreten, ausgeschlagen hatte. Henderson sagte, er wolle den Gemüse-Rindfleisch-Eintopf, dann überlegte er es sich wieder anders. Lois, so teilte er uns mit, mache den besten Eintopf der Welt. Natürlich mußte Ernestine ihm hitzig widersprechen. Ihr Bingo konnte schon im Alter von drei Jahren einen potage de légumes zaubern, der einem schon aus einer Meile Entfernung den Mund wässerig machte. Die Comtesse starrte in die Menge, ihr dickes Rouge verdunkelte sich. Armer Eeyore – ich meine Henderson! Den Mund rebellisch zusammengepreßt, bestellte er wie wir anderen einen Hamburger. Bevor Heidi entkommen konnte, frage Ernestine, ob der Mann hinter der Bar Jimmy sei. »Der da – der grauhaarige Typ mit den Eichhörnchenbacken? Das ist unser guter alter Sheriff Tom Dougherty. Kommt jeden Tag etwa zu dieser Zeit vorbei, um nachzusehen, ob es eine Schlägerei gibt, bei der er eingreifen darf.« »Diese Stadt hat ihren eigenen Sheriff?« Henderson würde mit Sicherheit an seinen Kongreßabgeordneten schreiben, um gegen den Mißbrauch von Steuergeldern zu protestieren. Heidi schaute ihm direkt in die Augen. »Ob Sie’s glauben oder nicht, Sir, Mud Creek war früher die Provinzhauptstadt. Gleich neben Sheriff Tom, das ist Jimmy.«
»Jimmy ist eine sie?« Henderson kam nicht mehr mit, er war abwechselnd schockiert und entsetzt. »Sehen Sie doch selbst! Auf ihrer Geburtsurkunde steht Jemina. Aber verraten Sie bloß nicht, daß ich das gesagt habe.« Heidi steckte den Bleistift hinters Ohr und verschwand mit wiegendem Gang zu der Tür mit der Aufschrift »Privat«. Die Menge hatte sich von der Bar zurückgezogen und gab uns so den Blick auf die starkknochige Frau mit Haaren frei, die eher metallic-rot gefleckt als gefärbt waren. Sie trug ein satinartiges Gewand, das auch ein Neglige hätte sein können. In ihrem Dekollete steckte eine welke Rose, und die Schicht Farbe, die auf ihrem Gesicht lag, war so dick, daß man damit ein halbes Doppelhaus innen und außen hätte streichen können. Sie hatte eine Stimme, die jeden Demagogen zum Verstummen gebracht hätte. »Mistige Fliege!« dröhnte sie, und ihre Hand schlug auf den Tresen. Die Unterhaltung an unserem Tisch war etwa so rege wie Wasser, das einen Hügel hinauffließt. »Sie sollten das Haar immer so tragen, Ellie«, sagte Ernestine. »Es macht ihr Gesicht schlanker.« »Sind Sie eine Autorität in Sachen Mode?« Solange musterte die Bruder-Tuck-Frisur ihres Gegenübers, das senffarbene Kleid und die froschgrünen Perlen. Sah ich da Anzeichen für eine zunehmende Abkühlung zwischen den beiden? »Schätzchen, ich behaupte nicht, daß ich ein Glamour-Girl bin. Ich könnte nie in die Sonne gehen, ohne mich in einen Hot dog zu verwandeln. Das stört mich allerdings nicht, weil meine Familie für mich an erster Stelle steht. Frank und ich geben all unser Geld für unser Kind aus. Aber da Sie ja kinderlos sind, können Sie nicht wissen, was wahre Selbstverleugnung bedeutet. Das Glück meines Bingo, daß…« »Daß er ein Mange wird, n’est pas? Mais oui, es hat Ihnen nicht besonders gefallen, als ich Ihnen sagte – kamen vor
Monsieur und Elliiieee –, daß mein Vincent seine Träume nicht Ihretwegen begraben wird. Er hat noch Trümpfe im Ärmel, die Sie noch nicht einmal erahnen!« Solange hatte sich von einer Fotografie in eine Frau mit Leidenschaft verwandelt. Ein Ärmel ihres schwarzen Kleides streifte über den Tisch, als sie vor Ernestines wutentbranntem Gesicht mit den flammenden Kuppen ihrer Finger schnippte. »Ihr Bingo bedeutet mir so viel. Meine Pudel sind im Herzen meine Kinder. Angelique, Fleur und die übrigen, wie könnten sie glücklich sein, wenn ihr papa traurig ist? Mein Vincent nähert sich der Fünfzig, und ich bin ihm dicht auf den Fersen. Es langweilt ihn, mich auf der Bühne in den Ofen zu schieben – und dann die große Explosion zu simulieren, bevor er das verbrannte Hähnchen zum Vorschein bringt. Ich wünsche mir für Vincent, daß er sich einmal im Leben einen Traum erfüllen kann, für den ich mich nicht in zwei Hälften zerschneiden lassen muß.« Was hatte zu dieser Feindseligkeit geführt? Gestern abend noch war es so harmonisch und freundschaftlich zugegangen, als wir die Marjorie-Rumpson-Aktion durchführten. Ernestine klebte das Haar in ihrem geröteten Gesicht. Sie sah aus, als habe sie noch eine Menge zu sagen, doch zum Glück kamen unsere Getränke und das Essen, und ich konnte elegant zu einem Lob der knusprigen, goldbraunen Fritten überleiten und darüber, wie kunstvoll die Zwiebelringe und Tomatenscheiben auf den Hamburgern arrangiert waren. »Ja, aber ist das Rindfleisch auch Klasse A?« sorgte sich Henderson. Heidi schob sich davon, und eine Stimme überbrüllte den Lärm. »Seid mal ruhig, ihr Quasselstrippen, hier spricht Jimmy.« Die Riesin in Satin mit der Rose, die ihr aus dem Busen wuchs, schnippte Zigarrenasche in ein Glas und beugte sich vor, die Ellbogen auf die Bar gestützt. »Wir hatten einige Probleme, das Geld für die Reparaturen auf dem
Kinderspielplatz aufzutreiben, aber die Frauen von der Hope Church lieben Herausforderungen. Also setzt euch hin, stützt euch an den Wänden ab oder wo ihr wollt und hört zu, was euer werter Sheriff Tom Dougherty zu unserer FashionPhantasie zu sagen hat!« Beifall. »Tja, Leute.« Der Sheriff fuhr sich mit der Hand über seinen Haarschopf, der zwar grau war, aber dennoch jungenhaft wirkte. Ein Ruck am Pistolengürtel, der ihm tief auf den Hüften hing. Genau wie im Film. »Hallöchen, Freunde, Nachbarn und Touristen!« Sein Blick blieb an unserem Tisch hängen, als sortiere er uns einzeln in eine Akte mit der Aufschrift Landstreicher ein. »Erwartet bloß nicht von mir, daß ich mich anhöre wie ein Sprecher von Dior.« Erschien da die Andeutung eines Grübchens, als er lächelte? »Aber ich kann euch sagen, wir haben zu eurem optischen Vergnügen einige ganz natürliche, attraktive Mädels hier. Und denkt daran, die freiwillige Spende ist nicht freiwillig, es sei denn, ihr wollt verhaftet werden, weil ihr einer guten Sache eure Unterstützung verweigert.« Die Musikbox begann, leichte, verträumte Musik zu spielen. Der Sheriff zog ein Notizbuch hervor. »Ein herzliches Willkommen, wenn euch Mud Creeks beliebtestes Zwillingspaar, Terese und Teresa Brinharter, gefällt!« Durch die Tür mit der Aufschrift »Privat« und dann über die rechteckige Fläche zwischen den Leuten längs der Bar und den Tischen längs der Fensterwand schritten zwei junge Frauen. Haar: nach Schwedinnenart. Bräune: Typ Kaliforniens Beste. Ihre dürftigen Outfits hätten sportliche Männer als Gelenkbänder benutzen können. Ihr Gekicher vermischte sich mit den Bewunderungsrufen. »Die Kleidung hat Irene, die Mutter der Mädels, gemacht, Gott segne sie.« Ich gelobte, daß
jeder Fetzen Kleidung, den mein Kind trug, liebevoll von Hand genäht sein würde. Die nächste war eine junge Frau mit frischem Gesicht in einem Scheunentanz-Aufzug, einer Karobluse und einem blauen Rock, der von einem weißen Spitzenpetticoat zum Schwingen gebracht wurde. Fast ebensoviel Beifall gab es für sie wie für die Zwillinge. Jetzt war ein süßes kleines Mädchen von etwa vier Jahren an der Reihe. Sie trug Pink und hielt einen Korb mit Blumensträußen in der Hand, gelassen wie eine Erwachsene. Mein Interesse ließ nicht nach. Ich ließ nach. So wenig Schlaf, wie ich in der letzten Nacht bekommen hatte. Die Gestalten, die die Rampe entlangkamen, begannen zu verschwimmen… Hoffentlich rutschte ich nicht vom Stuhl oder, was noch schlimmer wäre, fing im Schlaf an zu sprechen. Ich hörte ein Klicken, als ginge eine Tür auf, und Ben kam lässig in meinen Kopf geschlendert. »Ellie, ich liebe dich.« »Nein, das tust du nicht.« »Liebes, du darfst nicht alles glauben, was du siehst oder hörst.« Er hatte mich hochgehoben, ich schwebte… immer im Kreis herum. »Nun, ich denke, wenn du dir sogar die Mühe machst zu lügen…« Ich wachte ruckartig auf, als die musikalische Begleitung eine Tanzmelodie anstimmte. Weshalb dieses Keuchen vom Publikum? Hatte man die Brinharter-Zwillinge für eine Zugabe zurückgeholt? Selbst Henderson Brown beugte sich auf seinem Stuhl vor. »Freunde, Lieblinge, Landleute! Leiht mir euer Gehör!« Die Stimme war zuckersüß. Die Frau, die die Rampe entlangschwebte, trug weiße Seide, von Hermelin eingefaßt, und schwenkte zwei riesige Federfächer. Sie war dreißig –
vielleicht auch vierzig – Jahre älter als die Zwillinge, längst nicht so schön, jedoch hundertmal faszinierender. Ihr Lausbubengesicht war von kurzgeschnittenem Silberhaar eingerahmt. Sie hatte Pandabäraugen und einen lebhaften Mund, der ein Tausend-Watt-Lächeln lächelte. Theola Faith. »Theola Faith!« Ernestine packte mich am Arm, ihr Gesichtsausdruck spiegelte sich auf vierzig anderen Gesichtern wider. Nur Henderson sah entsetzt aus, als die Frau in Weiß einen zierlichen silbernen Zeh unter ihrem Rock her vorstreckte, den Nacken nach hinten beugte und mit ihren schlanken Hüften schaukelte. »Ich bin keinesfalls gekommen, um meine Tochter mit der Art von Beschimpfungen zu überschütten, die sie über mich ausgegossen hat. Wahre Güte ist unermeßlich, und in einer Mutter ist diese Eigenschaft am stärksten ausgeprägt.« Zwei schnelle Schritte nach vorn. Theola Faith wedelte mit einem der Fächer und kitzelte Henderson an der Nase. Er nieste. Kein anderer Laut war in der ganzen Bar zu hören. Sie stand in der Mitte der Bühne, die Federn hingen auf den Fußboden herab. »Ich hätte dem Wunsch, zum Festland zurückzukehren, durchaus widerstehen können, hätte nicht meine liebste Tochter Mary mein Haus, meine Dienerschaft und meine Tauben usurpiert.« »Was willst du, Theola?« Der Sheriff steckte sein Notizbuch in den Gürtel. »Rache.« »Hey, wir wollen keinen Ärger.« Eine unidentifizierbare Männerstimme. Das strahlende Clownslächeln wurde keine Spur schwächer. »Und ihr Leute wollt ein Empfangskomitee sein! Wie Jimmy sich noch gut erinnert, ist sie mir für all die Abende, an denen ich die Pacht für dieses Lokal erarbeitete, indem ich auf der Bar saß und ›Love Me or Leave Me‹ sang, noch einiges
schuldig. Jimmy zahlt momentan ihre Schulden ab, indem sie mir ihre Dachterrassenwohnung zur Verfügung stellt.« Eine schwungvolle Bewegung mit einem der Fächer gen Decke verlieh diesem Bekenntnis Nachdruck. »Hat einer von euch ein besseres Angebot?« Eine Frau in der Nähe unseres Tisches legte die Hand auf den offenen Mund ihres männlichen Begleiters. »Theola«, sagte der Sheriff, und sein Blick, der sich unter dem grauen Haarschopf hervorstahl, war so schüchtern wie der eines Jungen. »Du wirst Monster Mommy nicht im Büchermobil vorfinden, wenn es hier durchfährt. Unsere Jane Spence von der Bürgerinitiative für Anstand hat an die Bücherei geschrieben und ihnen mitgeteilt, daß wir es nicht dulden.« »Was! Keiner von euch hat diese hübschen Dinge gelesen, die mein Liebling Mary über mich geschrieben hat?« Die Pandabäraugen weiteten sich. Das scharlachrote Lächeln wurde breiter. »Haltet ihr selbstgezogenen Tomaten euch nicht auf dem laufenden, was in Sachen Laster in ist? Oder glaubt ihr etwa nur, was ihr mit eigenen Augen seht?« Theola Faith vollführte eine langsame Drehung, hob dabei die Fächer bis vor die Augen, ließ sie langsam wieder sinken und gurrte: »Fangen Sie bitte an, Maestro!« Die Musikbox schwieg, doch Theola wiegte sich in einem inneren Rhythmus. Das Silberhaar schmiegte sich an ihre Wangen, über ihr altersloses Gesicht war ein Lächeln gebreitet, kokett wie ein entblößter Fußknöchel. Theola Faith sang mit lebhafter Varietestimme: »Oh, Ma, was du auch getan haben magst, sag, daß du die Untermieter nicht bloß zum Spaß umgebracht hast! Es kann einfach nicht wahr sein, Mr. Jones hing auf der Toilette…« Schwer zu sagen, wie die Leute auf das Liedchen reagierten, denn die Pfiffe und auch, daß Henderson jetzt unter den Tisch
kroch, konnten eine Reaktion darauf sein, wie Theola Faith erst den einen und dann den anderen ihrer langen weißen Handschuhe ins Publikum warf. O nein! Alle die Augen zumachen! Sie hielt beide Fächer in einer Hand und zog den Reißverschluß an der Seite ihres weißen Seidenkostüms auf. »Mr. Green kratzte bei einem Fest ab. Mr. Smith war so hübsch aufgebahrt!« Gott sei Dank schritt Sheriff Dougherty ein, um die Moral von Mud Creek zu verteidigen. Er riß seine Pistolen aus den Holstern und rief: »Halt!« Hier und da Rufe: »Halt die Klappe, Tom!« Auf Theola Faith hatte das so gut wie keine Wirkung. Sie ließ einen Ärmel ihres schimmernden Kleids von der Schulter gleiten. Wie weit sie noch gegangen wäre, um die hausbackenen Bewohner von Mud Creek zu schockieren, sollte für immer ein Geheimnis bleiben. Die Diskussion über dieses Thema würde sich bis weit ins nächste Jahrhundert hineinziehen. Die Eingangstür flog krachend nach innen auf, wie von einem gespornten Stiefel getreten. Eine Stimme ertönte, so laut, daß die Flaschen hinter der Bar klirrten und der Lampenschirm aus buntem Plastik hin- und herschwang. Die Menge wich zurück. »Höllenfeuer und Verdammnis! Die Wege des Weibes sind böse! Die Schlange hat sie an ihrem Busen genährt, und Beelzebub hat ihr sein Mal auf die Stirn gedrückt. Sie bewirtet Trunkenbolde und Vergnügungssüchtige im Haus des Weines!« Die Augen des Sprechers bohrten fast Löcher in den Teppich. Sein weißes Haar floß von einer gewölbten Stirn nach hinten, er hielt ein schwarzes Buch in der Hand und war dazu passend gekleidet. Ich erkannte ihn wieder. Er war der Fanatiker, der an der Tankstelle in mich hineingefahren war – Reverend Enoch, der diätologische Geistliche. Was er da bei sich trug, war nicht die Bibel, sondern das Buch der Rettung durch den Hungertod.
»Die Vergeltung wird den Drachen ausfindig machen, er wird in die Knie gezwungen werden, und sein Wehklagen…« Sheriff Dougherty steckte seine Waffen wieder in die Holster zurück, stand da und kratzte sich am Kopf. Jimmy zündete sich eine Zigarre an, und Theola Faith stemmte eine Hand in die Hüfte. Die Federfächer hingen seitlich an ihrem nach wie vor offenen Seidenrock hinunter, ihr Lächeln, so grell wie ihr Lippenstift, war intakt. »Sie sprechen mit mir, Liebling?« Das Gesicht der Vergeltung verfärbte sich zu Höllenfeuerrot. Doch der Geistliche war erst zwei Schritte weit auf sie zugegangen, da gab es eine weitere Unterbrechung. Eine Frau in beigefarbenem Regenmantel brach durch die Zuschauer an der Musicbox und stürzte auf die Bühne. Laverne mit dem verblichenen kastanienbraunen Haar und dem verschwommenen Gesicht, die Frau von Enoch. Dieselbe Frau… aber anders. Sie riß an dem Gürtel ihres Regenmantels, den Blick auf Theola Faith geheftet, und schrie: »Lieber in der Gesellschaft von Sündern als ein Leben mit dir, Enoch! Ich kann es keinen Tag länger aushalten, wie ein Hund bei Fuß zu stehen. Ich werde nie mehr so tun, als sähe ich den Blick der Leute nicht, wenn du ihnen deine Tiraden über Strafe, den Hungertod und den Glanz des Elends hältst!« Theola Faith streckte ihre seidenweichen Arme nach Laverne aus. Der Reverend fiel auf die Knie, rang die Hände und dankte dem Herrn, daß er ihn zu dieser Stätte der Missetaten geführt hatte, wo er solche Qualen erdulden mußte (»Gelobt sei Sein Name«), damit die Herde den Flammen entrissen werden konnte. »Wo bleibt die Hoffnung? Wo bleibt die Liebe?« schrie seine zweifelnde Frau, die jetzt bei Theola Faith auf der Rampe stand. »Gott hat dich nicht zu seinem Stellvertreter ernannt! Ich hätte nicht den Zettel hinterlassen sollen, daß ich hierher gehe,
um mich zu betrinken.« Sie knöpfte ihren Regenmantel auf. »Ich hätte schreiben sollen, daß ich die Ketten abwerfe, indem ich mich hier vor der ganzen Stadt nackt ausziehe.« Ein »Ooooh!« ließ sich aus der Menge vernehmen. Laverne warf den Regenmantel zur Bar hinüber. Ein gekonnter Fang vom Sheriff. Nachdem Theola Faith den Ausschnitt ihres Kostüms zurechtgezupft und den seitlichen Reißverschluß zugezogen hatte, schätzte sie die Konkurrenz ab. Alle anderen schienen einen Schock erlitten zu haben. Jedenfalls rührte sich niemand an meinem Tisch. »Ich habe zwar keine Tochter, die einen Bestseller darüber schreiben kann, wie häufig ich meine Unterwäsche wechsle« – Laverne hatte die Hälfte der Knöpfe an ihrer Bluse geöffnet –, »aber wenn ich alles richtig zeige, komme ich vielleicht in eines dieser Revolverblätter. Wer weiß, vielleicht sogar in ein Blatt für Leute mit besonders schmutziger Phantasie!« Die Bluse segelte in die Menge. Die Tirade von Reverend Enoch erreichte ihr Crescendo. Theola Faith schien Laverne mit einem Fächer abschirmen zu wollen. Eifersucht? Endlich trat Sheriff Dougherty in Aktion. Er ging zu Laverne, als sie an ihrem Slip herumfummelte, und schlug ihr eine Hand auf die Schulter. »Warum setzen Sie sich nicht, Miss Gibbons. Bleiben Sie ganz ruhig. Oder geh’n Sie mit Jimmy nach oben und sprechen Sie sich aus.« Die Menge raste. Theola Faith und die unglückliche Laverne verschwanden aus dem Blickfeld. Ich starrte auf den Tisch und entdeckte zu meinem Erstaunen, daß ich meinen Hamburger, sämtliche Fritten und eine halbe Gewürzgurke verspeist hatte. »Welch eine Tragödie!« sagte Solange. Ernestine schüttelte sich. »Dieser entsetzliche Mann!« »Er ist Mitglied der Diätologen«, trug ich bei. »Eine Gruppe, die gegen das Essen zu Felde zieht.«
Henderson umklammerte die Armlehnen seines Stuhls. »Falsch, Ellie!« erwiderte Ernestine selbstgefällig. »Sie sind nicht gegen das Essen an und für sich. Bingo hat einen Artikel, Die Gefahren der Diätologie, für die Zeitschrift Zu Hause auswärts essen geschrieben. Sie treten nur gegen das lustvolle Essen an. Von allem, was Sie nicht mögen, dürfen Sie so viel essen, wie Sie wollen.« »Eben die typische Diät«, sagte ich. »Meine Lois hätte sich nie auf all das einlassen dürfen!« »Monsieur Brown, Sie sind eine fürchterliche Nervensäge! Sie sind genauso schlimm wie dieser Mann, der überall das Böse wittert!« Solange raffte ihre Taschen zusammen. »Pardonez moi! Ich möchte die toilette besuchen.« Ernestine und ich sprangen sofort auch auf, um sie zu begleiten. »Frauen!« Henderson verzog den Mund. »Wenn ein Mann sagt, daß er zur Herrentoilette geht, springen seine Begleiter nicht gleich auf und rufen ›Ich komme‹« Hatte der arme Mann uns in Verdacht, eine Privatparty abhalten zu wollen? Dafür war keine Zeit, wie Solange betonte, als Ernestine in einer der Kabinen verschwand. In zehn Minuten sollten wir Pepys am Pier treffen. Sie zeigte mit dem Daumen auf Ernestines Füße und flüsterte: »Ich habe sie gesehen.« »Sie gesehen, inwiefern?« flüsterte ich zurück. »Wie sie heute morrrgen aus Ihrem Zimmer kam, als Sie beim Frühstück waren.« Es war keine Zeit für weitere Erklärungen. Ernestine kam heraus und zupfte an ihrem Rock, ihre Froschperlen hingen schief. Wie konnte ich dieser Frau unterstellen, daß sie irgendwelche Tricks durchzog? Die Rivalität, die plötzlich zwischen ihr und Solange entstanden war, hatte das Denken der Französin vernebelt. Wer war ich außerdem, um die
Schnüffeleien anderer Leute zu kritisieren, besonders nach meiner Begegnung mit dem Medizinschrank? Wir fanden Henderson wartend vor, als seien wir Frauen Kinder, die sich gegen das elterliche Zeitlimit aufgelehnt hatten. Jimmy, die wieder hinter der Bar stand, beglückte uns mit einem Fliegenfängerlächeln, und wir gingen zur Tür hinaus… wo wir gegen Mary Faith prallten. Ihre Gesichtsfarbe harmonierte mit ihrem Kleid in Gefängnisgrau, während ihr Richard-III.Pagenkopf nicht ganz dem Stil ihrer Schmetterlingsbrille entsprach. »Hallo, ihr Lieben!« Ihre Begeisterung war rührend. Sie hielt meine Hand fest, als sei sie ein teures Spielzeug und flüsterte: »Ich habe mich zusammengerissen und beschlossen, daß eine Figur des öffentlichen Lebens auch öffentlich bleiben muß. Ich habe mich von Pepys herbringen lassen, er wollte euch ja sowieso abholen. Gewöhnlich gehe ich nicht ins Jimmy’s. Zu viele Leute. Ich mag das mexikanische Lokal ein paar Häuser weiter lieber – Martin’s Mexican Cafe. Wundervolles Essen. So scharf, daß man glaubt, der Mund stünde einem in Flammen. Aber zwischen Mittags- und Abendessenszeit haben sie geschlossen. Und ich will auch nur eine Cola trinken.« Wie sollten wir sie davon abhalten, hineinzugehen? Die anderen drei standen da wie Statuen. »Ich freue mich so, Sie zu sehen!« plapperte ich drauflos. »Es ist vielleicht neugierig von mir, aber vorhin kam ich gar nicht dazu, Sie zu fragen, ob Sie vielleicht heute morgen Jim Grogg und Divonne von der Insel gebracht haben. Niemand scheint zu wissen, wann oder wie sie abgereist sind.« »Ein Geheimnis! Wie spannend!« Sie hielt immer noch meine Hand fest, aber ihr Lächeln bezog auch die anderen ein. »Nein, ich war nicht ihr Chauffeur, wenn ich mit Booten auch ziemlich geschickt bin. Ich darf Pepys doch nicht vor den Kopfstoßen! Sie müssen doch nicht schon weg, oder? Ich hoffe
so sehr, daß wir alle ganz gute Freunde werden können. Ja, solche Dinge brauchen Zeit, aber Sie begleiten mich doch ins Jimmy’s? Wir setzen uns und schütten uns alle das Herz aus.« »Liebste« – Ernestine schaute sie ohne mit der Wimper zu zucken an –, »es fällt mir nicht leicht, es Ihnen zu sagen. Ihre Mutter ist da. Da drinnen.« »Nein!« Mary wich zurück. »Selbst Theola kann nicht ein so schlimmes Monster sein, daß sie mir diesen kleinen Erdenwinkel hier streitig macht!« Sie hielt sich den Bauch, und ihre Wangen fielen ein. Sie sah etwa so aus, wie ich mich in den Krallen der Morgenübelkeit gefühlt hatte. Ich mußte sie von hier wegbringen, weg von ihrer Mutter, deren bestaunte Eskapaden ihre Tochter jetzt zum Liebling des Talkshow-Zirkels und der Bestsellerliste im Publishers Weekly machten. Ich übernahm die Führung unserer kleinen Gruppe und geleitete sie zu Pepys und dem Boot. Als wir auf Mendenhall ankamen, wurden wir mit der Nachricht empfangen, daß Bingo verschwunden war.
Der gesamte Haushalt, einschließlich meines Ehemannes und der niederträchtigen Valicia X, war in der großen Eingangshalle versammelt. Doch niemand erschrak beim Anblick von Marys bleichem Gesicht oder kam mit einer Bahre herbeigeeilt. Es war Ernestine, die ihr schließlich einen Platz anbot. Mary erwartete offenbar, mit einem feuchten Tuch auf der Stirn aufs Sofa gebettet zu werden. Auf ihr heftiges Ziehen an der Glocke sollte geschäftiges Füßetrappeln zu hören sein. Eine Bestellung würde herausgehen, ein doppelter Brandy, doppelte Portion! Die Herrin des Hauses hatte einen schrecklichen Schock erlitten. Monster Mommy war in der Stadt. Und niemand konnte ahnen, welch weiteres Unglück noch daraus entstehen würde. Ms. X posierte unter dem Kronleuchter vom Pfandleiher, eine Gestalt von erstaunlicher Autorität in makellosem cremefarbenen Leinen. Ben wahrte diskreten Abstand – von etwa einem Meter – zu ihr. Ich zertrat sein Lächeln unter meinem Fuß. Seine Schleimgefährtin teilte Ernestine mit, daß kein Grund zur Besorgnis bestünde. Nicht im mindesten. Bingo hatte an der morgendlichen Sitzung teilgenommen, mit seinen Mitkandidaten zu Mittag gegessen und dann das Speisezimmer verlassen. Doch zur Nachmittagssitzung war er nicht wieder aufgetaucht. »Ich war bereits entschlossen, seinen Namen von der Liste zu streichen und ohne ihn weiterzumachen, doch Mr. Haskell« – Ms. X schenkte Ben ihr einmaliges Lächeln – »hielt ein beredtes Plädoyer für den jungen Mr. Hoffman. Deshalb bat
ich Jeffries, den Jungen zu suchen. Da ihre Bemühungen bislang nicht von Erfolg gekrönt sind, bin ich zu dem Schluß gekommen, daß der Mange-Gesellschaft am besten gedient ist, wenn sämtliche Anwesenden sich an der Suche im Haus und auf dem Grundstück beteiligen.« Ben versuchte immer noch, meinen Blick aufzufangen. Doch dies schien weder der richtige Zeitpunkt noch ein vernünftiger Ort für die Bitte um Scheidung zu sein. Mit abstehendem Haar und leerem Blick wandte sich Ernestine hilflos an die Mange-Kandidaten. »Eine Sitzung zu versäumen! Das ist gegen die Natur meines Bingo. Auf jedem einzelnen Zeugnis, seit er mit achtzehn Monaten in den Kindergarten kam, hatte er eine Eins in Pünktlichkeit. Ich versichere Ihnen, er würde nie etwas tun, um seine Mitgliedschaft bei den Manges zu gefährden. Nein! Irgendjemand hat es auf meinen Jungen abgesehen. Jemand, der Angst vor einem fairen und offenen Wettkampf gegen ein Genie hat. Ein feiger Erwachsener, der einen armen kleinen Jungen mißhandelt – « »Madame« – der Comte jonglierte fehlerlos mit Plastikfrüchten –, »Ihr Sohn ist eine verdammte – verzeihen Sie meine Ausdrucksweise – Nervensäge. Aber es gibt immer noch eine gewisse Ehre unter Köchen!« Lois Brown, anheimelnd in beigefarbener Seide, kam raschelnd zu Ernestine herüber und legte die Arme um sie. »Ganz ruhig, Ihr Bingo ist bestimmt in Sicherheit. Vielleicht hat er sich im Bad eingeschlossen. Waren Sie gestern abend nicht selbst dort eingesperrt?« Ernestines Gesicht nahm die kränklich gelbe Färbung ihres Rockes an. Sie schüttelte Mrs. Brown ab. »Eine Mutter hat einen sechsten Sinn! Ich wußte ja, daß gestern abend jemand Bingo einen Schreck einjagen wollte.« Sie stieß die Worte abgehackt hervor. »Jemand, der Gespenst spielte.«
Miss Rumpson, in einem schwarzen Hut mit einem bunten Fisch auf der Krempe, sah äußerst besorgt aus. Henderson stand stumm daneben. Mary seufzte auf dem Sofa. Den sherryfarbenen Augen von Ms. X, die von meiner Cousine Vanessa hätten stammen können, entging nichts. Ich stellte mir ihren Kopf als eine Punktetafel vor. Punkte wurden hinzugefügt oder abgezogen, je nach der Führung des Kandidaten während dieser Pause im offiziellen Procedere. Plötzlich gab jeder seinen Senf dazu, während Jeffries von einer Gruppe zur anderen raste, ihre Haube tief in die Stirn gezogen, das Gesicht verschrumpelt wie ein trockener Schwamm. Wo steckte denn eigentlich Pepys? »Wie lange wollen wir noch hier herumstehen?« erkundigte sich Ben. »Der Junge ist ja nicht im Gebirge verloren gegangen oder so. Er befindet sich in diesem Haus. Oder auf dem Grundstück. Im Bad ist er nicht, Jeffries hat schon nachgesehen. Aber könnte er nicht eventuell in einem Schrank oder einem Schuppen eingesperrt sein?« Trotz unserer Differenzen klatschte ich meinem Ehemann im Geiste Beifall, weil er den Fluß nicht erwähnt hatte. Ob Ernestine schon gegen die Angst kämpfte, Bingo könnte mit einem der Ruderboote rausgefahren sein? Mein Herz klopfte heftig. Wir hätten ihn doch bestimmt gehört, wenn er hier irgendwo in der Nähe festsaß. Als mir der Sarg einfiel, gefror mir das Blut in den Adern. Und wenn Bingo darauf verfallen war, Dracula zu spielen und der Deckel klemmte? Die Halle leerte sich. Der Comte und Solange erboten sich, das Grundstück abzusuchen. Henderson und Lois sagten, sie wollten mit dem Lift zum Speicher hinauffahren. Hatten die Ehemänner etwas dagegen, daß ihre Frauen ohne Begleitung loszogen? Mich packte jemand am Arm, und ich zuckte zusammen. Mary! Die grellen Rougeflecken auf ihren teigigen Wangen
sahen aus wie Striemen. »Ich weiß, Sie machen sich Sorgen wegen des Sarges«, flüsterte sie. »Ich werde nachsehen. Aber ich glaube nicht…« Mit diesem unbeendeten Satz verschwand sie. »Hören Sie mal zu, und zwar gut!« sagte Ernestine zu denen, die noch da waren. »Wenn Bingo auch nur ein Haar gekrümmt worden ist, wird der Schuldige meinem Mann Frank Rede und Antwort stehen müssen.« Ihr Zorn gab mir Zuversicht, zumindest für sie. Sie war nicht mit meiner übermäßig aktiven Phantasie geschlagen. Sie befürchtete nicht gleich das Schlimmste. Jeffries marschierte mit ihr davon, und jetzt waren nur noch wir drei übrig, Ben, Valicia X und ich. Mein Gatte lächelte mich irgendwie verwundert an. Hatte er schon Mühe, mein Gesicht einzuordnen? Sie sprach in dieser UntervierAugen-Art zu ihm. Ich beschrieb einen weiten Bogen um die beiden und ging zum roten Zimmer, wo wir uns gestern abend versammelt hatten. »Mrs. Haskell«, sagte die rauchige Stimme mit besorgtem Unterton, »ich habe gerade zu Ihrem Mann gesagt, daß diese Aufregung unmöglich das sein kann, was der Arzt Ihnen verordnet hat. Warum gehen Sie nicht nach oben und ruhen sich aus?« Sollte Ben meinem Zugriff entzogen werden, für den Fall, daß ich doch noch den unwürdigen Versuch unternahm, ihn zurückzugewinnen? Dicke geschnitten! Falsche Wortwahl. Nie war ich überzeugter gewesen, daß eine Schwangerschaft keine Entschuldigung war, um zuzunehmen. »Schatz« – Ben löste sich von ihr und tauchte neben mir auf-, »Ms. X hat recht. Du solltest raufgehen und dich ausruhen.« »Nein! Ich lasse mich nicht ins Bett schicken wie ein unartiges Kind.« Oh, wie ich alles an mir haßte. Mein kariertes Hängerkleid mit den Hummeltaschen. Meine Country-undWestern-Frisur, an der sich, noch während ich schmollte, schon
wieder die Spitzen spalteten. Der Blick, den Ben seiner Valicia zuwarf, war deutlicher als alle Worte. Denk an ihren Zustand, meine Süße! Wir müssen ihr nachgeben. Sollte ich mich ins Unvermeidliche fügen und ihnen meinen Segen geben? »Wie du meinst, Schatz.« Ben berührte mein Gesicht, als sei ich eine Stute, die besänftigt werden mußte. »Wir suchen Bingo gemeinsam.« Ich wich zurück und sagte: »Danke, aber wir finden ihn dreimal so schnell, wenn wir alle drei getrennt losgehen.« »Da haben Sie recht.« Valicia glitt die Stufen hinauf. Den Arm um mich gelegt, ging Ben im Kreis mit mir herum, wohl um die Stute von der Kolik zu befreien. »Ellie, Valicia hat sich wer weiß wieviel Mühe gegeben, ihre Sorge zu zeigen, und du warst ungnädig.« »Danke, ich werde daran arbeiten.« »Das paßt gar nicht zu dir. Du weißt doch, wieviel mir diese Frau bedeutet. In beruflicher Hinsicht.« »Hast du die Symptome von Parodontose bemerkt, wenn sie lächelt?« »Mein Gott, du hörst dich gar nicht gut an.« Er kramte in seinen Taschen nach einem Exemplar von Elternschaft zum Vergnügen und zum Gewinn. »Im Grunde fühle ich mich auch nicht besonders. Im Ernst, vielleicht habe ich mich mit deiner Morgenübelkeit angesteckt. Mir ist so schummerig. Mein Kopf ist nicht ganz klar. Und meine Glieder fühlen sich so komisch an.« Bitte, nein! Der Mann erzählte mir tatsächlich, daß er verliebt war. Wut flammte in mir auf. »Nett, Sie kennenzulernen.« Seinen verständnislosen Blick im Rücken, stürzte ich zum roten Zimmer davon. Die erstickende Atmosphäre dort trug auch nicht dazu bei, meine Stimmung zu heben. Der viktorianische Nippes, der Bommelvelours, das Sandsack-Sofa und speziell das Porträt
von Cat Cadaver über dem Kaminsims gaben eine Bühne ab, die eines machiavellischen Melodramas würdig gewesen wäre. Da ich nie die Mutigste gewesen war, machte mich das plötzliche Prasseln des Regens gegen die Fensterscheiben nervös. Wie dumm von mir, überhaupt hier zu suchen. Es gab so wenige Stellen, wo Bingo sich verstecken könnte, und wieso sollte er das überhaupt tun? Ich hob die Vorhänge in der Ecke mit der Bibliothek. Und wenn er während der Mange-Sitzung heute morgen den Mut verloren und aufgegeben hatte? Selbst ein Erwachsener könnte unter Fragen von dem Schlage »Welche Sorte Kuchen ließ Alfred der Große verbrennen? Waren es Eccles-Kuchen, hartgebackene süße Brötchen, Schmetterlingskuchen oder eine Mischung aus den obengenannten?« zusammenbrechen. Armer Bingo. Um ein Versager zu sein, mag man keine speziellen Kenntnisse benötigen, und trotzdem ist es schwer zu erlernen. Besonders für ein Wunderkind. Als ich mich zwischen zwei rotbraunen Armsesseln und mehreren Topfpflanzen hindurchschlängelte, die bereitstanden, jede Hand zu beißen, die sie wässern wollte, bemerkte ich neben einem der Töpfe auf dem Teppich einen Fleck in der Form Australiens. Einen Fleck, der rostfarben angelaufen war. Geh weiter, Ellie! Horch’ nicht auf Bens Schritte. Ärger dich nicht über sein zahmes – nein, feiges -Nachgeben angesichts deiner Forderung, allein gelassen zu werden. Die roten Samtvorhänge an der Nordseite des Zimmers waren geschlossen, ich nahm an, um die grelle Sonne auszusperren. Doch jetzt, wo es in Strömen regnete, zog ich sie wieder auf, ohne ernsthaft daran zu denken, daß Bingo sich auf der breiten Fensterbank versteckt halten könnte. Pepys lag dort in Hemdsärmeln – ein starres Lächeln auf dem wächsernen Gesicht, die Füße nebeneinander, die Hände unter dem roten Fleck gefaltet, der den massiven, aus seiner
Brusttasche ragenden Messergriff umrahmte. Der Raum schaukelte wie eine Hängematte. Mit einer Hand hing ich am Vorhang, auf die andere biß ich, um nicht zu schreien. Entsetzlich! Könnte ich nur all meine unfreundlichen Gedanken über diesen unangenehmen Mann zurücknehmen! Ein Schluchzer nahm den falschen Weg, als er sich plötzlich aufsetzte. Das Messer steckte noch an seinem Platz. Er schwang seine O-Beine von dem Fenstersitz und kreischte: »April, April!« Ich hätte seinen Kahlkopf aufschlagen könne wie ein Ei. »Falsch«, fauchte ich. »Wir haben den 3. Juli.« »In meinem Alter…« Er verdrehte die Augen, bis man nur noch das Weiße sehen konnte. »… ist die Zeit unwesentlich.« »Und das Messer?« Ich verschränkte die Arme und stampfte mit dem Fuß auf. Er berührte es zärtlich wie eine Rose, die die Frau seiner Träume an seinem Aufschlag befestigt hatte. »Eines von den Requisiten, die hier nach Abschluß der Dreharbeiten zu Villa Melancholie zurückgelassen wurden. Das Verschwinden des Jungen hat mich wieder daran erinnert.« Die eisblauen Augen schauten direkt in meine. Ich fröstelte und hatte einen Moment lang das Gefühl, daß hinter diesem faltigen Gesicht kein Leben war. »Haben Sie den Film schon mal gesehen?« »Nur einen Ausschnitt.« »Andauernd verschwanden Leute. Zunächst die alte Lady Farouche, dann Herbaceous, der Butler, der in einer Verfassung gefunden wurde, die ich Ihnen gerade vorgespielt habe.« Pepys strich zärtlich die Falten glatt, die ich im Vorhang gemacht hatte. »Sie kriegen es allmählich mit der Angst zu tun, wie?« »Man muß das Leben immer wieder durch kleine Showeinlagen aufpeppen, meinen Sie?« Ich brachte ein Lachen zustande, das unecht klang. Dieser Fleck bei der Topfpflanze –
ob er noch feucht war? »Sie versuchen mir angst zu machen? Kein Wunder, daß die Groggs beschlossen haben, sich unbemerkt davonzuschleichen, nachdem sie wegen etwas so Albernem wie Backpulver öffentlich gedemütigt wurden!« Pepys, ganz erfreut darüber, daß er mich dazu provoziert hatte, eine Indiskretion zu begehen, saß da und ließ die Beine baumeln wie ein Kind auf einer Mauer am Meer. Mir fiel einer den wenigen Ratschläge ein, die meine Mutter mir mitgegeben hatte – Tue den Menschen, die dich hassen, Gutes, nichts ärgert sie mehr –, und ich lächelte ihn an. »Machen Sie oft solche Streiche? Zum Beispiel gestern abend, haben Sie da ›Dieses Haus wird dich noch kriegen‹ ins Bad gekritzelt, oder sind als Lady Finster durch die Halle gezogen?« »War ich nicht.« Ein süffisantes Grinsen tauchte auf seinem Gesicht auf. »Inzwischen hat man Bingo Hoffman bestimmt gefunden.« »Auch meine Hoffnung, daß Sie recht haben, Kleines, und daß Mr. Grogg und seine Dame gesund und munter sind.« Wieder streichelte er den Messergriff. »In dieser Szene, als Herbaceous, der Butler, gefunden wurde, da vergoß Theola Faith eimerweise Tränen seinetwegen. Sie hatte ihn gern, obwohl er sie erpreßte, seit er erfahren hatte, daß Lady Farouche in Wahrheit ihr Vater war – der Mafia-König Fido – und die Nachtclub-Nummer eine Tarnung für den ThunfischSchmuggel. Doch alles nahm ein glückliches Ende, weil Malcolm Morrow, der den Herbaceous spielte, auch Sir Roderick spielte, den Erben, der von den Toten aufersteht.« Pepys legte sich wieder hin, die Füße nebeneinander, mit gefalteten Händen, wie ich ihn gefunden hatte. »Ich weiß noch Herbaceous’ letzte Szene mit ihr«, sagte er. »›Keiner darf dich anfassen, Bubbles. Dein fröhliches Katzenlächeln. Wenn du solche gemeinen Sachen sagst und trotzdem wie ein Engel klingst. Für mich scheint den ganzen Tag die Sonne, wenn ich
nur die Tür für dich öffne. Keiner darf dir jemals weh tun. Ich bin nich’ mehr so jung, wie ich mal war, und die Rüstung hat irgendwie Rost angesetzt, aber trotzdem werde ich immer dein Ritter sein.‹« »Demnach hatte Villa Melancholie ein Happy-End?« »Sie segelten in den Sonnenuntergang, Sir Roderick und seine Bubbles, und das Boot explodierte.« Gewissensbisse hefteten sich an meine Fersen, als ich in die Halle zurückging. Wie hatte ich die kostbare Bingo-Suchzeit so vergeuden können? Meine Nerven waren so kribbelig wie mexikanische Springbohnen. Ich hüpfte drei Meter hoch, als Mary mich an der Treppe einholte, um mir zu sagen, daß sie im Sarg nachgesehen und ihn leer vorgefunden hatte. »Irgend etwas Neues von Bingo?« »Soweit ich weiß, nicht.« Ihre Ausstechform-Gesichtszüge wurden durch die Wärme ihrer braunen Augen gemildert. »Wenn Sie mich fragen, dann versteckt er sich vor seiner Mutter. Der ganze Druck, unter dem das Kind steht! Da muß er ja ausflippen, und sie hält verzweifelt Ausschau, auf wen oder was sie die Schuld schieben kann, statt sie auf sich zu nehmen.« Übergangslos verfiel sie in ein heiseres Jammern, als hätte sich ihr Vorrat an Mitgefühl für andere erschöpft. »Meine eigene Situation war das genaue Gegenteil. Nie wurde Druck auf mich ausgeübt, etwas zu sein, etwas zu tun – außer um Himmels willen bloß aus dem Weg zu gehen. Wenn die große Theola Faith sagte, ›Geh’ raus, Herzchen, und spiel’ im Verkehr‹ meinte sie es auch so.« Es war eine gespenstisch naturgetreue Widergabe der Stimme ihrer Mutter. »Wie schrecklich!« Ich klammerte mich am Geländer fest. War ich wirklich bereit zur Mutterschaft? »Als Kind hat Theola mich mehrmals verlegt wie eine Brille oder einen Hausschlüssel, nur um mir hinterher zur Beruhigung
mitzuteilen, daß ich mich nicht verirrt hatte, solange ich wußte, wo ich war.« Mary stieg vor mir die Stufen hoch. In ihrem grauen Kleid und den schlichten Schuhen sah sie eher nach einer Haushälterin aus als nach der Dame des Hauses. Und eine Tochter, die ihrer Mutter weniger glich, würde schwerlich zu finden sein, auch wenn Größe und Körperbau ähnlich waren und die Gesichtsform ’die gleiche. Würde mein – sah mein Baby so aus wie ich? »Ich nehme die Zimmer links von der Treppe, wenn Sie sich die rechte Seite vorknöpfen«, schlug Mary vor, als wir im zweiten Stock ankamen. Es konnte gut sein, daß wir ein Gebiet erkundeten, das schon von anderen Mitgliedern der Gruppe sondiert worden war, aber zu zaudern hieße untätig zu bleiben. Ganz zufällig war das erste Zimmer, das ich überprüfte, Bingos. Das Hawaii-Hemd, das er am Abend zuvor getragen hatte, lag über einen Stuhl gebreitet, und andere Jungenkleidung lag gefaltet auf einem Koffer neben dem massiven Kleiderschrank. Alles war extrem ordentlich. Und dabei hatte ich gedacht, alle Kinder hätten das Talent, Chaos um sich zu verbreiten. Die blaue Zahnbürste lag gerade über der Reiseseifenschale, die genau in der Mitte des Glasaufsatzes der Kommode stand. Nur der Form halber spähte ich unter das Bett. Da ich nichts fand, nicht einmal Staub, ging ich vorsichtshalber zum Kleiderschrank hinüber. Die Vorstellung, daß Bingo, talentiert und feist, dort hockte, lag sehr nahe. Eine Bodendiele knarrte, und meine Finger wurden taub. Der Kleiderschrank war leer. Die Angst nahm den bitteren Nachgeschmack der Enttäuschung an. Erschöpft lehnte ich mich gegen das kühle Fenster. Regen glitt daran hinunter. Äste eines toten Baumes, der so weiß gebleicht war wie ein Geweih, kratzten an der Scheibe.
Ein Augenblick völliger Dunkelheit, vielleicht schloß ich die Augen. Das Geräusch des Regens verwandelte sich in meinem Kopf in Stimmengeplätscher – die Tramwell-Schwestern wiederholten die Worte von Chantal: »…Ärger im Nordturm.« Wenn mein Richtungssinn stimmte, lag dieses Zimmer direkt unter dem Turm, jenem mit der überwuchernden zwiebelförmigen Kuppel. Als Kind wäre die Versuchung, solch einen Ort zu erkunden, unwiderstehlich für mich gewesen. Und in Herz wie Kopf von Bingo Hoffman, Wunderkind, lauerte doch bestimmt noch ein Junge. Ich schöpfte Hoffnung und stieß mich vom Fenster ab. Gab es in diesem Zimmer vielleicht eine Tür, die in den Turm führte? Gefunden! In der Nische zwischen Kleiderschrank und Wand konnte ich sie erspähen. Nachdem ich sie vorsichtig geöffnet hatte, betrat ich die Wendeltreppe, und die Tür knallte hinter mir zu. Ich befand mich im Inneren einer Trommel, die vom Regeln gerührt wurde. Während eines kürzlichen Besuches auf Merlins Schloß hatte meine Schwiegermutter in unserem Nordturm geschlafen. Sie sagte, sie genieße die Abgeschiedenheit und die Aussicht. Sie fing sogar an, mich zu mögen… glaube ich zumindest. Je näher ich der obersten Treppenstufe kam, um so heftiger wurde der Regen. Schwer zu glauben, daß solche Heftigkeit nicht persönlich gemeint war. Ich hatte den Treppenabsatz erreicht und stand vor einem Türbogen. »Hilfe! Retten Sie mich!« Die Worte versetzten mir einen Stich. Doch gleich darauf fragte ich mich, ob es nicht nur Einbildung gewesen war, ausgelöst durch das Unwetter. Der riesige Türgriff aus Eisen drehte sich langsam. Die Eichentür mußte an die dreißig Zentimeter dick sein – passend zu den guten alten Zeiten, als es ein Nationalsport war, seine Gäste zu ersticken. Ein nervöses Ächzen, als die Tür Zentimeter um Zentimeter aufging. Oder
hatte ich mich geräuspert? Der runde Raum wurde von einer Glühbirne erhellt, die wie ein Totenkopf über mir hin- und herschwang, was eine Bedeutung haben mußte, wenn auch nur die, daß die Kammer schon von jemand anders durchsucht worden war, der vergessen hatte, das Licht auszuschalten. »Bingo?« Genau in der Mitte, auf einem Podest, stand ein riesiges Bett, mit altem grünen Samt ausgeschlagen. Ich drückte die Tür so behutsam wie möglich zu, um niemanden in Angst und Schrecken zu versetzen, mich eingeschlossen. Die Dielenbretter knarrten bei jedem Schritt, den ich auf Zehenspitzen tat. Wessen mühsames Atmen war das? Meines. Blöd von mir, aber meine Haut prickelte bei dem Gedanken, daß ich vielleicht drauf und dran war, Lady Finster zu begegnen. Hatte sie Bingo verschwinden lassen, weil er ausgeplaudert hatte, daß er ihr gestern abend begegnet war? Mein Blick wurde unwiderstehlich zu der schmalen Öffnung vor dem länglichen Fenster hingezogen. Ein Winkel, in den man nur seitlich hineingelangen konnte und dann auch nur mit einem Schuhanzieher. Ein herrliches Versteck für einen Geist… oder für einen Jungen, der Ivanhoe spielte. »Bingo?« Ein Schluchzen. Noch ehe man Gerettet! sagen konnte, flüsterte ich dem auf dem Fußboden kauernden Tunsren schon Trostworte zu. Der Winkel war kaum größer als ein Teetablett. Ich zog die Nase ein, damit sie nicht auch steckenblieb, und stellte die idiotischste Frage aller Zeiten: »Kannst du nicht raus?« Damit hatte ich ihm unerhört viel Gutes getan. Er stand schnaufend auf und stieß sich dabei den Ellbogen an der Wand. Sein dickliches Gesicht war rot und klebrig. Seine Brille war so beschlagen, daß er vermutlich gar nichts sehen konnte. »Müssen Sie so blöd sein? Ich bin hier nicht zum Meditieren!«
»Natürlich nicht.« Bingo polierte seine Brille vorn an seinem Hemd und setzte sie sich wieder auf die Nase. »Ach, Sie sind es.« Er verzog den Mund. »Das zweite fette Mitglied der Gruppe.« »Jetzt warte mal…« Die Erinnerung, wie ich in diesem Alter gewesen war, ließ mich stoppen. Ebenso korpulent und fast ebenso übellaunig, wenn jemand auf den falschen Knopf drückte. »Sollen wir weiter Feindseligkeiten austauschen, bis ich dich hier heraus habe? Deine Mutter macht sich Sorgen um dich.« »Dann ist sie ja happy.« Er verschränkte die Arme und reckte das Kinn vor. »Mom genießt es, für meine Kunst zu leiden. Die Frau braucht eine sinnvolle Beschäftigung, um etwas aus ihrem Leben zu machen.« Wie benehme ich mich richtig trat vehement gegen das Erheben der Stimme ein, deshalb biß ich die Zähne zusammen und sagte: »Wenn ich dich hier herausgezogen habe, kannst du mir ja mal erzählen, wie sich ein so kluges Bürschchen wie du in solch eine mißliche Lage bringen konnte.« »Oh, einverstanden.« Er streckte mir seine kleine, dicke Hand hin. »Aber das ganze Gezerre wird wohl nur dazu führen, daß ich festklemme.« Er hatte recht. Nach viel Geschnaufe und Gekeuche kam ich mir vor wie das Kaninchen samt all seinen Bekannten und Verwandten, als sie versuchten, Winnie den Pooh zu befreien. »Ich gehe deine Mutter holen.« »Machen Sie das«, grummelte Bingo. »Holen Sie nur alle her, und ich schwöre Ihnen, ich springe aus dem Fenster.« Eine müßige Drohung angesichts der Tatsache, daß er nicht mal einen Brief durch den Spalt bekommen hätte, geschweige denn die Rettungsringe um seine Taille, doch ich begriff seine Verzweiflung. »Bei Ihnen macht es mir nicht soviel aus« – seine Wangen waren rauh von den getrockneten Tränen –,
»weil Sie anscheinend Verständnis dafür haben, wenn man lächerlich aussieht.« Ich rieb meine Hände in der Hoffnung, damit die Blutzufuhr zum Gehirn anregen zu können. »Bingo, warum bist du hier heraufgekommen?« Er hörte auf, an seinem Hemd zu zupfen, und es glitt hoch – zum Vorschein kam ein Streifen rosa Fleisch. »Schwören Sie bei Ihrem Leben, es nicht zu verraten? Wenn Sie es doch tun, erledige ich Ihren Mann! Ich sorge dafür, daß er nie wieder in seinem Beruf arbeiten kann. Ich habe die nötigen Kontakte, müssen Sie wissen. Es gibt Leute, die für meine Taubenleberpate töten würden. Hey! Wo gehen Sie hin?« Ich wandte mich ihm wieder zu. »Es tut mir leid für dich, Bingo, aber ich habe Besseres mit dem Rest meiner Schwangerschaft zu tun, als dich deine dummen Launen an mir abreagieren zu lassen.« Sein Gesicht verzog sich weinerlich. »Na schön. Mein Problem hängt mit derselben dummen Mange-Regel zusammen, die auch Jim Grogg zu Fall gebracht hat. Als ich sah, was wegen des Backpulvers mit ihm passierte, habe ich das Zittern gekriegt.« »Du hast auch Backpulver eingeschmuggelt?« »Seien Sie nicht blöd. Ich kann einen Kuchen schon durch bloßes Anhauchen zu schwindelerregenden Höhen anwachsen lassen. Was ich mitgebracht habe, ist mein Geheimvorrat an…« Er kaute auf seiner dicken Unterlippe. »Was?« »Süßigkeiten und Knabberzeug.« Er funkelte mich an. »Ich weiß auch nicht, warum ich mich Ihnen anvertraue. Glauben Sie, wir sind uns in einem früheren Leben schon mal begegnet? Vielleicht sind Sie ein Küchenmädchen, dem ich einmal sehr zugetan war. Egal. Jedenfalls bin ich süchtig nach Ding Dongs, Ho Hos und Twinkies. Gestern abend habe ich einen Teil
meines Vorrats aufgegessen und wollte für den Rest ein sicheres Versteck finden.« »Also das hattest du gestern vor?« »Darf ich mit meiner Geschichte fortfahren?« Sein dickes Gesicht füllte die Öffnung aus. »Ich hatte ein provisorisches Versteck ausfindig gemacht, doch heute stellte ich mir während der gesamten Vormittagssitzung Pepys als Bluthund vor. Wie er schnüffelte. Und dann fiel mir ein, daß ich morgens beim Öffnen meines Zimmerfensters ein Vogelnest im Wipfel des toten Baumes gesehen hatte.« »Perfekt.« »Leider bin ich kein guter Kletterer. Nach dem Mittagessen ging ich nach draußen und entdeckte, daß sich das Nest auf der Höhe dieses Fensters hier befindet. Nachdem ich gewisse architektonische Berechnungen angestellt hatte, ging ich in mein Zimmer und fand den Zugang zum Turm. Sobald ich hier oben angelangt war, quetschte ich mich in diese Öffnung, wobei ich mir nur einige Hautschichten abschürfte, aber…« »Ja? « Das Wunderkind runzelte die Stirn. »Ich hatte nicht einkalkuliert, daß das Fenster schmaler ist als ein Bleistift. Ich dachte, es sähe nur von unten so aus. Ich brauche wohl eine neue Brille.« Er tippte an das Gestell. »Die ganze Treppensteigerei hatte mich schrecklich hungrig gemacht, deshalb beschloß ich, das Zeug dort zu verstauen, wo es letztlich niemand finden würde.« Er holte leeres Einwickelpapier aus seiner Tasche. »Du hast alles aufgegessen?« »Und wenn? Die paar Bissen machen auch nicht den großen Unterschied, ob ich hier herauskomme oder ein Gefangener bleibe.« Er zog ein mürrisches Gesicht und stampfte mit einem Fuß auf den Zement. »Diese Wände sind fehlerhaft. Sie dehnen sich aus.«
»Bingo Liebes«, sagte ich. »Du mußt mich Hilfe holen lassen. Wir können eine leicht abgeänderte Version der Wahrheit erzählen. Wir sagen, du bist hier heraufgekommen, um die Aussicht zu genießen.« Wütend blies er die Backen auf, und die Brille hüpfte auf seiner Stupsnase. »Ich dachte, Sie wären anders, aber Sie haben auch nicht mehr Grips im Kopf als die übrigen Erwachsenen! Die Manges werden mein Fehlen bei der Sitzung nicht durchgehen lassen, nur weil ich angeblich ein Landschaftsfan bin. Ich habe Ihnen die Wahrheit anvertraut, weil ich hoffte, Sie wären imstande, sich mit mir zusammen einen überzeugenden, heldenhaften Grund für mein Hiersein zu überlegen. Einen Grund, der mich vom Stigma der lächerlichen Einkerkerung befreit.« Ich antwortete nicht. Die Turmtür ging ächzend auf. »Ellie?« »Mein Mann!« warnte ich Bingo, als wäre meine frühere große Liebe ein schnurrbärtiger Schurke, der uns beide von den Festungsmauern schleudern wollte. Zu spät, um mir ein Versteck zu suchen. Zu spät, um nachzudenken. Ich lag bereits in Bens Armen, die mich fast zerdrückten. Seine Finger strichen über mein Haar, seine Lippen fanden meine, und mein Herz hüpfte so leichtsinnig wie eh und je. »Schatz, habe ich dir schon gesagt, daß mir deine Umstandskleidung gefällt?« Das mittelalterliche Bett auf dem königlichen Podest lockte uns spöttisch mit der Aussicht auf eine Märchenidylle nur für zwei. Von dem zuschauenden Kind wurde ich davor gerettet. Ich brachte die Kraft auf, mich loszumachen und mit innerer Distanz Bens Gesicht zu betrachten, während er schilderte, wie er in Bingos Zimmer gegangen war und den Zugang zum Turm gefunden hatte. In den letzten vierundzwanzig Stunden war er gealtert. Diese winzigen Falten um seine Augen kamen von
seinem ausschweifenden Lebensstil. Und mir fiel auf, daß sein dunkles Haar und seine blaugrünen Augen leicht schillerten. Gott sei Dank, es würde ein Kinderspiel sein, über ihn hinwegzukommen. »Ellie, ich habe mir schon Sorgen gemacht. Du warst irgendwie so komisch unten in der Halle. Wenn du willst, halte mich ruhig für einen überbesorgten Ehemann, aber der Gedanke, daß du im ganzen Haus herumrennst und nach dem Jungen suchst, hat mir überhaupt nicht gefallen. Du solltest nicht so viele Treppen steigen.« Meine ganze bisherige Schwangerschaft über hatte ich mich danach gesehnt, wie eine zarte Blume behandelt zu werden… »Und, Liebes…« Er wich meinem Blick aus und berührte mein Haar. »Ich muß auch noch etwas anderes ansprechen…« »Lassen Sie sich von mir nicht stören.« Bingo kam mir zu Hilfe. »Ach, hallo, alter Knabe«, sagte Ben mit längst nicht soviel Begeisterung, wie die Situation verlangt hätte. »Bitte halten Sie sich zurück, und starren Sie mich nicht so an. Wir sind hier nicht im Zoo.« »Tut mir leid.« Ben näherte sich der Öffnung. »Habe ich richtig verstanden, daß Sie keine Gäste empfangen?« Ich rechnete mit einem übellaunigen Ausbruch des Jungen, doch er grinste tatsächlich. »Ich wollte gerade sagen« – meine Stimme war ohrenbetäubend laut, als hätte jemand die Lautstärke an einem Fernseher voll aufgedreht –, »daß Bingo eine bizarre und brutale Erfahrung hinter sich hat.« Tiefes Durchatmen. »Nach dem Mittagessen machte er einen kleinen Spaziergang und hörte dieses komische Flattern hinter der Tür, die zur Turmstiege geht. Gewissenhaft wie er ist, sah er nach, was es war und entdeckte diese Taube. Ich selbst bin gestern abend auch einer begegnet, einmal im zweiten Stock und…«
»Ich kann mir die Pointe von der ganzen Geschichte schon vorstellen.« Ben stützte sich mit dem Ellbogen an der Wand ab und lächelte. »Unterbrechen Sie nicht«, fuhr Bingo ihn an. »Ich will wissen, äh, noch mal hören, wie es passiert ist.« Ich schob die Hände in meine Hummeltaschen. »Der blöde Vogel wollte sich nicht retten lassen. Er flog wieder die Stufen rauf und prallte immerzu gegen die Tür oben, bis Bingo sie öffnete. In diesem Raum hier raste er im Sturzflug in die Öffnung. Und, man glaubt es kaum, das arme Ding stieß voll gegen das Fenster und fiel wie tot hin, bis unser Held hier – « »Genau!« Bingos Grinsen war so ausladend wie die Vorderseite seines Hemdes. »Ohne einen Gedanken an mein eigenes Wohlergehen zu verschwenden, zwängte ich mich durch die Öffnung und wollte gerade mit der künstlichen Beatmung beginnen, als…« Ich übernahm wieder die Kontrolle, um die Geschichte zu beenden, bevor Bingo sich in seinem eigenen Garn verfing. Die erste süße Genugtuung, es Ben Lüge um Lüge heimzuzahlen, war verflogen. Auf meiner Zunge lag ein bitterer Nachgeschmack. »Die Taube kam wieder zu sich. Sie gehört Theola Faith, deshalb ist es nicht verwunderlich, daß sie schauspielerische Ambitionen hat und sich nur tot stellte. Sie flog wieder heraus und die Stufen hinunter, während Bingo in der Falle saß.« »Du hattest beide Türen offengelassen?« wandte Ben sich an den Jungen. »Na klar«, sagte ich, »sonst hätte die Taube sie doch mit ihren kleinen Füßen öffnen müssen. Als ich raufkam, habe ich die Tür zur Stiege und auch diese hier geschlossen.« »Aha!« Bens Gesicht wirkte angespannt. War er sauer auf Bingo, weil er den kostbaren Mange-Zeitplan durcheinandergebracht hatte, ganz zu schweigen von Valicia X,
oder unterdrückte er mit Müh’ und Not ein Grinsen? »Ein unglaubliches Abenteuer.« Ben ging um mich herum und musterte Bingo durch die Öffnung. »Und außerdem frustrierend. Ich kenne das Gefühl. Ich steckte einmal zwischen dem Kühlschrank und einem Stapel Pappkartons im Gemüseladen meines Vaters fest.« Na, wer tischte denn jetzt wohl wem schamlose Lügen auf? Ben könnte den Bauch bis zur Wirbelsäule einziehen und notfalls in und aus einem Briefkasten herauskriechen. »Bisher haben Sie keinen sehr großen Eindruck auf mich gemacht, Mr. Haskell.« Bingo putzte seine Brille, die wieder beschlagen war. »Wenn Sie mich allerdings hier herausholen, bin ich bereit, Ihnen die Antwort auf diese peinlich einfache Frage über die trojanische Kochkunst zu verraten, die Sie heute morgen schachmatt gesetzt hat.« »Herzlichen Dank, alter Junge, aber ich kann deine Großzügigkeit nicht ausnutzen. Deine Notlage ist vergleichbar mit einem Ring, den man wieder abnehmen will, weil er zu eng geworden ist. Je mehr man schiebt und zieht, um so schlechter läßt er sich abziehen. Weil der Finger mittlerweile geschwollen ist.« »Stimmt genau!« bestätigte ich. Wie schwer es mir wieder fiel, diesen Ehemann nicht als Helden zu sehen. »Bingos Schultern sehen sehr geschwollen aus. War das ein Vorschlag…?« »Voll erfaßt! Wir seifen ihn ein, dann rutscht er sofort raus. Und hinterher, Ellie«, sagte er und berührte sanft mein Haar, »wenn die Suche abgeblasen ist, muß ich dir unbedingt etwas sagen.«
Bingo wurde bei seiner Mutter abgeliefert, und Valicia X erklärte den Vorfall zum würdigen Anlaß einer Feier. Die Nachmittagssitzung wurde auf den Abend verschoben, der ursprünglich zur freien Verfügung stehen sollte. Pepys und Jeffries gingen, der eine murrend, die andere mit schwingenden Röcken, den Champagner holen. Wir übrigen (bis auf Mary, die nach oben gegangen war, als Bingo herunterkam) versammelten uns im roten Zimmer. Ben und ich mußten noch auf unser Vier-Augen-Gespräch warten. Und ich bedauerte es nicht, als der Comte um eine kurze Unterredung mit meinem Mann bat. Irgend etwas über Trüffel. Ich setzte mein schönstes Lächeln auf und wünschte ihnen bon Klatsch. Als ich mich unter die anderen mischte, kreisten meine Gedanken nicht ausschließlich um meine Eheprobleme. Ich fand Gefallen an der Geschichte, die ich um Bingos willen erzählt hatte. Lieber einem Vogel die Schuld geben als zu behaupten, ein Geist habe ihn in den Turm gelockt, besonders, da Bingo die Begegnung mit Lady Finster erfunden oder sich eingebildet haben konnte. Ich hoffte jedoch, daß die Lüge nicht an den Tag kam. Mein schweifender Blick fand Ben drüben in der Bibliotheksecke, noch im Gespräch mit dem Comte. Warum konnte ich die Uhren nur nicht zurückdrehen? »Hallo, Herzchen!« Marjorie Rumpson berührte mich am Arm. Sie trug immer noch den Hut mit dem Filzfisch auf der Krempe, und auch der besorgte Ausdruck auf ihrem schlaffen Gesicht war noch derselbe wie vorhin, als Bingo verschollen war. »Schauen Sie mal, mein Mädchen, Tantchen Marge ist
Ihnen noch einen Gefallen schuldig. Mehrere sogar, für gestern abend. Und ich weiß auch schon genau, wie ich mich revanchiere.« »Ach ja?« Sie war so trostspendend wie ein großes Stofftier, das Kinder nachts mit ins Bett nehmen. »Seh’s so klar vor mir wie die Nase in Ihrem Gesicht und die Tränen in Ihren Augen! Sie haben Angst, daß Ihr Mann Sie nicht mehr liebt. Aber keine Sorge! Die Hilfe wartet schon draußen vor der Küchentür, im Kräutergarten. Ich kann Ihnen ein Rezept geben, Ihnen sagen, welche Pflanzen Sie pflücken müssen und wie lange das Gebräu gerührt werden muß.« »Sie meinen es gut.« Ich senkte die Stimme, da die Browns und Solange in unserer Nähe waren. »Aber ich glaube nicht an einen Liebestrank.« »Meine Liebe, meine Rezepte funktionieren.« »Das habe ich damit nicht gemeint.« Ich blickte mich verstohlen um, um sicherzugehen, daß Valicia X uns nicht hören konnte. »Wenn Ben mich nur lieben würde, weil er unter dem Einfluß des Mittels steht, wäre es nicht dasselbe für mich.« Miss Rumpson antwortete nicht, weil wir – das heißt das ganze Zimmer – durch die plötzliche Ankunft von Jeffries und Pepys zum Verstummen gebracht wurden. Beide trugen Silbertabletts vor sich her. Sie hatte Weingläser auf ihrem. Er hatte mehrere Champagnerflaschen und… eine Taube. Konnte Salome elender zumute gewesen sein, als sie das Haupt Johannes des Täufers erblickte? »Ist sie diejenige?« Marjorie stupste mich an. »Weiß ich nicht genau. Für mich sehen alle Tauben gleich aus.« Bens heiter-spöttischer Blick brannte auf meiner Haut. Er wußte, daß ich gelogen hatte, denn er hatte es während unserer Ehe zu seinem teuflischen Geschäft gemacht, mich durch und
durch kennenzulernen. Ich lächelte Bingo strahlend an. Er stand sorgfältig gebadet in frischem Hemd und Jeans neben seiner Mutter. Die Taube rutschte hin und her und versuchte, ihre Würde zu wahren, als Pepys das Tablett auf das Likörtischchen stellte. »Sie gehört zu einem Pärchen«, sagte Lois Brown zu ihrem Mann. »Sie hängen schrecklich aneinander, soviel ich weiß. Es sind Brieftauben, ein Geschenk an Miss Theola Faith von einem glühenden Verehrer.« Die Taube, die auf einen Stuhl gehüpft war, ließ es zu, daß Lois sie streichelte, beobachtete aber währenddessen Valicia X mit scharfen Augen. »Paß auf, Lois!« Henderson hob das von Sorgen zerfurchte Gesicht von dem Buch, in dem er vorgeblich gelesen hatte. »Tauben übertragen Krankheiten.« Valicia X lachte melodiös. »Ich finde ihn süß!« Sie streckte einen Finger aus. Die Taube drehte den Schnabel weg. Sie mußte gerade gefressen haben. »Er ist eine sie.« Pepys fügte nicht hinzu »Dummchen!« Aber er sagte es durch seinen Tonfall. Er hatte nicht sonderlich viel Respekt vor seiner Mange-Schwester, soweit ich sehen konnte. Was Jeffries anbelangte, fürchtete sie mit Sicherheit weder Mensch noch Vogel. »Alles zurück!« Sie scheuchte die Leute mit einer Champagnerflasche. »Wir haben hier keinen Streichelzoo.« »Hat nicht jemand gesagt, daß sie Joan heißt?« fragte ich. Ich wollte mich unbedingt von Ben ablenken, der mit zwei Gläsern auf mich zukam. Pepys goß weiter von dem schäumenden Getränk ein. »Sie hat ihren Gefährten Derby ziemlich gemein gepickt.« »Apropos gemein…« Ernestine war es offensichtlich warm unter dem Kragen ihres senffarbenen Kleides. »Ich nenne es unfaßbar, daß man diese Handvoll Federn noch hier hereinläßt, nach allem, was mein Bingo durchmachen mußte.«
Ein mürrischer Blick von ihrem ganzen Stolz. »Ach, Mom! Ich habe doch keine Taubenphobie.« Sie knöpfte ihn sich vor. »Komm’ mir nicht mit ›ach, Mom‹. Du magst schlauer sein als ich und dein Dad zusammen, aber wenn es darum geht zu wissen, was für dich das Beste ist, habe ich das Sagen!« Sie klopfte sich mit der Faust an die Brust. Ihre froschgrünen Perlen hüpften einmal… zweimal. Ich mochte das häßliche Funkeln in ihren Augen nicht. Aus irgendeinem Grund mußte ich plötzlich an die geheimnisvolle Abreise von Mr. Grogg und seiner Divonne denken. »Du glaubst wohl, ich weiß nicht, was hier gespielt wird! Als ich dieses scheußliche Zimmer sah, das sie dir gegeben haben.« Sie zerrte Bingo an sich. »Du bist eine Bedrohung für die anderen Kandidaten. Sie stehen schon ganz oben auf der Leiter, für sie kann es nur noch abwärts gehen. Vielleicht sähe es anders aus, wenn du einen erschwindelten Titel hättest oder wenn du der Sieger in einem läppischen Kochwettbewerb wärest, oder, besser noch, groß, dunkelhaarig und attraktiv.« Bens Atemgeräusche waren zweideutig. Er konnte wütend sein oder auch das Lachen unterdrücken. »Mrs. Hoffman«, sagte Valicia, und ihr Gesicht war so seidenweich wie der Schal um ihren Hals, »ich muß Sie warnen. Sollten Sie weiter solche Bemerkungen über MangeAngelegenheiten machen, wird Ihr Sohn darunter zu leiden haben. Die Gesellschaft betrachtet die Einmischung von Ehepartnern und Eltern als das sicherste Mittel, den Ausschluß eines Kandidaten zu erreichen.« Hinter ihr hatte Jeffries ein Notizbuch zum Vorschein gebracht und schrieb verbissen mit. Mit dieser Feier ging es rasend schnell bergab. »Siehst du, Mutter, siehst du, was du angerichtet hast?« Mit verschränkten Armen baute Bingo sich vor Ernestine auf, die auf einen Stuhl sank.
»Erschwindelter Titel!« Ganz Comtesse, ging Solange mit einem Rischel-Raschel von Taft auf sie zu. »Wenn Madame übersetzen wollen, s’il vous plait« Gedrückte Stille, gefolgt von einem Donnerschlag, als Henderson sein Buch auf einen Tisch warf. Ich merkte mir den Titel: Die Geiselbraut. Der finstere Ausdruck in seinem Gesicht steigerte sich zu Zorn. »Läppischer Kochwettbewerb! Ich sage Ihnen was, jedesmal, wenn meine Frau zu Hause das Essen auf den Tisch stellt, gewinnt sie den Wettbewerb, der wirklich zählt.« Von meinem Standort am anderen Ende des Zimmers aus konnte ich die Tränen in Lois Browns Augen schimmern sehen. »Henny, Liebes!« Was sonst noch hätte gesagt werden können, blieb ungesagt. Die Taube suchte sich diesen Moment aus, um auf Valicias herrlichem Kopf zu landen. Einen boshaften Augenblick lang hoffte ich, sie würde dort etwas hinterlassen. Doch es sollte nicht sein. Bevor Ben ihr zu Hilfe eilen konnte, griff Valicia gelassen nach der Taube und kraulte sie am Kinn. Diese Frau hatte einfach alles – meinen Mann und savoir faire. Mist! Der Vogel stand ihr sogar gut. Das Stimmengewirr rundherum übertönte nicht die Worte, die mir immer wieder durch den Kopf gingen… ich muß dir etwas sagen… etwas sagen… Ohne sich von dem Hin und Her beeindrucken zu lassen, setzten Pepys und Jeffries ihre fröhliche Runde mit dem Champagner fort. Die Comtesse lehnte ab, doch Miss Rumpson genehmigte sich ein Gläschen. Im Stil einer Hundemutter, die ihre Welpen um sich versammelt, gab sie einen Trinkspruch zum besten. »Auf den Sportsgeist, meine Lieben.« Kreischendes Gelächter erscholl aus Jeffries Mund – es war noch entsetzlicher als ihr Urschrei. Mehrere Leute verschütteten ihren Champagner. Ben nahm sein Glas und drehte den Stiel in den Fingern. »Mit gebührendem Respekt
vor Ms. X«, sagte er, »möchte ich um Schonung für Mrs. Hoffman bitten. Der heutige Nachmittag war hart für sie, und als werdender Vater kann ich…« Er wurde von der Taube übertönt, die wieder in die Luft stieg, doch ganz von selbst griff meine Hand nach seiner. Ich hatte neue Hoffnung geschöpft. Dann lächelte Ms. X ihn an, und seine Großzügigkeit war wertlos. Was kümmerte es mich, ob er den Mr.-Mitgefühl-Preis gewann! Der Comte, der offenbar seine Mange-Felle davonschwimmen sah, erbot sich, einige Tricks aus seinem Repertoire vorzuführen, in der Hoffnung, daß etwas Unterhaltung die gute Stimmung wiederherstellen würde. »Warum nicht.« Valicia X setzte sich auf die Sofalehne, ihr kurzer Rock rutschte über ihre hübschen Knie. »Aber bitte nichts mit Essen.« »Madame X« – der Comte fuhr mit der Hand über sein nach griechischem Vorbild geschnittenes Haar und verbeugte sich vor ihr –, »iiich bitte darum, diese Taube benutzen zu dürfen, ich schwöre bei der Ehre Frankreichs, daß ich sie nicht zu paté machen werde.« »Das will ich auch hoffen!« Bingo zog ein finsteres Gesicht. »Das ist nämlich meine Spezialität.« Der Comte zupfte seine Krawatte zurecht und winkte Solange schwungvoll zu sich. »Solange, ma chérie! Wenn du mich auch nur halbwegs liebst, leih mirrr deine Unterstützung!« »Non, non! Mon angel!« Sie ging zu ihm hinüber, mehr Kurtisane als Ehefrau, die Schönheitsmale und das Dekollete weithin sichtbar. »Ich trage kein Kostüm, außerdem bin ich eingerostet.« »Still, ma fleur! Hol den verflixten Vogel!« Der Comte nahm schnell ein schwarzes Taschentuch sowie ein großes Federmesser aus der Tasche und lieh sich ein Lackkästchen vom Kaminsims. »Schauen Sie hin! Nichts drin.« Er klappte
den Deckel auf und zeigte das Kästchen herum, während die Gruppe näherkam, um sich Spiel und Spaß hinzugeben. Ich setzte mich auf den nächstbesten Stuhl. Die Taube, offenbar ein helles Köpfchen, spreizte die Flügel wie ein königlicher Falke, während sie auf Solanges Handgelenk thronte. Der Comte dagegen erklärte mit dem Requisit in der Hand auf die schnelle, daß er Madame Joan in das Kästchen legen, es mit dem schwarzen Taschentuch zudecken und in zwei Teile zerlegen werde. »Mir gefällt das überhaupt nicht, überhaupt nicht«, jammerte Pepys. Sein Gesicht war grau. »Ausnahmsweise bin ich mit dem alten Schwachkopf einer Meinung!« Jeffries knallte ihr Tablett hin. »Dieser Vogel ist das Eigentum von Miss Theola Faith. Wenn Sie ihm eine Feder krümmen, werden wir alle zu paté gemacht!« Gelassen winkte Valicia X ab. »Ich übernehme die volle Verantwortung.« Die Taube war wunschgemäß im Kästchen, das Kästchen war schwarz verhüllt, und das Federmesser schnitt durch die Luft. Ich schloß die Augen. Bingo grummelte, das sei doch kindisch. »Voilà! Ich entferne das Tuch, übergebe es meiner treuen Assistentin, der Deckel hebt sich langsam… langsam…« Die Spannung war zu stark. Ich öffnete zaghaft ein Auge, immerhin rechtzeitig, um mitzubekommen, wie der triumphierende Ausdruck des Comte verschwand. Statt dessen schaute er jetzt verdutzt auf das Lackkästchen. »Mon Dieu!« flüsterte er. »Was habe ich gemacht? Was ist bloß schiefgelaufen?« Ben saß auf der Armlehne meines Stuhles und drückte mein Gesicht an seine Schulter. »Meine schwangere Frau darf solch ein Gemetzel nicht sehen.«
»Sie überschätzen den Ernst der Lage!« Die Stimme von Solange war das. »Der Vogel ist noch ganz, aber so still! Es ist nur ein harmloser Angsttod.« Der obligatorische Urschrei von Jeffries. Valicia stand auf. »Ich schlage vor, wir bleiben alle ganz ruhig!« Lois Brown fing an zu weinen. Ernestine versuchte vergeblich, Bingo die Augen zuzuhalten. Pepys’ Stimme war so wackelig wie seine Beine. »Derby und seine Joan! Sie waren alles füreinander. Eines der größten Liebespaare aller Zeiten.« Eine Träne rann durch die Risse in seinem Gesicht. »Wer wird es ihr beibringen?« Das Geräusch einer sich öffnenden Tür ließ alle verstummen. Mary Faith kam herein. »Was beibringen? Wer soll mir was beibringen?« Stille, fast so bitter wie der Tod selbst. Das Exemplar von Monster Mommy auf dem Kaffeetisch beherrschte plötzlich das Zimmer. »Madame.« Der Comte versteckte das Lackkästchen hinter seinem Rücken. »Ich überantworte mich Ihrer Gnade.« Mary stand da, mit dem Rücken an der Tür, ihr schmaler Mund war unentschieden, ob sie lachen oder zürnen sollte. »Ist irgend etwas zerbrochen?« »Ja, könnte man so sagen.« Valicia X, deren Schönheit durch tragische Umstände unzweifelhaft noch gewann, führte sie zu einem Stuhl. »Sie brauchen nicht erst zu verlangen, daß Comte Vincent von den Mange-Befragungen ausgeschlossen wird. Er hat Regel 3936, Sektion M verletzt. Und daher wird er…« Mary sträubte sich dagegen, auf den Stuhl gedrückt zu werden. Jeffries stand da wie ein Staubwedel mit menschlichem Kopf. »Ich kann es Ihnen nicht auf schonendere Weise schneiden – pardon – sagen, Ms. Faith. Taube Joan ist tot.«
Eine Vielzahl von Gefühlen jagte über Marys Gesicht, ihre Züge verschwammen. Jeder erging sich über die Tragödie, es gipfelte in einem abstoßenden faux pas von Bingo: »Kann ich jetzt paté machen?« »Liebling!« tadelte Ernestine. »Wenn das mein Kind wäre…« Bens Ausbruch wurde von Mary weit übertroffen – sie schlug mit den Händen und der Stimme um sich. Irgendwie wirkte sie dadurch, daß jedes Härchen an seinem Platz war und sie sich mit Hilfe ihrer Schmetterlingsbrille und dem grauen Gefängniskleid als Frau von eigentlich zurückhaltendem Wesen auswies, um so wilder. »Oh, warum in Gottes Namen habe ich Sie bloß in mein Haus gelassen? Sie sind Monster, Sie allesamt! Vergreifen sich an der hilflosen Kreatur. So ging es auch immer bei den Orgien meiner Mutter zu. Man schreckte vor keiner ekligen Perversion zurück!« »Madame, bitte.« Der Comte reichte Solange das Lackkästchen, kniete zu Marys Füßen nieder und umfaßte ihre Knöchel. »Ich würde mein Leben hingeben, sogar meine Frau, um diesen Vogel wieder lebendig zu machen. Ich habe es mit künstlicher Beatmung versucht, dem Kuß des Lebens! Ach, wenn ich nur diese Worte hören könnte – sie ist nicht tot, sie schläft nur!« »Bringen Sie ihn raus!« Marys Stimme schnitt durch die Luft. Sie riß ihren Rock aus dem Klammergriff des Comte los und prallte rückwärts gegen Henderson Brown. »Ihr Diener, Ma’am.« Pepys schlurfte vorwärts wie ein blutrünstiger Henker aus der Tudorzeit, bereit, den Comte an den Haaren zu packen und durch das Fenster hinaus zu befördern. Aber wie oft werden die Hoffnungen und Träume des Menschen durchkreuzt! Aus dem Lackkästchen war ein Geräusch zu hören, ein Rascheln, gefolgt von einem fragenden Ächzen. Die Gebete des Comte waren erhört worden.
»Ein Wunder!« ließ es sich ringsum vernehmen. Ben zog Pepys vom Comte weg. Ich dachte, daß ich lieber die Flucht ergreifen sollte. In dem nun folgenden Durcheinander schlüpfte ich aus dem Zimmer. Ich war schon fast an der Treppe, als ich die gefürchteten Schritte hörte. »Geht es Ihnen auch gut, Liebes?« fragte Lois Brown. »Nur ein bißchen müde«, gab ich zu. »Ist das auch wirklich alles?« Ihr Gesicht war so tröstlich, ihr graues Haar so hübsch. Mir fiel der Traum der gestrigen Nacht ein, mein Besuch im Apartment in St. John’s Wood, und ich empfand ein starkes Gefühl der Vernachlässigung. Diese Frau sah wie eine Mutter aus. Sie war sicher nicht versessen auf tiefe Kniebeugen und Arabesken. Wenn sie ihre Kinder umarmte, roch sie bestimmt nach Ingwer und Buntstiften und frischer Luft. Warum hatte ich nicht eine solche Mutter haben können? Oder Mary? »Wissen Sie was, Liebling?« sagte sie. »Ich beneide Sie richtig.« »Tatsächlich?« »Ihr erstes Baby!« Ihr Lächeln wurde wehmütig. »Und jung genug, um Träume zu haben und daran zu glauben. Henny war nicht immer ein so nüchterner Ehemann. Doch dann kam die Zeit, da wurde es ihm wichtiger, den Kühlschrank zu reparieren, als das zu kitten, was zwischen uns zerbrochen war. Er ist ein guter Mann. Aber fürs Gefühl lese ich Bücher.« Ich zupfte an meinen Hummeltaschen, da ich nicht wußte, was ich sagen sollte. »Sie haben da einen ungemein attraktiven Ehemann«, sagte Lois. »Wie gut ich mich noch an die Zeit erinnern kann, als ich mein erstes Baby erwartete. Ich konnte nicht glauben, daß Henny nicht hinter jeder schlanken Frau her war, die in die Nähe unseres Hauses kam.« Während sie sprach, legte sie mir
die Hände auf die Schultern und schob mich sanft zur Treppe. »Gehen Sie, und ruhen Sie sich aus, Liebes.« »Ihr Mann betet den Boden an, auf dem Sie gehen und stehen!« Meine Füße schleiften über die Stufen. Auf halber Höhe der Treppe hörte ich eine Tür aufgehen… und wieder Schritte. Ich spähte zwischen den Geländerstäben hindurch, in der ängstlichen Hoffnung, es sei Ben… der die Treppe hinaufrannte, immer zwei Stufen auf einmal, um mich in seine Arme zu ziehen und in unser Schlafzimmer zu tragen, als Hintergrundmusik das abgehackte Gemurmel: Ich habe mich ganz und gar lächerlich gemacht. Offen gestanden, mein Liebes, Valicia X ist mir keinen Pfifferling mehr wert. Doch Ben war nicht unter den drei Leuten in der Halle. Jeffries und Pepys standen vertraulich mit Mary Faith zusammen. Eine rührende Szene mit hingebungsvollen Dienern, die nach einem mißlichen Vorfall die Dame des Hauses trösteten. Andererseits hatten die beiden mir offen gesagt, daß sie sie nicht ausstehen konnten. Das Prickeln meiner Haut wurde mir zur Warnung; es war etwas Unheilvolles im Gange. Das konnte aber auch lediglich das Produkt meiner gefühlsmäßigen Verfassung sein. Ich schlüpfte unbemerkt in unser schützendes Zimmer. Jemand war in meinem Schlafzimmer gewesen. Oh, ich meine damit nicht, daß ich ausgeraubt worden war – das Bett war nur gemacht worden. In der Eile heute morgen hatte ich eine völlige Unordnung hinterlassen. Und als ich mich umschaute, sah ich noch weitere Spuren des Eindringlings. Der Reißverschluß an meiner Reisetasche war jetzt zugezogen, und ich war sicher, daß es vorher nicht so gewesen war. Und hatte nicht mein Exemplar von Schwangerschaft für Anfänger auf dem Nachtschrank gelegen? Vielleicht war Pepys oder Jeffries gekommen und hatte Ordnung im Zimmer geschaffen – oder lag Solange richtig mit ihrem Verdacht? Hatte Ernestine sich der Schnüffelei schuldig gemacht? War ihre heutige
Feindseligkeit damit zu erklären, daß sie irgendwelche Entdeckungen über Ben gemacht hatte – und eventuell auch über andere Kandidaten –, die ihre mütterliche Besorgnis hinsichtlich Bingos Chancen weckten? Oder wurde ich allmählich paranoid? Elternschaft zum Vergnügen enthielt lediglich kluge Worte und den Brief von Primrose Tramwell. Ich habe nämlich die Angewohnheit, meine Korrespondenz in Büchern aufzubewahren… Zeit, sich hinzulegen. Egal, daß ich mir in diesem zusammengedrückten Pappkarton von Zimmer selbst wie ein Eindringling vorkam. Die Silberlurex-Tapete tat meinen Augen weh und ein unabsichtlicher Blick in den Spiegel noch mehr. Meine schlimmsten Befürchtungen wurden bestätigt. Das da auf meinem Gesicht waren Schwangerschaftsstreifen. Kein Wunder, daß Lois Brown so voller Mitgefühl war. Hätte Mary doch bloß nicht den einzigen Telefonanschluß in diesem entsetzlichen Haus funktionsuntüchtig gemacht. Es würde Wunder wirken, Dorcas und Jonas meine Geschichte von Verrat und Täuschung zu erzählen. Das heißt, falls sie mir überhaupt Glauben schenkten. Diese beiden waren auf traurige Weise von Bentley T. Haskell alias Mr. Lüstling eingenommen. Sie hielten ihn für ehrenhaft, liebenswert und nur etwas seltsam, wenn es um das Thema der Haute Cuisine ging. »Denkst du gerade an mich, Schatz?« Er hatte sich angeschlichen und drehte sanft mein Gesicht zu sich. »Ja.« Ich streckte mich so auf unserem Bett aus wie Pepys es auf dem Fenstersims getan hatte. »Nette Dinge?« Er setzte sich neben mich und fuhr mit dem Finger von meiner Stirn zu meinem Kinn. Ich sprach zu seiner Nase. »Als wir mit Bingo im Nordturm waren, sagtest du, du hättest mir etwas Wichtiges mitzuteilen.«
»Ellie, es fällt mir nicht leicht.« So sprach der Fremde – dieser beneidenswert attraktive Mann, dessen Fünf-Uhr-Bart seinen dunklen Sex-Appeal noch unterstrich. »Schieß einfach los!« Ich drückte mich tief in die Matratze. »Na gut.« Er schaute mich an, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ich mag deine neue Frisur nicht.« Ich war eine Zeitlang wie betäubt, dann stieß ich hervor: »Du kannst deine Liebesaffäre mit Valicia X doch nicht auf mein Haar schieben!« Er schaffte es, völlig verblüfft auszusehen. »Hast du den Verstand verloren?« »Streite es ja nicht ab!« Ich stieß seine Hand weg. »Gestern abend habe ich dich bei einem vertrauten Geturtel mit dieser Frau belauscht.« Ein Lachen, das zumindest mich frösteln ließ, wenn schon nicht ihn. »Mary Faith hat mir eine Sichtscheibe und eine Tonleitung zu dem geheimen Sitzungsraum gezeigt, die im Medizinschrank im Bad versteckt sind. Ich habe den Mechanismus eingeschaltet, als ich mir eine Antacit-Tablette holen wollte. Ich habe bloß so an einem Hebel herumgespielt. Ich hätte nie gedacht, daß sich dort so spätabends noch jemand aufhält.« Ben stand mit verschränkten Armen da und sah kühl auf mich hinunter. »Ellie, du solltest dich schämen.« »Ich?« kreischte ich. »Du bist doch derjenige, der unser Bett verlassen hat mit dem Versprechen, bald zurückzukommen – ich konnte doch wohl erwarten, daß es in dem monogamen Zustand geschieht, in dem du es verlassen hattest.« Er holte Luft. »Wie schwer es dir auch fallen mag, mir zu glauben, ich war nicht sehr erbaut, als Ms. X mich erwischte und auf einem kurzen Gespräch unter vier Augen bestand. Ich konnte mich wegen des Schreies schlecht weigern. Sie erklärte, Jeffries…«
»Ja, ich weiß Bescheid über den Urschrei. Aber deine Ausflüchte will ich nicht hören. Ich habe von Anfang an gesehen, welche Blicke du Ms. X zuwirfst. In deinen Augen brennt Leidenschaft.« »Du machst Witze!« Er unternahm den löblichen Versuch, angewidert auszusehen. »Ellie, du hörst dich an wie eine Figur aus diesem Schundroman, den ich schrieb, als wir uns kennenlernten. Ich empfinde keinerlei Leidenschaft für Valicia X. Ohne eigenes Verschulden erinnert sie mich an deine Cousine Vanessa. Sie ist schwerlich mein Typ.« Er funkelte mich wütend an. »Und selbst wenn sie Gottes Geschenk an die Männerwelt wäre, was sollte ich mit ihr anfangen, wo ich doch dich habe?« Das Zimmer verwandelte sich in eines dieser Spielzeuge mit Glas- oder Plastikkuppel. Die Sorte, in denen es schneit, wenn man sie schüttelt. »Aber Ben« – ich lag ganz still da –, »ich habe dich selbst gehört. Mein Ohr lag an dem Medizinschrank, als du sagtest, gleich als du sie gesehen hast, hättest du es gewußt. Und Valicia X sagte – fragte, ob deine Frau schon einen Verdacht hätte.« Er ging auf und ab, soweit das Zimmer es erlaubte. »Der Lohn fürs Lauschen«, sagte er und hörte sich an wie Reverend Enoch, »ist Kummer und Elend! Und jetzt befinde ich mich in der beneidenswerten Lage, ein Mange-Geheimnis preisgeben zu müssen.« Er legte eine Hand auf den Bettpfosten. »Als ich im Mulberry Inn die Rechnung bar bezahlte, fragtest du mich, was ich gegen Kreditkarten hätte. Und ich erzählte, wie ich einmal während meiner Tage und Nächte – bei Eligibility Escorts angeheuert wurde, um eine junge Frau auf einer Moorhuhnjagd zu begleiten.« »Du meinst doch nicht…?« Ich saß auf der Bettkante. »Valicia X, wie wir sie weiterhin nennen werden, war damals in ihrer rebellischen Phase. Sie zeigte ihren Eltern eine lange
Nase, weil sie sie nach Europa mitgeschleppt hatten, als sie eigentlich ihr soziales Bewußtsein demonstrieren wollte, indem sie versuchte, in ärmlichen Verhältnissen zu leben. Sie weigerte sich, den von Daddy auserkorenen Begleiter für die Moorhuhnjagd zu akzeptieren und engagierte mich.« »Mutig.« Was sollte ich sonst sagen – da ich so ziemlich dasselbe getan hatte? »Es kam dann so, daß der andere Knabe doch noch aufkreuzte. Ein Fall von Liebe auf den ersten Blick, und Valicia zog mit ihm los, ohne mich zu bezahlen.« Ich hielt meine Hände fest, um nicht Beifall zu klatschen. »Wie peinlich für sie, dich hier wiederzutreffen! Ich kann verstehen, daß sie hoffte, ich wüßte es nicht! Ist sie heute mit diesem Mann verheiratet?« »Inzwischen sind sie getrennt. Wir haben nicht ausführlich über ihr Privatleben gesprochen. Die Begegnung ist uns beiden unangenehm, und ich brannte darauf, wieder zu dir zurückzugehen. Sie sagte mir allerdings – und jetzt verstoße ich wieder gegen das Schweigeverbot –, daß alle Kandidaten ausgewählt wurden, weil sie aus dem Rahmen der Kochelite fielen. Mich hatte man wegen meines Jobs bei Eligibility Escorts und des Versuchs, einen Roman zu schreiben eingeladen. Ms. X hatte meine Akte gesehen, aber es klingelte nicht bei ihr. Sie hatte sowohl meinen Namen als auch den der Agentur vergessen.« »Vielleicht Gewissensbisse wegen Mummy und Daddy«, gab ich zu bedenken, »deshalb verdrängte sie das Erlebnis?« »Wie dem auch sei. Dies zu dem großen Eindruck, den ich auf sie gemacht habe.« Aha, aber würde die reife Frau nicht einen sorgfältigeren zweiten Blick riskieren? Ben klopfte auf den Bettpfosten. »Ellie, dein Verdacht hat mich tief verletzt. Als wenn ich mich
wegschleichen würde zu… einer schnellen Nummer mit Ms. X, als ginge ich mal eben in die Kneipe, um einen zu heben.« »Klingt tatsächlich ziemlich vulgär, gebe ich zu.« Noch ein Schlag auf den Bettpfosten. »Ich dachte, du liebst mich.« Ich nagte an einem Finger und versuchte, mir eine Entschuldigung einfallen zu lassen. »Und komm’ mir bloß nicht mit solchen Albernheiten wie ›sie wäre so schön und so‹. Mir gefällt viel besser, wie du aussiehst. Oder zumindest war es so, bevor du dein Haar so mißhandeln ließest.« Wie konnte ich ihm sagen, daß ich das Scissor Cut in der Hoffnung betreten hatte, in ein Double von Valicia X verwandelt zu werden? Doch wie sich herausstellte, war die Zeit für unsere Unterhaltung ohnehin abgelaufen. Ein Donnerhall erschütterte den Raum. Ben schlug sich mit der Faust an die Stirn. »Das ist dieser verflixte Gong. Ms. X hat Pepys Anweisung gegeben, Alarm zu schlagen, wenn die nächste Sitzung beginnt. Jeffries soll das Abendessen der Kandidaten in das Sitzungszimmer bringen. Holst du dir denn etwas vom Büffet?« »Versprochen.« Mein Herz war schwer, als ich ihm zur Tür folgte. Was habe ich da bloß getan? schrie ich innerlich. Sein Abschiedskuß war geistesabwesend. Eher so, als sei ihm mein Gesicht zufällig in die Quere gekommen. Sobald ich allein war, fuhr ich zu meinem Spiegelbild herum und schrie: »Idiot!« An allem bist du selber schuld, dachte ich. Und schieb’ es jetzt bloß nicht deiner Mutter oder der dicken Klein Ellie in die Schuhe! Ich warf mich aufs Bett und vergrub mich unter der Mohndecke. Ich suchte Trost, nicht Wärme. Das scheußliche kleine Schlafzimmer transpirierte heftig. Ich zwang mich, in das Vergessen des Schlafs einzutauchen und schärfte mir ein, daß alles anders aussehen würde, wenn ich
wach wurde. Unsere Liebe wäre stärker, weil sie auf die Probe gestellt worden war. Bitte, lieber Gott, laß Ben ausgewählt werden. Ich habe Gewissensbisse wegen Miss Rumpson und Lois Brown, und für dich kann es auch nicht leicht sein, wenn du gebeten wirst, jemanden zu bevorzugen. Bingo sagt, er will diese Ehre gar nicht, aber vielleicht gibt er nur an. Und um den armen Comte brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Er ist schon aus dem Rennen… Als ich einschlief, träumte ich sofort von einem Messer, das von unsichtbarer Hand von der Speisezimmer wand genommen wurde. Wo zuvor fünf gehangen hatten, hingen jetzt nur noch zwei… Ich wachte so schauerlich plötzlich auf, als hätte mich jemand an der Schulter berührt und geflüstert: »Es ist Zeit!« Die düstere Aufforderung kam jedoch aus meinem Inneren – nicht von außen. Ich war allein im Zimmer und fühlte mich äußerst eigenartig, von Empfindungen erfaßt, die erstaunlich neu, doch andererseits auch erschreckend vertraut waren. Mein Reisewecker sagte mir, daß es sieben Uhr war. Die Manges tagten wohl noch hinter verschlossenen Türen und holten den verlorenen Nachmittag auf. Sonst wäre Ben sicher schon zu mir gekommen. Ich bedauerte es nicht. Verletzte Gefühle brauchen Zeit, um zu heilen. Klingt platt, was? Um ehrlich zu sein, die Gedanken an meinen Mann entglitten mir wie Sand, hinweggeschwemmt von einer Flut von Gefühlen – von der Art, die ich für mausetot gehalten hatte. »Hör’ auf, die Asketin zu mimen, Ellie!« flüsterte der Dämon. »Du führst keinen hinters Licht. Steh’ auf, zieh’ dich an, und entferne dich aus diesem armseligen Zimmer. Du weißt genau, was du jetzt willst. Und wem schadet es schon? Weißt du noch, wie lange die Sitzung gestern abend gedauert hat? Cinderella, du hast Zeit bis Mitternacht.« Kein Wörterbuch enthielt genügend Adjektive für diese Gelüste – verzweifelte, quälende, unstillbare, gefräßige. Ich
war wie die Direktorin der Mädchenschule, die entdeckt, daß sie ein Werwolf ist. Als ich mich auf dem Ellbogen aufrichtete, überlief mich ein Schauer. Ich kämpfte dagegen an, wirklich. Ich zog mir die Bettdecke bis zum Haaransatz und befahl mir, wieder in die Sicherheit des Schlafs abzutauchen. Mochte ja sein, daß ich mich weder schwach noch schwindelig fühlte, doch es war trotzdem eine Krankheit. Schon an den letzten Tagen hatte ich mich auffällig wohl gefühlt. Aber nicht so dermaßen! Zum ersten Mal in der Schwangerschaft war ich voller Vitalität. Meine Hand schlug die Decke zurück. Weshalb sich gegen das Unvermeidliche sträuben? In Mud Creek gab es einen Ort, an dem ich sämtliche Genüsse finden konnte, nach denen es mich gelüstete. Ich würde in einer dunklen Nische sitzen, sorgfältig verkleidet! Die Phantasie ging weiter; doch noch während ich aus dem Bett stieg und meine Kleidung zusammensuchte, sagte ich mir, daß ich jederzeit noch einen Rückzieher machen konnte. Das viereckige Auge des Fensters sah mich vorwurfsvoll an. Und mein Gewissen wurde zu Sandpapier. Das Risiko, entdeckt zu werden, wenn ich die Insel überquerte, um zum Bootshaus zu gelangen, war groß. Darüber wollte ich mir jetzt allerdings nicht den Kopf zerbrechen. Als ich das sackförmige Kleid anzog, daß ich mir an diesem Morgen im Nelga’s gekauft hatte, kam ich zu dem Schluß, daß es mich so attraktiv machte, wie eine Schwangere in Mud Creek wohl gerade noch sein durfte. Oh, aber diese mondblasse Person im Spiegel war doch bestimmt nicht ich. Wie konnte ich mit solch einem Gesicht irgendwo hingehen? Was meine Hüften anbelangte, hätte man sie ruhig abnehmen können. Ob Mud Creek einen neuen Modegag darin sehen würde – nach dem Muster von Schulterpolstern? Es war nicht weiter verwunderlich, daß nach Einführung der Elektrizität die Kosmetik bei den Massen ihren Einzug
gehalten hatte. Kerzenlicht vollendet die Schönheit. Dasselbe traf in meinem speziellen Fall auf lindernden, fettreichen Feuchtigkeitsbalsam, flüssige Perlmuttgrundierung, Rouge, Parfüm und Lipgloss zu. Meine Hände glitten über Fläschchen und Plastikdosen wie die Hände eines Konzertpianisten. Unaufdringlich. Das war das Schlüsselwort. Kein Dornbusch aus zurückgekämmtem Haar. Keine Schönheitsmale, wie es der Gewohnheit der Comtesse entsprach. Man sollte stets wie eine Dame aussehen, besonders, wenn man nicht vorhat, sich wie eine solche zu verhalten. So sagt Tante Astrid. Sieben Minuten später war ich präsentabel, wenn nicht sogar wiedergeboren. Englands Ellie Haskell sah richtig süß aus, ihr Süßen! Das Haar trug ich offen, um mich jederzeit dahinter verstecken zu können, falls mich jemand scheel ansah. Während ich meine Tasche nahm, beobachtete ich, wie sich meine Finger langsam an einen Bleistift heranpirschten, der auf dem Nachtschrank lag. Welche Nachricht konnte ich Ben hinterlassen – auf die Gefahr hin, daß die Mange-Sitzung vor meiner Rückkehr beendet wäre? Daß eine Frau ihre Wünsche und Gelüste hat? Ein schwacher Duft nach Mr.-RightAftershave hing in der Luft. Ich fragte mich, ob ich es wirklich durchziehen könnte. Meine Hand zitterte, als ich schrieb: Bin nach Mud Creek gefahren. Erwarte mich zurück, wenn du mich siehst. Ich schnitt dem wachsamen Fenster eine Grimasse, knipste das Licht aus und, indem ich mir vornahm, daß es ein Quickie würde, schlüpfte in die drückende Stille des Korridors. Ob sich der Film Villa Melancholie in diesen Wänden still… unablässig… immer wieder abspielte? Hockte immerdar der Tod an der Biegung der Treppe, um auf Mordopfer zu warten? Würde ich, nichtsahnend, eine der Geistfiguren streifen – die Blonde, den Butler oder den Schuljungen oder… sogar meine Mutter? Wenn ihr Part auch in einem Nachtklub spielte, es
änderte nichts an der Tatsache, daß sie Teil der Geschichte dieses Hauses war. Als mir ihr tödlicher Sturz von der Bahnhofstreppe einfiel, konnte ich plötzlich nicht mehr die Stufen hinuntergehen. Ich steuerte auf den Lift zu, meine Schritte hallten. Ich öffnete die äußere Tür und betrachtete kritisch die Kabine. Nur der Trieb ließ mich einsteigen. Und wenn er jetzt steckenblieb? Wenn plötzlich Messer durch den Maschendraht stießen? Sei still, Abenteurerin des Gelüsts! Ich griff nach der kleinen Falttür aus Messing und zog sie zu. Mit erstaunlichem Mut drückte ich auf die Eins. Ein elektrisches Summen glitt an meinem Arm hoch, während durch meine Eingeweide ein Ruck ging. So weit, so gut. Keine Leiche, die mir als Gratisgeschenk in die Arme fiel. Es ging weiter abwärts. Niemand in der Halle. Hinaus in die schwüle Luft. Gleich fühlte ich mich besser. Mendenhall war eine Brutstätte für den Virus der Einbildung. Als ich den Fischgrätenpfad entlanghastete, wich ich den Steinen aus. Armer alter Josiah! Er hätte sich entweder ein kleineres Haus oder eine größere Insel aussuchen sollen, wenn er nicht wollte, daß sein Heim für die Umgebung eine Nummer zu groß wirkte. Nach einem halben Dutzend Schritten befand ich mich auf der Höhe des Kräutergartens, wo nach Miss Rumpson sämtliche Zutaten wuchsen, die mich befähigen könnten, Bens Liebe festzuhalten. Auf Merlins Schloß haben wir auch einen Kräutergarten. Jonas glaubt fest an die Kraft von Pfefferminzsauce zu seinem Lammbraten. Ich war am Bootshaus angelangt. Ah ja! Da war die Neil Gwynn. Ein hübsch verschnürtes orangenes Viereck in dem rechten Regal. Leider hatte ich nicht genug Luft, um es noch vor Weihnachten aufzublasen. Ich ließ meine Tasche auf die Melolit-Gartenbank fallen und redete mir zu, daß das Ausleihen eines Ruderbootes, ohne zuvor eine Erlaubnis
eingeholt zu haben, keiner Regel für Hausgäste widersprach, die ich kannte. Die quälenden Gelüste verliehen mir die Schnelligkeit und Kraft einer… einer Schwangeren. Sobald ich auf dem Wasser war, wurde ich wieder ganz der Stolz der Rudermannschaft von St. Roberta’s. Meine Ruder bewegten sich im stählernen Rhythmus ineinandergreifender Zahnräder einer Dampfmaschine. In tiefen Atemzügen sog ich den Flußgeruch ein. Wasser von der Farbe gekochten Tees klatschte und wogte gegen die Seiten des Bootes. Ich war frei, ich eilte meinem Schicksal entgegen. Keine Zeit zu rufen, Halt, wer da, als ein Motorboot herandonnerte und eine Gischtfontäne aufspritzen ließ. Pepys auf der Jagd oder, schlimmer noch, die Küstenwache? Weder noch, zum Glück! Nur einige hochnäsige Flußratten, die einem namenlosen Ruderboot nicht einmal gute Welle sagten. In einiger Entfernung hingen zwei weiße Segel wie Kissenbezüge zum Trocknen in der Luft, ansonsten gab es nur mich und den Fluß. Als ich schließlich das Boot an einem verkümmerten Baum direkt am Wasser festband, hatte ich erst einmal genug von der Nautik und war bereit, jedem, der mir einen komischen Blick zuwerfen würde, eins mit dem Ruder zu geben. Doch bei meiner Ankunft auf der Main Street war das Fieber, das mich zu diesen Ufern getrieben hatte, mit aller Macht zurückgekehrt. Nicht der geringste Verkehr. Ich konnte auch keinen Fußgänger erblicken. Wieder fragte ich mich allen Ernstes, ob diese Stadt nicht nur in der Phantasie der durchreisenden Fremden existierte. Albern! Der bärähnliche Hund hinter dem Zaun längs des B.&W. - Eisenwarenladens war furchterregend real. Mit seinen triefenden Lefzen riß er Fetzen aus der Nacht. Sollte ich schnurstracks umkehren und nach Mendenhall flüchten?
Unmöglich! Ich flitzte an Jimmy’s Bar vorbei. Meine hallenden Schritte waren das Echo meines Herzens, als ich die Straße überquerte und in einem Gefühlswirrwarr aus Sehnsucht und Ekstase am Ziel ankam. Aber was war das? Mit dem Geschlossen-Schild an der zugesperrten Tür konfrontiert, hätte ich vor Frust heulen können. Martin’s Mexican Cafe. Das Restaurant war genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte, als Mary es draußen vor Jimmy’s Bar erwähnte – ein niedriges Gebäude mit lockeren Schindeln und wuchernden Pflanzen, die innen an den Fenstern kratzten. Ich roch die Gewürze, spürte, wie sie in meine Poren eindrangen, schmeckte ihr Brennen auf meiner Zunge. Als jenes Gelüst das erste Mal in meinem Leben zuschlug, war es Curry gewesen. Aber dies war nicht England, und ich bin anpassungsfähig. Ich kratzte an der Tür. Tacos, Enchiladas, Tamales! Die alle darum baten, in ganz kleinen genüßlichen Bissen verschlungen zu werden. Ich sank gegen die Hauswand. Wo stand geschrieben, daß ich so leiden sollte? Sämtliche Schwangerschafts-Selbsthilfebücher betonten die Wichtigkeit, diesem grundlegendsten der Bedürfnisse nachzugeben. Die Bücher hatten leicht reden. Diese Frauen, die nicht von einer fetten Vergangenheit verfolgt wurden. Bei mir schlug die Verdrängung zu, gefolgt von diesem erschreckenden Hochgefühl. Das Gelüst ist über mich gekommen! weinte ich leise hin. Seit meiner Heirat war ich so rein: keine einzige Essensorgie. Ich war zu der Überzeugung gelangt, daß meine Leidenschaft fürs Essen durch edlere Bedürfnisse sublimiert worden war. Ich hatte beschlossen, meine Schwangerschaft nicht als Entschuldigung für einen Rückfall zu benutzen. Und wie einfach war es gewesen in den Tagen der Morgenübelkeit, diese Gratwanderung zu bestehen. Nun dagegen, wie nicht anders zu erwarten, lockte die Sünde, und die Befriedigung sollte ausbleiben.
Bedrückt hörte ich auf, mein Haar als Erfrischungstuch zu benutzen und schleppte mich über einen Weg, der nach ein paar Schritten plötzlich zu Ende war. Ich stand vor der Tür der Lucky-Strike-Bowlingbahn. An der Tür klebte ein Schild mit der Aufschrift: Genießen Sie das Leben auf der Überholspur Jährliches Bowling-Bankett von sechs bis neun, 3. Juli Büffet – $ 5 pro Person Jeder an den Mittwochs- und Donnerstagsligen Interessierte ist willkommen Ich befeuchtete meine Lippen. Was für ein Büffet? Zählte ich eins und eins zusammen und bekam vier heraus? Martin’s Mexican konnte aus einer Vielzahl von Gründen geschlossen haben. Gib dich geschlagen! Geh’ zu deinem Boot, und fahr’ nach Mendenhall zurück. Klein Ellie mag ja als MitternachtsMampfmaschine bekannt gewesen sein, wegen der erfolgreichen nächtlichen Raubzüge in der Schulspeisekammer, doch die Frau, zu der du inzwischen geworden bist, ist nicht dreist genug, um es durchzustehen, daß ihre Beine beim Hereinspazieren versehentlich für Kegel gehalten werden könnten. Vergiß nicht, du mußt Rücksicht auf den Ruf der Manges nehmen. Du mußt an deine Ehe denken. Ben ist ja jetzt schon unglücklich, weil er einer Affäre bezichtigt wurde, die er gar nicht hatte. Du wirst dagegen ankämpfen und gewinnen. Ellie, komm zurück! Tu das nicht! Spiel nicht den Partyschreck beim Mud-creek-Bowling-Bankett!
Sportarten, bei denen man den Ball fallen lassen sollte, hatten schon immer ihren Reiz für mich, aber auf einer Bowlingbahn war ich noch nie zuvor gewesen. Und für mein ungeschultes Auge glich das Lucky Strike einem Luftschutzbunker, der bei seiner letzten Kerze angelangt war. Deckenventilatoren warfen wirbelnde Schatten auf die leeren Bahnen. Drückte die schummerige Beleuchtung den Wunsch nach Atmosphäre aus, oder sparten sie Strom? Mach dich unsichtbar, liebe Ellie! In Schatten getaucht, huschte ich unbemerkt am Kassentisch und den Kugelständern vorbei. Die Bar war gerammelt voll. Ergriff die Einwohnerschaft von Mud Creek jede Gelegenheit, um gemeinsam zu feiern? Zigarettenrauch zog in meine Richtung. Stimmen trieben an mir vorbei, so sanft wie der Fluß, über den ich vor so kurzem noch gerudert war. »Wie ich zu ihr sagte… nachdem sie zu mir sagte…« »Ich hätte ihr ins Gesicht schlagen können!« »Aber sie ist doch ein richtiger Schatz!…« Ich erkannte mehrere Gesichter vom Vormittag wieder. Nelga aus dem Kleidergeschäft. Heidi, unsere Kellnerin in Jimmy’s Bar. Die schwedisch-blonden Zwillinge, die solch ein Hit gewesen waren, bis Theola Faith ihnen die Show auf der Modenschau stahl. Doch da war auch ein Gesicht, das mir den Appetit rauben konnte, wenn das überhaupt möglich war. Sheriff Tom Dougherty saß auf einem Barhocker und knabberte an einem Strohhalm. Zusammen mit meinem Haar schob ich ein unbehagliches Frösteln zur Seite. Der Preis war den Preis vielleicht wert.
Der Buffettisch bog sich unter seiner Last. Ich konnte die Vibrationen in meinen Füßen spüren. Dies war die Art Mahlzeit, mit der sich die Pioniere gestärkt haben mußten, wenn noch vor Sonnenuntergang ein Wald gefällt und eine Blockhüttensiedlung hochgezogen werden mußte. Meine Handflächen wurden feucht. Meinen Körper überspülte Welle um Welle eine böse Lüsternheit. Ich war eine Löwin, die ihre Beute belauerte. Zwischen den Genüssen nach Hausmacherart, den gebackenen Bohnen, Maisauflauf, Makkaroni mit Käse und dem mit braunem Zucker glasierten Schinken, standen zwei große Platten mit knusprigen Tacos, die mit würzigem dunklen Fleisch, knackigem grünen Salat, knallroten Tomaten und glänzendschwarzen Oliven gefüllt waren. Ich mischte mich unter die Menge, so gut geschützt vor neugierigen Blicken, wie es sich jeder Dieb nur wünschen konnte. Zu sicher. Überall ringsum beluden körperlose Hände Pappteller. Mist! Meine Arme wurden von den Körpern an meine Seiten gedrückt. Mir gegenüber am Büffet standen die schwedischen Blondinen. Ihr Gekicher stieg empor wie Seifenblasen, bis… ein gemeinschaftliches Luftholen. Wie ein kleiner Knall. Sie sahen sich mit dem gleichen verdutzten Ausdruck an und sagten: »Wer ist die denn?« »Ja, glaube nicht, daß wir das Vergnügen schon mal hatten.« Ein bulliger Typ im Flanellhemd, dessen Fäuste dazu noch durch seine Boxhandschuhe doppelt so groß wirkten, musterte mich von Kopf bis Fuß. Ich bewegte die Lippen. Einer der Zwillinge tippte sich mit einem manikürten Nagel an das makellose Kinn. »Ich bin ganz sicher, daß ich sie schon mal irgendwo gesehen habe.« »Ich auch.« Ein umwerfend attraktiver Jugendlicher, den Mund zu einem höhnischen Grinsen verzogen, nahm mich mit den
Augen auseinander. Er war derselbe, der mich in Jimmy’s Bar davon in Kenntnis gesetzt hatte, daß ich noch ein Preisschild trug. Sollte ich jetzt dafür bezahlen müssen, daß ich schließlich doch so verschwenderisch mit Make-up umgegangen war und mein Haar kunstvoll drapiert hatte? Der Drang, die Lüsternheit in meinen Augen zu kaschieren war übermächtig gewesen. Jetzt brauchte ich keinen Spiegel, um zu wissen, daß ich in den Augen dieser Puritaner wie ein durch und durch liederliches Geschöpf aussah. »Sie war im Jimmy’s zum Mittagessen.« Eine weibliche Viehdiebin sprach, die Daumen in ihren Gürtel gehakt. Ihr graues Haar war zurückgekämmt. Sie trug Gelenkbänder aus Leder. »Du hast einen Volltreffer gelandet, Rema!« Der FlanellhemdMann tänzelte wie ein Mittelgewichtsboxer. »Sie ist eine von ihnen! Eine von diesen Verrückten, die drüben auf der Insel sind.« Seine Augen traten aus den Höhlen, als er sich drohend über den Tisch beugte. »Was haben Sie vor, Lady?« Der Zwilling auf der linken Seite rümpfte die Nase. »Warum spionieren Sie uns hier aus?« »Ich…« »Hat Mary Faith vor, in ihrem nächsten Buch die ganze Stadt zu behandeln?« Die Erleichterung, die mich bei dieser Frage überkam, gab mir die Stimme wieder. »Welch herrliche Party!« schwärmte ich. »Sie wissen ja gar nicht, wie gern ich noch bleiben würde, aber ich bin nur vorbeigekommen, um mich nach Bowlingstunden zu erkundigen, und – « Unmöglich, weiterzusprechen. Ich wurde von einem ganzen Schwall Stimmen übertönt. Unmöglich, weiter zurückzuweichen. Die Menge schob sich näher heran, schnitt mir Licht und Luft ab. War dieses Summen das Rauschen des Blutes in meinem Kopf oder die sich steigernde Wut des
Mobs? Ich hörte »Manges« und »gefährliche Irre«. Gefolgt von: »Diese Sorte können wir in Mud Creek nicht gebrauchen.« »Was ist das hier, Leute? Eine Privatparty?« Auftritt Sheriff Tom Dougherty, der seinen Pistolengürtel hochzog. Sein grauer Haarschopf fiel ihm jungenhaft in die Stirn, sein grimmiger Mund strafte seine verletzlichen Beutelwangen Lügen. Ein Mann, der darauf trainiert war, jedes Muskelzucken, jedes Mienenspiel auszuwerten. Wann würde er mir Handschellen anlegen – bevor oder nachdem er mir meine Reche vorlas? Würde er zur Insel übersetzen und Ben persönlich davon in Kenntnis setzen, daß seine Frau nicht nur Mutter wurde, sondern auch eine Verbrecherin war? Was hatte ich in meinem blinden Wahn nur angerichtet? Hatte ich jegliche Hoffnung meines Liebsten zerstört, jemals ein Mange zu werden? Der Sheriff hob eine Hand und brachte dadurch den Mob zum Schweigen. Sein Lächeln war kameradschaftlich, doch ich hegte die Befürchtung, daß sein linkes Auge nicht etwa deshalb verengt war, weil er eine Erkältung hatte. Er schätzte mich ab, zum Zielschießen. »Nun, junge Dame! Was führt Sie denn ins Lucky Strike?« Ich umklammerte meine Schultertasche, als wäre sie der Arm eines Freundes und wich gegen die menschliche Mauer zurück. »Wie ich bereits erklärte, Sir, kam ich zufällig vorbei und wollte kurz hereinschauen, um mich nach Bowlingstunden zu erkundigen. Da ich die Bahnen geschlossen vorfand, blieb ich noch, um das Büffet zu bewundern.« Ich denke gern von mir, daß ich keine gute Lügnerin bin, weil es mir an Praxis fehlt. Doch diese Lüge war geschickt und ziemlich dicht an der Wahrheit, fand ich. »Sie lügt.« Die Viehdiebin zog ihre ledernen Gelenkbänder enger.
»Stimmt genau!« bestätigte der Zwilling auf der rechten Seite. »Nicht mal besonders einfallsreich.« Ließ der entsetzlich gutaussehende junge Mann verlauten. »Nun macht mal halblang!« grummelte der Sheriff. »Für mich hört es sich so an, als ob die junge Dame vielleicht nichts als die verdammte Wahrheit sagt.« Welch entzückender Mann. Hätte ich es nicht so eilig gehabt, von hier zu verschwinden, dann hätte ich der Versuchung widerstehen müssen, ihn zu küssen. »Danke vielmals!« Ich probierte, seitlich abzutreten. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen – « »Nicht so hastig, Süße!« Eine kurvige Frau in einem Kleid aus Leopardenfell riß mich am Riemen meiner Tasche zurück. Ihr Blick glitt über die Menge. »Hey, ihr Softys, guckt euch dieses Gesicht mal gut an. Sieht die aus, als stünde sie auf Bowling? Die nicht. Hat nicht die Klasse! Sie hat sich hier eingeschlichen, weil sie nichts Gutes im Schilde führt, oder ich heiße nicht Bertha May Johnston.« Das unheilverkündende, tödliche Gesumm ausschwärmender Bienen drang in meine Ohren. Und ich hatte mich betrogen gefühlt, als wir Massachusetts hinter uns ließen – den Ort von Hexenverbrennungen und anderen puritanischen Schrecken. Ich konnte den kollektiven heißen Atem meiner Ankläger spüren. Ihre Blicke brannten mir ein P für Partyschreck auf die Stirn. Sheriff Doughertys Augen hatten einen skeptischen Ausdruck angenommen. Lief er zum Feind über? Wäre etwas damit gewonnen, wenn ich mich ihm zu Füßen warf? »Loch sie wegen Hausfriedensbruch ein!« Der FlanellhemdTyp schlug mit einer fleischigen Hand auf die Schulter des Sheriffs. »Und halt sie fest, alter Haudegen, bis die übrigen Mange-Spinner die Insel verlassen haben.« Ein zustimmendes Grummeln.
»Das könnt ich nicht mit mir machen!« Etwas (vielleicht drückte das Baby auf einen Nerv) stärkte mein Rückgrat. »Ich bin Gast in eurem Land.« Ich durfte ihnen keine Zeit zu dem Einwand lassen, sie hätten mich nicht eingeladen. Lieber wollte ich schnell die beste aller Verteidigungen in die Diskussion werfen. »Und ich bin schwanger!« Wie auch immer ihre Reaktion ausfallen mochte, ich würde nicht in Tränen ausbrechen. Ich sehe etwa so einnehmend aus wie ein Krokodil mit Zahnweh, wenn ich weine. Hatte die Erwähnung meines Zustands ihre Herzen erweicht? Das einzige Geräusch im Lucky Strike war das Surren der elektrischen Ventilatoren. Dann ergoß sich eine Stimme, süß und klebrig wie karamelisierter Zucker, in die Stille. Und kühle Finger schlossen sich um mein Handgelenk. Wer sie war, konnte ich nicht erkennen. Sie stand hinter mir. Die Menge stand mit offenem Mund da. »Schrecklich ungezogen von mir, Liebling, dich so lange warten zu lassen, aber Pünktlichkeit ist der Tod für jeden großen Auftritt! Und wie ich sehe, waren die Eingeborenen freundlich. Dachte, du könntest dieses Lokal amüsant finden, als ich vorschlug, uns hier zu treffen.« Der Name Theola Faith sprudelte in die Luft wie schäumende Champagnerbläschen. Monster Mommy war unter uns. »Und nun, wenn ihr uns entschuldigt…« Sie packte mich hinten am Kleid und zog mich einige Schritte rückwärts. Ein Seitenblick zeigte mir das silberblonde Haar, das die Lausbubenwangen umrahmte, die Pandabäraugen und das strahlende Lächeln. »Ich bedaure es, den Rest der Rustikalitäten zu verpassen, aber ich habe eine hübsche Flasche Château Vin Rose bei mir zu Hause, die drauf und dran ist, sich selbst zu entkorken, aus lauter Vorfreude, dieses süße junge Ding kennenzulernen!«
Ich steuerte ein Keuchen zur Unterhaltung bei. Die Frage, die im Moment auf mir lastete, war: Werde ich gerettet oder gefangengenommen? Wieso setzte sich Theola Faith für eine völlig Fremde ein? Weshalb unternahmen die Einwohner der Stadt keinerlei Anstrengung, sich ihre Beute zurückzuholen? Sheriff Dougherty stolzierte umher, das graue Haar fiel ihm in die Stirn, mit der Hand glättete er eine Falte in seinem Jackett oder entfernte einen Krümel. »Hatte gehofft, du verbringst den Abend mit uns, Theola. Hattest doch so gut wie zugesagt, als ich das Bankett erwähnte.« »Das war vorige Woche, Tom, du alter Narr!« Sie kniff in seine rundliche Wange, wobei Goldarmreifen den Ärmel ihres weißen Satinkostüms hochschoben. »Du hast mich zufällig in einem schwachen Moment erwischt. Ich verspürte gerade den Wunsch, mich zu langweilen.« »Hey!« zischte die Frau im Leopardenfell. »Du kannst dich glücklich schätzen, Theola, daß du auf den Veranstaltungen in Mud Creek noch willkommen bist.« Ein glucksendes Lachen. »Du kannst das Mädchen aus Mud Creek wegbringen, aber nicht umgekehrt, hm? So nicht, Bertha, aber weil du immer recht nett zu mir warst, als wir Kinder waren, tue ich dir einen Gefallen und verrate dir ein Modegeheimnis. Leopardenfell ist total out. Und, nebenbei bemerkt, Liebling – darin siehst du aus wie ein Wohnmobil mit Rostflecken.« Der Star blies einen Kuß an meinem Ohr vorbei. »Ich mag euch alle so sehr, meine Lieblinge!« Das Gesicht des Sheriffs, ganz lang vor Enttäuschung, verschwamm vor meinen Augen, als ich umgedreht und an den Kugelständern und dem Kassentisch vorbei zum Ausgang geführt wurde. Ich durfte mich nicht umsehen. Stimmen brandeten uns nach und drohten, uns in ihren Sog zurückzureißen.
Mein Kopf war ein Krug mit Martini, der heftig geschüttelt wurde, doch draußen auf dem Pflaster lebte ich mit jedem Atemzug in der schwülen Luft der Freiheit weiter auf. Sehr interessant, die Entdeckung, daß Theola Faith in Mud Creek aufgewachsen war. Und eines Tages würde ich auch gern erfahren, weshalb sie mich den Klauen der Bowling-Fans entrissen hatte. Doch momentan wollte ich nur noch zur Insel zurück und in Bens Arme sinken. Ich schob den Riemen meiner Tasche hoch, strich mein Haar zurück und streckte eine Hand aus. »Vielen Dank, Miss Faith. Sie waren äußerst freundlich. Ich hoffe wirklich, daß wir uns wiedersehen, Sie verzeihen mir, wenn ich jetzt gehe. Ich muß mein Boot erreichen.« »Ach, was!« Sie hielt meine Hand fest. »Das ist aber gar nicht nett, Liebling! Ja, ich habe Sie diesen langweiligen Leuten da drinnen hauptsächlich entführt, um die zu nerven. Aber trotzdem habe ich doch Anspruch darauf, mit Ihrer Gesellschaft belohnt zu werden!« »Wenn ich nicht so unter Zeitdruck stünde…« Sie verlagerte ihre Hand an meinen Ellbogen und führte mich weiter. »Haben Sie keine Angst, daß ich eine Erklärung verlange, weshalb diese guten Seelen Sie teeren und federn wollten. Neuerdings glaube ich daran, daß kein einziges Leben ein offenes Buch sein sollte. Obwohl ich bekenne, eine Messerspitze neugierig zu sein, wie meine liebe Tochter dazu gekommen ist, sich mit diesen irren Manges einzulassen.« »Sie hat eine Lektorin kennengelernt, die Beziehungen zu der Gruppe hat.« Meine Stimme versuchte mit meinen Beinen Schritt zu halten. Theola Faith gab das Lachen einer Südstaatenschönheit zum besten. »Welch entzückende Gesprächspartnerin Sie doch sind! Ich bestehe darauf, daß Sie mich zu der Suite begleiten, die
Jimmy mir liebenswürdigerweise zur Verfügung gestellt hat. Wir trinken etwas Wein und plaudern.« Aus meiner wirren Antwort wurde ich selbst nicht schlau. Irgend etwas über Abstinenz, Abneigung gegen Trinkgelage und daß mein Mann ein erhabenes menschliches Wesen sei – das man in keinem Fall für meine Eigenheiten verantwortlich machen könne. »Nein, klingt das nicht bezaubernd? Aber auf der anderen Seite würde auch nur ein Bösewicht seiner Frau das Vergnügen streitig machen, einer Freundin in Not die angemessene Dankbarkeit zu erweisen.« Irgendwo im Verlauf unseres Gesprächs verwandelte ich mich in eines dieser Spielzeuge, das von einem Kind, den elterlichen Befehl stehenzubleiben mißachtend, an einer Schnur gezogen wird. Es stand mir nicht zu, mit der legendären Theola Faith zu verkehren. Ich war Gast im Hause ihrer Tochter, außerdem war Mary ganz offensichtlich entschlossen, mich zu mögen. Und Ben hatte in jedem Falle das Recht, von mir zu erwarten, daß ich keine Welle schlug, in denen seine Chancen bei den Manges untergehen könnten. Was war mit mir los? Warum wünschte ich Theola Faith nicht einfach gute Nacht und machte mich auf den Weg zu dem Schotterpfad, der zum Fluß führte? War ich gegen meinen Willen fasziniert von ihrem berühmten oder eher berüchtigten Namen? Oder hatte es etwas mit meiner Mutter zu tun – dem Umstand, daß sich vor langer Zeit der Weg der beiden Frauen gekreuzt hatte? Es war doch lächerlich, von dem Filmstar zu erwarten, daß sie sich noch an eine von vielen Tänzerinnen aus der Nachtklubszene in Villa Melancholie erinnerte. Doch wenn ich Theola Faith dazu befragte, konnte ich mich vielleicht an meine Mutter erinnern. Wir waren in der Gasse angelangt, die seitlich zu Jimmy’s Bar verlief. Würde es mich für immerdar zur schlechten Ehefrau
abstempeln, wenn ich der Insel eine halbe Stunde länger fernblieb? Wir befanden uns fast schon an der rostigen Feuertreppe, die zu einer schwarzrot gestreiften Tür führte, und ich empfand wieder jenes Gefühl der Abgehobenheit, das ich aus dem Traum über meinen Besuch im Apartment in St. John’s Wood kannte, als etwas meine Beine streifte – der Kater, der auf meinem morgendlichen Ausflug nach Mud Creek an den Mülltonnen herumgeschnüffelt hatte. Er hatte einen Charlie-Chaplin-Schnurrbart und einen kecken Gang. Seine Ähnlichkeit mit dem abgereisten Mr. Grogg war verblüffend. Automatisch machte ich zärtliche Locklaute, doch der Kater strich an mir vorbei und ließ sich maunzend vor Theola Faith nieder, wie ein autogrammhungriger Fan. Sie hob ihn auf, als sei er eine Pelzstola, die sie hatte fallen lassen, und drapierte ihn über ihren Arm. »Nun gut.« Sie wandte sich von der Feuerleiter ab. »Wenn Mohammed nicht zum Berg kommt…« Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. War sie völlig verrückt? Sie ging energisch davon. »Entschuldigen Sie mal…« Ich wich einem einsamen Wagen aus, dessen Fahrer sehr klein sein mußte – wenn es einen Fahrer gab. Das Gefühl, daß dies alles gar nicht passierte, zumindest nicht mir, kam mit voller Kraft zurück. Ganz wirr im Kopf zu sein vor Hunger, das war mein Problem! Theola Faith strich mit der Hand über den Kater, der immer noch in pflichtbewußtem Schweigen von ihrem Arm herabbaumelte, als sie zwischen die Bäume trat, die zum Fluß führten. »Sie wirken von der Idee, zu Jimmys Wohnung zu gehen, nicht sonderlich begeistert, Ellie Haskell, und ich bin keinesfalls beleidigt deswegen.« Ein seitliches Lächeln, das glänzte wie Nagellack. »Liebling, wenn ich nur einen Müllbeutel hätte, der groß genug wäre, würde ich jedes einzelne Bierplakat, jedes einzelne unnütze Möbelstück
hineinstopfen und alles vor die Tür stellen. Nein, wir werden es viel gemütlicher haben, wenn ich mit Ihnen nach Mendenhall zurückfahre.« Mir war aufgefallen, daß sie mich mit Namen angesprochen hatte, obwohl sie wußte, daß ich sie in diesem Punkt nicht informiert hatte. Das ließ den Rest an mir vorbeirauschen, bis zum vorletzten Wort. »Oh, das geht doch nicht!« Ich packte ihren Arm und erntete ein Fauchen von dem Kater. Über den Schotterweg hinweg schauten wir uns selbst an wie zwei Katzen. Sie silberglatt, ich ein Nervenbündel. »Sie dürfen das Haus nicht betreten!« »Tatsächlich? Unerwünscht in meinem eigenen Heim!« Ihr Lächeln war verkrampft. »Liegen sämtliche Manges mit Lebensmittelvergiftung im Bett, oder hat jemand Rotwein auf meine feinste Spitzendecke verschüttet?« »Nein…« »Gut. Sollten wir uns dann nicht etwas beeilen? Ich bin nicht gern nach Einbruch der Dämmerung auf dem Fluß. Eine Nachwirkung der Schlußszene von Villa Melancholie, als das Boot explodierte. Am Ende hatte ich ebenso viele Mückenstiche, wie wir Takes aufgenommen hatten.« Ich rannte, um Schritt mit ihr zu halten. »Ich meinte nicht das Haus. Ich wollte damit sagen, daß Sie nicht in mein Boot steigen können – das heißt, Ihr Boot! Während meiner Überfahrt bemerkte ich ein kleines Leck, und ich befürchte, daß es keine zweite Person trägt. Außerdem nehme ich laufend zu. Wenn man das alles berücksichtigt, halte ich es doch für weitaus besser, wenn ich mit Ihnen in Ihr Apartment gehe. Ich würde wirklich gern diese Bierplakate sehen – « »Ts, ts, Liebling! Wozu all diese Flunkereien? Sie haben doch nur eine Wahnsinnsangst, daß die Fetzen fliegen werden« – sie streichelte den Kopf des Katers –, »wenn die liebe Mary mich sieht.«
»Ich…« »Ihr Briten mit eurer morbiden Abscheu vor Streitereien! Sie wissen bloß nicht, Ellie Haskell, daß ich Mary heute morgen angerufen habe und wir ein recht freundliches Mutter-TochterGespräch geführt haben.« Ich nehme an, Telefongespräche büßen in der Übersetzung immer ein, aber ich war während dieses bitteren Wortwechsels im Zimmer gewesen, und »freundlich« war bestimmt nicht die Umschreibung, die mir dazu einfiel. Wir befanden uns inzwischen am Pier. Die Hoffnung auf eine Gnadenfrist flackerte in mir auf, als Theola Faith dem Ruderboot mit ihrem winzigen Fuß einen abschätzigen Tritt verpaßte. Doch diese Hoffnung erstarb dann wieder, als sie einige Schritte weiter zu einer Stelle ging, wo ein flottes kleines Schnellboot einladend im gefleckten Schatten einer Trauerweide auf- und abtanzte. »Ich habe es gerade heute nachmittag bringen lassen.« Theola Faith griff nach meinem Arm. Ihr Jasminparfüm wehte mir ins Gesicht. »Bitte, seien Sie mein erster Passagier.« Sie hatte recht. Ich kann Szenen nicht ausstehen, besonders mit einem Kater als Zeugen. Dieses Exemplar hier hatte etwas entschieden Hexenhaftes. Er maunzte klagend, als er auf den Boden gesetzt und ihm gesagt wurde, er solle sich nach Hause trollen. Als wir das Boot bestiegen, tat er es uns nach und weigerte sich, es wieder zu verlassen, selbst als der Motor dröhnend ansprang. Ich mußte ihn halten, während Theola das Steuer übernahm, aber er ließ klar erkennen, daß ich nur eine zweite Wahl war. Interessant, wenn man bedenkt, daß er, wie sich herausstellen sollte, nicht ihr, sondern Jimmys Kater war. Ich konzentrierte mich darauf, mein Haar daran zu hindern, sich um mein Gesicht zu wickeln – einhändig, weil ich Angst hatte, meinen Griff um unseren pelzigen Freund zu lockern. Mir war alles recht, um mir nicht vorstellen zu müssen, wie der Vorhang zu Theola Faiths großem Auftritt aufgehen würde.
Und wenn Mary sich aus dem Fenster stürzte oder – was fast genauso schlimm war – auf ihre Mutter? Bei diesem MutterTochter-Treffen würden mit Sicherheit die Fetzen fliegen. Valicia X würde außer sich sein. In solch einer Umgebung konnte der Mangeismus nicht gedeihen. Ben würde sich edlerweise jede Mühe geben, mir keinen Vorwurf zu machen, doch er würde unwillkürlich fragen, ob ich diese Katastrophe nicht geplant hatte, um ihn für die eingebildete Affäre zu bestrafen. Ich würde mich moralisch verpflichtet fühlen, ihm eine schnelle Scheidung auf amerikanisch anzubieten. Bestimmt gab es Sondertarife für Touristen… »Eine hübsche Nacht.« Theola Faith neigte den Kopf zur Seite, um zum Himmel hochzuschauen, dabei lagen ihre Hände leicht auf dem Steuer. Der Sonnenuntergang war wirklich herrlich; so etwas gibt es in England nicht. Auf einen Himmel aus changierender Seide in Violett-, Rosa- und Goldtönen schien ein funkelnder scharlachroter Kreis gemalt. »Wunderschön«, sagte ich. »Fast am Ziel, Ellie, Süße.« Wieder das Unbehagen. Woher kannte sie meinen Namen? Vielleicht waren ihre Spione, wie bei den Manges in Gestalt von Pepys und Jeffries, überall. Eine Brise, eiskalt von der Gischt, kroch an meinen Armen hoch. Die Insel tauchte düster vor uns auf. Der Motor ging aus, wir verließen das Boot. Ich wurde von einer körperlichen Last befreit, als der Kater von meinem Schoß auf den Pier sprang, doch dafür wurde mir mit jedem Schritt die felsige Anhöhe hinauf das Herz schwerer. Nie zuvor hatte die Villa mit ihren Türmen deutlicher wie ein monströses Lebewesen mit mißgestalteten Köpfen und hämischen Fensteraugen ausgesehen. »Home Sweet Home!« Theola Faith erklomm die letzten rußigroten Stufen, drückte die massive Türklinke mit beiden Händen herunter und betrat die düstere Halle, dicht gefolgt von
dem Kater und mir. Mein Herz hämmerte. Ich machte mich auf eine Konfrontation gefaßt. Zumindest würden Pepys und Jeffries über uns herfallen und mich durch Einschüchterung dazu bringen, meine schändliche Begegnung mit den BowlingFans von Mud Creek zu gestehen. Im schlimmsten Fall würde Mary oben auf der Treppe erscheinen, sich an die Brust greifen und tot umfallen. Wie sich herausstellte, war niemand in der Nähe, weder Mary noch jemand aus der Mange-Truppe. Verkroch Solange sich als Ergebnis des Fiaskos mit der Taube samt Comte Vincent in ihrem Zimmer? Jammerte Henderson Brown in seiner Kammer? War Ernestine früh ins Bett gegangen? Jedenfalls wurden Theola Faith und ich von einer Stille empfangen, wie man sie gewöhnlich in Häusern vorfindet, die seit einer Ewigkeit verlassen sind. Sie schenkte mir ihr Lausbubenlächeln und betrat das rote Zimmer. »Wie wär’s mit einem Drink, um uns für die Attacke töchterlicher Zuneigung zu stärken?« »Vielleicht ein Bitter Lemon oder Ginger Ale.« Ich legte meine Tasche auf einen Tisch und folgte ihrem Blick zum Porträt von Cat Cadaver über dem Kamin. Ein Keuchen. Von mir, nicht von ihr. Ein Messergriff ragte aus dem gemalten Fell. Zuerst das Graffiti im Bad letzte Nacht und jetzt dies. Doch weder die lebende Mieze noch Theola zuckten mit der Wimper. »Können Sie sich das vorstellen, daß jemand in dieser frommen viktorianischen Atmosphäre eine Orgie zu veranstalten wünscht? Liebling, Sie glauben doch nicht etwa diese erbärmlichen Dinge, die Mary über mich in ihrem Buch geschrieben hat?« Theatralisch preßte sie die Hände an ihre cremefarbene Satinbrust. »Ich habe zu Monty Monrose gesagt – Sie wissen schon, der Musicalstar –, nur Dummköpfe würden glauben, daß wir ihn auf einer unserer kleinen Partys den
Butler spielen ließen und er ein hübsches kleines Silbertablett hereinbrachte, nur angetan mit einer Fliege.« Die Vorstellung von Pepys in solch einem Aufzug war zu entsetzlich. Ich wandte Cat Cadaver den Rücken zu, folgte ihr zu dem Tisch mit den Getränken und murmelte: »Ich hoffe nur, daß nicht plötzlich jemand Unpassendes vor der Tür stand.« »Nur der Fernsehprediger von der Ecke.« Sie klapperte mit den Zangen in dem Sektkühler und gluckste: »Huch! Ich meine, wäre es nicht zu kraß gewesen, das zu schreiben, falls die Geschichte gestimmt hätte? Wie ich schon dem Reporter von Newsweek sagte, ich muß mir doch immer wieder ins Gedächtnis rufen, daß Mary im Fantasy-Genre schreibt. Und sie hat ja auch die Namen von Leuten wir Monty geändert, um die Unschuldigen zu schonen. Wie schmeichelhaft, das Scheinwerferlicht mit niemandem teilen zu müssen, wenn ich bis zum Hals in Schmutz stecke.« Glas klirrte gegen Glas, als sie nach einer Flasche griff. »Sagen Sie mal, Ellie Haskell, haben Sie das Meisterwerk meines Töchterleins überhaupt gelesen?« »Ich… habe einige Seiten überflogen.« Hörte ich da Schritte draußen in der Halle? Mit verschwitzten Handflächen ging ich rückwärts zu einem der rotbraunen Sessel und bereitete mich darauf vor, daß Mary hereingeplatzt kam. »Ich sehe mein Püppchen direkt vor mir, wie sie auf Mendenhall ein Exemplar neben jedes Bett legt. Neben die Gideon-Bibel.« Theola Faiths silbriges Haar schwang in Form von Mondsicheln gegen ihre Wangen. »Sprechen die Manges über mich und meine Missetaten?« Die Tür sprang nicht auf und krachte gegen die Wand. Und die Geräusche in der Halle, was immer es gewesen sein mochte, waren verstummt. Eine winzige Zeitspanne lang waren wir noch vor Mary sicher. Während ich auf einen Sessel sank, wurde mir klar, wie schwer von Begriff ich war. Theola Faith
hatte mich den Bowlingspielern von Mud Creek weggeschnappt, um mich auszuhorchen. »Die Manges sind ein verschwiegener Haufen«, sagte ich zurückhaltend. »Wie langweilig. Ich hoffe doch, Pepys und Jeffries sind nicht zum Feind übergelaufen. Ich hegte schon immer den Verdacht, diese beiden könnten sich durch höhere Löhne kaufen lassen.« Vor einiger Zeit hätte ich ihr vielleicht noch widersprochen, aber wenn ich daran dachte, wie die beiden heute nachmittag in der Halle die Köpfe mit Mary zusammengesteckt hatten… Unwillkürlich warf ich einen Blick auf den Kaffeetisch, wo, so auffällig wie ein Mann mit offenem Hosenschlitz auf einer Cocktailparty, der vertraute rotschwarze Schutzumschlag zu sehen war. Monster Mommy. »Bequem?« Theola Faith schlug die seidig glänzenden Beine übereinander. »Ja, danke.« Ich konnte den Blick nicht von diesem Buch losreißen. Theola Faith war bestimmt nicht anläßlich ihres vierzigsten High-School-Klassentreffens nach Mud Creek gekommen. Sie befand sich hier in diesem Haus, weil sie es auf eine Konfrontation anlegte. Doch wie würde dies vor sich gehen? Würde sie sich damit zufriedengeben, ihre Tochter Mary durch ihre bloße Anwesenheit in Verlegenheit zu bringen? Oder war sie auf etwas Brutaleres aus? Ein eiskalter Luftzug kroch über den Boden und an meinem Rock hoch. Plötzlich wurde mein Kopf zu einer Filmleinwand. Eröffnungsszene: Theola Faith schmiedet ein Komplott, um die Glaubwürdigkeit ihrer Tochter zu erschüttern. Mitten in der Nacht überquert sie den Fluß und betritt Mendenhall. Ihr Haus. Was könnte einfacher sein, als zwei Messer von der Wand im Speisezimmer zu nehmen und… schluck, Hackfleisch aus zwei von den Gästen zu machen? Die Leichen von Jim Grogg und Divonne werden in den Brunnen geworfen, die Messer in die
Taschen einer Jacke geschmuggelt, die Mary Faith gehört… Welch süße Rache! »Also, Sheriff, Liebling! Ich habe den Leuten ja immer wieder gesagt, daß meine Tochter ganz und gar verrückt ist, und wenn ein Doppelmord kein Beweis ist, was dann? Aber bitte schieben Sie es nicht auf ihre Erziehung, das arme Püppchen geriet unter den Einfluß dieser Kochsekte.« Ich sprang fast vom Sessel auf, als der Kater (ich hatte ihn so ziemlich vergessen) meine Beine streifte und meine Gastgeberin mir ein großes Glas reichte, in dem fröhlich eine Cocktailkirsche schwamm. Bitte, lieber Gott, laß Jim Grogg und Divonne nicht unten im Brunnen schwimmen. Ellie, streng deinen Kopf an! Wie hätte Theola sie ohne Hilfe transportieren können? Pepys’ Beine trugen ihn selbst ja kaum. Und Jeffries… Ich verdrängte das Bild, wie sie sich über jede Schulter eine Leiche warf und zum Porträt von Cat Cadaver hochschaute. War Mary in Panik geraten, als sie das Messer fand…? Ich trank von der sprudelnden bernsteinfarbenen Flüssigkeit, die Wassertropfen außen am Glas befeuchteten meine Hand. »Ist ja köstlich.« »Eine Mischung aus Ginger Ale, Preiselbeersaft, einem Spritzer Zitrone und zerstoßenem Eis. Mein Lieblingscocktail, als ich mit meinem einzigen Schatz schwanger war.« Theola Faith hatte sich auf den Klavierhocker gesetzt und klimperte mit einer Hand, in der anderen hielt sie ein randvolles Glas Whiskey. Der Kater stolzierte über die Rückenlehne des Sofas, und ich erkundigte mich, ob sie sehr an ihm hing. Ich wollte um jeden Preis von dem Thema Mary ablenken, obwohl ich allmählich wünschte, sie käme und wir brächten die ganze scheußliche Sache hinter uns. Theola Faith trank das Glas halb aus. »Katzen waren mir immer schon die liebsten Menschen. Kann sie jederzeit
wegsperren, wenn sie mir vor die Füße laufen, oder sie übern Satinkissen breiten, wenn häusliche Einfachheit angesagt ist.« »Ach wirklich.« Ich stellte mein Glas ab und hatte Sehnsucht nach Tobias. Er hätte die Hand abgebissen, die den Versuch wagte, ihn in einen Schlafanzugbeutel zu sperren wie ein Stofftier. Offenbar war unser Charlie-Chaplin-Kater auch nicht erbaut von der Idee. Als Theola Faith aufstand, um ihr Glas nachzufüllen, riß er zur Tür aus. Sein Kratzen war um so beredter, als er kein einziges Mal miaute. »Sorry. Ihm nachzugeben hieße, die Katze auf die Tauben loszulassen.« Da hatte sie einen Punkt, doch das Gefühl, daß wir beide ihre Gefangenen waren, klebte an mir wie nasse Kleidung. Im Haus war es unheimlich still, wie bei der Ruhe vor dem Sturm. »Süßer Kater, würdest du deine Theola mal eine Weile in Ruhe lassen, damit sie sich mit unserer Freundin unterhalten kann?« Theola beugte sich über mich, goß Ginger Ale in mein Glas und warf eine langstielige Kirsche hinein. Ihr Alkoholatem war nicht ohne. »Stellen Sie sich das vor! Er erinnert mich an die Zeit, als ich Mary erwartete… und zum ersten Mal Leben in mir spürte.« Sie richtete sich auf, die Flasche baumelte locker an ihrer Seite. »Haben Sie dieses Stadium eigentlich schon erreicht?« Es war das erste - und einzige – Mal, daß sie mich auf meine Schwangerschaft ansprach. »Nein.« »Liebling, es war, wie wenn weiche Pfötchen an eine Tür pochen und bitten, herausgelassen zu werden.« Ich fühlte mich ihr verbunden und in diesem unachtsamen Augenblick – als ich Mary als unschuldiges, harmloses Baby mit Rosenknospen-Lippen vor mir sah - ging die Tür auf, und der Kater rutschte über den Fußboden. Ich glaube, daß ich die Augen schloß, und ich weiß, daß ich meinen Drink verschüttete.
Pepys stand vor uns und sah mal wieder wie ein Leichnam aus, den man tausend Jahre im Tiefkühllager aufbewahrt hat. Aber ganz so kaltblütig war er nicht. Seine Wangen röteten sich, als er Theola Faith sah, und ich merkte, daß seine O-Beine zitterten. Ihre Augen wurden schmal. »Ah, da bist du ja, Pipsqueak!« »Pepys, Ma’am.« Wenn er Haare auf dem Kopf gehabt hätte, dann hätte er seine Stirnlocke berührt, um ihr seine Reverenz zu erweisen. »Na egal!« Theola schlenkerte mit ihrer freien Hand wie ein Flapper aus den Dreißigern und setzte sich wieder ans Klavier. »Wenn du es wagst zu sagen, daß dies eine angenehme Überraschung ist, schleife ich dich am Ohr hinaus. Jetzt hör’ genau zu. Such’ meine Tochter und bring’ sie hierher.« »Aber Miss Faith – « Ein Skelettrasseln ertönte, als er sich einige Schritte vorwagte. »Ich weiß nicht, wie ich…« Ihre Finger fielen über die Tasten her und erzeugten ein musikalisches Getöse, bei dem der Kater auf meinen Schoß sprang. Ich befürchtete kurz, Pepys würde dasselbe tun. »Kein Aber! Hinaus, sage ich, hinaus! Oder du wirst mir dafür büßen« – sie klapperte mit ihrem Glas –, »daß du den guten Scotch ausgekippt und ihn durch gewöhnlichen ersetzt hast.« »Jeffries hat mich dazu gezwungen!« Er wich zu der halboffenen Tür zurück, drehte ruckartig den Kopf und war verschwunden. Ohne seine Marmorblässe wirkte das Zimmer intensiver rot und bedrückender denn je. Die Stille lastete schwer auf mir, im Verein mit dem Kater. Und dann begann Theola Faith eine lebhafte Melodie zu spielen, die ich kannte: »Oh, sie wird eine entzückernde Leiche abgeben, o ja Ihr Gesicht hat einen lieblichen Blauschimmer Sie steckt in ihren besten Sonntagskleidern
Bald wird sie zur Ruhe gebettet Neben den Ehemännern eins bis vier Was mehr kann man sich wünschen?« Das Klavier verstummte. »Das ist aus Villa Melancholie«, sagte Theola Faith. Ich trank aus meinem Glas, und es durchlief mich eiskalt. Also daher kannte ich das Lied… ich hatte meine Mutter ein paar Takte davon singen hören. Ich stellte mein Glas hin und sagte: »Sie kannten meine Mutter.« Den Blick auf die Tür geheftet, trank Theola Faith ihren Drink aus. »Liebling, jetzt klingen Sie wie jedes gewöhnliche Groupie.« Durch ihr Lächeln erinnerte sie an eine Porzellanpuppe, und ihr Haar glänzte passend dazu wie Nylon. Kaum zu glauben, daß vierzig Jahre vergangen waren, seit Theola Faith in ihrem Debütfilm die Herzen von Millionen Fans gerührt hatte. »Verzeihen Sie mir, Süße! Ich sehe schon, Sie meinen es ernst. Erzählen Sie mir etwas über Ihre Mutter, damit es mir wieder einfällt. Man sollte mich nicht gleich für gefühllos halten, nur weil ich mich nicht an jede zufällige Begegnung in einem Kleinstadt-Country-Club oder mit einer Kassiererin in einer Bank erinnern kann!« Als mich der Kater mit seinem Schwanz streifte, war das wie die Berührung einer freundlichen Hand. »Meine Mutter ist seit Jahren tot. Bestimmt würden Sie sich nicht mal an ihren Namen erinnern. Sie war eine der Tänzerinnen in der Nachtklubszene von Villa Melancholie. Wildes Haar, reine, blasse Haut.« »Amerikanerin?« Ihre Augen waren geschlossen. »Engländerin. Sie und mein Vater kamen hierher, um beruflichen Erfolg zu finden, doch sie bekam nur diesen einen kleinen Job, und sie blieben lediglich ein paar Wochen hier.« »Die Wassernymphe!«
Treffende Charakterisierung. Ob Theola Faith nun ein Monster war oder nicht, eine Hexe war sie auf jeden Fall. Sie machte wieder einen Ausflug zum Getränketisch. »Diese Tänzerinnen ließen sich alle intravenös ernähren, sie liefen mit Sicherheit gleich zur Beichte, wenn sie jemals solche schlimmen Worte wie Eiscreme benutzten.« Ich rutschte unruhig auf dem Sitz hin und her. »War irgend etwas Besonderes an ihr? Ich meine, fiel sie unter den anderen Tänzerinnen auf?« »Sie fiel ganz klar auf. War die schlechteste der ganzen Truppe. Sie konnte das Bein nicht richtig nach vorn strecken, und beim Jete schwankte sie. Scheint mir so, als hätte man darüber gesprochen, sie rauszuwerfen, aber… ja, genau – Billy Anderson, der den messerbesessenen Schuljungen spielte, schlug vor, sie für eine Komikeinlage zu behalten.« Ich vergrub das Gesicht in Charlie Chaplins Fell. Kein Wunder, daß Mutter mir die Wahl zwischen Barnbi und Villa Melancholie gelassen hatte. Sie, die ihr Leben dem Leiden an der Kunst widmete, mußte tausend Tode gestorben sein, als man sie bat, eine komische Figur zu spielen. Doch welche Wahl hatte sie, nachdem sie das amerikanische Abenteuer durch das Verpfänden des Familiensilbers finanziert hatte? Ich war so wütend auf beide Eltern gewesen, weil sie mich bei Großonkel Merlin abgeladen hatten, daß ich mit dem letzten Mittel eines Kindes reagierte – Gleichgültigkeit. Ich hatte ihnen buchstäblich keine Frage zu jenem schicksalhaften Aufenthalt in Amerika gestellt. Miss Faith hielt eine Flasche Ginger Ale in die Höhe. Ich schüttelte den Kopf. Sie schwenkte ihren Drink, so daß die Eiswürfel klirrten. Ein weiterer Blick zur Tür, und ein Achselzucken ließ ihren Drink zur Seite schwappen, wodurch zweifellos einige Spritzer auf ihrem cremefarbenen Anzug landeten. »Mir scheint…« Ihre Stimme versuchte, aufrecht zu
gehen – wenn auch nur ein einziges Wort schwankte, würde sie vollends zu einem Lallen werden (das Warten auf Mary forderte auch von ihr seinen Tribut). »Eines Tages… zwischen zwei Takes… sprach ich mit der Wassernymphe. Erzählte mir, sie hätte eine Tochter.« »Was für ein Gedächtnis!« »Süße, das ist mein Kapital.« »Machte sie irgendeine Bemerkung über meine Gewichtsprobleme?« »Glaube nicht… daß sie ein… Wort über Ihre Figur sagte. Hielt mich mit dem üblichen mütterlichen Schmus auf. Sie wären das wunderbarste, tapferste…« Theola Faith torkelte durchs Zimmer. »… beste Kind der Welt.« Eine Wärme durchströmte mich, die nichts damit zu tun hatte, daß ich den Kater hielt. Aber erfand Theola Faith das alles nicht nur? War ihr Ziel, mich bei Laune zu halten? War sie einsam? Ich dachte flüchtig an die furchtbaren Geschichten, die Mary von ihrer Mutter erzählt hatte. Sie trank ihr Glas halb aus, taumelte, dann fing sie sich wieder und stand kerzengerade. »Kann Ihre Mutter vor mir sehen. Jeffries war auch da – sie befestigte Stecknadeln an meinem Kostüm. Mit einer stach sie mich. Erinnere mich gut… es war das allerletzte. Diese ganze Steherei im Sand! So eine verdammte Zeitverschwendung, und da war diese Frau, die dabehalten worden war… als Beweis dafür, daß Hollywood doch ein Herz hat. Den Teufel brauchte sie mein Mitleid. Sie hatte einen Mann, an dessen Namen sie sich erinnerte. Sie hatte eine Tochter.« »Sie doch auch.« Ich versuchte aufzustehen, doch der Kater ließ mich nicht. Die Pandabäraugen fanden mich. »Mary!« Der Name kam als ein Räuspern heraus. »Liebling, meine heißgeliebte Tochter haßte mich damals schon aus tiefster Seele. Und weshalb?
Einige kleine Unachtsamkeiten, die sich nicht vermeiden ließen. Einige winzige Unannehmlichkeiten. Ich hatte meine Arbeit, meinen Ruhm, mein Leben als sexuell aktive Frau.« Während ich krampfhaft überlegte, was ich sagen könnte, folgte ich ihrem Blick zur Tür und sah zitternd vor Angst, wie sie aufgedrückt wurde. Der Kater sprang auf, um nachzusehen, und ich ebenfalls, um meinen Abgangsmonolog zu halten, falls…wieder falscher Alarm. Jeffries kam hereingeschlüpft, mit so verkniffenem Gesicht, daß es unter der weißen Haube ganz Mund war. »Nicht auf mich losgehen, Missie Theola, ich kann nix dafür, genau wie Pepys übrigens – obwohl Sie ihn mit Migräne ins Bett getrieben haben.« Ohne Notiz von mir zu nehmen, rauschte sie wie ein wandelnder Staubwedel zu ihrer Arbeitgeberin und blieb zwei oder drei Zentimeter vor ihr stehen, die Hände in die Hüften gestemmt, das winzige Kinn in die Höhe gereckt. »Selbst dieser französische Graf von Monte Christo, der sich hier aufhält, könnte Miss Mary Faith nicht aus dem Hut zaubern, weil sie nämlich heute abend gar nicht hier ist. Heute nachmittag hat sie mir mitgeteilt, sie hätte sich vor ein paar Tagen mit Reverend Enoch Gibbons unterhalten und er habe sie für heute abend zu einem Fasten- und Abstinenzessen eingeladen. Er möchte sie für seine Kirchenzeitung interviewen. Moderne Märtyrerin – eine Schlagzeile in dieser Art wird wohl dabei herauskommen.« Theola Faith umklammerte eine Stuhllehne, als sei sie ein Gehstock, und arbeitete sich um den Stuhl herum. Dann fiel sie auf den Sitz. »Ihr macht alle gemeinsame Sache mit ihr.« Sie sprach leiernd, die klaren Augen, die Millionen gefesselt hatten, blickten starr geradeaus. »Aber sie kann nicht ewig vor mir davonlaufen. Auch sämtliche Gebete von Pastor Enoch können sie nicht vor mir schützen.« Sie verzog die Lippen. »Ob er wohl gern wüßte, daß seine Frau bei mir in Jimmy’s
Apartment wohnt? Ich brauchte jemanden, der das Putzen übernimmt.« »Pepys hat versucht, Ihnen das mit Miss Mary zu sagen.« Jeffries vollführte ihren Koboldtanz. »Er hat sie vorhin in einem Boot rübergefahren. Sie sagte, Hochwürden werde sie zurückbringen – irgendwann. Wie wär’s, wenn ich Ihnen eine schöne Tasse heiße Milch holen geh’, Miss Theola?« Das breite Lächeln hätte jedes Herz erwärmen müssen. Theola Faith schleuderte ein Kissen nach ihr. Jeffries Zwergengesicht verfinsterte sich. »Das reicht, ich kündige!« Die Tür knallte zu. »Worüber hatten wir gerade noch gesprochen?« Das Porzellanpuppen-Lächeln war wieder da. Das silbrige Haar wippte nach vorn. Nur das Glitzern in ihren Augen verriet, daß sie eine Frau war, die man gerade um ihre Beute betrogen hatte. »Ach, ja, Ihre Mutter. Wie hübsch, daß ich für Sie die Tür zur Vergangenheit öffnen kann, Ellie Haskell! Und alles nur, weil ich nett zu einer Revuetänzerin war. Mir fällt alles wieder ein! Sie erzählte mir, Sie seien zu einem wilden, verrückten Onkel in ein verliesähnliches Haus am Ozean geschickt worden. Erstaunlich, daß Sie das überstanden haben. Erstaunlich auch, daß Sie nicht ein charmantes kleines Buch darüber geschrieben haben.« »Wer würde es schon lesen wollen? Mutter war keine Berühmtheit.« Wieder das Porzellanpuppen-Lächeln. Theola Faith sagte nichts. Ich dachte an die reißerischen Schlagzeilen, an die Donahue-Sendung über mißhandelte Töchter, an Theola-FaithMonster-Mommy-T-Shirts, an die angekündigte TaschenbuchAusgabe, an den Film. Meine Beine waren eingeschlafen, was für Kater Charlie eine hinreichende Provokation darstellte, um von meinem Schoß auf einen Tisch zu springen. Er rutschte auf einem
Spitzendeckchen weiter, das er anschließend mit sich unter das Sofa schleifte. Nur seine Schwanzspitze diente uns noch als Warnung, daß er jedes Wort mithörte. Die Loyalität gegenüber Onkel Merlin gebot mir zu sagen, daß er nicht das Ungeheuer meiner Phantasie gewesen war. »Wie enttäuschend! Marys Aufenthalt bei ihrer Tante Guinevere war von Anfang bis Ende eine Qual. Der kleine Racker redete sich beim geringsten Anhaltspunkt ein, daß die liebe alte Dame sie haßte.« »Du meine Güte!« Wie ich mich danach sehnte, zu dem normalen Leben im Kreis der Manges zurückzukehren. Wenn doch Henderson Brown hereinkäme, um das Paperback zu suchen, in dem er vorhin gelesen hatte, oder sogar Ernestine – in der Stimmung zu einer ausgiebigen Prahlerei über Bingo. Ich hegte allmählich die Befürchtung, daß Theola Faith von mir erwartete, bei ihr zu bleiben, bis Mary zurückkam, und andererseits fühlte ich mich auch verpflichtet dazu, wegen meiner Mutter. »Haben Sie Ihre Tochter nie gemocht?« hörte ich mich fragen. »Liebling!« Miss Faiths Lächeln glitt immer wieder von ihrem Gesicht hinunter, als sie sich abmühte, gerade zu sitzen. Das Silberhaar fiel über ein Auge. »Nachdem ich den Schock verwunden hatte, schwanger zu sein – und daß der glückliche Vater ein Name war, den man aus einem Lostopf ziehen konnte –, gelangte ich zu dem Schluß, daß die Heiligen-Rolle vielleicht Spaß machen könnte. Es amüsierte mich, als ich Leben in mir spürte. Und als sie geboren wurde, schwebten mir all die herrlichen Mutter-Tochter-Partnerlook-Möglichkeiten vor. Ich kaufte einige wundervolle Hüte. Ich habe ein Faible für Hüte.« Ich drückte meine Hand auf meinen Bauch. »Was lief denn schief?«
»Mary kam schon als Nervensäge zur Welt. Ewig am Weinen – am schlimmsten war es, wenn ich nach einem ganzen Tag Dreharbeiten erschöpft nach Hause kam. Sie ging eher zu Begita, meinem Mädchen, als zu mir. Ihre Augen blickten aus diesem winzigen Gesicht, und ich wußte gleich, daß sie mich nicht mochte. Und als sie erst mal sprechen konnte…« Ihre Hand fuhr an ihren cremefarbenen Satinbusen. »… bekam ich immer nur Gejammer zu hören. Die Leute reden ständig über Ehepaare, die nicht zueinander passen!« Die legendäre Stimme wechselte von Hoch zu einem schläfrigen Tief. »Was ist mit Mutter und Tochter, dort kommt so etwas doch auch vor. Glauben Sie mir, Liebling! Ich habe das Beste für dieses Kind getan. Ich bin ihr aus dem Weg gegangen. Wie ich schon sagte – Katzen sind pflegeleicht und Tauben… noch besser. Derby und Joan!« Mit einer schwungvollen Armbewegung rappelte Theola Faith sich auf. »Die typische Hollywood-Ehe! Derby hat seit Jahren eine Affäre mit einer piepsenden Süßen namens Sabrina. Dieser dummer Vogel Joan stellt sich blind und taub. Erstaunlich, nicht wahr, daß dieses herrliche Beispiel für Niedertracht bis jetzt noch nicht in die Peephole Press gekommen ist.« Sie kniff in den Saum ihres Rockes und hielt krampfhaft ihr strahlendes Lächeln fest. »Ich hatte immer schon Tauben. Bat meinen Daddy zu meinem vierten Geburtstag um einen Drachen, und er schenkte mir mein erstes Pärchen. Er sagte, der Hi-Himmel sie jetzt mein Hinterhof. Dachte immer, kein Ort ließe sich mit Mud Creek vergleichen.« Ihre Stimme wurde langsamer und verstummte dann. Ich dachte flüchtig, sie sei im Stehen eingeschlafen. Doch sie schleppte sich zum Sofa hinüber, drapierte sich auf das Sitzpolster und klammerte sich dabei am Rand fest, um nicht auf den Boden zu rutschen. Ich stellte mir vor, wie Mary hereinkam und Theola als sinnlos betrunkenes Häufchen Elend vorfand und stellte fest, daß ich
diese Szene ebenso für sie wie für mich kompromittierend fand. Ich verspürte nicht den leisesten Wunsch (auch nicht mit geändertem Namen), in Monster Mommy vorzukommen. Ich weiß, es klingt albern, aber ich habe wirklich eine Vorliebe für Katzen, und als ich jetzt vor ihr stand und sie ansah, verstand ich, weshalb man Theola Faith in ihrer Glanzzeit Katzengesicht genannt hatte. »Wie sind Sie eigentlich ein Filmstar geworden?« »Liebling« – sie öffnete nicht die Augen –, »wo sind Sie Ihr ganzes Leben gewesen? Lesen Sie nicht die Regenbogenpresse? Ich wurde auf einem Barhocker im Lucky Strike entdeckt. So behauptet man jedenfalls! Und es ging das Gerücht, Villa Melancholie sei hier gedreht worden, um eine Laune von mir zu befriedigen. Die Wahrheit war, daß Rick…« – halb gesprochen, halb gehickst –, »… Ricky Greenburgh, der Regisseur, mußte billig arbeiten.« Sie lag schief auf dem Sofa, ein Bein baumelte ungraziös herunter, der Schuh hing locker an ihren bestrumpften Zehen. Ihre dichten Nerzwimpern flatterten. »Mendenhall stand zum Verkauf seit… der Erschaffung der Welt. Ricky kaufte es für ein Butterbrot, und nach Abschluß der Dreharbeiten schenkte er es mir. Kein schlechter Kerl, dieser Ricky. Er hätte allerdings ruhig eine Ro… Rose auf mein Kissen legen können.« Ich zog ihr den Schuh ganz aus und legte ihr Bein auf das Sofa. Wenn das Silberhaar sich so an ihre Wangen schmiegte, sah sie überhaupt nicht wie ein Monster aus. Sie sprach leise weiter. »Bin seit Jahren nicht hier unten gewesen. Aber mag den Gedanken, daß Mendenhall auf mich wartet. Pepys und Jeffries kommen manchmal her… um nach dem Rechten zu sehen. Mary genügte es nicht, mich mit diesem Buch zu verunglimpfen… sie drang in Mendenhall ein… behauptete, Rick habe mal gesagt… sei für sie.«
Etwas streifte gegen meine Beine. Charlie-Chaplin-Kater. Er sprang aufs Sofa, und sein Machogeschnurr mischte sich mit Theola Faiths Schnarchen. Ich war schon an der Tür, da ließ mich ihre schläfrig-tiefe Stimme zusammenzucken. »Wie geht’s meiner Mary?« Da ich nicht wußte, was ich antworten sollte, war ich froh, als sie gleich darauf ihr Duett mit Charlie fortsetzte und noch erleichterter, als die Tür gegen mich stieß und ich in die Augen der Liebe schaute. »Ben!« Sein Haar war zerwühlt, sein Kragen offen, er war so bereit wie Samson, den Tempel zum Einsturz zu bringen. Für mich war er nie schöner gewesen. »Ich bring dich um«, zischte er und zerdrückte mich fast in seinen Armen. »In der Fünf-Minuten-Pause bin ich in unser Zimmer gerannt, um nach dir zu sehen und fand deinen Zettel. Ich bin fast verrückt geworden bei dem Gedanken an dich.« Mit einen Fußtritt schloß er die Tür, stieß mich von sich weg und nahm dann mein Gesicht in die Hände. »Wie bist du über den Fluß gekommen? Doch hoffentlich nicht per Anhalter?« »So blöd’ bin ich doch nicht«, versicherte ich. »Ich habe eines der Ruderboote genommen.« »Du hast was?« »Ist doch egal, Ende gut, alles gut…« Ich verstummte und schaute zum Sofa. »Ja, Theola Faith!« Ben senkte die Stimme etwas. »Jeffries hat mich mit der Neuigkeit überfallen, daß du zusammen mit Monster Mommy hier drinnen bist.« »Dafür gibt es eine ganz einfache Erklärung.« Ich holte tief Luft und machte mich daran, meine Geschichte zu erzählen. Schwierig wurde es, als ich mit der Wahrheit über mein Eindringen auf dem Bowling-Bankett herausrücken mußte, aber unter der Last eines solch scheußlichen Geheimnisses hätte ich den Rest unserer Ehe nicht durchstehen können.
Als ich fertig war, fuhr sich mein Liebster mit der Hand übers Gesicht. »Mein Gott, Ellie, hätte ich gewußt, was du vorhast, dann hätte ich Valicia X gebeten, eine Ausnahme von der Regel zu machen, daß die Kandidaten die Insel nicht verlassen dürfen, um dich suchen zu können.« »Und was hättest du getan, wenn sie sich geweigert hätte?« »Meine Liebe« – er behielt Theola Faith im Auge –, »das ist wohl eine von diesen Testfragen nach dem Motto, würde ich noch mal heiraten, wenn dir etwas zustößt?« »Und, würdest du es tun?« Ich legte zärtlich den Finger an seine Kehle. »Nur, wenn die Frau schon mit einem Fuß im Grab stünde und das Scheckbuch in der Hand hielte. Schsch!« Er legte mir einen Finger auf den Mund. »Das Wichtigste ist jetzt, Mommy aus dem Haus zu schaffen, bevor ihre Tochter zurückkommt. Jeffries und Pepys sind keine Trottel. Sie müssen sowohl an ihren Job denken als auch an ihre Loyalität gegenüber den Manges. Du kannst mir glauben, eine häßliche Szene zwischen den Faiths wünschen sie um jeden Preis zu vermeiden. Sie haben Valicia X bekniet. Das Ergebnis ist, Jeffries und ich bringen Theola Faith in ihrem Schnellboot nach Mud Creek zurück, und Pepys folgt uns in seinem Kajütboot.« Ich zupfte an einem Faden an seiner Jacke. »In den Augen von Valicia X mußt du ein Ritter in schimmernder Rüstung sein.« »Ellie, bitte! Ich habe keinerlei Ambitionen, Punkte bei den Manges zu sammeln, nur weil diese Frau für meinen teuflischen Charme empfänglich ist.« »Hmmmm!« »Genug des Redens, meine Süße! Pepys und Jeffries warten bereits.« Er schlich zum Sofa. »Meinst du, ich soll versuchen, mir den Star über die Schulter zu laden, ohne sie dabei aufzuwecken?«
Ich hatte keine Zeit mehr, zu antworten. Als er sich über Theola Faith beugte, erhob sie sich wie eine Ertrunkene aus dem tiefen Wasser und schlang die Arme um seinen Hals. »Ricky, mein Liebster!« Das silbrige Haar fiel ihr aus dem Gesicht. »Du bist zu mir zurückgekommen. Nimm mich! Nimm mich jetzt mit in deinen Privathimmel! Mach mein Katzengesicht wieder jung!« »Oh, Mist!« murmelte Ben. Hinter mir schaute Jeffries hämisch zu. »Sieht so aus, als könnte es einfacher laufen, als wir erwartet haben.« Draußen in der Halle fiel eine Tür ins Schloß. Verflixt! Wie mein Cousin Freddy sagen würde, zähl’ nie deine Hähnchen, bevor sie nicht in der Tiefkühltruhe liegen.
Der Traum war ebenso deutlich wie der letzte. Die Wände des schmalen Treppenhauses kamen langsam auf mich zu. Ich hörte irgendwo in dem Haus in St. John’s Wood Wasser rauschen. Ich roch Fisch. Diesen öligen, metallischen Geruch, der nach dem Verzehr von Sardinen in der Luft hängt. Die Bundys im dritten Stock mochten sehr gern Fisch. Die alte Mrs. Bundy, der Griesgram. Sie klopfte auch immer mit dem Besen an die Decke, wenn Mutter mit einem dumpfen Aufprall eine Pirouette drehte! Mein Vater, die Großherzigkeit selbst in seiner Smoking-Jacke, schärfte uns immer wieder ein: »Achtet nicht auf sie, meine Lieben! Haben wir nicht alle ein Anrecht darauf, unsere Schrullen auszuleben?« Und so achteten wir nicht darauf, bis zu dem Tag, als Mutter steif und fest behauptete, das Klopfen klinge anders. Wir marschierten nach unten und entdeckten, daß Mr. Bundy einen Schlaganfall erlitten hatte und Mrs. Bundy zu verstört war, um zum Münztelefon in der Eingangshalle zu gehen. Meine Beine gaben nach. Ich hatte nicht die Energie für den Rest der Kletterpartie. Doch ich mußte den fünften Stock unbedingt erreichen. Irgendwie erschien es mir klüger, Mutter nicht zu erzählen, daß Theola Faith auf Mendenhall eingefallen war und daß Ben & Co. sie vom Grundstück gezaubert hatten, ohne Mary zu begegnen. Das Schlagen der Tür war falscher Alarm gewesen, Pepys war nur wieder hereingekommen, nachdem er den Benzinstand des Bootes überprüft hatte… Ich streckte die Hand nach der Tür des Apartments aus. Mein mühsames Atmen war einzig und allein auf die Treppe zurückzuführen. Es hatte überhaupt nichts mit der Frage zu tun,
die ich Mutter stellen wollte. Wenn sie und mein Vater Ruhm/Land/Reichtum in Amerika gefunden hätten, wären sie dann… hätten sie daran gedacht, mich nachkommen zu lassen? Keine Antwort auf mein Klopfen. Kein Wunder. Lärm quoll wie Rauch unter der Tür hervor. Mein erster Verdacht war, daß eine Party stattfand. Doch als meine Ohren sich an den Lärm gewöhnt hatten, stellte ich fest, daß es das Getümmel des täglichen Lebens war. Der Geruch nach Sardinen war verschwunden, ersetzt – ole – durch das Aroma von etwas Scharfem, Mexikanischem. Hatte Mutter für heute abend das Ballett an den Nagel gehängt? Würde ich sie eine mörderische Partie Monopoly gegen Daddy spielen sehen? Oder würde sie mit dem rosa Nachttopf auf dem Kopf und der zotteligen Badematte um die Schultern durch das Apartment stolzieren und Tante Astrid in Ascot darstellen? Die Tür schwang nach innen auf… O nein! Bestimmt täuschten mich meine Augen. Unser Apartment wurde von einer anderen Familie mit Beschlag belegt. Eine Mutter mit vorgebundener Schürze drehte samt Staubsauger ihre Runden. Ein Vater saß mit den Füßen auf dem Kamingitter da und las Kindern verschiedener Größen alle mit runden, rosigen Gesichtern und in handgestrickten Pullovern, aus einem dicken Buch vor. Ein rothaariges Pummelchen zeigte auf mich. »Mummy! Daddy! Ist sie ein Gespenst?« »Verzeihung!« sagte ich. »Ich kannte mal Leute, die früher hier gewohnt haben.« Steif drehte ich mich um und ging wieder die Treppe hinunter – in den Schlaf. Als ich aufwachte, fühlte ich mich, als hätte ich über Nacht eine Rückgratverkrümmung bekommen und als leuchte man mir unbarmherzig mit einer Hundert-Watt-Taschenlampe in die Augen. »Ellie…« Das war Ben, und das grelle Licht war die Sonne. »… wie geht’s dir?«
»Wieso?« Ich richtete mich mühsam auf einem Ellenbogen auf. »Liebes, es ist nach zwölf.« Er setzte sich aufs Bett, wodurch es sich zur Leeseite neigte. Meine Eingeweide zuckten und schaukelten. Ich umklammerte seine Hand und legte mich vorsichtig wieder hin. »Die Morgenübelkeit ist wieder da. Wie deine Mutter in ihrem Brief schrieb, zwischendurch hat man einen Tag oder so, an dem man sich wohl fühlt, damit man sich gerade mal erinnern kann, wie das war. Liebling, geh’ du zu deinen MangeSitzungen und laß mich sterben… ich meine, hier liegen… ruhig liegen!« Er tätschelte meine Hand. »Ich habe jetzt Mittagspause, und ich habe vor, jede Minute davon mit dir zu verbringen. Möchtest du, daß ich dir irgend etwas bringe? Wie war’s mit einem schönen pochierten Ei?« »Bitte!« flehe ich. »Wenn du mich liebst, sprich nicht von Essen. Erzähl’ mir von Theola Faith.« Er wollte die Beine übereinanderschlagen, sah, wie ich zusammenzuckte und stellte seinen Fuß in Zeitlupe wieder auf den Boden. »Ich habe geholfen, sie zum Kajütboot zu bringen, doch als sie erst an Bord war, wurde sie so… aggressiv mir gegenüber. Sie bestand darauf, mir die Sehenswürdigkeiten zu zeigen…« »Von Mud Creek?« Ich hatte angenommen, ich hätte Probleme, mich auf sein Gesicht zu konzentrieren, doch jetzt merkte ich, daß er meinem Blick ausgewichen war. »Ihr Schlafzimmer, um genau zu sein. Verdammt, Ellie! Ich weiß auch nicht, was ich tue, um das wilde Tier in den Frauen zum Vorschein zu bringen! Ist mir Eligibility Escorts auf die Stirn tätowiert?« Er stand auf, vergrub die Hände in den Taschen und schaute ärgerlich und bedrückt aus dem Fenster auf das aufgewühlte Wasser rings um die Insel.
»Nein, Liebling!« Das Zimmer fühlte sich an, als würde es ausgeschüttelt wie eine Matte. Irgendwo im Haus machte sich jemand mit dem Staubsauger zu schaffen. »Das Ergebnis war, daß Jeffries meinte, ich störe anstatt eine Hilfe zu sein. Sie sagte, sie würde das Kajütboot hinüberfahren, Pepys würde in Miss Faiths Boot folgen, und ich ging wieder ans Ufer. Demnach wurde doch keine Mange-Regel verletzt. Du schliefst wie eine Tote, als ich raufkam.« Mit gesenktem Kopf ging er zum Kamin. »Liebes, ich muß dir noch etwas sagen…« »Ja?« Steuerten wir langsam auf den Höhepunkt zu? Die Information, deretwegen er meinem Blick auswich? »Als wir uns heute morgen unten versammelten, waren der Comte und Solange verschwunden. Ihr Zimmer ist verlassen. Verständlich, daß sie ohne großes Tamtam abreisen wollten, die Frage ist nur, wer sie zum Festland gebracht hat. Pepys und Jeffries bestritten, es getan zu haben, Valicia X war ebenso neugierig wie alle anderen, und… es kam wie ein Schock…« Er sank neben mir auf den Boden und griff nach meiner Hand. Sein Mund war zusammengepreßt. »Ja?« Ich klammerte mich am Kopfteil fest, wodurch ich jedoch nicht verhindern konnte, daß das Bett Karussell fuhr. »Lois und Henderson sind ebenfalls getürmt.« Das Bett hielt plötzlich mit einem Ruck an. Damit blieben nur noch Bingo und Marjorie Rumpson als Rivalen für Ben übrig, dachte ich und schämte mich gleich darauf. Dieser MangeWettbewerb verwandelte mich allmählich in ein Tier. »Das ist völlig sinnlos. Der Comte wurde disqualifiziert, weil er Joans Leben aufs Spiel gesetzt hatte, aber Lois Brown war doch noch immer im Rennen, oder?« »Sie war eine Hauptanwärterin, würde ich sagen.« »Haben sie eine Nachricht hinterlassen?«
Ben drehte meine Hand herum. »Zwei Worte, mit Lippenstift auf den Spiegel an ihrer Frisierkommode gekritzelt. Das erste Wort war Die. Das zweite fing an mit Kreisel oder Geisel und ging weiter mit einem b, danach war alles völlig verwischt.« »Blut?« »Ellie, streng deine Phantasie mal ein bißchen an. Es muß eine einfache Erklärung geben.« »Und in ihrem Fall hat ebenfalls keiner zugegeben, sie zum Festland übergesetzt zu haben?« »Nein.« Er mied immer noch meinen Blick. Ein häßlicher Gedanke geisterte durch meinen Kopf. Bestimmt hatte doch niemand – mit Sicherheit nicht Ben – etwas unternommen, um die Mitbewerber um den Mange-Posten zu eliminieren? Nein. Es war zu verwerflich, um wahr zu sein. Dennoch, schließlich glaubten die Leute auch die verwerflichen Dinge, die Mary in Monster Mommy über ihre Mutter geschrieben hatte. Bestimmt… »Vielleicht spielt Bingo euch einen Streich – wie könnte er allerdings zwei Leute verschwinden lassen…?« Ich schüttelte den Kopf, bekam einen Schwindelanfall und blieb still liegen. »Der Comte hingegen könnte es schaffen. Tut mir leid, Liebling, ich weiß, dies ist nicht der richtige Zeitpunkt für Scherze.« Ben fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Da zieht einer seine Tricks ab. Jeffries erzählt die ganze Zeit, daß sämtliche Messer von der Wand im Speisezimmer verschwunden sind. Und eines hat sie an einem sehr ungewöhnlichen Platz wiedergefunden.« Ein Schauer überlief mich. Unten hatte jemand auf den Gong geschlagen. Zeit für Ben, mich zu verlassen. Er sagte, er wolle Ernestine suchen gehen, damit sie mir ein Tablett brachte, doch ich erwiderte, ich wolle lieber noch eine Zeitlang ausruhen und
falls ich in der Stimmung sei, etwas zu essen, würde ich nach unten ins Speisezimmer gehen. Er streichelte mein Haar und sagte: »Was hältst du denn von dem Barbecue? Denk’ dran, es beginnt um fünf Uhr.« »Ich werde versuchen, dort zu sein.« Ich hob matt die Hand zum Abschied. In Wahrheit hatte die Vorstellung von Fleisch, aus dem der Saft lief, und von Fett, das auf den Grill spritzte, einen Rückfall verursacht, obwohl ich doch gedacht habe, ich könnte eventuell überleben. Ich flüchtete mich in den Schlaf, doch Lois und Henderson Brown verfolgten mich. Sie trug ihre Ansteckblume, sein Gesicht war finster. »Ich habe Sie ja vor diesem Haus aus Feuer und Schwefel gewarnt, aber Sie wollten nicht hören… hören… hören.« Seine Stimme wurde zu einem klagenden Echo. Körperlose Hände griffen nach mir, wirbelten mich herum, und als ich wieder hinsah, stand ich unter dem Kronleuchter vom Pfandleiher am Fuß der Treppe, die ein Butler mit lackschwarzem Haar und bleistiftdünnem Schnäuzer hinabschritt; er hielt eine Kerze in die Höhe. »Alle Gäste sind eines unnatürlichen Todes gestorben!« Ein klagender Windstoß begleitete seine Worte, und hinter ihm sah ich – alle in Weiß gehüllt und mit einer Gesichtsfarbe, die an Senfgurken erinnerte – die Hendersons, Jim Grogg und Divonne, Comte Vincent und Solange. »Sollen wir uns ins rote Zimmer begeben?« Der Comte zog zwei große alte Pennys aus dem Ärmel, legte sie sich auf die Augen, stieg in Rückenlage halb zur Decke empor und schwebte dann mit den Füßen voran durch die Halle. »Wartet!« schrie ich, als die anderen ebenfalls aufstiegen. »Ich muß wissen, wer für dieses… Gemetzel verantwortlich ist!« »Ma fleur.« Solange kniff mir im Vorbeischweben in die Wange. »Du hast gestern abend richtig geraten, als du iiinsgeheim denkst, daß Madame Theola Faith noch
schlimmerrr als ein Monster ist. Sie iiist eine Mörderin! Sie schleicht sich ins Haus – schnipp schnapp, mit dem Messer und plop, plop mit unseren Leichen in den Brunnen…« Noch ein letztes Flattern von weißer Gaze, und die Französin war verschwunden. Als ich den Butler am Ärmel packte, erkannte ich zu meinem Entsetzen, daß es Marjorie Rumpson war. »Die Zeit verrinnt, mein Herzchen!« Er – sie – hielt mir die flackernde Kerze unter die Nase. »Vor dem Nachmittagstee muß ich noch Gräber im Kräutergarten graben. Nichts läßt Petersilie besser gedeihen als der richtige Dünger.« »Das ist doch völliger Unfug!« schrie ich. »Theola Faith war gestern abend viel zu betrunken, um einen anständigen Mord zu begehen, sie hätte niemals mitten in der Nacht zurückkommen können, es sei denn…« »Stimmt genau, Liebling! Es sei denn, ich habe alles nur vorgespielt.« Theola Faith wurde zu derjenigen, die die Kerze hielt. Ihr Lausbubenlächeln war so strahlend wie die Kerzenflamme. »Denken Sie darüber nach. Habe ich gestern abend tatsächlich die Insel verlassen, kaum daß Ihr galanter Ehemann ins Haus zurückfloh? Oder sagte ich Pepys und Jeffries, ich hätte meine Meinung über die Rückfahrt nach Mud Creek geändert? Einer Mutter ist kein Opfer zu groß…« »Niemals!« schrie ich. »Sie können nicht ein solches Monster sein und Ihre Tochter auf diese Weise zerstören wollen!« Ich wich vor der Kerze zurück, doch jetzt loderten Flammen aus ihren Augen – und schossen auf mich zu wie zwei Schweißbrenner. Nirgends ein Versteck, mir blieb keine andere Wahl, als aufzuwachen. Ich hatte die Mohndecke zu einem Seil gedreht und lag mit dem Rücken am Kopfteil des Bettes. Die Sonne tauchte das Zimmer in grelles Licht. Doch in der Ferne glaubte ich ein
Donnergrollen zu hören, und die völlige Reglosigkeit des toten Baumes vor meinem Fenster überzeugte mich, daß da draußen ein Unwetter lauerte. Diese ganze aufgestaute elektrische Spannung in der Luft, obendrein auf leeren Magen, da war es ja kein Wunder, daß ich Alpträume bekam. Ich schwang die Beine aus dem Bett und war erleichtert, als ich festen Boden unter den Füßen spürte. Vielleicht war mein Anfall doch keine Morgenübelkeit gewesen, sondern zuviel Ginger Ale am Abend zuvor. Gütiger Himmel! Fast vier Uhr! Und es wäre auch nichts dadurch gewonnen, wenn ich mich meiner Scham überließe. Ich würde ein Bad nehmen, mich anziehen und Ben zu dem Barbecue begleiten. Anstatt mich auf die abgereisten Mitglieder unserer Gruppe zu konzentrieren, sollte ich mich – in diesem Land der schnellen Ehescheidungen – glücklich schätzen, daß ich wohl doch nicht als Ex-Mrs. Bentley T. Haskell nach Hause zurückkehren würde. Was, so fragte ich mich, während ich kokett mein Nachthemd von den Schultern gleiten ließ und mit dem Spiegel flirtete, was wird die liebliche Valicia X wohl bei diesem Anlaß tragen? Ben kam die Stufen herauf, als ich herunterkam. »Liebes, du siehst umwerfend aus!« In seiner Begeisterung kippte er uns beide beinahe über das Geländer. »Du siehst selbst mächtig gut aus, Rhett!« sagte ich, als er die Hände an meine Taille legte (oder dorthin, wo sie einstmals gewesen war) und mich in einem Wirbel von Röcken und Haar auf die unterste Stufe schwang. Niemand war in der Halle zugegen, bis auf die Tauben. Eine hockte auf der Standuhr und die andere auf dem Rahmen von Lady Finster. »Vermutlich Spione, denen es regelrecht in den Fingern juckt, dich wegen deines eines Mange unwürdigen Verhaltens anzuzeigen«, flüsterte ich.
Ben hielt die Haustür für mich auf. »Ich beneide das Pärchen nicht, falls Bingo verliert. Kommst du, meine Liebste?« Er winkelte einen Ellbogen an, und wir gingen stilvoll die rußigroten Stufen hinunter, um über den Fischgrätenpfad zu einem mensagroßen Tisch zu gelangen, der, mit weißem Damast ausgelegt, unter einem von zwei Bäumen gebildeten Baldachin stand. Der Überrest der Mange-Truppe – Valicia X, die Hoffmans und Marjorie Rumpson – standen mit schlanken, eisgekühlten Gläsern am Fuß des Steingartens, dessen Pflanzen allesamt zu Gattungen mit unaussprechlichen Namen gehörten. Pepys und Jeffries standen drüben an einem seitlich aufgestellten Tisch und machten sich an einigen Silberschüsseln zu schaffen. Daneben stand etwas, das aussah wie eine eßbare US-Flagge. »Ein herzhafter Käsekuchen.« Ben ging schneller. »Ich habe gesehen, wie Pepys ihn nach draußen trug. Die Streifen sind Peperoni, und – « Den Rest bekam ich nicht mehr mit. Ich wurde von einem Regentropfen abgelenkt, der auf meine Hand fiel. Gleich darauf war gedämpftes Donnergrollen zu hören. Wie schade, wenn das Picknick nach drinnen würde verlegt werden müssen. Als ich einer Wespe auswich, stieß ich mit Mary Faith zusammen. Ben konnte sie zum Glück noch stützen, nachdem sie erfolglos versucht hatte, sich an ein Vogelbad aus Granit zu klammern und schließlich einen Felsabhang hinunter in seine Arme gerutscht war. »Tut mir sehr leid.« Sie stieß rückwärts gegen mich. »Keine Ursache«, sagte Ben. »Sie sehen hübsch aus, Mary!« log ich. Sie trug ein beigefarbenes durchgeknöpftes Hängerkleid, das nur zu gut zu ihrem Teint paßte. Ihr Lippenstift war zu dunkel, ihre Ohrringe zu protzig, und diese verflixte Schmetterlingsbrille mußte endlich weg – in den Fluß damit.
»Ellie«, wandte sie sich vertraulich mir zu, »ich weiß, Sie werden böse auf mich sein, aber ich muß es tun.« »Was denn?« Noch ein Regentropfen, diesmal auf meine Nase. Eine zusätzliche Ablenkung war, daß der Wind die Stimmen der anderen in unsere Richtung trug. Bingo sprach gerade über den Bedarf an verschiedenen Geschmacksrichtungen bei Ketchup. Er glaubte, Avocado-Geschmack werde sich zu einem Renner entwickeln. »Sie essen mit uns zu Abend?« Ben beehrte Mary mit einem Lächeln, das sie hoffentlich nicht als das Lächeln eines anmaßenden zukünftigen Manges deutete. »Tut mir leid, aber das geht nicht. Darum handelt es sich ja, verstehen Sie! Ich fahre mit dem Kajütboot nach Mud Creek hinüber, um mich mit meiner Mutter zu treffen. Sie hat Pepys heute nachmittag eine Botschaft mitgegeben, als er drüben Lebensmittel einkaufte. Wenn ich um fünf Uhr nicht in ihrem Apartment auftauchte, würde es mir noch leid tun.« »Aber fünf Uhr ist schon vorbei«, wandte ich ein. Sie hob das Kinn, und ihre Brillengläser funkelten trotzig. »Genau. Damit demonstriere ich, daß ich mich nicht herumkommandieren lasse, aber ich muß mich trotzdem mit ihr treffen.« Sie verzog den Mund zu einem bitteren Lächeln. »Mir kam der erfreuliche Gedanke, daß sie vielleicht Geld will. Schließlich bin ich plötzlich ein ziemlich guter Fang, so als Tochter. Monster Mommy hat mich zur Multimillionärin gemacht. Ich denke, daß fünf Scheine genug sein dürften. Heutzutage kann man nicht weniger Trinkgeld geben.« Ich wurde von Mitleid für sie übermannt. »Mary, gehen Sie nicht!« »Wäre doch schade, wenn Sie die Party verpassen.« Auf mich wirkte Bens lustiges Lächeln unwiderstehlich. Mary schaute auf ihre Uhr und umarmte mich schnell. Dabei flüsterte sie: »Auf ewig beste Freundinnen.« Dann hastete sie
auch schon über den bemoosten Felsen zum Pier. Ich blieb noch eine Zeitlang stehen und dachte über all den Schaden nach, den eine gestörte Mutter-Tochter-Beziehung anrichtete. Ach, aber das Barbecue lockte! »Was soll das denn sein?« Bingo grinste anzüglich hinüber. »Haben Sie vor, ganz modern zu spät zu kommen?« »Na, na, Liebes!« Ernestine klang wie eine liebevolle Mama, die ihr Kleines tadelte. »Mr. Haskell hat vermutlich nur die Zeit vergessen, als er für ein Kalorienquiz paukte.« Marjorie Rumpson schnaubte hinter dem Schleier ihres Imkerhutes. Und hier, verflixt und zugenäht, kam Valicia X mit einem breiten, glänzendschwarzen Gürtel, der die Taille ihres feuerroten Kleids so eng zusammenschnürte, daß man sie mit einer Hand umfassen konnte. Ha! Ich hatte gedacht, mit dem Bürgerkrieg sei das aus der Mode gekommen. »Sind Sie in Ordnung?« fragte sie, als wäre ich ein Käse, den man zum Reifen weggestellt hatte. Dann, bevor ich meine Lippen entkorken konnte, zog sie Ben in einem Geflatter bauschiger Ärmel zum Tisch. »Mr. Haskell, ich möchte Ihre Meinung zu Jeffries’ Weinbeerenschaum und den atemberaubenden Artischocken hören.« Kein Grund, mich vernachlässigt zu fühlen. Ernestine lächelte mitfühlend in meine Richtung, und Pepys erschien, um mir von einer Platte Crepewiches anzubieten – wie er die Minihappen nannte. Ich ging noch mit mir zu Rate, ob ich damit durchkam, wenn ich mehr als sechs Stück nahm, da reichte mir Jeffries einige köstlich duftende Krabben. »Für die Getränke gilt Selbstbedienung.« »Vielen Dank.« Während ich zufrieden kaute, landete ein weiterer Regentropfen auf meinem Kinn. Sah man es in diesem Land als schlechtes Benehmen an, Partys vom Wetter unterbrechen zu lassen? Erwartete man von uns, tapfer lächelnd durchzuhalten, wenn es so richtig in Strömen goß? Ich schaute
auf den Fluß hinaus und überließ mich einer Phantasie: Ben und ich allein auf dieser Insel, wo wir in einer anderen Zeit zusammen magische Abenteuer erlebten. Er der Schmugglerhauptmann, das Gesicht in Mondlicht getaucht, und ich seine Dame, aus einer herrschaftlichen Villa auf den Klippen von Cornwall entführt. An Nachmittagen wie diesem würden wir unser verläßliches Ruderboot besteigen, und ich würde dasitzen und dem freundlichen Plätschern der Paddel lauschen, eine Hand in die Gischt halten, die so weiß und frisch sein würde wie feinste französische Spitze. Bei Sonnenuntergang kehrten wir dann nach Mendenhall zurück, das vor uns aufragen würde wie die Galionsfigur eines gewaltigen Piratenschiffs… Die Phantasie zersplitterte in tausend Stücke. Ein lodernder Feuerball erhellte den Himmel. Mein erster Gedanke war… Feuerwerk. Schließlich war heute der 4. Juli. Doch der Blitz war zu groß, zu nah und wurde außerdem von einem mächtigen Knall begleitet, der nichts mit den Feierlichkeiten zu tun haben konnte. In der Nähe des Bootshauses brannte ein hohes Feuer auf dem Wasser. »O mein Gott!« schrie Ben. »Das Kajütboot ist explodiert!«
Auf dem Weg zum Ufer stolperten wir alle paar Schritte über Felsblöcke und stießen uns gegenseitig mit den Ellbogen an. Wer uns beobachtete, mußte glauben, wir hätten zwanzig Jahre auf der Insel festgesessen und endlich hätte jemand gerufen: »Schiff in Sicht!« Marjorie Rumpson preschte voran. Ernestine rutschte aus und landete unsanft auf dem Hintern. Bingo war ihr dicht auf den Fersen – er sprang schnaufend über ihre Beine hinweg, nur wenige Zentimeter trennten sie. Valicia X legte eine atemberaubende Geschwindigkeit vor, ihre Pfennigabsätze sanken kein einziges Mal in dem nassen Sand ein, als wir uns dem Ufer näherten. Ben packte mich, als ich mich umdrehte und zurückschaute. Fehlten da nicht zwei Leute? Ah, da kamen Pepys und Jeffries schon! Sie hielt ihn am Ellbogen, entweder um ihn zu stützen oder um eine vulgäre Zurschaustellung von Eile zu vermeiden. Tränen brannten mir in den Augen, sowohl von dem beißenden Rauch, der über der Insel hing, als auch von dem Schock. Ich starrte auf die Stelle, wo die Flammen noch übers Wasser leckten. Was von dem Kajütboot noch oben schwamm, taugte lediglich als Brennholz. »Ben! Besteht überhaupt noch Hoffnung?« Wie betäubt sah ich zu, als er sein Jackett hinwarf, die Schuhe abstreifte und durch einen plötzlichen Regenvorhang hindurch zum Fluß rannte. Im Laufen lockerte er seine Krawatte. Marjorie Rumpson war vor ihm im Wasser. Ohne daß ich es bemerkte, hatte sie sich bis auf Korsett und ihre lange Unterhose ausgezogen. Den Imkerhut auf ihrem Kopf hatte sie vergessen – es sei denn, er sollte als eine Art Floß dienen.
»Bleiben Sie zurück, mein Junge, dies ist eine Aufgabe für eine Frau!« Ihr machtvolles Strampeln schickte eine Flutwelle samt Gischtfontäne in Bens Richtung; er fiel hintenüber, und Marjorie stieg auf wie ein Tümmler, dann riß sie den Mund auf, als wolle sie den ganzen Himmel einatmen, und verschwand in der Tiefe. Ben folgte ihr, mit der Anmut eines… eines Märtyrers, der mit den Füßen in kochendes Öl gestellt wurde. Mein tapferer Liebling, er mag es nicht, wenn sein Gesicht unter Wasser ist, noch nicht einmal beim Haarewaschen. Hin und wieder kam ein Kopf an die Oberfläche, dann war ich es, die den Atem anhielt. Bitte laß es diesmal Mary sein! Und wenn sie es nicht war, ging mein Herz zusammen mit den Rettern wieder in die Tiefe. Hoffnungslosigkeit ergriff Besitz von mir, mein Herz war so klamm und eiskalt wie meine regendurchnäßte Kleidung. Valicia X. konnte stolz darauf sein, daß sie die einzige war, deren Haar der Wind nicht zerzaust hatte. Ihr französischer Knoten blieb so glatt wie ihre Stimme. »Bestimmt hat man die Explosion auch in Mud Creek gesehen. Die müssen doch irgendeinen primitiven Rettungsdienst haben!« »Und wenn sie gedacht haben, daß wir es nur mit dem Feuerwerk übertreiben?« gab ich niedergeschlagen zu bedenken, während ich das zunehmend stürmische Wasser im Auge behielt. Niemand gab eine direkte Antwort darauf. Ernestines Starsand-Stripes-Schal flatterte ihr immer wieder in den Mund. »Ihr wißt ja wohl alle, was es bedeutet, wenn Mary tatsächlich… ihren Frieden gefunden hat. Ich brauche es wohl nicht vor Bingo auszusprechen, oder?« »M-O-R-D.« Sein Hemd mit Dschungelmuster und seine Khakishorts ließen den dicken Jungen wie einen Großwildjäger aussehen. »Da hast du völlig recht, Mom, ausnahmsweise mal. Sogar Menschen mit durchschnittlichem IQ könnten sehen, daß
dies kein Unfall war.« Seine Brille vermochte nicht zu verbergen, daß er vor Aufregung ganz große Augen bekommen hatte. Und vielleicht aus dem besten aller Gründe! Sollte der Alptraum doch noch ein glückliches Ende finden? Die Hände zu Fäusten geballt, sprang ich auf und ab und warf dabei um ein Haar Valicia X um. Marjorie Rumpson kam zum Ufer gepflügt, eine Möwe segelte über ihrem Kielwasser, als sie jemanden anschleppte… o nein! Nicht Mary, sondern Ben. Verstehen Sie mich richtig, ich freute mich natürlich, daß er wieder trockenen Boden unter den Füßen hatte, wobei er aufs heftigste abstritt, auch nur eine Sekunde lang das Bewußtsein verloren zu haben. Doch die Erkenntnis, daß Mary Faith nicht mehr zurückkommen würde, war eine bittere Pille. Wir standen in der Dämmerung da, Marjorie zog ihr Kleid an, Ben wrang seine Hosenbeine aus. Pepys nahm seine schwarze Krawatte ab und reichte sie Jeffries, die sie ihm, auf Zehnespitzen stehend, um den Arm band. »Ist doch immer dasselbe, ein Todesfall im Haushalt, und man ist nicht vorbereitet.« Ihr Grinsen erinnerte mich an Judy, wie sie Punch eins über den Schädel gibt. »Vielleicht ist sie ja gar nicht tot«, hörte ich mich sagen. »Könnte sie nicht ihre Meinung über den Besuch bei ihrer Mutter geändert haben und wieder ins Haus gegangen sein?« »Unmöglich«, sagte Valicia fest. »Um eine der Türen zu erreichen, hätte sie in der Nähe des Barbecues vorbeikommen müssen. Wir hätten sie gesehen.« Pepys Augen in den Totenschädelhöhlen glühten, er schmatzte mit den Lippen. »Ich bin an allem schuld!« »Sie haben das Boot in die Luft gejagt?« Ernestine zog Bingo zu sich. »Ich bin doch kein Vandale, Ma’am! Ich meinte…« Jeffries brachte ihren Spießgesellen mit einem gutgezielten Ellbogenstoß zum Schweigen. »Du wolltest wohl sagen, du
alter Stümper, daß du gestern abend bei Miss Theola Faith gepetzt hast. Du gingst die Feuerleiter zu ihrem Apartment hoch und sagtest ihr, daß für heute abend fünf Uhr ein Feuerwerk geplant ist. Ich hab’s selbst gehört. Und heute nachmittag sagt sie dir, du sollst Miss Mary die Botschaft überbringen, daß sie rüberkommen soll.« Ja, wie umsichtig von Monster Mommy, eine Zeit auszuwählen, zu der Mary die Überfahrt höchstwahrscheinlich ohne Begleitung machen würde, da alle anderen auf der Party waren. »Sprich gefälligst nicht für mich!« Pepys wedelte mit einem leichenblassen Finger vor Jeffries. »Mit der Erwähnung des Barbecues habe ich keine Mange-Regel verletzt, und ich hatte nicht die Absicht, die Chefin den Wölfen vorzuwerfen. Noch nicht. Ich will damit sagen, daß wir Miss Mary zur Vernunft hätten bringen müssen. Sie fesseln und ihr einen Knebel in den Mund stopfen. Ich habe daran gedacht, als ich sie losfahren sah, befürchtete jedoch, der Regen würde währenddessen den Salat in Suppe verwandeln.« Die Arme verschränkt, bedachte Jeffries ihn mit einem Glückwunschlächeln. »Also ist sie dahin und das Essen so oder so verdorben. Welch ein 4. Juli. Das reicht, um einem jeden Patriotismus auszutreiben.« Valicia X ging an Ben und mir vorbei, blieb kurz stehen, um ihn am Arm zu berühren, und trat dann einige Schritte näher ans Ufer. Ihr feuerrotes Kleid schwang um ihre Beine. Ihre Pfennigabsätze hielten dem Matsch stand, sie legte eine Hand an ihre klassische Stirn. »Am anderen Ufer tut sich nichts. Die Bewohner von Mud Creek sind wohl alle in der örtlichen Bar, um zu feiern, daß wir uns mit einem Knallkörper selbst in die Luft gejagt haben. Es ist einfach unfaßbar, daß die MangeGesellschaft nun mit solch einem widerwärtigen Vorfall in Verbindung gebracht werden wird.«
»Betrachten wir das Ganze mal von der optimistischen Seite!« Ernestine zwinkerte und zeigte mit dem Daumen auf Bingo. »Bei der Explosion des Bootes könnte es sich auch um einen Unfall gehandelt haben.« Marjorie, die sich immer noch schüttelte wie ein Hund nach einem Bad, strahlte. »Genau!« »Squaws sprechen mit dummer Zunge.« Bingo verschränkte die fleischigen Arme. »Wigwam des Wassers wurde sabotiert.« Seine Mutter, der selbst das Haar an den Wangen klebte, wischte ihm einen Regentropfen von der Nase. »Schätzchen, muß ich es dir denn noch mal sagen? Mord ist kein Spaß.« »Vergessen wir nicht, ›unschuldig‹ bis zum Beweis des Gegenteils!« Ich preßte die Hände auf meinen Bauch. Nicht ganz dasselbe, als hätte ich dem Baby die Ohren zugehalten, aber besser als gar nichts. »Keine Mutter, die bei Verstand ist…« Ben legte den Arm um mich. Jeffries lächelte ein süffisantes Lächeln, das ihrem Zwergengesicht Leben verlieh. »Sie haben recht. Alle Geschworenen werden Monster Mommy gelesen haben. Sie wird mit Unzurechnungsfähigkeit davonkommen.« »Wir müssen die Polizei verständigen.« Valicias Blick richtete sich auf Ben. Der Regen hatte ihr Gesicht befeuchtet, und es glänzte jetzt vollendetem in Perlmutt. Wie konnte er es seiner Dame Mange verweigern, ein Boot zu nehmen und in die stürmischen Gewässer aufzubrechen? Ich wollte nicht, daß er fuhr. Als er seinen Arm wegzog, kam ich mir vor wie ein Baum, der ohne Wurzeln zu stehen versucht. Der Himmel hing tief herunter, als hätte dort oben jemand einen Staubsaugerbeutel geleert. Auf dem Wasser funkelte noch ein Splitter des Kajütboots. Der Wind zog und zerrte nicht nur an unserer Kleidung, er trug auch Bens Stimme hinweg – so daß nur ein Echo zu sprechen schien.
»Seht mal!« Er zeigte mit der freien Hand auf ein Motorboot, das durch aufspritzende Gischt auf uns zugeschossen kam. »Ist das nicht die Küstenwache?« Ein einmütiges »Kann sein!« Und in Notzeiten ist ein Boot ein Boot. Wir hasteten alle kreischend zum Ufer. Pepys sprang auf und ab wie eine verrostete Sprungfeder. Jeffries vollführte Scherensprünge im Cheerleader-Stil, und Marjorie Rumpson, deren Imkerhut nach ihrer Tauchaktion traurig an Form eingebüßt hatte, hob einen abgefallenen Ast auf und schwenkte ihn heftig über dem Kopf. Das Boot beschrieb auf dem Wasser einen Kreis und pflügte zur Insel. Zeit für Valicia X, den Mantel der Mange-Autorität um ihre eleganten Schultern zu breiten. Ihr Profil zeigte die strenge Schönheit einer Galionsfigur an einem Schiff. »Wir wollen den Mann nicht überfordern. Wenn Sie alle ins Haus zurückgehen, spreche ich allein mit ihm. Es sei denn« – sie streckte Ben matt die Hand hin –, »Sie möchten bleiben, Mr. Haskell.« Bestimmt war ich Frau genug, um meine Wünsche dem öffentlichen Interesse zu opfern. Der Mann von der Küstenwache schwang respekteinflößend ein Bein über die Seite des Bootes. Bens Mut war verblüffend, selbst wenn man in Betracht zog, daß er bis auf die Knochen durchkühlt war. »Ms. X, wäre Pepys Ihnen nicht mehr von Nutzen? Er kennt – kannte das Kajütboot genau. Und ich sollte meine Frau ins Haus bringen.« Ein Lächeln, das charmant wirken sollte. »Wir wollen doch nicht, daß das Baby sich erkältet.« »Was immer Sie für wichtiger halten, Mr. Haskell.« Der einsetzende strömende Regen verhüllte das schöne Gesicht. Pepys taperte um Ben herum. »Mit meinen mathematischen Kenntnissen ist es nicht weit her, aber das macht mindestens zehn Punkte weniger auf ihrem Konto, Sir Galanthad!« Unter bronchitischem Gelächter ging er zu Ms. X und dem Mann von
der Küstenwache hinüber. Die Hoffmans, Miss Rumpson und Jeffries eilten zum Haus und ähnelten dabei einer vom Wind durchgeschüttelten Wäscheleine. Ben wollte ihnen folgen, doch ich sträubte mich. »Ellie, wo gehst du hin?« »Nur die paar Schritte zum Bootshaus.« »Wieso?« »Weil ich immer noch auf ein Wunder hoffe, deshalb.« Ich machte mich am Türriegel zu schaffen. »Wenn man an ihren Grund für die Überfahrt denkt, ist es da nicht wahrscheinlich, daß Mary sich nicht sonderlich beeilte? Was ist, wenn sie zunächst hierherkam, um sich Mückenspray oder eine Lieblingsstrickjacke zu holen – und in Ohnmacht fiel, als die Explosion sich ereignete?« »Liebes…« Ben schob mich vor sich her in den schachtelartigen Raum mit seinen Ruderbooten und Kanus, mit Angelgerät und den Regalen mit Farbtöpfen samt Lackgeruch… keine Mary. Ich ließ mich auf die Gartenbank fallen, spürte, wie sie schwankte und hielt mich mit beiden Händen an dem Steinimitat fest. »Welch wahnwitzige Hoffnung!« Sanft berührte er mein Gesicht. »Ellie, sie hat wohl nicht gelitten.« »Woher willst du das wissen?« brauste ich auf. »Bist du schon mal in die Luft geflogen? Ach, entschuldige. Aber sie hatte ein so miserables Leben!« »Was für mich so schwer zu begreifen ist…« Er drückte sein Haar aus, und kleine Regenbäche liefen ihm die Stirn hinunter. »… wie kann eine Frau so brutal ihre eigene Tochter töten?« Ich stand auf. »Womit du hintenrum sagst, du glaubst, daß Theola Faith…« Es war zu grauenhaft, um es auszusprechen. »Liebes, was soll man denn sonst denken? Selbst Pepys und Jeffries, die seit Jahren bei ihr sind, denken es.«
»Ach, die!« Ich drehte mein Haar zu einer Kordel und wrang es aus wie ein Handtuch. »Sie wollen, daß sie sich die Radieschen von unten anguckt, damit sie endlich ihre Pension einstreichen können.« Das stete Plop, plop von Wassertropfen auf meinem Bein war lauter als der Regen draußen. »Selbst wenn man das Barbecue in Betracht zieht, wäre Theola Faith das Risiko eingegangen, weitere Menschen abzumurksen. Und hätte sie nicht eine Art Bombenexpertin sein müssen? Das soll kein Sexismus sein, Liebling, aber wir Frauen sind gewöhnlich besser darin, Dinge versehentlich kaputtzumachen – wie zum Beispiel Mixer und Waschmaschinen.« Ben ging zur Tür und wieder zurück. »Liebes, sie hat es vermutlich in einem dieser Do-it-yourself-Handbücher nachgeschlagen.« Oder sich daran erinnert, wie es in Villa Melancholie gemacht worden war. Ich sah Pepys wieder auf dem Fenstersitz liegen und hörte ihn von der Schlußszene des Films erzählen. Allerdings hatte er mir nicht erzählt, ob Theola Faith in ihrer Rolle überlebt hatte. »Und wann hat sie die Bombe gelegt? Kam sie in ihrem Schnellboot rüber, während Pepys und Jeffries den Picknicktisch deckten?« Wieso widersprach ich ihm so heftig? Wir redeten schließlich über Monster Mommy, nicht von der fliegenden Nonne. »Liebes, aus dir wird nie eine Möderin. Du hast nicht die Nerven dazu. Wer weiß, vielleicht hat sie es gestern abend auf der Rückfahrt nach Mud Creek erledigt, oder sie ist heute irgendwann zurückgekommen. Die Frau ist Schauspielerin – eine Meisterin der Verstellung. Falls jemand behaupten sollte, er habe einen Landstreicher auf dem Kajütboot gesehen, wird ihr das nur nützen.« Ich setzte mich fast wieder auf die Gartenbank, entschied jedoch, daß ich auf meine volle Größe angewiesen war.
Weshalb fühlte ich mich eigentlich verpflichtet, für Theola Faith einzutreten? War ich derart provinziell in meinen Anschauungen, daß ich es für unhöflich hielt, jemanden des Mordes zu bezichtigen, mit dem ich zuvor den Abend verbracht hatte? »Ben, weshalb hätte sie die Tat ausgerechnet hier begehen sollen? An keinem Ort der Welt würde man sie aufmerksamer beobachten. Theola Faith ist in Mud Creek aufgewachsen.« »Dann hofft sie eben auf eine Art Loyalität ihrer Heimatstadt.« »Mag sein«, gab ich zu. »Ich bin an keinem einzigen Schaufenster vorbeigekommen, in dem Monster Mommy ausgestellt war, und der Sheriff sagte, aus dem Buchmobil sei es ebenfalls verbannt worden.« »Und noch etwas.« Ben ging in einem Kreis, der immer enger wurde, bis ich dachte, er werde mit sich selbst zusammenstoßen. »Nach dem, was man so hört, ist Theola Faith das klassische Beispiel für ein Kleinstadtmädchen, das Karriere macht und dann auf die Leute, die sie zurückgelassen hat, als Bauerntölpel herabsieht, die Rüben mit dem Messer essen, Chateaubriand für ein Schloß in Frankreich halten und an Fingern und Zehen zählen. Sie wird sich darauf verlassen, daß die hiesige Polizei nicht so fit ist.« Ich gab keine Antwort. Ich hörte, wie Theola Faith, kurz bevor wir das Lucky Strike verließen, Sheriff Dougherty einen »alten Narr« nannte. Ich erinnerte mich auch noch an mein Gefühl, daß er ihr andeutungsweise den Hof machte. Was unter diesen Umständen mehr als einen Nieser wert war. »Gott segne dich!« sagte Ben. »Was?« Ich blinzelte. Ein zärtliches Lächeln. »Da kannst du mal sehen, wie amerikanisch ich schon werde. Die Leute hier sagen das – Gott segne dich –, wenn jemand niest.« »Und?«
»Und du hast geniest.« »Nein, habe ich nicht… ich habe nur an Niesen gedacht.« »Na, auf jeden Fall hat jemand geniest«, sagte Ben vernünftig. »Und ich glaube nicht, daß ich es war. Wir haben ja schon einmütig festgestellt, daß sonst niemand hier ist…« »Na wunderbar!« fuhr ich auf. »Nicht genug damit, daß unser Kind Eltern haben wird, die in einen Mordfall verwickelt waren, jetzt verliere ich auch noch den Verstand!« Ben zog mich an sich. »Ich wünschte, ich könnte es dir begreiflich machen«, sagte ich. »Ich versteh’s doch Ellie.« Er küßte mich auf die Wange. »Marys Tod ist eine Tragödie, doch geradezu unerträglich ist, daß das arme unglückliche Mädchen von ihrer eigenen Mutter ermordet wurde.« Sein Gesicht hatte sich gerötet, wodurch seine Augen in noch intensiverem Grün erstrahlten; sie hielten mich fester als seine Hände, zogen einen magischen Kreis um uns. Hier – ganz gleich, was mit dem Rest der Welt passierte – waren wir sicher. War ich oberflächlich oder sexbesessen, weil ich spürte, daß ich ihn begehrte? Ich wollte nur noch nach Mendenhall zurück und in unser Silberlurex-Schlafzimmer einfallen. Tante Astrid glaubt, körperliche Liebe sei zur Fortpflanzung da und außerdem gut gegen Lungenentzündung. »Darüber hinaus glaube ich, Liebes, daß es, wenn es tatsächlich Mord war, und Theola Faith nicht die Schuldige ist, zu häßlichen Verdächtigungen kommen wird.« Er hatte recht. Ich schob meine Ärmel hoch und schürfte mir dabei Haut ab. Mist! Die Stimmung war dahin. Die ins Bad gekritzelte Warnung… die verschwundenen Messer… wie – wenn überhaupt – paßte dies alles ins Bild? Nun ja, das sollte kein Wortspiel sein, weil ein Messer in Cat Cadaver steckte. Zeit, in die Wirklichkeit zurückzukehren. Als Ben und ich im Regen die felsige Anhöhe zum Haus hochgingen und uns den
Stufen näherten, beschlich mich ein Gefühl und klebte dann genauso hartnäckig und klamm an mir wie meine Kleidung… im Bootshaus war etwas anders gewesen. Etwas fehlte. Der Sturm trug noch zu der makabren Stimmung bei. Der Regen hämmerte gegen die Fenster. Der Wind war ein drittklassiger Opernsänger, der Tonleitern übte. Wir waren im roten Zimmer mit seinem Samtkissen-Erker, den Wachsblumen und dem Klavier versammelt. Menschliche Schaufensterpuppen en tableau arrangiert. Pepys und Jeffries am Teewagen, wir übrigen mit Tassen auf dem Schoß, angewinkelten Ellbogen und erhobenem Kinn. Hin und wieder riskierte jemand ein Lächeln, dann nahm er es schnell wieder zurück. Laß’ keinen fröhlich sein oder lauter sprechen, nur flüstern! Um einen Ausspruch von Tante Astrid zu klauen: Wir waren Zeugen der altehrwürdigsten Tradition des Lebens: des Todes. Die Uhr auf dem Kaminsims tickte nicht, sie kratzte an jeder Sekunde, wie ein Fingernagel, der eine Blutspur hinterlassen wollte. Darüber hing Cat Cadaver. Bedrohlicher denn je mit dieser klaffenden Wunde in seinem gemalten Fell. Jemand unterdrückte ein Gähnen. Ein anderer stieß ungeduldig die Luft aus. Ob ich die Hand heben sollte, wenn ich zur Toilette mußte? Wie lange noch, bis Sheriff Dougherty uns vor uns selbst errettete? Vor uns gegenseitig? Vor Beinkrämpfen? »Wer kriegt eigentlich das Geld von ihrem Buch, jetzt wo sie tot ist?« Bingo hatte den Bann gebrochen. Wir waren frei, zu reden, unsere Glieder zu bewegen, unsere Sitzgurte abzuschnallen, sogar im Zimmer umherzugehen, wenn wir es wünschten. »Bingo, Schätzchen! Was für eine Frage!« Ernestine Hoffman tat wirklich ihr Bestes, gereizt zu klingen. Aber wie gewohnt platzte sie fast vor Stolz, weil ihr Junge die Vierundsechzigtausend-Dollar-Frage gestellt hatte. Ich
scharlachroter Hosenanzug vor dem weinroten Sessel als Hintergrund reichte völlig aus, das Herz jedes Innenarchitekten mit Entsetzen zu erfüllen. Sogar das einer Exinnenarchitektin, wie in meinem Fall. Klein Wunderkind hielt inne darin, sich Kekse in den Mund zu stopfen. »Was soll ich denn machen, Eimer vollheulen, weil irgendeine alte Lady, die schon über vierzig war und so aussah wie fünfzig, tot ist? Ich kann Heuchelei nicht ausstehen.« Er schwoll förmlich an vor Wichtigkeit. Was zu einem nicht geringen Teil an den Keksen lag. »Na, na, Bingo!« Ernestines Augen sagten: »Hat er nicht eine wundervolle Lebensanschauung?« Sie plusterte ihr BruderTuck-Haar auf. Wohl um für die Polizei nett auszusehen. »Wir haben ja Respekt vor deiner Ehrlichkeit – « »Ich nicht.« »Ellie!« mahnte Ben. Er hatte recht. Ehefrauen von Manges sollte man sehen und nicht hören. Ich dachte an mich in Bingos Alter – damals, als meine Cousine Vanessa sich im Zoo verirrte und ich mich mit Vanilleeis vollstopfte, um die Angst und die Gewissensbisse zu ersticken weil ich zuvor gesagt hatte, ich hoffte, die Löwen würden sie fressen. Ich sank tiefer in meinen Stuhl und entschuldigte mich. Bingo feixte. Ich bezweifelte, daß ich von Ernestine zu Weihnachten eine Postkarte bekommen würde. »Uns allen macht der Streß zu schaffen.« Valicia X durchquerte den Raum und klopfte Ben tröstend auf den Arm. Er hatte sich umgezogen und trug jetzt eine Smokingjacke aus schwarzem Samt. Ich hatte sie auf einem Flohmarkt entdeckt und eigentlich kaum damit gerechnet, daß er sie vor anderen tragen würde. Sie paßte unglaublich gut zu ihm und zu diesem viktorianischen Zimmer. Ich hatte selbst trockene Sachen angezogen und sah nach wie vor wie ein Vorher-Bild in der Verschönerungskampagne einer Modezeitschrift aus. Ms. X
trug noch das feuerrote Kleid. Kein einziger Schlammspritzer, keine Knitterfalte. Sie hatte ihren französischen Knoten gelöst, so daß ihr Haar jetzt in welligem sonnengereiften Apricot ihr Gesicht umrahmte. Kein Wunder, daß Pepys auf seinen O-Beinen losflitzte, als sie ihn bat, Tee nachzugießen. Jeffries war zum Glück aus härterem Holz geschnitzt. Sie zupfte am Rüschenrand ihrer Haube und starrte ins Weite. Machte sie sich Sorgen um Theola Faith? Oder reichte ihre Zuneigung nur von einem Gehaltsscheck zum nächsten? Betrauerte Pepys den Verlust des Kajütbootes mehr als Mary? Würde mir meine amerikanische Strumpfhose den emotionalen und moralischen Rückhalt geben, den man auf der Packung verhieß? Ms. X ergoß ihr strahlendes Lächeln auf Marjorie Rumpson, die dasaß wie ein treuer alter Hund, den man nach Stunden des Angekettetseins draußen im Regen ins Haus gelassen hatte. »Gott segne Sie, meine Liebe. Ich fühl’ mich verflixt elend.« Sie legte das Taschenbuch, in dem sie gelesen hatte – das sie zu lesen vorgegeben hatte –, weg. Die Geiselbraut lag Rücken an Rücken neben Monster Mommy auf dem Kaffeetisch. Marjorie hatte ein aschgraues Gesicht. Sie nahm das weiße Taschentuch an, das Ben mit einer schwungvollen Bewegung, die an den Comte und Solange… und an unsere anderen Verschwundenen erinnerte, aus der Tasche zog. »Als Mary Faith unten in diesem Sarg hochschreckte und wir uns zum ersten Mal guten Tag sagten, hätte ich nie gedacht, daß sie so bald tot sein und auf dem Grund des Flusses liegen würde.« »Na, na!« Ich setzte mich neben sie und hielt ihre große Hand. »Ich bin normalerweise nicht solch ein Baby! Aber nachdem ich fast Mummy verloren habe, kann ich einen weiteren Schlag nicht verkraften!« Sie verschwand hinter dem weißen Taschentuch.
»Schätzchen, Sie haben wirklich eine Menge durchgemacht!« Ernestines Stimme war belegt vor Mitgefühl. »Denken Sie jetzt bloß nicht, daß ich mich einmischen will, aber ich mache mir doch Sorgen, wie sich der Streß des Wettbewerbs auf sie auswirken mag. Besonders, da Sie es mit solch ungeheuer starker Konkurrenz zu tun haben…« Ihr Blick hing an ihrem Jungen. »Madame« – Ben sprach mit der eisigen Herablassung, die dem schwarzen Samt und den Litzen an den Manschetten gemäß war –, »sollen wir uns nicht darauf einigen, daß Ms. X am besten beurteilen kann, wer – und wer nicht – es verkraftet, ein Mange zu werden?« Die unnachahmliche Valicia. Eine Frau, die geziert zu lächeln verstand, ohne stupide zu wirken. Ernestine wirkte stupide vor Schock. »Bingo, Schätzchen, hast du gehört, daß dieses männliche Playboy-Häschen deine Mutter Madame genannt hat?« Sie stand langsam auf und sah Ben an. »Mögen Sie es, käuflich genannt zu werden?« Ihre Zunge schlängelte sich um die Worte herum, wodurch sie unglaublich lasziv klangen. »… Mr. Eligibility Escorts?« »Unfair!« Marjorie Rumpson sprang auf. Schweigen senkte sich herab, wie ein Tischtuch über einen Vogelkäfig. Bingo erstarrte, einen Keks halb im Mund. Pepys neigte die Teekanne über meine Tasse, doch nichts kam heraus. Valicia X, weit davon entfernt, die Peitsche der Autorität zu schwingen, stand da und schaute Ben an, ihre wunderschönen Augen randvoll mit Kummer. Er schaute mich an, und seine Augen waren randvoll mit Vorwurf. Ich schrumpfte auf meinem Stuhl zusammen, als wäre er eine Anklagebank. Wie konnte er annehmen, daß ich mit irgendeiner Person in diesem Haus über seine frühere Karriere gesprochen hatte? Mal abgesehen von seinen Empfindungen, der Tag, als ich ihn bei Eligibility Escorts angemietet hatte, war meiner Erinnerung
heilig. Man fragte sich, was Ernestine Hoffman eigentlich heilig war. Zu welchen Mitteln würde sie im Namen der Mutterschaft noch greifen? Sie versuchte standhaft, aufrecht zu stehen, doch ihre Knie gaben unter ihr nach und ihr Mund zuckte. Ich stellte mir vor, wie sich ein Schaufelrad in ihrem Kopf drehte und verzweifelt versuchte, irgendeine – egal welche – Entschuldigung auszugraben. Sie wußte, sie hatte gerade ihre Chance, Mutter eines Mange zu werden, beträchtlich vermindert. Sollte ich zuschlagen, solange ihr Gesicht noch glühte, und andeuten, der Geist, den Bingo in unserer ersten Nacht hier gesehen zu haben behauptete, könne seine eigene Mutter gewesen sein, die einen Blick in die Akten der Kandidaten werfen wollte? Wer zögert… Ernestine stammelte eine Entschuldigung, in der PMS eine große Rolle spielte. »Redet sie von postmortalem Schock?« fragte Pepys mit zitternder Stimme. Das Schweigen dehnte sich ins Unerträgliche. Dann stieß Jeffries einen Schrei aus, der fast die Decke herunterfallen ließ, und die Tür sprang weit auf. Sheriff Tom Dougherty füllte den Türrahmen aus, die Waffe schußbereit, mit blitzenden Augen. »Himmel an Betsy, was ist denn hier los?« Ich hätte mich wirklich mal um meine Postkarten kümmern und eine an Dorcas und Jonas schicken sollen, auf der gestanden hätte: Amüsieren uns großartig. Wünschten, Ihr wäret bei uns. Erstaunlich, wie ein Polizeiverhör die Menschen zusammenschweißt! Sogar Pepys und Jeffries schafften es, so auszusehen, als bedienten sie unseren kleinen Clan schon seit Jahren und hätten jeden Augenblick davon genossen. Sheriff Tom stellte sämtliche zu erwartenden Fragen -Namen, Adressen, Aufenthaltsort zum Zeitpunkt der Explosion. Ich rechnete damit, daß er auch meiner Begegnung mit Theola
Faith auf den Grund gehen wollte. Ich wollte wissen, ob er mit ihr gesprochen hatte und falls ja, wie es ihr ging, doch er kam immer wieder auf die Mange-Gesellschaft zurück. »Eine Geheimgesellschaft von Köchen!« Er klopfte auf seinen breiten Bauch und lächelte harmlos. »Na, das klingt ja ungeheuer interessant.« »Das finden wir auch«, erwiderte Valicia X knapp. Sie hatte es nicht freundlich aufgenommen, als er darauf bestand, ihren Nachnamen zu erfahren, oder auch, wie seine Beutelwangen sich in einem Lächeln aufblähten, als sie ihm einen zusammengefalteten Zettel überreichte. Jeffries warf alle Unterwürfigkeit über Bord und hockte sich auf die Armlehne des Sofas. »Zu Ihrer Information, wir sind eine alte ehrwürdige Institution. Und wehe denen, die uns etwas anhängen wollen. Im letzten Jahr haben wir einen knallharten Brief an das Gluttonfest Magazine geschrieben und die fortwährende Verwendung kandierter Kirschen angeprangert.« Bingo saß im Buddhastil auf dem Kaminvorleger. Sein herablassendes Grinsen reichte nicht bis zu seinen Augen. Pepys zog seine Taschenuhr hervor, schüttelte sie, hielt sie ans Ohr und bemerkte: »Zeit für meine Pause.« Er humpelte zu dem Erkerfenster und streckte sich dort aus, die Hände über der Brust gefaltet. Sein kahler Kopf glänzte wie ein Edamer-Käse. Von meinem Platz aus konnte ich sehen, wie sich seine Lider einen Spaltbreit öffneten und gelbe Schlitze sichtbar wurden. Ah, perfektes Timing! Ihm drohte die Schau gestohlen zu werden. Die Luft vibrierte von Flügelschlagen. Eine Taube landete mit einem dumpfen Knall auf der Urne, die unter dem Porträt von Cat Cadaver auf dem Kaminsims stand. Der Vogel legte den Kopf schief und schien den Sheriff mit seinen scharfen, aufmerksamen Augen zum Fortfahren aufzufordern.
»Halli, hallo, großer Bursche! Na, hab’ ich nicht immer gesagt, Mendenhall ist richtig zum Verlieben! Ich kann Miss Mary Faith nicht verübeln, daß sie sich ihr Anrecht darauf gesichert hat.« Sheriff Tom stieß gegen einen Allzwecktisch und fing ihn auf, bevor er umkippen konnte. »Vermutlich haben Sie sich gefreut wie die Schneekönige, als sie Ihnen Heiligabend dieses Haus für Ihre Sitzungen angeboten hat?« »Wir waren entzückt.« Valicia X setzte sich anders hin und schlug ihre vollkommenen Beine übereinander. »Es gibt bestimmt nicht viele Orte, die so abgelegen sind.« »Sie stellen aber ganz schöne Behauptungen auf.« Jeffries zwinkerte. Sheriff Tom ging näher zu ihr. »Glauben Sie, Mary Faith war Ihnen und Mr. Pepys dankbar für all die Jahre, in denen Sie ihrer Ma treue Dienste geleistet haben?« Bei Jeffries Hohngelächter stieg die Taube in die Luft und landete dann auf einem scharlachroten Lampenschirm. »Diese Idee können Sie gleich wieder vergessen, Mister. Ms. Mary tat nie nicht Dinge, die ihr nicht selbst was einbrachten. Sie lernte eines unserer Mitglieder auf irgendeiner Cocktailparty kennen und machte einen Luftsprung vor Freude bei der Aussicht, das Haus voller Leute zu haben. Sie wollte, daß es so aussah, als habe sie Freunde.« Ich konnte sie nicht ansehen. Ich konnte auch Ben nicht ansehen. Ich fürchtete, sonst in Tränen auszubrechen. Arme Mary! Welches Unglück es ihr gebracht hatte, eine böse Mutter zu haben! Der Blick des Sheriffs schweifte durchs Zimmer. »Nach den Gerüchten, die in der Stadt kursieren, halten sich hier noch weitere Personen auf.« »Sechs Leute sind bereits abgereist«, erklärte Marjorie Rumpson. »Mary Faith nicht mitgerechnet.« Das war Bingo.
»Sheriff Dougherty«, sagte Ernestine und umklammerte ihre Perlen, »ich möchte Sie um die freundliche Erlaubnis bitten, meinen Jungen wegzubringen. Sie sehen ja selbst, wie blaß er ist!« Valicia X erhob sich von ihrem Stuhl. Ihre Gesichtsfarbe war altrosa, das Haar floß ihr um die Schultern. Sie stand mit verschränkten Armen da und trommelte mit den Fingern. »Bingo Hoffman – genau wie wir übrigen – hat Hunger. Sheriff, Sie haben doch sicher begriffen, daß sich die Explosion ereignete, als wir gerade zu Abend essen wollten?« Ein tiefer Seufzer. »Dies ist eine Kleinstadt, Ma’am. Wir denken langsam, doch wir gelangen immer ans Ziel.« Niemand gab der Mange-Chefdame ungestraft eine freche Antwort, wenn Bentley T. Haskell anwesend war. Seine Augenbrauen wurden zu einem langen schwarzen Strich; allerdings hatte er sich noch genügend unter Kontrolle, um meine Schulter vorher noch kurz zu drücken. »Sir, der Mensch, der unter die Lupe genommen werden sollte, ist mit Sicherheit die Mutter des Opfers.« »Wer sind Sie denn – das Wunderkind oder der, der die Liebestränke braut?« Das Lächeln des Sheriffs war gemütlich, doch er gab Ben nicht die Gelegenheit, ihm zu antworten. »Mag sein, daß ich ein ziemlicher Hinterwäldler bin, aber, auf mein Wort, ich weiß genug, um von einem mutmaßlichen Opfer zu sprechen, bis wir den Fluß ganz durchkämmt und eine Leiche gefunden haben.« Gott sei Dank saß ich nicht mit dem Gesicht zum Fenster. Ich packte die Armlehnen meines Stuhls und sagte: »Sheriff Dougherty, weiß Theola Faith Bescheid?« Er räusperte sich. »Bin zu ihrer Wohnung gegangen, und Laverne Gibbons kam an die Tür – sagte, Ms. Faith sei im Bett, es ginge ihr nicht gut. Wird schon nichts schaden zu warten, bis wir ihr Genaueres mitteilen können.«
»Mitteilen!« Ernestine nahm Bingos plumpe Hand und zerrte ihn zu sich, um ihn in den Armen zu wiegen. »Diesem Monster braucht man es nicht erst mitzuteilen! Meine Güte, sie weiß, daß ihre Tochter tot ist! Mary Faith lebte in ständiger Furcht. Das sagte sie selbst im Fernsehen! Und auch noch gestern hier an Ort und Stelle zu Ellie und mir. Was brauchen Sie denn noch – ein unterschriebenes Geständnis?« Pepys, der immer noch flach auf dem Fenstersims lag, krächzte ein »Hört! Hört!« »Wie können Sie es wagen?« Ich marschierte zu ihm und hatte große Lust, einfach die Vorhänge zuzuziehen. »Es ist nicht leicht für uns!« Jeffries ging auf und ab. »Er behauptet ja nicht, daß Miss Theola ihn und mich nicht anständig behandelt hat – wenn sie mal nüchtern war. Aber unsere Loyalität gehört in erster Linie der Mange-Gesellschaft. Oder würde es Ihnen besser gefallen, Ms. Gummibärchen, wenn unser werter Sheriff hier einen von uns verdächtigte?« »Warum nicht?« hörte ich jemanden schreien, und dieser Jemand war ich. »Die Gelegenheit hatten wir alle, und außerdem sind hier einige merkwürdige Dinge vor sich gegangen.« All meine Horrorvisionen erfüllten sich. Eingesperrt in einem dunklen Schlafgemach, während sich Wind und Regen gegen die Fensterscheiben warfen; und der Fremde mit den schwarzen Augenbrauen schleuderte mit Beleidigungen ins Gesicht. »Mein Gott, Ellie!« Ben warf sich rücklings aufs Bett und schlug sich mit den geballten Fäusten an die Stirn. »Gib wenigstens zu, daß es ein vorübergehender Anfall geistiger Umnachtung war, dann kann ich es vielleicht verstehen.« So war er schon seit Stunden. Ich erwartete immer, daß er sich endlich abregen würde, aber er war wie eine Drehorgel, die rund und rund ging – dum-di-dum-di-dum –, so daß das
Geräusch in meinem Kopf selbst dann weiterging, wenn er eine Pause machte, um Luft zu holen. »Zum hundertsten Mal« – ich schaukelte auf einem Stuhl vor und zurück, der gar kein Schaukelstuhl war –, »ich war im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, als ich den Sheriff darauf hinwies, daß er es hier eventuell doch nicht mit einem glasklaren Fall zu tun haben könnte.« »Es überrascht mich nicht, zu sehen, daß du das Essen, das Jeffries gebracht hat, nicht angerührt hast«, sagte er gehässig. Ich faßte an den Hals. »Du meinst, das Ragout könnte vergiftet gewesen sein?« »Großer Gott, nein! Ich rede von Gewissensbissen, Ellie.« »Herzlichen Dank. Ich habe allmählich Schwierigkeiten, den logischen Zusammenhang zu erkennen. Selbst auf das Risiko hin, daß sich einer von uns wiederholt, ich möchte der Ordnung halber noch feststellen, daß ich es nicht bereue, angedeutet zu haben, daß jeder aus der Mange-Truppe das Boot in die Luft gejagt haben könnte. Der Sheriff ist doch kein Dummkopf! Und der einzige, auf den ich direkt mit dem Finger gezeigt habe, bin ich selbst. Denk’ mal nach! Ich habe betont, daß ich mich komisch benommen habe! Zum Beispiel, als ich nach Mud Creek ruderte! Mein Haar in einem irren neuen Stil frisieren ließ! Habe ich nicht auch die grotesken Gelüste eingestanden, die mich dazu veranlaßten, das Bowling-Bankett zu stürmen?« Ben rammte ein Kissen zwischen sich und das Kopfende des Bettes. »Ich soll dir wohl noch dankbar sein, Ellie?« »Ach, bemüh’ dich nicht. Zum Glück bist du nicht handwerklich begabt. Wie könnte ich behaupten, daß du das Boot in die Luft gejagt hast, wo ich doch weiß, daß du schon einen Elektriker brauchst, wenn du nur eine Glühbirne auswechseln willst?«
»Mit deiner charmanten Offenheit hast du lediglich erreicht, daß sich alle übrigen ebenfalls gezwungen sahen, einen Grund zu nennen, weshalb sie die Schuldigen sein könnten. Damit sie nicht wie Mitglieder eines Theola-Faith-Lynchkommandos wirkten.« Ich hielt mit dem Schaukeln inne und schrammte meinen Stuhl herum, um ihn anzusehen. Tränen brannten in meinen Augen. »Ben, ich war richtig stolz auf Miss Rumpson, als sie mit der Information herausrückte, daß sie immer schon am Wasser gelebt hat und sich mit Booten auskennt. Welch ein Schatz! Wenngleich sie eindeutig übers Ziel hinausschoß, als sie mich daran erinnerte, daß sie einmal ihrer Überzeugung Ausdruck verliehen hatte, es könne ein edler und liebevoller Akt sein, einen Menschen friedlich entschlafen zu lassen.« »Der Sheriff muß uns für einen Haufen Irrer gehalten haben. Besonders als Bingo andeutete, mit völlig ernster Miene, Mary habe vielleicht entdeckt, daß er in Wahrheit ein Kleinwüchsiger von fünfundvierzig Jahren sei. Was ihm oder seiner Mutter ein Motiv lieferte. Und dann wies Valicia X auch noch daraufhin, daß sie, Pepys und Jeffries – einzeln oder in Gemeinschaft – Mary Faith beiseite geschafft haben könnten, weil sie über den Spiegel im Medizinschrank Bescheid wußte und ihn dazu benutzt haben könnte, die Mange-Sitzungen auszuspionieren.« Er hatte vergessen, daß ich schwanger war. Er hatte vergessen, daß ich seine Frau war, seine Freundin. Ich wollte aufstehen, doch mir kam eine bessere Idee. »Ich weiß, du meinst, ich hätte die verschwundenen Messer nicht erwähnen sollen, weil Ernestine daraufhin preisgab, daß der Comte kleinere Explosionen in seine Nummern einbaute, woraufhin der Sheriff wiederum fragte, ob wir glaubten, einer der abgereisten Kandidaten könne das Boot in die Luft gejagt haben, um sich
an den Manges zu rächen. Ben, genau danach suchen wir – nach einem Motiv, das nichts mit Theola zu tun hat.« »Ellie, du hast einen Verdacht geweckt, der einfach haarsträubend ist.« »Heute morgen schienst du dir auch noch Sorgen wegen der verschwundenen Browns und wegen der verschwundenen Messer zu machen.« Er nahm ein Kissen und warf es wieder hin. »Natürlich mache ich mir über jede Unregelmäßigkeit in jeder Situation, an der du, meine schwangere Frau, beteiligt bist, Sorgen. Ich habe überreagiert. Vergiß nicht, Henderson Brown war hier unglücklich. Ist es so unwahrscheinlich, daß seine gehorsame Frau einwilligte, mit ihm nach Hause zu fahren?« »Ohne ein Wort des Abschieds?« »Es wäre ihr peinlich gewesen. Was die Messer anbelangt, da wollte uns jemand bloß einen Streich spielen und hat jetzt Angst, es zuzugeben. Besonders, nachdem du das Kriegsbeil ausgegraben hast.« Der Mann war zu weit gegangen. Ich würde nie wieder sein Bett verunzieren. Ich würde nie wieder mit ihm sprechen… nachdem ich gesagt hatte, was mir auf der Seele lag. Ich ging zum Bett hinüber, nahm ein Kissen und zog die Bettdecke ab, bevor ich zum Fenster zurückwich. »Komm mir nicht zu nahe! Du hast deine Wahl getroffen! Die Manges stehen an erster Stelle, vor deiner Frau, deinem Kind – selbst vor deiner Ehre!« »Was?« rief er. »Du meinst also, meine Haltung ist die eines Menschen, der alles toleriert, solange es nicht seine Chancen verringert, ein Mange zu werden! Tja, da liegst du falsch!« Ein Schlag auf den Bettpfosten. »Ich dulde es nicht, wenn meine Frau ihre Nase in die Ermittlungen zu einem Mordfall steckt!« »Du hast mich doch selbst hineingestoßen! Ich wollte nie nach Amerika. Vergiß das nicht!« Ich prallte gegen einen Stuhl und
trat ihn zur Seite. »Welche Chance hat Theola Faith denn noch, wenn alle unbedingt einen Epilog zu Monster Mommy schreiben wollen, damit der Schluß ein richtiger Knaller wird? Ich wünschte, ich könnte es dir begreiflich machen, aber wie soll ich das, wenn ich möglicherweise selbst ganz anders denken würde, wenn ich nicht unser Kind unter dem Herzen trüge.« Der Regen hatte sich verändert, er war sanfter geworden… »Ellie!« Seine Hand berührte meinen Arm, aber ich konnte ihn wegen der Tränen nicht sehen. »Ich muß für sie kämpfen. Theola Faith mag eine Trinkerin sein, sie mag alle möglichen scheußlichen Dinge getan haben, aber das hier hat sie nicht getan. Gestern abend, kurz bevor sie ging, fragte sie: ›Sagen Sie, wie geht es Mary?‹ Und ich hörte so etwas wie Liebe in ihrer Stimme.« Er antwortete nicht, weil ein Schrei ertönte. Und dieser hier hörte sich anders an als Jeffries Urschreie. Was spielte es in solch einem Moment für eine Rolle, daß unsere Ehe in kleine Stücke zersplitterte wie Marys Boot? Ich wies Bens Vorschlag, im Zimmer zu bleiben, während er losmarschierte, um Nachforschungen anzustellen, zurück. Die Tage, als ich geglaubt hatte, eine Schwangerschaft berechtige zu einer neunmonatigen Gratis-Mitgliedschaft in einem Faulheitsklub, gehörten schon lange der Vergangenheit an. Als wir auf den Flur hinauskamen, sahen wir Ernestine in unsere Richtung eilen, mit einer Hand raffte sie den Rock ihres maisfarbenen Jerseynachthemds zusammen, mit der anderen hielt sie ein langes, häßliches Messer umklammert, daß unerquicklicherweise wie eines jener Exemplare aussah, die bislang als verschwunden gegolten hatten. »Bingo, Mommy kommt schon! O Gott! Du weißt wirklich, wie man eine Mutter vor Sorge um den Verstand bringt!« Ihr Gesicht war grau vor Panik. Getrieben von mütterlicher Furcht,
stieß sie die Tür zum Bad auf. Ben und ich waren im Begriff, ihr zu folgen… als wir sahen, daß Valicia X, Pepys und Jeffries sich vor einem der Zimmer dem Bad gegenüber drängten. Es war das Zimmer von Marjorie Rumpson. Über Jeffries Schulter hinweg sah ich das offene Fenster, die hereinwehenden durchnäßten Vorhänge und einen Nässefleck auf dem Fußboden, wo der Regen eingedrungen war. Ein Blitz zuckte am Himmel auf; der Donner übertönte meinen Schrei des Entsetzens. »Marjorie!« schrie ich immer wieder. So groß war meine Angst, daß ich diese liebenswerte Frau dazu getrieben zu haben, sich aus dem Fenster zu stürzen, indem ich mich zum Anwalt von Theola Faith machte, daß ich ohne Rücksicht auf Bens Gefühle Valicia X zur Seite stieß. Hatte Marjorie womöglich ernsthaft geglaubt, daß man sie verdächtigte, und die Wirkung gefürchtet, die ihre Verhaftung auf ihre alte Mutter haben würde? Niemals, schwor ich mir, würde ich meinem Kind auch nur einen Augenblick Kummer bereiten. Als ich vor Ben in das Zimmer hineinrannte, sah ich Marjorie am Boden liegen, ein abgefallenes Blatt wehte über ihr Gesicht. Ob sie gelitten hatte, ob es viel Blut gab? Würde ich mir das jemals verzeihen können? Ich fiel fast in Ohnmacht, als Pepys zur Seite trat und ich sie sah – das Gesicht kreidebleich und in ihrem blauweiß gestreiften Pyjama am ganzen Körper zitternd. Aber lebendig! Valicia X, eine Vision in Nylon und Spitze, und Jeffries, deren Kopf wegen der Lockenwickler ganz knubbelig aussah, hielten Marjorie, als sie bibbernd den Finger ausstreckte und krächzte: »Da ist jemand unter meinem Bett!«
Draußen trug der Wind immer noch ziemlich dick auf, er schrie lauter als eine gequälte Seele, während der Regen wie Zähneklappern klang. Drinnen war es, als schwenke jemand eine Taschenlampe, aber eine, die eher Dunkelheit aussandte als Lichtstrahlen. Ich fröstelte unter meiner Daunendecke, mein Bein berührte etwas, das sich anfühlte wie… ein Männerbein, und… seltsamerweise klopfte mein Herz langsamer. In der Schattenwelt zwischen Wachen und Schlafen wußte ich, daß Mr. Alptraum, entschlossen, mich seinen Klauen nicht entwischen zu lassen, mir gefolgt war und seinen schwarzen Mantel ausbreitete. Doch ich wußte auch, daß er nicht mehr lange bleiben konnte. Das Tageslicht würde kommen und ihn zu Staub zerfallen lassen, und überhaupt spielte es keine Rolle. Ich befand mich in Sicherheit, weil nämlich meine Mutter hereingekommen war. Ein herrlich warmes Gefühl hüllte mich ein. Aber gleich darauf wurde ich zornig. Warum ging sie nicht von der Tür weg? Warum blieb sie so dunkel und still dort stehen? Warum konnte ich ihr Gesicht nicht sehen? »Ich hoffe doch, daß ich dich nicht von einer wichtigen Sache abhalte.« Meine Stimme klang genervt und verbraucht und furchtbar alt – mindestens wie dreißig. »Fühl dich wie zu Hause, Mum! Üb’ ruhig deine Beinschwünge, während du hier bist! Ich will ja nicht, daß du meinetwegen schlaff wirst und deine Form verlierst. Ich mag es, wenn die Leute sagen: ›Ist deine Mutter nicht geradezu mager? Wie bist du denn ein solcher Pummel geworden?‹ Aber achte nicht auf mein kleinliches Gemecker, ich muß dir von meinem scheußlichen
Traum erzählen. Ich war erwachsen und mit diesem entsetzlich attraktiven Mann verheiratet, die Sorte, die ewig skeptisch eine dunkle Braue hebt. Wir hielten uns mit den eigenartigsten Leuten, die man sich denken kann, in einem Haus namens Mendenhall auf. Dann passierte ein Mord, was längst nicht soviel Spaß machte, wie ich dachte, denn einige Leute wollten, daß ich mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmerte. Mitten in der Nacht erscholl dieser grauenhafte Schrei. Im Korridor war eine Frau mit einem Messer – mit dem sie sich schützen wollte. So sagte sie jedenfalls! Wir rannten alle in das Zimmer dieser Dame. Sie war sehr groß und zottelig. Genau so, wie ich mir immer eine Großmutter vorgestellt habe. Und sie war total verängstigt, weil sie dachte, da sei ein Mann unter ihrem Bett; und fast ebenso verängstigt, weil vielleicht doch keiner da war – nachdem sie Alarm geschlagen hatte. Und dann, wer sollte wohl anderes darunter hervorkrabbeln als ein dickes Wunderkind namens Bongo… Nein, Bingo! Mit einer vertrackten Geschichte, wie er nach unten gegangen und fast in einen Geist gelaufen – oder durch ihn hindurchgelaufen – wäre, den er angeblich schon einmal gesehen hatte. Als er sah, daß Miss Rumpsons Tür offenstand, war er angeblich in ihr Zimmer gestürzt, um sich in Sicherheit zu bringen. Aber, Mutter, es war irgendwie verdächtig, wie er allen dabei so offen in die Augen schaute. Oh, ich meine nicht, daß er das mit dem Geist nur vorgeschwindelt hatte. Das Dickerchen war selbst so weiß wie… ein Geist. Doch irgend etwas verheimlichte er. Ich glaube nicht, daß er sein Zimmer verließ, um sich etwas zu trinken zu holen – ebensowenig wie seine Mutter glaubte, daß Miss Rumpson ihr Zimmer verlassen hatte, um ins Bad zu gehen. Mutter!« Ich versuchte, mir mein Stirnrunzeln nicht an der Stimme anmerken zu lassen. »Ich wäre dir sehr zu Dank verpflichtet, wenn du mir höflicherweise antworten könntest. Was muß ich tun, um dein Interesse zu
wecken? Sag’ mir, was du davon hältst, daß das aufblasbare Boot verschwunden ist, das war es nämlich, was am Bootshaus anders war und mir gleich auffiel – ohne daß es mir richtig bewußt wurde. Und von Pepys’ und Jeffries’ widersprüchlichem Verhalten? Ich dachte, Pepys himmele Theola Faith an, und Jeffries ließ gestern abend Anzeichen einer widerwilligen Zuneigung erkennen, und doch haben sie sie dem Sheriff zum Fraß vorgeworfen…« Sie antwortete nicht… weil sie nicht da war. Die Gestalt, zu der ich sprach, war ein schwarzseidener Morgenmantel, der an der Tür hing. Der Morgen war in das Zimmer eingefallen und hatte die Schatten unter den Kleiderschrank und in den Kamin vertrieben, wo sie sich verstecken würden, bis die Nacht zurückkam. Ich wußte, wer ich war und wo ich war – und daß dies der erste Tag vom Ende meiner Ehe war! »Guten Morgen, Ellie.« Ben setzte sich auf. »Guten Morgen, Mr. Haskell.« Wenn ich schon wie das Kammermädchen angesprochen wurde, das dem Herrn persönlich das Bett gewärmt hatte, anstelle des gebräuchlichen heißen Ziegelsteins, wollte ich auch entsprechend antworten. »Liebes.« Er stolperte aus dem Bett und schüttelte den Kopf. »Wie geht noch mal dieses alte Sprichwort – lass’ nie die Sonne über deinem Zorn aufgehen?« »So etwas ähnlich Dummes.« Er zerrte an seinem Pyjamaoberteil und vergaß, daß dieses Exemplar nicht mit Druckknöpfen geschlossen wurde. Knöpfe flogen, einer traf fast mein Auge. »Netter Versuch«, sagte ich. »Ellie!« Wobei er sich auf die nackte Brust klopfte und vermutlich erwartete, daß ich übers Bett kroch, seine Hand nahm und sie mit reuigen Küssen bedeckte. »Ich denke nach wie vor, daß du dich gestern abend falsch verhalten hast, aber
ich bin auch bereit, zu glauben, daß du eher aus einem fehlgeleiteten Sinn für… Ritterlichkeit gehandelt hast als aus…« »Ausgesprochener Bosheit?« »Ich wollte sagen Torheit.« »Meinen freundlichsten Dank.« Worauf ich mit großem Vergnügen zusah, wie er den Deckel des weißen Koffers aufklappte und alles durchwühlte. Die Intuition einer Ehefrau sagte mir, daß er nach seinem silbergrauen Hemd suchte. Aber wieso sollte ich ihm sagen, daß es in dem blauen Koffer war? »Ben«, sagte ich, »ich habe lange nachgedacht, während ich schlief, und das Ergebnis ist, ich bin erschöpft. Deshalb bleibe ich mit deiner Erlaubnis heute morgen im Bett.« Da hatte ich doch tatsächlich auf einen Panikknopf gedrückt! Seine Augen wurden neongrün, und die Knitterfalten in seinem Gesicht konkurrierten mit denen in dem Hemd, das er umklammert hielt. »Was ist los?« Er griff nach meiner Hand, und einen Augenblick dachte ich, er wollte sie mit Küssen bedecken, aber – Mist, er fühlte meinen Puls. »Gestern sagtest du, es sei keine Morgenübelkeit gewesen. Ist es etwas Neues? Hast du Schmerzen?« »Dem Baby geht es gut«, informierte ich die Wand. »Aber mir behagt eben der Gedanke, mit einem guten Buch noch im Bett zu bleiben.« Mein Blick mied das Exemplar von Monster Mommy auf dem Nachtschrank. »Ellie.« Er baute sich vor mir auf wie Dr. Haskell bei der Visite. »Du kannst dich nicht ewig hier verkriechen.« »Ein Morgen – na gut, machen wir zwei daraus – ist kein ganzes Leben. Ich habe das große Finale heute abend nicht vergessen. Ms. X erwähnte ein formelles Abendessen, ich kann mir denken, daß hinterher – während wir am Tisch unseren Brandy trinken und unsere Zigarren rauchen – verkündet wird,
wer denn nun auserwählt worden ist, sich zukünftig Mange schimpfen zu dürfen.« »Meine Liebe, ich verfüge nicht über die Freiheit, darüber zu sprechen…« »Gott bewahre!« Ich sank in die Kissen zurück, alles Leben war aus mir gewichen. Keiner von uns beiden würde jemals sicher wissen, ob ich die Schuldige war, sollte nicht sein Name von einer Trompetenfanfare begleitet verkündet werden. Bei der Ankunft in diesem Haus war mir bewußt gewesen, daß ich mich wie die Gemahlin eines Mange würde verhalten müssen. Und ich hatte einen Schnitzer nach dem anderen gemacht. Gestern abend war es noch leichter für mein Ego gewesen. Gestern nacht hatte ich noch richtig von falsch unterscheiden können. Ich hatte recht gehabt. Ben hatte unrecht. Jetzt hingegen wußte ich nur noch, daß ich nicht wollte, daß mir jemand das Frühstück ans Bett brachte. »Geh du nur zu deiner Sitzung!« Ich drehte die Wange weg, so daß sein Kuß von meinem Gesicht abrutschte. »Mach’ dir um mich keine Sorgen. Ich komme nach unten gezockelt, sobald die Luft rein i-« Die Erinnerung an die Küstenwache blubberte an die Oberfläche. War das grausige Geschäft, den Fluß zu durchkämmen, beendet? Wie lange würde es dauern, bis der Sheriff die Nachricht von Marys furchtbarem Schicksal brachte? Würde man uns erlauben, heute abend oder morgen früh abzureisen? Mary Faith… alles führte zu ihr zurück. Ein letzter inniger Blick und Ben war verschwunden. Ich war allein in einem Zimmer, in dem ich mich nicht allein fühlte. Ich mochte es nicht, wie die Möbel mich ansahen. Was würde ich um die tröstliche Wärme von Tobias geben! Sogar eine Taube würde schon reichen. Zu nervös, um zu schlafen, zu deprimiert, um aufzustehen, schüttelte ich mein Kissen auf – mit dem Ergebnis, daß sich die Federn in einer Ecke
zusammenklumpten. Und da machte sich meine Hand auch schon selbständig – sie griff nach Monster Mommy. Wollte ich mich selbst bestrafen oder mit Mary reden – ein letztes Mal? Ich schlug die letzte Seite auf und las: Und so, Mommy, lasse ich dich im dunklen Schatten des Berges deiner Missetaten stehen, während ich selbst ins Tal der Sonne schreite. Glaub’ mir, ich hasse dich nicht. Vorbei sind die Zeiten, als ich mitten in der Nacht mit diesem Kummer und dieser Leere in mir aufwachte, weil du mir nie Schokoladenkekse gebacken hast. Die Frau, zu der ich geworden bin, hat sich inzwischen mit der Wut und ihrem Begleiter, dem Mitleid, angefreundet. Solange du dich im Morast der Ausflüchte verschanzt hältst, werden wir uns nicht wiedersehen, aber sollte der Tag kommen, an dem du dich tief in deine Seele versenkst und dort die Worte Baby, vergib mir! findest, werden meine Tür und meine Arme weit für dich geöffnet sein. O Mann! Bei sämtlichen Fallstricken der Mutterschaft. Ich werde mir die Finger geradezu wundbacken. Zu jeder Mahlzeit werde ich frisch gemolkene Milch servieren, ich werde mich meinem Kind niemals ohne Make-up präsentieren oder mit unordentlichem Haar, mit unlackierten Zehennägeln. Das Kinderzimmer werde ich nie betreten, ohne vorher anzuklopfen… Und ich werde an Erschöpfung sterben, während ich versuche, diese Ideale aufrechtzuerhalten. Ich warf Monster Mommy hin und griff nach Elternschaft zum Vergnügen. Kapitel sieben, wie ich mich richtig erinnert hatte, setzte sich in der Hauptsache mit den Gefahren auseinander, wenn man versuchte, die Big Mami zu spielen. Ebenso mußte ich aufhören, mich auf Mary zu fixieren. Es war nicht gut für das Baby, wenn ich mich so aufwühlen ließ. Das arme süße Ding mußte sich ja vorkommen, als lebe es in einem Whirlpool. Oh, Mist! Es ging schon wieder los. Um mich von
der grausigen Vorstellung des durch mütterliches Fehlverhalten mißratenen Kindes abzulenken, fing ich an, ein Schlaflied zu singen. Ich singe fürchterlich, aber meiner Mutter ging es genauso – und ich liebte ihr Lied von der Schnake, die sich an Löwenzahnwein betrank. Wenn mir nur die Worte einfallen würden… doch Mutter hatte sie einfach beim Singen erfunden. Sie tanzte den Part des Helden, während mein Vater daherwatschelte wie der aufgebrachte Kellner und eine unsichtbare Schöpfkelle schwenkte… Einige gefaltete Blätter fielen aus Elternschaft zum Vergnügen heraus. Was hatten wir denn hier? Ach ja! Der Brief von Primrose Tramwell. Den ich an jenem Tag erhalten hatte, als Ben von den Manges hörte, am selben Tag, als sie und Hyacinth ihren Überraschungsbesuch machten, um mir die Nachricht von der schwarzen Wolke zu überbringen. Jetzt konnte ich mich kaum noch erinnern, was die geheimnisvolle Chantal gesagt hatte… irgendein vages Blabla, ich würde die Antwort in mir selbst finden. Hatte ich meine gegenwärtige Kraftlosigkeit dem lächerlichen Aberglauben zu verdanken, daß die Tragödie der letzten Nacht vorherbestimmt war? Ein Haus, von Wasser umgeben – wie gut das sowohl auf Merlins Schloß als auch auf Mendenhall und Hunderte anderer Häuser paßte! Was die Worte Feuer und Schwefel und in Schatten getaucht betraf, mußte ich an die Kleider in Nelga’s Fashions denken. Eine Größe für alle. Liebe Primrose und Hyacinth! Da sie schon angesichts meiner Schwangerschaft Zuflucht zum Riechsalzfläschchen genommen hatten, gerieten sie regelrecht in Panik, als Chantal mit ihrer Vision aufwartete. Und ich mit meinem Wunsch, verhätschelt zu werden, drückte das Entsetzen an meine Brust und rief weh über mich! Schluß damit. Nicht die schwarze Wolke hatte das Kajütboot in die Luft gejagt, und ich war weder hilflos noch hoffnungslos, wenn auch nicht tapfer genug, um nicht theoretisch einen Schluck
des Kräutermittels willkommen zu heißen, dessen Rezept Primrose beigefügt hatte: die verschiedenen Kräuter in gutes Ale eingelegt und in der Mittagssonne gezogen. Ich schlug das Bettzeug zurück und setzte die Füße fest auf den Boden – auf meinen selbstgewählten Weg. In diesem Haus stimmte etwas nicht, ganz und gar nicht, und ich wußte auch, was es war. Glauben Sie mir, die Vorstellung, ein Schnüffler oder eine Petze zu sein, gefiel mir nicht, aber ich mußte zumindest die verschwundenen Messer finden. Selbst wenn sie jemand nur als Gag entwendet hatte – durch die Schatten von Villa Melancholie dazu getrieben –, sollte die Sache aufgeklärt werden. Was die gräßliche Möglichkeit betraf, daß unsere abgereisten Mitglieder einen ehrfurchtsvolleren Namen zu tragen verdienten – zum Beispiel die betrauerten Dahingeschiedenen –, dachte ich nur… daß die Wahrheit uns schon alle entlasten würde. Das heißt, alle bis auf den Mörder von Mary Faith. Ich zog schnell meinen Morgenmantel über den Kopf und sah dabei kurz in den Spiegel. Warum lagert sich Kummer bei mir immer an der Taille ab? War das meine Strafe, weil ich gestern abend nichts gegessen hatte? Weitere fünf Pfund. Himmel hilf, in dem grünen Samt mit dem Spitzenkragen ähnelte ich einer viktorianischen Matrone, die ein Gesäßpolster trug, allerdings falsch herum. Sobald ich nach Hause kam – sollte sich dieser Freudentag jemals einstellen –, würde ich Dr. Melrose mitteilen, daß ich die Meinung eines zweiten Arztes zum voraussichtlichen Termin der Niederkunft einholen wollte. »Nur Mut!« Leider wollte mir das Gesicht im Spiegel nicht in die Augen schauen. Als ich mich ins Bad begab, die rosa Kulturtasche in der Hand, traf ich niemanden en mute. Dort angekommen, war ich allerdings nicht in Versuchung, länger an diesem Ort zu verweilen als nötig. Das warme Seifenwasser konnte die
Erinnerung an jene auf die Kacheln gekritzelten Worte nicht wegwaschen: DIESES HAUS WIRD DICH NOCH KRIEGEN. Und hinterher, als ich mir das Haar bürstete und es zu einem Knoten zusammensteckte, verspürte ich auch nicht den Wunsch, mittels des Medizinschranks zu spionieren. Er war ohnehin zu klein, um als Versteck für die Messer in Frage zu kommen. Mach zu, Ellie! In eines meiner neuen Umstandsoutfits gehüllt – graue Hose und ein Oberteil, mit dem Wort BABY und einem nach unten zeigenden Pfeil bestickt (weshalb ich Angst hatte, mich zu bücken) –, stand ich unschlüssig in der Tür zum Schlafzimmer. Sollte ich reingehen und das Bett machen? Nein, ich würde mich einer Aufgabe widmen, die jetzt wichtiger war. Ich schlich zum Geländer und spähte in die sonnendurchflutete Tiefe. Alles ruhig an der Hallenfront. Keine verdächtigen Schatten. Der Tod hatte keine Veränderung bewirkt. Die letzte Mange-Sitzung hatte wohl schon begonnen, aber ich konnte nicht sicher sein, daß auch Pepys und Jeffries daran teilnahmen. Was Ernestine betraf, hoffte ich, daß sie ein ausgiebiges Frühstück hielt, doch zur Sicherheit würde ich klopfen, bevor ich ihr Zimmer betrat. Da es unmöglich war, das gesamte Haus zu durchsuchen, mußte ich darauf vertrauen, daß, wer auch immer die Messer genommen hatte, sie in seinem oder ihrem Schlafzimmer versteckt hatte. Wäre ich die Übeltäterin, hätte ich gleich an das lose Dielenbrett in meinem Zimmer gedacht. Nein, das war in Merlins Schloß, nicht hier. Aber halt… ich hatte in diesem Haus doch bestimmt in irgendeinem Zimmer dasselbe verräterische Knarren gehört? Auf halbem Weg den Korridor hinunter blieb ich plötzlich stehen, als habe mich jemand am Zügel zurückgerissen. Aber nicht, weil mir eine plötzliche Idee gekommen wäre. Der Grund für das laute Pochen meines Herzens war Marjorie
Rumpsons Tür – die offenstand, einen winzigen Spalt. Ich war ganz sicher, daß sie vorhin, als ich zu meinem Zimmer zurückging, noch geschlossen gewesen war. Bestimmt hatte nur das finsterste Motiv Marjorie von der Sitzung weggelockt! Ich staunte, daß man ihr erlaubt hatte, sich zurückzuziehen, es sei denn – ich schlich auf Zehenspitzen weiter –, man hatte sie als untauglich befunden. Ich keuchte. Mein verflixter Ellbogen hatte die Tür erwischt, sie ein Stück nach innen aufgestoßen und dadurch fast Ernestine Hoffman zu Fall gebracht. Sie hatte die Schublade des Nachtschranks aufgezogen und hielt einen funkelnden Satz Messer in den Händen. »Na, was haben wir denn da?« Weit entfernt davon, Harakiri begehen zu wollen, kochte die Mutter des Wunderkinds vor selbstgerechtem Zorn. »Das liebe alte Mädchen! Wer hätte das gedacht!« »Wollen Sie etwa behaupten, Miss Rumpson ist die Mö…. die Messer-Person?« Ich wich vor den glitzernden Klingen zurück und schloß die Tür. »Und daß Sie nur hier sind, um zu schnüffeln?« »Sie glauben doch nicht etwa, ich wollte die Beweisstücke in ihre Schublade schmuggeln?« Unmöglich. Ernestines Puddingschüssel-Haar und ihr Kleid mit den Pyjamastreifen bezeugten ihre Respektabilität. Auf dem Frisiertisch lag Marjories schwarzer Hut mit der großen Schleife, den sie bei ihrer Ankunft auf Mendenhall trug, nachdem sie unerschrocken in Unterwäsche den Fluß durchschwömmen hatte. Auf dem fraglichen Nachtschrank lagen eine Paperback-Ausgabe von Die Geiselbraut und ein Loseblatt-Notizbuch mit dem handgeschriebenen Titel Meine fünfhundert liebsten Liebestränke. Mary war nicht die einzige Schriftstellerin in diesem Haus.
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll.« Ernestine hatte auch schon gestern abend ein Messer in den Händen gehalten, doch das hatte sie vielleicht im roten Zimmer gefunden, falls es denn dasjenige war, mit dem der Anschlag auf Cat Cadaver durchgeführt worden war… welches wiederum dasselbe Messer gewesen sein konnte, mit dem man das preisgekrönte Rezept von Comte Vincent an sein Kissen gebohrt hatte, oder auch nicht. Erschöpft lehnte ich mich an die Tür. Das da an der kleinsten der drei Klingen war doch Rost, oder nicht? Nicht einmal ein Wahnsinniger mit Köpfchen würde benutzte Waffen weglegen, ohne zuvor schnell mit einem Taschentuch oder einem Hemdzipfel darüberzuwischen. Oder würde er – sie doch? In meinem Kopf schrie es, ich solle endlich aufhören. Denk’ nicht an die verschwundenen Groggs, die abwesenden Browns oder die bei Nacht und Nebel abgereisten Comte und Comtesse. Sag’ immer schön ein Wort nach dem anderen. Ich wollte Ernestine eigentlich fragen, ob sie einen besonderen Grund gehabt hatte, Marjorie zu verdächtigen oder ob sie auch schon andere Zimmer durchsucht hatte, doch es kam etwas ganz anderes heraus. »Das haben Sie schon mal gemacht, nicht wahr?« »Was wollen Sie damit sagen?« »Oh, ich meine nicht die Messer«, versicherte ich. »Ich bin sicher, wenn Sie sie nicht nur gefunden, sondern auch etwras damit angefangen haben, waren Sie so klug, Handschuhe dabei zu benutzen oder sie in irgend etwas einzuwickeln.« »Fingerabdrücke!« Ihre Stimme wurde schrill, und die Messer fielen klappernd aufs Bett. »Ich hätte nie gedacht, daß ich…« »Wie sollten Sie auch? Sie sind ja nicht in der Hoffnung hergekommen, zu beweisen – oder zu widerlegen –, daß Marjorie Rumpson eine Kriminelle ist. Sie wollten nur etwas – irgend etwas – finden, wodurch sie als Mange aus dem Rennen geworfen würde.«
»Sie haben ja vielleicht Nerven!« Ernestine hatte sich wieder gefangen. »Und ich dachte, ich tue Ihnen einen Gefallen, indem ich Ihren verrückten Beschuldigungen nachgehe, daß sich hier mehr abspielt, als daß Mary Faith in tausend Stücke gerissen wurde! Zu Ihrer Information, junge Dame, Marjorie Rumpson habe ich schon seit gestern abend in Verdacht, als sie mich glauben machen wollte, sie hätte das Verschwinden der Browns aufgeklärt. Sie sagte, sie hätte dieses Buch da gelesen« – sie zeigte auf Die Geiselbraut – »und sie hätte Henderson Brown damit gesehen. So eine dumme Geschichte über einen Mann, der seine eigene Frau kidnappt – « »Ja!« Ich hatte Mühe, mit den Füßen auf dem Teppich zu bleiben. Ich war ganz aufgedreht vor Begeisterung. »Das ist es, garantiert! Henderson spielte den Geheimnisvollen! Er hatte den Titel auf den Spiegel geschrieben. Der verwischte Teil mit dem b war – braut! Vermutlich hat er Lois über seine Schulter geworfen und ist mit ihr in die Nacht hinausgefahren, auf der Neil Gzuynn.« »Wie -?« »Und Lois gab die Welt der Manges um der Liebe willen wohl gern verloren. Sie sehnte sich nach Romantik mit ihrem so nüchternen Liebhaber.« »Erfinden Sie ruhig Märchen.« Ernestines plumpes Gesicht glich so sehr dem ihres Sohnes. »Mein Frank sagt immer zu mir, ich habe einen überstarken Sinn für Verantwortung, weil ich sehr früh in die Pubertät kam.« »Oh, durchaus!« hörte ich mich selbst sagen. »Ihr Eifer als Bingos Mum hat sie neulich auch dazu gebracht, in meinem Schlafzimmer herumzuschnüffeln. Solange sah Sie herauskommen. Einige Dinge lagen anders… ein Paperback. Und an einer Tasche war der Reißverschluß zugezogen. Eine Tasche, die einen Brief meiner Schwiegermutter enthielt.«
»Und?« Sie ließ sich aufs Bett fallen und sprang gleich wieder hoch – entweder hatten die Gewissensbisse oder eines der Messer sie gepiekst. »Auf diese Weise erfuhren Sie, daß Ben für Eligibility Escorts gearbeitet hatte. Indem Sie den Brief seiner Mutter lasen. Irgendwie glaube ich nicht, daß Bingo es ausgeplaudert hätte, falls diese Information auf einer der Sitzungen zur Sprache kam.« »Nein, so etwas würde er nie tun!« Ernestines Gesicht hatte die porridgegraue Farbe der Tapete angenommen. »Und Sie sollten Ihren häßlichen Verdacht lieber nicht meinem kleinen Jungen gegenüber erwähnen. Sie können nämlich nichts beweisen.« »Da haben Sie recht. Es ist nur eine Vermutung, daß Sie gleich von Ihrem allerersten Abend an in diesem Haus die Konkurrenz sondierten – und daß Sie nur so taten, als hätten Sie im Bad festgesessen, als Sie und Solange sich auf die Suche nach der Ursache für jenen mysteriösen Schrei machten. Niemand sonst hat sich darüber beschwert, daß die Tür klemmte. Mir ist es auch nicht passiert.« »Nichts von alledem«, Ernestine befeuchtete ihre Lippen, »ändert etwas an der Tatsache, daß Marjorie Rumpson diese Messer in ihrer Schublade versteckt hat.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß Sie es getan hat. Ich glaube, Ihr Bingo hat sie dort hineingelegt.« Die Worte entschlüpften mir einfach so. Hinterher dachte ich an Chantal und an solche Psycho-Dinge wie Transferenz und Channeling. Aber nur flüchtig, wohlgemerkt. All diese Dinge waren dummes Zeug. Mein Unterbewußtsein mochte vielleicht zugeschlagen haben, aber nicht das Übernatürliche. »Ich nehme an, er versteckte sie zunächst in seinem Zimmer – wer weiß? –, vielleicht unter einem losen Dielenbrett. Und als die Entwicklung sich gestern abend zuspitzte, beschloß er, einen besseren Ort zu suchen.« Kein Grund zu erwähnen, daß
er seinen Vorrat an Leckereien ebenfalls an einem günstigeren – höher gelegenen – Ort, im Vogelnest, zu deponieren versucht hatte. »Ich an seiner Stelle hätte wahrscheinlich probiert sie wieder ins Speisezimmer zu schmuggeln, in eine Schublade zu legen oder hinter die Vorhänge zu stecken. Auf jeden Fall hätte ich einen Ort gewählt, durch den der Vorfall als unbedeutend abgetan worden wäre. Meine Vermutung ist, daß Bingo dann gestern abend tatsächlich nach unten gehen wollte und daß er jemanden sah. Einen Geist vielleicht.« »Noch so einen Schelm?« Sie schleuderte mir ein wütendes Lächeln entgegen. »Ich weiß es nicht«, gab ich zu. »Vielleicht hat er sich auch nur vor einem Schatten gefürchtet. Oder hat er den Geist nur erfunden? An unserem ersten Abend hier, als Jeffries mit ihrem Urschrei das ganze Haus aufweckte, traf ich Bingo im Korridor, und er hatte ein Handtuch dabei.« »Er ist ein sehr sauberes Kind!« »Er ist ein sehr schlaues Kind. Indem er mir erzählte, er habe gerade den Geist der Dame auf dem Porträt gesehen, hielt er mich davon ab, mich zu fragen, wieso er mitten in der Nacht ein Bad nahm.« »Entscheiden Sie sich! Führte Bingo etwas im Schilde oder hatte er nur etwas im Handtuch versteckt?« Ernestine baute sich durch ihren Sarkasmus auf. Ich spürte, wie ich selbst an Schwung verlor. Das gefiel mir ganz und gar nicht. Ich hielt sie nicht für eine böse Frau. Sie hatte nur das übersteigerte Bedürfnis, durch ihren Sohn ihren eigenen Ehrgeiz zu stillen. So wie andere Leute etwa über eine krankhaft gesteigerte Schilddrüsenfunktion verfügen. »Meine Vermutung ist, daß er es war, der das Rezept des Comte auf das Kissen spießte, weil er sich einen Spaß machen wollte, vielleicht hatte er aber dabei auch noch einen neuen Streich im Sinn.« Ich wollte es jetzt unbedingt hinter mich
bringen, deshalb fügte ich hinzu: »Noch mal zurück zu letzter Nacht, Bingo ging dann doch nicht nach unten, weil die Luft nicht rein war. Er sah oder hörte jemanden. Ob der Anblick von – sagen wir Pepys oder Jeffries – ihn auch abgeschreckt hätte, wenn sein Vorhaben so harmlos gewesen wäre wie beispielsweise einen Keks zu stibitzen? Wie die Dinge standen, muß er gedacht haben, das Schicksal präsentiere ihm eine zweite Chance, als er Marjorie Rumpson offene Tür sah. Was konnte einfacher sein, als sich hineinzuschleichen und die Schublade des Nachtschranks aufzuziehen? Dann der Schreck, daß die Tür zum Bad direkt gegenüber offenstand. Nur noch Zeit, um unters Bett zu kriechen. Kein Wunder, daß er einen Hustenanfall bekam.« »Kaum zu glauben« – Ernestine umklammerte so fest den Bettpfosten, daß ihre Knöchel weiß wurden -»daß ich Sie einmal gemocht habe. Am ersten Abend haben wir uns richtig amüsiert, wir und die Französin, fast wie auf einer Party unter Freunden. Wissen Sie, ich vergaß dabei beinahe, daß ich um Bingos willen hier bin. Habe ich nicht dabei mitgeholfen, Miss Rumpson einzuschmuggeln? Ich dachte, warum kann das Leben nicht öfter so sein – so lebendig und fröhlich. Doch am Morgen hatte ich wieder einen klaren Kopf. Ich erkannte, daß Bingo keine faire Chance bekommen würde. Da war Ms. X, die Ihren Ehemann mit den Augen verschlang, der Comte mit seinen Tricks und Mrs. Brown und Miss Rumpson, die jeden Augenblick Sexismus am Werk! schreien könnten. Wie wär’s damit, um Ihren Tag zu retten? Ich dachte sogar, Gott würde mich eines Tages dafür bestrafen, daß ich Ihr Zimmer und das der anderen durchsuchte, als Bingo verschwunden war!« »Aber heute morgen fiel Ihnen ein, daß sie vergessen hatten, auch Miss Rumpson zu überprüfen?« »Na schön! Ich dachte – endlich finde ich etwas, das ich verwenden kann.« Ernestine sank aufs Bett und hielt sich am
Bettpfosten fest, als fahre sie auf einem Karussell. Sie wirkte wie betäubt. Meine Anschuldigungen gegen Bingo hielt sie für wahr. Mütterlicher Instinkt. Da ich mich selbst auch nicht besonders toll fühlte, setzte ich mich neben sie. Nach kurzer Zeit fuhr sie fort: »Ich wäre ja nie auf den Gedanken gekommen, daß Miss Rumpson etwas Böses mit den Messern anstellen wollte. Ich weiß auch nicht, was ich dachte – nur, daß sie ein bißchen irre ist, nehme ich an.« »Ernestine, Bingo ist kein wahnsinniger Mörder. Er erinnert mich daran, wie ich in seinem Alter war. Ich war die sprichwörtliche Dicke der Klasse. Selbst im Vatikan hätte ich mich um Mitternacht über den Kühlschrank hergemacht. Und ich kann mir auch gut solche Streiche vorstellen, wie unheimliche Botschaften an Wänden zu schreiben und Messer zu klauen, um allen Anwesenden das blanke Entsetzen in die Glieder zu treiben und sie hoffnungslos einzuschüchtern, wenn plötzlich ein Mord geschieht.« Sie rang sich ein Lachen ab. »Vielen Dank, daß Sie meinen Jungen nicht in Verdacht haben, unsere verschwundenen Bewerber zerhackt und im Keller vergraben zu haben.« »Aber Sie glauben… den Rest?« »So ist eben eine Mutter«, sprach Ernestine leise mit vor Stolz geröteten Wangen. »Ist doch das leichteste von der Welt, das Allerbeste von unseren Kids anzunehmen, und das Allerschlimmste. Jetzt muß ich allerdings noch herausfinden, weshalb das kleine Monster die Messer genommen hat.« Sie blieb auf dem Bett sitzen, als ich aufstand. Hoffte sie, daß Marjorie Rumpson hereinkam und sie so gezwungen wäre, ein Geständnis abzulegen? An der Tür drehte ich mich um und streckte die Hand aus. »Geben Sie mir die Dinger. Keine Sorge. Solange die Sitzung im Gange ist, müßte es eigentlich ein Kinderspiel sein, sie ins Speisezimmer zurückzubringen.«
»Nein, auf gar keinen Fall! Das kann ich nicht zulassen!« Ganz Märtyrerin, die sich selbst opfern will, traf Ernestine Anstalten, sich auf die Messer plumpsen zu lassen, doch ich war zu schnell für sie. Sie hatte ja keine Ahnung, daß hinter meiner rechtschaffenen Fassade eine Schnüfflerkollegin lauerte. Meine Eltern hatten eine Person aufgezogen, die sich einfach in alles und jedes einmischt. Onkel Merlin hatte mir das bei jenem ersten Besuch auf den Kopf zugesagt, als ich ihm auftrug, er solle in die Kirche gehen, heiraten und mir in seinem Testament etwas Geld hinterlassen. Ich weiß, es war nicht meine Sache, die Messer zurückzubringen. Hätte Gott die Polizei erfunden, wenn er wollte, daß Leute wie ich sich einmischten? Ich schlich die Stufen hinunter, die Hand auf mein Kleid gepreßt, und hoffte, daß mich niemand sah. Und falls doch, sollte diesem Jemand nicht auffallen, daß meine Schwangerschaft noch nicht so weit fortgeschritten war, als daß ein Ellbogen des Babys herausstechen konnte. Gab es ein Gesetz gegen pränatalen Wahnsinn in diesem Land der Prozesse? Ich merkte, daß das alles zu einer Art Besessenheit für mich wurde. Ich konnte nicht weiterhin jeden einzelnen für unschuldig halten. Wenngleich Bingo bestimmt genug gestraft war, weil er sich einmal wie ein Kind benommen hatte. Diese Minuten unter Marjorie Rumpsons Bett konnten kein Zuckerschlecken gewesen sein. Was Marjorie betraf, konnte ich mich nicht darauf verlassen, daß Sheriff Dougherty vorbehaltlos akzeptieren würde, daß sie hereingelegt worden war. Im Gegensatz zu mir hatte er nicht den Vorteil, seit mehreren Tagen mit ihr bekannt zu sein. Das Licht floß durch das bunte Glas der Tür hindurch und warf ein Mosaik an die Decke, ansonsten war es in der Mahagonihalle so dunkel und stickig wie in einer versiegelten Kirche. Die geschlossenen Türen hatten das Aussehen von
Beichtstühlen. Hatte Theola Faith schon ein Geständnis abgelegt? Das sauertöpfische Gesicht der geschwärzten Standuhr sagte halb elf. Wie lange noch, bis der Sheriff Neuigkeiten brachte? Oder war er bereits da? Mit zitternden Händen hechtete ich ins Speisezimmer. Und war zehn Sekunden später und um mehrere Pfunde dünner wieder draußen, nachdem ich die Messer in die Schrankschublade gestopft hatte. Ich hatte sie vorher poliert und den letzten Handgriff mit dem Vorderteil meines Kleides ausgeführt, doch nach nur wenigen Schritten blieb ich unschlüssig stehen. Was war mit meinen Fingerabdrücken auf der Anrichte? Konnte ich mich retten, indem ich behauptete, ich mußte die Schublade berührt haben, als ich mir etwas zum Frühstück genommen hatte? Zwischen der Kaffeekanne und der Obstschale hatte ein Korb mit sehr hübschen Croissants und Rhabarberbrötchen gestanden. »Dem Buch Enoch zufolge wird Gott Sie bestrafen, Miss Einmischung.« Die Stimme ertönte aus dem Nichts hinter mir. »Pepys!« Machte er dieses alberne Gekrächze? Oder ein Kanarienvogel, der von einer Katze verfolgt wurde? Ich wich zur Wand hinter der Treppe zurück. »Sie sollten wirklich nicht so von Gott sprechen, als wäre er eine Art Schwarzer Mann. Und Sie sollten mich auch nicht so erschrecken. Sie könnten schuld sein, wenn ich Drillinge bekomme!« »Gut!« Sein kahler Kopf glänzte wie Marmor. Seine Augen waren regelrechte Eissplitter, als er ein Lachen ausstieß, das mich überzeugte, daß ein Neonschild mit dem Wort Messer auf meiner Stirn blinkte. Natürlich erwartete ich nicht, nach gestern abend noch hoch im Kurs zu stehen. Und ich konnte Pepys auch keinen Vorwurf machen, nur weil ihm seine eigene Haut mehr wert war als die seiner Arbeitgeberin. Mein geistiges Gestammel wurde von der Glocke unterbrochen. Der Türglocke.
»Verflixt und zugenäht! Hier kommt der Sheriff, ohne eingeladen worden zu sein. Der Mann sollte mal Ann Landers zu dem Thema lesen!« Pepys’ Blick gab mich frei. Er schlurfte durch die Halle davon und ließ mich klein, schwindelig und durcheinander zurück. Ich wußte nicht zu sagen, ob das dort hinter dem Glas der Oberkörper des Sheriffs war, wenn die Haltung der Schultern auch eindeutig amtlich wirkte. Ob ich es die Stufen hoch schaffen konnte, bevor er hereinkam? Nein, konnte ich nicht. Aber ebensowenig konnte ich dem Gesetz gegenübertreten, bevor ich nicht etwas zu mir genommen hatte, um mein Gewissen zu beruhigen. Sollte ich wieder ins Speisezimmer abtauchen oder – mein Herz schlug gegen meine Rippen – den Lift nehmen? Pepys ist im Begriff, den Ankömmling hereinzulassen. Er dreht sich um und schaut in meine Richtung, als ich die äußere Holztür öffne und dann die Falttür aus Messing. Ich fühle mich wie eingesperrt, was natürlich dumm von mir ist. Mein Finger drückt auf den Knopf; ich rucke aufwärts. Die Betonwände, die man durch die Maschendrahtwände der Aufzugskabine sieht, rasen nicht gerade vorbei. Da es keine Decke gibt, komme ich mir eher vor wie ein Skifahrer in einem Sessellift. Aber wie lange kann es dauern, ein Stockwerk hochzufahren? Das hängt wohl davon ab, ob oder ob man nicht… steckenbleibt. Ich hörte ein schwaches Pfeifgeräusch, als sei das Vehikel außer Atem. Und dann nichts mehr. Sorry, ich übertreibe – es passierte doch etwas. Das Oberlicht ging aus. Dies ist nicht der Zeitpunkt, um in Panik zu geraten. Panik macht nur Spaß, wenn man sie mit einem anderen teilen kann. Wenn Ben doch nur hier wäre, dann könnten wir das hier in ein romantisches Intermezzo verwandeln – und so tun, als seien wir zwei viktorianische Kaminkehrer. Streichen Sie das! Er wäre inzwischen längst an Klaustrophobie gestorben. So war es doch viel besser, ich konnte an mich selbst denken und ganz
ungehindert und genüßlich zusammenbrechen. Aber sollte ich das auch tun? Halt mal, Ellie. Du kannst dich in den Augen all derer rehabilitieren, denen deine Theorie nicht gefiel: Nicht Theola Faith tötete ihre Tochter, ergo ist ein anderer der Schuldige. Hier ist deine Chance, zu beweisen, daß du eines Mange als Gattin würdig bist. Geh’ gestärkt aus dieser Krise hervor, und vielleicht erklimmst du eines Tages eine einflußreiche Position in der Hilfstruppe. Ich tastete nach links, fand die Knöpfe und drückte wie wild darauf. Interessiert es den Passagier einer entführten Maschine, ob er nach London oder nach Istanbul fliegt? Der Lift rührte sich nicht von der Stelle, weder aufwärts noch abwärts. Mir war es nicht mehr wichtig, die Art Frau zu sein, die auch unter härtesten Bedingungen durchhält – wie die Strumpfhose in der Reklame, die die ganze Nacht hätte durchtanzen können. Ich fing an, auf- und abzuspringen, wahrscheinlich sah es nach dem Tanz einer Irren aus. Zum Glück konnte ich mich nicht sehen. Mitten in einem Sprung kam mir ein schrecklicher Gedanke. Was, wenn der Aufzug steckengeblieben war, weil ein Kabel sich in einer Rolle verklemmt hatte, und was, wenn diese Erschütterungen das Kabel losrissen, so daß die Kabine in den Schacht stürzte, hinunter durch das Kellergeschoß auf den Fels, auf dem Mendenhall erbaut war? Ich hatte keine Ahnung von der Mechanik eines Aufzugs, doch nichts ist überzeugender als eine Phantasievorstellung, die von Angst genährt wird. Minuten vergingen, bis ich mir mühsam eine andere Möglichkeit überlegte. Vielleicht war mit dem Aufzug alles in bester Ordnung. Was war, wenn Pepys Sheriff Dougherty auf der Türschwelle hatte stehenlassen und mir nachgeschlichen war? Was war, wenn er etwas getan hatte – zum Beispiel die äußere Tür geöffnet –, um den Aufzug plötzlich anzuhalten? Wie lange würde dieser Verrückte mich hier gefangenhalten?
Wie lange würde es dauern, bis er dachte, ich hätte meine Lektion gelernt? Ein Schatten bewegte sich – mein Arm, wie sich herausstellte. War es in meinem Interesse, zu schreien? Ich schrie, bis mir die Ohren klingelten. Keine Antwort. Ich fühlte mich verfolgt. Unten war eine Verschwörung im Gange. Sheriff Dougherty hatte den ganzen Haushalt, Ben eingeschlossen, davon überzeugt, daß ich ein Hindernis für die erfolgreiche Lösung des Mary-Faith-Falles war. Am besten war, man zog mich eine Zeitlang aus dem Verkehr und dem allgemeinen Elend. Die schwarze Wolke hatte sich auf mich herabgesenkt. Ich fand mich auf dem Boden des Kastens hockend wieder. Die Zeit war ein Kreis, der immer wieder ins Hier und Jetzt zurückführte. Noch nie hatte ich mich so einsam gefühlt. Und dann passierte etwas Magisches. Mir fiel ein, daß das Baby bei mir war und daß, auch wenn ich nichts dagegen hätte, hier festzustecken, mein kleiner Freund vielleicht anderer Meinung war. Gleich auf diese Einsicht folgte etwas anderes, heftige Gelüste überfielen mich – ähnlich jenen, die mich dazu gebracht hatten, ein Ruderboot zu stehlen und nach Mud Creek hinüberzufahren. Diesmal wollte ich keine Tacos – ja, schon bei der Vorstellung von heißem würzigen Essen drehte sich mir der Magen um. Nein, ich wollte – ich gierte – nach einfachem, gewöhnlichem Toast mit zentimeterdick Butter darauf und dazu eine dampfende, beruhigende Tasse vom dem Kräutergebräu, das in Primrose Tramwells Brief beschrieben war. Ich konnte es fast schmecken, obwohl ich es noch nie gekostet hatte. Klingt das gut, Baby? Und der Gedanke, daß es draußen einen Kräutergarten gibt und wir hier drinnen sind! Das allein reicht, um einen die Wände hochgehen zu lassen! Die Stille sprach laut und deutlich. »Mum, endlich sagst du mal was Vernünftiges.«
Ich war im Handumdrehen wieder auf den Füßen. »Ja, mein Schätzchen! Ich kann mir vorstellen, daß jede durchschnittlich athletische Mutter an dieser Maschendrahtwand hochklettern würde. Aber hier geht’s um mich. Ich bin nie einem Sportlehrer begegnet, den ich mochte, oder einem, der mich dazu bringen konnte, auch nur zwei Zentimeter an einem Seil hochzuklettern. Und überleg’ mal, selbst wenn wir dieses Bravourstück fertigbringen, ich weiß nicht, wie weit wir noch vom zweiten Stock entfernt sind. Oder ob ich es schaffen könnte, aus dem Schacht herauszukommen.« Dummes Zeug. Die Gelüste hatten mich voll im Griff. Ich hing bereits am Maschendraht wie ein Affe im Zoo. Ich würde meinen Toast bekommen oder bei dem Versuch sterben. Mein Verstand sagte mir, daß dieser Teil noch nicht gefährlich war. Kaum schwieriger, als eine Leiter hochzusteigen – mit sehr schmalen Sprossen. Ich zog mich langsam Stück für Stück mit den Händen hoch. Die Dunkelheit erwies sich als Segen, so konnte ich nicht bis nach unten schauen. Wenn mir trotzdem eine Spur schwindelig war, dann nur vor Aufregung bei der Hoffnung, uns hier herauszubringen, bis – plötzlich war ich so weit gekommen, wie es ging. Entweder schwankte das Drahtgitter oder ich… ein Gefühl ähnlich dem, auf einem Schiffsdeck zu stehen und sich zu weit über die Reling zu beugen. Meine Hand tastete verzweifelt nach oben und erwischte einen Türhebel. Freiheit. Noch nicht. Die Tür wollte sich nicht öffnen lassen. Mist! Von einer Sicherheitsvorrichtung ausgetrickst. Ich versuchte, mich für all die Menschen zu freuen, die davor bewahrt wurden, in den Schacht zu stürzen, als sie dachten, sie seien nur ins Bad getapst; und doch war der Augenblick trostlos. Wenn Menschen einen Berg erobern, dürfen sie wenigstens eine Fahne auf den Gipfel stecken. Erschöpft tat ich den ersten
Schritt nach unten, und Licht ging im Aufzug an. Und da war es, das herrliche rostige Summen! »Baby, wir fahren wieder!« Falsch. Nur der Boden ging auf die Reise. In die falsche Richtung. Er ging abwärts und ließ mich als eine Gefangene zurück, die auf der falschen Seite des Zauns zur Freiheit hockte. Ellie, wenn du Ben noch einmal wiedersehen willst, damit du ihn umbringen kannst, weil er dich in die guten alten USA mitgeschleppt hat – sieh nicht hin! Denk nicht nach! Und was du sonst auch tust, schrei’ nicht! Die kleinste Erschütterung, und du praktizierst zum ersten Mal Drachenfliegen. Aber es war zwecklos, meine Lider gingen nicht mehr zu, meine Augen waren schreckensstarr. Meine Arme gaben nach. Der Drang zu springen, ein schnelles Ende herbeizuführen, zerrte an mir… Der Boden war ein gutes Stück unter der Kante meines Maschendrahtgitters wieder stehengeblieben, aber was war das…? O Wunder über Wunder! Er hatte mich nicht vergessen, er kam zurück, um mich zu retten. Achtung, fertig – steig einfach hinunter, als stiegest du in einen Aufzug. Das ist alles, und jetzt – der große Augenblick. Als die Tür aufging, fragte ich mich nur noch, wer wohl dahinter auf mich wartete. »Liebes.« Bens Stimme umfing mich, hielt mich fest. »Wie fühlst du dich?« »Herrlich.« Ich fühlte mich nicht nur aus dem Aufzug befreit, sondern auch von so vielem, was zuvor geschehen war. Als die Tür aufging und er mich heraushob, scharten sich sämtliche Mitglieder des Haushalts um uns. Und die größten Sorgen machte sich Pepys. »Mein Fehler, ich bin dran schuld.« Da ich zu durcheinander war, um irgendwelche feindseligen Gefühle zu hegen, dachte ich, der bis aufs Skelett abgemagerte Mange gestehe, mir bewußt und aus böser Absicht eine Falle gestellt zu haben, aber nein – er erklärte, er habe vergessen, den Generator aufzuladen.
»Sie hatten eben viel im Kopf.« Ich vergaß, daß es Pepys war und nicht Jonas, und tätschelte ihm die Schulter, bevor ich wieder gegen Ben sank. »Zu verflixt schrecklich, um es mit Worten auszudrücken! Sie hätte das Baby verlieren können!« Das war Marjorie Rumpson. »Sie kommt wieder in Ordnung, nicht wahr, Mum?« Bingo stand dicht neben seiner Mutter und hielt eine Tüte Kartoffelchips in der Hand. »Sicher, Liebling!« Sie sah nicht überzeugt aus. »Sie sollte sich hinlegen.« Das war Jeffries. »Soll ich Wasser aufsetzen – für Tee, meine ich?« Sprach da wirklich Valicia X? Schöner denn je, weil sie feuchte Augen hatte? »Woher sollte ich denn wissen, daß sie ein Baby erwartet?« Pepys sah noch viel schlechter aus als ich. »Ich dachte, sie wäre immer so drall. Sie sagte so was, ich sollte sie nicht erschrecken, weil sie sonst Drillinge bekommt, aber ich dachte, das war’ so ’ne Redensart. Dasselbe wie Kätzchen bekommen.« Plötzlich schwebte ich in der Luft. Mein Ehemann hatte mich auf seine männlichen Arme gehoben. Als wir ins Schlafzimmer kamen, schlug Jeffries bereits die Bettdecke zurück, Pepys verzog sich an ihr vorbei zu den Vorhängen, während der Rest nur umherlief und nichts tat, aber so aussah, als hätten sie alle Hände voll zu tun. Während Ben mich auf die Kissen bettete, kehrte die Angst wieder zurück wie ein vertrauter Freund. Log Pepys in Sachen Generator? Außerdem fiel mir ein, daß Ernestine oben gewesen war, als ich den Aufzug bestieg. Vielleicht hatte sie ihn kommen hören und es irgendwie geschafft, ihn anzuhalten. »Ein Baby!« Bingo näherte sich dem Bett, als sei es der Tisch eines Sitzungszimmers. »Ein Mitglied des unproduktivsten Teils der Gesellschaft, und doch… irgendwie nett.«
»Noch netter als ein kleines Hündchen.« Marjorie Rumpson legte einen kräftigen Arm um ihn. »Ich bin eifersüchtig!« Valicias begeistertes Lächeln glitt über Ben, der seitlich auf dem Bett saß, und über mich hinweg in die Ferne. »Darauf zu warten, daß ein neues Leben beginnt. Unglaublich.« »Ja!« Das kam als ein kollektiver Seufzer. Und ich hatte das ganz komische Gefühl, daß es in diesem Moment das Baby aller war. Als ich nacheinander in ihre Gesichter schaute, fühlte ich mich in Wärme eingesponnen, und Gewißheit durchströmte mich. Was im Aufzug passiert war, war ein Unfall. Ich stand nicht mehr auf der Liste der meistgehaßten Leute. Wie traurig, daß erst der Tod von Mary Faith uns einander so nahegebracht hatte – wir waren fast wie eine Familie. In diesem Zimmer konnte kein Mörder sein… »Liebling…« fragte ich Ben, als wir allein waren. »Hat der Sheriff Neuigkeiten gebracht? Ich habe gespürt, daß die anderen etwas verbergen.« Er rückte das Tablett auf meinem Schoß gerade und richtete die Rose in der Marmeladenglas-Vase auf. »Ellie, ich möchte, daß du dein letztes Stück Toast aufißt und deine Kräutermischung trinkst.« »Ja, Liebster!« Wie konnte ich mich weigern? Valicia X, Pepys und Jeffries hatten angeboten, mir alles zu holen, was ich mir wünschte, doch Ben hatte für das angestammte Recht eines Mannes gekämpft, für seine Frau zu kochen, wenn es ihr schlecht geht. In der Haltung eines Priesters, der um einer höheren Berufung willen bedauernd auf das Zölibat verzichtet, hatte er Ms. X mitgeteilt, daß er von seinem heiligen Gelübde, sich vor der ihm zugewiesenen Rolle bei der Zubereitung des festlichen Abendessens jeder Ausübung seiner Kochkünste zu enthalten, entbunden zu werden wünschte. Noch erstaunlicher war, daß Bingo seine Bitte unterstützt hatte, mit dem Ergebnis,
daß eine Viertelstunde später die Gelüste, die mich im Aufzug überfallen hatten, gestillt waren. Schade, daß man nicht dasselbe von meiner Neugier sagen konnte. »Und der Sheriff…?« Ich schaute voll Hoffnung in meines Liebsten grüblerische Augen. »Ja, ich mache ihm zum Vorwurf, daß du nicht schon eher gefunden wurdest. Ich glaube, er ließ Pepys keine Minute Zeit, an den Generator zu denken. Aber hat ja keinen Sinn, sich im nachhinein darüber aufzuregen.« Er drehte meine Tasse herum, damit ich keine Kraft aufwenden mußte, um nach dem Henkel zu greifen. Dann machte er es sich auf der Bettkante bequem und zog einen Zettel aus seiner Tasche – Primrose Tramwells Brief, wie sich herausstellte. »Liebes, ich muß aufrichtig zu dir sein, ich habe einige Änderungen an diesem Rezept vorgenommen. Mehrere Zutaten waren im Kräutergarten nicht mehr verfügbar, und anstelle von Ale habe ich Apfelwein benutzt, weil welcher im Kühlschrank war. Obwohl es zu diesem Thema in Fachkreisen zwei gegensätzliche Ansichten gibt, halte ich das für eine Frau in deinem Zustand für angemessener. Was die Erwärmung in der Sonne angeht, wirst du verstehen, daß nicht genügend Zeit war; auf jeden Fall bin ich überzeugt, daß durch die seitliche Erwärmung des Kinderbechers mit Hilfe eines Streichholzes – « »Ben!« Ich packte das Tablett. »Hat der Sheriff Theola Faith verhaftet?« Sein Gesicht war grimmig. »Ja.« »Tja… das wär’s dann.« »Liebes…« »Eigentlich bin ich erleichtert.« Er stellte das Tablett auf den Nachtschrank und streichelte mein Haar. »Du brauchst dich nicht zu verstellen. Heute morgen während der Sitzung konnte ich mich nicht auf das
anstehende Thema konzentrieren: ob geschnetzelte Nierchen mit einem gerillten Löffel serviert werden sollten oder nicht. Ich dachte darüber nach, wie ich diese Geschichte zwischen uns treten lassen konnte, und mir fiel Kapitel sieben von Mommy, da ist ein fremder Mann im Haus ein.« »Oh, ja, Übungen, die ein werdender Vater machen kann. Er soll sich vorstellen, daß er selbst das Baby unter dem Herzen trägt.« »Genau! Ellie, plötzlich war ich eine Sekunde lang du; ich wußte, warum du unbedingt wolltest, daß der Schurke jemand anders ist als Theola Faith.« »Vielen Dank.« Das kam als Seufzer heraus, in dem sich Traurigkeit und Freude mischten. Ich preßte mich an ihn und atmete seinen herrlichen, sicheren Duft nach Kräutern ein. Meine Finger strichen durch seine frischen, seidigen Haare, dann fanden sie unter seinem Hemd seinen Herzschlag. Welche Reichtümer! Wir waren lebendig, wir alle drei! »Ben, haben sie Marys Leiche gefunden?« »Noch nicht.« »Wie können sie dann« – ich wich zurück – , »wie können sie dann sicher sein, daß sie tot ist? Was ist, wenn sie durch die Wucht der Explosion über Bord geschleudert und flußabwärts geschwemmt wurde? Was ist, wenn sie noch lebt? Vielleicht wurde sie an einen Biberdamm gespült oder – « »Ellie – « »Ich weiß.« »Pepys hat uns alle – bis auf Ernestine und dich – ins rote Zimmer geholt, damit wir uns anhörten, was der Sheriff zu sagen hatte. Es wurde ein Wecker gefunden, der als primitiver Zeitzünder diente, und Laverne Gibbons, die als Haushälterin bei Theola Faith lebt, hat sich geweigert, darüber zu sprechen, was sie über Miss Faiths gestrige Aktivitäten weiß, bevor sie nicht einen Anwalt zu Rate gezogen hat.«
»Was hatte Miss Faith denn selbst zu ihrer Verteidigung zu sagen?« »Eine Menge Ungereimtheiten, laut dem Sheriff.« »Tja, was sagt denn Miss Gutes Benehmen dazu, wie man sich verhalten soll, wenn man unter Mordverdacht steht?« Ich bekenne, ich klang etwas spitz. »Ellie, er versucht nicht, sie reinzulegen. Du hättest ihn sehen sollen, der arme Kerl war ganz grau im Gesicht. Mud Creek kann doch nicht eine Stätte des Verbrechens sein! Er sagte mehrmals, auch wenn Theola Faith bereits verhaftet worden ist und des Mordes an ihrer Tochter angeklagt wird, wird sie noch dem Haftrichter vorgeführt, bevor man sie zum Gerichtsprozeß überstellt.« »Wo ist sie jetzt?« »Auf der Polizeiwache, bis die Überstellung vereinbart ist, was dem Hörensagen nach morgen geschehen soll.« »Tja.« Ich setzte mich auf und schüttelte mein Haar zurück. »Ich kann nicht weiter hier liegen und vor mich hin brüten. Solltest du jetzt nicht unten sein und dich für die letzte Runde des Wettbewerbs in Schwung bringen – das Abendessen?« »Ich schätze, ja.« Er stand auf. »Du klingst nicht sonderlich begeistert. Nervös?« »Wenn ich daran denke, was der Schock, in diesem Aufzug festzustecken, dir und dem Baby hätte antun können, wird mir klar, daß ich immer der Gewinner bin, solange es euch gut geht.« Ich lächelte zu ihm hoch. »Wir lieben dich, Daddy.« »Und dir tut nichts weh?« »Natürlich nicht.« Sinnlos zu erwähnen, daß ich diese Stiche im Rücken hatte. Ich wußte, wie ich daran gekommen war – weil ich mich in Marjorie Rumpsons Zimmer gegen den Türknopf gelehnt hatte, als ich Ernestine überredete, mir diese scheußlichen Messer auszuhändigen. Aber, um Ben bei Laune
zu halten, versprach ich, noch eine Zeitlang im Bett zu bleiben und mich auszuruhen. Als er ging, fühlte sich die Stille gut an, so als würde ich mich in Bens Liebe einkuscheln. Der Schlaf kam und zog sich wieder zurück – die Gezeiten spielten Fang-mich-doch-Spiele mit Kinderfüßen, die im Sand standen… das kitzelige Vergnügen, wenn nasser Sand zwischen die Zehen quillt. Während meines ersten Besuchs auf Merlins Schloß hatte ich einige herrliche Stunden am Strand verbracht. Mein Aufenthalt dort bestand nicht aus einem einzigen Schrecken wie Marys Besuch bei ihrer grausigen Großtante Guinevere. Und plötzlich ging die Stille in Warten über. Worauf ich wartete, wußte ich nicht; doch ich wußte – weil die Schatten in Habacht-Stellung gingen und die Möbel sich an die Wände drückten –, daß der Raum es ebenfalls spürte. Die zugezogenen Vorhänge änderten nichts daran. Ich hatte dieses irre Gefühl, daß draußen vor dem Fenster eine ganze Schar von Fragen und Antworten umherwirbelte, in einem wahren Federgestöber. Ich konnte ihr Flügelschlagen hören, das Klopfen ihrer Schnäbel gegen Glas. War dies das Ergebnis des Kräutersuds? Primrose Tramwell hatte zwar die beruhigende Wirkung betont, sie hatte allerdings nichts von nachfolgenden Phantasien gesagt, und Ben hatte doch, wie ich seinen Worten entnahm, die wie immer geartete Kraft des Gebräus abgeschwächt… »Sieh’ mal«, sagte ich zum Fenster, »die wichtigsten Fragen sind beantwortet. Theola Faith hat ihr unverschämtes Kind ermordet, um all dieser scheußlichen Publicity ein Ende zu setzen. Und ich mache mir nicht mehr die geringsten Sorgen um unsere abgereisten Kandidaten. Die Groggs und die Le Trompes wurden weggeschickt, und die Browns entschieden sich für die Liebe und gegen die Gourmets. Mir ist nur ein
Rätsel, wie sie von der Insel wegkamen, die Antwort darauf will mir einfach nicht einfallen.« Wer… was war das für ein Klopfen? »Ellie?« Ernestine steckte ihren Kopf zur Tür herein. »Wie fühlen Sie sich?« »Ich freue mich, Sie zu sehen.« Der Kürbishosenanzug verwandelte sie in die Frau zurück, die ich an unserem ersten Abend hier kennenlernte und mochte, sie war nicht mehr die Spionin, die ich heute morgen in Miss Rumpsons Zimmer erwischt hatte. »Ich bleibe nur einen Augenblick, ich wollte Ihnen nur schnell sagen, daß ich vorhin mit Bingo geredet habe. Sie haben recht gehabt, er hat tatsächlich die Messer genommen und sie zuerst unter dem Dielenbrett in seinem Zimmer versteckt – und dann gestern nacht bei Marjorie. Das war aber eine Panikhandlung, er wollte auf keinen Fall, daß man sie beschuldigt; später wollte er die Messer noch woanders hinbringen.« Ihr Gesicht war nackt, verletzlich. »Er wollte nur allen einen Schrecken einjagen. Er wollte, daß ich zu der Einsicht komme, daß dies nicht der richtige Ort für ihn ist und ihn von hier wegbringe. Sie werden es nicht glauben, Ellie, aber Bingo will kein Mange werden. Er sagt, er will ein Kind sein. Was ich nicht verstehe ist, wieso er mir das nicht schon früher mitgeteilt hat. Sein Dad und ich wollten doch immer nur das Beste für ihn.« »Davon bin ich überzeugt.« Ich dachte daran, wie Bingo versucht hatte, seinen heimlichen Vorrat an Schleckereien im Vogelnest zu deponieren; hatte er gehofft, die Messer würden gefunden – bevor der Mord geschah? »Bingo ist jetzt bei Ms. X, um ihr zu sagen, daß er von der Kandidatur zurücktritt, was bedeutet« – sie setzte ihre Brille wieder auf –, »daß die Entscheidung allein zwischen Ihrem Mann und Marjorie Rumpson getroffen wird.«
Ich rieb meinen Rücken an der Stelle, wo es weh tat und schluckte schwer an dieser Neuigkeit, als es wieder an die Tür klopfte und Jeffries und Pepys hereinkamen. Ihre Haube war verrutscht, und ihre dicken Locken hingen schief. Sie schob einen Fernseher vor sich her. Er trug einen kleinen Pappkarton auf einem großen aus Plastik. »Ich hoffe doch, die Besuchszeit ist noch nicht vorbei!« Sie vollführte eine Drehung und ein Ausweichmanöver um Ernestine herum. »Kahlköpfchen und ich haben uns überlegt, daß Sie sich vielleicht einen Videofilm ansehen möchten.« »Wie nett! Aber Sie dürfen mich nicht so verwöhnen.« Keine Antwort. Sie waren vollauf damit beschäftigt, einzustöpseln und aufzubauen. Kurz darauf wurde der Fernseher in meine Richtung gerückt, und ich setzte mich auf. Nicht die Schultern hängen lassen! Ich hätte eigentlich lieber ein Nickerchen gemacht. Aber dies war ein wunderbares Geschenk. »So!« Pepys kam zu mir getapert und drückte mir die Fernbedienung in die Hand. »Drücken Sie auf den roten Knopf, das reicht!« »Danke schön.« Ich kam nicht dazu, mehr zu sagen, weil Jeffries plötzlich ein ganz verkniffenes Gesicht machte. Mit einem Satz war sie am anderen Ende des Zimmers und riß das Fenster auf. Und herein hüpfte eine Taube. Demnach hatte ich nicht phantasiert! Ich hatte tatsächlich das Flattern und das Picken gegen die Glasscheibe gehört. »Manchmal ist er so wie wir, er vergißt seine Stellung und weigert sich, zum Lieferanteneingang hereinzukommen.« Jeffries hob ihn auf. »Ich bringe ihn raus.« »Bitte«, sagte ich, »lassen Sie ihn doch! Wir können uns den Film zusammen anschauen.«
Nach einem Fingerdruck auf den roten Knopf… ein Schwall brandungsähnlicher Musik, mit Unterströmungen von Gezeitenangst. Eine Nebelschwade, die plötzlich verschwindet – wie das Taschentuch eines Zauberers – und den Vollmond enthüllt, der über einem Haus feinster Gruselmachart schwebt, das sich aus einer schwarzen Wasserfolie erhebt. Das Scheppern eines Beckens erklingt, die Haustür springt auf, und der Zuschauer wird in eine holzgetäfelte Halle von düsterer Pracht geführt. Alles in leuchtendem Schwarzweiß. Ich hielt den Atem an, als der gebieterische Butler, komplett mit lackschwarzem Haar und bleistiftdünnem Schnäuzer, die Stufen hinabschritt und dabei eine Kerze in die Höhe hielt. »Ladies und Gentlemen«, deklamierte er, und seine Stimme troff vor Blut, »ich bedaure es zutiefst, der Überbringer unerfreulicher Nachrichten zu sein…« Villa Melancholie! Es war ein äußerst merkwürdiges Gefühl, hier in diesem Schlafzimmer zu sein und gleichzeitig unten im roten Zimmer mit Theola Faith, als sie den bebrillten Schuljungen überrascht, der eifrig mit den Fingern malt. »Gerald, Süßes! Hast du wieder Pirat gespielt?« Ein jungenhaftes Schmollen erschien in seinem Gesicht. »Woher wissen Sie das?« Lebendige, weiche Locken, Grübchen in den Wangen – sie ist wirklich bezaubernd. »Gerry, du bist ein sehr ärgerliches Kind! Um Gottes willen, du hast den hübschen sauberen Teppich überall mit Blut bespritzt! Du kannst die Leute nicht mit Messern an die Wand nageln, als würdest du einen Aushang am Schwarzen Brett machen. Bald ist ja kein Platz mehr für Bilder.« »Sie wollen mir wohl den ganzen Spaß verderben.« »Wie du alles aufbauschst! Du weißt, ich will ja nicht wie die strenge Stiefmutter daherkommen, aber du mußt aufhören, dich voll auszuleben – wenn es so weitergeht, haben wir keine
Freunde mehr übrig. Und das alles nur, weil dein DaddyDarling dich und mich aus seinem Testament gestrichen hat.« »Haben Sie eine bessere Idee?« Ein jungenhaftes Grinsen spielte um seinen Mund. Sie trat hinter ihn und drückte einen Kuß auf seinen Kopf. »Ich glaube, es ist Zeit, daß wir dem Nachtklub, in dem ich früher gearbeitet habe, einen Besuch abstatten. Da gab es damals einen Rausschmeißer namens Joe, vielleicht hat der ein paar interessante Ideen, wie wir das Boot anstecken können.« Mir war übel, aber ich mußte einfach weiter zuschauen. Hier kam die Nachtklubszene, auf die ich mein ganzes Leben gewartet hatte. Ein Raum, voll mit Tischen und Rauch und Leuten mit fleischigen Gesichtern und in auffälligen Klamotten. Die Musik wurde lauter und melodischer; sie zog mich zu einer runden Drehbühne, auf der eine Gruppe hübscher Mädchen mit Federn im Haar die Beine in die Höhe warf. Die dritte von rechts – ihr Bein ging bei einer Arabeske in die falsche Richtung, und ihre Arme vollführten einen Schwanensee-Schnörkel – war meine Mutter. Ich konnte nicht fassen, daß ich sie noch mal wiedersah. Ich wollte, daß sie mich ansah. Ich wollte ihr sagen, daß es wunderschön sein konnte, aus dem Tritt zu geraten, doch sie hatte sich schon umgedreht. Und ich wußte nicht, wie ich das verdammte Video anhalten sollte, und ich… spürte, wie sich in mir etwas bewegte. Ich hörte mich rufen: »Mutter, das Baby hat sich bewegt! Da bin ich ganz sicher, obwohl ich es mir ganz anders vorgestellt habe. So zart, so süß. Eher ein Zucken als ein Flattern, wie ein Schmetterling, den ich in der Hand gefangen habe.« Sie kam nicht wieder, doch dafür kam etwas anderes – die Erinnerung an Worte, die jemand gesagt hatte. Was bedeutete, daß ich mich irren mußte… es sei denn, Chantal, die Wahrsagerin, hätte die ganze Zeit recht gehabt! Ich setzte mich
kerzengerade hin und starrte auf diese Videobühne, und endlich sah meine Mutter mich direkt an, bevor der Schauplatz wechselte. Die Wahrheit brach über mich herein in einem Schwall von Orchestermusik, während Wind und Regen gegen die Mauern von Villa Melancholie schlugen. Einen Augenblick blies die Erregung mich wie Helium auf, ich hätte zur Decke emporschweben können; allerdings war ich schnell wieder ernüchtert. Dies war nicht irgendein Kreuzworträtsel. Ich mußte überlegen, was am besten zu tun war. Ich legte mich zurück, meine Gedanken waren wie der Film, sie trieben mich von Szene zu Szene, und dann ging es wieder von vorn los. Als ich schließlich zu dem Punkt gelangte, an dem ich überhaupt nichts mehr sicher wußte, landete die Taube auf dem Fernseher. Sie fixierte mich mit ihren scharfen Augen, und ich blickte auf diesen kleinen Zylinder, der an ihrem Bein befestigt war. Eine Brieftaube! Und wenn sie dort zu Hause war, wo ihr Schatz weilte… Plötzlich war ich zu vollen fünfzig Prozent überzeugt, das beste wäre, Theola Faith eine Botschaft zu schicken. Mist! Ich konnte kaum erwarten, daß unser gefiederter Freund sie im Polizeirevier aufstöbern würde. Nun gut. Ich mußte einfach auf günstige Umstände hoffen – daß Laverne oder Jimmy aus der Bar ihre Ankunft mitbekamen, an ihrem Bein nach Post schauten und diese an die richtige Adresse weiterleiteten. Wegen der damit verbundenen Unwägbarkeiten mußte ich etwas schreiben, dessen verborgene Bedeutung allein von Theola Faith würde entschlüsselt werden können. Während ich Stift und Zettel suchte, fragte ich mich, ob es nicht zu geheimnisvoll war, was ich da schrieb, aber mir fiel nichts anderes ein, was alles ausgesagt hätte. Und, wie meinte sie einmal, ihr Gedächtnis sei ihr Kapital? Eine Taube durchs Zimmer zu scheuchen ist eine ausgezeichnete körperliche Betätigung für Schwangere. Ich vergaß sofort meine Rückenschmerzen, als ich mit dem Knie
gegen die Kommode stieß und mir das Schienbein an einem Schubladengriff aufschürfte. Endlich! Meine Hände schlossen sich um ihren prallen, gefiederten Körper. Rein mit der Nachricht in den Zylinder und zum Fenster mit ihr. Hinüber und hinaus. »Auf Wiedersehen!« rief ich. »Mir wäre bedeutend wohler, wenn du ein Medaillon mit St. Christophorus darauf tragen würdest.« Immerhin standen die Chancen, Theola zu erreichen, nicht schlechter, als wenn ich eine Flasche zugestöpselt und in den Fluß geworfen hätte. Ich zog meinen Kopf herein und rammte das Schiebefenster zu. Ja, ich war etwas gerührt, aber was mich fast umgehauen hätte, war die Hitze. Meine Arme waren von der kurzen Zeit an der Luft halbgar gekocht, und meine Stirnhaare waren versengt und ganz kraus. Plötzlich war es im Schlafzimmer zum Ersticken heiß. Konnte das Gefühl des Wartens, das ich vorhin verspürt hatte, an einer Zunahme des Drucks liegen – meteorologisch gesehen, nicht menschlich? Stand uns ein weiteres Gewitter bevor? Die englische Beschäftigung mit dem Wetter! Wir mögen aber auch einen ausgeklügelten Mord, zwischen Buchdeckeln oder auf der Bühne, doch darüber wollte ich jetzt nicht nachdenken. Bald war es Zeit fürs Abendessen. Ob mein rotes Top schon ein wenig zu optimistisch wirkte? Vielleicht sollte ich lieber das schwarze Kleid… Nein, ich durfte nicht den Eindruck erwecken, als rechne ich bei Bens Kandidatur mit dem Schlimmsten. Das Speisezimmer erstrahlte in festlichem Glanz. Ein Tisch, gedeckt mit reinstem weißen Leinen, mit Porzellan und Gläsern, die keinen dieser peinlichen Geschirrspüler-Flecken aufwiesen. Mit geometrischer Präzision ausgelegtes Besteck, gedämpfte Beleuchtung, die das schwere Mobiliar leichter wirken ließ. Und dann dieses Gefühl der Geborgenheit angesichts der dunklen, am Himmel dahinjagenden Wolken.
Die sechs tödlichen Messer glitzerten wieder an der Wand. Was die Versammelten betraf jedes Härchen, jedes Lächeln war an seinem Platz –, so zierten wir die thronähnlichen Stühle rings um diesen Gerichtstisch und warteten darauf, daß Valicia X das schicksalhafte Abendessen einläutete. Lieblich wie ein Sommertag mit Klimaanlage, schlug sie mit einem Löffel gegen ihr Weinglas und erhob sich. »Ladies und Gentlemen, Mange-Kameraden!« Ihr Lächeln schloß Pepys und Jeffries ein, die an der Anrichte Posten bezogen hatten und die dampfenden Schüsseln und Suppenterrinen bewachten. Zwei freie Gedecke am Tisch zeigten, daß sie sich bald zu uns setzen würden. »Unsere Zahl ist bedauerlicherweise zusammengeschmolzen. Drei unserer Kandidaten haben das Haus verlassen, und Mr. Hoffman hat mich heute nachmittag von seinem Entschluß in Kenntnis gesetzt, seine Bewerbung zurückzuziehen.« Bingo und Ernestine, in marineblauem Mutter-und-SohnPartnerlook, strahlten sie an. Ihr Lächeln war etwas zu strahlend, dahinter verbarg sich ein gewisses Bedauern. Valicia schob einen dünnen goldenen Reif an ihrem Arm hoch. »Damit verbleiben nur noch zwei Kandidaten, die heute abend im Schluß teil des Bewerbungsprozesses gegeneinander antreten. Lassen Sie uns Miss Marjorie Rumpson und Mr. Bentley Haskell mit wohlverdientem Beifall begrüßen.« Überzeugtes Klatschen von Ernestine, höfliches Klatschen von den übrigen, während die Kandidaten einander würdevoll gegenübersaßen. Ben sah prachtvoll aus in klassischem Schwarz, Marjorie großartig mit einem federgeschmückten Abendhut. Das Stahlblau des Hutes paßte zu ihrem Satinabendkleid, welches mit seinem Vorderteil, das von Staubperlen nur so übersät war, nur aus einem Ramschverkauf im Buckingham-Palast stammen konnte.
»Die Punkte, die im Laufe der vergangenen Tage gesammelt wurden«, sagte Valicia X, »sind inzwischen ausgezählt, und es hat sich eine interessante Situation ergeben.« Ich konnte Ben nicht anschauen. Ich konnte nicht atmen. Der ganze Raum hörte auf zu atmen. »Es steht unentschieden. Dies bedeutet, daß« – sie wies mit einer tadellos manikürten Hand auf das Silberwürzset und andere festliche Gegenstände – »der praktische Teil des Programms entscheiden wird, wer von diesen beiden feinen Leuten der nächste…« Einen Augenblick dachte ich, sie würde sich versprechen und der oder die nächste Mr. beziehungsweise Ms. America sagen. »… der neue Mange wird.« Jemand stieß zitternd die Luft aus, und zwei Kerzen erloschen. Jeffries trat vor und winkte Pepys, ihr zu folgen. »Halten Sie mich ruhig für einen Grobian, aber wenn wir nicht langsam mit der Show anfangen und das Essen auf den Tisch bringen, hochgeehrte Chefin, wird das Heiße kalt und das Kalte heiß. Für Mrs. Haskell und Mrs. Hoffman, die nicht über die nötigen Insiderinformationen verfügen – der Kochwettbewerb geht folgendermaßen vonstatten. Ganz klar, ein Gourmetessen zuzubereiten, das ist Kinderkram für sämtliche Kandidaten. Mit anderen Worten, es wäre langweilig für uns allesamt. Deshalb sollte es schnell gehen. Wir haben die Kandidaten angewiesen, ein Abendessen nur aus Fertiggerichten zuzubereiten.« Ein Keuchen von Ernestine. Ich erinnerte mich an Bens Befürchtung, daß er, wenn er mittendrin die Nerven verlor und eben dieses gefürchtete Wort, das mit F begann, benutzte, auf der Stelle geächtet würde. Während er zärtlich eine Suppenkelle streichelte, erklärte Pepys, daß, wenn alle Kandidaten bis zum Schluß ausgehalten hätten, jeder mit der Zubereitung eines einzelnen Ganges betraut worden wäre. »Aber angesichts der Tatsache, daß dazu
nicht genügend Köche übrig waren, haben Miss Rumpson und Mr. Haskell das ganze Menü unter sich aufgeteilt.« »Unter Benutzung des wissenschaftlichen Losverfahrens.« Jeffries warf ihre Locken zurück. »Mr. Haskell zog, wenn ich mich recht erinnere, aus unserem Hut die Nummern zwei, drei, vier und sieben – das heißt, er mußte die Suppe, den Salat, das Brot und den Hauptgang zubereiten.« »Während ich die gute alte Vorspeise, den Fischgang, das Gemüse und den Pudding übernahm. Ich meine…« Miss Rumpson räusperte sich und bellte: »Das Dessert.« »Und nun…« Valicia X nahm ihren Platz ein. »… laßt das Spiel beginnen!« Mit der Schnelligkeit griechischer Läufer traten Pepys und Jeffries in Aktion. Fachmännisch wurde Wein in unsere Gläser gegossen, eine Platte mit Brötchen wurde in der Tischmitte plaziert, und an jedem Platz erschienen kleine Glasschüsseln mit Früchten und Zuckerrand. Keuchend ließen sich P und J auf ihre Stühle fallen und gingen mit ihren Löffeln in Startposition. Auf Ms. X Aufforderung hin benannte Marjorie Rumpson ihren Beitrag als Ingwer-Früchte-Kompott mit Marmelade. Oh, mein schmerzender Rücken! Mit einem Gefühl äußerster Anspannung mied ich Bens Blick und probierte einen winzigen Löffel. Meine dunkelsten Befürchtungen bewahrheiteten sich. Köstlich. Mit pochendem Herzen sah ich zu, wie meine leere Schüssel weggezogen wurde und ein Salat erschien. Eine atemberaubende Mischung aus Endivien, Brokkoli und roten Zwiebelringen, mit Sesamkörnern und geröstetem Speck abgeschmeckt und mit einem Hauch Belgischem Dressing versehen, das die Farben zum Vibrieren brachte. Ben betonte, daß er gefrorene Brokkoli benutzt hatte, während er die herumgereichten Kräuterhalbmonde im Auge hielt. Kaum zu
glauben, daß mein Liebster eine Pappschachtel geöffnet hatte, um diese kleinen Wunderdinge zustande zu bringen. Das einzige Ei, das er geöffnet hatte, war für die Glasur benutzt worden. »Verflixt großartig!« Die großherzige Miss Rumpson war sofort verlegen. »Hätte den Mund nicht aufmachen sollen, ich weiß – aber wenn man das Kochen liebt und Kreativität von diesem Kaliber sieht, kann man nicht anders.« Ernestine und Bingo sahen mich an und zogen skeptisch die Augenbrauen hoch, doch ich glaubte keinen Augenblick lang, daß Marjorie durch Freundlichkeit Punkte machen wollte. Sie war ein Schatz. Was Ben betraf, störte es mich, daß er so steif und gefaßt wirkte. Ich hätte ihn lieber nervös auf der Stuhlkante hocken und an seinem Kragen zerren sehen. Ich habe meine Ehemänner nicht gern selbstgefällig. Hochmut kommt vor einem eingefallenen Souffle… Und hier kommt die Suppe – cremig und nach Tomaten und Sherry duftend. Mr. Campbell konnte stolz sein. Mehrere Gürtellöcher später – der Lachs (frisch aus der Dose) mit Gurkensauce. Weitere Punkte für Marjorie. Würde dieses Mahl meine Schwangerschaft noch an Länge überrunden? Roastbeef Marinara, in Kerzenlicht getaucht. Bentley T. Haskell schiebt sich nach vorn. Atemberaubende Artischocken – Marjorie kommt Kopf an Kopf mit ihm die Zielgerade herunter. In den Augen der Manges kann ich die Unentschlossenheit sehen. Die Spannung steigt, als sich der letzte Vorhang hebt. Das Dessert. Pepys tapert davon, um es aus der Küche zu holen, während Jeffries mit der Kaffeekanne die Runde macht. Niemand spricht. Niemand sieht einen anderen an. Wir könnten eine Reklame für Antacid-Tabletten darstellen. Aus den Augenwinkeln sehe ich einen bernsteinfarbenen Schein im
Fenster… das muß der Widerschein der Kerzen sein. Ich wünschte, ich könnte meine Schuhe abstreifen, doch meine Füße hatten einige Pfunde zugelegt. Die Tür ging knarrend auf. Herein kam Pepys, der eine Aluminiumpfanne in einer Hand balancierte… seine Miene war… mitleidig. »Miss Rumpsons gefrorener Daiquiri-Kuchen.« Seine skelettartigen Hände hielten ihn zu. »Nur ist er nicht gefroren.« »Könnte man es nicht ausgießen und als Milchshake servieren?« Verzweifelt gab ich Ben Zeichen mit den Augen, doch er nahm keine Botschaft an. Marjories stattliches Gesicht löste sich zusehends auf, fiel in sich zusammen, als sei es ebenfalls noch nicht fertig. Unerträglich – daß es dazu kommen sollte, für die Frau, die unter unfreundlichen Himmeln geflogen, einen wütenden Fluß durchschwömmen, das mörderische Komplott eines Schuljungen und die teuflischen Machenschaften einer Mutter überlebt hatte! Ein Schrei zerriß den Raum. Doch Jeffries hatte sich schnell wieder in der Gewalt und nahm Pepys den Kuchen weg. »Soll das heißen, hier war Betrug im Spiel?« Valicia X starrte Ben an, der einen Schluck Wasser trank, als sähe sie ihn zum ersten Mal. »Jemand hat den Kuchen sabotiert.« Bingo rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her, sein Gesicht war rot, seine Brille beschlagen; seine Mutter kniff die Augen zusammen, ihre Hände waren zum Gebet verschränkt. »Ich glaube nicht, daß jemand so etwas getan hat.« Ich war aufgestanden und hob die Stimme in der vergeblichen Hoffnung, so das Geräusch der auf den Tisch tropfenden Tränen Marjories zu übertönen. »Es muß eine Erklärung geben, eine andere als Ehrgeiz oder Neid. Vielleicht ist der Kühlschrank nicht wieder angesprungen, nachdem der Generator ausging.«
»Das war’s nicht.« Marjorie hob den Kopf und unternahm den edlen Versuch, ihr Gesicht zu stabilisieren. »Niemand anders ist schuld als ich. Ich bin an diese Gefriertruhe-undKühlschrank-in-einem-Dinger nicht gewöhnt, dabei war ich ganz richtig auf der linken Seite, als ich die Tür öffnete und den Kuchen hineinschob. Und Sie wissen ja, wie es ist – man sieht Dinge, ohne sie zu bemerken. Auf demselben Regal standen eine Obstschüssel und einige Gläser – mit Pickles und Marmelade. Also Sie sehen, meine Lieben« – ein mächtiger Schniefer –, »dieses alte Mädchen kann niemand anderem einen Vorwurf machen als sich selbst.« »Miss Rumpson, es tut mir leid.« Valicia X klang energisch, doch ihre schönen Augen waren von Tränen verschleiert. »Und Ben… Mr. Haskell, ich hatte Sie keinen Augenblick im Verdacht… aber das alles spielt jetzt keine Rolle mehr, nicht wahr. Das wichtigste ist, daß der Wettbewerb beendet ist. Und laut Paragraph E, Teil 297 des Mange-Kodex bin ich ermächtigt, die Beratung mit meinen Kameraden zu umgehen…« Pepys und Jeffries, die den Kuchen angemessenerweise mit einem Tuch zugedeckt hatten, verbeugten sich steif. »… und Sie, Mr. Bentley T. Haskell, zu unserem neuen Mitglied zu bestellen.« Erstaunlich, aber in diesem herzbewegenden Augenblick schaute ich nicht zu meinem Gatten, sondern zum Fenster hin. Draußen konnte ich eine Ansammlung gelber Lichter und Schattengestalten sehen. Welche Streiche uns unser eigenes Spiegelbild spielt… Und unser Kopf auch. Ben sagte doch mit Sicherheit nicht, was ich ihn sagen hörte – er müsse, mit dem nötigen Bedauern, die Mitgliedschaft in der MangeGesellschaft ablehnen? »Das kann nicht Ihr Ernst sein!« rief Ms. X. »Er hat seinen Kürbiskopf verloren.« Pepys und Jeffries sprachen wie aus einem Mund.
»Ben…« flüsterte ich. Er schaute mich nicht an. Der Tisch trennte uns, doch ich wußte, er zog mich im Geist an sich, hielt mich fest, weil er die Kraft von uns beiden brauchte, um das durchzustehen. Er erhob sich und sprach zu einem Fleck knapp unterhalb des Eisenkronleuchters: »Verehrte Manges, ich bitte um Disqualifizierung, weil ich zu mehreren Gelegenheiten den Anforderungen an die Kandidaten nicht genügt habe. Sie werden sich erinnern«, sprach er jetzt Ms. X direkt an, »daß ich einmal um Erlaubnis nachsuchte, die Insel verlassen zu dürfen.« »Ja.« Ihr Gesicht war in Kerzenlicht getaucht und voll fraulicher Verletzlichkeit. »Und ich… habe meine Kameraden davon überzeugt, daß diese Bitte gerechtfertigt sei angesichts der plötzlichen Abreise Lois Browns und ihres Ehemannes.« »Ich habe außerdem die Regel verletzt, die jegliches Kochen vor der Endausscheidung verbietet, als ich heute nachmittag den Toast und die Kräutermischung für meine Frau zubereitete.« »Was soll das?« Jeffries stürzte nach vorn. »Sind Sie in die Kirche von Reverend Enoch eingetreten? Wir haben Ihnen selbst gesagt, Sie sollen sie mit allem füttern« – Finger klopften auf meinen Kopf –, »was ihr kleines Herz begehrt. Sind wir nicht an erster Stelle Menschen und an zweiter Stelle Manges?« Ben räusperte sich. »Ich räume mit allem Respekt ein, daß Sie mir großes Verständnis entgegengebracht haben, was meinen Fehler um so schwerwiegender macht. Heute nachmittag entschlüpfte mir meiner Frau gegenüber, daß wir während unserer Morgensitzung über geschnetzelte Nierchen gesprochen hatten.« Valicia X verschlug es die Sprache. Ich erinnerte mich…
Jeffries öffnete den Mund, überlegte es sich jedoch anders, als ihre Zeit mit einem Schrei zu vergeuden. Statt dessen half sie Pepys, als er zu einem Stuhl taperte und murmelte: »Gott schütze uns vor den ehrlichen Schwachköpfen.« Die Gesichter rings um den Tisch verschwammen, bis auf das Gesicht, das zählte. Valicia X brachte ein tapferes Lächeln zustande und hob ihr Weinglas. »Herzlichen Glückwunsch, Miss Rumpson! Was bedeutet den Manges schon ein mißlungener Kuchen?« Wir zogen in das rote Zimmer um. All dies glühende Scharlachrot und erstickende Rotbraun! All diese Spitzendeckchen. Und Leute, überall Leute und kein Hauch von einem Gespräch. Der einzige Weg, um sicherzugehen, daß man nicht das Falsche sagt. Peinlich, erschöpfend, nur erträglich, wenn ich zu Ben gelangen konnte. Wir hatten das Speisezimmer getrennt verlassen, ohne ein Wort zu wechseln, wie Geheimagenten, die auf ihr Treffen warten. Er saß in einer Ecke des Raumes fest und ich in der anderen, bis sich zwischen Bingo und einem Sessel eine Lücke öffnete und ich an ihm und Ernestine, die sich mit Jeffries unterhielt, vorbeischlüpfen konnte. Als nur noch wenige Meter Teppich zwischen uns lagen, mußte ich gegen den Drang ankämpfen, in seine Arme zu laufen. Ich war außer Atem, als ich bei ihm ankam. »Du warst wunderbar.« Ich schaute in seine Augen. Er legte einen Finger an die Lippen, doch in Hörweite war lediglich eine Topfpflanze. »Du hättest dich nicht zu opfern brauchen.« Ich hing an seiner Hand, und meine Rückenschmerzen, der Krampf in meinem Nacken, die Tatsache, daß ich noch nicht mal angefangen hatte, für unsere morgige Abreise zu packen – das alles spielte keine Rolle mehr. »Du hast deinen Traum, ein Mange zu werden,
aufgegeben, weil du wußtest, daß Marjorie es dringender braucht als du.« Er schaute von mir weg, die Finger an seinem Schlips. »Nun, sie wird ja auch nicht Vater.« »Du hast etwas ganz Tolles getan.« Er grinste. »Ach, Quatsch, Miss Ellie!« Ich wollte ihn aus dem Zimmer und die Treppe hinauf in unser Boudoir mit der Silberlurex-Tapete ziehen. Ich wollte ihm erzählen, wie sich das Baby bewegt und was ich Theola Faith geschrieben hatte. Ich wollte ihm den Schlips abnehmen und sein Hemd aufknöpfen und ihm den Preis meiner Liebe verleihen. Doch das wäre einem Weglaufen gleichgekommen. Eine besonders unangenehme Vorstellung, wenn sie der Wahrheit entsprach. Ich fühlte mich in die Enge getrieben von der Stille, von dem, was da draußen war. »Was geht denn da eigentlich vor?« Ben schob mich zu den anderen, die sich dicht um das Fenster drängten. Bingo kniete auf dem Fenstersims und gab eine Art Live-Kommentar, Pepys und Jeffries zerrten an den Vorhängen, als wollten sie jeden Augenblick daran hochklettern. »Keine Ahnung!« sagte ich. Doch mir war schlagartig eine äußerst unangenehme Erinnerung gekommen. Diese flackernden bernsteinfarbenen Lichter und die menschlichen Schatten, die ich vom Speisezimmer aus gesehen hatte… Der Abschnitt der Insel, den wir durch den Spalt zwischen den Vorhängen im Blick hatten, war mit Männern und Frauen bevölkert, die Laternen in den Händen hielten. Die Mud-CreekArmada. Ihre Gesichter schienen blaß wie der Mond in dem Nieselregen, und als wir uns noch enger ums Fenster scharten, begannen sie mit einem Sprechgesang. Einige der Worte, die sie hervorstießen, gingen im Wind unter, doch andere kamen durch, schlugen gegen das Fenster, brannten uns in den Ohren.
»Hippies!« »Yuppies!« »Wie können wir denn beides zugleich sein?« schimpfte Marjorie. Pepys gab ein Gurgeln von sich. »Weiß ich nicht. Jeffries is’ n Hippie. Ich bin n Yuppie.« Ernestine versuchte, Bingo vom Fenstersims herunterzuziehen, als uns das nächste Schimpfwort ins Gesicht geschleudert wurde. »Hexen!« Gütiger Himmel! Ich hatte Salem, Massachusetts, gemieden, um hier zu landen! Valicia X klammerte sich an Ben fest, und ich nahm ihr diese Freiheit nicht übel. Miss Rumpson schien drauf und dran, sich in Pepys’ Arme zu flüchten – oder war es andersherum? Egal. Valicia machte einen sehr vernünftigen Vorschlag. »Wir sollten nachsehen, ob alle Türen und Fenster fest verschlossen sind.« »Stimmt!« sagten wir alle gleichzeitig, verstreuten uns und rückten dann wieder zusammen, um nicht alle zum selben Ausgang zu hasten, während der Feind ansonsten freien Zutritt hatte. »Ich übernehme die Haustür!« Ben hatte schon halb die Halle durchquert. Aber zu spät, leider zu spät! Ein knirschendes Bersten von Holz und ein Krachen, als es gegen die Wand geschleudert wurde. Das Stampfen Hunderter gestiefelter, gespornter Füße auf den Fliesen. Das Klirren von Waffen, das Ziehen von Schwertern. Nicht doch, dies war keine Invasion von Cromwells Truppen auf Mendenhall. Aber die Phantasie versorgt einen in solchen Augenblicken tatsächlich mit den nötigen Sound-Effekten. Die Tür zum roten Zimmer flog polternd nach innen auf. Eine Hand drückte Ben gegen einen Tisch. Der Tisch kippte
seitwärts, und Ben saß auf etwas, das nach einer Fußbank aussah. Der Mob schwärmte aus; das Zimmer drohte aus allen Nähten zu platzen. Zunächst war es nur ein Gesicht, dann begann es sich zu teilen wie ein Kuchen, der in einzelne Stücke geschnitten wird, und ich sah Leute, die ich wiedererkannte: Nelga aus dem Kleidergeschäft, Barbara und Urgroßmutti aus dem Scissor Cut, die hübschen schwedischen Zwillinge und mehrere Leute vom Bowling-Bankett – der unglaublich attraktive junge Mann, der Mann in dem karierten Hemd. Das alles war nicht gut für eine Frau in meinem Zustand. Ich hatte Laverne entdeckt, und da war die Riesin -Jimmy aus der Bar. Doch es war das Gesicht des Anführers, das mich besonders frösteln ließ. Der diätologische Geistliche. Reverend Enoch. Im Raum wurde es dunkel vom Ansturm so vieler Menschen. »Na, das nennt man nachbarschaftliches Verhalten!« Valicias Stimme wehte über dem Meer von Köpfen. Meine Hoffnung war, daß, wenn ich sie nicht sehen konnte, es auch kein anderer konnte. Der Reverend, um nur einen zu nennen, würde ihre Schönheit höchstwahrscheinlich als persönlichen Angriff auf seine religiösen Überzeugungen werten. »Schweigen Sie, Frau!« Ja, das war er. »Also, einen Moment mal!« Das war Ben. »Wir wollen die Hexe!« meldete sich eine dünne Stimme zu Wort. Eine tiefere sagte zu ihr: »Sei still!« »Mud Creek ist niemals eine Stadt ohne Sünde gewesen!« wütete der Reverend. »Doch, gelobt sei sein Name, es war nie die Rede von Manges. Mit ihrer Ankunft hier hat das Böse seine Flügel ausgebreitet und seine Krallen ausgestreckt. In unserer Mitte haben wir eine junge Ehefrau, die vom rechten Weg abwich, indem sie in einem Schönheitssalon arbeitet. Beten wir darum, daß ihr der Kopf abgeschlagen werde?«
Rhetorische Pause. »Alles mit Gott zu seiner Zeit. Es war nicht sein Wille, daß ihr Ehemann den Reizen einer Jezebel in der Mud-Creek-Savings-and-Loan-Bank verfiel. Dieses Böse folgte direkt auf die Besetzung dieses verfluchten Hauses durch die Manges. Meine eigene Frau flieht unser heiliges Ehebett. Wir waren Zeugen der dekadenten Festlichkeit eines BowlingBanketts, auf der ein weibliches Mitglied dieser verdorbenen Gesellschaft erschien und auf Fragen mit fremder Zunge antwortete. Uns sind Berichte über eine Hexe zu Ohren gekommen, die Liebeszauber wirkt – « Ein Quieken ertönte aus irgendeiner Ecke des Raums. Das konnte nur Marjorie Rumpson sein. »Und worauf lief das alles hinaus?« Die Stimme des Reverend schwoll an, wie Orgelmusik. »Morrrd!« »Halten Sie Ihr fettes Maul!« Ein dumpfes Geräusch war zu hören, als hätte jemand dem Reverend eins mit der Handtasche über den Schädel gegeben. Die neue Stimme fuhr fort: »Wer hat Sie verdammt noch mal gebeten, diesen Haufen anzuführen? Ich war verflixt nah dran, Sie über Bord zu stoßen, als Sie ins Boot kletterten, aber nee, dann hatt’ ich doch keine Lust, Ihnen die Gelegenheit zu geben, übers Wasser zu wandeln.« Jemand rief: »Weiter so, Jimmy!« Die Riesin aus der Bar… die Frau, die Theola Faith ihre Wohnung geliehen hatte. »Einen kleinen Augenblick, damit ich wieder zu Speichel komme«, brummte Jimmy. »Und jemand soll Enoch hier rausbringen, bevor Laverne zusammenbricht.« Ich konnte Jimmys Profil erkennen, als sie sich durch den Mob nach vorn kämpfte. »Also hört zu, ihr Mange-Schlampen, was ihr hier seht, sind die Mud-Creek-Mamis, begleitet von einigen Freunden. Bevor wir unsere Boote zu Wasser ließen, schlichen ich und die Gang runter zu Sheriff Toms zweitem Heim und ließen Theola Faith frei. Würde eine Frau, die hier
aufgewachsen ist – Ball gespielt und mit uns Valentinskarten ausgetauscht hat –, ihre eigene Tochter ermorden? Verdammt noch mal, wir glauben nicht, daß sie schuldig ist, wenn Leute wie Sie da sind, die förmlich danach schreien, verdächtigt zu werden…« »Na schön, jetzt langt’s aber!« Die Stimme erschütterte den Raum, und das Lynch-Kommando stob in alle Richtungen auseinander… wie eine Taube, die in ihre einzelnen Federn zerschossen wurde. Sofort öffnete sich ein Korridor, in dem Sheriff Tom Dougherty stand, mit der Waffe in der Hand. »Schätze, ich habe keine Einladung zu der Party erhalten!« »Manchmal«, Laverne trat mutig vor, »wird uns eben bewußt, daß das Gesetz ein guter Diener, aber ein schlechter Herr ist.« Ein dünner Mann mit Brille zog einen Stift hinter seinem Ohr hervor, einen Block aus seiner Tasche und sagte: »Ron Horbett, The Biweekly Byword. Darf ich Sie zitieren, Ma’am?« »Zitieren Sie lieber mich«, erwiderte Sheriff Tom betrübt. »Ich werde jeden festnehmen, der nicht aus dem Weg geht, sich hinsetzt und die Klappe hält. Ich habe jemanden mitgebracht, der mit euch allen reden will.« »Wen denn?« Die beiden Worte wurden zusammen mit Armen, Beinen und Nasen zerquetscht, als die Leute der Aufforderung des Sheriffs nachzukommen versuchten. Vielleicht spielten sie ja nur auf Zeit, aber dann wurde doch ein Sit-in aus der Versammlung. Unsere Mange-Gruppe belegte einen Teil des Kaminvorlegers mit Beschlag, als wäre er ein Botschaftsgebäude. Ben hatte gerade den Arm um mich gelegt, da trat Sheriff Tom zur Seite, und sie kam zur Tür herein. Mary Faith! Ganz im Stil einer Sekretärin, die gekommen war, um ein Diktat aufzunehmen. Braunes Haar, braunes Leinenkostüm, die Schmetterlingsbrille gerade auf der Nase. Dies war kein Geist, der einem feuchten Grab entstiegen war. »Schwindlerin!« ertönte ein allgemeines Gebrüll.
»Mein Gott«, flüsterte Ben, »sie hat das Ganze inszeniert, ihren eigenen Tod vorgespielt, um ihre Mutter endgültig zu zerstören. Machen Schriftsteller denn vor nichts halt, um ihre Bücher zu verkaufen?« »Hallo, meine Lieblinge!« Sie lächelte verschlagen, aber ihre Stimme… Sie paßte nicht zu Mary, ebensowenig… wie das Haar, das sie sich vom Kopf zog… darunter kam ein schimmernder platinblonder Haarschopf zum Vorschein. Jetzt folgten noch die Brille, die braune Jacke, der Rock wurde geöffnet und beiseite geworfen. Eine Wiederholung ihres Strips in Jimmy’s Bar. Theola Faith. Und plötzlich verstand ich. Sheriff Tom schob ihr einen Hocker hin, und sie setzte sich anmutig, verführerisch darauf, als wäre dies ein Nachtklub und sie würde nur ihre Standardnummer zeigen. »Lieblinge, ich weiß, ihr müßt mich alle für schrecklich gemein halten, und ich wünschte, ich könnte in aller Aufrichtigkeit sagen, daß ich ganz zerknirscht vor Reue bin, aber ich bin’s nicht. Welch größere Herausforderung gibt es für eine Schauspielerin, als eine Figur zu schaffen, die die Leute – Verleger, Medien, Fans – alle für real halten. Eigentlich zwei Figuren, denn es gibt keine Theola Faith – Mutter. Ich wollte nie eine werden, wie so viele Frauen, aber das eigenartige war…« Sie schaute mich direkt an. »… ich begann, sie zu mögen… Mary und ich fanden es viel schwieriger, das einzige Kind, das ich nie hatte, zu ermorden, als ich dachte.« »Warum haben Sie das gemacht – sie erfunden, das Buch geschrieben…« stammelte Nelga aus dem Kleidergeschäft. Theola Faith legte ihre Beine auf einen Tisch, lehnte sich zurück und lächelte sie an. »Geld war das ursprüngliche Motiv. Lieblinge, ich dachte zunächst daran, einfach meine Memoiren zu schreiben. Allerdings sah ich schnell ein, daß das ein Witz
war. Es wird für die meisten von euch ein Schock sein, aber über lange Strecken habe ich ein sterbenslangweiliges Leben geführt. Ich habe nie, nie versucht, eine bestimmte Spezies von Wildtieren vor der Ausrottung zu bewahren oder im Alleingang einen Krieg zu beenden. Oh, ich hatte meinen Teil an Liebesaffären. Ich war auch grob zu Leuten auf Dinnerpartys. Aber glaubt ihr, dafür blättern die Leute 21,95 hin? Sicher, ich wußte, daß eine todsichere Möglichkeit… darin bestand, über meine liebsten Freunde zu schreiben und sie splitternackt der Öffentlichkeit vorzuführen. Jedoch, ihr Schätzchen, das war nicht mein literarischer Stil. Oh, diese Wut, jedesmal, wenn ich in einen Buchladen ging und schon wieder einen Bestseller sah, in dem einmal mehr eine Mutter oder ein Vater durch den Fleischwolf gedreht wurden. Mir blieb diese Infamie erspart, weil ich kinderlos war… Und dann fiel mir ein, wie viele von diesen Büchern von einem Ghostwriter geschrieben wurden – « Reverend Enoch schlug sich an die Brust. »Herr, diese Frau hat die Todsünde des Betrugs verübt!« »Das«, sagte Theola Faith gelassen, »tut jeder, der Belletristik schreibt.« Sheriff Dougherty schüttelte den Kopf. »Kapier’ ich nicht, daß Sie hofften, damit durchzukommen.« »Darling.« Sie schob eine platinblonde Strähne hinter ihr Ohr. »Das Leben mit dieser Gefahr bot mir eine angenehme Abwechslung, nachdem ich mich von der Welt zurückgezogen hatte und nur meine Hauspflanzen ein verzweifeltes Interesse daran hatten, daß ich morgens aufstand. Die kleinste Nachforschung hätte enthüllt, daß Mary als Erwachsene zur Welt kam, aber ich verließ mich auf den unstillbaren Hunger der Öffentlichkeit nach Wahrheit, um sie der Wahrheit gegenüber blind zu machen.« »Hatten Sie von Anfang an vor, sie loszuwerden?« Das war Urgroßmutti aus dem Scissor Cut.
»Mary… Mary mußte leider sterben. Sie war eine Rolle, die ich in einem Stück spielte, das ich selbst geschrieben hatte. Jedes Stück hat einen Schluß, aber der letzte Akt – welch eine Herausforderung! Ich sah mich im Zeugenstand, wo ich einen herrlichen Hut trug – so wenige Rollen verlangen heutzutage einen Hut. Mutterschaft auf der Anklagebank. Wenn ich davonkam, brauchte niemand die Wahrheit zu erfahren. Wenn es schiefging, würde ich mich reinwaschen und meine Memoiren schreiben, während ich die Strafe für Meineid absaß! Welcher Spaß, den Mord zu planen. Da es keine Leiche geben konnte, mußte ich ihren Tod in Szene setzen – vor den Augen eines großen Publikums. Ich wußte immer, daß dieses Haus wie geschaffen für meine Zwecke war. Ich hätte meine wenigen Freunde aus alten Zeiten und mein früheres Mädchen Begita um Hilfe bitten können. Sie waren schon so lieb gewesen – als sie darum baten, in dem Buch aufzutauchen. Graza Lambino stellte mir großzügig all ihre dahingeschiedenen Ehemänner zur Verfügung. Aber man drängt sich ja nicht gern auf. Als mich Pepys und Jeffries fragten, ob ich Mendenhall für ein Wochenende ihrem Kochklub zur Verfügung stellen würde, willigte ich mit Freuden ein. Sehr egoistisch von mir, sie da mitreinzuziehen.« Die Pandabäraugen blickten wehmütig wie die eines Kindes. »Das sehe ich jetzt ein…« Pepys öffnete den Mund, doch Jeffries tippte ihm auf den Kopf, und sein Mund ging wieder zu. »Er und ich… haben nie was gemacht, um unseren Mange-Eid zu verraten. Wir wußten, daß sie niemanden hier in Verdacht bringen wollte.« Ihr Blick zwang mich, die Augen niederzuschlagen. »Also erzählen Sie, Theola, wie haben Sie den Mord durchgeführt?« Nelga bemühte sich offensichtlich, so neutral wie möglich zu klingen.
»Ich war erfreut, als ich hörte, daß es am 4. Juli ein Barbecue geben würde.« Miss Faith rutschte auf ihrem Hocker herum. »Mein Publikum war damit gesichert. Und alles klappte wie am Schnürchen. Der einzige Unsicherheitsfaktor war das Wetter, doch das Gewitter ließ auf sich warten, und hinterher erwies es sich sogar als mein Verbündeter. Ich kam mit Pepys im Boot aus Mud Creek zurück. Als das Barbecue anfing, machte ich meinen Auftritt als Mary und verkündete, ich würde mich ein für allemal mit meiner Mutter aussprechen. Sobald ich das Boot bestiegen hatte, ging ich zur Laufbrücke, schnitt das Kabel zur Entlüftung durch, verband die Zündung durch Drähte mit dem Wecker, der auf fünf Minuten gestellt war, und kippte Treibstoff in den Motorraum. Die Dame ist eine Flußratte, erinnert ihr euch? Ich verließ das Boot – « »Wo haben Sie sich versteckt?« fragte Valicia X. »Im Bootshaus, unter einem Requisit, einer Gartenbank, die in Villa Melancholie benutzt wurde. Dann, als alle wieder im Haus waren, schlich ich mich ebenfalls hinein und versteckte mich im Keller. Falls jemand heruntergekommen wäre, hätte ich mich in den Sarg gelegt. Aber es kam niemand. Und als ich frühmorgens dachte, die Luft sei rein, verließ ich das Haus…« »Verkleidet als Geist?« keuchte Bingo. »Ich habe Sie zweimal gesehen – « »Das erste Mal – an dem Abend, als Sie, die Manges, ankamen – machte ich es zur Übung und des Spaßes halber.« Theola Faith lächelte ihn traurig an. »Ich wußte, daß Laverne mir an dem Schicksalsabend bis zu meiner Rückkehr nach Mud Creek den Rücken freihalten würde. Sie sagte Tom, ich wolle bis zum Morgen nicht geweckt werden, als er mit der schlimmen Nachricht vor der Tür stand, und er war«, sie schenkte dem Sheriff ein gespielt tapferes Lächeln, »wie ich vorausgesehen hatte, viel zu sehr Gentleman, um trotzdem darauf zu bestehen.«
»Wie sind Sie auf die andere Seite gekommen?« wollte jemand wissen. »In einem der aufblasbaren orangenen Boote, die Irv an der Tankstelle verkauft. Ich entdeckte eines im Bootshaus, als ich es zur Vorbereitung inspizierte, aber es verschwand später, deshalb kaufte ich mir selbst eins.« Stille. »Nun?« hakte Theola Faith nach. »Was passiert jetzt? Werde ich bestraft, weil ich die Manges nicht für meinen Mord habe brennen lassen?« Stimmen sprudelten durcheinander, Köpfe nickten, Hände gestikulierten. Alle sahen Sheriff Tom an, als wäre er Moses und könne uns aus der Wüste führen. Er steckte seine Waffe wieder in Holster und sagte langsam: »Theola, Mädchen, du hast schon immer gern übertrieben. Gut möglich, daß einer von diesen Großstadtcops die Dinge anders sehen würde, aber hier in Mud Creek galt es noch nie als Verbrechen, wenn ein Steuerzahler sein eigenes Boot in die Luft jagt. Und niemand hier kann behaupten, er habe Mary an Bord gehen sehen. Weil es niemals eine Mary gab. Mir scheint, wenn wir uns alle darauf einigen könnten, den Mund zu halten…« »Es bleibt unter uns.« Ich lächelte Ben zu. »Diese Stadt wird ihr Geheimnis wahren, und uns verpflichtet der Mange-Kodex zu schweigen.« Was macht es schon aus, wenn weiterhin, Jahr für Jahr, Millionen Exemplare von Monster Mommy verkauft werden? »Wenn Sie wollen, daß wir einen Eid ablegen«, meinte Bingo. »Auf daß wir unsere Zungen in Scheiben schneiden und zum Mittagessen verspeisen, wenn wir jemals einer Menschenseele verraten sollten…« Theola Faith zwinkerte mir zu.
Epilog
Der Traum setzte da ein, wo ich das letzte Mal aufgehört hatte. Ich befand mich wieder in der Eingangshalle von Merlins Schloß und suchte Klein Ellie, die sich ganz dreist aus dem Staub gemacht hatte, während ich versuchte, ihr zu sagen, daß ich ein Baby erwartete. Die Fuchsköpfe grinsten von der Wand herunter, und die Zwillingsritterrüstungen tauschten nervöse Blicke aus, als ich eine Riesenspinnwebe zur Seite schob und die Stufen hochstieg. »Ellie!« Ihre Stimme schlich sich von hinten an, wie eine Katze auf leisen Pfoten. »Mutter! Was tust du denn hier?« »Na, na, Liebling! Ich dachte, du wärst froh, mich zu sehen.« Auf den Geländerpfosten gestützt, machte sie einige Kniebeugen. Dann sank sie in einem Wirbel aus grauer Gaze auf die unterste Stufe und klopfte auf das Holz neben ihr, als Zeichen, daß ich mich setzen sollte. »Ich muß eine gewisse Neugier auf die Theola-Faith-Affäre gestehen.« »Sie hat sich an dich erinnert«, sagte ich. »Aber selbstverständlich!« Mutter wandte ihr Wassernymphengesicht von mir ab. »Der Teil in Monster Mommy, der Marys Besuch bei Tante Guinevere beschreibt, war ein Remake deines ersten Besuchs hier.« »Stimmt. Das habe ich begriffen, als Theola Faith mit mir über dich sprach. Mutter, ich hätte nie gedacht, daß du dich damals schuldig gefühlt hast, weil du mich bei Onkel Merlin abgeladen
hattest, sogar so sehr, daß du mit einer praktisch Fremden darüber gesprochen hast.« »Liebling, ich treffe mich sehr gern mit dir. Aber dieser Besuch kann nicht ewig dauern. Man bekommt nur eine bestimmte Zeit frei für gute Führung. Was hast du der Taube eigentlich als Nachricht mitgegeben?« »Fünf Worte. Das Baby hat sich bewegt. Die hellseherische Chantal hatte den Misses Tramwell gesagt, ich würde die Antwort in mir finden, und als ich dieses Zucken spürte… wie von Schmetterlingsflügeln, da… da wußte ich einfach, daß Theola Faith nie ein Kind gehabt hatte. Sie hatte diese Erfahrung mit einer Katze verglichen, die an einer Tür kratzt. Und später, bevor Ben und ich Mendenhall verließen, sagte sie zu mir, sie hätte sich von dem mitreißen lassen, was sie als den Gipfel ihrer schauspielerischen Laufbahn empfand. Ich glaube, es machte ihr zu schaffen, daß sie keine Mutter war…« »Apropos, da fällt mir noch etwas ein« – Mutter schüttelte einen Ärmel aus –, »Ben hat ja große Reife bewiesen, als er auf seine Mange-Karriere verzichtete.« »Ach, weißt du es noch gar nicht?« Ich setzte mich auf die Stufe über ihr und versuchte, den Schmerz in meinem Rücken wegzumassieren. »Mein Liebling wurde doch noch als Mitglied aufgenommen. Ganz wie der Comte, wenn er ein Kaninchen aus dem Hut zog, brachte Ben in allerletzter Minute das Kräuterrezept der Tramwells zum Vorschein und verlieh mit zitternder Stimme seiner Überzeugung Ausdruck, es sei in Wahrheit das jahrhundertelang verschollene Queen’s Jaffy, das von den Mönchen zu Cloisters erfunden und zum Beispiel Anne Boleyn serviert wurde, damit sie hocherhobenen Hauptes zum Richtblock gehen konnte.« »Meinen herzlichen Glückwunsch an Ben.« Mutter hob die Arme, und die Gazeärmel flatterten wie Flügel. »Liebling, dies ist nur ein ganz kurzer Besuch.«
Meine Rückenschmerzen bissen mir kräftig in die Wirbelsäule, als ich aufstand. »Willst du nicht wissen, was es mit den verschwundenen Kandidaten auf sich hatte? Der Mann, der jeden Morgen bei Tagesanbruch das Trinkwasser nach Mendenhall brachte, enthüllte, daß er von Jim Grogg mit der vampirischen Divonne und später vom Comte mit Solange ein fürstliches Entgelt erhielt, damit er sie zum Festland übersetzte und ihnen so die schmähliche Verabschiedung durch die Manges ersparte. Ach übrigens, Mutter, es gibt auch noch ein interessantes P.S. zu Mud Creek. Theola Faith hat beschlossen, die verlassene Brauerei des alten Josiah Mendenhall zu kaufen und dort das weitbeste Adam’s Ale abfüllen zu lassen. Aufgepaßt, Perrier!« »Das gefällt mir!« Mutter verzog die Lippen zu einem träumerischen Lächeln. »Ich hoffe doch, der Arm des Gesetzes greift nicht nach ihr, um ihr alles zu verderben, obwohl ich eher vermute, wenn sich der Sheriff weiter in Geduld übt…« »Du bist eine solche Romantikerin!« sagte ich. »Über die Browns müßtest du dich eigentlich freuen. Marjorie Rumpson hatte recht mit ihrem Verdacht. Henderson, zur Verzweiflung getrieben, fand bei seiner Frau jenes schicksalsträchtige Buch Die Geiselbraut – du erinnerst dich doch hoffentlich – und kam schlagartig zu der Erkenntnis, daß er Lois entführen mußte, um sie vor den Manges zu retten. Bei Nacht und Nebel. Die Schreie würde man Jeffries zuschreiben. Er war es, der die aufblasbare Neil Gwynn stibitzte… Mutter! Wo gehst du hin? Mußt du noch einen Zug erwischen?« Mir fiel ein, wie sie gestorben war, und ich hätte mir die Zunge abbeißen können, aber sie lachte und legte ihren seidenweichen Arm um mich. »Liebling, ich weiß gar nicht, warum du dich mit mir abgibst! Ich war keine besonders gute Mutter.« »Du warst die beste Mutter, die ich je hatte.« Ich spürte, wie sie mir entglitt. »Geh noch nicht!«
»Schsch!« Ihre Stimme war eine sanfte Brise, die mich umwehte. »Du bist nicht meinetwegen gekommen. Und Klein Ellie versteckt sich nicht vor Onkel Merlin. Sie versteckt sich vor dir, weil – um offen zu sein, Liebling, du bist etwas selbstherrlich geworden, seit du soviel abgenommen hast.« Die Luft wurde still. Und als ich mich umdrehte, saß das Kind in dem blaugolden gestreiften Blazer und den Schleifen wie Riesenmotten im Haar auf halber Höhe der Treppe. »Hallo«, sagte ich. »Wie wär’s, wenn wir uns einen Eisbecher teilen? Und Mutter, falls du zuhörst, du sollst wissen, daß ich beschlossen habe, dem Baby deinen Namen zu geben. Ich bin sicher, daß ich ein Mädchen haben werde, und…« »Liebling.« Ihre Stimme schwebte hoch über mir. »Du weißt doch, mein Name hat mir nie gefallen. Wie wär’s mit Abigail? Na, das ist doch ein Name mit einer Arabeske! Und Grantham paßt zu jedem Jungen. Dieser Klang! Ellie, rümpf nicht die Nase über deine Mutter. Ich habe mich immer bemüht, mich nicht einzumischen, aber der Tod gibt einem doch sicher gewisse Sonderrechte…« Als ich aufwachte, fand ich mich auf dem Sofa im Wohnzimmer wieder. Ein Feuer prasselte im Kamin und malte rosige Schatten auf die Wand, wo das Porträt von Abigail, Onkel Merlins Mutter, hing. Nicht Cat Cadaver. Dies war nicht das rote Zimmer. Die Vorhänge und Sofas strahlten in elfenbeinfarbenem Damast. Der Stil war Queen Anne, nicht viktorianisch. Zu beiden Seiten der Uhr auf dem Kaminsims stand je eine gelbe chinesische Vase, und der Teppich hatte ein Paradiesvogel-Muster in Türkis- und Rose tönen. Ich war allein mit meinem Kater Tobias, und sein pelziges Gesicht war voll Sorge. Hatte ich im Schlaf geschrien? Sich aufzurichten war ein mühevolles Unterfangen. Ich war so schwer zu manövrieren wie das aufblasbare orangene Boot; seit einem Monat hatte ich Angst, mich in die Nähe einer Nadel zu
wagen. Ich hätte ja platzen können. Beunruhigt sah ich zu, wie Tobias zu dem Stapel aus Paketen in grün-goldener Folie marschierte, die ich eingewickelt hatte, bevor ich mich meinem Nachmittagsnickerchen überließ. Wir hatten kaum Dezember, aber da das Baby in einem Monat zur Welt kommen würde, versuchte ich, soviel wie möglich schon im voraus zu erledigen. Mehrere noch unverpackte Schachteln, Papierrollen und eine Auswahl an Scheren legten Zeugnis davon ab, daß die Arbeit erst halb getan war. Die Uhr schlug fünf. Durch die schneeverkrusteten Fensterscheiben sah ich einen dunklen Spalt Himmel. Rentier-Wetter. Anders als der verstorbene Papa der Tramwell-Schwestern, ging Ben weiterhin zur Arbeit, heute abend wollte er jedoch früh zu Hause sein und Freddy die Aufsicht im Abigail’s überlassen. Ein Ehemann unter Hunderten! Er hatte bereits den Weihnachtskuchen glasiert und die Regale in der Speisekammer mit genügend Pasteten und Orangen in Weinbrand vollgestapelt, um eine Hungersnot durchzustehen. Wollte er früher nach Hause kommen, um noch Geschenke einzupacken? Brauchten wir denn eine Neuauflage vom letzten Jahr, als Jonas die Handtasche bekam, die für Dorcas gedacht war, und sie die Herrenunterwäsche? Ich wollte eine Rolle Schleifenband vor Tobias retten, doch er war flinker auf den Beinen als ich. Er spähte unter einem Zelt aus Geschenkpapier hervor und hatte großen Spaß an unserem Machtkampf, bis ich mogelte, indem ich aufkreischte. »Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken.« Vorsichtig kuschelte ich mich in die Kissen zurück. »Bloß ein kleiner Anfall von Rückenschmerzen. Den hatte ich schon mal, und er verschwand dann wieder in meinem Traum.« Warum starrte mich diese unselige Uhr so an? Wozu dieses Grinsen auf ihrem dummen Gesicht? Mit jedem Tsk! Tsk! Tsk! wurde mir bewußter, daß Jonas sich auf seinem täglichen Spaziergang befand und Dorcas noch nicht von der Dorfschule zurück war.
Ein heftiger Nieser von irgendwo außerhalb des Zimmers ließ mich nach der Sofalehne greifen. Muß der Wind sein, sagte ich mir, bis es mir wieder einfiel. Mrs. Malloy, die treue Haushaltshilfe, war nicht wie gewöhnlich schon um halb fünf gegangen. Sie legte eine Extra-Schicht ein und machte das Kinderzimmer sauber, eine Runde mit dem Staubsauger eingeschlossen. Ich sollte wirklich in die Küche gehen und ihr eine Tasse heiße Schokolade machen, um sie für den Heimweg zu rüsten. Dorcas und Jonas würden auch eine Tasse zu schätzen wissen… Eine Viertelstunde später hatte ich mich immer noch nicht vom Fleck gerührt. Doch ich hatte meine Ansicht über bestimmte Mann-Frau-Beziehungen geändert. Die Wohnzimmertür sprang auf, und da stand der Schurke des Stücks mit den dunklen Augenbrauen. Er, der mir ein Kind angedreht hatte, während er sich seine grazile Figur erhielt. Verflixte Augen. Sein pechschwarzes Haar war an den Schläfen voll Schnee. Er schüttelte seinen Mantel aus und stampfte mit den schneeverkrusteten Schuhen über den guten Teppich. »Liebes, heute abend hatte ich eine tolle Inspiration zur Erweiterung meines Repertoires von Gourmetnahrung für Babys. Wie klingt Gekochter Kabeljau avec Creme?« »Zum Lippenlecken.« Mit dem Handrücken betupfte ich meine Stirn. »Ellie, ich glaube, in mir steckt ein Kinderkochbuch, das herauszukriechen versucht; ich kann einfach nicht zulassen, daß sich Monster Mommy ohne jede Konkurrenz auf der Bestsellerliste breitmacht.« Er warf seinen Mantel auf einen schönen, sauberen Stuhl. »Möchtest du deinem Mann nicht erzählen, was du den ganzen Tag getrieben hast?« »Mein Rücken… tut weh.«
»Armes Baby!« Er bückte sich, um mich auf den Kopf zu küssen, und ich wich zurück, als sei er Blaubarts Sohn und Erbe persönlich. »Ben, ich kann es dir nicht schonend beibringen. Ich habe erste Wehen.« »Nein!« Er hielt sich mit den Händen die Brust und wich von mir zurück, wobei er auf einige Rollen Geschenkpapier trat und nur um Haaresbreite Tobias’ Schwanz verfehlte. »Das kann nicht sein. Es ist viel zu früh.« Er nahm das Exemplar von Besondere Geburtvom Tisch und blätterte hektisch darin. Die Funken, die aus seinen Augen sprühten, setzten beinahe die Seiten in Flammen; kurz darauf ließ er das Buch fallen, als sei es tatsächlich glühendheiß. »Wie schnell kommen sie hintereinander…?« »Alle vier Minuten.« »O mein Gott!« Er fiel auf die Knie, den Blick zum Himmel erhoben. »Hast du vergessen…« Ich wußte nicht, ob er zu mir oder zum Allmächtigen sprach. »… Ich habe doch das Auto in Voraussicht auf das große Ereignis auseinandergenommen. Es ist in tausend Einzelteile zerlegt und sieht aus wie ein Puzzle. Freddy hat mich zur Arbeit gefahren und wieder nach Hause gebracht.« »Dann hat er mehr als genug getan… da kann ich ihn wohl nicht mehr bitten, mich auch noch auf seinem Motorrad ins Krankenhaus zu fahren.« »Er hat bereits kehrtgemacht und ist zum Abigail’s zurückgebraust.« »Das ist nett von ihm«, tröstete ich ihn. »Jetzt habe ich die Muskelkontraktionen auch wieder einigermaßen unter Kontrolle (Schmerz ist ein schmutziges Wort). Wahrscheinlich war es bloß ein falscher Alarm. Hast du schon mal erlebt, daß ich mit irgendwas früh dran bin? Zu unserer Hochzeit bin ich auch zu spät gekommen, weißt du noch?«
»Ellie!« Ben rutschte auf den Knien zu mir. »Sämtliche Bücher sagen, daß es garantiert der Ernstfall ist, wenn man denkt, es sind Scheinwehen.« Er griff nach meinen Händen, als die Schme… die Kontraktionen mich erneut überfielen. »Denk an Lamaze, mein Herz!« Er keuchte ermutigend, während ich den Moment wiedererlebte, als wir die Neil Gwynn aufgeblasen hatten. Unser Mann der Tat war flugs wieder auf den Beinen. »Du machst das großartig, mein Herz, für eine Anfängerin. Halt’ durch, ich lauf eben schnell in die Halle und rufe einen Krankenwagen…« Die Panik hatte mich fest in den Krallen. Das Telefon war schon den ganzen Nachmittag außer Betrieb. Kein ungewöhnlicher Fall – wahrscheinlich irgendein Nagetier, das an den Drähten geknabbert hatte. Ich versuchte aufzustehen, konnte jedoch meine Füße nicht finden. Ben war an der Tür, als sie plötzlich nach innen aufging. Auftritt Jonas mit Bomberjacke und Fischermütze, gefolgt von Dorcas in ihrem dottergelben Jogginganzug. Sie schleppten mit vereinten Kräften einen Weihnachtsbaum herein. Es passierte schon wieder, ich verdarb allen den Spaß. Als Jonas den medizinischen Lagebericht hörte, wurde sein Gesicht grau wie sein Bart, der, nebenbei bemerkt, zuckte wie eine elektrische Zahnbürste. Dorcas rief: »Tolle Leistung!«, klopfte mir aber gnädigerweise nicht auf die Schulter. »Alles auf die Plätze. Denkt dran, nichts geht über Teamarbeit!« Ein ohrenbetäubendes Schrillen aus der Pfeife, die um Dorcas Hals hing, brachte Mrs. Malloy auf den Plan. Sie trug den Pelzmantel, der aussah, als sei er in heißem statt in kaltem Wasser gewaschen worden, und roch stark nach ihrem Lieblingsparfüm, Booth’s Dry Gin. »Mrs. H.« Ihre neonfarbigen Lider klappten auf und zu. »Ich hab’s Ihnen, ich weiß nicht, wie oft, gesagt – ich putze keine Fenster, ich reinige keine Abflüsse, und ich mache keine
Entbindungen. Aber was ich tun kann, ist folgendes: Ich laß mich von meinem Freund, der gerade in seinem neuen Fordmodell gekommen ist, um mich abzuholen, schnell zum Pfarrhaus rüberfahren. Bei dem Reverend ist momentan ein netter junger Arzt zu Besuch, das habe ich von Mrs. Wood erfahren, die dort saubermacht. Hat keinen Zweck, nach Dr. Melrose zu schreien, weil das Gerücht geht, er liegt mit Mandelentzündung flach. Lassen Sie uns aber bloß nicht das Baby kriegen, bevor ich mit dem Ersatz wieder hier bin, Mrs. H, sonst stehe ich ganz schön blöd’ da…« Ben und Jonas tauschten männlich-zornige Blicke aus, während Dorcas ungewollt ein weiteres Pfeifsignal losließ. »Bitte!« schrie ich. »Regt euch alle mal ab! Soll das nicht mein großer Augenblick sein? Ich möchte doch nur in Ruhe hier sitzen und meine Wehen genießen können, während mir einer meiner Lieben die Hand hält und mir Geschichten von Frauen erzählt, die ihre Kinder bei der Arbeit auf dem Reisfeld geboren haben…« *** Der Doktor sah so jung aus, als müsse er sich noch nicht einmal rasieren. Sein Name war Smith, was in mir augenblicklich den Verdacht erregte, daß er unter einem Decknamen praktizierte. Auf jeden Fall ging er ziemlich oft aus dem Zimmer und kam wieder herein. Ich stellte mir vor, wie er im Eilverfahren in seinem Handbuch für Anfänger nachschlug. Doch er war sehr liebenswürdig. Er bewunderte die Fasanentapete, das Himmelbett und sagte, das Holzfeuer verleihe dem Zimmer einen angenehmen viktorianischen Touch; woraufhin Ben, der an der Tür auf- und abging, sagte, wir seien überzeugte Anhänger zeitgenössischer Medizin.
Doktor Smith hielt Ehemänner eindeutig für ein modernes Übel, zu mir sagte er allerdings ungemein freundlich, ich solle ruhig soviel schreien, wie ich wünschte. »Vielen Dank, Doktor.« Pause zum Keuchen. »Aber wir haben auf beiden Seiten in etwa einem Kilometer Entfernung Nachbarn.« Außerdem fand ich, daß ich nicht noch zu dem Lärm draußen vor dem Zimmer beitragen sollte. Füße stampften die Treppe hinauf und hinunter. Das Telefon klingelte ununterbrochen, und einmal glaubte ich die Türklingel zu hören. Kurz darauf klopfte es an der Tür. Ben öffnete, und Dorcas teilte ihm mit, die Misses Hyacinth und Primrose Tramwell seien unten an der Treppe, mit Warnungen von äußerster Wichtigkeit aus dem Munde der hellseherischen Chantal. »Sag’ den Damen, meine Frau empfängt momentan keinen Besuch.« Bens Stimme klang gepreßt. »Komme schon, Liebes!« Er war kaum zum Bett zurückgestolpert, als unsere Tochter geboren wurde. Ich wollte sie nur noch festhalten. Ich dachte nicht daran zu fragen, ob ihre Figur hübsch war, dafür machte ich mir flüchtig Gedanken, wieso ich mich denn nicht merklich dünner fühlte… »Abigail!« Ich griff nach Bens Hand und genoß den Schrei der Neugeborenen… den flüchtigen Anblick eines köstlich faltigen Gesichts und abstehender schwarzer Haare. »Mutter hat den Namen ausgesucht. Hoffentlich macht es dir nichts aus.« »Wie du wünschst, mein Schatz.« Selig schauten wir Dr. Smith an, der unser Wunder von fünf Pfund und fünfzig Gramm in seinen vornehmen Händen hielt. Er war gerade dabei, uns zu gratulieren, als ich die Hand an meine feuchte Stirn preßte und ihn ganz unhöflich unterbrach. »Doktor, ich weiß, ich bin ein Neuling auf diesem Gebiet, aber ich habe so ein merkwürdiges Gefühl…«
»Die Nerven, Mrs. Haskell!« Doch plötzlich war der Vertreter der medizinischen Zunft selbst nur noch ein Nervenbündel. Er drückte Ben das Baby in die Arme, und… fünf Sekunden später war ihr Bruder geboren. Kein Wunder, daß ich so kräftig zugenommen hatte. Ich hatte für drei gegessen! Wie dem auch sei, jedenfalls konnte Dr. Melrose nicht im nachhinein behaupten, daß ich doppelte Arbeit gewesen sei, er hatte nämlich niemals angedeutet, daß ich Zwillinge erwartete! Nicht schlecht für eine Anfängerin, dachte ich selbstgefällig, während mir die Tränen in die Augen stiegen. Mutter hatte Bescheid gewußt, da war ich sicher. »Hat sie für ihn auch einen Namen ausgesucht?« fragte Ben sanft. »Grantham«, flüsterte ich. Als ich Stunden später aufwachte, war Dr. Smith weg, die Wiege schaukelte sanft im Schein des Kaminfeuers, und Ben saß lesend neben mir. Durch die leicht geöffnete Zimmertür sah ich flüchtig die stolzen Gesichter von Dorcas, Jonas und der Tramwell-Schwestern, bevor sie auf Zehenspitzen davonschlichen. Witzlos zu fragen, was Chantal prophezeit hatte. Mein Glück war so wundersam, so zerbrechlich, ich hatte Angst, tief durchzuatmen, damit es nicht in tausend vielfarbige Stücke zerbrach und in der Nacht verschwand. Dummerweise suchte Ben sich ausgerechnet diesen Moment aus, um mir einen hauchzarten Kuß auf die Stirn zu geben, und ich fing an zu zittern. »Ich bin dieser Aufgabe nicht gewachsen«, rief ich. »Ich komme mir vor wie ein Lehrling, und tief in mir habe ich das Gefühl, daß es auch immer so bleiben wird, bis meine Babys achtzig sind. Ich werde nie die perfekte Mutter sein, ich werd’s nie perfekt hinkriegen!« »Das schafft keiner«, sagte mein Ehemann mit all der neugeschöpften Weisheit der Vaterschaft.
Wellen der Erleichterung überfluteten mich. Ich machte aus meinen Haaren einen vernünftigen Zopf und setzte mich auf – bereit und willens, mit der Arbeit anzufangen. »Ben, nimm’ meine Hand, während ich schwöre, die beste unvollkommene Mutter zu sein, die ich sein kann. Und eines mußt du mir noch versprechen: keine Ratgeber mehr, wie man’s richtig machen muß.« Er drückte mich sanft und zögerte dann. »Das hier brauchen wir so oder so nicht mehr.« Attraktiv, wie nur Väter sein können, stand er in seiner Smokingjacke aus Samt auf, ging zum Kamin hinüber und warf Schwangerschaft für Anfänger ins Feuer. Was mich betraf… sobald ich die Kinder gefüttert und ins Bett gebracht hätte, würde ich an Theola Faith schreiben und sie fragen, ob wir sie bald besuchen dürften. Abby und Tarn mußten die faszinierende Frau kennenlernen, die ihre Großmutter gekannt hatte, und diesen außergewöhnlichen Ort, Mud Creek, entdecken. Lektion eins, meine Lieblinge, beurteilt eine Stadt nie nach ihrem Namen. Oder ein Buch nach seinem Einband.